Full text of "Sokrates, sein werk und seine geschichtliche stellung"
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Digitized by the Internet Archive in 2011 with funding from University of Toronto http://www.archive.org/details/sokratesseinwerkOOmaie SOKRATES SEIN WERK UND SEINE GESCHICHTLICHE STELLUNG VON HEINRICH MAIER /// TÜBINGEN VERLAG VON J. C. B. MOHR (PAUL SIEBECK) 1913 MS Druck von J. B. Hirschfeld (August Pries) in Leipzig. Vorwort. Ein Wort der Entschuldigung brauche ich diesem Buch wohl nicht mit auf den Weg zu geben. Was mich veranlaßt hat, den Hunderten von Arbeiten über Sokrates eine weitere anzufügen, war natürlich der Wunsch, das Dunkel, das immer noch über dem Werk des einzigartigen Mannes liegt, so weit es mir möglich wäre, zu lichten, — und die Meinung, einen Weg gefunden zu haben, auf dem ein Gelingen nicht ganz aussichtslos schien. Daß es ein geschichtliches Problem erster Ordnung ist, um dessen Lösung es sich hier handelt, brauche ich den Sachkundigen nicht zu sagen. Sie mögen auch entscheiden, ob ich glücklicher gewesen bin als meine Vorgänger. In der Auseinandersetzung mit anderen So- kratesauffassungen war ich sparsamer, als ich ursprünglich in Aussicht genommen hatte. Daß ich jeden ernsthaften Versuch dieser Art, der mir bekannt wurde, eingehend erwogen habe, ist selbstverständlich. Aber ein weiteres Anschwellen der Anmer- kungen, deren nächste Aufgabe war, das Belegmaterial vorzuführen und an der Hand der einschlägigen Literatur nutzbar zu machen, schien mir nicht wünschenswert. Vielleicht hätte es sich empfohlen, die Anmerkungen in einem besonderen Anhang hinter den Text zu setzen. Ich bin bei der altbewährten, wenn auch ästhetisch weniger gefälligen An- ordnung geblieben und habe, um die Einheitlichkeit nicht zu stören, auch bei Noten, die schon im Begriffe waren, sich zu umfangreicheren Exkursen auszuwachsen, keine Ausnahme ge- macht. Bestimmend war für mich hiebei die Rücksicht auf die- IV Vorwort. jenigen unter den Lesern, die die Nachweise und Belege für die Aufstellungen des Textes gleich zur Hand zu haben wün- schen. Die anderen, die vor allem einen reinen Eindruck von dem Ganzen in seinem Zusammenhang gewinnen möchten, haben ja immer die Möglichkeit, über die Region unter dem Strich wegzusehen. Göttingen, im September 1913. Der Verfasser. Inhalt. Seite Vorwort III Einleitung. Das Sokratesproblem 1 Erster Teil. Die Quellen. Erstes Kapitel. Das Quellenproblem und seine traditionelle Lösung ... 4 Die literarischen Quellen: Plato, Xenophon, Aristoteles 4. Die Memo- rabilien in der traditionellen Einschätzung 5. Ergänzung und Korrektur durch Plato und die aristotelischen Notizen 9. Differenzen und Schwierig- keiten 11. Zweites Kapitel. Die Memorabilien 13 Athetesen 13. Der neue Weg 14. Die xenophontischen Sokratika 15. Die Apologie 15. Das Symposion 17. Der Ökonomikus 18. Die Memo- rabilien 20. Die Schutzschrift (Mem. I 1—2)22. Die Gespräch- sammlung (Mem. I 3— IV 8) 25. Ihre Sokratesgespräche fingierte Logoi Sokratikoi 26. Ihr „Bericht" 35. Literarischer Charakter der Gesprächsammlung 37. Ihre Tendenz, in den Streit um Sokrates ent- scheidend einzugreifen 39. Stellung zu Antisthenes und Plato 42, zu Aristipp 50. Materialquellen der Gesprächsammlung. Verwertung der Sokratikerliteratur 51. Benutzung platonischer Schriften 53. Benutzung antisthenischer Schriften 62. Art der Verarbeitung dieses Materials 68. Die Eigenart der Gesprächsammlung und ihr Verhältnis zu den anderen xenophontischen Sokratika 69. Abfassungszeit 71. Ihr Quellenwert und die Frage ihrer historischen Verwendbarkeit 72. Das Ergebnis des Kapitels 76. Drittes Kapitel. Die aristotelischen Zeugnisse 77 Das ..Vertrauen zu Aristoteles" 77. Zweifel 78. Der Ertrag der aristo- telischen Nachrichten über Sokrates 81. Die Notizen über die soma- tische „Ethik" 82. Sie besitzen keinen selbständigen Quellenwert 90. Die aristotelische Sokratesauffassung 91. Sie ist zuletzt aus xeno- phontischer Quelle (Mem. IV 6) geflossen 93. Die aristotelische Ge- schichtskonstruktion 101. Ergebnis 102. VI Inhalt. Seite Viertes Kapitel. Die frühplatonischen Schriften 102 Die „sokratischen" Schriften Piatos 102. Norm für die Abgrenzung die persönlichen Sokratika: Apologie und Kriton 103. Die Apologie. Ihr literarischer Charakter 104. Ihre Tendenz 106. Spitze gegen Anti- sthenes 107. Inhalt der Apologie 110. Piatos sokratische Wirksamkeit und die Entstehung des Logos Sokratikos 1 15. Piatos sokratische Ge- spräche 117. Der Kriton 119. Laches, Hippias minor, Charmides, Ion 122. Die Frage des Lysis, Euthyphron und Hippias major 126. Der Protagoras 129. Neuer Einsatz im „Gorgias". Abwendung von der sokratischen Linie 132. Weitere Entwicklung 134. Die Alkibiades- rede des Symposions 137. Ausdrückliche Scheidung zwischen Plato- nismus und ursprünglicher Sokratik im Symposion 141. Ergebnis 146. Fünftes Kapitel. Die literarischen Quellen und der historische Schluß von der Wirkung auf die Ursache 146 Genügen diese frühplatonischen Dokumente? 146. Bestätigung durch die frühantisthenischeSokratesdarstellung 148. Ergänzung durch dieÜber- reste der übrigen Sokratikerliteratur 148. Allein Verschiedenheit der So- kratesauffassung bei den alten Sokratikern 150. Das Problem der Sokratik und das Sokratesproblem 152. Der historische Schluß von der Wirkung auf die Ursache 153. Verhältnis der literarischen und der historischen Quelle 154. Gesamtergebnis des ersten Teils 156. Zweiter Teil. Sokrates und die Philosophie. Erstes Kapitel. Der Sokrates der „Wolken" 157 Das Sokratesbild der „Wolken" und Piatos Widerspruch 157. Letz- terer berechtigt 158. Das Stück will nicht lediglich die Person des Sokrates karikieren 159. Die „Wolken" ein Vorstoß gegen die Aufklä- rungsbewegung 161. Sokrates angegriffen als Haupt der „Modernen" 161. Zweites Kapitel. Sokrates und die alte Philosophie 163 Die Hauptzüge der aristophanischen Zeichnung doch nicht ganz aus der Luft gegriffen 163. Sokrates' Beziehungen zum anaxagoreischen Kreis 165. Sein Verhältnis zur spekulativen Philosophie nach der pla- tonischen Apologie 169. Die Darstellung der xenophontischen Schutz- schrift 170, der Gesprächsammlung 170. Die Notiz Mem. I 6, 14 ins- besondere 172. Xenophons Gewährsmann Antisthenes 175. Der hi- storische Kern des xenophontisch-antisthenischen Zeugnisses 176. So- krates' Drängen auf sachkundiges Wissen 178. Anknüpfung an die praktische Richtung der Sophistik 179, an die koisch-medizinische Be- wegung. Hippokrates 180. Innerer Zusammenhang mit der alten Philo- sophie und Sokrates' metaphysischer Glaube 182. Inhalt. VII Seite Drittes Kapitel. Sokrates und die Sophisten 183 1. Die Darstellung der Apologie 183 Plato und die Sophisten 183. Das Zeugnis der Apologie 184. Wie ist dieses zu verstehen? 185. Behandlung der Sophisten in der Anytos- episode des Menon 185. Die Kallias-Euenosepisode 187. 2. Sokrates und die sophistische Lehrtätigkeit 189 Anerkennung der sophistischen Lehrtätigkeit 189. Sokrates selbst nicht sophistischer Lehrer 191. Zusammenstoß mit Kritias und Charikles 192. Sokrates überhaupt nicht „Lehrer" 193. 3. Die sophistische Bewegung 195 Die Sophistik eine wissenschaftliche Bewegung 195. Im Zentrum steht die Rhetorik 195. Diese die Meisterin aller Wissenschaft 197. Die sophistische „Philosophie" 198. Die Sophisten wissenschaftliche Prak- tiker und Eklektiker, nicht Skeptiker 199. Ihre angebliche dialektische Eristik 200. Der Begründer der Gesprächsdialektik Sokrates 203, der der dialektischen Eristik Antisthenes 204. Die angebliche Skepsis des . Protagoras und Gorgias 207. Protagoras' Metron-Anthropossatz 207. Die drei Thesen des Gorgias 219. Die wissenschaftliche Arbeit der Sophisten 226. Die Sophistik zuletzt eine sittlich-soziale Reformbe- wegung 228. Ethisch-rechtlicher Radikalismus 233. Die beiden natur- rechtlichen Theorien (die rationalistische und die positivistische) 235. Von beiden bei den älteren Sophisten keine Spur 236. Dagegen Hippias Vertreter — nicht Urheber — der rationalistischen Naturrechts- theorie 237. Deren Ursprung. Das Dogma von den „ungeschriebenen" Gesetzen 237. Der Gegensatz Physis-Nomos aus der spekulativen Philosophie erwachsen 239. Verhältnis der Sophisten zu der Theorie 241. Auch die positivistischen Formen der Naturrechtstheorie (Piatos Gorgias, Politeia 1. Teil) gehen nicht auf die Sophisten zurück 243. Revolutionäre Tendenz der sophistischen Bewegung 249. 4. Sokrates und die sophistische Bewegung 253 Xenophons Darstellung 254. Die frühplatonischen Dialoge 255. So- krates' grundsätzliche Stellung zur Sophistik 256. Prinzipieller Gegen- satz an drei Punkten 257. Das traditionelle Bild 260. Viertes Kapitel. Sokrates und die Begriffsphilosophie 262 Die Legende von der sokratischen „Begriffsphilosophie" 262. Die Ent- deckung des Begrifflich-allgemeinen 263. Ist Sokrates der Entdecker gewesen? 264. Die geschichtliche Bezeugung hält der Kritik nicht stand 265. Die Auffassung auch sachlich unhaltbar 273. Anderer Charakter der sokratischen Dialektik im frühplatonischen Schrifttum 279 und in der frühantisthenischen Literatur. Der Dialog „Kleitophon" 283. Wie ist es zu der (aristotelisch-)xenophontischen Annahme einer so- kratischen Begriffsphilosophie und wie zur Anknüpfung der platonischen Ideenlehre an den sokratischen Gedankenkreis gekommen? 287. So- krates auch nicht philosophischer „Kritiker" und „Skeptiker" 293. Gesamtergebnis des 2. Teils und Überleitung 294. VIII Inhalt. Seite Dritter Teil. Das sokratische Evangelium. Erstes Kapitel. Die Tendenz des sokratischen Wirkens 296 Das „Philosophieren" des Sokrates 296. Athen der Schauplatz seines Wirkens 297. Die attische Kultur und das in ihr liegende Lebens- problem 298. Das Evangelium des sittlich-persönlichen Lebens 300. Die sittliche Erlösung 303. Zweites Kapitel. Tugend und Glück 305 Der sokratische „Eudämonismus" und „Utilitarismus" 305. Eudämoni- stische (utilitaristisch-hedonistische) und idealistische Züge in Sokrates' Lebensanschauung 306. Synthese der beiden Tendenzen und ihre Bedeu- tung 313. Feststellung der sittlichen Autonomie 315. Persönliche Vollkommenheit das sittliche Ideal und das Glück 316. Die hedo- nistischen und utilitaristischen Elemente in diesem Licht 318. Die sittliche Autarkie 320. Das Problem und seine sokratische Lösung 320. Die sittliche Freiheit in der Sokratik (Antisthenes, Xenophon, Aristipp, Plato) 322. Die sittliche Freiheit und ihr Verhältnis zum menschlichen Güterbegehren bei Sokrates 329. Energistischer Cha- rakter des sittlichen Glücks: Eupraxie 332. Unabhängigkeit vom Erfolg des Handelns 333. Tragweite des Gedankens der sittlichen Autarkie 334. Noch einmal der sokratische Eudämonismus 335. Sokrates und Kant 336. Drittes Kapitel. Der Satz vom Tugendwissen 339* ■s Sokrates' angeblicher Intellektualismus 339. Theoretisierende Ansätze in unseren Quellen 341. Wie erklären sich diese? 343. Der wirkliche Sinn des Satzes 345. Die These des kl. Hippias 345. Der Satz vom Tugendwissen kein psychologisch-ethischer Lehrsatz 346, sondern das Programm der sokratischen Werbearbeit 348, und ein prophetischer Weckruf 350. Das Wesen des sittlichen Wissens 350. Die dominie- rende Stellung des sittlichen Wissens 356. Niemand tut absichtlich Böses 357. Beziehung zum Satz vom Tugendwissen 358. Viertes Kapitel. Die sokratische Dialektik 358- ' Das sittliche Wissen und die sokratische Dialektik 358. Die sophistische Lehrtätigkeit und die sokratische Werbearbeit 358. Die Gespräche des Sokrates und die Dialektik der sokratischen Schulen 361. Mannig- faltigkeit und Beweglichkeit der sokratischen Unterredungen 362. Wissenschaftliche Themata? 364^ Der eine Grundton 365. Die Schilderung in der Alkibiadesrede 365.' Die Elenktik 366. Die sokratische Ironie 367. 1 Das sokratische Nichtwissen 368. Weckung der Selbsterkenntnis 369. Die positive Protreptik 370. Verhältnis der beiden Gesprächsstadien 371. Dialektische Hilfsmittel 372. Eristisches Gepräge dieser Unter- redungen 372. ■ Die „logischen Verdienste" des Sokrates 373. J Die definitorische Frage 374. Der Rekurs aufs Allgemeine 375. Induktionen Inhalt. IX Seite und Analogieschlüsse 376. Dichtererklärung 377. Das Ganze der s sokratischen Dialektik 382. Fünftes Kapitel. Der Inhalt des sokratischen Lebensideals 382 Formaler Charakter des sokratischen Ideals 382. Läßt sich ihm in So- krates' Sinn ein bestimmter Inhalt geben? 383. Streit hierüber in der sokratischen Gemeinde 383. Die Meinung des Sokrates selbst 386. Der prinzipielle Hintergrund von Sokrates' konkretem Lebensideal: seine humane Moral 388, sein sittlicher Individualismus 389, die Säku- larisation der sittlichen Normen 391. Das konkrete Lebensideal selbst 391. Die Grundlage: sachverständiges Wissen 393. Sokrates' Interesse an der „Wissenschaft" und der Streit um diese unter den Sokratikern 398. Die Naturseite des menschlichen Lebens 399. Die sexuellen Dinge und die Knabenliebe 399. Sokrates' soziales Interesse 403. Sein soziales Ideal 404. Die Freundschaft 406. Die gesellschaftlichen Or- ganisationen und Ordnungen. Stellung zum Nomos 408. Familie und Ehe 412. Der Staat 415. Kritik am bestehenden (attischen) Staat 417. Aristokratie der Wissenden 420. Neue Gliederung und Gestaltung der Gesellschaft 422. Der sittliche Wert der Arbeit 424. Die platonische „Politeia" und Sokrates' politisch-soziales Denken 426. Das individuell- soziale Lebensideal und das absolute Ideal persönlicher Vollkommen- heit 427. Sechstes Kapitel. Sokrates und die Religion 427 Sokrates' religiöser Glaube 427. Das Problem der Theodicee und seine Lösung durch Sokrates 428. Sein ethisch-religiöser Glaube 429. Sein Vorsehungsglaube 430. Die xenophontische Vorsehungslehre 430. Ihr sokratischer Kern. Zeugnis der platonischen Apologie 432. Trag- weite des sokratischen Vorsehungsglaubens 435. Stellung zum Un- sterblichkeitsglauben 435. Stellung zur Staatsreligion 436. So- krates' „Theologie" 436. Die Götter des athenischen Staats 438. Kritik 439. Abneigung gegen die rationalistische Umdeutung der mythischen Gestalten und Erzählungen 440. Der eine Gott und die vielen Götter 443. Erfüllung der kultischen Pflichten 445. Das Berufsbewußt- sein des Sokrates und sein Daimonion 447. Sokrates hat sich keine außerordentliche Mission zugeschrieben 447. Das Daimonion 450. Die xenophontische Auffassung und die späteren Deutungen 450. Die platonische Darstellung 454. Ihr Verhältnis zur xenophontischen 456. Das Wesen des Daimonions 457. Sein Verhältnis zum sokratischen Berufsbewußtsein 462. Siebentes Kapitel. Die Katastrophe 463 Sokrates Jahrzehnte lang unbehelligt geblieben 463. Vorstoß des Kritias 465. Die Anklage 467. Die Motive nicht persönlicher — 468 und nicht politischer Art 470. Die Persönlichkeit des Hauptgegners Anytos und sein Operationsplan 471. Sokrates' Verhalten 474. Die Situation für ihn nicht ungünstig 475. Die Gerichtsverhandlung 477. Die Ver- X Inhalt. Seite handlung über die Schuld. Die Schuldigsprechung 477. Die Verhand- lung über das Strafmaß. Das Todesurteil 482. Das Motiv für Sokrates" Vorgehen in diesem Verhandlungsstadium 485. Sokrates im Gefängnis 486. Sein Tod 488. Der Streit um das Todesurteil 489. Das Urteil vom Rechtsstandpunkt aus einwandfrei 489. Ebenso auch vom Stand- punkt der geltenden Moral 495. Dennoch sittliches Recht der sokratischen Sache 496. Die Katastrophe in dieser Beleuchtung 498. Vierter Teil. Die Sokratik. Erstes Kapitel. Das Schicksal des sokratischen Werks 499- Die Lage zur Zeit von Sokrates' Tod 499. Geschichtliche Möglich- keiten 500. Abweichen der Sokratesjünger vom Weg des Meisters 501. Der Streit in der sokratischen Gemeinde 502. Zweites Kapitel. Antisthenes 502 Antisthenes im Urteil der Geschichte. Antisthenes und Diogenes 502. Seine Persönlichkeit und sein Wirken in der Nachfolge des Sokrates 504. Das Ideal der inneren Freiheit asketisch gefaßt 506. Stellung zu den natürlich-sinnlichen Bedürfnissen 507. Verwerfung der sozialen und kulturellen Güter 508. Stellung zum Nomos und zu den geschichtlich gewordenen Ordnungen 509. Religiöser Rationalismus 512. Anlehnung dieses Individualismus an das vermeintliche sokratische Vorbild 512. Skeptischer Kampf gegen die Wissenschaft 513. Der kynische For- malismus 515. Drittes Kapitel. Plato und die Sokratik 516 1. Das Werden 516 Plato und Antisthenes 516. Theoretisierende Neigung Piatos 517. Um- bildung des sokratischen sachverständigen Wissens zur Philosophie im „Gorgias" 518. Die Wissenschaft der Inhalt des sittlichen Ideals 519. Wissenschaftliche Betätigung = sittliches Leben (Menon, Euthy- demos) 520. Theoretisch-spekulative Umgestaltung der sittlichen Dia- lektik des Sokrates im Menon 521. Fühlung mit der mystischen Theologie 524. 2. Die Höhe 525- Das Suchen nach Wissenschaft 525. Die Genesis der Ideenlehre 526. Das systematische Motiv 526. Das erkenntnistheoretische Motiv 528. Die Realität der Ideen. Moderne Umdeutungsversuche 528. Der in- duktive Einschlag in der Ideenintuition 537. Das teleologisch-genetische Motiv und die neue „Physik" 538. Logische Gestaltung des Frage- und Antwortverfahrens 540. Die mystisch-psychologische Fundierung im „Symposion" 541. Ideenmetaphysik und mystische Erlösungslehre im Phaidon 542. Ideenspekulation und Dialektik in der Politeia 544. Die politisch-soziale Tendenz 546 Piatos Interesse am Staat 546. Umbildung des sokratischen Staats- und Gesellschaftsideals in Inhalt. XI Seite der Politeia 547. Die Verwirklichung der spekulativen Wissenschaft im Sozialstaat das sittliche Ziel 549. Die Synthese der beiden Ele- mente dieses Ideals, des intellektuell-mystischen und des politisch- sozialen, in Piatos Denken 550. Verhältnis der neuen Philo- sophie zur genuinen Sokratik 551. Völlige Abwendung von dem somatischen Ideal der sittlichen Autonomie und Autarkie 551. An die Stelle der sittlichen Freiheit die transzendent-dualistische Erlösung ge- treten 552. 3. Die spätere Entwicklung 554 Neuer Einsatz im Phädrus 555. Fühlung mit der Rhetorik gesucht 555. Weiterer Ausbau der dialektischen Methode im Kampf mit der eri- stischen Skepsis. Phädrus, (Theätet), Sophistes, Politikos 556. Völliges Dominieren des systematisch-erkenntnistheoretischen Motivs der Ideen- lehre 560. Diskussion über die metaphysische Natur der Ideen und Auseinandersetzung mit den Megarikern. Parmenides, Sophistes, Phile- bos 561. Erwachen des naturphilosophischen Interesses. Die Physik des Timaios 569. Pythagoreisierende Umbildung der Ideenlehre 573. — Ernüchterung des platonischen Lebensideals im Philebos. Das höchste Gut 574- Äußerliche Rückkehr zu Sokrates, die sich aber zu einem Dokument vollendeter Abwendung gestaltet 576. Die „Gesetze" 578. Theologische Erstarrung der platonischen Mystik 580. Ergebnis: die Abkehr von Sokrates endgültig geblieben 580. Plato und die So- kratik 581. Viertes Kapitel. Der weitere Verlauf des Streits 581 Bedeutung des Kampfes 581. Der weitere Verlauf 582. Euklid 582. Aristipp 583. Der Streit um die Lust 585 Piatos Verhalten 585 Ver- mittlungsversuch im Philebos 586. Endgültiges Auseinandertreten zweier Richtungen in der Sokratik 588 Die Rolle der Memorabilien 588. Charakter des Streits in der späteren Zeit 589. Fünftes Kapitel. Aristoteles 590 Die Akademie 590. Umbildung der platonischen Sokratik durch Aristo- teles, den Mann der Wissenschaft und gelehrten Theoretiker 591. Seine Anfänge. Dialektische und rhetorische Betätigungen 593. Eintritt in die Kontroversen der Zeit. Der Kampf gegen die logische Skepsis 596. Die methodologische Arbeit 597. Die erkenntnistheoretisch- apologetische Arbeit Denkgesetze und vierfache Seinsunterscheidung 598 Umbildung der Ideenlehre in die Begriffsmetaphysik 599 Das Werden der aristotelischen Weltanschauung 602. Aristoteles der For- scher und der Philosoph 602. Sein Lebensideal. Annäherung an den Standpunkt der griechischen Vulgärmoral 604 Dennoch geriert er sich als Träger der sokratischen Tradition und als Vollender der So- kratik 605. Das der letzte Schritt der Abkehr vom geschichtlichen Sokrates 607. XII Inhalt. Seite Sechstes Kapitel. Die Stoa und der Ausgang 607 Die Situation zu Anfang der hellenistischen Zeit. Die peripatetische Schule 607. Die praktisch-skeptischen Sokratikerschulen und das Ideal der inneren Freiheit in der hellenistischen Periode 609. Epikur 609. Die Stoa 610. Zusammenhang der alten Stoa mit der Kynik 611. Das heraklitische und das sokratische Element ihrer Welt- und Lebensanschauung. Die sokratische Tendenz 612. Halbheit. Haften- bleiben an der kynischen Einseitigkeit 612. Zwei wesentliche Modi- fikationen 614: Wiederaufnahme der Wissenschaft 615 und soziale Ele- mente der stoischen Ethik 616. Ferner: die schätzenswerten Dinge, die mittleren Pflichten und die berechtigten Affekte 617. Die Konse- quenzen nicht gezogen 619. Kompromißcharakter der ethischen Ge- samtanschauung der Stoa 620. Die mittlere Stoa 620. Die spätere Stoa 621. Das sokratische Verdienst der Stoa und ihr geschichtlicher Einfluß 623. Heraufziehen der dualistisch - transzendenten Mystik. Schließlicher Sieg Piatos 623. Das Sokratesbild und der Sokratesname in dieser späteren Zeit 625. Sokrates und Christus. Das Verhalten der heidnischen Philosophie 626. Das Christentum. Christus an die Stelle von Sokrates getreten 627. Die sokratische Sache in den fol- genden Jahrhunderten. Die Gegenwart 627. Register 629 , Immer noch ist für uns die Gestalt des Sokrates ein Problem. Und fast will es scheinen, ein hoffnungsloses. Daß der Einfluß dieser Persönlichkeit auf die alte Welt ein ungeheurer war, ist sicher. Man mag es für eine Übertreibung halten, wenn ein neuerer Historiker allen Ernstes die Meinung geäußert hat, die einzigartige Stellung, die die griechische Nation in der Geschichte der Menschheit einnehme, beruhe doch in letzter Linie auf So- krates. 1 ) Daß diese Einschätzung aber doch ein gut Teil Wahr- heit enthält, ist nicht zu leugnen. Und auch d i e Empfindung will sich nicht unterdrücken lassen, daß hier einer der ganz Großen vor uns steht, einer von denen, die nicht bloß für ihre Zeit und ihr Volk und nicht bloß für Jahrhunderte gelebt haben, die viel- mehr ihre Bedeutung behalten werden, so lange es Menschen gibt. Immer wieder hat man Sokrates mit Jesus zusammengestellt. Und wenn irgend eine geschichtliche Parallele berechtigt ist, so ist es diese. Wer den innersten Kern der modernen sittlichen Kultur begreifen will, wird zuletzt unfehlbar auf diese beiden Persönlichkeiten treffen, auf Sokrates und Jesus. Aber wenn es schwer ist, die Gestalt Jesu in dem Nebel der alten Tradition zu fassen, so scheint das Bild des geschichtlichen Sokrates durch die literarische Überlieferung ganz und gar verschüttet zu sein. Noch ist es freilich nicht allzu lange her, daß man anders geurteilt hat. Damals pflegten die Kritiker des Lebens Jesu von ihrem Standpunkt aus zu klagen, wie viel günstiger die geschicht- liche Forschung doch mit Sokrates daran sei. Während das Bild ') E. Meyer, Geschichte des Altertums IV S. 461. H. Maier, Sokrates. 2 Einleitung. Jesu im Dunkel des Mythus, der Legende und der Tendenz- dichtung völlig zu versinken drohe, liege Sokrates' Leben und Wirken im vollen Lichte der Geschichte. Heute hat sich die Situation total verschoben. Der historischen Kritik gelingt es mehr und mehr, aus den Spruch- und Erzählungssammlungen der drei ersten Evangelien wesentliche Züge des geschichtlichen Jesus herauszuarbeiten, und es erscheint jetzt nicht mehr als eine unlösbare Aufgabe, den Schleier, den der fromme Glaube der ersten Gemeinde um die Gestalt ihres Meisters gewoben hat, zu lüften. Dagegen ist uns der historische Sokrates heute ferner gerückt als je. So erschreckend umfangreich die Sokratesliteratur ist, Licht hat sie wenig gebracht. Keines der unzähligen Sokrates- bilder, wie sie jahraus jahrein, von Gelehrten und Ungelehrten, von Berufenen und Unberufenen entworfen werden, hat das Pro- blem gelöst. Und immer noch kehren die naiven Versuche wieder, durch Eintragung der eigenen Gedanken, Stimmungen und Ideale in die geschichtliche Überlieferung den „echten" So- krates zu gewinnen. Wir lächeln heute über die verschollenen Sokratestypen früherer Zeiten: über den Aufklärungssokrates Mendelssohns, den gemäßigt deistisch denkenden Popularphilosophen, den edlen und tugendhaften Menschenfreund, der schließlich dem ruchlosen Bunde heuchlerischer Theologen und gottesleugnerischer Sophisten zum Opfer fiel; über den Sokrates der Kantianer, den Kritizisten, der durch seine Dialektik und Moral der philosophische Zucht- meister auf Kant geworden ist; über den Sokrates der Romantiker, den reaktionären Träumer, den religiös-gläubigen Mystiker, der durch die Vorsehung berufen war, die Gelehrten auf Christus vorzubereiten — und auch der Sokrates Hegels, der grund- sätzlicheRationalist und Subjektivist, in dessen Philosophie sich end- gültig der Bruch mit dem alten Glauben, mit der objektiv un- mittelbaren Sitte und Moral der Väter vollzog, erscheint uns als eine unhaltbare Geschichtskonstruktion. Aber sind wir denn seit- dem einen wesentlichen Schritt weitergekommen? Insofern ja, als wir heute wenigstens gewohnt und imstande sind, die Sokratesbilder, die nicht in geschichtlicher Forschung er- arbeitet, sondern aus der idealschwangeren Phantasie suchender Menschen herausgeboren sind, sofort dahin zu verweisen, wohin Einleitung. 3 sie gehören, ins Land der Dichtung. Die historische Forschungs- arbeit selbst aber hat nur neue Schwierigkeiten zutage gefördert. Der Streit um Sokrates ist heute heftiger als je; und auch auf wissenschaftlichem Boden gehen die Auffassungen weit ausein- ander. Wohl sah es in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts so aus, als habe die historische Kritik wenigstens einige sichere Ergebnisse unter Dach und Fach gebracht, und es schien doch eine Grundlage gewonnen zu sein, auf der sich eine baldige Einigung, eine schließliche Lösung des Problems erhoffen ließ. Heute sind auch diese Errungenschaften wieder in Frage gestellt. Wenn wir ehrlich sein wollen, müssen wir uns gestehen: vor dem Haupträtsel, vor der unmeßbaren historischen Wirkung des So- krates, vor der weltgeschichtlichen Größe des wunderbaren Mannes stehen wir heute ratloser als je zuvor. Und bei jedem neuen Versuch, uns diese Persönlichkeit nahe zu bringen, kehrt der Eindruck wieder: so kann der Mann nicht gewesen sein, der so in die Tiefe und in die Weite gewirkt hat 1 ). Wird es uns ge- lingen, einen Weg zu finden, der wirklich zum Ziele führt? ') Zu den älteren Sokratesdarstellungen s. S. Ribbing, Sokratische Studien, Upsala 1870, I S. 3ff., ferner: A. Döring, Die Lehre des Sokrates als soziales Reformsystem, München 1895, S. 5 ff.; mit einigen der neuesten Darstellungen setzt sich R. Pöhlmann in der Abhandlung: Sokratische Studien, Sitzungsberichte der philos -philol. und der historischen Klasse der k. b. Ak. der Wissensch., München 1906, S. 49 ff. auseinander. Vgl. ferner die Jahresberichte im Archiv für Gesch. der Philosophie. Erster Teil. Die Quellen. Erstes Kapitel. Das Problem und seine traditionelle Lösung. Die Hauptschwierigkeit ist bekanntlich die Quellenfrage. Sokrates selbst hat nichts geschrieben. Wir können darum auch über das was er gedacht und „gelehrt" hat nur durch Mitteilungen aus zweiter und dritter Hand Aufschluß erhalten. Nun sind aus dem späteren Altertum zahlreiche Nachrichten über den Mann und sein Werk auf uns gekommen. Aber es gehört nicht eben viel philologisch-historische Kritik dazu, um zu sehen, daß dieses Material zum größten Teil außer Betracht bleiben muß. Der Klatsch der Philosophen- und Philologenschulen des Altertums hat sich der Person des Sokrates mit ganz besonderer Liebe an- genommen. Und auch der geschichtlich wertvolle Kern, den wir aus dem Wust des überlieferten Anekdoten- und Apophthegmen- krams herausschälen können, ist nicht derart, daß er uns an irgend einem wesentlichen Punkt über das hinausführen könnte, was sich den alten Quellen über die Persönlichkeit und Wirksam- keit des Sokrates entnehmen läßt 1 ). So sind wir im wesentlichen *) Anders stünden die Dinge natürlich, wenn Sokrates Schriften geschrieben hätte, die uns nur verloren gegangen wären. Dann müßten wir damit rechnen, daß die Späteren ihr Material aus jenen geschöpft hätten. So aber bleibt nur noch eine Möglichkeit, die uns weiter führen könnte: die nämlich, daß die spä- teren Berichterstatter für ihre Mitteilungen Schriften von unmittelbaren Sokrates- jüngern (wie z. B. Antisthenes, Euklid, Aristipp, Äschines u. a.) oder sonstige zeit- genössische Quellen, die wir nicht mehr besitzen, verwendet haben. Aber was Das Quellenproblem und seine traditionelle Lösung. 5 auf die letzteren angewiesen, auf Plato, Xenophon und Aristo- teles i). Und eben hier liegt der Streitpunkt. Unsere beiden Haupt- gewährsmänner sind Xenophon und Plato. Es ist aber bekannt, wie weit ihre Sokratesbilder auseinanderliegen. Wer von den beiden nun gibt uns den wirklichen Sokrates? Oder kann über- haupt keiner als geschichtlich zuverlässige Quelle gelten? Wel- chen Wert endlich hat das Zeugnis des Aristoteles? Bis vor kurzem schien eine endgültige Lösung der Quellen- frage auf folgender Grundlage möglich. Daß der Sokrates der platonischen Dialoge, der Begriffsdichter der Ideenlehre, der Sozialphilosoph der Politeia, nicht der wirk- liche Sokrates sei, stand fest. Als die hauptsächliche Quelle galten vielmehr Xenophons Memorabilien. Diese führen sich als eine nachträgliche Verteidigungsschrift für Sokrates ein. Ihrem eigentlichen Inhalt scheint aber ihr Titel am ehesten zu entsprechen: sie scheinen wirklich sokratische Denkwürdigkeiten zu sein, Erinnerungen an den Meister, dem auch Xenophon ernste und nachhaltige Eindrücke verdankte. Im wesentlichen so wurde das Büchlein denn auch verwendet und ausgeschöpft. Indessen konnte man sich das unglaublich niedere Niveau, auf dem Charakteristik und Gedankengehalt der Memorabilien stehen, und die Armseligkeit und geistige Dürftigkeit des Sokrates, der uns hier entgegentritt, nicht mehr verhehlen, sobald man an- fing, der traditionellen Bewunderung für Xenophon Herr zu werden. War das der wirkliche Sokrates, so konnte man nicht umhin, für wir auf diesem Wege mit einiger Sicherheit über Sokrates selbst erfahren können, ist verschwindend wenig. In der weitaus größten Zahl der Fälle ist es nicht möglich, so auf die letzte Quelle zurückzugehen. Und auch da, wo wir etwa schließlich auf Antisthenes, Äschines u. s. f. stoßen, treffen wir in der Regel nur auf Fragmente aus ?.6yoi ZwxQaxiy.oi, deren Beziehung auf den historischen Sokrates, wie wir sehen werden, nicht ohne weiteres erlaubt ist. Daß wir immer- hin das antisthenische, euklidische, aristippische, äschineische Material, das wir in dieser Weise erhalten, mittelbar auch für die Sokratesforschung verwerten können, wird sich später zeigen. Im ganzen kann als Norm gelten, daß gegenüber den Notizen der Späteren über Sokrates die äußerste Vorsicht geboten ist. *) Selbstverständlich ist, daß wir auch nichtsokratischen Autoren, die der Generation des Sokrates oder der unmittelbar folgenden angehören (wie z. B. Isokrates und Lysias), manches entnehmen können. 6 Die Quellen. die Athener einige Sympathie zu empfinden, daß sie sich dieses aufdringlichen Pedanten, dieses philisterhaften Schulmeisters, dieses langweiligen Tugendspiegels und unerträglichen Tugendschwätzers um jeden Preis entledigen wollten. Aber auch wohlwollende Kritiker mußten sich sagen, daß der Verfasser dieses Buches seiner Aufgabe nicht gewachsen war. Der brave, gottesfürchtige, orakel- gläubige, bedürfnislose und gegen sich selbst harte Sokrates, der nie müde wurde, den jungen Leuten Gehorsam gegen die Autori- täten, gegen Eltern und Staat zu predigen und der um sich grei- fenden Sittenverderbnis zu steuern, dieser temperamentlose, alt- modische, in jeder Hinsicht korrekte Musterbürger konnte nicht wohl der Mann sein, der auf die bedeutendsten Geister seiner Zeit so tiefe und dauernde Wirkung geübt hat 1 ). Vielleicht hatte Xenophon den besten Willen, das Bild des Meisters mit pietätvoller Treue zu zeichnen. Aber nach seiner ganzen Vergangenheit und Begabung war er nicht imstande, dem Tiefsinn und der Größe dieses Mannes ganz gerecht zu werden. Xenophon war wohl nicht mehr allzu jung — wahrscheinlich schon Mitte der Zwanziger — gewesen, als er mit Sokrates in Verkehr getreten war 2 ). Bis dahin hatte er zur jeunesse doree ') Sehr nachdrücklich hat sich Th. Klett in seiner Abhandlung: Sokrates nach den xenophontischen Memorabilien, Cannstatt 1893, in diesem Sinne aus- gesprochen. 2 ) Über die Chronologie von Xenophons Leben läßt sich Sicherheit leider nicht erreichen. Das Geburtsjahr wurde früher auf Grund der Angabe über Xenophons äx/j.7) bei Diogenes II 55 auf 440 angesetzt, oder gar, mit Rücksicht auf die Erzählung, daß Sokrates dem Xenophon bei Delion das Leben gerettet habe, noch weiter hinaufgerückt. Davon ist man heute ziemlich allgemein zu- rückgekommen. Im Hinblick auf die Äußerungen in der Anabasis (III 1, 14. 25 u. ö.), nach denen er zur Zeit des Rückzugs der Zehntausend noch nicht 30 jährig gewesen sein kann, — vgl. ferner Athen. V p. 216 d — ist anzunehmen, daß Xenophon Anfang der zwanziger Jahre geboren ist. — Wann er zu Sokrates in Beziehungen getreten ist, läßt sich noch weniger bestimmt sagen. Christ-Schmid (Geschichte der griech. Literatur I 6 S. 494) geht davon aus, daß die datierbaren unter den Gesprächen der Memorabilien, für die der Verfasser die Ohrenzeugen- schaft ausdrücklich in Anspruch nimmt, in die Jahre von 404 ab fallen. Allein einmal sind diese Daten doch gar zu spärlich; sodann wird der Schluß, daß Xenophon erst von 404 ab mit Sokrates verkehrt habe, natürlich ganz un- sicher, wenn man die Bemerkungen des Autors über seine Ohrenzeugenschaft für Fiktionen hält und hinzunimmt, daß das Symposion trotz der Versicherung des Verfassers, daß er Teilnehmer gewesen sei, ins Jahr 422 verlegt ist. Immer- Das Problem und seine traditionelle Lösung. 7 Athens gehört. Er war ein eifriger Sportsmann, ein gewandter Jäger und Reiter und, wie es scheint, auch in galanten Abenteuern nicht unerfahren. Wenigstens war er wegen seiner Schönheit ge- feiert, und er selbst hörte nicht ungern davon reden. Zu den noblen Passionen aber gesellten sich politische Neigungen und Abneigungen, eine ausgesprochene Vorliebe für das aristokratisch verfaßte Sparta und. eine tiefe Verachtung für den athenischen Demos. Vielleicht führten ihn schon solche Stimmungen in die Nähe des Sokrates. Aber es gehörte damals in dem geistig an- geregten Teil der vornehmen Welt überhaupt zum guten Ton, mit dem merkwürdigen Sonderling Berührung zu suchen. Und weiche, eindrucksfähige Naturen wie Xenophon vermochten sich dem Zauber dieser Persönlichkeit nicht zu entziehen. Es fehlte dem jungen, gutgearteten Lebemann weder an Geist noch an ernstem Streben. So ging sein Verhältnis zu Sokrates weit über das bei seinen Standesgenossen übliche Maß oberflächlicher und vorübergehender Beziehungen hinaus. Zu den Intimen des sokratischen Kreises hat er indessen sicher nicht gehört 1 ). Und hin läßt sich feststellen, daß die Memorabilien in der Durchführung der Fiktion wenigstens insofern behutsamer sind, als sie sich hüten, „selbstgehörte" Gespräche in eine Zeit zu verlegen, in der Xenophon noch nicht zum sokratischen Kreis gehört haben kann. Lehrreich ist in dieser Hinsicht die Umarbeitung der Kritobulosepisode (s. unten S. 30 f.), aus der jedenfalls auch so viel hervorgeht, daß der Verkehr Xenophons mit Sokrates erst lange nach 422 begonnen haben kann. Im ganzen werden wir sagen können: ein bestimmtes Anzeichen dafür, daß Xenophon schon längere Zeit vor der Mitte des letzten Jahrzehnts des 5. Jahr- hunderts mit Sokrates in Verbindung getreten wäre, haben wir nicht, und die innere Wahrscheinlichkeit geht durchaus dahin, daß dies nicht der Fall war. *) Den Gegnern der sokratischen Gemeinde scheint Xenophon überhaupt nicht als Schüler des Sokrates gegolten zu haben. Sonst hätte Polykrates schwer- lich versäumt, auch diesen Spartanerfreund, gegen den kurz zuvor — im Jahre 394 fand die Schlacht von Koronea statt; bald nach 393 ist das Pamphlet des Polykrates geschrieben (vgl. unten S. 23) — von der athenischen Volksversamm- lung wegen Hochverrats das Verbannungsdekret erlassen worden war, den So- kratikern anzuheften. Xenophon selbst übrigens hatte das Bedürfnis, den Vor- würfen, die dem Meister in dieser Hinsicht gemacht werden konnten, vorzubeugen. Er erzählt (Anab. III 1, 4 ff.), wie er, als die Aufforderung, ins Lager des Kyros zu kommen, an ihn gelangt sei, mit Sokrates darüber Rücksprache genommen habe; dieser aber habe einen Anschluß an Kyros, der als Freund der Lake- dämonier und Feind der Athener galt, vom Standpunkt des athenischen Interesses aus für unzulässig gehalten und ihn veranlaßt, das delphische Orakel zu befragen; 8 Die Quellen. allzu lange hatten diese Beziehungen zu dem Meister auch nicht gedauert. Wenige Jahre nur war er Sokrates' Schüler gewesen, als ihn die Abenteuerlust in die Ferne trieb. Und am Hof des jüngeren Cyrus, der gegen seinen königlichen Bruder zu Felde zog, im Feldlager und im Verkehr mit Aspasia, Cyrus' schöner Nebenfrau, hat Xenophon schwerlich dem Kultus sokratischer Weisheit gelebt. Als dann die Schlacht von Kunaxa (401) der kurzen Herrlichkeit ein rasches Ende machte, da zog er mit den zehntausend Griechen ans schwarze Meer, und wenn wir seiner eigenen Schilderung glauben dürften, wäre er der gute Geist der kühnen Schar gewesen, die seiner soldatischen Umsicht und Energie allein die schließliche Rettung zu danken hatte. Auch jetzt aber zog es ihn nicht nach Athen, zu Sokrates zurück. Er schloß sich dem Spartanerkönig Agesilaos an und blieb in seiner Nähe eine Reihe von Jahren, zunächst in Kleinasien, dann in Griechenland. In seiner Umgebung machte er noch die Schlacht von Koronea (394) gegen die Thebaner mit. Damit aber versperrte er sich, da Theben mit Athen im Bunde war, die Rückkehr in die Heimat. Er zog sich bald darnach als Verbannter auf ein Landgut bei Skillus zurück 1 ). Und hier begann er, zwischen seine ländlichen er, Xenophon, habe den Rat befolgt, aber in einer Weise, die ihm zwar mittel- bar die Zustimmung des Gottes eingetragen, aber nicht die Billigung des So- krates gefunden habe. Dieser ganze Bericht ist nun freilich nicht unverdächtig. Was der Autor gleich nachher beibringt, um sein abenteuerliches Unternehmen zu beschönigen, ist wenig glaubhaft. Als sicher historisch kann gelten, einmal, daß Sokrates mit der Absicht des Xenophon nicht einverstanden war, sodann, daß er ihn an das delphische Orakel verwies, und endlich, daß Xenophon den Rat des Sokrates in einer nicht eben loyalen Weise befolgte und die Absicht des Meisters damit vereitelte. Daß Xenophon diese ganze Episode aus sokratisch- apologetischen Gründen erfunden habe, ist wenig wahrscheinlich. Aber auch die Erwägung, auf die er Sokrates seinen Rat gründen läßt, braucht man nicht not- wendig aus einem Wunsch des Autors herzuleiten, dem des Lakonisierens ver- däcntigen Meister ein Zeugnis patriotischer Korrektheit auszustellen. Das Na- türlichste ist doch, daß man alle diese Notizen für historisch nimmt. Möglich ist immerhin, daß Xenophon manches — und Wesentliches — verschwiegen hat. Den Eindruck erhält man aus dieser Erzählung in jedem Fall mit voller Be- stimmtheit: daß Xenophon mit Sokrates in keinem sehr intimen Verhältnis stand; einem Vertrauten gegenüber hätte Sokrates sich in diesem Fall ganz sicher anders ausgesprochen, und wir können hinzufügen: ein Intimer des sokratischen Kreises hätte sich nicht in dieser hinterhältigen Weise benommen. ') Nach anderer Ansicht wäre letzteres erst nach 387 geschehen. Das Problem und seine traditionelle Lösung. 9 Beschäftigungen hinein, zu Schriftstellern. In diesen Skillunter Jahren nahm er auch die Memorabilien in Angriff. War zu erwarten, daß ein Mann von solcher Art die Per- sönlichkeit und das Werk des Sokrates ganz zu verstehen und zu würdigen vermochte? Der Schwerpunkt seiner Interessen und seiner Begabung lag weit ab von dem sokratischen Gedankenkreis. Und daß auch die kurze Episode seines Verkehrs mit dem Meister aus ihm keinen Anderen, keinen verständnisvollen Jünger zu machen vermocht hat, zeigt der weitere Verlauf seines Lebens. Ein Mann, der von Sokrates' Wort wirklich gepackt war, hätte Besseres zu tun gewußt, als einem aufständischen Barbarenprinzen nachzulaufen und dann noch lange Jahre in einem zwecklosen Abenteurerleben zu vergeuden. War ferner anzunehmen, daß dem Autor in all diesen Jahren die Erlebnisse mit Sokrates treu im Gedächtnis haften geblieben seien? Schriftliche Aufzeichnungen lagen ihm nicht vor. Sonst hätte er schwerlich versäumt, sich auf sie zu berufen. War also nicht schon darum der Bericht der Memorabilien in seinen Einzelheiten in weitem Umfang verdächtig? So wie so also war Xenophon als historischer Berichterstatter über Sokrates unzulänglich. Und selbst die Absicht, wirkliche Erinnerungen an Sokrates zu schreiben, gab — wenn sie wirklich bestand — nicht einmal die Gewähr, die man auch bei kritischer Beurteilung der Leistung des Autors müßte voraussetzen können. Mit ihr konkurrierte nämlich eine in den Memorabilien sehr stark hervortretende apologetische Tendenz. War nicht am Ende die historische Treue auch durch die Absicht, Sokrates gegen seine Ankläger und Verleumder zu verteidigen, beeinträchtigt? Alles in allem: man mußte damit rechnen, daß das Sokrates- bild der Memorabilien nicht bloß lückenhaft und vielfach un- genau, sondern daß es auch an wesentlichen Punkten völlig ver- fehlt war. Unter diesen Umständen schien es eine glückliche Fügung, daß man auf das Zeugnis Piatos doch nicht ganz zu verzichten brauchte. Einmal ließ sich annehmen, daß Plato in seinen literarischen An- fängen dem Gedankenkreis des geschichtlichen Sokrates noch nicht allzu ferne stand. Nun ließ sich von der Apologie mit einiger Sicherheit sagen, daß sie nicht lange nach dem Tod des Sokrates verfaßt sei, und wahrscheinlich war, daß einige kleinere 10 Die Quellen. Dialoge, die in ihrem Gedankengehalt den großen spekulativen und staatsphilosophischen Schriften ferne stehen, derselben Zeit angehören. Es schien sich also immerhin ein Kreis von plato- nischen Schriften zu ergeben, die die Sokratesforschung verwerten durfte. Gewonnen war damit freilich noch nicht viel. Man fand, daß diese Arbeiten noch jugendlich unfertig und nach ihrem philosophischen Lehrinhalt äußerst dürftig seien. So war aus ihnen nicht allzu viel zu lernen. Allein war es denn wirklich notwendig, alle späteren Dialoge ganz zu ignorieren? Daß Plato die eigenen Gedanken dem Sokrates in den Mund legte, schien doch nur möglich, wenn er überzeugt war, im Sinne des Meisters zu reden, wenn er glauben konnte, daß seine eigene Tätigkeit und Schriftstellerei die Verwirklichung eines sokratischen Pro- gramms sei. War also nicht wenigstens ein gewisser Rückschluß von dem platonischen auf den geschichtlichen Sokrates möglich? Die Frage war nur, auf welche Weise das platonische Zeugnis nutzbar zu machen war. Offenbar war das, worin Plato und Xenophon übereinstimmten, historisch zuverlässiges Quellen- material. Allein das war zu wenig. Man mußte versuchen, Plato in einem größeren Umfang heranzuziehen. Wie das aber ge- schehen sollte, war in der bekannten Formel Schleiermachers ausgesprochen. Man solle fragen, so fordert diese: „was kann Sokrates noch gewesen sein neben dem, was Xenophon von ihm meldet, ohne jedoch den Charakterzügen und Lebensmaximen zu widersprechen, welche Xenophon bestimmt als sokratisch aufstellt, und was muß er gewesen sein, um dem Piaton Veranlassung und Recht gegeben zu haben, ihn so, wie er tut, in seinen Gesprächen aufzuführen?" *) Das war nun freilich ein unsicherer Boden. Der subjektiven Willkür historischer Kombinationen schien wieder Tür und Tor ge- öffnet. Allein hier boten die aristotelischen Notizen über So- krates ein Kontrollmittel. Diese waren an sich spärlich und in- haltlich wenig ergiebig. Aber sie konnten als Norm dienen für die Feststellung des Maßes, in dem Plato sich zur Ergänzung und Korrektur Xenophons verwerten ließ. Und sie mußten um so wertvoller erscheinen, da sie auch als Kriterien zur Prüfung der !) Fr. Schleiermacher's sämtl. Werke III 2, S. 297 f. Das Problem und seine traditionelle Lösung. 11 historischen Zuverlässigkeit der Memorabilien benutzt werden konnten. Damit schien die Quellenfrage geklärt: Xenophon konnte als Hauptquelle dienen, Plato subsidiär verwendet werden, und an der Hand der aristotelischen Notizen ließ sich die Treue der xenophontischen Auffassung kontrollieren und das Maß der ge- schichtlichen Verwendbarkeit der platonischen Darstellung fest- stellen. Auch in diesem Rahmen freilich war für auseinandergehende Meinungen noch ein weiter Spielraum. Der historische Wert des xenophontischen Berichtes wurde immer noch recht verschieden eingeschätzt. Insbesondere aber bewegte sich die Verwendung Piatos zwischen weit auseinanderliegenden Grenzen 1 )- Von den aristotelischen Notizen war für diese Differenzen keine Aus- gleichung zu erwarten. Schon darum fielen auch auf der neuen Grundlage die Sokratesauffassungen noch sehr verschieden aus. Zwar schien es eine Zeit lang fast, als vermöge sich ein Sokratesbild aus dem Streit der Meinungen zu allgemeiner An- erkennung emporzuringen. Darnach wäre Sokrates der „Entdecker" des „Grundsatzes des begrifflichen Wissens" gewesen, der An- leitung gab, überall scharf umrissene, fest bestimmte Allgemein- begriffe zu suchen, da er der Überzeugung war, daß in ihnen der Kern, der wirkliche Seinsgehalt der Dinge zum Ausdruck komme; der Begründer der Begriffsphilosophie, der aber für seine eigene Person sich auf die Gewinnung ethischer Definitionen beschränkte; der Ethiker, der in intellektualistischer Einseitigkeit das Wissen als den wesentlichen Bestandteil der Tugend betrachtete, aber durch dialektische Erarbeitung ethischer Begriffe in seiner Vater- stadt eine sittliche Reform heraufzuführen bestrebt war 2 ). *) Sehr niedrig eingeschätzt ist der Quellenwert Piatos für die Sokrates- forschung z. B. bei M. Heinze, Der Eudämonismus in der griechischen Philosophie (Abhandlungen der phil. hist. Kl. der K. Sachs. Gesellsch. der W. VIII, 1883), S. 731. Noch weiter geht A. Döring, Die Lehre des Sokrates, 1895, S. 51 ff. 2 ) Das ist die Auffassung E. Zellers, die von sehr vielen Autoren geteilt wird. Was für sie besonders zu sprechen scheint, ist, daß sie in ihren wesent- lichen Zügen durch das aristotelische Zeugnis gedeckt ist. In meiner „Syllogi- stik des Aristoteles" II 2, S. 185 f. habe ich selbst mich einst gleichfalls zu ihr bekannt. 12 Die Quellen. Aber war das wirklich der echte und der ganze Sokrates? Die Bedenken wollten nicht zur Ruhe und der Streit nicht zu Ende kommen. War Sokrates wirklich der Begriffsmetaphysiker, der die Idee des Wissens entdeckte, der im Kampf gegen die Sophistik die Wissenschaft rettete und zu der platonisch-aristote- lischen Spekulation den Grund legte? War er nicht vielmehr der skeptische Dialektiker, der mit seiner alles zersetzenden Kritik zerstörend wirkte, zerstörend freilich, wie ein reinigendes Gewitter? Andere Streitfragen kamen hinzu. War Sokrates jener kühle Rationalist, der den Glauben der Väter vor den Richterstuhl der reinen Vernunft zog und ihm erbarmungslos das Urteil sprach? Oder war er der Religiöse, ja im Grunde Altgläubige, der sich dem Unglauben und der Irreligiosität der neuen Zeit entgegen- stellte, der Mystiker, der an eine übernatürliche Offenbarung, an eine göttliche Stimme im eigenen Innern glaubte? Sodann: war Sokrates der Individualist, der alle sozialen und humanen Werte am individuellen Interesse maß und auch dem Individualis- mus der griechischen Aufklärung nur mit den Einwänden eines klüger rechnenden Egoismus entgegenzutreten wußte, oder war er der Soziale, der der Anarchie, dem politischen Libertinismus sich entgegenstemmte und bereit war, das Glück des Individuums dem gesellschaftlichen Ganzen bedingungslos unterzuordnen? War er der ethische Utilitarier, dem „Gut" und „Schön" sich ganz mit „Nützlich" deckten, oder aber der sittliche Idealist, der dem persönlichen Vorteil und der individuellen Neigung die Pflicht und das Ideal entgegensetzte und im Dienst seines sittlichen Berufes zuletzt den Märtyrertod zu sterben wußte? Und schließlich: war er überhaupt ein Mann der Wissenschaft? und nicht vielmehr ein Praktiker, der lediglich die Früchte der Wissenschaft dem Leben, der Volkserziehung dienstbar machen wollte? Ja, was war Sokrates? War er Philosoph? Ethiker? Meta- physiker? Skeptiker? war er Reformator? Prophet? Popularphilo- soph und Pädagog? Was ließ sich nicht alles aus den Quellen herauslesen! Aber es waren im Grunde nicht einmal die Quellen, über deren Benutzung diese Differenzen entstanden. Das auf dem geschilderten Weg aus Xenophon, Plato und Aristoteles geschöpfte Material selbst war derart, daß die historische Kritik noch reich- Die Memorabilien. 13 lieh zu tun hatte. Schon diejenigen Bestandteile desselben, die Plato und Xenophon gemeinsam waren, waren keineswegs über jeden Zweifel oder auch Verdacht erhaben. Auch da stellte sich immer wieder das Bedenken ein: so kann Sokrates nicht gewesen sein. Aber schließlich lag alles wieder an den xenophontischen Nachrichten. Denn darüber konnte man sich nicht hinwegtäuschen, daß die wenigen aristotelischen Aussagen eine gar zu ungenügende Unterlage für die weitergreifende Benutzung Piatos waren. Die xenophontischen Materialien aber forderten, auch soweit sie weder durch Plato noch durch Aristoteles diskreditiert waren, die Kritik immer aufs neue heraus. Hier lag auch jetzt der Hauptgrund des Streites. Und Xenophon war letzterhand doch wieder für die Mißerfolge der Sokratesforschung verantwortlich zu machen. Zweites Kapitel. Die Memorabilien. An diesem Punkt setzt denn auch der Bruch mit der traditio- nellen Lösung des Quellenproblems ein, der sich in den letzten Jahrzehnten langsam vollzogen hat. Der Sokrates der Memorabilien liegt so weit ab von dem, was sich geschichtlich noch als irgend möglich betrachten läßt, daß man mit der Hypothese von Xeno- phons historischer und philosophischer Unzulänglichkeit unmög- lich auskommen kann. Zugegeben, Xenophon war wirklich der inferiore Geist, den man in ihm sehen wollte, und seine Erinnerung an den Verkehr mit dem Meister war wirklich so mangelhaft, als man vorauszusetzen pflegte: war hieraus allein eine so totale Ver- zeichnung des Sokratesbildes zu erklären? Zunächst suchte man zu helfen, wie man namentlich in den mittleren Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in solchen Fällen zu helfen liebte. Man griff zu dem Allheilmittel der Athetese. Es lag ja nahe, wenn man die Memorabilien für eine historische Quelle halten wollte, die anstößigsten Teile derselben für inter- poliert zu erklären. Das hat vor allem Krohn, der dadurch eine Art Berühmtheit erlangt hat, in solchem Umfang getan, daß er den Bestand der Schrift auf den sechsten Teil des Ganzen zu- 14 Die Quellen. sammengestrichen hat. Heute hält man von derartigen Gewalt- samkeiten nicht mehr viel. Man ist bekanntlich in text- und literarkritischen Fragen konservativer geworden. Was aber dann? Es lag die Frage nahe: will Xenophon in den Memorabilien wirklich biographisches Material geben? will er vorbehaltslos den historischen Sokrates schildern? Oder will er nicht vielmehr, ähnlich wie Plato, unter dem Namen des Sokrates eigene An- schauungen unter die Leute bringen? Sind nicht am Ende die Memorabilien ganz ebenso eine freie Fiktion, wie irgend einer der platonischen Dialoge? Wäre dem so, so würde der xenophontische Sokrates in vollem Umfang verständlich werden. Die Memorabilien könnten nicht mehr als Quelle für die Kenntnis der sokratischen, sondern nur für die der xenophontischen Ansichten dienen. In einem Aufsatz über Phaidon von Elis hat v. Wilamowitz zu- erst diesen Weg beschritten. 1 ) Viele sind ihm seitdem gefolgt. Und ohne Zweifel wäre die Überzeugung von dem fiktiven Cha- rakter der Memorabilien eine sehr viel allgemeinere geworden, wenn mit ihr nicht eine andere Hypothese — die Annahme einer weitgehenden Abhängigkeit Xenophons von der Kynik — ver- quickt worden wäre. Es ist nun freilich nur die Überspannung dieser Annahme, die Bedenken erregen kann und muß. 2 ) Anti- sthenische Spuren lassen sich, wie wir sehen werden, in der Tat in den Memorabilien nachweisen; und wir werden ohne große Mühe auch begreiflich machen können, wie diese Elemente herein- gekommen sind. Allein wie man sich hiezu stellen mag, ist am Ende eine Frage zweiter Ordnung. Die Entscheidung in der Hauptfrage ist davon völlig unabhängig. Und hier ist, glaube ich, das Mißtrauen nicht angebracht. Ein Ergebnis haben die Untersuchungen der letzten zwei bis drei Jahrzehnte in jedem 1 ) Hermes 1879, 14. Bd., S. 192f. Vgl. jetzt auch Wilamowitz' Griechische Lite- ratur des Altertums (Kultur der Gegenwart I 8), 3. Aufl. S. 130. 2 ) Schon bei Ferd. Dümmler (Antisthenica 1882, Akademika 1889) über- schreitet die Antisthenesspürerei die Grenze kritischer Vorsicht, bei Karl Joel, (Der echte und der xenophontische Sokrates, 1893—1901) nimmt sie abenteuer- liche Dimensionen an. So sehr ich indessen die Schädigung bedaure, die diese Übertreibungen für die Diskussion des Memorabilienproblems zur Folge gehabt haben, so wenig darf das Verdienst der beiden Forscher um die Klärung des letzteren unterschätzt werden. Ich selbst verdanke insbesondere auch dem JoeTschen Buche manche Förderung. Die Memorabilien. 15 Fall zu tage gefördert: als historisch-biographisches Dokument können die Memorabilien nicht mehr gelten. 1 ) Die Memorabilien sind bekanntlich nicht die einzige xeno- phontische Schrift, in deren Mittelpunkt die Gestalt des Sokrates steht. „Sokratische Schriften" sind auch die Apologie, das Sym- posion und der Ökonomikus. Von diesen scheint die Apologie, deren Echtheit früher be- stritten, neuerdings aber wieder wahrscheinlich gemacht worden ist, am ehesten eine historische Arbeit zu sein. Sie führt sich als Nachtrag und Korrektur zu dem was andere über die Ver- teidigung und das Ende des Sokrates geschrieben hätten ein, und hat dabei ohne Zweifel in erster Linie die platonische Apo- logie im Auge. Wahrscheinlich aber ist sie veranlaßt durch die literarische Bewegung, die durch die bald nach 393 erschienene „Anklage des Sokrates" des Sophisten Polykrates hervorgerufen war. Zwar nimmt sie auf die Rede des Polykrates selbst nur nebenbei Bezug 2 ), und ihr Zweck ist sicher nicht, die letztere zu widerlegen, aber sie scheint doch die gegen dieselbe gerichteten ..Apologien" — wie z. B. die des Lysias, von der wir Nachricht haben — zu kennen. Sie will zunächst eine Lücke der bisherigen Apologien ausfüllen, indem sie für die stolze Art, wie Sokrates *) In diesem Sinn ist die Frage nach Wilamowitz' Vorgang schon von Mahaffy, A history of class. greek literature, 3. ed. 1890, II 2, S. 60-62, 79, Problems in greek history, 1892, S. 104—109, und von Dürrbach, L'apologie de Xenophon dans l'Anabase, Revue des etudes gr., 1893, S. 372—375, be- handelt worden. Seitdem hat diese Auffassung immerhin an Boden gewonnen (vgl. Th. Gomperz' Stellungnahme, Griechische Denker II S. 50 ff.). Eine gute und umsichtige Diskussion der Frage gibt neuerdings L. Robin, Les memorables de Xenophon et notre connaissance de la philosophie de Socrate, in: L'annee philosophique, Paris 1911, S. 1 ff. 2 ) M. Schanz (Apologia, 1893, S. 83) bestreitet dies und gründet hierauf „mit voller Bestimmtheit 11 den Satz, daß die Apologie vor der Anklagerede des Polykrates geschrieben sei. Indessen zeigt, wie ich glaube, eine Vergleichung von Xen. Apol. 20 f. mit der Parallelstelle in Mem. I 2, 49 ff., die nicht'auf die ge- richtliche Anklage, sondern auf die des Polykrates Bezug nimmt, unwiderleglich, daß auch dort eine Anspielung auf die letztere vorliegt. Wie es gekommen ist, daß Xen. Apol. auf die Anklagerede des Polykrates nicht genauer eingeht, wird unten klar werden. Abgefaßt ist sie erst nach 386; sie setzt in § 31 den Tod des Anytos voraus, und dieser lebte nachweislich i. J. 386 noch (vgl. v. Wilamo- witz, Aristoteles und Athen II 374 f.). 16 Die Quellen. in seinem Prozeß zu den Richtern sprach, die Motivierung gibt. Darüber hinaus hebt sie aus den drei Gerichtsreden des So- krates so viel heraus, als nötig schien, um den Nachweis zu er- bringen, daß Sokrates weder gegen Götter noch gegen Menschen unrecht gehandelt habe, und daß er es nicht darauf anlegte, dem Tod zu entgehen, daß dieser ihm vielmehr durchaus willkommen war. Allzu groß ist der geschichtliche Wert des Schriftchens sicherlich nicht. Zwar beruft sich der Autor ausdrücklich auf einen Ohrenzeugen. Und daß er in der Tat über den Verlauf jener denkwürdigen Gerichtsverhandlung, zumal über Sokrates' Verhalten während derselben, Erkundigungen eingezogen haben werde, ist ja mehr als wahrscheinlich. Allein es wäre ein aus- sichtsloses Unternehmen, darum aus dem Bericht einen historischen Kern herausschälen zu wollen, zumal ja auch diese Apologie nichts weniger als ein geschichtliches Referat über die Gerichts- verhandlung sein will. Die Reden, die Xenophon den Sokrates halten läßt, sind — diesen Eindruck erhält man sehr bestimmt — auch in den Gedanken Kompositionen des Autors. Das Motiv, das er für die utynlriyo^ia des Sokrates anzugeben weiß, ist offenbar seiner eigenen Reflexion entsprungen. Und auch im übrigen läßt er den Meister sagen, was er nach seiner Auffassung zweckmäßiger- weise vor Gericht sagen mußte, und was auch jetzt noch zu seiner Verteidigung gesagt werden konnte. Die Berufung auf einen Ohrenzeugen aber hatte den Zweck, der Darstellung die äußere Evidenz zu geben, die ihr an sich fehlte, da der Autor selbst zur Zeit des Sokratesprozesses nicht in Athen zugegen gewesen war. 1 ) ] ) An der Unechtheit der Apologie hält von Wilamowitzfest(Diexenophontische Apologie, Hermes 32. Bd., 1897. S. 99 ff.). Doch wird neuerdings überwiegend die Echtheit angenommen. Mir selbst sind die letzten Bedenken erst geschwunden, als sich mir die Überzeugung aufdrängte, daß Xen. Apol. nach Mem. I 1—2 ver- faßt sei (hiezu s. unten S. 22 f.). Was das Verhältnis von Xen. Apol. zu Mem. IV cap. 8 anlangt, so muß ich Schanz (S. 84 ff.) darin durchaus zustimmen, daß letzteres aus der Apologie schöpft, und nicht umgekehrt. Fälle, in denen die Gesprächsammlung der Memorabilien in ähnlicher Weise andere xenophontische Schriften, wie z. B. das Symposion benützt, werden wir künftig noch mehrere finden. Die Bestimmtheit indessen, mit der Schanz Xen. Apol. auf eine anti- sthenische Vorlage zurückführt, kann ich nicht teilen. Nur das wird man sagen können, daß der Autor die vorhandene Sokratesliteratur, darunter auch die anti- sthenische, verwertet hat. Die Memorabilien. 17 Ziemlich allgemein zugestanden ist heute, daß das xeno- phontische Symposion und der Ökonomikus Dialogdichtungen nach Art der platonischen sind. Zwar erklärt der Autor im Sym- posion, er sei bei dem Mahl, von dem er erzählt, zugegen ge- wesen. Aber das ist eine von ihm selbst nicht einmal durchge- führte Fiktion. Unter den Teilnehmern an der Unterhaltung figuriert er nicht, und als stumme Person will er sich schwerlich präsentieren. Seine Anwesenheit ist indessen auch chronologisch unmöglich. Die Szenerie verlegt das Mahl ins Jahr 422. Da- mals war Xenophon jedenfalls noch nicht zehnjährig, wahrschein- lich aber beträchtlich jünger, und zum sokratischen Kreis trat er erst viele Jahre später in Beziehung. Das Schriftchen führt So- krates als Teilnehmer an einem Gelage ein, bei dem allerlei Kurz- weil getrieben wird und keine der üblichen Unterhaltungen fehlt, das der Meister aber dennoch durch seinen Geist zu adeln ver- steht. Wie es scheint, ist das xenophontische Symposion ein be- wußtes Gegenstück zum platonischen. 1 ) ') Auf die Frage nach dem Verhältnis des xenophontischen zum platonischen Symposion und weiterhin zum platonischen Phaidros gehe ich nur kurz ein. Sie ist heute noch wenig geklärt. Insbesondere fragt es sich immer noch, wie die bekannten Berührungen zwischen den beiden Symposien zu erklären sind. Daß die Erosrede des Sokrates im xenoph. Symp. VIII weithin mit der des Pausanias im platonischen Sympos. in Gedankengehalt und Tendenz zusammentrifft, ist offenkundig. Und die Übereinstimmung geht so sehr ins Einzelne, daß die An- nahme eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen den beiden Dialogen naheliegt. Dem stehen aber einige schwerwiegende Differenzen im Weg. Im xenophont. Symp. (VIII 32 ff.) charakterisiert Sokrates den Pausanias, der im platonischen Symp. als Vorkämpfer eines ideal gerichteten i-gcug erscheint, im Gegenteil als einen extremen Vertreter der sinnlichen Knabenliebe. Diesem wird überdies die mili- tärische und politische Schätzung der Päderastie unterschoben, die im platonischen Symp. von der Phaidrosrede, zu der die Pausaniasrede im Gegensatz steht, vor- getragen wird (PI. Symp. 178 E f.). Und ferner läßt Xenophon den Pausanias die päderastische Sitte der Böotier und Eleeer loben (Xen. Symp. VIII 34), während der platonische Pausanias dieselbe tadelt (PI. Symp. 182 B). Diese Abweichungen glaubt Joel (II 912 ff.) nur daraus erklären zu können, daß nicht etwa eines der beiden Symposien vom anderen abhängig sei, daß vielmehr beide aus einer ge- meinsamen Quelle, und zwar einer antisthenischen, schöpfen. Richtig ist nun gewiß, daß die Stellung zum Eros, die in der platonischen Pausaniasrede anklingt und in der Sokratesrede des xenophontischen Symposions vertreten wird, die des Antisthenes ist, für den der zgvjq im wesentlichen nur soweit er mit <pj.la zu- sammenfällt berechtigt ist (vgl. Winckelm. S. 15 II, S. 16 IV f., S. 26 II, S. 29 I H. M a i e r , Sokrates. 2 18 Die Quellen. Noch viel klarer tritt der fiktive Charakter des Ökonomikus hervor. Das Büchlein beginnt mit den Worten: „einmal aber und Dittmar, Aischines von Sphettos S. 13—15). Jene Verschiedenheiten selbst aber sind dadurch noch nicht verständlicher geworden. Am natürlichsten werden wir sie uns in folgender Weise zurechtlegen können. Daß Xenophon in VIII 32 auf einen Logos des Pausanias Bezug nimmt, in dem für die sinnliche Knabenliebe eine Lanze gebrochen ist (. . . anoXoyoviievoq vnhg rwv axQaala ovyxvlivöov- fxivcjv . . .), kann als feststehend gelten. Aber dieser löyoq des Pausanias kann nicht die platonische Pausaniasrede sein. Und daß Xenophon direkt gegen die letztere polemisieren wolle, wie Bruns (Attische Liebestheorien und die zeitliche Folge des piaton. Phaidros sowie der beiden Symposien, N. Jahrb. für das klass. Altert. 3. Jahrg. 1900 S. 30. 37) annimmt, ist ausgeschlossen. So frei Xenophon sonst mit dem aus literarischen Quellen geschöpften Material umspringt: im gegenwärtigen Fall liegen die Dinge anders. Hier zitiert er ausdrücklich. Und die von ihm vorausgesetzte Pausaniasrede und die platonische stehen zu einander in schärfstem Widerstreit — nicht bloß in jenen Einzelheiten, sondern vor allem in der ganzen Tendenz (vgl. Joel a. a. O. S. 913). Schon damit aber fällt auch die Möglichkeit weg, daß Plato und Xenophon etwa aus einer Schrift eines Pau- sanias geschöpft hätten; an eine solche zu denken, verwehrt auch, wie Joel S. 914 richtig hervorhebt, die ganze Ausdrucksweise bei Xenophon. Das Wahr- scheinlichste ist in der Tat, daß beide Autoren von einem Dialog des Antisthenes ausgehen, in dem Pausanias die Rolle eines Verteidigers des Eros, dem vermut- lich Sokrates als Anwalt der cpiMcc entgegentrat, zu spielen hatte. Offenbar aber hält sich Xenophon sehr viel genauer an das Original als Plato. Der letztere wendet sich gegen Antisthenes, und seine Absicht ist augenscheinlich, zu zeigen, daß auch dem Eros das Ziel erreichbar sei, das Antisthenes der <piUu vorbehalten will. Zu diesem Zweck idealisiert er die Position des Pausanias. Andererseits will er sich aber doch an die ganze Pausaniasrolle des antisthenischen Dialogs halten. So verteilt er die Ausführungen des antisthenischen Pausanias auf zwei Personen : Phädrus vertritt den Standpunkt der landläufigen Erotik, Pausanias dagegen (den Plato selbst schon im Protagoras, 315E, als Liebhaber des Agathon eingeführt hatte) beginnt mit der Unterscheidung der beiden Eroten und Aphroditen und stellt fest, daß nur der himmlische Eros, nicht der nävör^ioQ gepriesen zu werden verdiene; sein Lob gilt denn auch nur jenem. Daß nun Plato in dieser letzteren Rolle den antisthenischen Pausanias vielfach korrigiert, ist selbstverständlich. Aber auch der himmlische Eros bleibt, obwohl er andererseits ganz die Stellung der antisthenischen <pi?.la auszufüllen vermag, Eros; und so sehr er idealisiert ist, die sexuelle Seite wird durchaus festgehalten. (Davon also, daß die platonische Pau- saniasrede die antisthenische Erostheorie vertrete, kann keine Rede sein.) Xeno- phon nun hat sowohl die antisthenische als die platonische Pausaniasrede vor sich. Er geht von der letzteren auf die erstere als das Original zurück. Seine eigene Erostheorie ist im wesentlichen die kynische. Er hält zwar den Eros fest, aber in einer Art, wie ihn auch Antisthenes anerkennen kann: der xenophontische Eros ist nicht viel mehr als die antisthenische ipO.ia (wenn der Autor sich auch selbst Die Memorabilien. 19 hörte ich ihn auch über Ökonomie in folgender Weise sprechen." Daß das freie Erfindung ist, läßt sich aufs stringenteste beweisen. gegen den Einwand wehrt, daß r\ zt t q yv/ijc <pih'a, die er empfiehlt, dvsnatfQÖöizoq sei, VIII 15). Xenophons Polemik aber kehrt sich — wesentlich im Sinn und wohl zum großen Teil auch mit den Gedanken des Antisthenes — direkt gegen die in der antisthenischen Pausaniasrede von Pausanias vertretenen Anschauungen. Die Polemik gegen die platonische Phaidros- und Pausaniasrede ist also von hier aus eine mittelbare. Immerhin aber verfolgt der Autor zugleich offenkundig die Absicht, nebenbei die platonische Pausaniasrede richtigzustellen. Das geschieht ja schon, indem er der letzteren das (antisthenische) Pausaniasoriginal geflissent- lich entgegenstellt. Aber auch die Erotik der platonischen Pausaniasrede hat Xeno- phons Beifall nicht. Das zeigt schon die Art, wie er in VIII 9 auf die von dem platonischen Pausanias vollzogene Unterscheidung der beiden Eroten eingeht. Seine eigene Erostheorie streift ja das sinnlich-päderastische Element, das der pla- tonische Pausanias festgehalten hatte, vollends ganz ab. Nach alledem ist es mir nicht zweifelhaft, daß das xenophontische Symposion das platonische vor sich gehabt hat. Aber ich glaube noch weiter, daß das erstere ein bewußtes Gegen- stück zum letzteren ist. In nahen Beziehungen steht das xenophontische Sym- posion auch zu dem platonischen „Protagoras", der ja wie jenes im Hause des Kallias spielt. Und wieder bestehen auch bewußte Gegensätze zwischen den beiden Dialogen (vgl. Dümmler, Akademika S. 49 f.). Am auffallendsten ist Prot. 347Cf., wo die üblichen Gelage in einer Weise charakterisiert werden, die sich wie eine satirische Anspielung auf das xenophontische Symposion ausnimmt. In der Tat wird sie von Dümmler so gedeutet. Allein auch hier ist viel wahr- scheinlicher, daß, umgekehrt, das xenophontische Symposion auf den platonischen Protagoras Bezug nimmt. Auch dem „Protagoras" gegenüber nimmt Xenophon Korrekturen vor. Und im Grunde ist sein ganzes Symposion eine solche. Xeno- phon will den Sokrates gerade in einem der von Plato verpönten Gelage auf- treten lassen, und zeigen, wie der Meister auch einem normalen Symposion den Stempel seines Geistes aufdrücken konnte. Den nächsten Anstoß zu dieser Idee aber hatte der Vorgang des platonischen Symposions gegeben. Dem letzteren will er ein wirkliches Symposion gegenüberstellen, in dessen Mittelpunkt die Person des Sokrates steht (vgl. hiezu den Eingang des Schriftchens: 'AkX ipol öoxil zcöv xuXtöv xdya&üiv [spya] ov fxövov zu /xtzu anovöfjg nQazzöfxtva a^io/uvrj- fiövtvza elvai, d)ld xal zd iv zalq naiöialq). Und daß ihm die Ausführung dieses Gedankens wohl gelungen ist, wird nicht zu leugnen sein. Auf diese Weise würde sich ergeben — was übrigens auch an sich wahrscheinlich ist — , daß das xenophontische Symposion dem Vorgang des platonischen gefolgt ist, nicht um- gekehrt: die Annahme, daß beiden ein antisthenisches Symposion vorangegangen sei, ist haltlos. — Daß schließlich Xen. Symp. VIII auch der ersten Sokratesrede im „Phaidros" nahesteht, ist unverkennbar (vgl. Bruns, a.a.O. S. 36 f.). Die letztere vertritt nun wirklich im wesentlichen die kynische Erostheorie, und die sokratische Erosrede im xenophontischen Symp. VIII schließt sich eng, zum Teil wörtlich, an sie an. Ob diese Bezugnahme freilich eine unmittelbare ist, kann 2* 20 Die Quellen. Die Schrift läßt im 4. Kapitel Sokrates von dem Tod des jüngeren Cyrus reden, und doch war Xenophon zur Zeit dieses Ereignisses in Kleinasien, und er hat Sokrates seitdem nicht wieder gesehen. Aber hier gehört auch der ganze Gedankeninhalt des Dialogs so offenkundig Xenophon, nicht Sokrates an, daß an ein unbewußtes Einfließen eigener Gedanken des Autors in eine reproduzierende Wiedergabe sokratischer Gespräche überhaupt nicht mehr gedacht werden kann. Die haus- und namentlich landwirtschaftliche Er- fahrung, die sich in der Schrift ausspricht, besaß der skilluntische Gutsherr, nicht der Stadtmensch Sokrates, dem solche Interessen so fern als nur irgend möglich lagen. Die Schrift kramt ferner eingehende Kenntnisse über militärische Dinge und über das per- sische Staatswesen aus, wie sie wiederum Xenophon, dagegen ganz und gar nicht Sokrates zuzutrauen sind. Kurz, das ganze Gespräch ist trotz der Versicherung der Ohrenzeugenschaft des Autors völlig fingiert, und Xenophon gibt sich nicht die geringste Mühe, diesen Tatbestand auch nur zu verschleiern. Was hat nun die Kritiker veranlaßt, den Memorabilien vor den übrigen sokratischen Schriften Xenophons die Sonderstellung einer historisch-biographischen Quelle zuzuweisen? In allererster Linie natürlich der Titel, der die Schrift als „Memoiren" präsen- tiert. Der Autor verstärkt diesen Eindruck durch die an verschie- denen Stellen wiederkehrende Bemerkung, daß er Selbsterlebtes erzähle: das eine Mal erklärt er, er referiere aus der eigenen Er- innerung, das andere Mal, er sei bei dem Gespräch, von dem er berichtet, zugegen gewesen, oder auch, er habe es mit angehört. Einmal beruft er sich für eine Unterredung, die in die Zeit seiner Abwesenheit von Athen verlegt wird, auf das Zeugnis des Mit- unterredners. 1 ) Aber es entspricht offenbar ganz dem Sinne des Verfassers, daß man auch für die Gespräche, bei denen eine Be- merkung von dieser oder jener Art nicht gemacht ist, die Voraus- setzung ergänzt, sie seien entweder aus eigener oder — ausnahms- immer noch fraglich sein. Durchaus notwendig ist die Annahme nicht. Ent- scheidet man sich aber für sie, so muß man das Symp. Xenophons zeitlich bis tief in die siebziger Jahre herabrücken. Im anderen Fall könnte man es noch Ende der achtziger Jahre ansetzen. ! ) In Betracht kommen die folgenden Stellen: Mem. I 3, 1. 8 f f . ; 4,2; 6, 14; 114, 1; 5,1; 7, 1; IV 3, 2; 8, 4 ff. Die Memorabilien. 21 weise — aus fremder Erinnerung wiedergegeben. Und nun fügt eine wohlwollende Kritik hinzu: ausdrücklichen Erklärungen des Autors, die mit solcher Bestimmtheit ausgesprochen seien, können wir angesichts des notorisch trefflichen Charakters Xenophons den Glauben nicht versagen; gelegentliche Ungenauigkeiten und Mängel des Berichts, wie sie auf Rechnung versagenden Gedächtnisses oder unzureichender Kapazität zu setzen seien, vermögen den Memorabilien den Charakter und Geltungswert wirklicher Erinne- rungen nicht zu nehmen. Es ist nun eine eigene Sache mit der Glaubwürdigkeit des Historikers Xenophon. Heute ist es kein Geheimnis mehr, daß ungeschminkte Ehrlichkeit und rückhaltsloser Wahrheitssinn nicht eben seine starke Seite war. Man weiß jetzt, daß er ein Meister in der Gruppierung der Tatsachen und ganz besonders in der Kunst des Verschweigens war, wo dies im Interesse seines Partei- standpunktes oder auch seiner selbstgefälligen Eitelkeit zu liegen schien. Aber wir können hievon absehen. 1 ) Die Versicherung der eigenen Ohrenzeugenschaft beweist in den Memorabilien natürlich so wenig für die Historizität wie im Symposion und im Ökonomikus. Sie kann dort ebensogut fingiert sein, wie sie es hier ist, und sie hindert uns nicht im mindesten, anzunehmen, daß die Gespräche der Memorabilien vom Autor ebenso frei kompo- niert seien, wie die des Symposions und des Ökonomikus. Xenophon selbst will, wie es scheint, die Memorabilien nicht wesentlich anders angesehen wissen als seine übrigen sokratischen Schriften. Die letzeren zeigen sämtlich die auffallende Erschei- nung, daß ihr erster Satz eine überleitende Partikel enthält. Die Apologie beginnt: „von Sokrates aber (fit) scheint es mir der Mühe wert zu sein, auch zu erwähnen . .", das Symposion: „allein (alla) es scheinen mir von trefflichen Männern nicht bloß die im Ernst vollbrachten Taten erwähnenswert zu sein . . .", der Ökono- mikus endlich: „ich hörte ihn aber (dt) einmal auch über Ökonomie folgendermaßen reden." Die wahrscheinlichste Erklärung für diese sprachliche Abnormität scheint die zu sein, daß Xenophon die Absicht gehabt hat, seine sämtlichen sokratischen Schriften zu einer *) Zu der ganzen schriftstellerischen Art der historisch-biographischen Ar- beiten Xenophons vgl. Leo, Die griechisch-römische Biographie S. 87 ff., bes. S. 93. 22 Die Quellen. schriftstellerischen Einheit zusammenzufassen. 1 ) Möglich aber war dies doch nur dann, wenn er die vier Arbeiten für gleichartig hielt.2) Für den historischen Charakter der Memorabilien scheint in- dessen vor allem auch ihr Zweck zu sprechen. Nach den ein- leitenden Worten wollen sie eine Schutzschrift für Sokrates, eine Verteidigung desselben gegen seine Ankläger sein. Das aber war, wie es scheint, doch nur dann zu erreichen, wenn die Ausfüh- rungen der Schrift sich auf einer geschichtlichen Grundlage auf- bauten. Eine Schutzschrift sind nun in der Tat die beiden ersten Ka- pitel der Memorabilien. Aber nur diese. Und auf sie paßt der Titel, den das ganze Buch führt, „Sokratische Denkwürdigkeiten" ganz und gar nicht. Die Memorabilien zerfallen nämlich in zwei dem Umfang nach recht ungleiche Teile. Der erste, kleinere, der die beiden ersten Kapitel umfaßt, ist eine Verteidigung des So- krates. Der zweite, sehr viel umfangreichere dagegen ist das eigent- liche „Memoirenbuch". Wie es scheint, bildete die Schutzschrift ursprünglich ein in sich geschlossenes Ganzes, das wohl auch selbständig veröffent- licht wurde. Und vermutlich stand nach dem schriftstellerischen Plan des Autors das „Memoirenbuch " mit ihr von Haus aus in keiner näheren Verbindung als die Apologie, das Symposion und der Ökonomikus. Die Schutzschrift selbst hat wesentlich anderen Charakter als die „Apologie". Die letztere war, wie wir wissen, als Ergänzung zu früher erschienenen Verteidigungsschriften für So- krates, auch zu solchen, die sich der „Anklage" des Polykrates entgegenstellten, gedacht. Was uns an ihr auffiel, war, daß sie die polykratische Rede zwar kennt und auch auf sie im Vorüber- gehen Bezug nimmt, daß sie es aber unterläßt, sich mit ihr aus- einanderzusetzen. Jetzt wird uns das verständlich. Die Aufgabe ist bereits in der „Schutzschrift" gelöst. Indem die Apologie auf *) Wie es sich damit in Wirklichkeit verhält, wird der weitere Verlauf der Untersuchung zeigen. ' 2 ) Eine ähnliche Erscheinung zeigen bekanntlich auch einige andere Schriften von Xenophon, so vor allem die Hellenika, aber auch Lak. Pol. Indessen auch diese Schriften scheint der Autor sich als Teile umfassenderer Ganzer zu denken. Die Memorabilien. 23 diese zurückblickt, kann sie sich selbst das Geschäft sparen 1 ): die Schutzschrift kehrt sich nicht bloß gegen die gerichtliche Klage, sondern auch gegen Polykrates. Die literarische Rührigkeit der Sokratesjünger und die Energie, mit der sie für die sokratische Sache wirkten, scheint den Kon- kurrenzneid gewisser Rhetoren sophistischer Provenienz geweckt zu haben. Die Sophistenschüler sahen in den Sokratikern erfolg- reiche Rivalen. Und sie waren um so weniger geneigt, den Gegnern das Feld ohne Schwertstreich zu überlassen, als sie durch diese schwer gereizt waren. Aus solchen Bestrebungen ist die Anklagerede des Sophisten und Rhetors Polykrates (Ende der neunziger Jahre) erwachsen. Ihre Absicht war durchsichtig. Die Sokratesjünger hatten in ihren „somatischen Gesprächen" den Meister selbst reden lassen. Insbesondere aber hatte Plato seine nachträgliche Recht- fertigung des Hingerichteten in das Gewand der gerichtlichen Verteidigungsrede des Sokrates gekleidet. Was lag nun, wenn man, um die Jünger zu treffen, den Meister angreifen wollte, näher als daß man der gerichtlichen Verteidigungsrede die gerichtliche Anklagerede entgegensetzte? Das hat Polykrates getan. Er hat sein Pamphlet gegen Sokrates einem der gerichtlichen Ankläger, Anytos, in den Mund gelegt. So unbedeutend nun, rein literarisch betrachtet, diese Leistung gewesen sein mag: die hiedurch ge- schaffene Situation war für die Sokratiker keineswegs unbedenk- lich. In dem Angriff lag Gift. Polykrates hatte zu der Waffe der politischen Diskreditierung gegriffen. Die Sokratiker waren darum genötigt, den Handschuh aufzunehmen. 2 ) Und auch Xenophon fühlte sich berufen, mitzuwirken. ') Wenn man sich einmal überzeugt hat, daß die xenophontische Apologie die xax-qyoQia des Polykrates kennt (vgl. oben S. 15 f.), fällt jedes Bedenken gegen die Annahme weg, daß die „Schutzschrift" der „Apologie" vorangegangen ist Mir selbst wird nur von hier aus die Apologie verständlich. 2 ) M. Schanz macht (Apol. S. 36 ff.) einen Versuch, die Rede des Polykrates, im wesentlichen aus der Apol. Socr. des Libanius und aus Mem. I 2, zu rekon- struieren. Ebenso neuerdings E. Mesk, der aber die Apologie des Libanios um- fassender verwertet, als Schanz dies getan hatte (Anklagerede des Polykrates gegen Sokrates, Wiener Studien 32. Bd., 1911, S. 56 ff.). Abgefaßt kann sie nicht vor 393 sein, da in ihr nach Diog. Laert. II 39 die Wiederherstellung der langen Mauern durch Konon erwähnt ist. Mit Ferd. Dümmler (Akademika S. 29) aber weit über 390 herabzugehen, finde ich keinen genügenden Grund. Wir werden 24 Die Quellen. Die Schutzschrift der Memorabilien setzt sich in einem ersten Abschnitt mit der gerichtlichen Anklage selbst auseinander (I 1, 1 — 2, 8) und widerlegt dann in einem zweiten (12,9 — 2,61) Punkt für Punkt der Anklagerede des Polykrates. 1 ) Der Tenor der ganzen Schutzschrift weicht von allen anderen sokratischen Arbeiten Xeno- phons merkbar ab. Die Grundlage ist hier wirklich eine histo- rische. So treten denn auch die „Gespräche" sehr zurück. Die Verteidigung bewegt sich durchaus auf der Linie der referierenden Charakteristik. Allerdings ist der Bestand an geschichtlichen Daten, die uns die Schrift bietet, recht dürftig. Allein darunter finden sich Stücke, die unverkennbar das Gepräge historischer Erzäh- lungen tragen. Und was z. B. über den Zusammenstoß des So- krates mit den Oligarchen Kritias und Charikles berichtet wird, macht ganz den Eindruck, daß der Autor nicht bloß Tatsächliches erzählen will, daß er vielmehr von Dingen spricht, die er aus nächster Nähe mit angesehen hat. Dennoch beruft er sich auch in solchen Fällen, das ist überaus bezeichnend, nicht auf eigenes Erlebnis. Andererseits führt er Dinge, die nicht eben notorisch und ihm selbst nur vom Hörensagen bekannt waren, — wie z. B. die Äußerung des Sokrates über die sexuellen Beziehungen des Kritias zu Euthydemos — mit einem vorsichtigen „Man sagt" ein. sehen, daß von platonischen Dialogen nicht bloß der Menon und weiterhin das Symposion, sondern bereits der Gorgias die xax-qyoQia des Polykrates voraus- setzen. Daß die letztere eine Reaktion auf die Propaganda der Sokratiker ist, wie sie nicht allzulange nach Sokrates' Tod eingesetzt hat, kann als feststehend gelten. Ebenso aber ist sie ganz offenkundig ein Gegenstück zur platonischen Apologie. Schon darum wird sie zeitlich nicht allzu weit von dieser getrennt werden dürfen. Hätte Polykrates, wie Dümmler will, seine Schmähschrift erst gegen 382 geschrieben, so hätte er wohl aus der sokratischen Literatur noch viel gravierendere Dinge herausholen können. — An der Hypothese Joels (II 1 121 ff.), daß die polykratische Rede nicht Sokrates, sondern Antisthenes habe treffen wollen, ist nur so viel richtig, daß Polykrates sein Anklagematerial wohl zum guten Teil den sokratischen Schriften des Antisthenes entnommen hat. Vgl. A. Gercke, Einl. in die Altertumswissensch. II S. 319. J ) Auffallen kann, daß der Autor 1 2, 62 wieder zur gerichtlichen Klage zurücklenkt. Indessen braucht man darum nicht mit Schanz (Apologia S. 25) die Auseinandersetzung mit Polykrates für einen späteren Einschub zu halten. Die polykratische xar^yogla führte sich als gerichtliche Anklagerede ein. Das gab Xenophon die Möglichkeit, auch wenn er die Fiktion durchschaute — woran nicht zu zweifeln ist — , seine ganze Verteidigung unter den Gesichtspunkt einer Widerlegung der gerichtlichen Anklage zu rücken. Die Memorabilien. 25 Auch sonst fehlen die Fiktionen. Ebenso sind Anachronismen vermieden. Der Verteidiger hütet sich, auf tatsächlichen Unrich- tigkeiten ertappt zu werden. Nur in der Hauptsache, in der Cha- rakteristik des Sokrates selbst, muß der stark sich vordrängende apologetische Eifer Verdacht erregen. Man hat die Empfindung, daß der Autor sich gutgläubig ein Sokratesbild zurecht gemacht hat, wie es seinem eigenen Sinn und seinem apologetischen Zweck entsprach. In der Tat gleicht der Sokrates der Schutzschrift be- reits in wesentlichen Zügen dem der Gesprächsammlung. Der zweite Teil der Memorabilien ist keine Apologie und will keine sein. Die widerlegende Bezugnahme auf die gericht- liche Anklage und das Pamphlet des Polykrates tritt völlig zurück. Auf diesen Teil allein könnte allenfalls die Fiktion gehen, die in dem Titel „Denkwürdigkeiten" liegt. In Wirklichkeit stammt der Titel, obwohl er durch den Eingang der Schrift selbst gedeckt scheint, schwerlich vom Autor. Dieser plant nichts mehr und nichts weniger als eine Sammlung von „sokratischen Ge- sprächen", die dem Zweck einer verherrlichenden Charakteristik des Meisters dienen soll. 1 ) Apologetisch aber ist das Ganze nur in dem Maß, in dem die Verherrlichung eines Märtyrers notwendig apologetisch werden muß. Ein Werk im literarischen Sinn kann man nun freilich diese ordnungslose Materialsammlung nicht wohl nennen. Und man sollte endlich die Hoffnung aufgeben, durch diese Wildnis den logischen Pfad einer Disposition zu finden. 2 ) Das Ganze ist schwerlich in einem Zug niedergeschrieben, und vermutlich ist es auch nicht von dem Autor selbst veröffentlicht worden. 3 ) Der ') Die Gesprächsammlung der Memorabilien beginnt mit dem Satz (I 3, 1): £2q 6h 6;) xal axpelüv iööxu fxoi xovq avvövxuq xa (aev IqyV 6eixvvwv havzov oioq i]v, xa 6h xal 6iaXiyö[xtvoq, xovxcjv 6>) ygätpia bnöoa üv öia/j.vr][AOV£iGa>. Im ersten Teil des Satzes ist der Zweck der damit eingeleiteten Gesprächsamm- lung angegeben. Die letzten Worte führen die Fiktion ein, die den Titel dnofivrj- novtvfxaxa zu stützen scheint. 2 ) Nur das ist zuzugeben, daß einzelne Partien einen geordneteren Eindruck machen als die übrigen. Am meisten gilt dies vom 4. Buch. Aber auch hier ist ein gewisser Zusammenhang nur durch äußerliche und künstliche Mittel herge- stellt (vgl. z. B. die Art, wie das 4. und das 6. Kapitel eingeführt sind). 3 ) Selbst Xenophon ist es zuzutrauen, daß er der Arbeit vor der Herausgabe noch eine bessere Ordnung gegeben hätte, zumal das keine allzu große Mühe 26 Die Quellen. unbefangene Leser erhält den Eindruck, als wären die einzelnen Stücke nach und nach, wie Zeit und Stimmung es mit sich brachten, verfaßt und zunächst nur äußerlich aneinandergereiht worden, wahrscheinlich mit dem Vorbehalt einer späteren Ver- arbeitung. Was aus dem Werkchen geworden wäre, wenn der Autor noch die letzte Hand hätte anlegen können, vermögen wir natürlich nicht zu sagen. So aber, wie diese „Denkwürdigkeiten" nun tatsächlich auf uns gekommen sind, sind sie ein wenig er- quickliches Potpourri, von dem wir nur eines mit einiger Sicher- heit sagen können: daß die hier zusammengestellten sokratischen Gespräche freie Erfindung des Verfassers sind. Sieht man über die Versicherungen der Ohrenzeugenschaft des Autors hinweg, so wird sicher niemand mehr auf den Ge- danken kommen, daß es Erinnerungen seien oder auch nur sein wollen, was Xenophon uns hier vorführt. Das zwar ist keines- wegs ausgeschlossen, daß ein Mensch bedeutsame, eindrucksvolle Kundgebungen eines anderen dem Sinne nach und zum Teil wohl auch wörtlich Jahre und Jahrzehnte lang festhalten kann. Allein diese sokratischen Gespräche des Xenophon mit ihrem meist recht trivialen Inhalt sind nicht von dieser Art. In keinem ein- zigen Fall sind wir auch nur versucht zu sagen: hier muß Xeno- phon eine bestimmte Gelegenheit im Auge haben, bei der So- krates so oder ähnlich gesprochen haben mag. Es fehlt durch- weg die spezifische Anschaulichkeit des geschichtlichen Berichts, und nicht einmal die historische Farbe zeigen diese Gespräche, die die antiken Geschichtschreiber — Xenophon nicht ausge- nommen — den frei erfundenen Reden zu geben wissen, die sie ihre Helden bei allerlei passenden oder unpassenden Gelegen- heiten halten lassen. Indessen verrät der Autor selbst nicht un- deutlich, wie er in Wirklichkeit die von ihm zusammengestellten Gespräche angesehen wissen will. Er sagt einmal (IV 3,2)*) : „andere haben von anderen derartigen Unterredungen des Sokrates be- richtet, bei denen sie zugegen gewesen waren; ich aber war bei war. Sicher aber hätte er z. B. die Kapitel I 4 und IV 3, die nur verschiedene Redaktionen desselben Gesprächs sind, nicht so neben einander stehen lassen. *) Die Stelle IV 3, 2 lautet: aXXoi (xev ovv avtw ngog ä?J.ovq ovvwg dfxi- Xovvti 7taQayev6f*£voi dirjyovvxo' eyco de uze npoq Ev&vötj/hov roiäöe 6ie).eyExo naQfyevöfxriv. Die Memorabilien. 27 der folgenden Unterredung mit Euthydem zugegen." Der Verfasser blickt hier auf diejenigen Schriften von Sokratikern zurück, die So- krates als redende Dialogperson eingeführt hatten, also, kurz ge- sagt, auf die löyoi Scoxyarizoi des Antisthenes, Piaton, Aischines u. a. Nun war ihm zweifellos bekannt, daß das fingierte oder, sagen wir besser: imitierte, nachgebildete Gespräche waren; denn das war notorisch und von ihnen selbst offen genug zur Schau ge- tragen. Aber Xenophon wahrt die Fiktion: er führt die luyoi —w/.oany.oi als Unterredungen ein, die die Verfasser mit angehört hätten. Und nun stellt er die von ihm selbst mitgeteilten Ge- spräche mit diesen ganz auf gleiche Linie. Zweierlei ergibt sich hieraus mit voller Bestimmtheit: einmal, daß es „sokratische Logoi" sind, die uns der Autor zu bieten beabsichtigt, und dann, daß die Versicherung der Ohrenzeugenschaft seinen Logoi keinen Vorzug vor denen der übrigen Sokratiker geben, daß sie vielmehr im wesentlichen ebenso verstanden werden will, wie bei diesen. Mit anderen Worten: der Autor selbst deutet uns unmißverständlich an, daß die Sokratesunterredungen seiner Sammlung ebenso imitiert seien, wie die anderen „somatischen Gespräche". 1 ) *) Über die Xöyoi Swxpazixol ist der bekannten Stelle der aristotelischen Poetik 1. 1447b9ff. (zu der noch rhet. III 16. 1417a20, ferner fr. 61. 1485b38ff. 1486a 8 ff. zu vergleichen ist) mit Sicherheit zu entnehmen einmal, daß das „so- kratische Gespräch" zu Aristoteles' Zeit ein längst feststehendes literarisches Genus war, sodann, daß diese löyoi von Aristoteles — in Übereinstimmung mit der allgemeinen Auffassung — als fii/x>',aftg betrachtet wurden (vgl. L. Robin, Les memorables de Xenophon a. a. O. S. 26). Aristoteles sagt: ovdhv yug av f/oifiiv övo/xäoai xoivbv zovq 2cö<fQovog xal .ifvap/ou fxifxovq xal zovq 2co- xgazixovq Xöyovq oiöh ti'ziq öia zQifxtTQwv rj eltyeicuv i, zwv ullotv zivwv z<öv zotovzwv noiolto zrjv fxlfif^oiv. Zeller nun will (Archiv f. Gesch. der Phil. VII S. 102) aus der Stelle herauslesen, die löyoi JSwxqkzixoI. „ließen sich . . . auch dann, wenn man ihnen eine metrische Form gäbe, mit den Mimen eines Sophron nicht unter demselben Gattungsnamen zusammenfassen". Diese Deutung ist indessen, darin muß ich Joel (Der köyoq 2wxquzixöq, Archiv f. Gesch. der Phil. VIII 476 ff.) zustimmen, nach dem ganzen Zusammenhang unmöglich. Im vor- hergehenden Satz (a28— b 9) ist, wie man dessen Text nun auch fixieren mag, von derjenigen Kunst die Rede, die die Worte, und zwar entweder die prosaische Rede oder aber die Metren, als Nachahmungsmittel verwendet. Und nun wird b 9 ff. gesagt, für die verschiedenen Arten dieser Kunst, speziell für die pro- saischen auf der einen und die metrischen auf der anderen Seite, habe man keinen gemeinschaftlichen Namen: „wir haben für die Mimen Sophrons und Xenarchs und die ,sokratischen Gespräche' und andererseits für diejenigen Werke, 28 Die Quellen. In grelle Beleuchtung wird die ganze Sachlage gerückt durch die bekannte Kritobulosunterredung (I 3, 8 ff.). Das Gespräch die mittels des trimetrischen oder des elegischen Versmaßes oder anderer metri- scher Formen die (ii/Lirioiq bewerkstelligen, keine gemeinsame Bezeichnung." Daß Aristoteles die „somatischen Gespräche" hier zu den Werken der Dichtkunst zählt und zählen muß, da er sie für f/i/jrjaeiq hält und andererseits in der /ul/xrjaiq durch (ungebundene oder gebundene) Rede das Prinzip der Dichtkunst sieht, ist klar. Mit dieser Rubrizierung ist indessen nicht mehr gesagt, als daß die A. 2. eben (xi/ui^osig seien. Nur das kann selbstverständlich gefolgert werden, daß diese Logoi nicht als historische Rekonstruktionen sokratischer Unterredungen gelten wollten und auch nicht als solche galten. Auch aus der Zusammenstellung mit den Mimen des Sophron darf keine weitere Konsequenz gezogen werden: die Ähn- lichkeit beschränkt sich darauf, daß die A. 2!. und ebenso auch die Mimen Sophrons /utfAt'iotiq mittels prosaischer löyoi sind. — Unhaltbar ist auch die andere Bemerkung Zellers, daß Aristoteles bei den „somatischen Reden* nur an die platonischen zu denken scheine. Die Stelle Polit. 116. 1265a 11 darf nicht heran- gezogen werden: hier hat ol tov Sioxyüxovq Xöyoi, wie aus dem Zusammen- hang unmißverständlich hervorgeht, einen ganz anderen Sinn. Andererseits freilich darf man nicht auf die Dialoge des Alexamenos hinweisen, die Aristoteles nach fr. 61 (der Berliner Ausg.) erwähnt hat. Aus dem Zitat der Athenäusstelle geht nur hervor, daß Aristoteles die Dialoge des Alexamenos als vor den sokratischen Dialogen geschrieben — ich lese mit Meineke, V. Rose u.a. (gegen Hirzel, Der Dialog, I 100, 2) in 1486a 11 npoxtgovc statt tiqwtovq — bezeichnet habe; in der Tat zeigt ja nicht allein die unmittelbar sich anschließende Äußerung des Autors 1486a 12—14, sondern auch die Stelle in Diog. Laert. III 48 (1485b 39 ff.), daß Aristoteles nur gesagt hat, Alexamenos habe Dialoge, nicht, er habe sokratische Dialoge verfaßt. Alexamenos war kein Sokratiker. Daß aber außer Plato auch andere Sokratiker, namentlich Antisthenes und Äschines „sokratische Gespräche" verfaßt haben, ist bekannt, und daß Aristoteles dieselben kannte, werden wir im 3. Kapitel sehen. Warum soll er also nicht auch an sie gedacht haben, wenn er von A. 2. sprach? Nicht ebenso sicher freilich ist, daß Aristoteles die Sokrates- unterredungen der xenophontischen Gesprächsammlung in diese Kategorie ein- bezog. Zwar ist mir nicht im geringsten zweifelhaft, daß er diese Gespräche selbst ebenso für imitiert hielt, wie etwa die platonischen Dialoge. Immerhin aber gibt in den Memorabilien der umrahmende „Bericht" dem Ganzen der Gesprächsammlung ein etwas anderes literarisches Gepräge. Es geht darum methodisch nicht an, ohne weiteres aus den aristotelischen Äußerungen über die A. 'S. einen Schluß auf jene xenophontischen Sokratesgespräche zu ziehen. Daß er diese aber gekannt und benutzt hat, wird sich später zeigen. Die antike Tra- dition scheint die koyoi der Memorabilien unbedenklich zu den A. 2. gerechnet zu haben. Nach Diogenes Laertius (II 64) hat Panaetius unter den „sokrati- schen Gesprächen" literarkritische Musterung gehalten. Für echt erklärte er die des Plato, des Xenophon, des Antisthenes, des Äschines; über die des Phädo und des Euklid war er im Zweifel; alle übrigen verwarf er. Bei den „sokra- Die Memorabilien. 29 gilt als dasjenige, das am besten als von Xenophon selbst gehört bezeugt sei. Denn nicht bloß bemerkt der Autor im Eingang des Zusammenhangs, in dem es steht, ausdrücklich, er schreibe hier aus eigener Erinnerung (I 3, 1). In der Unterredung selbst er- scheint er überdies in dritter Person als derjenige, an den So- krates das Wort richtet. Sokrates hat erfahren, daß sein Schüler Kritobulos den schönen Sohn des Alkibiades geküßt habe, und spricht nun in Gegenwart des Kritobulos mit Xenophon über die Nachteile und Gefahren, die dem Verliebten von der Liebes- leidenschaft, vom erotischen Kusse drohen. So weit ist alles schön. Wir scheinen uns in der Tat hier wenn irgendwo auf historischem Boden zu befinden. Allein nun findet sich im Sym- posion (IV lOff.) eine ganz merkwürdige Parallele zu diesem Ge- spräch. Wieder steht Kritobulos im Mittelpunkt, wieder ist die Rede von einer Liebschaft desselben, und schließlich bemerkt So- krates scherzend, Kritobulos scheine seinen Geliebten bereits ge- küßt zu haben. Die ganze Szene ist die: die Teilnehmer am Mahl haben beschlossen, jeder der Anwesenden solle das nennen, worauf er sich am meisten zugute tue; als die Reihe an Krito- bulos kommt, erklärt dieser, er sei stolz auf seine Schönheit, denn die Wirkung der Schönheit könne er nach dem Zustand er- messen, in den ihn die eigene Leidenschaft zu dem schönen Kleinias versetzt habe, und nun schildert er diesen Zustand, und zwar bedient er sich hiebei ganz der Gedanken, zum Teil auch der Worte, die die Kritobulosepisode der Memorabilien dem So- krates zuschreibt. Offenbar ist es dieselbe Szene, um die es sich beide Male handelt. Und vor allem auch derselbe Kuß. Klar ist ferner, daß die beiden Berichte nicht unabhängig von einander sind. Und man wird kaum zweifeln können, daß der des Symposions das tischen Dialogen" Xenophons hat Panätius aber schwerlich bloß an das Sym- posion und den Ökonomikus gedacht. Wie dem nun sei: sicher ist, daß die Xöyoi SwxQazixoi „Imitationen" waren und sein wollten, und daß Xenophon in IV 3, 2 seine „somatischen Gespräche" mit diesen auf gleiche Linie zu stellen beabsichtigte. Auch daran nämlich ist nicht zu zweifeln, daß der literarische Typus des ).6yoq SwxQaxixöq damals, als Xenophon diesen Satz niederschrieb, bereits feststand. Man braucht sich ja nur an das platonische Symposion 215 D zu erinnern, wo unverkennbar auf solche ?.öyoi — und sicher nicht bloß auf platonische — Bezug genommen ist. 30 Die Quellen. Original, der der Memorabilien die Kopie ist: die Schilderung des Symposions ist ansprechend, klar, anschaulich, frisch, die der Memorabilien blaß, ledern, unerträglich dozierend. Man erhält den Eindruck, daß der Verfasser der Memorabilien, als er seine panegyrische Charakteristik des Sokrates vorbereitete und für die einzelnen Charakterzüge illustrierende Beispiele schuf, zu diesem Zweck auch die Kritobulosszene des Symposions benutzte. Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn man die Differenzen zwischen den beiden Berichten in Betracht zieht. Im Symposion spielt die Szene im Jahre 422. In den Memorabilien muß sie, da der Autor sie als Mitglied des sokratischen Kreises miterlebt haben will, mindestens fünfzehn Jahre später fallen. Diesem Zeitunter- schied trägt der Bericht der Memorabilien in der Tat Rechnung. Im Symposion ist es Kleinias, der jüngere Bruder des Alkibiades, der als der Liebling des Kritobulos erscheint. Er ist für ein solches Verhältnis schon reichlich alt — er muß als mindestens vierund- zwanzigjährig gedacht werden, da sein Vater in der Schlacht bei Koronea (447) gefallen war. Das Symposion deutet auch an, daß der Geliebte älter sei als der Liebhaber (IV 23). In der Memorabilien- szene müßte er nun aber vierzigjährig oder noch älter sein. Und daß ein Mann in diesen Jahren nicht mehr als Objekt für die erotische Leidenschaft des Kritobulos gedacht werden kann, ist klar. Was tut also der Autor? Er setzt an die Stelle des Bruders den Sohn des Alkibiades. Und so flüchtig arbeitet er bei der Abänderung, daß er sich nicht einmal bemüht, dem schönen Sohn des Alki- biades einen Namen zu geben. Aber weiter: der Autor der Memo- rabilien zieht die Kritobulosszene heran, um zu zeigen, wie So- krates über die aphrodisischen Dinge dachte. Zu diesem Behuf muß er die Ausführungen des Kritobulos über die sklavische Ab- hängigkeit, in welche die Verliebtheit den Liebhaber bringe, dem Sokrates in den Mund legen. Das tun die Memorabilien denn in ihrer Weise. Im Symposion hatte Sokrates an die Vermutung, Kritobulos werde den Kleinias wohl schon geküßt haben, und an die Schilderung des Effekts, den ein solcher Kuß haben müsse, die Warnung geknüpft, man solle die Küsse der jugendlich Schönen meiden, wenn man vernünftig bleiben wolle. Diese Warnung greift der Autor der Memorabilien auf und stellt sie an die Spitze. Er berichtet also: „was aber den Liebesgenuß mit den Schönen Die Memorabilien. 31 anlangt, so mahnte er (Sokrates) nachdrücklich, denselben zu meiden; denn, meinte er, nicht leicht sei es, vernünftig zu bleiben, wenn man sich mit solchen Dingen befasse." Diesen charakterisierenden Bericht aber illustriert er dann, indem er, was im Symposion nur Vermutung des Sokrates war, zum Faktum macht und hieran das Gespräch über die Liebesleidenschaft anschließt. Er fährt nämlich fort: „und als er einmal von Kritobulos, dem Sohn des Kriton, erfahren hatte, daß dieser den schönen Sohn des Alki- biades geküßt habe, da fragte er in Gegenwart des Kritobulos den Xenophon: . . ." In der so eingeleiteten Rede des Sokrates selbst aber fließt die Äußerung, die Sokrates im Symposion über die Wirkung des Liebeskusses tut, mit der Rede, die Kritobulos dort über den erotischen Zustand hält, zusammen. Man kann also genau verfolgen, wie der Verfasser der Memora- bilien seine symposiastische Vorlage umgestaltet, um sie für seine Zwecke gebrauchen zu können. Aber er spielt seine Rolle auch ganz zu Ende. Er tut hier, was er sonst nirgends tut. Er be- zeichnet, wie wir sahen, sich selbst als den Adressaten, an den sich Sokrates mit seiner Rede gewandt habe. Und das hat seinen guten Grund: da er der Verfasser des Symposions, also der Er- finder der Kritobulosszene ist, so muß er sich als den Kronzeugen für die Kritobulosepisode der Memorabilien einführen. 1 ) Man sieht: dasjenige Stück in den Memorabilien, in dem man am sichersten die Wiedergabe von Selbsterlebtem sehen zu dürfen glaubt, ist in Wahrheit nichts als eine freie Bearbeitung einer Szene aus dem Symposion, also wie das ganze Symposion eine Schöpfung des Verfassers. Auch die entfernte Möglichkeit näm- lich, in der Kritobulosepisode des Symposions eine in die Dich- tung eingeflochtene historische Reminiszenz zu sehen, ist völlig ausgeschlossen — ausgeschlossen schon durch die Art, wie der Verfasser der „Denkwürdigkeiten" mit den Einzelheiten des sym- posiastischen Berichts umspringt. Auch sonst übrigens hat dieser es nicht verschmäht, der Gesprächsammlung andere seiner Schriften reichlich, oft bis zur ') Joel (II 905) ist geneigt anzunehmen, daß die Kritobulosepisode aus der antisthenischen Gedankenwelt stammt. Allein ohne genügende Begründung. Sicher ist nur, daß Xenophons Stellung zur Erotik hier wie im Symposion im wesentlichen die kynische ist. 32 Die Quellen. Gleichheit des Ausdrucks, dienstbar zu machen. Vielleicht die auffallendste Partie der Memorabilien sind die strategisch-mi- litärischen Gespräche des dritten Buchs. Woher kommt dem Sokrates solche Weisheit? Wir wissen es heute. Sie ist aus xenophontischen Quellen geflossen. So ist z. B. das dritte Kapitel, wo Sokrates sich über die Pflichten eines Reitergenerals verbreitet und mit überraschender Sachkunde auch auf die Einzelheiten des Dienstes eingeht, lediglich ein Auszug aus dem Hipparchicus, einer kleinen, kurz vor der Schlacht bei Mantinea (362) verfaßten Schrift über Kavallerie. So berührt sich ferner das erste Kapitel, das von den für einen Strategen erforderlichen Qualitäten handelt, sehr nahe mit einem Abschnitt der Cyropädie, des bekannten philosophisch-politischen Tendenzromans (I 6). Schon die Szenerie zeigt in beiden Fällen eine merkwürdige Ähnlichkeit. 1 ) Beson- ders interessant aber ist eine Parallele. In Mem. III 1,6 werden summarisch die Eigenschaften des guten Feldherrn aufgezählt. Da wird u. a. gefordert, der Strateg müsse auch hinterlistig, diebisch, räuberisch, habsüchtig und betrügerisch sein. In der epigrammatischen Kürze nun, in der diese Forderungen hier auf- treten, sind sie schlechterdings unverständlich. Genau dieselben Feldherrnqualitäten aber verlangt in Cyrop. I 6,27 Kambyses, der Vater des Cyrus. Und hier erhalten wir für dieses Programm auch die Erläuterung und insbesondere die theoretische Begrün- dung. Auch sonst kann kein Zweifel sein: die Ausführung in der Cyropädie ist das Original, die in den Memorabilien die Kopie oder vielmehr der Auszug: denn auch im ganzen gibt das Kapitel der Cyropädie die reiche, inhaltsvolle Darlegung, aus der die Memorabilien das Wichtigste ausziehen. Ähnlich wie mit den militärwissenschaftlichen Ausführungen der Memorabilien verhält es sich dann auch mit den staatsöko- nomischen. Das 6. Kapitel des 3. Buches, das sich mit dem Staatshaushalt der Athener beschäftigt, hängt aufs engste mit der ') In der Cyropädie hat Cyrus bei einem Lehrer der Strategie Unterricht genommen, und sein Vater fragt ihn nun über das, was er gelernt hat, aus. Hieran knüpft sich dann eine eingehende Auseinandersetzung über die Eigen- schaften eines guten Strategen. — Vgl. Joel II 1058. Leider aber ist die Beweis- kraft von Joels Darlegung durch das wenig glückliche Aufspüren von kynischen Beziehungen erheblich abgeschwächt. Die Memorabilien. 33 Schrift De vectigalibus zusammen, ja es erhält von dieser erst seine Beleuchtung und stammt ohne Zweifel auch aus derselben Zeit, also wahrscheinlich aus der Mitte der fünfziger Jahre des 4. Jahr- hunderts: De vect. und damit das Memorabilienkapitel nehmen Bezug auf eine Situation Athens, wie sie etwa ums Jahr 355 bestand. 1 ) Man ersieht hieraus, wie ferne diese Erörterungen schon rein zeitlich dem Gesichtskreis des historischen Sokrates lagen. Am unverhülltesten tritt der fiktive Charakter der Sokrates- reden der Memorabilien in dem politischen Gespräch zutage, das der Autor den Sokrates mit dem jüngeren Perikles führen läßt (III 5). Nach der Szenerie fällt das Gespräch ins Jahr 407, in dem der Dialogpartner zum Strategen erwählt worden war. Die wirklich geschilderte Situation aber führt uns in die Jahre nach der Schlacht bei Leuktra (371). Die Thebaner sind im Besitz der Hegemonie. Sie machen fast alljährlich siegreiche Einfälle in den Peloponnes, und auch Attika ist, da Athen mit den Spartanern im Bunde steht, bedroht. Xenophon, der alte Spartanerfreund, ist durch die kriegerischen Ereignisse aus seinem skilluntischen Besitz verdrängt. Er hat mit der Heimat, deren auswärtige Politik jetzt die seinige ist, Frieden gemacht. Das Verbannungsdekret ist aufgehoben. Seine beiden Söhne sind in die attische Reiterei eingetreten. Er selbst möchte der Vaterstadt in seiner Weise, durch Mahnung und Rat, beistehen. Er beurteilt die Lage wesentlich optimistischer als manche seiner Landsleute. Zwar ist in Athen noch nicht alles, wie es sein sollte. Aber die Not der Gegenwart wird, so hofft er, die Athener schon aufrütteln. Noch besitzen sie, davon ist er fest überzeugt, viele der glänzenden Eigenschaften, denen sie ihre ruhmvolle Vergangenheit verdanken. Eines nur fehlt ihnen: der militärische Geist und die Disziplin. Und es wäre gut, wenn sie sich hierin die Spartaner, in denen der Autor immer noch die ersten Männer Griechenlands sieht, zum Muster nähmen. Aber ein Grund, zu verzweifeln, ist nicht vorhanden. Die Flotte ist in ausgezeichnetem Stand, und auch sonst herrscht unter den Bürgern tüchtiger Ordnungssinn. Am Ende kommt es — das ist ein deutlicher Wink an den athenischen Souverän — ') Vgl. übrigens zu Mem. III 6 unten S. 39, 1. H. Maier, Sokrates. 34 Die Quellen. nur darauf an, erfahrene und sachkundige Generale über das Heer zu setzen. Dann wird Zucht und Gehorsam sich von selbst einstellen. Die Erörterung schließt mit einem praktischen Rat. Xenophon empfiehlt, die Bergpässe, die von Attika nach Böotien führen, zu besetzen und zu befestigen: damit würden nicht allein Ausfallpforten für Invasionen in Feindesland gewonnen, sondern auch eine Schutzwehr für das eigene Gebiet. Überall spricht der Verfasser aus der reichen Erfahrung seines Lebens heraus. Darum berühren sich diese Ausführungen auch vielfach mit anderen xenophontischen Schriften — früheren und späteren — ,. insbesondere mit der Anabasis, den Hellenika und De vectig. Und was er so, wenige Jahre vor der Schlacht bei Mantinea, seinen Landsleuten zu sagen hat, das läßt er alles — seinen verehrten Meister Sokrates aussprechen. 1 ) In anderen Gesprächen läßt der Autor den Sokrates auch zu prinzipiellen Fragen, die erst Jahrzehnte nach seinem Tod hervor- traten, Stellung nehmen. Dahin gehört vor allem die Unterredung mit Aristipp von Kyrene II 1. Eine derartige Auseinander- setzung mit Aristipps hedonistischer und anarchistischer Lebens- anschauung war natürlich erst zu einer Zeit möglich, als diese mit programmatischer Schärfe herausgearbeitet und auch in die Öffentlichkeit getreten war. Daß dies aber zu Sokrates' Lebzeiten noch nicht der Fall war, kann als sicher gelten. Dagegen war Aristipp in den siebziger und sechziger Jahren in eine Reihe von Kontroversen verwickelt, die sich um seine Stellung zum Staat und besonders um seine hedonistische Ethik drehten. Und offenbar ist es diese Situation, in die unser Gespräch eingreift: es ist Xenophon, der in demselben von seinem sokratischen Standpunkt aus mit dem Kyrenaiker abrechnet. So hat im wesent- ') Vgl. E. Richter, Xenophonstudien, Jahrbücher f. kl. Phil. 19. Supple- mentbd. 1893, S. 129 ff. In der Zeit, in die die Szenerie das Gespräch verlegt: — Perikles war im Sommer 407 Stratege geworden — , läßt sich eine geschicht- liche Situation, die der von Xenophon geschilderten auch nur ähnlich wäre, nicht, nachweisen. Was Hell. I 1,33 und Diodor XIII 72 erzählt wird, kommt nicht in Betracht. Denn da waren die Hauptgegner der Athener die Spartaner, und der Anteil der Thebaner beschränkte sich darauf, daß sie dem König Agis 900 Reiter stellten. In Mem. III 5 ist die Situation eine ganz andere. Überdies aber fällt jener Vorstoß des Königs Agis gegen Attika ins Frühjahr 410. Die Memorabilien. 35 liehen schon Diogenes Laertius den Dialog aufgefaßt. l ) Ähnlich übrigens steht es wohl mit dem Hippiasgespräch (IV 4) über die Identität von Gerechtigkeit und Gesetzmäßigkeit. An sich zwar ist es nicht undenkbar, daß Sokrates mit dem Sophisten Hippias ein solches Thema diskutiert hat. Aber die ganze Aus- führung läßt kaum einen Zweifel daran aufkommen, daß auch dieses Gespräch vom Autor frei ersonnen ist; und zwar stammt es wohl aus einer Zeit, in der der Gegensatz von Natur und Satzung und die Geltung des positiven Rechts innerhalb der sokratischen Gemeinde zu einer Kontroversfrage geworden war. Auch in dieser Sache hatte Xenophon den Wunsch, sich autori- tativ zu äußern, und es war kein übler Gedanke von ihm, dies in der Weise zu tun, daß er den Meister selbst mit dem berühm- testen Vertreter der Naturrechtstheorie disputieren ließ. Es mag bei den bisherigen Nachweisen sein Bewenden haben. Die Beobachtung, daß diese Sokratesgespräche fingierte, imitierte Dialoge sind, drängt sich auch sonst auf, und nirgends haben wir Anlaß und Grund, eine Ausnahme zu konstatieren. Kurz, es bestätigt sich in vollem Umfang: daß die Gespräche der Memo- rabiliensammlung eben nichts anderes sind und sein wollen als köyoi ^ujy.Qariy.oi. Eher könnte man versuchen, den spärlichen „Bericht", der die Gespräche umrahmt, 2 ) als historisch zu retten. Größeren Raum nimmt derselbe nun freilich nur im ersten und namentlich im vierten Buch ein. Hier treffen wir da und dort auf ein breiter ausgesponnenes Referat über das Leben und Wirken des Sokrates. In der Hauptsache aber setzt sich der Bericht aus den kurzen Texten zusammen, zu denen die Gespräche _ die Illustrationen bilden. Und nicht selten ist nur in einem kleinen Satz der An- laß der Unterredung angegeben. Die Tendenz des Ganzen ist durch den Satz, der an der Spitze des Werks steht (I 3,1), be- zeichnet. Darnach will der Autor zeigen, daß Sokrates seinen Freunden nützte teils durch das Beispiel seiner Persönlichkeit und seines Lebens, teils durch seine Unterredungen. Der Be- richt ist denn auch der eigentliche Träger der panegyrischen Cha- ') Diogenes sagt II 65: Zfvo<pwv xs eixs ngog avxöv (Aristipp) dvofxevüq 6ib xal xbv xaxa xrjg rjöovrjq Xoyov Scuxpdxsi xaxa Agioxinnov ntQne&stxev. 2 ) Vgl. J. Bruns, Das literarische Porträt der Griechen S. 362 ff. 3* 36 Die Quellen. rakteristik. Und nichts anderes will er sein. Auch die wenigen Hinweise auf bestimmte Fakta, die sich finden und als historisch gelten können, ordnen sich diesem Zwecke unter: sie wollen nicht eigentlich erzählen, sondern nur Belege für gewisse Charakter- eigenschaften des Meisters liefern. l ) Keinen Anspruch auf Ge- schichtlichkeit können die tatsächlichen Mitteilungen machen, die zu den Szenerien der Gespräche gehören. Die letzteren haben sich uns bereits in einer Reihe von Fällen als erfunden erwiesen. Damit sind sie in allen verdächtig geworden. Das gilt natürlich auch von dem Personal der Unterredungen. Da und dort können wir noch die Motive erraten, die den Verfasser bei der Wahl der Dialogpartner geleitet haben. Warum er den Sokrates z. B. über Enkratie und über die Notwendigkeit des staatlichen Lebens mit dem Hedoniker und Kosmopoliten Aristipp reden läßt, warum ferner über die Gleichung „Gesetzmäßig-Gerecht" mit dem Naturrechts- theoretiker Hippias und über den Gelderwerb der Sophisten mit dem athenischen Sophisten Antiphon, warum endlich über die politische Lage des athenischen Staats mit dem Sohn des großen Perikles, das alles ist mehr als durchsichtig. Auch hinsichtlich des äußeren Dialogapparates also steht es mit den xenophontischen Sokratesgesprächen ähnlich wie mit den platonischen: auch bei ihnen sind die tatsächlichen Einkleidungen grundsätzlich nicht als geschichtlich zu betrachten. Was aber endlich die eigentliche Substanz des Berichts anlangt, so ist dieselbe ein generelles Referat, das die verschiedenen Seiten der Persönlichkeit und der Wirksamkeit des Sokrates ohne Eingehen auf faktische Einzel- heiten schildert und am Schluß in eine Zusammenfassung seiner hauptsächlichen Tugenden ausmündet. Ist nun dieses Referat ge- schichtlich? Oder vielmehr: will es geschichtlich sein? ') Notizen dieser Art finden sich nur im 4. Buch. Zunächst im 4. Kap., 1—4. Wie wenig diese Bemerkungen aber selbständige historische Mitteilungen sein wollen, geht auch daraus hervor, daß sie nur Auszüge aus früheren Be- richten sind: die erste (§ 2) geht auf die Schutzschrift I 1, 18, die zweite (§ 3) auf die Schutzschrift 12, 33 ff. und auf Plat. Apol. 32 CD, die dritte (§ 4) höchst wahrscheinlich auf Plato Apol. 34 C ff. zurück. Außerdem enthält nur noch das letzte Kapitel eigentlich historische Notizen. Hier lehnt sich § 2 möglicherweise — notwendig ist die Annahme nicht, da Xenophon immerhin auch auf anderem Weg Kenntnis von dem hier Berichteten erhalten haben kann — an Plato Phaidon 58 Äff. an. § 3—10 aber ist aus Xen. Apol. geschöpft. Die Memorabilien. 37 Offenbar ist das die Hauptfrage, die aber nur beantwortet werden kann, wenn sie im gleichen Sinn nun auch an die Ge- spräche gerichtet wird. Diese wollen, indem sie den Sokrates direkt reden und disputieren lassen, doch nur die Anschauungen und Gedanken des Meisters entwickeln und die Art seines Wirkens schildern. Sie fügen sich darum jenem Referat derart ein, daß dasselbe ohne sie meist nur eine leere Form ist. Ist es nun der wirkliche, der historische Sokrates, den Xenophon uns in dieser Weise — teils durch charakterisierenden Bericht, teils im imitierten Gespräch — vorführen will? Oder aber will der Autor nur unter der sokratischen Flagge eigene Gedanken in die Welt hinaus- gehen lassen? Man wird diese zweite Möglichkeit nicht ohne weiteres abweisen können. Nicht bloß der Ökonomikus legt kritische Bedenken dieser Art nahe. Auch die Gesprächsammlung der Memorabilien selbst muß Verdacht erregen, wenn man bedenkt, daß sie ihrem Helden ein ethnographisches Wissen und Interesse beilegt (II 1,10; III 5,26), das bei Xenophon völlig natürlich, bei Sokrates mehr als auffallend ist, wenn man sich erinnert, daß sie den Sokrates militärtechnische und finanztheoretische Fragen er- örtern läßt und ihm gar die eigenen Betrachtungen des Autors über die politische Lage des athenischen Staats in den sechziger Jahren des 4. Jahrhunderts in den Mund legt. Daß ferner die Äußerungen, die der Sokrates der xenophontischen Gespräch- sammlung über Mantik, über Kultus und Frömmigkeit, über Wesen und Wirken der Götter tut, zum allergrößten Teil nur die Anschauung Xenophons, wie sie uns aus seiner übrigen Schriftstellerei reichlich bekannt ist, wiedergeben, ist unverkenn- bar. Ebenso wird daran niemand zweifeln, daß die starke Wert- schätzung der soldatischen Tugenden, die uns an diesem Sokra- tes auffällt, dem Verfasser zur Last fällt. Auch sonst aber hat man oft genug, und zwar auch bei wichtigen Dingen, die Emp- findung, daß der Autor dem Meister seine eigenen Ansichten, Interessen und Grundsätze unterschiebt. Liegt das nicht am Ende im Plan des Werks? Hat Xenophon nicht vielleicht eben die Absicht, für das eigene Lebensideal, indem er dasselbe an den gefeierten Namen des Sokrates knüpft, wirksam Propaganda zu machen? 38 Die Quellen. Ich glaube, wenn man eines mit voller Bestimmtheit sagen kann, so ist es das, daß Xenophon wirklich den historischen So- krates geben will. Nur müssen wir hinzufügen: er will ihn nicht in historischer Form geben. Das ist kein Widerspruch, oder doch nur ein äußerlicher. 1 ) Der Autor folgt hier wieder durchaus dem Vorgang der anderen löyoi ^coxQanxoL Diese verfolgten von An- fang an keineswegs nur das Ziel, zu zeigen, wie der tote Meister einst gesprochen hatte; sie hatten vielmehr — wir werden später hierauf zurückkommen — den Zweck, die Wirksamkeit des So- krates fortzusetzen. Sie wollten darum unmittelbar, aber ganz im Sinne des Meisters, zum Leser reden und auf ihn wirken, wie die sokratischen Gespräche einst auf die Hörer und Gesprächs- partner gewirkt hatten. Darum konnten und mußten sie auch Gegenwartsfragen behandeln: in solchen Fällen wurde dem Leser zu Gemüt geführt: so würde der Meister heute reden, wenn er noch leben würde. Genau auf der gleichen Linie bewegen sich Xenophons Logoi Sokratikoi. Auch sie wollen ihren Helden nicht bloß geschichtlich charakterisieren, sondern zugleich zu der Gegenwart sprechen lassen. So können sie wagen, ihn Streit- fragen der späteren Zeit entscheiden und den Menschen der siebziger, sechziger und fünfziger Jahre in allen möglichen Lagen praktischen Rat erteilen zu lassen. Und auch andere Be- denken lösen sich so. Xenophon sah in Sokrates einen Mann, der in allen Dingen dieses Lebens Bescheid wußte und über alle Fragen, die ihm in den Weg traten, sachkundig reden konnte. Darum glaubte er — und konnte er glauben — , dem sokratischen Bilde keineswegs fremde Züge einzufügen, wenn er dem Meister die eigenen militärischen, ökonomischen, staatswirtschaftlichen Erfahrungen und Kenntnisse beilegte und ihn diese vor den Lesern ausbreiten ließ. Ihm selbst sagte dieses Verfahren wohl darum noch beson- ders zu, weil es zu der Art, wie er zu seiner Sokratesauffassung ') Eine gewisse Diskrepanz zwischen der referierenden Charakteristik, die naturgemäß die historische Form stark in die Erscheinung treten läßt, und der unhistorischen Natur der aktuellen Logoi ist nicht zu verkennen. Ein ähnlicher Mißklang besteht aber im Grund auch bei den platonischen Dialogen zwischen der Szenerie und dem Gespräch. Xenophon konnte damit rechnen, daß seine Leser über diese äußere Unebenheit leicht hinweg kommen werden. Die Memorabilien. 39 gekommen war, nicht übel paßte. Nicht zu zweifeln ist, daß Xenophon das Bewußtsein hatte, dem Umgang mit Sokrates das Fundament seiner Lebens- und Weltanschauung zu verdanken. Darum hatte er sich auch für berechtigt gehalten, das Beste von dem, was sich ihm auf dieser Grundlage an Überzeugungen und Erfahrungen in einem wechselvollen Leben ergeben und gemüt- lich verfestigt hatte, auf den verehrten Meister zurückzuführen. Das alles aber hatte ihm nicht genügt, als er sich in seiner skilluntischen Einsamkeit anschickte, unter die sokratischen Schrift- steller zu gehen. Für die literarische Behandlung war ihm das Bild, das sich ihm während seines langjährigen Abenteurerlebens gestaltet hatte, doch wohl zu fragmentarisch und vag, und schon die Schutzschrift und die Apologie lassen erkennen, daß er nicht bloß durch mündliche Erkundigung und eifrige Umschau in der Sokratesliteratur, sondern vor allem auch durch reflektierende Verarbeitung ( des Erlebten, Gehörten und Gelesenen zu einem vollständigeren und tiefer eindringenden Verständnis der Persön- lichkeit und Wirksamkeit des Meisters zu gelangen beflissen war. Dieses Bemühen hatte er nachher fortgesetzt. Das Ergebnis liegt in der Gesprächsammlung vor. Das Sokratesbild dieses Werkes ist also zu einem beträchtlichen Teil nicht erinnert, sondern er- arbeitet. 1 ) Daß dem Autor unter solchen Umständen die Freiheit, die ihm die unhistorisch aktuelle Manier der loyoi SioxyctTiy.ol für die Entwicklung seiner Auffassung gewährte, willkommen war, leuchtet ein. Den Anspruch, den wirklichen Sokrates zu bieten, stimmt er darum nicht im mindesten herab. Im Gegenteil. Das Bewußtsein, im Besitz eines wohlabgewogenen, auf umsichtige Überlegung gegründeten Sokratesverständnisses zu sein, das den Hintergrund der Gesprächsammlung bildet, gibt diesem Anspruch noch einen ') Vgl. Leo, Die griechisch-römische Biographie S. 90. — Xenophon hat sich durchaus nicht gescheut, die mannigfaltigsten Früchte auch seiner lite- rarischen Lektüre in sein Sokratesbild hineinzuverarbeiten. Wir werden unten sehen, daß er unbedenklich den sophistischen Aioool Xöyoi Material für seine sokratischen Gespräche entlehnt. Besonders bezeichnend ist aber, daß, wie Wend- land in seinem „Anaximenes von Lampsakos", 1905, S. 65 ff. nachgewiesen hat das Kapitel Mem. III 6 die Topik eines rhetorischen Lehrbuchs zur Grundlage seiner Ausführungen gemacht hat. Vgl. übrigens auch Wendlands Charakteristik des literarischen Charakters der Memorabilien überhaupt, ebenda S. 69 f. 40 Die Quellen. besonderen Nachdruck. Und eben hierin liegt das Eigentüm- liche, das, was die Gesprächsammlung vor den übrigen Sokratika voraus hat. Auch das Symposion und der Ökonomikus wollen in der Charakteristik des Sokrates wirklichkeitstreu sein. In der Gesprächsammlung aber ist hierauf ein Gewicht gelegt, das eine besondere Tendenz verrät. Und in dieser Tendenz liegt recht eigentlich die Pointe des Werks, die dasselbe auch von der Schutz- schrift und der Apologie spezifisch unterscheidet. Um es kurz zu sagen: die Gesprächsammlung will das Bild des wirklichen Sokrates, wie sie es sich zurechtgelegt hat, in den großen Kampf der Parteien, die sich damals um das Erbe des Meisters, ja um Sokrates selbst stritten, hineinwerfen, um die Entscheidung und den Frieden herbeizuführen. Das ist das tiefste Motiv des an- geblichen „Memoirenwerkes". Zu der Zeit, als Xenophon zu Schriftstellern anfing, war es nicht allein die Polykratesbewegung, die die Sokratiker in An- spruch nahm. Der Kampf gegen den inferioren Sophisten war ein Spiel gegen den Streit im eigenen Lager, der damals schon die sokratische Gemeinde zu entzweien begonnen hatte, den Streit zwischen Antisthenes und Plato. Das war die große Fehde in der 1. Hälfte des 4. Jahrhunderts, die sich dann noch Jahr- zehnte lang fortgesponnen hat. Es war ein Kampf um die Führer- schaft in der Gemeinde, im tiefsten Grund aber um die Interpre- tation, um das Verständnis des Sokrates, um das Recht, an den Namen des geliebten Meisters die eigene Weltanschauung und das eigene Lebensideal zu knüpfen. Auf der einen Seite steht der skeptisch denkende, einseitig praktische, asketische, kosmopo- litisch-antisoziale und individualistische Sokrates des Antisthenes, der Gegner von Kultur und Wissenschaft, dessen Parole die Rück- kehr zur Natur ist — auf der anderen der Sokrates Piatos, der Intellektualist, der Metaphysiker, der Nationalist, der Soziale, der Mann, dem Wissenschaft, Kultur und Staat über alles gehen. Zu dieser einen Kontroverse aber waren noch andere ge- kommen. So vor allem die aristippische. Aristipp, der Kyre- naiker, war seinen eigenen Weg gegangen. Sein Hedonismus brachte ihn mit Antisthenes in Konflikt, wie ihn sein staatsfeind- licher Kosmopolitismus und seine Skepsis von Plato schieden. Das waren Nebenfehden, die aber ganz dazu angetan waren, die Die Memorabilien. 41 Verwirrung und Erregung in der sokratischen Gemeinde noch zu steigern. Wir wissen nicht, wann der Autor der Gesprächsammlung den Plan zu seinem Unternehmen zuerst gefaßt hat. Ohne Zweifel ist dies erst zu einer Zeit geschehen, wo der Streit auf allen Seiten längst in vollem Gange war. Daß Xenophon auf seinem Skillunter Landsitz, obwohl er dem Schauplatz der Wirren fernge- rückt und wohl auch in die Verhältnisse nicht tiefer eingeweiht war, am Ende das Bedürfnis hatte, in den Kampf, der für die soma- tische Sache verhängnisvoll werden konnte, einzugreifen, verstehen wir. Und bot sich ihm, der sich bewußt war, über den Parteien zu stehen, nicht von selbst die Rolle des unparteiischen Schieds- richters an ? Fraglich konnte nur sein, woher er das Recht zu einem sol- chen Auftreten nahm. Wie ihn die Außenstehenden ursprünglich überhaupt nicht als Sokratiker kannten, 1 ) so betrachteten ihn die Intimen des sokratischen Kreises wohl auch jetzt noch keineswegs als einen der Ihrigen. Wie konnte er da wagen, sich über sie stellen und ihnen über Sokrates ein Licht aufstecken zu wollen? Xenophon sieht den Einwand voraus, und er beugt ihm vor. Er legitimiert sich als Sokratiker. Das ist der Sinn jener immer wiederkehrenden Versicherung der Ohrenzeugenschaft, die schließ- lich in der Gesprächsammlung doch einen anderen Charakter hat als im Symposion und im Ökonomikus. 2 ) Aber der Autor geht noch weiter. Er nimmt ausdrücklich für sich in Anspruch, zu den Vertrauten des Meisters gehört zu haben, und gründet darauf seine Berechtigung, in der großen Sache ein entscheidendes Wort mitzureden. 3 ) Vielleicht, daß die Gesprächsammlung selbst diese Absicht direkt ausgesprochen hätte, wenn sie noch zum redaktionellen Abschluß gekommen wäre. Auch so aber verraten gelegent- liche Äußerungen in einzelnen Stücken deutlich, was der Autor ') Vgl. s.7,1. 2 ) Es ist daran zu erinnern, daß diese Versicherung in der Gesprächsamm- lung nicht bloß sehr viel häufiger und nachdrücklicher auftritt als im Symp. und Ökon., daß die Fiktion vielmehr dort auch behutsamer durchgeführt ist (vgl. S. 6, 2). 3 ) Vgl. die Stelle Mem. I 4, 1, die sofort zu zitieren sein wird. 42 Die Quellen. gewollt hat. Daß er IV 3, 2 seine Arbeit mit den „sokratischen Gesprächen" der anderen Sokratiker ausdrücklich in Konkurrenz stellt, wissen wir bereits (S. 26 f.). Dazu kommt aber eine zweite Bemerkung, die noch sehr viel bestimmter lautet (14,1): „Wenn aber gewisse Leute, gestützt auf das, was einige über ihn (So- krates) schreiben und sagen, der Meinung sind, daß er es zwar vortrefflich verstanden habe, die Menschen zur Tugend aufmun- ternd anzuregen {nQOTQt\pao&ai), nicht aber, sie zu ihr hinzu- führen, so mögen dieselben nicht allein diejenigen seiner Ge- spräche in Betracht ziehen, in denen er zum Zweck der Zurecht- weisung die Leute, die alles zu wissen meinten, mit seinen Fragen überführte (iyomöv rjlsyzev), sondern auch diejenigen, die er all- täglich mit den Männern seiner Umgebung führte, und dann ur- teilen, ob er imstande war, seine Schüler besser zu machen." 1 ) Daß sich Xenophon hier gegen eine bestimmte Auffassung des Sokrates wenden will, gegen diejenige nämlich, die in ihm lediglich den Protreptiker sieht, ist klar. Wen hat er aber im Auge? Man könnte an Plato denken, der in der Tat, wie wir sehen werden, in seinen früheren Schriften Sokrates so, d. h. als den Dialektiker, der die Leute mit seinen überführenden Fragen zur sittlichen Selbstbesinnung veranlassen wollte, darstellt. Allein zu der Zeit, da Xenophon jenen Satz niederschrieb, war Plato längst über diese Position hinausgeschritten. Andererseits schildert Xe- nophon selbst den Sokrates doch auch in der Hauptsache als Protreptiker. Ja, er charakterisiert die Wirksamkeit des Meisters nach ihrer positiven Seite mit ausdrücklichen Worten als Protreptik. 2 ) Offenbar zielt er an unserer Stelle auf eine ganz bestimmte Art der Protreptik hin. Man wird an den platonischen Euthydemos erinnert, wo Antisthenes als der Mann der protreptischen Reden ') Mem. I 4, 1 : El öe xiveq Swxgüxri vo/ui£ovoiv, oiq evioi ygcupovoL xs xal Xeyovot ntgl avxov lex/uaLpo/jtvoi, ngoxQtxpaod'ai fxsv ävS-Qwnovq in aQSxrjV xqÜxioxov yeyovsvai, ngoayayelv $ £n avxrjv ovy ixavöv, oxeipä/uerot /nrj fxövov a ixslvoq xo).aaxrjQiov evexa zovq nävx olofievovg slösvai igcoxcüv rjkeyysv, aXXa xal a keycov ovvrjfxi-Qtve xolq avvöiaiQi'ßovai, doxi/uaZ,ovTwv el Ixavöq r\v ßeXxtovq noislv xovc ovvövxaq. -) Das ist vor allem an der programmatischen Stelle im letzten Paragraphen der Gesprächsammlung, IV 8, 11, geschehen. Vgl. 17, 1; II i, 1; II 5, 1 u. ö. Ähn- lich übrigens schon im letzten Paragraphen der Schutzschrift, I 2, 64. Die Memorabilien. 43 mit der eristischen Dialektik karikiert ist. Und zweifellos ist es zuletzt die antisthenische Sokratesauffassung mit ihrem stark skeptisch-eristischen Einschlag, gegen die Xenophon Einsprache erheben will. Allein seine Polemik hat eine doppelte Spitze. Von den „ge- wissen Leuten" (jivig), die als die nächsten Repräsentanten der irrigen Ansicht über Sokrates erscheinen, sind die „einigen" (evwi) unterschieden, auf deren literarische und mündliche Aus- lassungen jene ihre Meinung gründen. Wer sind nun die xivsg und wer die enoi? Wir wissen darüber ziemlich genau Bescheid. Xenophon hat den in die platonische Sammlung aufgenommenen Dialog „Kleitophon" vor Augen. Der Dialogpartner Kleitophon spricht sich hier dahin aus, daß Sokrates zwar ein ausgezeichneter Protreptiker sei, daß man aber von ihm nicht erfahre, wie man nun positiv zur Tugend kommen könne; und er fährt fort, es bleibe ihm unter diesen Umständen nichts übrig, als sich an den So- phisten Thrasymachos zu halten, um weiter zu kommen. Wir werden später sehen, daß das kleine Werkchen eine Auseinander- setzung Piatos oder eines Platoschülers mit dem kynischen So- kratestypus ist. Xenophon nun ist sich darüber allem nach voll- ständig klar, daß es die antisthenische Auffassung des Sokrates ist, von der der „Kleitophon" ausgeht: mit den snoL an unserer Stelle sind sicher Antisthenes und sein Anhang gemeint. Den Verfasser des Dialogs aber, von dem er annimmt, daß er in der Rede des Kleitophon seine eigene Anschauung vortrage, denkt er sich offenbar als einen Außenstehenden, der, durch die So- kratesdarstellung der antisthenischen Schule irregeführt, zu einem falschen und ungerechten Urteil über den Meister und sein Wirken gekommen war. Und gegen dieses Urteil wendet er sich mit dem Gewicht des legitimen Sokratikers. Allein verantwortlich für dasselbe macht er doch den Antisthenes und seine Schüler selbst. Und unverkennbar ist es diese Adresse, an die sich seine Kritik eigentlich wenden will. Der Verfasser der Gesprächsammlung bekämpft also hier offen und ausdrücklich die kynische Sokrates- auffassung, und er scheut sich nicht, hiebei, wenigstens mittelbar, selbst dem Antisthenes gegenüber die Autorität des vertrauten Sokratesjüngers hervorzukehren. Ist es nun vielleicht Plato, auf dessen Seite er sich schlägt? 44 Die Quellen. Oder stellt er sich auch zu diesem kritisch? Es ist auffallend: wirklich polemische Seitenblicke auf Plato finden sich, so viel wir sehen können, in den Memorabilien nirgends. 1 ) Aber noch auf- fallender ist, daß Plato auch nirgends als Gesprächspartner ein- geführt ist. Das ist nicht Zufall, sondern Absicht. Und zwar keineswegs eine unfreundliche. Der Autor nennt Plato gelegent- lich als einen dem Meister besonders nahestehenden Sokratiker. 2 ) Man hat den Eindruck: kritisieren will er ihn nicht, andererseits aber ihm auch nicht eigentlich zustimmen. So läßt er ihn ge- flissentlich aus dem Spiel, und zwar so sehr, daß er ihn nicht einmal unter das Personal seiner Gesprächsammlung aufnimmt. Wie erklärt sich dieses Verhalten ? Wir können den Grund nur ver- muten. Offenbar ist Xenophon auch mit dem Sokrates Piatos nicht zufrieden. Aber er vermeidet es, diesen anzugreifen, wohl schon darum, weil er auch nicht mittelbar dazu beitragen will, die Position des Antisthenes zu stärken. Soviel nämlich ist gewiß: er sah in Antisthenes eine Gefahr für die Sokratik. Ihm war wohl der ganze Mann im Innersten zuwider. Wir verstehen das: der altgläubige Aristokrat, der ritter- liche Romantiker, der Verehrer der guten alten Zeit und der her- gebrachten Ordnungen, der Offizier mit dem starken Sinn für Dis- ziplin konnte für diesen Proletarier, diesen Rationalisten, diesen Revolutionär und Allesgleichmacher nichts übrig haben. Schon ') Selbstverständlich geht es nicht an, an allen Punkten, wo Xenophons An- schauungen von den platonischen abweichen, ohne weiteres eine polemische Be- zugnahme auf die letzteren zu vermuten. Daß Xenophon im Symposion seine Differenz in der Erosfrage mit bewußter Absichtlichkeit stark hervortreten läßt, ist oben (S. 15, 1) bemerkt worden. Aber eigentliche Polemik war auch das nicht. Und in der Gesprächsammlung ist nicht bloß die Differenz abgeschwächt, sondern auch jene Absicht verwischt. In der Kritobulosepisode, wo jetzt die Erosfrage behandelt wird, tritt Xenophon selbst als Gesprächspartner für eine gemäßigte Erotik ein; und in IV 1, 1 Schluß und 2, wo Sokrates' persönliches Verhalten in päderastisch-erotischen Dingen charakterisiert ist, berührt sich die xenophontische Schilderung mit der platonischen (Symp. 216 DE) selbst im Wortlaut so nahe, daß hier sogar die Annahme einer Abhängigkeit der ersteren von der letzteren nicht von der Hand zu weisen ist. — Auf die phantastischen Konstruktionen Joels, der in III 6 und 7 polemische Beziehungen zu Plato finden will, brauche ich nicht einzugehen. 2 ) Mem. III 6, 1 wird bemerkt, Sokrates sei dem Glaukon um Charmides' und Piatos willen wohlgesinnt gewesen. Die Memorabilien. 45 in der Schutzschrift hatte er scharf gegen ihn polemisiert: er hatte ihn und seine Schüler dabei in wenig freundlicher Weise als Leute bezeichnet, die „sich für Philosophen ausgeben", und seinen eigenen Standpunkt mit verletzender Bestimmtheit dem antisthe- nischen entgegengesetzt. 1 ) Im Symposion ferner ist Antisthenes in einer Weise gezeichnet, die die heftige Antipathie des Autors gegen den Mann deutlich genug verrät. Zwar erscheint er hier als treu ergebener, mit dem Meister eng verbundener Sokrates- jünger und zugleich als eifriger und erfolgreicher Werber für die sokratische Sache (VIII 4—6, IV 44). Aber auch diese Seite des Bildes ist in eine wenig günstige Beleuchtung gerückt: wenn der Sokrates des Symposions den Freund als einen philosophischen Kuppler charakterisiert (IV 56 ff.), der auch ihm Anhänger zuge- führt habe, so steckt in dem scherzhaften Lob eine beträchtliche Dosis Bosheit, in der vielleicht noch die Unzufriedenheit der so- matischen Gemeinde über die Schulgründung und Schultätigkeit des Antisthenes nachklingt. Das ist um so bemerkenswerter, als die xenophontische Sokratik im Symposion in wichtigen Stücken be- wußterweise mit der antisthenischen zusammengeht. 2 ) Jetzt, in der Gesprächsammlung, ist auch hierin die Stimmung eine an- dere geworden. Das zwar ist auch hier ausdrücklich anerkannt daß Antisthenes sich mit ganz besonderer Treue und Innigkeit dem Meister hingegeben hatte. 3 ) Und wenn ihm in dem Ge- sprächspersonal nur eine untergeordnete Rolle zugewiesen ist — er erscheint nur einmal (II 5), und zwar in einem ganz kurzen und unbedeutenden Gespräch als Partner — so will der Autor damit gewiß nicht andeuten, daß Antisthenes über Sokrates nichts zu sagen wußte. Aber die ganze Richtung, in die dieser die So- kratik hineinzuziehen 'bemüht war, schien ihm bedenklich. Es war zunächst die Freigeisterei des Antisthenes, die Stellung der kynischen Schule zur Religion und zum Kultus des Staats, woran ') Mem. I 2, 19: 'Iowg ovv si'noiev av rcoXlol xäv (paaxövxwv (ptXoaocpelv, oxi ovx av 7iozs 6 ölxaioq äörxoq yevotxo, ovöb 6 oaxpocuv vßpioxrjg, . . . £y<h öh neol xovxwv ovx ovtco yiyvcüoxu . . . Daß diese Polemik auf Antisthenes und die Seinen geht, ist allgemein zugestanden. Vgl. Diog. L. VI 12 und 105. 2 ) Vgl. S. 17, 1. 3 ) In dem Theodotegespräch, III 11, 17, bezeichnet Sokrates den Apollodor und den Antisthenes als Männer, die nie von seiner Seite weichen. 46 Die Quellen. er Anstoß nahm 1 ), daneben aber auch die kynische Geringschätzung des positiven Rechts und der gesellschaftlichen Institutionen, 2 ) *) In I 4 schließt sich unmittelbar an die Stelle § 1 (S. 42, 1) das Gespräch mit Aristodemos „über die Gottheit" an. Die Überleitung erfolgt mit den Worten: kt§cu 6h tiqütov a noxe ccvxov rjxovoa nspl xov duifxovlov ötakeyofjsvov npoq 'AQiaxöötjfxov xov fxtxgov inixakovfievov. Daß das hiemit eingeleitete Gespräch dazu dienen soll, die im Vorhergehenden angegriffene Sokratesauffassung zu korrigieren, ist klar. Nicht zu verkennen ist ferner, daß die dem Aristodemos in § 2 und § 9—11 zugeschriebenen Anschauungen durchaus kynisch sind. Nach § 2 kennt Sokrates den Aristod. als einen Mann ovxs 9-vovra xolq &eoiq ovxf fiavxixy ygcöfxevov, akkd xal xaJv noiovvxwv xavxa xaxayeköJvxa. Dieses Ver- halten wird von Ar. in § 10 erläutert und begründet: Ovxoi . . iyaj . . vtuqoqü) xo öaifxdviov, aA/.* exelvo fjeyakongfntoxegov i^yovfxai ij utq xrjq ifJ-tjq Q-egaTielaq npooöüo&cu ... Ev t'ad-i, l'cprj, oxi, el vofiiC,oi(xi &soi>q dv&pwncov xi (pgovxlt,ftv, ovx uv d[A£?.oir]v avxdjv. Das alles stimmt Zug für Zug mit dem überein, was wir über die antisthenische Theologie wissen (vgl. vorerst die von Zeller II l 4 S. 328 ff. in den Anmerkungen gegebenen Belegstellen). Ebenso stimmt der Einwand, den Aristodemos gegen den Hinweis des Sokrates auf die in der Welt wirkenden ver- nünftigen Kräfte in § 9 macht: Md Ai ov ydg 6q<ü xovg xvglovc, woneg xwv iv&dde yiyvofxivwv xovq örjfiiovQyovq, ganz zu dem, was wir unten über den antisthenischen Materialismus erfahren werden. Beachtung verdient auch die Bemerkung Zellers (II l 4 , S. 328, 2), daß der Adressat des Gesprächs, Aristo- demos, „bei Plato (Symp. 173B) als ein Geistesverwandter des Antisthenes ge- schildert" werde. — Auch die theologische Unterhaltung in IV 3 übrigens enthält eine deutliche Spitze gegen Antisthenes, sofern hier am Schluß (§ 161) die delphische Forderung, man solle die Götter vö^u> nöksojq verehren (vgl. hiezu auch I 3,1), mit Energie eingeschärft wird: gegen diesen vö/xoq hatte sich die antisthenische Polemik mit besonderem Nachdruck gewendet. -) Gegen diese richtet sich, wie ich annehme, das oben (S. 35) berührte Hippiasgespräch. Wie Joel (II 1098 ff.) die hier durchgeführte Gleichung dixcuov = vö/ui/uov und den ganzen Gedankengehalt des Kapitels für antisthenisch halten kann, ist mir unverständlich. Plausibel scheint mir zwar, daß Xenophon hier wirklich ein antisthenisches Gespräch vor sich gehabt hat, in dem Hippias eine Rolle spielte. Im übrigen aber hat Joel, wie ich glaube, den wirklichen Sach- verhalt geradezu auf den Kopf gestellt. Im ersten Teil des Gesprächs erscheinen die positiven Rechtsordnungen (die vö/xoi nökswq) als die vöfioi, deren Befolgung öixaioovvrj sei. Das sind aber gerade diejenigen, die der Kyniker, der nur den Nomos dptxTjq anerkennt (Diog. VI 11), grundsätzlich verwirft. Und der Nach- weis, daß in bezug auf diese Gesetze v6fj.ifj.ov = dlxaiov sei, setzt sich der kynischen Anschauung direkt entgegen (hiezu vgl. auch Mem. IV 6, 5 f.). Aber die Polemik setzt sich auch im zweiten Teil, der auf die vöfxoi dygayoi eingeht, fort. Möglich ist, daß die Kyniker gelegentlich von vöfxoi dygacpoi gesprochen haben. Aber wir wissen hierüber nichts: der Rückschluß Joels (S. 1114) aus Dio (or. 75 und 76) auf die alte Kynik ist hier ganz verfehlt, da die beiden Die Memorabilien. 47 und vor allem die negativ- elenktische, eristische Dialektik, die Reden Dios sophistischer Zeit angehören (v. Arnim, Dio von Prusa S. 155 ff J. Und nur das können wir bestimmt sagen: wenn Antisthenes den Ausdruck vöfj.01 aygaipoi gebraucht hat, so hat er dies in demselben Sinn getan, in dem er von einem vö/uog zijg dgezrjq sprach. Wenn er einmal von einem vöfxoq der Tugend sprach, so konnte er am Ende auch sittliche Regeln, die durch das Tugendgesetz gefordert waren, als „vöfxoi" bezeichnen. Das war indessen eben nur eine paradoxe Redeweise, die ihn nicht hinderte, über v6/xoq und vö/uoi über- haupt grundsätzlich den Stab zu brechen. Von Diogenes ist ausdrücklich über- liefert, er habe dem Nomos die Physis entgegengesetzt (Diog. Laert. VI 38: ecpaaxe d' uvTiziSävui . . v6/liw . . ipvoiv). Das hat aber zweifellos schon Antisthenes getan (vgl. vorerst Philodem de piet. S. 72 Gomp.: nag' 'Avno&tvei ö' iv (xsv ziö <Pvoixü) Xeyezai zo xaza vöfiov iivai nokkovg 9eovc, xaxa de ipvoiv sva, und die Parallelstelle Cic. de nat. deor. I 13, 32, und hiezu nun Diog. L. VI 11, wo von Antisthenes jener Ausspruch angeführt wird: zbv ooipbv ov xaxa xovq xn- ixivovq vöfiovq nofazfveo&ai, aXXa xaza xbv zi'jq agsxijq}. Von hier aus ist ihm das vö/ui/xov überhaupt etwas sittlich Unverbindliches und Minderwertiges. Denn das vdfiißov ist die Sphäre des der ipvoiq entgegenstehenden vöfxoq: das dem „Gesetz" der Tugend und den damit zusammenhängenden Regeln Entsprechende hätte Antisthenes sicher nicht vöpifxov genannt. Xenophon aber begnügt sich, indem er die Gleichsetzung vöfxtßov = öixaiov weiterführt, nicht etwa damit, die Anerkennung von vö/xoi ccygacpoi herbeizuführen und dann unmittelbar zu zeigen, daß dieselben sittlich gesetzt seien und ihre Befolgung als dlxcuov zu gelten habe; er legt vielmehr darauf besonderes Gewicht, daß diese vößoi äyQayoi ge- setzte (xfl/uevoi), also den positiven Rechtssätzen gleichartige Gesetze seien: offenbar darum, weil nur dann auch ihre Sphäre als ein vöfja^ov bezeichnet werden kann; gesetzte Gesetze aber sind sie, sofern die Götter hier, wie im einzelnen gezeigt wird, die Gesetzgeber sind. Schließlich wird dann bewiesen, daß die von den Göttern gegebenen Gesetze als solche notwendig sittliche Gesetze (zu dlxcua) seien, daß also auch auf diesem Gebiet vößifiov = öixaiov sei. Die Quintessenz der ganzen Beweisführung ist also diese. Das Demon- strandum ist: das vöfxt/AOv ist das öixaiov. Und es wird nun bewiesen 1. der Gehorsam gegen die positiv-rechtlichen Gesetze ist ein öixaiov; 2. der Gehorsam gegen die aygayoi vöpoi, der ebenfalls ein vö/ui/uov ist, ist gleichfalls ein öixaiov. Damit ist natürlich noch nicht bewiesen, daß die Sphäre des vöfiifjiov und die des öixaiov sich decken. Das wird aber ohne weiteren Beweis angenommen. Der Zweck der Argumentation ist ja immerhin erreicht. Die zu beweisende These war offensichtlich von vornherein eben als ein Paradoxon gedacht. Die Kynik sagt: das vöfxifxov hat mit dem öixaiov nichts zu tun. Xenophon stellt dieser Behauptung die andere entgegen: das vofufAOv ist im Gegenteil das öixaiov. Und im Beweis selbst ist wenigstens genug getan, um die kynische These umzustürzen. — Zu dem Vorhergehenden sei noch ein Doppeltes angemerkt. 1. Auffallend bleibt immer noch der Umweg, den der 2. Teil des Beweises über die Götter macht. Den Zielpunkt des Beweises, den Satz, daß die vöfxoi äyoayoi sittliche Gesetze seien, hätte Xenophon von seinem Standpunkt aus viel bequemer erreichen können. 48 Die Quellen. der antisthenischen Protreptik ihr Gepräge gab, und deren un- Und tatsächlich macht er sich ja in dem von ihm wirklich geführten Beweis den Übergang, auf den alles ankommt, den Nachweis: daß die von den Göttern ge- setzten Gesetze sittliche Gesetze sein müssen, so leicht, daß man sieht: eigent- lich setzt der Autor die Überzeugung, daß die fraglichen Gesetze sittliche seien, schon voraus. Woran ihm aber alles liegt, ist der Nachweis, daß die v. ayg. von den Göttern gesetzte Gesetze seien. Und darin liegen zwei Spitzen. Die eine ist die, auf die bereits hingewiesen ist: die Feststellung, daß auch diese Gesetze ebenso wie die menschlichen Rechtsgesetze gesetzte (xeiixsvoi) vopot seien. Daß ihm die Gegner das Vorhandensein ungeschriebener sittlicher Normen = „Gesetze" zugestehen werden, nimmt er ohne weiteres als selbstverständlich an; und da seine Polemik ja keine direkte, keine eigentliche Auseinandersetzung mit den Gegnern ist, kann er immerhin so vorgehen. Nun aber tut er, als wäre es gar nicht denkbar, daß Gesetze anders als durch Setzung entstanden wären: wo Ge- setze sind, da muß eine Setzung stattgefunden haben. Da nun aber Menschen als Gesetzgeber hier nicht in Betracht kommen können, so müssen die Götter die Urheber dieser Gesetze gewesen sein. Damit ist den Gegnern zu Gemüt geführt: mit eurem Kampf gegen den sittlichen Charakter des vö/uiftov verwickelt ihr euch in einen Widerspruch; denn auch die Gesetze, die ihr anerkennt und als sittlich anerkennt, gehören in die Sphäre des vö/xi/j.ov. Die zweite Spitze aber ist eine spezifisch theologische, die sich als solche offenbar gleichfalls gegen Antisthenes richtet. Gewicht liegt nach dieser Seite auf der These, daß die Götter die Gebot- steller der v. uyQ. seien. Xenophon betont hier mit Nachdruck den theonomen Charakter der sittlichen Gesetze. Die Kyniker ihrerseits betrachten wohl die Tugend als etwas Gottgefälliges (der wahre Gottesdienst ist ihnen das tugend- hafte Leben). Aber das Tugendziel ist nach ihrer grundsätzlichen Auffassung ein von dem Menschen nach seiner Natur gewolltes, das er sich selbst zum Gesetz macht. Und wir werden in der Tat sehen, daß sie die sittliche Theonomie grund- sätzlich ablehnen. Jedenfalls hatte Xenophon hinreichend Veranlassung, seinen sittlich-theonomen Standpunkt den Kynikern entgegenzuhalten. Und das tut er im zweiten Teil des Beweises in eingehender Begründung. 2. Sehr zweifelhaft ist mir, ob Xenophon wirklich, wie Joel annimmt, die vier von ihm besonders aufgeführten vö/xoi ayQ. bei den Kynikern gefunden hat. Wenn diese auch von ihrem Standpunkt aus vielleicht geneigt waren, einzelne natürlich-sittliche Regeln aus dem allgemeinen „Gesetz" der Tugend abzuleiten und auch die Bezeichnung vo/xol uyQU(poi für dieselben sich gefallen ließen, so ist es doch fraglich, ob sie gerade diesen vier in ihrer Ethik eine solche Stellung zuerkannt hätten. Schon daß die Verehrung der Götter an die Spitze gestellt wird, sieht wohl dem Xenophon, nicht aber den Kynikern gleich. Ähnlich muten uns das zweite Gesetz (yovsaq Ti/xäv) und das vierte (Dankbarkeit) eben nur als Hauptstücke des xenophontischen Moralkodex an. Am meisten Bedenken erregt das dritte. Schon von dem Kyniker Diogenes ist uns berichtet (Dio., or. X 29 ff.), daß er den geschlechtlichen Ver- kehr zwischen Eltern und Kindern für etwas Zulässiges erklärt habe; und da diese Anschauung in der stoischen Schule von Anfang an wiederkehrt, ist es in der Tat wahrscheinlich, daß sie schon in der alten Kynik heimisch war. Nun ist Die Memorabilien. 49 erfreuliche Kehrseite der inhaltslose Formalismus des kynischen Lebensideals war. ') Sehr viel sympathischer war ihm Plato, der Aristokrat, der durch die Natur selbst zum Vorkämpfer des Staatsgedankens und der sozialen Ordnung bestimmt schien. Die Gereiztheit, die Xenophon noch im Symposion gegen ihn gezeigt hatte, ist jetzt verschwunden. Er ist auch sichtlich dem platonischen Gedankenkreis näher ge- rückt. Über sehr vieles zwar, was er bei Plato las, mag er immer noch in ratlosem Staunen den Kopf geschüttelt haben. Aber daß ihm z. B. die Schilderung, die Plato im Kriton von der Gesetzestreue des Sokrates gibt, völlig kongenial war, daß ihm ferner z. B. die Protreptik, die der Sokrates des platonischen Euthy- demos der kynischen gegenüberstellt (Euthyd. 278Dff.), mehr zu- sagte als die letztere, ist gewiß. Und ebenso steht die Begriffs- dialektik, die er jetzt an die Stelle der antisthenischen setzt (Mem. IV 5, 11 f., IV 6), dem platonischen Sokrates dieser Jahre zum mindesten nicht fern. Kurz, die Gesprächsammlung neigt offen- kundig in der platonisch-antisthenischen Kontroverse mehr auf Piatos Seite. Aber der Autor schweigt hierüber. Als Parteigänger des einen oder anderen der streitenden Gegner möchte er auch nicht mittelbar erscheinen. Er hat seinen eigenen Sokrates. Und er hat eine deutliche Vorstellung von der Eigenart desselben. zwar Antisthenes selbst schwerlich schon so weit gegangen (vgl. Athenaeus V p. 220 c, Winckelmann S. 171). Daß er aber das Verbot des Geschlechtsverkehrs zwischen Eltern und Kindern als ein sittliches Grundgesetz hingestellt habe, ist unter diesen Umständen äußerst unwahrscheinlich. Von ihm also hat Xenophon sein drittes Gesetz sicher nicht. Ich halte es im Gegenteil nicht für ausgeschlossen, daß er mit demselben sich wieder gegen kynische Anschauungen wenden will: daß Schüler des Antisthenes, wie z. B. eben Diogenes, schon zu der Zeit, als Xenophon dieses Kapitel niederschrieb, die Naturwidrigkeit des Geschlechts- verkehrs zwischen Blutsverwandten offen bestritten, und daß Xenophon hievon Kunde hatte, ist zum mindesten nicht undenkbar. Wie dem nun aber auch sein mag: die vier Grundgesetze sind wohl Xenophons Eigentum. Daß er in der Literatur hiefür Anknüpfungspunkte fand, ist dadurch natürlich nicht ausge- schlossen. Und es ist in der Tat so gut wie gewiß, daß er solche zum mindesten bei Hippias, dem Sophisten, gefunden hat. *) Hiezu s. besonders die Hauptstelle I 4, 1, die sich ja mit voller Be- stimmtheit sowohl gegen die Inhaltlosigkeit des kynischen Ideals wie gegen den einseitig eristisch-elenktischen Charakter der kynischen Protreptik richtet. H. Ma i e r, Sokrates. 4 50 Die Quellen. Es ist nicht zufällig, daß er an den beiden Stellen, an denen er sein Werk als eine Konkurrenzschrift zu der bisherigen sokra- tischen Gesprächsliteratur einführt, in unmittelbarem und deut- lich hervorgehobenem Anschluß den Sokrates seine teleologische Theologie und seine Ansichten über Kultus und Götterverehrung ent- wickeln läßt. Hierin sieht er offenbar die Grundlage der soma- tischen Lebensanschauung und das wichtigste Stück des Positiven, was sein Sokrates seinen Schülern zu geben hatte. 1 ) Und er weiß, daß sein Sokrates hierin gleichermaßen von dem antisthenischen und dem platonischen abweicht. Auch indiearistippischen Streitigkeiten indessen greift die Gesprächsammlung ein. Aber die Art, wie sie dies tut, ist überaus charakteristisch. Gegen Plato und Antisthenes konnte Xenophon sich nur mit vorsichtiger Zurückhaltung als schiedsrichterliche Auto- rität gerieren. In ihnen mußte er, so sehr er gegen den einen von ihnen eingenommen war, die Sokratiker von anerkannter Geltung respektieren. Zu Aristipp stellt er sich ganz anders. Gegen ihn kämpft er mit offenem Visier. Die Polemik, die er Sokrates selbst gegen die hedonistischen und anarchistischen Anschauungen Aristipps richten läßt, ist nichts mehr und nichts weniger als ein Versuch, den Angegriffenen überhaupt aus der sokratischen Ge- meinde auszuschalten. Daß er dies aus sachlichen Gründen, d. h. darum, weil ihm die Ansichten des Mannes als völlig un- sokratisch erschienen, gewollt hat, ist nicht zu bezweifeln. Wenn Diogenes Laertius von einer Feindschaft Xenophons gegen Aristipp zu berichten weiß, so ist dies sicher nur aus den Me- morabilien erschlossen. 2 ) Aber übel genug hat ja allerdings der ») Zu I 4, 1 f. s. S. 42, 1 und S. 46, 1. In IV 3, 1 f. wird zunächst be- merkt, Sokrates habe geglaubt, seinen Jüngern vor allen anderen Dingen ocoippo- avvtj beibringen zu müssen; dann wird fortgefahren: npcörov (xhv 6>j nfpl 9-eovg ineipäzo ouxpQovaq notelv rovg ovvövxac, und hieran schließt sich der Satz ß'AAoi fxhv . . . (oben S. 26,1) an; hiezu ist dann auch noch der Abschluß des Gesprächs 17 f. zu vergleichen. Beachtenswert ist übrigens auch, daß an der Spitze der ganzen Gesprächsammlung eine Schilderung des Verhaltens des So- krates zu den Göttern steht (I 3, 2 ff.). — Vgl. auch das unten S. 57, 2 zu Mem. 1 4, 8 und 17 Gesagte. 2 ) Vgl. die Stelle S. 35, 1. Möglicherweise ist allerdings schon die Stelle in der Schutzschrift, Mem. I 2, 60, gegen Aristipp gerichtet. Und vielleicht war die Tatsache, daß Aristipp für seinen Unterricht Geld nahm, für Xenophon mit Die Memorabilien. 51 Autor der Gesprächsammlung dem armen Kyrenaiker mitgespielt. Das zwar kann er nicht bestreiten, daß Aristipp einst zu dem vertrauten Kreise des Sokrates gehört habe. Aber er ist bemüht, auf sein Verhältnis zum Meister einen Schatten zu werfen. Und auch seinem damaligen persönlichen Leben hängt er einen Makel an, der ihn als das räudige Schaf in der sokratischen Herde erscheinen läßt. Das Schlimmste aber ist, daß er von den philo- sophischen Anschauungen des Mannes eine Karikatur zurecht gemacht hat, die auf das Urteil der Nachwelt bis zum heutigen Tag die verhängnisvollste Wirkung geübt hat. Xenophon hat damit für die spätere Zeit erreicht, was er für die eigene vergebens anstrebte: die folgenden Jahrhunderte haben verlernt, Aristipp als eigentlichen Sokratiker zu betrachten. 1 ) Natürlich hat Xenophon, indem er. versuchte, in dem großen Kampf der Zeit das lösende Wort zu finden, die sokratische Literatur, zumal die Schriften der streitenden Parteien, eingehend studiert. Das entsprach auch der Arbeitsweise der Gespräch- sammlung, die ja zu einem wesentlichen Teil darauf angewiesen war, ihrSokratesbild aus den literarischen Quellen kritisch zu kom- ponieren (S. 39). Und es entsprach am Ende auch ihrer ganzen Tendenz. Denn so sehr der Autor seiner Selbständigkeit und der Eigenart seiner Auffassung sich bewußt ist, so strebt er doch nicht eigentlich dahin, eine Rolle neben oder vielmehr über Anti- sthenes, Plato und etwa Aristipp zu spielen. Er spricht es zwar nicht aus, aber wer die Gesprächsammlung aufmerksam durch- wandert, gewinnt unabweislich den Eindruck, daß er zuletzt eine mittlere Linie gewinnen will, daß er in seiner Sokratesdarstellung ein Grund, den Mann zu hassen. Doch ist jene Beziehung keineswegs sicher. Möglich ist auch, daß Xenophon auf „Sophisten", die dem Antisthenes nahe standen, anspielt. ') Zu dem Aristippgespräch Mem. II 1 vgl. das oben S. 34 Gesagte. Der Eingang zu dem Gespräch (II 1, 1) lautet: 'Eööxei de fioi xal xoiavxa Xeycov tiqo- xpeneiv xovq avvövxaq aaxelv eyxgaxeiav ngoq ejti&vfilav ßgwxov xal noxov xal Xayvelaq xal vnvov xal Qiyovq xal d-äknovq xal növov. yvoiq de xiva xcüv avvövxwv äxo?.aoxox£Q(oq ey^ovxa Ttgöq xa xoiavxa' Eine (ioi, e'(prj, w AolaxiTtne . . . Außerdem erscheint Aristipp als Partner in den Gesprächen über das Gute und das Schöne Mem. III 8. Hier lautet der Eingang: 'Agiaxlmtov de emxeiQoivxoq e}.ey%eiv xbv ^(jjxQaxrj, wonep aixoq vn exeivov xo ngöxegov rjXeyxexo, ßov- Xöjxevoq xovq avvövxaq uxpekelv o ^wxQaxr/q anexQivaxo . . . 4* 52 Die Quellen. eine Ausgleichung der einander entgegenstehenden Auffassungen durchzuführen sucht, und daß er eben hierin eine wichtige Ge- währ für die Richtigkeit seines Sokratesbildes erblickt. Unter diesen Umständen war es für ihn nicht bloß selbstverständlich, sondern sachlich geboten, namentlich Plato und Antisthenes, deren Zwist ihn augenscheinlich am meisten beschäftigt, für die eigene Arbeit so sehr wie möglich auszunützen. Und Xenophon hat das in der Tat in reichem Maße getan. Freilich nicht in der Weise, daß er aus seinen Vorlagen ganze Stücke herübergenommen hätte. Das würde ja gegen die Ankündigung verstoßen, daß er seinen Lesern neue Gespräche, d. h. solche, die sie bei den an- deren Sokratikern nicht finden, bieten wolle. Und er hat die Fiktion auch in dieser Hinsicht sorgfältig gewahrt. Material aber hat er aus jenen Quellen reichlich geschöpft, und er hat sich nicht allzu ängstlich bemüht, das zu verdecken. Möglich übrigens ist an sich auch, daß er ari stippische Schriften benutzt hat. So wenig er dem Kyrenaiker gewogen war und so sehr er Bedenken getragen hätte, sich auf sein Zeugnis wirklich zu stützen, so kann man doch auch nicht sagen, daß er in dem Streit zwischen ihm und Antisthenes sachlich ganz die Partei seines Gegners ergriffen hätte. Und das wenigstens läßt sich denken, daß er Aristipps Arbeiten gelesen habe, und daß von der Lektüre manches an ihm hängen blieb. Indessen sind wir nicht im stände, Spuren solcher Abhängigkeit nachzuweisen. Sicher dagegen ist, daß Xenophon die „somatischen Gespräche" des Äschine s verwertet hat. 1 ) Doch scheint dieser in der soma- tischen Gemeinde keine sehr bedeutende Rolle gespielt zu haben; und wichtige Aufschlüsse verdankt ihm Xenophon offenbar nicht. Wie dem nun auch sein möge: die Hauptfundgrube waren für den Autor der Gesprächsammlung die platonischen und die anti- sthenischen Schriften. *) Über die Anlehnung von Öconom. III 14 an den Äschinesdialog Aspasia (fr. 9 Krauß) s v. Wilamowitz, Aristoteles und Athen II S. 99,35 und Dittmar, Aischines von Sphettos, 1912, S. 34 ff-, über die Beziehungen des xenophontischen Symposions zu dem äschineischen Dialog Kallias Dittmar a. a. O. S. 209 f., über die der Stelle Memor. II 6,36 zu der „Aspasia" Dittmar a. a. O S. 35, endlich über das Verhältnis von Mem. IV 2, 2 zum äschineischen „Alkibiades" ibid. S. 124 ff. Die Memorabilien. 53 Sofort in die Augen fallen die Übereinstimmungen z wisch en dem xenophontischenund dem piaton ischen Sokrates. Nicht ebenso leicht aber ist es, dieselben als xeno- phontische Entlehnungen aus Plato exakt zu erweisen. Andere Er- klärungsmöglichkeiten sind nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Eine allerdings wird keinen ernsthaften Vertreterfinden: die Annahme einer Benutzung der Memorabilien durch Plato. Zwar ist die Schutzschrift wohl noch in der ersten Hälfte der achtziger Jahre veröffentlicht worden. Und möglich ist es an sich auch, daß ein- zelne Partien der Gesprächsammlung vom Verfasser selbst, wenn auch natürlich beträchtlich später,bekannt gegeben worden sind, so daß sie Plato zu Gesicht kommen konnten. Allein aus konkurrierenden Quellen bis auf den Wortlaut schöpfen, ohne daß dies durch Gründe derParteinahme, der Zustimmung oder des Widerspruchs, besonders motiviert war, entsprach vielleicht der Arbeitsweise Xenophons, sicher aber nicht der Piatos. 1 ) Dagegen wird man immer wieder geneigt sein, jene Übereinstimmungen auf gemeinsame, selb- ständige Erinnerung der beiden Sokratiker zurückzuführen — selbst dann, wenn man von dem fiktiven Charakter der xeno- phontischen Gesprächsammlung wie der platonischen Dialoge überzeugt ist. In der Tat wird man sich ein Zusammentreffen im Gedanken so zurechtlegen können, obwohl auch da der Ver- dacht rege wird, daß dem Xenophon durch die Lektüre platoni- scher Schriften die Erinnerung geweckt worden sei. Allein die Dinge liegen in Wirklichkeit anders. Im platonischen Gorgias (490 E— 491 B) z.B. wirft Kallikles dem Sokrates vor: „wie du doch immer wieder dasselbe sagst, o Sokrates!" Sokrates antwortet: „nicht bloß das, o Kallikles, sondern auch über dieselben Gegenstände." Und Kallikles fügt hinzu : „du kannst auch gar nicht genug bekommen, von Schustern, Gerbern, Köchen und Ärzten zu reden . . . ." Schließlich aber bemerkt Sokrates zu Kallias: „du sagst von mir, daß ich immer dasselbe sage, und tadelst mich; ich aber werfe dir im Gegen- teil vor, daß du niemals über dieselben Gegenstände dasselbe sagst." Damit vergleiche man nun den Eingang des xenophon- J ) Auch die andere Vermutung Teichmüllers, daß Plato auf die Memorabilien, speziell im Protagoras, polemisch Bezug nehme, kann nicht ernstlich in Betracht kommen. 54 Die Quellen. tischen Hippiasgesprächs (Mem. IV 4, 5 f.). Sokrates redet wieder einmal von der Gerechtigkeit. Und er zieht nach seiner alten Gewohnheit Schuster, Zimmerleute, Schneider und Reitersmänner zur Illustration heran. Da kommt Hippias hinzu und wirft Sokrates die spöttische Bemerkung hin: „immer noch also sagst du, So- krates, jenes selbe, was ich . schon vor Jahren von dir gehört habe?" Sokrates entgegnet: „noch schlimmer, ich sage nicht nur immer dasselbe, sondern auch über dieselben Gegenstände", und fährt dann fort: „du freilich . . sagst über dieselben Gegen- stände nie dasselbe." Die Ähnlichkeit der beiden Stücke springt in die Augen. Nun ist es zweifellos ein dem Sokrates häufig genug wirklich gemachter Einwurf, der hier vorgebracht wird: Plato selbst wiederholt ihn in der Alkibiadesrede des Symposions. Und es ist um so wahrscheinlicher, daß auch Xenophon aus eigener Erinnerung von ihm weiß, als er schon in der Schutz- schrift Ähnliches berichtet. 1 ) Aber das Auffallende ist die wört- liche Anlehnung an den Gorgias, die nur verständlich wird, wenn wir annehmen, daß hier Xenophon wirklich den Gorgias vor sich gehabt und dessen Kalliklesunterredung als Vorlage für die Einleitung zu seinem Hippiasgespräch verwertet hat. Ein zweites Beispiel. In dem großen Euthydemosgespräch (Mem. IV 2), wo die elenktische Manier der sokratischen Unter- redungen wie sonst nirgends in den Memorabilien imitiert ist, kommt Sokrates, indem er mit Euthydemos den Begriff der Ge- rechtigkeit erörtert, 2 ) auf die Frage, ob der absichtlich oder der unabsichtlich Unrechttuende ungerechter sei, und er bringt seinen Partner dazu, sich widerwillig für das letztere zu entscheiden. Das ist das bekannte Thema des kleinen Hippias. Wieder nun ist es gar nicht unmöglich, daß der historische Sokrates selbst mit diesem Paradoxon operiert hat. Sehr unwahrscheinlich aber ist, M Mem. I 2, 37. Möglicherweise hat übrigens Plato im Gorgias die Kritias- anekdote, die ja dem Kreis der Sokratiker zweifellos geläufig war, in Erinnerung. Daß Kritias und Charikles Leute vom Schlage des Kallikles waren, ist ja offen- kundig. Vgl. aber überdies Gorgias 516A mit Mem. I 2,32. 37. Es ist darum eine ganz annehmbare Hypothese, daß Kallikles eine Maske für Charikles sei (wie Dümmler, Akademika S. 71 mit Bergk vermutet). 2 ) Nur erwähnen möchte ich, daß das Gespräch IV 2, 13ff., wie man längst bemerkt hat, sich sehr stark mit dioool köyoi c. 3 (Diels 641, 4 ff.) berührt; und es ist zweifellos, daß Xenophon diese Stelle gekannt und benutzt hat. Die Memorabilien. 55 daß dem Verfasser der Gesprächsammlung hier auch nur eine durch Plato veranlaßte Reminiszenz zur Verfügung steht. Jedenfalls hat er die Tendenz des Satzes gar nicht verstanden. Bezeichnend ist, daß bei ihm der platonische Vorbehalt, der absichtlich Unrechttuende sei besser — wenn es einen solchen gebe (376 B), fehlt. Daraus geht hervor, daß ihm der positive Wahrheitsgehalt des Paradoxons entgangen ist. Allein daß hier der ganze Gedankengang sich an den der platonischen Schrift anschließt, ist gar nicht zu ver- kennen. Schon die spezielle Wendung, die der allgemeine Ge- danke erhält, ist beide Male dieselbe: hier wie dort handelt es sich im besonderen um absichtliches oder unabsichtliches Lügen (exu)v oder äxcov y.>evdsottat). Und auch die Beweisführung ist ganz die gleiche. Der Angelpunkt ist bei Xenophon wie bei Plato der, daß die Gerechtigkeit als ein Wissen (emoTrjjuri) betrachtet und mit anderen Wissenschaften in Parallele gesetzt wird. Aller- dings weicht Xenophon darin von Plato ab, daß er die Wissen- schaft der yydujuara, d. h. des Lesens und Schreibens heranzieht, während Plato die Arithmetik, die Geometrie, die Kunst des Laufens, Ringens u.s.f. aufführt. Immerhin findet sich auch bei letzterem wenigstens der Ansatz zu der xenophontischen Analogie (yydipcu joi/fxhv övoua 366 C). Auch abgesehen hievon aber kann der Schein von Selbständigkeit, den die xenophontische Darstellung hier hervorzubringen versteht, um so weniger über den wirklichen Sachverhalt hinwegtäuschen, als die Anlehnung im übrigen bis ins Einzelne der Wendungen festzustellen ist. 1 ) Man sieht: der Autor der Gesprächsammlung macht in dem Zu- sammenhang, wo er von der spezifisch elenktischen Kunst des Meisters eine Probe geben will, von demjenigen platonischen *) Ich hebe noch folgendes heraus. Auf die Grundlage der Argumentation, auf die Analogie zwischen Gerechtigkeit und Wissen, weist Xenophon in einer Weise hin, die ganz offenbar auf Plato 375 D Bezug nimmt. Plato: ?? öixaioovvtj oiyl r\ övva/xtq xlg ianv i] iniaxr'ifxrj tj afjupöxfga-, In Mem. IV 2, 19f. ist die Beweisführung vereinfacht: nur imax^fxt], nicht dvvafxiq ist in Betracht gezogen. So lautet die Frage hier: /loxti de ooi fxa^rjoig xal ijiiaxrjfirj xov Sixaiov eivcu . . .; Man vergleiche ferner den Abschluß der beiden Argumentationen. Mem. 20: . . . <Pai- vofzai' doxa 6e fiot xal xavxcc ovx oiö' ontag keyetv. Plato (376 B): Ovx syw onwq ooi ovy%wQrjow, ai ^aixgaxsg, xuvxu. Anfügen möchte ich noch, daß auch der weiterleitende Satz Mem. 21 unverkennbare Anklänge an Hipp. min. 366 E f. aufweist. 56 Die Quellen. Dialog, der diese Seite der sokratischen Tätigkeit in ganz be- sonders anschaulicher Weise schildert, weitgehenden Gebrauch. Er überarbeitet und variiert seine Vorlage, ohne aber dadurch den Eindruck, daß seine eigene Arbeit ein Auszug aus der letzteren ist, zu verwischen. Überaus lehrreich ist weiter die Berührung von Mem. III 9, 14f. mit Euthyd. 278 Eff. Hier wie dort werden einander die beiden Begriffe „Eupraxie" und „Eutychie" entgegengesetzt. Nun hat man, wenn man die platonische Ausführung liest, die Empfindung, daß Plato, dessen Sokrates hier ein vorbildliches Stück richtiger Protreptik vorführen will, diese Gegenüberstellung aus der antisthe- nischen Literatur, gegen die er in diesem Zusammenhang kämpft, herübergenommen und eben nur in seiner Weise durchgeführt habe. Und es ist möglich, daß auch Xenophon die Quelle, aus der Plato schöpft, gekannt hat; ja sogar das ist nicht ausgeschlossen, daß er den Grundgedanken unserer Stelle dem Kyniker verdankt. Wir werden später hierauf zurückkommen. Sicher ist, daß die Memorabilienstelle unmittelbar auf die Darlegung des Euthydem Bezug nimmt, daß sie, bestimmter gesprochen, eine Ergänzung und Korrektur desselben ist und sein will. Im Euthydemos ist ver- säumt, das Verhältnis von Eutychie und Eupraxie klar zu legen. Zudem aber ist die Eutychie in einer Weise bestimmt, die den Widerspruch herausfordert: sie ist mit Weisheit (cjo(pia), zu der die Unwissenheit (äfiafria) im Gegensatz steht, gleichgesetzt, so- fern Weisheit in allen Fällen dem Menschen zur Eutychie verhelfe, und zwar wird dies damit illustriert, daß in den mensch- lichen Fertigkeiten die Weisheit durchweg die Eutychie be- dinge. Bei Xenophon dagegen belehrt uns Sokrates im Gegen- teil, richtiges Handeln auf Grund von Lernen und Übung (to /Lia&oma je xal iieitTrioavTa ti sv noiuv) heiße Eupraxie, wäh- rend Eutychie dann vorliege, wenn jemand ungesucht etwas, was er brauchen kann, zufällt. Während demnach bei Plato die Eutychie zunächst als das größte der Güter bezeichnet wird, heißt im Eingang der xenophontischen Stelle die Eupraxie das xyd- riorov avdyi E7iLTr\devfia. Eigentliche Polemik ist das alles nicht, wohl aber tatsächliche Richtigstellung, die ganz an das Verfahren erinnert, das das xe- nophontische Symposion gegenüber der Pausanias- und Phaidros- Die Memorabilien. 57 rede des platonischen geübt hat. Auch in der Euthydemosunter- redung IV 2, 31-35 übrigens lehnt sich die Gesprächsammlung eng an Euthyd. 278 E ff. an. Zwar schaltet sie hier mit ihrer Vor- lage ziemlich frei. Wieder aber lassen eine Reihe von Einzel- heiten den Zusammenhang mit voller Deutlichkeit erkennen. 1 ) Auch sonst-) drängt sich in zahlreichen Fällen die Wahrnehmung auf, daß Xenophon bei der Anfertigung seiner sokratischen Ge- spräche aus den platonischen Dialogen ganz ebenso wie aus seinen eigenen Schriften Material, das ihm paßte, entnahm; nur daß er dort in der Bearbeitung noch wesentlich freier verfuhr und gelegentlich auch Korrekturen vornahm, hinter denen sich bewußte Tendenzen verbargen. Von hier aus wird schließlich auch das eigentümliche Ver- hältnis, in dem die dialektischen Erörterungen, wie sie uns in Mem. IV 5, 11 f. und IV 6 entgegentreten, zu den dialektischen Dia- ') Daß die Güterbetrachtung Mem. IV 2, 31 ff. der parallelen Euthyd. 278 E ff. nachgebildet ist, ist offensichtlich. Das zeigt schon die Art, wie 33 Anfang (vgl. Euthyd. 279 C) die an<pia, 34 Anfang (Euthyd. ibid.) das fvöaifxovtiv eingeführt wird. Vgl. ferner die Güteraufzählung Mem. 34 (xdXXoq xxL) mit Euthyd. 279 AB. Die Erwägung Euth. 281 Äff., daß die aufgezählten Güter auch zu Übeln werden können, ist von Xenophon in die ganze Erörterung hereingearbeitet. Wiederholt übrigens tritt hier wieder hervor, daß Xenophon die Aufstellungen Piatos zugleich korrigieren will. 2 ) Mem. I 4, 8 lehnt sich offenkundig an Phileb. 29A ff. an. Ebenso erinnert I 4, 17 deutlich an Phileb. 28 DE. Zu bemerken ist indessen, daß Plato die an dieser Stelle entwickelte Teleologie auf eine ältere Quelle zurückführt {xa&üntü vi npöodev r}(juüv tXtyov 20 D). Danach ist es nicht unmöglich, daß Xenophon den Gedanken I 4, 17 unmittelbar aus dieser geschöpft hat. Übrigens berühren sich die beiden teleologisch-theologischen Kapitel Mem. I 4 und IV 3 noch öfters mit der Teleologie von Phileb. und Timaios. Und ausgeschlossen ist nicht, daß Xeno- phon sogar den letzteren benutzt hat. Seiner Selbständigkeit auf diesem Gebiet gegenüber den Sokratikern Plato und Antisthenes indessen bleibt Xenophon sich trotz solcher Entlehnungen — er hat, wie wir sehen werden, auch antisthenische Vorlagen verwertet — bewußt. — Daß Mem. IV 4, 3—4 höchst wahrscheinlich auf Plat. Apol. 32 C. 34 C ff. zurückgeht, ist oben (S. 36, 1) schon bemerkt. Ebenso daß IV 1, 1 Schluß und 2 von Plato Symp. 216 DE abhängig ist (S. 44, 1). Stark zu vermuten ist weiter, daß z. B. die Definition der Tapferkeit in IV 6, 10 f. mit dem Laches und den entsprechenden Ausführungen im Protagoras, die der Frömmigkeit IV 6, 2 ff. mit dem Euthyphron, daß ferner der Anfang von III 9 mit dem Eingang des Menon in Zusammenhang steht u. s. f. Eine nahe Berührung von Mem. IV 2, 2-6 mit Menon 90Cff. und von Mem. IV 2, 11 ff. mit Politeia I 331 C ff. (vgl. 382 C. 389 B) hat E. Richter, a. a. O. S. 136 f. aufgezeigt (vgl. aber oben S. 54, 2). 58 Die Quellen. logen Platos stehen, verständlich. Schon der flüchtige Leser wird auf den Verdacht kommen, daß diese Begriffsdialektik, von der sich sonst in der Gesprächsammlung und auch in den übrigen xeno- phontischen Schriften keine Spur findet, 1 ) aus einer Reflexion auf die platonischen Dialoge entsprungen ist. In der Tat bestätigt sich bei genauerem Zusehen nicht bloß diese Vermutung. Die Abhängigkeit Xenophons erweist sich vielmehr als eine noch viel direktere : dieses ganze Lehrstück ist durch das Studium der dialektischen Erörterungen im Phaidros, im Sophistes und im Politikos veranlaßt und auch im einzelnen bestimmt. Vor allem lehnt sich schon die Einführung des dialektischen Fundamentalsatzes in Mem. IV 6, 1 ganz unverkennbar an eine platonische Vorlage, nämlich an Phaidros 262AB, an. Sokrates war, so lautet die Memorabilienstelle, der Meinung, diejenigen, die wissen, was jedes der Dinge sei {rovg eidorag, tl h'y.aoTov eirj T.aiv ovTUiv), seien auch im stände, das den anderen darzulegen; von denen aber, die dies nicht wissen, sei es, meinte er, nicht ver- wunderlich, daß sie sich selbst und andere täuschen." Die Phai- drosstelle geht davon aus, daß der Redner seine Hörer täuschen wolle, und daß dies nur geschehen könne, indem er sie in kleinen Übergängen vom wirklichen Sachverhalt zum Gegenteil hinüber- führe. Und nun wird gezeigt, daß, wer so verfahren, also andere täuschen, selbst aber nicht getäuscht werden wolle, die Ähnlich- keit und Unähnlichkeit der Dinge (rr/v bftoiorrjTa tojv ovxtov xal ayof-ioioTrjTa) gründlich durchschauen müsse. Das aber sei nicht möglich, ohne daß man die wahre Beschaffenheit eines jeden (alrjd*eiav exdaruv) kenne. „Ist es also, so wird schließ- lich gefragt, denkbar, daß jemand die Fähigkeit besitzt, in kleinen Übergäben mittels der Ähnlichkeiten von dem wirklichen Sach- verhalt jedesmal zum Gegenteil hinüberzuleiten, oder andererseits sich selbst gegen eine solche Irreführung zu wahren, der nicht erkannt hat, was jedes der Dinge ist (o /ui] iyvujQixcbg o sortv sxaorov rüv ovtüjv)?" 1 ) Wir haben hier eine Übereinstimmung 1 ) Daß Mem. I 1, 16 nicht als ein Anfang der Begriffsdialektik gelten kann, wird im zweiten Teil gezeigt werden. 2 ) Die xenophontische Stelle erinnert auch an Charmides 166 D (. . yiyvtodai xazacpaveg txaozov zwv ovzcuv öny %%u). Aber schon das ön% %%si ist etwas wesent- Die Memorabilien. 59 bis zum Wortlaut. Wieder aber wendet der Autor seine Vorlage so, wie es seinen Zwecken entspricht. Im Phaidros heißt es: wer andere täuschen und selbst nicht getäuscht werden will, der muß erkannt haben, was jedes der bvza ist. Daraus macht Xenophon: wer sich und andere nicht täuschen will, der muß wissen, was jedes der bvia ist. Indessen verraten diese Ausführungen auch sonst genauere Bekanntschaft mit den dialektischen Erörterungen des Phaidros. So erinnert z. B. das dialeyovzag yaia ytvi] zd Tigäyuara in IV 5, 12 (vgl. 11) deutlich an das zar evdrj zifjivsiv Phaidr. 265 E und das zaz' ddi] diaiydodcu zd 6vza Phaidr. 273 D (vgl. 266B).i) Eben diese Memorabilienstelle freilich berührt sich noch viel unmittelbarer mit einer Stelle im Sophistes. In IV 5,11 wird der Ausdruck und Begriff (Jialtyeir y.azd yivr\ eingeführt, und nun erscheint in 12 jene merkwürdige Erklärung des Namens Dialek- tik: „Sokrates sagte aber auch, das dialtyzö&m habe seinen Namen ex zov ovviövzag xoiv\\ ßovlfvso&ai d takey ovz ag xazd yevrj zd Trody/iara." Daß das eine Auffassung der Dialektik ist, die im ganzen xenophontischen Gedankenkreis völlig fremdartig dasteht, ist sicher. Woher kommt sie? Die Antwort ist einfach: in Sophist. 253 D (vgl. C) wird definiert: Tb xard yeviq diaioelodai . . ov Trjg dialtxjiy.^g q?rjooiisy emozrjjLirjg ürou; Das ist unver- kennbar Xenophons Quelle. Am frappantesten indessen ist der Zusammenhang, in dem diese ganze Memorabilienpartie (IV 5, 12 und 6, 1), die die Be- griffsdialektik einführt, mit Politikos 285 D— 287 A steht. In Pol. 285 D wird festgestellt, der Zweck der gegenwärtigen Erörte- rung sei nicht bloß über den Begriff des Staatsmanns ins Klare zu kommen, sondern in allem dialektischer zu werden (t'vsxa .... tov Tieol Ticüvra dialty.TizantQovg yLyvEO&cu). Ähnlich wird in lieh anderes. Und auch sonst haben wir keinen Grund zu der Annahme, daß Mem. IV 6, 1 sich an diese Charmidesstelle anlehne. ') Eine Bekanntschaft mit dem Phaidros scheint übrigens auch Mem. IV 2, 24 zu verraten. Hier wird als Ausgangspunkt der Untersuchung der delphische Spruch yvw&i aaviöv verwendet, und die ganze Ausführung ist nach dem Rezept von Phaidros 229Ef. gearbeitet. Auch Charm. 164D ff. allerdings ist auf die delphische Inschrift eingegangen, doch berührt sich die Memorabilienstelle augen- scheinlich mit Phaidros 229 E f. 60 Die Quellen. 286 D eingeschärft, nicht darauf dürfe man in erster Linie sein Interesse richten, einen Weg zu finden, auf dem das augenblick- lich vorliegende Problem am leichtesten und schnellsten gelöst werden kann, vielmehr müsse man am höchsten die dialektische Methode selbst stellen, die uns fähig macht, nach Arten zu scheiden (/Liahora y.al tiqüjtüv %r\v jiiefrodov airijv riuay tov y.olz uöiq dvvaibv elvai dicugsiv). Und nachher (286 Ef) wird gefordert, wer mit der Länge einer Erörterung unzufrieden sei, solle nicht einfach tadeln, sondern sich sagen, daß es überdies seine Auf- gabe sei zu zeigen, wie die Erörterung, kürzer geworden, die Genossen dialektischer und in der Kundmachung der Dinge durch die Rede erfinderischer machen würde (rovg avvoviag antiQyaQtio diaXexzixcoTSQOvg y.al rrjg tiuv övtiov koym drjlojoecog evQerixu)- rtQovg); um anderes Lob und anderen Tadel solle man sich über- haupt nicht kümmern. Von hier aus trete man nun an den Memo- rabilien Zusammenhang, der den Erklärern so viel Bedenken ge- weckt hat, heran! Nachdem am Schluß von § 11 davon die Rede war, wie es möglich sei, in Wort und Tat nach Gattungen scheidend das Gute zu wählen und das Böse zu meiden, wird in § 12 gesagt: „und auf diese Weise, meinte er, ergeben sich die besten und glücklichsten und in der Dialektik tüchtigsten (dia'ktysad-ai dvvanmäiovg) Männer; er sagte aber auch — es folgt hier jene Erklärung des Namens Dialektik — , das dialtyto&ai habe seinen Namen daher, daß man sich zusammentretend ge- meinschaftlich berate, scheidend die Dinge nach Gattungen. Man müsse also so sehr wie möglich versuchen, sich hiezu — nämlich zu dem diakiyuv y.ai.a ytvrj — geschickt zu machen, und hiefür am meisten Sorge tragen; denn das gebe die besten Menschen, die tüchtigsten Führer und die fähigsten Dialektiker (dwlBXTixa)zdTovg). u Man fragt erstaunt, wie Xeno- phon hier auf einmal dazu kommt, auf die dialektische Fertigkeit und nun gar speziell auf das Scheiden nach Gattungen ein so großes und selbständiges Gewicht zu legen. Und das Be- fremden ist so groß, daß man hier immer wieder mit Athetesen eingesetzt hat. Vergleicht man die Stelle aber mit Pol. 285 D und 286 D, so lösen sich alle Zweifel. Und es kann gar keine Frage sein, daß die den sonstigen xenophontischen Gedanken- gängen so völlig fernliegende Ausführung durch diese platonischen Die Memorabilien. 61 Stellen bis ins einzelste inspiriert ist. 1 ) Aber weiter! Xenophon fährt fort (IV 6,1): „Daß er aber auch die Genossen dialek- tischer machte (fiiafaxtixwtepovg hiioiei ioi)g ovvovTas), dafür will ich folgendes anführen. Sokrates war der Meinung — vgl. S. 58 — •, diejenigen, die wissen, was jedes der Dinge (j&v oviojv) sei, können das auch den anderen darlegen (xai rolg älloig av H^yH(ii)ca dvvaafrai) . . .; darum hörte er nie auf, mit seinen Ge- nossen zu untersuchen, was jedes der Dinge sei." Ich glaube, hier braucht man nur den Wortlaut von Pol. 287 — . . jovq ovvövxag a:itii)yaCbTo diaXexTtxairsQOvg xai tijg twv ovtwv loycp orjktu- aetog evQerixayreQovg — daneben zu stellen, um jeden Zweifel an der Abhängigkeit Xenophons niederzuschlagen. Man sieht hier ganz in die Werkstätte des Autors der Gesprächsammlung hinein und kann aufs schönste verfolgen, wie er mit seinen Lesefrüchten, erborgten Gedanken und Gedankengängen, Ausdrücken und Wendungen, operiert. Wichtiger ist, daß damit wohl die Abhängigkeit der xeno- phontischen Begriffsdialektik von der platonischen, wie sie in den dialektischen Dialogen Phaidros, Sophistes und Politikos entwickelt ist, völlig stringent bewiesen ist. Xenophon ist in diesen Schriften Piatos zu Hause, und ihnen verdankt er die Anregung wie das Material zu seinem begriffsdialektischen Abschnitt. Nur andeuten will ich schließlich, daß der Autor für den Schluß desselben (IV 6, 13 — 15) auch die dialektischen Partien des Phaidon und der Politeia benutzt zu haben scheint.' 2 ) Als einen Anhänger der platonischen Dialektik und ihrer Ideenlehre darf man Xenophon trotzdem nicht bezeichnen. Da- zu sind die Differenzen zwischen seinen und den platonischen Ausführungen doch zu groß. Aber seine selbständige Arbeit hat sich hier darauf beschränkt, aus den Vorlagen, in denen er 1 ) Möglich ist auch, daß das ovviövvaq in Mem. 12 durch die awovaiaq in Pol. 286 E veranlaßt ist. 2 ) In Betracht kommen vor allem die Stellen Phaidon 101 D. 100 A, Rep. VII 532 A ff. VI 511 B. 510 B. IV 437 A. Im besonderen klingt Mem. IV 6, 13 Schi, und 14 sehr stark an Phaidon 101 DE (vgl. Rep. 533C, den Ausdruck inavayujyt'j in 532C, ferner 511 B) an, ebenso Mem. IV 6, 15 an Phaidon 100A (vgl. Rep. 437A). Ich muß offen gestehen: die ganze Terminologie in Mem. IV 6,13—15 könnte ich mir nicht erklären, wenn ich mir nicht vorstellen dürfte, daß Xenophon jene dialektischen Stellen in Phaidon und Rep. gekannt und verwertet habe. 62 Die Quellen. die dialektischen Gedanken Piatos fand, das was ihm plau- sibel und mit dem sokratischen Anschauungskreis, wie er ihn sich vorstellte, vereinbar schien, kritisch herauszusondern und in seiner Weise zu bearbeiten. Und daß die Begriffsdialektik von Mem. IV 5 und 6 im wesentlichen dem platonischen Einfluß ihre Entstehung und Gestaltung verdankt, ist um so weniger zu be- zweifeln, als der Autor es nicht verstanden hat, sie sich ganz zu eigen zu machen und der Sokratik der Gesprächsammlung orga- nisch einzufügen: sie bleibt ein fremder Zug, der zu dem Ge- samtbild nicht recht passen will. Im ganzen aber bestätigt sich auch hier wieder der Eindruck, den wir von der Art, wie Xeno- phon die platonischen Dialoge eklektisch verwertet hat, gewonnen haben. Daß der Autor der Gesprächsammlung nun aber auch aus Antisthenes geschöpft haben soll, muß angesichts seiner noto- rischen Abneigung gegen den Mann, angesichts namentlich auch der ausdrücklichen Polemik, die er gegen ihn gerichtet hat, be- fremden. Und doch ist es gerade diese Abhängigkeit, die neuer- dings, wie wir wissen, besonders betont wird. Nun ist zwar gegenüber den weitgehenden Hypothesen F. Dümmlers und namentlich K. Joels kritische Vorsicht in hohem Maße geboten. Aber auch wenn man das offenbar Verkehrte und das Zweifel- hafte abzieht, bleibt noch genug Sicheres übrig, und heute steht wenigstens so viel fest, daß Xenophon in der Tat die antisthe- nische Literatur in sehr erheblichem Umfang benutzt hat. Einen völlig zwingenden Nachweis hiefür zu führen, ist freilich sehr schwierig, da uns bekanntlich von den Schriften des Antisthenes nur spärliche Fragmente erhalten sind. Wenn neuere Antisthenes- forscher die kynische Literatur der Kaiserzeit, speziell die Reden des Dio von Prusa als die Quellen für die Kenntnis der alten Kynik nutzen wollen, so ist das ein grundsätzlich unberechtigtes Verfahren. Nicht allein, daß die ganze Art dieser späteren Kynik eine ganz andere war als die der früheren: Dio selbst ist ein popularphilosophischer Eklektiker, der aus den verschiedenartigsten literarischen Quellen, aus Plato so gut wie aus Xenophon und Antisthenes, am meisten aber aus dem stoischen Schrifttum ge- schöpft hat. Dennoch läßt sich ihm für unsere besondere Frage mancher wertvolle Aufschluß entnehmen. Die dionischen Reden Die Memorabilien. 63 weisen eine Reihe von Übereinstimmungen mit Xenophon auf. Nun erklären sich dieselben zwar zu einem erheblichen Teil aus einer unmittelbaren oder auch mittelbaren — durch eine stoische Quelle vermittelten — Abhängigkeit Dios von Xenophon. 1 ) In an- deren Fällen aber liegt die Annahme sehr viel näher, daß Dio und Xenophon eine gemeinsame Vorlage, nämlich eine antisthenische, vor sich gehabt haben. Eine gewisse Unsicherheit freilich be- halten derartige Schlüsse immer. Es ist darum gut, daß auch das unmittelbare Verfahren der Vergleichung xenophontischer Stellen mit sicher bezeugten antisthenischen Fragmenten nicht ganz versagt. Wer kynische Einflüsse in der Gesprächsammlung vermutet, wird naturgemäß zuerst bei dem Aristippgespräch über die „Lust" und der damit zusammenhängenden Heraklesfabel (Mem. II 1) ein- setzen. Der Verlauf der Unterredung zeigt, daß Xenophon in dem Streit um die -fjdovr} sich gegen Aristipp entscheidet. Aber die Art, wie er dies tut, läßt erkennen, daß er hier direkt die Partei des Antisthenes nimmt: es stehen sich schließlich gegenüber i]öov)) und novo?, — das ist die antisthenische Formulierung — , und der xenophontische Sokrates erklärt sich für den Ponos. Daß in dem Gespräch antisthenisches Material verwendet ist, ist schon darum sicher, weil wenigstens eine Entlehnung auch äußerlich nachweisbar ist: die Bemerkung in II 1,5 über den Ehebruch ist, wie aus Diogenes Laert. VI 4 hervorgeht, ursprüng- lich kynisches Gut. Noch viel offenkundiger aber bewegt sich die Fabel selbst in kynischer Bahn. Von den beiden Frauen, die hier auftreten, ist die eine, die „Arete", die Wortführerin des Ponos, während in der anderen, der „Kakia", die r\dovr\ und die von der Kynik ganz besonders angefochtene Weichlichkeit {TQvcpij) personifiziert ist; in den Mittelpunkt aber ist Herakles, der Schul- ') Die Möglichkeit einer solchen mittelbaren Abhängigkeit ist z. B. in theo- logischen Dingen sehr zu bedenken. Daß die Stoiker von Anfang an für die Memorabilien eine große Vorliebe hatten, ist bekannt. Und namentlich der stoische Vorsehungsglaube schließt sich eng an Xenophon an. Dio aber ist, ins- besondere auch als Theologe, stark von stoischen Quellen beeinflußt (vgl. u. a. die durch W. Schmid angeregte Dissertation von H. Binder, Dio Chrys. und Posidonius 1905). Aus Übereinstimmungen zwischen Xenophon und Dio auf theologische Gedanken des Antisthenes zu schließen, ist darum eine sehr miß- liche Sache. 64 Die Quellen. heros der Antistheniker, gerückt. Interessant ist nun, daß sich durch eine Vergleichung einzelner Stellen der Fabel (besonders §§ 24. 30) mit dionischen Parallelen auch unmittelbar zeigen läßt, daß der Autor antisthenische Quellen benutzt hat 1 ); ausdrücklich überliefert ist, daß der Gedanke zu Anfang von § 31 dem Anti- sthenes angehört.' 2 ) Aus alledem folgt nun freilich ganz und gar nicht, daß Xenophon die Fabel nicht, wie er selbst sagt (§ 21), aus einer Schrift des Prodikos „über Herakles", sondern vielmehr 'aus einer antisthenischen, etwa dem „Herakles", geschöpft habe. Das widerspräche durchaus der uns bereits bekannten Manier, wie der Verfasser der Gesprächsammlung sokratische Vorlagen zu benutzen pflegte; es stünde insbesondere dem ja auch aus- drücklich ausgesprochenen und, so weit wir sehen können, sorg- fältig durchgeführten Grundsatz, nur solche Stücke zu bieten, die sich bei anderen Sokratikern nicht finden, entgegen. Möglich ist, daß Antisthenes gelegentlich — im „Herakles" oder sonstwo — auf die Schrift des Prodikos angespielt hat, zumal ja auch Sokra- tes selbst, wie platonische Zeugnisse erkennen lassen, häufig und nicht unfreundlich auf Prodikos eingegangen ist. Indessen not- wendig ist auch diese Annahme nicht. Wie mir scheint, liegt die Sache vielmehr so: der kynische Herakleskult, vielleicht speziell die antisthenische Schrift über Herakles, hat den Xenophon ver- anlaßt, die Fabel aus der Schrift des Prodikos aufzunehmen und in seiner eigenen, kynisch beeinflußten Weise zu bearbeiten; bei dieser Arbeit aber hat er sich antisthenische Gedankengänge bis auf die Wendungen hinaus nutzbar gemacht, so aber, daß das Ganze durchaus seine eigene Leistung blieb. In ähnlicher Weise scheint der Autor, wie eine Vergleichung mit Dio or. III 73 — 82 ergibt, in dem teleologisch-theologischen Kapitel IV 3 eine antisthenische Vorlage, in der die Arbeit der Sonne im Dienst der Menschen *) Zu Mem. II 1,24 (Joel II 343 ff.), wozu übrigens Hiero I 4—6 eine Parallele ist, s. Dio VIII § 21 f. IV 101 f. vgl. 112 (und außerdem die von Joel S. 344 nach- gewiesenen Stellen aus Stobaeus); zu Mem. II 1,30 s. die achte Rede Dios passim (Joel II S. 445 ff., bes. 448). Übrigens hat Joel der Prodikosfabel eine überaus eingehende Untersuchung gewidmet und in derselben, wie man zugestehen muß, auch sonst noch eine Reihe kynischer Anklänge nachgewiesen. 2 ) Hiezu s. das Fragment Winckelmann S. 53, XVII, Schol. Porphyr, ad Horat. Sat. II 2, 94. Die Memorabilien. 65 geschildert ist, verwertet zu haben. Der antisthenische Gedanken- gang selbst hat durchaus keine teleologisch-theologische Tendenz — diese xenophontische Theologie kehrt ja im Gegenteil ihre Spitze gegen Antisthenes 1 ) — , er ist vielmehr einem Lob des Ponos eingefügt: Helios' arbeitsvolles, segensreiches Wirken wird als Vorbild hingestellt. Xenophon aber kann diese Gedanken für seine teleologisch -theologischen Zwecke brauchen. Er setzt für die Sonne die Götter ein und wendet natürlich auch sonst die antisthenischen Ausführungen so, daß sie seiner Tendenz sich anpassen. Und er tut das hier so nachlässig, daß man das Origi- nal selbst an verschiedenen Stellen durchschimmern sieht. 2 ) Ich sehe zunächst davon ab, auf weitere Fälle, in denen sich die Gesprächsammlung von antisthenischen Schriften abhängig zeigt, genauer einzugehen. Gelegenheit hiezu wird sich später häufig genug bieten. Natürlich kann man, wenn einmal gewisse Abhängigkeiten nachgewiesen sind, andere erschließen. Wer z. B. den kynischen Einschlag im Aristippkapitel II 1 erkannt hat, wird leicht auch in IV 5 (über die Enkratie) oder in I 3, 5 f. (über die Stellung des Sokrates zum Essen und Trinken) antisthe- nische Spuren entdecken. Für die Schilderung an dieser letzteren Stelle findet sich übrigens im Symposion (IV 37 ff) auch eine wirkliche antisthenische Parallele. Ähnlich steht es mit dem Lob der Bedürfnislosigkeit in I 6, 1 — 10, und auch für diese Partie hat Joel 3 ) kynische Berührungen zugleich dokumentarisch aufge- zeigt. Sichere Entlehnungen aus Antisthenes lassen sich indessen außerdem noch in einer Reihe von Fällen auch äußerlich nachweisen. So rührt z. B. der Grundsatz (Mem. III 7, 4), daß es für das Handeln l ) Man darf nicht vergessen, daß Mem. I 4 mit dem bekannten Angriffe gegen die Antisthenik eingeleitet ist. -) Die ganze Anlage des teleologischen Gedankenganges in IV 3, so be- sonders schon der Anfang — Xenophon beginnt mit dem Licht — , ferner das starke Hervortreten der Sonne in der Argumentation lassen vermuten, daß Xenophon hier eine Vorlage über die Sonne benutzt hat. — Joel, II 380 ff., hat hier wohl Recht, obwohl er nach seiner Gewohnheit in seinen Schlüssen wieder viel zu weit geht. 3 ) II S. 662 ff. (vgl. I 166 f.; F. Dümmler, Akademika S. 81 und S. 154; doch hat Zeller, Archiv für Gesch. der Ph. VII 106, mit Recht darauf hingewiesen, daß der Gedanke, die Bedürfnislosen seien glücklich, auch bei Plato, Gorg. 492 E ausgesprochen ist). H. M a i e r, Sokrates. 5 66 Die Quellen. keinen Unterschied mache, ob es in der Öffentlichkeit oder in der Zurückgezogenheit zu geschehen habe, wie die Parallele Winckel- mann S. 9 zeigt, von Antisthenes her. In der Kritobulosszene ferner ist, wie uns bereits bekannt ist, die Stellung Xenophons zur Erotik im wesentlichen die antisthenische. Das alles läßt den Zusammen- hang der xenophontischen Gesprächsammlung mit dem antisthe- nischen Schrifttum doch recht deutlich erkennen. Auch die übrigen Schriften Xenophons aber, und nicht bloß die sokratischen, verraten vielfach kynische Spuren. Und man kann wohl sagen: nicht bloß die Sokratesauffassung Xenophons, sondern auch seine ganze Lebensanschauung zeigt nicht unbeträchtliche kynische Einflüsse. Die Frage ist nur, wie sich diese Beziehungen des Verfassers der Gesprächsammlung zu Antisthenes und der Kynik erklären. Nun gibt es einen wichtigen Berührungspunkt zwischen dem xenophontischen und dem antisthenischen Lebensideal. Unter all den Tugenden, die Xenophon von Sokrates rühmt und in Sokra- tes' Namen fordert, tritt keine so stark hervor wie die Enkratie. Das war offenbar der Zug, der ihm in dem Bilde des Meisters am meisten in die Augen gefallen, zugleich aber auch derjenige, der ihm selbst am kongenialsten war. Er hat ihm dann auch den Stempel seines eigenen Wesens und Empfindens aufgedrückt. Die xenophontische Enkratie zeigt eine ausgesprochen soldatische und sportliche Färbung: da wird immer wieder Abhärtung gegen Mühen und Strapazen, gegen Hitze und Kälte gefordert, und immer wieder gepredigt, man solle lernen, Hunger, Durst, Nacht- wachen zu ertragen, man solle mäßig, bedürfnislos, enthaltsam, hart gegen sich selbst sein. Zugleich mischt sich in diese Enkratie etwas von Xenophons romantischer Sehnsucht nach der Einfachheit der alten Zeiten, von seiner Vorliebe für spartanische Rauheit und von seiner Abneigung gegen städtischen Komfort. Mit dieser Sinnesrichtung aber stimmt die antisthenische Lebens- tendenz nicht übel zusammen. Der kynische Kampf gegen Lust und gegen Weichlichkeit {r.^vcpi)) spitzt sich zur Verherrlichung des Ponos zu. Und im Kultus des Ponos begegnet sich der lakoni- sierende Junker und Soldat, der in seiner Skillunter Einsamkeit alt gewordene, städtischen Lebensformen seit Jahrzehnten ent- wöhnte Landwirt, der aus der Not eine Tugend gemacht hat und Die Memorabilien. 67 zum Lobredner ländlicher Urwüchsigkeit geworden ist, mit dem dorisierenden Literaten und Proletarier, dem Repräsentanten kynischer Derbheit, der der feinen Sitte in allen Formen den Krieg erklärt hat; und der altmodische Konservative, der Freund des guten Alten, der den Gewohnheiten und Bedürfnissen einer fort- geschrittenen Zivilisation mit tiefem Mißtrauen gegenübersteht, kann dem Naturpropheten, der der Kultur und ihren Segnungen grundsätzlich den Rücken kehrt, die Hand reichen. Nimmt man noch hinzu, daß auch die entschlossen praktische Richtung des antisthenischen Philosophierens dem alten Praktiker Xenophon sicher sympathisch war, so begreifen wir nicht allein, daß dieser sich entschließen konnte, aus kynischen Quellen zu schöpfen, sondern auch, daß in seine Sokratesauffassung antisthenische Elemente in beträchtlichem Maß eindringen konnten. Indessen geht die Benutzung der antisthenischen Literatur namentlich in den Memorabilien noch über diesen Rahmen hinaus. Auch das aber läßt sich verständlich machen. Antisthenes war ein überaus fruchtbarer Schriftsteller. Aber die Haupttendenz seiner Schriftstellerei — und nicht bloß seiner „somatischen Ge- spräche" — war, Sokrates, so wie er ihn erfaßt hatte, seinen Zeit- genossen nahezubringen. Dabei war er, wie wir sehen werden, peinlich gewissenhaft bemüht, am Wort des Meisters festzuhalten, wie er sich ja auch äußerlich mehr als irgend ein anderer der Sokratiker den Sokrates zum Muster genommen hatte. Xenophon aber wußte das. Schon im Symposion hatte er den Mann, so unliebenswürdig er ihn fand, so geschildert. Und auch in der Gesprächsammlung hindert ihn die Polemik gegen die antisthe- nische Sokratesdarstellung nicht, ausdrücklich zuzugestehen, daß Antisthenes dem Meister besonders nahe stand (S. 45). Mußte er unter diesen Umständen Bedenken tragen, bei ihm das zu suchen, was er brauchte, sokratisches Material, Belehrung über die Persön- lichkeit und das Wirken des Sokrates? Wenn er das tat, brauchte er ja noch nicht den kynischen Sokrates selbst zu übernehmen. In der Tat verfuhr er mit den antisthenischen Schriften nicht viel anders als mit den platonischen: wieder nahm er heraus, was ihm paßte, und verarbeitete das Entlehnte nach seiner Manier. Daß er dies da und dort recht flüchtig getan hat, ist nicht zu leugnen. So kam manches herein, was in den Gedankenkreis seines 5* 68 Die Quellen. Sokrates nicht hineinpaßt und zu der Annahme Anlaß geben kann, als wären die Memorabilien eine kynische Parteischrift. In Wirk- lichkeit hat es mit diesen Unausgeglichenheiten wieder dieselbe Bewandtnis wie mit denen, die durch die Verwertung platonischer Stoffe verursacht sind. Dem Autor selbst ist diese Schwäche seiner Leistung nicht ganz unbekannt. Er bemüht sich gelegentlich recht merkbar, die fehlende Harmonie künstlich herzustellen. l ) Besonders inter- essant ist in dieser Hinsicht ein Versuch, den Xenophon am Schluß von IV 6 macht, die beiden Stücke seiner Darstellung, die ein- ander am schroffsten entgegenstehen, unmittelbar an einander zu knüpfen: die kynisierende Enkratie und die platonisierende Be- griffsdialektik. Das 5. Kapitel des 4. Buches handelt wieder ein- mal von der Enkratie, und in § 11 heißt es schließlich: „denn wer nicht auf das Beste sieht, vielmehr immer nur das Angenehmste zu tun sucht, wodurch unterscheidet sich der von dem unver- nünftigsten Vieh?" Dann wird fortgefahren: „den Enkratie- übenden allein (rolg iyxQar.eai fiuvoig) aber ist es möglich, in den vorkommenden Fällen auf das Beste zu sehen (ay.onnv ra y.Q&Tima rwv ngayiidnov), und in Wort und Tat scheidend nach Gattungen das Gute (j.a ayad-a) zu wählen und das Schlimme zu meiden; und so, meinte er, werden die Menschen am besten, am glücklichsten und am tüchtigsten in der Kunst des Unterredens.'' Hieran nun schließt sich die Definition der Dialektik, das ihaUyso&ai habe seinen Namen davon, daß man sich in gemeinschaftlicher Beratung zusammenfinde „scheidend die Dinge nach Gattungen", und weiterhin jene Mahnung, „man müsse also so sehr wie möglich versuchen, sich hiezu (zum Scheiden der Dinge nach Gattungen) geschickt zu machen, und hiefür am meisten Sorge tragen ; denn das gebe die besten ') Eine deutlich hervortretende Diskrepanz ist z. B. die zwischen dem hedonistischen Element der xenophontisch-sokratischen Ethik und der kynischen Betonung des növoq. Daß Xenophon die rfiovi] mit Bewußtsein und im Gegen- satz zu Antisthenes festhalten will, ist sicher. Aber er fühlt den Widerspruch und bemüht sich nun immer und immer wieder, den növoq selbst mit dem Tjösod-at in Verbindung zu bringen (so z. B. in IV 5, II 1 u. ö.). Die Kynik gibt ihm hiefür einen Anknüpfungspunkt, sofern sie eine an die Tugend geknüpfte reuelose Befriedigung zuläßt. Xenophon geht aber über diesen Rahmen weit hinaus. Die Memorabilien. 69 Männer, die tüchtigsten Führer und die fähigsten Dialektiker". Das ist die Überleitung zu den begriffsdialektischen Erörterungen des 6. Kapitels. Man muß gestehen: die Art, wie hier die Dia- lektik, auf die das Vorhergehende auch nicht im geringsten vor- bereitet hat, eingeführt und an die Enkratie angeknüpft wird, ist die denkbar äußerlichste und ungeschickteste. Und bemerkens- wert ist sie eben nur darum, weil sich in ihr das Bedürfnis des Autors, zwei wenig zusammenstimmende Züge seines Sokrates- bildes gegen einander auszugleichen, besonders deutlich verrät. Es ist wohl anzunehmen, daß auch diese Flüchtigkeiten und Un- ebenheiten verschwunden wären, wenn das Werk vom Autor selbst seine redaktionelle Vollendung erhalten hätte. In keinem Fall aber darf man aus ihnen den Schluß ziehen, daß die Gespräch- sammlung am Ende nichts anderes sei als eine äußerliche Kom- pilation. Eben die Art und Weise, wie Xenophon platonische und antisthenische Vorlagen benutzt hat, hat uns doch auch wieder ge- zeigt, daß er im ganzen ernstlich bemüht war, das Material, das er aus diesen Quellen schöpfte, so zu gestalten, daß er es für seine Zwecke brauchen konnte. Und schließlich darf sein eigener An- teil an dem Sokratesbild, das er uns bietet, ganz und gar nicht unterschätzt werden. So viel wenigstens ist gewiß, daß er in das- selbe von seinem eigenen Lebensideal, das er für sokratisch hielt, wie auch von seiner Lebenserfahrung genug hineingelegt hat, um ihm eine gewisse Originalität zu geben. In der Tat ist der Sokrates, der uns aus der Gesprächsammlung entgegentritt, weder der pla- tonische noch der antisthenische noch endlich eine Mischung von beiden, sondern eben — der xenophontische. Ein Sokratesbuch von besonderer Art ist und bleibt die xeno- phontische Gesprächsammlung. Der Gedanke, seine Sokratesauf- fassung in einer Sammlung von Logoi Sokratikoi zu entwickeln, war eine selbständige Idee Xenophons, und der umrahmende „Bericht" hat seiner Arbeit jenes eigenartige Gepräge gegeben, das die Kritiker so lange über den fiktiven Charakter dieser Unter- redungen und ihre Verwandtschaftmit den „somatischen Gesprächen" der übrigen Sokratiker hinweggetäuscht hat. Aber auch inner- halb der xenophontischen Sokratika selbst hat die Gesprächsamm- lung eine eigentümliche Sonderstellung. Sie hebt sich nicht allein 70 Die Quellen. von der Schutzschrift bestimmt ab, die schon vermöge ihrer un- mittelbar apologetischen Abzweckung immerhin halb historischen Charakter hat, und ebenso von der Apologie, die sozusagen in der Mitte zwischen der Schutzschrift und den fiktiven Gesprächen steht. Sie unterscheidet sich vielmehr auch von den letzteren, vom Symposion und vom Ökonomikus, mit denen sie doch grund- sätzlich zusammengehört. Ihr Charakteristisches liegt in jener be- wußten polemisch-irenischen Tendenz, im Kampf um Sokrates den echten Sokrates zu geben. Eben darum wird die Sokratesforschung das Recht behalten, auf sie ein besonderes Gewicht zu legen. Möglich, daß Xenophon schon bald nach der Abfassung der Schutzschrift den Plan einer sokratischen Gesprächsammlung ge- faßt hat. Vielleicht war die Apologie bereits als ein Stück oder vielmehr als der Abschluß einer solchen gedacht. Symposion und Ökonomikus, die zunächst gesondert veröffentlicht wurden, sollten dieser Sammlnng dann wohl eingefügt werden. Daß der Autor dagegen auch geplant habe, diese Dialogsammlung schließ- lich noch mit der Schutzschrift zu einem Ganzen zusammenzufassen (S. 21 f.), ist nicht mehr ebenso wahrscheinlich. Die Partikeln, die wir im Eingang des Ökonomikus und des Symposions finden, würden sich ja auch dann erklären, wenn der Plan bestand, diesen Stücken noch andere Dialoge voranzustellen. Ausgeschlossen ist jeden- falls, wie wir jetzt mit Bestimmtheit feststellen können, daß Xeno- phon jemals die Absicht hatte, Symposion, Ökonomikus und Apo- logie mit der Gesprächsammlung, wie sie uns vorliegt, zu einer literarischen Einheit zusammenzunehmen. Die Kritobulosszene der Gesprächsammlung war neben dem Symposion, aus dem sie geschöpft ist, ebenso unmöglich wie das letzte Memorabilien- kapitel neben der Apologie. Aber es ist ja handgreiflich, daß Symposion und Ökonomikus nach ihrem ganzen literarischen Cha- rakter mit den kleinen und oft recht skizzenhaften Logoi der Ge- sprächsammlung gar nicht zusammenpassen. Wir können nur annehmen, daß Xenophon seinen ursprünglichen Plan einer großen Dialogsammlung schließlich aufgab, um sich einem bescheideneren zuzuwenden. Mit der Sammlung kleinerer Gespräche, die er jetzt anlegte, verfolgte er aber zugleich jenen Zweck, in den Kämpfen der sokratischen Gemeinde die Rolle des schiedsrichterlichen Ver- mittlers zu spielen. Die Memorabilien. 71 Wann er freilich diesen Plan in Angriff nahm, darüber haben wir nur Vermutungen. Der Eindruck, daß die einzelnen Stücke der Gesprächsammlung nicht alle zu gleicher Zeit verfaßt sind, hat sich im Lauf der Untersuchung bestätigt. 1 ) Mit dem Grundstamm des Werkes werden wir indessen zeitlich ziemlich weit herabrücken müssen, wohl bis tief in die sechziger Jahre herein. Ausgeschlossen ist natürlich nicht, daß einzelne Stücke früher verfaßt sind, Stücke, die vielleicht ursprünglich als vor- läufige Gesprächskizzen niedergeschrieben waren, nun aber in die neue Sammlung hereingenommen wurden. Einen zuverlässigen Anhaltspunkt hiefür haben wir aber nicht. Dagegen können wir als sicher annehmen, daß zu dem Grundstamm spätere Nachträge ■ hinzugekommen sind, die zum Teil bis in die allerletzte Zeit Xeno- phons herabreichen. 2 ) Daß der Autor zu der Zeit, als er den Grund zu seinem Werke legte, eine Veröffentlichung desselben in Aussicht nahm, ist selbstverständlich, und es ist nicht unmöglich, daß er die Absicht hatte, diese Sammlung, wenn sie fertig wäre, an die Schutzschrift anzugliedern; vielleicht hat er diese Absicht auch in einer Weise zum Ausdruck gebracht, die dem Heraus- geber Anlaß gab, die beiden Arbeiten zusammenzuschließen. Daß ') Selbstverständlich würde die Benutzung platonischer Dialoge, selbst wenn die Abfassungszeit der letzteren mit größerer Sicherheit festgestellt werden könnte, als es der Fall ist, für die Datierung der betreffenden Stücke der Memorabilien keinen Anhaltspunkt geben. Der Autor der Gesprächsammlung hat wohl die bis dahin erschienenen platonischen Schriften ziemlich vollzählig vor sich gehabt und die früheren neben den späteren benutzt. Nur der triviale Schluß ist zulässig, daß diejenigen Stücke der Memorabilien, in denen eine Verwendung platonischer Dialoge nachweisbar ist, später verfaßt sein müssen, als die letzteren. 2 ) Bei dem literarischen Charakter der Gesprächsammlung ist es schwer, ja unmöglich, im einzelnen zu bestimmen, welche Stücke zum Grundstamm ge- hören, und welche als Nachträge anzusehen sind. Nur die spätesten lassen sich mit einiger Sicherheit in die letztere Kategorie einweisen. Unter solchen Um- ständen sind wir natürlich auch nicht im stände, die Abfassungszeit des Grund- stammes auch nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu fixieren. Ich selbst bin immerhin geneigt, E. Schwartz zuzustimmen, der die Memorabilien „erst dreißig Jahre nach Sokrates' Tod" verfaßt sein läßt (Charakterköpfe aus der antiken Literatur, erste Reihe, 4. Aufl. S. 51); nur würde ich sein „nachweislich" aus dem angegebenen Grund nicht eben betonen und seine Vermutung auf den Grund- stamm der Gesprächsammlung einschränken. Im übrigen bin ich der Meinung, daß man die Abfassungszeit des letzteren eher noch weiter herab- als hinauf- rücken muß. 72 Die Quellen. der Autor aber die Gesprächsammlung noch selbst veröffentlicht oder auch nur als formell abgeschlossen betrachtet habe, ist mir nach wie vor unwahrscheinlich. Wie steht es nun aber mit dem geschichtlichen Wert dieser Sokratesdarstellung? Hat sie wirklich das Wesen, die Intentionen und die Anschauungen des historischen Sokrates erfaßt? Indem Xenophon das für seine Arbeit in Anspruch nimmt, tritt er in Rivalität mit Plato und Antisthenes — um von den übrigen So- kratikern zu schweigen. Ist nun sein Sokrates oder der plato- nische oder endlich der antisthenische der wirkliche Sokrates? Stellt man das Problem so, so scheint Xenophon sofort in Nach- teil zu kommen. Im Vergleich mit dem platonischen und dem antisthenischen ist sein Sokratestypus jedenfalls der sekundäre, der mit Benutzung der beiden ersten zurechtgemacht ist. Der Einwand, Xenophon habe aus platonischen und antisthenischen Quellen nur die Züge in sein Sokratesbild aufgenommen, die ihm auf Grund seines eigenen Erinnerns sokratisch schienen, will so wenig mehr verfangen, wie der andere, der der stark hervortreten- den Subjektivität der platonischen und antisthenischen Sokrates- auffassung die neutrale Unbefangenheit des unparteiischen Xeno- phon, der eben nur den toten Meister in treuer Pietät verherr- lichen wolle, entgegenhalten möchte. So wie das Problem jetzt für uns liegt, kann es sich nur noch fragen: war Xenophon wirk- lich im stände, einem Antisthenes und Plato gegenüber in dem Kampf um Sokrates den Schiedsrichter zu spielen? Und diese Frage führt auf die allgemeinere zurück: war er überhaupt im stände, den wirklichen Sokrates zu geben? Kurz: hat Xenophon wirklich das Wirken und die Intentionen des Meisters verstanden? Um die Frage, ob ein Mensch fähig sei, Gespräche, wie die in den Memorabilien wiedergegebenen, Jahre oder gar Jahrzehnte lang im Gedächtnis zu bewahren, brauchen wir uns nicht mehr zu sorgen: sie ist für uns gegenstandslos geworden. Aber auch um die philosophische Kapazität Xenophons brauchen wir nicht zu streiten. Wir werden später sehen, daß das, was Sokrates seinen Jüngern gab und geben wollte, überhaupt kein philo- sophisches Lehrgebäude war. Aber wir wollen nicht vorgreifen. Daß Sokrates die Menschen zu allererst zu neuem sittlich-persön- lichem Leben erwecken wollte, sieht jeder, der in der sokratischen Die Memorabilien. 