Ernst Mach

Erkenntnis und Irrtum

이윤진이카루스 2015. 5. 20. 17:31

 

Full text of "Erkenntnis und Irrtum : Skizzen zur Psychologie der Forschung"

Erkenntnis und Irrtum. 
Skizzen 
zur Psychologie der Forschung. 
Von 
ERNST MACH 
Emer. Professor an der Universität Wien. 
Zweite durchgesehene Auflage. 
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LEIPZIG 
Verlag von Johann Ambrosius Barth 
1906. 
Alle Rechte vorbehalten. 
Druck von Grimme & Trömel in Leipzig. 
WILHELM SCHUPPE 
IN HERZLICHER VEREHRUNG GEWIDMET. 
Vorwort. 
Ohne im geringsten Philosoph zu sein oder auch nur heißen 
zu wollen, hat der Naturforscher ein starkes Bedürfnis, die Vor- 
gänge zu durchschauen, durch welche er seine Kenntnisse er- 
wirbt und erweitert. Der nächstliegende Weg hierzu ist, das 
Wachstum der Erkenntnis im eigenen Gebiet und in den ihm 
leichter zugänglichen Nachbargebieten aufmerksam zu betrachten, 
und vor allem die einzelnen den Forscher leitenden Motive zu 
erspähen. Diese müssen ja ihm, welcher den Problemen so 
nahe gestanden, die Spannung vor der Lösung und die Ent- 
lastung nach derselben so oft miterlebt hat, leichter als einem 
andern sichtbar sein. Das Systematisieren und Scfiematisieren 
wird ihm, der fast an jeder größeren Problemlösung immer 
noch Neues erblickt, schwerer, erscheint ihm immer noch ver- 
früht, und er überläßt es gern den darin geübteren Philosophen. 
Der Naturforscher kann zufrieden sein, wenn er die bewußte 
psycliiscJie Tätigkeit des Forschers als eine methodisch geklärte, 
verschärfte und verfeinerte Abart der instinktiven Tätigkeit der 
Tiere und Menschen wiedererkennt, die im Natur- und Kultur- 
leben täglich geübt wird. 
Die Arbeit der Schematisierung und Ordnung der metho- 
dologischen Kenntnisse, wenn sie im geeigneten Entwicklungs- 
stadium des Wissens und in zureichender Weise ausgeführt wird, 
dürfen wir nicht unterschätzen.^) Es ist aber zu betonen, daß 
V) Eine systematische Darstellung, welcher ich in allem Wesentlichen 
zustimmen kann, in welcher auch strittige psychologische Fragen, deren 
Entscheidung für die Erkenntnistheorie nicht dringend und nicht unbedingt 
nötig ist, sehr geschickt ausgeschaltet sind, gibt Prof. Dr. H. Kleinpeter 
(Die Erkenntnistheorie der Gegenwart. Leipzig, J. A. Barth, 1905). 
J 
Vorwort. 
die Übung im Forschen, sofern sie überhaupt erworben werden 
kann, viel mehr gefördert wird durch einzelne lebendige Bei- 
spiele, als durch abgeblaßte abstrakte Formeln, welche doch 
wieder nur durch Beispiele konkreten, verständlichen Inhalt ge- 
winnen. Deshalb waren es auch besonders Naturforscher, wie 
Kopernikus, Gilbert, Kepler, Galilei, Huygens, Newton, 
unter den neueren J. F. W. Herschel, Faraday, Whewell, 
Maxwell, Jevons u. a., welche dem Jünger der Naturforschung 
mit ihren Anleitungen wirkliche Dienste geleistet haben. Hoch- 
verdienten Männern, wie J. F. Fries und E. F. Apelt, denen 
manche Teile der naturwissenschaftlichen Methodik so ausgiebige 
Förderung verdanken, ist es nicht gelungen, sich von vorge- 
faßten philosophischen Ansichten ganz zu befreien. Diese Philo- 
sophen, wie selbst der Naturforscher Whewell, sind durch 
ihre Anhänglichkeit an Kant sehe Gedanken zu recht wunder- 
lichen Auffassungen sehr einfacher naturwissenschaftlicher Fragen 
gedrängt worden. Die folgenden Blätter werden darauf zurück- 
kommen. Unter den älteren deutschen Philosophen ist vielleicht 
nur F. E. Beneke als derjenige zu nennen, welcher sich von 
solchen vorgefaßten Meinungen ganz frei zu machen wußte. 
Rückhaltlos bekennt er seine Dankesschuld an die englischen 
Naturforscher. 
Im Winter 1895/96 hielt ich eine Vorlesung über „Psycho- 
logie und Logik der Forschung", in welcher ich den Versuch 
machte, die Psychologie der Forschung nach Möglichkeit auf 
autochthone Gedanken der Naturwissenschaft zurückzuführen. 
Die vorliegenden Blätter enthalten im wesentlichen eine Aus- 
wahl des dort behandelten Stoffes in freier Bearbeitung. Ich 
hoffe hiermit jüngeren Fachgenossen, insbesondere Physikern, 
manche Anregung zu weiteren Gedanken zu bringen, und die- 
selben zugleich auf von ihnen wenig kultivierte Nachbargebiete 
hinzuweisen, deren Beachtung doch jedem Forscher über das 
eigene Denken reiche Aufklärung bietet. 
Die Durchführung wird natürlich mit mancherlei Mängeln 
behaftet sein. Obgleich ich mich nämlich stets für die Nach- 
bargebiete meines Spezialfaches und auch für Philosophie leb- 
haft interessierte, so konnte ich selbstverständlich manche dieser 
Gebiete, und so besonders das letztgenannte, doch nur als 
Vorwort. ( VII 
Sonntagsjäger durchstreifen. Wenn ich hierbei das Glück hatte, 
mit meinem naturwissenschaftlichen Standpunkt namhaften Philo- 
sophen, wie Avenarius, Schuppe, Ziehen u. a., deren jüngeren 
Genossen Cornelius, Petzoldt, v. Schubert-Soldern u. a., 
auch einzelnen hervorragenden Naturforschern recht nahe zu 
kommen, so mußte ich mich hiermit von andern bedeutenden 
Philosophen, wie es die Natur der gegenwärtigen Philosophie 
notwendig mit sich bringt, wieder sehr entfernen.^) Ich muß mit 
Schuppe sagen: Das Land des Transscendenten ist mir ver- 
schlossen. Und wenn ich noch das offene Bekenntnis hinzufüge, 
daß dessen Bewohner meine Wißbegierde gar nicht zu reizen 
vermögen, so kann man die weite Kluft ermessen, welche zwischen 
vielen Philosophen und mir besteht. Ich habe schon deshalb 
ausdrücklich erklärt, daß ich gar kein Philosoph, sondern nur 
Naturforscher bin. Wenn man mich trotzdem zuweilen, und 
in etwas lauter Weise, zu den ersteren gezählt hat, so bin 
ich hierfür nicht verantwortlich. Selbstverständlich will ich aber 
auch kein Naturforscher sein, der sich blind der Führung eines 
>) In je einem Kapitel der „Mechanik" und der „Analyse" habe ich die 
mir bekannt gewordenen Einwendungen gegen meine Ansichten beantwortet. 
Hier muß ich nur einige Bemerkungen über Hönigswalds „Zur Kritik der 
Mach sehen Philosophie" (Berlin 1903) einfügen. Es gibt vor allem keine 
Mach sehe Philosophie, sondern höchstens eine naturwissenschaftliche Metho- 
dologie und Erkenntnispsychologie, und beide sind, wie alle naturwissen- 
schaftlichen Theorien vorläufige, unvollkommene Versuche. Für eine Philo- 
sophie, die man mit Hilfe fremder Zutaten aus diesen konstruieren kann, bin 
ich nicht verantwortlich. Daß meine Ansichten mit den Kantschen Ergeb- 
nissen nicht stimmen können, mußte, bei der Verschiedenheit der Ansätze, 
die sogar einen gemeinsamen Boden für die Diskussion ausschließen (vgl. 
Kleinpeters „Erkenntnistheorie" und auch die vorliegende Schrift), für jeden 
Kantianer und auch für mich von vornherein feststehen. Ist denn aber 
die Kant sehe Philosophie die alleinige unfehlbare Philosophie, daß es ihr 
zusteht, die SpezialWissenschaften zu warnen, daß sie ja nicht auf eigenem 
Gebiet, auf eigenen Wegen zu leisten versuchen, was sie selbst vor mehr 
als hundert Jahren denselben zwar versprochen, aber nicht geleistet hat? 
Ohne also im mindesten an der guten redlichen Absicht von Hönigswald 
zu zweifeln, glaube ich doch, daß eine Auseinandersetzung etwa mit den 
„Empiriokritikern" oder mit den „Immanenten", mit welchen er doch noch 
mehr Berührungspunkte finden konnte, für ihn und andere bessere Früchte 
getragen hätte. Sind die Philosophen einmal untereinander einig, so wird 
die Verständigung mit den Naturforschern nicht mehr so schwer fallen. 
VIII VorworL 
einzelnen Philosophen anvertraut, so wie dies etwa ein Moliere- 
scher Arzt von seinem Patienten erwartet und fordert. 
Die Arbeit, welche ich im Interesse der naturwissenschaft- 
lichen Methodologie und Erkenntnispsychologie auszuführen ver- 
sucht habe, besteht in folgendem. Zunächst habe ich getrachtet, 
nicht etwa eine neue Philosophie in die Naturwissenschaft ein- 
zuführen, sondern eine alte abgestandene aus derselben zu ent- 
fernen, ein Bestreben, das übrigens auch von manchen Natur- 
forschern recht übelgenommen wird. Unter den vielen Philo- 
sophemen, die im Laufe der Zeit aufgetreten sind, befinden sich 
nämlich manche, welche die Philosophen selbst als Irrtümer 
erkannt oder doch so durchsichtig dargelegt haben, daß sie von 
jedem Unbefangenen leicht als solche erkannt werden konnten. 
Diese haben sich in der Naturwissenschaft, wo sie einer weniger 
aufmerksamen Kritik begegneten, länger lebend gehalten, so 
wie eine wehrlose Tierspecies auf einer abgelegenen Insel von 
Feinden verschont bleibt. Solche Philosopheme, welche in der 
Naturwissenschaft nicht nur nutzlos sind, sondern schädliche 
müßige Pseudoprobleme erzeugen, haben wohl nichts Besseres 
verdient, als beseitigt zu werden. Habe ich damit etwas Gutes 
getan, so ist dies eigentlich das Verdienst der Philosophen. 
Sollten sie dieses von sich weisen, so wird die künftige Gene- 
ration vielleicht gegen sie gerechter sein, als sie selbst es sein 
wollten. Ferner habe ich im Verlauf von mehr als 40 Jahren, 
als von keinem System befangener naiver Beobachter, im Labora- 
torium und Lehrsaal Gelegenheit gehabt, die Wege zu erschauen, 
auf welchen die Erkenntnis fortschreitet. Ich habe versucht, 
dieselben in verschiedenen Schriften darzulegen. Aber auch, 
was ich da erblickt habe, ist nicht mein ausschließliches Eigen- 
tum. Andere aufmerksame Forscher haben oft dasselbe oder sehr 
Naheliegendes wahrgenommen. Wäre die Aufmerksamkeit der 
Naturforscher nicht so sehr von den sich drängenden Einzel- 
aufgaben der Forschung in Anspruch genommen gewesen, so 
daß manche methodologische Funde wieder in Vergessenheit 
geraten konnten, so müßte, was ich an Erkenntnispsychologie 
zu bieten vermag, seit langer Zeit schon in gesichertem Besitz 
der Naturforscher sich befinden. Eben darum glaube ich, daß 
meine Arbeit nicht verloren sein wird. Vielleicht erkennen sogar 
Vorwort. IX 
die Philosophen einmal in meinem Unternehmen eine philo- 
sophische Läuterung der naturwissenschaftlichen Methodologie 
und kommen ihrerseits einen Schritt entgegen. Wenn dies aber 
auch nicht geschieht, hoffe ich doch den Naturforschern ge- 
nützt zu haben. 
Herr Dr. W. Pauli, Privatdocent für interne Medizin, hatte 
die besondere Freundlichkeit, eine Korrektur zu lesen, wofür ich 
ihm hiermit meinen herzlichen Dank ausspreche. 
Wien, im Mai 1905. 
D. V. 
Vorwort zur zweiten Auflage. 
Der Text der zweiten Auflage unterscheidet sich nur un- 
wesentlich von jenem der ersten. Zu eingreifender Umarbeitung 
fehlte sowohl die Zeit als der Anlaß. Manche kritische Be- 
merkungen wurden mir auch zu spät bekannt, um dieselben 
noch berücksichtigen zu können. 
Verweisungen auf Schriften verwandten Inhalts, welche gleich- 
zeitig mit oder unmittelbar nach der ersten Auflage dieses Buches 
erschienen sind, habe ich in Form von Anmerkungen hinzugefügt. 
Eine nähere Verwandtschaft meiner Grundansichten zu jenen 
Jerusalems offenbart sich durch dessen Buch „Der kritische 
Idealismus und die reine Logik" (1905); dieselbe ist wohl enger, 
als wir beide, auf verschiedenem spezialwissenschaftlichen Boden 
stehend, vorher annehmen konnten; sie dürfte auf die gemein- 
same Anregung durch die Biologie, insbesondere durch die 
Entwicklungslehre zurückzuführen sein. Manche Berührungs- 
punkte und reiche Anregung fand ich auch in Stöhrs origineller 
Arbeit „Leitfaden der Logik in psychologisierender Darstellung" 
(1905). Sehr erfreut war ich durch Duhems Werk „La theorie 
physique, son objet et sa structure" (1906). So weit gehende 
Übereinstimmung hoffte ich bei Physikern noch nicht zu finden. 
Duhem weist jede metaphysische Auffassung physikalischer 
Fragen ab; er sieht in der begrifflich-ökonomischen Fixierung 
des Tatsächlichen das Ziel der Physik; er hält die historisch- 
genetische Darstellung der Theorien für die einzig richtige 
und didaktisch zweckmäßige. Das sind Ansichten, die ich in 
Bezug auf Physik seit reichlich drei Decennien vertrete. Die 
Übereinstimmung ist mir um so wertvoller, als Duhem ganz 
unabhängig zu denselben Ergebnissen gelangt ist. Während 
Vorwort zur zweiten Auflage. 
& 
ich aber, wenigstens in dem vorliegenden Buch, hauptsächlich 
die Verwandtschaft des vulgären und des wissenschaftlichen 
Denkens hervorhebe, beleuchtet Duhem besonders die Unter- 
schiede des vulgären und des kritisch-physikalischen Beobachtens 
und Denkens, so daß ich sein Buch meinen Lesern als ergänzende 
und aufklärende Lektüre wärmstens empfehlen möchte. In dem 
Folgenden werde ich oft auf Duhem s Äußerungen zu verweisen 
und nur selten, in untergeordneten Punkten, eine Meinungsdifferenz 
zu bemerken haben. 
Herr Dr. James Moser, Privatdocent an der hiesigen Uni- 
versität, hatte die besondere Freundlichkeit, eine Korrektur zu 
lesen, wofür ich ihm auch hier herzlich danke. 
Wien, im April 1906. 
D. V. 
Inhaltsverzeichnis. 
Seite 
Vorwort V 
Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken 1 
Eine psj»cho-physiologische Betrachtung 20 
Gedächtnis. Reproduktion und Association 31 
Reflex, Instinkt, Wille, Ich 50 
Die Entwicklung der Individualität in der natürlichen und kulturellen 
Umgebung 70 
Die Wucherung des Vorstellungslebens 88 
Erkenntnis und Irrtum 108 
Der Begriff 126 
Empfindung, Anschauung, Phantasie 144 
Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander .... 164 
Über Gedankenexperimente 183 
Das physische Experiment und dessen Leitmotive 201 
Ähnlichkeit und Analogie als Leitmotive der Forschung 220 
Die Hypothese 232 
Das Problem 251 
Die Voraussetzungen der Forschung 275 
Beispiele von Forschungswegen 287 
Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung 304 
Zahl und Maß 320 
Der physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen 337 
Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie .... 353 
Raum und Geometrie vom Standpunkt der Naturforschung 389 
Die physiologische Zeit im Gegensatz zur metrischen 423 
Zeit und Raum physikalisch betrachtet 434 
Sinn und Wert der Naturgesetze 449 
Sachregister 464 
Namenregister 470 
Philosophisches 
und naturwissenschaftliches Denken. 
1. Unter einfachen, beständigen, günstigen Verhältnissen 
lebende niedere Tiere passen sich durch die angeborenen Reflexe 
den augenblicklichen Umständen an. Dies genügt gewöhnlich zur 
Erhaltung des Individuums und der Art durch eine angemessene 
Zeit. Verwickelteren und weniger beständigen Verhältnissen kann 
ein Tier nur widerstehen, wenn es sich einer räumlich und zeit- 
lich ausgedehnteren Mannigfaltigkeit der Umgebung anzupassen 
vermag. Es ist hierzu eine räumliche und zeitliche Fernsichtig- 
keit nötig, welcher zunächst durch vollkommenere Sinnesorgane, 
und bei weiterer Steigerung der Anforderungen durch Entwick- 
lung des Vorstellungslebens entsprochen wird. In der Tat hat 
ein mit Erinnerung ausgestattetes Lebewesen eine ausgedehntere 
räumliche und zeitliche Umgebung im psj>chischen Gesichtsfeld, 
als es durch seine Sinne zu erreichen vermag. Es nimmt sozu- 
sagen auch die Teile der Umgebung wahr, die an die unmittel- 
bar sichtbare grenzen, sieht Beute oder Feinde herankommen, 
welche noch kein Sinnesorgan anmeldet. Was dem primitiven 
Menschen einen quantitativen Vorteil über seine tierischen Ge- 
nossen verbürgt, ist wohl nur die Stärke seiner individuellen 
Erinnerung, die allmählich durch die mitgeteilte Erinnerung der 
Vorfahren und des Stammes unterstützt wird. Auch der Fort- 
schritt der Kultur überhaupt ist wesentlich dadurch gekennzeichnet, 
daß zusehends größere räumliche und zeitliche Gebiete in den 
Bereich der Obsorge des Menschen gezogen werden. Mit der 
teilweisen Entlastung des Lebens, welche bei steigender Kultur 
zunächst durch die Teilung der Arbeit, die Entwicklung der 
Gewerbe u. s. w. eintritt, gewinnt das auf ein engeres Tatsachen- 
Mach, Erkenntnis und Irrtum. \ 
2 Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. 
gebiet gerichtete Vorstellungsleben des einzelnen an Kraft, ohne 
daß jenes des gesamten Volkes an Umfang verliert. Das so er- 
starkte Denken kann nun selbst allmählich zu einem Beruf werden. 
Das wissenschaftliche Denken geht aus dem volkstümlichen Denken 
hervor. So schließt das wissenschaftliche Denken die kontinuier- 
liche biologische Entwicklungsreihe, welche mit den ersten ein- 
fachen Lebensäußerungen beginnt. 
2. Das Ziel des vulgären Vorstellungslebens ist die gedank- 
liche Ergänzung, Vervollständigung einer teilweise beobachteten 
Tatsache. Der Jäger stellt sich die Lebensweise eines eben 
erspähten Beutetiers vor, um danach sein eigenes Verhalten 
zweckentsprechend zu wählen. Der Landwirt denkt an den 
passenden Nährboden, die richtige Aussaat, die Zeit der Frucht- 
reife einer Pflanze, die er zu kultivieren gedenkt. Diesen Zug 
der gedanklichen Ergänzung einer Tatsache aus einem gegebenen 
Teil hat das wissenschaftliche Denken mit dem vulgären ge- 
mein. Auch Galilei will nichts anderes, als den ganzen Ver- 
lauf der Bewegung sich vergegenwärtigen, wenn die anfäng- 
liche Geschwindigkeit und Richtung eines geworfenen Steines 
gegeben ist. Allein durch einen andern Zug unterscheidet sich 
das wissenschaftliche Denken vom vulgären oft sehr bedeutend. 
Das vulgäre Denken, wenigstens in seinen Anfängen, dient prak- 
tischen Zwecken, zunächst der Befriedigung leiblicher Bedürf- 
nisse. Das erstarkte wissenschaftliche Denken schafft sich seine 
eigenen Ziele, sucht sich selbst zu befriedigen, jede intellektuelle 
Unbehaglichkeit zu beseitigen. Im Dienste praktischer Zwecke 
gewachsen, wird es sein eigener Herr. Das vulgäre Denken 
dient nicht reinen Erkenntniszwecken , und leidet deshalb an 
mancherlei Mängeln, welche auch dem von diesem abstammenden 
wissenschaftlichen Denken anfänglich anhaften. Von diesen befreit 
sich letzteres nur sehr allmählich. Jeder Rückblick auf eine voraus- 
gehende Periode lehrt, daß wissenschaftliches Denken in seinem 
Fortschritt in einer unausgesetzten Korrektur des vulgären 
Denkens besteht. Mit dem Wachsen der Kultur äußert aber das 
wissenschaftliche Denken seine Rückwirkung auch auf jenes 
Denken, welches praktischen Zwecken dient. Mehr und mehr 
wird das vulgäre durch das vom wissenschaftlichen durch- 
drungene technische Denken eingeschränkt und vertreten. 
Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. 3 
3. Die Abbildung der Tatsachen in Gedanken, oder die An- 
passung der Gedanken an die Tatsachen, ermögHcht dem Den- 
ken, nur teilweise beobachtete Tatsachen gedanklich zu ergänzen, 
soweit die Ergänzung durch den beobachteten Teil bestimmt ist. 
Die Bestimmung besteht in der Abhängigkeit der Merkmale der 
Tatsachen voneinander, auf welche somit das Denken auszu- 
gehen hat. Da nun das vulgäre und auch das beginnende 
wissenschaftliche Denken sich mit einer recht rohen Anpassung 
der Gedanken an die Tatsachen begnügen muß, so stimmen 
auch die den Tatsachen angepaßten Gedanken untereinander 
nicht vollständig überein. Anpassung der Gedanken aneinander 
ist also die weitere Aufgabe, welche das Denken zu seiner 
vollen Befriedigung lösen muß. Dies letztere Streben, welches 
die logische Läuterung des Denkens bedingt, aber weit über 
dieses Ziel hinausragt, kennzeichnet vorzugsweise die Wissen- 
schaft im Gegensatz zum vulgären Denken. Letzteres genügt 
sich, wenn es nur ungefähr der Verwirklichung praktischer 
Zwecke dient. 
4. Das wissenschaftliche Denken tritt uns in zwei anscheinend 
recht verschiedenen Typen entgegen: dem Denken des Philo- 
sophen und dem Denken des Spezialforschers. Der erstere 
sucht eine möglichst vollständige, weltumfassende Orientierung 
über die Gesamtheit der Tatsachen, wobei er nicht umhin kann, 
seinen Bau auf Grund fachwissenschaftlicher Anleihen auszu- 
führen. Dem anderen ist es zunächst um Orientierung und 
Übersicht in einem kleineren Tatsachengebiet zu tun. Da aber 
die Tatsachen immer etwas willkürlich und gewaltsam, mit Rück- 
sicht auf den ins Auge gefaßten augenblicklichen intellektuellen 
Zweck, gegeneinander abgegrenzt werden, so verschieben sich 
diese Grenzen beim Fortschritt des forschenden Denkens immer 
weiter und weiter. Der Spezialforscher kommt schließlich auch 
zur Einsicht, daß die Ergebnisse aller übrigen Spezialforscher 
zur Orientierung in seinem Gebiet berücksichtigt werden müssen. 
So strebt also auch die Gesamtheit der Spezialforscher ersichtlich 
nach einer Weltorientierung durch Zusammenschluß der Spezial- 
gebiete. Bei der Unvollkommenheit des Erreichbaren führt dieses 
Streben zu offenen oder mehr oder minder verdeckten Anleihen 
beim philosophischen Denken. Das Endziel aller Forschung ist 
4 Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. 
also dasselbe. Es zeigt sich dies auch darin, daß die größten 
Philosophen, wie Plato, Aristoteles, Descartes, Leibniz u. a. 
zugleich auch der Spezialforschung neue Wege eröffnet und ander- 
seits Forscher wie Galilei, Newton und Darwin u. a., ohne 
Philosophen zu heißen, doch das philosophische Denken mächtig: 
gefördert haben. 
Es ist allerdings richtig: Was der Philosoph für einen mög- 
lichen Anfang hält, winkt dem Naturforscher erst als das sehr 
ferne Ende seiner Arbeit. Allein diese Meinungsverschiedenheit 
soll die Forscher nicht hindern, und hindert sie tatsächlich auch 
nicht, voneinander zu lernen. Durch die zahlreichen Versuche, 
die allgemeinsten Züge großer Gebiete zusammenzufassen, hat 
sich die Philosophie in dieser Richtung reichliche Erfahrung er- 
worben; sie hat nach und nach sogar teilweise die Fehler er- 
kannt und vermeiden gelernt, in die sie selbst verfallen ist und 
in die der philosophisch nicht geschulte Naturforscher seinerseits 
noch heute fast gewiß verfällt. Aber auch positive wertvolle Ge- 
danken, wie z. B. die verschiedenen Erhaltungsideen, hat das 
philosophische Denken der Naturforschung geliefert. Der Philo^ 
soph entnimmt wieder der Spezialforschung solidere Grundlagen,, 
als sie das vulgäre Denken ihm zu bieten vermag. Die Natur- 
wissenschaft ist ihm einerseits ein Beispiel eines vorsichtigen^ 
festen und erfolgreichen wissenschaftlichen Baues, während er 
anderseits aus der allzugroßen Einseitigkeit des Naturforschers 
nützliche Lehren zieht. In der Tat hat auch jeder Philosoph 
seine Privat -Naturwissenschaft und jeder Naturforscher seine 
Privat-Philosophie. Nur sind diese Privat-Wissenschaften meist 
etwas rückständiger Art. In den seltensten Fällen kann der 
Naturforscher die Naturwissenschaft des Philosophen, wo sich 
dieselbe gelegentlich äußert, für voll nehmen. Die meisten 
Naturforscher hingegen pflegen heute als Philosophen einen 
150 Jahre alten Materialismus, dessen Unzulänglichkeit aller- 
dings nicht nur die Fachphilosophen, sondern alle dem philo- 
sophischen Denken nicht zu fern Stehenden, längst durchschaut 
haben. Nur wenige Philosophen nehmen heute an der natur- 
wissenschaftlichen Arbeit teil, und nur ausnahmsweise widmet 
der Naturforscher eigene Denkarbeit philosophischen Fragen. 
Dies ist aber zur Verständigung durchaus notwendig, denn 
Philosophisches und naturmssenschaftliches Denken. 5 
bloße Lektüre kann hier dem einen wie dem andern nicht 
helfen. 
Überblicken wir die Jahrtausende alten Wege, welche Philo- 
sophen und Naturforscher gewandelt sind, so finden wir die- 
selben teilweise wohl gebahnt. An manchen Stellen scheinen 
sie aber durch sehr natürliche, instinktive, philosophische und 
naturwissenschaftliche Vorurteile verlegt, welche als Schutt älterer 
Versuche, mißlungener Arbeit, zurückgeblieben sind. Es möchte 
sich empfehlen, daß von Zeit zu Zeit diese Schutthalden weg- 
geräumt oder umgangen werden. 
5. Nicht nur die Menschheit, sondern auch jeder einzelne 
findet beim Erwachen zu vollem Bewußtsein eine fertige Welt- 
ansicht in sich vor, zu deren Bildung er nichts absichtlich bei- 
getragen hat. Diese nimmt er als ein Geschenk der Natur und 
Kultur hin. Hier muß jeder beginnen. Kein Denker kann mehr tun, 
als von dieser Ansicht ausgehen, dieselbe weiter entwickeln und 
korrigieren, die Erfahrungen der Vorfahren benützen, die Fehler 
derselben nach seiner besten Einsicht vermeiden, kurz seinen 
Orientierungsweg selbständig und mit Umsicht noch einmal 
gehen. Worin besteht nun diese Weltansicht? Ich finde mich 
im Raum umgeben von verschiedenen in demselben beweglichen 
Körpern. Diese Körper sind teils „leblos", teils Pflanzen, Tiere 
und Menschen. Mein im Räume ebenfalls beweglicher Leib ist 
für mich ebenso ein sichtbares, tastbares, überhaupt sinnliches 
Objekt, welches einen Teil des sinnlichen Raumfeldes einnimmt, 
neben und außer den übrigen Körpern sich befindet, wie diese 
selbst. Mein Leib unterscheidet sich von den Leibern der übrigen 
Menschen nebst individuellen Merkmalen dadurch, daß sich bei 
Berührung desselben eigentümliche Empfindungen einstellen, die 
ich bei Berührung anderer Leiber nicht beobachte. Derselbe 
ist ferner meinem Auge nicht so vollständig sichtbar, wie der 
Leib anderer Menschen. Ich kann meinen Kopf, wenigstens un- 
mittelbar, nur zum kleinsten Teil sehen. Überhaupt erscheint 
mein Leib unter einer Perspektive, die von jener aller übrigen 
Leiber ganz verschieden ist. Denselben optischen Standpunkt 
kann ich andern Leibern gegenüber nicht einnehmen. Analoges 
gilt in Bezug auf den Tastsinn, aber auch in Bezug auf die 
übrigen Sinne. Auch meine Stimme höre ich z. B. ganz anders, 
6 Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. 
als die Stimme der andern Menschen. ^) Ich finde ferner 
Erinnerungen, Hoffnungen, Befürchtungen, Triebe, Wünsche, 
"Willen u. s. w. vor, an deren Entwicklung ich ebenso unschuldig 
bin, wie an dem Vorhandensein der Körper in der Umgebung. 
An diesen Willen knüpfen sich aber Bewegungen des einen 
bestimmten Leibes, der sich dadurch und durch das Voraus- 
gehende als \mein Leib kennzeichnet. — Bei Beobachtung des 
Verhaltens der übrigen Menschenleiber zwingt mich nebst dem 
praktischen Bedürfnis eine starke Analogie, der ich nicht wider- 
stehen kann, auch gegen meine Absicht, Erinnerungen, Hoff- 
nungen, Befürchtungen, Triebe, Wünsche, Willen, ähnlich den 
mit meinem Leib zusammenhängenden, auch an die andern 
Menschen- und Tierleiber gebunden zu denken. Das Verhalten 
anderer Menschen nötigt mich ferner anzunehmen, daß mein 
Leib und die übrigen Körper für sie ebenso unmittelbar vor- 
handen sind, wie für mich ihre Leiber und die übrigen Körper, 
daß dagegen meine Erinnerungen, Wünsche u. s. w. für sie ebenso 
nur als Ergebnis eines unwiderstehlichen Analogieschlusses be- 
stehen, wie für mich ihre Erinnerungen, Wünsche u. s. w. Die 
Gesamtheit des für alle im Räume unmittelbar Vorhandenen 
mag als das Physische, dagegen das nur einem unmittelbar 
Gegebene, allen anderen aber nur durch Analogie Erschließbare 
vorläufig als das Psychische bezeichnet werden. Die Gesamt- 
heit des nur einem unmittelbar Gegebenen wollen wir auch 
dessen (engeres) Ich nennen. Man beachte des Descartes 
Gegenüberstellung: „Materie, Geist-Ausdehnung, Denken". Hierin 
liegt die natürliche Begründung des Dualismus, der übrigens 
noch alle möglichen Übergänge vom bloßen Materialismus zum 
reinen Spiritualismus darstellen kann, je nach der Wertschätzung 
des Physischen oder Psychischen, nach der Auffassung des 
einen als des Fundamentalen, des andern als des Ableitbaren. 
Die Auffassung des im Dualismus ausgesprochenen Gegensatzes 
kann sich aber auch zu solcher Schärfe steigern, daß an einen 
Zusammenhang des Physischen und Psychischen — entgegen 
der natürlichen Ansicht — gar nicht mehr gedacht werden kann, 
') An guten Phonographen erkennt man die Klangfarbe der Stimme der 
Freunde, die eigene Stimme hat aber einen fremden Klang, da die Kopf- 
resonanz fehlt. 
Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. 7 
woraus die wunderlichen monströsen Theorien des „Occasiona- 
lismus" und der „prästabiHerten Harmonie" hervorgehen/) 
6. Die Befunde im Räume, in meiner Umgebung, hängen von- 
einander ab. Eine Magnetnadel gerät in Bewegung, sobald ein 
anderer Magnet genügend angenähert wird. Ein Körper erwärmt 
sich am Feuer, kühlt aber ab bei Berührung mit einem Eisstück. 
Ein Blatt Papier im dunklen Raum wird durch die Flamme einer 
Lampe sichtbar. Das Verhalten anderer Menschen nötigt mich zu 
der Annahme, daß darin ihre Befunde den meinigen gleichen. 
Die Kenntnis der Abhängigkeit der Befunde, der Erlebnisse von- 
einander ist für uns von dem größten Interesse, sowohl praktisch 
zur Befriedigung der Bedürfnisse, als auch theoretisch zur ge- 
danklichen Ergänzung eines unvollständigen Befundes. Bei Be- 
achtung der gegenseitigen Abhängigkeit des Verhaltens der 
Körper voneinander kann ich die Leiber der Menschen und Tiere 
wie leblose Körper ansehen, indem ich von allem durch Analogie 
Erschlossenen abstrahiere. Dagegen bemerke ich wieder, daß 
mein Leib auf diesen Befund immer einen wesentlichen Einfluß 
übt. Auf ein weißes Papier kann ein Körper einen Schatten 
werfen; ich kann aber einen diesem Schatten ähnlichen Fleck 
auf diesem Papier sehen, wenn ich unmittelbar zuvor einen 
recht hellen Körper angeblickt habe. Durch passende Stellung 
meiner Augen kann ich einen Körper doppelt, oder zwei sehr 
ähnliche Körper dreifach sehen. Körper, welche mechanisch 
bewegt sind, kann ich, wenn ich mich zuvor rasch gedreht habe, 
ruhig sehen, oder umgekehrt ruhige bewegt. Bei Schluß meiner 
Augen verschwindet überhaupt mein optischer Befund. Analoge 
haptische oder Wärmebefunde u. s. w. lassen sich durch ent- 
sprechende Beeinflussung meines Leibes ebenfalls herbeiführen. 
Wenn aber mein Nachbar die betreffenden Versuche an seinem 
Leibe vornimmt, so ändert dies an meinem Befund nichts, wie- 
wohl ich durch Mitteilung erfahre und schon nach der Analogie 
annehmen muß, daß seine Befunde in entsprechender Weise 
modifiziert werden. 
') Euler hat in seinem 83. Brief an eine deutsche Prinzessin dargelegt, 
wie lächerlich und aller täglichen Erfahrung zuwider es ist, zwischen dem 
eigenen Leib und der eigenen Psyche keine engere Beziehung anzunehmen, 
als zwischen irgend einem Leib und irgend einer Psyche. 
8 Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. 
Die Bestandteile meines Befundes im Räume hängen also 
nicht nur im allgemeinen voneinander ab, sondern insbesondere 
auch von den Befunden an meinem Leib, und dies gilt mutatis 
mutandis von den Befunden eines jeden. Wer nun auf die 
letztere Abhängigkeit aller unserer Befunde von unserem Leib 
einen übertriebenen Wert legt, und darüber alle anderen Ab- 
hängigkeiten unterschätzt, der gelangt leicht dazu, alle Befunde 
als ein bloßes Produkt unseres Leibes anzusehen, alles für ,ysub- 
jektiv'^ zu halten. Wir haben aber die räumliche Umgrenzung U 
unseres Leibes immer vor Augen und sehen, daß die Befunde 
außerhalb U ebensowohl voneinander , als auch von den Be- 
funden innerhalb U abhängen. Die Erforschung der außerhalb 
U liegenden Abhängigkeiten ist allerdings viel einfacher und 
weiter fortgeschritten, als jene der U überschreitenden Abhängig- 
keiten. Schließlich werden wir aber doch erwarten dürfen, daß 
letztere Abhängigkeiten doch von derselben Art sind wie erstere, 
wie wir aus der fortschreitenden Untersuchung fremder, außerhalb 
unserer 6^- Grenze gelegener Tier- und Menschenleiber mit zu- 
sehends wachsender Sicherheit entnehmen. Die entwickelte, mehr 
und mehr auf Physik sich stützende Physiologie kann auch die 
subjektiven Bedingungen eines Befundes klarlegen. Ein naiver 
Subjektivismus, der die abweichenden Befunde derselben Person 
unter wechselnden Umständen und jene verschiedener Personen 
als verschiedene Fälle von Schein auffaßte und einer vermeint- 
lichen sich gleichbleibenden Wirklichkeit entgegenstellte, ist jetzt 
nicht mehr zulässig. Denn nur auf die volle Kenntnis sämtlicher 
Bedingungen eines Befundes kommt es uns an; nur diese hat 
für uns praktisches oder theoretisches Interesse. 
7. Meine sämtlichen physischen Befunde kann ich in derzeit 
nicht weiter zerlegbare Elemente auflösen: Farben, Töne, Drücke, 
Wärmen, Düfte, Räume, Zeiten u. s. w. Diese Elemente zeigen 
sich sowohl von außerhalb U, als von innerhalb U liegenden 
Umständen abhängig. Insofern und nur insofern letzteres der 
*) Vgl. Analyse d. Empfindungen. 4. Aufl. 1903. — Ich möchte hier 
auch auf die sehr interessanten Ausführungen von R. v. Sterneck hinweisen, 
obwohl ich in manchen Punkten anderer Meinung bin. (v. Sterneck, Über 
die Elemente des Bewußtseins. Ber. d. Wiener philosophischen Gesell- 
schaft. 1903.) 
Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. 9 
Fall ist, nennen wir diese Elemente auch Empfindungen. Da 
mir die Empfindungen der Nachbarn ebensowenig unmittelbar 
gegeben sind, als ihnen die meinigen, so bin ich berechtigt die- 
selben Elemente, in welche ich das Physische aufgelöst habe, 
auch als Elemente des Psj>chischen anzusehen. Das Physische 
und idas Psychische enthält also gemeinsame Elemente, steht 
also keineswegs in dem gemeinhin angenommenen schroffen 
Gegensatze. Dies wird noch klarer, wenn sich zeigen läßt, daß 
Erinnerungen, Vorstellungen, Gefühle, Willen, Begriffe sich aus 
zurückgelassenen Spuren von Empfindungen aufbauen, mit letz- 
teren also keineswegs unvergleichbar sind. Wenn ich nun die 
Gesamtheit meines Psychischen — die Empfindungen eingerech- 
net — mein Ich im weitesten Sinne nenne (im Gegensatz zu 
dem engeren Ich, S. 6), so kann ich ja in diesem Sinne sagen, 
daß mein Ich die Welt eingeschlossen (als Empfindung und Vor- 
stellung) enthalte. Es ist aber nicht außer acht zu lassen, daß 
diese Auffassung andere gleichberechtigte nicht ausschließt. Diese 
solipsistische Position bringt die Welt scheinbar als Selbständiges 
zum Verschwinden, indem sie den Gegensatz zwischen derselben 
und dem Ich verwischt. Die Grenze, welche wir U genannt 
haben, bleibt aber dennoch bestehen; dieselbe geht nunmehr nicht 
lim das engere Ich, sondern mitten durch das erweiterte Ich, mitten 
durch das „Bewußtsein". Ohne Beachtung dieser Grenze und 
ohne Rücksicht auf die Analogie unseres Ich mit dem fremden 
Ich, hätten wir die solipsistische Position gar nicht gewinnen 
können. Wer also sagt, daß die Grenzen des Ich für die Er- 
kenntnis unüberschreitbar seien, meint das erweiterte Ich, welches 
die Anerkennung der Welt und der fremden Ich schon enthält. 
Auch die Beschränkung auf den „theoretischen" Solipsismus ^) des 
Forschers macht die Sache nicht erträglicher. Es gibt keinen 
isolierten Forscher. Jeder hat auch praktische Ziele, jeder lernt 
auch von andern, und arbeitet auch zur Orientierung anderer. 
8. Bei Konstatierung unserer physischen Befunde unterliegen 
wir mancherlei Irrtümern oder „Täuschungen". Ein schief ins 
Wasser getauchter gerader Stab wird geknickt gesehen, und der 
') Vgl. J. Petzoldt, Solipsismus auf praktischem Gebiet. Vierteljahrs- 
schrift f. wissensch. Philosophie. XXV. 3. S. 339. — Schuppe, Der Sol- 
ipsismus. Zeitschr. für immanente Philosophie. B. III S. 327. 
10 Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. 
Unerfahrene könnte meinen, daß er auch haptisch sich als geknickt 
erweisen werde. Das Luftbild eines Hohlspiegels halten wir für 
greifbar. Einem grell beleuchteten Gegenstand schreiben wir 
weiße Körperfarbe zu und sind erstaunt, denselben bei mäßiger 
Beleuchtung schwarz zu finden. Die Form eines Baumstamms 
im Dunkeln bringt uns die Gestalt eines Menschen in Erinnerung, 
und wir meinen diesen vor uns zu haben. Alle solche „Täu- 
schungen" beruhen darauf, daß wir die Umstände, unter welchen 
ein Befund gemacht wird, nicht kennen, oder nicht beachten, oder 
andere als die bestehenden voraussetzen. Unsere Phantasie er- 
gänzt auch teilweise Befunde in der ihr geläufigsten Weise und 
fälscht sie zuweilen eben dadurch. Was also im vulgären Denken 
zur Entgegenstellung von Schein und Wirklichkeit, von Erschei- 
nung und Ding führt, ist die Verwechslung von Befunden unter 
den verschiedensten Umständen mit Befunden unter ganz be- 
stimmten Umständen. Sobald einmal durch das ungenaue vul- 
gäre Denken der Gegensatz von Erscheinung und Ding sich 
herausgebildet hat, dringt die betreffende Auffassung auch in 
das philosophische Denken ein, welche dieselbe schwer genug 
los wird. Das monströse, unerkennbare „Ding an sich", welches 
hinter den Erscheinungen steht, ist der unverkennbare Zwillings- 
bruder des vulgären Dinges, welcher den Rest seiner Bedeutung 
verloren hat!^) Nachdem durch Verkennen der Grenze U der 
ganze Inhalt des Ich zum Schein gestempelt ist, was soll uns 
da noch ein unerkennbares Etwas außerhalb der vom Ich niemals 
überschreitbaren Grenzen? Bedeutet es etwas anderes als einen 
Rückfall in das vulgäre Denken|, das hinter der „trügerischen" 
Erscheinung, wenigstens doch immer noch einen soliden Kern 
zu finden weiß? 
Wenn wir die Elemente: rot, grün, warm, kalt u. s. w., wie 
sie alle heißen mögen, betrachten, welche in ihrer Abhängigkeit 
von außerhalb U gelegenen Befunden physische, in ihrer Ab- 
hängigkeit von Befunden innerhalb ^aber psychische Elemente, 
gewiß aber in beiderlei Sinn unmittelbar gegeben und identisch 
sind, so hat bei dieser einfachen Sachlage die Frage nach Schein 
') Vgl. die vortrefflichen polemischen Ausführungen Schuppes gegen 
Ueberweg (Brasch, Welt- und Lebensanschauung F. Ueberwegs. Leipzig 
1889). 
Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. \ \ 
und Wirklichkeit ihren Sinn verloren. Wir haben hier die Elemente 
der realen Welt und die Elemente des Ich zugleich vor uns. Was 
uns allein noch weiter interessieren kann, ist die funktionale Ab- 
hängigkeit {yra mathematischen Sinne) dieser Elemente voneinander. 
Man mag diesen Zusammenhang der Elemente immerhin ein Ding 
nennen. Derselbe ist aber kein unerkennbares Ding. Mit jeder 
neuen Beobachtung, mit jedem naturwissenschaftlichen Satz 
schreitet die Erkenntnis dieses Dinges vor. Wenn wir das 
(engere) Ich unbefangen betrachten, so zeigt sich dieses eben- 
falls als ein funktionaler Zusammenhang der Elemente. Nur die 
Form dieses Zusammenhanges ist hier eine etwas anders geartete, 
als wir sie im „physischen" Gebiet anzutreffen gewöhnt sind. 
Man denke an das verschiedene Verhalten der „Vorstellungen" 
gegenüber jenem der Elemente des ersteren Gebietes, an die 
associative Verknüpfung der letzteren u. s. w. Ein unbekanntes, 
unerkennbares Etwas hinter diesem Getriebe haben wir nicht 
nötig, und dasselbe hilft uns auch nicht im mindesten zu besserem 
Verständnis. Ein fast noch Unerforschtes steht allerdings hinter 
dem Ich; es ist unser Leib. Aber mit jeder neuen physio- 
logischen und psychologischen Beobachtung wird uns das Ich 
besser bekannt. Die introspektive und experimentelle Psycho- 
logie, die Hirnanatomie und Psychopathologie, welchen wir 
schon so wertvolle Aufklärungen verdanken, arbeiten hier der 
Physik (im weitesten Sinne) kräftig entgegen, um sich mit dieser 
zu mehr eindringender Weltkenntnis zu ergänzen. Wir können 
erwarten, daß alle vernünftigen Fragen sich nach und nach der 
Beantwortbarkeit nähern werden.^) 
9. Wenn man die Abhängigkeit der wechselnden Vorstellungen 
voneinander untersucht, so tut man das in der Hoffnung, die 
psychischen Vorgänge, seine eigenen Erlebnisse und Handlungen 
zu begreifen. Wer aber zum Schluß seiner Untersuchung im 
') Die Ausführungen in 5—8 schienen vereinzelten Lesern von den in 
„Analyse der Empfindungen" gegebenen abzuweichen. Das ist jedoch nicht 
der Fall. Ich habe, ohne an dem Wesen der Sache etwas zu ändern, mit 
dieser Form nur der Scheu der Naturforscher vor allem, was an Psycho- 
monismus zu streifen scheint, Rechnung tragen wollen. Für mich ist es 
übrigens ganz ohne Belang, mit welchem Namen man meinen Standpunkt 
bezeichnet. 
12 Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. 
Hintergrunde doch wieder ein beobachtendes und handelndes 
Subjekt braucht, der bemerkt nicht, daß er sich die ganze Mühe 
der Untersuchung hätte ersparen können, denn er ist beim Aus- 
gangspunkt derselben wieder angelangt. Die ganze Situation 
erinnert lebhaft an die Geschichte von dem Landwirt, der sich 
die Dampfmaschinen einer Fabrik erklären ließ, um schließlich 
nach den Pferden zu fragen, durch welche die Maschinen ge- 
trieben würden. Das war ja das Hauptverdienst Herbarts, daß 
er das Getriebe der Vorstellungen an sich untersuchte. Aller- 
dings verdarb er sich die ganze Psychologie wieder durch seine 
Voraussetzung der Einfachheit der Seele. In neuester Zeit erst 
fängt man an, sich mit einer „Psychologie ohne Seele" zu be- 
freunden. 
10. Das Vordringen der Analyse unserer Erlebnisse bis zu 
den „Elementen", über die wir vorläufig nicht hinaus können^), 
^) Die Zerlegung in die hier als Elemente bezeichneten Bestandteile ist 
auf dem vollkommen naiven Standpunkt des primitiven Menschen kaum denk- 
bar. Derselbe faßt, wie das Tier, wahrscheinlich die Körper der Umgebung 
als Ganzes auf, ohne die Beiträge, welche die einzelnen Sinne liefern, die 
ihm aber nur zusammen gegeben sind, zu trennen. Noch weniger wird er 
Farbe und Gestalt zu scheiden, oder die Mischfarbe in ihre Bestandteile zu 
zerlegen vermögen. Das alles ist schon Ergebnis einfacher wissenschaft- 
licher Erfahrungen und Überlegungen. Die Zerlegung der Geräusche in ein- 
fache Tonempfindungen, der Tastempfindungen in mehrere Teilempfindungen, 
der Lichtempfindungen in die Grundfarbenempfindungen u. s. w. gehört ja so- 
gar der neueren "Wissenschaft an. Daß hier die Grenze der Analyse erreicht 
sei, und daß diese durch kein Mittel der Physiologie weiter getrieben werden 
könnte, werden wir nicht glauben. Unsere Elemente sind also vorläufige, 
so wie es jene der Alchimie waren, und die jetzt geltenden der Chemie auch 
sind. — Wenn für unsere Zwecke, zur Ausschaltung philosophischer Schein- 
probleme, die Reduktion auf die besagten Elemente auch der beste "Weg 
schien, so folgt daraus noch nicht, daß Jede wissenschaftliche Untersuchung 
bei diesen Elementen beginnen muß. "Was für den Psychologen der ein- 
fachste und natürlichste Anfang ist, muß ein solcher durchaus nicht für den 
Physiker oder Chemiker sein, der ganz andere Probleme vor sich hat, oder 
dem dieselben Fragen ganze andere Seiten darbieten. 
Aber eins ist zu beachten. "Während es keiner Schwierigkeit unterliegt, 
Jedes physische Erlebnis aus Empfindungen, a.\so psychischen Elementen auf- 
zubauen, ist keine Möglichkeit abzusehen, wie man aus den in der heutigen 
Physik gebräuchlichen Elementen: Massen und Bewegungen (in ihrer für diese 
SpezialWissenschaft allein dienlichen Starrheit) irgend ein psychisches Erlebnis 
darstellen könnte. WennDubois letzteres richtig erkannte, so bestand sein 
Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. 13 
hat hauptsächlich den Vorteil die beiden Probleme des „uner- 
gründlichen" Dinges und des ebenso „unerforschlichen" Ich auf 
Fehler doch darin, daß er an den umgekehrten Weg gar nicht dachte, und 
die Reduktion beider Gebiete aufeinander darum überhaupt für unmöglich 
hielt. Man bedenke, daß nichts Gegenstand der Erfahrung oder einer Wissen- 
schaft ist, was nicht irgendwie Bewußtseinsinhalt werden kann. Die klare 
Erkenntnis dieses Sachverhalts befähigt uns, je nach dem Bedürfnis und dem 
Ziel der Untersuchung, bald den psychologischen, bald den physikalischen 
Standpunkt als Ausgangspunkt zu wählen. So wird auch der das Opfer eines 
sonderbaren aber weit verbreiteten System -Aberglaubens, welcher meint, 
weil er das eigene Ich als Medium als Erkenntnis erkannt hat, den Analogie- 
schluß auf die fremden Ich nicht mehr machen zu dürfen. Dient doch die- 
selbe Analogie auch zur Ergründung des eigenen Ich. 
Ich freue mich hier noch auf M. Verworn (Naturwissenschaft und 
Weltanschauung 1904) hinweisen zu können, welcher wieder sehr verwandte 
Ansichten vertritt. Man vergleiche insbesondere die Anmerkung S. 45. V.'s 
Ausdruck „Psychomonismus" scheint mir jetzt allerdings weniger sachgemäß, 
als es in einer älteren, idealistischen Jugendphase meines Denkens der Fall 
gewesen wäre. 
H. Hoff ding (Moderne Philosophen, 1905, S. 121) referiert die münd- 
liche Äußerung von R. Avenarius: „Ich kenne weder Physisches noch Psychi- 
sches, sondern nur ein Drittes." Diese Worte würde ich sofort unterschreiben, 
wenn ich nicht fürchten müßte, daß man unter diesem Dritten ein unbekanntes 
Dritte, etwa ein Ding an sich oder eine andere metaphysische Teufelei ver- 
steht. Für mich ist das Physische und Psychische dem Wesen nach identisch, 
unmittelbar bekannt und gegeben, nur der Betrachtung nach verschieden. 
Diese Betrachtung, und demnach die Unterscheidung beider, kann überhaupt 
erst bei höherer psychischer Entwickluug und reicherer Erfahrung eintreten. 
Vorher ist das Physische und das Psychische ununterscheidbar. Für mich 
ist jede wissenschaftliche Arbeit verloren, die nicht das unmittelbar Ge- 
gebene festhält, und die, statt die Beziehungen der Merkmale des Gegebenen 
zu ermitteln, irgendwo im Leeren fischt. Sind diese Beziehungen ermittelt, 
so kann man sich noch allerlei Gedanken über dieselben machen. Mit diesen 
beschäftige ich mich aber nicht. Meine Aufgabe ist keine philosophische, 
sondern eine rein methodologische. Man soll auch nicht denken, daß ich 
die vulgären auf guter empirischer Grundlage instinktiv entwickelten Begriffe: 
Subjekt, Objekt, Empfindung u. s. w., angreifen oder gar abschaffen will. 
Mit diesem praktisch zureichenden Nebel ist aber methodologisch nichts an- 
zufangen; da muß vielmehr untersucht werden, welche funktionalen Abhängig- 
keiten der Merkmale des Gegebenen voneinander zu diesen Begriffen ge- 
drängt haben, wie es hier geschehen ist. Kein schon erworbenes Wissen 
soll weggeworfen, sondern erhalten und kritisch verwertet werden. 
In unserer Zeit finden sich wieder Naturforscher, welche nicht ganz in 
der Spezialforschung aufgehen, sondern nach allgemeineren Gesichtspunkten 
14 Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. 
ihre einfachste durchsichtigste Form zu bringen und dieselben 
eben dadurch als Scheinprobleme leicht erkennbar zu machen. 
suchen. Höffding nennt sie, um sie zweckentsprechend von den eigent- 
lichen Philosophen zu scheiden, „philosophierende Naturforscher". Wenn ich 
zunächst zwei derselben, Ostwald und Haeckel, nenne, so steht vor allem 
deren hervorragende fachliche Bedeutung ganz außer Frage. In Bezug auf 
die allgemeine Orientierung muß ich die beiden Genannten als Strebens- 
genossen ansehen und hochschätzen, wenn ich ihnen auch nicht in allen 
Punkten zustimmen kann. In Ostwald verehre ich außerdem einen mäch- 
tigen und erfolgreichen Streiter gegen die Erstarrung der Methode, in 
Haeckel einen aufrechten, unbestechlichen Kämpfer für Aufklärung und 
Denkfreiheit. Wenn ich nun mit einem Wort sagen soll, nach welcher Rich- 
tung ich von diesen beiden Forschern mich am meisten entferne, so ist es 
dies: Mir erscheint die psychologische Beobachtung als eine ebenso wichtige 
und fundamentale Erkenntnisquelle, wie die physikalische Beobachtung. Von 
der Gesamtforschung der Zukunft wird wohl gelten, was Hering einmal 
(Zur Lehre vom Lichtsinn, Wien 1878, S. 106) so treffend von der Physio- 
logie gesagt hat, sie wird einem von zwei Seiten her (von der physischen 
und psychischen) zugleich durchgeführten Tunnelbau gleichen. Wie sich 
Hering auch sonst stellen mag, in diesem Punkte stimme ich ihm voll- 
kommen bei. Das Streben, zwischen diesen beiden scheinbar so differenten 
Gebieten eine Brücke und eine homogene Auffassung beider zu finden, liegt 
in der ökonomischen Konstitution des Menschengeistes. Ich möchte auch nicht 
bezweifeln, daß bei zweckmäßiger Umformung der Begriffe dieses Ziel so- 
wohl von der physischen wie von der psychischen Seite her zu erreichen 
ist, und nur dem unerreichbar scheint, der seit seiner Jugendzeit in starre 
instinktive oder konventionelle Begriffe eingeschnürt bleibt. 
Wenn ich mich nicht täusche, so äußert sich auch in der eigentlich 
philosophischen Literatur, die mir ferner liegt, das Streben nach dem be- 
zeichneten Ziel. Betrachte ich z. B. das Buch von G. Heymans (Einführung 
in die Metaphysik auf Grundlage der Erfahrung, 1905), so werden die meisten 
Naturforscher gegen dessen einfache und klare Ausführungen ebensowenig 
einzuwenden haben, wie gegen dessen schließlich erreichten Standpunkt, den 
„kritischen Psychomonismus"; nur daß vielleicht stark materialistische Denker 
sich noch vor dem Namen scheuen. Allerdings muß man fragen, wenn nach 
Heymans die Methode der Metaphysik ganz dieselbe ist, wie jene der 
Naturwissenschaft, nur auf ein weiteres Gebiet übertragen, wozu dann der 
Name, der seit Kant einen so fatalen Klang hat, und dem der Zusatz „auf 
Grundlage der Erfahrung" zu widersprechen scheint? Endlich wäre zu er- 
wägen, daß die Naturwissenschaft seit Newton gelernt hat, Hypothesen, 
Einschaltungen von x und y zwischen das bekannte Gegebene, nach ihrem 
wahren, geringen Wert einzuschätzen. Nicht die vorläufige Arbeitshypothese, 
sondern die Methode der analytischen Untersuchung ist es, was die Natur- 
wissenschaft wesentlich fördert. — Wenn es nun einerseits sehr erfreulich 
Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. 15 
Indem das, was zu erforschen überhaupt keinen Sinn hat, aus- 
geschieden wird, tritt das wirklich durch die Spezialwissen- 
schaften Erforschbare um so deutlicher hervor: die mannigfaltige, 
allseitige Abhängigkeit der Elemente voneinander. Gruppen 
solcher Elemente können immerhin als Dinge (als Körper) be- 
zeichnet werden. Es ergibt sich aber, daß ein isoliertes Ding 
genau genommen nicht existiert. Nur die vorzugsweise Berück- 
sichtigung auffallender, stärkerer Abhängigkeiten und die Nicht- 
beachtung weniger merklicher, schwächerer Abhängigkeiten er- 
laubt uns bei einer ersten vorläufigen Untersuchung die Fiktion 
isolierter Dinge. Auf demselben graduellen Unterschiede der 
Abhängigkeiten beruht auch der Gegensatz der Welt und des 
Ich. Ein isoliertes Ich gibt es ebensowenig, als ein isoliertes 
Ding. Ding und Ich sind provisorische Fiktionen gleicher Art. 
11. Unsere Betrachtung bietet dem Philosophen sehr wenig 
oder nichts. Sie ist nicht bestimmt ein oder 7 oder 9 Welt- 
rätsel zu lösen. Sie führt nur zur Beseitigung falscher, den 
Naturforscher störender Probleme und überläßt der positiven 
Forschung das Weitere. Wir bieten zunächst nur ein negatives 
Regulativ für die naturwissenschaftliche Forschung, um welches 
der Philosoph gar nicht nötig hat sich zu kümmern, namentlich 
nicht derjenige, welcher schon sichere Grundlagen einer Welt- 
anschauung kennt, oder doch zu kennen glaubt. Will also diese 
Darlegung zunächst vom naturwissenschaftlichen Standpunkt be- 
urteilt werden, so kann damit doch nicht gemeint sein, daß der 
Philosoph nicht Kritik an derselben üben, sie nicht nach seinen 
Bedürfnissen modifizieren oder nicht ganz verwerfen soll. Für 
den Naturforscher ist es jedoch eine ganz sekundäre Angelegen- 
heit, ob seine Vorstellungen in irgend ein philosophisches System 
passen oder nicht, wenn er sich derselben nur mit Vorteil als 
Ausgangspunkt der Forschung bedienen kann. Die Denk- und 
Arbeitsweise des Naturforschers ist nämlich von jener des Philo- 
sophen sehr verschieden. Da er 'nicht in der glücklichen Lage 
ist, unerschütterliche Prinzipien zu besitzen, hat er sich gewöhnt, 
und ermutigend ist, daß wir alle fast in derselben Richtung suchen, so 
können doch anderseits die zurückbleibenden Differenzen jeden von uns 
warnen, das Gesuchte nicht etwa für ein schon Gefundenes oder gar für eine 
allein seligmachende Lehre zu halten. 
16 Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. 
auch seine sichersten, bestbegründeten Ansichten und Grundsätze 
als provisorisch und durch neue Erfahrungen modifizierbar zu 
betrachten. In der Tat sind die größten Fortschritte und Ent- 
deckungen nur durch dieses Verhalten ermöglicht worden. 
12. Auch dem Naturforscher kann unsere Überlegung nur 
ein Ideal weisen, dessen annähernde allmähliche Verwirklichung 
der Forschung der Zukunft vorbehalten bleibt. Die Ermittlung 
der direkten Abhängigkeit der Elemente voneinander ist eine 
Aufgabe von solcher Komplikation, daß sie nicht auf einmal, 
sondern nur schrittweise gelöst werden kann. Es war viel leichter 
erst ungefähr und in rohen Umrissen die Abhängigkeit ganzer 
Komplexe von Elementen (von Körpern) voneinander zu ermitteln, 
wobei es sehr vom Zufall, vom praktischen Bedürfnis, von 
früheren Ermittlungen abhing, welche Elemente als die wichtigeren 
erschienen, auf welche die Aufmerksamkeit hingelenkt wurde, 
welche hingegen unbeachtet blieben. Der einzelne Forscher 
steht immer mitten in der Entwicklung, muß an die unvollkom- 
menen von den Vorgängern erworbenen Kenntnisse anknüpfen, 
und kann dieselben nur seinem Ideal entsprechend vervollstän- 
digen und korrigieren. Indem er die Hilfe und die Fingerzeige, 
welche in diesen Vorarbeiten enthalten sind, dankbar für seine 
eigenen Unternehmungen verwendet, fügt er oft unvermerkt auch 
Irrtümer der Vorgänger und Zeitgenossen den eigenen hinzu. 
Die Rückkehr auf den vollkommen naiven Standpunkt, wenn sie 
auch möglich wäre, würde für jenen, der sich von Ansichten 
der Zeitgenossen ganz frei machen könnte, neben dem Vorteil 
der Voraussetzungslosigkeit auch deren Nachteil bedingen: die 
Verwirrung durch die Komplikation der Aufgabe und die Un- 
möglichkeit, eine Untersuchung zu beginnen. Wenn wir also 
heute scheinbar auf einen primitiven Standpunkt zurückkehren^ 
um die Untersuchung von neuem auf besseren Wegen zu führen, 
so ist dies eine künstliche Naivität, welche die auf einem langen 
Kulturwege gewonnenen Vorteile nicht aufgibt, sondern im 
Gegenteil Einsichten verwendet, die eine recht hohe Stufe des 
physikalischen, physiologischen und psychologischen Denkens 
voraussetzen. Nur auf einer solchen ist die Auflösung in die 
„Elemente" denkbar. Es handelt sich um Rückkehr zu den 
Ausgangspunkten der Forschung mit der vertieften und reicheren 
Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. 17 
Einsicht, welche eben die vorausgehende Forschung gezeitigt hat. 
Eine gewisse psychische Entwicklungsstufe muß erreicht sein, bevor 
die wissenschaftliche Betrachtung beginnen kann. Keine Wissen- 
schaft kann aber die vulgären Begriffe in ihrer Verschwommen- 
heit verwenden; sie muß auf deren Anfänge, auf deren Ursprung 
zurückgehen, um sie bestimmter, reiner zu gestalten. Sollte dies 
nur der Psychologie und der Erkenntnislehre verwehrt sein? 
13. Wenn eine Mannigfaltigkeit vielfach voneinander ab- 
hängiger Elemente zu untersuchen ist, so steht uns zur Ermitt- 
lung der Abhängigkeiten nur eine Methode zur Verfügung: die 
Methode der Variation. Es bleibt uns nichts übrig, als die 
Veränderung eines jeden Elementes zu beobachten, welche an die 
Veränderung jedes anderen gebunden ist, wobei es einen ge- 
ringen Unterschied macht, ob die letztere „von selbst" eintritt 
oder durch unsern „Willen" herbeigeführt wird. Die Abhängig- 
keiten werden durch „Beobachtung" und „Experiment" ermittelt. 
Selbst wenn die Elemente nur paarweise voneinander abhängig, 
von den übrigen aber unabhängig wären, würde eine syste- 
matische Erforschung dieser Abhängigkeiten schon eine recht 
mühsame Aufgabe sein. Eine mathematische Überlegung lehrt 
aber, daß bei Abhängigkeiten in Kombinationen zu 3, zu 4 u. s. w. 
Elementen die Schwierigkeit der planmäßigen Untersuchung sich 
sehr rasch zur praktischen Unerschöpflichkeit steigert. Jede 
vorläufige Außerachtlassung weniger auffallender Abhängigkeiten, 
jede Vorwegnahme der auffallendsten Zusammenhänge muß hier- 
nach als eine wesentliche Erleichterung empfunden werden. Beide 
Erleichterungen sind unter dem Einfluß des praktischen Bedürf- 
nisses, der Not und der psychischen Organisation zunächst in- 
stinktiv gefunden und nachher von den Naturforschern bewußt, 
geschickt und methodisch benützt worden. Ohne diese Erleich- 
terungen, welche man immerhin als Unvollkommenheiten ansehen 
mag, hätte die Wissenschaft überhaupt nicht wachsen und ent- 
stehen können. Die Naturforschung hat Ähnlichkeit mit der 
Entwirrung kompliziert verschlungener Fäden, wobei der glück- 
liche Zufall fast ebenso wichtig ist, als GeschickHchkeit und 
scharfe Beobachtung. Die Arbeit des Forschers ist ebenso auf- 
regend, wie für den Jäger die Verfolgung eines wenig bekannten 
Wildes unter störenden Umständen. 
Mach, Erkenntnis und Irrtum. 2 
181 Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. 
Wenn man die Abhängigkeit irgend welcher Elemente unter- 
suchen will, so tut man gut, Elemente, deren Einfluß unzweifel- 
haft ist, aber bei der Untersuchung störend empfunden wird,, 
möglichst konstant zu halten. Darin besteht die erste und 
wichtigste Erleichterung der Forschung. Die Erkenntnis der 
Doppelabhängigkeit eines jeden Elementes von Elementen außer- 
halb U, und von Elementen innerhalb U^ führt nun dazu, zu- 
nächst die Wechselbeziehung der Elemente außerhalb 6^ zu unter- 
suchen, und jene innerhalb U konstant^ d. h. das beobachtende 
Subjekt unter möglichst gleichen Umständen zu belassen. Indem 
die Abhängigkeit des Leuchtens der Körper, oder ihrer Tempe- 
raturen, oder ihrer Bewegungen voneinander unter möglichst 
gleichen Umständen desselben^ oder auch verschiedener an der 
Beobachtung teilnehmender Subjekte untersucht wird, befreien 
wir die Kenntnis des physikalischen Gebietes nach Möglichkeit 
von dem Einfluß unseres individuellen Leibes. Die Ergänzung 
hierzu bildet die Erforschung der U überschreitenden und inner- 
halb U liegenden physiologischen und psychologischen Abhängig- 
keiten, welche aber nun durch die vorweg genommenen physi- 
kalischen Forschungen schon wesentlich erleichtert ist. Auch 
diese Teilung der Untersuchung hat sich instinktiv ergeben, 
und es handelt sich nur darum, dieselbe mit dem Bewußtsein 
ihres Vorteils methodisch festzuhalten. Für analoge Teilungen 
kleinerer Untersuchungsgebiete liefert die Naturforschung zahl- 
reiche Beispiele. 
14. Nach diesen einleitenden Bemerkungen wollen wir die 
Leitmotive der Naturforschung näher in Augenschein nehmen. 
Hierbei machen wir keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Wir 
wollen uns überhaupt vor verfrühtem Philosophieren und Syste- 
matisieren hüten. Wir wollen als aufmerksame Spaziergänger,, 
das Gebiet der Naturforschung durchstreifend, das Verhalten des 
Naturforschers in seinen einzelnen Zügen beobachten. Wir fra- 
gen: Durch welche Mittel ist die Naturerkenntnis bisher tatsäch- 
lich gewachsen, und wie hat sie Aussicht, noch fernerhin zu ge- 
deihen? Das Verhalten des Forschers hat sich in der praktischen 
Tätigkeit; im volkstümlichen Denken instinktiv entwickelt, und ist 
von diesem nur auf das wissenschaftliche Gebiet übertragen und 
zuletzt zu bewüßtei Methodik entwickelt worden. Wir werden 
Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. 19 
ZU unserer Befriedigung nicht nötig haben, über das empirisch 
Gegebene hinauszugehen. Wenn wir die Züge in dem Verhalten 
des Forschers auf tatsächlich beobachtbare Züge unseres phy- 
sischen und psychischen Lebens zurückführen können, welche 
sich auch im praktischen Leben, im Handeln und Denken der 
Völker wiederfinden, wenn wir nachweisen können, daß dieses 
Verhalten wirklich praktische und intellektuelle Vorteile herbei- 
führt, so wird uns dies genügen. Eine allgemeine Betrachtung 
unseres physischen und psychischen Lebens wird hierfür die 
natürliche Grundlage bilden. 
Eine psycho-physiologische Betrachtung. 
1. Die Erfahrung wächst durch fortschreitende Anpassung der 
Gedanken an die Tatsachen. Durch Anpassung der Gedanken 
aneinander entsteht das übersichtlich geordnete, vereinfachte, 
widerspruchlose Gedankensystem, welches uns als Ideal der 
Wissenschaft vorschwebt. Meine Gedanken sind unmittelbar 
nur mir zugänglich, wie die meines Nachbars nur ihm direkt 
bekannt sind. Dieselben gehören dem psychischen Gebiet an. 
Erst durch deren Zusammenhang mit Physischem: Geberden, 
Mienen, Worten, Taten, kann ich auf Grund meiner Physisches 
und Psychisches umfassenden Erfahrung einen mehr oder weniger 
sicheren Analogieschluß auf die Gedanken des Nachbars wagen. 
Anderseits lehrt mich dieselbe Erfahrung auch meine Gedanken, 
mein Psychisches, als abhängig von der physischen Umgebung 
mit Einschluß meines Leibes und des Verhaltens meiner Nach- 
barn erkennen. Die Betrachtung des Psychischen durch „Intro- 
spektion" ist nicht erschöpfend; sie muß mit der Untersuchung 
des Physischen Hand in Hand gehen. 
2. Wie Mannigfaltiges finde ich „in mir" vor, z. B. auf einem 
Gang zur Vorlesung! Meine Beine bewegen sich, ein Schritt 
löst den andern aus, ohne daß ich etwas Besonderes dazu tue, 
außer wenn es etwa ein Hindernis zu umgehen gilt. Ich komme 
an den Anlagen des Stadtparks vorbei, erblicke und erkenne 
das Rathaus, das mich an gotische und maurische Bauten er- 
innert, ebenso wie an den mittelalterlichen Geist, der in dessen 
Räumen herrscht. In der Hoffnung auf kulturwürdigere Zu- 
stände will ich mir eben die Zukunft ausphantasieren, als beim 
Überschreiten der Straße ein dahersausender Radfahrer mich 
streift und meinen unwillkürlichen Seitensprung auslöst. Ein 
leiser Groll gegen diese rücksichtslosen Geschwindigkeitsidealisten 
Eine psycho-physiologische Betrachtung. 21 
tritt an die Stelle meiner Zukunftsphantasien. Der Anblick der 
Rampe des Universitätsgebäudes bringt mir nun mein Ziel, die 
Aufgabe der nächsten Stunde, nochmals in Erinnerung und be- 
schleunigt meine Schritte. 
3. Lösen wir dieses psychische Erlebnis in seine Bestandteile 
auf. Da finden wir zunächst diejenigen, welche in ihrer Abhängig- 
keit von unserm Leib: Offensein der Augen, Richtung der Augen- 
achsen, normaler Beschaffenheit und Erregung der Netzhaut u.s.w. 
„Empfindungen" heißen, in ihrer Abhängigkeit von anderem 
Physischem: Anwesenheit der Sonne, greifbarer Körpern u. s. w. 
Merkmale, „Eigenschaften" des Phj^sischen sind. Ich meine das 
Grün des Stadtparks, das Grau und die Formen des Rathauses, 
den Widerstand des Bodens, auf welchen ich trete, die streifende 
Berührung des Radfahrers u. s. w. Bleiben wir für die psycho- 
logische Analyse bei dem Ausdruck Empfindung. Gegenüber 
den Empfindungen, wie Heiß, Kalt, Hell, Dunkel, einer lebhaften 
Farbe, Ammoniakgeruch, Rosenduft u. s. w. verhalten wir uns in 
der Regel nicht indifferent. Sie sind uns angenehm oder unan- 
genehm, d. h. unser Leib reagiert gegen dieselben mit mehr oder 
weniger intensiven Annäherungs- oder Entfernungsbewegungen, 
welche selbst wieder der Introspektion als Komplexe von Emp- 
findungen sich darstellen. Im Beginn des psychischen Lebens 
lassen nur die Empfindungen deutliche, starke Erinnerungen 
zurück, an welche eine starke Reaktion geknüpft war. Mittelbar 
können aber auch andere Empfindungen im „Gedächtnis" 
bleiben. Der an sich recht gleichgültige Anblick der Flasche, 
welche Ammoniak enthielt, ruft die Erinnerung des Geruches 
hervor und hört dadurch auf, indifferent zu sein. Das ganze 
vorausgehende Empfindungsleben, soweit es in der Erinnerung 
aufbewahrt ist, wirkt nun bei jedem neuen Empfindungserlebnis 
mit. Das Rathaus, an dem ich vorbei gehe, wäre für mich nur 
eine räumliche Anordnung von farbigen Flecken, wenn ich nicht 
schon viele Gebäude gesehen, deren Gänge durchschritten, deren 
Treppen erstiegen hätte. Erinnerungen an mannigfaltige Emp- 
findungen verweben sich hier mit der optischen Empfindung zu 
einem viel reicher ausgestatteten Komplex, der Wahrnehmung, 
von welcher wir die bloße augenblickliche Empfindung nur mit 
Mühe trennen. Wenn mehreren Personen dasselbe optische 
22 ^ine psycho-physiologische Betrachtung. 
Gesichtsfeld geboten wird, so wird die „Aufmerksamkeit" einer 
jeden in einer besonderen Richtung erregt, d. h. das psipchische 
Leben derselben durch individuelle starke Erinnerungen in be- 
sondere Bewegung gesetzt. Ein älterer Herr, Ingenieur, macht in 
Begleitung eines 18jährigen Sohnes und eines 5jährigen Knaben 
einen Spaziergang durch eine Wiener Straße. Ihre Augen haben 
dieselben Bilder aufgenommen. Der Ingenieur hat aber fast nur 
die Straßenbahn, der Jüngling besonders die hübschen Mädchen 
und der Knabe vielleicht nur die Spielzeuge in den Auslagen 
der Mechaniker beachtet. Angeborene und erworbene organische 
Umstände spielen hier mit. Die Erinnerungsspuren älterer Emp- 
findungserlebnisse, welche das psychische Schicksal neu ein- 
tretender Empfindungskomplexe wesentlich mitbestimmen, sich 
mit letzteren unvermerkt verweben und, an das Empfindungs- 
erlebnis anknüpfend, dieses weiterspinnend sich anschließen, 
wollen wir Vorstellungen nennen. Dieselben unterscheiden sich 
von den Empfindungen nur durch ihre geringere Kraft und 
durch ihre größere Flüchtigkeit und Veränderlichkeit, sowie 
durch die Art der Verknüpfung miteinander (Association). Eine 
neue Art von Elementen stellen sie den Empfindungen gegen- 
über nicht vor; sie scheinen vielmehr von derselben Natur zu 
sein wie diese. ^) 
4. Neue Elemente scheinen auf den ersten Blick die Gefühle, 
Affekte, Stimmungen: Liebe, Haß, Zorn, Furcht, Niedergeschlagen- 
heit, Trauer, Fröhlichkeit u. s. w. darzubieten. Betrachten wir 
aber diese Zustände genauer, so finden wir weniger ana- 
lysierte Empfindungen, die mit weniger bestimmten, diffusen, 
unscharf lokalisierten Raumelementen innerhalb U verbunden 
sind, und die eine gewisse, aus der Erfahrung bekannte Reak- 
tionsstimmung unseres Leibes von bestimmter Richtung kenn- 
zeichnen, welche bei genügender Stärke wirklich in Angriffs- 
oder Fluchtbewegungen ausbricht. Der Umstand, daß diese 
Zustände für die Gesamtheit ein viel geringeres Interesse haben, 
als für den einzelnen, und daß selbst für diesen deren Beobach- 
tung viel schwieriger ist, weil die Elemente des Leibes nicht so 
offen für die Untersuchung daliegen, wie die allgemein zugäng- 
^) Vgl. Analyse der Empfindungen. 4. Aufl., S. 159. 
Eine psycho-physiologische Betrachtung. 23 
liehen äußeren Objekte und die Sinnesorgane, bedingt eine ge- 
ringere Kenntnis, eine schwierigere Beschreibung und eine un- 
vollkommene Nomenklatur derselben. Gefühle können sowohl mit 
Vorstellungen als auch mit (außerhalb U lokalisierten) Empfin- 
dungen verknüpft sein. Bricht eine Reaktionsstimmung in eine 
durch einen Empfindungskomplex bestimmte bewußte Angriffs- 
oder Abwehrbewegung von voraus bekanntem Ziel aus, so 
sprechen wir von einem Willensakt. Wenn ich von einem 
Gang zur Vorlesung spreche, wenn man mir den Besuch eines 
fremden Gelehrten ankündigt, wenn ein Mann als gerecht be- 
zeichnet wird, so vermag ich die gesperrt ausgesetzten Worte 
zwar nicht als einen bestimmten Komplex von Empfindungen 
oder Vorstellungen zu deuten; dieselben haben aber durch ihren 
vielfachen mannigfaltigen Gebrauch doch die Eigenschaft ge- 
wonnen, die betreffenden Komplexe, welche sie bezeichnen 
können, so zu umschreiben und zu umgrenzen, daß jedenfalls 
mein Verhalten, meine Reaktionsweise gegenüber diesen Kom- 
plexen hierdurch bestimmt ist. Worte, welche gar keine Kom- 
plexe von sinnlichen Erlebnissen bezeichnen könnten, wären 
eben unverständlich, ohne Bedeutung. Auch wenn ich die 
Worte: Rot, Grün, Rose gebrauche, hat die deckende Vor- 
stellung schon einen beträchtlichen Spielraum. Derselbe erweitert 
sich in den oben angeführten Beispielen, noch mehr aber im 
wissenschaftlichen begrifflichen Denken, indem zugleich die 
Schärfe der Umgrenzung, welche unsere Reaktionsweise gegen- 
über den betreffenden Komplexen bestimmt, zunimmt. Der 
Übergang von den bestimmtesten sinnlichen Vorstellungen durch 
das vulgäre Denken bis zu dem abstraktesten wissenschaftlichen 
Denken ist ein ganz kontinuierlicher. Auch diese Entwicklung, 
welche durch den Gebrauch der Sprache ermöglicht ist, voll- 
zieht sich zunächst ganz instinktiv, und ihr Ergebnis findet erst 
in der wissenschaftlichen Begriffsdefinition und der termino- 
logischen Bezeichnung bewußte methodische Anwendung. Über 
die Kontinuität zwischen Individualvorstellung und Begriff und 
über die Empfindungen als Grundelemente alles psychischen 
Lebens kann uns der scheinbar weite Abstand von konkreter 
sinnlicher Vorstellung und Begriff nicht täuschen. 
Es gibt also kein isoliertes Fühlen, Wollen und Denken. 
24 Eine pSYcho-physiologische Betrachtung. 
Das Empfinden, welches zugleich physisch und psychisch ist, 
bildet die Grundlage alles psychischen Lebens. Die Empfin- 
dungen sind stets auch mehr oder weniger aktiv, indem sie bei 
den niederen Tieren unmittelbar, bei den höheren auf einem 
Umwege durch das Großhirn die verschiedensten Reaktionen 
des Leibes auslösen.^) Die bloße Introspektion ohne stete Rück- 
sicht auf den Leib und demnach auf das gesamte Physische, von 
dem der Leib einen unabtrennbaren Teil ausmacht, vermag keine 
zureichende Psychologie zu begründen. Betrachten wir also 
einmal das organische, insbesondere des tierische Leben als 
Ganzes, bald mehr die physische, bald mehr die psychische 
Seite beachtend. Wählen wir auch solche Beispiele, in welchen 
dieses Leben sich in besonders einfachen Formen offenbart. 
5. Der Falter, der auf prächtigen Schwingen von Blume zu 
Blume schwebt, die Biene, welche den eifrig gesammelten Honig 
der heimatlichen Vorratskammer zuführt, der bunte erzglänzende 
Sandläufer, der klug der haschenden Hand entwischt, bietet uns 
ein wohlvertrautes Bild überlegten, bedächtigen Handelns. Wir 
fühlen uns diesen kleinen Wesen verwandt. Sehen wir aber 
den Falter wiederholt sich versengend immer wieder in die 
Flamme fliegen, beobachten wir, wie die Biene am halb offenen 
Fenster ratlos summend stets gegen das undurchdringliche Glas 
anstürmt, sehen wir deren verzweifelte Verlegenheit bei geringer 
Verschiebung des Fluglochs, jagen wir als harmlose Spazier- 
gänger durch unsern vorauseilenden Schatten den Sandläufer, 
ihn immer wieder aufscheuchend, kilometerweit auf unserm Wege 
vor uns her, während er doch so leicht ausweichen könnte, so 
wird es uns verständlich, wie Descartes darauf verfallen konnte, 
die Tiere als Maschinen, als eine Art wunderbarer oder unheim- 
licher Automaten anzusehen. Die treffende burschikose ironische 
Bemerkung der jungfräulichen Königin Christine, daß die Fort- 
pflanzung der Uhren doch etwas Unerhörtes sei, war übrigens 
wohl geeignet, den Philosophen auf die Mängel seiner Auf- 
fassung hinzuweisen und ihn zur Vorsicht zu mahnen. 
Betrachten wir nun aber genauer die beiden gegensätzlichen 
') Vgl. A. Fouillee, La Psychologie des idees-forces. Paris 1893. — 
Dieser richtige und wichtige Gedanke ist dort nur etwas breit in zwei Bän- 
den durchgeführt. 
Eine psycho-physiologische Betrachtung. 25 
Züge des tierischen Lebens, welche uns so widersprechend an- 
muten, so finden wir sie beide deutlich in unserer eigenen Natur 
ausgeprägt. Die Pupillen unserer Augen verengern sich maschinen- 
mäßig bei hellerer Beleuchtung und erweitern sich ebenso regel- 
mäßig entsprechend den Graden der Dunkelheit, ohne unser 
Wissen und Wollen, ganz so wie die Funktionen der Verdauung, 
der Ernährung und des Wachstums ohne unser bewußtes Tun 
sich vollziehen. Unser Arm hingegen, der sich streckt und die 
Lade des Tisches öffnet, wenn wir uns des darin liegenden 
Maßstabes erinnern, dessen wir augenblicklich bedürfen, scheint 
ganz ohne äußern Anstoß nur unserem wohl erwogenen Befehl 
zu gehorchen. Doch zieht sich die zufällig gebrannte Hand, 
der an der Sohle gekitzelte Fuß auch ohne Absicht und Über- 
legung, auch beim schlafenden und sogar beim apoplektisch 
gelähmten Menschen zurück. In der Bewegung der Augenlider, 
die sich bei plötzlicher Annäherung eines Gegenstandes unwill- 
kürlich schließen, die aber auch willkürlich geschlossen und 
geöffnet werden, sowie in unzähligen andern Bewegungen, z. B. 
jenen des Atmens und Gehens, wechseln und mischen sich un- 
ausgesetzt beide Charakterzüge. 
6. Die genaue Selbstbeobachtung der Vorgänge, die wir Er- 
wägung, Entschluß, Willen nennen, lehrt uns einen einfachen 
Tatbestand kennen. An ein sinnliches Erlebnis, z. B. die Be- 
gegnung eines Freundes, der uns einlädt, ihn zu besuchen, ihn 
in seine Wohnung zu begleiten, knüpfen sich mannigfaltige Er- 
innerungen. Diese Erinnerungen werden nacheinander lebendig, 
wechseln und verdrängen sich gegenseitig. In der Erinnerung 
vernehmen wir die geistvolle Unterhaltung des Freundes, sehen 
wir sein Klavier in seinem Zimmer stehen, hören wir sein vor- 
zügliches Spiel; jetzt fällt uns aber ein, daß heute Dienstag ist 
und daß ein zänkischer Herr an diesem Tage unsern Freund 
zu besuchen pflegt; wir lehnen die Begleitung dankend ab und 
entfernen uns. Wie auch unsere Entscheidung ausfallen mag, 
in den einfachsten wie in den verwickeltsten Fällen beeinflussen 
die zur Wirkung gelangenden Erinnerungen unsere Bewegungen 
gerade so bestimmt, lösen gerade dieselben Annäherungs- oder 
Entfernungsbewegungen aus, wie die betreffenden sinnlichen 
Erlebnisse, deren Spuren sie sind. Wir sind nicht Herren 
26 Eine psycho-physiologische Betrachtung. 
darüber, welche Erinnerungen uns auftauchen und welche den 
Sieg davon tragen.^) In unsern ,fWillkürhandlungen" sind wir 
nicht minder Automaten als die einfachsten Organismen. Doch 
ist von diesen Automaten ein Teil des Mechanismus, der durch 
das Leben selbst fortdauernd kleine Veränderungen erfährt, 
nur für uns selbst sichtbar, bleibt dem fremden Beobachter 
verborgen, und die feineren Züge desselben können selbst un- 
serer eigenen gespanntesten Aufmerksamkeit entgehen. So ist 
es also ein viel größerer, viel weniger durchsichtiger und über- 
sichtlicher Ausschnitt des Weltgeschehens, ein räumlich und zeit- 
lich viel weiter reichender Weltzüsammenhang^ der in unsern 
Willkürhandlungen zu Tage tritt, und deshalb erscheinen die- 
selben unberechenbar. Die Organe der niederen Tiere reagieren 
in verhältnismäßig regelmäßiger und einfacher Weise auf die 
Reize, die offen vor uns liegen. Alle maßgebenden Umstände 
scheinen fast auf einen Raum- und Zeitpunkt zusammengedrängt. 
Der Eindruck des Automatischen tritt hier besonders leicht her- 
vor. Doch lehrt die feinere Beobachtung auch hier individuelle, 
teils angeborene, teils erworbene Unterschiede kennen. Große 
Verschiedenheit zeigt ja das Gedächtnis der Tiere |e nach Genus 
und Spezies, kleinere auch nach dem Individuum. Von dem 
Hunde des Odysseus, der verendend und schon unfähig sich 
zu erheben, den nach 20 Jahren wiederkehrenden Herrn noch 
erkennt und wedelnd begrüßt, bis zur Taube, deren Gedächtnis 
für eine Wohltat kaum einen Tag vorhält und zur Biene, welche 
den Ort, der Futter bot, eben noch wiederfindet — welch ein 
Abstand! Ob wohl bei den niedersten Organismen das Ge- 
dächtnis gänzlich fehlt? 
*) Aus dem Verkennen dieses Sachverhalts bei nachträglicher Über- 
legung ergibt sich die Reue, die nur einen Sinn und eine Bedeutung hat für 
künftige Wiederholungen derselben oder ähnlicher Situationen. Und da ist 
nicht Buße oder Sühne von Wert, sondern allein die Sinnesänderung. Die 
Frage der Freiheit und der Zurechnung kann sich nur darauf beziehen, ob 
das Individuum psychisch hinreichend entwickelt ist, um bei seinen Ent- 
schlüssen die Folgen seiner Handlungen für sich und andere in Betracht zu 
ziehen. — Man vergleiche die Ansichten, die A. Menger in seinem bemer- 
kenswerten Buch „Neue Sittenlehre" (Jena, 1905) vertritt. Der Mut der Wahr- 
haftigkeit, den Menger in allen seinen Schriften bekundet, verdient alle Hoch- 
achtung. 
Eine psycho-physiologische Betrachtung. 27 
Daß wir Menschen uns für etwas so ganz anderes zu halten 
geneigt sind, als die einfachst organisierten Tiere, liegt bloß an 
der Verwicklung und Mannigfaltigkeit der Äußerungen unseres 
psychischen Lebens im Gegensatz zu denen jener Tiere. Die 
Fliege, deren Bewegungen durch Licht, Schatten, Geruch u. s. w. 
unmittelbar bestimmt und geleitet zu sein scheinen, setzt sich 
zehnmal verjagt immer wieder auf dieselbe Stelle des Gesichtes. 
Sie kann nicht nachgeben, bis sie erschlagen am Boden liegt. 
Der arme Hausierer, der in der Sorge um den Pfennig, welcher 
das Leben des Tages sichern soll, den behaglich hindämmernden 
Bourgeois wiederholt in seiner Ruhe stört, bis er mit einem 
kräftigen Fluch abgewiesen ist, hat sich nicht minder als Automat 
verhalten, wie der letztere; nur sind beide etwas weniger ein- 
fache Automaten. 
7. Das fest Bestimmte, Regelmäßige, Automatische ist der 
Grundzug des tierischen und menschlichen Verhaltens, der uns 
nur in beiden Fällen in so verschiedenen Graden der Entwick- 
lung und Komplikation entgegentritt, daß wir glauben können, 
zwei ganz verschiedene Grundmotive wahrzunehmen. Für das 
Verständnis unserer eigenen Natur ist es nun von der größten 
Wichtigkeit, den Zug von Bestimmtheit so weit zu verfolgen, als 
uns dies nur immer gelingen mag. Denn die Wahrnehmung einer 
Regellosigkeit bietet weder praktischen noch wissenschaftlichen 
Gewinn. Vorteil und Einsicht ergeben sich erst durch Auffindung 
der Regel in dem bisher für gesetzlos Gehaltenen. Die An- 
nahme einer frei und gesetzlos wirkenden Seele wird sich immer 
schwer widerlegen lassen, da die Erfahrung immer einen un- 
durchschauten Rest von Tatsachen aufweisen wird. Aber die 
freie Seele als wissenschaftliche Hypothese, und gar ein Forschen 
nach derselben ist meines Erachtens eine methodologische Ver- 
kehrtheit, i) 
Was uns insbesondere an den Menschen als frei, willkürlich, 
unberechenbar erscheint, schwebt nur wie ein leichter Schleier, 
wie ein Hauch, wie ein verhüllender Nebel über dem Automa- 
tischen. Wir sehen die menschlichen Individuen sozusagen aus 
zu großer Nähe. Das Bild ist daher mit zu vielen verwirrenden, 
1) Aus einer gänzlich verschiedenen philosophischen Grundstimmung 
gehen die Ansichten hervor, die H. Driesch in seinen Schriften vertritt. 
28 Eine psycho-physiologische Betrachtung. 
nicht sofort zu durchschauenden Einzelheiten überladen. Könnten 
wir die Menschen aus größerer Entfernung, aus der Vogelper- 
spektive, vom Monde aus beobachten, so würden die feineren 
Einzelheiten mit den von individuellen Erlebnissen herrührenden 
Einflüssen für uns verschwinden, und wir würden nichts wahr- 
nehmen, als Menschen, die mit großer Regelmäßigkeit wachsen, 
sich nähren, sich fortpflanzen. Eine Beobachtungsweise, welche 
das Individuelle absichtlich verwischt, ignoriert und nur die 
wesentlichsten, am stärksten zusammenhängenden Umstände ins 
Auge faßt, wird in der Statistik wirklich angewendet. In der 
Tat zeigen sich dann die Willkürhandlungen der Menschen von 
einer ebenso bestimmten Regelmäßigkeit, wie irgend ein vege- 
tativer oder selbst ein mechanischer Vorgang, bei welchem nie- 
mand an einen psychischen Einfluß, an den Einfluß eines Willens 
zu denken pflegt. Die Zahl der jährlichen Eheschließungen und 
Selbstmorde in einem Lande schwankt ebensowenig, oder noch 
weniger, als die Zahl der Geburten und der natürlichen Todes- 
fälle, obgleich bei den ersteren der Wille gar sehr in Betracht 
kommt, bei den letzteren aber gar nicht. Wenn aber bei diesen 
Massenerscheinungen auch nur ein Element ohne Regel mitbe- 
stimmend wäre, so könnte auch in der größten Zahl der Fälle 
keine Regel mehr hervortreten.^) 
Nur einen kleinen Schritt hatte also De carte s zu tun, und 
nicht nur die Tiere, sondern auch die Menschen wären ihm als 
Automaten erschienen. Der große Zweifler gegenüber allem 
Geltenden hatte ja die beste Absicht, die ganze Welt zu mecha- 
nisieren, oder genauer gesagt, zu geometrisieren. Hier aber 
mochte ihm, angesichts der Macht der Inquisition und wohl auch 
angesichts der Macht seiner eigenen überkommenen Meinungen, 
die ja in seinem Dualismus lauten Ausdruck finden, der Mut 
des Zweifels abhanden gekommen sein. Von dieser Inkonse- 
quenz kam schon Spinoza zurück. Unter den späteren ist 
Lamettrie^) wegen seiner homogenen Auffassung der Menschen 
') über diesen Punkt habe ich schon einige Bemerkungen gemacht: Vor- 
lesungen über Psychophysik. Zeitschr. f. praktische Heilkunde. Wien. 1863. 
S. 148, 168, 169. 
*) Lamettrie, Oeuvres philosophiques, pr^cedees de son 61oge par 
Fr^d^ric IL Berlin. 1796. 
Eine psycho-phYsiologische Betrachtung. 29 
und der Tiere hervorzuheben, die in seiner Schrift „rhomme 
machine" 1748, sowie in dessen Abhandlungen „rhomme plante" 
und „les animaux plus que machines" hervortritt. Eine tiefe 
Philosophie darf man bei Lamettrie nicht suchen. Seine 
Schriften, wichtig für ihre Zeit, sind heute eine recht öde Lektüre. 
Das Gegenteil gilt von den Ausführungen seines Zeitgenossen 
Diderot, der in seinem geistvollen Artikel „Entretien entre 
D'Alembert et Diderot. Le reve de D'Alembert" die modernen 
biologischen Ideen vorweg nimmt. 
8. Der Reiz, lebende Wesen durch Automaten, durch Maschinen 
nachzuahmen und das Streben, dieselben hierdurch wenigstens 
teilweise zu verstehen, hat überall gewirkt, wo und wann man 
die Natur denkend zu erfassen suchte. Einer der ältesten Auto- 
maten, von dem wir mehr als fabelhafte Nachrichten haben, ist 
die fHegende Taube des Archytas von Tarent. Auch Heron 
von Alexandrien^) hat sich viel mit Konstruktion von Automaten 
beschäftigt und diese Bestrebungen wurden in späterer Zeit 
besser verstanden, als die allerdings bescheidenen Reste antiker 
Wissenschaft, welche in seinen Schriften überliefert sind. Im 
16. Jahrhundert sehen wir die kunstvollen Uhren mit beweglichen 
Menschen- und Tierfiguren in Straßburg, Prag, Nürnberg u. s. w. 
entstehen, im 18. Jahrhundert Vaucansons schwimmende und 
fressende Ente, dessen Flötenspieler, dann Droz' zeichnenden 
Knaben und seine Klavierspielerin. So sehr man geneigt sein 
kann, derartige Versuche als bloße Spielerei zu betrachten, darf 
man doch nicht vergessen, daß die hierbei erworbenen Kennt- 
nisse bei wissenschaftlichen Untersuchungen, wie sie Borelli 
in seinem Buche „de motu animalium" (1680) niedergelegt hat, 
unmittelbar verwertet werden können. Auch W. Kempelen 
macht mit seiner Sprechmaschine (beschrieben unter dem Titel: 
„Mechanismus der menschlichen Sprache, nebst Beschreibung 
einer sprechenden Maschine", Wien 1791) einen wesentlichen, 
wissenschaftlichen Fortschritt.^) Ein guter Teil der wissenschaft- 
lichen Physiologie kann als Fortsetzung der Arbeit der Auto- 
*) Herons Werke herausg. von W. Schmidt. Leipzig. 1896. Bd. I. 
*) Was von der Kempelenschen Sprechmaschine noch vorhanden ist, 
befindet sich in der physikalischen Sammlung der Wiener technischen Hoch- 
schule. (Mitteilung von Prof. Dr. A. Lampa.) 
30 Eine psycho-physiologische Betrachtung. 
matenverfertiger angesehen werden. Kempelen mit seinem 
automatischen Schachspieler, in welchem er einen Menschen ver- 
bergen mußte, liefert anderseits den allerdings überflüssigen Be- 
weis, daß die Intelligenz nicht auf diese einfache, mechanische 
Weise ersetzt werden kann. Die Lebewesen sind eben Auto- 
maten, auf welche die ganze Vergangenheit Einfluß geübt hat, 
die sich im Laufe der Zeit noch fortwährend ändern^ die aus 
andern ähnlichen entstanden sind und wieder solche zu erzeugen 
vermögen. Es besteht eine natürliche Neigung, daß man nach- 
zuahmen, zu reproduzieren versucht, was man verstanden hat. 
Wieweit dies gelingt, ist wieder eine gute Probe des Verständ- 
nisses. Wenn wir den Nutzen betrachten, welchen der moderne 
Maschinenbau aus der Automatenkonstruktion gezogen hat, wenn 
wir die Rechenmaschinen, die Kontrollapparate, die Verkaufsauto- 
maten betrachten, so dürfen wir noch weitere Fortschritte der 
technischen Kultur erwarten. Ein absolut verläßlicher automa- 
tischer Postbeamter, der eingeschriebene Briefe übernimmt, scheint 
durchaus nicht unmöglich, als erfreuliche Entlastung, der durch 
mechanische Manipulationen gequälten menschlichen Intelligenz. 
Auf unserm Standpunkt haben wir keinen Grund, uns weiter 
mit dem Gegensatz des Physischen und Psychischen zu be- 
schäftigen. Was uns allein interessieren kann, ist die Erkenntnis 
der Abhängigkeit der Elemente voneinander. Daß diese Ab- 
hängigkeit eine feste, wenn auch komplizierte und schwer er- 
mittelbare sei, setzen wir vernünftigerweise voraus , wenn wir 
an die Erforschung gehen. Die bisherige Erfahrung hat uns 
diese Voraussetzung an die Hand gegeben, und jeder neue 
Forschungserfolg bestärkt uns in derselben, wie dies aus den 
folgenden Einzeluntersuchungen noch deutlicher hervorgehen wird. 
Gedächtnis. Reproduktion und Association. 
1. Auf einem Spaziergang durch die Straßen von Innsbruck 
begegnet mir ein Herr, dessen Gesicht, Gestalt, Gang und 
Redeweise mir die lebhafte Vorstellung eines solchen Gesichtes, 
Ganges u. s. w. in einer andern Umgebung, in Riva am Garda- 
see, erregt. Ich erkenne den Herrn Ay der in der Umgebung / 
als sinnliches Erlebnis vor mir steht, als denselben, der auch 
einen Bestandteil meiner Erinnerungsvorstellung mit der Um- 
gebung R ausmacht. Das Wiedererkennen, Identifizieren hätte 
keinen Sinn, wenn Ä nicht zweimal gegeben wäre. Alsbald 
fallen mir auch mit A 'm R geführte Gespräche ein, ich erinnere 
mich der Ausflüge in seiner Gesellschaft u. s. w. Ähnliche Tat- 
sachen, die wir bei den mannigfaltigsten Anlässen beobachten, 
lassen sich in eine Regel zusammenfassen: Ein sinnliches Erlebnis 
aus den Bestandteilen ABCD . . . bringt ein früheres sinnliches 
Erlebnis mit den Bestandteilen AKLM . . . in Erinnerung, d. h. 
letzteres tritt als Vorstellung auf, wird reproduziert. Da nun 
die Reproduktion von KLM. . . durch BCD. . . im allgemeinen nicht 
erfolgt, so ergibt sich die natürliche Ansicht, daß dieselbe durch 
den gemeinsamen Bestandteil A eingeleitet wird und von diesem 
ausgeht. An die Reproduktion von A schließt sich jene von 
KLM..., die mit A unmittelbar oder mit andern bereits repro- 
duzierten Gliedern gleichzeitig (in zeitlicher Berührung) sinnlich 
gegeben waren. Auf dieses einzige Associationsgesetz lassen 
sich alle hierher gehörigen Vorgänge zurückführen. 
2. Die Association ist von großer biologischer Wichtigkeit. 
Auf derselben beruht jede psychische Anpassung an die Um- 
gebung, jede vulgäre und auch jede wissenschaftliche Erfahrung. 
Wenn die Umgebung der Lebewesen nicht wenigstens aus an- 
nähernd konstant bleibenden Teilen bestünde, oder in periodisch 
32 Gedächtnis. Reproduktion und Association. 
sich wiederholende Ereignisse sich zerlegen ließe, wäre die Er- 
fahrung unmöglich, die Association wertlos. Nur bei unver- 
änderter Umgebung kann der Vogel an den sichtbaren Teil der 
Umgebung die Vorstellung der Lage seines Nestes anschließen. 
Nur wenn immer dasselbe Geräusch den nahenden Feind oder 
die fliehende Beute voraus ankündigt, kann die associierte Vor- 
stellung dazu dienen, die entsprechende Flucht- oder Angriffs- 
bereitschaft auszulösen. Eine annähernde Stabilität macht die Er- 
fahrung möglich, und die tatsächliche Möglichkeit der Erfahrung 
läßt umgekehrt auf die Stabilität der Umgebung schließen. Der 
Erfolg rechtfertigt unsere wissenschaftlich-methodische Voraus- 
setzung der Beständigkeit.^) 
3. Das neugeborene Kind ist, wie ein Tier von niederer 
Organisation, auf seine Reflexbewegungen angewiesen. Es hat 
den angeborenen Trieb zu saugen, zu schreien, wenn es der 
Hilfe bedarf u. s. w. Heranwachsend erwirbt es, wie die 
höheren Tiere, durch Association die ersten primitiven Erfah- 
rungen. Es lernt die Berührung der Flamme, das Anstoßen an 
harte Körper als schmerzhaft vermeiden, lernt mit dem Anblick 
des Apfels die Vorstellung von dessen Geschmack verbinden 
u. s. w. Bald aber läßt es alle Tiere an Reichtum und Feinheit 
der Erfahrung weit hinter sich. Es ist sehr lehrreich, die Bildung 
der Associationen an jungen Tieren zu beobachten, wie dies 
C. L. Morgan^) an jungen Hühnchen und Enten systematisch 
getan hat, die in einem Brutofen ausgeschlüpft waren. Die 
Hühnchen sind wenige Stunden nach dem Ausschlüpfen schon 
mit zweckmäßigen Reflexbewegungen ausgestattet. Sie laufen, 
picken nach auffallenden Objekten und treffen dieselben mit 
Sicherheit. Rebhühner sieht man sogar, noch zum Teil mit der 
Eierschale bedeckt, davonlaufen. Die jungen Hühnchen pickten 
') Die Erfahrung hat uns Stabilitäten kennen gelehrt, unsere psychische 
Organisation paßt sich denselben leicht an und gewährt uns Vorteile. Wir 
führen dann die Voraussetzung weiterer Stabilitäten bewußt und willkürlich 
ein, in der Erwartung weiterer Vorteile, wenn sich dieselbe bewährt. Die 
Annahme eines a priori gegebenen Begriffes zur Begründung dieses metho- 
dischen Verfahrens haben wir weder nötig, noch würde sie uns irgend wel- 
chen Nutzen gewähren. Sie wäre eine Verkehrtheit, angesichts der augen- 
scheinlich empirischen Bildung dieses Begriffes. 
*) C. L. Morgan, Comparative Pspchologp, London, 1894. S. 85 u. f. 
Gedächtnis. Reproduktion und Association. 33 
anfänglich nach allem, nach den Lettern eines bedruckten Blattes, 
nach den eigenen Zehen, nach den eigenen Exkrementen. Im 
letzteren Falle warf aber das Hühnchen das schlecht schmeckende 
Objekt sofort wieder weg, schüttelte den Kopf und reinigte den 
Schnabel wetzend am Boden. Ähnlich verfuhr das Tier, nach- 
dem es eine Biene oder Raupe von schlechtem Geschmack 
aufgefaßt hatte. Das Picken nach unpassenden, nicht zweck- 
dienlichen Objekten hört aber bald auf. Eine Schale mit Wasser 
lassen die Hühnchen unbeachtet, trinken aber sofort, sobald sie 
beim Laufen mit den Füßen zufällig ins Wasser geraten.^) Junge 
Entchen hingegen stürzen gleich in die dargebotene Wasser- 
schale, waschen sich in derselben, tauchen unter u. s. w. Als 
ihnen am nächsten Tage dieselbe Schale leer dargeboten wurde, 
stürzten sie wieder in dieselbe hinein und führten auch da die- 
selben Bewegungen aus wie im Wasser. Sie lernten aber bald 
die leere Schale von der gefüllten unterscheiden. Ich selbst 
deckte einmal ein Trinkglas über ein vor mehreren Stunden aus- 
geschlüpftes Hühnchen und brachte eine Fliege in seine Gesell- 
schaft. Sofort begann eine höchst ergötzliche, aber resultatlose 
Jagd. Das Hühnchen war doch noch zu wenig geschickt. 
4. Die Manieren der Hühner und Enten sind den jungen Tieren 
angeboren; sie üben dieselben ohne jeden Unterricht. Dieselben 
sind durch den Bewegungsmechanismus vorbereitet, ebenso wie 
die Lautäußerungen. Man unterscheidet bei Hühnchen die Laut- 
äußerung der Behaglichkeit, wenn sie sich in die dargebotene 
warme Hand verkriechen, den Gefahrschrei beim Anblick etwa 
eines großen schwarzen Käfers, das Geschrei der Einsamkeit u.s.w. 
Soviel auch bei diesen Tieren mechanisch vorbereitet und an- 
geboren ist, so sehr auch das Zustandekommen gewisser Asso- 
ciationen anatomisch begünstigt und erleichtert sein mag, die 
Associationen selbst sind nicht angeboren, sondern müssen durch 
individuelle Erfahrung erworben werden. 
Dies wird wohl richtig sein, wenn wir die Bezeichnung 
„Association" nur auf (bewußte) Vorstellungen anwenden. Nehmen 
wir dieselbe in dem weiteren Sinne einer Auslösung gleichzeitig 
') So verhalten sich aber auch des Großhirns beraubte Vögel. Die Er- 
scheinung beruht also wohl auf einem von den Vorfahren erworbenen Reflex. 
Vgl. den Schluß dieses Kapitels. 
Mach, Erkenntnis und Irrtum. ' 3 
34 Gedächtnis. Reproduktion und Association. 
Stattgehabter organischer Vorgänge durcheinander, so möchte 
die Grenze zwischen Angeborenem (Ererbtem) und individuell 
Erworbenem recht schwer zu ziehen sein. Und so muß es sich 
wohl verhalten, sollen die Erwerbungen der Art vom Individuum 
vermehrt oder modifiziert werden. Mein zahmer Sperling kennt 
keine Furcht, setzt sich den Familiengliedern auf die Schulter, 
zupft sie an Haaren und Bart, wehrt sich tapfer und mit Zorn- 
geschnatter gegen die Hand, die ihn von der Schulter einer 
bevorzugten Person vertreiben will. Doch zucken seine Flügel 
nervös bei jedem Geräusch, bei jeder Bewegung in seiner Um- 
gebung. Wenn er beim Mittagstisch kleine Bissen auffaßt, so 
fliegt er mit jedem, wenn auch nur einen Fuß weit, fort, ganz wie 
seine Kollegen auf der Straße, obgleich er von keinem Genossen 
gestört wird. 
Junge Hühnchen, die im Brutofen gezogen wurden, beachten 
das Glucken der Henne nicht, fürchten weder die Katze noch 
den Falken. Wenn junge, noch blinde Kätzchen, mit einer Hand 
angefaßt, die eben einen Hund gestreichelt hat, wirklich fauchen 
sollten, so müßte man diese Äußerung für einen Otvxxchsreflex 
halten.^) Durch ungewöhnliche Erscheinungen werden junge 
Tiere allerdings leicht in Furcht gesetzt. So schlucken junge 
Hühner, die mit kleinen Würmern gefüttert werden, gelegentlich 
auch gedrehte Wolle, bleiben aber vor einem großen Stück der- 
selben bedenklich stehen. Ein junger zahmer Sperling getraute 
sich lange nicht an seinen Futterbehälter, als versuchsweise ein 
großer Mehlwurm in denselben getan wurde. ^) Die Furcht vor 
dem Ungewöhnlichen, Auffallenden scheint eben für viele Tiere 
eines der wichtigsten Schutzmittel zu sein. 
5. Bei höher entwickelten Tieren kann man die Bildung von 
Associationen noch auffallender wahrnehmen und zugleich deren 
Dauerhaftigkeit konstatieren. In dem Dorfe, in welchem ich 
einen Teil meiner Jugend zugebracht habe, hatten viele Hunde, 
von den Dorfjungen schikaniert, die Gewohnheit angenommen, 
winselnd auf drei Beinen davonzulaufen, sobald jemand einen 
Stein vom Boden aufhob. Natürlich war man geneigt, dies nach 
») Schneider, Der tierische Wille. Leipzig 1880. 
*) Beobachtung meiner Tochter. 
Gedächtnis. Reproduktion und Association. 35 
menschlichem Maß für einen schlauen Kunstgriff zur Erregung 
des Mitleids zu halten. Selbstverständlich war es aber nur eine 
lebhafte, associierte Erinnerung an die Qual, welche zuweilen 
dem aufgehobenen Stein gefolgt war. Einen jungen Jagdhund 
meines Vaters sah ich einmal ungestüm einen Ameisenhaufen 
durchwühlen, darauf aber sofort sein empfindliches Geruchsorgan 
in verzweifelter Weise mit den Pfoten putzen. Von da an 
respektierte er sorgfältig das Domizil der Ameisen. Als einmal 
dieser Hund durch seine unerwünschte übertriebene Anhäng- 
lichkeit mich in der Arbeit beharrlich störte, klappte ich ihm ein 
Buch mit lautem Schall vor der Nase zu. Erschrocken zog er 
sich zurück. Das Ergreifen eines Buches genügte von da an, 
um jede Störung fernzuhalten. Dieser Hund muß, nach seinem 
Muskelspiel im Schlaf zu urteilen, auch eine lebhafte Traum- 
phantasie gehabt haben. Als er einmal ruhig schlafend dalag, 
brachte ich ein kleines Stückchen Fleisch in die Nähe seiner 
Nase. Nach einiger Zeit begann ein lebhaftes Muskelspiel, ins- 
besondere der Nasenflügel. Nach einer halben Minute etwa er- 
wachte der Hund, schnappte den Bissen und schlief dann ruhig 
weiter. Von der Dauerhaftigkeit der Associationen dieses Hundes 
konnte ich mich ebenfalls überzeugen. Als ich nach neunjähriger 
Abwesenheit im Dunkel des Abends und zu Fuß unerwartet ins 
Vaterhaus kam, empfing mich der Hund mit wütendem Gebell; 
ein einziger Anruf genügte aber, um sofort das freundlichste Be- 
nehmen desselben auszulösen. Ich halte daher die homerische 
Erzählung von dem Hunde des Odpsseus für keine poetische 
Übertreibung. ^) 
6. Die Wichtigkeit der Vergleichung eines sinnlichen Erleb- 
nisses ÄBCD ... mit einem in der Vorstellung reproduzierten 
sinnlichen Erlebnis AKLM . . . kann für die psychische Entwick- 
lung gar nicht hoch genug angeschlagen werden. Die einzelnen 
') Nächst den Schriften von Morgan ist in Bezug auf Psychologie der 
niederen und höheren Tiere sehr lehrreich: K. Möbius, Die Bewegungen der 
Tiere und ihr psychischer Horizont. (Schriften des naturwissensch. Vereins 
f. Schleswig- Holstein 1873.) — Ferner: A. Ölzelt-Newin, Kleinere philo- 
sophische Schriften. Zur Psychologie der Seesterne. Wien 1903. — Von 
älteren Schriften möchte ich empfehlen: H. S. Reimarus, Triebe der Tiere, 
1790, ferner J. H. F. Autenrieth, Ansichten über Natur- und Seelenleben. 1836. 
3* 
36 Gedächtnis. Reproduktion und Association. 
Buchstaben mögen zunächst ganze Komplexe von Elementen 
bedeuten. A sei z. B. ein Körper, den wir einmal in der Um- 
gebung BCD . . . angetroffen haben, jetzt aber in der Umgebung 
KLM . . . treffen, ein Körper etwa, der sich vor seinem Grunde 
bewegt und der eben dadurch als ein besonderes Gebilde von 
relativer Selbständigkeit erkannt wird. Geben wir nun den 
einzelnen Buchstaben die Bedeutung von einzelnen Elementen 
(Empfindungen), so lernen wir diese als selbständige Bestand- 
teile unserer Erlebnisse kennen, indem z. B. das Rotgelb Ä nicht 
nur an der Orange, sondern auch an einem Stück Tuch, einer 
Blume oder einem Mineral, also in verschiedenen Komplexen 
auftritt. Aber nicht nur die Analyse, sondern auch die Kombi- 
nation beruht auf der Association. A sei z. B. das Gesichtsbild 
einer Orange, bezw. einer Rose, während Km dem reproduzierten 
Komplex den Geschmack der Orange, bezw. den Geruch der 
Rose bedeute. Sofort associieren wir dem neuerlich auftreten- 
den Gesichtsbild die vorher erprobten Eigenschaften. Die Vor- 
stellungen, welche uns durch die uns umgebenden Dinge auf- 
tauchen, entsprechen darum nicht genau den aktuellen Empfin- 
dungen, sondern sind in der Regel weit reicher. Es sind 
ganze Bündel von associierten Vorstellungen, welche, von voraus- 
gehenden Erlebnissen herrührend, mit den aktuellen Empfindungen 
sich verweben, die unser Verhalten viel weiter bestimmen, als 
die letzteren allein es vermöchten. Wir sehen nicht nur eine 
rotgelbe Kugel, sondern meinen ein weiches, wohlriechendes 
und erfrischend säuerlich schmeckendes körperliches Ding wahr- 
zunehmen. Wir sehen nicht eine braune vertikale glänzende 
Fläche, sondern etwa den Kleiderschrank. Dafür können wir 
aber auch gelegentlich durch eine gelbe Holzkugel, ein Gemälde 
oder ein Spiegelbild irregeführt werden. Mit der Dauer unseres 
Lebens wächst die Mannigfaltigkeit und der Reichtum unserer 
sinnlichen Erlebnisse, sowie die Zahl und Mannigfaltigkeit der 
associativen Verbindungen zwischen denselben. Dadurch kommt 
es, wie wir gesehen haben, sowohl zu einer fortschreitenden 
Zerlegung in die Bestandteile dieser Erlebnisse, als auch zu einer 
fortgesetzten Bildung neuer Synthesen aus denselben. Nach 
Erstarkung des Vorstellungslebens können auch Vorstellungs- 
komplexe gegeneinander ebenso sich reproduzierend und asso- 
Gedächtnis. Reproduktion und Association. 37 
ciativ verhalten, wie sinnliche Erlebnisse. Auch in den Vor- 
stellungskomplexen treten neue Analysen und Synthesen auf, wie 
jeder Roman und jede wissenschaftliche Arbeit lehrt und wie 
dies jeder Denker an sich selbst beobachten kann. 
7. Obgleich nun nur ein Prinzip der Reproduktion und Asso- 
ciation, nämlich das der Gleichzeitigkeit y aufgefunden werden 
kann, so nimmt doch der Vorstellungsverlauf in verschiedenen 
Fällen einen sehr differenten Charakter an. Dies wird durch 
folgende Überlegung aufgeklärt. Die meisten Vorstellungen 
haben sich im Laufe des Lebens mit sehr vielen andern associiert, 
und diese nach verschiedenen Richtungen auseinander gehenden 
Associationen widerstreben sich zum Teil und schwächen sich 
gegenseitig. Wenn nun nicht gerade einige davon, welche nach 
demselben Punkt konvergieren, das Übergewicht erhalten oder 
ein zufälliger Anlaß die eine besonders begünstigt, so werden 
diese Associationen nicht wirksam werden. Weiß etwa jemand 
anzugeben, wo und wann er einen bestimmten Buchstaben, ein 
Wort, einen Begriff, eine Rechnungsweise gebraucht, in An- 
wendung gesehen oder kennen gelernt hat? Je häufiger er die 
betreffenden Mittel verwendet, je vertrauter er mit denselben 
ist, desto weniger wird er hierzu im stände sein. Der Name 
Schmidt ist selbst in dieser bestimmten Orthographie so mannig- 
faltig mit den verschiedensten Fächern und Beschäftigungen 
verbunden, daß er für sich allein eben gar keine Association 
auslöst. Je nach meiner augenblicklichen Gedankenrichtung oder 
Beschäftigung kann mir derselbe einen Philosophen, Zoologen, 
Literaturhistoriker, Archäologen, Maschinenbauer u. s. w. in Er- 
innerung bringen. Auch bei selteneren Namen kann man dies 
beobachten. Oft fuhr ich bei einem Plakat von Maggis Fleisch- 
extrakt vorbei und erinnerte mich doch nur einmal des gleich- 
namigen Verfassers einer für mich interessanten Mechanik, als 
ich eben an Physikalisches dachte. So wird auch die blaue 
Farbe eines Tuches dem Erwachsenen für sich allein nichts 
suggerieren, während sich das Kind vielleicht der Kornblume 
erinnert, die es gestern gepflückt hat. Bei dem Namen Paris 
fallen mir vielleicht die Sammlungen des Louvre, oder dessen 
berühmte Physiker und Mathematiker, oder dessen feine Restau- 
rants ein, je nachdem ich gerade für Kunstgenuß, für wissen- 
38 Gedächtnis. Reproduktion und Association. 
schaftliche Beschäftigung oder für kulinarische Genüsse ge- 
stimmt bin. Auch Umstände, welche in keiner sachlichen Be- 
ziehung zu der eingeschlagenen Gedankenrichtung stehen, können 
entscheidend werden. So soll sich Grillparzer eines infolge 
langer Krankheit gänzlich vergessenen poetischen Entwurfs wieder 
erinnert haben, als er die Symphonie wieder spielte, die er zur 
Zeit der Beschäftigung mit jenem Entwurf gespielt hatte. Daß 
auch Associationen durch unbewußte Mittelglieder herbeigeführt 
werden können, lehrt Qm von Jerusalem mitgeteilter Fall.^) Das 
Prinzip der Gleichzeitigkeit äußert sich in diesen Fällen sehr 
rein und deutlich.^) 
8. Betrachten wir nun einige Tippen des Vorstellungsver- 
laufes.^) Wenn ich ohne Plan und Ziel, möglichst abgeschlossen 
von äußeren Störungen, etwa in einer schlaflosen Nacht, mich ganz 
meinen Gedanken überlasse, so komme ich, wie man zu sagen 
pflegt, vom Hundertsten aufs Tausendste. Komische und tragische, 
erinnerte und erfundene Situationen wechseln mit wissenschaft- 
lichen Einfällen und Arbeitsplänen, und es wäre sehr schwer, die 
kleinen Zufälligkeiten zu bezeichnen, welche in jedem Augen- 
blick dieser yjreien Phantasie''' die Richtung gegeben haben. 