73 Literatur unbefangene Umschau hält. Und verstehen konnte am Ende den Meister nur der, der sich von ihm innerlich fassen und zum „Sehen" führen ließ. Plato, Antisthenes, Euklid, auch Ari- stipp haben im Verkehr mit Sokrates eine solche innere Wandlung erfahren: die Grundtendenz des sokratischen Wirkens ist ihnen allen — so weit sie sonst auseinandergehen — aufgegangen, und sie haben die Wirkung innerlich an sich selbst erfahren. Gehört nun auch Xenophon zu diesen „Bekehrten"? Stand er dem Meister nahe genug und hat er sich ihm rückhaltslos genug hingegeben, um sein Werk in diesem Sinne von innen heraus erfassen zu können? Ich glaube, wir können diese Frage mit einem runden Nein be- antworten. Zwar daß Xenophon den Sokrates nur flüchtig gekannt habe, 1 ) wird man nicht sagen können. Möglich ist sogar, daß sein Verkehr mit dem Meister zeitlich länger gedauert hat als der des Antisthenes und des Plato. 2 ) Und daß seine Beziehungen zu Sokrates tiefer gegangen waren als bei der großen Masse der vornehmen jungen Leute, die sich einst in dessen Nähe ge- drängt hatten (S. 7), durfte er sich wohl mit Recht sagen. Ge- wiß war er eifrig bemüht, von Sokrates zu lernen. Und daß er gewisse Eindrücke aus jener Zeit dauernd festgehalten hat, ist zweifellos. Gerade an den hervorstechendsten und anfechtbarsten Punkten seiner Sokratesdarstellung — so vor allem in seiner uti- litaristischen und hedonistischen Fassung der sokratischen Ethik, in seiner Schilderung der Frömmigkeit und der bürgerlichen Kor- rektheit des Meisters und sogar in der Beschreibung der sokratischen Dialektik — werden wir in der Tat sokratische Ansätze nachweisen können. Allein dabei bleibt es: zu den intimen Sokratesjüngern ist er nicht zu zählen. Daß er in der sokratischen Literatur nir- gends als Sokratiker aufgeführt ist, mag zufällig sein. 3 ) Schwerer ') So E. Richter, Xenophonstudien, a. a. O. S. 133 ff. Indessen ist das eine Paradoxie, die sich nicht beweisen läßt. Vgl. L. Robin, a. a. O. S. 30. 2 ) Die S. 6, 2 ausgesprochene Vermutung ist immerhin nicht sicher. 3 ) In Äschines' Aspasia (Krauß, fr. 9) ist ein Xenophon und seine Frau ein- geführt. Und vermutlich ist das unser Xenophon (vgl. Krauß S. 84, 137). Aber in dem Gespräch, von dem hier berichtet wird, steht Xenophon nur der Aspasia gegenüber. Und was aus dieser dialogischen Verwendung der Person des Xeno- phon folgt, ist eben nur, daß dieser zu den Bekannten des Äschines gehört hat. — Daß dem erdichteten Briefwechsel des Xenophon mit Sokrates und den So- kratikern für unsere Frage nichts zu entnehmen ist, ist selbstverständlich. 74 Die Quellen. schon wiegt, daß er den Gegnern der sokratischen Gemeinde als solcher überhaupt nicht bekannt war. Entscheidend bleibt sein ganzes Verhalten in der Cyrusangelegenheit. Zumal das, was er selbst über seine Verhandlungen mit Sokrates in dieser Sache zu berichten weiß, sieht wirklich nicht darnach aus, daß er zu den vertrauten Jüngern des Meisters gehörte. 1 ) Zuzugestehen ist — und das hat sich uns ja zur Evidenz ergeben — , daß er später, namentlich in seiner Skillunter Zeit, redlich bestrebt war, durch fleißiges Studium der Literatur und durch eigenes Nachdenken zu einem klareren und vollständigeren Bild von Sokrates zu ge- langen. Aber daß diese Arbeit den persönlichen Eindruck, der dem Autor der Gesprächsammlung allein die Autorität des So- kratikers hätte sichern können, nicht zu ersetzen vermochte, ist selbstverständlich. Und es wird sich später zeigen, daß Xeno- phon in der Tat den innersten Kern des sokratischen Werkes nicht begriffen hat. Über die historische Verwendbarkeit der xenophontischen So- kratika, zumal der Gesprächsammlung, ist damit indessen noch nicht das letzte Wort gesprochen. Daß die Sokratesdarstellung der Memorabilien trotz allem und allem echt sokratische Elemente enthält, ist unbestreitbar und von uns ausdrücklich anerkannt wor- den. Wie aber lassen sich dieselben isolieren? Karl Joel und nach seinem Vorgang Theod. Gomperz haben den Versuch gemacht, das sokratische Eigentum an den Anschauungen und Lehren der Memorabilien auf dem Weg zu ermitteln, daß sie die aus den übrigen xenophontischen Schriften bekannte Eigenart und Denk- weise des Autors sorgfältig feststellten und das, was über diesen Gedankenkreis merkbar hinausgriff, als unzweifelhaft sokratisches Gut in Anspruch nahmen. 2 ) Nun ist mir nicht zweifelhaft, daß eine umsichtige und erschöpfende Ermittlung des Ganzen der xeno- phontischen Anschauungen für das Verständnis und die Kritik der Memorabilien sehr wertvoll wäre und insofern auch der Sokrates- *) S. oben S. 7, 1 und S. 41. Vgl. v. Wilamowitz, Antigonos von Karystos S. 334. 2 ) Joel a a. O. I 64 ff., Th. Gomperz, Griechische Denker II S. 52 und die Anmerkung hiezu S. 538. Zu bemerken ist übrigens, daß die Untersuchung Joels im zweiten Teil seines Werkes, wo der Schwerpunkt wesentlich verschoben ist, einen anderen Charakter hat. Die Memorabilien. 75 forschungnützlich werden müßte; und was Joel und Gomperz in dieser Hinsicht geleistet haben, ist nicht zu unterschätzen. Allein das Ziel, das sie sich steckten, ist auf dem angegebenen Weg nicht erreich- bar. Denn erstens: kann auch nur das, was sich in dem Sokrates- bild der Memorabilien durch eine solche Vergleichung als spezi- fisch xenophontisch ausweist, ohne Heranziehung anderweitiger Kriterien als sicher nur xenophontisch angesprochen werden? Kann nicht auch das dennoch sokratisch sein? Xenophon ist sich zweifel- los bewußt gewesen, daß seine ganze Lebensanschauung auf so- matischer Grundlage ruhte. Ist das schon an sich, ohne äußere Gründe unglaubhaft? Oder, eine andere Möglichkeit, ist das spezi- fisch Xenophontische nicht vielleicht kynisch oder platonisch be- einflußt? Joel selbst hat auch in den nichtsokratischen Schriften Xenophons kynischen Elementen eifrigst nachgespürt und in einer Reihe von Fällen solche sicher nachgewiesen. Auch die kynischen Züge der xenophontischen Anschauungen aber könnten zuletzt auf Sokrates zurückgehen. Zweitens sodann: wer bürgt uns dafür, daß die in den Memorabilien dem Sokrates in den Mund gelegten Gedanken, soweit sie sich nicht irgendwie aus anderen xenophon- tischen Schriften belegen lassen, nun wirklich sokratisch sind? Könnten sie nicht am Ende im Gegenteil nur xenophontisch sein? In jedem einzelnen Fall ließe sich ja geltend machen, daß ein in solcher Weise für Sokrates in Anspruch genommener Gedanke eben nur zufällig, eben nur darum, weil nirgends hiezu ein An- laß geboten war, in keiner anderen xenophontischen Schrift wieder- kehre. Oder könnte — das liegt näher — das angeblich rein So- matische nicht wieder aus kynischer oder platonischer Quelle stammen? Die Ausführungen über die sokratische Begriffsphilo- sophie in Mem. IV 5 und 6 z. B. haben allerdings in der sonstigen xenophontischen Literatur keine Parallele; aber sie gehen nach- weisbar auf Plato zurück. Und ob solche von Plato oder Anti- sthenes entlehnte Elemente wirklich sokratisch sind, ist noch sehr die Frage. Das alles ist im Grunde selbstverständlich. Und es ist bezeichnend, daß Theod. Gomperz selbst nicht daran denkt, mittels jenes Verfahrens allein die Scheidung xenophontischer und sokratischer Elemente in den Memorabilien durchzuführen; er zieht sofort einen zweiten Maßstab heran: als solcher dienen ihm die aristotelischen Zeugnisse über Sokrates. Tatsächlich bedient 76 Die Quellen. sich auch Joels Untersuchung von vornherein dieses Kriteriums, und nur dadurch vermag sie wirkliche oder scheinbare Ergeb- nisse zu gewinnen. Und so viel ist in der Tat sicher: ohne eine von außen sich darbietende Richtschnur ist eine Heraussonderung des wirklich sokratischen Guts aus der Sokratesdarstellung der xenophontischen Gesprächsammlung unmöglich. Das Ergebnis dieses Kapitels ist wenig erfreulich. Mit der geschichtlichen Verwertbarkeit der Memorabilien steht es nicht zum Besten. Daß die Sokratesunterredungen der Gesprächsamm- lung ganz ebenso fingiert und imitiert sind wie die platonischen Dialoge, ist noch nicht das Schlimmste. Bedenklicher noch ist, daß die in diesen Gesprächen entwickelte Sokratesauffassung selbst nicht bloß die platonische oder gar die antisthenische an Wirk- lichkeitstreue nicht übertrifft, daß sie vielmehr in wichtigen Stücken von diesen abhängig ist und auch, soweit sie selbständig genannt werden kann, keineswegs auf dem Grunde eines großen persön- lichen Gesamteindrucks ruht, daß sie darum auch an mittelbarem historischem Wert ganz erheblich hinter der platonischen Dar- stellung, die in jedem Fall als der Ausdruck einer aus vertraute- stem Verkehr mit dem Meister erwachsenen und tief, wenn auch vielleicht einseitig in seine Intentionen eingedrungenen Deutung des sokratischen Wirkens zu gelten hat, zurücksteht. Tiefer noch als die Gesprächsammlung wird die Sokratesforschung von ihrem Standpunkt auch künftig den Ökonomikus und auch das Sym- posion stellen; jene hat von diesen beiden Dialogen immerhin schon die bewußte, ja tendenziöse Absicht, den wirklichen So- krates herauszuarbeiten, voraus. Als halb historische Arbeiten haben sich die Schutzschrift und, in geringerem Maß, die Apo- logie erwiesen. Aber der Ertrag der letzteren an historischen Daten ist verschwindend klein, der der ersteren nicht viel größer. Und in der Schilderung des Sokrates selbst schlagen beide Schrif- ten bereits die Bahn ein, in der sich die Gesprächsammlung be- wegt. Viel Nutzen werden wir also aus den xenophontischen So- kratika nicht schöpfen können. Immerhin hat sich ergeben, daß speziell die Memorabilien auch wirklich sokratische Ansätze auf- weisen. Indessen werden sich diese für die Sokratesforschung nur dann fruchtbar machen lassen, wenn wir eine äußere Norm finden, Die aristotelischen Zeugnisse. 77 die uns in den Stand setzt, aus dem Gedankenmaterial der Ge- sprächsammlung und auch der Schutzschrift Xenophontisches und Sokratisches zu scheiden. Drittes Kapitel. Die aristotelischen Zeugnisse. Zeigt sich uns nun irgendwo eine solche Norm? Es liegt nahe, mit Joel und Th. Gomperz sich wieder zu den aristotelischen ; .Zeugnissen" zu flüchten. Für die Mehrzahl der heutigen So- kratesforscher, auch für diejenigen, die in der Quellenfrage sonst äußerst kritisch sind, ist „das Vertrauen zu Aristoteles" immer noch „kritisches Axiom". In der Tat scheint sich in den wenigen aristotelischen Äuße- rungen über Sokrates und seine Stellung in der Geschichte der Philosophie die kritische Norm zu bieten, die wir brauchen. Ari- stoteles stand — so argumentiert man — dem geschichtlichen Sokrates bereits ferne genug, um ,,gegen jede Anwandlung von Heroenkultus gefeit zu sein", und doch andererseits noch so nahe, daß er über ihn zuverlässig unterrichtet sein konnte. Wenig- stens ist anzunehmen, daß, als er im Jahre 367 siebzehnjährig nach Athen kam, dort noch eine reiche mündliche Tradition über das Leben und Wirken des wirklichen Sokrates lebendig war. Vor allem aber stand ihm auch später noch — auch noch zu der Zeit, aus der seine wichtigsten sokratischen Notizen stammen — eine Quelle offen, die für uns zu einem wesentlichen Teil ver- siegt ist: die ganze sokratische Literatur. Er konnte also auch aus den Schriften derjenigen Sokratiker, die an dem großen Kampf um Sokrates nicht unmittelbar beteiligt waren und darum als geschicht- lich unbefangene Zeugen gelten konnten, schöpfen und so ein historisch treues Bild des großen Meisters gewinnen. Und ist zu zweifeln, daß er das wirklich gewollt hat? Er selbst, so sagt man wohl, stand wenigstens in jener späteren Zeit den Fehden zwischen Plato und seinen Gegnern unparteiisch gegenüber: von diesen, namentlich von Antisthenes, trennte ihn eine Welt; aber auch Plato, der einstige Lehrer, war ihm fremd geworden. War es also 78 Die Quellen. nicht selbstverständlich, daß er, als er sich über die geschicht- liche Stellung des Sokrates klar zu werden suchte, über die So- kratesspekulationen der feindlichen Brüder auf die unverdächtigen Darstellungen der parteilosen Sokratesjünger zurückgriff? Es liegt mir fern, dem Stagiriten sein Verdienst schmälern zu wollen. Aber hier tut man ihm doch zu viel Ehre an. Ich muß gestehen, daß es mir kaum verständlich ist, wie man seinen spärlichen Bemerkungen so viel Gewicht beilegen und so viel Vertrauen schenken konnte. Zwischen der Hinrichtung des Sokrates und der Ankunft des jungen Aristoteles in Athen liegt fast ein Menschenalter. Das ist ein Zeitraum, zu kurz, um jedes persönliche Erinnern an einen Mann des Geistes an der Stätte seines Wirkens auszulöschen, und doch lange genug, um das Ziel und den Sinn seines Lebenswerks, wenn darum unter seinen berufenen Nachfolgern Jahrzehnte hin- durch heiße Kämpfe geführt worden sind, in undurchdringliches Dunkel zu hüllen. Gewiß gab es im Jahre 367 in Athen noch eine sokratische Überlieferung. Es liefen ohne Zweifel noch eine Menge von Anekdoten über den großen Sonderling um. Aber um die Hauptsache, um das, was Sokrates mit seinem Leben und Sterben gewollt hat, herrschte bitterer Streit. Es mag ja einige Stille im Lande gegeben haben, die das Bild des Meisters treu in ihren Herzen bewahrt hatten. Wir wissen darüber nichts. So viel aber ist sicher, daß Aristoteles mit solchen Leuten Berührung weder gehabt noch gesucht hat. Er kam nach Athen, um in Pia- tos Schulgemeinschaft einzutreten. Indem er aber Mitglied der Akademie wurde, eignete er sich zugleich das fundamentalste Dogma der Schule, die platonische Sokratesauffassung, an. Zwar ist er ja bald, noch als Mitglied der Akademie, seinen eigenen Weg gegangen. Aber die Entfremdung von Plato brauchte keineswegs auch ein Bruch mit dem platonischen Sokrates zu sein. Daß die Ideenlehre Piatos ausschließliches Eigentum war, das war, ohne Zweifel auch innerhalb der Akademie, ein öffent- liches Geheimnis. Plato selbst hat den Sokrates seiner Apologie später nicht verleugnet. Was er behauptet, ist doch nur, daß sein Philosophieren auf der sokratischen Linie liege, daß sein Wirken die konsequente Durchführung des Programms sei, das dem ver- storbenen Meister vor der Seele stand. Und wenn dies seinen Die aristotelischen Zeugnisse. 79 Schülern vielleicht nicht in dieser bestimmten Weise gegenwärtig geblieben ist, so haben doch auch sie eine Ahnung davon, wie es mit dem platonischen Sokratestypus stand, sicher immer fest- gehalten. 1 ) Darüber also, daß der wirkliche Sokrates nicht der Metaphysiker der spekulativen Dialoge Piatos war, ist sich Aristo- teles nicht erst jetzt klar geworden. An diesem Punkte brauchte er darum sein Sokratesbild nicht erst zu revidieren — wenn er überhaupt zu einer solchen Revision ein Bedürfnis fühlte. Zu- nächst indessen war dies schwerlich der Fall. Für Aristoteles war die Sokratesfrage in den Hintergrund getreten. Er hat diesen Eifer um den toten Meister, diesen Personenkultus wohl gar nicht mehr verstanden. Dennoch hat er wohl schon als Akademiker in den Kampf eingegriffen. Gegen Isokrates war er dem Lehrer als jugendlicher Schildknappe beigesprungen. So wird er auch gegen Antisthenes und die übrigen Gegner der „Philosophie" nicht da- hinten geblieben sein. Worauf es ihm aber im Streite ankam, das war nicht mehr die Person, sondern einzig und allein die Sache. In der Sache aber kämpfte er, auch nach seiner inneren Lösung von Plato, auf Piatos Seite. Der Kampf gegen die Kynik und die übrigen skeptisch- eristischen Spielarten der Sokratik war ihm ein Kampf um das höchste Gut der Menschheit, um die Wissenschaft, um die intel- lektuelle Kultur. Für diese heilige Sache hat er gestritten bis an sein Lebensende, gestritten mit der ganzen leidenschaftlichen Schärfe, die ihm zu Gebote stand. Und aus diesem Kampfe zu- meist, aus dem Gegensatz gegen die kynischen, die megarischen und weiterhin auch die kyrenaischen Eristiker und Skeptiker ist seine Erkenntnistheorie und seine Logik herausgewachsen: der eri- stischen Skepsis gegenüber will er die Grundlagen der Erkennt- nis sicherstellen und andererseits die methodischen Mittel ge- winnen, um sicheres Wissen erreichen und zugleich die Einwände der Gegner strikt widerlegen zu können. 2 ) *) Wir werden später sehen, daß Plato in seinem Symposion zwischen dem wirklichen Sokrates und dem der Ideenlehre scharf scheidet. Daß diese Unter- scheidung seinen Schülern entgangen sein sollte, ist nicht anzunehmen. Im Gegenteil ist es sehr wahrscheinlich, daß Plato sich über sein Verhältnis zu Sokrates mündlich noch eingehender ausgesprochen hat. 2 ) Hiezu s. vorerst meine Syllogistik des Aristoteles, II 2 S. 56 ff., S 277 ff. 80 Die Quellen. Daß Aristoteles also von der Höhe seiner späteren Zeit un- parteiisch auf die Fehden in der sokratischen Gemeinde zurück- geblickt habe, kann man wahrlich nicht sagen. Wenn irgend je- mand, so war er Partei. Das verleugnet sich auch in dem So- kratesbild nicht, wie er es sich zurechtlegte, als er daran ging, seine eigene Philosophie mit den philosophischen Erscheinungen der Vergangenheit historisch-kritisch auseinanderzusetzen. 1 ) Man hat viel über die Quellen gestritten, aus denen Aristo- teles seine sokratischen Notizen 2 ) geschöpft habe. Möglich bleibt, daß er dieselben zum Teil eigenen Erinnerungen verdankte, die auf die mündliche Sokratestradition in Athen zurückgingen. Sicher ist, daß er eine umfassende Vertrautheit mit der sokratischen Lite- ratur besaß. Und selbstverständlich hat er auch die Sokratiker gekannt und benutzt, die uns heute verloren sind. Das verraten schon einzelne Bemerkungen, die höchstwahrscheinlich aus solchen Schriften stammen. Allein den Eindruck gewinnt man ganz und ') Nicht unmöglich ist, daß Aristoteles hiemit schon bald nach Piatos Tod begonnen hat. Und ich gestehe, daß mir das schöne Buch von W. W. Jäger, Studien zur Entstehungsgeschichte des Aristoteles, Berlin 1912, diese Möglichkeit jetzt recht nahe gerückt hat. Daß Aristoteles zur Zeit von Piatos Tod seine wissenschaftliche Selbständigkeit längst gewonnen hatte — natürlich nicht in dem Sinn, daß seine Ansichten damals in allen Stücken „fertig" gewesen wären — , kann als feststehend gelten. Und mir ist auch das außer Zweifel (gegen Jäger, a. a. O. S. 33), daß Aristoteles schon zu Lebzeiten Piatos seine Abweichung von der Lehre des Meisters, namentlich auch in der Ideenlehre, in der Akademie nach- drücklich vertreten hat (vgl. das 5. Kap. des 4. Teils). Jetzt aber konnte er auch die äußere Zurückhaltung, die ihm immerhin bisher durch Pietätsrücksichten auf- genötigt war, aufgeben. Und wenn wirklich Buch A der Metaphysik, wie Jäger a. a. O. S. 33—35 annimmt, schon in den Jahren 348—345 verfaßt worden wäre, so hätte Aristoteles damals bereits auch angefangen, Sokrates zu Plato in Gegen- satz zu bringen. S. hiezu indessen unten S. 100, 2. 2 ) So wie die Dinge bei Aristoteles faktisch liegen, ist die nächste Aufgabe, die- jenigen Stellen, in denen Sokrates lediglich platonische Dialogfigur ist, auszuscheiden. Das ist aber bekanntlich nicht ganz leicht. Daß aus der Verschiedenheit der Formen, in denen Sokrates von Aristoteles eingeführt wird, nichts geschlossen werden darf, kann heute als erwiesen gelten. Ob es Swxgäx-qq oder 6 ZwxQärtjg heißt (hiezu vgl. A. E. Taylor, Varia Socratica, First series, Oxford 1911, S. 42 ff.), ob ktyei oder eleysv, (prjoi oder hprj u. s f., macht keinen Unterschied. Indessen hat sich auf anderem Weg bei einer beträchtlichen Anzahl von Stellen mit Sicherheit fest- stellen lassen, daß nicht der wirkliche Sokrates gemeint ist. Oben im Text sind diese außer Betracht gelassen (s. Bonitz, index Arist. 741 b 8 - 38). Die aristotelischen Zeugnisse. 81 gar nicht, daß Aristoteles bemüht war, aus den Schriften der Sokratiker unter Zuhilfenahme eigener Reminiszenzen ein unbe- fangenes, objektives Bild des geschichtlichen Sokrates zu gewinnen. Sehen wir zunächst von den Äußerungen über die sokratische Ethik und ebenso von denen über die sokratische Begriffsphilo- sophie ab, so ist der Ertrag an Nachrichten über den historischen Sokrates auffallend gering. In einer Reihe von Fällen läßt sich die Annahme nicht von der Hand weisen, daß die anscheinend geschichtlichen Notizen in Wirklichkeit aus irgend einem (fingierten) loyog ZEioy.QctTiy.os entnommen sind. Und stellt man alles Zweifel- hafte zurück, so bleibt nicht viel mehr übrig, als die Feststellung, daß Sokrates ein hochsinniger Mensch und eine ironische Natur gewesen, und die Mitteilung, daß seine Söhne geistig entartet seien. 1 ) *) Aus mündlicher Überlieferung sind wohl die Nachrichten über Myrto (fr. 84. 1490b 8ff., fr. 83. 1490a 21 f.) geschöpft — wenn sie wirklich von Aristoteles herrühren. Allein die Echtheit der Schrift nsgl evyevslag, in der sie sich finden, ist bestritten. Wird sie festgehalten — und man hat hiezu hin- reichenden Grund (vgl. E. Zeller, Philosophie der Griechen II l 4 S. 54, Anm. 2) — , so ist damit die Notiz 1490a 21 f. gesichert, wonach Sokrates glaubte, daß die von guten Eltern Abstammenden wohlgeboren seien; um des Aristides Tugend willen sei auch seine Tochter adelig. Die Bemerkungen über Sokrates' Be- ziehungen zu Myrto dagegen sind so widerspruchsvoll, daß sie schon darum keinen Glauben verdienen; insbesondere aber gehen die Angaben unserer Ge- währsmänner (Diogenes L., Plutarch, Athenäus) darüber, was in ihrer Haupt- quelle, dem Dialog negl si>y., stand, so sehr aus einander, daß man zweifeln muß, ob sie die Schrift wirklich vor sich gehabt haben, ja, ob überhaupt etwas von dem, was sie berichten, darin enthalten war. Das Ganze scheint vielmehr peri- patetischer Klatsch gewesen zu sein (vgl. E. Zeller, Philosophie der Griechen II l 4 S. 54, 1). Zweifelhaft ist mir auch, ob derselbe wirklich, wie Taylor a. a. O. S. 61 f. unter Hinweis auf den platonischen Laches annimmt, einen historischen Anknüpfungspunkt gehabt hat. Der Ausspruch über die Eugenie selbst, 1490a 21 f., kann, wie Zeller vermutet, wirklich aus „einem Dialog des Äschines oder sonst eines Sokratikers" geschöpft sein. (Näher noch als an Äschines liegt es freilich an Antisthenes zu denken. Vgl. Diog. L. VI 10, wo von Antisthenes die These erwähnt ist: xal xovg avxovg evyevslg xovg xal ivaQ&tovq). — Mündlicher Tradition entstammt ferner wohl die gelegentliche Notiz über die Söhne des So- krates rhet. II 15. 1390b 30 f.: igloxazat 6h . . . zu . . axäoifxa (sc. yevrj) siq aßeX- xeglav xal vw&QÖxrjta, olov ol and Kiß(ovog xal Il£Qix?Jovg xal SwxQaxovq. — Auf eine persönliche Reminiszenz scheint weiter die Mitteilung über Aristipps Rencontre mit Plato, rhet. II 23. 1398b 29 ff., zurückzugehen: „oder wie Aristipp Plato gegenüber, als dieser eine wie er glaubte allzu kecke Äußerung tat, sich H. Mai er, Sokrates. 6 82 Die Quellen. Auch mit den Bemerkungen über die sokratische Ethik in- dessen steht es nicht wesentlich anders. aussprach: nichts dergleichen hat unser Freund gesagt; wobei er den Sokrates meinte." Wenig wahrscheinlich ist die andere Annahme, daß dieser Ausspruch irgend einem „somatischen Gespräch" entnommen sei, in dem Aristipp und Plato sich als Dialogpersonen gegenüberstanden. — Die Notiz aus dem „Magikos" (fr. 27, 1479a 12 — 15), daß ein syrischer Magier, der nach Athen gekommen sei, dem Sokrates unter anderem prophezeit habe, daß er ein gewaltsames Ende nehmen werde, kann außer Betracht bleiben, da der „Magikos" schwerlich eine aristotelische Schrift ist. — Ein rhetorisches Beispiel wie 1398 b 29 ff. ist auch rhet. II 23. 1398 a 24— 26: „. . . und der Grund, den Sokrates dafür angab, daß er nicht zu Archelaos gehen wollte: eine Vergewaltigung, meinte er, sei es nicht minder, auf erfahrene Wohltaten, wie auf erlittene Mißhandlungen hin stille halten zu müssen." Das Wort stammt wohl, wie teilweise auch Zeller S. 57,6 im An- schluß an Bernays annimmt, aus dem antisthenischen Archelaos. Was spätere Autoren über Berufungen des Sokrates zu Archelaos, zu Skopas und zu Eury- lochos zu berichten wissen, ist vermutlich aus einer Tradition geflossen, die zu- letzt auf solche Äußerungen zurückgeht. Unmöglich ist es allerdings nicht, daß ein Fürst wie Archelaos den Sokrates, den die Fama ihm wohl als einen großen Sophisten geschildert hatte, an seinen Hof zu ziehen versuchte. Auffallend ist nur, daß der platonische „Kriton", der eine solche Tatsache schwerlich zu er- wähnen versäumt hätte, hievon nichts weiß; wie es mir andererseits wahrschein- lich ist, daß die Berichte von den Berufungen zu Skopas von Krannon und zu Eurylochos von Larissa mit der Darstellung des „Kriton", wonach Kriton den Sokrates zu seinen thessalischen Gastfreunden schicken wollte, im Zusammen- hang steht. Nun ist es natürlich nicht ausgeschlossen, daß die Äußerung im „Archelaos" auf eine wirkliche Begebenheit anspielt. Allein zunächst, d. h. so lange nicht andere Zeugnisse zur Verfügung stehen — die späten Berichte müssen hiebei außer Betracht bleiben — , kann auf dieselbe eine historische An- nahme nicht gegründet werden, da sie aus einem löyoq Swxgaxixöq stammt und darum dringend verdächtig ist, fingiert zu sein. — Die Notiz (Diogenes II 23), Sokrates sei nach Pytho gegangen (fr. 3. 1474b 10—12), muß, wie Taylor, a. a. O. S. 65 richtig bemerkt, mit fr. 4. 1475a 2—5 (aus Plutarch adv. Colot.) zusammen- genommen werden; in letzterem ist von dem delphischen yvw&i aavxöv die Rede, o örj xal ScdxqÜxsi dnogiaq xal ^rjxrjoswq xavxrjq agyr^v iveöcuxsv, <öq IdgiozozeXTjq iv xolq W.axmvixoiq sl'gyxe. Beide Fragmente scheinen auch auf denselben aristotelischen Dialog, ne gl (pikoooylccq, zurückzugehen. Nun erinnert die Stelle über das yvüSt oavxöv so bestimmt an Phaidros 229 E f. (Sokrates be- merkt hier, er habe zu der Mythendeutung keine Zeit; der Grund sei der: ov övvafxai neu xaxa xo AsXipixbv ygdfx/xa yvüjvui e/uavxöv yekolov örj [xol (palvexcu, xovxo txi ayvoovvxa xd dXköxgia oxonelv. o9tv örj ^cu'ßfjv idaaq xaixa . . . oxo7i(ü ov xavxa alkd ifxavxöv . .), daß die Annahme einer Anlehnung an diese Phaidrosstelle sehr nahe liegt. Noch wahrscheinlicher aber ist mir, daß Aristo- teles an die Ausführung Memor. IV 2, 24 ff., die ihrerseits allerdings auf Phaidros Die aristotelischen Zeugnisse. 83 In der Nikomachischen Ethik ist (VI 13. 1144b 18—21. 28—30) gesagt: „darum behaupten einige, alle Tugenden seien 229 E f. fußt und nach Anweisung dieser Stelle den Ausgangspunkt der Unter- suchung in dem delphischen yvwüi oavzöv nimmt (vgl. oben S. 59, 1), angeknüpft hat. Das Fragment besagt nur, der delphische Spruch habe dem Sokrates den Ausgangspunkt der ccnogla und t,t)zrjaig gegeben (zu der änogia vgl. Mem. IV 2, 23 und andererseits den Anfang von 30, zu der t,rjzrjoig den ganzen Gedanken- gang 24 ff.). Vor allem aber scheint von der Xenophonstelle ein Licht auf die Notiz zu fallen, daß Sokrates nach Pytho gegangen sei — eine solche Reise scheint nach Kriton 52 B. Ef. ausgeschlossen zu sein (vgl. indessen die unten, im 2. Kap. des 2. Teiles anzuführende Stelle Diog. L. II 23). Bei Xenophon beginnt die ^i'jTTjoig mit der Frage des Sokrates an Euthydemos : ,.sage, Euthydemos, slg deXcpovg 6h rjörj nwnoze ä(pixov\" Euth. antwortet: zweimal schon. Darauf fragt Sokrates weiter: „Kaze/ua&eg ovv ngog zw vacü nov yeyQafx(jibvov xb rvcü&i aav- xöv\* . . . Vermutlich hat Aristoteles diesen Eingang in einer Weise benutzt, aus der die Späteren herauslasen, Sokrates sei nach Delphi gegangen. Mög- licherweise aber hat schon Aristoteles aus der Memorabilienstelle geschlossen, daß Sokrates selbst in Delphi gewesen und dort persönlich die Inschrift gesehen habe. Jedenfalls bestärkt mich dieser Zusammenhang in der Annahme, daß fr. 4 auf Mem. IV 2,24 zurückgeht. Daß Aristoteles die Memorabilien — entgegen der gewöhnlichen Annahme — in der Tat gekannt und benutzt hat, wird unten ge- zeigt werden. - In rhet. II 20. 1393 b 3—8 werden zur Veranschaulichung dessen, was eine naQa.ßoXr\ ist, „za ZwxQaztxü" angeführt, »oiov ei' zig XLyot oxi ov Sei xXrjowzovg ägx fLV ' denn das sei gerade so, wie wenn man die Athleten aus- loste, also nicht die im Ringkampf Geübten nähme, sondern die zufällig durchs Los Getroffenen, oder wie wenn man den Steuermann aus dem Schiffspersonal durchs Los wählte, als ob man einen Ausgelosten und nicht vielmehr einen Sach- verständigen (sniazäfxsvov) brauchte". Wie es scheint, hat Aristoteles die be- stimmten Vergleiche (Athlet, Steuermann) sich selbst zurechtgemacht. Belege für das parabolische Verfahren des Sokrates wie für die bestimmte Ansicht, die hier auf diesem Wege begründet wird, konnte Aristoteles ohne Zweifel in der ganzen sokratischen Literatur, die in diesem Stück, und zwar nach beiden Seiten, einig war, finden (vgl. Taylor a. a. O. S. 58). Eine bestimmte Quelle braucht man hier nicht zu suchen. Immerhin berührt sich die aristotelische Stelle sehr nahe mit der xenophontischen Schutzschrift Mem. I 2, 9. Nun ist aber die xenophontische Ausführung der xaztjyogla des Polykrates entnommen, und diese ihrerseits hat wohl aus Antisthenes geschöpft. Nicht ausgeschlossen ist darum, daß Aristoteles sich unmittelbar an einen antisthenischen Dialog anlehnt. — Rhet. III 14. 1415 b 30—32 zitiert ausdrücklich den platonischen Menexenos (o yag Xsysi 2üiXQÖ.z7]g iv zw inizuq)i(p, aXrjd-eg, ozi ov yaXenov A&qvaiovg iv 'A&rjvaioig inaivslv dXX' iv Aaxs- öaifiovloig). Inhaltlich identisch ist hiemit Rhet. I 9. 1367b 8f. (eingeleitet ist die Stelle mit den Worten: wotcsq yaQ 6 SioxQÜzijg hXfyev, ov xaltnbv . . .). Beide Stellen gehen auf Menex. 235 D. Ebenso bezieht sich rhet. III 18. 1419a 8—12 (und damit auch II 23. 1398a 15—17) zweifellos auf Piatos Apol. 27 B ff. (Ob 6* 84 Die Quellen. Einsichten (q)QovrjO£tg), und Sokrates hatte damit teils Recht, teils Unrecht: daß alle Tugenden Einsichten seien, war verkehrt; daß sie aber nicht ohne Einsicht seien, war gut gesagt .... Sokrates also meinte, alle Tugenden seien Vernunftbetätigungen (koyovg) — denn Wissenschaften (kmori'iuag) seien sie alle — ; wir aber meinen, die Tugenden seien nur mit Vernunft verbunden (justo, loyov)." Ähnlich heißt es im 3. Buch, 11. 1116b 41: „darum meinte Sokrates, die Tapferkeit sei eine Wissenschaft (emOTTj/urj)." In einem anderen Zusammenhang, Eth. Nik. VII 3. 1145 b 21 — 27, worauf 5. 1147b 14f. kurz zurückverweist, wird ausgeführt: „man könnte im Zweifel sein, wie einer, der im Besitz richtiger An- sichten ist, dennoch unenthaltsam sein könne (axyazsvsjai). Aristoteles in diesen Platostellen den wirklichen Sokrates gesucht hat, läßt sich nicht sicher sagen. In allen diesen Fällen handelt es sich um rhetorische Bei- spiele, und Aristoteles hatte keinen Anlaß, die Frage aufzuwerfen, ob wirklich der geschichtliche Sokrates so gesprochen habe). — Soph. el. 34. 183b 7 f. (. . diä zovto -2ojxQ<xz?]g j/pcw'ror, aX£ ovx dnsxQivero' wfiolöyti yao ovx eiöevat) er- innert ebenso sehr an Republ. I 337 E wie an Theät. 150 C. Aristoteles hat bei seiner Äußerung in soph. el. wohl beide Stellen, jedenfalls aber Republ. 337 E, im Auge gehabt. — In Anal. post. II 13. 97b 21 endlich wird Sokrates als ein typisches Beispiel eines [xeyaXöxpv/oq und in Eth. Nie. IV 13. 1127 b 25 eines el'gcüv aufgeführt. Auf besondere Quellen braucht man natürlich diese Stellen nicht zurückzuführen. (Eine dritte Stelle dieser Art, Probl. 953 a 27, wo Sokr. zu den (j.£/.ayyohxoi gezählt wird, kommt als unaristotelisch nicht in Betracht.) — Methodisch möchte ich noch über die Benutzung der aristotelischen Sokratika folgendes anfügen. Selbstverständlich ist, daß diejenigen Stellen, die nachweis- bar aus xenophontischen oder platonischen Quellen schöpfen, nicht neben den letzteren selbständig in Betracht gezogen werden können. Andererseits sind die Notizen, die auf löyoi ZwxgaTixoi anderer Sokratiker zurückgehen, nicht etwa darum, weil diese köyoL fingiert sind, schon an sich historisch ganz ohne Wert. In diesen Fällen sind die aristotelischen Anführungen als Fragmente verloren ge- gangener Xöyoi 2a>xQ., aus denen die historische Forschung wenigstens mittel- baren Aufschluß über Sokrates gewinnen kann, zu betrachten und zu behandeln. (Das gilt speziell von der Stelle aus nsgl evyev. 1490a 21 f., ferner von der Notiz aus dem antisthenischen Archelaos 1398 a 24—26, und etwa noch von der Stelle über die sokratischen Vergleichungen 1393b 3— 8, wenn diese wirklich auf einen antisthenischen Dialog zurückgeht). Als direkt historische Notizen können diese Stellen aber natürlich nicht gelten. Als solche bleiben schließlich nur die ver- mutlich aus mündlicher Überlieferung stammenden Stellen 1390b 30f. (über die Söhne des Sokrates) und 1398b 29ff. (die Äußerung Aristipps gegenüber Platoi und etwa noch die charakterisierenden Bemerkungen 97 b 21 (ßeyalöxpvxoq) und 1127 b 25 (hqujv) übrig. Die aristotelischen Zeugnisse. 85 Daß ein Wissender (smaTa/uevov) hiezu imstande sei, leugnen denn auch einige: es wäre entsetzlich, meinte Sokrates, wenn einer, trotzdem ihm Wissen innewohnt (iniaf^fji^g iyovorjg), durch et- was anderes bewältigt und wie ein Sklave hin- und hergezogen würde. Sokrates nämlich polemisierte überhaupt gegen diese An- nahme, von der Voraussetzung ausgehend, als gäbe es gar keine Akrasie (wg ovz ovoijg axyaoiag); denn niemand handle wissent- lich (vnolafißdvorT.a) gegen sein Bestes, sondern nur aus Un- wissenheit ((5V dyvuiav). Diese Behauptung indessen widerstreitet den Tatsachen augenscheinlich . . . ." Auf Sokrates geht endlich wohl auch die Stelle Eth. Nik. III 7. 1113b 14f., wo von der Be- hauptung, daß niemand mit Willen schlecht und wider Willen glück- lich sei (uvdeig izibv Tiurrjoug oiid* äxa>v judzctQ). Damit aber haben wir alles bei einander, was wir von Aristoteles selbst über Sokrates' ethische Anschauungen erfahren. Diese Notizen sagen uns, Sokrates-habe Tugend und Tugenden lediglich für ein Wissen gehalten und die Unsittlichkeit auf Unwissenheit reduziert. Und Aristoteles bekämpft diesen einseitigen Intellektualismus aufs nach- drücklichste. Eingehender beschäftigt sich die ältere peripatetische Schule mit der sokratischen Ethik. In der eud emischen Ethik (15. 1216b 2 ff.) lesen wir: „der alte Sokrates meinte, das Endziel sei die Er- kenntnis der Tugend (tu yiyvujoy.siv tt\v aQErrjv), und unter- suchte was die Gerechtigkeit sei (iL earir r\ dixaiuövvrj), was die Tapferkeit und die übrigen Teile der Tugend. Er tat das nämlich mit gutem Grund; denn er meinte, alle Tugenden seien Wissenschaften (sniarrlaag), so daß das Wissen (ddivai) der Ge- rechtigkeit und Gerechtsein zusammenfallen würden; denn daß wir die Geometrie und die Baukunst gelernt haben, und Bau- meister und Geometer sind, trifft dann zusammen. Darum unter- suchte er, was die Tugend sei, nicht wie sie entstehe und wo- raus . . . ." In Eth. Eudem. III 1. 1229a 15 f. 1230a 7ff. ferner wird Sokrates' Definition der Tapferkeit kritisiert: die Tapferkeit sei nicht, wie Sokrates meinte, eine Wissenschaft (smöTTj/tir] sc. von dem Furchtbaren) ; denn einmal sei das Wissen (eWsvai), das an der Tapferkeit beteiligt sei, nur eine der Quellen, aus der die Tapferkeit entspringe, nicht diese selbst; und dann habe man als das Objekt dieses Wissens nicht das Furchtbare (tu dswä\ son- 86 Die Quellen. dem die Hilfsmittel gegen das Furchtbare {rag ßorißeiag tojv ()'sivd)v) zu betrachten. In VII 13. 1246b 34—36 endlich wird das sokratische Wort, daß nichts stärker sei als die Einsicht (q)(jüvrj- aig), gelobt; „nur daß Sokrates (statt (pQovrjOig) sagte: Wissen- schaft (smoT,rj,u?i), war nicht richtig; denn die Tugend ist nicht Wissenschaft, sondern eine andere Gattung der Erkenntnis." Dazu kommen noch einige Ausführungen der „großen Ethik". Diese sagt in I 1. 1182a 15ff.: „nach diesem (Pythagoras) trat Sokrates auf und handelte besser und eingehender über diese Dinge, aber auch nicht richtig. Denn er machte die Tugenden zu Wissenschaften Es begegnet ihm nun, daß er, indem er die Tugenden zu Wissenschaften macht, den unvernünftigen Teil der Seele aufhebt; und indem er dies tut, hebt er auch Leiden- schaft und Charakter auf." Am Schluß desselben Kapitels (1183b 8 ff.) kommt die Rede noch einmal auf den sokratischen Satz: „auch Sokrates hatte Unrecht, wenn er die Tugenden zu Wissen- schaften machte. Seine Meinung war, daß nichts grundlos sein könne; aus dem Satz, daß die Tugenden Wissenschaften seien, folgte aber, daß die Tugenden grundlos wären Denn wenn einer von der Gerechtigkeit weiß, was sie ist, so ist er da- rum noch nicht gerecht; ebenso aber verhält es sich in den anderen Fällen. Es ergibt sich also, daß die Tugenden grundlos wären und darum nicht Wissenschaften sein können." An anderer Stelle 135. 1198a 10ff., sagt der Verfasser: „Sokrates behauptete — mit Unrecht — daß die Tugend Vernunft {loyog) sei. Er war der Meinung, es sei nichts wert, das Tapfere und Gerechte zu tun, wenn man es nicht wisse und durch Vernunft wähle: das war der Grund zu der Behauptung, daß die Tugend Vernunft sei." Auch die große Ethik ferner erwähnt und tadelt die sokratische These, daß die Tapferkeit eine Wissenschaft sei, 120. 1190b 28f. Viel erörtert sind aber namentlich zwei Äußerungen I 9. 1187a 7 ff: „. . . Sokrates sagte, es stehe nicht bei uns (ovx s(p 3 r\^lv yersadai), gut zu sein oder schlecht. Denn wenn man, meint er, einen frage, ob er gerecht oder ungerecht sein wolle, so würde niemand für die Ungerechtigkeit sich entscheiden. Ganz ebenso stehe es stets auch bei Tapferkeit und Feigheit und den übrigen Tugenden. Klar sei darum, daß, wer schlecht sei, dies nicht mit Willen (exov- rsg) sei; klar darum auch, daß auch die Guten es nicht mit Willen Die aristotelischen Zeugnisse. 87 seien." Ferner II 6. 1200b 25ff. : „der alte Sokrates hob die Akrasie völlig auf und leugnete ihre Existenz, indem er sagte, daß keiner das Böse, wissend, daß es böse sei, wählen werde; der Unent- haltsame aber scheint das Üble, obwohl er weiß, daß es übel ist, dennoch zu wählen, getrieben von der Leidenschaft. Aus diesem Grund meinte er, es gäbe keine Akrasie. Indessen mit Unrecht." So bestimmt das Bild zu sein scheint, das wir aus diesen Notizen von den ethischen Anschauungen des Sokrates gewinnen, so wenig hält dasselbe einer kritischen Betrachtung stand. Be- zeichnend ist, daß von den Äußerungen des Aristoteles selbst (Nik. Eth.) nur eine mit einiger Wahrscheinlichkeit auf den histo- rischen Sokrates geht. Und das ist die ganz allgemeine Fest- stellung, daß Sokrates die Tugenden alle für Wissenschaften (imairiiAai) gehalten habe (Nik. Eth. 1144 b 18 ff.). Nicht einmal die Formulierung nämlich, daß die Tugenden (ßgoviqGtic seien, braucht nach dem Zusammenhang auf Sokrates zurückgeführt zu werden. Aristoteles handelt im Vorhergehenden von der Bedeu- tung der (fQovi]Gig für die Tugend und fährt nun fort: „darum sagen einige, daß alle Tugenden cpgovrjaeig seien, und Sokrates hatte damit teils Recht, teils Unrecht . . . ." Nachher läßt er den Sokrates sagen, die Tugenden seien ioyoi, und hier stellt er weiter auch geradezu fest, wie Sokrates selbst sich ausgedrückt hat: „Sokrates meinte nun also, die Tugenden seien loyoi (denn Wissen- schaften seien sie alle, sc. sagte er)." Die Parenthese gibt die sokratische Ausdrucksweise, und die Ausdrücke (pgovrjoeig und loyoi sind in diesem Zusammenhang aristotelisches Eigentum. 1 ) Woher hat nun Aristoteles die Notiz, daß Sokrates die Tugenden für eTiiaTrjiiai gehalten habe? Selbstverständlich weist dieselbe in ihrer Unbestimmtheit auf keine bestimmte Quelle hin: sie kann überallher, auch aus mündlicher Überlieferung stammen. Wahrscheinlich aber ist doch, daß sie an unserer Stelle unmittelbar dem platonischen Protagoras, der, wie wir sehen werden, der niko- machischen Ethik auch sonst als Quelle für „sokratische" Ethik dient, entnommen ist; und zwar scheint speziell auf 361 B Bezug *) Damit erledigt sich auch die Vermutung Zellers II l 4 S. 312,3, daß mit ziveq in 1144b 17 (Siotisq xiveq (paoi näoaq xaq agexaq (pQOvr/osiq flvai, aal 2wxQaxr\q, . . .) die Kyniker gemeint seien; xiveq geht lediglich auf ^ajxQÜxrjq in 18: der Plural ist bei Aristoteles nicht auffallend. 88 Die Quellen. genommen zu sein. 1 ) Daß Aristoteles trotzdem den historischen Sokrates im Auge hat, scheint aus dem vvv in 1144 b 21 hervor- zugehen: mit dieser Zeitbestimmung wird die moderne Betrach- tungsweise der des Sokrates — also doch wohl des geschicht- lichen — gegenübergestellt. Nicht ebenso sicher lassen sich die übrigen Stellen auf den wirklichen Sokrates beziehen. Mit voller Bestimmtheit kann festgestellt werden, daß dieselben alle aus dem platonischen Protagoras geschöpft sind: 1145b 21 ff. (mit 1147b 14f.)geht auf Prot. capp. XXXV ff., besonders 352BC. 357 B— E.358BC; 1116b 4 auf Prot. 361 B. 360D; 1113b 14f. auf Prot. 358BC. 345D zurück. 2 ) In sämtlichen Fällen aber bleibt es zweifelhaft, ob der Sokrates, von dem die Rede ist, nicht am Ende nur die platonische Dialogfigur ist. Zwar wenn Eth. Nik. 1144b 18ff. sich wirklich an Protagoras 361 B anlehnt und doch den historischen Sokrates meint, liegt die Vermutung nahe, daß auch die anderen Stellen im „Protagoras" die Meinung des ge- schichtlichen Sokrates zu finden glauben. Ganz indessen läßt sich der Zweifel nicht beseitigen. Was sodann die Notizen der Eudemischen Ethik anlangt, so sind diese durchaus von den aristotelischen abhängig; ihr Eigenes besteht darin, daß sie die von den Nikomachien an der „soma- tischen" Ethik geübte Kritik weiter führen. Und nur das wird man sagen können, daß sie die aristotelische Vorlage, den „Pro- tagoras", auch unmittelbar vor sich gehabt haben. So ist das „sokratische Wort" 1246b 34 ff. direkt aus Prot. 352 D (vgl. 352 B und 357 C) entnommen. Die Bemerkungen über die „sokratische" Definition der Tapferkeit ferner (1230a 7 ff. 1229a 15f.) lehnen sich zwar an Eth. Nik. 1116b 4f. an, aber sie nehmen doch zugleich unmittelbar auf Prot. 360 D. 361 B Bezug. Und wieder läßt sich ') In Protag. 361 B ist gesagt, Sokrates habe versucht zu beweisen, wo, ndvxa ZQrifJiaxa iaxiv snLax^fxtj, xul jj öixuioovvrj xal rj oaxpgoavvrj xal rj avdpslcc . . . 2 ) In allen diesen Fällen ist die Abhängigkeit eine so offenkundige, daß ein besonderer Nachweis überflüssig ist. Bei 1116b 4 f. (Definition der Tapferkeit) könnte man auch an eine Bezugnahme auf den Laches denken. Doch ist die Berührung mit Protagoras eine nähere, und da die übrigen Stellen auf den Pro- tagoras zurückgehen, wird dies auch von dieser anzunehmen sein. Zu 1114b 13f. ist noch zu bemerken, daß sich der Vers ovöslq exwv novrjQÖq ovS' äxcov fxäxag auch in dem pseudoplatonischen Dialog IIsqI öixaiov 374 A findet. Die aristotelischen Zeugnisse. 89 an allen diesen Stellen nicht sicher ausmachen, ob der wirkliche Sokrates oder die Dialogperson des „Protagoras" gemeint ist. Dagegen spricht die Stelle 1216b 2 ff., die in engem Anschluß an Nik. Eth. 1144 b 18ff. die „somatische" Lehre, daß alle Tu- genden Wissenschaften seien, kritisiert, ausdrücklich vom „alten" Sokrates (JE. bjiQeoßmr^): das kann natürlich nur auf den wirk- lichen Sokrates, der durch die Opposition von dem „jüngeren" unterschieden wird, gehen (vgl. JE. o yt^wv 1235 a 37). Und da auch diese Stelle verrät, daß der Autor den ganzen Gedanken- gang des „Protagoras" kennt und berücksichtigt, ist es immerhin wahrscheinlich, daß sich auch die übrigen Bemerkungen auf den historischen Sokrates beziehen. 1 ) Selbständiger scheint die „große Ethik" der Nikomachischen gegenüberzustehen. Indessen ist das Gegenteil der Fall. Die Kritik allerdings, die schon die Nikomachische und Eudemische Ethik an „Sokrates" üben, ist erheblich breiter ausgesponnen, namentlich auch insofern, als der Verfasser eifrig bemüht ist, die „sokratischen" Anschauungen in absurde Konsequenzen zu verwickeln. Immerhin scheint auch die „große Ethik" den „Pro- tagoras" zugleich direkt benutzt zu haben (vgl. z. B. 1200 b 27 f. mit Prot. 355 A Schluß). Im übrigen beruhen die Stellen 1182a 15 ff. 1183b 8ff. 1198a lOff. auf Nik. Eth. 1144b 18 ff. Eud. Eth. 1216b 2ff.; Eth. meg. 1190b 28 f. auf Nik. Eth. 1116b 4f. (und Eud. Eth. 1229a 15f. 1230a 7ff.); Eth. meg. 1187a 7ff. und 1200b 25ff. auf Nik. Eth. 1145 b 21 ff.)' 2 ) Nur in einem geht die große Ethik auch ») Anfügen möchte ich noch, daß die Stelle Eth. Eud. H 1. 1235 a 37 ff. sich augenscheinlich auf Mem. I 2, 53 f. gründet. Nun gehört allerdings diese Stelle der Schutzschrift zu denen, die deutlich antisthenische Herkunft verraten. Aber auch wenn wirklich Antisthenes der Gewährsmann Xenophons ist, folgt noch nicht, daß die Eudemische Ethik aus jenem geschöpft habe. Die Berührung zwischen der Stelle der Eudemischen Ethik und der der Schutzschrift ist eine so nahe, daß man auch dann noch genügenden Grund zu der Annahme hat, daß jene unmittelbar von der letzteren abhänge. 2 ) Joel nimmt a. a. O. II S. 603 eine nahe Berührung der Stelle 1198a lOff. mit Memor. IV 3, 1 und Cyrop. III 1, 16 an. Und daß der Verf. von 1198 a 10 ff. die Memorabilienstelle und vielleicht auch — darauf deutet der Wortlaut hin — die Stelle aus der Cyropädie wirklich gekannt hat, ist auch mir nicht unwahr- scheinlich. Daß er sich aber primär an Eth. Nik. 1144 b 18 ff. (und Eud. Eth. 1216b 2ff) anlehnt, sollte nicht bestritten werden. Ebenso ist Eth. meg. 1187a 90 Die Quellend über die Eudemische hinaus, nämlich in der Sicherheit, mit der die von Aristoteles und seiner Schule dem „Protagoras" ent- nommenen Mitteilungen über „sokratische" Ethik auf den histo- rischen Sokrates bezogen werden. In 1182 a 15 ff. wird der soma- tischen Lehre, daß die Tugenden Wissenschaften seien, geradezu ihr Platz in der Geschichte der Ethik angewiesen: nach Pytha- goras trat Sokrates auf ... . a 15, und als Nachfolger von So- krates wird nachher Plato eingeführt (utra ravra <T« ITldrcür . . a23f.), dessen Doktrin sehr bestimmt von der sokratischen unter- schieden wird. Noch wichtiger aber ist, daß in 1200b 25 f. auch der Satz über die Akrasie ausdrücklich auf den „alten" Sokrates zurückgeführt wird. Danach ist kein Zweifel, daß der Verfasser auch das Übrige, was er von sokratischer Ethik zu berichten weiß, von dem historischen Sokrates verstanden wissen will. Eines, glaube ich, geht aus dieser Untersuchung mit voller Bestimmtheit hervor: daß die aristotelischen Notizen über Sokrates' ethische Anschauungen einen selbständigen Quellenwert nicht besitzen. Sie entstammen weder münd- licher Tradition noch einem kritisch umsichtigen Studium der so- kratischen Literatur: sie sind kurzweg dem platonischen Prota- goras entnommen. Nun ist es ja allerdings nach den Parallelen in der eudemischen und großen Ethik am Ende nicht ganz unwahrschein- lich, daß Aristoteles selbst die „sokratischen" Ansichten, von denen er spricht, nicht lediglich dem Sokrates des „Protagoras", son- dern dem wirklichen zuschreiben will. Dann aber wäre anzu- nehmen, daß er im platonischen „Protagoras" eine treue Dar- stellung der Anschauungen des geschichtlichen Sokrates fand. Und schwerlich wäre diese Wahl reine Willkür gewesen. Es läge die Vermutung nahe, daß Aristoteles vielmehr einer akade- mischen Tradition gefolgt sei, die den Protagoras (und außer diesem vielleicht noch verwandte Dialoge wie den Laches) als zu- verlässige Quellen für die Kenntnis der Anschauungen des wirk- lichen Sokrates betrachtete. Das alles sind indessen Hypothesen, auf Hypothesen gegründet. Wer unbefangen an die Stellen der Nikomachischen Ethik herantritt undjjsie von den Bemerkungen 7 ff. ganz offenkundig (gegen Joel, Archiv f. Gesch. der Phil. VIII 469) nur eine Weiterführung von Nik. Eth. 1145b 21 ff.; und eine andere Quelle als der Pro- tagoras kommt auch für diese Ausführung nicht in Frage. Die aristotelischen Zeugnisse. 91 der eudemischen und der großen Ethik loslöst, wird schließlich einen anderen Eindruck bekommen. Es ist dem Stagiriten ganz und gar nicht um die Charakteristik und Kritik der Ethik des histori- schen Sokrates zu tun. Wenn das seine Absicht gewesen wäre, hätte er, zwar vielleicht nicht die übrige sokratische Literatur — wenn er Parteigänger der platonischen Auffassung war, konnte er sich diese schenken — , wohl aber neben dem Protagoras noch andere platonische Dialoge heranziehen müssen. In Wirklichkeit will Aristoteles in der Nikomachischen Ethik sich lediglich aus sachlichem Interesse mit einer bestimmten ethischen Theorie, die er im platonischen „Protagoras" literarisch vertreten findet, aus- einandersetzen. Ob der Sokrates, der sie im Dialog verficht, hierin mit dem historischen Sokrates übereinstimmt, ist dem Autor im Grunde gleichgültig. Jedenfalls läßt er die Entscheidung für seine Leser in der Schwebe. Und nichts weist darauf hin, daß er selbst an der Ermittelung der ethischen Ansichten des wirklichen Sokrates ein lebhaftes Interesse gehabt habe. Dennoch kann man recht eigentlich von einer aristote- lischen Sokratesauffassung reden. An einem Punkt bemüht sich Aristoteles immer wieder, auf die genuin-sokratische Lehre hin- zuweisen und sie — zu der platonischen in Gegensatz zu bringen. In der kritischen Auseinandersetzung mit den Philosophemen der Vergangenheit (Met. A) kommt Aristoteles schließlich auf die platonische Philosophie zu sprechen. Er berichtet, daß Plato in seiner Jugend dem Kratylos und den heraklitischen Anschauungen nahe gestanden sei und die letzteren auch später festgehalten habe. Dann fährt er fort (Met. A6. 987b 1 ff.) : „nachher wandte er sich dem Sokrates zu, der mit den ethischen Dingen (neyi ra ii&ixd), nicht aber mit der Naturwirklichkeit sich beschäftigte, auf jenem Gebiet aber das Allgemeine (to x.aüo'kov) suchte und als erster das wissenschaftliche Denken auf Definitionen {naA oyio- Iülüjv) hinlenkte; vermöge seiner heraklitischen Vergangenheit aber war er der Meinung, daß als Objekte der definitorischen Unter- suchungen nicht die sinnlichen Dinge in Frage kommen können. Denn unmöglich sei es, von einem der sinnlichen Objekte, die doch in fortwährender Veränderung begriffen seien, einen gemeinsamen Begriff zu bilden. Plato bezeichnete nun die in Definitionen faßbaren Objekte als Ideen, ließ aber die sinnlichen Dinge neben 92 Die Quellen. ihnen bestehen und von ihnen ihre Benennung haben." Ganz ähnlich weist die zweite, die Hauptstelle (Met. M4. 1078b 17—32) zunächst auf den heraklitischen Hintergrund der platonischen Ideenlehre hin, um dann zu Sokrates überzuleiten: „Was aber Sokrates anlangt, der mit den ethischen Tugenden (ntyl xag rj&ixag ayerag) sich beschäftigte und auf diesem Gebiet zuerst allgemeine Definitionen (uQi'Qao&cu xa&oXov) aufsuchte" — auf physikalischem Gebiet hatte Demokrit gewissermaßen einen An- lauf hiezu gemacht; in anderem Sinne können die Pythagoreer als Sokrates' Vorläufer bezeichnet werden — , „so suchte er mit gutem Grund das begriffliche Wesen" (auf diesen Grund wird unten einzugehen sein) .... „Zwei Dinge nämlich sind es, die man gerechterweise als Leistungen des Sokrates anerkennen muß: die induktiven Untersuchungen und das allgemeine Defi- nieren (t.ovq t j t7iay.Tiy.ovg loyovg y.al to oQi'^sodai xa&olov)', beides nämlich bezieht sich auf das Prinzip des Wissens. Sokrates machte freilich die Allgemeinbegriffe und die Definitionen nicht zu selbständigen (von dem Sinnlichen getrennten) Wesenheiten; die anderen aber taten dies und nannten diese Wesenheiten Ideen." Auf diese Darlegung wird später (c. 9. 1086 b 2—5) noch einmal zurückverwiesen: „hiezu — nämlich zu der Ideenlehre — hat, wie wir oben ausführten, Sokrates mit seinen Definitionen den An- stoß gegeben; doch hat er die Begriffe nicht von dem Einzelnen losgelöst; und er hat hieran recht getan." In denselben Gedan- kenkreis gehört schließlich noch eine Bemerkung aus der Schrift „über die Teile der Tiere" (II. 642a 25ff.), wo konstatiert wird, daß unter Sokrates das begriffliche Prinzip und das Definieren des Wesens der Dinge in Aufschwung gekommen sei (to xi r\v tlvai y.al tu ooiaao&ai t.tjp ovoiav . . . rjv&'j&rj); dagegen habe das naturwissenschaftliche Untersuchen nachgelassen, und die Philosophen haben sich dem praktisch-ethischen und politischen Gebiet zugewandt. Nach dieser Darstellung ist Sokrates der Begründer der Be- griffsphilosophie, der Entdecker des Allgemeinen. Sokrates war der erste, der erkannte, daß im begrifflich Allgemeinen das Wesen [xi sori) der Dinge liegt, und darum auf Gewinnung allgemeiner Definitionen ausging. Zwar hat er — das wird immer wieder hervorgehoben — das begriffliche Prinzip noch nicht in die Natur- Die aristotelischen Zeugnisse. 93 Wissenschaft eingeführt und nicht zur Erklärung der physischen Tatsachen verwandt. Er hat sich auf das ethische Gebiet be- schränkt. Aber hier hat er das Allgemeine aufgesucht. Und da- mit hat er der wahren Wissenschaft doch grundsätzlich den Weg gewiesen. Wie ist Aristoteles zu dieser Auffassung der sokratischen „Philosophie" gekommen? Daß sie ein Stück seiner Abrechnung mit der platonischen Ideenlehre ist, springt in die Augen. Aber woher hat er sie? Für die Vorstellung, daß Sokrates' Erörterun- gen sich im wesentlichen auf das praktisch-sittliche Gebiet be- schränkt hätten, brauchen wir nach einer besonderen Quelle nicht zu suchen. Das war wohl eine allen Sokratikem gemeinsame Überlieferung, die auch von der Akademie nicht bestritten wurde. Für Aristoteles war nun aber die Hauptfrage die, welchen Anteil Sokrates an der Ideenlehre habe. Akademisches Dogma war, daß Sokrates selbst die Bahn eröffnet habe, in der sich nachher die platonische Ideenspekulation bewegte. Und Aristoteles stand mit seinem ganzen Empfinden und Denken noch zu sehr auf der Seite der alten Genossen, um hieran irre zu werden und ins Lager der Gegner überzugehen. Andererseits war er seit dem Bruche mit Plato wohl nur zu geneigt, für das Falsche an der Ideenlehre ausschließlich ihn verantwortlich zu machen und nur den gesunden Kern dieser Theorie, d. h. das, was er dafür hielt, auf Sokrates zurückzuführen. *) So mochte ihn schon die kritische Reflexion auf den Sokrates der Ideenlehre in die Nähe der Vor- stellungsweise geführt haben, die er nachher historisch-kritisch festlegte. Und eine gewisse Prädisposition zu derselben hat sich ihm sicher auf diesem Wege ergeben. Mehr allerdings wohl nicht. Denn so wenig skrupulös Aristoteles in historischen Dingen war, wo sein kritisch -polemisches Interesse ins Spiel kam: daß er auf eine bloße apriorische Konstruktion eine geschichtliche Dar- stellung gründete, ist auch ihm nicht zuzutrauen. Ohne einen historischen Anhalt hätte er seine Vermutung über Sokrates schwerlich als historische Wahrheit ausgegeben. Wo aber hat er diesen Anhalt gefunden? Hier wieder auf mündliche Tradition ') Sehr deutlich tritt dieses Motiv nach seiner positiven Seite in der Stelle 642 a 25 ff. hervor, wo Sokrates als der Begründer der Begriffslehre erscheint, die dem Aristoteles das Prinzip seiner Naturerklärung geliefert hat. 94 Die Quellen. zu verweisen, wird niemand im Ernst in den Sinn kommen: denn wo könnten wir eine solche suchen? Aus dem Protagoras aber und den verwandten Dialogen konnte Aristoteles wohl ersehen, daß Sokrates sich viel mit den ethischen Tugenden beschäftigt habe. Bei tieferem Eindringen wäre es ihm indessen sicher nicht entgangen, daß dieser Sokrates es auf Gewinnung von Defini- tionen gar nicht ernstlich abgesehen hatte. Und von dem be- grifflichen Prinzip vollends, als dessen Entdecker Sokrates dem Stagiriten gilt, war hier nichts zu finden. Aber ist es überhaupt denkbar, daß Aristoteles den scharf pointierten Gegensatz, den er zwischen der sokratischen und der platonischen Doktrin kon- struiert, doch wieder zuletzt auf Piatos Zeugnis stützte? Das ist schon dadurch ausgeschlossen, daß jene platonischen Dialoge, an die Aristoteles sich ja allein hätte halten können, gerade zu dieser Gegenüberstellung nicht die geringste Unterlage boten. Indessen brauchen wir nach dem aristotelischen Gewährsmann gar nicht lange zu suchen. Der ist, wie wir mit Sicherheit sagen können, niemand anderes als — Xenophon. Daß Aristoteles seine Quelle nicht ausdrücklich nennt, könnte auch dann nicht auffallen, wenn dies sonst seine ausnahmslose Gewohnheit wäre: bei dem gelegentlichen Charakter seiner Be- merkungen über Sokrates bot sich hiezu kein Anlaß. Allerdings ist Xenophon auch sonst in keiner der uns erhaltenen aristote- lischen Schriften mit Namen zitiert. Aber das ist sicher nur ein — keineswegs unerklärlicher — Zufall. Als wissenschaftlichen Philosophen hat Aristoteles den Mann zweifellos nicht genommen ; so war er auch nicht in der Lage, sich mit seinen philosophischen Ansichten auseinanderzusetzen. Dagegen scheint es an Spuren einer Benutzung der xenophontischen Historica nicht zu fehlen. l ) Wie dem nun sei: das ist gewiß, daß Xenophon ihm längst kein Fremder mehr war. Schon in seiner akademischen Zeit hat er literarische Fühlung mit ihm gesucht. Seine rhetorische Jugend- schrift „Gryllos" ist dem Sohn des Xenophon, der den Soldaten- tod fürs Vaterland gestorben war, gewidmet. Aristoteles knüpft hier an die zahlreichen Lobreden an, die das ruhmvolle Ende des *) Daß Aristoteles im „Staat der Athener" auf Xenophons Hellenika ge- legentlich Bezug nimmt, hat Busolt in seinem Aufsatz „Aristoteles oder Xeno- phon?'*, Hermes 1898, S. 72 f. gezeigt. Die aristotelischen Zeugnisse. 95 jungen Helden veranlaßt hatte; wenn er aber bemerkt, dieselben seien doch zu einem guten Teil dem Vater zu liebe verfaßt worden, l ) so gilt das wohl auch von seiner eigenen Arbeit. Dem schriftstellernden Junker, der aus seinen aristokratischen Neigun- gen kein Hehl machte, hat sicherlich auch der platonische Kreis Verehrung entgegengebracht. Zwar hat Plato die bis dahin er- schienenen Sokratika Xenophons, die Apologie, den Ökonomi- kus, das Symposion und die Schutzschrift der Memorabilien (I 1 und 2), schwerlich allzu hoch eingeschätzt. Und für einen voll- wichtigen Sokratiker, mit dem er das Bedürfnis gehabt hätte lite- rarisch anzubinden, hat er den Autor sicher nicht gehalten. Aber daß er und seine Schüler dem Xenophon im ganzen freundlich gegenüberstanden 2 ), geht doch aus der wohlwollenden Neutralität, die letzterer in seiner sokratischen Gesprächsammlung gegen Plato betätigt, und auch aus der merkbaren Annäherung an die platonische Sokratik, die er hier vollzieht, unverkennbar hervor. Als dann, wohl nach dem Tode des Verfassers, die Memorabilien herauskamen, fand die Schrift, wie es scheint, bei den Plato- schülern eine sympathische Aufnahme. Von Aristoteles wenig- stens ist mir das wahrscheinlich. Ich müßte mich sehr irren, wenn nicht die populäre teleologisch-theologische Apologetik, in der sich der aristotelische Dialog „Über die Philosophie" gefällt, 3 ) mit durch die xenophontischen Memorabilien angeregt wäre; und ich zweifle hieran um so weniger, als auch sonst deutliche Spuren eine Anlehnung dieses Dialogs an die xenophontische Schrift ver- raten. 4 ) Indessen denken andere hierüber vielleicht anders. Daß ') Diogenes L. II 55 (fr. 57 der Berl. Ausg.). 2 ) Auf die Frage, ob in den platonischen Leges eine Polemik gegen Xeno- phons Cyropädie gefunden werden kann, gehe ich nicht ein. 3 ) fr. 12 ff. der Berliner Ausgabe (besonders 12. 1475b 36 ff.; 13. 1476a llff.; 14. 1476 a 34 ff.). 4 ) Oben S. 82 f. Anm. ist gezeigt, daß fr. 4 (die Stelle über das yvä>9i aavxöv) und mit ihm fr. 3 höchst wahrscheinlich auf Memorab. IV 2, 24 zurückgehen. Beide Fragmente aber gehören zu demselben Dialog „negl <piXooo<pLaq", dem auch die fr. 12 ff. angehören. — Wäre der Mann, den das bekannte Fragment der aristo- telischen Elegie auf Eudemos (fr. 623. 1583a 12ff.) im Auge hat, in der Tat, wie Bernays will, Sokrates, so wäre hiemit, da die Stelle dann deutlich auf Mem. IV 8,11 zurückweisen würde, bei Aristoteles eine weitere Bezugnahme auf die Memorabilien erwiesen. Doch ist die Frage strittig, und ich selbst kann mich 96 Die Quellen. aber die aristotelische Vorstellung von Sokrates als dem Be- gründer der Begriffsphilosophie, wie sie uns an den oben wieder- gegebenen Stellen entgegentritt, auf dem Zeugnis von Mem. IV 6 fußt, daß Aristoteles hier den historischen Anhalt für seine So- kratesauffassung und diese selbst gefunden hat, das läßt sich mit aller in solchen Dingen überhaupt erreichbaren Exaktheit be- weisen. Die Art, wie Aristoteles in der Hauptstelle (Met. M 4. 1078 b 17 ff.) das Suchen des Sokrates nach Begriffsdefinitionen moti- viert, ist in hohem Maße sonderbar. Er tut dies nämlich folgender- maßen: „daß Sokrates nach dem begrifflichen Wesen (nach dem ri 80t.iv) suchte, hatte seinen guten Grund: denn er suchte Syllo- gismen zu bilden (d. h. vorliegende Fragen auf syllogistisch- de- duktivem Weg zu entscheiden). Das Prinzip der Syllogismen aber ist der Wesensbegriff, das rt lativ (präziser: als Prinzip der Syllogismen aber kam für ihn nur der Wesensbegriff in Betracht): denn noch war das dialektische Verfahren nicht entdeckt, mittels dessen man auch ohne den Wesensbegriff das Für und Wider einer Annahme (syllogistisch) erörtern kann". 1 ) Was hier gesagt werden soll, ist klar: dem Sokrates war es in seinen Unterredun- gen zu tun um jene vorsichtig abwägende dialektische Erörterung strittiger Thesen, die mit Syllogismen operiert und auf diese Weise die Entscheidung zu gewinnen sucht. 2 ) Nun stand ihm aber hie- nicht von der Richtigkeit jener Vermutung überzeugen. Vgl. v. Wilamowitz, Aristo- teles und Athen II 412 ff. — Nur erinnern will ich schließlich noch daran, daß für die älteste peripatetische Schule eine Bekanntschaft mit den Memorabilien nicht zu bezweifeln ist (vgl. oben S. 89, 1 und 2). *) Die Stelle lautet wörtlich so: ... ixelvog tvXöywq i'Qr'jzei zo xl ioziv. ovXXoyl'Qso&ai yug i^rjzei, cxq/j) de zcüv ovXloyio/xcüv zo zi saztv. diaXexitxr] yaQ lo'/yq ovnco zöz r)v, wazs övvao&ai xal %ü)qIq zov xi tozi xävavzia im- oxonsivl, xal zoJv ivccvTiaov et ?j avzrj imoxrj/Li?]]. Daß die letzten Worte inter- poliert sind, habe ich in meiner Syllogistik des Aristoteles II 2 S. 168, 4 gezeigt. Zu der ganzen Stelle s. ibid. S. 168 f. S. 65, 2. S. 74, 3. 2 ) Daß ovXXoyl'Qso&ui yag e'C,yzei, genau gefaßt, heißt: „denn er suchte Dialektik zu treiben, und dazu brauchte er Syllogismen", geht schon aus dem ganzen Zusammenhang hervor: „noch war die technische Methode der Dialektik nicht erfunden, mittels der man das Für und Wider strittiger Thesen auch mit Syllogismen ohne das zi iazi erörtern (und die Entscheidung gewinnen) kann; dennoch wollte Sokrates solche (dialektische) Untersuchungen durchführen; so war er — da der Syllogismus das Hauptmittel der dialektischen Erörterung ist — Die aristotelischen Zeugnisse. 97 für noch nicht diejenige dialektische Methode zu Gebote, die dem Forscher gestattet, die Erörterung des Für und Wider eines Satzes auch mit Syllogismen durchzuführen, die sich nicht auf wissen- schaftliche Realbegriffe als Mittelbegriffe stützen: der Entdecker dieses Verfahrens war nach aristotelischer Annahme erst Plato. l ) Sokrates sah sich also für seine Untersuchungen noch ganz auf die Syllogismen angewiesen, für welche die wissenschaftlichen Realbegriffe die Grundlage sind: darum suchte er die Realbe- griffe auf, und darum suchte er Definitionen, die das Wesen der Realbegriffe zum Ausdrucke bringen, zu gewinnen. Warum in aller Welt diese Digression? Aristoteles selbst konnte sich das sokratische Unternehmen doch ganz einfach so zurechtlegen — und er hat dies sonst auch wirklich getan; ja unsere Stelle selbst kommt schließlich auf Umwegen hierauf zu- rück 2 ) — : Sokrates suchte nach dem begrifflich Allgemeinen, weil auf Syllogismen, die sich auf das xl ioxi gründen, (also auf „apodeiktische" Syllo- gismen) angewiesen." Selbstverständlich ist an sich schon, daß Aristoteles von Sokrates nicht lediglich sagen will: er wollte Syllogismen bilden, sondern: er wollte im Zusammenhang seiner Untersuchungen Syllogismen bilden, d. h. er brauchte für diese Untersuchungen Syllogismen. Indessen wird durch den aristo- telischen Sprachgebrauch völlig sichergestellt, daß unsere Stelle nicht bloß das sagen will, sondern die sokratischen Untersuchungen bestimmt als dialektische denkt. Die Topik, das Lehrbuch der dialektischen Methodenlehre, beginnt (I 1. 100a 18 — 20) mit den Worten: 'H (xav ngö&eoiq xrjq itgayfxaxelaq fxid-odov evgslv, d(f' t)q dvvrjoö/xe&a ovXXoyl&o&ai nsgl narroq xov Tigovs&tvzoq ngoßXrjfiaxoq . . ., und am Schluß des Ganzen (soph. el. 34 184b lf.) heißt es: negi 6s xov avXXo- yiL,ea9cu navztXäiq ovöhv sl'xofxev ngoxsgov äXXo Xtysiv . . . (vgl. 183b 34 f.: xuvxr\q öh xrjq 7igay/j.ax£iaq . . . ovöhv navxEXcuq vnrjQxev, und Syllogistik des Arist. I S. 1,2). In beiden Fällen heißt ovXXoyit,eoQ-ai nichts anderes als: dialektische Erörterungen anstellen. Diese Verwendung des Wortes erklärt sich daraus, daß das ovXXoylt,6(i9ai das hervorragendste Erörterungsmittel der Dialektik ist, vgl. 183 a 37 ff. An diesen Sprachgebrauch aber knüpft das ovXXoyl&o&ai in 1078 b 24 an. J ) Syllogistik des Aristoteles II 2 S. 65. 2 ) Das geschieht 1078b 29f. : xavxa yäg iaxiv äßcpcj negl dpxtjv eniax?jfirjq: beides (d. h. die Inaxxixol Xöyoi und das bgl^aBca xaSoXov 28 f.) bezieht sich auf das Prinzip des Wissens (zu der Stelle vgl. Syll. des Arist. II 2 S. 170, 3, wo vor der Verweisung auf S. 65, 1 einzusetzen ist: Met. M 4. 1078b 25 f.). Das Prinzip des Wissens ist der metaphysische Allgemeinbegriff. Auf diese Allge- meinbegriffe streben die inaxxixol Xöyoi hin, und ihr Wesen wird in den Defi- nitionen festgelegt (Syllogistik des Arist. II 1 S. 381). Also: Sokrates wollte zu- letzt Realbegriffe mit seinen Induktionen und Definitionen erreichen, weil in ihnen das Prinzip des Wissens liegt. Vgl. unten S. 102, 1. H. M a i e r , Sokrates. 7 98 Die Quellen. er nach objektiv gültigem Wissen strebte und im begrifflich All- gemeinen das objektive Wesen der Dinge sah, und er suchte nach Definitionen, weil sich in diesen der objektive Wesensgehalt der Dinge darstellt. Warum nun an unserer Stelle jene eigen- tümliche Motivierung? Darauf gibt es nur eine Antwort: Aristo- teles folgt hier aufs genaueste einer Vorlage, und diese Vorlage ist die Ausführung Xenophons im 6. Kapitel des 4. Buchs der Memorabilien. Hier ist dargelegt (vgl. oben S. 58 ff.), Sokrates habe auf das Wissen um das, was jedes der Dinge (seinem Wesen nach) sei (tl sxaaxav eirj tujv ovtüjv), ganz besonderes Gewicht ge- legt und mit seinen Freunden das Forschen nach dem Wesen der Dinge unermüdlich betrieben. Dann fährt der Autor fort: „Es würde zu weit führen, von allen Begriffen durchzugehen, wie er sie bestimmte (// diwQi'Qeio). So viel aber will ich mitteilen, als nötig ist, um die ganze Art seiner Untersuchung klar zu legen." Und nun führt er als typische Beispiele die Definitionen (o^i'QsoO'ai) der Begriffe der Frömmigkeit, der Gerechtigkeit, der Weisheit, des Guten, des Schönen, der Tapferkeit, des Königtums, der Tyrannis, der Aristokratie, der Plutokratie und der Demokratie ein. Augenscheinlich besteht zwischen dieser Darstellung und der aristotelischen Sokratesauffassung eine so genaue Übereinstim- mung, daß man schon darum einen Zusammenhang zwischen beiden nicht von der Hand weisen kann. Daß Sokrates grund- sätzlich das tI söTiv der Dinge {twv ovtujv) aufgesucht, tat- sächlich sich aber auf ethische Begriffe beschränkt habe, das konnte Aristoteles in der Memorabilienstelle — und nirgends sonst — finden. Das aber war eben das Spezifische seines Sokrates- typus. Und nun fasse man die Begründung ins Auge, die Xenophon für das sokratische Suchen nach Definitionen gibt: um seine Schüler dialektischer zumachen (dtalr/.TixujTeqovg noislv), suchte Sokrates mit ihnen das Wesen der Dinge auf; denn — so wird weiter ausgeführt — wer dieses kenne, meinte Sokrates, der könne es auch den anderen darlegen; wer es aber nicht kenne, sei in steter Gefahr, sich und andere zu täuschen. Damit ist ge- sagt: im Interesse des dialektischen Verfahrens suchte Sokrates Definitionen zu gewinnen, da ihm der Besitz von Definitionen als Die aristotelischen Zeugnisse. 99 ein wertvolles Hilfsmittel der Dialektik erschien. Eben das aber ist die Motivierung, die Aristoteles in unserer Metaphysikstelle für das Streben des Sokrates nach Definitionen gibt. Jetzt ist uns also klar, wie der Stagirit auf den sonderbaren Einfall ge- kommen ist. Aber Xenophon gibt im selben Zusammenhang (IV 6, 13 f.) auch bestimmt an, in welcher Weise Sokrates in seinen dialek- tischen Diskussionen von den Allgemeinbegriffen syllogistischen Gebrauch machte: „wenn ihm jemand ohne genügenden Grund widersprach und z. B. ohne Beweis die Behauptung aufstellte, ein von ihm Genannter sei weiser, staatsmännisch tüchtiger, tapferer oder dergleichen als ein von Sokrates Gerühmter, so pflegte er die Untersuchung (j.bv loyov) auf die allgemeine Voraussetzung zurückzuführen (etil tt\v vno&eoLv inavT]ytv)\ handelte es sich z. B. darum, ob einer ein besserer Bürger sei als ein anderer, so suchte er den Begriff der Aufgabe eines guten Staatsbürgers zu bestimmen (xl euuv eyyov äya&ov tioUtov) und von dem ge- wonnenen Allgemeinen aus die vorliegende Frage zu entscheiden, um so die Wahrheit zu finden. 1 ) Ich brauche wohl kaum aus- drücklich zu sagen, daß dies das ovlloyi^eotfat ist, das Aristo- teles in Met. 1078b bei Sokrates vorfindet. Hier dient wirklich das sokratische Suchen nach Begriffen der Aufgabe, von den Allge- meinbegriffen aus in der dialektischen Erörterung strittige Fragen syllogistisch zu entscheiden. Auch die Fortsetzung unserer Metaphysikstelle übrigens lehnt sich unverkennbar aufs engste an das Memorabilienkapitel an. „Zwei Dinge", so wird in unserem Zusammenhang fortgefahren, „sind es, die man gerechterweise als sokratische Leistungen an- erkennen muß: die induktiven Untersuchungen (enaxTtzoi loyoi) und das allgemeine Definieren." Daß nun Xenophon in IV 6 von den definitorischen Leistungen des Sokrates eingehend han- ') Der Syllogismus aus dem xl ioxtv, den Aristoteles in dieser Xenophon- stelle gefunden hat, ist zuletzt der: wer so und so sich verhält, ist ein guter Bürger (ein guter Bürger sein heißt: so und so sich verhalten); nun verhält X (den Sokrates als guten Bürger gegenüber dem Y des Gegners ausspielen will) sich so und so (nicht aber Y); also ist X ein guter Bürger (nicht aber Y). Die xenophontische Erörterung schließt mit den Worten: ovzoj de rwv löywv ina- vuyofAEVojv xal xolq dvxiXkyovotv avzolc, (pavsgbv syiyvero xalrj^iq. 7* 100 Die Quellen. delt, wissen wir. Aber an derselben Stelle zeichnet er in typischer Weise den Charakter seiner „induktiven Untersuchungen". Das „Zurückführen der Untersuchungen auf die allgemeine Voraus- setzung" erfolgt nämlich auf Grund eines loyog snaxnxog. Um den allgemeinen Begriff der Aufgabe eines guten Bürgers, von dem aus die endgültige Entscheidung gewonnen werden soll, zu erreichen, wird von den einzelnen Funktionen des guten Bürgers ausgegangen. 1 ) Nun läßt sich natürlich nicht sagen, daß Aristo- teles von der induktiven Erörterungsweise des Sokrates erst durch die xenophontische Stelle Kenntnis erhalten habe. Nichts viel- leicht war den Zeitgenossen an den sokratischen Gesprächen so sehr aufgefallen und der folgenden Generation so bestimmt im Gedächtnis geblieben als eben diese sokratische Manier. In ihrer Zeichnung stimmten denn wohl auch alle Sokratiker überein. Aristoteles konnte hier also sicher aus einer allgemeinen Tradition schöpfen. Allein eben so sicher ist, daß er in Met. 1078 b durch die Xenophonstelle auf die löyoi enaxrixoi geführt worden ist, und vielleicht berührt sich sogar der Ausdruck mit dem xeno- phontischen inavaytiv. So wird der ganze Zusammenhang der wichtigen Metaphy- sikstelle von dem 'Memorabilienkapitel, und nur von ihm aus, verständlich. Von den übrigen drei Stellen gehört die Bemerkung 1086 b 2 — 5 mit jener zusammen, und sie verweist ja auch aus- drücklich auf sie; 642 a 25 ff. ferner hat die Würdigung, die der Leistung des Sokrates in den Metaphysikstellen zu teil wird, zur augenscheinlichen Voraussetzung. Daß aber Met. A 6. 987 b 1 ff. ganz ebenso wie Met. M4. 1078 b 17 ff. auf Memor. IV 6 zurück- geht, bedarf keines besonderen Beweises. Nicht bloß sind Grund- gedanke und Gedankenzusammenhang beide Male dieselben. Schon rein äußerlich verrät sich eine nahe Beziehung zwischen beiden Darstellungen. Met. A 6 ist ganz offenkundig die ältere, die in Met. M 4 wieder aufgenommen und weiter ausgeführt wird. Und in der ausgeführteren wird nun auch die Quelle sichtbar, aus der beide geschöpft haben. 2 ) Wir sehen also: Mem. IV 6 1 ) Xenophon arbeitet in IV 6, 14 aus den Induktionsinstanzen den Allgemein- begriff nicht ausdrücklich heraus. Die Grundzüge des Verfahrens, das er schildern will, treten aber trotzdem deutlich genug hervor. 2 ) Daß Met. M 4 mit Met. A 6 zusammenhängt, ergibt sich zur Evidenz, Die aristotelischen Zeugnisse. 101 ist überhaupt die Autorität, auf die sich die aristotelische Sokra- tesauffassung stützt. Daß Aristoteles sich nicht auch sonst die Sokratesdarstellung der Memorabilien angeeignet hat, wird niemanden befremden. Er hatte hieran kein Interesse. Um Gewinnung eines Gesamt- bildes des historischen Sokrates war es ihm ja gar nicht zu tun. Wichtig war ihm Sokrates eben nur als Begründer der Begriffs- philosophie. Und auch diesen führt er ja nur gelegentlich ein. Daß er aber hier der Autorität Xenophons gefolgt ist, wird nun als bewiesen gelten können. Nicht daß Aristoteles dem braven Landwirt und Offizier ein besonders tief gehendes Sokratesver- ständnis zugetraut hätte. Er unterläßt nicht, die sokratische Dia- lektik schließlich, wenigstens andeutungsweise, einem philosophi- wenn man beide Stellen einander gegenüberstellt (vgl. schon den Anfang: 2w- XQaxovq ös tisqI /uhv xd rjd-ixä ngay^axtvo^hov . . . 987 b 1 f. — ^wxQaxovq 6h negl xdq i/9-ixäq dgexuq 7iQay/uarevo/A.tvov . . . 1078b 17f). — Daß nun Buch A früher abgefaßt sein muß als Buch M, hat Jäger a. a. O. S. 32 ff. über- zeugend nachgewiesen. Die Tatsache, daß Aristoteles in der Kritik der Ideen- lehre A 9 sich mit der akademischen Schule noch in der ersten Person Pluralis („wir") zusammenfaßt, beweist, daß er, als er diese Abhandlung niederschrieb, die Beziehungen zur Akademie noch nicht völlig gelöst hatte. In M ist das anders geworden (vgl. die geflissentliche Ausschaltung des „wir" an den von Jäger S. 33 oben gesammelten Stellen). Auch die Ausführung über Sokrates in A 6 wird darum früher sein als die in M 4; denn erstere als einen späteren Nachtrag an- zusehen, hat man keinen ürund. Zweifel aber habe ich darüber, ob man die Abfassung von Met. A mit Jäger S. 35 wirklich schon in die Jahre 348—345 ver- legen kann. Sachlich zwar ist das keineswegs ausgeschlossen : die philosophische Entwicklung des Aristoteles kann damals recht wohl schon so weit fortgeschritten gewesen sein. Aber die Art, wie hier Sokrates gegen Plato ausgespielt wird, setzt doch nicht allein den auch äußerlich vollzogenen Bruch mit der platonischen Sache voraus, sondern auch ein gegen die Zeit unmittelbar nach dem Tod Piatos verändertes Verhältnis zur Akademie. Dazu kommt, daß auch Met. A eine Lehr- schrift ist, die, wie man festhalten muß, im engsten Zusammenhang mit eigent- licher Unterrichtstätigkeit des Aristoteles, wie er sie erst wieder in Athen aus- üben konnte, stand. Kurz, ich vermute, daß Met. A kurz nach der Rückkehr des Aristoteles nach Athen niedergeschrieben ist, zu einer Zeit, als er seine Unter- richtstätigkeit bereits eröffnet hatte, ohne doch den Zusammenhang mit der Aka- demie schon förmlich gelöst zu haben; seine Schülerschaft setzte sich naturgemäß aus Akademikern zusammen, und vermutlich war Aristoteles bemüht, die Mitglieder der Akademie möglichst zahlreich zu sich herüberzuziehen und wohl gar sich zum Herrn der Akademie zu machen; in diesem Ringen aber war es ein klug be- rechnetes Manöver, sich als genuinen Sokratiker dem Plato entgegenzusetzen. 102 Die Quellen. sehen Gesichtspunkt unterzuordnen, der Xenophon fremd geblieben war. 1 ) Offenbar aber vertraut er sich der xenophontischen Dar- stellung darum an, weil er sie für historisch zuverlässig hält. 2 ) Er selbst ist dann von hier aus der Urheber jener Geschichts- konstruktion geworden, die Sokrates als den Begründer der Be- griffslehre betrachtet, die platonische Ideenlehre als eine Weiter- oder vielmehr Umbildung derselben und damit als eine Abwei- chung von der sokratischen Linie beurteilt, in der aristotelischen Begriffsmetaphysik dagegen die geradlinige Fortsetzung und Voll- endung der sokratischen Begriffsphilosophie erblickt, — einer Kon- struktion, die die Historiker bis zum heutigen Tag irregeführt hat. Damit scheint nun freilich die Quellenfrage für die Sokrates- forschung völlig hoffnungslos geworden zu sein. Die Erwartung, in den aristotelischen Zeugnissen eine Norm zu finden, die die Benutzung der Memorabilien ermöglichen würde, hat sich nicht nur nicht erfüllt. Es hat sich vielmehr gezeigt, daß Aristoteles als historischer Gewährsmann so gut wie ganz ausscheiden muß, da seine Sokratesdarstellung selbst in der Hauptsache auf die xeno- phontische gegründet ist. Viertes Kapitel. Die frühplatonischen Schriften. Ganz so schlimm stehen indessen die Dinge nicht. Wir haben aus der Zeit vor der großen Kontroverse in der sokrati- ■ l ) Der Satz 1078b 27 — 29 (zwei Dinge sind es, die man gerechterweise als sokratische Leistungen anerkennen muß : die induktiven Untersuchungen und das allgemeine Definieren) geht zwar direkt zurück auf 18 f. SwxQärovq . . . oqI- t,eo$ca xa&ökov fyrovvioq tcqÜtov: das ogl^saUai wird als eine der beiden philosophischen Hauptleistungen des Sokrates hingestellt. Und im darauffolgenden Satz 29 f. (diese beiden Dinge nämlich beziehen sich auf das Prinzip des Wissens) wird festgestellt: diese beiden Stücke nämlich hatten für Sokrates Interesse, weil es ihm zuletzt um die ccqxv des Wissens zu tun war. Trotzdem schwebt dem Autor auch ein Zusammenhang zwischen der 23—27 charakterisierten Dialektik und diesen beiden Stücken vor: diese Dialektik steht nach aristotelischer Anschauung im Dienst der gnaxzixol Xoyoi und schließlich des Definierens. Vgl. Syllogistik des Aristoteles II S. 170, 3 (und hiezu oben S. 97, 2). 2 ) Die Frage, ob Aristoteles auch die sokratischen Dialoge der xenophon- tischen Gesprächsammlung zu den köyoi SwxquuxoI zählte, kann hier aus dem Die frühplatonischen Schriften. 103 sehen Gemeinde, oder doch vor ihrem Akutwerden, eine litera- rische Quelle allerersten Ranges. Diese Quelle sind die frühesten Schriften Piatos. Seit langem schon hat man in ihnen Dokumente der „soma- tischen" Periode in Piatos Entwicklung gesehen, und angenommen, daß sie dem Gedankenkreis des historischen Sokrates mindestens sehr nahe stehen. Allein man hat ihren Wert sehr nieder einge- schätzt und sie als inhaltlich dürftig so gut wie beiseite ge- schoben. Man fand in ihnen eben das nicht, was man in ihnen suchte: philosophische Lehren des Sokrates. Wer sagt uns denn aber, daß Sokrates „philosophische Lehren" vorgetragen habe? Wir müssen mindestens mit der Möglichkeit rechnen, daß er gar kein „Philosoph" war und keiner sein wollte. Treten wir in diesem Sinn unbefangen an diese „sokratischen" Schriften Piatos heran, so werden wir allerdings einen Inhalt in ihnen entdecken: wir finden in ihnen nichts mehr und nichts weniger als den wirklichen Sokrates. Nun ist es freilich mit der Chronologie der platonischen Dia- loge eine eigene Sache. Über die Abgrenzung der „sokratischen" Periode von Piatos Schriftstellerei zumal ist keine Übereinstim- mung erreicht, und neuerdings gibt man ihr, namentlich von sprachstatistischen Erwägungen aus, eine sehr weite Ausdehnung. Aber auch wenn man sie, von inhaltlichen Gesichtspunkten — wie dem Fehlen der Ideenlehre, des Unsterblichkeitsglaubens und der späteren politischen Anschauungen Piatos — geleitet, be- trächtlich reduziert, bleibt immer noch manche Schrift, die wir jedenfalls nicht als „sokratisch" in unserem Sinn bezeichnen können. Wo finden wir ein Kriterium, um die Grenze sicher zu ziehen? Der beliebte Schluß von der angeblichen „Unreifheit" einer Anzahl kleinerer Dialoge auf eine frühe Abfassungszeit versagt schon darum ganz, weil die Prämisse sich als unhaltbar erweisen wird. Zum Glück aber bietet sich uns eine einwandfreie Grund- Spiel bleiben. Was er dem Memorabilienkapitel Mem. IV 6 entnahm, gehörte dem Referat an, das geschichtlich gemeint war und von Aristoteles selbstverständ- lich als geschichtlich betrachtet wurde. Und zweifellos sah Aristoteles in Xeno- phon einen vielleicht nicht eben philosophisch angelegten, jedenfalls aber un- parteiischen Gewährsmann. 104 Die Quellen. läge, auf der wir werden weiterbauen können. Das sind die persönlichen Sokratika Piatos. So möchte ich die Apologie und den Krito nennen. Daß die Apologie bald nach dem Tode des Sokrates verfaßt ist, ist heute ziemlich allgemein zugestanden und wird sich uns auch in vollem Umfang bestätigen. Der Krito aber schließt sich an sie an. Aus diesen beiden Schriften nun, namentlich aber aus der Apologie, läßt sich allein schon ein scharf umrissenes und selbstlos, ja beabsichtigt treues Sokrates- bild gewinnen. Aber sie werden uns zugleich einen sicheren Fingerzeig für die Ermittlung derjenigen platonischen Dialoge geben, die sich im sokratischen Interessenkreis bewegen. l ) Fundamentale Bedeutung hat die Apologie. Historisch im nächsten Sinn freilich ist sie nicht. Die wirkliche, von Plato aus der Erinnerung reproduzierte Gerichtsrede des Sokrates darf man in ihr nicht suchen. Zwar war Plato bei der Gerichtsverhandlung zugegen gewesen, und was ihm selbst entschwunden war, konnte er durch Nachfrage ergänzen. Und gewiß sind in die Apologie wirkliche Reminiszenzen genug eingeflochten. In der äußeren Anordnung jedenfalls hält sie sich im ganzen an den wirklichen Gang der Verhandlung. Aber was konnte eine historisch treue Wiedergabe der sokratischen Rede bald nach der Katastrophe für einen Zweck haben? Daß das Motiv lediglich Jüngerpietät war, die dem hingeschiedenen Meister, indem sie dieses Erzeugnis seines Geistes der Mit- und Nachwelt erhielt, ein Denkmal setzen wollte, wird niemand im Ernst glauben. Sokrates selbst, der in seinem Leben nichts geschrieben und augenscheinlich von der Schriftstellerei nicht allzuviel gehalten hat, wäre von einer solchen Ehrung schwerlich erbaut gewesen. Noch unwahrschein- l ) Neu ist der im Text eingeschlagene Weg keineswegs (vgl. Ribbing, So- kratische Studien I S. 19, und neuerdings H. Räder, Piatos philosophische Ent- wicklung S. 89). Es kommt nur darauf an, ihn recht zu gehen. — Wie ich nachträglich sehe, ist auch Natorp in seiner Abhandlung „Über Sokrates", Philo- soph. Monatshefte 30. Band, 1894, S. 337 ff. zu einer ähnlichen Lösung gekommen. Doch beschränkt sich die Übereinstimmung zwischen Natorp und mir auf äußere Dinge. Meine Vorstellung von dem literarischen Charakter der Apologie und des Kriton ist eine wesentlich andere. Ganz weiche ich von ihm in der Auf- fassung des Inhalts ab. Natorp bewegt sich noch durchaus in der traditio- nellen Bahn. Die frühplatonischen Schriften. 105 licher ist, daß mit der „Herausgabe" der Rede die öffentliche Meinung Gesamtgriechenlands gegen den athenischen Justizmord mobil gemacht werden sollte: denn die Apologie wendet sich zu allererst eben an die Athener. Was aber konnte bei diesen mit einer solchen Veröffentlichung erreicht werden? Es ist doch wirklich nicht anzunehmen, daß Plato erwartete, die geschriebene, mit all den Mängeln einer von Zuhörern aus dem Gedächtnis rekonstruierten Rede behaftete Verteidigung werde mehr Wirkung tun als das lebendige Wort, dem gewiß der eigenartige Zauber von Sokrates' Persönlichkeit nicht gefehlt hat. Allein die Apologie konnte, wie sie vorliegt, eine solche Wirkung überhaupt nicht haben. Ich will nur an eines erinnern. Der Höhepunkt der Rede ist die Stelle, wo dargelegt wird, der beste Beweis für die göttliche Mission des Sokrates sei die bei Menschen nicht erhörte Selbstaufopferung, mit der er sein ganzes langes Leben in völliger Mißachtung des eigenen Interesses der sittlichen Werbearbeit an anderen gewidmet habe (Apol. 31 AB). Spricht hier Plato, so muß man gestehen: wirkungsvoller kann der Eindruck nicht geschildert werden, den die Jünger von der Persönlichkeit und der Lebensarbeit des Meisters erhalten hatten. Wäre dagegen Sokrates der Redende, so könnten wir uns etwas Peinlicheres und Abstoßenderes nicht denken als eine solche Ruhmredigkeit und Selbstüberhebung. Indessen so, wie die Apologie den Sokrates reden läßt, kann er gar nicht gesprochen haben. Der zum Tod Verurteilte hält hier noch eine Ansprache an seine Richter, und in dieser ergeht er sich in einer langen Betrachtung über das Schicksal des Menschen nach dem Tode. So schön diese an sich ist — auch vor einem athenischen Gericht war eine solche Szene nicht wohl möglich. Bedenklicher noch ist, daß der Sokrates der Apologie auf einen Hauptpunkt der Anklage überhaupt nicht eingeht. Es war ihm zur Last gelegt, er glaube nicht an die Götter des Staats, sondern an neue Gottheiten. Dem wirklichen Sokrates wurde es nicht schwer, diesen Vorwurf in der üblichen Weise zu entkräften. Absprechende Äußerungen oder gar ungläubige Pole- mik gegen den Volksglauben konnte man ihm schwerlich nach- weisen. Im übrigen brauchte er sich nur auf die Korrektheit zu berufen, mit der er die kultischen Pflichten des athenischen Staats- 106 Die Quellen. bürgers stets erfüllt hatte. So läßt die xenophontische Apologie ihn sprechen. Und er hat auch sicherlich so gesprochen. Der platonische Sokrates dagegen lenkt künstlich die Erörterung von dem eigentlichen Anklagepunkt ab, um sich gegen den allgemeine- ren Vorwurf des Atheismus zu wenden. Auf eine Ungeschick- lichkeit Piatos läßt sich dies nicht zurückführen. Nur eins ist möglich. Es ist nicht die gerichtliche Anklage, gegen die sich die Apologie wendet, und es sind nicht die gerichtlichen Ankläger, gegen die sie kämpft. Der Sokrates der Apologie ist also auch nicht der Sokrates, der sich vor Gericht verteidigt, und die Apo- logie selbst nicht die sokratische Gerichtsrede. 1 ) Sagen wir es kurz und bündig: die Apologie ist ein Mani- fest, das Plato, zugleich im Namen der sokratischen Gemeinde, an die Athener richtet. Er präsentiert sich und die Freunde hier ganz formell vor der Öffentlichkeit als die Erben und Nachfolger des Sokrates, als seine Testamentsvollstrecker, die im Begriff stehen, in die Arbeit des Meisters einzutreten. „Sogleich nach meinem Tod" — so läßt er den zum Tod verurteilten Sokrates den Athe- nern prophezeien — „wird euch eine sehr viel schwerere Strafe treffen, als die ist, die ihr über mich verhängt habt. Ihr glaubt, durch meine Verurteilung der Notwendigkeit entronnen zu sein, Rechenschaft über euer Leben zu geben. Aber es wird anders kommen. An der Stelle des einen werden viele euch zur Unter- suchung ziehen. Bis jetzt habe ich sie zurückgehalten, und ihr habt sie nicht bemerkt. Aber sie werden euch sehr viel beschwer- licher werden, da sie jung sind." Zu Lebzeiten des Sokrates war keiner seiner Schüler in die Öffentlichkeit getreten. Auch Plato nicht. 2 ) Jetzt sind sie ent- ') Hinzuweisen ist auch darauf, daß in der Rede meist gar nicht die Richter, sondern die Athener, das Volk von Athen — und zwar nicht bloß der Form, sondern auch dem Sinn nach — angeredet werden. Vgl. M. Schanz, Apologia S. 68 ff., Joel, Der echte und der xenophontische Sokrates II S. 811 ff., Christ-Schmid, Gesch. der griech. Literatur I c S. 675. Daß die Apologie ganz ebenso fingiert ist, wie die platonischen Dialoge fingierte köyoi HujxQanxol sind, sollte man nicht mehr bestreiten. 2 ) Daß dies aus der im Text zitierten Stelle Apol. 39 CD zwingend folgt, ist mir nicht im geringsten zweifelhaft. C. Ritter geht (Piaton I S. 273, 1) gar zu leicht über diesen Punkt hinweg. Daß noch zu Lebzeiten des Sokrates von Plato oder anderen fingierte, imitierte Sokratesgespräche — und an dem Die frühplatonischen Schriften. 107 schlössen, das Werk des Meisters fortzusetzen. Und Plato kün- digt dies feierlich an. Eine gut bezeugte Tradition erzählt, Plato habe sich gleich nach der Katastrophe mit anderen Sokratikem nach Megara begeben. Das ist auch innerlich wahrscheinlich. Für die Sokratesjünger war in Athen damals der Boden zu heiß. 1 ) Die Apologie war also wohl ein Flugblatt, das von auswärts, von Megara aus, nach Athen geworfen wurde. Und Plato redete ohne Zweifel zugleich im Namen der mit ihm geflüchteten Glieder des sokratischen Kreises. Aber er rechnete wohl auch auf die Zu- stimmung der großen Mehrzahl der übrigen Freunde. Des Einverständnisses aller indessen konnte er keineswegs sicher sein. In der Apologie findet sich eine Spitze, die nur gegen einen Genossen aus der sokratischen Gemeinde gerichtet sein kann. Plato läßt hier (33 A f.) den Sokrates mit auffallender Betonung ver- sichern: ich bin niemandes Lehrer gewesen; mein Reden und Tun galt der Öffentlichkeit, galt allen gleichmäßig; eine „Lehre" habe ich in meinem ganzen Leben weder vorgetragen noch vorzutragen fiktiven Charakter dieser Xöyoi 2(dxq. zweifelt doch niemand — sollten verfaßt und veröffentlicht worden sein, ist mir, wie ich bekenne, völlig undenkbar. Durch die Stelle 39 CD aber ist diese Annahme direkt ausgeschlossen. Daß die vzü- zsqoi, deren künftiges öffentliches Hervortreten hier feierlich angekündigt wird, Plato und seine Freunde seien, kann nicht bestritten werden. Von diesen Jüngern aber sagt Sokrates: ich hielt sie bis jetzt zurück, und ihr bemerktet sie nicht. Nun ist das „Zurückhalten", wie aus 23 C und 33 C hervorgeht, relativ zu verstehen. Aber wenn einer als Schriftsteller mit löyoi üwxg. in die Öffentlich- keit getreten wäre, hätte Sokrates von dem sagen können: ich habe ihn bis jetzt zurückgehalten, und ihr habt ihn nicht bemerkt? *) Lutoslawskis Einwände gegen die Tradition (Origin and Growth of Piatos Logic p. 42 ff ) sind nicht überzeugend. Diogenes L. gründet die Nachricht (III 6, II 106), Plato habe sich nach dem Tode des Sokrates mit einigen anderen Sokra- tikem (das xal zovg Xomovq <pilooö<povq in II 106 ist, wie Zeller II 1 4 S. 403 mit Recht betont, nach dem ovv älkoiq not Hwxganxolq in III 6 zu deuten) zu Euklid nach Megara begeben, und zwar aus Furcht vor der (ofiöx^g twv zvgäwwv (unter welch letzteren, wie Zeller a. a. O. zeigt, die demokratischen Machthaber zu verstehen sind), auf einen Bericht des Platoschülers Hermodoros. Und mir scheint nicht bloß die Mitteilung selbst, sondern auch die Motivierung, die Her- modor für die Entfernung Piatos und seiner Freunde nach Megara gibt, Glauben zu verdienen: die Situation war damals, wie unten im letzten Kapitel des dritten Teils gezeigt werden wird, in der Tat der Art, daß für die Sokratesjünger eine Gefahr bestand (gegen C. Ritter, Piaton S. 65). 108 Die Quellen. mich anheischig gemacht; „wenn aber jemand behauptet, er habe jemals etwas von mir privatim gelernt oder gehört, was nicht auch allen anderen zugänglich war, so laßt euch gesagt sein, daß er nicht die Wahrheit spricht." Das heißt: ,, Schule habe ich nicht gebildet, eine Lehre habe ich nicht verkündigt; wer anders aussagt, der lügt." Das ist nicht bloß rückschauende Apologetik. Die scharfe Pointierung läßt eine aktuelle Tendenz vermuten. Und wir können erraten, gegen wen sich dieselbe kehrt. Wie es scheint, ist bereits An- tisthenes in Sicht, Piatos künftiger Gegner. Dieser war nicht mit nach Megara geflüchtet. Er war wohl in Athen geblieben und hatte hier bereits begonnen, Schüler um sich zu sammeln. Schon ehe er in den sokratischen Kreis eingetreten war, war er Haupt einer Schule gewesen. Was war natürlicher, als daß er jetzt, nach dem Tode des Meisters, zum alten Metier zurückkehrte? 1 ) In- dessen nicht das war es, wogegen Plato Einsprache erheben zu müssen glaubte. Antisthenes scheint aber seine Schule als die sokratische ausgegeben und den Versuch gemacht zu haben, die freie sokratische Gemeinde in die organisierte Form einer Schul- gemeinschaft überzuführen, um an deren Spitze die Arbeit des Sokrates als dessen berufener Nachfolger fortzusetzen. Diese Werbetätigkeit, zumal die Art, wie der Kyniker für die „Philo- sophie" Eroberungen zu machen wußte, hat nun, wie es scheint, ') Daß Antisthenes nicht zu den „einigen Sokratikern" gehörte, die mit Plato nach Megara übergesiedelt waren, kann als sicher gelten. Piatos Genossen gehörten vermutlich zu dem Kreis von Sokratikern, die in Apol. 23 C von So- krates als ol vioi fioi £7iaxo?.ov&oi>VTEq, olg näliöxa oy^ok-q sariv, ol zuiv nXov- OLwxärwv charakterisiert werden. Mit diesen hatte der niedrig geborene, in den dürftigsten Verhältnissen lebende Antisthenes nichts zu tun. Und wir haben keinen Grund anzunehmen, daß auch er nach Sokrates' Tod Athen verlassen habe. Wie er zu seiner Schulgründung kam, läßt sich erraten. Nach Diogenes VI 2 (vgl. Hieronymus contra Jovin. II 14) veranlaßte Antisthenes, nachdem er selbst sich zu Sokrates bekehrt hatte, auch seine Schüler — er war Haupt einer sophistischen Rhetorenschule gewesen — , sich dem Sokrates anzuschließen. Nun ist selbstverständlich, daß diese Schüler mit ihm, auch wenn der Unterricht nicht in der alten Weise fortgesetzt wurde, nahe verbunden blieben. So ergab sich nach dem Tode des Sokrates ganz von selbst, daß Antisthenes Mittelpunkt einer Gruppe von Sokratikern war, die sich der überragenden Persönlichkeit des dem verstorbenen Meister besonders vertraut gewesenen Mannes ohne Zweifel gerne unterordneten. Das war wohl der Anfang der kynischen Schule. Die frühplatonischen Schriften. 109 auch sonst in den Kreisen der Sokratiker verschnupft. 1 ) Plato sieht in dem Vorgehen des Antisthenes geradezu eine Verfälschung des somatischen Lebenswerks. Und er wendet sich zugleich — das läßt sich zwischen den Zeilen lesen — gegen weitergehende Aspirationen des gefährlichen Mannes. Schon zu Sokrates' Lebzeiten hatte wohl eine latente Gegner- schaft zwischen den beiden Jüngern bestanden. Antisthenes war bereits ein reifer Mann gewesen, als er zu Sokrates in Beziehung trat. Und wir können uns lebhaft vorstellen, wie verachtungsvoll der ernste, strenge Mann von der Höhe seines zielbewußten, von etwas wie religiösem Fanatismus durchglühten Sokrateskultus auf die vornehmen Jüngelchen herabblickte, die sich aus Modelaune, wie er meinte, um den verehrten Meister geschart hatten. Jetzt, nach der Katastrophe, betrachtete er sich als den selbstverständ- lichen Führer der sokratischen Gemeinde. Und er war sicher nicht gesonnen, sich dem jüngeren Plato, in dem die Freunde ihr natürliches Haupt sahen, unterzuordnen. Vielleicht hat er auch bereits dem starken Haß des Proletariers gegen den Junker Aus- druck gegeben. Plato selbst hält damals noch die Erregung gegen den „geistesarmen", „spät zum Lernen gekommenen Alten", wie er ihn Jahrzehnte später nennt, zurück. Ihm ist es vorerst ge- nug, vor den falschen Bahnen, in die der Gegner die heilige Sache zu lenken im Begriffe war, öffentlich zu warnen.-) Sachlich steht er ihm damals noch nicht so'fern wie nachher. Auch er sieht in Sokrates den sittlichen Erlöser. Vielleicht ahnte er damals noch gar nicht, wie weit seine und seines Rivalen Wege künftig aus- *) Vgl. oben S. 45. Daß hinter dem scherzhaften Lob sich zugleich eine gewisse Verurteilung der antisthenischen Werbetätigkeit (durch die übrigen So- kratiker) verbirgt, zeigt die ganze Ausführung Symp. IV 61 ff., und eine Bestäti- gung hiefür ist die Empfindlichkeit, die Antisthenes an den Tag legt. Der üble Nebengeschmack, den das dem Antisthenes gespendete Lob hiedurch erhält, läßt sich auch durch die Berufung auf die Äußerungen, die Xenophon dem So- krates im Theodotekapitel der Memorabilien (III 11) in den Mund legt, nicht wegdeuten. 2 ) Daß die im Text gegebene Deutung des Schlusses von Apol. 33B nicht zu voller Evidenz gebracht werden kann, bin ich mir wohl bewußt. Sobald man aber zugesteht, daß in der Stelle eine bestimmte Anspielung liegt — und man wird hieran schwerlich zweifeln können — , wird man kaum zu einer anderen Auffassung kommen. 110 Die Quellen. einandergehen würden. Ehrgeizige Motive jedenfalls lagen ihm ferne. Er ist mit dem größten Teil der sokratischen Freunde einig in dem Entschluß, das Andenken des Meisters in werktätiger Nach- folge, durch treue Arbeit in seinem Sinn, zu ehren und den Kampf gegen die widerstrebende Welt aufzunehmen. Aus dieser Situation heraus ist, wenn mich nicht alles trügt, die Apologie geschrieben. Die nächste und dringendste Aufgabe war die Abrechnung mit dem Todesurteil, das den Jüngern den geliebten Meister ent- rissen hatte. Und die Aufgabe war keine bloß akademische. In der öffentlichen Meinung Athens war nach der Hinrichtung kein Umschwung erfolgt. Was nämlich spätere Berichterstatter von einer bald eingetretenen tiefen Reue der Athener zu er- zählen wissen, ist haltlose Legende. 1 ) Böswilliger Klatsch, kon- servativer Fanatismus und spießbürgerliche Beschränktheit hatten im Gegenteil gewetteifert, das Bild des großen Toten noch mehr zu entstellen. Immer noch und jetzt erst recht sah der athenische Durchschnittsphilister in Sokrates den naturphilosophischen Grüb- ler, der ihm eine zugleich unheimliche und komische Figur war, und andererseits den sophistischen Rechtsverdreher, der die schlechte Sache zur guten zu machen wußte; in jedem Fall aber den Frei- denker und Ungläubigen, den Zerstörer des angestammten Glau- bens und der alten, guten Sitte, der den ihm vom Gesetz zuer- kannten Tod redlich verdient hatte. Und auch die besser Unter- richteten, die weder einfältig noch borniert genug waren, solche Dinge zu glauben, waren im Grund ihres Herzens froh, den un- bequemen Mahner und ewigen Allesbesserwisser los geworden zu sein. Diesen Vorstellungen und Stimmungen tritt Plato entgegen, und die Apologie wird zur „rechtfertigenden Charakteristik." Noch steht der Schüler unter dem unmittelbaren Eindruck der großen Persönlichkeit. Noch liegt es ihm fern, die Gedanken des Meisters ergänzen und weiterführen zu wollen. An spekulativem Interesse fehlte es ihm gewiß schon damals nicht. Seine Ver- gangenheit und seine Vorbildung wiesen ja ganz nach dieser Richtung. Aber noch denkt er nicht von ferne daran, das Werk und die Anschauungen des Sokrates nach eigenen Wünschen und ») Vgl. E. Zeller II 1* S. 200 f., Th. Gomperz, Griechische Denker II S. 95. Die frühplatonischen Schriften. 111 | Bedürfnissen modeln zu wollen. Noch ist sein Herz ganz von dem wirklichen Sokrates ausgefüllt. So zeichnet er in keuscher Jüngerpietät das Bild des verehrten Mannes, wie er es geschaut und innerlich erlebt hat. Und er zeichnet es so, wie nur ein kongenialer Geist es schauen und erleben konnte. Darauf beruht der eminente historische Wert der Apologie. Das freilich fällt dem Apologeten nicht ein, sein übervolles Herz vor den Athenern auszuschütten. Er kennt seine Leute. Mit den Gefühlstönen hingebender Pietät und glaubensvoller Begeiste- rung durfte man ihnen so wenig kommen wie mit dem Pathos sittlicher Entrüstung. Er faßt sie in ihrer eigenen Weise an, und die Verteidigung gestaltet sich zu einer scharfen, von höhnender Ironie durchzogenen Anklage. Aber aus der Wolke von Spott und Satire tritt schließlich doch sieghaft die Gestalt des Sokrates hervor, wie sie dem treuen Jünger vor der Seele steht. Ernst, fast wissenschaftlich gründlich setzt die Apologie ein. Sie möchte die Gründe der Mißstimmung gegen Sokrates ge- schichtlich aufdecken. Da trifft sie auf das Sokratesbild der Ko- mödie, das auch jetzt noch in den Köpfen fortspukt, und rückt dieses in die geziemende Beleuchtung. Bald aber regt sich der Schalk. Die Hauptursache der Verstimmung war doch verletzte Eitelkeit, entlarvter Weisheitsdünkel der guten Athener. Die über- legene Dialektik des Sokrates hatte gar zu schonungslos die Schwächen ihrer geistigen Ausrüstung ans Licht gezogen. Daher der Groll, und die Neigung, dem verhaßten Mann, dem man sonst Übles eben nicht nachzusagen wußte, jenen alten Klatsch anzu- hängen, mit dem man Naturphilosophen und Sophisten zu ver- folgen liebte. Das Pikanteste ist die Einkleidung, die der Autor dieser Aus- einandersetzung gegeben hat: der Anstoß, ja der Auftrag zu der „Menschenprüfung", die dem Sokrates den ehrlichen Haß aller braven Bürger zugezogen hatte, wird keinem Geringeren als dem delphischen Gott zur Last gelegt. Ein übereifriger Anhänger des Sokrates reist nach Delphi und legt dem Gott die Frage vor, ob es einen weiseren Menschen gebe als Sokrates. Die Pythia verneint dies. Das setzt den So- krates in arge Verlegenheit. Einer besonderen Weisheit ist er sich nicht bewußt. Andererseits kann aber doch auch der Gott 112 Die Quellen. nicht lügen. In dieser Not macht er sich auf die Suche, Leute zu entdecken, die ihm an Weisheit überlegen wären. In Athen, der Metropole der geistigen Kultur, kann es doch wahrlich an solchen nicht fehlen. Und er hält sich an die Elite der athenischen Intelligenz. Er sucht nach einander die Politiker, die Dichter und die Kunst- und Handwerksbeflissenen auf. Da findet er schöne Kenntnisse und Fähigkeiten. Ein Fehler aber ist allen diesen Leuten gemein: jeder glaubt, auch über sein Gebiet hinaus vieles zu wissen, worüber er in Wahrheit kein Wissen hat. Und hier offenbar ist Sokrates ihnen über. Er weiß, daß er nichts weiß. Jetzt versteht er den Orakelspruch. Das also hatte der Gott sagen wollen: der ist der Weiseste, der wie Sokrates weiß, daß es mit seiner Weisheit nichts ist. Und der Orakelspruch selbst war nichts anderes als ein Auftrag des Gottes an Sokrates, sich selbst und andere zu prüfen. Es ist schwer zu begreifen, wie man diesen Bericht für hi- storischen Ernst nehmen konnte. Zwar an der Geschichtlichkeit des Orakelspruchs zu zweifeln haben wir keinen Anlaß. Es war nicht selten, daß auch Private des Orakels sich bedienten. Und keineswegs undenkbar ist, daß die delphische Priesterschaft — natürlich zu einer Zeit, wo der Ruf des „Philosophen" Sokrates längst über die Grenzen Athens hinausgedrungen war — für den Gegner des radikal -demokratischen Treibens in Athen, für den notorischen Freund der dorischen Aristokratie, der zudem mehr als sonst einer der „Philosophen" den Anschauungen der heimischen Religion gegenüber Schonung übte, ein freund- liches Wort übrig hatte. In der Tat würde dem Gedankenspiel Piatos das Rückgrat ausgebrochen, wenn man die Erzählung von dem Orakelspruch für eine Fiktion halten wollte. Wie der Spruch freilich gelautet hat, und wie er gemeint war, können wir nicht sicher feststellen. Vermutlich aber hat der Gott den Sokrates als den größten unter den lebenden Philosophen anerkennen wollen. 1 ) *) Sicher ist, daß die xenophontische Fassung, Apol. 14, nicht die originale ist. Vgl. W. Nestle, Sokrates und Delphi, Württ. Korrespondenzblatt 1910, S. 87. — Gegen die Annahme, daß die politische Denkweise des Sokrates zu dem günstigen Spruch der aristokratisch gesinnten delphischen Priesterschaft mit den Anlaß gab, beweist natürlich die Tatsache, daß der Anfragende, Chairephon, zu der demokratischen Partei gehörte (Apol. 21 A), nichts. Die frühplatonischen Schriften. 113 In jedem Fall können wir uns vorstellen, wie Sokrates über den Eifer des jungen Freundes und den göttlichen Bescheid, den er nach Hause mitbrachte, gelächelt hat. Dennoch ist es nicht unwahrscheinlich , daß er von dem Urteil der Pythia vor Gericht Gebrauch gemacht hat. Der große Spötter hat sich schwerlich den Spaß entgehen lassen, seinen lieben Landsleuten vorzuhalten: seht, euer verruchter Religionsfrevler erfreut sich des besonderen Wohlwollens des delphischen Gottes. Plato aber treibt die Ironie noch beträchtlich weiter. Er tut, als wäre die ganze Tätigkeit des Sokrates einzig und allein darauf ausgegangen, sich von dem Nichtwissen seiner Mitmenschen zu überzeugen, und gibt der Sache nun eine ganz andere Wendung. Hat der Gott diese Wirksamkeit des Sokrates sanktioniert, so hat er für dieselbe die Verant- wortung übernommen. An Stelle der moralischen Verantwortlich- keit aber unterschiebt Plato die reale Urheberschaft. Kurz, er führt gerade die verabscheute und gefürchtete Dialektik des Sokrates auf eine Weisung des Orakels zurück. Das heißt den Hohn so stark auftragen, daß auch das blödeste Auge ihn merken muß. Geradezu geringschätzig springt der Autor mit seinem Publi- kum in der Zurückweisung der eigentlichen Klagepunkte um. Sokrates ein Jugendverführer und Atheist — das war das Greif- bare in dem Nebel von Gereden und Verdächtigungen, die auch nach der Katastrophe noch umliefen. Lohnte es sich, mit Leuten über Jugendverführung zu reden, die sich doch wahrlich noch nie in ihrem Leben über Erziehung den Kopf zerbrochen hatten? Und war es der Mühe wert, Ignoranten zu widerlegen, die dem Sokrates atheistische Äußerungen des Anaxagoras zur Last legten? Dennoch geht Plato auf den Vorwurf des Atheismus ein, und es ist ergötzlich, wie er hier den athenischen Spießbürger in die Klemme bringt. Besonders anstößig war diesem das sokratische „Daimonion". Teils lachte man darüber und ärgerte sich wohl auch, teils graute man sich davor. Aber Tatsache war, daß So- krates an das Daimonion in seinem Innern glaubte. Wie nun? Wer an dämonische Dinge glaubt, muß doch auch an Dämonen glauben? Dämonen aber sind entweder Götter oder Göttersöhne. Wer also an Dämonen glaubt, der glaubt auch an Götter. Auch dann, wenn die Dämonen Göttersöhne sind. Denn an Göttersöhne glauben, an Götter aber nicht, das hieße: an Pferde- oder Esel- H. M a i e r , Sokrates. 8 114 Die Quellen. füllen glauben, an Pferde und Esel aber nicht. Wie also kann man Sokrates zugleich vorwerfen, daß er an ein Daimonion glaube, an Götter aber nicht glaube? So übermütig und boshaft diese Abfertigung der offe- nen und heimlichen Sokratesfeinde ist: aus dem Spiel der Ironie und des Witzes hört man doch auch den ernsten Unterton heraus. Im Hintergrund steht die felsenfeste Überzeugung Piatos von der höheren Mission und dem tief innerlichen Gottesglauben des toten Meisters. Und plötzlich nun schlägt er einen ganz anderen Ton an. Er führt seinen Lesern den Sokrates vor, den sie hätten kennen müssen, wenn sie ihm einen unbefangenen Sinn und ein empfängliches Herz entgegengebracht hätten. Er charakterisiert seine Tätigkeit. Und er schildert den Mann, wie er ohne Menschen- furcht und ohne Rücksicht auf das eigene Wohl und Wehe den Weg der Pflicht ging und auch in Todesnot auf dem Posten aus- harrte, auf den ihn eine höhere Fügung gestellt hatte, wie er, selbst in Armut und Dürftigkeit lebend, in lauterer Liebe den Menschen das Glück bringen und sie zu einem menschenwürdigen Dasein erheben wollte, bereit, für dieses Liebeswerk den Märtyrer- tod zu sterben. Plato legt Zeugnis ab von dem überwältigenden Eindruck, den das Wesen dieses Mannes auf seine Jünger gemacht hatte: wie ein Prophet erschien er ihnen, von der Gottheit den Athenern gesandt zu ihrem Heile. Und er kann darauf hinweisen, daß auch in der schweren Zeit der Verfolgung kein Glied der Sokratesgemeinde den Meister im Stiche ließ. Viel beredet wurde in Athen Sokrates' Verhalten vor Gericht. Und die Apologie muß auch hiezu Stellung nehmen. In pein- lichen Prozessen pflegten sonst die Angeklagten Rührszenen zu veranstalten, ihre Kinder, Verwandten und Freunde vor die Richter zu führen und an deren Mitleid zu appellieren. Sokrates hatte auf dieses Verteidigungsmittel verzichtet. War das nicht offene Mißachtung des Gerichtshofs? Aber — konnte denn ein Mann von der Art und der Vergangenheit des Sokrates sich vor Ge- richt so aufführen? Gab es einen schlimmeren Skandal vor aller Welt und eine ärgere Blamage für Athen, als wenn ange- sehene Männer, die das Unglück hatten, in einen Kriminalprozeß verwickelt zu werden, in dieser Weise die Milde der Richter an- flehten? Und war eine solche Verteidigungsart nicht ein Versuch, Die frühplatonischen Schriften. 115 die Richter, die geschworen hatten, nach den Gesetzen, nicht nach Gunst und subjektiven Gefühlsregungen ihr Urteil zu fällen, zur Rechtsbeugung zu verführen? Mehr Mühe machte dem Apologeten ein anderer Punkt. Als die Schuldigsprechung erfolgt war, war noch die Strafe festzu- setzen. Der Ankläger hatte den Tod beantragt. Der Schuldig- gesprochene aber hatte das Recht, einen Gegenvorschlag zu machen. In dieser Situation scheint Sokrates, unter Hinweis auf seine Schuldlosigkeit, es zuerst und grundsätzlich abgelehnt zu haben, einen Antrag zu stellen. Dann aber schlug er, um der Rechtsform zu genügen, eine Geldbuße von einer Mine vor: so viel sei er im stände zu bezahlen. Und schließlich scheint er, als seine Freunde ihm durch Zuruf ihre Bürgschaft angeboten hatten, sich zu dreißig Minen verstanden zu haben. Beides, den anfäng- lichen Verzicht auf den Antrag wie den schließlichen Vorschlag einer Geldbuße, scheint man in Athen angesichts der Schwere des Deliktes, dessen Sokrates schuldig erkannt war, als eine Verhöhnung des Gerichts empfunden zu haben. Da regt sich in Plato wieder die Ironie und der Übermut. Er ruft den hoch- mögenden Herren, die von ihrer Wichtigkeit eine so hohe Mei- nung hatten, zu: die höchste Ehre, die ihr für einen verdienten Bürger bereit habt, hättet ihr ihm zuerkennen, im Prytaneion hättet ihr ihn speisen müssen, den Mann, der sein ganzes Leben daran setzte, euch glücklich zu machen. Dann aber geht er doch auf die Sache ein, zumal auch wohlmeinende Leute dem Sokrates sein Vorgehen verübelt hatten. Konnte ein Mann wie Sokrates im Ernst gegen sich eine Strafe beantragen? Hätte das nicht ge- heißen: mit dem Gegner paktieren? In Frage kam außer dem Tod nur die Verbannung. Aber hätte er nicht auch im letzteren Fall die schwerste Konzession machen müssen, die es für ihn gab? Auf seine Lebensarbeit, zu der er höheren Beruf in sich fühlte, hätte er verzichten müssen. Und das wäre für ihn die Selbstaufgabe gewesen! Die Apologie ist die Ouvertüre zu der folgenden literarischen Tätigkeit Piatos und seiner Freunde. Ursprünglich hatten diese wohl in erster Linie ein persönliches Wirken in der Art des So- krates in Aussicht genommen. Nach] jener programmatischen 116 Die Quellen. Ankündigung ist hieran nicht zu zweifeln. Und wenn sich auch bald genug herausstellen mochte, daß sich die unmittelbare sitt- liche Protreptik des Meisters, die von seiner Persönlichkeit unab- trennlich war, nicht nachmachen ließ, so ist doch mehr als wahr- scheinlich, daß die Sokratiker schon in jener ersten Zeit begonnen haben, persönlich für ihre Sache zu werben. Das war es ja, was Antisthenes mit seiner Schulgründung bezweckte. Und wenn Plato auch dieses Vorgehen des Rivalen als unsokratisch verur- teilte, ist anzunehmen, daß er selbst in den langen Jahren, die der Gründung der Akademie vorausgingen, geschwiegen und sich auf gelegentliche schriftstellerische Kundgebungen beschränkt habe? Daß er diese Zeit ganz mit ausgedehnten Reisen ausgefüllt habe, ist eine Fabel, die heute kaum mehr der Widerlegung bedarf. Als die Situation in Athen sich geklärt hatte, ist er wohl dahin zu- rückgekehrt, um mit seinen Freunden die sokratische Propaganda zu betreiben, die er in der Apologie angekündigt hatte. 1 ) Und sie scheinen nicht untätig gewesen zu sein. Darauf läßt die Erregung in den athenischen Sophistenkreisen, aus der das Pamphlet des Polykrates hervorgegangen ist, schließen. Richtete sich der Arg- wohn der sophistischen Schulen auch zuvörderst gegen die fest organisierte antisthenische Schulgemeinschaft, in der sie ein er- folgreiches Konkurrenzunternehmen sahen, 2 ) so war ihnen doch ohne Zweifel auch die Wirksamkeit der übrigen Sokratiker un- bequem genug. Den Sokratesjüngern selbst indessen erschien dieses persönliche Wirken offenbar nicht als eine vollwichtige Fortsetzung der Arbeit des Meisters. 3 ) Sie suchten noch einen *) Außer Zweifel ist nur die Reise nach Italien und Sizilien, die Plato nach dem 7. Brief 324 A, 326 B, „ungefähr 40 Jahre alt", also etwa im Jahr 388 oder 387, ausführte. Im übrigen ist es ja nicht unmöglich, daß Plato in der Zeit von 399—388 auch sonstige Reisen machte, vgl. hiezu C. Ritter, Piaton I S. 86 ff. Dagegen ist durch die Darstellung des 7. Briefes — hierin stimme ich C. Ritter durchaus zu — „eine zusammenhängende, durch lange Jahre sich hinziehende Reihe von Reisen" in dieser Zeit ausgeschlossen. 2 ) Die Erzählung, daß Antisthenes nur wenige Schüler gehabt habe, Diog. L. VI 4, ist augenscheinlich nur eine zu den beiden dort angeführten Apophtheg- men erfundene Fabel, die keinen Glauben verdient. 3 ) Hiegegen spricht die Tatsache nicht, daß Plato später selbst eine Schule gegründet und den Schwerpunkt seiner Wirksamkeit in diese verlegte. Das ge- schah unter völlig veränderten Voraussetzungen. — Wann die übrigen somati- schen Schulen, speziell die megarische und die kyrenaische, gegründet worden Die frühplatonischen Schriften. 117 anderen Weg, um in dessen Sinne tätig zu sein. Es galt eine Form zu finden, in der man Sokrates unmittelbar zum Publikum sprechen lassen konnte. Und sie fand sich in der literarischen Nachbildung der sokratischen Unterredungen, im „sokratischen Gespräch". So entstand die neue Literaturgattung des Logos Sokratikos, in dereine Reihe von Sokratikern sich betätigten. Vor- angegangen aber ist, wie es scheint, Plato. 1 ) Und eben Plato hat sich über die Tendenz der loyoi ^w- y.Qcmzoi mit voller Deutlichkeit ausgesprochen. In der Alkibiades- rede des Symposions, wo der Autor noch einmal auf den ge- sind, wissen wir nicht. Daß dies indessen schon in jener ersten Zeit geschehen sei, ist nicht wahrscheinlich. Von Euklid wenigstens ist schwerlich anzunehmen, daß er dem Plato mit der Gründung einer festorganisierten Schulgemeinschaft vorangegangen sei. Was aber über Aristipps Lehrtätigkeit überliefert ist — dieser soll als Sokratiker bereits zu Sokrates' Lebzeiten um Geld Unterricht gegeben haben (vgl. Zeller II l 4 S. 338) — , gehört sicher in der Hauptsache in das Kapitel des späteren Schulklatsches, der den vielangefeindeten Begründer der „Hedonik" mit besonderer Bosheit verfolgte. Als feststehend kann nicht einmal das gelten, daß Aristipp überhaupt eine eigentliche Schulgenossenschaft begründet hat. Für die älteste Zeit werden wir jedenfalls annehmen dürfen, daß die Sokratiker alle, mit Ausnahme des Antisthenes, nur in freier Arbeit für die sokratische Sache ge- worben haben. l ) Zum löyoq Z. vgl. oben S. 27, 1. Daß Plato zuerst iv eQwxi'ioei Xöyov (d. h. den Dialog) uagrjveyxev, sagt Diog. L. III 24 unter Berufung auf Favori- nus. Diogenes selbst macht indessen noch andere Angaben, die hiezu nicht stimmen. II 122 sagt er von dem fabelhaften Schuster Simon, daß er ngcötog 6t£lE%Qrj jovq Xöyovq zovq Zwxqcctixovc. Doch ist hierauf so wenig Gewicht zu legen, wie auf die Notiz III 47, daß nach einigen zuerst Zeno der Eleate Dialoge geschrieben habe (hiezu vgl. Olymp. Prol. in Plat. 5 Schi.). Die letztere erklärt sich leicht: Zeno galt als Begründer der „Dialektik"; also mußte er auch Dialoge verfaßt haben. Beachtenswerter ist die Bemerkung Diog. L. III 48, die unter Berufung auf denselben Favorinus und außerdem auf Aristoteles tisqi noirptüv den Alexamenos als den ersten Verfasser von Dialogen bezeichnet. Wie die beiden Notizen des Favorinus zu vereinigen sind, ist schwer zu sagen. Die Lösung des Diogenes, Plato scheine ihm, sofern er dieses literarische ilöoq ver- vollkommnet habe, t« ngcozeia dnoiptQeo&cu, umgeht die Schwierigkeit. Von dem aristotelischen Zeugnis aus (vgl. S. 27, 1) liegt die Vermutung nahe, Favorinus habe den Alexamenos als den ersten Verfasser von Dialogen, den Plato als den ersten Verfasser von sokratischen Dialogen bezeichnet. — Ob Plato den Alexamenos gekannt hat, läßt sich nicht entscheiden. Wenn die Überlieferung richtig ist, daß Plato für die Mimen Sophrons eine besondere Vorliebe gehabt habe, so ist es nicht unwahrscheinlich, daß diese ihm die Anregung zu dem Ge- danken gegeben haben, die Gespräche des Sokrates nachzubilden. 118 Die Quellen. schichtlichen Sokrates zurückblickt (vgl. unten S. 140), schildert der Redende die Wirkung, die die sokratischen loyoi auf ihn und seinesgleichen ausgeübt haben, und da sagt er zu Sokrates (215 CD): „wenn wir irgend einen anderen Mann sprechen hören, mag er auch ein noch so guter Redner sein, so macht uns dies so gut wie keinen Eindruck. Hören wir aber dich oder deine von einem anderen (verfaßten und) vorgetragenen Xoyot, mag der Vortragende auch noch so ungeschickt sein (eneidav dt oov rig azovrj jj tüSv oujv loyiov ällov ItyovTog, xär tlü.vv cpav- log Jj 6 Ityiov), so ist alles, Mann und Weib, Jung und Alt, er- schüttert und gefesselt." Daß hier mit den sokratischen loyoi, die ein anderer "k&yu, die Xöyoi ^Ew/.Qariy.oi gemeint sind, die von den Sokratesjüngern verfaßt und vorgetragen (d. i. nachge- bildet) worden waren, ist klar. Und natürlich denkt der Autor vor allem an seine eigenen „sokratischen Gespräche", und zwar wohl in erster Linie an diejenigen, die auch im besonderen Sinne „sokratische" genannt werden können. 1 ) Die Wirkung aber, die *) Zu diesen vgl. auch 2. T. 4. Kap. — Daß Plato bei den Worten rwv owv Xöywv — 6 Xeywv lediglich an die im Symposion gewählte literarische Form der Nacherzählung eines Sokratesgesprächs durch einen anderen gedacht habe, wie Hug, Piatons Symposion S. 172, anzunehmen scheint, ist schon darum un- wahrscheinlich, weil diese Form in den bisherigen Dialogen überhaupt noch nicht verwendet ist; diese Deutung wird aber auch dem Gewicht der Stelle und ihrem Zusammenhang nicht gerecht. Der vorliegende Parallelismus muß beachtet werden. Sokrates wird mit Marsyas verglichen. Wie die Flötenweisen die Hörer begeistern und hinreißen, so die Xöyoi ^wxQazixoi Die Flötenweisen des Olympos näm- lich, die von den Flötenspielern gespielt werden und diese Wirkung tun, nennt der Autor Weisen des Marsyas, da letzterer der Lehrer des Olympos war (« yao "0?.vßnoq tjvXsi, Maoovov Xeyw, zovzov öiöd^avxoq). Diese Weisen bezaubern aber die Menschen, gleichviel ob ein guter Flötenspieler sie vorträgt oder eine schlechte Flötenspielerin (iäv ze üya&ög avXrjirjq avXy iäv zs (pavXrj avXrjTQiq). Den Flötenweisen des Marsyas entsprechen nun die Xöyoi SwxqcczixoI (215 D: zcöv o(öv Xöymv). Als solche dürfen die von den Sokratikern verfaßten Xöyoi an- erkannt werden, weil Sokrates der Lehrer der Verfasser war (vgl. die Weisen des Olympos = Weisen des Marsyas). Diese Xöyoi aber tun ihre Wirkung, auch wenn der Uywv ganz ungeschickt ist (ähnlich wie die Marsyasweisen wirken, auch wenn sie von einem schlechten Spieler gespielt werden). Selbstverständlich aber darf der Parallelismus nun hier nicht pedantisch gepreßt werden. Auf seiten der Xöyoi 2.wxq. sind die Verfasser (die dem Olympos entsprechen) und die Vor- tragenden (die den Flötenspielern parallel liegen) dieselben Personen. In dem Xeystv Xöyovq Swxoazixovq liegt sowohl das Komponieren wie das Vortragen der Die frühplatonischen Schriften. 119 Alkibiades denselben zuschreibt, läßt die Absicht erkennen, die Plato mit ihnen verfolgt hat. Diese Dialoge sind also zu be- trachten als sokratische löyoi, von Plato in Nachahmung des So- krates produziert und dazu bestimmt, die Hörer (oder Leser) in der sokratischen Art sittlich zu erschüttern und zu packen. Eine Sonderstellung nimmt unter den frühesten platonischen Dialogen nun freilich der Kr i ton ein. Nach Stimmung und Tendenz gehört er ganz in die Nähe der Apologie. Oder viel- mehr: er ist ein Nachtrag zu dieser. 1 ) Plato spricht hier gewisser- L 2.; dieses „Vortragen" selbst ist natürlich das literarische; möglich bleibt hie- bei immerhin, daß die Publikation dieser Xöyot mit einer öffentlichen Vorlesung durch den Autor eingeleitet zu werden pflegte und eine Vorstellung hievon an unserer Stelle hereinspielt. — Daß Plato von seinen eigenen Dialogen vorwiegend die im besonderen Sinn „sokratischen" im Auge hat, kann nicht zweifelhaft sein, wenn die Alkibiadesrede, in der sich unsere Stelle findet, wirklich, wie unten gezeigt werden wird, die Bestimmung hat, noch einmal den historischen Sokrates und sein Wirken, von dem Plato im Symposion sein eigenes Philosophieren aufs bestimmteste scheidet, zu schildern: das Symposion selbst zählt der Autor wohl nicht unter die Xöyoi, von denen er den Alkibiades reden läßt, und darum ver- mutlich auch die Dialoge nicht, die bereits über die sokratische Sphäre hinaus- liegen und zum Symposion überleiten. ') Einige neuere Gelehrte, wie M. Schanz (Sammlung ausgew. Dialoge Piatos, 2. B. Kriton, S. 14 f.), Th. Gomperz (Griech. Denker, II S. 358) u. a., wollen den Kriton zeitlich, z. T. beträchtlich, herabrücken. Indessen, wie mir scheint, ohne stichhaltige Gründe. Vgl. die besonnene Erörterung von H. Räder, Piatons philosophische Entwicklung S. 99 ff. Daß der Kriton, wie Christ-Schmid S. 676 vermutet, die Antwort auf die politische Verdächtigung des Sokrates in der xaxrj-yoQia des Polykrates sei, halte ich für ausgeschlossen: dazu ist der Kriton viel zu zahm; dem obskuren Sophisten gegenüber hätte Plato anders ge- sprochen. Auch ich übrigens möchte keineswegs bestimmt behaupten, daß der Kriton auch zeitlich der Apologie am nächsten stehe; der eine oder andere Dialog, wie z. B. der Ion oder der kl. Hippias, könnte immerhin früher verfaßt sein. Was ich meine, ist nur, daß der Kriton sachlich mit der Apologie zusammengehöre, daß er von Plato als eine Art Nachtrag zu dieser gedacht sei (vgl. auch die Bezugnahme von Kriton 45 B auf Apol. 37 D und von Kr. 52 C auf Ap. 37 CD) und darum auch zeitlich der Apologie nicht allzu ferne stehen könne : der Kriton unterscheidet sich in seiner ganzen Art so charakteristisch* von den übrigen frühplatonischen Dialogen (vgl. z. B. nur den Abschluß mit positivem Ergebnis, der bei allen übrigen fehlt), daß er nicht mit diesen zusammengenommen werden kann; er erweist sich als ein so spezifisch persönliches Sokratikum, daß er seine sachliche Stelle jedenfalls in der Nähe der Apologie haben muß. Von hier aus erscheint mir allerdings die tra- ditionelle — auch von C. Ritter, Piaton S. 254 festgehaltene — Annahme, daß Kriton auch zeitlich mit der Apologie zusammengehöre, als die wahrscheinlichste. 120 Die Quellen. maßen pro domo. Daß es tatsächlich zur Hinrichtung des So- krates gekommen war, scheint nicht weniger Aufsehen erregt zu haben als der Prozeß selbst und das Urteil. Und man machte hiefür nicht allein das Richterkollegium, das die Verurteilung vollzogen hatte, und das hinter diesem stehende Volk verantwort- lich. Warum hatte sich Sokrates der Vollstreckung des Todes- urteils nicht durch die Flucht entzogen? Den athenischen Macht- habern wäre diese Lösung der Frage schwerlich unwillkommen gewesen. Auch so hätte ja der unruhige Geist ihre Kreise nicht mehr stören können. Und die große Mehrzahl der Athener hatte wohl nichts anderes erwartet. Am wenigsten vermochte sich vermutlich die Gemeinde der Aufgeklärten, der Modernen in den schließlichen Ausgang der Tragödie zu finden. In ihren Augen hatte Sokrates auch das gute Recht, sich durch Entweichung aus dem Kerker zu retten. Denn höher als das positive Recht, dem in diesem Fall ein Unschuldiger zum Opfer fiel, stand das Naturrecht, das verbot, den Unschuldigen zu strafen. War es also nicht Torheit, sich von den bornierten Fanatikern zu Athen hin- morden zu lassen? War es nicht vielmehr für Sokrates Pflicht, sich seinen Anhängern und namentlich auch seiner Familie zu erhalten? Ihm selbst war offenbar seine Unentschlossenheit zum Verhängnis geworden, seine tatlose Passivität, die es zuerst zur Einleitung des Prozesses, dann zur Verurteilung und schließlich zur Hinrichtung hatte kommen lassen. Die Hauptschuld aber traf, wie es schien, doch seine Jünger. Ihrer Feigheit zumeist und ihrem Mangel an Opferwilligkeit war es zuzuschreiben, daß die Katastrophe wirklich eintrat. In diesen Vorwürfen liegt der nächste Anlaß zu unserem Dialog. Der „Kriton" führt uns zu Sokrates ins Gefängnis. Ein Jünger macht den Versuch, den Meister zur Flucht aus dem Ge- fängnis zu bewegen. Sokrates lehnt ab und entwickelt die Gründe, die ihn zum Bleiben veranlassen. Ich persönlich habe den Eindruck, daß der Dialog mit seiner Breite und seinen Wiederholungen auch nach der Seite der Form am ehesten als ein erster Versuch mit dem neuen literarischen Genus anzusehen sei, möchte hierauf aber kein Gewicht legen, da erfahrungsgemäß Andere solchen Eindrücken andere entgegenzustellen pflegen. Jedenfalls aber könnte ich mich nur, wenn zwingende Gründe aufgezeigt werden könnten, entschließen, den Kriton zeitlich von der Apologie abzurücken. Die frühplatonischen Schriften. 121 Die ganze Szene ist frei erfunden. Und offenbar kann Plato damit rechnen, daß sie von den Lesern so aufgefaßt werden würde. Denn es ist nicht anzunehmen, daß er einen seiner Freunde öffentlich einer strafbaren Handlung zieh, mochte diese in seinen Augen auch noch so rühmlich sein. Auch die Vermutung, daß dieser Freund inzwischen gestorben sei, also Nachteile von einer solchen Erwähnung nicht mehr zu fürchten gehabt habe, würde hieran nicht viel ändern. 1 ) Einen historischen Kern hat die Erzählung gleichwohl. 2 ) Die Anhänger des Sokrates hatten zweifellos den Plan gehabt, den Meister zu befreien. Aber Sokrates hatte allen Zumutungen dieser Art entschlossenen Widerstand entgegengesetzt und auch wohl in den langen Wochen zwischen der Verurteilung und der Hinrichtung Zeit gehabt, sein Verhalten vor den Freunden zu rechtfertigen und zu begründen. Aber Plato greift wiederum weit über die nächste Situation hinaus. Er will das Verhalten des Sokrates aus dessen ganzer Persönlichkeit und Lebensanschauung, so wie er sie verstand, begreifen und seinen Gang in den Tod als das letzte Glied, als den naturgemäßen Abschluß seiner sittlichen Lebensarbeit darstellen. Immer hatte Sokrates Achtung für die „Gesetze" gefordert. Das positive Recht und die historisch ge- wordenen Ordnungen des Staats sind ihm eminente sittliche Werte. Unterordnung unter das positive Recht des Staates war also sittliche Pflicht. Das war seine Überzeugung. Jetzt war für ihn die letzte Probe gekommen. Und auch jetzt blieb er sich selbst treu: er starb als Märtyrer für das Ideal, dem er sein Leben gewidmet hatte. So weiß der Autor das müßige Gerede zum Schweigen zu bringen, nicht ohne noch einmal der urteilslosen Menge seine ') Diogenes L. berichtet (II 60, II 35, III 36), unter Berufung auf den Epi- kurer Idomeneus, nicht Kriton, sondern Äschines sei es gewesen, der dem So- krates zur Flucht aus dem Gefängnis verhelfen wollte; Plato habe aus Mißgunst gegen Äschines (II 60) oder gegen Aristipp (III 36) — der Widerspruch ist nicht ausgeglichen — einem anderen diese Ehre zuerkannt. Die in sich widerspruchs- volle Nachricht ist auch wegen des Zeugen, auf den sie sich stützt, verdächtig, und ich glaube nicht, daß sie Beachtung verdient. 2 ) Das wird bestätigt durch die Notiz der xenophontischen Apologie 23, die, wie die Einzelheiten zeigen, nicht auf den platonischen Kriton zurückgeht. Auch im Phädo 98E übrigens scheint das Faktum vorausgesetzt zu sein. 122 Die Quellen. grenzenlose Geringschätzung kundzugeben. Zugleich hat er seinen Hauptzweck erreicht: er hat Sokrates' Tod in das Licht seines Lebens und seines Ideals gerückt. Die Apologie und mit ihr der Kriton haben uns auf sicheren Boden geführt. Mit greifbarer Deutlichkeit tritt Sokrates hier vor unser Auge. Und können wir nun zweifeln, daß das der wirk- liche Sokrates ist? Nur eine Tendenz in der Tat ist in den beiden Schriften wahrnehmbar: die nämlich, das Bild des Meisters mit pietätvoller Treue festzuhalten und den Zeitgenossen vor die Seele zu führen. Der ungeheure Abstand, der den späteren Sokrates Piatos von diesem frühesten trennt 1 ), kann uns am besten zeigen, wie ganz und selbstlos damals die Hingabe des Jüngers an das Wesen und Wirken des Meisters war. Daß er also den wirklichen Sokrates zeichnen wollte, ist gewiß. Aber entsprach dem Wollen auch das Können? Ein Vergleich des Sokrates der xenophon- tischen Schutzschrift mit dem der platonischen Apologie gibt uns die Antwort. Dort ein ängstliches, kümmerliches Verteidigen ohne die feste Grundlage eines intimen Verständnisses der sokratischen Tendenzen, ein immerwährendes unsicheres Retouchieren, ein mühseliges Herumbessern, das dem Original Züge der eigenen Korrektheit leiht und schließlich zur völligen Entstellung des Bildes führt. Hier dagegen der volle Mut der Überzeugung, die sieghafte Begeisterung des Sokratesjüngers, das zuversichtliche Bewußtsein, daß an dem Manne, wie er wirklich war, nichts zu bessern und nichts zu beschönigen sei, und dazu die unvergleich- liche Kunst der Zeichnung, die die markanten Züge der Persön- lichkeit in eine wundersame Beleuchtung zu rücken weiß. Kurz: das Sokratesbild der Apologie und des Kriton ist das Werk eines gottbegnadeten Künstlers, aber eines Künstlers, der bis zur Selbst- entäußerung wirklichkeitstreu ist. An der Hand dieses Sokratesbildes sind wir nun auch im- stande, die Dialoge zu bestimmen, die wir als sokratisch in unserem Sinne bezeichnen können. Mit Sicherheit lassen sich in diese Kategorie zunächst einreihen: der Lach es, der kleine Hippias, der Charmides und etwa noch der Ion. Ton und Stimmung dieser Dialoge sind in einer Hinsicht ! ) Vgl. Grote, Piaton and the other companions of Sokrates III 21 ff. Die frühplatonischen Schriften. 123 nicht mehr dieselben wie in der Apologie. Von dem scharfen Anfassen der Athener, das in dieser angekündigt ist, ist nichts mehr zu merken 1 )- Allein die nächste Abrechnung ist ja schon in der Apologie selbst vollzogen. Seitdem waren wohl einige Jahre verflossen, und in dieser Zeit scheint sich Piatos tiefe Erregung etwas beruhigt zu haben. Er hatte zweifellos auch Gelegenheit gehabt, mündlich seinen Empfindungen weiteren Aus- druck zu geben. Jedenfalls wendet er sich jetzt dem friedlicheren Teil seiner Aufgabe zu. Er beginnt für seinen Teil die sittliche Dialektik des Sokrates auf jenem literarischen Weg weiterzuführen: der Ladies, der kleine Hippias, der Charmides und der Ion sind bereits Imitationen sokratischer Gespräche, die der Absicht dienen, den Meister über seinen Tod hinaus persönlich wirken zu lassen. Historische Berichte also wollen auch diese Dialoge nicht sein. Die Szenen, die sie uns vorführen, sind frei fingiert. Dadurch wird aber ihr historischer Wert nicht im mindesten beeinträchtigt. Von diesen Gesprächen scheint ganz besonders zu gelten, daß „die Masse des mimischen Beiwerks mit der Magerkeit des philosophischen Inhalts in keinem Verhältnis steht" (Zeller II l 4 S. 526). Allein philosophischen Lehrgehalt wollen sie so wenig geben, als der Sokrates der Apologie ein Lehrer und Mann der Wissenschaft sein will. Ja, ihr Sokrates geht überhaupt nicht auf die Gewinnung ethischer Begriffe aus. Sie wollen nicht wissen- schaftliches Interesse, sondern, wie der Sokrates der Apologie, sittliches Leben wecken. Oder vielmehr: sie wollen den toten Meister selbst sittliches Leben wecken lassen. Und hiefür ist die breite Szenerie ganz unumgänglich notwendig. Die Dialoge müssen ihre Leser in die konkreten Situationen hineinführen, in denen Sokrates seine praktische Wirksamkeit entfalten kann. Und die Person des Sokrates ist nicht bloß eine szenische Figur, nicht bloß der Führer des Dialogs, in dem sokratische oder platonische •) Erst im Gorgias wird mit den Athenern scharfe Abrechnung gehalten. Es liegt darum nahe, mit Schanz (Kriton S. 15) den Gorgias bald nach Sokrates' Tod geschrieben sein zu lassen. Schanz nimmt allerdings an (Apologie S. 112), der Gorgias sei noch vor der Apologie geschrieben; er betrachtet die Ankündigung der Apologie als eine Prophezeiung aus der Vergangenheit. Es wird sich in- dessen unten zeigen, daß eine Ansetzung des Gorgias, die ihn in die zeitliche Nähe der Apologie bringt, undurchführbar ist. 124 Die Quellen. Gedanken entwickelt würden. Seine Persönlichkeit selbst vielmehr und seine Dialektik sollen unmittelbar wirken, sollen in den Lesern das sittliche Nachdenken ebenso an- und aufregen, wie der Lebende dies getan hatte l ). Als die frühesten, der Apologie zeitlich nächststehenden Schriften Piatos können unsere Dialoge also darum betrachtet werden, weil sie den Sokrates der Apologie reden und im Sinne der Apologie wirken lassen. Wie aber, wenn sie, wie moderne Hyperkritik will, bereits antikynische Tendenzschriften wären? Daß sie dann nicht in jene erste Zeit fallen und überhaupt nicht so, wie dies geschehen, aufgefaßt werden könnten, ist klar 2 ). Nun ist ja richtig: so harmlos und bieder sind sie gewiß nicht, wie man früher wohl annahm. Schon damals besaß Plato jenen sprühend geistreichen Übermut, der sich, auch ohne eigentlich polemische Tendenz, in Anspielungen auf fremde Anschauungen gefiel und selbst gegen Personen der nächsten Umgebung, wenn sie weniger genehm waren, Spitzen anzubringen liebte; und er hat seiner Laune sicher keinen Zügel angelegt. Er brauchte ja nicht zu fürchten, damit aus der Rolle seines Sokrates zu fallen. Denn das war nach allem, was wir von ihr wissen, ganz die Manier der sokratischen Dialektik selbst. Auch daß Antisthenes schon damals gelegentlich das Ziel platonischer Anzüglichkeiten war, ist keineswegs unglaublich. So ist es nicht unmöglich, daß speziell im Charmides eine der redenden Personen, Kritias, anti- sthenische Anschauungen vorträgt 3 ). Aber daß Sokrates - Plato hiegegen tendenziös polemisiere, und daß in dieser Polemik ein Hauptzweck des Dialogs liege, kann man wahrlich nicht sagen. Die Auseinandersetzung hält sich auch hier, wie übrigens im Dialog selbst bestimmt genug angedeutet ist (166 CD), durchaus im Rahmen der dialektischen Erörterung, welche die Schwächen vorgefundener Meinungen aufdeckt, um das sittliche Nachdenken ! ) Vgl. vorerst den Schluß des Charmides, 176A ff. 2 ) Vgl. Joe], Der Xöyoq Scox^azixög, Archiv für Gesch. der Philos. IX S. 57 ff. 3 ) Hierin stimmt H. Gomperz (Archiv f. Gesch. d. Phil. XIX S. 525) mit Joel (Der echte und der xenophontische Sokrates I S. 490 f. II S. 1097) überein. Wie es sich hiemit — in Frage kommt die Erörterung Charm. 161 B ff. — verhält, wird sich später zeigen. Die frühplatonischen Schriften. 125 anzufachen und nach einer bestimmten Richtung zu lenken. Jeden- falls ist von kritischen Seitensprüngen dieser Art zu prinzipieller Opposition noch ein weiter Weg. Und vor allem : noch ist das Sokratesbild Piatos selbst von solcher Polemik unbeeinflußt ge- blieben. An bestimmt hervortretenden zeitgenössischen Beziehungen fehlt es übrigens in diesen Dialogen keineswegs. Im kleinen Hippias wird der damals wohl noch lebende Sophist Hippias vor- genommen. Mit der sachlichen Diskussion eines tiefgreifenden sittlichen Problems nämlich ist hier wie öfters eine persönliche Neckerei verflochten. Der Autor gießt, augenscheinlich ganz im Sinn des geschichtlichen Sokrates, eine volle Schale scherzhaft überlegener Ironie über den verwöhnten, eiteln Sophisten aus. Daneben aber hat er noch eine andere Absicht. Indem er dem allbewunderten Hippias einen Hieb versetzt, will er offenbar, halb spielend, mit der ganzen Zunft anbinden, und es macht ihm sichtbaren Spaß, die athenischen Sophistenschulen, die wohl be- reits begonnen hatten, den Bestrebungen der Sokratiker hemmend in den Weg zu treten, zu reizen. 1 ) Der Ion ferner ist geradezu ein Angriff gegen den Stand der Rhapsoden. Diese scheinen da- mals hohes Ansehen genossen und besonders in der musischen Ausbildung der Jugend, die ja der wesentlichste Bestandteil der athenischen Erziehung war, eine bedeutsame Rolle gespielt zu haben. Dagegen wendet sich der Autor. Aber er will zugleich die hinter den Rhapsoden stehenden Dichter selbst treffen. Und er zeigt, daß bei Dichtern und Rhapsoden vernünftige Einsicht und vor allem die für die Erziehung besonders wichtige Sach- kenntnis nicht zu finden sei. Daß diese Plänkeleien mit ihrer ganzen Art in die neun- ziger Jahre weisen, ist nicht zu bezweifeln. Und wir werden unbe- denklich sagen können : inhaltliche Gesichtspunkte sprechen nicht gegen, sondern für die Verlegung der vier Dialoge in die erste Zeit von Piatos schriftstellerischer Tätigkeit. Äußere Bedenken stehen nicht entgegen. Und auch von Seiten der sprachstatisti- schen Untersuchung erhebt sich kein Widerspruch. 2 ) *) Vgl. besonders die hübsche Stelle Hipp. min. 372 B. 2 ) Vgl. die Zusammenstellung bei C. Ritter, Piaton S. 254, ferner Räder a. a. O. S. 92 ff. — Allzuviel ist meines Erachtens von den sprachstatistischen 126 Die Quellen. Von den übrigen Dialogen scheinen den vier am nächsten verwandt zu sein: der Lysis, der Euthyphron und der große Hippias. Vor allem im Lysis und im Euthyphron scheint die Dialektik, ja die ganze Manier dieselbe. Bei genauerem Zusehen läßt sich indessen nicht verkennen, daß der Lysis nach seinem Untersuchungsmethoden für die frühere Zeit der platonischen Schriftstellerei nicht zu erwarten, so wenig ich im übrigen den Wert derselben unterschätzen möchte. Die erste der drei von sprachstatistischen Gesichtspunkten aus unterschiedenen Perioden erstreckt sich nach C. Ritter bis hinab zum Phädon (S. 273), und Ritter bemerkt (S. 261) ausdrücklich: „Über die Gruppeneinteilung hinaus möchte ich selbst bis heute den Leitlinien der Sprachstatistik nicht trauen"; er bestimmt denn auch die Zeitfolge der in die erste Periode fallenden Dialoge nach Gesichts- punkten, die dem Inhalt entnommen sind (S. 269 ff.). Für unsere Untersuchung ist es eine immerhin nicht zu verachtende Bestätigung, wenn die Sprachstatistik von ihrem Standpunkt aus dazu kommt, die vier Dialoge und weiter den Prota- gons und auch den Euthyphron (s. u.) in ihre erste Periode einzubeziehen. Nun hat H. v. Arnim in seiner kürzlich erschienenen Abhandlung: Sprachliche For- schungen zur Chronologie der platonischen Dialoge, Sitzungsberichte der K. Ak. der W. in Wien phil.-hist. Kl. 169. Bd., 1912, mittels einer vervollkommneten sprachstatistischen Methode darüber hinaus den Versuch gemacht, auch innerhalb jener Gruppe noch eine zeitliche Folge der einzelnen Dialoge festzulegen, v. Arnim untersucht die Formeln für Bejahung und Zustimmung und will, indem er „bezüglich dieser . . Zustimmungsausdrücke jedes Buch Piatons, das in dia- logischer Form geschrieben ist und solche Ausdrücke in genügender Anzahl ent- hält, mit jedem anderen so beschaffenen Buche Piatons" vergleicht, „ganz vor- aussetzungslos festzustellen suchen, mit welchen Büchern jedes einzelne Buch bezüglich der Auswahl und Frequenz dieser Ausdrücke am genauesten überein- stimmt". Er will auf diese Weise „den Gesamttypus, welchen jeder einzelne Dialog bezüglich der Auswahl und Frequenz aller in ihm vorkommenden reinen Zustimmungsformeln aufweist", mit dem entsprechenden Gesamttypus jedes anderen Dialogs vergleichen, in der „Erwartung, daß Dialoge, die in unmittelbarer Folge geschrieben sind, einen ähnlichen Gesamttypus in diesem Sinn zeigen werden". Diese Erwartung aber stützt er auf die Voraussetzung, daß „die Umbildung der psychischen Disposition, durch welche die Ausdruckswahl geregelt wird, nur ganz allmählich, ohne Sprünge, in unmerklichen Übergängen erfolgen kann" (S. 12 f.). Der Autor warnt nun zwar selbst vor einer Überschätzung seiner Methode. Er weist die Erwartung ab, daß „die Vorwärtsbewegung des Sprachgebrauchs eine so gleichmäßige und stetige gewesen sei, daß jede Schrift mit der ihr unmittelbar vorausgegangenen und mit der ihr unmittelbar folgenden den besten Affinitätswert aufwiese", und hält die „Annahme einer ständigen, gleichmäßig und stetig fort- schreitenden Änderung des Sprachgebrauchs" für ausgeschlossen. Er läßt ins- besondere auch die Möglichkeit offen, daß während längerer Zeiträume eine wesentliche Weiterentwicklung des Sprachgebrauchs nicht stattgefunden habe. In solchen Fällen werde die neue Methode „nur feststellen können, daß die be- Die frühplatonischen Schriften. 127 Gedankengehalt in die unmittelbare Nähe des Symposions gehört; so wird er denn auch heute von den meisten Forschern ange- setzt. Der Euthyphron ferner kann schon nach den logischen Begriffen und Ausdrücken, die er enthält, der Zeit nicht allzu ferne stehen, in der die Ideenlehre entstanden ist. Das gilt in treffende Schrift in diese Periode und Schriftengruppe hineingehört; über ihren genauen Platz innerhalb der Gruppe wird sie nichts aussagen können" (S. 220 f.). Seine vorläufige chronologische Anordnung der untersuchten Dialoge (S. 234) sieht sich indessen zu einer solchen Einschränkung nicht genötigt. Insbesondere führt er die chronologische Festsetzung der Schriften der ersten Periode auch im ein- zelnen durch (vgl. S. 230 mit S. 234). Eben hiegegen aber habe ich grundsätz- liche Bedenken. Die Voraussetzung, daß die Umbildung der psychischen Dis- position, durch welche die Ausdruckswahl geregelt wird, nur ganz allmählich, ohne Sprünge, in unmerklichen Übergängen erfolgen könne, ist in dieser Allge- meinheit sehr anfechtbar, und auch durch den Hinweis auf die Sachlage bei den verschiedenen Büchern der Politeia (S. 221 tf.) ist der experimentelle Beweis für sie noch nicht erbracht; die Einwände, die sich gegen diesen Beweis richten lassen, liegen so nahe, daß ich darauf nicht einzugehen brauche; sie sind auch Arnim offenbar nicht entgangen. Für die spätere Zeit eines Schriftstellers, d. i. für die, in der seine sprachliche Entwicklung relativ stationär geworden und im formalen Apparat der Darstellung eine Neigung zu Stereotypie bemerkbar ist, mag jene Voraussetzung allenfalls gelten. Auch da freilich bedarf sie, speziell bei Plato, der Einschränkung: auch die Arnimsche Methode kann, glaube ich, nicht über die Feststellung hinausführen, daß gewisse Dialoge vermöge ihrer sprachlichen Affinität einander zeitlich nicht allzuferne stehen können. Die Mög- lichkeit muß auch da noch offen bleiben, daß zwischen Dialoge, die nach ihrem Affinitätswert unmittelbar zusammengehören, andere fallen, die mit früheren oder späteren nächstverwandt sind. Immerhin gestehe ich dem Arnimschen Verfahren für diese spätere Zeit, die ich bei Plato etwa vom Ende der 70 er Jahre ab rechne, eine erhebliche Beweiskraft zu. Wesentlich geringer schon ist sie für die Jahre, die dieser Zeit vorangingen. Und ganz anders steht es mit der früheren Epoche. Für Plato war das eine Zeit des philosophischen Werdens und zugleich der erregtesten Kämpfe, in der zudem, wie Immisch einst (N. Jahrb. f. d. klass. Altert. 1899 1. Abt. S. 450) richtig hervorgehoben hat, mehr und mehr der Anta- gonismus zwischen der somatischen Manier der Dialektik und der sich aus- bildenden eigenen sich geltend machte. Und man muß vor allem mit der un- geheuren Eindrucksfähigkeit des dichterischen Philosophen in dieser Zeit rechnen. Daß die jeweiligen — aufs mannigfaltigste wechselnden — Situationen und Stimmungen auch die sprachliche Form der platonischen Dialoge beträchtlich be- stimmt haben, ist selbstverständlich. Und ich glaube nicht, daß unter diesen Um- ständen die Arnimsche Voraussetzung einer Kontinuität in der Entwicklung der psychisch-sprachlichen Disposition Piatos für die frühere Zeit aufrecht zu erhalten ist. Man wird also wohl sagen dürfen, daß starke sprachliche Affinität zweier Dialoge — wobei ich übrigens nicht untersuchen will, ob die Arnimschen Merk- 128 Die Quellen. noch höherem Maß von dem großen Hippias — wenn dieser echt ist. Nun neigt die heutige Forschung überwiegend zur An- erkennung der Echtheit. Ich muß aber gestehen, daß mir die Zweifel an der platonischen Herkunft dieses derben, grob gear- beiteten und auch in seiner Anlage recht dürftigen Dialogs noch nicht ganz geschwunden sind. Es will mir auch immer noch nicht recht in den Sinn, daß Plato den eiteln Sophisten, dem er im „kleinen Hippias" übel genug mitgespielt hatte, noch einmal per- sönlich aufs Korn genommen und zum Helden eines zweiten Dialogs gemacht haben soll. Begreiflich wäre dies, wenn ein be- sonderer Anlaß hiezu vorhanden gewesen wäre. Ein solcher ist aber wenigstens aus dem Dialog selbst nicht zu erkennen. In- dessen, auch wenn der große Hippias wirklich von Plato stammt, ist er für uns so wenig unmittelbar verwendbar wie der Lysis. In Betracht kommen kann von den drei Dialogen nur der Euthy- phron. Aber auch ihm gegenüber ist zum mindesten kritische Vorsicht geboten. 1 ) male für die Feststellung einer solchen genügen — auf eine ähnliche momen- tane psychische Disposition zurückschließen lassen; aber eine zeitliche Nachbar- schaft läßt sich auf diesem Wege nicht mit Sicherheit erschließen. Ich meine also, es müsse für die frühere Zeit bei der vorsichtigen Zurückhaltung C. Ritters sein Bewenden haben. — Meine Stellung zur Sprachstatistik überhaupt ist die: nicht zweifelhaft ist mir, daß bei der chronologischen Ansetzung der platonischen Dialoge die Ergebnisse der sprachstatistischen Untersuchung, zumal wenn deren Methoden noch weiter vervollkommnet sein werden, ernstlich mit in Betracht ge- zogen werden müssen. Entscheidende Bedeutung gegenüber den Merk- zeichen, die dem Inhalt zu entnehmen sind, vermag ich ihnen allerdings nicht zuzuerkennen. *) Der Euthyphron wird von Th. Gomperz und Räder nach dem Gorgias angesetzt und mit dem Menon zusammengestellt, wohl mit Recht. S. Räder, a. a. O. S. 127 ff., Th. Gomperz, Griech. Denker II S. 289 ff. (vgl. auch Schanz, Euthyphron S. 14 f.). Wahrscheinlich ist mir jedenfalls, daß der Dialog zwischen Gorgias und Menon fällt. Und wenn die Vermutung, die ich unten (im 4. Teil) plausibel zu machen versuchen werde, daß der Menon kurz nach der ersten Reise Piatons nach Unteritalien und Sizilien geschrieben ist, richtig sein sollte, so wäre ich allerdings geneigt anzunehmen, daß der Euthyphron noch vor diese Reise fällt. Von der Umbildung der sokratischen Dialektik, die im Menon vollzogen wird, findet sich im Euthyphron noch keine Spur. Hier wird noch einmal, wohl mit Bewußtsein, auf die alte sokratische Dialektik zurückgegriffen. (Eben darum, glaube ich, kann der Euthyphron, wenn kritische Behutsamkeit geübt wird, für unsere Untersuchung in Betracht gezogen werden.) Was die logischen Begriffe und Die frühplatonischen Schriften. 129 Dagegen kann der „Protagoras" unbedenklich zu den „so- kratischen" Schriften gezählt werden. Ja, er erhält von hier aus erst seine richtige Beleuchtung. Wieder ist die Szenerie — und im Protagoras ist sie ja ganz wundervoll ausgestaltet — mehr als bloß äußerliche Umrahmung. Sie ist für die Absicht des Dialogs von wesentlicher Bedeutung. Im Mittelpunkt steht die Auseinander- Ausdrücke unseres Dialogs anlangt, die, wie im Text gesagt ist, auf die relative Nähe der Ideenlehre schließen lassen, so ist eine Vergleichung von Laches und Euthyphron lehrreich. Auch im Laches ist viel von Definieren, (Begriffs-)Ganzen und ihren Teilen u. s. f. die Rede (vgl. bgi&oüai xrjv äv6gtiav 194 C; tcStvat ö xi nox h'oxiv ägexr'j 190B und hiezu 190A, 194BC, 199E; bkrj ägexrj, ovp- naoa ägexrj — ßtgoq, (xbgiov, (xigrj ägexi/q 190C, 198A, 199C, 199E; netgal elnelv äv6gelav ngcüxov, xi ov iv näot xovxotq xavxbv ioxiv 191 E f. (das Wort eUoq ist nur in laxer Redeweise 191 D: iv ^ifxnavxt xw nokeitixw eiöei ge- braucht). Im Euthyphron nun finden wir nicht bloß solche Wendungen und Aus- drücke (vgl. wgioSai 9D, fxögiov, (xegoq 12DE, 11 E f.), sondern weit darüber hinausgehende: ixelvo avxb xb ei6oq, w nävxa xä ooia ooiä ioxiv — /uiä iötu xä xs ävboia ävboia eivai xal xa boia ooia 6D; xavxrjv . . /xe avxrjv öiöatov xtjv I6sav, xlq noxe ioxiv, "va eiq ixeivrjv änoßkinwv xal ygw/xevoq avxy naga- öeiyfxaxi o (/.ev av xoiovxov tq • • ■ <pw boiov elvai ... 6E; rj ov xavxbv ioxiv iv näorj ngägei xo boiov avxö avxw, xal xo ävboiov av xov (tev boiov navxbq ivavxiov, avxb 6h avxw o/xoiov xal iyov filav xivä iSeav xaxä xr)v avooibxrjxa Tiäv, oxineg av (xekkrj ävöoiov eivai; 5D; xiv6vveveiq . . . igwxw^xevoq xo boiov, bxi nox' eoxiv, i7/v fxhv ovoi'av /noi aixov ov ßoikeo&ai örjkwoai, nä&oq 6e xi nsgl avxov keyeiv, bxi ninov&e xovxo xo boiov . . IIA. Daß in diesen Aus- führungen die Ideenlehre schon vorliegt, kann man nicht sagen. Augenscheinlich ist es aber nicht mehr weit zu ihr. — Eine noch fortgeschrittenere Entwick- lungsphase setzt der große Hippias, wenn er echt ist, voraus. Hier ist wieder- holt von avxb xb xakbv die Rede (so 286 E, 289 D, 292 CD, vgl. avxb xb ngenov 293E), und ich kann nicht finden, daß der Ausdruck im gr. Hippias einen wesent- lich anderen Sinn hat als im Symposion oder Phädo, wo er das Schöne an sich = die Idee des Schönen bedeutet. Damit aber vergleiche man die Wendungen: avxb xb xakov, w xal xdkka nävxa xoofxeixat xal xakä <palvexai, inei6äv xw ngooyevrjxai ixelvo xb el6oq 289 D (vgl. dieselbe Wendung an der gleichen Stelle weiter unten und ferner 289 E); xb xakbv avxb qgwxwv, o navxl w av ngooye- vrjxai, inugyei ixeivw xakiö eivai, xal ?üd-w xal qvkw xxk. 292 CD; . . . xal xdkka Ttüvxa, oiq av xovxo ngooy' avxb 6rj xovxo xb nginov xal xrjv cpvoiv avzov xov ngenovtoq oxönei . . 293 E; xb ngenov aga xovxo keyo/uev, o nagayevbfxevov noiel i'xaoxa <palveo&ai xakä xovxwv oiq av nagq, rj b sivai noiel ?} ov6exega xovxwv; 293Ef. ; . . . ixelvo i^rjxoißev, w nävxa xä xakä ngäyfiaxa xakä ioxiv — woneg w nävxa xä fxeyäka ioxl (xeyäka, xw vnegeyovxi' xovxw yäg nävxa /xeyäka ioxl 294 B, xb 6b noiovv sivai xakä . . . xovxo . . i^xoif^sv, el'neg xb xakbv l,t]zov[X£v 294BC; h'yovoiv aga xi xb avxb, o noisl avxäq xakäq elvai, xo xotvbv xovxo, b xal ä/x<poxiguiq avxalq hntoxi xotv?"/ xal hxaxiga. I6ia 300A, H. Mai er, Sokrates. 9 130 Die Quellen. setzung zwischen Sokrates und Protagoras. Zweck derselben ist aber weder die Ausspielung sokratischer „Lehren" gegen sophi- stische, noch etwa der Nachweis der dialektischen Überlegenheit des Sokrates über seinen sophistischen Gegner. Die Intention des Autors ist vielmehr, die sittliche Dialektik des Sokrates dem so- phistischen Unterrichtsbetrieb und Interessenkreis gegenüberzu- stellen. Daß der Dialog ohne sicheren positiven Ertrag schließt, ist auch hier nicht Ungeschicklichkeit des Verfassers, sondern tiefe Absicht. Wieder soll die Eigenart der sokratischen Sittlich- keitsdialektik, die überall nicht auf Gewinnung ethischer Doktrinen, sondern auf Weckung des sittlichen Besinnens, der sittlichen Per- sönlichkeit ausgeht, nachgebildet werden. Darum dürfen auch ge- legentliche Thesen, die Sokrates im Verlauf des Gesprächs aufstellt — wie z. B. die Gleichsetzung der Lust mit dem Guten — , keineswegs als dogmatisch endgültige Überzeugungen gedeutet werden. Das aber will Plato zeigen: daß die sokratische Dialektik da einsetzt, wo die sophistische Weisheit am Ende ist, daß jene ihr Interesse ganz den sittlichen Lebensfragen zuwendet, denen gegenüber die sophistische Wissenschaft versagt. Und der Nachweis erfolgt in der Weise, daß Sokrates, in den Kreis der Sophisten eingeführt, mit Hippias, Prodikos und vor allem mit dem Führer der ganzen vgl. 302CD: . . xy oval« xq in dßtföxega hnof.dvy (o^irjv, eineg dßcpoxsgd iozi xu'/.d, xavi?;/ dsiv avxd xuXu eivai ..." uy b noiel avxdq xaldq ov'/l xal d(X(po- xeQaiq ys avxalq tnsxai xal exarsoa; Und nun die Vorstellungsweise der neuen Physik des Phädo, wie sie lOOBff. entwickelt ist: <palvsxai yÜQ poi, ei' xl iaxtv «ÄAo xaVov nh)v avxd xu xaköv, ovöh 61 sv dk).o xa?.öv sivai i'j öiöxt (Atxe/si ixelvov xov xa?.ov 100C; ovx d?.?.o xl noiel avxb xalov ?] 7) ixeivov xov xakov el'x£ nagovala ehe xoivcjvla hxe ony dl] xal oncoq ngoaytvofxkVT]' . . . zaJ xuXw nävxa xu xulu ylyvtxai xalu 100D; . . . fxsytßei dpa xu (xtydXa xal xd fJ.fi'Qu} ßsi^w, ojutxQÖxyxi xd i/.dxxv) ildxxu) 100E u. ö. Die Übereinstimmung springt in die Augen, und sie ist schwerlich zufällig. Ich habe den Eindruck, daß der gr. Hippias kurz vor oder nach dem Phädo geschrieben ist. Das zwar halte ich für ausgeschlossen, daß Plato selbst damals — kurz nach dem Symposion ! — einen solchen Dialog über das Schöne verfaßt hat. Aber in der Zwischenzeit zwischen Symposion und Phädo scheint die neue „Physik", die Plato dann im Phädo literarisch entwickelte, eifrig diskutiert worden zu sein (vgl. Phädo 100 B: ixslva xu no/.v&Qvlrjxa). Aus dieser Situation mag der „große Hippias" hervorgegangen sein. Vermutlich ist er ein specimen eruditionis eines strebsamen Platoschülers aus der Frühzeit der Akademie, der sich genau an die Manier Piatos hielt und dieselbe leidlich zu treffen wußte, wenn er auch den speku- lativen Tiefsinn seines Vorbilds nicht von ferne begriff. Die frühplatonischen Schriften. 131 Bewegung, Protagoras, konfrontiert und nun in die Lage versetzt wird, den letzteren, nachdem er den ganzen Glanz seines sophi- stischen Könnens und Wissens entfaltet hat, als Versuchsperson für sein eigenes sittlich-dialektisches Verfahren zu verwenden. Dabei ist die Grundstimmung gegen die im Dialog auftreten- den Sophisten keineswegs feindselig. Hippias und Prodikos spielen eine freundliche, vermittelnde, wenn auch unbedeutende und ironisch gezeichnete Rolle, und Protagoras selbst ist von So- krates-Plato durchaus nicht grundsätzlich polemisch behandelt. Aber allerdings: der Dialog hat eine aktuelle Tendenz, die sich in gewissem Sinn gegen die „Sophistik" richtet. An und für sich lag es für Plato nahe genug, in seinen „somatischen Ge- sprächen" dem Dialektiker Sokrates einen der gefeierten Weisheits- lehrer der Zeit, mit denen der wirkliche Sokrates gewiß oft genug diskutiert hatte, als Partner zu geben. Schon der kleine Hippias indessen ging über diesen Rahmen weit hinaus. Der „Protago- ras" nun ist ein zielbewußter Vorstoß, über dessen Absehen kein Zweifel sein kann. Er wendet sich an die junge Generation der neunziger Jahre, die sophistisch gebildet, in sophistischen Tradi- tionen groß geworden und in den sophistischen Anschauungskreis immer mehr hineinzuwachsen im Begriffe war. Sie will der Autor des .,Protagoras" für die sokratische Sache gewinnen. Nicht daß er die jungen Leute den Sophisten geradezu abspannen wollte! Für die eigentliche Substanz des sophistischen Unter- richts konnte und wollte die Sokratik ja keinen Ersatz bieten. Aber warnen will Plato die Jugend, sich den Sophisten kritik- und vorbehaltslos hinzugeben. Er tut das schon in der Einleitung (311 B ff. , besonders 313 Äff.). Und zeigen will er, wie bei den Sophisten gerade für die höchsten Fragen und Interessen des menschlichen Lebens nichts zu holen ist. Hiefür verweist er, wie er schon im Laches (vergl. 200 CD) nachdrücklich getan hatte, auf Sokrates, den Meister der sittlichen Dialektik, der die Menschen das sittliche Suchen lehrt. Kurz: der Protagoras ist ein Werberuf an die sophistisch geschulte Jugend, ein Ruf zu Sokrates, und der Werbende, der Rufende ist wieder Sokrates selbst, der mit seiner Dialektik das sittliche Verlangen wachruft. l ) ') Über das zeitliche Verhältnis des Protagoras zum Ion, kl. Hippias, Laches, Charmides ist Sicheres nicht auszumachen. Sehr wahrscheinlich ist, daß Ion und 9* 132 Die Quellen. Wie es scheint, haben die Gegner die Tendenz des „Prota- goras" richtig erkannt. Die „Sokratesanklage" des Polykrates war wohl die Antwort auch auf diese propagandistische Tätigkeit Piatos. Damit aber kam es nun zum prinzipiellen Kampf. Plato selbst greift nachher in denselben ein. Sein Gorgias ist die Abfertigung des Polykrates. l ) Und die Verteidigung wird hier zur flammenden Anklage. Die Person des armseligen So- phisten tritt dabei ganz in den Hintergrund. Plato bricht den Stab über die sophistische Rhetorik selbst und damit über das Lebenselement der Sophistik. Jetzt kämpft er gegen Anschau- ungen, gegen Prinzipien. In strenger Prüfung deckt er die letzten Voraussetzungen und Ziele der Sophistik auf. Und er verdammt dieses ganze Wesen, diesen Geist, dem es überall nur um den Schein, um Macht, um Genuß, um den eigenen Vorteil, nie um die Sache, um Wahrheit, um das Gemeinwohl, um Recht und Sittlichkeit zu tun ist. Indessen Plato verliert doch auch den Hippias minor die Reihe eröffnen. Schon ganz in die Nähe des Protagoras ge- hört der Laches. Daß dieser vor jenen fällt, wird anzunehmen sein: im Protagoras wird die Erörterung des Laches über die Tapferkeit augenscheinlich weitergesponnen. Andererseits tritt schon im Laches die Tendenz stark hervor, die Sokratik mit der Jugenderziehung in Fühlung zu bringen. Der Charmides ist vielleicht kurz nach dem Protagoras verfaßt. Wenigstens habe ich den Eindruck, daß die Intellektualisierung der Sokratik in jenem um einiges weitergeführt ist. Jeden- falls aber bewegt sich auch der Charmides ganz in der bisherigen Bahn. Am Ende ist für unsere Untersuchung die Frage der Zeitfolge der im engeren Sinn „somatischen" Dialoge nicht allzu wichtig. Die zeitliche Grenze der „somati- schen" Schriftstellerei Piatons ist gegen Ende der neunziger Jahre anzusetzen. Daß der Protagoras noch vor der xarrj-yogia SojxQÜzovg des Polykrates ge- schrieben ist — und die letztere muß nach 394 verfaßt sein — , kann als sicher gelten. — Schließlich noch ein Wort über den Kleitophon, den Menexenos und den Alkibiades 1. Der Kleitophon wird uns nützlich werden, aber er gehört nicht zu den platonischen Sokratika. Er fällt, wie sich unten zeigen wird, in die Zeit zwischen Gorgias und Euthydemos. Der Menexenos ferner muß, wie aus unzweideutigen Anspielungen, die er enthält, hervorgeht, nach 387 verfaßt sein. Der Alkibiades I endlich wird zwar von einer Reihe neuerer Forscher für echt gehalten ; doch herrscht darüber im ganzen Übereinstimmung, daß der Dialog, wenn er echt ist, einer Zeit angehört, die Jahrzehnte von der somatischen Schrift- stellerei Piatos abliegt. *) So auch Gercke (Einleitung zu Sauppes Gorgias ILIII ff., Einleitung in die Altertumswissenschaft II 319), Th. Gomperz, Griech. Denker II S. 287, Räder, a. a. O. S. 123. Christ-Schmid I G S. 682. Die frühplatonischen Schriften. 133 nächsten Anlaß, der zu diesem Strafgericht geführt hat, nicht aus den Augen. Daß ein Sophist sich zum Advokaten des athenischen Justizmords, dem Sokrates zum Opfer gefallen war, aufgeworfen hat r ist dem Autor kein zufälliges Zusammentreffen. Es ist derselbe Geist, aus dem die Sophistik und aus dem die athenische Demo- kratie hervorgewachsen ist — der Geist rhetorischer Demagogie. Und nun rechnet Plato in leidenschaftlicher Schroffheit mit dem Athen des Perikles ab, mit dem Athen der faulen, feigen, ge- schwätzigen Masse von Söldlingen, und sein Verwerfungsurteil trifft auch die gefeierten Staatsmänner der Vergangenheit, auf die der politische und wirtschaftliche Aufschwung des athenischen Staats, aber auch seine innere Korruption und seine sittliche Fäulnis zurückzuführen ist. Daß in einem solchen Staatswesen ein Mann wie Sokrates den Tod von Henkershand sterben mußte, ist wahrlich nicht zu verwundern. Es ist eine völlig neue Gedankenwelt, in die uns der „Gorgias" einführt. Die „Philosophie" des Gorgias ist nicht mehr Sokra- tes' sittliche Dialektik. Sie ist vielmehr Wissenschaft, die sich um Wahrheitserkenntnis, um wirkliches Wissen müht und die Welt der Meinung, des Scheins, der täuschenden Überredung verach- tet. Und das Verdammungsurteil, das jetzt über die Sophistik gefällt wird, ist nicht das Urteil des Sokrates und auch nicht dasjenige des früheren Plato. Es ist das Ergebnis des Kampfes mit den zeitgenössischen Sophisten, der Plato um so tiefer erregt hatte, da die sophistischen Epigonen ihm an sein Heilig- stes gegriffen hatten, an die Person seines über alles verehrten und geliebten Meisters. l ) ') Wilamowitz nimmt (Sitzungsberichte der Berliner Akademie 1899 S. 781) an, daß die „Sokratesanklage" des Polykrates vielmehr die Antwort auf Piatos „Gorgias" war. Auch sonst wird der Gorgias von einer Reihe von Forschern in die frühere Zeit verlegt (vgl. auch oben S. 123, 1), zum Teil in die Zeit unmittel- bar nach oder gar vor dem Tod des Sokrates. Allein so gut der Angriff gegen das athenische Staatswesen in diese Jahre passen würde, so wenig gilt dies von dem Bruch mit der Sophistik, und der steht im „Gorgias" doch durchaus im Vordergrund. Noch im Protagoras ist die Stimmung gegenüber den Sophisten im wesentlichen dieselbe wie in der Apologie. Im Gorgias hat sie völlig um- geschlagen. Im übrigen verweise ich auf die Ausführungen im Text; vgl. auch die S. 132, 1 angeführten Arbeiten. Hervorheben möchte ich nur noch, daß der Schluß des Gorgias, der Mythus vom Totengericht, in welchem Plato jetzt allen 134 Die Quellen. Bald aber kompliziert sich der Streit. Seit dem „Gorgias" ist die „Sophistik" für Plato eine philosophische Richtung, eine Welt- und Lebensanschauung, und zwar eine solche, der er mit der ganzen Wucht seiner Persönlichkeit entgegenzutreten für seine Pflicht, für seine sokratische Aufgabe hält. Die sittliche Sache ist ihm jetzt vor allen Dingen die Sache der ernsten Wissenschaft. Aber indem er für diese kämpft, trifft er noch auf andere Gegner — Gegner, die darum noch gefährlicher sind, weil sie dem so- matischen Kreise entstammen. Jetzt kommt der alte Haß gegen Antisthenes zum Ausbruch. In diesem sieht Plato den Erzsophi- sten. Nicht daß Antisthenes und seine Schüler etwa mit der jün- geren Sophistengeneration Fühlung gehabt oder gesucht hätten! Das Gegenteil ist richtig. Keinen vielleicht unter allen Sokrati- kern haben die Führer der zeitgenössischen Sophistenschulen Athens so gehaßt wie eben den Antisthenes, ihren einstigen Be- rufsgenossen. Und das nicht zuletzt darum, weil ihnen der Ky- niker als ihr erfolgreichster und schärfster Gegner erschien (vgl. oben S. 116). Vermutlich lag in der Polemik des Antisthenes etwas von der Leidenschaftlichkeit des Apostaten. Und es ist nicht unmöglich, daß er noch vor Plato angefangen hatte, die Sophisten grundsätzlich zu bekämpfen. >) Durch das alles aber Ernstes eine tiefe Wahrheit findet, am besten zeigt, wie weit sich der Autor be- reits von der Apologie und dem Kriton entfernt hat. Und schon beginnt Plato mit der pythagoreischen Gedankenwelt in Fühlung zu treten (493Aff.). Im Gorgias ist der erste Schritt in der Richtung getan, die zum Symposion und Phaidon führt. Seine Abfassung aber fällt wohl — hierin stimme ich mit S. Sabbadini, Epoca del Gorgia di Piatone, 1903, überein — in die Zeit zwischen dem Protagoras und der ersten sizilischen Reise oder vielmehr zwischen dem Poly- kratespamphlet (ca. 393) und dieser Reise (ca. 388). — Was das Verhältnis des Gorgias zu dem ihm inhaltlich verwandten 1. Teil der Politeia (Buch I, wozu aber noch II c. 1—9 hinzuzunehmen ist) anlangt, so ist es mir kaum denkbar, daß der letztere früher sein soll als der erstere. Ich halte die Meinung fest, daß der 1. Teil der Politeia von vornherein als Einleitung zu einem großen Werk über den Staat gedacht war. Das freilich ist nicht ausgeschlossen, daß diese Ein- leitung längere Zeit liegen blieb, und daß vor der Weiterführung andere Dialoge verfaßt wurden. Im besonderen halte ich es nicht für unmöglich, daß Politeia I schon vor dem Symposion und dem Phaidon, also um die Mitte der achtziger Jahre oder kurz vorher, geschrieben ist. Jedenfalls liegt die Sache so, daß in Politeia I der Faden des Gorgias weitergesponnen wird, nicht umgekehrt. \) Sehr stark übertrieben ist allerdings, was Joel II S. 630 ff. über den Kampf des Antisthenes mit den Sophisten zu erzählen weiß. Auch Dümmlers Die frühplatonisclien Schriften. 135 ließ Plato sich um so weniger beirren, als die Antistheniker tat- sächlich, wie wir noch sehen werden, von dem ganzen Gebahren der Sophistenschulen nur zu viel in ihren eigenen Schulbetrieb herübergenommen hatten. Es war ihm indessen genug, daß er in der skeptischen Eristik der antisthenischen Schule, die der Wissenschaft prinzipiellen Krieg geschworen hatte, denselben Geist der Wahrheitsfeindschaft zu spüren glaubte, der die nur auf Schein und Überredung, nicht auf Ergründung der Wahrheit bedachte sophistische Rhetorik durchzieht. Der Kyniker und die Sophisten sind ihm gleichermaßen Gegner der Wissenschaft, in der er selbst jetzt das größte Gut der Menschheit erblickt. Für diese Übereinstimmung aber macht er zuletzt Antisthenes' sophi- stische Vergangenheit verantwortlich. So macht er den somati- schen Genossen zum Sophisten, und die antisthenische Schulge- meinschaft wird ihm vollends ganz zu dem, was sie in den Augen der Leute längst schon war, zur Sophistenschule. Damit aber war von selbst gegeben, daß ihm weiterhin die Polemik gegen den kynischen Gegner mit dem Kampf gegen die ..Sophistik u zusammenfloß. Das alles indessen liegt bereits weit hinaus über die soma- tische Stimmungs- und Gedankensphäre. Seit dem Gorgias ist Sokrates-Plato ein anderer geworden. Eine gewisse Wandlung hatte sich allerdings schon vorher vorbereitet. Der Gefahr zwar, die der sittlichen Dialektik schon von der Umsetzung der soma- tischen Praxis in literarische Gespräche drohte, der Gefahr, die sittliche Besinnung mit ethischem Doktrinarismus zu vertauschen, sind die frühplatonischen Dialoge fast ganz entgangen: dank der unübertrefflichen Gestaltungskraft Piatos, die die Person des So- krates mit dem vollen Reiz wirklichen Lebens zu umgeben ver- steht, weht uns aus diesen Gesprächen ein Hauch des sittlichen Geistes des Meisters mit unmittelbarer Frische entgegen. Tat- sache ist aber, daß sie dennoch einen deutlichen Ansatz zu einer Ausführung, Akademika S. 192, lasse ich auf sich beruhen. Dagegen ist doch auch äußerlich bezeugt, daß der antisthenische „Archelaos" einen Angriff gegen den sophistischen Lehrer des Antisthenes, Gorgias, enthielt (S. 22V,W.). Vermut- lich aber war auch Antisthenes' Sophistenschrift „/7ep2 raJv oo<piGT(öv" eine Auseinandersetzung mit den Sophisten; doch läßt sich aus dem Titel hier nicht viel schließen. 136 Die Quellen. theoretisierenden Umbildung des sittlichen Wissens aufweisen, und wir werden hierauf noch zurückkommen müssen. So unleug- bar indessen dieses Abrücken vom Standpunkt der Apologie ist, so ist es doch nur von untergeordneter Bedeutung und mit der Wendung, die sich mit dem Gorgias vollzieht, nicht entfernt zu vergleichen. Im ganzen bleibt der Gedanken- und Interessenkreis von der Apologie bis zum Protagoras einheitlich und geschlossen. Vom Gorgias ab jedoch tritt an die Stelle von Sokrates ganz und entschlossen Plato. 1 ) Allein wie im Kampf gegen alte und neue Sophisten der spekulative Trieb Piatos, der im Umgang mit Sokrates und im Eifer des sokratischen Werbens zurückgetreten war, lebendig, wie die beginnende Theoretisierung des sokratischen Werks zur vollen Intellektualisierung wird, wie das Interesse für die spekulative Wissenschaft Piatos ganzes Herz erobert und ihm zur Leiden- schaft, ja zur Religion wird, wie daneben im Ringen mit der anarchistisch-kosmopolitischen Theorie und der demokratischen Praxis das sokratisch-praktische Wirken sich mehr und mehr zum politisch-publizistischen entwickelt und der Metaphysiker und Staatsphilosoph sich für die neue Arbeit in der Akademie eine äußere organisatorische Form schafft — das alles ist wichtig für die Geschichte Piatos, nicht für die des Sokrates. Bedeutsame Streiflichter werden immerhin auch von den späteren Dialogen auf den historischen Sokrates zurückfallen. Das wenigstens muß festgehalten werden: Plato bleibt, auch nachdem er aufgehört hat, unmittelbar sokratisch zu wirken, der Überzeugung, daß seine Philosophie zur Lebensanschauung des Meisters sich verhalte wie der voll entwickelte Organismus zum Keim. Und wenn er noch Jahrzehnte lang den Sokrates zum Wortführer in den Dialogen, die seine eigenen Doktrinen darlegen, macht, so ist das nicht bloß eine schriftstellerische Marotte und ebensowenig die Beibe- haltung einer einmal unter anderen Umständen angenommenen Maske, am wenigsten falsch verstandene Pietät; das ist vielmehr ein Programm, eine feierliche Erklärung, ein unablässiges Be- kenntnis des Jüngers zum Meister und zugleich ein dauernd *) Das schließt natürlich nicht aus, daß Plato auch nachher noch dann und wann äußerlich zur früheren Manier zurückkehrt, wie dies z. B. im Euthyphron und im Lysis augenscheinlich der Fall ist. Die frühplatonischen Schriften. 137 festgehaltener Anspruch auf die sokratische Nachfolge. Zwar wurde der Abstand, der Piatos Anschauungen von der ursprüng- lich somatischen Position trennte, mit der Zeit größer und größer. Aber indem der Philosoph aufs Ganze sah, glaubte er sich eins fühlen zu dürfen mit Sokrates. Der Eros, in dem seine eigene Wissenschaft und sein sozial-politisches Ideal ihre gemeinsame Wurzel und ihr metaphysisches Band hatten, erschien ihm doch zuletzt als ein Kind des sokratischen Liebesgeistes. Das hat er selbst im schönsten seiner Dialoge, im Sympo- sion, zu unmittelbar anschaulichem Ausdruck gebracht. Ganz besonders reizvoll ist hier die Szenerie. Im Hause Agathons, des jungen Tragikers, der tags zuvor seinen ersten dramatischen Sieg errungen hat, findet eine Nachfeier statt. Aber noch ange- griffen von den Strapazen des vorhergegangenen Tages, hat die Gesellschaft wenig Lust, dem beendeten Mahl das übliche Trink- gelage mit dem traditionellen Trinkzwang folgen zu lassen. Man sucht nach einer edleren und zugleich weniger anstrengenden Unterhaltung und verabredet, jeder der Anwesenden solle, wie die Reihe ihn treffe, eine Lobrede auf den Eros halten. Der Höhepunkt ist Sokrates' Rede. Sie verklärt den Eros zu der philosophischen Begeisterung, die den Menschen in die ideale Welt der Idee emporhebt. Kurz, sie läßt uns in alle Höhen und Tiefen der platonischen Weltanschauung blicken. Da pocht es geräuschvoll an die Türe. Alkibiades, der Kronprinz von Athen, begehrt, schwer bezecht von fröhlicher Tafelrunde heimkehrend, Einlaß. Nun hebt ein scharfes Trinken an. Aber auch Alkibiades hat sich der Ordnung des Abends zu fügen. Auch er muß eine Rede halten — und er hält eine Lobrede auf Sokrates. Da schil- dert er den Sokrates, der es ihm angetan, der ihm in die Seele gegriffen hat. Er schildert den Mann mit dem silenenhaften Äußern und der göttergleichen Seele, den geistesklaren, innerlich freien und festen Menschen mit dem starken, in sich konzentrierten Innenleben und der wunderbaren Gewalt über sich selbst. Und er schildert seine silenenhaften Gespräche, die in ewiger Wieder- holung von Lasteseln, Schneidern, Schustern und Gerbern handel- ten, aber in dieser abstoßenden Hülle den tiefsten, edelsten Gehalt bargen und die Kraft hatten, die Menschen im Innersten zu packen, zu erschüttern und zu neuem, sittlichem Leben zu erwecken. 138 Die Quellen. Daß der Sokrates der Alkibiadesrede derselbe ist wie der der Apologie, liegt auf der Hand. Gewiß weist jener manche Züge auf, die dem letzteren fehlen. Aber sie fehlen hier doch nur darum, weil die Absicht der Apologie und noch mehr die litera- rische Fiktion, mit der sie sich als die Gerichtsrede des Sokrates selbst einführt der Charakteristik des Menschen Sokrates enge Schranken gezogen hatte. In der Zeichnung des sokratischen Wirkens stimmen die beiden Schilderungen völlig überein. Und man darf sagen, daß die Alkibiadesrede eine treffliche Ergänzung des Sokratesbilds der Apologie gibt. Was Plato veranlaßt hat, noch einmal auf den historischen Sokrates — denn auf den zielt wie die Apologie so auch die Al- kibiadesrede hin — zurückzugreifen, ist zunächst freilich nicht klar. Ein gewisser Fingerzeig scheint indessen darin zu liegen, daß der Preis des Sokrates dem Alkibiades, dem großen Egoisten, dessen Leidenschaft und Selbstsucht den Untergang des attischen Reichs verschuldet hatte, in den Mund gelegt ist. Vor Jahren hatte Po- lykrates diesen Sokratesjünger der sokratischen Gemeinde mit besonderer Bosheit angehängt. Und die Sokratiker hatten ein lebhaftes Bedürfnis, den Makel auszutilgen. Wir ersehen das nicht bloß aus der Schutzschrift der Memorabilien, wo Xenophon sich eifrig bemüht, diesen Anklagepunkt zu widerlegen. Auch Antisthenes und Äschines haben, wie wir bestimmt wissen, ener- gisch zu der Alkibiadesfrage Stellung genommen, und zwar ohne Zweifel noch vor Xenophon. 1 ) Seitdem war nun freilich — das x ) Memorab. I 2, 12 ff. 39 ff.; Antisthenis fragmenta (Winckelmann) p. 17 f. I. II. (V. VI), p. 51 X, und hiezu vgl. jetzt H. Dittmar, Aischines von Sphettos, Philol. Untersuchungen, herausg. von Kießling und v. Wilamowitz 21. Heft, 1912, S. 68 ff.; Äschines hat den Alkibiades in seinem Dialog Alkibiades (Krauß fr. 1—4, vest. I— III), außerdem aber im Axiochos, und hier, wie aus Athenäus V cap. 62 (vest. IV) hervorgeht, besonders feindselig behandelt, vgl. Dittmar, a. a. O. S. 97 ff. Diese ganze sokratische Alkibiadesliteratur scheint eine Reaktion auf die Invektive des Polykrates gewesen zu sein. Nicht dasselbe gilt von den beiden Dialogen „Alkibiades", die sich an Piatos Namen knüpfen. Daß Alk. I, wenn er echt ist, in einer beträchtlich späteren Zeit verfaßt sein muß, ist oben S. 131,1 schon her- vorgehoben. Jedenfalls fehlt in ihm jede Beziehung zu der durch den Angriff des Polykrates geschaffenen Situation. Der Dialog scheint eine spätere Imitation in der platonischen Manier zu sein, die von dem ursprünglichen Anlaß der aus dem Kreis der Sokratiker hervorgegangenen Alkibiadesdialoge nichts mehr weiß. Der Alkibiades II aber setzt den Alkibiades I voraus. Die frühplatonischen Schriften. 139 Symposion ist, wie äußere Indizien mit Sicherheit verraten, nicht vor dem Jahr 385 geschrieben — längere Zeit verflossen. Mög- lich, daß das Gerede um Alkibiades immer noch nicht zum Schweigen gekommen war. Das allein indessen hätte Plato schwer- lich vermocht, die vielerörterte Sache nachträglich noch einmal aufzuregen. Er selbst hatte sich aus dieser Verdächtigung nicht viel gemacht und den Hieb schon im Gorgias in seiner Weise pariert. Hier nämlich läßt er nicht allein den Sokrates scheinbar unmotiviert und mit beabsichtigter Unbefangenheit von seiner Liebe zu Alkibiades reden (481 D), er spricht sich auch offen darüber aus, wie verkehrt es sei, Alkibiades, den „Gefährten" des Sokrates (rov tuov traigov), für das ganze Verhängnis, das den athenischen Staat getroffen habe, verantwortlich zu machen, während die Hauptschuld die großen Staatsmänner der Vergangen- heit treffe und jener im äußersten Fall eben nur als Mitschul- diger zu bezeichnen sei (519 AB). Wer zu lesen vermochte, konnte also wissen, wie Plato zu der Sache stand. Warum nahm er sie dennoch jetzt wieder auf?. Wir können den Grund erraten. Der lag nicht etwa in einem neuen Vorstoß der Gegner, sondern vielmehr in der Art, wie die sokratischen Genossen sich aus der Affäre gezogen hatten. Diese nämlich hatten den Alkibiades, um sich von jedem Verdacht einer Gemeinschaft mit ihm zu reinigen, reichlich mit Schmutz be- worfen. Hiegegen empört sich Piatos ritterlicher Sinn. Er will dem genialen Mann trotz aller seiner Fehler Gerechtigkeit wider- fahren lassen. Andererseits hält auch er die Absicht, den An- wurf des Polykrates zurückzuweisen, fest. Es fällt ihm nicht ein, die einstigen Beziehungen des Alkibiades zu Sokrates im Inter- esse der sokratischen Gemeinde irgendwie zu verschleiern. Aber er schildert sie so, daß an dem geliebten Lehrer nicht das Ge- ringste hängen bleibt. Er malt in leuchtenden Farben das Bild des Sokrates, wie er war und wie er wirkte, und stellt dem Meister den jungen Alkibiades gegenüber, wie dieser fühlte und dachte, so lange er Sokratesjünger war. Allein daß nun zu dieser Abrechnung das Symposion be- nutzt ist, muß seinen besonderen Grund haben. Plato war nicht der literarische Stümper, der einem in sich geschlossenen Kunst- werk einen fremdartigen, nur durch äußere Anlässe geforderten 140 Die Quellen. Anhang äußerlich anflickte, zumal wenn, wie es hier den An- schein hat, Kunstwerk und Anhang so wenig zusammenstimmten. Keinem Unbefangenen kann der ungeheure Kontrast zwischen dem platonischen Sokrates, dem Propheten des philosophischen Eros, und dem alkibiadischen, dem Herold des sittlich-persönlichen Lebens, verborgen bleiben. Ist diese Gegenüberstellung der beiden Sokratesbilder nicht grausame Selbstironisierung? Gewiß hat der Autor schon durch die Szenerie die Identität sichergestellt. Dem Sokrates, der zum Gelage geht und dann die Erosrede hält, werden verschiedene der Züge zugeschrieben, die nachher Alki- biades hervorhebt. Überdies ist durch einen schriftstellerischen Kunstgriff dafür gesorgt, daß der Gegensatz gemildert wird: So- krates erklärt, die neuen Aufschlüsse über den Eros von der mantineischen Seherin Diotima erhalten zu haben. Dennoch ist es ein übermütiges und ein gewagtes Spiel, das Plato hier mit dem Leser treibt. Aber er war seiner Sache sicher. Dem geist- reichen Einfall liegt ein tiefer Gedanke zu Grunde. Das Sympo- sion ist der Dialog, in dem zum erstenmal in vollem Akkord die Ideenlehre anklingt. Und Plato tut den großen Schritt im Vollgefühl des Entdeckers. Als eine Offenbarung führt er die neue Konzeption ja auch literarisch ein. Von der erreichten Höhe aber blickt er zurück auf den geschichtlichen Sokrates. Da ist ihm die äußere Veranlassung willkommen, die ihn drängt, dem Leser noch einmal den wirklichen Sokrates vor Augen zu führen. Er benutzt sie, um seinen neuen Sokrates mit dem geschicht- lichen in Fühlung zu bringen. Er legt in das Symposion die Aufforderung, den Zusammenhang zwischen dem Eros-Sokrates und dem historischen zu suchen. Und er hat auch dafür Sorge getragen, daß das Rätsel zu lösen war. Der philosophische Wahnsinn (cpilooocpog ^lavla), die sittliche Begeisterung, die, durch Sokrates' Weisheitsrede {vnb i.(hv iv ipüoootplq löyatv) entzündet, in den Hörern (218AB) unendliches sittliches Sehnen wachrief, und der philosophische Eros, dessen Lobredner der pla- tonische Sokrates ist — diese beiden sind eins. Das ist Piatos fester Glaube. 1 ) l ) Wie stark bei Plato damals die Neigung war, den Sokrates seiner Ideen- lehre mit dem historischen und von ihm historisch gemeinten zu konfrontieren, zeigt am besten die Tatsache, daß im Phädo, der dem Symposion zeitlich am Die frühplatonischen Schriften. 141 Es kann fraglich sein, ob dieser Glaube berechtigt, ob es sachlich begründet ist, in dieser Weise den Sokrates des Eros- hymnus an den der Alkibiadesrede, den platonischen Sokrates an den wirklichen geschichtlich anzuknüpfen. Daß aber der Hi- storiker ein Recht hat, die Alkibiadesrede nach ihrem Quellenwert dicht neben die Apologie zu stellen, daran ist um so weniger zu zweifeln, als Plato selbst in der sokratischen Erosrede desselben Symposions die Grenzlinie zwischen seiner jetzigen spekulativen Philosophie und der ursprünglichen Sokratik, in deren Rahmen das Sokratesbild der Alkibiadesrede fällt, scharf und bestimmt ge- zogen hat. Indem Diotima sich anschickt, dem Sokrates die Geheimnisse der spekulativen Mystik zu enthüllen, sagt sie zu ihm: „in die- jenigen erotischen Mysterien, von denen bis jetzt die Rede war, vermagst auch du, o Sokrates, wohl einzudringen ; ob du aber imstande bist, auch den vollkommenen und höchsten Grad der Weihen zu erreichen, auf den schließlich auch jene hinzielen, wenn man ihnen die rechte Folge gibt, das weiß ich nicht. Ich will dir diese Geheimnisse nun mitteilen, an meinem guten Willen soll es nicht fehlen ; du aber versuche zu folgen, wenn du ver- magst." Und nun schildert sie, wie der Adept der höheren Weisheit von den individuellen Erscheinungen des Schönen das Allgemeine induzierend abstrahieren und von der sinnlichen Betrachtung Stufe um Stufe zu der sinnenfreien rationalen Intuition auf- steigen muß, um so zum Schauen des An-sich-schönen zu ge- langen. Kurz, sie deckt ebensowohl den wesentlichsten Inhalt der Ideenmetaphysik auf, wie den Weg, auf dem dieser zu er- reichen ist (209 Elf.). Im Gegensatz zu dieser neuen, spekulativ- mystischen Erotik ist die bisher (209 Äff.) besprochene, die dem Sokrates auch ohne die offenbarende Leitung der Diotima zugäng- lich ist, die praktische, die auf „sittliche Einsicht ((pQovrjöig) und die übrige Tugend" gerichtete. „Die bei weitem höchste und schönste Erscheinungsform der (pQovrjots aber ist die Einsicht, die sich auf die Verwaltung der Staaten und Hauswesen be- nächsten steht — er ist zugleich der Dialog, in dem die neue Wissenschaft in reicher Ausführung entwickelt wird — , die Szenerie, die uns zu dem sterbenden Meister führt, wiederum eine offenkundige Huldigung an den historischen So- krates ist. 142 Die Quellen. zieht (/} tifqI Tag r.wv noitcuv Te xai olxr)osujv (haxoo\u?]Osig), und Besonnenheit und Gerechtigkeit (oiocpyoovvri ts xai ötxaio- ovvrj) genannt wird." Wer nun von diesem Geiste schwanger ist, der wird, wenn die Zeit gekommen ist, das Schöne suchen, in dem er sich fruchtbar erweisen kann. Die schönen Körper sind ihm also lieber als die häßlichen, und wenn er auf eine schöne, edle und wohlbeschaffene Seele trifft, so ist ihm beides über die Maßen willkommen; „einem solchen Menschen gegenüberhat er sofort Gespräche bereit {ev&vg timoysl löywv) über Tugend und darüber, wie der gute Mann sein und was er treiben müsse, und er versucht, ihn zu erziehen. Indem er nämlich mit dem Schönen in Berührung und Verkehr kommt, gebiert er das, wovon er schon längst schwanger war, anwesend und abwesend des Freundes gedenkend, und er zieht in Gemeinschaft mit ihm das Erzeugte auf, so daß sie mit ein- ander eine sehr viel stärkere Gemeinschaft haben, als die mit den Kindern zu sein pflegt, und eine festere Freundschaft, da sie ja im gemeinsamen Besitz schönerer und unsterblicherer Kinder 1 ) sind . . ." Daß der Autor des Symposions, der Schöpfer der Ideenlehre, der Entdecker der Zentralidee des Schönen, hier eine gewisse Auseinandersetzung mit der ursprünglichen Sokratik vollzieht, liegt am Tage. Auf dem neuen Standort hat er das Bedürfnis, sein Verhältnis zu dem geschichtlichen Sokrates klarzulegen. Daß diesem die ganze Welt der Ideen noch verschlossen geblieben war, und daß er auch von den Wegen, die dahin führen, ledig- lich nichts gewußt hatte, kann Plato sich und anderen nicht ver- hehlen. Aber auch positiv sucht er der sittlichen Dialektik des Sokrates ihren Platz anzuweisen. Der Gedankenkreis, der dem wirklichen Sokrates zugänglich und vertraut, und in dem sein Wirken heimisch war, ist die Sphäre der „(pyoviioig und der übrigen Tugend", die in der auf die Verwaltung der Staaten und Hauswesen gerichteten Einsicht, in der „Besonnenheit und Ge- rechtigkeit", gipfelt. Man kann nun nicht sagen, daß der Autor in dieser summarischen Charakteristik auf die besonders geartete sokratische Wirksamkeit ausdrücklich hingewiesen habe. Um so ') Vgl. in der folgenden Illustration 209 E: . . . ysvvrioavisq navxoluv ' Qf.Tr'\v. Die friihplatonischen Schriften. 143 bestimmter nimmt die folgende Schilderung der Art, wie der von dieser (pyovrjoig Erfüllte sich betätigt, auf die sokratische Pro- treptik Bezug. Daß nämlich die Worte: „einem solchen Menschen gegenüber hat er sofort Gespräche bereit über Tugend und darüber, wie der gute Mann sein und was er treiben müsse, und er ver- sucht, ihn zu erziehen" unmittelbar auf Sokrates und seine tir/oi gehen '), kann um so weniger zweifelhaft sein, als die Alkibiades- rede am Schluß des Lobes auf Sokrates die sokratischen löyoi ganz ähnlich charakterisiert: „sie bergen Wunder von a^ertj in sich und erstrecken sich", so heißt es hier (222A), „auf alles, was zu be- denken dem zukommt, der ein guter und tüchtiger Mann werden will (inl nav oaov nQoorjxei oy.ontlr zcp ut'k'Koi'ji %aX(u v.a- ya&v) soeo&ai)", und es ist unverkennbar, daß hiemit die so- kratische Dialektik ausdrücklich an die Schilderung unserer Stelle angeknüpft werden soll. Auch die Ausführung über die Gemein- schaft und Freundschaft übrigens, die sich zwischen dem sittlich Wirkenden und seinem Zögling bildet, erinnert deutlich genug an das Verhältnis des wirklichen Sokrates zu seinen Jüngern, wie Plato es im Gedächtnis hat. So viel ist nach alledem klar, daß der Autor in unserem Zusammenhang in der Tat die Absicht hat, das Wirken des geschichtlichen Sokrates in die Sphäre der sitt- lich-praktischen cpQoyijaig einzubeziehen. Die sokratische Dia- lektik wird, das bringt die ganze Anlage dieser Erosrede mit sich, in die Sprache der Erotik übersetzt. Und nun wird fest- gestellt, daß der ganze Anschauungs- und Wirkungskreis der prak- ') Daß diese Schilderung zu der tpgövrioiq negl zaq xwv nökecav rs xal oixi]o?üiv Siaxoo/iirjoeiq nicht unmittelbar paßt, leuchtet ein. Noch weniger kann sie auf die nachher aufgeführten Repräsentanten der (pgövTjOiq und der übrigen ägen], auf Homer, Hesiod, Lykurg, Solon u. s. f. gehen. Es ist schon darum wahrscheinlich, daß der Autor an unserer Stelle eine ganz bestimmte Form der (fpörtjoig, und zwar die sokratische, im Auge gehabt hat. — Übrigens hat Räder mit seiner Bemerkung (S. 165,1) Recht, daß es ungenau sei, wenn A. Hug in Übereinstimmung mit C. F. Hermann, Geschichte und System der platonischen Philosophie I S. 523 in dem Tavxa fzhv ovv xa tQwxixu i'awq, w ^(üxgaxfq, xav oi- iivrßfhjq die unmittelbare Andeutung findet, daß im Vorhergehenden von den Anschauungen des historischen Sokrates die Rede sei. Was zunächst gesagt wird, ist ja nur: „die bisher geschilderten Mysterien liegen auch über deinen Gesichtskreis, o Sokrates, nicht hinaus." Daß Plato aber im Vorhergehenden tatsächlich doch auch die Dialektik des historischen Sokrates mit im Auge hat, ja daß er sie wohl in erster Linie meint, ist oben im Text weiterhin gezeigt. 144 Die Quellen. tischen (fQovrjOtg und damit auch die Protreptik des Sokrates — wie Plato selbst sie, so dürfen wir interpretieren, in seinen frühe- sten Schriften gezeichnet hatte — außerhalb der eigentlichen Mysterien liege. Nur das wird anerkannt, daß, wer auf dieser Bahn folgerichtig weiterschreite, schließlich zu dem Höchsten ge- führt werde. Aber eben zu diesem Fortschreiten sind bereits die höheren Weihen nötig: für den Adepten der eigentlichen Mysterien bildet jene Betätigung eine niedrigere Stufe, ein notwendiges Durchgangsstadium. Hiemit ist nicht allein gesagt, daß auch die mystisch-spekulative Dialektik ihren Ausgangspunkt in der Sphäre der sokratischen Protreptik nehmen will und soll. Auch das ist damit wohl ausgesprochen, daß jene tatsächlich sich aus der letzteren entwickelt hat. Zugleich aber ist nachdrücklich betont, daß Piatos jetzige Philosophie ein Neues ist, und daß nur auf Grund eines Neueinsatzes die Weiterbildung der praktisch-sitt- lichen Dialektik zur Wissenschaft und schließlich zur spekulativen Mystik möglich war. 1 ) ') Die Stelle xä xe ovv oiö/uaxa xä xa).d /uüW.ov ?j xä alo/oä aoTiu&xai . . . 209 B ist natürlich schon im Hinblick auf 210 A: . . . cIq/soO-ui jutv veov bvxa ii-vai enl xa xaXä ocj/xaxa ... zu deuten. Damit ist indessen nicht gesagt, daß der Autor die Sphäre der (pgövrjoig ganz auf die in 210A geschilderte unterste Stufe der Mysterienleiter setzen will. 209BC ist ja ausdrücklich ausgeführt, daß der Dialektiker der (pobvtjotq ganz besonders auch die schönen Seelen liebe, daß er einem solchen Menschen gegenüber evnogsi Xbywv neol dpsxrjq xal neol oiov xq>i elvai xbv ävöga xbv aya&bv xal a imxrjdtveiv, xal t7n%£iotZ naidtisiv. Damit vergleiche man nun die Stufe der Weihen, die 210 B Schluß und 210 C geschildert ist: wer sie erreicht hat, wird xb iv xalq ipv%alq xäXXoq höher schätzen als das im Körper, er wird die Seele lieben und xlxteiv löyovg xoiovxovg xal tyjxeiv, olxtveq noir'joovoi ßsXxlovq xovq viovq, was dahin führt, daß er xb ev xolq imzrjdsv/uaoi (in den praktischen Betätigungen, vgl. inixrjöeisiv 209BC) xal xolq vöfioiq xaXbv betrachtet. Der Stufengang der Weihen ist der (vgl. Hug zu der Stelle): "1. Liebe zum körperlichen Schönen, a) zu den schönen individuellen Körpern, b) zu dem allen Körpern gemeinsamen Schönen (xb in ei'öei xalbv); 2. Liebe zur seelischen Schönheit, zuletzt zu dem iv xolq emzTidev/uaoi xal xolq vbfiotq Schönen; 3. Liebe zu den Wissenschaften (dem in den Wissenschaften Schönen); 4. Liebe zu der einen Wissenschaft von dem Schönen an sich. Die praktisch-sittliche <pQbvrjoig nun erreicht die Phasen 3 und 4 überhaupt nicht. Innnerhalb der 1. Phase bleibt sie an den individuellen körperlichen Erscheinunge haften. Aber sie hat auch Teil an der Phase 2; das zeigt die Vergleichung von 209BC und 210BC. Der Unterschied ist nur der, daß sie vom körperlich Schönen nicht ganz loskommt (dond^xai xb d/j.(pbxepov, Körper und Seele 209 B), während Die frühplatonischen Schriften. 145 Man begreift die zögernde Behutsamkeit, mit der Plato der Protreptik des geschichtlichen Sokrates ihren Rang auf der Stufe der praktischen (pQOprjaig anweist. Denn es ist doch eine recht niedere Einschätzung, die damit dem Werk des geliebten Meisters zuteil wird. 1 ) Der Autor selbst hat wohl ein Bewußtsein hievon gehabt. Und hier offenbar liegt das tiefste Motiv für den histo- rischen Exkurs in der Alkibiadesrede. Plato hat die Empfindung, daß das Urteil, das er von seinem jetzigen Standpunkt über So- krates und sein Werk fällen muß , wie eine Pietätlosigkeit aussieht. Diesen Eindruck aber möchte er abwehren. Darum begnügt er sich da, wo der sokratischen Protreptik ihr systema- tischer Rang in der philosophischen Stufenreihe grundsätzlich der richtig Geweihte die Schönheit der Seelen höher schätzt und von der der Körper absieht. Die Frage ist nur, wie von der sittlich-praktischen <pp6vrjoiq und insbesondere von der sokratischen gesagt werden kann, daß sie an schönen Körpern Interesse habe 209 B. Man darf nämlich aus dieser Stelle keineswegs folgern, daß eben die sokratische Dialektik hier nicht gemeint sein könne. Denn die Schwierigkeit ist genau dieselbe gegenüber der (pgövrjoiq und der allrj aQfxr\, zumal der oaxpfjoovvtj und öixuloovvt], von der im Zusammenhang ausdrück- lich gesprochen wird. Die Erklärung darf aber nicht etwa in den sinnlich- erotischen Neigungen des Sokrates gesucht werden. Das Gebiet des körperlich Individuellen ist vielmehr die Welt der Wahrnehmung. Und gesagt soll werden: die sittlich-praktische (pgövrjoiq bewegt sich noch in der Sphäre der sinnlichen Wahrnehmung. Völlig deutlich wird das indessen erst durch den Gegensatz: die sittlich-praktische <pQÖv^aiq vermag sich noch nicht über das Einzelne zum All- gemeinen, zur Idee zu erheben; sie vermag darum auch in ihrem eigenen Gebiet nicht das Geistig-sittliche für sich allein, in seiner unsinnlichen Reinheit zu er- fassen: das ist nur demjenigen möglich, der im körperlichen Gebiet gelernt hat, vom Einzelnen zur Idee aufzusteigen (vgl. 210 AB und hiezu das fuza de zavza 210 B). Von anderem Standpunkt aus hat Antisthenes gleichfalls die Sphäre der sokratischen Dialektik als die der sinnlichen Wahrnehmung gefaßt und hieraus seinen Sensualismus abgeleitet (vgl. 4. T. 2. K.). Damit ist natürlich nicht ge- geben, daß Plato an unserer Stelle an Antisthenes irgend gedacht habe. Er hat den Sokrates selbst im Auge. Und er will feststellen, daß die sokratische Protreptik noch ganz im Bannkreis des praktischen Lebens liege und noch nicht verstanden habe, sich zum Allgemeinen und Unsinnlichen zu erheben. ') Noch sehr viel tiefer übrigens stellt Plato die öqfxozix?) xal nohzixrj ÜQetTj, die man ouxpQoovvr] zs xal dixaioavvrj nennt, im Phädo 82AB (er läßt sie ganz i§ i'&ovq ze xal /x8?.tzrjq ävsv (pikooocplaq ze xal vov entstehen). Hier hat diese Tugend nicht mehr den Rang, der ihr im Symposion angewiesen ist. Methodisch sind darum auch die Ausführung im Symposion und die im Phädo scharf auseinanderzuhalten. H. Maier, Sokrates. 10 146 Die Quellen. anzuweisen ist, mit einer vorläufigen Charakteristik. Dann aber, nachdem er die Geheimnisse der neuentdeckten Weisheit ent- hüllt hat, kommt er noch einmal auf den geschichtlichen Sokrates zurück, um dessen Wirken voll zu würdigen und zugleich die inneren Beziehungen zu betonen, die sein eigenes Schaffen für immer an die von dem Meister empfangenen Eindrücke knüpften (S. 140). So ist beidem Genüge getan: der Wahrheit, welche volle Klarheit über das Verhältnis der jetzigen platonischen „Philo- sophie" zu der ursprünglichen Sokratik verlangt, und der Pietät, die dem auch jetzt noch über alles verehrten Lehrer den vollen Anteil an dem, was der Jünger geworden ist, zuzugestehen wünscht. Die Bedeutung dieser Darlegungen des Symposions für die So- kratesforschung ist groß. Die Scheidung zwischen Piatonismus und ursprünglicher Sokratik, die hier ausdrücklich und grundsätzlich vollzogen ist, entzieht jedem Versuch, die späterplatonischen Anschauungen dem wirklichen Sokrates irgendwie zu unter- schieben, den Boden. Zugleich aber ist der Charakter des ge- nuin sokratischen Wirkens mit unzweideutiger Bestimmtheit ge- zeichnet, und wir erhalten nicht allein die Gewißheit, daß die Alkibiadesrede in der Tat den historischen Sokrates im Auge hat; auch das bestätigt sich mit voller Evidenz, daß der Sokrates der praktisch-sittlichen Dialektik, den die Apologie und die in ihrem Gedankenkreis liegenden Dialoge zu uns sprechen lassen, von Plato selbst als der wirkliche Sokrates gedacht war. 1 ) Fünftes Kapitel. Die literarischen Quellen und der historische Schluß von der Wirkung auf die Ursache. Das Ergebnis der bisherigen Untersuchung ist, daß als un- mittelbare literarische Quelle für die Kenntnis des geschichtlichen ') Tatsächlich sind durch die im Symposion 209E ff. 209Aff. vollzogene Scheidung auch die Übergangsdialoge vom Gorgias ab, die sich im Element der t7Tiar>,fit] und der f-niorrj/uai (210C) bewegen, über den genuin sokratischen An- schauungskreis hinausgehoben: die Stufe der iniGtr\ixri liegt ja über der Sphäre der praktisch-sittlichen (p^nv-rjaic. Die literarischen Quellen und der historische Kausalschluß. 147 Sokrates nur die frühplatonischen Schriften, zu denen als Nach- trag noch die Sokratescharakteristik im Symposion hinzukommt, gelten können. Immerhin hat sich gezeigt, daß diese Quelle sehr viel reicher fließt, als in der Regel angenommen wird. Wer sie zu nutzen versteht, gewinnt aus ihr eine ebenso lebendige wie inhalts- volle Vorstellung von der Person und dem Wirken des Sokrates. Haben wir nun aber damit zugleich das gefunden, was wir oben suchten? Eine Norm, die uns in den Stand setzen würde, aus anderen Quellen, so vor allem aus den xenophontischen Memo- rabilien, das genuin sokratische Gut kritisch herauszuholen? Kann uns die frühplatonische Literatur wirklich als die schieds- richterliche Autorität gelten, bei der wir in allen Fällen die Ent- scheidung darüber, was sokratisch ist und was nicht, suchen könnten? Man wird hieran schließlich doch zweifeln. Das zwar steht fest, daß Plato in der Apologie, im Kriton und in der Alkibiades- rede des Symposions, weiterhin auch in den frühen Dialogen, die sich in diesem Stück von den späteren wesentlich unterscheiden, durchaus die Absicht hat, uns die Persönlichkeit und das Werk des Meisters ohne eigene Zutaten vor Augen zu stellen, und auch dabei bleibt es, daß er, wenn irgend einer, imstande war, das Wesen des eigenartigen Mannes in seiner ganzen Tiefe zu er- fassen. Allein einmal möchte man nach mancher Richtung eine Ergänzung wünschen. Nirgends strebt Plato Vollständigkeit an. So ist es nur natürlich, daß wichtige Seiten des sokratischen Denkens und Wirkens von ihm entweder gar nicht oder nur ge- legentlich berührt werden. Sodann aber: haben wir eine Gewähr dafür, daß nicht doch auch die Treue der platonischen Schilde- rung durch die Subjektivität des Autors beeinträchtigt worden ist? Die Schranken seiner eigenen Art kann am Ende kein Mensch durchbrechen, und Piatos Individualität war eine so starke und ausgeprägte, daß es wunderbar wäre, wenn sie sich nicht auch in seiner Sokratesauffassung, sei es auch nur in der Verteilung der Akzente und in der Auswahl und Gruppierung des Tatsächlichen, geltend machte. Ansätzen zu einer einseitigen Weiterbildung der sokratischen Anschauungen sind wir in der Tat schon in den Dialogen der ersten Zeit begegnet, und darüber hinaus wird sich später bestätigen, daß wirklich auch die frühplatonische Dar- io* 148 Die Quellen. Stellung noch der Kontrolle und Vervollständigung bedarf. Unter diesen Umständen werden wir Bedenken tragen, das frühplato- nische Schrifttum ohne Vorbehalt als die sokratische Instanz an- zuerkennen. In dieser neuen Unsicherheit kommt uns merkwürdigerweise eine gewisse Beruhigung von einer Seite, von der wir dies nach Lage der Dinge am wenigsten erwarten sollten. Als das unfrucht- barste aller Mittel, dem geschichtlichen Sokrates auf die Spur zu kommen, hat sich die Methode erwiesen, den Übereinstimmungen zwischen den verschiedenen Sokratikern nachzugehen. Und doch gewinnen wir auf diesem Wege das, was wir zunächst am drin- gendsten suchen: einen festen Standort. Freilich muß hiebei der Konsensus zwischen den uns erhaltenen literarischen Sokratika des Plato, Xenophon, Aristoteles, auf die man früher allein Be- dacht nahm, angesichts des Abhängigkeitsverhältnisses, in dem Aristoteles zu Xenophon und beide zu Plato stehen, überhaupt aus dem Spiel bleiben. Die Frage kann nur sein, was die So- kratiker erster Ordnung mit einander gemein haben. Und da wird sich ergeben, daß diejenigen unter diesen, die später einander am schroffsten gegenüberstehen, Plato und Antisthenes, in der ersten Zeit bedeutsame Berührungen zeigen. Ein neuerer Kritiker hat die Vermutung gewagt, die Apologie Piatos sei bereits kynisch beeinflußt und die Alkibiadesrede des Symposions preise den antisthenischen Sokrates. 1 ) So haltlos diese Hypothesen sind: sie sind doch insofern lehrreich, als sie unfreiwillige Zeugnisse dafür sind, daß der Sokrates der Apologie und der Alkibiades- rede mit dem antisthenischen, zumal, wie sich zeigen wird, dem frühantisthenischen, noch in wesentlichen Stücken übereinstimmt. Jener erscheint wie dieser als Protreptiker und Elenktiker, zuletzt als sittlicher Helfer und Retter. Daß dieses Zusammenstimmen für das platonische Zeugnis eine wertvolle Stütze werden wird, ist klar. Zur Ergänzung der frühplatonischen Sokrateszeichnung liegt es nahe, die gesamten Überreste der aus der sokratischen Gemeinde hervorgegangenen Literatur heranzuziehen. Und das ist nicht einmal ganz wenig, zumal wenn man noch, wo Bruch- x ) Vgl. Joel, Der echte und der xenophontische Sokrates I S. 480 f. II S. 931 ff. Die literarischen Quellen und der historische Kausalschluß. 149 stücke fehlen, die antiken Nachrichten über die Anschauungen der ältesten Sokratiker, so weit sie gut bezeugt sind, zu Hilfe nimmt. Erinnern aber wird man sich vor allem daran, daß außer Plato und Xenophon auch Antisthenes und Äschines „sokratische Gespräche" geschrieben haben. Von der unsicheren Überliefe- rung, die von Euklid und Phädo dasselbe berichtet, können wir absehen, da wir von den löyoi dieser beiden Sokratiker, wenn sie je existierten, jedenfalls keine Spur mehr haben. 1 ) Dagegen ist uns von denen des Äschines einiges erhalten, was für die Sokratesforschung, so tief man den Autor dieser Dialoge als Denker stellen mag, nicht ohne Wert ist. 2 ) Ganz besonders ins Gewicht fallen indessen die Fragmente der antisthenischen loyoi 2(x>y.Qa%ixol. Von dem Begründer der kynischen Schule ist be- kannt, daß er ein der sokratischen Sache mit vorbehaltsloser Selbstaufopferung ergebener Jünger und ein selbst im Äußerlichen treuer Nachahmer des Sokrates war. Ist nun nicht anzunehmen, daß dieser Mann dem Sokrates, wo er ihn zu den Lesern un- mittelbar sprechen läßt, nur solche Dinge in den Mund legte, die seiner festen Überzeugung nach wirklich sokratisches Gut waren? Aber auch soweit die antisthenischen Schriften nicht sokratische Gespräche waren, 5 ) sind die erhaltenen Reste für uns ungemein wertvoll. Denn auch die eigene Lebensauffassung des Antisthenes wollte nichts anderes sein als echte Sokratik. In ähnlicher Weise übrigens kann herangezogen werden, was wir über die Ansichten des Euklid und Aristipp wissen. Die Richtschnur aber für die Benutzung dieses ganzen Materials scheint die zu sein, daß man ') Nach Diogenes L. II 64 zweifelte schon Panätius an der Echtheit der dem Phaidon und Euklid zugeschriebenen „sokratischen Gespräche"; die übrigen, also vermutlich z. B. die dem Simmias und dem Kebes zugeschriebenen und ebenso die Dialoge des fabelhaften Schusters Simon, auf die ich hier nicht einzugehen brauche, verwarf er bestimmt. 2 ) Die Fragmente des Äschines sind in letzter Zeit von zwei Autoren neu ediert und kritisch bearbeitet worden: von H. Krauß, Aeschinis Socratici Reliquiae, Leipzig 1911, und von H. Dittmar, Aischines von Sphettos, 1912, S. 245 ff . 3 ) Mit Recht sagt v. Wilamowitz, Griechische Literatur des Altertums (in: Kultur der Gegenwart!, 3 Aufl., S. 131, Antisthenes habe „auch sokratische Dia- loge geschrieben, aber keineswegs nur sokratische Dialoge und keineswegs nur Dialoge". Daß das richtig ist, lehrt schon ein Blick auf die antisthenischen Werke bei Diog. L. (Winckelmann S. 12—14). 150 Die Quellen. diejenigen Züge aufgreift und in das Sokratesbild aufnimmt, die sich in den Rahmen der frühplatonischen Sokratesdarstellung ohne Störung einfügen lassen. Eben dieser Kanon indessen weckt wieder schwere Bedenken. Daß der Ertrag dieser Untersuchung ein sehr dürftiger werden muß, ist noch das Wenigste. Mit welchem Recht aber will man den ganzen großen Rest des sokratischen Materials, der danach zurückgestellt werden müßte, ignorieren? Und Tatsache ist, daß uns in der literarischen Überlieferung der sokratischen Gemeinde fast ebenso viele total von einander verschiedene Sokratesauf- fassungen entgegentreten, als es schriftstellernde Sokratiker ge- geben hat. Schon die Übereinstimmung zwischen Plato und Antisthenes in der ersten Zeit darf nicht überschätzt werden. Schon damals bereitet sich doch auch der große Gegensatz vor, der später die antisthenische und die platonische Sokratik scheidet. Antisthenes beanspruchte aber auch für seine fertige Welt- und Lebensanschauung mit größter Energie die sokratische Legi- timität. J ) Und zwar nicht etwa bloß in dem Sinn, daß er seine „Philosophie" eben nur als eine vom selben Geist geleitete Weiterführung sokratischer Gedanken hätte betrachtet wissen wollen. Nach allem, was wir von ihm wissen, wollte er auch, als er auf der Höhe stand, nichts anderes sein als der Interpret und Evangelist seines Meisters, und seine Meinung war zweifel- los, daß er jetzt erst den Sinn des sokratischen Werkes ganz er- faßt habe. Von diesem Gesichtspunkt war auch sein Kampf ') Daß dieser Anspruch in den weiteren Kreisen der Sokratesverehrer zu einem wesentlichen Teil anerkannt wurde, zeigt das Verhalten Xenophons (vgl. oben S. 45, S. 67; s. besonders Symp. Xen. VIII 4-6, IV 44, IV 56 ff., Mem. III 1 1, 17). Xenophon hat damit sicher nicht lediglich seinen persönlichen Eindruck ausge- sprochen. Er selbst hatte für Antisthenes ja wenig Sympathie. Auch die Art, wie Polykrates in seinem Pamphlet gerade die antisthenische Schriftstellerei berücksich- tigte und verwertete, wird nur unter der Voraussetzung ganz begreiflich, daß Anti- sthenes dem Polykrates wie überhaupt den Fernerstehenden als der eigentliche Erbe des Sokrates galt. Daß Antisthenes in weiteren Kreisen als treuester Jünger des Sokrates betrachtet wurde, ist wohl verständlich. Schon das äußere Leben des Mannes war ja eine Imitation des sokratischen. Auch Plato übrigens erkennt an, daß Antisthenes dem Sokrates nahe verbunden war; unter den Jüngern, die um den Meister in seiner Sterbestunde versammelt waren, führt er auch ihn auf (Phädo 59 B), und das zu einer Zeit, wo er mit ihm bereits in schärfster Fehde lag. Die literarischen Quellen und der historische Kausalschluß. 151 gegen Plato beherrscht. ') Plato selbst andererseits unterscheidet zwar ausdrücklich und grundsätzlich zwischen dem sokratischen Gedanken- und Interessenkreis, den er in seinen frühesten Schriften vertreten hatte, und seiner eigenen Philosophie, wie sie sich vom Gorgias ab vorbereitet und im Symposion fertig ans Licht tritt. Ebenso bestimmt aber hält er den Anspruch fest, daß die letztere sich durchaus auf der sokratischen Linie bewege und nichts an- deres sei als eine folgerichtige Fortbildung des sokratischen „Philosophierens-. Diesen zwei Typen der Sokratik stellen sich aber sofort zwei weitere zur Seite. Zunächst der euklidische. Wir wissen über die Anschauungen der Megariker nicht viel. Aber das Wenige, was uns überliefert ist, läßt einen spekulativen Sokratestypus erkennen, der die Mitte zwischen dem platonischen und dem kynischen hält; was den Euklid aber von der Seite seines alten Freundes Plato weggeführt und in die Nähe des Antisthenes gedrängt hatte, war offenkundig die Tendenz, sich in der Bahn der genuinen Sokratik zu halten. Noch bedeutsamer aber ist die Form der Sokratik, die sich an Ar i stipp s Namen knüpft. Bis zum heutigen Tag trägt man Bedenken, diesen sensualistischen Hedonismus im Ernst mit Sokrates in Zusammen- hang zu bringen. Wir werden indessen später sehen, wie nahe die Beziehungen sind, die diese Lebens- und Weltanschauung mit der ursprünglich sokratischen Gedankenwelt verbinden. Und wir haben allen Grund, dem traditionellen Vorurteil entgegen in Aristipps Denkweise einen Typus der Sokratik anzuerkennen, der sich den übrigen als vollwertig gegenüberstellen läßt. 2 ) Ganz zu- *) Schon hier möchte ich nachdrücklich betonen, daß ich mich in der folgenden Untersuchung der neueren Antisthenesphilologie gegenüber großer Reserve befleißigen werde. Andererseits kann ich die Unterschätzung des Anti- sthenes und insbesondere seiner sokratischen Beziehungen, zu der jetzt E. Schwartz (Charakterköpfe aus der antiken Literatur, 2. Reihe, 2. Aufl. S. 11 f.) und v. Wila- mowitz (Griechische Literatur S. 131) neigen, nicht teilen. Als natürliche Re- aktion gegen den abenteuerlichen Antistheneskult, wie er bis vor kurzem Mode war, ist mir das Urteil der beiden Männer allerdings vollkommen verständlich (vgl. 4. T. 2. Kap.). Ich glaube aber, daß aus der kritisch gesicherten Überliefe- rung ein wesentlich anderes Bild zu gewinnen ist. 2 ) Daraus, daß Aristipp keine /.öyoi SoixqcczixoI geschrieben hat — was übrigens trotz des Schweigens des Panaitios nicht so sicher ist, wie Hirzel, Dialog I 109, 1 will — , kann natürlich nicht das Gegenteil geschlossen werden. 152 Die Quellen. letzt aber darf doch auch an die xenophontische Sokrates- darstellung erinnert werden. Zwar gehört Xenophon ja keines- wegs zu den Sokratikern erster Ordnung. Er hat seine Weisheit zum überwiegenden Teil aus zweiter Hand, und das Eigene, was er bietet, ist im wesentlichen Reflexionsprodukt. Aber ein kleines Fundament von sokratischen Reminiszenzen und Materialien liegt doch auch seiner Sokratesauffassung zu Grunde. So darf auch der xenophontische Sokratestypus nicht ganz beiseite gestellt werden. Das ist die Situation. In ihr liegt ein großes Problem, dem die Sokratesforschung in ihrem eigenen Interesse nicht einfach ausweichen darf. Das Wort von den „unvollkommenen Sokrati- kern" will heute nicht mehr verfangen. Ob Plato, der Mystiker und Metaphysiker der Ideenlehre, dem wirklichen Sokrates näher steht als Antisthenes, Aristipp, Euklid oder Äschines, ist noch sehr die Frage. Und zwar eine Frage, die sich, selbst wenn man das frühplatonische Schrifttum zur Richtschnur nimmt, nicht sicher zu Piatos Gunsten entscheidet. Aber eben hier reicht diese Norm nicht aus. Die wesentlichsten Schwierigkeiten liegen über ihren Herrschaftsbereich hinaus. Vielleicht stellt sich unter diesen Umständen aufs neue die Empfindung ein, daß die For- schung endgültig darauf verzichten müsse, festen Grund unter die Füße zu bekommen. Allein so verzweifelt ist die Lage keineswegs. Im Gegenteil. Fassen wir das Problem richtig an, so eröffnen sich uns in ihm neue Einsichten, und zwar von der Art, daß sich der Untersuchung endlich ein sicherer und gangbarer Weg zeigt. Nicht so nämlich darf zunächst gefragt werden : wie erklären sich die Gegensätze, die in der sokratischen Gemeinde hervorgetreten sind? Wie ist es zu dieser ungeheuren Differenziierung gekommen? Das ist eine Frage zweiter Ord- nung, die wir zudem nie mit voller Sicherheit werden beantworten können, da wir über die Persönlichkeiten, über ihre individuellen Dispositionen, über die fremden Einflüsse, die auf sie gewirkt haben mögen, nicht genügend unterrichtet sind. Wir werden versuchen müssen, auch hierüber ins Klare zu kommen. Aber möglich wird dies doch erst dann sein, wenn die erste, die Haupt- frage entschieden ist: wie müssen wir uns Sokrates und sein Werk vorstellen, um die Tatsache zu begreifen, daß die verschiedenen Die literarischen Quellen und der historische Kausalschluß. 153 in der somatischen Gemeinde hervorgetretenen Sokratestypen, so weit sie aus einander liegen, dennoch zuletzt nichts anderes sein wollen als Interpretationen und Weiterführungen sokratischer Tendenzen, daß die verschiedenen Sokratesjünger in gutem Glauben für ihre von einander so stark abweichenden Sokrates- auffassungen die geschichtliche Richtigkeit und für ihre so ganz und grundsätzlich einander entgegenstehenden Lebens- und Welt- anschauungen die sokratische Legitimität in Anspruch genommen haben? 1 ) Das ist der Punkt, wo das Sokratesproblem und das Problem der Sokratik zusammenfallen. Und an diesem Punkt muß die Sokratesforschung einsetzen. Die Vertreter der verschiedenen Sokratestypen haben ein Recht, mit ihrem Anspruch, genuine Sokratiker zu sein, gehört zu werden. Und ihre Auffassungen müssen einmal wirklich als ernst gemeinte Deutungen des Sinns des sokratischen Werkes in Betracht gezogen werden. Damit aber ist uns die Aufgabe gestellt, für die sämtlichen Spielarten der alten Sokratik die Ausgangs- und Anknüpfungspunkte im Ge- danken- und Interessenkreis des geschichtlichen Sokrates aufzu- suchen. Die verschiedenen Sokratesbilder und „sokratischen" Welt- und Lebensanschauungen sind als die Wirkungen zu be- trachten, für die das Wirken des Sokrates die gemeinsame Ur- sache war. Und das Werk und das Wollen des Meisters muß so gedacht werden, daß die ganze Mannigfaltigkeit der Sokratik verständlich wird. Man kann sich vorstellen, daß die verschie- denen Typen der Sokratik eben nur verschiedene Seiten des so- kratischen „Philosophierens" aufgegriffen haben, und es gilt, die Tendenzen und Anschauungen des Meisters in ihrer ganzen Viel- seitigkeit zu fassen und zu begreifen. Das Verfahren, das sich uns so nahelegt, ist der historische Schluß von der Wir- kung auf die Ursache. Daß hiebei kritische Behutsamkeit sehr vonnöten ist, ist selbstverständlich. Mechanisch insbesondere darf die Methode nicht gehandhabt werden. Ob und inwieweit von den einzelnen Positionen der verschiedenen Sokratiker ein Zusammenhang mit *) Vgl. hiezu die richtige Bemerkung von F. C. S. Schiller, Plato or Prot- agons?, Oxford 1908, S. 8. 154 Die Quellen. genuin sokratischen Gedanken wirklich angenommen werden darf, ist in jedem Fall kritisch zu prüfen. 1 ) Was sich ferner über Ab- hängigkeitsbeziehungen zwischen den einzelnen Sokratikern un- mittelbarer und mittelbarer Art und schließlich über den Verlauf der Gesamtentwicklung der Sokratik ermitteln läßt, ist sorgfältig zu berücksichtigen. Im übrigen liegt ja schon in der Universalität des Verfahrens, die auf alle Erscheinungsformen der Sokratik Bedacht nimmt, ein Korrektiv gegen Voreiligkeiten und Einseitig- keiten. Im Grunde ist dieses Vorgehen selbstverständlich — selbst- verständlich bis zur Trivialität. Tatsache ist jedoch, daß der nahe- liegende Weg bis jetzt noch nie konsequent beschritten und ver- folgt worden ist. Nur der Rückschluß von der eigenen Philo- sophie Piatos auf Sokrates ist seit langem geläufig. Aber einwandfrei und aussichtsreich wird dieses Verfahren erst, wenn es gleicher- maßen auch auf die übrigen Sokratiker angewandt wird. Und wir wissen auch von den letzteren genug, wir haben, wenn man alles zusammennimmt, „sokratisches" Material zur Genüge, um imstande zu sein, den historischen Schluß wirklich fruchtbar zu gestalten und auf diesem Weg zu wertvollen Aufschlüssen über Sokrates und seine Sache zu gelangen. Der Wert unserer literarischen Quelle, des frühplatonischen Schrifttums, wird dadurch indessen nicht herabgemindert. Im Gegenteil. Das historische Verfahren bringt uns zwar eine will- kommene Ergänzung und ermöglicht zugleich eine wirksame Kontrolle der frühplatonischen Darstellung. Andererseits aber ist nicht zu verkennen, daß jene literarischen Dokumente dem histo- rischen Verfahren eine wichtige Stütze zu gewähren vermögen. An sich bleiben die Ergebnisse solcher geschichtlicher Schlüsse immer problematisch. Der Eindruck läßt sich ja nie ganz zurück- drängen, daß auch noch andere Erklärungsmöglichkeiten offen stehen, daß es doch auch anders könnte gewesen sein. Unter J ) Ich brauche kaum ausdrücklich zu sagen, daß es zunächst eben nur eine Hypothese ist, auf der das ganze Verfahren ruht. Ob sich wirklich von den überlieferten Sokratestypen aus solche Ausgangspunkte ermitteln lassen, muß sich ja noch zeigen. Immerhin läßt schon ein flüchtiger Blick auf die verschiedenen Erscheinungsformen der Sokratik ein positives Ergebnis mit Bestimmtheit er- hoffen. Die literarischen Quellen und der historische Kausalschluß. 155 diesen Umständen sind literarische Zeugnisse von der Art der frühplatonischen Schriften von unschätzbarer Bedeutung. Denn das bleibt ja bestehen, daß die Sokratesdarstellung der Apologie und des Kriton aus einer Zeit stammt, in der man in der soma- tischen Gemeinde noch nicht daran dachte, den Meister zu Ende zu denken, in der darum die späteren Gegensätze noch nicht hervorgetreten waren. Plato selbst jedenfalls hatte ganz und gar nicht die Absicht, die Gedanken des Sokrates weiterzuführen; ihm liegt nur daran, den Meister, wie er wirklich war, dem Leser nahezubringen und das sokratische Wort auf ihn wirken zu lassen, und noch war die Unbefangenheit des Sokratesjüngers auch nicht durch erfahrenen Widerspruch, durch polemische Rücksichten beeinträchtigt. Kennzeichnend für die damalige Lage bleibt, daß Plato und Antisthenes in der Sokratesauffassung einander noch ziemlich nahestehen: für die Treue der platonischen Darstellung fällt dies — hieran ist doch nicht zu zweifeln — stark ins Ge- wicht. Nun muß ja allerdings das historische Verfahren für diesen Quellenwert der frühplatonischen Schriftstellerei noch die letzte Bestätigung bringen. Allein das Verhältnis ist ein gegenseitiges. Das Vertrauen auf die Geschichtlichkeit des frühplatonischen Sokratesbildes hat immerhin Eigenevidenz genug, um seinerseits auch wieder dem historischen Rückschluß von der Wirkung auf die Ursache zu Hilfe zu kommen. Es wird also alles darauf ankommen, ob die beiden Quellen, die literarische und die historische, im wesentlichen zusammen- stimmen — in dem Sinn zusammenstimmen, daß die frühplato- nische Darstellung, wenn man an ihr das mögliche Moment indi- vidueller Einseitigkeit in Betracht zieht und gegebenenfalls in Abzug bringt, das Ergebnis des historischen Verfahrens organisch in sich aufzunehmen vermag, und andererseits die historische Unter- suchung von ihrem Standpunkt die frühplatonischen Schriften als Dokumente einer unbefangenen Sokratesauffassung aus der ersten Zeit anerkennen kann. Mit anderen Worten: die beiden Ver- fahrungsweisen müssen sich wechselseitig stützen, derart, daß die eine stets die Probe auf die Richtigkeit der Ergebnisse der anderen zu liefern vermag. Ist dies wirklich der Fall, so haben wir Aus- sicht, indem wir beide Methoden verbinden, ein geschichtlich gesichertes Sokratesbild zu gewinnen. In der Tat wird die fol- 156 Die Quellen. gende Untersuchung zu dem Resultat kommen, daß diese Über- einstimmung wirklich besteht. Zunächst aber kann uns wenigstens die Erwartung, daß es so sein werde, eine leitende Forschungs- direktive sein. Damit ist uns unser Weg vorgezeichnet. Als literarische Quelle darf uns dienen das frühplatonische Schrifttum. In Betracht kommen in erster Linie Apologie undKriton, und im Anschluß hieran die Sokratesdarstellung des Symposions, in zweiter Linie die früh- platonischen Dialoge: Hippias minor, Ion, Laches, Charmides, Protagoras und etwa noch Euthyphron. Mit der Nutzung dieser literarischen Quelle muß aber Hand in Hand gehen der historische Schluß von der Wirkung auf die Ursache, der Rückgang von den Sokratesauffassungen und „Philosophien" derjenigen Sokrates- jünger, in denen wir Sokratiker erster Ordnung sehen dürfen; als solche sind zu betrachten: Plato, Antisthenes, Aristipp, Euklid und nebenbei noch Äschines. Aus diesem Doppelverfahren aber erwächst uns zugleich die gesuchte Norm, die uns die Mög- lichkeit gibt, schließlich auch in den xenophontischen Sokratika, besonders den Memorabilien, die genuin sokratischen Ansätze zu ermitteln und so auch diese Materialien für die Sokratesforschung nutzbar zu machen. Auf eine Quelle allerdings müssen wir dauernd verzichten, und zwar eben auf die, die der neuesten For- schung am meisten gilt, auf Aristoteles: den aristotelischen Notizen über Sokrates läßt sich, dabei bleibt es, ein ursprünglicher und selbständiger Quellenwert im wesentlichen nicht zuerkennen. Zweiter Teil. Sokrates und die Philosophie. Erstes Kapitel. Der Sokrates der „Wolken". Die Sokratesforschung hat den Fehler begangen, daß sie, nach dem Vorgang des Aristoteles, den Sokrates viel zu sehr aus der Geschichte der griechischen Philosophie und viel zu wenig aus dem attischen Kulturleben heraus zu verstehen gesucht hat. So ist es gekommen, daß man ihn zu dem gestempelt hat, was er ganz gewiß nicht war, zum Philosophen. Und doch stand Sokrates der alten und der neuen Philo- sophie seiner Zeit, der metaphysischen Naturphilosophie und dem Sophistentum, schwerlich so ferne, wie die traditionelle Sokrates- auffassung annimmt. Bekannt und viel umstritten ist das Bild, das Aristophanes in seinen „Wolken" (423) von Sokrates entworfen hat. Dieser erscheint hier als der grübelnde Naturphilosoph, als der Stern- gucker und Wolkentüftler, der für die nächsten Dinge dieser Erde die fernliegendsten Erklärungen gibt und in seinem gelehrten Dünkel die Götter vom Throne stürzt, um an ihre Stelle die Natur zu setzen; zugleich aber andererseits als der Lehrer der neuen Weisheit, die die schwächere Rede zur stärkeren macht, die un- gerechte über die gerechte triumphieren läßt und Recht und Moral auf den Kopf stellt. ! ) J ) Bekanntlich sind uns die „Wolken" nicht in der ursprünglichen Form, in der sie aufgeführt wurden und Plato vorlagen, sondern nur in einer nicht zum Abschluß gekommenen Neubearbeitung erhalten. Der letzteren gehört ins- 158 Sokrates und die Philosophie. Ein Vierteljahrhundert später hat Plato in der Apologie diese Zeichnung mit leidenschaftlicher Heftigkeit bekämpft, und festge- stellt, daß Sokrates weder Naturphilosoph noch Sophist gewesen sei, daß er in seinen Gesprächen nie über naturphilosophische Fragen gehandelt und nie den Versuch gemacht habe, in der Art der Sophisten die Jugend zu unterrichten und zu erziehen. Piatos Zeugnis wäre unanfechtbar, auch wenn es nicht aus- drücklich durch Xenophons Bericht — in der Schutzschrift der Memorabilien — und überdies noch durch die antisthenische Praxis bestätigt würde. Aber Plato und ebenso Xenophon und Antisthenes können aus eigener Erfahrung doch nur von der Zeit reden und wissen, in der sie mit dem Meister in Verbindung standen. Ihr unmittelbares Zeugnis reicht darum über das letzte Jahrzehnt von Sokrates' Leben schwerlich hinauf. Und was So- krates im Jahre 409 und im Jahre 399 nicht war, könnte er im Jahr 423 recht wohl gewesen sein. Es wäre also möglich, daß Plato und Aristophanes recht hätten. Und wirklich ist das wiederholt schon angenommen worden. l ) Indessen schwerlich mit Grund. Zugleich, mit den Wolken des Aristophanes wurde der „Konnos" von Ameipsias aufgeführt, der gleichfalls Sokrates auf die Bühne brachte. Aber hier wird dieser der Trefflichste von wenigen genannt, der Törichtste von vielen, der Hungerleider, der Mantellose, der Fluch der Schuster, der aber doch nie zum Schmarotzer wird. Und zwei Jahre später führt Eupolis ihn in seinen „Schmeichlern" (421) als den arm- seligen Schwätzer ein, der um alles andere sich sorgt, nur nicht darum, wie er etwas zu essen bekomme. Das ist weder der Naturphilosoph noch der Sophist. Wir erkennen hier deutlich schon den Sokrates, der den Antisthenes fasziniert hat, den So- besondere der Dialog zwischen dem ölxaioc und dem äöixnq j.öyog 889—1104 an. An der Stelle desselben muß ein Abschnitt gestanden haben, der dem pla- tonischen xov i'jTzw Xöyov xqslztü) noiwv Apol. 19B entspricht. ') So AI. Chiapelli, II naturalismo di Socrate e le prime Nubi d'Aristofane, Rendiconti della R. Academia dei Lincei, Cl. di scienze morali 1886 S. 284 ff., ferner Nuove ricerche sul naturalismo di Socrate, Archiv für Gesch. der Phil. IV S. 369 ff., sodann neuerdings A. E. Taylor, Varia Socratica 1. s., Oxford 1911, S. 129 ff. (T. faßt die Hypothese noch viel bestimmter, vgl. die Zusammenfassung S. 174 f.; er sieht in Sokrates aber überhaupt einen spekulativ-mystischen Philo- sophen: er hält das später-platonische Schrifttum für eine streng historische Quelle.) Der Sokratcs der „Wolken". 159 krates der Apologie, der sich um das Wohl anderer müht und das eigene Interesse darüber versäumt, der auf dem Markte und in den Gassen herumläuft, um die Leute auf den Weg des sitt- lichen Lebens zu führen. Und im Grunde wird dieses Bild durch charakterisierende Bemerkungen der Wolken selbst bestätigt. l ) In der Tat: Sokrates war schon zu der Zeit, als die „Wolken" aufgeführt wurden, der, den Plato kannte. Dennoch ist das aristophanische Stück weder als schlechtweg verfehlt zu betrachten noch für die Lebensgeschichte des Sokrates durchaus ertraglos. Wir müssen versuchen, den Dichter zu ver- stehen. Wäre es ihm nur darum zu tun gewesen, den sonder- baren Kauz, der die Straßen Athens unsicher machte, auf die Bühne zu bringen, die Karikatur wäre sicherlich naturgetreuer ausgefallen. Aber daß er das nicht wollte, läßt sich fast exakt beweisen. Man weiß heute, daß die in den „Wolken" dem Sokrates an- gehängten Naturspekulationen in Wahrheit dem naturphilosophi- schen Synkretisten Diogenes von Apollonia, der seit Jahren schon in Athen lebte und lehrte, zugehören, und Diogenes war dem athenischen Theaterpublikum sicher kein Unbekannter. Man weiß ferner, daß nicht bloß die grammatischen Untersuchungen über die Geschlechter der Wörter, die der Sokrates der „Wolken" an- stellt, auf den Sophisten Protagoras zurückgehen, sondern vor allem auch, daß dieser es war, der für sich die Kunst in Anspruch nahm, die schwächere Rede zur stärkeren zu machen, und sowohl Protagoras selbst als sein Ausspruch waren stadtbekannt. Daß Sokrates endlich nicht, wie die „Wolken" ihn tun lassen, nach Art der Sophisten Unterricht um Geld erteilte, sondern stets der arme Schlucker war und blieb, der sich um Geld und Geldeswert nicht im mindesten kümmerte, war gleichfalls notorisch. War es nun Ungeschicklichkeit und Mangel an Erfindung, was den Dichter veranlaßt hat, seinem Sokrates Züge zu leihen, die, wie allgemein bekannt war, nicht diesem, sondern anderen Persönlichkeiten zu- kamen ? Sicher ist so viel: schlimmere Mißgriffe hätte er nicht begehen können — wenn er wirklich die Person des Sokrates hätte karikieren wollen. Aber man braucht jene Frage nur eben ') Vgl. I. Bruns, Das literarische Porträt der Griechen, S. 181 f. 160 Sokrates und die Philosophie. auszusprechen, um sie sofort zu verneinen. Offenbar ist das Ver- fahren des Aristophanes ein bestimmt beabsichtigtes. Und der Dichter wußte, was er wollte. M. Schanz hat geurteilt, der Sokrates der „Wolken" sei nicht als Individuum gedacht, sondern als Typus (Apologia S. 50). In Wirklichkeit sind es zwei Typen, nicht einer, die das Stück uns in der Figur des Sokrates vor Augen stellt, und zwar zwei Typen, die sich mit einander ungefähr ebenso vertragen wie Wasser und Feuer und hier um so unverträglicher werden, als ja beide mit konkreten, auf bestimmte Individuen hinweisenden Zügen aus- gestattet sind. Daß es zwischen dem unpraktischen, weltfernen Naturphilosophen, der den Dingen am Himmel und unter der Erde nachspürte und auf der Erde immer ein Fremdling blieb, und dem in allen Sätteln gerechten Sophisten, dem glänzenden Weltmann, dem illusionslosen Praktiker, der solch brotlose Künste verachtete und für seine im Leben nutzbare Weisheit Ruhm und Reichtum eintauschte, eine Gemeinschaft nicht gab, sah auch das blödeste Auge. Und die Athener kannten beide gut genug. Seit Anaxagoras vor mehr als einem Menschenalter nach Athen über- gesiedelt war, war dieses zu einem Mittelpunkt der naturphilo- sophischen Spekulation geworden. Und so sehr der große Denker bemüht war, in stiller Zurückgezogenheit ganz seiner Forschung zu leben, so war er doch nicht bloß ein hochgeschätztes Glied des perikleischen Kreises geworden. Sein Ruhm war auch ins große Publikum gedrungen und hatte dem „Nus" — so hieß der Philosoph im Volksmunde — zu einer nicht unbedenklichen Popu- larität verholten. Als die „Wolken" aufgeführt wurden, war noch kein Jahrzehnt verflossen, daß der Freund des Perikles einer politischen Intrigue zum Opfer gefallen und, um dem Todes- urteil wegen Atheismus zu entgehen, geflüchtet war. Gewiß ge- dachten viele der Zuschauer jetzt des ernsten Mannes und seines Schicksals. Und seine Verehrer und Schüler lebten und wirkten immer noch in Athen. In den zwanziger Jahren gingen in Athen aber zugleich die neuen Weisheitslehrer ein und aus. Vier Jahre war es her, daß Gorgias, als Gesandter seiner Vaterstadt, die Athener mit seiner Redekunst entzückt und hingerissen hatte. Prodikos und Hippias ferner waren häufige Gäste. Vor allem aber war Protagoras in Athen so gut wie heimisch geworden. Der Sokrates der „Wolken". 161 Und die Art der Sophisten war es nicht, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen. Es sah eher einer marktschreierischen Reklame gleich, wie sie die Jugend an sich zu ziehen wußten, und wenn einer von ihnen in Athen weilte, so war die ganze Stadt seines Lobes voll. Der schlichte Bürger aber brauchte nur die Gestalt des Anaxagoras, wie sie ihm in der Erinnerung lebte, einem dieser lauten Gäste gegenüberzustellen, um den ungeheuren Abstand zu erkennen, der zwischen den Naturphilosophen und den Sophisten lag. Wie kommt es nun, daß Aristophanes die beiden Typen dennoch zu einem Bild zusammengearbeitet hat? Daß der wirk- liche Sokrates kein solcher Zwitter war, wußte wohl der Dichter so gut wie sein Publikum. Und so viel läßt sich jetzt mit noch größerer Bestimmtheit sagen als zuvor, daß die „Wolken" nicht lediglich ein persiflierendes Charakterstück sein wollten. Was aber dann? Was ist der Sinn dieser Sokratesfigur? Zu des Dichters großem Schmerz fielen die „Wolken" bei der Aufführung durch. Gewiß nicht darum, weil ihr Sokratesbild ver- zeichnet schien. Offenbar wurde das Stück so verstanden, wie es gemeint war. Das Publikum fühlte die Tendenz durch, die das Ganze beherrschte und ihm die Einheit gab, und mit dieser Tendenz vermochte es nicht — damals nicht — zu sympathi- sieren. Die „Wolken" sind, wie man längst erkannt hat, ein energischer, zielbewußter Vorstoß des reaktionär-romantischen Konservatismus gegen die ganze Aufklärungsbewegung, die da- mals auch in Athen von Tag zu Tag mehr an Kraft und Boden gewann. So weit nun aber Sophistik und Naturphilosophie aus- einanderlagen: beide waren doch Kinder desselben Geistes, des modernen Geistes, der auf den Umsturz des alten Glaubens und der alten Sitte hinzuarbeiten schien. Der Dichter mußte also beide an den Pranger stellen, die Naturgrübler, die Väter des Atheismus, wie die neuen Weisheitslehrer, die ihm als die Vergifter der Volks- moral und des öffentlichen Rechtsbewußtseins erschienen. Warum aber hat er dann nicht die Männer, deren Anschau- ungen und Gepflogenheiten er in seinem Stück ausdrücklich persifliert hat, Protagoras und Diogenes, selbst auf die Bühne ge- bracht? Das wären hervorragende Vertreter der beiden Richtungen gewesen, die den Athenern ja zudem wohlbekannt und auf der komischen Bühne längst keine Fremden mehr waren. Zu H. M a i er, Sokrates. H 162 Sokrates und die Philosophie. Szenen von hinreißender Komik hätte die Gegenüberstellung der feindlichen Brüder gewiß Anlaß gegeben. Warum hat der Dichter auf diesen Effekt verzichtet? Offenbar wollte er die Frucht, die Wirkung der gesamten Aufklärungsbewegung in einem Bild vorführen, und in konzentrierter Form zeigen, auf welchen Weg die Neuerer die Jugend zu führen im Begriff waren. Was hat ihn aber auf die Person des Sokrates geführt? Man hat die Lösung darin gesucht, daß Sokrates ein athenischer Bürger war: als Angriffsobjekt war ein Fremder, wie Protagoras oder Diogenes, weniger brauchbar; dazu war ein Athener erforderlich, und der fand sich in dem wunderlichen Kauz, der längst die Aufmerksam- keit der Menge auf sich gezogen hatte. Und es war ja in der Tat wirkungsvoller, wenn der Dichter sagen konnte: so weit ist es bereits gekommen, daß ein athenischer Bürger solche Dinge treibt und solche Reden führt. Aber die ganze Lösung ist das nicht. Schließlich ist doch nur eine Antwort möglich. Sokrates galt dem Dichter — und vermutlich konnte dieser voraussetzen, daß sein Publikum ebenso empfand — als der gefährlichste Re- präsentant, als die Verkörperung der ganzen Aufklärung, als der bedeutendste und erfolgreichste Werber für den modernen Geist. Gegen diesen Sokrates wandte sich der Angriff der „Wolken". Man beachte wohl: daß der Sokrates der „Wolken" zugleich als Sophist und Naturphilosoph dargestellt ist, das gibt ihm eine Sonderstellung und hebt ihn hinaus über Sophisten und Natur- philosophen: er gehört keinem von beiden Lagern an, aber er ist in beiden zu Hause, sofern er den Geist der beiden Richtun- gen in sich aufgenommen hat: kurz, er ist der Aufklärer auf einer höheren Potenz. Sofern aber in Sokrates nicht die Persönlichkeit als solche, sondern der Führer der Aufklärung, im Führer aber die Aufklärungsbewegung selbst getroffen werden sollte, hatte der Dichter die Freiheit, seinem Helden alles Böse, Bedenkliche, Lächerliche, was der neuen Zeit und dem modernen Geist nach- gesagt werden konnte, anzuheften; er konnte auf ihn die wider- sprechendsten Züge zusammenhäufen, ihm Gedanken, Worte und Handlungen leihen, die notorisch anderen Individuen angehörten 1 ): *) I. Bruns bestreitet dies, a. a. O. S. 352; ich glaube, mit Unrecht. Nur das wird anzuerkennen sein, daß Aristophanes dem Sokrates nicht persönliche Charakterzüge anderer Individuen geliehen hat. > Sokrates und die alte Philosophie. 163 alles durfte er heranziehen, was nur irgend für den Geist der Neuerung, die er bekämpfte, charakteristisch war. Und Aristopha- nes hat die Faschingsfreiheit, die ihm zustand, reichlich genutzt, ganz in der tollen, phantastischen Weise der altattischen Komödie, die auf psychologische Möglichkeit und Begründung nichts, auf komische Wirkung alles gab. Eines also läßt sich den „Wolken" mit Sicherheit entnehmen: die Tatsache, daß Sokrates schon damals dem Dichter als das geistige Haupt der Modernen, der Intellektuellen galt, als derjenige, in dessen Wirken alle Aufklärungstendenzen ihren geeinten Aus- druck fanden. Auf athenischem Boden war ein gewisses Zusammenfließen der beiden Richtungen längst Tatsache geworden. Nicht daß die alten und die neuen Philosophen selbst sich hier die Hand ge- reicht hätten! Aber dem athenischen Bildungsbedürfnis waren beide willkommen. Im Hause des Perikles waren Sophisten und Metaphysiker gleich gern gesehen, und der große Staatsmann hatte von beiden zu lernen gewußt. Vor allem indessen war es Euripides, der Dichter der neuen Zeit, in dessen Weltanschauung sich eine Synthese der alten und der neuen Wissenschaft voll- zogen hatte. 1 ) Der spiritus rector dieses ganzen modernen Un- wesens aber schien Sokrates zu sein, und als solchen brandmarkt Aristophanes ihn, indem er ihn zugleich als lehrenden Naturphi- losophen und als lehrenden Sophisten auf die Bühne bringt. Zweites Kapitel. Sokrates und die alte Philosophie. Das aristophanische Stück lehrt uns indessen darüber hinaus noch manches andere. Ganz aus der Luft gegriffen konnten die Hauptzüge der Zeichnung doch nicht sein. Wollte der Dichter die beiden Richtungen der Aufklärung an die Person des Sokrates anknüpfen, so mußte in dieser doch irgend ein Anhalt liegen, M Zu der Weltanschauung des Euripides vgl. v. Wilamowitz, Einleitung in die griechische Tragödie (Euripides' Herakles 1. Aufl.) S. 22 ff., ferner W. Nestle, Euripides, der Dichter der griechischen Aufklärung. 11* 164 Sokrates und die Philosophie. der hiezu ein Recht oder wenigstens den Schein eines Rechts gab. Ganz ohne tatsächliche Unterlage konnte auch ein Fast- nachts- und Tendenzstück wie die „Wolken'- nicht auf eine dem Publikum bekannte Persönlichkeit die Sünden einer ganzen großen Epoche häufen. Nun kannte der Dichter seinen Helden so gut, als man eben einen Mann von der Art des Sokrates aus der Ferne kennen kann. Und wirklich weist die Sokratesfigur der „Wolken" ja manche Züge auf, die dem Tun und Treiben des wirklichen Sokrates glücklich abgelauscht waren. In der Haupt- sache aber hielt er sich gewiß an das, was man sich im großen Publikum, und noch mehr an das, was man sich in seinen Kreisen über den sonderbaren Heiligen erzählte. Wir erfahren also aus den „Wolken" zum wenigsten, was „man" in jener Zeit von Sokrates dachte. Offenbar war das Verständnis der sittlichen Tendenz seines Wirkens der großen Mehrzahl auch der Gebilde- ten nicht aufgegangen. Er galt eben als ein Weisheitslehrer, aber allerdings als ein solcher, bei dem mehr zu holen war als bei allen anderen, da er nicht bloß über das ganze Rüstzeug der sophi- stischen Bildung verfügte, sondern zudem noch in der Wissen- schaft der Naturphilosophen heimisch war. Das ohne Zweifel hat ihm den ungeheuren Zulauf aus den Kreisen der vornehmen athenischen Jugend verschafft. Wie aber waren die Leute zu solchen Vorstellungen von Sokrates gelangt? Daß man ihn für eine Art von Sophisten hielt, ist leicht zu verstehen. Gewiß, er war kein gewerbsmäßiger Lehrer, und auch sein ganzes äußeres Auftreten schied ihn scharf von den sonstigen Vertretern der Zunft. Aber einen zunftgerechten Sophisten sah ja doch wohl niemand in ihm. Daß er dagegen in allen Künsten dieser neumodischen „Philosophie" erfahren war, schien um so sicherer. An sophistische Gepflogenheiten erinnerten ja schon gewisse Äußerlichkeiten seiner „Lehrtätigkeit". Ganz be- sonders nahe aber lag es, wenigstens für den Fernerstehenden, die sokratische Dialektik, die sich mit Vorliebe in Paradoxen er- ging und immer das Selbstverständlichste, wie es schien, in sein Gegenteil verkehrte, mit der sophistischen Redekunst, die die schwächere Rede zur stärkeren zu machen wußte, zusammenzu- werfen. Und handelten nicht seine Gespräche, ganz ähnlich wie die Vorträge der Sophisten, immer wieder von Tugend, von Recht Sokrates und die alte Philosophie. 165 und Gerechtigkeit, von Staat und staatlichen Dingen? War es da ein Wunder, daß viele ihn als einen der neuen Rhetoriklehrer betrachteten? ') Wie in aller Welt aber ist man darauf gekommen, ihn mit den Naturphilosophen in Zusammenhang zu bringen? Plato ver- sichert ausdrücklich und feierlich, daß Sokrates nie in seinem Leben — also auch zur Zeit der Aufführung der „Wolken 1 ' und in noch früheren Jahren nicht — in seinen Gesprächen über naturphilosophische Gegenstände doziert habe. Er muß sich hierüber genau unterrichtet haben. Denn an einem solchen Punkt durfte der Apologet nicht riskieren, Lügen gestraft zu werden. Und sicher hätte Polykrates, wenn die platonische An- gabe der Wahrheit nicht entsprochen hätte, dies in seiner Weise festgenagelt; d. h. er hätte den Anklagepunkt wieder aufge- nommen. Dies ist aber, so viel wir wissen, nicht geschehen. Und dennoch - - etwas muß an jenem Gerede gewesen sein. Völlig aus den Fingern pflegen solche Gerüchte doch nicht ge- sogen zu werden. So viel zum mindesten wird anzunehmen sein, daß Sokrates mit den athenischen Vertretern der Naturphilosophie damals noch in Verkehr stand oder doch bis vor kurzem ge- standen hatte. Und auch das muß irgendwie in die Erscheinung getreten sein, daß er in den Geheimnissen der Naturphilosophie bewandert war. Hier kommen uns alte Nachrichten wirksam zu Hilfe. Zwar was die späteren platonischen Dialoge (speziell der Phaidon) den Sokrates über naturphilosophische Studien, die er in seiner Jugend getrieben habe, erzählen lassen, ist ebenso fingiert wie das, was sie über Begegnungen des jungen Sokrates mit Parmenides und Zeno zu berichten wissen. Auch die Angaben der späteren Ge- lehrten über Sokrates' Vorbildung und Lehrer sind in der Haupt- sache wertlos. Dagegen verdanken wir Diogenes Laertius eine gut bezeugte Notiz über einen engeren Verkehr des Sokrates mit Archelaos. Sie besagt, Sokrates habe in seiner Jugend mit Arche- laos eine Reise nach Samos gemacht. Die Notiz stammt aus ') Vgl. die in der xenophontischen Schutzschrift Mem. I 2, 31 ff. erzählte Anekdote über den Zusammenstoß des Sokrates mit Kritias und Charikles, der augenscheinlich zur Voraussetzung hat, daß Sokrates von der großen Menge zu den sophistischen Rhetoriklehrern gezählt wurde. 166 Sokrates und die Philosophie. dem Reisewerk des Tragikers Io von Chios, eines älteren Zeitge- nossen des Sokrates, und wir haben keinen Anlaß, sie zu be- zweifeln. ! ) Archelaos aber war ein Schüler des Anaxagoras. Der. Schluß liegt also nahe genug, daß Sokrates in seiner früheren Zeit zu dem anaxagoreischen Kreis in freundschaftlichen Bezie- hungen stand. Nun sind allerdings die äußeren Stützen der Tra- dition, die Sokrates auch mit Anaxagoras selbst in unmittelbare Verbindung bringt, nicht eben tragkräftig. Um so größer ist ihre innere Wahrscheinlichkeit. Man darf nicht vergessen, daß Anaxa- goras seit Sokrates' Knabenjahren in Athen weilte. So groß aber war die Unnahbarkeit des einsamen Denkers gewiß nicht, daß er sich von denen, die ihn ernstlich suchten, nicht hätte finden lassen. Und sollte Sokrates ihn nicht gesucht haben? Immer noch wirkt die alte Legende nach, die in Sokrates den Autodidakten und Popularphilosophen sah, der, was er wußte, in der Hauptsache aus sich selbst hatte und in einer entarteten Zeit den überstiegenen, hirnverbrannten Spekulationen der frühe- ren Philosophen wie dem sittlichen, sozialen und politischen Ra- dikalismus der Sophisten den schlichten Sinn und den gesunden Menschenverstand des einfachen Mannes entgegensetzte. Man sollte auch die letzten Reste dieses Vorurteils vollends begraben. Wenn irgend etwas, so ist das sicher, daß der Sokrates, der uns aus unseren Quellen, wenn wir sie zu nutzen wissen, entgegentritt, ein überaus komplizierter und durch und durch moderner Mensch war, der auf der ganzen Höhe der attischen Kultur und der grie- chischen Wissenschaft stand — so wenig wir wissen, wie er da- hin gelangt ist. Als Sokrates jung war, war die alte Wissenschaft noch die unbestrittene Führerin der Fortschrittsbewegung. Die Zeiten eines Xenophanes, Heraklit und Parmenides zwar waren vorüber, ') Hiezu ist Zeller II l 4 S. 45 ff., namentlich aber S. 49, Anm. 3 zu ver- gleichen. Die Notiz Diogenes II 23 wird aber von Zeller mit Unrecht ange- zweifelt (vgl. Th. Gomperz, Griech. Denker II S. 37). Daß die Berufung auf Kriton 52 B. E f. nichts beweist, sagt er selbst. Möglich bleibt nur, daß von Io ein anderer Sokrates gemeint war. Aber sehr viel größer ist doch die Wahr- scheinlichkeit, daß es sich um unseren Sokrates handelte. — Die weitere Mit- teilung des Diogenes, der junge Sokrates sei der Geliebte des Archelaos gewesen, II 19 vgl. 16, geht auf Aristoxenos zurück, ist also peripatetischer Klatsch. Sokrates und die alte Philosophie. 167 wo die Spekulation in grandioser Kühnheit ihre Intuition un- mittelbar auf das Ganze der Welt gerichtet hielt, um das ewige Wesen und Gesetz des Kosmos zu ergründen. Aber auch der folgenden Generation, zumal den „Naturphilosophen", fehlte weder die Kraft noch das Selbstvertrauen. Und jetzt hatte die Wissen- schaft ja auch in Athen, wohin bisher von ihr nur aus der Ferne eine dunkle Kunde gedrungen war, eine Stätte gefunden. Gewiß war es nur ein kleiner Kreis, der sich umAnaxagoras sammelte. Aber ein Anfang war gemacht, und von da ab war Athen auf Jahr- hunderte hinaus für die Wissenschaft erobert. Daß aber auch Sokrates an dieser Wendung Anteil nahm, ist kaum zweifelhaft. Mochte für den jungen Steinmetzgesellen der Weg von dem üb- lichen Elementarunterricht, der jedem athenischen Bürgersohn zu teil wurde, bis zu den Mysterien der ausländischen Wissen- schaft kein leichter gewesen sein: daß er ihn gegangen ist, müssen wir voraussetzen. Und sollte nun dieser Mann mit dem unstill- baren Bildungsdurst an dem Großen, das unmittelbar am Wege lag, vorübergegangen sein? Vielleicht ist es Sokrates erst in männlichen Jahren — damals etwa, als der Ruf seines Geistes und seiner Originalität ihm den perikleischen Zirkel öffnete — gelungen, in die persönliche Nähe des großen Philosophen zu gelangen. Aber mittelbar hatte er gewiß schon lange vorher Fühlung mit ihm gewonnen. Es war ja nicht bloß die räumliche Nähe, was ihn antrieb, den Verkehr des Anaxagoras zu suchen. Von den großen Philosophen der Zeit zog ihn — das läßt sich aus seiner wei- teren Entwicklung mit Bestimmtheit erschließen — dieser auch innerlich am meisten an. Für Empedokles, den naturphilo- sophischen Mystagogen, den Sühnepriester und Wundertäter, von dem wunderliche- Sagen auch nach Athen gedrungen sein mögen, hat er schwerlich viel übrig gehabt. Demokrits Stern aber war damals noch nicht aufgegangen, und sicher hätte Sokrates sich für die materialistische Atomistik nie erwärmen können. Dagegen ist aus der anaxagoreischen Gedankenwelt ein großer Grundgedanke auch in die spätere Weltanschauung des Sokrates übergegangen. Anaxagoras hat ihm den Blick auf den großen Zweckzusammen- hang des Kosmos geöffnet: der Ausgangspunkt der sittlichen Teleologie des Sokrates liegt in dem teleologischen Motiv der anaxagoreischen Philosophie. 168 Sokrates und die Philosophie. Gleichwohl stand Sokrates wahrscheinlich zu Anaxagoras so wenig wie zu Archelaos in einem Verhältnis eigentlicher Schülerschaft. Und ein gläubiger Adept irgend eines naturphilo- sophischen Systems ist er sicher nie gewesen. 1 ) Nur das wird man sagen dürfen, daß er in seiner früheren Zeit sein Interesse auch der spekulativen Philosophie zugewandt und besonders der anaxagoreischen Weltbetrachtung nahegestanden hatte. Wie lange das gedauert hat, wissen wir nicht. Vermutlich ist die innere Entwicklung des Sokrates von einer Seite ein Prozeß allmählicher innerer Loslösung von den naturphilosophischen Tendenzen gewesen. Und möglicherweise hatte Sokrates noch zu Anfang der zwanziger Jahre seinen späteren Standpunkt nicht ganz erreicht. Sicher ist nur, daß im letzten Jahrzehnt seines Lebens der Entwicklungsprozeß als längst abgeschlossen hinter ihm liegt. Zwar stempelt ihn auch damals noch die öffentliche Meinung zum Sophisten und Naturphilosophen. Aber der Kern des Geredes ist, jetzt noch mehr als früher, die instinktive Ahnung, daß Sokrates der Intellektuellste unter den Intellektuellen, der Bedeutendste und Universellste unter den Fortschrittlern war. Was noch darüber hinaus an einzelnen Nachreden umlief und geglaubt wurde, zeigt doch nur, welch zähes Leben die Fama hat, und andererseits, wie wenig die Menge immer noch das, was Sokrates wirklich gewollt hat, verstand. Wenn Plato aber zuletzt die „Wolken" für alle diese Vorurteile über Sokrates ver- antwortlich macht, so hat er wohl insofern Recht, als das aristo- phanische Stück den Gerüchten immer wieder Halt und Nahrung geben konnte. 2 ) ') Das ist Zellers Darstellung II V S. 136 ff. zuzugeben. 2 ) Merkwürdig ist die Rolle, die Plato den Aristophanes im Symposion spielen läßt. Hier erscheint dieser als einer der Unterredner, der mit Sokrates in freundschaftlichem Verkehr steht. Nun ist ja wohl glaublich, daß der historische Sokrates den Vorstoß des Aristophanes nicht allzu tragisch nahm, und es ist nicht an sich unmöglich, daß Sokrates zu der Zeit, auf welche die Szenerie des Sym- posions hinweist, kein Bedenken getragen hätte, mit dem Komiker zu verkehren; ob freilich Aristophanes, der sich damals mit dem Gedanken einer Neubearbeitung und Neuaufführung der „Wolken" trug, ebenso dachte, ist fraglich. Allein für das Verständnis der Art, wie Aristophanes im Symposion eingeführt wird, ist das am Ende belanglos. Tatsache ist, daß Plato in der Apologie eine scharfe Ab- rechnung mit Aristophanes gehalten hat. In der Zeit aber, die zwischen Apo- Sokrates und die alte Philosophie. 169 Wie Sokrates in jener Zeit wirklich zur spekulativen Philo- sophie stand, sagt uns die meisterhafte Schilderung der plato- nischen Apologie. Von allen diesen Dingen, so läßt diese (19 CD) den Sokrates sagen, „verstehe ich weder Großes noch Kleines. Nicht daß ich diese Wissenschaft gering schätzte — wenn jemand hierin wirklich etwas weiß! Ein solcher Verdacht wäre mir peinlicher als alle Anklagen des Meletos. Aber ich selbst habe keinen Teil an diesen Dingen." Und dafür, daß er dieselben nie in seinen Unterredungen behandelt habe, ruft Sokrates alle diejenigen zu Zeugen auf, die jemals seine Gespräche mit angehört hatten. In diesen Sätzen liegt nicht bloß, daß Sokrates nie Lehrer der Naturphilosophie gewesen sei und von diesen Dingen nichts ver- standen habe. Schon diese zweite Behauptung muß richtig ge- deutet werden. 1 ) Was Plato sagen will, ist dies: Sokrates' Ar- beitsgebiet war nicht die Spekulation, nicht die Naturphilosophie; das große Interesse und die Arbeit seines Lebens lag weit ab von dieser Gedankenwelt. Hiezu sind nun aber die mittleren Sätze hinzuzunehmen. Die Versicherung, daß Sokrates die Naturphilo- sophie nicht geringschätze, daß er um alles in der Welt nicht in diesen Verdacht kommen möchte, ist ganz und gar nicht ironisch gemeint; sie ist im Gegenteil ein ernstes Bekenntnis. Es wird zunächst festgestellt, daß Sokrates dem fanatischen Argwohn, den die urteilslose Menge gegen die Naturwissenschaft hegte, ebenso ferne stand wie der banausischen Mißachtung derselben, die in den letzten Jahrzehnten des 5. Jahrhunderts Mode geworden war. Aber Plato will noch mehr sagen. Sein Sokrates steht der Naturphilo- sophie nicht ohne gewisse skeptische Bedenken gegenüber: es ist ihm einigermaßen zweifelhaft, ob auf diesem Wege etwas zu erreichen ist. Nichts aber liegt ihm ferner, als sich grundsätz- lich von den Männern der wissenschaftlichen Forschung loszu- sagen. Im Gegenteil, er bekennt sich unumwunden zu ihnen. logie und Symposion fällt, muß eine — persönliche und prinzipielle — An- näherung der beiden Männer an einander stattgefunden haben. Ansprechend ist die Vermutung, daß Plato im Symposion dem inzwischen verstorbenen Dichter ein Gedenkblatt widmen wollte (vgl. Christ-Schmid S. 417 f.). *) Hier ist darauf hinzuweisen, daß auch das allgemeine Bekenntnis des Nichtwissens nicht wörtlich zu nehmen ist. 170 Sokrates und die Philosophie. Er stellt sich prinzipiell durchaus auf den Boden der Wissen- schaft und der neuen Zeit. Wie sticht von dieser Darstellung die ängstliche Apologetik der xenophontischen Schutzschrift (Mem. 1 1, 11 — 15) ab! Xenophon möchte den Meister von dem Verdacht des Atheismus befreien und löst ihn zu diesem Behuf so gründlich wie möglich von jeder Gemeinschaft mit den übel beleumdeten „Philosophen" los. Wenn wir diesen Apologeten hören, stellte Sokrates nicht bloß für seine Person niemals Betrachtungen an über die Natur des Alls, über das Wesen des von den Philosophen so genannten Kosmos und über die Gesetze der Himmelserscheinungen, son- dern er betrachtete auch diejenigen, die hierüber nachdachten, als törichte Menschen; er hielt es für unangebracht,über die göttlichen Dinge zu grübeln, ehe man in den menschlichen hinreichend Be- scheid wüßte; daß aber ein derartiges Unternehmen überhaupt die menschlichen Kräfte übersteige, schloß er aus dem unge- heuren Widerstreit, in dem die Behauptungen der verschiedenen Philosophen zu einander stehen, einem Widerstreit, der ganz an die Meinungsverschiedenheiten der Wahnsinnigen erinnere; und schließlich schien ihm eine theoretische Spekulation gänzlich wertlos, die nur die Kenntnis der Gesetze der Naturerscheinungen, nicht die tatsächliche Herrschaft über dieselben und die Fähigkeit, sie zu erzeugen, erreichen könne und wolle. Das ist der ganze Xenophon, der reaktionär angehauchte Konservative, der in dem Mann der Wissenschaft an sich schon den Ungläubigen wittert, der philiströse Banause, der die Leute, die sich um die Dinge des Himmels kümmerten statt um die der Erde, für Toren und Narren hält, der Skeptiker im Stil des Anti- sthenes, der aus den Kämpfen und Gegensätzen innerhalb der bisherigen griechischen Philosophie die gänzliche Unmöglichkeit spekulativer Welterkenntnis folgert, und endlich der Praktiker, der von der reinen Theorie nichts hält und nur eine im Leben nutzbare Wissenschaft zu schätzen weiß. Aber es kommt noch stärker. In der Gesprächsammlung der Memorabilien (IV 7) gibt Xenophon einen zweiten Bericht über Sokrates' Stellung zur Naturphilosophie, der über den ersten noch merklich hinausgeht. Der Autor erzählt zunächst, wie sehr Sokrates darauf bedacht war, daß seine Jünger in ihren Lebens- Sokrates und die alte Philosophie. 171 und Wirkungskreisen zu voller Selbständigkeit gelangten, wie viel er insbesondere darauf hielt, daß sie sich das für tüchtige Männer erforderliche Maß von Kenntnissen aneigneten, wie er sie, wo er Lücken in ihrem Wissen entdeckte, entweder selbst unterrichtete oder, wenn er sich die nötige Sachkunde nicht zutraute, veran- laßte, bei Sachverständigen Unterricht zu nehmen. Wir können zunächst dahingestellt sein lassen, inwieweit dieser Bericht histo- risch genau ist. Daß Sokrates eigentlichen Unterricht erteilt habe, hat Plato mit voller Bestimmtheit in Abrede gestellt (vgl. S. 107 f.). Unser Berichterstatter fährt dann fort, Sokrates habe auch gelehrt, bis zu welchem Punkt der wahrhaft Gebildete die einzelnen Wissenschaften getrieben haben müsse. Von der Geometrie brauche man nur so viel zu verstehen, daß man imstande sei, ein Stück Land richtig zu vermessen; das aber könne man lernen, indem man auf das Verfahren der Feldmesser achte. Mit der Sternkunde ferner solle man sich nur so weit vertraut machen, daß man, wiederum zu praktischen Zwecken, die Zeiten der Nacht, des Monats und des Jahres bestimmen könne; darüber aber könne man sich am besten bei Nachtjägern, Steuermännern u. dgl. unter- richten. Tiefer in die Probleme der Geometrie und Astronomie einzudringen, widerriet er, obwohl er selbst in diesen Dingen trefflich Bescheid wußte: das sei nutzlos, ja geradezu schädlich, da solche Studien das ganze Leben in Anspruch nehmen und die Menschen von anderen, nützlicheren Dingen abhalten würden. Ganz besonders verfehlt aber sei es, der Art, wie die Gottheit die Himmelskörper eingerichtet habe, nachzuforschen; das sei nicht bloß unmöglich, sondern auch den Göttern unangenehm, denen es schwerlich gefalle, wenn die Menschen das, worüber sie einen Schleier gedeckt, enthüllen wollen. Und am Ende komme man auf diesem Weg nur zu Absurditäten, wie die waren, die einst Anaxagoras ausgeheckt habe. *) Weiter empfahl Sokrates auch das Studium der Arithmetik, auch dieses indessen nur, soweit es praktisch verwertbar war. Und schließlich riet er seinen Schülern dringend, für ihre Gesundheit zu sorgen und sowohl bei den ') Xenophon führt zum Beleg zwei solcher Absurditäten an, einmal die Be- hauptung, Feuer und Sonne seien dasselbe, und dann die auch aus der platoni- schen Apologie (26 D) bekannte These, die Sonne sei ein feuriger Stein. Der Autor sucht diese Sätze dann in seiner Weise zu widerlegen. 172 Sokrates und die Philosophie. Medizinern so viel wie möglich zu lernen als selbst darauf zu achten, was ihnen förderlich, was schädlich sei. Überall aber, wo menschliche Weisheit versagte, da wies er seine Gefährten an die Götter, deren Rat mittels der Mantik einzuholen sei. Niemand wird zweifeln, daß wir hier eben nur das Bildungs- ideal des Autors selbst vor uns haben. Xenophon war im Lauf der Jahre noch reaktionärer geworden. Sein Argwohn gegen die Wissenschaft, seine fromme Bedenklichkeit, seine romantische Religiosität und ebenso auch seine praktische Einseitigkeit hatten sich noch gesteigert. Daher die pädagogische Weisheit, die er hier dem Sokrates in den Mund legt. Wir können uns vorstellen, daß er von ihr auch in der Erziehung seiner Söhne Gebrauch gemacht hat. In seltsamem Widerspruch mit diesen Darstellungen steht nun aber eine gelegentliche Bemerkung der Gesprächsammlung, auf wel- che Diels die Aufmerksamkeit gelenkt hat. 1 ) In Mem. I 6, 14 läßt der Autor den Sokrates zu dem Sophisten Antiphon sagen: „ich pflege die literarischen Schätze, die uns die Weisen der Vergangenheit hinterlassen haben (rovg &r]oav^ovg tujv nalai öocpwv avdQwv, ovg ixelvoi y.ar.tXmov iv ßißlioig yQaipavrtg), aufzuschlagen und gemeinsam mit meinen Freunden durchzugehen, und wenn wir darin etwas Gutes finden, eignen wir uns dasselbe an." Wer die nalai ocxpoi ävdysg sind, an die Xenophon hier denkt, ist nicht schwer zu erraten. In einem anderen Zusammenhang (IV 2, 1. 8) berichtet er von Euthydemos dem „Schönen", er habe eine große Bibliothek von Schriften der „Weisen", d. h. der berühmtesten Dichter und Philosophen 2 ) zusammengebracht und darum sich eingebildet, an Weisheit seine Altersgenossen zu überragen. Daraus geht hervor, daß auch an unserer Stelle unter den alten „Weisen" die Dichter und Philosophen der Vergangenheit zu verstehen sind. An die Dichter allein ist schon darum nicht zu denken, weil Xenophon sich dann sicher bestimmter ausgedrückt hätte. 3 ) Immer- hin sind auch sie mit in Betracht gezogen. 4 ) In erster Linie aller- ') Diels, Über die ältesten Philosophenschulen der Griechen, Phil. Aufsätze E. Zeller gewidmet, S. 257, 1. 2 ) yQdfx^iara no/J.a . . 7toir\x<jJv xe xal ao(piaruJv xiöv evSoxi/ucurcctiov § 1 (die Sophisten sind hier wie in I 1, 11 die Philosophen, nicht wie in I 6 die So- phisten in unserem Sinn) und hiezu s. IV 2, 8: no).).a ypüfx/nara . . xwv Xeyo/ut- viov oocpüJv UVÖQOJV . . 3 ) Gegen Joe! I S. 528 f. 4 ) Gegen Dümmler, Akademika S. 154. Sokrates und die alte Philosophie. 173 dings sind wohl die alten Philosophen gemeint. Diese Deutung wird auch durch den Zusammenhang der Stelle nahegelegt. Es werden einander gegenübergestellt die Lehrtätigkeit der So- phisten und die des Sokrates. Und zunächst wird die selbstlose Uneigennützigkeit, mit der der letztere seine Schüler unterrichtete, gegen die Gewinnsucht der sophistischen Lehrer ausgespielt. Aber darüber hinaus will der Autor offenbar auch den Inhalt des sophistischen Unterrichts überbieten. Ein wesentlicher Bestandteil des sophistischen Lehrbetriebs war die Dichterauslegung. Dem- gegenüber stellt Xenophon fest, Sokrates habe überhaupt die Weisheitsschätze der Vergangenheit, d. h. nicht bloß die Werke der Dichter, sondern auch die der Philosophen, sich und seinen Freunden erschlossen. Damit aber stehen wir vor einem Rätsel. Die xenophontische Bemerkung scheint eine Bestätigung der platonischen Darstellung zu sein; aber sie geht weit darüber hinaus. Man braucht aus ihr zwar nicht herauszulesen, daß Sokrates nun doch an der Hand philosophischer Schriften naturphilosophisch-metaphysischen Unter- richt gegeben habe. Daß er die Lektüre den Zwecken seiner „Lehrtätigkeit" dienstbar gemacht habe, läßt sich festhalten. Auch auf die Form des sokratischen „Unterrichts" läßt die Stelle an sich keine Schlüsse zu. Die Parallelisierung von sophistischer und sokratischer Lehrtätigkeit kann es mit sich gebracht haben, daß die letztere äußerlich an jene in einem Maß angenähert wird, das über die wirkliche Meinung Xenophons selbst wohl beträchtlich hinausgreift. Das Überraschende aber ist, daß Sokrates noch in der letzten Zeit seines Wirkens mit seinen Schülern die Werke der alten Philosophen studiert, und daß dies einen wesent- lichen Teil seiner Tätigkeit — das liegt doch in der Notiz — ausgemacht haben soll. Das ist eine Mitteilung, die in der sokratischen Quellenliteratur einzig dasteht. Bei Xenophon selbst findet sich sonst nichts Ähnliches. Auch die beiden theologischen Kapitel nämlich, die ja allerdings mit der grundsätzlichen Zurück- haltung des Autors gegenüber der Spekulation wenig zusammen- stimmen, dürfen hiemit nicht in Zusammenhang gebracht werden: diese teleologische Theologie will Xenophon sicher nicht als Lesefrucht aus den philosophischen Klassikern betrachtet wissen: er könnte hiebei nur an die Anschauung des anaxagoreischen 174 Sokrates und die Philosophie. Kreises denken; eben vor den Wegen der anaxagoreischen Spe- kulation aber warnt der xenophontische Sokrates ausdrücklich (IV 7, 6 f.). Woher nun hat der Autor die Notiz? Möglich ist, daß sie aus persönlicher Erinnerung stammt. Auch dann freilich könnte sie historisch nicht allzu schwer ins Gewicht fallen. Eine isolierte Reminiszenz dieser Art, die vierzig Jahre nach der Zeit, von der sie berichtet, auftaucht und nicht bloß mit den sonstigen An- gaben desselben Zeugen, sondern auch mit unseren sämtlichen übrigen Nachrichten im Widerspruch steht, würde auch dann schweren Bedenken begegnen, wenn es nicht Xenophon wäre, dem wir sie verdanken. Weitergreifende historische Schlüsse dürfen also aus der Stelle jedenfalls nicht gezogen werden. Und nur etwa den geschichtlich wahren Kern könnte man in ihr finden, daß Sokrates noch in der Zeit, da Xenophon mit ihm verkehrte, an den alten Philosophen aktives Interesse genommen und ihre Schriften gelegentlich mit seinen Schülern gelesen habe. So gut sich aber eine solche Annahme mit der platonischen Schilderung zusammenreimen würde, so wenig kann auch sie auf unsere Memorabilienstelle gestützt werden. Nach dem, was wir über die Arbeitsweise der xenophontischen Gesprächsammlung wissen, ist es von vornherein zweifelhaft, ob die Notiz Mem. I 6, 14 wirklich auf eigene Erinnerung des Autors zurückgeht. Und die Tatsache, daß diese Bemerkung in erheblichem Maß durch den Vergleich des sokratischen Wirkens mit der sophistischen Lehr- tätigkeit bestimmt ist, ist nicht eben geeignet, den Zweifel zu beschwichtigen. Wieder wird der Verdacht rege, daß Xenophon sich auch im gegenwärtigen Fall eben an literarische Vorlagen angelehnt habe. Und in der Tat vermögen wir dieselben deutlich zu erkennen. Soweit die Notiz sich auf die Lektüre dichterischer Werke bezieht, ist sie sicher an Antisthenes' Dichterauslegung orientiert. Wir werden später hierauf zurückkommen müssen. Die schwerer zu erklärende Hindeutung auf ein Studium alter Philosophen aber ist wohl veranlaßt durch Piatos Sophistes 242 Cff. Hier wird wirklich eine Umschau unter den alten Philosophen ge- halten und dann (243A) bemerkt: „ob nun aber einer von diesen in diesem allem die Wahrheit getroffen hat, ist schwer zu ent- scheiden, und es wäre verfehlt, in so wichtigen Dingen berühmten Sokrates und die alte Philosophie. 175 Männern des Altertums (sclaivcilg xal Jialaiolg avdyäaiv) Vor- würfe zu machen." Daß Xenophon den „Sophistes" kennt und in der Gesprächsammlung in folgenschwerer Weise verwertet, ist uns bekannt, und ich zweifle nicht im geringsten, daß auch die Definition des Sophisten, die Xenophon in demselben Zu- sammenhang, dem unsere Stelle angehört, versucht (I 6, 13), durch die Erörterungen des „Sophistes" angeregt ist. ') Wieder also haben wir hier einen Fall vor uns, wo Xenophon aus literarischen Quellen Material entnimmt und dasselbe zwar verarbeitet, darum aber sich nicht sorgt, ob das rezipierte Stück zu seiner Gesamtanschauung paßt. Und die Bemerkung I 6, 14 ist vom xenophontischen Standpunkt eine augenscheinliche Ent- gleisung. Wie Xenophon seinen Sokrates wirklich über die speku- lativen Philosophen denken läßt, das zeigen uns allein jene beiden Berichte, der in der Schutzschrift und der in Mem. IV 7. Diese selbst übrigens stützen sich, so sehr sie sich im spe- zifisch xenophontischen Anschauungskreis bewegen, zu einem wesentlichen Teil doch auf antisthenische Zeugnisse. Zwar die religiösen Bedenken gegen die Naturwissenschaft und der Ge- danke einer mantischen Ergänzung der unzulänglichen mensch- lichen Erkenntnis sind ganz Xenophons Eigentum: derartige Stimmungen und Einfälle liegen dem Rationalisten Antisthenes durchaus ferne. Aber in der skeptischen Verwerfung des wissen- schaftlichen Forschens und in der einseitig praktischen Beurteilung der Wissenschaft trifft der Autor mit dem Kyniker zusammen. Und wir haben deutliche Spuren, daß zum wenigsten die xeno- phontischen Argumente gegen die Möglichkeit einer spekulativen Erkenntnis dem Gedankenschatz des sophistisch geschulten Anti- sthenes entlehnt sind. 2 ) Aber auch die Einzelheiten dieser 1 ) Im folgenden Kapitel wird gezeigt werden, daß die giftige Art, wie Xenophon die Sophisten in I 6 behandelt, in den Memorabilien vereinzelt dasteht. Auch der Ausdruck „Sophist" hat sonst bei Xenophon nicht die üble Neben- bedeutung, die ihm in I 6 gegeben ist. 2 ) Die Ausführung in der Schutzschrift I 1, 14, wonach von den Natur- gelehrten die einen glauben, das Seiende sei nur eines, die anderen, es sei der Zahl nach eine unendliche Masse, die einen, alles sei in fortwährender Bewegung begriffen, die anderen, es bewege sich überhaupt nichts, die einen, alles werde und vergehe, die anderen, es gebe überhaupt kein Werden und Vergehen, — geht augenscheinlich zuletzt auf Gorgias' Schrift ns gl rov m övxoq rj negl (pvoswq 176 Sokrates und die Philosophie. banausischen Einschränkung der Wissenschaft auf das dürftige Maß des unmittelbar praktisch Verwertbaren lehnen sich wohl großenteils an kynische Vorlagen an. l ) Und nun könnte immerhin das antisthenische Material, das Xenophon hier übernahm, weil es zu seinen eigenen Anschauungen stimmte, in irgend einem Maß auf Sokrates selbst zurückgehen. Es könnte sogar eine wirkliche Reminiszenz sein, die Xenophon veranlaßt hat, die antisthenische Stellungnahme für genuin soma- tisch zu halten. Ist dem wirklich so? Was läßt sich aus der antisthenischen Position oder — wenn Antisthenes, was recht wohl möglich ist, sein Urteil über die Wissenschaft dem Meister auch ausdrücklich in den Mund gelegt hat — aus der antisthe- nischen Sokratesauffassung, was aus den xenophontischen Be- richten für den geschichtlichen Sokrates entnehmen? Daß Sokrates über die Wissenschaft — und Wissenschaft war ihm die bisherige griechische Philosophie — ganz und gar nicht geringschätzig dachte, daß er für die praktische Ein- seitigkeit und für die Skepsis seines Schülers Antisthenes so wenig wie für die apologetische Bedenklichkeit Xenophons ver- antwortlich gemacht werden kann, dafür bürgt uns nach wie vor zurück (vgl. den Bericht über dieselbe in der pseudo-aristotelischen Schrift de Xeno- phane, Zenone, Gorgia 979a 14— 18; man könnte auch an die Bemerkung des Gorgiasschülers Isokrates, Jhgl dvztööoewq 268 erinnern; aber diese Rede ist erst i. J. 353 verfaßt, und jene Äußerung lehnt sich wohl zugleich an Sophistes 242 C ff. an). Ich glaube indessen nicht, daß Xenophon unmittelbar aus Gorgias geschöpft hat. Wahrscheinlich hat der Gorgiasschüler Antisthenes die gorgianische Argumentation weiter ausgeführt, um auf diese Weise nach dem Vorgang seines Lehrers die Skepsis des gesunden Menschenverstandes gegenüber den meta- physischen Systemen zu begründen. (Daß dies das Ziel der gorgianischen Schrift war, wird im nächsten Kapitel gezeigt werden.) ') Antisthenes hat sich mit Erziehungsfragen sehr eingehend beschäftigt. Sein Standpunkt aber war nach Diog. L. VI 11 : rr'/v rs agtxrjv xwv sgycov elvai, [trje X6ya>v TtkfLGTojv öeofxsvrjv jxt^xs [Aa9r)[xÜTcov. Über die praktische Einseitigkeit der Kynik s. im übrigen Zeller II l 4 S. 289 Anm. 2, wo auch Spuren aufgezeigt sind, die annehmen lassen, daß diese Denkweise schon bei Antisthenes vorlag. Wohl mit Recht beziehen Dümmler (Antisthenica S. 13, Akademika S. 246 f.) und Joel (II S. 797) auch Aristoteles Nie. Eth. 1141b 3 ff. auf Antisthenes. Übrigens ist es sehr wahrscheinlich, daß Xenophon auch bereits die Ansichten des Kynikers Diogenes, der noch über Antisthenes hinausging, gekannt hat: in Korinth, wo Diogenes sich sehr häufig aufhielt, lebte auch Xenophon, nachdem er Skillus verlassen hatte. Sokrates und die alte Philosophie. 177 das Zeugnis der platonischen Apologie. Und am Ende ist hier, wenn irgendwo, der Rückschluß aus Piatos späterer Entwicklung am Platze: wäre Sokrates wirklich der Verächter der wissenschaft- lichen Erkenntnis gewesen, der er nach Antisthenes und Xenophon hätte sein müssen, könnten wir dann auch nur psychologisch ver- stehen, wie Plato dazu kam, seine spekulative Umbildung der Anschauungen des Meisters mit dessen Namen in dauernden Zu- sammenhang zu bringen? Tatsache ist aber, einmal, daß Sokrates für seine Person auf die wissenschaftliche Forscherarbeit verzichtete, um ganz seinem sittlich-protreptischen Wirken zu leben, und daß er darüber hinaus, wie jetzt schon angefügt werden kann, die sittliche Gesamtauf- gabe des Menschen mit Nachdruck der besonderen theoretisch-in- tellektuellen Betätigung überordnete. Tatsache ist zweitens, daß er mindestens im letzten Jahrzehnt seines Lebens den zeitgenös- sischen Vertretern der reinen Wissenschaft, den naturphilosophi- schen Epigonen, mit einer gewissen skeptischen Zurückhaltung gegenüberstand, und es ist mehr als wahrscheinlich, daß er seine Ironie und dialektische Überlegenheit gelegentlich auch gegen diese Männer und ihre Leistungen gekehrt hat. Tatsache ist — auch das kann hier schon vorweggenommen werden — drittens, daß die sokratische Dialektik einen stark eristischen Charakter hatte, der namentlich da, wo sie eingebildetem Wissen elenktisch entgegentrat, leicht Anlaß geben konnte, ihr skeptische Absichten zu unterschieben. Das waren die ursprünglich sokratischen Daten. Aus ihnen ist nun unter Antisthenes' Händen geworden: aus- schließliche Anerkennung des sittlich-praktischen Strebens, grund- sätzliche Verwerfung aller theoretisch-wissenschaftlichen Tendenzen und skeptische Bestreitung der Möglichkeit einer philosophischen Erkenntnis. Xenophon aber hat sein Sokratesbild nach dem Muster dieses antisthenischen gestaltet. Indessen eine Art von Wissenschaft läßt ja auch der antisthe- nisch-xenophontische Sokrates gelten: die praktisch-verwertbare. Sollte nun nicht nach dieser Seite die antisthenische Auffassung die Mißdeutung einer wirklich sokratischen Anschauung sein? Die Naturphilosophen der letzten Jahrzehnte des 5. Jahr- hunderts waren bemüht, die großen Gedanken der spekulativen Philosophie ins Licht der tatsächlichen Wirklichkeit zu rücken, H. Mai er, Sokrates. 12 178 Sokrates und die Philosophie. d. h. sie suchten noch mehr als ihre großen Vorgänger eine Er- klärung der einzelnen Naturerscheinungen zu gewinnen. Die Ergebnisse dieser Arbeit aber waren Hypothesen, die auch den Zeitgenossen als wenig plausibel, ja als höchst abenteuerlich er- schienen. Wir verstehen darum, wie Sokrates, so wenig er die spekulative Philosophie grundsätzlich verwarf, doch Zweifel hatte, ob einer von diesen Männern „im Besitz wirklicher Wissenschaft sei". Aber er zog hieraus nicht die Konsequenz, daß natur- wissenschaftliche Erkenntnis unmöglich sei; nur gegen den Weg, den die Naturphilosophen eingeschlagen hatten, scheint er Be- denken gehabt zu haben. Und schon der xenophontische Bericht, zusammengenommen mit seiner mutmaßlichen antisthenischen Quelle, gibt uns eine Ahnung davon, wie Sokrates sich den rechten Weg dachte. Keineswegs unmöglich ist, daß Sokrates wirklich in erster Linie praktisch verwertbares Wissen gefordert und geschätzt, und daß er die naturphilosophischen Konstruktionen auch deshalb ab- gelehnt hat, weil sie dem Leben so gar ferne und für Menschen- zwecke so völlig unfruchtbar blieben: eine wirkliche Naturbewäl- tigung durch menschliches Wissen war von dieser Seite offenbar nicht zu hoffen. Aus der frühplatonischen Literatur ist ersichtlich, und auch der zweite xenophontische Bericht geht hievon aus, daß Sokrates für jeden Beruf, für jeden Wirkungskreis, für jeden Zweig des öffentlichen und des privaten Lebens vor allem gründ- liche, rationelle Sachkunde, eindringendes und umfassendes Fach- wissen verlangte. l ) Von hier aus hat er ja auch den Kampf gegen die Ämterbesetzung durchs Los geführt. Zu tun war es ihm also zu allererst um technisch -praktisches Wissen. Das brauchte indessen noch keineswegs praktische Einseitigkeit zu sein. Und gewiß stammt die xenophontisch-antisthenische War- nung, ja nicht zu tief in die Wirklichkeitswissenschaften einzu- *) Hierauf wird später genauer einzugehen sein. Ich verweise vorerst auf die folgenden Stellen: Laches 184Eff. (s7iiox?'/fx% . . Sei xplvso&ai dkk' ov nh',d-£L xb ßtXXov xakäq xQi9?'ioEo9ca. Als der zuständige Richter wird für alle Gebiete der jeweilige zzyvixöq bezeichnet, und es wird hier auch ausgeführt, was zu dem Wissen des xt%vixöq gehört), Kriton 47 AB, ferner Ion 531 Äff. und die Ein- leitung zum Protagoras; vgl. auch die Satire, die Sokrates -Plato im kl. Hippias gegen den technischen Dilettantismus des Hippias richtet. Sokrates und die alte Philosophie. 179 dringen, da solche Studien zu viel Zeit und Kraft in Anspruch nähmen, nicht von Sokrates. Dagegen läßt sich der xenophon- tischen Darstellung eine andere Mahnung entnehmen, die recht wohl sokratischen Ursprungs sein kann, diejenige nämlich, sich bei diesen Bemühungen nicht in den Irrgarten der naturphiloso- phischen Spekulation zu verlieren. Auch darauf aber deutet Xeno- phons Bericht mit Bestimmtheit hin, daß Sokrates den willkür- lichen, unbegründeten Hypothesen der naturphilosophischen Epi- gonen das solide, im Leben praktisch verifizierte Wissen der Techniker und Empiriker gegenüberstellte, daß er die Wissen- schaftsbeflissenen, statt an die Philosophen, an die Feldmesser, Kalendermacher, Seefahrer, Ärzte verwies, bei denen mehr zu holen sei als bei jenen. Und es ist ja auch innerlich wahrschein- lich, daß der Mann, der so energisch für alle Lebenskreise der menschlichen Gesellschaft berufliche Kenntnisse forderte, im technischen Wissen, das gezwungen ist, seine Thesen immer wieder an der Erfahrung der Praxis zu prüfen und zu erproben, den besten Ausgangspunkt auch für die wissenschaftliche For- schung sah — einen besseren jedenfalls, als die luftige Natur- spekulation, für deren Konstruktionen es doch nie zu einer em- pirischen Bewährung kommen kann, ihm je zu bieten ver- mochte. *) So ganz unerhört übrigens war diese Stellungnahme des Sokrates damals keineswegs. Schon seit einigen Jahrzehnten hatten die Sophisten im Kampf gegen die alte Philosophie die Parole ausgegeben, daß an die Stelle der toten, unfruchtbaren eine praktisch verwertbare, weltläufige Wissenschaft, eine Wis- senschaft fürs Leben treten sollte. Auch Sokrates ist augenschein- lich von dieser Strömung berührt worden. Vielleicht hatte sie ihm einst die nächste Anregung gegeben, von den spekulativen Natur- philosophen weiter abzurücken. Indessen ist die Praxis, die er selbst im Auge hatte, nicht die rhetorisch-dilettantische der Sophisten *) Vgl. die instruktive Stelle Laches l89Ef.: el xvy/ävofxev incaxäfisvoi, oxi oxpiq nccQctyevofievr] o<p9aXfjiolq ßskxlovq noisl sxeivovq, oiq nageysvfxo, xal noooexi oloi xe ia/xev noistv avxrjv ncc occylyveo9ai ofxfiaai, öijlov oxl oxpiv ye i'ofiev avvrjv xi nox saxiv . . . Auch die teleologische Natur- auffassung, die das Wissen oxl orpiq — naoeysvsxo anstrebt und sich dabei be- scheidet, ist vermutlich sokratisch. 12* 180 Sokrates und die Philosophie. gewesen. Wir werden im nächsten Kapitel Gelegenheit haben, über die Kritik, die Sokrates gerade an diesem Punkte gegen den sophistischen Lehrbetrieb richtete, Genaueres zu erfahren. Ungefähr gleichzeitig aber hatte in der Medizin eine starke Reaktion gegen die naturphilosophische Methode, die in den letzten Jahrzehnten in die medizinische Wissenschaft eingedrungen war, eingesetzt. Die Führung in dieser Bewegung hatte die koische Schule, und ihr Vorkämpfer war Hippokrates. Die Gegner aber, denen der Kampf galt, waren die Ärzte, die bei Heraklit und Parmenides, bei Anaxagoras und Empedokles in die Schule gegangen waren und die Arzneiwissenschaft auf metaphysisch- naturphilosophische Hypothesen aufzubauen unternommen hatten. Demgegenüber verweist die koische Schule auf die altbewährte Methode, auf den Weg der Erfahrung und Beobachtung. Sie ist der Überzeugung, daß nicht die Medizin bei der Philosophie Naturkenntnis holen könne, daß vielmehr umgekehrt ein sicheres Wissen über die Natur nur von der Medizin aus erreichbar sei. Sie verwirft darum auch grundsätzlich die naturphilosophi- sche Hypothesendichtung, die den Menschen in Regionen führe, wo keine Prüfung, aber auch keine Verifizierung der aufgestellten Behauptungen mehr möglich sei. 1 ) Nun ist anzunehmen, daß auch Sokrates die koische Bewegung kannte. In allen unseren Quellen holt er mit besonderer Vorliebe seine Illustrationen und Analogien aus dem Bereich der Medizin, für die er offenbar großes Interesse hatte. So ist ihm die große Revolution in der ärztlichen Wissenschaft, die auch literarisch glänzend vertreten war und die ganze griechische Kulturwelt aufregte, schwerlich entgangen. Und vermutlich ist die koische Medizin — zwingend beweisen können wir das freilich nicht — auf seine endgül- tigen Anschauungen über Naturphilosophie und Naturforschung nicht ohne Einfluß geblieben. 2 ) Sachlich jedenfalls steht er ') Vgl. Th. Gomperz, Griechische Denker I S. 237 ff. 2 ) Die Bemerkungen über Medizin in Protag. 313 D ff., 345 A, Charmides 156Bff. (vgl. 170Eff), Ladies 185 C ff., 190 A, 198Df. (vgl. 192Ef.), Kriton47Bf. u. ö. stimmen trefflich zu dem Programm der koischen Medizin, die die Mitte zwischen der spekulativ-naturphilosophischen Medizin und der rohen, unrationellen Empirie hält. Zu bemerken ist noch ausdrücklich, daß der luxQÖq überall als Beispiel für den wissenden T£%vix6<; erscheint. Lehrreich übrigens ist besonders Lach. 190 A Sokrates und die alte Philosophie. 181 ihr nahe. Und schließlich können wir doch auch Xenophons zweitem Bericht, wenn wir in diesem schon einmal historische Elemente anerkennen, eine gewisse Bestätigung jener Vermu- tung entnehmen. Wenn Sokrates hier seine Schüler mahnt, sie sollen im Interesse ihrer Gesundheit sowohl das Wissen der sach- kundigen Ärzte zu Rate ziehen als selbst ihr ganzes Leben hin- durch sorgfältige diätetische Beobachtungen anstellen, so zeigt schon der Wortlaut, 1 ) und noch bestimmter geht dies aus dem ganzen Zusammenhang des Kapitels hervor, daß es nicht die naturphilo- sophischen Ärzte waren, auf die er verwies, sondern die empi- rischen. Aus dem Zusammenhang des Kapitels können wir aber auch das herauslesen, daß er seine Schüler an die empirischen Ärzte wies, nicht bloß, um bei diesen medizinischen Rat zu holen, sondern wohl auch, um bei ihnen Naturwissenschaft zu lernen. Doch das alles sind eben nur Vermutungen, und auch Xeno- phons Zeugnis beweist nicht allzuviel. Daß Sokrates je sich ganz auf den Boden der koischen Medizin gestellt habe, ist in keinem Fall anzunehmen. Sein Gesichtskreis reicht über die fachmäßige Enge der empirischen Ärzte hinaus. Nicht die Medi- ziner allein waren es ja, bei denen sich nach seiner Anschauung Wirklichkeitswissenschaft gewinnen ließ, sondern die Empiriker und Praktiker überhaupt. Und gewiß stand vor seinem Auge ein Ideal menschlicher Gesamtwissenschaft, das von dem der koischen Ärzte beträchtlich abwich. In dem zielbewußten Ernst, mit dem er jene Forderung rationellen sachverständigen Wissens S. 179, 1, vgl. aber auch die Fortsetzung der Stelle über die Iuxqol . . negl 6<püu).u<üv lj ntgl wrwv). — Auf die Beziehungen des Sokrates zu der kritisch- empirischen Medizin ist H. Nohl, Sokrates und die Ethik 1904, genauer ein- gegangen. Seine Ausführung (S. 33 ff.) ist beachtenswert, obwohl sie die Be- deutung dieser Beziehungen zu hoch einschätzt und andererseits die Belege nicht weit genug verfolgt. ') Nach IV 7, 9 forderte Sokrates seine Schüler auf, für ihre Gesundheit Sorge zu tragen, nuga. xe xwv slööxwv fAavd-üvovxaq ■ . xal havnö txuoxov ngoolyovxa diu navxbq xov ßiov, xi ßgw/xu ?} xl nwfia rj noloq novoq ovfx.<pi'goi avxcö, xal Ticöq xovxoiq ygcüfXEvoq vyitivöxaz' av öiccyot. Wenn die Stelle, was immerhin möglich ist, auf eine antisthenische Quelle zurückginge, wäre sie für uns sehr wichtig. Denn dann könnten die antisthenischen und die platonischen Ausführungen über Medizin als ein gemeinsamer Nachklang sokratischer Dis- kussionen betrachtet werden. 182 Sokrates und die Philosophie. für alle Berufs- und Lebenskreise durchführte, liegt im Keim eine Wertung auch der theoretischen Wissenschaft, die nicht bloß von der Linie der Sophistik wesentlich abweicht, die vielmehr auch über den Rahmen der medizinischen Empirie weit hinausgreift. Es liegt in ihr bereits der Gedanke einer Intellektualisierung der ganzen Kultur, einer Durchdringung aller Zweige des sozialen Lebens mit der Wissenschaft, die ihren naturgemäßen Abschluß in Sokrates' metaphysischen Überzeugungen findet. l ) So groß die Wandlung gewesen sein mag, die sich seit den fünfziger und vierziger Jahren in Sokrates' Stellung zur zeitge- nössischen Spekulation vollzogen hat, einen gewissen Zusammen- hang mit der alten griechischen Wissenschaft hat er immer fest- gehalten. Vor allem hat er auch auf der Höhe seines Wirkens noch ein scharf ausgeprägtes Bewußtsein davon gehabt, daß er mit ihr auf demselben Boden, auf dem Boden der neuen Zeit stehe. Die Geistesfreiheit, an deren Heraufführung die alte Philosophie den wesentlichsten Anteil hatte, ist die Voraussetzung für seine eigene Tätigkeit. Und auch von dem weiten, univer- salen Sinn der großen Denker der Vergangenheit ist etwas auf ihn übergegangen. Er hat sich zu keiner Schule und zu keinem „System" bekannt. Aber auch er hat versucht, mit ahnendem Ge- müt in das Ganze der Welt hineinzublicken, und er hat sich, weit mehr als die anderen, bemüht, den Sinn des Menschenlebens zu verstehen. Über die Ironie und die Skepsis hebt ihn eine philo- sophische Überzeugung hinaus, die den Hintergrund seiner Le- bensarbeit bildet. Aber diese Überzeugung ist nur ein aus der Erfahrung des Lebens und aus intuitiver Wirklichkeitsbetrachtung erwachsener metaphysischer Glaube, der seinen stärksten Halt in Sokrates' persönlichem Empfinden hat. Er fühlt weder das Be- dürfnis noch den Beruf in sich, diese Weltanschauung doktrinär zu begründen und auszugestalten. Den intellektuellen Drang eines Anaxagoras, der alles hingab, um ganz der Erforschung der Wahrheit zu leben, hat Sokrates nicht gehabt. So dankbar und gierig er alles in sich aufgenommen hat, was ihm die Zeit an Wissen und Wissenschaft bieten konnte : er selbst hat nicht um \) Wir werden später sehen, daß das sokratische Ideal der emattifi?/ des Tt%vixöq der Anknüpfungspunkt für die platonische Wissenschaft geworden ist. Sokrates und die Sophisten. 183 neue Erkenntniswerte gerungen. Er hat sich nie als Forscher, nie als Lehrer der Wirklichkeitswissenschaft gefühlt und gegeben. Seine tiefste Sehnsucht galt einem anderen Gut. Drittes Kapitel. Sokrates und die Sophisten. 1. Die Darstellung der platonischen Apologie. Von Sokrates' Verhältnis zu den neumodischen Weisheits- lehrern, den Sophisten, entwirft Plato ein klares und augenschein- lich lebenswahres Bild. Nur tut es hier, noch mehr als sonst, not, die frühplatonischen Nachrichten aus sich selber zu deuten. Wir wissen, daß sich Ende der neunziger Jahre in der Stellung Piatos zu den Sophisten eine wesentliche Verschiebung vollzogen hat, wie ja sein Sokrates auch sonst um diese Zeit ein anderer zu werden beginnt. Vom Gorgias ab ist Plato-Sokrates ein grund- sätzlicher Gegner der,, Sophistik", wiewohl er auch jetzt noch gelegent- lich über den einen und anderen der älteren Sophisten ein mil- deres Urteil fällt. In den späteren Dialogen, wie dem Sophistes, aber ist ihm die Sophistik fast ganz in der aus dem sokratischen Kreis hervorgewachsenen skeptischen Eristik, die er mit aller Kraft seiner Seele haßte, aufgegangen. 1 ) Man muß das spätere Verwerfungsurteil so gründlich wie möglich vergessen, wenn man an die Apologie und die „sokratischen" Dialoge, von denen na- mentlich der „kleine Hippias" und der „Protagoras" in Frage kommen, herantritt. Nun ist es ja allerdings am Ende auch schon ein Kampf Piatos, und zwar ein Kampf mit den Sophisten der neunziger Jahre, der im „Protagoras" und im „Hippias" ausge 1 fochten wird. Aber Tatsache ist nicht allein, daß in diesen Dia- logen die sittliche Dialektik des historischen Sokrates mit der sophistischen Bildung und Erziehungsweise in Konkurrenz ge- ') Auch Äschines läßt im „Kallias", wie aus vest. XVI Krauß (wozu Comm. S. 90 ff. zu vergleichen ist) hervorgeht, den Sokrates scharf gegen die Sophisten polemisieren. Aber der „Kallias" stammt vermutlich aus der Zeit nach dem Er- scheinen des Pamphlets des Polykrates, und der Sophistenangriff in ihm ist wohl als eine Reaktion gegen das letztere zu fassen. 184 Sokrates und die Philosophie. stellt wird. Die Wirklichkeitstreue des koyog ^wxQaxixos geht augenscheinlich noch weiter. Der Autor läßt hier seinen Helden so diskutieren, wie der wirkliche Sokrates in ähnlichen Situationen diskutiert hätte und diskutiert hat. Zeugin hiefür ist die Apologie, deren Bericht uns wieder als Richtschnur dienen kann. Zwei Punkte greift die Apologie (19 D— 20C) aus der Masse von Nachreden heraus, die Sokrates auch nach seinem Tode noch zum Sophisten machen wollten: den Vorwurf, daß er die Kunst, die schwächere Rede zur stärkeren zu machen, besessen und an- dere gelehrt, und den anderen, daß er Unterricht um Geld er- teilt habe. Auf den ersten Punkt geht Plato überhaupt nicht ein. Er begnügt sich, festzustellen, daß es hiemit dieselbe Bewandtnis habe wie mit dem Gerücht, das Sokrates zum Naturphilosophen stempelte. Dieses Schweigen ist aber keineswegs, wie Schanz will, als ein stilles Eingeständnis zu betrachten. In der Haupt- sache bringt das Folgende die Widerlegung. Nicht darum näm- lich ist es hier dem Verfasser in erster Linie zu tun, die Anklage, daß Sokrates um Geld gelehrt habe, zu widerlegen. Dieser Vor- wurf brauchte ja, wenn er je einmal wirklich erhoben worden war, am wenigsten ernst genommen zu werden (vgl. S. 159). Allein die beiden Dinge: die schwächere Rede zur stärkeren machen und um Geld Unterricht geben, waren die spezifischen Kennzeichen des Sophisten. Und die Frage, auf die Plato tatsächlich die Ant- wort geben mußte und wollte, war die: war Sokrates Sophist? wie stand er zu den Sophisten? Wir wissen bereits, wie die Antwort lautet. Sokrates er- klärt nachdrücklich das Gerede, er erteile Unterricht um Geld, für falsch — „wiewohl mich auch dies", fährt er fort, „etwas Schönes dünkt, fähig zu sein, Menschen zu bilden, wie Gorgias der Leontiner, Prodikos der Keer und Hippias der Eleer dies können: diese ziehen in den Städten umher und veranlassen die Jünglinge, denen der unentgeltliche Verkehr mit jedem unter ihren Mitbürgern offen steht, ihre bisherigen Beziehungen abzu- brechen, um sich ihnen anzuschließen, und ihnen hiefür nicht bloß Geld zu zahlen, sondern noch obendrein Dank abzustatten." Und er gesteht ausdrücklich zu, er habe Kallias, den freigebigsten aller Sophistengönner, der erst kürzlich den neu angekommenen Sophisten Euenos von Paros zum Lehrer für seine beiden Söhne Sokrates und die Sophisten in Piatos Apologie. 185 bestellt habe, in seinem Tun höchlich bestärkt; den Euenosaber habe er glücklich gepriesen, wenn er wirklich die Kunst, die jungen Leute zu menschlicher und staatsmännischer Tüchtigkeit heran- zuziehen, besitze und den Unterricht so preiswert erteile. „Ich selbst", so schließt Sokrates, „würde mich rühmen und großtun, wenn ich dies verstünde; aber ich verstehe es nicht." In dem Lob, das den Sophisten und ihrer Kunst hier gezollt wird, steckt ein starker Hohn. Nur richtet sich dieser nicht gegen die Sophisten selbst, sondern gegen das Publikum, dem gegen- über der Autor die Verteidigung seines Helden führen muß. Auch die Euenosepisode ist keineswegs mit Schanz (Apologia S. 130) als eine Verhöhnung des sophistischen Menschenbildens zu be- trachten. Zeit und Ort wären für ein solches Verhalten recht übel gewählt gewesen. Immer noch stand Plato der Reaktion gegen- über, die die sokratische Katastrophe heraufgeführt hatte. Der besondere Haß der Reaktionäre aber galt dem Sophistenstand, und Sokrates war angeklagt und verurteilt worden, weil man in ihm den bedeutendsten Repräsentanten der modernen Bewegung sah, in der die Führung längst aus den Händen der Naturphilo- sophen in die der Sophisten übergegangen war. Daß in dieser Situation der Apologet ein Interesse daran hatte, jede Gemein- schaft zwischen seinem Helden und den angefeindeten Weisheits- lehrern zu bestreiten, begreift man. Und gewiß hätte er diesen Zweck am wirksamsten erreicht, wenn sein Sokrates die Ge- nossen im Haß der Gegner nicht bloß so energisch wie möglich von sich abgeschüttelt, sondern sie noch obendrein verächtlich gemacht hätte. Allein einem Leidens- oder Kampfgefährten, dessen Sache man Grund hat von der eigenen zu trennen, die Genossen- schaft zu kündigen und ihm noch dazu einen Fußtritt zu ver- setzen, wäre zum mindesten unritterlich gewesen. Wie ferne in- dessen ein Vorgehen dieser Art Plato lag, zeigt in unwiderleg- licher Weise eine viele Jahre später geschriebene Stelle imMenon (89Eff.). Der Menon ist einige Jahre nach dem Gorgias verfaßt; und nicht ganz mit Unrecht sieht Th. Gomperz in ihm eine Palinodie dieses letzteren Dialogs. Der Autor benutzt eine passende Ge- legenheit, um die Maßlosigkeit, mit der er im Gorgias über die gefeiertsten Staatsmänner Athens den Stab gebrochen hatte, 186 Sokrates und die Philosophie. wieder gut zu machen. Ganz ähnlich aber lenkt er auch gegen- über den Sophisten einigermaßen ein. Es war ihm ohne Zweifel schwer aufs Herz gefallen, daß sein Angriff gegen die „So- phistik" von den Reaktionären für ihre Zwecke ausgebeutet werden konnte, und vielleicht war dies auch tatsächlich schon geschehen. Jedenfalls hat er das Bedürfnis, die Ausführungen im Gorgias gegen eine solche Deutung zu schützen und sich selbst vor sol- chen Bundesgenossen zu bewahren, und er zieht eine scharfe Grenze zwischen seiner eigenen Polemik und der Sophistenfeind- schaft der Rückschrittler, der einst ja auch Sokrates zum Opfer gefallen war. Als Repräsentanten der reaktionären Partei greift der Autor den Anytos heraus, den bedeutendsten und einflußreichsten unter den einstigen Anklägern des Sokrates. Erst in jüngster Zeit wieder hatten die Sokratiker auf diesen Mann eine Flut giftigster Schmähungen gehäuft. Den Anlaß hiezu aber hatte die Tatsache gegeben, daß Polykrates seine Anklage des Sokrates dem Anytos in den Mund gelegt hatte. Plato nun hatte nicht Lust, in das Lied seiner sokratischen Genossen einzustimmen. 1 ) Aber er wollte die Gelegenheit benutzen, um die Beziehungen, in die Polykrates durch sein Pamphlet zu Anytos getreten war, zu beleuchten. Es lag ja in der Tat ein pikanter Reiz in dem Bild: der Mann, mit dem der Sophist Polykrates jetzt im Kampf gegen die Sokratik Hand in Hand ging, der Typus eines bornierten und fanatischen Sophistenhassers. Und demgegenüber nun das Pendant: So- krates-Plato als der Ehrenretter der Sophisten gegenüber dem Bundesgenossen des Polykrates. 2 ) Die Frage ist — und sie wird im Dialog an den dabeistehen- den Anytos gerichtet — , ob die Sophisten als Lehrer der „Tugend" betrachtet werden können. Der Gefragte antwortet mit einem leidenschaftlichen Ausfall gegen den ganzen Stand: Wahnsinn sei *) In dem Satz ovxoq fxhv iäv noxe yvcu oiöv toxi xö xaxwg /.tysiv, navoexai ■/alznuLvwv, vvv 6h äyvosi 95 A liegt eine stillschweigende Mißbilligung des Vor- gehens der Sokratiker seitens Piatos. 2 ) Mit Unrecht bestreitet Schanz, Apologie S. 91 gegen Hirzel (Polykrates' Anklage und Lysias' Verteidigung des Sokrates, Rhein. Mus. f. Philol., N. F., 42. Bd., S. 249 f.) und Dümmler (Akademika S. 28) die Beziehung der Anytos- episode des Menon zu Polykrates. Sokrates und die Sophisten in Piatos Apologie. 187 es, sich von diesen Leuten ruinieren zu lassen; denn das offen- bare Unglück und Verderben seien sie für diejenigen, die sich mit ihnen abgeben; hinausjagen sollte man sie aus den Städten, oder vielmehr sie gar nicht herein lassen. Tatsächlich weicht dieses Urteil von dem nicht so sehr ab, das Plato im Gorgias ausgesprochen hatte. Allein Anytos' Verdikt erweist sich als eine leichtfertige Verleumdung: er selbst muß zugestehen, daß er weder die Personen noch die Sache auch nur im geringsten kenne. So tritt Plato der blinden Wut des Finsterlings nachdrücklich ent- gegen. Er verweist ihn auf das Votum Gesamtgriechenlands, das den Protagoras während einer vierzigjährigen Wirksamkeit mit Ruhm und Schätzen überhäuft und auch andere Männer dieses Metiers, frühere und jetzt noch lebende, gepriesen habe und immer noch preise, ohne je etwas davon gemerkt zu haben, daß sie die Jugend zugrunde richteten. Wie er selbst denkt, sagt der Autor in diesem Zusammenhang nicht. Nur das geht aus dem weiteren Verlauf des Gesprächs mit Sicherheit hervor, daß auch er die Sophisten keineswegs für geeignete „Tugendlehrer" hält. In Wirk- lichkeit steht er wohl sachlich immer noch auf dem Standpunkt des „Gorgias". Aber er möchte verhüten, daß sein wohl er- wogenes, auf genaue Sach- und Personenkunde gegründetes, aus ernsten, sittlichen Sorgen entsprungenes Urteil mit dem grundlosen Vorurteil des Kulturfeindes auch nur verglichen werde. So schroff lehnt er jedes Zusammengehen mit der reaktionären Partei im Kampf gegen die Sophisten ab. Ist es glaubhaft, daß dieser selbe Mann in der Apologie es über sich bringen konnte, seinen Helden in den Augen der urteils- losen Philister, die diesen mit den Sophisten identifizierten, in der Weise zu rehabilitieren, daß er ihn vor aller Welt über diesen ganzen Stand verletzenden Hohn ausschütten ließ? Aber ich denke, wer den Wortlaut der Apologie unbefangen liest, wird von alledem nichts bemerken. Im Gegenteil: dieser Sokrates stellt sich mit aller Geflissentlichkeit auf die Seite der Sophisten, und er fordert, indem er das Lob der vielgehaßten Menschenklasse singt, sein Publikum offen heraus. Am weitesten geht hierin die Kallias-Euenos-Episode (Apol. 20 A — C). Kallias ist der berüchtigte, seit Jahrzehnten von der Komödie verspottete Sophistenfreund. Eben damals war er durch 188 Sokrates und die Philosophie. den Skandalprozeß des Andokides aufs neue — nicht eben vor- teilhaft — in der Leute Mund gekommen. 1 ) Das Schlimmste aber, was man ihm nachsagen konnte, war doch, daß er an Schma- rotzer aus der Sophistengilde sich arm geschenkt habe (vgl. Apol. 20 A : off TSTslexe XQrjuaza öotpiorcug nleio) fj Svfmavrss ol älloi). Es ist nun ein starkes Stück, wie Sokrates diesen Mann noch tiefer in seine Sophistenliebhaberei hineintreibt. Und be- sonders fein ist die Naturtreue, die Plato der Szene zu geben weiß. „Wenn deine Söhne", so fragt Sokrates den Kallias, „Füllen oder Kälber wären, wüßten wir dann wohl für sie einen Aufseher aufzufinden und zu mieten, der sie zu der solchen Wesen erreich- baren Tüchtigkeit heranziehen könnte? Derselbe müßte wohl ein Pferdezüchter oder Landwirt sein. Nun sie aber Menschen sind, was für einen Aufseher willst du für sie bestellen? Wer versteht sich auf diese Tüchtigkeit, die menschliche und staatsmännische? Ich meine, du habest, da du doch Vater von Söhnen bist, hier- über nachgedacht. Gibt es einen oder nicht?" „Allerdings", ant- wortet Kallias. „Wer ist es denn", fällt Sokrates ein, „woher stammt er, und um welchen Preis lehrt er?" „Euenos", erwidert Kallias, „von Paros, um fünf Minen." So, und nicht anders, hatte Sokrates in ähnlichen Fällen ganz gewiß gesprochen. Es ist nicht anzunehmen, daß der Verfasser der Apologie dem Sokrates dieses Urteil über die Sophisten in übermütiger Laune, lediglich um die Leser zu reizen, angedichtet habe. Stand Sokrates nicht wirklich so zu ihnen, hat er sie prinzipiell verurteilt, so ist der platonische Bericht eine Frivolität. Um Leute, mit denen man innerlich schlechterdings keine Gemeinschaft hat, gegen ungerechte Beurteilung von dritter Seite zu schützen, gab es — wie ja auch derMenon zeigt — noch andere Wege, als sich grundsätzlich zu ihnen zu bekennen. Warum indessen sollen wir Piatos Schilderung in ihrem Kern nicht ernst nehmen? Zwar spricht sich darin, daß hier die Farben des Lobs so besonders stark aufgetragen sind, eine gewisse, dem Durchschnittsleser vielleicht kaum merkliche Ironisierung, ja Mißachtung aus. Diesen Eindruck muß nament- lich das Loblied auf Euenos 2 ) wecken, dessen Feuer in einem merk- *) Vgl. Bruns, D. literar. Porträt der Griechen S. 477 f. 2 ) Von der Person des Euenos ist auch noch im Phaidon (60Dff.) und Phaidros 267 A die Rede. Vgl. hierüber Schanz, Apologia S. 130. Sokrates und die sophistische Lehrtätigkeit. 189 würdigen Kontrast zu der hypothetischen Fassung, zu dem „Wenn", an das es gebunden ist, steht. Ziehen wir aber diese ironische Note ab, so ist die Darstellung der Apologie ein geschichtliches Dokument für die Art, wie Sokrates sich zu den Sophisten ge- stellt hat. 2. Sokrates und die sophistische Lehrtätigkeit. Sokrates hat, so viel ist hiernach sicher, den Sophistenstand als das anerkannt, was er in Wirklichkeit war, als ein nützliches, ja unentbehrliches Glied in dem Organismus der damaligen hellenischen Gesellschaft. Und es ist keineswegs bloß Ironie, wenn er erklärt, der Sophistenberuf sei ein schönes Metier, und Männer, wie Gorgias, Prodikos, Hippias — Protagoras ist nur deshalb nicht genannt, weil er längst tot war — , seien zu be- neiden. Die öffentlichen und sozialen Verhältnisse waren in Griechen- land, zumal in Athen, im Verlauf des 5. Jahrhunderts für die her- gebrachten patriarchalischen Formen des Unterrichts und der Er- ziehung zu kompliziert geworden. Gewiß stand die athenische Elementarbildung auf einem ungewöhnlich hohen Niveau. Auch die Söhne einfacher Leute waren in der Lage, nicht bloß lesen und schreiben zu lernen, sondern außerdem noch gewisse „mu- sische" Kenntnisse und Fertigkeiten und vor allem auch eine ge- wisse turnerische Gewandtheit sich anzueignen. Die staatliche Gesetzgebung selbst hatte dafür gesorgt, daß dem jungen Athener wirklich ein solcher Unterricht zuteil wurde. ') Bei den Söhnen aus guten Häusern erreichte die gymnastische und musische Aus- bildung eine recht hohe Stufe. Für die Jugend der höheren Ge- sellschaftskreise gehörte es zum guten Ton, in der vaterländischen Poesie und Musik heimisch zu sein und auf den Turnplätzen Sport und Leibesübungen zu treiben. Aber so trefflich diese ästhetisch-philologisch-gymnastische Schulbildung sein mochte, darüber hinaus waren die jungen Leute in der Hauptsache auf sich selbst und auf das angewiesen, was sie in freiem Umgang von Älteren lernen konnten. Das war mehr und mehr ein un- haltbarer Zustand geworden, unhaltbar namentlich angesichts der *) Vgl. Kriton 50 D f. und hiezu M. Schanz, Krito S. 55. 190 Sokrates und die Philosophie. wirtschaftlichen, sozialen und politischen Aufgaben, denen der junge Athener aus wohlhabender oder vornehmer Familie als künftiger Leiter seiner Privatökonomie, noch mehr aber als prä- sumtiver Berater des souveränen Volks, das ein großes Reich zu regieren hatte, entgegensah. Noch mehr als anderswo in Griechen- land war darum in Athen im Lauf der letzten Jahrzehnte des 5. Jahrhunderts das „Erziehungsproblem" zu einer viel erörterten Tagesfrage geworden. Und Sokrates war es, der dafür sorgte, daß die Frage nicht mehr zur Ruhe kam. Die Kalliasunterredung der Apologie gibt uns eine Vorstellung davon, wie er es angriff, den Leuten die Notwendigkeit, für eine „menschliche und politische Ausbildung" der heranwachsenden Jugend Sorge zu tragen, zum Bewußtsein zu bringen. 1 ) Seit der Mitte des Jahrhunderts aber waren, zunächst im jonischen Kulturkreis, die Sophisten an der Arbeit, dem Bedürfnis der Zeit abzuhelfen. In den dreißiger Jahren waren sie auch nach Athen gekommen und hier von den fortschrittlich Gesinnten, wie von der bildungsdurstigen Jugend selbst, mit Jubel empfangen worden. Auch Sokrates hieß, wie der Bericht der Apologie in klassischer Bestimmtheit zeigt, die Gäste willkommen. Er sah in ihnen wirklich die professionellen Lehrer, die sich einen Be- ruf daraus machten, den jungen Leuten die für ihre künftigen staatsbürgerlichen und menschlichen Pflichten unumgänglich not- wendige Bildung zu vermitteln und so die ungeregelte, von der Gunst des Zufalls abhängige Anleitung seitens älterer Mitbürger, die bisher für die dem Elementarunterricht entwachsenen Jüng- linge der einzige Weg zur Weiterbildung war, durch einen ge- ordneten methodischen Unterricht zu ersetzen. Daß sie sich für ihre Vorträge honorieren ließen, fand er wohl nur in der Ordnung. Den Eindruck hat er nun freilich wohl nicht gehabt, daß die Sophisten ihrer Aufgabe ganz gerecht wurden. Andererseits aber *) Man vergleiche außerdem den Laches, den Eingang des Protagoras und etwa die Ausführung über die Tugendlehrer im Menon 89 ff. Daß diese Sorge um die Ausbildung der Jugend genuin sokratisch war, geht übrigens schon aus der programmatischen Forderung sachverständigen Wissens für alle Lebenskreise, die Sokrates nachdrücklich vertrat, hervor: ihm mußte daran liegen, daß der Jugend Gelegenheit geboten wurde, dieses Wissen sich planmäßig anzueignen. Sokrates und die sophistische Lehrtätigkeit. 191 hat er ihnen doch auch seine Anerkennung nicht versagt. Wenig- stens hat er — so viel läßt sich unseren Berichten mit Sicherheit entnehmen — kein Bedenken getragen, ihnen gelegentlich junge Leute seines Umgangs als Schüler zuzuschicken. 1 ) In der Tat war es ja doch die politische und die bürgerliche Erziehung, die sich die neuen Weisheitslehrer, so sehr ihr Unterricht in der Rhetorik gipfelte, vor allem angelegen sein ließen. Das war Protagoras' ausgesprochenes Programm. Aber auch diejenigen unter den Sophisten, die sich wie Gorgias grundsätzlich nur als Rhetoriklehrer bezeichneten, und ebenso andererseits die Männer vom Schlag des Hippias, die sich eine schulmäßige Einführung ihrer Zöglinge in die Elemente des Gesamtwissens der Zeit zur Aufgabe machten, hatten zuletzt dasselbe Ziel vor Augen. Für seine eigene Person indessen kann Sokrates in vollem Ernst versichern, daß er von der sophistischen Kunst nichts ver- stehe und ihr durchaus ferne stehe. Ähnlich wie in der Apologie spricht er sich im Laches (186 C) aus. Da erklärt er, er habe nicht die Mittel, um die Sophisten, die allein verhießen, ihn zu einem trefflichen Mann zu machen, zu entlohnen; so sei er auch nicht dazu gekommen, die Erziehungskunst sich anzueignen. Das ist natürlich wieder sokratische Ironie, der aber doch der ernste Hintergrund nicht fehlt. In der Rhetorik zumal, der eigentlichen Substanz des sophistischen Unterrichts, kann Sokrates sich recht wohl als Laien bezeichnet haben. Und sicher hat er ') Auch in dieser Hinsicht enthält die Euenosepisode der Apologie einen historisch wahren Kern. Im Laches 180 D ist davon die Rede, daß Sokrates dem Nikias den Dämon als Lehrer der fiovoixri für seinen Sohn empfohlen habe ihiezu vgl. 200D und unten S. 194,3); Dämon aber sei nicht bloß hierin aus- gezeichnet (vgl. Rep. III 400 B IV 424 C, Axiochos 364 A), sondern auch sonst sehr geeignet, avvöiarpißeiv zrj?uxovtoiq veavloxotq, und nach 197 D 200 A verfügt er über eine oo<pia, die auf Prodikos zurückgeht; in Alk. I erscheint er als ein dem Perikles nahestehender Sophist. Erinnert werden darf auch an Theät. 151 B: cwv nokkovq (ihv 6r i^eöajxa TJqoöixw, noXlovq 6h äkkoiq ooipoiq re xai Seanzoloiq avÖQdoi. Vgl. ferner Äschines, Krauß vest. XIV (aus Maxim. Tyr. diss. XXXVIII) und Xenophon, Mem. III 1, 1 ff., wo Sokrates einen seiner Jünger zu dem Strategik- lehrer Dionysodoros, der wohl auch von Xenophon als Sophist betrachtet wird, schickt; vgl. IV 7, 1 Schi, (auch uXXoiq avviovrj/xi ... I 6, 14 ist wohl hier heran- zuziehen). — Die Einleitung zum Protagoras ist kein Gegenbeweis. Sokrates- Plato warnt hier nur die jungen Leute davor, sich kritiklos dem Unterricht der Sophisten auszuliefern. 192 Sokrates und die Philosophie. selbst in keinem Zeitpunkt seines Lebens daran gedacht, Rheto- rikunterricht zu erteilen. Auch die Anekdote von dem Zusammenstoß des Sokrates mit den Oligarchen Kritias und Charikles, die in der xenophon- tischen Schutzschrift (Mem. I 2, 30ff.) erzählt ist, widerspricht dem nicht. Danach hätte Kritias aus Haß gegen Sokrates zur Zeit der Dreißig in Verbindung mit Charikles die Erteilung von Rhe- torikunterricht gesetzlich verboten; da er jenem nämlich auf an- dere Art nicht beikommen konnte, habe er ihm verleumderischer- weise das unterschoben, was die Volksmeinung den „Philo- sophen" — das heißt hier: den Sophisten — gemeinhin zur Last zu legen pflegte. Damit ist gesagt, Kritias habe den Sokrates wider besseres Wissen als Rhetoriklehrer hingestellt und, um ihn zu treffen, das Rhetorikverbot erlassen. Daß nun diese Dar- stellung in mehrfacher Hinsicht Bedenken erregt, ist nicht zu leugnen. Aber man darf die Remedur nicht nach der falschen Richtung suchen. Zu der Vermutung, daß Kritias selbst den So- krates wirklich für einen Lehrer der Redekunst gehalten habe und hierin, da er es wissen mußte, Glauben verdiene, berechtigt uns nichts. Die Sache liegt vielmehr offenbar so: Kritias wandte das von den Oligarchen erlassene Gesetz gegen die So- phisten auf Sokrates an, um ihn zum Schweigen zu bringen, obwohl er wissen konnte und auch sicher wußte, l ) daß diese Einschätzung seines ehemaligen Freundes falsch war. Und nur das ist zuzugeben, daß dieses Vorgehen des Kritias zur Voraus- setzung hatte, daß die öffentliche Meinung auch damals noch ge- neigt war, Sokrates als einen sophistischen Rhetoriklehrer zu be- trachten. Demgegenüber versichert nun aber Xenophon mit allem Nachdruck, er selbst habe von Sokrates nie ein Wort vernommen, das eine solche Auffassung seines Wirkens rechtfertigen würde, und auch von anderer Seite nie eine Andeutung in dieser Richtung ge- hört. Dieser Erklärung der Schutzschrift — um die Schutzschrift handelt es sich ja, nicht um die Gesprächsammlung — kann, glaube ich, so viel zuverlässig entnommen werden, daß denen, die den Meister aus der Nähe kennen gelernt hatten, von einem Rhetorik- ') Vgl. S. 165, 1. Daß Kr. die Eigenart der sokratischen Dialektik kannte, geht aus dem Verlauf der Unterredung hervor, vgl. namentlich §37; daß Xeno- phon selbst diese Einzelheiten erfunden haben sollte, ist nicht anzunehmen. Sokrates und die sophistische Lehrtätigkeit. 193 Unterricht desselben nichts bekannt war. Daß Sokrates sich ge- legentlich seinen Jüngern gegenüber darüber ausgesprochen habe, wie er über rechtes Reden und die rechte Redekunst denke, ist trotzdem nicht unwahrscheinlich. Und wenn nicht andere Gründe zwingend dagegen sprächen, könnte der Phaidros recht wohl in die „sokratische" Periode verlegt werden. Den Meister zum wirk- lichen Rhetoriklehrer zu machen, ist indessen auch Plato keinen- falls in den Sinn gekommen. Ebenso ferne aber hielt sich Sokrates überhaupt von jeder Art von Unterrichtstätigkeit, die mit der sophistischen in Parallele gestellt werden könnte. Daß er, wenn er mit seinen Getreuen zusammen war, anders sprach und mehr in die Tiefe ging, als wenn er den nächsten besten Schneider oder Schuster, den er auf der Straße traf, anpackte, wäre anzunehmen, auch wenn es nicht durch die xenophontische Schutzschrift (II, 17) ausdrück- lich bezeugt wäre. Und die feierliche Versicherung der Apologie, (33 AB, vgl. S. 107 f.), daß sein Umgang jederzeit jedem offen- gestanden, daß er nie als Lehrer aufgetreten, nie irgend etwas gelehrt und nie Schüler gebildet habe, stimmt, ebenso wie die Bemerkung der xenophontischen Schutzschrift (Mem. I 1, 10), daß Sokrates' ganze Tätigkeit sich in der Öffentlichkeit abgespielt habe, damit völlig zusammen. Was Plato und Xenophon sagen wollen, ist ja nur, daß der sokratische Kreis niemals eine ge- schlossene Schulgemeinschaft war, und daß jedermann, der nur kommen und hören wollte, zu ihm Zutritt hatte. Dagegen greift allerdings über diesen Rahmen jene Notiz in der Gesprächsamm- lung der Memorabilien (IV 7, 1, vgl. S. 170 f.) weit hinaus, wonach Sokrates seinen Jüngern in allen möglichen Dingen, die zur intellektuellen Ausrüstung eines jungen Mannes gehören mochten, Unterricht erteilt hätte. Das wäre ein Unterricht ge- wesen, der ganz auf der Stufe der von Hippias geübten Schul- meistere!, über die sich der platonische Protagoras (Prot. 318 D f.) lustig macht, stehen würde. Indessen steht diese Darstellung nicht bloß mit der klaren und bestimmten Erklärung der plato- nischen Apologie, sondern auch mit allem, was wir sonst aus Plato und aus Xenophons Schutzschrift über die sokratischen Unterredungen wissen, in schärfstem Widerspruch. Und ebenso schließt ein uns erhaltenes Fragment aus Äschines' Alkibiades H. Maier, Sokrates. 13 194 Sokrates und die Philosophie. jede unterrichtende Tätigkeit des Sokrates aufs unzweideutigste aus. l ) Daran zwar, daß Sokrates mit denen, die um ihn waren, auch die damals so viel diskutierten Bildungsfragen behandelte, daß er ferner für einen Mann, der seine Stelle im Leben ausfüllen wollte, gründlichste intellektuelle Schulung als unerläßlich forderte, und daß er selbst in seinen Gesprächen mit seinem ungeheuer weiten und reichen Wissen keineswegs kargte, ist nicht im mindesten zu zweifeln. Möglich ist an sich auch, daß er, wie Xenophon an anderem Orte (I 6, 14) berichtet, die Weisheitsschätze der Ver- gangenheit mit seinen Schülern gelesen und genutzt habe. 2 ) Für die Annahme freilich, daß Sokrates noch in seiner letzten Zeit im Kreise seiner Vertrauten die Werke der alten Philosophen studiert habe, ist die xenophontische Stelle, wie oben schon (S. 172 ff.) aus- geführt ist, keine genügende Unterlage. Daß er dagegen in seinen Unterredungen gelegentlich auch von Dichtererklärungen ausging, wird sich bestätigen. Das erinnert nun ja wohl an so- phistische Gepflogenheiten, und Sokrates hat hier ohne Zweifel an die Sophisten angeknüpft. Aber seine Dichterlektüre hatte doch auch wieder einen ganz anderen Charakter. Auch sie ist ihm nur ein Mittel im Dienst seiner Protreptik gewesen. Welche Rolle sie hier gespielt hat, wird später zu untersuchen sein. Zum unterrichtenden Lehrer fühlte sich Sokrates jedenfalls nicht be- rufen. 3 ) Er betrachtete die Sophisten darum auch ganz und gar *) Aeschinis reliquiae, Krauß fr. 4: . . . Kai 6>j xal eyw ovöhv fxä&rjfxa smoxäfJievoc, o öiöd^ag (xv&qcdtiov axpekrjouiii äv, oficoq w/xrjv S,vvu>v av sxslvu) öta zo £qüv ßskxicu noirjaai (aus Aristides, or. XLV). 2 ) Daß aus der Stelle weitergehende Schlüsse auf die Form von So- krates' Lehrtätigkeit nicht gezogen werden können, ist schon S. 173 bemerkt worden. Zu denken würde aber allerdings noch die von Diels (Über die ältesten Philosophenschulen der Griechen, a. a. O. S. 258) weiter angezogene Stelle III 14, 1 ff. geben, wenn man diese Notiz als eine wirkliche Reminiszenz ansehen wollte. Aber der Quellenwert der in Mem. III 13 und 14 zusammengestellten Materialien ist wohl nicht hoch einzuschätzen. Wir haben hier, wie es scheint, eine Samm- lung von Lesefrüchten aus der sokratischen Literatur, vermischt mit Lebensregeln eigen-xenophontischer Provenienz, vor uns, die die sichtende Bearbeitung völlig vermissen läßt. Literarisch hat sie allerdings Schule gemacht. 3 ) Charakteristisch ist die Stelle Laches 200 C verglichen mit D und E. Laches sagt hier, der beste Lehrer für die Jugend wäre Sokrates; Nikias gesteht das zu, ei s&tkoL ovzoq' dlkd ydg aXlovq /xot kxäorors ^vviavtjoiv (vgl. hiezu S. 191, 1), Die sophistische Bewegung. 195 nicht als Konkurrenten. Die Weise seines Wirkens war nicht die ihre. Und vor allem war sein Arbeitsgebiet ein ganz anderes. So konnte er die sophistische Tätigkeit recht wohl als Ergänzung der seinigen begrüßen — wenn anders ihm deren ganze prinzi- pielle Tendenz sympathisch war. 3. Die sophistische Bewegung. Aber allerdings: die Sophisten wollten mehr als bloße Schul- meister sein. Sie fühlten sich als die Bahnbrecher der modernen Kultur, und vor allem als die Fackelträger einer neuen Wissen- schaft. Es ist uns bereits bekannt, wie am Anfang der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts von ihnen eine mächtige wissen- schaftliche Bewegung angefacht wurde, die sich als eine Reaktion gegen die alte, spekulative Philosophie darstellte und eine totale Erneuerung und Verjüngung des Wissenschaftsbetriebs anstrebte. 1 ) Abgesehen war es zunächst auf Utilitarisierung der Wissenschaft. Man wollte die abgelebte, weit- und lebensfremde, dem normalen Menschen unverständliche und unzugängliche Grüblerphilosophie, wie sie damals ihr Dasein in stillen Schulgenossenschaften fristete, durch eine Philosophie für die Welt und fürs Leben ersetzen. 2 ) Im Zentrum dieser neuen Philosophie aber stand die Rhe- torik. 3 ) Die ersten Sophisten fühlten sich im Besitz ihrer Kunst ozav zl avzoj nsgl xovxov tivrja&ä), avrog de ovx i&ekei. Sokrates aber will nach 200 E auch nicht eigentlicher Lehrer der sittlichen Tugend sein. Er zieht sich auf seine protreptische Dialektik zurück. *) Die folgenden Ausführungen im Text waren längst niedergeschrieben, als H. Gomperz' Buch: Sophistik und Rhetorik, Leipzig 1912, erschien, das sich an vielen Punkten mit jenen berührt. In der starken Hervorhebung des rheto- rischen Elements im sophistischen Bildungsideal treffe ich mit Gomperz zusammen. Seiner Auffassung der Gesamttendenz der Sophistik kann ich dagegen nicht zu- stimmen; davon, daß die sophistischen Bestrebungen ausschließlich auf das for- male Ziel des sv X&yetv gerichtet waren, haben mich auch seine Erörterungen nicht überzeugt. In dieser Hinsicht bin ich mit Wendlands Besprechung des Buchs in den Götting. Gel. Anzeigen 1913, S. 53 ff., die mir durch die Freund- lichkeit des Verfassers noch vor ihrem Erscheinen zugänglich gemacht worden ist, völlig einverstanden. 2 ) Vgl. hiezu besonders den Eingang zum großen Hippias. 3 ) Nach dem platonischen Protagoras könnte es allerdings, wie Wendland a. a. O. S. 57 hervorhebt, scheinen, als wäre das rhetorische Interesse des Prota- 13* 196 Sokrates und die Philosophie. als Entdecker von Neuland. Und sie schwelgten im Bewußtsein der Macht, die ihnen die zur Virtuosität ausgebildete Fähigkeit der Rede in die Hand gab. Es ist oft schon geschildert worden, welche Dienste in der Tat die rhetorische Kunst dem Griechen der damaligen Zeit, zumal in den demokratisch verfaßten Politien, im gesellschaftlichen, politischen, geschäftlichen und wirtschaft- lichen Leben leisten konnte. Man lese die Erzählung von der Wirkung, die Gorgias als Gesandter der Leontiner mit seiner Rede in der athenischen Volksversammlung erzielte, und man wird das Hochgefühl der Sophisten begreifen. „Was mühen wir Sterblichen uns", heißt es in Euripides' Hekabe (814ff.), „mit all den anderen Wissenschaften und erforschen sie und lernen nicht lieber die Überredungskunst, die alleinige Herrin über die Menschen, um unser gutes Geld sorgsam bis ans Ende durch, wo doch auf diesem Weg die Möglichkeit sich Öffnet, den Leuten einzureden, was man will, und so zugleich ans eigene Ziel zu kommen?" So dachten nicht wenige von den vielen, die sich dem Zauber der neuen Weisheit hingaben. Protagoras selbst rühmt sich, mittels der Rhetorik die schwächere Rede zur stärkeren machen zu können. 1 ) Treffender kann man den Glauben an die Allmacht der rhetori- schen Kunst nicht zum Ausdruck bringen. Man versteht, wie die Sophisten in der Rhetorik die praktische Wissenschaft schlechtweg, die Wissenschaft, die dem Bürger die „Tüchtigkeit", die ayerrj gab, sehen konnten. goras nicht allzu groß gewesen. Man darf indessen nicht vergessen, daß schon im Eingang des Dialogs das ganze Sophistentum in den rhetorischen Rahmen hineingestellt ist: der oo<piorr)q ist nach 312 D der enioxürrjq tov noiTJoac Seivov '/.tyeiv (vgl. Mem. 95 C über Gorgias). Hievon geht die ganze Diskussion aus. Im Gespräch zwischen Protagoras und Sokrates selbst allerdings tritt die Rheto- rik zurück; als das tnäyysljAa des Protagoras erscheint das Xeyeiv ttjv nohrix^v ziyvrjv 319 A, und Protagoras wird als diöüoxuloq naidsvoEwq xal <xQ£xf/q be- zeichnet, 349 A. Aber man muß sich erinnern, daß dieses Gespräch eine Aus- einandersetzung zwischen der sittlichen Dialektik des Sokrates mit dem protago- reischen Tugendideal ist, und der nächste Zweck ist, zu zeigen, daß Protagoras in den wichtigsten Fragen des sittlichen Lebens und der sittlichen Er- ziehung nicht Bescheid weiß. Darauf ist die ganze Erörterung zugeschnitten. Hie- durch wird also nicht ausgeschlossen, daß in dem Tüchtigkeitsideal des Protago- ras tatsächlich die Rhetorik im Vordergrund stand. Vielmehr wird dies im Dia- log als feststehend vorausgesetzt. Protagoras A 21 Diels 2 ; vgl. über Gorgias Diels 2 S. 534, 30 ff. Die sophistische Bewegung. 197 Aber sie war ihnen noch sehr viel mehr: sie war ihnen die Meisterin aller Wissenschaft. Kleinere Geister, wie Hippias und Antiphon, mochte es reizen, innerhalb der einzelnen Gebiete selbst ihr Licht leuchten zu lassen und durch möglichst ausge- breitetes, vielseitiges Wissen und Können zu glänzen. Die Großen dagegen bemühten sich, die Überlegenheit der Rhetorik über die anderen Wissenschaften und Künste unmittelbar darzutun. Mit seinen rhetorischen Waffen fällt Protagoras über die Mediziner, die Geometer, die bisherigen Philosophen her. 1 ) Er weiß: keine Überzeugung, keine These irgend einer Wissenschaft steht so fest, daß sie der Zauberkraft der rhetorischen Kunst widerstehen könnte. Nichts anderes will der berüchtigte protagoreische Satz besagen, als daß es über alles und jedes zwei Meinungen gebe, die ein- ander widersprechen. Gewiß sind alle diese Behauptungen — so und nicht anders sind sie aufzufassen — bewußte Übertreibungen, pointierte Paradoxa, in denen der geistreiche Übermut des ge- nialen Mannes mit dem Publikum sein Spiel treibt. Aber es schimmert durch sie doch die ernste Überzeugung durch, daß die Rhetorik, die die Sophistenden Menschen gebracht haben, die wahre Wissenschaft sei, die universale, beherrschende Wissenschaft, die über den anderen stehe und sie zu meistern und zu richten bestimmt sei. In diesem Glauben aber begegneten sich die übrigen Sophisten mit Protagoras. Besonders dem Gorgias lag ganz diese Wertung der rhe- torischen Kunst im Sinn, wenn ersieh grundsätzlich von allen übrigen Wissenschaften zurückzog und seine Arbeit auf die Rhetorik be- schränkte. 2 ) Und in geradezu klassischer Weise spiegelt sich das 1 ) Fr. 8 Diels (Plato, Soph. 232 DE und hiezu die Anmerkung von Diels, Fragmente der Vorsokratiker II l 2 S. 538 f.), fr. 7 (Aristot. Met. B2. 997b 32ff.) und fr. 2 (aus Porphyr, bei Euseb.). 2 ) S. besonders Diels A26 (Plat. Phileb. 58 A, vgl. noch die von Diels nicht wiedergegebenen Worte . . . xal ixaxQÜ dgloxr) Ttaocüv ei't] zwv xrpxüv sc. i] zov Ttei&eiv, ferner Cic. de inv. 5, 2). Vgl. Plat. Gorg. 456 A: . . tu? tnoQ sinelv dndaaq zdq övvd/neig ovD.aßovaa vcp avztj t/ei, nämlich tj qtj- xogixrj (und dazu die Stelle Diels A27). Hieher gehört auch der Eingang der von Diels fr. 11 angeführten Stelle aus Gorgias' Helena: on 6'>) 7ra#<y ngooioioa zw Xöyw xal zr\v ipv%rjv izvnwoaxo onwq ißov?.sxo, '/Qtj [xa&üv tiqw- xov fxtv xovg zwv fAexe(üQO?.6ycuv ).öyovq, oixivsq öögccv dvxl döfyg xi)v fj.ev d<pe- löfAEVoi xtjv ö'irs^yaacxfxevoi xd dmoxcc xal uöijl.a <paiiEO&ai xol$ xijq 66§rjQ öfifxuoiv iTtoiTjoav . . . Darin finde ich zwar nicht mit H. Gomperz a. a. O. S. 29 198 Sokrates und die Philosophie. Bewußtsein der Universalität, die die Sophisten für ihre Kunst in Anspruch nahmen, in der Schilderung des achten Kapitels der Jioaol loyoi wider. 1 ) Übrigens darf die sophistische Bewegung keineswegs nach dem übermütigen Spiel gewagter Paradoxien, mit denen die So- phisten ihre Hörer und Leser zu verblüffen liebten, beurteilt werden. Die Sophisten selbst betrachten und behandeln ihre Ar- beit als ernste Wissenschaft. Sie wollen vollwertige „Philosophen", ja die Philosophen sein. 2 ) Schon in dem Namen „Sophisten", zu dem sie sich bekennen, liegt zweifellos dieser Anspruch. Nur darf man den Schwerpunkt dieser Philosophie nicht da suchen, wo er so lange gefunden worden ist. Die Manier der alten Doxographen, jede Behauptung, die nach einer philosophi- schen Doktrin, nach einem „Lehrsatz" aussah, mechanisch zu buchen, hat hier mit der Polemik des späteren Plato gegen die „Sophistik" zusammengewirkt, unsere Auffassung der sophistischen Bewegung in die Irre zu führen. Man hat die Sophisten zu grundsätzlichen Skeptikern, Relativisten, Subjektivisten und Eri- stikern gemacht — ob man darin nun wissenschaftliche Deca- dence oder aber eine tiefe erkenntnistheoretische Einsicht sah. Zwar die früher herrschend gewesene, noch durch Zellers Autorität gestützte Auffassung, die den Ausgangspunkt der sophistischen „Wissenschaft" in einer skeptisch-subjektivistischen Erkenntnis- theorie erblickte und die Hinwendung zur Praxis lediglich als eine Folgerung aus dem prinzipiellen Verzicht auf theoretisches Wissen ansah, ist heute wohl im ganzen aufgegeben. Aber die andere, (vorsichtiger Diels S. 559, Anm. zu 2) eine „Selbstcharakteristik des Verfassers der Schrift ,Über die Natur'", wohl aber einen Ausdruck der Überzeugung, daß auch auf dem Gebiet der „Meteorologie" die Überredungskunst das entscheidende Wort spreche. Darauf allein weist ja auch der Zusammenhang hin (ganz abge- sehen davon, daß Gorg. wohl unter keinen Umständen seine Argumentation über das Seiende zu den Xöyoi xuiv nsxsioQoXöywv gerechnet hätte). ') Man lese vor allem die §§ 3 ff. in diesem 8. Kapitel (Diels 647, 18 ff.). 2 ) Auch von Gorgias sagt nicht bloß Plato im Mem. 70 B, daß er snl ocxpia die ersten unter den Aleuaden igaoxaq sl'Xij<psv. Gorgias selbst beansprucht für seine Lehre die Bezeichnung (piXococpia, Sauppe, Fragmenta orat. Attic. fr. 28 : Gorgias der Rhetor sagte: xoiq <pi).ooo(piaq fxhv cc/uelovvxaq, tisql 6h xa iyxvxkia [Aa9)'i/Ltaza ytvo^iävovq ofioiovq slvai xolq fAVTjoxiJQatv, o l l xi\v neveXöjzrjv i&t?.ov- xeq xalq SsQunaivioiv ccvrjjq tfjiiyvvvxo. Die sophistische Bewegung. 199 die den Sophisten wenigstens das Bedürfnis unterschiebt, für ihre tatsächliche Abwendung von der theoretischen Philosophie eine philosophische Begründung zu gewinnen, und sie so oder so zu philosophischen Skeptikern und agnostischen Gegnern der bis- herigen Spekulation stempelt, will nicht weichen. Nun liegt in dieser Einschätzung in jedem Fall eine unbe- rechtigte Verallgemeinerung. Skeptiker könnte man mit einem Schein des Rechts doch nur Protagoras und Gorgias nennen. 1 ) Nach derselben Manier aber müßte dann andererseits Antiphon zu den Eleaten gezählt werden. 2 ) Und die Mehrzahl der Sophisten müßte man für neutral erklären. In Wirklichkeit waren die So- phisten, sofern sie mit den bisherigen Philosophen verglichen werden können, Eklektiker, die das Gute, d. h. das, was sie für ihre Zwecke brauchen konnten, nahmen, wo sie es fanden, die die früheren und zeitgenössischen Gelehrten plünderten — auch dann, wenn sie dieselben bekämpften. Ein Bedürfnis aber, der neuen Wissenschaft das Recht des Daseins gegenüber der alten Philosophie zu sichern, empfanden sie ganz und gar nicht. Ihre Wissenschaft war aus einer Notwendigkeit des Lebens hervor- gewachsen, und der Beweis für ihre Existenzberechtigung lag in ihren tatsächlichen Erfolgen. Was sie wollten, war nur, ihre Be- hauptung von der Überlegenheit ihrer Wissenschaft über die alte zur Evidenz zu bringen. Und diese Tendenz kehrte sich, wie wir wissen, wie gegen die bisherige Philosophie, so auch gegen die übrigen Wissenschaften und Künste. Verächter des Wissens waren sie dennoch nicht. Sie hätten sich damit den Boden, auf dem sie standen, selbst abgegraben. Gelten ließen sie nun freilich nur das Wissen, das praktisch verwertbar war — praktisch in dem Sinn, den sie mit dem Wort verbanden. Das war zwar viel, aber keineswegs alles. Das Übrige war ihnen graue Theorie. Und sie wiesen wohl gelegentlich auf die Kluft hin, die zwischen dieser und der Wirklichkeit liege. So warf Protagoras den Geo- metern ein, daß ihre Figuren mit den tatsächlichen Gestalten 1 ) Aus der Notiz des Sextus über Xeniades (Diels S. 543) läßt sich nicht viel machen. Sextus selbst meint, Xeniades' Ansicht komme im Prinzip auf das- selbe hinaus, wie die Lehre der eleatischen Schule. Vermutlich war er ein Schüler Zenos. 2 ) S. fr. 1 Diels, und hiezu die Diels'sche Anmerkung S. 591. 200 Sokrates und die Philosophie. der Dinge ganz und gar nicht übereinstimmen (fr. 7 Diels). Im übrigen aber hielten sie es wohl keineswegs für erforderlich, sich mit den wert- und zwecklosen Grübeleien weltfremder Träumer ausdrücklich auseinanderzusetzen. Mochten dieselben wahr oder falsch sein: genug, daß sie nicht fürs Leben taugten. Die antike Tradition hat Protagoras zum Begründer der „sophistischen" Disputierkunst, der dialektischen Eristik, deren Hauptstärke die Wortverdrehung war, gemacht, l ) und man hat auf ihn die meisten der Schlechtigkeiten gehäuft, die man dieser Kunst seit Plato nachgesagt hat. Dementsprechend mußte Prota- goras auch Verfasser einer eristischen Technik sein, und in der Tat ist in das Verzeichnis seiner Schriften bei Diogenes eine Ts%vri BQiaxixmv aufgenommen. Das hat genügt, um die neueren Historiker bis zu Zeller zu veranlassen, auf Protagoras und seine sophistischen Genossen alle die Trug- und Fangschlüsse, die in Piatos Euthydemos und in Aristoteles' sophistischen Elenchen zu- sammengestellt sind, und das ganze Verfahren, wie es in dem platonischen Dialog so ergötzlich geschildert und in der aristo- telischen Schrift in ein System gebracht ist, zurückzuführen. Nun findet sich aber von der angeblichen protagoreischen Schrift über Eristik sonst nirgends eine Spur. Und der Titel selbst, den wir Diogenes verdanken, erweckt schwere Bedenken. „Eristik" ist ein Scheltname, den die Gegner dieser Manier aufbrachten, und der Erfinder ist wohl Plato gewesen. Aber auch wenn Prota- goras ihn bereits gekannt hätte — ist denn anzunehmen, daß er ihn auf eine Kunst, die er lehren wollte, angewandt hätte? 2 ) Dazu kommt, und das ist entscheidend, daß Aristoteles da, wo er sich über die Vorarbeiten zu der von ihm entworfenen Theorie der Dialektik und Eristik ausspricht, von einer eristischen Technik J ) Diels S. 526, 2-7 (Diogenes L. IX 52 f.); vgl. Diels S. 527, 33 f und S. 528, 5. 2 ) Man wende nicht ein, daß doch auch der „Eristiker" Antisthenes zwei Schriften über Eristik geschrieben habe, nämlich nsgl ovo/mxtwv xQn oiu ><i 7 i f V" ouxöq und So§cci 17 sqiotixÖq, Winckelm. S. 13. Was in diesen Schriften stand, wissen wir nicht. Zu der Annahme, daß sie so etwas wie eine Technik der Eristik enthielten, haben wir keinen Grund. Viel wahrscheinlicher ist, daß der Autor sich in ihnen irgendwie mit dem ihm von gegnerischer Seite gemachten Vorwurf der Eristik auseinandersetzte. Die sophistische Bewegung. 201 des Protagoras nicht nur nichts weiß, sondern im Gegenteil aus- drücklich erklärt, daß nichts Derartiges vorhanden gewesen sei. 1 ) Wie aber mit der eristischen Schrift des Protagoras, so steht es mit seiner angeblichen eristischen Kunst selbst. Weder er noch irgendeiner der übrigen Sophisten war ein dialektischer Eristiker in dem später üblich gewordenen Sinn. 2 ) Die Grundlage für die Angaben der alten Berichterstatter ist offenbar das protagoreische Wort von den zwei Meinungen, die über jedes Ding möglich seien. ;< ) Damit war nun ja wohl gesagt, daß bei jedem Satz sowohl das Für als das Wider verfochten werden könne. Und daß dies der Boden war, auf den sich später auch die Dialektik — übrigens nicht bloß die eristische, sondern auch die anständige — gestellt hat, ist gleichfalls sicher. Prota- goras aber hatte die rhetorische, nicht die dialektische Vertretung im Auge. Und im Grunde ging der Satz über den Rahmen einer stark advokatischen Rhetorik — und das war die sophistische; aber war es die aristotelische vielleicht nicht? — keineswegs hinaus. Daß immerhin zu den Kunstmitteln der sophistischen Rhetoren rabulistische Kniffe sehr gewagter Art gehörten, daß wohl auch Trugschlüsse, wo sie Erfolg versprachen, nicht ver- schmäht wurden, wer wollte das bestreiten? Darauf weisen auch die überlieferten Scherzanekdoten hin, die, wenn nicht wahr, doch gut erfunden sind. Nun wird aber berichtet, Protagoras und ebenso auch Gorgias hätten zuerst loci communes zusammen- gestellt l ), und nach dem Wortlaut der Berichte könnten darunter immerhin dialektische, loci zu verstehen sein. Indessen handelt es sich hier, wenn wir die Angaben schon einmal für zuverlässig halten, sicher nur um rhetorische loci. Von Aristoteles wissen ') Aristoteles, soph. el. 34. 183 b 34—36 (tairrjq 6h r^q nQccyfxateiaq . . . ovdev Tiavulwq vTtTJyyev, ähnlich 184 b 1 f.). 2 ) Hierin muß ich Joel (I S. 367 f.) gegen Siebeck, Untersuchungen zur Philosophie der Griechen' 2 S. 19, beistimmen. 3 ) Das scheint schon aus dem Zusammenhang hervorzugehen, in dem der Satz bei Diogenes steht, DielsS. 525, 22 f.: xal TiQoixoq sy?] ovo Xöyovq elvcu tcsqI navxbq ngäyfxaxoq avxLXtifXbvovq u).Xrj).oiq' olq xal avvrjQwxa, tiqujxov xovxo Tigä^aq. igcozüv ist die wesentliche Funktion des Disputierens. 4 ) Diels, Protagoras fr. 6. In der Te%vcjv avvaywyi] des Aristoteles (Ari- stotelis fragm. 137 Rose 2 ) war außer Protagoras und Gorgias auch noch Anti- phon der Rhetor als Verf. von loci communes genannt. 202 Sokrates und die Philosophie. wir in der Tat, daß die rhetorische Techne des Gorgias solche geboten hat. Sie waren aber, wie wir gleichfalls von Aristoteles erfahren, nichts anderes als Redestücke, die von den Studierenden der Rhetorik auswendig gelernt werden mußten, um dereinst an passenden Orten ihren eigenen Reden eingefügt zu werden. 1 ) Und wenn die Sophisten je sich auch mit solchen loci befaßt haben sollten, die ausdrücklich bestimmt waren, die zwei Meinungen über jedes Ding zu verfechten, so können uns die überlieferten JiogoI loyoi, die ums Jahr 400 verfaßt sein müssen, ein Bild geben, wie jene ausgesehen haben mögen. Gewiß waren Prota- goras und Gorgias geistreicher. Und sicher hätten jene unter ihren Händen eine andere und bessere Form erhalten. Aber auch ihre loci wären eben nur Reden gewesen oder Teile von solchen oder — auch das ist möglich — Dispositionen von Reden und Redebestandteilen, die mit mehr oder weniger Scharfsinn denselben Objekten entgegengesetzte Seiten abzugewinnen suchten. 2 ) In 1 ) Aristoteles, soph. el. 34. 183 b 36— 184 a 8 (Diels, Gorgias fr. 14). Die naiösvoiq xüv ntQi xovq tpioxixovq Xöyovq /uia&agvovvTwv wird hier als ähnlich Tjy ropylov npay/Ltazsla bezeichnet. Xöyovq yäo, so heißt es weiter, ol /nhv QTjtOQixovq ol öh sowxrjzcxovq iöldooav ix/xavd-txveiv, fig ovq nXsioxaxiq ifinin- xeiv tpTj^aav hxäxegoL xovq ccXXj'jXwv Xöyovq. Die Frage ist hier, ob die ol (xhv auf Gorgias oder auf den einen Teil der ßio&aQvovvxtq gehen. Im letzteren Fall läge der Schluß nahe, daß es außer den eristischen Xöyoi = Disputationen auch noch {qloxixoI Xöyoi = Reden gab. Allein nach dem üblichen Sprachge- brauch des Aristoteles wie nach dem Zusammenhang sind unter den eristischen Xöyoi dialogische Dispute zu verstehen; ol pev wird sich also auf Gorgias be- ziehen. Und vielleicht ist statt ol zu lesen: 6. Der Charakter der noayfxaxsia des Gorglas aber läßt sich in jedem Fall aus 184 ä 1 ff. bestimmen. Übrigens ist die Analogie nicht ganz glatt. Daß die noccy/uccxeia des Gorgias in einer Schrift niedergelegt war, die als eine Sammlung von solchen loci communes = Redestücken zu denken ist, ist nicht zweifelhaft. Die naldsvoiq jener /j.io&aQvovv- xsq aber ist als eine rein mündliche zu betrachten, vgl. die Bemerkung 184 a 9, daß auf dem Gebiet der dialektisch-eristischen Techne überhaupt gar nichts Lite- rarisches vorhanden war. 2 ) Daß die loci des Gorgias in der Tat von dieser Art waren, scheint aus dem Wortlaut des ciceronianischen Berichts fast sicher hervorzugehen, Aristot. fr. 137 Rose 2 : .. quod idem fecisse Gorgiam, cum singularum rerum laudes vituperationesque conscripsisset, quod judicaret hoc oratoris esse maxime proprium rem augere posse laudando vituperandoque rursus affligere. Die xeyvrj (Aristoteles: nouyiJiaitia) des Gorgias wäre also eine Sammlung von solchen loci gewesen. Nahe liegt übrigens die Vermutung, daß auch die kvxiXoylai des Protagoras ähnlichen Charakter gehabt haben. Was uns aus denselben Die sophistische Bewegung. 203 jedem Fall haben die „eristischen" Kunstmittel, mit denen die Sophisten operierten, durchaus rhetorischen Zwecken gedient. Mit dem dialektisch-eristischen Betrieb, wie er im 4. Jahrhundert auf- kam, haben sie sicherlich nichts zu tun. Daß Protagoras der Gesprächsdialektik ferne stand, zeigt der Verlauf der Unterredung im platonischen Dialog unwiderleglich. Auf das Fragen und Antworten in der sokratischen Weise versteht er sich nicht. Seine Sache ist, über jedes beliebige Thema lange Vorträge zu halten und andererseits auf gestellte Fragen kurze, belehrende Antworten zu geben. Ganz ähnlich ist im „Gorgias" das Auftreten und Lehrverfahren des Gorgias und im „kleinen Hippias" das des Hippias charakterisiert. 1 ) Daß diese Schilde- mitgeteilt ist, fr. 5 Diels, weist allerdings nicht nach dieser Richtung. Aber dieses Fragment ist auch sonst rätselhaft. Ausgeschlossen wird hiedurch jene Hypo- these noch nicht. Ist sie richtig, so wäre auch Protagoras Verfasser einer Samm- lung von solchen rhetorischen loci gewesen (vgl. das Stück Protag 334 A—C, das uns wohl echt protagoreische dioool ).6yoi vorführti. Dann würde sich die Notiz, die dem Prot, eine Ttyvrj eQiaztxwv zuschrieb, ursprünglich wohl auf diese Sammlung, also auf die 'AvxO.oyiui beziehen. Vgl. jetzt auch H. Gomperz, a. a. O. S. 127 ff. ') Im „Protagoras" eröffnet das ironisch gemeinte Kompliment 329AB die Reihe der Stellen. Die Hauptstelle ist 334 D— 337 C. Nun scheint namentlich 335 A der im Text vertretenen Auffassung zu widersprechen. Protagoras sagt hier: . . tyco nollolq r\6r\ liq dyiöva. /.öyiov d<ptxö/ur]v dv&pwnoiq, xai st tovro tnoiovv o ov xeksisig, a>q b dvuttycov fze/.avi fit öicc?Jyeo&ai, ovrco ÖLsltyö(J.rjv, ovdtvbq dv ßs?.xi(ov t-cpcuvöfAijv . . . Allein der dywv ).6ya>v ist hier nichts anderes als der (rednerische) Redekampf, in dem die Sophisten allerdings Meister sein wollten. Auch das dictli-ysoBcet, das aus dem Zusammenhang völlig verständlich wird, deutet nicht auf die Gewohnheit des Disputierens, und ovötvoq ßtlxiwv heißt natürlich nicht: keinem im Disputierkampf überlegen. Daß die Sophisten auch mit ihren Schülern und denen, die es werden wollten, Gespräche führten, soll selbstverständlich nicht bestritten werden (vgl. Diels 529, 27 ff.). Allein wenn sie vor der Öffentlichkeit sich ausfragen ließen, so wollten sie damit wieder nur ihre rednerische Gewandtheit und Schlagfertigkeit dokumentieren. Die kurzen Antworten aber — vom „Fragen", das für Sokrates die Hauptsache war, in dem aber bei Plato Protagoras völlig versagt, ist nirgends als in dem ironischen Kom- pliment 329 B die Rede — waren präzise, schnelle Bescheide auf gestellte Fragen. Genau das ist auch gemeint mit dem y.axd ß&ccyv dvvaottai diaXtysotiui, das in Aloool ?.6yoi, Diels 647, 12 f., 648, 11 f., für den Sophisten in Anspruch genommen wird. Vgl. den weiteren Verlauf des Gesprächs in Prot. 334Dff., ferner 338Cff., 348 BC und das fernere Verhalten des Protagoras in der Unterredung. Für Gorgias s. 447 C, 449BCD, 458DE; 448 E, 461 E f., 471 DE u. ö., ferner Meno 70BC. Für Hippias s. Hippias minor 363 D, 369 C, 373 A. Die dfxi'/J.uq (fi).oaö(pcov löywv 204 Sokrates und die Philosophie. rungen zutreffend sind, ist nicht zu bezweifeln. Wenn darum Diogenes berichtet, Protagoras habe zuerst die sokratische Manier der Unterredungen gehandhabt, so ist daran eben nur so viel richtig, daß diese Manier die sokratische war. 1 ) Sokrates ist der Begründer der Gesprächsdialektik gewesen. Welche Rolle dieser in seinem Wirken zufiel, wird sich später zeigen. Aus der soma- tischen Praxis der Gesprächführung aber ist, wie die platonische Dialektik, so die disputatorische Eristik hervorgewachsen. Und der Vater der letzteren war Antisthenes. Gegen ihn und seine Schule ist, wie man heute weiß, der platonische Euthydemos gerichtet. Die Dialogpersonen Euthydemos und Dionysodoros, die hier als die Träger der Kunst der Trug- und Fangschlüsse auftreten, sind keineswegs Masken, hinter denen sich andere Per- sönlichkeiten verbergen würden. Sie erscheinen im Dialog mit voller Deutlichkeit als wirkliche Sophisten, die bis vor kurzem die vielseitigen sophistischen Künste — zu denen namentlich auch die militärische Techne gehörte — mit Eifer und Erfolg getrieben hatten, seit einiger Zeit aber in bereits vorgerückten Jahren zu einem anderen Geschäft übergegangen waren. Von der jetzigen Höhe blicken sie geringschätzig auf ihre frühere Beschäftigung zurück. Ihr neues Metier ist die Eristik, die Kunst, in Disputa- tionen zu streiten und alles, was von anderen vorgebracht wird, gleichviel ob es wahr oder falsch ist, zu widerlegen (272 AB, 273 C D). Die Eristik selbst aber dient ihnen als das Mittel, um die Menschen zur „Philosophie" und zur Pflege der Tugend an- zutreiben {jiQOTytJieiv dg cpiloGocpiav y.vX aQETtjg sjiiueieiav 275 A), kurz ihre Eristik ist Protreptik. Wir sehen hier durchaus in der Helena des Gorgias (Diels 559, 7 f.) auf Eristik zu beziehen (vgl. die An- deutung von Diels in der Anmerkung zu der Stelle; D. selbst entscheidet sich indessen nicht für die Annahme), haben wir, glaube ich, keinen genügenden Grund. Gemeint ist lediglich der Streit der Reden, in denen entgegengesetzte Meinungen über dieselbe Sache vertreten werden — nach dem Rezept der AigooI XöyoL (vgl. Euripides, Antiope fr. 189 und hiezu E. Rohde, Psyche 2 II S. 261, 2). ') Diels 525, 6f. Möglich ist übrigens auch, daß xb 2<j)xqutix6v eldoq, rcJv ?.öywv, von dem Diog. L. spricht, das literarische Genus des Dialogs bildet. Dann würde hier Protagoras als der Anfänger dieser Literaturgattung bezeichnet (vgl. S. 117, 1). Indessen wird durch den Wortlaut der Notiz selbst diese Deutung nicht begünstigt. Die sophistische Bewegung. 205 klar. Dionysodoros und Euthydemos waren einst Sophisten. Sie sind vor kurzem zu Antisthenes übergetreten 1 ) — denn daß es der antisthenische Standpunkt ist, auf den sie sich nun gestellt haben, geht aus dem Verlauf des Dialogs unwiderleglich hervor — und treiben jetzt im Sinne ihres Lehrers „sokratische" Protrep- tik. Plato scheidet ihre jetzige Betätigung scharf von der früheren; er sorgt auch dafür, daß die eristische Kunst mit den eigentlich sophistischen Professionen nicht zusammengeworfen wird. Dennoch macht es ihm augenscheinlichen Spaß, die beiden Männer auch jetzt noch geflissentlich als Sophisten einzuführen. Natürlich ist dies ein Hieb auf ihren Meister, auf Antisthenes. Die kynische Eristik ist die geradlinige Fortsetzung des soma- tischen Ausfrageverfahrens. Dem Sokrates diente dieses als Mittel, die Gesprächspartner zur Rechenschaft zu ziehen (tityyjiv) und zur sittlichen Selbstbesinnung zu veranlassen {7iQoxQt7isiv)\ An- tisthenes aber scheint die sokratische Dialektik, die ja ihrerseits bereits in ihren Mitteln nicht eben wählerisch war, frühe schon nach der eristischen Richtung weiter- und auch umgebildet zu haben. Plato protestiert gegen die kynische Sokratesauffassung. Aber die antisthenische Eristik verfolgte schon damals — nicht erst, als die megarische, die mit den Waffen der eleatischen Dia- lektik 2 ) kämpfte, sich ihr zugesellte — und je länger je mehr eine ') Solche Übertritte waren wohl nicht selten, und sie können auch durch- aus nicht befremden, zumal wenn meine Vermutung richtig ist, daß die einstigen Schüler des Antisthenes aus seiner sophistischen Zeit später wohl in seine sokra- tische Schulgemeinschaft übergegangen seien. 2 ) In seinem Dialog „Sophistes" hat Aristoteles den Empedokles als den „Erfinder" der Rhetorik, Zeno als den der Dialektik bezeichnet (fr. 54 Berl. Ausg., fr. 65 Rose 2 ). Indessen hat R. Hirzel, Dialog I S. 55, mit Recht betont, daß unter dieser „Dialektik" nicht etwa die dialogische zu verstehen ist, und daß aus der aristotelischen Bemerkung nicht geschlossen werden kann, daß Zeno dialogisch geschrieben habe. Ich stimme Hirzel auch darin zu, daß die Stelle soph. el. c. 10. 170b 22 f. nicht das Gegenteil beweist, wenngleich er, wie mir scheint, diese Stelle selbst nicht ganz richtig gedeutet hat: das r^wx-qoe in 170b 23 ist als Irrealis zu fassen. Aristoteles will 170b 19 ff. zeigen, daß, wenn bei einer Disputation sowohl der Fragende als der Respondent ein Wort, das in Wirklichkeit vieldeutig ist, für eindeutig halten, die vom Fragenden durchgeführte (elenktische) Argumentation ebensowohl als eine auf das Wort wie als eine auf den Sinn (des erörterten Satzes) gerichtete betrachtet werden könne (während sie dann, wenn der Fragende sich über die Vieldeutigkeit des betreffenden Wortes 206 Sokrates und die Philosophie. entschlossen skeptische Tendenz. So kam es, daß Plato seinen Rivalen als den Gegner der Wissenschaft mit den „Sophisten", die er seit dem „Gorgias" als Verfechter des Scheins und als die gefährlichsten Feinde der Wahrheit zu betrachten begonnen hatte, zusammenstellte und in ihm und seinem Anhang mehr und mehr den typischen Vertreter der „Sophistik" sah. Gegen die sokrati- klar ist, als eine Wortargumentation anzusprechen ist). Dafür nun gibt der Autor in dem eingeschobenen Satz: olov l'owq xb ov r\ xo %v nolla orjßaivei, u).).u xal b dnoxotvö/jevog xal 6 sqojxwv Zi]vwv tv olo/nevog eivai rjQwxrjoe, xal soziv ö Xöyog oxi %v nävxa, eine Illustration. Und zwar ist es ein fingierter Fall, der mit olov l'acog eingeführt wird: es ist ein aus dem Vorhergehenden nachwirken- des d zu ergänzen; die Weglassung von et hinter olov würde sich übrigens, wenn sie auffallend wäre, leicht daraus erklären, daß das Sätzchen: xo ov rj xo sv nolld o?]f*cdv8i selbst nicht hypothetisch gemeint ist und nicht in die Fiktion hereinfällt, sondern als tatsächlich geltend hingestellt werden soll. Klar wird uns dieser Passus, dessen verzwickter Stil übrigens in den aristotelischen Lehrschriften, zumal in den logischen, durchaus nichts Auffallendes hat, wenn wir den Namen Zrjvwv zunächst wegdenken und rigüxrjöe in den Optativ umwandeln: diese Fassung der Periode schwebte dem Autor ursprünglich vor, der Sinn aber ist der: „wenn also z. B. bei einer Disputation über die These, daß alles eins sei, Respondent und Fragender der Meinung wären, das Eins oder das Seiende sei eindeutig, während es in Wahrheit vieldeutig ist, und von hier aus disputieren würden" {egwxäv ist die Tätigkeit des Gesprächsleiters; hier tritt es an die Stelle von öiaXsyeo&ai, da der Autor in diesem Zusammenhang an der Gesprächsleitung und dem Gesprächsleiter das vorwiegende Interesse hat). Nun will Aristoteles aber zugleich der Tatsache Rechnung tragen, daß jene These die bekannte Theorie des Zeno (und Parmenides) ist, und daß diese beiden Männer ihre Argumentation wirklich auf die Voraussetzung der Eindeutigkeit des Seienden und des Eins ge- gründet hatten (vgl. in derselben Schrift soph. el. c. 33. 182 b 26 f.). So setzt er den fingierten Fall, Zeno habe seine These in dieser Weise disputierend bewiesen. Er fügt also dem 6 egwxuiv hinzu: Zr'jvwv, und verwandelt den Optativ in den Aorist riQcJxrjoe, der nicht bloß die Vergangenheit, sondern zugleich den fiktiven Charakter der Annahme ausdrückt. In keinem Fall übrigens kann rioüxrjoe, darin hat Hirzel zweifellos recht, auf eine Schrift Zenos, in der dieser selbst zugleich die Rolle des Gesprächsführers gespielt haben müßte, gehen. Es könnte sich, wenn man es als tatsächlich berichtend auffaßt, nur auf eine mündliche Dispu- tation beziehen. Und wenn im 2. Teil des platonischen „Parmenides" Zeno der Fragende wäre, so wäre anzunehmen, daß Aristoteles die Disputation im platoni- schen Dialog im Auge hätte. Allein der Gesprächsführer ist hier ja Parmenides. Daß Aristoteles aber an eine historische Disputation des historischen Zeno ge- dacht habe, ist eine gar zu abenteuerliche Annahme, die zudem durch den Wort- laut unserer Stelle gar nicht unterstützt wird. So bleibt, glaube ich, nur die von mir vorgeschlagene Deutung. Die sophistische Bewegung. 207 sehen „Sophisten" hat er in seiner späteren Zeit jenen leiden- schaftlichen Kampf geführt, als dessen Hauptdokument wir den „Sophistes" ansehen können. Den platonischen Sprachgebrauch aber hat Aristoteles übernommen, wenn er von „sophistischen" Elenchen spricht. Aber schon die Bezeichnung „Elenchos", ein spezifischer, nicht von Aristoteles geschaffener Kunstausdruck, weist auf das „itiy%eiv" zurück, das von Sokrates geübt und von den Kynikern fortgesetzt wurde, und deutet an, daß die Trug- und Fangschlüsse, die in der Schrift systematisiert sind, aus dem Gedankenkreis der Sokratiker herstammen. In der Tat kann gar kein Zweifel sein, daß die „Sophismen" der aristotelischen Schrift so gut wie die des platonischen Euthydemos zumeist den „So- phisten" aus den sokratischen Schulen angehören. Die spätere Überlieferung aber hat, durch den Namen „Sophist" und „So- phistik" getäuscht, den wirklichen Sophisten nicht bloß diese Paralogismen und Elenchen, sondern die ganze Eristik mit ihrer skeptischen Abzweckung zur Last gelegt und ihnen damit offen- bares Unrecht getan. 1 ) Auch Skeptiker nämlich waren die alten, die historischen „Sophisten", waren auch Protagoras und Gorgias nicht. Daß der protagoreische Satz von den zwei Meinungen nicht als Bekenntnis zu einer erkenntnistheoretischen Skepsis gedeutet werden kann, wissen wir. Um so bestimmter scheint der berühmte Metron-Anthropos-Satz dahin zuweisen. Und so viel steht fest, daß dieser Satz echt ist, daß Protagoras seine Schrift ,',Ati}- *) Isokrates hat schon in seiner Sophistenrede (XIII 1) gegen die tisqi rag egiöae öiaxQißovxsg (§ 20 werden sie nepl xdg sgiöag xvhvöovfxsvoi genannt) polemisiert. Vgl. Helena (X) § 1, Ilegl dvxidöaewg (XV) §§ 258 und 261, epist. V 3 f., Panathen. (XII) 26. Aus XV 45 geht hervor, daß die eristischen löyoi, von denen Isokrates spricht, solche sind, die mgl tag spwxTJoeig xal ärtoxploeig ysyövaoiv, ovg dvxiXoyixovg xaXovaiv. Und H. Gomperz hat in seiner Abhand- lung „Isokrates und die Sokratik", Wiener Studien XXVII, 1905, S. 172 f. über- zeugend nachgewiesen, daß Isokrates damit die „sokratischen Gespräche" gemeint hat. Die von den Sokratikern aufgebrachte und geübte Frage- und Antwort- dialektik war ihm Eristik. Um so weniger können wir uns wundern, daß ein Außenstehender wie Isokrates auch den Plato zu den Eristikern zählte. Übrigens unterscheidet Isokrates an mehreren der angeführten Stellen verschiedene Arten von Eristik, und zu der platonischen verhält er sich nicht ebenso ablehnend wie zu den übrigen. 208 Sokrates und die Philosophie. &eia il mit den Worten begonnen hat: „der Mensch ist das Maß aller Dinge, des Seienden für sein Sein, des Nichtseienden für sein Nichtsein". *) Nur das scheint fraglich sein zu können, ob dieser „Relativismus" und „Subjektivismus" als „genereller" oder als „individueller" anzusehen ist. Aber alle die wohlgemeinten Versuche, Protagoras in die Nähe von Hume, Mill oder auch Kant zu rücken und ihm dadurch erhöhtes philosophisches Ge- wicht zu geben, stehen mit den antiken Zeugnissen durchaus im Widerspruch. Plato und Aristoteles zitieren den Satz wiederholt; aber sie verstehen ihn durchweg dahin, daß es nach ihm eine allgemeingültige, überindividuelle Wahrheit # nicht gebe, daß für jedes einzelne Individuum das wahr sei, was ihm als wahr er- scheine. 2 ) Und sie ziehen übereinstimmend daraus die Konse- quenz, daß es auf diesem Standpunkt einen logischen Widerspruch nicht mehr geben könne; denn auch die einander widersprechenden Sätze müßten, wenn sie nur beide von irgend welchen Individuen behauptet würden, als wahr betrachtet werden. Indessen auch im Ganzen der protagoreischen Anschauungen hat jene Auffassung keinen Stützpunkt. Dieses weist im Gegenteil nach einer ganz andern Richtung. Auffallen muß, daß in unseren alten Zeugnissen dem Satz des Protagoras nirgends eine nähere Ausführung und nirgends eine Begründung beigegeben ist — mit der alleinigen Ausnahme der bekannten Theätetstelle. Auf diese aber geht augenscheinlich zuletzt auch der einzige genauere Bericht, den wir aus der späte- ren Zeit haben, der des Sextus, zurück. 3 ) J ) Ich schließe mich der Zeller'schen Übersetzung (Zeller I 5 S. 1094) an, die dem Doppelsinn des <bq am besten gerecht wird. Sie ist, wie ich glaube, auch durch die Deutung, die der Satz bei Plato und Aristoteles gefunden hat, gefordert. 2 ) Ich verweise vorerst nur auf Plato, Kratyl. 385 E ff., auf Theät. 152 A, Euthyd. 286C, Aristoteles Met. r 4. 1007b 22 ff. 5. 1009a 6f. Die Kontroverse ist jetzt wieder von H. Gomperz, Sophistik und Rhetorik S. 217 ff., diskutiert worden. 3 ) Von den beiden Stellen, an denen Sextus den Satz des Protagoras ein- gehender behandelt, Pyrrh. hypot. I 216—219 und adv. math. VII 60—64, er- weckt keine den Eindruck, daß der Autor die protagoreische Schrift selbst vor sich gehabt hat. Ob überhaupt eine der altsophistischen Schriften damals noch erhalten war, ist nach Dio von Prusa, or. LIV, zum mindesten zweifelhaft. Nun Die sophistische Bewegung. 209 Bei Aristoteles ist der Satz selbst in der Regel vorausgesetzt, und nur entweder auf Konsequenzen hingewiesen, die nach der Meinung des Berichterstatters aus jenem folgen, oder aber auf Sätze, die ihrerseits notwendig auf den protagoreischen Satz führen müssen: wer sich zu der These des Protagoras bekennt, nimmt Zeller P 1098 (mit Natorp, Forschungen zur Geschichte des Erkenntnis- problems im Altertum, S. 53 ff.) an, daß der Abschnitt adv. math. VII 60—64 (samt 388—390) wenigstens „aus einer sachkundigen, dem Sophisten nicht un- freundlichen und für die Kenntnis seiner Lehre nicht auf Plato beschränkten Quelle geflossen" sei. Allein von der ganzen Stelle 60—64 hat Diels in fr. 1 mit Recht nur § 60 wiedergegeben. Die §§ 61—64 sind lediglich Reflexionen des Autors, die die Ausführungen des Theätet stark benutzen (vgl. die Stelle vom Wahnsinn und Schlaf in Theät. 157 E ff. mit Sextus 61—63), im übrigen aber sich in Gedankengängen bewegen, die der späteren Skepsis sehr geläufig waren. Auch der Anfang von § 60 (Diels 536, 6—10) indessen ist ebenso wie die vor- bereitende Notiz 48 natürlich nur eine Charakteristik des Sinns und der Bedeutung des protagoreischen Satzes mittels des Begriffsapparates und der Terminologie des Autors. Quellenwert könnte allenfalls für die Stelle Diels 536, 10—13, und nur für diese, in Anspruch genommen werden. Allein Eigenes hat diese gegen- über Theätet 161 C. 152 A eben nur das, daß der Titel der protagoreischen Schrift nicht, wie bei Plato l4Xrd-eia, sondern KaiaßaXlovteq heißt. Indessen beweist diese Differenz nichts. Wie es mit dem Titel des protagoreischen Buches stand — vermutlich ist Kaxaß. der Gesamttitel, 'AhqSsia der Untertitel eines Xöyoq — , wußte im Altertum gewiß jeder literarisch gebildete Mann. Diese Abweichung setzt also weder voraus, daß Sextus das Buch selbst vor Augen hatte, noch auch nur, daß er an unserer Stelle aus einer anderen Quelle als dem platonischen Theätet geschöpft habe. In 388—390 aber wird lediglich festgestellt, daß Prota- goras gesagt habe, jede Vorstellung müsse als wahr bezeichnet werden (so auch kurz 369: ol de itävza eüeoav . .), und weiterhin auf die Art, wie Demokrit und Plato diese Meinung zurückgewiesen hätten, kurz hingedeutet. Die Stelle aus Plato, auf die damit angespielt wird, ist Theät. 171 A. — Am allerwenigsten kann die andere Hauptstelle (Pyrrh. hypot. 1216-219, Diels 531, 7 ff.) als Quelle für die Kenntnis der Ausführung und Begründung des protagoreischen Satzes dienen. Die Aufgabe, die sich dieses Kapitel stellt, ist, den Unterschied zwischen der protagoreischen Lehre und der pyrrhonischen Skepsis aufzuzeigen. Zu diesem Zweck wird der Homo-Mensurasatz zitiert und kurz charakterisiert. Dann wird fortgefahren: „6io xal öoxei xotvcovi/xv exsiv ngbg rovg TIv^Qüjveiovq' öiucptQei de avzcüv. Den Unterschied aber werden wir erkennen, wenn wir den Sinn des protagoreischen Satzes entsprechend erläutern (i^anXuiaavTSQ ovfx/xbT pcog zo öoxovv xiZ IlQajxayÖQuy' (dieser Passus ist bei Diels 531, 7 ff. ausgelassen). Es folgt dann die Ausführung Diels 531, 14 ff. Das (prjalv ovv 6 avrjg besagt nicht etwa, daß im Folgenden die Ausführung und Begründung, die Prot, selbst seinem Satz gegeben habe, wiedergegeben werden solle; wir übersetzen am zweckmäßigsten: „der Mann will sagen": gleich der erste Abschnitt (Diels 14 — 17) geht, wie man H. Mai er, Sokrates. 14 210 Sokrates und die Philosophie. ist genötigt, das Gesetz des Widerspruchs zu bestreiten, und andererseits: wer die Lehre von der Relativität der Sinnesempfin- dungen vertritt, also behauptet, daß es weder Warmes noch Kaltes noch Süßes noch überhaupt irgend eine sinnliche Qualität gäbe, wenn keine empfindenden Wesen existierten, der wird notwendiger- weise auf den Standpunkt des protagoreischen Satzes gedrängt. l ) Man beachte wohl: die Theorie von der Relativität der Sinnes- qualitäten wird hier keineswegs dem Protagoras zugeschrieben; und anderswo wird sie ausdrücklich für die „früheren Physio- logen", zu denen Protagoras nicht gezählt wird, in Anspruch ge- nommen. 2 ) Um so sicherer scheint Protagoras im Theätet als grundsätzlicher Vertreter einer sensualistisch-relativistischen Er- kenntnistheorie eingeführt zu sein: ihm ist, wie es den Anschein hat, die These, daß Wissen Wahrnehmung sei, und die im selben Zusammenhang durchgeführte und begründete Lehre von der Relativität und Subjektivität der Wahrnehmungen zugeschrieben. Allein diese ganze Auffassung der Theätetstelle ist unhaltbar — auch wenn man endgültig darauf verzichtet, aus ihr herauszu- lesen, daß Protagoras seinen Subjektivismus auf die heraklitische Flußlehre aufgebaut habe. Was Plato zeigen will, ist, wie er im Ernst nicht bezweifeln kann, auf Theätet 152C ff. zurück (vgl. auch § 219 Anfang und hiezu das oben zu der Stelle adv. math. VII 61-63 Gesagte; die Weiterführung des platonischen Gedankengangs an unserer Stelle bewegt sich wieder durchaus in dem Anschauungskreis der späteren Skepsis). Der 2. Passus aber (Diels 17 ff.) liest aus dem protagoreischen Satz einen Dogmatismus (28—30) heraus, mit dem er die pyrrhonische Skepsis stark kontrastieren läßt. Er findet in jenem nämlich die Meinung ausgedrückt, daß allen (paivö/usva xolq av&poi- Tioig reale Sachverhalte in den Dingen entsprechen, und das kann der Autor, der das (jjq als „wie" auffaßt, sich nur so zurechtlegen, daß nach protagoreischer Vor- aussetzung in der Materie die Gründe aller (paivofzsva liegen (rovg köyovq näv- xoiv t(öv <paivo[/.ev(ov vnoxelaO-ai iv zy v).^j). Daß dies nun aber Konsequenz- macherei des Sextus ist, die von dem Bestreben geleitet ist, den Abstand der pyrrhonischen Lehre von der protagoreischen möglichst groß erscheinen zu lassen, braucht kaum ausdrücklich gesagt zu werden. Auf diese Ausdeutung, die der Meinung des Protagoras ganz gewiß nicht gerecht wird, kommt Sextus selbst sonst nicht zurück. Angesichts dieser Sachlage werden, glaube ich, die weit- greifenden Folgerungen, die H. Gomperz jetzt a. a. O. S. 231 ff. aus der Stelle gezogen hat, von selbst hinfällig. 1 ) Aristot., Met. V 4. 1007 b 21—23, c. 5. 1009 a 6 ff., 3. 1047 a 3-7. 2 ) Aristot., de anima III 2. 426 a 20—22, und Trendelenburg de anima zu der Stelle. Die sophistische Bewegung. 211 selbst aufs bestimmteste ausgesprochen hat (160 D), nur, daß die dem Gesprächspartner Theätet in den Mund gelegte These, Wissen sei Wahrnehmung, auf dasselbe hinauslaufe wie der protagore- ische Satz. Und der Autor hat Sorge getragen, daß seine Aus- führung nicht mißverstanden werde. Zu Beginn der zweiten Etappe des Gedankengangs deutet er ausdrücklich an, es seien nicht so- wohl des Protagoras, als vielmehr anderer namhafter Männer An- schauungen, die er im Folgenden darlege (155 DE); und man weiß heute, daß es, nachdem er zunächst Antisthenes und seine Schule nachdrücklich beiseite geschoben hat (155 E), Aristipp ist, dessen Erkenntnistheorie hier (156 Äff) entwickelt wird. Aber schon im Eingang des ersten Stadiums der Erörterung ist unzweideutig erklärt, daß die folgende Ausführung und Begründung der These, Wahrnehmung sei Wissen, sich nicht auf literarische Äußerungen des Protagoras stützen könne. „War nun nicht Protagoras ein überaus weiser Mann," so heißt es hier (152 C), „der zwar uns, dem großen Haufen, dies nur dunkel andeutete, seinen Schülern aber im geheimen die Wahrheit sagte?" Und Sokrates, der Sprechende, schickt sich nun an, seinen Zuhörern diese Geheim- lehre zu enthüllen. Damit ist doch wohl gesagt, daß von dem, was im Folgenden (152 Eff) als protagoreische Meinung oder doch •als Konsequenz des protagoreischen Satzes eingeführt scheint, nichts, aber auch gar nichts in der Schrift des Protagoras, der „Wahrheit", zu finden war. Plato hat in der ganzen Erörterung, nicht bloß in ihrer zweiten Hälfte, zeitgenössische Gegner im Auge. Das steht fest, auch wenn wir diese nicht durchweg bestimmen können. Möglich, daß dieselben sich die protagoreische These zu eigen gemacht haben. Wahrscheinlich ist dies nicht. l ) Viel- mehr hat ihnen Plato, um ihren Standpunkt zu brandmarken, den berüchtigten Satz des Sophisten angehängt. Im wesentlichen so hat offenbar schon Aristoteles die plato- nische Ausführung verstanden. Da, wo er den Satz vom Wider- spruch zu begründen sucht, setzt er sich mit der sensualistisch- relativistischen Erkenntnistheorie auseinander (Met. r 5. 6). Und hier lenkt er ganz in den Gedankengang des Theätet ein. Er ') Auch die aristotelische Formel oi rdv UgwxayÖQOv Ityovxsq löyov 1007 b 22 f. setzt dies nicht notwendig voraus. 14* 212 Sokrates und die Philosophie. lehnt sich z. T. wörtlich an diesen an und zitiert Plato auch aus- drücklich. l ) Auch Aristoteles nun hat es ganz unverkennbar mit zeitgenössischen Gegnern zu tun. 2 ) Immerhin geht er, wo er den Satz, daß alles, was jemand wahr scheint, auch wahr sei — und das ist ihm der protagoreische Satz — in der Weise der Theätet- stelle (152 D — 160 D) aus metaphysisch -erkenntnistheoretischen Prämissen herleitet, auch auf frühere Philosophen und Dichter zu- rück. Er erweitert die Liste von Theätet 152 E. Aber gerade den Protagoras, der hier mit Betonung genannt ist, läßt er weg. Das wäre unverständlich, wenn er die Ausführungen des Theätet in der protagoreischen Schrift gefunden oder auch nur auf den wirk- lichen Protagoras bezogen hätte. Ihm erscheint der protagore- ische Satz in der genannten Formulierung eben als eine Position, zu der der subjektivistische Sensualismus, den er bei zeitgenössi- schen Philosophen vorfindet und ganz ähnlich wie Plato in unserer Theätetstelle charakterisiert, mit Notwendigkeit gedrängt werde. Daß Protagoras selbst seine These so gemeint und be- gründet habe, will er so wenig sagen wie Plato. Den originalen protagoreischen Satz erwähnt Aristoteles nur an einer Stelle, und auch da nur in abgekürzter Form. 3 ) Indessen fügt er hier ein Wort der Kritik an, das auf Protagoras selbst r ) Hiezu vgl. meine Syllogistik des Aristoteles I S. 67 ff. und II 2 S. 20, 1 (zu dieser letzteren Stelle möchte ich übrigens bemerken, daß ich heute nicht mehr von einem aristippisch-protago reischen Sensualismus reden würde). 2 ) Hiezu s. die Klage Arist. Met. r 5. 1009 b 33—38 , verglichen mit 1009 a 16 ff. und c. 6. 1011a 3 f. 3 ) Wenn Met. K 1 — 8 aristotelisch ist — was mir neuerdings durch W. W. Jäger, Studien zur Entstehungsgeschichte der Metaphysik des Aristoteles S. 33 ff. wahrscheinlich gemacht worden ist — , so kommt zu der im Text erwähnten Stelle noch eine zweite hinzu, nämlich K 6. 1062 b 12—15. Übrigens ist für die Ausführung und Begründung der protagoreischen Lehre selbst aus der folgenden Ausführung nichts zu entnehmen, wie schon die parallele Erörterung Y 5. 1009a 6—16. 22—30 zeigt (vgl. überdies 1062b 21 f.: . . ivioiq fxsv — rolq de). — Die Formel für den protagoreischen Satz heißt 1062b 13 f.: . . ixslvoq s<prj nävxcuv XQrißäxwv sivai (asxqov äv&pa>7zov. Dazu kommt die Erläuterung: ovöhv exsgov ksycov 7} xo öoxovv exüozü) zovxo xal sivai nayicoq (vgl. 19 (jlsxqov ö sivai xo (patvöfxsvov sxdoTO)). In I (B. X) 1. 1053 a 35 f. heißt es: IJgcuxayögaq S^äv&gaj- növ <prjöi nävxajv sivai (mbxqov. In Met. 1009 a ist die Formel umschrieben (rä Soxovvxa nävxa iaxlv aXr]&fj xal tu <paivöfisva). (Ähnlich in de an. III 3. 427 b 3.) Die sophistische Bewegung. 213 abzielt. Und diese Kritik ist für uns ungemein lehrreich. „Prota- gons aber", so heißt es Met. X 1. 1053 a 35— b 3, „sagt, der Mensch sei das Maß aller Dinge, und es klingt so, als meinte er entweder den wissenden oder den wahrnehmenden Menschen; beide Deu- tungen sind möglich, denn dieser hat die Wahrnehmung, jener das Wissen, Wahrnehmung und Wissen aber pflegt man als Wirklich- keitsmaßstäbe zu bezeichnen. Der protagoreische Satz ist also völlig nichtssagend, während es den Anschein hat, als besagte er etwas ganz Besonderes". Daß die Stelle aristotelisch ist, ist ebenso sicher wie daß Aristoteles die Schrift des Protagoras gekannt hat. Bis jetzt ist aber die Bedeutung dieser Bemerkung noch nicht genügend gewürdigt worden. Was Aristoteles zunächst sagen will, ist allerdings nur das: wir brauchen uns um das berüchtigte Paradoxon des Prota- goras gar nicht aufzuregen. Denn im Grund ist dasselbe eine Binsenwahrheit. Denn daß man Wissen und Wahrnehmung als Maßstäbe der Wirklichkeit bezeichnet, *) ist etwas sehr Gewöhn- liches. Die protagoreische These ist aber um so inhaltsloser, als sie uns nicht einmal sagt, welchen Menschen sie im Auge hat, den wissenden oder den wahrnehmenden. „Protagoras sagt also in Wirklichkeit nichts, während er etwas ganz Außerordentliches zu sagen scheint." Daß nun aber der Stagirite so nicht hätte schreiben können, wenn Protagoras ihm als Sensualist bekannt gewesen wäre, der protagoreische Satz also die Wahrnehmung ausdrücklich zum ausschließlichen Wirklichkeitsmaßstab der Erkenntnis ge- macht hätte, ist klar. Als nichtssagend hätte eine solche Behaup- tung sich gewiß nicht bezeichnen lassen. Vor allem aber hätte Aristoteles von ihr nicht sagen können, daß sie die Möglichkeit offengelassen habe, auch in dem wissenden Menschen das nav- Tcor /tihgov zu suchen. Kurz, wir gewinnen aus der aristotelischen Stelle die Gewißheit, daß in dem Homo-mensura-Satz selbst, ebenso aber auch in der Begründung, die Protagoras ihm gegeben hat, nichts stand, was eine sensualistische Deutung rechtfertigen könnte. Dann aber kann die protagoreische Schrift von alle dem, ') Damit ist natürlich hier nur gemeint, daß dem Menschen die Wirklich- keit in dem Maß zugänglich ist, als er ein Wahrnehmen oder Wissen von ihr hat. 214 Sokrates und die Philosophie. was in Theätet 152 D — 160 D steht, lediglich nichts enthalten haben. Und auch die vorausgehende Erörterung (152 A—C) ist, wenigstens zum Teil, platonisches Gut. Die Erläuterung, die dem genuin protagoreischen Satz beigegeben ist — „wie etwas mir erscheint, so ist dasselbe für mich, wie dir, so für dich; Mensch aber bist du und ich" — geht möglicherweise auf Äußerungen des Protagoras zurück, zumal sie sich fast wörtlich gleich auch im Kratylos (385 Ef.) findet. Dagegen ist die folgende Illustration, die aus der Tatsache, daß zuweilen, wenn derselbe Wind weht, der eine Mensch friert, der andere nicht, die Folgerung zieht, daß der Wind nicht an sich kalt, sondern für den Frierenden kalt, für den Nichtfrierenden nicht kalt sei — sicher nicht protagoreisch ; wäre sie das, so wäre jene kritische Bemerkung des Aristoteles unmöglich. Ganz zweifel- los endlich ist das Weitere, die Gleichsetzung von „er- scheinen" {(palveodai) und „wahrgenommen werden", die aus dem protagoreischen Satz sofort grundsätzlichen Sensualismus herausliest, platonische Konsequenzmacherei. l ) Als protagoreisch bleibt also von der ganze nTheätet- ausführung nur der nackte Anthropos-Metronsatz. Dazu kommt etwa noch die Wahrscheinlichkeit, die sich auch auf aristotelische Belege stützen kann: daß die Deutung des Satzes, wonach er besagen würde: für jeden einzelnen Menschen sei jedes Ding so, wie es ihm erscheine, seinen Sinn richtig um- schreibt. Dagegen macht es jene aristotelische Kritik fast gewiß, daß in der Schrift des Protagoras an den Satz weitere erkenntnis- theoretische Bemerkungen irgend welcher Art nicht geknüpft sind. Was aber hat Protagoras mit ihm gewollt? Einen Fingerzeig kann uns vielleicht ein merkwürdiger Passus in der späteren Ausführung des Theätet geben, die „Apologie des Prota- goras". 2 ) 1 ) Auch der Wortlaut dieser Ausführung kommt so am ehesten zu seinem Recht. 2 ) Mit Nachdruck hat namentlich F. C. S. Schiller betont, daß wir in Theät. 166 A— 168 C eine authentische Reproduktion protagoreischer Gedanken zu sehen haben (Plato or Protagoras?, Oxford 1908, vgl. den Aufsatz mit demselben Titel Mind XVII S. 518 ff., wo Schiller sich mit Burnet auseinandersetzt, s. ferner Studies in Humanism, London 1907, S. 22 ff.). Mit den oben im Text weiterhin bezeichneten Einschränkungen kann ich ihm nur zustimmen. Die weitere Dar- Die sophistische Bewegung. 215 Die Widerlegung des Gegners hat eingesetzt. Da will Sokrates dem Angefochtenen zu Hilfe kommen. Protagoras wird als redend eingeführt und übernimmt selbst seine Rechtfertigung (166 A — 168 C). Nun fügt sich natürlich diese Ausführung durch- aus in den platonischen Gedankengang ein, und die Umrahmung gehört ausschließlich Plato an. Aber aus dem Ganzen hebt sich das Mittelstück (166D — 167D: syco */aQ (prjjiu bis ow'Qnai yay er touto/s ö loyos ovTog), auch äußerlich merkbar, heraus. Das Stück beginnt mit den emphatischen Worten: „ich nämlich sage, daß es sich mit der Wahrheit verhält so wie ich geschrieben habe — ", und schließt: „hiedurch wird diese Lehre aufrecht- erhalten". Schon die Eingangsworte machen den Eindruck, den die ganze bisherige Ausführung an keinem einzigen Punkte ge- weckt hat: daß Plato hier aus der Schrift des Protagoras selbst geschöpft hat — nicht die Worte und nicht die Zubereitung, wohl aber den Grundgedanken. In der Tat blicken wir an diesem Punkt in eine ganz neue, von dem Bisherigen merkwürdig ab- stehende Gedankenwelt hinein. Um es kurz zu sagen: der protagoreische Satz wird hier mit dem Lebenselement der alten Sophisten und des historischen Protagoras, mit ihrer Lehrtätigkeit und Rhetorik, in inneren Zusammenhang gebracht. Wahr zwar ist, so läßt Plato den Protagoras ausführen, was einem wahr scheint. Es gibt darum auch unter den Meinungen keinen Unter- schied von wahren und falschen oder von mehr oder weniger wahren. Wohl aber einen solchen von besseren und schlechteren, von nützlichen und schädlichen. Und ebenso unter den Menschen einen Unterschied von Weisen und Unweisen, von mehr oder weniger Weisen. Weise aber kann nur ein Mann heißen, der auch im stände ist, andere von schlechteren Ansichten zu besseren zu bringen. Darauf beruht die Wirksamkeit der Sophisten. Sie wollen den Leuten nicht etwa statt der falschen wahre, sondern statt der schlechteren bessere Ansichten beibringen; und verkehrt ist es, die letzteren die wahreren zu nennen. l ) Das Mittel aber, Stellung wird auch ergeben, daß die protagoreische Theorie sich in der Tat mit dem Grundgedanken von Schillers „Humanismus" berührt. Auf eine genauere Bestimmung des Verhältnisses, in dem die beiden Doktrinen zu einander stehen, muß ich hier aber natürlich verzichten. J ) Der Satz 167 A ovrs yaQ xa /ur, övia övvardv öolj-üocu kann recht wohl in 216 Sokrates und die Philosophie. durch das der Sophist eine solche Umwandlung bewirken will, sind die Reden. Zu jenen Weisen nun gehören die weisen und guten Redner, die bewirken, daß den Staaten statt des Verderb- lichen das Heilsame als gerecht erscheint — und was einem jeden Staat als gerecht und gut erscheint, das ist für ihn gerecht und gut, solange er diese Ansicht festhält. Auf dieselbe Art aber ist auch der Sophist weise, der seine Zöglinge in diesem Sinn zu erziehen weiß (rovg Ticudavojutvovs ovza> dvvctfAsvog naid- ayuyynv). „In diesem Sinn" — was heißt das, dieses ovtcd? Nach dem nächsten Zusammenhang ist dem Sophisten, wie es scheint, die Aufgabe gestellt, die jungen Leute, die sich seiner Erziehung anvertrauen, dahin zu bringen, wohin der gute und weise Redner, der ideale Staatsmann die Staatsbürger zu bringen hat, d. h. diejenige Wandlung in ihnen hervorzubringen, vermöge der ihnen anstatt des „Schädlichen" „Nützliches" als sittlich gut erscheint. *) Man hat indessen den Eindruck, daß der Referent hier stark, stärker als im Vorhergehenden, abkürzt. Und vermutlich hat er selbst in das ovtad auch unmittelbar eine Beziehung zu den „weisen und guten Rednern" hineinlegen wollen. Jedenfalls hat die protagoreische Schrift auch diese Beziehung an dieserStelle betont und ausgeführt. Man darf nicht vergessen, daß Protagoras' Programm ist, seine Schüler in die Staatskunst, in die nohrixt] Ti%vr\ einzuführen (Plato, Protag. 319A), d. h. sie zu Staats- männern, zu „weisen und guten Rednern", welche Staat und Ge- sellschaft auch zu „besseren" Ansichten zu bekehren im stände wären, auszubilden. Die Voraussetzung hiefür aber war, daß man in ihnen selbst zunächst „weisere" Ansichten erzeugte. Und dem sophistischen Erzieher lag es ob, seinen Zöglingen nicht allein die Kunst der Rede, sondern auch die für die „weise" Rede der protagoreischen Schrift gestanden haben. Daß Protagoras sich solche philo- sophische Thesen — die vorliegende stammt aus der eleatischen Schule, ist aber auch darüber hinaus von anderen Philosophen vertreten worden — gelegentlich eklektisch zu nutze gemacht hat, wo er sie für^seine Argumentationen brauchen konnte, ist mehr als wahrscheinlich. J ) Im unmittelbar vorhergehenden Satz wird nämlich gesagt: äv' 6 oo<pbq (gemeint ist: Redner) dvxl novr\Q(JJv ovxmv avzolq (sc. den Staatsbürgern) kxü- axwv XQrjata inolrjosv eivai xal doxslv. Die sophistische Bewegung. 217 erforderliche praktische Einsicht zu übermitteln. Für ihn selbst aber war die Rede nicht bloß Unterrichtsgegenstand, sondern zu- gleich das Mittel, mit dem er auf seine Schüler wirken und in ihnen den erstrebten Effekt erzielen konnte. So viel geht aus der „Apologie des Protagoras" unzweifelhaft hervor, daß der protagoreische Satz zu dem rhetorischen Interesse der Sophisten in engster Beziehung steht. Protagoras spricht als Rhetor und als Anwalt, ja Prophet der Rhetorik. In der Welt, in der der Rhetor sich bewegt, handelt es sich nicht um absolute Wahrheit und ihre Ergründung. Hier ist für jeden das wahr, was ihm als wahr erscheint. Und wenn der Redner auf die Men- schen wirken, sie umstimmen, ihnen andere Meinungen beibringen will, so ist es ihm nicht darum zu tun, daß die letzteren die wahreren sind — sonst müßte er folgerichtig zum Erforscher der Wahrheit werden; das aber ist seine Sache nicht — , sondern da- rum, daß diese anderen Meinungen die „besseren" sind. Mit an- deren Worten: es sind praktische Ziele, die dem sophistischen Rhetor gesteckt sind; und das Mittel, das ihm zur Verfügung steht, ist die Rede; sie muß ihm dazu dienen, den Sinn der Menschen so zu lenken, ihre Ansichten und Überzeugungen so zu gestalten, wie dies jenen Zwecken förderlich ist. In diesem Zusammenhang aber hat Protagoras offenbar, das zeigt die pla- tonische Darstellung evident, auf die große praktische Aufgabe hingewiesen, die er der sophistischen Rhetorik stellt, die Aufgabe, eine umfassende ethische Reform der bestehenden Staats- und Ge- sellschaftsordnungen heraufzuführen. Man kann den sittlichen Ernst nicht verkennen, der in diesem Programm lebendig ist, und den auch Piatos Darstellung nicht ganz zu unterdrücken vermag. Dem modernen Menschen mag die Stellung anstößig sein, die Protagoras der Rhetorik angewiesen hat, zumal die grundsätzliche Loslösung derselben von der Wahr- heitserkenntnis und von jeder Rücksicht auf die objektive Wahr- heit. Aber man darf nicht vergessen, daß diese Auffassung griechisches Gemeingut geworden ist. Nur Plato hat gegen sie nachdrücklich angekämpft. 1 ) Aber Erfolg hat er nicht gehabt. ') Die Abrechnung, die Plato im Gorgias mit den Sophisten hält, ist in ge- wissem Sinn eine Bestätigung der im Text gegebenen Darstellung. 218 Sokrates und die Philosophie. Und Aristoteles hat sie wieder in ihre Rechte eingesetzt. Ja, der Stagirit wäre nicht um eines Haares Breite von der Linie seiner rhetorischen Theorie abgewichen, wenn er sich den protagoreischen Satz ausdrücklich angeeignet, wenn er erklärt hätte: für den Red- ner gilt der Grundsatz, daß für jeden das wahr ist, was ihm als wahr erscheint; dem Redner ist darum der Mensch das Maß aller Dinge , der seienden für ihr Sein, der nichtseienden für ihr Nichtsein. Der rhetorischen Tendenz des Metron-Anthropossatzes ent- sprach wohl der ganze Inhalt der protagoreischen Schrift „Wahr- heit." Ich vermute, daß sie der Verteidigung oder vielmehr der Verherrlichung der sophistisch-rhetorischen Kunst gewidmet war. 1 ) Wie dem aber auch sei: eigentlich erkenntnistheoretische, ge- schweige skeptische Ausführungen hat sicher weder sie noch irgend ein anderes Buch von Protagoras enthalten. Der Metron- Anthropossatz steht dicht neben dem Wort von den zwei Mei- nungen. Einen Vorwurf verdient auch er, denjenigen nämlich, daß in ihm eine grenzenlose Überschätzung der Rhetorik liege. Wie dem Sophisten Protagoras vor der Rhetorik alle anderen Wissen- schaften als minderwertig in den Hintergrund treten, so schiebt er hier zu gunsten der relativen Wahrheit, die in der Welt des Rhetors heimisch ist, die objektive 2 ) zur Seite. Nicht daß er diese bekämpfen, ihre Möglichkeit bestreiten wollte ! Aber er ignoriert sie. Er mißachtet sie. Und darum existiert sie für ihn nicht. Die heißen Bemühungen der großen Denker der Vergangenheit und der Gegenwart um die reine Wahrheit sind ihm etwas Neben- sächliches, Unbedeutendes, Wertloses — gegenüber dem großen praktischen Ziel, das die sophistische Bewegung zielbewußt ver- iolgt und mittels der Rhetorik erreichen will. Man mag in dem 1 ) Wenn wirklich die 'AXri&siu nur ein einzelner Teil der Karaßä?.?.ovteQ ist, so gilt das im Text Gesagte eben von diesem Teil. Daß die protagoreische „Wahrheit" eine Rechtfertigung der Sophistik gibt, geht meines Erachtens schon aus dem Schluß von 167 C: . . . 6 oo<pioz?jq . . . ägioq noXXiüv xQrjixäxmv xolq Tittiöev&Eloiv hervor. 2 ) Worunter ich natürlich nicht eine absolute Wahrheit im Sinn der abso- lutistischen Wahrheitstheorien moderner Logiker und Erkenntnistheoretiker ver- stehe. Die sophistische Bewegung. 219 Beiseiteschieben der objektiven Wahrheit, wie sie in dem Metron- Anthropossatz liegt, eine Frivolität erblicken. Jedenfalls aber ist derselbe lediglich der Ausfluß praktischer Einseitigkeit, nicht das Programm einer erkenntnistheoretischen Skepsis. Etwas anders scheinen die Dinge bei Gorgias zu liegen. Ihm legen alte Berichterstatter die drei Sätze in den Mund: es ist nichts; wenn aber etwas wäre, so könnte es nicht erkannt werden; und wäre es erkennbar, so wäre es doch nicht mitteilbar. Diese Thesen, und noch mehr die Beweise, die Gorgias für sie geführt haben soll, weisen ganz offenkundig in die Gedanken- welt der Eleaten, des „Dialektikers" Zeno und des eleatischen Scholastikers Melissos. Und nach der herkömmlichen Deutung wären sie so zu verstehen, daß Gorgias die zenonische Dialektik, die die sinnliche Welt der Veränderung und Vielheit kritisch zer- setzte, noch einen Schritt weitergeführt, auf das Seiende überhaupt ausgedehnt und damit die radikale Skepsis begründet habe. Nun ist aber sicher bezeugt, einmal, daß Gorgias seine sophisti- sche Wirksamkeit ganz und geflissentlich auf Rhetorik beschränkt habe; Gewährsmann hiefür ist uns Plato (Men. 95 C, Gorg. 449 A). Und andererseits ist, ebenfalls bei Plato und außerdem noch bei Theophrast, auf naturphilosophische Theorien des Gorgias, die sich an die Naturphilosophie des Empedokles anschließen, Bezug ge- nommen (fr. 4 und 5 Diels). Wie sind alle diese Nachrichten zusammenzureimen? Der feste Punkt, von dem wir ausgehen können, ist die Tatsache, daß Gorgias als Sophist — und zwar nicht allein in seiner Lehrtätigkeit, sondern zweifellos auch in seiner literarischen Ar- beit — sich grundsätzlich auf das rhetorische Gebiet konzentriert hat. Nun würde es sich mit den sophistischen Gepflogenheiten wohl vertragen haben, wenn er gelegentlich Theorien früherer Philo- sophen eklektisch für seine rhetorischen Zwecke verwendet hätte. Indessen machen die Zitate bei Plato und Theophrast den Ein- druck, daß diese Äußerungen einer eigentlich naturphilosophischen Arbeit angehört haben. 1 ) In der Tat soll Gorgias (nach einer Notiz ! ) Vom Gegenteil hat mich auch H. Gomperz, a. a. O. S. 32, S. 38, Anm. 46, nicht überzeugt. Demgegenüber s. Diels, Gorgias und Empedokles, Sitzungsbe- richte der Berl. Akademie 1884, 1. Halbb., S. 356 f., wo gezeigt ist, daß die beiden 220 Sokrates und die Philosophie. Olympiodors, fr. 2 Diels) eine Schrift neyl qvoewg geschrieben haben; und nicht bloß das ist wahrscheinlich, sondern auch das andere, daß diese Schrift sich an die gleichnamige seines sizilischen Landsmanns Empedokles, mit dem er von der alten Tradition auch sonst in Zusammenhang gebracht wird, angelehnt hat. Aus ihr also werden Plato und Theophrast geschöpft haben. 1 ) In- dessen kann diese Schriftstellerei nicht wohl der Zeit angehören, in der Gorgias auf der Höhe seiner sophistischen Wirksamkeit stand. Vermutlich entstammt sie einer früheren Entwicklungs- periode des Mannes, und es scheint, daß er in seinen literarischen Anfängen der Naturphilosophie des Empedokles ebenso nahe- stand, wie er nachweislich von seiner Rhetorik beeinflußt war. Wie aber verhalten sich hiezu nun jene „skeptischen" Thesen? Ist etwa anzunehmen, daß die Bekanntschaft mit der zenonischen Dialektik ihn der empedokleischen Philosophie abspenstig und, da er sich doch andererseits nicht auf den Standpunkt des Parme- nides zu stellen vermochte, zum theoretischen Skeptiker und weiterhin zum sophistischen Praktiker gemacht habe? 2 ) Mir ist dies sehr wenig wahrscheinlich. Man kann versucht sein, die Zuverlässigkeit der Berichte, denen jene drei Thesen samt den ihnen gewidmeten Beweisen zu entnehmen sind, anzuzweifeln. Und es ist wirklich mit deren Bezeugung nicht zum besten bestellt. Nicht bloß unsere frühesten, sondern unsere einzigen Gewährsmänner sind der Verfasser der pseu- doaristotelischen Schrift „Über Melissos, Xenophanes und Gorgias" und Sextus. Jener aber hat, wie Diels gezeigt hat, 3 ) im ersten nach- christlichen Jahrhundert, dieser ums Jahr 200 geschrieben. Und Sextus allein nennt den Titel der Schrift, in dem die gorgianische Ausführung gestanden haben soll: über das Nichtseiende oder über naturphilosophischen Bemerkungen nicht als gelegentlicher „epideiktischer Zier- rat" betrachtet werden können (vgl. insbesondere auch S. 356 Anm. 3, wo der Berufung von H. Gomperz auf Helena 15 ff., a. a. O. S. 32, zum voraus der Boden entzogen ist). 1 ) So jetzt auch Diels, Vorsokratiker 2 S. 555, 22 ff. (anders in dem Aufsatz über Gorgias und Empedokles, a. a. O. S. 356, S. 368). 2 ) So früher Diels, Gorgias und Empedokles, a. a. O. S. 359, S. 367 f., und im Anschluß an ihn Zeller I 5 S. 1057. 3 ) In der praefatio zu seiner Ausgabe des Schriftchens: Philos. und hist. Abhandlungen der Berliner Akademie a. d. J. 1899 und 1900, S. 12. Die sophistische Bewegung. 221 die Natur (ntyl rov //?) ovtos i) neQt (pvOECjg). Nun ist, wie wir wissen, wirklich anzunehmen, daß Gorgias eine Schrift „über die Natur" verfaßt hat. Und wenn der von Sextus genannte Titel echt ist — woran schwerlich zu zweifeln ist 1 ) — , so muß es die- selbe Schrift gewesen sein, in der die von Plato und Theophrast erwähnten naturphilosophischen Bemerkungen und die von dem pseudoaristotelischen Anonymus und Sextus ausgezogenen „skep- tischen" Ausführungen standen. 2 ) Indessen haben allem nach weder der Anonymus noch Sextus die Schrift vor sich gehabt. Jeden- falls kleiden beide die Argumentation des Gorgias durchaus in ihre eigene Terminologie. Unter diesen Umständen könnte der Verdacht, daß das Ganze unterschoben sei, naheliegen — wenn nicht eben die extremste der drei Thesen alt und gut bezeugt wäre. Isokrates sagt in seiner Helena (3): „wie könnte jemand den Gorgias über- bieten, der zu sagen gewagt hat, daß nichts von dem Seienden sei, oder den Zeno, der zu behaupten versucht, dasselbe sei möglich und zugleich unmöglich?" Und ein andermal (TleQu avTidoöfiug 268) spricht er von den Schriften der alten Sophisten, deren einer sagte, des Seienden sei eine unendliche Menge . ., Parmenides und Melissos dagegen: nur eines, Gorgias aber, es sei überhaupt nichts" (fr* 1 Diels). Danach ist so viel sicher, daß Isokrates bei Gor- gias eine Ausführung gefunden hat, die die These, daß nichts sei, entwickelte und begründete, und zwar, wie die Zusammen- stellung des Gorgias mit Zeno, und dann wieder mit Parmenides und Melissos, schließen läßt, ganz in der Weise der eleatischen Dialektik. Über die beiden anderen Thesen und ihre Beweise ist hieraus nun natürlich nichts zu entnehmen. Das Wahrschein- lichste, ist indessen doch, daß wirklich der Kern des Gedanken- gangs, den wir beim Anonymus und Sextus skizziert finden, zu- letzt auf Gorgias zurückgeht — wie wir uns nun auch das oder *) Nicht unmöglich ist, daß der erste Titel Ilegl zov ßrj ovzoq dem Haupt- titel 7isqI <pvoewQ im Hinblick auf den wesentlichsten Teil des Inhalts erst später (vielleicht von dem Gewährsmann des Sextus) hinzugefügt worden ist. Wahr- scheinlicher indessen ist, daß Olympiodor den Titel abgekürzt angegeben hat. An der Identität der von Olympiodor und der von Sextus genannten Schrift wird jedenfalls nicht zu zweifeln sein. 2 ) Diels nimmt jetzt (Vorsokratiker, S. 555, 22 ff.) an, daß die naturphiloso- phischen Bemerkungen des Gorgias einer Theorie der Wahrnehmung entstammen, die Gorgias als Einleitung zu der Erörterung tieqI zov (ifj ovxoq gegeben habe. 222 Sokrates und die Philosophie. die Mittelglieder denken mögen, die zwischen der gorgianischen Schrift und unseren beiden Berichten anzunehmen sind. 1 ) Aber die große Frage ist, ob die gorgianische Ausführung, zumal ihre Tendenz, von Isokrates und diesen Späteren richtig aufgefaßt worden ist. Nun fallen zwar die Äußerungen des Isokra- tes nicht allzu schwer ins Gewicht. Unbestreitbar ist, daß er den Satz des Gorgias mit den Thesen der alten Philosophen auf eine Linie stellt. Offenbar aber nimmt seine epideiktische Rhetorik, die als solche genommen werden will, es mit dem wirklichen Sachverhalt nicht eben genau. Dem Autor ist es um eine Zu- sammenstellung möglichst absurder philosophischer Sätze, die sich bei früheren „Sophisten" finden, zu tun. Da ist ihm das gorgianische Paradoxon eben recht — gleichviel wie es von seinem Urheber gemeint war. 2 ) Um so sicherer ist, daß der pseu- doaristotelische Anonymus und Sextus in der Argumentation des Gorgias eine ernst gemeinte philosophisch-skeptische Erörterung sahen. Wäre nun diese Auffassung richtig, so hätte Gorgias eine Skepsis durchgeführt, so grundstürzend und weitgehend, wie sie vorher und nachher kein Mensch gewagt hat. Dann aber wäre es mehr als auffallend, daß nicht allein in der Eristik des 4. Jahr- hunderts, so weit wir sehen können, von dieser Skepsis sich keine Spur erhalten hat, daß vielmehr auch Plato und Aristoteles von ihr schlechterdings nichts wissen. Diese letztere Tatsache ist ent- ') Diels (in der erwähnten praefatio, S. 8 ff., Vorsokratiker, S. 36, 36 f.) ver- mutet, der späte Verfasser der Schrift, ein Eklektiker aus dem 1. Jahrh. n. Ch., habe die im Verzeichnis des Hermippos als aristotelisch aufgeführten Monogra- phien über Melissos, Xenophanes und Gorgias benutzt; die letzteren selbst ist er geneigt als aristotelische Arbeiten zu betrachten. Diese Hypothese hat sehr viel für sich, wenngleich mir der aristotelische Ursprung jener Monographien nicht ganz außer Zweifel ist: der Verfasser könnte immerhin auch Theophrast, wie H. Gomperz S. 34 annimmt, oder sonst ein Peripatetiker der älteren Zeit ge- wesen sein: in dem Katalog des Hermippos könnten sie auch dann Aufnahme gefunden haben. — Vermutlich hat übrigens auch Sextus diese peripatetische Vor- lage vor sich gehabt; volle Sicherheit läßt sich indessen hierüber nicht gewinnen. 2 ) Vgl. den Zusammenhang der Helenastellen (§ 1—2 und 4). Ähnlich liegen die Dinge auch an der anderen Stelle liegt ävridöo. 268, wo Gorgias u. a. mit Empedokles, Ion. Alkmaion, Parmenides und Melissos zusammengestellt ist; die Thesen dieser Männer werden als TiiQLXToXoylat abgetan. Daß diese Ausführung an Plato Sophistes 242 C ff. anknüpft, ist oben, S. 175, 2 bemerkt worden. Die sophistische Bewegung. 223 scheidend. Plato hat fast sein ganzes späteres Leben hindurch, von den achtziger Jahren ab, einen scharfen, ja erbitterten Kampf gegen die Skepsis geführt, und im Mittelpunkt dieses Kampfes stand schon ihm der Begriff des Seins. In dieses Ringen trat Aristoteles mit seiner ganzen Energie ein; ihm wurde das „Sein" noch weit mehr zum zentralen Problem der Philosophie, und in seiner eigenen philosophischen Entwicklung war dieses Problem der treibende Faktor. Dabei hat er sich unermüdlich mit den Gegnern, auch mit denen, die mit der zenonischen Dia- lektik in Verbindung standen, auseinandergesetzt. Ist nun im Ernst anzunehmen, daß Aristoteles 1 ) und auch Plato eine so radikale Skepsis wie die gorgianische, wenn sie wirklich bestand, ignoriert hätten? Ich meine, auch durch den Nebel, den unsere Berichte über den gorgianischen Gedankengang gebreitet haben, schimmert dessen wahrer Charakter und seine ursprüngliche Tendenz deut- lich genug durch. Er ist nichts mehr und nichts weniger als eine Parodie auf die eleatische Dialektik, dazu bestimmt, diese ad «absurdum zu führen und so zu widerlegen. Die eleatische Metaphysik hatte sich ganz auf den Begriff des Seins in der Fassung, die jedes Werden und Vergehen und jede Veränderung ausschließt, zurückgezogen und die begriffliche Einheit dieses Seins zur subsistierenden des Alleins umgedeutet; dem „Seienden" selbst werden nur die aus dem Begriff des Seins zu deduzieren- *) Ernsthaft zn rechnen ist hier allerdings mit Diels' Annahme, daß Aristo- teles der Verfasser der Monographien über Melissos, Xenophanes und Gorgias ist, die vermutlich von dem pseudoaristotelischen Anonymus de MXG. benutzt worden sind. Nun wissen wir nicht, was in denselben stand, insbesondere nicht, wie der Autor die gorgianische Argumentation auffaßte. Doch gibt uns der Schluß der Schrift de MXG. einen Fingerzeig. Die Stelle legt, wie man nun auch ihren verdorbenen Text heilen mag, die Vermutung nahe, daß ihre peripa- tetische Vorlage die gorgianische Ausführung als Aporienmaterial in der üblichen aristotelischen Weise verwendet hat oder verwenden wollte (vgl. auch das r\no- grjfxsvwv bei Sextus, Diels 555, 18, der ja vermutlich aus derselben Quelle ge- schöpft hat). Daß der Verfasser der Monographien die Deduktion des Gorgias als ernst gemeinte Skepsis betrachtet habe, braucht darum noch"» nicht ange- nommen zu werden. Ausgeschlossen ist dies, wenn Aristoteles — was wohl möglich ist — dieser Verfasser war. Denn daß von einer solchen Skepsis in den uns erhaltenen metaphysischen und naturphilosophischen Schriften nirgends eine Spur sich findet, wäre dann schlechterdings unerklärlich. 224 Sokrates und die Philosophie. den Prädikate zuerkannt. Von dem Nichtseienden — und zu diesem gehört zuletzt die ganze Sinnenwelt mit ihrer Vielheit und Veränderlichkeit — hatten sie demgegenüber erklärt, daß es erstens in keiner Weise seiend, zweitens in keiner Weise vor- stellbar und drittens in keiner Weise aussprechbar sei. Gorgias nun imitiert die dialektische Argumentationsweise Zenos und ebenso andererseits die scholastische des Melissos 1 ) und zeigt, daß, was die Eleaten vom Nichtseienden bewiesen haben, ganz ebenso vom Seienden bewiesen werden könne; nämlich daß ein Seiendes erstens nicht seiend, zweitens nicht vorstellbar (erkennbar) und drittens nicht aussprechbar (mitteilbar) sei. So wird die eleatische Metaphysik mit ihren eigenen Waffen geschlagen. Gorgias führt aber diesen Kampf nicht im Interesse irgend eines philosophischen Systems, auch nicht des empedokle- ischen; auch dieses hatte sich ja immerhin bis zu einem gewissen Grade die eleatische Ansicht über das Nichtseiende zu eigen gemacht. Soweit ist Gorgias offenbar nie mit Empedokles zu- sammengegangen. Er hatte sich aus seiner Naturphilosophie vermutlich das angeeignet, was ihm plausibel schien. Im übrigen macht er sich seine eigene Weltansicht zurecht, und das ist wohl im wesentlichen die natürliche des gesunden Menschenverstandes, die er gegen die Angriffe der Philosophen, zumal der eleatischen Dialektiker, verteidigt 2 ): dahin zielen seine Argumentationen. 3 ) Daß deren Pointe von einem flüchtigen oder nicht allzu scharfsichtigen Leser verkannt werden konnte, 4 ) ist ebenso be- *) Vielleicht ist der Titel der gorgianischen Schrift dem Titel der Schrift des Melissos: üegl <pvoea>g ij Tis gl rov övxoq nachgebildet. 2 ) Ähnlich hat sich später, wie unten gezeigt werden wird, Antisthenes, der „Schüler" des Gorgias, auf die Weltanschauung des gesunden Menschenver- standes zurückgezogen. Nur daß er daneben eine weitgreifende eristische Skepsis durchführte. 3 ) Zeno hatte die gewöhnliche Weltansicht, indem er sie in Widersprüche verwickelte, ad absurdum führen wollen. Gorgias rächt nun jene, indem er um- gekehrt den Grundbegriff der eleatischen Weltansicht in Widersprüche verwickelt und diese hiedurch ad absurdum führt. 4 ) Dafr die Bemerkungen des Isokrates mit der im Text vorgetragenen Auf- fassung vereinbar sind, ist klar. Zuzutrauen ist ihm recht wohl, daß er die Ten- denz der gorgianischen Argumentation wirklich falsch verstanden hat. Möglich ist indessen auch, daß er sich ohne Rücksicht darauf, was Gorgias bezweckte, eben einfach an die Tatsache, daß er den Beweis für die These (bq ovösv tujv Die sophistische Bewegung. 225 greiflich wie das andere, daß dieses dialektische Spiel der gor- gianischen Schrift, das einer philosophisch nicht eben bedeuten- den Sache zu dienen bestimmt war, bei der zeitgenössischen und den nächstfolgenden Generationen keine nachhaltige Beach- tung fand. Wie man sich nun aber auch zu dieser Auffassung der gor- gianischen Sätze stellen mag 1 ): so viel steht fest, daß das 4. Jahr- hundert einen Skeptiker Gorgias nicht kannte. Das genügt, wie mir scheint, um jeden Versuch, seine sophistische Wirksamkeit mit skeptischen Tendenzen in inneren Zusammenhang zu bringen, als verfehlt erscheinen zu lassen. Was ihn von den halbphilo- sophischen Neigungen seiner früheren Zeit abgezogen hat, ist nicht schwer zu erraten. Allzu tief sind diese Interessen sicher nie gegangen. Dazu war er von Anfang an zu sehr rhetorischer Praktiker. Dann wurde er von dem großen Zug der Zeit ergriffen; auch ihm wurde es Bedürfnis, an die Stelle der theoretischen Tätigkeit ein praktisch-öffentliches Wirken zu setzen. Er wurde „Sophist", und als solcher hat er mit vollem Bewußtsein in der Rhetorik das Zentrum seiner Lebensarbeit gesehen. 2 ) Auch Gorgias also ist so wenig wie Protagoras Skeptiker, überhaupt Erkenntnistheoretiker. Ja, bei ihm tritt die praktische ovxiav soziv durchzuführen suchte, gehalten hat. Der Verfasser von de MXG. und Sextus aber haben vermutlich in ihrer Quelle die gorgianische Argumenta- tion als Aporie vorgefunden. Inwieweit ihnen nun aber ihr Gewährsmann selbst wirklich Veranlassung gegeben hat, bei Gorgias eine ernsthafte Skepsis zu suchen, vermögen wir nicht zu entscheiden. ') H. Gomperz (a. a. O. S. 1 ff.) faßt jetzt die gorgianische Argumentation lediglich als ein rhetorisches naiyvtov, erweist insbesondere darauf hin, daß die- selbe den gleichen formalen Aufbau zeige wie die Helena und der Palamedes, welch letztere beide er als rein epideiktische Reden betrachtet. Ob dies auch für den Palamedes zutrifft, will ich nicht untersuchen (vgl. Wendland a. a. O.). Die Analogie beweist aber in jedem Fall nur, daß auch in dem „philosophischen" Stück dieselbe Manier der Beweisführung angewandt ist wie im Palamedes und der Helena. Ich gestehe übrigens, daß ich lange Zeit eine ähnliche Auffassung von der gorgianischen Argumentation gehabt habe. Schließlich aber hat sie mir doch nicht genügt. 2 ) Selbstverständlich ist die Tatsache, daß im platonischen Menon sowohl (Diels fr. 4) der Hinweis auf eine naturphilosophische Bemerkung des Gorgias als die Notiz (Diels 549, 31 ff.), Gorgias habe sich grundsätzlich auf die Rhetorik zurückgezogen, steht, kein Beweis gegen die Darstellung im Text. H. Mai er, Sokrates. 15 226 Sokrates und die Philosophie. Einseitigkeit, die ihn gegen alle Theorie gleichgültig macht, noch viel stärker hervor als bei seinem großen Rivalen. Er spricht es ja mit programmatischer Entschiedenheit aus, daß seine Philo- sophie die Rhetorik sei. 1 ) Spuren eigentlich philosophischer Skepsis und skeptischer Eristik lassen sich erst bei späteren Sophisten, wie z. B. Lyko- phron, nachweisen. Diese Entwicklung aber fällt in eine Zeit, in der Sophistik und Sokratik längst in Wechselwirkung getreten waren. Man hat keinen Grund, diesen Späteren den Sophisten- namen abzusprechen. Ja, man kann sich überhaupt den Sprach- gebrauch des Plato und Aristoteles aneignen und auch die Eri- stiker aus den sokratischen Schulen als „Sophisten" bezeichnen. Daß sich Verbindungslinien von diesem Treiben hinauf zur alten Sophistik ziehen lassen, wer wollte das leugnen? Aber ebenso sicher ist, daß die alte Sophistik, d. h. diejenige, die von der Mitte des 5. bis herein in die achtziger und siebziger Jahre des 4. Jahrhunderts im griechischen Kulturleben die bekannte histo- rische Rolle spielte, dann aber allmählich, nicht zum wenigsten durch den Einfluß der Sokratik, zurückgedrängt wurde, einen wesentlich anderen Charakter hatte. Und mit ihr haben wir es hier zu tun. Daß für die „Philosophie" dieser Sophisten die Tendenz und Denkweise des Gorgias in gewisser Hinsicht typisch war, ist unverkennbar. Das war wohl auch für Plato der Grund, diesen Mann zum Helden des Dialogs zu wählen, in dem er die grund- sätzliche Abrechnung mit dem Sophistentum vollzog. Die nächste und praktisch wichtigste Aufgabe dieser sophistischen Philosophie aber war, die Rhetorik zur vollendeten Kunst und vollen Wissenschaft zu gestalten. Wie ernst die Sophisten es hiemit nahmen, zeigen vor allem ihre sprachlichen Studien. Bekannt ist, daß sie die Anfänger der griechischen Grammatik und Synonymik waren. Es war aber nicht das reine Erkenntnisinteresse, das sie hiebei leitete. Um die theoretischen Probleme, zumal um die damals bei den Philo- sophen viel erörterte Frage, ob die Sprache etwas Naturgewach- ') Hiezu ist auch noch Plato, Phaedr. 267 A (Diels 534, 30 ff.) zu vergleichen^ ebenso ferner Helena § 9 ff. Die sophistische Bewegung. 227 senes {(pvaei) oder durch menschliche Willkür Gemachtes, durch Konvention (vo/mp) Gewordenes sei, sorgten sie sich, wie es scheint, nicht allzusehr; und soweit dies wirklich geschah, war ihr Aus- gangspunkt sicher das sprachkritische Interesse. 1 ) Jedenfalls aber war es ihnen zuletzt nicht um die Festlegung und um das Ver- ständnis der tatsächlichen Sprache zu tun, sondern um Sprach- richtigkeit: über bQ&oimia schrieb Protagoras, über die Richtig- keit der Sprachbezeichnungen (neyl bvouanov og&otijTog) Pro- dikos. Sie scheuten sich auch nicht, unter diesem Gesichts- punkt anerkannte Meister der Sprache wie Homer zu tadeln (Diels 535, 23 ff.). Ihre Absicht war, die Sprache auch logisch zu meistern und sie auf jede Weise zum gefügigen Werkzeug der Rede zu machen. Ganz ebenso suchten sie das Haupt- bildungsmittel der Zeit, die Erklärung der Dichter, in den Dienst ihrer Sache zu stellen. Und auch auf diesem Gebiet haben sie Bedeutendes geleistet. Überhaupt bemühten sie sich auch selb- ständig in erheblichem Maß um theoretische und technische Wissenschaften. Der Spielraum der sophistischen Betätigung war ein sehr ausgedehnter. Der Sophist weiß alles, und versteht alles, er kennt die Natur aller Dinge (neyi cpvoios %(Zv anävnav) — so versichert der Verfasser der diaaoi loyoi — , und es muß auch so sein; denn wer richtig reden (bg9-äjs Xfysiv) will, der muß das kennen, worüber er zu reden beabsichtigt; der Sophist aber will und soll über alles reden können, also muß er alles verstehen. 2 ) Unter den Sophisten selbst aber scheint Streit dar- über geherrscht zu haben, wie weit hierin zu gehen sei (Prot. 318 D E, Meno 95 C). Gorgias' keusche Selbstbeschränkung war nicht jedermanns Sache. Manchen, zumal unter den dii minorum gentium, mochte weit mehr das Ideal technischer „Autarkie", dem Hippias nachjagte (Diels 579, 7; 582, 6 ff.), reizen. Indessen stand ja auch diesem vielgeschäftigen Polyhistor nicht etwa bloß das praktische, sondern bestimmter das rhetorische Inter- esse obenan. Andererseits ist sicher, daß auch die Ernsteren unter den Sophisten, die sich strikter an ihre nächste Aufgabe hielten, sich durch den rhetorischen Rahmen in ihrer Arbeit keineswegs ») Vgl. Dümmler, Akademika S. 159. Aus Protag. 322 A kann natürlich nichts gefolgert werden. 2 ) diaaol XöyoL c. 8, Diels 647, 12 ff. 15* 228 Sokrates und die Philosophie. beengen ließen. Banausisch wurde wohl die Rücksicht auf die praktische Verwendbarkeit des Wissens überhaupt nicht gehand- habt. Nur das wird gesagt werden können, daß die wissen- schaftliche Arbeit der Sophisten im ganzen durch das praktisch- rhetorische Ziel beherrscht blieb. Damit aber hing es zusammen, daß der Schwerpunkt dieser sachwissenschaftlichen Betätigung in dem Gebiet des Staatslebens, des Rechts und der Moral lag. Freilich sahen die Sophisten ihre Aufgabe wieder nicht darin, die bestehenden Staatsordnungen, das geltende Recht und die rezipierte Moral historisch-positiv zu erforschen. 1 ) Und auch die spekulativen Fragen nach dem Ur- sprung und Wesen des Staats, des Rechts und der sittlichen Normen stehen ihnen keineswegs in vorderster Reihe. Die Vor- stellung, sie seien von theoretisch-„anthropologischen" Erwä- gungen über diese Dinge ausgegangen und von da aus zu ihrer Kritik am Bestehenden gekommen, ist gänzlich verkehrt. Sie sind von anderer Seite her am Ende auf jene Probleme gestoßen. Aber ihr „wissenschaftliches" Bemühen galt zuerst der kritisch- normativen Reflexion. Wie sie ihren Schülern nicht sagen wollten, wie die geltenden Verfassungen, Rechtsinstitutionen und Moral- kodices tatsächlich aussahen — die Überlieferung weiß nichts davon, daß einer dieser Gelehrten etwa ein großer Jurist gewesen sei — , sondern wie dieselben besser gestaltet werden konnten, so war ihr „philosophisches" Interesse grundsätzlich auf Kritik der bestehenden Ordnungen gerichtet. Und an diesem Punkt tritt die Rhetorik dann aus ihrer be- herrschenden Stellung heraus. Sie beginnt, Mittel zu werden im Dienst eines sittlich-sozialen Zwecks. 2 ) Zwar kann man nicht J ) Nach Hipp. maj. 285 D hat Hippias auch Vorträge ntgl x<Lv yeviüv . . xüv xe riQo'xuv xal xwp ävS-yüinatv, xal xcäv xaroixioecov, <vq xö agyalov txxiofrrjoav al 7iö?.etc, xal av?J.i]ßdrjv Tiüorjq xfjq uQyatokoyiaq gehalten. Aber das waren epi- deiktische Glanzleistungen des dilettantischen Polyhistors, die schwerlich den Zweck verfolgten, die Hörer positiv-wissenschaftlich in die Geschichte, die Ver- fassung und das Recht ihrer heimatlichen Gemeinwesen einzuführen. 2 ) Vgl. Protag. 318 E f., wonach Prot, zu lehren verspricht tvßovtia . . negl xmv xf t q nö/.t-ojq, onojq xu x/',q nökewq övvuxwxaxoq av elf] xal TiQÜxxfiv xal UysLv. Übrigens ist auch auf den ersten Teil des hier entwickelten Programms zu achten: das /uäO-Tjua des Protagoras ist auch evßovXla nsgi twv olxelojv, önwq r"v cÜQtotu xijv ahxov olxlav öcouol. Daß es sich hier nicht um irgend welche Die sophistische Bewegung. 229 sagen, daß die Unterordnung eine vollständige gewesen sei. Auch die ethisch-politische Arbeit der Sophisten behält den Stempel ihres rhetorischen Wesens. Die Rede gilt als das universale Mittel des Wirkens. So wird auch das moralisch-rechtlich-staat- liche Wissen, das der Sophist für sich und seine Schüler sucht, auf die Bedürfnisse des Redners zugeschnitten. Aber die An- eignung und Vermittlung rhetorischer Fertigkeit ist nicht das Letzte. Schließlich ist die Rede doch gedacht als der Weg zu jenem höheren Ziel, das diesen Männern, dem einen deutlicher, dem anderen dunkler, vorschwebt. Das ist der ständige Hinter- grund der sophistischen Bestrebungen, den man im Auge be- halten muß, wenn man den Sophisten gerecht werden will. Gewiß hat manchem von ihnen der Rausch des rednerischen Er- folges den Sinn umnebelt. Und auch die Besten sind vor der Gefahr eines Ästhetentums, dem die Schaurede der höchste Gipfel und zugleich die feinste Blüte aller Bildung und Menschlichkeit war, nicht bewahrt geblieben. Aber typische Bedeutung ist diesen Erscheinungen doch nicht beizumessen. Ebensowenig Grund hat man zu der Annahme, daß das Absehen der Sophisten eben nur auf Ausbildung der formalen Redekunst gerichtet war, die den skrupellosen Streber zum schrankenlosen Herrn jeder beliebigen Situation machen und ihm die politische und soziale Macht in die Hände spielen mußte. Daß dem großen Haufen die sophistische Be- redsamkeit in derartiger Beleuchtung erschien, ist kein Beweis für die Richtigkeit dieser Einschätzung. Auch der nächste praktische Zweck endlich, den werdenden Rhetor und den an- gehenden Staatsbürger mit der erforderlichen technischen Aus- rüstung für Gerichtsreden und ähnliche geschäftliche Gelegenheiten auszustatten, ist keineswegs für das Sophistentum überhaupt charakteristisch, so sehr dem Durchschnitt der sophistischen Rhetoriklehrer diese Seite ihres Metiers am Herzen liegen mochte. wirtschaftlich-technische Anleitung handelt, kann als sicher gelten. In Betracht kommt nur die formal-geschäftliche Tüchtigkeit, mittels deren der Staatsbürger sein Hauswesen im Gesellschaftsganzen zu vertreten und zur Geltung zu bringen, zugleich aber zu einem wertvollen Glied dieses Ganzen zu machen im stände ist. Dieser Deutung entspricht das Folgende. Hier, 319A, faßt Sokrates dieses Pro- gramm des Protagoras kurz zusammen: öoxhc, yä p /joi Xsyeiv rijv no).ixiy.i]v zey- vtjv xal vmoyvftG&ctL tioiüv ävöpaq ceyaftoit; noklzag, und Protagoras bestätigt dem Sokrates die Richtigkeit dieser Auffassung. 230 Sokrätes und die Philosophie. Die große Tendenz der sophistischen Bewegung — von einer solchen darf man recht wohl reden — war, mittels der Rhetorik, der loyoi, eine Reform des politisch-sozialen Lebens im Sinne eines vernünftigen Fortschritts heraufzuführen. Das ist das Programm der Sophistik, wie es in der Apologie des Protagoras im Theätet von diesem Sophisten bestimmt und klar entwickelt ist; und Protagoras spricht hier nicht bloß für sich persönlich, sondern für den ganzen Stand. Die Arbeit im Dienst dieser Aufgabe war den Sophisten Philosophie. Und in dieser Philosophie fühlten sie sich, so sehr sie sich sonst als Konkurrenten an einander rieben, aufs engste verbunden. Sie war wohl auch der Untergrund des stolzen Standes- und Berufsbewußtseins, das sie beseelt hat. Ohne Grund hat man Leute vom Schlag des Alkibiades und Kritias als Musterbilder von Sophistenschülern betrachtet — mit demselben Recht könnte man die beiden Männer, wie dies ja auch zeitgenössische Gegner getan haben, typische Jünger des Sokrätes nennen. Die große Mehrzahl der Jünglinge und Männer, die sich um die Sophisten drängten, waren, wie ja auch die Szenerie des platonischen Protagoras zeigt, ernsthaft Strebende, denen es wirklich um die staatsbürgerliche Weisheit, die die So- phisten ihnen geben zu können schienen, zu tun war, und damit um die Möglichkeit, Staat und Gesellschaft zu fördern und einer besseren Zukunft entgegenzuführen. Über die gesellschaftlichen Ideale selbst, die ihnen vor Augen standen, haben die Sophisten sich auch literarisch ausgesprochen. Aus dem sophistischen Gedankenkreis ist die Literatur der Staats- ideale und Staatsutopien hervorgewachsen, die bald nachher in der griechischen Schriftstellerei so mächtig emporblühte. Nach der Überlieferung soll Plato fast den ganzen Inhalt seiner „Republik" der protagoreischen Schrift „Antilogika" entnommen haben. l ) Die Notiz geht auf Aristoxenos zurück und ist natürlich eine Bos- heit, die der Peripatetiker dem Begründer der Akademie widmet. So viel aber wird daran richtig sein, daß Protagoras dem Plato in der Konstruktion eines idealen Staats vorangegangen ist. Daß J ) Diog. III 37, Diels 538, 2 ff. und die Anm. zu 4, ferner H. Gomperz a. a. O. S. 180 f. Wie ein solcher Inhalt gerade in die Antilogiai gekommen ist, bleibt für uns ein Rätsel; auch Gomperz hat dasselbe meines Erachtens nicht ganz gelöst. Die sophistische Bewegung. 231 indessen diese sophistischen Staatsideale so wenig wie das der pla- tonischen Politeia bloße Utopien, daß sie vielmehr ernsthafte Re- formprogramme sein wollten, läßt eine gut bezeugte Nachricht über Protagoras erkennen. Darnach soll dieser „den Thuriern Ge- setze gegeben" haben. Diese Notiz ist wohl dahin zu deuten, daß Protagoras die Gründung der Kolonie Thurioi benutzte, um mit einem Verfassungsideal hervorzutreten, natürlich in der Ab- sicht, in dem neuen Staatswesen seinen Entwurf in Wirklichkeit umzusetzen. l ) Von ähnlichen Tendenzen waren ohne Zweifel die Staatskonstruktion des Hippodamos von Milet und das kommu- nistische Programm des Phaleas geleitet, die gleichfalls mit dem sophistischen Ideenkreis zusammenzuhängen scheinen. Ein von den Sophisten, wie es scheint, viel erörtertes Thema war der Wert der verschiedenen Staatsformen. Und auch das waren für sie keineswegs bloß akademische Erörterungen. Es war bei alledem zweifellos die Vernunft, als deren Ver- treter die Sophisten sich fühlten. Staats- und Gesellschaftsordnung, Wirtschaft und Recht wollten sie vernünftig gestalten. Sie haben es nicht ausgesprochen, aber ihr ganzes Streben ist tatsäch- lich auf Rationalisierung der Kultur gerichtet. Das war indessen keineswegs Negation der bestehenden Moral und des geltenden Rechts, am wenigsten moralischer Nihilismus und Relativismus. Für das ganze Unrecht, das die vergangene Ge- schichtschreibung den Sophisten getan hat, ist nichts so be- zeichnend als die Art, wie aus dem falsch verstandenen Metron- Anthropossatz des Protagoras für die Ethik der Sophisten Fol- gerungen abgeleitet wurden, die nicht bloß von ihnen selbst niemals gezogen, sondern ihnen nicht einmal von ihren zeit- genössischen Gegnern unterschoben worden sind. Mag der be- kannte Mythos im platonischen Protagoras ganz die Schöpfung Piatos sein, so viel kann ihm mit Sicherheit entnommen werden — denn schwerlich hat Plato den Sophisten besser machen wollen, als er wirklich war — : daß die sittlichen und rechtlichen ') Diog. Laert. IX 50. A. Menzel (Protagoras als Gesetzgeber von Thurii, Berichte d. sächs. Ges. der Wissensch. 1910, S. 191 ff.) sucht die Notiz in wört- licher Deutung als historisch zu retten. Ich habe indessen nicht den Eindruck, daß ihm der Beweis für diese Annahme gelungen ist. Wahrscheinlicher ist die im Text vertretene Auffassung (vgl. Christ-Schmid I 6 S. 645). 232 Sokrates und die Philosophie. Normen von Protagoras nicht als willkürliche Schöpfungen mensch- licher Konvention, sondern als ein ursprünglicher Besitz der Menschennatur und als eine objektive Gesetzgebung, an die die menschlichen Individuen gebunden sind, betrachtet wurden. Und ebenso gewiß ist, daß Protagoras die herrschenden Moral- und Rechtsanschauungen im ganzen als den Ausfluß jenes ursprüng- lichen sittlich-rechtlichen Bewußtseins der Menschen eingeschätzt hat. Auf demselben Boden standen wohl seine sophistischen Genossen. 1 ) Wenigstens wird uns das, was wir über die ethischen Doktrinen des Prodikos, Hippias, Antiphon und nicht zuletzt des Anonymus Jamblichi (Diels 629, 24 ff.) wissen, nur von hier aus verständlich. 2 ) Überall war es den Sophisten lediglich um Reinigung und vernünftige Reform des Bestehenden zu tun. Sie fühlten sich als die „weisen und guten Rhetoren", die der Gesellschaft und den staatlichen Gemeinschaften „bessere" Ansichten über das, was gut und gerecht ist, suggerieren wollten, oder doch als die Lehrer, die solche „weisen und guten Rhetoren" heranbildeten. Daß es ihnen hiemit Ernst war, wer darf dies bestreiten? Wenn die Sophisten sich als Lehrer der „Tugend" einführten und in ihren Lehrvorträgen immer wieder über „Tugend" sprachen, so war das weder Heuchelei noch leere Deklamation. Und eben- sowenig war ihr Ideal von Tugend eben nur das der technischen Brauchbarkeit. Die gesellschaftlich-politische Tüchtigkeit schloß auch die sittliche ein. In der Tat lag dies durchaus in der Ten- denz des sophistischen Wirkens. Schließlich weist selbst der platonische Dialog „Gorgias" nach derselben Richtung. Den ge- nuin sophistischen Standpunkt vertritt hier Gorgias, und dieser erklärt — daß er durch Sokrates hiezu veranlaßt ist, ändert nichts an der Sache — ausdrücklich, daß er als Lehrer der Rhetorik es für seine Aufgabe halte, diejenigen, die über Gut und Schlecht, Schön und Häßlich, Recht und Unrecht nicht Bescheid wüßten, auch hierin zu unterweisen (Gorg. 460 A). Und daß wirklich *) Aus den Aiaaol Xöyoi ethischen Relativismus herauslesen zu wollen, ist verkehrt. Diese sind loci communes in dem oben angegebenen Sinn (vgl. das Stück Protag. 334 A—C). 2 ) Es genügt hier, auf die Darstellung Zellers I 5 S. 1119—1125 zu ver- weisen. Nur ist auf diese Ausführung mehr Gewicht zu legen, als Zeller selbst getan hat. Die sophistische Bewegung. 233 auch Gorgias, so wenig er sein Metier so bezeichnet wissen wollte, die Jugend zur Arete zu erziehen {naidevtiv) bemüht war, ist augenscheinlich. 1 ) Tatsache scheint immerhin zu sein, daß einige Extreme, zu- mal von der jüngeren Generation, beträchtlich über diese Grenze hinausgegangen sind. Aber unterrichtet sind wir hierüber nur durch Plato. Und hier wenn irgendwo ist es bedenklich, der platonischen Polemik einen geschichtlichen Bericht zu entnehmen. Im Gorgias und im ersten Teil der Politeia (I — II 367 E) ist von radikalen sophistischen Theorien die Rede — als ihre Träger er- scheinen Polos, Kallikles und Thrasymachos — , die bis zur Auf- lösung der sittlichen und rechtlichen Normen fortschreiten: staat- liche, rechtliche, sittliche Ordnungen gelten ihnen entweder als willkürliche Festsetzungen der jeweiligen Machthaber, die damit ihren eigenen Vorteil verfolgen, oder aber als egoistische Er- findungen der Schwachen und Hilflosen, die sich auf diese Weise eine Schutzwehr gegen die von Natur Starken schaffen; das wahr- haft Schöne und Erstrebenswerte sei nicht die „Gerechtigkeit", sondern die Ungerechtigkeit, und für den freien Menschen gebe es kein höheres Ziel als den Besitz der Macht, die ihm die Möglichkeit gewähre, seinen Egoismus schrankenlos walten zu lassen. Immer wieder betrachtet man gerade diese Anschauungen als die naturgemäße Konsequenz der „sophistischen Theorien". Und ge- wiß: eben das zu zeigen, war die Absicht der platonischen Aus- führungen. Aber man muß im Auge behalten: der „Gorgias" ist dazu bestimmt, die endgültige Abrechnung und den grundsätz- lichen Bruch der Sokratik mit der „Sophistik" zu vollziehen, und der erste Teil der Politeia lenkt ganz in diesen Gedankengang ein. Im „Gorgias" will Plato zeigen, zu welchen grundstürzenden Konsequenzen die sophistische Erziehung folgerichtig führen muß. Und er tut das mit der ganzen Leidenschaft des Gegners, der einen gefährlichen Rivalen, einen Feind, dessen Wühlen für den Erfolg der sokratischen Sache verhängnisvoll zu werden droht, ') Das geht nicht allein aus Plato, Apol. 19 E, sondern namentlich aus Meno 71 E f. und Aristoteles Polit. I 13. 1260a 27 f. (fr. 18 und 19 Diels) her- vor. Aus der Stelle der Inschrift Diels 547, 19 f. läßt sich allerdings nichts schließen. 