Nicht viel anders verlaufen die Vorstellungen, wenn zwei oder 
mehrere Personen zwanglos miteinander plaudern, nur daß hier 
die Gedanken mehrerer Personen sich gegenseitig beeinflussen. 
Die überraschenden Sprünge und Wendungen des Gespräches 
lösen da oft die verwunderte Frage aus: Ja, wie sind wir denn 
auf das gekommen? Die Fixierung der Gedanken durch laut 
ausgesprochene Worte und die Mehrzahl der Beobachter er- 
leichtert hier auch die Beantwortung, welche nur selten aus- 
bleibt. Die wunderlichsten Wege schlagen die Vorstellungen 
wohl im Traum ein. Der Faden der Association ist aber in 
diesem Falle am schwersten zu verfolgen, teils wegen der un- 
vollständigen Erinnerung, welche der Traum zurückläßt, teils 
auch wegen der häufigeren Störung durch leise Empfindungen 
1) Wundt, Philosophische Studien. Bd. X, S. 323. 
2) Daß nicht alle psychischen Vorgänge durch temporär erworbene (be- 
wußte) Associationen erklärt werden können, soll später noch zur Sprache 
kommen. Hier handelt es sich darum, was durch Association verständlich ist. 
^) Vgl. James, The Principles of Pspchology. I. p. 550—604. 
Gedächtnis. Reproduktion und Association. 39 
des Schlafenden. Im Traum erlebte Situationen, erschaute Ge- 
stalten, gehörte Melodien sind oft sehr wertvolle Grundlagen 
des künstlerischen Schaffens,^) an die Traumgedanken kann aber 
der Forscher nur in äußerst seltenen Fällen anknüpfen. 
9. Lucians köstliche Münchhauseniade entspricht nicht mehr 
ganz dem Typus der freien Phantasie. Dieser geistreichste 
Feuilletonist der antiken Welt hält hier aus Prinzip nur die 
abenteuerlichsten und unwahrscheinlichsten seiner Einfälle fest. 
Er erfindet kolossale Spinnen, die den Raum zwischen Mond 
und Morgenstern mit einem gangbaren Gewebe durchziehen, 
weist spielend den Mondbewohnern flüssige Luft als Getränk 
an, 1700 Jahre vor deren wirklicher Darstellung. Ein Reiseplan 
ist es, an dem er als leitenden Faden seine Phantasien aufreiht. 
Diese Reise führt ihn auch auf die Insel der Träume, deren 
unbestimmtes widerspruchsvolles Wesen er wunderbar dadurch 
charakterisiert, daß sie desto mehr zurückweicht, je mehr der 
Reisende sich ihr nähert. Trotz dieser überreich wuchernden 
Phantasie lassen sich die Fäden der Association doch auffinden, 
wo dieselben etwa nicht absichtlich verborgen wurden. Die 
Reise beginnt bei den Säulen des Herakles und geht westwärts. 
Nach 80 Tagen erreicht er eine Insel mit einer Denksäule und 
Inschrift des Herakles und Dionysos, sowie mit kolossalen Fuß- 
spuren beider. Natürlich gibt es daselbst einen Fluß, der Wein 
führt mit Fischen, deren Genuß Rausch erzeugt. Die Quellen 
dieses Flusses entspringen an den Wurzeln üppig wachsender 
Weinstöcke, und an dessen Ufern trifft man Frauen, welche 
ähnlich Daphne teilweise zu Weinstöcken umgewandelt wurden. 
An dieser Stelle ist ja der Faden der Association zu einem recht 
tragfähigen Strick angeschwollen. An andern Stellen hat der 
Autor Triebe und Blüten seiner Phantasie, welche dem ästhe- 
tischen und satirischen Zweck' nicht entsprachen, eben weg- 
geschnitten. Durch dieses Ausmerzen des Unbrauchbaren unter- 
scheidet sich das Vorstellungsleben, welches sich in einem 
>) Bekannte Fälle dieser Art sind folgende: Voltaire träumt einen 
vollständigen variierten Gesang der „Henriade". Noch merkwürdiger ist, 
daß der Teufel im Traum Tartini den Satz einer Sonate vorspielt, den der 
Künstler wachend nicht zu stände gebracht hatte, wenn nicht Dichtung und 
Wahrheit in dem Bericht ein Kompromiß geschlossen haben. 
/ 
40 Gedächtnis. Reproduktion und Association. 
literarischen oder sonstigen noch so freien Kunstwerk äußert, 
von dem planlosen Hingeben an die eigenen Vorstellungen. 
10. Wenn ich an einen Ort und in eine Umgebung komme, in 
welcher ich einen Teil meiner Jugendzeit verlebt habe, und wenn 
ich mich einfach den Eindrücken dieser Umgebung überlasse, so 
ergibt sich wieder ein anderer Typus des Vorstellungsverlaufes. 
Was sich dort meinen Sinnen darbietet, ist so vielfach mit den 
Erlebnissen meiner Jugend associiert und mit spätem Ereignissen 
so schwach oder gar nicht verknüpft, daß die Vorgänge jener 
Lebensperiode nach und nach alle^ in vollkommener Treue und 
in fester Verknüpfung untereinander, zeitlich und räumlich ge- 
ordnet, aus der Vergessenheit auftauchen. Immer entdeckt man 
in einem solchen Falle, wie Jerusalem^) treffend bemerkt, sich 
selbst als beteiligt. Man kann deshalb an dem Faden der Person 
die Elemente der Erinnerung zeitlich aufreihen. Ähnliches, wenn 
auch weniger vollständig, stellt sich schon ein, sobald mir das 
Bild der Heimat auftaucht, wenn dasselbe nur nicht gestört 
und demselben Zeit gelassen wird, sich zu ergänzen. Die jedem 
wohlbekannten Erzählungen alter Leute aus ihrer Jugendzeit 
oder der Bericht über deren Sommeraufenthalt und ihre Erleb- 
nisse daselbst, wobei uns nicht die geringste Einzelheit erlassen 
wird, sind Beispiele für diesen Typus. 
11. Handelte es sich in dem vorigen Fall wesentlich um Auf- 
frischung schon bestehender Vorstellungsverbindungen, um ein- 
fache Erinnerungen, so erfordert die Lösung eines Wort- oder 
Sachrätsels, einer geometrischen oder technischen Konstruktions- 
aufgabe, eines wissenschaftlichen Problems, die Ausführung eines 
künstlerischen Vorwurfs u. s. w. eine Vorstellungsbewegung mit 
einem bestimmten Ziel und Zweck. Es wird hierbei etwas Neues., 
zurzeit nur teilweise Bekanntes, gesucht. Diese Vorstellungs- 
bewegung, welche das mehr oder weniger umschriebene Ziel 
nie aus den Augen verliert, nennen wir Nachdenken. Steht eine 
Person vor mir, die mir ein Rätsel aufgibt, eine Aufgabe stellt, 
oder sitze ich an meinem Schreibtisch, auf welchem ich schon 
die Spuren meiner Arbeitsvorkehrungen sehe, so ist hiermit ein 
Empfindungskomplex gesetzt, welcher meine Gedanken immer 
^) Jerusalem, Lehrbuch der Psychologie. 3. Aufl. Wien 1902. S. 91. 
Gedächtnis. Reproduktion und Association. 
41 
auf das Ziel zurückführt und deren planloses Herumschweifen 
verhindert. Diese äußerliche Einschränkung der Gedanken ist 
schon für sich nicht zu unterschätzen. Wenn ich mit einer 
wissenschaftlichen Aufgabe im Sinne endlich ermüdet einschlafe, 
so fehlt sofort jener äußerliche Mahner und Weiser auf das Ziel, 
und meine Vorstellungen diffundieren und verlassen die passen- 
den Wege. Dies ist wohl mit ein Grund, warum die Lösung 
wissenschaftlicher Aufgaben so selten im Traume gefördert wird. 
Wird aber das unwillkürliche Interesse an der Lösung einer Auf- 
gabe stark genug, dann sind allerdings die äußerlichen Mahner 
ganz überflüssig. Alles, was man denkt und beobachtet, führt 
dann von selbst auf die Aufgabe zurück, zuweilen sogar im Traum. 
Die im Nachdenken gesuchte Vorstel- 
lung hat gewisse Bedingungen zu erfüllen. 
Sie hat ein Rätsel oder ein Problem zu 
lösen, eine Konstruktion zu ermöglichen. 
Die Bedingungen sind bekannt, die Vor- 
stellung aber nicht. Um die Art der Ge- 
dankenbewegung zu erläutern, welche zur 
Auffindung des Gesuchten führt, wählen wir 
eine einfache geometrische Konstruktion. 
Die Form des Vorganges ist nämlich in allen 
hier in Betracht kommenden Fällen dieselbe, 
und ein Beispiel genügt, um alle Fälle ver- 
ständlich zu machen. Zwei zueinander senk- 
rechte Gerade a und ^, Fig. 1, werden von 
einer dritten beliebig schiefen geschnitten. In das so entstandene 
Dreieck soll ein Quadrat eingeschrieben werden, dessen vier 
Ecken bezw. auf a, by dem Durchschnittspunkt von a und b, 
und auf c liegen. Wir versuchen nun, uns Quadrate vorzustellen 
und herzustellen, welche alle diese Bedingungen erfüllen. Drei 
Ecken genügen ohne weiteres den Bedingungen, wenn wir eine 
Ecke eines beliebigen Quadrates mit dem Durchschnittspunkt 
von a und b und zwei Quadratseiten mit a, bezw. b zusammen- 
fallen lassen. Damit fällt aber die vierte Ecke nicht gerade auf c^ 
sondern innerhalb oder außerhalb des Dreieckes. Nimmt man 
hingegen einen Eckpunkt beliebig auf c, so ist das Rechteck, 
welches man ergänzend hierzu zeichnet, im allgemeinen kein 
Fig. 1. 
42 Gedächtnis. Reproduktion und Association. 
Quadrat. Man sieht aber, daß man von einem Rechteck mit 
größerer vertikaler Seite, durch Wahl des Eckpunktes auf c, zu 
einem Rechteck mit größerer horizontaler Seite übergehen kann, 
also auf einen Zwischenfall mit gleichen Seiten stoßen muß. 
Man kann also unter der Reihe der eingeschriebenen Rechtecke 
das Quadrat mit beliebiger Annäherung heraussuchen. Es gibt 
aber noch einen andern Weg. Geht man von einem Quadrat 
aus, dessen vierter Eckpunkt innerhalb des Dreieckes fällt, und 
vergrößert dasselbe, bis dieser Eckpunkt außerhalb fällt, so muß 
derselbe hierbei c passieren. Also auch in der Reihe der Quadrate 
läßt sich dasjenige von richtiger Größe mit beliebiger Annähe- 
rung heraussuchen. Solche tatonnierende Sondierungen der Vor- 
stellungsgebiete, in welchen wir die Lösung der Aufgabe zu 
suchen haben, gehen naturgemäß der vollkommenen Lösung 
voraus. Das vulgäre Denken mag sich auch mit einer praktisch 
zureichenden annähernden Lösung begnügen. Die Wissenschaft 
fordert die allgemeinste, kürzeste und übersichtlichste Lösung. 
Diese erhalten wir, indem wir (von der Betrachtung der Recht- 
ecke oder der Quadrate ausgehend) uns erinnern, daß alle ein- 
geschriebenen Quadrate die von dem Durchschnittspunkt der a 
und b ausgehende Winkelhalbierende als Diagonale gemein haben. 
Zieht man also von diesem bekannten Punkt aus diese Winkel- 
halbierende, so kann man, von deren gefundenem Durchschnitts- 
punkt mit c aus, ohne weiteres das gesuchte Quadrat ergänzen. 
So simpel auch dieses mit Absicht gewählte und ausführlich 
dargelegte Beispiel ist, so bringt es doch das Wesentliche jeder 
Problemlösung, das Experimentieren mit Gedanken, mit Erinne- 
rungen,^) sowie die Identität mit der jedem geläufigen Rätsel- 
lösung zu klarem Bewußtsein. Das Rätsel wird gelöst durch 
eine Vorstellung, welche den Bedingungen ABC . . . ent- 
sprechende Eigenschaften aufweist. Die Association liefert uns 
Reihen von Vorstellungen von der Eigenschaft A, von der Eigen- 
schaft B u. s. w. Das Glied (oder die Glieder), welches atien 
diesen Reihen angehört, in welchem sich alle diese Reihen 
kreuzen, löst die Aufgabe. Wir kommen auf diesen wichtigen 
Gegenstand noch ausführlicher zurück. Hier galt es nur den 
*) Diese Fragen werden noch ausführlicher erörtert. 
Gedächtnis. Reproduktion und Association. 43 
Typus des Vorstellungsverlaufs darzulegen, welchen man Nach- 
denken nennt. ^) 
12. Das Vorausgehende setzt die Bedeutung der reproduzier- 
baren und associierbaren Erinnerungsspuren der sinnlichen Erleb- 
nisse für das ganze psychische Leben außer Zweifel, und zeigt 
zugleich, daß psychologische und physiologische Untersuchungen 
nicht voneinander getrennt werden können, da schon in den 
Elementen der Erlebnisse beiderlei Beziehungen aufs engste ver- 
knüpft sind. 
13. Die Reproduzierbarkeit und Associierbarkeit bildet auch 
die Grundlage des „Bewußtseins''^ Das unausgesetzte Bestehen 
einer unveränderlichen Empfindung wird schwerlich jemand als 
Bewußtsein bezeichnen wollen. Schon Hobbes sagt: Sentire 
semper idem et non sentire ad idem recidunt. ^) Es ist auch 
nicht einzusehen, was durch die Annahme einer besonderen, von 
allen übrigen physikalischen Energien verschiedenen „Energie 
des Bewußtseins" gewonnen sein soll. Das wäre eine Voraus- 
setzung, welche im Gebiete der Physik gar keine Funktion hätte, 
unnötig wäre, im Gebiete der Psychologie aber nichts verständ- 
licher machen würde. Das Bewußtsein ist keine besondere 
(psychische) Qualität oder Klasse von Qualitäten, die sich von 
den physischen Qualitäten unterscheidet; es ist auch keine be- 
sondere Qualität, die zu der physischen hinzukommen müßte, 
um das Unbewußte zum Bewußten zu machen. Sowohl die Intro- 
spektion als auch die Beobachtung anderer Lebewesen, welchen 
wir Bewußtsein analog dem unsrigen zuschreiben müssen, lehrt, 
daß das Bewußtsein in der ReproduJition und Association seine 
Wurzel hat und daß die Höhe des Bewußtseins mit dem Reich- 
tum, der Leichtigkeit, Geschwindigkeit, Lebhaftigkeit und Ord- 
nung dieser Funktionen parallel geht. Das Bewußtsein besteht 
*) Man könnte versucht sein, das „aktive" Nachdenken als wesentlich 
verschieden von dem „passiven" Laufenlassen der Gedanken anzusehen. 
Allein, so wie wir bei einer körperlichen Handlung nicht Herren sind über 
die Sinnesempfindungen und Erinnerungen, welche diese Handlung auslösen, 
so vermögen wir auch nichts über eine Vorstellung von unmittelbarem oder 
mittelbarem biologischen Interesse, die immer wieder auftaucht und an welche 
sich immer wieder neue Associationsreihen anschließen. Vgl. populär-wissensch. 
Vorlesungen. 3. Aufl. S. 287—308. 
2) Hobbes, Physica, IV, 25. 
44 Gedächtnis. Reproduktion und Association. 
nicht in einer besonderen Qualität, sondern in einem besondern 
Zusammenhang gegebener Qualitäten. Die Empfindung muß 
man nicht erklären wollen. Sie ist etwas so Einfaches und Funda- 
mentales, daß ihre Zurückführung auf noch Einfacheres, wenigstens 
heute, nicht gelingen kann. Die einzelne Empfindung ist übrigens 
weder bewußt, noch unbewußt. Bewußt wird dieselbe durch die 
Einordnung in die Erlebnisse der Gegenwart.^) 
Jede Störung der Reproduktion und Association ist eine 
Störung des Bewußtseins, welches alle Grade aufweisen kann, 
von der vollkommenen Klarheit bis zur vollen Bewußtlosigkeit 
im traumlosen Schlaf oder in der Ohnmacht. Temporäre oder 
dauernde Störung des Zusammenhanges der Gehirnfunktionen 
ist auch temporäre oder dauernde Störung des Bewußtseins. 
Vergleichend anatomische, physiologische und pspchopatho- 
logische Tatsachen nötigen zur der Annahme, daß durch die 
Integrität der Großhirnlappen die Integrität des Bewußtseins be- 
dingt ist. Verschiedene Teile der Hirnrinde bewahren die Spuren 
verschiedener Sinneserregungen, bestimmte Teile die optischen, 
andere die akustischen, andere die haptischen u. s. w. Diese ver- 
schiedenen Rindenfelder stehen untereinander in den mannig- 
faltigsten Verbindungen durch die „Associationsfaserri' . Jeder 
Ausfall der Funktion eines Rindenfeldes oder jede Unterbrechung 
einer Verbindung hat psychische Störungen zur Folge. ^) Ohne 
auf viele Einzelheiten einzugehen, soll dies doch durch typische 
Beispiele erläutert werden. 
14. Die Vorstellung einer Orange ist eine äußerst komplizierte 
Sache. Gestalt, Farbe, Geschmack, Geruch, Tastbarkeit u. s. w. 
sind in eigentümlicher Weise verwebt. Wenn ich den Namen 
„Orange" höre, so zieht diese Folge von akustischen Empfin- 
dungen wie an einem Faden das ganze Bündel der genannten 
Vorstellungen hervor. Hierzu kommt noch, daß sich an den 
>) Wer meint, die Welt aus Bewußtsein aufbauen zu können, hat sich 
wohl nicht klar gemacht, was für eine Komplikation die Tatsache des Be- 
wußtseins einschließt. Sehr lesenswerte und gedrängte Ausführungen über 
die Natur und die Bedingungen des Bewußtseins finden sich bei Wern icke, 
Gesammelte Aufsätze. Berlin 1893. Über das Bewußtsein S. 130—145. — 
Vgl. auch die in der folgenden Anmerkung zitierten Vorträge von Mepnert. 
») Meynert, Populäre Vorträge. Wien 1892, S. 2—40. 
Gedächtnis. Reproduktion und Association. 45 
gehörten Namen die Erinnerung an die Empfindungen beim Aus- 
sprechen des Namens, sowie die Erinnerung an die Empfindungen 
bei den betreffenden Schreibbewegungen und an das Gesichts- 
bild des geschriebenen oder gedruckten Wortes anschließt. Gibt 
es also im Gehirn ein besonderes optisches, akustisches, hap- 
tisches Feld, so müssen bei Ausschaltung eines dieser Felder, 
durch Unterdrückung der Funktion eines dieser Felder oder 
Aufhebung der Association desselben mit den übrigen Feldern 
eigentümliche Erscheinungen auftreten. Solche sind wirklich be- 
obachtet worden. Bleibt das optische bezw. akustische Feld 
in Funktion, während die associativen Verbindungen desselben 
mit andern wichtigen Feldern außer Funktion treten, so entsteht 
die „Seelenblindheit" bezw. „Seelentaubheit", welche Munk 
an Hunden bei Operationen am Großhirn beobachtet hat. ^) 
Solche Hunde sehen, allein sie verstehen das Gesehene nicht, 
erkennen die Futterschale, die Peitsche, die drohende Geberde 
nicht. Im Falle der Seelentaubheit hört der Hund, achtet aber 
nicht auf den gewohnten Anruf, versteht denselben nicht. Die 
Beobachtungen der Physiologen werden hier durch jene der 
Psychopathologen bestätigt und ergänzt. Besonders ergiebig 
ist hier das Studium der Sprachstörungen.^) Die Bedeutung 
des Wortes liegt ja in der Menge der Associationen, welche 
dasselbe wachruft, und der richtige Gebrauch desselben beruht 
umgekehrt auf dem Vorhandensein dieser Associationen. Störungen 
der letzteren müssen sich hier auffallend äußern. Die meisten 
Menschen sind r^t?/?/5händig, üben daher die linke Großhirn- 
hemisphäre für die feineren Arbeiten und auch für die Sprache 
ein. Broca erkannte nun die Wichtigkeit des hintern Dritteiis 
der dritten linken Stirnwindung für die artikulierte Sprache, 
welche durch Erkrankung dieses Hirnteils (Apoplexie) jedesmal 
verloren geht. Die Sprachlosigkeit (Aphasie) kann noch durch 
^) An einer Verschiedenheit der Leistungen verschiedener Hirnpartien 
ist wohl kaum zu zweifeln. Wenn aber doch, wie Goltz nachgewiesen hat, 
allmählich ein Teil der Großhirnrinde für den anderen ersetzend eintreten kann, 
so ist an eine schroffe Abgrenzung der Funktionen nicht zu denken, sondern 
nur an eine „graduelle Lokalisation" im Sinne von R. Semon (Die Mneme. 
Leipzig 1904. S. 160). Vgl. auch Analyse der Empfindungen. 1886. S. 82. 
4. Aufl. S. 155. 
2) Kußmaul, Störungen der Sprache. Leipzig 1885. 
46 Gedächtnis. Reproduktion und Association. 
sehr mannigfache verschiedene Defekte bedingt sein. Der Patient 
erinnert sich z. B. der Worte als Lautbilder, kann dies auch 
durch die Schrift kund tun und vermag trotz der Beweglichkeit 
der Zunge, Lippen u. s. w. die Worte nicht auszusprechen; das 
motorische Wortbild fehlt und löst die passende Bewegung 
nicht aus. Auch die optischen oder motorischen Schriftbilder 
können fehlen (Agraphie). Die Vorstellungen können vorhanden 
sein, das akustische Wortbild aber fehlt. Auch kommt es um- 
gekehrt vor, daß das gesprochene bezw. geschriebene Wort 
nicht verstanden wird, keine Associationen auslöst, was man 
Worttaubheit bezw. Wortblindheit genannt hat. Einen solchen 
Fall von Worttaubheit und Wortblindheit bei sonst erhaltener 
Intelligenz hat Lordat an sich selbst erlebt und konnte nach 
seiner Heilung über denselben berichten. Er schildert bewegt den 
Augenblick, als er nach traurigen Wochen in seiner Bibliothek 
auf dem Rücken eines Buches die Worte: „Hippocratis opera" 
erblickte, dieselben wieder lesen und verstehen konnte.^) Man 
kann schon nach dieser summarischen, keineswegs vollständigen 
und detaillierten Aufzählung der hier vorkommenden Fälle er- 
messen, wie viele Verbindungsbahnen zwischen den sensorischen 
und motorischen Feldern hier in Betracht kommen. ^) Geringere 
Störungen der Sprache, wie sie sich im Versprechen und Ver- 
schreiben äußern, kommen als Folgen temporärer Ermüdung und 
Zerstreutheit auch bei ganz gesunden Menschen vor. So zitierte 
jemand die beiden Chemiker Liebig undMitscherlich als „Mitschich 
und Liederlich". Ein anderer bezeichnete einen Magister der 
Pharmacie als „Philister der Magie". ^) 
15. Einen interessanten Fall von Seelenblindheit führt Wil- 
brand*) an. Ein sehr gebildeter belesener Kaufmann erfreute 
sich eines ausgezeichneten optischen Gedächtnisses. Die Gesichts- 
züge der Personen, an welche er sich erinnerte, die Formen und 
Farben der Gegenstände, an welche er dachte, Bühnenszenen, 
') Kußmaul, a.a.O. S. 175. 
2) Kußmaul, a.a.O. S. 182. 
^) Über merkwürdige, der Aphasie und Agraphie analoge Störungen 
bei Musikern berichtet R. Wallaschek (Psychologie und Pathologie der 
Vorstellung. Leipzig, J. A. Barth, 1905). 
*) Wilbrand, Seelenblindheit. Wiesbaden 1887. S. 43— 51. 
Gedächtnis. Reproduktion und Association. 47 
Landschaftsbilder, die er gesehen hatte, standen in voller Deut- 
lichkeit mit allen Einzelheiten vor ihm. Er konnte aus dem Ge- 
dächtnis Briefstellen und mehrere Seiten aus von ihm bevor- 
zugten Schriftstellern ablesen, indem er den Text mit allen Einzel- 
heiten vorsieh sah. Das Gedächtnis für Gehörseindrücke war gering 
und der Sinn für Musik fehlte. Schweren Sorgen, die sich als unbe- 
gründet erwiesen, folgte eine Zeit der Verwirrung und darauf eine 
vollständige Umwandlung seinespsipchischen Lebens. Seine optische 
Erinnerung war vollständig verloren gegangen. Eine Stadt, in 
welche er oft zurückkehrte, erschien ihm jedesmal neu, als ob 
er zum erstenmal dahin käme. Die Züge seiner Frau und seiner 
Kinder waren ihm fremd, ja sich selbst, als er sich im Spiegel 
sah, hielt er für eine fremde Person. Wenn er jetzt rechnen 
wollte, was vorher durch Gesichtsvorstellungen vermittelt war, 
mußte er die Zahlen leise aussprechen, und ebenso mußte er 
Gehörsvorstellungen, Vorstellungen von Sprach- und Schreib- 
bewegungen zu Hilfe nehmen, um Redensarten zu merken oder 
an Geschriebenes sich zu erinnern. — Nicht minder bemerkens- 
wert ist ein anderer Fall von Verlust des optischen Gedächt- 
nisses. ^) Eine Dame stürzt plötzlich zusammen. Sie wird nachher 
für blind gehalten, da sie keine Person ihrer Umgebung erkennt. 
Der Anfall läßt aber außer einer Einschränkung des Gesichts- 
feldes, welche sich allmählich verbessert, nur den Verlust des 
optischen Gedächtnisses zurück, dessen sich Patientin vollkommen 
bewußt ist. Sie tut die charakteristische Äußerung: „Nach 
meinem Zustand zu folgern, sieht der Mensch mehr mit dem 
Gehirn, als mit dem Auge, das Auge ist bloß das Mittel zum 
Sehen; denn ich sehe ja alles klar und deutlich, ich erkenne es 
aber nicht und weiß oft nicht, was das Gesehene sein soll."^) 
16. Nach den oben angeführten Tatsachen muß man sagen, daß 
es nicht ein Gedächtnis gibt, sondern daß das Gedächtnis sich 
aus vielen Partialgedächtnissen zusammensetzt, welche von- 
einander getrennt werden und einzeln verloren gehen können. 
Diesen Partialgedächtnissen entsprechen verschiedene Teile des 
Hirns, von welchen sich einige schon jetzt mit ziemlicher Be- 
stimmtheit lokalisieren lassen. Andere Fälle von Gedächtnis- 
») Wilbrand, a.a.O. S. 54. 
2) Wilbrand, a.a.O. S. 57. 
48 Gedächtnis. Reproduktion und Association. 
Verlust scheinen schwerer auf ein Prinzip zurückzuführen. Wir 
wollen nur einige von jenen betrachten, welche Ribot (les mala- 
dies de la memoire, Paris 1888) zusammengestellt hat. 
Eine junge Frau, die ihren Mann leidenschaftlich liebte, ver- 
fiel im Kindbett in eine lange währende Bewußtlosigkeit, infolge 
welcher die Erinnerung an die Zeit ihrer Ehe gänzlich entschwand, 
während die Erinnerung an ihr früheres Leben bis zu ihrer Ver- 
heiratung ungeschwächt blieb. Nur das Zeugnis ihrer Eltern 
vermochte sie dazu, den Mann und das Kind als die ihrigen 
anzuerkennen. Der Gedächtnisverlust blieb irreparabel. — Eine 
Frau wird von Schlafsucht befallen, welche zwei Monate dauert. 
Nach dem Erwachen kennt sie keine Person ihrer Umgebung 
und hat alles vorher Erlernte vergessen. Sie lernt alles wieder 
leicht und in kurzer Zeit, jedoch ohne Erinnerung daran, daß sie 
es vorher schon gekonnt. — Eine Frau fällt zufällig ins Wasser 
und ertrinkt fast. Als sie wieder die Augen öffnet, erkennt sie 
ihre Umgebung nicht, hat die Sprache, das Gehör, den Geruch 
und den Geschmack verloren. Sie muß gefüttert werden. Sie 
fängt täglich an, von neuem zu lernen. Ihr Zustand bessert sich 
allmählich. Sie erinnert sich einer Liebschaft, ihres Sturzes ins 
Wasser und wird durch Eifersucht geheilt. 
17. Am merkwürdigsten sind die periodisch wechselnden 
Gedächtnisverluste. Eine Frau hat nach einem langen Schlaf alles 
Erlernte vergessen. Sie muß von neuem lesen, rechnen und ihre 
Umgebung kennen lernen. Nach einigen Monaten tritt wieder 
ein tiefer Schlaf ein. Erwacht, befindet sie sich im Besitze ihrer 
Jugenderinnerungen, wie vor dem ersten Schlaf, hat aber die 
Vorgänge zwischen den beiden Schlafanfällen vergessen. Von 
da an wechseln durch vier Jahre periodisch die beiden Bewußt- 
seins- und Gedächtniszustände. In dem ersten Zustand hat sie 
eine schöne Schrift, in dem zweiten eine mangelhafte. Personen, 
die sie dauernd kennen soll, müssen ihr in beiden Zuständen 
vorgestellt sein. — Der letztere Fall wird durch einen oft zitierten 
eines Dienstmannes illustriert, welcher im Rausch ein Paket ver- 
liert und nur in einem zweiten Rausch dasselbe wiederzufinden 
vermag. — Im wachen Zustande erinnert man sich selbst leb- 
hafter Träume sehr schwer, sowie umgekehrt im Traum die 
Verhältnisse des Wachens uns meist gänzlich entschwinden. Da- 
Gedächtnis. Reproduktion und Association. 49 
gegen wiederholen sich dieselben Situationen oft genug im Traum. 
Endlich kann jeder auch im Wachen den Wechsel der Stimmungen 
an sich bemerken, mit welchem zugleich die Erlebnisse ver- 
schiedener Lebensperioden in ganz verschiedener Lebhaftigkeit 
in das Bewußtsein treten. Alle diese Fälle bilden einen konti- 
nuierlichen Übergang von schroffer Trennung verschiedener Be- 
wußtseinszustände bis zu fast vollständiger Verwischung der 
Grenze. Dieselben lassen sich auffassen als Beispiele der Bil- 
dung verschiedener Ässociationszentren, um welche, durch Zeit 
und Stimmung begünstigt, die Vorstellungsmassen sich scharen, 
während diese Massen untereinander keinen oder nur einen ge- 
ringen Grad des Zusammenhanges aufweisen.^) 
18. Schreibt man den Organismen (mit Hering) überhaupt die 
Eigenschaft zu, sich wiederholenden Vorgängen successive besser 
anzupassen, so erkennt man das, was wir gewöhnlich Gedächtnis 
nennen, als eine Teilerscheinung einer allgemeinen organischen 
Erscheinung. Es ist die Adaption an periodische Vorgänge, so- 
weit sie unmittelbar ins Bewußtsein fällt. Vererbung, Instinkt u.s.w. 
können dann als über das Individuum hinausreichendes Gedächt- 
nis bezeichnet werden. In dem oben zitierten „Mneme" be- 
titelten Buch von R. Semon liegt wohl der erste Versuch vor, 
das Verhältnis von Vererbung und Gedächtnis wissenschaftlich 
zu erforschen und zu erklären.^) . 
') Mit Rücksicht auf solche periodische Störungen des Gedächtnisses 
erscheinen Beobachtungen wie die von Swoboda (Die Perioden des mensch- 
lichen Organismus. 1904) durchaus nicht so abenteuerlich, als sie auf den 
ersten Blick sich darstellen. 
2) C. Detto, Über den Begriff des Gedächtnisses in seiner Bedeutung 
für die Biologie (Naturwiss. Wochenschr. 1905, Nr. 42). — Der Verfasser 
wird wohl kaum annehmen, daß Hering oder Semon in die von ihm ge- 
rügten Fehler verfallen werden. Den Vorteil der Untersuchung des Orga- 
nischen von zwei Seiten her scheint er mir aber bedeutend zu unterschätzen. 
Die psychologische Beobachtung kann uns die Existenz von physikalischen 
Vorgängen enthüllen, zu deren Kenntnis wir auf physikalischem Wege nicht 
so bald gelangen würden. 
Mach, Erkenntnis und Irrtum. 
Reflex, Instinkt, Wille, Ich. 
1. Bevor wir unsere psycho-physiologischen Betrachtungen 
fortsetzen, bemerken wir, daß keine der Einzelwissenschaften, 
deren wir bedürfen, den wünschenswerten Grad der Entwicklung 
erreicht hat, um als sichere Grundlage für die andern zu gelten. 
Die beobachtende Psychologie bedarf gar sehr der Stütze der 
Physiologie oder Biologie. Letztere kann aber von physikalisch- 
chemischer Seite gegenwärtig nur sehr unvollkommen aufgeklärt 
werden. Unter diesen Umständen sind alle unsere Überlegungen 
nur als vorläufige, und deren Ergebnisse als problematische, 
durch künftige Untersuchungen vielfach zu korrigierende, anzu- 
sehen. Das Leben besteht aus Vorgängen, welche sich tat- 
sächlich erhalten, fort und fort wiederholen und ausbreiten, 
d. h. successive größere Quantitäten von „Materie" in ihr Be- 
reich ziehen. Die Lebensvorgänge gleichen also einem Brand, 
mit dem sie auch sonst verwandt, wenn auch nicht so einfach 
sind. Die meisten physikalisch-chemischen Prozesse hingegen 
kommen, wenn sie nicht durch besondere äußere Umstände immer 
wieder von neuem hervorgerufen oder im Gang erhalten werden, 
sehr bald zu einem Stillstand. Abgesehen von diesem Haupt- 
unterschied im Charakter, weiß die heutige Physik und Chemie 
auch den Einzelheiten des Lebensprozesses nur sehr unvoll- 
kommen zu folgen. Dem Hauptzug der Selbsterhaltung ent- 
sprechend müssen wir erwarten, daß die Teile eines kompli- 
zierteren Organismus, einer Symbiose von Organen, auf die 
Erhaltung des Ganzen abgestimmt sein werden, welche ja sonst 
sich nicht ergeben könnte. Und auch an den psychischen Vor- 
gängen, die jenen Teil der Lebensvorgänge vorstellen, welche 
sich im Großhirn abspielen, die somit ins Bewußtsein reichen, wird 
Reflexy Instinkt, Wille, Ich. 5l 
uns diese Richtung auf Erhaltung des Organismus nicht über- 
raschen können. 
2. Betrachten wir zunächst einige Tatsachen, welche Goltz ^) 
genau studiert hat. Ein gesunder unverletzter Frosch benimmt 
sich derart, daß man demselben eine gewisse „Intelligenz'^ und 
„willkürliche" Bewegung zuschreiben muß. Er bewegt sich aus 
eigenem Antrieb in unberechenbarer Weise, entflieht dem Feinde, 
sucht einen neuen Sumpf auf, wenn der alte vertrocknet, ent- 
weicht eingefangen durch eine Lücke des Behälters u. s. w. Die 
Intelligenz ist allerdings nach menschlichem Maß eine sehr be- 
schränkte. Der Frosch schnappt sehr geschickt nach sich bewe- 
genden Fliegen, gelegentlich aber auch nach einem Stückchen roten 
Tuches und wiederholt erfolglos auch etwa nach den Fühlhörnern 
einer Schnecke, verhungert aber lieber, statt frisch getötete Fliegen 
anzunehmen. Das Benehmen des Frosches ist eng begrenzten 
Lebensumständen angepaßt. Wird der Frosch des Großhirns 
beraubt, so bewegt er sich nur mehr auf einen äußeren Anlaß. 
Ohne denselben sitzt er ruhig da. Er schnappt nicht nach Fliegen, 
nicht nach dem roten Tuch und reagiert nicht auf Knall. Eine 
über ihn kriechende Fliege streift er bloß ab. Die in das Maul 
gebrachte Fliege verschluckt er jedoch. Auf schwachen Hautreiz 
kriecht er fort, durch starken wird er zu einem Sprunge ver- 
anlaßt, wobei er Hindernissen ausweicht, die er also sieht. Wird 
ein Bein festgenäht, so gelingt es ihm dennoch, das Hindernis 
kriechend zu vermeiden. Der Frosch ohne Großhirn kompensiert 
die Drehung, die ihm auf einer horizontalen Drehscheibe erteilt 
wird. Setzt man ihn auf ein Brett, das man vorn hebt, so kriecht 
er hinan, um nicht hinabzufallen, und überkriecht sogar die obere 
Kante, wenn das Brett noch in demselben Sinne weiter gedreht 
wird. Unverletzte Frösche springen bei diesem Versuch davon. 
So wird das, was man Seele oder Intelligenz nennen könnte, 
durch Abtragung von Hirnteilen auf eine kleinere Sphäre ein- 
geschränkt. Der Frosch mit bloßem Rückenmark, auf den Rücken 
gelegt, weiß sich nicht aufzurichten. Die Seele — sagt Goltz — 
ist nichts Einfaches; sie ist teilbar, wie deren Organ. 
Ein Frosch ohne Großhirn quakt nie spontan. Streicht man 
*) Goltz, Die Nervenzentren des Frosches. Berlin 1869. 
4* 
52 Reflex, Instinkt, Wille, Ich. 
aber demselben einmal mit dem feuchten Finger über die Rücken- 
haut zwischen den Armen, so quakt er ganz regelmäßig re- 
flektorisch einmal. Er verhält sich wie ein Mechanismus. Daß 
geköpfte Frösche die aufgetropfte Säure mit den Hinterbeinen 
ganz mechanisch abwischen, ist schon nach älteren Versuchen 
bekannt. Solche Reflexmechanismen sind für die Lebensführung 
von Bedeutung. Wie vielfach wichtige Lebensfunktionen, wie 
die Begattung der Frösche, durch diese Mechanismen gesichert 
sind, hat Goltz durch ausführliche Untersuchungen gezeigt.^) 
3. Wenden wir unsere Betrachtung gleich anderen Lebewesen 
zu, welchen wohl, wenigstens instinktiv, niemand Intelligenz und 
Willen zuschreibt — den Pflanzen. Auch hier finden wir zweck- 
mäßige, die Erhaltung des Ganzen fördernde Bewegungs- 
reaktionen. Unter diesen fallen uns zunächst auf die durch 
Licht und Temperatur bestimmten Schlafbewegungen der Blätter 
und Blüten, die durch Erschütterungen ausgelösten Reizbewe- 
gungen der insektenfressenden Pflanzen. Solche Bewegungen 
könnten aber als Ausnahmen erscheinen. Ein allgemeines Ver- 
halten liegt dagegen darin, daß der Stamm der Pflanzen der 
Schwere entgegen nach oben wächst, wo Licht und Luft ihm die 
Assimilation ermöglichen, während die Wurzel, das Wasser und 
die darin gelösten Stoffe aufsuchend, nach unten in den Boden 
eindringt. Wird ein Teil des Stammes aus seiner vertikalen 
Richtung gebracht, so krümmen sich die noch im Wachstum 
befindlichen Teile desselben sofort aufwärts, kehren ihre kon- 
vexe Seite der Erde zu, indem die unteren Teile stärker wachsen 
als die oberen. Hierin spricht sich der „negative Geotropismus'^ 
des Stammes aus, im Gegensatze zu dem umgekehrten Ver- 
halten der Wurzel, die wir als „positiv geotropisch'' be- 
zeichnen. Der Stamm wendet sich in der Regel dem Lichte zu, 
wobei die noch wachsenden Teile desselben die konvexe Seite 
dem Dunkeln zuwenden, also an der beschatteten Seite stärker 
wachsen. Wir nennen den sich so verhaltenden Stamm „positiv 
heliotropisch'' , während die Wurzel in der Regel das entgegen- 
gesetzte „negativ heliotropische" Verhalten zeigt. Nach älteren 
und neueren Untersuchungen (Knight, J. v. Sachs) kann kein 
') Goltz, a.a.O. S. 20u.f. 
Reflex, Instinkt, Wille, Ich. 53 
Zweifel bestehen, daß die Richtung der Massenbeschleunigung 
(der Schwere) und die Richtung des Lichtes das geotropische, 
bezw. heliotropische Verhalten bestimmt. Das entgegengesetzte 
Verhalten von Stamm und Wurzel deutet auf Teilung der Arbeit 
im Interesse des Ganzen. Sehen wir die Wurzel steinzerklüftend 
in die Tiefe dringen, so können wir noch glauben, daß sie 
dies im eigenen Interesse tut. Dieser Eindruck verschwindet 
aber, wenn wir die Wurzel auch im Quecksilber, wo sie nichts 
zu suchen hat, abwärts dringen sehen. Die Vorstellung absicht- 
licher Zweckmäßigkeit muß hier weichen und jener eines physi- 
kalisch-chemisch bestimmten Geschehens Platz machen. Die 
bestimmenden Umstände müssen wir aber aus der Verbin- 
dung von Wurzel und Stamm zu einem Ganzen hervorgehend 
denken. ^) 
4. J. Loeb^) hat in einer Reihe von Arbeiten nachgewiesen, 
daß sich die Begriffe: Geotropismus, Heliotropismus u. s. w., 
welche sich auf dem Gebiete der Pflanzenphysiologie ergeben 
haben, auf die Tierphysiologie übertragen lassen. Selbstver- 
ständlich werden sich die betreffenden Erscheinungen dort am 
einfachsten und klarsten äußern, wo die Tiere unter so einfachen 
Verhältnissen leben, daß ein hoch entwickeltes psychisches Leben 
noch unnötig ist und daher nicht störend eingreifen kann. Der 
eben aus der Puppe geschlüpfte Schmetterling kriecht aufwärts 
und orientiert sich an der vertikalen Wand, welche er mit Vor- 
liebe wählt, mit dem Kopfe nach oben. Eben ausgeschlüpfte 
Räupchen kriechen rastlos nach oben. Will man eine Eprouvette 
mit solchen Räupchen entleeren, so muß man dieselbe, wie ein 
Gefäß mit Wasserstoff, mit der Mündung nach oben kehren. 
Küchenschaben suchen mit Vorliebe vertikale Wände auf. Stuben- 
fliegen, deren Schwingkolben oder Flügel man abgeschnitten 
hat, kriechen an einem vertikalen Brett vertikal aufwärts. Dreht 
man während dessen das Brett in seiner Ebene, so kompensiert 
die Fliege jede Drehung. Auf einem schiefen Brett kriecht sie 
*) J. V. Sachs, Vorlesungen über Pflanzen-Physiologie. Leipzig 1887. 
2) Loeb, Orientierung der Tiere gegen das Licht. SB. d. Würzburger 
ph.-med. Gesellschaft. 1888. — Orient, d. Tiere gegen d. Schwerkraft. Ebenda. 
1888. — Heliotropismus d. Tiere. Würzburg 1890. — Geotropismus d. Tiere. 
Pflügers Archiv. 1891. 
54 Reflex, Instinkt, Wille, Ich. 
nach der Richtung der steilsten Linie aufwärts. Auch hoch ent- 
wickelte Tiere werden von der Richtung der Schwere beeinflußt, 
sind geotropisch, wie die neueren Untersuchungen über das 
Ohrlabyrinth und dessen Bedeutung für die Orientierung lehren; 
nur werden diese Erscheinungen durch das Eingreifen mannig- 
faltiger anderer überdeckt. 
Ähnlich verhält es sich mit dem Heliotropismus. Wie bei 
den Pflanzen ist auch bei den Tieren die Richtung des Lichtes 
maßgebend. Unsj^mmetrische Reizung durch das Licht bewirkt 
Änderung der Orientierung des Tieres, welche mit der Ein- 
stellung der Lichtrichtung in die Symmetrieebene zur Ruhe kommt. 
Nun wendet das Tier entweder den oralen oder den aboralen 
Pol dem Lichte zu und bewegt sich entweder dem Lichte zu 
oder von diesem weg; es ist positiv oder negativ heliotropisch. 
Die Motte ist positiv, der Regenwurm, die Muscidenlarve ist 
negativ heliotropisch. Wenn eine positiv heliotropische Larve 
auf einer Ebene sich bewegt, so kriecht sie nach der Komponente 
der Lichtrichtung^ welche in diese Ebene entfällt. Indem sie so 
dem einfallenden Lichte entgegen sich bewegt, kann sie ganz 
wohl von einer helleren in eine weniger helle Beleuchtung 
kommen. Ohne in weitere Einzelheiten einzugehen, bemerken 
wir, daß in Bezug auf die Tropismen volle Übereinstimmung 
zwischen den Ergebnissen der pflanzenphysiologischen Studien 
von J. V. Sachs und jenen der tierphysiologischen Versuche von 
Loeb besteht.^) 
5. In neuester Zeit hat sich in Bezug auf die Auffassung der 
Insekten ein starker Gegensatz herausgebildet. Manche Forscher 
wollen dieselben als reine Reflexmaschinen ansehen, während 
andere ihnen ein reiches psychisches Leben zuschreiben. Dieser 
Gegensatz beruht auf der Abneigung gegen bezw. Neigung für 
das Mystische, indem man, alles Psychische für ein Mystisches hal- 
tend, dieses womöglich ganz zu beseitigen oder zu retten strebt. 
Auf unserem Standpunkte ist das Psychische nicht mehr und 
nicht weniger rätselhaft als das Physische und überhaupt von 
letzterem nicht wesentlich verschieden. Wir haben daher gar 
keinen Grund, in dieser Frage parteiisch zu sein, und nehmen 
*) Vgl. die oben zitierten Schriften von Sachs und Loeb. 
Reflex, Instinkt, Wille, Ich. 55 
eine neutrale Stellung ein, die etwa jener von A. ForeP) ent- 
spricht. Wenn wir z. B. eine Spinne sehr oft durch Berührung 
ihres Netzes mit einer schwingenden Stimmgabel irre führen 
können, so beweist dies die Stärke ihres Reflexmechanismus. 
Wenn sie aber endlich dennoch den Betrug merkt und nicht 
mehr erscheint, so dürfen wir ihr doch Erinnerung nicht mehr 
absprechen. Die am halb offenen Fenster ratlos an der Glas- 
scheibe summenden, dem Licht und der Luft zustrebenden Stall- 
fliegen, welche dennoch durch den schmalen Rahmen der Glas- 
scheibe verhindert werden, ihren Weg hinaus zu finden, machen 
in der Tat den Eindruck von Automaten. Wenn aber ein den- 
selben so nahestehendes Wesen, wie die grazilere Stubenfliege, 
sich weitaus klüger benimmt, so müssen wir doch bei beiden, 
wenn auch in geringem Grade, die Fähigkeit voraussetzen, be- 
scheidene Erfahrungen zu machen. So scheinen mir der topo- 
chemische Geruchsinn der Ameisen und das topochemische 
Gedächtnis, welches ihnen Forel zuschreibt, doch glücklichere 
Annahmen, als die polarisierte Geruchsspur Bethes.^) Forel 
will sogar einen Wasserkäfer, der sonst nur im Wasser frißt, 
zum Fressen außer dem Wasser dressiert haben. Der kann also 
kein reiner Automat im gewöhnlichen engeren Sinne sein. Die 
Unterscheidung und das Gedächtnis für Farbe und Geschmack 
bei Wespen und Bienen hat Forel in den zitierten Schriften 
nachgewiesen. 
6. Es ist nicht wertlos, die großen gemeinsamen Züge des 
organischen Lebens durch die Tier- und Pflanzenwelt zu ver- 
folgen. Bei den Pflanzen ist alles einfacher, der Untersuchung 
zugänglicher, für die Beobachtung offen daliegend und geht 
langsamer vor sich. Was wir am Tier als Bewegung, Instinkt- 
') A. Forel, Psychische Fähigkeiten der Ameisen. Verh. d. 5. internat. 
Zoologenkongresses. Jena 1902. — Geruchsinn bei den Insekten. Ebenda. 
1902. — Experiences et remarques critiques sur les sensations des Insectes, 
1—5 partie. Rivista di scienze biologiche. Como 1900—1901. 
*) Durch das topochemische Gedächtnis soll eine Art räumlichen Ge- 
ruchsbildes der durchwanderten Gegend zu stände kommen, wie dies dem 
Hunde kaum abzusprechen sein wird. An der polarisierten Geruchsspur soll 
die Ameise erkennen, ob der Weg zum Nest oder vom Nest führt. Es 
müßte also an der Spur rechts und links durch den Geruch unterscheid- 
bar sein. 
56 Reflex, Instinkt, Wille, Ich. 
äußerung, Willkürhandlung wahrnehmen, tritt uns bei den Pflanzen 
als Wachstumserscheinung in einer Folge von Formen entgegen 
oder erscheint in den Gestalten der Blätter, Blüten, Früchte, 
Samen für die dauernde Betrachtung fixiert. Der Unterschied 
liegt auch großenteils nur in unserem subjektiven Zeitmaß. 
Denken wir uns die langsamen Bewegungen des Chamäleons 
noch weiter verlangsamt, hingegen die langsamen Greifbewegungen 
der Lianen sehr beschleunigt,^) so verwischt sich für den Be- 
obachter durch beide Prozeduren der Unterschied zwischen den 
tierischen Bewegungen und den pflanzlichen Wachstumserschei- 
nungen ganz bedeutend. Die Versuchung, Vorgänge der Pflanzen- 
welt psychologisch zu interpretieren, ist nur sehr gering, dagegen 
der Trieb, dieselben physikalisch aufzufassen, desto stärker. Bei 
Betrachtung der Tiere verhält es sich gerade umgekehrt. Bei 
der engen Verwandtschaft beider Erscheinungsgebiete ist aber 
der Wechsel dieser verschiedenen Betrachtungsweisen sehr lehr- 
reich und ergiebig. Endlich ist auch die Wechselbeziehung von 
Pflanzen und Tieren, sowohl in chemisch-physikalischer als in 
morphologisch-biologischer Beziehung unerschöpflich reich an 
Anregungen. Man denke z. B. an die von Sprengel 1787 ent- 
deckten, von Darwin in seinem Orchideenwerk zu neuem Leben 
erweckten Entdeckungen der gegenseitigen Anpassung von 
Blüten und Insekten.^) Hier sind es scheinbar voneinander 
unabhängige Lebewesen, welche dennoch in ihren Lebens- 
äußerungen fast ebenso durcheinander bestimmt und aufeinander 
angewiesen sind, wie die Teile eines Tier- oder Pflanzenkörpers 
aufeinander. 
7. Die Bewegungen, welche auf bestimmte Reize hin, ohne 
Mitwirkung des Großhirns, eintreten, nennen wir /PeyZ^j^'^^iv^^K/z^^/z. 
Dieselben sind durch die Verbindung der Organe und deren 
Stimmung vorbereitet. Die Tiere führen auch recht komplizierte 
Verrichtungen aus, die ein bestimmtes Ziel, einen Zweck an- 
zustreben scheinen, dessen Kenntnis oder absichtliche Verfolgung 
wir aber denselben unmöglich zutrauen können. Wir nennen 
diese Verrichtungen Instinkthandlungen. Solche Instinkthand - 
1) Vgl. Haberlandt, Über den tropischen Urwald. Sehr. d. Vereins z, 
Verbr. naturw. Kenntnisse. Wien 1898. 
2) H. Müller, Befruchtung der Blumen durch Insekten. Leipzig 1873. 
Reflex, Instinkt, Wille, Ich. 57 
lungen lassen sich am besten als eine Kette von Reflex- 
bewegungen verstehen, von denen jedes folgende Glied durch 
das vorausgehende ausgelöst wird. *) Ein einfacher Fall dieser 
Art ist folgender. Der Frosch schnappt nach einer ihn um- 
summenden Fliege und verschluckt sie. Daß hier der erste Akt 
durch den optischen oder akustischen Reiz ausgelöst wird, liegt 
auf der Hand. Daß das Schlingen aber eine Folge des Schnappens 
ist, folgern wir, weil der Frosch ohne Großhirn, welcher nicht 
mehr schnappt, doch die Fliege verschlingt, sobald sie ihm ins 
Maul gesteckt wird. Ähnlich verhalten sich junge Nestvögel, 
welche ihre Nahrung noch nicht aufzunehmen wissen. Beim 
plötzlichen Herannahen ihrer Pfleger sperren sie aber schreiend, 
vielleicht auch erschreckt, den Schnabel auf und verschlingen 
die eingebrachte Nahrung. Das Picken und Schnappen kommt 
erst später hinzu. Das Sammeln der Wintervorräte durch den 
Hamster wird vielleicht verständlich, wenn man bedenkt, daß 
man es hier mit einem sehr gefräßigen, unverträglichen und zu- 
gleich scheuen Tier zu tun hat, das mehr aufnimmt als es ver^ 
zehren kann und verscheucht den Überfluß in seinem Schlupfwinkel 
wieder ablegt. Die wiederholte Instinkthandlung, etwa im nächsten 
Jahr, brauchen wir nicht mehr als unbeeinflußt vom individuellen 
Gedächtnis aufzufassen. Im Gegenteil kann bei höherer psychischer 
Entwicklung die Instinkthandlung unter dem Einfluß des Intellektes 
modifiziert oder sogar die Wiederholung durch den Intellekt 
hervorgerufen werden.^) Nach dem Prinzip der Kettenreflexe 
^) Loeb, Vergleichende Gehirnphpsiologie. Leipzig 1899. 
*) Die ersten Male treten bei dem Gefühl von Hunger oder Durst Reflex- 
bewegungen ein, welche unter geeigneten Umständen zur Befriedigung des 
Bedürfnisses führen. Man denke an das Verhalten der Säuglinge. Je reifer 
der Mensch ist, desto klarere und deutlichere Erinnerungen helfen bei Be- 
friedigung der Bedürfnisse mit, sich an die Empfindungen vor und nach der 
Befriedigung knüpfend und ihm die Wege weisend. Die Mischung des Be- 
wußten und Instinktiven kann übrigens in den verschiedensten Verhältnissen 
eintreten. Vor einigen Jahren litt ich an einer heftigen Neuralgie im Bein, 
welche pünktlich um 3 Uhr nachts einsetzte und mich bis zum Morgen quälte. 
Da bemerkte ich einmal, daß es mir sehr schwer wurde, den Morgenkaffee 
zu erwarten. Ich kam auf den Einfall, um 3 Uhr nachts Kaffee zu nehmen, 
und unterdrückte so in der Tat die Neuralgie. Dieser Erfolg, der nahe an 
die für wunderbar gehaltene Selbstordination hypersensibler somnambuler Per- 
58 Reflex, Instinkt, Wille, Ich. 
wird man wohl auch äußerst komplizierte Instinkthandlungen dem 
Verständnis näher bringen können. Bedenken wir, daß ein In- 
stinkt die Erhaltung der Art sichert, wenn derselbe nur in der 
Mehrzahl der Fälle (also wahrscheinlich) zum Ziele führt, so 
werden wir nicht nötig haben, die Form des Instinktes im ganzen 
und in den einzelnen Gliedern für genau bestimmt und absolut 
unveränderlich zu halten. Vielmehr werden wir den Eintritt von 
Variationen desselben, welche durch zufällige Umstände bedingt 
sind, erwarten, sowohl bei der Art im Laufe der Zeit, als auch 
bei gleichzeitigen Individuen derselben Art. ^) 
8. Das einige Monate alte Kind greift nach allem, was seine 
Sinne reizt und führt das Ergriffene in der Regel in den Mund, 
so wie das Hühnchen nach allem pickt. Es greift auch ebenso 
reflektorisch nach einer etwa durch eine Fliege gereizten Haut- 
stelle, wie dies der Frosch tut. Der Reflexmechanismus ist nur 
bei dem neugeborenen Kinde noch weniger reif und entwickelt, 
als bei den genannten Tieren. Aber die unwillkürlich eintreten- 
den Bewegungen unserer Glieder sind ebenso mit Empfindungen 
und zwar mit optischen und haptischen Empfindungen verknüpft, 
wie die Vorgänge in unserer Umgebung; sie hinterlassen Er- 
innerungsspuren, optische und haptische Bewegungsbilder. Diese 
Erinnerungsspuren der Bewegungen verknüpfen sich associativ 
mit andern zugleich auftretenden angenehmen oder unangenehmen 
Empfindungen. Wir merken uns, daß Lecken am Zucker mit der 
Empfindung „süß", Greifen in die Flamme oder Stoßen gegen 
einen harten Körper oder gegen den eigenen Leib ^) mit „Schmerz- 
empfindung" verknüpft ist. So sammeln wir Erfahrungen so- 
sonen streift, überraschte mich anfangs selbst. Der aufmerksamen Erwägung 
kann aber die Mystik nicht standhalten. Die Schmerzen hatten eben bald 
nach dem Frühstück sich regelmäßig sehr gemildert, und das hierauf ein- 
tretende Gefühl der Behaglichkeit hatte sich mit der Vorstellung „Kaffee" 
associiert, ohne daß es mir noch klar bewußt war. 
*) Variationen in den geschlechtlichen Instinkten beruhen wohl auf zu- 
fälligen Umständen der erstmaligen Erregung. Es wird kaum gerechtfertigt 
sein, aus jeder „Perversität" eine besondere Species der „psychopathia 
sexualis" (!) zu machen und dieselbe sogar für anatomisch begründet zu 
halten. Man denke nur an die antiken Gymnasien, die relative Abgeschlossen- 
heit der Frauen und die Päderastie. 
^) Preyer, Die Seele des Kindes. Leipzig 1882. 
Reflex, Instinkt, Wille, Ich. 59 
wohl Über die Vorgänge in unserer Umgebung, als auch über 
die Vorgänge in unserem Leibe, insbesondere über dessen Be- 
wegungen. Die letzteren Vorgänge stehen uns am nächsten, sind 
für uns am wichtigsten und bieten sich der Beobachtung fort- 
während dar. Es ist also natürlich, daß uns diese Erfahrungen 
schnell am geläufigsten werden. Ein Kind hat reflektorisch ein 
Stück Zucker ergriffen und in den Mund geführt, ein andres Mal 
aber nach einer Flamme gegriffen und ebenso reflektorisch die 
Hand zurückgezogen. Wenn das Kind später wieder den Zucker 
oder die Flamme erblickt, so ist dessen Verhalten schon durch 
die Erinnerung modifiziert. Im ersteren Falle wird die Greif- 
bewegung gefördert, im zweiten durch die Erinnerung an den 
Schmerz gehemmt. Die Schmerzerinnerung wirkt nämlich ganz 
ähnlich wie der Schmerz selbst und erregt die zur Greifbewegung 
entgegengesetzte Bewegung. Die „iv/7/Mr//(?Äe" Bewegung ist 
eine durch die Erinnerung beeinflußte Reflexbewegung. Wir 
können keine willkürliche Bewegung ausführen, welche nicht als 
Ganzes oder in ihren Teilen schon als Reflexbewegung oder 
Instinkthandlung aufgetreten und von uns als solche wäre er- 
fahren worden. Wenn wir uns bei Bewegungen beobachten, 
merken wir, daß wir uns einer vorher schon ausgeführten Be- 
wegung lebhaft erinnern und daß hierbei diese Bewegung wirk- 
lich erfolgt. Genauer gesagt: wir stellen uns den zu ergreifen- 
den oder zu beseitigenden Körper, also auch dessen Ort und 
die optischen und haptischen Empfindungen beim Greifen dahin 
vor, welche Vorstellungen die Bewegung selbst sofort nach sich 
ziehen. Sehr geläufige Bewegungen kommen uns jedoch kaum 
mehr als besondere Vorstellungen zum Bewußtsein. Indem wir 
an den Laut eines Wortes denken, ist es schon ausgesprochen, 
indem wir das Schriftbild desselben uns vorstellen, ist es schon 
geschrieben, ohne daß uns die vermittelnden Sprach- und Schreib- 
bewegungen deutlich vorgeschwebt hätten. Die lebhafte Vor- 
stellung des Zieles oder Ergebnisses einer Bewegung löst hier 
in rascher Folge eine Reihe psycho-physiologischer Vorgänge 
aus, welche in der Bewegung selbst endigt. 
9. Was wir Willen nennen, ist nur eine besondere Form des 
Eingreifens der temporär erworbenen Associationen in den voraus 
gebildeten festen Mechanismus des Leibes. Unter einfachen 
60 Reflex, Instinkt, Wille, Ich. 
Lebensumständen genügt der angeborene Mechanismus des Leibes 
fast allein, um die Zusammenwirkung der Teile zur Erhaltung 
des Lebens zu sichern. Bei größerer zeitlicher und räumlicher 
Variation der Lebensumstände sind aber die Reflexmechanismen 
nicht mehr zureichend. Ein gewisser Spielraum ihrer Funktion 
und eine gewisse Modifikation von Fall zu Fall wird nötig. 
Diese immerhin geringe Modifikation besorgt nun die Association, 
in welcher die relative Stabilität, die begrenzte Variation der 
Lebensumstände zum Ausdruck kommt. Die Modifikation der 
Reflexvorgänge, welche durch die im Bewußtsein auftretenden 
Erinnerungsspuren bestimmt ist, nennen wir Willen. Ohne Reflex 
und Instinkt gibt es auch keine Nuancierung derselben, keinen 
Willen. Erstere bleiben immer der Kern der Lebensäußerungen. 
Nur wo diese zur Lebenserhaltung nicht mehr ausreichen, tritt 
die Modifikation, ja auch die zeitweilige Unterdrückung dieser 
natürlichen Akte ein, und es wird auf einem oft langen Umwege 
erreicht, was unmittelbar nicht erlangt werden konnte. Ein solcher 
Fall ist es, wenn ein Tier eine Beute mit List anschleicht und 
im Sprunge hascht, die eben nicht anders zu gewinnen ist, wenn 
der Mensch Hütten baut und Feuer macht, um sich gegen Kälte- 
grade zu schützen, die er vermöge seiner bloßen Organisation 
nicht mehr ertragen kann. Was der Mensch in seinem Vor- 
stellungsleben und demnach auch im Handeln vor dem Tier, der 
kultivierte Mensch vor dem unkultivierten voraus hat, ist nur die 
Länge des Umweges zu demselben Ziel, die Fähigkeit, solche 
Umwege aufzufinden und einzuschlagen. Die ganze technische 
und wissenschaftliche Kultur kann als ein solcher Umweg an- 
gesehen werden. Wächst nun auch im Dienste der Kultur die 
Kraft des Intellektes (des Vorstellungslebens) so, daß dieser 
sich endlich seine eigenen Bedürfnisse schafft und die Wissen- 
schaft um ihrer selbst willen treibt, so sieht man doch, daß diese 
Erscheinung nur ein Produkt der sozialen Kultur sein kann, welche 
eine so weit gehende Teilung der Arbeit ermöglicht. Außerhalb 
der Gesellschaft wäre der in seine Gedanken ganz vertiefte 
Forscher eine biologisch unhaltbare pathologische Erscheinung. 
10. Joh. Müller^) hat noch als möglich angenommen, daß 
1) J. Müller, Handbuch der Physiologie. Koblenz 1840. II. S. 500. 
Reflex, Instinkt, Wille, Ich. 61 
die Bewegungsimpulse, Innervationen, welche vom Hirn aus zu 
den Muskeln abgehen, unmittelbar als solche empfunden werden, 
ebenso wie die peripherischen Nervenerregungen, sich zum 
Hirn fortpflanzend, Empfindungen bedingen. Diese Ansicht, 
welche bis in die neuere Zeit noch vertreten wurde, hat sich, 
gegenüber dem genaueren Studium der Willensfrage, von psycho- 
logischer Seite vorzüglich durch W. James^) und Münster- 
berg, ^) von physiologischer Seite besonders durch Hering^) 
als nicht haltbar erwiesen. Der aufmerksame Beobachter muß 
zugeben, daß solche Innervationsemp findungen nicht wahrzu- 
nehmen sind, daß man nicht weiß, wie man eine Bewegung aus- 
führt, welche Muskeln ins Spiel kommen, mit welchen Spannungen 
sich dieselben beteiligen u. s. w. Alles dies ist durch die Orga- 
nisation bedingt. Wir stellen uns nur das Ziel der Bewegung 
vor und erfahren durch peripherische Empfindungen der Haut, 
der Muskel, Bänder u. s. w. erst von der ausgeführten Bewegung. 
So wie sich also Vorstellungen durch Vorstellungen associativ 
im Bewußtsein ergänzen, so können sich auch Erinnerungen an 
sinnliche Empfindungen durch die zugehörigen motorischen Pro- 
zesse associativ ergänzen, wobei aber diese letzteren nicht mehr 
ins Bewußtsein fallen, sondern nur wieder mit deren Folgen 
hineinreichen. Daß das Prinzip der Association, oder der Ver- 
bindung durch Gewohnheit, im ganzen Nervensystem wirksam 
ist, kann man nach der Gleichartigkeit des letzteren wohl an- 
nehmen. Auf die besonderen Nervenverbindungen mit dem 
Großhirn wird es ankommen, welche Glieder der Associations- 
ketten ins Bewußtsein fallen. Als Beispiele der Erregung ver- 
schiedener leiblicher Prozesse durch Vorstellungen erwähnen 
wir, daß Erbrechen bei empfindlichen Personen leicht durch die 
Vorstellung des Erbrechens ausgelöst wird. Wer leicht an den 
Händen schwitzt, wer in der Verlegenheit leicht errötet, darf an 
diese Vorgänge nicht denken, ohne daß sie sofort eintreten. Die 
Speicheldrüsen des Feinschmeckers reagieren prompt auf dessen 
Geschmacksphantasien. Als ich einmal längere Zeit an Malaria 
») W. James, The feeling of effort. Boston 1880. — Principles of 
Psychologe. New York 1890. II. S. 486 u. f. 
2) Münsterberg, Die Willenshandlung. Freiburg i. B. 1888. 
8) Hering in Hermanns Handb. d. Physiol. III, 1. S. 547, 548. 
62 Reflex, Instinkt, Wille, Ich. 
litt, erwarb ich mir die unangenehme Fertigkeit, durch den bloßen 
Gedanken an Schüttelfrost diesen selbst hervorzurufen, welche 
Fertigkeit mir viele Jahre verblieb. Die hier dargelegte Auf- 
fassung wird noch durch andere Tatsachen bestätigt. Wenn 
eine Muskelkontraktion nicht „zentral", nicht durch den „Willen", 
sondern durch den Induktionsstrom ausgelöst wird, so empfinden 
wir diese Kontraktion ganz ebenso als Anstrengung wie die 
willkürliche; diese Empfindung ist also peripherisch ausgelöst. 
Am interessantesten sind aber die Beobachtungen Strümpells^) 
über das Verhalten eines Knaben, der bloß mit dem rechten Auge 
sah und mit dem linken Ohre hörte, der aber sonst ganz emp- 
findungslos war. Bei verbundenen Augen konnten dessen Glieder 
in die ungewöhnlichsten Stellungen gebracht werden, ohne daß 
er es merkte. Auch das Gefühl der Ermüdung fehlte gänzlich. 
Verlangte man, daß er den Arm erhebe und erhoben halte, so 
tat er dies, aber nach 1 — 2 Minuten begann dieser zu zittern 
und zu sinken, obgleich der Patient behauptete, denselben er- 
hoben zu halten. Ebenso glaubte derselbe die Hand zu schließen 
und zu öffnen, während man diese fest hielt. ^) 
11. Bewegung, Empfindung und Vorstellung stehen überhaupt 
in einem sehr innigen Zusammenhang. Wir dürfen uns über das 
Bestehen desselben durch die notwendigen Einteilungen und das 
Schematisieren der Psychologie nicht täuschen lassen. Wenn 
eine Wildkatze durch ein leises Geräusch erregt, sich des Tieres 
erinnert, welches dieses Geräusch bewirken könnte, so richtet 
sie die Augen auf den Ort des Geräusches und stellt sich sprung- 
bereit. Die associierte Vorstellung hat hier Bewegungen aus- 
gelöst, welche eine deutlichere optische Empfindung des er- 
warteten interessanten, zur Nahrung dienenden Objektes bedingen, 
das nun mit gut bemessenem Sprunge eingefangen werden kann.^) 
Dagegen sind die Augen der Katze jetzt ganz von der Beute 
1) Strümpell, Deutsch. Archiv f. klin. Medic. XXII. S. 321. 
") Ich selbst konnte mich einige Zeit von der Müll ersehen Ansicht 
nicht losmachen. Die Beobachtungen (Analyse 4. Aufl. S. 135) an meiner 
eigenen apoplektisch gelähmten, aber sensiblen Hand, an welcher keine Be- 
wegung zu sehen ist, während ich doch ein Schließen und öffnen in geringem 
Ausmaß zu fühlen glaube, weiß ich auch in den Rahmen der neuen Theorie 
nicht recht einzupassen. 
8) Groos, Die Spiele der Tiere. Jena 1896. S. 210 u. f. 
Reflex, Instinkt, Wille, Ich. 63 
in Anspruch genommen und eben deshalb zur Aufnahme von 
anderwärts herkommenden Eindrücken wenig geeignet, weswegen 
das lauernde Tier dem Jäger leicht zum Opfer fällt. Wir sehen, 
wie hier Empfindung, Vorstellung und Bewegung ineinander- 
greifen, um den Zustand zu bestimmen, den wir Aufmerksamkeit 
nennen. Ähnlich jener Katze verhalten wir uns, wenn wir über 
etwas, das unmittelbar unsere Lebenserhaltung betrifft oder aus 
irgend einem andern Grunde für uns von Interesse ist, nach- 
denken.^) Wir überlassen uns da nicht beliebigen Einfällen. Zu- 
nächst wenden wir den Blick von allen gleichgültigen Vorkomm- 
nissen ab, achten nicht auf Geräusche in unserer Umgebung 
oder suchen dieselben abzuhalten. Wir setzen uns wohl gar an 
unseren Arbeitstisch und entwerfen eine Konstruktion oder fangen 
an, eine Formel zu entwickeln. Wir werfen den Blick wieder- 
holt auf die Konstruktion oder die Formel. Nur jene Asso- 
ciationen, welche zur Aufgabe in Beziehung stehen, treten auf. 
Kommen andere zum Vorschein, so werden sie bald wieder von 
ersteren verdrängt. Bewegungen, Empfindungen und Asso- 
ciationen wirken im Falle des Nachdenkens gerade so zusammen, 
den Zustand der intellektuellen Aufmerksamkeit zu schaffen, 
wie sie in dem Fall der Katze die sinnliche Aufmerksamkeit 
hergestellt haben. Wir glauben unser Denken „willkürlich" zu 
leiten, aber in Wahrheit ist dasselbe bestimmt durch den immer 
wiederkehrenden Gedanken des Problems, das mit 1000 Asso- 
ciationsfäden unmittelbar oder mittelbar an den Interessen unseres 
Lebens hängt, die uns nicht los lassen.^) Wie in dem Fall der 
sinnlichen Aufmerksamkeit der auf ein bestimmtes Objekt ein- 
gestellte Sinn eben dadurch relativ blind oder taub wird für jedes 
andere Objekt, so werden auch durch die auf das Problem be- 
züglichen Associationen den andern die Bahnen verschlossen.^) 
Die Katze merkt das Herannahen des Jägers nicht, der speku- 
lierende Sokrates überhört „zerstreut" die Fragen seiner Xanthippe 
und der konstruierende Archimedes büßt seine mangelhafte bio- 
1) Vgl. s. 40. 
=>) Vgl. Popul. Vorlesungen, 3. Aufl. S. 287 u. f. 
*) Vgl. Zur Theorie des Gehörorgans. Sitzb. d. Wiener Akademie. 
Bd. 48, Juli 1863. Daselbst schon eine mehr biologische Auffassung der 
Aufmerksamkeit. 
64 Reflex, Instinkt, Wille, Ich. 
logische Anpassung an die augenblicklichen Umstände mit dem 
Leben. 
12. Es gibt keinen Tillen und keine Aufmerksamkeit als be- 
sondere psychische Mächte. Dieselbe Macht, die den Leib bildet, 
führt auch die besonderen Formen der Zusammenwirkung der 
Teile des Leibes herbei, für welche wir die Kollektivnamen 
„Wille" und „Aufmerksamkeit" angenommen haben. Wille und 
Aufmerksamkeit sind so nahe verwandt, daß es schwer ist, die- 
selben gegeneinander abzugrenzen.^) Im Willen und in der 
Aufmerksamkeit liegt eine „\^aÄ/", ebenso wie im Geotropismus 
und Heliotropismus der Pflanzen und in dem Fall des Steines 
zur Erde. Alle sind in gleicher Weise rätselhaft oder in gleicher 
Weise verständlich.^) Der Wille besteht in der Unterordnung der 
weniger wichtigen oder nur zeitweilig wichtigen Reflexakte unter 
die die Lebensfunktion leitenden Vorgänge. Diese leitenden 
Vorgänge sind aber die Empfindungen und Vorstellungen, welche 
die Lebensbedingungen registrieren. 
13. Manche Bewegungen, deren unausgesetzte Fortdauer für 
die Erhaltung des Lebens notwendig ist, wie die Herzbewegung, 
die Atmung, die peristaltische Bewegung des Darms u. s. w., 
sind vom „Willen" unabhängig oder werden höchstens in sehr 
beschränktem Maße von psychischen Vorgängen (Gemütsbewe- 
gungen) beeinflußt. Die Grenze zwischen willkürlichen und un- 
willkürlichen Bewegungen ist aber keine absolut feststehende, 
sondern variiert etwas von Individuum zu Individuum. Bei ein- 
zelnen Menschen gehorchen manche Muskeln dem Willen, welche 
bei anderen dem Einfluß desselben ganz entzogen sind. So soll 
Fontana im stände gewesen sein, die Pupillen willkürlich zu 
verengern, und E. F. Weber hätte sogar die Fähigkeit gehabt, 
die Herzbewegung willkürlich zu unterdrücken.^) Wenn die 
Innervation eines Muskels zufällig gelingt, und man kann die 
hierbei auftretenden Empfindungen in der Erinnerung reprodu- 
zieren^ so tritt hierbei die Kontraktion des Muskels in der Regel 
wieder ein, und derselbe bleibt der Herrschaft des Willens unter- 
') Vgl. J. C. Kreibig, Die Aufmerksamkeit als Willenserscheinung. 
Wien 1897. 
2) Vgl. Schopenhauer, Über den Willen in der Natur. 
») Ribot, Maladies de la volonte. Paris 1888. S. 27. 
Reflex, Instinkt, Wille, Ich. 65 
worfen.^) Die Grenze der Willkürbewegung kann also durch 
glückliche Versuche und Übung erweitert werden. — In krank- 
haften Zuständen kann die Beziehung zwischen dem Vorstel- 
lungsleben und der Bewegung bedeutende Veränderungen er- 
fahren, was nur durch einige Beispiele erläutert werden soU.^) 
Th. de Quincey erfuhr nach seinem eigenen Geständnis durch 
den Gebrauch des Opiums eine solche Schwächung des "Willens, 
daß er eingelangte wichtige Briefe durch Monate unbeantwortet 
liegen ließ und es dann noch schwer über sich gewann, eine 
Antwort von wenigen Worten zu schreiben. Ein kräftiger, in- 
telligenter Mann, Notar, verfiel in Melancholie. Er sollte eine 
Reise nach Italien antreten, erklärte wiederholt, es sei ihm un- 
möglich, leistete aber seinem Begleiter nicht den geringsten 
Widerstand. Eine Vollmacht, die er ausstellte, unterzeichnete er, 
konnte aber durch drei Viertelstunden nicht dazu gelangen, den 
Namen durch den üblichen Zug zu ergänzen. Nachdem sich 
noch in vielen ähnlichen Fällen seine Willensschwäche geäußert 
hatte, gewann er seine Energie wieder beim Anblick einer von 
den Pferden zu Boden geworfenen Frau. Er sprang rasch aus 
dem Wagen, um ihr Hilfe zu leisten. Die „Abulie" wurde also 
hier durch einen starken Affekt überwunden. Anderseits können 
bloße Vorstellungen so impulsiv werden, daß sie drohen in die 
Tat auszubrechen. Ein Mensch wird z. B. von dem Gedanken 
beherrscht, eine bestimmte Person oder sich selbst ermorden zu 
müssen, und läßt sich freiwillig fesseln, um sich vor den Folgen 
dieses furchtbaren Triebes zu schützen. 
14. Schon eine vorausgehende Überlegung hat gezeigt, daß 
die Abgrenzung des Ich gegen die Welt etwas schwierig und von 
Willkürlichkeit nicht frei ist. Betrachten wir die Gesamtheit der 
miteinander zusammenhängenden Vorstellungen, also dasjenige, 
was nur für uns allein unmittelbar vorhanden ist, als das Ich. 
Dann besteht das Ich aus den Erinnerungen unserer Erlebnisse, 
mit den durch diese selbst bedingten Associationen. Dieses 
ganze Vorstellungsleben ist aber an die historischen Schicksale 
des Großhirns gebunden, welches ein Teil der physischen Welt 
ist, den wir nicht ausscheiden können. Nun haben wir aber kein 
') Hering, Die Lehre vom binocularen Sehen. Leipzig 1868. S. 27. 
2) Ribot, a.a.O. S. 40— 48. 
Mach, Erkenntnis und Irrtum. / 5 
6Q Reflex, Instinkt, Wille, Ich. 
Recht, die Empfindungen aus der Reihe der psychischen Ele- 
mente auszuschahen. Beschränken wir uns zunächst auf die 
Organempf indüngen (Gemeingefühle), welche von dem Lebens- 
prozeß aller Körperteile herrühren, der in das Großhirn aus- 
strahlt und als Hunger, Durst u. s. w. die Grundlage der Triebe 
wird, die vermöge eines im embryonalen Leben erworbenen 
Mechanismus unsere Bewegungen, Reflexe und Instinkthand- 
lungen auslösen, die durch das später entwickelte Vorstellungs- 
leben nur modifiziert werden können. Dieses weitere Ich hängt 
schon mit unserem ganzen Leib, ja nicht minder mit dem Leib 
unserer Ehern untrennbar zusammen. Endlich können wir auch 
die von der gesamten physischen Umgebung ausgelösten Sinnes- 
empfindungen zum Ich im weitesten Sinn rechnen, und dieses 
ist dann von der ganzen Welt nicht mehr trennbar. Dem er- 
wachsenen denkenden Menschen, welcher sein Ich analysiert, 
fällt das Vorstellungsleben vermöge seiner Stärke und Klarheit 
als der wichtigste Inhalt des Ich auf. Anders ist es, wenn wir 
ein Individuum in der Entwicklung betrachten. Das einige 
Monate alte Kind wird noch ganz von seinen Organempfindungen 
beherrscht. Der Ernährungstrieb ist am mächtigsten wirksam. 
Sehr allmählich entwickelt sich das Sinnesleben und später das 
Vorstellungsleben. Erst spät kommt der Geschlechtstrieb hinzu 
und wandeh bei gleichzeitigem Wachstum des Vorstellungslebens 
die ganze Persönlichkeit um. So entwickelt sich ein Weltbild, 
in dem als deutlich abgegrenztes und wichtigstes Zentralglied 
der eigene Leib sich abhebt; die stärksten Vorstellungen zielen 
mit ihren Associationen auf Befriedigung der Triebe ab, sind 
auf dieselbe abgestimmt, sozusagen nur Zwischenmittel zur Be- 
friedigung derselben. Das Zentralglied dieses Weltbildes hat 
der Mensch mit den höheren Tieren gemein, nur tritt das Vor- 
stellungsleben desto mehr zurück, je einfachere Organismen wir 
betrachten. Beim sozialen Menschen, dessen Leben teilweise 
entlastet ist, können die Vorstellungen, welche mit dessen Beruf, 
Stellung, Lebensaufgabe u. s. w. zusammenhängen, obgleich sie 
ursprünglich nur Zwischenmittel zur Befriedigung zunächst der 
eigenen und nebenher und mittelbar der fremden Triebe waren, 
doch eine solche Stärke und einen solchen Wert gewinnen, daß 
alles übrige daneben unbedeutend erscheint. So entsteht das, 
Reflex, Instinkt, Wille, Ich. 67 
was Meynert^) das sekundäre Ich genannt hat im Gegensatz 
zum primären Ich, in welchem letzteren vor allem das animale 
Leben des Leibes sich hervorhebt. 
15. Bei dem wichtigen Beitrag, den die Organempfindungen 
zur Bildung des Ich liefern, ist es begreiflich, daß Störungen 
dieser Organempfindungen auch das Ich alterieren. Ribot^) hat 
die interessantesten Fälle dieser Art beschrieben. Ein in der 
Schlacht von Austerlitz schwer verwundeter Soldat hielt sich 
seither für tot. Wurde er um sein Befinden gefragt, so ant- 
wortete er: Ihr wollt wissen, wie es Vater Lambert geht? Er 
ist nicht mehr, eine Kanonenkugel hat ihn mitgenommen. Das, 
was ihr hier seht, ist eine schlechte Maschine, die ihm ähnlich 
ist. Man sollte eine andere machen. Indem er von sich sprach, 
sagte er nie „ich", sondern „dieses da". Seine Haut war 
empfindungslos, und oft verfiel er in vollständige Bewußtlosig- 
keit und Unbeweglichkeit, welche mehrere Tage währte. — Die 
monströsen Zwillinge mit teilweise gemeinschaftlichem Leib, wie 
die bekannten siamesischen Zwillinge oder die zu Szongy in 
Ungarn geborenen Schwestern Helene und Judith, haben auch 
ein teilweise gemeinschaftliches Ich und fallen, wie natürlich, 
durch Ähnlichkeit, ja Identität des Charakters auf. Dies geht 
so weit, daß im Gespräch oft die von einem Teil begonnene 
Phrase von dem andern vollendet wird. ^) Übrigens zeigen or- 
ganisch zusammenhängende Zwillinge nur in gesteigertem Maß 
die physische und psychische Ähnlichkeit der organisch ge- 
trennten Zwillinge, welche in antiker und moderner Zeit dank- 
bare Lustspielstoffe geliefert hat.*) — Wenn die Organisation 
für das primäre Ich bestimmend ist, so haben die Erlebnisse auf 
das sekundäre Ich bedeutenden Einfluß. In der Tat kann plötz- 
licher oder dauernder Wechsel der Umgebung das sekundäre 
Ich mächtig alterieren. Dies wird in treffender Weise illustriert 
») Meiner t, Populäre Vorträge. Wien 1892. S. 36 u. f. 
2) Ribot, Les maladies de la personnalite. Paris 1888. 
ä) Vaschide etVurpas, Essai sur la Psycho-Phj>siologie des Monstres 
humains. Paris (ohne Jahreszahl). 
*) Man vergleiche des Plautus „Menaechmi" oder Shakespeares „Komödie 
der Irrungen". — Galtons „History of Twins" ist in Bezug auf die Tatsachen 
lehrreich. 
/ 5* 
08 Reflex, Instinkt, Wille, Ich. 
durch die Erzählung „vom Schlafenden und Wachenden" in der 
arabischen Märchenerzählung „Tausend und eine Nacht", sowie in 
dem bekannten Zwischenspiel Shakespeares in „Zähmung einer 
Widerspenstigen". 
16. Merkwürdig sind die Fälle, in welchen sich zugleich zwei 
verschiedene Persönlichkeiten in einem Körper äußern. Ein Mann, 
welcher bewußtlos im Typhus liegt, erwacht eines Tages, glaubt 
aber zwei Körper zu haben, die in zwei verschiedenen Betten 
liegen, von denen der eine genesen ist und einer köstlichen Ruhe 
genießt, während der andere sich elend befindet. — Ein Polizei- 
soldat, welcher durch mehrere Schläge auf den Kopf eine Ge- 
dächtnisschwächung erfuhr, glaubte aus zwei Personen von ver- 
schiedenem Charakter und Willen zu bestehen, welche beziehungs- 
weise in der rechten und linken Körperhälfte ihren Sitz hatten. — 
Die Fälle von sogenannter Besessenheit, in welchen sich in dem 
Leib einer Person eine zweite, kontrollierende oder befehlende, 
oft mit fremder Stimme herausschreiende breit zu machen scheint, 
gehören auch hierher. Es ist nicht zu verwundern, daß der furcht- 
bare unheimliche Eindruck solcher Vorkommnisse eine dämono- 
logische Auffassung derselben veranlaßt hat.^) — Häufiger äußern 
sich verschiedene Persönlichkeiten in einem Leib nacheinander oder 
alternieren miteinander. Eine bekehrte Prostituierte wurde in ein 
Kloster aufgenommen, verfiel in religiösen Wahnsinn, worauf 
Stupidität folgte. Dann folgt eine Zeit, in welcher sie abwechselnd 
Nonne und Prostituierte zu sein glaubt und sich dementsprechend 
benimmt. Es sind sogar Fälle des Wechsels von drei ver- 
schiedenen Persönlichkeiten beobachtet worden. 
Wenn man sich mit Berücksichtigung sämtlicher Momente, 
die bei der Bildung des Ich mitwirken, über die angeführten 
1) In Bezug auf die dämonologische Auffassung vergleiche man: Enne- 
moser, Geschichte der Magie. Leipzig 1844. — Roskoff, Geschichte des 
Teufels. Leipzig 1869.- Hecker, Die großen Volkskrankheiten des Mittel- 
alters. Berlin 1865. — Pathologische Erscheinungen, psychische Störungen, 
insbesondere Hallucinationen, seien sie nun dauernd (wie z. B. im Verfolgungs- 
wahn) oder temporär durch Gifte (Hexensalbe) hervorgebracht, stützen, bei 
mangelhafter wissenschaftlicher Kritik, den Dämonen- und Hexenglauben, so- 
wohl bei den Betroffenen wie bei den Beobachtern. Vgl. P. Max Simon, 
Le Monde des Reves. Paris 1888. — Interessante Daten auch bei Walter 
Scott, Letters on Demonology and Witchcraft, 4«^ edit, London 1898. 
Reflex, Instinkt, Wille, Ich. 69 
Fälle eine naturwissenschaftliche Ansicht bilden will, so hat man 
sich etwa zu denken, daß an die wechselnden Organgefühle sich 
mit diesen fest verbundene Associationskreise knüpfen, die unter- 
einander nicht zusammenhängen. Mit dem Wechsel der Organ- 
empfindungen, etwa durch Krankheit, wechseln dann auch die 
Erinnerungen und die ganze Persönlichkeit. Im Übergangs- 
zustande aber, wenn derselbe von genügender Dauer ist, tritt 
die doppelte Persönlichkeit auf. Wer im Traume im stände ist, 
sich zu beobachten, dem sind solche Zustände nicht ganz fremd 
und keineswegs unvorstellbar. 
17. Die Teile des menschlichen Leibes stehen in einem sehr 
engen Zusammenhang, und fast alle Lebensvorgänge ragen in 
irgend einer Weise ins Großhirn, also ins Bewußtsein hinein. 
Dies ist keineswegs bei allen Organismen der Fall. Wenn wir 
eine Raupe beobachten, welche, am Hinterteil verwundet, sich von 
rückwärts aufzufressen beginnt,^) wenn eine Wespe sich durch 
Abschneiden des Abdomens nicht im Honigsaugen stören läßt, 
wenn ein Regenwurm, mitten entzwei geschnitten, nach Ver- 
bindung beider Teile durch einen Faden fast wie ein unver- 
letzter weiterkriecht, so müssen wir annehmen, daß bei diesen 
Tieren nicht unmittelbar sich berührende Teile in keiner so 
innigen Wechselbeziehung stehen wie beim Menschen. Es 
wirkt z. B. beim Wurm ein Leibesring erregend auf den 
folgenden, weshalb er auch fortkriecht, wenn der vorhergehende 
Ring durch den Faden den folgenden reizt. Aber von einer 
Zentralisierung des ganzen Lebens in einem Hirn und einer ent- 
sprechenden /<?Ä-Bildung kann kaum die Rede sein. 
1) Dieser Vorgang wird in biologischen Schriften erwähnt. Meine 
Schwester, welche sich viele Jahre mit der Aufzucht von Yama Mai im freien 
Eichenwald beschäftigt hat, wo häufig genug Verletzungen von Raupen, aber 
auch Heilungen vorkamen, bestreitet die Richtigkeit der Beobachtung. Die 
Raupen scheinen die Wunde zu untersuchen und bestreben sich vielleicht, 
dieselbe zu schließen. 
Die Entwicklung der Individualität in der 
natürlichen und kulturellen Umgebung. 
1. Vom Elternleibe losgetrennt beginnt der tierische Organis- 
mus ein selbständiges Leben. Als Erbe nimmt er nur eine 
Anzahl von Reflexreaktionen mit, die ihm über die erste Not 
hinweghelfen sollen. Indem er diesen Besitz seiner besonderen 
Umgebung anpaßt, entsprechend modifiziert und vermehrt, Er- 
fahrungen erwirbt, wird er zur leiblichen und psychischen Indi- 
vidualität. Das menschliche Kind verhält sich hier gerade so, 
wie das mit der Eierschale davonlaufende und pickende Reb- 
huhn, und der an der Nabelschnur die Schale noch nach sich 
ziehende eben ausgeschlüpfte Alligator,^) der aber schon mit 
off enem Rachen fauchend und schnappend auf jeden angenäherten 
Körper losfährt. Nur weniger reif, weniger reich ausgestattet, 
trennt sich das menschliche Kind äußerlich von der Mutter, deren 
leiblicher und psychischer Besitz noch lange ergänzen muß, was 
dem Kinde zur Selbständigkeit fehlt. 
2. Individuelle Erfahrungen sammeln die Tiere in derselben 
Weise wie der Mensch. Die Biologie und die Kulturgeschichte sind 
gleichwertige, sich gegenseitig ergänzende Quellen der Psycho- 
logie und Erkenntnislehre. Mag es auch recht schwierig sein, sich 
in das psychische Leben der Insekten z. B. hineinzudenken, deren 
Lebensbedingungen, deren Sinne uns so wenig bekannt sind, 
mag es auch verlockend scheinen, dieselben als bloße Maschinen 
zu studieren, von Schlüssen auf das psychische Leben ganz ab- 
zusehen, den wertvollen Leitfaden der Analogie zur eigenen Psyche 
sollte man desto weniger unbenutzt lassen, je unzureichender 
*) Morgan, Comparative Psychologp. London 1894. p. 209. 
Die Entwicklung der Individualität etc. 71 
gerade hier die übrigen Mittel der Forschung sind. "Wir sind ja 
gelegentlich sehr geneigt, die Kluft zwischen dem Menschen und 
seinen tierischen Genossen zu überschätzen. Wir vergessen zu 
leicht, wie viel in unserem eigenen psychischen Leben mechanisch 
verläuft. Halten wir das Benehmen der Insekten, Fische und 
Vögel der Flamme und dem Glase gegenüber für auffallend 
dumm, so bedenken wir nicht, wie wir selbst uns gegen solche 
Objekte verhalten würden, wenn dieselben unserer Erfahrung 
gänzlich fremd wären und nun plötzlich auftreten würden. Die- 
selben müßten uns geradezu als Zauberei erscheinen, und wir 
würden wohl mehr als einmal gegen dieselben anrennen. Gehen 
wir von dem Studium der dem Menschen nächststehenden Tiere 
aus, zu den fernerstehenden allmählich fortschreitend, so muß 
dies zu einer soliden vergleichenden Psychologie führen. Erst 
eine solche wird die Erscheinungen des höchsten und des nie- 
dersten psychischen Lebens durchleuchten, die wahren Über- 
einstimmungen und Unterschiede beider klarlegen. 
3. Einige Beispiele mögen das Verhältnis der tierischen zur 
menschlichen Psyche beleuchten. L. Morgan^) ließ einen jungen 
Hund einen Stock herbeibringen. Derselbe brannte sich beim 
Aufnehmen des Stockes an Nesseln und wollte denselben Stock 
nicht mehr anfassen, auch wenn dieser im freien Felde lag. 
Andere Stöcke faßte er ohne Widerstand an, und so auch den 
verhängnisvollen Stock nach einigen Stunden, nachdem mit dem 
Schmerz auch die lebhafte Vorstellung desselben geschwunden 
war. — Ein anderer Hund faßte einen Stock mit schwerem Knopf 
in der Mitte, was ihm große Unbequemlichkeiten verursachte. 
Durch viele Versuche lernte er aber den Stock nahe am Knopf — 
in der Nähe des Schwerpunktes — fassen. — Zwei junge Hunde 
trugen Stöcke quer im Maul, deren Enden an die Pfeiler eines 
engen Durchgangs für Fußgänger anstießen. Die Hunde ließen die 
Stöcke fallen und liefen hindurch. Zurückgesandt, faßte der eine 
den Stock an einem Ende und zog ihn ohne Schwierigkeit hindurch, 
während der andere fortfuhr, in der Mitte anzufassen, anzustoßen 
und fallen zu lassen. Bei der Rückkehr an denselben Ort, nach 
einer Stunde, hatte auch der scheinbar klügere vergessen, den 
») Morgan, 1. c. p. 91, 254, 288, 301, 302. 
72 I^i^ Entwicklung der Individualität in der 
Vorteil zu nützen, den ihm offenbar der Zufall dargeboten 
hatte. — Ein Hund lernt leicht ein Gittertor öffnen, indem er 
den Kopf unter den Riegel schiebt und diesen hebt. Beobachtet 
man genau, so zeigt sich, daß dieses Verfahren, durch spielende 
oder ungestüme Versuche, hinaus zu gelangen, zufällig gefunden 
wurde und keineswegs in der klaren Einsicht der Bedingungen 
des Öffnens. — Ein Hund verfolgte mehrmals ein aufgescheuchtes 
Kaninchen auf einem krummen Pfad durch das Gebüsch, wobei 
ihm dasselbe schließlich in seinen Bau entwischte. Endlich aber 
schlug der Hund, nachdem er das Tier aufgejagt, den geraden 
Weg zum Bau ein, woselbst er das ankommende Tier erwartete 
und erfaßte. — Pferde und Hunde, welche eine Last einen steilen 
Hügel hinanzuschleppen haben, ziehen den Zickzackweg von 
geringerer Steigung dem geraden Weg vor. 
Aus diesen Beispielen scheinen sich folgende Regeln ab- 
leiten zu lassen: 1. Die Tiere wissen Associationen, welche der 
Zufall herbeiführt, zu ihrem Vorteil zu nützen. 2. Wegen Kom- 
plikation der Tatsachen können auch nicht fest zusammen- 
hängende Merkmale sich ässociieren; es kann z. B. das Brennen 
dem Stock zugeschrieben werden, auf den die Aufmerksamkeit 
eben gerichtet ist, während die Nesseln unbeachtet bleiben. 3. Nur 
oft erneuerte, biologisch wichtige Associationen erhalten sich. — 
Man wird zugeben, daß das Verhalten der meisten Menschen 
nach denselben Regeln verständlich ist. — Züge von unglaub- 
licher Dummheit erzählt Morgan^) von einer Kuh, deren Kalb 
bald nach der Geburt verendete. Da diese Kuh sich nur in 
Gegenwart des Kalbes melken ließ, stopfte der Hirt den Balg 
des Kalbes ohne Kopf und Beine mit Heu aus, welches Phantom 
die Kuh beroch und mit Zärtlichkeit leckte, während der Hirt 
das Melken vornahm. Als aber später durch das beharrliche 
Liebkosen das Heu zum Vorschein kam, fraß die Kuh dieses mit 
aller Gemütsruhe auf. Züge von gelegentlicher menschlicher 
') Morgan, Animal Life. London 1891. p. 334. — Gute pspchologische 
und biologische Betrachtungen bei Th. Zell (Ist das Tier unvernünftig? 
Stuttgart — Tierfabeln. Ebendaselbst — Das rechnende Pferd. Berlin). Sehr 
gut ist die Unterscheidung von Augentieren und Nasentieren, sowie das 
Sparsamkeitsgesetz. Bei seinen Lesern setzt Zell eine allzugroße Naivetät 
voraus, was den Büchern nicht zum Vorteil gereicht. 
natürlichen und kulturellen Umgebung. 73 
Stumpfheit, welche an die referierten erinnern, erzählt aber Mau- 
passant in mancher seiner meisterhaften Novellen; dieselben 
beruhen kaum auf reiner Erfindung. 
4. Ist das psychische Leben durch die biologische Notwendig- 
keit einmal zu gewisser Stärke entwickelt, so äußert es sich auch 
selbständig über diese Notwendigkeit hinaus. Ein solcher Über- 
schuß des psychischen Lebens tritt in der Neugier zu Tage. Man 
kennt das kurze abgebrochene Bellen, welches der Hund hören 
läßt, wenn irgend eine ungewöhnliche Erscheinung seine Auf- 
merksamkeit in Anspruch nimmt. Er beruhigt sich erst, wenn 
sich diese in einer für ihn verständlichen Weise aufklärt. — Eine 
schlafende Katze*) wurde durch den Schall eines Kindertrompet- 
chens sehr erregt, legte sich aber ruhig wieder nieder, als sie den 
Knaben wahrnahm, der das Geräusch verursachte. — Ein Affe^) 
in einem Tiergarten fing ein Oppossum, untersuchte dasselbe, 
fand den Beutel, aus dem er die Jungen herausnahm, und legte 
sie nach genauer Besichtigung wieder hinein. In letzterem Falle 
geht das Interesse des kleinen Zoologen schon beträchtlich über 
die biologische Notwendigkeit hinaus. Romanes^) beobachtete, 
daß ein Hund beunruhigt und furchtsam wurde, als ein Knochen, 
den er benagt hatte, durch einen verborgenen Faden in Be- 
wegung gesetzt wurde. Er deutete dies, etwas kühn, als Anlage 
zum Fetischismus. Es erinnert dies in der Tat entfernt an 
die Verehrung eines Südseeinsulaners für einen beschriebenen 
Holzspan,^) der in einer ihm unverständlichen Weise eine Nach- 
richt vermittelt hatte. 
5. Das psychische Leben des Tieres wird noch wesentlich 
bereichert durch Beobachtung des Verhaltens seiner Artgenossen, 
durch deren Beispiel und deren, wenn auch unvollkommene, 
') Morgan, 1. c. p. 339. 
^) Morgan, 1. c. p. 340. 
') Morgan, Comparative Psychologe, p. 259. — Schopenhauers Hund 
wußte „a priori", daß jeder Vorgang seine Ursache hat, suchte in einem ana- 
logen Falle nach dieser und behalf sich ohne Fetischismus. (Schopenhauer, 
Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. Leipzig 
1864. 3. Aufl. S. 76.) So merkwürdig richtet sich die Philosophie des Hun- 
des nach jener seines Beobachters. 
*) Tplor, Einleitung i. d. Studium d. Anthropologie. Braunschweig 
1883. S. 197. 
74 Die Entwicklung der Individualität in der 
sprachliche Mitteilungen, welche schon in den reflektorisch ent- 
stehenden Warnungs- und Lockzeichen liegen. So können Ver- 
haltungsweisen älterer Artgenossen auf jüngere, durch Tradition,^) 
übertragen werden, so können aber auch von einzelnen Individuen 
neu aufgebrachte Verhaltungsweisen auf viele oder alle Mitglieder 
einer Art übergehen. Das Leben einer Art erfährt also im Ver- 
lauf der Zeit Veränderungen. Wenn diese auch sehr selten so 
rapid ^) auftreten, wie dies im Kulturleben des Menschen etwa 
durch Erfindungen geschieht, so sind die Vorgänge doch hier 
wie dort gleichartig, und hier wie dort können wir von einer 
Geschichte^) sprechen. 
6. Die Unterschiede, welche der Mensch in psychischer Be- 
ziehung gegen die Tiere darbietet, sind nicht qualitativer, son- 
dern bloß quantitativer Art. Infolge seiner verwickelten Lebens- 
bedingungen hat sich 1. sein psychisches Leben intensiver und 
reicher gestaltet, 2. ist sein Interessenkreis größer und weiter, 
3. ist er fähig, zur Erreichung seiner biologischen Ziele, einen 
längeren Umweg einzuschlagen, 4. übt das Leben der Zeit- 
genossen und Vorfahren, vermöge der vollkommeneren münd- 
lichen und schriftlichen Mitteilung, einen stärkeren und direkteren 
Einfluß auf das Individuum, 5. findet in der Lebenszeit des ein- 
zelnen eine raschere Umwandlung des psychischen Lebens statt. 
7. Der Mensch erwirbt seine kulturellen Errungenschaften in 
kleinen Schritten auf dem Weg primitiver Erfahrungen, wie die 
Tiere. Wenn die Früchte der Bäume nicht mehr reichen, be- 
schleicht er wie ein Raubtier seine Jagdbeute und verwendet 
ähnliche Kunstgriffe wie dieses. Allerdings zeigt sich hier schon 
in der Wahl der Mittel die größere Kraft seiner durch reichere 
Erfahrung gestärkten Phantasie. Der Indianer beschleicht in der 
•) Auf Nachahmung hoffte man die Wanderungen der Zugvögel zurück- 
zuführen. Dieselben entstanden vielleicht zu einer Zeit, als die Ziele der 
Wanderung noch nicht durch Meere getrennt waren. — Neue Blicke und 
neue größere Rätsel bei K. Graeser, Der Zug der Vögel. Berlin 1905. 
*) Doch soll ein australischer Papagei auf den Einfall gekommen sein, 
die Schafe anzufallen und anzufressen, welches Beispiel von den übrigen 
Vertretern der Art nachgeahmt worden sein soll. 
*) Vgl. H. V. Buttel-Reepen, Die stammesgeschichtliche Entstehung 
des Bienenstaates. Leipzig 1903. 
natürlichen und kulturellen Umgebung. 75 
Renntiermaske die Renntierherde ;^) der Australier schwimmt, 
durch ein Rohr atmend, unter Wasser an die Wasservögel heran, 
die er so mühelos herabzieht und erstickt; der Ägy^pter verbirgt 
zu demselben Zweck seinen Kopf in einem Kürbis. Zur Ver- 
wendung solcher Mittel mögen wohl zufällige Erfahrungen ge- 
geleitet haben. Der Zufall hat vermutlich auch das Fangen der 
Fische bei Ebbe durch einen Pfahlzaun gelehrt.^) Die äußerst 
sinnreiche Konstruktion der verschiedenen Fallen zeugt ebenso 
sehr für die Schlauheit des Menschen, wie für jene der Tiere, 
welche dieselben bald kennen und vermeiden lernen und so dem 
Menschen stets neue Aufgaben stellen. Neue wichtige Erfahrungen 
mußte der Mensch machen, als ihn die Vermehrung seines Ge- 
schlechtes zwang, von dem Jäger- zum Nomadenleben und 
schließlich zum Landbau überzugehen. 
Die Muschelschalenhaufen, „Kjökkenmöddings", an den Küsten 
zeigen, daß die Ernährung vieler Menschen der Steinzeit von 
jenen der Tiere kaum verschieden war. Der primitive Mensch 
schlägt sein Lager in Baumgeflechten auf, wie die Vögel und 
Affen oder benutzt eine Höhle als Wohnung, wie die Raubtiere. 
Die runde Indianerhütte, ^) welche durch das Zusammenbinden 
der Wipfel von Bäumchen entsteht, weicht allmählich bei größerem 
Raumbedarf der länglichen rechteckigen Hütte. Klimatische Ver- 
hältnisse und die Art des vorhandenen Materials bedingen den 
Übergang zum Holzbau und Steinbau mit rohen oder behauenen 
Steinen. 
8. Sehr auffallend unterscheidet sich der Mensch von seinen 
tierischen Genossen durch den Gebrauch der Kleidung. Zwar 
schützen sich zarte Krebse durch Verkriechen in Muschelschalen, 
und gewisse Insektenlarven bereiten sich eine Hülle von Stein- 
chen und Blättern, allein solche Fälle sind verhältnismäßig sehr 
selten. Meist genügt die von der Natur mitgegebene Körper- 
hülle zu ausreichendem Schutz. Durch welche Umstände verlor 
nun der Mensch bis auf ein Rudiment das vermutlich von seinen 
Vorfahren ererbte Haarkleid? Was mußte wohl vorausgehen, 
bevor der Mensch unter ungünstigen klimatischen Verhältnissen 
») Tylor, Anthropologie, S. 246. 
2) Diodor, III, 15, 22. 
') Tylor, I.e. S. 275. 
76 Die Entwicklung der Individualität in der 
durch Kleider sich zu schützen suchte? Hat der aus wärmerem 
Klima nach dem Norden vertriebene Mensch durch die Kleider 
die Behaarung verloren? Oder haben verwickelte prähistorische 
Vorgänge den gegenwärtigen Zustand herbeigeführt? Tier- 
felle und Baumrinden') waren die ersten Hüllen, nach welchen 
der schutzbedürftige Mensch griff. Auch Geflechte aus Gras 
mußten diese gelegentlich ersetzen. Fortschreitend führte dies 
zur Herstellung von gedrehten Fäden aus Pflanzenfasern, Haaren 
und Wolle, zum Spinnen und zum Flechten mit diesen Fäden, 
d. h. zum Weben. Die Notwendigkeit, die Häute oder gewebten 
Stücke zu Kleidern zu verbinden, lehrte das Nähen. 
9. Das Tier und der Mensch wählen bei Befriedigung ihrer 
Bedürfnisse etwas verschiedene Wege. Beide können sich nur 
durch die Muskel ihres Leibes mit den Körpern der Umgebung 
in Beziehung setzen. Während aber das Tier, ganz von seinem 
Bedürfnis erfüllt, meist unmittelbar die Ergreifung des bedürf- 
nisbefriedigenden oder die Entfernung des störenden Körpers 
anstrebt, sieht der Mensch in größerer psychischer Stärke und 
Freiheit auch noch die Seitenwege und wählt von diesen den 
bequemsten. Er hat schon die Muße gefunden, das Verhalten 
der Körper gegen Körper zu beobachten, obgleich dies unmittel- 
bar ihn wenig berührt, und weiß es gelegentlich zu nützen. Er 
weiß, daß die Tiere ihre Genossen, die Vögel den Kürbis nicht 
fürchten und wählt danach seine Masken. Während der Affe ver- 
gebens nach dem Vogel hascht, trifft ihn der Mensch mit dem Wurf- 
geschoß, dessen Verhalten und Wirkung beim Zusammentreffen 
mit andern Körpern er im planmäßigen Spiel erprobt hat. Auch 
der Affe hüllt sich gern in die Decke, wenn er sie hat; er weiß 
sich aber das Fell und die Rinde nicht zu schaffen. Der Affe 
wirft gelegentlich nach dem Feind, schlägt auch mit dem Stein 
Früchte auf. Der Mensch stabilisiert aber jedes vorteilhaftere 
Verfahren; er ist mehr ökonomisch veranlagt. Er beschäftigt 
sich mit dem Stein, formt ihn zu Hammer und Axt, schleift 
wochenlang an seinem Speer, erfindet, den Zwischenmitteln die 
Aufmerksamkeit zuwendend, Waffen und Werkzeuge, die ihm 
unschätzbare Vorteile verschaffen. 
») Tylor, I.e. S. 290. 
natürlichen und kulturellen Umgebung. 77 
10. Wenn durch einen Blitzschlag z. B. ein Feuer entsteht, so 
benützen die Affen diese Gelegenheit, sich zu wärmen, so gern 
als der Mensch. Aber nur der letztere bemerkt, daß zugelegtes 
Holz das Feuer erhält. Nur er macht von dieser Beobachtung 
Gebrauch, pflegt, erhält und überträgt für seinen Zweck das 
Feuer. ^) Ja die neuen Erfahrungen, die er bei Beschaffung leicht 
entzündbaren und fortglimmenden Materials, des Zunders, ge- 
winnt, befähigen ihn, sogar das Feuer neu zu erzeugen, den 
Feuerbohrer zu erfinden und in den dauernden Besitz des Feuers 
zu gelangen. Im Besitz des Feuers erschaut er gelegentlich 
mit seinem über das Dringendste hinausreichenden Blick die Glas- 
bildung, die Metallschmelzung u. s. w. Die Benützung des Feuers 
ist der Schlüssel zu den Schätzen der chemischen Technologie, 
sowie die Benützung der Werkzeuge und Waffen zu jenen der 
mechanischen Technologie. So verlockend und psychologisch 
lehrreich es wäre, die Entwicklung der Technologie aus primi- 
tiven Erfahrungen zu verfolgen, so würde dies hier doch zu 
weit führen. Die psychologischen Folgerungen, die sich aus 
einem solchen Studium ergeben, habe ich gedrängt darzustellen 
versucht in meinem Vortrag: „Über den Einfluß zufälliger Um- 
stände auf die Entwicklung von Erfindungen und Entdeckungen."^) 
Viel Material findet man in kulturgeschichtlichen Schriften.^) 
11. Jeder, der experimentiert hat, weiß, daß es viel leichter ist, 
eine zweckmäßige Bewegung der Hand auszuführen, welche ja 
fast von selbst unseren Absichten entspricht, als das Verhalten 
von Körpern gegeneinander genau zu beobachten und in der 
Vorstellung zu reproduzieren. Ersteres gehört zu unserer fort- 
während geübten biologischen Funktion, während letzteres, außer- 
halb unseres unmittelbaren Interesses liegend, ein solches erst bei 
einem Überschuß sich spielend betätigenden Sinnen- und Vor- 
stellungslebens gewinnen kann. Das Beobachten und erfinde- 
rische Phantasieren setzt schon ein gewisses Wohlbehagen und 
') Vgl. Populär-wissenschaftliche Vorlesungen, 3. Aufl., S. 293. 
2) Populär-wissenschaftliche Vorlesungen, S. 287. 
*) Vgl. Tylor, Urgeschichte der Menschheit. Leipzig. Ambrosius Abel 
(ohne Jahresz.). — E. B. Tylor, Einleitung i. d. Studium d. Anthropologie 
u. Zivilisation. Braunschweig 1883. — Otis T. Mason, The Origins of In- 
vention. London 1895. 
78 Die Entwicklung der Individualität in der 
Muße voraus. Um dieses zu üben, mußte der primitive Mensch 
schon unter relativ günstigen Verhältnissen leben. Übrigens er- 
finden die wenigsten Menschen. Die meisten benützen und lernen 
das von jenen wenigen Erfundene. Darin besteht die Erziehung, 
welche mäßige Mängel der Anlage ersetzen und den Kultur- 
gewinn wenigstens erhalten kann. Es liegt in der Natur der 
Sache, daß der über das unmittelbar Nützliche hinausschweifende 
Blick ein größerer Segen ist für die Gesamtheit als für den 
Inhaber desselben. 
12. Erwägt man das eben Gesagte, so kann man ermessen, wie 
nur sehr schwer und langsam sich der primitive Mensch über 
seine tierischen Genossen erheben konnte. Erst mit der Er- 
hebung selbst nimmt das Wachstum der Kultur rascher zu. 
Mächtig steigt dieselbe durch die Bildung der Gesellschaft, durch 
die Teilung in Stände, Berufe, Handwerke, wobei dem einzelnen 
ein Teil der Sorge um den Unterhalt abgenommen und dafür 
ein engeres Feld der Tätigkeit zugewiesen wird, welches er 
nun vollständiger beherrschen kann. Die gesellige Vereinigung 
erzeugt noch besondere Erfindungen, welche nur durch dieselbe 
möglich, ihr eigentümlich sind. Es ist dies die räumlich und 
zeitlich (rhythmisch) organisierte Arbeit^) vieler mit gemeinsamem 
Ziel, wie wir sie in der Handhabung der Waffen kämpfender 
Truppen, in der Fortschaffung großer Lasten, z. B. bei den 
Ägyptern, teilweise in der Fabriksarbeit der Gegenwart antreffen. 
Die durch historische Umstände bevorzugten Stände solcher 
Associationen verfehlen nicht, die Arbeit der andern mehr als 
billig auszunützen. Indem aber die ersteren neue Bedürfnisse 
erfinden, regen sie auch zum Suchen nach neuen Mitteln der 
leichteren Befriedigung an, und was nicht den letzteren zuliebe 
geschah, kommt ihnen oft durch die Kultursteigerung doch indirekt 
zu statten. Dies gilt in Bezug auf materielle und geistige Kultur. 
13. Der Mensch lernt die Leistungen der Tiere für seine 
Zwecke ausnützen und steigert hierdurch ungemein seine Kraft. In 
der Association gewinnt er Erfahrungen über den hohen Wert der 
') Wallaschek, Primitive Music. London 1893. — Deutsch und er- 
weitert. Leipzig 1903. In dieser Schrift wird die praktische Bedeutung des 
Rhythmus erörtert. Bücher (Arbeit und Rhythmus. Leipzig 1902. 3. Aufl.) 
erörtert dieses Thema in etwas anderer Weise. 
natürlichen und kulturellen Umgebung. 79 
Menschenarbeit. Dies führt dazu, Kriegsgefangene nicht zu 
töten, sondern zur Arbeit zu zwingen. Die Sklaverei, welche 
einen Grundpfeiler der antiken Kultur bildet und unter ver- 
schiedenen Formen bis in die Neuzeit fortbesteht, hat hierin 
ihren Ursprung. In Europa und Amerika ist heute die Sklaverei 
dem Namen und der Form nach aufgehoben, das Wesen der 
Sache aber, die Ausnützung vieler Menschen durch wenige, ist 
geblieben. Die Unterjochung von Genossen anderer oder der- 
selben Art wird übrigens nicht nur vom Menschen geübt; wir 
finden sie auch anderwärts, z. B. im Ameisenstaat. 
14. Neben der Tier- und Menschenarbeit verfiel man nach und 
nach auf die Ausnützung der Arbeitskräfte der „unbelebten" Natur. 
So entstanden die Wassermühlen, die Windmühlen. Mehr und 
mehr Arbeiten, die zuvor durch Tier- oder Menschenkraft ver- 
richtet worden waren, übertrug man nun dem bewegten Wasser 
und der bewegten Luft, welche nur die Maschinenanlage er- 
forderten, nicht genährt werden mußten und im allgemeinen auch 
weniger widerspenstig waren, als Tiere und Menschen. Die 
Erfindung der Dampfmaschine erschloß den reichen Arbeitsvorrat, 
welcher in der seit Jahrmillionen als Steinkohle aufgespeicherten 
Waldvegetation der Vorwelt verborgen war und nun zur Leistung 
für die Menschen herangezogen wird. Die neu erstandene 
Elektrotechnik erweitert durch die elektrische Kraftübertragung 
das Anwendungsgebiet der Dampfmaschine sowohl, als auch 
jenes der an abgelegenen Orten angreifenden Wind- und Wasser- 
kräfte. Schon im Jahre 1878, also vor dem großen Aufschwung 
der Elektrotechnik, waren in England Dampfmaschinen mit der 
Gesamtsumme von 4V2 Millionen Pferdekräften in Gang, welche 
der Arbeitskraft von 100 Millionen Menschen entsprachen. Die 
mehrfache Bevölkerung von England hätte also diese Arbeit 
nicht leisten können. Die Industriemaschinen Englands verrichteten 
aber im Jahre 1860 so viel, als 1200 Millionen fleißiger Hand- 
arbeiter, also fast die ganze Bevölkerung der Erde hätte zustande 
bringen können.^) 
15. Man sollte nun meinen, daß bei einer solchen Steigerung 
der Arbeitskräfte der arbeitende Teil der Menschheit, der nur 
1) Bourdeau, Les Forces de l'Industrie. Paris 1884. p. 209—240. 
80 -ö/e Entwicklung der Individualität in der 
mehr die Maschinen zu bedienen hat, bedeutend entlastet werden 
müßte. Wenn man aber genau zusieht, so ist dies keineswegs 
der Fall. Die Arbeit bleibt so aufreibend wie zuvor. Der Traum 
des Aristoteles von einem zukünftigen maschinen-technischen 
Zeitalter ohne Sklaverei hat sich nicht erfüllt. Die Umstände, an 
welchen dies liegt, hat J. Popper in einer sehr schönen und 
aufklärenden Schrift dargelegt.^) Die kolossale Leistung der 
Maschinen wird nämlich nicht sowohl zur Erleichterung des Unter- 
halts der Menschen, als vielmehr größtenteils zur Befriedigung 
der Luxusbedürfnisse des herrschenden Teiles der Menschheit 
aufgewendet. Es ist z. B. sehr angenehm, sich die Schnellig- 
keit der heutigen Eisenbahnzüge, die Leichtigkeit des Post-, 
Telegraphen- und Telephonverkehrs vorzustellen, für jenen, der 
diese Leichtigkeit genießt. Anders sieht es aber aus, wenn 
man die Kehrseite dieser Dinge ins Auge faßt und die Qual 
derjenigen betrachtet, welche diese Verkehrshetze aufrecht zu 
halten haben. Angesichts des intensiven Kulturlebens regen sich 
noch andere Gedanken. Die summenden Straßenbahnen, die 
schwirrenden Räder der Fabriken, das strahlende elektrische 
Licht betrachten wir nicht mehr mit reinem Vergnügen, wenn 
wir die Masse der Kohle erwägen, welche hierbei stündlich in 
die Luft geht. Wir nähern uns mit unheimlicher Geschwindig- 
keit der Zeit, da die Erde diese Schätze, die Ersparnisse ihrer 
Jugendzeit, wie ein alternder Organismus fast erschöpft haben 
wird. Was dann? Werden wir in die Barbarei zurücksinken? 
Oder wird sich bis dahin die Menschheit die Weisheit des 
Alters erworben und haushalten gelernt haben? Fortschritte der 
Kultur sind nur bei einem gewissen Übermute denkbar und 
können deshalb im allgemeinen nur von den teilweise ent- 
lasteten Menschen angeregt werden. Dies gilt für die materielle 
und für die geistige Kultur. Die letztere hat aber die köst- 
liche Eigenschaft, daß ihre Verbreitung auf den belasteten Teil 
der Menschheit nicht zu hindern ist. Es kann also nicht fehlen, 
daß einmal dieser Teil der Menschen in richtiger Erkenntnis 
der Verhältnisse gegen den herrschenden Teil Front macht und 
') J. Popper, Die technischen Fortschritte nach ihrer ästhetischen und 
kulturellen Bedeutung. Leipzig 1888. S. 59 u. f. 
natürlichen und kulturellen Umgebung. 81 
eine billigere^ zweckmäßigere Verwendung des gemeinsamen 
Besitzes fordert.^) 
16. Zu den Erfindungen, welche aus dem sozialen Leben des 
Menschen hervorgehen, gehört auch die Sprache und die Schrift, 
Die reflektorischen Lautäußerungen, die bei durch bestimmte 
Anlässe hervorgerufenen Gemütserregungen eintreten, werden 
von selbst und unwillkürlich zu Erinnerungen, Zeichen dieser 
Anlässe und Erregungen, d. h. sie werden von einem unter 
gleichen Umständen lebenden Individuum derselben Art ver- 
standen. So wenig spezialisiert die Lautäußerungen der Tiere 
auch sein mögen, so ist die Menschensprache doch nur eine 
weitere Entwicklung der Tiersprache. Sie entsteht, indem bei 
größerer Mannigfaltigkeit der Erlebnisse die Laute sich weiter 
modifizieren und spezialisieren, durch Nachahmung sich in dieser 
Spezialisierung verbreiten und durch Tradition sich erhalten. 
Das emotionelle Moment, welches den Laut erzeugt hat, tritt 
immer mehr zurück, der Laut spezialisiert sich und associiert sich 
immer mehr mit den entsprechenden Vorstellungen. Jerusalem 
verfolgt sehr schön die Bildung von Namen aus solchen Ge- 
fühlslauten bei Laura Bridgman. ^) In beschränktem Maße können 
wir die Vorgänge der Sprachwandlung an unseren Kindern be- 
obachten. Ausgedehnteres Material liefert uns die Vergleichung 
der Sprachen von Völkern gemeinschaftlicher Abstammung. Wir 
sehen da, wie mit der Teilung des Volkes in mehrere Zweige, 
die in verschiedenen Verhältnissen leben, die Sprache sich eben- 
') Ein Programm hierzu gibt J. Popper in seinem Buche: „Das Recht 
zu leben und die Pflicht zu sterben." Leipzig 1878. Poppers Ziele stehen 
den ursprünglichen sozialdemokratischen nahe, unterscheiden sich aber darin 
vorteilhaft, daß nach seinem Programm die Organisation sich auf das Wich- 
tigste und Notwendigste beschränken, im übrigen aber die Freiheit des In- 
dividuums gewahrt werden soll. Im entgegengesetzten Falle könnte wohl 
die Sklaverei in einem sozialdemokratischen Staat noch allgemeiner und 
drückender werden, als in einem monarchischen oder oligarchischen. In einer 
ergänzenden Schrift (Fundament eines neuen Staatsrechts. 1905) führt Popper 
das Leitmotiv durch: „Für sekundäre Bedürfnisse das Majoritätsprinzip; für 
fundamentale das Prinzip der garantierten Individualität." — In wichtigen 
Punkten stimmt mit Popper überein: A. Menger, Neue Staatslehre. Jena, 
G. Fischer, 1902. 
2) Psychologie, S. 105. Ausführlicher: Laura Bridgman. Wien 1891. 
S. 41 u. f. 
Mach, Erkenntnis und Irrtum. ' ß 
82 -O/'ß Entwicklung der Individualität in der 
falls teilt. Die Worte wandeln sich. Worte, für welche keine 
Objekte mehr vorhanden sind, verschwinden, oder werden zur 
Bezeichnung anderer verwandter oder ähnlicher Objekte ver- 
wendet wegen des für dieselben fehlenden Ausdrucks. Da der Ver- 
gleichungspunkt von Fall zu Fall wechselt, erlangt dasselbe Wort 
in verwandten Sprachen nach und nach oft weit voneinander 
entfernte Bedeutungen. Dadurch kann die Lektüre einer hollän- 
dischen Zeitung, oder der Aufschriften in den Straßen einer 
holländischen Stadt, einem Deutschen eine harmlose ergötzliche 
Unterhaltung gewähren und ohne Zweifel mutatis mutandis 
auch umgekehrt.^) Die Wichtigkeit des Wortes als Zentrum 
der Associationen wurde schon früher (S. 44 u. f.) hervorgehoben. 
Die psychische Entwicklung erfährt durch die sprachliche Mit- 
teilung und Übertragung von Erfahrungen die mächtigste För- 
derung. Die Bedeutung der Sprache für die Abstraktion soll 
später noch erörtert werden.^) 
Die Lautsprache bedient sich nur ganz ausnahmsweise der 
Nachahmung eines zu bezeichnenden Hörbaren. Die Geberden- 
sprache, welcher sich fremde Völker zur Verständigung unter- 
einander bedienen, oder die natürliche Geberdensprache der 
Taubstummen (im Gegensatz zur künstlichen Fingersprache der- 
selben), macht von der Nachahmung des Sichtbaren, wo nicht 
direkt auf dasselbe hingewiesen werden kann, den ausgiebigsten 
Gebrauch. ^) 
17. Durch die Verwendung bleibender sichtbarer statt momen- 
taner hörbarer Zeichen der Verständigung entsteht die Schrift. 
In dem Verharren'') liegt der Vorzug der Schrift vor dem ver- 
') Analoge Beispiele aus der Sprache der Kinder s. Analyse S. 250. 
») Von älteren sprachphilosophischen Schriften ist wegen ihrer Origi- 
nalität besonders lesenswert: L. Geiger, Ursprung und Entwicklung der 
menschlichen Sprache und Vernunft. Stuttgart 1868. — L. Noire, Logos. 
Ursprung und Wesen der Begriffe. Leipzig 1885. — Whitnep, Leben und 
"Wachstum der Sprache. Leipzig 1876. — In vielen Richtungen sehr anregend: 
Fritz Mauthner, Beiträge zur Kritik der Sprache. Stuttgart, Cotta, 1901. 
») Tplor, Urgeschichte der Menschheit. S. 17—104. 
*) Seit Erfindung des Phonographen kann eine gesprochene Rede be- 
liebig oft reproduziert werden wie eine geschriebene. Das phonographische 
Archiv der Wiener Akademie ist ein Beispiel hierfür. Die Idee des Phono- 
graphen schuf die Phantasie des Cyrano de Bergerac (Histoire comique 
des ^tats et empires de la lune. 1648). 
natürlichen und kulturellen Umgebung. 83 
gänglichen, rasch verfliegenden und wieder vergessenen, ge- 
sprochenen Wort. Am nächsten liegt es, Mitteilungen oder 
Nachrichten über Vorgänge zu geben durch Abbildung derselben. 
Die Indianer Nordamerikas bedienen sich in der Tat dieses 
Mittels. Ein Beispiel dafür ist die Zeichnung auf einem Felsen 
am Oberen See, welche Nachricht über einen Kriegszug zu 
Schiff gibt. ^) Anfänge der Schrift liegen ferner im Tätowieren, 
indem die Zeichnungen auf der Haut nach und nach von selbst 
zu Stammeszeichen, zu „Totems" werden. Die konventionellen 
Erinnerungszeichen, Knoten, quere Kerben auf Stäben, welche 
der Länge nach gespalten von beiden einen Vertrag schließenden 
Teilen aufbewahrt wurden, die in der peruanischen Verwaltung 
verwendeten Knotenschnüre, „Quipus", die „Wampungürtel" sind 
ebenfalls solche Anfänge. Die weitere Entwicklung der Schrift 
kann nun zwei verschiedene Wege einschlagen. Entweder 
schrumpfen die Abbildungen der Dinge durch schnelles verein- 
fachendes Schreiben zu konventionellen Begriffszeichen ein, wie 
in der chinesischen Schrift, oder die Abbildungen werden nach 
Art eines „Rebus", indem sie an die Laute des Namens der ab- 
gebildeten Dinge erinnern, zu phonetischen Zeichen, wie in der 
Hieroglyphik der Ägypter. Die Neigung abstrakt zu denken 
und der Wunsch die Schrift dieser Neigung dienstbar zu machen, 
leitete auf den ersten, dagegen die Notwendigkeit Personennamen, 
überhaupt Eigennamen zu schreiben, leitete auf den zweiten Weg, 
auf dem sich die Buchstabenschrift entwickelt hat. Jede dieser 
Methoden hat ihre besonderen Vorteile. Die zweite kommt mit 
sehr wenigen Mitteln aus und folgt jeder phonetisch-sprachlichen 
und begrifflichen Wandlung mit Leichtigkeit. Die erstere ist von 
der Phonetik ganz unabhängig, wie denn das Chinesische auch 
von den Japanern, die eine ganz andere phonetische Sprache 
sprechen, gelesen wird. Die chinesische Schrift ist fast eine Pasi- 
graphie, die allerdings, jeder begrifflichen Umwandlung ent- 
sprechend, ebenfalls einer Umwandlung bedarf.^) 
1) Wuttke, Geschichte der Schrift. Leipzig 1872. I. S. 156, Abbil- 
dungen: S. 10, Taf. XIII. Auch andere Stellen für das hier Besprochene wichtig. 
2) Gegenwärtig werden die alten philosophischen Probleme der Pasi- 
graphie und internationalen Sprache wieder theoretisch erörtert und praktisch 
in lösen versucht, letzteres namentlich von der „Delegation pour l'adoption 
6* 
84 Die Entwicklung der Individualität in der 
18. Sprache und Schrift, ein Produkt der sozialen Kultur, wirken 
steigernd auf diese zurück. Man kann sich leicht vorstellen, daß 
das menschliche Leben sich vom tierischen nicht wesentlich 
unterscheiden könnte, wenn keine vollkommenere Mitteilung der 
Erfahrungen von Individuum zu Individuum stattfinden würde, 
jedes Individuum von neuem beginnen müßte und auf seine 
eigenen Erfahrungen beschränkt bliebe. Der Zustand der Wild- 
heit könnte aber nicht überschritten werden, wenn die direkten 
Mitteilungen über die Zeit eines Menschenalters nicht weit hinaus- 
reichen würden. Die teilweise materielle Entlastung des einzelnen 
durch die Gesellschaft und die geistige Unterstützung desselben 
durch die Mitteilung der Zeitgenossen und Vorfahren, ermög- 
lichen erst die Entstehung jenes Produktes des sozialen Lebens, 
welches wir Wissenschaft nennen. Der Wilde ist im Besitze 
der mannigfaltigsten Erfahrungen. Er kennt die giftigen und die 
genießbaren Pflanzen, verfolgt die Spuren der Jagdtiere und weiß 
sich vor den Raubtieren und Giftschlangen zu hüten. Er weiß 
Feuer und Wasser für seine Zwecke zu benutzen. Steine und 
Holz für seine Waffen auszuwählen, lernt Metalle schmelzen 
und bearbeiten. Er lernt an den Fingern zählen und rechnen, 
mit Hilfe seiner Hände und Füsse messen. Er sieht wie ein 
Kind das Himmelsgewölbe, beobachtet die Drehung desselben 
und die Lagenveränderung der Sonne und der Planeten auf dem- 
selben. Alle oder die meisten seiner Beobachtungen macht er 
jedoch bei Gelegenheit, oder zum Zwecke der nützlichen An- 
wendung für sich. Dieselben primitiven Erfahrungen bilden die 
Keime verschiedener Wissenschaften. ^) Die Wissenschaft selbst 
kann erst entstehen, wenn durch materielle Entlastung so viel 
Freiheit und Muße gewonnen, anderseits durch häufige Inanspruch- 
nahme der Intellekt so weit gestärkt ist, daß die Beobachtung an 
sichy ohne direkte Rücksicht auf deren Verwendung, das nötige 
Interesse gewonnen hat. Nun werden die Beobachtungen der 
Zeitgenossen und Vorfahren gesammelt, geordnet, geprüft, die 
durch zufällige Umstände veranlaßten Irrtümer ausgeschieden. 
d'une langue auxiliaire internationale". Sollte die Lösung dieser sprachtech- 
nischen Aufgabe gelingen, so würde dies einen der wichtigsten Kulturfort- 
schritte bedeuten. 
») Tylor, Anthropologie, S. 371 u. f. 
natürlichen und kulturellen Umgebung. 85 
und der Zusammenhang des Feststehenden wird ermittelt. Was 
hierbei die Schrift leistet, sieht man schon an einem denkwürdigen 
Falle. Als die europäische Menschheit, nach länger als ein Jahr- 
tausend währenden barbarischen Zuständen, den Faden der antiken 
Wissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert wieder aufnahm, 
hatte sie nicht nötig, von neuem denselben Anlauf zu wiederholen, 
sondern konnte rasch die antike Höhe erreichen und übersteigen. 
Die historische Verfolgung der Bildung der Wissenschaften 
durch Aufsammlung und Ordnung von primitiven Erfahrungen 
gewährt ein reizendes und genußreiches Studium.^) Einige 
Wissensgebiete, wie Mechanik, Wärmelehre u. a. sind besonders 
lehrreich, weil in denselben das Emporwachsen der Wissenschaft 
aus dem Handwerk, aus dem Gewerbe besonders deutlich her- 
vortritt.^) Man sieht hier, wie das materielle, das technische Be- 
dürfnis, welches ursprünglich das Treibende war, sehr allmählich 
dem rein intellektuellen Interesse Platz macht. Die intellektuelle 
Beherrschung eines Tatsachengebietes wirkt nun auf die in- 
stinktive Technik, aus welcher sie hervorgegangen ist, zurück, 
und verwandelt dieselbe in eine zielbewußte wissenschaftliche 
Technik, welche nicht mehr auf zufällige Erfahrungen angewiesen 
ist, sondern planmäßig auf die Lösung ihrer Aufgaben losgehen 
kann. So bleiben theoretisches und praktisches Denken, wissen- 
schaftliche und technische Erfahrung in dauerndem Kontakt und 
fördern sich gegenseitig. 
19. Wie die Wissenschaft ist auch die Kunst^) ein Nebenpro- 
dukt, das sich bei Befriedigung der Bedürfnisse ergibt. Das 
Notwendige, das Nützliche, das Zweckmäßige wird zunächst 
gesucht. Ergibt sich hierbei Gefälliges ohne Rücksicht auf den 
Nutzen, so erregt auch dieses gelegentlich das Interesse, wird 
seiner selbst wegen festgehalten und gepflegt. So entsteht durch 
^) Auf die Entwicklungsgeschichte der Wissenschaften im einzelnen kann 
hier nicht eingegangen werden. Vgl. Schriften allgemeineren Inhalts, wie 
Whewell, Geschichte der induktiven Wissenschaften. Deutsch v. Littrow. 
Stuttgart 1840. Besonders lehrreich sind Werke über Spezialgebiete, wie 
M. Cantor, Mathematische Beiträge zum Kulturleben der Völker. Halle 1863, 
Cantor, Geschichte der Mathematik. 1880. 
2) Vgl. des Verf. „Mechanik" und „Prinzipien der Wärmelehre". 
8) Vgl. Haddon, Evolution in Art. London 1895. — Wallaschek, 
Primitive Music, und Tylor, Anthropologie, S. 343 u. f. 
86 J^ic Entwicklung der Individualität in der 
das nützliche Geflecht, mit seiner regelmäßigen Wiederkehr der 
Formen, das Gefallen am Ornament, durch den nützlichen 
Rhythmus (S. 78) das Vergnügen am Metrum. Aus dem Bogen 
als Waffe entwickelt sich der Musikbogen^^) die Harfe und das 
Klavier u. s. w. 
Kunst und Wissenschaft, jede rechtliche^) und ethische, ja 
jede höhere geistige Kultur kann nur in der geselligen Ver- 
einigung gedeihen, nur wenn ein Teil für den andern Lasten 
übernimmt. Möchten die „obersten Zehntausend" klar erkennen, 
was sie dem arbeitenden Volke schulden! Möchten Künstler und 
Forscher bedenken, daß es ein großer gemeinsamer und gemein- 
sam erworbener Besitz der Menschheit ist, den sie für diese 
verwalten und mehren! 
20. Die Verwicklung und Mannigfaltigkeit der Einflüsse, welche 
aus der natürlichen und kulturellen Umgebung des Menschen 
hervorgehen, bedingen bei demselben einen weit größeren Er- 
fahrungs-, Associations- und Interessenkreis, als irgend ein Tier 
zu gewinnen vermag. Dem entspricht die höhere Intelligenz. 
Vergleichen wir aber die Menschen einer sozialen Klasse, oder 
sogar nur eines Berufes untereinander, so werden diese natürlich 
gemeinsame, der Klasse oder dem Beruf entsprechende Züge 
aufweisen; trotzdem wird aber jeder einzelne, der Variation seiner 
erblichen Anlage und der Eigentümlichkeit seiner Erlebnisse ent- 
sprechend, eine einzige, nicht wieder auffindbare psychische 
Individualität darstellen. Die Differenz der intellektuellen Indi- 
vidualitäten wird selbstverständlich ungemein vergrößert, wenn 
wir uns an die Schranken der Klasse und des Berufes nicht 
binden. Stellen wir uns nun vor, daß diese so verschiedenen 
Intelligenzen in freien Verkehr treten, in innigerer Berührung 
sich gegenseitig anregen bei Unternehmungen, welche wie 
Wissenschaft, Technik, Kunst u. s. w. eben gemeinsame Ange- 
legenheiten sind, so kann man die gewaltige, gegenwärtig fast 
noch unausgenützte geistige Potenz der Menschheit abschätzen. 
Durch Zusammenwirken vieler verschiedener Individualitäten er- 
gibt sich eben eine mächtige Bereicherung und Erweiterung des 
') Tplor, a. a. O. S. 353. 
'») Lubbock, Die Entstehung der Zivilisation. Jena 1875. — Lubbock, 
Die vorgeschichtliche Zeit. Jena 1874. 
natürlichen und kulturellen Umgebung. 87 
Umfanges der Erfahrung ohne Abstumpfung der Schärfe und 
Lebendigkeit derselben. Ein zweckmäßig organisierter Unter- 
richt kann ja zum Teil diesen freien Verkehr ersetzen. Aber 
eine allzustramme Organisation des Unterrichtes, Uniformierung 
der Volkserziehung nach Klassen und Berufen, Aufrichtung und 
Erhöhung der Schranken zwischen Klassen und Berufen, kann 
wieder sehr viel verderben. Hüten wir uns vor allzufesten 
starren Formen!^) 
1) Die Naturwissenschaften möchten sich aus dem Handwerk als Neben- 
produkt ergeben haben. Da nun das Handwerk und überhaupt die körper- 
liche Arbeit in der antiken Welt mißachtet, die arbeitenden, die Natur be- 
obachtenden Sklaven von den mit Muße spekulierenden und dilettierenden 
Herren, welche die Natur oft nur vom Hörensagen kannten, streng geschieden 
waren, so erklärt sich hieraus ein guter Teil des Naiven, Verschwommenen 
und Traumhaften der antiken Naturwissenschaft. Nur selten bricht der Trieb, 
selbst zu versuchen, zu experimentieren, durch bei Geometern, Astronomen, 
Ärzten und Ingenieuren. Und dann ergibt sich auch immer ein bedeutender 
Fortschritt, wie bei Archytas von Tarent oder Archimedes von Syrakus. 
Die Wucherung des Vorstellungslebens. 
1. Die Entwicklung des Vorstellungslebens bringt zunächst 
Vorteile für das organische, insbesondere für das vegetative 
Leben mit sich. Gewinnt aber das Vorstellungsleben ein zu 
großes Übergewicht über das Sinnenleben, so kann es gelegent- 
lich auch zum Nachteil des organischen Lebens ausschlagen. 
Die Seele wird dann zum Parasiten des Leibes, welcher das Öl 
des Lebens verzehrt, wie Herbart sich gelegentlich ausdrückt. 
Wir verstehen dies, wenn wir bedenken, daß die Association, 
auf welcher die Anpassung der Gedanken an die Tatsachen 
beruht, wie dies schon durch Beispiele erläutert wurde, Zufällig- 
keiten unterliegt. Haben günstige Umstände die Vorstellungen 
so gelenkt, daß ihr Lauf den Tatsachen folgt oder vorauseilt, 
so gewinnen wir Erkenntnis. Ungünstige Umstände können aber 
die Aufmerksamkeit auf Unwesentliches lenken und Gedanken- 
verbindungen befördern, welche den Tatsachen nicht entsprechen 
und irre führen. Gedanken, welche nach wiederholter Prüfung 
den Tatsachen entsprechend gefunden worden sind, können als 
Regulativ der Handlung nur fördern. Nimmt man aber unter 
besonderen Umständen zufällig entstandene Gedankenverbin- 
dungen ohne Prüfung als den Tatsachen allgemein entsprechend 
hin, so ergeben sich daraus schwere Irrtümer, und bei Leitung 
der Handlungen durch dieselben die schlimmsten praktischen 
Folgen. Dies soll nun hier zunächst durch einige Beispiele aus 
der Kulturgeschichte erläutert werden. 
2. Kinder schlagen nach dem Bilde einer unbeliebten Per- 
son, geben ihren Unwillen wohl auch laut in Worten Ausdruck. 
Sie mißhandeln das Bild des Raubtieres, suchen das Bild des 
angegriffenen Tieres vor demselben zu schützen. Mit steigender 
Entwicklung wird eben das erstarkte Vorstellungsleben selbst- 
Die Wucherung des Vorstellungslebens. 89 
Ständig und gewinnt zuweilen das Übergewicht über die Sinne. 
Es ist anzunehmen, daß wenig kultivierte Menschen, Wilde, sich 
ähnlich verhalten werden. Wenn nun ein solcher das Bild 
eines Feindes mißhandelt und verwünscht, der Feind aber nun 
zufällig wirklich erkrankt oder gar stirbt, so kann er leicht den 
Gedanken fassen, daß seine Handlungsweise, sein Wunsch, den 
Tod des Feindes zur Folge gehabt hat. Dieser Glaube wird 
sich um so leichter halten können, als auf diesem unkontrollier- 
baren Gebiet der Gegenbeweis sehr schwer zu erbringen ist. 
In der Tat ist das Verfahren, eine Puppe des Feindes oder einen 
Körperteil desselben, Haare, Nägel zu mißhandeln und Ver- 
wünschungen auszusprechen, ebenso wie der Glaube an die Wirk- 
samkeit dieser Handlung ungemein weit verbreitet. Dr. Martius 
teilt folgende nächtliche Beobachtung aus einer Indianerhütte 
mit:^) „In einem dunklen Winkel erhob sich ein altes Weib, nackt, 
mit Staub und Asche bedeckt, ein Jammerbild des Hungers und 
Elends; sie war die Sklavin meiner Wirte, eine Gefangene, die 
man einem andern Stamme entführt hatte. Sie schlich sich vor- 
sichtig zum Herde und blies das Feuer an, brachte einige Kräuter 
und Abschnitzel von Menschenhaar zum Vorschein, murmelte 
etwas in ernstem Tone und grinste und gestikulierte seltsam 
gegen die Kinder ihrer Herren. Sie kratzte einen Schädel, warf 
Kräuter und Haare zu Kugeln geballt ins Feuer u. s. f. Eine 
Zeitlang konnte ich nicht begreifen, was dies alles bedeutet, bis 
ich endlich, aus meiner Hängematte springend und dicht zu ihr 
hingehend, aus ihrem Schrecken und ihrer flehenden Geberde, 
sie nicht zu verraten, erkannte, daß sie Zauberkünste übte, um 
die Kinder ihrer Feinde und Unterdrücker zu vernichten. Dies 
war nicht das erste Beispiel von Zauberei, dem ich unter den 
Indianern begegnet war." Hier lernen wir die einfachen psj^cho- 
logischen Grundlagen der unter den wilden Stämmen weit ver- 
breiteten Zauberei verstehen und begreifen auch, daß man auf 
dieser Stufe sich vor den Hexen zu schützen suchte, indem man 
dieselben, wie es noch heute in Afrika üblich ist, zu Asche ver- 
brannte. Es ist bekannt, wie dieser alte Glaube der wilden 
Völker seit dem 13. Jahrhundert unter der Autorität der Kirche (!) 
1) Tylor, Urgeschichte, S. 173. 
90 -ö/c Wucherung des Vorstellungslebens. 
auch in Europa wieder stärker hervortrat, wie derselbe durch 
die Bulle des Papstes Innozenz VIII (1448) förmlich sanktioniert 
wurde, wie dem durch den „Hexenhammer" geregelten teuf- 
lischen Prozeßverfahren im 15., 16. und 17. Jahrhundert Tausende 
von Menschen jeden Alters, Standes und Geschlechtes, nament- 
lich aber arme alte Weiber zum Opfer fielen, wie endlich zu 
Ende des 17. Jahrhunderts die Vernunft zum Worte kam, so daß 
1782 (!) zu Glarus die letzte Hexe hingerichtet wurde. Dieser 
furchtbare, Jahrhunderte währende Wahn mit seinen schrecklichen 
verwüstenden Folgen sollte die Menschheit warnen, sich von 
irgend einem Glauben die Lebenswege vorschreiben zu lassen.^) 
Daß solche Vorstellungen selbst den gebildeteren Kreisen 
der antiken Kulturvölker nicht allzufern lagen, ersehen wir z. B. 
aus der Satyre des Petronius (Werwolfgeschichte des Niceros, 
Hexenabenteuer des Trimalchio). Die ersten 3 Bücher der aller- 
dings zur Unterhaltung dienenden „Metamorphosen" des Apu- 
leius sind ganz von diesem Stoff erfüllt. Lucians beißender 
Spott über gebildete Leute, die solche Dinge ernst nehmen, 
bricht in der Erzählung der Unterhaltung bei dem kranken Eu- 
krates rückhaltlos hervor.^) 
3. Im allgemeinen ist es ja richtig, daß was sinnlich sich 
nahe berührt, sich auch gedanklich verbindet. Da aber Gedanken 
durch Association leicht in mannigfaltige und zufällige Verbin- 
dung treten, so ist man häufigen Irrtümern ausgesetzt, wenn 
man umgekehrt auch alles gedanklich Verknüpfte für sinnlich ver- 
knüpft hält. Das Wort ist ein Associationszentrum, in welchem 
vielfältige Gedankenfäden zusammenlaufen. Es wird dadurch zur 
Quelle eines sonderbaren und sehr verbreiteten Aberglaubens, des 
Wortaberglaubens. ^) Wer ein Wort ausspricht, erinnert sich leb- 
Ennemoser, Geschichte der Magie. Leigzig 1844. — Roskoff, 
Geschichte des Teufels. Leipzig 1869. — Sold an, Geschichte der Hexen- 
prozesse. Stuttgart 1843. — Wer bei dieser Lektüre den Humor verlieren 
sollte, lese zur Erholung Voltaires Artikel: Bekker, Incubes, Magie, Super- 
stition in dessen Dictionaire philosophique, und zur völligen Aufheiterung Mises 
(G. T. Fechner), Vier Paradoxen. Leipzig 1846, und zwar: „Es gibt Hexerei". 
*) Über die pathologischen Tatsachen, welche die Entwicklung solcher 
Vorstellungen (Lykanthropie, Vampprismus u. s. w.), den Glauben an Zauberei 
fördern, vgl. die Anmerkung S. 68. 
») Tylor, Urgeschichte, S. 159. 
Die Wucherung des Vor Stellungslehens. _ 91 
haft des Bezeichneten und aller seiner Beziehungen. Den ge- 
nannten gefürchteten Feind sieht er herankommen; er hütet sich 
denselben zu nennen. „Wenn man den Wolf nennt, kommt er 
gerennt." Man will „den Teufel nicht nennen", den „Teufel nicht 
an die Wand malen". „Dii avertite omen" riefen die Römer, 
wenn ein Wort von böser Bedeutung gesprochen wurde. Um- 
gekehrt tritt ein ausgesprochener Wunsch lebhafter ins Bewußt- 
sein, erscheint der Verwirklichung näher. Hat der Mensch doch 
oft den Wunsch anderer erfüllt, und haben ja andere seinem 
Worte Folge geleistet. Warum sollte nicht irgend ein Dämon, 
den der Naturmensch immer und überall vermutet, auch den aus- 
gesprochenen Wunsch erfüllen? Der Name der Person erscheint 
dem Wilden als ein Teil derselben; er wird vor dem Feind ge- 
heim gehalten, um diesem keine Macht über die Person, keinen 
Anknüpfungspunkt für Zaubereien zu geben. Der Name wird 
bei Krankheiten geändert, um den Dämon der Krankheit zu 
täuschen. Der Name des Verstorbenen und Worte, die an den- 
selben anklingen, dürfen nicht ausgesprochen werden; sie sind 
„Tapu". Wer den großen, geheim gehaltenen Namen Gottes 
kennen würde, meinen die Mohammedaner, könnte durch Aus- 
sprechen desselben die größten Wunder verrichten. Um Miß- 
brauch hintanzuhalten, muß derselbe geheim gehalten werden. 
„Den Namen Gottes nicht eitel nennen!" Der Gedanke reicht 
weit zurück bis in das alte Ägippten. Die schlaue Göttin Isis be- 
zwingt den Gott Re, indem sie ihm durch List das Geheimnis seines 
eigentlichen Namens entlockt. (A. Er man, Ägypten JI, S. 359.) 
Der Wilde weiß, daß seine Glieder seinem Willen folgen 
und seine Umgebung nach seinem Wunsche ändern; er täuscht sich 
aber, indem er die genaue Grenze verkennt, die seinem Willen 
gezogen ist. So sehen wir auch am Sonntag den kegelschieben- 
den Bauer sich unwillkürlich nach der Seite neigen, nach welcher 
die längst losgelassene Kugel laufen soll. Und ähnliches beob- 
achtet der Aufmerksame am eifrigen Billardspieler. Die Nicht- 
beachtung der Grenze^ welche wir U genannt haben, ist über- 
haupt eine Hauptquelle der schon besprochenen und noch zu 
besprechenden Verirrungen. 
4. Ein Mensch liegt schlafend regungslos da und erwacht 
dann. In der Zwischenzeit hat er aber von einem Gang in ferner 
92 -ö/'e Wucherung des Vorstellungslebens. 
Gegend geträumt, wohin sein Leib tatsächlich nicht gekommen 
ist; vielleicht hat er im Traume auch mit seinem längst ver- 
storbenen Vater verkehrt, mit diesem Gespräche geführt. Nehmen 
wir den Fall der Ohnmacht, des Scheintodes, des Todes hinzu. 
Bei naiven Menschen, die wie die Kinder zwischen Träumen und 
Wachen keine scharfe Grenze ziehen, entsteht notwendig die 
Vorstellung eines zweiten, schattenhaften Ich des Menschen, 
welches sich von dem Leibe trennen und mit demselben wieder 
vereinigen kann, wobei im ersten Fall der Leib leblos, im zweiten 
wieder belebt wird. Es bildet sich so die Vorstellung von einer 
Seele y^) die ein selbständiges Leben führt. Besteht die Vor- 
stellung von einem zweiten schattenhaften Leben nach dem Tode 
länger, so wird sie im einzelnen ausgemalt. Die Menschen 
träumen von diesem Leben, von dem Schattenreich, von dem 
sie so oft reden gehört haben, und die Vorstellungen hiervon 
werden immer reicher und mannigfaltiger. Eine solche Erzählung 
des Neuseeländers Te Wharewera teilt Tylor^) mit: „Eine 
Tante dieses Mannes starb in einer einsamen Hütte nahe den 
Ufern des Rotorua-Sees. Da sie eine Dame von Stande war, 
so wurde sie in ihrer Hütte gelassen, Tür und Fenster wurden 
geschlossen und die Wohnung aufgegeben, da der Todesfall 
sie zum Tapu gemacht hatte. Aber einen oder zwei Tage nach- 
her ruderte Te Wharewera mit einigen anderen in einem Boote 
nahe bei jenem Orte und sah am frühen Morgen eine Gestalt 
am Ufer sitzen, die ihm zuwinkte. Es war die Tante, die wieder 
zum Leben zurückgekehrt war, aber schwach und frierend und 
halb verhungert. Als sie durch ihre rechtzeitige Hilfe wieder- 
hergestellt war, erzählte sie ihre Erlebnisse. Ihre Seele hatte, 
den Leib verlassend, ihren Flug nach dem Nordkap genommen 
und war am Eingange von Reigna angekommen. Dort hielt sie 
an bei dem Stamme der kriechenden Akike-Pflanze, stieg den 
Abhang hinab und befand sich am sandigen Ufer eines Flusses. 
Als sie um sich schaute, erblickte sie in einiger Entfernung 
') Neben der Vorstellung von der Schattenseele entwickelt sich aus 
leicht begreiflichen, dem wachen Leben entnommenen Gründen der Gedanke 
einer Hauch- und einer Blutseele. Vgl. Odpssee G. XI, V. 33—154. Die 
Schattenseelen gewinnen Erinnerung, indem sie Blut trinken. 
ä) Tplor, Anfänge der Kultur, II, S. 49. 
Die Wucherung des Vorstellungslebens. 93 
einen ungeheuren Vogel (Moa), größer als ein Mensch, der in 
schneller Bewegung auf sie zukam. Dieser furchtbare Anblick 
setzte sie so in Schrecken, daß ihr erster Gedanke war den 
Versuch zu machen, die steile Klippe wieder zu übersteigen; 
als sie aber einen alten Mann ein kleines Boot auf sich zurudern 
sah, eilte sie ihm entgegen und entkam so dem Vogel. Als sie 
sicher hinüber gebracht worden war, fragte sie den alten Charon, 
indem sie ihren Familiennamen nannte, wo die Geister ihrer Ver- 
wandten wohnten, und als sie den Pfad, den der alte Mann ihr 
bezeichnet hatte, verfolgte, war sie überrascht, gerade so einen 
Weg zu finden, wie sie ihn auf Erden gegangen war; der An- 
blick der Gegend, die Bäume, Sträucher und Kräuter, das war 
ihr alles bekannt. Sie erreichte das Dorf und unter der ver- 
sammelten Menge fand sie ihren Vater und viele nahe Ver- 
wandte. Sie begrüßten sie und bewillkommneten sie mit dem 
Klagegesange, den die Maoris immer anstimmen, wenn sie mit 
Bekannten nach langer Trennung wieder zusammentreffen. Aber 
als ihr Vater sie nach seinen noch lebenden Verwandten und 
besonders nach ihrem eigenen Kinde gefragt hatte, erklärte er 
ihr, daß sie auf die Erde zurückkehren müsse, denn es wäre 
keiner übrig geblieben, um für seinen Enkel Sorge zu tragen. 
Auf seine Veranlassung weigerte sie sich, die Nahrung zu ge- 
nießen, welche die Toten ihr anboten, und trotz ihrer An- 
strengungen, sie zurückzuhalten, brachte ihr Vater sie sicher in 
das Boot, setzte mit ihr über und gab ihr zwei ungeheure Ba- 
taten, die er unter dem Mantel hervorholte, damit sie dieselben 
zur besonderen Nahrung seines Enkels zu Hause einpflanze. 
Als sie aber anfing, den Abhang wieder emporzuklimmen, hielten 
sie zwei nachgefolgte Kinderseelen fest, und sie entkam nur 
dadurch, daß sie die Bataten nach ihnen warf, bei deren Ver- 
zehren sich jene aufhielten, während sie mit Hilfe des Akike- 
stammes den Felsen emporstieg, bis sie die Erde wieder erreichte 
und dann dahin zurückflog, wo sie ihren Körper verlassen hatte. 
Bei der Rückkehr zum Leben befand sie sich im Dunkeln, und 
was vorgefallen war, schien ihr wie ein Traum, bis sie wahr- 
nahm, daß sie verlassen und die Türe fest verschlossen war, 
woraus sie den Schluß zog, daß sie wirklich gestorben und zum 
Leben zurückgekehrt sei. Als der Morgen dämmerte, drang ein 
94 I^ic Wucherung des Vorstellungslebens. 
schwaches Licht durch die Spalten des verschlossenen Hauses 
herein und sie sah auf dem Flur in ihrer Nähe einen Flaschen- 
kürbis, der zum Teil mit roter Ockererde und mit Wasser ge- 
füllt war; dies trank sie begierig bis zum Bodensatze aus, 
worauf sie sich ein wenig gekräftigt fühlte; es gelang ihr, die 
Tür zu öffnen und zum Ufer hinabzukriechen, wo sie ihre 
Freunde bald nachher auffanden. Diejenigen, welche ihrer Er- 
zählung zuhörten, waren fest von der Glaubwürdigkeit ihrer 
Abenteuer überzeugt, doch bedauerte man sehr, daß sie nicht 
wenigstens eine der ungeheuren Bataten als Beweis ihrer Reise 
in das Land der Geister mit zurückgebracht hatte." Diese 
poetische und anheimelnde Erzählung hört sich wie ein Märchen 
von Baumbach an. Fast möchte man die Maoris um ihre be- 
haglichen Vorstellungen beneiden. Übrigens ließen sich dieser 
Erzählung noch viele andere ähnliche von andern Stämmen her- 
rührende an die Seite stellen. Wir wollen nur noch eine er- 
wähnen, weil dieselbe lehrt, daß Traumerscheinungen auch die 
Vorstellung von Tier- und Gegenstandseelen begründen. Ein 
Indianerhäuptling am oberen See wünschte, daß man seine schöne 
Flinte mit ihm begrabe. Nach einer Krankheit von wenigen 
Tagen schien er zu sterben, doch wurde er, weil man seines 
Todes nicht sicher war, nicht bestattet. Seine Frau wartete vier 
Tage bei ihm, er kehrte zum Leben zurück und erzählte seine 
Geschichte.^) „Nach dem Tode wanderte sein Geist auf der 
breiten Straße der Toten zum Lande der Glückseligen; dabei 
kam er durch große, üppig grünende Ebenen, sah schöne Haine 
und hörte den Gesang unzähliger Vögel, bis er schließlich von 
dem Gipfel eines Hügels die ferne Stadt der Toten zu Gesicht 
bekam, weit, weit hinten, zum Teil in Nebel gehüllt und mit 
glitzernden Seen und Strömen überstreut. Da sah er Herden 
von stattlichen Hirschen und Elentiere und anderes Wild, das 
ohne Furcht nahe am Pfade einherging. Aber er hatte keine 
Flinte, und da er sich erinnerte, wie er seine Freunde gebeten 
hatte, ihm seine Flinte mit ins Grab zu legen, so kehrte er um, 
um sie zu holen. Da traf er den ganzen Zug von Männern, 
Frauen und Kindern, die nach der Stadt der Toten wanderten. 
») Tylor, a. a. O., I, S. 474. 
Die Wucherung des Vorstellungslebens. 95 
Sie waren schwer beladen mit Flinten, Pfeifen, Kesseln, Fleisch 
und anderen Gegenständen; Frauen trugen Korbwerk und be- 
malte Ruder, und kleine Knaben hatten ihre bunt geschnitzten 
Keulen und ihre Bogen und Pfeile, die Geschenke ihrer Freunde." 
— Als der Häuptling aus seiner Entrückung erwachte, gab er 
seiner Umgebung den Rat, sie sollten den Toten nicht so viele 
schwere Dinge mitgeben, die sie nur behinderten, sondern nur 
solche, die sie ausdrücklich verlangten. 
5. Nach diesen Vorstellungen entspricht also nicht nur jedem 
Menschen- oder Tierleib, sondern auch jedem Gegenstand eine 
Seele oder eine Art Geist., der natürlich nach Analogie des eigenen 
gedacht wird. Der Wilde versteht die Vorgänge, die er in seiner 
Umgebung hervorbringt, am besten als Wirkungen seines Willens. 
So faßt er auch alle ihm angenehmen oder unangenehmen Vor- 
kommnisse als Äußerungen eines ihm freundlich oder feindlich ge- 
sinnten geistigen Wesens auf. Die stets geschäftige und wuchernde 
Phantasie des nach einer Unternehmung gierigen oder durch 
Feinde geängstigten Negers erblickt in den unbedeutendsten ihm 
auffallenden Dingen die Spuren solcher freundlichen oder feind- 
lichen Geister. Diese Objekte — ^.,Fetische^^ — werden ge- 
sammelt, verehrt und gepflegt, mit Branntwein begossen, wenn 
sie sich günstig erweisen, wohl auch mißhandelt im Fall der 
vermeintlichen Ungefügigkeit. „Ein Neger wollte einst zu einem 
wichtigen Geschäft ausgehen, als er aber die Türschwelle über- 
schritt, trat er auf einen Stein und verletzte sich dabei. Aha, 
dachte er, bist du da? So nahm er den Stein auf und er half ihm 
tagelang bei seinem Unternehmen."^) Es gibt nichts, was ein 
Fetisch nicht tun und verrichten kann, wenn es nur der rechte 
Fetisch ist! Wir sind geneigt uns dieser Auffassung gegenüber 
sehr stolz zu fühlen, aber auch unter uns finden sich Menschen, 
welche Amulette, Glücksschweinchen, Medaillons und andere 
Dinge mit sich tragen und nicht nur zum Scherz. Unsere wissen- 
schaftliche Auffassung von der Abhängigkeit der Naturvorgänge 
voneinander ist eben doch eine andere als jene, welche noch 
in dem Volke lebt, von dem wir ein Teil sind. 
6. Die dualistischen Vorstellungen von Geistern, von einem 
») Tylor, a. a. O., II, S. 159. 
96 Die Wucherung des Vor Stellungslebens. 
jenseitigen Leben u. s. w. sind sehr harmlos, solange sie rein 
theoretisch bleiben und sich auf einem gänzlich unkontrollier- 
baren Gebiet bewegen. Wenn aber die durch Träume erzeugten 
knsxchXtn praktische Folgen haben, zu Handlungen treiben, welche 
das Wohlbefinden und Leben der Genossen zerstören, ohne auch 
nur einem den geringsten Nutzen zu bringen, wenn das Un- 
kontrollierbare hinreichende Macht gewinnt, sich mit dem Kon- 
trollierbaren in Widerspruch zu setzen, dann führt dies zu den 
furchtbarsten Tatsachen der Kulturgeschichte. Wir denken zu- 
nächst an die Menschenopfer bei der Leichenfeier der Ver- 
storbenen, um diesen auch nach dem Tode Frauen, Diener, kurz 
alle Bequemlichkeiten zu verschaffen. „Der König von Dahome ^) 
muß in das Totenland mit einem Geisterhofe von Hunderten von 
Frauen, Eunuchen, Sängern, Trommlern und Soldaten einziehen." 
— „Von Zeit zu Zeit versehen sie den abgeschiedenen Monarchen 
in der Schattenwelt mit frischer Dienerschaft." — „Selbst dieses 
jährliche Gemetzel wird noch durch fast tägliche Hinmordungen 
ergänzt: jede Handlung, welche der König vollzieht, muß, mag 
sie noch so trivial sein, pflichtgetreu seinem Vater ins Schatten- 
reich gemeldet werden. Dazu wird ein Unglücklicher, fast immer 
ein Kriegsgefangener, erwählt." Solche Gebräuche sind sehr 
verbreitet und waren in älterer Zeit noch viel allgemeiner. Auf 
Borneo werden bei der Leichenfeier eines angesehenen Mannes 
Sklaven zu Tode gespeert, um dem Verstorbenen zu dienen. Auf 
den Fidschi-Inseln werden die Frauen, Freunde und Sklaven des 
angesehenen Verstorbenen erwürgt. Untergeordnete Diener dienen 
als „Gras zur Ausbettung des Grabes". Wir alle kennen die 
Leichenfeier des Patroklos, die Witwenverbrennung der Inder. 
Dergleichen Riten reichen in verschiedener Form bis in „hoch 
zivilisierte" Zeiten herauf. 
7. Wo tote Menschen schon nach Mord so lüstern waren, 
konnten Geister, Dämonen und Gottheiten nicht bescheidener 
sein. „Die Karthager waren im Kriege mit Agathokles besiegt 
und hart bedrängt worden und schrieben ihre Niederlage gött- 
lichem Zorn zu. In früheren Zeiten wählten sie die Opfer für 
den Kronos (Moloch) unter ihren eigenen Söhnen aus, später 
') Tylor, a.a.O., I, S. 451. 
Die Wucherung des Vorstellungslebens. 97 
aber speisten sie ihn mit Kindern ab, die sie zu diesem Zweck 
kauften und aufzogen. Sie waren damit der natürlichen Tendenz 
des Opfers zur Substitution gefolgt, jetzt aber, in der Zeit des 
Unglücks, trat der Rückschlag ein. Um die Rechnung auszu- 
gleichen und den aus Sparsamkeit begangenen Betrug wieder 
gut zu machen, wurde ein ungeheures Opfer veranstaltet. Zwei- 
hundert Kinder aus den edelsten Familien des Landes wurden 
zu dem Idol des Moloch gebracht; denn sie hatten dort eine 
eherne Bildsäule des Kronos, deren ausgestreckte Arme abwärts 
gerichtet waren, so daß das hineingelegte Kind herabrollte und 
in einen feuergefüllten Schlund fiel."^) Die große Verbreitung 
der den Göttern dargebrachten Menschenopfer ist bekannt. Die 
wilden oder halbkultivierten Vorfahren aller Kulturvölker übten 
das Menschenopfer. Teils ist dies historisch nachgewiesen, teils 
deuten Sagen auf einen solchen Gebrauch (Opfer des Isaak, 
Opfer der Iphigenie). Kein Volk hat da dem anderen etwas vor- 
zuwerfen. Es sei nur noch auf die nach Zeit und Ort weit ent- 
legenen Menschenopfer hingewiesen, welche die Spanier bei der 
Eroberung von Mexiko daselbst vorfanden. 
Diese Dämonen und Gottheiten, von denen ein eingebildeter 
Vorteil so teuer gegen einen reellen Schaden erkauft wird, sind 
nun leider sehr mannigfaltiger Art und von ungeheurer Anzahl. 
Herodot^) erzählt vom Zuge des Xerxes gegen die Griechen: 
„Diese Landschaft um das Pangäische Gebirge wird Phpllis ge- 
nannt, westwärts zieht sie sich bis an den Fluß Angites, welcher 
in den Strynom mündet, nach Süden zu bis an den Strymon 
selbst, wo die Magier weiße Rosse schlachteten zu einem gün- 
stigen Übergang. Nachdem sie zur Beruhigung des Flusses 
dieses und noch vieles andere getan, zogen sie bei Ennea Hodoi 
(Neunwege) im Lande der Hedonen über die Brücken, da sie 
den Strom überbrückt gefunden hatten. Und als sie hörten, daß 
dieser Ort Ennea Hodoi genannt werde, begruben sie bei dem- 
selben ebensoviele (neun) Knaben und Jungfrauen von den Landes- 
bewohnern lebendig. Es ist nämlich persische Sitte, lebendig 
») Tylor, a.a.O., II, S. 405. Das Tatsächliche findet sich bei Diodor 
XX, 14. — Bei diesem noch andere Berichte über Menschenopfer. — Ferner 
Herodot, IV, 62. 
2) Herodot, VII, C. 113, 114. 
iMach, Erkenntnis und Irrtum. i 7 
98 Die Wucherung des Vorstellungslebens. 
ZU begraben, wie ich ja auch vernehme, daß Amestris, des Xerxes 
Weib, in ihrem AUer zweimal sieben persische Knaben von an- 
gesehenen Männern vergraben ließ, um dem Gotte, der unter 
der Erde wohnen soll, damit sich dankbar zu erweisen." Andere 
Völker, andere Zeiten sind nicht klüger als die Perser.^) „In 
Galam in Afrika pflegte man einen Knaben und ein Mädchen 
vor dem großen Tore der Stadt lebendig zu begraben, um die- 
selbe dadurch uneinnehmbar zu machen." — „Bei den Milanau- 
Dajaks auf Borneo wurde bei Erbauung des größten Hauses 
ein tiefes Loch gegraben, um den ersten Pfosten aufzunehmen, 
der sodann darüber aufgehängt wurde; dann wurde eine Sklavin 
in die Aushöhlung gebracht; auf ein Signal wurden die Stricke 
zerschnitten, und der ungeheure Balken stürzte herab und zer- 
schmetterte das Mädchen zu Tode, ein Opfer den Geistern." Alte 
grauenhafte Sagen, welche sich an europäische Bauten knüpfen 
und der abgeschwächte Gebrauch, bei solchen Gelegenheiten kleine 
Tiere zu schlachten oder leere Särge einzumauern, deuten darauf, 
daß auch unseren Vorfahren diese Handlungsweise nicht fremd war. 
Die Wassergeister sind ebenso grausam. „Der Hindu rettet 
keinen Menschen, welcher im heiligen Ganges ertrinkt." Die 
Insulaner des malayischen Archipels teilen mit vielen europäischen 
Völkern den Glauben, daß man einen Ertrinkenden nicht unge- 
straft retten dürfe. „Der See, der Fluß will sein Opfer haben." 
Auch Vulkanen werden Menschen geopfert, d. h. in die Krater 
geworfen. So ist also die müßige wuchernde menschliche Phan- 
tasie eifrig beschäftigt, die natürlichen Übel, die der Mensch 
ohnehin zu ertragen hat, noch ausgiebig zu vermehren. Diese 
Qualen sind keineswegs nur an die niederste Kultur gebunden. 
Auch die europäische Menschheit der neueren Zeit hatte noch 
schwer an denselben zu tragen. Bedenken wir nur, daß die 
Inquisition, nachdem sie durch Jahrhunderte gewütet, den grau- 
samen Tod von vielen Tausenden von Menschen verschuldet, 
blühende Staaten und Kulturen zu Grunde gerichtet, erst mit 
dem Ende des 18. Jahrhunderts zur Einstellung ihrer verhängnis- 
vollen Tätigkeit sich gezwungen sah. ^) Den Betroffenen macht 
») Tylor, a.a.O., I, S. 106 u. f. 
*) F. Hoffmann, Geschichte der Inquisition. Bonn 1878. — Lea, A 
history of the inquisition. New York 1888. 
Die Wucherung des Vorstellungslebens. 99 
es gewiß keinen Unterschied, ob sie für die Erdgeister lebendig 
begraben oder für die Geister der Dogmen verbrannt werden, 
ob sie dem Aberglauben und dem Despotismus des Xerxes, den 
Intriguen der Magier, oder der Herrschsucht und Intoleranz 
moderner Priester zum Opfer fallen. Unsere Kultur ist der 
Barbarei noch bedenklich nahe. 
8. Wenden wir uns nun freundlicheren Bildern zu. Die spon- 
tan spielenden Vorstellungen, die wechselnden Verbindungen der 
Gedanken, welche unabhängig von der jedesmaligen sinnlichen 
Leitung und ohne Nötigung durch das materielle Bedürfnis, ja 
weit über dessen Maß hinaus, ihr Leben betätigen, erheben den 
Menschen über das Tier. Das Phantasieren über das Erlebte, 
das Gesehene, die Poesie, ist die erste Erhebung über das All- 
tägliche, über das keuchende Lasttragen des Lebens. Mag diese 
Poesie, kritiklos ins Praktische übersetzt, auch oft schlimme 
Früchte tragen, wie wir eben gesehen haben, so ist sie doch 
der Anfang der geistigen Entwicklung. Wenn diese Phantasien 
sich mit der sinnlichen Erfahrung in Beziehung setzen, in der 
ernsten Absicht, letztere zu durchleuchten und sich anderseits 
von dieser zurechtweisen zu lassen, so ergeben sich stufen- 
weise religiöse, philosophische, wissenschaftliche Vorstellungen 
(A. Comte). Betrachten wir also diese poetische Phantasie, 
welche geschäftig alles Erlebte ergänzt und modifiziert. 
9. Die Knochen großer Tiere, wie Rhinozeros, Mammut u. s. w., 
welche in der Erde gefunden werden, erzeugen bei den naiven 
Bewohnern der betreffenden Gegend fast regelmäßig die Vor- 
stellung und die Sage eines Kampfes von Riesen, der hier statt- 
gefunden hat. ^) Eine Sandhose, welche durch die Wüste, eine 
Wasserhose, welche über das Meer dahinschreitet, wird für den 
naiven Beobachter zum riesigen Dämon, dem „Dschin" von 
„Tausend und einer Nacht". Dem Chinesen gelingt es sogar, 
den Kopf oder Schweif des Drachen zu erkennen, der sich aus 
den Wolken ins Meer stürzt. Die Sintflutsage der hebräischen 
Bibel ist, wie aus vielen gemeinsamen Einzelheiten hervorgeht, 
der älteren babylonischen Sage nachgebildet. Die weite Ver- 
') Tylor, Urgeschichte, S. 104—112, Tplor, Anfänge der Kultur, I, 
S. 288, 289. 
7* 
100 ^^^ Wucherung des Vor Stellungslebens. 
breitung analoger Sagen rührt aber daher, daß dieselben überalt 
fast notwendig entstehen. Wenn auf größeren Höhen versteinerte 
Muscheln und andere Wassertiere gefunden, gelegentlich auch 
Boote von nicht mehr gebräuchlicher Form daselbst ausgegraben 
werden, welche Befunde in der Tat weit verbreitet sind, so muß 
dem naiven Beobachter, der nichts von Hebungen und Senkungen 
weiß, dem geologische Betrachtungen fremd sind, der Gedanke 
einer großen, in ungewöhnliche Höhe reichenden Flut sich auf- 
drängen. ') Vulkane werden oft als von Geistern geheizte, von 
Titanen bewohnte Berge aufgefaßt, deren Bewohner Brände und 
Steine ausschleudern. In eigentümlicher Weise legen sich die 
Kamtschadalen das Vorkommen der Walfischknochen auf Vul- 
kanen zurecht, welche letztere sie als von Geistern bewohnt 
fürchten. Die Geister fangen in der Nacht Walfische, kochen 
dieselben und werfen die Knochen hinaus. „Wenn die Geister 
ihre Berge geheizt haben, wie wir unsere Jurten, werfen sie den 
Rest der Brände zum Schornstein hinaus, um zuschließen zu 
können. Gott im Himmel macht es bisweilen auch so, zur Zeit, 
wenn unser Sommer und sein Winter ist, und wenn er seine 
Jurte heizt." So erklären sie die Blitze.^) 
10. Alles, was der primitive Mensch nicht versteht, erscheint 
ihm in einem eigentümlichen Licht. Wir können diese Beleuch- 
tung nur wiedergewinnen, wenn wir uns lebhaft in die frühe 
Jugendzeit, in die Kindheit zurückversetzen. Da lernen wir be- 
greifen, wie dem Wilden sein Spiegelbild im Wasser oder das 
Echo seiner Stimme unter unbekannten, seltener eintretenden Um- 
ständen als etwas Geisterhaftes erscheint.^) Wer hätte als Kind 
») Tylor, Urgeschichte, S. 409 u. f. — Ich selbst hörte einmal bei Ge- 
legenheit eines Aufenthaltes am Gardasee von einem Landmann die An- 
sicht aussprechen, daß der See einst viel höher gestanden und der Monte 
Brione zwischen Riva und Torbole eine Insel gewesen sei, weil man oben 
Muscheln finde. 
2) Tylor, Urgeschichte, S. 411. 
3) T.W.Powell, Truth and error. Chicago 1898. p. 348. — Von einem 
Echo, welches einen gespenstischen oder dämonischen Eindruck hinterlassen 
mußte, berichtet Cardanus (De subtilitate, 1560, Lib. XVIII, p. 527) nach 
dem Erlebnis eines Freundes A. L. Derselbe kommt nachts an einen Fluß,^ 
den er überschreiten will, und ruft: Oh! — Echo: Oh! — A. L.: Unde debo 
passä? — Echo: Passä! — A. L.: Debo passä qui? — Echo: Passä qui! — 
Die Wucherung des Vorstellungslebens. 101 
nicht ähnliches empfunden? Und in der Tat, kann es auch nach 
dem theoretischen Verständnis etwas Merkwürdigeres geben als 
dies körperlose Gesichtsobjekt, oder dies einfachste Phonogramm, 
das unsere Stimme der Luft eingeprägt hat, und das wir nach 
einigen Sekunden nochmals mit dem Ohr abfassen? Aber leider 
verliert der zivilisierte Mensch zu seinem Schaden so leicht die 
Fähigkeit, sich zu verwundern. 
11. Ein anderer Zug, den die Wilden mit dem Kinde gemein 
haben, ist das Verhalten gegen die Tiere. Dem Wilden sind 
die Tiere fast seinesgleichen, seine „jüngeren Brüder", mit denen 
er, wie die Kinder, spricht. Er wünscht ihre Sprache zu ver- 
stehen, um zu erfahren, was sie wissen. Er schreibt ihnen Kräfte 
zu, welche die seinigen übersteigen.^) Er kann ja nicht wie der 
Vogel fliegen, wie der Fisch tauchen, wie die Spinne an einem 
Faden klettern. Als mein etwa vierjähriger Junge einen mäch- 
tigen zahmen Raben auf der Schwelle eines Hauses sitzen sah, 
blieb er verwundert vor ihm stehen, und tat ganz ernsthaft die 
Frage: „Wer ist das?" Die Form der Rede hat ja bei Kindern 
nicht viel zu bedeuten. Aber auch ich konnte mich des Ein- 
drucks einer bedächtigen Persönlichkeit nicht erwehren, zumal 
ich kurz zuvor gesehen, wie der Vogel einen ihn neckenden 
Schusterjungen „zurechtgewiesen" hatte. 
12. Steht man am Ufer des Meeres, so erscheint dieses als eine 
flache Scheibe, das Land, wenn man weiteren Horizont hat, eben- 
falls als eine Scheibe, welche auf dem Meere sozusagen schwimmt. 
Das Ganze deckt das „Gewölbe" des Himmels. Diese Beobach- 
tungen bilden zugleich die ersten Grundlagen der primitiven 
Geographie und Astronomie. Daß dieser Anblick auf physio- 
logischen Umständen beruht, erkennt der Beobachter auf einer 
hohen isolierten Bergspitze oder gar im Luftballon. Er glaubt 
sich dann in einer bemalten Hohlkugel zu befinden, deren untere 
Hälfte die Erde, deren obere Hälfte der Himmel vorstellt, die der 
Ballonbewegung entgegen fortzurollen oder zu fließen scheinen. 
Da aber an der betreffenden Stelle sich ein furchtbarer Wirbel zeigt, wird 
A. L. von Entsetzen erfaßt und kehrt um. Cardanus erkennt die Erscheinung 
als Echo und weist darauf hin, daß sie nach dem Tonfall leicht als solches 
zu erkennen war. 
») Powell, a. a. O. S. 384. 
102 ^^'ß Wucherung des Vorstellungslebens. 
Diese Beobachtung ergibt sich aber zu selten, um auf die popu- 
läre Vorstellung Einfluß zu üben. Für den gemeinen Mann bleibt 
Meer und Erde (physikalisch) eine Scheibe, der Himmel ein Ge- 
wölbe. Wenn nun dieser Mann an einer westlichen Meeresküste 
die glühende Sonne ins Wasser tauchen sieht, so glaubt er, er 
müsse sie zischen hören. Er hört sie wohl auch wirklich zischen, 
indem er irgend ein zufälliges Geräusch hierauf bezieht. So 
entsteht die Vorstellung und Sage, welche nach Strabo^) beim 
„heiligen Vorgebirge" (St. Vincent) in Iberien (Spanien) in Um- 
lauf war und die Mr. Ellis in weiter Ferne, auf den Gesell- 
schaftsinseln der Südsee wieder gefunden hat.^) 
13. Das Kind und die Völker im Urzustand haben keine Ge- 
legenheit, über solche naive Vorstellungen hinauszukommen. Das 
Kind sieht die Sonne hinter einem Hügel auf- oder untergehen 
und läuft hin, um dieselbe zu fassen. Zwar zeigt sich dann, daß 
der Hügel nicht der richtige war, daß dahinter ein zweiter und 
dritter sich erhebt, an dem die Sonne hängt, aber einer wird 
doch der richtige sein.^) Der Gedanke, die Sonne mit einem 
Netz anzufangen, schließt für das Kind keine Unmöglichkeit ein. 
Die über die Erde weit verbreiteten Märchen vom Sonnenfänger 
lassen uns eine primitive Kulturstufe vermuten, für welche das, 
was uns zur angenehmen Beschäftigung der Phantasie erfunden 
scheint, ganz wohl ernst gemeint sein konnte. Ähnlich verhält 
es sich wahrscheinlich mit anderen Märchen, z. B. jenem von 
Hans und dem Bohnenstengel, und der ganzen Gruppe analoger 
Geschichten. Der Himmel erscheint den naiven Sinnen des Kindes 
keineswegs so hoch, daß es denselben durch Klettern an einem 
hohen Baum für unerreichbar halten müßte. Und dies ist das 
gemeinsame, für uns märchenhafte Motiv der genannten Gruppe 
von Erzählungen.^) Erst nach und nach, mit steigender Kultur, 
erhalten solche Erzählungen einen leisen Zug von Humor und 
») Strabo, HI. Iberia, 1. 
'^) Ich selbst hörte noch als Kind von 4 oder 5 Jahren die Sonne zischen, 
als sie scheinbar in einen großen Teich tauchte, und wurde darob von den 
Erwachsenen verlacht. Die Erinnerung ist mir aber sehr wertvoll. 
") Auch ich bin als Kind der untergehenden Sonne von Hügel zu Hügel 
nachgelaufen. 
♦) Tplor, Urgeschichte, S. 436 u. f., 443 u. f. 
Die Wucherung des Vorstellungslebens. 103 
Ironie, bis sie endlich als Hirngespinste zur bloßen Belustigung 
behandelt werden. Durch die Märchen primitiver Stämme, ver- 
bunden mit der Beobachtung der Kinder, erhalten wir einen 
Einblick in die Anfänge der Kultur, wie derselbe größer und 
tiefer kaum gedacht werden kann. 
14. Ergreift die Phantasie ergänzend und modifizierend schon 
die einzelne Beobachtung, so schont sie auch den ganzen Kom- 
plex eines historischen Berichtes nicht. Mit einiger Vorsicht 
läßt sich aber der tatsächliche Kern aus der poetischen Hülle 
herausschälen, und braucht nicht mit dieser als wertlos weg- 
geworfen zu werden. Als Beispiel sei die Tradition eines zentral- 
amerikanischen Stammes über die Einwanderung aus dem Norden 
angeführt:^) „Sie wanderten von Sonnenaufgang aus. Aber es 
ist nicht klar, wie sie über die See gelangten, sie gingen vor- 
wärts, als ob es keine See gegeben hätte, denn sie gingen über 
zerstreute Felsen, und diese Felsen waren auf Sand gerollt. Des- 
halb nannten sie den Ort: gereihte Steine und aufgewühlter 
Sand, welchen Namen sie ihm gaben während ihres Zuges in 
der See, indem das Wasser geteilt war, während sie durch- 
gingen. Dann sammelte sich das Volk auf einem Berge, genannt 
Chi Pixab, und dort fasteten sie in Dunkelheit und Nacht. Her- 
nach wird berichtet, daß sie abzogen und die nahende Dämmerung 
erwarteten. Nunmehr, siehe, waren unsere Vorfahren und unsere 
Väter Herren geworden und hatten ihre Dämmerung. Wir wollen 
auch berichten das Kommen der Dämmerung und das Erscheinen 
der Sonne, des Mondes und der Sterne. Groß war ihre Freude, 
als sie den Morgenstern sahen, der mit seinem leuchtenden Antlitz 
zuerst erschien vor der Sonne. Endlich begann die Sonne selbst 
hervorzukommen; die Tiere, große und kleine, waren voll Freude; 
sie erhoben sich aus den Flußtälern und Schluchten und standen 
auf den Berggipfeln, mit ihren Köpfen der kommenden Sonne 
zugewandt. Es war da eine zahllose Menschenmenge und die 
Dämmerung warf ihr Licht auf alle diese Völker auf einmal. 
Endlich ward die Fläche des Bodens von der Sonne getrocknet; 
wie ein Mann zeigte sich die Sonne und ihre Gegenwart wärmte 
und trocknete die Oberfläche des Bodens. Bevor die Sonne 
') Tylor, Urgeschichte, S. 387. 
104 Die Wucherung des Vorstellungslebens. 
erschien, war die Oberfläche des Bodens schlammig und feucht, 
und es war bevor die Sonne erschien, und dann nur erhob sich 
die Sonne wie ein Mann. Aber ihre Hitze hatte keine Kraft, 
und sie zeigte sich nur, als sie sich erhob, sie blieb nur gleich 
(einem Bild in) einem Spiegel, und es ist in der Tat nicht die näm- 
liche Sonne, die jetzt erscheint, wie man in den Sagen berichtet." 
— Der Bericht ist nicht sehr klar, doch das Charakteristische 
der arktischen Region, die lange Winternacht, die gefrorene mit 
Eisstücken bedeckte See, die beim Wiederscheinen kraftlose 
Sonne, ist unverkennbar. 
15. Aus phantastisch verwobenen Naturbeobachtungen und 
historischen Traditionen entstehen die Vorstellungen des primi- 
tiven Menschen über seine Herkunft, über sein Verhältnis zu den 
Geistern, das Leben nach dem Tode, kurz die Ansichten, die man 
gewöhnlich als die religiösen oder mythologischen bezeichnet. 
Welchen Wert dieselben als poetische Erhebung haben, wurde 
bereits besprochen. Schon indem der Mensch die Hilfe seiner 
Götter oder Dämonen erhofft, wird er manche Notlage leichter 
ertragen, und indem er im Glück auch Schlimmes befürchtet, mag 
sein Übermut oft in heilsamer Weise gedämpft werden. Diese 
Ansichten sollen hier nicht weiter diskutiert werden. Dem Be- 
obachter, der die modernen Religionen kennt, fällt an allen diesen 
primitiven Systemen auf, daß dieselben, und insbesondere die 
Vorstellungen von einem Leben nach dem Tode, nichts mit Lohn 
und Strafe, nichts mit Vergeltung und überhaupt nichts mit Ethik 
zu tun haben. 
16. Die Ethik des primitiven Menschen, die allerdings von der 
modernen, den ungleichen Lebensbedingungen entsprechend, sehr 
verschieden, aber darum nicht minder streng ist, wird ihm von 
der öffentlichen Meinung vorgeschrieben, welche wohl erkennt, 
was dem Gemeinwesen dient oder nicht zuträglich ist. Bei Ver- 
stößen gegen diese Ethik hat er sich mit dieser öffentlichen 
Meinung und deren Folgen abzufinden. Sein Verhalten regelt 
sich in natürlicher Weise nach den Verhältnissen des gegen- 
wärtigen Lebens. Es ist gewiß nicht rationell, die Ethik auf in Be- 
zug ihrer Richtigkeit unkontrollierbare Grundlagen zu stellen. 
Wo aber ein Teil des Volkes zu dauernder Sklaverei verurteilt, 
der andere Teil bestrebt ist, alles Gute des diesseitigen Lebens 
Die Wucherung des Vorstellungslebens. 105 
für sich zu nehmen, da ist eine Ethik, welche mit Vergeltung 
nach dem Tode rechnet, für ersteren Teil ein nicht zu unter- 
schätzender Trost, für letzteren Teil recht bequem. Gesünder 
aber ist eine Ethik, welche, wie die hoch entwickelte chinesische, 
nur auf Tatsächliches sich gründet. Ethik und Recht gehören 
zur sozialen Kulturtechnik, und stehen desto höher, je mehr das 
vulgäre Denken durch wissenschaftliches Denken aus beiden 
Gebieten verdrängt ist. 
17. Es wird wohl auch behauptet, daß manchen Stämmen alle 
religiösen oder mythologischen Vorstellungen fehlen. Als Bei- 
spiel mag folgender Bericht Erwähnung finden.*) „Es unterliegt 
keinem Zweifel, daß die Arafuras von Vorkay, einer der süd- 
licheren Aru-Inseln, nicht die mindeste Religion besitzen . . . 
Von der Unsterblichkeit der Seele haben sie nicht die leiseste 
Ahnung. Erkundigte ich mich danach, so antworteten sie stets: 
Es ist noch nie ein Arafura nach seinem Tode zu uns zurück- 
gekehrt, daher wissen wir nichts von einem zukünftigen Leben, 
heute hören wir zum erstenmal davon. Ihr Glaubensbekenntnis 
hieß: Mati, Mati sudah, d. h. wenn du tot bist, dann ist es mit 
dir zu Ende. Auch über die Erschaffung der Welt hatten sie nie 
nachgedacht. Um mich zu überzeugen, ob sie wirklich nichts 
von einem höheren Wesen wußten, fragte ich sie, zu wem sie 
um Hilfe flehten, wenn sie in Not seien und ihre Schiffe von der 
Gewalt eines heftigen Sturmes erfaßt würden? Der Älteste hielt 
eine Beratung mit seinen Genossen, dann erwiderte er: Wir wissen 
nicht, wen wir um Beistand anrufen können; wenn du es aber 
weißt, so sei so gut und sag es uns." Wir glauben zunächst 
aus diesen Worten die überlegene Ironie eines Freigeistes heraus- 
zuhören, welcher die vermeintliche höhere Einsicht des aufdring- 
lichen proselytenmachenden Europäers gebührend zurückweist. 
Allein derartige Berichte sind mit größter Vorsicht aufzunehmen. 
Wir wissen, wie allgemein bei wilden Stämmen der Glaube an 
Geister und Dämonen ist, und wie sehr sie von demselben ge- 
peinigt werden. Sollte also der Bericht nicht doch auf irgend 
einem Mißverständnis beruhen, sondern der klare, reine Ausdruck 
des Sachverhalts sein, so müßte man diesen als eine Ausnahme, 
als ein seltenes Vorkommnis betrachten. 
*) Lubbock, Entstehung der Zivilisation. Jena 1875. S. 175. 
106 Die Wucherung des Vor Stellungslebens. 
18. Religion, Philosophie und Naturauffassung sind auf primi- 
tiver Entwicklungsstufe untrennbar. Wo, wie im antiken Griechen- 
land, eine geschlossene Priesterkaste fehlt, welche ihre Interessen 
kräftig vertreten könnte, entwickelt sich leichter eine freiere, die 
Schranken der herkömmlichen religiös- mythologischen Vorstel- 
lungen durchbrechende Philosophie. Phantastisch und abenteuer- 
lich ist auch diese erste Philosophie, wie wir an den Versuchen 
der Jonier und Pythagoräer sehen. Und wie sollte es auch 
anders sein. Gilt es doch vor allem, überhaupt eine Weltansicht 
zu gewinnen, und kann doch die Kritik erst einsetzen, wenn 
mehrere Versuche, mehrere ungleichwertig scheinende Ansichten 
zu Vergleich, Widerspruch oder Zustimmung auffordern. Philo- 
sophie und Naturwissenschaft ist da noch eins. Die ersten Philo- 
sophen sind auch Astronomen, Geometer, Physiker, kurz Natur- 
forscher. Gelingt es ihnen aber, neben ihrer Weltanschauung 
von zweifelhaftem Wert auch die Bilder kleinerer Naturausschnitte 
in vor der Kritik besser standhaltender Weise festzuhalten, so 
sammeln sich diese, werden allgemeiner anerkannt und bilden 
die Anfänge einer besonderen Naturwissenschaft. Man denke 
etwa an die geometrischen Funde des Thaies und Pythagoras, 
an die akustischen Beobachtungen des letzteren. Auch diese 
beginnende Naturwissenschaft enthält noch reichlich phantastische 
Elemente. Wir können sie unbedenklich größeren Teils als eine 
Naturmythologie bezeichnen. Indem nun der sehr vernünftige 
Versuch gemacht wird, die ganze Natur durch einen dem For- 
scher leichter verständlichen Teil zu begreifen, wird allmählich 
eine animistisch-dämonologische Naturmythologie, durch eine 
Mythologie der Stoffe oder Kräfte, durch eine mechanisch- 
atomistische oder durch eine dynamische Naturmythologie ab- 
gelöst. Häufig bestehen diese verschiedenen Auffassungen auch 
nebeneinander, und die Spuren derselben reichen bis in die neue 
Zeit. Man denke an die Lichtteilchen Newtons, an die Atome 
Demokrits und Daltons, an die Theorien der modernen Chemiker, 
an die Käfigmoleküle und gyrostatischen Systeme, endlich an die 
modernen Ionen und Elektronen. Die mannigfaltigen physikali- 
schen Stoffhypothesen, die Descartesschen und Eulerschen Wirbel, 
die in den neuen elektromagnetischen Strömungs- und Wirbel- 
theorien wieder aufleben, die Sink- und Quellstellen, welche in 
Die Wucherung des Vorstellungslebens. {(f] 
die vierte Dimension des Raumes führen, die ultramundanen 
Körperchen, welche die Gravitation erzeugen u. s. w. u. s. w, 
mögen noch erwähnt werden. Ich denke, das ist ein Achtung 
gebietender Hexensabbat von abenteuerlichen modernen Vor- 
stellungen. Diese Ausgeburten der Phantasie kämpfen ums Da- 
sein, indem sie sich gegenseitig zu überwuchern suchen. Zahl- 
lose dieser Phantasiesprossen und Blüten müssen angesichts der 
Tatsachen von der unerbittlichen Kritik vernichtet werden, bevor 
eine sich weiter entwickeln kann und längeren Bestand hat. Um 
diesen Vorgang zu würdigen, bedenke man, daß es gilt, die 
Naturvorgänge auf die einfachsten begrifflichen Elemente zurück- 
zuführen. Dem Begreifen der Natur muß aber die Erfassung 
durch die Phantasie vorausgehen, um den Begriffen lebendigen 
anschaulichen Inhalt zu schaffen. Und eine desto lebhaftere 
Phantasie ist erforderlich, je ferner die zu lösende Aufgabe 
dem unmittelbaren biologischen Interesse liegt. 
Erkenntnis und Irrtum. 
1. Die Lebewesen haben sich teils durch angeborene (per- 
manente), teils durch erworbene (temporäre) Anpassung mit den 
Umständen ihrer Umgebung ins Gleichgewicht gesetzt. Die 
Organisation und die Gewohnheit des Verhaltens aber, welche 
unter gewissen Umständen biologisch förderlich ist, wird unter 
veränderten Verhältnissen nachteilig und kann sogar zur Zer- 
störung des Lebens führen. Der Vogel ist für das Leben in 
der Luft, der Fisch für das Leben unter Wasser organisiert, nicht 
aber umgekehrt. Der Frosch schnappt nach den fliegenden In- 
sekten, von welchen er sich nährt, wird aber ein Opfer dieser 
Gewohnheit, wenn er ein Stück bewegten Tuches erwischt und 
an der damit verbundenen Angel hängen bleibt. Die Falter, 
welche im Interesse ihrer Lebenserhaltung dem Lichten und 
Farbigen zufliegen, geraten vermöge dieses im allgemeinen 
zweckmäßigen Verhaltens gelegentlich an die gemalten Blüten 
einer Tapete, die ihnen keine Nahrung bieten, oder in die Flamme, 
die ihnen den Tod bringt. Jedes in einer Falle gefangene oder 
von einem andern erbeutete Tier weist uns die Grenzen der 
Zweckmäßigkeit seiner ps3?cho-physiologischen Organisation. Bei 
den am einfachsten organisierten Tieren ist Reiz und Reaktion, 
etwa Angriff oder Flucht, in so regelmäßiger Weise verbunden, 
daß die beobachteten Tatsachen uns nicht veranlassen würden, 
zwischen die beiden verbundenen Glieder: Empfindung, Vor- 
stellung, Gefühlsstimmung und Willen eingeschaltet zu denken, 
wenn nicht die Analogie zu den an uns selbst wahrgenommenen 
Vorgängen dies so nahe legen würde. Der Reiz wirkt hier un- 
mittelbar aktiv^ wie bei einer Reflexbewegung, etwa dem Sehnen- 
reflex, von dem wir erst erfahren, nachdem derselbe stattgefunden 
hat. Erst wenn der einfache Reiz wegen Komplikation der 
Erkenntnis und Irrtum. 109 
Lebensbedingungen zu vieldeutig wird, um den zweckmäßigen 
Anpassungsvorgang zu bestimmen, tritt die Empfindung als 
selbständiges Element auf, welches mit den Erinnerungen, Vor- 
stellungen, den Zustand des Organismus, die Gefühlsstimmung 
bedingt, welche endlich die Handlung mit bewußtem Ziel aus- 
löst. Den komplizierteren Lebensbedingungen entspricht eben 
auch ein komplizierterer diesen angepaßter Organismus mit 
Wechselwirkung mannigfaltiger aneinander angepaßter Teile. Das 
Bewußtsein besteht eben in einer besonderen wichtigen Wechsel- 
beziehung der Teile (des Gehirns). Wenn ein Element, ein 
Teilvorgang des Bewußtseins, eine Empfindung, eine Vorstellung 
uns nicht direkt aktiv erscheint, so liegt dies an den mannig- 
faltigen, vielseitigen Beziehungen, die dies Element im ent- 
wickelten Individuum erlangt hat, wodurch die einzelne Be- 
ziehung im allgemeinen in den Hintergrund gedrängt, und erst 
bei der geeigneten Kombination von Elementen (Empfindungen, 
Vorstellungen) zum Hervortreten bestimmt wird. Es gibt keinen 
Gegensatz zwischen Vorstellung und Willen etwa. Beide sind 
Produkte der Organe, erstere vorwiegend einzelner Organe, 
letzterer des Zusammenhanges der Organe. Die gesamten 
Lebensvorgänge des Individuums sind Reaktionen im Interesse 
der Lebenserhaltung, und die Wandlungen im Vorstellungsleben 
sind nur ein Teil der ersteren. Das Bestehen einer Art von 
Lebewesen zeigt, daß die Anpassungen hinreichend überwiegend 
erhaltungsgemäß gelingen, um das Fortbestehen zu sichern. 
Daß im physischen wie im psychischen Leben auch Reaktionen 
vorkommen, welche nicht erhaltungsgemäß ausfallen, welche im 
Sinn der Anpassung als mißlungen zu betrachten sind, zeigt die 
tägliche Beobachtung. Physische und psychische Reaktionen 
regeln sich nach dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit. Ob die 
Reaktion Nutzen oder Schaden bringt, ob insbesondere biologisch 
fördernde oder irreleitende Vorstellungen sich einfinden, in beiden 
Fällen liegen dieselben physischen und psychischen Vorgänge 
zugrunde. 
2. Betrachten wir einige Beispiele. Schon bei unmittelbarer 
Auslösung einer Reaktion durch den Reiz können sich nachteilige 
Folgen einstellen. Fliegen werden durch den Aasgeruch mancher 
Pflanzen verleitet auf denselben ihre Eier abzulegen; die aus- 
110 Erkenntnis und Irrtum. 
schlüpfenden Larven, welche daselbst keine Nahrung finden, 
gehen natürlich zugrunde. Giften, welche Nahrungsstoffen ähn- 
lich schmecken, fallen Insekten häufig zum Opfer. Auch Rinder 
und Schafe, besonders auf fremder, exotischer Weide, ereilt zu- 
weilen dasselbe Schicksal. Physikalisch //z/z/^ zusammenhängende 
Umstände, welche verschiedene Empfindungen auslösen, kommen 
häufiger zusammen vor, als andere Umstände, welche nur der 
Zufall zusammenführt; demnach werden die dem ersten Fall 
entsprechenden Empfindungen und Vorstellungen stärker asso- 
ciiert sein, als im zweiten Fall. Die angeborene und erworbene 
Aufmerksamkeitsstimmung (Apperzeption) ist überdies auf das 
biologisch Wichtige gerichtet. Trotzdem ist das Spiel ungünstiger 
Zufälle und folglich der Fall irreführender Associationen nicht 
auszuschließen. Wenn Darwins Ansicht richtig ist, werden 
schlecht schmeckende oder stechende giftige Insekten mit leb- 
haften auffallenden Farben gemieden, ebenso bleiben aber harm- 
lose Insekten verschont, welche den ersteren ähnlich gefärbt 
sind (Mimicry). Wenn das optische Bild eines bekannten Körpers 
auf unsere Netzhaut fällt, so stellt sich associativ auch die Vor- 
stellung des Tasteindrucks und der übrigen Eigenschaften ein. 
Berühren wir im Dunkeln einen Körper, so steht wieder dessen 
optisches Bild vor uns. Es ist biologisch wichtig, daß diese 
Associationen so rasch und lebhaft erfolgen, daß sie fast Illusionen 
gleich zu achten sind; in selteneren Fällen werden wir aber durch 
dieselben Prozesse doch auch irregeführt. Die Stimmung oder 
Gedankenrichtung hat hier wesentlichen mitbestimmenden Ein- 
fluß. Ein Jüngling ist damit beschäftigt, die Prärie mit einem 
Ochsengespann in Ackerland zu verwandeln und wird öfter durch 
Klapperschlangen gestört, die er tötet. Als er die entfallene 
Peitschenschnur aufheben will, ergreift er zufällig einen Stock, 
den er für eine Schlange hält, deren Klappern er zugleich zu 
hören glaubt.^) Umgekehrt kann man unter Umständen, einen 
Stock suchend, auch eine Schlange anfassen, die man für einen 
Stock oder ein anderes harmloses Ding hält. Wie weit diese 
Geläufigkeit der associativen psychischen Ergänzung beim Men- 
schen, namentlich beim zivilisierten Menschen reichen kann, sieht 
') Powell, Truth and error, S. 309. 
Erkenntnis und Irrtum. 111 
man am besten an der leichten räumlichen Auffassung von ebenen 
perspektivischen Linearzeichnungen. Man erkennt die Treppe, 
eine Maschine, selbst komplizierte Kristallformen ohne Schwierig- 
keit in ihrer räumlichen Form, obgleich die Linearzeichnung nur 
ein Minimum davon andeutet. Interessant ist die Mitteilung von 
Powell,^) daß die Indianer in der Interpretation von derartigen 
Linearzeichnungen Schwierigkeiten finden, die sie aber bald 
überwinden. Farbige Malereien verstehen sie nur dann leicht, 
wenn die Darstellung ihnen bekannte Objekte betrifft. Übrigens 
ist die Fähigkeit der Menschen in dieser Richtung höchst ver- 
schieden und spezialisiert. Ich kannte eine phantasiereiche alte 
Frau, welche wunderbare Märchen trefflich zu erzählen wußte, 
für die aber ein Gemälde so unverständlich war, wie für einen 
Idioten oder ein Tier. Sie wußte kaum, ob sie eine Landschaft 
oder ein Porträt vor sich habe.^) Die Ungenauigkeit der Asso- 
ciation, die Störung einer Association durch eine andere, äußert 
sich in den rudimentären ersten Zeichenversuchen unserer Kinder. 
Wessen sie sich erinnern, und was sie an einer Person einmal 
gesehen haben, bringen sie an deren „Bild" zum Ausdruck, 
gleichgültig, ob dies auf einmal gesehen werden kann oder 
nicht. Ebenso verfahren nach K. von den Steinen^) die 
Indianer und ebenso verfuhren die Begründer der Malerei bei 
den alten Ägyptern. Ehrwürdiges Altertum und Züge von tech- 
nisch hoch entwickelter und doch primitiv kindlicher Kunst 
finden wir zugleich auf den Tempelwänden verkörpert. 
3. Stärkere physikalische Abhängigkeiten können vom Zufall 
nicht leicht ganz verdeckt werden, und das biologische Interesse 
fördert die Beachtung richtiger und wichtiger Associationen. 
Letztere werden also, auch ohne besondere psychische Entwick- 
lung, eine Tendenz zeigen, permanent^) zu werden und die 
Lebensfunktionen schon instinktiv überwiegend erhaltungsgemäß 
zu leiten. Wo aber irreführende Associationen empfindliche 
1) Powell, a. a. O. S. 340. 
*) Selbst klügere Hunde sollen zuweilen das Porträt ihres Herrn erkennen. 
») K. von den Steinen, Unter den Naturvölkern Zentral -Brasiliens. 
Berlin 1897. S. 230— 241. 
*) Vgl. Analyse d. Empfindungen. 4. Aufl. 1903. S. 248. — Die vor- 
liegende Schrift S. 32 u. f. 
112 Erkenntnis und Irrtum. 
Folgen nach sich ziehen, werden gerade letztere als Korrektiv 
wirken und zur weiteren psjjchischen Entwicklung beitragen. 
Die traumhafte Association wird der aufmerksamen, bewußten, 
absichtlichen Beachtung der wichtigen Übereinstimmungen und 
Unterschiede verschiedener Fälle, der klaren Abhebung der richtig 
leitenden und der irreführenden Merkmale der Fälle und deren 
scharfer Unterscheidung weichen. Hier stehen wir an dem Be- 
ginn der absichtlichen Vorstellungsanpassung, an der Schwelle 
der Forschung. Diese strebt, um es kurz zu sagen, außer der 
Permanenz des Vorstellungslebens auch eine für die Mannig- 
faltigkeit der Erlebnisse zureichende Differenzierung^) an. Der 
Verlauf der Vorstellungen soll sich möglichst genau den Erleb- 
nissen, seien es nun physische oder psychische, anpassen, er 
soll denselben sich anschließend folgen und vorauseilen, er soll 
in verschiedenen Fällen sich möglichst wenig ändern und den- 
noch der Verschiedenheit der Fälle gerecht werden. Der Vor- 
stellungsverlauf soll ein möglichst getreues Abbild des Natur- 
laufes selbst sein. Es wurde schon erwähnt, daß erhebliche 
Fortschritte der Forschung nur zu erzielen sind durch Zusammen- 
wirkung der sozialen Vereinigung der Menschen, durch gegen- 
seitige Mitteilung, durch Sprache und Schrift. 
4. Wer es unangenehm empfunden hat, einen Giftschwamm 
mit einem eßbaren Schwamm verwechselt zu haben, wird genau 
auf die roten und weißen Flecke des Fliegenschwammes achten, 
wird dieselben als warnendes Zeichen der Giftigkeit auffassen. 
Dieselben heben sich dann deutlich von dem Gesamtbilde des 
Schwammes ab. Ähnlich verhalten wir uns gegenüber giftigen 
Beeren u. s. w. So lernen wir also die wichtigeren Bestimmungs- 
stücke eines Erlebnisses gesondert beachten, dasselbe in Teile 
auflösen oder aus Teilen zusammensetzen. Indem wir eine Seite 
eines Erlebnisses durch eine andere uns auffallende oder wichtig 
scheinende als näher bestimmt ansehen, und dies sprachlich aus- 
drücken, fällen wir ein Urteil. Gewiß kann man auch innerlich 
urteilen, ohne sprachlichen Ausdruck, oder vor demselben. Der 
geniale Wilde, der seine Kürbisschale durch Tonüberzug zuerst 
vor dem Verbrennen schützte, befand sich wohl in diesem Falle. 
') Analyse S. 248. 
Erkenntnis und Irrtum. 113 
Er urteilte: „Die Kürbisschale verbrennt." „Ton brennt nicht." 
„Der mit Ton überzogene Kürbis brennt nicht." Man kann ein- 
fache Beobachtungen, Erfahrungen sammeln, Erfindungen machen, 
urteilen, ohne zu sprechen. Man kann dies an klugen Hunden 
und an Kindern, die noch nicht sprechen können, sehr gut beob- 
achten.^) Der sprachliche Ausdruck des Urteils hat aber seine 
bedeutenden Vorteile. Indem derselbe zwingt, für die Mitteilung 
jedes Erlebnis in allgemein bekannte und benannte Bestandteile 
zu zerlegen, gewinnt der Sprechende selbst ungemein an Klar- 
heit.^) Seine Aufmerksamkeit muß einzelnes hervorheben; er muß 
abstrahieren und nötigt auch andere hierzu. Wenn ich sage 
„der Stein ist rund", so trenne ich die Form vom Material. Im 
Urteil „der Stein dient als Hammer" ist der Gebrauch vom 
Objekt getrennt. Der Satz „das Blatt ist grün" stellt der Form 
die Farbe gegenüber. So sehr nun das Gedankenleben einer- 
seits durch den sprachlichen Ausdruck gewinnt, so wird es doch 
anderseits hierbei in zufällige konventionelle Formen eingeschränkt. 
Ob ich sage „der Holzklotz schwimmt auf dem Wasser" oder „das 
Wasser trägt den Holzklotz" macht im Gedanken keinen Unter- 
schied, ist psychologisch dasselbe. Im sprachlichen Ausdruck ist 
aber die Rolle des Subjekts vom Holz auf das Wasser übergegangen. 
Ob ich sage „das Tuch ist zerrissen" oder „das Tuch ist nicht 
ganz" ist psychologisch dasselbe, sprachlich aber habe ich ein 
bejahendes Urteil in ein verneinendes verwandelt. Die Urteile „alle 
Ä sind 5" und „einige A sind 5" kann ich psychologisch als eine 
Summe vieler Urteilsakte auffassen. Da die Logik sich der Sprache 
bedienen muß, hat sie sich mit den historisch hergebrachten gram- 
matischen Formen abzufinden, welche den psychischen Vorgängen 
durchaus nicht genau parallel gehen. ^) Wie weit eine Logik, die 
sich einer künstlichen selbstgeschaffenen Sprache bedient, sich von 
diesem Übelstand befreien und genauer an die psychologischen 
Vorgänge anschließen kann, soll hier nicht erörtert werden.*) 
») Prep er, Die Seele des Kindes. Leipzig 1882. S. 222—233. 
*) Vgl. Prinzipien d. Wärmelehre, S. 406—414. — Populär-wissenschaft- 
liche Vorlesungen, 3. Aufl. 1903, S. 265 u. f. 
«) A. Stöhr, Algebra der Grammatik. Wien 1898. 
*) Boole, An investigation of the laws of thought. London 1854. — 
E. Schröder, Operationskreis des Logikkalküls. Math. Annal. 1877. 
Mach, Erkenntnis und Irrtum. g 
114 Erkenntnis und Irrtum. 
5. Nicht jedes Urteil läßt sich auf eine so einfache sinnen- 
fällige Beobachtung oder Anschauung gründen, wie die „intuitiven" 
Urteile: „Der Stein fällt ohne Unterlage zu Boden", „Wasser ist 
flüssig", „Kochsalz zerfließt im Wasser", „Holz läßt sich bei 
Luftzutritt entzünden". Weitere Erfahrung lehrt z. B., daß im 
letzteren Falle die Bedingungen der Entzündung des Holzes viel 
zusammengesetzter sind, als jenes Urteil angibt. Nicht in jeder 
Luft brennt das Holz; die Luft muß eine genügende Menge 
Sauerstoff enthalten, und das Holz muß eine gewisse Temperatur 
erreichen. Der Sauerstoff (und ebenso die Temperatur) lassen 
sich nicht durch einen einfachen Anblick erkennen; die betreffen- 
den Worte erregen keine einfache anschauliche Vorstellung. Viel- 
mehr müssen wir an das gesamte chemische und physikalische 
Verhalten des Sauerstoffes denken, an alle die Erfahrungen und 
Beobachtungen, die wir mit demselben gemacht, an die Urteile, 
die wir bei dieser Gelegenheit gefällt haben, um die Bedingung: 
„Gegenwart des Sauerstoffes" in Gedanken richtig darzustellen. 
„Sauerstoff" ist ein Begriff, der nicht durch eine anschauliche 
Vorstellung, sondern nur durch dessen Definition, die eine Summe 
von Erfahrungen l^onzentriert enthält, erschöpft wird.^) Dasselbe 
gilt von den Begriffen: „Temperatur, mechanische Arbeit, Wärme- 
menge, elektrischer Strom, Magnetismus" u. s. w. Durch die 
eingehende Beschäftigung mit dem Erfahrungs- und Wissens- 
gebiet, dem ein Begriff angehört, erwerben wir uns die Fertig- 
keit, daß bei Gebrauch des den Begriff bezeichnenden und ver- 
körpernden Wortes alle an denselben geknüpften Erfahrungen 
leise in uns anklingen, ohne daß wir sie deutlich und explicit 
vorstellen. Es ist ein potentielles Wissen, wie S. Stricker ein- 
mal treffend gesagt hat, welches im Begriff liegt. Durch häufigen 
Gebrauch eines Begriffswortes erhalten wir ein sicheres und 
feines Gefühl dafür, in welchem Sinne und innerhalb welcher 
Grenzen wir dasselbe dem Begriff entsprechend verwenden dürfen. 
Menschen, welchen ein Begriff weniger geläufig ist, steigt bei 
Gebrauch des Begriffswortes eine anschauliche Vorstellung auf, 
welche den Begriff repräsentiert und irgend eine hervorstechende 
wichtige Seite des Begriffes versinnlicht. So stellt man sich im 
') Wir denken hier zunächst an empirische Begriffe. 
Erkenntnis und Irrtum, 115 
vulgären Denken bei dem Worte Sauerstoff leicht einen glim- 
menden und hell aufflammenden Span vor, bei dem Worte Tem- 
peratur ein Thermometer, bei dem Worte Arbeit ein gehobenes 
Gewicht u. s. w. Jerusalem hat solche Vorstellungen treffend 
als typische^) Vorstellungen bezeichnet. 
6. Ein selbstgefälltes oder uns mitgeteiltes Urteil, das wir dem 
physischen oder psychischen Befund,^) auf welchen es sich be- 
zieht, angemessen, entsprechend finden, nennen wir richtig, und 
sehen, namentlich wenn es uns neu und wichtig ist, in demselben 
eine Erkenntnis. Eine Erkenntnis ist stets ein uns unmittelbar 
oder doch mittelbar biologisch förderndes psychisches Erlebnis. 
Bewährt sich hingegen das Urteil nicht, so bezeichnen wir es 
als Irrtum^ und in dem schlimmeren Fall einer absichtlichen 
Irreführung als Lüge.^) Dieselbe psychische Organisation, welche 
so förderlich ist und bewirkt, daß wir z. B. eine Wespe so rasch 
wiedererkennen, kann bei anderer Gelegenheit bewirken, daß 
wir einen wespenähnlichen Bockkäfer irrtümlich für eine Wespe 
hahen (Mimicry). Schon die unmittelbare sinnliche Beobachtung 
kann zu Erkenntnis und auch zu Irrtum führen, indem wichtige 
Unterschiede übersehen, oder Übereinstimmungen verkannt, z. B. 
eine mattgefärbte Wespe trotz der charakteristischen Körperform 
für eine Fliege gehalten wird. Noch weit leichter unterliegt 
der Mensch durch ein solches Versehen im begrifflichen Denken 
1) Jerusalem, Lehrbuch der Psychologie, 3. Aufl. 1902, S. 97 u. f. 
2) Der Befund kann sich auf physische oder psychische Tatsachen be- 
ziehen, wobei wir unter letzteren auch die logischen begreifen. 
=*) Ich kann mich nicht mit der Ansicht befreunden, daß das Glauben 
ein besonderer psychischer Akt sei, welcher dem Urteil zu Grunde liegt und 
dessen Wesen ausmacht. Urteile sind keine Glaubensangelegenheiten, sondern 
naive Befunde. Glauben, Zweifel, Unglauben beruhen vielmehr auf Urteilen 
über die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung von zuweilen recht 
komplizierten Urteilskomplexen. Die Zurückweisung von Urteilen, welchen 
wir nicht zustimmen können, ist oft von einer starken Emotion begleitet, welche 
zu unwillkürlichen Lautäußerungen Anlaß gibt. Aus einer solchen Lautäußerung 
entsteht nach Jerusalem (Psychologie S. 121) die Verneinungspartikel. Das 
Bedürfnis für eine Bejahungspartikel ist viel geringer; dieselbe tritt viel später 
auf. Einer meiner Knaben bediente sich im Alter von 2 — 3 Jahren der mit 
Energie ausgesprochenen Abweisungssilbe „meich", indem er zugleich das 
zur Unzeit Dargebotene mit einer kräftigen Handbewegung von sich schob. 
Es war ein gekürztes „meichni" (mag nicht). 
116 Erkenntnis und Irrtum. 
dem Irrtum, namentlich der in diesem Gebiete ungeübte, der 
sich mit tjjpischen Vorstellungen begnügt, ohne nachträgliche 
genaue Analyse der verwendeten Begriffe. Erkenntnis und 
Irrtum fließen aus denselben psychischen Quellen; nur der Er- 
folg vermag beide zu scheiden. Der klar erkannte Irrtum ist 
als Korrektiv ebenso erkenntnisfördend wie die positive Er- 
kenntnis. 
7. Wenn wir uns fragen, aus welcher Quelle die irrtümlichen 
auf Beobachtung gegründeten Urteile entspringen, die wir hier 
ins Auge fassen, so müssen wir die unzureichende Beachtung der 
Umstände der Beobachtung als solche bezeichnen. Jede einzelne 
Tatsache als solche, sei es nun eine physische oder psychische, 
oder eine aus beiden gemischte, bleibt bestehen. Der Irrtum ergibt 
sich erst, wenn wir dieselbe auch unter anderen Umständen als 
bestehend ansehen, indem wir der Änderung der physischen oder 
psychischen Umstände, oder beider, [keine Rechnung tragen. 
Vor allem dürfen wir die Grenze U nicht unbeachtet lassen, in- 
dem die Abhängigkeiten außerhalb U^ innerhalb U und über U 
hinweg wesentliche Verschiedenheiten darbieten.^) Die Ver- 
wechslung einer echten Hallucination mit einer Empfindung ge- 
hört hierher, kommt aber im Zustande der Gesundheit nicht leicht 
vor. Dagegen ist die Verwechslung oder ungenaue Sonderung 
einer Empfindung von der dadurch associativ erregten Vor- 
stellung etwas Alltägliches. Die Auffassung des Spiegelbildes 
als Körper ist das einfachste Beispiel. Wir können sie täglich 
auch an Vögeln und anderen Tieren beobachten. Affen greifen 
hinter den Spiegel und äußern ihrer höheren psychischen Stufe 
gemäß Verdruß über die Neckerei.^) Wenn eine stärkere Er- 
wartung bereit ist, die Empfindung^ associativ zu ergänzen, er- 
geben sich weniger angenehme Täuschungen, wie die erwähnte 
mit der Schlange und dem Stock. Solche stellen sich besonders- 
leicht ein, wenn die Empfindungsintensität herabgesetzt, z. B. das 
Licht schwach und dafür die Phantasie stark erregt ist. Solche 
Fälle der Überwindung der Empfindung durch eine Illusion können 
auch bei der wissenschaftlichen Forschung Schaden anrichten.^) 
») Vgl. S. 8. 
*) Darwin, Kleinere Schriften, übersetzt von E. Krause. II. S. 14L 
") Vgl. Analyse d. Empfindungen. 4. Aufl. S. 158, 159. 
Erkenntnis und Irrtum. 117 
Welche Rolle im volkstümlichen Denken 'die Übersetzung der 
Traumphantasmen ins Physische gespielt [haben, ist schon be- 
trachtet worden. Mancher wird sich erinnern, daß er als Kind 
aus dem Traum erwacht ist, weinend um das schöne Spielzeug, 
das er eben noch in der Hand hatte und das nun dahin war. 
Jugendliche Völker verhalten sich nicht viel anders, als ein sol- 
ches Kind. Daher die Wichtigkeit, welche bei ihnen den Träumen, 
als das wache Leben bestimmend, beigemessen wird, und die 
eifrige Pflege der Traumdeutung. 
8. Die Grenze zwischen Traum und Wachen gewinnt nur 
ganz allmählich ihre volle Deutlichkeit, wie ich dies durch kürzlich 
Erlebtes erläutern will. Ich erwache nachts dadurch, daß ich die 
Türe öffnen und jemand eintreten höre. Trotz der tiefen Dunkel- 
heit sehe ich eine lange Gestalt der Wand entlang schleichen 
und vor dem schwach erhellten Fenster stehen bleiben. Mich 
ruhig verhaltend und beobachtend höre ich nicht mehr das ge- 
ringste Geräusch, sehe aber die Gestalt allerlei langsame Be- 
wegungen ausführen. Nun wird mir klar, daß vor dem Fenster 
€in Kleiderständer sich befindet, dessen Umrisse bei der großen 
Dunkelheit durch mein Wachphantasma, welches von meinem 
Traumphantasma übriggeblieben war, fortwährend verändert 
werden. ^) Letztere Erscheinung ist mir von dunklen schlaflosen 
Nächten her geläufig und wohl bekannt. Ich sehe in den dun- 
kelsten Nächten die Fenster meines Schlafzimmers. Da ich aber 
über den Ort der Fenster, ihre Breite u. s. w. etwas unsicher ur- 
teile, so decke ich die Augen mit der Hand, oder schließe sie 
ganz und sehe die Fenster auch dann noch. Dies ist also ein 
gutes Mittel, um ein Phantasma bei tiefer Dunkelheit von einer 
physikalisch bedingten Empfindung zu unterscheiden. 
9. Aus dem schon angezogenen Buch von Powell, welches 
ich nicht gerade in philosophischer Hinsicht empfehlen möchte, 
welches aber viele gute Einzelheiten enthält, möchte ich als 
interessantes Beispiel „physikalischen" Denkens die Ansicht eines 
') Es gibt auf der Netzhaut ruhende Phantasmen, dunkle Flecke, oder 
auch sich erweiternde und kontrahierende Ringe. Bedenkt man die Unmög' 
lichkeit, im Dunkeln scharf zu fixieren, so können auch die ersteren Phan- 
tasmen mit dem objektiv Gesehenen zusammen Bewegungen vortäuschen. 
118 Erkenntnis und Irrtum. 
Indianerhäuptlings anführen. ^) Eine Gesellschaft von Weißen und 
Indianern unterhält sich nach des Tages Arbeit mit dem Versuch, 
Steine über eine tiefe Schlucht (Cafion) zu werfen, in deren Nähe 
sie Rast gemacht hat. Keinem der Beteiligten will dies gelingen, 
alle Steine fallen in die Tiefe, nur der Häuptling Chuar streift 
eben noch die gegenüberliegende Felswand. Das Gespräch be- 
schäftigt sich mit dieser auffallenden Erscheinung und Chuar 
meint: Wenn die Schlucht ausgefüllt wäre, würde man sie mit 
Leichtigkeit überwerfen, so aber zieht der leere Raum den Stein 
mächtig herab. Dem europäisch-amerikanischen Zweifel an der 
Richtigkeit dieser Auffassung begegnet Chuar mit der Frage: 
Fühh ihr denn nicht selbst, wie der Abgrund euch hinabzieht, 
so daß ihr euch zurücklehnen müßt, um nicht hinabzufallen? 
Fühlt ihr nicht beim Erklettern eines hohen Baumes, daß es desto 
schwieriger wird, je höher ihr kommt und je mehr leerer Raum 
unter euch ist? — Uns modernen Menschen scheint diese „wilde 
Phipsik" in mehrfacher Beziehung irrig. Chuar deutet zunächst 
sein subjektives Schwindelgefühl als eine physikalische Kraft, 
die alle Körper in den Abgrund zieht. Daß der große Abgrund 
ober uns nicht ebenso aktiv ist, stört Chuar natürlich nicht, denn 
das „Unten" ist für ihn eine absolute Richtung. Wir dürfen ja 
von ihm nicht verlangen, daß er in dieser Richtung klüger 
sei als die Kirchenväter Lactantius und Augustinus. Daß Chuar 
dem leeren Raum Kräfte zuschreibt, würde Descartes und seinen 
Genossen Entsetzen verursacht haben; seit Fresnel, Faraday, 
Maxwell und Hertz darf uns das nicht mehr in die Verwun- 
derung setzen, die es bei den gebildeten weißen Genossen Chuars 
erregt hat. — Der moderne Physiker würde vor allem zweifeln, 
daß hier eine wirkliche physikalische Tatsache vorliegt, die eine 
Erklärung fordert. Er würde nötigenfalls durch Messung den 
Nachweis führen, daß man ober der Schlucht nicht weniger weit 
wirft, sondern wieder physiologisch die Breite der Schlucht unter- 
schätzt. Eine gleichbelastete Wage, deren eine Schale an einem 
langen Wagebalken ober dem Abgrund sich befände, würde im 
Gleichgewicht bleiben und wenn sie genug empfindlich wäre, 
so würde die Schale ober dem Abgrund sogar etwas nach oben 
') Powell, a.a.O. S. 1,2. 
Erkenntnis und Irrtum. 119 
ausschlagen. — Unsere subjektiven Empfindungen und Gefühle 
hppostasieren wir nicht mehr als physikalische Kräfte. Darin 
sind wir über den Indianerhäuptling hinaus. Um aber nicht zu 
stolz zu werden, dürfen wir nur bedenken, daß wir dafür noch 
immer unsere subjektiven Begriffe als physikalische Realitäten 
betrachten, wie Stallo^) gezeigt hat und wie ich selbst nach- 
gewiesen habe. ^) Von der Irreführung der Forschung, welche 
sich dadurch ergibt, soll anderwärts die Rede sein. 
10. Man schützt sich vor dem Irrtum und zieht sogar Nutzen 
aus demselben, indem man die Motive, welche verführend ge- 
wirkt haben, aufdeckt. Diese treten am reinsten und deutlichsten 
hervor in Fällen der bewußten absichtlichen Irreführung. Über 
die kunstvollen Trugschlüsse der Sophisten, welche das begriff- 
liche Denken irreleiten, wollen wir hier zunächst nicht sprechen. 
Es gibt aber nicht nur Sophisten des Wortes, sondern auch So- 
phisten der Tat, welche durch eine Scheinhandlung die Beobach- 
tung, auf die wir hier unser Augenmerk richten, irreführen. 
Recht lohnend ist es, das Verfahren der Escamoteure oder Taschen- 
spieler zu analysieren, durch welches diese mit sehr einfachen 
Mitteln das Publikum täuschen und überraschen. Ein sehr plumpes 
Mittel besteht darin, den Zuschauer zur Annahme einer Identität 
zu veranlassen, welche nicht besteht. Eine entlehnte Taschenuhr 
z. B. wird in einen Mörser gelegt, der verdeckt seitwärts auf 
einen Tisch gestellt wird, worauf irgend eine gleichgültige Zau- 
berei die Aufmerksamkeit des Publikums ablenkt, damit ein ver- 
borgener Gehilfe die eingelegte Uhr unbemerkt herausnehmen 
und durch eine ähnliche wertlose ersetzen kann. Die falsche Uhr 
wird nun zertrümmert. Während die Trümmer herumgezeigt 
werden und wieder eine gleichgültige Scheinhandlung vorge- 
nommen wird, kommt durch den Gehilfen die Originaluhr unver- 
sehrt an einem Orte zum Vorschein, wo sie niemand vermutete.^) 
Ausnahmsweise läßt sich der Escamoteur zur Erhöhung seines 
Rufes diesen Spaß auch ein schönes Stück Geld kosten. So 
zertrümmerte Houdin^) in einer Vorstellung vor Papst Pius VII. 
') Stallo, Die Begriffe und Theorien der modernen Physik. Leipzig 190L 
«) Vgl. Mechanili, 4. Aufl. 1901. 
*) Decremps, La magie blanche devoil6e. Paris 1789, I. S. 47. 
*) Houdin, Confidences d'un prestidigitateur. Paris 1881, I. S. 129. 
120 Erkenntnis und Irrtum. 
eine teuer erkaufte Uhr, welche derjenigen eines Kardinals genau 
nachgebildet war und sogar mit dessen Namenszug versehen 
wurde. Houdin gibt auch kn\t\{\xx[g Scheinbewegungen 2i\xsz\x- 
führen, die z. B. den Eindruck machen, als hätte man einen 
Körper irgendwo hingelegt, während es nicht geschehen ist; er 
zeigt, wie man bei offener Hand und ausgestreckten Fingern 
kleine Körper unbemerkt halten kann und erläutert dies durch 
eine Tafel. ^) Der Escamoteur benützt feine, für Ungeübte un- 
sichtbare Zeichen, die ihn allein leiten. H o u d i n , ^) aufgefordert 
die einer Falschspielerbande abgenommenen Karten zu unter- 
suchen, konnte an der ganz weißen und glatten Rückseite der 
Karten, trotz beharrlichen Suchens, keinerlei Zeichen entdecken. 
Als er das Spiel endlich geärgert und mutlos hinwarf, bemerkte 
er auf der glänzenden Rückseite einer Karte ein kleines mattes 
Fleckchen. Nun zeigte die genauere Untersuchung, daß jede 
Karte in der Ecke ein solches Fleckchen aufwies, welches sozu- 
sagen, in eine Tafel mit doppeltem Eingang, in ein Koordinaten- 
system eingetragen war. Der Abstand des matten Fleckchens 
vom oberen horizontalen Rande der Karte bezeichnete die Farbe, 
der Abstand vom linken vertikalen Rand den Wert der Karte. 
So erhielt also der Spieler eine vollständige Kenntnis der Karten 
seines Gegners, ohne daß dieser eine Ahnung davon hatte. — 
Die Verwendung ungewöhnlicher, wenn auch simpler Mittel, an 
die niemand denkt, wird fast immer dem Escamoteur zu Erfolg 
verhelfen. 
11. In Europa wird man heute durch Anwendung eines kräftigen 
Elektromagneten kein Aufsehen erregen, und die Anordnung wird 
bald durchschaut werden. Als aber H o u d i n ^) bei einer Vorstellung 
vor den Arabern in Algier ein leichtes Kofferchen (mit eisernem 
Boden) durch einen Elektromagnet unter dem Teppich „für den 
stärksten Mann zu schwer" machte, ergriff die Zuschauer natürlich 
ein unbeschreiblicher Schrecken. Wie auf sehr einfache Weise 
auch gebildete und erfahrene Leute aus der Fassung gebracht 
werden können, lehrt folgender von Decremps*) mitgeteilter 
*) Houdin, Comment on devient sorcier. Paris 1882. S. 22. 
«) Houdin, Confidences ect., I, S. 288— 291. 
8) Houdin, Confidences, II, S. 218 u. f. 
♦) Decremps, a. a. O., I, S. 76 u. f. 
Erkenntnis und Irrtum. 121 
Fall. Herr van Estin, ein holländischer Kaufmann auf der Insel 
Bourbon, bat den auf der Reise verweilenden Herrn Hill, indem 
er ihm ein Blatt Papier und einen Bleistift darbot, eine beliebige 
Frage niederzuschreiben, das Blatt aber bei sich zu behalten, 
und keinem Menschen zu zeigen, oder besser dasselbe sogar 
zu verbrennen. Nachdem dies alles in Abwesenheit des Herrn 
van Estin geschehen war, kam dieser mit einem zusammen- 
gefalteten Blatt und erklärte, daß dieses die Antwort enthalte. 
Damit Herr Hill aber nicht an ein gewöhnliches Escamotier- 
stückchen glaube, ließ er ihn das gefaltete Papier mit seinem 
Namenszug versehen und wies ihn an, das so markierte Blatt in der 
Schreibtischlade eines Pavillons am Ende eines Parkes zu holen, 
indem er ihm zugleich die Schlüssel des Pavillons und des 
Schreibtisches übergab. Herr Hill lief eilends nach dem Pavillon 
und fand an dem bezeichneten Ort in der Tat das von ihm be- 
zeichnete Blatt mit der korrekten Antwort auf seine Frage. Ohne 
uns mit den mechanischen, optischen und akustischen Teufeleien 
aufzuhalten, welche Herrn Hill im Pavillon begegneten und die 
ihn in der Tat irritierten, und seine Aufmerksamkeit nach allen 
Richtungen hin und her zerrten, betrachten wir gleich die Auf- 
klärung dieses überraschend scheinenden Kunststückes. Wozu 
muß Hill seine Frage niederschreiben? Warum genügt nicht eine 
gedachte Frage? Natürlich, weil sie eine Spur zurücklassen 
muß. Das Blatt, auf welches Hill schrieb, lag auf einer schwarzen 
Mappe, die Kopierpapier enthielt. Das gefaltete Blatt van Estins, 
auf welches die Antwort sehr bequem nach der Entfernung Hills 
geschrieben werden konnte, wurde pneumatisch durch ein Rohr 
in den fernen Schreibtisch befördert. Der komplizierte Aufputz 
diente nur zur Verhüllung des einfachen Sachverhaltes. Wenn 
wir uns fragen, wodurch sich eine taschenspielerische, von einer 
technischen Erfindung unterscheidet, so ist es dies, daß die erstere 
durchaus keinen positiven Nutzen zu schaffen vermag.^) 
12. Ein interessantes von Decremps^) referiertes Stück ver- 
dient noch Erwähnung. Ein Mann steht vor den Geschworenen 
1) Vgl. „Mechanik", 4. Aufl., S. 535. — Cardanus, De Subtilitate, 1560, 
S. 494, sagt, indem er von der Verachtung der Alchpmisten und anderer Gaukler 
spricht: „Causa multiplex est ut opinor: primo, quod circa inutilia versetur." 
2) Decremps, a. a. O., II, S. 158 u. f.; 
122 Erkenntnis und Irrtum. 
unter der Anklage, ein Kind in den Fluß geworfen und ertränkt 
zu haben. Nicht weniger als 52 Zeugen sagen belastend gegen 
ihn aus. Einige sahen ihn das Kind in den Fluß werfen, andere 
hörten das Kind schreien, wieder andere hatten den Mann im 
höchsten Zorn auf das Kind losschlagen gesehen u. s. w. Der 
Mann verteidigt sich, indem er sagt, daß niemand den Verlust 
eines Kindes zur Anzeige gebracht habe und daß keine Leiche 
gefunden worden sei. Das Gericht ist natürlich in großer Ver- 
legenheit. Da bittet der Angeklagte, man möchte einem seiner 
Freunde den Eintritt gestatten, was gewährt wird. Der Freund 
erscheint mit einem großen Pack, aus welchem sich eine Wiege 
mit einem Kind entwickelt. Der Angeklagte liebkost zärtlich das 
Kind, welches sofort zu weinen beginnt. „Nein du armer Wurm, 
du sollst nicht allein und schutzlos in der Welt zurückbleiben!" 
ruft der Angeklagte und zieht sofort einen Säbel aus dem Pack, 
und mit dem Rufe: , Jetzt sollst du deinem Bruder folgen!", 
schlägt er, ehe es jemand hindern kann, dem Kinde den Kopf ab. 
Statt des erwarteten Blutes sieht und hört man einen hölzernen 
Kopf über den Boden kollern. Nun entpuppt sich der Mann als 
Escamoteur und Bauchredner, welcher zu diesem Mittel gegriffen 
hat, um von seiner Kunst zu leben, wozu er sich den nötigen 
Ruf verschaffen mußte. — Mag nun diese Geschichte wahr oder 
erfunden sein, jedenfalls ist sie lehrreich. Es kann etwas sehr 
wahrscheinlich und doch nicht wahr sein. Was sehen nicht alles 
Zeugen, wenn sie einmal glauben, daß dieser oder jener ein 
Mörder oder Dieb ist, und was bezeugen nicht befangene Zeugen! 