234 Sokrates und die Philosophie. vernichten will. Allein er ist gerecht genug, zwischen Gorgias und dem Radikalismus seiner Schüler prinzipiell zu scheiden. Das heißt: den alten Sophisten will er das nicht anhängen, was er gegen die Sophistenjünger der neunziger Jahre vorzubringen hat. Den letzteren aber möchte er den Todesstoß geben, indem er als die Konsequenz ihrer Lehren den moralischen, rechtlichen und politischen Nihilismus hinstellt und sie damit vor der Öffent- lichkeit aufs schwerste kompromittiert. Man mag diese Kampfes- weise unsachlich, ja unschön finden. Aber man darf nicht ver- gessen: der „Gorgias" war die Antwort auf den perfiden Angriff des Polykrates, der den Versuch gemacht hatte, die Sokratik in giftigster Verdächtigung politisch bloßzustellen. Im ersten Buch der Politeia hat sich die Stimmung einigermaßen geändert. Aber der Kampf wird fortgeführt, und der Gegner ist derselbe. Als Repräsentant des Sophistentums erscheint indessen hier ein Mann der älteren Generation, der Chalkedonier Thrasymachos. Der war recht eigentlich als ein athenischer Sophist zu betrachten: er hat nicht bloß attisch geschrieben; Athen scheint auch der dauernde Schauplatz seines Wirkens gewesen zu sein. Und allem nach war er ein Mann von überragender Bedeutung. So konnte er als der Vater des athenischen Sophistentums gelten. Und Plato stellt ihn an den Pranger, um das letztere zu treffen. Ob oder inwieweit in den platonischen Karikaturen ein hi- storischer Kern zu suchen ist, vermögen wir heute nicht mehr sicher zu entscheiden. Daß es sophistisch erzogene Männer gab, die im Leben und wohl auch in der moralisch-rechtlichen Theorie illusions- und ideallose Skeptiker waren, wird niemand bestreiten. l ) Sehr wahrscheinlich ist ferner, daß Thrasymachos wirklich ein- mal die These aufgestellt hat, das Recht, wie es in den ver- schiedenen Staaten bestehe, sei tatsächlich nichts anderes als das den Stärkeren Vorteilhafte. Welchen Sinn der Satz aber im ur- sprünglichen Gedankenzusammenhang hatte, 2 ) läßt die tendenziöse *) Daß hinter Kallikles möglicherweise Charikles zu suchen ist, ist oben schon bemerkt worden. Männer von diesem Schlag sind aber zweifellos auch Kritias und Alkibiades gewesen. 2 ) Außer dem Satz selbst (zb ölxaiov ovx a?J.o xi 1} xb xov xgflxxovoq £vfz<pegov Plato, Pol. I 338 C) geht vermutlich auch noch die Anwendung auf die verschiedenen Arten von Staaten (tyrannisch regierte, Aristokratien, Demokratien Die sophistische Bewegung. 235 Ausdeutung, die Plato ihm gegeben hat, nicht wohl erraten. In keinem Fall sind wir berechtigt, in den Gestalten, die uns im „Gorgias" und im ersten Teil der Politeia vorgeführt werden, wirklichkeitstreu gezeichnete Typen der alten Sophistik zu sehen. Nur das ist richtig: entwicklungsfähig waren die Anschauungen der geschichtlichen Sophisten, und sie ließen sich in einer Richtung weiterbilden, die zu sehr radikalen Positionen führen konnte. Der natürliche Reflex der kritischen Reformarbeit der Sophisten ist, wie es scheint, die naturrechtliche Theorie, die Gegen- überstellung des natürlichen und des positiven Rechts, der natur- gemäßen Zustände und der durch menschliche Konvention oder Willkür geschaffenen gesellschaftlichen Institutionen, kurz, die Her- ausarbeitung des Gegensatzes von Natur und Satzung, den man seit langem gewohnt ist, mit der Sophistik in engsten Zusammen- hang zu bringen. Und damit scheinen sich diese Männer der Praxis nun doch in weit- und tiefgreifende Spekulationen über Recht, Staat und Moral eingelassen zu haben. Es lag ja, oder vielmehr es liegt nahe — denn bis zum heu- tigen Tage kehren solche Gedankengänge immer wieder — , die von der normativ-kritischen Reflexion, der „Vernunft" ausgedachten Ideale als das Naturgemäße, das der Natur Entsprechende und weiterhin als das in der Natur Gegründete, von ihr Gewollte an- zusehen, und demgegenüber die historischen Bildungen, soweit sie von jenen Idealen abweichen oder über sie hinausgreifen, als etwas „bloß" Geschichtliches, Minderwertiges, Unberechtigtes oder gar Naturwidriges abzuschätzen. Der nächste Schritt ist dann, das Naturgemäße für das geschichtlich Ursprüngliche zu halten und darnach ein Bild von dem „Naturstand", dem Urzustand der Menschheit zu entwerfen, die staatlichen und gesellschaftlichen In- stitutionen aber aus bewußt willkürlichem Zusammen- und Gegen- einanderwirken oder aber aus Kompromissen menschlicher Indi- viduen entstehen zu lassen. An diesen ersten Typus naturrecht- D f.) auf Thrasymachos zurück. Diese Ausführungen erinnern stark an das Ge- spräch, das Xenophon den Alkibiades mit Perikles in der Schutzschrift (Mem. I 2, 40 ff.) über die vö/xoi führen läßt. Wie es scheint, haben jene eine Kritik der bestehenden, positiven Rechtsordnungen beabsichtigt. — Über Thrasymachos vgl. Ed. Schwartz, Comm. de Thrasymacho Chalcedonio, Rostocker Vorlesungs- verzeichnis 1892. 236 Sokrates und die Philosophie. licher Konstruktionen, den idealistischen, schließt sich indessen ein zweiter, der positivistische, an, der auch die vom ersten als ursprünglich in Anspruch genommenen rechtlichen und sittlichen Ideale für etwas Gemachtes, durch menschliche Individuen aus egoistischem Interesse Erdachtes erklärt und die Kritik der kulturellen Gebilde bis zu den extremsten Folgerungen weiterführt. Daß nun im sophistischen Anschauungskreis solche Gedan- kengänge anklingen, ist unverkennbar. Aber die neuere Ge- schichtschreibung sieht in den Sophisten geradezu die Schöpfer des Naturrechts. Und zwar will man beide Naturrechtstypen bei ihnen finden. Zugleich aber werden die hauptsächlich- sten der Staats- und sozialphilosophischen Theorien, die sich an das Naturrecht anzuknüpfen pflegen, so vor allem die Lehre vom contrat social und die ganze individualistische Staatskonstruktion, auf sie zurückgeführt. Ist das alles richtig? Wer mit solchen Vorstellungen an unsere alten Berichte heran- tritt und diese nun unbefangen prüft, wird eine Enttäuschung er- leben. Wenn man durchaus will, kann man ja aus der Schilderung des Protagorasmythus, wie die Menschen, um der Vernichtung durch die Tiere zu entgehen, sich zusammenschließen und Stadt- staaten gründen, einen Ansatz zur Staatsvertragstheorie und zu einer dieser entsprechenden Vorstellung von der Entstehung des Staats herauslesen. Nun ist daran, daß der Gedanke wirklich protago- reisch ist und nicht etwa Plato angehört, um so weniger zu zweifeln, als sich im sechsten Fragment des Anonymus Jamblichi (Diels 632, 23 ff) eine ganz ähnliche Ausführung findet. Allein zu beachten ist, daß diese Staatengründung nach dem Mythus in eine Zeit fiel, wo es noch keine Moral und kein Recht gab, daß also die Idee eines auf naturrechtliche Basis sich stützenden Staats- vertrags auch nicht von ferne angedeutet ist; was aber übrigbleibt, das formlose „Sichzusammenschließen", ist so farblos und nichts- sagend, daß schon eine große Kunst der Interpretation dazu ge- hört, um darin mehr zu entdecken, als was damals bei denen, die mit der hergebrachten mythologischen Anschauung vom Staat und der Staatsentstehung gebrochen hatten, wohl die selbstverständ- liche Vorstellungsweise war. 1 ) Indessen der eigentliche Kern des ') Hiezu vgl. R. Hirzel, Themis, Dike und Verwandtes, 1907 : S. 207 f. Die spphistische Bewegung. 237 Mythus, der den mit Sicherheit auf Protagoras selbst zurückzu- führenden Grundgedanken enthält, weist nach ganz anderer Rich- tung. Hier erscheinen die positiven Bildungen des Rechts und der Moral, auf denen der Bestand und die Ordnung der Staaten ruhen, als der Ausfluß des den Menschen ursprünglich einge- pflanzten rechtlichen und sittlichen Bewußtseins. Darnach wird nicht nur zwischen natürlichem und positivem „Gesetz" kein Gegensatz angenommen; vielmehr wird das letztere aus ersterem hergeleitet. Mit anderen Worten: das Wesentliche der Naturrechts- spekulation, die Opposition gegen das positive Recht im Namen des natürlichen, fehlt hier durchaus. Auch sonst finden wir hievon bei Protagoras 1 ) und ebenso bei den anderen älteren Sophisten wie Gorgias und Prodikos nirgends eine Spur. Eine Ausnahme macht nur Hippias. Und das ist nicht etwa auf den Zufall unvollständigerTradition zurückzuführen. Im platonischen Protagoras (337 CD) erscheint die Naturrechtstheorie als das aus- schließliche Eigentum des Hippias und als das Steckenpferd, mit dem er vor seinem Publikum zu paradieren liebt. Diese Schil- derung wäre unmöglich, wenn die Lehre zur Zeit der Abfassung des „Protagoras", also in den neunziger Jahren des 4. Jahrhun- derts, auch nur als sophistisches Gemeingut gegolten hätte 2 ). Auch Hippias indessen ist keineswegs der Urheber der Theorie gewesen. Und es ist nicht so, daß er damit etwa nur aus so- phistischen Vordersätzen die Konsequenz gezogen hätte. Die ganze Anschauungsweise ist auf anderem Boden gewachsen. Und zwar wirkten mancherlei Motive hiebei zusammen. Die Entwicklung des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens in Griechenland, zumal in den demokratischen Politien, *) Nach dem Verzeichnis protagoreischer Schriften bei Diogenes hätte Prota- goras allerdings eine Schrift üt^l x7,q iv ay/y xavaaxdoeojq geschrieben (Diels 527,1; 539,7), und Th. Gomperz übersetzt den Titel: Über die Anfänge der menschlichen Gesellschaft. Diels hat aber ohne Zweifel Recht, wenn er vermutet, dieser Titel beziehe sich lediglich auf den Protagorasmythus im platonischen Protagoras, Anm. zu 539, 7. 2 ) Es darf hier doch auch daran erinnert werden, daß Hippias noch in der Gesprächsämmlung der Memorabilien (IV 4), also Jahrzehnte später, als derjenige unter den Sophisten erscheint, der als eigentlicher Repräsentant der Naturrechts- theorie zu gelten hat. 238 Sokrates und die Philosophie. war ganz dazu angetan, den Glauben an den göttlichen Ursprung der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnungen ins Wanken zu bringen. *) Wer sich über die überhastete Gesetzmacherei der suveränen Volksversammlungen und den unaufhörlichen Wechsel der Verfassungsformen seine Gedanken machte, dem mußte, zu- mal wenn er in der Lage war, die Hergänge bei diesen Haupt- und Staatsaktionen sich aus der Nähe anzusehen, die Willkürlich- keit und Zufälligkeit der positiven Rechts- und Staatsinstitutionen zum Bewußtsein kommen. Ohnehin lag es seit langem nahe, aus den Erfahrungen, die man bei Neugründung von Kolonien über die Entstehung staatlicher Einrichtungen machen konnte, Schlüsse auf die Genesis des staatlichen Lebens überhaupt zu ziehen und von hier aus den Staat auf willkürliche Vereinbarungen menschlicher Individuen zurückzuführen. 2 ) Andererseits hatte sich im Lauf des 5. Jahrhunderts der ethnologische Horizont beträchtlich erweitert. Man hatte die Lebensformen anderer Völker kennen ge- lernt und war zur Einsicht gekommen, daß Sitten und Gewohn- heiten, rechtliche und moralische Normen bei den verschiedenen Nationen sehr verschieden waren. 3 ) Sah man nun, wie mensch- lich es in den alten Staaten des eigenen Landes selbst bei der Herstellung von „Gesetzen" zuging, so brauchte man zwar noch nicht die Rechtsgültigkeit der letzteren in Zweifel zu ziehen und noch weniger den Glauben an Recht und Moral ganz zu ver- lieren. Aber das sittliche und rechtliche Bewußtsein hatte das Bedürfnis, sich auf einen dauerhafteren und solideren Boden zu- rückzuziehen. Und das „gemachte" Recht erschien demgegenüber als etwas Minderwertiges. Aus solchen Stimmungen war der Kampf zwischen den „ge- schriebenen" und „ungeschriebenen" Gesetzen entsprun- gen, den Sophokles in seiner Antigone auf die Bühne gebracht hat. Das Stück wurde im Jahr 444 aufgeführt, also zu einer Zeit, wo Athen von sophistischen Einflüssen schwerlich schon tiefer ') Vgl. R. Hirzel, "AyQcupoq vößoq, Abhandlungen der philol. hist. Kl. der Leipziger Ges. d. W. XX, 1900, S. 42. 2 ) Hiezu ist die Anekdote über die Unterredung des Alkibiades mit Perikles über den Nomos zu vergleichen, xenophontische Schutzschrift Mem. I 2, 40 ff. 3 ) Ich verweise auf die berühmte Stelle Herodot III 38. Vgl. Th. Gomperz, Griech. Denker I S. 325. Die sophistische Bewegung. 239 berührt war. l ) Es war vielmehr ein aus dem Leben selbst er- wachsenes Problem, das Sophokles in seinem Drama behandeln wollte. Und die Lösung, die er gab, entsprach sicher dem Sinn aller derjenigen, die, wie der Dichter selbst, für die demokratischen Ultras nicht eben viel übrig hatten. Der Mensch ist, das ist Sophokles' Meinung, dem geschriebenen Gesetz seines Staats Ge- horsam schuldig. Höher aber steht das ungeschriebene, das ewige und göttliche Gesetz. 2 ) Und wen die Treue gegen dieses mit den herrschenden Gewalten, die jenes vertreten, in Konflikt bringt und damit ins Verderben führt, der ist zum mindesten der Sym- pathie aller Edelgesinnten gewiß. Das ist bereits Opposition gegen das geschriebene Gesetz im Namen des ungeschriebenen. Letzteres wird zwar nicht verworfen, aber doch merklich zurückgedrängt und herabgesetzt. Von da ist nur noch ein kleiner Schritt bis zu der Anschauung, die das un- geschriebene für das allein gültige hält und das geschriebene seiner Zensur unterwirft. Und das ist die naturrechtliche Theorie. Dieser Schritt aber war von anderer Seite her bereits getan worden. Einst hatte Heraklit das Wort hingeworfen: „die mensch- lichen Gesetze alle nähren sich aus dem einen göttlichen" (fr. 114 Diels). Das war ein doppeldeutiger Satz. Heraklit selbst hat, wie der Wortlaut der ganzen Stelle zeigt, das positive Recht der Staaten im Auge. Ein andermal sagt er ausdrücklich: „das Volk soll kämpfen um sein Gesetz wie um seine Mauer" (fr. 44 Diels). Der Philosoph ist konservativ. Und im Grund hat er nur die hergebrachte theonomisch-mythologische Vorstellungsweise in die Sprache seiner Metaphysik übertragen. Die geschichtlichen Ord- nungen sind ihm aus dem ewigen Logos selbst hervorgewachsen. Ihre Wandlungen sind kein Gegenbeweis. Denn das Gesetz der Welt ist nach Heraklit ein Gesetz des Werdens, des Wechsels, der Entwicklung. So ist die heraklitische These derart, daß die historische Rechtsschule des 19. Jahrhunderts sie unbedenklich zum Grundstein ihrer Theorie hätte machen können. Aber das *) Über Sophokles' Verhältnis zur Sophistik s. W. Nestle, Sophokles und die Sophistik, Classical Philology V, 1910, S. 129 ff. 2 ) Daß vößos ayQctipoq bei Sophokles so aufzufassen ist, ist von R. Hirzel, Nomos Agraphos a. a. O. S. 24 gezeigt. Diese Abhandlung ist auch sonst zu der Darstellung im Text zu vergleichen. 240 Sokrates und die Philosophie. Wort hat doch noch ein anderes Gesicht. Die Stoa hat ihm den Grundgedanken des Naturrechts entnommen, der dann durch die Jahrhunderte fortgewirkt hat und in der neueren Zeit zum Fun- dament der philosophischen Rechtsschule geworden ist. Wir wissen nicht, inwieweit diese Auffassung schon bei den älteren Schülern Heraklits vorgebildet war. Aber die Prämissen zu ihr lagen zweifellos in der heraklitischen Philosophie selbst. Wenn das ewige Vernunftgesetz die Quelle der positiven Rechtsbildungen ist, war man dann nicht aufgefordert, jenes als Maßstab an diese anzulegen und sie eben nur so weit gelten zu lassen, als sie mit dem Vernunftgesetz übereinstimmten? Dazu kam, daß Heraklit ein großer Verächter der vulgären Meinungen war. Waren nicht auch die menschlichen Nomoi in diese Kategorie zu setzen? Heraklit selbst zwar dachte keineswegs so. Vielleicht aber ist schon in seiner Schule der Sprachgebrauch üblich geworden, für welchen vopog nicht bloß Gesetz, Satzung, Brauch, sondern auch herkömmliche, beim Volk üblich gewordene Annahme heißt. Und möglicherweise ist auch der Gegensatz <pvoei — vo/uqt schon bei den Herakliteern fomuliert gewesen. 1 ) Wie dem nun sein möge: in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts erscheint derselbe als ein Gemeingut der philosophischen Schulen. Bei Empedokles (fr. 9 Diels), Philolaos (fr. 9 Diels), Diogenes von Apollonia (Diels 332, 19 ff.), Demokrit ist er bereits etwas Feststehendes. Bei dem letzteren sind nicht nur die Sinnesqua- litäten als etwas bezeichnet, das den Dingen nicht an sich (treffi, sondern lediglich zufolge hergebrachter Ansicht (vouw) zukomme (fr. 9, 117 und 125 Diels); auch die Sprachbezeichnungen, die er nicht als etwas Naturgewachsenes anzuerkennen vermag, hat er wohl bereits auf Nomos zurückgeführt (fr. 26 Diels). Von Ar- chelaos aber, dem Schüler des Anaxagoras, wird uns berichtet, er habe über die Gesetze und das Gute und Gerechte philoso- phiert (Diels 323, 13 f., vgl. 324, 22f.) und gelehrt, Recht und Un- recht sei etwas nicht auf Natur (<pvoti), sondern auf Nomos Be- ruhendes (Diels 323, 16f., vgl. 31 f.) ') Vgl. Hippokrates, de victu I 11, Diels 83, 23 ff., und hiezu Steinthal, Ge- schichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen und Römern, 2. Aufl. I S. 51 ff., S. 44 ff. — Der Anknüpfungspunkt für eine solche Unterscheidung konnte recht wohl die heraklitische Parole: noislv xaxa <pvaiv (fr. 112 Diels) sein. Die sophistische Bewegung. 241 An der Zuverlässigkeit dieser Nachricht zu zweifeln, haben wir um so weniger Anlaß, als eine derartige Anschauung in der Konse- quenz des philosophischen Rationalismus lag, in dem die verschie- denen spekulativen Schulen, so weit sie sonst auseinandergingen, einig waren. Daß die Vernunftkritik, die die Ansichten der Menge über Welt und Gott aufs schwerste traf und vor ihren Lebensgewohn- heiten und Gebräuchen keineswegs halt machte, sich schließ- lich auch auf die gangbaren rechtlichen und sittlichen Normen und Anschauungen erstreckte, und daß dies gerade zu der Zeit geschah, als aus dem Leben selbst eine gewisse Opposition gegen das positive Recht hervorwuchs, ist durchaus glaubhaft. Arche- laos war ein Zeitgenosse von Sophokles, und auch er lebte und wirkte in Athen. Das Recht und Unrecht aber, das er im Auge hatte, war zweifellos eben das geltende Recht und die in der Ge- sellschaft anerkannte Moral. Wie er sich das Naturrecht und die „natürlichen" Zustände der Menschheit, die er augenscheinlich den historisch gewordenen gegenüberstellte, gedacht hat, wissen wir nicht. Aber das Entscheidende ist, daß er nach we isbar und grundsätzlich den Gegensatz Physis— Nomos in das praktische Gebiet des staatlich-gesellschaftlichen Lebens eingeführt hat. Und im ganzen wird sich sagen lassen: in der Schöpfung der naturrechtlichen Theorie hat die rationalistische Kritik der spekulativen Philosophie mit dem konservativen Bedürfnis, den tiefsten Gehalt des sittlich-rechtlichen Bewußtseins aus der Zu- fälligkeit und Positivität der geschichtlichen Bildungen heraus- zuheben und in die Tiefen des menschlichen Herzens zu retten, zusammengewirkt. Das Denken der Sophisten bewegt sich von Haus aus in einer anderen Welt. Der Spekulation gegenüber stellen sie sich auf den Boden des gesunden Menschenverstands und des tat- sächlichen Lebens. Und gegenüber den konservativen Neigungen vertreten sie den Standpunkt des Fortschritts. In typischer Weise stellt Protagoras fest 1 ): was einem jeden Staat als gut und ge- recht erscheint, das ist ihm gut und gerecht, solange er bei dieser Wertung bleibt. Ein anderes Gutes und Gerechtes kennen Protagoras und .seine Genossen nicht. Das ist nicht etwa, wie ') Theät. 167 C, in der Apologie des Protagoras. H. Maier, Sokrates. 16 242 Sokrates und die Philosophie. man vermuten könnte, ethischer Positivismus. Fern allerdings liegt es dieser Betrachtungsweise, von „natürlichen" Maßstäben aus über das Bestehende den Stab zu brechen. Dem Protagoras gelten ja vielmehr die in der Gesellschaft anerkannten sittlichen und rechtlichen Normen als die „naturgemäße" Verwirklichung des ursprünglich in den Menschen gelegten moralisch-rechtlichen Be- sitzes, den auch er anerkennt. Und sein Programm ist, diese Entwicklung reformatorisch weiterzuführen, wobei er doch grund- sätzlich den Zusammenhang mit den bestehenden, den histo- risch gewordenen Ordnungen aufrecht erhält. Es darf nicht vergessen werden, daß hier der Dichter Euripides, im bewußten Gegensatz zu seinem älteren Rivalen Sophokles, sich an die Seite des Sophisten stellt und dem ungeschriebenen Recht gegenüber, so sehr sich ihm sonst von anderer Seite her der Gegensatz von Physis und Nomos aufdrängen mag, die Partei des geschriebenen nimmt. 1 ) Es ist also prinzipiell ein Neues, wenn Hippias die naturrechtliche Theorie in die sophistische Bewegung hereinzieht. Wie weit frei- lich hiebei seine Originalität reicht, wissen wir nicht. Nach dem, was uns sonst über den Mann bekannt ist, wird dieselbe schwer- lich allzu hoch anzuschlagen sein. Nach dem platonischen Prota- goras (337 CD) hat Hippias gelehrt — und vermutlich gehören nicht bloß der Gedanke, sondern auch die charakteristischen Aus- drücke diesem wirklich an — : „ich bin der Ansicht, daß ihr alle Verwandte und Angehörige und Mitbürger von einander seid nach der Natur, nicht nach dem Nomos; denn das Gleichartige ist dem Gleichartigen nach der Natur verwandt; der Nomos aber ist der Tyrann der Menschen und erzwingt vieles wider die Na- tur". Ergänzend tritt hiezu die Darstellung der xenophontischen Memorabilien (IV 4). Ist hier auch das Gespräch zwischen So- krates und Hippias freie Erfindung des Autors, so hat doch den Anlaß zu dieser Gegenüberstellung eben die naturrechtliche The- orie des Hippias gegeben, und als deren Kern erscheint die Ent- gegensetzung der ungeschriebenen und der geschriebenen Ge- ') Die Belege s. bei Hirzel, "Aygacpoq vöfxoq a. a. O. S. 69 f. Über den Gegensatz Nomos — Physis bei Euripides vgl. W. Nestle, Euripides S. 45. Diesen Gegensatz selbst hat Euripides vermutlich von Archelaos, vgl. v. Wilamowitz, Ein- leitung in die Tragödie S. 24, 43. Die sophistische Bewegung. 243 setze und die ausschließliche Anerkennung der ersteren. So treten die beiden Wurzeln der Naturrechtstheorie, die rationalistisch- kritische und die ursprünglich konservative, in der Anschau- ung des Hippias klar hervor: die eine läßt der platonische, die andere der xenophontische Bericht erkennen. Wie weit Hippias nun aber die Theorie durchgeführt hat, läßt sich beiden Be- richten nicht entnehmen. Die xenophontische Darstellung selbst gibt uns keine Möglichkeit, aus dem Inhalt des Gesprächs be- stimmte Thesen für Hippias in Anspruch zu nehmen. Aus der platonischen Stelle geht so viel hervor, Hippias habe die sozialen und landsmannschaftlichen Gegensätze für etwas Naturwidriges, das eben darum kein Recht habe, erklärt; immerhin ist ange- deutet, daß der Gegensatz von Natur und Satzung noch weiter- greifende Bedeutung habe. Wahrscheinlich ist indessen nicht, daß Hippias seinen Gedanken zu einer entschlossenen und radi- kalen Kritik der bestehenden gesellschaftlichen Ordnungen aus- gestaltet hat; hiezu würde das, was wir sonst über seine Wirk- samkeit wissen, wenig stimmen. Dagegen haben wir über spätere „Sophisten" Nachricht, die weiter gingen und nicht bloß den Adel, sondern selbst die Sklaverei als Institutionen, die im Lichte des natürlichen Rechts zu Unrecht bestehen, betrachteten. In- dessen sind das Äußerungen, die bereits einer späteren Zeit an- gehören. Und jene „Sophisten" — Lykophron und Alkidamas — scheinen nicht von Hippias herzukommen. Sie werden als Schüler des Gorgias bezeichnet, 1 ) und möglich ist, daß sie bereits von dem antisthenischen Gedankenkreis berührt sind. Ich glaube, das jedenfalls ergibt sich aus den bisherigen Er- örterungen mit Sicherheit, daß die naturrechtlichen Spekulationen innerhalb der sophistischen Bewegung größere Bedeutung nicht erlangt haben und keineswegs als ein spezifisches Kennzeichen derselben angesehen werden können. So dürfen wir denn auch die positivistische Form der Naturrechts theorie ganz und gar nicht als das natürliche Er- zeugnis der sophistischen Entwicklung ansprechen. Selbst Plato hat dies nur zögernd und nicht mit voller Bestimmtheit getan. Darüber wenigstens, daß keiner der von ihm eingeführten So- l ) Zeller I 5 S. 1129. S. 1069. 16* 244 Sokrates und die Philosophie. phisten diese Theorie wirklich vertreten hat, läßt er keinerlei Zweifel. In der Politeia führt der uns bereits bekannte Sophist Thrasy- machos seine These, daß das Gerechte das dem Stärkeren Vorteil- hafte sei, folgerichtig und skrupellos durch. Die Naturrechtstheorie aber klingt in seinen Ausführungen auch nicht von ferne an. Da- gegen nimmt nach Beendigung des Gesprächs zwischen Thrasy- machos und Sokrates Glaukon, der dem Sokrates nahesteht und die Ansicht des Thrasymachos grundsätzlich verwirft, diese An- schauungsweise aber wirklich zu Ende denken möchte, um so den Sokrates zur Widerlegung zu reizen, zu Beginn des zweiten Buchs die Untersuchung wieder auf. Er will die Ausführungen des So- phisten in dreifacher Hinsicht ergänzen (358 C). Uns interessiert hier nur der erste Punkt. Da will Glaukon zeigen, wie man sich vom Standpunkt des Thrasymachos oder seiner Gesinnungsge- nossen das Wesen und den Ursprung der Gerechtigkeit eigent- lich denkt, oder — wie wir im Sinn des Autors richtiger sagen werden: — denken müßte (358 E f.). In diesem Zusammenhang führt er die Naturrechtstheorie ein. Von Natur ist das Unrecht- tun gut, das Unrechtleiden schlimm. Doch ist das Unrechtleiden in höherem Grade schlimm als das Unrechttun gut. Und in dem Zustand allgemeinen Unrechttuns und Unrechtleidens, in den die Individuen so hineingestellt sind, scheint es diesen zweckmäßig, sich dahin zu vertragen, daß man Unrecht weder tue noch leide. Aus solchen Erwägungen heraus hat man einst begonnen, Gesetze zu machen und gegenseitige Vereinbarungen zu treffen, und das vom Gesetz Gebotene hat man das Gesetzliche und Gerechte genannt. Das ist der Ursprung und das Wesen der Gerechtigkeit. Sie ist also ein Kompromiß, ein Mittleres zwischen dem an sich Besten und dem an sich Schlechtesten. Unschwer wird man aus dieser Ausführung die Grundzüge des Naturrechtstypus, den später Hobbes in klassischer Form aus- geführt hat, herauslesen können. Hat Plato diese Anschauung wohl irgendwo vorgefunden? Nach seinen sonstigen literarischen Gepflogenheiten ist es nicht unwahrscheinlich, daß in der Tat zu der Zeit, als er die einleitenden Partien der Politeia niederschrieb — das wird wohl in den achtziger Jahren des 4. Jahrhunderts gewesen sein — , Die sophistische Bewegung. 245 Ansichten in Athen verbreitet waren, die nach dieser Richtung lagen. In jedem Fall aber hat der Autor dieselben „auf den Be- griff gebracht" und karikierend übertrieben. Und augenschein- lich geht die platonische Stilisierung ziemlich weit. Sonst hätte der Verfasser für die vorgetragene Ansicht mindestens einen Repräsentanten gewählt, der sie, ob er nun eine wirkliche oder eine fingierte Persönlichkeit war, als seine eigene im Ernst ent- wickelt und begründet hätte. Möglich ist sogar, daß das Schema der naturrechtlichen Theorie selbst von dem Autor hineinge- tragen ist, zumal ihm dasselbe immerhin als Mittel dienen konnte, die bekämpfte Anschauungsweise in besonders grelle Beleuchtung zu rücken. Indessen ist dies eine nebensächliche Frage. Ge- läufig war der Gegensatz Natur und Satzung den gebildeten Athenern dieser Zeit sicherlich schon von der spekulativen Philo- sophie her. Und es ist immerhin denkbar, daß die Vertreter der radikalen Anschauungen, die Plato im Auge hat, die naturrecht- liche Theorie sich wirklich zu eigen gemacht haben, wenn auch die ganze Zuspitzung in der Charakteristik der Politeia, wie schon deren Einkleidung und Wortlaut verraten, dem Autor angehört. Das Wesentliche ist für uns aber die Tatsache, daß Plato nicht gewagt hat, diesen sittlich-rechtlichen Positivismus und Nihilismus als die natürliche Folge aus den radikalen sophistischen Lehren, die er dem Thrasymachos zuschreibt, hinzustellen: hätte er diese Absicht gehabt, so hätte er schwerlich Bedenken getragen, die Ausführungen des Glaukon dem letzteren selbst in den Mund zu legen. Statt dessen hat er nicht bloß, wie der Plural cpaoL, ls- yovoiv in 358 C und E deutlich genug verrät, geflissentlich auch den Schein vermieden, als wolle er die von Glaukon entwickelte Ansicht als Eigentum des Thrasymachos betrachtet wissen. Siehtman genauer zu, so deckt sich die Kompromißtheorie des Glaukon ganz und gar nicht mit der These des Thrasymachos, die das Gerechte als das dem Stärkeren Vorteilhafte definiert; ja, es be- steht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen beiden Anschau- ungen. Und Plato denkt offenbar gar nicht daran, die Ausfüh- rungen Glaukons aus der thrasymachischen Position irgendwie ableiten zu wollen. Vielmehr will er dieser lediglich eine zweite Theorie ergänzend zur Seite stellen, die mit ihr verwandt ist, aber noch beträchtlich über sie hinausgeht. 246 Sokrates und die Philosophie. Das Ergebnis ist also das. Es ist nicht ausgeschlossen, daß zur Zeit der Abfassung des ersten Teils der Republik unter den Gebildeten Athens Stimmungen und Anschauungen Eingang ge- funden hatten, die der von Glaukon nicht anerkannten, aber aus- geführten positivistischen Naturrechtstheorie mindestens nahe- kamen. Diese Anschauungsweise wird aber weder auf Thrasy- machos zurückgeführt noch als Konsequenz aus seiner moralisch- rechtlichen Theorie hingestellt. Nur daß sie dieser nahestehe, will behauptet werden. Und irgend ein Grund, diese naturrechtliche Konstruktion für die Sophisten in Anspruch zu nehmen, liegt in der Darstellung der Republik schlechterdings nicht. Ähnlich liegen die Dinge im Gorgias. Daß Plato hier grund- sätzlich mit der Sophistik abrechnen will, wissen wir. Da aber die eigentliche Substanz der sophistischen Weisheit die Rhetorik ist (vgl. 520 A), so ist der Gorgias in der Hauptsache eine Aus- einandersetzung mit der sophistischen Rhetorik. Dieselbe verläuft äußerlich in drei Etappen. In der ersten ist Gorgias der Partner des Sokrates. Er erscheint als der Vertreter der älteren Sophistik, deren rhetorische Allüren sich noch ganz in den Grenzen sitt- licher Wohlanständigkeit halten. Gewählt ist Gorgias, weil sich in ihm, der seine Wirksamkeit ganz auf Rhetorik konzentriert, der Typus des sophistischen Rhetors am reinsten darstellt. In der zweiten Etappe ist Polos, der als Schüler des Gorgias eingeführt wird (448 Äff., 461 CD), der Gegner. Er ist der Repräsentant der jüngeren Sophistengeneration, zu der Leute vom Schlag des Poly- krates gehören mochten, und vertritt eine Rhetorik, der es ledig- lich und ohne jede sittliche Einschränkung um die Macht zu tun ist. Im dritten Abschnitt endlich tritt Kallikles dem Sokrates gegen- über. Er ist der Vertreter der sophistisch gebildeten athenischen Politiker der neunziger Jahre, der von den Machtmitteln der sophistischen Rhetorik für seine politischen Zwecke skrupellosen Gebrauch macht, im übrigen aber ein Mann der Welt ist, der außerhalb des Schulbetriebs steht und auch nicht mittelbar zu den Sophisten zu zählen ist, vielmehr den sophistischen Schulmeister aus tiefstem Herzen verachtet (520 AB). Daß nun in diesem dritten Abschnitt der Schwerpunkt des ganzen Gesprächs liegt, ist unverkennbar: hier wird die soma- tische „Philosophie" der politischen Rhetorik gegenübergestellt. Die sophistische Bewegung. 247 Kallikles aber ist es — bei Gorgias und Polos findet sich hievon auch nicht die Spur — , der sich auf den Standpunkt einer posi- tivistischen Naturrechtstheorie stellt : das Recht und die Moral der Gleichheit gehen zurück auf eine normsetzende Tätigkeit der Majorität der Schwachen; diese haben das, was ihnen frommt, zum Gesetz gemacht und darauf ein System von Lob und Tadel gegründet, das ihnen dazu dienen kann, die starken und vor- nehmen Menschen, die über den großen Haufen hinausstreben, im Schach zu halten. Daß diese Form der positivistischen Naturrechtstheorie mit der von Glaukon in der Politeia ausgeführten im Grundgedanken im wesentlichen identisch ist, liegt am Tage. Wieder aber ist es nicht der Sophist und nicht der professionelle Sophistenschüler, die zu Wortführern dieser Ansicht gemacht sind. Und wieder wird dadurch deutlich zum Ausdruck gebracht, daß die Theorie nicht den Sophisten selbst angehört. Aber diesmal sehen wir auch, wo wir ihre Vertreter zu suchen haben. Kallikles - - hinter dem sich übrigens offenbar eine wirkliche Persönlichkeit (Charikles?) verbirgt — ist der Typus des aufgeklärten, äußerlich anständigen, aber innerlich „vorurteilsfreien", von keinerlei sittlichem Gesichts- punkt mehr geleiteten athenischen Volksführers. Und er spricht das offen aus, was die andern zwar denken, aber zu sagen sich wohl hüten (492 D). Darin liegt für uns ein Fingerzeig. Plato will hier eine Anschauungsweise festlegen und an den Pranger stellen, die in den einflußreichen Kreisen Jungathens weit verbreitet war, ohne doch offen hervorzutreten. Er vermag dieselbe nicht un- mittelbar auf die Sophisten zurückzuführen; mittelbar aber macht er diese, das liegt im Gedankengang und in der Tendenz des „Gor- gias" ausgesprochen, dafür verantwortlich. Die ganze Formulierung aber ist Piatos Werk, und hiezu gehört wohl auch das Natur- rechtsschema, das, den Lesern ohne Zweifel vertraut, geeignet war, die nihilistischen Konsequenzen dieses politisch-sittlichen Libertinismus besonders deutlich an den Tag treten zu lassen. Von hier aus fällt ein Licht auch auf die Ausführung in der Republik. Der „Gorgias" ist früher abgefaßt als diese. Der leidenschaftliche Haß gegen die ..Sophistik", der dort in voller Stärke emporlodert, ist hier gedämpft. Der moralisch-rechtliche Nihilismus, der hier wie dort in das naturrechtliche Schema ge- 248 • Sokrates und die Philosophie. kleidet ist, wird in der Republik nicht mehr mit derselben Be- stimmtheit als die wirkliche Anschauung eines bestimmten Kreises hingestellt — er wird ja nur als ein von Glaukon gezeichnetes Phantasiebild eingeführt — und nicht mehr in denselben engen Zusammenhang mit den Sophisten gebracht wie im „Gorgias". In keinem Fall aber gibt uns Plato, darüber läßt er keinen Zweifel, ein Recht, die positivistische Naturrechtsspekulation als eine von einem Sophisten wirklich vertretene und ausgeführte Lehre zu betrachten. Ja, wir können sagen: die in der Republik dem Sophisten Thrasymachos zugeschriebenen Gedanken, mit denen sich die von dem Sophistenschüler Polos im „Gorgias" vertretenen Anschau- ungen nahe berühren, weisen nach der entgegengesetzten Rich- tung. Sie liegen nicht auf der Linie des Hippias, sondern auf der des Protagoras. Aus der platonischen Darstellung gewinnt man den Eindruck — und an anderem Ort (Theätet 172 B) spricht Plato unzweideutig genug aus, daß das wirklich seine Auffassung ist — , daß Thrasymachos den protagoreischen Gedanken der Positivität des Rechts und der Moral einseitig betont und die Voraussetzung eines dem Menschen ursprünglichen rechtlichen und sittlichen Bewußtseins aus den Augen verloren habe. Dann allerdings mußten die Normen des Rechts und der Moral aus- schließlich als positive Festsetzungen der sozialen Gewalten erscheinen. Und gab es keine „objektiv" begründete Gesetz- gebung, so blieb als einzige Triebfeder menschlicher Handlungen der Egoismus. Fragte man aber von hier aus nach dem Zweck, den die herrschenden Gewalten mit ihrer Normensetzung ver- folgten, so war nur der denkbar, daß sie auf diese Weise ihren eigenen Vorteil sichern wollten. Auf der anderen Seite war für die Normgebundenen der Gehorsam gegen die „Gesetze" etwas ihrem eigenen Vorteil an sich Zuwiderlaufendes, und Unrechttun war für sie „besser" als Rechttun. Das ist so folgerichtig, daß wieder der Verdacht rege werden muß, Plato möchte der Konsequenz etwas nachgeholfen haben. Mehr als wahrscheinlich ist es ohnehin, daß die Vorstellung von der Rhetorik, die im „Gorgias" dem Polos unterschoben wird, nichts als eine karikierende Brandmarkung der rhetorischen Praxis war, wie sie nach Piatos Empfindung bei den Sophisten der neun- Die sophistische Bewegung. 249 ziger Jahre im Schwange war. Dabei immerhin bleibt es, daß sich damals in dem engeren und weiteren Anhang der Sophisten, zumal unter den sophistisch gebildeten Politikern Athens, Ele- mente genug fanden, die praktisch außer ihrem eigenen Vorteil keine Norm anerkannten. So viel aber ist nun sicher, daß wir keine der verschiedenen positivistischen Naturrechtstheorien, wie Plato sie im Gorgias und in der Politeia zeichnet 1 ) — andere Zeugnisse aber gibt es hiefür nicht — , auf die Sophisten zurück- führen dürfen. Indessen so ferne den geschichtlichen Sophisten doktrinärer Radikalismus liegen mochte, so sehr hat doch die ganze sophistische Bewegung einen entschieden revolutio- nären Charakter. Der argwöhnische Instinkt der Masse hat das richtig erkannt. Brachen die Sophisten auch theoretisch über die bestehenden Ordnungen keineswegs den Stab, praktisch hatten sie für dieselben wenig Pietät. Mochten die geschichtlich ge- wordenen Normen und Institutionen aus einem ursprünglichen sittlich-rechtlichen Bewußtsein hervorgewachsen sein: so wie sie jetzt bestanden, waren sie doch im Grund das stümperhafte Werk von Menschen, denen jede Kultur des Geistes fehlte.* Jetzt sollte die „Wissenschaft" reformierend eingreifen: Sophisten und so- phistisch gebildete Politiker sollten die „Gesetzgeber" werden und das staatlich-gesellschaftliche Leben in die richtige Bahn lenken. Neue sittliche Ideale herauszuarbeiten, war freilich nicht die Absicht der sophistischen Reformer. Schon darum nicht, weil sie hier materiell den geltenden Anschauungen immer noch nahe genug standen. Die tiefer eindringende ethische Reflexion war aber überhaupt nicht ihre Sache. Dazu waren sie viel zu sehr Praktiker. Auch auf sittlichem Gebiet gerierten sie sich als maß- gebende Autoritäten. Es war ihnen aber genug, mit ihrer über- legenen Weisheit da und dort korrigierend einzugreifen, wobei einzelnen von ihnen immerhin — man braucht ja nur an Prodikos zu erinnern — selbst paränetische Neigungen nicht fremd blieben. Sehr viel wichtiger jedoch war ihnen die politisch-soziale Sphäre. Auch da aber hielten sie sich offenbar an nächstliegende prak- tische Fragen. Und trotz der staatlich-gesellschaftlichen Programme, ') Vgl. hiezu noch Plato, Leges X 889 E. 250 Sokrates und die Philosophie. die sie entwarfen, war, wie es scheint, ihr Hauptbemühen das, dafür Sorge zu tragen, daß „weise und gute Rhetoren" erstünden, die an der Spitze von Staat und Gesellschaft die Neugestaltung der öffentlichen Dinge in die Wege leiten könnten. Man sieht: diese Reformbewegung hat eine ausgesprochen geistesaristokratische Tendenz. Und in der Tat zielte sie hin auf die Aufrichtung eines Regiments der Intellektuellen, das sich äußerlich vielleicht den hergebrachten Formen der Geschlechter- herrschaft und — noch lieber — der demokratischen Verfassung anschmiegte, zuletzt aber doch über beide hinwegschritt. 1 ) Daher das tiefe Mißtrauen, das die Regierenden, ob sie nun der Adels- oder der Volkspartei angehörten, den neumodischen Weis- heitslehrern entgegenbrachten. Schon daß diese sich für die Weisheit, die sie lehrten, bezahlen ließen, noch mehr aber, daß Fremde, hergelaufene Leute sich anmaßten, die künftigen Regenten des Staats für ihre Aufgabe heranzubilden, war unerhört und wurde um so schärfer verurteilt, als man das Ergebnis ahnte, zu dem diese Erziehung führen mußte. Aber die Anhänger des Alten sahen in den fremden Störefrieden überhaupt die Volksverführer, die Zerstörer der guten alten Sitte, welche Treu und Glauben auflösten und die Fundamente von Staat und Gesellschaft unter- gruben. 2 ) Und auch zu diesen Klagen war reichlich Grund und Anlaß vorhanden. So sehr die Sophisten bemüht waren, in ihrem Unterricht den besonderen Verhältnissen der Lernenden gerecht zu werden — Gorgias scheint auch theoretisch verschiedene Arten von „Tugend", die des Mannes und die der Frau, die des Greises und die des Knaben, die des Freien und die des Sklaven unter- schieden zu haben (Men. 71 E) — , so sicher ist doch, daß die von ihnen gelehrte „Arete" sich letzten Endes über die be- sonderen ständischen Moralcodices, und zwar über die bürger- lich-demokratische Moral so gut wie über die Adelsethik der ') Ein vielerörtertes Thema war, wie es scheint, die Besetzung der Ämter durchs Los. Vgl. Aioaol köyoi, Diels 646, 21 ff. Der Verfasser der dioool ?.6yoi verwirft jene, aber er stellt sich soweit auf demokratischen Boden, daß er die Wahl der Beamten durchs Volk gutheißt. 2 ) Man vergleiche hiezu z. B. die Anytosepisode im platonischen Menon. Ganz ähnliche Stimmungen aber sind auch in Plat. Apol. 19 D — 20 C voraus- gesetzt. Die sophistische Bewegung. 251 xakoxaya&oij suverän hinwegsetzte: im Grunde war die sophi- stische Bildung bei allen die gleiche und ihr Ziel überall das- selbe. 1 ) Das Entscheidende aber ist, daß die Sophisten den Bruch mit der theonomen Auffassung der bestehenden staatlichen und gesellschaftlichen Ordnungen bewußt und folgerichtig durch- führten.-) Nicht daß sie hier auf neuer Bahn vorangegangen wären ! Der theonome Glaube war längst durch die Entwick- lung des öffentlichen Lebens selbst erschüttert worden. Im Laufe des 5. Jahrhunderts hatte sich eine tiefgreifende Wandlung im all- gemeinen Rechts- und Staatsbewußtsein vollzogen. Und in den Kreisen der alten Philosophie waren die theologischen Voraus- setzungen dieser Vorstellungsweise seit langem kritisch zersetzt worden. Offiziell aber bestand noch das Dogma, daß Sitte, Recht, Moral, gesellschaftliche und staatliche Institutionen gottgeordnet und gottgesetzt seien; ja dieses war aufs engste an die Verfassungs- grundlagen der Staaten geknüpft. Die mythischen Vorstellungen von der historischen Stiftung der sozialen Ordnungen durch Götter oder Heroen mochten stark verblaßt sein. Allein immer noch war dieses ganze Lebensgebiet der besonderen Obhut der Götter unter- stellt. So blieb dasselbe an die göttliche Autorität gebunden. Und daß dieser Glaube, zumal in Athen, auch noch starke Wurzeln in den Anschauungen des Volks hatte, wer wollte das leugnen? Hie- gegen nun kehrte die sophistische Reform mit voller Wucht ihre Spitze. Halten wir fest: für die Sophisten war dies nicht ein Kampf um Theorien. Und sie haben ja auch keineswegs neue Theorien ] ) Zu der Adelsethik steht ja allein schon der Anspruch der Sophisten, Tugend lehren zu können, in schneidendem Gegensatz. Daß Tugend nicht ein auf Naturanlage beruhendes Vorrecht der Edelgeborenen sei, daß sie vielmehr von jedem „gelernt" werden könne, und daß nicht etwa nur edelgeborene Männer von autoritativem Ansehen, sondern hergelaufene Leute aus der Fremde sollen imstande sein können, die Tugend zu lehren, das verstieß gegen die Grundlagen der vornehmen Moral. Aber auch die bürgerliche Moral hatte von jener Vor- urteile genug festgehalten, um von dieser sophistischen Umwälzung gleichfalls hart getroffen zu werden. '-) Daß hiegegen nicht etwa die theologische Einkleidung der sittlichen An- schauungen des Protagoras im Protagorasmythus spricht, braucht wohl nicht aus- drücklich bemerkt zu werden. 252 Sokrates und die Philosophie. geschaffen. Die rationalistischen Gedanken über Staat, Recht und Moral, die sich mit der Zeit zu den naturrechtlichen Speku- lationen verdichteten, lagen damals in der Luft. Unter den Den- kenden, die mit philosophischem Blick das öffentliche Leben jener Tage beobachteten, wurden sie im Lauf der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts, auch ohne Zutun der Sophisten, zum Gemeingut. Die Sophisten selbst dachten in ihrer überwiegenden Mehrzahl nicht daran, diese Anschauungen theoretisch weiterzuführen, und beherrschende Bedeutung haben dieselben in ihrem Gedanken- kreis nie gewonnen. 1 ) Ihre Absicht aber war — und insoweit waren sie „Subjektivisten" und „Relativisten" — , die Säkulari- sation von Staat, Gesellschaftsordnung, Moral, Recht und Sitte zu Ende zu führen. Und zweifellos ist, daß sie alle diese ge- schichtlichen Realitäten vor aller Öffentlichkeit als etwas recht eigentlich Menschliches, aus dem Menschengeist Fließendes und von Menschen Festgesetztes betrachteten und behandelten. Auch das war nicht Doktrin. Diese Befreiung war der Weg zum Fortschritt. Um sie aber ins Werk zu setzen, war es nötig, ein großes Hinder- nis, das in der Bahn lag, wegzuräumen. Und das waren — die Götter selbst. An den Götterglauben schienen sich alle reaktionären Ten- denzen zu knüpfen, alle Vorurteile und Neigungen, die die Reform- bewegung zu hemmen drohten. So verkündigt Protagoras den Unglauben mit einer Schärfe, die selbst dem Griechen der peri- kleischen Zeit, der an die Angriffe der Philosophie gegen die Gott- heiten des Volksglaubens gewöhnt war, unerhört erscheinen mußte. „Von den Göttern", so beginnt die protagoreische Schrift Ilsyi i9süJv, „vermag ich nicht zu wissen, weder daß sie sind, noch daß sie nicht sind, noch auch welcher Art sie sind an Gestalt; denn vieles ist, was ein Wissen hindert, die Dunkelheit der Sache und die Kürze des menschlichen Lebens" (fr. 4 Diels). Das ist *) In soph. el. 12. 173 a 7 ff. berichtet Aristoteles, der Gegensatz von y.azä (pvatv und xaTa rbv vö/uov sei ein besonders ergiebiger xönoq, zov tiolüv nagü- öoqcc Xeyeiv. Zum Beleg werden angeführt Kallikles im Gorgias, xul ol uQyulot. dh, welche tkxvtsq wovxo ovfißalveiv (sc. na^ädo^a). Mit den agyalot ist die ältere Eristikergeneration gemeint, also die Leute vom Schlage des Dionysodoros und Euthydemos. Die Stelle auf die alten Sophisten zu beziehen, gibt der Zu- sammenhang kein Recht. Sokrates und die sophistische Bewegung. 253 nicht spekulativer Atheismus; und noch weniger metaphysische Skepsis — so wenig daran zu zweifeln ist, daß dieses Bekenntnis den ganzen von der Philosophie seit mehr als hundert Jahren ge- führten Kampf gegen die Götter zum Hintergrund hat. Das ist vielmehr der skeptische Unglaube des Praktikers, der die reli- giösen Vorstellungen, in denen er ein hauptsächliches Hemmnis der fortschrittlichen Entwicklung sieht, unbedenklich beiseite schiebt. 1 ) Und augenscheinlich ist diese Stellungnahme für das Denken der Sophisten typisch. Zwar haben sich wohl nicht alle so offen ausgesprochen. Immerhin aber war selbst der biedere Prodikos an diesem Punkt so radikal als nur irgend denkbar. Er leitete den Götterglauben, wie gut bezeugte Nachrichten mel- den, aus einer Personifikation der menschlichen Lebensbedürf- nissen dienlichen Objekte her: die Menschen der Vorzeit hätten Sonne, Mond, Flüsse und überhaupt alles, was dem menschlichen Leben förderlich ist, wegen des Nutzens, der von diesen Dingen kam, für Götter gehalten, wie z. B. die Ägypter den Nil; so sei ihnen das Brot zur Demeter, der Wein zu Dionysos, das Wasser zu Poseidon, das Feuer zu Hephaistos geworden (fr. 5 Diels). Das ist ein Atheismus, der über den des Protagoras noch beträchtlich hinausgeht. 2 ) So wurde die sophistische Reformbewegung von dieser Seite her zur Aufklärungsbewegung, und man hat Grund, die Sophisten zwar nicht die Urheber und Bahnbrecher, wohl aber die Führer der Aufklärung des perikleischen Zeitalters zu nennen. Allein so wesentlich und wichtig dieser Zug im Bild der Sophistik ist, so ist doch nicht zu vergessen, daß auch das nicht aufklärerischer Doktrinarismus war, daß vielmehr auch die atheistische Propaganda, die sie machten, in engstem Zusammenhang mit ihrer praktischen Reformarbeit stand. 4. Sokrates und die sophistische Bewegung. Wie stellte sich Sokrates zu dieser Bewegung und ihren Tendenzen? Aus den frühplatonischen Dialogen gewinnen wir ') Vgl. den charakteristischen Ausdruck, den Plato Theät. 162DE dem Prota- goras in den Mund legt: SrjfArjyoQüxe . . Oeovq xs slq rb fxeaov ayovxeq, ovq iyw ex xe xov /Jyeiv xal xov ygäyeiv nsol avxüv, a>q eiolv rj wq ovx elolv, il-aiocö. 2 ) Vgl. ferner Thrasymachos fr. 8 Diels, und Kritias fr. 25 Diels. 254 Sokrates und die Philosophie. hierauf eine klare Antwort, und zwar eine Antwort, die mit der Darstellung der Apologie durchaus zusammenstimmt. Eine wert- volle Bestätigung aber erhält das Bild, das sich so ergibt, durch die xenophontische Gesprächsammlung. Und diesmal ist uns Xenophon ein unverdächtiger Zeuge. Der reaktionär-konservative Romantiker hatte gewiß für die so- phistischen Reformer nicht viel übrig. Auch er war ja dem Poly- krates scharf entgegengetreten. Und auch jetzt macht er aus seiner Abneigung kein Hehl. Der bevorzugte Prügelknabe ist der athenische Sophist Antiphon. Möglich, daß der Autor diesem noch persönlich ein reiches Maß landsmannschaftlicher Antipathie widmete. Aber Antiphon erscheint doch in seinen Unterredungen mit Sokrates (Mem. I 6) als der typische Vertreter der Sophisten, zumal der jüngeren, die in den neunziger und achtziger Jahren den Sokratikern gegenüber illoyalen Schülerfang trieben. Es sind indessen nur äußerliche Dinge, um die der Streit sich dreht. Antiphon hält dem Sokrates sein armseliges Leben vor, während doch die Philosophie ihren Mann auch richtig nähren müßte, und er höhnt ihn, daß er sich für seinen Unterricht nicht zahlen lasse. Die ganze Szene dient dem Verfasser lediglich dazu, dem wohl- lebenden, geldgierigen Sophisten den bedürfnislosen, schlichten, selbstlosen Sokrates gegenüberzustellen. Und das hauptsäch- liche Angriffsziel ist der Gelderwerb der Sophisten. In harmloserer Weise, wenngleich nicht ohne Bosheit, hatte schon das Symposion (15 und IV 62) hierauf gestichelt. Jetzt, in der Gesprächsammlung der Memorabilien, spricht sich die Verachtung des Junkers gegen dieses sophistische Gebahren in schroffster Form aus: die Sophisten werden als Leute bezeichnet, die die Weisheit für Geld an jeden beliebigen feilbieten, und sie werden mit gewerbsmäßigen Hurern auf eine Linie gestellt. Ein höherer Grad von Schärfe ist kaum denkbar. Aber es ist uns schon in einem früheren Zusammenhang (S. 174 f.) mehr als wahrscheinlich geworden, daß diese Stellungnahme Xenophons bereits durch das Verdammungsurteil, das Plato in seinen späteren Dialogen, namentlich in dem unserem Autor genau be- kannten Sophistes, über die Sophisten gefällt hat, sehr wesentlich be- stimmt ist. Das fällt um so stärker ins Gewicht, als eine ähnliche Äußerung in den xenophontischen Sokratika sonst nicht wiederkehrt. 1 ) *) Die Stelle Xen. Symp. IV 4, wo Kallias zu Antisthenes sagt: xal äväoxov Sokrates und die sophistische Bewegung. 255 Prinzipielle Punkte werden zwischen Sophisten und So- krates nur einmal erörtert: da, wo dieser dem Naturrechtsvertreter Hippias gegenüber das geschriebene Recht in Schutz nimmt (Mem. IV 4). Programmatische Bedeutung ist aber auch diesem Gespräch ganz und gar nicht beigelegt. Zu dem Sophisten Pro- dikos stellt sich der Sokrates der Memorabilien geradezu freund- lich: ihm erzählt er ja den Mythus von Herakles am Scheideweg nach (Mem. II 1, 21 ff). Nun ist es ja sehr wahrscheinlich, daß Xenophon in die Fabel seine eigene, hier stark kynisch beeinflußte Lebensauffassung hineingearbeitet hat. Allein für unsere Frage ist entscheidend, daß der Autor das Stück aufgenommen hat, und daß sein Sokrates in sittlichen Dingen an einen Sophisten un- mittelbar anknüpft. In den frühplatonischen Dialogen jedenfalls ist von einem grundsätzlichen Ringen des Sokrates mit den Sophisten, wie die übliche Auffassung es sich vorstellt, nichts zu finden. Nirgends sieht Sokrates hier in der Sophistik die Verkörperung des Geistes der Verneinung und der Auflösung, der Skepsis, des Nihilismus und Individualismus. „So ziemlich in keinem Punkt", so läßt Plato den Sokrates im kleinen Hippias (372 B) zu dem Sophisten dieses Namens sprechen, „teile ich eure Ansichten". Es ist in der Tat nicht die Gedankenwelt der Sophisten, in der Sokrates lebt. Wiederholt zwar läßt ihn Plato sich als Schüler des Prodikos bekennen. Aber (xhxoL, (v GOifioxä, iXty/ötAtvoq, setzt nicht etwa den durch die späteren platoni- schen Dialoge und die aristotelischen Schriften eingebürgerten Sprachgebrauch für das Wort „Sophist" voraus. Das ist ja schon dadurch ausgeschlossen, daß der Ausspruch dem Sophistengönner Kallias in den Mund gelegt ist. co ooyioxü ist einfach zu übersetzen: du überweiser Mann! — Ein scharfer Angriff auf die „Sophisten" findet sich im Anhang zum Kynegetikos, c. XII, 10 ff. Nun ist aber bekanntlich der xenophontische Ursprung dieser Schrift nicht außer Zweifel. Und der literarische Charakter und der Qedankengehalt dieses Anhangs sind nicht geeignet, die Zweifel zu beheben. Ist die Schrift aber wirklich echt, so gehört sie in keinem Fall der Frühzeit des Autors an. Und die Sophisten, gegen die sie sich wendet, sind die späteren, im besonderen die aus der antisthenischen Schule stammenden. Die Polemik gegen die nulötvoiq der oväpaxa (XIII 5 f. vgl. 3) richtet sich augenscheinlich gegen den Grundsatz der antisthenischen naidtvaig: dg/Jj naidevoecug ?/ xtöv ovofiäxcDV snloxtipiq, Winckelmann 33 XII 1. Daß diese Auseinandersetzung zeitlich vor den platonischen Sophistes fällt, ist unter keinen Umständen anzunehmen. 256 Sokrates und die Philosophie. das ist, auch wenn wir davon absehen, daß Sokrates an allen diesen Stellen halb ironisch spricht, schon darum nicht wört- lich zu nehmen, weil Prodikos jünger und Sokrates ohne Zweifel innerlich schon fertig war, als er zu jenem in Beziehung trat. Immerhin, daß er von den Sophisten viel gelernt habe, hat gewiß er selbst bereitwillig zugestanden, und besonders gern scheint er in der Tat immer wieder an Prodikos' ethische Untersuchungen, aber auch an seine Synonymik — an diese halb scherzhaft, halb im Ernst — angeknüpft zu haben. *) Allein die ganze Tendenz seines Wirkens ist eine grundsätzlich andere. Das Lebensproblem, dessen praktischer Lösung er seine ganze Kraft gewidmet hat, ist aus dem spezifisch attischen Kulturkreis hervorgegangen. Man kann also nicht einmal sagen, daß er zu seiner Arbeit durch die So- phisten angeregt worden sei. Und Plato hat ohne Zweifel Recht, wenn er im Laches jeden Zusammenhang der sokratischen Pro- treptik mit der sophistischen Erziehungstätigkeit bestreitet. 2 ) Die Aufgabe, die Sokrates sich stellte, stand ihm vermutlich schon zu der Zeit, als er die genauere Bekanntschaft der neuen Philosophen zu machen begann, bestimmt vor Augen. Dennoch stand er mit ihnen auf demselben Boden der neuen Zeit. Und die öffentliche Meinung war nicht durchaus auf fal- schem Weg, wenn sie den großen Sonderling mit den neumodi- schen Weisheitslehrern zusammenwarf. Sokrates selbst hat doch wohl ein sehr bestimmtes Gefühl von dieser Zusammengehörig- keit gehabt. Gewiß hat er die einzelnen Vertreter des Sophisten- standes seine dialektische Ironie in reichem Maße kosten lassen. Und mit Vorliebe scheint er sich an den Matadoren der Zunft, an den vielgefeierten Größen, den verwöhnten Lieblingen der strebsamen Jugend, wo er ihrer habhaft werden konnte, gerieben zu haben. 3 ) Allein dem Haß der Dunkelmänner beider Parteien gegenüber hält er sich zu den Sophisten. Das ist die grundsätz- 1 ) S. die Stellen bei Zeller I 5 S. 1062 f., und jetzt bei H. Gomperz, a. a O. S. 90 ff. 2 ) Das ist nach dem ganzen Zusammenhang der ernsthafte Hintergrund der scherzhaften Bemerkung Laches 186 C 3 ) So viel kann wohl aus den beiden „Hippias" (dem kleinen und dem großen, ob der letztere nun von Plato stammt oder nicht), ebenso aus dem „Prota- goras" geschlossen werden. Sokrates und die sophistische Bewegung. 257 liehe Tragweite der Darstellung der Apologie. Und die Schilde- rungen in den Dialogen, zumal im Hippias und im Protagoras, bewegen sich auf gleicher Linie. Auch Sokrates gehört zu den Fortschrittlern, auch er hat mit der theonomen Vorstellung von Staat und Gesellschaft gebrochen, auch er strebt die Herr- schaft einer Geistesaristokratie, ein Regiment der Intellektuellen an, und auch er hält eine durchgreifende Reform, eine Umge- staltung der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung für eine dringende Notwendigkeit. So stand er der sophistischen Be- wegung keineswegs unfreundlich gegenüber. Und in gewissem Sinne konnte er in den Sophisten Bundesgenossen sehen. Indessen hat sich der prinzipielle Unterschied zwischen der Tendenz der sophistischen Bewegung und der des sokratischen Wirkens natür- lich auch in den Beziehungen des Sokrates zu den Sophisten ausgesprochen. Und jener hat sich gewiß auch sachlich sehr nachdrücklich mit diesen auseinandergesetzt. Drei Punkte treten aus dieser Polemik besonders hervor. Energisch stellt sich Sokrates vor allem den rhetorischen In- tentionen der Sophistik entgegen. Und damit trifft er allerdings den Lebensnerv der sophistischen Bewegung. Im „Gorgias" spitzt sich der Gegensatz zwischen Sophistik und Sokratik schließlich zu dem zwischen Rhetorik und Philoso- phie zu. Das ist indessen bereits spezifisch platonische Formu- lierung. Immerhin weist der „Gorgias" noch auf den genuin sokratischen Standpunkt zurück. Ja, in der ersten Etappe des Dialogs, wo Sokrates und Gorgias sich als Partner gegenüber- stehen, ist, wie sich deutlich erkennen läßt, noch der ursprüng- liche Gegensatz herausgearbeitet. Dem Vertreter der sophistischen Sache, dem die Redekunst ein und alles ist, wird gegenüberge- stellt der Sachverständige. Und es wird gezeigt, daß die Rede- kunst ihre Ziele nur dann erreichen kann, wenn sie sich auf Sachkunde gründet. Ja, das Reden über eine Sache ist überall nur das Beiwerk; die Hauptsache ist durchweg das sachkundige Wissen. Sokrates sieht schließlich in dem rhetorischen Virtuosen- tum der Sophisten nichts anderes als einen Dilettantismus, der in alles dreinredet, ohne irgend etwas recht zu verstehen. Wirklich groteske Formen hatte diese Seite des Sophistentums in der Tausendkünstlerschaft des Polyhistors Hippias angenommen. Mit H. Maier, Sokrates. 17 258 Sokrates und die Philosophie. köstlicher Ironie erinnert Sokrates (im kleinen Hippias 368 B ff.) daran, wie dieser einmal auf dem Markt an den Verkaufstischen den Leuten seine vielfältige Weisheit pries und sich rühmte, einst sei er nach Olympia gereist, da sei alles, was er auf dem Leibe getragen habe, seiner eigenen Hände Arbeit gewesen, von dem Ring am Finger, dem Siegel, dem Badekratzer und dem Ölfläsch- chen bis zu dem Mantel, dem Unterkleid, dem Gürtel und den Schuhen an den Füßen; zugleich aber habe er selbstverfaßte Epen, Tragödien, Dithyramben und eine Menge prosaischer Vorträge über alle möglichen Gegenstände mitgebracht; auch habe er sich in der Kenntnis der Rhythmen, Harmonien und der „Sprachrichtig- keit" und außerdem noch in einer großen Zahl sonstiger Künste als Meister gezeigt; am meisten geglänzt aber habe er durch ein Gedächtniskunststück, das er dem Publikum vorgeführt. Immer- hin war diese eitle Alleskönnerei ernsteren Sophisten wie dem Protagoras keineswegs nach dem Sinn. Wenigstens verurteilt dieser im platonischen Protagoras (318 DE) — und der Autor hat gewiß hier die Meinung seines Helden treu wiedergegeben — die Poly- historie des Hippias und den „vielseitigen" Unterricht, mit dem dieser die bildungsdurstige Jugend beglückte. Allein im Eingang des „Protagoras" (312 Dff) ist es doch auch der einseitig rheto- rische Charakter der Sophistik, bei dem hinter der Form der Inhalt, hinter der Redefähigkeit die Sache ganz zurücktritt, wo- gegen sich Sokrates' nächstes Bedenken kehrt. In gewissem Sinn kann man also sagen, Sokrates habe mit den Sophisten um das „Wissen" gekämpft. Aber der Gegensatz war nicht: sophistische Skepsis und Wissenschaft — weder waren die Sophisten Skep- tiker noch Sokrates ein Anwalt der Wissenschaft — sondern: rhetorischer Dilettantismus und Sachkunde. Und die Intellektu- ellen, die die künftigen Führer von Staat und Gesellschaft sein sollten, sah Sokrates nicht in den Rhetoren, sondern in den Sach- verständigen. Mit dem Ersten hängt nun aber ein Zweites aufs engste zusammen. Als Dilettanten erscheinen ihm die Sophisten — und wieder kommt dies im ersten Teil des Gorgias zu prägnantem Ausdruck — namentlich auch auf rechtlich-sittlichem Gebiet. Was Sokrates von dieser Seite an der sophistischen Bewegung ver- mißt, ist die sittliche Konzentration und vor allem die Einsicht Sokrates und die sophistische Bewegung. 259 in das Wesen des Sittlichen. Nicht sittlichen Nihilismus und moralischen Umsturz wirft Sokrates den Sophisten vor. Daß man die Gespräche mit Polos und Kallikles im „Gorgias" und die ein- leitenden Partien der „Politeia'' nicht in diesem Sinn ausnützen darf, wissen wir. Noch im „Protagoras" ist die Situation eine ganz andere. Die Moral, die hier Protagoras dem Sokrates gegenüber vertritt, ist eine recht brave und solide. Und wenn einer von beiden Hedonist ist, so ist es Sokrates. Das ist keineswegs ganz auf Rechnung des Autors zu setzen. Im Gegenteil. Im „Prota- goras"' spielt Plato, wie wir sahen, die sokratische Erziehungsweise gegen die sophistische aus. Er will vor dieser geradezu warnen oder sie doch nur so weit zulassen, als sie vor der Zensur der sokratischen Dialektik besteht. Da lag es ihm gewiß ferne, die Moral des Protagoras, der großen Autorität der Rivalen, in günstigere Beleuchtung zu rücken, als sie wirklich verdiente. Und in der Tat ist ja die Auseinandersetzung des Autors mit dem Führer der „Tugendlehrer" scharf genug. Er weist nach, daß selbst derjenige unter den Sophisten, der von allen am entschie- densten seiner Lehrtätigkeit das Ziel steckte, die jungen Leute zu staatsbürgerlich-sittlicher Tüchtigkeit zu erziehen, in den funda- mentalsten Fragen des sittlichen Lebens, ja sogar in derjenigen, deren Beantwortung doch die Voraussetzung seines ganzen Wir- kens war, in der Frage der Lehrbarkeit der Tugend, nicht zur Klarkeit gekommen war. Ähnlich übrigens nimmt Sokrates den Hippias vor. Auch dieser ist ja im kleinen Hippias mehr als bloße Dialogfigur. Er ist gleichfalls ein Vertreter der So- phistik, an dem Sokrates seine sittliche Dialektik übt. In der Tat hat der historische Sokrates zweifellos in dieser Weise sich mit den Sophisten auseinandergesetzt. Hier liegt ja der Punkt, wo er sich von diesen am weitesten entfernt. Zu der sittlichen Selbst- besinnung, die zu dem sokratischen Ziel führen mußte, haben auch die Sophisten keinen Anfang gemacht. Sie haben mit dem Alten gebrochen und sind doch von ihm noch nicht ganz losge- kommen. Das neue Land haben sie nicht gefunden, weil sie es nicht einmal suchten. Eben darum kann Sokrates mit der so- phistischen Bewegung nicht einig gehen: ihr fehlt das Wesent- lichste, das der Reform allein ihren Gehalt und ihr Ideal geben kann, das Verständnis für das tiefste Wesen des sittlichen Lebens. 17* 260 Sokrates und die Philosophie. Hiezu kommt noch ein Letztes: Sokrates schätzt den Wert der positiven, historisch gewordenen Ordnungen, zumal des „ge- schriebenen" Gesetzes, sehr viel höher ein als die Sophisten. Daß er der Naturrechtstheorie des Hippias entgegengetreten ist, ist aus inneren Gründen wahrscheinlich, auch wenn dem xenophon- tischen Gespräch zwischen den beiden Männern keinerlei wirk- liche Reminiszenz zu Grunde liegt und, was wahrscheinlich ist, der Spott über das naturrechtliche Steckenpferd des wohlredenden Sophisten im „Protagoras" ganz dem Autor des Dialogs zur Last fällt. Indessen war ja diese Stellungnahme des Hippias keine für die Sophistik überhaupt typische, und in den frühplatonischen Dialogen finden wir keine Hindeutung auf diese Polemik. Aus dem Gorgias und dem ersten Teil der Politeia sind ja auch hier keine Rückschlüsse zu machen. Nur das ist wohl anzunehmen, daß Sokrates der Mißachtung der positiven Institutionen des Staats und der Gesellschaft, die auch unter den sophistischen Reformern Mode zu werden begann, eine Pietät, eine sittliche Wertung des Bestehenden entgegensetzte, die von den weniger Scharfsichtigen unter seinen Schülern, wie z. B. von Xenophon, als Konservatis- mus empfunden werden mochte. Indessen sah er die Haupt- gegner, die auf diesem Gebiet zu bekämpfen waren, sicherlich nicht in den Sophisten. Die frühplatonischen Dialoge hätten schwerlich versäumt, hierauf einzugehen. Und ganz besonders wäre dies für Xenophon gewiß eine willkommene Gelegenheit ge- wesen, das konservative Licht seines Sokrates leuchten zu lassen. Im Grunde war ja auch der Abstand, der hier die Position des Sokrates von der der führenden Sophisten trennte, kein allzu großer, ja man kann sagen, kein prinzipieller. Das Bild, das sich uns von den Beziehungen des Sokrates zu den Sophisten ergeben hat, ist ein wesentlich anderes als das von der geschichtlichen Tradition entworfene und Jahrhunderte lang festgehaltene. Den Aufklärungstendenzen der Sophistik ge- genüber pflegte man sich Sokrates als den Retter der Wissen- schaft, der Moral, des Rechts, des Staates und der Gesellschaft vorzustellen. Immerhin hatte dieses Bild während des 19. Jahr- hunderts von verschiedenen Seiten einschneidende Korrekturen erfahren, die auch nicht ohne Wirkung geblieben sind, wie am Sokrates und die sophistische Bewegung. * 261 besten die Auffassung E. Zellers zeigen kann. Hegel machte Sokrates zum grundsätzlichen Vertreter eines philosophischen Subjektivismus und rückte ihn unter diesem Gesichtspunkt in die Umgebung der Sophisten. Grote andererseits betrachtete die Sophistik überhaupt nicht als eine philosophische Richtung oder Schule, sondern als einen Stand, eine Berufsklasse: die So- phisten als solche waren ihm professionelle öffentliche Lehrer, nichts weiter; von hier aus wurde es ihm leicht, sie in die Nähe des Sokrates zu bringen. An beiden Auffassungen ist nur das eine richtig, daß Sokrates und die Sophisten in der Tat enger zusammengehören, als die Tradition gewollt hat. Darin zwar hat Grote Recht, daß die Sophistik nicht „Philosophie" im üblichen Sinne war. Nur ist dies, im Gegensatz zu ihm, dahin auszudehnen, daß auch die einzelnen Sophisten keine „Philosophen" waren und keine „Philosophen" sein wollten. Was dagegen Grote verkannt hat, ist, daß die Sophistik eine große, von einer gemeinsamen Tendenz beherrschte kulturelle Bewegung war, die sich selbst als eine philosophische einführte — schon im Namen „Sophist" war dies ja ausgeprochen — , die sich aber zur alten Philosophie in grundsätzlichen Gegensatz stellte. Die Sophisten waren die Lehrer und Erzieher der Zeit. Ihr Bildungsideal aber war ein rhetorisches, und ihre Erziehungs- und Unterrichtstätigkeit grup- pierte sich um die Rhetorik. Aber in diese ganze Praxis, so handwerksmäßig und utilitaristisch sie von einzelnen Vertretern der Zunft, ja vielleicht vom großen Durchschnitt derselben be- trieben werden mochte, leuchtete doch ein höheres Ziel herein: die neue rhetorische Bildung strebte zuletzt hin auf eine fort- schrittliche Umgestaltung der staatlichen und gesellschaftlichen Zustände. Das war die „Philosophie" der Sophisten. Wir werden sehen, daß auch Sokrates kein Philosoph im hergebrachten Sinn war und sein wollte. In seine tatsächlichen Beziehungen zu den Sophisten hat kein „philosophischer" Ge- sichtspunkt irgend welcher Art hereingespielt. Ihm steht vor Augen die praktische Arbeit an der Heraufführung einer sittlichen Re- form, die nach seiner Absicht doch auch das staatliche und ge- sellschaftliche Leben ergreifen und erneuern sollte. So berührt sich sein Wirken nahe mit dem sophistischen, und es bewegt sich auf derselben Grundlage. Dennoch war sein Ziel ein ganz 262 Sokrates und die Philosophie. anderes, und er ging auch von Anfang an seinen eigenen Weg: so fern die sittliche Dialektik, die er an seinen Landsleuten übte, der rhetorischen Lehrtätigkeit der Sophisten stand, so fern stand im Grunde auch die Tendenz seiner ganzen Arbeit derjenigen der sophistischen Bewegung. Allein wir wollen nicht vorgreifen. Ein abschließendes Ur- teil über das sachliche Verhältnis des Sokrates und der Sokratik zur Sophistik läßt sich natürlich erst dann gewinnen, wenn das Bild des sokratischen Werkes selbst feststeht. Dann wird auch das Wenige, was sich über die tatsächlichen Auseinandersetzungen des Sokrates mit den Sophisten — von Kämpfen kann man ja nicht wohl reden — mit einiger Sicherheit feststellen ließ, in volle Beleuchtung treten. Viertes Kapitel. Sokrates und die Begriffsphilosophie. Daß die Wirksamkeit des Sokrates einen gewaltigen Um- schwung im Gebiete des philosophischen Denkens im Gefolge gehabt hat, daß sich an seinen Namen die glänzendsten Erschei- nungen, die die Philosophie der Griechen, ja die der Menschheit aufzuweisen vermag, geknüpft haben, ist eine bekannte Tatsache. Und der Schluß liegt von hier aus nahe genug, daß das Wirken dem Effekt entsprach, daß Sokrates' Lebensarbeit eine recht eigent- lich wissenschaftlich-philosophische war, die mit der Vergangen- heit brach und der Philosophie, der menschlichen Wissenschaft neue Grundlagen schuf. In der Tat stimmen darin alle neueren Darstellungen, so weit sie sonst auseinanderliegen, zusammen, daß sie Sokrates für einen „Philosophen" halten, für einen Neubegründer der Philosophie, der das philosophische Denken mit bewußter Absicht in neue Bahnen gelenkt habe. Auf die weitere Frage freilich, worin denn die philosophische Leistung des Sokrates positiv bestanden habe, ist die Antwort nicht ebenso einstimmig. Indessen hat sich unter den verschiedenen Auffassungen doch eine bis zum heutigen Tag als die herrschende erhalten, diejenige nämlich, die Sokrates' Sokrates und die Begriffsphilosophie. 263 wissenschaftliche Größe darin sieht, daß er der Urheber der „Be- griffsphilosophie" war. Diese Auffassung knüpft an die bekannte aristotelische Dar- stellung an, wonach die Begriffsphilosophie von Sokrates begründet, von Plato in seiner Ideenlehre weiter- und umgebildet, von Aristo- teles endlich auf der sokratischen Linie zum Abschluß ge- bracht worden ist. Und Sokrates erscheint als der Entdecker des Grundsatzes des begrifflichen Wissens, der zwar für seine eigene Person das neue „Prinzip" nur im Gebiet der Ethik durch- führte, hier aber mit Hilfe des gleichfalls von ihm entdeckten in- duktiven Verfahrens allgemeine Definitionen zu gewinnen suchte (S. 91 ff.). Nun ist zweifellos, daß die Entdeckung des Prinzips des be- grifflichen Wissens eine Leistung der Sokratik, und nicht minder, daß sie ein Großes war, eine wissenschaftliche Tat von ungeheurer Tragweite. Zwar wenn man darin mit Schleiermacher 1 ) das Er- wachen der Idee des Wissens selbst sieht, so ist dies eine der üb- lichen Übertreibungen. Nicht die Idee des Wissens überhaupt — die ist auch den früheren Philosophen wahrlich nicht fremd ge- wesen — sondern die einer ganz bestimmten Richtung und Art des Wissens ist der Sokratik aufgegangen, eben die Idee des „be- grifflichen" Wissens. Und man muß im Gegenteil sagen: daß dem Plato und Aristoteles dieses Wissen zum Wissen schlechtweg wurde, das hat die große Einseitigkeit der griechischen Wissen- schaft verschuldet und jene Unterschätzung, ja Degradierung des Individualwissens zur Folge gehabt, die bis in die neueste Zeit herein die philosophische Methodologie verhindert hat, den Disziplinen, die, wie die Geschichte oder auch die Geographie und Geologie, die konkret-anschauliche Beschreibung und Erklärung des Wirk- lichen sich zur Aufgabe machen, die ihnen gebührende Stellung im System der Wissenschaften zuzuerkennen. Immerhin er- klärt sich diese Einschränkung aus der Gesamtsituation der griechischen Forschung. Diese steht der unendlichen Vielge- gestaltigkeit und Wandelbarkeit des Individuellen als einem Un- faßbaren, Irrationalen gegenüber — ein Eindruck, der sich be- ') Über den Wert des Sokrates als Philosophen, Fr. Schleiermachers sämtl. Werke III 2 S. 300. 264 Sokrates und die Philosophie. kanntlich auch in der griechischen Fassung des Begriffs der Ma- terie niedergeschlagen hat. Mit wachsender Bestimmtheit hatte sich das Gefühl eingestellt, daß, wenn die Wissenschaft darauf angewiesen war, in dieser Sphäre festen Fuß zu fassen, ihre Sache hoffnungslos verloren war. Um die Wende des fünften zum vierten Jahrhundert hatte die griechische Philosophie in ihrer Ent- wicklung diesen toten Punkt erreicht. Sie hatte ihre Blicke von Anfang an auf das Höchste und Umfassendste gerichtet, auf das Universum in seiner vollen Totalität. Gleich zu Beginn hatte sie in raschem Ansturm das Urwirkliche zu erfassen gesucht, aus dem und zu dem alles wird. Dann war sie noch höher gestiegen: sie hatte den Schleier, den die Welt der Erscheinungen über das Seiende breitet, zu zerreißen gesucht, um den ewigen Seinsge- halt der Dinge zu erreichen. Schließlich aber hatten die Tatsachen doch ihr Recht gefordert, und die Philosophie hatte sich dazu verstehen müssen, das tatsächlich Wirkliche selbst begreifen zu lernen. Hier aber war sie über die Feststellung der leitenden Prinzipien nicht hinausgekommen: in dem ungeheuren Meer der Tatsachen mußte sie versinken. Das alte Rezept, die Flucht von den Sinnen zur Vernunft, versagte jetzt: denn eben das hatte sich als unmöglich erwiesen, mit den Waffen der Vernunft die Welt der faktischen Wirklichkeit zu bewältigen. Und die Wissenschaft wäre untergegangen — im ersten Viertel des vierten Jahrhunderts begann bereits auch die radikale Skepsis ihre zersetzende Arbeit — , wenn nicht eben jetzt das Mittel gefunden worden wäre, der Irrationalität des Wirklichen Herr zu werden. Und dieses Mittel war der Begriff, war das Allgemeine. So bedeutete die Ent- deckung des Allgemeinen für die griechische Wissenschaft damals geradezu die Rettung. Aber sie war überhaupt der wichtigste .und folgereichste Schritt, den das wissenschaftliche Denken auf ^seinem ganzen Weg getan hat. Denn das Allgemeine, der Be- griff ist diejenige Denk- und Seinskategorie, die allein der mensch- lichen Forschung die Möglichkeit gibt, die unübersehbare Fülle und Mannigfaltigkeit der Tatsachen rational zu meistern. Die Frage ist nur: ist Sokrates selbst derjenige gewesen, der diesen neuen Weg zuerst, wenn nicht beschritten, so doch gezeigt hat? Und diese Frage ist, um dies gleich vorwegzunehmen, rundweg zu verneinen. Der Entdecker des Allgemeinen Sokrates und die Begriffsphilosophie. 265 ist nicht Sokrates, sondern Plato gewesen. Sokrates hat die Begriffsphilosophie so wenig wie sonst irgend eine philoso- phische Doktrin begründet. Der Hauptzeuge für die traditionelle Auffassung ist, wie wir sahen, Aristoteles. Dazu kommen einige Belege aus Xenophon, die zwar wenig zahlreich, dafür aber, wie man meint, von ent- scheidendem Gewichte sind. Und schließlich scheint von hier aus die Entwicklung der platonischen Ideenlehre aus dem soma- tischen Gedankenkreis am ehesten verständlich zu werden. Diesem letzten Argument steht nun freilich sofort die Tat- sache entgegen, daß die Anschauungen der übrigen sokratischen Schulen nicht bloß in keiner Weise auf so etwas wie eine soma- tische Begriffsphilosophie zurückweisen, daß sie vielmehr das Gegenteil mit derselben oder noch größerer Sicherheit erschließen lassen. Aus dem Spiel bleiben kann hiebei Aristipp der Kyrenaiker, der Relativist, Sensualist und Hedoniker, dessen Gedanken ja allerdings von jeder Begriffsphilosophie weit abliegen; aber man könnte immerhin sagen — ob mit Recht, ist eine andere Frage — , er habe sich, so sehr er Sokratiker sein wollte, doch auch sonst von Sokrates so weit entfernt, daß er nicht mehr eigentlich ein Sokratesjünger heißen könne. Anders steht es schon mit den Megarikern. Zwar ist es seit Schleiermacher fast zu einer fable convenue geworden, daß diese wenigstens eine Zeitlang Anhänger der Ideenlehre gewesen seien. Sie nämlich sollen die „Freunde der Ideen" sein, von denen Plato in der bekannten Sophistessteile (246 BC, 248 Äff.) redet. Der einzige Beweisgrund indessen, worauf man diese An- nahme stützen kann, ist die Tatsache, daß die Form der Ideen- lehre, gegen die Plato sich hier wendet, den Ideen einige Be- stimmungen beilegt, die deutlich an die eleatische Charakteristik des Seienden erinnern konnten, zusammengenommen mit der anderen, daß, wie die Tradition übereinstimmend berichtet, Euklid, der Stifter der megarischen Schule, das Gute, das er in Anlehnung an sokratische Gedanken als das höchste und einzige Objekt des Wissens betrachtet, mit dem eleatischen All-einen identifiziert hat. Im Hintergrund aber spielt noch die Voraussetzung herein — und 266 Sokrates und die Philosophie. die ist tatsächlich doch wohl die stärkste Stütze der ganzen Hypo- these — , daß, wenn Sokrates der Begründer der Begriffsphilo- sophie war, sich eine Nachwirkung derselben auch bei seinem Schüler Euklid, von dem zudem überliefert ist, daß er mit Plato eng befreundet war, finden müsse. Auch hier also ist zuletzt der Wunsch der Vater des Gedankens. Sieht man hievon ab, so kann die Feststellung, daß Euklid eleatisierende Tendenzen ver- folgt habe, um so weniger genügen, ihm jene Ideenlehre, die gewisse Anklänge an die eleatischen Seinsbestimmungen aufweist, zuzuschreiben, als wir über die Art und Weise, in der Euklid sein „Gutes" mit den Zügen des eleatischen Seienden ausge- stattet hat, nicht weiter unterrichtet sind und im Grunde nur das eine sicher bezeugt ist, daß er das Gute eben als das eine, mit sich selbst schlechthin identische Seiende gedacht habe: gerade der wesentliche Punkt der Hypothese also, daß Euklid eine Viel- heit von objektiv gültigen Allgemeinbegriffen angenommen habe, hängt völlig in der Luft. Wie die Sophistesstelle in Wirklichkeit zu verstehen ist, kann dem Unbefangenen nicht zweifelhaft sein: Plato hat hier ganz offenkundig eine Auffassung der Ideenlehre im Auge, die unter seinen Anhängern aufgekommen war. 1 ) Möglich, daß dieselbe durch die eleatischen Neigungen der Megariker bestimmt war; wir werden im 4. Teil hierauf zurückkommen müssen. In jedem Fall aber haben wir schlechterdings keinen Grund, diese Anhänger Piatos mit den Megarikern, die zu der Zeit, als der Sophistes geschrieben wurde, längst eine feste Schulgemeinschaft unter der Leitung des Euklid waren, zu identifizieren. 2 ) J ) An Angriffen auf die Schleiermacher'sche Deutung hat es allerdings nicht gefehlt. So hat Windelband die Beziehung auf die Megariker nachdrücklich ab- gelehnt. Seine eigene Auffassung der Stelle rechnet aber stark mit der Ver- mutung, daß der Sophistes nicht von Plato selbst stamme (Piaton 2 S. 101, S. 88, S. 58 f.; Geschichte der alten Philosophie 2 S. 85, S. 120). Eine umsichtige Dis- kussion der Frage hat C. Ritter in seinen „Bemerkungen zum Sophistes", wieder- abgedruckt in .,Neue Untersuchungen über Plato", 1910, gegeben, S. 27 ff. Er selbst ist geneigt, in den g>tXoi xon> ti6d>v die Megariker als die Ausleger von Piatos eigenen Schriften zu sehen. 2 ) Wie frei sich die Diskussionen innerhalb der Akademie auch gegenüber den Hauptlehren Piatos bewegen konnten, zeigt das spätere Verhalten des Aristo- teles. Noch als Mitglied der Akademie eröffnete er, wie wir später sehen werden, Sokrates und die Begriffsphilosophie. 267 Über die philosophische Entwicklung Euklids ist uns wenig bekannt. Als sicher kann gelten, daß er vor allem ein treuer Sokratesjünger war und sein wollte. Von hier aus aber kam er, wie es scheint, trotz seiner freundschaftlichen Beziehungen zu Plato mit Antisthenes in Fühlung. Und gut bezeugte Nachrichten legen die Vermutung nahe, daß er es auf einen Ausgleich des Gegensatzes abgesehen hatte : die mittlere Linie aber, die er zu gewinnen suchte, lag wohl in der Richtung, daß er der anti- sthenischen Grundanschauung, zu der er hinneigte, eine spekulativ- metaphysische Wendung, die auf Piatos Einfluß zurückging, zu geben bemüht war. 1 ) Sehr wahrscheinlich ist aber insbesondere, daß Euklid zugleich mit den Reminiszenzen an die eleatische Speku- lation die eleatische Dialektik aufgenommen hat. Wenigstens haben wir dafür, daß dies erst in einem späteren Zeitpunkt ge- schehen sei, nicht den geringsten Anhaltspunkt. Im Gegenteil, aus dem Bericht des Diogenes, den anzuzweifeln wir keinen An- laß haben, läßt sich entnehmen, daß Euklid die eleatische Dia- lektik unmittelbar an die sokratische angeknüpft hat. 2 ) Daraus läßt sich auf seine Auffassung der letzteren schließen. Die Ten- denz der sokratischen Dialektik war ihm eine wesentlich skep- tische; sie verfolgte, wie er meinte, den Zweck, das eingebildete Wissen — und für Euklid war alles Wissen, das nicht das Gute zum Objekt hatte, ein eingebildetes — durch zersetzende Kritik wegzuräumen, um so für die sittlich-spekulative Einsicht, die (pQovrjaig, die die ganze Seele ausfüllen sollte, Platz zu schaffen. seine Polemik gegen die Ideenlehre. Diese Auseinandersetzung selbst aber scheint nur eine Fortsetzung der Diskussionen über die Ideen gewesen zu sein, die schon sehr viel früher eingesetzt hatten. *) Vgl. Diog. II 106: Ouxog 'iv xo uya&nv ans<paivero noU.oZc ovößaoi xaXov/isvov' oxs ßsv yccg (fQÖvrjOiv, öxs 6h &tär, xal äM.ozs vovv xai xä l.oinü, xu 6 avrixeifAfva xä dya&iö dvyget ,u?) tivai (pdaxtov. Die Identifizierung des dy. mit der ifpövrjaig weist deutlich genug auf Antisthenes zurück. Daß das dya&öv selbst, wie Euklid es faßt, mit der platonischen Idee des Guten zu- sammenhängt, wird sich später zeigen. 2 ) Diog. II 107 verglichen mit 108. Die megarische Frage -Antwortform der Dialektik ist spezifisch sokratischen Ursprungs. In diese Form hat Euklid die eleatische Dialektik eingeführt. Immerhin hat wohl Antisthenes, der ihm als Eristiker vorangegangen ist, auch nach dieser Richtung schon vor ihm einen An- fang gemacht. 268 Sokrates und die Philosophie. Euklid selbst aber kehrte die Waffen seiner skeptischen Dia- lektik vor allem gegen die Ideenlehre seines alten Freundes Plato. Daß nämlich der platonische „Parmenides" eine Auseinander- setzung mit den von den Megarikern erhobenen Einwänden gegen die Ideen ist, das ist immer noch die wahrscheinlichste Deutung dieses Dialogs. Wir verstehen diese Gegnerschaft Euklids. Sie ist weder ein Abfall von einer Sache, der er selbst einst zugetan war, noch andererseits ein Durchgangsstadium, auf das eine Be- kehrung zu der einst bekämpften Position gefolgt wäre. Euklid ist dem Plato auf dem Weg zur Ideenlehre nie gefolgt. Wenn er sie aber im Gegenteil nachdrücklich bekämpft hat, so liegt der Grund hiefür offenbar darin, daß es ihm unmöglich schien, von der genuin sokratischen Anschauungswelt zu der platonischen Doktrin eine Brücke zu schlagen. Damit hat sich Euklid im wesentlichen doch auf die Seite des Antisthenes gestellt. Es war darum keine grundsätzliche Ab- weichung von seiner Linie, wenn seine Schule sich in späterer Zeit zum Teil mit der kynischen verschmolz. Der Führende in diesem Bunde war aber von Anfang an der Kyniker gewesen. Daß Antisthenes die „Ideen" Piatos mit grausamster Ironie, mit bitterbösen Witzen verfolgt hat, ist bekannt. Und es ist an- zunehmen, daß die Skepsis und £ristik der Kyniker im Kampf gegen die Ideenlehre eine beträchtliche Verschärfung erfahren hat. Aber da war sie schon vorher. Und sie hat sich, wie schon in einem früheren Zusammenhang (S. 204 ff.) angedeutet wurde, gerad- linig aus der sokratischen Dialektik entwickelt. Im platonischen „Euthydemos" ist der Protreptik, die in der dialogischen Aus- einandersetzung zu einem positiven Ertrag, einem dogmatischen Wissen führt, eine andere gegenübergestellt, die sich ganz in sophistischen Trug- und Fangschlüssen verliert. Aus der Kari- katur, die Plato hier entworfen hat, erkennen wir unschwer das Bild einer Dialektik, die einen stark rabulistisch-skeptischen Ein- schlag hatte, zuletzt aber doch dem protreptischen Ziele dienen wollte, in den Menschen sittliches Leben zu wecken. Ohne Zweifel hatte zu der Zeit, als Plato den Euthydemos schrieb, die kynische Protreptik, die er treffen will, bereits diesen Charakter. Unter den Händen des Antisthenes hatte das elenktische Element der sokratischen Dialektik, das in dieser allerdings, wie wir sehen Sokrates und die Begriffsphilosophie. 269 werden, eine führende Rolle spielt, eine skeptische Tendenz und eine eristische Zuspitzung erhalten. Gewiß geht auch die Dia- lektik, die Antisthenes als die sokratische betrachtet und betätigt hat, ganz darauf aus, die Mitunterredner zu sittlicher Einkehr zu bringen. Aber das Wissen und das Nichtwissen, das der „über- führende" Dialektiker zunächst in seinen Versuchspersonen be- wirken will, ist ihm zugleich skeptische Überzeugung, Einsicht in die Nichtigkeit des Wissens und der Wissenschaft überhaupt. Die wissenschaftliche Beschäftigung ist ihm ein hauptsächliches Hinder- nis der vollen Hinwendung zur sittlichen Praxis und der vor- behaltslosen Konzentration auf die sittliche Einsicht, die allein dem Menschen das Glück geben kann. Von hier aus erscheint es als eine der wichtigsten Aufgaben der protreptischen Dialektik selbst, die Skepsis auf jede Weise, auch mit eristischen Mitteln, zu be- gründen und durchzuführen. 1 ) Man kann diese Auffassung der sokratischen Dialektik für irrtümlich halten, und auch uns wird sie sich so erweisen; aber die Tatsache, daß der mit Plato befreundete Euklid sich faktisch zu ihr schlug, legt doch die Annahme nahe, daß sie sich nicht allzuweit von der sokratischen Linie entfernt haben werde. So viel jedenfalls läßt sich fast schon als sicher bezeichnen: wenn Antisthenes und Euklid die sokratische Dialektik — im wesent- lichen zusammenstimmend — so aufgefaßt haben, wie sie es getan haben, so kann dieselbe nicht das dogmatische Ziel verfolgt haben, Begriffe, Definitionen zu gewinnen. Es läßt sich nicht leugnen, daß damit nicht bloß der Rück- schluß von der platonischen Ideenlehre auf eine angebliche so- kratische Begriffsphilosophie, sondern bereits auch die historische Grundlage dieser Annahme selbst stark erschüttert ist. Die posi- tiven Zeugnisse aber, die uns zu Gebote stehen, sind wahr- lich nicht geeignet, den wachgewordenen Zweifel zu zerstreuen. Daß das aristotelische Zeugnis unmittelbaren histori- schen Wert überhaupt nicht besitzt, ist uns schon im dritten *) Schon damals wohl hatte Antisthenes aus dem Bekenntnis des Sokrates von seinem Nichtwissen prinzipielle Skepsis und aus dem tatsächlichen Fern- halten des Sokrates von der wissenschaftlichen Arbeit grundsätzliche Verwerfung der Wissenschaft gemacht, Sokrates also zum eigentlichen Skeptiker gestempelt (vgl. oben S. 177). 270 Sokrates und die Philosophie. Kapitel des ersten Teils klar geworden. Die Darstellung des Stagiriten fußt in diesem Stück auf der xenophontischen. So ist für den Kern der ganzen Auffassung, für die Annahme, daß Sokrates der Entdecker des Allgemeinen, des Grundsatzes des begrifflichen Wissens gewesen sei, der Verfasser der Memo- rabilien unser einziger direkter Gewährsmann. In den Memorabilien selbst aber ist es nur eine Stelle, die als Beleg dienen kann. Denn die Bemerkung in der Schutz- schrift (I 1, 16), Sokrates habe sich in seinen Unterredungen stets auf die menschlichen Dinge beschränkt und Untersuchungen dar- über angestellt, was fromm, gottlos, schön, häßlich . . . sei, und überhaupt über all das, worüber man Bescheid wissen müsse, um sittlich edel heißen zu können . . , kann am Ende dahin ge- deutet werden, daß Sokrates sittliche Begriffe zu bestimmen ge- sucht habe; weiter reicht sie in keinem Fall. Aber auch diese Auslegung liest aus der Stelle schon viel zu viel heraus. Xeno- phon will hier die Gegenstände angeben, über die Sokrates mit seinen Freunden verhandelt habe — weiter nichts. 1 ) Dagegen ist an der bekannten Stelle der Gesprächsammlung, Mem. IV 6, 1 (vgl. S. 58, S. 61), ausdrücklich gesagt: „Sokrates war der Meinung, daß diejenigen, die wissen, was jedes der Dinge sei (ji e'y.aoTor ht) t.ujv ovtiov), dies auch den anderen darzulegen imstande seien, während andererseits diejenigen, die dies nicht wissen, natürlicherweise sich selbst und andere täuschen; darum wurde er nicht müde, mit seinen Freunden zu untersuchen, was jedes der Dinge sei {iL ezaozov utj zvjv ovrwr)". 2 ) Daß es dem Sokrates hiebei um regelrechtes „Definieren" zu tun gewesen sei, läßt die unmittelbar folgende Ausführung durchaus nicht im Zweifel. Hier führt der Autor einige typische Beispiele an, die zeigen sollen, wie der Meister bei seinem Definieren {dioQLQto&ai, uQi'Ceadai) verfuhr (vgl. S. 98). Lassen wir zunächst die Motivierung, die Xenophon hier dem l ) Vgl. Mem. I 2, 37 (in dem Gespräch des Sokrates mit Kritias ^und Cha- rikles). -) Hiemit kann noch zusammengenommen werden die demselben Zu- sammenhang angehörende Bemerkung im vorhergehenden Paragraphen (IV 5, 12) über das diukkysoQui, das seinen Namen habe ix xoi ovviovxug xoivy ßovXev- soüai (UuHyovxuq xuxa ytvr\ tu ngayfiaxa. Sokrates und die Begriffsphilosophie. 271 somatischen Suchen nacli Definitionen gibt, aus dem Spiel, so scheint der Wortlaut der Stelle allerdings das vollständig zu be- weisen, was sie beweisen soll. Er scheint dem Forschen nach dem Wesen der Dinge eine Ausdehnung und Bedeutung zu geben, die weit über das ethische Gebiet hinausgreift. Sokrates scheint darnach in der Tat in dem Wissen von dem begrifflichen Wesen der Wirklichkeitsobjekte (rtov ovxwv) eine sichere objektiv gültige Erkenntnis gesehen und gesucht zu haben. Und wenn dem so wäre, so müßte ihm zweifellos die Einsicht in den Sinn und logischen Wert des Allgemeinen in vollem Umfang aufgegan- gen sein. Dürfen wir nun aber wirklich auf die eine Memorabilienstelle einen historischen Schluß von so großer Tragweite gründen? Wer den literarischen Charakter der Memorabilien kennt, wird das un- bedingt leugnen. Allein mit jener Stelle selbst ist es eine eigne Sache. Die Quelle, aus der sie schöpft, aus der also die xeno- phontische Vorstellung von einer sokratischen Begriffsphilosophie stammt, sind, das ist oben gezeigt worden, die dialektischen Dialoge Piatos, der Phaidros, der Sophistes und der Politikos. Zwar wissen wir, daß Xenophon nicht etwa die platonische Dia- lektik selbst und mit ihr die Ideenlehre akzeptiert hat. In der Benutzung seiner Vorlagen pflegt er ja überall eine gewisse Selbständigkeit zu betätigen. Und auch hier hat er sich die platonischen Ausführungen in seiner Weise zurechtgelegt. Das Ergebnis dieser Reflexion auf die Dialektik Piatos aber war — die Legende von der sokratischen Begriffsphilosophie. So hängt alles schließlich an dem Rückschluß aus der plato- nischen Ideenlehre. Er ist das eigentliche Fundament des xeno- phontischen Zeugnisses. Und auch der aristotelische Bericht be- ruht ja, soweit er Xenophon gegenüber selbständig ist, auf einer historisch-kritischen Reflexion auf die Ideenlehre Piatos, auf einer Zurückverlegung derjenigen Bestandteile des von Aristoteles im Prinzip anerkannten platonischen Sokratestypus, die nicht offen- kundig Piatos Eigentum waren, in den Gedankenkreis des ge- schichtlichen Sokrates. Eben dieser Schluß aber ist uns bereits mehr als zweifelhaft geworden. Ist am Ende doch etwas an ihm? Nur schade, daß Plato selbst dem Argument von vornherein jeden Halt entzogen hat. Nicht bloß, daß er in den Schriften 272 Sokrates und die Philosophie. seiner ersten Zeit von einem sokratischen Grundsatz des begriff- lichen Wissens und einer sokratischen Begriffsphilosophie lediglich nichts weiß. 1 ) Er hat überdies, wie uns bekannt ist (S. 141 ff.), im Symposion die Grenzen zwischen seiner Doktrin und den An- schauungen des geschichtlichen Sokrates mit größter Schärfe ge- zogen, und auf die Seite der letzteren fällt auch nicht der ge- ringste Ansatz zur Ideenlehre; das ganze Wirken des Sokrates ist vielmehr so charakterisiert, daß für eine Begriffsphilosophie kein Spielraum bleibt. Mit der geschichtlichen Bezeugung der sokratischen Begriffs- lehre steht es also so: Antisthenes, Euklid und Aristipp weisen uns mit voller Bestimmtheit nach der entgegengesetzten Richtung. Sie sind also entschiedene Gegeninstanzen. Auch in den Überresten der Schriften des Äschines ferner, um dies anzufügen, findet sich von solchen Bestrebungen des Sokrates keine Spur. Von den positiven Zeugen, Aristoteles und Xenophon, fußt jener auf Xen. Mem. IV 6, Xenophon aber schöpft seinen Bericht aus Piatos Phaidros, Sophistes und Politikos. Das xenophontische und das aristotelische Zeugnis gründen sich also, das letztere in der Haupt- sache indirekt, von einer Seite aber doch auch unmittelbar — in- direkt, sofern es auf dem xenophontischen beruht, direkt aber, sofern an ihm doch zugleich eigene Überlegung des Aristoteles ') Zeller verweist demgegenüber auf Plat. Apol. 22 B, Meno 70 A f. (ge- meint ist wohl 71 A f.), Phädr. 262 B, 265 D (II l 4 S. 107, Anm. 1). Aber die Berufung auf Apol. 22 B will Zeller wohl selbst nicht ernst genommen wissen. Und der Meno liegt bereits weit über Piatos sokratische Zeit hinaus. Von den Phädrusstellen ferner ist zu sagen, daß aus ihnen allerdings Xenophon geschöpft hat. Auf den historischen Sokrates aber ließen sie selbst dann keinen Schluß zu, wenn der Phädrus beträchtlich früher angesetzt würde, als dies nach meiner Ansicht möglich ist: zu den sokratischen Dialogen Piatos kann er sicher- lich nicht gerechnet werden. Daß er sich mitten in der Gedankenwelt der Ideen- lehre bewegt, steht ja unbedingt fest. Übrigens werden wir später sehen, daß nach Piatos unverdächtigem Zeugnis Sokrates in der Tat oft genug Fragen wie xi iouv avdQda; xi soxi oüxpQoavvi] u. a. aufgeworfen hat. Aber es wird sich auch zeigen, daß das in keinem Fall die Einleitung eines definitorischen Ver- fahrens war. Am ehesten berührt sich noch in der frühplatonischen Literatur Charmid. 166 D mit der xenophontischen Stelle Mem. IV 6, 1. Hiezu vgl. aber oben S. 58, 2. Der Grundsatz des begrifflichen Wissens oder ein Streben nach begrifflichem Wissen kann aus der Charmidesstelle in keinem Fall herausgelesen werden. Sokrates und die Begriffsphilosophie. 273 einen gewissen Anteil hat — in letzter Linie auf den Rückschluß aus der Ideenlehre. Diesen Schluß aber hat Plato selbst unmög- lich gemacht. Es bleibt am Ende nur die unbestimmte Möglichkeit, daß Xenophon vielleicht doch durch eine wirkliche Reminiszenz veranlaßt war, aus der Dialektik der spätplatonischen Dialoge eine sokratische Begriffsphilosophie zu erschließen. Nun wird freilich nach allem Bisherigen niemand mehr geneigt sein, sich im Ernst an diese Möglichkeit zu halten. Und ihre Wahrscheinlichkeit schrumpft zu einem Minimum zusammen, wenn man sich erinnert, daß diese xenophontische Ausführung nicht allein in den Memorabilien, sondern in der ganzen sokratischen Literatur Xenophons völlig vereinzelt dasteht. Es ist hiernach, wie mir scheint, kaum noch ein Zweifel daran möglich, daß der „Bericht" in Mem. IV 6 eben nur jener platonischen Quelle entnommen ist. Indessen haben wir immerhin noch Anlaß, der Überlieferung von der sokratischen Begriffsphilosophie auch sachlich näher zu treten. Was hat Xenophon in Mem. IV 6 eigentlich sagen wollen? Ist wirklich anzunehmen, er habe dem Sokrates die Voraussetzung unterschieben wollen, daß auch auf dem Gebiet der Naturwirk- lichkeit das Wissen des Allgemeinen 1 ) eine objektiv gültige Er- kenntnis gebe? In der Schutzschrift hatte Xenophon, wie wir eben wieder sahen, ausdrücklich festgestellt, die sokratischen Gespräche haben sich durchweg auf die menschlichen Dinge, d. i. auf Fragen des praktischen, des sittlichen, rechtlichen, gesellschaftlich -staat- lichen Lebens, bezogen. Genau auf dieser Linie bewegen sich aber auch die sämtlichen Unterredungen, die die Gesprächsamm- lung enthält. Nirgends handelt es sich auch nur von ferne um Ergründung des begrifflichen Wesens physischer Dinge oder Tat- sachen. Überall sind die erörterten Themen praktischer Art. Und im Zusammenhang unserer Stelle selbst werden als Beispiele für die ovr.a, die Sokrates definiert hat, angeführt: Frömmigkeit, Gerechtigkeit, Weisheit, Tapferkeit, das Gute, das Schöne u. s. f. — lauter praktische Begriffe. *) Daß das vi ion, um das es sich in Mem. IV 6 handelt, wirklich das begrifflich Allgemeine ist, ergibt sich schon aus der unmittelbar hervorgehenden Begriffsbestimmung der Dialektik (öiccXtyeod-cu = ßov?.et£o9cu Sta?Jyovrag xaxu ysvrj rä ngay/^axa). H. Maier, Sokrates. 18 274 Sokrates und die Philosophie. Genau besehen ist es auch keineswegs der Erkenntniszweck, dem der Sokrates unserer Stelle mit seinem Aufsuchen von De- finitionen dienen will. *) Hier ist nun doch auf die Art zu achten, wie Xenophon diese Bemühungen des Sokrates motiviert: Sokrates sucht mit seinen Freunden das begriffliche Wesen der Dinge zu bestimmen, weil der Besitz von Definitionen die Leute zu ge- wandteren Dialektikern macht. Nicht Ziele des dialektischen Ver- fahrens also sind die Definitionen, sondern lediglich Mittel. Und das Erarbeiten der Definitionen wird demgemäß zunächst als eine Vorarbeit, als eine Vorbereitung auf die dialektischen Unter- redungen eingeführt; weiterhin auch als eine Hilfsuntersuchung, die in den Rahmen der Disputation selbst hineinfällt (IV 6, 13 ff). Nun gehen natürlich in diese Unterredungen, auch wenn sie praktische Themata erörtern, auch Begriffe von eigentlichen ovra ein. Und an und für sich könnte die Memorabilienstelle sich zugleich auf Definitionen solcher Begriffe beziehen. Allein das wäre doch nur nebenbei der Fall. Und auch abgesehen hievon könnte unter den geschilderten Umständen der Stelle wahr- lich nicht ein spekulativer Grundsatz von so ungeheurer Trag- weite, wie der des begrifflichen Wissens, entnommen werden. Indessen ist es ganz sicher, daß Xenophon an solche Begriffe überhaupt nicht gedacht hat. Nicht bloß daß der Sokrates der Memorabilien nirgends auch nur den schüchternsten Ansatz zur Definition von Naturdingen macht. Aus dem Zusammenhang unserer Stelle geht mit vollkommener Deutlichkeit hervor, daß Xenophon nur solche Begriffe im Auge hat, die in den Dispu- tationen eine führende Rolle spielen, genauer solche, von denen aus praktische Fragen entschieden werden können. Dreht sich z. B. die Diskussion darum, ob ein bestimmter Mensch, X, ein guter Bürger sei oder nicht, so läßt sich eine Entscheidung ge- winnen, indem man die Aufgabe, den Begriff eines guten Bürgers x ) Nach IV 5, 12 fällt das öiaUyeo&ai, die dialektische Betätigung, deren wesentlichste Funktion das öia?Jysiv xaxa ykvr\ xa ngäynaxu ist, sogar geradezu in das Gebiet des praktischen Beratschiagens (des ßov^evsaSai); dazu vgl. noch 5, 11 (oxonslv xa xgäxioza xdiv ngayfxaxiov xal . . . diaXsyovxaq xaxa yivij xu fiev äyaöä 7i(joaipelo9ai . . .). Doch möchte ich auf diese Ausführung IV 5, 11 und 12 nicht allzu viel Gewicht legen, da sie augenscheinlich literarisches Flickwerk ist; ich verweise hiefür auf S. 68 f. Sokrates und die Begriffsphilosophie. 275 allgemein bestimmt und die Definition auf den gegenwärtigen Fall anwendet — derart sind aber alle die Begriffe, die in unserer Stelle gemeint sind. Das Ergebnis ist also, daß der Ausdruck uvra hier offenbar in demselben unbestimmten Sinn gebraucht ist, in dem die deutsche Sprache so häufig von „Dingen" redet. 1 ) Und so gewiß es ist, daß Xenophon, wenn er den Sokrates allgemeine Begriffe aufsuchen und definitorisch bestimmen läßt, unter dem Einfluß der späterplatonischen Schriften steht, so sicher ist doch andererseits, daß es nach seiner Auffassung ausschließlich prak- tische Begriffe waren, um die Sokrates sich bemüht hat. Ja, ich glaube, der biedere Verfasser der Memorabilien wäre entsetzt ge- wesen, wenn er hätte ahnen können, daß seine harmlose Be- merkung Anlaß geben würde, seinen Helden zum Begründer einer neuen Spekulation zu machen. Aber selbst wenn wir der Memorabilienstelle die traditionelle, weitergreifende Deutung geben und dazu noch den aristotelischen Notizen vollen historischen Glauben schenken dürften, hätten wir auf dieser Grundlage wirklich ein Recht, Sokrates als den Ent- decker des Allgemeinen in Anspruch zu nehmen? Darüber, daß er selbst nur ethisch-praktische Begriffe aufgesucht habe, lassen Xenophon und Aristoteles auch so nicht den geringsten Zweifel. Diese ethisch-praktischen Begriffe aber sind Begriffe nicht von dem, was wirklich ist, sondern von dem, was sein und geschehen soll. Und die „wissenschaftliche" Arbeit des Sokrates war nicht auf Erkenntnis — auch nicht auf Erkenntnis psychischer oder geschicht- licher Wirklichkeit — gerichtet, sie war durchaus normativ-kri- tische Reflexion auf das Tun und Leben; der Menschen Der Grundsatz des begrifflichen Wissens ist aber seinem Wesen nach ein Erkenntnis- und Realprinzip, sagen wir: ein Postulat, das in der Anwendung auf das Wirkliche allein seine Bedeutung und seine Verifikation erhält. Und von dem Suchen nach allgemeinen Grundsätzen und Normen des Handelns und Lebens ist es noch weit bis zu dem Glauben, daß die Wirklichkeit von „Begriffen" beherrscht werde. Was somit Sokrates zugerechnet werden dürfte, *) Die ovxa in IV 6, 1 sind nichts anderes als die ngdy/xaza in IV 5, 12 und 11. Zu 5, 11 aber s. die vorige Anmerkung. Ähnliche Bedeutung haben die ovxa in der Charmidesstelle 166 D. 18* 276 Sokrates und die Philosophie. wäre im günstigsten Fall die von ihm selbst in keiner Weise be- gründete und durchgeführte Voraussetzuug, daß die Allgemeinbe- griffe, zu denen die natürlichen, an die Sprachbezeichnungen ge- knüpften Begriffsvorstellungen hinleiten, reale Bedeutung haben, und daß sich in ihnen dem, der nach Erkenntnis strebt, ein ein- wandfreies Feld objektiv gültigen Wissens eröffne. Den wesent- lichen Schritt hätten doch erst Plato und Aristoteles getan, die das Prinzip des begrifflichen Wissens in die Wirklichkeitserkennt- nis einführten und den „Begriff" zu dem Wirklichen in Beziehung brachten. Allein wenn Sokrates auch nur von ferne eine Neubegründung der Philosophie in Aussicht genommen, wenn er das Prinzip des begrifflichen Wissens auch nur in seiner allgemeinen Bedeutung erfaßt, sich selbst aber durchaus auf das ethische „Wissen" einge- schränkt hätte, hätte er sich dann wirklich so über das Wissen und seine eigene Stellung zu demselben äußern können, wie er es immer wieder getan hat? Wer den Weg zum Wissen kennt und den ersten Schritt bereits getan hat, müßte der nicht durch ein immer wiederkehrendes Bekenntnis seines Nichtwissens jeden, der von ihm lernen wollte, der bereit wäre, sich von ihm auf den neuen Weg führen zu lassen, mißtrauisch machen, ja abschrecken? Denn daß das Bekenntnis nur ein vorläufiges war und sich nur auf das frühere Scheinwissen bezog, darauf deutet nichts hin. Und wenn Sokrates sich bewußt war, auf einem Gebiet wirkliches Wissen gewinnen zu können und gewonnen zu haben, war dann jenes Bekenntnis nicht törichte Selbstironisierung, ja innere Un- wahrhaftigkeit? Aber ein solcher Hanswurst war Sokrates sicher nicht, daß er ganz ernsthaft den Anspruch, der Wissenschaft neue Bahnen eröffnen zu können, erhoben und zugleich immer aufs neue sein „Nichtwissen" geflissentlich zur Schau getragen hätte. Von hier aus ist nicht einmal die Annahme zu halten, daß So- krates zwar um metaphysische, naturphilosophische, psychologische Fragen sich grundsätzlich nicht gekümmert, also auch von einem spekulativen Prinzip des begrifflichen Wissens in der Tat nichts gewußt, daß er dagegen auf ethischem Gebiet wirkliche Wissen- schaft gesucht und gefunden und so immerhin den Anfang zu der neuen Wissenschaft gemacht habe, die dann von Plato und Aristoteles auf die Wirklichkeitserkenntnis ausgedehnt und all- Sokrates und die Begriffsphilosophie. 277 seitig ausgebaut wurde. Wenn Sokrates wirklich ethische Begriffe gesucht hat, so hat er dies sicher nicht getan, um ethische Wissen- schaft zu gewinnen und zu begründen. Auch Xenophon hat das ja nicht behauptet. Und auch Aristoteles hätte wohl, wenn es ihm nicht darum zu tun gewesen wäre, Sokrates um jeden Preis, natürlich auf Kosten seines Lehrers Plato, zum Begründer der Begriffsphilosophie zu machen, dem sokratischen Suchen nach ethischen Begriffen eine praktische Motivierung gegeben; ihm selbst ist ja die Ethik lediglich eine Technik der Lebensführung, eine Theorie, die Anweisung gibt, wie man leben soll. Ja, wenn Sokrates wirklich ethische Begriffe zielbewußt und methodisch aufgesucht hat, so kann er dies nur getan haben, weil er der Überzeugung war, daß klar bewußte und scharf umrissene Begriffe die besten Leitprinzipien im praktischen Leben seien. Dann aber kann man Sokrates vielleicht als Begründer einer methodisch verfahrenden praktischen Ethik betrachten. Und an- fügen kann man etwa noch, daß seine Bemühungen um ethische Definitionen doch auch tatsächlich den äußeren Anstoß zur Ent- deckung des Allgemeinen und seiner Bedeutung für die Wirk- lichkeitswissenschaft gegeben haben. Allein darin ein Verdienst des Sokrates zu sehen, geht wahrlich nicht an: daß er begabte Schüler gehabt hat, die, durch ihn äußerlich angeregt, später der Wissenschaft ein Reich eroberten, von dem der Lehrer auch nicht die leiseste Ahnung gehabt hatte, ist vielleicht ein Glück, aber keine Leistung. Und es läßt sich nicht verkennen, daß Sokrates' Größe unter diesen Umständen sich bereits auf ein recht beschei- denes Maß reduzieren würde. Aber wir müssen noch weiter gehen: wenn Sokrates wirk- lich seine Hauptaufgabe darin sah, ethische Definitionen zu er- arbeiten, so war der Ertrag seiner Lebensarbeit ein äußerst dürftiger, ja kläglicher. Daß er die ethischen Begriffsbestimmungen, wenn ihm solche gelangen, nicht für sich behielt, sondern mindestens seine Freunde daran teilnehmen ließ, ist selbstverständlich, zumal er ja alle seine Untersuchungen gemeinsam, in dialogischer Er- örterung, betrieb. Macht man sich aber auch wirklich klar, daß dann seine Jünger, zumal Antisthenes und Plato, doch auch einige dieser Definitionen, wenigstens die wichtigsten, festgehal- ten und — namentlich von dem Plato der neunziger Jahre wäre 278 Sokrates und die Philosophie. das sicher zu erwarten gewesen — mitgeteilt haben müßten? Bei Plato indessen finden"wir hievon nichts. So häufig in den frühplato- nischen Dialogen von ethischen Begriffen die Rede ist, eine wirk- liche Definition geben sie uns nirgends. *) Und bei Antisthenes werden wir nach dem, was wir über seine Auffassung der soma- tischen Dialektik wissen, sokratische Definitionen überhaupt nicht suchen. Dagegen haben die beiden bedeutendsten Sokrates- jünger sich ihr Leben lang über die wesentlichen Fragen der sokratischen Lebensanschauung, über diejenigen, die am meisten eine begrifflich-definitorische Klärung gefordert und verdient hätten, gestritten, und ihre Ansichten sind weit auseinandergegangen. Ja, die ganze definitorische Hinterlassenschaft des Sokrates be- stünde — da die in der altperipatetischen Ethikliteratur als so- kratisch überlieferten Definitionen der Tapferkeit auf den plato- nischen „Protagoras" zurückgehen (S. 87 ff.), der seinerseits mit seinen definitorischen Ansätzen keineswegs eine endgültige Be- stimmung dieses Begriffs erreichen will — in den paar armseligen Sätzen, die Xenophon in seiner Gesprächsammlung, und zwar in jenem 6. Kapitel des 4. Buchs, gegeben hat. Hier wird die Frömmigkeit als das Wissen um das, was hinsichtlich der Götter (der Götterverehrung), Gerechtigkeit als das Wissen um das, was hinsichtlich der Menschen gesetzliche Norm ist, definiert und die Weisheit (oocpia) mit dem Wissen (emörrj/Lirj) gleichgesetzt; gut ferner ist für jeden das ihm Nützliche, schön ist das seinem Zweck Entsprechende; die Tapferkeit endlich ist das Wissen um die Art, wie man sich Not und Gefahren gegenüber zweckmäßig zu verhalten hat. Angehängt sind noch Charakteristiken der verschiedenen Verfassungs- formen, des Königtums, der Tyrannis, der Aristokratie, der Pluto- kratie und der Demokratie. Doch sind diese offenbar nur ein äußerlich angefügter Nachtrag: der Autor benutzt die Gelegenheit, um noch etwas zur Sprache zu bringen, was ihm am Herzen liegt. Die eigentlichen Definitionen des Kapitels sind, wie man sofort sieht, nach einem gemeinsamen Rezept mechanisch zurechtgemacht. Und es liegt klar am Tag, daß wir hier eben xenophontische J ) Sehr instruktiv ist die Stelle Laches 192 AB, wo als Muster eine Defini- tion der Geschwindigkeit gegeben wird. Es fällt dem Plato -Sokrates aber nicht ein, nach diesem Muster nun eine Definition der Tapferkeit wirklich zu geben. Sokrates und die Begriffsphilosophie. 279 Geisteserzeugnisse vor uns haben. 1 ) Nicht daß Sätze dieser Art im Munde des Sokrates ganz undenkbar wären! Im Laches, im Charmides, im kleinen Hippias, im Protagoras u. s. f. begegnen uns ähnliche Aussprüche. Aber sie sind hier alles eher als Defi- nitionen. Sie sind, wie sich später zeigen wird, Paradoxa, die dazu dienen, gewisse sittliche Wahrheiten von einer Seite über- raschend zu beleuchten. Im Zusammenhang der xenophontischen Gesprächsammlung selbst sind jene „Definitionen" künstlich prä- parierte Illustrationen zu der Feststellung, daß Sokrates mit seinen Freunden Definitionen aufzusuchen pflegte; und wie diese Notiz über die Tätigkeit des Sokrates in den Sokratika des Xenophon ganz ver- einzelt dasteht, so begegnen uns auch nirgends sonst in der ganzen xenophontischen Literatur, — auch die Ausführungen in Mem. III 9 (und 8) bilden keine Ausnahme 2 ) — sokratische Defi- nitionen. Muß man aber, was nicht zweifelhaft sein kann, auch die Definitionen von Mem. IV 6 dem Sokrates absprechen, so ergibt sich, daß von den Früchten seiner ganzen „definitorischen" Arbeit lediglich nichts sich auch nur auf seine nächsten Schüler vererbt hätte. Aber diese ganze Auffassung beruht auf einer völligen Ver- kennung der wahren Natur der sokratischen Dialektik. Die Ab- sicht, die Sokrates in seinen Gesprächen verfolgte, war ganz und gar nicht, Definitionen zu gewinnen, ethische Begriffe abschließend zu bestimmen. Schon bei Xenophon fällt uns gelegentlich auf — und zwar gerade in dem Gespräch, das in seiner Form die *) Das schließt natürlich nicht aus, daß Xenophon auch hier Vorlagen be- nutzt hat. 2 ) Formell scheinen immerhin die Bemerkungen über den <p&övo<; (III 9, 8) und die oxohj (III 9, 9) — aber auch nur diese — als Definitionen eingeführt zu werden (vgl. axonwv, o n el-q 8, oxonwv xl sl'rj 9). Und möglich ist, daß dieselben mit Rücksicht auf IV 6 dem Zusammenhang eingefügt worden sind. Sehr viel wahrscheinlicher ist indessen, daß sie keinen anderen Charakter haben und haben wollen als die übrigen Ausführungen in III 9 und 8, und die Fragen o zi u%, xl utj liegen wohl auf der Linie von I 1, 16. Daß Xenophon selbst nicht etwa vom Standpunkt von IV 6 aus rückschauend die Erörterungen in III 9 und 8 als Definitionen betrachtet hat, geht schon daraus hervor, daß die Definitionen von IV 6 zu einem wesentlichen Teil Bestimmungen von solchen Begriffen sind, die schon in III 9 und 8 erörtert sind: ao<pla IV 6, 7— III 9, 4 ff. (vgl. Gerechtigkeit IV 6, 5 f. -III 9, 5); Tapferkeit IV 6, 10 f.— III 9, 1 — 3; Gutes IV 6, 8— III 8, 2 f.; Schönes IV 6, 9 — III 8, 4 ff.; Königtum IV 6, 12— III 9, 10 ff. 280 Sokrates und die Philosophie. Natur der sokratischen Dialektik augenscheinlich am treuesten widerspiegelt, in der Unterredung mit Euthydemos über die Ge- rechtigkeit (IV 2, 13 ff.) — , daß die Erörterung zwar so beginnt, als wäre es auf eine Definition abgesehen, daß sie dagegen ganz anders schließt. Nun wird man hier geneigt sein, dies auf die Ungeschicklichkeit des Autors zurückzuführen. Diese Auskunft versagt aber gegenüber Plato. Von diesem sagt einmal Cicero: Piatonis in libris nihil ad- firmatur, et in utramque partem multa disseruntur; de omnibus quaeritur, nihil certe dicitur (Acad. I 46). Daß dies eine Beob- achtung ist, die für sehr viele platonische Dialoge zutrifft, ist ge- wiß. Aber in den späteren Dialogen, d. h. in denjenigen, die über die früheste Periode hinausliegen, ist es doch bloß schriftstellerische Manier. Der Autor hat dafür gesorgt, daß der dogmatische Gehalt, ob derselbe nun positiver oder polemischer Art ist, wenn auch nicht am Schluß, so doch im Verlauf des Dia- logs mit voller Deutlichkeit und Bestimmtheit an den Tag tritt. Ganz anders in den frühplatonischen Gesprächen. Diese endigen nicht bloß ohne positives Ergebnis. Auch in ihrem Verlauf wird man philosophische Gedanken, die als solche, als wirkliche Über- zeugungen des Sokrates oder Plato genommen und festgehalten werden wollen, wenn man sie nicht selbst einträgt, vergeblich suchen. Und wenn je einmal ein positives Ergebnis erreicht scheint, so weiß der Autor unbarmherzig den Wahn zu zerstören. So hat z. B. im kleinen Hippias Sokrates den Hippias dahin ge- bracht, daß er dem Satz, wer absichtlich Unrecht tue, eben der sei der Gute, nicht mehr ausweichen kann. Aber Hippias entgegnet schließlich: ich vermag das schlechterdings nicht einzuräumen, und Sokrates selbst gesteht: ich auch nicht. Damit endigt der Dialog. Am meisten scheint noch der „Protagoras" mit einem endgültigen Resultat abzuschließen. Aber auch er fügt sich tat- sächlich in dieses Bild ein. Häufig werden die Gespräche ganz so eingeleitet, als wenn ethische Begriffe bestimmt werden sollten. So wird im Laches die Frage aufgeworfen und erörtert: was ist Tapferkeit?, im Charmides: was ist Besonnenheit?, im Euthyphron: was ist Frömmigkeit? Aber zu einer Definition kommt es nirgends, und in keinem Fall läßt sich auch nur erraten, wie Sokrates- Plato sich dieselbe gedacht haben mag. Sokrates und die Begriffsphilosophie. 281 Eben diese Eigenart ist es, die jeden, der in den frühplato- nischen Dialogen philosophische Doktrinen sucht, veranlassen muß, über sie den Stab zu brechen und sie, wenn er dem Meister der philosophischen Schriftstellerei Erzeugnisse von solcher „In- haltlosigkeit" nicht zutraut, für unecht zu halten. In Wahrheit verbirgt sich in dem Verfahren eine ernste Absicht und ein tiefer Sinn. Plato läßt seinen Sokrates offenbar darum so verhandeln, weil der wirkliche Sokrates seine Gespräche so geführt hat. Und hier zeigt sich, daß diese frühplatonischen Dialoge nichts anderes sind und sein wollen als Nachbildungen somatischer Unterredungen^ daß die Dialektik, die in ihnen gehandhabt wird, nichts anderes ist als eine Fortführung der sokratischen Dialektik. Und wir können gleich hinzusetzen: wie Plato den Sokrates als Gespräch- führer beibehalten hat auch zu einer Zeit, wo seine eigenen An- schauungen sich längst weit vom wirklichen Sokrates entfernt hatten, so hielt er später die Manier der sokratischen Gespräche fest, auch nachdem seine eigene Dialektik eine ganz andere ge- worden war. Recht verständlich wird die ganze Art der frühplatonischen Dialoge erst, wenn wir die gesamte Tendenz der sokratischen Dialektik und die Rolle, die diese in der Lebensarbeit des So- krates gespielt hat, kennen. Immerhin läßt schon ein rascher Blick auf ihre Anlage erkennen, was sie bezwecken, zumal wenn man sie ins Licht der Apologie (und der Alkibiadesrede des Sym- posions) rückt. Doktrinen irgend welcher Art will der Sokrates der Apologie — und derjenige der Alkibiadesrede stimmt hierin, wie wir wissen, mit diesem durchaus zusammen — jedenfalls nicht vortragen. Sein Ziel ist — wir werden später hierauf ausführlicher zurück- kommen müssen — , die Menschen zur Selbsteinkehr zu bringen, zur Einsicht in die sittliche Armut und Blindheit, in der sie da- hinleben, und zuletzt zum Sehnen und Suchen nach dem sittlichen Ideal. Auf dieser Linie bewegen sich auch die frühplatonischen Dialoge. Ihr Sokrates will die Gesprächspartner vor allem „über- führen" (skey/eiv), die Überzeugung vom sittlichen Nichtwissen in ihnen wecken, sie dadurch aufrütteln und das sittliche Nach- denken in ihnen aufregen. Oft tritt dieser negativ-kritische Zweck 282 Sokrates und die Philosophie. fast ganz in den Vordergrund, und Sokrates scheint den Partner in völliger Ratlosigkeit zu entlassen. Aber auch da ist über dem kritischen Zersetzungswerk nicht vergessen, in die Seele des Wach- werdenden Gedankenkeime zu legen, aus denen sittliche Einsicht emporwachsen konnte. Um das sittliche Denken und Suchen wachzurufen, werden auch offenkundige Paradoxa nicht gescheut; ja diese sind ein besonders beliebtes Mittel, um den Zweifel an gangbaren Anschauungen zu erregen und andererseits die Auf- merksamkeit auf unbeachtete sittliche Wahrheiten zu lenken. „Fertige" Lehren aber, geschweige Definitionen hat dieser Sokrates nie mitgeteilt oder in den Unterredungen zutage gefördert. Faßt man die frühplatonischen Dialoge so, wie sie gefaßt sein wollen, so läßt sich nicht verkennen, daß sie, so leicht und geistreich die Gedankenbewegung verläuft, außerordentlich tief greifen; so gering ihr „philosophischer Gehalt" sein mag, so reich ist doch ihr Inhalt, ihr Gehalt an Gedanken, die sittlich auf- und anregende Wirkung haben mußten. Vielleicht sind sie lehrhafter ausgefallen, als Plato gewollt hat. Schließlich ist in ihnen eben doch an die Stelle des ernsten persönlichen Wirkens ein litera- risches Spiel getreten. Aber daß sie eine ähnliche Wirkung be- absichtigt haben, das verrät Plato selbst an jener denkwürdigen Stelle des Symposions, wo er den Alkibiades die Zauberkraft der sokratischen loyoi, die alles, Mann und Weib, Jung und Alt in ihren Bann ziehen, schildern läßt. Wir haben Grund anzuneh- men, darauf ist oben (vgl. S. 118) schon hingewiesen worden, daß der Autor zu den loyoi, die eine solche Wirkung ausgeübt oder doch, wie wir in Piatos Sinn korrigieren können, beabsichtigt haben, auch seine eigenen Dialoge gezählt hat, wenigstens die- jenigen unter ihnen, die noch in vollem Ernst Nachbildungen der Gespräche des Meisters sein wollten. Und daß dieselben etwas von dieser Art an sich haben, läßt sich ja nicht verkennen. *) Der *) Instruktiv ist in dieser Hinsicht der Schluß des Charmides 175 Äff. Das Gespräch über die aojcpQOovvr] hat nicht bloß ergebnislos, sondern mit einer offenkundigen Absurdität, nämlich mit der Feststellung, daß die awcpgoovvrj etwas Unnützes sei, geschlossen. Sokrates konstatiert dies ausdrücklich und kann sich diese Niederlage nur daraus erklären, daß er selbst eben zu einer ordentlichen Untersuchung nicht tauge, 175 AB. Und er fügt 175E an: rcä-r' ovv näw jxsv olx oi'ofiai ovvwg £%tiv, d)X i/xs <pav?.ov elvai ^rjzrjZTjv, seine Meinung sei viel- Sokrates und die Begriffsphilosophie. 283 Sokrates aber, der in ihnen spricht, ist „Protreptiker", Protreptiker wesentlich in demselben Sinn, in dem die „Apologie" und in dem — Antisthenes in der ersten Zeit seines Wirkens Sokrates Protrep- tiker sein lassen. In der Tat stand in jener frühesten Zeit die platonische So- kratesauffassung der antisthenischen noch sehr nahe (vgl. S. 148). Von der Protreptik, die der Sokrates des ^Euthydemos" der kynischen gegenüberstellt, ist Plato damals noch weit entfernt. Und andererseits hat in der antisthenischen das skeptisch-eristi- sche Element wohl noch nicht die beherrschende Rolle gespielt wie bereits zur Zeit des „Euthydemos". Wir besitzen ein merk- würdiges Dokument, das zeitlich zwar bereits über die Periode der frühplatonischen Dialoge hinausliegt, aber immerhin wohl früher ist als der Euthydemos und uns in jedem Fall einen wert- vollen Rückschluß auf den ursprünglichen Charakter der anti- sthenisch-sokratischen Protreptik erlaubt. Ich meine den Dialog Kleitophon. In ihm ist augenscheinlich auf die Situation Bezug genommen, wie sie damals lag, als Plato eben die entscheidende Wendung vollzogen hatte. Seine Echtheit wird meist bestritten. Und daß seine ganze äußere Art von den übrigen Dialogen Piatos erheblich absticht, ist nicht zu leugnen. Aber man ist ja seit einiger Zeit mit Recht von der Manier, sich einen Normaltypus eines platonischen Dia- logs zurechtzumachen und alles, was nicht zu diesem stimmt, als unecht auszuscheiden, abgekommen. Vielleicht wird dieser mehr, xr\v ye oaxpQoovvriv ßiycc xi dyadvv elvai. Deshalb rät er dem Charmides, an dessen von Kritias gepriesene owcfQoavvrj die Unterredung angeknüpft hatte, ifth fihv XrjQOv rjysloS-at elvai xal dSvvaxov Xöy<p oxiovv ^rjxelv, oeavxov de, oawnsQ ococpQoveoztQoq el, xooovxw elvai xal evöaißoveaxeQov. Charmides aber entgegnet: . . . eyw (xevxoi ov nävv ooi nei&Oßai, xal e[j.avxöv, w ScoxQaxeq, nävv o'ifiai öeiad-ai xijq £7iwdrj<; — in der Szenerie des Gesprächs war davon die Rede gewesen, daß Sokrates für Charmides einen Zauberspruch bereit habe — , xal xo yifjLov ovösv x(o).vti inäöea(rai vno aov oaai q/uepat, s'wg av <fjjg ab Ixavcäq e/eiv. Kritias lobt den Charmides darum: es ist ein Zeichen, daß du wirklich ouxpQOvüq, tjv snäöeiv nagex^q Scux^äxei xal fxr) dnoXlitq xovxov (irjie fitya fii'ixe oßixgöv. Charmides erklärt, er werde dem Sokrates folgen «710 xavxrjol xijq Tj(X6Qaq dgiäßsvoq. Das ist die Wirkung des Gesprächs — sie läßt die Ab- sicht erkennen, die Plato mit dem Dialog verfolgt. Vgl. übrigens auch den Schluß des Laches. 284 Sokrates und die Philosophie. Umschwung bald auch dem Kleitophon zugute kommen; an Stimmen, die ihn retten wollen, fehlt es ja schon längst nicht mehr. Indessen interessiert uns hier die Echtheitsfrage nicht in erster Linie. Daß der Kleitophon aber schon in sehr früher Zeit abgefaßt ist, dafür haben wir ein völlig einwandfreies Zeugnis. Xenophon nimmt in seiner Gesprächsammlung — in 14, 1, der bekannten Stelle, auf die schon im ersten Teil (S. 42 f.) einge- gangen werden mußte — so unzweideutig auf den Kleitophon Bezug, daß jeder Zweifel ausgeschlossen ist. 1 ) Wenn der Autor hier von gewissen Leuten spricht, die, ge- stützt auf das, was einige über Sokrates schreiben und sagen, glauben, Sokrates sei zwar ein vortrefflicher Protreptiker, nicht aber fähig gewesen, die Leute zur Tugend selbst hinzuführen, so denkt er offenkundig an den Helden des „Kleitophon", der im Gespräch mit Sokrates an den sokratischen löyoi eben das rügt, sie seien zwar in protreptischer Hinsicht ausgezeichnet (tiqotqsti- Tiy.corccTovg), vermöchten aber die Menschen nicht weiter zu führen, da sie ihnen nicht darüber Bescheid geben, worin denn eigentlich die Tugend bestehe. Über den Verfasser und die Ten- denz des Kleitophon freilich scheint Xenophon sich nicht klar gewesen zu sein. Wie es scheint, hat er den Dialog buchstäblich ernst genommen, seinen Verfasser also für einen wirklichen Kri- tiker des historischen Sokrates gehalten. Und vermutlich hat er denselben in einem Sophisten gesucht, der eine Zeit lang der Sokratik nahegestanden, dann aber, von deren einseitig protrep- tischer Art unbefriedigt geblieben, sich zu Thrasymachos ge- schlagen hatte. 2 ) Wo wir den Autor wirklich zu suchen haben, läßt sich er- raten. Die „einige" zunächst, auf deren Sokratesauffassung sich die Kritik des angeblichen Thrasymachosschülers stützt, sind die Kyniker, wie ja ohne Zweifel auch Xenophon genau gewußt hat (S. 43). Wir aber sind darüber schon durch den „Euthydemos" ') Natürlich besteht die abstrakte Möglichkeit, daß irgend ein späterer Ge- lehrter den Dialog Kleitophon nach dem Rezept der Xenophonstelle komponiert haben möchte. Aber warum zu einer so künstlichen Hypothese greifen, wenn gegen die natürlichste ein stichhaltiger Einwand nicht besteht? 2 ) Vgl. gleich den Eingang des Dialogs und dazu 410 C: 6ia xavxa rfr} xal tiqoq &Qaovna%ov, oLfjiai, noQevoofxai xal üXXoos onoi divu/xat, anogwv . . . Sokrates und die Begriffsphilosophie. 285 unterrichtet. Aus dem „Euthydemos" wissen wir aber auch, daß Plato und seine Anhänger damals scharfe Gegner des „protrep- tischen" Sokrates der Antisthenesschule waren. Andererseits ist es ganz ausgeschlossen, daß ein wirklicher Schüler des radikal- sten aller Sophisten, des Thrasymachos, der dem ethischen Nihi- lismus, wie aus der Charakteristik der Politeia hervorgeht, wenig- stens in den Augen Piatos zum mindesten nahekam, sich über die protreptische Tätigkeit des Sokrates so anerkennend geäußert hätte, wie der Verfasser des „Kleitophon" es getan hat. Offenbar ist es vielmehr ein sokratischer Gegner der kynischen Sokrates- auffassung, der hier das Wort führt, und seine Absicht ist, nach- zuweisen, wie die Einseitigkeit des kynischen Sokrates, die es zur Aufstellung eines positiven Lebensideals nicht kommen läßt, ganz dazu angetan ist, die Leute zur Abkehr von der sokratischen Sache zu bringen und sie den Sophisten in die Arme zu führen. An einem realen Hintergrund hat es dieser Polemik gewiß nicht gefehlt, zumal es in der weiteren Umgebung des Antisthenes sophistisch geschulte und sophistisch denkende Elemente genug gegeben zu haben scheint. 1 ) Daß wir aber diesen Kritiker der Kynik im platonischen Kreise zu suchen haben, brauche ich wohl nicht ausdrücklich zu sagen. Ob es Plato selbst war oder einer seiner Schüler, will ich nicht entscheiden. Wahrscheinlich ist, daß die Schrift anonym in die Öffentlichkeit trat. So erklärt es sich wohl auch, daß Xenophon, der fern von Athen lebte und darum in die Wirren innerhalb der sokratischen Gemeinde schwerlich einen tieferen Einblick hatte, den Autor am falschen Orte suchte. 2 ) ') Man braucht ja nur an die Schilderung Piatos in dem einige Jahre später geschriebenen Euthydemos und die hier auftretenden sophistischen Kyniker Euthy- demos und Dionysodoros zu erinnern. 2 ) In die Augen fallen die Beziehungen des „Kleitophon" zum ersten Teil der Politeia — schon rein äußerlich, da in der letzteren Thrasymachos und Kleitophon als Unterredner auftreten. Auf diese Beziehungen hat Grote, Plato III 19 ff., auf- merksam gemacht. Er kommt zu dem Schluß, der Kleitophon sei die ursprüng- liche Einleitung zur Politeia gewesen und nachher durch Politeia I ersetzt worden. Die Annahme Grotes ist nun freilich nicht zu halten, daß der Kleitophon nicht zu Piatos Lebzeiten in die Öffentlichkeit getreten sein könne (S. 20 f.): hiegegen spricht ja die uns bekannte Tatsache, daß Xenophon Mem. I 4, 1 auf die Schrift anspielt. Augenscheinlich ist aber, daß der „Kleitophon" und Politeia 1. Teil un- gefähr in dieselbe Zeit weisen. Und mir selbst hat sich immer wieder die Ver- 286 Sokrates und die Philosophie. Das Bemerkenswerte nun ist, daß die Schilderung, die der „Kleitophon" von der antisthenisch-sokratischen Protreptik gibt, zu einem wesentlichen Teil fast wörtlich mit der Charakteristik des sokratischen Wirkens in der platonischen Apologie und in der Alkibiadesrede des Symposions zusammentrifft. Ja, die Über- einstimmung ist so frappant, daß der Verdacht entstehen könnte, der Gegner, gegen den sich der „Kleitophon" richtet, sei der frühplatonische Sokrates. Indessen weist, was weiterhin mit- geteilt wird, bestimmt auf den kynischen hin. 1 ) Das jedoch ist nicht unwahrscheinlich, daß der Verfasser des „Kleitophon" sich der Ähnlichkeit zwischen dem frühplatonischen und dem anti- sthenischen Sokratesbild bewußt gewesen ist, und daß er doch auch andeuten will, wie für Plato das Hinausschreiten über den Rahmen seiner ursprünglichen Sokratesauffassung zur Notwen- digkeit geworden sei. Gewiß herrschte in der Zeit, die hinter dem „Kleitophon" liegt, zwischen Plato und Antisthenes keineswegs eitel Friede (vgl. S. 108f.). Und auch in den Sokratesdarstellungen mutung aufgedrängt, daß der „Kleitophon", der so, wie er uns überkommen ist, ein Fragment darstellt, ursprünglich bestimmt war, als Einleitung zu der Aus- einandersetzung zwischen Sokrates und Thrasymachos zu dienen, daß der Autor ihn dann aber — weil er ihm aus irgend einem Grund nicht mehr genügte — fallen ließ und statt dessen die jetzige Einleitung schrieb. Ich gestehe, daß sich mir auf diese Weise die literarkritischen Bedenken, die sich gegen diesen Torso von Dialog erheben müssen, am besten lösen, verhehle mir aber allerdings nicht, daß, die Hypothese eben nur eine keineswegs einwandfreie Vermutung ist. Die Hauptschwierigkeit liegt in der Form des Kleitophon, und zwar ebensowohl in der technischen Gestalt des Dialogs wie in der Sprache. Das erstere Bedenken fällt indessen zu einem wesentlichen Teil weg, wenn man im Kleitophon eben nur einen ersten Entwurf sieht, der nachher liegen blieb. Was sodann die Sprache anlangt, so zeigt allerdings schon ein rascher Blick auf die Schrift, daß sie in dieser Hinsicht mit den als gleichzeitig vorauszusetzenden Dialogen nicht zu- sammenstimmt. Auch dieser Einwand aber würde an Gewicht erheblich ver- lieren, wenn der Kleitophon als eine nicht formell publizierte und nicht zu redak- tionellem Abschluß gelangte Arbeit zu betrachten wäre. Allein ich lasse ja die Möglichkeit ausdrücklich offen, daß ein anderer als Plato, ein Mann aus seiner Umgebung, "der die platonischen Tendenzen zu den seinigen machte und an Piatos Seite kämpfte, der Verfasser war; und nur darauf kommt es mir an, daß der Dialog in jener Zeit — nicht allzulange nach dem „Gorgias" — geschrieben ist (hiezu s. die übernächste Anm.). J ) Vgl. hiezu auch F. Dümmler, Zur Komposition des platonischen Staats, Kleine Schriften I S. 232, Anm. 1, Joel I S. 481 ff., II S. 407 ff. Sokrates und die Begriffsphilosophie. 287 der beiden Männer kündigte sich ohne Zweifel schon der künftige Gegensatz an. Ganz hat ja wohl dem antisthenischen Sokrates jener Jahre der skeptisch-asketische Zug so wenig gefehlt wie dem platonischen der lehrhaft-dogmatische. Allein noch überwog bei weitem die Übereinstimmung. 1 ) Für uns ist diese darum von großer Bedeutung, weil wir mit Sicherheit sagen können: so wie die beiden Antipoden Plato und Antisthenes in der ersten Zeit nach Sokrates' Tod die soma- tische Tätigkeit übereinstimmend charakterisiert haben, so war sie in Wirklichkeit. Der Sokrates aber, der uns von hier aus ent- gegentritt, ist ganz und gar „Protreptiker", und seine Absicht ist, sittlich-persönlich zu wirken, nicht aber, ethische Begriffe herauszuarbeiten. Diesem Mann des Lebens liegen „philosophisch"- wissenschaftliche Tendenzen so fern wie möglich. Ferne aber liegt ihm vor allem auch alles, was irgendwie als ein Anfang der „Begriffsphilosophie" gedeutet werden könnte. Fragen wird man nur, wie unter diesen Umständen Plato dazu gekommen, und wie es ihm möglich geworden ist, seine *) Mehr als wahrscheinlich ist, daß der „Kleitophon" sich auf eine ganz be- stimmte Schrift des Antisthenes bezieht. Das ergibt eine Vergleichung des Dia- logs mit der 13. Rede Dios von Prusa (Ilegl <pvyrjq). Daß Dio or. XIII 14—28 und der „Kleitophon" sich inhaltlich sehr nahe berühren, ist augenfällig, v. Arnim (Dio von Prusa, S. 256 ff.) hat) aber überzeugend dargetan, daß Dio nicht etwa aus dem Kleitophon geschöpft haben kann, daß seine Vorlage vielmehr „die aus- führliche Fassung jenes sokratischen Protreptikos, der im Kleitophon zu pole- mischem Zweck kurz rekapituliert wird", war. Dieser Xöyoq Swxganxöq, den Dio nach § 14 f. den Leuten vorgetragen haben will — nicht als sein eigenes Werk, sondern mit Nennung dessen, von dem er herrührte — , und den er § 16 ff., natürlich in eigener Stilisierung, rekapituliert, enthält aber eine Anspielung auf die Seeschlacht von Knidos, 394 (Dio § 26), und v. Arnim (S. 258) schließt aus diesem Anachronismus mit Recht, daß der Xöyoq bald nach 394 geschrieben sein muß. v. Arnim hat aber ferner nicht bloß wahrscheinlich gemacht, daß dieser Xöyoq kynischen (antisthenischen) Ursprungs, sondern noch bestimmter, daß er einer der drei antisthenischen IlgoiQsnzixoi war (nach Diog. L. hat Anti- sthenes drei ngor^emixot geschrieben, die in den 2. Band seiner Werke aufge- nommen wurden). Wir können also jedenfalls feststellen: der Kleitophon nimmt auf eine antisthenische Schrift Bezug, die bald nach 394 ver- faßt ist. Ist es dann zu gewagt, wenn wir den Kleitophon selbst, dessen ganze Tendenz in die Zeit kurz nach dem Gorgias weist, um oder bald nach 390 ent- standen sein lassen? 288 Sokrates und die Philosophie. Ideenlehre an den sokratischen Gedankenkreis anzuknüpfen. Und eine analoge Frage legt am Ende doch auch Xenophons „Bericht" nahe. Zwar wissen wir, was dem Verfasser der „Gesprächsamm- lung" den Anstoß gegeben hat, Sokrates als Begriffsphilosophen einzuführen. Aber wir wissen zugleich, daß er den aus der pla- tonischen Quelle entnommenen Stoff in seiner eigenen Weise gestaltet, und daß er den neuen Zug in sein Sokratesbild nur darum aufgenommen hat, weil ihm derselbe mit diesem vereinbar schien. Die Frage ist nun, wie Xenophon sich die sokratische Begriffsphilosophie im Rahmen seiner Sokratesauffassung zurecht- legte, und in welcher Weise sich ihm jene an das anschloß, was er sonst von Sokrates wußte und für sokratische Art hielt. Erinnern wir uns zunächst noch einmal, daß auch bei Xeno- phon die Definitionen nicht Ziele, sondern nur Mittel der Dialektik sind. Ja, nach dem Zusammenhang, in dem die xenophontische Ausführung steht, wären die Definitionen nur in einer Klasse von sokratischen Unterredungen zur Anwendung gekommen, da näm- lich, wo Sokrates mit gegnerischen Behauptungen, die seinen eigenen entgegenstanden, sich auseinandersetzte: in diesen Fällen habe er die Entscheidung durch Zurückführung der speziellen Frage auf allgemeine Gesichtspunkte gesucht (Mem. IV 6, 13f.). Demgegenüber charakterisiert der Autor das Verfahren in den Gesprächen, in denen Sokrates ein Thema selbst durchzuführen suchte, lediglich durch den einen Zug: in ihnen habe Sokrates seinen Weg stets über möglichst allgemein zugestandene Sätze genommen, da er sich hievon für die Untersuchung die größte Sicherheit versprochen habe (Mem. IV 6, 15). Daß diese Schil- derungen an und für sich zu jener protreptischen Dialektik des Sokrates, wie sie auch Xenophon geläufig ist, so wenig er ihre Eigenart und ihre Tendenz verstanden hat, recht wohl passen würden, leuchtet ein. Immerhin aber gibt Xenophon dem Forschen des Sokrates nach dem begrifflichen Wesen (dem ri ton) der Dinge tatsächlich eine weiter reichende Bedeutung. Und ich glaube nicht einmal, daß er zuerst an jene Neigung des Sokrates, den Durchgang durch das Allgemeine zu nehmen, d. h. von Einzel- instanzen aus das Allgemeine aufzusuchen und von da auf gegen- wärtige Fälle zu schließen, dachte, trotzdem das xenophontische Zeugnis unmittelbar hierauf hinzuweisen scheint: denn mindestens Sokrates und die Begriffsphilosophie. 289 ebenso häufig schlägt Sokrates, auch bei Xenophon, den Weg des Analogieschlusses ein, der ihn direkt vom Einzelnen zu anderem Einzelnem führt. In keinem Fall übrigens beruhen die „Induk- tionen" und „Deduktionen", wie Sokrates sie zweifellos wirklich ausgeführt hat, auf prinzipieller Einsicht in die Bedeutung des Allgemeinen. Sie sind tatsächlich geübte Verfahrungsweisen, nichts weiter; und daß auch schon lange vor Sokrates faktisch Induk- tionen und Deduktionen vollzogen worden sind, wird niemand bestreiten. 1 ) Es war wohl eine andere Gepflogenheit der sokratischen Dialektik, an die Xenophon anknüpfte. Wie wir wissen, ging der Sokrates der frühplatonischen Dialoge gerne in seinen Ge- sprächen von Fragen aus, wie: was ist Tugend? was Tapferkeit? was Besonnenheit? was Frömmigkeit? Und ähnlich scheint auch Antisthenes seine „sokratischen" Gespräche angelegt zu haben. Es ist uns überliefert, daß er über Gerechtigkeit und Tapferkeit, über das Gute, über Gesetz oder Staat, über das Schöne und Gerechte, über Freiheit und Knechtschaft, über Ungerechtigkeit und Gottlosigkeit, über das Königtum u. s. f. geschrieben habe. 2 ) Wer nun wollte zweifeln, daß solche Themata namentlich auch in seinen loyoi JZwxyarizoi erörtert wurden? In welcher Weise dies aber geschah, läßt uns der antisthenische Grundsatz erkennen, daß der Anfang der Bildung {naidevoig) die Untersuchung der Wörter sei (Winckelmann S. 33, XII 1). Danach scheint auch der antisthenische Sokrates immer wieder Fragen wie: was bedeutet Gerechtigkeit? was Tapferkeit? u. dgl. aufgeworfen und diskutiert zu haben. So berichtet denn Xenophon schon in der Schutz- schrift (I 1, 16), Sokrates habe in seinen Unterredungen immer- während untersucht, was fromm sei, was gottlos, was schön, was häß- lich u. s. f. (S. 270). Und offenbar ist Sokrates wirklich so vorgegangen. Wenn er die Leute ihres Mangels an sittlicher Einsicht über- führen wollte, so lag es nahe genug, sie zu fragen, was Gerechtig- keit, Frömmigkeit, Tapferkeit sei, was sie unter Besonnenheit, Weis- ') Vgl. hiezu meine Syllogistik des Aristoteles II 2 S. 31, 2 und S. 32 f. — Über die Stellung, die diesen Operationen im Ganzen der sokratischen Dialektik zukam, wird unten, im 3. Teil, genauer gehandelt werden. 2 ) S. den Katalog der antisthenischen Schriften bei Diogenes, Winckelmann S. 13 f. H. Mai er, Sokrates. 19 290 Sokrates und die Philosophie. heit u. s. f. verstünden. Und augenscheinlich waren das Fragen nach Allgemeinbegriffen. Sokrates pflegte sich, wie wir später sehen werden, mit den geltenden sittlichen Anschauungen aus- einanderzusetzen. Das vorhandene sittliche Bewußtsein aber hatte seinen naturgemäßen Ausdruck in allgemeinen Normen gefunden, die sich ihrerseits wieder in Tugendbegriffen niedergeschlagen hatten. Eben diese Begriffe waren darum für Sokrates ein selbst- verständlicher Anknüpfungspunkt. Und die Frage nach dem allge- meinen „Was?", die definitorische Frage, war ihm das Nächst- liegende von der Welt. Eben hieran aber blieb, wie es scheint, Xenophons Aufmerksamkeit, mochte er seine Kenntnis des soma- tischen Verfahrens nun ganz aus seinen literarischen Quellen oder zugleich auch aus eigener Erinnerung geschöpft haben, haften. Indessen hat er ja ursprünglich an eine sokratische Begriffsphilo- sophie nicht von ferne gedacht. Dazu ist es erst spät gekommen: den Übergang von der definitorischen Frage zur sokratischen Begriffsphilosophie haben ihm erst die dialektischen Dialoge Piatos vermittelt. Auch für Plato, für die Entwicklung seiner Ideenlehre ist die definitorische Frage des Sokrates von einer Seite her zum Aus- gangspunkt geworden. Aber freilich sind hiezu, wie sich in einem späteren Zusammenhang zeigen wird, noch andere Motive ge- kommen. Auch diese haben so oder so an den sokratischen Ge- danken- und Interessenkreis anzuknüpfen gesucht. Das Wesent- liche indessen hat Piatos spekulative Genialität getan. Ihm selbst mochte daran liegen, sich und anderen den Faden kenntlich zu machen, der seine „Ideen" mit sokratischen Anschauungen ver- band. Und der Historiker hat ein erhebliches Interesse an der Frage, wie die platonische Begriffsphilosophie aus der Gedanken- welt des Sokrates sich entwickelte. Darüber jedoch kann kein Zweifel sein, daß die Ideenlehre in der Hauptsache ein Neues war, für das im sokratischen Gedankenkreis nun einmal kein völlig hinreichender Erklärungsgrund zu finden ist. Der wirkliche Sokrates hat mit dem, was Xenophon und Plato aus seiner definitorischen Frage gemacht haben, nichts zu tun. Ihm verbirgt sich in der Frage nach dem „Was?" keines- wegs die Voraussetzung, daß im „Allgemeinen" ein Objekt des Wissens liege, und noch weniger der Wunsch, dieses Wissens- Sokrates und die Begriffsphilosophie. 291 objekt sich und anderen zu eigen zu machen. Ihm ist diese Frage eben nur ein elenktisches Mittel, die Menschen zu zwingen, ihm und sich über ihre sittlichen Anschauungen Rechenschaft zu geben. Nun verfolgte ja allerdings die sokratische Elenktik zu- letzt den positiven Zweck, die Menschen auf sittliche Wege zu führen. Sie mußte sie also auch dahin zu bringen suchen, daß sie Richtlinien für ihr Leben und Handeln zu gewinnen strebten. Daß Sokrates es insofern auch auf allgemeine Grundsätze abge- sehen hat, leuchtet ein. Allein einmal war es ihm in seinen Ge- sprächen gewiß ebenso oft darum zu tun, die jeweiligen Partner zu bestimmten sittlichen Entscheidungen in konkreten Fällen anzuregen. Sodann aber setzt das Suchen nach allgemeinen Grundsätzen keineswegs eine Reflexion auf das Wesen des All- gemeinen, geschweige die Einsicht in seine Bedeutung voraus. Sonst könnte man am Ende darauf verfallen, die fabelhaften „sieben Weisen Griechenlands" als die Entdecker des Allgemeinen zu feiern. In keinem Fall hat die Frage nach dem iL iariv mit diesem Allgemeinen etwas zu schaffen. Sie hat lediglich jene nächste elenktische Bedeutung. Auch hierauf werfen wieder gewisse Antisthenika ein will- kommenes Licht. Nach Diogenes Laertius ist Antisthenes der erste gewesen, der das Wesen der Definition erkannt hat: Definition ist, so habe er gelehrt, der Satz, der das, was etwas war oder ist, zum Ausdruck bringt. 1 ) Andererseits ist sicher überliefert, Antisthenes habe das Definieren für unmöglich erklärt. 2 ) Und das Wesen der Definition hat ihm nur als Norm gedient, an der er das tatsächliche Wissen gemessen hat, zuletzt also als Mittel, die Skepsis durchzuführen. Nun gehört diese letztere Ausführung wohl der späteren Zeit an, wo Antisthenes der ausgebildeten Ideenlehre gegenüberstand. Allein nach dem, was wir über seine ganze Manier wissen, läßt sie doch einen Rückschluß auf die ') Diog. L. VI 3 ITpcüxög xe woioaxo ?.6yov, einojv, Xöyoq toxlv 6 xo xi r]v i] toxi drj/.wv. Das Imperfekt r t v ist wohl bereits so aufzufassen wie in der aristotelischen Formel xo xi ijv elvai. Winckelm. S. 37 II und S. 38 IV. 2 ) Aristoteles, Metaph. Z 3. 1043 b 24 ff. (Winckelm. S. 37 III): die Anti- stheniker sagen, vxi ovx toxi xo xi eoxiv bgioao&ai . . ., und hiezu Met. d 29. 1024b 32 ff. (Winckelm. S. 36 I), ferner Plato, Sophist. 251 Äff., Theät. 201 E f. Vgl. meine Syllogistik des Aristoteles II 2 S. 12 f. 19* 292 Sokrates und die Philosophie. frühere Zeit zu. Zu seiner eingehenden und, wie es scheint, frühen Beschäftigung mit der Definition hat sicher auch ihn die definitorische Frage des Sokrates veranlaßt. 1 ) Aber ihm erschien diese eben nur als eine Waffe des elenktischen Verfahrens, als ein Werkzeug, vermeintliche Einsicht zu prüfen und zu zersetzen. Das hat er später ganz in die Sprache seiner eristischen Skepsis übersetzt. Ursprünglich hat wohl auch seine Elenktik vor- wiegend sittlichen Charakter, also die sittliche Überführung der Mitunterredner zum nächsten Zweck gehabt. Und wir können uns den Verlauf, den die elenktischen Erörterungen des Sokrates bei ihm nahmen, recht wohl vorstellen. Von der Frage nach der Bedeutung der Wortbezeichnungen für sittliche Begriffe liebten sie auszugehen. Ihr Maßstab aber war die angemessene Wort- erklärung, d. h. die Definition. Und an diesem Maßstab pflegten die sittlichen Einsichten der Gesprächspartner zu scheitern. Mit dieser Art aber stimmt im Grunde das Bild so ziemlich zusammen, das uns in den frühplatonischen Dialogen entgegentritt. Ja, ge- legentlich wird hier geradezu ein definitorisches Muster aufge- stellt, an dem sich das Überführungsverfahren orientiert (Laches 192 AB), und selbst grundsätzlich wird ein Verfahren solcher Art in den Mittelpunkt der Elenktik gerückt. 2 ) Nun kommt gewiß in den frühplatonischen Logoi das positive Ziel des elenktischen Verfahrens stärker zur Geltung, als dies bei Antisthenes auch in seiner ersten Zeit der Fall war. Daß dieses Ziel aber nicht etwa in einer definitorischen Antwort auf die definitorische Frage be- stand, das zeigt ja die Ergebnislosigkeit, mit der diese Dialoge schließen. Daß die definitorische Frage des Sokrates dem Plato den nächsten äußeren Anstoß zur Ideenlehre geben konnte, verstehen wir immerhin. Ebenso begreifen wir, wie Xenophon ihr schließlich die Legitimation entnehmen konnte, der Anregung, die er in den dialektischen Dialogen Piatos fand, zu folgen und Sokrates zum Begriffsphilosophen zu machen. Und daß in der Tat auf diese a ) Das geht ja schon aus dem Wortlaut des Fragments Winckelm. S 37 II (oben S. 292, 1) hervor. 2 ) Charmid. 166 D. Hier wird zwar nicht die Definitionsformel, wohl aber etwas Ähnliches als Norm der Elenktik hingestellt (ylyvea&at. xarayavec txaoiov Twv övrwv on% sy_ei). Sokrates und die Begriffsphilosophie. 293 Weise die Vorstellung von einer sokratischen Begriffsphilosophie entstanden ist, hat sich uns gezeigt. Aber auch das ist uns klar geworden — und Plato selbst ist uns am Ende hiefür Bürge — , daß die definitorische Frage so, wie sie von dem historischen Sokrates gehandhabt wurde, auch nicht den bescheidensten Ansatz zu dieser Doktrin in sich schloß. Ich meine darum, es wäre an der Zeit, mit der Sage von dem Begriffsphilosophen Sokrates und der hiemit zusammenhängenden aristotelischen Geschichtskon- struktion endgültig zu brechen. Will man Sokrates durchaus zum wissenschaftlichen Philo- sophen machen, so liegt eine andere Auffassung sehr viel näher, die- jenige nämlich, die sein Lebenswerk in einer negativ-kritischen Leistung sieht. Wer die sokratische Dialektik für sich allein be- trachtet, muß in der Tat auf den Gedanken kommen, daß So- krates am Ende nichts anderes war als der große Kritiker, der in die Nebel des Scheinwissens hineinleuchtete, der gewaltige Zer- störer, der mit Aberglauben und Vorurteilen aufräumte — zuletzt doch in der Absicht, die Luft zu reinigen und der Denkfreiheit und der Wahrheit den Weg zu ebnen. Auch das indessen trifft nicht zu. Nicht die intellektuelle Aufklärung heraufzuführen, ist die Aufgabe, die die sokratische Dialektik sich gestellt hat. Sokrates ist weder endgültiger noch vorläufiger Skeptiker. Das allerdings läßt sich nicht leugnen, daß sein dialektisches Gebahren auch scharf eristische Waffengänge nicht verschmähte. Schon darum ist die Auffassung des Anti- sthenes zum mindesten begreiflich, zumal «ie ja im Grunde von Aristipp und weiterhin auch von Euklid geteilt wurde. Daß So- krates indessen der alten Philosophie keineswegs grundsätzlich skeptisch gegenüberstand, so sehr er den zeitgenössischen Ver- tretern derselben ironische Zurückhaltung beweisen mochte, wissen wir. Aber auch seine ganze Stimmung war durchaus keine skep- tische. Sokrates war so wenig der Vater der Skepsis wie der der Begriffsphilosophie. Wenn Antisthenes — und er ist hier zweifellos den übrigen Sokratikern führend vorangegangen — der sokratischen Dialektik eine spezifisch skeptisch-eristische Tendenz unterschob und aus der tatsächlichen Nichtbeschäftigung des So- krates mit der Wissenschaft prinzipielle Verwerfung machte, so 294 Sokrates und die Philosophie. hängt das, wie wir sehen werden, mit der ganzen Richtung des Lebensideals der Kynik zusammen, die für die weltzugewandte, arbeits- und kulturfreudige Seite des sokratischen Evangeliums kein Verständnis hatte. Die Energie, mit der Sokrates unablässig für jeden Berufskreis sachverständiges Wissen forderte, verträgt sich, auch wenn dieses Wissen zunächst als ein praktisches ge- dacht war, ganz und gar nicht mit grundsätzlicher Skepsis. Ja, es mochte dem Sokrates ahnen, daß von hier aus der Wissenschaft sich ein neuer Weg öffnete. Und wenn Plato später an diesem Punkt mit seinen wissenschaftlichen Tendenzen einsetzte, um die Arbeit des Meisters weiterzuführen, so war das an sich gewiß noch kein Abweichen von der sokratischen Linie. Sokrates selbst hat jene Ahnung — wenn sie ihm aufge- gangen war — nicht weiter verfolgt. So wenig ihm das intellek- tuelle Interesse fehlte, die Wissenschaft war ihm der Güter höch- stes nicht. Er hatte vorerst Anderes und Wichtigeres zu tun. Und auch das fiel ihm nicht ein, der werdenden Wissenschaft durch kritische Reinigungsarbeit die Bahn frei zu machen. Ge- wiß bot sich ihm in dem bildungsstolzen Athen häufig genug Anlaß, gelehrter Verbohrtheit und dilettantischem Wissensdünkel entgegenzutreten. Aber das Ziel, das er auch da im Auge hatte, war kein intellektuelles. Und wenn Plato in der Apologie seinen Sokrates jenen bekannten Rundgang bei den Vertretern der ver- schiedenen Berufsklassen Athens antreten läßt, um sie zu prüfen und von ihrem „Nichtwissen" zu überzeugen, so ist dieses Prüfen, wie der weitere Verlauf der Apologie mit der wünschenswertesten Deutlichkeit erkennen läßt, das sittliche aleyyjir, und dessen Zweck war, in den Leuten das Bewußtsein ihrer sittlichen Blind- heit und das Sehnen nach sittlicher Klarheit wachzurufen. *) Kurz, der sokratischen Dialektik lagen theoretisch-skeptische In- tentionen so fern wie möglich. Sie stand, so gewagt gelegentlich ihre Mittel sein mochten, ganz und gar im Dienst von Sokrates' sittlichem Wirken, im Dienst — nicht der intellektuellen, sondern allein der sittlichen Aufklärung. Sagen wir es kurz: die „Philosophie", der Sokrates sein Leben geweiht hat, ist nicht Metaphysik, weder dogmatische noch ') S. hiezu das 4. Kapitel des 3. Teils. Sokrates und die Begriffsphilosophie. 295 skeptische, nicht Logik, nicht Ethik und nicht Rhetorik; sie ist überhaupt nicht Wissenschaft, am wenigsten „populäre". 1 ) Sie ist ein Suchen nach persönlich sittlichem Leben.-) ') Nicht unterlassen möchte ich, noch auf eines aufmerksam zu machen: über die Tatsache, daß Sokrates nichts geschrieben hat, sind die Historiker, die ihn zum „Philosophen" machen und philosophische Doktrinen bei ihm suchen, doch gar zu leicht hinweggegangen. Hätte Sokrates wirklich die Absicht gehabt, wissenschaftliche Lehren zu geben oder auszubreiten oder auch nur zu wissen- schaftlichen Forschungen anzuregen, so wäre der Weg, den er einschlug, der unzweckmäßigste gewesen, den er wählen konnte. Er hätte dann zum mindesten dem mündlichen Wort das schriftliche zur Seite gehen lassen müssen. Auch die Sophisten haben der mündlichen Lehrtätigkeit den Vorzug gegeben. Sie haben es aber dennoch für nötig gehalten, auch literarisch zu wirken — obwohl das auch ihrem „geschäftlichen" Interesse nicht eben zu entsprechen schien. 2 ) Lehrreich ist auch in dieser Hinsicht jenes Äschines -fr. 4 Krauß, wo Sokrates — in Äschines' Dialog Alkibiades — über sein Verhältnis zu Alki- biades sagt: Kai 6t) xal eya> ovökv fid&tjfia sniOTäfjiivoq, o öidä^aq av&Q(i>nov (o<peXr t aain' av, Ofxatq iöftrjV ^vvwv av exsivcp 6id tb tpäv ßfkztw noiijoai. Dritter Teil. Das sokratische Evangelium. Erstes Kapitel. Die Tendenz des sokratischen Wirkens. Wie Sokrates sich sein Philosophieren gedacht hat, zeigt die platonische Apologie aufs deutlichste, und die ursprüngliche Kynik trifft hierin mit ihr durchaus zusammen. Philosophieren ist dem Sokrates sittliche Arbeit an sich und anderen, und Philosophie ist ihm das Ganze seiner sittlichen Dialektik. Wenn Plato später seine Philosophie mit Dialektik gleichgesetzt hat, so ist er hierin dem Meister treu geblieben. Nur daß die sokratische Dialektik ein ganz anderes Ziel verfolgt als nachher die platonische. Jene will sittlich wecken und werben, die Menschen aus dem Schlaf, in dem sie dahinvegetieren, aufrütteln und auf die Höhe eines men- schenwürdigen Lebens erheben. 1 ) l ) Sokrates scheint sein Wirken mit besonderem Nachdruck ein „Philo- sophieren" genannt zu haben. Das geht aus der platonischen Apologie deutlich hervor. Nun bezeichnet die Apologie 23 D als (fikooocpovvzeq die alten (speku- lativen) und die neuen (sophistischen) Philosophen. Mit dem sokratischen cpiko- oocpeZv aber meint sie etwas ganz anderes. 28 E spricht Sokrates davon, es sei ihm bestimmt, (piXoaocpovvzä (xs delv Z,ijv xal i£ezdZ,ovza i/mvzov xal zovq aXXovq. Das xal vor i&zü"C,ovza hat hier, wie sich aus der ganzen vorhergehenden Er- örterung zwingend ergibt, explizierende Bedeutung. Ähnlich 29 D: ov ,u/; navacu- fjtai (piXooocpüv xal tfj.lv nagaxeXsvöfxevöq zt xal ivdeixvvftevoq bza> av ael ivzvyyävo) vfxuJv, Xeyav oläneg e?ü>9a, ozi . . . Dem entspricht, daß in 29 C: fitjxezi iv ravzy zy t,r\Z7\ou öiazglßtiv (irjäs (piXooocpüv das <piXoooq>üv nichts anderes ist als das Siuzq. iv xavx. r. Z^x. Denselben Charakter hat die sokratische Philosophie in der Alkibiadesrede des Symposions, so 218A, wo Alkibiades sich als zt)v xaQÖlav t} xpvxtjv . . . nXrjyelq ze xal öqyßelq imb xwv iv (piXooocplcc Die Tendenz des sokralischen Wirkens. 297 Doch es sind nicht überhaupt die Menschen, an die sie sich wendet. Sokrates' Blick schweift nicht in die Weite. Sein Traum ist nicht Menschheits- und Völkerbeglückung. Nicht ein- mal Griechenland denkt er sich als Schauplatz seines Wirkens. Er beschränkt sich auf Athen. Das aber lag nicht an dem Zufall, daß er nun einmal in Athen zu Hause war, 1 ) auch nicht daran, daß sein Herz an der Heimatstadt hing. Gewiß, es war ihm, darin dürfen wir dem „Kriton" glauben, wohl in Athen, er hätte sich trotz seiner Vorliebe für die dorische Verfassungsform keine an- dere Stadt zur Heimat gewünscht. Ja, er hat Athen nur in den dringendsten Fällen verlassen, aus eigenem Antrieb, wie es scheint, nur ein- oder zweimal. 2 ) Das war aber nicht Schwer- fälligkeit oder Bequemlichkeit. Wenn die Sache, der Sokrates diente, es gefordert hätte, so wäre sicher auch er — das Vorbild der Sophisten lag ja am Wege — in den Städten Griechenlands werbend und wirkend umhergezogen. Es war auch nicht etwa die äußere Notwendigkeit, die ihn, da die Natur seiner Dialektik ?.6ywv (des Sokrates) bezeichnet, und 218B: nävxtq yao xsxonwv/jxaxs x^q <piXoaö(pov naviaq (wo <ptXooo<pov den gleichen Sinn hat wie 218A iv (pih). Genau die gleiche Tendenz aber, die das Philosophieren des platonischen Sokrates hat, hat das Wirken des antisthenischen, wie es im „Kleitophon" gezeichnet ist (vgl. unten S. 302, 1). Ich erinnere daran, daß die kynische Vorlage, auf die der „Kleitophon" Bezug nimmt, höchst wahrscheinlich bald nach 394 geschrieben ist (S. 287, 1). Eine wertvolle Ergänzung bietet hier die Reproduktion des kynisch- sokratischen löyoq bei Dion or. XIII 28: xal ovxw 6ij naQfxäXei (Sokrates) ngoq xo enifxsXela'iai xal nQOoiytiv avxü» xbv vovv xal (fiXoootptiv jjöti yaQ oxi xovio t,tjxovvxeq ovöev aXXo nou\oovoiv 1/ <piXoa ocpr/oo vo i. xo yuo ^rjzt-iv xal <piXou- fiHO&ai oncuq xiq eaxai xaXoq xal aya&oq ovx ciXXo xt tcvai ?/ xo <piXooofptlv. Dio fügt nun allerdings seinerseits an: ov (xtvxot no/.Xüxiq oixutg cuvö/ua&v, aM.a uövov L,rjxelv ixt/.tvev orcwq ccvöoeq dya&ol taovxai. Allein das ist eine Restriktion, die ganz dem Autor zur Last fällt, der damals auf die „Philosophen" und den Philosophentitel sehr schlecht zu sprechen war (vgl. § 11). Um so sicherer ist, daß er jene Ausführung über das <pilooo(pHv in seiner kynischen Vorlage vorfand. ') Darauf scheint Plat. Apol. 30 A hinzudeuten, wo Sokrates bemerkt, seine elenktische Wirksamkeit habe allen gegolten, xal $äv<p xal aoxijj, uällov de xolq aaxolq, ooa> uov eyyvxeQco ioxh ytvei. 2 ) Das eine Mal, als er mit Archelaos eine Reise nach Samos machte (s. oben S. 165 f.); die zweite freiwillige Reise war die Festreise zu den isthmischen Spielen, Kriton 52 B; doch ist diese zweifelhaft, da die betreffende Notiz sich nur in einem Teil der Codices (und bei Athenaeus) findet (vgl. Zeller II l 4 S. 58, 1). 298 Das sokratische Evangelium. doch einmal Beschränkung forderte, hievon abgehalten hätte. Sokrates sah vielmehr seine eigenste Bestimmung eben darin, den Athenern zu dienen. Die Athener erschienen ihm wie ein großes, edles Pferd, das wegen seiner Größe etwas bequem war und des Sporns bedurfte. Und er fühlte sich berufen, sie aufzurütteln (Apol. 30E). Noch am Abend seines Lebens, als er vor Gericht die Wahl zwischen Verbannung oder Tod hatte, war ihm die Ge- legenheit aufgedrängt, sich einen anderen Wirkungskreis zu suchen (Apol. 37 CD). Ihm aber war sein Wirken unzertrennlich mit Athen verbunden. Denn in Athen mit seiner Vollkultur, „der an Weis- heit und Geisteskraft größten und berühmtesten Stadt" (Apol. 29 D, vgl. Prot. 319 B), fand er allein die Vorbedingungen für die Wirk- samkeit verwirklicht, die er im Auge hatte. 1 ) Wir werden Sokrates in der Tat nur dann ganz verstehen, wenn wir sein Bild auf den Hintergrund des perikleischen Zeit- alters stellen. Sein Wirken nämlich bedeutet, das müssen wir uns klar machen, den Höhepunkt der attischen Kultur, und das sokratische Evangelium ist die reifste Frucht dieser Glanzzeit griechischen Geisteslebens. Nie und nirgends sonst hat sich eine solche Fülle von Kultur- elementen zusammengefunden wie in dem perikleischen Athen. Ein kleines Volk war durch eigene Tüchtigkeit zu nie geahnter politischer Macht und zu ungeheurem wirtschaftlichem Wohlstand gelangt und hatte nun mit voller Absichtlichkeit sein inneres Leben zu einem einzigartigen Kunstwerk gestaltet. Kunst und Poesie, Wissenschaft und Technik, Religion und politisches Kraft- gefühl hatten diesem Leben den inneren Gehalt und den ästhetischen Reiz echter, hoher Geisteskultur gegeben. Und an dieser Kultur hatte jeder Einzelne Anteil. Es hat wohl kaum je ein Gemein- wesen gegeben, in dem der Durchschnitt der Bürger auf solcher Höhe der Bildung und der intellektuellen Mündigkeit stand. Aber noch schien der attischen Kultur die Vollendung zu fehlen. Aus dem neuen geistigen Leben war der Sinn für das Recht und ') Natürlich schließt das nicht aus, daß Sokrates zugleich die stille Hoff- nung hatte, von Athen werde, wenn dieses erst gewonnen sei, das Neue, das er der Welt zu bringen hatte, seinen Weg auch in die anderen Teile Griechen- lands finden. — Zu dem im Text Gesagten vgl. Pöhlmann, Sokrates und sein Volk, 1899, S. 72 ff. Die Tendenz des sokratischen Wirkens. 299 den Wert der Individualität erwachsen. Aber noch lag die Per- sönlichkeit ganz im Banne der Vergangenheit und des Her- kommens. Die autoritativen Mächte der Religion und der gesell- schaftlichen Überlieferung hielten das Emporstreben nieder. So war die Stimmung doch noch unfrei und gebrochen. Athen war fromm, und das Volk tat sich etwas zugute auf sein treues Hängen an dem angestammten Glauben, das auch die politischen Wandlungen überdauerte. Die ungläubige Philosophie, die draußen im joni- schen Kulturkreis emporgekommen war, hatte lange Zeit in Athen keinen Eingang gefunden. Und auch als Athen selbst ein Mittel- punkt der philosophischen Spekulation geworden war, war das Denken der Masse hievon unberührt geblieben. Der Einfluß der Philosophie hatte sich auf kleinere Zirkel beschränkt. Und schließ- lich hatte der Führer der athenischen Philosophen, Anaxagoras, des Atheismus angeklagt, die Stadt verlassen müssen. 1 ) Allein auf dem Boden des alten Glaubens selbst waren schwere, quälende Zweifel wach geworden. Und der Glanz der religiösen Feste vermochte darüber so wenig hinwegzutäuschen wie die mystische Weihe, die die Eleusinien dem staatlichen Kulte gaben. Den Denkenden waren die Probleme des Daseins aufs Herz ge- fallen. Das Schicksal des Einzelnen lag im Dunkeln. Der Sinn des Menschenlebens war rätselvoll. Eine unabwendbare Notwen- digkeit schien über demselben zu walten. Und man wußte nicht, welche Rolle die göttlichen Mächte dem Verhängnis gegenüber spielten. In der älteren Generation zwar hatte noch der religiöse Optimismus gesiegt. Noch Aischylos hatte an die Religion der Väter den Glauben an eine sittliche Weltordnung, die Überzeugung, daß Schuld und Schicksal, Glück und sittliche Leistung im ganzen doch im Einklang stünden, anzuknüpfen vermocht. Den Besten und Ernstesten des jüngeren Geschlechts war dieser Trost ver- loren gegangen. Sie vermochten die Zweifel nicht mehr zu lösen. Und es blieb ihnen nur die Resignation. Sophokles' Glaube kennt keinen Ausgleich zwischen sittlichem Empfinden und tatsäch- lichem Weltlauf, zwischen menschlichem Glücksbegehren und dem erbarmungslosen Verhängnis. Für ihn ist die Gottheit die unum- schränkte Herrin des menschlichen Geschicks; sie führt ihre Pläne ') Vgl. Ed. Meyer, Geschichte des Altertums IV S. 85 ff. 300 Das sokratische Evangelium. unbekümmert um des Menschen Wohlergehn durch, und auch das Leiden des Schuldlosen ist ein Werkzeug in ihrer Hand. Der Dichter selbst zwar hat sich auch dieser Tatsache gegenüber die Ruhe des Gemüts bewahrt, und seine Grundstimmung ist heitere Ergebung. Schon beginnt aber inmitten des reichsten geistigen Lebens, inmitten all der Schönheit und des Glanzes ein trost- und hoffnungsloser Pessimismus Platz zu greifen, der durch die nun auch in Athen eindringenden philosophischen Zweifel, durch die spekulative und sophistische Kritik nur noch gesteigert wurde. Aus solchen Stimmungen ist die Lebensanschauung erwachsen, die uns aus den Dramen des Euripides entgegentritt. Wohl zeigte sich in den Mysterienkulten, für die die religiösen Sekten Prose- lyten warben, ein Weg der Rettung aus dieser Not. Und weiche Seelen mochten im ekstatischen Rausch oder in den Tiefen der orphischen Geheimlehre die Erlösung finden. Den nüchtern Denkenden jedoch, die mit kritischem Blick in Welt und Leben schauten, genügte diese Betäubung nicht. Für sie gab es keinen Ausweg. Das Ende aber schien die Verzweiflung zu sein, und — die Kehrseite hievon — der sittlich- religiöse Nihilismus und Libertinismus. 1 ) Aus dieser Situation schöpfte Sokrates seine Lebensaufgabe. So düster freilich erschien ihm die Lage nicht. Das Bewußtsein zumal hat er ganz und gar nicht, in einem entarteten Zeitalter zu leben, und nichts liegt ihm ferner als romantische Sehnsucht nach der guten alten Zeit. Er ist ein moderner Kulturmensch, ein Sohn des perikleischen Athen, und sein eigenstes Wesen ist mit diesem aufs innigste verwachsen. Zwar scheint dieser Silenennatur das ästhetische Element zu fehlen, das den hervorstechendsten Zug der perikleischen Kultur bildet. Aber die um ihn waren, hatten die Empfindung, daß dieser Persönlichkeit wie keiner an- deren das innere Ebenmaß eigen war. Sokrates marschiert an der Spitze der Fortschreitenden. Aber er weiß, was seiner Zeit, was der attischen Kultur fehlte. Und auch das war ihm klar ge- worden, daß dieser Schaden dem neuen geistigen Leben die Fäul- nis bringen konnte und zu bringen bereits begonnen hatte. *) S. E. Rohde, Psyche II S. 224 ff.; Ed. Meyer a. a. O. S. 121 ff.; vgl. ferner die Schilderungen M. Wundts, Geschichte der griechischen Ethik I S. 159ff. S. 216 ff. S. 275 ff. S. 304 ff. Die Tendenz des sokratischen Wirkens. 301 Indessen lag für ihn die Gefahr keineswegs da, wo die tra- ditionelle Auffassung seine Wirksamkeit einsetzen läßt. Wohl hatten, als Sokrates seine sittliche Werbearbeit aufnahm -- das war wohl in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre des 5. Jahr- hunderts 1 ) — , die radikalen Tendenzen bereits sich zu rühren begonnen. Und als er auf der Höhe seines Wirkens stand, waren sie schon mächtig angeschwollen. Nichts aber wäre verfehlter, als im Kampf gegen diese Strömungen die hauptsächliche Auf- gabe zu sehen, die Sokrates sich gestellt hat, und die Stimmung, von der sein Wirken beherrscht war, auf den Wunsch zurückzu- führen, zu retten, was zu retten war. Der leitende Gedanke seines Lebens war nicht etwa die Absicht, nachdem doch einmal der alte Glaube und die alte Sitte ins Wanken geraten, in der allgemeinen Auflösung einen festen Punkt zu gewinnen und der überhand- nehmenden Dekadenz einen Damm entgegenzusetzen. Gewiß hat Sokrates auch mit den großen Nihilisten angebunden, die theoretisch mit dem sittlichen Gesetz fertig waren und praktisch sich an keine Norm als ihren eigenen Willen gebunden glaubten. l ) Daß die sokratische Wirksamkeit in der Gestalt, wie sie uns bekannt ist, über die Mitte der dreißiger Jahre hinaufgereicht habe, ist schon darum nicht anzunehmen, weil Sokr. als jüngerer Mann mit einem derartigen Auftreten riskiert hätte, sofort dem Fluch der Lächerlichkeit zu verfallen. Auch die Schülerschaft des Alkibiades und Kritias, über die uns zudem Authentisches nicht bekannt ist, weist über die zweite Hälfte der dreißiger Jahre nicht hinauf. Wahrscheinlich ist indessen, daß Sokrates selbst schon einige Zeit vorher über seinen künftigen Beruf im ganzen ins Klare gekommen war; und möglich ist, daß er von da ab sein späteres Wirken wenigstens langsam vorbereitete. Allein wir können nicht einmal sicher sagen, daß seine Tätigkeit zu Ende der dreißiger und zu Anfang der zwanziger Jahre schon ganz denselben Charakter hatte wie später. Möglich ist insbesondere, daß er damals noch in einem gewissen Zusammenhang mit den athenischen Naturphilosophen stand (vgl. oben S. 168). Die Erzählung von So- krates' Verhalten im Feldlager bei Potidäa Symp. 220 CD, die augenscheinlich auf eine glaubwürdige Überlieferung zurückgeht, führt uns ins Jahr 432. Nun zweifle ich nicht im geringsten, daß das Insichversunkensein, das hier von Sokrates berichtet ist, ein Zustand konzentrierter sittlicher Selbsteinkehr war: im Zusammenhang der Alkibiadesrede des Symposions ist schwerlich an etwas anderes zu denken. Daß er aber den späteren Standpunkt schon damals ganz erreicht hatte, ist dennoch keineswegs sicher. Immerhin ist anzunehmen, daß er mit seiner sittlichen Wirksamkeit, die er ja auch in der damals schon bestehenden Freundschaft mit Alkibiades betätigte, bereits begonnen hatte, wenn sie sich auch später noch in mancher Hinsicht anders gestaltete. 302 Das sokratische Evangelium. Und wie er Leute vom Schlag des Alkibiades zu fassen wußte, zeigt ja in ergreifender Schilderung die Alkibiadesrede des Sym- posions. Aber das Haupthindernis, das Sokrates bewältigen wollte, und damit sein nächstes und bedeutsamstes Arbeitsfeld lag anderswo. Um es gleich zu sagen: die Menschen, an die sich die sokra- tische Dialektik zu allererst wendet, das sind die braven, tugend- haften, satten Bürger, die sich im Bewußtsein ihrer Vortrefflich- keit sonnen, die zuerst an ihren Geldbeutel denken und darüber hinaus nur noch darum Sorge haben, daß sie unter ihren Mit- menschen etwas gelten und unter ihren Mitbürgern etwas zu sagen haben, die Herdenmenschen, die nichts Höheres kennen als Sitte und Herkommen, die in der blinden Unterwerfung unter ungeprüfte Gebote von Göttern und Menschen ihr Ideal und ihr Glück finden, die Philister, die die alte gute Sitte, den ehr- würdigen Väterglauben beständig im Munde führen und im Namen dieser Autoritäten jede Selbständigkeit, jede geistige Individualität beargwöhnen. Dieses Leben in der Tradition, unter der Autori- tät erscheint Sokrates als ein sittlicher Schlaf, als ein geistiges Vegetieren, aus dem er die Athener emporrütteln will. *) Noch ') S. die Formulierung des Inhalts der sokratischen Protreptik Apol. 29 DE: . . ?Jya>v oiänsQ ei'w&a, bzi w dpioxe uvSqcüv, A&rjvuioq cuV, nö/.ewq zi^q [ie yiozqq xal fvöozt/AwiccTTjq elq ooipiuv xal loyvv, %Qr\iiäz(ov /usv ovx aloyvvtt emuekov- l-ievoq, öncuq ooi sazai u>q nkeioza, xal ööt-rjq xal zifx/jq, (foovijoewq de xal aXrj- 9elaq [daß damit nicht etwa an theoretische Erkenntnis gedacht ist, ergibt sich aus dem ganzen Zusammenhang] xal zrjq xpvyijq, oncoq cuq ßeXzlozrj l'oxai, ovx imuelel ovde (poovzi^siq; und wenn einer für sich das eni/ueXelod-at in Anspruch nimmt, es aber in Wirklichkeit versäumt, oveiöhö, bzi zd nleiazov ä£ia nspl e/.ayioxov noisixat, zu de <pavhoxepa neol nXsiovoq. Und nachher, 30AB sagt Sokrates, er überrede Alt und Jung, fir'jxe owfj.drajv enißf).elo&at ixr}ze yQrj/xdxojv tiqÖzeqov /urjde ovzo) ocpööoa a>q zf t q wvyijq, bncoq <vq aQtozrj eoxai, Xeywv ort ovx ix xQrjfxüzwv dgezr; yiyvezai, ahX' ig dpsTTJq xQtj/taza xal xa. äkka aya&ä rolq dvltoaJTiotq anavza xal idi'q xal drj/joolq. Damit ist zu vergleichen jene Stelle 30 E f., wo Sokrates die Athener mit einem großen, edlen Pferd vergleicht, das aber wegen seiner Größe etwas bequem sei und der Aufmunterung durch den Sporn bedürfe; da führt Sokrates aus, daß er der Stadt als einer gesetzt sei, bq vfj.äq iyeiQ&v xal 7iet9a>v xal oveidl'Qcov eva exaozov ovdev naio/uai z>]v yutoav oXtjv navzayov 7iQ0oxa&iL,<ov, und vielleicht werden die Athener ihn, ärgerlich wotcsq oi vvozüt > ovzeq iyeiQÖfxevoi, . . . töten, und dann: zbv Xoinbv ßiov xaBevdovztq öiazelolze är, ei fxt) ziva d?.Xov b &tbq i\ulv inintuipeiev xrjdöfxevoq vfxüjv. Vgl. ferner Apol. 31 B (. . zb de vfxexeoov nodxzeiv dei, löiu Die Tendenz des sokratisehen Wirkens. 303 sind sie nicht volle Menschen. Noch sind aus ihrer Kultur nicht die letzten Konsequenzen gezogen. Diese zu ziehen, ist das große Ziel, das Sokrates vor Augen hat. Die Individualität, die aus dem Kulturleben hervorzuwachsen im Begriffe steht, soll zu sittlicher, innerlich freier Persönlichkeit werden. Persönlich-sitt- liches Leben ist die Vollendung der neuen Kultur und die höchste Höhe, die der Mensch erreichen kann. Sokrates will den Athenern dieses Leben bringen und damit das Glück. l ) Für die aber, die sich elend fühlten, sollte das die Erlösung sein. Nicht daß Sokrates die Erlösungsbotschaft laut verkündigt hätte! Es war nicht seine Art, den Leuten das Gute anzupreisen, das er ihnen zu bieten hatte. Und es ist bezeichnend, daß diese Note in den frühplatonischen Dialogen nur leise anklingt. 2 ) Die Er- txüora) ngnoiörxa woneg naxega i] a6t~X<pov ngeaßvzsgov, nsl&ovxa tnipeXfi- o&cti aQSTtjc), und Apol. 36 C (. . ^niysigtvv t'xaoxov vpuüv ntlOeiv py ngöxsgov fit'jis xcüv kavzov l ui]6evög inifieXelad-at, tiqIv kavzoü ä7iif/.sXrj&ei?], onwq wg ßtXziozog xal (pgovtfxuixaxog tooizo, fit'ße zcüv xijg nöXetog, nglv ccvzrjg xqg nöXtaog, vd/v zt aX/.cov ovzw xaxä zöv avxöv xgönov hTcifxtXHod'ai), und 39D (. . ovfidi^fLV . . vßlv özi ovx ög&djg L,fjZ£). Nahe berührt sich mit dieser Schilderung der Apologie die Ausführung im Kleitophon. Hier ist 407 AB das sokratische imtifiäv zoig äv&gwnoig, wie es der antisthenischen Vorlage zu ent- nehmen war, so formuliert: not (pigeaBe, iuv9gwnoi, xal ayvonxe ovöev zuJv dfövzwv ngäxxovxeg, dixtvtq ygtjtxüxcjv psv ntgi zr)v nüoav anovöijV sysxe, OTUog v[xlv haxai, xcäv 6s viewv olg xavia nagaöiuoeze, on<vg sniozrjGovzaL '/grja&ai öixuiwg xoixoiq, dfifteixs . . . vgl. 408 C, wo Kleitophon von den sokra- tisehen Xöyoi rühmt: ngoxgenxixwxazovg xe yag rjyovfiai xal w<peXtfxojxäxovg xal axeyvajg ujoneg xa&evöovxag tneytigsiv r/päg. S. ferner 407 E f., wo be- richtet wird, Sokrates pflege zu sagen: den Leib üben, die Seele aber vernach- lässigen, sei ähnlich wie zov (xhv ägt~ovzog dpeXtiv, nzgl 6h xo ag^öfxevov ionovöaxsvat, und: wenn man eine Sache nicht zu gebrauchen verstehe, so solle man sich lieber ihres Gebrauchs enthalten; wenn also einer seine Augen oder Ohren oder den ganzen Körper nicht zu gebrauchen verstehe, für den sei es besser, weder zu sehen noch zu hören . . ., und: öaxig tpvyü /*>) tnloxaxai XQÜ' o&at, xovxct) xb dyeiv r\ovyiav x% tpvyfi xal /urj £,rjv xgetzxov i" tjqv ngüxxovxi xaQ- avxöv ei 6b ztg avayxrj t,f/v sl'r], öovXoj ü/u.eivov ?j bXev&egip öiäyeiv x(ö xoiovxco xöv ßiov taxlv äga . . . Mit den Ausführungen im Kleitophon sind ferner die parallelen in Dion or. XIII § 16 ff. zu vergleichen. l ) Vgl. Apol. 36 D: . . ö phv yag vßäg noiel evöai/xovag doxelv eivai, iyw 6h fivai. -) Es wird sich übrigens im folgenden Kapitel zeigen, daß in der früh- platonischen Literatur auch die Idee der inneren Freiheit, die mit der sokrati- sehen Erlösungstendenz aufs engste zusammenhängt, stark zurücktritt, daß aber 304 Das sokratische Evangelium. lösung selbst, die er bringen wollte, war nicht in der Verzückung eines abnorm gesteigerten Gefühlslebens, nicht im Sturm aufgepeitschter Leidenschaft zu erreichen. Sein Weg war ein rauher, männlicher Weg. Er trat nicht mit Verheißungen und Lockungen an die Men- schen heran. Er war zu allererst „Protreptiker" und „Elenktiker". Er stellte Forderungen, herbe und schwere Forderungen, und er wollte, daß, die auf ihn hörten, sich elend fühlen sollten. Die gemütliche Erregung, die sein Wort in den Herzen hervorrief, war die Depression, die sich an die Selbsteinkehr, an die un- erbittliche Musterung des eigenen Lebens und Wollens knüpfen mußte. Und das Ziel, das er den Wachgewordenen vor Augen stellte, war die sittliche Erlösung. Aber Erlösung war es doch, was er für die, die ihm folgten, bereit hatte. Daß in dem Ideal, das er ihnen nahe brachte, zugleich das Heil lag, das war ja eben sein Evangelium. Und auch das mußte jedem Empfäng- lichen klar werden, daß hier wenn irgendwo die Lösung der schweren Lebensrätsel zu finden war. Diese Erlösungsstimmung durchzieht die ganze Lebensarbeit des Sokrates. Und sie ist auch das Lebenselement der gesamten Sokratik immerhin namentlich die Alkibiadesrede des Symposions in dieser Hinsicht eine bedeutsame Ergänzung liefert. Ähnlich verhält es sich mit der Erlösungstendenz selbst. Auch hier muß man die Alkibiadesrede mit der Apologie zusammen- nehmen, und außerdem darauf achten, daß im Symposion die protreptische Wirk- samkeit des Sokrates mit den platonischen Mysterien in unmittelbare Ver- bindung gebracht ist. Vgl. auch die Ausführung im Protagoras 356 D ff. über die öwrrjQia rov ßlov, die zudem darum interessant ist, weil man hier ganz den Eindruck gewinnt, daß dieser Begriff von Plato als ein fest geprägter auf- genommen wird; es scheint also, daß derselbe in der sokratischen Gemeinde schon vorher verwendet wurde. Zuzugestehen ist indessen, daß Plato der sitt- lichen Erlösung, auf die Sokrates' Wirken hinzielte, auch in seinen eigentlich sokratischen Werken nicht in vollem Umfang gerecht geworden ist. Das hängt zweifellos mit der ganzen Richtung seines Denkens und Empfindens zusammen, wie sie dann später in der Ausgestaltung seiner eigenen Philosophie an den Tag trat. Immerhin ist es ein Beweis für die Wirklichkeitstreue seiner „sokratischen" Schriften, daß in ihnen dieser Zug wenigstens nicht fehlt. Um so nachdrück- licher ist zu betonen — darauf ist oben im Text weiterhin aufmerksam ge- macht — , daß Plato die Erlösungsintention des sokratischen Wirkens selbst, obwohl er ihre besondere sittliche Art auch im Anfang nicht zu voller Geltung bringt, nicht bloß aufs lebhafteste empfunden hat, daß dieselbe vielmehr einer der bedeutsamsten Faktoren in seiner eigenen philosophischen Entwicklung ge- worden ist. Sittliches Leben und Glück. 305 geworden. Plato und Antisthenes trafen, so verschieden sie am Ende die sokratische Erlösungsintention deuteten, und so weit sie schließlich, nach entgegengesetzten Richtungen, von der Bahn des Meisters abkamen, hierin zusammen. Und auch Euklid und Aristipp folgten dieser Spur. Ja, hier liegt der Ausgangspunkt der ganzen sokratischen Bewegung. Zweites Kapitel. Sittliches Leben und Glück. Zwei Gedankenreihen sind besonders geeignet, dieses Ziel des Sokrates, diese Tendenz seines Wirkens ins Licht zu rücken. Es sind das zugleich diejenigen, die von jeher am meisten den Widerspruch herausgefordert haben. Die eine ist die, die in den bekannten Satz: Tugend ein Wissen, ausmündet. Die andere hat ihre Pointe in dem, was man den sokratischen Eudämonismus und Utilitarismus zu nennen pflegt. Die beiden Reihen berühren sich innerlich; insbesondere wird die erste ohne die zweite nicht ver- ständlich. Auch die traditionelle Darstellung hat sie in Verbindung ge- bracht. Gut ist — so wird die Meinung des Sokrates wieder- gegeben — das, was dem Menschen Vorteil bringt und damit sein Glück fördert. Es kommt also offenbar alles darauf an, daß man seinen Vorteil kennt. Wer weiß, was für ihn vorteilhaft ist, wird auch demgemäß handeln, also gut, tugendhaft sein. Danach ist das Wesentliche der Tugend allerdings ein Wissen; und auch der berüchtigte Satz, daß niemand freiwillig (absichtlich) böse handle, fügt sich trefflich diesem Gedankengang ein: niemand wird ja absichtlich seinem Interesse zuwiderhandeln. Die Gleichsetzung des Guten mit dem Nützlichen ist der angefochtenste Punkt der sokratischen „Ethik", zumal da das Nütz- liche selbst mit dem für das Glück des Individuums Förderlichen und Dienlichen identifiziert ist. Im Hinblick auf diese „Begrün- dung" des sittlichen Prinzips spricht man von einem sokratischen Eudämonismus, Utilitarismus, Relativismus und Individualismus, H. Mai er, Sokrates. 20 306 Das sokratische Evangelium. und man pflegt die „philosophische Leistung" des Sokrates ge- rade von dieser Seite recht niedrig zu bewerten. Liest man die Darstellung der Memorabilien, so wird man nicht allein diese Auffassung begreifen, man wird auch der ab- schätzigen Kritik völlig zustimmen. Die Art, wie hier der Nütz- lichkeits- und Glückseligkeitsstandpunkt durchgeführt ist, wirkt geradezu abstoßend. Krasser hat selbst ein Mandeville, ein Boling- broke, ein Chesterfield nicht den Egoismus als das Prinzip des sittlichen Lebens proklamiert. Dabei fehlt den egoistischen Er- wägungen des xenophontischen Sokrates ganz der große Zug und die Kraft, die sonst starken Egoistennaturen zwar nicht unsere Sympathie, wohl aber eine gewisse achtungsvolle Scheu sichern. Es ist der dürftige, bornierte Gesichtskreis des selbstsüchtigen und selbstzufriedenen Philisters. Gewiß, wir sollen enthaltsam, mäßig, bedürfnislos, hart gegen uns selbst, tapfer, weise sein, aber nur, weil diese Eigenschaften uns die mannigfachsten Vor- teile im Leben bringen. Gewiß, die Knabenliebe ist verwerflich — aber doch nur, weil sie den Liebenden ganz zum Sklaven des Geliebten macht. Blutschande und Ehe zwischen Deszendenten und Aszendenten sind verboten — aber doch nur, weil bei einem so großen Altersunterschied, wie er zwischen Eltern und Kindern in der Regel besteht, gesunde und kräftige Sprößlinge nicht zu er- warten sind. So sollen wir Freunde suchen und uns mit unseren Geschwistern vertragen, weil Freunde und liebende Brüder für uns der nützlichste Besitz sind. Wir sollen dem Staat, dem Vater- land dienen und den Gesetzen gehorchen, weil, wenn das Ganze gedeiht, auch die Einzelnen am besten fahren. l ) Der Maßstab aber, nach dem sich in allen Fällen die Nützlichkeit bestimmt, ist die Glückseligkeit des Individuums. 2 ) Und zwar wird diese von dem Sokrates der Memorabilien, so stark seine Abneigung gegen den Hedonismus Aristipps ist und so sehr er gelegentlich mit dem rigorosen Lebensideal der Kynik liebäugelt, schließlich doch *) Diese Blütenlese ließe sich noch beträchtlich erweitern. S. die Belege bei E. Zeller II l 4 S. 152 f. und namentlich bei M. Heinze, Der Eudämonismus in der griechischen Philosophie, Abhandlungen der philol.-hist. Cl. der Leipziger Gesellsch. der Wissensch. VIII 1883, S. 732 ff. 2 ) Vgl. hiezu die von M. Heinze a. a. O. S. 741 gesammelten Stellen Mem. IV 2,34; 1,2; II 1,17; III 2,2. 4; I 4,11; III 2,1; II 1,33. Sittliches Leben und Glück. 307 wesentlich in hedonischem Sinn gefaßt. Mit breiter Behaglich- keit malt er die Freuden aus, die die Tugend ihren Dienern zu schaffen vermag. Die Enkratie z. B. empfiehlt sich besonders auch darum, weil sie dem Menschen die allergrößten Genüsse bereitet. Die Befriedigung gerade der natürlichsten und kon- stantesten Bedürfnisse, wie Essen, Trinken, Schlafen, Liebesgenuß, macht dem Enthaltsamen, der wartet, bis sich das Verlangen nach diesen Dingen einstellt, doch ein viel größeres Vergnü- gen als dem Unmäßigen, der nie einen rechten Appetit ver- spürt. Auch sonst bemüht sich dieser Sokrates immer wieder, zu zeigen, daß das tugendhafte Leben und Handeln dem Menschen weit höhere Annehmlichkeiten gewährt, als er, wenn er seinen Begierden fröhnt, je zu erreichen vermag. Und auch darauf weist er hin, daß die höchste Lust, die es für den Menschen geben könne, diejenige sei, die ihm aus dem Bewußtsein, besser zu werden, entspringe. 1 ) Kurz, es sieht ganz so aus, als wäre für den Sokrates der Memorabilien das letzte Ziel alles mensch- lichen Wollens und Handelns der Erwerb möglichst dauerhafter und intensiver Freuden. Und selbst da, wo man den Eindruck gewinnen kann, daß der Tugend Eigenwert zugeschrieben werden soll, scheint das Tugendstreben hedonistisch motiviert zu sein. Kann es uns wundern, daß es für diesen Sokrates kein absolut Gutes und Schönes gibt, daß nach seiner Definition Schönheit so viel wie Zweckmäßigkeit bedeutet und gut für jeden das ist, was ihm nützt? 2 ) Offenbar besteht zwischen dieser Lebensanschauung und der- ') Hiezu s. besonders Mem. IV 5, 8— 11 (. . tj d' iyxgäzeia nävzwv ixäXiaza ?}öeo9ai noiel — t] d' iyxgäzeia fiövrj . . xal rjöeo&ai noiel ä^iwq ßv^fxrjq inl zolq eiQTjfxevotq, 9. ä<p wv — nämlich von den im Vorhergehenden aufgezählten guten Verrichtungen — ov ßovov a><peXeiai, äXXä xal r/öoval /xeyiazai ylyvovzai 10), II 1,19; II 1,30 ff. (die zweite Rede der Arete), 16, 5 ff. (in dem ersten Ge- spräch mit Antiphon), IV 8, 6 u. ö. 2 ) Mem. III 8,3: . . ei' y igcazäq fie, ei' zi äya&bv oidcc o fxrjöevbq äya&öv ioziv, ovz olöa . . ovze öeofxai. III 8, 5 . . xaXä ze xäya&ä vofxl'Qexat, ngbq aneg äv evygrjaza %. III 8,7: nävza yäg äya&ä fiev xal xaXä Sozi ngbq ä äv ev e/tf, xaxd öe xal aloygä ngbq a äv xaxiöq. IV 6,8: v AXXo 6 av zc (palrjq äyaQ-bv elvai rj zo wipeXifAOV ; ovx eycoy, h<prj. To äga uxpeXi/xov ayaS-öv eotiv ozü) äv uxpeXifiov ■%; Aoxel /uoi, h'<prj. IV 6, 9: ... Tb ygr/aifiov äga xaXöv Sozi ngbq o äv % yg^aifxov; "E/uoiye öoxei, e<prj. 20* 308 Das sokratische Evangelium. jenigen, die die skrupellosesten unter den Libertinisten der jüngeren Generation, wie Kritias und Alkibiades, in die Praxis umsetzten, kein irgend nennenswerter Unterschied, wenn man nicht darin einen finden will, daß diese praktischen Egoisten in der Regel geistreicher und interessanter waren als der langweilige Glücks- und Nützlichkeitsapostel der Memorabilien. Eine schlechte Rettung ist es jedenfalls, wenn man so unterscheiden will: Sokrates habe das Gute in dem nach wissenschaftlich erarbeitetem und darum objektiv gültigem Urteil für das „Glück" des Individuums Förder- lichen gesehen, während jene nihilistischen Praktiker die indi- viduelle Meinung des handelnden Subjekts über das ihm Nütz- liche zum letzten Prinzip und Maßstab für das sittliche Verhalten gemacht hätten. Zuletzt ist auch dies doch nur eine Verschieden- heit der Lebensklugheit, nicht der sittlichen Lebensanschauung. Und wer der Klügere war, Sokrates oder Kritias, war erst noch die Frage. Zum mindesten konnte es zweifelhaft sein, ob es einen für alle Individuen gleichen Glücks- und Zweckmäßigkeits- maßstab wirklich gebe. So drängt sich unabweisbar die Frage auf: war es denn der Mühe wert, für ein solches Ideal zu leben und zu sterben? Wäre es für diesen Sokrates nicht zweckmäßiger, klüger, also besser gewesen, seinem Handwerk nachzugehen und für Weib und Kind zu sorgen oder wenigstens am Abend seines Lebens, als er in dem Konflikt mit den öffentlichen Gewalten unterlegen war, durch Flucht aus dem Gefängnis sich das Leben und den Seinen den Ernährer zu erhalten? Einen ganz anderen Eindruck bekommen wir aus Piatos sokratischen Schriften. Der Sokrates der Apologie spricht feier- lich aus: nicht darauf komme es beim Handeln an, ob die Hand- lung Leben oder Tod bringe, sondern darauf allein, ob sie ge- recht oder ungerecht sei. *) Er erklärt es für seine heilige Auf- gabe, die Menschen dahin zu bringen, daß sie vor allem andern, vor Geld und Gut, vor Ansehen und Ruhm sittliche Einsicht und Wahrheit suchen, daß sie sittlich wach werden und sich um ihre Seele sorgen, auf daß diese so gut als irgend möglich *) Apol. Plat. 28 B: ov xaXcög Xiyeiq . . ei oi'st öetv xivSwov vnoXoyi&o&ai zov £rjv 7} xeS-vccvcci avöga, oxov n xul oßixQov 6(peXöq iaziv, aAA ovx sxüvo fjiövov axonelv, ozav 7tQdzr%, tiotsqcc ölxaia ij adixa n^ärrsi, xal dvÖQog aya- 9-ov egya ?} xccxov. Hiezu vgl. D Schluß. Sittliches Leben und Glück. 309 werde. 1 ) Der Sokrates des Kriton ferner stellt fest, nicht das Leben sei der Güter höchstes, sondern das sittlich gute Leben, und er schärft nachdrücklich ein, daß Unrechttun unter allen Umständen böse und verwerflich, daß es darum auch unstatthaft sei, Unrecht mit Unrecht zu vergelten. 2 ) Und es ist nur ein Widerhall dieser Denkweise, wenn Plato im „Gorgias" den Meister mit voller Be- stimmtheit den Satz vertreten läßt: Unrecht leiden sei besser als Unrecht tun. ;{ ) Hiezu kommt noch die Schilderung, die Plato in der Alkibiadesrede des Symposions von dem Eindruck gibt, den die sokratischen Gespräche in empfänglichen Seelen hervor- gerufen haben. Hier erzählt Alkibiades, wie von des Sokrates Worten Jung und Alt, Mann und Weib erschüttert und gebannt werde, wie er selbst von ihnen im Innersten seiner Seele ge- troffen und verwundet worden sei, so daß ihm das Leben, das er führte, nicht mehr des Lebens wert erschien, wie er von dem unvergleichlichen Mann in eine innere Aufregung gestürzt worden sei, die ihn nimmer losließ und ihn dahin brachte, daß er sich vor Sokrates schämte. Das alles will zu jener platten Utilitäts- und Glücksmoral ganz und gar nicht stimmen. 1 ) Apol. Plat. 29 DE, 30 AB, 30Ef., 31 B, 36 C (die Stellen sind S. 302,1 angeführt), ferner 29 B: xo 6k döixeiv xal dneid-elv xto ßeXxiovi, xal &eä) xal dv9g<öna>, bxi xaxbv xal aloxQÖv ioviv olöa, und 32 D: . . epol ftavdxov fthv fieXei . . ov<T bxiovv, xov 6e fj.tj6hv döixov ftqö' dvöaiov ioyät,eo9-ai, xovxov 6e xo näv fxeXei. Vgl. die S. 302, 1 angeführten Stellen aus dem Kleitophon, ferner Laches 186A (. . . KQo9v[xovfj.evoi avxolv b xi dpioxag yevto&ai xaq xpvydg). 2 ) Krit. 48B: . . . ov xo t,rjv tisqc nXsloxov noiyxeov, dXXa xo ev t,rjv (gänzlich verfehlt ist es, wenn M. Heinze a. a. O. S. 754 das interpretiert: wohl, d. h. mit angenehmen Gefühlen leben) . . . Tö dh sv xal xakwg xal dixalwq oxc xavxov iaxiv, ßsvst rj ov fisvei; Msvet (hiezu vgl. die verwandte Stelle Gorgias 512 E). Kriton 49 A: Ovöevl xqotho cpa/nsv kxovxag äöixrjxsov eivat . .; . . ovöa- fxwg xö ye ddixHV ovxs dyaQ-ov ovxe xaXöv . .,- ... B: . . Ovdh ädixov/usvov äga dvxaöixelv, (og oi noXXol ol'ovzai, inetörj ye ovöafxiüg Sei döixelv. C: . . Ovxe dpa dvxaöixelv Sei ovxe xaxwg noielv ovSeva av&0a>7iwv, ovS' dv bxiovv ndo~x% vtc' avxwv. 3 ) Gorg. 473 A: elnov eyiö nov iv xolg hfingoodev xo dötxelv xov dSixel- o&ai xaxiov elvai. 474 B: iyio ydo örj ol/xai xal i-fth xal oh xal xovq dXXovg äv&o(ij7tovg xo dSixelv xov dSixelo&ai xdxiov rjyelo&ai xal xo [irj SiSövai Slxrjv xov SiSövai. Gorg. 469B: . . fieyioxov xuJv xaxiöv xvy/ävei ov xo dSixelv, vgl. 479 CD. 310 Das sokratische Evangelium. Und doch ist die Lösung nicht die, daß wir hier eben wieder einmal Plato gegen Xenophon ausspielen müssen. Auch Plato läßt darüber keinen Zweifel, daß Sokrates mit seinem „Philoso- phieren" den Menschen das Glück bringen wollte. 1 ) Er selbst hat noch als er auf der Höhe£seines Idealismus stand daran als an etwas Selbstverständlichem festgehalten, daß das natürliche Streben des Menschen sich auf Glück richte, und daß auch das sittliche Wollen zuletzt kein anderes Ziel habe. 2 ) Und der rigo- roseste von allen sokratischen Ethikern, Antisthenes, war hierin mit seinem großen Gegner einig. 3 ) Daß Sokrates also das sitt- liche Ziel in menschlichem Glück, und zwar im Glück des Indi- viduums, sah, ist mit Sicherheit anzunehmen. Ja, selbst dem hedonistischen Element des Glücksbegriffs scheint er keineswegs geringe Bedeutung beigemessen zu haben. Im platonischen „Protagoras" setzt er das Gute geradezu mit dem Angenehmen gleich. 4 ) Nun darf man, wie früher schon be- tont worden ist, aus solchen Äußerungen, zumal wenn sie wie hier die dialektische Funktion haben, zu anderen Positionen, die Sokrates gewinnen will, überzuleiten, keine dogmatischen Lehr- sätze herauslesen. So eristisch indessen argumentiert der Sokra- tes Piatos nirgends, daß nicht auch derartige Behauptungen wenigstens ein Körnlein Wahrheit enthalten wollten. Die Ge- spräche des Sokrates wollten ja nicht bloß durch ihr schließliches Ergebnis, sondern auch in ihrem ganzen Verlauf fruchtbare Ge- dankenkeime, die das sittliche Nachdenken wecken sollten, in die *) Apol. 36 D (oben S. 303,1), und hiezu vergleiche man besonders Char- mides 173 D ff. 2 ) Hiezu verweise ich vorerst auf Zeller II l 4 , S. 868 ff. 3 ) Vgl. Diog. L. VI 1 1, wo von Antisthenes die These berichtet ist, avxdgxrj xr/v agsxr)v eivai nooq evdai/uovlav. 4 ) S. die bekannte Erörterung Protag. 353 C ff. (354 BC: Tarnet de dyad-d soti öi ä'AAo xi, rj öxi slq r]6ovdq dnoxekevxä xal XvndJv dnaM.aydq xe xal dno- XQonäq; ?] exsxe xi dklo xekoq Xeyeiv, siq o dnoßkexpavxeq avxd dyad-d xakelxe, akk' rjSoväq xe xal kvnaq', . . Ovxoiv xr)v fisv r t 6ovrjV diwxexe <i>q dyad-bv ov, xr)v de Ivmjv cpevyexe a>q xaxöv; . . . Tovx' doa rjyeto&' elvai xaxöv, x?)v Xvtitjv, xal dyaSov xr\v r)dovtjv . . 357 A: . . ydovr/q xe xal Xvnrjq £v OQ&irj xiß aigeoec £q>dvri rjfxlv r) acoxTjQia xov ßlov ovaa . . 358 A: ' O/uoXoyelxe dpa . . xo fxev t)6v dyad-ov eivai, xo 6e aviagov xaxov . .). Vgl. 351 B: To fihv doa qdäwq t,rjv dya&ov, xo ö'drjdüq xaxöv. Sittliches Leben und Glück. 311 Seelen der Hörer legten. Daß aber Plato hier wirklich im Sinn des Meisters redet, daran ist um so weniger zu zweifeln, als seinem eigenen Denken die Gleichsetzung von Gut und Angenehm gewiß ferner lag als dem des Sokrates. Und läßt sich die Tatsache, daß Aristipp, der Kyrenaiker, seine hedonistische Lebensanschauung an Sokrates anknüpfte — daß er das wollte, daß er auch das Lustprinzip mit dem sokratischen Evangelium in Verbindung brachte, läßt sich durchaus nicht bezweifeln — nicht am besten dann verstehen, wenn dem historischen Sokrates wirklich auch he- donistische Gedankengänge nicht fremd waren? Am Ende hat ja auch Antisthenes, so unsympathisch ihm die „Lust" war, das Lustmoment aus seinem Glücksbegriff nicht ganz auszu- schalten gewagt. 1 ) Und Plato selbst hat in seiner späteren Zeit die 17JW77 in sein höchstes Gut aufgenommen, obwohl er nicht im stände war, ihre Stellung recht zu fassen. Aus alledem folgt nun zwar nicht, daß Sokrates Hedonist, wohl aber, daß er aus dem Glück, in dem er das Ziel des sittlichen Strebens erblickte, auch das Element der Lust nicht entfernt hat, daß seine Lebens- anschauung auch nach dieser Seite unzweideutiger Eudämonis- mus war. Und diesem Eudämonismus fehlt auch nicht der utilitari- stische Einschlag. Im Protagoras und ebenso im Charmides ist das Gute unbefangen mit dem Nützlichen identifiziert. 2 ) Und wieder weisen diese Äußerungen unstreitig darauf hin, daß So- krates in seinen Unterredungen wirklich solche Gedanken nicht bloß seinen Hörern zu ernster Erwägung gegeben, daß er in ihnen vielmehr auch von einer Seite her die Wahrheit gesehen hat. Eine interessante Bestätigung hiefür bietet uns der Kleito- phon. Hier wird ausgeführt, daß von der Schule der Kyniker eine befriedigende Antwort auf die Frage, worin denn das Gute ») Athen. XII p. 513 a (Winckelmann, S. 52 XI): UvxioShriq 6h x^v fjdovqv aya&bv tlvai ipäoxwv Tigoat&rjxe xqv ayLtxafXkXrixov. Ferner Stobaeus, Floril. 29, 65 : ijöovaq xuq fjsxa xovq növovq öicoxxsov, d^X' ov#2 xdq tiqu töJv növcav. 2 ) Prot. 333 D: ccp' ovv . . xavx' eoxiv äya&d, ä ioxiv (acpefoftu xolq av&Qoo- noiq; und hiezu vgl. 353 C ff., 358 BC. Charmides in dem schon S. 310, 1 zitierten Zusammenhang 173 D ff., wo das w(psXi/j.ov zudem bestimmt als xo ei tcqÜxxslv xe xal evöaifzovsh' noiovv charakterisiert ist. Vgl. Meno 87 E ff., Gorg. 477 A, 499 D, Politeia I 354 A u. ö. 312 Das sokratische Evangelium. (das Gerechte) bestehe, nicht zu erhalten sei; von den Schülern des Antisthenes antworten die einen: das Zuträgliche, die anderen das Pflichtmäßige, die dritten das Nützliche, wieder andere das Ersprießliche. l ) Hieraus geht so viel hervor, daß auch dem An- tisthenes eine utilitaristische Bestimmung des Guten geläufig war, und gewiß wollte er auch hierin durchaus den Spuren des Meisters folgen. Wenn also Xenophon den Sokrates in eudämonistischem und utilitaristischem Sinn reden läßt, so ist das sicher noch keine Abweichung von der sokratischen Linie. Nur der Verdacht bleibt bestehen, daß er sich in den Einzelausführungen, die die Denk- weise seines Helden illustrieren sollen, nicht selten vergriffen und dadurch allerdings die sokratischen Gedanken entstellt habe. Daß aber Sokrates wirklich Eudämonist und Utilitarist war, steht fest. Nichts indessen wäre verkehrter, als wenn man darum jener ersten Darstellung Pia tos, wonach das Gute für Sokrates ein unbedingt verpflichtendes Ideal war, die geschichtliche Glaub- würdigkeit absprechen wollte. Auch darin teilt Antisthenes die Auffassung Piatos. Wenigstens ist ihm selbst das sittliche Leben ein absolutes Ideal und ein unbedingter Wert. Und sicher weiß er sich auch hierin mit seinem Meister in Übereinstimmung. Ähnliche Rückschlüsse legt der Standpunkt Euklids und seiner Schüler nahe, denen das Gute geradezu eine kosmische oder vielmehr die kosmische Realität ist. Vor allem aber finden sich bei Xenophon selbst, dem Hauptzeugen für den sokratischen Eudämonismus und Utilitarismus, Stellen, die jenen platonischen Äußerungen mindestens nahestehen und fast so idealistisch klingen wie diese. Auch der Sokrates der Memorabilien erklärt: „am *) Kleitophon sagt zu Sokrates, er habe dessen Schülern die Frage vorge- legt, was denn das Wesen des Gerechten sei, da habe er sehr verschiedenartige Antworten erhalten: ovxoq [isv, wq oi/xai, ro ov/jupeQOv ccnexoivaxo, äkkoq 6s xo öeov, sxsooq de xo wyefafxov, 6 6h xb XvaixeXovv . . , 409 B C. Vgl. hiezu die einleitenden Worte des Thrasymachos im 1. Teil der Politeia, Politeia I 336 D: Thr. fordert hier den Sokr. auf, ihm auf die Frage, was das Gerechte sei, zu antworten, und fügt die Ermahnung an: xui bnwq fioi (xrj sQelq, bxi xo 6sov iaxl fxt]6' bxi xb wcpshfjiov fzyS* oxi xb XvoixeXovv fi7]6' oxi xo xeg6aXsov fiTj6' öxi xb gv/x<pc0ov . . (wobei übrigens wieder die Beziehungen zwischen Kleitoph. und Politeia 1. Teil in die Augen springen). Sittliches Leben und Glück. 313 besten leben, wie ich glaube, diejenigen, die am meisten dafür sorgen, daß sie so gut als möglich werden", und wenn er hinzu- fügt: „am angenehmsten aber diejenigen, die die Empfindung haben, daß sie besser werden", so ist auch hier — das muß nun doch anerkannt werden — das „Besserwerden" als das Erste und Übergeordnete gedacht. Ähnlich liegt die Sache da, wo er seinen Mitunterredner fragt: „glaubst du, daß irgend etwas in der Welt dem Menschen so große Freude macht wie das Bewußtsein, daß er selbst und seine Freunde besser werden?" 1 ) Daß hier auch beim xenophontischen Sokrates der sittliche Relativismus seine Schranke hat, leuchtet ein. Damit scheint nun freilich in die sokratische Lebensanschauung eine Zwiespältigkeit bedenklichster Art hineinzukommen. Und der nächste Eindruck ist, Sokrates habe zwar die Unbedingtheit und Absolutheit des sittlichen Ideals geahnt, sei aber schließ- lich doch nicht imstande gewesen, sie zu fassen, da er von dem Eudämonismus und Utilitarismus der griechischen Philosophie nicht ganz loszukommen vermochte. In der Tat ist dies die herrschende Auffassung. Übler indessen kann man Sokrates' tiefste Gedanken nicht mißverstehen. Es wird aber hieran nichts gebessert, wenn man das eine oder das andere Element ausschließlich betont und So- krates entweder zum einseitigen Idealisten oder aber zum ein- seitigen Eudämonisten macht. Es bleibt dabei: in Sokrates' Lebensanschauung hat sich beides zusammengefunden, der Ide- alismus und der utilitaristische Eudämonismus. Aber das war nicht ihre Schwäche. Hier liegt vielmehr das Große, das Sokra- tes erlebt und erkannt hat, ja hier liegt der Kernpunkt seines Evangeliums. Nicht das nämlich ist das Neue an Sokrates' sitt- licher Einsicht, daß ihm die Unbedingtheit der sittlichen Norm, *) Memor. IV 8. 6: üyioxcc fxiv ydg olfxai Z,tjv xovq juäfaoxa im/ufkovfievovq xov wq ßekxlaxovq ytyveo&ai, tjötaxa de xovq (xdfaoxa aio&avoftevovq oxi ßeX- xiovq yiyvovxai. I 6, 9: oi'ei ovv dno ndvxwv xovxmv xoaavxrjv rjöovrjv eivcu ootjv anb tov havxöv xe r\ytiG§ai ßekxla) ylyvsadai xal (pikovq d/uelvovq xxäa- &cu; Zu erinnern ist übrigens hier auch an die ganze Tendenz des Herakles- mythus II 1, 21 ff. S. ferner die Stelle I 6, 10 (über die Bedürfnislosigkeit). Vgl. die von Zeller S. 155 f. angegebenen Stellen. Dagegen geht Ribbing, So- kratische Studien I 105 ff., in der Idealisierung der Ethik des xenophontischen Sokrates zu weit. 314 Das sokratische Evangelium. die volle Strenge des Sollens aufgegangen ist: den Vorkämpfern der „ungeschriebenen" Gesetze sind solche Gedanken nicht fremd geblieben, und auch jene Zweifel und Bedenken, die aus dem Widerstreit zwischen sittlicher Leistung und menschlichem Schick- sal entsprungen waren, setzten doch ein als absolut gedachtes Sittengesetz voraus. Das Entscheidende vielmehr ist, daß So- krates an seinen Idealismus den eudämonistischen Ge- danken geknüpft hat. Nicht in dem Sinn, daß er dem sittlichen Streben eine eudä- monistische Motivierung derart gegeben hätte, wie sie der popu- lären Reflexion der Griechen längst vertraut war: die Überzeugung, daß der Tugendhafte im Leben und in der Welt am besten fahre, war ja eben den Denkenden in den inneren Kämpfen dieser Jahrzehnte verloren gegangen, und auch ihnen wollte Sokrates die Rettung aus der sittlichen Not bringen. Noch ferner lag ihm der Gedanke, die sittlichen Normen als Forderungen der Lebens- klugheit zu fassen und unter diesem Gesichtspunkt mit ihrer Er- füllung das Glück in Zusammenhang zu bringen. Nicht in dieser Weise fallen ihm Glück und Tugend zusammen. Ihm ist das sittliche Ideal als solches unbedingte Richtschnur des Handelns, eine Norm, der das Individuum zu folgen hat, auch wenn es sein Leben gilt. Aber die Befolgung der Norm, das Leben im Ideal selbst ist das Glück. 1 ) Das ist die sokratische Lösung des Problems. Sokrates hat sie nicht theoretisch auszugestalten versucht. Hier, an diesem Zentralpunkt, am wenigsten hat er sich um dok- trinäre Festlegung seiner Lebensanschauung bemüht. Es ist darum auch verkehrt, wenn man aus den Darstellungen unserer f ) Vgl. die klassische Stelle Gorgias 507 B C, die im Gedanken zweifellos echt sokratisch ist: . . ov • . oaxpoovoq dvögoq soxiv ovxs 6noxs.iv ovxs (psvysiv a [iri noooqxsi, akX a 6sl xal ngäyfiaxa xal av&Qcönovq xal rjöovdq xal Xvnaq (psvysiv xal diwxeiv ..." (ooxs noXXrj dvdyxrj . . xov ouxpgova . . ölxaiov ovxa xal dv6osiov xal ooiov dya&ov dv6oa sivai xsXswq, xov 6s aya&bv sv xe xal xaktüq ngüxx e iv d dv 7igdxx%, xov <$' sv ngdxxovxa ftaxdoiöv xs xal £v6al t uova slvai, xov 6s tiovtjqov xal xaxwq noaxxovza d&faov. Hiezu vgl. 470 E: xov /xsv ydp xaXbv xdyadöv dvSoa xal yvvalxa sv6ai/xova slvai <pt]iui, xov 6s uSixov xal novijpöv dO-liov und im 1. Teil der Politeia Polit. I 353 Ef, wo das Verhältnis von Tugend und Glück ähnlich bestimmt ist, vgl. ferner Charmid. 174 B C. Sittliches Leben und Glück. 315 Gewährsmänner, zumal Xenophons, psychologische Einzelheiten für Sokrates in Anspruch nehmen will. Seine Schüler haben es später unternommen, den Gedanken des Meisters auch nach der psychologischen Seite zu fassen und auszuführen. Sie sind da- mit aber nicht zustande gekommen. Das beweist der Streit um das Lustmoment des Glücks, der sich in den sokratischen Schulen entsponnen und Jahrhunderte fortgedauert hat. Für Sokrates selbst war die neue Wahrheit Intuition, unmittelbares Erlebnis, das er in seinem eigenen Verhalten in praktisches Leben um- gesetzt hat. Dennoch tritt sie uns aus unseren Berichten, wenn wir nur zu lesen verstehen, so greifbar deutlich entgegen, daß ein Mißverständnis ausgeschlossen sein sollte, und zugleich — um das gleich anzufügen — so überzeugend, daß auch die Zweifel, die die neuere Philosophie in uns gegen die Ineinandersetzung von Tugend und Glück geweckt hat, schwinden müssen. Es ist eine tief einschneidende Revolution, die Sokrates in den sittlichen Anschauungen seiner Landsleute heraufführen will. So radikal wie die Sophisten bricht er mit der theonomen Moral: auch ihm ist das sittliche Leben eine Angelegenheit der Menschen, nicht der Götter. Ebenso entschieden aber wendet er sich gegen die Gesellschaftsmoral, d. i. gegen diejenige Vorstellungsweise vom Sittlichen, die im Willen der Gesellschaft den Gesetzgeber, in den staatlichen Gesetzen und den Normen der Sitte, des Her- kommens, der Tradition die sittlichen Gesetze sieht: das sittliche Leben ist ihm eine Angelegenheit des Individuums, nicht der Gesellschaft. Aber auch die Anschauung vermag Sokrates nicht zu genügen, die das Sittliche, um seine Würde und unwandel- bare Geltung zu wahren, ins Innere des Menschen flüchtet und die „ungeschriebenen Gesetze" der Menschenseele selbst einge- prägt sein läßt: denn auch sie sucht den Gebotsteller, ob sie den- selben nun in der Gottheit oder der Weltvernunft findet, und nicht minder das Gebotziel außerhalb des Menschen. Und eben hierin denkt Sokrates ganz anders: ihm ist das Normziel des sittlichen Lebens ein Zweck des individuellen Menschen, nicht ein Zweck der Gottheit, der Weltvernunft oder der menschlichen Gesellschaft, und der Gesetzgeber ist ihm der individuelle Wille. 1 ) ') Hiemit steht keineswegs im Widerspruch, daß, wie unten im 6. Kapitel ausgeführt werden wird, das sittliche Leben durch den sokratischen Vorsehungs- 316 Das sokratische Evangelium. Immer und immer wieder hält Sokrates den Menschen, an die er mit seiner Werbearbeit herantritt, das sittliche Ziel vor Augen: sie sollen dafür sorgen, daß ihre Seele so gut als mög- lich werde. Darauf richtet sich, wie er überzeugt ist, die Tendenz aller sittlichen Gebote: auf die Vollkommenheit der indi- viduellen Seele. Ein anderes sittliches Gesetz gibt es nicht. Die Tugend selbst ist nichts anderes als diese Vollkommenheit. Eben darum ist sie, wie nachdrücklich zu betonen ist, eine. Wo Sittlichkeit als Unterwerfung unter Gebote fremder Autoritäten gedacht wird, da gibt es ebenso viele, neben einander stehende Tugenden, als es verschiedene Klassen von Gesetzen gibt. Wer aber im persönlich vollkommenen Leben das sittliche Ziel er- blickt, für den gibt es nur eine Tugend: diejenige Willensrich- tung, die auf die Verwirklichung dieses Lebens hinstrebt. 1 ) Die persönliche Vollkommenheit ist ein absolutes Ideal, und nach ihrer Verwirklichung zu streben, ein unbedingt verbindliches Gesetz. Aber die Verbindlichkeit dieser Norm beruht nicht dar- auf, daß eine äußere Autorität, der das menschliche Individuum Unterwerfung schuldig wäre, sie gesetzt hat. Gültig und ver- pflichtend ist sie einzig und allein darum, weil das Ziel, das sie dem Menschen vorhält, durch dessen eigenes Interesse gefordert ist. An diesem Punkt greift ein sokratisches Wort ein, das viel Widerspruch und noch mehr Mißdeutung erfahren hat. Es ist der bekannte Satz, daß kein Mensch freiwillig, d. i. mit Willen, Unrecht tue. 2 ) Er ist paradox, wie alle die programmatischen Aussprüche, durch welche die sokratische Dialektik die Menschen glauben doch wieder mit der Gottheit und mit göttlicher Teleologie in Ver- bindung gebracht ist. ») Protag. 329 B ff., 349 B ff. Daß der Grundgedanke dieser Ausfüh- rungen auf Sokrates zurückgeht, ist schon darum nicht zu bezweifeln, weil er mit der Vorstellung, die Sokrates sich vom Wesen des sittlichen Lebens ge- bildet hatte, aufs engste zusammenhängt. Eine willkommene Bestätigung bringt aber das Antisthenesfragment Winckelmann S. 28 VI: 'Avx. <pr]olv, d>g, ei' xi nQaxxei 6 ocxpöq, xaxa näoav dgex?)v ivegyel. Auch von dieser Seite also läßt sich schließen, daß die These von der Einheit der Tugend sokratisch ist. 2 ) S. Protag. 345 D E, 358 B D und den ganzen Zusammenhang 352 D ff. Auch die Stelle Kleitoph. 407 D E läßt deutlich erkennen, daß die These, nie- mand tue freiwillig Unrecht, in der sokratischen Protreptik eine bedeutende Rolle spielte. Sittliches Leben und Glück. 317 zur sittlichen Selbstbesinnung und Selbsteinkehr wecken wollte, und er hat noch eine andere Seite, die uns in einem späteren Zusammenhang beschäftigen wird. Aber der tiefste Gedanke, den er in sich birgt, ist der, daß von Natur niemand das Böse wolle, daß der menschliche Wille, wenn er nur in seine rechte, in seine natürliche Bahn gebracht werde, nichts anderes als das Gute an- strebe, mit anderen Worten, daß das Gute, d. i. die Verwirklichung der persönlichen Vollkommenheit, das natürliche und, wir können in Sokrates' Sinn hinzufügen: das letzte und höchste Ziel menschlich-individuellen Wollens sei. 1 ) Die sittliche Norm trifft also nicht bloß mit dem menschlichen Interesse zusammen, vielmehr beruht ihr Normcharakter darauf, daß das, was sie for- dert, für den Menschen ein absoluter Wert ist und von ihm un- bedingt gewollt wird. Das sittlich gute Leben, das Leben im Ideal ist für den Menschen das höchste Gut und darum von ihm als das höchste Gut zu betrachten. 2 ) ') Zu diesem Gedankengang vgl. außer der in der vorigen Anm. zitierten Ausführung des „Protagoras" die Erörterung in Gorgias 466 C ff., die eine Er- gänzung zu jener ist und sich wie ein Kommentar zu dem Satz vom unfreiwilli- gen Unrechttun ausnimmt. An der Spitze steht die Unterscheidung zwischen dem Tun dessen, was man will, und dem Tun dessen, was einem augenblicklich als das Beste erscheint, 466 E: ovöhv yd@ noiüv wv ßovXovxai . . ■ noielv ßivxoi o xi dv avxoig 66^% ßtXxioxov tivai. Das ßovXead-ai richtet sich aber nach 467 C D nicht auf das o dv ngdxxcoaiv sxdoxoxe, sondern auf ixslvo, ob svexa ngdxxovot XOV&" o ngdxxovatv. Und überall ist es am Ende das dya&öv, was wir erstreben, 468 B. Nun erweist sich aber als das größte Übel das Unrechttun 469 B. Das größte Gut also ist, keine Schlechtigkeit in der Seele zu haben: £vSai(xovsaxaxoq (Jihv dga 6 fxrj eyuiv xaxlav iv ipvyjj, inftdrj rovxo ßeyioxov x(öv xaxcöv stfävtj, 478 E. Der Wille des Menschen richtet sich also, das ist die Intention des Gedankengangs, natürlicherweise auf die vollkommenste Gutheit der Seele als den letzten Zweck. — Ein schöner Ausdruck für den im Text aus- geführten Gedanken findet sich Politeia VI 505 E, wo das Gute — und nach dem Zusammenhang ist hier zunächst an das eigentliche sittlich Gute gedacht — als das bezeichnet wird, o ditöxsi anaoa rpv%ri xai xovxov evexa nävxa Tigäxxei. Vgl. ferner die antisthenische Formel für tugendhaft leben: xa havxov noäx- telv, von der S. 392, 2 (vgl. S. 351,1) noch weiter die Rede sein wird. Die novrjQu nävxa sind dem Antisthenes nach Diog. L. VI 12 & vrxd, nach Charm. 