Aber was sollen Geschichtchen nützen, wo die jährlich bekannt 
werdenden tatsächlichen Justizmorde nur lehren, wie leicht man 
Menschen verurteilt, die man für schuldig hält. Als ob es nicht 
viel wichtiger wäre, daß kein Unschuldiger verurteilt wird, als 
daß jeder Schuldige der Strafe verfällt! Die Strafrechtspflege 
soll dem Schutze der Menschheit dienen; sie verhält sich aber 
dieser gegenüber zuweilen mehr wie der Bär der Legende, der 
die Fliege auf der Stirn seines schlafenden Wohltäters mit einem 
Stein erschlägt.*) 
') In der Übersetzung des Licius von Ernst Faber, die 1877 zu Elber- 
feld erschien, finden sich einige Stellen, welche die Wirkung der Suggestion 
und eines falschen Verdachtes wunderbar beleuchten: S. 207 wird die Spiel- 
Erkenntnis und Irrtum. 123^ 
13. Wir können aus der Beobachtung der Escamoteure und 
dem Verhalten des Publikums für unser Verhalten bei wissenschaft- 
lichen Untersuchungen fruchtbringende Lehren ziehen. Die Natur 
ist zwar keine Gauklerin, die uns hinter das Licht führen 
will, allein die Naturvorgänge sind doch äußerst zusammen- 
gesetzt. Außer den Umständen, deren Zusammenhang wir in 
einem gegebenen Falle untersuchen wollen, und auf welche 
unsere Aufmerksamkeit eben gerichtet ist, sind noch eine Menge 
anderer Umstände für die Vorgänge mitbestimmend, und ver- 
decken den uns interessierenden Zusammenhang, komplizieren 
und fälschen scheinbar den ins Auge gefaßten Vorgang. Des- 
halb darf der Forscher keinen ohne seine Absicht mitspielenden 
Nebenumstand unberücksichtigt lassen, deshalb muß er alle 
Fehlerquellen in Betracht ziehen. Ein Forscher untersucht z. B. 
eine neue Wirkung des elektrischen Stromes mit Hilfe des Gal- 
vanometers, vergißt aber im Eifer, daß der Ausschlag vielleicht 
auch teilweise oder ganz von einer übersehenen Stromschleife 
herrühren kann, und möglicherweise mit dem untersuchten Vor- 
gang gar nichts zu tun hat. Besonders müssen wir uns hüten, 
Identitäten anzunehmen, ohne uns von dem Bestehen derselben 
zu überzeugen. Ein Chemiker findet eine neue Reaktion eines 
gesellschaft eines Reichen geschildert. Ein Bussard fliegt vorüber und läßt 
eine tote Maus unter die Leute auf der Straße fallen. „Herr Yu hat lange 
Zeit reiche und fröhliche Tage gehabt und hegt beständig geringschätzige 
Gedanken gegen andere Menschen. Wir haben ihm nichts zuleide getan, 
und er beschimpft uns mit einer toten Maus. Wenn dies nicht vergolten wird, 
so können wir schwerlich in der Welt bestehen. Es wird also gebeten, alle, 
die zu uns gehören, mit energischem Willen hinaufzuführen; sein Haus muß 
vernichtet werden! . . . Am Abend desselbigen Tages versammelte sich die 
Menge, nahm die Waffen, griff den Herrn Yu an und richtete eine große 
Verwüstung in seinem Eigentum an." — S. 217. „Ein Mann vermißte seine 
Axt und beargwöhnte den Sohn des Nachbars. Er beobachtete ihn nun; aus 
Schritt und Tritt blickte der Axtdieb; aus dem Ausdruck seiner Augen blickte 
der Axtdieb; aus seinen Worten und Reden blickte der Axtdieb; aus Be- 
wegung, Gestalt und Benehmen, aus jeglichem Tun — blickte der Axtdieb 
heraus. — Zufällig grub er in seiner Schlucht nach und fand da die Axt. — 
Den andern Tag sah er wieder den Sohn seines Nachbars. Bewegung, Hand- 
lung, Gestalt und Benehmen waren nicht mehr denen eines Axtdiebes ähnlich." 
— Sehr wertvoll und lehrreich für den Juristen scheinen mir W. Sterns 
„Beiträge zur Psychologie der Aussage", von welchen 1903 das erste Heft 
erschienen ist. 
124 Erkenntnis und Irrtum. 
Stoffes. Der Stoff wurde aber vielleicht durch ein neues Ver- 
fahren dargesteUt, ist vielleicht nicht rein, also gar nicht der- 
selbe Stoff, den er zu untersuchen vermeint. Endlich haben wir 
uns gegenwärtig zu halten, daß die größte Wahrscheinlichkeit 
noch immer keine ausgemachte Wahrheit ist. 
14. Ich möchte diese Ausführungen mit der Erzählung eines 
kleinen Erlebnisses schließen, das für mich äußerst lehrreich war. 
Eines Sonntags Nachmittags zeigte der Vater uns Kindern den Ver- 
such, welchen Athanasius Kircher ^) als „experimentum mirabile 
de immaginatione gallinae" beschreibt, nur mit einer ganz gering- 
fügigen Änderung. Ein Huhn wird trotz seines Sträubens auf 
die Diele niedergedrückt und eine halbe Minute etwa festgehalten. 
Es hat sich einstweilen beruhigt. Mit Kreide wird nun ein Strich 
über den Rücken des Huhns und auf dem Boden um das Huhn 
herum geführt. Läßt man nun das Huhn los, so bleibt es ruhig 
sitzen. Man bedarf nun recht kräftiger Schreckmittel, um das 
Huhn zum Aufspringen und Davonlaufen zu bewegen, „denn es 
bildet sich ein, angebunden zu sein". Viele Jahre später kam 
ich mit einem Laboratoriumsgenossen, Prof. J. Kessel, auf die 
Hypnose zu sprechen, und da erinnerte ich mich wieder einmal des 
Kirch ersehen Versuchs. Wir ließen ein Huhn kommen und 
wiederholten den Versuch mit dem besten Erfolg. Aber auch, 
als bei nochmaliger Wiederholung das Huhn einfach nieder- 
gedrückt, und die Zauberei mit dem Kreidestrich weggelassen 
wurde, gelang der Versuch ebensogut. Die „imaginatio gallinae", 
welche seit der Kinderzeit in meinem Kopfe unangefochten fort- 
bestanden hatte, war hiermit für immer zerstört. 
15. Wir lernen aus diesem Fall, daß es nicht ratsam ist, ein 
einzelnes Experiment oder eine einzelne Beobachtung als be- 
weisend für die Richtigkeit einer Meinung anzusehen, welche 
dadurch scheinbar bestätigt wird. Vielmehr muß man, ob das 
Experiment ein eigenes oder fremdes ist, sowohl die Umstände, 
welche man für maßgebend hält, als auch die scheinbar gleich- 
gültigen, nach Möglichkeit variieren. Newton hat diese Methode 
in der Optik in ausgiebiger und musterhafter Weise geübt, und 
') A. Kircher, Ars magna lucis et umbrae, Amstelodami, 1671, S. 112 
bis 113. 
Erkenntnis und Irrtum. 125 
hat dadurch zur modernen Experimentalphysik ebenso den Grund 
gelegt, wie er durch seine Prinzipien der Naturphilosophie zum 
Schöpfer der mathematischen Physik geworden ist. Beide Werke 
sind auch als Erziehungsmittel zur Forschung in gleichem Maße 
unersetzlich und unübertrefflich. 
Halten wir uns als Ergebnis unserer Betrachtung gegen- 
wärtig, daß es dieselben psychischen Funktionen, nach denselben 
Regeln ablaufend , sind, welche einmal zur Erkenntnis, das 
andere Mal zum Irrtum führen, und daß nur die wiederholte, 
sorgfältige, allseitige Prüfung uns vor letzterem schützen kann. 
Der Begriff. 
1. Es ist nun notwendig den Begriff als psychologisches Ge- 
bilde näher in Augenschein zu nehmen. Wer sich gegenwärtig 
hält, daß er sich einen Menschen, der weder jung noch alt, weder 
^roß noch klein ist, kurz einen allgemeinen Menschen nicht vor- 
stellen kann, wer überlegt, daß jedes vorgestellte Dreieck ent- 
weder rechtwinklig, spitzwinklig oder stumpfwinklig, demnach 
kein allgemeines Dreieck ist, der kommt leicht zu dem Gedanken, 
daß solche psychische Gebilde, die wir Begriffe nennen, nicht 
existieren, daß es abstrakte Vorstellungen überhaupt nicht gibt, 
was mit besonderer Lebhaftigkeit insbesondere Berkeley ver- 
fochten hat. Diese Überlegung führt auch leicht zu der von 
Roscellinus vertretenen Ansicht, daß die allgemeinen Begriffe 
(Universalien) nicht als Sachen bestünden, sondern nur „flatus 
vocis" seien, während die Gegner seines „Nominalismus", die 
„Realisten", die allgemeinen Begriffe als in den Dingen be- 
gründet ansahen. Daß allgemeine Begriffe nicht bloße Worte 
seien, wie noch kürzlich ein geachteter Mathematiker behauptet 
hat, geht deutlich genug daraus hervor, daß sehr abstrakte Sätze 
verstanden und in konkreten Fällen richtig angewendet werden. 
Die unzählichen Anwendungen des Satzes: „Die Energie bleibt 
konstant" mögen ein Beispiel dafür abgeben. Man würde sich 
aber vergebens bemühen, beim Sprechen oder Hören dieses 
Satzes einen momentanen konkreten anschaulichen Vorstellungs- 
inhalt im Bewußtsein zu finden, welcher den Sinn desselben voll- 
ständig decken würde. Diese Schwierigkeiten verschwinden, 
wenn wir dem Umstände Rechnung tragen, daß der Begriff kein 
Augenblicksgebilde ist, wie eine einfache konkrete sinnliche Vor- 
stellung, wenn wir bedenken, daß jeder Begriff seine zuweilen 
recht lange und ereignisreiche psychologische Bildungsgeschichte 
Der Begriff. 127 
hat, und daß sein Inhalt ebensowenig durch einen Augenbh'cks- 
gedanken explicite dargelegt werden kann/) 
2. Man kann annehmen, daß ein Hase sich bald im Besitze der 
typischen Vorstellung^) eines Krautkopfes, eines Menschen, eines 
Hundes oder Rindes befindet, daß er durch den ersten angelockt 
wird, den zweiten und dritten flieht, gegen das vierte sich gleich- 
gültig verhält, infolge der nächsten Associationen, welche sich 
an die betreffenden Wahrnehmungen oder die zugehörigen typi- 
schen Vorstellungen knüpfen. Je reicher aber die Erfahrung 
dieses Tieres wird, desto mehr gemeinsame Reaktionen der 
Objekte je eines dieser Typen werden ihm bekannt, Reaktionen, 
die nicht alle zugleich in seiner Vorstellung lebendig werden 
können. Wird das Tier durch ein Objekt angelockt, welches 
einem Krautkopf ähnlich ist, so wird sofort eine prüfende Tätig- 
keit ausgelöst; das Tier wird durch Beschnuppern, Benagen u.s.w. 
sich überzeugen, ob das Objekt wirklich die bekannten erwarteten 
Reaktionen: Geruch, Geschmack, Konsistenz u. s. w. darbietet. 
Durch eine menschenähnliche Vogelscheuche im ersten Moment 
erschreckt, kommt das aufmerksam beobachtende Tier bald zur 
Einsicht, daß hier wichtige Reaktionen des Typus Mensch, die 
Bewegung, die Ortsveränderung, das aggressive Verhalten u. s. w. 
fehlen. Hier knüpfen sich schon an die typische Vorstellung zu- 
nächst latent oder potentiell die nach und nach aufgespeicherten 
Erinnerungen an eine Menge von Erfahrungen oder Reaktionen, 
welche bei einer prüfenden Tätigkeit auch nur nach und nach 
ins Bewußtsein treten können. Hierin scheint mir nun das 
>) Eine psychologische Theorie des Begriffs habe ich versucht zu geben: 
Analyse d. Empfindungen. 1886, 4. Aufl. 1903, S. 249—255. — Populär- 
wissensch. Vorlesungen. 3. Aufl. 1903, S. 277—280. — Prinzipien d. Wärme- 
lehre, 2. Aufl. 1900, S. 415—422. — Vgl. ferner: H. Rickert, Zur Theorie 
der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Viertel), f. wiss. Philosoph. 
Bd. 18, 1894, S. 277. — H. Gomperz, Zur Psychologie d. logisch. Grund- 
tatsachen. Wien 1897. — Th. Ribot, L'^volution des Idees generales. Paris 
1897. — M. Keibel, Die Abbildtheorie u. ihr Recht in d. Wissenschaftslehre. 
Zeitschr. f. immanente Philos. Bd. 3, 1898. — Endlich möchte ich auf die 
gleichzeitig mit der ersten Auflage des vorliegenden Buches gedruckte Schrift 
von A. Stöhr (Leitfaden der Logik in psychologisierender Darstellung, Wien 
1905) verweisen. Gleich die ersten Seiten enthalten eine originelle Beleuch- 
tung der Begriffslehre vom Standpunkt der Neuronentheorie. 
2) Vgl. S. 115. 
128 Der Begriff. 
Charakteristische des Begriffs im Gegensatz zu einer individu- 
ellen Augenblicksvorstellung zu liegen. Die letztere entwickelt 
sich durch associative Bereicherung ganz allmählich zu ersterem, 
so daß wir einen kontinuierlichen Übergang vor uns haben. Ich 
glaube hiernach, daß man Anfänge der Begriffsbildung den 
höheren Tieren nicht absprechen kann.^) 
3. Der Mensch bildet seine Begriffe in derselben Weise wie 
das Tier, wird aber durch die Sprache und durch den Verkehr mit 
den Genossen, welche beiden Mittel dem Tier nur geringe Hilfe 
leisten, mächtig unterstützt. In dem Wort besitzt er eine sinnlich 
allgemein faßbare Etikette des Begriffes, auch in Fällen, in welchen 
die typische Vorstellung unzureichend wird oder überhaupt nicht 
mehr existiert. Ein Wort deckt allerdings nicht immer einen Be- 
griff. Kinder und jugendliche Völker, die noch einen geringen 
Vorrat von Wörtern haben, gebrauchen ein Wort zur Bezeichnung 
einer Sache oder eines Vorganges, bei nächster Gelegenheit aber 
zur Bezeichnung einer andern Sache oder eines andern Vor- 
ganges, welche mit ersteren irgend eine Ähnlichkeit der Reak- 
tion darbieten.^) Dadurch schwankt und wechselt die Bedeutung 
der Worte. Unter gegebenen Umständen ist aber die Zahl der 
biologisch wichtigen Reaktionen, auf welche die überwiegende 
Mehrheit achtet, eine geringe, und dadurch wird der Gebrauch 
der Worte wieder stabilisiert. Jedes Wort dient dann zur Be- 
zeichnung einer Klasse von Objekten (Sachen oder Vorgängen) 
bestimmter Reaktion. Die Mannigfaltigkeit der biologisch meh- 
ligen Reaktionen ist viel geringer als die Mannigfaltigkeit des 
Tatsächlichen. Dadurch wurde der Mensch zuerst in die Lage 
versetzt, das Tatsächliche begrifflich zu klassifizieren. Dies Ver- 
hältnis bleibt bestehen, wenn ein Stand oder ein Beruf einem 
Tatsachengebiet den Blick zuwendet, welches kein unmittelbares 
biologisches Interesse mehr darbietet. Auch da ist die Mannig- 
faltigkeit der für den besonderen Zweck mehligen Reaktionen 
geringer als die Mannigfaltigkeit des Tatsächlichen. Die Reak- 
tionen sind aber jetzt andere, als in dem früheren Falle, weshalb 
jeder Stand oder Beruf seine eigene begriffliche Klassifikation 
») Vgl. Wärmelehre S. 416. 
2) Vgl. Analyse S. 250. 
Der Begriff. 129 
vornimmt. Der Handwerker, der Arzt, der Jurist, der Techniker, 
der Naturforscher bildet seine eigenen Begriffe, gibt den Worten 
durch umschreibende Einschränkung (Definition) eine von der 
Vulgärsprache verschiedene, engere Bedeutung, oder wählt zur 
Begriffsbezeichnung gar neue Worte. Ein solches, etwa natur- 
wissenschaftliches Begriffswort hat nun den Zweck, an die Ver- 
bindung aller in der Definition bezeichneten Reaktionen des 
definierten Objektes zu erinnern, und diese Erinnerungen wie 
an einem Faden ins Bewußtsein zu ziehen. Man denke etwa an 
die Definition des Wasserstoffes, der Bewegungsquantität eines 
mechanischen Systems oder des Potentials in einem Punkt. 
Natürlich kann jede Definition wieder Begriffe enthalten, so daß 
erst die letzten, untersten begrifflichen Bausteine in sinnenfällige 
Reaktionen als deren Merkmale aufgelöst werden können. Wie 
schnell und wie leicht eine solche Auflösung gelingt, hängt von 
der genauen Kenntnis und Geläufigkeit des Begriffes ab, und 
wie weit sie notwendig ist, wird durch den verfolgten Zweck 
bestimmt. Überlegt man, wie diese Begriffe sich gebildet haben, 
daß Jahre und Jahrhunderte an deren Bildung gearbeitet haben, 
so wird man sich nicht wundern, daß deren Inhalt nicht durch 
eine individuelle Augenblicksvorstellung zu erschöpfen ist. 
4. Welche Begriffe zu bilden und wie dieselben gegen- 
einander abzugrenzen sind, darüber hat nur das praktische oder 
wissenschaftliche Bedürfnis zu entscheiden. In die Definition 
werden die Reaktionen aufgenommen, welche zur Bestimmung 
des Begriffes hinreichen. Andere Reaktionen, von denen es 
schon bekannt und geläufig ist, daß sie an die in den Defini- 
tionen enthaltenen unabänderlich gebunden sind, braucht man 
nicht besonders anzuführen. Die Definition würde dadurch nur 
mit Überflüssigem belastet. Es kann aber allerdings vorkommen, 
daß die Auffindung solcher weiterer Reaktionen eine Entdeckung 
vorstellt. Bestimmen die neuen Reaktionen für sich allein eben- 
falls den Begriff, so können dieselben gleichfalls zur Definition 
dienen. Wir definieren den Kreis als die ebene Kurve, deren 
sämtliche Punkte von einem bestimmten Punkte gleichen Ab- 
stand haben. Andere Eigenschaften des Kreises zählen wir 
nicht auf, z. B. die Gleichheit aller Peripheriewinkel über einem 
beliebigen Bogen, das konstante Verhältnis der Abstände eines 
Mach, Erkenntnis und Irrtum. 9 
130 Der Begriff. 
jeden Kurvenpunktes von zwei bestimmten Punkten seiner Ebene 
u. s. w. Jede der beiden genannten Eigenschaften für sich allein 
definiert aber ebenfalls den Kreis, Dieselbe Tatsache oder 
Gruppe von Tatsachen kann nach Umständen das Interesse und 
die Aufmerksamkeit auf verschiedene Reaktionen, auf verschie- 
dene Begriffe leiten. Ein Kreis kann als Durchschnitt projek- 
tivischer Büschel, als Kurve von konstanter Krümmung, ein 
kreisförmiger Faden als Kurve gleicher Spannung, als Umfang 
der eingeschlossenen Fläche u. s. w. in Betracht kommen. Einen 
Eisenkörper können wir ansehen als Komplex von Sinnesemp- 
findungen, als Gewicht, als Masse, als Wärme- oder Elektrizitäts- 
leiter, als Magneten, als starren oder elastischen Körper, als 
chemisches Element u. s. w. 
5. Jeder Beruf hat seine eigenen Begriffe. Der Musiker liest 
seine Partitur, so wie der Jurist seine Gesetze, der Apotheker 
seine Rezepte, der Koch sein Kochbuch, der Mathematiker oder 
Physiker seine Abhandlung liest. Was für den Berufsfremden 
ein leeres Wort oder Zeichen ist, hat für den Fachmann einen 
ganz bestimmten Sinn, enthält für ihn die Anweisung zu genau 
begrenzten psychischen oder physischen Tätigkeiten, welche ein 
psychisches oder physisches Objekt von ebenso umschriebener 
Reaktion in der Vorstellung zu erzeugen oder vor die Sinne zu 
stellen vermag, wenn er die betreffenden Tätigkeiten wirklich 
ausführt. Hierzu ist es aber unerläßlich, daß er die genannten 
Tätigkeiten wirklich geübt, und sich in denselben die nötige 
Geläufigkeit erworben, daß er in dem Beruf mit gelebt hat.^) 
Bloße Lektüre erzieht ebensowenig einen Fachmann, wie das 
bloße Anhören einer noch so guten Vorlesung. Es fehlt da jede 
Nötigung zur Prüfung der aufgenommenen Begriffe auf ihre 
Richtigkeit, die bei direkter Berührung mit den Tatsachen im 
Laboratorium durch die empfindlichen begangenen Fehler sich 
sofort einstellt. 
Begriffe, welche auf durch Hörensagen unvollständig und 
oberflächlich bekannte Tatsachen gegründet sind, gleichen Ge- 
bäuden aus morschem Material, die bei der ersten Störung halt- 
los zusammenstürzen. Ungeduldiges Drängen zu verfrühter 
») Vgl. Analyse S. 253. 
Der Begriff. 131 
Abstraktion^) beim Unterricht kann deshalb nur schädlich wirken. 
So entstandene Begriffe enthalten potentiell nur schlecht um- 
schriebene und schattenhafte Individualbilder, die besonders leicht 
zu Irrtum verführen werden. 
6. Am deutlichsten offenbart sich die Natur des Begriffes 
demjenigen, der eben anfängt das Gebiet einer Wissenschaft zu 
beherrschen. Die Kenntnis der zu Grunde liegenden Tatsachen 
hat er sich nicht instinktiv angeeignet, sondern er hat aufmerk- 
sam, sorgfältig und absichtlich beobachtet. Von den Tatsachen 
zu den Begriffen und umgekehrt hat er den Weg oft zurück- 
gelegt, und dieser ist ihm in lebhafter Erinnerung, so daß er ihn 
jederzeit zu durchschreiten und auf jedem Punkt zu verweilen 
im Stande ist. Anders verhält es sich mit den weniger bestimmten 
Begriffen, welche von den Worten der Vulgärsprache bezeichnet 
werden.^) Hier hat sich alles instinktiv ohne unser absichtliches 
Zutun ergeben, sowohl die Kenntnis der Tatsachen als auch die 
Begrenzung der Bedeutung der Worte. Durch vielfache Übung 
ist uns das Sprechen, Hören und Verstehen der Sprache so ge- 
läufig geworden, daß alles beinahe automatisch verläuft. Wir 
halten uns bei der Analyse der Bedeutung der Worte nicht mehr 
auf, und die sinnlichen Vorstellungen, welche der Rede zu Grunde 
liegen, treten kaum in Andeutungen oder gar nicht mehr ins 
Bewußtsein. Kein Wunder also, daß ein Mensch, plötzlich ge- 
fragt, was er bei einem Worte, namentlich von abstrakterer Be- 
*) Ich hatte selbst Gelegenheit mich von der Nutzlosigkeit des Drängens 
zur Abstraktion zu überzeugen. Kinder, welche recht gut kleine Mengen oder 
Gruppen von Objekten auffassen und unterscheiden, auch auf die Frage: 
„wie viele Nüsse sind drei Nüsse und zwei Nüsse?" rasch und richtig ant- 
worten, werden durch die Frage: „wieviel ist zwei und drei?" in Verlegen- 
heit gesetzt. Einige Tage später tritt die Abstraktion ganz von selbst ein. 
2) Ich schenkte meinem Jungen im Alter zwischen 4 und 5 Jahren ein 
Kistchen mit Holzmodellen geometrischer Körper, die ich benannte, aber 
natürlich nicht definierte. Seine Anschauung wurde dadurch sehr bereichert 
und seine Phantasie so gestärkt, daß er, ohne das Modell zu sehen, z. B. die 
Ecken, Kanten und Flächen eines Würfels oder Tetraeders herzählen konnte. 
Auch zur Beschreibung seiner kleinen Beobachtungen benützte er die neuen 
Anschauungen und Namen. So nannte er eine Wurst einen krummen Zplinder. 
Geometrische Begriffe hatte aber der Junge doch noch nicht. Der Zplinder 
müßte ganz anders als üblich definiert werden, um die Wurstform als Spezial- 
fall zu umfassen. 
9* 
132 ^er Begriff. 
deutung, in seinem Bewußtsein vorfindet? sehr oft antwortet: 
„Nichts als das Wort!"^) Eine Phrase braucht aber nur Zweifel 
oder Wiederspruch zu erregen, so holen wir sofort das an das 
Wort geknüpfte potentielle Wissen aus der Tiefe der Erinnerung 
hervor. Man lernt eben sprechen und die Sprache verstehen, 
so wie man gehen lernt. Die einzelnen Momente einer geläufigen 
Tätigkeit werden für das Bewußtsein verwischt. Wenn nun ein 
tüchtiger Gelehrter den Ausspruch tut: „Ein Begriff ist nur ein 
Wort", so beruht dies gewiß auf mangelhafter psychologischer 
Selbstbeobachtung. Er verwendet die Begriffsworte infolge 
langer Übung richtig, so wie wir Löffel, Gabel, Schlüssel und 
Feder richtig verwenden, fast ohne daß uns deren langsam er- 
lernter Gebrauch bewußt wird. Er kann das potentielle Wissen 
des Begriffs erwecken, ist aber dazu nicht immer genötigt. 
7. Betrachten wir nun noch etwas genauer den Prozeß der 
Abstraktion, durch welchen Begriffe zu stände kommen. Die Dinge 
(Körper) sind für uns verhältnismäßig stabile Komplexe von anein- 
ander gebundenen, von einander abhängigen Sinnesempfindungen. 
Nicht alle Elemente dieses Komplexes sind aber von gleicher 
biologischer Wichtigkeit. Ein Vogel nährt sich z. B. von roten, 
süßen Beeren. Die für ihn biologisch wichtige Empfindung „süß", 
für welche sein Organismus in angeborener Weise eingestellt ist, 
hat zur Folge, daß derselbe Organismus die associative Ein- 
stellung auf das auffallende und fernwirkende Merkmal „rot" 
erwirbt. Mit anderen Worten: Der Organismus wird für die 
beiden Elemente süß und rot mit einer viel empfindlicheren 
Reaktion ausgestattet, es wird denselben vorzugsweise die Auf- 
merksamkeit zugewendet, dagegen von anderen Elementen des 
Komplexes Beere abgewendet. In dieser Teilung der Einstellung, 
des Interesses,^) der Aufmerksamkeit besteht nun wesentlich der 
Prozeß der Abstraktion. Dieser Prozeß bedingt es, daß in dem 
») Vgl. die statistische Datensammlung bei Ribot, a. a. O. S. 131—145. 
— Ribot bringt bezüglich des „type auditif" S. 139 die ansprechende Hypo- 
these vor, daß derselbe in der Zeit des mittelalterlichen mündlichen Unter- 
richts und der damals üblichen mündlichen Disputationen vielleicht vorherr- 
schend war, und daß diesem Umstand der Ausdruck „flatus vocis" seinen 
Ursprung verdankt. 
2) Ich möchte hier nochmals auf die S. 127 erwähnte Schrift von Stöhr 
hinweisen. Man beachte, was Stöhr „Begriffszentrum" nennt. 
Der Begriff. 133 
Erinnerungsbild Beere nicht alle Empfindungsmerkmale des sinn- 
lich physischen Komplexes Beere in gleicher Stärke ausgeprägt 
sind, wodurch sich das erstere schon der Eigentümlichkeit des 
Begriffes nähert. Selbst die beiden beachteten sinnlichen Merk- 
male süß und rot können in dem physischen Komplex Beere 
noch in sehr beträchtlichem Spielraum variieren — man denke 
z. B. an die Varation der Wellenlängen und Farben des Spektrums, 
die wir sämtlich als rot bezeichnen — ohne daß das psychische 
Gebilde Beere hiervon Notiz nimmt. Wir können eben annehmen, 
daß alle mit dem Worte rot bezeichneten Empfindungsvariationen 
oder Empfindungsmischungen durch den einfachen, vielleicht ein- 
mal isolierbaren physiologischen Grundempfindungsprozeß rot 
vorzugsweise charakterisiert sind.^) So entspricht also schon in 
so primitiven Fällen der unerschöpflichen sinnlich-physischen 
Mannigfaltigkeit eine sehr eingeschränkte gleichmäßige sinnlich- 
psychische Reaktion und hiermit eine entschiedene Tendenz zur 
begrifflichen Schematisierung. 
8. Denken wir uns die in einer Gegend wachsenden, genieß- 
baren und ungenießbaren Beerenarten zahlreicher und schwerer 
unterscheidbar, so müssen die leitenden Erinnerungsbilder an 
Merkmalen reicher und mannigfaltiger werden. Für den primi- 
tiven Menschen schon kann sich sogar die Notwendigkeit ergeben, 
besondere mit klar bewußter Absicht auszuführende Proben, 
Prüfungsmittel im Gedächtnis zu behalten, um brauchbare von 
unbrauchbaren Objekten zu unterscheiden, wenn die bloße sinn- 
liche Betrachtung hierzu nicht mehr ausreicht. Dies ist besonders 
der Fall, sobald an die Stelle der wenigen einfachen unmittel- 
baren biologischen Ziele, wie Beschaffung der Nahrung u. s. w., 
die viel zahlreicheren und mannigfaltigeren technischen und wissen- 
schaftlichen Zwischenziele treten. Hier sehen wir den Begriff 
von seinem einfachsten Rudiment bis zur höchsten Stufe, dem 
wissenschaftlichen Begriff, sich entwickeln, wobei jede höhere 
Stufe die tieferen als Grundlage benützt. 
9. Auf der höchsten Stufe der Entwicklung ist der Begriff 
^) Man kann also ganz wohl sagen, daß die einfachen Empfindungen 
Abstraktionen sind, darf aber darum noch nicht behaupten, daß denselben kein 
tatsächlicher Vorgang zu Grunde liegt. Vgl. Popul.-wissensch. Vorlesungen. 
3. Aufl. S. 122. 
134 Der Begriff. 
das an das Wort, den Terminus, gebundene Bewußtsein von den 
Reaktionen, die man von der bezeichneten Klasse von Objekten 
(Tatsachen) zu erwarten hat. Nur allmählich und nacheinander 
können aber diese Reaktionen und die oft komplizierten psychischen 
und physischen Tätigkeiten, durch welche erstere hervorgerufen 
werden, als anschauliche Vorstellung hervortreten. Man kann 
eine genießbare Frucht durch Farbe, Geruch und Geschmack 
erkennen. Daß aber Walfisch und Delphin zur Klasse der Säuger 
gehören, läßt sich nicht durch den Anblick, sondern nur durch 
eine eingehende anatomische Untersuchung feststellen. Ein Blick 
kann oft über den biologischen Wert eines Objektes entscheiden. 
Ob aber ein mechanisches System einen Gleichgewichts- oder 
Bewegungsfall vorstellt, kann nur durch eine komplizierte Tätig- 
keit entschieden werden. Man mißt alle Kräfte und alle zu- 
gehörigen miteinander verträglichen kleinen Verschiebungen im 
Sinne der Kräfte, multipliziert jede Maßzahl der Kraft mit der 
Maßzahl der zugehörigen Verschiebung und summiert diese 
Produkte. Ergibt diese Summe, d. h. die Arbeit, mit Rücksicht 
auf die Zeichen der Produkte, d-en Wert Null oder einen nega- 
tiven Wert, so hat man einen Gleichgewichtsfall vor sich, wenn 
dies nicht zutrifft, einen Bewegungsfall. Natürlich hat die Ent- 
wicklung des Begriffes Arbeit eine lange Geschichte, welche 
mit dem Studium der einfachsten Fälle (Hebel u. s. w.) beginnt, 
welche von der naheliegenden Bemerkung ausgeht, daß nicht 
nur die Gewichte, sondern auch die Verschiebungsgrößen auf 
den Vorgang von Einfluß sind. Wer aber das Bewußtsein hat, 
daß er die genannte Prüfung jederzeit korrekt ausführen kann, 
wer weiß, daß der Gleichgewichtsfall mit der Summe Null, der 
dynamische Fall mit einer positiven Summe auf diese Prüfung 
reagiert, der besitzt den Begriff Arbeit und kann durch denselben 
den statischen vom dynamischen Fall unterscheiden. So läßt 
sich jeder physikalische oder chemische Begriff darlegen. Das 
Objekt entspricht dem Begriff, wenn es auf Ausführung einer 
Prüfung, die man im Sinne hat, die erwartete Reaktion gibt. 
Die Prüfung kann je nach den Umständen im bloßen Beschauen 
oder in einer verwickelten psychischen oder technischen Operation, 
die hierauf erfolgende Reaktion in einer einfachen Sinnes- 
empfindung oder in einem komplizierten Vorgang bestehen. 
Der Begriff. 135 
10. Dem Begriff fehlt die unmittelbare Anschaulichkeit aus 
zwei Gründen. Erstens umfaßt derselbe eine ganze Klasse von 
Objekten (Tatsachen), deren Individuen nicht auf einmal vor- 
gestellt werden können. Dann sind die gemeinsamen Merkmale 
der Individuen, um die es sich im Begriff allein handelt, in der 
Regel solche, zu deren Kenntnis wir im Verlaufe der Zeit nach- 
einander gelangen und deren anschauliche Vergegenwärtigung 
ebenfalls beträchtliche Zeit in Anspruch nimmt. Das Gefühl der 
Geläufigkeit und sicheren Reproduzierbarkeit , der potentiellen 
Anschaulichkeit muß hier die aktuelle Anschaulichkeit ersetzen.^) 
Eben diese beiden Umstände machen aber den Begriff wissen- 
schaftlich so wertvoll und geeignet, große Gebiete von Tat- 
sachen in Gedanken zu repräsentieren und symbolisieren. Der 
Zweck des Begriffes ist es, in der verwirrenden Verwicklung 
der Tatsachen sich zurecht zu finden. 
11. So wie es biologisch wichtig ist, durch Beobachtung 
den Zusammenhang von Reaktionen — Aussehen einer Frucht 
und deren Nährwert — zu konstatieren, so geht auch jede Natur- 
wissenschaft darauf aus, Beständigkeiten des Zusammenhanges 
oder der Verbindung der Reaktionen^ der Abhängigkeit der 
Reaktionen voneinander aufzufinden. Eine Klasse von Objekten 
(ein Tatsachengebiet) A gibt z. B. die Reaktionen fl, ^, c. Weitere 
Beobachtung lehrt etwa noch die Reaktionen d^ e^ f kennen. 
Wenn es sich nun zeigt, daß ß, ^, c das Objekt A für sich allein 
eindeutig charakterisiert, und ebenso d^ e^ f dasselbe Objekt 
eindeutig charakterisiert, so ist damit die Verbindung der Reaktion 
ß, ^, c mit der Reaktion d^ e^ f an dem Objekt A festgestellt. 
Es verhält sich hier ähnlich wie bei einem Dreieck, das durch 
die beiden Seiten a, b und den eingeschlossenen Winkel y, 
ebensowohl aber durch die dritte Seite c und die beiden Winkel 
a, ß bestimmt sein kann, woraus folgt, daß am Dreieck letztere 
Trias an erstere gebunden und aus derselben ableitbar ist. Der 
Zustand einer gegebenen Gasmasse ist durch das Volumen v 
und den Druck /?, aber auch durch das Volumen v und die ab- 
solute Temperatur T bestimmt. Demnach besteht zwischen den 
drei Bestimmungsstücken /?, 7", v eine Gleichung (/?v/r = konst.), 
») Vgl. S. 114 d. vorl. Sehr. 
136 Der Begriff. 
welche jede der drei Größen aus den beiden anderen Bestim- 
mungsstücken des Gases abzuleiten erlaubt. Als weitere Bei- 
spiele der Abhängigkeit der Reaktionen voneinander mögen die 
Sätze dienen: „In einem System, das bloße Leitangsvorgänge 
zuläßt, bleibt die Wärmemenge konstant." — „In einem mecha- 
nischen System ohne Reibung ist die Änderung der lebendigen 
Kraft in einem Zeitelement durch die in demselben Zeitelement 
geleistete Arbeit bestimmt." — ^^Derselbe Körper, welcher mit 
Chlor Kochsalz erzeugt, bildet mit Schwefelsäure Glaubersalz.^'' 
12. Die Bedeutung der begrifflichen Fassung für die wissen- 
schaftliche Forschung ergibt sich leicht. Durch Unterordnung 
einer Tatsache unter einen Begriff vereinfachen wir dieselbe, 
indem wir alle für den verfolgten Zweck unwesentlichen Merkmale 
außer acht lassen. Zugleich bereichern wir aber dieselbe durch 
Zuteilung aller Merkmale der Klasse.^) Die beiden erwähnten 
ordnenden, vereinfachenden ökonomischen Motive der Permanenz 
und der zureichenden Differenzierung können erst am begrifflich 
gegliederten Stoff recht zur Geltung kommen,^) 
13. Wem der Begriff als ein luftiges Idealgebilde erscheint, 
dem nichts Tatsächliches entspricht, mag folgende Überlegung 
anstellen. Als selbständige physische „Sachen" bestehen die 
abstrakten Begriffe allerdings nicht. Allein wir reagieren tatsäch- 
lich auf Objekte derselben Begriffsklasse psycho-physiologisch 
in gleicher, auf Objekte in verschiedener Klasse in verschiedener 
Weise, wie dies besonders deutlich wird, wenn es sich um 
biologisch wichtige Objekte handelt. Die Empfindungselemente^ 
auf welche sich die Begriffsmerkmale in letzter Linie zurück- 
führen lassen, sind physische und psychische Tatsachen. Die 
Beständigkeit der Verbindung der Reaktionen aber, welche die 
physikalischen Sätze darlegen, sind die höchste Substanzialität, 
welche die Forschung bisher enthüllen konnte, beständiger als 
alles, was man Substanz genannt hat. Der Gehalt der Begriffe 
an tatsächlichen Elementen darf uns aber doch nicht verführen, 
diese psychischen Gebilde, welche einer Korrektur immer noch 
fähig und auch bedürftig sind, mit den darzustellenden Tat- 
sachen selbst zu identifizieren. 
>) Analpse, 4. Aufl. S. 253. 
») A. a. O. S. 248 und S. 112 d. vorliegenden Schrift. 
Der Begriff. • 137 
14. Unser Leib, und namentlich unser Bewußtsein, ist ein 
verhältnismäßig abgeschlossenes, isoliertes System von Tatsachen. 
Dieses System antwortet auf die Vorgänge in der physikalischen 
Umgebung nur in einem beschränkteren Spielraum, und nach 
wenigen Richtungen. Es verhält sich ähnlich wie ein Thermo- 
meter, das nur auf Wärmevorgänge, wie ein Galvanometer, das 
nur auf Stromvorgänge reagiert, kurz ähnlich wie ein nicht sehr 
vollkommener physikalischer Apparat. Was uns nun auf den 
ersten Blick als ein Mangel erscheint: die geringe Verschieden- 
heit der Reaktion auf große und vielseitige Variationen in der 
physikalischen Umgebung, das ermöglicht die erste rohe be- 
griffliche Klassifikation der Vorgänge in der Umgebung, welche 
durch fortgesetzte Korrekturen an Feinheit gewinnt. Schließlich 
lernen wir die Eigentümlichkeiten, die Konstanten und Fehler- 
quellen des Bewußtseinsapparates ebenso berücksichtigen und 
eliminieren, wie jene anderer Apparate. Wir sind ebensolche 
Dinge, wie die Dinge der physikalischen Umgebung, die wir 
durch uns selbst auch kennen lernen. 
15. Die maßgebende Rolle der Abstraktion bei der Forschung 
liegt auf der Hand. Es ist weder möglich, alle Einzelheiten 
einer Erscheinung zu beachten, noch hätte dies einen gesunden 
Sinn. Wir beachten eben die Umstände, die für uns ein Interesse 
haben und diejenigen, von welchen erstere abhängig zu sein 
scheinen. Die erste Aufgabe, die sich dem Forscher darbietet, 
ist es also, durch Vergleichung verschiedener Fälle die vonein- 
ander abhängigen Umstände in seinen Gedanken hervorzuheben^ 
und alles, wovon das Untersuchte unabhängig scheint, als für 
den vorliegenden Zweck nebensächlich oder gleichgültig auszu- 
sondern. In der Tat ergeben sich die wichtigsten Entdeckungen 
durch diesen Prozeß der Abstraktion. Dies hebt Apelt^) treff- 
lich hervor, indem er sagt: „Das zusammengesetzte Besondere 
steht immer früher vor unserem Bewußtsein, als das einfachere 
Allgemeine. In den abgesonderten Besitz des letzteren kommt 
der Verstand immer erst durch Abstraktion. Die Abstraktion ist 
daher die Methode der Aufsuchung der Prinzipien.''^ Diese An- 
sicht vertritt Apelt insbesondere in bezug auf das Trägheits- 
*) Apelt, Die Theorie der Induktion. Leipzig 1854. S. 59. 
138 I>er Begriff. 
gesetz und das Gesetz der Relativität der Bewegung, die wir 
hier gleich als Beispiele der Entdeckung durch Abstraktion näher 
betrachten wollen. Zur vollen Erkenntnis des Trägheitsgesetzes 
ist Galilei sehr spät und durch allerlei Umwege gelangt. Nach- 
dem Apelt^) dies besprochen, sagt er: „Wie und wann aber 
auch Galilei darauf gekommen sein mag, so ist doch so viel 
gewiß, daß die Erkenntnis dieses Gesetzes nicht, wie Whewell 
zu zeigen sich bemüht, der Induktion, sondern der Abstraktion 
ihren Ursprung verdankt." WhewelP) spricht allerdings von 
der „Induktion, welcher das erste Gesetz der Bewegung seinen 
Ursprung verdankt", allein er erwähnt sofort die Kreiselexperimente 
von Hooke mit successive vermindertem Widerstand, und sagt 
dann: „Die allgemeine Regel wurde aus dem konkreten Experiment 
herausgezogen." Wh e well scheint also trotz des unpassend 
gewählten Ausdrucks derselben Ansicht zu sein wie Apelt, nur 
daß er die Wichtigkeit der Bekanntschaft mit verschiedenen Fällen 
als Vorbedingung zur Betätigung der Abstraktion weit besser her- 
vorhebt als Apelt. Im übrigen nehmen beide a priori gegebene 
Verstandesbegriffe an, und beide werden dadurch zu sonder- 
baren, unnötigen, gezwungenen Auffassungen verführt. Apelt^) 
scheint das Trägheitsgesetz selbstverständlich (!), es leuchtet von 
selbst ein, wenn man nur den „richtigen" Begriff von Materie 
mitbringt, deren Grundeigenschaft die „Leblosigkeit" ist, welche 
Veränderung durch andere als „äußere Einwirkung" ausschließt. 
Auch WhewelH) führt das Trägheitsgesetz darauf zurück, daß 
nichts ohne Ursache (!) geschehen kann. Wäre der Mensch nicht 
vorzugsweise ein psj>chologisches, sondern nur ein logisches 
Wesen, so hätte sich die Abstraktion, welche zum Trägheits- 
gesetz führt, wie ich anderwärts^) gezeigt habe, in sehr einfacher 
Weise ergeben. Sind einmal die Kräfte als beschleunigungsbe- 
stimmende Umstände erkannt, so folgt sofort, daß ohne Kräfte nur 
1) A. a. o. s. 60. 
2) Wh e well, Geschichte der induktiven Wissenschaften. Deutsch von 
J. J. V. Littrow. Stuttgart 1840. II. S. 31. 
») Apelt, a. a. O. S. 60,61. 
*) Whewell, The Philosophi? of inductive sciences. London 1847. 
I. S. 216. 
**) Die Mechanik in ihrer Entwicklung. 5. Aufl. 1904. S. 140—143. 
Der Begriff. 139 
unbeschleunigte, also geradlinige und gleichförmige Bewegungen 
denkbar sind. Die Geschichte, und selbst heutige Diskussionen 
lehren geradezu pleonastisch, daß sich das Denken nicht von 
selbst in so glatten logischen Bahnen bewegt; gehäufte variierte 
Fälle, allerlei Schwierigkeiten, bei sich durchkreuzenden und 
widersprechenden Überlegungen, müssen die Abstraktion beinahe 
erzwingen. WhewelP) bemerkt richtig, daß ein Bewegungsfall 
ohne Kräfte in Wirklichkeit nicht vorkommt. Indem also die 
Wissenschaft abstrahiert, idealisiert sie auch ihre Objekte. Zur 
Charakteristik von Apelts^) Standpunkt diene noch folgende 
Stelle: „Niemand ist dem Grundsatze der Relativität aller Be- 
wegung vielleicht näher gekommen als Kepler bei den zahl- 
reichen Umformungen seiner Konstruktionen aus dem einen in 
das andere Weltsystem, aber das Verdienst, dieses Gesetz zuerst 
erkannt zu haben, gebührt Galilei. Und wie und wodurch hat 
er es erkannt? Nicht durch einen Beweis aus Tatsachen, sondern 
durch bloßes Nachdenken über die Natur der Bewegung (!) und 
über das Verhältnis unserer Beobachtung der Bewegung zum 
Raum (!), der selbst zwar ein Gegenstand der reinen Anschauung, 
aber dennoch kein Gegenstand der Beobachtung für uns ist." 
„Der Grundsatz der Relativität aller Bewegung dagegen kann 
nur eingesehen, aber nicht bewiesen werden: man ist von seiner 
Wahrheit unmittelbar überzeugt, sobald man ihn in abstracto 
gefaßt und verstanden hat, ohne daß er eines anderen Satzes 
weder zu seinem Verständnis noch zu seiner Begründung be- 
dürfte." Deshalb meint Apelt, konnte wohl der abstrahierende 
Galilei, nicht aber der induzierende Kepler den Grundsatz 
finden. Ich bin nun der Meinung, daß Galilei den fraglichen 
Grundsatz allerdings durch Abstraktion erkannt hat, aber durch 
Vergleichung beobachteter Fälle. Nachdem er die Bewegung 
frei fallender Körper durchschaut und analysiert hatte, mußte ihm 
auffallen, daß die Fallbewegung neben einem ruhenden Turm 
ebenso vorzugehen scheint, wie die Fallbewegung neben dem 
Mastbaum eines schnell bewegten Bootes für den Beobachter 
auf demselben, wodurch sich zunächst die bekannte Auffassung 
») Whewell, Geschichte u. s. w. II. S. 31. 
») Apelt, a. a. O. S. 61, 62. 
140 ^er Begriff. 
der Wurfbewegung als Kombination einer gleichförmigen Hori- 
zontalbewegung mit einer beschleunigten Fallbewegung ergab. 
Die weiteren Verallgemeinerungen und Anwendungen bereiteten 
keine Schwierigkeiten mehr. — Apelt^) hat sogar die Neigung, 
Galileis Entdeckung des Fallgesetzes für eine deduktive zu 
halten. Aus Galileis Schriften geht aber deutlich hervor, daß 
er die Form des Fallgesetzes als Hypothese aufgesteUt, ver- 
mutet, richtig erraten und durch das Experiment bestätigt hat. 
Eben indem er sich auf die Beobachtung stützt, wird Galilei 
zum Begründer der modernen Physik. 
16. Newtons in den Prinzipien aufgestellte „leges motus", 
auf die wir noch an einem anderen Orte zurückkommen, sind 
überhaupt vorzügliche Beispiele der Entdeckung durch Ab- 
straktion. Lex I (Trägheitsgesetz) wurde schon berührt. Wenn 
wir von der Tautologie in Lex II (mutationem motus proportio- 
nalem esse vi motrici impressae) absehen, so steckt hier noch 
ein nicht ausdrücklich hervorgehobener Inhalt, der gerade die 
wichtigste durch Abstraktion gewonnene Entdeckung vorstellt. 
Es ist dies die Voraussetzung, daß alle ^^tv^^/z^sbestimmenden 
Umstände („Kräfte") beschleumgangsbQstmtnQnd sind. Wie kam 
man zu dieser Abstraktion, nachdem ein direkter Nachweis durch 
Galilei nur für die Schwere geliefert war? Woher wußte man, 
daß dies auch für elektrische und magnetische Kräfte gilt? Man 
mochte wohl denken: Allen Kräften gemeinsam ist der Druck, 
falls die Bewegung verhindert wird; der Druck wird immer die- 
selben Folgen haben, woher derselbe auch rühren mag; was für 
einen Druck gilt, wird auch für den anderen gelten. Diese 
Doppelvorstellung von der Kraft, als beschleunigungsbestimmend 
und als Druck, scheint mir auch die psychologische Quelle der 
Tautologie zu sein in dem Ausdrucke von Lex II. Ich glaube 
übrigens, daß man solche Abstraktionen nur richtig würdigt, 
wenn man dieselben als ein intellektuelles Wagnis auffaßt, das 
durch den Erfolg gerechtfertigt wird. Wer garantiert uns, daß 
wir bei unseren Abstraktionen die richtigen Umstände beachten, 
und gerade die gleichgültigen unbeachtet lassen? Der geniale 
Intellekt unterscheidet sich von dem normalen eben durch die 
») Apelt, a. a. O. S. 62, 63. 
Der Begriff. 141 
rasche und sichere Voraussicht des Erfolges einer intellektuellen 
Maßregel. In diesem Zuge gleichen sich große Forscher, Künstler, 
Erfinder, Organisatoren u. s. w. 
Um mit unseren Beispielen nicht bloß auf dem Gebiete der 
Mechanik zu bleiben, betrachten wir Newtons Entdeckung der 
Dispersion des Lichtes. 'HQbtndtv feineren Unterscheidung von 
Lichtern verschiedener Farbe und ungleicher Brechungsexponenten 
im weißen Licht, hat Newton das Licht auch zuerst als aus 
verschiedenen voneinander unabhängigen Strahlungen bestehend 
erkannt. Der zweite Teil der Entdeckung scheint durch Ab- 
straktion, der erste durch den entgegengesetzten Prozeß ge- 
wonnen zu sein; allein beide beruhen auf der Fähigkeit und 
Freiheit, die Umstände nach Belieben und Zweckmäßigkeit zu 
beachten oder außer acht zu lassen. Newtons unabhängige 
Lichtstrahlungen haben eine ähnliche Bedeutung, wie die Unab- 
hängigkeit der Bewegungen voneinander, die Prevotschen 
unabhängigen Wärmestrahlungen, welche zur Erkenntnis des be- 
weglichen Gleichgewichtes der Wärme führten, und viele andere 
Auffassungen, welche Volkmann ^) als Isolation bezeichnet hat. 
Solche Auffassungen sind für die Vereinfachung der Wissenchaft 
sehr wesentlich. 
17. Wenn auch Begriffe keine bloßen Worte sind, sondern 
ihre Wurzeln in den Tatsachen haben, muß man sich doch hüten, 
Begriffe und Tatsachen für gleichwertig zu halten, dieselben mit 
einander zu verwechseln. Aus solchen Verwechslungen gehen 
ebenso schwere Irrtümer hervor, wie aus jenen der anschaulichen 
Vorstellungen mit Sinnesempfindungen, ja die ersteren sind viel 
allgemeiner schädlich. Die Vorstellung ist ein Gebilde, an 
welchem die Bedürfnisse des Einzelmenschen wesentlich mit 
gebaut haben, während die Begriffe, von den intellektuellen Be- 
dürfnissen der Gesamtmenschheit beeinflußt, das Gepräge der 
Kultur ihrer Zeit tragen. Wenn wir Vorstellungen oder Begriffe 
mit Tatsachen vermengen, so identifizieren wir Ärmeres, be- 
stimmten Zwecken Dienendes, mit Reicherem, ja Unerschöpflichem. 
Wir lassen wieder die Grenze U außer acht, die wir, falls es 
*) Volkmann, Einführung i. d. Studium d. theoretischen Physili. Leipzig 
1900. S. 28. 
142 Der Begriff. 
sich um Begriffe handelt, als alle beteiligten Menschen um- 
schließend zu denken haben. Die logischen Deduktionen aus 
unseren Begriffen bleiben aufrecht, solange wir diese Begriffe 
festhalten; die Begriffe selbst müssen aber stets einer Korrektur 
durch die Tatsachen gewärtig sein. Endlich darf man nicht an- 
nehmen, daß unseren Begriffen absolute Beständigkeiten ent- 
sprechen, wo unsere Forschung nur Beständigkeiten der Ver- 
bindung der Reaktionen aufzufinden vermag.^) 
18. J. B. Stall hat in ausführlicher Darstellung und in anderer 
Form, unabhängig, im wesentlichen mit dem unmittelbar zuvor 
Gesagten übereinstimmende Gedanken dargelegt.^) Stallos 
Ausführungen lassen sich kurz zusammenfassen in folgenden 
Sätzen: 1. Das Denken beschäftigt sich nicht mit den Dingen, 
wie sie an sich sind, sondern mit unseren Gedankenvorstellungen 
(Begriffen) von denselben. 2. Gegenstände sind uns lediglich 
durch ihre Beziehungen zu anderen Gegenständen bekannt. Die 
Relativität ist also ein notwendiges Prädikat der Gegenstände 
der (begrifflichen) Erkenntnis. 3. Ein besonderer Denkakt schließt 
niemals die Gesamtheit aller erkennbaren Eigenschaften eines 
Objektes in sich, sondern nur die zu einer besonderen Klasse 
gehörigen Beziehungen. — Aus der Nichtbeachtung dieser Sätze 
gehen, wie Stallo weiter ausführt, mehrere sehr verbreitete, 
natürliche, so zu sagen in unserer geistigen Organisation begrün- 
dete Irrtümer hervor. Als solche werden aufgezählt: 1. Jeder Be- 
griff ist das Gegenstück einer unterscheidbaren objektiven Realität; 
es gibt so viele Dinge, als es Begriffe gibt. 2. Die allgemeineren 
oder umfassenderen Begriffe und die ihnen entsprechenden Reali- 
täten sind früher da, als die weniger allgemeinen; die letzteren 
Begriffe und Realitäten bilden oder entwickeln sich aus den 
ersteren durch Hinzufügung von Merkmalen. 3. Die Aufeinander- 
folge der Entstehung der Begriffe ist identisch mit der Aufein- 
1) Diese Gedanken habe ich in „Erhaltung der Arbeit" 1872, in „Mecha- 
nik" 1883 und in „Prinzipien d. Wärmelehre" 1896 in Bezug auf Physik aus- 
führlich dargelegt. 
*) J. B. Stallo, The Concepts and Theories of modern Physics. 1882. — 
Deutsch unter dem Titel: Die Begriffe und Theorien der modernen Physik. 
Herausgegeben von H. Kleinpeter, mit einem Vorwort von E. Mach. Leipzig 
1901. Vgl. insbesondere S. 126—212. 
Der Begriff. 143 
anderfolge der Entstehung der Dinge. 4. Die Dinge existieren 
unabhängig von ihren Beziehungen, 
In der Entgegensetzung von Materie und Bewegung, Masse 
und Kraft als besonderer Realitäten sieht Stallo den ersten der 
bezeichneten Irrtümer, in der Hinzufügung der Bewegung zur 
trägen Materie den zweiten. Die dynamische Gastheorie wird 
auf die Theorie der starren Körper gegründet, da wir mit letzteren 
früher vertraut geworden sind als mit den Gasen. Betrachtet man 
aber das starre Atom als das ursprünglich Existierende, aus dem 
alles abzuleiten ist, so unterliegt man der dritten der bezeichneten 
Täuschungen. Die Eigenschaften der Gase sind in der Tat viel 
einfacher als jene der Flüssigkeiten und starren Körper, wie 
schon J. F. Fries ^) hervorgehoben hat. Als Beispiele des vierten 
Fehlers behandelt Stallo die Hypostasierung von Raum und 
Zeit, wie sie namentlich in Newtons Lehre von dem absoluten 
Raum und der absoluten Zeit sich offenbart. 
19. In dem Vorwort zur deutschen Ausgabe von Stallos 
Buch habe ich die Übereinstimmungen und auch die Differenzen 
zwischen seinen und meinen Ansichten bezeichnet. Ich möchte 
hier nochmals betonen, daß sowohl Stallos als auch meine Aus- 
führungen sich niemals gegen physikalische Arbeitshypothesen, 
sondern nur gegen erkenntnistheoretische Verkehrtheiten richten. 
Meine Darlegungen gehen stets von physikalischen Einzelheiten 
aus und erheben sich von da zu allgemeineren Erwägungen, 
während Stallo gerade den umgekehrten Weg einschlägt. Er 
spricht mehr zu den Philosophen, ich zu den Naturforschern. 
^) J. F. Fries, Die mathematische Naturphilosophie. Heidelberg 1822. 
446. 
Empfindung, Anschauung, Phantasie. 
1. Aus den Empfindungen und durch deren Zusammenhang 
entspringen unsere Begriffe und das Ziel der letzteren ist, uns 
in jedem gegebenem Fall auf den bequemsten und kürzesten Wegen 
zu sinnlichen Vorstellungen zu leiten, welche mit den Sinnes- 
empfindungen in bester Übereinstimmung sich befinden. So geht 
alles intellektuelle Leben von den Sinnesempfindungen aus und 
kehrt wieder zu diesen zurück. Unsere eigentlichen psychischen 
Arbeiter sind die sinnlichen Vorstellungen, die Begriffe aber die 
Ordner und Aufseher, welche die Scharen der ersteren auf ihren 
Platz stellen, und ihnen ihr Geschäft anweisen. Bei einfachen 
Verrichtungen verkehrt der Intellekt unmittelbar mit den Arbeitern, 
bei größeren Unternehmungen aber mit den leitenden Ingenieuren, 
welche ihm jedoch nichts nützen würden, wenn er nicht auch für 
die Beistellung verläßlicher Arbeiter gesorgt hätte. Schon das 
Tier ist durch sein Vorstellungsleben davon befreit, den Ein- 
drücken des Augenblicks ganz zu unterliegen. Wenn die Vor- 
sorge des kultivierten Menschen für die Zukunft über jene des 
Wilden hinausgeht, wenn der erstere für Ziele arbeitet, welche 
sogar weit über das eigene Leben hinausreichen, so ist er hierzu 
durch seine Begriffe und den Reichtum derselben an geordneten 
Vorstellungen befähigt. Wie sehr aber der Verkehr mit Begriffen 
jenem mit sinnlichen Vorstellungen an Unmittelbarkeit nach- 
steht, erfahren wir häufig genug. Einem Unglücklichen, mit dem 
wir persönlich zusammentreffen, verweigern wir nicht leicht die 
Hilfe, während uns ein gedruckter Aufruf zur Hilfeleistung, 
den wir lesen, doch sehr besonnen findet. Der platonische 
Sokrates erklärt gelegentlich die Tugend für ein Wissen. Allein 
sie muß ein Wissen sein, das nicht immer sehr lebendig ist. 
Wenige Verbrechen würden ja begangen, wenn deren Folgen 
Empfindung, Anschauung, Phantasie. 145 
immer lebhaft und deutlich vorgesteHt würden. Wir würden 
nicht das Elend mit Luxus zudecken, nicht für die Leidenden 
tanzen, oder einen Blumenkorso veranstalten, wenn der Unter- 
schied des Begriffs und der sinnlichen Vorstellung nicht be- 
stünde. Der geizige Rentner befiehlt den armen Schnorrer vor 
die Türe zu setzen, „denn er zerbricht ihm durch seine Klage 
das Herz". Mit dem Begriff des Elends weiß er sich besser 
abzufinden.^) Die Sinnesempfindungen sind eben die eigent- 
lichen ursprünglichen Motoren ^ während die Begriffe sich auf 
jene, oft nur durch andere begriffliche Zwischenglieder berufen. 
2. Alles, was der Mensch vor der Verwendung von Werk- 
zeugen von der Natur erfahren konnte, haben ihm direkt die 
Sinne verraten. Dies spricht sich noch deutlich genug aus in 
der heutigen, historisch hergebrachten, nicht mehr konsequenten 
und nicht zureichenden Einteilung der Physik. Sobald aber 
Werkzeuge in Verwendung kommen, kann nach Spencers^) 
*) Wie sehr die Begriffe an Unmittelbarkeit den Empfindungen und 
sinnlichen Vorstellungen nachstehen, lehrt folgender Vorfall. In einer Uni- 
versitätsstadt, in welcher zwei Nationalitäten A und B auf gespanntem Fuße 
lebten, wohnte ein der Nationalität A angehöriger Professor im zweiten Stock- 
werk des Institutes für pathologische Anatomie und gab gelegentlich einen 
Hausball. Sofort erschien in einem die Interessen des Volksstamms B ver- 
tretenden Journal ein Artikel „ein Ball ober Leichen", welcher einen pöbel- 
haften Straßenexzeß gegen den Professor provozierte. Die tatenlustige 
Menge mochte wohl glauben, daß ein Professor, der täglich mit Leichen 
verkehrt, keine vergnügte Stunde mehr haben dürfe, wenn er nicht ein ganz 
roher und herzloser Mensch sei, und iene Journalisten gaben wenigstens vor 
dies zu glauben. "Wer läßt sich aber durch den Gedanken, daß jeden Augen- 
blick ein Mensch sein Leben aushaucht, oder daß seine Angehörigen auf dem 
Friedhof liegen, in seinem Vergnügen stören? 
2) Spencer, The Principles of Psychologe, London 1870, 1, § 164, S. 365. 
— „We map properly sap that in the higher forms, the correspondence bet- 
ween the organism and its environment is effected bp means of supple- 
mentary senses and supplementär^ limbs. All observing Instruments, all 
weights, measures, scales, micrometers, verniers, microscopes, thermometers, 
etc., are artificial extensions of the senses; and all levers, screws, hammers, 
wedges, lathes, etc., are artificial extensions of the limbs. The magnifying 
glass adds but another lens to the lenses existing in the eye. The crowbar 
is but one more lever attached to the series of levers forming the arm and 
hand. And the relationship which is so obvious in these first Steps, holds 
throughout." 
Mach, Erkenntnis und Irrtum. / 10 
146 Empfindung, Anschauung, Phantasie. 
Auffassung jeder Beobachtungsapparat als eine künstliche Er- 
weiterung der Sinne, jede Maschine als eine künstliche Aus- 
dehnung der Bewegungsorgane aufgefaßt werden. Dieser natür- 
liche Gedanke scheint sich mehrmals dargeboten zu haben. 
Viel später als Spencer, wohl unabhängig von demselben, aber 
leider in recht phantastischer Form, wurde derselbe ausführlich 
dargelegt von E. Kapp.^) Eine an interessanten und instruktiven 
Einzelheiten reiche Ausführung verdanken wir O. Wiener.^) 
3. Ohne der Darstellung von Wiener genau zu folgen, wollen 
wir hier einige wichtige Gesichtspunkte herausheben. Die Sinnes- 
organe sind im allgemeinen sehr empfindliche Organe, was 
darauf beruht, daß dieselben physikalische Reize nicht bloß wie 
leblose Objekte aufnehmen, sondern daß diese Reize in den 
Organen aufgespeicherte und bereitliegende Energieen auslösen, 
wie dies bei physikalischen Apparaten nur ausnahmsweise etwa 
beim Mikrophon, Telegraphen-Relais u. s. w. vorkommt. Das Auge 
und das Ohr wird ungefähr durch ein Hundertmillionenteil eines 
Erg^) in einen merklichen Reizzustand versetzt, welche Arbeit 
eben auch genügt, um bei den empfindlichsten Wagen einen 
sichtbaren Ausschlag zu bewirken. Das Auge ist hundertmal 
so empfindlich als die empfindlichste photographische Platte. 
Wenn wir ein Gewicht von 100—1000 Gramm auf der Hand 
liegen haben, so empfinden wir ungefähr eine Verminderung 
desselben um 30% unmittelbar durch den Drucksinn, und beim 
Auf- und Abbewegen der Hand kann diese Unterschieds- 
') E. Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik. Braunschweig 
1877. — Alle Instrumente, Werkzeuge und Maschinen werden als unbewußte 
Projektionen der Organe des Leibes angesehen. Hiermit scheint mir der 
Gedanke von Spencer recht vernebelt, und ich glaube, daß wir auf diesem 
Wege nur zu einer traumhaften „Philosophie der Technik" kommen können. 
Man frage sich doch, welches Organ in der Schraube, dem Rade, der Dynamo- 
maschine, dem Interferenzrefraktometer u. s. w. projiziert ist. Richtig ist nur, 
daß wir durch das Studium der Technik auch zum Verständnis einiger Organe 
unseres Leibes gelangt sind. 
2) O. Wiener, Die Erweiterung der Sinne. Antrittsvorlesung. Leip- 
zig 1900. 
') Ich habe gelegentlich selbst eine solche Empfindlichkeitsschätzung 
eines Sinnesorgans versucht. Vgl. Bewegungsempfindungen. Leipzig 1875. 
S. 119u. f. 
Empfindung, Anschauung, Phantasie. 147 
empfindlichkeit bis zu etwa 10 7o gesteigert werden. Die 
empfindlichsten Wagen zeigen aber bei 1 kg Belastung noch 
V200 mg> also V2-Vio^ der Belastung an. Die Töplersche 
Libellenwage zeigt Druckunterschiede an, die Vio^ einer Atmo- 
sphäre betragen. Das Auge kann zwei Striche von Vio mm Ab- 
stand in 10 cm Entfernung eben noch unterscheiden. Mit dem 
Mikroskop gelingt aber die Auflösung noch bei '/tooo mm Ab- 
stand. Durch Benützung der Lichtwellenlängen können noch 
weit kleinere Distanzen geschätzt werden. Wenn durch das 
bloße Ohr noch ein Zeitunterschied von V500 Sekunden zwischen 
zwei elektrischen Funken bemerkt werden kann, so erlaubt das 
Wheatstone -Feddersensche Verfahren des rotierenden 
Spiegels dagegen noch auf optischem Wege Zeitmessungen bis 
zu Vio** Sekunde. Unser Wärmesinn empfindet einen Temperatur- 
unterschied von etwa Vs Grad Celsius. Nach der bolometrischen 
Methode von Langlep und Paschen gelingt es, Temperatur- 
unterschiede von Vin^ Grad Celsius nachzuweisen. Die Emp- 
findlichkeit der Sinnesorgane kann also durch physikalische 
Apparate in manchen Beziehungen erreicht, in anderen sehr be- 
deutend überschritten werden. Der Physiker gelangt hierdurch 
zur Kenntnis so feiner Abstufungen der Reaktionen, wie sie ihm 
ohne diese Mittel stets unbekannt bleiben müßten. 
4. Die Physik kennt aber auch Mittel, einen Sinn durch den 
anderen vertreten zu lassen. Durch optische Vorkehrungen können 
wir Schallvorgänge sichtbar und umgekehrt Lichtprozesse hör- 
bar machen. Man denke an die verschiedenen vibroskopischen 
Methoden, an die Sichtbarkeit der Luftwellen im Schlieren- 
apparat, an das Photophon u. s. w. Die Wärme verrät sich un- 
mittelbar nur dem Tastsinn,^) mit Hilfe des Thermometers aber 
auch dem Auge. Selbst Vorgänge, welche unmittelbar sich gar 
keinem unserer Sinne offenbaren würden, wie sehr schwache 
elektrische Ströme oder Schwankungen der magnetischen In- 
tensität, die wir weder sehen, noch hören, noch tasten könnten, 
machen wir durch das Galvanometer und Magnetometer dem 
Gesichtssinn zugänglich, der überhaupt meist eintritt, wo es 
sich um sehr feine Reaktionen handelt. Nun dürfen wir freilich 
') Eigentlich dem mit dem Tastsinn räumlich vereinigten Wärmesinn. 
10* 
148 Empfindung, Anschauung, Phantasie. 
nicht vergessen, daß Vorgänge, die sich wirklich streng jedem 
unserer natürlichen Sinne entziehen würden, ewig unentdeckt 
und unentdeckbar bleiben müßten. Es handelt sich also bei An- 
wendung künstlicher Mittel genau genommen immer nur um Auf- 
findung von zahlreicheren, mannigfaltigeren und feiner abgestuften 
Reaktionen, welche in eines der Gebiete unserer natürlichen 
Sinne hereinragen. 
5. Um diese Betrachtung zu ergänzen, denken wir uns z. B. 
eine Orange, dann einen Kochsalzwürfel, Platin und Luft. Der 
erste dieser Körper reagiert ohne irgend welche künstliche Ver- 
anstaltungen auf alle Sinne, beim zweiten fehlt die Geruchs-, 
beim dritten auch die Geschmacksreaktion. Die Luft ist für uns 
auch unsichtbar; wir fühlen sie höchstens warm oder kalt, und 
bei starker Bewegung reizt sie den Tastsinn nur noch als Wind. 
Von ihrer Körperlichkeit überzeugen wir uns erst recht durch 
künstliche Einschließung derselben in einen Schlauch, welches 
Verfahren in der Tat zu den ältesten physikalischen Experi- 
menten gehört. Durch künstliche Vorkehrungen können nun bei 
jedem der genannten Körper noch verschiedene Reaktionen 
hervorgerufen werden, welche denselben charakterisieren. Die 
Körper sind also nichts weiter als Bündel gesetzmäßig zu- 
sammenhängender Reaktionen. Dasselbe gilt von Vorgängen 
jeder Art, die wir unserem Übersichtsbedürfnis entsprechend 
klassifizieren und benennen. Ob es sich um Wasserwellen 
handelt, die wir mit dem Auge und mit dem Tastsinn verfolgen, 
oder um Schallwellen in der Luft, die wir nur hören und nur 
künstlich sichtbar machen können, oder um einen elektrischen 
Strom, der überhaupt fast nur in künstlich herbeigeführten Re- 
aktionen zu verfolgen ist, immer ist der gesetzmäßige Zu- 
sammenhang der Reaktionen, und dieser allein, das Beständige. 
Dies ist der kritisch geläuterte Substanzbegriff, welcher wissen- 
schaftlich an die Stelle des vulgären zu treten hat. Der vulgäre 
Substanzbegriff, welcher im gewöhnlichen Hausgebrauch nicht 
nur ganz unschädlich, sondern sogar bei Handgriffen sehr nütz- 
lich ist — er wäre ja sonst nicht instinktiv entstanden — spielt 
in der wissenschaftlichen Physik dieselbe trügerische Rolle wie 
das „Ding an sich" in der Philosophie. 
6. Im Verlauf des obzitierten Vortrages gelangt Wiener zur 
Empfindung, Anschauung, Phantasie. 149 
Fiktion von intelligenten Wesen mit von den unsrigen ver- 
schiedenen Sinnen. Nervenorgane, von hinreichend intensiven 
magnetischen Körpern umgeben, würden z. B. einen magne- 
tischen Sinn vorstellen, wie ein solcher künstlich gelegentlich bei 
Krebsen von Kreidl wirklich dargestellt worden ist. ^) Das Auge 
könnte z. B., statt für die kurzwelligen, für die ultraroten Strahlen 
empfindlich sein. Dann könnten Fernrohre mit Hartgummi- 
linsen zur Verwendung kommen u. s. w. u. s. w. Durch solche an- 
sprechende, auch mir sympathische Betrachtungen, denkt Wiener 
von der besonderen Natur unserer Sinne sich unabhängig machen 
zu können, und eine Aussicht auf eine einheitliche physikalische 
Theorie zu gewinnen. Meine Meinung über diesen Punkt ist 
folgende. Ich denke mir alle organischen Wesen, wenigstens 
auf der Erde, sehr nahe verwandt, demnach die Sinne des einen 
als bloße Variationen der Sinne des anderen. Die Empfindungen 
unserer gegenwärtigen natürlichen Sinne werden wohl immer 
die Grundelemente unserer psychischen und physischen Welt 
bleiben. Das hindert aber nicht, daß unsere physikalischen 
Theorien von der besondern Qualität unserer Sinnesempfin- 
dungen unabhängig werden. Wir treiben Physik, indem wir 
Variationen des beobachtenden Subjekts ausschließen, durch 
Korrektionen entfernen, oder in irgend einer Weise von den- 
selben abstrahieren. Wir vergleichen die physikalischen Körper 
oder Vorgänge untereinander^ so daß es nur auf Gleichheit und 
Ungleichheit einer Empfindungsreaktion ankommt, die Besonder- 
heit der Empfindung aber für die gefundene Beziehung, die in 
Gleichungen ihren Ausdruck findet, nicht mehr von Belang ist. 
Hierdurch gewinnt das Ergebnis der physikalischen Forschung 
Gültigkeit nicht nur für alle Menschen, sondern selbst für Wesen 
mit anderen Sinnen, sobald sie unsere Empfindungen als Anzeigen 
einer Art physikalischer Apparate betrachten.^) Dieselben wür- 
den nur für diese Wesen keine direkte Anschaulichkeit haben, 
sondern müßten hierzu in ihre Sinnesempfindungen übersetzt 
werden, etwa so, wie wir uns Unanschauliches durch graphische 
Darstellung veranschaulichen. 
») Populäre Vorlesungen. 3. Aufl. Leipzig 1903. S. 398. 
*) Analyse der Empfindungen. 4. Aufl. 1903. S. 209. 
150 Empfindung, Anschauung, Phantasie. 
7. In den vorstehenden Ausführungen haben wir unser Augen- 
merk hauptsächHch auf die einzelnen Empfindungen und deren 
Bedeutung gerichtet. Das ganze System der räumlich und zeit- 
lich geordneten Empfindungen, welche uns der Gesichtssinn vor- 
führt, der uns z. B. die ganze Anordnung der Körper oder deren 
Bewegung gegeneinander in einem Blick erkennen läßt, nennen 
wir vorzugsweise Anschauung. Der Name trägt deutlich sein 
Ursprungszeugnis an sich. Für den Sehenden ist ja die Gesichts- 
anschauung die wichtigste, durch die er am meisten und vieles 
auf einmal erfährt. Hoch intelligente Blinde, z. B. der Geometer 
Saunderson, belehren uns jedoch darüber, daß man auch durch 
den Tastsinn rasch eine geordnete Übersicht gewinnen kann, für 
welche der Name Tastanschauung passend wäre. Gewandten 
Musikern wird man eine Art anschaulicher Übersicht der zeitlich- 
rhythmischen Bewegungen, der Verteilung und des Fortschreitens 
der Stimmen im Tongebiet oder im Tonraum nicht absprechen 
können. Von den beiden hervorragenden Künstlern im Kopfrech- 
nen Inaudi und Diamandi gehörte der erstere dem auditiven^ der 
letztere dem visuellen Typus ^) an. Der erstere hatte seine Kunst- 
übungen begonnen, als er noch nicht lesen konnte, er stellte sich 
die Zahlen durch das Gehör vor. Der andere hatte bei Beginn 
seiner Übungen schon die Schule besucht und Schreiben gelernt. 
Ordnete man Zahlen in horizontale Zeilen, die man so unter- 
einander setzte, daß deren Ziffern auch vertikale Kolumnen bil- 
deten, und las man dieselben zeilenweise vor, so wußte Diamandi 
sofort auch die Ziffern aus dem Gedächtnis anzugeben, welche eine 
Kolumne bildeten, denn er sah die Zahlen in Ziffern räumlich an- 
geordnet vor sich. Inaudi hingegen brachte dies nur mit einiger 
Mühe zu Stande, denn er hörte im Geiste die Zahlen nacheinander 
nennen, und mußte diese zeitliche Reihe sozusagen erst in Stücke 
teilen, die er untereinander setzte. Diamandi hatte eine visuelle 
räumliche, Inaudi eine auditive zeitliche Anschauung. Wir lassen 
es dahingestellt, ob etwa auch in anderen Sinnesgebieten, z. B. bei 
hoch entwickeltem Geruchssinn (Hunde, Ameisen), wie Forel 
meint, etwas Analoges möglich sei. 
8. Darüber ist kein Zweifel, daß nach der einzelnen Empfindung 
^) Revue generale des sciences. 1892. 
Empfindung, Anschauung, Phantasie. 151 
zunächst die Anschauung die Vorstellungen und die Handlungen 
in Bewegung gesetzt hat, als noch das begriffliche Denken 
sehr im Rückstand war. Die Anschauung ist organisch älter und 
stärker fundiert, als das begriffliche Denken. Wir übersehen mit 
einem Blick die Plastik eines Terrains, bewegen uns ohne weiteres 
dem entsprechend, weichen einem rollenden Stein aus, reichen 
einem fallenden Gefährten die Hand, ergreifen einen uns 
interessierenden Gegenstand, ohne daß wir nötig haben, dies 
alles zu überlegen. An dem Anschaulichen entwickeln sich die 
ersten klaren Vorstellungen, die ersten Begriffe, das erste Denken. 
Wo es also immer möglich ist, das begriffliche Denken durch 
die Anschauung zu stärken, da wird dies mit Vorteil geschehen. 
Man stützt hierbei die individuellen neuen Erwerbungen auf die 
alten erprobten Erwerbungen der Art. 
9. Die graphischen Künste, insbesondere die Photographie und 
Stereoskopie ermöglichen heute einen Reichtum von Anschauungen 
zu gewinnen, welcher vor einem halben Jahrhundert nur mit dem 
größten Aufwand zu erlangen war. Ferne Länder, deren Völker- 
typen und Architekturen, Scenen des tropischen Urwaldes und 
der eisigen Polargegenden treten mit gleicher Lebendigkeit vor 
unsere Augen. Die Farbenphotographie, der Kinematograph 
werden die Natürlichkeit noch steigern und der Phonograph wird 
auf akustischem Gebiete mit seinen optischen Vorbildern wett- 
eifern. Die Wissenschaft hat auch die Mittel gefunden, Objekte, 
welche der natürlichen Anschauung unzugänglich sind, dennoch 
in das Gebiet derselben zu ziehen. Die Momentphotographie 
fixiert jede Phase einer für die direkte Beobachtung zu raschen 
Bewegung, sie annulliert die Geschwindigkeit, läßt das Objekt 
sozusagen erstarren. Marey, Anschütz, Muybridge haben 
die Phasen der Bewegungen der Tiere fixiert. Sogar die Bilder 
von Schallwellen, fliegenden Projektilen u. s. w. sind durch feinere 
Methoden festgehalten worden. Die Methode der Serienbilder, 
seit langer Zeit in der speziellen Form der stroboskopischen 
Methode zur Beobachtung rascher periodischer Bewegungen an- 
gewandt, läßt eine dreifache Verwertung zu. Es gibt Bewegungen, 
deren Geschwindigkeit im Bereich unserer natürlichen Anschauung 
liegt. Der Kinematograph reproduziert sie mit der ihr eigentüm- 
lichen Geschwindigkeit. Bewegungen, die zu rasch vorgehen. 
152 Empfindung, Anschauung, Phantasie. 
um gesehen zu werden, wie die Flugbewegungen der Insekten, 
die Schallschwingungen u. s. w. können mit Hilfe der Serienbilder 
beliebig verlangsamt werden. Veränderungen hingegen, welche 
zu langsam vorgehen, um direkt gesehen zu werden, wie das 
Wachstum einer Pflanze, eines Embryo, einer Stadt u. s. w. kann 
man mit Hilfe der Serienbilder kinematographisch in beliebiger 
Geschwindigkeit ablaufen sehen. Man denke sich die Änderungen 
einer wachsenden Pflanze mit allen ihren geotropischen und 
heliotropischen Bewegungen in gesteigerter Geschwindigkeit, die 
Bewegungen eines Tieres in entsprechender Langsamkeit vor- 
geführt, so muß der Eindruck des Tierischen und Pflanzlichen 
geradezu sich vertauschen. Die kinematographische Vorführung 
eines Kindes, welches heranwächst, aufblüht, reift und als Greis 
verfällt, könnte in ihrer Wirkung durch keine noch so ergreifende 
Bußpredigt übertroffen werden. 
10. Der Gegensatz zwischen zeitlicher Verlängerung und Ver- 
kürzung ist analog jenem zwischen räumlicher Vergrößerung und 
Verkleinerung. Dem hochgeschätzten Mikroskop gegenüber steht 
die wenig beachtete aber ebenso wichtige bildliche Verkleinerung 
für unser Gesichtsfeld zu großer Objekte, wie wir sie z. B. in 
der geographischen Kartendarstellung üben. Auch in diesem 
letzeren Falle bringen wir schwerfällig begrifflich erkannte Ob- 
jekte in den Bereich der bequemen geläufigen Anschuung. Die 
Stärkung des abstrakten Denkens durch Kurven zeichnende 
Registrierapparate verwenden wir schon beim Experimentieren, 
und ebenso bei Darstellung bereits gewonnener Ergebnisse durch 
Kurven, geometrische Konstruktionen u. s. w.^) Ein einziges Bei- 
spiel genügt, um den Wert der Eroberung eines Gebietes für 
die Anschauung fühlbar zu machen. Man weiß, welche Mühe 
Kepler aufwenden mußte, um aus einzelnen begrifflichen Daten die 
elliptischen Planetenbahnen zu konstruieren. Kaum mehr als ein 
Blick hätte genügt, das Richtige zu erraten, wenn diese Bewegungen 
anschaulich in verkleinertem Raum- und Zeitmaßstab gegeben 
gewesen wären. 
11. Aus der Anschauung schöpft die Erinnerung. Wenn bei 
einem zufälligen Anlaß mir das Bild des kleinen glattrasierten 
') Populäre Vorlesungen, S. 124—134. 
Empfindung, Anschauung, Phantasie. 153 
graugelockten Herrn auftaucht, der nach allen Seiten freundlich 
grüßend zur Table d'höte hereinkommt, wenn ich von verschie- 
denen Seiten flüstern höre: Ein deutscher Professor! Voila un 
professeur allemand! Aoh! a German professor! wenn alles in 
der Vorstellung, wesentlich in der Verbindung auftritt, in der 
ich es erlebt habe, so nenne ich dies eine Erinnerung. Haben 
sich aber durch viele verschiedene Erlebnisse mannigfaltige 
associative Verbindungen unter den Elementen der Anschauung 
hergestellt, und dadurch die einzelnen gelockert, so können 
sich durch Nebeneinflüsse verschiedene dieser Verbindungen 
kombinieren, welche in den sinnlichen Erlebnissen sich noch nie 
zusammen gefunden hatten, und jetzt in der Vorstellung zum 
erstenmal beisammen sind. Solche Vorstellungen nennen wir 
Phantasievorstellungen. Wenn ich nur einen Hund in meinem 
Leben gesehen hätte, und mir jetzt einen Hund vorstelle, so 
würde derselbe wahrscheinlich alle Merkmale an sich tragen, 
welche bei der Beobachtung dieses Hundes meiner Aufmersam- 
keit nicht entgangen sind. Ich habe aber unzählige verschiedene 
Hunde und auch hundeähnliche andere Tiere gesehen. Infolge- 
dessen ist wohl der Hund, den ich mir vorstelle, von jedem Hund 
verschieden, den ich je gesehen habe. Ein Wirt wählt das Schild 
„Zum blauen Hund". Sein Schild ist ein Hund von Holz. Nun 
soll er Farbe bekommen. Der Wirt hat aber beim Anstreicher 
viele Töpfe mit verschiedenen Farben nebeneinander gesehen, 
und will etwas Auffallendes haben. So entsteht also seine 
„Phantasieschöpfung" durch Kombination von Associationen, 
welche verschiedenen Erlebnissen angehören. Diese einfachen 
Betrachtungen lehren, daß eine absolut scharfe Grenze zwischen 
Erinnerung und Phantasie nicht zu ziehen ist. Kein Erlebnis 
steht so allein, daß andere Erlebnisse die Erinnerung an ersteres 
nicht beeinflussen könnten. Jede Erinnerung ist „Dichtung und 
Wahrheit". Anderseits werden die Erinnerungselemente in den 
Phantasievorstellungen meist nachzuweisen sein. 
12. Ein Kind erblickt einen Hinkenden. „Der arme Mann ist auf 
einem großen Pferd gesessen, herabgefallen und hat sein Bein 
an einem Stein verletzt." Diese Phantasiegeschichte eines 3 V2 Jahre 
alten Kindes kombiniert sich leicht aus dessen Erinnerungen. Ein 
anderes Sjähriges Kind wünscht wie ein Fisch im Wasser oder 
154 Empfindung, Anschauung, Phantasie. 
wie ein Stern am Himmel zu leben, und ist eben so phantasie- 
reich wie jenes, das eine Bohrung in einem zufällig gefundenen 
Stein von Feen bewohnt sein läßt. Ob es als Phansieschöpfung 
anzusehen ist, wenn ein Kind einen Flaschenstöpsel eine „Türe", 
eine kleine Münze ein „Dollarkind" nennt, bei Anblick betauten 
Grases ausruft: „Der Rasen weint", ist mir nach Erfahrungen 
an meinen eigenen Kindern recht fraglich.^) Das Kind im Stadium 
der Sprachentwicklung hat wenig Worte, und spricht wie der 
Wilde poetisch aus Not, indem es durch jede Ähnlichkeit zur 
Übertragung von Wortbedeutungen veranlaßt wird. Ganz ähn- 
lich wie die kindliche Phantasie setzt der Wilde seine Kosmogonien 
aus den ihm aus der Erinnerung vertrauten Elementen zusammen. 
Riesige Frösche, Kröten, Spinnen und Heuschrecken spielen darin 
eine Rolle. Bei Stämmen, welche an der See oder an großen 
Flüssen leben, beteiligen sich kolossale aus der Tiefe auftauchende 
Fische oder Schildkröten an der Herstellung der gegenwärtigen 
Weltordnung. Wenn ein kleines Mädchen, als Tochter eines 
Ökonomen mit dem Hühnerhof vertraut, die Frage hören läßt: 
„ob die Sterne die Eier seien, welche der Mond gelegt hat?", 
so ist dies ein schönes Beispiel für die Art der Bildung naiver 
Kosmogonien. 2) So sehen wir, daß bei den Ägyptern, einem 
Volke, welches die Töpferei sehr früh auf eine hohe Stufe ge- 
bracht hat, Gott Ptah auf der Töpferscheibe das Ei bildet, aus 
welchem sich die Welt entwickelt.^) Man braucht sich nur der 
eigenen Jugend zu erinnern, um es zu begreifen, daß bei dem 
gänzlichen Fehlen einer soliden Erfahrungsgrundlage für das 
Weltverständnis, notwendig die Phantasie gut oder übel die 
Lücke ausfüllen und das Bedürfnis decken muß. 
13. Wer die Entwicklungsgeschichte der Wissenschaft kennt, 
oder wer an der Forschung teilgenommen hat, wird nicht bezweifeln, 
daß die wissenschaftliche Forscherarbeit eine recht starke Phantasie 
erfordert. Die Art der Phantasie ist allerdings etwas verschieden 
von jener des Künstlers, auf welche wir nachher noch zu sprechen 
•) Ribot, Essai sur l'imagination creatrice. Paris 1900. S. 89—97. — 
Vgl. Analyse der Empfindungen. S. 250. 
*) Beobachtung meiner Schwester. 
») Er man, Ägypten II, S. 352, 605 u. f. 
Empfindung, Anschauung, Phantasie. 155 
kommen. Betrachten wir zunächst die Tätigkeit des forschenden 
Experimentators in einigen Beispielen. Jedem Zeitgenossen 
Galileis war es bekannt, daß der Schall sich langsamer fort- 
pfanzt als das Licht, da man das Aufschlagen des Hammers 
eines in der Entfernung arbeitenden Zimmermanns zuerst sieht 
und erst später hört. Hier dient das unvergleichlich schnellere 
Licht als Zeitmarke des Abganges des Schalles. Um die Licht- 
geschwindigkeit zu bestimmen, ist dies Verfahren nicht anwendbar. 
Wie soll man die Zeit des Lichtabganges markieren? Galilei 
denkt sich das Licht von einem Beobachter A, bei plötzlich ab- 
gedeckter Laterne, einem fernen Beobachter B, und von diesem 
durch Abdeckung seiner Laterne wieder zum Beobachter Ä zurück- 
gesendet, so daß A selbst sowohl die Abgangs- als Ankunfts- 
zeit bei Durchlaufen der Strecke 2 AB markieren kann. Diese 
geniale Anordnung entstand durch die kombinierende, allen Be- 
dingungen Rechnung tragende Phantasie. Vielleicht hat die Er- 
innerung an das Echo hierbei mitgewirkt. Obgleich Galilei selbst 
den Versuch wegen der großen Lichtgeschwindigkeit als unaus- 
führbar erkannte, so konnte doch Fizeau, mehr als 200 Jahre 
später, seine Phantasiearbeit fortsetzen. Er dachte sich statt des 
Beobachters B einen nach A zurückreflektierenden Spiegel, in A 
ein regelmäßig rotierendes Zahnrad, welches den Lichtabgang 
und die Lichtrückkehr in A gleich exakt markiert, in A und B 
Fernrohre zur Verminderung der Lichtverluste. Das lebhafte 
Interesse für das Ziel hält die Associationen in Bewegung, und 
die Vergegenwärtigung der zu erfüllenden Bedingungen bewirkt 
die Auslese der für den Zweck brauchbaren Associationen, aus 
deren Kombination das Phantasieprodukt hervorgeht. — Blitz 
und Knall des elektrischen Funkens erregen Franklin die Ver- 
mutung, daß Blitz und Donner elektrischer Natur seien. Es ent- 
steht der lebhafte Wunsch, dieser vermuteten Elektrizität habhaft 
zu werden. Aber wie das anfangen? Eine leitende Stange reicht 
nicht; einen babylonischen Turm kann er nicht bauen. Da fällt 
ihm ein, daß es Papierdrachen gibt, welche im Winde steigen. 
Er versieht einen solchen Drachen mit einer metallenen Spitze, 
mit einer Hanfschnur mit einem Schlüssel am unteren Ende, und 
läßt den Drachen bei Herannahen eines Gewitters steigen, indem 
er zwischen die Hanfschnur und seine Hand ein Stück einer 
156 Empfindung, Anschauung, Phantasie. 
seidenen Schnur einschaltet. In der Tat wird die Hanfschnur 
durch den Regen leitend. Franklin kann aus dem Schlüssel 
Funken ziehen, mit denselben Flaschen laden, das „elektrische 
Feuer" auf Flaschen füllen. Ein Fesselballon könnte heute den 
Drachen vertreten. — Von solchen durch die Phantasie herbei- 
geschafften Hilfsmitteln des Experimentes mögen noch erwähnt 
werden Newtons Kombination von Konvexlinse und Planglas, 
welche alle Farben dünner Plättchen zugleich darbietet und die 
jeder Farbe entsprechende Dicke leicht zu bestimmen gestattet, 
Sauveurs Reiter zum Nachweis der Schwingungsknoten, 
Wheatstones rotierender Spiegel, Königs akustische Flammen- 
zeiger u. s. w. 
14. Schon in den zuvor erwähnten Fällen der Lösung experi- 
menteller Aufgaben, haben wir nicht bloß mit sinnlichen Vor- 
stellungen zu tun, sondern auch mit Begriffen. Hat man sich 
einmal geläufige Begriffe erworben, welche durch Worte, Zeichen, 
Formeln, Definitionen fixiert sind, so stellen diese Begriffe eben 
auch Objekte des Gedächtnisses, der Erinnerung, der Phantasie 
vor. Man kann auch in Begriffen phantasieren, das Gebiet der- 
selben an dem Faden der Association durchwühlen, und den 
Bedingungen der Aufgabe gemäß eine kombinierende Auslese 
treffen. Dies geschieht besonders bei Lösung einer der Theorie an- 
gehörigen Aufgabe, wenn man das Begriffsgebilde erschaut, wel- 
ches alles durchleuchtet, den Schlüssel zur Lösung gibt. Bei seinen 
hydrostatischen Untersuchungen bemerkt Stevin, daß die Erstar- 
rung eines beliebigen Teiles der im Gleichgewicht befindlichen 
Flüssigkeit dieses Gleichgewicht nicht stört, dagegen eine Reihe 
hydrostatischer Aufgaben auf bereits gelöste Aufgaben der Statik 
starrer Körper zurückführt. — Die Kepler sehen Gesetze sind 
gefunden, und Newton geht daran, das Rätsel derselben zu 
lösen. Die krumme Bahn der Planeten (Gesetz 1) weist ihn auf 
eine von einem Punkte innerhalb der Bahn ausgehende An- 
ziehungskraft hin. Das für die Sonne gültige 2. Sektorengesetz 
bestimmt genauer die Sonne als diesen Punkt. Das 3. Gesetz 
r'//^ = konst., wobei r die Entfernung, t die Umlaufszeit des 
Planeten bedeutet, stimmt mit dem Huygensschen Ausdruck 
für die Zentralbeschleunigung 9 = 4r7c2//^ nur, wenn <p = klr^. 
Eine dem Quadrat der Entfernung verkehrt proportionale Zentral- 
Empfindung, Anschauung, Phantasie. 157 
kraft löst also das ganze von Kepler aufgegebene Rätsel.^) 
— Die Gesetze der Reflexion und Brechung des Lichtes 
klären sich für Huygens durch die Vorstellung des Zusammen- 
wirkens von Elementarwellen, deren Geschwindigkeit durch das 
Medium bestimmt ist. — Die Malus sehen quantitativen Gesetze 
der Lichtpolarisation, die Analogie der Farben doppeltbrechender 
Kristallplatten mit den Farben dünner Plättchen, die Biotschen 
Formeln für erstere, werden sämtlich aufgeklärt und in Zusammen- 
hang gebracht durch die Young-Fresnelsche Konzeption der 
Transversalschwingungen des Lichtes in Verbindung mit dem 
Begriff der Kohärenz. 
15. Das Gesetz der Association hat sich ausreichend gezeigt, 
die hier betrachtete Tätigkeit der wissenschaftlichen Phantasie 
zu durchleuchten. Die künstlerische Phantasie weist aber in 
ihren Äußerungen gewisse Eigentümlichkeiten auf, zu deren 
Darstellung wir etwas weiter ausholen müssen. Die Association 
beschränkt sich nicht auf die Vorgänge des Bewußtseins, auf die 
Vorstellungen. Überhaupt alle Vorgänge des Organismus, welche 
öfter miteinander aufgetreten sind, zeigen eine Tendenz sich dauernd 
zu verbinden. So associieren sich Bewegungen durch Übung mit- 
einander, es treten auch associativ Sekretionen auf u. s. w. Die 
Association ist die temporär erworbene Verbindung verschiedener 
organischer Funktionen miteinander, die temporär erworbene Er- 
regung einer organischen Tätigkeit durch eine andere, die zeitliche 
Anpassung der Teile des Organismus aneinander im Dienste des 
Ganzen und durch die Umstände des individuellen Lebens. Allein 
die Verbindung der Organe, welche eine solche Wechselwirkung 
ermöglicht, entsteht nicht erst durch das individuelle Leben, 
sondern sie ist dem Organismus schon als ererbter Besitz 
wenigstens großenteils auf den Lebensweg mitgegeben. Hier- 
mit ist schon ein Bestand von Wechselwirkung gegeben (z. B. die 
Reflexbewegungen), welcher Bestand im Laufe der organischen 
Entwicklung (Pubertät) noch weiter sich vermehrt, und der 
durch die temporären Erwerbungen des individuellen Lebens nur 
modifiziert werden kann. Mit den temporär erworbenen Asso- 
ciationen allein kann also die Psj^chologie nicht für alle Fälle 
') Mechanik, 5. Aufl. 1904. S. 88, 195. 
158 Empfindung, Anschauung, Phantasie. 
auskommen.^) Das Leben auf Grund bloßer Associationen im 
gewöhnlichen Sinn wäre gar nicht möglich. Wir haben ferner 
zu bedenken, daß die Organe zwar für einander da sind und 
einander dienen, daß aber jedes doch auch sein besonderes 
selbständiges Leben führt. Dieses Leben äußert sich in dessen 
spezifischen Energieen,^) die zwar durch die Erregung von 
außen oder durch andere Organe modifiziert werden können, im 
ganzen aber einen bestimmten Charakter haben, und die sich 
gelegentlich auch selbständig bemerklich machen. So kann das 
Gesichts- oder Gehörsorgan, oder jedes andere Sinnesorgan die 
Empfindungen, welche es gewöhnlich unter dem Einfluß phj^si- 
kalischer Reize entwickelt, unter eigentümlichen noch näher zu er- 
forschenden Lebensbedingungen selbständig als Hallucinationen 
produzieren, so kann die Hirnrinde fixe Ideen produzieren, so 
kann ein Muskel auch ohne willkürliche Innervation sich kon- 
trahieren, eine Drüse ohne den gewöhnlichen Anlaß secernieren. 
Die Hallucinationen sind es ja, die uns recht eigentlich die 
Empfindungen als Zustände des eigenen Leibes kennen lehren. 
Die einseitige Überschätzung dieser Erkenntnis dient dann eben- 
so einseitigen philosophischen (solipsistischen) Sipstemen zur 
Grundlage. 
16. Die Gesichtshallucinationen, in welchen sich die selb- 
ständigen spontanen Lebensäußerungen des Gesichtssinns aus- 
sprechen, hat Johannes Müller^) eingehend studiert und an- 
schaulich beschrieben. Lebhaft gefärbte Gestalten, z. B. von 
Pflanzen, Tieren, Menschen, treten im Gesichtsfelde auf und 
ändern sich ohne unser Zutun durch allmähliche Umbildung. Diese 
Gestalten sind Neubildungen, keine Erinnerungsbilder vorher ge- 
sehener Objekte, und nicht durch Gedanken an diese hervorgerufen. 
Der Wille hat keinen nachweisbaren Einfluß auf dieselben. Müller 
benützt den Anlaß, um die Wertlosigkeit der Associationsgesetze 
zu betonen. Das ist aber entschieden zu weit gegangen. Gewiß 
1) Analyse u. s. w. S. 185. 
*) Hier ist die von Johannes Müller aufgestellte, von Hering weiter 
entwickelte Theorie gemeint. 
*) J.Müller, Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz 
1826. — F. P. Gruithuisen, Beiträge zur Physiognosie und Eautognosie. 
München 1812, S. 202—296. 
Empfindung, Anschauung, Phantasie. 159 
kann, was spontan hervortritt, sich auch spontan ändern. Die 
Phantasmen widersprechen aber nicht den Associationsgesetzen, 
wenn deren Bildung auch nicht nach denselben allein verständ- 
lich ist; sie gehören eben einer andern Klasse von Erscheinungen 
an. Dafür sind uns die Associationsgesetze in vielen Gebieten 
wertvolle Führer. Es gibt übrigens eine Art von Phantasmen, 
die sich an unmittelbar zuvor Gesehenes genauer anschließen; es 
sind die besonders von Fechner^) beschriebenen Erscheinungen 
des Sinnengedächtnisses. Wenn wir uns mit einer Art von Ge- 
sichtsobjekten andauernd beschäftigt haben, so treten uns die 
Bilder derselben, namentlich im Halbdunkel, blitzartig, aber ohne 
Änderung und mit voller Objektivität entgegen. Diese sind den 
zuvor gesehenen Objekten sehr ähnlich, wenn auch vielleicht nicht 
mit denselben identisch.^) Wenn wir Objekte bei schwacher Be- 
leuchtung durch Illusion modifiziert sehen, so deutet dies darauf, 
daß die extremen Prozesse: spontane Phantasmen und durch 
phipsikalische Reize bestimmte Bilder in allen Verhältnissen kom- 
biniert vorkommen können. Ebenso scheinen alle Zwischenstufen 
zwischen Empfindung und Vorstellung zu bestehen. Halten wir 
nun fest, daß eine Vorstellung gewöhnlich durch die andere er- 
regt wird, unter besonderen Umständen aber auch spontan her- 
vortreten kann, so wird dies mit den bisher bekannten Tatsachen 
in gutem Einklang stehen.^) 
17. Sogenannte frei steigende Vorstellungen, plötzliche leb- 
hafte Erinnerungen an einmal Gesehenes, an irgendwann gehörte 
Melodieen u. s. w., ohne daß man den associativen Anknüpfungs- 
punkt in den vorausgehenden Gedanken oder in der augen- 
1) Fechner, Elemente der Psychophysik. Leipzig 1860. II. S. 498. — 
Vgl. ferner Analyse der Empfindungen S. 157. 
«) Oelzelt-Newin, Über Phantasie -Vorstellungen, Graz 1889, S. 12 
berichtet, daß er, nachdem er von Schlangen belästigt, viele getötet hatte, 
in der folgenden schlaflosen Nacht fortwährend von deren objektiv erscheinen- 
den Bildern und Bewegungen verfolgt war. Ähnliches widerfuhr mir, als ich 
mehrere Tage mit Spinnen experimentierte. Ich sah sie im Traume mich 
umkriechen. Als ich einen jungen Sperling mit Heuschrecken auffütterte, 
kam einmal im Traum eine Heuschrecke von Menschengröße wie drohend 
auf mich zugekrochen, als wollte sie sagen: Raum für alle hat die Erde, 
was verfolgst du meine Herde? 
8) Analyse. S. 159. 
160 Empfindung, Anschauung, Phantasie. 
blicklichen Situation aufzufinden vermag, hat wohl jeder schon 
beobachtet. Herbart kannte die Erscheinung und suchte sie in 
seiner Weise zu erklären. Dieselbe scheint den Hallucinationen 
verwandt zu sein. Wenn man aber die Association in einem 
weiteren Sinne nimmt, wenn man sich vorstellt, daß eine Asso- 
ciationsreihe auch mit unbewußten Vorgängen beginnen oder 
endigen kann, so hat man nicht nötig, jede scheinbar frei steigende 
Vorstellung als die Associationsgesetze wirklich durchbrechend 
anzusehen. Mit denselben körperlichen bewußten oder unbe- 
wußten Zuständen können auch dieselben Vorstellungen sich ein- 
stellen. Diese Auffassung scheint mir die interessanten Beob- 
achtungen von Swoboda^) von einer neuen Seite zu beleuchten 
und mit den Ansichten von R. Semon^) gut zu stimmen. 
18. Als Merkmal der künstlerisch produzierenden Phantasie 
wird gewöhnlich die spontane mühelose Neubildung ihrer Schöp- 
fungen angesehen, welche die einfache Nachahmung des Erlebten 
ausschließt. Hierzu kommt die Plötzlichkeit, mit der wenigstens 
die Grundzüge der Schöpfung sich entweder geradezu als Hallu- 
cination oder in nahe verwandter Form dem Künstler darbieten. 
In den Schriften über Phantasie, namentlich in dem oben zitierten 
originellen und ansprechenden Buch von Oelzelt-Newin, werden 
zahlreiche Beispiele dieser Art angeführt. Um aber nicht als 
Regel anzusehen, was zuweilen eintreten mag, und um nicht 
Übertreibungen an Stelle nüchterner wissenschaftlicher Auffassung 
zu setzen, frage man sich, ob man es für möglich hält, daß ein 
Beethoven oder Raphael unter Wilden aufgetreten wäre? Da 
wird man sofort fühlen, daß der ganze Charakter der Schöp- 
fungen solcher Künstler gar sehr von der vorausgehenden Kunst, 
also von deren Erlebnissen mit bestimmt ist. ^) Die hallucina- 
torische Form ihrer Inspirationen zugegeben, müssen wir auch 
diese als abhängig von dem Erlebten betrachten. Nun kommt 
') Swoboda, Die Perioden des menschlichen Organismus. Wien 1904. 
— Eine genaue Periodicität konnte ich an mir nicht beobachten, wiewohl 
mir die Erscheinung der frei steigenden Vorstellungen häufig vorkommt. 
Vielleicht zeigt sich die scharfe Periodicität nur bei sehr sensiblen Individuen. 
*) Semon, Mneme. Leipzig 1904. 
') Sehr gesunde und nüchterne Ansichten hierüber bei R. Wallaschek, 
Anfänge der Tonkunst. Leipzig 1903, insbesondere S. 291 u. f. 
Empfindung, Anschauung, Phantasie. 161 
noch die Detailarbeit hinzu, welche von der wissenschaftlichen 
Detailarbeit sich kaum durch anderes unterscheiden wird, als 
durch den mehr sinnlichen, weniger abstrakten Charakter. Wer 
sich eine Schumann sehe Symphonie oder ein Heinesches Ge- 
dicht genau zu Gemüte führt, erkennt darin die Spuren der älteren 
Kunst. Ja man wird zugeben, daß ein guter Teil des Reizes 
dieser Werke in der überraschenden Variation alter Wendungen 
besteht, welche uns angenehm enttäuschen. Ohne das ältere 
Trivialere konnten sie weder entstehen, noch verstanden werden.^) 
19. Kann nun eine wissenschaftliche Entdeckung mit einem 
hallucinatorischen Blick beginnen? Vielleicht ist Goethes Meta- 
morphose der Pflanzen so eingeleitet worden. Seltene Aus- 
nahmen kann man nicht ausschließen; im allgemeinen wird aber 
hier das gelten, was über die Traumphantasmen (S. 38) gesagt 
wurde. Ich bin mit Hallucinationen und Traumphantasmen aus 
eigener Erfahrung wohl vertraut, und mir ist manches optische und 
musikalische Phantasma vorgekommen, das einer künstlerischen 
Verwendung wohl fähig gewesen wäre. Dagegen kenne ich 
keinen Fall einer hallucinatorischen wissenschaftlichen Entdeckung, 
weder unter den großen klassischen historischen Beispielen, noch 
aus der eigenen Erfahrung. 2) Die Fälle sind ja nicht selten, daß 
sich plötzlich eine Perspektive eröffnet, wie ein Problem zu 
lösen ist, und ich habe selbst solche erlebt. Sieht man aber 
genau nach, so findet man, daß hier immer eine lange mühsame 
Arbeit, ein Durchwühlen des Gebietes vorausgegangen ist, oder 
daß man mühelos spielend, aber von einem bestimmt gerichteten 
^) Vgl. die reizende kleine Schrift von E. Kulke, Über die Umbildung 
der Melodie. Prag 1884. — Analoge Betrachtungen lassen sich über die Um- 
bildung der Harmonie anstellen. Um nur ein Beispiel zu nennen, sei auf den 
Gang im Fliegenden Holländer, Balladenszene und Ouvertüre hingewiesen, 
in welchem die Dreiklänge: F-Dur, Es-Dur, D-Moll, noch dazu mit auffallen- 
der Mißachtung des Quintenverbotes sich folgen. Es liegt hier eine geringe 
Modifikation des trivialen Ganges vor: F-Dur-Dreiklang, Dominant-Septimen- 
akkord, F-Dur-Dreiklang, und gerade darin besteht der Reiz. 
2) Es wird erzählt, daß Kekule seinen Benzolring als Hallucination im 
Londoner Nebel erschaut hätte, allein sein eigener schlichter Bericht über 
seine spekulative Beschäftigung in London und Gent spricht durchaus nicht 
für diese Auffassung. (Berichte d. Deutschen ehem. Gesellschaft, 23. Jahrg., 
1890, S. 1306 u. f.) 
Mach, Erkenntnis und Irrtum. / H 
162 Empfindung, Anschauung, Phantasie. 
Interesse beherrscht, Daten gesammelt hat, die sich mit einem 
letzten Fund zu einem Ganzen schließen. Warum verhält sich 
nun Kunst und Wissenschaft in diesem Punkt so verschieden? 
Ich glaube der Grund ist leicht anzugeben. Die Kunst bleibt 
überwiegend sinnlich und wendet sich hauptsächlich an einen 
Sinn. Jeder Sinn kann für sich hallucinieren. Die Wissenschaft 
aber bedarf der Begriffe. Gibt es Begriffshallucinationen? Wie 
könnten sie zu stände kommen? Welchen Sinn könnte es haben, 
die letzte menschliche intellektuelle Erwerbung, den wissen- 
schaftlichen Begriff, welcher seiner Natur nach durch bewußte 
absichtliche Arbeit entstanden ist, als Geschenk von dem unbe- 
wußten Organischen zu erwarten? 
20. Betrachten wir zum Schluß noch einmal das Verhältnis 
des Begriffes zur Anschauung und Empfindung. Der Vorteil 
geläufiger, selbst erworbener, nicht bloß durch Worte oder Lektüre 
übertragener Begriffe besteht in der leichten Erweckbarkeit der in 
denselben potentiell enthaltenen Anschauungen und Empfindungen, 
welche letzteren man ebenso leicht wieder in Begriffen aufzu- 
speichern vermag. Ein triviales Beispiel soll dies erläutern. 
Wir denken an die etwa 3600 Jahre zurückliegende Zeit der 
Pharaonen, aus welcher wir noch historische Nachrichten haben. 
Diese 3600 Jahre sind fast nur „flatus vocis", solange wir sie nicht 
in Anschaulicheres umsetzen. Denken wir uns aber einen alten 
Ägypter von 60 Jahren, der einen Sohn erzeugt; dieser tut des- 
gleichen im gleichen Alter u. s. f., so gehört der sechzigste 
Nachkomme dieser Reihe, die wir leicht an der Wand eines 
mäßigen Zimmers aufgestellt denken können, schon der Gegen- 
wart an. Die Pharaonenzeit rückt uns hiermit bedenklich nahe, 
und wir wundern uns nicht mehr, daß noch so viel Barbarei 
auf uns lastet. Wer an seine braven Vorfahren denkt oder sich gern 
die schöne Zukunft seiner Nachkommen ausmalt, der setze seine 
anschaulichen Vorstellungen umgekehrt in Begriffe um. Jeder 
hat 2 Eltern, 4 Großeltern, 8 Urgroßeltern, und kommt so fort- 
rechnend in wenigen Jahrhunderten zu einer Volkszahl, welche 
kein Land zu fassen vermag. Da nun um so weniger jeder seine 
besonderen eigenen braven Vorfahren haben kann, so muß er 
sich damit zufrieden geben unter den gemeinsamen Vorfahren 
eine Unmasse von Dieben, Mördern u. s. w. zu seiner Ver- 
Empfindung, Anschauung, Phantasie. 163 
wandtschaft zu rechnen, mit deren psychischen Erbschaften er 
sich abfinden muß. Wer bescheiden 3 Kinder hinterläßt, die 
desgleichen tun u. s. f., dessen Nachkommen würden in wenigen 
Jahrhunderten die Erde füllen. Es folgt, daß die meisten derselben 
im Kampf ums Dasein, der gewiß nicht immer mit den edelsten 
Mitteln geführt werden wird, umkommen müssen. Vielleicht wird 
dieses einfache Beispiel der Umsetzung der Begriffe in An- 
schauungen und umgekehrt den Gedanken nahe legen, daß die 
exzessive rücksichtslose egoistische Sorge für die eigenen Nach- 
kommen auf einer Illusion beruht und besser durch die Sorge 
für die Menschheit ersetzt werden sollte. 
21. Der Besitzer eines reich gegliederten, seinen Interessen 
Rechnung tragenden Begriffsystems, das er durch Sprache, Er- 
ziehung und Unterricht sich zu eigen gemacht hat, erfreut sich 
großer Vorteile gegenüber dem auf bloße Wahrnehmungen An- 
gewiesenen. Wem aber die Fähigkeit fehlen würde, sinnliche 
Vorstellungen rasch und geläufig in Begriffe umzusetzen und 
umgekehrt, der könnte gelegentlich auch durch seine Begriffe 
irregeführt werden; dieselben könnten dann für ihn zu einer 
bloßen Belastung mit Vorurteilen werden. 
11* 
Anpassung der Gedanken an die Tatsachen 
und aneinander. 
1. Die Vorstellungen passen sich den Tatsachen allmählich 
so an, daß sie ein den biologischen Bedürfnissen entsprechendes, 
hinreichend genaues Abbild der ersteren darstellen. Natürlich 
reicht die Genauigkeit der Anpassung nicht weiter als die augen- 
blicklichen Interessen und Umstände es forderten, unter welchen 
dieselbe stattfand. Da aber diese Interessen und Umstände von 
Fall zu Fall wechseln, so stimmen die Anpassungsergebnisse 
verschiedener Fälle nicht genau untereinander überein. Das 
biologische Interesse treibt nun wieder zur Korrektur verschie- 
dener Abbildungsergebnisse durch einander, zu dem bestmög- 
lichen, vorteilhaftesten Ausgleich der Abweichungen. Diese 
Forderung wird erfüllt durch Vereinigung des Prinzips der 
Permanenz mit jenem der zureichenden Differenzierung der 
Vorstellungen. Die beiden Prozesse, der Anpassung der Vor- 
stellungen an die Tatsachen und der Anpassung der ersteren 
aneinander, lassen sich in Wirklichkeit nicht scharf trennen. 
Werden die ersten Sinneseindrücke schon durch die angeborene 
und temporäre Stimmung des Organismus mit bestimmt, so er- 
scheinen die späteren Sinneseindrücke schon durch die früheren 
beeinflußt. So ist also fast immer der erste Prozeß schon durch 
den zweiten kompliziert. Diese Prozesse vollziehen sich zuerst 
ohne Absicht und ohne klares Bewußtsein. Wir finden ja, wenn 
wir zu vollem Bewußtsein erwachen, schon ein recht reiches 
Weltbild in uns vor. Später aber zeigt sich ein ganz allmählicher 
Übergang zu klar bewußter und absichtlicher Fortsetzung der 
beiden Prozesse, und sobald dieser eingetreten ist, beginnt 
eben die Forschung. Die Anpassung der Gedanken an die Tat- 
sachen, wie wir jetzt besser sagen wollen, bezeichnen wir als 
Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. 165 
Beobachtung^ die Anpassung der Gedanken aneinander aber als 
Theorie. Auch Beobachtung und Theorie sind nicht scharf zu 
trennen, denn fast jede Beobachtung ist schon durch die Theorie 
beeinflußt und äußert bei genügender Wichtigkeit anderseits ihre 
Rückwirkung auf die Theorie. Wir wollen nun Beispiele solcher 
Prozesse betrachten. 
2. Wir haben uns nicht darum bemüht zu erfahren, daß 
Milch und Brot gut schmecken und unseren Hunger stillen, daß 
der Stoß schwerer harter Körper schmerzt, daß die Flamme 
brennt, daß das Wasser abwärts fließt, daß nach dem Blitz der 
Donner folgt u. s. w. Der Leib und seine Umgebung haben 
diese Vorstellungsanpassung zu stände gebracht. Die An- 
passungen vollziehen sich fast von selbst im unmittelbaren 
eigenen biologischen Interesse des Individuums. Die Sache 
ändert sich aber, sobald das Interesse der Gedankenanpassung 
nur ein mittelbares ist und durch Mitteilbarkeit des Ergebnisses 
auch der Allgemeinheit zu gute kommen, also sprachlichen Aus- 
druck finden soll. Hier wird das psychische Leben viel mehr 
in Anspruch genommen. Die neue Tatsache muß mit vielen 
anderen Fällen verglichen ^ die Übereinstimmungen und Unter- 
schiede müssen beachtet^ und die bereits bekannten und be- 
nannten Elemente, aus welchen die neue Tatsache zusammen- 
gesetzt gedacht werden kann, müssen aufgesucht werden. Nur 
eine im Dienste des Lebens gekräftigte, psychische Tätigkeit 
läßt mittelbare Interessen von der nötigen Stärke aufkommen und 
vermag auch deren Antrieben zu genügen. Wir lernen als Kinder 
Flüssigkeiten durch ein Rohr aufsaugen, ohne zu wissen wie, 
ohne auch nur darum zu fragen, ohne es mitteilen zu können. 
Man erwäge nun, welche Entwicklung dazu gehört, sich auf dem 
Umwege einer Pumpe Wasser zu verschaffen. Wie stark muß 
das indirekte Interesse sein, damit unter Herrschaft desselben 
die Phantasie durch passende Auslese der Erinnerungen das Vor- 
bild zur Konstruktion der Pumpe schafft. Was muß alles ver- 
glichen worden sein, um endlich sagen zu können: das Wasser 
folgt trotz seines Gewichtes, durch die „Scheu vor dem leeren 
Raum", dem sich erhebenden Pumpenkolben. Für die ersten 
Stufen der Anpassung genügt oft eine neue Kombination an- 
schaulicher Erinnerungsvorstellungen durch die Phantasietätig- 
\QQ Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. 
keit. Man denke an die „Anziehung und Abstoßung" der Mag- 
nete, an das „Ausschleudern" der Lichtteilchen, an die gegen- 
wärtig wieder auflebende, in sich geschlossene magnetische 
Strömung Eulers, an den „Wärmestoff", der aus dem wärmeren 
in den kälteren Körper „überfließt", wie das Wasser aus einem 
nassen Schwamm in den trockenen, ja selbst an die Amperesche 
„Schwimmerregel". Die weitere Anpassung erfordert aber ab- 
strakte begriffliche Operationen, die Betrachtung ganzer Klassen 
von Tatsachen, bezw. der für dieselben charakteristischen Reak- 
tionen. Hierher haben wir zu zählen Galileis Erkenntnis der 
Fallbewegung als einer „gleichförmig beschleunigten" Bewegung, 
Keplers Nachweis der „geradlinigen" Ausbreitung des Lichtes 
und des zugehörigen Intensitätsgesetzes, Blacks Konstruktion 
des Begriffes der „Wärmemenge", Coulombs Aufstellung des 
Gesetzes der „verkehrt quadratischen" Wirkung der Elektrizität. 
3. Betrachten wir nun den Konflikt der Gedanken unter- 
einander und das Ergebnis desselben, deren Anpassung anein- 
ander, in einfachen Beispielen. Oft geschieht es, daß ein sinn- 
liches Erlebnis verschiedene Erinnerungen weckt, welche teils 
übereinstimmend zum Handeln in demselben Sinne hindrängen, 
teils widerstreitend sich gegenseitig paralj^sieren. In dieser Lage 
befindet sich z. B. ein Fuchs, der ein zappelndes Beutetier er- 
blickt, zugleich aber die Nähe des Jägers wittert, oder Anzeichen 
einer Falle vermutet, welche ihn an schlimme Erlebnisse mahnt. 
Erkennt er den vermeintlichen Jäger als einen harmlosen Knaben 
ohne Waffen und Hund, oder die vermeintliche Falle als Ge- 
strüpp, in welches sich das Tier zufällig verwickelt hat, so ist 
er von dem Konflikt befreit. Vor jeder Unternehmung, die teils 
günstige, teils ungünstige Aussichten bietet, werden wir durch 
die widerstreitenden Gedanken in eine mehr oder minder quälende 
Spannung versetzt, die erst weicht, wenn wir die Befürchtungen 
oder die Hoffnungen als eitel, und in den Umständen nicht be- 
gründet erkannt, uns demgemäß zu der Unternehmung ent- 
schlossen oder dieselbe aufgegeben haben. Wir fühlen dann 
im Gegensatz zur früheren Qual eine angenehme Befreiung vom 
Druck. Im Dienste des Lebens passen sich die Gedanken den 
Tatsachen an, im Dienste des Lebens setzen sich die Gedanken 
auch untereinander ins Gleichgewicht. Ist das Denken im Dienste 
Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. 167 
des Lebens schon genügend erstarkt, so ist Nichtübereinstim- 
mung der Gedanken an sich schon eine Qual, und die Lösung 
des Konfliktes wird schon zur Beseitigung des intellektuellen 
Unbehagens angestrebt, selbst wenn auch gar kein praktisches 
Interesse mehr auf dem Spiel steht. 
4. Ein junger Wilder hat einen Korb mit Früchten zugleich 
mit einem Brief zu überbringen, verzehrt unterwegs einen Teil 
der ersteren und ist erstaunt, daß der Brief dies verraten konnte. 
Ein zweites Mal legt er den Brief unter einen Stein, um den 
„Verräter" an der Beobachtung zu verhindern, muß aber auch 
diesmal erkennen, daß er vor dem „Zauberer" nicht gehörig auf 
der Hut war. Erst nachdem er zählen und die Zahl etwa durch 
Striche bezeichnen gelernt, hat er endlich eine ungefähr zu- 
treffende Vorstellung davon gewonnen, auf welche Weise ihn 
der Brief verraten konnte. So wird also, sozusagen, in der 
Gesellschaft der Erinnerungen die ursprüngliche Vorstellung des 
Briefes so lange umgebildet, bis sie sich mit denselben ver- 
trägt. — Wir sehen zum erstenmal einen schief ins Wasser ge- 
tauchten Stab geknickt. Aber wir haben beim Eintauchen ins 
Wasser keinen Widerstand empfunden; der herausgezogene Stab 
ist auch wieder gerade, was er doch von selbst nicht werden 
konnte, wenn er einmal geknickt war. So lassen wir die Knickung 
als minderwertigen Schein oder Täuschung gegenüber den unter- 
einander besser übereinstimmenden Vorstellungen von höherer 
Autorität unbeachtet. Allein das Nichtbeachten eines praktisch 
unwichtigen Erlebnisses mag wohl praktischen Zwecken genügen, 
dem wissenschaftlichen Standpunkt, für welchen Jede Tatsache 
unter Umständen Bedeutung gewinnen kann, entspricht es gewiß 
nicht. Diesem genügen wir erst, wenn wir das gerade und das 
geknickte optische Bild in gleicher Weise als durch die Um- 
stände der Lichtfortpflanzung bestimmt erkennen. 
5. Die Gedankenanpassungen, die das Individuum nur im 
eigenen Interesse vornimmt, können unter Mitwirkung der Sprache 
stattfinden, sind aber nicht ausschließlich an dieselbe gebunden. 
Dagegen muß das Ergebnis der Gedankenanpassung, welches der 
Allgemeinheit förderlich sein soll, notwendig sprachlichen Aus- 
druck finden in Begriffen und Urteilen, womit alle Vorteile aber 
auch alle Nachteile dieser Form wirksam werden. Dies gilt 
168 Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. 
insbesondere von allen wissenschaftlichen Anpassungsprozessen. 
Dieselben werden also in diesem Falle in der Korrektur zum 
Ausdruck kommen, welche Gruppen von Begriffen und Urteilen 
durch andere Gruppen von Begriffen und Urteilen erfahren. 
6. Die Beunruhigung des Vorstellungslebens durch Wider- 
streit treibt sichtlich die Eleaten zu ihren philosophischen Ver- 
suchen. Allerdings suchen sie die Lösung in einer für uns 
wunderlichen Weise darin, daß sie der in der Sprache ver- 
körperten Einheit der Auffassung die Alleinherrschaft zugestehen 
und ihr zuliebe den Sinnen mit ihren Unterscheidungen jedes 
Recht mitzureden entziehen. Mag man aber diese primitiven 
Versuche wie immer ansehen, so wird man doch zugeben, daß 
die durch dieselben angeregten Debatten die Aufmerksamkeit 
auf das eigene Denken und Sprechen gelenkt, die Fertigkeit 
und Bestimmtheit des Denkens und Sprechens erhöht und durch 
das Gefühl der Befreiung bei wirklichen oder vermeintlichen 
Lösungen die Freude am Denken kennen gelehrt haben. Das 
Vergnügen der Überlegenheit gegenüber weniger Geübten darf 
als treibende Kraft auch nicht unterschätzt werden. Denn, wenn 
Zeno von Elea auch vor allem gewiß die Unerschöpflichkeit 
des von den Sinnen vorgespiegelten Kontinuums durch diskretes 
Zählen unangenehm gefühlt hat, worin ja die eigentliche Schwierig- 
keit besteht, so dürfen wir in seinem „Achilles" mit der unend- 
lichen geometrischen Progression, die bis zu dem Punkte und 
Momente des Einholens in seiner Weise eben nicht zu Ende 
gedacht werden kann, doch auch das Werk eines Schlaukopfes 
sehen, der sich seiner Überlegenheit freut. Die von den Eleaten 
angeregten Sophisten im schlimmen Sinne, ^) die sich die Auf- 
gabe stellten, „die schlechtere Sache zur besseren zu machen", 
die Eristiker mit ihren Trugschlüssen, welche jede Meinung zu 
vertreten sich getrauten, wenn sie auch zunächst auf ihren Vor- 
teil bedacht waren, förderten doch indirekt die Kritik des Denkens 
und der Sprache. Wenn uns heute Trugschlüsse, wie sie in 
Piatons „Euthj>demos" oder „Gorgias" Sophisten in den Mund 
gelegt werden, nur mehr fade und abgeschmackt erscheinen, wenn 
wir über witzige Schlußweisen wie den „Lügner", den „Ver- 
1) Th. Gomperz, Griechische Denker. Leipzig 1896. I, S. 331 u. f. 
Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. 169 
hüllten", das „Krokodil", den „Gehörnten" uns nicht mehr den 
Kopf zerbrechen, wenn der Prozeß des Sophisten Protagoras 
gegen seinen Schüler Eualthus (Aulus Gellius, Attische Nächte, 
V, 10) den modernen Juristen weniger Schwierigkeiten bereiten 
würde als den antiken, so verdanken wir dies dem Umstand, 
daß solche Schwierigkeiten eben schon von unseren Vorfahren 
erledigt worden sind. Wir sehen hieraus, „ein wie großer Ab- 
stand zwischen der Reflexion in ihrem Kindesalter und der ge- 
reifteren ist; und wir können uns Glück wünschen, daß wir 
durch letztere in den Stand gesetzt worden sind, uns, indem 
wir diese Schlüsse und was einen verwandten Charakter an sich 
trägt, rasch zur Seite schieben, mit unsern Forschungen wich- 
tigeren und fruchtbareren Problemen zuzuwenden".^) Wir dürfen 
aber nicht undankbar vergessen, daß neben dieser indirekten 
Förderung des Denkens durch dessen Mißbrauch^ viele griechische 
Philosophen die wahre Methode der Anpassung der Gedanken 
aneinander, die Korrektur schwächer begründeter durch stärker 
begründete Gedanken, durch den geometrischen Beweis an einem 
einfachen und soliden Stoff entwickelt und dadurch einen un- 
vergänglichen intellektuellen Besitz geschaffen haben. Das Er- 
gebnis dieser Bemühungen, Euklids „Elemente", sind noch 
heute in logischer Beziehung mustergültig. 
7. Die mittelalterliche Scholastik war in Bezug auf die 
Forschung fast vollkommen steril. Um aber ihre Ansichten mit 
den Dogmen der Kirche und mit den Aussprüchen des Leib- 
philosophen derselben (Aristoteles) in Übereinstimmung zu bringen, 
hat sie die antike Dialektik ausgebildet und verwertet. Je ge- 
ringer das sachliche Material war, desto mehr mußte man darauf 
bedacht sein, alles, was ein für richtig geltender Satz enthalten 
konnte, herauszupressen. Was durch diese Methode zum Vor- 
schein kam, war ja größtenteils eine recht wenig nahrhafte, 
papierne Kost, die der heutige Naturforscher schon in der Ver- 
dünnung schwer verträgt, in welcher sie bei Kepler, Grimaldi, 
*) E. F. Beneke, System der Logik als Kunstlehre des Denkens. Berlin 
1842. II, S. 141. —Vgl. auch J. F. Fries, System der Logik. Heidelberg 1819. 
S. 492 u. f. und endlich die vortreffliche und ansprechende Darstellung der 
Trugschlüsse bei W. Schuppe, Erkenntnistheoretische Logik. Bonn 1878. 
S. 673 u. f. 
170 Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. 
Kircher u. a. geboten wird. Die Schulung in der Ausnützung 
eines Gedankens durch Übung dieser Methode darf aber nicht 
unterschätzt werden; dieselbe wird auch sichtbar, sobald sich 
ein wirklicher Forschungsstoff darbietet. Ich meine damit natürlich 
nicht, daß eine gütige Gottheit mit Vorbedacht die Scholastik 
vor den Beginn der Naturforschung gesetzt hat. War aber die 
Scholastik einmal da, so mußte sie ihre guten und schlimmen 
Wirkungen ausüben. Die letzteren hat sie leider durch Jahr- 
hunderte ausgeübt, bis endlich Ereignisse eintraten, nach welchen 
sie nur mehr für künstlich geblendete Menschen ein Scheinleben 
fortführen konnte.^) 
8. Ein kräftiges Vorstellungsleben wird sich, auch wenn 
keine ernsten Aufgaben vorliegen, leicht spielend betätigen und 
eben durch dieses Spiel für den Ernstfall weiter entwickeln und 
stärken. Ich glaube, daß beide hier berührten Auffassungen des 
Spiels berechtigt sind, während gewöhnlich nur die eine oder 
die andere Seite betont wird.^) Betrachten wir als Beispiel die 
intellektuellen Spielaufgaben aus dem „Thaumaturgus mathema- 
ticus" (Coloniae 1651). Das Buch ist in der Zeit des Auf- 
schwungs der naturwissenschaftlichen Forschung gedruckt und 
') Nach dem Rat von Prof. A. Marty lernt man die scholastische Dialektik 
am besten kennen durch Francisci Suarez, Disputationes metaphysicae. 
(Opera. Tom. 22, 23. Venetiis, 1751.) Man vergleiche z. B. den Aufwand von 
Scharfsinn in Disput 23 „de causa finali" (T. 22, p. 442), oder Disput 40 „de 
quantitate continua" (T. 23, p. 281), welcher immer nur dazu dient, um auf einem 
großen Umwege schließlich in recht matter Weise in eine kirchliche oder 
aristotelische Lehre einzulenken. — Bezeichnend für den Charakter der Scho- 
lastik ist, was H. Reuter (Gesch. d. religiösen Aufklärung im Mittelalter, 
Berlin 1877, II, S. 19 u. f.) von Simon von Tournay erzählt. Derselbe sprach 
nach einem erfolgreichen Vortrag unter unmäßigem Lachen: „O mein Jesulein, 
wieviel habe ich in dieser Frage zur Befestigung und Verherrlichung deiner 
Lehre beigetragen! Wahrlich, wenn ich als ihr böswilliger Gegner auftreten 
wollte, ich würde sie mit noch stärkeren Vernunftgründen und Argumenten 
zu schwächen, herabzuwürdigen, zu widerlegen wissen." Kaum hatte er die 
Worte vollendet, als er stumm ward. Er hatte Sprache und Gedächtnis ver- 
loren. — Die Dialektik ist ja oft eine Kunst andere und gelegentlich auch 
sich selbst irre zu führen; die Freude am Denken hat sie aber doch gefördert. 
Das stille Glück, welches die genossen, die in den engen geschlossenen 
Gedankenkreis der Scholastik sich hineingefunden hatten, können bei aller 
Karikatur selbst die „epistolae obscurorum virorum" nicht verdecken. 
*) Vgl. K. Groos, Die Spiele der Tiere. Jena 1896. 
Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. 171 
trägt die Spuren antiken, scholastischen und modernen Denkens 
deutlich an sich. Die 13. Aufgabe verlangt die Wägung des 
Rauches eines verbrennenden Gegenstandes. Die Auflösung be- 
steht in der Wägung des Gegenstandes und der zurückbleibenden 
Asche; die Differenz beider sei das Gewicht des Rauches. Auf- 
gabe und Lösung sind zweifellos antik, denn nach Lucians 
Bericht hat der Cjpniker Demonax diese ihm vorgelegte Vexier- 
frage in der bezeichneten Weise beantwortet. Obgleich wir 
wissen^ daß die Lösung falsch ist, so zeigt sich in derselben 
doch deutlich das Gefühl für die allgemeinere Erfahrung, die 
wir heute als Prinzip der Erhaltung der Masse aussprechen, und 
das Bedürfnis^ die Einzelgedanken mit diesem wichtigeren in 
Einklang zu bringen, sie demselben anzupassen.^) — Einige 
Aufgaben sind solche, daß die Lösung derselben durch Experi- 
mentieren in Gedanken gefunden werden muß. Dieser Art ist 
z. B. die 15. Aufgabe von dem Wolf, der Ziege und dem Kohl- 
kopf, welche über den Fluß gesetzt werden sollen, während der 
Nachen nur für eines Platz bietet, und mit der Bedingung, daß 
unterdessen keines das andere verzehrt. Man beginnt natürlich 
mit dem Transport der Ziege, und das übrige ergibt sich von 
selbst. — Verwandt ist die vorausgehende 14. Aufgabe: Drei 
Herren mit ihren drei Sklaven zu übersetzen. Die Schwierigkeit 
bildet der Umstand, daß der Nachen nur 2 Personen faßt, während 
doch nach antiker Sitte „Dominorum quisque suum amat servum." 
— Eine schöne durch das Gedankenexperiment lösbare zahlen- 
theoretische Aufgabe ist die 9. Drei Gefäße von 3, 5 und 
8 Maßeinheiten sind gegeben, die ersten beiden leer, das letztere 
mit Flüssigkeit gefüllt, welche mit deren Hilfe allein in 2 gleiche 
Teile geteilt werden soll. Die Lösung fordert nur eine lebhafte 
Phantasie und ist nur durch die Unbestimmtheit des Beginns 
der Operationen etwas erschwert. — Eigentümlich ist die 29. Auf- 
gabe: Einen Menschen zugleich aufrecht und verkehrt zu stellen. 
Das ist scheinbar unmöglich, solange man, wie die Antipoden- 
leugner, unter ^^aufrechf^ eine absolute Richtung versteht. 
Wandeh man aber diesen Begriff in einen relativen um, so löst 
>) Lavoisier hat nicht das Gesetz der Erhaltung der Masse entdeckt, 
sondern diese schon dem Altertum geläufige instinktive Annahme hat ihn zu 
seinen großen chemischen Entdeckungen geleitet. 
172 Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. 
ein im Mittelpunkt der Erde stehender Mensch die Aufgabe.^) — 
Eine reizende Denkprobe ist die 49. Aufgabe. Rings um die 
Erde wird eine ganz gleichmäßige Brücke gebaut, von welcher 
nachher gleichzeitig alle Stützen weggenommen werden. Was 
geschieht dann? „Si praxis tam exacta accesserit quam specu- 
latio est certa", müßte die Brücke, als in sich geschlossenes 
Gewölbe, schweben bleiben, denn kein Teil kann eher fallen 
als der andere. Alle Vorstellungen werden hier dem allge- 
meineren Gedanken angepaßt, daß jeder Vorgang durch die 
Umstände eindeutig bestimmt ist. Man bemerkt, daß der Sa- 
turnusring eine solche Brücke vorstellen könnte. Es ist aber 
hierbei auf das verkehrt quadratische Gesetz der Gravitation 
und das dadurch bedingte labile Gleichgewicht eines starren 
schwebenden Ringes natürlich noch keine Rücksicht genommen. 
Der wirkliche Saturnusring kann nur bestehen, wenn er aus iso- 
lierten kreisenden Massen sich zusammensetzt. Auch die fol- 
genden Aufgaben dienen noch dazu, den Satz der zureichenden 
Bestimmtheit oder des zureichenden Grundes fühlbar zu machen. 
So wird in 53 ausgeführt, daß ein vollkommen gleichmäßiger 
kreisförmiger Spinnenfaden durch die gleichmäßig ausgeübten 
Kräfte aller „Engel und Menschen" nicht gesprengt werden 
könnte. — S. 230 wird die Frage gestellt, ob es 2 Menschen 
gibt, welche eine genau gleiche Zahl von Kopfhaaren aufweisen? 
Die Frage scheint zunächst unbeantwortbar. Dieselbe wird aber 
benützt, um den Wert der Ordnung und Übersicht der Vor- 
stellungen, kurz den Wert der Mathematik fühlbar zu machen. 
Ist man nämlich darüber klar geworden, daß die Zahl der 
Menschen zweifellos viel größer ist als das Maximum der Haar- 
zahl n eines Kopfes, so stelle man die ersten n Menschen, die 
größtmöglichste Verschiedenheit voraussetzend, nach der Haarzahl 
von 1 bis n fortschreitend in eine Reihe. Dann muß man den 
(/?-[- Uten, (/z + 2)ten u. s. f. schon auf einem der n besetzten 
Plätze unterbringen. 
9. An diesen Beispielen sei es genug. Wir sehen, daß die 
Menschen des 17. Jahrhunderts nach der Denkfähigkeit und 
^) Auch diese Aufgabe und ihre Auflösung ist antik. Sie wird beiPlutarch 
diskutiert in der Unterredung „über das Gesicht in der Mondscheibe". 
Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander, 173 
Denkübung, welche sich in deren intellektuellen Spielen äußert, 
für große naturwissenschaftliche Entdeckungen wohl gerüstet 
waren. Die Methode des Gedankenexperiments, die Anpassung 
der Einzelvorstellungen an allgemeinere durch die Erfahrung 
und das Streben nach Übereinstimmung entwickelte Denkgewohn- 
heiten (Beständigkeit, eindeutige Bestimmtheit), die Ordnung 
der Vorstellungen in Reihen, werden in diesen Spielen geübt, 
und dieselben stellen gerade diejenigen Tätigkeiten vor, welche 
die Naturforschung am meisten fördern. 
10. Wenden wir uns nun zu Beispielen der Anpassung der 
Gedanken aneinander, wie sie im Verlauf der Entwicklung der 
Wissenschaft wirklich stattgefunden hat und von ernster Be- 
deutung gewesen ist. Stevin sucht den Wert einer auf der 
schiefen Ebene liegenden Last als Zug längs der Länge der 
schiefen Ebene. Er nimmt denjenigen Wert als richtig an, bei 
dessen Geltung eine geschlossene, um die schiefe Ebene gelegte 
gleichmäßige Kette in Ruhe bleibt, was aus der täglichen Er- 
fahrung bekannt ist. Er paßt den weniger sicheren Gedanken 
dem sicher begründeten an. — Galilei findet bei Beginn seiner 
Forschungen noch die überlieferte Vorstellung einer allmählich 
abnehmenden „vis impressa" des geschleuderten Körpers vor, 
welche auch ein natürlicher Ausdruck der täglichen Erfahrung ist. 
Seine Untersuchungen lehren ihn die gleichförmig beschleunigte 
Fallbewegung und die gleichförmig verzögerte Steigebewegung 
in vertikaler und gegen den Horizont schiefer Richtung kennen. 
Zugleich hat er sich, insbesondere bei Pendelversuchen, gewöhnt, 
die Widerstände als die Geschwindigkeit vermindernd, als ver- 
zögernd aufzufassen. Indem ihm nun die gleichförmige Horizontal- 
bewegung als spezieller Fall einer gleichförmig beschleunigten 
oder verzögerten Bewegung mit der Beschleunigung oder Ver- 
zögerung Null entgegentritt, wird die abnehmende vis impressa 
überflüssig und verwirrend und muß der überall passenden Träg- 
heitsvorstellung weichen.^) — Die Newtonschen „Prinzipien" be- 
') Vgl. Mechanik 5. Aufl., S. 139 u. f. — Über ältere Auffassungen des 
Trägheitsgesetzes ref eriert W h e w e 1 1 (The Philosophy of the inductive sciences, 
1, p. 216 u. f.). Whewell ist sich darüber klar, daß die erste Quelle der 
Erkenntnis der Trägheit nur die Erfahrung sein kann. Hat man aber die 
Kraft als eine Ursache der Bewegung oder BQ\^Qgwr\gsänderung erkannt, 
174 Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. 
ginnen mit acht Definitionen (der Masse, der Bewegungsquantität, 
des Trägheitswiderstandes, der Zentralkraft u. s. w.) und mit drei 
Bewegungsgesetzen, sowie den aus diesen gezogenen Folge- 
sätzen. Diese Aufstellungen sind aus der Erfahrung abstrahiert 
oder dieser angepaßt und tragen auch schon den Stempel der 
Anpassung aneinander. Die letztere ist jedoch nicht zu Ende 
geführt, denn es befinden sich unter den Aufstellungen über- 
flüssige. Zur vollen Würdigung dieser Aufstellungen muß man 
in Betracht ziehen, daß sie in der Zeit der Entwicklung der 
Statik zur Dynamik entstanden sind, und daher eine doppelte Auf- 
fassung der Kraft (einerseits als Zug oder Druck, anderseits als 
beschleunigungsbestimmenden Umstand) enthalten. Die Fassung 
des 2. und 3. Gesetzes ist nur auf diese Weise verständlich. 
Geht man, die Statik als Spezialfall der Dynamik betrachtend, 
von der Tatsache aus, daß die Körper paarweise aneinander 
Gegenbeschleunigungen bestimmen, welche Paare voneinander 
unabhängig sind, definiert man das Massenverhältnis dynamisch 
durch das umgekehrte Beschleunigungsv^r/zä/Z/z/s, und fügt die 
so folgt nach ihm bei Abwesenheit einer Kraft gleichförmige geradlinige Be- 
wegung. Dies fällt mit meiner Auffassung zusammen, wenn man bestimmter, 
kürzer und genauer die Kraft als einen beschleunigungsbestimmenden Um- 
stand definiert. Die Ausführungen D'Alemberts (Traite de Dynamique 1743, 
-p. 4—6), welche auch bei Whewell p. 218 besprochen werden, sind, ohne 
wesentliche Änderung ihrer Form, geradezu unverständlich. Ein Körper sei 
(durch einen Anstoß?) in Bewegung gesetzt. Entweder genügt die Ursache, 
denselben einen Fuß weit (sie!) zu bewegen, oder die dauernde Fortwirkung 
war schon für diesen Fuß nötig. In beiden Fällen bleibt derselbe Grund für 
die Bewegung durch den zweiten, dritten u. s. w. Fuß bestehen. — Nun ist klar, 
daß die Betrachtung über den zurückgelegten Weg zu keinem Ergebnis führen 
kann, solange über den Weg als Funktion der Zeit keine Voraussetzung 
gemacht ist. Nimmt man aber an, daß nur in einem Zeitdifferential nach 
dem Anstoß die Bewegung gleichförmig ist, so hat man allerdings das Träg- 
heitsgesetz schon implicite statuiert, und kann es nun leicht herausphiloso- 
phieren. D'Alemberts Darlegung ist ein prächtiges Sophisma. Playfair 
(zitiert bei Whewell p. 219) meint, man müßte, das Trägheitsgesetz ablehnend, 
annehmen, daß die Abnahme der Geschwindigkeit v irgend eine Funktion der 
Zeit sei /(/), einfacher v = c{\ — kt), wobei c die Anfangsgeschwindigkeit 
wäre. Plapfair sieht aber keinen Grund, einer Funktionsform oder einem 
Wert der Konstanten A- vor dem andern einen Vorzug zu geben. Whewell 
bemerkt darauf richtig, daß unser Mangel an Einsicht nicht über die Er- 
fahrung entscheiden kann. 
Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. 175 
Erfahrung hinzu, daß die Massenverhältnisse dieselben bleiben, 
ob sie direkt oder mittelbar gewonnen werden, so läßt sich hier- 
auf die ganze Dynamik gründen. Hierbei reduziert sich Lex II 
auf" die Tatsache der gegenseitigen Beschleunigung der Körper, 
bezw. auf eine willkürliche Maßdefinition, Lex I wird ein Spezial- 
fall von Lex II und Lex III wird ganz überflüssig.^) Die Newton- 
schen Aufstellungen stimmen natürlich vollkommen untereinander, 
das Pleonastische dieser Aufstellungen äußert sich jedoch darin, 
daß aus einigen derselben andere abgeleitet werden können.^) — 
Black hatte bereits auf Grund der Wärmestoff Vorstellung den 
Begriff Wärmemenge konstruiert und die Vorstellung der kon- 
stanten Wärmemengensumme gewonnen; es war ihm auch be- 
kannt, daß von einem wärmeren Körper auf den denselben be- 
rührenden kälteren Wärmemenge übergeht, wodurch die Temperatur 
des ersteren sinkt, die des letzteren steigt. Nun bot sich ihm 
die Beobachtung, daß die Temperatur schmelzender und siedender 
Körper durch Berührung mit der viel heißeren Flamme nicht 
gesteigert wird, solange das Schmelzen oder Sieden währt. Die 
Konstanz der Wärmemengensumme kann nun zugleich mit dem 
Verschwinden von Wärmemenge bei den erwähnten Prozessen 
nicht aufrecht erhalten werden. Black nimmt an, daß Schmelzen 
und Sieden Wärmemenge latent macht, während die moderne 
Thermodynamik die Konstanz der Wärmemengensumme fallen läßt. 
Die Anpassung kann also in verschiedener Weise erfolgen. Jener 
Gedanke unter zwei widerstreitenden, den man zurzeit für weniger 
wichtig und vertrauenswürdig hält, muß sich die Modifikation zu 
Gunsten des andern gefallen lassen. — S. Carnot hat erkannt, 
daß Wärmemenge von höherem auf ein tieferes Temperaturniveau 
sinken, auf einen kälteren Körper übergehen muß, wenn etwa 
durch Ausdehnung des letzteren Arbeit geleistet werden soll. 
Die Wärmemenge sah er zunächst im Blackschen Sinne als 
unveränderlich an. Mayer und Joule finden aber eine Ver- 
1) Mechanik. 5. Aufl., insbesondere S. 267 u. f. 
*) Außer dem in der Mechanik Gesagten sei darauf hingewiesen, daß 
aus dem Prinzip des Kräfteparallelogramms (Coroll. I) sich die in Lex II aus- 
gesprochene Proportionalität ableiten läßt. Die in Coroll. I enthaltene Annahme 
der Unabhängigkeit der Kräfte voneinander erfordert aber eine besondere 
Aufstellung. 
176 Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. 
minderung der Wärmemenge bei deren Arbeitsleistung und halten 
anderseits die Vermehrung der Wärmemenge durch Arbeit, die 
Erzeugung von Wärme (durch Reibung) aufrecht. Clausius und 
Thomson lösen diese scheinbare Paradoxie, indem sie die bei 
der Arbeitsleistung verschwundene Wärme als abhängig von der 
übergeführten Wärme und den Temperaturen erkennen. Die 
Carnotsche und die Mayersche Auffassung werden hier modi- 
fiziert und in der neuen Form vereinigt. — Der Carnotsche 
Satz bringt W. Thomson auf den Gedanken, durch isother- 
mische Ausdehnung und Kompression von Luft bei 0° C, also 
ohne Arbeit, Eis zu erzeugen. J. Thomson bemerkt aber, weil 
Wasser beim Gefrieren sich ausdehnend Arbeit leisten kann, daß 
letztere Arbeit aus nichts gewonnen werden müßte. Zur Be- 
seitigung der Widersprüche mußte angenommen werden, daß der 
Gefrierpunkt durch Druck in quantitativ bestimmter Weise er- 
niedrigt wird, was der Versuch auch bestätigte. So liegt also 
in den Paradoxien selbst die stärkste treibende Kraft^ welche 
zur Anpassung der Gedanken aneinander und hiermit zu neuen 
Aufklärungen und Entdeckungen drängt. 
11. Die Anpassung der Gedanken aneinander erschöpft sich 
nicht in der Abschleifung der Widersprüche. Jede Zersplitterung 
der Aufmerksamkeit, jede Belastung des Gedächtnisses durch zu 
vielerlei, wird unangenehm empfunden, auch wenn keine Wider- 
sprüche mehr vorhanden sind. Jedes Erkennen des noch Un- 
bekannten und Neuen als Kombination des Altbekannten, jede 
Enthüllung des scheinbar Verschiedenartigen als eines Gleich- 
artigen, jede Verminderung der zureichenden Zahl der leitenden 
Gedanken, jede organische Ordnung der letzteren nach dem 
Prinzip der Permanenz und der zureichenden Differenzierung, 
wird als eine angenehme Entlastung empfunden. Das Ökonomi- 
sieren, Harmonisieren, Organisieren der Gedanken, welches wir 
als ein biologisches Bedürfnis fühlen, geht weit über die For- 
derung der logischen Widerspruchslosigkeit hinaus. 
12. Das ptolomaeische System enthält keine Widersprüche; alle 
Einzelheiten desselben sind wohl miteinander verträglich. Allein 
wir haben hier eine ruhende Erde, eine als Ganzes rotierende 
Fixsternsphäre, und die individuellen Bewegungen der Sonne, 
des Mondes und der Planeten. Im Sipstem des Kopernikus, sowie 
Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. 177 
seiner antiken Vorgänger, reduzieren sich alle Bewegungen 
auf kreisende und Achsendrehungen. — In Keplers 3 Gesetzen 
liegt kein Widerspruch. Wie angenehm ist aber die Reduktion 
auf das eine Newtonsche Gravitationsgesetz, welches zudem 
noch den irdischen Fall und Wurf, das Flutphänomen u. a. unter 
einen Gesichtspunkt faßt. — Brechung und Reflexion des Lichtes, 
Interferenz und Polarisation bildeten gesonderte Kapitel, deren 
Lehren jedoch untereinander nicht in Widerspruch standen. Die 
Zurückführung aller dieser Lehren auf transversale Schwingungen 
durch Fresnel war dennoch eine große Erleichterung und ein 
sehr erfreulicher Fortschritt. Eine weitaus größere Vereinfachung 
ist aber die Einreihung der ganzen Optik als eines Kapitels der 
Elektrizitätslehre durch Maxwell. — Die geologische Kata- 
strophentheorie, die Cuviersche Vorstellung der Schöpfungs- 
perioden enthalten keine Widersprüche. Jedermann wird aber 
Lamarck, LytW und Darwin dafür dankbar sein, daß sie eine 
einfachere Auffassung der Geschichte der Erde, der Tier- und 
Pflanzenwelt versucht haben. ^) 
13. Nach der Betrachtung dieser Beispiele wird eine allge- 
meinere Ausführung am Platze sein. Die in Form von Urteilen 
fixierten Ergebnisse der Anpassung der Gedanken an die Tat- 
sachen werden der Vergleichung unterzogen und sind die Objekte 
eines weiteren Anpassungsprozesses. Sind dieselben unverträg- 
lich, so kann ein minder bewährtes zu Gunsten eines besser be- 
währten fallen gelassen werden. Es hängt natürlich ganz ab von 
dem Grade der Bekanntschaft mit einem Gebiet, von der Denk- 
erfahrung und Denkübung des Urteilenden, auch von den ein- 
gelebten Ansichten der Zeitgenossen, welchen Urteilen eine 
höhere Autorität gegenüber andern beigemessen wird. Der ge- 
übte Physiker oder Chemiker wird z. B. einem Gedanken, 
welcher gegen die Voraussetzung der eindeutigen Bestimmtheit 
des Naturlaufs, gegen das Energieprinzip oder das Prinzip der 
Erhaltung der Masse verstößt, keine Autorität zuerkennen, während 
der Dilettant, der Konstrukteur eines Perpetuum mobile, darin 
weniger Schwierigkeiten findet. Zu Newtons Zeit gehörte sehr 
*) Sie bringen außerdem noch die Newtonsche Regel zur Geltung, 
nach Möglichkeit nur eine tatsächlich beobachtete Ursache (vera causa) zur 
Erklärung zu verwenden. 
Mach, Erkenntnis und Irrtum. 12 
178 Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. 
viel Mut dazu, Fernwirkungen anzunehmen, selbst wenn man 
diese als etwas noch zu Erklärendes hinstellte. Später wurde 
diese Auffassung durch ihre Erfolge so geläufig, daß niemand 
mehr an derselben Anstoß nahm. Heute hat man wieder ein zu 
starkes Bedürfnis, alle Wechselbeziehungen in ihrer Kontinuität 
durch Raum und Zeit zu verfolgen, um unvermittelte Fern- 
wirkungen anzunehmen. Unmittelbar nach Black war es ein 
Wagnis, an der Unveränderlichkeit der Wärmemenge zu zweifeln, 
während ein halbes Jahrhundert später eine starke Neigung be- 
stand, die Black sehe Annahme aufzugeben. Jede Zeit bevor- 
zugt allgemein die Urteile, unter deren Leitung sie die größten 
praktischen und intellektuellen Erfolge erzielt hat. Große, weit 
vorausblickende Forscher sind häufig in die Lage versetzt, zu 
den Ansichten ihrer Zeitgenossen in Opposition zu treten. Sie 
führen eine Wandlung herbei. Auch bisher maßgebende Urteile 
müssen nun mit neuen, welche sonst unbedingt verworfen worden 
wären, ein Kompromiß schließen, durch welches meist beide mo- 
difiziert werden. Die thermodynamischen Arbeiten von Clau- 
sius und W. Thomson einerseits, jene über Elektrizität von 
Faraday und Maxwell anderseits bieten Beispiele hierfür. 
14. Die Urteile, die sich zur Vergleichung darbieten, können 
von vornherein auch verträglich sein, ohne Widerspruch neben- 
einander bestehen. Nun scheint weitere Anpassung unnötig. Es 
hängt aber wieder von der Individualität des Denkers, von 
dessen ästhetischem, logisch-ökonomischem Bedürfnis ab, ob 
nicht eine weitere Harmonisierung gefordert wird. In manchen 
Köpfen vertragen sich die verschiedenartigsten Vorstellungen 
miteinander deshalb, weil sie Gebieten angehören, die nie in 
Berührung kommen, z. B. der sonderbarste Aberglaube in einem 
Gebiet mit der größten Nüchternheit in einem andern. Dies 
trifft bei den Stimmungs- und Gelegenheitsdenkern zu, die von 
Fall zu Fall verschiedene Register ansprechen lassen, ohne sich 
um den organischen Zusammenhang größerer Gedankenkreise 
zu kümmern. Im Gegensatz zu diesen stehen Forscher wie 
Descartes, Newton, Leibniz, Darwin u. a.^) 
») Duhem (La Theorie phpsique, S. 84—167) unterscheidet zweierlei 
intellektuelle Individualitäten: umfassende und //e/e Geister. Die umfassen- 
den Geister (esprits amples) haben lebhafte Phantasie, ein empfindliches 
Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. 179 
15. Das Ideal der ökonomischen und organischen Zusammen- 
passung der einem Gebiet angehörigen verträglichen Urteile ist 
erreicht, wenn es gelungen ist, die geringste Zahl einfachster 
unabhängiger Urteile zu finden, aus welchen sich alle übrigen 
als logische Folgen ergeben, d. h. ableiten lassen. Ein Beispiel 
eines solchen geordneten Systems von Urteilen ist die euklidische 
Geometrie. Die auf diese Weise deduzierten Urteile können ur- 
Gedächtnis, Feinheit der Beurteilung, vermögen sehr Mannigfaltiges aufzufassen, 
zeigen aber wenig Sinn für logische Schärfe und Reinheit. Tiefe, aber enge 
Geister (esprits profonds et etroits) haben einen engeren Gesichtskreis; sie 
sind ihrer Natur nach geneigt, alles in vereinfachter abstrakter Weise auf- 
zufassen, wissen die intellektuelle Ökonomie, den logischen Zusammenhang 
und die Folgerichtigkeit zu schätzen und auch zur Geltung zu bringen. Die 
erstere Art des Intellekts sei besonders bei den Engländern, die zweite bei 
den Franzosen und den Deutschen vertreten. Namen berühmter Gelehrten, 
wissenschaftliche Leistungen, englische und französische Gesetze u. s. w. 
illustrieren diesen Gedanken in recht ansprechender Weise. Darüber, daß 
diese Charakteristik nur im allgemeinen gilt, und nicht ohne weiteres auf 
den einzelnen übertragen werden darf, ist Duhem vollkommen klar. Ich 
möchte aber glauben, daß nicht nur alle möglichen Zwischenstufen zwischen 
diesen beiden Extremen vertreten sind, sondern auch, daß jeder einzelne je 
nach seiner Denkstimmung und Aufgabe bald nach der einen, bald nach der 
andern Seite neigen kann. William Thomson (Lord Kelvin) wird z. B. von 
Duhem wegen seiner vielen, auf den verschiedensten Prinzipien beruhenden 
mechanischen Modelle zur Darstellung physikalischer Gesetze zu dem ersteren 
Typus gezählt; wer aber etwa seine thermodynamischen Arbeiten ins Auge 
faßt, wird eher sagen, daß er dem zweiten Typus angehört. Descartes 
wird von Duhem als Repräsentant des zweiten Typus angeführt. Betrachtet 
man des Descartes haarsträubend unlogische Versuche, das Brechungs- 
gesetz zu begründen, wobei er eine zeitlose Fortpflanzung des Lichtes an- 
nimmt, und doch wieder Zeiten und Geschwindigkeiten im ersten und zweiten 
Medium in Betracht zieht, vergleicht man diesen Gedankengang mit den 
schönen logischen Ableitungen, die Descartes in der Dioptrik auf das 
Brechungsgesetz selbst gründet, so möchte man nicht glauben, daß hier der 
selbe Autor spricht. Ich meine, man muß unterscheiden zwischen der Denk- 
arbeit der Ableitung aus gegebenen Prinzipien und dem Suchen nach den 
Prinzipien, welche brauchbare Grundlagen weiterer Ableitungen darstellen. 
Werden die von Duhem und Poincare recht hart beurteilten Arbeiten 
Maxwells aus dem letzteren Gesichtspunkt betrachtet, so sind sie das Wunder- 
barste, was man sich vorstellen kann. Wir können uns ja Glück wünschen, 
wenn ein ganzes Volk besonders geschickt ist im Suchen nach neuen Grund- 
lagen eines Wissensgebietes, ein anderes dagegen viel geschickter darin, 
in dieses Gebiet logische Ordnung, Zusammenhang und Einheit zu bringen. 
12* 
/ 
180 Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. 
sprünglich auf ganz andere, von der Deduktion unabhängige 
Weise gefunden sein, und dies ist sogar der gewöhnliche Fall. 
Dann dient die Ableitung entweder, um das Urteil durch ein- 
fachere geläufigere verständlich zu machen, also zur Erklärung, 
oder um dasselbe Zweifeln gegenüber auf Einfacheres, nicht Be- 
zweifeltes zu gründen, also zum Beweis. War das abgeleitete 
Urteil zuvor nicht bekannt, sondern wurde es erst durch die 
Ableitung gefunden, so stellt es eine auf dem Wege der Deduktion 
gemachte Entdeckung vor. 
16. Der einfache, durchsich- 
tige, allgemein geläufige geome- 
trische Stoff ist sehr geeignet, die 
Zusammenpassung der Urteile leb- 
haft vor Augen zu führen. Wir 
wollen deshalb einen besonderen 
Fall betrachten. Man ziehe an 
einen Kreis vier beliebige Gerade, 
welche denselben in vier Punkten 
berühren und das Viereck ABCD 
(Fig. 2) bilden. Nicht alles, was 
wir von diesem Viereck aussagen 
können, dürfen wir von einem be- 
liebigen Viereck behaupten. Denn 
die Seiten des ersteren Vierecks 
sind Kreistangenten, und was wir 
von diesen aussagen, muß mit den Urteilen über den Kreis zu- 
sammenpassen. Die Kreisradien nach den Berührungspunkten 
stehen auf den Viereckseiten senkrecht; alle übrigen Punkte dieser 
Geraden haben größere Entfernungen vom Mittelpunkt als diese 
Senkrechten und liegen außerhalb des Kreises. Die von einer 
Ecke aus gezogenen Tangenten liegen in Bezug auf die Zentri- 
linie durch diese Ecke sjpmmetrisch, und deren Stücke zwischen 
der Ecke und den Berührungspunkten sind beiderseits gleich 
lang.^) Dies gilt für jede Ecke. Daher ist die Länge eines 
Gegenseitenpaares zusammengenommen gleich der Länge des 
andern Gegenseitenpaares zusammengenommen. 
') Man beachte die leicht ersichtliche Kongruenz der für die Ecke A 
angedeuteten Dreiecke. 
Fig. 2. 
Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. ( 181/ 
Diese metrische Eigenschaft kommt nur dem Kreise um- 
schriebenen Vierecken zu. Zieht man z. B. statt AD eine das 
Viereck vollendende Sekante, oder eine außerhalb des Kreises 
liegende Gerade, so gilt ersichtlich die Eigenschaft nicht mehr. 
Einem jeden beliebigen Viereck kann auch nicht ein Kreis ein- 
geschrieben werden. Der einzuschreibende Kreis ist nämlich 
schon durch drei Tangenten, bezw. durch den Durchschnitt zweier 
Winkelhalbierenden der Tangenten bestimmt. Die vierte Seite 
legt Forderungen auf, die im allgemeinen nicht mehr mit den 
früheren vereinbar sind. 
Man kann solche Zusammenpassungen von Urteilen leicht 
in die Form einer Erklärung, einer Aufgabe, eines Beweises oder 
einer deduktiven Entdeckung bringen. Auch die Einkleidung in 
die euklidische oder die aristotelisch-logische Form macht keine 
Schwierigkeit. Beispiele dieser Art behandelt ausführlich J. F. 
Fries ^) und in etwas mehr anziehender Form Drobisch. ^) 
17. Die Formen der Logik, welche nicht Gegenstand unserer 
Darstellung sind, wurden aus Fällen wirklichen wissenschaftlichen 
Denkens durch Abstraktion gewonnen. Jedes besondere, etwa 
geometrische Beispiel kann aber deutlich machen, wie wenig die 
Kenntnis dieser Formen allein nützt. Sie kann allenfalls dazu 
dienen, einen Gedankengang nachzuprüfen, nicht aber einen neuen 
zu finden. Das Denken vollzieht sich eben nicht an der leeren Form, 
sondern an dem lebhaft unmittelbar oder begrifflich vorgestellten 
Inhalt. ^) In einer geometrischen Ableitung kommt die Gerade bald 
der Lage, bald der Länge nach, bald als Tangente, bald als Senk- 
rechte zum Radius, bald als Teil einer symmetrischen Figur in 
Betracht; am Parallelogramm ist einmal die Fläche, einmal das 
Seiten- oder Diagonalenverhältnis, dann sind die Winkel zu be- 
achten. Wem nicht alle anschaulichen und begrifflichen Be- 
ziehungen geläufig wären, wer dieselben nicht ineinander um- 
zusetzen wüßte, wessen Aufmerksamkeit nicht durch das Interesse 
für den vermuteten Zusammenhang auf die richtigen Bahnen ge- 
leitet würde, der würde gewiß keine geometrischen Sätze finden. 
1) Fries, System der Logik. Heidelberg 1819. S. 282 u. f. 
^) Drobisch, Neue Darstellung der Logik. Leipzig 1895. Anhang. 
*) Vgl. Schuppe, Erkenntnistheoretische Logik. Bonn 1878. — Grundriß 
der Erkenntnistheorie und Logik. Berlin 1894. 
182/ Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. 
Die leeren logischen Formen können die Sachkenntnis nicht er- 
setzen.^) Daß aber die Aufmerksamkeit auf das Denken als 
solches, die symbolische Darstellung der abstrakten Formen der 
Denkhandlungen keineswegs ganz wertlos ist, lehrt ein Blick auf 
die Algebra und die mathematische Zeichensprache überhaupt. 
Wer die betreffenden Denkhandlungen nicht ohne diese Hilfe 
auszuführen wüßte, dem würden diese Mittel allerdings nichts 
nützen. Wenn es sich aber um ganze Reihen von Denkopera- 
tionen handeh, welche dieselben oder analoge Denkhandlungen 
in häufiger Wiederholung enthalten, dann liegt in der symbo- 
lischen Ausführung derselben eine bedeutende Entlastung der 
Denkarbeit und Aufsparung der Leistung für wichtigere neue 
Fälle, welche nicht symbolisch erledigt werden können. In der 
Tat haben die Mathematiker in der mathematischen Zeichensprache 
eine sehr wertvolle logische Symbolik für ihre Zwecke ent- 
wickelt. Die mathematischen Denkoperationen sind von einer 
Mannigfaltigkeit, welche durch den Rahmen der einfachen klassi- 
fikatorischen aristotelischen Logik nicht umspannt werden kann. 
Es entwickelt sich auch auf dem Boden dieser Wissenschaft eine 
eigene umfassendere symbolische Logik, ^) deren Operationen sich 
keineswegs nur auf Quantitatives beschränken. Die Anfänge 
hiervon gehen bis auf Leib niz^) zurück, und sind in Deutschland 
um die Mitte des abgelaufenen Jahrhunderts, wie es scheint, allein 
von Beneke*) gepflegt worden. Nur Mathematiker wie H. Grass- 
mann, Boole, E. Schroeder, A. W. Russell u. a. verfolgen 
wieder Lei bniz sehe Wege. 
*) Vgl. hingegen die reichen Anregungen bei einem Sachkundigen wie 
F. Mann (Die logischen Grundoperationen der Mathematik. Erlangen und 
Leipzig 1895). 
2) Boole, An investigation of the laws of thought. London 1854. — 
E. Schroeder, Algebra der Logik. Leipzig 1890—1895. — Russell, The 
principles of mathematics. Cambridge 1903. 
*) Couturat, La logique de Leibniz. Paris 1901. 
*) F. E. Beneke, System der Logik als Kunstlehre des Denkens. Berlin 
1842. — B.s Logik ist keine bloße formale Logik, sondern enthält wichtige 
psychologische Untersuchungen, die leider nicht in verdienter Weise be- 
achtet worden sind. 
über Gedankenexperimente. ') 
1. Der Mensch sammelt Erfahrungen durch Beobachtung 
der Veränderungen in seiner Umgebung. Die für ihn interes- 
santesten und lehrreichsten Veränderungen sind jedoch jene, 
welche er durch sein Eingreifen, durch seine willkürlichen Be- 
wegungen beeinflussen kann. Diesen gegenüber hat er nicht 
nötig, sich rein passiv zu verhalten, er kann sie aktiv seinen 
Bedürfnissen anpassen; dieselben haben für ihn auch die größte 
ökonomische, praktische und intellektuelle Wichtigkeit. Darin ist 
der Wert des Experimentes begründet. 
Wenn wir beobachten, wie ein Kind, welches die erste Stufe 
der Selbständigkeit erreicht hat, die Empfindlichkeit seiner eigenen 
Glieder prüft, wie es von seinem Spiegelbilde, oder von seinem 
eigenen Schatten im hellen Sonnenschein befremdet, durch Be- 
wegungen die Bedingungen desselben zu ermitteln sucht, wie es 
sich im Werfen nach einem Ziele übt; so müssen wir sagen, 
daß die instinktive Neigung zum Experimentieren dem Menschen 
angeboren ist, und daß er ebenso die Grundmethode des Ex- 
periments, die Methode der Variation^ ohne viel nach derselben 
zu suchen, in sich vorfindet. Wenn diese Schätze dem Er- 
wachsenen zeitweilig wieder abhanden kommen und sozusagen 
wieder neu entdeckt werden müssen, so wird dies dadurch ver- 
ständlich, daß dieser meist für einen engeren Interessenkreis 
durch die Gesellschaft erzogen, in denselben gebannt ist und 
gleichzeitig eine Menge fertiger und vermeintlich über die Prü- 
fung erhabener Ansichten, um nicht zu sagen Vorurteile, über- 
nommen hat. 
*) Teile dieses Artikels wurden schon publiziert in Poskes Zeitschr. 
f. physik. u. ehem. Unterricht. 1897. Januarheft. 
184 (^ber Gedankenexperimente. 
Der Intellekt kann beim Experimentieren in verschiedenem 
Grade beteiligt sein. Ich konnte dies beobachten, als ich vor 
Jahren, von einer Lähmung der rechten Hand betroffen, vieles, 
was man sonst mit beiden Händen tut, mit einer Hand verrichten 
mußte, wenn ich nicht unausgesetzt von fremder Hilfe abhängig 
sein wollte. Indem ich die Bewegungen mit der Richtung auf 
ein bestimmtes Ziel, wohl auch planlos und ungestüm, variierte, 
befand ich mich bald ohne viel Nachdenken, nur durch Fest- 
halten, Angewöhnen des Förderlichen, im Besitze einer Menge 
kleiner Erfindungen. So lernte ich das Aufschneiden der Bücher 
und anderes. Entschieden durch Nachdenken aber fand ich ein 
Verfahren mit Zirkel, Lineal und mit Hilfe eines Gewichtes, als 
Ersatz der zweiten Hand, geometrische Zeichnungen auszuführen, 
sowie alle jene Kunstgriffe, für welche die Bewegungen meiner 
Hand überhaupt nicht ausreichten. Es ist kaum zu zweifeln, daß 
die Grenze zwischen dem instinktiven und dem durch Denken 
geleiteten Experiment keine scharfe ist. Hauptsächlich Ergeb- 
nisse des ersteren sind wohl die meisten in die prähistorische 
Zeit zurückreichenden Erfindungen, welche, wie Spinnen, Flechten, 
Weben, Knotenschlingen u. s. w. den Eindruck des Tiefdurch- 
dachten machen und als deren biologische Vorläufer wir den Nest- 
bau der Vögel und Affen ansehen können. Dieselben rühren wahr- 
scheinlich größtenteils von Frauen her, und sind vermutlich halb 
spielend gewonnen worden, indem das zufällig sich ergebende 
Vorteilhafte oder Gefällige erst nachträglich mit Absicht fest- 
gehalten wurde. Ist einmal ein Anfang gemacht, so führt Denken 
und Vergleichung leicht zu vollkommeneren Versuchen.^) 
^) Recht zweckmäßige Mittel ergeben sich mitunter durch das bloße 
Probieren. Ich sah einem Dienstmädchen zu, welches einen großen Teppich 
unter einen schweren Speisetisch legen sollte, der von einer Person nicht 
getragen werden konnte. Im Augenblick stand der Tisch auf dem Teppich, 
ohne verschoben worden zu sein. Das Mädchen behauptete nicht nachgedacht 
zu haben. Der Teppich wurde fast ganz zusammengerollt vor den Tisch 
gelegt, der Tisch an dieser Seite gehoben, und während das aufgerollte Ende 
des Teppichs mit einem Fuße festgehalten wurde, erhielt die Rolle durch 
den andern Fuß einen Stoß, so daß sie unter den Tisch bis zur Gegenseite 
rollend sich aufwickelte. Eine analoge Prozedur an der andern Seite voll- 
endete die Aufgabe. — Als ich, auf den Gebrauch einer Hand angewiesen, 
den Fenstervorhang aufziehen wollte, konnte dies wegen der Länge der Schnur 
über Gedankenexperimente. 185 
2. Das Experiment ist nicht ausschließliches Eigentum des 
Menschen. Man kann auch Experimente der Tiere beobachten, 
und zwar in verschiedenen Stufen der Entwicklung. Die un- 
gestümen Bewegungen eines Hamsters, die den Deckel einer 
Büchse, in welcher er Futter wittert, bei aller Planlosigkeit endlich 
doch zum Fallen bringen, stellen wohl die roheste Stufe vor. 
Interessanter sind schon die Hunde C. Lloyd Morgans, welche 
nach mehreren Versuchen einen Stock mit schwerem Knopf zu 
tragen, denselben nicht mehr in der Mitte, sondern nahe am 
schweren Ende (im Schwerpunkt) fassen, und ebenso nach frucht- 
losen Anstrengungen den in der Mitte gefaßten Stock durch eine 
schmale Tür zu bringen, denselben an einem Ende packen und 
hindurchziehen. Diese Tiere zeigen aber dennoch wenig Fähig- 
keit, die Erfahrung eines Falles für den nächsten gleichartigen 
zu verwerten. Kluge Pferde sah ich durch Stampfen sorgfältig 
einen bedenklichen Steg untersuchen, und Katzen die Wärme der 
dargebotenen dampfenden Milch durch Eintauchen der Pfote erpro- 
ben. Vom bloßen Prüfen durch die Sinnesorgane, dem Wenden der 
Körper, Wechsel des Standpunktes bis zu wesentlicher Änderung 
der Umstände, von der passiven Beobachtung zum Experiment, 
ist der Übergang ein ganz allmählicher. Was die Tiere vom 
Menschen hier unterscheidet, ist vor allem die Enge des Inter- 
essenkreises. Eine junge Katze untersucht neugierig ihr Spiegel- 
bild, sieht wohl auch hinter dem Spiegel nach, wird aber sofort 
gleichgültig, sobald sie merkt, daß sie nicht mit einer körperlichen 
Katze zu tun hat. Das Turteltauben-Männchen erreicht nicht 
einmal diese Stufe. Es ist im stände, wie ich oft beobachtet 
habe, viertelstundenlang vor seinem eigenen Spiegelbild zu 
gurren und Komplimente mit den zwei etikettemäßigen Schritten 
auszuführen, ohne die Täuschung zu merken. Welche Niveau- 
differenz! wenn man dann ein vierjähriges Kind beobachtet, 
welches spontan mit Verwunderung und Interesse bemerkt, daß 
nur in mehreren Absätzen geschehen. Plötzlich befand ich mich aber, ohne 
mit Bewußtsein und Absicht nachgedacht zu haben, im Besitz eines bequemeren 
Verfahrens. Meine Hand kletterte an der Schnur ein Stück in die Höhe, indem 
sie die Schnur abwechselnd mit Daumen und Zeigefinger einerseits faßte, und 
dann wieder mit den drei übrigen Fingern umschlang. War die größtmög- 
liche Höhe erreicht, so wurde die Schnur herabgezogen und die Operation 
wiederholt. 
/ 
186 (^ber Gedankenexperimente. 
eine zur Kühlung ins Wasser versenkte Weinflasche verkürzt 
erscheint. Ein anderes Kind in nahe gleichem Alter verwunderte 
sich über die stereoskopischen Erscheinungen, die sich beim 
zufälligen Schielen vor einer Tapete ergaben.^) 
Das durch Denken geleitete Experiment begründet die Wis- 
senschaft, erweitert mit Bewußtsein und Absicht die Erfahrung. 
Man darf aber deshalb die Funktion von Instinkt und Gewohn- 
heit im Experiment nicht unterschätzen. Man kann die Menge 
der Umstände, die bei einem Versuch mitspielen, unmöglich so- 
gleich denkend überschauen. Wem die Fähigkeit fehlt, das Un- 
gewöhnliche festzuhalten, und die Bewegungen der Hand dem 
Bedürfnis rasch anzupassen, wird schlechten Erfolg haben bei 
den Verrichtungen, welche die Vorstufe eines planmäßig einge- 
leiteten Experimentes begründen. Man experimentiert ganz 
anders auf einem Gebiete, mit dem man durch längere Be- 
schäftigung vertraut geworden. Wenn man nach einer längeren 
Pause auf dieses Gebiet zurückkehrt, so kann man bemerken, 
wie das meiste von dem, was nicht begrifflich fixiert wurde, das 
feine Gefühl für die Bedeutung der Nebenumstände, die Geschick- 
lichkeit der Hand, meist wieder neu erworben werden muß. 
3. Außer dem physischen Experiment gibt es noch ein an- 
deres, welches auf höherer intellektueller Stufe in ausgedehntem 
Maße geübt wird — das Gedankenexperiment. Der Projekten- 
macher, der Erbauer von Luftschlössern, der Romanschreiber, ^) 
der Dichter sozialer oder technischer Utopien experimentiert in 
Gedanken. Aber auch der solide Kaufmann, der ernste Erfinder 
oder Forscher tut dasselbe. Alle stellen sich Umstände vor, 
und knüpfen an diese Vorstellung die Erwartung, Vermutung 
gewisser Folgen; sie machen eine Gedankenerfahrung. Während 
aber die ersteren in der Phantasie Umstände kombinieren, die 
in Wirklichkeit nicht zusammentreffen, oder diese Umstände von 
Folgen begleitet denken, welche nicht an dieselben gebunden 
') Die Weite des Interessenkreises ist es vor allem, welche nach meiner 
Meinung die Überlegenheit der Intelligenz eines 3— 4jährigen Kindes über 
jene des klügsten Tieres bedingt. Ich kann es kaum verstehen, wie jemand, 
der mit Kindern und Tieren verkehrt hat, an wirkliche Zahlbegriffe, an wirk- 
liches Rechnen eines Pferdes denken kann. Vgl. die S. 12 erwähnte Schrift 
von Th. Zell. 
*) Vgl. E. Zola, Le Roman experimental. Paris 1898. 
über Gedankenexperimente. 187 
sind, werden letztere, deren Vorstellungen gute Abbilder der 
Tatsachen sind, in ihrem Denken der Wirklichkeit sehr nahe 
bleiben. Auf der mehr oder weniger genauen unwillkürlichen 
Abbildung der Tatsachen in unseren Vorstellungen beruht ja 
die Möglichkeit der Gedankenexperimente. Wir können ja in 
der Erinnerung noch Einzelheiten finden, die wir bei unmittel- 
barer Beobachtung der Tatsache keiner Aufmerksamkeit ge- 
würdigt haben. Wie wir in der Erinnerung einen Zug entdecken, 
der uns den bisher verkannten Charakter eines Menschen plötz- 
lich entschleiert, so bietet uns das Gedächtnis auch neue bis- 
her unbemerkte Eigenschaften von physikalischen Tatsachen, und 
verhilft uns zu Entdeckungen. 
Unsere Vorstellungen haben wir leichter und bequemer zur 
Hand, als die physikalischen Tatsachen. Wir experimentieren 
mit den Gedanken sozusagen mit geringeren Kosten. So dürfen 
wir uns also nicht wundern, daß das Gedankenexperiment viel- 
fach dem phjJsischen Experiment vorausgeht, und dasselbe vor- 
bereitet. So sind ja die physikalischen Untersuchungen des 
Aristoteles großenteils Gedankenexperimente, in welchen die in 
der Erinnerung und namentlich in der Sprache, aufbewahrten 
Erfahrungsschätze verwertet werden. Das Gedankenexperiment 
ist aber auch eine notwendige Vorbedingung des physischen 
Experimentes. Jeder Experimentator, jeder Erfinder muß die 
auszuführende Anordnung im Kopfe haben, bevor er dieselbe in 
die Tat übersetzt. Kennt Stephenson auch den Wagen, die 
Schienen, die Dampfmaschine aus Erfahrung, so muß er doch 
die Kombination des auf Schienen ruhenden, durch die Dampf- 
maschine getriebenen Wagens in Gedanken vorgebildet haben, 
bevor er an die Ausführung schreiten kann. Nicht minder muß 
Galilei die Anordnung zur Untersuchung der Fallbewegung in 
der Phantasie vor sich sehen, bevor er dieselbe verwirklicht. 
Jeder Anfänger im Experimentieren erfährt, daß ein ungenügen- 
der Voranschlag, Nichtbeachtung der Fehlerquellen u. s. w. für 
ihn nicht minder tragikomische Folgen hat, als das sprichwört- 
liche „Vorgetan und Nachbedacht" im praktischen Leben. 
4. Wenn die physische Erfahrung reicher geworden ist, und 
dieselben sinnlichen Elemente zahlreiche mannigfaltigere und dafür 
schwächere psychische Associationen gewonnen haben, so kann 
188 ^ber Gedankenexperimente. 
das Spiel der Phantasie beginnen, in welchem über die wirklich 
eintretenden Associationen durch die ausschlaggebende momen- 
tane Stimmung, Umgebung und Gedankenrichtung entschieden 
wird. Wenn sich nun der Physiker fragt, was unter mannig- 
faltig kombinierten Umständen im möglichst genauen Anschluß 
an die physische Erfahrung zu erwarten ist, so kann dies na- 
türlich nicht wesentlich neu und verschieden sein, von dem was 
die physiche Einzelerfahrung bieten könnte. Indem der Physiker 
immer auf die Wirklichkeit reflektiert, unterscheidet sich ja seine 
Tätigkeit von der freien Dichtung. Aber der einfachste Gedanke 
des Physikers, welcher irgend eine physische sinnliche Einzel- 
erfahrung betrifft, deckt diese nicht genau. Er enthält gewöhnlich 
weniger als die Erfahrung, welche derselbe nur schematisch 
nachbildet, zuweilen auch eine unabsichtliche Zutat. Die Umschau 
in der Erinnerung an die Erfahrungen und die Fiktion neuer 
Kombinationen von Umständen wird also darüber belehren können, 
wie genau die Erfahrungen durch die Gedanken dargestellt 
werden, und wie weit diese Gedanken untereinander überein- 
stimmen. Es handelt sich hier um einen logisch-ökonomischen 
Läuterungsprozeß, um Klärung des gedanklich geformten Inhahs 
der Erfahrungen. Welche Umstände bei einem Erfolg maßgebend 
sind, was zusammenhängt, welche Umstände voneinander un- 
abhängig sind, wird durch eine solche Umschau viel klarer, als 
es durch die Einzelerfahrung werden kann. Es wird uns hierbei 
deutlich, auf welche Weise wir unsere Bequemlichkeit mit der 
Notwendigkeit, den Erfahrungen gerecht zu werden, vereinigen 
können, welche Gedanken die einfachsten sind, die zugleich mit 
sich selbst und mit der Erfahrung in umfassendster Weise in 
Übereinstimmung gebracht werden können. Dies erreichen wir 
durch Variation der Tatsachen in Gedanken. 
Der Ausfall eines Gedankenexperimentes, die Vermutung, 
die wir an die in Gedanken variierten Umstände knüpfen, kann 
so bestimmt und entschieden sein, daß dem Autor — mit Recht 
oder Unrecht — jede weitere Prüfung durch das physische Ex- 
periment unnötig scheint. ^) Je schwankender, unbestimmter aber 
') Mit Recht warnt Duhem (Theorie physique, S. 331) davor, Gedanken- 
experimente so darzustellen, als ob es physische Experimente wären, also 
Postulate für Tatsachen auszugeben. 
über Gedankenexperimente. 189 
dieser Ausfall ist, desto mehr drängt das Gedankenexperiment zu 
dem physischen Experiment als seiner natürlichen Fortsetzung, 
welche nun ergänzend, bestimmend einzugreifen hat. Auf Fälle 
der letzteren Art kommen wir noch zurück. Hier sollen zunächst 
einige Beispiele der ersteren Art betrachtet werden. 
5. Umstände, die man in Bezug auf einen gewissen Erfolg 
als einflußlos erkannt hat, kann man in Gedanken beliebig va- 
riieren, ohne diesen Erfolg zu ändern. Man gelangt aber durch 
geschickte Handhabung dieses Verfahrens zu Fällen, welche auf 
den ersten Blick von dem Ausgangsfall wesentlich verschieden 
scheinen, also zur Verallgemeinerung der Auffassung. Stevin 
und Galilei üben dieses Verfahren meisterhaft bei ihrer Be- 
handlung des Hebels und der schiefen Ebene. Auch Poinsot^) 
benutzt diese Methode in der Mechanik. Er fügt einem Kraft- 
system A ein System B und C hinzu, wobei aber C so gewählt 
wird, daß es sowohl A als auch B das Gleichgewicht hält. Die 
Überlegung nun, daß es auf die Auffassung des Beschauers 
nicht ankommt, führt dazu, A und B als äquivalent zu erkennen, 
obgleich sie sonst sehr verschieden sein können. Hupgens' 
den Stoß betreffende Entdeckungen beruhen auf Gedanken- 
experimenten. Von der Erkenntnis ausgehend, daß die Bewegung 
der umgebenden Körper für die Stoßenden so gleichgültig sei, 
wie der Standpunkt des Beschauers, ändert er diesen und die 
(relative) Bewegung der Umgebung. Er gelangt auf diese Weise, 
von dem einfachsten, speziellsten Fall ausgehend, zu bedeutenden 
Verallgemeinerungen. Ein Beispiel dieses Verfahrens bieten 
ferner die Betrachtungen der Dioptrik, wobei ein Strahl bald als 
diesem, bald als jenem Bündel von bekannten Eigenschaften ange- 
hörig aufgefaßt wird. 
6. Auch die für einen Erfolg maßgebenden Umstände in 
Gedanken zu variieren ist nützlich, und am ergiebigsten ist die 
kontinuierliche Variation, welche uns eine vollständige Übersicht 
der möglichen Fälle verschafft. Es ist kein Zweifel, daß Ge- 
dankenexperimente dieser Art die größten Umwandlungen in 
unserem Denken herbeigeführt, und die bedeutendsten Forschungs- 
wege eröffnet haben. Wenn auch die Legende von Newtons 
>) Poinsot, El^mens de Statique. lOme edit. Paris 1861. 
/ 
190 (^ber Gedankenexperimente. 
fallendem Apfel, die Euler noch für richtig hält, nicht buch- 
stäblich zu nehmen ist, so waren es doch Gedankenprozesse 
ganz ähnlich denjenigen, die Euler ^) und auch Gruithuisen^) 
so vortrefflich darzulegen weiß, welche allmählich von der Auf- 
fassung des Kopernikus zu jener Newtons übergeleitet haben, 
und die Elemente derselben lassen sich, wenn auch bei ver- 
schiedenen Personen, und in weit voneinander entlegenen Zeiten, 
sogar historisch nachweisen. 
Der Stein fällt zur Erde. Lassen wir dessen Entfernung von 
der Erde wachsen. Wir müßten uns Gewalt antun, um diesem 
kontinuierlichen Wachstum eine Diskontinuität der Erwartung 
entgegenzusetzen. Auch in der Entfernung des Mondes wird 
der Stein nicht plötzlich sein Fallbestreben verlieren. Der große 
Stein fällt so wie der kleine. Der Stein werde so groß wie der 
Mond. Auch der Mond strebt zur Erde zu fallen. Der Mond 
möge wachsen bis er so groß wird, wie die Erde. Nun würde 
unsere Vorstellung die zureichende Bestimmtheit verlieren, wenn 
wir annehmen wollten, daß nur das eine zum andern gezogen 
wird, nicht aber umgekehrt. Die Anziehung ist also gegenseitig. 
Sie bleibt aber auch gegenseitig bei ungleichen Körpern, denn 
der eine Fall geht in den andern kontinuierlich über. Man sieht, 
daß hier nicht bloß logische Momente wirksam sind. Logisch 
wären die angedeuteten Diskontinuitäten ganz wohl denkbar. 
Aber wie unwahrscheinlich ist es, daß ihr Bestehen sich nicht 
durch irgend welche Erfahrung verraten hätte. Wir ziehen auch 
die Auffassung vor, die uns eine geringere psychische Anstrengung 
bereitet, wenn sie mit der Erfahrung vereinbar ist. 
Ein Stein fällt neben den andern. Der Mond besteht aus 
Steinen. Die Erde besteht aus Steinen. Jeder Teil zieht jeden 
andern an. Einfluß der Massen. Mond und Erde sind nicht 
wesentlich verschieden von anderen Weltkörpern. Die Gravita- 
tion ist allgemc.i. Die Kepler sehe Bewegung ist eine Wurf- 
bewegung, aber mit von der Entfernung abhängiger Fallbeschleu- 
nigung. Die Fallbeschleunigung, auch die irdische, ist über- 
haupt von der Entfernung abhängig. Die Kepl ersehen Gesetze 
*) Euler, Lettres ä une Princesse d'Allemagne. London 1775. 
*) F. Gruithuisen, Die Naturgeschichte im Kreise der Ursachen und 
Wirkungen. München 1810. 
über Gedankenexperimente. 191 
sind nur ideale Fälle (Störungen). Hier tritt das begrifflich- 
logische Moment, die Forderung der Übereinstimmung der Ge- 
danken mit sich selbst hervor. 
Wie man sieht, ist die Grundmethode des Gedankenexperi- 
mentes, ebenso wie jene des physischen Experimentes, die Me- 
thode der Variation. Durch wenn möglich kontinuierliche Va- 
riation der Umstände wird das Geltungsbereich einer an dieselben 
geknüpften Vorstellung (Erwartung) erweitert; durch Modifikation 
und Spezialisierung der ersteren wird die Vorstellung modifiziert, 
spezialisiert, bestimmter gestaltet; und diese beiden Prozesse 
wechseln. 
Galilei ist in dieser Art von Gedankenexperimenten Meister. 
Das Schweben spezifisch sehr schweren Staubes in der Luft und 
im Wasser klärt er auf, indem er einen Würfel durch drei 
Schnitte in 8 kleinere Würfel geteilt denkt, wobei das treibende 
Gewicht gleich bleibt, aber der Querschnitt und mit diesem 
der Widerstand verdoppelt wird, so daß letzterer bei mehrmaliger 
Wiederholung der Operation ungeheuer vergrößert wird. Ähnlich 
denkt sich Galilei ein Tier mit Beibehaltung der geometrischen 
Ähnlichkeit in allen Dimensionen gleichmäßig vergrößert, um zu 
zeigen, daß dieses unter seinem im kubischen Verhältnisse 
wachsendem Gewicht zusammenbrechen müßte, indem die Festig- 
keit der Knochen in einem viel geringeren Verhältnis steigt. 
Das bloße Gedankenexperiment genügt oft, um eine nach 
dem Augenschein vermeintlich erschaute Regel ad absurdum zu 
führen. Wenn der Körper von größerem Gewicht wirklich die 
Eigenschaft hätte rascher zu fallen, so müßte nach Galilei die 
Verbindung eines schwereren mit einem leichteren Körper, wodurch 
ein noch schwererer Körper entsteht, wieder langsamer fallen, weil 
der schwerere Körper durch den leichteren verzögert würde. Die 
vermeintliche Regel ist also nicht haltbar, indem sie sich selbst 
widerspricht. Derartige Überlegungen spielen in der Wissen- 
schaft eine große historische Rolle. 
7. Betrachten wir einen andern Prozeß dieser Art. Körper 
von gleicher Temperatur ändern diese durch gegenseitige Ein- 
wirkung nicht. Der wärmere Körper A (eine glühende Eisen- 
kugel) erwärmt den kälteren B (ein Thermometer) auch auf 
Distanz durch Strahlung, z. B. bei dem bekannten Versuch mit 
192 ^f^^^ Gedankenexperimente. 
den conaxialen Hohlspiegeln. Setzt man mit Pictet statt A ein 
Blechkästchen mit einer Kältemischung, so wird B abgekühlt. 
Das ist ein physisches Experiment, an welches Gedankenexperi- 
mente anknüpfen. Gibt es auch Kältestrahlen? Ist der neue Fall 
nicht derselbe, wie der vorige, nur daß Ä und B ihre Rolle ge- 
tauscht haben? In beiden Fällen erwärmt der wärmere Körper 
den kälteren. Es sei A wärmer als By die Temperaturen mögen 
dann gleich werden und endlich nehme A eine niedere Tempe- 
ratur an als B. Welcher Körper strahlt in dem Mittelfall dem 
andern Wärme zu? Ändert sich das Verhalten der Körper plötzlich 
beim Durchgang durch die Temperaturgleichheit? Beide Körper 
strahlen unabhängig voneinander und nehmen unabhängig von- 
einander auf. Bewegliches Wärmegleichgewicht (Prevost). Ver- 
schiedene Körper von gleicher Temperatur strahlen nach den 
Versuchen Leslies und Rumfords ungleiche Wärmemengen aus. 
Soll das bewegliche Gleichgewicht fortbestehen, wie es in der 
Tat besteht, so muß der doppelt ausstrahlende auch doppelt 
aufnehmen. 
Ein wichtiger Vorgang besteht darin, daß man einen oder 
mehrere Umstände, welche quantitativ auf ein Ergebnis Einfluß 
haben, in Gedanken quantitativ vermindert und schließlich zum 
Verschwinden bringt, so daß die übrigen Umstände als allein maß- 
gebend angesehen werden. Es ist dieser Prozeß physisch oft 
nicht durchführbar, und man kann denselben daher als Ideali- 
sierung oder Abstraktion bezeichnen. Indem man sich den Be- 
wegungswiderstand eines auf horizontaler Bahn angestoßenen 
Körpers, oder die Verzögerung eines auf wenig geneigter schiefen 
Ebene aufsteigenden Körpers, bis zum Verschwinden abnehmend 
denkt, kommt man zu der Vorstellung des ohne Widerstand 
gleichförmig bewegten Körpers. In Wirklichkeit kann dieser 
Fall nicht dargestellt werden. Deshalb bemerkt Apelt mit 
Recht, daß das Gesetz der Trägheit durch Abstraktion entdeckt 
worden sei. Das Gedankenexperiment, kontinuierliche Variation, 
hat aber hierzu geführt. Alle allgemeinen physikalischen Be- 
griffe und Gesetze, der Begriff des Strahles, die dioptrischen Ge- 
setze, das Mariottesche Gesetz u. s. w. werden durch Idealisierung 
gewonnen. Sie nehmen dadurch jene einfache und zugleich all- 
gemeine, wenig bestimmte Gestalt an, welche es ermöglicht, eine 
über Gedankenearperimente. 193 
beliebige, auch kompliziertere Tatsache durch synthetische Kom- 
bination dieser Begriffe und Gesetze zu rekonstruieren, d. h. sie 
zu verstehen. Solche Idealisierungen sind bei den Carnot- 
schen Betrachtungen der absolut nichtleitende Körper, die volle 
Temperaturgleichheit der sich berührenden Körper, die nicht 
umkehrbaren Prozesse, bei Kirchhoff der absolut schwarze 
Körper u. s. w. 
8. Die unabsichtlich gewonnene instinktive rohe Erfahrung 
gibt uns wenig bestimmte Bilder der Welt. Sie lehrt uns z. B., 
daß die schweren Körper nicht von selbst aufwärts steigen, daß 
gleich warme Körper einander gegenübergestellt gleich warm 
bleiben u. s. w. Das scheint dürftig, ist aber dafür um so sicherer, 
steht auf sehr breiter Grundlage. Das planmäßig ausgeführte 
quantitative Experiment gibt viel reichere Einzelheiten. Die an 
dem letzteren geschulten quantitativen Vorstellungen gewinnen 
aber ihre sicherste Stütze, wenn wir sie zu jenen rohen Er- 
fahrungen in Beziehung setzen. So paßt Stevin seine quanti- 
tativen Vorstellungen über die schiefe Ebene, und Galilei die 
seinigen über den Fall, jener Erfahrung über die schweren Körper 
durch mustergültige Gedankenexperimente an. Fourier wählt 
jene Strahlungsgesetze und Kirchhoff die Beziehung zwischen 
Absorption und Emission, welche zu der angeführten Wärme- 
erfahrung passen. 
Durch solche versuchsweise Anpassung einer quantitativen 
Vorstellung an die verallgemeinerte Erfahrung über die schweren 
Körper (das Prinzip des ausgeschlossenen perpetuum mobile) 
findet S. Carnot seinen folgenreichen Wärmesatz, und stellt 
hiermit das großartigste Gedankenexperiment an. Seine Methode 
ist von unerschöpflicher Fruchtbarkeit geworden, seit James 
Thomson und William Thomson sich derselben zu bemäch- 
tigen wußten. 
9. Von der Art und dem Ausmaß der aufgenommenen Er- 
fahrung hängt es ab, ob ein Gedankenexperiment als solches 
mit einem bestimmten Ausfall zum Abschluß gebracht werden 
kann. Der kältere Körper nimmt von dem berührten wärmeren 
Körper Wärme auf. Ein schmelzender oder siedender Körper 
befindet sich in diesem Fall, wird aber hierbei doch nicht wärmer. 
Hiernach ist es für Black nicht zweifelhaft, daß die Wärme bei 
Mach, Erkenntnis und Irrtum. 13 
194 (^ber Gedankenexperimente. 
Umwandlung eines Körpers in Dampf oder Flüssigkeit „latent" 
wird. So weit reicht das Gedankenexperiment. Allein die 
Quantität der latenten Wärme kann Black nur durch ein phy- 
sisches Experiment bestimmen, wenn dieses auch in der Form so- 
gar sich an das Gedankenexperiment anschließt. Die Existenz des 
mechanischen Wärmeäquivalents enthüllt sich Mayer und Joule 
durch Gedankenexperimente. Den Zahlenwert muß Joule durch 
ein physisches Experiment ermitteln, während Mayer sogar 
diesen, sozusagen, aus erinnerten Zahlen abzuleiten vermag. 
Wenn ein Gedankenexperiment kein bestimmtes Ergebnis 
hat, d. h. wenn sich an die Vorstellung gewisser Umstände 
keine sichere eindeutig bestimmte Erwartung eines Erfolges 
knüpft, so pflegen wir in der Zeit zwischen dem intellektuellen 
und physischen^^ Experiment uns aufs Raten zu verlegen, d. h. 
wir nehmen versuchsweise eine nähere zureichende Bestimmung 
des Erfolges an. Dieses Raten ist kein unwissenschaftliches 
Verfahren. Wir können vielmehr diesen natürlichen Vorgang an 
klassischen historischen Beispielen erläutern. Bei näherem Zu- 
sehen wird es uns sogar klar, daß dieses Raten oft allein dem 
physischen Experiment, der natürlichen Fortsetzung des Ge- 
dankenexperimentes, die Form zu geben vermag. Bevor Ga- 
lilei die Fallbewegung experimentell untersucht, von welcher er 
durch Beobachtung und Überlegung nur weiß, daß die Ge- 
schwindigkeit zunimmt, verlegt er sich aufs Raten in Bezug auf 
die Art der Zunahme. Durch die Prüfung der Folgerungen aus 
der Annahme wird sein Experiment erst möglich. Es liegt dies 
daran, daß der analytische Schluß von dem Fallraumgesetz auf 
das bedingende Geschwindigkeitsgesetz schwieriger war als der 
umgekehrte synthetische Schluß. Häufig ist ja der analytische 
Vorgang, wegen seiner Unbestimmtheit, sehr schwierig, und die 
Situation, in der sich Galilei befand, wiederholt sich bei den 
späteren Forschern noch oft. Auch die Rieh mann sehe 
Mischungsregel ist erraten, und durch Experimente nachträglich 
bestätigt, ebenso die Sinusperiodizität des Lichtes und viele 
andere wichtige physikalische Auffassungen. 
10. Die Methode, den Erfolg einer Versuchsanordnung erraten 
zu lassen, hat auch einen hohen didaktischen Wert. Ich hatte 
als Gymnasiast durch kurze Zeit einen ausgezeichneten Lehrer, 
über Gedankenexperimente. 195 
H. Phillipp, der durch dieses Verfahren die Aufmerksamkeit 
aufs höchste zu spannen wußte/) und auch bei einem andern 
tüchtigen Schulmann, F. Pisko, habe ich bei Gelegenheit eines 
Besuches seiner Schule dasselbe Verfahren beobachtet. Nicht 
nur der Schüler, sondern auch der Lehrer gewinnt ungemein 
durch diese Methode. Letzterer lernt hierbei seine Schüler besser 
als auf eine andere Weise kennen. Während einige auf das 
nächstliegende Wahrscheinlichste raten, vermuten andere un- 
gewöhnliche wunderbare Erfolge. Meist wird auf das geläufige, 
Ässoa'ö//V Naheliegende geraten. So wie der Sklave in Piatons 
„Menon" glaubt, daß die Verdopplung der Quadratseite auch die 
Quadratfläche verdoppelt, wird man von dem Elementarschüler 
leicht hören, daß die Verdopplung der Pendellänge auch die 
Schwingungsdauer verdoppelt, und der Fortgeschrittene wird 
weniger auffallende, aber analoge Mißgriffe machen. Durch 
solche Mißgriffe wird aber das Gefühl für die Unterschiede des 
logisch, physisch und associativ Bestimmten oder Naheliegenden 
geschärft, man lernt endlich das Erratbare von überhaupt nicht 
Erratbarem unterscheiden. Die hier getrennt beschriebenen Pro- 
zesse, und die hierbei unterschiedenen Fälle, kommen bei der 
denkenden Überlegung in reicher Abwechslung nacheinander, 
wohl auch zugleich kombiniert vor. Hält man sich gegenwärtig, 
wieviel die Erinnerung beim Aufbau des Wissens leistet, so wird 
Piatons Ansicht verständlich, welcher meinte, daß alles Nach- 
forschen und Erlernen nichts sei, als ein Erinnern (an ein früheres 
Leben). Allerdings enthält diese Ansicht neben einer bedeutenden 
Übertreibung gewisser Momente eine ebenso große Unterschätzung 
anderer. Auch jede gegenwärtige Einzelerfahrung kann sehr 
wichtig sein, und wenn wir auch das frühere Leben, nach mo- 
derner Auffassung die Stammesgeschichte, welche dem Leib 
ihre Spuren aufgeprägt hat, nicht für nichts achten, so ist doch 
noch viel wichtiger die individuelle Erinnerung an das gegen- 
wärtige Leben. 
11. Das Experimentieren in Gedanken ist nicht nur für den 
Forscher von Beruf wichtig, sondern auch der psychischen Ent- 
^) Leider verdarb sich dieser geniale Didaktiker fast seinen ganzen Er- 
folg durch seine mangelhafte Pädagogik, durch seine beispiellose Ungeduld. 
13* 
196 6^öer Gedankenexperimente. 
Wicklung überhaupt sehr förderlich. Wie wird dasselbe eingeleitet? 
Wie kann es sich zu einer mit Absicht, Bewußtsein und Verständnis 
gebrauchten Methode entwickeln? So wie jede Bewegung, be- 
vor dieselbe eine willkürliche werden konnte, zufällig als Re- 
flexbewegung eintreten mußte, so kommt es auch hier darauf 
an, daß einmal durch passende Umstände ein unabsichtliches 
Variieren der Gedanken eingeleitet werde, damit dieses durch- 
schaut, und zu einer bleibenden Gepflogenheit werde. Dies 
geschieht am natürlichsten durch das Paradoxe. Nicht nur lernt 
man durch das Paradoxe am besten die Natur eines Problems 
fühlen, welches ja eben durch den paradoxen Gehalt zu einem 
Problem wird, sondern die widerstreitenden Elemente lassen 
auch die Gedanken nicht mehr zur Ruhe kommen, und lösen 
eben den Prozeß aus, den wir als Gedankenexperiment be- 
zeichnet haben. Man denke nur an eine der bekannten Vexier- 
fragen, die man zum ersten Male hört. In ein auf der Wage 
äquilibriertes Gefäß mit Wasser wird ein von einem besonderen 
Ständer getragenes Gewicht eingetaucht. Sinkt die Wagschale 
oder nicht? Eine Fliege sitzt in einem verschlossenen äquili- 
brierten Kochfläschchen. Was geschieht, wenn sie auffliegt und 
im Innern des Fläschchens sich schwebend erhält? Oder man 
denke an einen wichtigen historischen Fall, den paradoxen Gegen- 
satz, die scheinbare Unvereinbarkeit des Carnotschen und des 
Mayerschen Wärmesatzes; man denke an die Beziehungen 
der chromatischen Polarisation zur Interferenz, welche bei viel- 
facher Übereinstimmung doch wieder unvereinbar schienen. Die 
verschiedenen Erwartungen, welche sich an die einzelnen in ver- 
schiedenen Fällen vereinigten Umstände knüpfen, müssen not- 
wendig beunruhigend und eben dadurch auch klärend und för- 
dernd wirken. Clausius und W. Thomson haben in dem einen, 
Young und Fresnel in dem andern Falle die Wirkung des 
Paradoxen empfunden. Durch die Analj?se fremder und eigener 
Arbeiten kann sich jeder überzeugen, wie aller Erfolg und Miß- 
erfolg hauptsächlich davon abhängt, ob an paradoxen Punkten 
die ganze Kraft angewendet wurde oder nicht. 
12. Die eigentümliche kontinuierliche Variation, welche in 
einigen der zuvor betrachteten Gedankenexperimente auftritt, 
erinnert lebhaft an die kontinuierliche Änderung der Gesichts- 
über Gedankenexperimente. 197 
Phantasmen, welche J. Müller^) so schön beschrieben hat. Man 
wird finden, daß entgegen der Ansicht Müllers die kontinuier- 
liche Änderung der Gesichtsphantasmen ganz wohl mit den 
Associationsgesetzen vereinbar ist, ja zum Teil geradezu als 
eine Erinnerungserscheinung, Nachahmung der perspektivischen 
Wandlung der Bilder, aufgefaßt werden kann. Wenn das Auf- 
treten von Tonfolgen, Melodieen und Harmonieen in der Phantasie 
nicht befremdet, und den Associationsgesetzen nicht wider- 
sprechend gefunden wird, so wird es sich wohl mit den Ge- 
sichtsphantasmen ebenso verhalten. Das spontane hallucinatorische 
Element soll in allen diesen Fällen nicht in Abrede gestellt 
werden. Eigenleben der Organe und Anregung durcheinander, 
Erinnerung, wirken hier wohl zusammen. Übrigens ist zwischen 
Hallucination und schöpferischer Phantasie der Künstler und 
Forscher doch noch zu unterscheiden. In der Hallucination 
mögen sich die Bilder an einen grob sinnlichen Erregungs- 
zustand anschließen, bei der schöpferischen Phantasie gruppieren 
sie sich um einen herrschenden hartnäckig wiederkehrenden Ge- 
danken. Daß das Phantasieren des Künstlers der Hallucination 
näher steht als jenes des Forschers wurde schon bemerkt.^) 
13. Es ist kaum zu zweifeln, daß das Gedankenexperiment 
nicht nur im Gebiete der Physik, sondern in allen Gebieten von 
Wichtigkeit ist, selbst dort, wo der Fernerstehende es am wenigsten 
vermuten würde, in der Mathematik. Euler mit seiner Forschungs- 
weise, mit deren Fruchtbarkeit die Kritik keineswegs gleichen 
Schritt hält, macht ganz den Eindruck eines Experimentators, der 
*) J.Müller, Die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz 1826. 
*) Ohne übrigens den Wert der Associationsgesetze für die Psychologie 
zu unterschätzen, kann man doch deren ausschließliche Geltung mit Recht 
bezweifeln. Es gibt im Nervensystem neben den vom Individuum erworbenen 
temporären organischen Verkehrswegen auch angeborne bleibende (wenigstens 
nicht vom Individuum erworbene), wie die Reflexbewegungen lehren, und 
letztere sind sogar für die nichtindividuellen Funktionen viel wichtiger. Ein 
Prozeß kann in einem Organ von einem Nachbarorgan aus auf den beiden 
genannten Wegen eingeleitet werden, wahrscheinlich aber unter Umständen 
auch spontan in dem Organ auftreten. Ist der Prozeß besonders energisch, 
so wird er sich vermutlich vom Ursprungsorte auf allen zu Gebote stehenden 
Wegen ausbreiten. Es scheint mir, daß alles dies sein psychisches Gegen- 
bild haben müßte. 
198 '^ber Gedankenexperimente. 
ein neues Gebiet zum erstenmal sondiert. Auch wenn die Dar- 
stellung einer Wissenschaft rein deduktiv ist, darf man sich 
durch die Form nicht täuschen lassen. Wir haben es hier mit 
einer Gedankenkonstruktion zu tun, welche an die Stelle der 
vorausgegangenen Gedankenexperimente getreten ist, nachdem 
der Erfolg derselben dem Autor vollkommen bekannt und ge- 
läufig war. Jede Erklärung, jeder Beweis, jede Deduktion ist 
ein Ergebnis dieses Vorganges. 
Die Geschichte der Wissenschaft läßt keinen Zweifel darüber 
aufkommen, daß die Mathematik, Arithmetik und Geometrie, aus 
der zufälligen Aufsammlung einzelner Erfahrungen an zählbaren 
und meßbaren körperlichen Objekten sich entwickelt hat. Indem 
nun die physischen Erfahrungen in Gedanken oft und oft gegen- 
einander gehalten wurden, ergab sich erst die Einsicht in deren 
Zusammenhang. Und jedesmal, so oft uns diese Einsicht mo- 
mentan nicht gegenwärtig ist, hat unser mathematisches Wissen 
den Charakter einmal erworbener Erfahrung. Auch wird jeder, 
der einmal forschend Mathematik getrieben oder Aufgaben ge- 
löst, die Integration einer Gleichung versucht hat, zugeben, daß 
Gedankenexperimente der definitiven Gedankenkonstruktion vor- 
ausgehen. Die historisch wichtige und fruchtbare „Methode der 
unbestimmten Koeffizienten" ist eigentlich eine experimentelle 
Methode. Nachdem die Reihen für sin .r, cos x^ e^ gefunden 
waren, ergaben sich durch den Versuch, die symbolischen Aus- 
drücke für ^^* und e-""' in Reihenform zu entwickeln, wie von 
selbst die Ausdrücke 
^ 4- e'""^ . ^ — er~^ 
cosjr = — -!^ , smj-= — ^. — , 
2 ' 2/ ' 
welche lange eine bloß symbolische, aber rechnerisch gut ver- 
wertbare Bedeutung behielten, bevor man deren eigentlichen 
Sinn anzugeben vermochte. 
Wer einen Kreis beschreibt bemerkt, daß zu jedem von 
einer bestimmten Anfangslage nach links geschwenktem Radius 
ein gleich viel nach rechts geschwenkter Radius existiert, daß 
der Kreis in Bezug auf jene willkürliche Anfangslage, also all- 
seitig symmetrisch ist. Jeder Durchmesser ist eine Symmetrale; 
alle von demselben halbierten Sehnen, auch jene von der Länge 
Null, die Tangente, stehen auf demselben senkrecht. Zwei gegen 
über Gedankeneo'perimente. 199 
die Symmetrale gleich geschwenkte Durchmesser bezeichnen mit 
ihren Enden immer die Ecken eines symmetrisch einschreibbaren 
Rechteckes. Mit Überraschung mag der antike Forscher oder 
mancher moderne Anfänger so erfahren haben, daß der Winkel 
im Halbkreise immer ein rechter ist. Einmal auf die Beziehung 
von Zentri- und Peripheriewinkel aufmerksam, entdeckt man 
durch Bewegung des Scheitelpunktes in der Peripherie, daß 
von jedem Punkte derselben derselbe Bogen unter gleichem 
Gesichtswinkel erscheint, was auch dann noch gilt, wenn der 
Scheitel von außen oder innen bis an das Ende des Kreisbogens 
rückt. Der eine Schenkel des Peripheriewinkels wird hierbei 
zur Sehne, der andere zur Tangente an dem Endpunkte des 
Bogens. Der Satz, betreffend die Proportionalität der Abschnitte 
zweier von einem Punkt durch den Kreis gezogener Sekanten, 
geht in den entsprechenden Tangentensatz über, wenn man die 
beiden Durchschnittspunkte der einen Sekante gegeneinander 
rücken und zusammenfallen läßt. Je nachdem man sich den 
Kreis mit dem Zirkel beschrieben, oder 'durch einen starren 
Winkel mit stets durch zwei feste Punkte ^geführten Schenkeln 
erzeugt denkt, oder darauf achtet, daß zwei Kreise immer als 
ähnlich und ähnlich liegend angesehen werden können, ergeben 
sich immer neue Eigenschaften. Die Veränderung, Bewegung 
der Figuren, kontinuierliche Deformation, Verschwindenlassen und 
unbegrenzte Vergrößerung einzelner Elemente sind auch hier 
die Mittel, welche die Forschung beleben, neue Eigenschaften 
kennen lehren und die Einsicht in deren Zusammenhang fördern. 
Man muß wohl annehmen, daß gerade auf diesem so einfachen 
fruchtbaren und leicht zugänglichen Gebiet die Methode des 
physischen und des Gedankenexperimentes sich zuerst entwickelt 
und von da aus auf die Naturwissenschaften übertragen hat. 
Diese Ansicht wäre gewiß viel populärer, wenn der elementar- 
mathematische Unterricht, namentlich der geometrische, sich nicht 
vorzugsweise in so starren dogmatischen Formen bewegen, 
wenn der Vortrag nicht in einzelnen abgerissenen Sätzen 
fortschreiten würde, wobei die Kritik in so monströser Weise 
hervorgekehrt und die heuristischen Methoden in so unverant- 
wortlicher Art verdeckt werden. Die große scheinbare Kluft 
zwischen Experiment und Deduktion besteht in Wirklichkeit nicht. 
200 iJber Gedankenexperimente. 
Immer handelt es sich um ein Zusammenstimmen der Gedanken 
mit den Tatsachen und der Gedanken untereinander. Zeigt ein 
Versuch nicht den erwarteten Ausfall, so mag das für den Er- 
finder oder für den konstruierenden Techniker sehr nachteilig 
sein, der Forscher wird darin nur den Beweis erblicken, daß 
seine Gedanken den Tatsachen nicht genau entsprechen. Ge- 
rade eine solche sich deutlich aussprechende Inkongruenz kann 
zu neuen Aufklärungen und Entdeckungen führen. 
14. Der enge Anschluß des Denkens an die Erfahrung baut 
die moderne Naturwissenschaft. Die Erfahrung erzeugt einen 
Gedanken. Derselbe wird fortgesponnen, und wieder mit der 
Erfahrung verglichen und modifiziert, wodurch eine neue Auf- 
fassung entsteht, worauf der Prozeß sich aufs neue wiederholt. 
Eine solche Entwicklung kann mehrere Generationen in Anspruch 
nehmen, bevor sie zu einem relativen Abschluß gelangt. 
Man hört häufig sagen, das Forschen könne nicht gelehrt 
werden. Dies ist auch in gewissem Sinne richtig. Die Schab- 
lonen der formalen und auch der induktiven Logik können nicht 
viel nützen, denn die intellektuellen Situationen wiederholen sich 
nicht genau. Aber die Beispiele der großen Forscher sind sehr 
anregend, und Übung im Experimentieren in Gedanken nach 
dem Muster derselben, wozu hier eine kleine Anleitung gegeben 
wurde, ist gewiß sehr förderlich. Die späteren Generationen haben 
auch wirklich auf diese Weise eine Förderung der Forschung 
erfahren, denn Aufgaben, welche früheren Forschern große 
Schwierigkeiten bereitet haben, werden jetzt mit Leichtigkeit 
gelöst. 
Das physische Experiment und dessen Leitmotive. 
1. Das Experiment kann als die selbsttätige Aufsuchung 
neuer Reaktionen, bezw. neuer Zusammenhänge derselben be- 
zeichnet werden. Das physische Experiment haben wir schon 
als die natürliche Fortsetzung des Gedankenexperiments kennen 
gelernt, welche überall da eintritt, wo eine Entscheidung durch 
ersteres zu schwierig, oder zu unvollständig, oder unmöglich ist. 
Auch eine gelegentliche auffallende Beobachtung kann instinktiv 
zu einem besonderen motorischen Verhalten Anlaß geben, durch 
welches wir zur Kenntnis neuer Reaktionen oder deren Zu- 
sammenhänge gelangen. Solche Fälle können wir an Tieren 
und bei genügender Aufmerksamkeit auch an uns selbst wahr- 
nehmen. Wir können in solchen Fällen von einem instinktiven 
Experimentieren sprechen. Wenn aber eine zufällige Beobach- 
tung uns in ungewöhnlicher Weise an einen bereits bekannten 
Zusammenhang erinnert^ noch mehr aber, wenn dieselbe zu dem 
Bekannten oder Gewohnten in auffallendem Gegensatz steht, 
werden durch dieselbe Gedanken suggeriert, welche als das 
eigentlich Treibende in dem nun folgenden phipsischen Experi- 
ment angesehen werden können. Unter den zahlreichen Fällen 
dieser Art erinnern wir an Galileis schwingende Lampe, an 
Grimaldis farbige, den Schatten säumende Streifen, an Boy 1 es 
und Hookes Farben der Seifenblasen und feiner Sprünge im 
Glase. Wir erinnern ferner an Galvanis Frosch, an Aragos 
Dämpfung der schwingenden Magnetnadel durch eine Kupfer- 
scheibe, an seinen Fund der chromatischen Polarisation, an Fara- 
days Entdeckung der Induktion u. s. w. Jeder Experimentator 
wird aus seiner Erfahrung solche Beispiele anführen können, wenn 
auch nur wenige historisch so wichtig und folgenschwer ge- 
worden sind, wie die angeführten. Meine Untersuchungen über 
202 -Öß5 physische Experiment und dessen Leitmotive. 
Sinnesorgane wurden eingeleitet durch den Kontrast des Anblicks 
eines Quadrates mit vertikaler Seite gegen jenen eines solchen 
mit vertikaler Diagonale. Eine Erweiterung der Gesetze des 
Helligkeitskontrastes fand ich durch die zufällige Beobachtung 
einer Erscheinung an rotierenden Sektoren mit geknickter Be- 
grenzung, welche Erscheinung nach dem Talbot-Plateauschen 
Gesetze eben unverständlich war. Ebenso wie theoretisch 
wichtige Entdeckungen können auch praktisch wertvolle Erfin- 
dungen durch zufällige Beobachtungen veranlaßt werden. So 
soll Samuel Brown durch den Anblick einer Spinne in ihrem 
Netz zur Konstruktion der Kettenbrücke, James Watt durch 
Betrachtung einer Krebsschale zum Plan einer Wasserleitung 
gelangt sein.^) Welchen Anteil man in solchen Fällen dem Zu- 
fall zuschreiben kann, und worin dessen Funktion besteht, habe 
ich anderwärts auseinandergesetzt.^) 
2. Die absichtliche selbsttätige Erweiterung der Erfahrung 
durch das phipsische Experiment, und die planmäßige Beobachtung, 
steht also immer unter Leitung der Gedanken, und ist von dem 
Gedankenexperiment nie scharf abzugrenzen und zu trennen.^) 
Deshalb haben die für das physische Experiment aufzustellenden 
Leitmotive, die wir nun betrachten wollen, auch für das Ge- 
dankenexperiment und die Forschung überhaupt Bedeutung. 
Diese Leitmotive lassen sich aus den Arbeiten der Forscher 
abstrahieren; sie haben sich bisher bewährt, und wir können 
daher bei Beachtung derselben noch weitere Erfolge erwarten. 
Auf Erschöpfung der Möglichkeiten macht unsere Darstellung 
keinen Anspruch. 
3. Alles, was wir durch ein Experiment erfahren können, ist 
*) G. A. Colozza, L'Immaginatione nella scienza. Torino 1900. p. 156. 
*) Über den Einfluß zufälliger Umstände auf die Entwicklung von Er- 
findungen und Entdeckungen. Popul.-wissensch. Vorlesungen. 3. Aufl. 1903. 
S. 287 u. f. 
ä) Claude Bernard erteilt den Rat, bei der experimentellen Unter- 
suchung von jeder Theorie abzusehen, die Theorie vor der Tür zu lassen. 
Duhem wendet mit Recht ein, daß dies in der Phpsik, wo das Experiment 
ohne Theorie ganz unverständlich ist, unmöglich sei. Ich meine, es ist 
in der Physiologie nicht viel anders. In der Tat kann man nur empfehlen, 
achtzugeben, ob der Ausfall des Experimentes überhaupt zu der mitge- 
brachten Theorie paßt. Vgl. Duhem (La Theorie physique, S. 297 u. f.). 
Das physische Experiment und dessen Leitmotive. 203 
durch die Abhängigkeit oder Unabhängigkeit der Elemente (oder 
Umstände) einer Erscheinung voneinander gegeben und erschöpft. 
Indem wir eine gewisse Gruppe oder auch ein Element, will- 
kürlich variieren, ändern sich hiermit auch andere Elemente oder 
bleiben unter Umständen unverändert. Die Grundmethode des 
Experimentes ist die Methode der Variation. Könnte man jedes 
Element allein für sich variieren, so wäre die Untersuchung ver- 
hältnismäßig leicht. Man würde durch ein systematisches Ver- 
fahren bald die bestehenden Abhängigkeiten ermitteln. Allein 
die Elemente hängen meist gruppenweise zusammen, manche 
können nur miteinander variiert werden; jedes Element wird ge- 
wöhnlich von mehreren andern und in verschiedener Weise be- 
einflußt. Dadurch wird also eine Kombination von Variationen 
notwendig. Wächst die Zahl der Elemente, so steigt die Zahl 
der durch den Versuch zu erprobenden Kombinationen, wie ein- 
fache Rechnungen lehren, so rasch, daß eine sipstematische Er- 
ledigung der Aufgabe immer schwieriger und schließlich prak- 
tisch unmöglich wird. Das willkürliche Experiment wäre, ohne 
eine gewisse vorher erworbene Erfahrung auf Grund unabsicht- 
licher Beobachtungen, in den meisten Fällen machtlos. Die im 
Dienste des biologischen Bedürfnisses erworbene Erfahrung er- 
leichtert uns nun die Aufgabe wesentlich, indem sie uns ein 
rohes Bild der stärksten Abhängigkeiten und Unabhängigkeiten 
bietet, welches allerdings für die ganz neuen wissenschaftlichen 
Zwecke einer starken Korrektur bedarf. Wenn wir also an eine 
experimentelle Untersuchung gehen, so wissen wir wenigstens 
ungefähr, von welchen Umständen wir vorläufig absehen können. 
Die genauere Ermittelung solcher Unabhängigkeiten ist aber 
sehr wichtig. Dadurch z. B., daß die an einem Körper durch 
verschiedene andere bestimmten Beschleunigungen aufeinander 
keinen Einfluß üben, daß dasselbe für sich durchkreuzende 
Strahlungen, stationäre elektrische und thermische Strömungen 
gilt, können wir in der Untersuchung derselben das Prinzip der 
Isolation., bei Kombination derselben aber das Prinzip der Super- 
position zur Anwendung bringen (P. Volkmann s. S. 141). 
4. Es handle sich nun um die Ermittelung der Abhängigkeit 
der Erscheinungselemente voneinander. Da haben wir die quali- 
tative von der quantitativen Abhängigkeit zu unterscheiden. Wir 
204 ^^^ physische Experiment und dessen Leitmotive. 
ermitteln z. B. eine qualitative Abhängigkeit, wenn wir durch 
das Experiment erfahren, daß von den Tönen der diatonischen 
Tonleiter, die wir uns durch das bloße Gehör gefunden vor- 
stellen, c und g konsonieren, c und h aber dissonieren. Ebenso 
ist es ein qualitatives Versuchsergebnis, daß ein bestimmtes Rot 
und Grün sich zu Weiß vereinigen lassen, während Rot und 
Blau sich zu Violett ergänzen. Qualitativ experimentiert auch 
ein Chemiker, der die Reaktion von Stoffen bestimmter sinn- 
licher Eigenschaften aufeinander untersucht, oder ein Pharma- 
kologe, welcher die giftige, z. B. narkotische Wirkung gewisser 
Pflanzenstoffe auf den tierischen Organismus erprobt. Wenn 
wir dagegen die Abhängigkeit des Brechungswinkels vom Ein- 
fallswinkel, oder die Abhängigkeit des Fallraums von der Fall- 
zeit zu bestimmen suchen, so stellen wir uns eine quantitative 
Aufgabe. Die einzelnen Winkel sind nicht so verschieden von- 
einander, miteinander nicht so unvergleichbar, wie etwa Rot und 
Grün; die ersteren lassen sich vielmehr in lauter gleiche Elemente 
zerlegen, und ein Winkel unterscheidet sich von dem andern nur 
durch die Zahl dieser gleichen Elemente. Ebenso läßt sich der 
Fallraum in gleiche Elemente teilen, desgleichen die Fallzeit u. s. w. 
Tragen wir nun die zusammengehörigen Werte von Fallraum 
und Fallzeit in eine Tabelle ein, so reduziert sich die ganze 
Abhängigkeit darauf, daß jetzt einer gewissen Anzahl Fallzeit- 
elemente eine bestimmte von ersterer abhängige Anzahl Fallraum- 
elemente entspricht. Die quantitative Abhängigkeit ist ein 
besonderer einfacherer Fall der qualitativen Abhängigkeit. 
Wenn sich nun gar eine Rechnungsregel von immer gleicher 
Form finden läßt, durch welche man aus der Zahl der Fallzeit- 
elemente / die Zahl der Fallraumelemente s, {s = gt^l2), oder aus 
der Zahl der Einfallswinkelelemente a die Zahl der Brechungs- 
winkelelemente ß, (sin a/sin ß = /z) ableiten kann, so wird das 
schwerfällige Mittel der Tabellen mit großem Vorteil durch diese 
Rechnungsregeln, Formeln oder Gesetze ersetzt oder vertreten. 
Zu diesem Vorteil kommt noch, daß durch das Zahlensystem, 
ohne neue Erfindung., ohne besondere Nomenklatur die Feinheit 
der Unterscheidung der besonderen, voneinander abhängigen 
Umstände beliebig weit getrieben werden kann. Bei der quanti- 
tativen Abhängigkeit liegt ein übersichtliches, anschauliches Kon- 
Das physische Experiment und dessen Leitmotive. 205 
tinuum von Fällen vor, während im Falle der qualitativen Ab- 
hängigkeit immer nur eine Anzahl von Individualfällen gesondert 
betrachtet werden muß.^) Natürlich wird man die Einfachheit, 
Gleichförmigkeit und Übersichtlichtkeit der quantitativen Behand- 
lung überall einzuführen trachten, wo dieser Vorteil erreichbar 
ist. Dies ist möglich, sobald es gelingt für qualitativ ungleich- 
artige Elemente quantitativ gleichartige, dieselben vollkommen 
charakterisierende Merkmale aufzufinden.^) Wenn man, statt die 
Tonqualitäten nach dem Gehör zu unterscheiden, die Höhe durch 
die Schwingungszahl charakterisiert, kann man die Konsonanz 
sofort als an die einfachsten rationalen Schwingungszahlenver- 
hältnisse gebunden erkennen. Wie die verschiedenfarbigen Licht- 
strahlen im Prisma gebrochen werden, muß im einzelnen be- 
schrieben werden. Hat man aber die Farbenqualität durch die 
Wellenlänge (die Interferenzstreifenbreite unter bestimmten Um- 
ständen) charakterisiert, so findet sich alsbald eine Formel, 
welche den Brechungsexponenten aus der Wellenlänge ableitet. 
Die Naturwissenschaften zeigen ein entschiedenes Streben, so- 
weit als möglich qualitative Abhängigkeiten durch quantitative 
zu ersetzen. 
5. Die positive Untersuchung wird wesentlich erleichtert, wenn 
man zuvor alles ausschaltet, was auf die Elemente, deren Ab- 
hängigkeit von andern man prüfen will, keinen Einfluß übt, und 
dadurch das Gebiet der Untersuchung einschränkt. Ein schönes 
historisches Beispiel dieses Motivs liefert die Beugung am Rande 
von Schirmen, welche Newton auf eine Massenwirkung des 
Schirmes auf die Lichtteilchen zurückzuführen dachte. s'Gra- 
vesand und Fresnel zeigten aber, daß die Dicke und das Ma- 
terial des Schirmes auf das Beugungsphänomen ohne Einfluß 
und nur die Art der Begrenzung des Lichtes maßgebend ist. 
Brewster gelang es, den Perlmutterglanz und dessen Farben- 
schimmer auf einem Abdruck in Siegellack zu erhalten, wodurch 
die Form der Oberfläche allein als maßgebend nachgewiesen 
war. Le Monnier zeigte, daß hohle und massive Leiter von 
gleicher Form sich in Bezug auf die elektrische Ladung ganz 
^) Über das Prinzip der Vergleichung. Popul. Vorlesungen. S. 263 u. f. 
") Analyse der Empfindungen. 4. Aufl. 1903. S. 209. 
206 ^^^ physische Experiment und dessen Leitmotive. 
gleich verhalten, und schränkte dadurch die Untersuchung auf 
die Abhängigkeit der Ladung von der Größe und Form der 
Oberfläche ein. 
6. Die Beseitigung dessen, was die zu verfolgende Ab- 
hängigkeit verdeckt oder stört, ist ungemein wichtig. Um die 
Brechung im Prisma rein zu beobachten, experimentiert Newton 
im verdunkelten Zimmer; er läßt sehr dünne Sonnenlichtbündel 
eintreten, damit die Teile dickerer Lichtbündel sich nicht stören 
und gegenseitig überdecken; er bildet die kleine Lichtöffnung 
durch eine Linse ab, um die Bilder verschiedenfarbiger Strahlen 
nebeneinander zu erhalten. Bei Untersuchung der Spiegel- und 
Linsenfehler blenden Foucault und Toepler das regelmäßig 
reflektierte und gebrochene Licht ab, und es gelangt nur das 
von den Fehlern herrührende, nun nicht mehr von anderem über- 
deckte und unterdrückte Licht rein zur Wahrnehmung, wodurch 
eine der feinsten optischen Methoden gewonnen ist. 
7. Große Experimentatoren haben stets die Anordnung ihrer 
Versuche so vereinfacht^ daß fast nur das zu Untersuchende sich 
äußerte und alle übrigen Einflüsse unmerklich wurden. Man ver- 
gleiche z. B. die geniale Art, in welcher Ramsden die ther- 
mische Längenausdehnung der Stäbe bestimmt, und die nicht 
minder sinnreiche Methode von Dulong und Petit zur Be- 
stimmung der absoluten kubischen Wärmeausdehnung des Queck- 
silbers nach dem hydrostatischen Prinzip. Die Schriften der 
großen Forscher sind reich an Mustern dieser Art und können 
durch nichts ersetzt werden. Galilei weist ohne Luftpumpe das 
Gewicht der Luft nach, mißt bei seinen Fallversuchen kleine 
Zeiten durch Ausfließen von Wasser und läßt statt des freien 
Falles die Körper auf der schiefen Ebene herabrollen. Newton 
prüft die Gegenwirkung der Magnete durch Einschließen der- 
selben in auf Wasser schwimmende Gläschen. Derselbe ver- 
gleicht seine errechnete Schallgeschwindigkeit mit dem Versuch, 
indem er in einem langen Gang, ein Fadenpendel von veränder- 
licher Länge beobachtend, auf das mehrfache Echo achtet. Die 
Ampereschen, Faradayschen, Bunsenschen Apparate sind 
Muster von Einfachheit und Zweckmäßigkeit. Aber nicht nur 
bei absichtlich angestellten Versuchen hat man nach Einfachheit 
zu streben, sondern man soll von den großen Forschern auch 
Das physische Experiment und dessen Leitmotive. 207 
lernen, in ganz gewöhnlichen Vorkommnissen mehr zu sehen als 
gleichgültige Dinge. Die durch ein bestimmtes Interesse ge- 
schärfte Aufmerksamkeit vermag auch ohne besondere Veran- 
staltungen die Spuren wichtiger Zusammenhänge in der täglichen 
Umgebung zu erschauen. Wer sich diese Fähigkeit nicht er- 
worben hat, wird auf experimentellem Wege schwerlich viele 
Entdeckungen machen. Huygens sieht in Siegellackstückchen, 
welche in wirbelndem Wasser sich in der Drehungsachse am 
Boden sammeln, Vorgänge, die ihn zu Gedanken über die Gra- 
vitation leiten. Das vollkommen scharfe Bild zarter monochro- 
matisch beleuchteter Fliegenfüßchen, durch ein Prisma gesehen, 
ist für Newton ein Zeichen, daß monochromatisches Licht keine 
weitere prismatische Auflösung erfährt. In dem Haften eines 
großen flach aufliegenden Hutes auf einer Platte sieht Pascal 
eine hydrodj>namische Erscheinung, eine Äußerung des Luft- 
druckes. Die Spuren von Farben an Sprüngen im Glase, die 
Hooke wahrgenommen hat, leiten ihn zur Aufeinanderlegung 
zweier Brillengläser, welche die vollständige Ringerscheinung 
zeigt, die Newton nachher genau quantitativ untersucht hat. 
An der Stanniolkapsel einer Weinflasche werden die meisten 
Menschen nichts Besonderes bemerken. Wer aber gewohnt ist 
auf Wärmeerscheinungen zu achten, fühlt sofort die reflektierte 
Strahlung seines eigenen Fingers, sobald er diesen ohne Be- 
rührung in die Kapsel taucht. An dem Felde einer schwingenden 
Saite meint man nichts besonderes zu sehen. Der geübte 
Akustiker sieht aber an einer Schattierung des Feldes die Ober- 
töne, welche die Saite gibt. An dem gleichmäßigen Felde einer 
gestrichenen Saite erkennt man, daß jedes Element sein Feld mit 
konstanter Geschwindigkeit durcheilt. Sobald der Bogen ab- 
gesetzt wird, erhält das Feld einen stärkeren Rand; die frei 
schwingende Saite verweilt also an den Grenzen des Feldes ver- 
hältnismäßig länger. Ein zufälliges glänzendes Flitterchen auf der 
Saite verrät dem Beobachter bei einer raschen Augenbewegung 
durch das ausgezogene Nachbild des Flitterchens die Schwingungs- 
form. Experimente mit den gewöhnlichsten Utensilien, wie sie 
z.B. G. Tissandier^) in seinem bekannten Buche beschreibt. 
*) Tissandier, La Physique sans appareils. Paris. 7nie edit. 
208 -005 physische Experiment und dessen Leitmotive. 
sind deshalb recht förderlich, indem sie den Blick schärfen und 
auf meist gar nicht beachtete Dinge lenken. 
8. Wenn in einem Komplex von Umständen ein Umstand B 
durch einen Umstand A bedingt ist, so wird zu erwarten sein, 
daß mit dem Eintreten von Ä auch B erscheint, mit dem Ver- 
schwinden von A auch B verschwindet, mit der Verstärkung von 
A auch B sich verstärkt und mit der Umkehrung von A auch B 
sich umkehrt. Es bedeute A die Temperatursteigerung, die Stärke 
des Magnetpols, den Druck, B hingegen bezw. die Gasspannung, 
den induzierten Strom, die Doppelbrechung eines durchsichtigen 
Körpers. Dieses Leitmotiv des Parallelismus, wie man es nennen 
könnte, welches schon J. F. W. HerscheP) angibt, ist ein 
sicherer Führer des Experimentierenden. 
9. Wenn der Einfluß von A auf B nur gering ist, so daß die 
Variationen von B nur schwer zu beobachten sind, so gilt es, 
die letzteren zu verstärken. Galilei erläutert schon den Vor- 
gang der Summation der Effekte an einer schweren Glocke, 
welche durch taktmäßige kleine Impulse, die stets in derselben 
Schwingungsphase angebracht werden, in ausgiebige Schwingun- 
gen gerät. Er erklärt auf diese Weise das Mitschwingen. Das Ver- 
fahren wird gegenwärtig angewendet, um durch die sogenannte 
ballistische Methode kräftige Ausschläge der Galvanometernadel 
mit sehr schwachen Strömen zu erzielen. Durch Vermehrung 
der stromleitenden Windungen vergrößert man bis zu einer 
gewissen Grenze den Ausschlag der Galvanometernadel bei 
schwachen Strömen (Multiplikator). Voltas Erfindung des Elek- 
trophors hat den Weg gezeigt, durch Verwendung zweier Kon- 
densator-Elektroskope eine kaum merkliche Elektrizitätsmenge zu 
multiplizieren, insbesondere den Prozeß der Duplikation oft 
nacheinander anzuwenden. Die Influenzmaschinen verwenden 
diesen Prozeß automatisch zur Erzeugung größerer Elektrizitäts- 
mengen. Wenn Fresnel viele Prismen hinter einander stellt, um 
die geringe Doppelbrechung durch Druck in denselben sichtbar 
zu machen, wenn er in seinem Interferenzrefraktometer lange 
Lichtwege anwendet, um einen merklichen Gangunterschied der 
^) J. F.W. Herschel, A preliminary discourse on the study of natural 
philosophy. London 1831. p. 151 u. f. 
Das physische Experiment und dessen Leitmotive. 209 
Strahlen in trockener und feuchter Luft zu erzielen, wenn 
Farad aj? den polarisierten Strahl nach der Richtung der mag- 
netischen Kraftlinien oft hin und her reflektiert, um in seinem 
schweren Glase die Drehung der Polarisationsebene deutlicher 
hervortreten zu lassen, so sind dies ebensoviele Beispiele der 
Häufung der Effekte. Maxwell hat an einer zähen Flüssigkeit 
durch Reibungszug momentane Doppelbrechung beobachtet, und 
ich habe dieselbe an halbflüssigen plastischen Massen bei Druck 
wahrgenommen. Beide Erscheinungen waren aber nur von kurzer 
Dauer. Kundt schloß nun solche Flüssigkeiten zwischen zwei 
lange konachsiale Zylinder ein, von welchen er den einen konti- 
nuierlich rasch rotierte. Durch den langen Weg einerseits und 
durch den dauernden Reibungszug anderseits trat nun die Er- 
scheinung kräftig, dauernd und leicht meßbar hervor. 
10. Um ein Element zu bestimmen, dessen direkte Ermittelung 
unbequem, schwierig oder unmöglich ist, bedient man sich zu- 
weilen der Substitution eines bekannten äquivalenten Elementes. 
Zur Bestimmung eines galvanischen Leitungswiderstandes setzt 
man z. B. an die Stelle desselben so viel vorher geaichten Rheo- 
statendraht, daß alle Erscheinungen gleich bleiben. Als Hirn 
seine Versuche über die Wärmeproduktion eines arbeitenden und 
nicht arbeitenden Menschen anstellte, und hierbei einen Mann in 
ein großes Kalorimeter einschloß, in welchem er an einem Tret- 
rad aufsteigen, absteigen oder sich ruhig verhalten konnte, war 
die produzierte Wärmemenge wegen der gleichzeitigen Verluste 
des Kalorimeters direkt schwer zu bestimmen. Deshalb wurde 
in Parallelversuchen der Mann durch einen Gasbrenner ersetzt, 
der in derselben Zeit denselben Effekt am Kalorimeter hervor- 
brachte, dessen Wärmeproduktion aber aus dem Gasverbrauch 
leicht bestimmt werden konnte.^) Joule komprimierte durch eine 
in dem Kompressionsgefäß eingeschlossene Pumpe Luft, während 
das Gefäß selbst in ein Kalorimeter versenkt war. Die Be- 
stimmung der Kompressionswärme, welche der Kompressions- 
arbeit entsprach, war dadurch erschwert, daß die Reibungswärme 
der Pumpe zu ersterer Wärme sich hinzufügte. Ließ man aber 
die Pumpe durch dieselbe Zeit mit derselben Geschwindigkeit 
1) Hirn, Theorie m^canique de la chaleur. Paris 1865. S. 26—34. 