163 C d).lö- TQia, die dya&d aber olxela. 2 ) $. die S. 314, 1 angeführten Stellen und vgl. hiezu die Formulierung des Satzes Kriton 48 B: ov xo t,ijv nsol nXelaxov Tionjxtov, dXXd xb sv Z,rjv, ferner Apol. 29 E Schi, und 30 A Anfang. 318 Das sokratische Evangelium. Mit einem Schlag tritt von hier aus der sokratische Eudä- monismus und Utilitarismus in die richtige Beleuchtung. Das persönlich vollkommene Leben bedeutet für den Men- schen das höchste Glück, weil sein eigenstes Sehnen dahin zielt. So wird Sokrates nicht müde, seinen Landsleuten einzuschärfen, daß das Glück, das sie suchen, nur in der „Tugend" zu finden sei. Und er müßte nicht der Dialektiker, der er war, gewesen sein, wenn er nicht, wo der Anlaß oder der Verlauf des Ge- sprächs dies nahelegte, dem Ideal auch von der Lustseite nahe- getreten wäre. Wo er dem behaglichen, bequemen Bürger oder auch dem genußfreudigen Lebemann gegenüberstand, hat er ge- wiß nicht versäumt, die Befriedigung, die dem Tugendhaften aus dem Leben im Ideal entspringt, mit den übrigen Freuden, die das Leben bieten kann, in Vergleich zu stellen. Selbst das kann er nicht bloß gesagt, sondern auch gedacht haben, daß das Kenn- zeichen aller menschlichen Güter die Freude und die Abwesen- heit von Leid sei, daß insofern das menschliche Streben sich naturgemäß auf Gewinnung von Freude und Vermeidung von Leid richte und das Heil des Lebens auf einer richtigen Auswahl unter den Freuden beruhe. Und in solchen Zusammenhängen hat er dann vielleicht auch darauf hingewiesen, daß nichts über die Freude gehe, die das Bewußtsein, besser zu werden, dem Menschen gewähre. Daß er darum von philosophischen Schema- tikern späterer Jahrhunderte zum Hedonisten gestempelt werden würde, das hätte ihn, wenn er es hätte ahnen können, zweifellos ebensowenig von solchen Gedankengängen abgebracht als die Möglichkeit, die wohl schon zu seinen Lebzeiten in greifbare Nähe trat, daß er von dem einen oder anderen seiner nächsten Jünger hierin mißverstanden werden würde. Ebenso sicher aber ist, daß Sokrates sich die „Tugend" keineswegs nur als Mittel zum Glück, als Weg zur Freude dachte, so daß ihm das Höchste die moralische Lust gewesen wäre. 1 ) Obenan steht ihm das Ideal J ) Vgl. hiezu noch die Stelle Gorg. 499 E f., die im Gedanken wieder gut sokratisch ist: " Erexa . . xcöv aya&äiv dnavxa rjfxlp edoge TtQaxxiov tivai . . . dQa xal ool ovvöoxel ovxa>, xtXoq sivcu dnaowv xcüv nQa&wv xb äya&öv, xal ixeivov evextv delv ndvxa xdXXa nodxxso&ai, dXX'oix ixslvo x<Lv dXXwv; . ."Eywye. Tcüv dya&wv dpa i'vsxa öh xal xdXXa xal xd r t Ö£a Ttpdxxsiv, aXX'ov xdya&d xiöv ?jöiwv. Sittliches Leben und Glück. 319 mit seiner unbedingten Forderung, und das höchste Gut ist ihm das sittlich gute Leben selbst. Daran nur hält er fest, daß an dieses Leben darum, weil das tiefste Sehnen des menschlichen Wollens nach ihm hinstrebt, eine Befriedigung sich knüpft, die über jeder anderen Freude steht, und daß eben deshalb nicht bloß die Erreichung des Ziels, sondern schon die Annäherung an dasselbe, das „Besserwerden", ja wohl schon das Streben nach dem Ziel höchste Freude ist. Sokrates' Meinung ist also die, daß nicht die aus der Tugend entspringende Lust, sondern das Leben in der Tugend für den Menschen das naturgemäße Ziel seines Strebens und darum das Glück ist; und er will behaupten, nicht, daß wir das Gute wollen, weil es uns Freude bringt, sondern, daß das Gute uns Freude bringt, weil wir es wollen. Indessen wie diese Dinge psychologisch zusammenhängen, darum hat So- krates — hiebei bleibt es — sich nicht gesorgt. Daß aber die Tugend an sich selbst schon — nicht Glück bringt, sondern — Glück ist, dafür war ihm der beste Beweis wohl die eigene Er- fahrung. In diesen Anschauungskreis fügt sich auch der sokratische „Utilitarismus" ein. Wir verstehen jetzt, was Sokrates meint, wenn er das Gute mit dem Nützlichen, mit dem für den Men- schen, für das menschliche Individuum Förderlichen gleichsetzt. Er will dem Individuum damit zu Gemüt führen, daß das Sitt- liche sein persönlichstes Interesse sei, daß die sittliche Norm, die von ihm Gehorsam fordert, nichts anderes wolle als sein eigenes Bestes, daß er darum, wenn er gut zu werden sich bemühe, in erster Linie sich selber nütze. So läßt sich der berüchtigte Satz: das Gute ist gut für den einzelnen Menschen, — wenn er wirk- lich sokratisch ist — in vollem Umfang aufrechterhalten. In Sokrates' Mund will er nichts anderes besagen als: das Gute ist die Sache, der Zweck des Individuums, ein Zustand, eine Lebens- form der individuellen Seele und eben darum das natürliche Ziel des individuellen Wollens. Von hier aus ist es dann nur natür- lich, daß die Eigenschaften und Verhaltungsweisen des Indi- viduums, die entweder bereits als Einzelmomente, als verschiedene Seiten der Tugend oder doch als Voraussetzungen zur Verwirk- lichung derselben gelten können, daß insbesondere auch die ein- zelnen Willenshandlungen mit ihren nächsten Zwecken, die auf 320 Das sokratische Evangelium. Realisierung des sittlichen Ideals hinstreben, als nützlich für das Individuum, als förderlich für dessen Zwecke eingeführt werden. Und wieder ist zu sagen: Sokrates müßte nicht der Pädagog ge- wesen sein, der er war, wenn er in seinen protreptischen Ge- sprächen nicht eben diese Nützlichkeit immer und immer wieder hervorgehoben hätte. Und daß er hierin sehr weit gegangen ist, ist durchaus zu glauben. Vieles, was Xenophon ihn nach dieser Richtung sagen läßt (S. 306), könnte Sokrates an sich wirklich gesagt haben. Die Art seiner Dialektik ist es ja, auch Sätze, die als solche paradox, ja wohl offenkundig falsch sind, immerhin aber ein beachtenswertes Minimum von Wahrheit enthalten, als Ausgangspunkte zu verwenden. Wohin er aber seine Hörer auf solchen Wegen führen wollte, wissen wir jetzt. Man hat also wirklich — das hat sich in vollem Umfang be- stätigt — ein Recht, von sokratischem Eudämonismus, Utilitaris- mus, Subjektivismus und Individualismus zu reden. Aber dieser utilitaristisch-eudämonistische, subjektivistische Individualismus be- deutet die Loslösung der Sittlichkeit vom Gesellschaftswillen und der religiösen Autorität. Er bedeutet die Verinnerlichung, Vertiefung, Verpersönlichung der sittlichen Normen. An die Stelle der objektiven Moral der Gesellschaft und der Religion tritt die subjektiv-persönliche des Individuums, an die Stelle der äußeren Gebote der innere Drang des sich selbst bestimmenden Wollens, an die Stelle der sozialen und religiös-transzendenten Motive das individuell-persönliche Interesse am sittlichen Leben, kurz, an die Stelle der Heteronomie tritt die sittliche Autonomie. Aber nicht bloß die Autonomie des sittlichen Wollens stellt Sokrates fest, sondern auch die Autarkie. Und das war der schwerere Teil der Aufgabe, die sich seine sittliche Protreptik und Dialektik gestellt hat. 1 ) Es mochte wahr sein: das tugendhafte Leben, das Leben im Ideal ist ein Glück, ein Gut, und wohl das höchste Gut. Aber ist es darum das einzige Gut? Es scheint daneben doch noch andere Güter zu geben, vielleicht mindere, aber immerhin auch Güter, nach denen der Mensch sich sehnt, an denen sein Herz hängt, so daß er unglücklich wird, wenn sie ihm fehlen oder ge- ') Vgl. hiezu unten S. 322, 1. Sittliches Leben und Glück. 321 nommen werden. Von der Art sind nach geltender Wertung Wohlstand, freie Geburt, Abstammung aus gutem Hause, äußeres Wohlergehen, erotische Befriedigung, Schönheit und körperliche Kraft, geistige Begabung, Gedeihen der Familie, Leben in einem starken, blühenden Vaterland, — das Negative nicht zu vergessen: Freiheit von Schmerz, von Trauer und Leid, von Entbehrungen, Not, Mißgeschick und von quälenden Begierden. Und am Ende will der Mensch doch vor allem leben: als das größte Übel er- scheint ihm der Tod. Kann angesichts dieser Tatsachen wirklich gesagt werden, die Tugend sei das Glück? Solche Einwände lagen nahe genug, und Sokrates ist ihnen nicht ausgewichen. Unsere Quellen lassen deutlich erkennen, wie ernst und nachdrücklich seine Dialektik hier mit ihrer Arbeit einsetzte. 1 ) Hier, wenn irgendwo, konnte das sokratische Evan- gelium dem Menschen die Erlösung bringen. Alle Not der Zeit hatte hier ja ihre Wurzel. Denn das eben war die Klage, daß der Mensch das Glück, nach dem zu suchen seine Natur ihn treibt, nicht erreichen und, soweit es ihm zuteil geworden, nicht fest- halten könne, daß die Güter, nach denen sein Herz verlangt, allen Wechselfällen des Geschicks unterworfen seien, das auch den Glücklichen in jedem Augenblick aus der höchsten Höhe in die tiefste Tiefe herabstürzen könne, und daß zudem noch über diesen unsicheren Besitz, wo er dem Sterblichen zuge- fallen, die Aussicht auf den unentrinnbaren Tod ihre Schatten breite. Daher jener Pessimismus, der gerade die Besten elend \) Hiezu verweise ich vorerst auf den Güterkatalog Euthydem. 279 A ff., an den sich auch Xenophon Memor. IV 2, 31 ff. anschließt. Vgl. Meno 87 E ff. und Gorg. 451 E. An der Aufzählung der von der traditionellen Schätzung aner- kannten Güter im Euthydem interessiert uns nun zunächst nicht der besondere Gesichtspunkt, unter dem die platonische Darlegung zu diesen Gütern Stellung nimmt, obwohl auch er einen Rückschluß auf die sokratische Behandlung dieser Dinge zuläßt. Wir müssen uns aber erinnern, daß die Ausführung in Euthyd. 279 Äff. den Zweck verfolgt, der kynischen Protreptik eine andere entgegen- zusetzen. Und augenscheinlich ist die Erörterung über die Güter ein Gegenstück zu einer antisthenischen Behandlung desselben Themas. In der kynischen Pro- treptik hat zweifellos schon in der ersten Zeit die Auseinandersetzung mit den vulgären Anschauungen über Güter und Übel einen sehr breiten Raum einge- nommen. Und daß dieselbe ein Widerhall sokratischer Diskussionen ist, kann als sicher gelten. In welchem Umfang und in welcher Weise bei den übrigen Sokratikern dieses Thema behandelt ist, hiezu s. unten S. 323 ff. H. M a 1 e r , Sokrates. 21 322 Das sokratische Evangelium. machte, da sie sich sagen mußten, daß auch die Tugend keine Bürgschaft für das Glück und keinen Schutz gegen das Leid gebe. Die Rettung aus dieser Not ist die Botschaft von der „Autar- kie" der Tugend. Der Ausdruck zwar ist Sokrates vielleicht noch fremd gewesen. 1 ) Um so leuchtender steht ihm die Sache vor Augen. Seine Überzeugung ist, und er wird nicht müde, diese auch den anderen Menschen nahezubringen, daß in den Gütern, in denen man herkömmlicherweise das Glück zu suchen pflegt, ein wirkliches Glück nicht zu finden sei. Wer an sie sein Herz hängt, wird abhängig von fremden Mächten — von der Ge- sellschaft, die über viele dieser Güter, über soziale Ehre, Macht u. dgl. zu verfügen hat, vom Schicksal, in dessen Hand sein ganzes Wohlergehen liegt, und nicht zuletzt von seinen eigenen Bedürfnissen, von deren Befriedigung sein Glück bedingt ist. Ein solcher Mensch verliert sich selbst, er macht sein Bestes zum Spielball fremder Gewalten und muß schon darum elend werden. Solange jene Güter auch nur Einfluß haben auf das Menschen- glück, ist es mit diesem schlecht bestellt. Der Weg zum Heil kann also nur die Befreiung von diesen Abhängigkeiten sein. Wie tief und entscheidend dieser Erlösungsgedanke in die sokratische Gedankenwelt eingegriffen hat, läßt die mächtige Be- wegung erkennen, die er in der Jüngerschaft des Sokrates ent- facht hat. An diesem Punkte schieden sich die Geister. Aber hier, wenn irgendwo, kommt das, was uns der Streit unter den Sokratikern, die Vielgestaltigkeit ihrer Meinungen lehrt, dem Bilde ') Das Wort „Autarkie" scheint bei einem Teil der Sophisten zum Schlagwort geworden zu sein. Nach Suidas hat Hegesidamos, der Lehrer des Hippias, die (technische) Autarkie, d. h. diejenige, vermöge der der Mensch alles, was er braucht, sich selbst zu schaffen vermag, als xiloq bezeichnet. Daß Hippias selbst sich ein ähnliches Ziel gesteckt hat, ist nach der bekannten Schilderung im Hipp. min. nicht zu bezweifeln. Ähnlichen Sinn hat das Wort bei Xenophon Mem. IV 7, 1. In freierer Verwendung erscheint es bei Demokrit (s. den Index in Diels' Vorsokratikern), vgl. Xen. Mem. I 2, 14, II 6, 2. In den frühplatonischen Schriften begegnet uns avzaQxeia und avxöpxrjq nirgends. Die Umbildung der sophistisch-technischen Autarkie zur sittlichen scheint Antisthenes vollzogen zu haben. Nach Diog. Laert. XI 11 sagte dieser: avxägxrj yuQ xt t v dpezrjv eivai icgbq Evdaifiovlav, [ttjötvoq nQOo5so(X£vi]V oxi (x), ^(oxpaxtxrjq layvoq, Winckel- mann S. 47, VI vgl. IV. Sittliches Leben und Glück. 323 wirksam zu Hilfe, das wir der frühplatonischen Schriftstellerei ver- danken. 1 ) Keiner hat diese Seite der sokratischen Lebensanschauung energischer erfaßt als Antisthenes. Mit leidenschaftlicher Ein- seitigkeit hat er den Gedanken der inneren Freiheit aufgenommen und die Intention durchgeführt, das ganze Glück des Menschen in sein Inneres, in den Herrschaftsbereich seines Willens zu ver- legen. Aber er kann sich die innere Unabhängigkeit von den Gütern, deren Erreichung nicht ausschließlich vom menschlichen Wollen abhängt, deren Verfolgung den Menschen eben darum zum Sklaven fremder Mächte zu machen droht, nur als völlige Loslösung von denselben, als ein Freiwerden von dem Verlangen nach ihnen denken. Eben deshalb ist ihm die Lust (die rjd'ovrj), in der er das selbstverständliche Ziel aller dieser Begehrungen erblickt 2 ), geradezu ein Übel 3 ), und das Begehren selbst will er ') Ein interessantes Licht fällt auf die Autarkie und überhaupt auf die so- matische Fassung des höchsten Guts von den im Philebos 20 CD, 67 A festge- legten drei Merkmalen des höchsten Guts zurück. Wir werden im 3. und 4. Ka- pitel des 4. Teils sehen, daß Plato im Philebos durch einen Kompromiß eine Einigung der Sokratiker über das sittliche Ziel herbeizuführen bestrebt ist, und daß er zu diesem Zweck auf die sokratische Anschauung zurückgreift. Als die entscheidenden Merkmale des sokratischen Ideals erscheinen ihm aber das xsXeov (die dvvafxiq xov xektov), das txavöv (die övvafxiq xov Ixavov) und die avxäoxeia. Nun hat ja zweifellos das erste Merkmal bei Plato insofern eine Umwandlung erfahren, als an die Stelle der Vollkommenheit der Seele, die Sokrates im Auge hat, die Vollkommenheit des höchsten Guts gesetzt ist. Bemerkenswert aber sind besonders die beiden anderen Merkmale, die übrigens gegen einander nicht scharf abgegrenzt sind, die öivafxiq xov ixavov und die avxäoxeia. Die erstere besteht darin, daß, wer dieses Gut hat, in der Lage ist, fxrjösvoq kxtQov noxs exi nooodelo&ai (60 C, 61 E). Die avxägxeia aber ist (20 D verglichen mit 67 A) so bestimmt, aiq näv xo yiyvcüoxov avxo 9qQ£vei xal e<plexai ßovXöfxevov sXslv xal nepi avxo xxrjoao&ai, xal xtüv aXXo>v ovdhv <ppovxi£ei nXrjv zwv anoxskov- fiivcuv äfia dya&olg. Hier sind also die beiden Momente des Genügens (der Autarkie) und der Autonomie zusammengefaßt. -) Das ist ja auch noch die Auffassung der aristotelischen Psychologie. 3 ) Diog. L. IX 101. In diesen Zusammenhang gehört auch der Satz hinein: xov ?jdeo&ai xo /xalvso&ai xqüxxov tlvai, Winckelmann S. 52 XII {Mavelr^v päXXov r} TjoVtiTiv Diog. VI 3). S. auch die bei Zeller II l 4 S. 306,6 und S. 308, 1 angegebenen Stellen. Ich stimme Zeller darin durchaus zu, daß Phil. 44 B f., 51 A auf Antisthenes geht. Es ist völlig richtig, daß von den in 43 D und 44 A f. geschilderten Philosophen, die behaupten, daß "jöioxov nävxwv iaxlv dlvnwg öiaxsXelv xov ßlov anavxa, bestimmt diejenigen in 44 BC (cap. 27) unter- 21* 324 Das sokratische Evangelium. unterdrückt, ja abgetötet wissen. Antisthenes wird so zum Asketen. Und was die Erde dem Menschen an Freuden bietet, heiterer Lebensgenuß, gesellschaftliches Ansehen, Wohlstand, Schönheit, Liebe, Familie, Vaterland, Wissenschaft, Kultur — das alles sind ihm im besten Fall gleichgültige Dinge, die aber darum verderb- lich werden, weil der Mensch an sie sein Herz verliert und hie- durch gehindert wird, dem Einen, was not tut und sein Glück macht, nachzujagen, der Einsicht (cpyorrjöig), die die innere Freiheit in sich schließt. 1 ) So hat Antisthenes den sokratischen Gedanken verstanden, und Sokrates selbst war ihm der Weise, der in sich dieses Ideal verwirklicht hat. 2 ) Sehr stark hat die Idee der inneren Freiheit und ihre Ver- wirklichung in der Person des Sokrates auch auf die übrigen So- kratiker gewirkt. Aber sie ist von diesen wesentlich anders ver- standen worden. Am äußerlichsten, wie sich erwarten läßt, von Xenophon. Zwar nimmt in seiner Schilderung der Person und der „Lehre" des Meisters die Enkratie, und was damit zusammen- hängt, einen überaus breiten Raum ein. Und bisweilen macht er einen Ansatz, diese auf die Höhe der sittlichen Freiheit empor- zuheben; so wenn er sie als Freiheit charakterisiert oder als Fähigkeit, das Gute anstatt des Angenehmen zu wählen. 3 ) Im ganzen aber denkt er, wo er von der sokratischen Enkratie redet, schieden werden, welche xb TtaQÜnav rjöovaq ov <paoiv eivcu. Und 44 C kann nur auf Antisthenes, nicht etwa auf Demokrit gehen. Was Antisthenes aber nach dieser Stelle behauptet, ist, die Lust sei etwas Ungesundes, und gvxtjq xo ina- yojyov sei eitel Blendwerk, nicht wirkliche Lust. Im allerbesten Fall sei sie Aufhören einer Unlust (44 C Anfang) : das Begehren selbst, das ihr vorangeht, wird hier augenscheinlich als ein Schmerz betrachtet. *) Daß die im Text charakterisierte Anschauungsweise, die nachher von Antisthenes' Schüler Diogenes in die äußersten Konsequenzen verfolgt wurde, in (ihren Grundzügen durchaus auf Antisthenes zurückzuführen ist, kann nicht zweifelhaft sein, s. Winckelmann 15 I, II, 18 III, IV, 29 I, II, 46 III, 47 IV— VIII besonders ist auf Symp. Xen. IV 34 ff. zu achten), 52 XII, 55 XXIII, 58 VIII— X u. ö. (vgl. Kleitoph. 407 E f.). 2 ) Sicher stand übrigens Euklid, wenigstens in seiner späteren Zeit, dem Antisthenes auch hierin sehr nahe. Äschines ferner scheint, wie aus fr. 1 Krauß, gegen den Schluß, entnommen werden kann, wenigstens auf die Unabhängig, keit des sittlichen Menschen gegenüber den Schicksalsfügungen Gewicht gelegt zu haben. s ) Vgl. hiezu Mem. I 5, 4, IV 5, IV 8, 11. Sittliches Leben und Glück. 325 nur an Mäßigkeit im Essen, Trinken und Liebesgenuß, an die Fähigkeit, Mühen und Strapazen, Hunger, Durst und Kälte zu er- tragen, an Bedürfnislosigkeit und die Unempfindlichkeit gegen Besitz und Wohlstand. 1 ) Und wo er ihr Wesen fassen will, kommt er über die formale Norm der Selbstbeherrschung nicht hinaus. Trotzdem ist seine Schilderung nicht wertlos. Wir wissen, daß dieselbe von antisthenischen Quellen abhängig, und daß das kynische Ideal dem Xenophon von einer Seite her sympathisch war. Um so mehr fällt ins Gewicht, daß die Memorabilien trotz ihrer antisthenischen Reminiszenzen, trotz ihrer Parteinahme für den kynischen Herakles und ihrer Polemik gegen Aristipps Hedonismus im ganzen der asketischen Tendenz des Antisthenes ferne bleiben: ihr Sokrates läßt ja, so ungeschickt und schwan- kend seine Haltung in diesen Dingen auch ist, der Welt mit ihren Aufgaben und ihren Freuden doch schließlich ihr Recht. 2 ) Sehr viel tiefer hat Aristipp gesehen. Es ist zwar schwer, aus dem Schutt von Klatsch und gehässiger Polemik, den Mit- und Nachwelt auf seine Person und seine Sache gehäuft haben, seine wirkliche Meinung herauszufinden. So viel aber läßt sich doch erkennen, daß auch er das sokratische Ideal der inneren Freiheit zum Zentrum seiner Lebensanschauung gemacht hat. Er teilt die Ansicht des Antisthenes, daß das Streben nach den land- läufigen Gütern, wie es aus dem natürlichen Triebleben hervor- geht, zuletzt ein Lustbegehren sei. Aber er ist nicht der Meinung, daß dieses zu unterdrücken sei. Denn ein anderes Glück kann er sich für den Menschen nicht denken als die Freude, die die Befriedigung der natürlichen Begehrungen mit sich bringt. Aber ein Glück ist diese doch nur auf dem Hintergrund der inneren Freiheit, d. h. dann, wenn der Mensch nicht in Abhängigkeit von seinem Lustbegehren gerät, wenn er von den Genüssen, die sich ihm bieten, sagen kann: ich habe sie, nicht sie haben mich (%co y.al ovx k'xojuou).*) Die sokratische Freiheit sucht Aristipp also nicht in Abstinenz und Askese, sondern in der Beherrschung des Lustbegehrens, die sich ebensosehr in der Fähigkeit, sich recht *) Vgl. Mem. I 2, 1 f.; 3, 5 ff.; I 5; I 6; II 1; IV 5. 2 ) Vgl. oben S. 306 f., S. 68, 1. 3 ) Es ist dies das bekannte Wort, das sich ursprünglich auf das Verhältnis Aristipps zu der Lais bezieht. 326 Das sokratische Evangelium. zu freuen, wie in der heiteren Bereitwilligkeit, wenn es not tut, zu entsagen, kundgibt. 1 ) An diesem Punkt steht Aristipp dem Sokrates, den ja auch er als seinen Meister verehrt, sehr viel näher, als die überlieferten Nachrichten ahnen lassen. 2 ) Der letzte Hort des Menschenglücks ist ihm doch die innere Freiheit und Stärke, und alle Lustbegehrungen vermögen Glück nur zu geben, soweit sie sich jener unterordnen. Andererseits ist ihm, wie es scheint, die Freiheit an sich nur ein Rahmen, eine Form ohne Inhalt. Den Inhalt aber gibt das natürliche Wollen, dessen Ziel schließlich die Befriedigung ist. So kommt Aristipp dazu, das Glück von dem durch die innere Freiheit beherrschten Lustbe- gehren zu erwarten. Man kann indessen nicht sagen, daß es ihm gelungen sei, das Ineinander der beiden Elemente seines Glücks- ideals, der Lust und der inneren Freiheit, bestimmt zu fassen. Und das Schwanken, das unsere Berichte hier zeigen, ist keines- wegs nur auf Rechnung der mangelhaften Überlieferung zu setzen. Die einseitig hedonistische Auffassung des menschlichen Wollens scheint ihm die Möglichkeit genommen zu haben, dieses zur inneren Freiheit in das Verhältnis zu setzen, das ihm vorgeschwebt haben mag. 3 ) Allein eben dieses Ringen mit einem Problem des *) Diog. L. II 75: . . xo xgaxtlv xal [xri tjxxäo&ai xwv rjSovtüv äpiozov, ov xo firj xQrjod-ai. Stobaeus, Floril. XVII 18, Meineke I 280, 18: KgaxfZ ?j6ov?jq ov% 6 dnexöfxsvoQ, d?X ö /pai,a?vo? ߣv, /irj naoExcpEoößtvoq [so statt ngo- fxysQÖßevoq mit Jacobs zu lesen] de. S. auch Plutarch, de vita Hom. B 150: . . 'AglaxmTioq xal nevlq xal növoiq ovv?]vex&T] e(tQwßsvu)Q xal fjöovy dipeiöcöq sxp^oaro, ferner Plut. de Alex. fort, et virt. I c. 8 (und hiezu Diog. II 67: . ool ßöva) öedozai xal '/(XayLhöa (pogeiv xal gäxoq). Vgl. Zeller II l 4 S. 365 f. und S. 368. 2 ) Hier ist an Plutarchs Erzählung über Aristipps Bekehrung zu erinnern, De curiositate c. 2 Schluß. Da ist berichtet, Aristipp sei mit Isomachos in Olympia zusammengetroffen und habe ihn gefragt, xl ^(oxgdzrjq öiaXeyö/nevoq ohtco xovq veovq öiaxl&tjoi, und nun sei er /uixqcc äxxa tü>v Xöywv aitov onsg- fxaza xal deiyfxaxa laßwv so gepackt worden, daß er auch körperlich aufs heftigste angegriffen war, bis er nlevaaq ylS-^Va^f dixpcöv xal öiaxsxavfievoq jjQvaazo xr\q nrjyrjg, xal rov dvöga xal xovq köyovq avxov xal Tr)v <piko60<piav loxöprjoev, t/q rfv reXoq smyvcüvai xd kavxov xaxd xal analkayfjvai. 3 ) Daß Aristipp in dem tjöv das natürliche und sittliche Ziel des mensch- lichen Wollens sah, kann angesichts der Einstimmigkeit der Überlieferung als sicher gelten (vgl. Zeller II l 4 S. 346, 2). Wie es dagegen mit dem angeblichen ethischen Sensualismus Aristipps steht, wird sich unten zeigen. Über das Ver- hältnis der inneren Freiheit zum Lustbegehren geben schon die Ausführungen Sittliches Leben und Glück. 327 Lebens, das wir hier ahnen, läßt uns einen tiefen Blick in die Gedankenwelt des Sokrates selbst tun. Am wenigsten scheint Plato auf die Idee der inneren Frei- heit Gewicht zu legen. Daß er sie in seiner späteren Zeit durch etwas ganz Andersgeartetes ersetzt hat, wird sich unten zeigen. Aber schon in seinen sokratischen Schriften scheint sie nur eben anzuklingen. Ist dies vielleicht bereits ein stiller Widerspruch gegen die antisthenische Darstellung, deren ganze Tendenz ihm sicherlich mißfiel und wohl auch als unsokratisch erschien, ohne daß er doch gleich imstande war, zu erkennen, wo der Fehler lag? Möglich, und nicht unwahrscheinlich. Tatsächlich aber tritt doch auch von dieser Seite in den frühplatonischen Schriften der Grundgedanke des sokratischen Evangeliums deutlich genug her- vor, um uns eine sichere Stellungnahme im Streit der Sokratiker zu ermöglichen. Erinnern wir uns noch einmal, wie der früh- platonische Sokrates das sittlich vollkommene Leben das höchste aller menschlichen Güter nennt, höher nicht nur als Geld und Besitz, als Ruhm und Ehre, höher auch als das physische Leben selbst. 1 ) Und er ist überzeugt, daß diese Schätzung nur der Natur des menschlichen Wollens entspreche; daß darum der Mensch, der zu sittlicher Einsicht gekommen sei, in der Ab- oben im Text und in den vorigen Anmerkungen Aufschluß. Aristipp kommt aber dem Antisthenes insofern noch sehr viel näher, als er die mit der inneren Freiheit gegebene (pQÖv?]Oiq als die unumgängliche Voraussetzung des glückhaften Lebens ansieht. Das ist die <pQÖvrjoiq, die den Menschen von quälenden Affekten und Trieben freimacht (Diog. L. II 91: xöv aotpov fxrjxe <p&ov?joeiv fxrjxe epao&yoeo&ai $ östoiSai/uovrjaeiv). Über das innere Verhältnis zwischen der auf der sittlichen Freiheit beruhenden (poövrjoiq und den konkreten Zielen des Lustbegehrens scheint Aristipp jedoch nicht ganz ins Klare gekommen zu sein. Darauf weist die Notiz Diog. L. II 91 hin: rt]v (pgöv^aiv dya&bv fxev elvai ksyovaiv, ov Si eaviTJv de alysTrjV, uD.a öid xd e§ avxfjq Ttsgiyiyvößsva. Die innere Synthese von rjöoval und (pQÖvriGiq bezw. innerer Freiheit war auf aristippischem Boden eine unlösbare Aufgabe. l ) Außer den oben (namentlich S. 302, 1) bereits zitierten Stellen vgl. noch Krit. 44 D, wo Kriton im Gespräch mit Sokrates bemerkt, ol nokkol seien im- stande, nicht die kleinsten, sondern die größten Übel über Mißliebige zu ver- hängen, und Sokrates hierauf antwortet: El ydo w<pelov, a> Kglxwv, olol x tlvai oi nokkol xu [Atyioxa xaxd igydt,ea&ai, "va olol x rjaav xal xd fieyioxa aya&d, xal xaküiq av ei%ov vvv 6k ovdexsga olol xs' nvxe yaQ (poövi/iov ovze ä<poova övvaxol noijjaai, noiovai de xovxo, o xi äv xv%(ooi. 328 Das sokratische Evangelium. messung der Güter von selbst der Tugend den Vorzug vor allen übrigen geben werde (Protagoras 351 B — 357 E). Kein Zweifel: dieser Sokrates hält die Tugend für das Glück. Aber er fordert darum nicht Verzicht auf die anderen Güter. In der Apologie läßt Plato ihn sagen, nicht aus dem materiellen Besitz entspringe die Tugend, sondern umgekehrt: aus der Tugend ergeben sich dem Menschen Besitz und alle übrigen Güter. 1 ) Das heißt: alle Güter des Lebens werden Güter doch erst, indem sie sich dem sittlich vollkommenen Leben ein- und unterordnen. Dieses Ein- und Unterordnen aber ist für den platonischen Sokrates das Wesen der sittlichen Freiheit. Und Plato hat in der Alkibiadesrede des Symposions von dieser Freiheit ein schönes Bild gezeichnet, indem er uns ihre Verkörperung in der Person des Sokrates vor Augen stellt, und damit noch nachträglich auch diese Seite des sokratischen Ideals zur Geltung gebracht. Hier ist die unglaub- liche Gewalt des Sokrates über sein Triebleben, zumal über das erotischeVerlangen, geschildert, seine wunderbare Fähigkeit, Hunger, Durst, Mühen und Strapazen zu ertragen, seine Besonnenheit, seine innere Festigkeit und sittliche Einsicht, seine Tapferkeit und Ausdauer und vor allem seine Gleichgültigkeit gegen körperliche Schönheit, gegen Reichtum und alle die Besitztümer, die dem Besitzer in den Augen der Menschen einen Vorzug zu verleihen pflegen. Daß diese Charakteristik stark an das Sokratesbild des Antisthenes erinnert, ist oben schon bemerkt worden. Schließlich ist aber ihr ganzer Tenor ein anderer. Dieser Sokrates ist doch nichts weniger als ein Asket, der von sich selbst und anderen die Loslösung von den Gütern dieser Welt und dieses Lebens fordern würde. Fröhlichen Gelagen, wo heiterer Lebensgenuß zu seinem Rechte kommt, weicht er nicht aus; selbst dem Trinkzwang ent- zieht er sich nicht. Gern weilt er da, wo Jugend und Schönheit den Ton angeben. 2 ) Und von ganzem Herzen freut er sich der ') Apol. 30Af. (s. die ganze Stelle oben S. 302,1): . . ovx ix xQnnäxuiv agexrj ylyvsxai, dtä e£ aQtxrjq XQ*tl xaTa XCCI xaXXa dya&d xolq äv&Qwnoiq anavxa xal löla xul öitfioola. Verfehlt ist es, wenn M. Heinze a. a. O. S, 748, 5 aus dieser Stelle eine „utilitaristische" Begründung des Tugendstrebens heraus- lesen will: eine Motivierung für das Streben nach Tugend soll doch hier nicht gegeben werden. 2 > Außer dem Symposion vgl. z. B. die Szenerie des Charmides. Sittliches Leben und Glück. 329 Kultursegnungen, die Athen seinen Bürgern zu bieten vermochte. 1 ) Ja, man darf wohl sagen: der Sokrates der frühplatonischen Schriften, mit dem derjenige der Alkibiadesrede des Symposions identisch ist, schwimmt im Strome der Kultur, ihrer Arbeit und ihrer Lebensfreude — so aber, daß er stets die Sicherheit behält, die Woge, die ihn trägt, meistern zu können. Denn zuletzt muß ihm doch alles, was er tut und erlebt, dazu dienen, sein Leben sittlich vollkommen zu gestalten. Den Eindruck indessen behalten wir: der vollen Wucht, mit der Sokrates auf die innere Selbständigkeit des Menschen, auf die Unabhängigkeit seines Glücks von allen fremden, dem Herr- schaftsbereich des menschlichen Willens entzogenen Mächten hindrängt, kurz : der Energie, mit der er den Menschen ganz auf sich selbst stellen will, ist Plato, auch in seiner ersten Zeit, nicht ganz gerecht geworden. 2 ) Hier treten Antisthenes und — als Gegenstück zu diesem — Aristipp, sekundär auch Xenophon in die Lücke. Allein klar sehen können wir nur, wenn wir hinter die dogmatisch-doktrinären Fassungen, die die Sokratiker dem Gedanken des Meisters gaben, zurückgehen auf das Lebens- problem, das Sokrates vor Augen hatte und für das Leben lösen wollte. Sokrates geht, das ist deutlich erkennbar, von der Einsicht aus, daß die innere Freiheit, von der das Heil des Menschen abhängt, in ihrem wesentlichsten Kern Unabhängigkeit vom eigenen Triebleben ist. Alle die Güter, von deren Besitz die traditionelle Schätzung menschliches Glück bedingt sein läßt, wurzeln zuletzt im Begehren des Menschen: das menschliche Begehren richtet sich nicht allein auf Speise und Trank, auf sexuellen Genuß und körperliches Wohlsein, auf Ehre und Ansehen, sondern auf alle die Dinge, von denen Lust zu erwarten ist. Lust aber ist in allen Fällen Befriedigung menschlicher Triebe oder, wie man *) Vgl. besonders die Rede der vößoi im Kriton. 2 ) Zu vergleichen ist übrigens noch Laches 191 D, wo festgestellt wird, tapfer seien nicht nur die iv reo noXsßixql etösi Tapfern, sondern auch die ev zolg TtQoq xi\v SäXuxtav xivdivotg und ferner oaoi ys ngög vöaovg xal öaoe ngbg nsvlag 7j xal ngog td noXixixa uvöqüoL etat, xal en av (xri ßövov oooi TtQoq, Xvnag uvöqhoL slaiv r} ipößovg, aXXd xal ngog eniSvfxiccg rj ijöovdg öeivol ßäxeo&ai . . . 330 Das sokratische Evangelium. statt dessen auch sagen kann, der aus den Trieben entspringenden Begehrungen: Lust stellt sich überall da ein, wo der Mensch das erreicht, was sein Herz begehrt. Darum also, weil des Menschen Begehren nach Leben, nach physischem Wohlbefinden, nach ero- tischer Betätigung, nach Ruhm und Macht u. dgl. strebt, darum sind diese Dinge für ihn Güter, darum haben sie Macht über ihn, darum ist ihr Besitz für ihn Glück, ihr Fehlen Unglück, darum empfindet er Schmerz, wenn sie ihm genommen oder geschädigt werden. Die Aufgabe ist also, diese Macht zu brechen, die Begehrungen so niederzuhalten, daß sie nicht mehr über das Glück des Menschen zu entscheiden haben. Aber dieses Niederhalten ist nicht Unterdrückung, nicht Ab- tötung. Asketisch denkt Sokrates in der Tat ganz und gar nicht. Schließlich sind alle diese Begehrungen doch natürliche Dinge, und Sokrates ist sicher der Meinung gewesen, daß ihre Vernich- tung eine Zerstörung der Menschennatur selbst wäre. Nur das kann für den Menschen in Frage kommen, sie zu beherrschen, so daß er sein Glück nicht in ihre Hand gibt. Aber die Enkratie, die Sokrates hier fordert, ist sehr viel mehr als die formale Selbst- beherrschung. Daß diese an sich kein Glück bringen kann, hat ohne Zweifel auch er gewußt — so gut wie das andere, daß all sein Predigen vergeblich wäre, wenn er nicht imstande wäre, dem menschlichen Glücksbegehren selbst ein Ziel und einen Halt zu zeigen. Und das allerdings glaubt er zu können. Das sittlich vollkommene Leben ist nicht bloß das höchste Glück für den Menschen, es erscheint ihm auch so, wenn in ihm nur einmal die sittliche Einsicht wach geworden ist. Denn der natürliche Wille des Menschen erstrebt zuerst und zuletzt vollkommenes Leben der Seele, und die Befriedigung, die sich an dieses knüpft, ist für den sehend gewordenen Menschen die größte Lust. Allein zwischen diesem Wollen und jenen Begehrungen besteht im Grunde nicht einmal ein Widerstreit: das Lustbegehren ist dann am vollständig- sten befriedigt, wenn die Begehrungen in das sittlich vollkommene Leben eingehen; andererseits erhält das Wollen, das auf die Voll- kommenheit hinstrebt, von den aus dem natürlichen Triebleben hervorgehenden Begehrungen sozusagen seinen Inhalt. Beherr- schung des Trieblebens ist also Unterordnung desselben unter den Vollkommenheitswillen. Hiezu aber bedarf es keines Zwanges, Sittliches Leben und Glück. 331 der das Begehren wider seine Natur vergewaltigen würde: die natürlichen Begehrungen selbst erhalten erst im Rahmen des voll- kommenen Lebens ihre volle und reine Befriedigung. Und die Herrschaft des sittlichen Willens betätigt sich darin, daß er unter den natürlichen Begehrungen diejenigen auswählt und sich ein- fügt, die der Verwirklichung der Vollkommenheit der Seele so oder so zu dienen geeignet sind. Von hier aus tritt das Wort, das der Sokrates der plato- nischen Apologie ausspricht, in die rechte Beleuchtung: aus der Tugend erwüchsen dem Menschen allererst alle übrigen Güter. Vor allem aber erhalten nun die immer wiederkehrenden Ver- sicherungen des xenophontischen Sokrates, daß erst die Tugend den Freuden die rechte Freudigkeit, den Genüssen den rechten Genußwert verleihe, den richtigen Hintergrund. Sie verlieren das Peinliche, das ihnen in der Darstellung der Memorabilien an- haftet, und erweisen sich deutlich als ein Nachklang von Erörte- rungen, wie sie zweifellos Sokrates wirklich gepflogen hat. Endlich wird uns jetzt auch Ar i stipp ganz verständlich. Seine Rettung der Lust ist offenbar von Haus aus nichts anderes als eine Rettung des natürlichen Begehrens. Und daß er hierin den Spuren des Sokrates folgt, wäre sicher, auch wenn er die fundamentale Be- deutung der inneren Freiheit für das Glück des Menschen weniger nachdrücklich betont hätte, als er dies wirklich getan hat. Darin allerdings hat er sich vergriffen, daß er die Lust für das letzte Ziel und den eigentlichen Gegenstand des natürlichen Begehrens und darum schließlich auch für den Inhalt des sittlichen Wollens gehalten hat. Aristipp seinerseits vermag ja diesen Standpunkt nicht durchzuführen : die innere Freiheit selbst ist ihm nicht Lust, und auch, daß Lustzustände imstande seien, die innere Festigkeit und Stärke, die die Voraussetzung der Freiheit ist, zu fördern oder gai herbeizuführen, hat er sicher nicht behaupten wollen. Für Sokrates ist — das läßt sich mit voller Bestimmtheit erkennen — Lust nur die Befriedigung, die sich aus der Erreichung eines Ziels, aus der Verwirklichung eines Begehrungszwecks ergibt, nicht das Ziel und der Zweck selbst. Seelenvollkommenheit aber ist ihm, auch das ist gewiß, eine aktive, spontane Kraft, deren Betätigung das vollkommene Leben ist. Dieses vollkommene Leben ist das letzte und höchste Ziel des menschlichen Wollens; 332 Das sokratische Evangelium. die Lust aber, die unzweifelhaft ein Bestandteil des sittlichen Glücks ist, ist wieder nichts als die Befriedigung, die sich an die Verwirklichung dieses Zweckes knüpft. Begehrungen, die auf die Herbeiführung von Lustzuständen als solchen gerichtet wären, könnte — wenn es solche gibt — der sittliche Wille schon darum nicht in sich aufnehmen, weil diese ihn aufs neue abhängig machen würden von etwas, was nicht in ihm selber liegt. Bei Xenophon (Mem. III 9, 14) findet sich eine instruktive Bemerkung über das Glück, die sich zwar zunächst an Piatos Euthydem anlehnt, die aber zuletzt wohl auf den historischen Sokrates selbst zurückgeht. 1 ) Und vielleicht kommt die wohl der antisthenischen Literatur entnommene Fassung Xenophons dem sokratischen Gedanken am nächsten. Der Sokrates der Memora- bilien unterscheidet grundsätzlich zwischen Eutychie undEupraxie: Eutychie ist Glück haben, und Glück hat man, wenn einem etwas, was man brauchen kann, ungesucht in den Schoß fällt; Eupraxie aber, Glück erarbeiten, ist tüchtiges Handeln, gegründet auf rechtes Können und Wissen. Vermutlich haben wir hier eine der sokratischen Unterscheidungen vor uns, die sich äußerlich an die Synonymik des Prodikos anschlössen. So aber, wie sie von Sokrates ursprünglich gemeint war, blickt sie wohl auf den — modern gesprochen — energistischen Charakter des sittlichen Glückes hin, und Eupraxie ist das sittliche Glück. 2 ) Wie dem nun sei: so viel geht aus allen unseren Quellen mit Sicherheit hervor, daß der Inhalt des vollkommenen Lebens *) Womit natürlich nicht gesagt sein soll, Xenophon verdanke den sokrati- schen Ausspruch eigener Erinnerung. 2 ) S. hiezu die Ausführung oben S. 56. — Die Art, wie Plato in Euthyd. 278 E ff. die Unterscheidung, die er zunächst aus der antisthenischen Literatur aufgenommen hat, akzeptiert, macht durchaus den Eindruck, daß diese ursprünglich sokratisch ist. Auch nach Piatos Darstellung scheint ja Sokrates solche Unterschei- dungen sehr geliebt zu haben, und im Hinblick auf sie bezeichnet er sich ja auch bei Plato häufig als einen Schüler des Synonymikers Prodikos. Die von Plato in der Euthydemstelle gegebene Fassung des Unterschieds ist nun aber, da sie sich durchaus in den Rahmen seiner fortgeschrittenen Anschauungen fügt, sicher sein Eigentum. Dagegen lehnt sich die xenophontische Formulierung augen- scheinlich an einen antisthenischen Bericht an. Und daß sie dem sokratischen Gedanken ziemlich nahe kommt, ist schon darum wahrscheinlich, weil sie mit sicher genuin sokratischen Anschauungen ganz zusammentrifft. Vgl. die folgende Anmerkung. Sittliches Leben und Glück. 333 für Sokrates ein Handeln war 1 ) — ein Handeln in dem weiteren Sinn, in dem es den Gegensatz zu Genießen bildet — , ein Sich- betätigen in dem Lebenskreis, in den Natur und Schicksal den Menschen hineingestellt haben 2 ); Glück aber ist dieses Handeln, dieses Sichbetätigen, sofern an dasselbe Befriedigung gebunden ist. In keinem Fall aber ist dieses Glück abhängig vom Erfolg des Handelns. Gewiß ist die Arbeit im Dienst des sittlichen Ideals ein sittliches Tun. Aber ihre nächsten Zwecke — man denke etwa an das von der Pflicht diktierte Handeln des Beamten oder Volksführers oder auch an die berufliche Tätigkeit eines Künstlers oder Handwerkers — greifen in der Regel über das Gebiet hinaus, das vom Willen des Handelnden beherrscht ist. Das Gelingen ist also von Mächten abhängig, die der handelnde Mensch nicht in seiner Gewalt hat. Würde darum sein Glück durch dieses Gelingen beeinflußt, so würde es aufs neue der Willkür fremder Gewalten anheimfallen. Für das sittliche Glück aber ist das Wollen des von der Pflicht geforderten Zwecks, dem die Tat folgt, genug. Scheitert dieses an Widerständen, deren Bewältigung nicht in seiner Macht ist, so ist schon das Wollen selbst und die eingeleitete Handlung eine Förderung der sittlichen Vollkommenheit. Und das vollkommene Leben ist Betätigung der sittlichen Energie, die sich weit weniger in der äußeren als in der inneren Überwindung hemmender Schwierigkeiten, in der inneren Stärke, mit der der Wille über das Mißlingen Herr wird, kundgibt. Dieses innere Gelingen aber fehlt dem sittlichen Streben, der „Sorge" um das Besserwerden der Seele nie. 3 ) *) Von hier aus nämlich erklärt sich der antisthenische Grundsatz ttjv dgt- tj?v TÖ>v epywv elvai, Diog. L. VI 11 (wozu das 'Avno&evixöv: ßaailixov fxhv sv npdttsiv, xaxwc 6h dxovtiv, Winckelm. S. 18 III zu vergleichen ist), von hier aus insbesondere auch der antisthenische Kultus des növog. S. ferner die anti- sthenische Parole: tu kctvzov ngdxzeiv (unten S. 392,2). Vgl. auch z.B. die beiden Reden der dgev/j im Heraklesmythus Mem. II 1. Ebenso Plato Apol. 28 B, Gorg. 507 BC u. ö.: daß in Piatos Darstellung die sokratische Tugend durchweg ener- gistische Tendenz hat, ist nicht zu verkennen; darauf weist ja auch die unab- lässige Forderung der £nLfj.elua xpv%riq hin, und die hedonistischen Ausführungen im Protagoras sprechen, wie ich nicht mehr ausdrücklich nachzuweisen brauche, keineswegs dagegen. 2 ) Hiezu vgl. die Ausführung unten Kap. 5. 3 ) Apol. 28 B ist nachdrücklich erklärt, der sittliche Mensch dürfe sich nie um die Folgen, um den Effekt seines Handelns kümmern, sondern nur darum, 334 Das sokratische Evangelium. Denn das allerdings ist Sokrates' Überzeugung, daß die Natur dem Menschen nicht bloß den sittlichen Drang, sondern auch die Kraft, sein Triebleben zu beherrschen und den sittlichen Zweck zu verwirklichen, mit auf den Weg gegeben habe, 1 ) und mit Ent- rüstung hätte er den Gedanken, wenn er ihm entgegengetreten wäre, von sich gewiesen, daß der Mensch von Natur schwach und unfrei zum Guten sei. 2 ) Sokrates verlegt das Glück ganz ins Innere des Menschen. Aber er ist auch der Meinung, daß dieses Glück ganz zu erreichen sei. Darin vollendet sich der Gedanke von der Autarkie des sitt- lichen Lebens. Die Freiheit aber, die Sokrates im Auge hat, ist nichts anderes als diese Autarkie. Sie ist die Seelenverfassung, in der der Mensch sein ganzes Triebleben dem sittlichen Willen dienstbar macht und im sittlichen Vorwärtsstreben sein volles Glück findet. Der asketischen Freiheit steht dieses Ideal weltenfern. Die Güter, welche Natur, geistiges, soziales und kulturelles Leben für den Menschen in sich schließen, läßt So- krates nicht bloß als Güter, sondern als sittliche Güter gelten. Denn der sittliche Wille selbst drängt auf ihre Verwirklichung hin. Allein ihr Wert hängt allerdings davon ab, daß sie sich dem sittlichen Endzweck des vollkommenen Lebens unterordnen. Mit anderen Worten : wirkliche Werte sind sie für den Menschen nur dann, wenn er ihnen gegenüber innerlich frei bleibt, wenn sein Glück nicht durch ihren Besitz oder Verlust bestimmt wird. daß dasselbe gut sei (vgl Gorg. 512 E). So wird denn von Sokrates alles Ge- wicht auf die emuefaia trjg tpvxfjg önwq d>q ßtlTiorrj saxai (kürzer: im/ueteta uvtov oder aQsxrjq) gelegt. Daß dieser Begriff in der sokratischen Protreptik eine sehr bedeutende Rolle gespielt hat, zeigt nicht allein die frühplatonische Lite- ratur (man vgl. allein schon in der Apologie die folgenden Stellen : 29DE, 30AE, 31 B, 32 D, 36 C, 39 D, 41 E). Auch bei Antisthenes scheint er stark hervor- getreten zu sein (Winckelmann 58 VII, Euthyd. 275 A, 278 D u. ö., Kleitophon 407D, 408B, 410B, 410D). Ganz besonders aber bei Xenophon (Joel I 492 zählt allein in den Mem. nicht weniger als 98 Stellen). Und auch in den spärlichen Fragmenten von Äschines haben wir Spuren von diesem Sokratikum (im Alki- biades, fr. 1 Krauß S. 35, 53 ff.). J ) Vgl. hiezu die Ausführung über die sokratische Teleologie im 6. Kapitel. 2 ) Auch Antisthenes will, wenn er die These aufstellt avxaQxtj zi)v apstTjv sivai TiQoq svöaifioviav, (xrjSevhg 71Qoo6eo/u^vj]V ort fir/ ScoxQaTtxfjq loxvoq, damit keineswegs sagen, dem gewöhnlichen Menschen sei das Ziel uner- reichbar. Sittliches Leben und Glück. 335 Die sittlich freie Persönlichkeit steht ganz auf sich selbst. Und der Mensch, der eine solche Persönlichkeit geworden ist, ist un- abhängig von seinen eigenen Neigungen und Interessen, auch von denen, die ihm am höchsten stehen, unabhängig von Schmerz und Leid — denn Gewalt haben die Übel nur über den, der von seinen Begehrungen beherrscht ist, und auch der physische Schmerz kann das sittliche Glück nicht beeinträchtigen — , un- abhängig ferner vom Schicksal und unabhängig nicht zuletzt vom Leben selbst. Denn der sittlich Freie ist Herr geworden auch über den allmächtigen Drang zum Leben. Höher als das physi- sche Leben steht ihm ja das sittliche. Wer darum dieses hat, kann jenes mit heiterer Resignation hingeben. Und weder die Todesfurcht noch die Ungewißheit über das, was nach dem Tode kommen wird, kann seinen Frieden stören und seinen Lebensmut brechen. 1 ) Nicht zu verkennen ist, daß diese sittliche Autarkie den so- matischen Individualismus auf die Spitze treibt. Denn sie besagt, daß die Persönlichkeit nicht allein sich Selbstzweck sei, sondern auch sich selbst genüge, daß der Mensch, um sein sittliches Ziel zu erreichen, der Beihilfe der anderen Menschen, der Gesellschaft nicht bedürfe. 2 ) Daß dieser Individualismus indessen die sozialen Neigungen so wenig ausschließt wie die kulturellen Interessen, wird sich in der Folge zeigen. Mit dem Egoismus hat er lediglich nichts zu tun. Der sokratische Individualismus ist zuletzt durch das Wesen des sittlichen Lebens selbst unabweisbar gefordert. Es ist eine grandiose Lösung des Glücksproblems, die in der Idee der sittlichen Autarkie liegt. Der Pessimismus weicht hier einem sieghaften Optimismus, und zwar einem Optimismus, der von einer starken Diesseitigkeitsstimmung durchaus beherrscht ist. Das sokratische Evangelium flüchtet sich nicht, um für den Jammer dieses Lebens einen Ersatz und für seine quälenden J ) Vgl. Apol. 29AB 40Cff. 32 Äff. 38 E ff. u. ö. Die Illustration zu dem im Text Gesagten liefern ja die ganze Apologie und der ganze Kriton. Daß aber in diesem Punkt Antisthenes mit Plato durchaus übereinstimmt, braucht nicht aus- drücklich versichert zu werden. 2 ) Antisthenes sagt ausdrücklich, der Weise (d. h. der zur inneren Freiheit und sittlichen Einsicht Durchgedrungene) sei sich selbst genug, Diog. L. VI 11: avTuQxrj te tlvai zbv ooiföv. nüvra yag avxov sivai tu xiöv ükkwv. 336 Das sokratische Evangelium. Dissonanzen einen Ausgleich zu schaffen, in ein besseres Jenseits. Den Unsterblichkeitsphantasien der Mystiker steht Sokrates völlig ferne. Das Diesseits ist sich selbst genug. Er bedarf darum auch nicht der mystischen Erlösungsmittel, um in diesem Leben das Heil zu finden; nicht darin liegt das Heil, daß der Mensch in der ekstatischen Entrückung sein irdisches Ich verliert, um eine höhere Daseinsform zu erlangen, sondern darin, daß er dieses Ich findet, um es zu vollkommenem Leben zu führen. Und dieses Leben, das sittliche Glück, ist volle Seligkeit. Vor diesem Eudämonismus verstummen in der Tat die Be- denken, die sich sonst gegen eudämonistische Anschauungen kehren. Denn das ist in Wahrheit hochgespannter Idealismus. In neuerer Zeit hat Kant den Eudämonismus in Verruf ge- bracht und ebenso auch gegen die Versuche, im diesseitigen Leben die Lösung des Glücksproblems zu suchen, Mißtrauen erregt. Seine Erwägungen haben auch heute noch nicht alles Gewicht verloren. Und es verlohnt sich, ihn für einen Augen- blick dem Sokrates gegenüberzustellen. Auch Kant hat den Gedanken der sittlichen Autonomie auf- genommen und im Kampf gegen die heteronomen Vorstellungs- weisen, zumal gegen die theonome, energisch durchgeführt: das sittliche Sollen ist ihm, so sehr er die unbedingte Verbindlichkeit des Sittengesetzes betont, zuletzt ein Wollen: der menschliche Wille gibt sich im Sittengesetz selbst das Gesetz. Aber indem der Philosoph des kategorischen Imperativs so aus dem sittlichen Leben den Dualismus von Gebotsteller und Gebotuntertanen ent- fernt, trägt er einen anderen in die ganze Menschennatur hinein, den Dualismus zwischen sittlichem Wollen und sinnlichem Begehren. Sinnliches Begehren ist ihm Glücks- oder, was für ihn dasselbe ist, Lustbegehren. Und da alles Wollen, das sich auf die Ver- wirklichung eines bestimmten Zweckes richtet, in Wahrheit nur die von dem bezweckten Objekt erwartete Lust anstrebt, so ist alles Zweckstreben ein solches Lustbegehren. Da nun aber das sittliche Wollen in keinem Fall Streben nach Lust sein kann, so muß es ganz anders geartet sein als alles übrige menschliche Begehren: es ist das lediglich durch den Gehorsam gegen das Sittengesetz bestimmte Wollen. Andererseits läßt Kant dem Glücks- begehren durchaus sein Recht: dieses Streben wurzelt in der Sittliches Leben und Glück. 337 Menschennatur selbst. Und er ist zu sehr Teleolog im Stil des 18. Jahrhunderts, um eine derartige Veranstaltung der Natur als etwas Unberechtigtes wegdekretieren zu wollen; zugleich ist er doch auch nicht Asket genug, um dieses Element des mensch- lichen Strebens aus der Idee des höchsten Guts zu beseitigen. Damit aber ist die Antinomie zwischen dem sittlichen Wollen und dem Glücksbegehren da. Und Kant hat sich die Lösung, so nahe er ihr gekommen ist, 1 ) von vornherein unmöglich gemacht. Der Gedanke, daß der sittlich wollende Mensch in der Verwirklichung des sittlichen Zwecks, nach der er strebt, zugleich sein Glück findet, ist ihm verschlossen geblieben. Er reißt nicht allein das sittliche Wollen und das Glücksbegehren selbst, sondern auch das Subjekt, das sich das Gesetz gibt, d. h. das Sittliche will, und das andere, das das Glück anstrebt, völlig auseinander. Zu ver- muten, daß das Ziel, zu dem das Sittengesetz ihn ohne daß er darum weiß hinleitet, zugleich sein Glück bedeute, hat der Mensch auf Kant'schem Boden nicht nur keinerlei Anlaß; für Kant sind vielmehr dieses Ziel und das Glück gar nicht ineinander: ihm ist — diese Tatsache vermögen alle Interpretationskünste nicht aus der Welt zu schaffen — das Glück weit mehr als die Befriedi- gung, die sich an die Verwirklichung des sittlichen Ziels knüpft. So ist allerdings die Lösung der Antinomie nur von dem Ein- greifen einer transzendenten Macht in einem jenseitigen Leben zu erwarten. Man hat längst gesehen, daß Kants Polemik gegen den ethi- schen Eudämonismus mit einem psychologischen Versehen zu- sammenhängt. Der Philosoph verwechselt die Lust, die der Mensch an einem vorgestellten Zweck hat, die sich also an die Zweckvorstellung anschließt, mit derjenigen, die aus der Ver- wirklichung des Zwecks entspringt. 2 ) Daß nun in sämtlichen Handlungsmotiven Lustgefühle von jener ersten Art enthalten sind, ist unverkennbare Tatsache: die Motive sind ja, psychologisch betrachtet, nichts anderes als von Lustgefühlen begleitete Zweck- vorstellungen. Kant selbst gibt das im Grunde auch für die sitt- lichen Motive zu: die moralische Triebfeder ist ihm ein morali- 1 ) Vgl. die „Dialektik der reinen praktischen Vernunft", 2. Haupst, II (Kritische Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft). 2 ) Vgl. meine Psychologie des emotionalen Denkens, 1908, S. 764 f. H. Maier, Sokrates. 22 338 Das sokratische Evangelium. sches Lustgefühl, das sich, wie wir seine Ausführungen präzisieren können, an die Vorstellung der Gesetzesbefolgung — die fak- tisch doch auch nichts anderes ist als eine Zweckvorstellung — anknüpft. Aber diese Lustgefühle, in denen ich den Wert der er- strebten Zwecke erlebe, sind etwas anderes als die Lustgefühle, die ich von den verwirklichten Zwecken erwarte, und ein Handeln, das die Gewinnung von Lustgefühlen der letzteren Art bezweckt, ist hedonistisch, nicht aber ein solches, das von Lustgefühlen der ersten Art geleitet ist. Für Kant ist diese Verwechslung schon darum verhängnisvoll geworden, weil er, indem er vermied, dem sittlichen Wollen einen Zweck zu geben und es mit dem Glückstreben in inneren Zusammenhang zu bringen, sich die Möglichkeit nahm, das Sittengesetz ganz an das persönliche Interesse des Individuums zu knüpfen und so die Idee der sitt- lichen Autonomie in ihrer vollen Tragweite zu erfassen und zur Geltung zu bringen. Freilich, im tiefsten Grunde sind es nicht diese psycholo- gischen Erwägungen gewesen, die seinem Denken hier die Rich- tung gewiesen haben. Daß er dem Glücksbegehren einen so breiten, weit über das vom Sittengesetz verfolgte Ziel hinaus- greifenden Spielraum zugestand und damit die Kluft zwischen dem sittlichen Streben und dem Verlangen nach Glück noch er- weiterte und vertiefte, das erklärt sich zuletzt aus dem Herein- wirken einer transzendent-religiösen Stimmung, die das mensch- liche Glück und den Ausgleich zwischen Verdienst und Schicksal ganz in die Hand der Gottheit legt und einem jenseitigen Leben vorbehält. Diese Stimmung hat Kant die Lösung verdeckt, die das Diesseits für das Glücksproblem bereithält. Aber sie hat ihn auch um die volle Frucht seiner ethischen Einsicht gebracht. Denn nicht genug, daß der Mensch mit seiner Glücksehnsucht wieder auf eine fremde Macht verwiesen wird und anstatt eines gegenwärtigen Besitzes, einer irdischen Befriedigung die Hoffnung auf ein Jenseits, deren stärkste Stütze doch eben nur das mensch- liche Bedürfnis ist, hinnehmen muß. Auch die Selbständigkeit des sittlichen Willens ist in Frage gestellt. 1 ) Das Sittengesetz J ) Schon insofern als das sittliche Streben in eine gewisse Abhängigkeit vom Unsterblichkeitsglauben gerät. Der Satz vom Tugendwissen. 339 selbst stellt sich mittelbar doch wieder als göttliches Gebot dar. Hier rächt sich, daß Kant den Gedanken der Autarkie nicht fassen konnte: zur vollen Geltung kommt die ethische Autonomie nur, wenn sich ihr die Autarkie des sittlichen Lebens zugesellt. 1 ) Man sieht: dem sokratischen Eudämonismus kann auch Kants Kritik nichts anhaben. Allein wie groß steht neben dieser Halb- heit, für die das Sittliche doch nur eine harte Notwendigkeit, nicht das beseligende Lebenselement ist, neben diesem Pessi- mismus, der von dem irdischen Leben und der eigenen Arbeit des Menschen kein volles Glück zu erhoffen wagt, neben diesem Kompromiß, der zwischen den Emanzipationstendenzen autonomer Sittlichkeit und der christlichen Neigung, alles aus Gottes Hand zu erwarten .und zu empfangen, vermitteln möchte, — Sokrates' schlichtes Diesseitigkeitsevangelium da mit seinem Optimismus, seinem Lebensmut, seiner entschlossenen Lebensbejahung, dieses Evangelium, das in der Herrlichkeit des sittlichen Strebens die Er- lösung, die Seligkeit, die beglückende Antwort auf die quälenden Lebensfragen findet ! Drittes Kapitel. Der Satz vom Tugendwissen. Die Menschen, zunächst die Athener, auf diese Höhe des Ideals und des Glücks zu führen, ist die Aufgabe, die Sokrates seinem Leben gestellt hat. Den Weg aber, den er zu gehen ge- dachte, hat er sich in dem Satz: Tugend ein Wissen, vorgezeichnet. Und das Mittel, das ihn zum Ziele führen sollte, war seine sitt- liche Dialektik. Das nämlich ist von vornherein im Auge zu be- halten: der Satz „Tugend ein Wissen" und die sokratische Dia- lektik gehören zusammen. Letztere ist dazu bestimmt, in den Menschen das sittliche Wissen zu erwecken, mit dem die Tugend erreicht ist. Heute noch gilt der Satz „Tugend ein Wissen" als die Achilles- ferse der sokratischen „Ethik". Man faßt ihn als einen psycho- logisch-ethischen Lehrsatz. Dann muß er als der Ausdruck *) Vgl. die Charakteristik der Autarkie in Phileb. 20D (oben S. 323,1). 22* 340 Das sokratische Evangelium. intellektualistischer Einseitigkeit erscheinen, gegen die sich in der Tat die schärfste Kritik der Philosophen seit Aristoteles gerichtet hat. Man hat sich nun alle Mühe gegeben, diesen Irrtum aus der Per- sönlichkeit des Sokrates zu begreifen. Er selbst sei, so sagt man wohl, ohne Leidenschaften gewesen und habe darum mühelos sein Triebleben dem Urteil der Vernunft unterzuordnen vermocht; sein Fehler aber sei der gewesen, daß er diese persönliche Erfahrung verallgemeinert habe. Zwei Fragen seien demgegenüber erlaubt. Einmal : war Sokrates wirklich dieser affekt- und marklose Tugend- spiegel? Hätte die Jugend des damaligen Athen in ihrer über- schäumenden Lebenskraft — man denke wieder an Leute wie Alkibiades oder Kritias — an diesem abstrakten Schulmeister mit der blutlosen Tugend Gefallen gefunden? Lag ni.cht vielmehr das, was an Sokrates' Persönlichkeit so groß und imponierend erschien, eben darin, daß er sein reiches, starkes Triebleben zu meistern und dem Ideal, das ihn leitete, dienstbar zu machen vermochte? 1 ) Sodann aber: ist anzunehmen, daß Sokrates, auch wenn er von der Macht der Triebe und Affekte keine persönliche Erfahrung hatte, das Leben und die Menschen so wenig kannte, daß ihm gänzlich unbekannt geblieben wäre, wie häufig „besseres Wissen" gegenüber dem Andrang der Leidenschaft ohnmächtig ist? 2 ) Dann wäre er ein schlechterer Psychologe gewesen als der nächste beste Philister, dem doch hin und wieder die schmerz- liche Ahnung aufgeht, daß menschliche Regungen auch seine Vor- trefflichkeit trüben können. Und ist es nicht ein seltsamer Wider- ') Wie es um die Glaubwürdigkeit der Anekdote steht, daß der Physio- gnomiker Zopyros in Sokrates' Gesicht die Anzeichen einer starken Sinnlichkeit entdeckt, und daß Sokrates selbst die Richtigkeit dieser Beobachtung mit dem An- fügen, er sei inzwischen dieser Begierden Meister geworden, bestätigt habe, will ich nicht untersuchen (vgl. R. Förster, Scriptores physiognomici Proleg. VII ff.). Die Erzählung scheint aber auf Phädos Dialog Zopyros zurückzugehen. Im übrigen ist der aus dem Altertum überlieferte Klatsch historisch wertlos. Das gilt besonders auch von den auf Aristoxenos zurückgehenden Angaben über Sokrates' Zornausbrüche und über seine sexuelle Leidenschaftlichkeit. Daß Sokrates indessen ein sehr impulsives Triebleben besaß, das er aber meisterhaft zu be- herrschen verstand, den Eindruck muß jeder bekommen, der die Alkibiadesrede des platonischen Symposions unbefangen liest. 2 ) Man braucht sich nicht erst an Protag. 353Cff. zu erinnern, um dessen gewiß zu werden, daß diese Erfahrung dem Sokrates nicht fremd ge- blieben ist. Der Satz vom Tugendwissen. 341 spruch, wenn man in diesem weit- und lebensunkundigen Grübler doch andererseits den großen Denker und Herzenskündiger zu verehren pflegt? Nun läßt sich nicht bestreiten, daß unsere Quellen wirklich zu dieser doktrinären Auffassung des sokratischen Satzes die Hand bieten. Das gilt natürlich vor allem von Aristoteles (vgl. oben S. 83 ff.). Aber der ist uns ja kein einwandfreier Zeuge mehr. Es gilt indessen nicht minder von Xenophon, der den durchaus doktrinär verstandenen Satz geflissentlich noch ins Einzelne aus- spinnt, 1 ) von Euklid, der das Wesen der Tugend im spekulativen Wissen um das Gute sieht und hiemit zweifellos den Gedanken des Sokrates zu treffen glaubt, — von dem späteren Plato zu schweigen, der aus dem Satz den anderen gemacht hat: Tugend ist das Wissen. Allein auch die frühplatonischen Schriften enthalten Stellen genug, in denen die Tugend als eine Episteme erscheint, die darum, wörtlich verstanden, die theoretische Deutung nahelegen. 2 ) Insbesondere bewegen sich ja die Diskussionen der Frage, ob die Tugend lehrbar sei, sämtlich in dieser Richtung. Selbst Antisthenes endlich führt die sittliche Einsicht ((pyoyrjGig) doch auch als eine Art von theoretischem Wissen ein. 3 ) Und zum ') Charakteristisch ist Memorab. IV 6, 7: . . "0 apa emozazai exaazoq, zovzo xal aocpög iaziv,- "E/uoiye 6oxel, verglichen mit III 9,41: . . 2o(piav 6h xal ouxpQoavvrjv ov 6ia>Qit,tv . . . h(prj 6h xal zr^v 6ixaioovvr\v xal xtjV aAA^y nüoav aptxqv oocflav tivai. S. ferner IV 6, 2 — 4 und 5 f., I 1, 16 u. ö. *) So Ladies 198 C ff., vgl. 194 D (wo Nikias sagt, er habe den Sokrates oft sagen hören, öxt xavxa dya&dg k'xaaxog r'j/j.cüv, dnsQ ao<pög, a 6b dftaSqc, zavza 6h xaxöq); Protagoras 352 A bis zum Schluß des Buches, wo nicht allein die Tugend als eine tmozrißij, sondern auch die Unsittlichkeit als ä^iattia charakte- risiert ist; man vergleiche ferner den Charmides, besonders von 165C ab. 3 ) Nicht bloß hat auch Antisthenes den Satz vertreten, daß die Tugend lehrbar sei (Diog. L. VI 105, Xen. Sympos. II 12 f., Kleitoph. 408B, 407B). Nach dem antisthenischen Schriftenverzeichnis bei Diog. L. VI 15 hat er eine Schrift ntgl döi-rjq xal imaz?]//7jq geschrieben, und aus Kleitoph. 409Ef. läßt sich er- kennen, daß dieser Gegensatz in seiner Schule schon frühe viel erörtert wurde; und zwar scheint er selbst ohne Bedenken die sittliche Rechtbeschaffen- heit (d. h. natürlich die <fgövT]atg) gelegentlich eine intoz^ßrj genannt zu haben (vgl. 409E Schluß in der Hermann'schen Lesung, die mir nach dem Zusammen- hang ganz plausibel scheint: waxs xavxov leptjoev etvai ofiovotav xal *6ixaioovvr]v* imoxrifxrjv ovaav, äAA' ov 6o£av — ein Wissen wäre danach die bfxövoia, die = Freundschaft ist, sofern sie Gerechtigkeit, d. i. sittliche Rechtbeschaffenheit, wäre. Daß in der Stelle in der Tat, wie Hermann voraussetzt, b/xdioia und 342 Das sokratische Evangelium. Teil wenigstens scheint ja auch die antisthenische Doktrin, daß der einmal tugendhaft Gewordene aus der Tugend nicht mehr fallen könne, hierauf zu beruhen: ein Wissen, das man einmal hat, kann man nicht mehr ganz verlieren; ist also Tugend ein Wissen, so kann sie dem, der sie besitzt, nicht mehr verloren gehen. 1 ) Zudem bezieht Antisthenes in das Tugend-Wissen zugleich die skeptische Einsicht ein: so steigert sich, wie es scheint, noch dessen theo- retischer Charakter. 2 ) Analog liegen die Dinge bei Ari stipp. Die sittliche Einsicht, die mit der inneren Freiheit zusammen- gehört, denkt auch er von einer Seite her als ein Wissen; und auch bei ihm enthält dieses zugleich, wie wir werden annehmen dürfen, die Erkenntnis, die ein Ergebnis der skeptisch-sensualisti- schen Überlegung ist. Allein andererseits finden sich sogar bei Xenophon Äuße- rungen, die deutlich zeigen, daß auch von ihm der sokratische Satz nicht als ein lehrhaftes Dogma verstanden ist. Daß z. B. zur Tugend außer dem Lernen auch die Übung, die Gewöhnung unumgänglich notwendig sei, ist nicht bloß seine eigene Meinung; er legt sie ganz unbefangen auch dem Sokrates in den Mund. 3 ) Die spekulative Wendung bei Euklid ferner hält dennoch den Zusammenhang mit der sittlichen Einsicht ((pyovrjoig) des Anti- sthenes, zu der er oder doch seine Schule später ganz überge- gangen zu sein scheint, fest (S. 267 f.). Im übrigen ist sie ja wohl öixcuoovvrj identifiziert waren, zeigt das Folgende, 410 A: xr\v 6h vnb oov Xtyoixhrjv öixaioovvrjv ?} 6/aövoiav . . Will man indessen den verdorbenen Text mit Bekker und Burnet heilen, indem man xal streicht, so wird in der Stelle die ofxövota mit der im Vorhergehenden genannten <pikla identifiziert, und von ihr weiter gesagt, sie sei wie diese eine snioxrißrj, nicht dögcc. Von der <pilla selbst aber war gesagt, sie sei äya&ov . . nävrwq . . xal öixaioavvrjq spyov, und auf das letztere war augenscheinlich ihr Charakter als imartj/ur] gegründet. So wie so also er- scheint zuletzt die öixatoovvrj als £7iioir',[xrj). Darauf, daß in der antisthenischen Vorlage des Kleitophon selbst die sittliche Rechtbeschaffenheit als inioxrifiri be- zeichnet war, weist übrigens auch die Stelle Dio or. XIII 27 f. (aus dem kynisch- sokratischen Xöyoq) hin. S. ferner Winckelm. S. 60 XIX (aus Diog. L. VI 3) und S. 62 XXXIV (aus Diog. L. VI 8). ') Darauf weist die xenophontische Schutzschrift Mem. I 2, 19 hin. 2 ) Schon der platonische Euthydem blickt auf eine Form der antisthenischen Protreptik zurück, die in die Tugend, zu der sie hinführen will, auch das eristisch- skeptische Wissen einbezieht. 3 ) Zu Mem. I 2, 19 ist hinzuzunehmen II 6, 39, III 9, 2; 9, 14, vgl. IV 1, 3. Der Satz vom Tugendwissen. 343 durch Plato bestimmt. Und wie es bei diesem selbst zu jener Umbildung des somatischen Gedankens gekommen ist, wird sich in einem späteren Zusammenhang verfolgen lassen. In den früh- platonisch en Schriften aber tritt, zumal wenn die Alkibiades- rede des Symposions hinzugenommen wird, dem tiefer Blickenden durch die doktrinäre Hülle hindurch der ursprüngliche Sinn des somatischen Satzes bestimmt genug entgegen. Und mit dem Bild, das wir so gewinnen, steht das, was sich den Gedanken- gängen des Antisthenes und des Aristipp entnehmen läßt, durch- aus im Einklang. Wie übrigens das doktrinäre Element in diese Quellen herein- gekommen ist, läßt sich unschwer feststellen. Sokrates hat, dar- auf ist wiederholt schon hingewiesen worden, für alle Berufsarten und Tätigkeitskreise als Grundlage sachverständiges Wissen ge- fordert. Und daß er dieses Wissen mit dem sittlichen Wissen gern in Parallele gestellt hat, ist als sicher anzunehmen. Welches nun der innere Zusammenhang zwischen dem sachkundigen Wissen und dem sittlichen Leben ist, wird sich später ergeben. Zweifellos aber hat Sokrates in den Unterredungen, die die Menschen zu sittlicher Einsicht führen sollten, immer wieder darauf hingewiesen, daß, wie in allen anderen Dingen zuerst Sachkenntnis not tue, so auch im sittlichen Leben vor allem das entsprechende Wissen anzustreben sei, daß wie überall so auch im sittlichen Gebiet nur der Sachverständige das rechte Urteil habe, den rechten Weg gehen und führen könne, daß schließlich wie alles übrige Wissen so auch das sittliche gelehrt und gelernt werden müsse. Wer den pädagogischen Charakter der somati- schen Dialektik sich vergegenwärtigt, wird sich den Verlauf solcher Gedankengänge leicht ausmalen können. Sie begegnen uns denn auch in den frühplatonischen Schriften sehr häufig. Apologie, Kriton, Laches, Charmides, Protagoras sind voll davon. 1 ) Mög- x ) Sehr instruktiv ist schon die Erörterung Kriton 47 Äff. Hier ist der Meinung der noXXoi über sittliche Dinge (negl xwv ötxaicav xal dölxwv xal uiaxQwv xal xaXwv xal dya&aiv xal xaxüv) die des snatcov gegenübergestellt, und die Frage, welche den Vorzug verdiene, wird mittels Heranziehung der Ana- logie der Gymnastik und Medizin entschieden; das Ergebnis ist: ovx äga . . nävv ■fifüv ovto> qjoovxioxsov, xl sqovoiv ol nok).ol r)fxäg, aX)^ bzi ö inatcov neol xwv öixaicDV xal äSixcov, 6 dg xal avxr) i\ dXiq&eia. S. ferner Laches 184 E ff., wo 344 Das sokratische Evangelium. lieh nun, daß Plato auf diese Seite der sokratischen Dialektik zu viel Gewicht gelegt, daß er die sittliche Einsicht und das sach- verständige Wissen schon in jener ersten Zeit einander zu nahe gebracht hat: daß er später beides zusammengefaßt hat, und daß diese Synthese für die weitere Entwicklung seiner Philosophie ungemein folgenreich geworden ist, wird sich uns noch zeigen. Immerhin aber scheint auch das doktrinäre Element in den Tugend- idealen des Antisthenes 1 ) und Aristipp auf jene Beziehung, in die Sokrates die sittliche Einsicht zum sachkundigen Wissen gesetzt hat, zurückzuführen zu sein. Indessen ist hiefür auch die allmäh- lich sich vollziehende Umbildung der Lebensanschauungen der beiden Philosophen zu ethischenTheorien verantwortlich zu machen: mit dieser Wandlung hing naturgemäß eine gewisse Doktrinari- sierung des Tugendwissens zusammen, wodurch dieses zugleich die Möglichkeit erhielt, das skeptische Element, das in der anti- sthenischen wie in der aristippischen „Philosophie" mehr und mehr zu einer wissenschaftlichen Theorie ausgestaltet wurde, in sich aufzunehmen. Und bei Antisthenes wenigstens hat in seiner ersten Zeit — nach dem, was wir über die damalige Tendenz seiner Dialektik wissen — die sittliche Einsicht, die er als So- krates' Nachfolger zu wecken strebte, trotz ihres skeptischen Ein- schlags einen vorwiegend praktischen Charakter gehabt. Das nur zunächst für Erziehungsfragen der Grundsatz aufgestellt wird: 'E7tcot?jß^ yag, o'ifiai, ösi xqIvbo&cci ä?X ov nXy&ei xb fiskkov xccXätg xgi&rjasadui, 184E; im Folgenden wird alles Gewicht auf das Urteil des xeyvixöq gelegt, und zu den ttyvixol auf den Gebieten der Augenheilkunde und der Pferdezurichtung der xsyvixog negl xpvyijg SeganeLav in Parallele gesetzt; Laches 192Cff., wo die (f>QÖvr\otq mit imoxrjfir] und xeyvr} (vgl. eniortjfz?] innixtj 193 B, o<psvöovixr] y ro&xjj ?j äkXr) xiq xiyvr\ 193 C) auf eine Linie gestellt wird, vgl. 195A ff. S. weiter Protagoras 313D ff., 356Dff. u. ö. Im kleinen Hippias sodann beruht die ganze Argumentation auf der Parallelisierung des sittlichen Wissens mit dem sach- verständigen Wissen der verschiedenen sniaxT/fxai und xsyvai. Eine bedeut- same Rolle spielt ferner auch im Charmides die Gegenüberstellung von sitt- lichem und sachkundig-wissenschaftlichem Wissen. Im Grunde setzt übrigens auch die bekannte Menschenprüfung in der Apol. 21 C ff. eine solche Analogie von sittlichem und sachverständigem Wissen voraus. Vgl. schließlich Gorgias 500A: 'Aq ovv naviog uvögög eaxiv exki^aaQai, nola dya&a xtüv T/dswv iazl xal önolcc xctxä, t] xtyyixov Sei tlq exaatov; Teyvixoi. ') Für Antisthenes ergibt sich dies deutlich aus dem kynisch-sokratischen köyog bei Dion, or. XIII 27 f. Der Satz vom Tugendwissen. 345 bleibt bestehen, daß die dem Sokrates geläufige Parallelisierung von sittlichem und fachmännisch -technischem Wissen seinen Schülern einen gewissen Anlaß geben konnte und zum Teil auch gegeben hat, die sittliche Einsicht zu intellektualisieren, d. h. sie theoretischer zu fassen, als sie von Sokrates gedacht war. Über den wirklichen Sachverhalt kann dennoch gar kein Zweifel bestehen. Auch die frühplatonischen Schriften lassen schließlich mit voller Deutlichkeit erkennen, daß Sokrates zwischen sittlicher Einsicht und sachverständigem Wissen eben nur einen Vergleich ziehen wollte, von dem er sich dialektisch-didaktischen Nutzen versprach: er verwendet die Analogie, um die Leute von der Notwendigkeit, sittliche Einsicht zu suchen, zu überzeugen. Bei all diesen Analogien aber ist genaue Übereinstimmung der in Parallele gesetzten Dinge ganz und gar nicht vorausgesetzt; daß er den Vergleich in pädagogischem Interesse manchmal zu weit getrieben haben mag, ist in unserem Fall verhängnisvoll ge- worden, entspricht aber doch auch nur den dialektischen Ge- pflogenheiten des Sokrates, mit denen man eben rechnen muß. Und im wesentlichen wird es uns trotzdem nicht schwer, über die wahre Natur der sittlichen Einsicht und deren Verschiedenheit vom sachkundigen Wissen klar zu sehen. Auf den ursprünglichen Sinn des Satzes: Tugend ein Wissen, wirft ein anderer, der noch viel paradoxer klingt, der aber min- destens ebenso sicher bezeugt ist, ein charakteristisches Licht. Es ist die bekannte, fast möchte ich sagen: berüchtigte These, daß der absichtlich (ixwv) unrecht Handelnde besser sei als der unabsichtlich Böse. Auch Xenophon berichtet von ihr, und natür- lich nimmt er sie in seiner doktrinären Pedanterie buchstäblich ernst. Allein hier, wenn irgendwo, weist uns Plato den rechten Weg. Die These ist das Thema des kleinen Hippias. In einem früheren Zusammenhang schon ist dieser Dialog als ein typisches Beispiel für die dialektische Art des Sokrates eingeführt worden (S. 280). Hier nun wird klar, wie diese Dialektik sittliche Dia- lektik war. Sokrates unterhält sich mit dem Sophisten Hippias. Von der Dichtererklärung leitet er seinen Mitunterredner zu jener These hin. Die ganze Argumentation ist ein sprühend geist- reiches, stark eristisches Spiel, das die Wahrheit mit vollem Be- wußtsein auf den Kopf stellt. Wie das Ganze schließt, wissen 346 Das sokratische Evangelium. wir. Als Sokrates den Hippias so weit hat, wie er ihn haben will, d. h. als diesem kein Ausweg bleibt als der, die These des Sokrates anzuerkennen, läßt Plato den Hippias sagen: ich kann den Satz unmöglich zugestehen, und Sokrates antwortet: ich selbst auch nicht. Fast sieht es danach so aus, als hätte der Autor nur die Absicht, zu zeigen, wie Sokrates den Mann mit dem glän- zenden Namen niederdisputiert. Nichts wäre falscher als eine solche Deutung. Auch dem Sophisten gegenüber verfolgt dieser Sokrates eine protreptische Absicht; er will eine bestimmte sitt- liche Wirkung erzielen. Der Satz, um den sich die Diskussion dreht, ist ein Paradoxon, das eine ernste sittliche Wahrheit auf die Spitze treibt. Wer absichtlich d. i. wissentlich böse handelt, kennt doch das sittliche Ideal. Und diese Kenntnis kann nur das Ergebnis sittlicher Selbstbesinnung sein. Wer aber so weit ist, der hat den entscheidenden Schritt bereits getan. Er ist aus dem Schlaf des gewohnheitsmäßigen Lebens aufgewacht. Darum ist, wer wissentlich Böses tut, — wenn es einen solchen gibt {sinag rlg Eöriv ovrog 376 B.) — besser, als wer dies unwissentlich tut. Ob es möglich ist, wissentlich Unrecht zu tun, bleibt dahin- gestellt. Hier sitzt der Schalk. Unter dem „wissentlich Unrecht tun" versteht Sokrates etwas wesentlich anderes als der übliche Sprachgebrauch — etwas, was einen inneren Widerspruch in sich schließt und darum unmöglich ist. Aber das bleibt an dieser Stelle im Hintergrund. Die Absicht ist, durch die Paradoxie, die einen allgemein angenommenen Satz umdreht, im Partner oder vielmehr im Leser das sittliche Nachdenken anzuregen und nach einer bestimmten Richtung zu lenken. Und die Wahrheit, auf die die These aufmerksam machen will, ist die: daß das Wissen um das Ideal der Anfang alles sittlichen Lebens ist, und daß darum das Erste, was not tut, ist, nach sittlicher Einsicht zu streben. Daß hier das Tugendwissen nicht als theoretische Erkenntnis gedacht ist, leuchtet ein. Und in der Tat lag ja dem geschicht- lichen Sokrates nichts ferner, als über das Wesen der Tugend psychologisch-ethische Betrachtungen anzustellen. Gewiß wurden damals Fragen wie die, welcher Anteil an der Tugend der Natur, welcher dem Lernen und welcher schließlich der Übung zuzu- messen sei, und die damit zusammenhängende nach der Lehr- Der Satz vom Tugendwissen. 347 barkeit der Tugend von den Sophisten eifrig erörtert. 1 ) Mit diesen Problemen hingen ja die vitalsten Interessen der sophisti- schen Bewegung zusammen. Daß nun auch Sokrates in solche Diskussionen, wo sich ihm Anlaß bot, gerne eingegriffen habe, ist wohl zu glauben. Hier wenn irgendwo konnte er ja seine Sache der sophistischen entgegensetzen. Und gewiß haben die Sätze, daß Tugend ein Wissen und darum lehrbar sei, auch in seiner Auseinandersetzung mit den Sophisten eine Rolle gespielt. 2 ) Dennoch würde man ihren Sinn ganz und gar verfehlen, wenn man in ihnen lediglich die sokratische Antwort auf jene sophisti- schen Fragen sehen wollte. Wären sie so zu fassen, so hätte die Wirksamkeit des Sokrates sich anders gestalten müssen. Er hätte unterrichten und dozieren müssen, ähnlich wie die Sophisten. Der Unterschied wäre dann wohl nur der gewesen, daß Sokrates eine andere Vorstellung vom Wesen der Tugend gehabt und ein anderes Unterrichtsverfahren eingeschlagen hätte. Kurz, seine Tätigkeit hätte dann wohl ein Bild geboten, ähnlich dem, das Aristoteles sich von ihr gemacht hat: ein von wissenschaftlichem Interesse geleitetes dialektisches Verfahren, das die Aufgabe ge- habt hätte, an der Hand induktiver Untersuchungen sichere Be- stimmungen ethischer Begriffe zu gewinnen. Daß aber diese Auffassung verkehrt ist, wissen wir. Charakteristisch ist, daß selbst im Protagoras, wo Plato die sokratische Dialektik unmittelbar und in propagandistischer Absicht gegen den sophistischen Unter- richtsbetrieb ausspielt, der genuine Charakter des Tugendwissens *) S. Protagoras fr. 3 Diels, Kritias fr. 9 Diels, zlioool Xöyoi c. 6 Diels S. 645, 16 ff. (Epicharmos fr. 33 Diels, Demokrit fr. 242 Diels). Vgl. P. Shorey, <Pvoiq, Mekhj], 'Eniaxrnj.r}, Transactions and Proceedings of the American Philol. Assoc. 40, 1910, S. 185 ff. 2 ) Das Thema wird nicht bloß von Xenophon, sondern auch von Antisthenes und in den frühplatonischen Schriften eifrig erörtert, und es ist sehr wahrschein- lich, daß dies der Reflex sokratischer Erörterungen ist. Zu Xenophon s. Mem. II 6, 39, III 9, 2, IV 1, 3, vgl. I 2, 19, zu Antisthenes Diog. L. VI 105, Xenoph. Symp. II 12 f., Kleitoph. 408B, 407B, vgl. Plat. Euthyd. 274E. Bei Plato ist die Frage bekanntlich das Thema des Protagoras (vgl. besonders 319 Äff., 361 Äff.). Und nachher kommt der Meno hierauf zurück, vgl. den Anfang des Dialogs, 70 A: . . dga öidaxxov r\ agsxr'j; r\ ov öidaxxov akk' doxtjxov; ?}' ovxs aaxrjxov ovxe /xa&rjxöv, aXXa (pvoei ntxQaylyvsxcu xolq av&Qamoiq i] äV.io xivl xqotho; vgl. noch besonders 71 A 86Cff. 95Bff. 348 Das sokratische Evangelium. mit voller Bestimmtheit durchleuchtet. Im Grunde mühte So- krates sich um die theoretische Lösung solcher psychologisch- pädagogischer Fragen so wenig wie um die psychologische oder ethische Bestimmung des Tugendbegriffs. Wo er sich auf sie einließ, geschah es doch nur, um die Aufmerksamkeit schließlich nach der Seite zu lenken, wo sein Problem lag. Auch sein Problem zwar ist, wie die Menschen zur „Tugend" zu führen seien, und seine Lösung ist der Satz vom Tugend- wissen und seiner Lehrbarkeit. Aber Problem und Lösung haben bei ihm einen ganz anderen Sinn. 1 ) Die Frage, wie er sie stellt, ist eine eminent praktische, praktisch im allernächsten und ak- tuellsten Sinn. Denn ihm handelt es sich darum, wie die große Aufgabe selbst, der er sein Leben gewidmet hatte, zu lösen, wie den Menschen, denen er das sittliche Glück bringen wollte, bei- zukommen war. Und der Satz: Tugend ein Wissen, ist das Programm seines ganzen Wirkens, zugleich aber der große Weckruf, den er an die Menschen, zunächst an die Athener, richtet. Daß der Satz vom Tugendwissen nichts mehr und nichts weniger bedeutet als das „philosophische" Programm des Meisters, ist leicht zu zeigen. Philosophieren ist dem Sokrates: in sich selbst und in anderen das „Wissen" erzeugen, das den Zugang zum vollkommenen Leben und damit zum Glück er- öffnet. 2 ) Wie er für sich selbst dieses Wissen gesucht und ge- funden hat, läßt sich wenigstens erraten. Eine Vorstellung von der Energie und Konzentration, mit der er an sich gearbeitet hat, um auf die Höhe der sittlichen Klarheit zu kommen, kann die Erzählung des Alkibiades aus dem Feldlager vor Potidäa geben. In tiefes Nachdenken versunken, blieb er einmal vom frühen ') Das zeigt allein schon der Verlauf der Diskussion im plat. Protag., vgl. das Ergebnis 361 AB: . . . äzonoL y iozs, ai Scüxpazeg zs xal ÜQwzayoQa' av iuhv Xiyiov ozi ov öidaxzov toziv aper?/ iv zolq tfxnQooQev, vvv oeavzqi zävavxia oTCEvöetq .... ÜQwzayÖQaq 6 av öidaxzov zöze imo9e[*£voq vvv zovvavzlov hoixs anet-Sovti . . . Daß übrigens auch Antisthenes den Satz anders verstand als die sophistischen Tugendlehrer, ist selbstverständlich. 2 ) S. die S. 296, 1 angeführten Stellen. Dabei ist nicht zu vergessen, daß (pikooocpüv im sokratischen Sinn: nach oo<pla streben, heißt. Die ootpla aber, die vom Menschen gesucht werden soll, ist, wie in klassischer Weise Apol. 29 E zeigt, die <pQÖvt]oig, die sittliche Einsicht. Der Satz vom Tugendwissen. 349 Morgen ab auf derselben Stelle stehen. Es wurde Mittag, es wurde Abend, es wurde Nacht, und immer noch verharrte er in seinem Sinnen. Erst als der Morgen graute und die Sonne auf- ging, ging er weg, nachdem er zuvor noch sein Morgengebet zum Helios verrichtet hatte. Daß es nicht ein theoretisches Grü- beln war, das ihn in solchen Zeiten der Selbsteinkehr und inner- lichsten Sammlung beschäftigte, können wir aus anderen Nach- richten schließen. Und es waren auch praktische Widerstände, die er in seinem Innern zu überwinden hatte. Er mußte sein Triebleben niederkämpfen, um zum sittlichen Sehen, zum sittlichen Licht durchzudringen. 1 ) Unsere Quellen zeigen ihn uns, wie er schon auf der Höhe steht. Dennoch ist es nicht bloß ironische Fiktion, wenn er sich auch jetzt noch in seinen Unterredungen als Nichtwissenden ausgibt. Noch bleibt eines, und zwar ein Großes, zu tun übrig: das Leben selbst, das innere Leben mit seinen mannigfachen Nei- gungen und Interessen wie das öffentliche mit seinen Ordnungen, seinen Normen und Wertmaßstäben, mit dem Ideal kritisch aus- einanderzusetzen und ins Ideal einzuführen. Und auch das ist eine Arbeit sittlichen Wissens, und eine Arbeit, die nie ein Ende nimmt. 2 ) Immerhin hat Sokrates, als er in sein protreptisches Wirken eintritt, das Schwerste hinter sich. Die Substanz des sitt- lichen Wissens ist in seinem Besitz. Und die Hauptaufgabe ist ihm nun, in den Anderen, in denen, die um ihn waren, das Suchen nach sittlichem Wissen aufzuregen. Noch schlafen diese ja den Schlaf des Gewohnheitsglaubens und der Traditionsmoral. Ihr Leben ist ein Vegetieren. Sie sind blind für ihre Pflicht und für ihr Heil. Darum ist das Nächste und Wichtigste, was zu tun ist, sie aufzuwecken, sie sehend zu machen. Und das will Sokrates tun: die Athener aufrütteln, daß sie wach werden, sie zum Sehen ») Symp. Plat. 220 C ff. (s. S. 301,1), vgl. ibid. 174 E ff. 2 ) Daß Sokrates sich nicht als oo<pöq fühlte, hebt Plato Apol. 23A u. ö. nachdrücklich hervor. S. will im Ernst nur ein <ptk6oo<poq, ein nach sittlicher Weisheit Suchender sein. Die fortdauernde hm/iäksca rpvxv? macht er nicht nur anderen, sondern auch sich selbst zur Pflicht. Und die Erörterungen, die er ge- meinsam mit seinen Freunden anstellt, sind nicht lediglich Examinationen, sondern gemeinsame Untersuchungen, bei denen er selbst gleichfalls zu gewinnen sich bewußt ist. Zu dem im Text Gesagten ist aber noch unten S. 355 f. zu ver- gleichen. 350 Das sokratische Evangelium. bringen, ihnen das Ideal und seine Herrlichkeit zeigen. Dieses „Sehen" ist das sittliche Wissen, das er in den Menschen ent- zünden möchte (S. 302). So ist sein ganzes Wirken nichts anderes als sittliche Aufklärungsarbeit. Von hier aus wird es begreiflich, daß der Satz vom Tugend- wissen in Sokrates' Mund auch unmittelbar zum Weckruf wird. Er ist ein Prophetenwort, das an das /usravoeTre des Täufers Johannes erinnert. Freilich die transzendente Glut, die asketische Düsterheit, das leidenschaftliche Pathos des orientalischen Wüsten- predigers muß in die Sprache hellenischer Diesseitigkeitsstimmung, weltoffener Menschlichkeit, attischen Witzes und sokratischer Ironie übersetzt werden. Kurz, an die Stelle des jüdischen Propheten tritt hier der athenische Dialektiker. Aber auch bei diesem klingt in dem geistreichen Spiel des Scherzes und der Ironie immer und immer wieder die ernste Mahnung zur Sinnesänderung an. Und die Richtung, nach der diese Wandlung sich vollziehen soll, ist in dem Satz vom Tugendwissen, der so recht eigentlich das ce- terum censeo der sokratischen Gespräche ist, vorgezeichnet. So weit deren Nachbildungen in den Xoyoi ^wzQaziy.oi , nach dem was wir von ihnen wissen, sonst auseinandergehen: ihr Zentrum haben sie alle im Satz vom Tugendwissen, und für alle Tugenden, für alle Seiten des sittlichen Lebens erscheint das „Wissen" als die Grundlage. Wir verstehen den Sinn dieser ewigen Wiederholung. Es ist eine praktische Wahrheit, die So- krates seinen Hörern damit nahebringen will. „Geht in euch," will er sie mahnen, „besinnt euch über euch selbst, über euer Tun und Treiben, über eure Fehler und eure Tugenden, über eure Neigungen und eure Pflichten, über eure Bestimmung und euer Glück. Denn aus diesem Nachdenken entspringt das Wissen, das den Menschen sehend macht und sein Wollen auf die sittliche Stufe emporhebt". Aber der Satz vom Tugendwissen ist doch auch wieder mehr als eine Paränese, er ist zugleich eine Verheißung: der Wissende sieht und findet in der Tugend zugleich sein Glück. 1 ) Wie das Wissen aussieht, das Sokrates in dem Satz vom Tugendwissen im Auge hat, läßt sich danach erraten. Das sittliche ') Hiezu s. die Belegstellen S. 302, 1 und S. 296, 1. Der Satz vom Tugendwissen. 351 Wissen, die (pQovrjoig, ist der Zustand des Wachseins, des Sehendgewordenseins, in welchem dem Menschen das natürliche und letzte Ziel seines Wollens klar vor Augen steht. Die sittliche Einsicht ist das Wissen um das Ideal, um die eigene Bestimmung und die mit ihrer Erreichung verknüpfte Seligkeit, das aus dem wachgewordenen, in die richtige Bahn geleiteten Wollen selbst ent- springt und diesem die Richtung weist. Wer diese Einsicht ge- wonnen hat, sieht nicht bloß die Hoheit, die strenge Verbindlich- keit, die Unbedingtheit des sittlichen Gesetzes; er sieht in dem Ziel, auf das das Gesetz seinen Willen hinlenkt, in dem „Guten" zugleich seinen persönlichen Zweck, das „für ihn Gute", an dem sein eigenstes Interesse hängt. 1 ) *) <I>QÖvr}oiQ heißt bei Plato das sittliche Wissen an jener denkwürdigen Apologiestelle 29 E, wo die Quintessenz der sokratischen Protreptik zusammen- gefaßt ist, und die cpQovTjaiq ist hier ganz in den Vordergrund gerückt: die Athener sollen sich um tpQÖvqoiq und dh'jQ-eia und darum, daß ihre Seele so gut wie möglich werde, mühen. Die dkrj&eioc ist hier die sittliche Wahrheit (vgl. Kriton 48 A, Protag. 348 A und Charm. 175 D); die ypövrjoiq aber ist der Zustand des Besitzes der Wahrheit, die Einsicht in den Wert und die Hoheit des sittlichen Ideals (vgl. den ganzen Zusammenhang 29DE und 30AB) und, wie der Vergleich mit Apol. 30 E f. zeigt, der Zustand des sittlichen Wach- gewordenseins. Apol. 36 C ferner berichtet Sokrates, wie er jeden Einzelnen zu überreden versucht habe, sich nicht vorher um seine anderweitigen Angelegen- heiten zu sorgen, tiqlv havxov enißtkrj&eir), onwq <vq ßelxiaxoq xal <pQOVi[/.a>- xaxoq eaoiTv. In Kriton 44 D ferner erscheint das <pq6vi(jlov slvai als der Inbegriff der /ueyiaxa dyaS-d (zu <pQÖvi(xoq vgl. auch 47 A). Vgl. sodann Protag. 352 C, wo festgestellt ist, ixavi/v elvcci xr t v (pQÖvrjotv ßorj&slv x<x> dv&Qwnu>, ferner Symp. 209 A, Meno 89 A. Von Antisthenes berichtet Diog. L. VI 12 die These xer/,oq do<paXe'oxaxov (pgövrjotv . ., Winckelm. 47 V (vgl. das Fragment aus Philo Winckelm. S. 55 XXII), und nach Kleitoph. 408 C scheint auch die antisthenische Schule die sittliche Einsicht als einen Zustand des Wachgewordenseins betrachtet zu haben. Wer aber die (pQÖvrjaiq hat, der ist nach Ant. ein oocpoq. Zu diesem vgl. Winckelm. S. 15 II und Dittmar, Aischines von Sphettos S. 304 fr. 7. Daß ferner Euklid sich stets und schließlich ganzjan die antisthenische <pg6vr]oiq gehalten hat, läßt nicht allein Diog. II 106 erkennen. Antisthenes und Euklid sind im plato- nischen Philebos als die Vertreter der (pQÖvrjaiq vorausgesetzt (vgl. Politeia VI 505 BC), und die Art, wie Plato diese ins höchste Gut hereinnimmt, läßt ver- muten, daß letzterer die sokratische Legitimität der antisthenisch-euklidischen (pQÖvqotq anerkannt hat. Endlich erinnere ich daran, daß auch Aristipp in der ipQÖvrjoiq die Grundlage von Tugend und Glück erblickt hat (S. 326, 3). Darnach kann als sicher gelten, daß das sittliche Wissen von Sokrates selbst als (pgövrjoiq bezeichnet und in der im Text angegebenen Weise charakterisiert worden ist 352 Das sokratische Evangelium. In die richtige Beleuchtung tritt indessen dieses Wissen erst, wenn man sich den inneren Wandlungsprozeß vergegenwärtigt, durch den hindurch das Ziel allein erreicht werden kann. Vor- aussetzung ist die sittliche Selbsteinkehr, die Selbstprüfung, die zur Selbsterkenntnis führt. In der Selbsterkenntnis kommt der Mensch zum Bewußtsein, daß er „nichts weiß", daß er blind, daß er bis jetzt im Dunkeln umhergetappt ist, daß sein ganzes bis- (vgl. auch Sympos. 209 A, wo als die Sphäre, in welche Sokrates' Wirken ein- gereiht wird, die (poävrjoiq xal ?j äXXrj dgsxrj bezeichnet ist). In der platoni- schen Apologie hat das sokratische „Philosophieren 1 ', wie 29DE zeigt, seine erste Aufgabe darin, in den Athenern diese (pgövrjoig zu entzünden, und auch die Menschenprüfung, von der in 20 D ff. die Rede ist, dient — darüber darf uns die fiktive Motivierung, die ihr hier gegeben ist, nicht hinwegtäuschen — dieser sittlich-protreptischen Aufgabe, wie ja aus 28 E ff., bes. 29D— 30B, ferner 30Eff., vgl. 36 C, 39 CD, deutlich genug hervorgeht. Zu einem ähnlichen Ergebnis führt übrigens die Analyse des Charmides. Nachdem hier die von Kritias versuchte Definition der aaxpgoavvtj (a. = xa havxoi oder xa oixsla ngäxxsiv) eine sitt- liche Wendung erhalten hat (xa olxslä xs xal xa. avxov dyaS-ä ngäxxstv 163 DE), stellt sich heraus, daß in dieser Begriffsbestimmung noch ein wesent- liches Moment, die Selbsterkenntnis, unbeachtet geblieben ist. Diese wird nun im Folgenden 164 C ff. einseitig aufgegriffen und verfolgt. Und zwar nach der theoretischen Seite hin (= xb sidevcu avs olös xal a /xrj olösv 167 A, bezw. oxi olös xal oxi ovx olös 170 D). Da stellt sich im Verlauf der Untersuchung heraus, daß die Selbsterkenntnis, so genommen, nicht bloß etwas Unmögliches (167B— 171C), sondern auch etwas Wertloses ist (171 D — 175 A). Aber in 173 DE hat das Gespräch eine charakteristische Wendung genommen. Als xsXog des Glücks- strebens hatte sich, wie Kritias feststellt, im Verlauf der Untersuchung ergeben xb £Ttiaxrjfx6va)Q ngäxxsiv 173 D. Aber Sokrates zeigt, daß ov xb imoxTjfxövujg Wy Zflv xb sv ngäxxsiv xs xal svöuifxovslv noiovv, und daß dies nicht Sache aller Wissenschaften zusammen, sondern nur der einen sei, nämlich xrjg nsgl xo äya&6v xs xal xaxöv, 174 BC (vgl. C Schluß). Und nun wird konstatiert, daß die oco<pqoovv7] (wie sie in der vorhergehenden Untersuchung geschildert ist) und dieses wertvolle Wissen um das äya&bv xal xaxbv eben ganz verschiedene Dinge seien. Damit reißt der Faden der Diskussion ab. Die Aufmerksamkeit ist auf das sittliche Wissen und seinen großen Wert hingelenkt, und es bleibt dem Hörer bezw. Leser überlassen, den Faden weiterzuspinnen, d. h. die Selbst- erkenntnis mit diesem Wissen um das Gute und Böse in Verbindung zu bringen und weiterhin die so modifizierte Selbsterkenntnis zu der vorher gewonnenen Bestimmung xa olxsla äya&ä ngäxxsiv in Beziehung zu setzen. Sicher aber soll hier auf die überragende Bedeutung des sittlichen Wissens für das sittliche Leben im allgemeinen und auf die Notwendigkeit, die Selbsterkenntnis zu dem sittlichen Wissen in innere Beziehung zu setzen, im besonderen hingewiesen werden. Der Satz vom Tugendwissen. 353 heriges Leben nicht des Lebens wert war. Das ist ein Zustand der inneren Zerknirschung, der Verzweiflung, zugleich aber ein Zu- stand des Erschüttert- und Ergriffenseins, in welchem dem Menschen die Ahnung eines besseren Lebens aufsteigt, und aus dem ihm das Sehnen und Suchen nach diesem besseren Leben, diesem höheren Lebensziel entspringt Kurz, es ist eine Art von innerer Wieder- geburt, die schließlich zur ygorrjoig, zur sittlichen Einsicht führt. 1 ) Ist so die Höhe erreicht, auf der der Seele die Herrlichkeit des sittlichen Ideals aufgegangen ist, so ist damit zugleich die richtige Abschätzung der Güter und Übel des Lebens gewonnen. Und das ist das Seitenstück zu dem Wissen um das Ideal, oder vielmehr dessen Kehrseite. Mit dem Verständnis für den Wert des sittlichen Zwecks ist verbunden einmal die Einsicht, daß die Güter, die das sittlich noch nicht disziplinierte Begehren an- strebt, deren Schädigung oder Verlust dieses darum als Übel empfindet, an sich, d. i. ohne Beziehung zum sittlichen Gut nicht bloß wertlos, sondern vielmehr verhängnisvoll seien, sofern sie den M Locus classicus ist hiefür die Alkibiadesrede im Symposion (besonders 215D-216C, 218AB). Vgl. die Schilderung im Menon 80AB. Auch an die Erzählung Plutarchs über die Bekehrung des Aristipp (s. oben S. 326,2) ist hier zu erinnern. Daß auch Antisthenes einen solchen inneren Wandlungsprozeß als Voraussetzung der <pQÖvr t aiq und inneren Freiheit betrachtet, ist als sicher anzu- nehmen, zumal bei ihm ja die innere Freiheit eine völlige Loslösung von der Welt zur Bedingung hat; bestimmte Nachrichten haben wir hierüber allerdings nicht (vgl. übrigens Kleitoph. 407 A). Vgl. ferner Äschines vest. III Krauß (und hiezu Dittmar a. a. O. S. 107,33); darnach hat Äschines in seinem „Alkibiades" die inneren Erlebnisse des Alkibiades ähnlich geschildert wie Plato im Symposion (ovzto 2?wX(jaTrjS 'AkxißtaÖTjv sxokovf, xal Suxqvov e&yev äkrj&ivbv s&keyxo- fxi'vov xal zly xagöiav sorgest). — Zu der Rolle der Selbstprüfung und Selbst- erkenntnis s. Apol. 28 E (. . . (pikoao(fo>vxa f/s Selv £?/v xal t^STaQovxa ifjiavxöv xal xovq äkkovq . . .), vgl. 29 Ef., 36C. Indessen zielt ja die ganze elenktische Tätigkeit des Sokrates darauf ab, die Menschen zur Selbstprüfung zu veranlassen s. unten S. 369 f.). Auch die Forderung der snifttketu havxov schließt dieses Moment ein. S. ferner Charmides 164 C ff. und hiezu das in der vorigen Anm. Gesagte. Die Anknüpfung an das delphische „rvd>9i oaviöv", die sich hier findet, kann recht wohl auf Sokrates selbst zurückgehen. Sie ist im Phaidros 229E (an welche Stelle sich Xenoph. Mem. IV 2, 24 anlehnt) wieder aufgenommen, und den Eindruck hat man, wie später noch gezeigt werden wird, immerhin auch an dieser Stelle, daß Plato hier wieder einmal den historischen Sokrates im Auge hat. H. Mai er, Sokrates. 23 354 Das sokratische Evangelium. Menschen in Abhängigkeit von fremden Mächten bringen und elend machen. Das ist das Verständnis für den unbedingten Vor- zug, der dem sittlichen Zweck vor den übrigen Gütern gebührt. Dazu kommt aber als Zweites die positive Wertung dieser Güter und der ihnen entgegenstehenden Übel: mit der Kenntnis des Ideals ist ein Maßstab gewonnen, an dem die natürlichen Be- gehrungen mit ihren Zwecken gemessen werden können. Deren Wert bestimmt sich nach ihrem sittlichen „Nutzen", nach dem Grad der Förderung, die sie dem sittlichen Zweck, der Vollkommen- heit der Seele, bringen können, und das sittliche Wissen ist von dieser Seite die Kenntnis dieser Wertabstufungen oder, anders ausgedrückt, die Fähigkeit, diese Schätzungen zu vollziehen. 1 ) So ist das Tugendwissen zugleich mit der sittlichen Freiheit aufs engste verknüpft. Das spiegelt sich ja auch in den Lebens- anschauungen der Sokratiker wider, die alle die (pQovrjöic mit der inneren Freiheit in unlöslichen Zusammenhang bringen. Das Ver- hältnis ist aber nicht das, daß das Tugendwissen eine theoretische Einsicht wäre, aus der die innere Freiheit als praktische Folge hervorginge. Die sittliche Abmessung der Güter und Übel ist nur dem möglich, der jene innere Wiedergeburt erlebt hat. Sie ist ja eine Wertung, also ein praktisches Verhalten, das bereits ein Interesse, ein Begehren voraussetzt. Die sittlichen Werte sieht darum nur der, in dem das sittliche Begehren, das Interesse am sittlichen Zweck, schon lebendig geworden ist. Und schließlich kann der allein, in dem das sittliche Wollen bereits zur Frei- ») Zu diesem Abs. s. Apol. 29 DE, verglichen mit 30 AB (oben S.302, 1), 36 C, Krit. 48B, 44D, vor allem aber Protag. 351 C— 357E, besonders 352BC, wo der Mei- nung svovorjQ noXXdxcg uv&qwtho S7tiOT^/X7]c ov xr)v emoxi/^v avxov dgyeiv, d?X dXXo xi, xore fxev &vßöv, xoxe de r,dov>)v, rozh de Xvnrjv, evioxe de l'gwxa, noX- Xaxiq de <poßov, die andere entgegengestellt wird, daß das Wissen fähig sei zu herrschen, xal eav neo yiyvwoxy zig xdyaBd xal zu xaxd, fit] dv xgax-q^vai \{TCO fxr/öevöc, kurz: ixavrjv elvat z?/v (pQÖvrjoiv ßorj&tlv x (ö dv& qüjtzw. Und diese (pgovrjaig wird als das xodxtoxov xwv dvd-gwmvwv npayfxdxwv ge- priesen. Sie wird aber 357 D als /uexg^rix)] eniaxrn.iri tkqX tt)v xwv tjöovcüv digeoiv xal Xvtuüv (. . xavxa de eaxiv dya&d xe xal xaxd) charakterisiert, in der ?} a(ox?]Qt'a xov ßlov liege, 357 A. Vermutlich hat Aristipp die von der <poöv?]Oi<; geleitete Auswahl der r)6ovai ganz ähnlich geschildert. Vgl. auch Xenoph. Mem. IV 5, 11. Daß bei Antisthenes die richtige Abschätzung der Güter und Übel eine wesentliche Leistung der <pQÖv?]oig bezw. des in ihrem Besitz sich befinden- den oo(pöq ist, ist bekannt. Der Satz vom Tugendwissen. 355 heit gelangt ist, den richtigen Blick für die sittliche Güterskala haben. 1 ) Allein das sittliche Wissen ist selbst für den, der auf der Höhe steht, kein fertiger, abgeschlossener Besitz. Auch der ist in einer Hinsicht, wie Sokrates selbst, noch ein Suchender, der insofern immer noch und immer wieder Anlaß hat, sein Nicht- wissen zu bekennen. Zwar ist ihm das Ideal ein unbedingt sicherer Wertmaßstab und ein Licht, das ihm auf seinem Wege voran- leuchtet. Aber das Leben bringt immer neue Fragen an ihn heran. Nicht bloß die wechselnden Neigungen und Interessen, die seinem eigenen Triebleben entspringen, verlangen die sittliche Abschätzung. Auch die aus der Gesellschaft an ihn herantretenden Institutionen, Werturteile und Imperative, die zudem immer noch von dem ') Hier wenn irgendwo muß zu der platonischen Darstellung die anti- sthenische Sokratik hinzugenommen werden. Auch bei Plato zwar ist das Tugend- wissen nicht ein theoretisches Erkennen, aus dem sich auf dem Weg der Reflexion die innere Freiheit entwickeln würde. Die cppörrjaiq ist ihm ja das Ergebnis einer inneren Wandlung, eben derjenigen, die Sokrates durch sein skey/eiv und Tiporgeneiv erzeugt, und man kann ebensowohl sagen, daß die innere Freiheit die Voraussetzung der (pQÖv^otc, wie, daß die (pQovrjOiq die Voraussetzung der inneren Freiheit sei: beides ist unlöslich aneinander geknüpft (vgl. mit den Stellen der Apologie die Alkibiadesrede des Symposions, ferner den Satz, daß der frei- willig Unrechttuende besser sei als der unfreiwillig Böse, sowie den anderen, daß niemand freiwillig Unrecht tue, oben S. 345f. und unten S. 357). Aber Aus- führungen wie die im Protag. (s. die vor. Anm.) könnten immerhin irreführend wirken. Daß dagegen bei Antisthenes die sittliche Befreiung vor allem eine Kraftleistung des Willens ist, kann nicht zweifelhaft sein (vgl. den Satz aviägai] yuQ t//v uQSzr/v tivai ngoq evSaifxovlav, /Jtjdtvoq ngooötoixlvrjv oxi /nrj 2cuxga- xty.iiq loxvoq, Diog. L. VI 11). Immerhin ist Antisthenes der Meinung, daß diese Willensleistung in allen Menschen durch protreptische Einwirkung an- geregt werden kann — das besagt bei ihm die These von der Lehrbarkeit der Tugend. Und ebenso ist die erste Frucht der inneren Wandlung die Einsicht, die einerseits den Wert der Tugend kennt und andererseits die landläufigen Güter und Übel richtig abzuschätzen versteht. 'Insofern kann auch bei Anti- sthenes Tugend und ao<fia gleichgesetzt werden. Ähnlich ist wohl bei Aristipp die <pQÖvj]aig an die innere Befreiung gebunden. Die Vorstellung des Sokrates selbst war augenscheinlich die: die elenktisch-protreptische Wirksamkeit, d.i. die sittliche Aufklärungsarbeit, weckt im Menschen das sittliche Bedürfnis und Sehnen, und mit diesem regt sich das Suchen, das in der (pQÖvrjoiq sein nächstes Ziel er- reicht; die (pgövrioiq aber ist der Einblick in das sittliche Ideal und seine Herr- lichkeit, mit dem auch die Fähigkeit, alle Güter und Übel richtig zu werten, gegeben ist. 23* 356 Das sokratische Evangelium. Nimbus der göttlichen Autorität umstrahlt sind, wollen ins Licht des Ideals gerückt werden. Kurz, auch der Mensch, der die (pQovrjOig besitzt, muß mittels der sittlichen Kritik Schritt für Schritt seinen Weg durch Welt und Leben suchen. Das ist wieder eine Arbeit, die das Tugendleben selbst zu einem Suchen nach sittlichem Wissen, zu einem „Philosophieren" macht. Das Tugend- wissen wird also von hier aus zur „Philosophie". 1 ) Auch jetzt noch mag man den Satz vom Tugendwissen ein- seitig nennen. Aber intellektualistische Einseitigkeit ist das sicher nicht. Das Wissen, das Sokrates meint, ist doch nur der Vor- stellungsausdruck einer veränderten Sinnesrichtung, einer neuen Willens- und Gemütslage. Auch hier liegt es dem Meister gänzlich fern, seinen Gedanken eine psychologische Fassung geben zu wollen. Und wieder waren seine Schüler, indem sie dies ihrer- seits tun wollten, nicht eben glücklich. Dennoch kann der wirkliche Sinn des Satzes nicht mehr zweifelhaft sein. Und nur das muß man sich fragen, warum Sokrates die Vorstellungsseite, das Wissenselement des sittlichen Zustands, in den er seine Hörer versetzen will, so stark hervorgehoben habe. Auch hierauf aber ist die Antwort bereits gegeben. Die Erklärung liegt in der prak- tischen Tendenz des Satzes. Der Satz ist ein eindringlicher Appell an das sittliche Nachdenken. Der einzige Weg, der zum voll- kommenen Leben führen kann, ist ja nach Sokrates' Überzeugung die sittliche Besinnung, wie sie aus ernster Selbsteinkehr entspringt. Die nächste greifbare Frucht dieses Nachdenkens aber ist ein „Wissen". Und dieses Wissen zu suchen, ist die Mahnung, die der sokratische Satz an die Menschen richtet, sie zu diesem Suchen zu bringen, die nächste und dringendste Absicht, die das sokra- tische „Philosophieren" verfolgt. Ein Paradoxon bleibt der Satz vom Tugendwissen auch so. Aber so ist er ja auch gemeint. Und die Pointe, die er hervorkehrt, ist um so wirksamer und treffender, als die Botschaft, die Sokrates der Welt zu bringen hat, ja doch eine neue „Wahrheit" ist, in die die Menschen sich hineinleben und vor allem hineindenken müssen. ') Vgl. S. 349 f. Zu der ini/j.hksta savzoü (oder ageirjc, bezw. ipvMq), die auch dem Wachgewordenen dauernde Pflicht bleibt, s. S. 333, 3. Zu dieser ini- ßiXiia aber gehört die fortschreitende Auseinandersetzung mit den Lebensver- hältnissen. Der Satz vom Tugendwissen. 357 Übrigens erhält nun auch der Satz, daß niemand absicht- lich Böses tue, seine endgültige Beleuchtung. Sein Grund- gedanke ist, wie wir wissen, daß die natürliche Tendenz des menschlichen Willens auf das sittliche Ideal gerichtet sei. Wieder ist, was Sokrates sagen will, so paradox wie möglich ausgedrückt. Dennoch ist es hier nicht schwer, die Intention des Paradoxons zu erraten. Denn die natürliche Kehrseite des Satzes, daß niemand mit wissendem Willen Böses tue, ist der andere, daß der Mensch, wenn er nur zu wissendem Wollen gelangt sei, von selbst das Gute anstrebe. Daß dies sokratische Meinung ist, ist außer Zweifel. Auch hier aber hat der Satz zuletzt eine praktische Spitze. Er enthält eine Mahnung, die geeignet ist, jene erste zu ergänzen: er fordert die Menschen auf, die natürliche Tendenz ihres Willens frei zu machen und ihr zu folgen. In dem Wortlaut des Satzes liegt aber immerhin noch etwas anderes. Wenn gesagt ist: niemand tue mit wissendem Willen Böses, so heißt das — so verkehrt es wäre, das exwv rein intellek- tuell zu fassen und das Willensmoment in demselben außer acht zu lassen — doch auch: wer das Böse als das dem Guten Ent- gegengesetzte kennt, wird nicht böse handeln; und weiterhin: wer das Gute kennt, wird nicht mehr böse handeln. Das aber ist nicht bloß eine Rückkehr zum Satz vom Tugendwissen, sondern, wie es scheint, eine Weiterführung desselben: der Wissende wird unfehlbar das Gute tun. Und Antisthenes hat diesen Gedanken noch dahin überspannt, daß der Wissende überhaupt nicht mehr aus der Tugend fallen könne. 1 ) Daß aber dies nur eine unbe- rechtigte Folgerung aus dem lehrhaft ausgestalteten und festge- legten sokratischen Satz ist, leuchtet ein. Wieder ist, was So- krates wirklich gemeint hat, nicht allzuschwer zu ermitteln. Wer das Wissen um das Ideal besitzt, der steht, wie uns der Satz, daß der absichtlich böse Handelnde besser sei als der unabsicht- lich Unrechttuende, gezeigt hat, schon auf der sittlichen Höhe. Das sittliche Wissen selbst ist bereits der Ausfluß einer dem Ideal zugewandten Sinnesrichtung. Aber der sittlich Wissende kennt zugleich die Herrlichkeit des Guten: er weiß, daß alle Güter der ') Winckelmann 15 II (. . zrjv aperr/v . . dvanoßXqxov vnäpx eiv )> 47 V (dvcupcclpeiov onlov dpfn'), vgl. die Polemik in der xenophontischen Schutz- schrift Mem. I 2, 19. 358 Das sokratische Evangelium. Welt ihren Wert lediglich vom sittlichen Ideal erhalten, daß das vollkommene Leben für den Menschen das ganze und alleinige Glück ist. So gewiß darum die Menschen glücklich werden wollen, so gewiß werden sie, wenn sie erst sittlich sehend ge- worden sind, nach dem sittlichen Glück streben und alles, was diesem entgegensteht, meiden. So will der Satz von dieser Seite den Menschen nur in neuer Wendung zu Gemüte führen, daß es ihr wohlverstandenes eigenes Interesse ist, wenn sie dem Guten nachjagen. Und alles in allem sagt er ihnen: das natürliche Wollen geht auf das Gute, und dieses Gute bedeutet für den Menschen das Glück. Folgt also dem natürlichen Drang eures Wollens und arbeitet damit für euer Glück! Aber auch in dieser Paränese ist die andere, die nächste und dringendste, eingeschlossen: besinnt euch auf euch selbst, denket nach über euer Leben, damit ihr sittlich wissend werdet! Viertes Kapitel. Die sokratische Dialektik. Dieses Nachdenken, das zum sittlichen Wissen führen konnte und mußte, zu wecken und in die rechte Bahn zu leiten, war die Aufgabe, die die sokratische Dialektik sich stellte. Dahin zielt die „protreptische" Tendenz, von der diese Dialektik, wie wir wissen, beherrscht war. Die sokratische Dialektik ist Protreptik. Aber man kann ebensowohl sagen: die sokratische Protreptik ist Dialektik. Es liegt nahe, die sokratische Dialektik der sophi- stischen Rhetorik gegenüberzustellen. Aber die beiden liegen einander nicht durchaus parallel. Die Sophisten wollten Redner heranbilden; zugleich war ihnen die Rede, der zusammenhängende Vortrag das wesentliche Unterrichtsmittel. Nun trat ja wohl bei Sokrates als pädagogisches Werkzeug an die Stelle der Rede das Gespräch. Aber sein Ziel war ganz und gar nicht, seine Hörer zu Dialektikern zu machen. Zwarwenn wir der xenophontischen Gesprächsammlung glauben dürften, wäre es eine der vornehmsten Die sokratische Dialektik. 359 Sorgen des Sokrates gewesen, in seinen Jüngern die dialektische Fertigkeit auszubilden. Allein die Stelle, wo hievon die Rede ist (Mem. IV 5, 12 und 6, 1), gehört jenem Zusammenhang an, wo Sokrates als Begriffsphilosoph eingeführt wird. Und die be- sondere Quelle, aus der sie geschöpft ist, war, wie wir längst wissen, — Piatos Politikos (S. 59 ff.). Der Sokrates des späteren Plato allerdings wollte seine Schüler zu Philosophen erziehen, und da ihm Philosophie nichts anderes war als Dialektik, so mußte er darauf sehen, in jenen vor allem die dialektische Kunst, die allein zu den Begriffen oder, platonisch gesprochen, zu den Ideen führen konnte, zu entwickeln. Auch Antisthenes übrigens war — wie es scheint, jedenfalls seit den achtziger Jahren — be- müht, geschulte Dialektiker heranzuziehen. Ein Bestandteil der sittlichen Einsicht, wie Antisthenes sie sich dachte, ist ja das skeptische Wissen. Und dieses Wissen zu gewinnen und zu be- haupten, war wieder die Dialektik der Weg. Das Ziel der anti- sthenischen Erziehung war darum nicht allein, in den Schülern die sittliche Einsicht wachzurufen, sondern sie außerdem auch noch zu tüchtigen Dialektikern zu machen — wie uns solche in typischer, wenn schon stark karikierender Zeichnung der platonische Euthy- demos in den beiden „Sophisten" Euthydemos und Dionysodoros vor Augen führt. Der begriffsphilosophischen Dialektik Piatos tritt auf antisthenischer Seite die eristisch-skeptische gegenüber. Sokrates selbst hat in seinen Gesprächen nur die eine Auf- gabe vor Augen gehabt, die Mitunterredner zu sittlichen Menschen zu machen. Und das nächste Ziel seiner Dialektik war, wie im Laches (187 Ef.) ausdrücklich erklärt ist, immer und überall, die Menschen zur Selbsteinkehr zu zwingen. Eben hiefür aber war das sokratische Zwiegespräch schlechterdings notwendig. Hätte Sokrates seinen Hörern irgend welche Erkenntnis, irgend welche •Theorie dogmatischer oder skeptischer Art vermitteln wollen, so wäre offenbar der fortlaufende Vortrag ein zweckmäßigerer Weg gewesen. Dashat schon Aristoteles richtig gesehen. 1 ) Die mäeutische ') S. meine Syllogistik des Aristoteles II 2 S. 62 f. Den Übergang vom platonischen Dialog zum zusammenhängenden Lehrvortrag bildet die aristo- telische Form des Dialogs. Zu dieser s. Fr. Leo, Satyros ßioq EvqitiIöov, Nach- richten der K. Gesellsch. der Wissenschaften zu Göttingen, philol.-hist. Kl. 1912, S. 275 f. 360 Das sokratische Evangelium. Methode, die die neuere Pädagogik als die sokratische zu be- trachten sich gewöhnt hat, hat ja nur dann einen Sinn, wenn man in der Seele des Zöglings einen latenten Besitz an apriorischer Erkenntnis voraussetzt. Abgesehen hievon heißt in dieser Weise unterrichten nicht viel mehr als den Bock melken wollen. Der historische Sokrates hat mit diesem Verfahren, das erst im Menon auftritt und hier sofort auf jenen apriorischen Hintergrund gestellt wird — im Theätet wird es dann als Mäeutik bezeichnet — , nicht das Geringste zu tun. 1 ) Immerhin hätte er auch die sittlichen Wahrheiten, die ihm am Herzen lagen, in zusammenhängender Rede entwickeln können. Zwar die Volksversammlung war ihm verschlossen. Was er vor- zubringen hatte, gehörte nicht an diese Stätte. Das war auch der tiefste Grund, weshalb er darauf verzichtete, im öffentlichen Leben, als Volksführer oder als Beamter, eine Rolle zu spielen. Für seine Sache war von einer solchen Wirksamkeit kaum etwas zu hoffen. Er hätte in nutzlosen Konflikten mit dem demokratischen Suverän seine Kräfte verzehrt, um doch sehr bald schon zu unter- liegen. 2 ) Aber es hätte im damaligen Athen Gelegenheiten genug gegeben, einem aufmerksamen Publikum seine Gedanken vorzu- tragen. Und es war wohl kaum der Vergleich mit den Schau- reden der Sophisten, den er nicht herausfordern wollte, wenn er diesen Weg zu beschreiten vermied. Was Sokrates erreichen wollte, war nicht durch Massenbekehrungen zu machen. Ihm lag nicht daran, die Menge zu faszinieren, zu erschüttern und in kollektive Bußstimmung zu versetzen. Er wollte die Individuen zu sittlichen Persönlichkeiten machen. Und das konnten diese nur werden durch Selbsteinkehr, Selbstbesinnung und stille, stetige Arbeit an sich selbst. Hiezu aber konnte Sokrates sie nur bringen, indem er die Einzelnen anfaßte und so anfaßte, wie ihre Eigen- art es forderte. Kurz, es war der sittliche Individualismus des sokratischen Evangeliums, der den Verkehr, die intime Ausein- andersetzung von Person zu Person verlangte. 3 ) Und da diese ») Menon 80Dff., Theätet 150Bff. Vgl. unten 4. Teil, 3. Kapitel. 2 ) Apol. 31 C ff., 32E und dazu 36BC. Vgl. Gorgias 521 Äff. 3 ) S. bes. Apol. 29 E f., ferner 31 B, wo die sokratische Tätigkeit geschildert ist als ein tö vfxextQov npärzsiv ast, idlq exuota) 7iqooi6vtcc wansQ naxega // döe?.<pdv TiQsaßvxeQOv, nelS-owa inifieXeio&ai äQtrfjq, Apol. 30 E: . . i/uäq iyelgcov xal Die sokratische Dialektik. 361 sittliche Werbearbeit dem Sokrates Philosophieren hieß, so wurde seine Philosophie zur Dialektik. Sokrates hat die Dialektik, die er betrieb, schwerlich als eine Kunst, als eine technische Methode, und ganz gewiß nicht als ein logisches Verfahren, irgend welche Wahrheiten zu suchen, be- trachtet. Seine Unterredungen waren zwanglose Gespräche, deren Wirkung durchaus auf seinem persönlichen Geschick, seinem pädagogischen Takt und seiner Menschenkenntnis beruhte. Er hat darum auch wohl in seiner späteren Zeit, als sich um ihn ein Kreis ergebener Jünger gesammelt hatte, die bereit und fähig waren, sein Werk nach seinem Tode fortzusetzen, nicht daran ge- dacht, diese in sein „Verfahren" kunstgerecht einzuführen. Nur das wissen wir aus unseren Quellen, im besonderen aus der pla- tonischen Apologie, daß seine Getreuen schon zu seinen Lebzeiten auf eigene Faust sich in der sittlichen Dialektik des Meisters ver- suchten (Ap. 23 C). In gewissen Grenzen hat Sokrates sie ge- währen lassen. Und sicherlich hat er sie zu Aposteln seiner Sache bestimmt. Es ist indessen nicht anzunehmen, daß er sie anders auf diesen Beruf vorbereitete als dadurch, daß er sie durch seine Unterredungen auf die Höhe des sittlichen Lebens führte. Denn das stand ihm wohl fest, daß Menschen, die selbst sittlich sehend geworden waren, an sich schon den Drang und die Fähig- keit haben, auch anderen das Licht zu bringen. Allein was Sokrates selbst ferne lag, taten seine Jünger: sie bildeten seinen „Logos" zur Methode, seine Gesprächsweise zur dialektischen Techne fort. Damit wurde der Meister, ohne es zu wollen und zu ahnen, zum Begründer der Disputierdialektik. Die Sokratiker nämlich hielten die dialektische Manier der „Unter- suchung" auch zu einer Zeit fest, als die sokratische „Philosophie" unter ihren Händen zu etwas ganz anderem geworden war. So kam es, daß die philosophische Zwiesprache die Forschungs- methode der platonischen Spekulation, daß die eristische Dispu- tation die Argumentationsweise der kynischen und megarischen nsl&cüV xai ovsiöit,a)v evet sxccatov ovöiv navo/xat . . ., ferner Apol. 36 B, wo hervorgehoben wird, Sokrates habe den Weg öffentlicher Wirksamkeit in offi- ziellen Stellungen vermieden, da er auf ihm weder sich selbst noch den Athenern hätte nützlich werden können, inl 6h zo löia e'xaozov [laiv] evegyeislv ztjv fisyi- ottjv evegysoiav . . ivzavBa %a, im%eiQ(öv e'xaozov vfj.<Zv neld-tiv xzX. 362 Das sokratische Evangelium. Skepsis wurde. Hier wie dort also wurde die Dialektik die philo- sophische Methode, und in Übereinstimmung damit galt der Dialog als die sachgemäße literarische Form der philosophischen Ab- handlung (vgl. S. 204 ff.). An und für sich hätten weder die meta- physische Spekulation noch die Skepsis — die letztere auch dann nicht, wenn sie extrem eristische Wege ging — die dialektische Weise gefordert. Es war allein das Vorbild des sokratischen Ge- sprächs, das die Sokratesjünger, so weit sie sich sonst von ein- ander schieden, in diese Bahn lenkte. Diesem Einfluß verdankte nicht bloß die neue Gattung der Logoi Sokratikoi ihre Entstehung. Charakteristischer noch ist, daß in den sokratischen Schulen ein überaus lebhafter dialektischer Betrieb in Schwung kam. Welch be- deutsame Rolle die lebendige Wechselrede in der wissenschaftlichen Arbeit der Akademie spielte, ist bekannt. Bei den Kynikern und Megarikern aber gedieh das Kampfgespräch aufs üppigste. Es war ein förmlicher disputatorischer Taumel, in den das philosophische Treiben der Griechen in jener Zeit geriet. 1 ) Noch in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts setzte Aristoteles, und zwar zu einer Zeit, wo er bereits dem disputatorischen Verfahren die Fähigkeit ab- sprach, als wissenschaftliche Lehrmethode zu dienen, seinen Ehr- geiz darein, die Technik der Disputation in ein System zu bringen. Seinen Bemühungen ist es auch zuzuschreiben, daß die in dem sokratischen Gedankenkreis erwachsene Disputierdialektik nun der von den Sophisten ausgebildeten Rhetorik als würdiges Gegen- stück zur Seite trat.' 2 ) Von dieser ganzen Entwicklung müssen wir absehen, wenn wir die sokratischen Gespräche in ihrer ursprünglichen Eigenart fassen wollen. 3 ) Verfehlt auch wäre es, aus ihnen einen durch- gängig wiederkehrenden Typus eruieren zu wollen. Diese Unter- J ) Vgl. meine Syllogistik des Aristoteles, II 2 S. 22. 2 ) S. meine Syllogistik des Aristoteles II 2 S. 58 ff. 3 ) Auf den Charakter dieser Gespräche lassen die uns erhaltenen Xöyoi ScoxQcaixol, die ja treue Nachbildungen der sokratischen Unterredungen sein wollen, einen Rückschluß zu. In Betracht kommen freilich streng genommen lediglich die frühplatonischen Dialoge. Die xenophontischen Gespräche, ins- besondere die der Memorabilien, lassen sich in dieser Hinsicht nur mit großer Vorsicht verwenden. Auch von direkten Mitteilungen über die Art des sokrati- schen dialeysoSai sind in erster Linie die platonischen (bes. die der Apol. und der Alkibiadesrede) heranzuziehen. Die xenophontischen Charakteristiken sind Die sokratischc Dialektik. 363 redungen waren völlig frei und durchaus dem Augenblick, den Umständen und der Person des Partners angepaßt. Dabei war das Register von Mitteln und Kunstgriffen, den Leuten beizu- kommen, über das der Meister verfügte, überaus reich und mannig- faltig. Es war darum auch keineswegs immer dieselbe Manier, die er anwandte, um die Menschen dahin zu führen, wo er sie haben wollte. Den Staatsmann oder den gelehrten Sophisten faßte er anders an als den Schuster oder Schneider, den Wachge- wordenen, der die sittliche Arbeit an sich selbst bereits aufge- nommen hatte, anders als den, den er erst aus dem Schlafe wecken mußte, den Bescheidenen, bei dem das Bewußtsein seiner Schwächen stärker entwickelt war als das seiner Vorzüge, anders als den Dünkelhaften, den Wissensstolzen oder den Tugendspiegel. Zudem waren es ja keine akademischen Fragen, über die Sokrates zu diskutieren liebte. Er griff unmittelbar ins konkreteste Leben ein, und meistens waren es praktische Anlässe, an die seine Ge- spräche anknüpften. Häufig genug nahm er die Gelegenheit wahr, zu Tagesfragen Stellung zu nehmen, und noch häufiger kam er in die Lage, auf die persönlichen Verhältnisse der Mit- unterredner einzugehen und diesen aktuelle Winke für ihr Tun und Lassen zu geben. Das lag in der ganzen Art seines Wirkens. Er zwang die Menschen, ihm Rechenschaft zu geben über ihr Leben: das war das sokratische „Überführen" {bltyytiv). Durch- führbar aber war dasselbe nur durch intimes Eingehen auf die Lebensführung, die Anschauungen, Interessen, Neigungen und Schicksale der einzelnen Individuen. So mögen die sokratischen Gespräche in ihrer konkreten Vielseitigkeit ein recht buntes Bild geboten haben. Aber diese Mannigfaltigkeit und Beweglichkeit hat doch auch eine prinzipielle Seite. Das sittliche Wissen, das Sokrates wecken wollte, schließt, wie wir sahen, zugleich die Aufgabe in sich, alle Seiten des öffentlichen und privaten Lebens vom Ideal aus kritisch zu mustern und zu beleuchten. Darum durfte dieser Dialektik keine von all den Fragen, die das Leben in ihren Ge- sichtskreis rückte, fremd bleiben. Und neben den unmittelbar wieder kritisch zu betrachten. Selbstverständlich übrigens lassen sich auch hier wieder aus den überkommenen Resten der verloren gegangenen Sokratikerliteratur wertvolle Aufschlüsse gewinnen. 364 Das sokratische Evangelium. sittlichen Problemen wurden religiöse, politische, soziale, wirt- schaftliche, technische, wissenschaftliche Dinge mit Eifer diskutiert. Das bunt gemischte Allerlei, über das die xenophontische Ge- sprächsammlung den Meister sprechen läßt, weckt unser zweifeln- des Befremden. Und gewiß fällt hier der Inhalt zum weitaus größten Teil dem Autor zur Last. Was aber diesem den Mut gab, diese mannigfaltige Weisheit Sokrates in den Mund zu legen, war wohl die Erinnerung, daß die Gespräche des historischen Sokrates ihre Stoffe in der Tat aus allen Gebieten des weitver- zweigten Kulturlebens geschöpft hatten. Und in dieser Mannig- faltigkeit, in diesem Reichtum lag gewiß zu einem guten Teil der Reiz dieser Diskussionen. Interesse aber — und das ist das große Aber, das nicht vergessen werden darf — hatten alle diese Dinge für Sokrates doch nur, sofern sie zum sittlichen Leben in Be- ziehung standen. Von dieser Seite, und sonst von keiner anderen, faßte er sie an. Und überall klang das sittliche Ceterum censeo durch. Immer nahm die Unterredung so oder so eine Wendung, die die Aufmerksamkeit auf die sittliche Hauptfrage hinlenkte. Das gilt insonderheit auch von den Gesprächen, welche wissenschaftliche Dinge zum Gegenstand hatten. Daß So- krates oft genug Anlaß nahm, eingebildeten Wissensdünkel, wo er ihm entgegentrat, zu zerstören, ist oben schon berührt worden; und daß in solchen Fällen die Tendenz, die die Gespräche be- herrschte, durchaus die sittliche war, ist natürlich. 1 ) Aber Sokrates war noch von anderer Seite her aufgefordert, auf Wissensfragen einzugehen. Es ist uns bekannt, daß er für alle Betätigungskreise sachverständiges Wissen als Grundlage verlangte. Das war nun ein Maßstab, an dem er nicht bloß den Wissensanspruch einzelner Individuen, 2 ) sondern gelegentlich wohl auch ganze wissenschaft- liche Richtungen geprüft hat. 3 ) Und derartige Erörterungen, bei ') S. oben S. 294. — Instruktiv ist, wie im Charmides (166E ff. , vgl. be- sonders auch 170 D ff.) diese Art von Examination erörtert und schließlich zu dem sittlichen Gesichtspunkt in Beziehung gesetzt wird (vgl. oben S. 452, Anm.j. 2 ) Daß Sokrates in dieser Weise besonders gern die Politiker vorgenommen hat, ist natürlich ; und eine Reminiszenz hieran kann den Gesprächen Mem. III 6 und IV 2 zu Grunde liegen, auch wenn diese im übrigen völlig freie Erfindungen des Autors sind. Vgl. Apol. 21 C f. 3 ) Darauf deuten schon Apol. 19C und 20 Äff. hin. Daß er insbesondere die Sophisten nicht bloß auf ihre pädagogischen und ethischen, sondern ge- Die sokratische Dialektik. 365 denen Sokrates die Kritik sicher nicht gespart hat, mochten wohl den Eindruck skeptischen Gegensatzes gegen die Wissenschaft hervorrufen. Andererseits aber trieb er seine Hörer, wo immer sich Gelegenheit bot, positiv an, sachverständiges Wissen zu suchen. Und die Art, wie er das tat, mochte den Anschein wecken, als wollte er der Wissenschaft selbst neue Wege öffnen. Allein so weit er sich nach der positiven oder negativen Seite von seinem sittlichen Ziel zu entfernen schien : in allen diesen Fällen hatte er am Wissen Interesse nur insoweit, als dieses für die vom sitt- lichen Ideal geforderte Lebensgestaltung von Bedeutung war. Mit anderen Worten: er hatte für die Wissenschaft Interesse eben nur, sofern sie ein sittlicher Wert war. So waren schließlich doch alle Unterredungen des Sokrates, so mannigfaltig und reich ihr Inhalt sein mochte, auf einen und denselben Grundton gestimmt. Das Erste und Letzte war schließ- lich immer der Ruf zur sittlichen Selbsteinkehr, die Mahnung zum Suchen nach sittlichem Wissen. Und alle zeigen denn auch die charakteristischen Grundzüge, die der sokratischen Dialektik ihre besondere Art geben. Eine wundersame Schilderung gibt die Alkibiadesrede des platonischen Symposions von der Art der sokratischen Gespräche. Wie die Person des Sokrates, so gleichen auch seine Unter- redungen jenen Silenen, die auseinandergenommen werden können, und wer auf sie nur eben hinhört, dem werden sie zuerst lächerlich erscheinen: derart sind die Ausdrücke und Redensarten, in die sie sich einhüllen wie in das Fell eines übermütigen Satyrs. Von Last- eseln nämlich spricht der Mann und Schneidern und Schustern und Gerbern, und immer scheint er auf dieselbe Weise dasselbe zu sagen, so daß der Unkundige und Gedankenlose über diese Art von Gesprächen lachen muß. Wenn man sie aber öffnet und in ihr Inneres dringt, so sieht man, daß sie einen Sinn und Inhalt haben wie sonst keines Menschen Rede, und bald wird man finden, daß sie die göttlichsten von allen sind, daß sie die reichsten Schätze sittlichen Lebens in sich bergen und auf ein ungeheuer umfassendes Gebiet sich ausdehnen, ja, daß sie alles behandeln, legentlich auch auf ihre rhetorischen Fähigkeiten und Leistungen prüfte, ist nicht zu bezweifeln. Vgl. auch den Ion, wo mit den Rhapsoden abgerechnet ist. 366 Das sokratische Evangelium. was zu bedenken einem Menschen ziemt, der sittlich gut werden will (Symp. Plat. 221 D — 222 A). Die Manier des Sokrates, an die alltäglichsten und trivialsten Dinge anzuknüpfen, scheint viel Anstoß und Aufsehen erregt zu haben. Auch im „Gorgias" ist hievon die Rede (491 A). Und in der xenophontischen Schutzschrift sagt Kritias zu Sokrates: „von den Schustern und Zimmerleuten und Schneidern wirst du lassen müssen, Sokrates; sie sind ja auch schon ganz verbraucht, so oft führst du sie im Munde." 1 ) Nicht minder auffällig war dem Oberflächlichen an den sokratischen Gesprächen das ewige Sich- selbstwiederholen. Von der sophistischen Weise stachen beide Eigentümlichkeiten — jene Trivialitäten und diese Wiederholungen — doch gar zu sehr ab. Denn die Sophisten wußten immer Be- deutendes, Interessantes und Neues vorzubringen. 2 ) Aber das war nur die Außenseite der sokratischen Dialektik. Daß Sokrates sich immer wiederholt habe, konnte nur der flüchtige Zuhörer meinen. Gewiß behielt der Meister immer das letzte Ziel im Auge, und stets führten seine Gespräche auf dieses hin. Aber die Wege waren überaus verschiedenartig. Und der Inhalt der Gespräche ging ja in alle Tiefen und Weiten des Kulturlebens. So pflegte Sokrates denn auch von jenen Äußerlichkeiten das Gespräch sehr bald auf ganz andere Dinge zu bringen, auf die Dinge, die ihm am Herzen lagen und für die er in seinen Hörern Interesse wecken wollte. Und er muß dies in berückend geistreicher Form getan haben. Selbst Plato — von Xenophon ganz zu schweigen — hat wohl den wunderbaren Zauber dieser Unterredungen nicht annähernd getroffen. Das dialektische Werkzeug des Sokrates war die prüfende, die elenktische Frage. Gelegentlich zwar mochte er, wie der platonische „Protagoras" annehmen läßt, dem Partner das Zu- geständnis gemacht haben, daß er diesen fragen ließ und selbst antwortete. 3 ) Grundsätzlich aber wies er sich die Rolle des Fra- ') Mem. I 2, 37, vgl. IV 4, 5. -0 Mem. IV 4, 6 f. Gorgias 490 E— 49 IC. Hiezu vgl. oben S. 53 f. ;i ) Protag. 338 D ff. 348 A. Etwas Ähnliches wiederholt sich Gorg. 462 B ff. Dagegen läßt sich Apol. 33B in keinem Fall als Beleg für die Bereitwilligkeit bezw. Gepflogenheit des Sokrates, auf gestellte Fragen zu antworten, verwenden. Sokrates sagt hier: . . ö/xotax; xal nXovou» tcal nkvrjxi nrxQtyw tfxavtov igwtüv Die sokratische Dialektik. 367 genden zu. Aristoteles berichtet: „im dialektischen Verfahren pflegte Sokrates nur zu fragen, nicht zu antworten; denn er be- kannte, daß er nichts wisse." Und so gering der Zeugniswert dieser Notiz ist — sie geht auf spät-platonische Äußerungen zurück (S. 84, Anm.), und wir können nicht mehr sicher ent- scheiden, ob sie wirklich den historischen Sokrates meint — , so zweifellos ist sie sachlich richtig: der Hintergrund des Frage- verfahrens war in der Tat bei Sokrates das Bekenntnis oder, wenn man lieber will, die Fiktion seines Nichtwissens. 1 ) Dieses Vorschützen des Nichtwissens war Ironie — die be- kannte sokratische Ironie, 2 ) die so viel beredet und auch nach- geahmt worden ist. Und allerdings ist sie ein hervorstechender Charakterzug der sokratischen Dialektik gewesen. Was ihr Wesen war, ist nicht schwer zu sagen. Der Grundton ist ein über- legenes Spielen mit den Menschen, ein launiges Scherzen, das aber doch eine gewisse Geringschätzung des Partners oder wenig- st« hw rt; ßovXrftai unoxgtvö/utvog äxoveiv ivv av Xtyco. Und ist der Text in Ordnung, so faßt die Stelle eben allgemein — ohne die Besonderheit der sokra- tischen Dialektik zu berücksichtigen — die beiden Möglichkeiten des 6ta?Jye- ad-ut, von dem im unmittelbar Vorhergehenden die Rede ist, ins Auge, d. h. das Gefragtwerden und das Fragen (vgl. Schanz zu der Stelle). Allein sehr viel wahrscheinlicher ist mir, daß statt tgcoxäv zu lesen ist: igottiöv. Dann würde Sokrates sagen: allen ohne Unterschied, Armen wie Reichen, stelle ich mich mit meinen Fragen zur Verfügung (vgl. Prot. 348 A: . . txoißöq sifil ool nageysiv dnoxgivöfxevoq, wo indessen zu dem nagäytiv nicht etwa t-fxavxdv, sondern, aus dem Vordersatz, xo tgioxüv zu ergänzen ist). Bei dieser Lesung hat das sich anschließende xal explizierende Bedeutung. Und es ergibt sich so eine Charak- teristik der sokratischen Dialektik, wie sie allein zu dem Bild, das die Apologie von dieser entwirft, paßt: daß Sokrates sich jemals habe ausfragen lassen, davon weiß die ganze Apologie nichts; hier ist ja von Anfang an die elenktische Seite des sokratischen dtultyto&ai in den Vordergrund gerückt, und für diese ist durch- aus das Frageverfahren charakteristisch. *) Politeia I 337E: . . 'Iva ^coxgaxr/q rb eiw&oq öiangätyxai, avxbq pkv fx»i anoxQiVTfzat, ü).).ov 6' anoxgiva/uevov kaßßüvfl köyov xal t).tyyq. Tlwq yag dr, entgegnet Sokrates, xlq dnoxgivaixo ngcüxov f/sv fx?) eldwq litjös (päaxcov elöt- vai . . .,- Vgl. Theät. 150 C. Diese beiden Stellen waren für die aristotelische Notiz die Vorlage. 2 ) Politeia I 337 A: . . avxrj 'xsivt] tj etcu&vla dgmviia üwxgdxovq, xal xavx iyu> {jörj rf xal xovxotq ngovltyov, oxi av dnoxgivao&ai /usv olx id-sh]- ooiq, tlgajvtvoaio de xal navxa ßü).).ov noirjooiq ?j dnoxgivolo, ei' rlg xi ae igcaxä. 368 Das sokratische Evangelium. stens die Absicht, seine Selbstschätzung zu dämpfen und sich über ihn lustig zu machen, verrät. Der Scherzende nimmt im Reden oder Handeln irgend eine Maske vor, er stellt sich an, als sei er in den Partner verliebt, als bewundere er seine Talente und Leistungen, als suche er bei ihm Rat oder Belehrung u. s.f. 1 ) Zugleich aber ist dafür gesorgt, daß für den tiefer Blickenden die Fiktion durchsichtig ist. Und nie fehlt in diesem Spiel der ernste Unterton, wiewohl häufig das Körnchen Ernst eben nur in dem Zwecke liegt, dem das Spiel zu dienen bestimmt ist. Dieser Zweck aber ist stets ein ernster. Denn er ist zuletzt kein anderer als der Zweck des sokratischen Wirkens selbst: die Ironie ist ein wesentliches Mittel von Sokrates' sittlicher Dialektik. Das gilt ganz besonders von der ironischen Maske des Nicht- wissens. 2 ) Natürlich ist auch sie in der sokratischen Praxis in tausend Variationen zur Verwendung gekommen. Das Spiel war ein anderes gegenüber dem Anfänger, ein anderes gegenüber dem Fortgeschrittenen. 3 ) Besonders wirksam war aber die Fiktion, wenn der Meister Neulinge, die er erst an sich zu ziehen suchte, vor sich hatte. Da spielte er ganz den Schalk, den Naiven, Un- wissenden, der sich von dem Angeredeten Belehrung holen wollte. Erst ganz allmählich merkte dieser, daß er es mit einem über- legenen Spötter zu tun hatte. In solchen Augenblicken stellte sich dann wohl bei ihm der Eindruck ein, daß Sokrates in all den Dingen, in denen er den Anderen ausfragte, ein Wissender sei (Apol. 23 A). Und doch kann Sokrates mit Grund diese Auf- *) Sympos. Plat. 216DE (Alkibiadesrede) : opäre yag ort SwxgärTjg tgcazi- xwq öiaxeizai nüv xa).üiv xal atl ntgl tovzovq iazl xal ixn£7i?.tjxzai, xal av dyvoel nävia xal ovdev olösv . . Alkibiades führt dann aus, daß Sokrates Schönheit, Reichtum und alle die landläufigen Güter geringschätze, tiywv /xiv ov, elgcovivo/uevog 6h xal nall^wv navza rov ßt'ov tiqoq zovg äv^QOJTiovq öiaze- ).h. Vgl. 218D, ferner Apol. 37Ef. 2 ) Diese nimmt der frühplatonische Sokrates besonders gern am Schluß der ergebnislos endenden Dialoge vor, so Charmid. 175A ff., Hipp. min. 376C, Laches 200E. Vgl. Hipp. min. 372Bff. Ef., Menon 80AB. Zu dem sokratischen Bekenntnis des Nichtwissens vgl. ferner Apol. 21 D, 23B. 3 ) Der Unterschied, den Xenophon Mem. I 4, 1 zwischen dem, was Sokrates xoXaoxrjQiov svsxa rolg navz olo/isvovg tidtvai ipwrcuv ifay/ev, und dem, was er Hyoiv owr^fzegeve rolq avvöiatQißovoi, macht, bezieht sich natürlich auch auf diese Seite des sokratischen Verfahrens. Die sokratische Dialektik. 369 fassung ablehnen. Denn hier war im ironischen Spiel selbst, nicht bloß in seinem Zweck, ein ernstes Moment. Sokrates bleibt ja in einer Hinsicht immer ein Suchender und insofern Nicht- wissender: die Beantwortung der besonderen, zumal der konkreten Fragen des sittlichen Lebens ist ja eine Arbeit, die nie abge- schlossen ist. Und da in alle Unterredungen solche Probleme hereinspielen, so ist das sokratische Fragen immer zugleich in vollem Ernst ein gemeinsames Untersuchen. Diese ernste Seite des Spiels, die doch wieder den Eindruck der Überlegenheit des Meisters, das Gefühl, daß dieser längst am Ziele sei, nicht im geringsten beeinträchtigt, gibt hier der sokratischen Dialektik einen besonders pikanten Reiz. Das nächste Ziel des ironischen Frageverfahrens ist, in den Angeredeten die Einsicht in ihr Nichtwissen zu wecken, oder — das ist dasselbe — sie zur Selbsterkenntnis zu führen. Daß Sokrates in diesem Zusammenhang gern an das delphische: Er- kenne dich selbst, erinnerte, ist wohl zu glauben (S. 353, 1). Aber es waren noch unzählige andere Wege, auf denen Sokrates seine Leute zu demselben Ziel zu führen wußte. „Du scheinst mir nicht zu wissen," sagt Nikias im platonischen „Laches" zu Lysi- machos, „daß, wer dem Sokrates und seinen Reden nahe genug kommt, von ihm, wenn auch das Gespräch sich zunächst um etwas ganz anderes drehte, unerbittlich so lange herumgeführt wird, bis er dahin gebracht ist, über sich selbst, sein vergangenes und gegenwärtiges Leben Rechenschaft abzulegen" (Laches 187EL). Das ist die sokratische „Menschenprüfung", die aber vielmehr Veranlassung zur Selbstprüfung ist. Denn das unmittelbar exa- minatorische Verfahren, das uns in der Gesprächsammlung der Memorabilien so oft begegnet 1 ), hat Sokrates in der Regel wohl vermieden, schon darum, weil ihm die Leute dann weggelaufen wären. Aber ein derart plumpes Inquirieren lag ihm, wie die platonischen Darstellungen erkennen lassen, ebenso fern wie das Moralpredigen. Sokrates hatte andere Mittel, die Leute dahin zu bringen, daß ihnen ihre sittliche Blindheit zum Bewußtsein kam. Darum allein aber ist es, das sei noch einmal betont, dem ') Eine bemerkenswerte Ausnahme macht in den Memorabilien nur das Euthydemosgespräch IV 2. H. Maier, Sokrates. 24 370 Das sokratische Evangelium. sokratischen ttiyyatv zu tun (Apol. 29 DE). Auch da, wo Sokrates einmal wirkliche Ignoranz entlarvt, hat er, wie wir wissen, zuletzt nur die Absicht, den Gefragten zur Einsicht in seine sittliche Schwäche zu bringen. Die Elenchen der Kyniker und Megariker sind von dieser Seite nicht mit den sokratischen zu vergleichen. Die elenktische Tätigkeit des Sokrates ist ein unmittelbarer, auf das sittliche Ziel selbst gerichteter und bereits auch positiver Be- standteil seiner Protreptik: denn nicht bloß ist es zuletzt das sitt- liche Nichtwissen, das dem Gefragten zu Gemüt geführt werden soll, sondern dieses „Wissen um das Nichtwissen" selbst ist bereits als ein Anfang des neuen sittlichen Lebens gedacht, als ein Zustand der Selbsteinkehr und des Verlangens nach dem Ideal, aus welchem dem Menschen die Arbeit an sich selbst, die zum sittlichen Ziele führt, entspringt. So geht das eUyyttv unmerklich über in das zweite Sta- dium 1 ) des protreptischen Einwirkens, in das Hinweisen und Hinführen auf das Ideal. Gewiß aber hat auch dieses letztere in den sokratischen Gesprächen nie gefehlt. Insofern hat Xenophon nicht Unrecht, wenn er den Meister gegen den Vorwurf einer unzulänglichen Protreptik, die den Menschen zwar zur Tugend mahnen, nicht aber zu ihr hinzuführen vermöge, in Schutz nimmt. 2 ) Begreiflich aber wäre dieser Vorwurf, wenn er sich wirklich gegen Sokrates gerichtet hätte, immerhin. Denn selbst in den Fällen, in denen er das Gespräch auf eine sittliche Wahr- heit, die er ins Gemüt des Partners senken wollte, unmittelbar *) Daß Plato die beiden Stadien der sokratischen Dialektik scharf unter- schieden hat, zeigt der Menon. Hier vollzieht der Autor, wie im 3. Kapitel des 4. Teils zu zeigen sein wird, mit vollem Bewußtsein die Umbildung des sokra- tischen Verfahrens, wie sie durch seine eigenen veränderten Anschauungen ge- fordert war (81 A— 86 C). Hiebei ist er, wie sich deutlich beobachten läßt, von dem Bestreben geleitet, sich immer noch so nah wie möglich an das genuin- sokratische Verfahren zu halten. Um so mehr fällt ins Gewicht, daß er die beiden Stadiendes öiaXeyeaD-ai hier auch äußerlich sorgfältig auseinanderhält: das elenk- tisch-negative wird 82 B— 84 D (c. 16—18), das positiv-protreptische (hier: be- lehrende) 84 D— 86 C (cc. 19 und 20) dargestellt. Daraus läßt sich mit Sicherheit so viel schließen, daß in der Dialektik des historischen Sokrates die beiden Stadien oder Seiten seiner Dialektik wenn auch nicht zeitlich so doch grund- sätzlich sich deutlich von einander abhoben. 2 ) Mem. I 4, 1 — gegen den Kleitophon gerichtet, s. oben S. 42 f. und 5. 284 ff. Die sokratische Dialektik. 371 hinlenkte, dachte er nicht von ferne an eine dogmatische Fest- legung. 1 ) Und diesen Fällen stehen andere gegenüber, wo er die Mitunterredner zwar zur Selbsteinkehr veranlaßte, um sie aber dann anscheinend im „Nichtwissen", in der Ratlosigkeit oder gar Verzweiflung stecken zu lassen. Im Grunde sind hiefür die meisten i'rühplatonischen Dialoge charakteristische Illustrationen. Der Char- mides und der Laches enden nicht bloß ergebnislos. Der ober- flächliche Leser weiß auch, wenn er am Ende ist, schlechterdings nicht, was er aus diesen Gesprächen machen soll. Der kleine Hippias ferner schließt mit einem Paradoxon, hinter das nicht bloß der Partner, sondern auch Sokrates selbst ein Fragezeichen macht. Dieses ganze Verfahren hat den bekannten Hintergrund. Sokrates ist dabei durchweg von der Tendenz geleitet, die Menschen zu eigenem, selbständigem sittlichem Suchen — und Finden zu veranlassen. Allein er hat auch, das zeigt sich doch bei genauerem Zusehen, überall dafür gesorgt, daß ein Finden möglich war (vgl. oben S. 280 ff.) — auch in den Fällen, wo es sich um einzelne, konkrete Aufgaben, Interessen und Werte handelte. 2 ) Sokrates hat es zwar, wie später noch genauer aus- geführt werden wird, vermieden, den Inhalt des Lebensziels, wie es dem Individuum unter den besonderen Umständen durch das Ideal gesteckt ist, in einer zusammenfassenden Formel festzulegen. Er hält es ja für die Aufgabe des sittlichen Menschen, sich seinen Weg durchs Leben in steter kritischer Arbeit zu bahnen. Allein daß die Individuen hiebei nicht fehlgriffen, daß sie immer wieder den rechten Weg fanden, darum hat die sokratische Dialektik sich aufs angelegentlichste bemüht. Ganz besonders aber zum sittlich vollkommenen Leben selbst mit seiner Autonomie und Autarkie wußte Sokrates die Menschen mit allen Mitteln hinzuführen, wirk- lich hinzuführen, obwohl immer in der Weise seiner Pro- treptik und seiner Dialektik. Verkehrt übrigens wäre es, die beiden „Stadien" der protrep- ') Von frühplatonischen Dialogen ist hieher, streng genommen, freilich nur der Kriton zu zählen, der aber, wie wir wissen, in seiner ganzen Art und Ten- denz von den übrigen sehr erheblich absticht. Dagegen haben die Gespräche der Memorabilien zum weitaus größten Teil diesen Charakter. Doch sind uns diese ja keine einwandfreien Belege. -) Vgl. z. B. den „Laches". 24* 372 Das sokratische Evangelium. tischen Arbeit als äußerlich auseinanderliegend und an eine be- stimmte zeitliche Ordnung gebunden betrachten zu wollen. Irgend ein Bekehrungsschema, eine Heilsordnung gab es für Sokrates nicht. Daß er häufig mit dem tltyytir anfing und dann zu der positiven Aufgabe weiterging, ist natürlich. Aber die Regel war das keineswegs. In anderen Fällen waren die beiden Bestandteile völlig in einander. Dann wieder trat das eine oder das andere Element fast ganz zurück. Kurz, der Verlauf der sokratischen Unterredungen war so mannigfaltig und so ganz auf die jeweiligen Umstände zugeschnitten, daß auch die beiden Seiten des protrep- tischen Werks, dem sie dienten, in die verschiedenartigsten Be- ziehungen zu einander zu stehen kamen. 1 ) Zu den dialektischen Hilfsmitteln, deren sich So- krates in seinen Unterredungen bediente, um zum Ziel zu gelangen, gehört natürlich der ganze eudämonistisch -utilitaristische und hedonistische Apparat, den der Sokrates unserer Gewährsmänner aufs mannigfaltigste spielen läßt. Was aber an diesen Unter- redungen vor allem auffällt, ist ihr stark eristisches Gepräge. Im kleinen Hippias beklagt sich der Gesprächspartner, der Sophist Hippias, wiederholt über Sokrates' rabulistische Argumentations- weise. Ja, er bemerkt geradezu: „Sokrates verwirrt die Leute immer im Gespräch, und es sieht fast so aus, als ob er den Schlechten machen wollte." 2 ) Und er hat hiezu allen Grund. Ganz ebenso ist in den übrigen frühplatonischen Dialogen — man denke an Charmides, Laches, Protagoras — die Art, wie Sokrates die Menschen an das von ihm beliebte Ziel zu führen pflegte, nichts weniger als sachlich. Und wieder fällt dieser Zug nicht etwa dem Autor, Plato, zur Last. Wie uns bereits bekannt ist, hat sich die ganze kynische Eristik — und ebenso die megarische — unmittelbar aus den sokratischen Gesprächen entwickelt. Beweis genug dafür, daß auch die letzteren sehr viel von dieser Art an sich hatten. In der Tat: wenn Sokrates mit seinen Unterredungen wissenschaft- ') Belege für das im Text Gesagte bieten die frühplatonischen Dialoge genug. 2 ) Hipp. min. 373 B, 369 BC. In ähnlicher Weise beklagt sich z. B. Kritias im Charmides 166 C, Protagoras im „Protagoras" 360 E. Besonders häufig be- gegnen uns solche Bemerkungen im Gorgias und im 1. Teil der Politeia (vgl. die bei Joe! I S. 369, 2 zusammengestellten Belege). Die sokratische Dialektik. 373 liehe Zwecke verfolgt hätte, wenn es ihm um die Auffindung meta- physischer oder ethischer Wahrheiten zu tun gewesen wäre, dann müßte seine ganze Dialektik als ein Irrweg bedenklichster Art verurteilt werden; ja der Vorwurf wäre gegen ihn gerechtfertigt, daß er das wissenschaftliche Gewissen vergiftet, den Wahrheits- sinn in den Sumpf dialektischer Kniffe gelockt habe. Aber seine Tendenz war ja eine ganz andere. Xenophon berichtet, Sokrates habe, wenn er in seinen Diskussionen irgend eine These „durch- ging", seinen Weg stets über die am meisten zugestandenen Sätze genommen, weil er sich hievon für die Untersuchung die größte Sicherheit versprach (Mem. IV 6, 15). Daran ist so viel richtig, daß er für jeden Schritt, den er in der Diskussion vorwärts tat, die Zustimmung des Partners sich zu sichern bemüht war. Allein in der Wahl der Mittel, zu diesem Ziel zu gelangen, in der Art, wie er den Leuten diese Zustimmung abnötigte, war er wenig bedenklich. Diese Manier begreift sich, wenn man erwägt, daß es eben nur ein praktisches Ziel war, das er im Auge hatte. Der ausschließlich protreptische Zweck der sokratischen Dialektik ließ auch kognitiv anfechtbare Diskussionsweisen zu, wenn diese nur wirksam waren, d. h. fähig, die Leute zur Selbsteinkehr und zum sittlichen Suchen zu bringen. Unter diesen Umständen werden die logischen Verdienste, die man seit Aristoteles der sokratischen Dialektik zuzuerkennen pflegt, zweifelhaft werden. Zu denken gibt indessen die Tatsache, daß Antisthenes und die Seinen, die doch das Bewußtsein hatten, treu in den Fußstapfen der sokratischen Dialektik zu wandeln, Be- gründer einer logischen Skepsis wurden, und daß die Megariker, hierin wenigstens teilweise selbständig, dieselbe Richtung ein- schlugen. 1 ) Nun wird man versuchen, diese Bemühungen aus dem polemischen Gegensatz gegen die platonische Ideenlehre mit ihrer logischen Einkleidung herzuleiten. Ganz läßt sich diese Deutung aber doch nicht durchführen, schon deshalb nicht, weil die Begründung und Ausgestaltung, die Plato seiner Ideen- lehre gegeben hat, ihrerseits zum Teil jene Skepsis voraussetzt. Kurz, es läßt sich die Annahme nicht von der Hand weisen, daß die sokratische Dialektik selbst in gewisser Weise den An- ') Vgl. meine Syllogistik des Aristoteles 112 S 3 ff. 374 Das sokratische Evangelium. stoß auch zu dieser logischen Manier der Diskussion gegeben habe. Nach Aristoteles' Darstellung sind es, wie wir sahen, im wesentlichen zwei logische Verdienste, die dem Sokrates zuzu- schreiben seien: die induktiven Untersuchungen und das all- gemeine Definieren. An anderem Orte fügt er noch ein Drittes an: die Analogieschlüsse (nayaßolai). Nun hat Aristoteles seine Weisheit ja aus zweiter oder dritter Hand. Und daß er sich nicht bloß in der Beziehung, die er zwischen den Induktionen und den Definitionen annimmt, sondern auch in der Tendenz, die er der ganzen sokratischen Dialektik unterschiebt, geirrt hat, wissen wir. Immerhin bilden jene drei Stücke das hauptsächliche logische Inventar der sokratischen Dialektik; nur daß man an die Stelle der Definitionen die definitorischen Fragen zu setzen hat. Wohlgemerkt: Aristoteles sagt nicht, daß Sokrates die logische Theorie der In- duktionen, Definitionen und Analogieschlüsse gesucht und ge- funden, sondern nur, daß er tatsächlich, und zwar besonders häufig, Definitionen gesucht und gebildet, Induktionen und Analogie- schlüsse ausgeführt habe (vgl. S. 289). Und in der Tat geben jene drei Operationen der sokratischen Dialektik von der „tech- nischen" Seite her ihr eigenartiges Gepräge. Daß Sokrates die def initorische Frage, die Frage nach dem „Was?" eines Begriffs häufig aufgeworfen hat, ist oben schon festgestellt worden. Ebenso auch, daß sie besonders in seiner elenktischen Tätigkeit eine große Rolle gespielt hat. In den frühplatonischen Dialogen beherrscht sie fast durchweg die Gesprächführung. Und nach Antisthenes ist der Anfang der Bil- dung die Untersuchung der Wörter, d. h. der Wortbedeutungen (vgl. oben S. 289). In diesem Zusammenhang war es wohl auch, daß Sokrates die Synonymik des Prodikos sich zunutze machte (S. 256). Vor allem aber scheint er hiebei nicht selten auch auf die in der Natur des Begriffs angelegten logischen Verhältnisse — selbstverständlich wieder ohne sich dieselben irgendwie the- oretisch zurechtzulegen — Bezug genommen zu haben: wenigstens lassen die frühplatonischen Schriften hierauf schließen, und die antisthenisc hen Überreste sprechen zum mindesten nicht dagegen. 1 ) ') Hiezu vgl. die S. 129, Anm. angeführten Stellen aus dem Laches, ferner die von C. Ritter, Neue Untersuchungen über Piaton, S. 256 angegebenen Belege aus Die sokratische Dialektik. 375 Möglich ist auch, daß er im Verlauf solcher Erörterungen gelegentlich darauf hingedeutet hat, wie zu allgemeinen Begriffen zu gelangen wäre. Im „Laches" (191 Eff.) zeigt der platonische Sokrates, tapfer sei, wer in Lust oder Leid, in Begierde oder Furcht die Tapferkeit betätige; wolle man darum den Begriff der Tapfer- keit gewinnen, so müsse man auf das allen diesen besonderen Erscheinungsformen Gemeinsame achten. Zur Illustration zieht er den Begriff der Geschwindigkeit heran: Geschwindigkeit gebe es ebensowohl im Laufen wie im Zitherspielen, im Reden, im Lernen und in vielen anderen Dingen; was aber in allen diesen Fällen Geschwindigkeit heiße, das sei die Fähigkeit, in kurzer Zeit viel zustande zu bringen; damit aber sei der Begriff der Schnelligkeit gewonnen. Ähnlich kann der geschichtliche Sokrates wirklich gesprochen haben. Das Beispiel aus dem „Laches" ist aber allerdings noch weiterhin lehrreich. Diese Anleitung zur Gewinnung von Begriffsbestimmungen dient nicht etwa, wie zu erwarten wäre, nun zur positiven Aufsuchung der Definition der Tapferkeit, sie dient nur dem elenktischen Zweck, den Partner — es ist Laches — noch tiefer in die Schwierigkeiten hineinzuführen. Wir wissen indessen ja längst, daß die sokratische Dialektik nicht auf die Gewinnung von Definitionen ausgegangen ist. Übrigens dürfen wir doch Xenop hon darin Glauben schenken, daß Sokrates auch den Rekurs aufs Allgemeine, namentlich zur Entscheidung strittiger Fragen, liebte (Mem. IV 6, 13f.). Daß er z. B. die Frage, ob ein Mann, von dem eben die Rede war, ein guter Bürger sei oder nicht, gegebenen Falls von dem Allge- meinbegriff des guten Bürgers aus beantwortete, ist mehr als wahr- dem Protagoras (s. bes. 329 C ff., 349 CD, 353 B, 359 A). In diesen Stellen ist die Rede von ßi-Qi} bezw. (lögia im Sinn von Umfangsteilen eines Begriffs, denen das olov, das Ganze des Begriffs gegenübersteht (z. B. olrj ugeitj, ovfxnaaa uQtn' n der gegenüber die Tapferkeit ein (xoqiov oder ein /zegog ist). Eine logische Theorie des Begriffs ist an keiner dieser Stellen irgendwie vorausgesetzt. Zu solchen Betrachtungen reicht die natürliche Reflexion völlig aus, und daß Sokrates von seiner definitorischen Frage aus auf Erwägungen dieser Art kam, ist recht wohl denkbar. Immerhin ist gegenüber solchen platonischen Stellen Vorsicht ratsam, da sie doch wenigstens am Anfang des Wegs liegen, der zur Ideenlehre führte (vgl. unten 4. Teil, 3. Kap.). Indessen lassen auch gewisse Antisthenika schließen, daß dem Sokrates derartige Gedankengänge nicht fremd waren (vgl. oben S. 291 f.). 376 Das sokratische Evangelium. scheinlich. Nur muß man sich wieder die Vorstellung ferne halten, als wäre es dem Sokrates in allen solchen Fällen irgendwie um eine logisch korrekte Feststellung von Allgemeinbegriffen und um eine logisch stringente Deduktion aus denselben zu tun ge- wesen. Das einzige Kriterium für die Brauchbarkeit von Be- griffen und Deduktionen war ihm der dialektisch - protreptische Erfolg. Das gilt in erhöhtem Maß von den „Induktionen" und „Analogieschlüssen", die in der dialektischen Praxis des So- krates einen noch breiteren Raum einnehmen. Die beiden Formen gehen denn auch so in einander über, daß sie sich nicht streng von einander scheiden lassen. Als Induktionen können alle die Folgerungen bezeichnet werden, in denen ein allgemeiner Satz irgendwie auf einige besondere Fälle gestützt wird. Und das ge- schieht in recht mannigfaltigen Formen. Bald wird eine große Anzahl einzelner Fälle zusammengestellt und daraus anscheinend in ordnungsgemäßer Induktion eine allgemeine Regel hergeleitet. Bald wird eine Behauptung lediglich durch ein paar Beispiele illustriert. Zahlreiche echt sokratische Induktionen — ebenso aber auch Analogieschlüsse — findet man z. B. im kleinen Hip- pias. 1 ) In der aristotelischen Theorie sind später zwei Arten von Induktion auseinandergetreten: die Induktion als dialektische Be- gründungsform und die Induktion als wissenschaftliche Forschungs- methode. Mit der letzteren nun hat die sokratische Induktion nichts zu tun. Dagegen ist sie offenkundig die Vorgängerin der ersteren. 2 ) Für den „somatischen" Analogieschluß bringt die aristotelische Rhetorik ein typisches Beispiel: der Satz, daß es nicht angehe, die Staatsmänner durchs Los zu bestimmen, wird bewiesen durch die Bemerkung: das wäre ganz ebenso, wie wenn man die Athleten ausloste, also nicht die im Ringkampf Geübten, sondern die zufällig durchs Los Getroffenen nähme, oder den Steuermann aus dem Schiffspersonal durchs Los wählte; als ob man einen Ausgelosten und nicht vielmehr einen Sachverständigen *) Vgl. außerdem schon den Kriton 47Bff., ferner den Charmides 159 C ff., 167 C ff. u. ö., und weiter den Laches und Protagoras passim. 2 ) Hiezu s. meine Syllogistik des Aristoteles, II 1 S. 381 ff. Doch ist diese Darstellung, soweit sie auf Sokrates Bezug hat, nach meinen jetzigen Aus- führungen zu modifizieren. Die sokratische Dialektik. 377 brauchte! 1 ) In dieselbe Kategorie gehören natürlich auch die Folgerungen von der Notwendigkeit sachverständigen Wissens auf die des sittlichen Wissens. Und ebenso haben hier die Last- esel und Schneider und Schuster und Gerber, denen in der sokra- tischen Dialektik eine so viel beredete Rolle zugewiesen war, ihre natürliche Stelle. 2 ) Allein ob in solchen Gedankengängen der Durchgang durch das Allgemeine genommen wurde oder nicht, ob also das Verfahren sich aus einer Induktion und einem daran sich anschließenden Schluß vom Allgemeinen aufs Besondere zusammensetzte oder eben nur als Analogieschluß sich darstellte, das war durchaus zufällig. Man darf ja überhaupt nie vergessen, daß die sokratischen Gespräche an der technischen Ausprägung und Handhabung logischer Formen nicht das geringste Interesse haben. Einer kurzen Anmerkung bedarf zum Schluß noch die Frage, in welcher Weise Sokrates die Dichtererklärung in seinen Ge- sprächen verwendet hat. Daß er sich auch hierin versucht hat, ist bereits festgestellt worden (S. 194). Darin stimmen auch unsere Ge- währsmänner zusammen. Weiterhin aber stehen deren Angaben und Ansichten in schroffem Gegensatz. Xenophon läßt den Meister an der bekannten, oben (S. 172 ff.) schon berührten Stelle der Ge- sprächsammlung (16, 14) sagen: „Ich pflege die literarischen Schätze, die uns die Weisen der Vergangenheit hinterlassen haben, aufzu- schlagen und gemeinsam mit meinen Freunden durchzugehen, und wenn wir darin irgend etwas Gutes finden, eignen wir uns dasselbe an." Zu den „Weisen der Vergangenheit" aber gehören, wie wir sahen, auch die Dichter. Nach Xenophons Bericht müßte also die Dichtererklärung in der Wirksamkeit des Sokrates eine keineswegs untergeordnete Rolle gespielt haben. Ganz anders indessen äußert sich der platonische Sokrates im „Protagoras" (347 C— 348 A). „Lassen wir", so heißt es hier, „Lieder und Ge- dichte! . . . Denn mir scheint, über Gedichte sich unterhalten, hat sehr viel Ähnlichkeit mit den Gelagen gemeiner und ungesitteter Leute. Diese sind aus Mangel an Bildung nicht im stände, sich aus Eigenem mit einander beim Becher zu unterhalten, mit ihrer ») Aristoteles, rhet. II 20. 1393 b 4 ff., vgl. oben S. 83, Anm., und meine Syllogistik des Arist. II 1 S. 449. 2 ) S. oben S. 365 f. Eine gewisse Illustration hiezu gibt Gorg. 516 A. 378 Das sokratische Evangelium. eigenen Stimme und ihrer eigenen Rede; so sind ihnen die Flöten- spielerinnen sehr viel wert, sie mieten um teures Geld die fremde Stimme der Flöten und pflegen mit deren Hilfe mit einander Unter- haltung. Wo dagegen wackere und gebildete Zecher beisammen sind, da . . . sind sie im stände, selbst sich zu unterhalten, durch ihre eigene Stimme, ohne diese Possen und Narrheiten, jeder in seinem Teil bald sprechend bald zuhörend, durchaus anständig, auch wenn sie stark getrunken haben. So bedürfen auch Unter- haltungen, wie die unsrige, . . . keiner fremden Stimme und keiner Dichter; die letzteren kann man ja zudem nicht mehr fragen, was sie sagen wollen; diejenigen aber, die die Dichter zitieren, sind meistens über den Sinn der Dichterstellen ganz entgegengesetzter Ansicht, und reden hiebei über Dinge, über die sie niemals ins Reine kommen können." Lassen wir also, das ist die Nutzan- wendung, solche Unterhaltungen, setzen wir die Dichter ab und sprechen mit einander aus eigenen Mitteln, indem wir die Sache und uns selbst erforschen! Offenbar hat diese Ausführung eine polemische Spitze. Aber diese kehrt sich ohne Zweifel nicht gegen Xenophon — weder gegen die erwähnte Stelle aus der Gesprächsammlung noch etwa gegen das xenophontische Sym- posion. Wer die Tendenz des „Protagoras" kennt, wird geneigt sein, zu vermuten, daß Plato sich hier eben mit der Dichter- erklärung der Sophisten, die ja eines ihrer beliebtesten Bildungs- mittel war, auseinandersetzen wolle. 1 ) Indessen reicht diese An- nahme nicht aus. Mangel an Bildung (ommdsvoia) den Sophisten vorzuwerfen, hat der Autor weder Grund noch Anlaß. Fast möchte man vermuten, daß Plato hier schon den Mann im Auge habe, den er, wie auch sein Schüler Aristoteles, später so gerne mit den Prädikaten der Unbildung, der Geistesarmut, der Musenlosig- keit auszeichnete, d. h. den Antisthenes. 2 ) \) Was nicht ausschließt, daß er nebenbei auch die Dichter selbst treffen will. Vgl. den Ion und das oben (S. 125) über diesen Gesagte. Übrigens findet sich schon im kl. Hippias 365 CD eine Mahnung, die der im Protagoras ähnlich, obwohl in der Form milder ist. Da sagt Sokrates zu Hippias: ..Lassen wir also den Homer, zumal es ja auch unmöglich ist, ihn zu fragen, was er sich eigent- lich dachte, als er die Verse dichtete!" Und er richtet an Hippias die Aufforde- rung, sich an die Sache zu halten, und da er ja mit Homer übereinstimme, zu- gleich für sich und Homer zu antworten. 2 ) Mit Dümmler (Akademika S. 50) stimme ich in der Annahme überein, daß Die sokratische Dialektik. 379 Und in der Tat weisen auch sonstige Spuren nach dieser Rich- tung. In dem Abschnitt seiner „Schutzschrift", der sich mit der Ka%r\- yoQta des Polykrates beschäftigt, bemerkt Xenophon (I 2, 56 ff.) u.a.: „Der Ankläger sagte ferner, Sokrates habe aus den berühmtesten Dichtern das Schlechteste herausgegriffen und, auf diese Zeugnisse gestützt, seine Anhänger gelehrt, schurkische und schlechte Menschen zu werden." Insbesondere, fährt der Autor fort, habe der Ankläger eine Stelle aus Hesiod und eine aus Homer namhaft gemacht, die Sokrates in diesem Sinn verwertet habe. Wie ist Polykrates auf diesen Vorwurf gekommen? Das Material zu dem Pamphlet, das bestimmt war, der Sokratik einen tödlichen Schlag zu ver- setzen, hatte er, wie wir wissen, zu einem guten, ja wohl zum größten Teil aus der bis dahin erschienenen sokratischen Literatur, den loyoi 2iujy.Qany.oi, besonders den antisthenischen, geschöpft. Aus den letzteren stammt wohl auch der Stoff zu der Anklage, von der uns Xenophon an unserer Stelle Kenntnis gibt. Daß An- tisthenes Bücher geschrieben hat, die sich mit Dichter-, nament- lich mit Homerauslegung befaßten, ist bekannt. Augenscheinlich aber hat er es auch sonst geliebt, in seinen Schriften reichlich Dichterstellen zu zitieren und seine Auseinandersetzungen an diese anzuknüpfen. 1 ) Und nichts hindert anzunehmen, daß er schon in die Stelle sich gegen Antisthenes richte. Die von ihm behauptete Spitze gegen Xenophons Symposion dagegen kann ich so lange nicht anerkennen, als die Mög- lichkeit besteht, daß umgekehrt Xenophon sein Symposion auch in diesem Punkt dem platonischen entgegensetzen will, vgl. oben S. 17, 1. l ) Auf letzteres weist schon der Wortlaut der xuiriyogla des Polykrates bei Xenophon hin. Daß Antisthenes über Hesiod ein Buch geschrieben habe, ist zu- dem nach dem Katalog der antisthenischen Schriften bei Diog. nicht anzunehmen. Andererseits wird dasselbe Zitat aus Hesiod, das der xaxi'iyogoq beanstandete, im Charmides 163 B von Kritias, der die antisthenische Definition der ouxpqoövvtj (= ra eavrov 7iqÜtt£iv) verficht, angezogen. Und nach der Charmidesstelle ist zu vermuten, daß das Zitat in einer ethischen Schrift des Antisthenes stand. Übrigens geht aus der Sokratesapologie des Libanios hervor, daß Polykrates Stellen nicht bloß aus Hesiod und Homer, sondern auch aus Pindar und Theognis namhaft gemacht hat, an denen Sokrates sich versündigt habe. Bei Libanios erhält die Anklage nun freilich auch die Wendung, Sokrates habe diese Dichter getadelt. Indessen gehen die beiden Klagepunkte, die so bei Libanios ausein- andertreten und einander zu widersprechen scheinen, ohne Zweifel auf einen einzigen zurück, und der lautete in der Quelle, bei Polykrates, wie Mesk in der oben S. 23, 2 zitierten Abhandlung S. 66 richtig bemerkt hat, augenscheinlich 380 Das sokratische Evangelium. den neunziger Jahren hiemit den Anfang gemacht hat. Daß die antisthenische Dichtererklärung übrigens nicht der sophistischen Manier folgte, sondern sich — wenigstens in jener frühesten Zeit — durchaus in den Dienst der sokratischen Protreptik stellte, läßt schon die giftige Art, wie Polykrates sie behandelt, erkennen. 1 ) Für Plato war dies dennoch zu viel der Annäherung an die Weise der Sophisten. Ihm war ja wohl schon die ganze Art, wie Antisthenes seine Schule zu den damaligen Sophistenschulen in unmittelbare Konkurrenz zu stellen suchte, in innerster Seele zu- wider. Und die Schärfe, ja Bitterkeit, die an dem Ausfall gegen die sophistische Dichtererklärung im „Protagoras" auffällt, richtet sich wohl weit mehr gegen den sokratischen Genossen Antisthenes, der nach Piatos Meinung hierin zum Sophisten geworden ist, als gegen die wirklichen Sophisten selbst. Aus dieser polemischen Absicht allein ist es im Grunde auch zu begreifen, daß Plato doch eigentlich hier weit übers Ziel hinaus- geschossen hat. Er selbst läßt seinen Sokrates sowohl früher als später unbefangen Dichterworte zitieren und mit solchen argu- mentieren. 2 ) Auch im „Protagoras" stellt der platonische Sokrates am Ende ebenso wie im kleinen Hippias, so bestimmt er schließ- lich die Diskussion über Dichterstellen ablehnt, seine eigene Ge- dichtinterpretation der sophistischen gegenüber. 3 ) Und wer wollte dahin, daß dem Sokrates absichtlich falsche Deutung, d. h. absichtliche Ver- drehung von Dichterstellen zur Irreleitung der Jugend vorgeworfen wurde. Nun weist allerdings der Katalog der antisthenischen Schriften bei Diog. L. ein anti- sthenisches Werk über Theognis auf. Indessen läßt eben die Darstellung des Libanios deutlich genug erkennen, daß Polykrates dem „Sokrates" den Mißbrauch einzelner Dichterstellen zur Last gelegt hat. — Anfügen möchte ich noch, daß auch die Protagorasstelle selbst vorwiegend die Unterhaltungen und Diskussionen über den Sinn einzelner Dichterstellen im Auge hat. ') Aus Xenoph. Symp. III 6, IV 6—7 geht zudem hervor, daß Antisthenes nicht allein in der Beurteilung der Rhapsoden mit Plato einig war, daß er viel- mehr auch die von den Sophisten geübte Dichterverwertung mißbilligte. 2 ) Aus den frühplatonischen Schriften hebe ich folgende Stellen heraus: Apol. 28CD, 34D, Kriton 44B, Laches 191A, 201B, Charm. 161 A, Protag. 340 A, 340 D, 348 C, vgl. 309 A, 315 B. Zu Hipp. min. s. die folgende Anm. Aus den späteren Schriften vgl. z. B. die charakteristische Stelle Lysis 214 A. 3 ) Im kl Hippias, zu dem S. 378, 1 zu vergleichen ist, knüpft sich an einen Homervortrag des Hippias ein Streit des Sokrates mit diesem über ein homeri- sches Thema. ' Nun lehnt Sokrates die Fortsetzung der Interpretationskontroverse Die sokratische Dialektik. 381 leugnen, daß Plato damit einen 'wirklichen Zug der sokratischen Dialektik nachgebildet hat? Der Unterschied zwischen ihm und Antisthenes war, wenn wir von den besonderen dichterexegetischen Arbeiten des Kynikers 1 ) absehen, wohl nur der, daß bei diesem die Dichterauslegung und der Streit um Dichterstellen in den sokra- tischen Gesprächen einen sehr viel breiteren Raum einnahm und ein sehr viel stärkeres Gewicht erhielt, wodurch sich allerdings eine starke Annäherung an die sophistische Manier von selbst er- gab. Sehr unwahrscheinlich aber ist, daß Sokrates jemals in den Unterredungen mit seinen Freunden zusammenhängende Dichter- interpretation betrieb. Soweit jene xenophontische Notiz dies voraussetzt, hat sie augenscheinlich, darauf ist oben (S. 174) schon hingewiesen worden, die der Dichtererklärung gewidmeten Werke des Antisthenes zur Quelle gehabt. Vermutlich hat der letztere übrigens auch in seiner Schulgemeinschaft solche Studien getrieben. Sicher aber ist, daß dieser ganze Zweig seiner schrift- stellerischen und dialektischen Tätigkeit ein Erbstück seiner sophistischen Vergangenheit war, das ihm jetzt in „somatischer" Umbildung zu einer wertvollen Waffe im Konkurrenzkampf mit den athenischen Sophistenschulen wurde. Von der Art, wie Sokrates die Dichter für seine Protreptik ausnützte, können wir uns auf diese Weise am Ende doch ein ziemlich deutliches Bild machen. Wir werden annehmen dürfen, daß die sokratischen Unterredungen, wo sich Gelegenheit bot — und bei der bedeutsamen Rolle, die die Lektüre der nationalen Dichter in der Bildung der Athener spielte, wird hiezu nicht allzu selten Anlaß gewesen sein — auch die bei den Sophisten übliche Dichterauslegung nicht verschmähten. In solchen Fällen griff Sokrates aus den Dichtungen die Stellen, die ihm für seine dia- lektischen Zwecke paßten, heraus; die Erklärung selbst aber war ab, 365 CD. Das hindert ihn selbst aber nicht, 370 Äff. fröhlich in seiner Weise weiterzuexegesieren. Im Protag. ferner ist eben doch der Bemerkung 347 C— 348 A die eingehende Simonidesauslegung vorausgeschickt 342 A— 347 A, und diese soll augenscheinlich die Interpretationskünste des Protag. aus dem Felde schlagen. ') In diese Kategorie werden außer den Büchern über Homer und Theognis noch eine ganze Reihe der in dem Verzeichnis des Diogenes aufgeführten Schriften zu zählen sein. 382 Das sokratische Evangelium. alles eher als philologisch korrekt; sie war nur von dem einen Bestreben geleitet, die Aussprüche der Dichter um jeden Preis protreptisch nutzbar zu machen; und um dieses Ziel zu erreichen, stellte der Exeget den natürlichen Sinn, wenn es not tat, mit vollem Bewußtsein auf den Kopf. Kurz, die Interpretationsweise des Sokrates war ganz ebenso eristisch wie seine Argumentationen. So fügt sich auch dieser Zug ganz in das Gesamtbild der soma- tischen Dialektik ein. Allzu erfreulich ist dieses Bild an sich nun eben nicht. Der Beschauer macht durchaus die Erfahrung des platonischen Alkibi- ades. Er fühlt sich zunächst von dem Silenenhaften, Clown- mäßigen, das dieser Dialektik anhaftet, abgestoßen. Aber dahinter steht die große Persönlichkeit, der Mann mit der starken Seele und dem liebeerfüllten Herzen, steht die große Kraft, die den Widerstrebenden mit sich fortzureißen und den Schlafenden auf- zurütteln weiß, steht das große Ziel: die Menschen zum Licht zu führen, ihnen das sittliche Wissen zu bringen, das sie innerlich stark und frei und glücklich machen kann. Fünftes Kapitel. Der Inhalt des sokratischen Lebensideals. Das autonome und autarke Ideal des vollkommenen Lebens ist an sich nur ein formales Schema. Gewiß, dieses Schema ist das wesentliche Element des Sittlichen selbst, die Form, die den Lebensinhalten allein den sittlichen Charakter zu geben vermag, auf der darum auch alle sittlichen Werte und Güter be- ruhen. Es ist die recht eigentlich humane Lebensform, in der sich für den Menschen alle Würde, alle ideale Kraft und alles Glück begründet. Hier liegt auch das Neue, das Große, das Beseligende, was das sokratische Evangelium den Menschen bringt. So ist es nur natürlich, daß dieser Seite des sittlichen Lebens in der dialektisch-protreptischen Wirksamkeit des Sokrates so großes und entscheidendes Gewicht beigelegt ist. Und es ist auch durchaus in der Ordnung, daß der protreptische Hinweis Der Inhalt des somatischen Lebensideals. 383 auf die Voraussetzungen, Bedingungen und Formen der Verwirk- lichung dieses formalen Ideals, die Erörterung über Tugend und Tugenden, über Selbstbeherrschung, Bedürfnislosigkeit und die Kraft, die Bedürfnisse niederzuhalten, über Mäßigkeit, Besonnen- heit, Tapferkeit, Gerechtigkeit u. s. f., in der dialektischen Auf- klärungsarbeit des Sokrates — nicht bloß in den Berichten, die wir darüber haben — eine so wichtige und umfassende Rolle spielt. Wir sind heute nicht mehr im stände, bestimmt zu fixieren, was Sokrates nach dieser Richtung im einzelnen gesagt hat. Alle Formulierungen, die wir bei Plato, Xenophon oder Antisthenes finden oder erraten können, sind als deren ausschließliches Eigentum zu betrachten. Es lag ja nicht in der Art des Sokrates, sich in Formulierungen doktrinär festzulegen. Und jeder Versuch, ihm hier irgend welche ausgeführte Doktrinen zu unterschieben, würde das Bild seiner Dialektik nur fälschen. Wie er sich diese Dinge grundsätzlich gedacht hat, ist schon im zweiten Kapitel entwickelt worden. Eben hier aber ist uns auch bereits klar geworden, daß die Vollkommenheit, auf die das sittliche Wollen hinstrebt, eine Form ist, die eben nur von den aus dem menschlich-natürlichen Triebleben fließenden Begehrungen ihren Inhalt bekommen kann. Ja, sitt- liche Vollkommenheit ist nur eine bestimmte Gestaltung des natür- lichen Trieblebens selbst. So drängt sich die Frage auf: welcher Art ist der Inhalt, der in diese Form sich einfügt? Wie hat sich Sokrates inhaltlich das Leben gedacht, das den Forderungen des Vollkommenheitsideals adäquat entspricht? Daß nun Sokrates selbst diese Frage nach dem Inhalt des Lebensideals nicht zusammenfassend erörtert, geschweige beant- wortet, daß er ein inhaltlich bestimmtes Lebensideal tatsächlich nicht aufgestellt hat, das geht aus unseren Quellen mit völliger Über- einstimmung hervor. Auch nachher ist das nicht in Zweifel ge- zogen worden. Denn nur darüber stritt man später, ob die in- zwischen hervorgetretenen inhaltlich bestimmten Ideale, die sich als „sokratische" einführten, auf der Linie der ursprünglichen Sokratik liegen oder nicht. In der frühesten Zeit jedenfalls war man in jener Negation durchaus einig. Indessen entspann sich bald darüber ein Streit, ob hier eine Lücke anzunehmen sei, ob es im Sinne des Meisters liegen würde, ihn hier zu ergänzen und 384 Das sokratische Evangelium. über ihn hinauszugehen. In diese Kontroverse gibt uns der „Kl ei tophon" einen interessanten Einblick. Dieser Dialog ist, wie wir wissen (S. 284 ff.), ziemlich alt und entweder von Plato selbst oder einem Platoschüler, nicht ohne Wissen und Billigung des Lehrers, verfaßt. Er führt uns in die Zeit, wo Plato das Bedürfnis hat, die Gedanken des Meisters weiterzuführen, und im Begriffe steht, dem sokratischen Ideal einen Inhalt zu geben. Antisthenes dagegen und sein Anhang lehnen das ab und bleiben ihrerseits bei dem elenktisch-protrep- tischen Sokrates stehen. Das ist die Situation, auf die der „Klei- tophon" zurücksieht. 1 ) Der Wortführer setzt sich hier von jenem platonischen Standpunkt aus mit dem kynischen Sokrates aus- einander. Er erkennt dessen protreptiscne Tätigkeit in vollem Umfang an. Diese weiß die Menschen in wirksamster Weise zum Streben nach dem Guten anzutreiben. Weiter aber geht der kynische Sokrates nicht. Worin denn das Gute selbst nun positiv bestehe, sagt er nicht, und auch keiner seiner Schüler weiß hierauf Bescheid zu geben. So ist dieser Sokrates dem Fortgeschrittenen, der weiter kommen und ans Ziel der Tugend selbst gelangen möchte, um glücklich zu werden, eher hinderlich, und es bleibt diesem nichts anderes übrig, als sich an die Sophisten zu halten. Kleitophon erklärt für seine Person, er habe beschlossen, sich an Thrasymachos, der uns als der radikalste der Sophisten bekannt ist, zu wenden. Diese letzten Bemerkungen lassen erkennen, daß es nicht zuletzt der Kampf, den die Sokratik in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre mit der „Sophistik" zu führen veranlaßt war, gewesen ist, der dem Plato das Bedürfnis nahelegte, das sittliche Ideal des Sokrates nach seinem Inhalt dogmatisch festzulegen und auszugestalten. Man begreift das. Unverkennbar aber ist auch, daß auf platonischer Seite selbst andererseits bereits das formale Ideal zurückzutreten beginnt. 2 ) Eine spätere Phase des Streites stellt sich uns im „Euthy- *) Ich erinnere noch einmal, daß die kynische Vorlage, auf die der „Kleito- phon" vorwiegend — natürlich nicht ausschließlich; der Verfasser kennt zweifel- los auch andere antisthenische Arbeiten — Bezug nimmt, bald nach 394 ge. schrieben ist (S. 287, 1). 2 ) Hiezu ist das 3. Kapitel des 4. Teils zu vergleichen. Der Inhalt des sokratischen Lebensideals. 385 dem os" dar. Die gegnerischen Parteien sind hier noch weiter auseinandergerückt. Bei Plato hat das Ideal nun seinen Inhalt erhalten; dieser Inhalt ist das (sachverständige) Wissen. Bei Anti- sthenes andererseits hat sich die Ablehnung des gegnerischen Unternehmens zur skeptisch-eristischen Bestreitung gesteigert. Dennoch erscheint auch hier noch der Gegensatz als ein metho- disch-dialektischer. Es stehen einander gegenüber die platonisch- sokratische und die antisthenisch-sokratische Protreptik (Euthyd. 278 C ff.). Eben im „Euthydemos" steht aber doch bereits auch der sachlich-dogmatische Gegensatz im Hintergrund, der dann sehr bald an die Stelle jenes dialektischen tritt. Jetzt ist der Streit- punkt der: läßt das sokratische Lebensideal überhaupt einen Inhalt zu oder nicht? Und Antisthenes verneint die Frage. Den Inhalt könnte das Ideal nur von dem natürlichen Begehrungs- leben bekommen. So fürchtet der Apostel der asketischen Frei- heit, der in der Unterdrückung dieser Begehrungen die sittliche Aufgabe sieht, daß ein inhaltlich erfülltes Ideal das sittliche Streben aufs neue in Abhängigkeit von den Begierden bringe. Und er zieht sich ganz auf das formale Vollkommenheits- und Freiheits- ideal zurück. Plato dagegen, der das menschliche Triebleben grundsätzlich anders einschätzt als Antisthenes, hält daran fest, daß die sittliche Lebensform auch einen Inhalt verlange, daß das Vollkommenheitsstreben auf die Verwirklichung eines bestimmten Lebensinhalts hinziele. Und Euklid und Ari stipp sehen sich, so sehr sie sonst nach der antisthenischen Seite hinneigen, ge- nötigt, hierin auf Piatos Seite zu treten. 1 ) Plato selbst erblickt ') Euklid, sofern er das spekulative Wissen des Guten, Aristipp, sofern er die rjöovrj als sittlichen Lebensinhalt ansah. Zur Zeit der Politeia hatte Euklid den späteren Standpunkt noch nicht ganz erreicht. In VI 505 BC ist gesagt, daß tolq ßhv noXXolq rjöovt) öoxel elvai xo aya&ov, xolq 6h xo/uxporspoiq (poovrjotq. Daß hinter den noXkol sich auch Aristipp versteckt, wird vermutet werden dürfen. Mit den xofixpöifQoi aber sind die Megariker gemeint. Und von ihnen ist weiter gesagt, daß sie nun nicht anzugeben wüßten, %uq (poövrjaiq, sondern schließlich gezwungen seien ttjv tov ceya&ov (pävai. Was aber hier wieder das Gute sei, bleibe im Dunkeln, und die Vertreter dieser Ansicht stellen sich, als ob etwas Sinnvolles gesagt wäre, insiöav xo tov äya&ov (p&ey^wviai ovo/xa. Daß diese Kritik übrigens sich mittelbar auch gegen die Antisthenik, von der die Mega- riker ohne Zweifel die <pgövrjaiq haben, richtet, leuchtet ein. Denn der Vorwurf der H. M a i e r , Sokrates. 25 386 Das sokratische Evangelium. prinzipiell in der Realisierung der auf das sachverständige Wissen gegründeten intellektuellen Kultur das sittliche Ziel, den Inhalt des sokratischen Lebensideals. Und er glaubt, mit der Weiter- führung dieses Gedankens der tiefsten Intention des Meisters gerecht zu werden. Allein über dem Interesse für den Inhalt verliert er nun die Form völlig aus den Augen. So wird sein Gegensatz zu Antisthenes ein extremer. Welches nun war die Meinung des Sokrates selbst? Das ist leichter zu sagen, als es zunächst scheinen möchte. Und merk- würdigerweise kann uns hier der angebliche ethische Sensualismus des Hedonikers Aristipp einen Fingerzeig geben. Aristipp ver- zichtete grundsätzlich darauf, ein Gesamtziel für das sittliche Streben herauszuarbeiten. Daß das menschliche Wollen natur- gemäß auf Befriedigung, auf Lust ausgehe, stand ihm fest (S. 325 f.). Aber er wollte nicht einmal einen Versuch machen, den idealen Gesamtzustand kritisch festzulegen, von dem die vollkommenste Lust zu erwarten war. Er betrachtete es als eine Aufgabe des Augenblicks, auf Grund der (pQovrjöig von Fall zu Fall unter den möglichen Befriedigungen die Wahl zu treffen. Das ist, wenn mich nicht alles täuscht, die ursprüngliche Meinung des aristippi- schen Hedonismus. 1 ) Sein Ausgangspunkt aber war die Praxis der sokratischen Protreptik. Daß Sokrates, dessen sittliche Freiheit ja nicht die asketische Inhaltslosigkeit ihres Ideals trifft die Antistheniker, die das Gute eben nur in die (fQÖvrjoiq setzen, noch stärker als die Megariker. Euklid selbst half sich dann,, indem er das Wissen des Guten eleatisierte. Vgl. S. 583, 1. ') Nach Eusebius (Praep. evang. XIV 18, 31) hat Aristokles von Aristipp behauptet: ovöhv fxev ovxoq iv xcp (pavegü nepl xtXovq dieXsi-axo, öwaßti ös xf t q evöai/uovlaq xr/v vnöoxaoiv hXeyev sv rjöovaiq xslo9ai. Über diese Notiz geht Zeller II l 4 S. 354,4 gar zu leicht hinweg. Hiezu ist dann Diog. L. II 87 f. hin- zuzunehmen: . . xeXoq [uv yag ehai (nach der Ansicht der Kyrenaiker) x>)v xaxa fisQoq ^öovrjv svöaipoviav öh xo ex xiöv (xsqixüv ^öovwv avoxr\(xa . . . slval xs xtjv [xsqmt}v rjöovljV öS avxrjV cciQExqv, xtjv 6' tvöaifAOvlttv ov öi' avxr]v ixXXa öia xj]Q, xaxa ßSQoq ^doväq. Daß diese Anschauung — von der Mangelhaftigkeit des Referates, das augenscheinlich eine karikierende Tendenz verfolgt, ganz ab- gesehen — in dieser dogmatischen Fassung auf den älteren Aristipp nicht zurückgehen kann, ist nach der Bemerkung des Aristokles sicher. Eine sorg- fältige Abwägung der beiden Notizen, die zudem mit der Sokratik des Aristipp ernsthaft rechnet, wird wohl zu der im Text vorgetragenen Auffassung kommen. Der Inhalt des sokratischen Lebensideals. 387 ist, dem natürlichen Triebleben einen Inhalt des Lebensideals ent- nimmt, daß er das sittliche Wollen für eine formale Tendenz hält, die sich darin erschöpfe, unter den natürlichen Begehrungen eine bestimmte Auswahl zu treffen und dieselben nach einer be- stimmten Richtung zu lenken, wissen wir. Damit aber ist der dogmatische Formalismus des Antisthenes bereits abgelehnt. Andererseits hat dieser darin richtig gesehen, daß es Grundsatz war, wenn Sokrates vermieden hat, den Inhalt des sittlichen Lebens systematisch zu bestimmen. Der Meister hatte hiezu weder Bedürfnis noch Anlaß. Er war ja nicht Ethiker und wollte keiner sein. Er war ein Prophet, der die Menschen zum Suchen führen, und ein Mann des Lebens, der ihnen helfen wollte, ihren Weg zu finden. Hiefür aber war es genug, wenn der Schlüssel zur Lösung der konkreten Rätsel des Lebens gewonnen war. Und das war erreicht mit der Einsicht in das Wesen des Sittlichen: das formale Ideal war ein untrüglicher Führer, ein Licht, das den Menschen ihre Bahn erhellen konnte. So war das sokratische Philosophieren ein gemeinsames Suchen. Und mit diesem Suchen war es dem Philosophen voller Ernst. Die Einführung des Ideals in das Leben erschien ihm als das große Problem, dem gegenüber auch der Wachgewordene immer ein „Nichtwissender" bleibt, als die Aufgabe, mit deren Lösung niemand zu Ende kommt und die auch von jeder neuen Generation aufs neue in Angriff zu nehmen ist. Dieses „Nichtwissen", zu dem ja Sokrates selbst sich be- kannte, ist keineswegs Verzicht auf schöpferische Idealgestaltung und noch weniger ein Ausdruck innerer Unfertigkeit. Nicht um Aufstellung eines unbedingt allgemein d. i. für alle Zeiten und Orte geltenden Ideals, eines abstrakten Programms konnte es sich ja für ihn handeln, sondern um die sittliche Durchdringung und Bewältigung der konkreten Verhältnisse, wie das Leben sie in immerwährendem Wechsel mit sich führt. Und Sokrates nahm seinen Standpunkt ganz in seiner Zeit und in der Situation, in der er sein Volk oder vielmehr seine Vaterstadt vorfand. Hier war es ja auch, wo er mit seinem Wirken einsetzte. Immerhin hätte er wenigstens ein relatives Ideal entwerfen können, gültig für seine Zeit, für seine und seiner Zeit- und Volksgenossen sittliche Arbeit. Aber er hatte eine ausgeprägte Scheu, nach dieser Richtung irgend abzuschließen. Und wir können 25* 388 Das sokratische Evangelium. uns diese erklären. Offenbar wurde er die Besorgnis nicht los, daß die Festlegung eines inhaltlichen Ziels die sittliche Autarkie aufs neue gefährden könnte; die Gefahr lag ja nahe, daß auf diese Weise das sittliche Glück wiederum an die Verwirklichung eines Zwecks, dessen Erreichung nicht durchaus im Machtbereich des menschlichen Wollens lag, gebunden, kurz, daß über dem Inhalt die Form, an der doch alle sittlichen Werte hingen, oder, was dasselbe war, über dem Mittel der eigentliche Endzweck ver- gessen werde. Hier hat Antisthenes die tiefste Intention des Meisters verstanden. Wie wenig aber jene Furcht grundlos war, zeigt die Entwicklung, die das inhaltlich erfüllte Ideal unter Piatos Händen durchlaufen hat. Sokrates selbst hat es vorgezogen, lediglich mit dem formalen Ideal, an dem ihm alles lag, kritisch ins Leben hineinzuleuchten und dessen Probleme und besondere Aufgaben zu lösen so wie sie an ihn herantraten. Trotzdem läßt sich die Richtung erkennen, nach der er die Verwirklichung sittlicher Vollkommenheit auf dem Boden des Bestehenden angestrebt, und ein Bild von den Zielen gewinnen, auf die er die Entwicklung des individuellen und des öffentlichen Lebens hinzulenken versucht hat. Man muß sich zunächst vergegenwärtigen, wie tief die grund- legenden Anschauungen des Sokrates 1 ) in das geltende Normen- system, oder sagen wir besser: in die geltenden Normensysteme eingeschnitten haben. An die Stelle der Moralcodices der gesellschaftlichen Klassen setzt Sokrates eine humane Moral. In Athen hatte sich der alten Adelsethik, die die sittliche Trefflichkeit, den Vorzug der „Kalokagathie", an vornehme Geburt und die Traditionen der alten Geschlechter gebunden, also den Angehörigen des aristo- kratischen Kreises vorbehalten hatte, längst eine Moral der bürger- lichen Demokratie entgegengestellt. Aber auch diese war rich- tige Klassenmoral. Auch ihr ist ein sittlicher Wert des Men- schen ohne gewisse äußere Voraussetzungen wie freie Geburt, griechische Nationalität, den Besitz staatsbürgerlicher Rechte und gesellschaftlicher Achtung und eine gewisse wirtschaftliche Un- abhängigkeit nicht denkbar. Mit diesen Anschauungen bricht *) Wie sie im 2. Kapitel entwickelt sind. Der Inhalt des somatischen Lebensideals. 389 Sokrates radikal. Der Adelsethik und der bürgerlichen Moral setzt er das sittliche Ideal des Menschen entgegen. Vor diesem sind alle Menschen, Adelige und Bürger, Griechen und Barbaren, Freie und Sklaven gleich. Über Wert oder Unwert, Berechtigung oder Nichtberechtigung der nationalen und ständischen Gliederung der Gesellschaft ist damit noch kein Urteil gefällt. Ein anderes ist sittliche, ein anderes rechtliche und- soziale Gleichheit. Aus jener haben die Kynik und die kyrenaische Schule, denen sich die ganze hellenistische Philosophie angeschlossen hat, die natur- rechtliche Verwerfung jener gesellschaftlichen Abstufungen und Institutionen gefolgert. Sokrates selbst hat diese Konsequenz aus seinem Vordersatz nicht gezogen, und er hat sie, nach dem, was wir sonst über seine Stellung zum historisch Gewordenen wissen, sicher abgelehnt. Er hat von einem anderen Gesichtspunkt aus die bestehende Gliederung der Gesellschaft durch eine andere ersetzen wollen. Das Dogma von der sittlichen Gleichheit der Menschen aber bedeutet ihm nur die Unabhängigkeit des sittlichen Menschen- wertes und Menschenglücks von den Unterschieden der bürger- lichen, gesellschaftlichen, nationalen und wirtschaftlichen Situation. Nicht minder tief greift der sittliche Individualismus des Sokrates in das Ganze der herrschenden Wertungen ein. Denn dieser bricht grundsätzlich mit der unbedingten Überordnung des Staats und der Gesellschaft über das Individuum, die in Athen wie in ganz Griechenland althergebrachte, geheiligte Überliefe- rung war. Nicht das Wohl und das Gedeihen des Staats oder der Gesellschaft ist für Sokrates der Endzweck menschlichen Han- delns, sondern die persönliche Vollkommenheit des Individuums. Das war für den Griechen, ja für den antiken Menschen überhaupt der Umsturz. Es ist auch nicht zu leugnen, daß dieser sokratische Individualismus verhängnisvoll gewirkt hat. Auf ihn gehen zu- letzt doch alle die individualistischen Tendenzen der hellenistischen Zeit zurück, die, wiederum durch die Kynik und die Kyrenaiker angefacht, auf die Isolierung des „Weisen", auf die Loslösung des sittlichen Menschen vom Staat und den übrigen gesellschaft- lichen Organisationen hindrängten. Indessen auch diese Ent- wicklung ist nicht dem Sokrates selbst zur Last zu legen. Der sokratische Individualismus war, das ist oben schon angedeutet worden und wird sich demnächst bestätigen, keineswegs anti- 39 Das sokratische Evangelium. sozial; er war vielmehr mit einer hohen Schätzung der staatlichen und sozialen Institutionen wohl verträglich. Sokrates' Intention geht von dieser Seite lediglich dahin, den selbständigen Wert und die Endzweckwürde der Persönlichkeit sicherzustellen. Und das allerdings war eine sittliche Revolution von ungeheurer Trag- weite. Aber der sokratische Individualismus hat ja noch eine andere Seite. Er bedeutet ja auch die Emanzipation der sittlichen Ge- setzgebung von dem Willen und der Autorität der Gesellschaft. Denn er gibt dem sittlichen Individuum die Autonomie. Wieder ist damit keineswegs eine Geringschätzung oder gar Abrogierung der aus dem Gesellschaftswillen fließenden Normen, d. i. der Ge- setze des positiven Rechts und der Sitte, ausgesprochen. Nur die Loslösung des sittlichen Gesetzes von den letzteren ist vollzogen. Und damit ist nicht nur der unheilvollen Verquickung von Moral und Recht ein Ende gemacht, sondern zugleich eine Möglichkeit geschaffen, dem positiven Recht zu der Anerkennung seines Werts und seiner Bedeutung zu verhelfen , die ihm gebührt. Es war nämlich ein grobes Mißverständnis, wenn die Kyniker und Kyrenaiker in dem sokratischen Sittengesetz eine naturrechtliche Norm sahen und nun glaubten, von dieser aus im Sinne des Meisters die Satzungen der Sitte und des Rechts als bloße Er- zeugnisse menschlicher Konvention verwerfen zu dürfen. 1 ) Diese naturrechtliche Ausdeutung seines Gedankens lag dem Sokrates durchaus fern. Ihm war das Sittengesetz nicht Naturrecht, über- haupt nicht Recht, sondern ein Erzeugnis desWollens des sitt- lich autonomen Individuums. Das Recht betrachtete er demgegen- über, so gut wie die Sitte, als etwas auf Nomos Beruhendes, und ein Naturrecht kannte er, so weit wir sehen können, überhaupt nicht. 2 ) So fiel für ihn Anlaß und Möglichkeit zu einer natur- rechtlichen Kritik des Bestehenden weg. Eine sittliche Kritik der Normen des geltenden Rechts und der bestehenden Sitte aller- M Ich verweise vorerst nur auf die berühmte These des Antisthenes, die für diese Wendung des Gedankens charakteristisch ist: xal tdv aoybv ov xaxa. rovg xsifievovg vofxovq nofaxeveo&ai, alka xaxa tdv ttjq aQsrfjg (Diog. L. VI 11). 2 ) Natürlich beweisen hiegegen die voixoi äypcc<poi Xenophons (Mem.IV4, 19 ff.) nichts. Zu diesen s. oben S. 46, 2. Der Inhalt des soldatischen Lebensideals. 391 dings war ihm keineswegs fremd. Diese aber führte, wie sich zeigen wird, vielmehi zu einer nachdrücklichen Ablehnung der naturrecht- lichen Konstruktionen und zu einer warmen Apologie für die Au- torität des positiven Rechts. Für das sittliche Leben selbst be- deutete diese Scheidung der Moral von Recht und Sitte eine wahre Befreiung. Allein auch sie war ein radikaler Bruch mit der ganzen griechischen Tradition. Das Bild wird vollendet durch die von Sokrates durchgeführte Säkularisation der sittlichen Normen. So brüchig die Fiktion von der göttlichen Herkunft der gesellschaftlichen Ord- nungen im Laufe der letzten Jahrzehnte geworden war, so innig war doch noch die Vorstellung, daß hinter ihnen die Gottheit stehe, mit dem ganzen öffentlichen Leben verwachsen. Und eben die ernster Denkenden, die Bedenken trugen, für die hastige Ge- setzmacherei der demokratischen Politien die Götter verantwort- lich zu machen, hielten um so lieber an dem Gedanken fest, daß wenigstens die grundlegenden rechtlichen und sittlichen Normen auf göttlicher Gesetzgebung beruhen. Sokrates durchschneidet das Band, das die Vergangenheit zwischen Religion und Moral ge- knüpft hatte, völlig, er sondert die sittlichen Normen aufs rein- lichste auch von den religiösen Satzungen und Gepflogenheiten. Das war ein Schnitt tief hinein in altheilige Traditionen, aber zu- gleich auch in alltägliche, immer noch lebenskräftige Gewohn- heiten. Und der Fromme empfand dies nicht allein als Irreligio- sität und Atheismus, sondern auch als Immoralität. Gewiß mit Unrecht. Sokrates blieb — wir werden später hierauf zurück- kommen — religiös, und selbst die religiösen Satzungen wollte er nicht außer Kraft gesetzt wissen. Der Sittlichkeit aber verhalf er durch ihre Befreiung von den Fesseln der Religion erst zu rechtem Leben. Das indessen ist doch nicht zu leugnen: mit dieser Verweltlichung und Vermenschlichung des sittlichen Lebens vollzieht sich eine tiefgreifende Umgestaltung nicht allein der bis- herigen sittlichen Anschauungen, sondern, und das ist hier das Entscheidende, der ganzen bisherigen Form der Moralität selbst. Auf diesem Hintergrund können wir versuchen, uns eine Vor- stellung davon zu machen, wie sich Sokrates den Inhalt eines Lebens gedacht hat, das dem Vollkommenheitsstreben Genüge zu tun im stände war. Überblicken wir seine ganze protreptische 392 Das sokratische Evangelium. Wirksamkeit, so können wir in der Tat sagen, daß ihm, wenn er an den Einzelnen herantrat und ihn nicht bloß aufrütteln, sondern auch wirklich zur sittlichen Gestaltung seines Lebens bringen wollte, ein bestimmtes Bild dieses Lebens, ein Ziel, zu dem er den Wachwerdenden zu führen bemüht war, vor Augen stand. Nicht daß er den sittlichen Wert einer Handlung oder eines Lebens von der Erreichung dieses Ziels abhängig machte (vgl. S. 333). Aber das tatkräftige Streben nach demselben schien ihm allerdings sittlich gefordert. Und natürlich war es — das lag ja schon in seiner grundsätzlichen Auffassung des Wesens des Sittlichen — zunächst ein individueller, im Individuum liegender Zweck, an den er hie- bei dachte, d. h. ein bestimmtes Verhalten und ein bestimmter Zustand des Individuums selbst. Vergegenwärtigt man sich die sokratische Praxis in allen ihren Einzelheiten, so ist es auch nicht schwer, die ideale Situation zu erraten, in deren Verwirklichung Sokrates die sittliche Auf- gabe des Einzelnen sah. Es schwebt ihm der Gedanke vor, daß jedem Menschen durch Natur und Umstände eine bestimmte Stelle in Welt und Gesellschaft angewiesen sei, die nach Kräften auszu- füllen ihn Pflicht und Neigung — vielleicht dürfen wir auch, im Sinne des Meisters, sagen : der Selbsterhaltungstrieb *) — auffordern. Den Stoff, den seine sittliche Arbeit zu bewältigen und zu durch- dringen hat, erhält der Einzelne ja aus seinem [individuellen, immerhin aber durch die historischen und gesellschaftlichen Ver- hältnisse bedingten und bestimmten Triebleben. So wächst er in einen natürlichen Wirkungskreis hinein, dem die individuellen An- lagen und Kräfte, Interessen, Schicksale und Erfahrungen seine bestimmte Umgrenzung geben. In diesem individuellen Lebensgebiet sich auszuwirken, diesen individuellen Men- schenberuf, der, wie kaum bemerkt zu werden braucht, mit dem bürgerlichen Beruf nicht einfach zusammenfällt, zu erfüllen, ist das nächste Ziel, auf das das sittliche Ideal ihn hinweist. 2 ) ') Diese besondere Fassung des Gedankens wird später in der Stoa voll ausgebildet. Sie liegt aber durchaus auf der sokratischen Linie. 2 ) Nur von diesem Hintergrund aus läßt sich, wie das Folgende zeigen wird, Sokrates' Drängen auf sachverständiges Wissen in seinem vollen Umfang und in seiner vollen Bedeutung verstehen. Es fehlt indessen auch in der sokratischen Literatur keineswegs an deutlichen Fingerzeigen, die auf diesen Idealinhalt hin- Der Inhalt des sokratischen Lebensideals. 393 Für jeden Tätigkeitskreis aber ist — und darauf nun legt So- krates ganz besonders Gewicht — die Grundlage der durch das Vollkommenheitsideal geforderten sachgemäßen Betätigung sach- verständiges Wissen. weisen. Außerordentlich wichtig ist in dieser Beziehung die antisthenische Formel xa eavxov ngäxxeiv. Daß diese Formel wirklich auf Antisthenes zurückgeht, hat schon Zeller II l 4 S. 304, 1 gezeigt (vgl. Joel I 490): nach Diogen. VI 12 hielt Antisthenes xa novrjQa nävxa für ^evixä; die natürliche Kehrseite ist, daß er alle äya&ä für olxela hielt, und auf diese positive Fassung zielt Plato Symp. 205 E hin. Daß nun die Formel in diesem Sinn zu der kynischen Gesamtanschauung vortrefflich paßt, ist klar. Merkwürdigerweise aber haben wir Anzeichen dafür, daß Antisthenes sie in seiner ersten Zeit, d. h. in den neunziger Jahren — unsere Spuren führen uns genauer in die Zeit vor dem Erscheinen des Pamphlets des Polykrates — in anderer Bedeutung verwendet oder doch in anderer Beleuchtung betrachtet hat. Im platonischen Charmides 161 Bff. erscheint die Formel als Defini- tion der oaxfQoovvrj, die hier von Kritias vertreten wird (vgl. S. 352, Anm., S. 379, 1). Kritias ist übrigens keineswegs eine Maske, hinter der sich Antisthenes verstecken würde. Er übernimmt die antisthenische Formel, ist aber selbst noch so weit Junker, daß er dem Proletarier Antisthenes nicht bis in die äußersten Konse- quenzen folgt (vgl. 163 B, wo er das Schustern und Hökern direkt neben die gewerbsmäßige Unzucht stellt). Im Mittelpunkt der Erörterung steht dasselbe Hesiodzitat, auf das der xaxr'iyogoq in Mem. I 2, 56 Bezug nimmt. Und die — zweifellos antisthenische — Ausführung, auf die der xaxr'iyogoq seinen Vorwurf gründet, ist augenscheinlich dieselbe, die Plato hier im Charmides im Auge hat. Nun kann es nach Charm. 163C scheinen, als hätte das Wort xa eavxov ngäxxeiv bei Antisthenes schon damals ganz denselben Sinn gehabt wie später: tpävai de ye, heißt es hier, xQ'l xc & oixela /uova xa xoiavxa — nämlich xa xakwq xe xal w(fil!fiwQ notov/ueva — ^yelodat avxöv, xa de ßXaßtgä nävxa äi.Xöxgia. In Wirk- lichkeit kann man hier indessen nur den Übergang von einer früheren Bedeutung zur späteren verfolgen. Der Hesiodvers lautet: "Egyov d' ovdev öveiöoq, äegylrj de x oveidoq. Daraus aber macht Sokrates-Antisthenes nach dem xaxr',yogoq: wq o noitjx *q xtheiei (Mjdevvq egyov [xrf ädtxov /x^x' aloxgov dne^eaQat, dXXa xal xavxa Tioielv inl zw xegdei (Mem. 12,56). Xenophon aber, der offenbar gleichfalls die antisthenische Vorlage vor sich hat, konstatiert (57), Sokrates habe nur das Bekenntnis ausgesprochen xo ixev eQyäxrjv ilvai wqehixöv xe dv&Q(önq> xal aya&cv elvat, \xo de aQyöv ßlaßtgov xe xal xaxov, xal xb (xev epydt > eo9ac dyaüöv, xo 6' ägyelv xaxov, damit aber habe er sagen wollen (das ist offenbar Xenophons eigene Deutung): xoiq /.dv äyaQov xt noiovvxaq tQydZ,to9al xe e<fi} xal eoyaxaq dyaSoiq elvat, xovq de xvßeiovxaq r\ xi ä).Xo novrjQov xal e7ttL,Tjfiiov noiovvxaq doyoiq dnexdlti. Darnach ist in der antisthenisch-sokratischen Aus- führung behauptet, daß keine Arbeit Schande sei, wenn sie nur nutzbringend sei, d. h. aber — nach Antisthenes' .eigener Deutung — sittlich förderlich wirke, in sittlichem Sinn getrieben werde. In diese Gedankenumgebung fügt sich nun das tä eavxov nouxxeiv des Charmides ein. Dem Einwand des Sokrates, daß 394 Das sokratische Evangelium. Daß Sokrates diese Forderung so nachdrücklich verfochten und fast einseitig in den Vordergrund gerückt hat, ist nach der ganzen Art seiner Dialektik nicht befremdlich. Das war ja ein Reformge- danke, der unmittelbar an die sophistischen Reformbestrebungen doch z. B. die Handwerker oaxpgovsiv können, indem sie nicht allein xa eavxov, sondern auch rä xiöv ällwv ngäxzovaiv (oder notovoiv), begegnet Kritias mit der Unterscheidung von noielv und ngäxxeiv. Ebenso aber seien noielv und egyä- Z,eoSai auseinanderzuhalten. Das führt ihn auf jenen Vers Hesiods, und er meint, auch Hesiod habe dabei doch nicht an sgya wie die, von denen Sokrates ge- sprochen, gedacht; er habe doch gewiß nicht sagen wollen, Schustern und Hökern und Sich prostituieren sei keine Schande; vielmehr habe er zwischen ngä^iq und egyaaia einer- und nolrjoiq andererseits unterschieden, und sagen wollen: ein noirjfxa könne zuweilen zum öveiöoq werden, nämlich dann oxav /htj pexa xov xakov ylyvrjtai. Dagegen sei ein egyov niemals ovecdoq: denn xä xaldbq xe xal itjyeXißwq noiov/xeva nannte er egya, und egyaolaq xe xal ngä&tq tag xoiavxaq Ttoirjoeiq. Hieran schließt sich dann der Satz: <f>avat de ye %gr] xal oixela pöva xä xoiaixa tjyelo&ai — ällöxgia (s. oben). Daß diese Auslegung des Hesiod von Antisthenes, dem Gewährsmann des Polykrates, herrührt, ist sicher, wenn auch das Werturteil über das Schustern und Hökern ganz dem Kritias angehört (vgl. die Xenophonstelle) : der Deutung egya = xcc xalwq xe xal w<pe).t(iwq noiovfxeva entspricht durchaus das xal xavxa noiüv inl xo) xegöei im Munde des Pamphletisten Polykrates. Andererseits verrät die Xenophonstelle deutlich genug, daß die von Polykrates aufgegriffene Stelle in einem Zusammenhang stand, in dem von der Formel xd huvxov ngäxxeiv ausgegangen war, und zwar hatte diese hier ursprünglich den Sinn: in seinem Tätigkeitskreis tätig sein; denn der Hesiod vers ist so ausgelegt: kein Metier ist schimpflich, wenn es nur in sittlichem Sinn betrieben wird; nur Arbeitsscheu ist Schande. Diese Annahme bestätigt sich durch eine andere Xenophonstelle, die augenscheinlich in denselben anti- sthenischen Zusammenhang zurückweist, Mem. III 9, 14—15, wo die Unterscheidung von svxvxlcc und evnga&a vollzogen wird (s. oben S. 332, S. 56). Die Definition: 8imga£ia = xo fxa&övxa xs xal ßzlext'jaavxä xi ev notslv, erinnert deutlich an jene antisthenische Erörterung. Aber nun fährt Xenophon im Anschluß hieran in 15 fort: xal aglazovq öh xal &eo(pileoxäxovq lipr\ slvai ev ixev yewgyiq xovq xä yswgyixa ev ngäxxovxaq, ev 6' laxgela. xovq xa taxgixä, iv 6e noXixeia. xovq xa Ttolixixä' xov de prjöev ev ngäxxovxa ovxe xgtjoißov ovdhv h'tprj elvai ovxe 9eo<piXTJ. (Daß übrigens auch Mem. IV 7, 1 vermutlich sich an eine antisthenische Vorlage wenigstens anlehnt, will ich nur kurz erinnern, s. oben S. 175 f.). Wer nun Mem. III 7, 15 mit 14 zusammenhält und 14. 15 mit I 2, 56 in Beziehung bringt, wird nicht mehr zweifeln, daß in der antisthenischen Vorlage das xä eavxov ngüxxeiv zunächst den Sinn hatte: in seinem Tätigkeitskreis tätig sein. Aber wir sehen nun in Charm., wie diese Formel in die Bedeutung übergeleitet wird, die sie dann später bei Antisthenes definitiv erhalten hat: das xa eavxov ngäxxeiv ist einwandsfrei, soweit es ein xa).mq xal ygqolfxcoq xi noielv ist, d. h. soweit die noiovixsva auf das Gute, auf das sittliche Ideal bezogen werden. Alles Der Inhalt des somatischen Lebensideals. 395 anknüpfte. Die Sophisten hatten die rhetorische Schulung für das unentbehrliche Rüstzeug des Mannes im öffentlichen und privaten Leben, ja für das Fundament aller staatsbürgerlichen und mensch- lichen Tüchtigkeit (ap«T?;) erklärt. Sokrates setzt an deren Stelle das sachkundige Wissen. Von diesem verspricht er sich die Um- wälzung des staatlichen, gesellschaftlichen und individuellen Le- bens, die den von den Sophisten geträumten vernünftigen Fort- schritt bringen werde. Er versteht aber unter dem sachkundigen Wissen nicht bloß die technischen Kenntnisse, die die Handwerker, die Künstler, die staatlichen Beamten, die Seefahrer, die Offiziere für ihr berufliches Wissen brauchen, sondern überhaupt die intel- lektuelle Ausrüstung für jeden Tätigkeitskreis. Und er scheint auch auf Vertiefung und Ausbreitung dieses Wissens energisch gedrungen zu haben. Wenn er in den frühplatonischen Dialogen immer und immer wieder von dem sachkundigen Wissen der Kunst- und Handwerksbeflissenen u. s. f. ausgeht, so sind das aber, was auf das Ideal bezogen, dem sittlichen Zweck untergeordnet ist, ist des Menschen Eigenes, das seiner Natur Entsprechende {oixelu); dagegen sind die TiovrjQu alle dlXöxgia. So ergibt sich xd eavtov Ttgdxxeiv = das in die Machtsphäre des sittlichen Willens Fallende tun = tugendhaft leben. Stellen wir fest: die ursprüngliche Formel, von der die antisthenische Erörterung ausgeht, ist xd eavrov xakwq xs xal a>(peXi/ua>q noiov/ueva ngdxxeiv. So hat Antisthenes zu- nächst die aoxpgoavvrj, d. h. aber, da acucpgoavvrj, wie wohl aus Xenophon Mem. III 9, 4 geschlossen werden darf, für ihn = oo<pla, also auch = (pgnv)jatq ist, die sittliche Weisheit charakterisiert. Stellen wir ferner fest: Sokrates-Plato lehnt im Charmides weiterhin, 163 D ff. (trotz 163 E, wo Sokrates auf die Frage des Kritias: ool de . . ov% ol'Tttf doxel', antwortet: "Ea . .' ßrj ydg nm xo i/xol öoxovv oxonü/uev, dk£ o ah ?Jyetq vvv), diese Formel nicht ab; auch die folgende Erörterung strebt nur eine modifizierende Ergänzung an, und wer die dialektischen Gepflogenheiten der früh- platonischen Dialoge kennt, wird in diesem Verhalten eine versteckte Billigung finden. Fragen wir darnach, von wem Antisthenes jene ursprüngliche Formel hat, die er selbst eben nur vorgefunden und in seiner Diskussion als Ausgangspunkt verwendet hat, so wird die Antwort nur lauten können: von Sokrates. Bei So- krates aber hatte sie den Sinn: das in dem eigenen natürlichen Tätigkeitskreis Liegende cj<pe?.lfX(oq (im sittlichen Sinn, fiexd xov xalov) tun. Hiezu vergleiche man nun die Definition der platonischen Haupttugend, der öixaioovvrj, und ihre Einführung in Politeia IV 433 A: . . e&tfxe&a de drjnov xal nolläxiq eleyofxev . ., ■oti eva exaoxov ev öeoi e7tiZ7]Seveiv xcüv 7iegl xr/v nöhv, elq b ctvxov rj <pioiq inixrjdeioiäxrj 7te<pvxvta el'rj . . . Kai /xt/v oxl ye xo xd avxov npdxxetv xal fx?} Tio/.viiQayixovelv öixatoovvr) eaxl, xal xovxo dU.wv xe nolkoJv dxrjxöafxev xal avxol noV.dxiq eip^xa/tsv. — Vgl. auch unten S. 405, 1. 396 Das sokratische Evangelium. zwar in der Regel zunächst Analogien; aber die Ausführungen gestalten sich doch meist so, daß in ihnen zugleich eindring- liche Mahnungen an die Angehörigen der verschiedenen Be- rufszweige liegen, sich das in ihrem Berufskreis nötige Wissen so vollständig wie möglich anzueignen. 1 ) Und wenn Xenophon in seiner Gesprächsammlung den Meister einem Bildhauer, einem Maler, einem Panzermacher Belehrungen über ihr eigenes Fach geben läßt (Mem. III 10f., vgl. cc 1 — 6), so ist das zwar Ungeschick- *) Vgl. S. 178, 1 und S. 343, 1. Wie ein Programm nimmt sich Laches 184E ff. aus. An die Spitze gestellt, ist jener Grundsatz: 'Enioxr',^ ydg, ol t uai, 6ü xqL- veo&ai aAA* ov nXrjS-et xö ßslkov xaXwq xoifrrjoto&ai. Darum müsse wie immer so auch jetzt das erste sein, zu untersuchen ei eozi xiq i^oiv xexvixoq neol ov ßovkevö^e&a rj ov, und wenn es einen solchen gibt, sxslvw neidea&ai svl övxi, xovq cT dXlovq iäv. Als der xeyvixwxaxoq aber — es handelt sich hier zunächst neol dywvluv — wird 185 B 6 [xa&wv xal enivrjöevoaq, u> xal öiödoxaXoi dya- 9ol yeyovoxeq rjoav avxov xovxov bezeichnet. (In B— D wird dann noch fest- gestellt, man müsse stets auf einen xeyvrxbq elq ixeivov Seganelav sehen, oi> evexa oxonov/uevoi axonov/uev.) Auf einen ähnlichen Gedankengang treffen wir im Kriton 46B ff., besonders D ff. Hier wird es als ein alter Grundsatz, den Sokrates sein ganzes Leben lang eingeschärft habe, bezeichnet, daß man dem Urteil nicht beliebiger Menschen, insbesondere nicht xcüv nollwv, sondern allein dem des Sachverständigen zu folgen und sich unterzuordnen habe. Ein yv/j.- vat,öfxevoq dvr/o z. B., der dieses Geschäft berufsmäßig betreibt, wird sich nicht um das Urteil nuvxbq dvöobq kümmern, sondern nur um das jenes einen, oq dv xvy%dv% IttXQoq rj ncudoxotßqq cuv. Und es ergibt sich: Tavxr] docc avxtü ngax- X8ov xal yvfxvaoxsov xal iösoxtov ys xal noxäov, y dv xä svl öoxy x(ö im* oxdxt] xal inaiovxi . . . Auf die inatovveq kommt, wie im Folgenden noch weiter ausgeführt wird, alles an. Sehr starkes Gewicht ist ferner im Ion 531 Äff. in der Auseinandersetzung mit dem Rhapsoden Ion auf sachverständiges Wissen, auf xexv?] xal snioxr](xrj 532C (vgl. besonders 537Aff.) gelegt. Vgl. Hipp. min. 365Eff., 373 C ff., Protag. 312 CD, 313D ff., 319B ff. S. ferner Gorgias 455 B ff., 459 Äff., überhaupt die ganze Unterredung des Sokrates mit Gorgias im „Gorgias" und dann ganz besonders 514 A ff. (weiter etwa das erste Gespräch im Lysis, mit Lysis, Lys. 207Dff., bes. 210B). Vgl. aber namentlich auch die aristo- telische Notiz über die sokratischen Analogieschlüsse, oben S. 376 f., die um so beachtenswerter ist, als sie sich möglicherweise unmittelbar an einen antistheni- schen Dialog angelehnt hat, vgl. oben S. 83, Anm. Vermutlich ist dieselbe aber überhaupt ein Reflex der ganzen sokratischen Literatur. Denn das Sachverstän- digenprinzip war augenscheinlich in dieser als sokratische Forderung durchweg sehr stark hervorgetreten. In den frühplatonischen Dialogen ließen sich außer den angeführten Stellen noch eine Reihe anderer nennen. Aber man kann dieses sokratische Postulat überhaupt als die ständige Voraussetzung der sokrati- schen löyoL bezeichnen. Der /nhalt des somatischen Lebensideals. 397 lichkeit und Mißverständnis des Autors; denn den Fachleuten in ihr Handwerk pfuschen, war nicht sokratische Art. Aber es ver- birgt sich darin die richtige Beobachtung, daß die sokratischen Unterredungen auch der sittlichen Pflicht, um berufliches Wissen sich zu bemühen, umfassendes Interesse widmeten. 1 ) Sokrates verlangt für die heranwachsende Jugend die „ökonomische und politische" Ausbildung, die die Sophisten ihr zu bringen verhießen. Aber er vertieft, versachlicht und intellektualisiert diese Bildung. Sie wird ihm zur Menschenbildung. Und als Ziel der individu- ellen Betätigung steht ihm die Verwirklichung persönlicher Kultur vor der Seele. 2 ) So denkt er sich den Menschenberuf. Die Grund- ') In Ion 538 A ist ausdrücklich gesagt: Ovxovv ooziq dv firj £%tf xivd xk%- vtjv, TavTtjQ xf/q x£yyr\q xa ?.ey6//sva rj nQccxxofisva xa?.iöq yiyvcooxeiv ov% oiöq x eatai; '4?.t]9J} Üyeiq. Ähnlich Charmid. 169Dff, bes. 170D ff. Aber der weitere Verlauf der Erörterung im Charmides (173 E ff.) eröffnet die Möglichkeit, diese Prüfung unter dem sittlichen Gesichtspunkt durchzuführen. Und hievon hat Sokrates selbst reichlich Gebrauch gemacht. Aber auch in den sokratischen Schulen scheint diese Art des skey/eiv eifrig betrieben worden zu sein, wobei freilich der sittliche Gesichtspunkt ziemlich stark zurücktrat. Aristoteles hat dann auch diese Weise des ötaleysoüai in eine technische Theorie gebracht, s. meine Syllogistik des Aristoteles II 2 S. 66 f. 2 ) Ich erinnere noch einmal daran, daß Sokrates den jungen Leuten sogar die sophistische Bildung empfahl, wenn er auch deren Wert von dem uns be- kannten sittlichen Vorbehalt abhängig machte (zu diesem Vorbehalte vgl. Protag. 313 E). Er selbst fordert für die jungen Leute ausdrücklich die Ausbildung in der dv&Qwnlvrj xs xai nohxixri dgexrj: das ist die iiQoarjxovaa dpexrj, in der sie xaloi xe xal dytxdoi gemacht werden sollen (Apol. Plat. 20 AB). Hiezu s. Laches 186A (. . . tc8qI xolv vlioiv, TiQO^vßov/xsvoL uvxoZv o xl dQiaxaq yevto&cci xdg xpv/dq), vgl. 200 C ff., ferner Kleitoph. 407 B ff. Wie ernst Sokrates es aber mit der menschlichen Bildung und insbesondere auch mit deren intellektuellen Unter- lagen nahm, läßt sich immerhin auch aus Memor. IV 7 erschließen, zumal wenn Xenophon, was nicht unwahrscheinlich ist, hier nicht bloß Eigenes gibt, sondern sich an eine antisthenische Vorlage anschließt. In der Tat scheint sogar Anti- sthenes in seinem pädagogischen Programm dafür Sorge getragen zu haben, daß dem Zögling praktisch verwertbares Wissen beigebracht werde (s. oben 2. Teil, 2. Kap.). Sokrates selbst forderte statt dessen überhaupt Erziehung zu sachver- ständigem Wissen Und ohne Zweifel würde dieser Zug in unseren platonischen Quellen noch stärker hervortreten, wenn nicht in diesen — was ja wohl begreif- lich ist — aller Nachdruck auf die sittliche Tendenz der Erziehung gelegt würde. Übrigens liegt in dem Einfluß, den bei Plato das sachverständige Wissen auf das sittliche gewonnen hat (S. 343), und weiter in der Tatsache, daß die ganze pla- tonische Umbildung der Sokratik von einer Seite an das sachverständige Wissen 398 Das sokratische Evangelium. läge dieser Kultur aber ist ihm die intellektuelle Schulung, d. L ein ausgebreitetes sachkundiges Wissen. Das, und nichts anderes, ist Sokrates' Interesse an der „Wissenschaft". Er selbst zwar hat, dabei bleibt es, sich um die Vermittlung auch dieses Wissens an seine Hörer nicht be- müht: Lehrer des Wissens wollte er nicht sein. Nur daß das Streben nach diesem Wissen eine sittliche Angelegenheit sei, hat er ihnen immer wieder zu Gemüt geführt. Er hat auch nicht, auch das bleibt bestehen, für seine Person daran gedacht, „die Wissen- schaft" irgendwie fördern zu wollen. Er hat die wissenschaft- liche Arbeit überhaupt nicht als ein selbständiges Gebiet mensch- licher Betätigung im Auge gehabt. Ihm ist das Wissen eben nur die Voraussetzung und das Fundament für die Erfüllung der kon- kreten Aufgabe, die dem in Welt und Leben stehenden Individuum durch das Vollkommenheitsideal gestellt ist. Hier hat der Streit um die Wissenschaft in der sokratischen Gemeinde eingesetzt, und wir begreifen, daß es dazu gekommen ist. Daß aber Sokrates wirklich die individuelle Menschenaufgabe — nicht systematisch, aber tatsächlich — so bestimmt hat, dafür ist eben diese Bewegung ein Zeugnis. Von diesem konkreten Ideal des Sokrates ist Plato ausgegangen, und nur von hier aus werden wir die Entwicklung, die ihn zur Ethik und Metaphysik der Ideenlehre geführt hat, verstehen können. Aber auch bei Antisthenes finden wir noch die Spuren dieses Gedankens. Er hat es zwar grundsätzlich abgelehnt, dem formalen, absoluten Ideal einen (rela- tiven) Inhalt zuzuordnen. Aber in seiner Fassung des sittlichen Wissens verrät sich deutlich ein Hereinwirken des sachverständigen Wissens, das jenem inhaltlichen Ideal des Sokrates entstammt. 1 ) Xenophon endlich hat dasselbe in seiner ganzen Gesprächsamm- lung vor Augen. Natürlich hat die verschwommene und ver- waschene Zeichnung der Memorabilien es zu keinen scharfen, bestimmten Zügen gebracht, und über das Verhältnis des relativen zum absoluten Ideal ist sich Xenophon überhaupt nicht klar ge- des Sokrates anknüpft (s. 4. Teil, 3. Kapitel), der beste Beweis für die bedeut- same Rolle, die das sachverständige Wissen im Erziehungs- und Lebensideal des Sokrates gespielt hat. *) Vgl. oben S. 344, ferner die Entwicklung, die die Formel za kctvrov iiQÜTTtiv bei Antisthenes nach S. 392, 2 vermutlich durchlaufen hat. Der Inhalt des somatischen Lebensideals. 399 worden. Wer aber die ganze Tendenz dieser Gespräche und der vom Autor versuchten Charakteristik zu fassen sucht, wird zu keiner anderen Formulierung kommen. In der Beurteilung der Naturseite des menschlichen Lebens, d. h. der sinnlichen Bedürfnisse und ihrer Befriedigung hält sich Sokrates, soviel wir sehen können, auf der Linie seiner Zeit und seines Volks. Auch die sexuellen Dinge scheint er nicht wesentlich anders betrachtet zu haben. Daß unsere Berichte uns hier irreführen, ist nicht anzunehmen. Wir müssen uns eben klarmachen, daß Sokrates das sexuelle Leben zuvörderst unter dem Gesichtspunkt der Befriedigung eines physischen Bedürf- nisses ansah. Für die christlich-moderne Auffassung, die sich am prägnantesten in der besonderen Bedeutung, die der Sprachge- brauch den Wörtern „Sittlichkeit" und „Unsittlichkeit" gegeben hat, ausspricht, hätte er schwerlich Verständnis gehabt. So hat er an dem außerehelichen Geschlechtsverkehr der Männer, auch der verheirateten, mit alleinstehenden Frauen, so- weit derselbe nicht Jungfrauenverführung war, keinen Anstoß ge- nommen. Den Ehebruch mit verheirateten Frauen hat er gewiß verurteilt, aber nur deshalb, weil er in ihm eine Verletzung frem- der Rechte und wohl auch einen Verstoß gegen die sozialen und gesetzlichen Ordnungen sah. 1 ) Daß der Mann die Ehe in der Regel nicht eingehe, um sich hier sexuelle Befriedigung zu ver- schaffen, sondern um eine Familie zu gründen und so einer Pflicht gegen Gesellschaft und Staat zu genügen, war auch sein Stand- punkt. Und er war nicht gesonnen, den Männern den sexuellen Genuß prinzipiell zu verwehren. Die Theodote -Anekdote hätte Xenophon, der doch auf seinen Helden schlechterdings nichts Un- ') Was Xenophon den Sokrates in Mem. II 1,5 gegen den Ehebruch vor- bringen läßt — der Ehebrecher sei schon darum ein Narr, weil er um der Be- friedigung des Geschlechtstriebs willen sich in ungeheure Gefahren stürze, wäh- rend es Wege genug gebe, auf denen er dasselbe Ziel auf völlig gefahrlose Weise erreichen könnte — , ist augenscheinlich aus kynischer Quelle geschöpft. Eine ganz ähnliche Äußerung ist bei Diog. VI 4 dem Antisthenes in den Mund gelegt- Natürlich kann der Gedanke doch auf Sokrates selbst zurückgehen. In- dessen hat er sicher bei diesem eine andere Intention gehabt als bei dem ehe- feindlichen Kyniker. Übrigens scheint das Thema des Ehebruchs in der somati- schen Dialektik keine große Rolle gespielt zu haben. Wenigstens klingt es in der uns erhaltenen sokratischen Literatur nur sehr schwach an. 400 Das sokratische Evangelium. rechtes und Unedles kommen lassen wollte, schwerlich aufge- nommen oder gar erfunden, wenn er nur von ferne Anlaß zu der Annahme gehabt hätte, daß Sokrates, im Gegensatz zu dem Urteil der landläufigen Moral, im sexuellen Verkehr mit Hetären etwas sittlich Bedenkliches gesehen habe. Recht wohl möglich ist auch, daß Sokrates' eigene Beziehungen zu solchen Frauen gelegent- lich die Grenzen akademischer Bewunderung ihrer Reize über- schritten haben. Um Xanthippes willen jedenfalls hat er hierauf nicht verzichtet. Sicher ist, daß er für diese Frauen keineswegs Mißachtung gehabt hat. Mit Aspasia, der schönen Freundin des Perikles, scheint er in freundschaftlichem Umgang gestanden zu haben. 1 ) Auch die Knabenliebe aber hat er, und das ist dem heutigen Empfinden weit anstößiger, nicht grundsätzlich verurteilt. In der xenophontischen Schutzschrift zwar findet sich eine Anekdote, der zufolge Sokrates sich einmal dem Kritias gegenüber, der einen geliebten Knaben physisch zu genießen wünschte, äußerst gering- schätzig über die körperliche Seite der Knabenliebe ausgesprochen hätte, 2 ) und in der Prodikosfabel der Gesprächsammlung wird diese mit dürren Worten als Perversität 3 ) gebrandmarkt. Daß dies aber der Meinung des historischen Sokrates nicht durchaus entsprach, zeigt am besten der Geruch, in dem dieser selbst nach ') Die Überlieferung über die Beziehungen, in welche die Sokratiker ihren Meister zu Aspasia gebracht haben, ist jetzt gesammelt bei Dittmar, Aischines von Sphettos, S. 10 ff. (vgl. Wilamowitz, Hermes 1900, S. 551 ff ). Darnach scheint Aischines' Dialog Aspasia die Grundlage zu sein. Gegen die äschineische Aspasia aber wendet sich die antisthenische „Aspasia", und auch Piatos Menexenos nimmt auf jene polemischen Bezug. Andererseits scheinen sich die xenophontischen Notizen Öcon. III 14 und Memor. II 6, 36 an den äschineischen Dialog angelehnt zu haben. Die Dinge liegen also zwar nicht so, daß aus diesen Daten mit Sicherheit auf wirkliche Beziehungen zwischen dem historischen Sokrates und der Aspasia geschlossen werden kann, da selbstverständlich auch der äschi- neische Dialog durchaus fiktiver Natur ist. Immerhin aber legt eben diese Fiktion des Aischines eine solche Vermutung ziemlich nahe, zumal es derselben auch an innerer Wahrscheinlichkeit nicht fehlt. 2 ) Mem. I 2, 29 f.: . . Xsyezai xbv SwxocIxt] aXXwv xs nokküv ticcqÖvtwv xal xov Ev&vörjfxov — das war der Geliebte des Kritias — sinelv oxi vixov avxü) doxoirj ndaxsiv 6 KQixiaq, int&vfxuiv Ev&vdy(A(p Tipooxvrjo&ai wotisq xa vSia xolq ki&oiq. 3 ) Mem. II 1, 30 (. . . yvvctiQ xolq avöoüoi /Qw/tsvi]). Der Inhalt des somatischen Lebensideals. 401 der Alkibiadesepisode des Symposions gestanden zu haben scheint. Man erzählte sich, daß er äußerst verliebter Natur sei und überall sich einfinde, wo schöne Knaben und Jünglinge zu treffen seien. 1 ) In derselben Beleuchtung erscheint Sokrates auch schon im Charmides und Protagoras. 2 ) Und selbst von physisch- päderastischen Anwandlungen scheint er keineswegs ganz frei ge- wesen zu sein. 3 ) So vieLalso wird man allerdings zugeben müssen, daß auch Sokrates für die Widernatürlichkeit und Ekelhaftigkeit des homosexuellen Geschlechtsverkehrs kein Empfinden gehabt hat. 4 ) Allein unter einem anderen Gesichtspunkte scheint er doch in seinem Freundeskreise auf eine Veredlung der, Verhältnisse zu Knaben und Jünglingen gedrungen zu haben. Die Wendung, die die Alkibiadesrede des Symposions selbst ihrem Berichte gibt, ist bezeichnend. Alkibiades fährt nämlich fort: wenn es so aus- sehe, als sei Sokrates in die Jünglinge, deren Umgang er suche, verliebt, so sei dies nur Verstellung, hinter der sich die sittlich- elenktische und protreptische Absicht verberge, die er mit den jungen Leuten verfolge. In der Tat ist das wenigstens nicht un- wahrscheinlich, daß Sokrates sich für seine Person von der sexu- ellen Knabenliebe ferne gehalten und erotische Versuchungen dieser Art unterdrückt hat. Er mochte das Gefühl haben, daß durch die sinnliche Gestaltung der Beziehungen zu den Jünglingen das Freundschaftsverhältnis, auf das er vor allem Wert legte, ge- stört und die Möglichkeit, auf die jungen Leute sittlich zu wirken, beeinträchtigt werde, und in diesem Sinn scheint er auch auf ') Sympos. 216D: bgäze yag ozi ~£wxQÜxr\q, igwzixwg öiaxzizai xcüv xahaiv xal ael negl zovzovq sozl xal ixninkrjxzai . • ., vgl. 213 CD, 223A, ferner Xen. Mem. II 6, 28. Xen. Symp. VIII 2. 2 ) Charm. 154 B, Protag. 309 AB. 3 ) Vgl. Charm. 155 D. Noch weiter geht Xenoph. Sympos. IV 27 f. 4 ) Auch die Äußerung in der Schutzschrift Mem. I 2, 29 f., die wirklich auf den historischen Sokrates zurückgehen kann, ist nicht so aufzufassen. Ganz ebenso hätte Sokrates sich, wenn es sich um eine Frau statt um einen Knaben gehandelt hätte, über den körperlichen Verkehr mit dem Weibe aussprechen können. Weiter allerdings geht Mem. II 1, 30. Aber das ist schwerlich ein so- matischer Gedanke, ja, wohl; nicht einmal ein kynischer: der physische Ver- kehr mit Männern ist den Kynikern wohl, soweit er nicht mit erotischer Leiden- schaft verknüpft war, etwas sittlich Indifferentes und darum nicht eigentlich Naturwidriges gewesen. Vermutlich spricht sich hier Xenophons eigenes Ge- fühl aus. H. M a i e r , Sokrates. 26 402 Das sokratische Evangelium. seine Jünger gewirkt zu haben. Daß er aber darum die sinnliche Knabenliebe überhaupt für etwas sittlich Verwerfliches erklärt habe, kann man ganz und gar nicht sagen. 1 ) Von einer Seite her übrigens hat Sokrates doch sittlich Stellung zu den natürlich-physischen Trieben und ihrer Betä- tigung genommen. Zum Maßhalten in diesen Dingen, zur Selbst- beherrschung, zum Niederhalten der sinnlichen Begehrungen mahnte er ja unermüdlich. 2 ) Seine Meinung war aber nun keines- wegs die, daß diese an sich sittlich indifferente Dinge, Adiaphora seien, die nur darum der Zähmung bedürfen, weil sie sonst Herr über den Menschen und seinen sittlichen Willen würden. So hat die Kynik sich die Sache gedacht und in ihrer Weise ausgemalt. Im Grunde war das doch auch nur eine Art von asketischer Be- urteilung dieser Seite des Lebens, so wenig die kynische Askese *) Über den platonisch-antisthenischen Streit um den Eros und die Stellung- nahme Xenophons in demselben ist schon oben S. 17, 1 (vgl. S. 44, 1) gehandelt worden. In der Alkibiadesrede seines Symposions will aber Plato augenschein- lich auch in diesem Punkt die Person des historischen Sokrates über die Kontro- verse hinausrücken. Allem nach wurde in der sokratischen Gemeinde das Ver- hältnis des Meisters zu Alkibiades viel beredet. Daß dieses erotischer Natur war, wird nicht allein von Plato (Protag. Anfang, Symp. 213B ff., 217 A), sondern auch von Äschines (fr. 4 Krauß) angenommen. Aber Plato selbst zeigt nun, so gewiß er für seine Person an einer sexuellen Gestaltung der Beziehung des Sokrates zu Alkibiades keinen Anstoß genommen hätte, in der Alkibiadesrede seines Sym- posions ausdrücklich, daß Sokrates es zu einem sinnlichen Verkehr mit Alkibiades nicht kommen ließ. Und er geht hier noch weiter: er betrachtet die anscheinende Verliebtheit des Sokrates nur als eine Verstellung, die ihm dazu diente, die jungen Leute derart an sich zu fesseln, daß er aus einem Liebhaber ein Geliebter wurde, 216 D, 222 B. Diese Auffassung hat sich auch Xenophon angeeignet, Mem. IV 1, 1 und 2, II 6, 28 f. Indessen entspricht sie der Wirklichkeit sicherlich nicht, und bei Plato ist sie unverkennbar eine absichtliche Übertreibung. Daß das Verhält- nis des Sokrates zu Alkibiades, und auch zu seinen anderen jungen Freunden, ein erotisches Element einschloß, ist nach den frühplatonischen Schriften nicht zu bezweifeln. Auch die xenophontische Darstellung vermag dasselbe nicht ganz wegzudeuten, und selbst Antisthenes wird, so sehr es in der Konsequenz seiner ganzen Anschauung liegt, sich ausschließlich an die (pikia zu halten, den sokra- tischen Eros nicht los (Diog. Laert. VI 11 gesteht Ant. zu: xal sQaa&^osa&at de sc. xöv oo<pöv, aber, mit dem Zusatz: (xövov yaQ slösvcu xbv aotpöv, zlvcov XQi) £Qäv, vgl. Winckelm. S. 15 II, S. 16 IV f.). Nur das wird man sagen dürfen, daß Sokrates diesem Eros eine sinnlich-physische Folge nicht gegeben hat. 2 ) In den Memorabilien wird dies bekanntlich ermüdend oft hervorge- oben. Der Inhalt des sokratischen Lebensideals. 403 an sich sinnenfeindlichen Charakter hatte. Sokrates seinerseits hat für diese Askese so wenig wie für irgend eine andere übrig gehabt. Er kennt, so weit wir urteilen können, überhaupt keine Adiaphora. Die sinnlichen Regungen selbst will er dem sittlichen Wollen unbedingt unter-, aber doch auch einordnen. Auch in ihnen hat er wohl, wenn sie richtig geleitet waren, — so viel läßt doch der ganze Tenor der platonischen wie der xenophontischen Darstellungen erkennen — ein sittlich berechtigtes und notwendiges Element des individuell-persönlichen Lebens gesehen. 1 ) Ungewöhnlich großes Gewicht legt Sokrates auf das soziale Interesse. Von ihm war sein eigenes Herz ausgefüllt. Fast wie ein Wunder muß in jener Zeit, in der der Egoismus die Moral gerade der Fortgeschrittenen zu werden begann, die Menschen- liebe dieses Mannes, dem doch der gesellschaftliche und politische Ehrgeiz so völlig fehlte, erschienen sein, derunstillbare soziale Drang, der ihn dazu trieb, im Dienst der Menschen sich selbst und Weib und Kind zu vergessen und schließlich sein Leben hinzugeben. Das war freilich nicht die Liebe, die in überschwänglichen Ge- fühlen oder in phantastischen Träumen von Menschheitsbeseligung ihren Ausdruck zu finden pflegt, es war vielmehr die Liebe der sozialen Tat, der Werbearbeit, die den Brüdern sittliche Lebens- kraft und sittliches Glück bringen wollte. 2 ) Aber Sokrates bildete auch die sozialen Anschauungen, die er vorfand, an entscheidenden Punkten um. Der oberste Satz des geltenden Kodex der sozialen Moral war, daß man den Freunden möglichst viel Gutes, den Feinden möglichst viel Übles *) Die „kynische" Behandlung der sexuellen Naturalia lag Sokrates gewiß fern. Darstellungen wie Mem. I 3, 14, II 1, 5, II 2, 4 verraten deutlich an- tisthenischen Einfluß. Möglich ist immerhin, daß Sokrates in Fällen, wo er das sinnliche Begehren übermächtig werden sah, derartige Auskunftsmittel emp- fahl, um dem sexuell Erregten das geistige Gleichgewicht wiederzugeben. In der Hauptsache aber unterscheidet sich die genuin sokratische Beurteilung dieser Dinge von der kynischen darin, daß dem Sokrates auch die erotischen Betäti- gungen insoweit als etwas positiv Wertvolles erschienen, als sie sich der sitt- lichen Freiheit einordneten. Und Plato hat darin zweifellos echt sokratisch gedacht, wenn er dem Eros eine wirklich sittliche Bedeutung zuerkannte. 2 ) S. die berühmte Stelle Apol. 31 AB (oben S. 105). Vgl. Euthyphr. 3D, wo Plato den Sokrates von der (ptXav&Qwnia reden läßt, von der seine Wirk- samkeit geleitet sei. 26* 404 Das sokratische Evangelium. tun solle. Sokrates dagegen stellt feierlich fest, daß man über- haupt niemand Böses zufügen dürfe, auch dem Feinde nicht. 1 ) Das war so unerhört, daß auch die Jünger dem Meister nicht alle dahin folgen konnten. Fast komisch berührt es, wenn man sieht, wie der Junker Xenophon, der von der ritterlichen Adels- und Offiziersmoral nie ganz losgekommen war, seinen Helden in breiter Behaglichkeit den alten Standpunkt darlegen und begründen läßt. 2 ) Noch einschneidender mochte das Dogma von der sittlichen Gleichheit der Menschen wirken. Zwar war ja die Auffassung, die aus derselben die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Gleichheit als zu verwirklichendes praktisches Ziel herleitete, durch- aus unsokratisch. Allein auf dem Hintergrund der sittlichen Gleich- heit gewinnt die soziale Tendenz ein anderes Gesicht. Die sittliche Gleichheit selbst findet in der Verschiedenheit der individuellen Menschenaufgaben, die den Einzelnen durch das sittliche Ideal gestellt sind, ihre Ergänzung. Von hier aus konzentriert sich dem Sokrates die soziale Arbeit ganz auf das gegenseitige Sich- helfen bei der Lösung dieser Aufgaben, kurz auf die gemeinsame Verfolgung der Ziele, in deren Verwirklichung die Individuen ihren sittlich geforderten M§nschenberuf sehen. Damit aber öffnet sich ihm zuletzt der Blick auf ein gemeinsames Ziel, auf eine große Aufgabe, die die Einzelnen zu gemeinschaftlichem, aber auch wieder individuell differenziiertem Zusammenwirken vereinigt, derart, daß diese Arbeit im sozialen Ganzen sich dem Individuum doch als die Erfüllung seiner besonderen Menschenpflicht darstellt. Und dieses Ziel ist die Verwirklichung gesellschaftlich-universaler Kultur M Krito 49Aff. (s. besonders auch 49 D f., wo Sokr. es als den Grundsatz, den er von jeher vertreten habe und auch jetzt vertrete, bezeichnet, aiq ovöenoxs Sgd-ciig e%ovxoq ovxs xov aöixelv ovxs xov dvxaöixslv ovxe xaxwq ■Kaoyovxa ü(j.vveo&ai avxiÖQtävxa xaxcöq). Vgl. Gorg. 469Bff. und 1. T. der Politeia, I 334 B ff. 2 ) Mem. II 6, 35, vgl. III 9, 8, II 3, 14, II 2, 2. Charakteristisch ist eine Äußerung in Kleitophon 410AB, die erkennen läßt, daß im antisthenischen Kreise und von Antisthenes selbst der Satz eifrig diskutiert wurde: Tavxcc, cö Soi- xgaxtq, iyu) xekevxcüv xol oh avxöv rjowzajv, xal sineq fxoi öixcuoovvqq eivai xovq (xlv e%&oovq ßXänxeiv, xovq 6h <pikovq ev noielv voxepov 6h e<pävt] ßlünxeiv ys ovösnoxs 6 ölxaioq oxösva' nävxa yixg in <o<peleicc Jtäv- xaq ÖQav. Der Inhalt des somatischen Lebensideals. 405 in der stadt-staatlichen Gemeinschaft. Man kann freilich nicht sagen, daß dieser Gedanke aus unseren Quellen ungesucht in voller Klarheit heraustrete. 1 ) Allein wer die Reformbestrebungen, die ') Immerhin lassen sich seine Spuren deutlich genug nachweisen. Daß die sittliche Erweckungsarbeit des Sokrates auch eine Umgestaltung des sozialen Lebens in Aussicht nahm und auf die Verwirklichung eines neuen gesellschaft- lichen Ideals hinstrebte, ist schon aus der platonischen Apologie zu ersehen. Zu erinnern ist hier, wie Pöhlmann, Sokrates und sein Volk S. 72 ff. mit Recht her- vorhebt, vor allem daran, daß Sokrates selbst sein Wirken als einen Dienst be- zeichnete, den er dem athenischen Volk und Staat leistete (vgl. oben S. 297 f.). Und so sehr sich Sokrates nach der Darstellung der Apologie nur an die Indi- viduen wandte, so hatte er doch auch den politisch-sozialen Effekt, den diese Arbeit ergeben mußte, im Auge. Vgl. Apol. 30B, wo an die Aufforderung, nach sittlicher Vollkommenheit zu streben, sich die Bemerkung knüpft, daß nicht ist /gTjßärcuv dgezr) yiyvezai, sondern ig dgezrjq XQ^it xaxa xa '- Xil u^ a dyaftd xolq äv&QwnoiQ änavxa xal löiq xal öjjßooifc, und Apol. 36C, wo Sokrates schil- dert, wie er nie in seinem Leben den Weg der anderen gegangen sei, der zwar für ihn sicherer und bequemer gewesen wäre, auf dem er aber weder sich selbst noch den Athenern hätte förderlich sein können, wie er sich vielmehr auf einen Posten gestellt habe, auf dem er den Athenern den größten Dienst erweisen konnte: er habe sie persönlich angegangen, und versucht, jeden Einzelnen zu überreden, jat) ngozegov (trjze xwv savzov (xrjöivuq £7iifieX8La&ai iiglv eavzov enifithi&firj, bncaq wq ßtkziozoq xal <pgovißu>zazoq eaoizo, fir]zs xwv xrjq ito- ?.swq, tcqIv avxrjq xrjq izöksojq, x<Bv xe d)J.u>v ovtoj xaxcc xov avxov xgonov emfjteJLeia&ai. Aus dieser Stelle geht zunächst das hervor, daß Sokrates auch eine sittliche Erneuerung des athenischen Staatswesens anstrebte. Hiemit ist zusammen- zunehmen Apol. 20 B, wo als das sokratische Bildungsideal die Verwirklichung der äv9-Q(ti7ilv?i xs xal nolixixr] dgexi] hingestellt ist. Vgl. ferner Kleitoph. 407 DE, wo als Forderung des antisthenischen Sokrates erwähnt wird öelv em- pzleiav xrjq viv nkeiu) noiEia&at ndvz' dvöga löiq &' afia xal örjfxooiu ^v/x- ndaaq xaq nö).eiq. Zu erinnern ist hier weiter auch an Symp. Plat. 209A, wo als die höchste und schönste Betätigungsweise der (fgovrjoiq, in deren Sphäre die sokratische Wirksamkeit eingeordnet wird, r\ negl xdq ziüv nöketav xs xal olxi'fOtcav öiaxooßrjoziq bezeichnet ist (vgl. die Aufzählung der Themata der so- matischen Dialektik in der xenoph. Schutzschrift Mem. I 1, 16: . . . xi nöXiq, xi nofaxtxöq, xi dg/r/ dv&ga>nu>v, xi dg%ixoq dv&Qtünwv . . .). Noch nach der Katastrophe scheint dem Sokrates, besonders auch im Hinblick auf seine „Schüler" Kritias und Alkibiades, der Vorwurf gemacht worden zu sein, daß er den Fehler begangen habe ngöxegov xa nohxixd öidäoxeiv xovq avvövzaq rj owcpgovelv (xenophontische Schutzschrift Mem. I 2, 17). Xenophon leugnet nun nicht, daß Sokrates xa nohxixd .gelehrt" habe (vgl. Mem. I 6, 15); er stellt nur fest, daß er seine Jünger zuallererst zu sittlichen Menschen zu machen bemüht gewesen sei. Auf denselben Vorwurf nimmt Plato im Symp. 216A Bezug, wo er den Alkibiades feststellen läßt: dvayxdt,ei (Sokrates) yäg ps ofxoloyelv, oxi noV.ov 406 Das sokratische Evangelium. sich dem Sokrates unwidersprochen zuschreiben lassen, im ein- zelnen verfolgt, dem wird sich in ihm der Schlüssel zum Verstehen bieten. Vor allem aber ist das unverkennbar, daß in ihm der Ausgangspunkt der sozialphilosophisch-publizistischen Gedanken- arbeit Piatos, wie sie in der Politeia ihren großartigsten Ausdruck gefunden hat, zu suchen ist. In der Tat hat Sokrates unter diesem Gesichtspunkt das ganze soziale Leben betrachtet. So vor allem auch die sozialen Vereini- gungen und Ordnungen. Sehr hoch eingeschätzt hat er die freie, organisationslose Ver- ivd£r]Q üjv avxöq sxi ifxavxov /xsv rifxsXw, xa ö ^AQrjvaltav ngatro). Natürlich heißt das nicht, daß Sokrates den Alkibiades überhaupt abgehalten habe, xa xwv 'A&rjvcticov noaxxsiv, sondern nur, daß er ihm die sntfisXsia savxov als das un- umgänglich notwendige Prius nahegelegt habe. Hält man diese Stelle mit Apol. 36 C zusammen, und nimmt man die sittliche Schätzung, die Sokrates nach der Darstellung des Kriton für die noXiq gehabt hat (s. unten), hinzu, so ergibt sich ein Bild, das auch mit den sonstigen Intentionen des Sokrates durchaus zu- sammenstimmt. Das Erste und unbedingt Wichtigste, was Sokrates forderte, war die sittliche sni^sXsia savxov: diese ist nach Apol. 36 C auch der Sorge für xa. savxov über- und vorzuordnen. Und es liegt durchaus im Sinne dieser Stelle, daß die snißsXsta xä>v savxov durch die smixsXsia savxov geleitet und durch- drungen werden solle. Dann ergibt sich augenscheinlich das, was Sokrates selbst als xa savxov ngäxxsiv in dem oben, S. 392, 2, nachgewiesenen Sinn bezeichnet hat. Hand in Hand hiemit aber soll gehen die iniftsX.fia xwv xr\q nöXswq, die aber wieder durch die sTtt/xsXsia xrjc noXswq, d. h. durch die Sorge um die sittliche Aufgabe des Staatswesens, ihre Richtung erhalten soll. Wie beides zu vereinigen ist, läßt sich erraten: im Gemeinwesen soll jeder die ihm durch seine ganze Natur bestimmte Stelle ausfüllen. Genau das (. . . ort sva sxaoxov fcV ösoi snt- XTjdtvsiv xwv Tisgl xrjv TiöXiv, siq b avxov rj <pioiq snixrjSsioxaxt] nscpvxvla sltj . .) ist die öixaioovvrj, die Plato den Sokrates Politeia IV433A (s. oben S. 395 Anm. Schluß) fordern läßt. Und wenn der platonische Sokrates hier ausdrücklich sagt: i&sfjts&a 6s 6rpiov xal noXXäxiq sXsyo/xsv, sl (xsfiv^aaL . . ., ferner: xal xovxo aXXwv rs iioXXwv axrjxöafisv xal avxol noXXäxiq siQrjxa/usv, so ist damit nicht allein auf frühere Partien der Politeia und nicht etwa bloß auf Erörterungen wie die im Charmides über die Formel xa savxov npdxxsiv zurückverwiesen (be- merkenswert ist, daß in Politeia II 370A diese Formel — über deren vulgäre Bedeutung z. B. Mem. II 9, 1 zu vergleichen ist — zunächst ganz ebenso ge- wendet wird, wie im Anfang der Erörterung Charm. 161 B ff.; auch in der Poli- teia erhält sie dann später einen anderen Sinn); augenscheinlich ist hiemit auf ein Ideal hingewiesen, das auch sonst im Kreise der Sokratiker diskutiert worden war, und offenbar will der Autor selbst andeuten, daß dasselbe zuletzt auf den Gedankenkreis des historischen Sokrates zurückgeht. Der Inhalt des somatischen Lebensideals. 407 bindung von Menschen, die sich im Freundschaftsverhältnis darstellt. Der eigene Freundeskreis war ihm die unmittelbare Stätte seines sittlichen Wirkens. Und von ihm aus und mit seiner Hilfe hoffte er die sittliche Erneuerung der Gesellschaft durch- führen zu können. In diesen Zusammenhang fügt sich auch jenes Streben ein, die Knabenliebe auf eine höhere, rein geistige Stufe zu erheben: in dem freundschaftlichen, von intimer Vertrautheit be- herrschten Anschluß der Jüngeren an die Älteren sieht Sokrates das beste Mittel, die heranwachsende Generation' zur sittlichen Arbeit heranzuziehen. Noch im platonischen „Lysis" erscheint im Verlauf des Gesprächs das Streben nach dem Guten, das „Philosophieren" im sokratischen Sinn, als das wahre Einigungs- band der Freundschaft. Hier aber knüpft sich allerdings an die sokratische Freundschaft bereits der platonisch gewendete Eros- gedanke, in dem die sokratische Vorstellung von der sittlichen Bedeutung des Freundesverhältnisses ihre tiefste und schönste, aber eben spezifisch platonische Fassung erhalten hat. Übrigens erschöpft sich der sittliche Zweck der Freundschaft für Sokrates keineswegs etwa in der wechselseitigen protreptischen Anregung. Darüber hinaus hat er auch das Zusammenarbeiten im Auge, in dem die Freunde einander in der Lösung ihrer besonderen Auf- gaben unterstützen. Hierauf sind wohl zuletzt jene xenophontischen Ausführungen zu beziehen, in denen dem Bedürfnis, Freunde zu gewinnen, und der Pflicht, Freunde zu suchen, eine so platt utili- taristische Motivierung gegeben wird. 1 ) J ) Man vergleiche zunächst die Freundschaftskapitel Mem. II 4—6 und 10. Indessen scheint sich auch Xenophons utilitaristische Behandlung des Freund- schaftsproblems an antisthenische Vorlagen angelehnt zu haben. In der Schutz- schrift berichtet Xenophon (Mem. I 2, 52), Polykrates habe dem Sokrates auch vorgeworfen, neol xcüv <f>iX(ov avxbv k&yeiv a>q ovöhv btpsXoq evvovq slvai, ei fiq xal uj<ptXelv övvtjaovxat' /zövovq 6s (päoxsiv avxbv d^lovq zlvai XLßijq xovq elöo- xaq xd öeovxa xal aQfxrjvevaaL övva/xsvovq' indem Sokrates nun die jungen Leute beredet habe, er selbst sei der Weiseste und andere weise zu machen der Fähigste, habe er seine Jünger dahin gebracht, daß sie alle anderen Menschen im Vergleich mit ihm für nichts achteten. Daß nun der xaxr\yogoq auch hiefür den Beleg aus antisthenischen Schriften geschöpft hat, ist schon an und für sich wahrscheinlich. Man vergleiche aber Diog. L. VI 12: d&sQaoxoq b dyad-oq. oi onovöaloL <piXoi. ovfXfiä%ovq noiEio&ai xovq svxpvxovq äfxa xal öixaiovq, VI 105: dgispaoxöv xe xbv oo<pbv . . . xal <plXov xd> bßot'a), und die Plutarchstelle Winckelm. S. 64, XLIII. Der Wert der Freundschaft ist hier durchaus abhängig 408 Das sokratische Evangelium. In der Wertschätzung der Freundschaft sind dem Meister auch diejenigen seiner Jünger gefolgt, die aus seinem Grundge- danken individualistische Konsequenzen gezogen haben. Anti- sthenes wenigstens und die Kynik, die das sittliche Individuum aus der Gemeinschaft herauszusondern und von den sozialen In- stitutionen loszulösen bemüht waren, ließen das freie Freundes- verhältnis unangetastet bestehen. Charakteristisch aber ist, daß sie dieses zu jenen in bewußten Gegensatz stellten. Wie wenig in- dessen diese antisoziale Entwicklung im Gedankenkreis des Sokrates selbst angelegt war, wie durchaus sozial gerichtet sein sittlicher In- dividualismus war, zeigt die hohe Bedeutung, die er den gesell- schaftlichen Organisationen und Ordnungen beigemessen, und der Nachdruck, mit dem er sich für diese eingesetzt hat. Es war seine Überzeugung, daß der Mensch die ihm gestellte Aufgabe nur lösen könne im Zusammenschluß mit den anderen Menschen, also im Rahmen der menschlichen Gesellschaft. Da aber für den Lebensbestand der letzteren soziale Organisationen und Institutionen von der Art der bestehenden schlechterdings un- entbehrlich sind, so erschienen ihm diese als sittlich notwendig. Damit stellt er sich bewußt jener mächtigen Strömung inner- halb der damaligen Aufklärungsbewegung entgegen, die von naturrechtlichen Gedanken und Stimmungen aus über die be- stehenden gesellschaftlichen Ordnungen das Verwerfungsurteil sprach. Er teilt die Voraussetzungen, die den Hintergrund dieser gemacht von dem sittlichen Wert der Freunde, von der sittlichen Förderung, die von ihnen zu erwarten ist. Hiezu vgl. man noch, was Kleitoph. 409 D E über die antisth. Behandlung der Freundschaft berichtet ist: das Wesen der Freundschaft, die hier sehr hochgestellt wird, sei 6/AÖvoia; diese selbst aber sei nicht etwa als o/xodo^ia zu fassen, da sie nicht als eine ööSa, sondern als eine iniaz^jxrj zu betrachten sei. Man kann sich darnach den Charakter der antisthenischen Aus- führungen veranschaulichen, aus denen Polykrates seine Polemik geschöpft hat. Zu bemerken ist jedoch, daß Plato im Lysis 210 B ff. sich in ähnlichen Gedanken- gängen bewegt (. . . Äq ovv zw (plXoi ioö/xe&a xal rig rj^iäg (piXi\oti iv zovroig, ev olg civ u)[aev dvcocpeXelg; Ov dfjza, etpt] .... *Eav [/.hv äga ao<pog ysvy, a> not, nävzeg ooi (pLXoi xal ndvzeg aoi olxüot eaovrac ygrioi/xog ydg xal dya- dog sasi . . .). Anzunehmen ist indessen nicht, daß der xazrjyoQog sich etwa an diese Ausführungen gehalten habe, zumal ja der Lysis ohne Zweifel zeitlich später anzusetzen ist als das Pamphlet des Polykrates. Nicht unwahrscheinlich ist dagegen, daß Plato hier wieder einmal antisthenische Gedanken zum Gegen- stand seiner Diskussion macht. Der Inhalt des sokratischen Lebensideals. 409 revolutionären Tendenzen bildeten. Den Glauben an den theono- men Charakter der sozialen Institutionen hat ja auch er vorbehalts- los aufgegeben. Auch ihm sind dieselben reines Menschenwerk. Zwar hat er schwerlich den Versuchen, die Entstehung dieser Realitäten individualistisch zu konstruieren, beigepflichtet. So ein- fach schienen ihm diese Dinge doch wohl nicht. Wenn wir dem platonischen Kriton glauben dürften — und angesichts des offen- sichtlichen Bemühens dieser Ausführungen, das Verhalten des Meisters vor seinem Tod in dessen Sinn zu motivieren, haben wir hiezu allen Grund — , hätte Sokrates eine deutliche Vorstellung davon gehabt, daß der Staat nicht lediglich auf einen vertrags- mäßigen Zusammenschluß der Individuen, sondern auf natürliche und naturgewachsene Verhältnisse der Über- und Unterordnung zurückgehe und sich begründe. Zwar der Gehorsam, den der Bürger dem staatlichen Gesetz schuldig ist, wird auf eine Art von Vertrag fundiert, den der Rechtsunterworfene mit dem Staat — zwar nicht in Worten, aber durch die „konkludente" Handlung, die darin liegt, daß er von der Möglichkeit, auszuwandern, Ge- brauch zu machen unterließ — geschlossen hat (Kriton 51 C— 53 A). Allein Staat und Staatsbürger selbst stehen zu einander keines- wegs auf dem Fuß der Gleichheit, und ihr Verhältnis ist zuletzt durchaus nicht das zweier gleichstehender Vertragskontrahenten. Hier klingt vielmehr der Gedanke einer natürlichen Überordnung des Staatsganzen über das Individuum an, in dem wir den Keim zu der organischen Staatstheorie erblicken können, die nachher Aristoteles begründet und durch die Annahme eines dem Menschen angeborenen politisch-sozialen Instinkts auch psychologisch durch- geführt hat (Krit. 50 C — 51 C). Allein irgend welche historisch- romantischen Vorstellungen und Stimmungen dürfen wir bei So- krates nicht suchen. Und im ganzen steht er wohl noch auf dem Boden der Vorstellungsweise, die in den geschichtlich gewordenen Realitäten, in den staatlichen Ordnungen, in Recht, Sitte, Brauch, der sozialen Gliederung, den wirtschaftlichen Institutionen u. s. f. eben etwas von Menschen, von menschlichen Individuen Ge- machtes sieht. In der großen Frage: Natur oder Satzung? hat er sich zweifellos, wenn er überhaupt Stellung genommen hat, für den Nomos entschieden. 1 ) J ) Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit läßt sich dies auch aus der anti- 410 Das sokratische Evangelium. Und dennoch stand er zu allen diesen Dingen ganz anders als die Naturrechtler. Den Schluß aus der menschlich-indivi- duellen Entstehung der geschichtlichen Institutionen auf ihre Minder- wertigkeit und die praktische Folgerung auf das Recht zu ihrer Mißachtung lehnte er aufs schärfste ab. Gewiß, ihre Grundlage ist „nur" der Nomos. Aber dieser Nomos selbst erscheint dem Sokrates als etwas eminent Wertvolles. In jener Unterredung, die Xenophon ihn mit Hippias, einem der Hauptvertreter der natur- rechtlichen Opposition gegen die positiven Rechtsbildungen führen läßt (Mem.IV4), identifizierter die Begriffe „gerecht" (dlxaiov) und „gesetzmäßig" {yofjiifiov), und er versteht unter „Gesetz" in erster Linie 1 ) das positive Recht der Staaten. Das Gespräch ist freie und nicht sehr geschickte Komposition des Autors. Aber wir könnten uns recht wohl denken, daß der geschichtliche Sokrates wirklich seiner Schätzung des positiven Rechts diesen paradoxen Ausdruck gegeben hat. Der platonische Kriton kann uns eine Vorstellung von dem tiefen Ernstgeben, mit dem er für die Autorität des „statutarischen" Gesetzes eingetreten ist. 2 ) Geistesaristokra- tische Mißachtung der leichtfertigen Erzeugnisse der demo- kratischen Gesetzmacherei lag ihm ebenso fern wie rationalistische Abrogierung der flüchtigen Gebilde des positiven Rechts. 3 ) Ihn sthenischen Position erschließen. Für Antisthenes beruhen alle jene Ordnungen und Institutionen auf vö/tog. Und er folgert hieraus nun ihre sittliche Wert- losigkeit. Augenscheinlich teilt er die Prämisse mit Sokrates, nicht aber die Folgerung: Sokrates' Verhältnis zum vöfioq ist ein anderes als das des Anti- sthenes. ') Die vöfxot TiöXsoaq sind in der Unterredung vorangestellt. Erst Mem. IV 4, 19 ff. folgen die vo/xot äy^atpoi. Wie es aber mit diesen steht, s. S. 46, 2. Daß Sokrates selbst vöfxot äygcupoi im naturrechtlichen Sinn vorausgesetzt habe, haben wir keinen Grund anzunehmen. 2 ) Kriton 53 C wird als der Inhalt der köyoi, die Sokrates zu öialtyeo&ai gepflegt habe, angegeben: wq ?/ uq(xtj xal ij öixaioavvi] n?.siaxov ä£iov xolq äv&QoJnoig xal xa vöfit/ia xal ol vöfioi — gemeint sind aber die vöfioi xyq nöXscoq. S. überhaupt den ganzen Dialog der vöfioi im Kriton. Dieselbe An- schauung ist aber schon in der Apologie vorgetragen, s. besonders 32 B, 32 D und E, 31 D ff., 33 A. Daß Xenophon in der Schutzschrift wie in der Gesprächsammlung der Memorabilien das Thema der Gesetzestreue des Sokrates sehr breit ausge- führt hat, ist bekannt. 3 ) Man s. gleich den Eingang des Dialogs der Gesetze 50 AB, ,wo die Bedeutung der vöfxoi und ihrer strikten Beachtung für das xoivöv xrjq nöleiaq Der Inhalt des sokratischen Lebensideals. 411 selbst hat der Gehorsam gegen die bestehende Rechtsordnung Athens im Gefängnis festgehalten und in den Tod geführt. Aber wie den Nomos im engeren Sinn, so hat er auch die übrigen Ordnungen des gesellschaftlichen Lebens gewertet, Sitte und Brauch, religiöse Gewohnheiten und soziale Einrichtungen, kurz alle die geschichtlich gewordenen Schranken, in die das Volks- leben sich eingeschlossen hat. *) In allen seinen Erscheinungs- weisen ist ihm der Nomos ein hohes sittliches Gut; denn auf ihm beruhen die Formen, an die das Leben und die Arbeit der Gesellschaft gebunden, von denen darum auch das Wirken des Einzelnen, der ja nur innerhalb der Gesellschaft seinen individu- ellen Lebenszweck verwirklichen kann, abhängig ist. So stellt sich Sokrates mit grundsätzlicher Entschiedenheit auf den Boden der bestehenden Gesellschaftsordnung: kann das Herkommen auch ganz und gar nicht als sittlicher Gesetzgeber anerkannt werden, so hat dasselbe doch seinerseits sittlichen Wert: daraus, daß die Tradition nicht als die Quelle der sittlichen Normen gelten darf, folgt nicht, daß sie selbst sittlich wertlos und ihre Imperative ungültig seien; die sittliche Freiheit ist zwar von einer Seite Freiheit von der Autorität des Nomos, aber diese Freiheit ist ja nicht äußerliche Emanzipation. Immerhin enthält aber die Begründung, die Sokrates diesem Konservatismus gegeben hat, zugleich einenMaßstab reformatorischer Kritik: lebenskräftig und berechtigt sind die organisatorischen Formen des gesellschaftlichen Lebens doch nur, so lange und so ferne sie dem sittlich-sozialen Zweck, dem zu dienen sie be- stimmt sein müssen, angepaßt sind. Sokrates selbst hat unter diesem Gesichtspunkt einschneidende Kritik geübt. Leider wissen wir über die Einzelheiten derselben viel zu wenig. Xenophon ist uns nach dieser Seite ein ganz unzuverlässiger Gewährsmann, da er diese Gelegenheit reichlich benutzt hat, seine eigenen Ideen in helles Licht tritt, ferner 51 A, wo nicht allein die Übertretung der Gesetze als ein Zugrunderichten des Vaterlands gebrandmarkt, sondern zugleich der Versuch abgelehnt wird, diese Übertretung als etwas Berechtigtes, als einen Ausfluß höherer, „wahrhafter" Sittlichkeit zu rechtfertigen ( — xal (pTJaeig zavza noiwv dlxaia ngdzzsiv, 6 zq aÄrj&flq zrjg agezriq ini/ufXofxevoc). ') Vgl. die folgenden Ausführungen S. 412ff. Über die Stellung des So- krates zum religiösen vö/xog s. das nächste Kapitel. 412 Das sokratische Evangelium. zu Markte zu tragen. Von dem späteren Plato und von Anti- sthenes aus Rückschlüsse zu machen, ist aber hier insoweit un- sicher, als uns unmittelbare Fingerzeige fehlen. So sind wir auch über fundamentale Punkte nicht unterrichtet. l ) Immerhin aber vermögen wir einige Grundlinien zu ziehen, die uns wenig- stens von der Tendenz dieser sokratischen Kritik ein deutliches Bild geben können. Im wesentlichen auf der Linie der gemein griechischen Anschauung bewegt sich Sokrates' Beurteilung der untersten so- zialen Organisationseinheit, der Familie. An der Notwendigkeit der Ehe und an der Pflicht des Mannes, die Ehe einzugehen, scheint er festgehalten zu haben, aber nur deswegen, weil diese ihm als der gegebene Weg erschien, der Gesellschaft den für ihren physischen Fortbestand nötigen Nach- wuchs zu sichern. 2 ) Er selbst hat sich bekanntlich dieser staats- bürgerlichen Verpflichtung nicht entzogen, und noch in höherem Alter, sicherlich nicht zu seinem Vergnügen, geheiratet. 3 ) Allzu *) Auffallend bleibt der extrem unpolitische Charakter der frühplatonischen Dialoge. Daß Plato sich in dieser Hinsicht in der „Apologie" eine gewisse Zu- rückhaltung auferlegte, ist begreiflich. Immerhin lassen eben die „Apologie" und der „Kriton" erkennen, daß Sokrates auch politische Fragen eingehend er- örtert hat. Und doch finden wir hievon im Laches, im kl. Hippias, im Char- mides und auch im „Protagoras", so nahe in diesem Gespräch die Erörterung politischer Dinge lag, erstaunlich wenig. Der Grund hievon läßt sich aber aus Piatos eigener Erklärung im 7. Brief 325 C ff. erraten. Plato war in den ersten Jahren nach Sokrates' Tod von einem tiefen Ekel an allem Politischen erfüllt. Das hat ihn offenbar auch in seinen sokratischen Gesprächen abgehalten, poli- tische Themata zu berühren. 2 ) Mem. II 2, 4: xal (xrjv ov zdiv ys oupgoöiolojv i'vexa natöonoiela^ai zoiq uv&Qcinovq vno).u/xßaveiq . . . (pavsQol <?' io/Aev xal axonov/usvoi, i§ onolwv av yvvatxujv ßt/.ziaza ri/ulv zexva ytvoizo' aiq ovvtköövzeq zexvonotovfx£9a. Natürlich könnte man aus dieser xenophontischen Stelle an sich noch keinen Schluß auf Sokrates' Denkweise ziehen. Allein Xenophon hat seine Weisheit wieder aus Antisthenes. Das zeigt nicht allein der (in unserem Zitat ausgelassene) Hinweis auf die außerehelichen Möglichkeiten der Geschlechtsbefriedigung. Nach Diog. L. VI 11 lehrte Antisthenes: ya/urjoeiv ze (sc. zbv oocpbv) zixvonouaq yaQiv xalq sixpveozüzcuq ovviövza ywcat-L Daß aber Antisthenes mit dieser Ansicht sich unmittelbar an Sokrates anlehnte, ist um so wahrscheinlicher, als sich von seinem eigenen Standpunkt aus folgerichtig die Verwerfung der Ehe ergeben hätte — sein Schüler Diogenes hat diese Konsequenz gezogen. 3 ) Nach den bekannten platonischen Notizen (Apol. 34 D, vgl. 41 E und Der Inhalt des somatischen Lebensideals. 413 nachdrücklich übrigens scheint er nicht einmal diese Notwendig- keit für die Institution der Ehe in Anspruch genommen zu haben. In der somatischen Literatur spielt die letzere keine hervorstechende Rolle, und Plato hat von jenem sokratischen Gesichtspunkt aus im Gegenteil ihre Abschaffung in Aussicht genommen. Jedenfalls aber erschöpfte sich für Sokrates die Bedeutung der Ehe im wesentlichen in dem Zweck der legitimen Kindererzeugung. Darüber hinaus hat er für das Verhältnis von Mann und Frau keine höhere sittliche Schätzung. Er selbst hätte ja sonst sein eigenes ehe- liches Leben nicht in dem Grad verkommen lassen können, in dem er dies notorisch getan hat. Indessen war sein Urteil durch- aus nicht bloß durch seine eigene Erfahrung bestimmt. Es war der offizielle, wenn auch in der Praxis keineswegs eingehaltene Standpunkt der attischen Gesellschaft, daß die Ehefrau ins Frauen- gemach gehöre und in die männlichen Angelegenheiten nicht dreinzureden habe. Und Sokrates läßt es hiebei bewenden. Die Frau selbst scheint er — Sicheres wissen wir hierüber nicht — keineswegs niedrig eingeschätzt zn haben. *) Aber von dem Kriton45CD; Phaidon 60A, 116B) waren zur Zeit von Sokrates' Tod von seinen drei Söhnen einer (Lamprokles, Xen. Mem. 112, 1) [ifiQaxiov ?'jöt] (so Apol. 34 D, in Phaidon 116B wird er (ityag genannt), zwei aber noch natSia (so Apol., Phaidon 116D: o/xlxqol, vgl. 60 A). Daraus läßt sich schließen, daß Sokrates erst in vorgerückten Jahren, zu einer Zeit, wo er längst auf der Höhe seiner Wirksamkeit stand, eine sehr viel jüngere Frau geheiratet hat. Zeller wird nicht Unrecht haben, wenn er annimmt, daß dies zur Zeit der Aufführung der „Wolken" noch nicht geschehen war; letztere enthalten keine Anspielung auf Sokrates' ehe- liches Leben, das später viel beredet wurde (vgl. Xen. Symp. II 10, Mem. II 2, Plato Phaidon 60A). Rätselhaft nun wird dieser Schritt des Sokrates immer bleiben. Sicher war das Motiv nicht etwa leidenschaftliche Liebe zu Xanthippe, die schon in Xenophons Symposion II 2 als eine Frau xwv ovowv, olfiat de xal xuiv yeyev7](A6vct)v xal xwv iaoßsvwv yaXsTtcjxäxrj geschildert wird — wenn sie auch keineswegs so böse war, wie die späteren Berichterstatter wissen wollen. Möglich, daß es eine Verwandtenpflicht war, die Sokrates durch diese Heirat er- füllte. Es ist indessen doch nicht recht glaubhaft, daß er sich aus einem solchen Grunde eine Last auflud, die für sein Wirken ein bedenkliches Hemmnis werden konnte. Wahrscheinlicher ist, daß er doch auch für seine Person sich der Pflicht der Heirat und der xsxvonoüa, die der Staatsbürger der Gesellschaft und dem Staat gegenüber hatte, und die er selbst als solche anerkannte, schließlich noch unterziehen wollte. l ) Der im xenophontischen Symposion dem Sokrates in der Mund gelegte Satz: II 9: . . y yvvcuxela <pvotg ovdhv yeiQü)v xijq xov dvöpbg ovacc xvyxdvei, 414 Das sokratische Evangelium. ehelichen Verhältnis versprach er sich keine sittliche Förderung; er scheint deshalb auch an eine Reform desselben nicht gedacht zu haben. Höhere sittliche Bedeutung erkennt er dem Verhältnis der Eltern zu den Kindern zu, zumal jenen ja die auch von ihm festgehaltene Pflicht der Erziehung obliegt. Daß Sokrates den Vätern diese Pflicht, so wie er sie auffaßte, unablässig eingeschärft hat, geht aus allen unseren Quellen hervor und ist auch bei der zentralen Stellung, die das Erziehungsproblem in seiner protrep- tischen Wirksamkeit einnahm, selbstverständlich. 1 ) Daß er anderer- seits von den Kindern pietätvolle Unterordnung unter die Eltern forderte, zeigt u. a. wieder der platonische Kriton. Auch daran ferner ist nicht zu zweifeln, daß er an der traditionellen Wertung der Beziehungen zwischen Geschwistern und Verwandten nicht rütteln wollte. Die Unterredung freilich, die die xenophontische Ge- sprächsammlung ihn mit seinem Sohn Lamprokles über das Verhältnis zu seiner Mutter und mit Chairekrates über die Be- ziehungen zu seinem Bruder führen läßt, (Mem. II 2 und 3) haben schwerlich irgend welchen geschichtlichen Wert. Dagegen liegt in einer Stelle der xenophontischen Schutz- schrift (Mem. 1 2, 49ff.) noch ein wichtiger Fingerzeig. „Der Ankläger (Polykrates) behauptete", so wird hier berichtet, „Sokrates habe die jungen Leute zur Geringschätzung gegen ihre Väter angeleitet, indem er ihnen einredete, daß sie durch ihn weiser werden könnten als jene ; auch habe er gelegentlich erklärt, nach dem Gesetz dürfe man selbst den Vater, wenn er des Wahnsinns über- führt sei, fesseln, und zum Beweis hiefür darauf sich berufen, das Gesetz lasse es zu, daß der Unwissendere von dem Weiseren in Fesseln gehalten werde; .... aber nicht bloß die Väter, sondern auch die übrigen Verwandten habe er bei seinen Anhängern in ist in dieser Fassung schwerlich sokratisch. Von Antisthenes ist überliefert die These: uvöqoq aal yvvcuxog ?/ avrrj dpezt], Diog. L. VI 12. Und soweit damit nur für die Frau die gleiche sittliche Anlage und das gleiche sittliche Ziel in Anspruch genommen ist, entspricht die Behauptung zweifellos sokratischen Grund- gedanken. Ähnlich spricht sich auch Plato, Men. 72Dff. aus. l ) Auf die Belege in der plat. Apologie (bes. Euenosepisode), im Ladies, ferner im Kleitophon u. s. f. ist im bisherigen schon wiederholt hingewiesen worden. Der Inhalt des somatischen Lebensideals. 415 Mißachtung gebracht, indem er darauf hinwies, daß dem Kranken oder dem vor Gericht Gezogenen nicht die Verwandten, sondern allein die Ärzte, bezw. gerichtskundige Beisteher helfen könnten; . . indem er nun den jungen Leuten gegenüber sich als den Weisesten, der zugleich am ehesten fähig sei, andere weise zu machen, hin- stellte, habe er seine Anhänger dahin gebracht, im Vergleich mit ihm alle anderen Menschen für nichts zu achten." Natürlich be- müht sich der Autor, diesen Vorwürfen eine wohlgemeinte Apo- logie entgegenzustellen. Weit mehr aber interessiert uns die Anklage selbst. Ihr Material stammt ohne Zweifel wieder aus den sokratischen Logoi des Antisthenes. l ) Aber was dieser hier den Sokrates sagen ließ, ist sicher sokratisch. Denn die xenophontische Schutzschrift selbst, die dem Antisthenes nicht eben freundlich gesinnt ist, wagt nicht nur nicht die Anklage in Zweifel zu ziehen ; sie bestätigt vielmehr ausdrücklich, daß Sokrates jene Äußerungen wirklich getan habe. 2 ) Das ist auch aus inneren Gründen nicht unwahrscheinlich. Sokrates ist offenbar in seiner sittlichen Werbe- tätigkeit häufig genug auf den Widerstand der Väter und Ange- hörigen der jungen Leute, die sich ihm anschließen wollten, ge- stoßen. Daß er aber in solchen Fällen seine Autorität derjenigen der Verwandten entgegensetzte, und daß er die Pflicht, dem sittlichen Ideal selbst nachzujagen, über die der Verwandtenpietät stellte, ist wohl zu glauben. Aber er scheint, darüber hinaus, die allge- meine Forderung aufgestellt zu haben, daß auch das Verhältnis zu den Verwandten durchaus dem Gesichtspunkte der sittlichen Förderlichkeit untergeordnet und nach diesem Maßstab gewertet werde. 3 ) Die höchste, alle anderen in sich befassende und beherrschende *) Wir haben sogar die ausdrückliche Notiz, Antisthenes habe gelehrt: xov öixaiov tcsqI tcXslovoq noitio&ai xov ovyyevovg, Diog. L. VI 12. 2 ) Xenophon sagt in § 53 ausdrücklich: iyu) 6' avxov olöa /xev xal neol 7tax£Qwv zs xal xwv alXwv ovyysvcüv . . xavxa Xeyovxa. 3 ) Zwar ist sogar von Antisthenes der Ausspruch überliefert: o/liovoovvxwv ad£?.<puJv ov/aßiwoiv navxoq scprj xer/ovQ io"/vqox£qccv eivai, Diog. L. VI 6. Aber der Nachdruck liegt hier nicht auf dem Verwandtschaftsverhältnis, sondern auf dem Sfxovoovvxcov. Und 6/u.ovoia ist nach Kleitophon 409 DE das Wesen der Freund- schaft, die, wie wir wissen, bei Antisthenes durchaus dem sittlichen Gesichts- punkt untergeordnet ist. 416 Das sokratische Evangelium. soziale Einheit sieht auch Sokrates im Staat. 1 ) Hierin denkt er ganz ebenso wie seine Volksgenossen. Auch er ist der Meinung, daß die Individuen nur als Glieder eines staatlichen Körpers volle Befriedigung ihres sozialen Verlangens gewinnen können. Den individualistischen Auflösungstendenzen setzt er mit großer Ent- schiedenheit die Autorität des Staates entgegen. Und mit den kosmopolitisch-anarchistischen Träumen, denen ein Teil seiner Jünger nachhing, hat er lediglich nichts zu tun. In der xeno- phontischen Gesprächsammlung (II 1) findet sich eine Unterhaltung mit Aristipp, in deren Verlauf Sokrates sich auch mit dessen anarchisch -kosmopolitischer Staatskritik auseinandersetzt. Auch dieses Gespräch ist, wie wir wissen, vom Autor frei erfunden, und zwar zu einer Zeit, in der Aristipp bereits zu Ruf und Ein- fluß gelangt war. Xenophon sucht, wie es scheint, eine Gelegen- heit, dem Gegner der positiven Staatsordnung und des staatlichen Ansehens seine eigene konservative Gesinnung entgegenzuhalten. Aber daß der Meister die staatsfeindlichen Folgerungen, die Anti- sthenes und Aristipp aus seinem sittlichen Standpunkt gezogen haben, wenn er sie gekannt hätte, nachdrücklich abgelehnt haben würde, daß die sittliche Autonomie und Freiheit, die Sokrates fordert, keineswegs die Autorität und Geltung der staatlichen Ordnungen zu beeinträchtigen braucht, wissen wir. Es bleibt dabei: der Staat ist weder sittlicher Gesetzgeber noch Endzweck des sitt- lichen Handelns der Individuen; der sittliche Mensch ist sich selbst Gesetzgeber und Endzweck. Aber die Unterordnung unter die Staatsgewalt ist für diesen keine Preisgabe seiner sittlichen Freiheit und Selbständigkeit, kein Rückfall in die alte Gebunden- heit. Im Gegenteil, sie kann und wird ihm als Pflicht erscheinen, wenn sie durch das sittliche Interesse gefordert ist. Und daß dies der Fall ist, das ist allerdings Sokrates' Meinung. 2 ) Der Gedanke, den später Plato durchgeführt hat, daß die kulturelle Aufgabe, die dem Menschen durch das Vollkommenheitsideal ge- ') Kriton 51 AB: fxrjxgög xe xal naxgbq xal xwv aXlcov ngoyövwv andvxotv zifxiaixsgöv ioxiv % naxglq xal ae/xvöxegov xal äyiajxsgov xal iv /xsl^ovi fioiga xal nagd Ssoig xal nag' dv&gainoiq xolq vovv h'-^ovai . . 2 ) S. besonders Krito 51 BC (die Fortsetzung der in der vorigen Anm. zitierten Stelle). Hier wird vom sittlichen Gesichtspunkt aus selbstlose Unterord- nung unter den Staatswillen gefordert. Der Inhalt des sokratischen Lebensideals. 417 stellt ist, ihre Lösung nur in der organisierten Gesellschaft im Staat finden könne, ist im Kerne sokratisch. Dem Sokrates ist der Staat und die Einfügung der Individuen in die staatliche Ordnung eine sittliche Notwendigkeit, und er rückt den Staats- gedanken in den Mittelpunkt des sittlichen Lebens selbst. Unter diesem Gesichtspunkt übt er auch seine Kritik am Staat — am bestehenden oder, sagen wir es noch bestimmter, am athenischen Staat. Es sind ja auch hier, und hier ganz be- sonders, keine akademischen Erörterungen, die er treibt. Die Kritik selbst erhält sofort eine unmittelbar praktische Zuspitzung. Aber freilich: dem sittlichen Menschen ist es nur innerhalb der Schranken der gesetzlichen Ordnung möglich, die seinem sittlich- sozialen Ideal entsprechende Umwandlung der bestehenden Ver- hältnisse anzustreben. Und wie ernst Sokrates es mit der zu Recht bestehenden Ordnung nahm, das hat er ja zuletzt noch durch sein Verhalten im Gefängnis gezeigt. Wenn darum Gegner seiner Sache ihn nach seinem Tode — die gerichtlichen Ankläger wußten hievon nichts — konspiratorischer Umtriebe ziehen, 1 ) so war das aus der Luft gegriffen. Er hat nie daran gedacht, auf politisch-revolutionärem Weg die Reformen durchzusetzen, die er für notwendig hielt. Durch sein dialektisch-protreptisches Wirken konnte er hoffen, schließlich auch die maßgebenden politischen Instanzen für seine Ziele zu gewinnen. Und es war allerdings viel, was er an dem damaligen athe- nischen Staatswesen auszusetzen hatte. Er war kein Freund des perikleischen Staats. Diese Politie schien ihm halb anarchisch, halb rückständig. Anarchisch : die unmittelbare Demokratie, in der das suveräne Volk nicht nur die Gesetzgebung hat, sondern auch die richter- liche und die exekutive Gewalt in der Hauptsache selbst ausübt, erschien ihm als die verkehrteste aller Staatsformen. Gerade hier äußert sich sein Gegensatz gegen die naturrechtliche Staatskon- *) Nach Xenoph. Mem. I 2, 9 hat Polykrates behauptet, die politischen Ge- spräche des Sokrates haben die jungen Leute zur Verachtung zrjq xa9eorworjq Ttohxeiaq verführt und sie ßiaiovq gemacht. Nach der Apologie des Libanios aber hat Polykrates dem Sokrates geradezu schuld gegeben, „den Sturz der Demokratie gewollt und gelehrt zu haben" (Schanz, Apologie S. 36), s. Libanios, Hutxgäxovq anoXoyla, Reiske III, p. 18f., p. 40. H. M a i e r , Sokrates. 27 418 Das sokratische Evangelium. struktion, die von dem Dogma der natürlichen Gleichheit und Freiheit aller ausgeht, am entschiedensten. Daß auf dieser Grund- lage jene demokratische Verfassungsform als die natürlichste er- scheinen kann, leuchtet ein. Sokrates aber hält von solchen Theo- rien nichts. Entscheidend ist ihm der Zweck des Staats. Und der besteht in der Lösung der großen kulturellen Aufgabe, die dem in der Polis organisierten Ausschnitt der menschlichen Ge- sellschaft jeweils gestellt ist. Erreicht werden kann aber ein solches Ziel nicht von einem Staatswesen, in dem eine urteilslose Menge, beraten von Schwätzern, die Herrschaft inne hat. Eine Zeitlang, so- lange das suveräne Volk in der Hand des Perikles war, mochte es gehen, und Sokrates freute sich, wie wir wissen, mit ganzer Seele des Glanzes und der Kultur, die Perikles, mit dem er auch in persönlichen Beziehungen stand, dem attischen Reiche gebracht hatte. Aber über die prinzipielle Haltlosigkeit des ganzen Systems ließ er sich dadurch nicht hinwegtäuschen. 1 ) Die Politik war ihm die königliche Kunst, 2 ) die man verstehen muß, wenn man sie ') Die Auseinandersetzung im „Gorgias" über die athenische Demokratie und die athenischen Staatsmänner ist gewiß Piatos Eigentum (S. 133). Aber daß der Autor damit immerhin noch im Sinn des Sokrates zu sprechen glaubt, ist nicht zu bezweifeln. Schon die Ausführung, die er im Protag. 319 B ff. (vgl. beson- ders 319 D) dem Sokrates in den Mund legt, ist ein grausamer Hohn auf die ganze athenische Demokratie. Ganz ähnlich läßt Xenophon trotz seiner apologe- tischen Leisetreterei gelegentlich den Sokrates sprechen (vgl. besonders Mem. III 7, 5 u. 6). Hat man aber je gegen die Junker Plato und Xenophon den Ver- dacht, sie möchten dem Meister ihre eigenen aristokratischen Neigungen unter- schoben haben, so ist dem entgegenzuhalten, daß der Proletarier Antisthenes sich im selben Sinn noch viel schärfer geäußert hat. Von seinem Dialog „Politikos" ist uns berichtet, daß er anavzojv xaxaögonriv nspiixsi xcöv jIQ-tjvtjgi örjfxaywywv (Winckelm. S. 22 VI aus Athenaeus); seine „Aspasia" ferner war eine heftige In- vektive gegen Perikles (vgl. Dittmar, Aischines von Sphettos S. 10 ff.). Vgl. auch die Aussprüche des Antisthenes bei Diog. VI 8. 5. 6, auf die ich nachher zurückkommen werde. Nach Libanios, a. a. O. S. 19, warf Polykrates dem So- krates vor: fj.iaöörjßoq . . toxi xal xovq ovvövxaq nsl&ei xrjq örjfxoxgaxiaq xaxa- yeX&v. Nach alledem wird der Schluß berechtigt sein, daß Sokrates ein prin- zipieller Gegner der athenischen Demokratie war. Zu den Ausführungen im Text vgl. auch Pöhlmann, Sokrates und sein Volk, S. 78 ff. 2 ) So Xenophon IV 2, 11. 2 (vgl. II 1, 17). Ob der Ausdruck freilich auf Sokrates selbst zurückgeht, ist fraglich. Möglich ist, daß die xenophontische Ausführung sich an den platonischen Politikos, wo nicht bloß der Ausdruck oft wiederkehrt, sondern auch der xenophontische Gedanke ausgeführt ist, anlehnt; und Der Inhalt des somatischen Lebensideals. 419 zweckmäßig handhaben will. Das genaue Gegenteil traf bei der Staatsform der unmittelbaren Demokratie zu. War die Staatsver- waltung in der Hand der Gevatter Schneider und Handschuh- macher, denen doch wahrlich die gütige Natur den Regentenver- stand nicht eben in die Wiege gelegt hatte, 1 ) so waren die wirk- lichen Herrscher die Demagogen, denen wieder nicht Sachkunde, sondern bloße Redegewandtheit und nicht zum wenigsten die Fähig- keit, die Leidenschaften des Demos aufzuregen und seinem Weis- heitsdünkel zu schmeicheln, ihren Einfluß schuf. 2 ) Eine Schatten- existenz führten die Beamten des Staats, die zu dienenden Or- ganen des Volkswillens herabgesunken waren; und es war nur konsequent, solche Behörden durch Volkswahl oder gar durchs Los zu bestimmen. So war das ganze öffentliche Leben gekenn- zeichnet durch ein trauriges Dilettieren, beherrscht von der Phrase der Volkshoheit. Sokrates stand an der Spitze der Opposition, und um ihn scharten sich diejenigen, die dieses Regiment im Interesse des daß Xenophon den Politikos genau gekannt hat, wissen wir. Indessen findet sich die Bezeichnung ßaodixi) zeyvrj von -d er Politik schon Euthydem. 291 BC, und auch diese Stelle kann Xenophon benutzt haben, zumal das Kapitel Mem. IV 2 auch sonst Anklänge an den Euthydem. aufweist. Mit größerer Sicherheit könnte der Gedanke auf Sokrates selbst zurückgeführt werden, wenn er, wie Joel II, S. 1053 ff. anzunehmen scheint, auch im antisthenischen Gedankenkreis heimisch gewesen wäre; doch läßt sich ein Beweis hiefür nicht erbringen. ') Vgl. Xenoph. Mem. III 7. 5f. Hier will Sokrates dem Charmides die Scheu, in der Volksversammlung aufzutreten, ausreden. Er hält ihm vor, daß er, während er vor den Verständigsten und Mächtigsten keinerlei Angst habe, sich scheue, ev zolg ccypoveozäzoig rs xal do&eveozdzoig zu reden, und fährt dann fort: TiözfQOv ydg zovg yvayelg avzwv ?] zovg axvzelg ?} zovg xexxovag rj xovg yalxeZg r] xovg yewgyovg rj xoig efxnögovg rj xovg ev xfj dyogä fxexaßaXXoßevovg xal <pgovzi±ovzag o xi ekäzzovog ngiäfxevoi nXeiovog anodwvxcu aioyyvei; ex ydg xovxcuv dndvxwv r] exxlr\ala ovvlaxaxai. Vgl. ferner Protag. 319 CD: enei- öav de xi negl xfjg nöletag öioixrjaeajg äe% ßovXevoao&ai, av(xßovkevn avxolg (den Athenern in der Volksversammlung) dvioxd/xevog negl zovxwv ö/uolwg (iev xexxoiv, 6/j.oi(og 6e yakxevg, oxvzoxöftog, e/jntogog, vavxkrigog, n?.ovaiog, nevrjg, yevvulog, dyevvr]g, xal xovxoig ovöelg xovxo emnXrjxxei . . . , oxi ovöaßö&ev fxa- 9ojv, ovöe ovxog 6i6aaxd).ov ovöevog ccvxtjj, eneizcc ov/xßovkeveiv enf/eigeZ . . Vgl. schließlich auch Antisthenes, Diog. L. VI 8 Anfang. 2 ) Das hat nicht bloß Plato in seinem „Gorgias" ausgeführt (speziell 515 C ff.), sondern ohne Zweifel auch Antisthenes in seinem „Politikos'', Winckelm., S. 22 VI, s. oben S. 418, 1. 27* 420 Das sokratische Evangelium. Staatswohls zu hassen gelernt hatten. Mit einer gewissen Sehn- sucht schaute der Meister nach den dorischen Aristokratien Sparta und Kreta hinüber. 1 ) Was ihm an diesen imponierte, war nicht bloß ihre straffere Organisation; er fand wohl bei den dorischen Aristokraten sehr viel mehr wirklichen Herrscherverstand als bei den athenischen Spießbürgern, zumal unter jenen die Tüchtigen weit mehr Aussicht hatten, ans Ruder zu kommen, als in Athen. Sokrates hat aus dieser Vorliebe so wenig ein Hehl gemacht wie aus seinen oppositionellen Ansichten. So kam er in den Geruch, ein Parteigänger und Vorkämpfer der aristokratischen Reaktion in Athen zu sein. 2 ) Und nicht bloß Gegner haben ihn in diesem Lichte gesehen. Er verdankte diesem Ruf wohl auch zu einem guten Teil den Zulauf aus den Reihen der „lakonisierenden Jugend", der „Ritter", die ihr Kokettieren mit Sparta bis hart an die Grenze des Landesverrats trieben. Nichts ist verkehrter als eine solche Auffassung. Von der alten Geschlechterverfassung will Sokrates nichts wissen. 3 ) Die ') S. Kriton 52 E, wo die vöfxoi zu Sokrates sagen: av 6h ovxs Aaxeöaifxova ngoqgov ovxs Kp?]T?]v, aq 6fj hxäaxoxe <pqq- £vvo/xH<j9-ca . . , ferner Protag. 342 A ff., vgl. Hipp. maj. 283 E.f., Xen. Mem. III 5, 15 f., IV 4, 15, Antisthenes Winckelm., S. 66 LI. 2 ) S. den Anklagepunkt des Polykrates Xenoph. Memor. I 2, 58 ( . . . xavxa drj avxov igr/ysio&ai, toq 6 noirjxriq inaivoirj nalso&ai xobq 6rjjj.öxaq xal nevqxaq); vgl. hiezu auch, was in der Alkibiadesrede des plat. Symposions erzählt wird, Symp. 220 B : ol 6h oxgaxtcöxat vnsßXsnov avxov a>q xaxa<pgovovvxa ocptöv, und oben S. 418, 1. Gegen Ende seines Lebens bezichtigte man den Sokrates, wie es scheint, trotz allem und allem einer gewissen Hinneigung zu den xgtäxovxa. Kann dies auch nicht aus der Bemerkung des Redners Äschines zu dem soma- tischen Prozeß, Kaxa Tißägxov 173 — die Stelle lautet': ihr habt, Athener, den Sophisten Sokrates getötet, weil er als der Lehrer des Kritias erschien, eines der Dreißig, die die Demokratie vernichtet haben — erschlossen werden, da diese ohne Zweifel auf die xaxr\yogia des Polykrates zurückgeht, so hat doch die letz- tere selbst hierin vermutlich an die öffentliche Meinung angeknüpft. Sicher ist, daß dem Sokrates die ehemaligen Beziehungen zu Kritias weit mehr geschadet haben als die zu Alkibiades. 3 ) Wie Sokrates über den Adel der Abstammung dachte, läßt sich aus einigen Notizen, die wir haben, erschließen. Nach Aristoteles, Jlegl evyevelaq, 1490a 20—22, hat Sokrates geglaubt toi;? ££ dya&wv yovscav svysveiq elvcci, und dies durch die Behauptung illustriert: 6ia yag xr/v 'AqioxsLöov ccgsx?jv xal xi]v &vya- xsga avxov ysvvalav elvac. Nach Diogenes L. VI 10 ferner hat Antisthenes ge- lehrt: zovq avxovq svysvslq xovq xal ivagixovq (vgl. auch Diog. VI 1). Nun Der Inhalt des soldatischen Lebensideals. 421 Aristokratie, die er im Auge hat, ist die Aristokratie der Wis- senden. Gesetzgebung, Gericht und Verwaltung sollen in die Hände von Sachkundigen gelegt werden. Von hier aus kehrt er seine Polemik gegen die Beamtenauslosung, ebenso aber auch gegen die Beamtenwahl durchs Volk. 1 ) ist es nicht unwahrscheinlich, daß das aristotelische Zitat aus derselben antisthe- nischen Quelle geschöpft ist wie diese Notiz des Diogenes Laert., und sogar das ist nicht ausgeschlossen, daß Aristoteles eben nur den antisthenischen Sokrates zitieren will. Daß aber der Gedanke dennoch sokratisch ist, ergibt sich schon daraus, daß hier Plato wieder mit seinem Antipoden zusammentrifft. Plato ist persönlich stets Aristokrat geblieben; das läßt z. B. der 7. platonische Brief deutlich erkennen. Und allein schon die Rehabilitation des Aristophanes im Symposion zeigt, in welchem Grade er sich, auch äußerlich, noch vor der Abfassung der Hauptpartien der Politeia wieder seinen Standesgenossen genähert hatte; die Schlüsse, die Joe! II 350 aus der scherzhaften Erörterung Lys. 204 E ff. ziehen will, sind durchaus hinfällig. Der oberste Zweck des Staats und der Gesellschaft aber fordert bei Plato die Beseitigung der ständischen Gliederung, die auf dem Boden der Geschlechterherrschaft erwachsen war. Und wie Antisthenes für die Ver- heiratung nur den einen Gesichtspunkt gelten läßt, daß der Heiratende xsxvo- nouaq yägiv mit den svcpvsoxaxatq yvvai^i — eixpvijq heißt hier nicht etwa schön im ästhetischen Sinn, sondern: von guter Natur — sich verbinden solle, so regelt bekanntlich Plato die geschlechtlichen Verbindungen in seiner Politeia ganz unter dem Gesichtspunkt einer rationellen Zuchtwahl; wie wenig er aber von hier aus etwa einen neuen Adel begründen will, zeigt die Tatsache, daß er die feste Ehe überhaupt aufhebt und Kindergemeinschaft einführen will. Wir sehen hier immerhin in sokratische Gedankengänge hinein. Das Herkommen, der v6 x uoq, muß an diesem Punkt sittlich-kulturellen Interessen weichen: die Auf- gabe, die den Individuen in der Gesellschaft sittlich gestellt ist, fordert hier Beseitigung traditioneller Werte und Schätzungen. Davon, daß die Tugend etwa an vornehme Abstammung gebunden sei, wie die Adelsethik will, kann bei So- krates natürlich von vornherein nicht die Rede sein. *) Bekannt ist die Xenophonstelle III 9, 10 ff., die das Programm des Sokrates zu klassischem Ausdruck zu bringen scheint: Baoü.siq 6b xal agyovxaq ov xovq xa ox^mga eyovxaq e<pr] e ivai ov6b xovq vno xwv xv%6vx<av algeüevzaq ov6b xovq xkrj ga) Xayovxaq ov6b xovq ßiaoafxevovq ov6b xovq i^anaxrjaavxaq, ak).a xovq STCtaxafisvovq ägyeiv. bnöxe yäg xiq bfxoXoy^oeis xov fxbv og- yovxoq ecvai xö nQooxaxxz.iv o xi ygrj noielv, xov 6b dgyoßtvov xo nel&so&ai, intöelxvvtv iv xs vrjl xov fxbv imoxcifxevov aoyovxa, xbv 6b vuvxXrjoov xal xovq üX).ovq xovq iv rj? vrjl nüvzaq 7i£i9o(xevovq xo~> emaxafxevcp, xal iv yscugylq xovq xsxxrjfisvovq aygovq, xal ev vöoep xovq vooovvxaq xal iv ocoßaoxia xovq aojfxa- oxovvxaq . . . Nun hat freilich diese Stelle zweifellos keinen primären Quellen- wert. Sie lehnt sich augenscheinlich an Ausführungen des platonischen Politikos an. Ebensowenig können andere, ähnlich lautende Xenophonstellen (Mem. III 4, 6; 5, 21; IV 2, 2; III 1, 4) als eigentliche Belege gelten. Aber unverkennbar sind 422 Das sokratische Evangelium. Und nicht bloß eine von dem Prinzip der Sachverständigkeit beherrschte Organisation des Staatsregiments nimmt er in Aus- sicht, sondern auch eine auf derselben Grundlage aufgebaute neue Gliederungder Gesellschaft. Die historisch gewordene Diffe- renziierung erscheint auch ihm nun nicht als zweckgemäß. Und fast sieht es hier so aus, als wollte er in die Reihe der natur- rechtlichen Reformer eintreten. Aber das Fundament seines Re- formprogramms war nicht die mechanische Gleichheit der Indi- viduen, sondern die wahrhaft „natürliche - ', die jeden Einzelnen im gesellschaftlichen Ganzen dahin stellt, wohin er nach seinem Können und Wissen gehört. 1 ) Sokrates hat einen gesellschaft- diese Äußerungen doch der Widerhall von Erörterungen, die sich durch die ganze sokratische Literatur hindurchziehen. Hiezu s. bes. die sokratische Parabel bei Aristo- teles, rhet. II 20. 1393 b 3— 8, oben S. 83 Anm. und S. 376). Xenophon selbst erwähnt in der Schutzschrift folgenden Vorwurf des Polykrates gegen Sokrates (Mem. I 2, 9): . . vtisqoqüv ünolei xätv xa&toxcüxwv vofiwv xobq ovvovxaq, Xzywv wq (aöjqov sl'rj zovq ßhv zijq nöXewq ägxovzaq anb xvü/uov xa&iazccvai, xvßepvrjzy 6h (irjSsva i&eXetv xprjo&ai xva(j.tvzä> /btr/dh zexrovi /xrj6' avXrizq fir^d' in' äXXa zoiavta, a noXXcü tXäxxovaq ßXäßaq ayLO.Qxavou.iva noitl xcüv tisqi xtjv noXiv a/uaoxavo- fievcov . . Und der Autor bestreitet durchaus nicht, daß Sokrates solche Äuße- rungen wirklich getan habe. Sein Gewährsmann ist allerdings wie der des Poly- krates wahrscheinlich Antisthenes. Indessen war Xenophon hier sicher in der Lage, die Mitteilungen des Antisthenes aus eigener Erinnerung zu kontrollieren — ganz abgesehen davon, daß Antisthenes selbst, zumal in jener ersten Zeit, derartige Ansichten dem Meister nicht ohne historischen Grund in den Mund gelegt hätte. Daß Antisthenes für seine Person gleichfalls ein geistesaristokrati- sches Regiment in Aussicht nahm, und daß er von diesem Gesichtspunkt aus an dem bestehenden Staat Kritik übte, läßt u.a. Winckelm. S. 61 XXIII erkennen: Töx' £<pr] xaq nöXeiq unöXXvo&at, oxav /xi) dvvwvxai xoiq <pavXovq and xcöv onovöalcov diaxQivfiv (Diog. Laert. VI 5, vgl. die Äußerung in 6, Winckelm. S. 61 XXVIII). Besonders charakteristisch aber ist der Rat, den Antisthenes nach Diog. Laert. VI 8 Anfang den Athenern gab: avveßovXtvsv kdtjvaioiq zovq ovovq "nnovq xprjiploa- oQ-ai. äXoyov de r'iyov/j,£vwv, 'AXXü /ur/V xal ozQazTjyol, <p?jai, yiyvovzai nag' vßcüv fZTjöbv fxa&övzeq, (xövov de ■/eiQoxovq&tvxsq. Daß diese Anschau- ungen auf Sokrates zurückgehen, ist nicht zu bezweifeln. Auch Plato hat nicht bloß selbst diesen Standpunkt vertreten, sondern ihn auch Sokrates vertreten lassen: Protag. 319 B ff., womit der weitere Verlauf des Gesprächs zu vergleichen ist; vgl. ferner den ganzen „Gorgias", aber auch die Energie, mit der in den früheren Schriften für Sokrates das Sachverständigenprinzip in Anspruch ge- nommen wird. S. auch die Kritik, die Plato den Sokrates in Euthyphr. 4A zwar scherzhaft, aber doch so, daß auch ein ernster Gedanke durchleuchtet, an den Geschworenengerichten üben läßt. l ) Vgl. den übermütigen Spott, den Antisthenes nach einer Notiz des Aristo- Der Inhalt des somatischen Lebensideals. 423 liehen Organismus vor Augen, dessen Zweckbestimmung die Ver- wirklichung einer in allen ihren Teilen auf sachverständiges, wissendes Können gegründeten Kultur sein soll; die soziale Schichtung der Individuen aber denkt er sich wohl ganz bestimmt durch ihre Stellung in diesem Arbeitsganzen. In diesem Sinn scheint er eine Umbildung der attischen Gesellschaftsordnung angestrebt zu haben. 1 ) Das war ein radikaler Bruch nicht bloß teles über die Forderung politischer Gleichberechtigung aller ausgegossen hat. Nach Arist. Pol. IN 13. 1284a 15—17 sprach Antisthenes einmal von den Löwen, denen gegenüber die Hasen eine Volksversammlung hielten und gleiche Rechte für alle Tiere forderten: . . 'Avuo&evijq s<p7J zoiq ItovzuQ 6rjfj.rjyoQovvxo)v tüv Saavnoötav xai xo l'aov aSiovvzcuv näwag e/eiv. Daß mit diesen Intentionen des Antisthenes die Anschauungen Piatos durchaus zusammentrafen, ist be- kannt. ') Gerade hier ist daran zu erinnern, daß Sokrates, wie er überhaupt darauf verzichtete, ein konkretes Lebensideal systematisch aufzustellen, so insbesondere auch nicht daran dachte, eine ideale Gesellschaftsordnung zu zeichnen. Von solchen weitausschauenden Spekulationen hielt er sich geflissentlich fern. Das hindert aber natürlich nicht, daß ihm ein bestimmtes Ideal vorschwebte, daß die von ihm geforderten Reformen nach einer ganz bestimmten Richtung hin ten- dierten. Hält man sich aber an diese Hindeutungen, so wird man zu einem Er- gebnis kommen, wie es im Text dargelegt ist. Augenscheinlich ist dieses Ideal nur die Konsequenz der Vorstellung, die Sokrates sich tatsächlich, wenn auch nicht ausdrücklich, von dem konkreten Ziel des sittlichen Lebens gebildet hatte (S. 392, vgl. S.404). Eine Bestätigung dieser Auffassung aber liegt, wie unten gezeigt werden wird, darin, daß ein solches sokratisches Ideal offenbar der Ausgangspunkt der platonischen Entwicklung war, die zum Staats- und Gesellschaftsideal der Politeia geführt hat. Von Antisthenes dagegen werden wir in diesem Stück eine Unter- stützung überhaupt nicht erwarten können. Die Konsequenz seiner Grund- anschauung ist die Aufhebung und Beseitigung aller sozialen Organisationen und Ordnungen. Soweit ist indessen erst Diogenes gegangen, dessen „Politeia'' das Ideal des Weltstaats verkündigt, in dem die Menschen in Weiber- und Kinder- gemeinschaft ohne politische Organisation leben (Diog. Laert. VI 72, vgl. das kosmopolitische Ideal Zenos des Stoikers bei Plutarch de Alex. fort. I 6). Antisth. hat die Konsequenzen nicht voll gezogen. Er behält nicht bloß die Ehe bei, sondern bleibt auch sonst noch in vielen Stücken in der Nähe des Sokrates. So namentlich in politischer Hinsicht. Das Regiment der Sachverständigen (bezw. der „Weisen") fordert ja auch er, und ebenso, wie es scheint, eine der Verschieden- heit der Kräfte und Leistungen entsprechende Gliederung der Gesellschaft (s. die beiden vor. Anm.). Wie er sich aber dieses Ideal weiter gedacht hat, wissen wir nicht. Den „Schweinestaat" in Politeia 372 Äff. auf ihn zu beziehen, wie auch Zeller II 1, S. 326 will, haben wir keinen rechten Anlaß und Anhalt. Gewiß ist das Schwein hier, wie C. Ritter (Philologus 68. Bd., S. 230, 2) mit Recht bemerkt, als Sinnbild 424 Das sokratische Evangelium. mit der alten ständischen Gliederung, die durch die demokratische Entwicklung des 5. Jahrhunderts zwar zurückgedrängt, aber immer- hin noch nicht ganz antiquiert worden war, 1 ) sondern auch mit der demokratischen Gestaltung der Gesellschaft selbst, wie sie sich im perikleischen Athen vollzogen hatte. 2 ) Eines der beherrschenden Prinzipien des sokratischen Reform- programms war die vorbehaltslose Anerkennung des sittlichen Werts der Arbeit in allen ihren Formen. Damit stellte ersieh in schroffen Gegensatz zu alt eingewurzelten Vorurteilen, die sich auch in der bürgerlichen Gesellschaft Athens gegen gewisse Be- rufs- und Arbeitsarten richteten. Nach dem Bericht der xeno- phontischen Schutzschrift (Mem. I 2, 56 f.) fand sich unter den An- klagepunkten des Polykrates auch der, Sokrates habe dem Wort Hesiods: Arbeit ist nie Schande, wohl aber Müßiggang, die Mah- nung entnommen, keine Arbeit, auch schlechte und schändliche der geistigen Stumpfheit, nicht der Unreinlichkeit gedacht. Was aber das Leben innerhalb dieses Staats, wie es in diesem Zusammenhang geschildert wird, mit der Lebensweise und dem Lebensideal der Kyniker gemein haben soll, vermag ich nicht einzusehen. Ebensowenig haben wir genügenden Grund, die Aus- führung Politikos 267 C— 275 C mit Zeller als eine Polemik gegen Antisthenes zu betrachten. Nach 271 E f. könnten wir den Gedankengang am Ende auf Diogenes beziehen — chronologisch ist dies nicht durchaus unmöglich — , keinenfalls aber auf Antisthenes. Möglich ist, daß die Bezeichnung noifxrjv rF/g av&Qwnivrjq dyältjq vom noXixixöq auf Antisthenes zurückgeht (vgl. Joel II, S. 1062); sicher ist dies aber ganz und gar nicht. Und wenn Plato je an Antisthenes denkt, so kann seine Polemik sich nur etwa darauf beziehen, daß Antisthenes den aufge- klärten Despotismus der Geistesaristokratie überspannt hat. Auch das aber ist nur eine zweifelhafte Vermutung. Vgl. u. S. 511, 1. *) Vgl. die Ausführung über die Eugenie S. 420, 3. 2 ) Dieses nicht bloß in prinzipieller Hinsicht, sofern Sokrates das demo- kratische Gleichheitsprinzip bekämpfte. Auch in der demokratischen Gesellschaft hatten sich gewisse Vorurteile erhalten, denen Sokrates die Berechtigung gleich- falls bestritt (vgl. das Folgende). Vor allem aber brach Sokrates mit den pa- triarchalen Formen des Lebens, die auch diese Demokratie festgehalten hatte (s. besonders die Vorwürfe des xaxriyoQoq I 2, 49ff., und Plat. Apol. 23 C, ver- glichen mit 19Ef. u. ö.). Andererseits trat er den plutokratischen, modern ge- sprochen: kapitalistischen Tendenzen, die in dem perikleischen Großathen mächtig angeschwollen waren, energisch entgegen, vgl. Apol. PI. 29 DE, wo mit der nöXiq 7] [xeyiorrj xcd sidoxifxcuxaxt] eiq ootplav xcd ioyyv das yQrjfxäzoiv im- (tefaio&ai in beschämend nahen Zusammenhang gebracht ist, vgl. ferner 30B, 41 E, 36 B und Kleitoph. 407 B ff. Der Inhalt des somatischen Lebensideals. 425 nicht, zu scheuen, sondern auch sie zu tun, wenn sie Gewinn ver- spreche (sm t(o yjydei), und in diesem Sinn auch seine Schüler gelehrt. Die apologetischen Bemerkungen, die Xenophon anfügt, sind wiederum besonders darum wertvoll, weil sie zugestehen, daß Sokrates Äußerungen ähnlicher Art wirklich getan habe. Wie die- selben gelautet haben mögen, können uns die Illustrationen lehren, die die Gesprächsammlung (Mem. II 7 und 8) dazu gegeben hat. Diese führen uns Sokrates vor, wie er einigen Leuten seiner Um- gebung die Meinung ausredet, als sei es eines freien Mannes un- würdig, Hantierungen und Beschäftigungen zu treiben, die sonst wohl in den Händen der Sklaven liegen. Offenbar ist der Meister in der von Polykrates karikierten Äußerung diesem Klassenvor- urteil des Bourgeois entgegengetreten, das ehrenwerte Metiers — so namentlich, wie es scheint, das niedere Gewerbe und die Hand- arbeit um Lohn — mit einem Makel belegte und ihre Inhaber gesellschaftlich ächtete. Den Stoff zu seiner Beschuldigung hat Polykrates wahrscheinlich wieder aus antisthenischer Quelle ge- schöpft, und ebenso Xenophon wohl seine Bestätigung. 1 ) Allein wieder folgt daraus nichts gegen die sokratische Provenienz. Und noch weniger kann uns hier Piatos Schweigen bedenklich machen. Dem philosophischen Junker — denn den hat Plato nie ganz ausgezogen — war offenbar dieser Zug in Sokrates' Anschauungen wenig sympathisch. 2 ) Er selbst hat später in seiner Politeia dem Stand der Ackerbau- und Gewerbetreibenden nur geringe Be- achtung geschenkt und eine sehr untergeordnete Stellung in der neuen Gesellschaft angewiesen. Antisthenes andererseits hatte ja etwas vom Proletarier an sich. Und wir können uns recht wohl vorstellen, daß er die soziale Rettung proletarischer Arbeit durch Sokrates geflissentlich ans Licht gezogen habe. Daß er sie ge- radezu erfunden habe, wäre für jene frühe Zeit auch dann nicht anzunehmen, wenn Xenophon, der für seine Person zwar der land- wirtschaftlichen Beschäftigung Geschmack abgewonnen, im übrigen 1 ) Vgl. oben S. 392, 2. 2 ) Charakteristisch ist, wie im platonischen „Charmides" 163B Kritias, der als Anwalt des antisthenischen Gedankens auftritt, von den Intentionen des Anti- sthenes geflissentlich abweicht, indem er es als undenkbar hinstellt, daß der Dichter gesagt habe, es sei niemandem Schande oxvToxofxovvxi rj TaQi%on(üXovvxi 7] in' olxTjfxatog xa&rj t UEV(i) (vgl. S. 393 Anm.). 426 Das sokratische Evangelium. aber seine junkerlichen Vorurteile keineswegs abgelegt hatte, 1 ) sie nicht ausdrücklich bestätigt hätte. 2 ) In das sokratische Gesellschaftsideal fügt dieser Zug sich vortrefflich ein. Wenn die soziale Differenziierung der Gesellschaft sich durchaus nach der Menschenarbeit, die die Einzelnen leisten, bestimmt, so hat jeder, der ehrliche Arbeit aufzuweisen hat, An- spruch auf einen geachteten Platz in diesem Ganzen, und keine Arbeit, die aus dem Betätigungskreis eines rechtlich denkenden Menschen hervorgeht, ist zu gering, um nicht als Beitrag zur Lösung der kulturellen Gesellschaftsaufgabe gewertet zu werden. Sokrates hat seine politisch -sozialen Gedanken niemals zu- sammenhängend entwickelt. So ist ihre Tendenz auch von seinen Jüngern größtenteils verfehlt worden. Nur einer hat sie in ihrer Tiefe erfaßt. Das war trotz allem und allem Plato. In seiner pu- blizistischen Arbeit hat er die Ideen des Meisters aufgenommen, weiter- und auch umgebildet. Ja, er hat an wesentlichen Punkten 1 ) Vgl. Xenoph. Öconom. IV 2 ff. ; VI 5. Zu erinnern ist hier aber auch an die bittere Art, in der sich Xenophon in Mem. I 6, 13 über den sophistischen Gelderwerb ausgesprochen hat. 2 ) Aus Libanios' -Zcoxqütovq dnoloyla p. 43 ff. Reiske geht hervor, daß Poly- krates dem Sokrates auch den Vorwurf gemacht hat, er erziehe die Leute zur Faulheit {uQyovq (ptjoiv snolei UcjhqÜz^c). Xenophon übergeht diesen Punkt, da er ihn tatsächlich schon in dem Zusammenhang Mem. I 2, 56 f. abgefertigt hat. Nach den Ausführungen des Libanios bezog sich diese Anklage auf ein Doppeltes, einmal auf die sittliche Protreptik des Sokrates, sofern dieselbe die Menschen auffordere, für die Seele zu sorgen und alles andere darüber zu ver- nachlässigen. Und hier konnte der xart)yoQoq sich auf platonische wie anti- sthenische löyoi Zwxpccuxol berufen. Vielleicht aber hat er bestimmt den kurz nach 394 geschriebenen löyoq des Antisthenes im Auge, der die gemeinsame Vorlage des „Kleitophon" und der 13. Rede des Dio ist (vgl. bes. Kleitoph. 407A ff.). Der andere Beziehungspunkt der Anklage ist das Fernbleiben des So- krates von der aktiv-politischen Tätigkeit, worin ihm seine Jünger folgten, und auch in dieser Hinsicht bot die antisthenische wie die platonische Literatur lite- rarisches Material. Nicht unwahrscheinlich übrigens ist, daß Polykrates sich hier zugleich an ein verbreitetes Urteil hielt, das Sokrates als einen Nichtstuer und Tagedieb, der sein Handwerk vernachlässigte und um die Staatsangelegenheiten sich nichts kümmerte, brandmarkte. In keinem Fall bedarf dieser Klagepunkt noch einer besonderen Beleuchtung. Anführen möchte ich nur, daß Gorg. 515 E, wo dem Perikles zur Last gelegt wird, er habe die Athener ctQyovq xal ösilovq xal /.ä/.ovq xal (pilagyvQovq gemacht, wohl eine Reaktion auf diesen Anwurf des Poly- krates ist. Sokrates und die Religion. 427 die sokratische Linie verlassen. So viel aber wird man sagen dürfen: das staatlich -gesellschaftliche Ideal der „Politeia" ist in seinem wesentlichsten Teil dem Geist entsprungen, von dem So- krates' politische und soziale Tendenzen und Reformgedanken ge- leitet waren, und Plato hat ein höheres Recht, seinen Idealstaat an den Namen des Meisters zu knüpfen. Die Abweichungen — ihre Tragweite darf nicht unterschätzt werden — liegen durchaus in der Richtung, die Piatos Entwicklung, als er seine eigenen Wege ging, einschlug. Sie lassen sich darum wohl begreifen. Der Ausgangspunkt aber ist, das ist unverkennbar, jenes sokra- tische Gesellschaftsideal. Und nur von ihm aus werden Piatos politisch-soziale Gedankengänge ganz verständlich. Die Kehrseite allerdings ist, daß Plato den letzten und höch- sten Gesichtspunkt, der auch die politisch -sozialen Reformideen des Meisters beherrschte, sehr bald schon völlig aus den Augen verloren hat. Daß Sokrates darauf hinstrebte, die attische Kultur durch intellektuelle Vertiefung und eine diesem Zweck entsprechende Umgestaltung der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung auf die Höhe zu führen, daß er ferner von diesem sozialen Ziel aus den Inhalt des individuellen Lebensideals bestimmte, sofern er dem Individuum die Aufgabe stellte, in seinem Lebenskreis an der Lösung der kulturellen Aufgabe der Gesellschaft zu arbeiten, — das ist sicher. Allein diesen ganzen Inhalt, diese ganze Welt von Kulturgütern betrachtete er als etwas Relatives, das sich dem Ideal persönlicher Vollkommenheit unter- und einzuordnen habe. Und das letzte Ziel war ihm, die attische Kultur zu versittlichen, indem er ihre Träger zu autonomen und autarken Persönlichkeiten machte. 1 ) Sechstes Kapitel. Sokrates und die Religion. Den Untergrund der Persönlichkeit und der Wirksamkeit des Sokrates bildet eine stark ausgeprägte Religiosität. Man würde diesen Zug bei dem Manne, der mit der ganzen Energie seines l ) Vgl. hiezu noch einmal Apol. 30 B, Apol. 36 C und Kleitoph. 407 DE. 428 Das sokratische Evangelium. Wesens auf die Befreiung des sittlichen Lebens aus der Um- klammerung der Religion hinarbeitete, am wenigsten suchen. Und es ist wohl begreiflich, daß den Fernerstehenden die ganze Ten- denz seines Wirkens als eine religionsfeindliche erschien. 1 ) Die öffentliche Meinung scheint ihn denn auch in dieser Hinsicht ganz mit den Sophisten zusammengeworfen zu haben. In Wirklichkeit aber lag dem Sokrates der praktisch-skeptische Atheismus des Prota- gons ebenso fern wie der metaphysische, der aus dem Anschau- ungskreis der spekulativen Philosophie erwachsen war. Wie ihm seine Stellung zur Wissenschaft keinerlei Anlaß zum Bruch mit der Religion gab, so wurde ihm der Kampf gegen die theonome Auffassung der sittlichen Normen und der gesellschaftlichen Insti- tutionen ganz und gar nicht zu einem Kampf gegen den religi- ösen Glauben selbst; und ebensowenig bedeutete ihm der Ge- danke der Autarkie des Diesseits die Lösung der Beziehung zwischen Mensch und Gottheit. Ganz im Gegenteil: der sittliche Optimis- mus des Sokrates erhält erst durch den religiösen Hintergrund seine Vollendung. 2 ) Man darf nicht vergessen, daß die große Frage, auf die das sokratische Evangelium des sittlichen Lebens die Antwort geben will, auch eine religiöse Seite hat: das Problem des menschlichen Glücks ist zugleich das Problem der Theodicee. Nach herr- schender Anschauung ist der Mensch innerhalb des Herrschafts- bereichs seines Willens frei und darum auch für die aus seinem Wollen entspringenden Handlungen und deren Folgen allein ver- antwortlich. Selbstverschuldetes Leid ist also den Göttern nicht zur Last zu legen. Eine Erklärung fordert dagegen das religiöse Bedürfnis, das in der Gottheit die Urheberin oder doch Schützerin der sittlichen Lebensordnungen erblickt, für das Leiden des Schuld- losen und für das Glück des Lasterhaften, überhaupt für alle die ') Vgl. hiezu die sehr instruktive Stelle aus dem „Alkibiades" des Äschines, fr. 1 Krauß, Schluß, 55-65 (Kai fxrjöev y e/xov . . xaxayvtüg, (bg npog rag xv%ag xal xd 9fla npdyixaxa dtäoxöxwg xal d&scag £%ovxog, et . . . [trjdefiiav oi'ofxai xi)%rjv alxlav xovzcov xcäv hgywv yeyevfjödai . . .)• 2 ) Keine Seite der Persönlichkeit und Weltanschauung des Sokrates ist so umstritten wie seine Stellung zur Religion. Auf einige neuere Ansichten (be- sonders die von E. Meyer, E. Schwartz, H. Rock u. a.) geht R. Pöhlmann in seinem Aufsatz „Sokratische Studien", Sitzungsberichte der philos.-philol. und der hist. Kl. der Münchener Ak. 1906, S. 49 ff., genauer ein. Sokrates und die Religion. 429 Widersprüche zwischen Verdienst und Schicksal, die das Leben aufweist. An diesem Rätsel sind, wie wir wissen, die attischen Dramatiker schließlich erlegen: Sophokles weiß keinen Ausweg als die Resignation der frommen Ergebung, und Euripides ver- sinkt in einen verzweiflungsvollen Pessimismus. Von Diagoras von Melos aber wird erzählt, er sei über solchen Erfahrungen zum Atheisten geworden. Das sokratische Evangelium hat auch für das Problem der Theodicee die Lösung bereit. In ergreifender Schlichtheit ist dieselbe am Schluß der platonischen Apologie aus- gesprochen: r So viel steht fest, daß es für den guten Mann weder im Leben noch im Tod ein Übel gibt, und daß seine Sache in der Götter Hand ist." 1 ) Der sittliche Affekt gibt dem Menschen die Gewißheit, daß das Leben im Ideal dem Menschen das volle Glück schaffe und ihn über alle Übel hinaushebe, und daran knüpft sich der ethische Glaube, daß das menschliche Ideal ein ewiger Wert, ein absoluter Zweck sei; das religiöse Empfin- den aber gibt dem die Deutung, daß die sittliche Sache Gottes Sache sei. Damit wird nicht etwa das Ziel des sittlichen Handelns nun doch wieder zum göttlichen Gebot gestempelt. Die Auto- nomie der sittlichen Persönlichkeit bleibt unangetastet, und in die Motive des sittlichen Tuns findet die Rücksicht auf den gött- lichen Willen oder Befehl keinen Eingang: entscheidend bleibt das persönliche Interesse des Individuums. 2 ) So fällt der Gott- heit auch nicht etwa die Aufgabe zu, einen angemessenen Zu- sammenhang zwischen sittlicher Leistung und Glück zu gewähr- leisten und mit ihren Machtmitteln äußerlich herzustellen. Das Glück ist ja für Sokrates etwas tief Innerliches, das in der Seele des Menschen seinen Ursprung und seine Heimat hat: es liegt im sittlichen Leben selbst. Und das Gute trägt in sich selbst ') Apol. 41 CD: . . xal ev xi xovxo 6iavoeio9ai ak?]8-eg, oxt oix haxiv dvögl aya&o) xaxov ovöhv ovxs t,(üvxi ovxs xsksvxyoavxt, ovde a^islslxai vnb üscöv vd xovxov ngäyf/axa. Vgl. 35 D: vo(ilt,ü> xs yäg (sc. &sovg), w avSgsq 'A&qvaZoi, <oq ovöslq xwv efxüv xaxrjyöga>v, xal vfxZv inixgenco xal xcö #eo» xgZvai nsgl Sfxov on% (xtr/.et, ifiol xs dgtaxa ehai xal vßlv. 2 ) Auch bei den Kynikern ist der tugendhaft Lebende als ein Freund der Gottheit bezeichnet, vgl. Winckelm. S. 65, 49 (über Antisthenes), und Diog. L. VI 37. 51. 72, und doch liegt auch ihnen die theonomische Vorstellungsweise durchaus ferne, vgl. S. 48, Anm. 430 Das sokratische Evangelium. seinen Lohn, das Böse in sich selbst seine Strafe. Das vielmehr ist die Meinung, daß der sittliche Mensch jederzeit geborgen sei. Darin, daß der Mensch darauf angelegt ist, nach dem sittlichen Ideal zu streben und im sittlichen Leben sein Glück zu finden, sieht Sokrates eine göttliche Veranstaltung. Dieser Glaube zerstreut alle Bedenken. Nun kann die Gott- heit ohne Einschränkung als Urheberin und Hüterin aller sittlichen Güter anerkannt werden, und der Gedanke einer sittlichen Welt- ordnung läßt sich jetzt vorbehaltslos durchführen — in der Weise durchführen, daß dem sittlichen Ideal eine finale Bedeutung für die Weltwirklichkeit zuerkannt wird. Durch die religiöse An- knüpfung des sittlichen Zwecks an die kosmische Realität erhält das sittliche Streben des Menschen und der ethische Optimismus eine objektive, man möchte sagen: metaphysische Stütze. Sokrates selbst freilich hat diesen Gedanken nicht spekulativ ausgestaltet. Plato aber hat ihn später nach dieser Seite zu Ende gedacht. In der „Politeia" wird die Idee des Guten zum universalen kos- mischen Zweck. In diesem Gedanken hat der sokratische Opti- mismus seinen tiefsten spekulativen Ausdruck gefunden. Der- selben Spur aber istEuklid gefolgt, indem er das Gute zur all-einen Weltrealität machte. Der Meister selbst hat die sittliche Teleologie nach einer an- deren Seite weitergeführt. An den Gedanken der sittlichen Welt- ordnung, wie er ihn faßte, hat sich ihm ein Vorsehungsglaube geknüpft, der, mag er auch von Sokrates selbst in vorsichtigen Grenzen gehalten worden sein, über den Rahmen jener immanenten Finalität des sittlichen Zwecks um ein Beträchtliches hinausgreift. Sehr breit ist dieses Element der sokratischen Welt- und Lebens- anschauung bekanntlich von Xenophon ausgeführt worden. Die Gesprächsammlung läßt Sokrates einen eingehenden teleologischen Gottesbeweis mit stark anthropozentrischer Zuspitzung und nach- drücklichem Hinweis auf die Fürsorge der Götter für die Menschen führen. Und zwar in zwei verschiedenen Versionen. In der einen (Mein. I 4) wird zunächst aus dem Vorhandensein zweckmäßig aus- gestatteter Wesen, wie Menschen und Tiere solche sind, auf das Dasein eines weisen Schöpfers, der sich die Existenz von Lebe- wesen zum Zwecke setzte, geschlossen und derselbe nach der Analogie der menschlichen Seele als ein unsichtbares Wesen, das Sokratcs und die Religion. 431 vernünftig in der Welt waltet, gedacht. Im Anschluß hieran wird dann der Nachweis erbracht, daß die Götter den Menschen ihre spezielle Fürsorge zuwenden: das wird bezeugt nicht bloß durch die besonderen Vorzüge, die die Menschen vor allen übrigen Wesen voraus haben, sondern auch durch Orakel und Weis- sagungen, die ihnen zuteil werden, und vor allem durch das der menschlichen Seele eingepflanzte Gottesbewußtsein. Einen etwas anderen Charakter hat die zweite Version (Mem. IV 3). Hier wird die anthropozentrische Teleologie auf die Spitze getrieben: es wird gezeigt und bis ins Einzelnste durchgeführt, daß die Götter das ganze Weltall mit Rücksicht auf das Wohl der Menschen eingerichtet haben. Die Wiederholung zeigt, wie wichtig diese Gedanken dem Autor waren. Durchaus originell indessen sind sie keineswegs. Zwar ist auf die stofflichen Entlehnungen aus antisthenischen Vor- lagen kein Gewicht zu legen. Denn die Gottesbeweise selbst hat der Autor sicher nicht von dem Kyniker (S. 64f.). Dagegen be- rühren sich seine Ausführungen nahe mit Gedankengängen des platonischen Philebos und wohl auch des Timaios. Und daran ist kaum zu zweifeln, daß Xenophon wenigstens den Philebos ge- kannt hat. Das Bemerkenswerte ist nun aber, daß der Sokrates des Philebos selbst die theologisch-teleologischen Gedanken, die er entwickelt (28 Dff.), auf Vorgänger zurückführt und ausdrücklich erklärt, daß er sich hier an fremde Ausführungen anlehne. 1 ) Augen- scheinlich sind die „Vorgänger", von denen Plato in diesem Zu- sammenhang redet, auch die Hauptquelle, aus der Xenophons Theo- logie geschöpft ist. Wer sie aber sind, wissen wir nicht bestimmt. Zwar haben wir sie zweifellos im anaxagoreischen Kreis zu suchen. An wen von den Anaxagorasschülern aber zu denken ist — an ') S. oben S. 57,2. Phileb. 28DE: Ilöxeoov . . tu ^vfmavxa xal xööe xo xu).oi\uevov oXov imxQonevsiv (pujfxsv xtjv xov dköyov xal elxtj Svvafxiv xal xo bn% exv/ev, r] xdvavxla, xad-änep ol ngoa&ev ^/xaJv tlsyov, vovv xal <po6vrjoiv xiva ^avfxaoxTjV avvxüxxovoav diaxvßeoväv; Protarchos, der Partner des Sokrates, entscheidet sich für das letztere und führt den Gedanken noch weiter aus: xo öh vovv navxa öiaxoojxüv avxd cpdvai xal xf;q öxpewq xov xöofxov xal rßiov xal oe?.)]v7jg xal doxtgcuv xal näorjg zrjq neQKpoQÜq ä^iov .... Sokrates schlägt nun vor, sie möchten xolq sfxTtooo&ev sich anschließen — xal fxr fiövov oiwfje&a östv xu).).6xoia dvsv xivSvvov ?.eyeiv xx?.. 432 Das sokratische Evangelium. Diogenes von Apollonia? an Archelaos? oder an irgend einen anderen? — , vermögen wir nicht zu entscheiden. 1 ) Immerhin aber gehört vieles Einzelne und der ganze Tenor der beiden Argumentationen in den Memorabilien offenkundig Xenophon an. Wenigstens stimmen dieselben vortrefflich zu der ganzen Art, wie dieser sonst — sehr im Widerspruch mit dem antisthenischen Rationalismus — die Religiosität des Sokrates schildert. Wie es scheint, hat diese Teleologie auf die Zeitge- nossen tiefen Eindruck gemacht. Aristoteles hat in der populären Schriftstellerei seiner Jugend die Ausführungen der Memorabilien zum Vorbild genommen (vgl. S. 95). Und in der halb erbaulichen Theologie der Stoiker nehmen der Vorsehungsglaube und die anthropozentrisch-teleologische Naturbetrachtung, beide im Stile der Memorabilien gehalten, einen sehr breiten Raum ein. Wie viel von dieser ganzen Gedankenwelt ist nun genuin sokra tischen Ursprungs? Daß den Expektorationen des Autors der Memorabilien wirklich ein geschichtlicher Kern innewohnt, dafür ist uns wieder Plato ein sicherer Zeuge. In jener schönen Stelle der Apologie, in der der sittliche Optimismus des Sokrates auf einen religiösen Hintergrund gestellt ist, wird zur Bestätigung dafür, daß die Götter sich um die Angelegenheiten des guten Mannes sorgen, auf Sokrates' eigenes Schicksal verwiesen. „Auch was mir nun begegnet," läßt Plato den zum Tode Verurteilten aussprechen, „ist nicht von ungefähr so gekommen; vielmehr ist mir so viel klar, daß für mich jetzt Tot- und Erlöstsein das Beste ist". 2 ) Das ist ein Bekenntnis, das über die Gewißheit, daß denen, die im sittlichen Ideale leben, Tod und Schicksal nichts mehr an- haben können, zu dem Glauben an eine Vorsehung fortschreitet, die das Geschick des sittlich guten Menschen in allen Dingen zu dessen Bestem leitet. 3 ) Hierin liegt aber zugleich auch ein Finger- J ) Auf die Erörterungen von Dümmler, Joel, Th. Gomperz u. a. verzichte ich einzugehen. Über recht unsichere Vermutungen werden wir hier wohl nicht hinauskommen können. 2 ) An die S. 429, 1 zitierte Stelle schließt sich Apol. 41 D an: ovöe xa ifid vvv and xov avxofiäxov yeyovsv, alkä fxoi 67]Xöv ion xovxo, oxt ijör} xe&vävai xccl änrjXXüx&ttt- npayuäxcov ßiXxioxov t]v ßoi. Vgl. den Schluß des Kriton: 54E: "Ea xolvvv, tu Kqlxo>v, xcä 7iQaxxcofj.sv xavx%, ineidt] xavxtj 6 9eög v(ptj- yelxai, ferner Kriton 43D: et xavxtj xolq üeoiq (piXov, xavxq hoxca. 3 ) Vgl. Äschines fr. 1, Krauß, Schluß, wo Sokrates bestreitet ig l'aov . . . Sokrates und die Religion. 433 zeig dafür, inwieweit die teleologischen Einzelausführungen Xeno- phons im sokratischen Anschauungskreis einen Anknüpfungspunkt gehabt haben können. Teleologische Gedankengänge lagen dem Athener von damals nahe genug. Nicht umsonst hatte Anaxagoras, dessen Denken bekanntlich durchaus teleologisch orientiert war, Jahrzehnte lang in Athen gelebt. Zwar hatte er nicht einmal den Versuch gemacht, das Naturgeschehen aus Zweckkräften zu erklären. 1 ) Wohl aber war die Grundlage und der Ausgangspunkt seiner Nusmetaphysik die Überzeugung von der zweckmäßigen Einrichtung der Welt. Wir können uns vorstellen, daß diese Anschauung großes Auf- sehen erregt hat. Und hier hat offenbar auch Sokrates eingesetzt. Sein Gottesglaube ist im wesentlichen praktisch begründet: die Einigung, die die ethische Gewißheit, daß das sittliche Ideal Ewigkeitswert habe, mit dem religiösen Gefühl, daß dasselbe auch von der weltbeherrschenden Macht gewollt werde, in Sokrates' Bewußtsein eingegangen hat, ist zunächst eine rein gemütliche Erfahrung. Die Mittel aber, diese Erfahrung zu jenem meta- physischen Gedanken, der den Hintergrund der sokratischen Lebensanschauung bildet, zu verdichten, hat die anaxagoreische Teleologie geliefert. So erst ist es dem Sokrates möglich ge- worden, das sittliche Ideal als einen kosmisch-göttlichen Wert und Zweck zu denken. Daß er hiebei die Zweckbetrachtung von vornherein ganz anthropozentrisch gewandt hat, ist nur natürlich. Es läßt sich leicht ausmalen, wie Sokrates diesen Gesichts- punkt zunächst verwendet hat, um den Menschen seine Theodicee pädagogisch nahe zu bringen. Um ihnen zu zeigen, daß die weltbeherrschende Macht wirklich ein Interesse an dem sittlichen Glück des Menschen habe, daß ihrer Fürsorge die Veranstaltung zu danken sei, wonach der menschliche Wille das Verlangen und die Kraft hat, das sittliche Gut zu verwirklichen, kurz, um zu veranschaulichen, daß der sittliche Zweck des Menschen zugleich ein göttlicher Zweck sei, mag Sokrates darauf hingewiesen haben, daß auch sonst die geistige und physische Organisation der zolq ze TtovTjQolg xal zoZq x^r\oxoZq zag cvxccq ylyvea&ai, vielmehr glaubt zoZq xakoZq xäycc&oZq evoeßeozzQOiq ye ovoiv d(xelva> zu napä zcüv Qeüv V7lÜQX flv - ») Vgl. Phaidon 97 B ff. H. Maier, Sokrates. 28 434 Das sokratische Evangelium. Menschennatur und nicht minder die Einrichtung der Welt tausend Züge aufweisen, die von der speziellen Fürsorge der Gottheit für die Menschen Zeugnis ablegen. Und vielleicht haben jene Aus- führungen der xenophontischen Gesprächsammlung an solche Er- örterungen angeknüpft. 1 ) Indessen war die anthropozentrische Teleologie für Sokrates keineswegs bloß didaktisches Hilfsmittel. Ihm selbst mag die Möglichkeit, die sie ihm bot, seinem prak- tischen Gottesglauben eine theoretische, sozusagen wissenschaft- liche Anlehnung zu sichern, willkommen gewesen sein. Und er hat sie wohl in diesem Sinn ausgenützt. Doch das sind eben nur Vermutungen. Einen breiten Raum haben derartige Erwägungen in Sokrates' Gesprächen jedenfalls nicht eingenommen. 2 ) Dagegen hängt die Erweiterung des Vor- sehungsglaubens über das sittliche Gebiet hinaus selbst mit seinem religiösen Grundgedanken aufs engste zusammen. Die Träger des sittlichen Lebens' sind die einzelnen Individuen, und das sittliche Ziel ist nicht, wie später bei Plato, die Verwirk- lichung einer! außerpersönlichen Idee, sondern die Vervollkomm- nung der individuellen Persönlichkeiten. Dieser Zweck aber kann als ein göttlich-kosmischer nur in der Weise gedacht werden, daß der Gottheit ein fürsorgendes Interesse an dem sittlichen Wollen der einzelnen Individuen zugeschrieben wird. Betrachtet man aber einmal die Realisierung sittlicher Vollkommenheit und Seligkeit in menschlichen Individuen als ein göttliches Ziel, so ist der nächste Schritt der Glaube, daß die Gottheit Leben und Geschick der Menschen, die diesen Zweck in sich verwirklichen, in ihre be- sondere Obhut nehme und so lenke, daß alles, was ihnen wider- fährt, zu ihrem Besten dient. Von dieser Art war nach dem Zeug- nis der platonischen Apologie der sokratische Vorsehungsglaube. Ihm fügt sich auch, wie wir sehen werden, die Vorstellung, die *) Ausgeschlossen ist natürlich auch das nicht, daß Sokrates selbst die Quellen genutzt hat, aus denen nachher Xenophon seine Weisheit geschöpft hat. Einen Ansatz zu teleologischer Naturdeutung haben wir jedenfalls in Lach. 189 E f. gefunden (S. 179, 1). Und daran wird schwerlich zu zweifeln sein, daß das Naturdenken des Sokrates teleologisch orientiert war. 2 ) Sonst müßten sich deutliche Spuren von ihnen auch in der frühplatoni- schen Literatur finden. Ebenso hätte dann wohl die antisthenische Theologie einen anderen Charakter erhalten. Sokrates und die Religion. 435 sich Sokrates von seinem „Daimonion" gebildet hatte, durchaus ein. Und offenbar ist dieser Glaube auch der Ausgangspunkt der Entwicklung gewesen, die zu der Vorsehungslehre der Späteren geführt hat. Daß Sokrates selbst seinen Vorsehungsglauben noch weiter ausgedehnt und ausdrücklich alle Menschen in den Kreis der besonderen göttlichen Fürsorge einbezogen habe, ist nicht anzu- nehmen (vgl. S. 432, 2). Das war aber keineswegs ein Mangel an Konsequenz. Das lag vielmehr an der grundsätzlichen Stellung, die diesem Glauben im Ganzen der Lebensanschauung des So- krates eingeräumt war. Daß der Gute in Gottes Hand sei, das stand ihm gefühlsmäßig fest. Weiter in dieser Richtung zu gehen, empfand er kein Verlangen. Und wenn er je gelegentlich , was keineswegs ausgeschlossen ist, solche Fäden dialektisch weiter spann, so hat sicher seine Ironie diesem Spekulieren kritischen Einhalt getan. Es läßt sich nicht verkennen, daß der Vor- sehungsglaube des Sokrates, ganz zu Ende gedacht, den Schwer- punkt des sokratischen Evangeliums sehr wesentlich hätte ver- schieben müssen. In Wirklichkeit ist hievon nichts zu merken. Die sittliche Autarkie ist ihm nach wie vor der letzte Ankergrund alles Glückstrebens und aller Lebenszuversicht. Und es fällt ihm nicht ein, für den erlösungsbedürftigen, heilsuchenden Menschen in der religiösen Anlehnung an die Gottheit und die göttliche Hilfe einen festen Halt zu suchen. Das sittliche Leben selbst ist das Heil und die Erlösung. Der sokratische Optimismus hat, das darf man nicht vergessen, seine Begründung durchaus im sitt- lichen Gefühl, und der sokratische Glaube ist in seinem tiefsten Grund ein sittlicher Glaube. Kurz, die „Philosophie" des So- krates ist und bleibt ein Evangelium des Diesseits. Zu prägnantem Ausdruck kommt dies besonders auch in der Art, wie Sokrates sich mit den Unsterblichkeitshoffnungen abfindet. Daß er, um Tod und Todesfurcht zu meistern, einer solchen Stütze nicht bedarf, wissen wir: der sittliche Mensch ist dessen gewiß, daß der Tod kein Übel ist, das ihm etwas anhaben könnte. Das genügt. So sorgt er sich nicht sonderlich um die Frage, was nach dem Tode komme. Die Spekulationen über ein jenseitiges Leben, die der platonische „Phädo" dem sterbenden Sokrates in den Mund legt, liegen weltweit ab von dem Anschau- 28* 436 Das sokratische Evangelium. ungs- und Interessenkreis des wirklichen Sokrates. Für den letzte- ren gab es — hierin dürfen wir wieder unbedenklich der Füh- rung der „Apologie" folgen 1 ) — zwei Möglichkeiten: entweder ist der Zustand nach dem Tod ein langer, träum- und bewußt- seinsloser Schlaf, und ein solcher Zustand ist wahrlich nichts Schlimmes; oder aber hat der Volksglaube Recht, und der Tod ist nichts als eine Übersiedlung der Seele an einen anderen Ort, eine Auswanderung in den Hades, wo die großen Männer der Vergangenheit alle versammelt sind, also ein Übergang in ein anderes Leben, das im Vergleich mit dem Erdenleben nur als ein besseres und schöneres gedacht werden kann. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten eine Entscheidung zu gewinnen, hat So- krates keinen Drang. Wahrscheinlich ist, daß ihm selbst die erste mehr einleuchtete; daß er aber die zweite irgend einmal ausdrück- lich abgelehnt hätte, ist nicht anzunehmen. 2 ) Über die Jenseits- träume der Mystiker ging er stillschweigend hinweg: wir haben auch sonst nirgends eine Spur, daß er sich mit ihnen ernstlich auseinandergesetzt habe. Sein Wissenstrieb reichte nicht bis in diese Regionen. Und man kann nicht einmal sagen, daß skep- tische Resignation ihn von solchen Grübeleien zurückgehalten habe. Er hielt sich an das Diesseits. Darum mühte er sich nicht um die Geheimnisse eines möglichen Jenseits. 3 ) Unter solchen Umständen wird man sich darüber nicht wun- dern können, daß Sokrates der dogmatischen Fassung und Fixie- rung seines Gottesglaubens recht wenig Aufmerksamkeit gewid- 1 ) Apol. 40Cff., vgl. 29Af. und 42A. 2 ) Daß im Kriton 54 BC nur die zweite Möglichkeit berücksichtigt wird, erklärt sich aus dem Zusammenhang und Zweck der ganzen Ausführung; über- dies sind hier die Nomoi die Redenden, die sich naturgemäß auf den Standpunkt des gewöhnlichen Glaubens stellen. Eine weitergreifende sachliche Differenz gegenüber der Darstellung der ,.Apologie" liegt nicht vor. 3 ) Ganz ähnlich dachte, wie es scheint, Antisthenes, wenn man den über- lieferten dnocp&eyfxaza Winckelm. S. 64, 40—42 (Diog. L. VI 4. 5. 6) glauben darf. fr. 42: zolq ßovXofjtivovq d&avüzovq slvai e'(pt] delv £jyi> eiasßwq xal öt- xaicoq, das heißt natürlich nur: diejenigen, die Unsterblichkeit erstrebten, wies er an, fromm und gut zu leben — und sich um Weiteres nicht zu sorgen; also genau der sokratische Standpunkt. Vgl. 41: y Eyajzri9siq zl (taxagicöiepov iv dvQ-Qwnoiq t<prj, eviv/ovvza dno&avelv, und den Ausspruch gegenüber dem orphischen Priester in 40. Sokrates und die Religion. 437 met hat. An der Gewinnung eines metaphysisch ausgeprägten und vollendeten „Gottesbegriffs" lag ihm lediglich nichts. Von Neu- gier gegenüber der Macht, die hinter oder über der Welt steht, war er nicht geplagt. Seine „Theologie" bleibt bei dem stehen, was sich ihm aus der unmittelbaren Gefühlserfahrung und der teleo- logischen Reflexion ergeben hatte. Daß es eine göttliche Macht gebe, die über der Natur und dem Menschenleben waltet, dessen ist er sicher. Beweis hiefür ist ihm die Ordnung und Zweckmäßigkeit, die sich in der Einrichtung der Welt, zumal in der Ausstattung des Menschen, verraten und auf eine unsichtbare, vernünftig und zweck- tätig schaffende Gewalt zurückweisen. Daß diese Macht ferner ein besonderes Interesse an dem sittlichen Menschen nimmt und, allweise und allgegenwärtig, wie sie ist, 1 ) den Guten ihre spe- zielle Fürsorge angedeihen läßt, ist ihm unmittelbar gewiß. Das ungefähr ist der Kern der sokratischen Dogmatik. Weiter hat So- krates die Metaphysik des Überirdischen schwerlich zu führen ge- sucht. Was die Memorabilien ihn in 14 und IV 3 darüber hinaus über das Wesen und die Eigenschaften der Gottheit sagen lassen, ist offenkundig xenophontische Weisheit. In den frühplatonischen Schriften findet sich hievon keine Spur. Und es war gewiß nicht — wie uns Xenophon, der den Meister doch selbst unbedenklich theologische Spekulation treiben läßt, glauben machen will 2 ) — Skepsis oder gar religiöse Skrupulosität, was ihn von weiterem Vordringen in die Regionen der Gottheit abgehalten hat. Viel- mehr reicht sein Wunsch, zu wissen, hier genau so weit, als dies durch sein praktisches Lebenswerk gefordert war. Und sein meta- physisches Interesse geht über den Rahmen der theologischen Vorstellungen, die ihm durch seinen sittlichen und religiösen Glau- ben nahegelegt waren, nicht hinaus. Eben darum hat er auch kein Bedürfnis gehabt, sich mit den philosophischen Speku- lationen über Welt und Gott so oder so abzufinden. Das alles sind ihm wissenschaftliche Theorien, über deren Wert oder Un- wert, Wahrheit oder Falschheit eine Entscheidung zu suchen er ') So in der Schutzschrift Mem. I 1, 19. Daß diese Äußerung vermutlich einen sokratischen Gedanken enthält, dazu s. unten S. 439 f. Auf die Allwissen- heit der Gottheit ist auch in der platonischen Apologie 42 A hingedeutet: 6nö- tfQoi de tj fxujv SQ/ovxai tnl äfieivov npäyua, adqXov navxl nX))v tf xä> 9e<ji. 2 ) Schutzschrift Mem. I 1, 11 ff., Gesprächsammlung IV 7, 6. 438 Das somatische Evangelium. sich nicht berufen und durch seine Lebensaufgabe aufgefordert fühlte. Sokrates hat sich zu den Göttern des athenischen Staats bekannt. Und er hat hiezu ohne Zweifel dasselbe Recht gehabt wie die große Mehrzahl der Gebildeten im damaligen Athen. Der offizielle Kult war in Athen, wie in den meisten griechi- schen Politien, weitherzig und tolerant. Ein Bedürfnis, die Glau- bensvorstellungen in feste dogmatische Formeln einzuzwängen, hat die griechische Religiosität nie gehabt. Ein solches hat sich auch später nicht eingestellt. Die religiöse Phantasie der Griechen schöpfte Jahrhunderte lang aus den dichterischen und künstlerischen Darstellungen der heimischen Mythologie Nahrung und Anregung. Schon das ließ eine Neigung, die Phantasiege- bilde des Glaubens begrifflich-lehrhaft festzulegen, überhaupt nicht aufkommen. Eine Kirche oder Priesterkaste aber, die über der Reinheit des Glaubens zu wachen sich berufen gefühlt hätte, gab es in Griechenland nicht. So war es hier zu keinem Dogma, keinem Bekenntnis und keiner Orthodoxie gekommen. Die Glaubensvor- stellungen hatten vielmehr eine weitgehende Unbestimmtheit, Flüssigkeit und Elastizität. Das erleichterte dann auch den Über- gang, als die Kritik, wie sie von Philosophen und Dichtern ge- übt wurde, eine Umbildung der traditionellen Glaubensgebilde teils in metaphysischer, teils in ethischer Richtung in Angriff nahm. In Athen selbst blieb man länger als anderswo fromm im alten Stil. Zwar die Tendenz, den Götterhimmel der Staatsreligion zu versittlichen, hatte frühzeitig schon eingesetzt. Dagegen hatte die philosophische Polemik, die im jonischen Kulturkreis heimisch war, in Athen lange keinen Eingang gefunden; ja man setzte dieser jonischen Decadence mit Bewußtsein das Kraftgefühl ungebroche- ner Religiosität entgegen. Aber auch als die neuen Ideen ihren Weg in die attische Gesellschaft gefunden hatten, kam es in dieser zu keinem förmlichen Bruch mit dem Glauben des Volks. Eine im ganzen vorsichtige Anpassung der Göttervorstellungen an die philosophischen Begriffe, und im Zusammenhang damit eine wei- tere Erweichung und Verflüchtigung derselben — das war alles. Gewiß, zwischen den Altgläubigen, die sich ebenso in den Reihen der vornehmen Familien wie in der breiten Masse der Ungebil- deten fanden, und den religiös Aufgeklärten lag eine breite und Sokrates und die Religion. 439 tiefe Kluft. Es ist auch nicht zu verkennen, daß jene den Abstand deutlich fühlten, und daß sich in ihren Reihen von Zeit zu Zeit die Neigung regte, den Modernen als Abtrünnigen entgegenzutreten. 1 ) Allein die eigentlich orthodoxen Fanatiker, deren es ohnehin nicht viele gegeben zu haben scheint, wurden, wie aus dem platonischen „Euthyphron" hervorgeht, in den maßgebenden Kreisen nicht ernst genommen. Die Fortgeschrittenen selbst andererseits hatten — und das war besonders bedeutsam — immer noch das Bewußtsein, mit dem angestammten Glauben in innerem Zusammenhang zu stehen, und den Willen, diesen Zusammenhang festzuhalten. Derart ungefähr war auch die Stellung des Sokrates zur Staats- religion. Zwar wenn wir auf die xenophontische Schutzschrift — von der Gesprächsammlung zu schweigen — hören wollten, müßten wir den Meister als einen Altgläubigen ansprechen, der sich dem hereinbrechenden Unglauben mit Nachdruck entgegen- gestellt hätte. Allein daß Xenophon hier in der apologetischen Beschönigung, milde gesprochen, des Guten zu viel getan hat, ist ja außer Zweifel. 2 ) In derselben Schutzschrift findet sich eine Notiz, die zu die- sem Bilde wenig passen will. Da heißt es (Mem. I 1, 19): „So- krates war überzeugt, daß die Götter in anderer Weise für die Menschen sorgen, als das Volk glaubt; die gewöhnliche Meinung ist, daß die Götter manches wissen, manches aber nicht; Sokrates dagegen war der Ansicht, daß die Götter alles wissen, Äußerungen, Handlungen und Gedanken, daß sie überall gegenwärtig seien und den Menschen über alle menschlichen Dinge Zeichen geben." Der Schluß der Stelle verrät die eigenartig xenophontische Apo- logetik. Das Übrige scheint aus einer antisthenischen Quelle ge- flossen oder doch durch eine solche angeregt zu sein. Nach einem Fragment, das wir von Antisthenes haben, vertrat dieser die An- *) Vgl. Diopeithes, den religiösen Fanatiker, der das Psephisma betr. An- wendung der Eisangelie auf Asebieklagen veranlaßte (Ende der dreißiger Jahre). Daß es religiöse Motive waren, von denen sein Vorgehen bestimmt war, ist nicht zu leugnen, so gewiß der Prozeß gegen Anaxagoras selbst, auf den das Pse- phisma des Diopeithes die erste Anwendung fand, auf politische Beweggründe zurückzuführen ist, vgl. A. Menzel, Untersuchungen zum Sokratesprozeß, Sitzungs- berichte der Wiener Ak. phil.-hist. Kl. 145. Bd., 1903, II S. 26 f. 2 ) Vgl. R. Pöhlmann, a. a. O. S. 112 ff. 440 Das sokratische Evangelium. sieht, daß Gott niemand ähnlich sei, weshalb auch niemand ihn aus einem Bilde erkennen könne. Nach einer anderen Version soll die antisthenische Äußerung gelautet haben: „Aus einem Bilde wird er (Gott) nicht erkannt, mit Augen nicht gesehen, er gleicht niemand; deshalb kann niemand ihn aus einem Bilde kennen lernen." 1 ) Die ursprüngliche Tendenz dieser Bemerkung kehrte sich zweifellos gegen die anthropomorphistischen Gottesvorstel- lungen. Eine ähnliche Spitze hat aber unsere Xenophonstelle. Und so viel jedenfalls werden wir annehmen dürfen, daß Sokrates von seinem Gottesglauben aus scharfe Kritik! an der Ver- men schlichung der Gottheit durch die Volksreligion und über- haupt an der ganzen Art, wie diese sich ihre Götter dachte, ge- übt hat. Auch im platonischen „Euthyphron" wird ausdrücklich hervorgehoben, daß er die Mythen und Sagen, in denen den Göttern Unsittlichkeiten und Schändlichkeiten zugeschrieben werden, hart verurteilt habe, und Sokrates bemerkt hier, halb scherzhaft, daß er vielleicht darum vor Gericht gezogen worden sei. 2 ) Andererseits hat er für die rationalistische Umdeutung der mythischen Gestalten und Erzählungen nicht viel übrig gehabt. In der Szenerie des Phaidros (229 B ff.) kommt Sokrates mit Phaidros an den Ort, wo nach der Sage Boreas die Oreithyia ge- raubt haben soll, und er wird hier von seinem Begleiter gefragt, ob er diese Erzählung für wahr halte. Sokrates antwortet, auch wenn er mit den Gelehrten nicht daran glaube, könne er nicht wohl in Verlegenheit kommen. Denn dann könne er die Sache vernünftig auslegen, und sagen, ein Windstoß des Boreas habe die Oreithyia, als sie mit der Pharmakeia spielte, über die nahen Felsen hinabgestoßen; so sei sie ums Leben gekommen, und nun habe man erzählt, sie sei von Boreas geraubt worden. Derartige Deutungsversuche nun, meint Sokrates, seien etwas ganz Hübsches, ») Winckelm. S. 23 II, vgl. S. 53 XVIII, Bernays, Lucian und die Kyniker S. 31 f., S. 94. Wenn übrigens in der ersten Stelle (Clem. AI., Protr. VI 71, 2 Stählin) ausdrücklich bemerkt ist, dieser Gedanke sei kein Kvvixöv, hier spreche vielmehr Sokrates' berühmter Schüler, so ist dies natürlich nur ein Werturteil des Clemens. *) Euthyphr. 6A: ~Aod ys, tu Ev&vtpotov, xovx' soxiv, ob k'vsxa xtjv yoatpijV (psvyco, ort xa xoiavxa — vgl. die vorhergehenden Ausführungen Euthyphrons — insiöäv xiq ntgl xtöv &ecüv liyg, övoxeptöq ntoq anoösyofxai; öi ä 6rj, <vq eoixe, <pr\ozi xiq ßs s^afiaQxäveiv. Sokrates und die Religion. 441 aber es gehöre dazu ein geschickter, arbeitsamer Mann, dessen Los nicht eben beneidenswert sei; denn ihm liege es ob, weiter- hin auch die Gestalt der Hippokentauren zurechtzurücken, und ebenso die der Chimäre, und dann stürme ein Heer von Gorgonen und Pegasen auf ihn ein und unfaßbare Haufen sonstiger un- möglicher Wunderwesen. Wer nun an diese Dinge nicht glaube und sie auf ihre historische Grundlage zurückführen wolle, der befasse sich mit einer etwas groben Weisheit und brauche zudem viel Zeit. „Ich selbst", erklärt Sokrates, „habe diese Zeit nicht, der Grund aber ist der: noch bin ich nicht so weit, nach dem delphischen Spruch mich selbst zu kennen; und andere Dinge zu erforschen, solange ich in dieser Hinsicht noch nicht Bescheid weiß, halte ich für lächerlich; so lasse ich diese Dinge auf sich beruhen, halte mich darin an den landläufigen Glauben (mtdöjtitvog t(v vofii'QofitvM tieqI clvtwv) und erforsche nicht sie, sondern mich selbst . . ." Der „Phaidros" liegt zeitlich über den Kreis der sokratischen Schriftstellerei Piatos weit hinaus, und vielleicht will der Autor mit dieser Polemik in der Einleitung zeitgenössische Erscheinungen treffen. Aber die Begründung, mit der er den Meister die ratio- nalistischen Auslegungskünste ablehnen läßt, weckt ganz den Ein- druck, daß er hier wieder einmal den historischen Sokrates ins Spiel ziehen will: Sokrates war durch die große sittliche Arbeit, der er sein Leben geweiht hat, so ganz in Anspruch genommen, daß er für solche Dinge keine Zeit hatte. 1 ) Die „natürlichen" ') Pöhlmann, a. a. O. S. 103 ff. bestreitet gegen E. Meyer, daß man die in der Phaidrosstelle entwickelte Anschauung für den historischen Sokrates in An- spruch nehmen dürfe. Schwerlich mit Recht. Daß Plato hier mit dem historischen Sokrates operieren will, zeigt die Bemerkung 229 E f. Vermutlich polemisiert er in erster Linie gegen Antisthenes: in der kynischen Schule blühte die ratio- nale Mythendeutung. Und wenn Antisthenes, wie es nicht unwahrscheinlich ist, auch in dieser Hinsicht sich als Sokratiker gebärdete, so ist es begreiflich, daß Plato seinerseits ausdrücklich auf den historischen Sokrates Bezug nimmt. Nimmt man das an, so ist man darum keineswegs genötigt, die weiterhin im Phädrus entwickelten Gedanken ebenso auf den wirklichen Sokrates zu beziehen: auch beim Phädo tragen wir kein Bedenken, in der Szenerie einen geschichtlichen Kern anzuerkennen, ohne daß es uns andererseits einfällt, die philosophisch- mystischen Spekulationen dieses Dialogs mit dem historischen Sokrates in Ver- bindung zu bringen. Daß Plato jetzt noch religiöse Anschauungen des wirklichen Sokrates berührt, kann aber um so weniger auffallen, als er sich ja auch nicht 442 Das sokratische Evangelium. Deutungen der Sagen und Mythen mochten ihm, wohl noch mehr als die Versuche der zeitgenössischen Naturphilosophie, einzelne Naturerscheinungen zu erklären, als Spielereien eines müßigen Scharfsinns erscheinen. In jedem Fall aber hatte er selbst Wich- tigeres zu tun. Wenn er aber in seiner ironisch ablehnenden Art weiter sagt, er stelle sich in diesen Dingen einfach auf den Standpunkt des gewöhnlichen Glaubens, so liegt darin natürlich nicht, daß er sich der Prüfung grundsätzlich enthalten habe. Daß er vielmehr die heimischen Göttervorstellungen einer tief einschneidenden Kritik unterzog, wissen wir. Eine Erinnerung hieran lag wohl auch der Anklage, die ihm schuld gab, nicht an die Götter des Staats zu glauben, und dem Gerücht, das ihn gar des Atheismus zieh, zu Grunde. Und Plato selbst war weder imstande noch gewillt, in seiner Verteidigung diese Unterlage der Verdächtigungen anzu- zweifeln. 1 ) Sokrates mußte sich im Interesse der Sache, für die er die Menschen gewinnen wollte, mit den Volksanschauungen über die Gottheit auseinandersetzen. Aber er tat auch dies nur scheut, das sokratische Daimonion wesentlich in der früheren (historischen) Ge- stalt in seinen späteren Dialogen auftreten zu lassen. Fraglich kann in unserem Fall nur sein, ob Antisthenes oder Plato der zuverlässigere Zeuge für den histori- schen Sokrates ist. Und da werden wir uns für Plato entscheiden müssen. Es handelt sich hier wieder um denNomos: rd vofiLQöfievov fällt in die Sphäre des Nomos. Wir wissen aber, daß es ein Mißverständnis von Antisthenes war, wenn er meinte, Sokrates habe sich dem vöpoq vielleicht äußerlich bequemt, ihn aber prinzipiell verworfen. Wenn übrigens Sokrates hinsichtlich der Mythen sich auf den Standpunkt des vö/xog stellte, so hieß das natürlich noch nicht, daß er von ihrer Wahrheit in vollem Umfang überzeugt war Vgl. das Folgende. ') Hier ist daran zu erinnern, daß Plato in der „Apologie" den Hauptpunkt der gerichtlichen Anklage, den Unglauben des Sokrates gegenüber den Göttern des Staats, geflissentlich umgangen hat (vgl. bes. Apol. 26 C). Möglich war das, weil Plato im Ernst doch nicht die gerichtliche Verteidigungsrede des Sokrates wiedergeben wollte (S. 105 f.). Und vielleicht hatte er bestimmten Anlaß, den Toten gegen den allgemeinen Vorwurf des Atheismus, den ihm die öffentliche Meinung immer noch machte, in Schutz zu nehmen. Der letzte Grund für das völlige Ignorieren des eigentlichen Anklagepunktes, der ja doch sicher auch jetzt noch wiederholt wurde, liegt aber wohl darin, daß Plato nicht ohne Vorbehalt sagen wollte und konnte: Sokrates glaubte durchaus an die Götter des Staats. Auch das feierliche: vo/xl^w (sc. 9s ovq) .. d>q ovdslq xwv i(x<Lv xaxr\yoQwv, 35D, bezieht sich nicht ausdrücklich auf die Götter des Staats (es weist auf das vorher- gehende u>q &sovq ov vo/xl^w zurück). Sokrates und die Religion. 443 in dem Maß und dem Sinn, wie es durch seinen Zweck gefor- dert war. In mehr als einer Hinsicht ging er von hier aus weiter als irgend einer der spekulativen Philosophen. Allein Selbstzweck war ihm die Kritik nie. Und kritische Erörterungen, die nur durch polemische Rücksichten oder durch theoretische Interessen be- stimmt waren, lehnte er ab. Er hat sich nie ein Geschäft daraus gemacht, religiöse Aufklärungspropaganda zu treiben. Ihren letzten Grund aber hat die pietätvolle Schonung, mit der er den religiösen Glauben des Volks anfaßte, doch wohl da- rin, daß er an demselben auch ein positives Interesse hatte. Eben hierin dachte er ganz anders als die Sophisten. Die letzte- ren waren, wie wir wissen, durch praktische Motive veranlaßt, den traditionellen Götterglauben radikal zu beseitigen. Sokrates da- gegen hatte, das müssen wir festhalten, seine ganze Arbeit dem großen Lebensproblem gewidmet, an dem die Besten seines Volks sich vergeblich gemüht hatten. Und dieses Problem war zu einem wesentlichen Teil ein religiöses. Er selbst zwar hat den Schwerpunkt in das sittliche Leben verlegt. Aber auch seine Lösung vollendet sich in einem religiösen Glauben. Und er behält dabei das Bewußtsein, noch auf dem Boden des heimischen Glaubens zu stehen. Das gibt seiner Kritik, so weit sie auch geht, etwas Konservatives. Ein antisthenisches Wort gibt uns indessen noch zu den- ken. In seinem „Physikos" soll Antisthenes gesagt haben, der Satzung d. i. dem Volksglauben nach (y.aza voliov) seien es viele Götter, in Wirklichkeit {y.aza (pvaiv) nur einer. *) Daß nun auch diese These schließlich auf Sokrates zurückgeht, ist, wieder schon aus inneren Gründen, zu vermuten. So kann Sokrates wirklich ge- sprochen haben. Daß er sich die weltbeherrschende Macht, in der er die Trägerin der von ihm vorausgesetzten sittlichen Weltordnung erblickt, zuletzt als eine gedacht, ist ebenso gewiß, wie es wahr- scheinlich ist, daß er gelegentlich diese eine Gottheit den vielen Göttern des Volksglaubens gegenübergestellt hat. Allein während Antisthenes hier wieder im Namen der sokratischen Freiheit den Nomos verwirft und sich ausschließlich an den einen Gott hält, *) Philodem., negl svosß. ed. Gomp. p. 72: nag *Avxio&£vei <J' iv nev x<p 4>vaix(ä ?.ey£Tcu xo zaxa vtfxov fivai nokkovq &£ovq, xaxa 6s <pvoiv eva, vgl. Cicero, de nat. deor. I 13, 32. 444 Das sokratische Evangelium. hat Sokrates selbst auch hier den Nomos in seiner Weise fest- gehalten und neben dem einen Gott den vielen Göttern des Volks- glaubens einen Platz vergönnt. Einen Monotheismus jedenfalls, wie er uns von der christlichen Theologie und der durch diese bestimmten neueren Philosophie her geläufig ist, dürfen wir Sokrates nicht unterschieben. Einen Gegensatz zwischen Einheit und Vielheit gab es für die Gebildeten unter seinen Landsleuten im Gebiet des Göttlichen nicht. Man ahnte hinter der Vielheit den einen Gott, 1 ) konnte sich aber doch die Einheit wieder nur in der lebendigen Mannigfaltigkeit der Mehr- zahl vorstellig machen. Diese Vorstellungsweise wurde durch die Philosophie nur bestätigt. Auch die Monisten und Singularisten unter den Philosophen ließen in und unter der einen Gottheit unbedenklich eine Mehrheit von Naturkräften zu, die sie gleich- falls als Götter betrachteten und meist zu den Göttern des Volks- glaubens in bestimmte Beziehung brachten. Eine streng mono- theistische Gottesvorstellung ist nur da möglich, wo Gott qualitativ und dynamisch ganz über die Welt hinausgehoben wird. Das traf auf griechischem Boden nicht zu. Der eigentliche Dualismus von Gott und Welt liegt der Religion der Griechen so fern wie ihrer Philosophie. Und eine personifizierende Vergötterung der Naturgewalten wie der kulturell -ethischen Realitäten und Ideale war um so leichter möglich, als dem Griechen der persönlich zu- gespitzte Begriff der Persönlichkeit, wie wir ihn heute haben, völlig fehlte. Einen Polytheismus dieser Art hat auch Sokrates sicher nicht abgelehnt. In den frühplatonischen Schriften — von Xeno- phon nicht zu reden, dessen Zeugnis hierin freilich nicht ins Ge- wicht fallen kann — wechseln in bunter Abwechslung und ohne Prinzip singularische und pluralische Bezeichnungen für die gött- liche Macht. In der platonischen Apologie ferner wirft Sokrates seinem Ankläger Meletos fragend ein: „Also glaube ich — nach deiner Meinung — auch nicht, wie andere Menschen, daß Sonne und Mond Götter seien? 1 ' Und die Frage könnte so nicht gestellt sein, wenn der Fragende sie nicht nach des Autors Meinung für sich selbst hätte bejahen können. 2 ) Zwar hat Sokrates gewiß die 1 ) Eine Anknüpfung bot ja hiefür auch die monarchische Stellung des Götterkönigs Zeus. 2 ) Apol. 26 CD. Die ganze Argumentation würde hier ihre Wahrhaftigkeit Sokrates und die Religion. 445 Manier, die Götter des Volksglaubens an die metaphysischen Be- griffe der Philosophie anzulehnen, so wenig mitgemacht wie die natürliche Deutung der Mythen. Allein offenkundige Naturmächte, wie z. B. die Sonne und den Mond, als Götter zu betrachten, hat er keinen Anstand genommen. So konnte er sich ungeheuchelt und ohne davon eine Beeinträchtigung seines Glaubens an die eine allbeherrschende Weltmacht, die für ihn allerdings kein bloßes Abstraktum war, zu besorgen im Prinzip zu den vielen Göttern der Staatsreligion bekennen, so viel er auch an den einzelnen Gestalten des offiziellen Götterhimmels auszusetzen haben, und so zweifelhaft es ihm sein mochte, ob diese Götter alle wirklich als partielle Erscheinungsformen der einen Gottheit gelten können. Die Anerkennung der Staatsgötter betätigte Sokrates auch in der Praxis. Es ist bezeugt, daß er sich dem religiösen Nomos, den kultischen Pflichten, wie Staatsgesetz und Brauch sie vorschrieben, gewissenhaft gefügt hat. 1 ) Und zwar scheint dies verlieren, wenn Plato diesen Glauben nicht bei Sokrates voraussetzen konnte. Sie unterscheidet sich ja auch charakteristisch von der ironischen Auseinander- setzung 27Bff. ') Unser einziger direkter Zeuge ist hier allerdings Xenophon, und es empfiehlt sich zunächst, von der Gesprächsammlung abzusehen und sich auf die Schutzschrift und etwa die Apologie zu beschränken. Aus diesen Berichten aber geht vor allem das hervor, daß auch die gerichtlichen Ankläger dem Sokrates Verletzung oder Vernachlässigung der kultischen Pflichten überhaupt nicht vor- geworfen haben, was sie sicherlich nicht unterlassen hätten, wenn sie hiezu Grund gehabt hätten. Xenophon beginnt seine Auseinandersetzung in der Schutz- schrift (I 1,2) und in der Apologie (§ 11), indem er zur Widerlegung der An- klage, daß Sokrates an die Götter des Staats nicht glaube, auf die Tatsache hin- weist, daß derselbe oft genug zu Hause und auf den öffentlichen Altären seine Opfer dargebracht habe, und der Autor behandelt diese Tatsache als etwas ganz Notorisches ((pavfQog r)v Mem., xal äXXoi . . hwQcvv xav avzbq Mekrjxoq, et sßov- ?.ero); er bemüht sich auch weiter nicht, Belege hiefür beizubringen; er war, wie es scheint, in dieser Hinsicht der Zustimmung seines Publikums sicher. Übrigens findet sich auch bei Plato (Apologie, Kriton, Euthyphron) keine Spur, daß die Ankläger dem Sokrates diese kultische Korrektheit bestritten hätten. Ist also auch die ehauptung Xenophons am Schluß der Schutzschrift 12,64: <pav£- gdc r t v &eQccnevtuv xovg 9eoiq (xüXiaza ndvxmv avO-pwitcuv eine apologetische Übertreibung, so kann doch als sicher gelten, daß Sokrates sich dem religiösen Brauch einwandfrei gefügt hat. Und wenn wir hiefür auch bei Plato keine positive Bestätigung finden — auf die Anrufung des Helios Symp. 220D und auf den Hahn, den der platonische Sokrates am Schluß des Phädo dem Askle- 446 Das sokratische Evangelium. nicht lediglich eine Konsequenz seiner allgemeinen Stellung zum Nomos gewesen zu sein. Hätte er den offiziellen Kultus für aber- gläubisch oder auch nur für überflüssig gehalten, so hätte er sich auf die Dauer der Pflicht nicht entziehen können, in den gesetz- lichen Formen auf seine Abschaffung hinzuarbeiten. Allein er scheint sein Verhalten — vielleicht ist in dieser Hinsicht an dem xenophontischen Bericht etwas Wahres — sich noch anders zu- rechtgelegt zu haben. Pflicht der Menschen ist es, der göttlichen Macht, der sie alles verdanken, den schuldigen Tribut der Ehr- furcht und Dankbarkeit zu zollen. Wie dies freilich zu geschehen habe, darüber sind wir im Dunkeln. Da bleibt nur übrig, dem Ge- setz des Staates und dem frommen Brauch der Väter zu folgen. 1 ) pios geopfert wissen will, lege ich nicht dasselbe Gewicht wie Zeller II l 4 S. 70, 2 — , so muß man doch sagen, daß man aus der ganzen frühplatonischen Literatur einen Eindruck gewinnt, der zu jenem Bilde durchaus stimmt; von dem antisthenischen Rationalismus, der die religiösen Gebräuche verhöhnt, ist der frühplatonische Sokrates jedenfalls weit entfernt. ') In der Gesprächsammlung erklärt Xenophon wiederholt, Sokrates habe gelehrt, man solle nach der delphischen Vorschrift die Götter vö/xu) nöXewq ver- ehren, Mem. I 3, 1, IV 3, 16 f., vgl. IV 6, 2 ff. Und in IV 3, 16 f. findet sich der Gedankengang, an den sich die Darlegung im Text anlehnt. Der wesentliche Punkt war für Xenophon der Nachweis, daß die kultische Verehrung der Götter Pflicht sei. Das geht besonders klar aus der Stelle I 4, 10 hervor. Hier aber wird auch deutlich, daß dieser Nachweis eine polemische Spitze hat, und zu- gleich, wer der Gegner ist. Das ganze Kap. I 4 richtet sich, wie schon die be- kannte Einleitung I 4, 1 zeigt (S. 42 f.), gegen Antisthenes, und der Dialogpartner des Sokrates, Aristodemos, ist als ein dem Antisthenes nahestehender Mann ge- dacht (vgl. Zeller II l 4 S. 328, 2). In I 4, 10 erklärt nun dieser: Ovtoi . . iy<6 . . vtisqoqcö xo öai/xöviov (die Gottheit), all' ixelvo (isyaXonQ£neoT£QOv rjyovfxai rj wq rrjq ifxrjq SeganeLaq Ttooaöela&ai. Das ist, wie schon oben, S. 46, 1, be- merkt wurde, genau der antisthenische Standpunkt. S. den bekannten Ausspruch des Antisthenes bei Gern. Alex., Protr. VI 75, 3 Stählin, Winckelm. S. 53 XVIII (. . OV TQ£<pC0 trjV (AT/T8QCC T(ÜV &£(ÖV, r t V Ol 9f0l XQ£<pOVOlV), Vgl. W. S. 64. 40 und S. 65, 49. Wer aber hat nun Recht? Xenophon oder Antisthenes? Vermut- lich hätte auch Plato, wenn er sich ausgesprochen hätte, auf Xenophons Seite geneigt. Daß der vd^o?-feindliche Antisthenes auch in diesem Stück mit dem Brauch radikal brach, begreifen wir. Aber nach dem, was wir über diese Inten- tionen des Kynikers wissen, können wir seine Position nicht für die genuin so- kratische halten. Vermutlich hat Sokrates sich auch hier an das vo(ut,6/xevov gehalten; und daß er sich diese Stellung etwa so, wie im Text dargelegt ist, zurechtlegte, ist nach den Ausführungen S. 440 ff. und S. 443 f. nicht unwahr- scheinlich. Sokrates und die Religion. 447 Aus solchen Erwägungen heraus unterwirft sich Sokrates dem religiösen Nomos und bestätigt dadurch auch äußerlich, daß er durch seinen eigenen Glauben sich noch an den seines Volks gebunden fühlt. Welche Bewandtnis aber hat es mit dem sokratischen Dai- monion, das in der Anklage eine so verhängnisvolle Rolle ge- spielt hat? Und in welche Beziehung hat Sokrates — diese zweite Frage berührt sich mit jener ersten sehr nahe — sein Lebenswerk, seine Mission zu seinem Gottesglauben gesetzt? Wer das, was die platonische Apologie und die Memorabilien hierüber sagen, ohne prüfende Überlegung hinnimmt, wird leicht den Eindruck gewinnen, daß Sokrates sich als gottgesandten, mit einer außerordentlichen Mission ausgestatteten Propheten betrachtet habe und auch von seinen Jüngern hiefür gehalten worden sei. In den Reihen der griechischen Philosophen hat es nicht an Ge- stalten gefehlt, in denen sich der Denker mit dem Sektenstifter und Inspirierten mischte. An der Spitze steht Pythagoras. Aber zu ihnen gehört noch ein Zeitgenosse des Sokrates, der vielbewun- derte, noch zu seinen Lebzeiten legendär gewordene Empedokles, der nicht allein Naturforscher, Arzt und Philosoph, sondern zu- gleich Wundertäter, Sühnepriester und Prophet einer mystisch- ekstatischen Erlösungsreligion war. Niemand nun wird daran denken, den Sokrates mit solchen Erscheinungen zusammenzu- stellen. Immerhin hat es den Anschein, als hätte er das Bewußt- sein göttlicher Mission wirklich gehabt, und auch visionär-ekstatische Erlebnisse scheinen ihm nicht gefehlt zu haben. Zuzugestehen ist auch, daß dieser Zug mit dem Bild, das wir sonst von So- krates gewonnen haben, sich am Ende in Einklang bringen ließe. Tritt man indessen der Überlieferung kritisch näher, so bleibt von dem allem so gut wie nichts übrig. In Wirklichkeit ist es nur die platonische Apologie, die es unmittelbar ausspricht, daß Sokrates göttlichen Auftrag zu seinem Lebenswerk gefühlt und gehabt habe. 1 ) Daß aber die ganze Schilderung der Apo- ') Daß man nicht etwa Äschines, fr. 3 Krauß (. . . vvv 6h &tia {ioiqu wyut]v juoc xovzo öeööoS-ui in '^XxißiäSrjv, nämlich das övvaod-ui w(pfXf t aai) dahin deuten darf, braucht wohl nicht ausdrücklich gesagt zu werden. 448 Das sokratische Evangelium. logie ironische Fiktion ist, ist uns bekannt, und Plato selbst gibt dies unzweideutig zu verstehen. 1 ) Auch die berühmte Stelle, wo Sokrates erklärt, ihm sei das Geschäft der Menschenprüfung von dem Gott aufgetragen worden durch Orakelsprüche und Träume und auf jegliche Weise, wie nur je göttliche Fügung einem Men- schen eine Mission erteilt habe (Apol. 33 C), fällt, wie der Zusammen- hang lehrt, in jene Fiktion hinein. Sokrates' Berufung auf Träume hat bei Plato auch sonst ein stark ironisches Gepräge. 2 ) Außer- halb der Apologie aber begegnet uns in der platonischen Literatur nirgends eine Vorstellung von einer außerordentlichen göttlichen Sendung des Sokrates, man müßte denn die Art, wie der „Theätet" ihn seinen maieutischen Beruf mit der Gottheit in Verbindung bringen läßt (Theät. 150 Q, so auffassen. Und was die Späteren in dieser Hinsicht zu berichten wissen, ist ausnahmslos aus der platonischen Apologie geschöpft. Besonders bemerkenswert ist, daß Xenophon hier völlig schweigt. Hier nämlich ist wieder ein- mal ein argumentum e silentio wohl am Platz. Hätte Xenophon irgend einen Anlaß gehabt, bei Sokrates das Bewußtsein einer göttlichen Sendung vorauszusetzen, so hätte er dies ohne allen Zweifel begierig aufgegriffen. Wunderbares von seinem Helden zu berichten, macht ihm schon in der Schutzschrift und in seiner Apo- logie viele Freude. Offenbar aber hat er die ihm wohlbekannte Apologie Piatos hierin nicht ernst genommen, 3 ) und sonst ist ihm über eine solche Prätention des Meisters weder aus eigener Erinne- rung noch aus der sokratischen Literatur irgend etwas bekannt ge- worden. Plato selbst indessen hat sich ja darüber ausgesprochen, was in den Jüngern den Eindruck von der Gottgesandtheit des Meisters *) Apol. PI. 37 E: idvze ydg Aeyo, ort xiö 9e(ö äntiDeiv rovr (nämlich das oiyäv) saxi xal diu xovxo dövvaxov i]ov%Lav äysiv, ov neiasa&e fxoi a>q slQwvtvofxevu) . . 2 ) Vgl.'Kriton 44 AB, Phaidon 60 E f. 3 ) Ausdrücklich hervorzuheben ist, daß die xenophontische Apologie den Orakelspruch, an den die ganze Fiktion der platonischen Apologie sich hängt, wohl kennt und reichlich ausnützt (§ 14 ff); auch hat sie in diesem Zusammen- hang der platonischen Schrift unbedenklich Gedankenmaterial entnommen (vgl. bes. § 17); die ganze Ausführung über den göttlichen Auftrag, die sich an den Orakelspruch knüpft, hat der Autor dagegen ignoriert, augenscheinlich, weil er in ihr das gesehen hat, was sie in Wirklichkeit war: eine Fiktion. Sokrates und die Religion. 449 hervorrufen konnte; das war die übermenschliche Selbstlosigkeit seines Wirkens und Lebens im Dienste anderer. 1 ) In ähnlichem Sinn ist in der Alkibiadesrede des Symposions auf das Außer- ordentliche an Sokrates' Persönlichkeit und Auftreten hingewiesen, das den Alkibiades zu dem Bekenntnis veranlaßt, dieser Mann habe seinesgleichen nicht auf der Welt, einen solchen Menschen habe es noch nie gegeben. 2 ) Plato hat aber außerdem in der Apologie dafür gesorgt, daß neben der Fiktion auch unzweideutig die Meinung, die So- krates selbst von seinem Beruf hatte, zum Worte komme. In der zweiten Rede läßt die Apologie den Schuldiggesprochenen äußern: „Sage ich, daß es mir darum unmöglich ist, mich zum Schweigen zu zwingen, weil dies Ungehorsam gegen den Gott wäre, so werdet ihr das für Ironie halten und mir nicht glauben; sage ich aber hinwiederum, daß es für den Menschen auch das größte Glück ist, jeden Tag über Tugend und alle die Dinge, über die ihr mich reden und mich selbst und andere prüfen hört, Ge- spräche zu führen, und daß ein Leben ohne Prüfung für den Menschen nicht lebenswert ist, so werdet ihr mir noch weniger glauben." 3 ) Offenbar soll hiemit die Fiktion in die Wirklichkeit übersetzt werden: was den Sokrates zu seiner sittlichen Werbe- arbeit antrieb, war zuletzt ein unwiderstehlicher innerer Drang, der ihn in dieser Arbeit den Zweck und das Glück seines Lebens sehen ließ. So ungefähr wird Sokrates selbst sich in der Tat seine Mis- sion zurechtgelegt haben, und im selben Sinn hat er sich wohl ') Apol. 31 AB: bxi ö* iyd) xvyxävo) o>v zoiovzog, oiog vno zov &eov t# nö?.si dsööoSai, iv9-svös av xcczccvotjoccize' ov yccQ dv&Qd>iiu> soixe zo ifis z<5v (j.iv e/xavzov anävxoDV rffiEXrjxsvca xal dve%Eo9-ai Z(öv oixetwv aiM£kov(j.EV(ov zoaavza r\8r\ hxt], xo 6s vfxäxegov tiqÜxxsiv dsl, Wq kxäaxcp ... (es folgt das S. 360, 3 Zitierte). Der Redende fährt dann fort, daß er selbst von dieser Tätig- keit nichts gehabt habe; zum Beweis hiefür führt er seine Armut an. Vgl. oben S. 105. 2 ) Symp. Plat. 221 CD, wo von Sokrates gesagt wird: fxrjösvl dv&Qa>7i<ov bßoiov eivat, firjxe xdäv naXatwv (irixe zcüv vvv ovxcov. Das wird nun zwar nachher auf Sokrates' Originalität (vgl. x> t v dxoniav 221 D) bezogen. Aber nach dem Vorhergehenden und nach dem Folgenden erfährt jene Einschätzung hie- durch nicht die geringste Abschwächung. 3 ) Apol. 37Ef. (den Anfang s. oben S. 418, 1). H. M a i e r , Sokrates. 29 450 Das sokratische Evangelium. auch, wenn er je einmal darüber redete, anderen gegenüber aus- gesprochen. Es wäre ihm leicht möglich gewesen, sein Werk mit seinem sittlichen Vorsehungsglauben in Verbindung zu bringen und so jenes auf einen göttlichen Auftrag zurückzuführen: von der Überzeugung, daß die Gottheit an dem sittlichen Leben der Menschen einen besonderen Anteil nehme, wäre es nicht mehr weit zu dem Glauben gewesen, daß der, der seine Aufgabe darin sah, die Menschen zum sittlichen Leben zu führen, von der gött- lichen Vorsehung hiezu bestimmt worden sei. Nun hat Sokrates daran wohl nicht gezweifelt, daß Natur und Schicksal — und er hätte schwerlich ein Bedenken gehabt, dafür auch die Gottheit einzusetzen — ihm wie jedem anderen seinen Beruf vorgezeichnet habe, und in diesem Sinn hat er gewiß auch für seine Arbeit einen „höheren Beruf" in Anspruch genommen. Allein — und das ist das Entscheidende — eine außerordentliche Mission hat er sich nicht zugeschrieben. Er hat nicht daran gedacht, sein Wirken durch Berufung auf göttlichen Auftrag zu rechtfertigen und den Wert seiner Sache auf göttliche Offenbarung zu gründen. Als Messias oder Propheten fühlte er sich ganz und gar nicht. Es ist darum auch nicht zu verwundern, daß in keinem unserer Berichte, den platonischen selbst nicht ausgenommen, Sokrates sein Berufsbewußtsein mit seinem Daimonion in Ver- bindung bringt. Was ist aber dieses Daimonion selbst? Es ist heute nicht mehr nötig, auf alle die abenteuerlichen Deutungen, die dem Daimonion im Laufe der Jahrhunderte zu- teil geworden sind, zurückzukommen. 1 ) Auffallend bleibt, in welch geringem Maß die Legende sich dieses Zugs in dem Bilde des Sokrates bemächtigt hat. Hier war ein sehr günstiger Anknüp- fungspunkt für eine Sagenbildung, die darauf ausging, Sokrates zum Wundermann zu machen, gegeben. Und eine Versuchung hiezu lag um so näher, als die Art, wie einer der alten Berichter- statter, Xenophon, vom Daimonion sprach, ganz nach dieser Richtung wies. In der Auseinandersetzung mit der gerichtlichen Anklage sucht die xenophontische Schutzschrift (I 1, 2 ff.) den Klagepunkt *) Vgl. S. Ribbing, Sokratische Studien II. Über Sokrates' Daimonion, S. 1 ff., Zeller II l 4 S. 74 ff., Fouillee, Philosophie de Socrate II 266—316 und die Lite- ratur über das sokratische Daimonion bei Überweg-Prächter. Sokrates und die Religion. 451 zu widerlegen, daß Sokrates neue dämonische Wesen (xaiva dcu/Liovia) — an Stelle der staatlichen Götter, an die er nicht glaube — eingeführt habe. Die Anklage selbst hatte sich wohl mit Absicht unbestimmt und andererseits in möglichster Anlehnung an den Sprachgebrauch des Sokrates selbst ausgedrückt, tatsäch- lich aber doch wohl unter den Daimonia persönliche Wesen ge- dacht. 1 ) Xenophon nun legt sich und seinen Lesern das soma- tische Daimonion in der Weise zurecht, daß er dessen Kund- gebungen mit den göttlichen Offenbarungen, die die Mantik aus dem Vogelflug, dem Schauen der Eingeweide der Opfertiere u. dgl. herausliest, auf eine Linie stellt; während aber die übliche Ausdrucksweise ungenau davon rede, daß die Zu- und Abmah- nungen von den Vögeln u. s. f. kommen, habe Sokrates sich sach- gemäß ausgedrückt, das Daimonion gebe ihm Zeichen. Das Dai- monion ist dem Autor hier (Mem. I 1, 4) nicht, wie Zeller anzu- nehmen scheint: die überirdische Macht. Er gebraucht das Wort in adjektivischem Sinn. Die Parallelstelle in der xenophontischen Apologie (12) charakterisiert das Daimonion in eingehender Dar- legung als eine Stimme Gottes, die, wie Sokrates glaubt, ihm An- deutungen gibt, was zu tun sei. Ähnlich betrachtet der Verfasser der Schutzschrift „das Überirdische" als ein Offenbarungswerk- zeug „Gottes" oder „der Götter", als ein inneres Orakel, durch l ) Übersetzen werden wir das xaiva öaipövia der Anklageschrift am besten mit „neues Dämonisches". Plato macht sich Apol. 27 B ff. diese Unbestimmtheit, hinter der er übrigens eine karikierende Absicht vermutet (Apol. Plat. 31 D: . . . öai/xöviov . ., b örj xal iv xy ypacpy emxwfMpöcüv Mskrjxoq iyQarpaxo), zu- nutze, indem er argumentiert, als wären unter den xaiva Saifiövia — was aller- dings durch seine eigene Auffassung des Daimonions nahegelegt wird — 6ai- fxövia nQayfiaxu zu verstehen. Im Euthyphron (3B) indessen deutet Plato die xaiva. öuipövia direkt als xaivoiq Bsovq. Sokrates sagt hier von Meletos: <prjol yäg {.is noiTjZrjV sivai d-eiöv, xal coq xaivovq noiovvxa Qsovq, xovq d' aQ%aiovq ov vo[x.itovxa, iygäyjaxo xovxcov avxcüv e'vsxa. — Übrigens spricht Xenophon im Verlauf der Erörterung gelegentlich (am Schluß von I 1,5), ähnlich wie Plato in seiner Apologie, als hätte die Anklage überhaupt auf Atheismus gelautet (vgl. bes.: . . . niaxevojv 8h QeoZg juöq ovx slvat &eoiiq ivöixiC,ev;). Die inzwischen vollzogene Deutung des Daimonions läßt die daifxöna nicht mehr als Götter er- scheinen. Im übrigen lenkt der Autor, wie es scheint, hier unversehens in den Gedankengang der platonischen Apologie ein. Vorher, in Mem. I 1, 2, und weiter in Apol. Xen. § 11 ist die zu widerlegende Anklage als ein /x?) vofxi'QfLv ovq ri nöhq vo(xit,tL &eovq formuliert. Vgl. auch Zeller II l 4 S. 80, 1. 29* 452 Das sokratische Evangelium. das dem Sokrates göttliche Kundgebungen zuteil wurden. 1 ) Und er weiß darüber noch zu berichten: Sokrates habe unter Berufung auf Andeutungen des Daimonions vielen seiner Freunde geraten, dies zu tun und jenes nicht zu tun; und diejenigen, die ihm folgten, seien gut gefahren, die aber, die ihm nicht folgten, hätten dies zu bereuen gehabt. 2 ) In ähnlicher Weise redet Xenophon auch sonst vom sokratischen Daimonion. 3 ) Was er freilich von tatsäch- lichen Leistungen desselben anführt, stimmt nicht recht zu diesen Ankündigungen. Von Fällen, in denen die „Weissagungen" des Daimonions wunderbarerweise eingetroffen wären, weiß er nichts zu erzählen. Er erwähnt überhaupt nur einen konkreten Fall, in dem das Daimonion eingegriffen habe, 4 ) und der ist ganz und gar nicht von dieser Art. Als Sokrates im Begriff stand, so berichtet Xenophon, über seine Verteidigung vor Gericht nachzusinnen, da habe ihn das Daimonion hievon zurückgehalten. Und eben dieser Rat schien Sokrates wenig Glück gebracht zu haben. Auch sonst ') Mem. 11,4: Swxpdzrjq d' waneg eyiyvwoxev, ovzwq eXeye' zd daifidviov ydg eiprj otjfiaiveiv (die meisten anderen sagen vnd ze zdjv opvl9-a>v xal rdiv dnavziövztov dnozoeneo&al ze xal npozgeneo&ai, ihre eigentliche Meinung aber ist doch auch, ov zovq dpvi&aq ovde zovq dnavztüvzaq eiöivai zd ov/nipeporza zolq ixavzivofxivoiq, dl.Xd zovq Qeovq 6td zovziov avzd orftiaiveiv). Vgl. nachher, §5, . . vnd Ueov (paivößeva. Wie sich aber jenes daifiöviov und dieses 9eov verhalten, er- gibt Apol. Xen. § 12 f.: . . 9eov fioi ipcovr/ <paivezai orjfialvovaa o zt %Q>1 noielv. Nun wird zwar im Folgenden diese ipoivr\ mit den ipSdyyoiq oicovüv und den (prjftcuq dv&Qaj7imv, auf die sich die /j.avzevdfievoi stützen, weiterhin mit der ifxovt], mit der die Pythia zd naod zov 9eov diayyeXXet, in Parallele gesetzt, und hinzugefügt, die gemeinsame Meinung aller sei zd ngoeiöevai ys zov &sdv zb neXXov xal zd ngooi^fiaiveiv. Schließlich aber sagt Sokr. wieder: ol fiev olcovovq ze xal (prjfxaq xal ovßßdXovq zs xal [xdvzeiq 6vo[xdt,ovoi zovq nooorj/Liaivovzaq eivai, eydt de zovzo öaifiöviov xaXiä, und er glaubt, daß diese Ausdrucksweise sach- gemäßer und ehrerbietiger sei, als wenn man zr)v zwv &eiöv dvva/uiv auf die Vögel beziehe. Hält man diese Bemerkungen zusammen, so ergibt sich die im Text ent- wickelte Vorstellungsweise. 2 ) Mem. I 1, 4: xal noXXolq zwv ovvdvzwv ngo^yöptve zd ixev noielv, zd de (ir noielv, d>q zov öaißoviov npootjfxaivovzoq' xal zolq (iev nei&ofievoiq avzw oweipege, zolq de /j.tj neiSofttvoiq [xexeßeXe. Vgl. Apol. Xen. § 13 Schi. und'§ 14 Anf. 3 ) Mem. IV 3, 12 (. . npooquaivovol ooi — sc. ol &eol — d ze '/or\ noielv xal d fxrj), IV 8, 1 (. . <pdaxovzoq avzov zd daißdviov eavztü nooorjfiaiveiv, d ze deoi xal d /J.rj öeoi noielv). 4 ) Symp. Xen. VIII 5 kommt natürlich nicht ernsthaft in Frage. Sokrates und die Religion. 453 schien sein schließliches Schicksal der Führung des Daimonions ein nicht eben günstiges Zeugnis auszustellen. Der Erzähler protestiert nun zwar gegen diese Auffassung, aber er weiß nichts anderes vorzubringen, als daß der Tod für Sokrates damals offen- bar das Beste war, was ihm begegnen konnte. 1 ) Was wir indessen bei Xenophon vergeblich suchen, das bietet der pseudoplatonische „Theages" (128Dff.). Dieses apokryphe Machwerk scheint sich zunächst äußerlich in der Schilderung der Funktionsweise des Daimonions an die platonische Beschreibung anzuschließen, folgt aber doch weiterhin der xenophontischen Linie. 2 ) Der „Theages" weiß nämlich einige wunderbare Begeben- heiten zu berichten, die sich wie Illustrationen zu der xenophon- tischen Charakteristik ausnehmen, Fälle, in denen die Nichtbefol- gung prophetischer Warnungen des Daimonions Freunden des Sokrates schweres Unheil brachte. Diesen Faden weiterzuspinnen, lag für die Späteren nahe genug, zumal für die stoische Schule, die nicht bloß in Sokrates das Ideal des Weisen verehrte, sondern andererseits auch allem, was mit Mantik und dem Herein- greifen göttlicher Mächte in Welt und Menschenleben irgend zu- sammenhing, weitgehendes Interesse und gläubige Empfänglich- keit entgegenbrachte. 3 ) Nun scheint man sich ja wohl in dieser Schule über das sokratische Daimonion zahlreiche Wunderge- schichten erzählt zu haben. 4 ) Auf die Person des Sokrates da- gegen griff die Legendenbildung nicht über. Das geschah erst in der theosophischen Zeit des späteren Altertums. Der mystische ») Apol. Xen. § 4 f., Mem. IV 8, 1. 2 ) Theag. 128D: . . hoxi yüo xi 9eta uolgq nagenöfxevov ifiol ix tcuiöoq aQ^äixtvov öaißoviov' toxi de xoixo (pejvrj, 77 uxav yev?jxai ccfl hol orjfjialvei, o uv (xtX).(o tiqÜxxsiv, xovtov anoxgonr\v, TtQOXQtnsi 6h ovötnoxs' (soweit bewegt sich die Schilderung noch wesentlich im platonischen Fahrwasser, s. unten; schon das Nächstfolgende aber greift hierüber hinaus:) xal iüv xlq fxoi xüv <pikcov avaxoivcuiai xat ytvqtat 7) (pwvrj, xavxov xovxo anozpsnEi. xai ovx eq rtQaxxsiv. Und nun schließen sich die Wundergeschichten an, 128 D ff. 3 ) Eine Neigung, mit der freilich der in der stoischen Schule gleichfalls stark hervortretende Rationalismus in merkwürdigem Kontrast stand. 4 ) Vgl. Cicero, de divinat. I 54, 122 f., wo der Autor einige Wundergeschichten von Sokrates erzählt und dann anfügt: Permulta collecta sunt ab Antipatro, quae mirabiliter a Socrate divinata sunt. Quae praetermittam . . . Gemeint ist wohl der Stoiker Antipater von Tarsos (schwerlich der Stoiker Antipater von Tyros). 454 Das sokratische Evangelium. Platonismus und weiterhin christliche und neuplatonische Philo- sophen hypostasierten und personifizierten das Daimonion zu einem Genius, mit dem sie den Sokrates in ständigem Verkehr sein ließen. 1 ) Diese Auffassung hat dann bis in die neuere Zeit nachgewirkt und viel dazu beigetragen, den im Grund recht einfachen Tatbe- stand dem Blick des Historikers zu verschleiern. Wieder läßt sich aus dem Bericht der platonischen Apo- logie eine sichere Lösung des Rätsels gewinnen. Unverkennbar will der Autor hier, veranlaßt durch die gerichtliche Anklage wie auch durch das fortdauernde Gerede, Klarheit über das Wesen des Daimonions schaffen. Scherzhaft -ironisch zunächst ist von dem Daimonion da die Rede, wo Sokrates den Ankläger Meletos zu dem Zugeständnis nötigt, daß, wer an daimonische Dinge glaube, notwendig auch an Dämonen und darum an Götter glauben müsse (Apol. 27Bff.). Hieraus geht wenigstens so viel hervor, daß Plato auch nicht von ferne daran gedacht hat, in dem Daimonion ein persönliches Wesen zu sehen. Sehr viel bedeutsamer indessen sind ein paar andere Äuße- rungen. Das eine Mal bemüht sich der Sokrates der Apologie, den Richtern gegenüber sein Fernbleiben von der Tribüne der Volksversammlung zu rechtfertigen (Apol. 31 CD): „der Grund hievon", erklärt er, „liegt, wie ihr mich schon oft und viel habt sagen hören, darin, daß mir etwas Göttliches und Dämonisches wider- fährt (ot.l uoi &ü6v tl %al dai^ioviov yiyvvzai), das ja auch Meletos in seiner Anklageschrift lächerlich gemacht hat; bei mir v hat sich dies schon von Kindheit an eingestellt, es ist eine Stimme, die sich kundgibt ((pwvrj ng yiyvo^evt]), und die, wenn sie sich kundgibt, mich stets von dem abhält, was ich eben zu tun im Be- griffe stehe, niemals aber mich zu irgend etwas antreibt; das nun ist es, was mir wehrt, Politik zu treiben." Nachdem dann das Todesurteil gefallen ist, sagt Sokrates in der Ansprache an die ihm günstig Gesinnten unter den Richtern (Apol. 40 A— C): „. . mir ist etwas Wunderbares begegnet. Die mir vertraute Mantik des Daimonions nämlich ist in meinem bisherigen Leben recht häufig ') Vgl. hiezu Olearius, de genio Socratis, in: Stanleii Hist. phil. III 6 p. 130 ff., auf den sich auch Brucker, Historia critica philosophiae I 544 ff. stützt. Sokrates und die Religion. 455 in Tätigkeit getreten und hat sich mir selbst bei den geringsten Kleinigkeiten entgegengestellt, wenn ich etwas nicht recht zu machen im Begriffe stand. 1 ) Jetzt aber ist mir, wie ihr ja selbst sehet, etwas zugestoßen, was man für das schlimmste Unglück halten kann und auch allgemein so ansieht. Und doch hat sich mir das Zeichen des Gottes (xo tov &eov arifjLUOV) weder heute morgen, als ich von Hause wegging, noch als ich hieher zur Ge- richtstätte heraufstieg noch endlich an irgend einer Stelle meiner Rede widersetzt. Sonst hatte es mir oft genug, wenn ich sprach, mitten in der Rede Einhalt getan. Heute dagegen hat es während der ganzen Verhandlung weder mein Tun noch meine Rede an irgend einem Punkt gehindert. Was wird nun hiefür der Grund sein? Ich will es euch sagen: offenbar ist das, was mir zugestoßen ist, für mich etwas Gutes, und es ist undenkbar, daß wir auf dem rechten Weg sind, wenn wir glauben, der Todes- zustand sei ein Übel. Ein zwingender Beweis hiefür ist mir eben das: ganz sicher wäre mir mein gewohntes Zeichen (ro tlcufrug arjfislov) entgegengetreten, wenn es nicht ein gutes Los gewesen wäre, das ich mir zu bereiten im Begriffe war." Im Folgenden beweist Sokrates nun, daß der Tod in keinem Fall etwas Schlimmes sei, und schließt (41 C) : „Darum müsset auch ihr, meine Richter, dem Tod gegenüber guter Zuversicht sein." In diesem Zusammen- hang nun ist es, wo Sokrates versichert, daß des guten Mannes Sache in den Händen der Götter sei, und der Überzeugung Aus- druck gibt, daß auch das, was ihm nun begegnet sei, nicht von ungefähr so gekommen, daß vielmehr Tot- und Erlöstsein für ihn das Beste sei, und da fügt er schließlich an (41 D): „Eben darum hat mich auch das Zeichen (ro otj.ubZov) in keiner Weise abge- mahnt." Wir werden sehen, daß in dieser Stelle der Schlüssel zum Verständnis des Daimonions liegt. Ein gutes Zeugnis für die Zuverlässigkeit des Berichts der Apologie ist die Tatsache, daß die gelegentlichen Äußerungen, die sich in den später -platonischen Dialogen über das sokratische Daimonion finden, sich genau auf derselben Linie bewegen. 2 ) 1 ) . . j] yap elco&vlü fioi fiavxixrj tj xov öaifiovlov iv fxhv xw ngoo&ev Xqovo) navtl näw nvxvrj del ijv xal ndvv ini opixQOlq ivavxiovßsvtj, ei' xt fu'/.Xoiui fifj OQ&cög uqü^siv . ., 40 A. 2 ) Euthyphr. 3BC, Euthyd. 272 E ( . . iyevsxo xo dto&oq orj/xelov xo öatftovwv), 456 Das sokratische Evangelium. Daß jener gewissenhaft bemüht ist, die Auffassung, die Sokrates selbst von seinem Daimonion gehabt hat, zur Geltung zu bringen, ist offenkundig. Und nicht unwahrscheinlich ist, daß auch die einzelnen Fälle, in denen der Sokrates der Apologie ein Ein- greifen des Daimonions erlebt haben will, historisch sind: daß Sokrates wirklich — wenn vielleicht auch nicht vor Gericht, so sicher in seinen Gesprächen — seinen Verzicht auf politische Wirksamkeit und auch sein Verhalten gegenüber seinem Prozeß und dessen Ausgang mit dem Daimonion in Zusammenhang ge- bracht hat, 1 ) ist recht wohl möglich. Übrigens stimmt mit diesen Schilderungen das wenige Tat- sächliche, wasXenophon über die Tätigkeit des Daimonions er- zählt, durchaus überein. Nicht dasselbe indessen gilt von seiner ganzen Auffassung. Und der Unterschied ist nicht bloß, daß Plato dem Daimonion nur ein Abmahnen, nicht auch, wie Xenophon, ein Zureden zuerkennt. Bei Plato fehlt ihm vor allem der ganze mantische Nimbus, den es bei Xenophon er- halten hat. Gewiß spricht auch jener von einer „Mantik" des Daimonions. 2 ) Aber das ist doch nur ein Vergleich, der der Beschreibung dient. Und daß gewisse Ähnlichkeiten zwischen der Mantik und der Wirksamkeit des Daimonions bestehen, war ja augenscheinlich. Wie es scheint, ist indessen der Vergleich selbst halb scherzhaft gemeint: im „Euthyphron" ist er dem „Seher" Euthyphron in den Mund gelegt, der als solcher eine un- verkennbar komische Figur macht. 3 ) Jedenfalls findet sich bei Politeia VI 496 C (. . xo dcufiöviov otj/xsiov rj ydo nov xivi äXXa> ij ovöevl xcüv iurcQooSev ysyove), Phaidr. 242 BC (als ich mich anschickte, durch den Fluß zu gehen, xb öaifxöviöv xs xal xo elw&bq orjßslöv /xot ylyvso&ai iyevexo — dsl 6s [iE S7iioxei, o dv /xekkü) nodxxeiv — xal xiva (pwvrjv eöoS,a avxö&sv dxovaai, tj fie ovx eä dnievai tcqIv dv . . .), Theät. 151 A ( . . xb yiyvöfxevöv fiot öcufiöviov dnoxwXvei . .), vgl. den (vermutlich unechten) Alkib. I 103 Äff. *) Daß Sokrates in seinen Gesprächen häufig auf das Daimonion zu reden kam, zeigt die Stelle Apol. Plat. 31 C: . . o v/xelg e/xov noXXdxig dxrjxöaxe noXXa- %ov Xiyovxoq . . 2 ) 7J sloj&vld fxoi fxavxix/) ij xov öaifxoviov Apol. PI. 40 A. 3 ) Euthyphr. 3BC — Dagegen gehört die Stelle Phaidr. 242 C nicht, wie Zeller II l 4 S. 83, 4 annimmt, hieher. Das scherzhafte el/xl ör) ovv fidvxiq (ih . . bezieht sich nicht auf die Leistung des öai/töviov, nimmt vielmehr auf das un- mittelbar Vorhergehende Bezug und erhält seine Erläuterung im Folgenden: fiav- Sokrates und die Religion. 457 Plato von einer Einreihung des Daimonions in die Kategorie der Orakel und sonstigen Wahrsagungsmöglichkeiten, auf die Xeno- phon so viel Gewicht legt, keine Spur. Bei jenem hat das Dai- monion noch nicht den magischen Charakter, den Xenophon ihm gegeben hat. 1 ) Der Historiker, der die platonischen Schilderungen unbefangen überblickt und etwa noch die magere Ausbeute an Tatsächlichem aus der xenophontischen Literatur hinzunimmt, wird darüber nicht im Zweifel sein, daß das sokratische Daimonion etwas Ekstatisch- visionäres schlechterdings nicht an sich hat. Man hat versucht, die Zustände konzentrierten Nachdenkens, in denen Sokrates alles um sich her vergaß, so namentlich den bekannten Vorgang im Feldlager vor Potidäa, von dem die Alkibiadesrede des platoni- schen Symposions erzählt, mit dem Daimonion in diesem Sinn in Zusammenhang zu bringen. Allein nicht bloß bieten unsere Be- richte für eine solche Kombination überhaupt keinen Anhaltspunkt. Man hat auch kein Recht, jene Zustände selbst als ekstatische zu betrachten. Unser Gewährsmann hat sie sicher nicht als solche gefaßt. Aber auch objektiv ist hiezu kein Grund vorhanden (vgl. S. 348 f.). Der Gedanke, mit einer übersinnlichen Welt in irgend einer persönlich -visionären Verbindung zu stehen, ist Sokrates völlig fremd. Und etwas Pathologisches in seinem Wesen zu finden, kann im Ernst nur der versucht sein, der die Genialität überhaupt als eine krankhafte Entartung ansieht. 2 ) Dennoch wird man dem Wesen des Daimonions nicht ge- recht, wenn man in ihm lediglich „die Stimme des Gewissens" oder, wie Ribbing sich behutsamer und präziser ausdrückt, einen „praktisch-sittlichen Takt hinsichtlich persönlicher Verhältnisse und xixöv ys tl xcd fj ypvxh- D' e Mantik der Seele besteht aber darin, daß diese Sünden entdeckt. ') So weiß Plato auch davon nichts, daß das sokratische Daimonion auch den Freunden des Sokrates seine prophetischen Warnungen bezw. Ratschläge er- teilt habe (vgl. dagegen außer den xenophontischen Stellen den Theages a. a. O.). 2 ) Mit Recht hat einst Ribbing, Sokratische Studien II, S. 5, 4 die kritiklose Art, in der Lelut in seiner Schrift Du Demon de Socrate, Paris 1836, das sokra- tische Daimonion psychopathologisch zu erklären versucht hat, energisch ab- gelehnt. Natürlich hat diese Auffassung auch neuerdings wieder Anhänger ge- funden. Ein solcher ist z. B. Krafft-Ebing, gegen den sich Pöhlmann, Sokr. Studien S. 126 f. wendet. 458 Das sokratische Evangelium. einzelner Handlungen" finden will. Zwar beschränkte sich nach Plato die Tätigkeit des Daimonions darauf, den Sokrates jeweils von einem Handeln, zu dem er sich anschickte, abzumahnen. Und die weitergehende Darstellung Xenophons, nach der es dem Sokrates und durch dessen Vermittlung auch seinen Freunden prophetische Ratschläge für ihr Tun und Lassen gegeben hätte, wobei auf das Vorhersagen der Zukunft das Hauptgewicht fällt, ist schon darum außer Betracht zu lassen, weil der Autor hiefür Belege nicht anzugeben weiß. Wenn aber Plato sagt, das Dai- monion sei dem Sokrates stets entgegengetreten, wenn er im Be- griffe war, etwas nicht recht zu machen (t.i . . /urj ugd-wg ngdi- tuv Apol. 40 A), so denkt er hiebei keineswegs bloß an das sitt- liche „recht" oder „unrecht handeln". Das ugß-cig ngaiTtiv um- faßt, wie man übrigens längst gesehen hat, zum mindesten auch das „zweckmäßige" Handeln. Wenn Sokrates z. B. im weiteren Verlauf bemerkt, das Daimonion habe ihm oft während seiner Unterredungen mitten im Gespräch Einhalt getan (40B), so liegt es nahe, hier in erster Linie an den Gesichtspunkt taktisch- pädagogischer Zweckmäßigkeit zu denken, der jenes zum Ein- greifen veranlaßte. Nach derselben Richtung weist die Erzäh- lung, daß es den Sokrates vom politischen Wirken abgehalten habe (Apol. 31 Cff.). Hier fügt ja zudem der Redende von sich aus eine Motivierung für dieses Verhalten des Daimonions an: „und mit gutem Grunde hat es sich widersetzt; denn ihr wißt wohl, ihr Athener, daß, wenn ich seinerzeit Politik zu treiben be- gonnen hätte, dies mir längst zum Verderben geworden wäre und weder euch noch mir irgend einen Nutzen gebracht hätte". 1 ) Von hier aus hat Hermann das Daimonion als „die innere Stimme des individuellen Taktes" gedeutet, und ähnlich führt Zeller es auf „das Gefühl für das Angemessene in Reden und Handlungen, wie es sich in den verschiedensten Lebensbeziehungen im kleinen wie im großen betätigt" zurück, ein Gefühl, das Sokrates, unter dem Einfluß des Glaubens seines Volkes, aus einer höheren Offen- barung hergeleitet habe. 2 ) Indessen genügt auch diese Erklärung nicht. Sie übersieht ') Eine ähnliche Motivierung gibt Xenoph. Apol. §5 ff., vgl. Mem. IV 8, 1. 2 ) Hermann, Geschichte und System des Piatonismus I 236; ähnlich Fouillee, Philosophie de Socrate II S. 279 f., S. 309 ff., Zeller II l 4 S. 89. Sokrates und die Religion. 459 ein nicht unwesentliches Moment. In dem ug&wg Tryarreiv liegt noch mehr. Ich erinnere an die (in Apol. PI. 40Aff.) unmittelbar folgenden Ausführungen. Da sagt Sokrates: obwohl ihm nun das Äußerste widerfahren sei, was einem Menschen begegnen könne, habe sich ihm das Daimonion weder am Morgen, als er von Hause wegging, noch als er zur Gerichtsstätte heraufgestiegen sei, noch endlich während seiner Rede irgend einmal widersetzt. Hier stehen Handlungen in Frage — das Weggehen von Hause, das Erscheinen an der Gerichtsstätte — , denen gegenüber Sokrates, wie es den Anschein hat, keine Wahl mehr zwischen Tun und Lassen hatte, und das Daimonion hätte, wie man darnach annehmen zu müssen scheint, wenn es sich geäußert hätte, nur die Rolle der Unglückspropheten spielen können. Zu den subjektiven Erschei- nungen, die Sokrates auf das Daimonion zurückgeführt hätte, müßte man also auch ein Vorausahnen drohenden Unheils zählen, und Xenophon wäre mit seiner Auffassung schließlich doch auf dem rechten Wege gewesen. Ganz so liegen die Dinge nun aber doch nicht. Nicht bloß hält Plato im ganzen Zusammenhang — und man hat den Ein- druck, daß er die Wahl seiner Worte hier wohl abgewogen hat — für die Tätigkeit des Daimonions geflissentlich die Bezeichnung: entgegentreten (eravTiovo&cu), fest. Ausdrücklich vielmehr läßt er den Sokrates die erwähnte Äußerung noch dahin erläutern, das Daimonion habe sich während der ganzen Verhandlung weder seinem Tun noch seinem Reden in irgend einem Punkte wider- setzt. Durchweg ist es denn auch, hierauf legt der Autor merk- bares Gewicht, ein Handeln, ein nyazTeiv, kein bloßes Erleben, womit die Wirksamkeit des Daimonions in Verbindung gebracht wird. Charakteristisch tritt dies am Schluß der Stelle hervor, wo Sokrates ausführt, der Tod, der ihm nun in Aussicht stehe, sei nicht als ein Übel zu betrachten, und zum Beweis hiefür anfügt: das Daimonion wäre ihm sicher entgegengetreten, wenn er nicht im Begriffe stünde, „sich etwas Gutes zuzuziehen" (ti ... hya- »9w 7iQa§siv). Auch hier fehlt dem n^äxruv das Moment der Aktivität nicht, aber das Gute, von dem die Rede ist, ist ein Schick- sal, das über den Handelnden von einer außer ihm stehenden Macht verhängt wird, und von dem sich nur sagen läßt, daß jener es sich durch sein Verhalten zugezogen hat. Auch hier also ist das 460 Das sokratische Evangelium. TiQaTTEiv, zu dem das Daimoniop in negative Beziehung gesetzt wird, ein von dem Handelnden gewähltes Verhalten, und Voraus- setzung ist offenbar, daß jener einem abmahnenden Wink des gött- lichen Zeichens hätte folgen, daß er also auch anders hätte han- deln können, als er gehandelt hat. Damit aber treten auch die früheren Äußerungen in neue Beleuchtung. Wenn Sokrates her- vorhebt, daß das Daimonion ihn weder beim Weggehen von Haus noch beim Erscheinen vor Gericht noch während seiner Rede ab- gemahnt habe, so will er zweifellos sagen, daß dasselbe — wie er ja selbst erläutert — mit seinem Verhalten während des ganzen Verlaufs der Angelegenheit von Anbeginn einverstanden war. 1 ) Die Handlungen aber, von denen es den Sokrates nach dessen Überzeugung abhält, sind nicht bloß solche, die als sitt- lich unrecht oder als unzweckmäßig zu betrachten, sondern auch, und ganz besonders, solche, die geeignet wären, zum Unheil des Handelnden auszuschlagen. Ganz verständlich wird uns das Daimonion indessen erst, wenn wir die Beziehung beachten, in die der Sokrates der Apologie es zu seinem besonderen Vorsehungsglauben gesetzt hat. Er ist gewiß, daß die Angelegenheiten (ngay/biaTa) des guten Mannes von den Göttern nicht vernachlässigt werden, und daß das, was ihm selbst jetzt begegnet ist, eine für ihn segensvolle gött- liche Schickung sei, und er fügt dem nun an: „darum hat mich auch das Zeichen in keiner Weise abgemahnt" (Apol. 41 D). „Da- rum" — das heißt zunächst: weil das Todesurteil, das ich mir durch mein Verhalten zugezogen habe, für mich etwas Gutes be- deutet. Aber der Zusammenhang weist darüber hinaus. Sokrates' Glaube ist, daß des guten Mannes Geschick von den Göttern zu seinem Besten gelenkt werde. Unter diesem Gesichtspunkt be- trachtet er sein eigenes Leben, und nicht bloß sein Leben, son- *) Auch das Weggehen von Hause und das Erscheinen an der Gerichts- stätte, 40 B, sind, genau betrachtet, als Handlungen gedacht, die ganz der freien Entscheidung des Handelnden unterstanden. Noch bis zum letzten Augenblick vor Beginn der Verhandlung hatte es nach attischem Prozeßrecht dem Sokrates freigestanden, sich durch freiwillige Verbannung dem Prozeß zu entziehen; ja noch nach der Verteidigungsrede konnte er rechtlich auf diese Weise der Ver- urteilung ausweichen (vgl. Meier -Schömannn-Lipsius, Der attische Prozeß II S. 777). Sokrates und die Religion. 461 dem auch sein Handeln. Wenn er aber auf dieses achtete, so fiel ihm etwas Außerordentliches auf. Außerordentlich war die Sicher- heit, mit der er seinen Weg, den Weg, der seiner Bestimmung zu entsprechen schien und, wie er glaubte, sein Glück bedeutete, gehen konnte. Außerordentlich war aber vor allem die Unmittelbarkeit, mit der sein Instinkt ihn von Entscheidungen, die ihn von jenem Wege abführen konnten, abhielt — abhielt, noch ehe die Über- legung mit ihren Vernunftgründen gesprochen hatte. Und wenn nun der reife Mann von solchen Erfahrungen aus auf seine Ver- gangenheit zurückblickte, so machte er die Wahrnehmung, daß es ihm ähnlich von Jugend auf gegangen war. Dieses Außer- ordentliche nun, das ihn vor Abirrungen von dem gewiesenen Weg bewahrte, brachte Sokrates mit göttlicher Führung in Verbindung, mit der Führung, die die Gottheit dem sittlich strebenden Mann zuwendet. Kurz, er sah darin eine besondere Veranstaltung der göttlichen Vorsehung, die sich des Guten annimmt. Man muß unterscheiden zwischen dem Tatsächlichen, das dem Glauben des Sokrates an sein Daimonion zu Grunde lag, und der darauf gerichteten religiösen Deutung. Das Tatsächliche mag man mit Hermann die „innere Stimme des individuellen Taktes" oder mit Zeller ein „Gefühl für das Angemessene in Reden und Handlungen" nennen. Es ist eine Art geistigen Selbsterhaltungs- instinkts, der naturgemäß dann sich deutlich vernehmbar äußerte, wenn eine Abweichung von der durch ihn vorgezeichneten Bahn in Sicht stand. Aber das Entscheidende ist die religiöse Deutung, die Sokrates dieser Erscheinung gab. Und die beschränkte sich nicht darauf, daß ihm die Äußerung dieses Instinkts als göttliche Offenbarung galt. Der Schwerpunkt liegt vielmehr in dem Glau- ben, daß diese göttliche Stimme ihn nicht bloß in der Richtung des sittlich Guten und des Zweckmäßigen leite, daß sie sein Han- deln vielmehr vor allem so lenke, wie es zu seinem Besten, zu seinem Glücke gereichen mußte. Es leuchtet ein, daß von hier aus auch die xenophontische Auffassung des Daimonions wenigstens ihre Erklärung findet. Daß Sokrates also an ein Außerordentliches, Wunderbares, das in sein Leben eingreife, glaubte, ist nicht zu leugnen. Auch in ihm lebte etwas von dem Gefühl, das den schöpferischen Ge- nius beschleicht, wenn er das eigene Tun und Können zu zer- 462 Das sokratische Evangelium. gliedern sucht, dem Gefühl, daß ein unerklärliches Letztes und Ur- sprüngliches übrig bleibt, und daß dies Letzte mit dem Besten und Eigensten, was er besitzt und leistet, unlösbar verwachsen ist. • Wenn Sokrates aber dies Letzte auf ein besonderes göttliches Eingreifen zurückführte, so war das nicht fromme Rückständig- keit, die ihn von den Anschauungen seines Volks nicht loskommen ließ. Dieser Glaube hing ja mit der ihm eigentümlichen Religiosität aufs innigste zusammen. Und es bestätigt sich hier vielmehr nur, daß Sokrates eine im tiefsten Grund religiöse Natur war. Den Inspirierten hat er darum doch nicht gespielt. Im Gegen- teil, alle Nachrichten, die wir haben, lassen erkennen, daß er immer nur mit keuscher Zurückhaltung von dieser besonderen göttlichen Fürsorge, deren er sich zu erfreuen glaubte, gesprochen hat. Gerne scheint er den Schleier halb skeptischer Selbstironisierung darüber gebreitet zu haben. 1 ) Hieraus erklärt sich wohl auch der Ausdruck. Warum hat Sokrates sein „Zeichen" nicht ein „Gött- liches" (&eTov) genannt? Daß er sich hiezu berechtigt geglaubt hätte, ist nicht zu zweifeln. Offenbar spricht sich in der Wahl der Bezeichnung „Dämonisches" etwas von der Ironie aus, mit der der Meister den Nimbus des Wundermannes von sich fernzuhalten wußte. 2 ) Seinem Glauben selbst indessen hat diese Ironie keinen Ein- trag getan. Und es ist nun doch mehr als wahrscheinlich, daß derselbe auch mit seinem Berufsbewußtsein nicht ohne Fühlung geblieben ist. Zwar daß Sokrates seine Tätigkeit auf einen Anstoß des Daimonions zurückgeführt habe, ist ja schon durch die beson- dere Art, sich zu äußern, die diesem zugeschrieben wird, völlig aus- geschlossen. Und es bleibt dabei, daß er für seine Wirksam- keit einen außerordentlichen göttlichen Auftrag, eine wunderbare Mission nicht in Anspruch genommen hat. Wohl aber verdankte er, das geht ja aus der platonischen Schilderung klar hervor, den Kundgebungen und noch mehr dem Schweigen des Dai- *) Das ist das Richtige an der Auffassung Fraguiers und anderer Franzosen, die das Daimonion des Sokrates überhaupt als Ausfluß der sokratischen Ironie betrachten wollten (vgl. Fouillee a. a. O. II 316). — Naturgemäß tritt das ironi- sierende Moment in der ernsten Darlegung Apol. 40 Äff. stark zurück. An allen anderen platonischen Stellen aber klingt die ironische Note deutlich genug an. 2 ) Daher wohl auch die Zurückhaltung der Tradition. Die Katastrophe. 463 monions die Bestärkung in der Gewißheit, daß er mit seinem Wirken auf dem rechten Wege, und andererseits das Vertrauen, daß die Lebensaufgabe, die er sich aus innerem Drange heraus gestellt hatte, ihm auch von der Gottheit bestimmt sei. Das war für ihn so viel wie eine göttliche Bestätigung seines Berufsbe- wußtseins. Und daran wird kein Zweifel sein: der unbeirrte Glaube an seine Sache, mit dem Sokrates durchs Leben und in den Tod ging, hat an dem Glauben an sein Daimonion eine starke Stütze gehabt. Siebentes Kapitel. Die Katastrophe. Wie es schließlich zur Katastrophe kam, ist bekannt. Länger als ein Menschenalter hatte Sokrates sein dialektisch-elenktisches Metier unbehelligt betrieben. Schon früh zwar war er eine stadt- und landbekannte Persönlichkeit geworden. Der sonderbare Heilige, der mit seiner mahnenden Zudringlichkeit die Promenaden, die Turnhallen und öffentlichen Plätze Athens blockiert hatte, hatte keinen, der ihm in den Weg trat, verschont. Und wer mit ihm selbst in keine persönliche Berührung gekommen war, hatte im Theater reichlich Gelegenheit gehabt, auf der komischen Bühne sein Ebenbild zu bewundern. Indessen schon damals war er in den Augen der Leute keineswegs bloß die lächerliche Figur ge- wesen, die ihnen Stoff zur Heiterkeit bot. Bereits in der Mitte der zwanziger Jahre galt er ja als der geistige Führer der athenischen Intellektuellen. Und schon vorher hatten junge Leute wie der geniale Alkibiades, der verwöhnte Liebling des Publikums, und der hochgebildete, ehrgeizige Kritias gierig seinen Umgang ge- sucht. Das war nun ein keineswegs ungefährlicher Ruhm. Die Spuren des Anaxagoras konnten schrecken. Allein Sokrates blieb in dieser ganzen langen Zeit unangefochten. Auch der Sturm, der Protagoras wegfegte, berührte ihn nicht. Der giftige Vorstoß, den Aristophanes in seinen „Wolken' gegen ihn gerichtet hatte, war vom Publikum ausdrücklich abgelehnt worden, wenn er auch für die Folge nicht ohne Wirkung blieb. Fast ist es zu ver- 464 Das sokratische Evangelium. wundern, daß man ihn in Athen so lange gewähren ließ. Eines indessen hatte Sokrates in jedem Fall vor Anaxagoras wie vor Protagoras voraus: er war athenischer Bürger, und mit einem solchen war doch nicht so leicht fertig zu werden wie mit einem Fremden, der sich lästig und mißliebig gemacht hatte. Dazu kam, und das war das Ausschlaggebende, daß Sokrates dem poli- tischen Koteriewesen der Zeit völlig ferne blieb. Dem Anaxagoras war einst sein persönliches Freundschafts- verhältnis zu Perikles verhängnisvoll geworden. Protagoras aber fiel den Beziehungen zum Opfer, die er von den Zeiten des Perikles her zu den fortschrittlichen, „modern" gesinnten Demo- kraten, mit denen die bürgerlich -populäre Gruppe der atheni- schen Demokratie nicht minder in Fehde lag als die Junkerpartei, unterhalten hatte. Hier wie dort waren es also politische Motive, die in die Religionsprozesse entscheidend hereinspielten. Zu rein kulturkämpferischen Maßregeln hätte das athenische Volk wohl schwerlich Neigung gehabt, so groß seine Pietät für den ange- stammten Glauben sein mochte. Sokrates nun hielt mit seinen politischen Meinungen so wenig zurück wie mit seinen religiösen. Und er gehörte notorisch zu den politischen Reformern. Aber er vermied es, sich an irgend eine der bestehenden Kliquen an- zulehnen. Den Aristokraten, mit denen er von Uneingeweihten wegen seiner lakonisierenden Neigungen und seines vornehmen Anhangs in Zusammenhang gebracht wurde, stand er in Wirklich- keit so ferne wie der kleinbürgerlichen Demokratie. Von den „fortschrittlichen" Demokraten aber trennte ihn schon der kon- servative Zug seines politischen Denkens, der Respekt, den er vor den positiven Ordnungen in Staat und Gesellschaft hatte. So ging er seinen eigenen Weg. In die Politik selbst griff er so wenig aktiv ein, daß man ihm eben hieraus einen Vorwurf machte. 1 ) Indessen war er in der Erfüllung seiner Bürgerpflichten durchaus einwandsfrei. Als Soldat vor dem Feinde hat er sich — das war wohl auch in weiteren Kreisen bekannt geworden — aufs rühmlichste ausgezeichnet. 2 ) Und daß er als Prytane in dem ») Apol. PI. 31 C ff., 36 BC, vgl. Gorg. 473 E, Xenoph. Mem. 1 6, 15. Vgl. S. 426, 2. 2 ) Symp. PI. 219Eff., Apol. 28 E, Lach. 181 AB, 188 E, Charm. Einleitung, vgl. 156 D. Antisthenes, Winckelm. S 51 X (aus Athenäus, wozu Zeller S. 59, 3 zu vergleichen ist). Die Katastrophe. 465 Prozeß gegen die Sieger der Arginusenschlacht den Versuch machte, der leidenschaftlich erregten Menge in ihrem rechts- widrigen Vorgehen Einhalt zu tun, 1 ) ist ihm nachher gewiß hoch angerechnet worden. Auch in religiös-kultischen Dingen ferner tat er, was Gesetz und Brauch von dem korrekten Staatsbürger forderten (vgl. S. 445ff.). Kurz, zu einem kriminellen Einschreiten bot das ganze Verhalten des Sokrates keinen sichtbaren Anlaß und keine rechte Handhabe.' 2 ) Wer die politischen Zirkel nicht störte, konnte in Athen von der Freiheit des Wortes weitgehenden Gebrauch machen. 3 ) Gewiß war im Lauf der Zeit im Publikum die Antipathie gegen den unbequemen Mahner und Kritiker, der den Weisheitsdünkel des suveränen Demos oft genug ironisierte und auch gegen die je- weils gefeierten Volksgrößen seinen überlegenen Spott nicht sparte, erheblich gestiegen. Zudem hatte man sich immer mehr daran gewöhnen müssen, ihn und sein Treiben wirklich ernst zu nehmen. Aus ganz Griechenland strömten die jungen Leute nach Athen, um seinen Umgang zu suchen. 4 ) In Athen selbst drängte sich aus allen Kreisen die geistig regsame Jugend in seine Nähe. Allein da der Mann den politischen Argwohn nicht unmittelbar reizte, da er nicht praktische Politik zu machen suchte, sich im Gegenteil von revolutionären Konspirationen grund- sätzlich fernhielt, ließ man ihn reden, wie man ja auch andere „Moderne" reden ließ. Ja, ein klein wenig sonnten sich wohl auch die athenischen Spießbürger in dem neuen Glanz, den der Ruhm ihres Mitbürgers über ihre gute Stadt ausbreitete. Erst nach dem Sturz der demokratischen Verfassung, unter der Herrschaft der Dreißig, erfolgte der erste Vorstoß gegen So- krates. Die neuen Machthaber hatten es verstanden, die politische Opposition zum Schweigen zu bringen. Nun aber gingen sie auch gegen die Intellektuellen vor. Der Rhetorikunterricht wurde 1 ) Apol. PI. 32 BC ivgl. Gorg. 473E), Xen. Schutzschrift Mem I 1, 18, ferner Mem. IV 4, 2, Hellen. I 7, 15. 2 ) Für Sokrates' staatsbürgerliche Korrektheit spricht auch Xenophons eigenes Erlebnis, Anab. III 1, 5ff. (vgl. oben S. 7, 1). ^ In Gorg. 461 E spricht Sokrates von Athen, ov tfjg ''ElXüöoq it\tLoxr\ soriv i§ovaia xov )Jysiv. *) Vgl. Dittmar, Aischines von Sphettos S. 62 f. H. Mai er, Sokrates. 30 466 Das sokratische Evangelium. gesetzlich verboten. 1 ) Das bedeutete den Ruin der Sophisten- schulen und die Unterdrückung der ganzen modernen Bewegung. Was aber Kritias, den Führer der Dreißig, der selbst sophistisch gebildet war und durchaus modern dachte, zu dieser Maßregel, deren Urheber er war, veranlaßte, war sicher nicht etwa der Wunsch, den Altkonservativen in der aristokratischen Partei, die allerdings seit Jahrzehnten gegen die Aufklärung kämpften und einst auch den Anstoß zu dem Protagorasprozeß gegeben hatten, 2 ) zu Willen zu sein: solchen romantischen Sentimentalitäten Kon- zessionen zu machen, dazu war Kritias viel zu sehr Realpolitiker. Offenbar aber fanden sich in den Reihen der Modernen unab- hängige, ehrliche Männer genug, die sich dem oligarchischen Will- kürregiment nicht fügen wollten, und Kritias mußte um so mehr darauf denken, der Opposition, die von dieser Seite drohte, die Spitze abzubrechen, als dieselbe in den Kreisen der aufgeklärten Aristokraten rege Unterstützung gefunden zu haben scheint. 3 ) Viel war in dieser Situation namentlich von dem furchtlosen Freimut des Sokrates zu besorgen, der aus seiner Empörung über die Gewalttaten der Machthaber kein Hehl machte und damit die Erbitterung gegen das oligarchische Regiment schürte. 4 ) Ein Ver- such, den die neue Regierung machte, ihn zu kompromittieren, um ihn so an ihre Sache zu fesseln, schlug fehl. 5 ) Da griff Kritias zu einem anderen Mittel, um den einstigen Lehrer unschädlich zu machen. Er wandte das Sophistengesetz auf Sokrates an, obwohl er aus eigener Erfahrung dessen Tun und Treiben besser kennen mußte, und untersagte ihm kategorisch die Fortsetzung seiner Lehrtätigkeit. 6 ) Daß Sokrates sich fügte, ist indessen nicht •) Xenoph. Schutzschr., Mem. I 2, 31: (Kritias) iv zolq vö/toig tyQuxpe köywv xiyyr]V nr\ öiöaoxfiv. 2 ) Auch die „Wolken" waren ja aus diesem Anschauungskreis hervor- gegangen. 3 ) Man vgl. die Darstellung Piatos im 7. Brief, 324 D ff. 4 ) Vgl. den Zusammenstoß des Sokrates mit Kritias und Charikles Mem. I 2, 31 ff. und hiezu oben S. 192. 5 ) Apol. Plat. 32 D, 7. Brief 324 D ff., Mem. IV 4, 3. 6 ) So hat sich wohl das von Xenophon in der Schutzschrift Mem. I 2, 31 (vgl. das Folgende und IV 4, 3) Erzählte in Wirklichkeit zugetragen. S. oben S. 192. Die Katastrophe. 467 anzunehmen. Ehe es aber zu Weiterem kam, war es mit dem Regiment der Dreißig zu Ende. 1 ) Der restaurierten Demokratie war es vorbehalten, den ver- nichtenden Schlag gegen Sokrates zu führen. Den mehr als Siebzigjährigen ereilte schließlich noch das Verhängnis. Und das zu einer Zeit, wo Derartiges am wenigsten zu besorgen war. Nach langen Stürmen war in Athen endlich der Friede und die Ruhe eingekehrt. Die Führer des Volks, die das oligarchische Regiment gestürzt und die Demokratie wiederhergestellt hatten, waren ge- mäßigte Männer, die das Vaterland über die Partei und den politischen Rachedurst stellten und alles fernhielten, was die un- glückliche Stadt in neue Kämpfe stürzen und ihr inneres Erstarken hindern konnte. Eine allgemeine Amnestie war verkündigt worden, und man war fest entschlossen, sie ehrlich durchzuführen. So standen die Dinge. Und dennoch kam es schon vier Jahre nach der Restauration zu dem Einschreiten gegen Sokrates, und der Urheber dieses Vorgehens war einer der Männer, die an der Neu- ordnung der staatlichen Verhältnisse den hervorragendsten Anteil gehabt hatten. 2 ) Wie ist das möglich geworden? Es war eine Anklage wegen Religionsdelikts (tisql aoeßäag), die von Meletos, Anytos und Lykon bei dem Archon Basileus gegen Sokrates eingereicht wurde. Als offizieller Hauptvertreter der Anklage figurierte Meletos. Der Wortlaut der Klageschrift aber war: „Sokrates handelt rechtswidrig, indem er an die Götter des Staats nicht glaubt, vielmehr anderes, neues Dämonisches einführt; er handelt ferner rechtswidrig, indem er die Jugend ver- führt. Beantragte Strafe: Tod." 3 ) 1 ) Mem. IV 4, 3. Plat. läßt Sokrates Apol. 32 D sagen: xal i'aog av öiä xavza aniQavov, ei pr) i] ctQxh (sc. der Dreißig) öia xa^imv xaxeXv&r]. 2 ) Von Anytos bezeugt zudem Isokrates (n^oq Kallißayov 23) ausdrücklich, daß er, ebenso wie Thrasybul, seine Macht nicht zur Befriedigung persönlichen oder politischen Rachebedürfnisses verwendet, sondern treu an den Vereinbarungen festgehalten habe. — Zu erinnern ist auch daran, daß Anytos in dem Mysterien- prozeß gegen Andokides für den Angeklagten eingetreten ist. 3 ) Daß der Bericht des Favorinus bei Diog. L. II 40 glaubwürdig ist, steht auch mir fest (vgl. E. Meyer, Gesch. des Altertums V S. 227 und A. Menzel, Untersuchungen zum Sokrates-Prozesse, Sitzungsberichte der Wiener Ak. phil.- hist. Kl., 145. Bd., 1903, S. 7ff., gegen Schanz, Apologia S. 12ff.; für Schanz' Ansicht entscheidet sich aber neuerdings wieder Lipsius, Das attische Recht 30* 468 Das sokratische Evangelium. Was hat die Ankläger zu ihrem Vorgehen veranlaßt? Häufig genug waren solche Anklagen der Ausfluß persönlicher Feind- seligkeiten. 1 ) Und es lag nahe, auch im Fall des Sokrates nach solchen Motiven zu suchen. 2 ) In der Tat weiß schon die xeno- phontische Apologie (§ 29) von einem persönlichen Zusammenstoß zu erzählen, den Sokrates einst mit dem Hauptgegner, Anytos, gehabt habe, und sie unterläßt nicht, hierauf die Anklage zurück- zuführen. Sokrates habe, so ist hier berichtet, den Anytos, der in seinem bürgerlichen Beruf ein reicher Lederfabrikant war, darum getadelt, daß er seinen Sohn eben auch nur zum Gerber erziehen wollte; das habe Anytos ihm nachgetragen. Die Geschichte ist natürlich glatt erfunden. Nicht von Xenophon selbst — der hat sie bereits in der sokratischen Literatur vorgefunden. Die Sokrates- jünger hatten an Anytos, den sie im besonderen Sinn als den Mörder ihres Meisters verabscheuten, grausame Rache genommen. Wohl schon bald nach der Katastrophe und dann aufs neue nach dem Erscheinen des Polykratespamphlets hatten sie auf den Mann Schmähungen und Nachreden in einem Maß gehäuft, daß es selbst und Rechtsverfahren II 1 S. 363, 24). Vgl. Xenophon Mem. I 1, I (und Apol. 10), ferner Plato Apol. 24 B. Der Wortlaut Xenophons in Mem. I 1, 1 stimmt so ziemlich mit dem des Favorinus bei Diogenes überein. Nun leitet aber Xeno- phon seine Wiedergabe der ygatpi] mit den Worten ein: ij /nhv yag yQctyr) xax' avxov xoiäöe xig i]v, d.h.: die Klage lautete ungefähr so. Dadurch wird aber nicht etwa, wie Schanz S. 14 will, der Bericht des Favorinus, der den genauen Wortlaut, wie er ihn im athenischen Staatsarchiv fand, geben will, zweifelhaft. Die Abweichungen Xenophons sind immerhin derart, daß sich jene einleitende Bemerkung vollauf erklärt. Weggelassen ist schon der Eingang, der bei Favo- rinus lautet: xdds eyQuxpaxo xal uvxwfiöoaxo MtXrjxoq Msh) cov Ihx&tvq Swxgüxfi 2axpQovioxov , AXw7i£xT,9ev. Da es sich, wie Menzel a. a. O. nach dem Vorgang von Meier-Schömann-Lipsius mit Recht bemerkt, nicht um die anfänglich von den Anklägern eingereichte, sondern um die auf Grund der Voruntersuchung festgestellte, protokollierte und beschworene Klage handelt, ist die Weglassung dieses Passus, den Xenophon für seine Zwecke allerdings entbehren konnte, nicht unerheblich. Weiter sagt Xenophon statt {xaiva öai^övia) tlarjyovixevoq: eia<psQ(ov. Endlich läßt er am Schluß: xl/urj/xa üavaxoq weg. Man sieht: Xenophon gibt den Wortlaut der Klage in der Tat eben nur „ungefähr" wieder. ') Vgl. z. B. den im selben Jahr 399 spielenden Mysterienprozeß gegen Andokides. u ) So noch außer vielen anderen Neueren auch Windelband in seinem Vor- trag „Über Sokrates", Präludien 2 S. 83, wo über die Ankläger des Sokrates ein sehr scharfes Urteil gefällt ist. Die Katastrophe. 469 dem Plato, der im Menon (95 A) hierauf anspielt, zu arg wurde. Daher offenbar stammt jene Anekdote. 1 ) Daß an ihr kein wahres Wort war, beweist allein schon das Schweigen Piatos. Die Anytos- episode des Menon ist eine scharfe Satire auf den Groll des Anytos gegen Sophisten und sophistischen Unterricht. Hier wenn irgendwo war also Gelegenheit, auf jene Begegnung des Sokrates mit dem Feind der modernen Bildung einzugehen — wenn sie wirklich stattgefunden hatte. Keine Silbe aber deutet darauf hin. Indessen verrät die Fortsetzung der xenophontischen Erzählung selbst deren apokryphen Ursprung. Die Szene ist die: Sokrates sieht, während er nach Schluß der Verhandlung im Gespräch mit Bekannten steht, Anytos vorübergehen und nimmt das zum Anlaß, von jenem Rencontre zu erzählen, in dem er die letzte Ursache für das, was ihm jetzt widerfahren sei, erblickt; dann wird er prophetisch und weissagt, der gut beanlagte Sohn des Anytos werde vermöge der mangelhaften Erziehung, die ihm sein Vater habe zuteil werden lassen, auf Abwege geraten und sittlich ver- kommen. Der Autor aber versäumt nicht, anzufügen, daß die Prophezeiung eingetroffen sei. 2 ) Diese letztere Bemerkung er- möglicht uns, klar zu sehen. Historisch ist offenkundig an der ganzen Geschichte nur das eine, daß Anytos einen mißratenen Sohn hatte. Alles Übrige ist boshafte Erdichtung der Sokratiker, ') Daß Antisthenes den Anytos literarisch angegriffen hat, ist wohl der historische Kern der Anekdote bei Diog. VI 9f. Nachklänge der Angriffe, die die Sokratiker gegen Anytos gerichtet hatten, finden wir in der späteren Literatur genug. Schon Aristoteles erzählt, 'A&rjvalcov noltxela c. 27, die Geschichte von der Bestechung der Richter, durch die sich Anytos den Freispruch in der Pylos- affäre gesichert habe (vgl. Diodor XIII 64), und v. Wilamowitz hat (Aristoteles und Athen I 128 f.) gezeigt, daß dieser Klatsch aus sokratischer Tradition stammt. Auf die Beziehungen des Anytos zu Sokrates im besonderen gehen noch schol. ad Plat. Apol. 18 B, ferner Libanius, SwxQärovq unol. p. 10 Reiske, ep. Socr. 14, 2, Dio Chrys. or. 55 (Schluß) — die Stellen sind jetzt bei Dittmar, Aischines S. 307 f. (vgl. dazu S. 91 ff.) zusammengestellt. Auch die Nachrichten späterer Schrift- steller (Diog. L. II 43, Themistius 20, p. 293 Dindorf) gehen wohl auf sokratische Epigonen zurück. Sie sind ohne Zweifel Erweiterungen von Xen. Apol. 31. In Wirklichkeit scheinen die Invektiven der Sokratiker dem Manne in der öffent- lichen Meinung nicht viel geschadet zu haben. Nach der 22. Rede des Lysias war er noch im Jahre 388/87 aiiotpvXug (vgl. v. Wilamowitz, Aristoteles und Athen II 374 f., ferner Hermes, 32. Bd. S. 190). 2 ) Xenoph. Apol. 29-31. 470 Das sokratische Evangelium. die den Jammer des unglücklichen Vaters benutzten, um ihr Rache- gelüst zu befriedigen. 1 ) Daß Anytos selbst ein persönlich ehren- werter Mann war, dessen Angriff auf Sokrates nicht durch Beweg- gründe privater Art veranlaßt sein konnte, geht schon aus Piatos Äußerungen mit der wünschenswertesten Deutlichkeit hervor. 2 ) Eher könnte man vermuten, daß es schließlich doch politische oder vielmehr parteipolitische Motive waren, die der Aktion gegen Sokrates zu Grunde lagen. Daß Sokrates kein Freund der demo- kratischen Verfassung war, war bekannt. Hieran hatte sich wohl auch seit der Neuordnung im Jahre 403 nicht viel geändert. Stoff und Anlaß zur Kritik hatte er von seinem Standpunkt aus immer noch genug, und geschwiegen hat er auch jetzt sicherlich nicht. Andererseits war Anytos ein Führer der Demokratie. Und auch Meletos, ein noch junger, nicht allzu bedeutender Dichter, war allem nach demokratischer Parteigänger. Von Lykon, dem Redner und Berufspolitiker, ist dies ohnehin wahrscheinlich. Unter solchen Umständen muß der Verdacht rege werden, daß die Anklage eben nur dazu dienen sollte, einen politischen Gegner, der immerhin unbequem werden konnte, zu beseitigen. Allein Tatsache ist, daß nicht bloß in der Anklageschrift, sondern nach allem, was wir wissen, während der Verhandlung selbst alle eigentlich politischen Momente aufs sorgfältigste ausgeschaltet blieben: erst die „An- klage" des Polykrates hat auch politische Verdächtigungen gegen den toten Sokrates ausgespielt. Vor Gericht selbst scheint Anytos alles vermieden zu haben, was den Prozeß als einen politischen *) Darauf deutet Plat. Men. 95A hin, Im Vorhergehenden hatte Sokrates eine Anzahl berühmter athenischer Staatsmänner aufgezählt, deren Söhne ihren Vätern nicht eben Ehre machten. Das hatte Anytos peinlich empfunden; er hatte darin eine Schmähung jener Männer gesehen und das Gespräch abgebrochen. Darauf sagt nun Sokrates: Anytos scheint mir zu zürnen, und ich wundere mich darüber nicht: ol'srai yäg fxs tiqüitov ßhv xaxrjyoQelv xovxovg xovq ävÖQaq, tneiTa qysizai xal uvxbq eivai elg xovrwv (d. h. einer von den Staatsmännern, die übelgeratene Söhne haben). 2 ) Selbstverständlich darf nicht etwa aus Plat. Apol. 23 E, wo ausgeführt ist, daß Meletos für die in ihrer persönlichen Eitelkeit verletzten Dichter, Anytos für die Handwerker und Politiker, Lykon für die Redner, Rache gesucht hätten, als sie die Anklage gegen Sokrates erhoben, geschlossen werden, daß Plato den An- klägern wirklich im Ernst dieses Motiv unterschieben wollte. Daß der ganze Abschnitt, dem diese Stelle angehört, ein Erzeugnis platonischer Ironie ist, wissen wir. Die Katastrophe. 471 erscheinen lassen konnte. Vermutlich war das auch der Grund, daß er den Meletos als offiziellen Hauptkläger vorschob und ihm die hauptsächliche Vertretung der Anklage in der Verhandlung überließ. 1 ) Seine eigene Stellung war eine politisch zu sehr ex- ponierte, als daß man ihm rein unpolitische Beweggründe für sein Vorgehen zugetraut hätte. Und so viel war ja klar: ein politischer Prozeß gegen Sokrates wäre damals völlig aussichtslos gewesen. Umtriebe politischer Art waren ihm jetzt so wenig wie früher nachzusagen. Aber auch abgesehen hievon: das athenische Pu- blikum wollte immer noch seine Ruhe haben, und die staats- rechtliche Situation im damaligen Athen selbst war für radikal- demokratische Machinationen wenig günstig. 2 ) Wir haben aber nicht einmal dazu Grund, bei den Anklägern politische Hinter- gedanken vorauszusetzen. Wenn eines vielmehr sicher ist, so ist es das, daß politische Gegnerschaft an der Anklage keinen Anteil hatte. 3 ) Wir werden gut tun, in diesem Fall hinter der Anklage eben nur die Tendenz zu suchen, auf die der Wortlaut der Klageschrift hindeutet. Anytos war — das läßt auch Plato durchblicken, der den Gegner seines Meisters gewiß nicht besser machte, als er war 4 ) - l ) Daß Meletos offiziell als der Hauptkläger auftrat, ergibt sich nicht bloß aus dem Wortlaut des Klageprotokolls bei Favorinus, sondern auch aus Plato Apol. 19C, 24Bff., 25Cff., 26Bff., 27 Äff., 28A, 34A, 36A, 37B, Euthyphr. 2Bff., ferner aus Xenoph. Mem. IV 4, 4, IV 8, 4, Apol. 11. 19f. Ebenso sicher aber ist, daß Anytos die Seele des ganzen Unternehmens war, vgl. Plato Apol. 18 B, 28 A, 29C, 30B, 31 A, vgl. 36 A. Aus diesem Grund hat ja auch Polykrates seine Kat-qyoQiu SwxQärovg dem Anytos in den Mund gelegt. Bezeichnend, obgleich unhistorisch, ist die Notiz schol. ad Plat. Apol. 18 B, daß Anytos den Meletos bestochen habe, eine Asebieklage gegen Sokrates einzureichen. -) Menzel macht, a. a. O. S. 35, mit Recht darauf aufmerksam, daß die da- malige athenische Verfassung eine stark eingeschränkte Demokratie war. S. hiezu v. Wilamowitz, Aristoteles und Athen II 217 ff. 3 ) Daß dem Anytos die politischen Ansichten des Sokrates nicht sympathisch waren, ist zwar nicht zu zweifeln. Aber seine Abneigung galt schwerlich der Kritik, die Sokrates an gewissen Einrichtungen der radikalen Demokratie geübt hatte: er selbst war, wie wir sofort sehen werden, ein sehr gemäßigter Demokrat. Zuwider war ihm vielmehr, wie zu vermuten ist, die fortschrittliche Tendenz des sokratischen Staatsprogramms. In dem Vorstoß gegen Sokrates selbst indessen hat er auch diesen Punkt zurückgestellt. Weit gefährlicher schien ihm eine andere Seite des sokratischen Wirkens. 4 ) Vgl. hiezu und zum Folgenden die Anytosepisode Menon 89 E— 95 A. 472 Das sokratische Evangelium. ein ehrlicher, patriotischer Mann, der in schweren Zeiten dem Vaterland und der Demokratie wertvolle Dienste geleistet hatte und in Athen großes und verdientes Ansehen genoß. Sein Vater hatte durch eigene Tüchtigkeit ein bedeutendes Vermögen erworben und dem Sohn eine über den Durchschnitt gute Erziehung zuteil werden lassen. 1 ) Der letztere blieb dem väterlichen Geschäft treu. Politisch hielt er sich zu dem kleinbürgerlich-populären Flügel der demokratischen Partei, der zu der fortschrittlich-intellektuellen Richtung nicht immer in den besten Beziehungen stand. Indessen gehörte er nicht zu den radikalen Krakehlern, deren es in dieser Parteigruppe reichlich viele gab. Im Gegenteil, er war einer der konservativen Demokraten, die über die Entwicklung, die die Demokratie in den Jahrzehnten vor der Katastrophe durchlaufen hatte, zurückstrebten zur ndryiog no'kijua, d. h. zur Verfassung Solons. 2 ) Persönlich war Anytos ein nicht ungebildeter, gemäßigter, besonnener Volksmann, etwas beschränkt und rückständig in seinen Anschauungen, nicht allzu weitblickend, dabei zäh und tatkräftig *) Plato fügt dieser letzteren Bemerkung allerdings die Einschränkung hinzu: tvq öoxsl 'A&rfvalwv t(p nkr'j&ei (Men. 90 B). Aber nach dem ganzen Zusammen- hang soll dadurch das gespendete Lob keineswegs aufgehoben werden, wenn auch die dem Anytos zuteil gewordene Erziehung dem Ideal Sokrates- Piatos durchaus nicht entsprach. 2 ) Wenn wir dem Bericht des Aristoteles, 'A&rjvaLwv nohtsia c. 34 Glauben schenken dürften, so hätte Anytos geradezu zu einer Mittelpartei gehört, deren Führer Theramenes war. Indessen hat v. Wilamowitz, Aristoteles und Athen I S. 161 ff., gezeigt, daß diese Partie der aristotelischen Schrift eine oligarchische Quelle benutzt hat, und er hat die Vermutung aufgestellt, daß diese Quelle eine Schrift des Theramenes selbst war. In der Nähe des Theramenes werden wir den Gewährsmann des Aristoteles jedenfalls zu suchen haben. Damit aber wird die aristotelische Mitteilung einigermaßen verdächtig. Daß Männer wie Anytos mit Theramenes, der über Solon zu Drakon zurückgreifen wollte, in dem Urteil über Solon übereinstimmten, ist ausgeschlossen. Gemeinsam war den Demokraten vom Schlag des Anytos, Archinos, Phormisios mit Theramenes nur die Forderung der Rückkehr zur narQtoq noXirtia. Allein unter der letz- teren verstanden jene etwas ganz anderes als dieser (v. Wilamowitz I S. 163 f.). Und nur das wird an der Erzählung des Aristoteles richtig sein, daß Theramenes mit den gemäßigten Demokraten, die an der radikalen Entwicklung der Demo- kratie keine Freude hatten und in dem Rückgang auf die ältere Form der Demo- kratie das Heil sahen, Fühlung suchte und teilweise auch fand (vgl. Xenophon Hellen. II 3, 42 ff.) Zu diesen letzteren ist aber ohne Zweifel Anytos zu zählen (vgl. auch E. Meyer, Gesch. des Altert. V S. 18). Die Katastrophe. 473 in der Verfolgung dessen, was er für recht erkannt hatte. Die Antipathie gegen das neue Wesen, gegen den modernen Geist, die er mit vielen seiner Gesinnungsgenossen teilte, war bei ihm zu borniertem Haß gesteigert. Er war überzeugt, daß seine arme Heimat nur dann wieder in die Höhe kommen könne, wenn in ihr der alte Sinn, der Athen einst groß gemacht hatte, wieder lebendig werde, daß aber eine Besserung so lange nicht zu hoffen sei, als der Geist der Aufklärung, der das Gemüt des Volks ver- giftet und die Grundlage der von den Vätern ererbten Gesittung, den alten Glauben,, untergraben habe, ungehemmt sich ausbreiten könne. 1 ) Ähnlich dachten viele seiner Landsleute, und nicht die schlech- testen. Anytos aber entschloß sich zur rettenden Tat. Er wollte die Aufklärungsbewegung zurückdrängen, indem er ihren Führer unschädlich machte und damit zugleich ein warnendes Exempel statuierte. Aus solchen Erwägungen entsprang sein Vorgehen gegen Sokrates. Daß er dessen Wirken genauer kannte, ist nicht anzunehmen. 2 ) Aber er hatte genug gesehen, um zu wissen, daß Sokrates der unruhigste und zugleich der bedeutendste Geist unter den Modernen war, der wie keiner das Werk der geistigen Re- stauration zu hindern im stände und entschlossen war. Und auch das war ihm klar geworden, daß, was dieser Mann wollte, mit dem schlichten Glauben der Väter und der auf diesem fußenden Lebens- ordnung sich nicht in Einklang bringen ließ. Hierauf baute er die Anklage auf. 3 ) Es war, wie man sieht, ein Kulturkampf im großen Stil, den er plante. Und es war zweifelhaft, ob er sein Vorhaben durch- setzen konnte. Die Stimmung des athenischen Publikums im ganzen war offenbar einer solchen Aktion wenig geneigt. War man auch auf Sokrates, der jetzt eifriger an der Arbeit war als ') Vgl. hiezu das Urteil, das Plato den Anytos in der Anytosepisode des Menon über die Sophisten fällen läßt. *) Men. 92 BC läßt Plato den Anytos bekennen, daß er die Sophisten, gegen die er sich im Vorhergehenden in so bitteren Schmähungen erging, überhaupt nicht kenne. Und auf die erstaunte Frage des Sokrates, wie er denn über etwas urteilen könne, was ihm gänzlich unbekannt sei, antwortet Anytos leichthin: das sei in diesem Fall eine einfache Sache; denn was die Sophisten für Menschen seien, das wisse er, ob er sie nun kenne oder nicht. 3 ) Vgl. Plato Apol. 29 C. 474 Das sokratische Evangelium. je zuvor, keineswegs gut zu sprechen, 1 ) so fürchtete man doch den Skandal, der aus einem solchen Prozeß dem auf seine Bil- dung und Geistesfreiheit stolzen Athen erwachsen konnte. 2 ) So scheinen die Freunde des Sokrates an den Ernst der Lage nicht geglaubt zu haben. Sie hätten sonst wohl Mittel und Wege ge- funden, den Prozeß zu hintertreiben. 3 ) Allein der Beharrlichkeit des Anytos gelang es, nicht bloß in Meletos und Lykon Genossen für sein Unternehmen zu finden, sondern auch beim Archon Basileus die Annahme der Klage und die Einleitung des Prozesses zu er- reichen. Damit aber glaubte er, im wesentlichen am Ziel zu sein. Daß Sokrates sich zur Verhandlung wirklich stellen werde, war nicht in Aussicht zu nehmen. Vielmehr war zu erwarten, daß er nach dem Vorgang des Anaxagoras und Protagoras sich durch Flucht der Strafverfolgung entziehen werde. 4 ) Dann hatten die Kläger leichtes Spiel. Da der Angeklagte sich durch seine Ent- fernung selbst ins Unrecht gesetzt hatte, war es leicht, seine Ver- urteilung in contumaciam herbeizuführen. Die ganze Verhand- lung sank zur bloßen Formsache herab. Das Odium, das ein solcher Kulturprozeß und eine Verurteilung des Angeklagten zum Tod auf Ankläger und Richter, ja auf den athenischen Staat laden mußte, war fast ganz vermieden. Dennoch aber war der Zweck der ganzen Aktion erreicht: der Rädelsführer der Modernen war vom Schauplatz entfernt; die anderen aber waren eingeschüchtert und, nachdem sie ihren Führer verloren hatten, nicht weiter zu fürchten. Die Berechnung war nicht übel. Es kam aber in Wirklichkeit anders. Sokrates machte von der Möglichkeit, die ihm rechtlich offen stand, durch freiwillige Selbstverbannung dem Prozeß zu entgehen, keinen Gebrauch. Er nahm den Kampf auf, fest ent- schlossen, ihn energisch durchzuführen. Die Absicht, die er dabei «) Vgl. Plato Apol. 28 A, 22 E f., 18 Bf. u. ö. 2 ) Vgl. Gorgias 461 E. 3 ) Das geht aus Kriton 45 E hervor. 4 ) Daß Anytos so rechnete, läßt sich aus Plato Apol. 29 C entnehmen. Vgl. Th. Gomperz, Griech. Denker II S. 80 und Menzel a. a. O. S. 48 f. Übrigens war ja Sokrates auch rechtlich in der Lage, sich durch Selbstverbannung der Ver- handlung und der Verurteilung zu entziehen (vgl. oben S. 460, 1). Die Katastrophe. 475 hatte, war gewiß nicht, Schuldigsprechung und Todesurteil zu provo- zieren, sei es, wie Xenophons Apologie uns einreden will, um auf gute Manier den herannahenden Beschwerden des Alters zu entgehen und das Leben, von dem er nicht mehr viel zu er- warten hatte, los zu werden, 1 ) sei es, um durch den Tod als Märtyrer seiner Sache die höhere Weihe zu geben. Nicht einmal davon kann die Rede sein, daß er die Katastrophe von Anfang an sicher vorausgesehen und sich eben in sein Schicksal ergeben habe. So lag die Situation ganz und gar nicht. Es war nicht bloß möglich, sondern sogar wahrscheinlich, daß er in dem Kampf Sieger bleiben werde. Offenbar urteilten seine Freunde nicht anders. Denn auch jetzt unterließen sie es, besondere Anstalten zu treffen, um ihrem Meister durchzuheften.-) Man konnte in der Tat hoffen, daß das Geschworenengericht, vor dem die Verhandlung stattfinden sollte, die gerichtliche Anklage ebenso ablehnen werde, wie das Theater- publikum vor 24 Jahren den Vorstoß des Aristophanes gegen Sokrates abgewiesen hatte. Den wenigen unter den Richtern, die grundsätzlich der Anklage und ihrer Tendenz zustimmten, mochten ebenso viele unbedingte Parteigänger des Angeklagten gegenüber- stehen. In ihrer übergroßen Mehrzahl aber hatten die Geschwo- renen vielleicht für den Angeklagten sehr wenig Sympathie; vielleicht ärgerten sie sich auch über das ganze moderne Unwesen. Aber zu einer Verurteilung ließen sie sich wohl auch dann nicht bringen, wenn die Schuld des Sokrates im Sinn der Anklage und die Gefährlichkeit seines Treibens klar erwiesen war. Denn in einem solchen Prozeß einen athenischen Bürger, der im Gefühl seines Rechts zur Verantwortung erschienen war und den Richtern Auge in Auge gegenüberstand, zum Tode zu verurteilen, war doch etwas anderes als einem Landfremden, der der Klage durch die Flucht ausgewichen war, hinterher eine Strafe anzuhängen, die ihm nicht mehr allzu wehe tun konnte. Fraglich war indessen schon, ob es den Anklägern gelingen werde, den Wahrheitsbeweis für ihre Anschuldigungen zu erbringen. Denn daß Sokrates sich in religiös-kultischen Dingen zum mindesten äußerlich korrekt •) Apol. Xenoph. 