Mach, Erkenntnis und Irrtum. 14 
210 ^^5 physische Experiment und dessen Leitmotive. 
leer gehen, so konnte man die Kompressionswärme indirekt rein 
bestimmen.^) 
11. Zur indirekten Bestimmung dient auch die Methode der 
Kompensation. Durch irgend einen Umstand wird ein schwer 
bestimmbares Element B hervorgerufen. Man fügt das bestimm- 
bare Element — B hinzu, wodurch B wieder verschwindet, kom- 
pensiert, zugleich aber bestimmt ist. Bringt man zwei inter- 
ferierenden Strahlen einen größeren Gangunterschied bei, so ver- 
schwindet das Interferenzstreifensystem, und der Gangunterschied 
ist eben deshalb durch Ausmessung der Verschiebung in Streifen- 
breiten nicht mehr direkt bestimmbar. Vernichtet man aber den 
Gangunterschied wieder durch Einschaltung von Glas bestimm- 
barer Dicke auf der vorher nicht verzögerten Seite, so ist der 
Gangunterschied kompensiert und indirekt bestimmt. So kann 
man auch den Galvanometerausschlag, der durch eine unbekannte 
Bestrahlung einer Thermosäule hervorgebracht wird, durch eine 
bekannte der Gegenseite zugeführte Bestrahlung vernichten und 
dadurch erstere bestimmen. 
12. Das Prinzip der Kompensation ist noch in anderer Be- 
ziehung wichtig. Ein Umstand A bedingte das Eintreten von B\ 
wenn aber A außerdem den Eintritt von A^ bestimmt, welches 
selbst wieder auf B Einfluß nimmt, so wird hierdurch die reine 
Beziehung von A und B getrübt. Es muß also dafür gesorgt 
werden, N zu kompensieren. Jamin leitet zwei interferierende 
Lichtbündel durch gleich lange Röhren mit Wasser. Wird in der 
einen Röhre das Wasser unter Druck gesetzt, so wird das be- 
treffende Lichtbündel sofort verzögert, aber mehr als der Ver- 
dichtung des Wassers allein entspricht, da die Röhre sich zu- 
gleich etwas verlängert. Letzterer Umstand wird aber bis auf 
eine leicht anzubringende Korrektur kompensiert, wenn man 
beide Röhren in eine weitere Röhre mit Wasser (ohne Druck) 
legt. Das Prinzip der Kompensation ist auch in technischer und 
praktisch-wissenschaftlicher Richtung wichtig, wo es sich um 
das Konstanthalten gewisser Umstände, z. B. um die Erhaltung 
der Länge eines zeitmessenden Pendels handelt. 
1) Joule, on the changes oF temperature produced bp the rarefaction 
and condensation of air. Phil. Mag. 1845. 
Das physische Experiment und dessen Leitmotive. 211 
13. Die Substitution, besonders aber die Kompensation führt 
in ihrer Verfeinerung zu den sogenannten Nullmethoden. Wenn 
kleine von A abhängige Änderungen von B untersucht werden 
sollen, so erzielt man die höchste Empfindlichkeit, indem man B 
durch Kompensation unwahrnehmbar macht, so daß es erst bei 
Änderung von A hervortritt. Es sei A die Temperatur, B der 
von derselben abhängige galvanische Leitungswiderstand. Man 
kompensiert in einer galvanometrischen Aufstellung B bis zur 
gänzlichen Unterdrückung des Auschlages durch einen gleichen 
Widerstand (Wheatstonesche Brücke). Sobald aber B durch 
Temperatursteigerung wächst, natürlich ohne Änderung des kom- 
pensierenden Widerstandes, wird diese Änderung von B durch 
den Ausschlag sofort angezeigt (Bolometer). Legt man an zwei 
Punkte derselben Niveaulinie einer durchströmten Platte die 
Drahtenden eines Galvanometers, so gibt dieses keinen Ausschlag. 
Die geringste asymmetrische Verschiebung der Niveaulinien, etwa 
durch magnetische Änderung des Leitungswiderstandes, bewirkt 
aber sofort einen Ausschlag (Hallsches Phänomen). Die An- 
wendung des Soleiischen Doppelquarzes bei Versuchen über 
Drehung der Polarisationsebene ist ebenfalls ein Beispiel der 
Nullmethode. 
14. Vorgänge, welche für unsere direkte Beobachtung zu rapid 
sind, müssen natürlich indirekt ermitteU werden. Man benützt 
hierzu die Methode der Zusammensetzung. Der unbekannte zu 
untersuchende Vorgang liefert die eine Komponente, welche mit 
einer anderen bekannten Komponente eine beobachtbare Resul- 
tante gibt. Die vertikale Fallbewegung verrät ihre Eigentüm- 
lichkeit durch die entstehende Parabel, wenn sie mit einer gleich- 
förmigen Horizontalbewegung von bekannter Geschwindigkeit 
kombiniert wird, wie in dem verbreiteten Apparat von Morin, 
oder bei Zusammensetzung mit einer harmonischen horizontalen 
Schwingung wie in dem Apparat von Lippich, oder am ein- 
fachsten am horizontal ausgeworfenen Wasserstrahl. Eine mächtige 
Anregung zur Ausbildung dieser Methode ging von Wheatstone 
aus, als er den rotierenden Spiegel zur Ermittlung der Fort- 
pflanzungsgeschwindigkeit und der Dauer der elektrischen Ent- 
ladung anwendete. Die Vervollkommnung dieses Verfahrens 
durch Feddersen führte zur genauen Kenntnis der elektrischen 
14* 
212 ^^5 physische Experiment und dessen Leitmotive. 
Oszillationen. Eine andere Ausbildung liegt in Foucaults 
Methode zur Bestimmung der Lichtgeschwindigkeit. Sehr 
zahlreich sind die akustischen Anwendungen des rotierenden 
Spiegels. 
Die Wahl einer optischen Bewegung als bekannte Komponente 
liegt so nahe, weil durch diese der zu untersuchende Vorgang 
in keiner Weise beeinflußt wird. Auch Fizeaus Verfahren zur 
Messung der Lichtgeschwindigkeit ist ein schönes Beispiel einer 
genialen Anwendung dieses Mittels. Die Benützung rasch ro- 
tierender Scheiben und Zylinder zur Aufnahme von Funkenmarken 
behufs sonst schwieriger Zeitbestimmungen, etwa bei Projektil-, 
Schall- oder Entladungsversuchen, die stroboskopische Methode, 
das Wheatstonesche Kaleidophon, die Lissajoussche Stimm- 
methode, das Helmholtzsche Vibrationsmikroskop u. s. w. ge- 
hören alle hierher. Die Kombination der Ausströmungsge- 
schwindigkeit eines explosiven Gases mit dessen Explosions- 
geschwindigkeit zur Bestimmung der letzteren, die Benützung 
der Schallgeschwindigkeit zur Messung anderer Geschwindig- 
keiten ist nicht mehr ungewöhnlich, und es ist nicht abzusehen, 
warum die Lichtgeschwindigkeit nicht in ähnlicher Weise zu noch 
viel feineren Zeitbestimmungen dienen sollte. Die Komposition 
unbekannter Prozesse mit Bewegungen empfiehlt sich aus dem 
bezeichneten Grunde am besten. Es ist aber nicht von vornherein 
auszuschließen, daß auch die Kombination zweier beliebiger Pro- 
zesse, von welchen der eine zu erforschen, der andere schon 
bekannt ist, wertvolle Ergebnisse liefern könnte, wenn nur der 
eine vom andern unabhängig oder in bekannter Weise beein- 
flußt ist. 
15. Von besonderem Interesse sind solche Experimente, durch 
welche nicht nur die Zusammengehörigkeit zweier Werte eines 
Paares von Umständen A und B festgestellt, sondern die Über- 
sicht über ein ganzes System von zusammengehörigen Werten 
gewonnen wird. Die Hooke-Newtonsche Glaskombination 
liefert schon ein solches Experiment. Wenn Newton seine 
Glaskombination durch das Spektrum führt und die Kontraktion 
der Ringe vom Rot gegen Violett beobachtet, so stellt er wieder 
ein solches Experiment an. Löst man die Beugungserscheinung 
einer engen, sehr kurzen, vertikalen Spalte nach derSpaltenrichtung, 
Das physische Experiment und dessen Leitmotive. 213 
also senkrecht zur Beugungsrichtung spektral auf, ^) so erhält man 
die verschiedenen monochromatischen Beugungserscheinungen 
zugleich untereinander gesetzt. Die Achsenbilder der chroma- 
tischen Polarisation der Kristallplatten, der von Spott iswoode 
und mir angegebene rotierende Polarisationsapparat, Kundts 
Bestäubung pproelektrischer Kristalle mit dem Gemisch von 
Mennige und Schwefelblumen, Chi ad nis Sandfiguren auf tönen- 
den Platten, die bekannten magnetischen Kurven sind andere Bei- 
spiele der Experimente, die HerscheP) „collective instances", 
Jevons^) „collective experiments" nennt. 
16. Bei jedem Experiment muß man die möglichen Fehler be- 
achten, um dasselbe nicht irrtümlich auszulegen. Insbesondere 
ist dies aber dann nötig, wenn man nur minimale Anzeigen zu 
erwarten hat. Als Farad ay den Einfluß eines starken Elektro- 
magneten auf schwach magnetische und diamagnetische Substanzen 
untersuchte, versäumte er nicht, den bloßen Aufhängeapparat, 
die Papiere und Gläschen, in welche die zu untersuchenden 
Körper eingeschlossen wurden, für sich auf das magnetische 
Verhalten zu prüfen. Erst wenn die Aufhängevorrichtung nicht 
reagierte, schenkte er den Versuchen mit der Substanz selbst 
Vertrauen. Ein solcher Versuch mit Ausschaltung des eigent- 
lichen Versuchsobjektes heißt ein blinder Versuch. Dieselbe Vor- 
sicht ist geboten, wenn man z. B. eine sehr kleine zu unter- 
suchende Elektrizitätsmenge durch Duplikation vergrößern muß, 
um sie deutlich beobachtbar zu machen. Da muß man sich 
überzeugen, ob nicht die Kondensatorelektroskope noch eine 
rückständige Ladung von einem früheren Versuch hatten, oder 
ob nicht die Prozedur des Duplizierens selbst eine Ladung ent- 
wickelt. Bevor der Chemiker den Marsh sehen Apparat zur 
Prüfung einer Substanz auf Arsengehalt verwendet, überzeugt 
er sich, ob die Arsenanzeige nicht schon erfolgt, ohne daß die 
zu prüfende Substanz eingebracht worden wäre, ob also nicht 
die Substanzen des Apparates selbst Arsen enthalten. 
17. Die Geschichte der Wissenschaft lehrt, daß Experimente mit 
negativem Ergebnis niemals als definitiv entscheidend angesehen 
») Fraunhofer, Gesammelte Schriften. München 1888. S. 71. 
4 Herschel, a.a.O. S. 185. 
8) W. S. Jevons, The Principles of science. London 1892. S. 447. 
214 ^ö-s physische Experiment und dessen Leitmotive. 
werden dürfen. Hooke vermochte den Einfluß der Entfernung 
von der Erde auf das Gewicht der Körper mit seinen Wagen 
nicht nachzuweisen, dies gelingt aber ohne Schwierigkeit mit den 
viel empfindlicheren Wagen der Gegenwart. J. F. W. Herschel 
gelang es nicht, galvanische oder magnetische Drehung der Po- 
larisationsebene zu beobachten, wohl aber Farad aj?. Die Ver- 
suche J. Kerrs über die elektrische Doppelberechnung der Di- 
electrica wurden lange vor ihm oft mit negativem Erfolg ange- 
stellt. Bennet versuchte vergebens den Druck des Lichtes auf 
die bestrahlte Fläche nachzuweisen, Crookes gelang dieser 
Nachweis mit seinem Radiometer, A.Schuster aber zeigte, daß 
dieser Druck von inneren Kräften des Apparates herrührt und 
nicht durch heranfliegende Teilchen erklärt werden kann. So 
bleibt also sowohl der Ausfall, als auch die Auslegung eines 
negativen Experimentes problematisch. 
18. Die hier dargelegten formgebenden Motive des Experi- 
mentes sind von wirklieh ausgeführten Experimenten abstrahiert. 
Die Aufzählung derselben soll keine vollständige sein, denn diese 
Motive werden durch geniale Forscher immer noch vermehrt. 
Die Aufzählung soll aber auch keine Einteilung vorstellen, denn 
diese Motive schließen sich nicht allgemein aus. In einem Ex- 
periment können mehrere derselben vereinigt sein. Fizeaus und 
Foucaults Methoden zur Bestimmung der Lichtgeschwindigkeit 
enthalten z. B. das Motiv der Zusammensetzung des Bekannten 
mit dem noch Unbekannten zu einem beobachtbaren Resultat, 
aber auch das Motiv der Häufung der Effekte, und auch noch 
die zeitliche Stabilisierung einer momentanen Erscheinung. Bei 
Fizeaus Bestimmungen sind von der Geschwindigkeit abhängige 
Maxima und Minima der Helligkeit, bei Foucaults Messungen 
dagegen von den Geschwindigkeiten abhängige Verschiebungs- 
größen eines Bildes maßgebend.^) 
19. Betrachten wir nun noch die Ideen zur Erweiterung unserer 
Kenntnisse durch experimentelle Untersuchungen. Alle unsere 
Ideen können nur durch die bisher gewonnene Erfahrung ent- 
^) Foucault, Recueil des travaux scientifiques. Paris 1878. S. 197. 
Foucault charakterisiert seine Methode als „l'observation d'une image fixe 
d'une image mobile", womit mir übrigens das Wesentliche nicht bezeichnet 
zu sein scheint. 
Das physische Experiment und dessen Leitmotive. 215 
standen sein und durch die künftige weiter entwickelt werden. 
Die Gedanken, welche der Erfahrung vorauseilen und die Er- 
wartung, die das Experiment vorbildet, können nur Überein- 
stimmungen oder Unterschiede des Neuen und des Bekannten 
betreffen. Wie weit darf man ein experimentelles Ergebnis als 
gültig betrachten? Wie weit muß dasselbe bei veränderten Um- 
ständen eingeschränkt werden? Diese Fragen bezeichnen die 
Hauptideen des an die experimentelle Untersuchung herantretenden 
Forschers. Die Spezialideen sollen wieder aus historisch wich- 
tigen Fällen abstrahiert werden. 
20. Man kennt ein experimentelles Ergebnis und versucht nun 
rein kollektiv dasselbe möglichst weit auszudehnen. Es gibt 
magnetische Eisenerze. Sind noch andere Körper magnetisch? 
Ist der Doppelspat der einzige doppelt brechende Körper? 
Welche Körper können durch Reibung elektrisch werden? Welche 
sind Leiter, welche Isolatoren? Wie weit reicht die Verbreitung 
der Phosphoreszenz?^) Hierher gehört auch die Aufsuchung 
aller Fälle, in welchen eine durch Einzelbeobachtung entdeckte 
Erscheinung auftritt. Oerstedt sucht alle möglichen Lagen der 
Magnetnadel gegen den Stromleiter und deren Verhalten zu be- 
stimmen, nachdem er einen Fall der Ablenkung beobachtet hat, 
und gelangt so zur vollständigen Kenntnis des magnetischen 
Feldes des Stromleiters. 
21. Die Ausdehnung einer Untersuchung von einem bekannten 
Fall auf analoge Fälle wird besonders einladend sein. Die Ana- 
logien zwischen Wärme, Elektrizität, mechanischen und Diffusions- 
vorgängen u. s. w. haben zahlreiche Experimente veranlaßt. Es 
sei nur die Fi ck sehe Untersuchung über den Diffusionsstrom er- 
wähnt. Magnete stehen in Wechselwirkung; ein Strom mit einem 
Magnet auch. Der Strom wirkt auf den Magnet ähnlich wie ein 
Magnet. Sollten sich Ströme gegen Ströme magnetähnlich ver- 
halten? Arago hat darauf hingewiesen, daß man bei Über- 
tragungen nach Analogie auch auf das Auftreten von Unter- 
schieden gefaßt sein muß. Magnete und weiches Eisen ziehen 
sich gegenseitig an; weiches Eisen verhält sich in diesem Falle 
^) J. P. Heinrich, Die Phosphoreszenz der Körper. Nürnberg 1820. 
— A. E. Becquerel, Sur la phosphorescence par Insolation. Ann. chim. 
phys. T. 22. 1848. 
/ 
216 D^s physische Experiment und dessen Leitmotive. 
magnetähnlich; dennoch verhalten sich weiche Eisenstücke gegen- 
einander indifferent. Allerdings verhält sich der Strom und weiches 
Eisen dem Magnet gegenüber nicht ganz übereinstimmend; 
ersterer zeigt in diesem Falle Polarität, letzteres aber nicht. 
22. Wo Erscheinungen in verschiedenem Grade auftreten, wird 
man auch an die Möglichkeit eines Gegensatzes denken dürfen. 
Verschieden starke Magnetismen legen den Gedanken eines ent- 
gegengesetzten Verhaltens, des diamagnetischen, nahe. Kennt 
man die eine Art der Doppelbrechung, etwa die als negativ be- 
zeichnete, so sucht man nach dem Gegensatz, nach der posi- 
tiven. Nicht alles, was man durch diesen Ideengang hätte finden 
können, ist auf diesem Wege wirklich gefunden worden, sondern 
wurde oft durch Zufall entdeckt, wie z. B. zu der bereits be- 
kannten einen Art der Elektrizität die andere durch Dufay. Nicht 
jeder Gegensatz, der zuerst als solcher erscheint, muß es wirklich 
sein. So faßt man Magnetismus und Diamagnetismus heute nicht 
als Gegensatz, sondern besser als Gradunterschiede gegen ein 
allgemein verbreitetes Medium auf, so wie man in der Luft auf- 
steigenden Körpern nicht mehr absolute Leichtigkeit, negative 
Schwere, sondern nur geringeres Gewicht als dem gleichen Volum 
Luft zuschreibt. Ähnliches kann man über den Gegensatz von 
Wärme und Kälte, von positiver und negativer Elektrizität u. s. w. 
sagen. Solche Wandlungen gehören übrigens in das Gebiet der 
Theorie. 
23. Der Kontinuität der Variation der Umstände entspricht eine 
Kontinuität der Erwartung in Bezug auf die experimentellen Er- 
gebnisse. Ungleicher Druck in verschiedener Richtung erzeugt 
an starren Körpern Doppelbrechung. Nun ist der Übergang von 
der Starrheit zur Flüssigkeit in Bezug auf die Rigidität und 
Viskosität ein ganz allmählicher. Man darf also erwarten, daß 
auch plastische Körper und zähe Flüssigkeiten durch passenden 
Druck oder Zug Doppelbrechung erlangen werden, wie es wirklich 
beobachtet worden ist. Ja, da keine Flüssigkeit ganz ohne Ri- 
gidität oder Viskosität sein wird, so wird es nur auf die Größe 
der Kräfte und die Geschwindigkeit der Deformationen ankommen, 
ob die Doppelbrechung bemerklich wird. Auch zwischen Gasen 
und Dämpfen finden wir eine kontinuierliche Variation der Eigen- 
schaften, weshalb der Gedanke, alle Gase bei entsprechender 
Das physische Experiment und dessen Leitmotive. 217 
Temperatur durch Druck zu verflüssigen, sich ganz natürlich er- 
gab. Es gibt starre und flüssige Körper, welche die Polari- 
sationsebene drehen; man kann vermuten, daß dies auch bei 
Dämpfen und Gasen vorkommen wird. Die magnetische Drehung 
ist für jeden Aggregatzustand nachgewiesen, zuletzt für Gase 
1879 von Kundt und gleichzeitig unabhängig von Lippich. 
Gibt es noch einen vierten Aggregatzustand? (Crookes.) 
24. Die Variation einer Erscheinung bei Variation der Umstände 
erregt den Wunsch, die erstere auch bei den extremen Vierten 
der letzteren kennen zu lernen. So untersucht man das Ver- 
halten der Körper bei den höchsten und tiefsten erreichbaren Tem- 
peraturen in Bezug auf Härte, Elastizität, galvanischen Leitungs- 
widerstand u. s. w. Man setzt die schmelzenden, frierenden, 
verdampfenden Körper unter den höchsten erreichbaren Druck. 
Man untersucht die Eigenschaften des vollkommensten Vakuums, 
trachtet die größten elektrischen Spannungen, den stärksten Strom 
zu erzielen. Man unterwirft die längsten und die kürzesten 
Lichtwellen der Untersuchung. Bei Versuchen dieser Art kann 
man immer auf Ergiebigkeit rechnen. 
25. So wie wir einerseits durch Aufsuchung möglichst weit 
reichender Übereinstimmungen unsere Erfahrung bereichern, ge- 
schieht dies auch durch die den jedesmaligen Umständen ent- 
sprechende Restriktion^ Spezialisierung., Individualisierung. 
Kennen wir auch die Brechung als eine allgemeine bei jedem 
Übergang aus einem Medium ins andere auftretende Erscheinung, 
so bleibt uns noch der für jedes Medienpaar charakteristische 
Brechungsexponent, oder die jedem Medium entsprechende Fort- 
pflanzungsgeschwindigkeit zu bestimmen. In solchen Restrik- 
tionen können ebenso große Entdeckungen liegen, wie in Ver- 
allgemeinerungen. Man denke an die Newtonsche Entdeckung 
der Dispersion durch Zuweisung besonderer Brechungsexpo- 
nenten an die besonderen Farben, an die Klassifikation der 
Farben nach Periodenlängen. Alle quantitativen Bestimmungen 
der für Stoffindividuen charakteristischen Konstanten, wie Dichten, 
spezifische Wärmen, Ausdehnungs- und Spannungskoeffizienten, 
Leitungs widerstände, Dielektrizitätskonstanten und Magnetisie- 
rungszahlen u. s. w. gehören hierher. 
26. Ein fruchtbares Leitmotiv ist das der vereinigten Wirkung 
218 I^os physische Experiment und dessen Leitmotive. 
und Gegenwirkung. Schärfer als durch einen Namen läßt es sich 
so formulieren. Wenn der Umstand A das Eintreten des Um- 
standes + B bedingt, so bedingt der Umstand + B das Eintreten 
von — Ay des Gegenteils von A. Beispiel hierfür ist in der Me- 
chanik Druck und Gegendruck. Erwärmtes Gas dehnt sich aus, 
unter Druck sich ausdehnendes Gas kühlt sich ab. Der Strom treibt 
den Magnetpol, der Magnetpol den Strom in entgegengesetztem 
Sinne. Der Widerstand wird durch den Strom erwärmt, Erwärmung 
des Widerstandes schwächt den Strom. Der dauernde Strom macht 
das Eisen zum Magnet, der angenäherte Magnet, oder der Magnet 
von wachsender Intensität, erzeugt einen Strom von der Dauer 
der Änderung, welcher jenen Magnet zu entfernen, bezw. zu 
schwächen strebt. Wenn der Seebecksche Thermostrom durch 
die erwärmte Berührungsstelle von M z\x N fließt, so wird nach 
Peltier^) der von M z\x Abfließende Strom die passierte Be- 
rührungsstelle abkühlen. Bei weitem wieder nicht alle Phäno- 
mene, zu welchen dieses Motiv hätte leiten können, sind auf 
diesem Wege gefunden worden. Farad aj) sucht als Gegen- 
erscheinung zur Erregung des Elektromagneten durch den Strom 
eine Stromerregung durch Einlegen eines Magnetkerns in die 
Drahtspule. Er fand aber nur beim Einführen oder Entfernen 
des magnetischen Kerns den momentanen „induzierten" Strom. 
Auch Peltier suchte nicht die Gegenerscheinung zur Seebeck- 
schen Erscheinung. Er denkt an einen Einfluß der Wärmeleitungs- 
fähigkeit der Metalle bei der Seebeck sehen Erscheinung. Indem 
er die Metalle der Thermosäule durch den Strom erwärmt, findet 
er eine Ungleichheit der Erwärmung der Lötstellen je nach dem 
Stromsinne. Durch Einschließen eines dicken^) Wismut- und 
eines ebensolchen Antimonstabes in das Gefäß eines Luftthermo- 
meters ergibt sich Erwärmung durch den positiven Strom vom 
Antimon zum Wismut, aber eine unerwartete Abkühlung durch 
den entgegengesetzten Stromsinn. Wenn wir zu einer Erscheinung 
die Gegenerscheinung suchen, so kann uns das oben bezeichnete 
Motiv wohl einen Fingerzeig geben, allein es vermag uns nicht 
allein zu leiten. Ein dauernder Strom kann wohl einen Magnet 
») L'Institut 1834. 21. April und 11. August. 
2) Weil dadurch die Peltiersche Temperaturänderung der Lötstellen 
gegen die Joulesche-Erwärmung deutlich hervortritt. 
Das physische Experiment und dessen Leitmotive. 219 
erzeugen, allein ein ruhender Magnet kann keinen Strom hervor- 
bringen, der ja Arbeit ohne Energieverbrauch repräsentieren 
würde. Energieprinzip und Induktionsgesetz zusammen liefern 
erst ein vollständig geschlossenes System von Erscheinungen und 
Gegenerscheinungen. Das obige Motiv bedarf also einer Er- 
gänzung durch Spezialerfahrungen. Dies liegt daran, daß wir 
in den untersuchten Phänomenen selten einfache, reine und un- 
mittelbare Zusammenhänge vor uns haben. Von zwei in un- 
mittelbarer Wechselbeziehung stehenden Körpern kann der eine 
nur auf Kosten des anderen Bewegungsquantität, Wärmemenge, 
Elektrizitätsmenge u. s. w. erhalten. Wären alle Verhältnisse so 
einfach, so könnte das bezeichnete Motiv sehr sicher leiten. Bei 
vermittelten Wechselbeziehungen ist die Sache nicht so einfach, 
und die direkte Umkehrung ist unzulässig.^) 
») Vgl. Analyse der Empfindungen S. 69—76. 
Die Ähnlichkeit und die Analogie als Leitmotiv 
der Forschung.') 
1. Ähnlichkeit ist teilweise Identität. Die Merkmale ähnlicher 
Objekte stimmen zum Teil überein, zum Teil sind sie verschieden. 
Die Analogie ist jedoch ein besonderer Fall der Ähnlichkeit. 
Nicht ein einziges unmittelbar wahrnehmbares Merkmal des einen 
Objektes braucht mit einem Merkmal des anderen Objektes über- 
einzustimmen, und doch können zwischen den Merkmalen des 
einen Objektes Beziehungen bestehen, welche zwischen den 
Merkmalen des anderen Objektes in übereinstimmender, iden- 
tischer Weise wiedergefunden werden. Jevons^) nennt die Ana- 
logie „eine tiefer liegende Ähnlichkeit"; man könnte dieselbe 
auch eine abstrakte Ähnlichkeit nennen. Die Analogie kann unter 
Umständen der unmittelbaren sinnlichen Beobachtung ganz ver- 
borgen bleiben, und sich erst durch die Vergleichung der begriff- 
lichen Beziehungen der Merkmale des einen Objektes unter- 
einander mit den Beziehungen der Merkmale des anderen Ob- 
jektes untereinander offenbaren. MaxwelP) gibt nicht sowohl 
eine Definition der Analogie, als er vielmehr deren wichtigste 
Eigenschaft für den Naturforscher hervorhebt, wenn er sagt: 
„Unter einer physikalischen Analogie verstehe ich jene teilweise 
Ähnlichkeit zwischen den Gesetzen eines Erscheinungsgebietes 
mit jenen eines anderen, welche bewirkt, daß jedes das andere 
illustriert." Wir werden jedoch sehen, daß Max we 11s Auf- 
fassung von der hier dargelegten nicht verschieden ist. Hoppe*) 
^) Mit Erweiterungen aus Ostwalds „Annalen der Naturphilosophie" 
B. I abgedruckt. 
») Jevons, The principles of science. London 1892. p. 627. 
8) Maxwell, Transact. of the Cambridge Philos. Soc. Vol. X, p. 27. 
1855. (Ostwalds Klassiker Nr. 69.) 
♦) Hoppe, Die Analogie. Berlin 1873. 
Die Ähnlichkeit und die Analogie als Leitmotiv der Forschung. 221 
hält den Begriff „Analogie^' für ganz überflüssig, indem es bei 
derselben, wie bei der Ähnlichkeit überhaupt, nur auf begriffliche 
Übereinstimmung, Übereinstimmung in gewissen Merkmalen der 
in Analogie gesetzten Objekte ankomme. Es ist dies letztere 
richtig, doch hat man guten Grund die Analogie als einen be- 
sonderen Fall der Ähnlichkeit von dem allgemeineren Begriff zu 
unterscheiden. Insbesondere der Naturforscher, der durch Be- 
achtung von Analogien sehr gefördert wird, fühlt sich hierzu 
gedrängt. Es liegt übrigens die Bemerkung nahe, daß auch Ob- 
jekte, deren Ähnlichkeit der sinnlichen Beobachtung unmittelbar 
auffällt, Analogie, Beziehungsgleichheit zwischen den Merkmalen 
des einen Objektes untereinander und jenen des anderen unter- 
einander darbieten können, welche als selbstverständlich oft un- 
beachtet bleiben. 
2. Die sinnlich beobachtete Ähnlichkeit bedingt schon un- 
bewußt und unwillkürlich ein ähnliches Verhalten, ähnliche moto- 
rische Reaktionen gegenüber den ähnlichen Objekten. Beim Er- 
wachen des Intellekts wird sich auch dieser den ähnlichen Objekten 
gegenüber ähnlich verhalten, wie dies Stern ^) bezüglich des 
volkstümlichen Denkens ausführlich dargelegt hat. Übrigens ent- 
halten die Schriften von Tylor*) hierfür schon reichliche Belege. 
Wenn nun das begriffliche Denken erstarkt, so wird auch das 
absichtliche zielbewußte Streben, sich von einer praktischen oder 
intellektuellen Unbehaglichkeit zu befreien, ebenfalls durch Ähn- 
lichkeiten, und bald auch durch tiefer liegende Analogien, ge- 
leitet sein. 
3. In einer älteren Schrift^) habe ich die Analogie definiert als 
eine Beziehung von Begriffssystemen^ in welcher sowohl die Ver- 
schiedenheit je zweier homologer Begriffe als auch die Über- 
einstimmung in den logischen Verhältnissen je zweier homologer 
Begriffspaare zum klaren Bewußtsein kommt. Es scheint, daß 
zuerst im Gebiete der Mathematik, wo allerdings die Sache am 
einfachsten liegt, die klärende, vereinfachende, heuristische 
Funktion der Analogie sich deutlich geoffenbart hat. Wenigstens 
bezieht Aristoteles die Analogie, wo er von derselben spricht, 
') W. Stern, Die Analogie im volkstümlichen Denken. Berlin 1893. 
") Tylor, Die Anfänge der Kultur. Deutsch. Leipzig 1873. 
3) Populär-wissenschaftliche Vorlesungen. 3. Aufl. 1903. S. 277. 
222 ^'^ Ähnlichkeit und die Analogie als Leitmotiv der Forschung. 
auf quantitative (proportionale) Verhältnisse. Einfachere Ana- 
logien mußten schon den antiken Forschern auffallen. So nennt 
Euklid (im 7. Buch seiner Elemente Definition 16) das Produkt 
zweier Zahlen „Fläche" und die Faktoren „Seiten", ebenso (De- 
finition 17) ein Produkt aus drei Faktoren „Körper" und die Fak- 
toren selbst „Seiten", ein Produkt aus zwei, bezw. drei gleichen 
Faktoren (Definition 18, 19) Quadrat und Würfel.^) Wo Piaton 
Geometrisches berührt, bedient er sich einer ähnlichen Redeweise. 
Die Erfindung der Algebra beruht auf dem Erschauen der Ana- 
logie der Rechnungsoperationen bei aller Verschiedenheit der in 
Betracht kommenden Zahlen. Sie erledigt das begrifflich Gleiche 
daran auf einmal und ein für allemal. Wo Größen in ana- 
loger Weise in eine Rechnung eingehen, erhält man, wenn nur 
eine berechnet ist, die übrigen durch eine einfache Vertauschung 
der Zeichen nach der Analogie. Die Descartessche Geometrie 
benützt in ausgiebiger Weise die Analogie zwischen Algebra 
und Geometrie, die Graßmannsche Mechanik (Ausdehnungs- 
lehre) jene zwischen Linien und Kräften, zwischen Flächen und 
Momenten u. s. w. Jede physikalische Anwendung der Mathe- 
matik beruht auf der Beachtung der Analogie zwischen Natur- 
tatsachen und Rechnungsoperationen. 
4. Den hohen Wert der Analogie für die Erkenntnis hat sich 
schon Kepler^) zum klaren Bewußtsein gebracht. Indem er die 
Kegelschnitte mit Rücksicht auf ihre optischen Eigenschaften be- 
handelt, sagt er: „Focus igitur in circulo unus est A^ isque idem 
qui et centrum: in ellipsi foci duo sunt Ä, B, aequaliter a centro 
figurae remoti et plus in acutiore. In parabola unus D est intra 
sectionem, alter vel extra vel intra sectionem in axe fingendus 
est infinito intervallo a priore remotus, adeo ut educta HG vel 
IG ex illo caeco foco in quodcunque punctum sectionis G sit 
axi parallelos. In hyperbola focus externus F interno E tanto 
est propior, quanto est hpperbole obtusior. Et qui externus est 
alteri sectionum oppositarum, is alteri est internus et contra." 
„Sequitur ergo per analogiam, ut in recta linea uterque focus 
(ita loquimur de recta, sine usu, tantum ad analogiam complen- 
*) Euklids Elemente. Ausgabe von J. F. Lorenz. Halle 1798. 
^) Kepler, Opera, edidlt Frisch. Vol. II, p. 186. — Die dem Zitat ent- 
sprechenden Figuren sind als selbstverständlich weggelassen. 
Die Ähnlichkeit und die Analogie als Leitmotiv der Forschung. 223 
dam) coincidat in ipsam rectam: sitque unus ut in circulo. In 
circulo igitur focus in ipso centro est^ longissime recedens a 
circumferentia proxima, in ellipsi jam minus recedit, et in para- 
bola multo minus, tandem in recta focus minimum ab ipsa re- 
cedit, hoc est, in ipsam incidit. Sic itaque in terminis, circulo 
et recta, coeunt foci, illic longissime distat, hie plane incidit focus 
in lineam. In media parabole infinito intervallo distant, in ellipsi 
et hpperbole lateralibus bini actu foci spatio dimenso distant; in 
ellipsi alter etiam intra est, in hpperbole alter extra. Undique 
sunt rationes oppositae." . . . 
„Oportet enim nobis servire voces geometricas analogiae; 
plurimum namque amo analogias fidelissimos meos magistroSy 
omnium naturae arcanorum conscios: in geometria praecipue 
suspiciendos, dum infinitos casus interjectos intra saa extrema 
mediumque quantumvis absurdis locutionibus concludunf, totam- 
que rei alicujus essentiam luculenter ponunt oh oculos" 
5. Mit diesen klassischen Worten betont Kepler nicht nur 
den Wert der Analogie^ sondern mit Recht auch das Prinzip der 
Kontinuität^ welches ihn allein zu dem Grade der Abstraktion 
leiten konnte, der die Erfassung so tiefliegender Analogien er- 
möglichte. Aus der Werkstätte der antiken Forschung wissen 
wir ja sehr wenig. Es sind kaum die wichtigsten Ergebnisse 
der Forschung uns überliefert worden. Die Form der Darstellung 
ist aber, wie das drastische Beispiel Euklids lehrt, oft ganz 
dazu angetan, die Forschungswege zu verdecken. Leider ist ent- 
gegen dem Interesse der Wissenschaft und im Interesse einer 
falsch bewerteten Strenge das antike Beispiel in neuerer Zeit 
noch oft nachgeahmt worden. Am vollständigsten und strengsten 
ist jedoch ein Gedanke begründet, wenn alle Motive und Wege, 
welche zu demselben geleitet und ihn befestigt haben, klar dar- 
gelegt sind. Von dieser Begründung ist die logische Verknüpfung 
mit älteren, geläufigeren, unangefochtenen Gedanken doch eben 
nur ein Teil. Ein Gedanke, dessen Entstehungsmotive ganz 
klargelegt sind, ist für alle Zeiten unverlierbar, so lange letztere 
gelten, und kann andererseits sofort aufgegeben werden, sobald 
diese Motive als hinfällig erkannt werden. 
6. Der Verkehr mit den Klassikern der Periode des Wieder- 
auflebens der Naturforschung gewährt eben dadurch einen so 
224 I^i^ Ähnlichkeit und die Analogie als Leitmotiv der Forschung. 
unvergleichlichen Genuß und eine so ausgiebige, nachhaltige, 
unersetzliche Belehrung, daß diese großen, naiven Menschen ohne 
jede zunftmäßige gelehrte Geheimtuerei in der liebenswürdigen 
Freude des Suchens und Findens alles mitteilen, was und wie 
es ihnen klar geworden ist. So lernen wir bei Kopernikus, 
Stevin, Galilei, Gilbert, Kepler die Leitmotive der For- 
schung ohne allen Pomp an Beispielen der größten Forschungs- 
erfolge kennen. Die Methoden des phipsischen und des Gedanken- 
experiments, ^) der Analogie, das Prinzip der Simplizität und 
Kontinuität u. s. w. werden uns in der einfachsten Weise vertraut. 
7. Außer diesem kosmopolitischen Zuge von Offenheit zeichnet 
sich die Wissenschaft jener Zeit noch durch einen ungewöhn- 
lichen Aufschwung der Abstraktion aus. Aus Einzelerkenntnissen 
wächst die Wissenschaft hervor, und am einzelnen bleibt auch 
die antike Forschung meist haften. Wer aber einen reichen 
Besitz schon als Erbschaft übernimmt, befindet sich in günstigerer 
Lage. Er kann über die ihm schon vertraut und geläufig 
gewordenen einzelnen Erkenntnisschätze den vergleichenden 
Blick oft, in verschiedener Ordnung, und in rascher Folge führen. 
Hierbei entdeckt er in weit Abliegendem noch Gemeinsames, wo 
dies dem Finder oder Neuling noch vor dem Verschiedenen zu- 
rücktrat. Namentlich eine Änderung der betrachteten Objekte, 
welche kontinuierlich oder doch in kleinen Stufen stattfindet, 
macht die Verwandtschaft weit abstehender Glieder einer Reihe 
fühlbar und bringt zum Bewußtsein, was trotz aller Änderung 
gleich geblieben ist. So kann ein sich schneidendes Geradenpaar 
als Hyperbel, eine Gerade als zwei zusammenfallende Hpperbel- 
äste, eine begrenzte Gerade als Ellipse erscheinen u. s. w. Pa- 
rallele und sich schneidende Gerade unterscheiden sich für 
Kepler nur mehr durch die Größe der Entfernung des Durch- 
schnittspunktes. Für seinen jüngeren Zeitgenossen Desargues^) 
ist die Gerade ein Kreis von unendlich fernem Mittelpunkt, die 
Tangente eine Sekante von zusammenfallenden Schnittpunkten, die 
Asymptote eine Tangente an einen unendlich fernen Punkt u. s. w. 
Alle diese für uns schon selbstverständlichen Schritte bereiteten 
^) Vgl. S. 183 u. F. 
2) Oeuvres de Desargues. Ed. Poudra. Paris 1864. 
Die Ähnlichkeit und die Analogie als Leitmotiv der Forschung. 225 
dem antiken Geometer noch unüberwindliche Schwierigkeiten. 
Mit der unter Leitung des Kontinuitätsprinzips erreichten Höhe 
der Abstraktion steigt natürlich die Fähigkeit zur Erfassung von 
Analogien. Analogien kontinuierlicher Größenänderungen zu an- 
schaulicheren Verhältnissen der Geometrie führen zur Entwick- 
lung der Infinitesimalrechnung sowohl in der Newtonschen als 
auch in der Leibnizschen Form. Die Vergleichung der alge- 
braischen Zeichensprache mit der Vulgärsprache erweckt Leibniz 
den Gedanken einer allgemeinen Charakteristik oder Begriffs- 
schrift und leitet ihn zu logischen Entdeckungen, welche eben 
erst wieder neues Leben gewinnen.^) Die hohe Abstraktion, die 
sich Lagrange angeeignet hat, ermöglicht ihm, die Analogie 
zwischen den kleinen Änderungen durch Zuwüchse der unab- 
hängig Variablen und den kleinen Änderungen durch Variation 
der Funktionsform zu erschauen. So entsteht die wunderbare 
Schöpfung der Variationsrechnung. 
8. Wenn ein Objekt der Betrachtung M die Merkmale ß, b, c^ 
d^ e aufweist und ein anderes Objekt A'' mit ersterem in den 
Merkmalen ö, b, c übereinstimmt, so ist man sehr geneigt, zu er- 
warten, daß das letztere auch die Merkmale ^, e aufweisen, mit 
M auch in diesen übereinstimmen werde. Diese Erwartung ist 
logisch nicht berechtigt. Denn das logische Verfahren verbürgt 
nur die Übereinstimmung mit dem einmal Festgesetzten, das Bei- 
behalten desselben, schließt den Widerspruch gegen dieses aus. 
Unsere Neigung, unsere Erwartung ist aber in unserer psycho- 
logisch-physiologischen Organisation begründet. Schlüsse nach 
Ähnlichkeit und Analogie sind genau genommen kein Gegenstand 
der Logik, wenigstens nicht der formalen Logik, sondern nur der 
Psychologie. Wenn in dem obigen Falle ö, b, Cy d, e unmittel- 
bar wahrnehmbare Merkmale sind, so sprechen wir von Ähnlich- 
keit, bedeuten aber a, b, c, d, e begriffliche Beziehungen der 
Objektmerkmale von M zueinander, und ebenso in Bezug auf 
das Objekt A^, so entspricht die Bezeichnung Analogie besser 
dem Sprachgebrauch. Ist uns das Objekt mit der Kombination 
seiner Merkmale a, b, c, d, e geläufig, so wird bei Betrachtung 
von N neben den Merkmalen a, b, c auch d, e durch Association in 
^) Vgl. Couturat, La logique de Leibniz. Paris, 1901. 
Mach, Erkenntnis und Irrtum. 15 
226 -ö/e Ähnlichkeit und die Analogie als Leitmotiv der Forschung. 
Erinnerung gebracht, womit bei Gleichgültigkeit der Merkmale 
d, e der Prozeß abgeschlossen ist. Anders ist es, sobald d, e 
wegen ihrer nützlichen oder schädlichen Eigenschaft ein starkes 
biologisches Interesse, oder für einen technischen oder rein 
wissenschaftlich -intellektuellen Zweck einen besonderen Wert 
haben. Dann fühlen wir uns gedrängt nach d, e zu suchen; 
wir erwarten mit gespannter Aufmerksamkeit die Entscheidung. 
Diese erfolgt entweder durch einfache sinnliche Beobachtung, 
oder durch kompliziertere technische oder wissenschaftlich-be- 
griffliche Reaktionen. Wie nun auch die Entscheidung erfolgen 
mag, ob wir die Merkmale d, e an dem Objekt A'' in Überein- 
stimmung mit M finden oder nicht, in beiden Fällen hat sich 
unsere Kenntnis des Objektes erweitert, indem sich eine neue 
Übereinstimmung oder ein neuer Unterschied gegen M ergeben 
hat. Beide Fälle sind gleich wichtig, beide schließen eine Ent- 
deckung ein. Der Fall der Übereinstimmung hat aber außerdem 
noch die Bedeutung einer ökonomischen Ausdehnung einer 
gleichförmigen Auffassung auf ein größeres Gebiet, weshalb wir 
solche Fälle mit Vorliebe suchen. Das eben Gesagte enthält 
also die einfache biologische und erkenntnis- theoretische Be- 
gründung der Wertschätzung des Schlusses nach Ähnlichkeit und 
Analogie. 
9. Das Leitmotiv der Ähnlichkeit und Analogie erweist sich in 
mehrfacher Hinsicht als treibend und fruchtbar für die Erweiterung 
der Erkenntnis. Ein noch wenig geläufiges Tatsachengebiet A^ 
offenbare in irgend einer Weise seine Analogie zu einem uns 
geläufigeren, der unmittelbaren Anschauung zugänglicheren Ge- 
biet M. Sofort fühlen wir uns angetrieben in Gedanken, durch 
Beobachtung und Experiment zu den bekannten Merkmalen oder 
Beziehungen der Merkmale von M die Homologen von A^ auf- 
zusuchen. Unter diesen Homologen werden sich im allgemeinen 
bislang unbekannte Tatsachen des Gebietes N finden, die wir 
auf diese Weise entdecken. Trifft aber unsere Erwartung auch 
nicht zu, finden wir unvermutete Unterschiede von N gegen M, 
so hat sich unser Trieb doch nicht vergebens betätigt. Wir 
haben das Tatsachengebiet N genauer kennen gelernt, unsere 
begriffliche Kenntnis desselben hat sich bereichert. Die Ope- 
ration mit Hypothesen wird durch den Reiz der Ähnlichkeit und 
Die Ähnlichkeit und die Analogie als Leitmotiv der Forschung. 227 
Analogie eingeleitet. Die Hypothese belebt die Anschauung, die 
Phantasie, und erregt durch diese die physische Reaktionstätig- 
keit. Die Funktion der Hypothese ist sonst teils eine sich selbst 
befestigende, verschärfende, teils eine sich selbst zerstörende, 
jedenfalls aber eine kenntniserweiternde. ^) 
10. Mehrere gleich gut bekannte Gebiete M, N, 0, P können 
ebenfalls in Analogie zueinander treten, entweder paarweise oder 
mehrere zugleich. Selbstverständlich zeigen diese Tatsachengebiete 
außer den Übereinstimmungen auch Unterschiede, da sie ja sonst 
identisch wären. Daraus geht hervor, daß man beim Analogi- 
sieren bald das eine, bald das andere bevorzugen, bald von dem 
einen, bald von dem andern ausgehen kann, wobei verschiedene 
Analogien hervortreten und ihre Berechtigung geltend machen. 
Es ist klar, daß bei diesem Prozeß sich herausstellen muß, was 
an unseren Auffassungen zufällig und willkürlich ist, und welche 
Auffassungen sich in homogener Weise auf das weiteste Gebiet 
anwenden lassen, welche also dem Ideal der Wissenschaft am 
besten entsprechen. 
11. An Beispielen für die Bedeutung der Analogie fehlt es nicht. 
Dieselbe kann in der Naturwissenschaft kaum überschätzt werden. 
Schon in der antiken Zeit haben die unmittelbar sichtbaren Wasser- 
wellen den Vorgang der Schallfortpflanzung erläutert und ver- 
ständlich gemacht.^) Die Vorstellungen über die Lichtfortpflanzung 
haben sich jenen über die Schallbewegung nachgebildet.^) Die 
Entdeckung der Jupitertrabanten durch Galilei hat das Koper- 
nikanische System mächtiger als alle anderen Argumente durch 
die Analogie gestützt. Das Jupitersystem stellt ein verkleinertes 
Modell des Planetensystems dar. Wir sehen, wie sehr Huygens 
diese Stütze zu schätzen wußte. 
12. Die Drehung der Polarisationsebene des Lichtes durch 
den elektrischen Strom, welche Faraday im Jahre 1845 nach- 
zuweisen glückte, ist eines der merkwürdigsten Beispiele einer 
großen Entdeckung unter Leitung der Analogie. J. F. W. Herschel 
hatte diese Beziehung zwischen Licht und Elektrizität schon 
^) Mach, Bemerkungen über die historische Entwicklung der Optik. 
Poskes Zeitschrift f. physik. u. ehem. Unterricht. XI. (1898.) 
^) Vitruvius, De architectura. V. Cap. III, 6. 
8) Huygens, Traite de la lumiere. Leiden, 1690. 
15* 
228 -ö^^ Ähnlichkeit und die Analogie als Leitmotiv der Forschung. 
zwanzig Jahre vorher vermutet, und war bei seinen Experimenten, 
wenngleich dieselben wegen Anwendung zu geringer Kräfte 
negativ ausfielen, von einem richtigen Gedanken geleitet. Wir 
wissen dies aus einem Brief Herschels^) an Faradap vom 
9. November 1845. Herschel erhielt durch die Drehung der 
Polarisationsebene des Lichtes beim Fortschreiten des Strahles 
in gewissen starren und flüssigen Medien den Eindruck einer 
Schraube. Er suchte nun nach einer Schraubenstruktur (heli- 
coidal dissymmetry) im Quarz. In der Tat äußert sich dieselbe bei 
diesem stark drehenden Körper in den plagiedrischen Flächen, 
obgleich die Quarzkristalle sonst den Eindruck der Symmetrie 
machen. Die optische helikoidale Dissymmetrie ist also an eine 
ebensolche Dissymmetrie des Mediums gebunden. Faßt man nun 
einen geradlinigen elektrischen Strom ins Auge, der den Nordpol 
der Magnetnadel, wo dieselbe auch in seiner Nähe sich befinden 
mag, stets zur Linken des Ampere sehen Schwimmers ablenkt, 
stets links herumtreibt, so erkennt man die helikoidale Dissym- 
metrie des magnetischen Stromfeldes. Herschel erwartete also, 
daß ein magnetisches Stromfeld das polarisierte Licht ähnlich be- 
einflussen würde, wie der Quarz. Seiner Vermutung entsprechend 
ließ er einmal einen Strahl durch die Achse einer durchströmten 
Drahtspule, ein anderes Mal zwischen zwei entgegengesetzt 
durchströmten parallelen Drähten längs der Länge derselben pas- 
sieren, ohne ein positives Resultat zu erhalten. Die erstere Ver- 
suchsform entspricht bekanntlich der Faradayschen. 
13. Ein anderes Beispiel mag die Vorteile des Analogisierens 
mehrerer schon bekannter Tatsachengebiete untereinander er- 
läutern. Die Fouriersche Theorie des Wärmestroms scheint 
sich durch Beachtung der Analogie mit dem Wasserstrom ent- 
wickelt zu haben. Andererseits sind der Fouri ersehen Wärme- 
leitungstheorie andere Theorien, wie jene des elektrischen und 
des Diffusionsstroms nachgebildet worden. Unabhängig von 
diesen, und neben diesen, hat sich eine konforme Theorie der 
Fernkräfte, eine Attraktionstheorie entwickelt. Wenn man nun 
diese verschiedenen, große Tatsachengebiete zusammenfassend 
darstellenden Theorien vergleicht, so ergeben sich mannigfache 
») Bence Jones, The life of Faradap. Vol. II, p. 205. London 1870. 
Die Ähnlichkeit und die Analogie als Leitmotiv der Forschung. 229 
Analogien. W. Thomson^) (Lord Kelvin) hat zunächst die 
Wärmeleitungstheorie mit der Attraktionstheorie verglichen und 
gefunden, daß die Formeln des ersteren Gebietes in jene des 
letzteren übergehen, wenn man an die Stelle des Begriffes 
Temperatur den Begriff Potential und an die Stelle des Begriffes 
Temperaturgefälle den Begriff Kraft einsetzt. Diese nahe Ver- 
wandtschaft ist sehr auffallend, wenn man bedenkt, daß die 
Grundvorstellungen, von welchen man in beiden Gebieten aus- 
geht, gänzlich verschieden zu sein scheinen, indem man die 
Wärmeleitung auf Nahe Wirkungen (Berührungswirkungen), die 
Attraktion auf Fernwirkungen zurückführt. Diese Gedanken haben 
wohl auf Maxwell sehr anregend gewirkt. Er erkannte auf 
diesem Wege die Gleichberechtigung der Far ad aj> sehen Nahe- 
wirkungstheorie der Elektrizität und des Magnetismus mit der 
bis dahin von den mathematischen Phj>sikern allein anerkannten 
Fernwirkungstheorie, und wandte schließlich den großen Vor- 
zügen der ersteren die Aufmerksamkeit zu. ^) Eine andere große 
Leistung dieser Art, die Erkenntnis der Analogie zwischen 
den Gleichungen der Lichtbewegung und jenen der elektrischen 
Schwingungen, die Begründung der elektromagnetischen Licht- 
theorie durch Max welP) und die sich anschließende Eröffnung 
eines neuen Feldes der experimentellen Forschung durch Hertz '^) 
ist so bekannt, daß die bloße Erwähnung genügt. 
14. Maxwell^) hat die Benützung der Analogie mit Be- 
wußtsein zu einer sehr geklärten physikalischen Methode ent- 
wickelt. Maxwell findet, daß wir die Erscheinungen zu sehr 
1) W. Thomson, Cambridge mathemat. Journal. III, February 1842. 
') Maxwell, A Treatise on Electricity and Magnetism. Vol. I, p. 99. 
Oxford 1873. 
8) Maxwell, Dynamical Theory of the electromagn. field. London Phil. 
Trans. 1865. 
*) Hertz, Untersuchungen über die Ausbreitung der elektrischen Kraft. 
Leipzig 1892. 
^) Maxwell, Transact. of the Cambridge Phil. Societp. Vol. X, p. 27, 
1855. — Als ich selbst in der Prager Zeitschr. „Lotos" (Februarnummer 1871) 
und in „Erhaltung der Arbeit" (Prag 1872) diese Analogien in ähnlichem Sinne 
erörterte, waren mir Thomsons und Maxwells Arbeiten noch unbekannt 
und unzugänglich. S. Carnot scheint als der erste diese Denkweise mit 
Bewußtsein benützt zu haben. 
230 ^^^ Ähnlichkeit und die Analogie als Leitmotiv der Forschung. 
„aus den Augen verlieren", wenn wir die Ergebnisse der Unter- 
suchung nur in mathematischen Formeln darstellen. Wenn wir 
aber eine Hypothese benützen, sehen wir „wie durch eine ge- 
färbte Brille", und die Erklärung von einem einseitigen Stand- 
punkt aus macht uns „gegen die Tatsachen blind". Maxwell 
findet in den Erscheinungen des Gleichgewichtes der Elektrizität, 
des Magnetismus, der Strömung der Elektrizität u. s. w. gemein- 
same Züge, die sämtlich an die Strömungserscheinungen einer 
Flüssigkeit erinnern. Um die Analogie ganz vollständig zu 
machen, wird jene Flüssigkeit von Maxwell idealisiert. Die- 
selbe wird ohne Trägheit (masselos), inkompressibel vorausgesetzt, 
und durch ein widerstehendes Medium strömend angenommen, 
dessen Widerstand der Stromgeschwindigkeit proportional ge- 
setzt wird. Es wird also ein imaginäres, analogisierendes, aber 
darum nicht minder anschauliches Bild angewendet. Man hält 
es nicht für etwas Wirkliches, und weiß genau, worin dasselbe 
mit dem Darzustellenden begrifflich übereinstimmt. Der Druck 
der Flüssigkeit entspricht den verschiedenen Potentialen, die 
Stromrichtung den Kraft- und Stromrichtungen, das Druckgefälle 
den Kräften u. s. w. Maxwell gelingt es auf diese Weise in 
seinen Darstellungen, ohne die Anschaulichkeit aufzugeben, die 
Unbefangenheit und die begriffliche Reinheit zu wahren. Er 
vereinigt die Vorteile der Hypothese mit jenen der mathema- 
tischen Formel.^) Das Bild, welches er noch anwendet, ist, um 
einen modifizierten Ausdruck von Hertz zu gebrauchen, ein 
solches, dessen psychische Folgen wieder Bilder der Folgen der 
Tatsachen sind. Maxwell nähert sich sehr einer idealen Methode 
der Naturforschung. Daher seine ungewöhnlichen Erfolge! 
15. Es sei zum Schlüsse nochmals hervorgehoben, daß 
nicht nur die Verfolgung von vollständigen Analogien, welche 
zur Erkenntnis neuer Übereinstimmungen führen, sondern auch die 
Beachtung unvollständiger Analogien, welche die Unterschiede 
der verglichenen Tatsachengebiete enthüllen, der Forschung sehr 
förderlich sein kann. So wäre eine Energielehre bei bloßer 
Beachtung der Konformität der Energien auf Kenntnis des ersten 
*) Vgl. Machs oben erwähnten Artikel in Zeitschr. f. phpsik. u. ehem. 
Unterricht. X. (1897.) 
Die Ähnlichkeit und die Analogie als Leitmotiv der Forschung. 231 
Hauptsatzes der Thermodynamik beschränkt geblieben, während 
gerade die Beachtung der Unterschiede zur wichtigen Kenntnis 
der Dissipation der Energie geleitet hat.^) Ein sehr lehrreiches 
und historisch wichtiges Beispiel des vorzeitigen Fallenlassens 
einer fruchtbaren Analogie bietet ein Forscher wie Newton. 
Die 28. Frage der Optik beschäftigt sich mit der Descart es- 
schen Drucktheorie und mit der Huj>gens sehen Wellentheorie 
des Lichtes.^) Nachdem Newton die erstere abgewiesen hat, 
spricht er sich auch gegen die zweite aus. Denn er vermißt 
beim Licht die Beugung in den Schattenraum. Zwar weiß er, 
daß Wasserwellen stärker gebeugt werden als Schallwellen, allein 
da er nur Versuche angestellt hat, bei welchen ihm die noch 
geringere Beugung des Lichtes in den Schattenraum leicht ent- 
gehen konnte, und nur die entgegengesetzte bemerkt wurde, 
zieht er es vor, die letztere auf eine ablenkende von dem ge- 
streiften Körper ausgehende Kraft zurückzuführen. Diese einmal 
gefaßte Stellung verschließt ihm auch das Verständnis der Huy- 
gensschen Arbeiten. Er bleibt bei seiner Projektiltheorie. Er 
erklärt alles „ex congenitis et immutabilibus radiorum proprie- 
tatibus"; das sei ohnehin noch schwierig genug. 
1) Vgl. Mach, Prinzipien der Wärmelehre. 2. Aufl. 1900. 
2) Optice. Ed. Clarke. Londini 1719. p. 366. 
Die Hypothese. 
1. Isolierte Tatsachen gibt es nur infolge der Beschränktheit 
unserer Sinne und unserer intellektuellen Mittel. Instinktiv und 
unwillkürlich spinnen die Gedanken eine Beobachtung fort, in- 
dem sie die Tatsache in Bezug auf ihre Teile, oder ihre Folgen, 
oder ihre Bedingungen ergänzen. Der Jäger findet eine Feder, 
und seine Phantasie führt ihm sofort das Bild des ganzen 
Vogels, des Nußhähers vor, der dieselbe verloren hat. Eine 
Meeresströmung führt fremdartige Pflanzen, Tierleichen, kunstvoll 
geschnitzte Hölzer herbei, und vor Kolumbus zeigt sich das 
ferne noch unbekannte Land, dem jene Dinge entstammen. 
Herodot (II, 19 — 27) beobachtet die regelmäßigen Nilüber- 
schwemmungen und bildet sich die sonderbarsten Vorstellungen 
über die Vorgänge, mit welchen dieselben zusammenhängen 
möchten. Selbst den höher entwickelten Tieren ist ein solches 
Fortspinnen der beobachteten Tatsache in den Vorstellungen 
ganz geläufig, wenn auch in höchst primitiver Form. Die 
Katze, welche ihr Spiegelbild hinter dem Spiegel sucht, hat, 
wenn auch instinktiv und unbewußt, eine Hypothese über dessen 
Körperlichkeit gemacht, und geht eben daran, dieselbe auf die 
Probe zu stellen. Hiermit ist aber für sie der Prozeß zu Ende, 
während der Mensch im analogen Falle gerade erst hier zu 
staunen und zu denken beginnt. 
2. In der Tat ist die naturwissenschaftliche Hippothesen- 
bildung nur eine weitere Entwicklungsstufe des instinktiven 
primitiven Denkens, und wir können zwischen diesem und jener 
alle Übergänge aufweisen.^) In einem sehr gut bekannten Tat- 
sachengebiete werden auch nur sehr geläufige naheliegende 
*) Vgl. Populär-wissenschaftliche Vorlesungen. 3. Aufl. S. 256. 
Die Hypothese. 233 
Vermutungen auftreten, welchen man die Hypothesennatur kaum 
anmerkt, obwohl von einem qualitativen Unterschiede nicht die 
Rede sein kann. So verhält es sich in den oben angeführten 
Beispielen. Ob Kolumbus im Westen ein Land, oder Leverrier 
in einer gewissen Richtung einen störenden, dorthin ablenkenden 
Planeten vermutet, in beiden Fällen wird eine Beobachtung nur 
in ganz geläufiger Weise nach der täglichen Erfahrung des 
Beobachters durch die Vermutung ergänzt. Je mehr die Be- 
obachtungen, an die wir anknüpfen, neu, ungewöhnlich und uns 
fremd sind, desto sonderbarer, ungewöhnlicher sind auch die 
Vermutungen. Doch müssen auch die hier auftretenden Vor- 
stellungen dem Stoffe der Erfahrung entnommen sein, so wunder- 
lich dieselben auch kombiniert sein mögen. Ein Blitzschlag und 
der noch seltener auftretende Meteoritenfall erzeugt den Ge- 
danken eines geschleuderten Donnerkeils und werfender Titanen. 
Die Mammutfunde in Sibirien führten die Einwohner zu der 
Vermutung, daß man es hier mit einer riesigen in der Erde 
wühlenden Ratte (Mäusemutter, Wühlochse, Fen-schu der Chi- 
nesen) zu tun habe, welche sterbe, sobald sie an die Luft 
komme. Für Vogelklauen gehaltene Rhinoceroshörner in gold- 
reicher, unwirtlicher Gegend gaben Anlaß zur Vorstellung der 
goldbewachenden Greifen, des Vogels Roch u. s. w. In be- 
deutender Höhe gefundene Muschellager legen die Vorstellung 
der Sintflut nahe.^) 
3. Die wissenschaftlichen Ansichten knüpfen unmittelbar an 
die volkstümlichen an, von welchen sie anfänglich überhaupt 
nicht zu trennen sind, und entwickeln sich allmählich aus diesen. 
Der Himmel erscheint uns aus physiologischen Gründen als 
eine Kugel von einem bestimmten nicht einmal sehr großen 
Radius. Das ist die volkstümliche und auch die erste wissen- 
schaftliche Ansicht. Der nächtliche Anblick führt uns dazu, 
dieser Kugel eine Drehung zuzuschreiben, und die Sterne an. 
derselben für befestigt und vor dem Fallen geschützt zu halten. 
Die ungleichen Bewegungen, die nun bei näherem Zusehen an 
den Planeten, an dem Monde und an der Sonne bemerkt werden, 
führen zur Annahme mehrerer durchsichtiger ineinander ge- 
>) Vgl. T5>lor, Urgeschichte. S. 398—403. 
234 ^^^ Hypothese. 
schachtelter Sphären mit verschiedenen Drehungen. So ent- 
wickeh sich allmählich die Epicykeltheorie, das ptolemäische, 
das antike heliozentrische und das kopernikanische System. 
Der Mond steht in einer Beziehung zur Flutwelle, das entgeht 
auch dem Volke nicht. Solange die Forscher nur mit Druck 
und Stoß als Bewegungsursachen vertraut sind, glauben sie 
an eine Luftdruckwelle, die der Mond unter sich hertreibt. Bei 
Vertrautheit mit Fernwirkungen wird der Druck durch einen Zug 
abgelöst. 
4. Die Wirkung der vorläufigen Ergänzung der Tatsache in 
Gedanken ist zunächst eine raschere Erweiterung der Erfahrung. 
Der Seemann, in dessen Phantasie durch die an die Küste ge- 
triebenen Objekte das Bild des fernen Landes mit sinnlicher 
Lebendigkeit auftaucht, sucht nach demselben. Ob er es findet 
oder nicht, ob dessen Lage und Natur seiner Vorstellung ent- 
spricht, oder nicht, ob er auch statt der vermuteten indischen 
oder chinesischen Küste eine neue findet, auf jeden Fall hat er 
seine Erfahrung erweitert. Wer Körperlichkeit des Spiegelbildes 
erwartend dieser nachgeht, ohne sie zu finden, kennt von nun 
an eine neue Art von Gesichtsobjekten, welchen zwar die 
Körperlichkeit fehlt, deren Bedingung aber das Vorhandensein 
anderer körperlicher Objekte ist. Selbst in jenen Fällen, in 
welchen die gedankliche Ergänzung keine neuen Erfahrungen 
auszulösen vermag, bringt sie doch die schon gesammelten in 
einen übersichtlichen Zusammenhang. So verhält es sich mit 
der Vorstellung über das Mammut. Daß es in der Erde ge- 
funden wird, daß sein Fleisch noch frisch ist, daß es nur tot 
gefunden wird, folgt alles aus der Vorstellung, die man sich 
über dasselbe gebildet hat. Dasselbe läßt sich an dem astro- 
nomischen Beispiel erläutern. Wenn die Ergänzung mit lebhafter 
sinnlicher Anschaulichkeit auftritt, und zugleich mit der Über- 
^ Zeugung der Auffindbarkeit des Hinzugedachten, ist sie besonders 
geeignet, die zur Erweiterung der Erfahrung nötige Tätigkeit 
hervorzurufen. Die gedankliche Ergänzung ist eine Gedanken- 
erfahrung^ welche zur Erprobung durch die physische Erfah- 
rung antreibt. 
5. Wenn wir nun die naturwissenschaftliche Hypothese näher 
ins Auge fassen, so sehen wir zunächst, daß alles, was durch 
Die Hypothese. 235 
die Beobachtung noch nicht unmittelbar festgestellt werden 
konnte, Gegenstand einer gedanklichen Ergänzung, Vermutung, 
Annahme, Voraussetzung oder Hypothese sein kann. Wir können 
nicht direkt beobachtete Teile der Tatsache als vorhanden an- 
nehmen; der Geologe und Paläontologe wird sehr häufig in die 
Lage kommen, dies zu tun. Es können über die Folgen einer 
Tatsache Annahmen gemacht werden, wenn dieselben nicht un- 
mittelbar eintreten, oder nicht direkt beobachtet sind. Die Formen 
der Gesetze einer Tatsache sind oft Gegenstand einer Annahme, 
da ja eigentlich nur unendlich viele Beobachtungen mit Aus- 
schluß aller störenden Umstände das Gesetz liefern könnten. 
Die Annahmen aber, die man vorzugsweise als Hypothesen be- 
zeichnet, beziehen sich auf die Bedingungen einer Tatsache, 
welche dieselben verständlich machen, es sind die Erklärungs- 
hypothesen. Diese wollen wir jetzt ausschließlich betrachten. 
„Hypothesis'^ heißt, altem Gebrauch entsprechend, die Summe 
der Bedingungen, unter welchen ein mathematischer Satz, die 
Thesis gilt, und aus der Hypothesis abgeleitet, d. h. demonstriert, 
bewiesen werden kann. Hier ist die „Hypothesis" das Gegebene, 
welches zudem an gar keine andere Bedingung, als die mathe- 
matische und logische Möglichkeit, gebunden ist; die Thesis ist 
das Erschlossene. In der Naturwissenschaft haben wir um- 
gekehrt von der gegebenen sicheren Tatsache auszugehen, den 
regressiven, analytischen, unbestimmten Schluß auf die Be- 
dingungen auszuführen. Viele Möglichkeiten bieten sich in 
diesem Falle dar, und dieselben sind desto zahlreicher, je un- 
vollständiger noch die Erfahrung ist, die in diesem Gebiet noch 
neben der Logik viel mehr mitzusprechen hat, als in der Mathe- 
matik. Eine vorläufige versuchsweise Annahme zum Zwecke 
des leichteren Verständnisses von Tatsachen, welche aber dem 
tatsächlichen Nachweis sich noch entzieht, nennen wir eine 
Hypothese.^) Die Vorläufigkeit kann von sehr verschiedener 
^) Ich nehme hier mit einer geringen Modifikation den Ausdruck an, den 
P. Biedermann, Die Bedeutung der Hippothese, Dresden 1894, S. 10 ge- 
braucht: „Solche Voraussetzungen nun, welche um der Tatsachen willen ge- 
macht werden, aber selbst der tatsächlichen Nachweisung sich entziehen, 
nennen wir Hypothesen." In dieser vortrefflichen Abhandlung ist die nahe 
Verwandtschaft zwischen dem, was im wissenschaftlichen Denken Hypothese, 
236 ^i^ Hypothese. 
Dauer sein, einen Augenblick währen, wie in dem Beispiel des 
Spiegelbildes, oder ein Jahrhundert und ein Jahrtausend, wie im 
Fall der Emissionshppothese des Lichtes und des ptolemäischen 
Systems. Das psychologisch -logische Wesen der Hypothese 
wird hierdurch nicht geändert. 
6. Eine entschiedene Abneigung gegen Hypothesen hat 
Newton an den Tag gelegt. Seine erste philosophische oder 
Forschungsregel lautet: „An Ursachen zur Erklärung der Natur 
nicht mehr zuzulassen, als wirklich sind, und zur Erklärung der 
Erscheinungen ausreichen." ^) Sie enthält eine deutliche Mahnung, 
keine Erklärungen zu erdichten, wenn das tatsächlich Bekannte 
zum Verständnis ausreicht. In derselben Schrift findet sich 
noch eine zweite für Newtons Haltung charakteristische Stelle. 
„Rationem vero härum gravitatis proprietatum ex phaenomenis 
nondum potui deducere, et hypotheses non fingo. Quidquid 
enim ex phaenomenis non deducitur, hypothesis vocanda est, et 
hypotheses seu metaphysicae, seu physicae, seu qualitatum occul- 
tarum, seu mechanicae, in philosophia experimentali locum non 
habent. In hac philosophia propositiones deducuntur ex phae- 
nomenis, et redduntur generales per inductionem." ^) In diesem 
Zusammenhange kann das vielzitierte „hypotheses non fingo" 
zunächst, und zwar mit Recht, auf eine weitere Erklärung der 
Schwere bezogen werden. Newton hat die tatsächlich be- 
stehende verkehrt quadratische Schwerebeschleunigung nach- 
gewiesen, aus den Erscheinungen abgeleitet. Diese ist also 
keine Hypothese. Woher aber diese Eigenschaften der Schwere 
kommen, weiß er nicht, vermag es den Erscheinungen nicht 
zu entnehmen, und lehnt es ab, eine erdichtete Erklärung vor- 
zubringen. Dies geht mit voller Deutlichkeit aus den zwei 
folgenden Stellen der Briefe Newtons an Bentley hervor. 
Newton schreibt: 
im volkstümlichen Denken aber Vermutung heißt, sehr klar dargelegt. — Unter 
allen Umständen können wir von einer Ergänzung der Tatsachen in der Vor- 
stellung oder in Gedanken sprechen, geschieht dieselbe absichtlich und be- 
wußt, so ist der Ausdruck Vermutung oder Annahme passender. 
*) Philosophiae naturalis Principia mathematica. Lib. III. Regulae philo- 
sophandi. Reg. 1. 
«) Ebendaselbst. Lib. III, Sect. V. 
Die Hypothese. 2S1 
„You sometimes speak of gravitj? as essential and inherent 
to matter. Pray do not ascribe that notion to me; for the cause 
of gravity is what I do not pretend to know, and therefore 
would take more time to consider of it." (Jan. 17, 1692 — 1693.) 
„It is inconceivable, that inanimate brüte matter should, 
without the mediation of something eise, which is not material, 
operate upon, and affect other matter without mutual contact; as 
it must do, if gravitation, in the sense of Epicurus, be essential 
and inherent in it. And this is one reason, why I desired you 
would not ascribe innate gravity to me. That gravity should 
be innate, inherent and essential to matter, so that one body 
may act upon another at a distance through a vacuum, without 
the mediation of any thing eise, by and through which their 
action and force map be conveyed from one to another, is to 
me so great an absurdity, that I believe no man who has in 
philosophical matters a competent faculty of thinking, can ever 
fall into it. Gravity must be caused by an agent acting con- 
stantly according to certain laws; but whether this agent be 
material or immaterial, I have left to the consideration of my 
readers." (Febr. 25. 1692—1693.)^) 
>) Newtoni Opera. Ed. Horseley. London 1782. Tom. IV, p. 437— 438. 
In dem Briefwechsel mit Bentley handelt es sich für Newton darum, aus der 
Anordnung des "Weltsystems Beweise für das Walten einer göttlichen Weis- 
heit zu gewinnen. Der Ausdruck „inanimate brüte matter" zeigt deutlich, 
daß Newton die beseelte Materie für etwas wesentlich anderes hält, und 
ihr mehr zutraut, als der rohen toten Materie. Der Dualismus, der uns von 
unseren wilden Urvätern her so fest in den Knochen steckt, ist auch heute 
nicht überwunden. Auch W. Thomson in seiner Arbeit „on the dynamical 
theory of heat" (1852) findet es notwendig zu sagen: „It is impossible, by 
means of inanimate material agency, to derive mechanical effect from any 
portion of matter by cooling it below the temperature of the coldest of the 
surrounding objects." Und auch H. Hertz (Die Prinzipien der Mechanik 1894), 
welcher annimmt, daß die gesamte Physik mechanisch-atomistisch zu ergrün- 
den sei, hält es doch für nötig — 200 Jahre nach Newton — diese Auf- 
fassung (S. 165) ausdrücklich auf die unbelebte Natur zu beschränken. 
Boltzmann endlich behandelt (1897) die Frage „nach der oh)Qkt\vQn Existenz 
der Vorgänge in der unbelebten Natur". Ich gestehe offen, daß mir die 
„leblose" Materie nicht weniger rätselhaft scheint als die belebte, und daß 
ich die gegenteilige Auffassung für den Rest eines alten Aberglaubens halte. 
Solange man glaubt, die ganze Physik durch Mechanik erschöpfen zu können, 
und solange man die Mechanik selbst durch die bisher bekannten einfachen 
238 Die Hypothese. 
7. Newtons Forschungsweg und Stellung scheint also 
ganz klar. Er wurde zu der Annahme geführt, daß die Massen 
Fernwirkungen aufeinander ausüben, analog jener der Erde auf 
die zur selben fallenden Körper. Er nahm ferner an, daß diese 
Fernwirkung verkehrt proportional dem Quadrate der Entfernung 
sei. Als es sich aber durch die analiptische Untersuchung zeigte, 
daß durch diese Annahmen alle Bewegungen im Planetensystem 
und auf der Erde wirklich dargestellt werden, hörte diese Vor- 
stellung auf für ihn Hypothese zu sein. Sie war für Newton 
ein Ergebnis der Analyse der Erscheinungen. Er trennte dies 
scharf von der Frage, ob die Fernwirkung selbst weiter auf 
Einfacheres zurückgeführt, erklärt werden könne. Dies letztere 
allein blieb für ihn Gegenstand der Spekulation oder „Hypo- 
these". Es wäre gewiß eine schwere Schädigung des wissen- 
schaftlichen Fortschritts gewesen, diese beiden Dinge als gleich- 
wertig zu betrachten, dieselben zu konfundieren, oder die 
Annahme der Fernwirkung wegen ihrer wirklichen oder schein- 
baren Unerklärbarkeit unausgesprochen zu lassen. 
Die Auffassung aber, als ob Newtons Ablehnung von 
Hypothesen sich nur auf das Gebiet der Mechanik und Gravitation 
bezöge, ist jedoch nicht aufrecht zu halten. Denn im Gebiete 
der Optik, in welcher er selbst reichlich Hypothesen entwickelt, 
die er aber auch immer sorgfältig von dem Tatsächlichen trennt, 
und als solche bezeichnet, spricht er sich ebenfalls sehr abfällig 
über den Wert der Hypothesen aus.^) 
„Quemadmodum in mathematica, ita etiam in physica, in- 
vestigatio rerum difficilium ea methodo, quae vocatur analytica^ 
semper antecedere debet eam quae appellatur synthetica. Metho- 
dus analytica est, experimenta capere, phaenomena observare; 
indeque conclusiones generales inductione inferre, nee ex adverso 
Ullas objectiones admittere, nisi quae vel ab experimentis vel ab 
Lehren für erschöpft hält, muß das Leben wirklich als etwas hpperphpsi- 
kalisches erscheinen. Beiden Auffassungen kann ich mich aber nicht an- 
schließen. 
») Wer die Opposition Newtons gegen die Hypothesen übertrieben 
findet, wird dieselbe leichter verstehen, wenn er den Mißbrauch beachtet, 
welcher in der Descartesschen Zeit mit diesem Forschungsmittel getrieben 
wurde. 
Die Hypothese. 239 
aliis certis veritatibus desumantur. Hypotheses enim, in philosophia 
quae circa experimenta versatur, pro nihilo sunt habendae."^) 
8. Man hat sich viel Mühe gegeben, Newtons Aussprüche 
und sein Verhalten in Einklang zu bringen. Wenn dies aber 
auch nicht ganz gelingen sollte, so wäre dies nicht so schlimm. 
Auch bedeutende Menschen sprechen und schreiben zuweilen in 
Stimmungen, in welchen sie etwas mehr behaupten als sie auf- 
recht zu halten vermögen. Solche Fälle findet man bei Newton 
mehrere, bei Descartes gewiß viele. Ich glaube jedoch, daß 
Newtons Worte und sein Verhalten als Forscher sehr wohl 
verständlich sind. Wollte man das „hypotheses non fingo" ohne 
Vorbehalt nehmen, so würde es heißen: „Ich vermute nichts über 
das hinaus, was ich sehe, ich mache mir über die Beobachtung 
hinaus gar keine Gedanken." Diese Auffassung widerlegt 
Newton auf jeder Seite seiner Schriften. Er zeichnet sich 
gerade durch seinen Reichtum an Vermutungen aus. Er weiß 
auch sehr rasch durch Experimente, die unbrauchbaren, welche 
die Probe nicht bestehen, auszuscheiden. Was nicht aus den 
Erscheinungen abgeleitet werden kann, sagt er, ist eine Hypo- 
these. Demnach ist das, was aus den Erscheinungen folgt, in 
seinem Sinn keine Hypothese, sondern, wenn wir uns seine 
Denkweise aneignen, ein Ergebnis der analytischen Unter- 
suchung. Gebraucht er auch Bilder, um seine Gedanken zu 
veranschaulichen, so legt er denselben doch keinen besonderen 
Wert bei. Könnte man ihn etwa fragen, was er an seiner Vor- 
stellung der Lichtpolarisation für wesentlich halte, so würde er 
wohl sagen, die verschiedenen Seiten des Lichtstrahls, denn 
diese seien ein Ergebnis der analytischen Untersuchung^ die 
Teilchen aber mit magnetähnlichen Eigenschaften seien ein 
gleichgültiges veranschaulichendes Bild, das auch durch ein 
anderes ersetzt werden könnte. Die scharfe prinzipielle Unter- 
scheidung und sehr verschiedene Bewertung des wirklichen, 
definitiv festgestellten Wissens^ und der bloßen Vermutung^ 
bezw. der bildlichen Darstellung^ spricht sich bei Newton 
überall aus. Irrtümer im einzelnen sind dieser Tendenz gegen- 
über nicht von Belang. 
^) Newtoni Optice. Londini 1719. p. 412, 413. 
240 Di^ Hypothese. 
9. Verschiedene Autoren haben sich bemüht, die Anforde- 
rungen, welche an eine gute naturwissenschaftliche Hypothese 
gestellt werden müssen, zu präzisieren. Sehr weitläufig hat sich 
J. St. Mi 11 ^) darüber ausgesprochen. Seine Forderung, daß die 
Hypothese sich auf die Annahme einer schon als vorhanden 
bekannten Ursache für das zu Erklärende, einer wahren Ursache 
(vera causa im Newtonschen Sinne) aufbauen müsse, hat 
F. Hillebrand^) eingehend als nicht haltbar dargetan. Man 
kann Mills Grundsätze, wie Hillebrand gezeigt hat, nicht be- 
folgen, ohne doch fortwährend mit denselben in Widerspruch 
zu geraten. In der Tat würde man, mit dem Beginn der 
bewußten Forschung, nach Mills Prinzipien, die augenblickliche 
Unwissenheit in Permanenz erklären; es könnte von da an, durch 
Denken wenigstens, keine wesentlich neue Entdeckung mehr 
gemacht werden.^) Jevons, dessen Ausführungen auf den 
Naturforscher den angenehmen Eindruck der vollen Vertrautheit 
mit dem Gegenstande machen, hält es für genügend, daß eine 
Hypothese mit den Tatsachen in Übereinstimmung sei.^) Bei- 
spiele werden dies übrigens besser erläutern, als allgemeine ab- 
strakte Darlegungen. 
10. Die wesentliche Funktion einer Hypothese besteht darin, 
daß sie zu neuen Beobachtungen und Versuchen führt, wodurch 
unsere Vermutung bestätigt, widerlegt oder modifiziert, kurz die 
Erfahrung erweitert wird. Sehr gesunde Ansichten hierüber 
äußert schon Priestley in seiner Geschichte der Optik. „The 
very imperfect views and conclusions of the philosophers of 
this period exhibit an amusing and instructive prospect; as 
they demonstrate that it is by no means necessary to have just 
views, and a true hypothesis, a priori, in order to make real 
discoveries. Very lame and imperfect theories are sufficient 
to suggest useful experiments, which serve to correct those 
theories, and give birth to others more perfect. These then 
occasion farther experiments, which bring us still nearer to 
1) Min, Induktive Logik. Ed. Gomperz. 1885. II. S. 208—225. 
2) Hillebrand, Zur Lehre von der Hypothesenbildung. Sitzungsber. d. 
Wiener Akademie. Philos.-histor. Cl. Bd. 134. 1896. 
8) Vgl. auch A. Stöhr, Leitfaden d. Logik, S. 172 u. f. 
*) Jevons, The principles of science. London, 1892. S. 510. 
Die Hypothese. 241 
the truth, and in this method of approximation, we must be 
content to proceed, and we ought to think ourselves happy, 
if, in this slow method, we make anp real progress".^) Man 
kann den Gebrauch der Hypothese am besten durch ein Ver- 
fahren erläutern, welches in der Mathematik unter dem Namen 
der „regula falsi" bekannt ist. Man will eine numerische 
Gleichung x^ -f (^-^^ + bx^ -\-cx-\- d = versuchsweise auf- 
lösen, und substituiert einen gewissen Wert x^ für x^ d. h. man 
macht über diesen Wert eine bestimmte Voraussetzung. Das 
Polynom erhält dadurch den Wert + m^ statt 0. Eine andere 
Substitution x^ führt etwa zu dem Werte — m^ des Polynoms. 
Dann können wir zwischen x^ und x^ eine Wurzel der Gleichung 
suchen. Haben wir aber einen Wert x' gefunden, welcher das 
Polynom auf einen kleinen Wert [x reduziert, so können wir die 
Differenzen des x' von der Wurzel x, also (.r — x') und die 
Werte [x einander proportional setzen, und uns dadurch dem 
Werte x^ der Wurzel, beliebig annähern.^) 
11. Als Beispiel betrachten wir zunächst die Wärmestoff- 
hypothese. Dieselbe enthält eine anschauliche Vorstellung, 
welche als psychisches Phantasie-Merkmal associativ dem sinn- 
lichen Wärmemerkmal eines Körpers hinzugefügt wird. Die 
Beobachtung des Feuers, der Erwärmung eines Körpers durch 
einen anderen wärmeren, und auf Kosten des letzteren, hat die 
Stoff- oder Flüssigkeitsvorstellung in ganz naiver, natürlicher, 
unwillkürlicher Weise entwickeh. Diese Vorstellung stellt zu- 
*) Priestley, Historp and present State of discoveries relating to viston, 
light and colours. London, 1772. Vol. I, p. 181. 
*) Eine Besprechung des vorliegenden Buches durch Prof. G. Vailati 
in „Leonardo" hat mich auf drei kleine Abhandlungen von G. L. Le Sage, 
„Sur la methode d'hppothese", und zwei Supplemente über die Analogie 
und die Exklusion aufmerksam gemacht, welche P. Prevost im zweiten 
Bande seines „Essai de Philosophie", Geneve, An XIII (S. 253 — 335) abge- 
druckt hat. Le Sage erläutert den Gebrauch der Hypothese in logischer 
Beziehung in der Tat sehr gut an mathematischen Beispielen. Die psycho- 
logische Bedeutung der Hypothese scheint mir weniger gewürdigt. Für den 
Deutschen ist auch interessant die Besonnenheit in Prevosts Philosophie, 
die nie den Kontakt mit den positiven Wissenschaften verliert zu einer Zeit, 
in welcher der ungezügelte Dämon der Spekulation sich in Deutschland aller 
Lehrstühle bemächtigt. Ich verdanke Prof. Th. Flournoy in Genf die Ein- 
sicht in dieses heute schwer zu beschaffende Buch. 
Mach, Erkenntnis und Irrtum. ]6 
242 Die Hypothese. 
nächst die Tatsachen, welche sie erzeugt haben, lebhaft an- 
schaulich dar, erleichtert aber auch die Auffindung neuer: der 
Rieh mann sehen Mischungsregel, der Verschiedenheit der spe- 
zifischen Wärme, der Dampf- und Schmelzwärme, indem sie der 
Beobachtung auf halbem Wege entgegenkommt. Ganz ähnlich 
entstehen die elektrischen Fluidumsvorstellungen unter Leitung 
der Tatsachen der Mitteilung des elektrischen Zustandes, der 
Funkenbildung u. s. w. Die Vorstellung der in dem Leiter be- 
weglichen, in dem Nichtleiter festgehaltenen Flüssigkeiten, an 
welchen die Anziehungs- und Abstoßungskräfte haften, reprodu- 
ziert aber nicht nur in anschaulicher Weise die bekannten Tat- 
sachen, sondern fördert auch die Auffindung ganz neuer: der 
Ladung der Leiter an der Oberfläche, der Verteilung der Ladung 
nach der Krümmung, der Influenz, |a sogar der quantitativen 
Coulombschen Gesetze. Wie viel solche Vorstellungen als in- 
direkte Beschreibungen ^) noch bleibenden Wert haben, nachdem 
sie längst überwunden sind, und nicht mehr ernst genommen 
werden, sieht man z. B. daraus, daß man auch heute die Pro- 
duktion einer bestimmten Elektrizitätsmenge, entsprechend dem 
Farad ansehen elektrolytischen Grundgesetz, an einen pro- 
portionalen Stoffaufwand gebunden denken muß. 
12. Auch die Emissionshippothese in Bezug auf das Licht 
gehört zu der Klasse der Stoffhippothesen. Die Beobachtung 
eines Lichtstrahls, der Verdichtung und Verdünnung von Strahlen 
mit Vergrößerung und Verkleinerung der Helligkeit führt ganz 
ohne Absicht dazu, den Strahl als einen Flüssigkeit-, Staub- oder 
Projektilstrahl aufzufassen, und nur die Flüchtigkeit des Lichtes 
stellt sich dieser Auffassung gelegentlich wieder in den Weg. 
Die große Anpassungsfähigkeit der Hypothesen an die Tatsachen 
zeigt sich darin, daß die Stoffhypothese des Lichtes, welche 
uns heute als eine so ungelenkige erscheint, Malus nicht ver- 
hindert hat, das sogenannte Cosinusquadratgesetz, das Teilungs- 
gesetz des polarisierten Strahls, in zwei zueinander senkrecht 
polarisierte Komponenten zu finden. Dasselbe Gesetz, welches 
Fresnel aus der Erhaltung der lebendigen Kraft des Lichtes 
ableitete, gewann Malus höchstwahrscheinlich, indem er sich 
') Vgl. Popul.-wissensch. Vorlesungen. 3. Aufl. S. 267 u. f. 
Die Hypothese. 243 
von dem unausgesprochenen Gedanken beherrschen ließ, daß 
bei der Teilung in Komponenten die Quantität des Lichtstoffes 
unverändert bleiben müsse, was wieder nur bei Erfüllung des 
Cosinusquadratgesetzes in einfachster Weise zutrifft. Jevons') 
hat Unrecht, derartige Stoffhypothesen als bloß beschreibende 
aus den eigentlich erklärenden auszuscheiden. Jede Hypothese 
muß die Tatsache, für welche sie zunächst gemacht ist, dar- 
stellen. Dies folgt schon aus der einzigen Forderung, die 
Jevons selbst an eine Hypothese stellt. Wie weit oder wie 
wenig eine Hypothese über diese Tatsache hinausreicht, welche 
zu deren Entstehung Anlaß gegeben hat, ob sie zu vielen oder 
wenigen Entdeckungen verhilft, das hängt vom Glück ab. 
13. Bei Bildung einer Hypothese sucht man den Eigen- 
schaften einer Tatsache unter den besonderen beschränkten 
Umständen, welche die Beobachtung eben kennen gelehrt hat, 
gerecht zu werden, ohne natürlich voraus zu wissen, ob ihr 
diese Eigenschaften auch noch unter andern allgemeinern Um- 
ständen zukommen werden, ob also die Hypothese auch noch 
unter diesen Umständen passen, und wie weit sie reichen wird. 
Den Stoff, die Elemente zu den hypothetischen Vorstellungen 
können wir nur unserer derzeit bekannten sinnlichen Umgebung 
entlehnen, durch Beachtung von Fällen, welche mit den aktuellen 
eine Ähnlichkeit oder Analogie darbieten. Ähnlichkeit ist nicht 
Identität. Ähnlichkeit ist teilweise Gleichheit, teilweise Ver- 
schiedenheit. Darin liegt schon, daß eine nach der Analogie 
aufgestellte Hypothese bei Erweiterung der Erfahrung in manchen 
Fällen zutreffen, in anderen Fällen gewiß nicht zutreffen wird. 
Die Hypothese ist also schon ihrer Natur nach dazu bestimmt, 
im Laufe der Untersuchung geändert, den neuen Erfahrungen 
angepaßt, ja wieder fallen gelassen, durch eine ganz neue oder 
durch die volle Kenntnis der Tatsachen ersetzt zu werden. 
Forscher, die sich das eben Gesagte gegenwärtig halten, 
werden bei Aufstellung einer Hypothese nicht gar zu ängstlich 
sein. Etwas Mut bei dieser Gelegenheit ist im Gegenteil sehr 
förderlich. Die Huygenssche Wellenhypothese paßte durchaus 
nicht allseitig, und ihre Begründung ließ viel zu wünschen 
*) Jevons, Principles of science. S. 522 u. f. 
16* 
244 I^i^ Hypothese. 
Übrig, machte auch noch späten Nachfolgern viel zu schaffen. 
Hätte aber Huygens um dieser Schwierigkeiten willen die 
Hypothese fallen gelassen, so wäre viel Vorarbeit für Young 
und Fresnel ungetan geblieben, und diese Forscher hätten 
sich wahrscheinlich auf den ersten Anlauf beschränken müssen. 
14. Die Emissionshppothese der Optik paßt sich allmählich 
den neu zuwachsenden Erfahrungen an. Ein gleichmäßiger 
Emissionsstrom genügt Grimaldi nicht mehr. Seine Beugungs- 
streifen führen ihn zur Vorstellung eines wellenförmigen Ab- 
flusses der Lichtflüssigkeit, wahrscheinlich nach Analogie der 
Stauungswellen. Für Newton handelt es sich nicht mehr um 
einen einfachen Emissionsstrom, sondern um eine große Zahl 
sich deckender, qualitativ verschiedener Emissionsströme. In 
Newtons Hand wird die Hypothese sogar der Periodizität des 
Lichts gerecht, wenn auch in unzureichender, ungelenkiger 
Weise, und auf Grund von teilweise unrichtigen Erfahrungs- 
prämissen. Endlich tritt die Wellenhypothese offen an die Stelle 
der Emissionstheorie. Zunächst nimmt sie in der Huygens- 
schen Form keine Rücksicht auf die Periodizität und Polarisation. 
Die Hookesche führt zwar das Element der Periodizität ein, 
weiß dasselbe aber, anderer Unvollkommenheiten nicht zu ge- 
denken, in keine angemessene Beziehung zu den Farben zu 
setzen. Young und Fresnel endlich vereinigen in ihren 
Hypothesen die Vorzüge der Huygensschen und Hooke- 
schen; namentlich Fresnel weiß die Mängel beider zu 
beseitigen und neue Eigenschaften mit Rücksicht auf die Po- 
larisation hinzuzufügen. So arbeitet die Erfahrung unaus- 
gesetzt an der Umwandlung und Vervollständigung unserer 
Vorstellungen. ^) 
15. Aber auch die Vorstellungen^ welche wir uns gebildet 
*) Duhem (La Theorie physique, p. 364 u. f.) führt aus, daß Hypothesen 
vom Forscher nicht so sehr beliebig und willkürlich gewählt werden, als 
vielmehr im Laufe der historischen Entwicklung unter dem Eindruck der 
allmählich bekannt werdenden Tatsachen dem Forscher sich aufdrängen. 
Eine solche Hypothese besteht gewöhnlich aus einem ganzen Komplex von 
Vorstellungen. Ergibt sich nun, z. B. durch ein „experimentum crucis", ein 
mit einer Hypothese unverträglicher Erfolg, so kann man diesen zunächst 
nur als dem ganzen Vorstellungskomplex widersprechend ansehen. In Bezug 
auf letzteren Punkt vgl. Duhem, 1. c. p. 311 u. f. 
Die Hypothese. 245 
haben, äußern ihren Einfluß auf den Gang der Erfahrung. Die 
Gri maidischen Streifen veranlassen uns auch, dem einzelnen 
Lichtstrahl eine periodische Beschaffenheit zuzuschreiben, ob- 
gleich dieselbe an diesem nicht unmittelbar wahrgenommen 
werden kann, sondern sich nur bei Kombination von Strahlen 
unter besonders günstigen Bedingungen äußert. Dieser Ge- 
danke wird durch die Wellenhypothese sehr anschaulich und 
lebendig gestaltet. Indem wir nun die Vorstellung der Perio- 
dizität, die in einem Falle gewonnen wurde, in allen Fällen, wo 
Lichtstrahlen auftreten, festhalten, bereichern wir durch diesen 
Gedanken jede optische Tatsache. Wir denken eigentlich zu 
jedem Fall mehr hinzu als man in demselben sieht, wir be- 
reichern jeden optischen Fall um den Grimaldi sehen. Der so 
ausgestattete Physiker wird sich nun, ganz wie jeder Mensch 
mit reicherer Erfahrung im praktischen Leben, dem Einzelfall 
gegenüber anders verhalten, als es ohne diese Nebenvorstellungen 
geschehen würde. Er wird mehr und anderes erwarten, wird 
seine Versuche anders anlegen. So wird es verständlich, daß 
Fresnel, der immer die Grimaldische Erfahrung gegenwärtig 
hat, über die Beugung, die Farben dünner Blättchen, die Re- 
flexion und Polarisation anders denkt und experimentiert als 
Newton, Huygens und Malus. 
16. Außer den Elementen, welche zur Darstellung der Tat- 
sachen, aus der eine Hypothese geschöpft ist, unerläßlich sind, 
enthält dieselbe immer, oder doch gewöhnlich noch andere, die 
zu dieser Darstellung nicht notwendig sind. Denn die Hypo- 
these wird nach einer Analogie gebildet, deren Ähnlichkeits- und 
Differenzpunkte unvollständig bekannt sind, da ja sonst nichts 
mehr daran zu erforschen wäre. Die Lichtlehre spricht z. B. 
von Wellen, während nur die Periodizität zum Verständnis der 
Tatsachen notwendig ist. Diese über die Notwendigkeit hinaus- 
gehenden accessorischen Elemente sind es, welche in der Wechsel- 
wirkung von Denken und Erfahrung von der Umwandlung 
ergriffen werden. Dieselben werden allmählich ausgeschieden, 
und durch notwendige Elemente ersetzt. So bleibt von der 
Emissionsvorstellung nichts übrig, als die große Fortpflanzungs- 
geschwindigkeit vieler verschiedener Lichter von verschiedener 
Periodizität in demselben Strahl. Diese Vorstellung deckt sich 
246 ^^^ Hypothese. 
in wesentlichen Punkten mit der an ihre Stelle tretenden Wellen- 
hypothese, welche aber ihrerseits ihre accessorischen Elemente, 
die nach Analogie des Schalles gedachten longitudinalen Schwin- 
gungen, wieder fallen lassen muß. 
17. Die Vorstellungen, die wir uns auf Grund der Be- 
obachtungen gebildet haben, erregen Erwartungen, wirken aktiv 
und konstruktiv, drängen zu neuen Beobachtungen und Experi- 
menten. Die haltbaren Elemente dieser Vorstellungen werden 
dadurch gestärkt^ die unhaltbaren abgeworfen, modifiziert, 
gelegentlich auch durch neue ersetzt. Von besonderer Wichtig- 
keit sind solche Experimente, welche zur Entscheidung zwischen 
zwei die Tatsachen darstellenden Vorstellungen oder Vorstellungs- 
komplexen nötigen. Die Frage, ob die Farben durch Brechung 
entstehen, oder schon vor der Brechung vorhanden sind, und 
nur durch Verschiedenheit des Brechungsexponenten sichtbar 
werden, hat Newton durch sein experimentum crucis entschieden. 
Es ist dies der von Bacon eingeführte, von Newton angenom- 
mene Name für solche zwischen zwei Ansichten entscheidende 
Experimente. Ein wichtiges derartiges Experiment ist Fou- 
caults Versuch, durch welchen nachgewiesen wird, daß die 
Lichtgeschwindigkeit im Wasser kleiner ist als in der Luft, wo- 
durch die Emissionstheorie als unhaltbar nachgewiesen und zu 
Gunsten der Vibrationstheorie entschieden wird. Die Ent- 
deckung der Phasen der Venus durch Galilei entschied für 
das kopernikanische System, aus welchem diese Erscheinung 
notwendig folgte. In demselben Sinne wirkte die Beobachtung 
der von Hooke erwarteten Lotabweichung fallender Körper, 
sowie der Foucaultsche Pendelversuch. 
18. Eine Hypothese kann in sehr verschiedener Art und in 
sehr verschiedenem Maße problematisch sein. Zur Erklärung 
des Saugens wurde die bekannte Hypothese des horror vacui 
erdacht. Würden wir nirgends in der Welt, unter keinerlei 
Umständen ein Vakuum antreffen, so könnten wir diese Auf- 
fassung festhalten. Eine andere Hypothese führt dieselben Er- 
scheinungen auf den Druck zurück, den die Luft durch ihr 
Gewicht ausübt. Obgleich nun das Gewicht der Luft zur Zeit der 
Aufstellung dieser Erklärung bereits tatsächlich nachgewiesen war, 
so war diese Erklärung doch so lange eine Hypothese, bis 
Die Hypothese. 247 
durch das Experiment von Torricelli und die Versuche von 
Pascal, namentlich durch das Bergexperiment, auch der tat- 
sächliche Nachweis geliefert war, daß sich alle fraglichen Er- 
scheinungen ohne Rest erklären lassen, und daß daneben nach 
einer anderen Erklärung weder ein Bedürfnis besteht, noch auch 
für dieselbe Raum bleibt. Obgleich also die eine Erklärung, 
um es deutlich auszudrücken, ganz freie Erfindung ist, die 
andere aber nur mit tatsächlichen Elementen operiert, so haben 
doch beide zur Zeit ihrer Aufstellung den Charakter der Hypo- 
these. Ein anderes Beispiel ist die Erklärung kosmischer Be- 
wegungen durch die Schwere. Die Vorstellung der tatsächlich 
gegebenen Schwerebeschleunigung wird mit einer verallgemei- 
nernden Modifikation in das astronomische Gebiet eingeführt. 
Ich kann darin F. Hillebrand^) nicht beistimmen, daß in der 
Newtonschen Gravitationstheorie die Hj^pothese keine Rolle 
gespielt habe. Es ist ja richtig, in der fertigen Gravitations- 
lehre kommt alles auf zweckmäßige Beschreibung der kos- 
mischen Bewegungen durch Beschleunigungen hinaus. In diesem 
System geht auch die Beschleunigung eines Massenteilchens 
einfach ohne Rest in die irdische Schwerebeschleunigung über, 
wenn wir uns das Teilchen an der Oberfläche der Erde denken. 
Da ist also jede Hypothese überflüssig, indem sich die Erd- 
schwere als ein spezieller Fall der Gravitation ergibt. Es ist 
auch logisch denkbar, daß jemand die Kepl ersehe Bewegung 
rein phoronomisch analysiert, und darauf verfällt, sie durch Be- 
schleunigungen zu beschreiben, welche den Radien nach der 
Sonne verkehrt quadratisch proportioniert und nach denselben 
gerichtet sind. Dieser Vorgang ist aber nach meiner Meinung 
psychologisch undenkbar. Wie soll jemand ohne leitende physi- 
kalische Vorstellung gerade auf die Beschleunigungen verfallen, 
warum nicht auf die ersten oder dritten Differentialquotienten? 
Wie soll jemand unter den unendlich vielen möglichen Zer- 
legungen der Bewegung nach zwei Richtungen gerade auf 
diejenigen verfallen, welche ein so einfaches Resultat liefern? 
Ich halte schon die Analyse der parabolischen Wurfbewegung 
für sehr schwierig, ohne die leitende Vorstellung der Schwere- 
*) Hillebrand, a. a. O. 
248 ^^^ Hypothese. 
beschleunigung, die nur an einem viel einfacheren Fall gewonnen 
werden konnte, und die hier verwendet wird. 
19. Die werdende Wissenschaft bewegt sich in Vermutungen 
und Gleichnissen — das läßt sich nicht in Abrede stellen. Je 
mehr sie sich aber der Vollendung nähert, desto mehr geht sie 
in bloße direkte Beschreibung des Tatsächlichen über. Die 
Analogie einer Tatsache zu anderen hilft uns nach neuen Eigen- 
schaften suchen. Ob sich aber neue Übereinstimmungen oder 
Unterschiede gegen jene Analogie ergeben, jedenfalls gewinnt 
dabei die Erfahrung. Sowohl die beobachteten Übereinstim- 
mungen, als auch die Differenzen bedeuten ebensoviele neue 
begriffliche Bestimmungen der Eigenschaften der Tatsachen. Die 
Anknüpfung der Forscher an die Vorgänger, welche den Verlust 
bereits erworbener Erfahrung ausschließt, ist für diesen Prozeß 
ebenso wichtig, wie der Wechsel der forschenden Individuen, 
Völker und Rassen, welcher die Vielseitigkeit und Unbefangen- 
heit des Blickes verbürgt. 
20. Die Hypothese führt also in ihrer selbstzerstörenden 
Funktion endlich zum begrifflichen Ausdruck der Tatsachen. 
Erinnern wir uns, durch welche Reihe von Annahmen und Korrek- 
turen man zur Ansicht der transversalen Lichtschwingungen ge- 
langte, die anfänglich als ganz abenteuerlich und ohne Analogie 
dastehend bedenklich gefunden wurde. Doch ist die Einsicht, 
daß die periodischen Eigenschaften des Lichtstrahls sich wie geo- 
metrisch summierbare Strecken in einem zweidimensionalen Räume 
(der zur Strahlenrichtung senkrechten Ebene) verhalten, lediglich 
ein begrifflicher Ausdruck der Tatsachen. Ebenso haben sich 
die Eigenschaften des Äthers, des lichtfortpflanzenden Raumes, 
der sich teilweise wie eine Flüssigkeit, teilweise aber wieder wie 
ein starrer Körper verhält, nach und nach begrifflich bestimmt. 
Die Auffassungen, welche sich so ergeben haben, sind keine 
Hypothesen mehr, sondern Forderungen der Denkbarkeit der 
Tatsachen, Ergebnisse der analytischen Untersuchung. Wir 
können an denselben als sicher festhalten, auch wenn wir gar 
keine Analogie dafür finden, wenn wir sonst nirgends in der 
Welt transversale Schwingungen oder eine Flüssigkeit, in der 
solche möglich wären, antreffen. Hätten Young und Fresnel 
die Annahme der transversalen Wellen wegen der Schwierigkeit 
Die Hypothese. 249 
der Erklärung derselben verschwiegen, so hätte die Wissenschaft 
dadurch einen ebenso schweren Verlust erlitten, wie durch die 
Unterdrückung des Newton sehen Gravitationsgesetzes wegen 
analoger Bedenken. Wir dürfen vor ungewohnten Auffassungen, 
wenn sie auf sicheren Grundlagen ruhen, nicht zurückschrecken. 
Denn die Möglichkeit auf fundamental neue Tatsachen zu treffen 
hat nicht nur in den früheren Forschungsperioden bestanden, sie 
besteht auch jetzt noch fort und hat an keinem Tage aufgehört 
zu bestehen. In den Mi II sehen, die Hypothese beschränkenden 
Regeln spricht sich eine große Überschätzung des bereits Ge- 
fundenen gegenüber dem noch zu Erforschenden aus. 
21. Wenn wir abstrakt genug denken würden, so würden 
wir einer Tatsache nur diejenigen begrifflichen Merkmale zu- 
schreiben, welche ihr notwendig zukommen. Wir hätten dann 
nichts zurückzunehmen, würden aber auch die Anregung zu 
neuen Versuchen durch anschauliche Analogien entbehren. Eine 
solche rein begriffliche Darstellung kann in abgeschlossenen 
Partien der Wissenschaft angewendet werden, in welchen die 
Hjppothese, die nur in der werdenden Wissenschaft eine fördernde 
Funktion hat, keinen Raum findet. Der Gebrauch von Bildern, 
die mit Bewußtsein als solche verwendet werden, ist auch hier 
nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern sehr zweckmäßig. Es 
gibt Tatsachen, die wir unmittelbar sinnlich wahrnehmen, die wir 
sozusagen mit einem Blick überschauen. Andere Tatsachen er- 
geben sich erst durch ein kompliziertes Beobachtungs- und be- 
griffliches Reaktionssystem. Die Periodizität des Lichtes ist 
nicht ohne weiteres sichtbar, und deren Erfassung wird noch 
durch die hypermikroskopische Periodenlänge erschwert. Auch 
die Polarisation erkennt man nicht unmittelbar. Da wir nun 
mit anschaulichen sinnlichen Vorstellungen viel vertrauter sind, 
einfacher und geläufiger mit denselben verkehren, als mit ab- 
strakten Begriffen^ die sich doch immer auf anschauliche Vor- 
stellungen als ihre letzten Grundlagen aufbauen; so lehrt uns 
schon der Instinkt, mit dem Lichtstrahl eine Welle von anschau- 
licher größerer Wellenlänge, mit bestimmter an die Reflexions- 
ebene des polarisierenden Spiegels gebundener Schwingungs- 
ebene vorzustellen, welche sich bei analogen Versuchen ähnlich 
verhalten würde, wie jener Lichtstrahl. Mit Hilfe solcher Vor- 
250 ^'^ Hypothese. 
Stellungen übersehen wir rascher und leichter die Lichtphänomene 
als durch abstrakte Begriffe. Dieselben sind, um einen modi- 
fizierten Ausdruck von Hertz zu gebrauchen, Bilder von Tat- 
sachen, deren psychische Folgen wieder Bilder der Folgen der 
Tatsachen sind. Hat man einmal genau festgestellt, worin das 
Bild mit der Tatsache begrifflich übereinstimmt, so verbindet 
dieses den Vorteil der Anschaulichkeit mit dem der begrifflichen 
Reinheit. Es ist nun geeignet, die durch neue (elektromagnetische, 
chemische) Tatsachen geforderten weiteren Bestimmungen ohne 
Widerstreben anzunehmen. 
22. So sehr die Meinung verbreitet ist, daß in der Mathematik 
die Hypothese gar keine Funktion hat, so sei hier doch hervor- 
gehoben, daß sie auch hier in der werdenden Wissenschaft eine 
bedeutende Rolle spielt. Die Mathematik pflegt allerdings die 
Spuren ihres Entwickelungsganges in der Darstellung mehr als 
jede andere Wissenschaft zu beseitigen, wodurch allein jene 
Meinung entstehen konnte. Die vollkommen klare Erkenntnis der 
mathematischen Sätze ergibt sich aber auch nicht auf einmal, 
sondern wird durch gelegentliche Bemerkungen, Vermutungen, 
Gedankenexperimente und auch physische Experimente mit 
Zählobjekten und geometrischen Gebilden eingeleitet und vor- 
bereitet, wie dies schon erwähnt wurde und noch zur Sprache 
kommen wird.^) 
*) Ausführliche Darlegungen über die Hypothese im engen Anschluß 
an die SpezialWissenschaften und deren Entwicklungsstufe s. bei E. Naville, 
La logique de l'hypothese. Paris, 2nie e. 1895. 
Das Problem. 
1. Wenn die Ergebnisse der psychischen Partialanpassungen 
in solchen Widerstreit geraten, daß das Denken nach verschie- 
denen Richtungen getrieben wird, wenn die Beunruhigung so 
weit sich steigert, daß mit Absicht und Bewußtsein ein leitender 
einheitlicher Faden durch dieses Wirrsal gesucht wird, so ist 
ein Problem entstanden. Ein stabiler, gewohnter Erfahrungskreis, 
dem sich die Gedanken bald in praktisch zureichender Weise 
angepaßt haben, gibt selten Gelegenheit zur Bildung von Pro- 
blemen; wenigstens gehört eine besondere Energie des Denkens 
und eine große psychische Unterschiedsempfindlichkeit dazu, da- 
mit auch da noch Probleme auftreten. Wenn aber der Erfahrungs- 
kreis durch irgend welche Umstände sich erweitert, wenn die 
Gedanken mit bisher unbekannten Tatsachen in Berührung 
kommen, welchen sie nicht genügend angepaßt sind, wenn die 
durch Neuanpassung modifizierten Gedanken auf die Anpassungs- 
ergebnisse älterer Perioden reagieren, dann entwickeln sich, wie 
die allgemeine Kulturgeschichte und die Geschichte der Wissen- 
schaft insbesondere lehrt, reichlich neue Probleme. Die Inkon- 
gruenz der Gedanken und Tatsachen, sowie jene der Gedanken 
untereinander, ist die Quelle der Probleme. Es liegt außer unserer 
Macht bisher unbekannte Tatsachen, deren Abhängigkeit von in 
unserer Machtsphäre befindlichen Umständen wir nicht kennen, 
herbeizuführen. Dieselben treten gegen unsere Absicht, ohne 
oder gegen unsere Voraussicht ein, ergeben sich, obgleich sie 
außer der Richtung unserer Beschäftigung oder Untersuchung 
liegen, durch den „ZüfaU\ d. h. durch zwar nicht regellose 
aber uns unbekannte und von uns nicht beeinflußbare Umstände. 
Der psychische Zufall ist es auch, der Gedanken zusammenführt, 
die vielleicht lange in einem Individuum beisammen waren, ohne 
/ 
252 I>as Problem. 
je sich zu berühren, ohne je in die Reaktionsnähe zu kommen, 
welche ein Problem erzeugen konnte. Der Zufall enthüllt also 
in der Mehrzahl der Fälle die noch vorhandenen Inkongruenzen 
zwischen Gedanken und Tatsachen, sowie zwischen Gedanken 
untereinander, und derselbe fördert die weitere Anpassung, in- 
dem er die Mängel derselben fühlbar macht. ^) Bei Bildung 
und Lösung der Probleme spielt also der Zufall nicht eine un- 
wesentliche Nebenrolle, sondern seine Funktion ist in der Natur 
der Sache begründet. 
2. Ist einmal die Inkongruenz klar erkannt, das Problem ge- 
stellt, so gilt es die Lösung zu suchen. Die Gedankentätigkeit 
eines Menschen, der mit einem bestimmten Ziel und Interesse 
eine Lösung sucht, von der er doch nur gewisse Eigenschaften 
kennt, während ihm andere noch unbekannt sind, ist nach der 
treffenden Bemerkung von W. James ^) ähnlich derjenigen, die 
zur Erinnerung an etwas Vergessenes führt. Das Vergessene 
wußte man schon einmal, und dasselbe wird, nachdem man sich 
dessen erinnert hat, sofort als das Richtige wieder erkannt. Die 
gesuchte Lösung hingegen ist neu, und daß sie die richtige ist, 
muß erst durch eine besondere Prüfung dargetan werden. Darin 
besteht der Unterschied beider Fälle. Sucht man eine vergessene 
Problemlösung, z. B. eine mathematische Substitution, wieder, 
so verwandelt sich der zweite Fall in den ersteren leichteren, 
mit dessen Betrachtung wir beginnen. Ich will z. B. ein mir 
augenblicklich wichtiges Citat wiederfinden, an dessen genauen 
Wortlaut ich mich nicht erinnere, oder dessen Quelle mir ent- 
fallen ist. Ich denke an die Zeit und Gelegenheit, da mir dieses 
Citat bekannt wurde, an den Stoff, mit welchem ich mich damals 
beschäftigte, an die Schriften, die zu jenem Stoff in Beziehung 
standen, und die ich etwa gelesen haben konnte, an die Autoren, 
deren Denkweise jenes Citat entsprechen könnte, auch an den 
Ort meiner Studien, die Anregungen und Hilfsmittel, die mir 
die Umgebung bot u. s. w. Ähnlich verhalte ich mich, wenn 
ich ein verlegtes, lange Zeit nicht gebrauchtes Instrument suche. 
Je zahlreichere und stärkere Associationen zur Verfügung stehen. 
') Popul.-wissensch. Vorlesungen, 3. Aufl. S. 287. 
*) James, Pspchology. Vol. I, p. 585 u. f. 
Das Problem. 253 
die zu d.em Vergessenen führen, desto leichter wird es gelingen, 
dieses durch eine oder mehrere kombinierte Associationen an das 
Licht des Bewußtseins zu ziehen.^) 
3. Diesen Fällen recht nahe steht das Nacherfinden einer Er- 
findung auf die Nachricht von deren Existenz, die wir durch ein 
historisch wichtiges, merkwürdiges Beispiel erläutern wollen. 
Galilei erhielt in Venedig die Mitteilung von der Erfindung 
eines optischen Instrumentes in Holland, welches ferne Gegen- 
stände näher, größer und deutlicher zeigte.^) In der ersten Nacht 
nach seiner Rückkehr nach Padua glückte es ihm, das Fernrohr 
mit einer bleiernen Orgelpfeife und zwei Linsen zu impro- 
visieren, wovon er den Freunden in Venedig, mit welchen er 
sich Tags zuvor über den Gegenstand unterhalten hatte, sofort 
Nachricht gab. Sechs Tage später konnte er ein weit voll- 
kommeneres Instrument in Venedig vorzeigen. Galilei gibt zu, 
daß er ohne die Nachricht aus Holland wohl nie auf den Ge- 
danken einer solchen Konstruktion verfallen wäre, bestreitet aber 
Anwürfen gegenüber die Behauptung, daß das Verdienst der 
Erfindung durch die bloße Kenntnis der Existenz derselben so 
sehr geschmälert werde, als ein Gegner (Sarsi) die Leute 
glauben machen wollte. Man möge doch versuchen, meint er, 
die fliegende Taube des Archj^tas, oder die Brennspiegel des 
Archimedes u. s. w. nachzuerfinden. An das öffentliche Urteil 
appellierend teilt nun Galilei den Gang der Überlegung mit, 
die ihn zur Rekonstruktion führte: Das Instrument konnte aus 
einem Glas oder aus mehreren Gläsern bestehen. Ein Planglas 
wirkt nicht, ein Konkavglas verkleinert, ein Konvexglas ver- 
größert zwar, gibt aber undeutliche Bilder. Ein Glas allein ge- 
nügt also nicht. Zu zwei Gläsern übergehend, das Planglas 
bei Seite lassend, und eine Kombination der beiden andern ver- 
suchend, erzielte er nun einen vollen Erfolg.^) Diesen letzten 
») Individuelle Beispiele. S. Popul. Vorles. S. 303 u. f. 
^) Galilei, Sydereus nuncius. Eingangs die Erzählung über die Nach- 
richt aus Holland, die Rekonstruktion, die Bestimmung der Vergrößerung 
durch binokulare Betrachtung u. s. w. Opere di Galilei. Padova 1744. 
II, p. 4, 5. Nochmals, zum Teil ausführlicher: II saggiatore. Opere II, 
p. 267, 268. 
^) Die wichtigste Stelle im „saggiatore" 1. c. p. 268 lautet im Original: 
254 ^^-5 Problem. 
Schritt scheint Galilei ganz tatonnierend getan zu haben, wie 
es damals auch sehr natürlich war. Zwar hatte Kepler^) schon 
1604 die richtige Theorie des Auges gefunden, allein eine voll- 
ständigere Dioptrik, und namentlich eine bessere Übersicht der 
Eigenschaft der Linsen, vermochte er erst 1611, zwei Jahre nach 
Galileis Erfindung, und wohl durch diese unterstützt, zu geben. ^) 
Galileis Überlegung war übrigens von subjektiven Zufälligkeiten 
nicht frei; dieselbe hätte auch anders und namentlich allgemeiner 
und erschöpfender ausfallen können. Nehmen wir an, wir kennen 
nur die reellen Bilder der Konvexlisen, die empirischen Eigen- 
schaften der Lesegläser, Lupen, der Konvex- und Konkavbrillen. 