1 ff., vgl. Mem. IV 8, 8. 2 ) Vgl. hiezu wieder Kriton 45 E. 476 Das sokratische Evangelium. gehalten hatte, war kaum zu bestreiten. Die Anklage stand also auf schwachen Füßen. Und wenn die Verteidigung einigermaßen geschickt ausfiel, so war ein Freispruch so gut wie sicher. Daß auch Sokrates mit einem solchen Ausgang des Prozesses rechnete, haben wir keinen Grund anzuzweifeln. Wenn er trotz- dem vielleicht die Lage ernster beurteilte als seine Freunde, so lag dies daran, daß ihm von Anfang an klar war, welche Bedeu- tung diese Episode für sein Werk gewinnen mußte. Jetzt, am Abend seines Lebens, war er noch gezwungen, mit seinem Wirken an die breite Öffentlichkeit zu treten, und er war entschlossen, dieser Notwendigkeit die volle Folge zu geben. Das war die große Probe auf sein Leben und Wirken, und daß er sie bestehen müßte, stand ihm fest. Dazu aber gehörte nicht allein, daß er sich auch in dieser Situation selbst im Kleinsten treu blieb, daß er sich zu seinem Werke mit rückhaltsloser Offenheit bekannte und von seinen Grundsätzen und Absichten auch nicht das Ge- ringste preisgab. Er mußte vor Gericht seine bisherige Rolle auch positiv weiterführen und die große Gelegenheit, die sich ihm hier bot, vor den Augen ganz Griechenlands für sein sittliches Werk Propaganda zu machen, nach Kräften ausnutzen. Kurz, er mußte auch vor Gericht als der Elenktiker und Protreptiker auf- treten, der er bisher gewesen war. Und der Freispruch durfte, wenn er erfolgte, nicht bloß ein Loskommen von der Anklage, er mußte zugleich ein Sieg seiner Sache werden. Von solchen Erwägungen aus verzichtete er grundsätzlich auf alle besonderen Vorbereitungen und Veranstaltungen für die Verteidigung, wie sie sonst getroffen zu werden pflegten. Advokatenkniffe und Rühr- szenen verboten sich ihm von selbst. Aber er wollte auch nicht durch rhetorische Kunst, an der es ihm schwerlich fehlte, den gewünschten Effekt erzielen. Die Absicht, die ihn leitete, forderte, daß er sich in der Gerichtsverhandlung genau so gab wie bisher auf dem Markte und in den Turnhallen, wenn er die Menschen für sein Evangelium zu werben suchte. 1 ) l ) S. hiezu die Einleitung der platonischen Apologie 17A— 18A, ferner den Schluß der 1. Rede, Apol. 34C-35D, und Xen. Apol. 1 ff. (vgl. Mem. IV 4, 4. 8, 5f). Xenophon will in seiner Apologie, wie er zu Anfang ankündigt, vor allem die vielberedete ueyaXrj-yoQia, mit der Sokrates in der Gerichtsverhandlung sprach, erkläret]. Den ganzen Tenor dieser /j.eyukrjyogia hat offenbar Plato in seiner Die Katastrophe. 477 So betrachtet mußte ihm die Gerichtsverhandlung als ein ernster Entscheidungskampf erscheinen. Zu wirklichen Besorg- nissen war immerhin auch von hier aus kein Anlaß. Wie es indessen auch gehen mochte: Sokrates war entschlossen, von der Linie, die er sich vorgesetzt hatte, nicht einen Finger breit abzuweichen. So kam es zur Verhandlung vor dem heliastischen Schwur- gericht. Über den Verlauf derselben im einzelnen wissen wir nur das Wenige, was wir aus den beiden Apologien und aus der Schutzschrift der Memorabilien l ) mit einiger Sicherheit erschließen können: die späteren Berichte sind unzuverlässig. Fest stehen immerhin die äußeren Umrisse des Dramas. Nach Erledigung der üblichen Formalitäten erhielt Meletos Apologie ausgezeichnet getroffen und auch treffen wollen. So wenig die pla- tonische Apologie eine Rekonstruktion der wirklichen Gerichtsreden des Sokrates sein will, so sehr hält sie sich doch — das fordert ja die Fiktion selbst, mit der der Autor operiert — an deren Ton und Tendenz, wie sie sich ja auch im wesent- lichen ganz an den Verlauf der Gerichtsverhandlung anschließt. Am Schluß der ersten Rede, 34 C— 35 D, rechtfertigt und motiviert Plato seinerseits ausdrücklich eine Seite der sokratischen fieycclijyogta, die eben damit als historisch voraus- gesetzt wird (vgl. oben S. 114f.). Und in der Einleitung, 17A— 18A, will der Autor ganz offenkundig die Intention des sokratischen Verhaltens vor Gericht zeichnen und ins rechte Licht rücken. Man darf eben nicht vergessen, daß die Apologie sich auch die Aufgabe setzt, das Auftreten des Sokrates vor Gericht in ihrer Weise zu verteidigen. Sie tut dies aber allerdings, indem sie diese /xe- yaXijyogla des Meisters zugleich auf den Hintergrund seines ganzen Wirkens stellt. ') Wobei aber immer im Auge zu behalten ist, daß Mem. I 2, 9—61 nicht auf die gerichtliche Anklage geht, sondern auf die des Polykrates. Daß indessen auch gegenüber I 1, 2—2, 8 und ebenso gegenüber der xenophontischen Apologie in dieser Hinsicht sich Vorsicht empfiehlt, wissen wir. Jedenfalls ist im Auge zu behalten, daß die xenophontische Apologie nicht vor der Mitte der achtziger Jahre geschrieben sein kann. — Von der platonischen Apologie dürfen wir, wie schon S. 104 bemerkt wurde, wenigstens annehmen, daß sie sich in ihrer äußeren Anordnung an den Gang der Verhandlung gehalten hat. Schon dadurch aber ist immerhin zugleich ein Anhaltspunkt gewonnen, um eine Anzahl histo- rischer Reminiszenzen als solche zu erkennen. Dazu kommt, daß der Autor doch auch die Absicht hat, das Auftreten des Sokrates vor Gericht selbst zu verteidigen und ins rechte Licht zu setzen (vgl. die vor. Anm.). Auch von hier aus wird es möglich, der platonischen Apologie gewisse historische Daten zu entnehmen. Nimmt man hinzu, daß sich andererseits eine Reihe offensichtlicher Fiktionen unschwer als solche bezeichnen lassen, so erweist sich Piatos Apologie für unseren Zweck doch nicht als ganz unergiebig (vgl. übrigens S. 104 ff.). 478 Das sokratische Evangelium. zur formellen Begründung der Anklage das Wort. Die Klage- schrift umfaßte drei Punkte: Unglaube gegenüber den Staats- göttern, Einführung anderer, neuer Daimonien und Verführung der Jugend, und es ist zu vermuten, daß der Redner dieselben der Reihe nach durchnahm. Die Aufgabe war nicht leicht. Schon der erste Punkt machte erhebliche Schwierigkeit. So sicher der Instinkt den Kläger hier die Wahrheit ahnen ließ, so schwer war es für einen Mann, der in die sokratischen Anschauungen nicht intimer eingeweiht war, den juristischen Beweis für die Anklage zu führen. In der Tat vermochte Meletos in diesem Teil wohl nicht viel mehr vorzubringen, als was der vulgäre Klatsch zu erzählen wußte. Insbesondere scheint er dem Angeklagten An- schauungen und Äußerungen zur Last gelegt zu haben, die dem Anaxagoras angehörten, dem Sokrates aber durchaus fremd waren. Noch unsicherer war der Ankläger, wie es scheint, in der Be- gründung des zweiten Punkts. Da scheint er sich ganz unbe- stimmt auf die stadtbekannten Äußerungen des Sokrates über sein Daimonion berufen zu haben; diese hatten längst Anstoß erregt, und man konnte aus ihnen immerhin religiöse Normwidrigkeiten herauslesen. Der Hauptpunkt der Anklage aber war offenbar der dritte, und hier hatte der Redner leichteres Spiel. Er scheint denn auch nach dieser Seite etwas weiter ausgeholt zu haben; nicht aus- geschlossen ist insbesondere, daß er den Sokrates hier mit den Sophisten in engen Zusammenhang brachte. Indessen auch in diesen Ausführungen war ihm durch die Klageschrift Reserve auferlegt. Der Sinn des dritten Klagepunktes nämlich war, daß Sokrates die Jugend insofern verführe, als er sie in seine eigenen Verfehlungen verstricke, d. h. sie zum Unglauben gegenüber den Staatsgöttern und zum Glauben an neue Daimonia veranlasse. 1 l ) Daß der dritte Punkt so gemeint war und begründet wurde, geht aus Plato Apol. 26 B unwiderleglich hervor. Hier fragt Sokrates den Meletos : nwq ߣ cpqq öta<pd-elgeiv, d Mekrjze, rovq vecazsgovq; rj SrjXov örj ort xaza zrjv yga~ (prjv, rjV iypüxpa), 9sobq öiödaxovza fx/j voydX^nv ovq 27 nöliq vo(jiit,ei, szega 6h dcu/uövia xaivd; ov zavta Xiysiq, ozi öiöuoxwv Stacp&eipco; Und Meletos ant- wortet: ndvv ixev ovv cHpööga zavza ktyiv. Daß unter diesem dritten Punkt dem Sokrates auch die Erschütterung der väterlichen Autorität schuld gegeben worden sei, wie Menzel, a. a. O. S. 37, unter Berufung auf Xen. Apol. 20 und wohl auch mit Rücksicht auf den weiteren Asebiebegriff, der sich in der pseudo-aristotelischen Schrift liegt dgszwv xal xaxaöv 7. 1251a 31 ff. findet (Menzel S. 20), annimmt, Die Katastrophe. 479 Die ganze Rede des Meletos war wenig glücklich, und wenn auf sie hin die Abstimmung erfolgt wäre, hätte die Anklage — wie Plato (Apol. 36 AB) glaubhaft berichtet — wohl kaum den fünften Teil der Stimmen gewonnen. Nun aber trat Anytos hervor. Der erfahrene Politiker wußte, wie viel auf dem Spiele stand. Er sprach kurz und eindrucksvoll. Auf Einzelheiten ließ er sich, wie es scheint, nicht ein. Dagegen legte er den Richtern eindringlich dar, daß, so wie die Dinge jetzt liegen, der Prozeß nur mit der Verurteilung des Angeklagten enden dürfe. Wollte man nicht zum Äußersten gehen, so hätte man die Sache gar nicht anfangen dürfen. Nachdem aber einmal der Prozeß ein- geleitet sei und der Angeklagte — wider Willen und Erwarten der Ankläger — sich gestellt habe, bleibe keine Wahl mehr. Ein Freispruch würde das Übel noch viel schlimmer machen, als es zuvor schon war. Denn die Folge würde sein, daß die heran- wachsende Generation durch das moderne Gift vollends ganz ruiniert würde. 1 ) Das war Anytos' ehrliche Überzeugung. Um so mehr werden seine Worte gewirkt haben. Nachdem dann noch der dritte der Ankläger, Lykon, ge- sprochen hatte (Apol. 36 A), war die Reihe zu reden an dem Angeklagten. So viel war nicht zu verkennen, daß die Stimmung des Richterkollegiums sich zu Ungunsten des Angeklagten ge- ändert hatte. Noch aber war die Lage für ihn nichts weniger als verzweifelt. Alles hing von der Art seines persönlichen Auf- tretens ab. Was Sokrates nun in seiner Verteidigungsrede wirklich ge- sagt hat, können wir leider nur vermuten. Natürlich hat er sich bemüht, die Anklagepunkte zu widerlegen. Und es ist anzu- nehmen, daß er auf sein einwandfreies Verhalten in religiösen Dingen hinwies, 2 ) daß er die irrtümlichen Vorstellungen des Meletos ist ausgeschlossen, wie u. a. auch Plat. Apol. 33 D ff. beweist, wo auf diesen Vor- wurf hätte eingegangen werden müssen, wenn er erhoben worden wäre. Daß Xen. Apol. 20 bereits auf die polykratische Karriyogia Bezug nimmt, wissen wir (S. 15, 2). ») Apol. Plat. 29C. 36AB (vgl. 30B. 31 A). 2 ) Vgl. Xenophon, Schutzschr. Mem. I 1, 2, Apol. 11. Im übrigen sind wir hauptsächlich auf Schlüsse aus der platonischen Apologie angewiesen, die freilich an manchen Punkten unsicher bleiben (vgl. das S. 477, 1 Gesagte). 480 Das sokratische Evangelium. von seinem Tun und Treiben berichtigte und hiebei auch seine Stellung zu Sophisten und spekulativen Philosophen berührte, daß er ferner die Ausführungen des Klägers über das Daimonion ironisch zerpflückte und den Richtern kurz andeutete, wie es sich damit verhielt, daß er schließlich auch auf den Vorwurf der Jugend- verführung einging und hervorhob, wie nicht bloß unter den vielen, die ihm einst näher getreten und inzwischen zu Jahren gekommen seien, sondern auch unter deren Verwandten, denen doch das Wohl ihrer Angehörigen am Herzen liege, kein einziger sich finde, der gegen ihn Zeugnis abzulegen bereit sei. Durch die ganze Rede aber zog sich die Schilderung der sittlichen Werbearbeit, zu der er sich berufen glaubte, hindurch. Daß er hiebei sich mit starker Betonung auf den Spruch des delphischen Orakels berief, der ihn als den weisesten der Menschen bezeichnete, kann, wie oben (S. 112f.) schon bemerkt ist, als sicher gelten. Auch sonst hat er wohl nicht versäumt, seine Vergangenheit in geeignete Beleuchtung zu rücken. Vielleicht hat er hier insbesondere auch auf die persönlichen Opfer, die er in seinem Bemühen um die geistige Erweckung und Erneuerung Athens der geliebten Heimat gebracht hatte, hingewiesen. Das alles aber brachte er nicht im Ton des Bittenden vor, der sich an das Wohlwollen der Richter wandte. Er dachte nicht daran, irgend etwas zu beschönigen und zu verteidigen. Er machte aus dem stolzen Bewußtsein gar kein Hehl, daß er dem athenischen Volk den größten Dienst er- wiesen habe, den es geben könne. Dabei sprach er ganz in seiner alten, ironisierend-überlegenen Weise, die vielen so sehr auf die Nerven gegangen war. Aber auch in diesem Augenblick fand seine Dialektik gewiß Worte, die empfänglichen Zuhörern in die Seele greifen mußten. Kurz, wir werden nicht bezweifeln dürfen, daß er in dieser entscheidenden Stunde den ganzen Zauber seiner dialektischen Kunst entfaltete. So wurde diese Verteidigung das, was sie nach Sokrates' Absicht werden sollte: ein freimütiges Bekenntnis zu seinem Werk und zugleich eine würdige Fort- setzung desselben, ein öffentlicher Appell an die Zurückgebliebenen, die noch nicht sittlich wach geworden waren. Für solche Töne war nun freilich das Richterkollegium völlig taub. Man hatte anderes erwartet: Nachgiebigkeit, Konzessionen, Zusage künftiger Besserung. Dann war man geneigt, Gnade für Die Katastrophe. 481 Recht ergehen zu lassen. Gerade das Gegenteil von alledem war eingetroffen. So hatte sich die Situation rasch geändert. Schon während seiner Rede war Sokrates wiederholt durch lebhaftes Murren unterbrochen worden. Als er fertig war, hatte er selbst wohl das Gefühl, daß seine Sache verloren war. 1 ) Das erste Stadium der Verhandlung ging dann rasch zu Ende. Noch wurden die von den beiden Parteien aufgerufenen Zeugen verhört. Auch einige Freunde des Sokrates scheinen hiebei noch zu seinen Gunsten ausgesagt zu haben. 2 ) Dann schritt man zur Abstimmung. Diese ergab die Schuldigsprechung. Aber die Majorität, die sich hiefür entschied, war über Erwarten klein, sehr viel kleiner, als wohl der Angeklagte selbst schließlich erwartet hatte. 3 ) ') S. hiezu den Anfang der 2. Rede der plat. Apologie, Apol. 36A. 2 ) So Xen. Apol. 22. Die Notiz ist vielfach angefochten worden, so namentlich auch von Wilamowitz, Hermes 32 S. 103. S. dagegen Menzel a. a. O. S. 50, S. 6. Die Stelle Ap. PI. 34 C, wo Sokrates kategorisch erklärt, er verzichte darauf, den üb- lichen Apparat von bittflehenden Kindern und sonstigen Angehörigen und Freunden vor den Richtern zu seiner Verteidigung aufzubieten, schließt, wie mir scheint, nicht einmal die Möglichkeit bestimmt aus, daß nach Sokrates noch einige seiner Freunde als owT/yopot aufgetreten sind (vgl. hiezu Meier-Schömann-Lipsius, Der attische Prozeß II S. 920 ff.). Immerhin mag man das, da sonst keine Spur hierauf hinweist, für unwahrscheinlich halten. Daß Sokrates Entlastungszeugen für sich auftreten ließ, ist sicher, und daß unter diesen nähere Freunde des Sokrates sich befanden, ist ebenfalls nicht zu bezweifeln. S. hiezu Apol. Plat. 21 A Schi., wo der Bruder des verstorbenen Chairephon als Zeuge bezeichnet wird, der die Wahrheit des von Sokrates Erzählten bestätigen werde. Vgl. ferner 33D— 34B: daß die hier genannten Männer, die Meletos eigentlich als Zeugen für seine Behauptungen hätte benennen müssen, wenn er dies gekonnt hätte (34 A), nicht bloß bereit waren, dem Sokrates zu ßoqSsiv (34 A Schi., vgl. 34 B), daß sie das vielmehr auch wirklich getan haben, ist doch gleichfalls zweifellos. Auf solche Zeugenaussagen aber kann sich die xenophontische Notiz Apol. 32 recht wohl bezogen haben. Freilich was Diogenes Laert. unter Berufung auf Justus von Tiberias über ein Auftreten Piatos in der Verhandlung erzählt, halte auch ich für spätere Fabel. Andererseits ist aber sicher auch die Anekdote, die Diogenes unmittelbar vorher bringt — Lysias habe dem Sokrates eine von ihm verfaßte Verteidigungsrede angeboten, doch sei das Anerbieten von diesem ab- gelehnt worden — , nur eine Erfindung, die sich an das Vorhandensein einer Verteidigungsrede des Lysias für Sokrates anknüpfte; die letztere selbst war eine Entgegnung auf die Karrj-yogla üwxqutovq des Polykrates. 3 ) Apol. PI. 36A. Daß in der Stelle nicht rpelq sondern xQiäxovza zu lesen ist, ist heute ziemlich allgemein angenommen. Streit herrscht aber immer noch darüber, wie diese Angabe Piatos mit der Notiz des Diogenes II 41, wonach H. Ma i er, Sokrates. 31 482 Das sokratische Evangelium. Es zeigte sich, daß das Kollegium nur mit Widerstreben das Schuldig ausgesprochen hatte. Wenn der Eindruck, den die Person und das Auftreten des Angeklagten gemacht hatte, nur ein wenig vorteilhafter gewesen wäre, wäre die Entscheidung trotz Anytos' Klugheit anders ausgefallen. Immer noch indessen ließ sich das Äußerste abwenden. Da die Asebieprozesse zu den „schätzbaren" (ayöjvsg Tiar\roi\ für die das Gesetz eine bestimmte Strafe nicht vorgesehen hatte, ge- hörten, 1 ) war nun noch die Strafe festzusetzen. Von der Anklage war der Tod beantragt. Und Anytos hatte in seiner Rede energisch hierauf bestanden. Nachdem die Dinge einmal so weit gediehen waren, schien ihm die Verbannung eine halbe Maßregel, die ja zudem jeden Augenblick wieder rückgängig gemacht werden konnte. 2 ) Die Geschworenen indessen waren wenig geneigt, hierauf einzugehen. Sie wären gerne den mittleren Weg ge- gangen: mit Verbannung schien ihnen die Schuld genügend ge- Sokrates xareöixäo9-T] öiaxooioig oyöorjxovxu (tiä nksloat xpj]<poiq tüjv anokvov- aoiv, zu vereinigen ist. Nun scheint das klar zu sein (vgl. Schanz, Apologia S. 193), daß die Angabe des Diogenes insofern ein Mißverständnis enthält, als die Zahl 281 nicht das Plus der verurteilenden Stimmen gegenüber den frei- sprechenden, sondern die Zahl der verurteilenden Stimmen selbst ist; Diogenes wird in seiner Quelle die Notiz gefunden haben, Sokrates sei mit einer Mehrheit von 281 Stimmen verurteilt worden. Dann aber lösen sich die Schwierigkeiten. Der Gerichtshof war besetzt mit 501 Richtern (500+1, vgl. Lipsius, Das attische Recht und Rechtsverfahren I S. 157 f.). Nach der richtig verstandenen Angabe des Diogenes stimmten also für Sokrates 220, gegen ihn 281, und das Plus der verurteilenden Stimmen über die freisprechenden betrug 61. Plato aber sagt: wenn nur 30 Stimmen anders gelautet hätten (freisprechend statt verurteilend), so wäre Sokrates freigesprochen worden. Wenn er genau sein wollte, mußte er statt 30 sagen: 31. Aber ist es eine gar zu große Ungenauigkeit, wenn er die „runde" Zahl 30 statt 31 gibt? Nun meint allerdings Zeller S. 198,1, nach dem Zusammenhang müsse man eine ganz genaue Zahlenangabe erwarten, und Schanz sagt geradezu: „die Annahme einer runden Zahl ist hier absolut unmöglich." Ich muß indessen offen bekennen: mir ist es ganz unverständlich, warum Zeller hier eine ganz bestimmte Zahlenangabe erwartet, und noch unbegreiflicher ist mir die apodiktische Sicherheit, mit der Schanz die Annahme einer runden Zahl ausschließt. Mir scheint im Gegenteil: die runde Zahl entspricht viel mehr dem ganzen Tenor der Rede als eine pedantisch genaue Zahlenangabe. Sokrates sagt den Richtern: 30 Stimmen mehr für mich, und ich wäre freigesprochen. !) S. Lipsius a. a. O. II S. 248 ff. 2 ) Apöl. PI. 29 C, 30 B, 31 A. Die Katastrophe. 483 sühnt. 1 ) Allein zum zweiten Mal wurden ihre Intentionen durch Sokrates selbst durchkreuzt. Nach attischem Prozeßrecht stand es dem Schuldiggesprochenen zu, dem Strafantrag der Anklage einen anderen entgegenzustellen. Hätte Sokrates nun jetzt den Antrag auf Verbannung gestellt, so wäre derselbe zweifellos mit starker Mehrheit durchgegangen. Wieder aber trat das Uner- wartete ein. Zunächst lehnte der Schuldiggesprochene die Stellung eines Strafantrags bestimmt ab mit der Begründung, das käme einem Schuldbekenntnis gleich. 2 ) Schon dieses Verhalten mußte die Richter, die dadurch zugleich in eine peinliche Verlegenheit gesetzt wurden, 3 ) reizen. Noch schlimmer aber war das Weitere. Auf Zureden seiner Freunde, wie es scheint, bequemte sich So- krates schließlich zur Einhaltung der prozessualen Form und be- antragte für sich eine seinen Vermögensverhältnissen entsprechende Geldstrafe von einer Mine, und nachdem wohlhabende Schüler durch Zuruf ihm ihre Bürgschaft angeboten hatten, eine solche ') In Apol. 37 C läßt Plato den Sokrates zu den Richtern sagen : alla 6fj <pvyt t q rißTjowfxai; i'owq yag äv ßoc xovxov ziftt'/ocuze. Hiezu vgl. Kriton 52 C. 2 ) Wie es mit dem Antrag auf Speisung im Prytaneion steht — auch Diogenes L. II 42 berichtet hievön; aber seine Quelle ist Ohne Zweifel die platonische Apologie — , ist schon S. 115 gezeigt worden. Zu vermuten ist, daß auch die xenophontische Apologie hierin eine Erfindung platonischer Ironie sah: sie hätte sonst wohl nicht versäumt, diesen Zug von (xeyaXrjyoQia des Sokrates aufzu- nehmen. Augenscheinlich lehnt sich die Schutzschrift in Mem. I 2, 62 an die platonische Stelle über den Antrag der Speisung im Prytaneion an. Xenophon sagt hier: 'Eftol ixev örj SwxgäxTjq xoiovxoq wv £ö6xel xi/xf/q dgioq eivou xfi nöXei (jlüIXov ?] Savüxov. Daraus läßt sich erschließen, daß Xenophon jenen Antrag als einen platonischen Gedanken betrachtete, den er sich nun in unbestimmterer Fassung zu eigen machte. E. Meyer (V 227) hält es nicht für möglich, daß Plato gewagt hätte, die Forderung der Speisung im Prytaneion zu erfinden. Allein Plato hat doch, gerade in der Apologie, noch ganz andere Dinge gewagt. — Im übrigen lehnt Sokrates nicht bloß in der xenophontischen Apologie (23), sondern auch in der platonischen zunächst die Stellung eines Strafantrages über- haupt ab, 37 B und CD, und zwar hier wie dort mit der Motivierung, daß das so viel wie ein Schuldbekenntnis wäre. Ja, in der platonischen Apologie nimmt Sokrates sogar Stellung zu der Konsequenz, die der Verzicht auf einen eigenen Strafantrag für ihn haben mußte: da dann kein anderer Antrag als der des An- klägers, der auf Tod lautete, vorlag, blieb den Richtern nichts anderes übrig als die Verurteilung zum Tod (s. die nächste Anm.). Das ist der Sinn des Satzes 37 B: xi Ssiaaq; rf /nrj nüS-u) xovxo, ov MsXrjxöq fioi rifzäxat . . .,• ^ Da sie nur die Wahl zwischen den beiden Anträgen der Klagepartei und des Angeklagten hatten (Lipsius, Das attische Recht und Rechtsverfahren II S. 253 ff.). 31* 484 Das sokratische Evangelium. von dreißig Minen. 1 ) Das war nun offenbar ein grausamer Hohn. Eine Geldstrafe als Sühne für ein solches Delikt! Jetzt gab es für die Geschworenen keine Milde mehr. Mit großer Mehrheit wurde der Schuldiggesprochene zum Tode verurteilt. 2 ) 1 ) So Plato, Apol. 38 AB. Diese Darstellung für unhistorisch zu halten, haben wir keinen Anlaß. Zwar sieht es so aus, als wollte Xenophon Apol. 23 gegen sie protestieren: . . xeksvö/xevoq vnoxuxäa&ai ovze avzoq vnszifXTjoazo ovze zovq (plXovc; si'aasv.. Allein diese letzteren Worte können sich, genau be- sehen, doch nicht gegen Plato richten; denn Plato sagt ja nicht, die Freunde des Sokrates haben einen Antrag gestellt, sondern Sokrates selbst sei durch seine Freunde veranlaßt worden, Apol. 38 B. Die xenophontische Darstellung macht hier zudem ganz den Eindruck der Abhängigkeit von der platonischen. Ver- mutlich hat aber Xenophon die schließlichen Anträge des Sokrates auf Geld- strafen, von denen Plato berichtet, für nicht ernst gemeint gehalten und sie deshalb in seiner summarischen Darstellung ignoriert. Den platonischen Bericht selbst für eine Fiktion zu halten, die wiederum dazu dienen sollte, der höhnischen Gering- schätzung Piatos gegenüber dem Gericht und der Gerichtsverhandlung Ausdruck zu geben — wie W. Schmid (Christ-Schmid I S. 652, 5) will — , geht meines Er- achtens nicht an. Möglich wäre diese Auffassung allenfalls, wenn es bei dem ersten Antrag (auf eine Mine) bliebe, wenn die Rede also schließen würde mit den Worten: zooovzov ovv zifAÖJfxai. Was für einen Sinn hätte dann aber die nachträgliche Erhöhung der beantragten Strafsumme auf 30 Minen, die ja immerhin ein gewisses Entgegenkommen gegenüber dem Gericht bedeutet? Und was für einen vor allem die ausdrückliche Bemerkung, daß Plato, Krito, Kritobulos und Apollodoros die Anregung zu dieser Erhöhung gegeben hätten und bereit seien, für die beantragte Summe Bürgschaft zu leisten? Verständlich werden alle diese Angaben doch nur dann, wenn sie als historisch betrachtet werden dürfen (vgl. E. Meyer V S. 227). Aus der platonischen Darstellung geht aber auch hervor, daß Sokrates nur ungern und zögernd sich dazu verstanden hat, eine Geldstrafe für sich zu beantragen (38 A Schluß und B Anf., 37 C), und es ist nicht unwahr- scheinlich, daß er schön hierin eben nur dem Drängen seiner Freunde nach- gegeben hat. Übrigens hat auch Diogenes L. (II 41) die Nachricht, daß Sokrates eine Geldstrafe für sich beantragt habe, und zwar in zwei Versionen, von denen keine aus der platonischen Apologie geschöpft ist. Nach der einen betrug die beantragte Summe 25, nach der anderen 100 Drachmen; und für die zweite An- gabe, die mit dem ersten Antrag der Apologie übereinstimmt, führt Diogenes als seinen Gewährsmann Eubulides an (vermutlich den gleichen, der nach VI 20 ein Buch über den Kyniker Diogenes geschrieben hat; ob derselbe mit dem Megariker Eubulides identisch ist, läßt sich nicht sagen; Zeller bezweifelt es wohl mit Recht). Dieser Eubulides selbst kann allerdings sein Wissen aus der pla- tonischen Apologie haben; dann weicht aber immer noch die erste Version von der Angabe der Apologie ab. 2 ) Nach Diog. L. II 42 kamen zu den 281 Stimmen der ersten Abstimmung in der 2. noch 80 hinzu. Öie Katastrophe. 485 Daß dieses ganze Vorgehen im zweiten Stadium der Ver- handlung nun wirklich eine Provokation der Todesstrafe war, ist offenkundig. Was hat den Sokrates hiezu veranlaßt? Schon seine Jünger haben sich darüber den Kopf zerbrochen. Und Xenophon sowohl als Plato wissen gewisse Zweckmäßigkeitsgründe dafür anzuführen, daß er die einzige Möglichkeit, die außer der Todesstrafe in Betracht kam, die Verbannung, abgelehnt habe. 1 ) Diese wollen aber nicht recht verfangen. So groß wäre das Un- glück wirklich nicht gewesen, wenn der Meister statt in Athen im nahen Megara, wo er sicher mit offenen Armen aufgenommen worden wäre, den Rest seines Lebens hätte zubringen müssen. Und von den Beschwerden des Alters, denen er durch die Hin- richtung zu entgehen hoffen konnte, hatte er bis jetzt noch nicht eben viel verspürt. Wahrscheinlich ist ja, daß er in seinen letzten Wochen in diesem Sinn von den Altersbeschwerden und dem Leben in der Fremde gesprochen hat. Allein entscheidend waren für ihn solche Erwägungen, die nicht dazu angetan waren, sein Verhalten von dem Makel der Frivolität zu lösen, sicherlich nicht. Wieder aber läßt uns die platonische Darstellung auch das wirk- liche Motiv erkennen. 2 ) Wäre Sokrates ein Philosoph wie Ana- xagoras oder ein Sophist wie Protagoras gewesen, so hätte er ohne wesentlichen Schaden den Schauplatz seiner Tätigkeit wech- seln können. In Wahrheit war er weder das eine noch das andere. Sein sittliches Wirken aber war — darauf ist im ersten Kapitel nachdrücklich hingewiesen worden — unlöslich mit seiner Vater- stadt verknüpft. In Athen sah er das ihm bestimmte Arbeitsfeld. Ein Verlassen Athens erschien ihm darum als ein Verzicht auf seine Arbeit. Und ein Antrag auf Verbannung, von ihm selbst gestellt, war ihm gleichbedeutend mit Untreue gegen seinen Beruf und Verleugnung seiner Lebensaufgabe. Wollte er sich selbst ') Besonders bemüht hat sich in dieser Hinsicht Xenophon, der aber aller- dings, wie wir wissen, das Verhalten des Sokrates so schildert, als hätte dieser von Anfang an die Verurteilung zum Tod in Aussicht genommen. Xenophon will also zeigen, aus welchen Gründen Sokrates keine Anstalten getroffen habe, das Todesurteil abzuwenden, Apol. 1. 5 ff. 27 ff. 32, Mem. IV 8, 1. 6 ff. Vgl. ferner Plato, Kriton 53 A— 54 A: daß ein Teil dieser Erwägungen sich faktisch auch auf das Verhalten des Sokrates vor der Abstimmung über das Strafmaß bezieht, ist augenscheinlich. 2 ) Plat. Apol. 37C-E. 486 Das sokratische Evangelium. und seiner Pflicht treu bleiben, so durfte er die Hand zu einer solchen Maßregel nicht bieten. Für Sokrates war mit dem Schuldig, das die Geschworenen aussprachen, die letzte Entscheidung ge- fallen. Eine Wahl zwischen Tod und Verbannung gab es für ihn nicht, wenn er selbst wählen mußte. So war ihm der Tod auf- gezwungen. Er empfand ihn als einen Märtyrertod im Dienst seiner Pflicht, dem er sich nicht entziehen durfte. In diesem Sinne scheint er sich auch, nachdem das Todesurteil gefallen war, noch vor den Geschworenen selbst, soweit diese ihm standhielten, ausgesprochen zu haben. 1 ) Für die Fernerstehenden und auch für manche Glieder des sokratischen Kreises war mit dem Todesurteil indessen noch nicht das letzte Wort gesprochen. Daß Versuche gemacht werden würden, den Verurteilten aus dem Gefängnis zu befreien und ihm zur Flucht aus Athen zu verhelfen, wurde als selbstverständlich erwartet, und es fehlte wirklich nicht an diensteifrigen Freunden, die tatkräftig Hand anlegten und damit frühere Versäumnisse wieder gut zu machen strebten. 2 ) Die äußeren Verhältnisse lagen J ) Die 3. Rede der platonischen Apologie ist ihrem Inhalt nach zweifellos ein Erzeugnis des Autors. Noch mehr gilt dies von der 3. Rede bei Xenophon, die zudem von der platonischen abhängig ist. Soweit stimme ich v. Wilamowitz, Hermes 32 S. 104f. zu. Dagegen lasse ich die Möglichkeit offen, daß Sokrates nach der Fällung des Todesurteils noch einige Worte zu denjenigen unter den Geschworenen, die ihn noch anzuhören geneigt waren, gesprochen hat. Das war nicht unmöglich (vgl. Meier- Schömann-Lipsius, Attischer Prozeß S. 957, 550): die Zeit zwischen der Beendigung der Abstimmung über die Strafe und der Abführung in das Gefängnis scheint von den Verurteilten öfters in dieser Weise ausgefüllt worden zu sein. So wohl auch von Sokrates. Plato, der sich ja offenkundig im ganzen an den äußeren Verlauf des Prozesses gehalten hat, hat wohl auch hier einen historischen Anknüpfungspunkt gehabt. Und eine Bemerkung weist hierauf ganz bestimmt hin. In 39 E läßt der Autor den So- krates sagen: „mit denen aber, die für mich gestimmt haben, möchte ich gern noch über das, was sich jetzt zugetragen hat, reden, solange die Beamten — nämlich die Elfmänner — noch beschäftigt sind und ich noch nicht dahin ab- geführt werde, wo ich werde sterben müssen. Haltet denn so lange bei mir aus, ihr Männer; nichts hindert uns, uns miteinander zu unterhalten, solange es erlaubt ist." Was aber Sokrates damals noch verhandelt hat, können wir uns denken: er wird mit seinem Urteil über das Geschehene nicht zurückgehalten und zu- gleich sein eigenes Verhalten motiviert haben. So viel läßt sich immerhin auch aus den platonischen Ausführungen erschließen. 2 ) Hiezu und zum Folgenden s. außer dem Kriton und Diog. L. II 60 und Die Katastrophe. 487 so günstig wie möglich. Der Vollzug des Todesurteils mußte bis zur Rückkehr des delischen Festschiffs, das am Tag vor der Ver- urteilung ausgerüstet worden war, verschoben werden. Damit war eine Frist von dreißig Tagen gewonnen. Am Gelingen des Ent- führungsplans war um so weniger zu zweifeln, als man in Athen mit einem solchen Ausgang des Dramas wohl zufrieden gewesen wäre. Sokrates blieb fest. Er konnte ja auch nicht anders. Er wäre sich selbst verächtlich geworden, und sein Verhalten vor Gericht, zumal die Weigerung, den Verbannungsantrag zu stellen, wäre zur lächerlichen Farce herabgesunken, wenn er jetzt, nach- dem er so große Worte gesprochen, sich heimlich aus dem Ge- fängnis weggestohlen und in die Fremde geflüchtet hätte. Es war aber noch etwas anderes, das ihn jetzt band. Sokrates hatte im Leben denen, die um ihn waren, immer und immer wieder die strikte Unterwerfung unter das positive Recht des Staats zur sittlichen Pflicht gemacht. Wie nun, wenn er selbst, wo es die ernste Probe galt, diesen Grundsatz in den Wind schlug? Von einem Naturrecht, das ihn als Schuldlosen ermächtigt hätte, sich über das Gesetz des Staats und seine Entscheidung zu stellen, wußte er nichts und wollte er nichts wissen. Auch von dieser Seite blieb ihm also nichts übrig als sich in die Vollstreckung des Urteils zu fügen. Die Wochen zwischen der Verurteilung und der Hinrichtung wußte er wohl zu nutzen. Tag für Tag erschienen die Vertrauten bei ihm im Gefängnis. Was da verhandelt wurde, können wir erraten. Äußerlich waren diese Unterhaltungen nur die Fort- setzung der Diskussionen, wie sie in dem sokratischen Kreise üblich waren. 1 ) Aber daß Sokrates auch von dem sprach, was damals die Herzen der Freunde aufs tiefste erregte, von seinem Verhalten vor Gericht, vom Todesurteil und von seinem Aus- harren im Gefängnis, daß er ihnen ferner sagte, wie er vom Tod dachte, und von dem, was nach dem Tode kommt, ist gewiß. Und nicht minder sicher ist, daß der Meister in der kurzen Zeit, die ihm noch blieb, mit den Jüngern auch von der Zukunft sprach, von dem künftigen Schicksal seines Werks, das er nun in III 36 auch Phaidon 98Ef. und Xenoph. Apol. 23. Plutarch adv. Colot. c. 32 hat zweifellos aus dem Kriton geschöpft. Zum Kriton s. oben S. 1 1 9 f f . ») Phaidon 59D vgl. 59A; Xenoph. Mem. IV 8, 2. 488 Das sokratische Evangelium. ihre Hände legte, von den Aufgaben, die ihrer harrten, und den Widerständen, die sie zu überwinden haben würden. Ein Wider- hall dieser Gespräche offenbar sind die Gedanken, die Plato in der dritten Rede der Apologie und auch im Kriton in seiner Weise gestaltet hat. In jenen ernsten Tagen aber fand Sokrates auch noch Muße und Stimmung zu scherzhaften Dingen:" wenn er im Gefängnis allein war, versuchte er sich, was er in seinem ganzen Leben noch nie getan hatte, — im Dichten. Einen Lobgesang auf Apollo brachte er fertig. Da aber sah er, daß er zum Dichter nicht eben geboren war, und er begnügte sich weiterhin, äsopische Fabeln in Verse zu bringen. Mit heiterer Selbstverspottung er- zählte er den Freunden von diesen Versuchen, die für sie doch den Wert hatten, daß sie zeigten, mit welch sorglosem Gleichmut der Meister der Hinrichtung entgegensah. 1 ) Von seinen letzten Stunden hat uns Plato im Phaidon jene meisterhafte Schilderung 2 ) entworfen, die in ihrer schlich- ten Größe jeden Leser aufs tiefste ergreifen muß. Zwar die Reden, die hier dem Sokrates in den Mund gelegt werden, sind, auch im Gedankengehalt, durchaus platonisches Gut. Um so weniger läßt sich an der historischen Wahrheit der umrahmenden Erzählung zweifeln. 3 ) Allerdings war Plato selbst beim Tode des Meisters nicht gegenwärtig gewesen; er war damals durch Krank- heit ferngehalten. Aber es ist ja selbstverständlich, daß er sich von den Freunden über dieses Sterben eingehenden Bericht hatte erstatten lassen. Die Art, wie Sokrates in den Tod ging, ist das glänzendste Zeugnis dafür, daß er selbst das sittliche Glück, das er seinem Volke bringen wollte, in vollkommenem Maße gefunden hatte. Schöner und sieghafter kann ein Mensch nicht sterben. An dem Frieden aber, der dem starken Manne das Sterben ver- klärte, hatte doch auch die religiöse Überzeugung einen wesent- lichen Anteil, daß dieses Ende ihm von der Gottheit bestimmt ') Phaidon 60Cff. 2 ) Phaidon 57 A— 61 C, 115A-118A. 3 ) So widerspruchsvoll uns dieses Nebeneinanderstellen von Historie und Fiktion erscheint, so vertraut war dieses Verfahren damals dem Plato. Man erinnere sich, wie er im Symposion seinen eigenen Sokrates und den historischen mit einander konfrontiert. Und ähnlich enthält nachher noch der Phaidros in seiner Szenerie ein historisches Element (vgl. S. 441, 1). Die Katastrophe. 489 sei, die Gewißheit, daß die Vorsehung, die über sein ganzes Leben gewaltet, sein Tun und Lassen auch während der letzten schweren Wochen geleitet habe, und daß es so, wie es nun gekommen war, für ihn selbst und für die Sache, für die er gelebt hatte, am besten sei. 1 ) Schon bald nachdem Sokrates den Schierlingsbecher getrunken hatte, setzte der Streit um das Todesurteil ein, der bis zum heutigen Tag nicht zur Ruhe gekommen ist. Daß die Jünger des Hin- gerichteten für diesen Akt der athenischen Justiz nur Worte schärfster Verdammung hatten, ist natürlich. Aber bis in die jüngste Zeit herein hat die Auffassung die Oberhand behalten, daß die Verurteilung eine Rechtsbeugung, ein Justizmord, zum minde- sten aber eine sittliche Infamie gewesen sei. Der unbefangene Historiker, der die ganze Situation objektiv würdigt, wird, glaube ich, zu einem anderen Ergebnis kommen. Daß die Verurteilung ein Willkürakt ohne positiv- recht- liche Unterlage gewesen sei, kann man wirklich nicht sagen. Ein Gesetz jedenfalls, das die Asebie mit Strafe bedrohte, bestand zu Recht, und ohne Zweifel war die Formulierung der Anklage — dafür sorgte schon die kluge Vorsicht des Anytos — dem Ge- setz genau angepaßt. Wenn Xenophon die Anwendung der Todes- strafe für widerrechtlich erklärt und bemerkt, die Asebie gehöre nicht zu den Delikten, für die das geltende Recht den Tod als Strafe vorsehe, so ist das offenbar nur eine rhetorische Ent- gleisung oder aber, was auch möglich ist, eine böse Sophisterei. 2 ) : ) Vgl. das vorige Kapitel. 2 ) In Xen. Apol. 25 f. sagt Sokrates, diejenigen Verbrechen, auf die xütgi 9ävccToq »/ fyfzicc — genannt werden itgoavlla, xoiy(OQv/_la, avÖQanödioiq, nokecoq ngoSoala — , legen ihm auch die Ankläger nicht zur Last; er betrachtet darum das Todesurteil als eine Ungerechtigkeit. Nun liegt die Vermutung nahe, daß die von Xenophon aufgezählten Fälle in diejenige Kategorie „unschätzbarer" Klagen fielen, für die das Gesetz bestimmt die Todesstrafe vorgeschrieben hatte. Nach derselben Richtung weist der Wortlaut in der Schutzschrift, Mem. I 2, 62 f.: nach den geltenden Gesetzen ist für Diebstahl, Raub, Beutelschneiderei, Einbruch, Menschenverkauf, Tempelschändung die Strafe der Tod. Und es wird festge- stellt, daß Sokrates mit diesen Verbrechen doch wahrlich nichts zu tun gehabt habe. Nachträglich wird angefügt, Sokrates sei auch nicht Urheber eines für den Staat unglücklich ausgefallenen Kriegs, eines Bürgerzwists, eines Hochverrats 490 Das sokratische Evangelium. Auch davon ferner kann keine Rede sein, daß das Gesetz zwar formell noch bestand, daß es aber doch im Laufe der Zeit ge- wohnheitsrechtlich abrogiert worden sei. Asebieprozesse hatte es in den letzten Jahrzehnten genug gegeben, und zwar hatte es auch an solchen nicht gefehlt, in denen religionsfeindliche An- sichten oder vielmehr Äußerungen von Philosophen der Gegen- stand der kriminellen Verfolgung waren. 1 ) Die Namen Anaxagoras, Diagoras und Protagoras sagen genug. Und wenn auch in einem Teil dieser Fälle die Motive zur Anklage und wohl auch zur Verurteilung politischer Natur waren, 2 ) so war die Rechtsgrund- lage doch durchaus das Asebiegesetz. Aber ich zweifle überhaupt, ob ein Gesetz wie dieses auf gewohnheitsrechtlichem Weg in Ab- gang kommen konnte. Der Rechtssatz gegen die Asebie war ein wesentlicher Bestandteil der Verfassungsgrundlagen des attischen Staats. Der Staat selbst hatte sich in rechtliche Beziehung zu den Göttern gesetzt, und jedes Vergehen gegen die Götter mußte von hier aus als eine Verletzung der Fundamente der Staats- oder sonst eines staatlichen Unglücks gewesen, und ebensowenig habe er einem Privatmann irgend welche Güter entzogen oder Übel zugefügt. Offenbar nun will der Autor nicht leugnen, daß für die nachträglich bezeichneten Delikte die Todes- strafe rechtlich wenigstens zulässig war. Um so entschiedener erhält man wieder den Eindruck, daß die an erster Stelle genannten Verbrechen durch die bestehenden Strafgesetze bestimmt mit dem Tode bedroht waren. Allein zu bemerken ist, daß der Autor hier nicht richtig unterrichtet war: die Klage xXonrjq z. B. gehörte zu den schätzbaren Fällen (Lipsius a. a. O. S. 258). Daß er überhaupt etwas leichtfertig verfuhr, zeigt die Tatsache, daß er in Apol. 25 die rcöXswq npoöooia als ein vom Gesetz bestimmt mit dem Tode bedrohtes Verbrechen bezeichnet, während er sie in Mem. I 2, 63 unter den an zweiter Stelle genannten Delikten aufführt. Indessen kann man der Darstellung der Schutzschrift nur den Vorwurf machen, daß sie den Schein erwecke, als sei für die daeßsia die Todesstrafe rechtlich unzulässig gewesen. Dagegen arbeitet Apol. mit der weitergehenden Unterschiebung, daß in den schätzbaren Prozessen die Todesstrafe überhaupt ausgeschlossen sei. *) Daß das Asebiegesetz nur gegen kultische Verfehlungen, nicht aber gegen theoretischen Unglauben gerichtet war, wie Menzel a. a. O. S. 18ff. meint, läßt sich nicht sagen (vgl. Lipsius a. a. O. II S. 363 f.); Menzel selbst führt denn auch diese Auffassung keineswegs durch. Nur das wird richtig sein, daß irreligiöse Gedanken und Gesinnungen nur insoweit mit Strafe bedroht waren, als sie öffentlich (und wohl auch ärgerniserregend) geäußert wurden: dann konnten sie ja als Beleidigungen der Götter gelten. 2 ) In dem Fall des Diagoras traf dies nicht zu. Die Katastrophe. 491 Ordnung erscheinen. 1 ) Diese Auffassung war, so sehr sich im Wechsel der Zeiten in Athen die „Gesetze" geändert hatten, fest- gehalten worden, und sie hatte immer noch Rechtskraft. Das kam dem Gesetz gegen die Asebie zu gut. Natürlich konnte dasselbe durch einen gesetzgeberischen Akt jederzeit aufgehoben werden. Das aber war nicht geschehen. Gegen gewohnheitsrechtliches Außerkrafttreten jedoch war das Gesetz geschützt. 2 ) Schwerer wiegt die andere Frage, ob man im damaligen Athen wirklich ein solches Gesetz noch anwenden durfte. Daß im Anfang des 4. Jahrhunderts von den gebildeten Athenern sehr viele in religiösen Dingen ebenso frei dachten wie Sokrates und nicht wenige noch beträchtlich freier, war notorisch. Und die meisten machten aus ihren ketzerischen Anschauungen gewiß kein Hehl. Wollte man also dem geltenden Recht genügen, so mußte man, wie es scheint, halb Athen vor den Richter schleppen und wegen Asebie verfolgen. Daß dies nicht geschah, war offen- bare Rechtlosigkeit. Indessen konnte an eine folgerichtige Durch- führung des Gesetzes unter den obwaltenden Umständen über- haupt nicht mehr gedacht werden. Und nur die formelle Auf- hebung konnte in Betracht kommen. So lange es aber dahin nicht gekommen war, war das Ungerechteste, was man tun konnte, das veraltete Gesetz in tausend Fällen in den Wind zu schlagen und dann in einem einzigen, wenn es gerade paßte, anzuwenden. So nahe diese Deduktion liegen mag, so verfehlt ist sie. Zu einer richtigeren Auffassung wird man dann kommen, wenn man *) Der Staat hatte sich unter den Schutz der Götter gestellt, und er hatte ein Lebensinteresse daran, in seinem Herrschaftsgebiet Kränkungen der Götter abzuwehren, da die Rache der letzteren für ihn selbst verhängnisvoll werden konnte. Vgl. Menzel a. a. O. S. 19. — Daß die Bemerkung Pöhlmanns, erst seit dem Volksbeschluß des Diopeithes zu Ende der dreißiger Jahre des 5. Jahr- hunderts habe in Athen Unglaube gegenüber der Volksreligiön Gegenstand einer öffentlichen Klage werden können (Sokrates und sein Volk S. 122), auf einem Mißverständnis beruht, hat Menzel S. 25ff. gezeigt: das von Diopeithes angeregte xfni<pto/ua betraf nur die Zulassung einer neuen Prozeßart, der Eisangelie, für die Asebieklagen; angewandt wurde der Beschluß auf den Fall des Anaxagoras; zur Zeit des Sokratesprozesses übrigens war dieses iprj<pi<jfxa bereits wieder außer Kraft gesetzt. 2 ) Nicht zu vergessen ist auch, daß es noch Jahrzehnte später zu kriminellen Verfolgungen von Philosophen wegen Asebie gekommen ist (Stilpon, Theodoros, Aristoteles, Theophrast). 492 Das sokratische Evangelium. sich nicht bloß an den Wortlaut des Gesetzes hält, sondern auf seine Intention zurückgeht. Offenbar haben wir hier eines der Gesetze vor uns, die ihrer Natur nach nur bestimmt sind, extreme Fälle zu treffen. Zweifellos kehrt das Asebiegesetz seine Tendenz nur gegen solche religiöse Verfehlungen, die das Verhältnis des Staats zu den Göttern wirklich stören oder für den Bestand der Staatsreligion selbst gefährlich werden konnten. So gedeutet aber, war das Gesetz sicher auch jetzt noch im Rechtsbewußtsein des athenischen Volks durchaus lebendig. War man in Athen auch in den letzten Jahrzehnten recht tolerant geworden, so hörte doch die Duldung da auf, wo die Substanz der altehrwürdigen Religion der Väter und die religiösen Grundlagen des heimischen Staats- lebens gefährdet waren. Daß man für solche Fälle eine recht- liche Schutzwehr hatte, empfand man immer noch dankbar. Ge- wiß war das Asebiegesetz, wenn das seine Tendenz war, eine sehr dehnbare Rechtsbestimmung. 1 ) Dem freien Ermessen der Richter blieb ein ungeheuer weiter — für unser heutiges Empfin- den viel zu weiter — Spielraum: in stürmischen Zeiten war dem Mißbrauch Tür und Tor geöffnet, und bekanntlich sind athenische Richterkollegien der Versuchung oft genug erlegen. Allein nur in dieser Weite konnte das Gesetz dem Zweck, für den es be- stimmt war, wirklich dienen. Die Bedenken gegen das Gesetz, auf Grund dessen die Ver- urteilung erfolgte, sind also nicht stichhaltig. Ernstliche Zweifel können nur darüber entstehen, ob die im Gesetz vorgesehenen Tatbestandsmerkmale derAsebie auf das Verhalten des Sokrates wirklich zutrafen. Aber auch diese Frage ist, wie ich glaube, unbedenklich zu bejahen. Daß dem Sokrates in der Tat die Asebie in der Form zur Last gelegt werden konnte, in der dies in der Anklage geschah, ist außer Zweifel. Gewiß konnte der Angeklagte zu seinen Gunsten anführen, daß er für seine Person an den Göttern der Staatsreli- gion festhalte und den offiziellen Pflichten gegen dieselben jeder- zeit genügt habe. Aber daß seine Götter in Wirklichkeit ganz andere Gestalten waren als die des Volksglaubens, daß er sich *) Dem entspricht, daß der Inhalt des Begriffs Asebie, wie es scheint, nicht näher bestimmt war, vgl. Lipsius a. a. O. S. 359 f. Die Katastrophe. 493 dem Anschauungskreis des letzteren völlig entfremdet hatte, konnte auch das blödeste Auge sehen. Und vor allem steht fest, daß Sokrates alles daran setzte, das Band, mit welchem Glaube, Sitte und Recht die staatlichen, sozialen und sittlichen Lebensordnungen an die Religion des Staats geknüpft hatten, zu durchschneiden. Daß man aber diese ganze Denkweise des Sokrates als Unglaube gegenüber den Staatsgöttern bezeichnete, war vom Standpunkt der Altgläubigen, auf den sich das offizielle Athen stellte und stellen mußte, zweifellos berechtigt. Auch das ferner, was der Angeklagte über sein Daimonion verlauten ließ , war mit den geltenden Religionsvorstellungen nicht wohl in Einklang zu bringen, und die mißlungenen Versuche Xenophons, diesen Einklang her- zustellen, können nur dazu dienen, den wirklichen Sachverhalt zu beleuchten. Auch der zweite Punkt der Anklage also ließ sich in der vorsichtigen Formulierung, die ihm gegeben war, juristisch beweisen: dem Angeklagten fiel hier wirklich eine rechtswidrige religiöse Neuerung zur Last. Ähnlich steht es mit dem letzten Klagepunkt. Natürlich hätte man dem Sokrates aus dem Un- glauben gegenüber den Staatsgöttern und der religiösen Neue- rung hinsichtlich des Daimonions kriminalistische Anwürfe nicht machen können, wenn er seine Ansichten für sich behalten hätte. Strafbar wurde er, indem er sie kundgab. Und das hat er ja reichlich getan. Er hat für seine Anschauungen Propaganda ge- macht — Propaganda insbesondere auch unter der Jugend. Da- mit aber war auch der Vorwurf der Jugendverführung sicher- gestellt. Allein entscheidend ist ja, ob die Verurteilung auch durch die eigentliche Tendenz, durch den Sinn des Asebiegesetzes wirk- lich gefordert wurde. Können wir aber hieran ernstlich zweifeln? Gewiß war Sokrates' religiöse Position eine andere als die der So- phisten. Aber daß er bewußt darauf hinwirkte, die bestehenden Ordnungen insbesondere nach ihrer religiösen Seite radikal um- zugestalten und die Beziehungen der Menschen zu den Göttern völlig zu ändern, daß es in der Konsequenz seiner ganzen Arbeit lag, der Staatsreligion einen neuen Inhalt und eine neue Grund- lage zu geben, wissen wir. Objektiv betrachtet, war also der An- geklagte sicher gerade im Sinne des Asebiegesetzes schuldig. Fragen wird man indessen, ob die Geschworenen wirklich über 494 Das sokratische Evangelium. das Werk und die Absichten des Sokrates so genau unterrichtet waren, daß sie hierüber ein klares Urteil hatten- War es nicht am Ende eine ganz falsche Auffassung des sokratis>chen Wirkens, von der aus sie zur Verurteilung kamen? Daß lediglich poli- tische Voreingenommenheit gegen den Angeklagten 1 ) oder gar nur persönliche Gereiztheit über sein herausforderndes Auftreten vor Gericht den Ausschlag gegeben hätten, kann im Ernst nicht behauptet werden. Möglich aber ist, daß die Richter von So- krates ähnliche Vorstellungen hatten wie die Ankläger, daß ihnen insbesondere das Verständnis für das, was ihn von den Sophisten und Philosophen schied, völlig fehlte. 2 ) Und gewiß wäre, wenn sie Urteilsgründe hätten angeben müssen, viel Anfechtbares zu Tage gekommen. Übrigens hatte der Angeklagte selbst sich, wohl nicht ganz ohne Erfolg, bemüht, Irrtümer über seine Person und seine Sache zu berichtigen. Allein auf solche Nebenumstände kommt es ja schließlich gar nicht an. Daß die Richter in der Hauptsache so gut wie die Ankläger instinktiv die Gefahr richtig erkannt haben, die ihrer Religion und ihrer religiös fundierten Gesellschaftsordnung von dieser Seite drohten, wird sich nicht leugnen lassen. Und sicher hat dieses Gefühl durch den Ein- druck, den sie von dem Angeklagten in der Verhandlung erhielten, noch eine erhebliche Bestärkung und Verschärfung erfahren. Dar- auf aber hat sich, wie wir annehmen dürfen, ihre Entscheidung gegründet. Zwar wäre es ja beinahe anders gekommen. Wenn der Ange- klagte auch nur einigermaßen die Geschworenen zu gewinnen gewußt hätte, hätte man ihn ja trotz allem und allem freigespro- chen. Aber daß Geschworenengerichte einen Angeklagten, von dessen Schuld sie im Grund überzeugt sind, aus einer wohlwol- lenden Laune heraus für nicht schuldig erklären, ist eine Er- scheinung, die sich auch heute oft genug wiederholt. Wenn aber etwas Derartiges im damaligen Athen in dieser ernsten Sache möglich war, so beweist das nur, daß man auch in den Kreisen, in denen man den modernen Aufklärungstendenzen durchaus ab- x ) Hiefür kann man sich nicht etwa auf das bekannte Wort des Redners Äschines Kaza TißäQxov 173 (vgl. S. 420,2) berufen, da dieses auf die „Anklage" des Pölykrates zurückgeht. 2 ) Das war, wie aus der Apologie hervorgeht, offenbar Piatos Urteil. Die Katastrophe. 495 geneigt war, zu indifferent geworden war, um energische Maß- regeln gegen die schleichende Gefahr durchzuführen. Es be- durfte schon einer gewissen Aufrüttelung durch persönliche Ent- rüstung, um die Richter zu veranlassen, ihrem „besseren Wissen" und ihrer Rechtsüberzeugung zu folgen. Als es aber dann wirk- lich zur Verurteilung gekommen war, da hatten sie sicher das Be- wußtsein, nicht allein dem Vaterland einen wertvollen Dienst ge- leistet, sondern auch nach Recht und Gerechtigkeit geurteilt zu haben. Und — in letzterem wird ihnen der Historiker beipflichten müssen. Auf dem Boden des geltenden Rechts also, und zwar auch nach dessen Sinn und Tendenz, nicht bloß nach seinem Buch- staben, war Sokrates' Verhalten rechtswidrig. Ein „höheres" Recht aber, das einem revolutionären Neuen, auch wenn dasselbe sich schließlich als ein Gutes, als ein Besseres erweisen sollte, vor dem mit den Formen des positiven Rechts umkleideten Alten den Vorzug sichern würde, gibt es nicht und kann es nicht geben — wie niemand klarer erkannt hat als eben Sokrates selbst. Als eine Rechtsbeugung, als ein Justizmord kann also die Verurteilung des Sokrates sicher nicht betrachtet werden. Viel eher könnte man versuchen, vom sittlichen Gesichts- punkte über den Spruch der athenischen Geschworenen den Stab zu brechen. Dazu zwar werden wir uns nicht mehr verstehen können, in demselben die Untat eines entarteten, sittlich ver- kommenen Volks zu erblicken. Wäre es aber im damaligen Athen nicht sittliche Pflicht der gesetzgebenden Gewalt gewesen, das in die neue Zeit nicht mehr hereinpassende Recht, dem So- krates zum Opfer fiel, zu ändern? So gefaßt, würde sich die An- klage in erster Linie gegen den athenischen Demos kehren, in dessen Hand die Gesetzgebung lag. Die Richter würde nur der Vorwurf treffen, daß sie von der Möglichkeit, die einem Ge- schworenengericht zustand, den Angeklagten auch im Widerspruch mit dem geltenden Recht freizusprechen, keinen Gebrauch gemacht hätten. Allein in Wirklichkeit lagen die Dinge eben wesentlich anders. Daß das Gesetz, auf Grund dessen Sokrates verurteilt wurde, noch nicht veraltet war, wissen wir. Aber wie das alte Recht, so war auch die mit diesem aufs engste verbundene alte Moral immer noch eine lebendige Kraft, die Moral der Tradition, 496 Das sokratische Evangelium. der Staats- und Gesellschaftsautorität, die Moral der Theonomie, in deren Licht das sokratische Unternehmen als eine Untergrabung und Auflösung aller Sittlichkeit erscheinen mußte. Von diesem Standpunkt aus war es geradezu sittliche Pflicht, das Asebiegesetz gegen einen Mann, der die religiösen Grundlagen der Moral zu zerstören trachtete, zur Geltung zu bringen: wenn das sittliche Bewußtsein selbst sich an die Religion band, so hatte es allen Anlaß, Rechtsnormen, durch welche dieses Band gedeckt wurde, seinerseits zu schützen. Und daß das athenische Volk in seiner Majorität damals noch wirklich so dachte, wer wollte das leugnen? Nach alledem wird man gut tun, mit juristischen und sittlichen Verwerfungsurteilen über die Verurteilung des Sokrates vorsichtig zu sein. Aber es gehört nun an- dererseits, das ist ebenso gewiß, schon ein hoher Grad roman- tischer Verstiegenheit dazu, wenn auch neuere Historiker mit dem Urteil des alten Cato, der den Sokrates als einen Schwätzer und Revolutionär, als den Zerstörer der guten Sitten und den Verführer seiner Volksgenossen verdammte, einig gehen und der Entschei- dung der athenischen Geschworenen ihrerseits zustimmen. 1 ) Gewiß, Sokrates hat geltendes Recht verletzt und auch Andere hiezu veranlaßt. Er war also, wenn man will, ein Rechtsbrüchiger und Revolutionär. Aber gab es für ihn einen anderen Weg? Er selbst hat die Autorität des Nomos stark genug betont und für seine Person auf das gewissenhafteste respektiert. Allein an dem entscheidenden Punkt konnte er eine Durchbrechung der bestehenden rechtlichen Ordnung um so weniger vermeiden, als es hier auch in der Konsequenz seiner Ziele lag, die recht- lich geschützten Grundlagen des Nomos und damit diesen selbst umzugestalten. Oder glaubt man ernstlich, daß er vor aller mate- riellen Tätigkeit auf eine Reform des Rechts hätte hinwirken müssen und können, um sich die Bahn freizumachen? Hätte er denn eine solche radikale Umwälzung beim athenischen Volk durchsetzen können, wenn dieses nicht vorher schon von den Ge- danken überzeugt und durchdrungen war, für die er sich erst ') Das zweifelhafte Verdienst, hier vorangegangen zu sein, gebührt P.W. Forch- hammer, der sein Buch: Die Athener und Sokrates, die Gesetzlichen und der Revo- lutionär, 1837, mit der Plutarchstelle, die das Urteil Catos über Sokrates enthält (Cato major c. 23), schließt. Die Katastrophe. 497 Bewegungsfreiheit schaffen wollte? Indessen auch abgesehen hievon ist es sehr fraglich, ob nicht schon die bloße Agitation für jene Rechtsreform im Sinn des geltenden Rechts als rechts- widrig betrachtet werden mußte. Aber kann denn überhaupt das Urteil über große geschichtliche Aktionen von solchen Formali- täten abhängen? Die sokratische Frage ist überhaupt keine Rechtsfrage. Daß Sokrates rechtswidrig gehandelt hat, und daß ihm darum mit der Verurteilung „Recht geschehen" ist, kann und soll ja nicht bestritten werden. Damit aber ist über den Wert und die „Be- rechtigung" seiner Sache noch gar nichts entschieden. Neue Kulturtendenzen setzen sich stets nur durch im Kampf mit be- stehenden Lebensordnungen. Darum haftet ihnen auch fast immer der Makel der Rechtswidrigkeit an: Änderungen des Rechts pflegen tatsächlichen Umwälzungen immer erst zu folgen. So wandeln sich denn die rechtlichen Institutionen nach den sozialen, zuletzt nach den sittlichen Bedürfnissen. Und das ist durchaus in der Ordnung. Ein den Menschen und ihren Bedürfnissen übergeordnetes, in sich selbständiges, nur seiner eigenen Gesetzmäßigkeit lebendes Recht, das geistig-gesellschaftliche Neuerungen, die sich aus lebendigen Interessen lebendiger Menschen entwickeln, von vornherein nicht allein als widerrechtlich, sondern als schlechthin unstatthaft brand- marken könnte, ist eine romantische Fiktion. Über dem Recht stehen die rechtschaffenden menschlichen Mächte. Auch diese zwar sind gebunden. Aber nicht durch Rechtsnormen, denen sie untergeordnet wären, sondern durch sittliche Rücksichten. Das Recht ist ein hohes sittliches Gut, aber nicht das höchste; denn es ist nur ein Mittel im Dienst der Verwirklichung sozial-sittlicher Zwecke. Und der Zweck steht höher als das Mittel, das nur von jenem seinen Wert erhält. So kann es auch Fälle geben, wo die Durchbrechung bestehender Rechtsordnungen für menschliche In- dividuen zur sittlichen Pflicht wird. Ja, das trifft tatsächlich überall da zu, wo neue geschichtliche Antriebe, die mit dem Alten in Konflikt kommen, den Rechtsumbildungen vorgreifen. Ähnlich ungefähr lag die Situation im Falle des Sokrates. Seine Absicht war, die Moral seines Volks auf eine höhere Stufe emporzuheben, sie aus ihrer heteronomen Gebundenheit und Äußer- lichkeit zur Höhe persönlich -inneren, selbständigen, autonomen H. Mai er, Sokrates. 32 498 Das sokratische Evangelium. Geisteslebens hinaufzuführen. Das bedeutete, hieran kann kein Zweifel sein, eine tief einschneidende geistige Revolution, die ihre Spitze besonders merkbar gegen den theonomen Charakter der tradi- tionellen Sittlichkeit und die hiemit eng verbundene religiöse Welt- anschauung richtete. Da aber die alte Moral samt ihrem religiösen Hintergrund zugleich rechtlich geschützt war, ja mit den rechtlichen Grundlagen des staatlichen Lebens in unlösbarem Zusammenhang stand, so war Sokrates' sittliches Wirken zugleich ein Kampf gegen die bestehende Rechtsordnung und die hinter dieser stehenden Mächte. Er hat diesen Kampf sein Leben lang mit Nachdruck, wenn auch ohne viel Geräusch, geführt, und alles daran gesetzt, seine Landsleute zu sich in seine neue, sittliche Welt heraufzu- ziehen. Der neue Geist würde, so konnte er hoffen, von selbst die alten Formen zerbrechen und sich neue schaffen. Die letzte Kraftprobe war die Gerichtsverhandlung. Als dann das Schuldig fiel, wußte der Schuldiggesprochene, daß er dem Gegner, den er während seines ganzen Lebens bekämpft hatte, äußerlich unter- legen war. Und er wußte auch, daß er nun den Märtyrertod für sein Evangelium sterben mußte. Es ist die Tragik der Geschichte, daß in solchen Krisen nicht eben selten die Individuen, die die Zukunft für sich haben, der stärkeren Gegenwart erliegen. Das war auch Sokrates' Schick- sal. Daß seine Sache dennoch siegen würde, die Gewißheit floß ihm aus seinem sittlichen Optimismus. Daß er zu seinem Kampf ein „Recht" gehabt habe, war ihm am allerwenigsten zweifelhaft; denn dieses Recht gründete sich ihm auf sittliche Pflicht. Der Geschichtschreiber, der von höherer Warte zwischen ihm und seinem Volke richtet, wird, denke ich, ebenso urteilen. Zwar den Menschen, die innerlich von der alten Art noch nicht losgekommen waren, war es nicht zu verargen, daß sie in Sokrates den Abtrünnigen, Rechtsbrüchigen, den Zerstörer von Treu und Glauben verdammten. Aber wo in der Welt des Geistes ein Höheres mit einem Niedrigeren ringt, hat jenes das endgültige sittliche Recht für sich. Der Revolutionär, der Zerstörer der „ob- jektiven" Moral hat der Menschheit die Seligkeit des sittlichen Lebens in einer Fülle erschlossen, die auch heute noch nicht aus- geschöpft ist. Vierter Teil. Die Sokratik. Erstes Kapitel. Das Schicksal des sokratischen Werks. Als Sokrates den Giftbecher trank, sah es fast so aus, als wäre damit der Zusammenbruch seines Unternehmens nun auch äußerlich besiegelt. Eines mußte er selbst sich sagen, das war mit Händen zu greifen. Der großen Menge gegenüber hatte seine sittliche Werbearbeit völlig versagt. Und das war auch wohl zu begreifen. Für die Herdenmenschen war das sokratische Evangelium nicht. Soweit diese ein Erlösungsbedürfnis hatten, suchten sie hiefür nach wie vor anderswo Befriedigung, in den Kulten der Volks- religion oder, wenn sie tiefer angelegt waren, in den Mysterien der Geheimkulte. Hier wurden sie durch transzendent-religiöse Motive gefesselt. Die Aussicht auf ein schließliches Fortleben in einem besseren, dem Jammer der irdischen Notwendigkeit ent- rückten Jenseits war eine weit stärkere Lockung. Und auch die passiv-asketische Selbstentäußerung, die die Vorbedingung für das mystische Leben der Gläubigen war, schien leichter als das, was Sokrates forderte. Das sokratische Leben war nur für männ- liche Naturen, die die Fähigkeit hatten, frei und stark zu werden. Dennoch hatte Sokrates ursprünglich ohne allen Zweifel mit einem weit breiteren Wirkungskreis gerechnet. Mit den Athenern der perikleischen Zeit konnte er ja immerhin etwas zu erreichen hoffen. Die Erfahrung hat ihn indessen schließlich eines Besseren belehrt. Die Gemeinde, die er schaffen wollte, blieb auf einen kleinen Kreis beschränkt. Auch jetzt aber gab er den Plan seines 32* 500 Die Sokratik. Lebens nicht auf. Er fuhr fort, in voller Öffentlichkeit, in den Turnhallen und Werkstätten, auf den Promenaden und öffentlichen Plätzen der Stadt für seine Sache Propaganda zu machen. Er konnte ja zufrieden sein, wenn es ihm gelang, eine Elite von sittlichen Persönlichkeiten zu schaffen, deren Geist wie ein Sauerteig das geistige Leben Athens durchdringen mußte. Zum mindesten war damit ja auch ein Mittelpunkt gewonnen, von dem aus die innere und äußere Erneuerung der Polis sich vollziehen konnte. Sokrates hat dieses nächste Ziel erreicht. Als er sich zum Sterben rüstete, sah er eine Schar von treuen, geistig bedeu- tenden, ja hervorragenden Jüngern um sich. In ihre Hand konnte er guten Mutes die Sache legen, für die er in den Tod ging. Und daß er sich nicht getäuscht hatte, zeigt die frohe Zuversicht, mit der Plato und die Seinen, wie aus der Apologie (39 CD) her- vorgeht, sich bald nach der Katastrophe zum Kampf und zur Fortsetzung des Werkes des Meisters anschickten. Es ist ein nutzloses Beginnen, sich auszumalen, wie das Schicksal Athens und des] griechischen Volks sich gestaltet hätte, wenn die sokratischen Tendenzen Wirklichkeit geworden wären. Sokrates selbst hat sich nie in Zukunftsspekulationen ergangen. Seine Sorge galt der nächsten sittlichen Arbeit. Um spezielle Ausgestaltung politischer Programmentwürfe zumal mühte er sich nicht sonderlich, und für künftige politische Möglichkeiten voraus- schauend Vorsorge zu treffen, kam ihm überhaupt nicht in den Sinn. Auf der neuen sittlichen Grundlage lebenskräftige Stadt- staaten — weiter reichte sein politischer Blick nicht. Auch Plato und Aristoteles sind ja darüber nicht hinausgekommen. Ob aber staatliche Gebilde dieser Art der Umwälzung, die sich gegen Ende des 4. Jahrhunderts vollzog und den griechischen Staaten den Untergang brachte, hätten standhalten können, ist mehr als fraglich. Aber auch, was näher lag, eine totale geistige Neugestaltung der Kulturwelt hätte das Evangelium des Sokrates schwerlich her- aufführen können. Dazu war und blieb das sokratische Ideal zu vornehm, zu aristokratisch. Was den zeitgenössischen Athenern gegenüber nicht erreicht wurde, hatte anderswo und in der Folge noch weniger Aussicht, zu gelingen. Auch eine energische, ver- Das Schicksal des sokratischcn Werks. 501 ständnisvolle Arbeit einer stets sich mehrenden Zahl von Jüngern wäre bald auf unüberwindliche Schranken getroffen. Die Masse läßt sich nun einmal in ihrer Totalität und auf die Dauer nur durch transzendent-religiöse oder aber durch materiell-diesseitige Motive hinreißen. Das nur war zu erreichen: eine sokratische Gemeinde, in der die besten, freiesten und stärksten Geister aller Zeiten ihre sittliche Heimat und den steten Antrieb zu frucht- barem kulturellem Wirken gefunden hätten. Auch das indessen sind gegenstandslose Phantasien. Denn die Voraussetzung zu alledem fehlte. Die Hoffnungen, die Sokrates auf seine Jünger setzte, haben sich so nicht erfüllt. Die Männer, die seine Nachfolger werden sollten, sind doch bald ihre eige- nen Wege gegangen. In die ganze Tiefe seines Wesens und seiner Intentionen ist keiner eingedrungen. Der Grund hiefür lag zu einem guten Teil in der besonderen Natur seines Wirkens, zumal seiner sittlichen Dialektik. Sein Hauptbemühen war, wie wir wissen, die Menschen zur Selbstein- kehr und zum sittlichen Suchen an- und aufzuregen. Darum liebte er es nicht, gewonnene Einsichten in lehrhaften Thesen vorzutragen, und er vermied grundsätzlich dogmatische Fest- legungen und abschließende Formulierungen. Seine dialektische Manier war vielmehr, den Leuten Rätsel aufzugeben, ihnen scharf- zugespitzte Paradoxa hinzuwerfen, an denen sich ihr Nachdenken entzünden mußte. So wirksam aber dieses protreptisch-elenktische Verfahren sein mochte, es lag darin die Gefahr, daß der Meister in dem, was er meinte und wollte, nicht verstanden wurde, eine Gefahr, die darum besonders groß war, weil man doch immer wieder versucht sein mußte, den Paradoxien das volle Gewicht lehrhafter Überzeugungen beizumessen. Daß auch die Jünger des Sokrates dieser Gefahr nicht entgangen sind, ist bekannt. Noch verhängnisvoller war das andere, daß Sokrates prinzi- piell darauf verzichtet hat, das sittliche Ideal, das er vor Augen hatte, inhaltlich zu zeichnen. Gewiß hatte er hiezu von seinem Standpunkt aus allen Grund. Er konnte sich dabei bescheiden, das formale Wesen des Sittlichen ins Licht zu rücken. Und er durfte überzeugt sein, daß, wer die Eigenart des sittlich-autonomen, des persönlich-autarken Lebens einmal erfahren, den weiteren Weg sicher finden werde. Es war ihm ja auch durchaus ernst, wenn 502 Die Sokratik. er sich selbst in dieser Hinsicht als Nichtwissenden bekannte, wenn er es als eine im Leben noch zu lösende Aufgabe des sitt- lichen Menschen ansah, sich das bestimmte Ziel seines Lebens in rastloser Selbstbesinnung zu erarbeiten, und als die Aufgabe des gegenwärtigen Geschlechts und der künftigen Generationen, das gesellschaftliche Ideal zu gestalten, in dem die jetzige Kultur ihre Vollendung finden konnte. Diese Entwicklung einzuleiten — das war ihm genug. So konnte er ja auch hoffen, einen gewaltsamen Bruch zu vermeiden, und, was noch mehr war, so allein eröffnete sich eine Möglichkeit, die sittlichen Kräfte des Volkslebens fried- lich in das neue persönliche Leben überzuführen. Sokrates dachte so, und er konnte so denken. Daß aber seine Jünger bald das Bedürfnis empfanden, da, wo der Meister sein „Nichtwissen" vorschob, ein Wissen zu besitzen und zu geben, war nur natürlich. Zwar konnten wir verfolgen, wie ein Teil der Sokratiker sich eine Zeitlang gegen diese „Ergänzung" sträubte. Schließlich kamen aber auch sie zu einer dogmatischen Festlegung des als „sokratisch" gedachten Lebensideals. Über dieser Arbeit aber entstand in der sokratischen Gemeinde ein Ant- agonismus, in welchem dem Werk des Sokrates sein tiefster Ge- halt und seine werbende Kraft verloren ging. Es handelte sich in dem Streit um mehr als Schulrivalitäten und Philosophenmarotten. Kämpfer waren die Männer, die dem Verständnis des Meisters und seines Lebenswerks am nächsten gekommen waren und insbesondere begriffen hatten, daß hier mehr als ein philosophisches System, daß hier Leben, Glück, Er- lösung geboten war. Und der Kampf war ein Ringen um das sokratische Evangelium. Die Gegner aber, die sich zunächst gegenüberstanden, waren Antisthenes und Plato. Zweites Kapitel. Antisthenes. Dem Antisthenes hat die Geschichte übel mitgespielt. Erst in neuester Zeit hat man begonnen, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Aber wie es so geht: man ist gleich ins andere Ex- Antisthenes. 503 trem gefallen. Und so ist die Reaktion auf dem Fuße gefolgt. Ed. Schwartz hat geradezu bestritten, daß Antisthenes der „Stifter der kynischen Sekte" gewesen sei, und Wilamowitz hat ihm darin Recht gegeben. Beide wollen in dem Mann weit mehr den Sophisterischüler als den Sokratiker sehen. 1 ) Nun ist das richtig, daß die Kynik, wie sie in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts und später in die Erscheinung tritt, im wesentlichen das Gepräge der Persönlichkeit des Diogenes trägt. Tatsache ist auch, daß die frühere Kynik, die sich an den Namen ■des Antisthenes knüpft, von dem Einfluß der alten Sophistik nicht ganz losgekommen war. In die antisthenische Schulgemeinschaft scheinen einstige Sophisten und Sophistenjünger eingetreten zu sein, die sich stark vorzudrängen wußten — wir kennen ja diese Sorte von Kynikern aus Piatons Euthydem (S. 204 f.). Aber auch dem Antisthenes selbst ging vermutlich sein altes Metier nach. Jedenfalls erinnerte sein ganzer Schulbetrieb in vielen Stücken stark an die Manier der Sophisten, mit denen die Antistheniker zwar in sachlich-prinzipieller Fehde, zugleich aber in einem leb- haften Konkurrenzkampf lagen. Und doch kann nach den Nach- richten, die wir haben, darüber kein Zweifel sein, daß die spätere Entwicklung nur die Fortsetzung der früheren war. 2 ) Die Lebens- anschauung, die der antisthenischen Schule ihre Eigenart gab, war bereits durchaus die kynische. Zwar hat Antisthenes selbst aus seinen kynischen Prämissen die Folgerungen noch nicht in ganzer Schärfe gezogen, und insbesondere hat er, der Literat und ehemalige Rhetoriklehrer, wie es scheint, Bedenken getragen, seine ethische Theorie in vollem Umfang in Leben umzusetzen. Das hat erst Diogenes getan. Und er hat es in seiner Weise *) Scharf wendet sich v. Wilamowitz, Griechische Literaturgeschichte des Altertums 3 (Kultur der Gegenwart I 8) S. 131 gegen die Übertreibungen „der Philologie des letzten Jahrhunderts", und er denkt wohl in erster Linie an Dümmler und Joel. Ich werde aber schwerlich fehlgehen, wenn ich vermute, daß E. Schwartz' Ausführungen (Charakterköpfe aus der antiken Literatur, 2. Reihe 2 S. 11 f.) von einer ähnlichen Tendenz beeinflußt sind. Vgl. S. 151, 1. 2 ) Wenn man die sicher bezeugten antisthenischen Fragmente unbefangen zusammennimmt, wird man zu keinem anderen Ergebnis kommen. Aber man "braucht ja nur an das xenophontische Symposion zu denken, wo sich uns Anti- sthenes schon ganz als echter Kyniker präsentiert (vgl. besonders III 8, IV 34 ff., ferner IV 2 f., IV 61 ff., VI 5, VIII 4L). 504 Die Sokratik. getan. Prinzipiell aber war er nicht mehr als eben Antisthenes' Jünger. Mag man also in der Geschichte der Kynik zwei Phasen unterscheiden, eine antisthenische und eine diogenische, so muß doch Antisthenes als der eigentliche Begründer der kynischen Sekte gelten. Stimmung und Geist der Kynik gehen auf ihn zurück. 1 ) Ihm aber war der Kynismus die genuine Sokratik. Zweierlei hat zu der Verkennung des Antisthenes beigetragen. Seine Schriften sind so gut wie verloren, und man hat sich gar zu sehr gewöhnt, ihn mit den Augen seiner Gegner Plato und Aristoteles anzusehen. Schlimmer noch war, daß er — den Diogenes zum Schüler hatte. Zwar war auch dieser nicht der Clown, als der er in den Anekdotensammlungen der folgenden Jahrhunderte erscheint. Aber seine Absonderlichkeiten und gro- tesken Manieren haben der antisthenischen Sache den Fluch der Originalität, um nicht zu sagen der Lächerlichkeit angehängt: der Kynismus ist unter seinen Händen zur Karikatur geworden. Man muß versuchen, dieses Bild und überhaupt die weitere Entwick- lung der Kynik zu vergessen, wenn man dem Antisthenes gerecht werden will. 2 ) Antisthenes war ein ernster und, wie es scheint, etwas schwer- blütiger, aber doch auch wieder ein sprühend geistreicher Mann. Plato hat ihn nachher einen spät zum Lernen gekommenen Alten genannt und ihn zudem mit Attributen wie unphilosophisch, musenlos, ungebildet {vupiloooqios, äjuovoosj anaidtvio^), ge- schmückt. 3 ) Aber diese Charakteristik kann sich nur auf die wissenschafts- und kulturfeindliche Richtung des Mannes bezogen haben. Daß er im vollen Besitz der zeitgenössischen Bildung war, ist zweifellos. Nach gut bezeugten Nachrichten war er ein glänzender Schriftsteller, und seine schriftstellerische Art scheint ganz den Stempel sophistischer Schulung getragen zu haben. Eine *) Daß die antisthenische Eristik nicht etwa ein Erbe der Sophistik ist — wenn auch vielleicht die sophistisch Geschulten unter Antisthenes' Jüngern hieran einen besonderen Geschmack finden mochten — , ist oben schon (S. 200ff.) gezeigt worden. Anzufügen ist, daß diese Eristik in der diogenischen Phase des Kynismus nicht etwa zurücktrat, sondern im Gegenteil aufs üppigste gedieh. 2 ) Die Belege zu der folgenden Darstellung sind größtenteils in den bis- herigen Ausführungen gegeben worden; auf diese verweise ich hier der Kürze halber (vgl. das Register). 3 ) Plato Sophistes 251 BC, 259 E, vgl. Phaidon 91 A, Theät. 155Ef. Antisthenes. 505 glaubhafte Überlieferung (Diog. VI 1) macht ihn zu einem Schüler des „Rhetors" Gorgias, und er hat bei Gorgias sicher noch mehr gelernt als Rhetorik. Er selbst soll schon vor seinem Anschluß an Sokrates eine sophistische Rhetorenschule gegründet und ge- leitet haben. Als er dann aber in den sokratischen Kreis eintrat, brach er mit seiner Vergangenheit; er gab sich dem Sokrates mit leidenschaftlicher Begeisterung hin. Das Wort des Meisters war ihm Prophetenwort, und er weihte sein ganzes Leben der Propa- ganda für die sokratische Sache. Den jungen Aristokraten in Sokrates' Umgebung ist er, der Halbbarbar — seine Mutter war eine Thrakerin — , der zudem schon in reiferen Jahren stand, als er Sokratiker wurde, wohl nie näher gekommen. Nach der Kata- strophe hat er sich als den geistigen Erben des Sokrates gefühlt und, wie es scheint, sehr bald schon eine „sokratische" Schule gegründet. Das hat ihm nicht bloß jene scharfe Einsprache von Piatos Seite (vgl. S. 107ff.), sondern auch den besonderen Konkurrenzneid der Sophistenschulen und ihrer Leiter, die in ihm einen erfolgreichen Rivalen haßten, zugezogen, und der bekannte Angriff des Poly- krates gegen die Sokratiker galt in recht erheblichem Maß dem Antisthenes. Wenigstens hat die „Anklage des Sokrates" ihr Be- lastungsmaterial zu einem wesentlichen Teil den antisthenischen Schriften entnommen. Antisthenes selbst scheint in seinen Lehr- betrieb die sophistischen Unterrichtstraditionen in weitem Umfang herübergenommen zu haben. Insbesondere stand auch unter seinen Unterrichtsmitteln die Dichtererklärung oben an. Da er überdies in seiner Ablehnung der reinen Wissenschaft, d. i. des theoretisch-spekulativen Wissens, mit den sophistischen Tendenzen zusammentraf, so war das für Plato Grund genug, ihn schon im Euthydemos als „Sophisten" zu brandmarken. Nicht zu vergessen ist aber, daß in der antisthenischen Schulgemeinschaft weder die Unterrichtsmethode die rhetorische, noch der zentrale Unterrichts- gegenstand die Rhetorik 1 ) war. Der köyos JZwxyctTiy.ug fand hier pietätvolle Pflege, und Antisthenes und die Seinen waren ') Daß Antisthenes immerhin auch noch in seiner sokratischen Zeit (wenn auch nur nebenbei) Rhetorik gelehrt und über rhetorische Themata geschrieben hat, läßt schon der Katalog seiner Schriften bei Diogenes erkennen (vgl. besonders die Titel der Schriften des 1. Bandes). Er hat ja aber auch Deklamationen im Stil der Sophisten geschrieben (vgl. die uns erhaltenen: Aias und Odysseus). 506 Die Sokratik. bemüht, die Disputierkunst des Meisters zu technischer Voll- endung zu führen. Das Ziel der antisthenischen Erziehung aber war, die Jugend zu sittlichem Leben im Sinne des Sokrates zu wecken. Und es war ihm mit dieser pädagogischen Aufgabe voller Ernst. Auch seine literarische Arbeit scheint um das Er- ziehungsproblem sich gemüht zu haben. So war z. B. im „Kyros", so weit wir sehen können, ein ausgeführtes Erziehungs- programm entworfen. Aber auch sonst weist das Verzeichnis der antisthenischen Schriften manchen Titel auf, der auf einen päd- agogischen Inhalt schließen läßt. Die Tendenz, von der sein ganzes Wirken beherrscht war, war bestimmt durch vorbehaltslose, selbstverleugnende Jünger- treue. Man muß wissen, wie dieser Mann innerlich zu seinem Meister stand. Sein ganzes Denken war ausgefüllt von der Über- zeugung, daß Sokrates den Menschen die Erlösung gebracht habe, und sein ganzes Sorgen war, sich in den Meister mit zäher, fanatischer Konzentration hineinzudenken und hineinzuleben. Man hat die Empfindung, daß er es für eine Profanation hielt, an dem Prophetenwort zu deuteln und zu drehen. Schon darum haßte er den Plato mit einem tiefen, ehrlichen Hasse. Dem oberfläch- lichen Beobachter mußte die Gestalt des Antisthenes wie eine bewußte Imitation des Sokrates erscheinen. 1 ) Nichts aber hatte ihn so gepackt und erschüttert als das Wort von der Autarkie und Autonomie der sittlichen Persönlich- keit, zu dem er in der Person des Sokrates die äußere Verkörpe- rung fand. Das war ihm das Evangelium der Freiheit — der Freiheit nach innen und außen. Ernst und folgerichtig arbeitete er auf die Befreiung des Menschen von dem eigenen Triebleben hin. Und wir wissen, daß er dieses Ideal in durchaus asketischem Sinn gefaßt hat. Das Lebenselement des Begehrens ist die Lust (rjdovrj). Aber — lieber verrückt sein als vergnügt! Dem Kyniker sind auch die Freuden verdächtig, die die Natur ihren Kindern bereitet hat; das Begehren ist ihm an sich ein Übel und ein Schmerz — ein solcher Schmerz, der das Menschenwesen selbst schädigt. J ) Man vgl. noch einmal die Stellen Xen. Symp. VIII 4—6, IV 44. 56ff. Mem. III 11, 17 und hiezu das S. 150, 1 Gesagte. Antisthenes. 507 Mönchische Sinnenfeindlichkeit freilich liegt diesem Wert- urteil gänzlich fern. Und wenn man Antisthenes, den „Halb- barbaren", immer wieder mit den dualistisch-mystischen Stim- mungen orientalischer Erlösungskulte in Zusammenhang bringen will, so sind das haltlose Konstruktionen. Nicht Orpheus oder Pythagoras, sondern Herakles ist der Heilige der antisthenischen Gemeinde. Mit der Askese der Orphiker oder irgend eines der Geheimkulte, die damals noch in Athen und anderswo Proselyten warben, hat die kynische lediglich nichts gemein. 1 ) Daß Körper- lichkeit an sich etwas Unreines sei, muß dem Kyniker, für den das materielle Sein die einzige Wirklichkeit war, ein ungeheuer- licher Gedanke gewesen sein. Und auch die Sinnlichkeit ist ihm nicht etwas an sich Verwerfliches. Selbst die sexuellen Regungen als solche trifft in seinen Augen nicht der geringste Makel. Auch der völlig Freie und Bedürfnislose wird fortfahren, seine ge- schlechtlichen Bedürfnisse zu befriedigen, genau so wie er Hunger und Durst durch Speise und Trank stillen wird: Antisthenes denkt so wenig daran, die „Konkupiszenz" — um in der Sprache des christlichen Mönchtums zu reden — aus dem menschlichen Herzen zu reißen, als es ihm einfällt, den Nahrungstrieb ausrotten zu wollen. Sein Kampf richtet sich nur dagegen, daß diese sinnlich-natür- lichen Dinge zu „Begehrungen" werden, daß man von ihnen Genuß, Lust {rjdovr'i) erstrebt; so kehrt sich auf sexuellem Gebiet im besonderen seine Einsprache gegen die erotische Verquickung der natürlichen Verrichtungen mit der Liebesleidenschaft. Darum ist er ein grimmiger Gegner der Aphrodite, die er am liebsten er- schießen möchte, wenn er ihrer habhaft werden könnte. Denn das Begehren allerdings, das ihm mit Lustbegehren zusammen- fällt, will er grundsätzlich vernichten — vernichten im Interesse des menschlichen Glückstrebens. Und Glück liegt für den Men- schen allein in der „Tugend", in der auf sittlicher Einsicht {cpQo- vi]üig) ruhenden Stärke und Unabhängigkeit des Willens und Ge- müts. Zwar fließt auch aus der Tugend Lust. Aber diese Lust ist reuelose Befriedigung. Jede andere dagegen ist für den Men- ') Wie Antisthenes über den Unsterblichkeitsglauben dachte, ist oben S. 436,3 festgestellt. 508 Die Sokratik. sehen verhängnisvoll, weil das Verlangen nach ihr ihn abhängig macht, abhängig zunächst von seinen Trieben und Leidenschaften, zuletzt aber von Dingen und Gewalten, die außerhalb seiner Machtsphäre liegen. Mit fanatischer Energie führt Antisthenes den sokratischen Gedanken durch, das menschliche Glück ganz ins Innere des Menschen zu verlegen, d. h. es in die alleinige Abhängigkeit von dem Willen des Handelnden zu bringen. Und erreichbar scheint ihm dieses Ziel nur, indem die Begehrungen, die den menschlichen Sinn auf irgend welche Einzelgüter hin- lenken, völlig unterdrückt werden. Das ist der Gesichtspunkt, unter dem Antisthenes den Kampf gegen die Lustbegehrungen führt. Und sehr viel radikaler als im Gebiet der Sinnlichkeit gestaltet sich derselbe in dem der sozi- alen und kulturellen Güter. Während dort eine unantastbare Naturgrundlage bestand, von der nur die Begehrungen loszulösen waren, scheint diese hier ganz zu fehlen. So möchte der Kyniker all die Interessen, die mit dem gesellschaftlichen und kulturellen Leben zusammenhängen, mit der Wurzel ausreißen. Den Bedürf- nissen des Kulturmenschen spricht er jede Berechtigung ab. Er haßt die Kultur und ihre Segnungen, weil sie den Menschen schlaff, d. h. zum Kampf um das Eine, was not tut, untauglich macht, er haßt die Gesellschaft und ihre Institutionen, weil sie das Individuum mit unlösbaren Banden fesseln. Ästhetischer Ge- nuß, wissenschaftliche Betätigung, vaterländische Erhebung, Familiengefühl sind ihm Nichtigkeiten, Ehre und Schande bei den Menschen ein Gerede der Toren, Reichtum ein Raub von Schmeichlern und feilen Dirnen, ein Besitz für Ameisen und Mist- käfer. Kurz, Antisthenes vollzieht eine totale Umwertung aller geltenden Werte. Und es steht ihm vor Augen das Ideal eines rauhen, gegen sich selbst harten, bedürfnislosen, der Kultur und der Gesellschaft völlig abgewandten Naturburschentums, und der Typus eines solchen Naturburschen ist ihm Herakles. Mühen, Beschwerden, Strapazen sind für den sittlich strebenden Menschen weit zuträglicher als alle Freuden und Genüsse, die die Gesell- schaft und Kultur ihm so verschwenderisch nahebringen. 1 ) Anti- *) Charakteristisch ist, daß Antisthenes die u6o$iu auf die gleiche Linie mit dem növog setzt, Diog. L. VI 11. Antisthenes. 509 sthenes sagt es nicht mit diesen Worten, aber er meint es ganz so: Kultur bedeutet Entartung, Gesellschaft Sklaverei. Der Mann dagegen, der von der Kultur nicht verzärtelt und den gesellschaft- lichen Interessen und Vorurteilen gegenüber frei ist, der die sinn- lichen Begehrungen, die sozialen und kulturellen Bedürfnisse überwunden hat, ist auch dem Kampf mit dem Schicksal ge- wachsen: für den Starkgewordenen, der auf sich selbst steht, sind auch Schmerz, Leiden und Tod keine wirklichen Übel. Frei sein von Lust ist auch frei sein von Leid. Mit dem Gedanken der sittlichen Autarkie ist aber auch bei Antisthenes der der sittlichen Autonomie aufs engste ver- knüpft. Die Freiheit des sokratischen Evangeliums ist ihm Frei- heit nicht allein vom eigenen Triebleben und vom Schicksal, son- dern auch Freiheit vom — menschlichen und göttlichen — Nomos. Diogenes Laertius (VI 11) hat uns von Antisthenes das Wort aufbe- wahrt: der Weise lebe nicht nach den bestehenden Gesetzen, sondern allein nach dem Gesetz der Tugend. Damit ist der Sinn, in dem Antisthenes die sittliche Autonomie verstand, treffend gekennzeich- net. Sokrates hatte das sittliche Leben der Gesetzgebung der Gesell- schaft und der Gottheit entzogen und von der Autorität der Tradition emanzipiert: er hatte den sittlichen Willen sich selbst das Gesetz geben lassen. Antisthenes folgert hieraus die Unverbindlichkeit der gesellschaftlichen und göttlichen Gesetze und die sittliche Wert- losigkeit der Tradition. Und er bringt diese Auffassung nun mit der naturrechtlichen Theorie, die ihm schon durch seine starke Hinneigung zu den rationalistischen Aufklärungstendenzen der Zeit nahegelegt war, in Zusammenhang. Das sittliche Ge- setz, das „Gesetz der Tugend", ist ihm das Naturgesetz, an dem er alle positiven Normen und historisch gewordenen Ordnungen mißt. Von hier aus verlieren nicht bloß die Gesetze des posi- tiven Rechts und die Verfassungen der bestehenden Staaten ihre sittliche Bedeutung und darum ihre Geltung. 1 ) Dasselbe gilt von ') Wie wenig übrigens die naturrechtliche Theorie für Antisthenes der Ausgangspunkt war, von dem er zu diesen Anschauungen fortschritt, und wie wenig er überhaupt naturrechtlicher Theoretiker war, beweist die Tatsache, daß er in der Sprachphilosophie auf dem (pvau- Standpunkt stand. Daß nämlich die im platonischen „Kratylos" dem Kratylos zugeschriebene Ansicht (nicht, wie Winckelmann S. 48, 1 meint, die dem Hermogenes in den Mund gelegte) auch 510 Die Sokratik. den Forderungen der Sitte, des Anstands, des „Brauchs", und auch den sozialen Institutionen wie Ehe und Familie, der stän- dischen Schichtung der Gesellschaft und der nationalen Gliede- rung der Menschheit ist damit ihr Urteil gesprochen. Antisthenes selbst zwar hat die kosmopolitisch-anarchischen Konsequenzen dieser Anschauung nicht voll gezogen und den Bruch mit der bestehenden Gesellschaftsordnung nicht radikal durchgeführt. Was ihn zu dieser Zurückhaltung veranlaßt hat, war einmal gewiß der Wunsch, in den gegebenen Verhältnissen praktisch-sittlich und pädagogisch zu wirken. Das Entscheidende aber war, wie es scheint, das Beispiel des Sokrates, so wie er es verstand. Und offenbar hat er, rein äußerlich betrachtet, die so- matische Linie nicht eigentlich verlassen. Auf politischem Gebiet ist er ein scharfer Gegner des demokratischen Regiments; positiv tritt er für so etwas wie die sokratische Aristokratie der Sachverständi- gen ein (S. 421,1). Im übrigen scheint er möglichste Zurückhaltung gegenüber dem politischen Leben betätigt und empfohlen zu haben. 1 ) Das Institut der Ehe will er im Interesse legitimer die des Antisthenes ist — so wenig dieser alle Ansichten des Kratylos, der augenscheinlich mit dem Herakliteer Krat. identisch ist, teilt — , und daß Plato, indem er gegen die Ansicht des Kratylos sich wendet, auch, den Antisthenes treffen will (vgl. Räder, Piatons phil. Entwicklung S. 148), halte auch ich für wahrscheinlich. Daß Antisthenes freilich für das Verhältnis von ovöfiaxa und ngäy/xaza geradezu den Ausdruck <pvoei gebraucht habe, ist mir nicht ebenso sicher. Sachlich indessen stimmt mit dieser Theorie die Argumentation durchaus überein, auf die Antisthenes seine skeptisch-eristische Behauptung der Unmög- lichkeit des ävxiUysiv gegründet hat (vgl. meine Syllogistik des Arist. II 2 S. 14f., und die Belegstellen bei Prantl, Geschichte der Logik im Abendlande I S. 32, 14 und besonders Euthyd. 285 E ff.). Vermutlich verfolgt Plato, indem er statt mit Antisthenes mit Kratylos sich auseinandersetzt, die Absicht, zu zeigen, zu welchen Konsequenzen Antisthenes von seinen Anschauungen aus kommen müßte; daß Antisthenes selbst bereits mit heraklitischen Anschauungen in Fühlung getreten sei, wie dies später bei der Stoa der Fall war, halte ich für ausgeschlossen. — Im übrigen ist sicher, daß die Entgegensetzung von Natur und Satzung in dem Gedankenkreis des Antisthenes eine große Rolle gespielt hat, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß Antisthenes, wie Zeller II l 4 S. 291, 2 Schi, und S. 308, 1 Schi, annimmt, von Plato in Phileb. 44 B mit Rücksicht darauf, daß er beständig dem vöfiog gegenüber die ipvoiq zur Geltung brachte, unter die ßäXa öeivobq keyofitvovq xa nsgi <pvoiv gezählt wurde. ') Den im 3. Teil 5. Kap. erwähnten Belegen ist noch das Apophthegma Winckelm. S. 59 XIII über die Stellung des Ant. zur Politik anzufügen: auf die Antisthenes. 511 Kindererzeugung beibehalten. Und so gewiß er bereits begonnen hat, die Bedürfnislosigkeit, die Verachtung des Luxus und der verfeinerten Kultur auch äußerlich zur Schau zu tragen, so hat er sich doch sicher den Gesetzen der guten Sitte, wie sie in der an- ständigen Gesellschaft anerkannt waren, gefügt. Aber das alles war ihm am Ende bloße Akkommodation, ein Notbehelf für eine Übergangszeit. Vermutlich zwar hat er es vermieden, die volle Tragweite seiner ' kultur- und gesellschaftsfeindlichen Anschau- ungen sich zum Bewußtsein zu bringen. Allein daran kann doch kein Zweifel sein, daß ihm der Grundgedanke seines Evangeliums der Natur und der Freiheit klar vor Augen stand, und daß es das letzte und höchste Ziel seines Wirkens war, dieses Ideal zu verwirklichen. Und eben so sicher ist, daß das ganze „kynische" Programm des Diogenes — freier Geschlechtsverkehr an Stelle der Ehe, ein kosmopolitisch-anarchischer Naturstaat 1 ) an Stelle Frage ncüq äv xtq npoai?.&oi nohzsla, antwortete er: KaSuntg nvgl, /xrjxs Xiav iyyvq, 'Iva /urj xayq' /urjxe tiÖqqw, 'Iva (ir\ giyojo^q. ') Diog. L. VI 72, 2. Hälfte (die Ausführung über den vöpoq in der 1. Hälfte des § ist unverständlich): pövrjv xe öpd-r/v nokixtiav slvai xtjv ev xöo[xu> .. . Wie Diogenes die politische Struktur seiner nofazeicc, in der Weiber- und Kinder- gemeinschaft herrschen und an die Stelle der Ehe die freie Liebe treten soll, sich gedacht hat, wissen wir freilich nicht. Vermutlich aber steht das Staatsideal des Stoikers Zeno, von dem Plutarch in de Alexandri fortuna I, c. 6 Anfang berichtet, dem des Diogenes ziemlich nahe ( . . . iva ixri xaxä nöXeiq nrjöe xaxa örjßovq oixuJ/UEV, idloiq txuoxoi dtwpioftevoi ötxaloiq, aXXa nävxaq av&Q(ünovq Tjyw/te&a dqfiöxuq xal noXlxaq, elq 6s ßioq y xal xöo/uoq (uaneg dyeXrjq ovvvoßov vöyno xoivüi avvxg£<pousvr/q). Wenn aber Plutarch im Folgenden (vgl. auch c. 8 Schluß) ausführt, Alexander d. Gr. habe dieses Ideal verwirklicht, wenn der Autor also in der Person des Alexander der einen Herde einen Hirten gibt, so ist diese Vorstellung („der eine Hirt und die eine Herde") sicher nicht kynisch. Daß Diogenes, wie ohne Zweifel schon Antisthenes (vgl. den Titel der Schrift: Kvgoq ?] Tiepl ßaaü.slaq) gelegentlich das Ideal des ßaatkevq oder des ccqxwv gezeichnet hat, ist mir nicht zweifelhaft. Aber er hat das wohl in demselben Sinn getan, in dem er das Ideal des Weisen beschrieben hat. Und als die naturgemäßen Könige oder aQ'/ovxeq sind ihm sicher eben die ootpol erschienen (vgl. die von Zeller II 1* 1010, 2 aus Clemens Strom. II 367 A angeführte Argumentation des Speusippos, die, wie Zeller wohl mit Recht vermutet, gegen die Kyniker ge- richtet ist). An eine monarchische Spitze der kosmopolitischen Gemeinschaft hat Diogenes gewiß nicht gedacht — von Antisthenes ganz zu schweigen. Die Herr- schaft der Weisen selbst hat sich bei Diogenes wohl auf eine freie Vernunft- betätigung gegenüber den Gliedern des in keinerlei organisatorische Formen ein- geschlossenen Gemeinwesens beschränkt, also ganz wie beim idealen Anarchismus. 512 Die Sokratik. der staatlichen und rechtlichen Ordnungen, Verwerfung aller ge- schichtlich gewordenen sozialen und kulturellen Institutionen und aller Gebote der Sitte und des Brauchs, die nicht durch die „Natur" gefordert schienen — im Prinzip auf Antisthenes als seinen geisti- gen Urheber zurückgeht. Tatsache ist, daß der menschlich ge- setzte Nomos in allen seinen Erscheinungsformen für ihn die Geltung verloren hat. Wie sehr dies der Fall war, zeigt sein Verhalten zum religi- ösen Nomos. Vielleicht ist es wieder seiner sophistischen Ver- gangenheit zuzuschreiben, wenn er hier die zurückhaltende Vor- sicht ganz beiseite setzte. Wir kennen seine Stellung zum Volks- glauben bereits. Nach dem Nomos, so soll er erklärt haben, sind es viele Götter, von Natur nur einer. Er selbst hat sich ganz an den einen gehalten und gegen den Anthropomorphismus der Volksanschauung nachdrücklich protestiert. Ja, er scheint noch sehr viel weiter gegangen zu sein. Wie wir Grund haben anzu- nehmen, hat schon Antisthenes über den Opferdienst und die ge- sammten kultischen Ordnungen der heimischen Religion den Stab gebrochen, und festgestellt, die einzige Art, der Gottheit zu dienen, sei das sittliche Leben. 1 ) Freiheit nach innen: vom eigenen Triebleben, Freiheit nach außen: vom Schicksal und vom göttlich- menschlichen Nomos — an innerer Geschlossenheit fehlt es dieser Lebensanschauung nicht. Aber das Ergebnis ist ein asketischer Individualismus, der den Einzelnen nicht bloß auf sich selbst stellt, 2 ) sondern vielmehr isoliert, indem er ihn künstlich loslöst von all den Beziehungen, die den Menschen an Gesellschaft, Kultur und Geschichte binden. Die Frage ist nur: wie konnte sich dieser Individualist noch als Sokratiker fühlen? Die Antwort ist einfach. Sokrates' Ver- halten zum Nomos und zur traditionellen Güterschätzung legte er sich als pädagogische Anpassung an die geltenden Anschauungen zurecht, als eine Konzession, die jener aus Zweckmäßigkeitsgründen denen, die er gewinnen wollte, zu machen genötigt war. Und er J ) Vgl. oben S. 443,1, S. 446,1. Vermutlich dürfen hier die von den Schülern des Antisthenes ausgesprochenen Gedanken ohne Bedenken auf Antisthenes zurück- geführt werden (vgl. Zeller II 1 4 S. 329). 2 ) Vgl. das Apophthegma Winckelm. S. 62, XXIX: 'E^cozjjd-etq xl avxü tcsqi- ■yeyovev ix <piXooo<piaq, scptj' To övvaoScu kavvcö bfiikslv. Antisthenes. 513 selbst folgte ja, wie wir sahen, weithin dem vermeintlichen Vorbild, So konnte er das Bewußtsein festhalten, auch im Kleinen ein treuer Jünger und Nachfolger des Meisters zu sein. Mit besonderem Nachdruck kämpfte er gegen das Kulturgut der Wissenschaft und seine traditionelle Wertung. Schon aus der Schule des Gorgias mochte er die Geringschätzung der Spekulation und des theoretischen Wissens überhaupt mitge- bracht haben. Und er hielt auch später den gorgianischen Stand- punkt fest. Auch er stellte sich, allen überstiegenen Grübeleien gegenüber, auf den Boden des gesunden Menschenverstands, der den Menschen all das lehrt, was er im praktischen Leben braucht. Er hat diese Anschauung nachher in einfachem Gedankengang zu jenem vulgären Materialismus weitergeführt, der uns als die kynische Metaphysik geläufig ist. Der natürliche Mensch lernt, so argumentierte er, die Wirklichkeit durch die sinnliche Wahr- nehmung kennen. Eine andere Erkenntnis brauchen wir nicht und gibt es nicht. Was wir aber mit dem Sinn wahrnehmen, ist körperlich. Also ist „wirklich sein" und „körperlich sein" ein und dasselbe. 1 ) Diese Ansicht zu einer „Theorie" auszugestalten, iiel Antisthenes nicht ein. Für ihn war dies die natürliche Wirk- lichkeitsbetrachtung. Das war ihm genug, und gewiß glaubte er damit nur die Meinung bestimmt gefaßt zu haben, die er sich schon als Schüler des Gorgias gebildet hatte. Als er dann in den Bann des Sokrates geriet, verstärkte sich noch seine Abneigung gegen die reine Wissenschaft. Wenn So- krates im Drange wichtigerer Aufgaben dieser Seite des geistigen Lebens seine aktive Aufmerksamkeit nicht zugewandt hatte und auch grundsätzlich das sittliche Interesse dem wissenschaftlichen überordnete, so sah Antisthenes hierin prinzipielle Ablehnung. Er hat demgemäß auch, wie wir sahen, der eristischen Dialektik des Sokrates sehr bald schon das skeptische Element eingefügt. Auch hierin übrigens glaubte er an eine sokratische Praxis anknüpfen l ) Daß die von Plato Soph. 246 A— 247 E charakterisierten Leute, welche annehmen xovxo aivcu pövov b napexsi nQoaßoXrjv xal enacpijv xiva, xavxbv owßa xal ovoiav 6git,öfX£voi xxX., die Kyniker sind, und daß ebenso Theät. 155 E auf diese geht, kann heute als allgemein zugestanden gelten (vgl. Dümmler, Antisthenika S. 51 ff., Natorp, Forschungen zur Gesch. des Erkenntnisproblems S. 195 ff. Zeller S. 296 ff.). H. Mai er, Sokrates. 33 514 Die Sokratik. zu können. Oft war Sokrates ja in die Lage gekommen, einge- bildetes Wissen mit seinen elenktischen Waffen zu zersetzen. So gab Antisthenes der sokratischen Dialektik neben der sitt- lichen eine stark skeptische Tendenz. Ja er ist ohne Zweifel der Schöpfer der sokratischen Skepsis gewesen; auch den Me- garikern ist er wohl hierin vorangegangen. Er hat im Kampfe gegen den Götzen „Wissenschaft" manche seiner Waffen der eleatischen Dialektik entlehnt, auch hiezu vielleicht durch das Vorbild des Gorgias angeregt. 1 ) Aber auch in der Durchführung seiner Skepsis war er bemüht, den Spuren des Sokrates zu folgen. Die definitorische Frage, die der Meister so gern als Ausgangs- punkt seiner elenktischen Untersuchungen verwendet hatte, wird bei Antisthenes zum Zentrum der logischen Skepsis, mit der er nachher namentlich Plato bekämpft hat. 2 ) Ihre endgültige Gestalt hat diese Skepsis freilich wohl erst in der polemischen Wechsel- wirkung mit der platonischen Spekulation erhalten, wie ja auch ein erheblicher Teil der antisthenischen Polemik der Ideenlehre galt. 3 ) In ihren Grundzügen indessen stand sie schon lange vorher fest. Die Heftigkeit aber, mit der Antisthenes seinem Widersacher ge- rade auf diesem Gebiet entgegentrat, erklärt sich zuletzt daraus,, daß Plato ihm eben wegen seines vorherrschenden Interesses für die Wissenschaft in ganz besonderem Sinn als Abtrünniger galt. Die wissenschaftliche Betätigung erschien ihm offenbar darum als besonders gefährlich, weil sie weit mehr als andere kulturelle Interessen im stände war, den Sinn des sittlich Strebenden ge- fangen zu nehmen und von der sittlichen Sorge abzulenken. Die Tatsache, daß Sokrates selbst doch unablässig auf sach- verständiges Wissen gedrungen hatte, beirrte ihn hierin nicht im geringsten. Praktisches Wissen, d. h. das Wissen, das der Mensch *) Nicht erst durch das Beispiel der Megariker. Zu Gorgias vgl. oben S. 219 ff. 2 ) Daß hier auch der Grundsatz: uQxh naiöevoscog ij xwv ovofxäxov int» axexpig (zu dem auch Euthyd. 277 DE zu vergleichen ist) eingesetzt hat, ist oben (S. 289, S. 291 f.) festgestellt. Als eifriger Elenktiker ist Antisthenes auch von Xenophon gezeichnet (Symp. IV 2 ff., VI 5). Zu dem Charakter der logischen Skepsis des Antisth. s. meine Syllogistik des Aristoteles, II 2 S. 12 ff. 3 ) Vgl. die bekannten Fragmente aus dem „Sathon" Winckelm. S. 33 I— IV. Durch diese Ausführungen ist Antisthenes zu einem Vorläufer des Nominalismus, geworden. Antisthenes. 515 im alltäglichen Leben brauchte und aus der praktischen Erfahrung gewinnen konnte, verlangte auch er, und er scheint dieser Forde- rung auch in seinem pädagogischen Programm Rechnung ge- tragen zu haben. Indessen scheint er dieses Wissen im Interesse der sittlichen Aufgabe auf das Nötigste beschränkt zu haben. Im übrigen aber war er der Meinung, daß Sokrates als das sachver- ständige Wissen im strengen Sinn das sittliche Wissen betrachtete. Kurz, Antisthenes ließ das sachverständige Wissen im sittlichen aufgehen. Damit hängt jene Intellektualisierung der (p^orrjotg zu- sammen, die auch bei ihm zu beobachten ist. Ein wesentlicher Teil des „sittlichen Wissens" ist ihm die Einsicht in die Nichtig- keit der Güter und Übel, die den unkritischen Menschen zu knechten pflegen ; ein wesentlicher Teil dieser Einsicht aber ist das Wissen, daß es um die Wissenschaft nichts sei, und offenbar gibt dieses skeptische Wissen zumeist der (pyovrjoig die Fähigkeit, die Stelle des sachverständigen Wissens des Sokrates auszufüllen. So wird die Skepsis ein Bestandteil der sittlichen cpQovrjGig und damit des antisthenischen Tugendideals selbst. 1 ) Was ist nun aber der positive Inhalt dieses Ideals? Aus der freien Beherrschung der sinnlichen, sozialen und kulturellen Inter- essen durch die autarke Persönlichkeit, die jenen ihren sittlichen Wert, dieser aber eben damit ihren positiven Lebenszweck gab, ist bei Antisthenes die asketische Loslösung geworden, und an die Stelle der Überordnung des sittlichen Willens über den Nomos, die doch andererseits den bestehenden, geschichtlich gewordenen Lebensordnungen ihre sittliche Bedeutung wahrte, ist bei ihm die naturrechtliche Abrogierung getreten. Damit aber hat er dem sitt- lichen Leben seinen positiven Gehalt, dem sittlichen Ideal seinen Inhalt genommen. Der Freiheitsgedanke, den er in dem soma- tischen Evangelium der sittlichen Autarkie und Autonomie fand, hatte seinen Sinn so ganz gefangen, daß ihm Sokrates' Bemühen, das natürlich-sinnliche, gesellschaftliche und kulturelle Leben mit seinen Ordnungen in das formale Ideal einzubeziehen, ganz entging. ') Für dieses sittliche Wissen scheint Antisthenes, der eine Schrift tcsqI öd&g xal £motrj/LtT]g geschrieben hat (7. Band seiner Schriften), den Geltungswert der strengen imari^r] in Anspruch genommen zu haben (vgl. Kleitoph. 409 E); im übrigen war ihm Wissen 66§a «A^r/e (xexu Xöyov (Theät. 201 C, vgl. Syll. des Arist. II 2 S. 12 f.). 33* •516 Die Sokratik. So kam es, daß er sich mit aller Energie gegen das Unternehmen Piatos, dem sokratischen Ideal in diesem Sinn einen Inhalt zu -geben, sträubte. Er wollte es zunächst beim sokratischen Nicht- wissen belassen. Schließlich aber hat er mit vollem Bewußtsein und grundsätzlich der Form den Inhalt geopfert. 1 ) Und das ist von seinem Standpunkt aus nur folgerichtig. Ist die sittliche Frei- heit gedacht als Loslösung von all den Interessen, die sonst den Menschen zu fesseln pflegen, so ist innere Stärke und Unabhängig- keit des sittlichen Wollens das ganze Ideal, und der Versuch, andere Werte und Normen demselben ein- und unterzuordnen, würde sein Wesen geradezu aufheben, würde den sittlich Streben- den aufs neue in Abhängigkeit von Dingen, die außerhalb seines Willens liegen, bringen. Kurz, um die Form und damit aller- dings das wesentlichste Element des sittlichen Lebens zu retten, wehrt Antisthenes jede Erfüllung desselben mit inhaltlichen Zwecken und Zielen ab. Das war ihm die echte Sokratik. In Wirklichkeit hat er damit dem sokratischen Evangelium das Beste genommen, was es von Haus aus hatte: die kulturelle Stoßkraft, die Fähigkeit, das ganze Kulturleben zu erneuern und zu versittlichen. Drittes Kapitel. Plato und die Sokratik. 1. Das Werden. Plato war Antisthenes' geschworener Gegner vom ersten An- fang seiner schriftstellerischen Tätigkeit ab. Aber es war zunächst eine persönliche Rivalität, ein Streit um die Führerschaft in der sokratischen Gemeinde und um die Taktik der sokratischen Pro- paganda. Sachlich war er damals mit dem Gegner noch im wesent- lichen einig. Auch er verfolgte in jener ersten Zeit das Ziel, die protreptische Dialektik des Meisters fortzusetzen. Und das Ringen mit den athenischen Sophistenschulen um die heranwachsende Jugend war immerhin ein Band, das die beiden Sokratiker trotz aller persönlichen Differenzen zusammenschließen konnte. Noch x ) Vgl. die Umbildung, welche die Formel ra eavxov itQdrxeiv nach dem oben (S. 392, 2) Gesagten unter den Händen des Antisthenes erfahren hat. Plato und die Sokratik. Das Werden. 517 war ihnen ja auch das sittliche Ideal selbst gemeinsam. Denn auch Piatos Sinn war damals noch von dem Evangelium der sittlichen Autonomie und Autarkie erfüllt. Und in der Aus- einandersetzung mit den Sophistenschulen wurde von ihm ganz ebenso wie von Antisthenes die sittliche Erziehung im sokratischen Sinn der sophistischen entgegengestellt. 1 ) Einigungspunkte waren also genug vorhanden. Dennoch trat der Gegensatz schon in diesen Kämpfen selbst hervor. Mit der Tatsache, daß Antisthenes eine geschlossene Schulgemein^ schaft gegründet hatte, die sich den Sophistenschulen gegenüber- stellte, äußerlich aber mit ihnen doch eine erhebliche Ähnlichkeit hatte, konnte Plato sich nie befreunden. Auch an der antisthe- nischen Unterrichtsweise mißfiel ihm die nicht zu verkennende Annäherung an die Manier der Sophisten. Und schon im „Pro- tagoras" erhob er gegen die Verquickung der sokratischen Dia- lektik mit sophistischer Dichtererklärung öffentlich Einsprache. Bedeutsamer aber war, daß schon damals eine sachliche Differenz von großer Tragweite im Keime vorlag. Plato und An- tisthenes hatten, der Intention der protreptischen Dialektik des Sokrates entsprechend, ihre Tätigkeit grundsätzlich auf Weckung sittlicher Einsicht (qigovTjoig) eingestellt. Schärferem Zusehen aber kann es nicht entgehen, daß beide unter der (pyovrjöig nicht ganz dasselbe verstanden. Eine gewisse Intellektualisierung der sokra- tischen cpQovrjOig zwar hatte sich ja auch bei Antisthenes voll- zogen. Aber sie blieb bei ihm trotz des skeptischen Elements, das ihr der Einschlag eristischer Skepsis in seiner Dialektik schon frühzeitig eingefügt hatte, im wesentlichen ein praktisches Wissen. Bei Plato dagegen fehlte ihr der skeptische Zug ganz. Dafür hat sie von Anfang an einen starken Stich ins Theoretische. Und schon in seinen sicher sokratischen Dialogen erscheint sie immer wieder als eine Art von „Wissenschaft" (S. 341 ff.). Es liegt nahe, dies auf Piatos spekulative Naturanlage und die philoso- phischen Reminiszenzen, die ihm von seiner vorsokratischen Zeit her geblieben waren, zurückzuführen. Entscheidend war aber zweifellos etwas Anderes. *) Auch hiezu und zum Nächstfolgenden sind die Belege und Nachweise, wie dies der Methode dieses Buchs entspricht, großenteils schon in den 3 ersten Teilen gegeben (vgl. das Register). Vom 1. Teil s. bes. das 4. Kap. 518 Die Sokratik. Auf Plato hatte Sokrates' Forderung sachverständigen Wissens einen starken und nachhaltigen Eindruck gemacht. Das kommt in seiner „sokratischen" Protreptik in doppelter Weise zur Geltung. Einmal nämlich hat in seinem dialektischen Pro- gramm neben der sittlichen Einsicht das sachverständige Wissen sehr merkbares Gewicht. Sodann aber erhält die sittliche Einsicht selbst etwas von dem Charakter dieses letzteren. Zugleich hat Plato das Bedürfnis, die beiden mit einander in inneren Zusammen- hang zu bringen. In der Abrechnung mit den Sophistenschulen nun ist es ganz von selbst zu dieser Synthese gekommen. Was ihm an der sophistischen Erziehung mißfiel, war nicht bloß ihr Versagen in der sittlichen Kardinalfrage. Ebenso zuwider war ihm ihre einseitige formalistische Tendenz, der alles auf redne- rische Fertigkeit und Gewandtheit, nichts auf die sachliche Kennt- nis und Beherrschung der Objekte, über die der Redner zu sprechen hatte, anzukommen schien. Nun stehen aber im Mittelpunkt der Dinge, mit denen es der Redner zu tun hat, Recht und Unrecht. Und hier vor allem fordert Plato sachverständiges Wissen. So wird die sittliche Einsicht dem sachverständigen Wissen ein- und unter- geordnet, und das letztere ist es, das nun der einseitig rhetorischen Tendenz der sophistischen Bildung entgegengesetzt wird. Im „Gorgias", wo Plato mit der „Sophistik" grundsätzlich bricht, ist dieser Standpunkt in voller Schärfe und Bestimmtheit herausge- arbeitet. Die sittliche Einsicht ist hier prinzipiell zum sach- kundigen Wissen um das Rechte und Unrechte geworden, das sachkundige Wissen aber zur Philosophie. 1 ) Damit hat sich die sokratische „Philosophie" endgültig zur „Wissenschaft" gewandelt, — zur Wissenschaft, die zwar das sittliche Wissen ein- schließt, zugleich aber, darüber hinaus, die Erkenntnis der Wirk- lichkeit, die „Theorie" umfaßt. Und das Schlagwort im Kampf mit der Sophistik ist nun: Wissenschaft gegen Rhetorik. Für Plato bedeutet diese Wendung aber weiterhin grundsätz- lichen Kampf gegen zwei Fronten. In der Ablehnung der „Wissenschaft" ist Antisthenes mit den Sophisten einig. Und er scheint sehr bald schon seine skeptisch-eristischen Waffen gegen ') Man vergleiche besonders die Unterredung mit Gorgias, den Anfang des Gesprächs mit Polos und die Auseinandersetzung mit Kallikles über die <pi?.o~ oo<pia. Plato und die Sokratik. Das Werden. 519 die platonische Position gekehrt zu haben. Er bekämpft Plato nun als einen Abgefallenen. Plato seinerseits brandmarkt den Geg- ner von jetzt ab als „Sophisten". Wesentlich verschärft aber wurde der Gegensatz durch das Hereinwirken eines anderen Motivs. Wir wissen, daß auch Plato sich in der ersten Zeit ganz an die protreptische Dialektik des Sokrates hielt, und die äußere Manier derselben, die namentlich in dem äußerlich ergebnislosen Abbrechen der Gespräche zum Ausdruck kam, hielt er noch in vielen seiner späteren Dialoge fest. Allein schon sehr bald scheint sich in ihm das Bedürfnis geregt zu haben, dem formalen Ideal des Sokrates einen Inhalt zu geben. Ihn hatte das Erlösungswort von der inneren Freiheit nie mit der elementaren Gewalt gepackt wie seinen Gegner Antisthenes (S. 329). Ihm konnte es darum auch nie recht genügen, mit dem formalen Ideal ins Leben kritisch hinein- zuleuchten. Er begehrte zu wissen , wohin der sittliche Weg führen sollte (vgl. S. 383ff.). Und namentlich in der Auseinander- setzung mit den Sophistenschulen erschien ihm, wie der Kleitophon verrät, die inhaltliche Bestimmung des sittlichen Zwecks als eine zwingende Notwendigkeit. So kam es, daß er der Form einen Inhalt gab. Und dieser Inhalt war — das sachverständige Wissen, die „Wissenschaft". Das war nicht an sich schon eine Abweichung von der so- matischen Linie. Ganz im Gegenteil. Plato ist der einzige unter den Sokratikern, der das bestimmte Ziel, auf das die kulturelle Reformarbeit des Meisters tatsächlich hinstrebte, wirklich be- griffen hat. Sokrates' leitende Idee war tatsächlich doch gewesen, daß der Einzelne den bestimmten Tätigkeitskreis, den ihm Natur und Umstände angewiesen hatten, so vollkommen wie möglich ausfüllen sollte, und daß die Grundlage für die Lösung dieser individuellen Menschenaufgabe in allen Fällen sachverständiges Wissen sein müsse. Das war der Idealinhalt, der dem Meister vorschwebte; von hier aus hat er ja auch eine neue Gliederung der Gesellschaft und eine Erneuerung des gesamten Kulturlebens in Aussicht genommen. Plato hat den sokratischen Gedanken in seiner vollen Tragweite erfaßt und mit bewußter Konsequenz zur Geltung gebracht. Wenn er dabei das Moment des sachver- ständigen Wissens ganz in den Vordergrund rückt, so ist auch 520 Die Sokratik. dies durchaus sokratisch — das ja war das Neue. Hier lag der wunde Punkt im staatlichen und kulturellen Leben der Zeit, auf welchen den Finger zu legen Sokrates nie müde wurde. Plato hat allerdings nun das sachverständige Wissen zur Wissenschaft mit ausgesprochen spekulativer Tendenz weitergebildet. Und darin ging er zweifellos über Sokrates beträchtlich hinaus. Aber zuwider war auch dies den sokratischen Intentionen keineswegs. Plato selbst hat ja den Zusammenhang der Wissenschaft mit dem Kulturleben, das Ideal einer intellektuellen, d. i. einer in allen ihren Zweigen vom Geist wissenschaftlicher Erkenntnis geleiteten und beherrschten Kultur auch später, wenigstens äußerlich, fest- gehalten. Und doch vollzieht sich hier eine folgenschwere Wendung, eine ins Wesen eindringende Umbildung des sokratischen Evan- geliums. Das Charakteristische ist, daß Plato nun Erkenntnis und Tugend, wissenschaftliche Betätigung und sittliches Leben geradezu gleichsetzt. 1 ) Wie er die sittliche Einsicht ganz ins sachverständige Wissen einbezogen hat, so geht ihm jetzt das formale Tugendideal ganz im Inhalt, in der wissenschaft- lichen Erkenntnis unter. Mit der Theoretisierung der (pyovrjoii;, die hierin zum Abschluß kommt, geht Hand in Hand die Aus- schaltung aller übrigen Elemente des Sittlichen. So wird aus dem sokratischen Satz: Tugend ist ein Wissen, der platonische: Tugend ist das Wissen. Das Ideal der sittlichen Freiheit geht verloren. An die Stelle der Erhebung des Willens auf den Stand- punkt der sittlichen Autonomie und Autarkie tritt die Erhebung des Intellekts auf den Standpunkt der wissenschaftlichen Betrach- tung. Damit aber erhält nun doch auch die Wissenschaft ihrer- seits eine veränderte Stellung. Die wissenschaftliche Arbeit ist nicht mehr bloß die Voraussetzung und das Fundament für die individuelle Berufserfüllung; sie ist vielmehr die eigentliche Sub- stanz des sittlichen Lebens selbst. An die theoretische Betätigung knüpft sich dementsprechend zugleich ein praktisch -gemüt- liches Interesse, und bald schon erscheint in der platonischen ') Lehrreich ist in dieser Hinsicht, wie nachher im Symposion (210 CD) in der Stufenreihe der Weihen die Stufe der <pQÖvr)oiq und der praktischen imxT]- devfxaxa als eine niedrigere geschildert wird, über die emporzusteigen ist zu den imax^fiai, schließlich zu der einen mioxr'ifjir] des xuXöv, die den Gipfel bedeutet Pinto und die Sokratik. Das Werden. 521 Schriftstellerei die Erkenntnis als eine Art höherer Daseinsweise, die dem, der sich zu ihr erhebt, ein gesteigertes Lebensgefühl zu geben vermag. Plato ist sich über die Wandlung, die sich in seinen An- schauungen vollzogen hat, durchaus klar. Im „Euthydemos" stellt er seine jetzige, positive Protreptik, auf die schon im „Klei- tophon" hingedeutet ist, die Protreptik mit dem neuen, theore- tischen Tugendideal der negativ-eristischen des Antisthenes ent- gegen. *) Und im „M enon" gestaltet er die sokratische Dialektik — nicht etwa bloß tatsächlich, sondern bewußt und grundsätzlich — so um, wie dies durch die neue Aufgabe, vor die sie gestellt ist, gefordert scheint. 2 ) ImMenon werden die beiden mit einander verketteten Fragen erörtert: ob die Tugend lehrbar, und ob sie Erkenntnis ist. Das Gespräch endet wieder einmal scheinbar ergebnislos. Aber hier ist dafür gesorgt, daß des Autors wirkliche Meinung nicht im Dunkel bleibt. Die ganze Untersuchung ist von vornherein auf die Voraussetzung eingestellt, daß die Tugend in der Tat wissen- schaftliche Erkenntnis sei. 3 ; Ist dem aber so, so ist die Aufgabe der protreptischen Dialektik offenbar, die Menschen zum Wissen zu führen. Allein ist die sokratische Fragedialektik, die Dialektik des gemeinsamen Suchens, in der der Fragende und der Ant- wortende Nichtwissende sind, hiezu im stände? Wie es scheint, hatte Antisthenes hierauf bereits die Antwort gegeben. Und zwar ') Vgl. bes. Euthyd. 274 D ff. 278 C ff. 2 ) Auch der „Kratylos" gehört, wie ich mit Räder S. 146 und C. Ritter, Piaton S. 273, annehme, in diese Umgebung. Zeitlich folgt wohl der Euthydemos auf den Menon (vgl. Euthyd. 290 C über die Dialektiker). Sicher gilt das vom „Kratylos". Die Vorstellung, die dieser vom Dialektiker hat, setzt die neue Dialektik, die im Menon zuerst hervortritt, bereits als fertig voraus. Das ist übrigens so sehr der Fall, daß der Kratylos wohl auch später ist als der Euthy- demos, und es ist nicht ausgeschlossen, daß zwischen Euthydemos und Kratylos ein längerer Zeitraum liegt. 3 ) Wenn gegen den Schluß des Dialogs (98 BC) neben dem Wissen auch der 6 gut] dö£cr — obwohl die imozruxrj nach 98 A ri/uicotega ist als diese — ein gewisser Wert für die Praxis des Lebens zugestanden wird, so ist das ein Kompromiß, zu dem Plato augenscheinlich durch ein aktuelles Motiv, nämlich durch das Bedürfnis, die im Gorgias geschmähten athenischen Staatsmänner zu rehabilitieren (vgl. oben S. 185 f.), veranlaßt ist, der aber seine prinzipielle Ansicht doch nicht verdunkelt, geschweige dauernd modifiziert hat. •522 Die Sokratik. nicht bloß insofern, als er der sokratischen Dialektik vielmehr eine skeptische Wendung gab. Er hatte dazu noch dem platonischen Verfahren den „eristischen" Satz entgegengehalten, daß es ein solches Suchen unter keinen Umständen geben könne; denn gegenüber dem, was man wisse, könne ein Suchen nicht in Be- tracht kommen: was man wisse, das brauche man nicht erst zu suchen; das aber, was man nicht wisse, könne man erst recht nicht suchen; denn da wisse man ja eben nicht, was man zu suchen habe. Plato sieht in dieser Eristik den Ausfluß geistes- träger Bequemlichkeit und sittlicher Schwäche; und er stellt ihr, ohne sie eigentlich zu widerlegen, einfach die Begründung gegen- über, die er seiner Dialektik, d. i. der auf die Gewinnung von Wissen gerichteten Dialektik, nun zu geben vermag. J ) Der springende Punkt dieser Begründung ist die Feststellung, daß Suchen und Lernen nichts anderes sei als Wiedererinne- rung. Diese These selbst aber hat zum Hintergrund das Dogma der Mysterientheologen von der Unsterblichkeit und Präexistenz der Seele: da die Seele in ihren früheren Existenzen was auf Erden und im Hades ist und alle Dinge geschaut hat, gibt es nichts, was sie sich nicht dereinst lernend zu eigen gemacht hätte und darum auch jetzt in Erinnerung zurückrufen könnte; da aber die ganze Wirklichkeit in sich wesensverwandt und der Seele in ihrem Zusammenhang vertraut ist, so wird es der letzteren auch möglich, wenn sie nur an Eines erinnert ist, alles Übrige von selbst aufzufinden, und das ist das, was die Menschen „Lernen" nennen. Insofern kann man sagen, daß alles Lernen und Suchen Erinnerung (aräßrrjoig) sei (81 A— E). Und Plato stützt hierauf die Zuversicht, daß der Dialektiker durch bloßes Fragen im stände sei, den Antwortenden zum Wissen zu bringen. Er hält sich darum für berechtigt, die sokratische Dialektik auch auf dem Boden, auf den er sich mit seinem neuen Tugendbegriff gestellt hat, festzuhalten, und er erbringt hiefür den experimentellen Beweis. In der bekannten Szene mit dem Sklaven führt uns der Ge- ') Meno 80DE, 81 D, 86B. Der köyoq egiouxöq, der hier erwähnt ist, ist demjenigen, der nachher im Euthydem. 275 D ff. vorgeführt wird, verwandt, und •ohne Zweifel ist der Eristiker, der bekämpft wird, hier wie dort derselbe, nämlich Antisthenes. Pinto und die Sokratik. Das Werden. 523 sprächsleiter das dialektische Verfahren nach seinen beiden Seiten, der elenktischen und der positiv anleitenden, praktisch vor. Begonnen wird mit der Elenktik (82 B — 84 D), auf die der Autor starkes Gewicht legt. Der Sklave wird in dem Frage- verfahren, das mit ihm, über mathematische Dinge, angestellt wird, zunächst zur Einsicht in sein Nichtwissen über einen Gegenstand, über den er vorher Bescheid zu wissen glaubte und eine ebenso sichere wie falsche Auskunft gab, gebracht. Und Sokrates-Plato zeigt, wie schon dies ein Fortschritt im „Erinnern" sei: vorher eingebildetes Wissen und keine Geneigtheit, zu forschen und zu lernen; jetzt dagegen Erkenntnis des Nichtwissens und darum der Zustand der Verlegenheit, des anoynv, aus dem mit Notwendig- keit das Verlangen nach rechtem Wissen entspringt. Offenbar ist dieser Effekt keineswegs wertlos, und Plato ist durchaus nicht geneigt, den elenktischen Teil der Dialektik fallen zu lassen. Wichtiger immerhin ist der positive, der wirkliches Wissen zu erzielen sucht. Auch der wird uns zur Anschauung gebracht: der Fragende entlockt dem Sklaven durch seine Fragen einen mathe- matischen Satz (84 D — 85 B). An diesem Fall aber, in dem die Dialektik durch bloßes Fragen im Respondenten wissenschaftliche Erkenntnis zu tage gefördert hat, wird dargetan, daß Kenntnisse, die in dieser Weise aus der Seele herausgeholt werden, in ihr doch in irgend einer Form müssen vorhanden gewesen sein. Und in der Tat wird angenommen, daß in der Seele des Menschen von seinen früheren Existenzen her wahre, aber unbewußte Vor- stellungen liegen, 1 ) die, durch Fragen wachgerufen, zu objektiv gültigem Wissen werden (85 B — 86 C). Eines fällt uns an dieser Erörterung, in der uns die neue Fragedialektik, die ihre Möglichkeit auf ein der Seele angeborenes Wissen gründet, ad oculos demonstriert wird, besonders auf. Der Stoff, an dem die dialektische Probe gemacht wird, ist nicht etwa ein ethischer, sondern ein mathematischer. Augenscheinlich ist für die neue dialektische Methode das Vorbild der Mathematik von grundlegender Bedeutung gewesen. 2 ) Uns aber interessiert an dieser Tatsache noch ein Anderes. Es ist ein eminent theo- *) TuJ ovx eiöoxi aga nepl a>v av [xrj elöq tvsiaiv d^Tjd-elg öo^ai neol xov- ■kov luv ovx oiöev; 4>ciiverai 85 C. 2 ) Vgl. Windelband, Piaton 2 S. 67. 524 Die Sokratik. retisches Wissen, das der Philosoph jetzt mit seiner Methode sucht. Und als das Gesprächsziel erscheint nicht mehr bloß die Anregung des Nachdenkens im Partner, sondern die Gewinnung eines positiven, ich möchte sagen: dogmatischen Ergebnisses. In der Tat haben wir hier schon ganz die Dialektik vor uns, die nachher das methodische Werkzeug der platonischen Spekulation geworden ist. Fast sieht es zwar so aus, als wollte Plato noch einmal einen Schritt zurück tun. Am Schluß dieser ganzen methodologischen Darlegung nämlich fügt er an: nicht alles an derselben wage er mit voller Sicherheit durchzuhalten; dafür nur wolle er gegenüber jener schwächlichen und bequemen Skepsis mit vollem Nachdruck eintreten, daß es sittliche Pflicht sei, nach Wissen forschend zu suchen (86 B C). In Wirklichkeit begnügt er sich keineswegs, seinen neuen Standpunkt der eristischen Skepsis des Antisthenes gegenüber sittlich zur Geltung zu bringen. Der Apriorismus des „Menon" bleibt auch künftig der ständige Hinter- grund der spekulativen Dialektik Piatos. 1 ) Daß diese Dialektik aber gleich zu Eingang ihres Wegs mit der mystischen Theologie in Fühlung tritt, ist keineswegs bloßer Zufall. Die Berührung beruht auf einer inneren Verwandtschaft. Auch das Lebenselement von Piatos spekulativem Tugendideal ist zuletzt religiöse Mystik. Schon im „Gorgias" hatte er für die mystische Weisheit der Pythagoreer ein mehr als akademisches Interesse an den Tag gelegt. Und der eschatologische Exkurs, mit dem der Dialog schließt, führt sich selbst zwar als Mythus ein; er sticht aber merkwürdig von der kühlen Objektivität ab, mit der der Sokrates der Apologie und des Kriton einst die Glaubensgedanken über das, was nach dem Tode kommt, abge- handelt hatte, und die Versicherung des Redenden, daß er selbst in dem Mythus Wahrheit sehe, darf nicht leichter Hand ignoriert werden. 2 ) Zwischen den Gorgias und den Menon nun fällt die *) Wir werden dieser Anschauung gleich im Phaidon (72E ff. vgl. 75Dff., 91 E) wieder begegnen. 2 ) Gorg. 493 Äff. Der xo/uxpog avr'iQ, l'oux; SixeXöq xiq rj 'IraXixög, von dem in A die Rede ist, ist Philolaos, vgl. Sauppe-Gercke zu der Stelle. Der eschato- logische Exkurs 523 Äff. ist eingeleitet mit den Worten: v Axovs dq, (paat, pä).a xaXov köyov, ov av fzhv fjyrjoei (ai&ov, wc eya> oi/ucct, iya> 6s löyov wg äXTj&rj yag övxa aoi Ae£a> a (xeXXo) ktyeiv, vgl. 527Aff. — Nicht zu vergessen übrigens- Plato und die Sokratik. Die Höhe. 525 erste italisch-sizilische Reise Piatos. l ) Nach Sizilien führte ihn, wie er selbst erzählt, die Hoffnung, in Syrakus in seinem Sinn politisch wirken zu können. Vorher aber hielt er sich in Unter- italien auf. 2 ) Und was ihn hiezu veranlaßte, war wohl der Wunsch, die pythagoreischen Gemeinden, zu denen er sich innerlich hin- gezogen fühlte, in ihrer Heimat näher kennen zu lernen. Be- stimmte Nachrichten zwar haben wir hierüber nicht. Dagegen berichtet wieder Plato selbst, daß Dion, mit dem er in Syrakus eben damals eine vertraute Freundschaft schloß, ein „Geweihter" war. 3 ) Und daß er die Gelegenheit benutzte, mit den Pythagoreern in persönliche Verbindung zu treten, ist kaum zu bezweifeln. Genug, im „Menon" ist die Anknüpfung der platonischen An- schauungen an den Gedankenkreis der Mystik Tatsache geworden. Die Erlösungssehnsucht, die dem sokratischen Evangelium sein tiefstes Motiv gegeben hatte, wird jetzt auch in Piatos Seele völlig wach. Er aber sucht das Heil nun nicht in der sittlichen Freiheit. Der Ankergrund, den er findet, liegt in der Glaubenswelt der Mysterien. Wie stark aber dieser mystische Einschlag in Piatos Denken wirkte, wird sich alsbald zeigen. 2. Die Höhe. Man sieht: für Plato war das Suchen nach Wissenschaft eine sittliche, 4 ) und zuletzt eine religiöse Lebensfrage. Wo aber war Wissenschaft zu finden? An eine einfache Wiederaufnahme der alten Spekulation, mit ist, daß Plato die orphische Gemeinde in Athen selbst, wo sie einen starken Anhang hatte, kennen lernen konnte und wohl auch kennen gelernt hat. Indessen wird ihn wohl die pythagoreische Sekte, die philosophischer gerichtet war, von Anfang an mehr angezogen haben. ') Zu dieser Reise vgl. C. Ritter, Piaton I S. 86. Die Annahme, daß Plato im Sommer 388 in die Heimat zurückgekommen sei, ist auch mir wahr- scheinlich. 2 ) Vgl. den 7. Brief, bes. 326Bff. 326D. s ) Vgl. 7. Brief 333 E. *) Lehrreich sind in dieser Hinsicht einige Bemerkungen im „Lysis", der bereits dem „Symposion" zeitlich nahesteht. In 21ÖBC ist die (pgövrjoiq bereits zum sachverständigen Wissen geworden; und von diesem Wissen wird gesagt: in dem, was wir wissen, sind wir iksv&sgoi . . xal aXXwv ccQx.ovTeg, rjjxirfQa xe ravza eazai. Und in 218A wird das Gegenteil dieses Wissens, die äfia&ia, mit xaxia gleichgesetzt. 526 Die Sokratik. der er in seinen jungen Jahren enge Fühlung gehabt hatte, hat Plato wohl nie gedacht, obwohl jetzt alte Reminiszenzen mit Macht wieder auf ihn eindringen mochten. Zwar die Tatsache,, daß bei den gebildeten Zeitgenossen unter dem Einfluß der sophistisch-rhetorischen Schulung die Geringschätzung gegen die „unfruchtbare" Wissenschaft zur herrschenden Stimmung geworden war, hätte ihn wohl ebensowenig irre zu machen vermocht wie die andere, daß gewisse Genossen aus der sokratischen Gemeinde seit einiger Zeit schon jeder wissenschaftlichen Theorie und jedem Bedürfnis nach theoretischer Welterkenntnis eine systematische, zielbewußte Skepsis entgegenzusetzen begonnen hatten. Aber er selbst war dem Anschauungskreis der alten Wissenschaft völlig 1 entwachsen. Der sokratische Einfluß und seine eigene seitherige Entwicklung wiesen ihn nach ganz anderer Richtung. Für das „Wissen um das Gute", wie er es mit seiner ganzen Seele suchte, war von der bisherigen Philosophie so gut wie nichts zu erwarten. Völlig versagte diese gegenüber der Forderung sachkundigen Wissens. In dieser Forderung lag die Aufgabe verständnisvoller Bewältigung der Wirklichkeit. Allein der bunten Vielheit und dem unaufhörlichen Wechsel des Tatsächlichen war die alte Philo- sophie mit ihren Mitteln nicht gewachsen. 1 ) Oberste Gesichts- punkte zur Deutung des Wirklichen hatte sie zwar aufzustellen versucht. Am weitesten war hierin Anaxagoras mit seiner Nus- lehre gekommen. Aber auch er hatte nicht vermocht, seinen Grundgedanken durchzuführen (Phädo 97 B ff.). So mußte die Wissenschaft rettungslos in der Sphäre des Vielen, des Werdenden und Vergehenden, in der ein wirkliches Wissen unmöglich ist, unter- gehen (vgl. S. 263 f.). Wo zeigte sich ein Ausweg aus dieser Not? Plato hat diesen Weg gefunden. 2 ) Der entscheidende Schritt aber war die Entdeckung des Allgemeinen. 3 ) Diese war in seinem Denken seit langem vorbereitet. Schon die besondere Fassung, in der das Problem an ihn herangetreten war, hatte auf die Lösung hingedeutet. Das Programm des sach- kundigen Wissens enthielt ja zuallererst die Aufforderung, ein ') Das Problem, das Plato hier fand, tritt schon im Symposion 210E ff. in voller Deutlichkeit ans Licht. 2 ) Die Dialoggruppe Symposion, Phaidon, Politeia zeigt uns Plato am Ziel. 3 ) Zu der ganzen Ausführung im Text vgl. S. 263 ff. Plato und die Sokratik. Die Höhe. 527 Mittel zu suchen, mittels dessen der unaufhaltbare Fluß und die unübersehbare Fülle des tatsächlich Wirklichen, mit dem der Mensch im Leben ringen mußte, sich durch das auffassende Denken überwinden und beherrschen ließ. War dieses Mittel nicht der Allgemeinbegriff? Das war in der Tat Piatos Lösung. Nahegelegt war ihm dieselbe durch die Bedeutungen der Wörter der Sprache. 1 ) Und er war um so mehr veranlaßt, diesen Weg zu gehen, als er schon durch die sokratische Dialektik auf ihn hingewiesen wurde. Hier hat die definitorische Frage des So- krates nach dem „Was?", die ja stets von den sprachlichen Wörtern ausgegangen war, in Piatos Denken eingegriffen. Wir wissen, welche Bedeutung dieselbe in der sokratischen Elenktik der frühplatonischen Dialoge hatte. 2 ) Wir können weiterhin ver- folgen, wie mehr und mehr das logische Wesen des Begriffs die Aufmerksamkeit des Autors auf sich lenkt, wie sich allmählich die Wendung von der definitorischen Frage zum Begriff selbst vollzieht, und wie in den Diskussionen die begrifflichen Verhält- nisse immer stärker hervortreten. s ) Vielleicht hat in dieses Suchen dann unbewußt auch das Beispiel der pythagoreischen Zahlen- lehre hereingewirkt. Die Zahlen sind ja ein Allgemeines, sie sind Gesetzmäßigkeiten, die dem menschlichen Denken die Möglichkeit geben, den Reichtum des physischen Seins zu bewältigen. Und in der Tat hatte ja eine Ahnung hievon für die kosmologische Spekulation der Pythagoreer grundlegende Bedeutung gewonnen. Plato aber war, als die Ideenlehre in ihm bestimmte Gestalt zu ge- winnen begann, in der mystischen Anschauungswelt der pytha- goreischen Gemeinde längst heimisch geworden. Möglich, daß sein Denken schon in jener Zeit auch von diesem Element des Pythagoreis- mus berührt wurde, ohne daß er sich hierüber Rechenschaft zu geben wußte. 4 ) Wie dem nun sei: die volle Einsicht in die Bedeutung ') Hierauf weist die Stelle Politeia X 596 A zurück: eldoq yaQ nov xi &>- exaarov slajQaßsv xi&fo&ca tcsql exaota za nollä, olg ravxov ovofia im- (peQOfXBv. 2 ) S. oben S. 289f., S. 374 f. und vgl. hiezu die Beziehungen des Sokrates zur Synonymik des Prodikos und das antisthenische Wort über die ag/r) ncudevoewg. 3 ) Vgl. zu Laches oben S. 128, 1 und S. 374 f. zu Protagoras S. 374, 1, zu Euthy- phron S. 128, 1, zu Menon, Euthydemos und Kratylos C. Ritter, Neue Unter- suchungen über Piaton S. 260ff., zu Hippias maj. oben S. 128, 1. 4 ) Schon Aristoteles hat bei den Pythagoreern eine gewisse Antizipation der 528 Die Sokratik. des Begriffs scheint sich ihm zuletzt mit intuitiver Unmittelbarkeit erschlossen zu haben. Und nun öffnet sich dem Entdecker eine neue Welt. Auch jetzt zwar folgt er den Spuren des natürlichen Denkens, das sich in den Wortbedeutungen die begrifflichen Werkzeuge zur er- kenntnismäßigen Bewältigung der Wirklichkeit geschaffen hat. Die vorwissenschaftliche Systematik der Sprache bleibt für die Gestaltung -des platonischen Ideensystems leitend: so viel Wörter und Wortbedeutungen, so viel Ideen. 1 ) Allein nun tritt doch zu tage, daß in Piatos Gedankenkreis inzwischen das praktische Motiv des sachkundigen Wissens, aus dem die Systematisierungs- tendenz ursprünglich erwachsen war, mehr und mehr dem rein "theoretischen Interesse der wissenschaftlichen Er- kenntnis gewichen war. Und für dieses war der Allgemein- begriff nicht mehr bloß das Mittel, die Mannigfaltigkeit des Tat- sächlichen sachkundig zu beherrschen, sondern in erster Linie ein Gegenstand objektiv gültigen Wissens selbst. So wurde die be- griffliche Systematik dem erkenntnistheoretischen Interesse, das vor allem nach objektiver Wissenschaft, nach Wirklichkeits- wissen verlangte, dienstbar gemacht. Nichts war Plato denn auch an seiner neuen Entdeckung wichtiger und interessanter als die Einsicht, daß dem Begriff Realität zu- komme — zumal sich zugleich zeigte, daß diese Realität ein Sein ist, das jedes Entstehen und Vergehen und jede Veränderung schlechthin ausschließt, das somit nach der Anschauung der bis- herigen Philosophie keinerlei Nichtsein enthält und darum als ein Sein im strengen Sinn betrachtet werden muß. Und Plato kann sich dieses Sein nur als ein Existieren denken: die Begriffe sind iür sich (zaS* avxa) existierende Wesenheiten (ovoiai). 2 ) Begriffsphilosophie festgestellt, Met. A 5. 987a 20 f., M 4. 1078b 21 ff. Daß Piatos •Denken schon in dieser frühen Zeit auch mit der theoretischen Philosophie der Pythagoreer in Beziehungen getreten ist, geht auch daraus hervor, daß die Mathe- matik auf die Ausbildung seiner dialektischen Methode erheblichen Einfluß ge- wonnen hat (vgl. später Politeia VI 527 B und verwandte Stellen). Und es ist schwerlich zufällig, daß die neue platonische Methode im selben Menon, in dem .sie auf den Hintergrund der mystischen Präexistenzlehre gestellt wird, in der bekannten mathematischen Weise durchgeführt und erläutert wird (S. 523 f.). x ) Vgl. die S. 527, 1 angeführte Politeiastelle. 2 ) Man vergleiche besonders Symp. 211 A Schi, und B Anfang, Phaidon Plato und die Sokratik. Die Höhe. 52S Wie aber verhalten sich dann zu ihnen die Einzelerschei- nungen? Plato denkt nicht daran, zwei Arten von Existenz und zwei Reihen von Existenzen neben einander zu stellen. Es gibt nur ein Sein, und das ist dasjenige, das sich der Wissenschaft erschließt. Wenn darum den Einzelerscheinungen ein Sein zu- kommen soll — und Plato will das nicht bestreiten — , so muß dieses Sein dasselbe sein, das auch den Begriffen zuzuschreiben ist. Die Frage kann also nur die sein: wo haben wir das Sein ursprünglich zu suchen, im Reich der Begriffe oder in dem des Individuellen? Und die Antwort hat Plato sofort zur Hand. Daß die Begriffe Existenz haben, ist ihm außer jedem Zweifel. Und daß sie das Sein ursprünglich, an sich, haben, nicht minder. Ihre Realität ist ja auch das Sein schlechtweg, das vollkommene Sein. Den Einzelerscheinungen kann demgegenüber nur ein unvoll- kommenes Sein zuerkannt werden, ein solches Sein, das dem Entstehen und Vergehen und dem Wechsel unterworfen ist. Offen- bar also ist das Sein der Begriffe das ursprüngliche, das der in- dividuellen Erfahrungen das abgeleitete. Und die Begriffe sind die Dinge selbst (avra xä ngay/uara, Phaidon 66 D), die Einzel- erscheinungen aber sind nur, sofern sie an dem Sein der Begriffe „teilhaben". Hier ist also die uns geläufige Vorstellungsweise umgekehrt. Die Herrschaft des Allgemeinen über das Individu- elle aber, die auch für Plato das Prinzip der Systematik ist, deutet er nun dahin, daß die Einzelerscheinungen den Begriffen nicht bloß ihre begriffliche Wesenheit, sondern auch ihre Existenz verdanken: die ovola ist bei Plato, scholastisch gesprochen, es- sentia und existentia zugleich, und die Einzelerscheinungen neh- men, indem sie an den begrifflichen ovoicu teil haben, sowohl an deren begrifflichem Gehalt als an ihrem Sein Anteil; auf diesem letzteren Teilhaben aber beruht ihre Existenz. 1 ) So wird aus dem Allgemeinbegriff die platonische Idee. Es war ein Mißverständnis, wenn man mit Aristoteles von einer „gesonderten" Existenz der Ideen sprach: diese Auffassung ist auch dann unzutreffend, wenn man das „gesondert" nicht 65D Schi, bis E Anf., 66 A Schi. C, 75BCD, 78 CD, 99 E, 101 C, 102 B, Politeia V 477 B, 478 A, VI 508 Äff., 518 C, 521 C. ') Zu diesem Abs. s. besonders Symp. 211B, Phaidon 74 AB ff., 78Cff., 100B ff., Politeia VI 508 D, 509D ff. H. Mai er, Sokrates. 34 530 Die Sokratik. im räumlichen Sinn versteht. Andererseits aber ist es eine ver- kehrte und durchaus unberechtigte Aus- oder vielmehr Um- deutung Piatos, wenn man seine Ideen den Dingen immanent sein läßt. Sie sind dies so wenig, als sie der Menschenseele, der göttlichen Vernunft oder irgend einem allgemeinen Denken immanent sind. 1 ) Wir müssen hier klar sehen. Wohlgemeinte, aber im Grund doch kurzsichtige Modernisierungsversuche haben neuerdings das Möglichste getan, um den geschichtlichen Tatbestand zu verdun- keln. Irgend welche Antizipationen des erkenntnistheoretischen Idealismus liegen dem platonischen Gedankenkreis völlig ferne. Man kann das anerkennen, ohne darum Piatos Größe auch nur im geringsten herabzuwürdigen; jedenfalls gewinnt er dadurch lediglich nichts, daß man ihn zum Kantianer oder gar Neukanti- aner macht. Plato denkt unbefangen realistisch. Sein Realismus ist indessen nicht der der Abbildtheorie, den nachher Aristoteles begründet hat, und jener scheint dem Idealismus näher zu stehen als dieser. Piatos Meinung ist, daß der Nus die wirklichen Objekte denkend erfaßt, und daß die so gedachten Objekte die wirklichen Objekte sind. Aber damit ist nicht gesagt, daß das Nus-imma- nente das Wirkliche sei. Ganz im Gegenteil: jene Objekte, die Ideen, sind Realitäten „an sich", die nur vom Denken „berüh- rend" ergriffen werden können. 2 ) Sie selbst sind zwar geistige Größen; darauf beruht es auch, daß der ihnen wesensverwandte menschliche Geist sie zu „berühren" vermag; aber diese geistigen Realitäten sind „an sich wirklich", nicht etwa nur wirklich in einem überindividuellen Denken, an dem das menschlich-indivi- duelle partizipieren würde, wie man sich dieses „Denken" nun auch vorstellen mag. 3 ) Sie sind darum auch nicht „Methoden" ') Vgl. die bekannte Stelle Symp. 211 AB, wovon avxbxbxaXöv gesagt ist, es sei ovöe xig Xoyog övöe xig imoxTJftt], ovöe nov ov iv kxeQu> xivl, olov iv t,<ö(p ij iv yy q iv ovqccvü) »/ sv rra äX?Jp, aXX avxö #«#' avio f/ed-' avxov ftovotidsg ael ov . . . , doch darf aus dieser Stelle nicht zu viel herausgelesen werden. 2 ) Belegstellen finden sich in den drei Schriften Symp., Phaidon und Poli- teia reichlich. Immer wieder begegnen uns neben Ausdrücken wie &eäo9ai, oqüv u. a. solche wie anxeo&at und s(pcx7ixso9ai. Besonders instruktiv ist die Ausführung Politeia VI 508 Äff. 3 ) Über die von Lutoslawski in seinem Buch Origin and groth of Plato's Plato und die Sokratik. Die Höhe. 531 oder „Gesetze" im Sinn Natorps, der seinen „Idealismus" in Kant und diesen Kant in Plato hineindeutet. 1 ) Ebenso unhaltbar aber ist Lotzes Versuch, das „Sein" der platonischen Ideen in die „Geltung von Wahrheiten" umzusetzen. Wir können hier davon absehen, daß Lotze mit seinen absoluten ewigen Wahr- heiten, welche Geltung haben, gleichviel, ob es Geister gibt, die sie denken, in Gefahr ist, an die Stelle einer Absurdität, die er weginterpretieren will, eine andere zu setzen. Insoweit hat er ohne Zweifel Recht, als — modern gesprochen — in erster Linie das Bemühen, die objektive Gültigkeit der Begriffe sicherzustellen, Plato veranlaßt hat, den „Ideen" ein Sein zuzuschreiben. Daß es aber nur an der griechischen Sprache, die für den Begriff „Gelten" kein Wort hatte, lag, wenn Plato hier von einem „Sein" statt von einem „Gelten" redete, ist eine durch nichts begründete Behaup- tung. Die platonischen Ideen sind keine ewigen „Wahrheiten". Gewiß schreibt Plato ihnen gelegentlich auch Wahrheit zu. Aber wahr werden sie doch nur genannt, sofern sie Gegenstände des erkennenden Denkens sind: die Seele erreicht Wahrheit, indem sie die Ideenrealitäten in denkender Berührung ergreift. Das Primäre und der Grund der Wahrheit der Ideen ist also ihr An- sichsein. 2 ) Und es bleibt dabei, daß Plato ihre Objektivität sich nur als ein „Sein" und „Existieren" zurechtlegen konnte. Das Verdienst des Philosophen, das in der Entdeckung des Allgemeinen liegt, kann dadurch nicht geschmälert werden, zumal es immer noch fraglich ist, ob seine Formulierung dem Sachverhalt nicht Logic gemachten Versuche, die Ideenlehre erkenntnistheoretisch-idealistisch zu deuten, habe ich schon in meiner Syllogistik des Arist. II 2 S. 26, 2 gesprochen. ') Zu Natorp, der zwar auch hier den Spuren H. Cohens (vgl. dessen Schrift Piatons Ideenlehre und die Mathematik, 1879) folgt, für die Begründung und Durchführung der „Marburger" Platoauffassung aber zweifellos am meisten getan hat, s. besonders: Piatons Ideenlehre, eine Einführung in den Idealismus, 1903. Unverständlich bleibt mir immer, wie Natorp bei dem ausgebreiteten Wissen, das er besitzt, und der philologischen Behutsamkeit, die ihm in literar- historischen Fragen nicht fehlt, im stände war, eine derart gewaltsame Interpretation nicht etwa nur an einzelnen Stellen, sondern durch das ganze platonische Schrifttum hindurch mit einer fast unheimlichen Konsequenz durchzuführen. Leider haben sich auch ernste Gelehrte von dieser Auffassung beeinflussen lassen. 2 ) S. wieder besonders die Ausführung über die Bedeutung der Idee des Guten für Sein und Erkennen in Politeia VI 508Aff., VII 517 BC, ferner VI 490AB. Vgl. ferner Stellen wie z.B. Phaidon 99 E. 34* 532 Die Sokratik am Ende noch besser gerecht wird als diejenige, die Lotze mit seinem ; .Begriff des Geltens, das kein Sein einschließt", dafür einsetzen will. 1 ) ') Die bekannte Ausführung Lotzes, Logik 2 S. 513 ff., hat geradezu ver- hängnisvoll gewirkt. Und es ist vielleicht angebracht, in die durch sie ange- richtete Verwirrung durch eine weiter ausholende Erwägung Licht zu bringen. Es läßt sich zeigen, daß die „geltenden Wahrheiten", die Lotze an Stelle der „seienden Ideen" Piatos setzt, nicht bloß mit den platonischen Ideen nicht iden- tisch, daß sie vielmehr ihrerseits nichts als logische Phantome sind. Lotze zieht die naheliegende Analogie der modernen „Naturgesetze", denen wir ja „Geltung" zuschreiben, heran, macht sich indessen, wie anzuerkennen ist, die Unklarheit, die in die „Geltung" der Naturgesetze dadurch hereinkommt, daß in den Begriff des Naturgesetzes immer wieder Reminiszenzen an sein Urbild, das Rechtsgesetz und dessen Geltung, hereinspielen, nicht zu nutze. Er faßt das Gelten der Natur- gesetze von vornherein präzis als logisches Gelten und stellt ausdrücklich fest, daß es an sich nur Sätze seien, denen ein Gelten zugeschrieben werden könne (S. 521). Er tadelt von hier aus Plato, daß er Begriffen Geltung zuerkennen wolle, während dies nur Urteilen gegenüber möglich sei. Und nur das will er behaupten, daß Plato, indem er von einem „Sein" der Ideen sprach, faktisch diese Geltung meinte. Ich selbst würde nun gerade hierin keinen Mißgriff Piatos finden können. Lotze kennt nur das zweigliedrige Urteil, das in jedem Fall zugleich eine Vorstellungsverbindung vollzieht. Demgegenüber sind, wie ich in meiner Psychologie des emotionalen Denkens S. 1 45 ff. gezeigt habe, die funda- mentalen Urteile die eingliedrigen, wie sie z. B. in den Wahrnehmungen und Erinnerungsvorstellungen selbst vollzogen werden („ — Regen", „es regnet", „es hat geregnet"). Und solche eingliedrige Urteile sind auch die Denkfunktionen, in denen Realbegriffe, wie sie die platonischen Ideen sein wollen, Begriffe von wirklichen Dingen, Eigenschaften, Tätigkeiten, Zuständen, Relationen, gedacht werden (Psych, des emot. Denkens S. 180ff.). Mit anderen Worten: der logische Faktor in der platonischen Begriffsintuition ist ein elementares Begriffsurteil, also ein normales Urteil, dem unbedenklich „Gültigkeit" zugeschrieben werden kann; und wie diesen Begriffsurteilen, so läßt sich auch den Begriffsintuitionen selbst, sofern jene in ihnen wirksam sind, Gültigkeit zuerkennen. Aber, um es gleich zu sagen: die platonischen Ideen sind eben nicht diese subjektiven Begriffsintuitionen und nicht die Denkfunktionen, durch welche die Be- griffe gedacht werden, sondern sie sind deren Objekte. Und, um das gleich anzufügen, diese Ideen-Objekte werden in den Begriffsintuitionen, in den eingliedrigen Begriffsurteilen als real, nicht als gültig gedacht. Mit dieser letzteren Feststellung hat nun aber bereits auch Lotzes Begriff des ,, Geltens" eine Korrektur erfahren. Lotze behauptet, der Begriff des Geltens schließe kein Sein in sich (S. 513). So kann er nur sprechen, weil er zwei streng von einander zu scheidende Arten von Gelten vermischt. Gewiß, es gibt ein Gelten, das „kein Sein einschließt". Den Denkfunktionen z. B., in denen mensch- liche Ideale wie die sittlichen gedacht werden, schreibt unser Bewußtsein ein Plato und die Sokratik. Die Höhe. 533 Anzufügen ist, daß Plato in seiner späteren Zeit, wie der „Sophistes" zeigt, Schwierigkeiten genug gehabt hat, von seinem solches „Gelten" zu. Wenn ich etwa das Ideal persönlich-sittlicher Vollkommen- heit denke, so ist das Objekt dieses Denkens kein Seiendes, sondern ein Sein- sollendes, und der Denkfunktion selbst kommt nicht Seinsgeltung zu, sondern die emotionale Geltung, die den emotionalen Denkfunktionen ihre Eigenart gibt (s. hiezu Psychol. des emot. Denkens S. 352 f. und die übrigen im Register unter „Geltungsbewußtsein" angegebenen Stellen). Als Wahrheit kann diese Geltung nicht bezeichnet werden, und wenn die Sätze, in denen solche Objekte gedacht werden (vgl. z. B. den zweigliedrigen Satz: „ich soll vollkommen sein!"), „Wahr- heiten" genannt werden, so ist das eine offenbare Ungenauigkeit. Jedenfalls unterscheidet sich von dieser Art des Gehens die kognitive, die den Urteilen zukommt, aufs bestimmteste. Die letztere ist die objektive Geltung im eigentlichen Sinn. Diese Geltung aber kann für die Begriffsintuitionen, welche Piatos Ideen zum Gegenstand haben, allein in Frage kommen. Von der objek- tiven Geltung aber, die mit der „Wahrheit" identisch ist, ist mit Bestimmtheit zu sagen, daß sie ein Sein einschließe: ein vom Bewußtsein objektiver Gültig- keit getragenes positives Urteil denkt sein Objekt eo ipso als wirklich (Psychol. des em. Denkens S. 159). Das trifft auch auf die platonischen Begriffs- intuitionen zu. Von einem Gelten, das kein Sein einschließe, kann hier also keine Rede sein. — Nur kurz anfügen möchte ich, daß auch das von Lotze und seinen Nachfolgern konstituierte Zwischenreich zwischen dem Sein und dem subjektiv-individuellen Denken selbst, das Reich von geltenden Wahrheiten, die Bestand haben, wenn es auch keine individuellen Geister gibt, von denen sie gedacht, und keine individuellen Urteilsakte, in denen sie psychische Erlebnisse würden, — eine logische Utopie ist. Wahrheiten, die nicht zu tatsächlichem oder möglichem Urteilen denkender individueller Subjekte in Beziehung stünden, sind — wenigstens für uns Menschen — ein Unding: die Wahrheit und die objektive Gültigkeit, die uns vertraut ist, ist in allen Fällen eine mögliche Bestimmtheit tatsächlicher oder möglicher Urteile, wie sie von den denkenden Individuen voll- zogen werden. Der Ausgangspunkt jener Absolutierung der „Wahrheiten" ist die Unterscheidung der Urteilsakte, d. h. der subjektiven Betätigungen und Erlebnisse, in denen die Urteile „vollzogen" werden, und der Urteile selbst. Und diese ist durchaus berechtigt. Richtig ist auch, daß das Urteil durch das Geltungs- bewußtsein, von dem es begleitet ist, über die subjektive Sphäre der individuellen Urteilsakte gewissermaßen hinausgehoben wird. Allein hieran knüpft sich nun der Schein, als wäre das Urteil ein Außersubjektives und Überindividuelles, an dem das faktische Urteilserleben der denkenden Individuen eben nur „teilhaben" könnte Stellen wir indessen die Sachlage klar! Auch wenn wir Urteilsakt und Urteil unterscheiden, wird das Urteil von uns immer noch betrachtet als ein subjektiver Zustand unseres Denkens, der durch den Urteilsakt herbeigeführt wird, als ein subjektives Denkverhalten, als die Denkfunktion, in der das Objekt gedacht wird. Zwar schaltet das an die Urteile geknüpfte Geltungsbewußtsein an diesen End- gliedern der Urteilsakte noch gewisse Bestandteile als nur subjektive, nur den 534 Die Sokratik. erkenntnistheoretischen Standpunkt aus die Aporien, die von der zeitgenössischen Skepsis aufgeworfen waren, zu lösen. Und es Urteils akten als solchen angehörige aus: als Urteile im strengen Sinn erscheinen die Denkbetätigungen, in die die Urteilsakte auslaufen, sofern und soweit sie von dem Bewußtsein der objektiven Gültigkeit beleuchtet sind. Selbstverständlich aber sind und bleiben die Urteile auch in dieser Reduktion noch subjektive Ver- haltungsweisen des Denkens, Denkfunktionen, die ein Gegebenes auffassen und als Objekt denken. Das Geltungsbewußtsein selbst aber ist das Bewußtsein der Denknotwendigkeit und Allgemeingültigkeit. Wenn ich z. B. urteile: es regnet, so habe ich das Bewußtsein, daß ich das im vorliegenden Fall Gegebene logisch (wenn anders ich es richtig auffassen will) so und nicht anders auffassen muß, kurz, daß mein Urteil durch das Gegebene gefordert ist, daß darum auch jeder, wenn er dieses Gegebene logisch auffassen will, ebenso urteilen muß wie ich. In dem Geltungsbewußtsein des Urteils liegt also allerdings eine immanente Hindeutung auf ein Allgemeines. Dieses Allgemeine läßt sich aber, wenn es herausgehoben wird, so formulieren: jedes Urteil, in dem das vorliegende Gegebene so, wie ich in dem Urteil „es regnet" es tue, aufgefaßt wird, ist denknotwendig (Wahr, gültig). Es ergibt sich so der Allgemeinbegriff eines denknotwendigen Verhaltens (urteilender Subjekte) zu dem vorliegenden Gegebenen. Präziser gesprochen, es ergibt sich ein induktiv Allgemeines, das in der hypothetischen Formel seinen präzisen Ausdruck erhält: wenn (wann immer) das vorliegend Gegebene von urteilenden Subjekten in einem Urteil „es regnet" aufgefaßt wird, ist ein solches Denkverhalten ein gültiges. In dem Geltungs- bewußtsein liegt also, kurz gesagt, das: mögliche Urteile, die auf Grund des vorliegend Gegebenen besagen „es regnet", sind denknotwendig, also gültig und wahr. Diese „möglichen Urteile" nun zu hypostasieren, besteht schlechterdings kein Recht und kein Anlaß. Das ist am besten daraus zu ersehen, daß unser Geltungsbewußtsein ihnen ja nur hypothetisch Wahrheit zuspricht: wenn diese Urteile vollzogen werden, sind sie wahr. Damit ist nicht etwa der Grund der Wahrheit in den Vollzug des Urteilsaktes gelegt: dieser Grund liegt vielmehr darin, daß das vollzogene Urteil durch das Gegebene ge- fordert ist. Das aber trifft zuletzt nur bei vollzogenen Urteilen, nicht bei mög- lichen zu. Kategorisch können also als wahr nur die von urteilenden Indi- viduen wirklich vollzogenen Urteile bezeichnet werden. (Fast wie ein schlechter Scherz nimmt es sich aus, wenn Lipps, Psycholog. Untersuchungen II 1 S. 9 f., so argumentiert: wenn von vielen oder wenn von mir zu verschiedenen Zeiten ein und dasselbe Urteil gefällt wird, so sind die Akte desUrteilens — des Fällens des Urteils — zwar viele, das U rteil aber ist eines und dasselbe, und dieses Urteil ist „ort- und zeitlos und unpersönlich, es ist nicht wirklich noch auch unwirklich, sondern ist einfach da". Das ist gerade so, wie wenn ich sagen würde: wenn die Menschen A und B und C und D die Besteigung des Matterhorns vollziehen, so sind es der Besteigungsakte zwar viele, die Besteigung selber aber ist eine und dieselbe. Im Fall des Urteilens ist der Gegenstand des Urteilens einer und derselbe, der Urteile sind es aber ebenso viele wie der Urteilsakte!). — Das Plato und die Sokratik. Die Höhe. 535 fehlte nicht viel, daß er über jenen hinausgegangen wäre. Aber erst Aristoteles hat den Schritt getan, und er hat mit Hilfe der Abbildtheorie erreicht, was Plato nicht gelungen war. Dennoch hat die heutige Erkenntnistheorie Zweifel, ob nicht Piatos Vor- stellungsweise dem Richtigen näher steht, als die des Ari- stoteles. Näher als irgend eine Art von Denkimmanenz liegt es nun allerdings, die Immanenz in den Sinnendingen für die platoni- schen Ideen in Anspruch zu nehmen. Man wird sofort an die Art von Objektivität denken, wie wir sie etwa den Speziestypen Gesagte bedarf indessen noch einer Ergänzung. Das „Allgemeine", auf welches das Geltungsbewußtsein des Urteils hinweist, hat immerhin noch eine andere Seite. Das Denkverhalten zu dem vorliegenden Gegebenen, das ich im Urteil betätige, erscheint mir zugleich als ein durch das Wahrheitsideal ge- fordertes. Von hier aus stellt sich mir das tatsächlich von mir vollzogene Urteil als die Befolgung einer durch das Wahrheitsideal vorgeschriebenen Norm dar, wie dies ja in dem an das Wahrheitsbewußtsein sich knüpfenden Wahrheitsgefühl zu deut- lichem Ausdruck kommt. Diese Norm selbst fordert (allgemein) ein Denkverhalten zu dem vorliegenden Gegebenen von der Art, wie es in meinem faktischen Urteil verwirklicht ist. Auch sie übrigens hat hypothetischen Charakter: wenn denkende Subjekte das vorliegende Gegebene auffassen wollen, so müssen sie es in dem Urteil „es regnet" auffassen. Es ist das also eine Norm für mögliche Denk- betätigungen der urteilenden Subjekte. Gewiß hat nun die Logik die Aufgabe, solche Normen aufzugreifen und in ihrer Weise zu bearbeiten. Auch sie aber hat keinen Grund und keine Berechtigung, dieselben zu hypostasieren, d. h. von ihrer Beziehung zu den denkenden und wollenden Subjekten loszulösen. Ich will davon absehen, daß eine solche Hypostasierung sich schon dadurch verbietet, daß das Seinsollen der Wahrheit selbst am Ende doch nur ein Wollen, ein sub- jektives, wenn auch besonders geartetes Begehren menschlicher Individuen ist. Aber jede derartige von dem Wahrheitsideal gestellte Norm richtet sich ja eben an die urteilenden Individuen und verlangt von diesen, daß sie, wenn sie ein gewisses „Gegebenes" auffassen wollen, dies in einer bestimmten Weise tun, daß sie also vorkommenden Falls ihr Denkverhalten in bestimmter Weise betätigen sollen. Die Normbefolgung aber, die den Denkbetätigungen den Wahrheitswert wirklich verleiht, erfolgt immer nur in dem tatsächlichen Urteilen selbst. Auch von dieser Seite zeigt sich also, daß das Wahrheitsprädikat, das zunächst hypothetisch möglichen Urteilen zuerkannt wird, kategorisch eben nur tatsächlich vollzogenen Urteilen zugeschrieben werden kann. — Aus diesen Darlegungen ergibt sich, daß wir nicht bloß kein Recht haben, die platonischen Ideen mit Lotzes „geltenden Wahrheiten" zu identifizieren, daß es vielmehr mit den letzteren selbst in mehr als einer Hinsicht eine sehr zweifelhafte Sache ist, und daß es wahrlich auch keine Verbesserung Piatos wäre, wenn wir diese „Wahrheiten" an die Stelle seiner Ideen setzen würden. 536 Die Sokratik. in ihrem Verhältnis zu dem Einzelnen zuzuschreiben pflegen. So hat sich in der Tat Aristoteles die Sache gedacht Die platoni- schen Ideen dagegen sind auch nicht Realbegriffe von solcher Art. Nicht die Ideen sind den Dingen immanent. Das Umge- kehrte vielmehr trifft zu. Die individuellen Erscheinungen — konkrete Dinge, Zustände, Vorgänge, Eigenschaften, Tätigkeiten, Relationen — sind, wie man mit Zeller 1 ), so paradox es klingen mag, sagen kann, den Ideen immanent. Das ist es, was Plato meint, wenn er von einem Teilhaben des Einzelnen an der ovoia der Ideen redet. 2 ) Dagegen sprechen auch jene Ausdrücke nicht, die die Erkenntnis der Ideen als eine Erhebung, als ein Aufsteigen der Seele aus den niederen Regionen des Körperlichen und Sinn- lichen zu den Höhen des Intelligiblen erscheinen lassen. Plato ringt mit den Schwierigkeiten, die in dem Verhältnis der Existenz der Ideen zu der des Einzelnen liegen. Er weiß sie schließlich nur durch bildliche Ausdrücke zu bewältigen. Aber die Mannig- faltigkeit und der Wechsel der Bilder zeigt doch nur, wie wenig dieser Ausweg ihn selbst befriedigte. Indessen kam es ihm doch zu allererst darauf an, den Geltungswert und die Evidenz der Ideen- intuition über die Unsicherheit und Dunkelheit der Sinnenerkennt- nis und darum auch den Wirklichkeitswert der Ideen selbst über die Sphäre des Individuellen und Veränderlichen so entschieden wie möglich hinauszuheben. Dieser Absicht allein dienen die metaphorischen Wendungen, die auf eine Transzendenz der Ideen hinzudeuten scheinen. So hoch aber auch die rationale Kontem- plation, der die Ideen sich erschlossen, über die Sinnlichkeit hin- ausgreifen mochte, für das Verhältnis der Ideenrealitäten zu den individuellen Phänomenen erschien dem Philosophen das Bild vom Teilhaben doch immer wieder als das adäquateste. Denn das war und blieb seine eigentliche Meinung: die Ideen nur haben Existenz, und was die individuellen Erscheinungen an Sein auf- weisen können, das haben sie von jenen. 3 ) Eine Beeinträchtigung ') Zeller Hl 4 S. 745 f. Nicht zu leugnen ist allerdings, daß Zeller in seiner übrigen Darstellung der aristotelischen Auffassung näher kommt, als hienach zu erwarten wäre. 2 ) Auch Wendungen wie nagovala weisen, wie z. B. Phaidon 100 D zeigen kann, nicht etwa auf Immanenz der Ideen in den Dingen hin. 3 ) Plato hat die Allgemeinbegriffe als reale Objekte gedacht, und er hat Plato und die Sokratik. Die Höhe. 537 des reinen Ansichseins der Ideen fürchtete Plato von dieser Immanenz nicht: daß die Ideen ursprüngliche, selbständige Exi- stenz, schlechthinige, ewige Realität besitzen, das eben macht ihre Würde und Erhabenheit aus, und der Standpunkt dieses reinen Seins liegt allerdings auf einer Höhe, zu der sich die menschliche Seele nur mit Aufwendung außerordentlicher geistiger Kraft emporschwingen kann. Ähnlich übrigens tut es in Piatos Augen der Exaktheit {ay.gi- ßeia) und Evidenz (oaipiqveiä) der Vernunfterkenntnis keinen Ab- bruch, daß das Erkenntnisverfahren mit der sinnlichen Wahrneh- mung in einer Hinsicht in Fühlung bleibt. Plato kehrt zum Rationalismus der alten Spekulation zurück. Darin aber weicht er von diesem ab, daß ihm eine gewisse induktive Unterlage als unentbehrliche Voraussetzung für die Vernunftintuition erscheint: die sinnliche Erfahrung liefert den Ausgangspunkt, von dem sich die Seele zum Schauen der Ideen aufschwingt. Die rationale In- tuition selbst indessen bleibt trotzdem völlig sinnenfreies Schauen, und sie hat ihre Gewißheit und die Gewähr ihrer Wahrheit in sich selbst. Es mochte Plato damals nahe genug gelegen haben, die Sinnenerkenntnis ganz zu verwerfen und die sinnlichen Er- scheinungen schlechtweg als ein Nichtseiendes zu betrachten. Daß er dies nicht getan hat, begreift sich schon aus seinem wissen- schaftlichen Werden. Der induktive Einschlag in seinem intuitiven Rationalismus, dem die relative Anerkennung der Sinnenwelt parallel liegt, knüpft die Idee wieder an den Allgemeinbegriff an damit, wie ich glaube, und wie die neuere Philosophie, im Gegensatz zu früher herrschend gewesenen nominalistischen Tendenzen, mehr und mehr anerkennt, insofern Recht, als die Denkkategorie des Begrifflich-allgemeinen zweifellos durch das Gegebene gerechtfertigt und insofern auch als Seinskategorie zu betrachten ist. Die Schwierigkeit aber, mit der Plato nicht zurechtkam, lag in dem Ver- hältnis der Wirklichkeit der Begriffsobjekte zu der Existenz der konkreten Objekte, und sein Fehler war, daß er die Begriffsobjekte als selbständige Objekte, als existierende Wesenheiten dachte. Aber das Problem, das hier vorliegt, ist auch heute noch nicht ganz gelöst. Daß Aristoteles' Feststellung der Immanenz der Begriffe einen Fortschritt gegenüber Plato bedeutete, ist unbestreitbar. Aber die ganze Lösung ist auch das noch nicht. Und auch mit der bestimmten Unter- scheidung von Existenz und Wirklichkeit ist noch nicht alles getan. Mit dem Problem, den Objektcharakter der Begriffe, die ihrerseits Objektbegriffe sind, zu fassen, ringen wir immer noch. 538 Die Sokratik. und weist deutlich zurück auf das ursprüngliche Motiv der Ideenlehre. In diesen ganzen Gedankengang hat indessen von vornherein ein zweites oder vielmehr 1 ) drittes Motiv eingegriffen. Wir sahen: Plato hat die sittliche Einsicht, die (pQovr]oig, in das sach- verständige Wissen einbezogen. Dadurch sollte indessen keines- wegs die Bedeutung des sittlichen Wissens irgendwie herabge- drückt werden. Im Gegenteil. Die sittliche Einsicht erscheint als der Höhepunkt, als der Abschluß, die Vollendung des sachver- ständigen Wissens. 2 ) Dabei bleibt es auch, nachdem sich das sachverständige Wissen zur reinen &£WQia, zur spekulativ-intui- tiven Wissenschaft weitergebildet hatte: das Wissen vom Schönen = Guten wird als die höchste aller Wissenschaften gewertet (S. 542). Und nun erwacht in Piatos Gedankenkreis auch die sittliche Teleologie des Sokrates zu vollem Leben. Hatte der ethisch-reli- giöse Glaube des Meisters dem sittlichen Ideal der Menschen einen kosmischen Wert, eine metaphysische Zielbedeutung zuerkannt, so erscheint bei Plato jetzt das Objekt des sittlichen Wissens, das Gute, als die höchste und letzte Weltrealität, als die zentrale Zweckkraft, die die ganze Wirklichkeit beherrscht. Es steht ihm der Gedanke vor Augen, daß der Kosmos selbst ein sittlicher Zweckzusammenhang, und daß die Erkenntnis dieses Zusammen- hangs sittliches Leben sei. 3 ) Und bereits entwirft er auch das Programm einer neuen „Physik", einer Naturwissenschaft, deren Prinzip die teleologische Betrachtung und Erklärung des Werdens sein sollte. Vielleicht hat er auch hier an einen sokratischen Ansatz unmittelbar ange- knüpft. 4 ) Allein zu einer wirklichen Durchführung der Konzeption ist es nicht gekommen. Das systematisch - erkenntnis- theoretische Motiv behält dieFührung, und das gene- ') Da man immerhin das systematische und das erkenntnistheoretische Motiv auseinanderhalten muß. 2 ) Vgl. besonders den „Gorgias". 3 ) Dieses ethische Moment in der platonischen Ideenlehre erhält, wie wir sehen werden, speziell im Symposion eine stark ästhetische Zuspitzung. Vgl. hiezu A. Riehl, Plato 2. Aufl. S. 22 f. *) Phaidon 95 E ff. Vgl. Laches 190 A und das oben S. 179, 1 hierüber Gesagte (vgl. S. 434, 1). Plato und die Sokratik. Die Höhe. 539 tisch-teleologische ordnet sich ihm bedingungslos unter. Wohl werden jetzt die Ideen als Zweckkräfte gedacht. Aber es sind das eben die Ideen, die sich dem systematischen Interesse ergeben haben. Zu ihnen gehören denn auch Relations- begriffe wie gleich, größer, kleiner, Einheit, Zweiheit, Gesundheit, Stärke u. s. f. 1 ) Und die teleologische Bedeutung der Ideen scheint sich geradezu darin zu erschöpfen, daß dieselben nun als eine Art logischer Ideale erscheinen, denen das Einzelne zustrebt, ohne sie doch ganz erreichen zu können. 2 ) Dadurch erfährt nun zwar das induktive Verfahren der Dialektik eine bedeutsame Modifi- kation. Das Wesentliche an der Aufsuchung der Ideen muß eine apriorische Intuition tun. Die Theorie der Wiedererinnerung, wie sie im Menon entwickelt ist, wird nun auf die Ideenerkenntnis zugeschnitten. Und der sinnlichen Wahrnehmung des Einzelnen fällt die Rolle des reproduzierenden Faktors zu, durch den die Erinnerung an die in einem vorirdischen Dasein geschauten Ideen geweckt wird. 3 ) Allein die kosmische Zwecktendenz richtet sich lediglich auf Konstituierung jenes systematischen Ideenreichs. Demgemäß erscheint auch die Idee des Guten nicht als ein in- haltlich bestimmter Zweckgedanke, der in der konkreten Welt immanente Kausalität ausüben würde. Sie rückt nicht etwa die tatsächlichen Welterscheinungen in die Beleuchtung der Zweck- ideen, sie beleuchtet nur diese Ideen selbst. Ihre Leistung be- schränkt sich darauf, den übrigen Ideen jene systematisch-teleo- logische Stellung zu geben, vermöge der sie als kosmische Zwecke und Werte erscheinen. 4 ) Dieses Zweckmoment an ihnen ist es, das in der induktiv vorbereiteten apriorischen Erkenntnis aufge- griffen und im rationalen Schauen des Guten erfaßt wird. Plato vermißt bei den früheren Naturphilosophen die Aufzeigung der Zweckkraft, die in den Naturerscheinungen wirksam ist 5 ), und er will mit seinen Ideen das Versäumte nachholen. Aber seine Er- ') S. Phaidon 65 D u. a. St. (vgl. die folgende Anm. und S. 540,1). 2 ) Nach Phaidon 74 D haftet den konkreten Verhältnissen von Gleichheit im Vergleich mit der Idee des Gleichen eine gewisse Mangelhaftigkeit an, und nach 75 A ngtyexai (xtv nävxa xavxa tlvai olov xo i'aov, t%ei 6h ivöeeoxtgtog 3 ) Phaidon 72Eff. 4 ) Vgl. besonders Symp. 210ff., Politeia VI 508 Äff. VII 517BC. 532C und hiezu die folgenden Ausführungen (S. 541 ff.). ■) Phaidon 99 C, vgl. die vorhergehende Diskussion, bes. 97B ff. 540 Die Sokratik. klärung begnügt sich, auf jenes logische Teilhaben der individu- ellen Erscheinungen an den Ideen, unter die sie fallen, hinzuweisen. 1 ) Er macht also nicht den bescheidensten Anfang, die letzteren wirklich als Erklärungsprinzipien zu verwenden. Nicht einmal das Problem selbst ist dieser Physik in seiner Besonderheit klar geworden. Und davon, daß die platonischen Ideen wirklich als teleologisch-kausale, kurz als Entwicklungsgesetze auch nur ge- dacht seien, kann keine Rede sein. Schon die Art, wie Plato die Ideenrealität und ihr Verhältnis zu der Wirklichkeit der Sinnen- dinge gefaßt hat (S. 535 f.), macht ihm im Grunde diese Vor- stellungsweise unmöglich. Nur das kann gesagt werden: die Überzeugung, daß das Universum ein großes von Zweckkräften durchwaltetes Zwecksystem sei, hat Plato, und auch das steht ihm fest, daß diese Zweckkräfte in Ideen zu suchen seien. Es ist ihm aber genug, diesen Glauben dadurch sicherzustellen, daß er die vom systematisch-erkenntnistheoretischen Gesichtspunkt aus ge- wonnenen Ideen der zentralen Zweckidee unterordnet und ihnen so teleologische Bedeutung gibt. Wie sehr Piatos Denken von dem systematisch-erkenntnistheo- retischen Motiv, das zu der Ideenmetaphysik geführt hatte, fortdauernd beherrscht blieb, spricht sich am deutlichsten in der logischen Ge- staltung aus, die das Frage- und Antwortverfahren, das schon im Menon auf die neue, spezifisch platonische Grundlage gestellt worden war, jetzt erhielt. Im Kampf gegen die „Anti- logiker", d. h. gegen Antisthenes und die Seinen 2 ), war es not- wendig, eine Methode zu schaffen, die auf einwandsfreiem Weg zu sicherem Wissen führen konnte, und bereits wird dem induktiv- apriorischen Untersuchungsverfahren das Ziel gesteckt, zu einem obersten, absolut sicheren Prinzip emporzusteigen, von dem aus dann das ganze System der Erkenntnisse in stringentem und evi- dentem Gedankengang zu entwickeln wäre. 3 ) In diesen logischen *) Nach der Physik des Phaidon lOOBff. wird ein Individuelles schön, groß, klein vermöge der Teilnahme an den Ideen des Schönen, des Großen, des Kleinen; ein konkretes Zweiwerden in der Natur erklärt sich ähnlich aus einem Teilhaben an der Idee der Zweiheit u. s. f. 2 ) Phaidon 89 D, 90Bf., 91 A, 101E, Politeia V 454A; und hiezu meine Syllogistik des Aristoteles II 2 S. 15, 2, S. 31, 4. 3 ) Phaidon 73A (vgl. 75D, 78D), 101 DE (vgl. 100 A), Politeia 510 Äff. Plato und die Sokratik. Die Höhe. 541 Rahmen aber müssen sich die neuen philosophischen Einsichten einfügen lassen. In der Dialoggruppe Symposion— Phaidon — Politeia tritt die neue Wissenschaft fertig ans Licht. Und gleich im Sympo- sion erhält sie auch ihre mystisch-psychologische Fun- dierung. 1 ) Sie wird begründet auf den Eros. Aus diesem wird auch die sokratische Dialektik hergeleitet: der Eros war der Trieb, der Sokrates zu den Jünglingen hinzog und ihn veranlaßte, in seinen Gesprächen sittlich auf sie zu wirken und über Tugend und über all das, was von einem sittlich tüchtigen Mann gefordert werden kann, zu reden. Aber der Autor bezeichnet nun scharf und bestimmt den Punkt, an dem seine eigene Dialektik über die sokratische hinausgreift. Die letztere strebte zu der sittlichen Einsicht hin, die sich am bedeutsamsten und schönsten in der Verwaltung des Staats und des Hauswesens kundgibt; sie ist die Tugend, die man Besonnenheit und Gerechtigkeit zu nennen pflegt. Das Neue aber, das Plato bringt, ist die Ideenlehre. Und in deren Mittelpunkt tritt sofort die höchste Idee, die Idee des Schönen, die mit der des Guten identisch ist. 2 ) In eigenartiger Gedankenverschlingung verknüpfen sich hier mit einander die stufenweise Erhebung des sittlich Strebenden aus der Niederung des sinnlichen Lebens zur höchsten sittlichen Betätigung, dem Wissen um das Gute, und andererseits der in- duktive Aufstieg von den konkret-individuellen Erscheinungsformen des Schönen zur Idee des Schönen an sich. Noch einmal kommt der Gedanke zu seinem Recht, daß das Gute in menschlichen Betätigungen liege, und es wird gezeigt, wie der vom philosophi- schen Eros Ergriffene, der nach wahrhaft sittlichem Leben begehrt, das Schöne = Gute zuerst in der körperlichen Sphäre sucht, und zwar zunächst in der sinnlichen Liebe zu individuellen Körpern und dann in der ästhetischen Betrachtung des körperlich Schönen an sich, wie er aber von da zum geistig Schönen aufsteigt und in der Praxis des Lebens und in den gesellschaftlichen Lebens- formen das Gute erlebt, um hierauf von den praktischen Be- 532 B ff. 533 C ff., und zu diesen Stellen vgl. meine Syllog. des Arist. II 2 S. 48, 1, S. 54, 1, 2 und 3. ') S. hiezu die Erosrede des Sokrates im Sympos., bes. 208 B ff. 2 ) S. hiezu oben S. 141 ff. und weiterhin die ganze Erörterung S. 137 ff. 542 Die Sokratik. strebungen zur Theorie sich zu wenden und in der wissenschaft- lichen Beschäftigung seinen sittlichen Drang zu befriedigen, bis er schließlich im Gebiet der Wissenschaften sich auf eine Wissen- schaft konzentriert und im Schauen des an sich Schönen die höchste Stufe des sittlichen Lebens erreicht. Nicht ganz glück- lich ist nun mit der Schilderung dieses Aufsteigens die Charak- teristik des induktiven Verfahrens verquickt, das auf die Frage, wie der Inhalt des auf der höchsten Stufe sich erschließenden Schönen an sich zu finden sei, die Antwort gibt. Der Gedanke, daß von den konkreten Erscheinungen des Schönen oder Guten in den verschiedenen Gebieten der Wirklichkeit der Begriff des Schönen=Guten zu abstrahieren sei, tritt zwar stark genug hervor; aber er kommt in jener Vermischung nicht zu reinem Ausdruck. In- dessen liegt dies im Grund nicht an einem Mangel der Kompo- sition, sondern an der beherrschenden Tendenz des Dialogs. Und die ist gerichtet nicht auf eine universale Teleologie, die ihren Schwerpunkt in der Betrachtung der in der Welt waltenden Zweckmäßigkeit hätte, sondern auf eine transzendente Mystik, die den Wert- und Zweckgehalt der Wirklichkeit aus der sinnlichen Welt der Erscheinungen herausholen und in ein intelligibles Jen- seits flüchten möchte, um hier das „Schöne an sich" in seligem Schauen zu genießen. Diese Mystik ist intellektuelle, rationale Mystik. Das Schauen des Schönen bleibt Erkenntnis. Aber an der inhaltlichen Bestimmung des Erkenntnisobjekts liegt dem Autor nicht allzu viel. Das Wesentliche ist ihm das religiös- ästhetische Erleben. Wer dahin gekommen ist, der hat sein Ziel erreicht, der hat ein Leben, das des Lebens wahrhaft wert ist, er ist „gottgeliebt" und „unsterblich". Man sieht: die Mystik des Symposions ist mit der Mysterien- philosophie in intimste Fühlung getreten. Im Phaidon 1 ) nun l ) In der Annahme, daß der Phaidon zeitlich in die Umgebung des Sympos. gehört, stimme ich mit Räder, C. Ritter u. a. überein. Das Symposion ist, wie die Anspielung auf den diotxiofiög der Arkader in 193A zeigt, nach 385 verfaßt, und zwar wohl nicht allzu lange nachher. — Der Phaidon ist ohne Zweifel nach dem Symposion, und vermutlich noch in den achtziger Jahren, geschrieben. Schon längere Zeit vorher aber war die Akademie gegründet worden. Und auf münd- liche Erörterungen in der Akademie bezieht sich wohl die Andeutung Phaidon 100 B (. . . xr,q alxlaq xo eidoq o nsngayfiärevfxai, xai elfii nüliv in' ixelva xä nolv&QvXrjxa . . ), vgl. 76 D (a ügvlov/xtv del). Plato und die Sokratik. Die Höhe. 543 wird die neue Ideenmetaphysik mitten in diese Gedanken- und Stimmungswelt hineingestellt. Die Absicht dieses Dialogs er- schöpft sich keineswegs in der Argumentation für die Unsterblich- keit der Seele. Vor allem vielmehr soll hier die Ideenlehre aus- gebaut, weitergeführt und für die wissenschaftliche Erkenntnis fruchtbar gemacht werden. Das teleologische Moment, das im Symposion allein betrachtet und isoliert ist, wird jetzt in die ein- zelnen Ideen eingeführt. So vollzieht sich hier auch jene apri- orische Umbildung oder Vertiefung des dialektischen Induktions- verfahrens. Der „Phaidon" ferner ist es, der das Programm der neuen, „teleologischen" Physik Piatos entwirft. Kurz, der Phai- don hat ein sehr viel theoretischeres, wissenschaftlicheres Aus- sehen als das Symposion. Und dennoch ist eben in ihm jene dualistisch-mystische Tendenz auf die Spitze getrieben. Wenn das Problem der Unsterblichkeit äußerlich in den Mittelpunkt gerückt wird, so hat dies nicht bloß den Sinn, daß die Erkenntnismittel der Ideenlehre dem Unsterblichkeitsglauben dienstbar gemacht werden sollen. Das Bedeutsame ist vielmehr, daß im Phaidon Ideenmetaphysik und mystische Erlösungslehre grundsätzlich und unlösbar an einander geknüpft werden. Die Philosophie liegt im Lebenselement der Mysterien, in dem auch der Glaube an die Prä- existenz und Fortdauer der Seele heimisch ist. 1 ) Der wahre Philo- soph muß mit dem Mystiker sterben, dem Körper, der Sinnlichkeit, dem Materiellen absterben, er muß sich loslösen und reinigen von alle dem, was ihn irgendwie in die Sinnenwelt herabziehen kann. Dann allein wird er das wahrhaft Seiende, die ewigen Ideen schauen können; dann aber hat er auch die Aussicht, nach diesem irdischen Leben sofort in ein jenseitiges, reines und seliges Leben eintreten zu dürfen. Das sind Glaubensgedanken, wie sie in der orphischen und der pythagoreischen Gemeinde zu Hause sind. Und der „Phai- don" scheut sich nicht, mit diesen Religionsgemeinschaften auch bewußt und ausdrücklich in Verbindung zu treten. 2 ) Dennoch ist es nicht so, daß diese Stimmungen den theoretischen Sinn Piatos überwältigt hätten. Zwar ist die Neigung zur Transzendenz, die 1 ) Mit Recht hat A. Riehl (Plato 2. Aufl. S. 17) hierauf nachdrücklich hin- gewiesen. 2 ) So gleich im Anfang des Phaidon 61 E ff., weiter 69 C u. ö. 544 Die Sokratik. mit jenen zusammenhängt, auch in der Ideenspekulation deut- lich genug zu spüren. Und das ist um so weniger zu verwun- dern, als hier ja nur mit voller Deutlichkeit an den Tag tritt, daß das religiös-mystische Interesse an dem Werden dieser Philosophie von Anfang an einen starken Anteil hatte. Daß aber die theo- retische Fassung der Ideen in ihrem Wesen durch dieses Motiv bestimmt oder gar beherrscht worden sei, kann man nicht sagen. l ) Piatos Feststellungen über die Natur der Ideenrealität und ihr Verhältnis zur Wirklichkeit der Sinneserscheinungen erklären sich vollkommen aus den spekulativ-wissenschaftlichen Intentionen, die wir kennen. Und der asketische Überschwang, der am meisten im Phaidon um die Ideen den Nimbus mystischer Transzendenz ausbreitet, korrigiert sich eben hier durch das physikalische Inter- esse, das nicht minder stark zur Geltung kommt. Nur in der Schilderung des Wegs, der zum Schauen der ewigen Realitäten führt, und der subjektiven Voraussetzungen, unter denen dem Menschen das Ziel erreichbar ist, bricht die mystische Stimmung übermächtig hervor. Der Glaubenswelt verdankt ja auch der pla- tonische Apriorismus seine Begründung und seine bestimmte Ge- stalt. Insofern ist es richtig, daß im Ganzen der Ideenlehre die beiden Tendenzen, die spekulativ-theoretische und die religiös-my- stische, zusammenlaufen. Aber auch nach der Seite, von der die Mystik hereinwirkt, fehlt es nicht an einem Korrektiv. Der My- stiker bleibt — auch im Phaidon selbst 2 ) — Dialektiker. Und als solcher wird er mehr und mehr Logiker. Das zeigt sich in der Politeia 3 ). Mystik und Dialektik sind hier harmonisch verbunden. Die transzendent-asketische Stimmung ') Gegen J. A. Stewart, der in seinem Buch Plato's doctrine of ideas, 1909, das religiöse oder vielmehr das „religiös-ästhetische" Motiv sehr starken Einfluß auf die Gestaltung der Ideen selbst gewinnen läßt. 2 ) Vgl. die S. 540, 3 angegebenen Phaidonstellen. 3 ) Auf das literarkritische Problem der „Politeia" kann ich hier natürlich nicht eingehen. Daß die Politeia, wie sie uns vorliegt, ein einheitliches Werk ist, nimmt heute wohl wieder die Mehrzahl der Platokenner an. Auch ich bin dieser Meinung. Selbstverständlich aber ist, daß die Abfassung eines Werks von solchem Umfang sich möglicherweise über einen ziemlich langen Zeitraum erstreckt hat. Und ich habe mich oben schon zu der Ansicht bekannt, daß der erste Teil der Politeia (I— II 367 E) nicht allzu lange Zeit nach dem Gorgias ge- schrieben sein werde. Vermutlich ist es aber nur ein erster Entwurf, der damals entstanden ist. Doch ist dieser augenscheinlich ohne allzu tief einschneidende Plato und die Sokratik. Die Höhe. 545 wird festgehalten. 1 ) Aber in das Zentrum der Mystik tritt die rationale Intuition der Ideen, wie sie durch die dialektische Wissenschaft vollzogen wird; und hier ist es auch, wo die dia- lektische Methode nach ihrer logischen Seite weiter ausgeführt und der Dialektik selbst im Ganzen der menschlichen Erkenntnis ihre systematische Stelle an der Spitze der Wissenschaften angewiesen wird. In der Politeia ist der Gedanke einer methodischen Auf- suchung und systematischen Entwicklung der Ideen grundsätzlich festgelegt. Und auch die teleologische Seite des Ideensystems, das Verhältnis der Idee des Guten zu den übrigen Ideen, ist hier ab- schließend bestimmt. Die Idee des Guten erscheint — in dem bekannten Vergleich mit der Sonne — als das Quellprinzip alles Erkennens und Seins. Primäre Realitäten sind in der Welt allein die Ideen. Die Ideen aber verdanken ihr Sein und ihren Wesens- gehalt zuletzt der Idee des Guten: insofern ist die letztere selbst kein Wirkliches, sie liegt „noch jenseits des Wirklichen, da sie dieses an Würde und Kraft überragt". 2 ) Man verstehe das recht. Änderungen in unser jetziges Werk aufgenommen worden. Denn nach ihrem ganzen Gedankengehalt und Interesse sind die l 1 /« ersten Bücher der Politeia dem „Gorgias" nahe verwandt. Wie Plato uns in dem bekannten 7. Brief, 325 C ff., erzählt, hatte er in den ersten Jahren nach Sokrates' Tod seine politischen Nei- gungen gewaltsam niedergehalten — mehr ohne Zweifel, als den Intentionen des Sokrates selbst entsprach (vgl. S. 412, 1). Und noch als er zum ersten Mal, durch einen äußeren Anlaß gereizt, im „Gorgias" politisch das Wort ergriff, war es nur, um einem hoffnungslosen Pessimismus Ausdruck zu geben. Wie stark aber auch damals in ihm das politische Interesse war, zeigt das Motiv, das nach seinem eigenen Bericht (7. Brief 324 AB, 326B) zu seiner ersten italisch-sizilischen Reise den hauptsächlichen Anlaß gab: dieses Motiv war die Hoffnung, in Syrakus in seinem Sinn politisch wirken zu können (vgl. S. 525). Vielleicht ist während dieser Reise der Plan der Politeia und ihr Anfang — unser 1. Teil — entstanden. Von da ab hat Plato den Plan sicher nicht mehr aus den Augen verloren. Aber zunächst nahm ihn die Ausgestaltung seiner neuen Philosophie fast ganz in Anspruch. Daß er indessen doch auch in jenen Jahren die staatsphilosophischen Gedanken, die ihn bewegten, wenigstens mündlich in der neugegründeten Akademie, er- örtert habe, ist mehr als wahrscheinlich. Zur literarischen Verarbeitung der- selben, also zur Fertigstellung unserer Politeia ist er vermutlich erst nach Be- endigung des „Phaidon" gekommen, also etwa gegen Ende der achtziger Jahre. Herausgekommen ist das Werk aber sicher erst in den 70er Jahren. Einen ge- naueren Zeitpunkt hiefür anzugeben wage ich nicht. ') S. besonders Politeia X 610ff. 2 ) Politeia VI 509B: .. . xal xo slvai xs xal xr\v ovalav vre ixelvov (von H.Mai er, Sokrates. 35 546 Die Sokratik. Die Idee des Guten ist die kosmische Zweckmäßigkeit. Diese verwirklicht sich in dem Ideensystem, und sie hat ihren Inhalt zu- letzt darin, daß jede einzelne Idee den in ihr selbst liegenden Zweck realisiert. Die einzelnen Ideen ihrerseits sind so sehr Zweckkräfte, daß man wohl sagen kann, sie schöpfen ihr ganzes Sein und Wesen aus der Idee der Zweckmäßigkeit. Insofern ist die Idee des Guten allerdings ganz anders geartet als die übrigen, die ihr untergeordnet sind: sie ist keine ovoia wie diese. Das schließt indessen nicht aus, daß Plato sie doch wieder als das wahrhafte und höchste Seiende betrachtet. 1 ) So wie er die Ideen- existenz faßt, ist dies kein Widerspruch. Hat aber die Idee des Guten gegenüber der Wirklichkeit diese Stellung, so wird be- greiflich, daß sie andererseits auch als die Quelle aller Erkennt- nis betrachtet wird. Wie aus ihr der Seinsgehalt der Ideen fließt, so erschließt sich allein von ihr aus der Einblick in das Ideen- system dem Denken, das auf das Seiende sich richtet. Und hier- auf eben beruht auch die logische Methode der Dialektik. Die Idee des Guten ist jenes oberste Prinzip, das allem Wissen den letzten Halt gibt, zu dem der Dialektiker darum aufsteigen muß, um von ihm aus dann das ganze System der Ideen abzuleiten. So wird die Mystik methodisch geregelte Wissenschaft. 2 ) In der Politeia hat die Entwicklung, die einst mit dem „Gor- gias" eingesetzt hatte, ihren Höhepunkt und in gewissem Sinn ihren Abschluß erreicht. In derselben Politeia aber gelangt eine zweiteTendenz an ihr Ziel, die gleichfalls, und zwar viel un- mittelbarer als die intellektualistisch-rationale, an den sokratischen Gedanken- und Interessenkreis anknüpft; das ist die politisch- soziale. Das Interesse am Staat, am meisten am heimatlichen, war für Plato ein Erbstück von den Vätern her. Was ihn darum an So- krates' Wirken gefesselt hat, waren nicht zuletzt dessen politische Bestrebungen. Bei ihm selbst tritt die Politik nach dem Schwin- den der anfänglichen Zurückhaltung (S. 544, 3) noch weit mehr in dem Guten) avtolq (sc. xolq yiyvajoxopevoiq) ngoaslvai, ovx ovolaq övxoq tov äya&ov, dXX" eti inexeiva rrjq ovolccq ngsaßela xal dvväfxsi insQiixovToq. 1 ) Vgl. Politeia VII 5L8C. 521 C. 532C. 534BC. 2 ) Vgl. die Stellen Pol. VII 533Cff. VI 511 B ff. VII 532C. 521 C. 517BC 518 C mit einander. Plato und die Sokratik. Die Höhe. 547 den Vordergrund. Sokrates hatte unmittelbar nur an den Indi- viduen gearbeitet. Plato will darüber hinaus direkt auf den Staat wirken. Nicht in der Volksversammlung und auf der Redner- tribüne. Daß das nicht seine Stelle war, ist auch ihm frühe schon klar geworden. Aber durch seine Feder wollte er wirken: seine staatsphilosophischen Arbeiten sind publizistische Tendenz- schriften im großen Stil, die die Gesellschaft revolutionieren wollen. Plato ist kein politischer Theoretiker wie nachher Aristoteles. Er möchte der Reformator des staatlichen Lebens werden. Und wohl nicht allzulange nach der extrem scharfen Abrechnung, die er im „Gorgias" mit dem heimatlichen Staatswesen gehalten hatte, mögen in seiner Seele die Reformgedanken bestimmte Gestalt ge- wonnen haben, die dann in der „Politeia" ihren reifen Aus- druck fanden. Es wurde der Traum seiner späteren Mannes- jahre, das Staatsideal der Politeia in Wirklichkeit umzusetzen. Da sein geliebtes Athen versagte, wandte er sich in die Ferne. 1 ) Auch hier hat er nichts erreicht. Von seiner publizistischen Arbeit konnte er dennoch nicht lassen. Noch am Abend seines Lebens hat er den Kompromißstaat der Leges entworfen — obwohl die Jahre ihm den Glauben an die Verwirklichung seiner sozial-staat- lichen Pläne stark erschüttert haben mochten. Piatos politisches Ideal lehnt sich eng an das sokratische an. Auch er stellt sich den individualistischen Staatskonstruktionen und den anarchisch -kosmopolitischen Auflösungstendenzen ent- gegen. Und er tut das mit um so größerer Energie, als jener Radikalismus inzwischen auch in der sokratischen Gemeinde seine Vertreter gefunden hatte: Plato kämpft auch, und nicht zuletzt, gegen die Staats- und gesellschaftsfeindlichen Tendenzen in der Sokratik. Er nimmt dabei nicht bloß die organische Staatsidee auf, er überspannt dieselbe zum Kommunismus. Schon einige Zeit her waren kommunistische Regungen, die den individuali- stischen Strömungen entgegenwirkten, auch in der Literatur laut geworden. 2 ) Die Politeia macht damit vollen Ernst. Wie Sokrates, hält auch Plato den Staat für eine sittliche Notwendigkeit: nur in der staatlichen Gemeinschaft kann sich die *) S. den Bericht des 7. Briefes und vgl. die Ausführung oben S. 544, 3. 2 ) Vgl. Pöhlmann, Geschichte des antiken Kommunismus und Sozialismus I S. 198ff. 35* 548 Die Sokratik. sittliche Natur des Menschen ganz entfalten. Und fast sieht es so aus, als wäre auch nach Piatos Meinung die Aufgabe des Staats lediglich die Verwirklichung der Tugend und damit des Glücks der Bürger, kurz die Realisierung des sittlichen Strebens der Individuen. Ebenso aber folgt er in der Organisation der Gesell- schaft und des Staats Sokrates' Spuren. Das Gesellschaftsganze soll so gegliedert werden, daß jeder Einzelne gemäß dem natürlichen Gesetz, das an die Stelle des Ideals mechanischer Gleichheit zu treten hat, die seiner Begabung und Individualität entsprechende Wirksamkeit erhält. 1 ) Als naturgemäße Staatsform hat Plato dem- entsprechend die sokratische Aristokratie der Sachkundigen vor Augen. Allein unversehens verschiebt sich ihm der ganze Gesichts- punkt der Betrachtung. Der Staat ist schließlich nicht nur den Individuen als solchen, sondern auch den sittlichen Persönlich- keiten übergeordnet. Er ist nicht mehr bloß die organische Ein- heit, in der die Persönlichkeiten ihre sittliche Aufgabe erfüllen. Die sittliche Gesellschaftsgliederung erscheint nicht mehr als Selbst- zweck, sondern als bloßes Mittel, den Endzweck des Staatswesens zu verwirklichen. Dieser selbst ist jetzt eine bestimmte Leistung des Gesellschaftsganzen, nämlich die Realisierung vollkommener Wissen- schaft. Diesem Zweck werden auch die Menschen- und Persön- lichkeitsrechte der Individuen geopfert. Eine neue Kastentrennung wird eingeführt. Und das Privileg, das sittliche Ziel, die philo- sophische Erkenntnis, zu erreichen, wird einer ganz kleinen Elite vorbehalten. Plato weiß nämlich, daß nicht alle Menschen von Natur befähigt sind, der höchsten Aufgabe des Staats un- mittelbar zu dienen, und er weiß auch, daß deren Lösung zu- gleich an Voraussetzungen gebunden ist, die mit der Wissenschaft nicht direkt zusammenhängen. So kommt er unter dem Gesichts- punkt der Arbeitsteilung zu einer ständischen Gliederung der Ge- sellschaft, innerhalb welcher den Philosophenregenten allein Pflicht und Recht zufällt, die philosophische Erkenntnisarbeit zu leisten. Der übrige Teil der „Wächter" bildet die Kriegerkaste, der übri- gens auch die Funktionen der untergeordneten Beamtenschaft zu- gewiesen sind. Die Gewerbetreibenden und Ackerbauern endlich l ) Vgl. oben S. 404. Plato und die Sokratik. Die Höhe. 549 haben lediglich die wirtschaftliche Existenz der oberen Klassen zu sichern. Für sie hat der Gesetzgeber überhaupt kein Inter- esse. Aber auch die Individuen der beiden oberen Stände, für die im Interesse des Staatszwecks die kommunistische Lebensord- nung gefordert wird, sind so ganz und vorbehaltslos dem Staat ein- und untergeordnet und mit ihren eigensten und persönlich- sten Interessen und Bedürfnissen so vollständig an dieses äußere Ganze gebunden, daß auch für ihre sittlich - i n d i v i d u e 1 1 e Betätigung nicht der geringste Spielraum mehr übrig bleibt: die Philosophen selbst, die berufsmäßig der Pflege der Wissen- schaft obzuliegen haben, sind verpflichtet, diese Beschäftigung ohne jede Rücksicht auf das eigene Interesse und die persönliche Befriedigung den staatlichen Bedürfnissen anzupassen. 1 ) Man begreift diese Wendung aus der Umgestaltung, die So- krates' individuelles und gesellschaftliches Lebensideal unter Pia- tos Händen erfahren hatte. Wir erinnern uns : Sokrates hatte ein Gesellschaftsganzes im Auge gehabt, in dem jedes einzelne Glied seine bestimmte sittlich vorgeschriebene Rolle zu spielen, seinen bestimmten individuellen Wirkungskreis auszufüllen hatte; als Grundlage der individuellen Berufsarbeit aber hatte er in allen Fällen das entsprechende sachverständige Wissen gefordert, und als gesellschaftliches Ziel, als das natürliche Ergebnis dieses Zu- sammenarbeitens, hatte ihm die Verwirklichung einer umfassenden intellektuell vertieften Kultur vorgeschwebt. Plato nun hatte zwar das sachverständige Wissen von seiner praktischen Abzweckung nicht ausdrücklich losgelöst; tatsächlich aber hatte er es nicht allein zum theoretischen Wissen umgewandelt, sondern das theo- retische Wissen noch zur spekulativen Wissenschaft gesteigert. Damit aber trat nicht bloß an die Stelle der intellektualisierten sozialen Kultur eben die spekulative Wissenschaft. Zugleich viel- mehr wurde der sittliche Zweck der Gesellschaft von den indi- viduell-sittlichen Lebenszielen und -aufgaben der Einzelnen völlig losgetrennt. Jener wurde außer und über die letzteren gestellt. Die individuelle Arbeit hat nicht mehr in sich selbst ihren Zweck und ihren sittlichen Wert. Ein äußerer Zweck wird ihr gesetzt, und nach dem Maß und der Art, wie sie diesem dient, bestimmt ') Vgl. z.B. Politeia VII 519 C ff. IV 419 E ff. 550 Die Sokratik. sich ihr Wert. Dieser Zweck ist die Wissenschaft. Daneben kommen nur noch die Betätigungen zu ihrem Recht, die der Auf- rechterhaltung und Sicherung der staatlichen Organisation selbst dienen. Alle übrigen Beschäftigungen, so namentlich Ackerbau und gewerbliche Arbeit, denen Sokrates mit geflissentlichem Nach- druck zu sittlicher Anerkennung verholten hatte, verlieren an sich jede sittliche Bedeutung. Die Folge ist, daß die Leistungen nur des kleinsten Teils der Bürger nach ihrem Inhalt unmittelbar sitt- lichen Charakter haben können, und weiter, daß die Arbeit aller nur Mittel zur Verwirklichung eines außer und über den Indivi- duen liegenden Zwecks ist. Die Verwirklichung der spekulativen Wissenschaft im Sozial- staat, das also ist Piatos Ideal. Zusammenstimmen freilich wollen die beiden Bestandteile dieses Ideals, das intellektuelle und das politisch-soziale, nicht recht. Denn die höchste Erscheinungsform der wissenschaftlichen Betätigung, das mystische Schauen der Ideen, ist doch ein Tun oder vielmehr ein Erleben, das sich in der tiefsten Innerlichkeit des individuellen Geistes zu vollziehen, also mit dem sozialen Leben sich kaum zu berühren scheint. Piatos Meinung ist dies indessen nicht. So viel er durch die Theoretisierung des sachverständigen Wissens zur Lösung des Bandes zwischen Wissenschaft und Leben, auf dem das Ideal der intellektuellen Kultur beruht, getan hat: den Grundgedanken dieses Ideals hält er doch auch jetzt fest. Er will, daß die wissenschaft- liche Erkenntnis, die in der individuellen Erfassung der Ideen sich vollendet, das ganze staatlich-gesellschaftliche Leben beherrschen und durchdringen solle. Praktische Folge freilich vermag er diesem Gedanken nur in der Weise zu geben, daß -er die Philosophen zugleich zu Regenten des Staates macht, daß er denselben, wenn die Reihe die Einzelnen trifft, zumutet, eine Zeit lang die mystische Kontemplation zu unterbrechen und sich dem praktischen Ge- schäft der Staatsverwaltung zu widmen. Dafür indessen, daß diese Veranstaltung den gewünschten Erfolg hat, bürgt ihm der Geist, in dem die Philosophenkönige, wie er erwartet, ihres Amtes walten werden. Und dieser Geist ist — hier dürfen wir Sym- posion und Politeia zusammennehmen — der philosophische Eros. In diesem liegt für Plato doch zuletzt die Einheit des wissenschaftlichen und des sozialen Lebens begründet. Es ist der Plato und die Sokratik. Die Höhe. 551 gleiche Eros, der ihn selbst mit seinen Schülern in der intimsten sozialen Gemeinschaft, der Schulgemeinde, zusammenschließt: der Weg, auf dem sich dem Weisheitsfreund die Wahrheit eröffnet, ist die aus dem Eros entspringende Wechselrede: Philosophie ist ja darum Dialektik, und Dialektik ist ein sittlich-soziales Liebes- werk. Insofern üben die Philosophenregenten schon als Dialek- tiker, indem sie im Frage- und Antwortverfahren der Wahrheit nachspüren, eine soziale Tätigkeit aus: nur aus der lebendigen Gemeinschaft der Erkenntnissuchenden kann die Intuition des Ewigen erwachsen. Damit ist für Plato die Brücke von der intel- lektuellen Mystik zum staatlich-gesellschaftlichen Leben geschlagen. Man darf diese Synthese — mag auch die Auflösung der Anti- nomie, die sie gibt, nicht befriedigen — um so weniger unter- schätzen, als Plato in dem Eros, in dem philosophischer Trieb und sozialer Liebesdrang zusammenfließen, ja zugleich das Band sieht, das seine jetzige Dialektik rückwärts mit der sokratischen verbindet. In dem philosophischen Liebesgeist, den er als ein Erbe von Sokrates her betrachtet, fühlt er sich mit dem Meisler dauernd eins. Hierauf zuletzt gründet er das Recht, seine Lebens- arbeit auch jetzt noch an dessen Namen zu knüpfen — so wenig er sich darüber täuscht, daß sein jetziges „Philosophieren" von dem sokratischen durch einen weiten Abstand getrennt ist. 1 ) Und so viel allerdings ist klar: diese Gedankenwelt Pia- tos liegt weit ab von dem sokratischen Anschauungs- kreis. Über der intellektualistischen und sozialen Weiterführung des Ideals hat Plato den Ausgangs- und Kernpunkt aus dem Auge verloren: die Autonomie und Autarkie der Persönlichkeit. Das sittliche Ideal wird nun wieder ganz als ein Besitz betrachtet, dessen Gewinnung von Naturanlagen und äußeren Umständen abhängt, oder vielmehr als eine Leistung, die nur unter gewissen nicht vom Willen des Individuums abhängigen Bedingungen mög- lich ist — und zwar zuletzt als eine Leistung, die dem Staat ob- liegt, derart, daß die Einzelnen überhaupt nur als dienende Werk- zeuge in Betracht kommen. Darum können auch die Wenigen, denen das Höchste zugänglich ist, das nicht erreichen, was dem sittlichen Leben seinen eigensten Wert gibt, die sittliche Selb- ») S. oben S 137 ff., S. 541. 552 Die Sokratik. ständigkeit. Gewiß war auch das sokratische Ideal tatsächlich nur für einen kleinen Kreis. Aber der Werberuf, die Einladung er- ging an alle ohne Unterschied der Begabung und der gesellschaft- lichen Stellung; Voraussetzungen und Bedingungen lagen ganz im Machtbereich des persönlichen Willens, und auch das Ziel lag nicht außerhalb der sittlichen Persönlichkeit, sondern, trotz der Einordnung des Individuums in die Gesellschaft, in ihr selbst. Plato nimmt die alte Adelsmoral wieder auf. Nur daß er die Aristokratie der Geburt ersetzt durch die des Geistes und der In- telligenz. Zugleich aber ersetzt er den sittlichen Individualismus des Sokrates durch einen Sozialismus, der das sittliche Ziel, das sittliche Glück und die sittliche Gesetzgebung endgültig in die Gesellschaft verlegt, der dem Individuum völlige Selbstentäußerung zu Gunsten des Staates vorschreibt, indem er der Persönlichkeit zumutet, sich selbst aufzugeben und im Gesellschaftsganzen unter- zugehen. Am bezeichnendsten spricht sich die neue Stellung Piatos in dem Ersatz aus, der bei ihm nun die Stelle der sittlichen Freiheit des Sokrates vertritt, sagen wir kurz: in dem Erlösungs ideal, das jetzt das sokratische verdrängt hat. Innere Befreiung ist auch für Plato die Voraussetzung und andererseits die Wirkung der sittlichen Erhebung. Allein sittliche Erhebung ist für ihn etwas ganz anderes als für Sokrates. Das hat auch für den Gedanken der inneren Befreiung eine tiefgrei- fende Umbildung zur Folge. Wenn das ganze sittliche Leben in der theoretischen Betätigung aufgeht, wenn Erkenntnis nicht bloß Erfüllung der sittlichen Lebensaufgabe ist, sondern zugleich das sittliche Glück, die Seligkeit, die Erlösung in sich schließt, so kann dieselbe nur als ein mystisches Erleben gedacht werden. Es war darum nur folgerichtig, wenn Plato die Befriedigung des sittlich-wissenschaftlichen Begehrens in der intellektuellen Mystik, in der mystischen Anschauung des wahrhaft Wirklichen suchte und fand. Die innere Befreiung aber, die für diese Mystik die Bedingung ist, kann nur Loslösung von all dem, was die Seele an der reinen Betrachtung hindert, sein. Nun sind die Objekte, denen diese Erkenntnis zustrebt, die ewigen, über die Veränder- lichkeit und Irrationalität des Individuellen, über den Wechsel von Sein und Nichtsein erhabenen, schlechthin seienden, intelli- Plato und die Sokratik. Die Höhe. 553 giblen Ideenwesenheiten, die nur dem reinen Denken zugänglich sind. Wer darum nach diesem Seienden, dem an sich Wirklichen, sucht, muß sich von dem flüchtigen, immer sich wandelnden, nie sich gleichbleibenden Vielen losmachen. Das aber ist die Sphäre der sinnlichen Wahrnehmung. Und was die Seele nicht zum reinen Denken kommen läßt, was sie immer wieder in den Bann des Veränderlichen und Unfaßbaren herabzieht, ist das Sehen, Hören, kurz das sinnliche Erkennen, dem ebenso die Exaktheit wie die Evidenz fehlt. Das Organ des sinnlichen Erkennens aber ist der Körper. Das Haupthemmnis für die lautere Erfassung der Wahrheit ist also das Gebundensein der Seele an die körperliche Existenz. Die Seele wird indessen auch durch Begierden, Sorgen und Interessen aller Art, durch das Verlangen nach gastronomischen oder aphrodisischen Genüssen, durch Habsucht, Ehrgeiz, Macht- gier u. s. f., von dem Wahrheitsstreben abgezogen. Auch diese Begehrungen alle aber haben ihre Wurzel in der Sorge um den Körper, d. i. in der Sinnlichkeit, zuletzt im körperlichen Da- sein. Der Körper erscheint also als die Quelle all der Hinder- nisse, die der sittlichen Erhebung der Seele zur rationalen Intuition des wahrhaft Wirklichen im Weg stehen. Und für die sittlich strebende, die „philosophische" Seele ist der Weg zu ihrem Ziel die Flucht aus der Sinnlichkeit, die Trennung vom Körper, die Lösung der Fesseln, die sie an das körperliche Leben knüpfen, die Befreiung aus dem Gefängnis, in dem sie während ihres irdischen Daseins schmachtet. 1 ) Das ist die mystisch-dualistische Askese. Zu dem logisch- erkenntnistheoretischen Gegensatz von Sinnen und Vernunft hat sich der ethisch-religiöse von Sinnlichkeit und Geistigkeit gesellt. So kommt Plato zu dem sinnenfeindlichen Dualismus der Mystik. Was bei Sokrates die Beherrschung der Einzelbegehrungen durch den sittlichen Willen, bei Antisthenes Unterdrückung des Lust- begehrens im Namen des sittlichen Willens ist, das ist bei Plato die Abtötung der Sinnlichkeit, die Losreißung von der Körper- welt und die Hingabe der Seele an das mystisch-intuitive Erleben; das aber ist zugleich ein Sich-verlieren des sittlichen Willens an den mystischen Genuß. Hier zeigt sich, daß Plato mit dem for- ') S. besonders Phaidon 64DE, 65B ff., 66Cff., 78Eff, 81A ff., 82Cff. 554 Die Sokratik. malen Element, dem Wesenselement des sokratischen Ideals, auch die sittliche Freiheit preisgegeben hat. Dementsprechend ist das Erlösungsbewußtsein, das sich an das Leben im sittlichen Ideal als natürliche Wirkung knüpft, für Plato nichts anderes als die Seligkeit, die die völlig von den Banden des Körpers befreite Seele im ungehinderten Schauen der Ideen empfindet. Ganz indessen ist dieses Ziel erst dann zu erreichen, wenn Gott die Seele, die während dieses Erdenlebens in unermüdlicher Läuterungsarbeit sich von der Sinnlichkeit zu reinigen, vom Leibe loszulösen an- gefangen hat, vollends ganz befreit hat. l ) So fällt der Schwer- punkt des sittlichen Glücks in eine transzendente Welt. Plato hat den Standpunkt des Sokrates endgültig verlassen und sich in den Anschauungskreis der Mysterientheologie, in die Welt der Pythagoreer und Orphiker, geflüchtet. Das sittliche Evangelium des Diesseits ist dem mystisch-asketischen eines besseren Jenseits gewichen. 3. Die spätere Entwicklung. In der Politeia hat Plato die philosophische Höhe erreicht. Auch jetzt zwar steht seine Entwicklung nicht still. 2 ) Aber sie verläuft zunächst durchaus in der Bahn, in die die Dialoggruppe Symposion-Phaidon-Politeia eingelenkt hatte. Insbesondere ver- schiebt sich in dem Verhältnis zur ursprünglichen Sokratik nichts Wesentliches. 1 ) Phaidon 67 A. 2 ) Wenn v. Arnim in seiner kürzlich erschienenen Abhandlung „Zur Ab- fassungszeit von Piatons Phaidros" (Zeitschr. f. d. österr. Gymn. 64. Jahrg. 1913, S. 97 ff.), unter Hinweis auf P. Shorey's Buch „The unity of Platon's thougt", vor dem Weg der „Entwicklungstheoretiker" warnt, die aus Verschiedenheiten in der Formulierung untergeordneter Lehrpunkte bei Plato Widersprüche zu machen und dann diese einander widersprechenden „Überzeugungen als zeitlich auf- einander folgende Stadien in Piatos philosophische Entwicklung einzuordnen" pflegen (S. 97 f.), so hat er insofern Recht, als in der Konstruktion von platonischen Entwicklungen wirklich meist viel zu weit gegangen wird. Weiter aber vermag ich ihm nicht zu folgen. Zwar will auch er von seinem Standpunkt aus „auf die Annahme einer Entwicklung Piatos und seiner Lehre auch in späteren Jahren" nicht verzichten. Indessen kommt er mit den methodischen Prinzipien, die er sonst auf S. 98 entwickelt, der alten Harmonisierungsmethode wieder bedenklich nahe, und es ist mir einigermaßen zweifelhaft, ob er sich von der Natur der philosophischen Forschungs- und Gedankenarbeit eine ganz zutreffende Vor- stellung gebildet hat. Plato und die Sokratik. Die spätere Entwicklung. 555 Nur in einem Punkt, einem freilich ganz äußerlichen, scheint Plato wieder unmittelbar auf den Meister zurückzugreifen. Von dem literarischen loyog JEwxyarixog geht er im „Phaidros" wieder zum mündlichen zurück. Wenigstens zieht er die münd- liche, unmittelbar geübte Dialektik von Person zu Person ihrem schriftstellerischen Surrogat jetzt bei weitem vor. 1 ) Als die Stätte dieser persönlichen Wirksamkeit aber denkt er sich zweifellos die Schulgemeinde, die sich, seit Jahren schon fest organisiert, um ihn gesammelt hatte. Und sein Plan war wohl, auf den Unter- richtsbetrieb in der „Akademie" künftig das Hauptgewicht seiner Tätigkeit zu legen. Indessen versprach er sich offenbar auch darüber hinaus von einer persönlichen Propaganda für seine philosophischen Reformgedanken mehr Erfolg. Und das allerdings war in jener Zeit sein hauptsächliches Bemühen, seine „Philosophie" mit dem öffentlichen Leben in Fühlung zu bringen. Nicht daß er den Standpunkt der Mystik verlassen hätte! Eben im Phaidros klingt diese wieder in vollen Tönen an. Ja, in der zweiten Sokratesrede dieses Dialogs ist sie noch viel weiter geführt als selbst im Phaidon. Aber der Autor hat das Bedürfnis, von der weltfernen Spekulation eine Brücke zur Praxis des Lebens zu schlagen. Und um dieses Ziel zu er- reichen, trägt er kein Bedenken, mit der Macht, die immer noch die ganze Öffentlichkeit beherrschte, der er selbst aber einst in leidenschaftlicher Polemik alle Schuld an den traurigen staatlichen und gesellschaftlichen Zuständen der Gegenwart aufgeladen hatte, eine Verbindung anzuknüpfen: mit der Rhetorik. Er setzt sich mit den Rhetoren der Vergangenheit und Gegenwart auseinander. Und diesmal ist sein Urteil sehr viel milder. Dem Isokrates zollt er sogar Worte freundlicher Anerkennung. In dem Denken dieses Mannes findet er eine „gewisse Philosophie". 2 ) Sein eigenes Be- *) Phaidros 275 Äff. Die Erörterung schreitet hier zur Schriftstellerei über- haupt fort, deren Wert dem des lebendigen Worts gegenübergestellt wird; letz- teres wird weit über jene gestellt (276 A). Daß Plato die Nutzanwendung aus diesem Urteil auch für die eigene Praxis zu ziehen beabsichtigt, ist nicht zu verkennen. 2 ) Phaidr. 278 E ff. Eingehend hat H. Gomperz (Isokrates und die Sokratik, Wiener Studien 27. Jahrg., 1905, S. 163 ff., und 28. Jahrg., 1906, S. lff.) die Be- ziehungen des Isokrates zur Sokratik untersucht. Ich kann hierauf verweisen, wenn ich auch den Eindruck habe, daß H. Gomperz trotz der kritischen Vorsicht, 556 Die Sokratik. streben geht dahin, der Rhetorik, indem er sie auf die Grundlage der dialektischen Philosophie stellt, wissenschaftlichen Charakter zu geben. Zu diesem Zweck gestaltet er auch die logische Me- thode der Dialektik weiter aus. Allein schwerlich ist es ihm hiebei nur um Förderung der Rhetorik zu tun. Viel mehr lag ihm offenbar daran, die Dialektik und damit die Gesamtsumme seiner philosophischen Gedanken unter der Flagge der Rhetorik ins öffentliche Leben einzuführen. In der Tat war ja die An- lehnung der Philosophie an die rhetorische Theorie und Praxis der einzige Weg, auf dem sie unmittelbar zu Macht und Einfluß gelangen konnte. 1 ) Indessen hatte das vom Phaidros 2 ) ab immer mehr erstarkende die er sich S. 164 zur Norm macht, in der Annahme antisthenischer Ent- lehnungen zu weit gegangen ist. Recht übrigens hat G. durchaus, wenn er davor warnt, „einen philosophischen 'Outsider' wie Isokrates allzu tief in die inner- sokratischen Streitigkeiten zu verflechten" (S. 166, 1). Was nun die Bezugnahme platonischer Schriften auf Isokrates anlangt, so ist es neuerdings zweifelhaft ge- worden, ob Euthyd. 304 D ff. in der Tat, wie früher angenommen wurde, auf Isokrates geht (vgl. H. Gomperz a. a. O. S. 29 ff., C. Ritter, Piaton S. 212 ff.). Es bleibt nur unsere Phaidrosstelle, und das in dieser dem Isokrates gespendete Lob wird uns verständlich, wenn wir bedenken, daß — wie H. Gomperz gezeigt hat — Isokrates selbst inzwischen eine entschiedene Annäherung an die Sokratik vollzogen hatte. 1 ) S. besonders die Stellen Phaidr. 260 A, 260 DE, 262 A-C, 263 BC, 269B. Ef., 270C ff., 273DE, 277A ff. Zu der Dialektik selbst vgl. namentlich 265DE, 266BC, 273 DE, 277 BC. 2 ) Über die Abfassungszeit des Phaidros vgl. Blaß, Attische Beredtsamkeit III 2* S. 390ft, Räder S. 245ff., H. Gomperz a. a. O. S. 32ff., C. Ritter, Piaton S. 256 ff. Die Ansetzung des Phaidros nach dem Phaidon und der Politeia stützt sich nicht allein auf die Ergebnisse der sprachstatistischen Untersuchung, sondern auch auf inhaltliche Erwägungen; vgl. namentlich die Darlegungen von Räder und H. Gomperz, ferner die Bemerkung zu Phaidr. 278 E ff. S. 555, 2. Daß die Mystik des Phaidros die des Phaidon (und der Politeia) voraussetzt, ist mir zweifellos. Ähnlich verhält sich wohl auch die Erotik des Phaidros zu der des Symposions (vgl. Räder S. 259). Vor allem aber gehört die Dialektik des Phaidros (Vgl. die in der vorigen Anm. angegebenen Stellen) durchaus in die Entwicklungs- reihe herein, die durch den Sophistes und den Politikos fortgesetzt wird. Der Hintergrund sind die Ausführungen des Phaidon und der Politeia über Dialektik. Die im Phaidros entwickelte Dialektik hat aber bereits ein anderes Gesicht. Sie kann nur mit den entsprechenden Ausführungen des Sophistes und des Politikos zusammengenommen werden. Dabei halte ich es immerhin nicht für unmöglich, daß der Phaidros zeitlich der Politeia näher steht als dem Sophistes. Zwischen Plato und die Sokratik. Die spätere Entwicklung. 