Diese waren damals sämtlich bekannt. Diese genügen aber auch 
als Grundlage der folgenden Überlegung: Schon ein Konvexglas 
von großer Brennweite, dessen reelles Bild man aus einer einem 
Bruchteil der Brennweite entsprechenden Entfernung betrachten 
und doch deutlich sehen kann, stellt ein (Keplersches) Fern- 
rohr vor, dessen Okular durch das Auge ersetzt ist. Nähert 
man sich dem Bilde noch weiter an, und verhindert man dessen 
Undeutlichkeit durch Anwendung einer Lupe vor dem Auge, so 
hat man ein wirkliches Keplersches Fernrohr. Nähert man sich 
über das Bild hinaus dem Objektiv, so kann durch ein Konkav- 
glas vor dem Auge das deutliche Sehen wiederhergestellt werden, 
und man hat das holländische Fernrohr. Faßt man also Bild- 
größe und Deutlichkeit als Ziel der Konstruktion auf, so gelangt 
„Fu dunque tale il mio discorso. Questo artificio o costa d'un vetro solo, 
di piü d'uno; d'un solo non puö essere, perche la sua flgura o e convessa, 
cioe piü grossa nel mezzo, che verso gli estremi, o e concava, cioe piü 
soUile nel mezzo, o e compresa tra superficie parallele; ma questa non altera 
punto gli oggetti visibili col crescergli, o diminuirgli; la concava gli diminuisce, 
la convessa gli acresce bene, ma gli mostra assai indistinti, ed abbagliati; 
adunque un vetro solo non basta per produr l'effetto. Passando poi a due, 
e sapendo, che il vetro di superficie parallele non altera niente, come si e 
detto, conchiusi, che l'effetto non poteva ne anco seguir dall' accoppiamento 
di questo con alcuno degli altri due. onde mi ristrinsi a volere esperimentare 
quello, che facesse la composizion degli altri due, cio^ del convesso, e del 
concavo, e vidi come questo mi dava l'intento, e tale fu il progresso del 
mio ritrovamento, nel quäle di niuno ajuto mi fu la concepita opinione della 
verita della conclusione." 
') Kepler, Ad Vitellionem paralipomena. 1604. 
«) Kepler, Dioptrice. 1611. 
Das Problem. 255 
man zu allen möglichen Lösungen der Aufgabe. Galileis Wege 
blieben wahrscheinlich durch den Eifer und die Eile der Nach- 
erfindung eingeschränkt; sein glücklicher, natürlich nur zufälliger 
Fund gerade der holländischen Form gewann großen Wert durch 
seinen genialen Gedanken der Anwendung zur Beobachtung der 
Himmelskörper. 
4. Es darf nicht befremden, daß wir hier die Erfindung mit 
der wissenschaftlichen Problemlösung auf eine Stufe stellen. In 
der Tat ist das praktisch-technische oder das theoretische Ziel 
der einzige Unterschied zwischen beiden, und oft ist auch dieser 
Unterschied schwer festzuhalten. Die Fälle, in welchen Nach- 
richten über den Erfolg von Vorgängern weitere identische oder 
auch differente Lösungen desselben Problems veranlaßt haben, 
sind in der Geschichte der Technik und der Wissenschaft nicht 
selten. Dieselben wären noch viel bekannter, wenn die Nach- 
erfinder, des Mißtrauens wegen, dem sie begegnen, nicht meist 
schweigen würden. Die mehrfache Lösung desselben Problems 
ist auch keineswegs überflüssig, sondern im Gegenteil sehr 
förderlich, indem gewöhnlich eine Beleuchtung verschiedener 
Seiten derselben Frage sich ergibt. So wird durch die zufällige 
Erfindung des Holländers Lippershey die mehr wissenschaft- 
liche von Galilei und die prinzipiell verschiedene von Kepler 
angeregt. Ob der zweite oder dritte Erfinder oder Entdecker 
eine leichtere Arbeit hat, hängt ganz von dessen wissenschaft- 
lichem Gesichtskreis ab, von den intellektuellen Mitteln und der 
Erfahrung, über die er zufällig verfügt.^) Selbst eine mehrfache 
') Die erste Nachricht über Edisons Erfindung des Phonographen er- 
hielt ich auf der Straße durch einen Kollegen, einen berühmten Naturforscher, 
der die Glaubwürdigkeit der Nachricht in Zweifel zog. Warum sollte man 
das nicht glauben? sagte ich. Denken Sie sich die Walze einer Drehorgel, 
die durch den Schall erst formiert wird, und die bei nochmaliger Drehung 
denselben zurückgibt. — Ich war noch nicht zu Hause angelangt, so war 
ich beinahe sicher, daß der Phonograph eine kleine Modifikation des König- 
schen Phonautographen sei, welche statt der Schreibbewegung in ffer Zplinder- 
fläche der Walze eine Bewegung senkrecht zu derselben anwendet. Das 
zu erraten war für mich auch gar nicht schwer, denn ich hatte mich mit Akustik, 
insbesondere mit dem Königschen Phonautographen beschäftigt und oft die 
sprachähnlichen Laute demonstriert, die man hört, wenn man mit wechselnder 
Geschwindigkeit den Fingernagel über den gerippten Einband eines Buches 
/ 
256 Das Problem. 
Stellung desselben Problems von verschiedenen Seiten, ganz 
ohne Lösung, ist für die Wissenschaft nicht gleichgültig, beson- 
ders wenn das Problem zur Zeit seines Auftretens noch als un- 
angreifbar oder gar als absurd gilt. Die Konkurrenten ermutigen 
sich in diesem Fall gegenseitig, und das ist nicht die unbedeu- 
tendste Vorbedingung für den Erfolg.^) 
5. Bevor wir auf weitere besondere Beispiele der Problem- 
lösung eingehen, betrachten wir die Methoden der Problemlösung 
im allgemeinen. Diese Methoden, die in allen Gebieten anwend- 
bar sind, wurden von den alten griechischen Philosophen an 
dem einfachen durchsichtigen Stoff der Geometrie erfunden, 
weiter entwickelt, und bilden einen wertvollen Bestandteil der 
wissenschaftlichen Forschungsmethoden. Proklos schreibt, 
Euklid kommentierend, die größten Verdienste in dieser Rich- 
tung Piaton zu. Die Stelle ist nach der Übersetzung von 
Bretschneider^) folgende: „Es werden auch Methoden (der 
Untersuchung) angeführt, von denen die beste die analytische 
ist, die das Gesuchte auf ein bereits zugestandenes Prinzip 
zurückführt. Diese soll Piaton dem Laodamas mitgeteilt 
haben, der dadurch zu vielen geometrichen Entdeckungen hin- 
geleitet worden sein soll. Die zweite Methode ist die trennende. 
hinführt. Für den schwierigsten Teil der Konstruktion hielt ich die Wahl des 
Walzenmaterials, das weich genug wäre, die Eindrücke aufzunehmen, und 
doch auch hinreichend widerstandsfähig, dieselben wiederzugeben. Diese 
Wahl ist ohne besondere Erfahrungen unmöglich richtig zu treffen. — Gauß 
war der Mann, nicht nur den elektromagnetischen Telegraphen zu erfinden, 
sondern denselben auch zur höchsten technischen Entwicklung zu bringen, 
wenn er sich überhaupt rein technische Probleme gestellt hätte. Als Wil- 
helm Weber bei Gelegenheit seiner elektrodynamischen Maßbestimmungen 
durch eine schwingende durchströmte Saite in einer andern periodische Ströme 
induzierte, hätte ihm die Erfindung des Telephons sehr nahe gelegen, wenn 
er Techniker gewesen wäre. Wieviel mehr aber haben diese beiden Männer 
die Grundlagen der Technik gefördert, indem sie sich der reinen Theorie 
zuwandten. Es gibt eben verschiedene Wege des Fortschrittes, und nichts 
ist bedauerlicher, als der so einseitige bornierte Hochmut des Theoretikers 
gegenüber dem Techniker, und umgekehrt. 
') So scheint mir das größte Verdienst Fe chn er s in der Problemstellung 
der Pspchophysik zu liegen. 
*) Bretschneider, Die Geometrie und die Geometer vor Euklid. 
Leipzig 1870. S. 146. 
Das Problem. 257 
die, indem sie den vorgelegten Gegenstand in seine einzelnen 
Teile zerlegt, dem Beweise durch Entfernung alles der Kon- 
struktion der Aufgabe Fremdartigen einen festen Ausgangs- 
punkt gewährt; auch diese rühmt Piaton sehr als eine für alle 
Wissenschaften förderliche. Die dritte Methode ist die Zurück- 
führung auf das Unmögliche, welche nicht das zu Findende 
selbst beweist, sondern das Gegenteil desselben bestreitet, und 
so die Wahrheit durch Übereinstimmung (des Zulässigen mit 
dem Behaupteten) findet." Es kann wohl nicht angenommen 
werden, daß Piaton allein alle diese Methoden erfunden hat, 
da dieselben zum Teil gewiß vorher angewendet wurden, doch 
sagt Diogenes Laertius in Bezug auf die analytische Methode 
ausdrücklich von Piaton ^): „Er zuerst führte die analytische 
Methode der Untersuchung ein für Laodamas von Thasos." 
Das Verhältnis der analytischen und synthetischen Methode 
erläutert Euklid durch die Worte: „Analytisch wird ein Satz 
bewiesen, wenn man das Gesuchte als bekannt annimmt, und 
durch daraus gezogene Schlüsse auf erwiesene Wahrheiten 
zurückkommt; synthetisch hingegen, wenn man von erwiesenen 
Wahrheiten zu dem Gesuchten gelangt."^) Diese Methoden 
sind also die progressive oder synthetische, welche von der 
Bedingung zu dem Bedingten, die regressive oder analytische, 
welche von dem Bedingten zu dem Bedingenden fortschreitet, 
und die apagogische oder indirekte, welche durch den Beweis 
„per absurdum" exemplifiziert wird. Die Methoden können 
natürlich sowohl zur Untersuchung als auch zum Beweise eines 
schon Gefundenen dienen. Auch bemerkt man, daß wohl die 
synthetische und analytische Methode sich gegenseitig aus- 
schließen, daß hingegen jede dieser beiden Methoden sowohl 
direkt wie indirekt angewendet werden kann. 
6. Um die synthetische Methode durch ein einfaches Bei- 
spiel zu erläutern, wählen wir eine geometrische Konstruktions- 
aufgabe. Es soll ein Kreis beschrieben werden, welcher zwei 
in einer Ebene liegende, also im allgemeinen sich schneidende 
1) Bretschneider, 1. c. S. 147. 
ä) Euklid, Elemente, XIII, 1 nach der Übersetzung von J. F. Lorenz. 
Halle 1798. 
Mach, Erkenntnis und Irrtum. , 17 
258 
Das Problem. 
Gerade G, C (Fig. 3) berührt, und zwar die erstere in einem 
Punkte P. Eine Gerade kann in jedem ihrer Punkte zu beiden 
Seiten von unendlich vielen Kreisen verschiedenen Halbmessers 
berührt werden. Sollen aber zwei sich schneidende Gerade 
zugleich von einem Kreise berührt werden, so ist die Wahl des 
letzteren schon beschränkt, da die Mittelpunkte solcher Kreise 
wegen der Symmetrie nur mehr in einer der beiden Symmetralen 
6*, S' liegen können. Fügen wir noch die Bedingung der Be- 
rührung von G in dem Punkte P hinzu, so kann diese nur von 
Kreisen erfüllt werden, deren Mittelpunkte, wieder aus Sym- 
metriegründen, in dem Lot L auf G durch P liegen. Also nur 
die gemeinsamen Glieder aller dieser die einzelnen Bedingungen 
erfüllenden Kreisscharen können die 
Aufgabe lösen. Solche gemeinsame 
Glieder gibt es aber nur zwei, näm- 
lich die Kreise, deren Mittelpunkte in 
m und m\ den Durchschnitten von L 
mit 6* und S' liegen, und deren Radien 
mP und m'P sind. An diesem Bei- 
spiel sieht man, wie die einzelnen 
Bedingungen, welche die Lösung zu 
erfüllen hat, getrennt werden, um aus 
einer nach der andern für die Lösung 
die Konsequenz zu ziehen. Man be- 
merkt ferner, daß das wissenschaftliche Verfahren von dem pro- 
bierenden, durch welches man die Aufgabe ebenfalls wenigstens 
annähernd lösen könnte, sich durch ein planmäßiges Vorgehen 
und sorgfältiges Benützen des schon Bekannten und ein für 
allemal Ermittelten unterscheidet. Man sucht nur in Scharen 
von Kreisen, welche den einzelnen Bedingungen schon genügen. 
Endlich bemerkt man, daß das wissenschaftliche Verfahren nicht 
wesentlich von jenem der vulgären Rätsellösung verschieden ist, 
nur daß im letzteren Fall das Terrain gewöhnlich größer, weniger 
bekannt und vorher erforscht, und daher ein planmäßiges Suchen 
mehr erschwert ist. Ohne Schwierigkeit läßt sich jede geometrische 
Konstruktionsaufgabe in die Rätselform kleiden, wie die alt- 
indischen Mathematiker ganz wohl wußten, die ihre Aufgaben 
sogar in Versen aussprachen. 
Fig. 3. 
Das Problem. 259 
7. Stellen wir uns nun vor, wir sollten die obige Aufgabe 
lösen, ohne daß uns die hierbei verwendeten Sätze schon ge- 
läufig wären. Wir würden dann nach der antiken Praxis, die 
Newton^) noch durch einige Anweisungen erläutert hat, nach 
der analytischen Methode vorgehen, also gewissermaßen die 
Aufgabe als gelöst ansehend^ irgend einen Kreis zeichnen, an 
denselben zwei beliebige Tangenten G, G' ziehen, und den 
Berührungspunkt P mit der einen markieren. Indem wir nun 
untersuchen, wie der gegebene Mittelpunkt m und Kreisradius 
Pm mit den Tangenten und dem Berührungspunkt zusammen- 
hängt, werden wir auf jene Sätze geleitet, welche uns auch den 
umgekehrten Weg, von G, G', P zu m und Pm weisen, und die 
Konstruktion an die Hand geben. 
Um nun den Wert des letzteren Verfahrens fühlbar zu 
machen, wählen wir eine etwas weniger leichte Aufgabe. Es 
soll ein Kreis konstruiert werden, der die Geraden G, G' be- 
rührt, und noch durch einen beliebigen Punkt P (Fig. 4) hin- 
durchgeht.^) Denken wir uns den G berührenden Kreis gegeben, 
dessen Mittelpunkt C jedenfalls in der Symmetrale 6" von G, G' 
liegt, so hat derselbe der Bedingung zu genügen, daß CP 
der Senkrechten CH auf G, d. h. dem Radius r gleich ist. 
Gelingt es hieraus C oder H oder r zu finden, so ist die Auf- 
gabe gelöst. Durch Verschiebung von CH durch P hindurch 
und über P hinaus^ erkennt man, daß es zwei Lösungen gibt. 
Setzen wir die Bedingung in eine Gleichung um, indem wir 
OG als Abscissenachse ansehen, die trigonometrische Tangente 
*) Newton, Arithmetica universalis. 1732. p. 87. 
2) In Fig. 4 ist nur die Gerade G und nur eine der beiden Spmmetralen 
gezeichnet. 
17* 
260 
Das Problem. 
des Winkels SOG mit fl, die Koordinaten von C mit x und 
y = aar, jene von P mit m und /z bezeichnen. Dann ist 
a^x' = {x—my-^{aa: — ny, oder 
j:={m-\- an)± y(/w -|- ß/z)* — (/^^ + /z*), 
welche letztere Gleichung die Konstruktion von x=0// an- 
gibt. — Ganz ohne Rechnung, nach antiker Methode durch 
Fig. 5. 
Zeichnung findet man die Lösung, indem man zu dem Punkt P 
(Fig. 5) den in Bezug auf 6" symmetrischen P' hinzudenkt, und 
die Gerade P'PQ zieht. Dann konstruiert man nach dem 
Sekanten -Tangentensatz QH^ = QP- QP\ und für die zweite 
Lösung QH^ = QH. — Die einfachste und eleganteste Lösung 
Fig. 6. 
ergibt sich aber durch die einfache Bemerkung, daß zur ge- 
suchten Konstruktion unendlich viele ähnliche, in Bezug auf O 
ähnlich liegende Konstruktionen existieren. Zieht man also 
(Fig. 6) durch P die Gerade OP und irgend einen G, G' be- 
rührenden Kreis ^mit dem Mittelpunkte in 6*, so kann man dessen 
Durchschnittspunkte mit OP als zu P homologe Punkte be- 
trachten. Die Parallelen zu den betreffenden beiden Radien 
Das Problem. 261 
dieses Kreises führen, von P aus gezogen, zu den gesuchten 
Mittelpunkten C, C. 
8. Es ist gewiß ein glücklicher psychologischer Instinkt, 
wie derselbe genialen Naturen eigen ist, der Piaton zur Ent- 
deckung der analytischen Methode geführt hat. Man kennt nur 
das, was man schon zufällig einmal sinnlich oder in Gedanken 
erlebt hat. In einem Gebiet, in welchem man keine Erfahrung 
hat, kann man keine Aufgaben lösen. Um das Unbekannte auf 
ein Minimum zu reduzieren, gibt es kein besseres Mittel, als 
sich an einem schon bekannten Fall das Gesuchte und das Ge- 
gebene vereinigt zu denken, und den nun leichter erkennbaren 
Weg von ersterem zu letzterem bei der Konstruktion in um- 
gekehrtem Sinne zurückzulegen. Dies gilt nicht allein von der 
Geometrie. Wer sich zur Überschreitung eines Baches einen 
Baumstamm von Ufer zu Ufer gelegt wünscht, denkt sich 
eigentlich die Aufgabe gelöst. Indem er überlegt, daß derselbe 
zuvor herbeigeschafft, vorher aber gefällt werden muß u. s. w., 
geht er den Weg von dem Gesuchten zu dem Gegebenen, den 
er bei der Konstruktion der Brücke in umgekehrtem Sinne, in 
umgekehrter Reihenfolge der Operationen, zurücklegt.^) Dies 
ist ein Fall recht vulgären praktischen Denkens. Die meisten 
großen technischen Erfindungen, soweit sie nicht durch den Zu- 
fall allmählich an die Hand gegeben wurden, sondern spontan 
mit mehr Energie rasch ins Leben gerufen wurden, beruhen 
wohl auf demselben Prozeß. Fulton denkt sich ein schnell 
bewegtes Schiff, versieht dasselbe in Anlehnung an die Land- 
vehikel statt der rhythmisch wirkenden Ruder mit kontinuierlich 
rotierenden Schaufelrädern, treibt letztere durch eine Dampf- 
maschine u. s. w. Man kann auch zeigen, daß gerade die größten 
und wichtigsten wissenschaftlichen Entdeckungen der analytischen 
Methode ihren Ursprung verdanken, wobei natürlich synthetische 
Prozeduren nicht ganz ausgeschlossen werden können. So 
erweist sich die geistige Tätigkeit des Forschers und Erfinders 
wieder als nicht wesentlich verschieden von jener des gemeinen 
Mannes. Was letzterer instinktiv treibt, gestaltet der Natur- 
forscher zur Methode. Zum Bewußtsein gebracht wurde diese 
Populär-wissensch. Vorlesungen. 3. Aufl. S. 296. 
262 ^^^ Problem. 
Methode aber schon von der ältesten, einfachsten, exakten Natur- 
wissenschaft, von der Geometrie. 
9. Bevor wir Beispiele analoger Methoden der Natur- 
forschung behandeln, sei noch ein Blick auf das Gebiet der 
Geometrie gestattet. Die ersten geometrischen Kenntnisse, auch 
die komplizierteren, sind gewiß nicht auf dem Wege der De- 
duktion erworben worden, welcher einer höheren Entwicklungs- 
stufe der Wissenschaft angehört, die schon einen festen Besitz- 
stand an Wissen, ein Bedürfnis nach Vereinfachung, Ordnung 
und Systematisierung voraussetzt. Diese Kenntnisse ergaben 
sich vielmehr ganz ebenso wie die naturwissenschaftlichen durch 
das praktische Bedürfnis der genauen Beobachtung, durch 
Messen, Zählen, Wägen, Schätzen, durch die Anschauung, und 
erst später durch Ableitung aus schon Bekanntem, durch Spe- 
kulation (Gedankenexperiment) unter den führenden Gesichts- 
punkten der Vergleichung, der Induktion, der Ähnlichkeit und 
Analogie. Sehr lehrreich sind in dieser Beziehung die Schriften 
eines relativ späten antiken Forschers, des Archimedes.^) Er 
unterrichtet uns darüber, daß ihm und andern Sätze bekannt 
waren, bevor sie die exakte Form und die Beweise fanden. 
Annähernd ergab sich z. B. die Quadratur der Parabel durch 
Bedeckung der Zeichnung mit dünnen Blättern, durch Aus- 
schneiden und Abwägen derselben. Archimedes erriet aus den 
Ergebnissen das exakte Gesetz und es gelang ihm, die Richtig- 
keit desselben zu beweisen. Auch in neuerer Zeit werden Pro- 
bleme noch auf empirischen Wege gefunden, annähernd em- 
pirisch und erst später exakt gelöst. So machte Mersenne 
1615 die Mathematiker auf die Entstehung der Cykloide (Rou- 
lette) aufmerksam. Galilei konnte nur durch Wägung ermitteln, 
daß deren Fläche annähernd das Dreifache jenes ihres Erzeu- 
gungskreises sei und Roberval wies 1634 die exakte Richtig- 
keit dieses Verhältnisses nach. 
10. Wenn man nun über das Bestehen eines bestimmten 
Satzes C eine Vermutung hat, so kann man versuchen, den- 
selben aus bereits bekannten Sätzen progressiv -synthetisch ab- 
') Archimedes' Werke. Deutsch von Nizze. Stralsund 1824. Vgl. 
insbesondere die Abhandlung über die Quadratur der Parabel. 
Das Problem. 263 
zuleiten. Hierzu gehört aber natürlich, daß man über die 
Grundlagen, auf welchen derselbe ruht, schon ziemlich sicher 
ist. Ist dies nicht der Fall, so wird man regressiv -analytisch 
versuchen, die nächste Bedingung B des Satzes C, nachher die 
Bedingung Ä des Satzes B zu ermitteln. Wäre nun A ein schon 
bekannter oder für sich einleuchtender Satz, so hätte man die 
Deduktion gefunden: Aus A folgt 5, aus B folgt C. Wenn 
dagegen Nicht- C durch B, B dagegen durch A bedingt wäre, 
A sich aber als unmöglich erwiese, so wäre hiermit die Richtig- 
keit von C ebenfalls nachgewiesen. Letzteres Ergebnis bleibt 
unter allen Umständen aufrecht. Hat man aber die Analipse zur 
Auffindung des direkten Beweises unternommen, so muß man 
sich versichern, daß die Sätze: C ist durch B bedingt, B ist 
durch A bedingt u. s. w. auch alle umkehrbar sind, denn nur 
dann kann man den umgekehrten Gang als einen wirklichen 
Beweis des Satzes C ansehen. Bekanntlich ist nicht jeder Satz 
umkehrbar. Wenn der Satz gilt: Durch M ist A^ bedingt, so 
gilt nicht immer umgekehrt: Durch A^ ist M bedingt. Wählen 
wir beispielsweise den Satz: Im Quadrat {M) sind die Diago- 
nalen gleich (A^). Der umgekehrte Satz: Zwei gleiche Diago- 
nalen {N) bestimmen ein Quadrat (J/), ist ersichtlich falsch. 
Um einen umgekehrten Satz zu erhalten, müßte man entweder 
den Begriff M erweitern^ an die Stelle desselben M' setzen, der 
alle die mannigfaltigen Vierecke mit gleichen Diagonalen um- 
faßt, für welche kein gemeinsamer Name bisher gewählt wurde, 
oder man müßte N zu N' spezialisieren. Der letztere Vorgang 
würde zu dem umkehrbaren Satze führen: im Quadrat {M) hal- 
bieren sich die beiden gleichen aufeinander senkrechten Diago- 
nalen (A^'). Kongruente Figuren {M) sind ähnlich (TV), dagegen 
nur ähnliche und inhaltsgleiche Figuren (A^') sind kongruent {M). 
Zwei gleichen Seiten des Dreiecks {M) liegen gleiche Winkel 
gegenüber (A'') und auch umgekehrt. Diese Beispiele werden 
genügen, um auf die gebotene Vorsicht bei Anwendung der 
theoretischen oder problematischen Analysis hinzuweisen. 
11. Man hat es oft und mit Recht bedauert, daß die antiken 
Forscher von den Methoden der Erfindung und Untersuchung so 
wenig mitgeteilt, ja durch die synthetische Darstellung ihre 
Forschungswege sogar verhüllt haben. Dem gegenüber hat 
264 Das Problem. 
Ofterdinger hervorgehoben, daß die synthetische Darstellung 
für die Sipstematik auch ihre Vorteile hat. Betrachtet man z. B. 
aufmerksam den Euk lidischen Beweis für den Pythagoreischen 
Satz, so kann man aus den Elementen desselben alle Erklärungen 
und Sätze in der Ordnung herstellen, in welcher dieselben, das 
erste Buch bildend, jenem Satz vorausgehen müssen. Lesenswerte 
Ausführungen über die Methoden der Geometrie enthalten die unten 
angeführten Schriften von Hankel, Ofterdinger und Mann.^) 
12. Die Lösung eines naturwissenschaftlichen Problems 
kann vorbereitet werden durch Beseitigung von Vorurteilen^ 
welche der Lösung im Wege stehen und auf abseits liegende 
Wege führen. Ein Beispiel eines solchen Falles ist das aus der 
antiken Zeit übernommene Vorurteil, daß die Farben durch 
Verdünnung des weißen Lichtes, durch Mischung desselben mit 
Finsternis entstehen. Indem Boyle diesem Vorurteile entgegen- 
trat, hat er die richtige Lösung des Problems der Farben durch 
Newton vorbereitet. Die richtige Lösung thermodynamischer 
Probleme wurde ermöglicht durch Beseitigung der Meinung, 
daß die Wärme ein Stoff von unveränderlicher Quantität sei. 
Herings Lösung der Probleme des räumlichen Sehens setzte 
die Beseitigung vieler alter Vorurteile voraus. Der physio- 
logische Raum mußte von dem geometrischen unterschieden, die 
Lehre von den Richtungslinien beseitigt, die Empfindungen als 
von anderen psychischen Gebilden verschieden erkannt werden. 
Johannes Müller, Panum und Hering selbst haben diese 
Vorarbeit ausgeführt.^) 
13. Die Lösung von Problemen wird ferner wesentlich 
gefördert durch das Auftreten von mit denselben zusammen- 
hängenden ParadoxieUy welche die Gedanken vor Beseitigung 
derselben nicht mehr zu Ruhe kommen lassen. Untersucht man 
historisch die Entstehung der Paradoxien, oder verfolgt man 
') Hankel, Geschichte der Mathematik. Leipzig 1874. Vgl. insbeson- 
dere S. 137—156. — Ofterdinger, Beiträge zur Geschichte der griechischen 
Mathematik. Programmabhandlung. Ulm 1860. — Mann, Abhandlungen aus 
dem Gebiete der Mathematik. Festschrift zum 300 jährigen Jubiläum der Uni- 
versität Würzburg. 1882. — Mann, Die logischen Grundoperationen der 
Mathematik. Erlangen u. Leipzig 1895. 
^) Vgl. Analyse der Empfindungen. 4. Aufl. S. 101 u. f. 
Das Problem. 265 
alle Konsequenzen der widerstreitenden Ansichten bis in die 
letzten Ausläufer, so gelangt man auf dem einen oder anderen 
Wege zu dem Punkt, mit dessen Beseitigung die Paradoxie 
verschwindet, womit in der Regel zugleich ein Problem gelöst 
oder doch klarer gestellt ist. So führt die Descartes-Leib- 
nizsche Paradoxie bezüglich des Kraftmaßes durch mv oder mv^, 
auf ihren historischen Ursprung zurückverfolgt, zur Erkenntnis, daß 
hier eine bloße Konvention vorliegt, indem man nach Belieben 
die Kraft eines in Bewegung begriffenen Körpers nach der Zeit 
oder nach dem Weg seiner Bewegung gegen eine andere Kraft 
messen kann.^) Der paradoxe Kreisprozeß von W. Thomson 
und J. Thomson mit frierendem Wasser, nach allen Seiten und 
Konsequenzen betrachtet, leitet zu der Entdeckung der Erniedri- 
gung des Gefrierpunktes durch Druck. ^) 
14. Nicht alle Probleme, welche im Laufe der Entwicklung 
der Wissenschaft auftreten, werden gelöst; viele werden im 
Gegenteil fallen gelassen, weil man sie als nichtig erkennt. In 
der Vernichtung der Probleme, die auf einer verkehrten, falschen 
Fragestellung beruhen, in dem Nachweise der Unlösbarkeit 
solcher Probleme, der Sinnlosigkeit oder Unmöglichkeit der 
Beantwortung derselben, besteht ein wesentlicher Fortschritt der 
Wissenschaft. Dieselbe wird dadurch von einer nutzlosen und 
schädlichen Belastung befreit, gewinnt durch solche Nachweise 
an Tiefe und Klarheit des Blickes, welchen sie nun neuen frucht- 
baren Aufgaben zuwendet. Ein Kreis kann nicht durch vier 
beliebige Punkte hindurchgelegt werden, da drei von diesen ihn 
schon vollkommen bestimmen; das sieht jeder leicht ein. Wenn 
aber nachgewiesen wird, daß die Quadratur des Kreises nur 
annähernd konstruiert werden kann,^) wenn gezeigt wird, daß 
die Gleichungen 5ten Grades nicht in geschlossener algebraischer 
Form gelöst werden können, *) wenn die Unlösbarkeit oder Sinn- 
») Vgl. Mechanik. 5. Aufl. S. 322. 
*) Vgl. Prinzipien der Wärmelehre. 2. Aufl. S. 234 u. f. 
*) F. Klein, Ausgewählte Fragen der Elementargeometrie. Leipzig 
1895. — F. Rudio, Geschichte des Problems von der Quadratur des Zirkels. 
Leipzig 1892. 
*) Abel, Demonstration de Timpossibilitö de la resolution algebrique 
des equations generales qui depassent le quatrieme degre. Grelles Journal 
Bd. I, 1826. 
266 Das Problem. 
losigkeit von Aufgaben dargetan wird, welche viele Generationen 
erfolglos beschäftigt haben, so kann diese Leistung nicht hoch 
genug geschätzt werden. Von großem Wert ist z. B. der Nach- 
weis der Unmöglichkeit des perpetuum mobile, bezw. das Auf- 
decken der Widersprüche unserer bestkonstatierten physikalischen 
Erfahrungen mit der Annahme eines perpetuum mobile. Diese 
Problemvernichtung hatte die Auffindung des Prinzips der 
Erhaltung der Energie zur Folge, welches als Quelle von 
Spezialentdeckungen außerordentlich ergiebig war. In jedem 
Gebiet finden wir aufgegebene oder doch im Laufe der Zeit 
wesentlich modifizierte Probleme, die den ursprünglichen kaum 
mehr ähnlich sehen. Kosmogonien im alten Sinne werden nicht 
mehr aufgestellt. Niemand fragt mehr nach dem Sprachur- 
sprung in dem Sinne, als dies noch vor hundert Jahren geschah. 
Bald wird wohl auch niemand mehr daran denken, die psy- 
chischen Erscheinungen auf Bewegung der Atome zu reduzieren, 
das Bewußtsein durch einen besonderen Stoff, durch eine eigene 
Qualität oder Energieform zu erklären. 
15. Ein naturwissenschaftlicher Satz ist wie jeder geo- 
metrische stets von der Form „wenn M ist, so ist vV", wobei 
sowohl M wie N ein mehr oder minder komplizierter Komplex 
von Erscheinungsmerkmalen sein kann, wovon also einer den 
andern bestimmt. Ein solcher Satz kann sich sowohl unmittel- 
bar durch Beobachtungen, als auch mittelbar durch Überlegung, 
durch Vergleichung schon bekannter Beobachtungen in Ge- 
danken ergeben. Scheint derselbe mit anderen Beobachtungen, 
oder mit den sich diesen Beobachtungen anschließenden Ge- 
danken nicht in Einklang zu stehen, so stellt er ein Problem 
vor. Dieses Problem kann in zweierlei Weise gelöst werden. 
Der Satz „wenn M ist, so ist A^" kann aus Sätzen, welche 
bereits bekannte Tatsachen ausdrücken, durch eine Reihe von 
Zwischensätzen abgeleitet oder erklärt werden. In diesem Falle 
waren unsere Gedanken den Tatsachen und einander schon 
weiter angepaßt, als wir es annahmen und wußten. Sie ent- 
sprachen auch dem neuen Satz, nur daß dies nicht unmittelbar 
ersichtlich war. Diese Problemlösung besteht in einer deduk- 
tiven synthetischen geometrischen Ableitung eines neuen Satzes 
aus schon bekannten Grundsätzen. Alle leichteren sekundären 
Das Problem. 267 
Probleme gehören hierher. Man wird natürlich diesen Weg 
immer zuerst betreten, auf diesem zuerst sein Glück versuchen. 
Ob die Lösung gelingt, hängt natürlich ganz von dem bereits 
erworbenen Wissen ab. So erklärt Galilei das Schweben sehr 
schweren Staubes im Wasser und in der Luft aus dem lang- 
samen Fallen wegen des großen Widerstandes infolge der feinen 
Verteilung. Huygens leitet die Pendelbewegung vollständig 
aus Galileis mechanischen Grundsätzen ab. In gleicherweise 
gelingt Segner, Euler, d'Alembert u. a. die mechanische Er- 
klärung der gewiß auffallenden Vorgänge am Kreisel. Das 
Aufwärtsfließen des Wassers in dem kürzeren Arm des Hebers 
versteht man ebenso wie das Abfließen einer Kette aus einem 
Glase in ein tiefer stehendes durch das Übergewicht des über 
dem glatten Glasrand überhängenden längeren Kettenteiles. Nur 
hängen die Kettenteile von selbst zusammen, während das Wasser 
durch den Luftdruck, oder, wie man vorher annahm, durch den 
horror vacui in Zusammenhang gehalten wird. So erklärten 
sich auch die Farbenerscheinungen, die Brewster an einem 
Paar gleich dicker Planplatten beobachtet, trotz des Über- 
raschenden der Erscheinung, aus bereits bekannten Grund- 
sätzen der Optik. Der Aragosche Rotationsmagnetismus fand 
seine Aufklärung durch die Faradayschen Gesetze der In- 
duktion. Nun kann man sich bei aufmerksamer Überlegung 
nicht verhehlen, daß dieselben oder analoge Probleme in einem 
früheren Stadium der Wissenschaft auf diese Weise nicht lösbar 
waren, und zum Teil auch wirklich nicht so gelöst worden sind. 
Dies führt uns natürlich zur Betrachtung des zweiten Weges. 
16. Wir finden also keine bekannten Grundsätze, mit welchen 
die beobachtete oder aus Beobachtungen richtig gefolgerte Tat- 
sache übereinstimmt. Dann haben wir eben durch neuerliche Ge- 
dankenanpassung neue Grundsätze zu suchen.^) Die neue Auf- 
fassung kann sich entweder unmittelbar auf die fragliche Tatsache 
beziehen, oder wir gehen analytisch vor. Wir suchen die nächste 
Bedingung der Tatsache, dann die Bedingung dieser Be- 
dingung u. s. f. Eine neue Auffassung einer oder der anderen 
') Man muß natürlich darauf bedacht sein, nicht mehr Prinzipien zu 
statuieren, als notwendig sind. Vgl. Duhem (La Theorie physique, S. 195 u. f.). 
268 Das Problem. 
dieser Bedingungen wird nun gewöhnlich die fremdartige oder 
zu kompliziert erscheinende Tatsache verständlich machen. Ob- 
gleich die Geometrie ein wohlbekanntes und vielfach durch- 
forschtes Gebiet ist, so führt doch noch das analytische Ver- 
fahren zu neuen Auffassungen, welche ungleich leichter und 
einfacher gefundene Sätze abzuleiten und Aufgaben zu lösen er- 
lauben, als dies durch die älteren möglich war. Man denke nur 
an ähnliche und ähnlich liegende Gebilde, an den Reichtum der 
projektivischen Beziehungen überhaupt. Das Gebiet der Natur- 
erscheinungen im allgemeinen ist nun ohne Vergleich reicher und 
weiter als jenes der Geometrie; es ist sozusagen unerschöpflich 
und fast noch unerforscht. Wir können also darauf gefaßt sein, 
bei anal5>tischem Vorgehen noch fundamental neue Grundsätze 
zu finden. Achten wir nun darauf, worin die neue Anpassung 
oder Auffassung besteht, zu welcher wir geführt werden, so 
finden wir das eigentümliche derselben in der Beachtung vorher 
unbeachteter Umstände oder Erscheinungsmerkmale. Dies soll 
nun an einigen Beispielen erläutert werden. Wir beginnen mit 
einem der leichtesten. Wir sehen die Körper von oben nach 
unten drücken und fallen. Diese Richtung, und der Sinn von 
oben nach unten, ist für uns geotropisch organisierte Menschen 
zunächst physiologisch bestimmt. Für an demselben Ort ver- 
weilende Menschen wird dies zu einer physikalischen Orientie- 
rung (Himmel oben Erde unten), die wir für eine absolute, für 
die ganze Welt gültige halten. Erfahren wir nun durch die 
astronomische und geographische Forschung, daß die Erde eine 
allseitig bewohnte Kugel ist, so können wir zunächst nicht ver- 
stehen, wieso die beweglichen Objekte auf der uns gegenüber- 
liegenden Seite nicht herabfallen. Wir alle haben uns als Kinder 
so verhalten, und die wenigsten von uns haben die gewaltige, 
historisch wichtige Wandlung mit Bewußtsein durchgemacht, 
welche darin liegt, daß wir statt nach unserem lokalen Himmel 
und unserer heimatlichen Erde, die Richtung gegen den Erd- 
mittelpunkt als Schwererichtung auffassen. Die meisten von uns 
haben sich unter dem Einfluß der Schulbelehrung aus der einen 
Auffassung in die andere hinübergeträumt. — Die Bewegung 
einzelner schwerer Körper [ist uns bald geläufig. Wenn aber 
ein leichterer Körper durch einen schwereren etwa an einer Rolle 
Das Problem. 269 
in die Höhe gezogen wird, so lernen wir auch auf die Beziehung 
mehrerer Körper und deren Gewicht achten. Kommen etwa Er- 
fahrungen am ungleicharmigen Hebel oder anderen Maschinen 
hinzu, so treiben uns diese nicht nur auf die Gewichte, sondern 
auch auf die gleichzeitigen Verschiebungsgrößen im Sinne der 
Schwere, bezw. auf das Produkt der Maßzahlen beider, d. i. auf 
die Arbeit zu achten. — Sehen wir ins Wasser getauchte Körper 
versinken, schweben oder schwimmen, so lehrt uns das Streben 
nach klarer sicherer Orientierung in diesen Vorgängen auch auf 
die Gewichte gleicher Volumina achten. — Die Erhebung des 
Wassers unter dem Pumpenkolben trotz der Schwere gibt den 
genialen Gedanken des horror vacui ein. Diese Auffassung als 
Grundsatz macht zunächst alles verständlich, insbesondere die 
überraschende Paralysierung der Schwere. Nun finden sich aber 
Fälle, in welchen der horror vacui versagt. Torricelli mißt 
denselben durch verschiedene Flüssigkeitssäulen und findet einen 
bestimmten Flüssigkeitsdruck für das Verständnis aller Fälle zu- 
reichend. Von ihm und von Pascal wird also das analytische 
Verfahren um einen Schritt weiter zurück auf die fernere Be- 
dingung angewendet. — Geworfene schwere Körper können bald 
sinken, bald steigen. Die ältere aristotelische Physik betrachtet 
diese Fälle als verschieden. Galilei achtet auf die Beschleu- 
nigung der Bewegung, wodurch alle diese Fälle gleichartig und 
gleich leicht verständlich werden. Der Zufall bringt also fort- 
während unzureichende Anpassungen zum Vorschein; diese treiben 
zu neuen analytischen Schritten zur Beachtung neuer Umstände, 
zu neuen Auffassungen oder Anpassungen, welche zusehends 
größeren Erfahrungsgebieten gerecht werden. Die Natur bietet 
uns den geometrischen Sätzen analoge Sätze ohne Ableitung, 
oder gelöste Aufgaben ohne Auflösung, und überläßt es uns, die 
Prinzipien der Ableitung und Auflösung zu suchen. Bei der un- 
vergleichlichen Komplikation der ganzen Natur gegenüber dem 
bloßen Raum ist dieses Unternehmen recht schwierig.^) 
17. Diese wenigen Beispiele zeigen schon, daß gerade die 
größten und wichtigsten Entdeckungen auf dem Wege der Ana- 
lyse gefunden werden. Die schon berührte Auffindung der 
') Mechanik. 5. Aufl. 1904. 
270 D^s Problem. 
Prinzipien der aligemeinen Mechanik und der Meclianik des 
Himmels, sowie der Optik durch Newton sind ein weiterer 
Beleg. Die analytische Aufsuchung der Voraussetzung des Ge- 
gebenen ist eine viel unbestimmtere Aufgabe, als die Folgerung 
aus bestimmten Voraussetzungen. Deshalb gelingt dieselbe 
auch nur schrittweise und versuchsweise, d. h. unter Mithilfe von 
Hypothesen, indem richtig Erratenes mit Falschem oder Gleich- 
gültigem verbunden wird. Deshalb ist der Gedankenweg, den 
verschiedene Forscher hierbei einschlagen^ auch sehr von Zu- 
fälligkeiten beeinflußt. Die Ähnlichkeit des Verhaltens des 
Lichtes mit jenem der Wasserwellen und der Schallwellen leitet 
Huygens^) zu seiner Lichttheorie. Die Ähnlichkeit desselben mit 
Projektilen und die mangelhafte Beobachtung der Beugung, wonach 
dieselbe dem Licht zu fehlen schien, führen Newton^) zu seiner 
Emissionstheorie. Hooke^) aber beachtet gerade die Periodizität 
des Lichtes, welche von Huygens ganz ignoriert und von 
Newton in anderer Weise interpretiert wird. Dennoch haty^^^r 
dieser Forscher in dieser Frage sich große und bleibende Ver- 
dienste erworben. Jede dieser Analysen war durch Zufällig- 
keiten des Denkens in eine andere Richtung geleitet und alle 
drei schließen sich heute zu einer vollständigeren Analyse zu- 
sammen. 
18. Die Funktion der Hypothese klärt sich weiter auf im 
Lichte der Gedanken Piatons und Newtons über die ana- 
lytische Methode. Wir wollen die unbekannten Bedingungen 
einer Tatsache ermitteln. Über Unbekanntes können wir aber 
keine Gedanken von genügender Klarheit fassen. Wir erdichten 
also vorläufig anschauliche Bedingungen bekannter Art; wir be- 
trachten die Aufgabe, die wir zu lösen haben, versuchsweise 
als gelöst. Der Weg von den angenommenen Bedingungen zur 
Tatsache ist nun verhältnismäßig leicht zu übersehen. Die An- 
nahmen werden jetzt so lange modifiziert, bis dieser Weg genau 
genug zur gegebenen Tatsache führt. Durch Umkehrung des 
Gedankenganges ergibt sich dann auch der Weg von der Tat- 
sache zu deren Bedingungen. Nach Ausschaltung alles Über- 
') Huygens, Traite de la lumiere. 1690. 
») Newton, Optice. 1719. 
») Hooke, Mtcrographia. 1665. 
Das Problem. 271 
flüssigen und Erdichteten aus den Annahmen ist die Analyse 
beendigt. Die geometrische und die naturwissenschaftliche Ana- 
lyse sind der Methode nach nicht verschieden. Beide gebrauchen 
als Mittel die Hypothese. Nur ist in dem weiteren, weniger 
durchforschten, unvollständiger bekannten Gebiete der Natur- 
wissenschaft die Wahl der Hypothesen weniger methodisch ein- 
geschränkt, mehr der Willkür, dem Zufall, dem Glück überlassen, 
und der Gefahr des Irrtums preisgegeben. 
19. Betrachten wir insbesondere die Newtonsche Analyse 
des Lichtes, so sehen wir, daß dieselbe zunächst durch die quan- 
titativ ungenügende Übereinstimmung des damals angenommenen 
Brechungsgesetzes mit den Erscheinungen am Prisma eingeleitet 
wurde. Die Divergenz der aus dem Prisma tretenden farbigen 
Strahlen war nach der Dispersionsrichtung ungefähr fünfmal so 
groß (2° 49'), als man nach dem Gesichtswinkel der Sonne (31') 
erwarten konnte, während die Ausbreitung senkrecht zur Disper- 
sionsrichtung mit der Theorie übereinstimmte. Zwar hatte schon 
Marcus Marci die Vergrößerung der Divergenz der Strahlen 
beim Durchtritt durch das Prisma bemerkt, aber ohne bei seiner 
ungenauen Kenntnis des Brechungsgesetzes hieraus die richtigen 
Schlüsse ziehen zu können. Um diese Inkongruenz verständlich 
zu machen, nahm Newton Strahlen von v^rs^Ä/^^^/z^/z Brechungs- 
exponenten an. Die Annahme, daß dem Rot stets der kleinste, 
dem Violett der größte, auch bei folgenden Brechungen in dem- 
selben Material unveränderliche Brechungsexponent entspreche, 
machte alle Erscheinungen verständlich. Es war ferner unnötig 
anzunehmen, daß die Farben erst durch die Brechung entstünden. 
Auch die Meinung, die Farben entstünden durch eine Mischung 
von Licht und Finsternis, welche schon Boyle und Grimaldi 
bezweifelt hatten, erwies sich jetzt als ganz müßig. Newton 
konnte es aussprechen: Die Farben sind unveränderliche, be- 
ständige, unabhängige Bestandteile des weißen Lichtes, die 
Farben sind Substanzen, „Stoffe^'. In dieser Auffassung wurde 
Newton noch bestärkt durch die unveränderliche jeder Farbe 
eigentümliche Periodenlänge, welche sich bei Analyse der Farben 
dünner Blättchen herausstellte. Es bleibt heute noch aufrecht, 
daß die farbigen Lichter unabhängige, unveränderliche, beständige 
Komponenten des weißen Lichtes sind; nur die Auffassung der- 
272 ^^^ Problem. 
selben als Stoffe (im chemisch-physikalischen Sinne) war will- 
kürlich und einseitig. Sie hatte auch zur Folge, daß Newton 
zwar das Prinzip der Superposition der Strahlen^ nicht aber 
das Prinzip der Superposition der Phasen erkannte, welches 
sich auf dem H o ok e-Huy gen s sehen Wege ergibt. Um die 
Bedeutung von Newtons Analyse voll zu würdigen, muß man 
sich einerseits die Beständigkeit der Pigmentfarben, wie Zinnober, 
Ultramarin u. s. w., andererseits die flüchtigen Farben des 
Regenbogens, der Seifenblasen, der Perlmutter vorstellen, und 
bedenken, wie verschieden und unter wie verschiedenen Um- 
ständen sich dieselben darboten. Nach Newton waren alle 
einheitlich aufzufassen, und die differentesten Glieder der Er- 
scheinungsreihe waren durch das Prinzip der elektiven Absorp- 
tion miteinander verbunden. 
20. Versuchen wir noch, uns den Gedankengang zu rekon- 
struieren, durch welchen das Prinzip des ausgeschlossenen per- 
petüum mobile erschaut wurde. Wir finden Stevin schon im 
Besitz desselben; er leitet viele schwierig zu ermittelnde Sätze 
der Statik fester und flüssiger Körper sehr geschickt aus diesem 
Prinzip ab. Es kann nach den vorliegenden Daten nicht be- 
zweifelt werden, daß Stevin die Kenntnis vieler Spezialfälle der 
Statik von seinen Vorgängern übernommen hat. Daß er auch 
bestrebt war, das Gemeinsame dieser Fälle in einen Ausdruck 
zusammenzufassen, dafür gibt seine Darstellung der Rollen- 
systeme Zeugnis. Er spricht bei dieser Gelegenheit den Satz 
der virtuellen Verschiebungen für einfache Verhältnisse aus. 
Nehmen wir nun an, er hätte sich die Frage gestellt, was das 
Gemeinsame aller statischen Fälle sei, welches Prinzip gelten 
müsse, um die verschiedensten Fälle zu umfassen? Er wird 
wohl bei der damals allgemein üblichen Messung der Kräfte 
durch Gewichte erkannt haben, daß eine Gleichgewichtstörung, 
Einleitung von Bewegung nur stattfindet, wenn ein Überschuß 
von schwerer Masse sinken kann. Eine Bewegung, bei welcher 
die Massenverteilung gleich bleibt, tritt nicht ein; denn würde 
sie einmal eintreten, so müßte sie ewig fortbestehen. Besondere 
Gleichgewichtsgesetze leitet nun Stevin so ab, daß er zeigt, 
daß das Nichtbestehen derselben zur Absurdität der endlosen 
Bewegung ohne Änderung der Gewichtsverteilung führen würde. 
Das Problem. 273 
Spezielle Betrachtungen leiten ihn also zur allgemeinen Gleich- 
gewichtsbedingung. Ist diese einmal erschaut, so dient sie um- 
gekehrt wieder zur Stütze anderer Spezialuntersuchungen, welche 
gewissermaßen die Probe auf die Rechnung darstellen. Stevin 
bietet hier ein Vorbild aller großen Forscher. Für die Richtig- 
keit unserer Annahme über Stevin s Gedankengang spricht aber, 
daß Galilei bei Behandlung der schiefen Ebene fast ebenso 
denkt. Ein solches allgemeines Prinzip wie das Stevinsche hat 
nun den Vorzug vor den einzelnen daraus ableitbaren Sätzen, 
daß dessen Gegenteil sehr stark mit unseren gesamten instink- 
tiven Erfahrungen kontrastiert. — Als nun Galilei die Dynamik 
des schweren Körpers gründete, fand er durch einzelne Über- 
legungen und Versuche die erreichte Fallgeschwindigkeit von 
der Falltiefe abhängig, jede Vergrößerung der Geschwindigkeit 
an eine tiefere, jede Verminderung an eine höhere Lage des 
Körpers gebunden. Besonders ein merkwürdiger Pendelversuch 
führte ihn dazu, die allgemeine Bedingung aller dieser Einzel- 
heiten zu erschauen. Auf welchen Bahnen sich ein schwerer 
Körper auch bewegen mag, so kann derselbe vermöge der er- 
langten Fallgeschwindigkeit doch eben nur wieder das Niveau 
erreichen, welches er fallend mit der Geschwindigkeit Null ver- 
lassen hat. Indem Huygens diese Auffassung auf ein System 
schwerer Körper ausdehnt, gelangt er zu einem Spezialfall des 
später „Satz der lebendigen Kräfte" genannten Gesetzes, dessen 
Gegenteil auch wieder mit unseren instinktiven Erfahrungen 
stark kontrastiert. Dieses besagt nämlich (wie der Galilei sehe 
Satz) nach Huygens' ausdrücklicher Bemerkung, daß die 
schweren Körper nicht von selbst sich erheben. Deshalb löst 
Huygens im Vertrauen auf die Auffassung, und durch dieselbe, 
auch das schwierige Problem des Schwingungsmittelpunktes, 
so wie Galilei mit Hilfe seiner Auffassung Spezialaufgaben 
gelöst hat. In der schärferen Huygens sehen Beleuchtung würde 
das Stevinsche Prinzip lauten: Nur bei Zunahme der mittleren 
Tiefe der schweren Massen kann eine Bewegung derselben be- 
schleunigt werden. Dadurch daß S. Carnot zuerst ausdrücklich 
angenommen hat, daß der mechanische Satz der Erhaltung der 
lebendigen Kräfte auch auf außermechanischem Umwege nicht 
durchbrochen wird, hat er den Weg zum sogenannten Prinzip 
Mach, Erkenntnis und Irrtum. 18 
274 ^^s Problem. 
der Erhaltung der Energie eröffnet. Diese allgemeine Auffassung, 
welche auch wieder unserem Instinkt sehr nahe liegt, hat sich als 
Hilfe zur Lösung von Spezialaufgaben sehr fruchtbar erwiesen. 
Indem so die Forschung immer mehr Einzelheiten der Erfahrung 
in das Licht des bewußten begrifflichen Denkens zieht, wird zu- 
gleich durch die allgemeinsten Prinzipien die Verbindung mit 
den instinktiven Grundlagen unseres psychischen Lebens immer 
enger und fester.^) 
*) Vgl. „Mechanik" und „Prinzipien der Wärmelehre'' 
Die Voraussetzungen der Forschung. 
1. Der in einer gewissen begrenzten Umgebung aufgewach- 
sene und verkehrende Mensch hat oft und oft Körper von einer ge- 
wissen Beständigkeit der räumlichen Größe und Form, der Farbe, 
des Geruches, Geschmackes, der Schwere u. s. w. vorgefunden. 
Er hat sich unter dem Einflüsse der Umgebung und der Macht 
der Association gewöhnt dieselben Empfindungen an einem Ort 
und in einem Augenblick verbunden anzutreffen; er setzt diese 
Beständigkeit der Verbindung gewohnheitsmäßig und instinktiv 
voraus, und diese Voraussetzung wird zu einer wichtigen Be- 
dingung seines biologischen Gedeihens. Die auf einen Ort und 
eine Zeit zusammengedrängten Beständigkeiten der Verbindung, 
welche wohl der Idee einer absoluten Beständigkeit oder Sub- 
stanz zur Grundlage gedient haben, sind nicht die einzigen. 
Der gestoßene Körper gerät in Bewegung, stößt einen anderen 
und setzt diesen in Bewegung, aus dem geneigten Gefäß fließt 
der Inhalt, der losgelassene Stein fällt, das Salz zerfließt im 
Wasser, der brennende Körper entzündet einen anderen, erhitzt 
Metall, bringt es zum Glühen und Schmelzen, u. s. w. Auch 
hier treten uns Beständigkeiten der Verbindung entgegen, nur 
daß sie der Variation des Raumes und der Zeit einen größeren 
Spielraum lassen. 
2. Wir haben die (vorläufigen) letzten gemeinsamen Be- 
standteile unserer physischen und psychischen Erlebnisse Elemente 
genannt. Wir beobachten 1. einfache Beständigkeiten einzelner 
Elemente, 2. Beständigkeiten gleichzeitiger und gleichräumlicher 
Verbindung dieser Elemente, und 3. allgemeinere Beständigkeiten 
der Verbindung dieser Elemente. Die wiederholte, sorgfältigere 
Beobachtung lehrt, daß einzelne Elemente jüberhaupt nicht be- 
18* 
276 ^^^ Voraussetzungen der Forschung. 
Ständig sind. Wenn sie beständig zu sein scheinen, wie die 
Farbe bei gleichbleibender Beleuchtung, die Schwere bei un- 
geänderter Lage gegen die Erde u. s. w., liegt es nur an der 
zufälligen Konstanz anderer mit denselben verbundenen Ele- 
mente. Auch die gleichzeitige und gleichräumliche Verbindung 
ist keine absolute Beständigkeit, wie dies schon durch den 
vorigen Fall beleuchtet wird, und wie namentlich Physik, Chemie 
und Sinnesphysiologie täglich lehren. Es bleibt also nur die 
allgemeine Beständigkeit der Verbindung übrig, von welcher 
die beiden vorausgehenden sehr spezielle Fälle darstellen. Zählen 
wir Raum- und Zeitempfindungen mit zu den Elementen, so 
werden alle Beständigkeiten der Verbindung durch Abhängig- 
keiten der Elemente voneinander erschöpft.^) Natürlich werden 
unter Leitung des biologischen Bedürfnisses zunächst die ein- 
fachsten unmittelbar den Sinnen zugänglichen Abhängigkeiten 
beobachtet, wie dies durch zahlreiche Beispiele schon erläutert 
wurde. Erst später gelingt es, kompliziertere und allgemeinere, 
nur begrifflich darstellbare Abhängigkeiten absichtlich zu er- 
mitteln, in welchen sich die Elemente selbst in den Begriffen 
verbergen. 
3. Ganz so, wie wir reflektorisch und instinktiv unter dem 
Einfluß unserer Organisation, unseres biologischen Bedürfnisses 
und unserer Umgebung greifen gelernt haben, und nun diese 
Fertigkeit mit bewußter Absicht im Dienste des Lebens üben, 
ebenso lernen wir die Voraussetzungen, die sich aus unserer 
psychischen Organisation (Association) und dem Einfluß der Um- 
gebung instinktiv ergeben, und als biologisch förderlich erwiesen 
haben, mit bewußter Absicht und mit Voraussicht des vielfach 
erfahrenen Erfolges festhalten, sobald es sich in der Forschung 
um das Begreifen handelt. 
4. Die Voraussetzung der Abhängigkeit der Erlebnis-Ele- 
mente voneinander braucht durchaus nicht angeboren zu sein; 
wir können im Gegenteil ihre allmähliche Entwicklung beob- 
achten. Das „weil", „da", „folglich" u. s. w. muß sich im Leben 
und in der Sprachbildung der Völker und des einzelnen lange 
») Erhaltung der Arbeit. Prag 1872. S. 35 u. f. — Analyse der Emp- 
findungen. 4. Aufl. S. 258. 
Die Voraussetzungen der Forschung. 211. 
mit der Bedeutung zeitlicher und räumlicher Koinzidenz be- 
gnügen, bevor es bedingende (kausale) Bedeutung erhält.^) Auch 
dauert es recht lange, bis das Verhältnis der gegenseitigen Ab- 
hängigkeit der Elemente voneinander vollständiger und richtiger 
aufgefaßt wird. Dies ist auch ganz verständlich. Wenn alles 
ganz regelmäßig verlaufen würde, ohne die geringste Störung, 
so wie die Nacht auf den Tag folgt, so würden wir uns diesem 
Gang ganz gedankenlos anpassen.^) Erst ein Wechsel von 
Regel und Regellosigkeit nötigt uns, in Verfolgung unseres un- 
mittelbaren oder mittelbaren biologischen Interesses, die Frage 
zu stellen: Warum sind die Ereignisse einmal diese, ein ander- 
mal andere? Was hängt unabänderlich zusammen, was be- 
gleitet sich nur zufällig? Wir gelangen durch diese Unter- 
scheidung zu den Begriffen Ursache und Wirkung. Ursache 
nennen wir ein Ereignis, an welches ein anderes (die Wirkung) 
unabänderlich gebunden ist. Freilich zeigt sich, daß dieses Ver- 
hältnis meist sehr oberflächlich und unvollständig aufgefaßt wird. 
Gewöhnlich werden nur zwei besonders auffallende Bestandteile 
eines Vorganges als Ursache und Wirkung aufgefaßt. Die ge- 
nauere Analyse eines solchen Vorganges zeigt aber dann fast 
immer, daß die sogenannte Ursache nur ein Komplement eines 
ganzes Komplexes von Umständen ist, welcher die sogenannte 
Wirkung bestimmt. Deshalb ist auch, je nachdem man diesen 
oder jenen Bestandteil des Komplexes beachtet oder übersehen 
hat, das fragliche Komplement sehr verschieden. 
5. Hat die Voraussetzung der Beständigkeit der Verbindung 
der Elemente als instinktive Gewohnheit oder als bewußter me- 
thodologischer Zug sich unserem Denken eingeprägt, so suchen 
wir sofort nach einer Ursache jeder neu eintretenden, unerwarteten 
Änderung. Woran hängt es, daß das bisher Beobachtete nicht 
fortbesteht? Hat sich eine unbeachtete, unbemerkte Bedingung 
geändert? Jede Veränderung erscheint als eine Störung der Sta- 
bilität, als eine Auflösung des bisher zusammen Bestehenden. 
Sie hebt den gewohnten Zusammenhang auf, beunruhigt uns, 
*) Geiger, Ursprung und Entwickelung der menschlichen Sprache und 
Vernunft. Stuttgart 1868. 
2) J. F. W. Herschel, The studp of natural philosophy. London 1831. 
S. 35. 
278 ^'^ Voraussetzungen der Forschung. 
setzt ein Problem^ drängt uns, einen neuen Zusammenhang zu 
suchen, nach der Ursache zu forschen.^) 
6. In den höher entwickelten Naturwissenschaften wird der 
Gebrauch der Begriffe Ursache und Wirkung immer mehr ein- 
geschränkt, immer seltener. Es hat dies seinen guten Grund 
darin, daß diese Begriffe nur sehr vorläufig und unvollständig 
einen Sachverhalt bezeichnen, daß ihnen die Schärfe mangelt, 
wie dies schon angedeutet wurde. Sobald es gelingt die Ele- 
mente der Ereignisse durch meßbare Größen zu charakterisieren, 
was bei Räumlichem und Zeitlichem sich unmittelbar, bei anderen 
sinnlichen Elementen aber doch auf Umwegen ergibt, läßt sich 
die Abhängigkeit der Elemente voneinander durch den Funktions- 
begriff^) viel vollständiger und präziser darstellen, als durch so 
wenig bestimmte Begriffe, wie Ursache und Wirkung. Dies gilt 
nicht nur dann, wenn mehr als zwei Elemente in unmittelbarer 
Abhängigkeit (das Beispiel vom Gas /?v/7'=konst. S. 135), 
sondern noch viel mehr, wenn die betrachteten Elemente nicht 
in unmittelbarer, sondern in mittelbarer, durch mehrfache Ketten 
von Elementen vermittelter Abhängigkeit stehen. Die Physik 
mit ihren Gleichungen macht dieses Verhältnis deutlicher, als es 
Worte tun können. 
7. Bei unmittelbarer Abhängigkeit zweier oder mehrerer 
Elemente, wobei z. B. sämtliche Elemente durch eine Gleichung 
verbunden sind, ergibt sich jedes Element als Funktion der an- 
deren. In der alten Ausdruckweise müßten wir sagen: In diesem 
Falle sind die Begriffe Ursache und Wirkung vertauschbar. 
Wenn z. B. zwei gravitierende Massen sich allein gegenüber- 
stehen, oder zwei wärmeleitende Körper allein sich berühren, so 
ist die Geschwindigkeitsänderung des einen die Ursache der 
Geschwindigkeitsänderung des anderen und umgekehrt, die Tem- 
peraturänderung des einen die Ursache der Temperaturänderung 
des anderen und umgekehrt. Wenn ein heißer Körper A durch 
Vermittelung anderer Körper ß, C . . . an einen Körper A'' Wärme 
überträgt, so ist nicht mehr allein die Zustandsänderung von A 
maßgebend für die Zustandsänderung von A^, sondern alle Mittel- 
*) Analyse der Empfindungen. 4. Aufl. S. 249. 
2) A. a. O. S. 74—78. — Erhaltung der Arbeit. S, 35 u. f. 
Die Voraussetzungen der Forschung. 279 
körper und deren Anordnung haben mitzusprechen. Natürh'ch 
kann jetzt auch nicht die Zustandsänderung von N allein als 
bestimmend für die Zustandsänderung von A gelten. Das Ver- 
hältnis der Umkehrbarkeit hat aufgehört. Selbst in dem ein- 
fachen Falle, daß man alle Körper als Punkte ansehen kann, 
wird man so viele simultane Differentialgleichungen aufzustellen 
haben, als Körper vorhanden sind. Jede Gleichung enthält im 
allgemeinen die Variablen, welche sich auf alle Körper beziehen. 
Gelingt es eine Gleichung zu gewinnen, die bloß die Variable 
eines Körpers enthält, so läßt sich diese integrieren. Dies führt 
auch zu den übrigen Integralen, in welchen die Konstanten durch 
den Anfangszustand bestimmt werden. Die Durchführung eines 
solchen einfachsten Beispiels ist genügend, das Unzureichende 
der vulgären Begriffe Ursache und Wirkung und deren Über- 
flüssigkeit gegenüber dem Funktionsbegriff fühlbar zu machen.^) 
8. Betrachtet man die physikalischen Vorgänge genau und 
im einzelnen, so scheint es, daß man alle unmittelbaren Ab- 
hängigkeiten als gegenseitige und simultane ansehen kann. 
Für die vulgären Begriffe Ursache und Wirkung gilt das gerade 
Gegenteil, weil sie eben in ganz unanalysierten Fällen einer 
vielfach vermittelten Abhängigkeit Anwendung finden. Die 
Wirkung „folgt" der Ursache, und das Verhältnis ist „nicht 
umkehrbar". Als Beispiel diene die Explosion des Pulvers im 
Geschütz und das Einschlagen des Projektils, ferner ein leuch- 
tendes Objekt und die Lichtempfindung. In beiden Fällen liegen 
Ketten von vermittelter Abhängigkeit von einer Unzahl von 
') Ich habe irgendwo gelesen, daß ich „einen erbitterten Kampf" gegen 
den Begriff Ursache führe. Dies ist nicht der Fall, denn ich bin kein Religions- 
stifter. Ich habe diesen Begriff für meine Bedürfnisse und Zwecke durch 
den Funktionsbegriff ersetzt. Findet jemand, daß hierin keine Verschärfung, 
keine Befreiung oder Aufklärung liegt, so wird er ruhig bei den alten Be- 
griffen bleiben; ich habe weder die Macht noch auch das Bedürfnis, jeden 
einzeln zu meiner Meinung zu bekehren. Als jemand verklagt wurde, daß 
er nicht an die Auferstehung glaube, soll Friedrich II. resolviert haben: „Wenn 
N. am jüngsten Tage nicht mit auferstehen will, so mag er meinetwegen liegen 
bleiben." Diese Kombination von Humor und Toleranz ist im allgemeinen sehr 
empfehlenswert. Die nach uns kommen, werden sich einmal recht verwun- 
dern, worüber wir streiten, und noch mehr, wie wir uns dabei ereifern 
konnten. 
280 ^'^ Voraussetzungen der Forschung. 
Gliedern vor. Der getroffene Körper restituiert nicht die Arbeit 
des Pulvers, die empfindende Netzhaut nicht das Licht; beide 
sind nur Glieder der Kette der Abhängigkeiten, die sich auf 
anderen Wegen fortsetzen, als sie eingeführt worden sind. Der 
Körper liefert etwa fliegende Sprengstücke, der Wahrnehmende 
greift vielleicht nach dem leuchtenden Objekt. Der ganze 
Vorgang braucht nicht deshalb momentan und umkehrbar zu 
sein, weil er sich auf eine vielfache Kette simultaner und um- 
kehrbarer Abhängigkeiten gründet. Wir kommen auf diesen 
Punkt noch zurück.') 
9. Die Auffassung der Kausalität ist also nicht immer 
dieselbe gewesen, sie hat im Lauf der Geschichte sich geändert, 
und kann auch noch ferner sich ändern. Um so weniger wird 
man glauben, daß es sich hier um einen angeborenen Ver- 
standsbegriff handelt. Das Hume-Kantsche Problem wurde 
schon anderwärts besprochen.^) Hier sei nur noch wenig hin- 
zugefügt. Die psj>chische Individualität entwickelt sich durch 
Wechselbeziehung des Subjekts und dessen Umgebung. Gewiß 
bringt der Organismus auch schon Angeborenes mit, vielleicht 
sogar viel mehr, als Kant angenommen hat. Vor allem ist die 
Reflexerregbarkeit angeboren. Nicht nur das System der Raum- 
und Zeitempfindungen ist angeboren, sondern auch die spezi- 
fischen Energien aller Sinne mit den inbegriffenen Sj>stemen der 
möglichen Empfindungen.^) Allerdings hat es sich gezeigt, daß 
der physiologische Raum und die physiologische Zeit ohne Hilfe 
der physischen Erfahrung weder eine wissenschaftliche Geo- 
metrie, noch eine wissenschaftliche Mathematik begründen könnten. 
•) Zu der letzteren Ausführung bin ich durch ein für mich lehrreiches 
kleines psychologisches Erlebnis veranlaßt worden. Ein Mann, ersichtlich 
kein Naturforscher, aber philosophisch und poetisch hochbegabt, gelangte zu 
der Ansicht, dali wie das Bild auf der Netzhaut Empfindung, so auch um- 
gekehrt eine lebhafte Gesichtsvorstellung ein Netzhautbild hervorrufen 
müßte, welches auf irgend eine Art nachgewiesen werden könnte, und ver- 
langte von mir die Ausführung dieses hoffnungslosen Versuchs. Der Funk- 
tionsbegriff hätte ihn kaum so irre leiten können, wie es hier der Ursachen- 
begriff getan hat. 
*) Prinzipien der Wärmelehre. 2. Aufl. S. 432 u.f. 
*) Vgl. F. J. Schmidt, Crundzüge der konstitutiven Erfahrungsphilo- 
sophie. Berlin 1901. 
Die Voraussetzungen der Forschung. 281 
Die Frage: „Wie ist reine Mathematik (a priori) möglich?" ent- 
hielt also zweifellos einen der wichtigsten Forschungskeime. 
Wichtiger aber wäre es noch gewesen, wenn sie nicht die Voraus- 
setzung enthalten hätte, daß die Erkenntnisse der Mathematik a 
priori gewonnen werden. Denn nicht philosophische Dekrete, 
sondern nur die positiven psycho-physiologische Forschungen 
können feststellen, was angeboren ist. Was die Kausalitäts- 
auffassung betrifft, so können höchstens die Grundlagen der 
Möglichkeit der Association, die organischen Verbindungen an- 
geboren sein, denn die Associationen selbst sind nachweislich 
individuell erworben (vgl. S. 33). Der Gedanke einer angeborenen 
Kausalitätsauffassung hat einen so hochstehenden Forscher wie 
Whewell zu wunderlichen Wendungen verführt, obgleich er 
eigentlich als ein recht freier Kantianer bezeichnet werden muß. 
Fries und seine Schule, insbesondere Apelt, welchen wir sehr viel 
in Begründung einer rationellen naturwissenschaftlichen Methodik 
verdanken, machen ja gewaltige Anstrengungen sich von den 
Fesseln Kants zu befreien, ohne daß es ihnen vollständig ge- 
lingen würde. (Siehe die Beispiele S. 138 — 140.) Erst Beneke 
unter den Deutschen macht wesentliche Fortschritte. Er sagt 
ausdrücklich: „Wir haben im vorigen den Satz durchgeführt, 
daß alle Begriffe ohne Ausnahme, auch die Kant sehen Kate- 
gorien, durch Zusammenfassung von Anschauungen entstehen; 
und so können wir uns denn so weit Whewells Ansicht nicht 
zu eigen machen."^) „Die allgemeinste Einteilung der 
Wissenschaften aus diesem Gesichtspunkte ist die in Wissen- 
schaften, welche sich auf das durch äußere Eindrücke Auf- 
gefaßte^ und solche, die sich auf das Innerlich- Prädeterminierte 
beziehen. Die letzteren enthalten allerdings gewissermaßen 
Erkenntnisse des a priori der Erfahrung in uns Gegebenen. 
Aber man hat bei der näheren Bestimmung dieses Verhältnisses 
bisher darin gefehlt, daß man die in der ausgebildeten Seele 
hervortretenden Formen als schon vor der Erfahrung, oder be- 
stimmter, der Entwicklung der Seele gegebene (angeborene) 
voraussetzt. Dies ist falsch: Die Formen, welche für die Er- 
*) Beneke, System der Logik als Kunstlehre des Denkens. Berlin 
1842. S. 23. 
282 ^'^ Voraussetzungen der Forschung. 
Kenntnis zunächst vorliegen, sind erst in der Entwicklung der 
Seele entstanden.^ vor derselben nur prädeterminiert in an- 
geborenen Anlagen und Verhältnissen, welche ganz andere 
Formen an sich tragen."^) Ich wüßte diesen trefflichen allge- 
meinen Bemerkungen nichts erhebliches hinzuzufügen. 
10. Die natürliche Entwicklung führt also dazu, daß die 
instinktive Erwartung von Beständigkeiten, die durch die Wechsel- 
beziehung des Subjektes und seiner Umgebung sich heraus- 
gebildet hat, schließlich als absichtliche j bewußte, als erfolg- 
reich erprobte und neuen Erfolg versprechende methodologische 
Voraussetzung, als Postulat an die Forschung herangebracht 
wird. In der Tat ist die Absicht ein Gebiet zu erforschen nur 
mit der Annahme der Erforschbarkeit desselben vereinbar.^) 
Diese setzt aber Beständigkeiten voraus, denn was sonst sollte 
durch die Forschung ermittelt werden? Solche Beständigkeiten 
sind aber Abhängigkeiten der Elemente des Gegebenen von- 
einander, funktionale Beziehungen oder Gleichungen zwischen 
diesen Elementen. Wenn eine Gleichung erfüllt ist, so liegt 
hierin eine erweiterte, verallgemeinerte substanzielle Auffassung, 
aber auch eine weiter entwickelte, verschärfte, geläuterte kausale 
Auffassung. Es kommt im allgemeinen wenig darauf an, ob 
wir die Gleichungen der Physik als den Ausdruck von Sub- 
stanzen, Gesetzen, oder in besonderen Fällen von Kräften an- 
sehen; jedenfalls drücken sie funktionale Abhängigkeiten aus. 
Als einfaches, sofort verständliches Beispiel sei nur das Energie- 
gesetz angeführt, welches sich differenten Auffassungen sehr 
wohl fügt, die wir darum auch gar nicht als so grundverschieden 
betrachten können, als sie oft erscheinen.^) 
11. Die Richtigkeit der Position des .^Determinismus''' oder 
.^Indeterminismus^' läßt sich nicht beweisen. Nur eine vollendete 
oder nachweisbar unmögliche Wissenschaft könnte hier ent- 
scheiden. Es handelt sich hier eben um Voraussetzungen, die 
man an die Betrachtung der Dinge heranbringt, je nachdem 
») A. a. O. II. S. 282. 
*) Vgl. Oelzelt-Newin, Kleinere philosophische Schriften. Wien 1901. 
(Naturnotwendigkeit und Gleichförmigkeit des Naturgeschehens als Postulate. 
S. 28—42.) Die Ausführungen des Verfassers stehen meiner Ansicht sehr nahe. 
*) Prinzipien der Wärmelehre. S. 423 u. f. 
Die Voraussetzungen der Forschung. 283 
man den bisherigen Erfolgen oder Mißerfolgen der Forschung 
ein größeres subjektives Gewicht beimißt. Während der Forschung 
aber ist jeder Denker notwendig theoretisch Determinist. Dies 
ist auch dann der Fall, wenn er mit bloßen Wahrscheinlich- 
keiten zu tun hat. Der Hauptsatz Jacob Bernoullis/) das 
„Gesetz der großen Zahlen", läßt sich nur auf Grund determi- 
nistischer Voraussetzungen ableiten. Wenn ein so überzeugter 
Determinist wie Laplace, der von einer Weltformel träumen 
konnte, sich gelegentlich zu der Äußerung verleiten läßt, daß 
aus der Kombination von Zufälligkeiten die wunderbarste Regel- 
mäßigkeit sich ergeben kann,') so darf dies nicht so verstanden 
werden, als ob z. B. die statistischen Massenerscheinungen 
mit dem keinem Gesetz unterliegenden Willen vereinbar wären. 
Die Sätze der Wahrscheinlichkeitsrechnung gelten nur dann, 
wenn Zufälligkeiten durch Komplikationen verdeckte Regel- 
mäßigkeiten sind.^) Nur dann können für gewisse Zeiträume 
gewonnene Mittelzahlen einen vernünftigen Sinn haben. ^) 
12. Die Annahme von Beständigkeiten im allgemeinen 
schließt aber nicht die Annahme der Unfehlbarkeit einer solchen 
Annahme im einzelnen ein. Der Forscher muß im Gegenteil 
stets der Enttäuschung gewärtig sein. Er weiß ja nie, ob er 
alle für einen Fall in Betracht kommenden Abhängigkeiten 
schon berücksichtigt hat. Seine Erfahrung ist ja räumlich und 
zeitlich beschränkt, bietet ihm nur einen kleinen Ausschnitt des 
Weltgeschehens. Keine Tatsache der Erfahrung wiederholt sich 
vollkommen genau. Jede neue Entdeckung deckt Mängel unserer 
Einsicht auf, enthüllt einen bisher unbeachteten Rest von Ab- 
hängigkeiten. So muß also auch derjenige, welcher in der Theorie 
einen extremen Determinismus vertritt, praktisch doch Indeterminist 
bleiben, namentlich dann, wenn er sich nicht die wichtigsten Ent- 
deckungen wegspekulieren will. 
13. Die Wissenschaft besteht tatsächlich. Wissenschaft ist 
nicht möglich ohne eine gewisse, wenn auch nicht vollkommene 
»)Jac. Bernoulli, Ars conjectandi. Basel 1713. 
*) Laplace, Essai philosophique sur les probabilitös. ßme Ed. Paris 1840. 
») Analyse d. E. 4. Aufl. S. 65. 
*) Fries, Kritik der Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Braun- 
schweig 1842. 
284 ^'ß Voraussetzungen der Forschung. 
Stabilität der Tatsachen und eine dieser entsprechende, durch 
Anpassung sich ergebende Stabilität der Gedanken. Die letztere 
Stabilität läßt auf die erstere schließen, setzt die erstere voraus, 
ist von der ersteren ein Teil. Vielleicht gibt es keine voll- 
kommene Stabilität. Jedenfalls reicht aber die Stabilität so weit, 
daß sie genügt, ein förderliches Ideal einer Wissenschaft zu be- 
gründen.^) 
14. Ist man so weit gelangt, auf die Abhängigkeit der 
Elemente voneinander zu achten und absichtlich nach derselben 
zu suchen^ so ergibt sich die Methode, dieselbe zu finden^ von 
selbst. Was voneinander abhängt, ändert sich im allgemeinen 
miteinander. Die Methode der sich begleitenden Veränderungen 
ist überall der Führer. Auf derselben beruhen die spärlichen 
Anweisungen des Aristoteles für den Forscher ebenso, wie 
die ausführlicheren Aufstellungen des Bacon. Indem J. F. 
W. Herschel die unauflösliche Verbindung von Ursache und 
Wirkung, sowie das Folgen der letzteren auf die erstere ins 
Auge faßt, ferner in Betracht zieht, daß die Verstärkung, das 
Verschwinden, die Umkehrung der ersteren dieselben Verände- 
rungen der letzteren bedingt, stellt er die leitenden Regeln der 
Forschung auf.^) Die vielen Vorbehalte, zu welchen er sich 
gedrängt sieht, lassen deutlich erkennen, das er das Unzu- 
reichende der beiden Begriffe als erfahrener Forscher ganz 
wohl fühlt. Wie sollte auch ein Experimentator nicht wissen, 
daß der Parallelismus der Variation, der bei einfachen Ab- 
hängigkeiten meist ^) zutrifft, nicht ohne weiteres auch für kom- 
pliziertere und vermittelte Abhängigkeiten vorausgesetzt werden 
') Vgl. Erhaltung der Arbeit. S. 46. Ferner: Petzoldt, Das Gesetz 
der Eindeutigkeit. Viertel), f. wissensch. Philosophie, XIX. S. 146 u. f. — 
Endlich: Analyse der Empfindungen. S. 274. 
=*) Preliminary Discourse ect. S. 151 u. f. 
*) Verwendet man den Funktions- statt des Ursachenbegriffes, so ist es 
sofort klar, daß zwei durch eine Funktionalbeziehung verbundene Variable 
nicht zugleich Null werden müssen, daß nicht einmal allgemein der Änderung 
jier einen eine Änderung der andern entsprechen muß. Man denke etwa an 
die Temperatur und die elektromotorische Kraft der Berührungsstelle zweier 
Metalle, welche bei Temperatursteigerung zunimmt, dann abnimmt, Null wird 
und endlich sogar den Sinn umkehrt. 
Die Voraussetzungen der Forschung. 285 
darf. Am ausführlichsten hat MilP) die Anweisungen zur 
Forschung in schematischer Form dargestellt. Denkt man sich 
die Ursache und die Wirkung meßbar und aller Werte fähig, 
so ergeben sich alle Mil Ischen Methoden als spezielle Fälle 
der Methode der sich begleitenden Veränderungen. Ist in dem 
Komplex AB CD das A die Ursache von Z), so ist D in allen 
Komplexen vorhanden^ in welchen A vorhanden ist (Methode 
der Übereinstimmung). Wird ^4 = 0, so tritt statt des Kom- 
plexes AB CD der Komplex BC auf, in welchem auchZ) = 
ist (Methode der Differenz). Durch andere Spezialisierungen 
ergeben sich auch die übrigen Methoden. Die leitenden Ge- 
danken, die Schwierigkeiten und Komplikationen sind im wesent- 
lichen dieselben bei Herschel und Mill. WhewelP) hat die 
Aufstellungen Mills und dessen Beispiele treffend kritisiert. 
Nutzlos ist die Schematisierung der Denkprozesse des Forschers, 
welche die Form derselben zum klaren Bewußtsein bringt, 
gewiß nicht; eine große Erleichterung der Forschung in beson- 
deren Fällen darf man aber von derselben nicht erwarten. Die 
Schwierigkeit liegt ja vielmehr in der Auffindung der maß- 
gebenden Elemente des Komplexes AB CD, als in der Form 
des Schlusses. Hat man aber auch, mit oder ohne Hilfe der 
Mi 11 sehen Schemata, die Abhängigkeit eines Elementes D von 
einem andern A überhaupt erkannt, so ist hiermit, wie jeder 
Naturforscher weiß, nur das Allervorläufigste erledigt; denn 
jetzt beginnt erst die wichtigste Arbeit, das Suchen nach der 
Art der Abhängigkeit. In den meisten Fällen kann man dem 
Mil Ischen Schema nur dann einen guten Sinn abgewinnen, 
wenn man sowohl das A wie das D als einen ganzen Komplex 
von Elementen auffaßt. Der Forscher wird nun mit Rücksicht 
auf den Zweck und das Ziel der Forschung nach Möglichkeit 
solche Komplexe A und D in Untersuchung ziehen, die sich 
gegenseitig eindeutig bestimmen. Denn nur durch die Kenntnis 
solcher Komplexe ist er im stände, teilweise gegebene Tatsachen 
in Gedanken zu ergänzen, oder, wenn sich die Ergänzung auf 
*) Mill, System der deduktiven und induktiven Logik. Deutsch von 
Th. Gomperz. Leipzig 1884. 
2) Whewell, on the Philosophp of Discovery. London 1860. S. 238 
bis 291. 
/ 
286 ^^^ Voraussetzungen der Forschung. 
die Zukunft bezieht, zu prophezeien. Hierbei können ihm die 
Mi 1 Ischen Anweisungen kaum von Nutzen sein. 
15. Mit dem Funktionsbegriff und der Methode der Ver- 
änderung ausgestattet betritt der Forscher seinen Weg. Was er 
sonst noch nötig hat, muß ihn die spezielle Kenntnis seines Ge- 
bietes lehren. Dafür lassen sich keine allgemeinen Anweisungen 
geben. Die Methode der Veränderung liegt sowohl der qualita- 
tiven als auch der quantitativen Untersuchung zu Grunde, wird 
in gleicher Weise beim Beobachten und beim Experiment ver- 
wendet und leitet nicht minder das Experimentieren in Gedanken, 
welches zur Theorie führt. 
Beispiele von Forschungswegen. 
1. Wollte man kurz und allgemein zutreffend das Streben 
des Naturforschers, seine Tätigkeit in jedem einzelnen Fall, das 
Ziel, dessen Erreichung ihn befriedigt, bezeichnen, so müßte man 
sagen: Er will seine Gedanken mit den Tatsachen und erstere 
untereinander in möglichst gute Übereinstimmung bringen. Die 
„vollständige und einfachste Beschreibung" (Kirch ho ff 1874), 
„die ökonomische Darstellung des Tatsächlichen" (Mach 1872), 
„Übereinstimmung des Denkens mit dem Sein und Überein- 
stimmung der Denkprozesse unter sich" (Grassmann 1844) 
geben mit geringen Variationen demselben Gedanken Ausdruck. 
Anpassung der Gedanken an die Tatsachen wird in der Mit- 
teilung an andere zur Beschreibung, zur ökonomischen Dar- 
stellung des Tatsächlichen bei vollständiger einfachster Beschrei- 
bung. Jede vermeidliche Inkongruenz, jede Unvollständigkeit, 
jede logische Differenz oder Abundanz der beschreibenden Ge- 
danken bedeutet einen Verlust, ist unökonomisch. So allgemein 
und wenig bestimmt diese Charakteristik der Forschung auch 
erscheinen mag, dürfte sie mehr zum Verständnis der Tätigkeit 
des Forschers beitragen als speziellere, dafür aber einseitigere 
Beschreibungen dieser Tätigkeit. Erläutern wir dies durch 
Beispiele. 
2. Die wissenschaftlichen astronomischen Vorstellungen haben 
sich (wie S. 101, 233 erwähnt) aus den naiven vulgären Ansichten 
entwickelt. Die Drehung des Himmelsgewölbes, der Fixstern- 
sphäre um die Erde ist der unmittelbare Ausdruck der Be- 
obachtung. Die Bewegungen der Sonne und des Mondes sowie 
der Planeten sind von jener der Fixsternsphäre verschieden. 
288 Beispiele von Forschungswegen. 
Hipparch^) versucht zuerst die Bewegung von Sonne und 
Mond durch Epicykel darzustellen. Es gelingt ihm dadurch, 
die Ungleichherten der Bewegung aus einer viel einfacheren 
geometrischen Vorstellung ableitbar zu machen. Die Methode der 
Epicykel wird von Ptolemaeus^) auf die Bewegung der Planeten 
ausgedehnt. Die von Philolaus,') Archptas/) Aristarch^) 
angebahnte heliozentrische Auffassung bricht endlich mit Ko- 
pernikus*') definitiv durch. Hierdurch werden, wie Kepler^) 
zeigt, 11 Bewegungen des geozentrischen Systems überflüssig. 
Von der Voraussetzung ausgehend, daß das Planetensystem von 
mystischen Zahlen- und geometrischen Verhältnissen beherrscht 
sein müsse, bemüht sich Kepler durch höchst phantastische 
Konstruktionen mittels der fünf regulären Körper, diese Ver- 
hältnisse zu ergründen.^) Diese Spekulationen führen ihn aber 
nach 22 Jahren zur Entdeckung des Gesetzes, daß die dritte 
Potenz der Entfernung geteilt durch das Quadrat der Umlaufs- 
zeit für alle Planeten dieselbe Zahl gibt (sein 3. Gesetz). Er 
erläutert dies an dem Beispiel der Erde und des Saturn.^) Durch 
das Studium der Marsbewegung auf Grund der Tychonischen 
Beobachtungen ergibt sich zunächst das Sektorengesetz ^°) als 
physikalische Hypothese, die sich nachträglich bewährt. Er denkt 
sich nämlich die „motrices animas", welche die Himmelskörper 
um den Zentralkörper herumtreiben mit der Entfernung von 
letzterem abgeschwächt. Dieser Gedanke leitet ihn sowohl zum 
dritten und auch zum zweiten (Sektoren-) Gesetz.*^) Nach vielen 
vergeblichen Versuchen verfällt er auf die elliptische Planeten- 
bahn^-) mit dem Brennpunkt in der Sonne. Diese drei Gesetze 
Geb. um 160 v. Chr. 
Beobachtete ungefähr 125—150 n. Chr. 
Um 410 V. Chr. 
Um 400 V. Chr. 
Lebte 310—250 v. Chr. 
Copernicus, De revolutlonibus orbium coelestium. 1543. 
Kepler, Mysterium cosmographicum. 1596. Cap. I. 
Ebendaselbst. 
Harmonice Mundi. 1619. Lib. V, S. 189, 190. 
Astronomia nova. De Motibus stellae Martis. 1609. S. 194. 
Mysterium cosmographicum. Cap. 20, 2 Ed, p. 75. 
Ebenda S. 285 u. f. 
Beispiele von Forschungswegen. 289 
werden dann von Kepler auch auf die übrigen Planeten aus- 
gedehnt.^) Newtons Leistung besteht nun darin, daß er diese 
immer noch zahlreichen Einzelbeschreibungen, aus der Annahme 
einer verkehrt dem Quadrate der Entfernung von der Sonne 
proportionalen Beschleunigung der Planeten ableitbar macht. 
Diese Beschleunigungen betrachtet er als besondere Fälle einer 
allgemeinen gegenseitigen Beschleunigung der Massen, von 
welcher die Fallbeschleunigung der schweren Körper auf der 
Erde der bekannteste besondere Fall ist. Hiermit macht Newton 
die astronomischen Bewegungen zu einer Aufgabe der allge- 
meinen physikalischen Mechanik. Auch diesen Schritt finden 
wir übrigens schon durch die Ansichten des Kopernikus^) 
und besonders des Kepler^) über die Schwere als allgemeine 
gegenseitige Massenanziehung vorbereitet. Kepler braucht nicht 
nur die motrices animas zum Herumführen im Kreise, sondern 
äußert auch, daß der Mond zur Erde fallen würde, „si Luna et 
Terra non retineretur vi animali, aut alia aliqua aequipollenti, 
quaelibet in suo circuitu."*) Beiden fehlte eben noch die von 
Galilei und Huygens gewonnene Einsicht in dynamische Vor- 
gänge, um auch diesen Schritt herbeizuführen. 
3. Betrachtet man diese Entwicklung, so kann man in der- 
selben die fortschreitend immer genauere Nachbildung der 
astronomischen Tatsachen in Gedanken nicht verkennen. Erst 
sind die scheinbaren Bewegungen der Himmelskörper auf der 
Fixsternsphäre in rohen Zügen aufzufassen, dann ziehen die Un- 
gleichheiten die Aufmerksamkeiten auf sich, endlich auch die 
Entfernungen von der Erde und ihre Änderungen. Heute kann 
auch die Fixsternsphäre weder als eine Sphäre, noch als un- 
veränderlich betrachtet werden. Der Prozeß ist nicht abge- 
schlossen und wohl auch nicht abschließbar.^) Zugleich sehen 
') Epitome astronomiae Copernicanae. 1619. 
2) A. a. O., Lib. I, Cap. 9. Die Schwere wird daselbst schon allen 
Himmelskörpern zugeschrieben. 
*) Astronomia nova. Insbesondere die fünfte Seite der Introductio. Hier 
wird von der gegenseitigen Schwere von Erde und Mond gesprochen, daß 
der Mond das Wasser der Erde an sich ziehen würde, wenn dieses nicht 
gegen die Erde schwer wäre u. s. w. 
*) Am zuvor angeführten Orte. 
*) Seit man weiß, daß der Fixsternhimmel veränderlich und die Fixsterne 
Mach, Erkenntnis und Irrtum. 19 
290 Beispiele von Forschungswegen. 
wir die Nachbildung in Gedanken, oder die Beschreibung, sich 
fort und fort vereinfachen oder ölconomischer gestahen, so daß 
sie zuletzt gar nicht mehr auf die Tatsachen beschränkt ist, für 
welche sie ursprünglich hergestellt wurde, sondern für ein viel 
weiteres Gebiet zureicht. Daß aber die Schritte, welche zu Ver- 
einfachungen führen, nicht auf Augenblicksschlüssen beruhen, die 
nach irgend einer Formel ausgeführt werden können, sieht man 
aus dem Zeitaufwand, den sie erfordern. Keplers Astronomia 
nova ist durch seine eigenen Geständnisse und durch die offene 
Darlegung seiner Irrwege besonders lehrreich. Erst 22 Jahre 
Arbeit brachten ihm den erwünschten Erfolg. Aber auch von 
Newton wissen wir, daß Jahre zwischen dem ersten Einfall und 
der Ausführung seines Gedankens liegen. Eine mächtig wuchernde 
Phantasie fördert zahllose Ausgeburten zu Tage, bevor eine 
oder die andere als das richtige Mittel der Vereinfachung er- 
kannt wird, und durch den Versuch sich als solches auch bewährt. 
Planmäßiges Suchen kann wenig nützen, wenn man den erlösen- 
den Gedanken selbst noch nicht kennt, der erst, nachdem man 
denselben erraten hat, dem überraschten Finder sich als solcher 
offenbart. Mit dem Ziele fest im Auge in den Produkten der 
Phantasie zu wühlen, ist hier vorteilhafter. Das „Mysterium 
cosmographicum" und die „Harmonice mundi" sind da sehr lehr- 
reich. Die Astronomie, deren Entwicklung sich durch Jahr- 
tausende durch die verschiedensten Köpfe fortspinnt, zeigt recht 
augenscheinlich, daß die Wissenschaft keine persönliche An- 
gelegenheit ist, sondern nur als soziale Angelegenheit be- 
stehen kann. 
4. Das Bedürfnis nach den klärenden, vereinfachenden Ge- 
danken muß natürlich dem untersuchten Gebiet selbst entspringen. 
Diese Gedanken können aber aus irgend einem andern Gebiet 
herstammen. Die Epicykel sind dem erfahrenen Geometer oder 
praktischen Mechaniker leicht zur Hand. ^) Alltägliche Er- 
ungleich weit sind, ist das ursprüngliche koperni Rani sehe Koordinaten- 
spstem wieder mit einer Unsicherheit behaftet. Aber auch ein rein terrestri- 
sches System wäre schwerlich mit genügender Genauigkeit festzuhalten. 
^) Jedem Mathematiker muß es auffallen, daß die Darstellung einer will- 
kürlichen periodischen Bewegung durch Epicykel auf demselben Prinzip be- 
ruht, welches der Anwendung der Fourierschen Reihen zu Grunde liegt. So 
berührt sich unsere moderne mathematische Physik mit der antiken Astronomie. 
Beispiele von Forschungswegen. 291 
fahrungen über scheinbare Bewegungen und perspektivische 
Verschiebungen kommen ersichtlich Kopernikus zu Hilfe. Zu 
allem diesem gesellen sich bei Kepler mystische und ani- 
mistische Gedanken. Endlich erscheint Newton, der Physiker 
und überragende Geometer, fügt sein Werk hinzu, und beseitigt 
das nunmehr Überflüssige. Beim Wettbewerb um die Lösung 
solcher Fragen ist die Weife des Vorstellungskreises für den 
Sieg vielleicht ebenso wichtig, wie die Schärfe des kritischen 
Urteils über den ökonomischen Wert der zufällig gewählten und 
auf die Probe gestellten Gedanken. Psychologisch möglich muß 
natürlich der Weg sein, den auch das größte Genie einschlägt, 
denn wie sollte sonst der normale Durchschnittsmensch ihm folgen 
können? Die Dynamik muß vorbereitet, muß vorhanden sein, um 
in der Astronomie Anwendung zu finden. Wie groß aber trotzdem 
der Einfluß des individuellen psychischen Entwicklungsganges 
ist, zeigt eine aufmerksame Betrachtung. Huygens, der 
Astronom und Physiker, hat alle Mittel selbst entwickelt, die 
das Planetensystem erklären. Er löst trotzdem die Frage nicht, 
ja er vermag der fertigen Lösung kein rechtes Verständnis ab- 
zugewinnen. Wer an die Schwere als das Maßgebende für die 
astronomischen Bewegungen dachte, mußte ja bald den Kern 
der Frage finden. Unabhängig von der Entfernung konnte die 
Schwere nicht sein, da sonst nicht einmal die Steine auf der 
Erde gegen die Erde fallen würden, und da hierbei das 3. Kep- 
ler sehe Gesetz nicht bestehen könnte. Man mußte also nach 
einer andern Abhängigkeit der Fallbeschleunigung von der Ent- 
fernung suchen, und das 3. Gesetz weist deutlich auf die ver- 
kehrt quadratische hin. In der Tat hat Hook e, als Mathematiker 
mit Huygens nicht vergleichbar, durch Gedanken über die 
Strahlung der Schwere unterstützt, diesen Kern erfaßt und sogar 
einem Newton vorweggenommen. Allein die ganze mathe- 
matische Aufgabe hat nur Newton bewältigt. 
5. Betrachten wir ein weiteres Beispiel. Die seit der antiken 
Zeit bekannten elektrischen und magnetischen Erscheinungen 
wurden sehr oberflächlich aufgefaßt und häufig konfundiert, bis 
Gilbert^) den Unterschied scharf hervorhob, und Guericke^) 
1) Gilbert, De Magnete. 1600. 
ä) Guericke, Experimenta Magdeburgica. 1672. S. 136, 147. 
19* 
292 Beispiele von Forschungswegen. 
ein genaueres Studium der Elektrizität einleitete. Die Entdeckung 
zweier verschiedener elektrischen Zustände durch Dufay,^) die 
Erkenntnis des Unterschiedes der Leiter und Nichtleiter, der 
Reichtum der allmählich bekannt werdenden Erscheinungen, er- 
möglichten Coulomb 2) die Begründung einer vollständigeren 
dualistischen mathematischen Theorie im Gegensatze zur älteren 
unitarischen des Aepinus.^) Die magnetischen Erscheinungen 
konnte Coulomb in ganz ähnlicher Weise behandeln. Beide 
Theorien wurden von Poisson*) weiter entwickelt, und die 
Analogie zwischen Magnetismus und Elektrizität trat nun aufs 
neue hervor. Diese bloße Analogie ließ schon einen Zusammen- 
hang beider Gebiete vermuten, welche Vermutung noch durch 
zufällige Beobachtungen, wie die Magnetisierung von Stahl- 
nadeln durch elektrische Entladungen, bestärkt wurde, ohne doch 
zu einem faßbaren Ergebnis zu führen. Als nun Volta^) durch 
Konstruktion seiner Säule dem Studium der Elektrizität eine 
neue Anregung gab, wurden auch wieder erfolglose Versuche 
veranlaßt, jenem Zusammenhang nachzugehen. O erste dt war 
endlich so glücklich, einen solchen Zusammenhang zu finden. 
Er bemerkte wohl zufällig, bei Gelegenheit einer Vorlesung, die 
Beunruhigung der Magnetnadel durch die Schließung einer 
Vo haschen Säule. Hier hatte er nun plötzlich den Faden in 
der Hand, nach dem er und andere so lange gesucht hatten, 
und es galt nur, denselben nicht mehr loszulassen. Indem 
O erste dt ^) die Nadel in alle möglichen Lagen gegen den 
Schließungsdraht brachte, konnte er eine zusammenfassende Be- 
schreibung aller hierher gehörigen Erscheinungen geben, die nur 
durch ihre Umständlichkeit und die ungewohnten Ausdrücke 
dem heutigen Leser weniger zusagt, sonst aber ganz korrekt 
ist. Ampere faßte die Tatsachen in die Regel zusammen: Der 
nach Norden weisende Pol (der Nordpol) der Nadel weicht zur 
Linken des mit dem positiven Strom schwimmenden, dem Pol 
') M6m. de TAcad^mie de Paris. 1733. 
«) Coulomb, M6m. de Paris. 1788. 
') Aepinus, Tentamen theoriae Electricitatis et Magnetismi. 1759. 
*) M6m. de Paris. 1811. 
») Philos. Transact. 1800. 
•) Oerstedt, Gilberts Annalen. 1820. 
Beispiele von Forschungswegen. 293 
zugewendeten Beobachters aus. Den Ausdruck „Strom" ge- 
braucht erst Ampere, während Oerstedt „elektrischer Konflikt" 
sagt. Oerstedt erkennt, daß der elektrische Konflikt keine 
Anziehung bestimmt, daß derselbe durch Glas, Holz, Metall, 
Wasser u. s. w. hindurch sich geltend macht, dieselben Be- 
wegungen der Nadel bestimmt, daß derselbe demnach keine 
elektrostatische Anziehungs- oder Abstoßungs-Kraft ausübt, daß 
derselbe nicht auf den leitenden Draht beschränkt ist, sondern 
sich um diesen weithin im Räume verbreitet. Er stellt sich vor, 
daß die eine elektrische Materie in einem Sinn um den Draht 
herumwirbelt und den Nordpol mitnimmt, während die andere 
im entgegengesetzten Sinne wirbelnde den Südpol mitnimmt. 
In der Tat wirbelt, wie wir wissen, bei geeigneter Veranstaltung 
ein Pol um den Stromleiter. Diese naiven Vorstellungen, welche 
den heutigen viel näher stehen, als die um die Mitte des vorigen 
Jahrhunderts geltenden Schul Vorstellungen, wurden von Th. See- 
beck ^) und Faraday^) in diesem Sinne weiter entwickelt und 
geklärt. Seebeck stellt schon die ringförmigen magnetischen 
Kraftlinien des Stromes wirklich dar, und betrachtet die durch- 
strömte Kette als eine Art ringförmigen Magnet. Sehen wir uns 
den Fall genau an, so bemerken wir, daß hier etwas Gesuchtes 
durch einen glücklichen Zufall gefunden wurde, welches aber 
ebensogut auch ungesucht sich dem aufmerksamen Beobachter 
hätte darbieten können, wie z. B. die Röntgen-Strahlen und 
manche andere Entdeckung. Aber zwei Umstände, die niemand 
voraussehen konnte, schlössen das Finden nach einem Plan aus. 
Erstens konnte niemand wissen, daß nur ein dynamischer elek- 
trischer Zustand einen statischen magnetischen bestimmen würde. 
Deshalb blieben auch die vielen Versuche, eine Wirkung der 
*) Th. Seebeck, Über den Magnetismus der galvanischen Kette, 1820, 
1821 in der Berliner Akademie gelesen. 
*) Faradap, Electro-magnetic Rotation Apparatus. 1822. (Experimental 
Researches in Electricity. Vol. II, p. 147.) — on the phpsical character of 
lines of magnetic force. 1852. (Exp. Res. Vol. III, p. 418, n. 3265.) — Die 
elektromagnetischen Rotationen waren deshalb so wichtig, weil Ampere an 
denselben erkannte, daß die (auf folgender Seite erwähnten) ponderomoto- 
fischen Fernwirkungen der Ströme nicht auf elektrostatische Wirkungen 
zurückführbar seien, sondern daß hier etwas fundamental Neues vorliege. 
Vgl. Duhem, La Theorie physique, S. 203 u. f. 
294 Beispiele von Forschungswegen. 
offenen Kette auf den Magnet zu finden, deren O erste dt er- 
wähnt, erfolglos. Wie hätten Leute Versuche mit dynamischen 
Zuständen erfinden sollen, welche nur statische Erscheinungen 
kannten? Zweitens ist in der Elektrostatik fast^) alles symmetrisch 
in Bezug auf positiv und negativ, ebenso in der Magnetostatik. 
Wer hätte je erwarten können, daß der Nordpol aus der durch 
die Nadel und den parallelen Stromleiter bestimmten Ebene e//z- 
s^/V/^ (unsymmetrisch) ausweichen würde? Mit den Entdeckungen 
nach einer Formel oder Regel, sofern sich schon dagewesene 
intellektuelle Situationen nur wiederholen, hat es eine eigene 
Bewandtnis; solche Entdeckungen sind eben keine eigentlichen 
Entdeckungen. (Vgl. S. 200.) Jeder, der das Oerstedtsche 
Experiment geistig mit erlebte, mußte eine mächtige Erschütterung 
erfahren, denn er gewann plötzlich den Blick in eine neue bisher 
ungeahnte Welt. Was war das für ein sonderbares physikalisches 
Etwas, das hier die sonst scheinbar vollkommene Symmetrie störte? 
6. Der Fund Oerstedts hatte die Phantasie und den Eifer 
der durch Erfolglosigkeit ermüdeten Forscher mächtig angeregt, 
und rasch folgten nun wichtige Entdeckungen, welche den Zu- 
sammenhang zwischen Elektrizität und Magnetismus weiter ent- 
hüllten. Daß bewegliche Stromleiter auch durch den Magnet 
einen Antrieb erhalten, war als mechanische Gegenwirkung zu 
erwarten, und schon von Oerstedt nachgewiesen worden. 
Ampere vermutete eine Wechselwirkung der Ströme unterein- 
ander auf Grund des magnetähnlichen Verhaltens der Ströme. 
Seine Vermutung schien ihm selbst gewagt, da weiche Eisen- 
stücke sich Magneten gegenüber auch als Magnete, gegen- 
einander aber indifferent verhalten. Das Experiment gab ihm 
aber recht. Wenn auch seine mathematische Theorie, 2) die von 
der Newton sehen Vorstellung fernwirkender Elementarkräfte 
stark beeinflußt war, der heutigen Kritik nicht Stand halten kann, 
so zeigte er doch, wie man sich in ihren Wirkungen alle Ströme 
durch Magnete und alle Magnete durch Ströme ersetzt denken 
kann. Er schuf der damaligen Physik in kürzester Zeit und in 
glänzender Weise ein vorzügliches Mittel der weiteren Forschung. 
») Wenn man von den einseitigen Entladungsvorgängen, Lichtenberg- 
schen Figuren u. s. w. absieht. 
*) Ampere, Theorie des Ph6n. ölectrodpnamiques. Paris 1826. 
Beispiele von Forsc/wngswegen. 295 
7. Wenn Ströme sich Magneten gegenüber als Magnete ver- 
halten, darf man erwarten, daß sie Eisen und Stahl gegenüber 
sich ebenso verhalten werden. Doch scheint Arago^) nicht 
durch diese Überlegung allein, sondern auch durch eine zufällige 
Beobachtung zur Entdeckung des Elektromagnetismus geleitet 
worden zu sein. Ein stromführender in Eisenfeile tauchender 
Draht umhüllte sich mit Spänen bis zur Dicke eines Feder- 
kieles und ließ bei Stromunterbrechung die Späne wieder fallen. 
Dies veranlaßte ihn, Eisenstäbchen und Stahlnadeln durch den 
quer darüber gehaltenen Stromleiter, erstere temporär, letztere 
dauernd zu magnetisieren. Auf Amperes Vorschlag legte Arago 
dann die Stäbchen in stromleitende Spulen. Eine andere Ent- 
deckung verdankte Arago ^) der zufälligen Beobachtung der 
starken Dämpfung einer ober einer Kupferplatte schwingenden 
Magnetnadel. Die Annahme der Gegenwirkung veranlaßte ihn, 
die Kupferscheibe in rasche Rotation zu versetzen, wobei die 
Magnetnadel mitrotierte, das Kupfer also (scheinbar) „Rotations- 
magnetismus" zeigte. — Die Aufgabe, durch einen Strom aus 
weichem Eisen einen Magnet zu erzeugen, war gelöst. Farad ay^) 
versuchte lange vergebens, durch Magnete Ströme zu erzeugen, 
bis ihm ein glücklicher Zufall auf die Spur half. Er beobachtete 
während des Einschiebens und Herausnehmens des magnetischen 
Kerns einer Spule an dem in letztere eingeschalteten Galvano- 
meter einen momentanen Ausschlag. Die Entdeckung der 
Induktion war hiermit gesichert, und bald kannte Farad ay> alle 
ihre Formen und Regeln. Es war ihm nun leicht, in Aragos 
rotierender Scheibe Ströme nachzuweisen, welche natürlich auch 
magnetisch wirkten. Dies hatte niemand vorher versucht, ob- 
gleich es nach dem Amp er eschen Prinzip der Äquivalenz von 
Strömen und Magneten recht nahe lag. Man sieht aus letzterem 
Falle, daß bei weitem nicht alle möglichen oder auch nur nahe- 
liegenden Gedankenwege eingeschlagen werden. Je größer aber 
die Zahl der Forschenden, desto mehr garantiert die Verschieden- 
heit der Individuen die Erschöpfung der psychologischen Möglich- 
keiten, und desto rascher ist der wissenschaftliche Fortschritt. 
') Ann. de chimie et de physlque. 1820. T. XV, p. 94. 
2) Ann. de chimie et de phpsique. 1825. T. XXVIll, p. 325. 
8) Philos. Transact. 1832. 
296 Beispiele von Forschungswegen. 
Natürlich hätte die allseitige Untersuchung der Arago sehen 
rotierenden Scheibe 7 Jahre früher zur Entdeckung der Induktion 
führen müssen. Letztere Entdeckung ist aber noch in anderer 
Beziehung merkwürdig. Es wiederholt sich, wie man Jetzt ohne 
Schwierigkeit sieht, in derselben nahezu die Oerstedtsche 
intellektuelle Situation. Ein A verhält sich gleichgültig gegen 
ein 5, nicht aber gegen eine Änderung von B, Im ersten Fall 
ist B der statische Zustand, im zweiten die stationäre Strömung. 
Ein Genie wie Farad ay denkt erst recht nicht nach einer solchen 
Formel, die sich ja nachträglich leicht abstrahieren läßt. 
Bemerken wir nur kurz, weil diese Darlegung einen breitern 
Raum beanspruchen würde, daß die Maxwell-Hertzschen^) 
Gleichungen nur eine vollständigere Klarlegung des Verhält- 
nisses von Elektrizität und Magnetismus enthalten, welche jetzt 
nur ein untrennbares Ganzes ausmachen, und die daran sind, 
das Gebiet der Optik zu absorbieren, so haben wir hier ein 
zweites Beipiel einer wissenschaftlichen Entwicklung, welche von 
der antiken bis in die moderne Zeit reicht. 
8. Der eigentümliche Geruch, der während der Wirkung der 
Elektrisiermaschine namentlich beim Ausströmen der Elektrizität 
durch Spitzen auftritt, ist von Van Mar um 2) beobachtet worden. 
Schönbein hatte 1839 mehrmals Gelegenheit, diesen Geruch 
bei Blitzschlägen gleichzeitig mit der Entwicklung eines bläu- 
lichen Dunstes, und später bei der Elektrolyse von Wasser an 
dem entwickelten Sauerstoff wahrzunehmen. Die geschäftige, 
ergänzende Phantasie des Chemikers bezog diesen Geruch auf 
einen gasförmigen Stoff, denn nur ein solcher konnte das Ge- 
ruchsorgan affizieren. Dies geschah um so leichter, als der 
riechende Stoff eingetauchtes Gold oder Platin rasch negativ 
polarisierte, Silber und andere Metalle rasch oxydierte, also be- 
sondere chemische Eigenschaften aufwies, die derselbe durch 
Erhitzung wieder verlor. Ebenso natürlich war es, daß Schön- 
bein diesen von ihm Ozon benannten, dem Sauerstoff bei- 
gemischten, von diesem verschiedenen Stoff zunächst für eine 
Verbindung hielt. Die Bemerkung, daß der Phosphor bei lang- 
») Hertz, Werke. Leipzig 1895. I. S. 295. — II. S. 208—286. 
*) Van Mar um, D^scription d'une tres grande machine electrique. 1785. 
Beispiele von Forschungswegen. 2ff7 
samem Verbrennen in der Luft den charakteristischen Geruch 
ebenfalls entwickelt, führt zu chemischen Versuchen, des Ozons 
habhaft zu werden, die vielfache Kontroversen hervorrufen. De 
la Rive beweist 1845, daß das Ozon ein allotropischer Sauer- 
stoff ist, wie Marignac vermutet hatte. Welche wichtige Rolle 
die Phantasie bei Entdeckungen spielt, indem sie die Verglei- 
chung und Zusammenpassung der Wahrnehmungen mit den unter 
andern Umständen gewonnenen Erfahrungen (Erinnerungen) er- 
möglicht, ist an diesem Beispiel sehr deutlich.^) Wie verschieden 
sich dieselbe Sache in verschiedenen Köpfen spiegelt, und wie 
wichtig und förderlich die Teilnahme verschiedener intellektueller 
Individualitäten bei Behandlung derselben Frage ist, zeigt ein 
genaueres Studium der Ozonfrage ebenfalls.^) Endlich liegt 
hier ein typisches Beispiel der Eröffnung neuer Forschungswege 
durch eine zufällige Beobachtung vor, die sich einem Individuum 
darbietet, dessen Interesse dadurch berührt wird. 
9. Als Daguerre versuchte, auf jodierten Silberplatten durch 
Belichtung in der Camera obscura Bilder zu erzeugen, gelang 
ihm dies nicht, trotz vielfacher Bemühungen. Er verwahrte 
hierauf die Platten in einem Schrank. Als er jedoch nach 
Wochen die Platten wieder herausnahm, fand er auf denselben 
die schönsten Bilder vor, ohne sich erklären zu können, wie sie 
entstanden waren. Die Entfernung der Apparate und Reagentien 
aus dem Schrank änderte nichts; die eingebrachten belichteten 
Platten zeigten nach einigen Stunden immer wieder Bilder. 
Endlich wurde es klar, daß eine Quecksilber enthaltende Wanne, 
welche zurückgeblieben war, das Wunder bedingte, indem sich 
die Quecksilberdämpfe nach Art der Mos ersehen Hauchbilder 
an den belichteten Stellen niedergeschlagen hatten. Es gelang 
ihm, die verwischbaren Bilder durch Vergoldung zu fixieren.^) 
Hier führte also der Zufall zu einer gesuchten Erfindung und 
*) Vgl. die ausführliche Erzählung bei Kahlbaum und Schaer, Ch. 
F. Schönbein. Ein Blatt zur Geschichte des 19. Jahrhunderts. 1901. 
*) Ebendaselbst wird auch dargelegt, wie sehr Schönbein den Mit- 
forschenden gegenüber im Nachteil war, weil er die Hilfe der atomistischen 
Vorstellungen verschmähte. 
*) Gekürzt erzählt nach Liebig, Induktion und Deduktion. Reden und 
Abhandlungen. 1874. S. 304—306. 
298 Beispiele von Forschungswegen. 
ZU einer ungesuchten Entdeckung. Im Wesen der Methode der 
Variation macht es keinen Unterschied, ob die für den Vorgang 
maßgebenden Begleitumstände durch physische Variation, oder 
bei genügend angepaßten Gedanken durch Gedankenexperimente 
gefunden werden. Um sich zu vergegenwärtigen, in wie mannig- 
faltiger Weise der physische und der psychische Zufall bei Ent- 
deckungen und Erfindungen beteiligt ist, braucht man nur einige 
berühmte Namen herzuzählen, wie Bradley, Fraunhofer, Fou- 
cault, Galvani, Grimaldi, Hertz, Hooke, Kirchhoff, 
Malus, J. R. Maper, Roemer, Röntgen u. a. Fast jeder 
Forscher hat den Einfluß des Zufalls erfahren. 
10. Der Stamm der Pflanzen wächst im ganzen der Schwere 
entgegen nach aufwärts, die Wurzel in der Schwererichtung 
nach abwärts. Es ist also ein natürlicher Gedanke, bei der 
steten Verbindung dieser beiden Umstände, die Schwere als Be- 
dingung dieser Wachstumsrichtung anzusehen. Zudem hat Du 
HameP) besondere Versuche angestellt, welche zeigen, daß die 
gewaltsame Richtungsänderung wachsender Pflanzen durch diese 
selbst immer kompensiert wird, und daß dieselben, immer wieder 
sich krümmend, in ihre normale Richtung hineinwachsen. Knight ^) 
hat besonders wichtige Experimente hinzugefügt. Er befestigte 
auf der Achse eines kleinen vertikalen Wasserrades ein zweites 
Rad von 11 Zoll Durchmesser, welches 150 Umdrehungen in 
der Minute machte, und auf welchem in den verschiedensten 
Lagen angebrachte Gartenbohnen keimten und wuchsen. Die 
Schwererichtung variierte in Bezug auf die Pflanzen so rasch 
und regelmäßig, daß sie für die letzteren nicht bestimmend sein 
konnte. Dagegen richteten sich dieselben jetzt nach der Zentri- 
fugal-Massenbeschleunigung. Die Wurzeln wuchsen nun aus- 
wärts, die Stengel aber gegen die Achse zu, überschritten diese 
und kehrten nach der Achse zu um.^) Auf einem horizontalen 
Rade von 11 Zoll Durchmesser und 250 Umdrehungen in der 
') Du Hamel, La phpsique des arbres. Paris 1738. T. II. p. 137. 
4 Philosophical Transact. 1806. 
") Die Zentrifugalbeschleunigung bei konstanter Umlaufszeit ist pro- 
portional der Entfernung von der Achse. Die Umkehrung tritt also dort 
ein, wo die Massenbeschleunigung für die Pflanze den Schwellenwert 
erreicht. 
Beispiele von Forschungswegen. 299 
Minute setzte die Zentrifugal- und die Schwerebeschleunigung 
sich zu einer Resultierenden zusammen, deren Richtung nun für 
das Wachstum maßgebend war.^) Der Klinostat von Sachs, ^) 
der bei sehr geringen Dimensionen und sehr langsamen Um- 
drehungen die Wirkungen der Schwere aufhebt und keine merk- 
liche Zentrifugalbeschleunigung entwickelt, gestattet den auf 
demselben befestigten Pflanzen, nach jeder beliebigen Richtung 
zu wachsen. Mit Unrecht scheint mir aber Sachs ^) auf der- 
artige Experimente nur einen geringen Wert zu legen. Es kann 
ja für den unbefangenen Blick höchst wahrscheinlich sein, daß 
die Schwere für die Wachstumsrichtung bestimmend ist, und doch 
kann letztere durch ganz andere übersehene Umstände bestimmt 
sein. Erst die Experimente von Knight haben durch Variation 
der Größe und Richtung der Massenbeschleunigung zur Evidenz 
erwiesen, daß diese maßgebend ist. Erst durch das Experiment 
ist man auch im stände gewesen, den Einfluß verschiedener Um- 
stände (Licht, Luft, Bodenfeuchtigkeit) von der Schwere zu 
trennen. Mi 11 hat ja sehr gut dargelegt, daß die Methode der 
Übereinstimmung nie so sicher leiten kann, als die Methode der 
Differenz oder die Methode der Begleitveränderung. War nun 
auch die Schwere als das Bestimmende der Wachstumsrichtung 
erwiesen, so blieb doch die Art dieser Wirkung fast durch ein 
Jahrhundert noch ein Rätsel. Noll'^) war der erste, welcher 
vermutete, daß durch den Schwerkraftreiz die geotropische An- 
passung der Pflanzen in ähnlicher Weise ausgelöst werde, wie 
letzteres bei den Tieren durch die Statolithen geschieht. Durch 
die Untersuchungen von Haberlandt und Nemec hat es sich 
herausgestellt, daß bei den Pflanzen die Stärkekörner die Rolle 
der Statolithen übernehmen, welche durch besondere Perceptions- 
oder Auslösungsorgane die geotropische Anpassung bestimmen.^) 
^) Nach den Dimensionen des Rades und den Umlaufszeiten zu urteilen 
(<p = 4TC*r//^) verwendete Knight Zentrifugalbeschleunigungen, welche am 
äußern Rande des Rades der Schwerebeschleunigung gleich, drei ein halb- 
mal und fast zehnmal so groß waren als die Schwerebeschleunigung. Das 
Verhältnis variiert bei einer Umlaufszeit mit der Distanz von der Achse. 