557 methodologisch-logische Interesse noch einen anderen Anlaß und Antrieb. Schon bisher hatte die Auseinandersetzung mit der eristischen Skepsis, zumal mit der des Antisthenes, das Be- dürfnis nach einem geregelten wissenschaftlichen Untersuchungs- und Beweisverfahren nahegelegt, und schon in der Dialoggruppe Symposion— Phaidon— Politeia liegt der Grundstamm eines solchen vor. Jetzt wird der Kampf heftiger und umfassender. Plato selbst muß nicht mehr bloß um die Wissenschaft überhaupt, sondern zugleich um seine Wissenschaft fechten. Antisthenes, der alte Gegner, kehrt nun vor allem gegen die letztere seine scharfen, persönlich vergifteten Waffen. Euklid ferner, der die Spekulation auf das Wissen um das Gute einschränkte, bekämpfte von hier aus jeden Versuch, die tatsächliche Welt wissenschaftlich zu bewältigen, und diese Skepsis, die die Gedankengänge der eleatischen Dialektik in ihren Dienst zieht, verschont auch Piatos Philosophie nicht. Daneben hatte Aristipp seine skeptische Über- zeugung auf sensualistischer Grundlage durchgeführt und be- gründet. Sensualistisch- skeptische Tendenzen waren aber auch unter den Epigonen der alten Philosophenschulen wie den Hera- kliteern und besonders bei Demokrits Schülern hervorgetreten. So steht Plato einer Welt von Feinden gegenüber, die, so verschieden sie unter einander sein mochten, im Gegensatz gegen ihn einig waren. Er bekämpft die Gegner zum Teil — so namentlich im Theätet 1 ) — in ihren eigenen Positionen, indem er ihre positiven Phaidros und Sophistes liegt vielleicht ein längerer Zeitraum: möglich ist sogar, daß Plato der Abneigung gegen die Schriftstellerei, die im Phaidros 275 A ff. aus- gesprochen ist, zeitweilig praktische Folge gegeben und damals eine Pause in seiner literarischen Tätigkeit gemacht hat. Nur das meine ich, daß in Piatos Gedankenentwicklung zwischen Politeia und Phaidros ein gewisser — in der Politeia immerhin vorbereiteter — Neueinsatz anzunehmen ist, der dann im So- phistes und Politikos weiter verfolgt wird. — Zu der Abfassungszeit des Phaidros s. auch den S. 554, 2 zitierten Aufsatz von v. Arnim. ') Daß Theätet 155Ef. (gegen die ax\r\Qovc, xe xal ävzizvnovq ävÜQiänovz, die auch als afxovooi bezeichnet werden) von Antisthenes und seinen Schülern spricht, ist ziemlich allgemein zugestanden; dasselbe gilt von Theätet 201 C ff. (Gegen Antisthenes übrigens enthält auch der Phaidros, wieder einmal in der Eros- frage, eine Polemik. Die erste Sokratesrede trägt parodistisch antisthenische Ansichten über den Eros vor, die von Plato abgelehnt werden, vgl. S. 17, 1.) Ebenso darf man mit Dümmler, Natorp und Zeller annehmen, daß mit den nolv xotixpörtyoi in Theät. 156A ff. Aristipp gemeint ist. Auf Aristipp geht aber auch noch manches 558 Die Sokratik. Voraussetzungen kritisch zersetzt und hiebei, wo die Gelegenheit sich bietet, nicht versäumt, sie gegen einander auszuspielen. Viel wichtiger und wirksamer aber war die unmittelbare Abwehr. Und dazu war der Weg der weitere Ausbau der dialektischen andere in diesem Zusammenhang. Gegen Euklid und die Megariker polemisiert der Theätet nicht. Das ist angesichts der Rolle, die Euklid in der Einleitung des Gesprächs spielt, selbstverständlich. Daß Plato aber auch gegen zeitge- nössische heraklitische und demokritische Sensualisten kämpft, läßt eine Ver- gleichung der aristotelischen Ausführung Met. I 5 und 6 mit ihrer Vorlage Theät. 151 D ff. vermuten, vgl. meine Syllogistik des Arist II 2 S. 20, 1, ferner S. 21, 2 (wozu nur wieder zu bemerken ist, daß ich an einen protagoreischen Sensua- lismus heute nicht mehr glaube). — Über die Abfassungszeit des Theätet wage ich eine speziellere Behauptung nicht auszusprechen. Daß er nach der Politeia verfaßt ist, ist mir sicher (vgl. Räder S. 279, S. 295 ff., C. Ritter I S. 263ff.). Ebenso daß er mit Phaidros, Sophistes und Politikos zusammengehört. Ton und Stimmung des Dialogs rechtfertigen ferner die übliche Annahme, daß der Theätet später ist als der Phaidros. Und zwar ist er wohl beträchtlich später (vgl. die vor. Anm.). Auf seine Stellung zum Sophistes wirft die Tatsache ein Licht, daß der letztere sich im Eingang als eine Fortsetzung des Theätet einführt. Immerhin muß in der Zeit zwischen der Abfassung des Theätet und der des Sophistes sich eine Wand- lung in dem Verhältnis zu den Megarikern vollzogen haben. Der Eingang des Theätet deutet auf noch bestehende freundschaftliche Beziehungen zwischen Plato und Euklid hin, die offenbar auch durch gelegentliche Auseinandersetzungen (vgl. Politeia VI 505 BC, S.385, 1) nicht gestört worden waren. Die Polemik aber, die Plato nun im Sophistes (in der Diskussion über die Urteilslehre und ihre Grundlagen 251 B ff.) gegen die Megariker richtet, verträgt sich mit der Freundschaft nicht mehr. Eine gewisse Schonung übt Plato zwar immer noch. Die Polemik rückt den Antisthenes stark in den Vordergrund; und nur auf diesen wird unmittelbar angespielt 251 B C, 259 DE. Immerhin werden 251 B xmv ysgövxwv xolg oipipa&eoi, womit Antisthenes gemeint ist, die „Jungen" vorangestellt (xolg xs veoig) und die vboi, die ganz wie Antisthenes mit dem Einwand arbeiten, eines könne nicht zugleich vieles sein, sind, wie eine Vergleichung mit Phileb. 15 D ergeben wird, junge Akademiker, die unter megarischen Einfluß geraten sind. Indirekt wenigstens sind also doch die Megariker getroffen. Daß auch diese mit jenem Bedenken operierten, dazu s. meine Syll. des Ar. II 2 S. 10 f. Und in der Stelle Phileb. 14 CD, die auf Sophist. 251 B ff. zurückblickt, ist der in dieser letzteren Aus- führung erörterte und widerlegte Einwand in der Tat so gewendet, daß er un- mittelbar die megarische Urteilslehre trifft. Direkt und sicher geht Soph. 258 E und 259 CD — obwohl in D wieder auf die jungen Akademiker angespielt ist — gegen die Megariker (welche da^ Wesen des Urteils in die Formel a = non-a legen und diese deuten: a ist zugleich das Gegenteil seiner selbst). Und auch die Megariker werden damit in die Kategorie der Sophisten eingerechnet. Der Theätet ist also ohne Zweifel einige Zeit vor dem Sophistes abgefaßt. Plato und die Sokratik. Die spätere Entwicklung. 559 Methode, wie er schon im Phaidros , besonders aber im Sophistes und weiterhin im Politikos in Angriff genom- men ist. Notwendig war einmal, das Verfahren, mittels dessen das Ideensystem festgelegt werden konnte, logisch weiterzuführen und zu vollenden. Und hiezu war erforderlich nicht allein die weitere Ausgestaltung des aufsteigenden Untersuchungsgangs, der Begriffsbildung, der die Aufgabe zufiel, in induzierender, aber doch von vornherein durch das intuitive Denken des Nus ge- leiteter Abstraktion die Ideen, von den niedrigeren zu den höheren emporsteigend, aufzusuchen, sondern vor allem auch die metho- dische Fixierung des deduktiven Verfahrens, der Begriffsentwick- lung, der Diairesis. Voraussetzung aber für diese beiden Teile der dialektischen Methode war die Aufdeckung der inneren Ver- hältnisse des Ideensystems, der Arten und Weisen, wie die ein- zelnen Ideen zu einander in Beziehung standen. Kurz, die Auf- gabe war ebensowohl, sich über das Ziel der wissenschaftlichen Forschung klar zu werden, das Wesen und die Struktur des von der Erkenntnis angestrebten Ideensystefns zu durchschauen, als einen sicheren, einwandsfreien Weg zu finden, auf dem dieses System ermittelt und begründet werden konnte. 1 ) Nicht minder wichtig aber war ein Zweites. Die Gefähr- lichsten unter den Gegnern, die Kyniker und Megariker, richteten ihre Polemik vor allem gegen die Grundfunktion des wissenschaft- lichen Denkens selbst. Diese logische Skepsis ging vom „Sein" im Urteil aus; sie nahm die verschiedenen Arten dieses Seins, so besonders das identifizierende (Silber ist Silber), das akzidentiell- kopulative (Silber i s t weiß) und das existentiale (Silber ist == existiert) als gleichbedeutend und suchte von hier aus den Urteils- akt, indem sie ihn in unlösbare Schwierigkeiten verwickelte, ad ab- surdum zu führen. Diese Erörterungen haben Plato veranlaßt, das logische Wesen des Urteilsaktes zu untersuchen. Woran ihm aber noch mehr liegt, ist die erkenntnistheoretische Sicherstellung der metaphysischen Grundlage des Urteils. Nun scheint das Urteil nach seiner ganzen Natur eine Verbindung von Vorstellungen zu sein. ') S. hiezu die von mir in meiner Syllogistik des Aristoteles II 2 S. 37, 1 und 2, S. 46 ff., ferner von Zeller II l 4 S. 623 ff. aus dem Phaidros, Sophistes und Politikos angeführten Stellen. 560 Die Sokratik. So konzentriert sich Piatos Bemühen auf den Nachweis der Ver- knüpfbarkeit (y.oivwvia) der Ideen. Für ihn selbst ist dieser Punkt von um so größerer Bedeutung, als das „Teilhaben" der Ideen an einander, das seinerseits der Unterscheidung des Andersseins von der Gegensätzlichkeit l ) seine Sicherung gegen die eristischen Einwände verdankt, zuletzt die fundamentale Voraussetzung des Ideensystems ist, dessen Erarbeitung er als die eigentliche Auf- gabe der strengen Wissenschaft, der Dialektik, betrachtet. 2 ) Unter dem Einfluß dieser Auseinandersetzung tritt jenes systematisch-erkenntnistheoretische Motiv — wir können es ebensogut das dialektisch-ontologische nennen — , das schon in der Entstehung der Ideenlehre die entscheidende Rolle gespielt und auch nachher die Führung behalten hatte, ganz einseitig in den Vordergrund. Der teleologisch-genetische Gesichtspunkt, von dem sich im Phaidon einst der Ausblick auf eine neue Physik eröffnet hatte, wird völlig zurückgedrängt. Das Wesen der Idee selbst zwar erfährt keine Modifikation. Noch im Sophistes werden ausdrücklich für die Ideen, denen eine andere Theorie ein absolut starres, jedes Tun und Leiden ausschließendes, auch über den denktätigen Nus erhabenes Sein zuschreiben will, Bewegung, Leben, Seele, Nus, Denken in Anspruch genommen. Noch also werden sie grundsätzlich als ideale Kräfte, als lebendige Zwecktendenzen betrachtet (Sophist. 248 Äff. j. Auffallen aber muß, daß der empirische Nachweis, den der Autor für seine Behaup- tung gibt, sich auf die Feststellung beschränkt, daß die Erkenn- barkeit der Ideen ein Leiden, also eine Leidensfähigkeit derselben voraussetze (Soph. 248 C— E). Auf die weitere Ausgestaltung des Ideensystems jedenfalls hat das teleologisch-kausale Motiv nicht den geringsten Einfluß gehabt. Diese ist ausschließlich durch den systematischen Gesichtspunkt beherrscht, und auch die dia- lektische Methode, wie sie jetzt festgelegt und gehandhabt wird, ist ganz hierauf zugeschnitten: die Lösung der skeptisch-logischen Probleme beruht zuletzt darauf, daß die Möglichkeit einer all- seitigen Verbindung der Ideen untereinander durch die Ausführung, ') a kann non-a sein (z. B. Silber ist weiß). Aber non-a ist in diesem Fall ein ttsgov, kein ivavxlov von a. 2 ) Zu diesem Abschnitt s. meine Syllogistik des Arist. II 2 S. 39 ff., bes. S. 42 ff. (vgl. S. 280 ff.). Plato und die Sokratik. Die spätere Entwicklung. 561 also durch die dialektische Tat erwiesen wird; so liegt dem Philo- sophen alles an der Aufhellung der logischen Beziehungen zwischen den Ideen, die für den Aufbau des Ideensystems grund- legend sind. Nichts vielleicht kann diese Sachlage besser illustrieren als die Tatsache, daß die Idee des Guten, die einst als das Quellprinzip aller Zweckmäßigkeit gegolten hatte, aus ihrer beherrschenden Stellung nun ganz verschwunden ist. Unter den allgemeinsten Ideen, die im Sophistes erörtert werden, erscheinen die Begriffe •des Seins, des Nichtseins, der Selbigkeit, der Andersheit, der Gegensätzlichkeit u. s. f. Die Idee des Guten suchen wir hier vergeblich. Und auch sonst finden wir von ihr in dieser ganzen Schriftengruppe nirgends eine Spur. 1 ) Eben damals aber entspann sich innerhalb der platonischen Schulgemeinde selbst eine lebhafte Diskussion über die metaphysische Natur der Ideen, die Plato mit der Zeit doch zu einer Umgestaltung seiner Theorie veranlaßt hat. Un- freundliche Formen scheint die Kontroverse auf lange hinaus nicht angenommen zu haben. Den Mitgliedern der Akademie war eine weitgehende Freiheit der Meinung verstattet. Das Pro- gramm wissenschaftlichen Zusammenarbeitens, wie es schon in der Idee der platonischen „Dialektik" lag, war hier lebendige Wirklichkeit geworden. Plato wies sich selbst keineswegs nur die Rolle des Gebenden zu; Einwänden und Anregungen aus dem Schülerkreis war er immer zugänglich. Daher scheint auch der Anstoß gekommen zu sein, der schließlich die entscheidende Wendung herbeiführte. Über den Verlauf der Verhandlungen im einzelnen sind wir nun allerdings sehr mangelhaft unterrichtet. Zwar sind uns gleich aus dem ersten Stadium des Kampfes einige unzweifelhafte Doku- mente erhalten. Als solche nämlich haben wir die Ausführung im „Sophistes" über die „Freunde der Ideen" (Soph. 246 BC, 248 Äff., vgl. S. 560) und den „Parmenides" anzusprechen. Aber es ist nicht leicht, auch nur das Zeitverhältnis, in dem die beiden Stücke zu einander stehen, sicher zu bestimmen. 'l Daß sie völlig fallen gelassen sei, ist übrigens schwerlich anzunehmen. Nur das kann gesagt werden, daß sie ganz in den Hintergrund getreten ist. H. Mai er, Sokrates. 36 562 Die Sokrattk. Sachlich steht zunächst so viel fest, daß damals in der Aka- demie eleatisierende Neigungen sich regten. Eine Frucht der- selben war jene Fassung der Ideenlehre, die im „Sophistes" ab- gelehnt wird. Die „Freunde der Ideen", die wir sicher in den Reihen der Akademiker selbst zu suchen haben, waren zu ihrer Theorie wohl durch eine Überspannung der Charakteristik ge- kommen, die Plato in der Politeia der Idee des Guten hatte zu- teil werden lassen (S. 545 f.). Das schließt nicht aus, daß zugleich äußere Einflüsse im Spiel waren, und zwar Einflüsse, die zuletzt nach Megara weisen (vgl. S. 265 ff.). Noch bis in die jüngste Zeit herein war Euklid dem Plato in Freundschaft verbunden gewesen. 1 ) Auch die Wendung zur Speku- lation hatte er mitgemacht. Zwar gegen die Anerkennung der Ideen- lehre sträubte sich in ihm, wie es scheint, das sokratische Ge- wissen, das in ihm wohl durch Antisthenes wach erhalten wurde. Aber die (pQovrjGig, des Sokrates zum spekulativen Wissen des Guten weiterzubilden, hatte er kein Bedenken getragen. Jene Schilderung des Guten in der Politeia mochte ihn dann zur An- knüpfung dieses Wissens an die eleatische Metaphysik veranlaßt haben. Von da ab war die megarische Schule der Mittelpunkt der eleatisierenden Sokratik geworden. Schon bald aber, wohl nicht allzu lange nach dem Erscheinen des Theätet, hatte Euklid — vielleicht hatte ihm der Streit zwischen Plato und Antisthenes hiezu die Anregung gegeben — einen Vorstoß gegen die Ideen- lehre gemacht. Und die Einwände, die er vorbrachte, hatten, wie es scheint, auch in der Akademie Eingang und Anklang gefunden. 2 ) Das war die Veranlassung zum „Parmenides" gewesen. Die Abwehr ist hier ohne persönliche Animosität. So war wohl auch der megarische Angriff gewesen. Plato wählt den Weg, sich mit den Megarikem unmittelbar *) Vgl. die Rolle, «die Plato den Euklid noch im Rahmengespräch des Theätet, 142 Äff., spielen läßt. 2 ) Nicht bloß legt der Umstand, daß später im Sophistes und im Philebos als Träger der Opposition „junge Leute", die in der Umgebung Piatos zu suchen sind, auftreten, einen Rückschluß auf den „Parmenides" nahe. Dazu kommt, daß im letzteren der redende Sokrates selbst einen Teil der Einwände, die sich gegen die Ideenlehre erheben lassen, vorbringt. Auch das läßt vermuten, daß es sich hier zunächst um eine innerakademische Streitigkeit handelt. Plato und die Sokratik. Die spätere Entwicklung. 563 auseinanderzusetzen. Diese Tendenz tritt im zweiten, größeren Teil des Dialogs, der die eleatische All-einslehre durch Parmenides selbst mittels der gepriesenen zenonischen Methode ad absurdum führen läßt '), klar hervor. Rätselhaft dagegen ist der erste Teil. Hier werden die megarischen Einwände entwickelt, jedoch ohne daß sie eigentlich widerlegt würden. Daß der Autor auf diese Weise seine Unfähigkeit, den Gegner abzuwehren, eingestehen, daß er Selbstkritik üben wolle, daß also der Parmenides eine Ab- kehr von der Ideenlehre vollziehe, ist ausgeschlossen. Am Schluß dieser Erörterung wird noch betont, daß der Verzicht auf die Ideen den Tod der Dialektik bedeuten würde (Parm. 135 BC). Und damit ist gesagt, daß die Ideenlehre trotz allem festgehalten werden soll. Wie erklärt sich aber dann jene Passivität des Autors? Nicht vergessen darf man, daß nach seiner Meinung mit der Zersetzung der eleatischen Voraussetzungen der gegnerischen Polemik dieser selbst ihre Hauptstütze entzogen ist. Und diese Aufgabe stellt sich ja der zweite Teil der Schrift. Allein ganz gelöst ist damit das Problem noch nicht. Und fast_sieht es so aus, als hätte Plato wieder in vollem Ernst auf die Manier des So- krates, die Hörer in Aporien zu verwickeln, die sie zum Nach- denken reizen mußten, zurückgegriffen. Im gegenwärtigen Fall wäre dies aber ein bedenkliches Wagnis gewesen. Wahrschein- licher ist, daß der Autor die endgültige Widerlegung der megari- schen Einwände einer anderen Gelegenheit vorbehielt. Und zwar zunächst mündlicher Erörterung. Man muß sich erinnern, daß der Schwerpunkt von Piatos Wirken in dieser späteren Zeit in seiner persönlichen Lehrtätigkeit lag. Aus der lebendigen Dia- lektik innerhalb der Akademie wuchsen die Dialoge heraus. Die- selben nehmen sich gegenüber den fortlaufenden mündlichen Dis- kussionen wie gelegentliche Episoden aus. Und so sehr die Kunst des Schriftstellers dafür gesorgt hat, daß sie auch dem Außenstehenden zugänglich wurden, so gab es naturgemäß doch auch Fälle, in denen das literarische Erzeugnis ohne die münd- liche Ergänzung ein Fragment oder gar ein Rätsel blieb. Ein solcher Fall liegt offenbar im Parmenides vor. ') Parmenides 135 C ff. Zu der „zenonischen" Methode s. meine Syll. des Ar. II 2 S. 51. 36* 564 Die Sokratik. Groß scheint indessen der Erfolg dieser persönlichen Be- mühungen Piatos zunächst nicht gewesen zu sein. Nach wie vor wirken megarische Einflüsse in die Akademie herein. Auf sie sind wohl die Anregungen zurückzuführen, die die „Freunde der Ideen" zu ihrer eleatisierenden Umbildung der platonischen Ideen bestimmten. Weit mehr als diese Heterodoxien indessen, für die Plato immerhin einige Sympathie empfinden mochte, verdrossen ihn andere Treibereien in der Akademie, die gleichfalls mit Me- gara zusammenhingen. Einer der Haupteinwände, die nach der Darstellung des „Parmenides" die Megariker gegen Plato kehrten, war der: auf dem Standpunkt der Ideenlehre müßte eines zugleich vieles sein; das aber sei eine Absurdität und schon dar- um unmöglich, weil die Annahme eines Vielen in der Wirklich- keit sich in unlösbare Widersprüche verwickle. Die letztere Be- hauptung war darauf gestützt, daß, wenn das Seiende ein Vieles wäre, ein und dasselbe zugleich ähnlich und unähnlich sein müßte. Wir stehen hier vor jener Polemik der Megariker gegen die Grundfunktion des diskursiven Denkens, das Urteil (vgl. S. 559). Die Sphäre des Urteils ist die Sphäre, in der die vielen Dinge liegen müßten. Und die Megariker wollen die Vielheit aufheben, indem sie jenes in Antinomien verwickeln. Im Urteil wird etwa von einem Menschen das Prädikat „Mensch" ausgelegt, zugleich aber ein Prädikat wie z. B. beseelt; beseelt aber ist ein anderer Begriff als Mensch, also Nichtmensch. Es ergibt sich also: a = a, und zugleich a = non-a, d. h. : alles ist zugleich ähnlich und unähnlich (verschieden); was unmöglich ist. 1 ) Schon der „Parme- nides" nun hatte sich mit dieser Argumentation beschäftigt und festgestellt, darin könne doch keine Absurdität gefunden werden, wenn ein konkretes Ding zugleich — obzwar, wie im Sinn des Autors einzufügen ist, in verschiedenen Beziehungen — ähn- lich und unähnlich sei (Parm. 129AB). Ebensowenig aber liege darin ein Widerspruch, wenn ein konkretes Objekt insofern zu- gleich eines und vieles sei, als es ein einheitliches Ganzes ist, das eine Vielheit von Teilen in sich schließt. 2 ) Etwas anderes aber ') Parm. 127E, wozu gleich Phileb. 14CD zu vergleichen ist (S. 568, 1). 2 ) Parm. 129 B—D, und hiezu vgl. gleich Phileb. 14 DE (S. 568,2). Plato und die Sokratik. Die spätere Entwicklung. 565 wäre es, so hatte der Sokrates des „Parmenides" dann angefügt, wenn man zeigen würde, daß die Ideenwesenheiten selbst, wie z. B. die Idee der Ähnlichkeit und die der Unähnlichkeit, die der Vielheit und die des Eins, die der Ruhe und die der Bewegung, in dieser Weise ebensowohl mit einander vermischt als von ein- ander getrennt werden könnten. Diese Aporie indessen, die nun nicht mehr in der Welt der sichtbaren Objekte (er rolg 6(ju) t u£- voig), sondern in der Sphäre der mit dem Denken erfaßten (eV rolg kuyiöftw kaußarofitroic), der Ideen selbst, einsetzt, hatte der Autor als weniger aktuell nur eben hingestellt, und ver- mutlich gehört sie zu den Fragen, die er in der Akademie münd- lich zu diskutieren gedachte. 1 ) Eben an diesem Punkt scheinen aber die Megariker und die megarisierenden Akademiker den Faden der Kontroverse nun erst recht weiter gesponnen zu haben. 2 ) Das eben, so entgegneten sie, sei ihre Meinung, daß die Ideenlehre an diesem Widerspruch kranke. Und sie wollten allerdings mit ihrer Polemik gegen die Urteilsfunktion die Ideenlehre auch unmittelbar treffen. Die Ideenlehre und die Urteilsfunktion gehören zusammen. Jene setzt die Ideen in Beziehungen zu einander, und das kann nur in Urteilen geschehen. Das Urteilen selbst aber ist in allen Fällen 3 ) ein solches In-Beziehung-setzen von Begriffen. Und eben gegen das urteilende In-Beziehung-setzen von Begriffen richtet sich jener Einwand vom Ähnlichen und Unähnlichen. Einem Men- schen z. B. lege ich im Urteil nicht bloß das Prädikat Mensch bei, ich schreibe ihm auch die und die Farbe, die und die Größe, J ) Parm. 129B Anf. und Schi, 129C Anf., 129D Schi, und E, 130 Anf. Möglich ist, daß Parm. 129 D Schi. E Anf. (bfioiotrjrä re xxk.) zu Theätet 181 in Beziehung steht. Dann liegt die Vermutung nahe, daß die Megariker in ihrer Polemik an die Ausführung in Theät. 181 E ff. über die xoivä angeknüpft haben. 2 ) Sophistes 151 ff., bes. 151 B (xolq xe vsotq geht auf die megarisierenden Gegnen, 254 B ff, 258E-259D. 3 ) Nicht bloß in den Urteilen mit allgemeinbegrifflichen Subjekten. Schon aus 251 A geht deutlich hervor, daß es sich um die Urteile überhaupt handelt In 260 ff., wo im engsten Zusammenhang mit der Erörterung über die metaph. Grundlage des Urteils in 251 ff. die logisch-sprachliche Seite der Urteilsfunktion behandelt wird, werden unbedenklich zur Illustration Urteile mit individuellem Subjekt (wie z. B. Theätet fliegt) herangezogen. Vgl. meine Syll. des Arist. II 2 S. 41, 3. 566 Die Sokratik. die und die Charaktereigenschaft zu, und ich bezeichne ihn über- dies als ein Seiendes. Indem also das Urteil nicht bloß a = a, sondern a = b, a = c besagt, behauptet es nicht allein, daß das eine a zugleich vieles sei, sondern auch — da b, c, d doch nicht a sind — , daß a zugleich non-a, d. h. aber sein eigenes Gegen- teil sei. Die Urteilsfunktion verwickelt sich also in der Tat in den Widerspruch, daß sie das Identische zugleich ein Anderes, das Andere ein Identisches, das Große klein, das Ähnliche un- ähnlich nennt. Und da sie von ihren Subjekten ja auch ein Sein prädiziert (Gott ist, der Mensch ist gut), so macht sie noch im besonderen den Fehler, daß sie ein Nichtseiendes — die Begriffe Gottes, des Menschen sind ja nicht der Begriff „seiend" — , also das Gegenteil des Seienden, als Seiendes denkt. Die Sache liegt also, so stellen die Gegner fest, wirklich derart, daß die Begriffe, die Ideen selbst mit ihrem Gegenteil verflochten werden. Diesen Argumentationen gegenüber greift Plato nun doch zur öffentlichen Diskussion. Und indem er zu dem Einwand in seiner neuen Form Stellung nimmt, ist er zugleich bemüht, die im „Parmenides" unerledigt gebliebene Aporie zu lösen. Das ge- schieht im „Sophistes". 1 ) Man merkt hier deutlich, wie die Geduld des Autors im Schwinden ist. Was ihn besonders irri- tiert, ist, daß die Gegner aus seiner Umgebung, die „Jungen", nun Seite an Seite mit seinem alten, tief verachteten und gehaßten Widersacher Antisthenes kämpfen. 2 ) Plato selbst ist nicht ge- sonnen, den Zusammenhang zwischen seiner Ideenlehre und der ') Daß die Erörterung in Soph. 251 ff., bes. 254 B ff., 258 E— 259 D den un- erledigt gebliebenen Einwand von Parmenides 129D— 130A (vgl. 129BC, S. 565, 1) wieder aufnimmt, zeigt nicht allein eine sachliche Vergleichung. Auch die Bei- spiele weisen darauf hin (axäoiq und xlvtjaiQ Soph. 254 D ff. Parm. 129 D, ofioio- rrjq und dvo/uoiözTjQ Soph. 259 D, Parm. 129 D). 2 ) Soph. 251 B (tolq ze veoig xal xwv ysQÖvrwv rolq oyi/uaSeoi . .)• Die megarisierenden Jungen, die ähnlich auch in Soph. 258 E— 259 D und 259 DE neben Antisthenes gestellt und zugleich von ihm unterschieden werden, führen das Urteil überhaupt ad absurdum, indem sie die Formel a -= b mit der Formel a = non-a gleichsetzen und dabei non-a als das Gegenteil von a fassen. Anti- sthenes selbst geht nicht so weit. Er will das Urteil noch beibehalten, aber so, daß er es auf die identifizierenden Urteile a = a einschränkt und die Urteile, die auf die Formel a = b zu bringen wären (wie z. B. diejenigen, die von dem Menschen das Prädikat „gut", oder von dem Silber das Prädikat „weiß" aus- sagen), prinzipiell verwirft. Plato und die Sokratik. Die spätere Entwicklung. 567 Urteilsfunktion, den die Gegner konstruiert hatten, zu bestreiten. Im Gegenteil: er erkennt ihn unbedenklich an, und er bezeichnet das Urteil geradezu als das wichtigste Stück der ganzen Philo- sophie, mit dessen Vernichtung alles verloren wäre (Soph. 260 A). Dem megarischen Einwand aber begegnet er durch jene Unter- scheidung der Andersheit und der Gegensätzlichkeit. Es ist durchaus nicht so, daß alle Begriffe — der Autor spricht in diesem Zu- sammenhang gern von yevi] — unterschiedslos mit einander ver- knüpft werden könnten. Eine Idee kann an einer anderen teil- haben, in keinem Fall aber an einer ihr entgegengesetzten. 1 ) Der Begriff des „Seins" z. B. ist ja wohl ein anderer als die Begriffe Mensch, Silber u. dgl., mit denen er von uns verbunden wird. Mensch, Silber u. s. f. sind also in der Tat ein Nichtseiendes. Aber dieses Nichtseiende ist nicht ein Gegenteil {tvavriov) des Seienden. Darum können das Sein und diese Nichtseienden recht wohl mit einander verbunden werden. So steht es mit diesen angeblichen „Widersprüchen". Ebenso aber mit all den anderen, in die sich nach den „sophistischen" Auslassungen der Gegner das Urteil verwickeln soll. Und Plato verlangt nun kategorisch entweder sachliche Widerlegung dieser Feststellungen oder aber Ruhe. 2 ) Sein Wunsch ging nicht in Erfüllung. Der Streit zog sich noch geraume Zeit hin. Die oppositionellen Akademiker und ihre megarischen Hintermänner scheinen immer wieder auf die alten Einwände zurückgekommen zu sein. Indessen trat aus dieser Polemik doch ein Problem hervor, das dem Philosophen selbst noch ernsthaft zu schaffen machte. Und das war wieder eine der Aporien, die im „Parmenides" zwar aufgeworfen, aber nicht zum Austrag gebracht worden waren. 3 ) So ergreift Plato in dieser Sache — wie es scheint, nach längerem Zuwarten — noch einmal das Wort. Und er bricht die Gelegenheit hiezu geradezu vom Zaun, indem er im „Philebos", der im übrigen einen ganz anderen Inhalt hat und zudem, wie wir sehen werden, nichts weniger als kriegerische Stimmung atmet, eigens einen Exkurs einschiebt. 4 ) Noch einmal nimmt er den alten Satz vom Einen *) S. besonders Sophist. 254 B ff. 2 ) Soph. 258 E— 259 D. 3 ) Phileb. 15 Äff. blickt auf Parm. 130B ff. zurück. 4 ) Phileb. 14B ff. — Nach den Darlegungen im Text kann über das Zeit- 568 Die Sokratik. und Vielen vor. Den Einwand zwar, der hieraus gegen das Urteil hergeleitet worden war, hält er für abgetan — er blickt hier auf die Erörterungen im Parmenides und Sophistes zurück. 1 ) Die Schwierigkeit, die man in dem Verhältnis des einheit- lichen Ganzen zu seinen vielen Teilen finden wollte, nimmt er jetzt so wenig ernst wie einst im „Parmenides". 2 ) Dagegen ge- steht er zu, daß in der Ideenlehre selbst, und zwar schon in der Annahme (einer Mehrheit) von Ideeneinheiten, weiter in der Frage, wie es komme, daß von diesen Ideeneinheiten jede einzelne, ob- wohl sie doch ewig mit sich selbst identisch ist und weder Werden noch Vergehen zuläßt, dennoch ihre bestimmte, diskrete Einheit sicher festzuhalten vermag, und schließlich und vor allem in dem Verhältnis, in dem die Ideeneinheiten zu der Vielheit ihrer indi- viduellen Erscheinungen stehen, Aporien liegen, die wirklich zu denken geben (Phil. 15 AB). Neu ist ja auch nach dieser Seite die in den Disputationen bis zum Überdruß breit getretene Aporie vom Einen und Vielen wahrlich nicht. Und Plato spottet bitter über die jungen Leute, die, nachdem sie den Einfall zum erstenmal ge- kostet, jedermann damit beglücken, und nicht ruhen, bis sie sich und andere konfus gemacht haben (Phil. 15DE). Aber er zeigt doch zugleich ernsthaft den Weg, auf dem das Rätsel zu lösen ist. Und jetzt wendet er sich augenscheinlich wieder unmittelbar gegen die Megariker selbst. Ihr Fehler ist, daß sie von dem Un- begrenzten (dem unendlich vielen Individuellen) sofort zur obersten Verhältnis von Parmenides, Sophistes, Philebos meines Erachtens ein Zweifel kaum mehr bestehen. Ich gestehe, daß ich bis in die jüngste Zeit herein geneigt war, den Parmenides hinter den Sophistes und Politikos zusetzen. Eine genaueVer- gleichung von Parmenides 127E, 128E— 130 A, 130Bff., Sophistes 151 ff., Philebos 14B ff. ergibt aber, wie mir scheint, zur Evidenz, daß der Parmenides nicht bloß vor dem Philebos, sondern auch vor dem Sophistes geschrieben sein muß. — Daß übrigens zwischen dem Sophistes und dem Philebos ein längerer Zeitraum liegen muß, geht nicht bloß daraus hervor, daß zwischen beide noch der Politikos fällt, sondern namentlich daraus, daß in der Zeit zwischen Soph. und Phileb. das Verhältnis Piatos zu Antisthenes sich wesentlich geändert hat (vgl. mit Soph. 251 BC, 259 DE Philebos 44 BC und 51 A). Auch die naturphilosophischen An- sätze des Phileb. liegen beträchtlich ab vom Gedankenkreis des Sophistes. *) Phil. 14CD — Parm. 127E, 129AB. Aber Phil. 14CD blickt auch auf Soph. 251 ff., bes. 258 E— 259 D zurück (vgl. die ganze Formulierung des Einwands hier und dort; ferner das Beispiel fxiya—o/xtxQÖv). 2 ) Phil. 14E-Parm. 29BCD. Plato und die Sokratik. Die spätere Entwicklung. 569 Einheit aufsteigen und die Mittelglieder überspringen. So werden sie — der Autor spricht das jetzt mit beabsichtigter Schärfe aus — Eristiker. Die Mittelglieder aber sind die Ideen. Und der Weg für den Dialektiker, die Einheit mit der Vielheit in Be- ziehung zu setzen, ist die Begriffseinteilung. 1 ) Es ist also im wesentlichen immer noch dasselbe methodische Ideal wie im Sophistes, das als Schutzwehr für die Ideenlehre im Kampf gegen die Eristiker dient. 2 ) Allein das Interesse an dem Verhältnis von Ideen und Indi- viduellem im Philebos hat noch einen anderen Grund. Das naturphilosophische, teleologisch - genetisch e Motiv, das lange Jahre geschwiegen hatte, tritt jetzt wieder hervor. Seit der Mitte der sechziger Jahre war Aristoteles, der Sproß einer alten Ärztefamilie, dem der Sinn für empirische Naturerkenntnis schon in die Wiege gelegt war, ein eifriges Glied der Akademie. Vermutlich ist nicht zuletzt auf sein Drängen die neue Wendung in der wissenschaftlichen Arbeit des Meisters zurückzuführen. 3 ) *) Phil. 16D — 17A. Mit den vvv xwv av&QcÜTKov aoepol sind wieder direkt die Megariker gemeint (vgl. meine Syllogistik des Arist. II 2 S. 4, Anm. 3 Schi.; dieser Nachweis bleibt in Geltung, trotzdem ich die in der ersten Hälfte der Anm. anerkannte Deutung der <plXoi tlööjv auf die Megariker und damit die An- nahme, daß die Megariker in einem früheren Stadium ihrer Entwicklung Anhänger der Ideenlehre gewesen seien, heute nicht mehr für richtig halte, wozu oben S. 265 ff. zu vergleichen ist). In 17 A Anf. streiche ich mit Stallbaum und Wohlrab xal noV.a , das augenscheinlich eine Einschiebung eines gedankenlosen Ab- schreibers ist. Übrigens kann der Sinn des Satzes ol 6h — öeovxoq, auch wenn man mit Burnet die Worte festhält, kein wesentlich anderer sein: es ist eben dann nicht bloß vom Aufsteigen, sondern zugleich vom Absteigen die Rede. Der Sinn der ganzen Stelle kann nicht zweifelhaft sein. Möglicherweise ist mit Dindorf statt xal zu lesen xa : dann ist der Sinn derselbe, wie wenn xal nokka ausgeschieden wird. 2 ) Vgl. die Einschätzung der Dialektik Phil. 57 E ff. 3 ) Zu den mathematischen und naturwissenschaftlichen Studien innerhalb der Akademie vgl. Usener, Organisation der wissensch. Arbeit, Bilder aus der Gesch. der Wissensch., Preuß. Jahrbücher LIII, 1884, S. 11 ff., v. Wilamowitz, Antigonos von Karystos, Philol. Untersuchungen IV 283 f., C. Ritter, Kommentar zu Piatos Gesetzen, 1896, S. 223 ff., Piaton I 187 ff. Daß Plato schon frühe — angeregt wohl durch die Pythagoreer — mathematisches Interesse gehabt hat, ist sicher. Vom Menon ab können wir die Spuren hievon ja verfolgen. Und in der Akademie sind jedenfalls mathematische (und astronomische) Studien sehr bald schon eifrig getrieben worden. Einen neuen Aufschwung scheinen 570 Die Sokratik. Unter den akademischen Opponenten gegen die Ideenlehre stand er jedenfalls schon früh mit in vorderster Reihe. 1 ) Wie dem nun dieselben seit dem Eintritt des Eudoxos von Knidos in die Akademie (um 366) genommen zu haben (vgl. Usener a. a. O. S. 14 f.). Wie ferner die dialektische öiaiQtoiq zu Studien in systematischer Zoologie (und Botanik) Anlaß geben konnte, zeigt z.B. Politikos 262 ff., bes. 263 C ff. Daß dieses zoologische und botanische Interesse indessen vor der Mitte der 60 er Jahre eingesetzt habe, dafür haben wir keine sichere Spur (auch das bekannte Fragment des Komikers Epikrates gibt uns dafür keinen Anhaltspunkt). Der Antrieb zu tiefer gehenden naturwissenschaft- lichen Forschungen (abgesehen von den Gebieten der Mathematik und Astro- nomie) scheint von außen, d. h. von naturwissenschaftlich interessierten und ge- schulten Schülern, die in die Akademie eintraten, gekommen zu sein. Und nahe genug liegt es, hier besonders an den um 367 eingetretenen Aristoteles zu denken. ') Feiice Tocco (in seinen Ricerche Platoniche, Catanzaro 1876) und, unab- hängig von ihm, H. Siebeck (Piaton als Kritiker aristotelischer Ansichten, Zeitschr. f. Phil. Bd. 107, 1895, S. 1 ff., S. 161 ff., Bd. 108, 1896, S. 1 ff., S. 109f.) haben, nachdem schon Überweg in seinen Untersuchungen über die Echtheit und Zeit- folge platonischer Schriften, 1861, hinsichtlich des Parmenides in gewissem Sinn vorangegangen war, in Parmenides, Sophistes und Philebos eine kritische Be- zugnahme auf eine aristotelische Polemik gegen die Ideenlehre nachzuweisen versucht. Nun ist es zweifellos, daß sich in den aristotelischen Schriften, be- sonders in der Topik, in der metaphysischen Sammlung und vor allem in den uns erhaltenen Fragmenten aus Ttegi lötajv — von den ethischen Berührungen sehe ich hier ab — zahlreiche Anklänge namentlich an die im Parmenides und im Philebos bekämpften Gedanken finden. Anzunehmen ist ferner, daß Aristoteles schon zu Lebzeiten Piatos mit seiner Kritik der Ideenlehre auch lite- rarisch nicht zurückgehalten hat (vgl. fr. 8 und 9 Rose 2 , ferner Eth. Nie. I 4. 1096 a 11 ff. und hiezu meine Syllog. des Arist. II 2 S. 294, 1 2. Hälfte; s. auch oben S. 80, 1). Möglich ist auch — und ich halte es für wahrscheinlich — , daß die Schrift IlEgi cösaiv noch vor dem Tod Piatos abgefaßt ist. Allein was sich nun streng beweisen läßt, ist doch zunächst nur, daß ein nicht unwesentlicher Teil der von Aristoteles in den uns erhaltenen Schriften und Schriftenüberresten vor- gebrachten Einwände gegen die Ideenlehre schon von der älteren akademischen Opposition ins Feld geführt worden war. Und so nahe im besonderen fr. 189 Rose 2 (Berl. Ausg. fr. 184, 1509b 39ff.) der Ausführung Parmen. 130E ff. steht, so wenig kann hieraus geschlossen werden, daß die letztere eine Entgegnung Piatos gegen die aristotelische Polemik in Iltpl lötüiv sei. Der „Parmenides" läßt darüber keinen Zweifel, daß die Kritik der Ideenlehre, mit der er sich aus- einandersetzt, von megarischer oder doch megarisierender Seite gekommen war. Und Sophistes 151 ff. bringt hiefür die Bestätigung. Daß dies für Parm. 130 E ff. nicht gelten würde, haben wir nicht den geringsten Grund anzunehmen. Von Aristoteles aber steht fest, daß er megarisierenden Neigungen nie gehuldigt hat; im Gegenteil läßt sich nachweisen, daß er frühe schon der logischen Skepsis der Megariker (und Kyniker) aufs nachdrücklichste entgegengetreten ist. Etwas Plato und die Sokratik. Die spätere Entwicklung. 571 sei: am Abend seines Lebens hat Plato das Bedürfnis, mit den Mitteln seiner Philosophie die Natur wirklich zu erklären und die anders steht es nun freilich mit Phileb. 15 AB. Hier werden, wie wir wissen, die wesentlichsten der Einwände von Parm. 130E ff. wieder aufgenommen. Aber Plato gibt deutlich zu verstehen, daß in den akademischen Diskussionen die alte Aporie in neuem Einsatz wieder hervorgetreten sei. Insbesondere geht aus 15 D — 16 A hervor, daß unter den „Jungen" sich ein neues und besonders rühriges Element auf diesen Einfall geworfen habe. Nun behandelt Plato allerdings, wie die Widerlegung 16 D — 17 A zeigt, auch diese Polemik wieder als eine megari- sierende. Darin kommt aber nur zum Ausdruck, daß der Autor diese neue Form einer alten Polemik auf die Quelle zurückführen will, aus der sie nach seiner Ansicht zuletzt geflossen ist. Und nur das kann gesagt werden, daß aus der nahen Berührung von Phil. 15AB mit fr. 189 Rose üfpl löeuiv wieder nicht ge- schlossen werden kann, daß Plato diese aristotelische Schrift vor sich gehabt und im Phileb. auf sie Bezug genommen habe. Möglich dagegen bleibt — und ich halte das nicht bloß für möglich, sondern für wahrscheinlich — , daß jener „Junge" in Phileb. 15 DE Aristoteles ist. Aus dieser Stelle gewinnt man aber zugleich den Eindruck, daß es nicht literarische Arbeiten, sondern mündliche Diskussionen waren, in denen Aristoteles jenen Kampf geführt und sich das Mißfallen Piatos zugezogen hat. Der Stagirite hätte also damals mündlich die Einwürfe gegen die Ideenlehre vorgebracht, die er später schriftstellerisch vertrat. Ausgeschlossen ist übrigens nicht, daß er schon bald nach dem Erscheinen des Philebos die Polemik auch literarisch eröffnet hat. Die Schrift Tlsgl löecäv kann schon in jener Zeit entstanden sein; zwar weist die Terminologie Ausdrücke auf, die auch den späteren Schriften Piatos fremd sind (avToccv9pomog, avzöiaov, avzoovfxfie- xqov etc., vgl. Zeller, Arch. f. Gesch. der Phil. X S. 579); doch kann diese Aus- drucksweise mündlich in der Akademie schon damals üblich gewesen sein, und Anzeichen, die auf die pythagoreisierende Ideenlehre hinweisen würden, fehlen. Nach fr. 8 R. hat Arist. ferner in seinen Dialogen gegen die Ideenlehre ange- kämpft. Und wenn auch* der Dialog üegl <pilooo(piaq bereits, wie fr. 9 R. (Berliner Ausg. fr. 11) zeigt, die pythagoreisierende Ideenlehre voraussetzt, so können immerhin andere Dialoge früher geschrieben sein. Das sind indessen nur Vermutungen. Wägen wir alles ab, so kann als sicher gelten, daß Aristo- teles schon zu Piatos Lebzeiten die Ideenlehre literarisch bekämpft hat. Sehr wahrscheinlich ist ferner, daß Aristoteles schon vor dieser literarischen Polemik, und wohl schon zur Zeit der Entstehung des platonischen Philebos, als Mitglied der Akademie gegen die Ideenlehre Opposition gemacht hat, und zwar zum Teil mit denselben Gründen, die er dann nachher in seinen Schriften vorgebracht hat. Urheber dieser Opposition ist er indessen nicht gewesen. Das war eine Bewegung, die bereits im Gang war, als Aristoteles an der Diskussion dieser Fragen aktiv sich zu beteiligen begann. Und die Einwände, die er damals mündlich und später literarisch gegen die Ideenlehre richtete, waren zu einem erheblichen Teil schon vor ihm von anderen vorgebracht worden. Nur das wird anzunehmen sein, daß er diesen Gedanken eine neue Wendung gab und in der Opposition bald eine 572 Die Sokratik. tatsächliche Welt genetisch verständlich zu machen. Und schon der Philebos gibt die Präludien, der Timaios aber die Aus- führung der geplanten genetischen Physik. Mit bemerkenswertem Nachdruck wird auch jetzt die Ideen- metaphysik in ihrer bisherigen Gestalt an die Spitze gestellt. Ebenso behält die Dialektik ihren früheren Rang und die alte Strenge, die sie zur wahrsten aller Wissenschaften macht. 1 ) Aber die Brücke zum Individuellen wird nun in anderer Weise ge- schlagen als einst im Phaidon. Jetzt begnügt sich Plato nicht mehr mit der logischen Interpretation der Tatsachen, die genug getan zu haben glaubte, wenn sie feststellte, die individuellen Erscheinungen verdanken ihr Sein dem Teilhaben an den Ideen. Vielmehr will er nun einen wirklichen Einblick in das Werden der Dinge gewinnen. Als Schlüssel zum Weltverständnis aber soll, wie zu erwarten ist, der teleologische Gesichtspunkt dienen. So soll nun der Gedanke, daß die Ideen Musterbilder (jiaQadsi- yiiaza) seien, nach denen die Welt geschaffen worden sei, wirk- lich, und anders als im Phaidon, durchgeführt werden. Und auch die Idee des Guten taucht wieder auf, und zwar in einer Gestalt, die ihre schöpferisch-kausale Tätigkeit sicherzustellen geeignet ist: sie ist personifiziert im Demiurgen, dessen neidlose Güte als der treibende Faktor in der Weltentstehung erscheint. Die wissen- schaftlichen Elemente für die neue Physik, die nun zugleich Kosmogonie werden sollte, waren also zur Hand. Aber Plato verzweifelt von vornherein an einer streng wissenschaftlichen Lösung der Aufgabe. Zwar seinen Vorgängern auf diesem Ge- biet glaubt er immer noch gewachsen zu sein. Es war aber nicht allein die Rücksicht auf die Natur des Gegenstands, auf die Irrationalität der Welt des Werdens, die eine begrifflich-exakte Behandlung nicht zuließ, es war auch nicht bloß persönliche Be- scheidenheit, was ihn veranlaßte, die Physik, die er zu geben hatte, in die Form eines Schöpfungsmythus zu kleiden. Be- stimmend war doch wohl ein dunkles Gefühl, daß er nicht im führende Rolle spielte. Sein hauptsächlichstes Bedenken aber kehrte sich gegen die Art, wie Plato das Verhältnis von Idee und Individuellem bestimmt hatte. Und vermutlich hat er frühe schon den Weg gefunden, auf dem sich ihm dann später seine Begriffsphilosophie ergab. l ) Phileb. 57Eff., Timaios 27 C ff. Plato und die Sokratik. Die spätere Entwicklung. 573 stände war, mit den wissenschaftlichen Hilfsmitteln, die ihm zur Verfügung standen, die Welterklärung durchzuführen. 1 ) Und eben von hier aus vollzog sich die Umbildung der Ideenlehre, die Plato in der letzten Phase seiner philosophischen Entwicklung — wiederum nur mündlich, in seiner akademischen Lehrtätigkeit; wir sind hierüber nur durch das aristotelische Zeugnis unterrichtet — vorgenommen hat. Inwieweit die Kritik der akademischen Opposition, namentlich die des Aristoteles, auf diese Wendung Einfluß gewonnen hat, wissen wir nicht. 2 ) Es bedurfte wohl kaum dieser Winke des Schülers. Die Schwäche des Timaios war, daß die Ideen nicht, wie sie sollten, für die Naturerklärung fruchtbar gemacht werden konnten. 3 ) Und die Schuld lag offenbar an der Natur der Ideen selbst, so wie diese von Plato gefaßt waren. So entschloß sich der Philosoph zu einer Umgestaltung seiner Theorie. Er ging dabei ein kleines Stück weit den Weg, den nachher Aristoteles eingeschlagen hat: er schränkte die Ideen jetzt auf die Begriffe der Naturdinge ein — das war ja die erste Voraussetzung für die Durchführung einer immanent-teleologischen Naturinterpretation, wie sie ihm wohl vorgeschwebt haben mochte. 4 ) Aber er vermochte nicht mehr den Gedankengang zu Ende zu denken. Den Inhalt der Physik des Timaios verdankte er zu einem wesentlichen Teil dem Philolaos, 1 ) Tim. 29B ff. Zum Programm des Timaios s. das ganze 5. Kapitel, 27 D ff. ; vgl. ferner 48 E ff. 2 ) Daß der Weg, den Plato jetzt einschlug, nicht derjenige war, den nachher Aristoteles beschritt, spricht nicht dagegen. Übrigens wissen wir nicht, wie weit Aristoteles schon damals eine bestimmte Vorstellung von seiner späteren Begriffs- physik gewonnen hatte. 3 ) Vgl. Aristoteles, Metaph. I 6. 987 b 18 f. 24 f. 4 ) Aristoteles, Met. XII 3. 1070 a 181, vgl. I 9. 991b 6 f. — Hierin liegt zugleich eine Bestätigung dafür, daß das kausal-teleologische Motiv für die Um- bildung der Ideenlehre das entscheidende war. Die Frage der Einschränkung der Ideen war schon im Parmenides an Plato herangetreten. Da war (130C ff.) die Aporie aufgeworfen, ob es auch von so wertlosen und unbedeutenden Dingen wie Haare, Lehm, Schmutz u. s. f. Ideen gebe. Die Frage war damals noch be- jaht worden. Und im Theätet hatte Plato kein Bedenken getragen, auch vom Häßlichen und Schlechten Ideen anzunehmen, 186A. So lange das systematisch- erkenntnistheoretische Motiv das führende blieb, ließ sich dieser Standpunkt ja auch recht wohl durchführen. Und es ist ein Zeichen für das Zurücktreten dieses Motivs, wenn jetzt die Ideen auf die Naturdinge beschränkt werden. 574 Die Sokratik. überhaupt den Pythagoreern. 1 ) Es mochte ihm darum nahe liegen, den Spuren seiner Autoritäten noch weiter zu folgen. Und so viel ist ja zweifellos, daß die pythagoreische Kosmogonie einen be- achtenswerten Anfang gemacht hatte, von ihren Zahlgesetzmäßig- keiten aus, in denen sie ähnlich wie Plato in den Ideen den an sich seienden Wesensgehalt der Sinnenwelt erblickte, die Natur- tatsachen zu deuten. In der Arithmetisierung der Ideen schien also das wissenschaftliche Heil zu liegen. Solche Erwägungen waren es offenbar, die Plato veranlaßten, aus seinen Ideen Ideal- zahlen zu machen. 2 ) Er hat sich damit schließlich auch nach der wissenschaftlichen Seite vollends ganz in die ihm längst vertraute Gedankenwelt der mystischen Theologie, der ihn auch die dialek- tischen Kraftanstrengungen der letzten Lustren nicht entfremdet hatten, zurückgezogen. Eine starke Abkühlung allerdings hatte die Glut von Piatos wissenschaftlicher Phantasie in dieser Zeit erfahren. Und Hand in Hand damit war eine sehr merkbare Ernüchterung seines Lebensideals gegangen. Ein charakteristisches Dokument hiefür ist der Philebos, der noch vor der letzten Wendung — er ist älter auch als der Timaios — geschrieben ist. Dieser Dialog trägt durchaus das Gepräge des Kompromisses — des Kompromisses nicht bloß mit gegnerischen Anschauungen, sondern vor allem mit dem praktischen Leben. Besonders inter- essant aber ist er darum, weil er noch einmal auf den Ausgangs- punkt der Entwicklung, die in die spekulativ-mystische Ideen- metaphysik der Dialoge Symposion-Phaidon-Politeia ausgemündet war, zurückgreift. Das Thema ist das höchste Gut. Aber von der kosmischen Idee des Guten, die in der Politeia in den Mittelpunkt gerückt *) Das Spiel, das der Philebos mit dem Gegensatz nepaq — änstgov treibt,, verrät, daß das platonische Denken schon damals in der Bahn der pythagoreischen Naturphilosophie sich zu bewegen begann. — Übrigens läßt die Bemerkung im Text natürlich die Möglichkeit durchaus offen, daß auf Piatos Naturwissenschaft auch andere Gelehrte und Philosophen wie z. B. Demokrit Einfluß geübt haben. 2 ) So ungefähr hat auch Aristoteles sich die Umbildung der platonischen Ideenlehre erklärt, vgl. Met. I 6. 987b 18f. 24 f. — Daß die pythagoreische Zahlen- lehre übrigens, wenn auch in anderer Weise und unter anderem Gesichtspunkt, schon auf die Anfänge der Ideenlehre einen gewissen Einfluß geübt haben kann, dazu vgl. oben S. 527. Plaio und die Sokratik. Die spätere Entwicklung. 575 war, und deren Schauen hier als die höchste Stufe menschlicher Betätigung erschien, ist überhaupt nicht mehr die Rede. Gefragt wird von vornherein nach etwas, was für den Menschen ein Gut ist. Und das höchste Gut wird sofort bestimmt als ein Zustand der Seele, als eine Verhaltungsweise (eg'ig und (hd&eotg), die für den Menschen das Glück bedeutet (11 D). Die Diskussion selbst ist unter den Gesichtspunkt einer Stellungnahme zu zwei einander entgegengesetzten Ansichten gerückt, von denen die eine, die der Kyniker und Megariker, die (pyovrjoig für das höchste Gut hält, während die Kyrenaiker für die Lust diese Stellung in An- spruch nehmen. 1 ) Als Kriterien des höchsten Guts aber werden be- zeichnet: Vollkommenheit (reksov), die Fähigkeit, das Begehren völlig zu befriedigen (ixavov), und das Vermögen, für jedes Wesen, das von ihm weiß, unbedingtes Ziel des Strebens zu werden. 2 ) Diesen Anforderungen aber vermögen weder (pyovrjoig noch Lust für sich Genüge zu tun, sondern nur beide zusammen. Und nun werden die Erscheinungsformen der Lust wie die Vernunftbetäti- gungen einzeln aufgesucht, die dem Ideal dieser „Mischung" ent- sprechen. Das Ergebnis wird in jener wunderlichen und meist mißverstandenen Gütertafel niedergelegt, in der die formalen Merkmale des höchsten Gutes und die psychischen Bestandteile desselben, ja bei einem dieser letzteren auch noch das psychische Organ und andererseits dessen Funktionen einfach aneinander- gereiht und numeriert werden. So erscheint als das erste Element des höchsten Guts die Bestimmtheit durchs Maß (die Mischung ') Daß das die beiden Parteien sind, die Plato grundsätzlich im Auge hat, kann nicht zweifelhaft sein. Man kann freilich nicht sagen, daß der Gegensatz im Anfang des Dialogs 11 BC reinlich formuliert sei. Das Dilemma ist hier vielmehr so gestellt, daß die beabsichtigte Lösung bereits vorbereitet wird. Das macht sich besonders in der Charakteristik der megarisch-antisthenischen Position geltend, die weder der Antisthenik noch der Megarik gerecht wird. Plato sucht das auch gar nicht zu verdecken: als den Vertreter dieses Standpunkts führt in IIB der redende Sokrates selbst sich ein. Wer aber als eigentlicher Repräsentant dieser Seite gedacht ist, geht z. B. aus 44 B hervor. In IIB ist Philebos als der Anwalt und Parteigänger der Hedonik eingeführt, und in 44 B wird nun aus- drücklich gesagt, wer die eigentlichen Gegner des Philebos seien: das sind die Philosophen, mit denen niemand anderes gemeint sein kann als die Kyniker oder vielmehr Antisthenes selbst. 2 ) Phil. 20CD, 67 A, vgl. oben S. 323, 1. 576 Die Sokratik. von Einsicht und Lust muß vor allem die richtigen Maßverhält- nisse einhalten). Als zweites die übrigen formalen Kriterien: Harmonie und Schönheit (eine Folge aus dem ersten Merkmal), ferner die Vollkommenheit (rslsov) und das Genügen (\y.avov). Als drittes das psychische Organ der Einsichtbetätigung, der vovg, und das entsprechende Vermögen, die (pQorrjOig selbst. Als viertes sodann die faktischen Betätigungen des Nus und der (pQovriGig in der Seele: Wissenschaften, technische Kenntnisse und richtige Meinungen aller Art. Endlich als fünftes: reine, schmerzlose Lustgefühle, wie sie sich teils an die wissenschaft- liche Erkenntnis, teils an die sinnlichen Wahrnehmungen an- schließen. 1 ) Ein Doppeltes ist an dieser Darlegung beachtenswert. Ein- mal: die Vernunfttätigkeit, die bei Antisthenes sittliche Einsicht ist und an den innerlich freien sittlichen Willen geknüpft wird, ist bei Plato sofort wieder nach der wissenschaftlichen Seite ge- wendet. An die Spitze der Wissenschaften selbst wird, wie wir wissen, auch jetzt noch mit Entschiedenheit die Dialektik, die es mit dem ewig sich selbst gleichbleibenden Seienden zu tun hat, gestellt. Aber daneben wird nicht bloß der Mathematik ein Platz eingeräumt. Auch die weniger exakten Untersuchungen, die sich auf die sinnlichen Erscheinungen richten und das Werden, Tun und Leiden der veränderlichen Dinge erforschen, werden aner- kannt, und vor allem auch die praktischen Disziplinen und technischen Fertigkeiten, darunter selbst diejenigen, die rein em- pirisch verfahren, also sich lediglich auf Beobachtung und prak- tische Übung gründen. Musik, Medizin, Ackerbau, Nautik, Militärwissenschaft u. s. f. werden ausdrücklich einbezogen. 2 ) Unverkennbar leuchtet hier der Zusammenhang der platonischen Wissenschaft mit dem sachverständigen Wissen des Sokrates und mit dem Ideal der intellektuellen Kultur wieder durch. Auch sonst kommt diese Ausführung dem Gedankenkreis sehr nahe, in dem sich Sokrates' Bestimmung der individuellen Lebensaufgabe des Menschen bewegte. Ja, der Philebos will ganz offenkundig, ') Phil 66A— C. Bei dem 5. Punkt, in 66C, ist vor ematyjfxaig einzuschieben: rag fisv. Es ist also zu lesen: . . . rjöovag . . . rag fxhv entazrjf/aig, rag de aioüq- <jfoiv knofx&vag. Zu diesen beiden Klassen von rjöovai s. 51 B ff. und 52AB. 2 ) Phileb. capp. 34 und 35, vgl. c. 38. Vgl. übrigens S. 587. Plato und die Sokratik. Die spätere Entwicklung. 577 im Gegensatz zu Antisthenes, dem somatischen Ideal seinen Inhalt geben; unter diesem Gesichtspunkt läßt er ja auch das Lust- begehren des Aristipp zu der ihm gebührenden Geltung kommen. Noch einmal mochte Plato das Gefühl haben, dem antisthenischen Standpunkt gegenüber die Intentionen des Meisters zu vertreten. Aber das inteilektualistische Interesse, das er auch jetzt, obwohl toleranter geworden, in seiner Einseitigkeit festhält, hindert ihn immer noch, dem Zusammenhang der Wissenschaft mit dem Kulturleben und der Berufserfüllung des Individuums vollauf ge- recht zu werden. Ein wahrhaft sittlicher Lebensinhalt ist ihm auch jetzt einzig und allein die wissenschaftliche Arbeit. Damit hängt ein Zweites zusammen. Daß die zu Beginn der materiellen Untersuchung festgelegten Kriterien des höchsten Guts nichts anderes sind als die formalen Sittlichkeitsmerkmale des Sokrates, kann niemand entgehen. Vollkommenheit, Autonomie und Autarkie — selbst das Wort avTa^xeia erscheint hier — : kaum jemals sind diese charakteristischen Momente des sittlichen Ziels, wie es Sokrates vor Augen stand, präziser herausgehoben worden. Daß dem Autor durch Antisthenes Blick und Erinnerung geschärft sind, ändert hieran nichts. Nicht weniger deutlich aber tritt im Philebos an den Tag, wie völlig verständnislos Plato jetzt den Forderungen des formalen sokratischen Ideals gegenübersteht. Bei Sokrates war die Vollkommenheit die Willensstärke und geistige Kraft, die das wollende Subjekt auf sich selbst stellt und den Menschen von allen Einzelbegehrungen und darum von allen besonderen, inhaltlichen Zwecken unabhängig macht, und die Autarkie war dieses „In-sich-selbst-Genüge-finden" des sittlichen Willens. Plato sucht sofort nach einem inhaltlichen Zweck, auf den jene Merkmale Anwendung finden; damit aber erfahren diese, noch ehe die Untersuchung durchgeführt ist, eine Umdeutung, die ihnen ihren ursprünglichen Sinn völlig nimmt. Es ist nicht zufällig, daß der Philebos das höchste Gut grundsätzlich als einen „Besitz", als das „höchste der menschlichen Besitztümer" be- zeichnet. Im Philebos ist die Abwendung von Sokrates auch dogmatisch vollendet: das formale Ideal ist ganz in den Inhalt aufgegangen, und der Inhalt ist völlig intellek- tualisiert. Das sittliche Ziel ist Erkenntnis, die von Lust be- gleitet ist. Damit aber ist das sittliche Streben endgültig in die H. Maier, Sokrates. 37 578 Die Sokratik. Abhängigkeit von einem ihm Äußerlichen gebracht, dessen Er- reichung an Bedingungen geknüpft ist, die nur zum kleinsten Teil im Herrschaftsbereich des sittlichen Willens liegen. Plato ist vollends ganz auf den Standpunkt der alten Kalokagathie herabgesunken; nur daß er diese vergeistigt hat. Wie wenig er den Weg zum sokratischen Individualismus zurückgefunden hat, zeigt schließlich sein letztes Werk. Auch auf politischem Gebiet hatte sich der hochgespannte Idealismus der Politeia im Lauf der Jahre verflüchtigt. Schon der „Politikos" zeigt ein beträchtliches Zurückweichen. Praktische Erfahrungen und Erwägungen hatten den Philosophen dann immer mehr zu Kompromissen mit den tatsächtichen Verhältnissen geneigt ge- macht. Das Ergebnis dieser Revisionsarbeit liegt in den „Ge- setzen" vor. Wir dürfen dem Verfasser glauben, daß er grund- sätzlich immer noch an dem Staatsideal der Politeia festhält, so gewiß es ist, daß er jetzt an demselben wesentliche Modifikationen vorgenommen haben würde. 1 ) Allein mit Rücksicht auf die fak- tische Natur der Menschen entwirft er nun ein neues Staats- programm, dessen Forderungen, um durchführbar zu werden, be- trächtlich herabgestimmt sind. In diesem Kompromißstaat tritt bekanntlich die Herrschaft der Gesetze an die Stelle des aufge- klärten Despotismus der Philosophenregenten. Dem entspricht, daß in dem neuen Gemeinwesen nicht mehr, wie in der Politeia, die Verwirklichung der wissenschaftlichen Erkenntnis, zuletzt ihrer höchsten Form, der philosophischen Dialektik, der Staatszweck ist. Zwar hat Plato selbst diese Wissenschaft und ihren Kern, die Ideenlehre, keineswegs fallen gelassen. Allein einmal mochte ihm daran liegen, die Realisierbarkeit seines Programms nicht durch die Belastung mit dem eigenartigsten und angefochtensten Stück seiner Weltanschauung zu gefährden. Und dann war es jetzt seine feste Überzeugung, daß auch der relativ best ein- gerichtete Staat vermöge der Unzulänglichkeit seiner Werkzeuge, der Menschen, jener großen Aufgabe nicht gewachsen ist. Mit dem Staatszweck der Politeia aber fallen auch der Kommunismus und die ständische Gliederung der Gesellschaft, die ja ganz auf *) Vgl. Pöhlmann, Geschichte des antiken Kommunismus und Sozialismus I S. 488 ff. Plato und die Sokratik. Die spätere Entwicklung. 579 jenen zugeschnitten waren, weg. Und damit verschwindet der letzte Rest des sokratischen Gesellschaftsideals, das jedem Glied des Ganzen die seiner Leistungsfähigkeit entsprechende Aufgabe und Stellung angewiesen hatte. 1 ) Auffallen übrigens kann dies um so weniger, als Plato auch im Philebos, so nahe dies hier ge- legen hatte, nicht im stände war, die sittliche Bedeutung der indi- viduellen Berufserfüllung zu erkennen. Um so mehr aber war zu erwarten, daß, wenn einmal der Staat nicht mehr die Funktion hatte, die sittliche Aufgabe der Menschen zu lösen, dann auch die Unterordnung der sittlichen Persönlichkeit unter den Staatswillen aufhören würde. Das gerade Gegenteil ist der Fall. Der Staat der Gesetze ist ein Bevormundungsstaat, in dem nicht allein das Leben der Einzelnen so bis ins Speziellste gesetzlich geregelt ist, daß für eine sittlich-selbständige Betätigung kein Raum mehr bleibt, in dem vielmehr das Individuum ausdrücklich angewiesen war, von der Hingabe an das Ganze alles Heil zu erwarten. Es war ein schwacher Trost, daß der Staat seinerseits die Befriedigung des sittlichen Bedürfnisses des Bürgers in die Hand nahm und ihm schon durch seine Erziehungsvorschriften die Erlangung des erreichbaren Glücks garantierte. Der sittliche Individualismus des Sokrates, der durch das Wesen des sittlichen Lebens selbst ge- fordert ist, war damit definitiv begraben. In dem Erziehungsprogramm des Gesetzesstaats ist auf die religiöse Ausbildung entscheidendes Gewicht gelegt. Für die große Masse der Vollbürger ist die Religion, die als ein theore- tisch fundierter Glaube gedacht ist, ein völlig genügender Ersatz der Wissenschaft; darüber hinaus ist nur etwa noch die Kenntnis der Anfangsgründe der Mathematik und Astronomie erforderlich. Für die Führenden im Staate allerdings ist eine höhere Bildung notwendig. Deren Grundlagen aber sollen einmal die mystische Seelenlehre und dann der Einblick in die astronomischen Gesetz- mäßigkeiten sein. Daß das wesentliche Stücke der pythagore- ischen Mysterienphilosophie sind, leuchtet ein. Damit aber werden wir über den Bannkreis des Gesetzesstaats hinausgewiesen. Das Höchste ist dem Autor zweifellos auch jetzt noch die philosophische l ) Bekanntlich machen die Leges auch in der Staatsverfassung dem demo- kratischen Prinzip ein Zugeständnis, durch das das sokratische Ideal der Aristo- kratie der Sachverständigen so ziemlich zurückgedrängt wird. 37* 580 Die Sokratik. Erkenntnis. Aber sie entzieht sich der Sphäre dessen, was durch den Staat geregelt und verwirklicht werden kann. Sie ist wohl einem kleinen Kreis von Menschen zugänglich. Und diesen be- deutet sie die volle Seligkeit. Wie sich aber das Aufsteigen zu diesem Letzten von der Erziehung des Gesetzesstaats aus voll- zieht, wissen wir nicht. Die „Nomoi" selbst schweigen darüber völlig. Vermutlich war es aber die Meinung des Verfassers, daß jene geistig Fortgeschrittenen, oder wenigstens die besten unter ihnen, von ihrer psychologisch-astronomischen Bildung aus jenes höchste Ziel zu erreichen vermögen. Sicher ist, daß dem Philosophen auch in der letzten Phase seines Lebens und seiner Arbeit nur die intellektuelle Mystik das volle Heil bedeutet. Wie wir uns erinnern, ist die nächste Fort- führung des Philebos der Timaios. Hier aber sind die wissen- schaftlichen Vernunftbetätigungen des Philebos wieder ganz in die Sphäre des der Sinnlichkeit und Sinnenwelt entrückten my- stischen Kontemplierens, das im Element der Unsterblichkeit liegt, hineingestellt. Und schon zeigt diese Kontemplation stark pytha- goreische Anklänge. Mit der Umbildung der Ideen zu den Ideal- zahlen ist diese Entwicklung am Ziel. Der mystische Seelenglaube und die pythagoreisierende Naturphilosophie haben jetzt in der Erkenntnis der Idealzahlen ihren Einigungspunkt erhalten. Der spekulative Schwung allerdings, der der Mystik des Symposions, des Phaidon und der Politeia einen so eigenen Zauber verliehen hatte, ist lahm geworden. Das religiöse Erleben ist erstarrt. Die Mystik ist zur theologischen Dogmatik geworden. Aber die Stimmung, die den Halt für den Menschen zuletzt in einer trans- zendenten Welt sucht, ist dieselbe geblieben. Das Ergebnis ist, daß in allen wesentlichen Stücken die Ver- schiebung des sokratischen Standpunkts, die in der Gruppe Symposion-Phaidon-Politeia zum Abschluß gekommen war, eine endgültige geblieben ist. Das formale Element des Sittlichen, das für Sokrates der Wesenskern des sittlichen Lebens und der Ankergrund des menschlichen Glücksbegehrens gewesen war, ist Plato für immer verloren gegangen. Der Inhalt des Lebensideals ferner hat seine einseitig intellektuelle Gestaltung behalten, und ebenso bleibt die sittliche Individualität dem sozialen Interesse Der weitere Verlauf des Streits. 581 untergeordnet. Das Erkennen selbst ist bis zuletzt ein mystisch- religiöses Erleben, das für den Menschen Erlösung und Seligkeit bedeutet, aber erst in einem sinnenfreien Jenseits zur Vollendung kommt. Es wäre töricht, Plato darum anklagen zu wollen. Der Genius geht seinen eigenen Weg. Und Plato, der Philosoph, ist für sich selbst groß. Die Wissenschaft verdankt ihm Unschätzbares. Es sind Erkenntniswerte von ungeheurer Tragweite, die er ihr er- schlossen hat. Und auch der religiöse Sinn der späteren Zeiten hat sich immer wieder in seine Mystik geflüchtet. Unbestreitbar aber ist, daß seine sokratischen Genossen von ehemals Recht hatten, wenn sie in ihm einen Abgefallenen sahen. Kein Unbe- fangener zwar wird ihm das Recht verwehren, sein Lebenswerk an den Namen des geliebten und verehrten Meisters anzuknüpfen, dem er den großen Antrieb verdankte, und in dessen Gedanken- welt ja alle die Fäden geschichtlich zurücklaufen, die in dem wunderbaren Geflechte der platonischen Welt- und Lebens- anschauung verbunden sind. Tatsache indessen ist, daß Plato an den entscheidenden Punkten die sokratischen Intentionen ins Gegen- teil verkehrt hat. Ihm selbst scheint das am Ende doch auch zum Bewußtsein gekommen zu sein. In der schriftstellerischen Tätigkeit seiner letzten Zeit läßt er die Person des Sokrates mehr und mehr zurücktreten, um sie schließlich in den „Gesetzen" ganz fallen zu lassen. Was ihn hiezu veranlaßte, war zuletzt doch ein Gefühl davon, daß er von Sokrates innerlich weit ab- gekommen war. Viertes Kapitel. Der weitere Verlauf des Streits. Wir verstehen nun die Leidenschaft, mit der der Kampf in der sokratischen Gemeinschaft geführt wurde. Der Gegensatz zwischen Piatonismus und Antisthenik war ein ungeheurer. Was aber war in diesem Antagonismus aus der sokratischen Sache, dem sokratischen Ideal geworden! Antisthenes hatte der Form den Inhalt geopfert: die Autonomie und Autarkie, die innere Frei- 582 Die Sokratik. heit und Selbständigkeit der Persönlichkeit, hatte er festgehalten; aber er hatte jede lebendige Beziehung des sittlichen Menschen zu Welt, Gesellschaft und Kultur aus den Augen verloren. Plato hatte dem Ideal einen Inhalt gegeben. Aber über diesem Inhalt war ihm die Form, und mit ihr das Grundelement des sittlichen Lebens, wie Sokrates es verstanden hatte, in Stücke gegangen; sein inhaltliches Lebensideal selbst, das ursprünglich mit soma- tischen Gedanken aufs engste zusammenhing, hatte bald eine Zu- spitzung erhalten, die eine völlige Abkehr von Sokrates bedeutete. Man sieht: zwischen den beiden Gegnern lag eine Welt, und wir begreifen, daß auch die übrigen Sokratiker in diesen Kampf um Sokrates hereingezogen wurden. Über dessen weiteren Verlauf wissen wir leider recht wenig 1 ). Einige Episoden sind schon auf unserem bisherigen Wege an uns vorübergezogen. Und eines steht fest: daß im Laufe der Jahre die bedeutenderen Sokratiker alle sich grundsätzlich in Antisthenes' Nähe stellten. Darin jedenfalls stimmten sie ihm zu, daß Plato das Recht verwirkt habe, sich einen Sokratesjünger zu nennen. Es mochte ihnen schwer genug geworden sein, mit dem wenig sympathischen Mann auch nur insoweit zusammenzugehen. Lange war Euklid dem alten Freund gefolgt — so lange offenbar, als er die Überzeugung noch festhalten konnte, daß Plato sich auf dem sokratischen Weg befand. Auch die spekula- tive Umgestaltung des sittlichen Wissens, wie sie sich vom„Gorgias" ab vollzog, hatte ihn hierin noch nicht irre gemacht, zumal ja eine gewisse Doktrinarisierung dieses „Wissens" auch von den Gegnern nicht vermieden worden war. Als aber dann Piatos Wissenschaft bestimmte Gestalt gewonnen hatte, war es für ihn zu Ende. Das spekulative Wissen des Guten konnte er allenfalls noch mit der sokratischen <pQovrioig, deren Apostel Antisthenes war, in Zu- sammenhang bringen. Im übrigen aber verstand auch er die elenktische Seite der sokratischen Dialektik, zusammengenommen mit dem Verzicht des Meisters auf Erkenntnisarbeit, im Sinne der Skepsis. Vielleicht stand er in dieser Hinsicht schon unter dem ') Den Spuren Phädos und der übrigen „verschollenen" Sokratiker nachzu- gehen, ist hier überflüssig, da hievon nach dem Stand der Überlieferung eine Bereicherung des Bildes, das wir von den Wirren in der sokratischen Gemeinde gewinnen, nicht zu erwarten ist. Der weitere Verlauf des Streits. 583 Eindruck der antisthenischen Schriftstellerei. Noch freilich ver- mochte er sich nicht ganz auf die Seite des Antisthenes zu schla- gen. Und zwar hatte dies schwerlich bloß Gründe, die in der Person des Kynikers lagen. Wenn Euklid die (pQovTjaig an die eleatische Spekulation anknüpfte — womit nach der negativen Seite die Anlehnung der sokratischen Elenktik an die zenonische Dialektik zusammenhing — , so war hiefür doch wohl schließlich jenes Bedürfnis entscheidend, dem kynischen Formalismus gegen- über für das sittliche Leben einen Inhalt zu gewinnen. 1 ) Allein im Kampf gegen die Ideenlehre, in dem Euklid und Antisthenes zusammentrafen, näherte sich jener mehr und mehr der antisthe- nischen Position, die ja doch den wertvollsten Grundgedanken des sokratischen Evangeliums pietätvoll festzuhalten schien 2 .) So bereitete sich jenes Freundschaftsverhältnis vor, das die beiden Schulen nach dem Tod der Stifter immer näher zusammenführte. Etwas anders lagen die Dinge bei Ar i stipp. Auch erfühlte sich, wie wir sahen, als Sokratesjünger, und daß er ein treuer ') Nicht unmöglich ist, daß der Einwand, den Plato in Politeia VI 505BC gegen die megarisch-antisthenische (pQÖvtjaiq richtet (s. oben S. 385, 1), dem Euklid den nächsten Anstoß zur Eleatisierung des Guten und der (poovrjoiq gegeben hat. Nach der Politeiastelle hatte Euklid bis dahin wohl die sokratisch-antisthenische (pQovrjoiq als (pQÖvrjoic, zov ayadov bestimmt. Aber augenscheinlich hatten damals weder die <pp6vt]oiq noch das ccya&öv bei Euklid schon die spekulative Wendung erhalten, die er ihnen nachher gab (Diog. L. II 106 sagt von dem — späteren — Euklid: ovzoq ev zb äya&ov ant<paivtzo noXXolq ovö/uaoc xaXovutvov, ozb ixsv yäo (pgövrjaiv, özh de &fo'v, xax aXXozs vovv xal za Xoinä). Zur Zeit der IIoXi- zsia war ihm, wie es scheint, die (pQÖvrjaiq = Tugend, und insofern = das Gute (vgl. 505 B, Anf. von c. 17), und zugleich scheint er auf die Frage nach dem Gegen- stand des sittlichen Wissens wieder das Gute angegeben zu haben. Nachher hypostasierte er, in spekulativer Umbildung, die (poövqotq = zo aya&öv, in- dem er sie mit dem eleatischen Eins verknüpfte. Eleatisierenden Tendenzen der Megarik begegnen wir dann zum ersten Mal in bestimmter Form im platonischen „Parmenides". Daß dem Euklid aber diese spekulative Umgestaltung der <pq6- vTjotq und des Guten durch das Vorbild der platonischen Behandlung der iösa zov dya&ov in der Politeia nahegelegt war, ist nach wie vor meine Vermutung. Daß Euklid damals noch von dem alten Freunde sich in dieser Weise beein- flussen ließ, ist nicht unwahrscheinlich. Noch nach der Politeia bestand ja, wie der Eingang des Theätet erkennen läßt, eine Zeit lang die Freundschaft zwischen beiden Männern fort. 2 j S. oben besonders S. 265 ff., S. 562 ff. 584 Die Sokratik. Sokratiker sein wollte, ist zweifellos. 1 ) Man darf hiegegen nicht auf die Gespräche verweisen, die die Memorabilien ihn mit dem Meister führen, lassen. Das sind ja Erfindungen des Autors, der auf diese Weise Jahrzehnte nach dem Tode des Sokrates mit Aristipp ab- rechnen will. 2 ) Aristoteles hat uns ein Wort des Mannes aufbe- wahrt, das uns zu denken gibt. Als Plato einmal, so erzählt er, eine etwas kecke Behauptung aufstellte, da sagte Aristipp zu ihm: nichts dergleichen sagte unser Freund. Aristoteles fügt bei, daß er mit dem Freund den Sokrates meinte. In welchem Zusammenhang der Ausspruch gefallen ist, wissen wir nicht. Daß aber Aristipp in diesem Falle den Plato wegen einer Abweichung von Sokrates tadelte, ist klar. 3 ) Er hat dies aber wohl auch sonst getan. Und es fehlte ihm keineswegs an Berechtigung, Plato gegen- über den Wächter des sokratischen Erbes zu spielen. Das Ideal der inneren Freiheit hat er ja mit voller Entschiedenheit festge- halten. Und wenn er sich im übrigen zur Skepsis gewandt hat, so hat er dies so gut wie Euklid und Antisthenes in dem Glau- ben getan, damit die Intentionen des Meisters zu treffen. Gewiß ist er in der Begründung der Skepsis seine eigenen Wege ge- gangen: er scheint hierin an die skeptisch gerichtete Erkenntnis- psychologie der demokritischen Schule angeknüpft zu haben. 4 ) Aber Analoges gilt doch auch von Antisthenes und Euklid, die sich ja in ähnlicher Weise die skeptischen Leistungen der elea- tischen Schule zu nutze machten. Von seinen skeptischen Vor- aussetzungen aus scheint aber auch Aristipp der Ideenlehre ent- gegengetreten zu sein. Wenigstens läßt hierauf die Auseinander- setzung Piatos mit ihm im Theätet, schließen. 5 ) Kurz, Aristipp stimmt an wesentlichen Punkten mit Antisthenes in der Gegner- schaft gegen Plato überein. Mit ihm ist er ja auch in der Ab- neigung gegen Staat, positives Recht und geschichtlich gewordene Institutionen einig. Er teilt also weithin die antisthenische Auf- fassung der sokratischen Freiheit. Allein in einem Stück ist er •) S. oben besonders S. 151, S. 325 ff., S. 386. 3 ) Memor. II 1, III 8. Vgl. oben S. 50 f. 3 ) Rhetor. II 23. 1398b 29ff. (vgl. oben S. 81, 1). 4 ) Zu dieser s. Aristoteles, Metaph. r 4. 1006a 2f. (1005a 31 ff.), verglichen mit 1009 b 11 f. 5 ) Theät. 156 Äff., vgl. oben S. 557, 1. Der weitere Verlauf des Streits. 585 ein grundsätzlicher Gegner der Antisthenik, und eben hierin scheint er seinen Standpunkt dem Antisthenes gegenüber mit großem Nachdruck verfochten zu haben. Wir wissen bereits, daß die aristippische Hedonik ursprünglich sich keineswegs dem so- matischen Ideal entgegenstellen, daß sie vielmehr eine wichtige Intention desselben folgerichtig zur Geltung bringen wollte (S. 386). Aristipp hatte den Eindruck, daß Sokrates die aus dem natürlichen Triebleben hervorgehenden Begehrungen nicht unterdrücken, son- dern nur mit der inneren Freiheit in Einklang bringen wollte, und er glaubte offenbar, daß auch nach sokratischer Absicht diese Be- gehrungen, die auf Befriedigung, also auf Lust hinzielen, dem Leben des Menschen seinen Zweckinhalt geben müßten. So war sein Ideal eine von der inneren Freiheit beherrschte lustvolle Teil- nahme an den Gütern dieses Lebens. Darob nun entbrannte der Streit. Es war im Grunde nur eine weitere Phase in dem Kampfe, den Plato mit Antisthenes um eine inhaltliche Bestimmung des sokratischen Ideals führte. Jetzt aber scheint sich die Auseinandersetzung sofort auf den strittigsten Punkt, auf die Frage der,, Lust", konzentriert zuhaben. Lust- freunde und Lustgegner standen sich gegenüber. In diesem Zu- sammenhang ist wohl jenes Wort des Antisthenes gefallen: lieber verrückt sein als vergnügt! Für die Sache des Kynikers traf es sich sehr günstig, daß der Streitpunkt eben das Lustproblem war, und vielleicht ist es seiner taktischen Klugheit zuzuschreiben, daß es dahin gekommen war. War die Frage so gestellt, so mußten viele Sokratiker sich auf seine Seite schlagen, die sonst nicht eben seine Freunde waren. In der Tat hat z. B. Xenophon sich wohl damals grundsätzlich von Aristipp abgewandt: die bekannten Gespräche zwischen Sokrates und dem hedonisch gesinnten und staatsfeindlichen Aristipp sind ohne Zweifel aus dieser Situation hervorgegangen. Der Streit hielt die ganze sokratische Gemeinde in Atem. Und eine Zeit lang schien es, als würde er den älteren und tiefergehenden antisthenisch- platonischen Gegensatz in den Hintergrund drängen. Merkwürdig ist das Verhalten Piatos in dieser Sache. Es ist schon längst bemerkt worden, daß Plato seine Gegner Euklid und Aristipp sehr viel sanfter und konzilianter angefaßt hat als seinen alten Rivalen Antisthenes. Das hatte offenbar nicht bloß persön- 586 Die Sokratik. liehe, sondern zuletzt sachliche Gründe. Plato hatte wohl das Gefühl, daß die beiden ihm näher standen. Und er hatte ja zweifellos das Recht, die Positionen Euklids und Aristipps, in denen er Versuche, dem sokratischen Ideal einen Inhalt zu geben, sehen durfte, als Annäherungen an seinen Standpunkt in Anspruch zu nehmen (S. 385). So veranlaßte ihn, wie es scheint, das speku- lative Element in der Lebensanschauung der Megariker, mit diesen noch zu einer Zeit freundschaftlich zu diskutieren, als sie offene Gegner der Ideenlehre geworden waren, 1 ) und erst als sie dem Antisthenes näher rückten, verschärfte sich der Gegensatz gegen sie mehr und mehr. Befremdlicher schon war es, daß der Vorkämpfer einer sinnen- feindlichen Mystik, der Schöpfer der spekulativen Ideenmetaphysik, der Urheber des sozialen Staatsideals der Politeia für den sen- sualistisch-skeptischen, anarchistisch gesinnten Hedoniker Aristipp auch sachliche Sympathie fassen konnte. 2 ) Noch auffallender ist, daß er zwar gelegentlich sich mit Aristipp auseinandersetzt, daß er es aber auch da, wo er auf das Lustprinzip selbst zu sprechen kommt, augenscheinlich vermeidet, ihm offen und direkt entgegen- zutreten. 3 ) Allein in dieser Hinsicht mochte ihm während des Verlaufs der antisthenisch-aristippischen Kontroverse das, was ihn mit Aristipp verband, wichtiger erschienen sein, als was ihn von demselben trennte. Das jedenfalls gewann er nicht über sich, dem Feinde des Kynikers entgegenzutreten. Lange genug hatte er sich mit letzterem um den Eros herumschlagen müssen, und vermutlich war ihm aus dieser Auseinandersetzung die Empfin- dung erwachsen, daß er dem Aristipp innerlich doch sehr viel näher stehe als dem Lustfeind Antisthenes. Da er sich indessen doch auch nicht für die Hedonik einsetzen konnte, hielt er sich zurück. Und das Gefühl der Neutralität ging bei ihm so weit, daß, als die Lustfrage die Gemüter der Sokratiker immer mehr *) So noch im „Parmenides". Hiezu und zum Folgenden s. oben S. 562 ff. 2 ) Vgl. das noXv xofxxpöreQot Theät. 156A ff., das in diesem Zusammenhang ein augenscheinliches Kompliment für Aristipp ist. 3 ) Politeia VI 505BC. Daß zu den noXXoi, die nach dieser Stelle das dya- &6v in der Tjöovtj suchen, vermutlich auch Aristipp gehören werde, ist oben S. 385, 1 festgestellt worden. Nach der Stelle ist es auch wahrscheinlich, daß zu der Zeit, als sie niedergeschrieben wurde, der antisthenisch-aristippische Streit schon begonnen hatte. Der weitere Verlauf des Streits. 587 erhitzte und immer ausschließlicher in Anspruch nahm, ein Augen- blick kam, wo Plato sich berufen glaubte, die Rolle des un- parteiischen Schiedsrichters, des über den Parteien stehen- den Vermittlers in der sokratischen Gemeinde zu übernehmen und die feindlichen Brüder auf der ursprünglich sokratischen Grund- lage zur Einigkeit zurückzuführen. Dieses Unternehmen ins Werk zu setzen, ist nämlich die Bestimmung des „Philebos", dessen Tendenz nur unter diesem Gesichtspunkt ganz verständlich wird. Es ist ja allerdings ein wunderbares Schauspiel: Plato, der sich Jahrzehnte lang nach allen Seiten seiner Existenz hatte wehren müssen, der von den stimmfähigsten unter den Sokratesjüngern schon längst als ein Abtrünniger verurteilt worden war, nimmt noch einmal die alte Flagge des wirklichen Sokrates auf, um den Frieden und die Einheit im sokratischen Kreis herzustellen. Aber man vergegenwärtige sich seine ganze damalige Situation. Seit einigen Jahren hatte er verhältnismäßig Ruhe. Zwar hatte er immer noch Anlaß, nach der Seite der „Eristiker", unter denen nunmehr die Megariker in vorderster Reihe stehen, gelegentliche Vorstöße zu richten. Aber im ganzen war er gewissermaßen außer Gefecht gesetzt. Der große Kampf der Jahre spielte sich in einer anderen Region ab. Andererseits war, wie es scheint, inzwischen sein alter Rivale Antisthenes gestorben. Das erleichterte ihm persön- lich sein Vorgehen. Er bringt es jetzt sogar über sich, dem toten Gegner einige freundliche Worte der Anerkennung zu widmen. 1 ) Sachlich bot die inzwischen weiter fortgeschrittene Annäherung der Megariker an die Antistheniker dem Autor den Vorteil, in Er- innerung an die spekulative Vergangenheit der ersteren der me- garisch-kynischen cpQovqoig eine theoretische Wendung zu geben. Dadurch wurde es ihm möglich, von jener zu seinem eigenen Standort eine Brücke zu schlagen. Zugleich aber erkannte er in Aristipps hedonischer Lehre einen berechtigten Kern an. So konnte er jetzt daran denken, die Lustfrage in seiner Weise zu lösen. Und sein Plan war, den Gegensatz unter einem höheren Gesichtspunkt auszugleichen: als Maßstab für die Prüfung der einander gegenüberstehenden Positionen, als Grundlage für den Ausgleich dienen ihm die charakteristischen Merkmale des sokra- ») Phileb. 44BC, 51 A; vgl. F. Dümmler, Akademika S. 168. 588 Die Sokratik. tischen Sittlichkeitsideals selbst (S. 575. 577). Die Parole war also: zurück zu Sokrates! Und noch besaß dieser Name genug von der alten Zauberkraft, um Plato einen Moment lang hoffen zu lassen, daß es ihm gelingen werde, auf dieser Basis wenigstens die be- sonneneren Elemente der sokratischen Gemeinde zu sammeln. Es war dies indessen doch nur ein kurzer Traum. Daß auch der Sokrates des „Philebos" schließlich der platonische geblieben, daß Plato für seine Person am wenigsten zu dem wirklichen So- krates zurückgekehrt war, das lag trotz allem gar zu offen am Tage. Er selbst hat sich ja nachher in der weiteren Verfolgung seiner eigenen Gedankenrichtung nicht im geringsten stören lassen. So ist es nicht verwunderlich, daß der Vermittlungsversuch völlig wirkungslos blieb. Die Kyniker und die Megariker schlössen sich in der Folge noch näher zusammen. Die „Kyrenaiker" aber gingen endgültig ihren eigenen Weg. Und was den gegnerischen Parteien gemeinsam blieb, das war die grundsätzliche Ablehnung Piatos und des Piatonismus. Und das bleibt von da ab der große Gegensatz: auf der einen Seite steht die einseitig praktisch gerichtete, individualistisch- anarchistische Sokratik der inneren Freiheit, die entschlossen skep- tisch denkt, auf der anderen die theoretische und soziale der in- tellektuellen Bildung, der die Wissenschaft über alles geht. Das sokratische Evangelium selbst, in seiner ursprünglichen Gestalt, war in diesem Kampf in Vergessenheit gekommen. Rettung wäre möglich gewesen, wenn ein überragender Geist aus dem sokratischen Kreise es verstanden hätte, das Interesse bei Zeiten von den Sokratikern zu Sokrates zurückzulenken. Ein solches Ziel hat vielleicht ursprünglich dem Autor der Gespräch- sammlung der Memorabilien vorgeschwebt, nachdem er schon früher durch seine apologetischen Arbeiten seinen sokratischen Eifer an den Tag gelegt und auch darüber hinaus gelegentlich in den Wirren des Tages ein klärendes Wort zu sprechen versucht hatte. Tatsächlich indessen hat Xenophon sich bald auf die bescheidenere Aufgabe beschränkt, in den Kämpfen, die die so- kratische Sache dem Untergang nahe brachten, einen Ausgleich zu finden. Wie er dabei zu Werk gegangen ist, wissen wir. 1 ) ') S. die beiden ersten Kapitel des 1. Teils. Der weitere Verlauf des Streits. 589 Er arbeitet die gegnerischen Auffassungen zusammen, ohne auch nur überall auf eine Vermittlung der hiebei unvermeidlichen Widersprüche ernstlich bedacht zu sein. Den Gesichtspunkt aber für die schiedsrichterliche Entscheidung gibt ihm zuletzt das eigene Ideal; er trägt denn auch kein Bedenken, sein sokratisches Mate- rial offen durch einen reichlichen Zusatz eigener Ansichten, Kennt- nisse und Lebenserfahrungen zu vermehren. So kommt er schließ- lich dazu, lediglich seinen eigenen Sokrates gegen den platoni- schen und den antisthenischen auszuspielen. Daß nun jener zwischen den beiden letzteren gewissermaßen in der Mitte steht, ist nicht zu leugnen. Aber entscheidenden Einfluß hätte diese Sokratik wohl auch dann nicht auf den Verlauf des Streites ge- wonnen, wenn die Memorabilien rechtzeitig in denselben einge- griffen hätten. In Wirklichkeit sind sie zu einer Zeit in die Öffent- lichkeit getreten, wo nichts mehr zu ändern war. Daß sie in an- derer Hinsicht dennoch nicht ohne Frucht geblieben sind, ist uns bekannt, und wir werden hierauf noch zurückkommen. Die polemische Auseinandersetzung zwischen den sokratischen Schulen selbst übrigens dauerte fort, den ganzen Rest des 4. Jahr- hunderts hindurch und noch darüber hinaus. Aber der Streit- punkt verschob sich mehr und mehr. Man kämpfte nicht mehr um Sokrates und sein Erbe. Den Epigonen war das persönliche Interesse an dem Meister, das die erste Generation durchaus be- herrscht hatte, abhanden gekommen. Nur in der antisthenischen Schule erhielt sich der Sokrateskultus. Den Kynikern blieb So- krates das Ideal des Weisen: dieses Ideal stand ja wohl dem Dio- genes vor Augen, indem er sein Leben nach kynischer Weise ge- staltete, und nicht ganz mit Unrecht nannte man ihn den ver- rückt gewordenen Sokrates. Bei den Kyrenaikern dagegen und auch bei den megarischen Dialektikern scheint die Person des Sokrates ziemlich zurückgetreten zu sein. Aber auch auf der entgegengesetzten Seite folgten die Akademiker nur dem Beispiel des altgewordenen Plato, wenn sie darauf verzichteten, ihre Sache fernerhin an den ehrwürdigen Namen zu knüpfen. Und wenn nachher Aristoteles für sich und seine Philosophie nachdrücklich die sokratische Tradition in Anspruch nahm, so handelte es sich doch auch ihm im Streite selbst durchaus um die Sache. Das Objekt aber, um das sich schließlich der Kampf vorwiegend 590 Die Sokratik. drehte, war Möglichkeit und Wert der wissenschaftlichen Erkennt- nis. Natürlich waren auch die spezifisch ethischen Fragen nicht zur Ruhe gekommen. Um die „Lust" besonders wurde fröhlich weitergestritten. Aber alle diese Plänkeleien traten zurück hinter dem großen Kampf um die Wissenschaft. Die Megariker und Ky- niker gestalteten die skeptische Eristik, die schon Antisthenes und Euklid aus der somatischen Dialektik entwickelt hatten, zu einer raffinierten Kunst aus, und ihr Scharfsinn feierte wahre Orgien in der Erfindung von Trugschlüssen und Sophismen, die das wissen- schaftliche Denken in unheilbare Verwirrung stürzten. Aber auch die Kyrenaiker waren an der Arbeit, ihre sensualistische Skepsis weiter zu begründen und durchzuführen. Auf der anderen Seite standen die Erben Piatos, die sich mit der alten Leidenschaft für Wahrheit und Erkenntnis einsetzten. Kurz, der Kampf war in der Sache eine würdige Fortsetzung des Ringens, in dem einst die so- matische Gemeinde sich gespalten hatte. Interessant aber ist, wie durch diese Wirren hindurch ein nicht einmal unbeträchtlicher Rest des sokratischen Erbes sich in die hellenistische Welt hin- überrettete, um hier in gänzlich veränderten Verhältnissen aufs neue sittliches Leben zu wecken und ein Sammelpunkt für sitt- lich strebende Naturen zu werden. Fünftes Kapitel. Aristoteles. Die Entwicklung der platonischen Sokratik schien auch weiter- hin in der Bahn, in die sie durch Plato gelenkt war, verlaufen zu wollen. In der Akademie selbst blieb es bei der Philosophie, die der Lehrer zuletzt seinen Schülern als Erbe hinterlassen hatte, bei jener naturphilosophischen Spekulation im pythagoreischen Stil mit mystisch-theologischem Hintergrund. Es fehlte in diesem Kreis keineswegs die wissenschaftliche Regsamkeit. Die natur- wissenschaftlichen Studien, wie sie in der Akademie besonders eifrig seit Ende der sechziger Jahre betrieben worden waren, wurden fortgesetzt. Und in Mathematik und Astronomie, d. h. in den Disziplinen, die im Bannkreis ihrer pythagoreisierenden Meta- Aristoteles. 591 physik lagen, scheinen die Akademiker Respektables geleistet zu haben. Weit darüber hinaus hat ihr aktives Interesse wohl nicht gereicht 1 ), und auch in ihrem eigenen Forschungsgebiet sind sie vermutlich die Abhängigkeit von den Pythagoreern nicht ganz los geworden. Der Schwerpunkt ihres Denkens jedenfalls lag in jener dogmatisch erstarrten Mystik, der auch die eingegliederte Natur- philosophie keine rechte Lebensfähigkeit geben konnte. Kurz, diese „Wissenschaft" war von Haus aus zur Sterilität verurteilt. Und schon hundert Jahre nach Piatos Tod war die offizielle Philosophie der Akademie die grundsätzliche Skepsis geworden. Indessen der wirkliche Führer auf der Seite der platonischen Sokratik war Aristoteles. Und er freilich ist von der platoni- schen Mystik nicht im geringsten berührt worden. Von der philo- sophischen Erotik, die dem Plato als das köstlichste Vermächt- nis des sokratischen Geistes gegolten, die ihn durchs ganze Leben begleitet, in die Welt der Mystik geführt und bis zuletzt darin festgehalten hatte, war in Aristoteles' Seele lediglich nichts ge- kommen. Das Erlösungsbedürfnis, für das Sokrates in seinem sittlichen Evangelium Befriedigung gesucht und gefunden, das Plato zum Adepten eines mystisch-asketischen Heilsglaubens ge- macht hatte, hat er nie empfunden. Überhaupt ist ihm die große praktische Tendenz, die die ganze Sokratik durchzieht und die auch Plato auf seinen Wegen geleitet hatte, immer fremd geblieben. Piatos Wirken war das eines Propheten und sozialen Reformators gewesen. Aristoteles war ein Mann der Wissenschaft, ein ge- lehrter Theoretiker, nichts mehr und nichts weniger. *) Zu den naturwissenschaftlich-mathematischen Studien der Akademie vgl. die oben S. 569, 3 angeführte Literatur. Man würde erwarten, daß die Akademie die von Plato im Timaios behandelten naturphilosophischen Materien jetzt vom Standpunkt der Idealzahlentheorie aus in Angriff genommen haben werde. Das ist jedoch nach Theophrast (s. die von Zeller II 1 4 S. 950, 1 angeführte Stelle) nur sehr vereinzelt geschehen. Die Prinzipien der neuen Ideenlehre auf die Er- klärung der Naturtatsachen anzuwenden, scheint sich die Akademie nicht eben eifrig bemüht zu haben. Was von botanischen und zoologischen Studien des Speusippos berichtet wird (vgl. Zeller II 1 A S. 997, 1), liegt ganz auf der Linie der dialektischen ötaigioeiq, wie sie in der Akademie seit langem eifrig geübt wurden, und wie Speusippos selbst sie ja nach dem Zeugnis des Epikrates- fragments bei Athenaeus II 59 d ff. schon zu Lebzeiten Piatos mit diesem zu- sammen betrieben hatte. 592 Die Sokratik. Man verstehe das recht. Den Idealismus der reinen, dem praktischen Leben und seinen Bedürfnissen abgewandten Wissen- schaft hat Plato weit mehr gehabt als er. Andererseits hat sich Aristoteles auch auf dem Gebiet der ethischen und politisch-sozi- alen Fragen von Anfang an energisch betätigt. Aber die Art, wie er dies tat, ist das Charakteristische. Was er beabsichtigt, ist, seinen Hörern und Lesern systematische Anleitung zum sittlichen Leben und zum politischen Handeln zu geben. Sein Ziel ist also hier, eine Technik des sittlichen Verhaltens und eine Theorie der Staatskunst zu entwerfen. Seine ethischen und politischen Ar- beiten sind darum nicht reformatorische oder publizistische Ten- denzschriften, sie sind von Haus aus nichts anderes als Lehr- bücher. So hat er denn auch für die spezifisch technischen Disziplinen, wie z. B. die Rhetorik, denen gegenüber Plato nur widerwillig und mit halbem Herzen sich zu Konzessionen ver- standen hatte, eine ausgesprochene Vorliebe. Allein hier wie dort ist er der Systematiker, der die technischen Regeln auf ein er- kenntnismäßiges Fundament stellt und in eine praktische Theorie bringt. Mag Aristoteles darum im Vergleich mit Plato insofern sehr viel mehr Praktiker sein, als er der Anwendung des Wissens auf die Praxis des Lebens weit mehr Rechnung trägt und den angewandten Wissenschaften in ganz anderer Weise gerecht wird, so bleibt er eben doch auch in den praktischen Gebieten der Theoretiker. 1 ) Nichts vielleicht offenbart diese Tendenz seines wissenschaft- lichen Denkens und Arbeitens deutlicher als die Stellung, die er dem „reinen" Wissen selbst gegenüber einnimmt. Auch Aristo- teles sieht in der durch praktische Interessen nicht bestimmten &eix>Qia die höchste, schönste und schätzenswerteste Form mensch- licher Betätigung. Aber sie ist ihm — und das unterscheidet ihn grundsätzlich von Plato — nicht Religion, nicht Mystik, sondern eine durchaus theoretische Angelegenheit. Auch ihm zwar ist die rationale Intuition der Weg, auf dem sich dem menschlichen Er- kennen zuletzt der Wesensgehalt der Wirklichkeit erschließt. Aber sein „Rationalismus" zeigt von der asketisch-dualistischen Ten- *) Dieses Bild würde sich auch dann wohl nicht wesentlich verschieben, wenn die uns verloren gegangenen populären Schriften erhalten wären. Nur von dem Schriftsteller Aristoteles würden wir dann eine andere Vorstellung bekommen. Aristoteles. 593 denz des platonischen nicht die leiseste Spur. Auch er ferner hat sich — nicht bloß in seinen Jugendjahren 1 ) — um die Seelen- probleme gemüht, die Plato so sehr am Herzen lagen. Allein ihm waren das eben nur theoretische Fragen. Und jede Ver- suchung, dem Lehrer in die transzendent-religiöse Stimmungswelt der Mysterien zu folgen, lag ihm ferne. Sein Interesse war und blieb auf die „Theorie" beschränkt. Was den jungen Medizinbeflissenen einst nach Athen in den akademischen Kreis gelockt hatte, war gewiß nicht das Sehnen nach der mystischen Seligkeit gewesen, zu der der Verfasser des Symposions, des Phaidon und der Politeia den Gläubigen den Zugang eröffnet hatte, sondern vor allem der Drang nach Er- kenntnis, für den er in der empirischen Naturkunde seiner medi- zinischen Umgebung nicht die volle Befriedigung gefunden hatte. 2 ) Aber es waren daneben noch andere Dinge, die er in der Aka- demie zu lernen hoffte. In den Jahren, die der Ankunft des Aristoteles in Athen (367) unmittelbar voraufgingen, hatte Plato selbst seinem Philosophieren eine praktischere Wendung zu geben begonnen. Auf philosophi- scher Grundlage hatte er für eine neue Rhetorik die Richtlinien gezogen. Im Kampf mit der Eristik ferner hatte er die dialek- tische Methode technisch auszugestalten unternommen. In diese Bestrebungen trat Aristoteles mit Begeisterung ein, und er ging bald über den Meister weit hinaus. 3 ) Er strebte frühzeitig schon nach den Lorbeeren, die den berühmten Vorstehern der Rhetorik- schulen und neuerdings den Koryphäen der Disputierkunst von den Zeitgenossen in reichem Maß gespendet wurden. Noch in jungen Jahren nahm er die Konkurrenz mit Isokrates auf und stellte ihm eine eigene Rhetorenschule entgegen. Ebenso aber band er mit den großen Dialektikern der Zeit an. Sein Ehrgeiz 1 ) Zu der Beschäftigung des jugendlichen Aristoteles mit den platonischen Seelenproblemen vgl. besonders die Fragmente des Dialogs Evötjuoq rj negl yv/jQ (Berliner Ausgabe fr. 32 ff., Rose 2 fr. 37 ff.). Daß Aristoteles den platoni- schen Unsterblichkeitsgedanken später auch in sein System herübergenommen und hier in seiner Weise gewendet hat, ist bekannt. 2 ) Daß Aristoteles als der Sproß einer alten Ärztefamilie auch nach dem frühen Tod seines Vaters mit Medizinern und der Medizin in Fühlung blieb, kann als feststehend gelten. 3 ) Zum Folgenden s. meine Syllogistik des Aristoteles II 2 S. 58 ff. H. Mai er, Sokrates. 38 594 Die Sokratik. war, nicht allein in die Geheimnisse der Eristik hineinzuleuchten und ihre trügerischen Rätsel zu lösen; er wollte den Gegnern in der dialektischen Kunst selbst den Meister zeigen und seinerseits eine Schule von Dialektikern heranbilden. Schon in jener ersten Zeit begann er die Sammlung von dialektischen Loci, die uns heute in der Topik vorliegt. Freilich die Dialektik, die er im Auge hatte, war nicht mehr die platonische. Schon sehr bald scheint ihm die Einsicht auf- gegangen zu sein, daß das disputatorische Verfahren der streng wissenschaftlichen Untersuchung wenig förderlich und der Dialog für die ernste wissenschaftliche Darstellung nicht die geeignete Form sei. Die Praxis in der Akademie mag ihm solche Erfah- rungen aufgedrängt haben, und vielleicht hat er auch den Ein- druck gehabt, daß die dialogische Form selbst unter den Händen Piatos mehr und mehr zum wesenlosen Schein geworden war. Für den geschichtlichen Hintergrund dieses Verfahrens, für den Zusammenhang desselben mit der sokratischen Dialektik und für die „sokratische" Prätention, die in ihm lag, fehlte ihm ohnehin das Verständnis: in seinen eigenen Dialogen hatte an Stelle des Sokrates der Autor selbst die Rolle des Gesprächsführers über- nommen. Wie dem nun sei: die Forschung war ihm ein Ge- schäft des einsamen Menschen, und für den wissenschaftlichen Lehrvortrag wie für die literarische Entwicklung wissenschaftlicher Gedankengänge forderte er die zusammenhängende Rede. 1 ) Die Dialektik selbst stellt er dicht neben die Rhetorik. Und sie ist ihm, wie diese, eine Kunst von selbständigem Wert. Ihre Auf- gabe ist nicht allein, für die Auseinandersetzung mit Gegnern die methodischen Mittel zu liefern, sondern auch, und das ist ihm nicht minder wichtig, zur freien, populären Erörterung wissen- schaftlicher wie außerwissenschaftlicher Themata in lebendiger, für alle Teilnehmer förderlicher Diskussion Anleitung zu geben. Dabei sind ihm solche Diskussionen keineswegs ein bloßes Spiel. Das zeigt am besten die Tatsache, daß er der dialektischen Methode auch später noch die Formen für die Vorbereitung der streng wissenschaftlichen Intuitionen und Deduktionen entnimmt. 2 ) *) Syllogistik des Arist. a. a. O. S. 62 f. (zu der Bemerkung über die so- kratische Dialektik soph. el. 33. 183b 7f. vgl. oben S. 84, Anm.). 2 ) Nämlich einmal für das öianoQtZv, das namentlich auch bei den Pro- Aristoteles. 595 In seiner früheren Zeit waren ihm die populär-dialektischen Er- örterungen an sich schon ans Herz gewachsen. Aus dieser Vor- liebe sind seine Dialoge entsprungen. 1 ) Und es ist charakteristisch blemen der Metaphysik (der ersten Philosophie) die schließliche intuitive Ent- scheidung vorbereitet, sodann aber iür die induktive Aufsuchung der „eigentüm- lichen" Prinzipien der einzelnen Wissenschaften (Syllog. des Arist. II 2 S. 64 f., zu der letzteren, der wissenschaftlichen Induktion insbesondere, die gleichfalls als eine dialektische Methode betrachtet wird, s. ibid. II 1 S. 395 ff.). Zu der aristo- telischen Dialektik überhaupt s. ibid. II 2 S. 60 ff. ') Ich will damit keineswegs sagen, daß alle aristotelischen Dialoge oder auch nur alle diejenigen, von denen wir Fragmente haben, der früheren Zeit an- gehören. Daß dies aber von einem beträchtlichen Teil derselben gilt, ist zweifellos richtig. Und nahe genug liegt es, in der spezifisch aristotelischen Dialogform, die sich durch „das Hervortreten des Verfassers im Dialog und die zusammen- hängende Rede" von der platonischen unterscheidet (s. Leo, in der oben S. 359, 1 zitierten Abhandlung S. 275), auch zeitlich den Übergang zu der Vortragsmanier zu sehen, womit die Dialoge sämtlich der früheren Zeit zugewiesen würden. Diese Ansetzung scheint sich auch insofern zu empfehlen, als man sich ja sehr leicht vorstellen könnte, daß Aristoteles eben, so lange er noch unter platonischem Einfluß stand, die Dialogform für seine literarischen Ausführungen verwandte. So einfach liegen indessen die Dinge nicht. Sehr wahrscheinlich ist, einmal, daß Aristoteles schon in seiner früheren Zeit wissenschaftliche Abhandlungen verfaßt hat, die nicht die Dialogform hatten (vgl. z. B. liegt iSscöv). Andererseits steht fest, daß die älteren Peripatetiker wieder die Dialogform anwandten. Diese letztere Tatsache legt den Schluß nahe, daß auch Aristoteles noch in seiner späteren Zeit Dialoge geschrieben habe. Und das kann ja nicht zweifelhaft sein, daß prinzipielle Bedenken für ihn nicht bestanden, die dies ausgeschlossen hätten: sein dialektisches Programm scheint im Gegenteil der dialogischen Schriftstellerei weiten Spielraum zu lassen. Zuzugestehen ist allerdings, daß das, was wir über die Dialoge des Aristoteles wissen, mit keiner der Formen von Dialektik, die Aristoteles unterscheidet und zuläßt, zusammenstimmt. Wir können in keinem Fall sicher feststellen, daß jene aporetischen oder induktiven Zwecken gedient hätten. Die methodischen Regeln ferner, die Aristoteles für die Disputierdialektik gibt, haben mit der eigentümlich aristotelischen Dialogform nichts gemein. Und sie gelten ja am Ende nur für mündliche Disputationen. Eine Stütze erhält also die Annahme, daß ein Teil der aristotelischen Dialoge in der späteren Zeit ge- schrieben sei, von dieser Seite nicht. Und nur das wird man sagen können, daß die älteren Peripatetiker dem dialektischen Programm des Aristoteles die Ermutigung, die Dialogform anzuwenden, entnehmen konnten. Möglich indessen bleibt, daß die aristotelischen Dialoge zum Teil der späteren Zeit angehören. Nicht anzunehmen ist aber, daß die sämtlichen populären Schriften des Aristo- teles aus der späteren Zeit dialogische Form hatten. Was sich uns als einiger- maßen sicher ergibt, ist, daß ein wesentlicher Teil der Dialoge des Aristo- teles noch aus dessen platonischer Zeit stammt. Arist. übernahm diese literarische 38* 596 Die Sokratik. für den Geist dieser populären Dialogschriftstellerei, daß auch die xenophontischen Memorabilien, als sie bekannt wurden, nicht ohne Einfluß auf sie geblieben zu sein scheinen (vgl. S. 95). Man kann sich lebhaft denken, daß die rhetorischen und dia- lektischen Seitensprünge, die der junge Akademiker auf eigene Verantwortung machte, nicht eben den Beifall des Schulhauptes fanden. Für dieses Virtuosentum hatte Plato kein Organ. Der beweglichen, überall frisch zugreifenden Natur des Aristoteles selbst indessen waren diese Beschäftigungen keine Ablenkung von ernsteren Dingen. Von Anfang an stürzte er sich mit leiden- schaftlicher Energie in die großen Kämpfe der Zeit. Noch zu Lebzeiten Piatos — wahrscheinlich sogar schon bald nach dem Erscheinen des Philebos — nahm er in ethischen Vorträgen, aus denen nachher die Nikomachische Ethik hervorgegangen ist 1 ), in dem Streit um das höchste Gut Stellung; er hielt sich vermutlich im ganzen zu Plato, so jedoch, daß er auch ihm gegenüber in kritischer Auseinandersetzung seine Selbständigkeit wahrte. 2 ) Viel bedeutsamer aber war sein Eingreifen in die andere Kontroverse, in der Plato allein allen übrigen Sokratikern gegenüberstand. Schon bald nach seinem Eintritt in die Akademie scheint Aristo- teles den ganzen Ernst der Lage begriffen zu haben. Er stellt sich entschlossen an Piatos Seite und verficht von da ab sein ganzes Leben hindurch in erbittertem Ringen mit den Skeptikern und Eristikern die Sache der Wissenschaft. Wir können verfolgen, wie er im Gedankenkreis des „So- phistes" Fuß faßt, wie er aber sehr bald über denselben hinaus- greift, um die Rätsel, mit denen der Meister vergeblich gerungen hatte, wirklich zu lösen. Dem „Sophistes" entnimmt er die beiden Probleme, die dem Verfasser der Kampf mit der logi- Form von Plato, gestaltete jedoch den platonischen Dialog in der angegebenen Weise um. Und auch das wird anzunehmen sein, daß er die Dialogform von Anfang an für eine mehr populär gerichtete Schriftstellerei vorbehielt, zumal er ja schon damals daneben auch nicht-dialogische Arbeiten verfaßte. ») Vgl. Eth. Nik. I 4. 1096a 11 ff. und hiezu meine Syll. des Ar. II 2 S 294, Anm. 1. Daß in der Stelle gegen die 18 äa rov ayaSov polemisiert wird, während diese im Philebos bekanntlich nicht auftritt, ist keineswegs befremdlich. Die Politeia lag nicht bloß literarisch vor, sondern sie behauptete in der Akademie sicher immer noch ihre autoritative Stellung. 2 ) Das ist nach einem Rückschluß aus der Nik. Ethik wahrscheinlich. Aristoteles. 597 sehen Skepsis der Megariker und Antistheniker aufgedrungen hatte: das methodologische und das erkenntnistheoretisch-apo- logetische. Ihm selbst treten dieselben sofort auseinander. Die methodologische Frage interessiert ihn um so mehr, als sie zugleich mit seinen rhetorischen und dialektischen Studien sich eng berührt. Er erweitert nämlich von vornherein die pla- tonische Fragestellung. Auch er allerdings sucht in erster Linie eine Methode, mit deren Hilfe von intuitiv gewissen Voraus- setzungen aus -- den induktiv aufgesuchten, zuletzt aber noetisch erfaßten „eigentümlichen" Prinzipien der einzelnen Wissenschaf- ten 1 ) — sicheres Wissen in streng begründender Entwicklung ge- wonnen werden könnte. Und er sucht dieselbe immer noch; denn die platonische Lösung genügt ihm nicht: der Diairesis, der Begriffseinteilung fehlt die Deduktionskraft. Zugleich aber ist es ihm um ein methodisches Mittel zu tun, mittels dessen auch in außerwissenschaftlichen, in dialektischen und rhetorischen Erörte- rungen zur Diskussion stehende Sätze derart stringent erwiesen werden könnten, daß der Hörer oder Mitunterredner seine Zu- stimmung geben muß. Und zwar hat diese dialektisch-rhetorische Sorge nun doch andererseits auch eine recht eigentlich philo- sophische Seite: nicht bloß insofern, als das dialektische Verfahren selbst ja auch zu wissenschaftlichen Zwecken herangezogen werden muß, sondern vor allem darum, weil dem Verteidiger der Wissen- schaft daran liegen muß, die Gegner in stringentem Gedanken- gang zu widerlegen. So ergibt sich schließlich die allgemeinere Aufgabe: die Denkfunktion aufzufinden, mittels der von ge- gebenen Ausgangspunkten aus, also aus gegebenen Urteilen, andere Urteile in notwendiger Gedankenfolge abgeleitet werden könnten: hier offenbar liegt der Lebensnerv der wissenschaftlichen wie der dialektisch-rhetorischen Methode. Die Denkoperation aber, die dieser Forderung genügt, ist der Syllogismus. Mit der Entdeckung des Syllogismus ist die Grundlage der aristotelischen Methodologie gewonnen. Und aus der Syllogistik wächst schließ- lich die ganze Logik hervor. 2 ) ') Zu dem wissenschaftlich-methodischen Ideal des Aristoteles s. Syll. des Arist. II 1 S. 398 ff. 2 ) Zu diesem Absatz s. Syll. des Ar. II 2 S. 56 ff. 598 Die Sokratik. Nicht minder wichtig ist indessen die zweite Aufgabe, die erkenntnistheoretisch-apologetische Sicherung der funda- mentalen Erkenntnisfunktion, des Urteils. Und hier sind vor allem die von der Skepsis in das logische Sein gelegten Aporien zu heben. Mit der platonischen Ausflucht, daß die Ideen und so auch Sein und Nichtsein an einander teilhaben können (S. 559. 567), ist Aristoteles wiederum nicht zufrieden. Ihm selbst liegt dieses Problem auch darum am Herzen, weil die Skeptiker, indem sie Sein und Nichtsein in einander wirren, zugleich den methodischen Elementarakt, den Syllogismus, der ja doch für die ihm zu Grunde liegenden Begriffsverhältnisse reale Bedeutung in Anspruch nimmt, gefährden. Aristoteles bemüht sich denn auch zuvörderst um die prinzipielle Klarlegung des Verhältnisses, in dem Sein und Nicht- sein zu einander stehen. Das Ergebnis, zu dem er gelangt, sind die Gesetze des Widerspruchs und des ausgeschlosse- nen Dritten. Diese ihrerseits indessen sind doch erst dann ganz gesichert, wenn in den Begriff des Seins selbst Klarheit ge- bracht ist. Diese letzte Aufgabe aber löst Aristoteles, indem er die Vieldeutigkeit des Begriffs des Seins aufdeckt, deren Ver- kennung, wie er meint, die Quelle der skeptischen Seinsaporien ist. So mündet seine ganze erkenntnistheoretisch-apologetische Arbeit in jene vierfache Seinsunterscheidung aus, die für seine Metaphysik so tief einschneidende Bedeutung ge- wonnen hat. Von der einen Seite ist das Sein entweder ein Ansichsein oder aber ein zufällig-accidentielles Sein: „an sich" sind die in dem Wesensbegriff eines Objekts liegenden und die aus diesem mit Not- wendigkeit folgenden, zufällig-accidentiell dagegen die ihm unwe- sentlichen und mit ihm in keinem notwendigen Zusammenhang stehenden Bestimmungen. Zweitens aber scheidet sich das Sein in die kategorialen Unterschiede: es gibt e ; n substantielles, ein quali- tatives, ein quantitatives Sein, kurz es gibt von dieser Seite ebenso viele verschiedene Weisen des Seins, als es Kategorien gibt. Drittens sodann kann das Sein teils ein potentielles, teils ein aktuelles sein. Und viertens endlich ist es entweder ein Wirklich- oder ein Wahrsein. Diese vier Seinsunterscheidungen geben die Möglich- keit, die obersten Wirklichkeitsgesetze endgültig festzulegen. Da- mit aber ist nicht bloß das Urteil, also der Denkakt, in dem Aristoteles. 599 Wissen und Meinen sich entfalten, sondern auch der Syllogis- mus, die Methode, sichergestellt. Von besonderer Bedeutung ist die Unterscheidung des Wirklich- und des Wahrseins, die das Verhältnis von Denken und Sein, über das bisher so verhängnis- volle Unklarheit geherrscht hatte 1 ), aufhellt. Die Form des er- kenntnistheoretischen Realismus, zu der wir bei Plato in seiner späteren Zeit gewisse Ansätze finden (vgl. S. 533 ff.), ist hier zu Ende gedacht und zu einer präzisen wissenschaftlichen Theorie, der „Abbildtheorie", verdichtet: Wahrheit und Falschheit sind in allen Fällen Bestimmtheiten der subjektiven Denkakte, der Urteile, und wahr ist ein Urteil dann, wenn es ein wirklich Seiendes, ge- nauer ein an sich wirkliches Zusammen- oder Getrenntsein ad- äquat im Denken nachbildet. 2 ) Natürlich sind die Untersuchungen, die zu so folgenschweren Resultaten gelangen, erst in langjähriger Arbeit zu voller Reife und zum Abschluß gediehen. Sie haben ja einerseits — das ist bisher noch nicht genügend erkannt worden — an dem Werden der ganzen aristotelischen Weltanschauung entscheiden- den Anteil gehabt, und ihre schließlichen Ergebnisse sind wesent- liche Bestandteile derselben geworden; auf der anderen Seite aber waren sie doch auch bedingt von einer zweiten Reihe von Erwägungen, die nicht weniger bedeutsam in die Entwicklung der aristotelischen Philosophie eingegriffen hat, derjenigen näm- lich, die zur Umbildung der Ideenlehre in die Begriffs- metaphysik geführt hat. Allein das steht fest, daß sich der Kern jener erkenntnistheoretisch-apologetischen Einsichten dem Philosophen schon sehr früh erschlossen hat, und daß diese Er- kenntnisse der Ausgangspunkt seiner ganzen selbständigen philo- sophischen Arbeit geworden sind. 3 ) Insbesondere haben wir be- stimmte Anzeichen dafür, daß es namentlich auch die Kategorien- 1 ) Man denke vor allem an das Problem des Irrtums, des iptvdog, das noch dem platonischen „Sophistes" so viele Schwierigkeiten gemacht hat. 2 ) Syll. des Aristoteles II 2 S. 278 ff. S. 82 ff. 3 ) Den unmittelbaren Anstoß zu dieser Arbeit des Aristoteles hat jene Aus- einandersetzung Piatos mit den megarischen bezw. megarisierenden und kynischen Eristikern, die wir aus dem Parmenides, Sophistes und Philebos kennen, gegeben. Aristoteles war ja, als sich dieser Streit abspielte, bereits Mitglied der Akademie. Indessen hat er, wie aus der Darstellung im Text ersichtlich wird, die strittigen Probleme auf einer breiteren Grundlage diskutiert und gelöst. 600 Die Sokratik. lehre, die Entdeckung der kategorialen Seinsverschiedenheiten war, die die aristotelischen Bedenkengegen die Ideenlehre geweckt hat. 1 ) Das ausschlaggebende Motiv für die Abwendung von der Ideenlehre lag allerdings anderswo. Daß der junge Aristoteles in die Diskussionen, die sich zur Zeit seines Eintritts in die Aka- demie unter den Piatonikern über das Wesen der Ideen abspielten, sehr bald eingegriffen haben werde, ist bei seinem Naturell selbst- verständlich. Unter welchem Gesichtspunkt dies aber geschehen ist, darauf ist oben schon hingedeutet worden (S. 569f.). Das naturwissenschaftliche Interesse, das er von der Heimat mitge- bracht und in diesen athenischen Jahren nicht nur für seine Per- son nicht verloren, sondern, wie es scheint, auch in der Akademie geweckt oder doch wesentlich gefördert hatte, gab den Anstoß, die Ideenlehre zur Erklärung der Naturtatsachen heranzuziehen. Daß Plato selbst nachher durch die Erfahrungen, die er hiemit im Timaios machte, veranlaßt wurde, die Ideen in pythagoreisie- render Richtung umzubilden, wissen wir. Aristoteles scheint aber noch vor dieser Wendung wenigstens den Grundgedanken seiner Begriffsphysik konzipiert zu haben. Und er ist ohne Zweifel sehr bald schon in die Opposition eingetreten. Zuerst mündlich, in den akademischen Diskussionen, dann auch literarisch. Er hat später auch die umgebildete Ideen- lehre, die er selbst wohl nie geteilt hat, nachdrücklich bekämpft. Und im Lauf der Jahre hat er immer mehr das Gefühl des Zu- sammenhangs mit der platonischen Theorie verloren. So kam es, daß er den Abstand zwischen seiner Begriffs- und der platonischen Ideenphilosophie weit größer erscheinen ließ, als er in Wirklich- keit war, daß er aus den Ideen Karikaturen machte, gegen die der Kampf nicht schwer werden konnte, und daß er schließlich für das, was er Plato zu danken hatte, völlig blind wurde. Man mag das Ungerechtigkeit und Undankbarkeit nennen. Und richtig ist: Aristoteles hat seine Abhängigkeit von Plato unterschätzt. Allein sicher ist doch auch das, daß er reichlich Grund und An- laß hatte, auf seine Selbständigkeit zu pochen. Sein begriffliches Prinzip ist in der Tat etwas ganz anderes als die platonische Idee. ') Vgl. meine Ausführungen über Eth Nik. I 4. 1096 a 11 ff. in Syll. des Ar. II 2 S. 294, 1. Aristoteles. 601 Jenes systematisch -dialektische, wir können auch sagen: erkenntnistheoretisch -ontologische Motiv, aus dem die Ideen- lehre im wesentlichen erwachsen war, hatte für ihn nicht mehr dieselbe Bedeutung Auch er zwar steht durchaus auf dem Standpunkt, daß das Allgemeine allein Gegenstand wissenschaft- licher Erkenntnis sein könne. Und das Ideal der platonischen Diairesis spielt sogar noch in seine zweite Analytik — zu einer Zeit, wo er ihre Schwäche längst durchschaut hatte — immer wieder herein. Aber für die schöpferische Neuheit und Größe des systematischen Gedankens Piatos hat er nicht mehr das ganze Verständnis. So ist ihm eine unbefangene Wertung der Ideenlehre unmöglich geworden. Er selbst tritt an sie von vornherein mit dem genetisch-kau- salen Gesichtspunkt heran, und da versagt sie. Einen berechtigten Kern spricht er ihr nicht ab: er ist sich bewußt, die Einsicht in die Bedeutung des Allgemeinen von Plato überkommen zu haben. Aber eben diese Leistung, das Verdienst der Entdeckung des Allgemeinen, glaubt er ja mit Xenophon zuletzt auf Sokrates zurückführen zu müssen. Darüber hinaus hatte Plato ja wohl grundsätzlich die Ideen auch als Zweckkräfte gedacht. Aber die Brücke von diesen zu den Tatsachen zu schlagen hatte er kaum ernstlich versucht; die ursprüngliche Form der Ideenlehre gab ihm hiezu ja auch gar nicht die Möglichkeit. Und eben an diesem Punkt hatte Aristoteles durchaus das Bewußtsein der Orginalität. Er war von den Tatsachen ausgegangen, und zwar, wie wir an- nehmen dürfen, von denen des organischen Seins und Geschehens. Hier hatte sich ihm das Prinzip, daß die Begriffe der untersten Art- typen die Zweckkräfte seien, die in den Organismen als Entwick- lungstendenzen wirken, ergeben und erprobt. Und in diesem Ge- danken, den er weiterhin auch auf die übrigen Gebiete der Natur- wirklichkeit übertrug, sah er nun seine eigenste Entdeckung. Daß er hiezu ein Recht hatte, ist klar. Und er hatte ein doppeltes Recht, so zu urteilen, als er, auf der Höhe seines Lebens stehend, zurück- blickte. Denn da durfte er sich sagen, daß er diesen Gedanken auch in ernster Forschung erarbeitet habe. Seine wissenschaft- liche Methodologie, wie sie in der zweiten Analytik entwickelt ist, zeigt deutliche Spuren davon, daß er das begrifflich-teleologische Naturprinzip erst ganz allmählich mit voller Sicherheit anzuwenden 602 Die Sokratik. und durchzuführen lernte l ), und er lernte dies nicht allein in fort- schreitender theoretischer Reflexion, sondern viel mehr noch in der Praxis einer ungeheuer weit ausgedehnten naturwissenschaftlichen Forschungstätigkeit. Es ist hier nicht der Ort, zu verfolgen, wie aus der Wechsel- wirkung des allmählich sich immer mehr vertiefenden und aus- breitenden begrifflichen Prinzips mit jener erkenntnistheoretisch- apologetischen Gedankenarbeit die Wirklichkeitsbetrachtung her- vorgegangen ist, die uns aus den aristotelischen Schriften ent- gegentritt. Die große Triebkraft, die diese Entwicklung beherrscht hat, war der unstillbare Wissensdrang, der alle Gebiete, die mensch- lichem Erkennen erreichbar schienen, zu erobern trachtete. Und überall betätigte Aristoteles denselben empirisch -kriti- schen Forschersinn, in der Ethik, der Staats- und Gesellschafts- wissenschaft, in den technischen Disziplinen, den Theorien der Rhe- torik, der Dialektik, der ästhetischen Kunst so gut wie in den verschiedenen naturwissenschaftlichen Fächern und in der Psycho- logie. So ist er zu dem geworden, was für immer sein Ruhm bleiben wird, zum universalsten wissenschaftlichen Geist, der je gelebt hat, zum Schöpfer der Wissenschaften, der der intellektu- ellen Arbeit von Jahrtausenden die Richtung gewiesen hat. Und hinter dem Forscher steht der Philosoph nicht zurück. Zwar die geniale Intuition und der dichterische Schwung der spe- kulativen Phantasie fehlen ihm. Ihn locken darum auch nicht zuerst die letzten Rätsel und die höchsten Probleme. Es treibt ihn nicht, überall bis ans Ende zu gehen. Auch Konsequenz- macherei, Systematisierung und Harmonisierung ist nicht seine Sache. Es verschlägt ihm nichts, wenn selbst in wichtigen Dingen — man denke z. B. an seine Nuslehre — Unausgeglichenheiten stehen bleiben und unvereinbare Gedankenreihen neben einander herlaufen. Auch als Philosoph bleibt Aristoteles Forscher, und seine philosophische Arbeit ist durchaus durch seine wissenschaft- lichen Bedürfnisse geleitet. Er geht so weit zurück, als diese es fordern und zulassen. Er ringt mit der Wirklichkeit; er möchte ihre Prinzipien aufdecken und sie von diesen aus begreifend be- wältigen. Das aber gelingt nicht immer rest- und widerspruchs- >) Vgl. Syll. II 1 S. 403—405 mit S. 398 ff., und hiezu II 2 S. 233 f. Aristoteles. 603 los. Und er scheut sich, in solchen Fällen durch spekulative Machtsprüche, durch willkürliche Konstruktionen nachzuhelfen. Wie er in den praktischen Gebieten darauf verzichtet, absolute sittliche und politische Ideale zu entwerfen, wie er hier überall an das historisch Gewordene, an die bestehenden Verhältnisse anknüpft und seine kritisch -normativen Gedanken dem tatsäch- lichen Leben anpaßt, so bemüht er sich in der philosophischen Theorie in seiner nüchternen, umsichtigen, auch zu Kompromissen bereiten Art, stets mit der Wirklichkeit Fühlung zu behalten. Aber eben darauf beruht andererseits der große Wert der aristo- telischen Leistung. Man hat überall den Eindruck, daß Aristo- teles auch in der Philosophie den sicheren Weg der Wissenschaft geht. Sein wissenschaftliches Interesse reicht weit und tief genug, um auch seiner Philosophie trotz aller Zurückhaltung, trotz all der Rätsel und Antinomien, die ihre Lösung nicht gefunden haben, den großen, universalen Zug einer geschlossenen Weltanschauung zu geben. Allein, was vielleicht noch mehr sagen will: die metho- dologische, erkenntnistheoretische und metaphysische Gedanken- arbeit, mit der er die Grundlagen der menschlichen Erkenntnis festgelegt und gesichert hat, hat die Philosophie selbst zur Wissen- schaft gemacht. Und es ist nicht zu viel gesagt, wenn man Aristoteles als den Schöpfer der wissenschaftlichen Philosophie bezeichnet. Es hat einen eigenen Reiz, dieser Entwicklung zu folgen, in der unter den Händen des Aristoteles die platonische Sokratik schließlich zur „bloßen" Wissenschaft wird. Ich kann hier darauf verzichten, die beiden Männer, Plato und Aristoteles, mit einander zu vergleichen. Für verfehlt halte ich jeden Versuch, sie gegen einander auszuspielen: dabei können beide nur verlieren. Was uns aber im gegenwärtigen Zusammenhang in erster Linie inter- essiert, ist, daß Aristoteles in der Abkehr von Sokrates noch einen wesentlichen Schritt über Plato hinausgegangen ist. Ja, er hat in dieser Richtung den äußersten Punkt erreicht. Die aristo- telische „Philosophie" hat mit dem sokratischen Phi- losophieren so gut wie nichts mehr gemein. In der mystisch-asketischen Tendenz der platonischen Philo- sophie lag doch immer noch eine lebendige Reminiszenz an die sokratische Freiheit. An sie knüpfte sich denn auch für Plato das Bewußtsein, immer noch mit den tiefsten Intentionen des so- 604 Die Sokratik. kratischen Evangeliums in innerem Zusammenhang zu stehen. Und tatsächlich ist sie ja zwar eine prinzipielle Verirrung, aber doch immerhin eine Nachwirkung des Freiheitssehnens, das So- krates in seinen Jüngern entzündet hatte. Bei Aristoteles ist mit dem praktischen Motiv des platonischen Philosophierens dieser letzte Rest des sokratischen Freiheitsgedankens verschwunden. Wie wenig nämlich diese Abwendung von der mystischen Askese Piatos 1 ) eine Rückkehr zu dem ursprünglichen Sokrates ist, zeigt am markantesten das aristotelische Lebensideal, wie es in der Nikomachischen Ethik entworfen ist. Auch in seiner endgültigen Fassung liegt dasselbe noch ganz auf der Linie des Philebos; nur daß eben die platonische Mystik, die den latenten Hintergrund auch des Philebos bildet, hier völlig ausgeschaltet ist. In der Tat ist Aristoteles in der Zeichnung des höchsten Guts, wenn irgendwo, von Plato abhängig. Wieder aber ist hiemit recht wohl vereinbar, daß die in der Nikomachischen Ethik geleistete Arbeit der ethischen Wissenschaft die Grundlage geschaffen hat. Das muß nach der psychologischen wie nach der normativ-kriti- schen Seite ausdrücklich anerkannt werden. Auch das aber ist nicht zu verkennen, daß Aristoteles die intellektualistische Einseitigkeit Piatos erheblich gemildert hat, obwohl auch er im spekulativ-theo- retischen Leben die sittliche Tätigkeit im eminenten Sinn erblickt. Nicht allein, daß er dem praktischen und technischen Wissen und Können einen sehr viel breiteren Spielraum gönnt; auch die so- genannten ethischen Tugenden erhalten neben den theoretischen eine andere und eine größere Bedeutung. Eine Annäherung an jene Bestimmung des individuellen Lebensziels, die Sokrates einst vor Augen gehabt hatte, ist indessen auch dies nicht. Über- wunden ist der platonische Intellektualismus keineswegs. Das wissenschaftlich -theoretische Element hat und behält im aristo- telischen Ideal doch eine prinzipiell andere Stellung, als die- jenige war, die das sachverständige Wissen bei Sokrates tatsäch- *) die natürlich nicht ausschließt, daß in der aristotelischen Theologie, ge- nauer in der Hypostasierung des aus der aristotelischen Metaphysik erwachsenen Gottesbegriffs, ein religiöses Motiv wirksam war. An dem letzteren selbst freilich hat, so weit wir sehen können, die teleologisch-theistische Tradition (vgl. die xenophontischen Memorabilien) ebenso starken Anteil wie das ursprüngliche eigene Empfinden des Philosophen. Aristoteles. 605 lieh einnahm und, wenn es die wissenschaftliche Vertiefung er- halten hätte, gewinnen konnte. Allein entscheidend ist etwas anderes. Aristoteles hat die sittliche Autarkie des Sokrates, obwohl er dieses Merkmal ge- flissentlich für sein höchstes Gut in Anspruch nimmt, so vollstän- dig aus dem Auge verloren, daß er nicht allein mit Plato die sittliche Befriedigung an die wissenschaftliche Betätigung bindet, daß er vielmehr das menschliche Glück wieder an die traditio- nellen äußeren Bedingungen knüpft: für das volle Glück sind ihm äußerliche Dinge, wie Gesundheit, bürgerliche Freiheit, soziale Ehre, edle Geburt, Wohlstand, gute Veranlagung, längere Lebensdauer, unentbehrlich. Damit hat er den großen Grundgedanken des so- matischen Evangeliums, das menschliche Glückstreben von allen äußeren Mächten frei zu machen und in die alleinige Abhängig- keit vom sittlichen Willen des Individuums zu bringen, vollends ganz in den Wind geschlagen. Er kommt damit tatsächlich wieder dem Standpunkt der griechischen Vulgärmoral bedenklich nahe. Sein Lebensideal ist, so feinsinnig es von ihm ausgestaltet wird, im Grunde doch nur das des wohlsituierten, bildungsfreudigen und wissensdurstigen griechischen Stadtbürgers. 1 ) Und man kann wohl sagen: für Aristoteles hat Sokrates umsonst gelebt. Um so merkwürdiger ist es, daß er sich trotzdem als den Träger der sokratischen Tradition gefühlt hat. Wirklichen Einfluß auf seine philosophische Arbeit hat dieser Anspruch frei- lich nicht gehabt. Eine Kampfparole war ihm ja der Name So- krates nicht mehr. Ebensowenig aber ist ihm dieses Bewußtsein aus seiner eigenen Entwicklung erwachsen. Aber als er im Be- griffe stand, das Band, das ihn Jahrzehnte lang mit der Akademie verknüpft hatte, zu lösen, als er sich über seine Stellung zu Plato kritisch klarzuwerden suchte, da besann er sich doch auch auf das Verhältnis seiner eigenen Weltanschauung zu der traditionellen Autorität der Akademie, zu Sokrates. Und mit der endgültigen Abkehr von der Ideenlehre der einstigen Genossen verschob sich ihm auch die Vorstellung von Sokrates. Für das Sokrates- *) Auf gleicher Linie verlaufen im wesentlichen Aristoteles' politisch-soziale Reflexionen — trotz augenscheinlicher sachlicher Berührungen mit sokratischen Gedanken. 606 Die Sokratik. bild aber, das sich ihm in dieser Abrechnung nahe legen mochte, fand er in der Darstellung, wie sie in jenem 6. Kapitel der Memo- rabilien gegeben ist, einen äußerst willkommenen Anhalt (S. 93 ff.). Zwar hätte Aristoteles auf die sokratische Legitimation ver- zichten können. Aber zu verachten war dieselbe, wenn sie sich erreichen ließ, immer noch nicht. In der Rivalität der Schulen, zumal im Ringen des werdenden Peripatos mit der altangesehenen Akademie konnte sie noch recht erheblich ins Gewicht fallen. Doppelt gelegen aber kam dem Aristoteles derxenophontische „Be- richt" deshalb, weil dieser den Sokrates zum Urheber des wahren Kerns der Ideenlehre machte; dadurch kam Plato nicht allein um die Ehre der Entdeckung des Allgemeinen, er stand da- zu noch als ein von dem Altmeister Abgewichener da. Wenn übrigens Aristoteles diese Konsequenzen nach Kräften zog, so ge- schah dies sicher nicht in der Absicht, dem toten Lehrer noch einen letzten Schlag zu versetzen. Das war nichts mehr und nichts weniger als ein Vorstoß gegen die Akademie, mit der seine Schule im Konkurrenzkampf lag. Er selbst aber konnte sich nun als den Vollender der ur- sprünglichen Sokratik, als denjenigen, der das „philosophische Prinzip" des Sokrates verwirklichte und allseitig durchführte, dar- stellen. Zwar hat er, wenn die bekannten Bemerkungen in der Nikomachischen Ethik wirklich auf den historischen Sokrates und nicht vielmehr auf die Dialogfigur des platonischen „Protagoras" zu beziehen sind, der psychologischen Unzulänglichkeit der soma- tischen Ethik, die das Wesen der Tugend ganz in ein Wissen um das was zu tun oder zu meiden ist zu verlegen schien, eine gönnerhaft überlegene Kritik gewidmet: den Satz vom Tugend- wissen, den er natürlich durchaus als ein psychologisch-ethisches Dogma auffaßt, beurteilt er als eine lebensunkundige Einseitigkeit. Das hat ihn aber in jedem Fall nicht gehindert, immer wieder mit stolzem Selbstgefühl auf die Entwicklung der Sokratik, wie er sie sich denkt, zurückzukommen: Sokrates der Begründer der Begriffsphilosophie, der aber für seine Person sich auf die Aufsuchung ethischer Begriffe beschränkte, Plato der Er- finder der Ideenlehre, der mit der Umgestaltung des Begriffs zur Idee die sokratische Bahn verließ, und endlich Aristoteles, der zu Sokrates zurückkehrte, das begriffliche Prinzip auf die Natur- Die Stoa und der Ausgang. 607 Wirklichkeit anwandte und die Begriffslehre zu einer umfassenden Begriffsphysik und -metaphysik ausbaute. Den Löwenanteil des Verdienstes nimmt Aristoteles natürlich für sich selbst in Anspruch. Wir wollen mit ihm darüber nicht rechten. Daß er, der in der platonischen Luft Aufgewachsene, dem die Entdeckung des All- gemeinen schon zu etwas fast Selbstverständlichem geworden war, diese nicht mehr in ihrer vollen Originalität zu würdigen wußte, begreifen wir. 1 ) Und jedenfalls ist ja die Einführung des begrifflichen Prinzips in die Naturerklärung ein gewichtiges Novum, das ganz seine Leistung ist. Allein indem er Sokrates an die Spitze der Entwicklung stellt, deren Ziel er in seiner eigenen Philosophie erreicht glaubt, hat er die Möglichkeit, sich nicht bloß den skeptischen Gegnern, zumal den Kynikern und Megarikern, sondern auch dem Piatonismus gegenüber als den treuen Vertreter der echten Sokratik zu gerieren. In Wirklichkeit ist diese Geschichtskonstruktion das Letzte, was auf der Seite der platonischen Sokratik in der Abwendung von dem geschichtlichen Sokrates getan werden konnte. Aristo- teles hat nicht bloß in seinem eigenen Philosophieren mit der Umbildung der platonischen Sokratik die letzte Reminiszenz an das sokratische Werk ausgelöscht; er hat auch — was Plato und seine Anhänger immer vermieden haben — das Bild des Sokrates auf seine Philosophie zugeschnitten. Gewiß verfuhr er hiebei in gutem Glauben; er knüpfte ja an die xenophontischen Notizen an und glaubte sich hiedurch, so wenig Xenophon selbst wohl diese Konsequenzen anerkannt und das aristotelische Sokratesbild gebilligt hätte, gedeckt. Tatsächlich aber hat er damit, soweit es auf ihn ankam, den wirklichen Sokrates aus der Geschichte ge- strichen. Sechstes Kapitel. Die Stoa und der Ausgang. Wer heute auf die Fehden jener Jahrzehnte zurückblickt, wird geneigt sein , Aristoteles als den schließlichen Sieger zu betrach- ten, als Sieger nicht bloß in der Auseinandersetzung mit der Aka- ') Bezeichnend ist in dieser Hinsicht, daß Aristoteles immer wieder auf frühere Ansätze zur Begriffswissenschaft hinweist. 608 Die Sokratik. demie, sondern vor allem in dem großen Kampf der platonischen Sokratik mit der praktisch gerichteten Skepsis. Die Zeitgenossen haben anders geurteilt. Im Laufe des 4. Jahrhunderts war den Griechen das spekulative Interesse vollends ganz abhanden ge- kommen. Und gewiß hatten hieran die sokratischen Skeptiker einen wesentlichen Anteil. Es ist tragisch, daß dieser Niedergang in eine Zeit fällt, in der die Spekulation selbst ihre höchste Höhe erreichte, aber es ist Tatsache, daß es weder dem mystisch-künst- lerischen Schwung Piatos noch der ernsten Wissenschaftlichkeit des Aristoteles gelungen ist, diese Entwicklung aufzuhalten. Das Pu- blikum jubelte den dialektischen Bravourstücken der Skeptiker zu. Und zwar geschah das nicht einmal bloß aus Freude am eristi- schen Spiel. Man hielt die eristischen Argumentationen geradezu für unwiderleglich. Und selbst von Aristoteles hatte man durchaus nicht das Gefühl, daß er den Scharfsinn der Gegner niederzu- ringen vermocht habe. Allein auch wenn dies anders gewesen wäre: mit theoretischen Waffen waren solche Kämpfe am Ende überhaupt nicht zu entscheiden. Von Stilpo, einem jüngeren Zeit- genossen des Aristoteles, berichtet Diogenes Laertius (II 113), er habe ganz Griechenland zum Megarisieren verführt. Stilpo aber war einer der Megariker, die stark kynische Neigungen hatten. Das ist bedeutsam. Der megarisch-kynischen Eristik kam ein mächtiges praktisches Bedürfnis zu Hilfe, eine der Sokratik der inneren Freiheit verwandte Stimmung. Und diese war es, die jener den Sieg über Aristoteles und die intellektuelle Sokratik sicherte. Aristoteles selbst hatte keineswegs die Empfindung, der Sieger zu sein. Viel näher lag ihm der Pessimismus entsagender Resignation. Gelegentlich brechen mitten aus gelehrten Erörte- rungen bittere Klagen über die tief gesunkene Zeit hervor, die den Sinn für Wahrheit verloren habe. 1 ) Noch in seiner letzten Zeit war er gezwungen, Angriffe, die die von ihm gelegten Fun- damente der wissenschaftlichen Erkenntnis schwer bedrohten, ab- zuwehren. Und als er kurz vor seinem Tod Athen verlassen mußte, war diese Fehde noch in vollem Gang. 2 ) Den Trost hatte >) Metaph. r 5. 1009b 33 - 1010a 1. 2 ) Es war die Kontroverse, in der weiterhin der Kvqisvwv eine wichtige Rolle spielte. Vgl. meine Abhandlung über „die Echtheit der aristotelischen Hermeneutik", Archiv für Gesch. der Phil. XIII S. 28 ff. Die Stoa und der Ausgang. 609 er immerhin, daß seine Sache in guten Händen war. Seiner Schule blieb das Schicksal der Akademie erspart. Es gingen aus ihr eine Reihe namhafter Männer der Wissenschaft hervor — literatur- geschichtlich und biographisch interessierte Gelehrte l ), im Anfang auch noch wirkliche Philosophen und Naturforscher, die alle mit treuem Sinn die großen Traditionen des Peripatos pflegten. Aber es war eben ein kleiner, geschlossener Kreis, dessen Wirken über die enge Schulgemeinschaft kaum hinausgriff und darum auf den Geist der Zeiten keinen Einfluß zu üben vermochte. Allerdings aber waren auch die Schulen der praktisch-skep- tischen Sokratik nicht recht lebenskräftig. Es haftete ihnen doch von Haus aus der Fluch der Unfruchtbarkeit an. Dem Formalismus der megarisch-kynischen Moral fehlte die aktive Kulturenergie des sokratischen Lebens. Und auch das hedonistische Lebensideal der Kyrenaiker besaß nicht allzuviel werbende Kraft. Allein während diese Schulen im Laufe des 3. Jahrhunderts sich allmählich ver- loren, war ein Ersatz bereits da. Und jetzt zeigte sich, daß das sokratische Evangelium doch noch nicht völlig tot war. Ein Hauch des Geistes der sittlichen Freiheit durchzieht die helleni- stische Kulturwelt. In nichts aber tritt dies deutlicher in die Er- scheinung als in der dominierenden Stellung, die sich die Stoa, die Erbin der Antisthenik, in diesen Jahrhunderten zu erobern und zu erhalten wußte. Etwas von jenem Hauch zwar hat selbst Epikur, dessen Lebensideal an das kyrenaische Lustprinzip anknüpft, verspürt. Freilich nicht allzu viel. Der Rest von Sokratik, den man in seiner Gedankenwelt finden kann, ist schließlich nur eine Verzerrung des aristippischen Freiheitsideals. Seine ganze Weltanschauung ist mit trauriger Folgerichtigkeit auf die Tendenz zugeschnitten, das ruhige Behagen des freigeistigen Spießbürgers, der sich nicht gern durch Gedanken an ein Jenseits und an höhere Gewalten in seiner diesseitigen Gemütlichkeit stören lassen möchte, sicher- zustellen. Zu wirken vermochte dieser freidenkerische Pedant nur durch ein unleugbares schulmeisterliches und organisatorisches Talent, dem es gelang, eine Schule zu gründen und zusammen- zuhalten, — und vielleicht noch mehr durch eine gewisse suggestive ') S. Leo, Griechisch-römische Biographie S. 103 f., S. 316 f. H. Maier, Sokrates. 39 610 Die Sokratik Geschicklichkeit, die die Schüler dahin zu Dringen wußte, in dem Lehrer eine geistige Kapazität zu sehen. Epikurs Einfluß blieb in- dessen immer ein sehr beschränkter. Selbstverständlich dürfen die Bonvivants der römischen Gesellschaft, die, um ihrer Genuß- freudigkeit ein philosophisches Ansehen zu geben, sich Epikureer zu nennen liebten, der epikureischen Philosophie nicht zur Last gelegt werden. Soweit diese über den Kreis der Schule hinaus wissenschaftliche Bedeutung gewann, verdankte sie dies im wesent- lichen ihrem Verhältnis zum demokritischen Materialismus, dessen Zauber auch durch Verballhornungen, wie sie ihm von Seiten Epi- kurs widerfahren sind, nicht vernichtet werden konnte. Ganz anders steht es mit der Stoa. Die stoische Schulge- meinschaft ist in der hellenistischen Zeit eine Art Ersatz für die sokratische Gemeinde geworden. Wenigstens war sie in dieser ganzen Epoche allen denen, die so etwas wie sittliche Erlösung und persönliche Selbständigkeit suchten, eine geistige Heimatstätte. Und Sokrates war das Idealbild, an dem sich diese Philosophen erbauten und zur sittlichen Arbeit kräftigten. 1 ) ') Sokrates ist das sittliche und „philosophische" Vorbild der alten Stoa. Das ist unverkennbar, so selten uns in den erhaltenen Fragmenten Berufungen auf Sokrates begegnen (s. Dyroff, Die Ethik der alten Stoa, 1897, S. 320 mit Anm. 4). Erschlossen werden kann dies auch aus dem Sokrateskultus der jüngeren Stoa (vgl. besonders bei A. Bonhöffer, Epiktet und die Stoa, 1890, und: Die Ethik des Stoikers Epiktet, 1894, die im Index unter „Sokrates" verzeichneten Stellen). Nun ist ja wohl von den jüngeren Stoikern nicht selten der Kyniker Diogenes direkt neben und gelegentlich auch über Sokrates gestellt (vgl. Bonhöffer, Ethik Epiktets S. 71); ebenso werden zuweilen die gefeierten Autoritäten der alten Stoa mit diesen Heroen zusammen genannt. Aber das letztere erklärt sich aus dem programmatischen Zurückgreifen der jüngeren Stoiker auf die alte Stoa, das erstere aus dem starken neukynischen Einschlag der jungstoischen Lebens- anschauung. Um so sicherer kann die Sokratesverehrung auf eine alte Tradition der Schule zurückgeführt werden, die in Sokrates eine Verkörperung des Ideals des Weisen sah. Sehr beachtenswert ist nun aber weiter, daß auch die mittlere Stoa sich nachdrücklich an Sokrates hielt. Von Scipio Aemilianus ist bekannt, daß er von allen älteren Philosophen „den xenophontischen Sokrates vorzugs- weise liebte" (Mommsen, vgl. Cicero, de republica I 10, 15 f.). Und es ist kein Zweifel, daß Scipio diese Vorliebe von seinem philosophischen Lehrmeister Panaetius hatte, der „wie kein anderer Philosoph seiner Zeit zu den Sokratikern zurückkehrte" (A Schmekel, Philosophie der mittleren Stoa, S. 440). Der Unter- schied der Sokratesverehrung der alten Stoa von der des Panaetius scheint nur der gewesen zu sein, daß letzterer die Einseitigkeit der kynischen Sokratik zu Die Stoa und der Ausgang. 611 Dem Studium der xenophontischen Memorabilien, nach an- derer Nachricht der platonischen Apologie 1 ) — die beiden Berichte sind wohl vereinbar — verdankte Zeno, der Begründer der Stoa, die philosophische Erweckung. Die neuerwachte sokratische Be- geisterung aber führte ihn in die kynische Gemeinschaft: sein Lehrer wurde Krates. Noch galten ja damals die Kyniker als die treuen Hüter der Sokratestradition. Lange indessen scheint es ihn in dieser Umgebung doch nicht gelitten zu haben. Wie be- richtet wird, stieß ihn der kynische Rigorismus ab. Mehr noch -) war es aber wohl die geistige Enge und Dürftigkeit dieser anti- sthenischen Epigonen, was ihn weiter führte. Zeno selbst hatte einen weiteren Horizont und besonders auch umfassende gelehrt- wissenschaftliche Interessen. Und wenn auch die Berichte über die sonstigen Lehrer, die er noch „gehört" haben soll, unzuver- lässig sind, so steht doch fest, daß er die früheren und die zeit- genössischen Philosopheme eingehend studiert und beim Aufbau seines eigenen „Systems" reichlich verwertet hat. Ja, das tritt so stark hervor, daß die stoische Weltanschauung zunächst nichts anderes zu sein scheint als ein gelehrter, eklektisch stark modi- fizierter und erweiterter Kynismus mit ausgeprägt weltläufiger modifizieren suchte, indem er auch die übrigen alten Sokratiker, namentlich Plato und Aristoteles, zur Geltung brachte. Das war wohl auch die Tendenz der Schrift des Panaetius Ilsgl ZwxQäxovq xal xwv SwxQaxixüiv (vgl. Schmekel a. a. O. S. 231 ff.). Ihr entstammen ohne Zweifel die Notizen Diog. L. II 64 und 85. Diesen ist zu entnehmen, daß Panaetius unter den Schriften der Sokratiker kri- tische Musterung hielt. Nach II 64 hielt er von den sokratischen Dialogen für a^rj&eZg die des Plato, des Xenophon, des Antisthenes und des Äschines; hin- sichtlich der phädonischen und euklidischen schwankte er; die übrigen verwarf er; nach II 85 erkannte er auch eine Anzahl aristippischer Schriften als echt an. Daß nun diese Kritik sich nicht lediglich von literarischen Gesichtspunkten leiten ließ, daß sie vielmehr auch den Maßstab der „sokratischen" Geltung anlegte — das älrj&elq ist, wie Zeller richtig hervorgehoben hat, doppeldeutig — , ist mehr als wahrscheinlich. Daraus ist ersichtlich, wie stark Panaetius' sokratisches Inter- esse war. Um so mehr ist zu bedauern, daß von dieser Schrift so wenig auf uns gekommen ist. l ) Diog. L. VII 3 und 31, ferner Themist. or. XXIII 295 (v. Arnim St. v. fr. I 9). 2 J Nach Diog. L. VII 3 stieß Zeno sich an der kynischen uvaioxvvxla. Doch sind bekanntlich in seine eigene Ethik nicht wenige Züge eingegangen, die jener nicht eben ferne stehen. Das Motiv seiner Trennung von Krates ist also wohl nicht ausschließlich hier zu suchen. 39* 612 Die Sokratik. Tendenz. In der Tat haben nicht bloß zeitgenössische Gegner, sondern auch neuere Historiker sie so aufgefaßt. Nichts indessen kann verkehrter sein als dieses Urteil. Daß dasselbe der recht respektablen wissenschaftlichen Eigenleistung der Stoa nicht gerecht wird, sei hier nur nebenbei angemerkt. Bedeutsamer ist ein Anderes. Zwei große Namen geben der stoischen Welt- und Lebensanschauung ihr eigentliches Gepräge: Sokrates und Heraklit. Aber das heraklitische Element ordnet sich, so tief es in die stoische Gedankenwelt eingreift, doch dem sokratischen ein und unter. Leitend und beherrschend ist durch- aus die sokratische Tendenz. Der erste Eindruck, der in Zeno einst das philosophische Sehnen wachgerufen hatte, hat nachhaltig fortgewirkt und seinem Denken und Empfinden für immer die Richtung gegeben. Wohl sah er Sokrates zunächst mit den Augen des Kynikers. Aber als er die Schule des Krates verließ, war ihm offenbar auch eine Ahnung davon aufgegangen, daß das nicht der ganze Sokrates war, daß das Bild, das ihm aus den Memorabilien und der platonischen Apologie entgegengetreten war, wesentliche Züge aufwies, die dem kynischen Sokrates fehlten. Wir können nun freilich nicht sagen, daß die stoische Um- bildung des Kynismus von der bewußten Absicht geleitet war, das genuin sokratische Ideal wieder zu gewinnen. Daran indessen wird nicht zu zweifeln sein, daß Zeno den Sokrates der Memora- bilien und der platonischen Apologie dauernd vor Augen hatte. Und anzuerkennen ist, daß die ältere Stoa nicht allein den wert- vollen Kern der kynischen Sokratik den kommenden Jahrhunderten erhalten, daß sie vielmehr auch tatsächlich einen wesentlichen Schritt vom kynischen Sokrates zum geschichtlichen zurück getan hat. Das große Ziel, das ihr vorschwebte, war, die Sokratik der inneren Freiheit, wie die kynische Tradition sie pflegte, mit Welt und Leben in inneren Zusammenhang zu bringen und für die sittliche Erneuerung von Kultur und Gesellschaft fruchtbar zu machen. Und dies war an sich ein Unternehmen, das durchaus den sokratischen Intentionen entsprach. Das Tragische aber war, daß die Ausführung auf halbem Weg stehen blieb und — stehen bleiben mußte. So wie die Aufgabe tatsächlich gestellt und die Lösung schließlich ins Werk Die Stoa und der Ausgang. 613 gesetzt wurde, war ein Gelingen unmöglich. Die Stoiker blieben im Banne des kynischen Ideals gefangen. Dieses erschien ihnen in seiner ganzen asketischen Unerbittlichkeit am Ende doch als das sittliche Ideal im eminenten Sinn. Die kynische Asketik aber war von den Gütern und Interessen der Kulturwelt durch eine unüberbrückbare Kluft geschieden. Und indem die Stoa das Un- mögliche möglich machen, die Gegensätze vermitteln, das Un- vereinbare vereinigen wollte, geriet sie selbst, geriet ihre ganze philosophisch-sittliche Gedankenarbeit in einen unheilbaren Zwie- spalt. So war sie auf den Weg äußerlicher Kompromisse ge- wiesen, den schlimmsten, den es in prinzipiellen Fragen geben kann. Allein über der Unzulänglichkeit, Inkonsequenz, Schwäche, die hieraus entsprang, darf man das große Wollen nicht vergessen, das hinter diesem Ringen stand, und das, wenn es zu voller Ent- faltung gelangt wäre, die Einseitigkeit des Kynismus im Sinn des genuin sokratischen Evangeliums überwunden hätte. Was die Stoiker an die Kynik fesselte, war zumeist die Energie, mit der diese die sokratische Botschaft von der Autonomie und Autarkie des sittlichen Lebens zur Geltung gebracht hatte. Auch im stoischen Anschauungskreis steht dieser Gedanke im Mittel- punkt. Und es ist sicher ebenso sokratisch wie kynisch gedacht, wenn er hier an den Selbsterhaltungstrieb angeknüpft ist. Das sittliche Leben erscheint den Stoikern als die spezifisch mensch- liche Form des Strebens nach Selbsterhaltung: auf dieser Be- deutung des sittlichen Ziels für das Ich beruht es einerseits, daß dasselbe dem Menschen ein unbedingter Wert ist und das sitt- liche Wollen sich als ein Sollen, als Pflicht, als die Forderung eines Gesetzes, das das wollende Subjekt sich selbst gibt, an- kündigt, beruht es andererseits, daß die Tugend, das sittliche Leben dem Menschen vollgenügend zum Glücke ist. Die sokratisch-kynische Reinheit dieses Gedankengangs er- fährt auch durch die heraklitische Form, in die er gekleidet ist, an sich noch keine erhebliche Trübung. 1 ) Die sittliche Selbst- erhaltung wird von den Stoikern als eine Behauptung des ver- ') Nicht zu verkennen ist zwar, daß die stoische Ethik dadurch wieder einen theonomen Charakter erhält: das sittliche Gesetz wird zu einem Gesetz der Welt- vernunft, d. h. der Gottheit. Daß aber diese Heteronomie mit der sittlichen Auto- nomie am Ende vereinbar ist, zeigt die weitere Darlegung im Text. 614 Die Sokratik. nünftigen Bestandteils, des Logoselements im Menschen, dar- gestellt. Das ist auch der Sinn der bekannten Telosformel, nach der das sittliche Ziel ist, in Übereinstimmung mit der Natur zu leben. Angeregt ist diese ursprünglich sicher durch den kultur- feindlichen Weckruf der kynischen Ethik: zurück zur Natur! Aber unter den Händen der Stoiker hat sie sofort eine heraklitische Wendung erhalten: das Naturgesetz, mit dem das menschliche Tun in Einklang gebracht werden soll, ist der Logos, wie er in der Welt und in der menschlichen Seele wirklich und wirksam ist, und das naturgemäße Leben ist so viel wie vernunftmäßiges Leben. Nahe genug lag es von hier aus, die tugendhafte Be- tätigung nach platonischem und aristotelischem Vorgang in die Erkenntnistätigkeit zu verlegen. Die Stoa ist dieser Gefahr ent- gangen. Die sittliche Einsicht, die (pyovrjGig, hat ihren praktischen Charakter behalten; jedenfalls ist sie nicht viel stärker und nicht in wesentlich anderem Sinn intellektualisiert, als dies auch bei den Kynikern geschehen war. Die Tugend selbst ist eine Ge- sinnung, eine Willensrichtung, in der sittliche Einsicht und Apathie verbunden sind. Das ist echte Kynik — Kynik aber nun allerdings auch im Gegensatz zur genuinen Sokratik: die stoische Apathie ist der inneren Freiheit, wie Antisthenes sie bestimmt hatte, gleichgeartet. In der Tat kehrt hier der ganze kynisch-asketische Formalismus wieder. Auch die Moral der Stoa löst den „Weisen" los von der menschlichen Gemeinschaft und den Banden, die den Menschen an die geschichtlich gewordenen Institutionen und Lebensord- nungen zu binden pflegen. Und das stoische „Gesetz der Natur", das ganz ebenso wie bei Antisthenes mit dem Sittengesetz gleichgesetzt und darum unmittelbar aus ihm hergeleitet wird, erhält auch dieselbe radikal-naturrechtliche Tendenz gegenüber allen positiven Formen des Nomos. Kurz, das stoische Lebens- ideal ist an sich ebenso und in demselben Sinn individualistisch, antisozial und antikulturell wie das kynische. Allein an zwei Punkten zunächst erfährt dieses Ideal sofort tief einschneidende Modifikationen — Modifikationen, die ent- schiedene Annäherungen an die genuine Sokratik sind, zu deren Durchführung aber der heraklitische Faktor der stoischen Philo- sophie die Möglichkeit und den nächsten Anstoß gab. Die Stoa und der Ausgang. 615 Dem letzteren war es ja zuzuschreiben, wenn es immerhin zur Wiederaufnahme der wissenschaftlichen Erkenntnis und zur An- knüpfung derselben an die Tugend kam. Wenn das sittliche Leben einmal als eine Betätigung des Logoselements der menschlichen Seele betrachtet wurde, so war dadurch nicht allein jene skeptische Tendenz, die die Kynik in die sittliche Einsicht selbst einbezogen hatte, aus dieser grundsätzlich ausgeschaltet; es lag darin zugleich auch eine unverkennnbare Aufforderung, die Tugend wieder mit der wissenschaftlichen Tätigkeit in inneren Zusammenhang zu bringen. Die Stoiker haben diese Folgerung so sehr gezogen, daß sie die drei Teile der Philosophie, Logik, Physik, Ethik, gelegentlich geradezu als die drei vornehmsten Tugenden be- zeichnen. Dadurch wird indessen jene praktische Richtung des stoischen Tugendideals keineswegs beeinträchtigt. Die Wissen- schaft erscheint doch nur als die Voraussetzung, nicht als der Inhalt des sittlichen Lebens. Das Wunderbare aber ist, daß die Stoa in ihren wissenschaft- lichen Bemühungen selbst, so sehr diese an sich schon ein Protest gegen wichtige kynische Anschauungen sind, mit der Kynik in engster Fühlung bleibt und bleiben will. Antisthenes hatte der Spekulation den Standpunkt des gesunden Menschenverstands, für den es außer der sinnlichen Wahrnehmung keine Erkenntnis und außer den sinnlich wahrnehmbaren Objekten keine Wirklichkeit gibt, entgegengestellt. Dieser vulgäre Sensualismus und Materialis- mus nun wird, ohne wesentliche Abänderungen, die Grundlage der stoischen Erkenntnistheorie und Metaphysik. Das philosophische Bedürfnis der Stoiker kann sich freilich hiebei nicht ganz bescheiden. So sehr ihnen — wie der ganzen hellenistischen Philosophie — der freie Mut zur Spekulation, der Mut zur rationalen Intuition und Deduktion fehlt: das heraklitische Element macht sich nun doch auch in der Ausgestaltung ihrer Wissenschaft geltend. Es liefert seinerseits bedeutsame Beiträge zur Erkenntnis. Außer der sinn- lichen Wahrnehmung kennt die Stoa am Ende doch noch eine zweite Erkenntnisquelle: die angeborenen Gedankenkeime, in denen vor allem die sittlichen Vorstellungen und die Gottesidee ihre Wurzel haben, und in den sinnlichen Wahrnehmungsakten selbst sind logische Teilakte wirksam, die den Wahrnehmungen das Bewußtsein der objektiven Geltung zugesellen und sie so erst zu 616 Die Sokratik. eigentlichen Erkenntnisvorstellungen machen. Jene Gedankenkeime aber und diese logischen Funktionen sind zuletzt Betätigungen des Logos. Und wie in die Erkenntnis, so greift der Logos auch in die Wirklichkeit ein: dem rationalistischen Einschlag der Er- kenntnistheorie entspricht auf metaphysischer Seite ein dynamisches Motiv, das mit dem Materialismus in Konkurrenz tritt. So ergibt sich die sensualistisch-rationalistische, materialistisch-dynamische Wirklichkeitsbetrachtung der Stoa. Die Art aber, wie dieses Sy- stem dem sittlichen Streben dienstbar gemacht und untergeordnet wird, ist eine ganz offenkundige Reminiszenz an die Stellung, die Sokrates dem sachverständigen Wissen angewiesen hatte — so wenig die stoische Wissenschaft mit dem letzteren gleichartig ist; und die Vermutung läßt sich nicht von der Hand weisen, daß hier wieder das Vorbild des Sokrates der Memorabilien •) und der platonischen Apologie im Spiele war. Noch wesentlich weiter als diese erste führt eine zweite Abweichung vom kynischen Standpunkt, die gleichfalls mit dem stoischen Heraklitismus zusammenhängt. Wer von der kynischen in die stoische Ethik eintritt, dem fallen sofort die sozialen Züge auf, die ins stoische Ideal aufgenommen sind. Mit dem kynischen Individualismus, dem auch die Stoa ursprünglich folgt, reimen sich diese recht wenig zusammen. Wenn bei den Kynikern gelegentlich nicht bloß kosmopolitische, sondern auch sozialistische und kommunistische Gedanken anklingen, so liegt der Nachdruck hier durchaus auf der Negation, auf dem Gegensatz gegen die historisch gewordenen staatlichen und gesellschaftlichen Institu- tionen, die vor dem Gesetz der Freiheit kein Recht haben. Die Ethik der Stoa dagegen ist positiv sozial gerichtet; sie fordert wirksame Menschenliebe, aktives Zusammenhalten und Zusammen- arbeiten. Schon die zenonische „Politeia" gibt, so sehr sie noch die Spuren der kynischen Staatsauffassung an sich trägt, dem kosmopolitisch-kommunistischen Gedanken die positive Wendung. Zenos Staat ist die Welt, und die Menschheit wird einer Herde verglichen, die durch ein gemeinsames Gesetz zusammengehalten x ) Der spekulationsfeindliche Zug der Memorabilien spricht hiegegen nicht. Die stoische Metaphysik ist ja von der Art, daß sie diesem deutlich Rechnung trägt : sie selbst ist, wie wir wissen, durch den vulgären Sensualismus und Mate- rialismus der Kynik vermittelt. Die Stoa und der Ausgang. 617 wird und in diesem Gesetz ihre Einheit hat. Bei Chrysipp ist diese Idee vertieft und weitergeführt. Und so wenig die alte Stoa daran denkt, ihrem Weltstaat organisatorische Formen zu geben: dieser selbst erscheint als eine sozial geschlossene Gemeinschaft, deren Verfassung das Weltgesetz ist. 1 ) Es ist klar: von dem Ideal des sich selbst genügenden, aus der Gesellschaft losgelösten Weisen läßt sich zu dieser An- schauungsweise keine Brücke schlagen. Aber dieses ganze soziale Denken hat seine Wurzel in einem metaphysischen Dogma: nach heraklitischer Lehre sind die Menschen alle, sofern sie am Logos teilhaben, nicht bloß wesensverwandt; sie hängen auch — eben im Logos — real zusammen. Die menschliche Gemeinschaft ist also im letzten Grund eine metaphysische Einheit. Für das Individuum aber ergibt sich hieraus die praktische Folgerung, diese Einheit seinerseits zu betätigen, den natürlichen Mensch- heitsbund durch die Tat zu bekräftigen und zu fördern; und das ist die Forderung der allgemeinen Menschenliebe. Wieder in- dessen hatte die Synthese zwischen Kynik und Heraklit eine Stütze an dem Sokrates der Memorabilien und der Apologie. Und daß die Stoa in der Tat, indem sie jene sozialen Züge an das kynische Lebensideal anknüpfte, mit der sozialen Tendenz im Wirken und in der Lebensanschauung dieses Sokrates Fühlung nahm, ist zum mindesten nicht unwahrscheinlich. Mit der wissenschaftlich-theoretischen und der sozialen Wen- dung ihres Denkens waren die Stoiker auf dem besten Weg, das kynische Ideal an seinem tiefsten Punkte umzubilden. Es ist damit ein entschiedener Anlauf gemacht, der sittlichen Form einen Inhalt zu geben. Ein gutes Stück weiter auf diesem Weg geht die Lehre von den nQorjyiiiva. Man wird dieser nämlich nicht gerecht, wenn man sie lediglich als eine Konzession an die vul- gäre Lebensauffassung, als eine Rücksichtnahme auf die Schwäche der sündigen Menschen, denen die Reinheit des kynischen Ideals eine unerreichbare Höhe bleibt, deuten will. Es steht hinter ihr die tiefe Einsicht, daß das menschliche Begehren, wie es aus den natürlichen Trieben hervorgeht, daß die Gesamtheit der Inter- ') v. Arnim I 259—271, III bes. 333—348. Vgl. Wendland, Die hellenistisch- römische Kultur 2 S. 41 ff. 618 Die Sokratik. essen, die den in der Gesellschaft und im Kulturleben stehenden natürlichen Menschen bewegen, auch unter dem sittlichen Ge- sichtspunkt nicht einfach wert- und bedeutungslos sein könne, daß vielmehr das kynische Ideal, wirklich durchgeführt, eine Ver- ödung und Verarmung auch des sittlichen Lebens zur Folge haben müßte. Aus solchen Erwägungen heraus entschließt sich die Stoa, auch den Zielen des natürlichen Begehrens einen ge- wissen Wert zuzuerkennen. Als schätzenswerte Dinge in diesem Sinn bezeichnet sie z. B. gute Veranlagung, technisches Können, gutes Gedächtnis, Scharfsinn, das physische Leben, Gesundheit, körperliche Kraft und Schönheit, mittelbar auch Wohlstand, An- sehen, gute Geburt u. s. f. Auf der gleichen Linie aber, wie diese relativen Werte, stehen die „mittleren", d. h. relativen Pflichten {y.a&ry.ovxa). Dahin gehören die Pflichten gegen die Familie, das Vaterland, die Freunde u. dgl. Nicht zu verwundern ist von hier aus, daß auch die Forderung der Apathie eine Modifi- kation erfährt: auch die Affekte erscheinen nun nicht mehr als schlechtweg und in jeder Hinsicht verwerflich. Und zwar werden nicht allein die mit der sittlichen Betätigung unmittelbar zusam- menhängenden „Eupathien" (eindd-eicu), die geschichtlich ohne Zweifel aus der reuelosen Befriedigung der Kynik hervorgewachsen sind, anerkannt. Auch natürliche Gefühle wie z. B. die Liebe zu den Blutsverwandten werden zugelassen. 1 ) Damit aber wird un- verkennbar dem Affektleben selbst eine gewisse Berechtigung zuerteilt. Nimmt man dies alles zusammen, so scheint die ganze Ge- dankenreihe geradezu auf die Vorstellung hinzudrängen, daß der sittliche Wille sein Material an den natürlichen Begehrungen und Interessen hat, und daß seine Aufgabe eben die ist, dieses Ma- terial so zu durchdringen und zu gestalten, daß das formale Ideal der Vollkommenheit und der sittlichen Freiheit im Leben, im natürlichen Begehren selbst zu voller Verwirklichung kommt. M. a. W.: die Lösung des Problems wäre die Immanenz des sitt- lichen Ideals, des unbedingten Gesetzes in den relativen Inter- essen, Gütern und Pflichten gewesen. ') Hiezu s. A. Bonhöffer, Epiktet und die Stoa S. 298 ff. Bonhöffer hat zweifellos Recht, wenn er dieses Lehrstück auf die alte Stoa zurückführt, obwohl es sich in der Hauptsache nur aus Epiktet, Seneca und M. Aurel belegen läßt. Die Stoa und der Ausgang. 619 Das war der sokratischc Standpunkt. Aber eben hier zeigt sich, daß die Stoa von der kynischen Denkweise schließlich nicht loszukommen vermag. Das sittliche Ideal ist und bleibt ihr ein Absolutes, das sie über die Sphäre der besonderen Begehrungen und Interessen völlig hinaushebt, um seine Unbedingtheit sicher- zustellen: die Selbständigkeit und Autarkie des sittlichen Guts und darum die mit dem sittlichen Leben verbundene innere Freiheit wäre -- das ist ihre Meinung — vernichtet, wenn der sittliche Wille an die Sonderbegehrungen geknüpft und so sein Zweck in Abhängigkeit von deren Zielen gebracht würde: die Endzweckbedeutung des sittlichen Ziels scheint auch der Stoa nur dann gewährleistet, wenn dasselbe von den Zielen der aus dem natürlichen Triebleben entspringenden Strebungen gänzlich los- gelöst und auf sich selbst gestellt wird. Auf diese Weise fällt jede Möglichkeit weg, jene schätzenswerten Dinge (nyorjyjutva) und mittleren Pflichten in einen positiven inneren Zusammenhang mit dem sittlichen Gut zu bringen. Ja, da nur das, was in die Region des letzteren unmittelbar fällt, als sittlich gut gelten kann, so können in diesem ganzen mittleren Gebiet, in dem die kon- kreten Lebensaufgaben und Lebensinteressen liegen, eigentlich sittliche Werte überhaupt nicht anerkannt werden. Überaus charakteristisch für diese Vorstellungsweise ist, daß selbst der sittliche Fortschritt (ti^oxojitj) nur als ein Tiqor^^iivov an- gesehen wird. Das ist nur folgerichtig, wenn man die sittlichen Werte für den wollenden Menschen erst da beginnen läßt, wo die ihm aus seinem konkreten Lebenskreis erwachsenen Aufgaben und Interessen hinter ihm liegen: dann kann die Arbeit, die bis dahin geleistet wird, nicht als sittliche gewertet werden; und der Gedanke, daß die Menschenaufgabe eben in der Versittlichung dieser konkreten Interessensphäre bestehe, wird unvollziehbar. Unter diesen Umständen bleibt der Stoa keine andere Möglich- keit, ihrer richtigen Einsicht Folge zu geben, als die: die tzqot] 1 /- jbisva und die mittleren Pflichten dem sittlichen Ideal als relative — aber durchaus nicht sittliche — Werte und Pflichten rein äußer- lich anzureihen. Und es kommt weder zu einer richtigen Würdi- gung des sittlichen Charakters dieses Lebenskreises noch auch nur zu einem wirklichen Verständnis der inneren Beziehungen, in denen die relativen Werte, die mittleren Pflichten und, wie wir 620 Die Sokratik. anfügen können, die berechtigten Affekte zu einander stehen. Eben darum kann es auch nicht recht gelingen, das wissenschaft- liche und das soziale Element des stoischen Ideals mit diesem mittleren Lebensgebiet in sachliche Verbindung zu bringen *), und die Stoa hat nicht einmal ernstlich versucht, die Wissenschaft an das lebendige Kulturleben und das soziale Sollen an die positiv- historischen Institutionen des gesellschaftlichen Lebens wirklich anzuknüpfen. So bleibt die sittliche Bedeutung der wissenschaftlichen Ar- beit unklar, und die soziale Tendenz kommt grundsätzlich über einen abstrakten Kosmopolitismus und Kommunismus nicht hin- aus. Die ethische Gesamtanschauung der Stoa aber erhält jenes Gepräge des Kompromisses zwischen dem asketischen Ideal der Kynik und den Forderungen und Bedürfnissen des praktischen Lebens. Vielleicht daß unter anderen äußeren Umständen die Stoa den richtigen Weg, der ihr vorschwebte, leichter gefunden hätte. In der Zerfahrenheit der hellenistischen Verhältnisse war ja für eine kulturell-soziale Sokratik kein Raum. Es fehlten hier schon die nationalen Anknüpfungspunkte, und es fehlte vor allem der sitt- lich-politische Sinn und Drang. Wesentlich günstiger lag die Situation auf römischem Boden, und es ist kein Zweifel, daß die mittlere Stoa, die im römischen Geistesleben einen tiefein- greifenden Einfluß gewann und die geistig bedeutendsten Männer Roms an sich zu fesseln wußte, in der Überwindung des asketisch-kynischen Vollkommenheitsideals ein gutes Stück über die alte Stoa hinausgekommen ist. Nicht nur daß nun die rela- tiven Werte und die mittleren Pflichten wirklich sittliche Bedeu- tung erhielten. 2 ) Panätius, der hier führend voranging, stellte das absolute Ideal des Weisen zurück und bemühte sich, dem sittlich strebenden Menschen der Wirklichkeit den Weg zu zeigen. Das relative Ideal aber war ihm die „vernunftgemäße Vollendung *) An Ansätzen hiezu hat es ja nicht gefehlt. Dahin gehört die Einreihung der Pflichten gegen Familie, Vaterland und Freunde unter die xa&rjxovra (vgl. Dyroff a. a. O. S. 136f.), ferner z. B. die Tatsache, daß die Freude an der reinen Wissenschaft zu den berechtigten natürlichen Gefühlen gezählt wird (hiezu s. Bonhöffer, Epiktet und die Stoa S. 301). 2 ) Vgl. Bonhöffer, Ethik des Stoikers Epiktet S. 164 f. Die Stoa und der Ausgang. 621 der individuellen Natur und der eigenen Persönlichkeit des Men- schen". 1 ) Damit war der Übergang zum wirklichen Leben her- gestellt. Die Stoa hatte jetzt Fühlung mit den lebendigen Mächten der Geschichte gewonnen, und die Römer, die sich zu ihr hielten, fanden in dieser Philosophie nicht bloß sittliche Erhebung und Erbauung, sondern auch unmittelbare Anregung zu ihrer prakti- schen Arbeit im Staat und in der Gesellschaft. 2 ) Es war aber schwerlich zufällig, daß derselbe Panätius gleichzeitig auf die alte Sokratik zurückgriff und die sokratische Tradition über die kyni- sche Enge hinauszuheben suchte, indem er auch Plato und Aristo- teles zum Wort kommen ließ. 3 ) In Wirklichkeit war freilich auch diese Lösung des Problems nur ein Kompromiß, ein weiteres Entgegenkommen gegenüber dem natürlichen Triebleben und den tatsächlichen Verhältnissen, nichts mehr und nichts anderes. Im Hintergrund blieb das abso- lute Ideal in seiner vollen Geltung bestehen. 4 ) Und der Gedanke, dasselbe in das relative einzubeziehen und so die Antinomie aus- zugleichen, lag auch dem Panätius ferne. Eine nachhaltige Um- gestaltung der stoischen Denkweise ist denn auch ihm so wenig gelungen, daß die spätere Stoa in seiner Position nur charakter- lose Halbheit und eklektische Schwäche sah und bemüht war über den Abgefallenen hinweg wieder auf die reine Lehre der alten Stoa zurückzugehen. Und das war keineswegs eine bloße Rückkehr. Die kynisch- asketische Tendenz der altstoischen Ethik erfährt jetzt eine er- hebliche Verschärfung. Sokrates selbst zwar bleibt sittliches und „philosophisches" Vorbild. Aber es ist wieder der kynisch auf- gefaßte Sokrates, dem die Verehrung gilt. Und neben, ja über ihn stellt sich Diogenes, der Hund. Ein Bedürfnis, mit dem sitt- lichen Vollkommenheitsideal die tatsächliche Welt und das wirk- liche Leben von innen heraus zu erneuern, hat die jüngere Stoa nicht mehr. Sie löst den sittlich strebenden Menschen vollends ganz von den konkret-individuellen Lebensverhältnissen los. Und ') So Schmekel, Große Denker I S. 239, vgl. Philosophie der mittleren Stoa S. 210 ff. 2 ) S. hiezu P. Wendland, a. a. O. S. 44. 3 ) S. oben S. 610, 1. "j Gegen Bonhöffer a. a. O. S. 148 und Hirzel, dem B. hier folgt. 622 Die Sokratik. man merkt es ihrem Ideal recht wohl an, daß die Kynik wieder lebendig geworden ist und auf die Stoa erneuten Einfluß ge- wonnen hat. Das wissenschaftliche Element der altstoischen Tugend tritt merkbar zurück. Festgehalten allerdings wird das soziale. Nichts aber ist für den neuen Geist, der in die Stoa ein. gezogen ist, so charakteristisch wie die Wendung, die ihr sozi- ales Denken genommen hat. Es ist bekannt, mit welchem Nach- druck die jüngeren Stoiker das Dogma, daß alle Menschen Brüder seien, gepredigt und die humane Pflicht allgemeiner, ausnahms- loser Menschenliebe eingeschärft haben. Aber an die kosmo- politische Abstraktheit dieser Menschenliebe knüpft sich nun ein naturrechtlicher Radikalismus, der die verwandten Stimmungen und Intentionen der alten Stoa weit hinter sich läßt und über die historisch gewordenen gesellschaftlichen Ordnungen mit einer Konsequenz hinweggeht, die jeden Gedanken an eine positive Fühlungnahme mit den sozialen Institutionen der Zeit im Keim ersticken muß. An einem Punkt allerdings, und zwar einem sehr bedeut- samen, scheinen die jüngeren Stoiker doch prinzipiell dem Vor- gang der mittleren Stoa zu folgen. Ihre moralische Paränese nimmt auf den sittlich Fortschreitenden weit mehr Bedacht und läßt der bloßen Annäherung an die Vollkommenheit eine weit höhere Schätzung zu teil werden, als dies altstoischer Anschauung entspricht. Allein die Übereinstimmung ist nur scheinbar. Bei der neueren Stoa hat diese Wendung einen wesentlich anderen Charakter als bei Panätius, wie sie denn auch auf ein ganz anderes Motiv zurückgeht. Sie erklärt sich aus einer Stimmung, die der mittleren Stoa — wenigstens ihrem Begründer — eben- so wie der alten fremd gewesen war: aus jenem ethischen Pessi- mismus, der in dem Dogma von der allgemeinen menschlichen Sündhaftigkeit 1 ) seinen Ausdruck gefunden hat; sie ist also nun allerdings ein Kompromiß — nicht mehr mit dem praktischen Leben und seinen Anforderungen, sondern mit der sittlichen Schwäche der Menschen. ') Auch der alten Stoa ist die Lehre vertraut, daß die Menschen in ihrer überwiegenden Mehrzahl Toren seien. Aber die Art, wie Seneca, Marc Aurel und auch Epiktet von der allgemeinen Verworfenheit und Verderbtheit sprechen, ist doch ein Novum. Die Stoa und der Ausgang. 623 So wenig nun aber die Stoa im Lauf ihrer Geschichte die weltflüchtige Asketik, die ihr als der Nachfolgerin der Kynik an- haftete, je grundsätzlich zu überwinden vermocht hat, und so sehr sie in ihrem abstrakten Doktrinarismus stecken geblieben ist: das große Verdienst bleibt ihr: sie hat das Prophetenwort von der inneren Freiheit der Persönlichkeit, von der Autonomie und Autarkie des sittlichen Lebens in die hellenistisch-römische Welt herübergerettet. Und daß sie eben hierin glücklicher war als die kynische Schule, die an dieser Aufgabe zu Grunde gegangen war, das verdankte sie doch zuletzt dem sozial-kulturellen Einschlag ihres Lebensideals und ihrer ernstlichen Intention, mit dem wirk- lichen Leben in Zusammenhang zu kommen. Zwar eine welt- geschichtliche Potenz zu werden, dazu war ihre ganze Art nicht angetan. Und im Grunde war es ja eine recht verstümmelte und verkümmerte Sokratik, die sie kultivierte. Das aber darf man doch sagen: die Stoa hat das sokratische Vermächtnis, so wie sie es zu fassen vermochte, wie ein heiliges Herdfeuer gehütet, und sie hat den sokratischen Funken, der allenthalben in der helle- nistisch-römischen Welt fortglomm, lebendig erhalten und immer aufs neue angefacht. Auch die übrigen Philosophenschulen 1 ) vermochten sich diesem Einfluß auf die Dauer nicht völlig zu entziehen, und im geistig-kulturellen Leben dieser ganzen Epoche ist derselbe überall zu spüren. Auch das aber ist unverkennbar: etwas von dem alten Reiz, von der ursprünglichen Zauberkraft — und nicht wenig — hat das sokratische Evangelium, die Dies- seitsbotschaft von der sittlichen Freiheit, auch in der stoischen Einengung behalten. Vergegenwärtigt man sich die Vorherrschaft des stoischen Einflusses während der drei letzten vorchristlichen Jahrhunderte, so wird man den Eindruck haben, daß die praktisch-ethische Sokratik der inneren Freiheit die intellektuelle in ihrer platonischen wie in ihrer aristotelischen Form ganz überwältigt habe. Allein ein dauernder Sieg war das dennoch nicht. Noch im ersten Jahr- hundert v. Chr. bereitet sich eine entscheidende Wendung vor. Und bald zieht vom Orient her über das Abendland jene ge- ') Selbst die Skepsis nicht ausgenommen. Die pyrrhonische czaQu&a selbst freilich geht ohne Zweifel auf Einflüsse früherer Sokratiker zurück. 624 Die Sokratik. waltige Welle dualistisch-transzendenter Mystik herauf, die schließ- lich auch das Diesseitigkeitsevangelium der Stoa unter sich be- gräbt. Innerhalb der stoischen Gemeinschaft selbst macht sich schon in der Zeit der mittleren Stoa, seit Posidonius, dem Schüler des Panätius, der neue Geist bemerkbar. Die stoische Askese beginnt wesentliche Züge der dualistisch-sinnenfeindlichen Asketik anzunehmen. Zwar kehrt die Reaktion, die sich in der jüngeren Stoa der mittelstoischen Reformbewegung entgegen- stemmte, ihre Spitze nicht zuletzt gegen die platonisierenden Neigungen des Posidonius. Aber eben an diesem Punkt ver- mögen sich die jüngeren Stoiker selbst der dualistischen Strömung nicht zu entziehen. Und auch die erneuerte Kynik, die die längst abgebrochenen antisthenischen oder vielmehr diogenischen Tradi- tionen wieder aufzunehmen bemüht war, mündet in diese Bahn ein. Die Geringschätzung der Leiblichkeit und die Überspannung des Gegensatzes von Geist und Materie zusammen mit der stark pessimistischen Beurteilung der sittlichen Fähigkeiten der Mensch- heit sind deutliche Kennzeichen, daß die neue Stimmung auch in den kynisch-stoischen Anschauungskreis eingedrungen war. 1 ) Es war eine Selbsttäuschung, wenn diese Neustoiker und Neukyniker meinten, auf den Wegen ihrer klassischen Vorgänger zu wandeln. Das dualistische Element hatte ihrem ganzen Denken eine ver- änderte Tendenz und Orientierung gegeben. Und der neuen Denk- weise fehlte die Widerstandskraft, deren es in dem nun herein- brechenden großen Entscheidungskampf bedurft hätte. Indessen auch ohne das wäre die Lage nicht bloß für die Kynik, die ja weit mehr durch die bettelhaften Allüren und rüden Absonder- lichkeiten ihrer vagabundierenden Apostel als durch die An- ziehungskraft ihrer Lebensanschauung die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen auf sich gelenkt hatte, sondern auch für die Stoa hoffnungslos gewesen. Der religiösen Glut übermächtiger trans- zendent-mystischer Interessen, die hinter den platonisierenden und pythagoreisierenden Tendenzen standen, war das abstrakte Lebens- ideal der Stoa nicht gewachsen. ») Vgl. Wendland, hellenistisch-römische Kultur 2 S. 238f., S. 40 f., S. 60f., S. 134 ff., Schmekel, Philosophie der mittleren Stoa S. 401 ff., Bonhöffer, Epiktet und die Stoa S. 33 ff. Die Stoa und der Ausgang. 625 Es ist ein eigentümliches Schauspiel, wie in dieser sieghaft vorwärtsdrängenden Bewegung die dualistisch-theosophische Stim- mung morgenländischer Erlösungssehnsucht, die sich aus dem Elend des Diesseits in ein seliges Jenseits flüchtet, und eine archaisierende Romantik, die von der Jämmerlichkeit der Gegen- wart sich abwendet und zur erhabenen Weisheit einer grauen Vor- zeit zurückstrebt, Hand in Hand gehen und zu einem romantisch- mystischen Pessimismus führen, der in der sinnenfeindlichen Askese und in der transzendent-ekstatischen Spekulation der alten Geheimlehren das Heil sucht. So kommt es zur Wieder- belebung der seit Jahrhunderten verschollenen genuin-platoni- schen Sokratik, die sich in den philosophischen Bewegungen der beiden ersten christlichen Jahrhunderte vollzieht und im Neu- platonismus vollendet. Damit verschiebt sich noch einmal die Situation. Weder Antisthenes noch andererseits Aristoteles ist der end- liche Sieger, sondern Plato, dessen spekulativ-dogmatische, stark religiös bestimmte Mystik den Bedürfnissen der neuen Zeit entspricht. Die aristotelische Wissenschaft wird nachher dem mystisch-theologischen System eingefügt. Für das Evangelium der inneren, diesseitigen Freiheit dagegen ist in dieser Region keine Stelle mehr. Die Epigonensokratik, die im Geistesleben der hellenistischen Zeit diesen sokratischen Kerngedanken siegreich festgehalten und Jahrhunderte lang die Führung behauptet hatte, wird durch die neue Stimmung völlig verdrängt 1 ), und der Sokrates der Memorabilien und der platonischen Apologie, der, kynisch modifiziert, noch den jüngeren Stoikern auf ihrem Weg vorangeleuchtet hatte, tritt ganz zurück. An dem überkommenen Bild des Meisters haben diese Jahr- hunderte nicht einmal viel geändert. Daß gleich zu Anfang platonisierende Philosophen aus dem sokratischen Daimonion einen persönlichen Schutzgeist gemacht haben (S. 453f.), lag im Stil der Zeit, die es liebte, die „Weisen" des Altertums, zu denen die Gegenwart ehrfurchtsvoll emporschaute, mit dem Nimbus des ') Natürlich wird hieran durch die Tatsache nichts geändert, daß die spekulativen Elemente der stoischen Welt- und Lebensanschauung nicht bloß für den Neuplatonismus, sondern auch für den Aufbau des christlichen Dogmas und die christliche Theologie recht erhebliche Bedeutung gewonnen haben. H. Maier, Sokrates. 40 626 Die Sokratik. Wunderbaren zu umgeben. Es ist aber hiebei geblieben. Und auch das literarische Ansehen, zu dem die xenophontische Schrift- stellerei in der hellenistischen und ganz besonders in der römi- schen Zeit gelangt war, wirkte nur dahin, den Sokrates der Über- lieferung vor der Überwucherung durch -platonisch-spekulative Züge, die vom „Phädo" her beständig drohte, zu schützen. Aber die Sokratestradition ihrerseits war bereits zu fest geworden, um durch den Wandel der Stimmungen alteriert werden zu können, und die Gelehrsamkeit der Zeit mühte sich eifrig und nicht ohne Erfolg, auch den Klatsch, der sich in den verflossenen Jahrhun- derten um die Gestalt des Sokrates angesammelt hatte, der Nach- welt zu konservieren. 1 ) Aber man kann auch nicht behaupten, daß der Name des Sokrates jetzt aus der philosophischen Diskussion selbst ver- schwunden wäre. Daß dies nicht geschah, war den Christen zu danken. 2 ) Es lag für diese nahe genug, den heidnischen Philo- sophen, der für seine Sache einst den Märtyrertod gestorben war, ihrem eigenen Meister gegenüberzustellen. In der Tat kehrt seit Justin dem Apologeten die Parallele: Sokrates und Christus, in der christlichen Literatur immer wieder. Natürlich wird Christus hoch über den Heiden gestellt. Das Urteil über den letzteren selbst wechselt von der höchsten Verehrung und Bewunderung für diesen Zeugen der Wahrheit auf heidnischem Boden bis zu höhnischer Geringschätzung und fanatischer Beschimpfung. Überall aber erscheint Sokrates als der Repräsentant der heidnischen Philosophie. Um so bemerkenswerter ist, daß die Philosophen ihrerseits den Kampf nicht in gleicher Weise aufnahmen. Eines frappierte auch sie, und das war ein Punkt, der in die Augen springen mußte, auch wenn die christlichen Autoren ihn nicht immer wieder geflissentlich hervorgekehrt hätten: die Art, wie die Christen selbst für ihren Glauben und ihren Herrn in den Tod gingen, erinnerte ganz auffallend an Sokrates' Ende. Mit dieser *) Man braucht hiefür nur auf die Fragmente aus der (piköoocpoq lotoQia des Neuplatonikers Porphyrius, die sich auf Sokrates beziehen (X — XII Nauck), zu verweisen. 2 ) Hiezu und zum Folgenden s. A. Harnack, Sokrates und die alte Kirche, 1901 (vgl. Dogmengeschichte I 4 bes. S. 507 ff.). Manche Ergänzung bietet J. Geffken, Sokrates und das alte Christentum, 1908. Die Stoa und der Ausgang. 627 Parallele suchte man sich in dieser oder jener Weise abzufinden. 1 ) Im übrigen war der Eifer, für Sokrates und gegen Christus eine Lanze zu brechen, nicht allzu groß. Daß die heidnischen Philo- sophen in dem Namen des Sokrates ein Symbol ihrer Sache gesehen und in diesem Sinn um ihn gestritten hätten, kann man wirklich nicht sagen. Sokrates war für diese spätere Zeit eine rein historische Größe geworden. In der neuplatonischen Schule beging man alljährlich auch seinen Geburtstag festlich. Aber diese Ehrung galt eben nur dem Lehrer Piatos. 2 ) Das Verständnis für das Eigenartige seines Werks war verloren gegangen. Und sein Wort hatte aufgehört, eine Lebensmacht zu sein. Als dann das Christentum die heidnische Kultur überwunden und auch den Neuplatonismus sich unterworfen hatte, wirkte wohl Piatos mystisch gestimmte Erlösungsphilosophie in der christlichen Glaubenswelt mächtig weiter. Das sokratische Evan- gelium dagegen war völlig vergessen. An Sokrates' Stelle war Christus getreten. Ein endgültiger Untergang freilich war auch das keineswegs. Wer mit aufmerksamem Sinn die Jahrhunderte durchwandert, wird immer wieder auf sokratische Spuren treffen. Schon das stoische Element der rationalen Tradition, die sich durch das Mittelalter hindurchzog, sorgte dafür, daß der sokratische Funke auch jetzt nicht ganz verlosch. Zu neuem, machtvollem Leben erwachte der sokratische Geist, als die abendländische Kultur sich von der kirchlich-feudalen Gebundenheit der mittelalterlich-christ- lichen Lebensordnung und von der transzendent-mystischen Grund- stimmung des mittelalterlich-religiösen Denkens loszuringen be- gann. Zwar ist es nicht so, daß der Name Sokrates oder gar die Erinnerung an den historischen Sokrates nun wieder zum Zauberwort und zur Streitparole geworden wäre. Tatsache aber ist, daß die sokratische Sache, das Diesseitigkeitsevangelium der sittlichen Autonomie und Autarkie, jetzt eine Kulturkraft wurde, *) Das hat nicht bloß der Jungstoiker Marc Aurel (XI 3, 2) getan. Vgl. Harnack, a. a. O. S. 12 f. 2 ) Porphyrius de vita Plotini, c. 2 Schi. — Natürlich kann gegenüber dem im Text Ausgeführten die rhetorische Stilübung, die der dem 4. Jahrhundert an- gehörige Sophist Libanius in seiner bekannten (gegen Polykrates gerichteten) Hwxpüxovq cmoloyia geliefert hat, in keiner Weise ins Gewicht fallen. 40* 628 Die Sokratik. die — in den verschiedenartigsten Erscheinungsformen, oft kaum erkennbar, sich auswirkend — in die geistige Entwicklung des europäischen Völkerkreises und der aus ihm hervorgewachsenen Nationen tief und entscheidend eingegriffen hat und auch heute noch bestimmenden Einfluß übt. Es ist, als ob aufs neue, und jetzt erst recht, Sokrates und Christus einander gegenüberstünden und um die Herrschaft rängen. Und es kann kein Zweifel sein: im tiefsten Grund dreht sich der ganze Kampf der Geister und der Weltanschauungen um diesen Gegensatz. Nicht daß die beiden Mächte sich nur feindlich abstoßen würden! Sie sind auch in die mannigfaltigste, fruchtbarste Wechselwirkung getreten. Auch so in- dessen ist der Gegensatz geblieben. Und die Gegenwart empfindet hier ein fundamentales Lebensproblem — so wenig sie auf dessen historischen Hintergrund zu merken pflegt. Möglich, daß auch dieser in Bälde in seiner ganzen Schärfe ans Licht treten, daß wirklich, wie Harnack prophezeit, die alte, einst so viel diskutierte Frage: Sokrates oder Christus? „uns in den nächsten Jahrzehnten wieder mit ganzer Macht beschäftigen" wird. Kommt es je dahin, so möge das Bild des geschichtlichen Sokrates, wie die vor- stehenden Blätter es, aus dem Schutt der Überlieferung heraus- gehoben, zu fassen suchten, seine Wirkung tun. Daß das so- matische Evangelium auch für die heutige Welt eine Quelle des Lebens, der sittlichen Kraft und Freiheit werden kann, ist in jedem Fall meine feste Überzeugung. Register. (Zur Ergänzung ist die Inhaltsübersicht heranzuziehen.) A. Abbildtheorie, erkenntnistheoretische (Aristoteles) 530. 535. 599. Adel s. Eugenie; Adeisethik s. Klassen- mora!. Äschines, der Rhetor 420,2. 494,1 Äschines, der Sokratiker 4,1. 27,1. 52. 52,1. 73,3. 81,1. 121,1. 138. 138,1. 149. 149,2. 183,1. 191,1. 193. 295,2. 324,2. 353,1. 400,1. 402,1. 428,1 447,1. Äschylus 299. Agathen 17,1. 137. Akademie 80,1. 100,2. 116,3. 266,2.542,1. 544,3- 555- 561 ff- 509,3- 570,1-573- 589. 590 f. 594- 605 t. Alexamenos 27,1. 117,1. Alkibiades 138t'. 230. 301,1. 302. 402,1- 463, Alkibiadesliteratur 138,1. Alkidamas 243. Allgemeines s. Begriff. Ameipsias 158. Anamnesis 360, 522 t'. 539. Auaxagoras 113. 160 f. 166. 167 f. 171. 180. 182. 240. 299. 431. 433. 463. f. 474. 490. 491,1. 526. Andokides 467,2. 468,1. Antipater, der Stoiker 453,4. Antiphon, der Rhetor 201,4. Antiphon, der Sophist 36. 172. 199. 232. 254. Antisthenes4,i. 14. 17,1. 42 f. 44 ff. 62 ff. 108 f. 204 ff. 469, 1 . 502 ff. u. ö.; Urteile über A. 151,1. 503 f., persönliche Be- ziehungen zu Sokrates 45. 67. 73. 149. 150. 150,1. 158. 505 f. 512 f., So- kratesauffassung 42 f. 45 ff. 62 ff. 150 u. pass., frühantisth. Sokratesauffas- sung 42 f. 109. 148. 283 ff. 384, s. auch Kleitophon unter Plato; Verhältnis zu den Sophisten 108. 108,1. 116. 134. 134,1. 204 f. 379 f. 503 f. 505, Schüler des Qorgias 134,1. 175,2. 224,2. 505. 513L, Kampf gegen Plato 40. 43 ff. 108 f. 134 f. 268 f. 283 ff. 383 ff. 502 ff. pass. 557. 557,1, s. auch Plato; Schul- gründung und Schule 45. 108 f. 108,1. 116. 116,2. 205. 205,1 503 f. 505 f., Fr- lösungsintenüon 305, Tugend und Glück 310 ff., Lust 324. 341 f. 575 ff. 585 ff. u. ö., innere Freiheit 323 f. 385. 392,2 u. ö., Güter 321. 323 f., Ponos 63 ff- 333,', (pQÖvijaiq 324. 341 f. 351,1.. 353.1- 354,1- 355,1. 392,2. 517. 575 ff. 587, Tugend lehrbar (334,2.) 341,3. 347 f- 355,1, Tugend unverlierbar 34 2 - 357, ethischer Formalismus 49- 49,1. 383 ff, 398- 515 l 581 f. 614; Wissen 341 f. 398. 515. 515.3, Skepsis 158. 175 ff. 175,1. 268 f. 293 f. 342. 513 ff. 521 f., Dialektik und Eristik 204 ff. 268 f. 359. 361 f. 504,1. 509,1- 513 ff. 521 f. 540, Protreptik und Elenktik 204 ff., 283ff., Definition 291 f., definitorische Frage 289. 292, Untersuchung der Wortbedeutungen 254,1. 289. 374. 514,2, Sprachphilo- 630 Register. sophie 509,1, Dichterauslegung 174. 378 ff. 392,2, Erziehungsproblem 176,1. 397.2. 506. 515 u. ö., Materialismus und Sensualismus 46,1. 144,1. 211. 513. 615, Theologie 46,1. 46,2 (vgl. 429,2). 64 f. 439 f. 441,1. 443 f. 446,1, über Unsterblichkeit 436,3, Stellung zum Nomos, Naturrecht 46,2. 243. 389 ff. 409,1. 441,1. 443 f. 446,1. 509 ff. 509,1, politisch-soziale Gedanken 416. 418,1. 418,2. 420,3.421,1. 422,1.423,1. 511.1, Freundschaft 17,1. 402,1.407,1. 408.415,3, sexuelleDinge 17,1.402.507, Stellung zum Eros s. Eros; Ehe 412,2, 420.3. 423,1, Familie 415; s. ferner zu den sämtl. Punkten die Ge- samtdarstellung 502 ff. ; Schriften 63 ff. I49. 504, "kÖyOl 2(OXQCCTlXOl 23,2. 27. 27,1. 67. 149. 289. 505^, Hera- kles 64, Archelaos 81,1. 134,1, Tlegl xü)v ootpiozibv 134,1, ntpl ovofxdrwv XQrjOeojq rj sQLöxixöq 200,2, döl-cu fj iQianxöq 200,2, Protreptikos 287,1. 426.2, tcbqX öö^rjq xal imoTrj/urjg 341,3. 515,1, über Homer 379,1. 381,1, über Theognis 379,1. 381,1, Aspasia 400,1, Politikos 418,1. 419,2, Kyros 506, KvQoq rj nsgl ßaaiXdaq 511,1, Sathon 514.3, Deklamationen 505,1. Anytos 15,2. i86f. 467 ff. 489. Apathie, stoische 614. 618. Apollodor 484,1 Archelaos, der Macedonierkönig 81,1. Archelaos, der Philosoph 165 f. 168. 240. 242,1. 297,2. 432. Archinos 472,2 Aristipp 4,1. 34. 36. 40 f. 50 f. 81,1. 116,3. 149 ff. 211. 293. 305. 416. 557. 557» 1 - 575 ff- 583ff. 610,1, Beziehung zuSokrates 51. 73. 81,1. 149. 151. 325 f. 386. 583—585, innere Freiheit 325 f. 331. 584. 609, cpQÖvriaiq 326,3. 342 f. 344. 35i.i- 354,1- 355,1, Lust und Lustbe- gehren 311. 325L 331. 575 ff., 585 ffv Inhalt des Lebensideals die rjöoval 326,3. 385. 386. 585, angeblicher ethi- scher Sensualismus 326,3. 386. 585, Skepsis 211. 265. 342. 344. 584. Aristodemos 46,1. Aristophanes 157 ff. 168,2. 420,3. 475, „Wolken" i57ff. 163 f. 412,3. 463. Aristoteles 5. lof. 77ff. 491,2. 56gff. 570,i. 573. 591 ff. 6o7ff. 623. 629, Persönlichkeit und Welt- und Lebens- anschauung 7 7 ff., 591 ff., Verhält- nis zu Sokrates und der Sokratik 77 ff. 263. 269. 271 ff. 277. 591 ff. 603. 604 f. 605 flf., über den Logos Sokratikos 27,1. 102,2. 117,1, Nachrichten über Sokrates 81. 81,1, Notizen über soma- tische Ethik 82 ff., sokratische Begriffs- philosophie 91 ff. 263. 2Ö9ff. 6o5ff., Anlehnung von Met. M4. 1078b i7ff. an Xen. Mem. IV 6 göff. 606, Be- ziehungen zu Xenophon 94 f. 101 f. 604.1. Benutzung der Sokratikerlite- ratur 80. 81,1, über Protagoras 209 f . 211 ff., Verhältnis zu Plato 78 f. 80,1. 93. 100,2. 102. 569 f. 570,1. 591 fiF. 605 f., gegen die Ideenlehre 80,1. 100,2. 266.2. 569 f. 570,1. 599 ff., Begriffs- metaphysik 102. 263. 529 f. 536. 536,3. 569 f. 573- 599 ii-, gegen Skepsis und Eristik 79 f. 200ff. 223. 252,1. 596 ff. 599.3. 607 f., Dialektik 362. 593 ff., Dialog und aristotelische Dialoge 359,i- 5941-595,1, Rhetorik 217 f. 592. 593; zu einzelnen Schriften : negl ev- yevelag 81,1. 420,3, tizqI <piXooo(piaq 81,1. 95- 570,1, tceqI löeäv 570,1. 595,1, Magikos 81,1, Gryllos 94 f., TlEQl 71017]TÖ)V 117,1, EvÖTj/XOq J? TieQL yvxiiq 593,1, Elegie auf Eudemos 95,4, Sophistes 205,2, Staat der Athe- ner 469,1. 472,2, Analyt. post. 601 f., Topik 96,2. 570,1. 594, soph. el. 2ooff. 207. 362, de Melisso, Xeno- phane, Gorgia 175,2. 220 ff., Metaph. 570,1, Met. A 80,1.91. 100,2, A 6. loof. K 1 — 8 212,3, M 4 100. 100,2, nikomach. Ethik 604 f., nikom., eu- dem., große Ethik 82 ff. Register. 631 Aristoxenos 166,1. 230. Asebiegeselz 489 ff. 490,1. 491,1, Begriff der Asebie 478,1. 492,1. Asebieprozesse 439, 1 . 466. 482. 4gof . 491 ,2. Aspasia 400, Aspasialiteratur 400,1. Athen, als Schauplatz des sokrat. Wirkens agyff. 485. 499 f., Kritik am ath. Staat 417 ff. vgl. 133. 547. Autarkie 322,1, technische 227, sittliche 320ff. 339. 382 f. 506 ff. 577. 581 f. 605. 61 3 ff. Autonomie, sittliche 3i5ff. 336ff. 382f. 509ff. 577. 581 f. 6i3ff. B. Begriff (Allgemeinbegriff) giff. 262 ff. 263f. 525flf. 536,3. 561 ff. 569 ff. 599 «f. Begriffsphilosophie, angebliche soma- tische 11. 49. 5 7 flf. 91 flf. 262 flf. 287. 605 flf. vgl. 374 ff. Bolingbroke 306. C. Cato major 496. 496,1. Chairephon 111 f. 481,2 Charikles 24. 54,1. 165,1. 192. 234,1. 247. Charmides 44,2. Chesterfield 306. Christen, Christentum 444, 454. 625 ff. Christus lf. 626ff. Chrysipp 617. Cicero 280. 453 u. ö. D. Daimonion H3f. 435. 441,1. 447. 450ff. 478.480. 493. Dämon 191,1. Definitionen, „sokratische" ggf. 277 ff. 288 ff. 374 ff. Definitorische Frage 289 ff. 374 f. 514.527. Delphi 81,1, delphischer Spruch (erkenne dich selbst!) 59, 1 81,1 . 353,1. 369. 441, delphischer Orakelspruch über Sokra- tes 112 f. 448,3. 480. Demokratie, athenische 133. 417 ff. 424,2. 464 f. 467 ff. Demokrit 167. 208,3. 240. 322,1. 557. 557,1- 574,1 584- 610. Denkgesetze 598. Diagoras, von Melos 429. 490. 490,2. Dialektik 57 ff. 96 ff. 117,1. 200flf.358flf., sokratische 128,1. 131. 195,3. 20 *« 269. 2 79 flf. 293 f. 358 flf., ihr eristisches Gepräge 310. 345. 372 f., 382; s. ferner Antisthenes, Plato, Euklid, Kyniker, Megariker. Dialexeis s. Dissoi Logoi. Dichtererklärung 172. 174. 194. 227. 377 ff- 505. 517- Dio von Prusa 46,2. 62 ff. 208,3. 287,1. 426,2 u. ö. Dio von Syrakus 525. Diogenes von Apollonia 159. 161 f. 240. 432. Diogenes, der Kyniker 46,2. 176,1. 324,1. 423,1. 5031. 511. 511,1.589. 610,1. 621. 624. Dionysodoros 191,1. 204f. 252,1. 285,1. 359- Diopeithes 439,1 , Psephisma des D. 439, 1. 491,1. Dissoi Logoi (Dialexeis) 39,1. 54,2. 198. 202. 203,1. 227. 232,1. 250,1. Drakon 472,2 Dreißig, die 420,2. 469 ff. Dualismus, mystischer 553 u. ö. E. Ehe 399. 4i2ff. 511 f. Eisangelie 439,1. 491,1. Eleaten 205. 2igff. 266f. 514. 557. 562 ff. Elenktik 204 ff. 280 ff. 294. 355,1. 363. 366ff. 5i3f. u. ö. Empedokles 167. 180. 205,2. 220. 222,1. 240. 447. Epikrates 569,3. 591,1. Epiktet 618,1. 022,1. Epikur 609 f. Erlösung 303 f. 322 ff. 5o6ff. 552 ff. 591 ff. 624ff. Eros 17,1. 28 ff. 44,1. 66. 402 f. 402,1. 507- 557,1- 586, s. auch Plato. 632 Register. Erziehungsproblem 189 ff. 414 u. ö. Eubulides 484,1. Eudämonismus 305 ff. 336 ff. Eudoxos 569,3. Euenos 1871. Euklid 4,1. 27,1. 73. 116,3. 14g. 149.1. 293. 312. 324,2. 430.557- 557,1- 562fr. 582 f; philosophische Entwicklung 26 7 f. 269. 342 f. 557,1. 562. 582 f., <PQÖviioiq 341 f. 351,1.385,1.582. 587,1, s. ferner Megariker. Eupolis 158. Eupraxie 56. 332. 392,2. Euripides 163. 196. 203,1. 242. 300. 429. Eurylochos von Larissa 81,1. Euthydemos 24. Euthydemos, der sophistische Kyniker 204 f. 252,1. 285,1. 359. F. Familie 412 ff. Faulheit, Erziehung zur F. 426,2 Favorinus 117,1. 467,3 Freiheit, sittliche 322 ff. 334 f. vgl. 506 ff. 520 f. 552 ff. 581 f. 582 ff. 588.604. 609. 623. Freundschaft 17,1. 407. G. üelten, Begriff des Geltens 531. 532.1. Gesellschaft 404 ff., Gesellschaftsord- nung 422 ff. 510 ff. 547 ff. Gesetz s. Nomos. Glaukon 244 f. Glück, sittliches 305 ff., energistischer Charakter 56. 332 f. Göttliche Mission des Sokrates, angeb- liche 105. (114.) 447 ff. vgl. 461 f. Gorgias 134, 1.160. 175,2.184.189.191. igsff. ig9. 2igff 237. 513. u. ö., Charakter seinerSophistik 191. 198,2.203. 219 f. 225. 227. 246, ethischer Standpunkt 232 f. 246. 250, rhetorische Techne 202.202,1, loci communes 201 f., Helena 197,2. 203,1, angebliche Dialektik 201 ff., an- gebliche Skepsis 21g ff., negl xov fxfj uvxoc, r/ negl (pioetoq 175,2. 197,2. 220 f. 224,1, die drei Thesen 2igff., natur- philosophische Äußerungen 21 9. 219,1. 224. Gut, höchstes 317, vgl. 574ff. 6o4f., Güter 320 ff., 334 f. 353 f. vgl. 506 ff. 574ff. 604 f. 617 ff. II. Hedonismus, sokratischer 306 ff. 318 f. 372, s. ferner Lust, Aristipp, Kyre- naiker. Hegel 2. 261. Hegesidamas 322,1. Herakht 91. 166. 180. 210. 239f. 509,1, 6 12 ff. Herakliteer 240. 557. 557,1. Hermippos 222,1 Hermodoros 107,1 Herodot 238,3. Hesiod 379,1. 392,2. Hippias 35. 36. 46,2. 125. 131. 160. 184. 189. 191. 193. 203. 227. 228,1. 232. 258 f. 322, (fiaLq-vöfxoc, 46,2. 237. 242t". 248. 255. 260. Hippodamos von Milet 231. Hippokrates 180. Hobbes 244. Homer 227. 378,1. 379,1. 380,1. 381,1. Humanismus (Pragmatismus) 214,2. Hume 208. I J. Jamblichi Anonymus 232. Idealismus, sokratischer 308 ff. Idomeneus 121,1. Jesus 1 f., s. Christus. Individualismus 305. 320. 335. 360. 389 h 408. vgl. 5o8f. 5i2f. 549. 579. 588. 614. 616. Induktionen, sokratische ggf. 28g. 374. 376 f. Io von Chios 166. Johannes, der Täufer 350. Ironie, sokratische 256. 36 7 f. 435. Irrtum, Problem des I. 5gg,i. Register. 633 Isokrates 5,1. 7g. 175,2. 207,1. 221 f. 224,4. 467,2. 555. 555,2. 593. Justinus Martyr 626. Justus von Tiberias 481,2. K. Kallias 187 f. Kalliklcs 54,1. 233 ff. 246 ff. 252,1. Kant 208. 330—339. 531. Kantianer 2. 530. Kebes 149,1. Klageschrift {y^atpi]) gegen Sokrates 467. 467,3. 478. Klassenmoral, Adelsmoral 250 f. 251,1. 388 f. 420,3. 552, bürgerliche M. 250 f. 251,1. 388 f. Knabenliebe 17,1. 400 ff. Konkupiszenz 507. Konon 23,2. Krates 611 f. 611,2. Kratylos 91. 509,1. Kreta 420. Kritias 24. 54,1. 165,1. 192. 230. 301,1. 308. 347,1.420,2. 463. 466. Kritobulos 484,1. Kriton 121,1. 484,1. Kyniker 14. 46,2. 79. 204ff. 311 f. 362. 370. 389. 390. 408. 423,1.429,2.441,1. 503 ff. 557 ff. 575 ff- 583- 588 ff. 608 f. 610,1. 611 ff., Neukynik 62. 610,1. 622. 624; s.fernerAntisthenesund Diogenes. Kyrenaiker 79. 110,3. 389- 390- 575 ff-, 585 ff. 588 ff. 609, s. ferner Aristipp. KvQieiwv 608,2. Ii. Lamprokles 412,3. vgl. 81. 81,1. Lebensideal, inhaltlich bestimmtes 330 ff. 371. 382 ff. 392f. 398. 404 f. vgl. 515 f. 519 f. 551 f. 576 f. 580 f. 581 f. 586. 604 f. 6i4ff. Lehrtätigkeit, sokratische? 1071. 158. 164L 169 ff. 172 ff. 191 ff. Libanius 23,2. 379,1. 417,1. 418,1. 426,2. 469,1. 627,2. Logik, Entstehung der L 597. Logische Elemente der sokrat. Dialektik 288 ff. 373 ff- Logoi Sokratikoi 4,1. 23. 2(5 f. 27,1. 38t'. 691.81,1. 102,2. io6,2.117— 115).ii7,i. 118,1. 204,1. 281 ff. 289. 350. 361 f. 362,3- 555- 6io ; t; Lust (??rfo)//), Streit um die L. 40. 50 f. 315. 323 f. 325 f. 585 ff. Lykon 467. 470. 470,1. 474. 479. Lykophron 243. Lysias 5,1.15. 469,1. 481,2. M. Mäeutik 359 f. Mandeville 306. Marc Aurel 618,1. 622,1. 627,1. Medizin, koische 180 f. Megariker 79. 205. 265ff. 342. 361 f. 370.385,1.514.557.557,1. 557 ff. 562ff. 575 ff. 583. 587 ff. 608 f., s. auch Euklid. Meletos 169. 467 ff. Melissos 21 9 ff. Mill, J. St. 208. Monotheismus 444 f. Myrto 81,1. Mysteriengemeinschaften, Mystik 300. 335 f- 436. 507. 522. 524 f- 542. 543 f. 552 ff. 555. 579 f. 623 ff. Mythenerklärung 440 ff. ff. Natur, Natur und Satzung s. Nomos. Naturrecht 35. 46,2. 235 ff. 389. 390. 408 ff. 495. 50g ff., zwei Formen 235 f., rationalistische 237 ff., ihre geschicht- liche Entstehung 237 ff., positivistische 243 ff. Neuplatoniker 454. 625 ff. Nominalismus 514,3. 536,3. Nomos, N.-Physis 35. 46,2. 121. 226f. 235ff. 252,1. 390. 408ff. 420,3. 441,1. 443 f. 445 f. 446,1. sogff., geschichtl. Entstehung der Unterscheidung von N. und Ph. 237 ff., ungeschriebene Gesetze 46,2. 238f. 314. 315. 410,1. 634 Register. Olympiodor 220. 221,1. Optimismus, sokratischer 335 f. 429fr. Orphiker 507. 524,2. 543. 554. P. Panätius 27,1. 149,1. 610,1. 620f. 622. Parabeln, sokratische 81,1. 289. 374. 376 f. Parmenides 165. 166. 180. 220 ff., s. auch Eleaten. Pausanias 17,1. Perikles 36. 133. 160. 163. 167. igi,i. 417 f. Perikles, der Jüngere 33. 36. Peripatetiker 595,1. 606. 6o8f. Phädo 27,1. 149. 149,1. 340,1. 582,1. Phaleas 231. Philolaos 240. 524,2. 573. Philosophieren, sokratisches 294L 296. 296,1. 348. 349,2. 351,1. 355f. 36of. Phormisios 472,2. <pQÖvriöiq 142fr". 351. 351 ff. 355-1- 614t"., s. ferner ygövrioiq unter Antisthenes, Aristipp, Euklid, Plato. Physis, s. Nomos. Pindar 379,1. Plato 102—146. 516—581, zu Pl.s Lebensgeschichte 106 ff., 107,1. 116. 116,1. 158. 168,2. 412,1. 420,3. 484,1. 524 f. 544,3. 546 f., Wirken im soma- tischen Sinn 106 ff. usf., „sokratische" Schriften 102 ff., „persönliche" Sokra- tika 104, Xoyoi SwxQarixoi 27. 27,1. 38,1. 106,1. 106,2. 117—119. 149. 281. 362,3, frühpl. Dialoge i03f. 1 1 7 f f . 280 ff. 37i.5i6ff. u.ö.,ihrunpolitischer Charakter 412,1, frühpl. Sokrates- auffassung 42. io2ff. i35f. 138. i46ff. 280 ff. 303 f. 341. 343. 51 6 ff. u. ö., Sokrates und die Sophisten 184 ff. 255 ff., S. und die Naturphilosophen 158. 165. 169, sokr. Erlösungsintention 303 f. 303,2. vgl. 525. 552 ff., sittl. Ideal 308 ff. (zu den hedonistischen Zügen im bes. vgl. noch 130. 259), sittliche Freiheit 327ff. vgl. 519. 520 f. 552 ff., Güter 327 ff., sokr. sachver- ständiges Wissen s. Wissen; sach- verst. Wissen und sittliches Wissen 343ff. 397,2. vgl. 518. 526ff. 538, <PQÖvr[Oiq 351,1. 355,1. vgl. 517. 520. 575 ff. 587, Inhalt des sokrat. Lebens- ideals 383 ff. 519 f. vgl. Lebens- ideal; Weiterentwicklung 135 ff. 344. 398. 426 f. 516 ff. 582, Festhaltung des Zusammenhangs mit Sokrates 10. 78. i36f. i37ff. 140,1. 151. 281. 385 f. 551. 581, Unterscheidung des eigenen Philosophierens vom sokratischen 78 f. 141ff. 151. 27if. 541.607, Ent- deckung des Allgemeinen 2Ö4f. 526 ff., Entwicklung und metaphysischer Charakter der Ideenlehre 290. 292 f. 398. 525ff. 56off. 572ff-, Eros 17,1. 137. 140. 141 ff- 402,1. 403,1. 541. 550 f. 557,i- 586, platonische Dialektik 204. 359- 361 f. 521 ff- 540 f- 551- 556. 556.2. 557 ff., Mathematik 523. 527,4. 569.3, Kampf gegen die skeptische Eristik 200 ff. 223. 516 ff. pass. 540. 556 ff., Verhältnis zur Rhetorik i32f. 217. 246. 515 u. ö. 558 f., zu Sophisten und „Sophistik" 125. i3of. I32ff. 183 ff. 2 33 ff. 2 55 ff. 378. 384- 5i6ff., Kampf gegen Antisthenes 17,1. i07ff. 116. 124. 134 f. 211. 283 ff. 378ff. 383 ff. 402,1. 5i6ff. 556ff. 567,4. 575 ff., Polemik gegen die Megariker 265ff. 385,1- 557ff. 557,L 575 ff- 587, Beziehungen zu Aristipp 557. 557,1. 575 ff. 585 ff., zu Xenophon 53. 95, Polemik gegen Aristoteles 570,1, politisch-soziale Gedanken 133. 406. 412,1. 420,3. 421,1. 423,1. 425. 426f. 544,3. 546 ff. 578ff.j im übrigen s. die Inhaltsübersicht zu 4. T. 3. K.; platonische Schule s. Akademie. Schriften, Chronologisches 103 f. 106 f. 119,1 und pass., sprachstatisti- sche Methode 103. 125,1, Apologie 15. 23. 104ff. 158. 169. 184 ff. 476,1. Register. 635 477- 477.1- 479,2. 6nf. 6i6ff. und pass., dritte Rede 1051. 486,1.488, Kri- t on 49.81,1. 104.1 19ff.297.409f. 485,1. 486 f., Ion 122ff. 131,1.364,3, Hip- pias min. 54f. 122ff. 131. 131,1. 258.280. 345f.,Lachesl22ff. 128,1. 131,1, Charmides 122ff. 282,1 351.1. 392,2, die Rolle des Kritias 124. 131,1. 351,1. 379,1. 392,2. 425,2, Protagoras 17,1. 129ff. 133,1. 195,3. 242 f. 258. 259. 280. 347,2. 377 f •, Protagorasmythus 231 f. 236f., Gor- gias 23,2. 53L 123,1. 128,1. 132ff. 133,1- 233 ff. 246ff. 257 ff. 418,1. 518. 524. 544,1. 547, Mythus vom Toten- gericht 133,1. 524L, Euthyphron 126 ff., Kleitophon 43. 131,1. 283ff. 285.2. 287,1, 312,1. 384. 426,2. 519, Meno 23,2. 128,1. 185. 347,2. 521 ff., über Dialektik 360. 370,1. 521 ff. 540, Anytosepisode 185 ff. 250,2. 469 f. 471 ff., Euthydem 42. 49. 56 f. 200. 204 f. 207. 268. 283. 284 f. 321,1. 332,2. 342.2. 384f. 521, Kratylos 509,1, 521,2, Menexenos 81,1.181,1.400,1, Lysis 126ff. 136,1, 525,4, Sympo- sion 17,1. 128,1. 133,1. 137ff. 378,2. 525 ff. 541 f., Pausaniasrede 17,1, Phai- drosrede 17,1, sokratische Erosrede 137. 141 ff. 54if., Alkibiadesrede H7ff. 137 ff. 302. 303,2. 309. 328. 365 f. und pass., Hippias major 126ff, Phä- do 128,1. 133.1. 435. 441,1. 488. 525 ff. 542f. 572, Politeia 230. 231. 406. 420,3. 423,1 . 425. 427. 430. 525 ff. 544 ff. 544.3. 547 ff. 578, erster Teil (I— IIc. g.) 133,1. 233 ff. 244ff. 285,2. 312,1. 544,3, Phädrus 17,1. 58 f. 193. 272,1. 441. 555 ff. 556,2, über Mythener- klärung 440 ff., erste Sokratesrede 17,1. 557,1, zweite 555, Theätet 557. 557,1, über Protagoras 208. 2iof. 2i3f.,Apo- logie des Protagoras 2i4ff. 230. 241 f., Parmenides 268. 561. 562ff., So- p histes 59. 174L 183. 207. 533. 557,1. 559 ff. 566 f. 596, Freunde der Ideen 265 f. 561 ff-, Politikos 59ff. 559ff. 578, Philebos 57,2. 323,1. 431. 567 ff. 572. 574 ff. 585 ff. 604, Timaios 431. 572f. 580. Nomoi 95,2. 547. 578ff. 581, AlkibiadesI 131,1. 138,1, Alkibiades II 138,1, The- ages 453- Platoniker, s. Akademie; spätere PI. 453 f- 625. Polos 233 ff. 246 ff. Polykrates 7,1. i5. 15,2. 22 — 24. 40. 81,1. 116. 119,1. 131,1. 132f. 133,1. 138 f. 150,1. 165. 186. 234. 246. 379f. 379.1. 392,2. 407,1.414^417,1.418,1. 420.2. 421,1 424f. 424,2. 468. 470. 471,1. 477,1- 478,1. 505. 627,2. Polytheismus 444 f. Porphyrius 626,1. 627,2. Posidonius 624 Potidäa 301,1. 348 f. 457. Prodikos 64. i3of. 160. 184. 189. 191,1 227. 232. 237. 249. 253. 255. 256. 332,2 374. 527,2. Protagoras 130 f. 159. 160 ff. 187. 189 191. 195 ff. 199. 227. 460. 466. 474, 490, der Satz von der schwächeren und stärkeren Rede 159. 196, zwei Meinungen über jede Sache 197, 201. 202. 207, Metron-Anthropossatz 207 ff. 231, angebliche Dialektik und dialekt. Eristik 200 ff., loci communes 201 f. 202,2, angebliche Skepsis 207 ff., angeblicher Sensualismus 210 ff., Ten- denz seines Wirkens 2i7ff. 230. 241 f. 259, ethischer Standpunkt 231 f., Athe- ismus 252 f. 428, „Gesetzgeber" von Thurii 231, Entstehung von Moral, Recht und Staat 236 f. 241 f. 248; Schriften: Te%vri sqiouxüv 200. 202,2., 'AvziXoylai 202,2. 230. 230,1, 'AXrjS-eicc 207 f. 208,3. 218, KaraßälXovxsg 208,3. 218,1, Ilegl &B<bv 252f., UeqI xfjq iv cLQXfl xazaaxdascjq 237,1 Protreptik, sokratische 42. 49. 148. 204 ff. 281 ff. 302 f. 339 ff. 358 ff. u. ö. Prozeß, Sokratespr. 104. 114 f. 460,1. 636 Register. 467 ff.; schätzbare und unschätzbare Prozesse 482. 489,2. Pyrrho,pyrrhonische Skepsis 208,3.623,1. Pythagoras und die Pythagoreer 447. 524 f. 527. 527,4. 543. 554. 569,3. 574. 579 f. vgl. 624. R. Realismus, erkenntnistheoretischer: pla- tonischer 530 ff., aristotelischer s. Ab- bildtheorie. Realität der platonischen Ideen 528 ff., aristotelische Mißdeutung 529, mo- derne Umdeutungen 53off. Recht, s. Naturrecht, Nomos; histori- sche Rechtsschule 239; rechtliche Be- urteilung des Sokratesprozesses 489 ff. Religion 427 ff. Rhetorik 132t. igiff. 195fr 217L 226. 246. 526 ff. 555 f. S. Schleiermacher 263, Schl.sche Formel 10. Scipio Aemilianus 610,1. Seinige, das S. tun (rot havxov nQÜxxtiv) 333,1- 351,1. 392,2. 405,1. 516,1. Seneca 618,1. 622,1. Sextus Empiricus, über Xeniades 199,1, über Protagoras 208,3, UDer Gorgias 220 ff. Sexualität 39g ff. 507. Simmias 149,1. Simon, der Schuster 117,1. 149,1. Simonides 380,3. Skopas 81,1. Sokratiker 23. 106 ff. 115 ff. 138. 148 ff. 186. 468ff. 499 ff. pass. Sokratikoi Logoi s. Logoi. Solon 472. 472,1. Sophisten lsgff. 164 f. 179t. 189ff, 195AF. 226. 226ff. 260f. 358 f. 366. 394 f., s. ferner Sophistenschulen, An- tisthenes, Plato, Xenophon. Sophistenschulen, athenische 23. 116. 125. 131. 234 f. 254. 380 f. 466. 505. 516 ff. Sophokles 238 f. 242. 299. 429. Sophron 27,1. 117,1. Sorge, um die Seele (im/xeteia yvxqs oder kavxov) 333. 333,1. 333,3. 349,2. 353\i- 356,1. 405,1. Sparta 420. Speusippos 591,1. Staat 404t. 405,1. 4o8ff. 416 ff. vgl. sogff. 546 ff. 616 f. Silpon 491,2. 608. Stoa 63. 63,1.240. 392,1. 453. 509,1. 609. 610flf., alte Stoa 610,1. 611 ff. 622,1, mittlere 610,1. 620 f. 622. 624, jüngere 610,1. 621 ff. T. Teleologie 57,2. 64 f. 167. 179,1. 182. 429ff. 538 ff. 569fr. Theodicee 428 f. Theodoros 4gi,2. Theodote 399. Theognis 379,1. 381,1. Theologie, sokratische 436 ff., vgl. über- haupt 427ff. Theonomie 46,2. 251 ff. 257. 315. 320. 391. 428. vgl. 429 f.; 493. 495 ff. 509. 613,1. Theophrast 2igff. 491,2. 591,1. Theramenes 472,2. Thrasybul 467,2. Thrasymachos 43. 233AF. 244ff. 284t. 384. Tugend 305 ff. 316. und pass., Tugend und Glück 305 ff., T.- Wissen 305. 33Q ff. 520, s. ferner Wissen; Lehr- barkeit der T. 251. 251,1. 259. 346 ff. 355,1. U. Ungeschriebene Gesetze s. Nomos. Unsterblichkeit 335t. 435t. 522. 524t. 543- 553 f- Utilitarismus, sokratischer 305ff. 3igf. 372. V. Verteidiger, gerichtliche {awi)yoQoi) 481,2. Register. 637 Vollkommenheit, sittliche 316 ff. 323,1. 382 ff. 427. 575. 577 u. ö. Vorsehungsglaube, somatischer 315,1. 430 ff. 460 ff. W. Wahrheit, der Ideen 531. 532,1. Wahrheiten 532,1. Wissen, sittliches 123. 136. 258f. 339ff. 345 ff. 350ff. 515. 518 ff., s. ferner <pQÜrrjaiq; sachverständiges W. 178f. i8if. 190,1. 257f. 294- 343 ff. 364. 385. 392,2. 393 ff. 421. 514 f. 5i8ff. 526. 549. 576. 605. 616; Nicht- wissen, somatisches 276. 281 f. 294. 349f. 367. 3fi8ff. 371. 387. 501 f. Wissenschaft 133. i34f. 176ff. 181 f. 182 f. (195 ff. 226 f.) 293 f. 364 f. 372 f. 398f. 513fr. 5i8ff. 549f- 570f- 590- 591 ff. 6i5ff. 622. X. Xanthippe 400. 412,3. Xenarch 27,1. Xeniades 199,1. Xenophanes 166. Xenophon öff, 13—77, 588f, Leben und Persönlichkeit öff. 17. 20. 21. 33. 44f.ööf. 425, persönliche Beziehungen zu Sokrates öff. 41. 43. 50. 73 f., Stellung zu Antisthenes 42. 44 ff. vgl. 62 ff. ; 150,1. 254,1. 284 f., zu Plato 43 f. 49 f., zu Aristipp 34. 3Ö. 50 f. 50,2. 325. 584. 585, Beziehungen zu dem Kyniker Diogenes 40,2. 170,1, Stellung zu den Sophisten 3Ö. 37. 50,2. 172 ff. 181. 191,1. 254 f. löyoi ~E(üKQaxi7iol 27ff.38f. 70. 102,2. 3Ö2,3,sokratische Schriften 15 ff. , ihr Verhältnis zu einander 21 f. 69ff., Apologie 15f. 22. 23,1. 39. 40. 7Ö. 10Ö. 448,3.470,1.477. 477/1, Symposion ö,2. 16,1. 17.17,1. 29-31- 45- 49- 56. Ö7. 76. 324,1- 378,2. 503,2, Öconomicus 17. 18 — 20. 7Ö, Memorabilien 5ff. 13 ff. 20ff. 95. 156. 588 f. 611 f. öiöff.: Schutz- schrift (Mem I 1—2) 16,1. 22ff. 39. 40. 45. 76 f. 138. 158. 439. 477.477,1, über Naturphilosophie (I l, 11 — 15) 170, Themata der somatischen Ge- spräche (I 1,16) 270. 289 f., Sokrates- anklage des Polykrates (I 2,g— 2,61) 23 f. s. ferner hiezu Polykrates; Stellen ausPolykr.Sokratesanklage 379. 392,2. 407,1. 414t. 417,1. 420,2. 421,1.424,2. 424 f., Kritias-Chariklesepisode (I 2, 31—38) 24. 54,i- 165,1- 19 2 - 405 ff-, Gespräch zwischen Alkibiades und Perikles (I 2, 40— 46) 234,2. 238,2, Gesprächsammlung 25ff. 302,3, Kristobulosepisode (I 3, 8ff.) ö,2. 20,1. 28 ff., erstes theol. Gespräch 46,1. 50,1. 57,2. 430 f., gegen Kleitophon-An- tisthenes (I 4,1) 42ff. 284 f., Gespräche mit Antiphon (I ö) 36. 173 f- 254, über das Studium der alten Weisen (I 0,14) 1 72 ff. 194. 377, Gespräch mit Aristipp (II 1) 34- 5°f- 63 f. 416, He- raklesfabel (II 1,21 ff.) Ö3f. 255, Ver- wandtengespräche (II 2 und 3) 414, Freundschaftsgespräche (II 4— ö. 10) 407.1, über die Arbeit (II 7 und 8) 425, militärische Gespräche (speziell III 1. 3.) 32, über athenische Zustände (III 5) 33 f., staatsökonomisches Ge- spräch (III 6) 32f., Begriffserörte- rungen (III 8 und 9) 279. 279,2 s. auch Eupraxie, über allerlei Künste (III 10 und 11) 396, Lesefrüchte und Lebensregeln (III 13 und 14) 194.2, Historisches (IV 1, 1—4) 36,1» das große Euthydemosgespräch (IV 2) 54 ff- 57- 279 f. 321,1. 369,1 u. ö., zweites theologisches Gespräch (IV 3) 46,1. 50,1. 57,2. 64 f. 431, Hippias- gespräch (IV 4) 35- 46,2. 53 f- 237,2. 242. 255. 260. 410, Begriffsdialektik (IV5 und 6) 49- 57 ff- 68 f. 98 ff. 270 ff. 288 ff., naturphilosophisch- pädago- gisches Programm (IV 7) 170 f., Schluß- kapitel 16,1. 36,1 u. ö.; Benutzung sophistischer Schriften 39. 54,2, Be- 638 Register. nutzung antisthenischer Schriften 14. 16,1. 17,1. (42fr.). 56. 62ff. 72. 89,1. 174- 175 f- 175,2. 176,1. 181,1. 332. 407. 412.2. 425. 439 u. ö., Benutzung pla- tonischer Schriften 17,1. 36,1. 44,1. 53ff. 71,1. 72. i74f. 254. 270ff. 418,2. 421,1, Benutzung äschineischer Schrif- ten 52. 52,1, Benutzung aristippischer Schriften 52, Sokratesauffassung 25. 3gff. 49 f. 68 f. 72 ff. 152, pass., 588 f., so- kratische Begriffsphilosophie und -dialektik 57—62. 265. 270 f. 272. 273 ff. 287 ff. 358 f. 606 f., dialektische Manier 362.3, sittliches Ideal 3o6ff.3i2f.,Enkra- tie und Freiheit 66 f. 324 f., Tugend- Wissen 341 f., Theologie 46,1. 46,2. 50. 57,2. 64 f. 430 ff. 437. 445,1.604,1, Daimonion 450 ff., Naturphilosophie i7off.; Kynegeticus 254,1, Kyropädie 32. 95,2, Hipparchic. 32, De vect. 33. 34. Anabasis 34 und pass., Hellen. 34 und pass. Z. Zeno, der Eleate 117,1. 165. 205,2. 2igff. 563. Zeno, der Stoiker 423,1. 511,1. (>llff. 615. Zopyros 340,1. B 317 M3 Maier, Heinrich Sokrates PLEASE DO NOT REMOVE CARDS OR SLIPS FROM THIS POCKET UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY HAND BOUND BY UNIVERSITY OF TORONTO PRESS
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