*) Sachs, Vorlesungen über Pflanzen-Phpsiologie. 1887. S. 721 u. f. 
») Ebenda. S. 719. 
*) Noll, Über Geotropismus, Jahrb. f. wissensch. Botanik XXXIV. 1900. 
■*) Haberlandt, Physiologische Pflanzenanatomie. 1904. S. 523— 534. 
300 Beispiele von Forschungswegen. 
11. Eine der merkwürdigsten Fragen, welche die Menschen 
seit jeher beschäftigt hat, ist die nach der Entstehung der organi- 
schen Wesen. Aristoteles glaubte an die Urzeugung, an die 
Entstehung des Organischen aus Unorganischem, und das späte 
Mittelalter teilte noch seine Meinung. Van Helmont (1577 bis 
1644) gibt noch eine Anweisung, Mäuse hervorzubringen. Der 
Gedanke, den Homunculus in der Retorte herzustellen, mochte 
damals nicht gar so abenteuerlich erscheinen. Redi (1626—1697), 
ein Mitglied der Accademia del Cimento, zeigte, daß in faulendem 
Fleisch keine „Würmer" auftreten, wenn man die eierlegenden 
Fliegen durch einen feinen Flor abhält. Als aber durch den 
Gebrauch des Mikroskops eine Menge sehr kleiner, schwer zu 
verfolgender Organismen bekannt wurde, mußten derartige Fragen 
wieder schwer zu entscheiden sein. Needham^) kam zuerst 
auf den Gedanken, organische Stoffe in Glasgefäßen zu erhitzen, 
um alle Keime zu töten, und dieselben nachher hermetisch zu 
verschließen. Dennoch zeigten sich nach einiger Zeit die ein- 
geschlossenen Flüssigkeiten von Infusorien belebt. Spallan- 
zani^) glaubte durch seine analogen Versuche das Gegenteil 
erweisen zu können, während Needham einwarf, Spallanzani 
hätte bei seinem Verfahren auch die zum Leben der Organismen 
nötige Luft verdorben. Obgleich Appert das Verfahren Spallan- 
zani s mit Erfolg zur Herstellung von Konserven anwandte, und 
obgleich noch andere Forscher wie Gay-Lussac, Schwann 
Schroeder, Dusch u. a. sich an der Untersuchung beteiligten, 
blieb die Frage wegen nicht vollständiger Aufdeckung der Fehler- 
quellen dieser schwierigen Experimente doch unentschieden. 
Pasteur^) wurde durch das Studium der Fermente, in welchen 
er durchaus organisierte Wesen zu erkennen glaubte, auf die 
Frage der Urzeugung geleitet. Indem er große Quantitäten Luft 
durch ein Rohr aspirierte, dessen Lumen durch einen Pfropf von 
Schießbaumwolle verlegt war, fing er in diesem den Staub der 
Luft auf. Durch Lösung des Pfropfes in Äther und Alkohol 
und Auswaschen wurde der Staub gewonnen. Die mikroskopische 
Untersuchung zeigte einen Gehalt an organischen Keimen, der 
') Needham, New microscopical discoveries. London. 1745. 
*) Spallanzani, Opuscules de Phpsique animale et v^g^tale. 1777. 
») Pasteur, Ann. de chimie et de physique. 3. Serie. T. LXIV. 1862. 
Beispiele von Forschungswegen. 301 
jedoch, je nachdem man Stadt-, Land- oder Bergluft schöpfte, 
verschieden und ungleich reich war. Kocht man Wasser, welches 
Zucker und Eiweiß enthält, einige Minuten in einem Kolben, läßt 
bei der Abkühlung nur Luft eintreten, welche durch ein glühendes 
Platinrohr gestrichen ist, und schließt hierauf den Kolben durch 
Zuschmelzen hermetisch, so kann dieser mehrere Monate bei 
25 — 30° C. stehen bleiben, ohne daß sich in der Flüssigkeit 
Organismen entwickeln. Wird nun in einen solchen Ballon unter 
den nötigen Vorsichten, welche nur den Eintritt geglühter Luft 
gestatten, nach Abbrechen der zugeschmolzenen Spitze ein in 
dem Zuleitungsrohr vorbereitetes Röhrchen mit dem staubgefüllten 
Pfropf in den Kolben geleitet und dieser wieder durch Zu- 
schmelzen des Halses geschlossen, so zeigen sich in demselben 
nach 24 — 48 Stunden regelmäßig organische Bildungen. Aus- 
geglühter Asbest, in den Kolben eingeführt, zeigt nur organische 
Bildungen, wenn er zuvor mit Staub angesaugt wurde. In 
offenen Kolben mit mehrfach gekrümmtem dünnen Hals bleibt 
die gekochte Flüssigkeit auch nach dem Erkalten sehr lange 
unverändert stehen, da der Staub in den feuchten gekrümmten 
Röhren festgehalten wird. Versucht man jedoch, statt des Zu- 
schmelzens, die Flüssigkeit durch Umkehren der Mündung nach 
unten und Eintauchen in Quecksilber abzuschließen, so werden 
die an der Oberfläche und im Innern des Quecksilbers ent- 
haltenen Keime alsbald lebendig. 
12. Diese auch durch die Aufdeckung der Fehlerquellen 
wertvollen Experimente beweisen entscheidend, daß die uns 
bekannten Organismen nur aus organischen Keimen sich ent- 
wickeln. Die allgemeine Frage der Urzeugung greift aber zu 
weit und zu tief, um durch ein einfaches physikalisches Experi- 
ment entschieden zu werden. Man kann mit Fechner^) der 
Meinung sein, daß nicht das Unorganische, sondern das Or- 
ganische das Primäre sei, daß letzteres in das Unorganische als 
seinen stabilsten Endzustand übergehen könne, nicht aber um- 
gekehrt. Die Natur ist nicht gebunden, mit dem für unser Ver- 
ständnis Einfacheren zu beginnen. Nach dieser Ansicht entsteht 
') Eine Vergleichung der Ansicht Fechners mit der von Boltzmann 
über den 2. Hauptsatz der Thermodynamilc geäußerten s. Prinz, d. Wärme- 
lehre S. 381. 
302 Beispiele von Forschungswegen. 
die Schwierigkeit, den Beginn des Organischen auf der einst- 
mals höher temperierten Erde zu begreifen. Sollten auch orga- 
nische Keime durch die Meteoritentrümmer anderer Weltkörper 
auf die Erde übertragen worden sein, so können wir an eine 
lebende Übertragung nur bei den niedersten Organismen denken. 
Nur die höchst entwickelte Descendenzlehre könnte diese Schwierig- 
keit lösen. Was nötigt uns aber, einen so schroffen Unterschied 
zwischen dem Organischen und Unorganischen anzunehmen, zu 
glauben, daß der Übergang von ersterem zu letzterem absolut 
nicht umkehrbar sei? Vielleicht besteht eine scharfe Grenze 
überhaupt nicht. Chemie und Phj>sik sind zwar noch weit vom 
Verständnis des Organischen, doch haben sie darin schon manches 
geleistet, und leisten täglich mehr. Pasteur hielt noch alle Fer- 
mente für organisiert. Heute wissen wir, daß den Ferment- 
wirkungen analoge katalytische Beschleunigungen möglicher Um- 
setzungen (Ostwald) auch im Gebiete des Unorganischen 
anzutreffen sind. Denken wir uns einen Kulturzustand, in dem 
wir die Natur des Feuers noch sehr wenig kennen, in dem wir 
das Feuer wohl zu löschen, aber nicht zu erzeugen verstehen, 
und ganz auf die Benützung natürlich vorkommenden Feuers 
angewiesen sind. Wir würden da mit Recht sagen: Feuer kann 
nur von Feuer abstammen. Doch wissen wir es heute besser.*) 
Wie man auf den Gedanken kommen konnte, die Frage der 
Urzeugung mit dem Satz der Erhaltung der Energie in Zusam- 
menhang zu bringen, ist mir gänzlich unerfindlich. 
13. Die besprochenen wissenschaftlichen Entwicklungen 
beginnen meist in weit entlegener Vorzeit mit sehr primitiven 
Vorstellungen, sind aber in der Gegenwart durchaus nicht ab- 
geschlossen. Statt der gelösten oder als nichtig erkannten Pro- 
') Wie alt und instinktiv naheliegend die Beziehung von Leben und 
Brennen ist, sehen wir aus dem an eine Missetat des Kambyses anknüpfenden 
Bericht Herodots (Lib. III, Cap. 16): „Die Ägypter halten das Feuer für 
ein lebendes Tier, welches alles verzehrt, was es erlangen kann, und das 
dann mit dem Verzehrten zugleich stirbt." Vgl. bei Ostwald (Vorlesungen 
über Naturphilosophie, 1902, S. 312 u. f.) eine ausführlichere Parallele zwischen 
der Selbsterhaltung des Lebens und der Flamme. Vgl. ferner W. Roux 
(Vorträge und Aufsätze über Entwicklungsmechanik, 1905). Besonders an- 
sprechend sind daselbst die Ausführungen über Urzeugung und die Ver- 
gleichung der Flamme mit einem organischen Wesen, S. 108 u. f. 
Beispiele von Forschungswegen. 303 
bleme sind neue, zahlreichere und meist schwierigere aufgetreten. 
Die Erkenntnis wird auf sehr mannigfaltig gewundenen Pfaden 
gewonnen, und die einzelnen Schritte sind zwar durch die vor- 
ausgegangenen bedingt, aber auch durch rein zufällige physische 
und psychische Umstände mitbestimmt. Die moderne Astronomie 
muß an die antike anknüpfen. Die letztere macht Anleihen bei 
der Geometrie. Der ersteren kommt die zufällig und ganz 
unabhängig von derselben entwickelte Physik und namentlich 
die Dynamik zu Hilfe. Die zufällig und unabhängig entwickelte 
technische und theoretische Optik begründet ebenfalls einen 
neuen Aufschwung der Astronomie. Später treten sogar Astro- 
nomie und Chemie sich gegenseitig fördernd in Verbindung. 
Wie wäre unsere moderne Elektrizitätslehre möglich ohne Hilfe 
der Glas- und Metalltechnik, der Luftpumpe, der Chemie? 
Wieviel haben aber auch die großen historischen Zufalls- 
gedanken^ wieviel hat die Gravitationstheorie, von welcher die 
Potentialtheorie ausgegangen, beigetragen! Die Schematisierung 
der ausgeführten Erkenntnisschritte mag ja die weitere Forschung 
einigermaßen fördern bei Wiederholung derselben Situationen. 
Von einer ausgiebig wirksamen Anweisung zur Forschung nach 
Formeln kann aber nicht die Rede sein. Immer aber bleibt 
es richtig, daß wir die Gedanken den Tatsachen und die Ge- 
danken untereinander anzupassen bestrebt sind. In der bio- 
logischen Entwicklung entspricht dem: die Anpassung der Orga- 
nismen an die Umgebung und die Anpassung der Teile des 
Organismus aneinander. 
Deduktion und Induktion 
in psychologischer Beleuchtung. 
1. Nach der von Aristoteles herstammenden Lehre gibt 
es zwei Arten von Schlüssen oder widerspruchlosen Ableitungs- 
weisen von Urteilen aus anderen Urteilen: den Schluß von einem 
allgemeineren Urteil auf das besondere, durch das erstere be- 
stimmte Urteil, den Syllogismus, und den Schluß von den be- 
sonderen Urteilen auf das dieselben zusammenfassende allgemeine 
Urteil, das jetzt den Namen Induktion führt. 
Die eine Wissenschaft, ein System bildenden 
Urteile, sind vollkommen, ohne Widerspruch 
einander angepaßt, wenn sie nach diesen 
Schlußweisen auseinander ableitbar sind. 
Hiernach ist schon klar, daß die Regeln der 
Logik nicht die Aufgabe haben können, 
neue Erkenntnisquellen zu eröffnen. Die- 
selben können vielmehr nur dazu dienen, 
die aus anderen Quellen geschöpften Er- 
kenntnisse auf ihre Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung 
zu prüfen, und im letzteren Falle auf die Notwendigkeit der 
Herstellung voller Übereinstimmung hinzuweisen. 
2. Betrachten wir zunächst den durch Fig. 7 graphisch 
erläuterten Syllogismus in dem konventionellen Beispiel: 
Alle Menschen sind sterblich (allgem. Obersatz) oder: B ist A 
Ca jus ist ein Mensch (besond. Untersatz) C ist B 
Ca jus ist sterblich (Schlußsatz) C ist A 
MilP) hat hervorgehoben, daß man durch den Syllogismus 
keine Einsicht gewinnen kann, die man nicht schon vorher hatte, 
Fig. 7. 
*) Mill, Spstem der deduktiven und induktiven Logik. Deutsch von 
Gomperz. 1884. I, S. 209 u. f. 
Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung. 305 
da der Obersatz nicht allgemein ausgesprochen werden darf, 
wenn man nicht auch des Spezialfalles, des Schlußsatzes sicher 
ist. Die Sterblichkeit kann ja nicht von allen Menschen be- 
hauptet werden, bevor sie nicht auch von Cajus gilt. Zur Auf- 
stellung des Obersatzes muß der bloße Logiker den Tod aller 
künftigen Cajus e abwarten, und kein auf den Syllogismus an- 
gewiesener Cajus kann die Gewißheit seiner eigenen Sterblich- 
keit erleben. Zwar werden nur wenige Menschen an die Schöpfung 
von Erkenntnissen aus nichts durch die Allmacht der Logik ge- 
glaubt haben, doch hat Mills Kritik, wie aus den an dieselbe 
geknüpften Diskussionen hervorgeht, recht klärend und förderlich 
gewirkt.^) Kant hatte ja längst erkannt, daß Wissenschaften, 
wie Arithmetik und Geometrie, nicht aus bloßen logischen Ab- 
leitungen sich aufbauen, sondern daß andere Erkenntnisquellen 
hierzu nötig sind.^) Die reine Anschauung a priori hat sich 
allerdings als solche Erkenntnisquelle nicht bewährt. Auch 
Beneke^) ist vollkommen klar darüber, daß Syllogismen „in 
keiner Weise über das Gegebene hinausführen". Sie bringen 
nur die Abhängigkeit der Urteile voneinander zu klarem Be- 
wußtsein. Für den unachtsamen Beobachter der psychischen 
Vorgänge kann allerdings leicht der Schein durch Syllogismen 
herbeigeführter erweiterter Einsicht entstehen. Gehen wir z. B. 
von dem Satze aus, daß der Außenwinkel u eines Dreieckes 
gleich ist der Summe der beiden gegenüberliegenden Innen- 
winkel a-\- b. Lassen wir nun zwei gleiche Seiten in dem 
Scheitel des Außenwinkels zusammenstoßen, so ist jetzt infolge 
der besonderen Konstruktion ü = 2a. Legen wir den Mittel- 
punkt eines Kreises in den Scheitel des Außenwinkels, während 
die Peripherie durch die beiden andern Ecken geht, so finden 
wir infolge der neuen Konstruktion den Zentriwinkel u gleich 
dem doppelten Peripheriewinkel 2 a. Entfernen wir aber aus 
unserer Vorstellung sorgfältig alles, was nur als Zutat der Konr 
struktion, durch Spezialisierung, und nicht durch den Syllogis- 
mus hinein geraten ist, so finden wir in derselben nichts mehr, 
als den bloßen Ausgangssatz vom Außenwinkel. 
1) A. a. O. S. 235. 
2) Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik. I. Teil. 
ä) Beneke, System der Logik als Kunstlehre des Denkens. I, S. 255 u. f. 
Mach, Erkenntnis und Irrtum. 20 
306 Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung. 
3. Forschen wir nach der letzten Quelle dieses Satzes, 
so finden wir sie in der Erfahrungstatsache^^) wonach die 
Winkelsumme aller für uns meßbaren ebenen Dreiecke von 2/? 
nicht nachweisbar verschieden ist. — Bei längeren Ableitungen 
tritt der erwähnte Schein noch stärker hervor. Betrachten wir 
etwa den Satz des Pythagoras in der Euklidischen Ableitung. 
Das Quadrat über ab ist gleich der doppelten Fläche von acf. 
Dreieck acf ist kongruent dem Dreieck aeb. Die doppelte 
Fläche von aeb ist aber gleich der durch die Senkrechte bd 
auf ac abgeschnittenen Fläche agde des Quadrates über ac. 
Der rechte unausgeführte Teil der Fig. 8, analog behandelt, er- 
ergänzt das Gefundene zum Satz des 
Pythagoras. Hier haben wir ein- 
fache Kongruenzsätze (Bestimmung 
der Größe und Form der Dreiecke 
durch Seiten und Winkel) und Sätze 
über die Flächengleichheit der Figuren 
verwendet. Die merkwürdige uner- 
wartete Beziehung zwischen den Qua- 
draten der Dreieckseiten, die hierbei 
hervortritt, wird jeden Anfänger über- 
raschen. Doch ist die Neuheit wieder 
nur durch die Konstruktion und nicht 
durch die Form der Ableitung bedingt. Machen wir uns klar, 
daß die verwendeten Sätze auf der Tatsache der Verschieb- 
barkeit^) der Figuren ohne Form- und Flächenänderung beruhen, 
so sehen wir in Pythagoras Satz, abgesehen von der be- 
sonderen Konstruktion, nur dies. — Ein Anfänger lernt einen 
Parallelogrammsatz etwa an einer schiefwinkligen Figur kennen, 
und wendet denselben dann auf ein Rechteck an, welches ihm 
bei jenem Satz vielleicht gar nie in den Sinn gekommen ist. 
Wenn er aber durch das Ergebnis überrascht ist, so hat er bei 
jenem vorausgehenden Satz den Parallelismus der Gegenseiten, 
ohne Rücksicht auf den Winkel der anliegenden Seiten, gewiß 
nicht richtig abstrakt ins Auge gefaßt. Das Abstrahieren, die 
*) Vgl. das Kapitel: Zur Ps5>chol. u. natürl. Entwickl. d. Geometrie. 
») Ebendaselbst. 
Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung. 307 
Konzentrierung der Aufmerksamkeit auf das Maßgebende, die 
Nichtbeachtung des Nebensächlichen, erfordert eben Übung, 
ohne welche die Aufmerksamkeit bald nach dieser, bald nach 
jener Seite entgleist, wie jeder Student dies erfahren hat. Mehr- 
fache Überlegung, z. B. bei Gelegenheit einer Ableitung, gibt 
eben Anlaß, diese Entgleisungen zu bemerken, zu korrigieren 
und die Abstraktion zu vervollkommnen. Der im Abstrahieren 
Geübte sieht z. B. in der gegenseitigen Halbierung der 
Diagonalen des Quadrats eine allen Parallelogrammen, in 
der Gleichheit der Diagonalen eine allen Rechtecken, und in 
deren senkrechtem Durchschnitt eine allen Rhomben und noch 
andern Vierecken gemeinsame Eigenschaft. 
Indem die syllogistische Deduktion, von allgemeinern (selten 
in ihrer Spezialisierung explizit vorgestellten) Sätzen ausgehend, 
durch mehrere vermittelnde Glieder, unter Wechsel und Kom- 
bination verschiedener Gesichtspunkte, zu spezielleren Sätzen 
vorschreitet, kann sich hier die Täuschung einer ganz neuen, 
scheinbar in den Prämissen nicht enthaltenen Einsicht ergeben. 
Dieselben Sätze hätten aber auch direkt erschaut werden können. 
Leichter war sie allerdings zu gewinnen durch Nachweis der 
einzelnen Elemente. Darin, und nicht in der Schaffung neuer 
Erkenntnis, besteht der eigentliche Wert der Deduktion. 
4. Der „Schwäche der Abstraktion"^) kommt man sehr zu 
Hilfe, indem man die einmal gelungene Abstraktion in Definitionen 
und Propositionen sprachlich fixiert, und im Gedächtnis auf- 
bewahrt. Das Denken wird dadurch entlastet, vor Ermüdung 
bewahrt, da demselben nicht jedesmal dieselbe Anstrengung zu- 
gemutet wird. Müssen die Grunderkenntnisse, mit welchen der 
Syllogismus operiert, auch anderswoher beschafft werden, so ist 
die logische Operation doch nicht nutzlos. Dieselbe bringt uns 
die Abhängigkeit der Erkenntnisse voneinander zu klarem Be- 
wußtsein und erspart uns, eine besondere Begründung für einen 
Satz zu suchen, der schon in einem andern enthalten ist. Selbst 
wenn die Sätze, von welchen wir logisch ausgehen, nicht absolut 
sicher sind, bleiben sie noch logisch verwertbar. Gesetzt, es 
*) Ein von Schuppe in seinen erkenntnistheoretischen Schriften öfter 
gebrauchter Ausdruck. 
20* 
308 Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung. 
wäre der Obersatz: B ist Ä^ nicht ausgemacht, so würde noch 
immer gelten: wenn B A ist, und C B ist, so ist C A. So 
sind eigentlich alle Sätze der heutigen Naturwissenschaft zu ver- 
stehen, ja sogar die Sätze der Mathematik in Anwendung auf 
wirkliche, natürliche oder künstliche Objekte, welche ja den ab- 
strakten Idealen nie vollkommen entsprechen.^) 
5. Werfen wir nun einen Blick auf das Gegenbild des 
Syllogismus, auf die Induktion. Es seien Ci, C^, C^ . . . die 
Individuen einer Begriffsklasse B (Fig. 7). Wir konstatieren, 
daß Ci unter den Begriff A, C^ unter den Begriff A^ C^ ebenso 
unter den Brgriff A fällt u. s. w. In dem Falle, als die unter- 
suchten Ci , Cg , Cg ... den Umfang des Begriffes B erschöpf eny 
und sämtlich in die Sphäre A fallen, fällt auch B ganz in die 
Sphäre A. Es ist dies eine vollständige Induktion. Können wir 
nicht für alle Cj , Cg , Cg ... den Nachweis erbringen, daß sie A 
sind, und schließen wir, ohne den Umfang von B erschöpft zu 
haben, dennoch: ^ ist /l, so liegt eine unvollständige Induktion 
vor. Im letzteren Falle hat aber dieser Schluß gar keine lo- 
gische Berechtigung.^) Wohl aber können wir durch die Macht 
der Association, der Gewohnheit uns psychisch zu der Er- 
wartung gestimmt finden, daß alle C sich als Ay und dem- 
nach B sich als A erweisen werde. ^) Wir können im Interesse 
des intellektuellen Vorteils^ des wissenschaftlichen oder prak- 
tischen Erfolges wünschen, daß es so sei und können instinktiv, 
oder auch absichtlich methodologisch, in Voraussicht des mög- 
lichen oder wahrscheinlichen Erfolges versuchsweise annehmen: 
B sei A, 
») Vgl. Fußnote 1 S. 306. 
2) Das hat schon Apelt sehr gut dargelegt a. a. O., S. 37 u. f. Apelt 
glaubt jedoch, daß jeder unvollständigen Induktion die a priori gegebene Er- 
kenntnis eines bestehenden allgemeinen Gesetzes (Kausalgesetz) zu Grunde 
liegt. Da er aber selbst zugibt, daß diese Kenntnis nichts über die Anwen- 
dung in besonderen Fällen aussagt, so hilft sie uns nicht, und kann uns ebenso 
irre leiten als richtig führen. Eine willkürliche methodische Voraussetzung 
tut hier dieselben Dienste, ja bessere, da sie aus der Empirie geschöpft schon 
leitende Charakterzüge dieser enthält. 
8) A. Stöhr (Leitfaden der Logik) behandelt die Induktion in dem Ab- 
schnitt „Erwartungslogik", S. 94 u. f., womit, wie mir scheint, der richtige 
und fruchtbare Standpunkt bezeichnet ist. 
Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung. 309 
6. In der vollständigen Induktion liegt ebensowenig, wie im 
Syllogismus, eine Erweiterung der Erkenntnis. Durch Zusammen- 
ziehung der Individualurteile in ein Klassenurteil gewinnt unsere 
Erkenntnis lediglich einen konziseren, kompendiöseren Ausdruck. 
Die unvollständige Induktion hingegen antezipiert zwar eine Er- 
weiterung der Erkenntnis, schließt aber hiermit die Gefahr des 
Irrtums ein, und ist von vornherein bestimmt, erst auf die Probe 
gestellt, korrigiert oder ganz verworfen zu werden. Die weit- 
aus überwiegende Mehrzahl unserer leichter zu gewinnenden all- 
gemeinen Urteile sind durch unvollständige Induktion gewonnen, 
nur wenige durch vollständige Induktion. Die Bildung eines all- 
gemeinen Urteils auf diesem Wege ist keine Augenblicksangelegen- 
heit, die sich im einzelnen allein vollzieht. Alle Zeitgenossen, alle 
Stände, ja ganze Generationen und Völker arbeiten an der Be- 
festigung oder Korrektur solcher Induktionen. Eine je größere 
zeitliche und räumliche Ausdehnung die Erfahrung gewinnt, 
desto schärfer und umfassender wird die Kontrolle der In- 
duktionen. Man denke an die großen welthistorischen Ereignisse, 
die Kreuzzüge, die Entdeckungsreisen, den gesteigerten inter- 
nationalen Verkehr, die Entwicklung der Technik und die den- 
selben folgenden Wandlungen der Ansichten und Meinungen. 
Am längsten widerstehen der Korrektur jene falschen Induktionen, 
welche in das schwer oder gar nicht kontrollierbare subjektive 
Gebiet hineinragen. Erinnern wir uns der Unglück kündenden 
Kometen, der Astrologie, des Hexenglaubens, des Spiritismus 
und anderer Formen des offiziellen und privaten Glaubens und 
Aberglaubens. Neben dieser direkten Prüfung der Induktionen 
durch die Erfahrung geht noch eine andere, indirekte, nicht 
minder wichtige, einher. Die Induktionen treffen mit andern 
Induktionen zusammen, erweisen sich unmittelbar oder mittelbar 
durch die aus ihnen gezogenen Folgerungen als verträglich 
oder unverträglich. Wie nimmt sich etwa die Willensfreiheit im 
Sinne der Indeterministen gegenüber den Ergebnissen der Statistik 
aus? Was für eine Induktion von ganz anderem Wert liegt in 
den Sterblichkeitstabellen der Versicherungs- Gesellschaften, als 
in dem Satz: alle Menschen sind sterblich. 
7. Der Obersatz eines Syllogismus kann auf verschiedene 
Weise gewonnen sein, ebenso die Einzelurteile, auf welche sich 
310 Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung. 
die Induktion aufbaut. Diese Einzelurteile können selbst wieder 
das Ergebnis von Induktionen, von unmittelbaren Funden, oder 
auch von Deduktionen vorstellen. Die Sätze, von welchen die 
ältesten griechischen Geometer ausgegangen sein mögen, dürften 
wohl das Ergebnis unmittelbarer Induktionen gewesen sein. So 
scheint es, daß der Satz: die Gerade ist die Kürzeste zwischen 
zwei Punkten, sich unmittelbar aus Beobachtungen an ge- 
spannten Schnüren ergeben hat. Wir treffen den Satz noch bei 
Archimedes als Grundsatz an. Man kann aber auch von 
Sätzen ausgehen, deren direkte genaue Prüfung durch die Er- 
fahrung schwierig ist, deren Folgerungen aber mit der Er- 
fahrung überall übereinstimmen. Von solchen Sätzen, die man 
eigentlich als Hypothesen bezeichnen muß, geht die Newtonsche 
Mechanik aus. 
8. Bei der Ableitung mathematischer, z. B. geometrischer 
Sätze spielt die vollständige Induktion oft eine vermittelnde 
Rolle. In der Euklidischen Ableitung des Satzes, der das Ver- 
hältnis von Zentri- und Peripheriewinkel betrifft, werden drei Fälle 
unterschieden, in welchen der Gang der Ableitung ungleich ist. 
Erst nachdem für jeden der drei Fälle die Gültigkeit des Satzes 
nachgewiesen ist, wird er allgemein ausgesprochen. Außerdem 
liegt hier noch eine verschwiegene, oder nicht ausdrücklich 
hervorgehobene Induktion zu Grunde. Betrachtet man nämlich 
einen dieser Fälle besonders, so sieht man, daß der Scheitel des 
Peripheriewinkels in einem gewissen Spielraum verschoben werden 
kann, ohne daß sich die angewandte Schlußweise ändert. Endlich 
kann man sich die Größe des Zentriwinkels beliebig variierend 
und alle Werte durchlaufend denken, ohne die Betrachtungsweise 
ändern zu müssen. Man bedient sich kurz gesagt einer voll- 
ständigen Induktion als Beweismittel. Ähnlich verhält es sich 
bei andern Ableitungen. Stets muß man sich eine vollständige, 
durch Erfahrung und Übung beschleunigte Übersicht aller mög- 
lichen Fälle verschaffen. Ein Versäumnis in dieser Richtung, 
indem man eine Ableitung an einem Spezialfall für eine allgemeine 
gelten ließ, hat schon zu recht schweren mathematischen Irrtümern 
geführt. Wo Mathematik auf Physik, Chemie oder eine andere 
Naturwissenschaft angewandt wird, ist diese stillschweigende 
Induktion von selbst eingeschlossen. In der Mathematik ist 
Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung. 311 
eben die vollständige Übersicht aller möglichen Fälle wegen der 
Gleichförmigkeit und Kontinuität ihrer Objekte verhältnismäßig 
leicht erreichbar; auch handelt es sich hier um unsere eigene, 
vielfach geübte, uns vertraute Ordnungstätigkeit. 
9. Auch die unvollständige Induktion ist in der Mathematik 
als heuristisches Mittel vielfach benutzt worden. Wallis') leitet 
durch dieselbe das allgemeine Glied und die Summe der Reihen 
ab, die nach einem gewissen Gesetz gebildet sind. Diese 
Untersuchungen können als die Arithmetisierung der Gedanken 
Cavalieris^) über die Quadratur und Cubatur, somit als die 
Anfänge der Integralrechnung angesehen werden. Jacob Ber- 
noulli^) hat nun die schöne Methode gefunden, wie solche 
unvollständige Induktionen in vollständige verwandelt werden 
können. Er erläutert dieselbe zunächst an einem sehr einfachen 
Beispiel. Es sei die Summe der natürlichen ganzen Zahlen, die 
Nulle mitgerechnet, zu bilden, und dieselbe werde durch ein- 
fache Induktion gleich n{n']-\)\2 gefunden, wobei n die höchste 
Zahl, also n-\- \ die Zahl der Glieder ist. Um nun zu zeigen, 
daß dieser Ausdruck allgemein für jede Gliederzahl gilt, ver- 
mehrt man die Gliederzahl um eins. Dann ist die Summe 
n{n + l)/2 + (;z + 1) = (/z + l)(;z + 2)/2. Es gilt also dieselbe 
Summenformel noch, wenn man n um eine Einheit vermehrt. 
Sie gilt also allgemein, da dieser Schluß beliebig fortgesetzt 
werden kann. 
10. Dieses Beispiel ist so einfach, anschaulich und durch- 
sichtig, daß es eigentlich keines besonderen Beweises bedarf.*) 
Dann erwähnt Bernoulli noch die Anwendbarkeit dieses Ver- 
fahrens zur Auffindung derSumme der Quadratzahlen, der Dreiecks- 
zahlen u. s. w. Für erstere findet man z. B. ^ (^^) = ^- + ^ + ^ 
1 O 2 D 
durch einfache Induktion, welche sich durch das Bernoullische 
Verfahren auch als für n-\-\ und daher für ein beliebiges n 
') Wallis, Arithmetica infinitorum. Oxford 1655. 
^) Cavalieri, Geometria indivisibilibus continuorum nova quadam ratione 
promota. Bologna 1635. 
^) Ja c. Bernoulli, Acta Eruditorum. 1686. S. 360— 361. 
♦) Dieselbe Überlegung führt Galilei bei Erörterung der Fallbewegung 
in geometrischer Form aus. 
/ 
312 Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung. 
gültig erweist.^) Das allgemeinere Schema dieser Prozedur ist 
folgendes. Stellt f{ri) das allgemeine Glied der Reihe, F{n) 
aber die durch Induktion gefundene Summenformel vor, so ist 
letztere für jedes n giltig, wenn F{ri) -\-/{n + 1) = F{n + 1). 
11. Die Methode Jacob Bernoullis hat auch für die 
Naturforschung Bedeutung. Dieselbe lehrt uns, daß man eine 
durch unvollständige Induktion an den Gliedern Q, Cg, Cg . . . 
des Begriffes ß gefundene Eigenschaft A nur dann dem Begriff B 
selbst zuschreiben darf, wenn man dieselbe als an die Merkmale 
des Begriffes B gebunden und voa den Variationen seiner Glieder 
unabhängig erkannt hat. Wie in vielen andern Fällen, so ist 
auch hier die Mathematik für die Naturwissenschaft vorbildlich. 
12. Syllogismus und Induktion schaffen also keine neue Er- 
kenntnis, sondern sichern nur die Herstellung der Widerspruchs- 
losigkeit zwischen unseren Erkenntnissen, legen deren Zusammen- 
hang klar, lenken unsere Aufmerksamkeit auf verschiedene Seiten 
einer Einsicht und lehren uns dieselbe Einsicht in verschiedenen 
Formen wiedererkennen. Es ist also klar, daß die eigentliche 
Erkenntnisquelle des Forschers anderswo liegen muß. Dem- 
gegenüber ist es recht befremdlich, daß von den meisten Natur- 
forschern, welche sich mit den Methoden der Forschung be- 
schäftigt haben, doch die Induktion als das Hauptmittel der 
Forschung bezeichnet wird, als hätten die Naturwissenschaften 
kein anderes Geschäft, wie offen daliegende individuelle Tat- 
sachen unmittelbar in Klassen zu ordnen. Die Wichtigkeit dieses 
Geschäftes soll ja nicht bestritten werden, doch ist die Auf- 
gabe des Forschers hiermit nicht erschöpft; er hat vor allem die 
in Betracht kommenden Merkmale und deren Zusammenhänge 
aufzufinden^ was viel schwieriger ist, als das bereits Bekannte 
zu klassifizieren. Es ist deshalb auch die Bezeichnung der 
gesamten Naturwissenschaften als „induktive Wissenschaften" 
nicht gerechtfertigt. 
1) Dieses Beispiel ist von Kunze in Weimar ausgeführt bei Apelt, 
Theorie der Induktion. S. 34—35. Man sieht leicht, wie diese Untersuchungen 
auf die Integralrechnung führen. Nimmt man n sehr groß, so verschwinden 
die niederen Potenzen gegenüber den höheren und der Ausdruck ist nur der 
Form nach verschieden von Jx'^dx=f^' In den Formeln des Textes wird 
dx durch 1 vertreten. 
Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung. 313 
13. Diese Bezeichnung ist nur verständlich aus einer längst 
veralteten, noch aufrecht erhaltenen Tradition und Konvention. 
Wenn wir die Baconschen Tafeln der für oder gegen eine An- 
nahme sprechenden „Instanzen", oder die Mi 1 Ischen Schemata 
der Übereinstimmung und Differenz betrachten, so sehen wir, 
daß die Vergleichung uns auf einen bisher unbeachteten Zu- 
sammenhang aufmerksam machen kann, auch wenn derselbe nicht 
auffallend genug ist, um sofort den Blick auf sich zu ziehen. 
Ist die Aufmerksamkeit auf die voneinander abhängigen Merk- 
male konzentriert y von den minder wichtigen abgelenkt, so 
nennen wir dies Abstraktion.^) Hiermit ist die Situation erreicht, 
die zu einer Entdeckung führen kann, allerdings bei fehler- 
hafter Leitung der Aufmerksamkeit auch zu einem Irrtum. Dieser 
Vorgang hat nun mit Induktion nichts zu schaffen. Bedenken 
wir aber, daß die Beobachtung oder Aufzählung vieler trotz 
Variation in gewissen Merkmalen übereinstimmender Fälle leichter 
zu abstrakter Auffassung der stabilen Merkmale leitet, als die 
Betrachtung eines Falles, so wird man in der Tat an die Ähn- 
lichkeit dieses Vorganges mit der Induktion erinnert. Vielleicht 
hat sich deshalb der Name so lange gehalten. 
14. Die Ansichten aber, welche verschiedene Vertreter der 
naturwissenschaftlichen Methodologie darüber hegen, was eigent- 
lich Induktion zu nennen sei, sind sehr verschieden, sowohl im 
allgemeinen, als auch im besonderen, wenn es sich um spezielle 
Anwendungen handelt. Mi 11^) will den Schluß vom Einzelnen 
auf anderes Einzelne, welches mit ersterem in gewissen Merk- 
malen übereinstimmt, als Induktion bezeichnen. WhewelP) 
hingegen will als Induktionsschlüsse nur jene anerkennen, durch 
welche allgemeine neue Sätze gewonnen werden, in welchen 
mehr liegt als im Einzelfall. Analogieschlüsse vom Einzelnen 
auf Einzelnes, wie sie auch von Tieren gemacht werden, oder 
jede Praxis leiten, will er im Gegensatze zu Mi 11 nicht als 
Induktionsschlüsse gelten lassen. Es scheint nun eine scharfe 
') Die Wichtigkeit der Vergleichung hat schon Wh e well, jene der Ab- 
straktion besonders Apelt betont, doch scheint mir die Bedeutung beider 
Momente gegenüber der Induktion nicht genügend bewertet zu sein. 
») Mill, Logik. S. I, S. 331—367. 
») Wh e well, Philosophy of Discovery. S. 238—291. 
314 Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung. 
psychologische Grenze hier schwer zu ziehen. Keplers Ent- 
deckung der Bewegung des Mars in einer Ellipse erscheint 
Mi 11 als eine bloße Beschreibung^ als eine Leistung ganz 
analog derjenigen eines Schiffers, der eine Insel umschifft und 
ihre Gestalt fixiert, während sie Whewell ganz so wie die 
Newton sehe Entdeckung für eine Induktion hält, und bemerkt, 
daß verschiedene Theorien in der Tat als verschiedene Be- 
schreibungen^) derselben Sache aufgefaßt werden können; das 
Wesentliche der Induktion liege in der Einführung eines neuen 
Begriffes, wie Keplers Ellipse, Descartes Wirbel, Newtons 
verkehrt quadratische Attraktion. Nach Apelt^) liegt Keplers 
Entdeckung eine echte Induktion zu Grunde, da er gefunden 
hat, daß sämtliche Orte des Mars Punkte einer Ellipse seien. 
Galileis Fallgesetz hält aber Apelt für das Ergebnis einer 
Deduktion. Ich kann nun zwischen Keplers und Galileis 
Fund nur den Unterschied erkennen, daß ersterer den hilfreichen 
Begriff nach der Beobachtung, letzterer vor der Beobachtung 
errät. Whewell meint, in der Induktion liege etwas Myste- 
riöses,^) das sich schwer durch Worte ausdrücken lasse. Wir 
werden auf diesen Punkt zurückkommen. Aus dieser Ver- 
schiedenheit der Auffassung geht wenigstens ein Mangel in der 
Präzision der Bezeichnung hervor. Da nun der Name Induktion 
in der formalen Logik eine feste Bedeutung gewonnen hat, da 
ferner in der naturwissenschaftlichen Methodologie sehr mannig- 
faltige und verschiedene Tätigkeiten unter diesem Namen be- 
griffen werden, wie dies schon angedeutet wurde, so wollen wir 
in dem folgenden diesen Namen nicht mehr gebrauchen. 
15. Versuchen wir nun, ohne uns durch irgend eine Nomen- 
klatur beirren zu lassen, den Vorgang der Forschung zu ana- 
lysieren. Die Logik liefert keine neuen Erkenntnisse. Woher 
kommen diese also? Sie stammen immer aus der Beobachtung, 
die eine „äußere" sinnliche oder eine „innere", die Vorstellungen 
betreffende sein kann. Die Aufmerksamkeitsstimmung hebt bald 
<) Man sieht also, daß man sich schon damals dem Kirchhoffschen 
Gedanken näherte. 
2) Apelt, Theorie der Induktion. S. 62 u. f., S. 143 u. f. 
») Whewell, Philosophy of Discovery. S. 284. 
Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung. 31 5 
diesen, bald jenen Zusammenhang von Elementen hervor, welcher 
Befund begrifflich fixiert, wenn er sich andern Befunden gegen- 
über bewährt und als haltbar erweist, eine Erkenntnis, im gegen- 
teiligen Fall einen Irrtum vorstellt/) Die Grundlage aller Erkennt- 
nis ist also die Intuition^^) welche sich sowohl auf sinnlich 
Empfundenes, wie auf bloß anschaulich Vorgestelltes, als auch 
auf potentiell Anschauliches, Begriffliches, beziehen kann. Die 
logische Erkenntnis ist nur ein besonderer Fall des eben ge- 
nannten, der sich lediglich mit dem Befund von Übereinstimmung 
und Widerspruch beschäftigt, und der ohne aus der Wahrneh- 
mung oder Vorstellung von vorher geschöpften Befunden gar nicht 
eintreten kann. Ob wir nun durch reinen physischen oder psy- 
chischen Zufall oder durch planmäßige Erweiterung der Erfah- 
rung infolge von Gedankenexperimenten zu einem neuen tat- 
sächlichen Befund des sinnlichen oder des Vorstellungslebens 
geführt werden, so ist es doch immer dieser Befund, aus dem 
alle Erkenntnis hervorwächst. Ist unser Interesse für einen neuen 
Befund erregt, wegen dessen unmittelbarer oder mittelbarer bio- 
logischen Wichtigkeit, wegen dessen Übereinstimmung oder 
Gegensatz mit andern Befunden, so konzentrieren wir schon 
durch den psychischen Mechanismus der Association die Auf- 
merksamkeit auf zwei oder mehrere in dem Befund verbundene 
Elemente. Es tritt schon unwillkürlich Abstraktion^ Nichtbeach- 
tung der unwichtig erscheinenden Elemente ein, wodurch der 
Individualfall den Charakter eines allgemeinern, viele gleichartige 
Individualfälle repräsentierenden Falles erhält. Der Eintritt dieser 
psychologischen Situation wird natürlich begünstigt durch die 
Häufung mehrerer gleichartiger Befunde, sie kann jedoch bei 
lebhaftem Interesse schon durch einen solchen Befund herbei- 
geführt werden. Der erfahrene Forscher kann aber auch ab- 
sichtlich und mit dem vollen Bewußtsein eines Wagnisses^ von 
Nebenumständen absehend, in Voraussicht eines möglichen Er- 
folges, die Abstraktion versuchsweise vornehmen. Der allge- 
meinere Gedanke ist dann in Bezug auf seine Haltbarkeit durch 
») Ein einzelner individueller Befund, der ja immer eine Tatsache ist, 
kann als solcher nicht als Irrtum oder Erkenntnis bezeichnet werden. 
*) Die Bedeutung der Anschauung hat, wie mir scheint, nächst Kant 
Schopenhauer am besten gewürdigt. 
316 Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung. 
Beobachtung und Experiment zu prüfen. Indem aber die Vor- 
stellung des Individualbefunds versuchsweise zu einem allge- 
meineren Gedanken geformt und erweitert wird, hat die Willkür 
bei dieser vorläufigen Ergänzung einen gewissen Spielraum. 
Für einen Teil dieser Erweiterung können wohl ein oder mehrere 
beobachtete Fälle Anhaltspunkte bieten. So kann Kepler sehen, 
daß der Mars in einer geschlossenen ovalen Bahn sich bewegt, 
Galilei, daß der Fallraum und die Fallgeschwindigkeit zunimmt, 
Newton, daß ein heißer Körper desto rascher abkühlt, je kälter 
die Umgebung ist; ein anderer Teil muß aber aus dem eigenen 
Gedankenvorrat selbsttätig hinzugefügt werden. So ist die ver- 
suchsweise für die Marsbahn angenommene Ellipse Keplers 
eigene Konstruktion. Dasselbe gilt für Galileis Voraussetzung 
der Proportionalität von Fallgeschwindigkeit und Fallzeit, und 
von Newtons Proportionalität der Abkühlungsgeschwindigkeit 
und Temperaturdifferenz. Erfahrungen über die eigene begriff- 
liche, namentlich Ordnungs-, Rechnungs- und Konstruktions- 
tätigkeit der Forscher müssen zur begrifflichen Formung des 
allgemeinen Gedankens verhelfen; die Beobachtung allein vermag 
dies nicht. Hier findet schon alles Anwendung, was über die 
Hypothese, die Analogie und das Gedankenexperiment gesagt 
wurde. Ob ein so geformter Gedanke mit hinreichender Ge- 
nauigkeit die beobachteten Tatsachen darstellt, kann nun einer 
umfassenden Prüfung unterzogen werden. 
16. Schon die bloße genaue Ermittlung des Tatsächlichen 
und dessen entsprechende Darstellung in Gedanken erfordert 
mehr Selbsttätigkeit als man gewöhnlich annimmt. Um angeben 
zu können, daß ein Element von einem oder mehreren andern 
abhängt, und wie diese Elemente voneinander abhängen, welche 
funktionale Abhängigkeit hier besteht, muß der Forscher aus 
Eigenem, außer der unmittelbaren Beobachtung Gelegenem hinzu- 
fügen. Man darf nicht glauben, dies durch die Bezeichnung als 
Beschreibung herabsetzen zu können. 
17. Es hängt nun ganz von dem Standpunkt des Forschers 
ab, von seinem Gesichtskreis, von dem Niveau der Wissenschaft 
seiner Zeit, wie weit ihn die Feststellung einer Tatsache be- 
friedigt. Descartes konnten die Wirbel als Darstellungsmittel 
der Planetenbewegung befriedigen. Für Kepler, der noch von 
Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung. 317 
animistischen Vorstellungen ausgegangen war/) stellten ja seine 
schließlich gefundenen Gesetze eine große Vereinfachung vor. 
Newton aber kannte schon in der Galileischen und Hupgens- 
schen Mechanik, die für jeden Zeit- und Raumpunkt die Be- 
stimmung der Bewegungsumstände eines Körpers lehrte, viel 
Einfacheres. Ihm mußte eine Bewegung, die in jedem Zeit- und 
Raumpunkt ihre Richtung und Geschwindigkeit änderte, als etwas 
sehr Kompliziertes erscheinen. Er vermutete in seinem Trieb 
der Ergänzung über das unmittelbar Beobachtete hinaus, hier 
einfachere, vielleicht schon bekannte, sich überdeckende Tat- 
sachen. Die praktische Mechanik lehrt einen Körper an einem 
gespannten Faden im Kreise zu schwingen; die theoretische lehrt 
diesen Vorgang auf die einfachsten Tatsachen zurückzuführen. 
Diese Erfahrung bringt Newton hinzu. Der Platonischen An- 
weisung folgend denkt er sich, den umgekehrten Weg ein- 
schlagend, die Aufgabe als gelöst, die Planetenbewegung als 
eine solche Schwungbewegung. Der analytische Weg lehrt ihn 
die Art der Fadenspannung kennen, welche der Aufgabe genügt. 
In dem letzteren Schritt liegt die Entdeckung der einfacheren 
/z^M^/z Tatsache, deren Kenntnis alle Kepl ersehen Beschreibungen 
zu ersetzen vermag. Die Konstatierung dieser Tatsache ist aber 
auch nur eine Beschreibung, allerdings eines viel elementareren 
und allgemeinern Tatsächlichen. 
18. Ebenso geht es in andern Gebieten. Die gradlinige 
Fortpflanzung, Reflexion, Brechung des Lichtes werden in ähn- 
licher Weise konstatiert, wie die Keplerschen Gesetze. Huy- 
gens, gestützt auf seine Erfahrungen über Wasser- und Schall- 
wellen, führt versuchsweise diese komplizierten und isolierten 
Tatsachen auf die wenigen Tatsachen der Wellenbewegung 
zurück, womit ein dem Newtonschen analoger Schritt ausgeführt 
ist. Die Fortführung der Newtonschen Untersuchungen über 
Wasser- und Schallwellen im 18. Jahrhundert ermöglicht endlich 
auch die Bewältigung der Periodizität und Polarisation des 
Lichtes durch Young und Fresnel nach dem Huygensschen 
Vorbild. Hier wie überall werden die durch Synthest in dem 
einen Gebiet gewonnenen Erfahrungen zur Analyse des andern 
>) Kepler dachte sich ja die Erde gern belebt, stellte sich dieselbe als 
ein Tier vor. 
318 Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung. 
Gebietes benützt. Die Methoden Piatons erweisen sich hierbei 
stets als hilfreich, obgleich dieselben hier weder so sicher führen, 
noch in der Anwendung so einfach sind, wie in dem bekannteren 
Gebiet der Geometrie. Durch das allmähliche Heranziehen 
weiterer und weiterer Erfahrungsgebiete zur Erläuterung des Einen 
eben untersuchten, treten schließlich alle Gebiete in Zusammen- 
hang und in das Verhältnis gegenseitiger Erläuterung, wie dies 
an der heutigen Physik und Chemie schon sich deutlich zeigt. 
19. Hat man durch das versuchsweise analytische Verfahren 
einen grundlegenden Gedanken gefunden, welcher die Aussicht 
auf eine einfachere, leichtere und vollständigere Auffassung einer 
Tatsache oder einer Mannigfaltigkeit von Tatsachen bietet, so 
dient die Deduktion dieser Tatsachen mit allen Einzelheiten aus 
jenem Grundgedanken als Probe des Wertes desselben. Könnte 
man nachweisen, was allerdings nur in den seltensten Fällen 
möglich ist, daß jener Gedanke die einzige mögliche Annahme 
ist, aus der sich die Tatsachen deduzieren lassen, so wäre der 
volle Beweis für die Richtigkeit der Analyse erbracht. Whewell 
hat auf diese notwendige Verbindung und gegenseitige Unter- 
stützung von Deduktion und .^Jnduktion^^ (nach seiner Termino- 
logie) hingewiesen. Ein allgemeiner Satz, welcher den Aus- 
gangspunkt der Deduktion bildet, ist umgekehrt das Ergebnis 
des induktiven Verfahrens. Während aber die Deduktion schritt- 
weise methodisch vorgeht, findet die Induktion in Sprüngen statt, 
die außer dem Bereich der Methode liegen. Das Ergebnis der 
letzteren muß deshalb nachträglich durch die Deduktion gerecht- 
fertigt werden.^) 
20. Es geht aus allem Besprochenen hervor, daß die psychische 
Operation, durch welche neue Einsichten gewonnen werden, 
welche meist mit dem unpassenden Namen „Induktion" bezeichnet 
wird, kein einfacher, sondern ein recht komplizierter Prozeß ist. 
') Whewell, The Philosoph j? of the inductive sciences. II, S. 92. „The 
doctrine which Is the hypothesis of the deductive reasoning, is the inference 
of the inductive process .... But still there is a great difference in the 
character of their movements. Deduction descends steadilp and methodicallp, 
Step by Step: Induction mounts bj» a leap which is out of the reach of method. 
She bounds to the top of the stair at once; and then it is the business of 
Deduction, bp trying each step in order, to establish the soHdity of her com- 
panions footing. 
Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung. 319 
Vor allem ist dieser Prozeß kein logischer, obgleich logische 
Prozesse als Zwischenglieder und Hilfsglieder eingeschaltet sein 
können. Der Abstraktion und der Phantasietätigkeit fällt die 
Hauptarbeit bei Auffindung neuer Erkenntnisse zu. Durch den 
Umstand, den Whewell selbst hervorhebt, daß die Methode 
hier wenig leisten kann, wird auch das Mysteriöse verständlich, 
welches nach Whewells Bemerkung sogenannten „induktiven" 
Funden anhaftet. Der Forscher sucht nach einem aufklärenden 
Gedanken. Er kennt aber zunächst weder diesen, noch den 
Weg, auf dem derselbe sicher zu finden ist. Hat sich ihm aber 
das Ziel oder der Weg zu demselben offenbart, dann ist er zu- 
nächst selbst durch seinen Fund so überrascht, wie jemand, der, 
im Walde verirrt, plötzlich aus dem Dickicht hervortretend eine 
freie Aussicht gewinnt, und alles klar vor sich liegen sieht. Erst 
wenn die Hauptsache gefunden ist, kann ordnend und feilend 
die Methode eingreifen. 
21. Führt man, von dem Interesse an dem Zusammenhang 
der Tatsachen geleitet, den Blickpunkt der Aufmerksamkeit viel- 
fach über diese Tatsachen hin, ob diese nun sinnlich vorliegen, 
oder in der Vorstellung einfach fixiert, oder durch das Gedanken- 
experiment variiert und kombiniert sind, so erschaut man vielleicht 
in einem glücklichen Augenblick den fördernden, vereinfachenden 
Gedanken. Das ist alles, was man allgemein sagen kann. Am 
meisten lernt man hier noch durch sorgfältige Analyse von Bei- 
spielen erfolgreichen Nachdenkens^ indem man mit Problemen 
von bekanntem Mittel und Ziel beginnend, zu solchen sich 
wendet, in welchen das eine oder das andere weniger scharf 
umschrieben ist, und mit jenen schließt, welche durch eine bloße 
Unbestimmtheit, Komplikation oder Paradoxie zum Denken an- 
treiben. Bei dem Fehlen einer zureichenden, zu wissenschaft- 
lichen Funden anleitenden Methode erscheinen diese Funde, wenn 
sie geglückt sind, im Lichte einer künstlerischen Leistung, wie 
dies Johannes Müller,^) Liebig ^) u.a. sehr gut erkannt haben, 
1) J. Müller, Phantastische Gesichtserscheinungen. S. 95 u. f. 
*) Liebig, Induktion und Deduktion. 1874. 
Zahl und Maß. 
1. Naturwissenschaftliche Erkenntnis ergibt sich durch Auf- 
findung des Zusammenhanges gewisser Reaktionen oder Re-^ 
aktionsgruppen A und B an einem Objekt, an einem relativ 
stabilen Komplex von sinnlichen Elementen. Finden wir z. B., 
daß eine durch Blattform, Blattstellung, Blütenstand u. s. w. (Re- 
aktion A) systematisch bestimmte Pflanzenspezies auch gewisse 
Reizbewegungen, geotropische, heliotropische Erscheinungen 
(Reaktion B) zeigt, so liegt hierin eine naturwissenschaftliche 
Erkenntnis. Die Fixierung einer solchen Erkenntnis in mitteil- 
barer Form durch eine, mißverständliche Deutungen ausschließende 
Beschreibung, ist trotz der Entwicklung einer vereinfachenden 
klassifikatorischen Terminologie eine umständliche Sache. Die- 
selbe Umständlichkeit wiederholt sich bei der Beschreibung des 
Verhaltens einer nahestehenden Pflanzenspezies, welche wieder 
viele besonders zu merkende Einzelheiten enthält. Noch schwieriger 
wird es, wegen dieser Einzelheiten in einer zusammenfassenden 
Beschreibung eine umfassendere Gruppe von Erkenntnissen zu 
fixieren. Für eine Gruppe von Tieren, welche ausgebildete 
Junge gebären und dieselben durch Säugen ernähren, gelingt 
es noch, die höhere Blutwärme, die Lungenatmung, den doppelten 
Blutkreislauf u. s. w. als gemeinsame physiologische und ana- 
tomische Reaktionen nachzuweisen. Vergegenwärtigt man sich 
aber die großen anatomischen, physiologischen Differenzen, 
welche die Beuteltiere, oder gar die Monotremen, eierlegenden 
Tiere, Schnabeltier, Ameisenigel, gegen die „Säugetiere" dar- 
bieten, welchen sie doch in manchen Beziehungen wieder sehr 
nahe stehen, so erkennt man die Schwierigkeit, eine umfassendere 
Gruppe von zoologischen Erkenntnissen in einer zusammen- 
Zahl und Maß. 321 
fassenden Beschreibung mitzuteilen. Das Ziel, aus den Eigen- 
schaften der Zellen, der Keimesanlagen, mit Rücksicht auf die 
bestimmenden Umstände der Umgebung, die Entwicklung und 
den Lebenslauf abzuleiten, kann uns bei dieser Sachlage nur als 
ein sehr fernliegendes Ideal vorschweben. 
2. Wenden wir uns nun dem Gebiet der Phj>sik zu, so er- 
blicken wir ein anderes Bild, welches zu dem vorigen in auf- 
fallendem Gegensatze zu stehen scheint. Wenn zwei Gewichte 
an den beiden Enden einer über eine Rolle gezogenen Schnur 
hängen, so brauchen wir jedes der beiden Gewichte nur durch 
eine Anzahl kleinerer gleicher Gewichte zu ersetzen, um sagen 
zu können, daß das aus einer größeren Zahl bestehende Gewicht 
das andere nach sich ziehen wird. Befinden sich die Gewichte 
an ungleichen Armen eines Hebels, so teilen wir auch die Arme 
in kleinere gleiche Teile, zählen die Teile eines Gewichtes und 
die Teile des zugehörigen Armes und bilden das Produkt aus 
beiden Zahlen; ebenso verfahren wir auf der anderen Seite. 
Auf der Seite des größeren Produktes findet sich das Über- 
gewicht. Die Beschreibung der einzelnen Tatsache ergibt sich 
also hier leicht auf Grund der Abzahlung der gleichen Teile, in 
welche sich die Merkmale derselben zerlegen lassen. Dann sind 
aber alle Fälle eines Gebietes, z. B. alle Hebelfälle, die sich 
nur durch die Zahl der gleichen Teile der maßgebenden Merk- 
male unterscheiden, so ähnlich^ daß eine zusammenfassende Be- 
schreibung durch Angabe der maßgebenden Ableitungs- oder 
Rechnungsregel aus der Abzahlung nicht schwer fällt. Diese 
Zusammenfassung gelingt aus diesem Grunde sogar für ein 
recht umfassendes Gebiet von Tatsachen, z. B. für alle Maschinen 
mit Hilfe des Arbeitsbegriffes. In ähnlicher Weise kann die 
Fallbewegung und die Lichtbrechung in einfachster Weise durch 
Abzahlung tabellarisch beschrieben, und es kann durch einen 
glücklichen Blick die solche Tabellen ersetzende kompendiöse 
Ableitungsregel aufgefunden werden. Die Teilung der Raum-, 
Zeit- und Intensitätsgrößen kann behufs Zählung (Messung) der- 
selben in beliebig kleine gleiche Teile erfolgen. Dadurch sind 
wir in den Stand gesetzt, wo wir mit Meßbarem zu tun haben, 
beliebige Tatsachen aus beliebig kleinen („unendlich kleinen") 
Elementen aufgebaut zu denken, und deren Verlauf auf das Ver- 
Mach, Erkenntnis und Irrtum. 21 
322 2a/t/ und Maß. 
halten dieser unendlich kleinen Elemente in den unendlich kleinen 
Zeitelementen zurückzuführen. Hierfür lassen sich allgemeine 
Ableitungsregeln (Rechnungsregeln) in Form von Differential- 
gleichungen aufstellen. Wenige solche Gleichungen genügen, 
um alle denkbaren mechanischen, thermischen, elektromagne- 
tischen u. s. w. Tatsachen im Prinzip darzustellen. Die Anwen- 
dung dieser Gleichungen kann allerdings in besonderen Fällen 
noch große Schwierigkeiten bereiten. Die analoge Stufe er- 
scheint in den oben erwähnten Gebieten noch unerreichbar. 
Gebiete, welche, wie z. B. die Chemie, vorläufig nur einer teil- 
weisen quantitativen Behandlung zugänglich sind, stehen ver- 
mittelnd zwischen den beiden extremen Fällen. 
3. Zeigt sich eine qualitative Reaktion abc an eine andere 
klm gebunden, so kann diese Beziehung nur einfach gemerkt 
und sprachlich fixiert werden. Dasselbe gilt von einem andern 
Paar verbundener, qualitativer Reaktionen def . . . und nop . . . 
Sollten die beiden Tatsachen einander auch nahe stehen, so 
werden dieselben im allgemeinen sich schwer in einen Ausdruck 
zusammenfassen lassen. Je mehr qualitative Unterschiede aber 
sich auf bloß quantitative reduzieren, desto leichter wird dies 
gelingen. Man denke etwa an die Tatsachen der qualitativen 
chemischen Analyse einerseits und an jene der Phasenlehre der 
physikalischen Chemie anderseits. Macht man sich diese Ver- 
hältnisse klar, so sieht man, daß die quantitative Untersuchung 
nur ein besonderer einfacherer Fall der qualitativen ist. Die 
Physik hat nur deshalb eine höhere Stufe der Entwicklung erreicht, 
als z. B. die Physiologie, weil sie mit einfacheren und leichteren 
Aufgaben sich zu befassen hat, und weil diese einzelnen Auf- 
gaben untereinander viel homogener sind, und deren Lösungen 
leichter auf einen zusammenfassenden Ausdruck gebracht werden 
können. Die Beschreibung durch Zählung ist nämlich die denk- 
bar einfachste, und kann vermöge des bereitliegenden Zahlen- 
systems ohne neue Erfindung zu beliebig feiner und genauer 
Unterscheidung getrieben werden. Das Zahlensystem ist eine 
Nomenklatur von unerschöpflicher Feinheit und Ausdehnung, und 
wird trotzdem an Übersichtlichkeit durch keine andere Nomen- 
klatur übertroffen. Überdies kann durch Anwendung der Zähl- 
operationen selbst jede Zahl aus jeder anderen abgeleitet werden, 
Zahl und Maß. 323 
wodurch gerade die Zahlen zur Darstellung von Abhängigkeiten 
sich vorzüglich eignen. Die Einzel-Abhängigkeiten unterscheiden 
sich nun voneinander wieder nur durch Zählbares, und dessen 
Beachtung führt auf demselben Wege zu allgemeineren zu- 
sammenfassenden Abhängigkeits- Regeln. Diese augenschein- 
lichen Vorteile, welche in der Verwendung des Quantitativen 
liegen, müssen das Bestreben erzeugen, die Verknüpfung des 
Qualitativem mit Quantitativem überall aufzusuchen, wo dies ge- 
lingen mag, um allmählich alle qualitativen auf quantitative Unter- 
suchungen zu reduzieren. So werden die Farbenqualitäten durch 
die Brechungsexponenten und Wellenlängen, die Tonqualitäten 
durch die Schwingungszahlen u. s. w. zu quantitativen Merkmalen. 
4. Die quantitative Untersuchung hat noch einen besonderen 
Vorzug vor der qualitativen, wenn es sich um Ermittelung der 
sinnlich gegebenen Elemente in ihrer Abhängigkeit voneinander^ 
also nur um Abhängigkeiten außerhalb der Grenze U^ um Physik 
im weitesten Sinne handelt. Dann muß, um diese Abhängigkeiten 
rein zu erhalten, der Einfluß des Beobachters, der innerhalb U 
liegenden Elemente, möglichst ausgeschlossen werden. Das ge- 
schieht nun, indem alles Messen sich nur auf Vergleichung des 
qualitativ Gleichen, auf die Konstatierung von gleich oder un- 
gleich bezieht, wodurch die Qualität der Empfindung als solche, 
welche vom beobachtenden Subjekt mit abhängt, aus dem Spiel 
kommt. Die introspektive Psychologie vermag das Qualitative 
zunächst nicht auszuschalten. Maßbegriffe haben daher für 
dieses Gebiet noch kaum eine Bedeutung. Durch Anknüpfung 
der Psychologie an die Physiologie und mittelbar an die Physik 
kann sich dies Verhältnis in Zukunft ändern. 
5. Versuchen wir nun den Ursprung der Zahlvorstellung 
und des Zahlbegriffes aus dem unmittelbaren oder mittelbaren 
biologischen Bedürfnis psychologisch aufzuklären. Kinder, welche 
noch keinen Begriff vom Zählen haben, etwa im Alter von 2 
bis 3 Jahren, merken es sofort, wenn man in einem unbewachten 
Moment aus einer kleinen Gruppe von gleichen Münzstücken 
oder Spielsachen etwas wegnimmt oder etwas hinzutut. Gewiß 
ist auch schon das Tier durch sein biologisches Bedürfnis ge- 
trieben, kleine Gruppen von gleichen Früchten, z. B. in Bezug 
auf ihren Gehalt zu unterscheiden, und die gehaltreichere Gruppe 
; 21* 
324 Z(ihl und Maß. 
der anderen vorzuziehen. In dem Bedürfnis der feineren Aus- 
bildung dieser Fähigkeit der Unterscheidung liegt der Ursprung 
des Zahlbegriffes. Je mehr Glieder man in eine Gruppe zu- 
sammenfassen kann, ohne doch die Übersicht und die Unter- 
scheidung der Glieder voneinander zu verlieren, desto höher 
werden wir die genannte Fähigkeit schätzen. Unsern Kindern 
gelingt es zunächst, 2, 3, 4 Glieder in eine Gruppe zusammen- 
zufassen, ohne die Unterscheidung dieser Glieder zu verlieren. 
Hierbei kann die räumliche oder zeitliche Nähe der Glieder die 
Gruppenbildung begünstigen, die Verschiedenheit der Glieder 
aber, nach örtlicher oder zeitlicher Stellung, die Unterscheidung 
bedingen. So entstehen die ersten Zahl Vorstellungen, je nach 
dem Einfluß der Umgebung mit oder ohne Namen. Diese Vor- 
stellungen entwickeln sich durch den Gesichts-, Tast- oder auch 
durch den Gehörssinn, in letzterem Falle durch Beachtung des 
Rhythmus.*) Beschäftigung mit der Zahlvorstellung bei Wechsel 
der Objekte führt unter Beihilfe des Zahlennamens zur Auf- 
fassung der gleichen, von der Art des Objektes unabhängigen 
Reaktionstätigkeit, zum Zahlbegriff. ^) Um klarere Zahlvorstellungen 
von gehaltreicheren Gruppen zu gewinnen, werden dieselben in 
übersichtlich angeordnete, schon geläufige Teile geteilt. Diese 
Bildungsgeschichte finden wir in den Zahlzeichen der Assprer, 
Ägypter, Mexikaner, Römer und anderer Völker verkörpert.^) 
Auch unsere Spielkarten und Dominosteine zeugen für diese 
Geschichte. Mit Recht führen wir in den Elementarschulen 
unsere Kinder auf denselben Wegen, welche alle primitiven 
Völker von selbst einschlagen, indem wir die Objektgruppen 
selbst in übersichtlicher Weise geordnet und geteilt abbilden.^) 
») Sowohl Sehende und Hörende, als auch Blinde und Taubstumme lernen 
zählen. Der Taubstumme Massteu sagt selbst: „Ich kannte die Zahlen, be- 
vor ich unterrichtet wurde, meine Finger lehrten mich dieselben." (Tylor, 
Einleit. i. d. Studium d. Anthropologie. S. 372. Vgl. auch Tj>Ior, Anfänge 
d. Kultur. I, S. 241 u. f.) 
*) Zahlbegriffe werden erst durch Ausführung der Zähloperation in ver- 
schiedenen Fällen erworben. Vgl. S. 131, Fußnote 1. 
8) Man betrachte die Tafel I bei M. Cantor, Mathem. Beiträge zum 
Kulturleben der Völker. 1863. 
*) G. Schneider, Die Zahl im grundlegenden Rechenunterricht. Ber- 
lin 1900. 
Zahl und Maß. 325 
Weit reicht jedoch dieses Mittel, die Übersicht über den Giieder- 
gehalt einer Gruppe zu bewahren, nicht. 
6. Außer diesem Mittel der übersichtlichen Anordnung der 
Glieder einer Gruppe liegt noch ein anderes Mittel nahe. Man 
ordnet jedes Glied der Gruppe, welche man zu übersehen 
wünscht, je einem Glied einer uns sehr geläufigen Gruppe von 
Objekten zu. Primitive Völker wählen als zweite Gruppe die 
Finger der Hände und zuweilen auch die Zehen der Füße.^) 
Wir selbst haben als Kinder uns dieses primitiven Mittels be- 
dient, um unsere Zahlvorstellungen durch die Anschauung dieser 
uns sehr geläufigen Objekte zu stärken. Wenn nun die Finger 
während der Zuordnung benannt und, wenn auch ohne besondere 
Absicht, aus bloßer Gewohnheit immer in derselben Ordnung 
verwendet werden, so entstehen aus jenen Fingernamen durch 
häufigen Gebrauch, sowie durch Vergessen ihrer ursprünglichen 
Bedeutung, die Zahlwörter.^) Der letzte Name bestimmt wegen 
der festen Ordnung den ganzen Gliedergehalt, die Anzahl der 
Glieder der zugeordneten, gezählten Gruppe.^) Dies ist der 
von der Kulturgeschichte nachgewiesene Ursprung der Zahl- 
wörter. Das Bedürfnis und der Anlaß zu dieser Entwicklung 
ergab sich oft genug, wenn es galt, die Zahl der Feinde oder 
der Freunde festzustellen, die Kriegs- oder die Jagdbeute zu 
teilen u. s. w. 
7. Das Mittel der Zuordnung kann durch einen kleinen nahe- 
liegenden Kunstgriff zu einem unbegrenzt anwendbaren gemacht 
>) Näheres bei Tylor, E. i. d. St. d. Anthropologie. S. 372 u. f. Die 
Tamanacas am Orinoko sagen „ganze Hand" für fünf, „beide Hände" für zehn, 
„ganzer Mensch" für zwanzig. Die Spuren dieser primitiven Zählweise haben 
sich noch bei hoch zivilisierten Völkern erhalten, z. B. „quatre vingt" für 80. 
2) Tylor, Anfänge der Kultur. I, S. 248 u. f. — Tylor, Anthropologie. 
S. 373. 
^) A. Lanner, Die wissenschaftlichen Grundlagen des ersten Rechen- 
unterrichts. Wien und Leipzig, 1905. Die Schrift enthält sehr gute psycho- 
logische Bemerkungen über das Zählenlernen der Kinder, die ersten Zahl- 
begriffe u. s. w. Der Begriff Einheit kann erst als Spezialisierung der Ab- 
straktion aus dem allgemeinen Zahlbegriff hervorgehen. Die Aufgabe 1x2 
oder gar 1x1 kann erst aus dem Verständnis der Aufgaben 2x2 oder 3x2 
begriffen werden, ebenso a^ nach a^^ a«u. s. w. Eine ähnliche Bemerkung 
bei Ribot, L'evolution des idees generales. Paris 1897. S. 160. 
326 -^ö^' "t^d Maß. 
werden, indem man Gruppen von je 10 Gliedern wieder als 
Glieder einer höheren Gruppe zählt, mit letzteren höheren Gruppen 
auf dieselbe Weise verfährt u. s. f. Und, sowie man jede Gruppe 
als Glied einer höheren Gruppe auffassen kann, läßt sich jedes 
Glied als eine Gruppe von 10 kleineren gleichen Gliedern an- 
sehen, was bei der Zählung (Messung) des unbegrenzt Teilbaren, 
z. B. der Länge, besonders nahe liegt, aber auch sonst überall 
fingiert werden kann. So wird also das Zahlensystem sowohl 
zur Zählung des beliebig Großen, wie des beliebig Kleinen an- 
wendbar.^) 
8. Sowohl die Gruppe A als auch die Gruppe B sollen aus 
lauter gleichen Gliedern bestehen. Ordnen wir jedem Gliede 
der Gruppe Ä je ein Glied der Gruppe B zu, und werden 
hierdurch beide Gruppen eben erschöpft, so sagen wir, beide 
Gruppen haben gleichen Gehalt, oder kürzer, beide Gruppen 
sind gleich. Wird hierbei B erschöpft, während Ä noch nicht 
erschöpft ist, so ist der Gehalt von A größer als jener von B. 
Zahlen nennen wir jene Begriffe, durch welche wir Gruppen 
von gleichen Gliedern in Bezug auf ihren Gehalt bestimmen 
und voneinander unterscheiden. Wo Zahlbegriffe an die Stelle 
von Zahlvorstellungen treten, kommt es nicht mehr auf die un- 
mittelbare Anschaulichkeit an, sondern nur auf die potentielle 
Anschaulichkeit. Der Zahlbegriff setzt uns in den Stand, uns 
den Gehalt einer Gruppe, überall wo es wichtig ist, und wir den 
Aufwand nicht scheuen, wenigstens mittelbar zu veranschaulichen. 
Auf den gelehrten Streit, ob die Kardinal- oder die Ordnungs- 
zahlen psychologisch oder logisch als die primären zu be- 
trachten seien, wollen wir hier nicht eingehen. Es ist auch gar 
nicht möglich, von diesen Systemen, die man nachträglich auf- 
stellen kann, eines als ausschließlich maßgebend für die kulturelle 
Entwicklung zu betrachten. Zahlennamen für kleinere Zahlen 
können zweifellos entstehen, ohne ein Ordnungsprinzip. Wo 
aber die Zahl über das direkt Anschauliche hinausgeht, ist ein 
Ordnungsprinzip zur Bildung des Begriffes Zahl oder Anzahl 
unerläßlich, wenn dasselbe auch nicht ausdrücklich ausgesprochen 
*) Unser dekadisches System, welchem analog ja beliebige andere aus- 
gedacht werden können, verdankt seinen natürlichen Ursprung den zehn 
Fingern der Hände. 
Zahl und Maß. 321 
ist. Wenn wir gleiche, oder für uns als gleich geltende Objekte 
zählen y so heften wir mit dem Zahlennamen den sonst kaum 
unterscheidbaren Objekten Unterschiedszeichen an, über welche 
wir aber sehr bald wieder die Übersicht verlieren würden, wenn 
dieselben nicht zugleich einem einfachen, sehr geläufigen System 
angehörige Ordnungszeichen wären. Erst das Ordnungsprinzip, 
vermöge dessen jede Zahl die Vorstellung aller vorausgehenden 
Zahlen potentiell in sich enthält und zugleich ihre Stellung 
zwischen zwei bestimmten Gliedern des Systems deutlich zu 
erkennen gibt, bedingt die große Überlegenheit der Zahl gegen- 
über den einfachen Namen. Jedes alphabetische Register, die 
Seitenzahlen eines Buches, jedes nach Nummern geordnete 
Inventar u. s. w. machen uns den "Wert der Ordnung für die 
rasche Orientierung deutlich fühlbar. 
9. Man bezeichnet die Zahlen oft als „freie Schöpfungen 
des menschlichen Geistes". Die Bewunderung des menschlichen 
Geistes, welche sich hierin ausspricht, ist sehr natürlich gegen- 
über dem fertigen, imposanten Bau der Arithmetik. Das Ver- 
ständnis dieser Schöpfungen wird aber weit mehr gefördert, 
wenn man den instinktiven Anfängen derselben nachgeht und 
die Umstände betrachtet, welche das Bedürfnis nach diesen 
Schöpfungen erzeugten. Vielleicht kommt man dann zur Ein- 
sicht, daß die ersten hierher gehörigen Bildungen unbewußte 
und biologisch durch materielle Umstände erzwungene waren, 
deren Wert erst erkannt werden konnte, als sie schon vorhanden 
waren, und sich vielfach als nützlich bewährt hatten. Nur der 
an solchen einfacheren Bildungen geschulte Intellekt konnte sich 
allmählich zu freieren, bewußten, dem jeweiligen Bedürfnis rasch 
entsprechenden Erfindungen erheben. 
10. Verkehr und Handel, Kauf und Verkauf fordern die 
Entwicklung der Arithmetik. Die primitive Kultur bedient sich 
zur Unterstützung ihrer Rechnungen einfacher Vorrichtungen 
oder Rechenmaschinen, wie z. B. des römischen Rechenbrettes 
(Abacus), oder der chinesischen Rechenmaschine, welch letztere 
durch russische Vermittlung bekannt geworden, sich in unseren 
Elementarschulen eingebürgert hat. Alle diese Vorrichtungen 
symbolisieren die zu zählenden Objekte durch bewegliche 
Körperchen, Knöpfe, Kugeln oder andere Marken, mit welchen 
328 Zahl und Maß. 
Statt der schwerfälligeren Objekte hantiert wird. Die Gruppen 
der Zehner, Hunderter u. s. w. sind durch besondere Marken 
vertreten, welchen eigene Abteilungen der Rechenmaschine zu- 
gewiesen sind. ') Fassen wir den Begriff Maschine (Hilfs- 
vorrichtung) etwas freier und weiter, so erkennen wir in unsern 
arabischen (indischen) Ziffern und deren dekadischer Schreib- 
weise, wobei eine zufällig nicht vertretene Gruppenklasse durch 
die NulP) bezeichnet wird, ebenfalls eine Rechenmaschine, die 
in jedem Augenblick durch Papier und Schreibstift hergestellt 
werden kann. Hierbei ist unsere Aufmerksamkeit noch weiter 
entlastet, indem uns durch die Ziffern die Zählung der Glieder 
jeder Gruppenklasse erspart wird. 
11. Im Verkehr treten nun verschiedene Aufgaben auf. Es 
ergibt sich z. B. das Bedürfnis, zwei oder mehrere Gruppen 
von gleichen Gliedern in eine Gruppe zusammenzufassen und 
die Zahl der Glieder derselben anzugeben, also die Aufgabe 
der Addition. Die primitive Lösung wird darin bestanden haben, 
daß man alle Glieder der Gruppe, die sich durch Vereinigung 
ergab, durchzählte, ohne Rücksicht darauf, ob die einzelnen 
Gruppen schon gezählt waren oder nicht. Mit kleinen Zahlen 
üben unsere Kinder dieses Verfahren in der Tat noch und 
erwerben sich so Zählerfahrungen, welche sie bei Addition 
größerer dekadisch geschriebener Zahlen verwerten, indem sie 
die Einer besonders, ebenso die Zehner u. s. w. zusammen- 
zählen und die sich hierbei ergebenden Einheiten der höheren 
Gruppenklasse in diese übertragen. Schon dieses einfache 
Beispiel zeigt, daß das Rechnen darin besteht, das direkte 
Zählen zu ersparen, indem man dasselbe unter Benützung von 
Zählerfahrungen in möglichst einfacher Weise durch schon vor- 
her ausgeführte Zähloperationen ersetzt. Das Rechnen ist ein 
indirektes oder mittelbares Zählen. Denken wir uns, es wären 
4 oder 5 mehrzifferige Zahlen zu addieren und es werde die 
Aufgabe einmal durch direktes Durchzählen, ein anderes Mal 
*) Die mechanischen Rechenmaschinen von Pascal, Leibniz, Babbage, 
Thomas u. a., welche durch Kurbeldrehungen und Zahnradübertragungen 
arithmetische Operationen ausführen, sowie die modernen Integraphen, stellen 
eine natürliche Weiterentwicklung der primitiven Rechenmaschinen vor. 
*) Die wichtige Erfindung der Null wird den Indern zugeschrieben. 
Zahl und Maß. 329 
aber nach der üblichen Rechnungsweise durchgeführt, so erkennt 
man die ungeheuere Ersparnis an Zeit und Arbeit^ welche in 
letzterem Verfahren liegt. Ebenso leicht bietet sich im prak- 
tischen Leben der Anlaß zu den Aufgaben der Subtraktion, der 
Multiplikation, der Division u. s. w. Und wieder ließe sich 
zeigen, daß es sich hier immer um ein vereinfachtes, abgekürztes 
Zählen unter Verwendung bereits erworbener Zählerfahrungen 
handelt, womit wir uns hier nicht weiter aufhalten wollen.^) 
12. Die materielle Umgebung ist also durchaus nicht so 
unschuldig an der Entwicklung der arithmetischen Begriffe, als 
man zuweilen annimmt. Würde die physische Erfahrung nicht 
lehren, daß eine Vielheit äquivalenter, unveränderlicher, be- 
ständiger Dinge existiert, würde das biologische Bedürfnis 
nicht dazu drängen, dieselben in Gruppen zusammenzufassen, 
so hätte das Zählen gar keinen Zweck und Sinn. Wozu sollten 
wir zählen, wenn unsere Umgebung gänzlich unbeständig, wie 
im Traum in jedem Augenblick anders wäre? Wäre das direkte 
Zählen zur Bestimmung größerer Zahlen wegen des Zeit- und 
Arbeitsaufwandes nicht praktisch unmöglich, so hätten sich die 
Erfindungen des Rechnens, des mittelbaren Zählens nicht auf- 
gedrängt. Durch das direkte Zählen konstatieren wir nur sinn- 
lich tatsächlich Gegebenes. Da das Rechnen nur ein indirektes 
Zählen ist, so können wir durch dasselbe nichts wesentlich 
Neues über die sinnliche Welt erfahren, nichts, was das direkte 
Zählen nicht auch ergeben könnte. Wie sollte also die Mathe- 
matik der Natur a priori Gesetze vorschreiben, da sie sich doch 
darauf beschränken muß, unter Benützung der Erfahrungen über 
die eigene Ordnungstätigkeit des Rechnenden, die Überein- 
stimmung des Rechnungsergebnisses mit den Ausgangsdaten 
nachzuweisen? Die Geläufigkeit im Durchschauen der ver- 
schiedenen Formen der eigenen Ordnungstätigkeit kann darum 
') Meine Darstellung dieser Fragen von 1882 (Populäre Vorlesungen, 
3. Aufl., S. 224) trifft sehr nahe zusammen mit den von Helmholtz und 
Kronecker in der Festschrift für Zeller (1887) mitgeteilten Ansichten. Andere 
Punkte habe ich zu beleuchten versucht in „Wärmelehre", 2. Aufl., S. 65 u. f. 
Vgl. auch die schöne ausführliche Behandlung bei M. Fack, „Zählen und 
Rechnen" (Zeitschr. f. Philos. u. Pädagogik von Flügel u. Rein, Jahrg. 2, 
S. 196 u. f.). — Ferner: Czuber, Zum Zahl- und Größenbegriff (Zeitschr. 
f. d. Realschulwesen, Jahrg. 29, S. 257). 
330 Zahl und Maß. 
noch immer von dem höchsten Wert sein, und dieselbe Tatsache 
von den verschiedensten Gesichtspunkten beleuchten. 
13. Die einfachen Anfänge der Arithmetik haben sich im 
Dienst des praktischen Lebens entwickelt. Weitere Fortschritte 
ergeben sich dadurch, daß die Arithmetik zu einem besonderen 
Lebensberuf wird. Wer oft und oft ähnliche Rechnungen aus- 
zuführen, und darin sich eine besondere Übersicht und Ge- 
läufigkeit erworben hat, dem liegen Vereinfachungen und Ab- 
kürzungen des Verfahrens besonders nahe. So entsteht die 
Algebra, deren allgemeine Symbole keine besonderen Zahlen 
bezeichnen, welche vielmehr auf die Form der Operationen die 
Aufmerksamkeit richtet. Dieselbe erledigt alle in der Form 
übereinstimmenden Operationen ein für allemal^ und es bleibt 
nur ein Rest von Arbeit der Rechnung mit besonderen Zahlen 
vorbehalten. Auch die Sätze der Algebra, wie überhaupt die 
Sätze der Mathematik, drücken immer nur Äquivalenzen von 
Ordnungstätigkeiten aus. Dies gilt z. B. für die beiden Seiten 
der Gleichung, welche das Binomialtheorem ausdrückt. Wenn 
wir neben eine quadratische Gleichung die Formel für die 
Wurzel derselben hinschreiben, haben wir ebenso die Äqui- 
valenz zweier Operationen festgelegt, wie durch Zusammen- 
stellung einer Differentialgleichung mit dem Integrale derselben. 
Nebenbei bemerken wir, daß die mathematische Zeichensprache 
wieder eine Art Maschine zur Entlastung des Kopfes vorstellt, 
an welcher wir symbolisch die Operationen oft und mit Leichtig- 
keit ausführen, welche uns sonst ermüden würden. Zugleich 
ist die mathematische Schrift das schönste und vollkommenste 
Beispiel einer gelungenen Pasigraphie, allerdings für ein be- 
schränktes Gebiet. 
14. Die Betrachtung von Gruppen gleichwertiger Objekte 
führt unmittelbar nur zu dem Begriff der ganzen Zahlen. Sind 
die Objekte Individuen, nicht in gleichwertige Teile zerlegbar, 
so finden überhaupt nur ganze Zahlen bei Zählung derselben 
sinngemäße Anwendung. Die Division als analytisches Gegen- 
bild der synthetischen Multiplikation führt aber in besonderen 
Fällen zur Teilung der einzelnen gezählten Objekte (Einheiten) 
zu gebrochenen Zahlen, welche natürlich nur für wirklich teil- 
bare Einheiten einen Sinn haben. Anwendungen der Arith- 
Zahl und Maß. 331 
metik auf Geometrie, z. B. schon der Versuch die Diagonale 
und Seite des Quadrates in denselben Einheiten auszudrücken, 
auch rein arithmetische Operationen, das Radizieren als ana- 
lgetisches Gegenbild des synthetischen Potenzierens, leiten zur 
Fiktion der durch keine endliche Zähloperation vollständig be- 
stimmbaren Irrationalzahlen. Auch die einfachsten Operationen, 
die Addition und die Subtraktion, liefern Anregung zu neuen 
Begriffsbildungen. Die Operation 7 + 8 ist immer ausführbar, 
ebenso 8 — 5. Dagegen schließt die Forderung 5 — 8 eine Un- 
möglichkeit ein, wenn es sich um durchaus gleiche Zählobjekte 
handelt, die gar keinen Gegensatz darbieten. Die letztgenannte 
Operation wird aber sofort möglich und erhält einen verständ- 
lichen Sinn, sobald die fraglichen Einheiten im Gegensatz von 
Vermögen und Schulden, von Schritten nach vorwärts und 
Schritten nach rückwärts u. s. w. stehen. So gelangt man zum 
Begriff des Gegensatzes positiver und negativer Zahlen, zu 
deren Bezeichnung man das Additions- und Subtraktionszeichen 
beibehält, bei welchen Operationen eben das Bedürfnis nach 
Fixierung dieses Gegensatzes sich zuerst geoffenbart hat. Streng 
genommen wären zur Bezeichnung des Gegensatzes besondere 
Zeichen nötig. Die Zeichenregel für die Multiplikation be- 
zeichneter Zahlen ergibt sich durch die Bemerkung, daß das 
Produkt (fl — b)'{c — d) stimmen muß mit demjenigen, das man 
erhält, wenn man für die Faktoren die einfachen Werte m und n 
einsetzt. Bei Zahlen ohne Gegensatz hat eine solche Multi- 
plikationsregel gar keinen Sinn. Sowohl eine positive, wie 
eine negative Zahl liefert nach der erwähnten Zeichenregel ein 
positives Quadrat. Die führt aber dazu, daß die Quadratv^urzel 
aus einer negativen Zahl zunächst als unmöglich^ als imaginär 
erscheinen muß. In der Tat hat dieselbe ebenso wie die nega- 
tive Zahl lange als unmöglich gegolten. Und so lange man 
keinen andern Gegensatz als den der positiven und negativen 
Zahlen kennt, bleibt es auch dabei. Wallis^) ist nun zuerst 
durch geometrische Anwendungen der Algebra auf den Ge- 
danken geleitet worden V — 1 als die mittlere geometrische Pro- 
portionale zwischen — 1 und + 1 aufzufassen (-f 1 : /= /: — 1, 
») Wallis, Algebra. 1673. Kap. 66—69. 
332 ^ahl und Maß. 
woraus / = V — 1). Diese Auffassung tritt nun mehr oder 
weniger klar noch einigemal auf, bis Argand^) sie mit voller 
Allgemeinheit und Deutlichkeit darlegt. Indem er die Pro- 
portionalität nicht nur auf die Größe, sondern auch auf die 
Richtung bezieht, gibt er dem Ausdruck a + ^ V — 1 die Be- 
deutung eines Vektors in der Ebene. Wir gelangen von dem 
Anfangspunkt zu dem Endpunkt dieses Vektors, indem wir nach 
einer Richtung um das Stück a, dann nach der hierzu senk- 
rechten Richtung um das Stück b fortschreiten. Die Punkte der 
Ebene können also durch Komplexe dargestellt werden. 
15. Die Praxis der Arithmetik führt also in manchen Fällen 
zu (analytischen) Operationen, welche auf den ersten Blick un- 
möglich, oder deren Ergebnisse keinen Sinn zu haben scheinen. 
Bei genauerer Betrachtung zeigt es sich aber, daß bei geringer 
Modifikation und Erweiterung der bisher geltenden arithmetischen 
Begriffe die Unmöglichkeit verschwindet, und daß das Ergebnis 
eine ganz klare Interpretation zuläßt, wenngleich auf einem 
erweiterten Anwendungsgebiet der Arithmetik. Waren die Mathe- 
matiker so gegen ihre Absicht zur Modifikation ihrer Begriffe 
gedrängt, und hatten sie den Wert und die Vorteile solcher Vor- 
gänge kennen gelernt, so lag es jetzt schon näher, dem Be- 
dürfnis durch freie Erfindung rascher zu entsprechen, oder sogar 
vorauszueilen. Glänzende Beispiele dafür sind die Erfindungen 
Graßmanns, Hamiltons u. a. in Bezug auf die Vektoren- 
rechnung, in welchen die Zahlbegriffe den Bedürfnissen der 
Geometrie, Kinematik, Mechanik, Physik u. s. w. unmittelbar 
angepaßt werden. 
16. Ein moderner Versuch, außer dem unbegrenzt Wachsenden 
und Abnehmenden auch noch das aktuell Unendliche in schärfere 
Begriffe zu fassen, soll noch erwähnt werden. Galilei macht 
*) R. Argand, Essai sur la maniere de representer les quantit^s ima- 
ginaires. Paris 1806. Die Argand sehe Auffassung wird durch folgendes 
Beispiel klar. Es sei der Vektor r von irgend einem Anfangspunkt aus ge- 
zogen, der Vektor nr von demselben Anfangspunkt gegen den ersteren unter 
dem Winkel 9, und n^r ebenso in derselben Ebene gegen den zweiten aber- 
mals um denselben Winkel 9 in gleichem Sinne gedreht. Dann gilt ihm der 
zweite Vektor als mittlere Proportionale zwischen dem ersten und dritten. — 
Die Argandsche Schrift ist ein Muster der Darstellung eines neuen Ge- 
dankens. 
Zahl und Maß. 333 
im ersten Tag seiner Dialoge (1638) auf die Paradoxie auf- 
merksam, daß die unendliche Menge der ganzen Zahlen weitaus 
größer zu sein scheint als die Menge der Quadratzahlen, wäh- 
rend doch zu jeder Zahl eine Quadratzahl gehört, die Menge 
beider demnach gleich sein müßte. Er kommt zu dem Schlüsse, 
daß die Kategorien des Gleichen, Größeren, Kleineren auf das 
Unendliche nicht anwendbar seien. Diese Betrachtungen, deren 
Spuren sich bis in die antike Zeit zurückverfolgen lassen, leiten 
zu den Untersuchungen G. Cantors über die Mengenlehre. 
Man versteht durch das Galileische Beispiel, wie man etwa 
zu folgenden Definitionen gelangen kann: Zwei Mengen sind 
von gleicher Mächtigkeit, wenn man jedes Element der einen 
eindeutig und reziprok einem Element der andern zuordnen kann. 
Zwei solche Mengen heißen äquivalent. Eine Menge ist unend- 
lich., wenn sie einem Teil ihrer selbst äquivalent ist.^) Die 
Cantor sehen Untersuchungen lehren, daß auch im Gebiete des 
aktuell Unendlichen noch durch zweckmäßige Konstruktion 
ordnender Begriffe die Übersicht aufrecht erhalten werden kann. 
17. In Bezug auf die logisch-mathematische Darstellung der 
Zahlenlehre möchte ich auf das klar und ansprechend geschriebene 
Buch von L. Couturat^) verweisen. Der Standpunkt, von dem 
aus hier der Gegenstand behandelt wurde, entspricht der psycho- 
logischen und kulturhistorischen Betrachtung, die jedenfalls eine 
notwendige Ergänzung der zuvor erwähnten logischen bildet. 
Eingehende entwicklungsgeschichtliche Studien möchten hier so 
heilsam ernüchternd wirken, wie Felix Kleins^) bekannte Vor- 
lesungen. 
18. Wo schon von vornherein diskrete, für unser aktuelles 
Interesse gleichwertige Objekte vorliegen, sind die Anwendungen 
*) G. Cantor, Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre. 
Leipzig 1883. Vgl. auch das in der folgenden Note zitierte Buch von Couturat. 
S. 617 u. f. — Vgl. endlich: A. Schoenflies, Die Entwicklung der Lehre 
von den Punktmannigfaltigkeiten. Jahrb. d. Deutschen Mathematiker -Ver- 
einigung. Bd. 8, Heft 2. 1900. 
*) Couturat, De l'infini mathematique. Paris 1896. — Eine kurze schöne 
Übersicht der Entwicklung des Zahlbegriffs s. bei O. Stolz, Größen und 
Zahlen. Leipzig 1891. 
*) F. Klein, Anwendung der Differential- und Integralrechnung auf Geo- 
metrie. Eine Revision der Prinzipien. Leipzig 1902. 
334 ^ahl und Maß. 
der Zahlenlehre verhältnismäßig einfach. Viele Objekte der 
Forschung, wie räumliche und zeitliche Ausdehnung, Intensität 
der Kräfte u. s. w. bieten nicht unmittelbar Gruppen von direkt 
zählbaren äquivalenten Gliedern dar. Zwar kann man dieselben 
in vielfacher Weise in gleichwertige, zählbare Glieder, diese 
wieder in solche Glieder teilen u. s. w., allein sowohl die Teilungs- 
grenzen dieser Glieder müssen künstlich wahrnehmbar und unter- 
scheidbar gemacht werden, als auch die Teilung, bei welcher 
man stehen bleiben will, also die Größe der letzten Teilungs- 
glieder ist willkürlich und konventionell. Hat man aber ein 
solches Kontinmim in dieser Weise präpariert, so kann ein Stück 
desselben, welches in irgend einer Untersuchung für den Erfolg 
in Betracht kommt, durch Abzahlung seiner Teile, d. h. durch 
Messung mit beliebiger Genauigkeit bestimmt werden. Das 
künstlich ausgebildete Zahlenkontinaum ist ein Mittel, die Ver- 
hältnisse der natürlichen Continua mit beliebig weit reichender 
Genauigkeit zu verfolgen. Aber bei irgend einer Grenze muß 
man wegen der Unvollkommenheit selbst der künstlich unter- 
stützten Sinne dennoch stehen bleiben. Denn die Deckung eines 
Maßstabes mit dem zu messenden Objekt, oder die Koinzidenz 
der Enden läßt sich nicht mit unbegrenzter Genauigkeit fest- 
stellen. Unter dieser Ungenauigkeit leidet dann auch die Zahl^ 
welche als Ergebnis der Messung das Verhältnis zwischen dem 
zu messenden Objekt und dem Maßstab angibt. Derselbe 
Mangel haftet übrigens auch den praktischen Anwendungen 
der Arithmetik auf diskrete zählbare Objekte an, indem die 
ideale Voraussetzung der vollkommenen Gleichwertigkeit der 
letzteren in Wirklichkeit nie erfüllt ist. 
19. Handelt es sich darum, kontinuierlich veränderliche 
phipsikalische Umstände, physikalische Größen, auf ein Maß 
zurückzuführen, so hat man zunächst ein Vergleichsobjekt, eine 
Maßeinheit zu wählen, und festzustellen, wie die Gleichheit eines 
andern Objektes mit diesem zu bestimmen ist. Als gleich in 
einer bestimmten Beziehung sehen wir Objekte an, die sich 
unter unveränderten Umständen mit unverändertem Erfolg ver- 
treten können. Zwei Gewichte sind gleich, wenn sie nach- 
einander in dieselbe Wagschale derselben Wage gelegt denselben 
Ausschlag bedingen; zwei elektrische Ströme sind gleich, wenn 
Zahl und Maß. 335 
sie nacheinander durch das unveränderte Galvanometer geführt 
dieselbe Nadelablenkung bestimmen; ähnliches gilt von Magnet- 
polen, Wärmegraden, Wärmemengen u. s. w. Legt man nun n 
der Maßeinheit gleiche Gewichte auf dieselbe Wagschale, führt 
man n Stromeinheiten durch denselben Galvanometerdraht (oder 
auch durch dicht nebeneinandergelegte Drähte) u. s. w., so ist 
der Erfolg (bei der vollkommenen Vertauschbarkeit der Ein- 
heiten) nur durch die Maßzahl n bestimmt.^) 
20. Hat man die maßgebenden Umstände in einer Reihe von 
gleichartigen physikalischen Fällen durch Maßzahlen bestimmt, 
so gelingt es oft, deren Abhängigkeit voneinander durch eine 
einfache Ableitungsregel mit einer für die Darstellung der Tat- 
sachen ausreichenden Genauigkeit darzustellen. Als Beispiele 
zur Erläuterung kann das Lichtbrechungsgesetz, das Mariotte- 
Gap-Lussacsche Gasgesetz, das Biot-Savartsche Gesetz 
dienen. Solche einmal bekannte Gesetze können oft eine in- 
direkte Messung erleichtern, wo eine direkte schwer oder un- 
möglich ist. Es ist z. B. schwierig, die Intensität einer Licht- 
quelle kontinuierlich abzuändern, dagegen leicht, die Gleichheit 
zweier Lichtquellen durch die gleiche Helligkeit der Beleuchtung 
zweier aneinander grenzender gleicher Flächen in gleicher Ent- 
fernung von jenen Lichtquellen bei senkrechter Bestrahlung 
durch das Auge zu beurteilen. Wenn nun nachgewiesen wird, 
daß eine Fläche bei senkrechter Bestrahlung durch ein Licht in 
derselben Helligkeit erscheint wie eine gleiche Fläche bei Be- 
strahlung durch 4, 9, 16 . . . dicht zusammengerückte, dem 
ersteren gleiche Lichter in 2, 3, 4 . . . facher Entfernung, so 
läßt sich die Messung jedes Lichtintensitätsverhältnisses auf die 
Ermittelung des Entfernungsverhältnisses bei gleicher Helligkeit 
zurückführen, obgleich das Auge darauf beschränkt ist, Gleich- 
heit und Ungleichheit der Helligkeit zu beurteilen. 
21. Bei der Zusammensetzung einer phipsikalischen Größe 
aus gleichartigen Teilen hat man immer darauf zu achten, ob 
diese Zusammenfügung einer wirklichen Addition entspricht. 
Während man z. B. ein intensiveres Licht unbedenklich aus 
») VgK Helmholtz, Zählen und Messen. (Philos. Aufsätze. E. Zeller 
gewidmet. 1887. S. 15 u. f.) 
336 Z(^hl und Maß. 
gleichartigen unabhängigen (inkohärenten) Lichtern zusammen- 
setzen und die Intensität der Summe der Teile gleichsetzen 
kann, geht dies bekanntlich bei Lichtern derselben kleinen Licht- 
quelle unter gewissen Umständen nicht mehr an. So ist auch 
die Tonstärke mehrerer gleichgestimmter Stimmgabeln im allge- 
meinen nicht die Summe der einzelnen Tonstärken, sondern nur 
dann, wenn auch die Phasen übereinstimmen. In Bezug auf 
andere zu beobachtende Vorsichten vergleiche man „Prinzipien 
der Wärmelehre" S. 39—57. 
Der physiologische Raum im Gegensatz 
zum metrischen. 
1. Der physiologische Raum, der Raum unserer sinnlichen 
Anschauung, den wir bei vollem Erwachen unseres Bewußtseins 
fertig vorfinden, ist sehr verschieden von dem metrischen, be- 
grifflichen Raum. Die geometrischen Begriffe werden größten- 
teils durch absichtliche Erfahrungen erworben. Der Raum der 
Euklidischen Geometrie hat überall, an allen Stellen und nach 
allen Richtungen dieselbe Beschaffenheit, ist unbegrenzt und 
unendlich. Vergleichen wir hiermit den Raum des Gesichtes, 
den „Sehraum" nach der Bezeichnung von Joh. Müller und 
Hering, der dem Sehenden vor allem geläufig ist, so finden 
wir denselben weder überall noch nach allen Richtungen gleich 
beschaffen, noch unendlich, noch unbegrenzt.^) Die auf das 
Gestaltensehen bezüglichen Tatsachen, welche ich an einem 
andern Orte^) besprochen habe, lehren, daß dem „Oben" und 
dem „Unten", ebenso dem „Nah" und dem „Fern" gänzlich ver- 
schiedene Empfindungen entsprechen. Auch das „Rechts" und 
das „Links" beruht auf verschiedenen Empfindungen, wenn auch 
auf viel ähnlicheren, wie aus den Tatsachen der physiologischen 
Symmetrie') hervorgeht. Die Ungleichheit der Richtungen 
spricht sich in den Erscheinungen der physiologischen Ähnlich- 
keit*) aus. Das scheinbare Schwellen der Steine des Tunnel- 
einganges beim Einfahren des Eisenbahnzuges, das Schrumpfen 
derselben Objekte beim Ausfahren, bringt uns nur in recht auf- 
fallender Weise die tägliche Erfahrung zur Kenntnis, daß die 
*) Die Ausdrücke sind hier im Riemannschen Sinne zu verstehen. 
2) Analyse der Empfindungen. 4. Aufl. S. 86 u. f. 
8) A.a.O. S. 88. 
*) A. a. O. S. 89. 
Mach, Erkenntnis und Irrtum. 22 
338 J^^^ physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen. 
Gesichtsobjekte im Sehraum nicht ebenso ohne Pressung und 
Dehnung beweglich sind, wie die denselben entsprechenden un- 
veränderlichen, geometrischen Objekte. Auch schon ruhende, 
bekannte Objekte lehren dasselbe. Ein über das Gesicht ge- 
stülptes, weites tieferes Zylinderglas, oder ein an den Augen- 
brauenbogen angelegter horizontaler, zylindrischer Spazierstock, 
scheint in dieser ungewöhnlichen Lage auffallend konisch und 
gegen das Gesicht zu merklich trompetenförmig erweitert, bezw. 
verdickt.^) Der Sehraum gleicht mehr den Gebilden der Meta- 
geometer als dem Euklidischen Raum. Der Sehraum ist nicht 
nur begrenzt, sondern scheint sogar recht enge Grenzen zu 
haben. Aus einem Versuch von Plateau geht hervor, daß ein 
Nachbild sich nicht mehr merklich verkleinert, wenn es auf eine 
Fläche projiziert wird, deren Entfernung vom Auge über 30 Meter 
anwächst. Alle naiven, auf den unmittelbaren Eindruck ange- 
wiesenen Menschen, auch die Astronomen des Altertums, sehen 
den Himmel ungefähr als eine Kugel von endlichem Radius. 
Ja die Abplattung des Himmelsgewölbes, welche Ptolemaeus 
schon kennt, und Euler in moderner Zeit diskutiert, lehrt uns 
sogar eine ungleiche Ausdehnung des Sehraums in verschiedenen 
Richtungen kennen. Die physiologische Aufklärung dieser Tat- 
sache hat Zoth^) angebahnt, indem er die Erscheinung als ab- 
hängig von der gegen den Kopf orientierten Blickerhebung 
nachgewiesen hat. Die engen Grenzen des Sehraums folgen 
schon aus der Möglichkeit der Panoramamalerei. Endlich be- 
merken wir noch, daß der Sehraum ursprünglich überhaupt nicht 
^) Seither ist eine ausführliche gründliche Arbeit über die hier berührte 
Frage erschienen: F. Hillebrand, Theorie der scheinbaren Größe bei bin- 
okularem Sehen (Denkschr. d. Wiener Akademie, math.-naturw. CK, Bd. 72. 
1902). — Der Verfasser nimmt den Ausdruck „scheinbare Größe" im Sinne 
der „Sehgröße" Herings. Die im Text erwähnte Erscheinung tritt bei der 
sinnreichen Beobachtungsmethode des Verfassers sehr deutlich und meßbar 
hervor. — R. v. Sterneck, Versuch einer Theorie der scheinbaren Ent- 
fernungen. Ber. d. Wiener Akademie, math.-naturw. CI., Bd. 114, A. IIa, 
S. 1685 (1905). 
*) O. Zoth, Über den Einfluß der Blickrichtung auf die scheinbare Größe 
der Gestirne und die scheinbare Form des Himmelsgewölbes (Pflügers 
Archiv, Bd. 78, 1899). — Eine Erweiterung von Hillebrands Versuchen 
mit Rücksicht auf die Blickrichtung wäre sehr wünschenswert. 
Fig. 9. 
Der physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen. 339 
metrisch ist. Die Orte, Entfernungen u. s. w. des Sehraums sind 
qualitativ, nicht quantitativ unterschieden. Was wir Augenmaß 
nennen, entwickelt sich erst auf Grund primitiver physikalisch- 
metrischer Erfahrungen. 
2. Räumliche Wahrnehmungen vermittelt auch die Haut, welche 
eine geschlossene Fläche von komplizierter geometrischer Form 
darstellt. Wir unterscheiden nicht nur die 
Qualität des Reizes, sondern durch irgend 
eine Zusatzempfindung auch die gereizte Stelle. 
Wenn nun letztere Empfindung nur von Stelle 
zu Stelle verschieden ist, und zwar desto mehr 
verschieden, je weiter die Stellen voneinander 
sind, so sind hiermit die wesentlichen bio- 
logischen Bedürfnisse schon gedeckt. Die 
großen Anomalien, welche der Raumsinn der 
Haut gegenüber dem metrischen Raum dar- 
bietet, sind von E. H. Weber ^) dargelegt 
worden. Die Entfernung zweier Zirkelspitzen, 
bei welcher die von beiden berührten Orte eben 
noch deutlich unterschieden werden, ist auf 
der Zungenspitze 50 — 60mal kleiner als auf 
der Mitte des Rückens. Die Hautteile zeigen 
große Abstufungen der Raumempfindlichkeit. 
Ein Zirkel, dessen Spitzen die Ober- und 
Unterlippe zwischen sich fassen, scheint sich 
bedeutend zu schließen, wenn man mit dem- 
selben horizontal gegen die Seite des Gesichts 
fährt (Fig. 9). Gibt man den Zirkelspitzen die 
Entfernung zweier benachbarter Fingerspitzen 
und führt dieselben von diesen über die innere 
Handfläche nach dem Unterarm, so scheinen sie 
daselbst ganz zusammenzuklappen (Fig. 10). In den Figuren ist 
die wirkliche Bahn punktiert, die scheinbare ausgezogen. Die 
Formen der Körper, welche die Haut berühren, werden unter- 
Fig. 10. 
1) E. H.Weber, Über den Raumsinn und die Empfindungskreise in der 
Haut und im Auge. (Ber. d. kgl. sächs. Gesellsch. d. Wissenschaften, math.- 
naturw. Cl. 1852. S. 85 u. f.) 
22* 
340 ^^^ physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen. 
schieden/) doch steht der Raumsinn der Haut gegen jenen 
des Auges sehr zurück.^) Die Zungenspitze erkennt noch den 
kreisförmigen Querschnitt einer Röhre bei 2 mm Durchmesser 
desselben. Der Raum der Haut entspricht einem zweidimen- 
sionalen, endlichen unbegrenzten (geschlossenen) Riemann sehen 
Raum. Durch die Empfindungen der Bewegung der Glieder, 
insbesondere der Arme, Hände und Finger kommt etwas einer 
dritten Dimension Entsprechendes hinzu. Wir lernen dieses 
System der Empfindungen allmählich durch das einfachere, an- 
schaulichere Physikalische interpretieren. So schätzen wir die 
Dicke einer Tischplatte, die wir im Dunkeln zwischen Daumen 
und Zeigefinger fassen, ganz leidlich ab. Die Schätzung gelingt 
sogar, wenn wir zur Berührung der Ober- und Unterseite je 
einen Finger der rechten und der linken Hand verwenden. Der 
haptische Raum, oder der Tastraum, hat mit dem metrischen 
Raum ebensowenig gemein wie der Sehraum. Er ist wie der 
letztere anisotrop und inhomogen. Die Hauptrichtungen der 
Organisation: vorn-hinten, oben-unten, rechts-links sind in beiden 
physiologischen Räumen übereinstimmend ungleichwertig. 
3. Daß wir den Raumsinn nicht entwickelt finden, wo der- 
selbe keine biologische Funktion hat, kann uns nicht sonderlich 
überraschen. Wozu sollte es uns dienen, über die Lage der 
inneren Organe unterrichtet zu sein, da wir doch auf deren 
Funktion keinen Einfluß haben? So erstreckt sich der Raumsinn 
nicht tief in die Nase hinein. Man kann nicht unterscheiden, ob man 
die durch eines von zwei Röhrchen eingeführten Gerüche rechts 
oder links empfindet.^) Dagegen erstreckt sich die Tastempfind- 
lichkeit nach E. Weber bis in das Trommelfell,"^) durch welche 
entschieden wird, ob die stärkere Schallaffektion von der rechten 
*) Man muß natürlich für innige Berührung der Haut und der aufgelegten 
Körper sorgen. Als man mir in meine apoplektisch gelähmte Hand verschie- 
dene Objekte legte, erkannte ich manche nicht, und man schloß hieraus auf 
eine teilweise Störung der Sensibilität. Der Schluß erwies sich aber als 
irrig. Ich ließ mir nämlich unmittelbar nach dieser Untersuchung die gelähmte 
Hand durch eine andere Person schließen, und erkannte nun sofort alle ein- 
gelegten Objekte. 
») E. H. Weber, a. a. O. S. 125. 
») A. a. O. S. 126. 
*) A. a. O. S. 127. 
Der physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen. 341 
oder linken Seite kommt. Die roheste Orientierung über die 
Lage der Schallquelle mag hierdurch vermittelt werden. Für die 
feinere Orientierung ist dies jedoch nicht zureichend. 
4. Wenn auch bei manchen Empfindungen das Merkmal des 
Ortes und Raumes sehr viel deutlicher sich geltend macht, als 
bei andern, so dürfte doch James mit der Ansicht das Richtige 
getroffen haben, daß jeder Empfindung eine gewisse Räumlich- 
keit anhaftet.^) Jeder Empfindung kommt durch das gereizte 
Element ein Ort zu, und da der Elemente meist mehrere oder 
viele sind, so kann man in einem gewissen Sinne auch von 
einem Volumen der Empfindung sprechen. Bei seinen Aus- 
führungen beruft sich James mehrfach auf Hering, welcher 
den Eindruck glühender Flächen, durchleuchteter Räume u. s. w. 
als raumhaft bezeichnet. Die Töne werden gewöhnlich als Bei- 
spiel vollständig unräumlicher Empfindungen angeführt. Ich 
glaube aber die gelegentliche Äußerung von Hering,^) daß 
tieferen Tönen ein größeres Volumen zukommt als höheren, für 
zutreffend halten zu dürfen. Die höchsten hörbaren Töne der 
Königschen Stäbe machen geradezu den Eindruck eines Nadel- 
stiches, während tiefe Töne den ganzen Kopf (oder besser 
gesagt, den ganzen akustischen Raum) zu erfüllen scheinen. 
Die Möglichkeit, die Schallquelle, wenn auch unvollkommen, zu 
lokalisieren, läßt ebenfalls eine Beziehung der Ton- und Raum- 
empfindung vermuten. Reicht auch Steinhausers Parallele 
zwischen binokularem Sehen und binauralem Hören nicht sehr 
weit, so besteht doch eine gewisse Analogie, und das Lokali- 
sieren wird vorzugsweise durch die hohen Töne von kleinem 
Volumen und schärfer bestimmtem Ort vermittelt.^) 
5. Die physiologischen Räume verschiedener Sinne umfassen 
nur teilweise gemeinsame physikalische Gebiete. Dem Tastsinn 
ist die ganze Haut zugänglich, während nur ein Teil derselben 
gesehen werden kann. Dafür reicht der Gesichtssinn als Fern- 
sinn physikalisch überhaupt viel weiter. Die räumliche Orien- 
tierung durch das Ohr ist viel unbestimmter, und auf ein engeres 
1) James, The Principles of Psychologp II, insbesondere S. 136 u. f. 
2) Meine Erinnerung dürfte auf einer mündlichen Äußerung beruhen, da 
ich eine hierauf bezügliche Stelle in Hs. Schriften nicht finde. 
') Analyse der Empfindungen. S. 206. 
342 ^^f physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen, 
Gebiet beschränkt, als jene durch das Auge. So lose auch die 
verschiedenen Raumempfindungen ursprünglich zusammenhängen 
mögen, so treten sie durch Association doch in Verbindung, und 
jenes S5?stem, welches im Augenblick die größere praktische 
Wichtigkeit hat, ist bereit, das andere zu ergänzen uud zu ver- 
treten. Die Raumempfindungen verschiedener Sinne mögen 
recht verwandt, werden aber kaum identisch sein. Es ist wohl 
nicht nötig, das offenbare und ausreichende associative Band 
durch Annahme eines räumlichen Generalsinns ^) zu stärken und 
zu ergänzen. 
6. Alle Raumempfindungen haben die Funktion, die erhal- 
tungsgemäßen Bewegungen richtig zu leiten. Diese gemeinsame 
Funktion bildet auch das associative Band zwischen den Raum- 
empfindungen. Der Sehende wird vorzugsweise von den Emp- 
findungen und Vorstellungen des Sehraums geleitet, denn diese 
sind ihm die geläufigsten und förderlichsten. Eine Figur, die 
ihm langsam im Dunkeln oder bei geschlossenen Augen auf 
die Haut gezeichnet wird, übersetzt er sich durch Vermittlung 
der empfundenen Bewegungen in ein Gesichtsbild, indem er sich 
selbst die empfundene Bewegung ausführend denkt. Soll mir 
z. B. eine Figur, die mir jemand auf die Stirne zeichnet, als R 
erscheinen, so muß der vor mir Stehende fl schreiben. Auf mein 
Hinterhaupt müßte für den fremden Beschauer R, auf die Bauch- 
haut U geschrieben werden,*) damit ich die Zeichen, mich selbst 
schreibend denkend, als R anerkenne. Ich stelle mir gewissermaßen 
♦ in den beiden ersten Fällen meinen Kopf als durchsichtig, mich 
in derselben Orientierung hinter demselben stehend und die ge- 
wöhnlichen Schreibbewegungen ausführend vor. In dem letzten 
Falle stelle ich mir mich selbt auf der Bauchhaut schreibend und 
von dieser ablesend vor. Es ist für den Sehenden recht schwer, 
sich in die Raumvorstellungen des Blinden hineinzufinden. Daß 
aber auch diese einen hohen Grad von Klarheit erreichen können, 
lehren die Leistungen des blinden Geometers Saunderson. 
Immerhin muß für ihn die Orientierung etwas schwerfällig ge- 
blieben sein, wie seine in einfachster "Weise in quadratische 
^) Vgl. dagegen E. H. Weber, a. a. O. S. 85. 
*) A. a. O. S. 99. 
Der physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen. 343 
Felder geteilte Tafel beweist. In die Ecken und Mittelpunkte 
jener Felder pflegte er Nadeln tief einzustecken und deren Köpfe 
durch Fäden zu verbinden. Seine höchst originellen Darlegungen 
müssen aber gerade wegen ihrer Einfachheit für Anfänger be- 
sonders leicht verständlich gewesen sein. So bewies er den 
Satz, daß das Volumen der Pyramide gleich sei dem dritten 
Teil des Volumens eines Prismas von gleicher Basis und Höhe, 
durch Teilung des Würfels in sechs kongruente Pyramiden mit 
je einer Seitenfläche des Würfels als Basis und mit dem Scheitel 
im Mittelpunkte des Würfels.^) 
7. Wir dürfen annehmen, daß das System der Raumempfin- 
dungen für alle Tiere, an deren Leib sich, wie beim Menschen, 
drei ausgezeichnete Hauptrichtungen aufweisen lassen, wenn 
auch ungleich entwickelt, doch sehr ähnlich ist. Oben und unten 
sind solche Tiere ungleich, ebenso vorn und hinten. Rechts 
und links sind diese Tiere zwar scheinbar gleich, allein die 
geometrische und Massensymmetrie, die im Interesse der raschen 
Lokomotion besteht, darf uns über die anatomische und physio- 
logische Asymmetrie nicht täuschen. Mag letztere auch gering 
erscheinen, so tritt sie doch darin klar zu Tage, daß zu sym- 
metrischen Tieren sehr nahe Verwandte auffallende unsymmetrische 
Formen annehmen. Man denke an die unsymmetrischen Schollen 
(Plattfische), an die symmetrische nackte Schnecke im Gegensatz 
zu deren unsymmetrisch gestalteten Verwandten. 
8. Wenn wir nun fragen, was denn eigentlich der physio- 
logische Raum mit dem geometrischen Raum gemein hat, so 
finden wir nur wenige Übereinstimmungen. Beide Räume sind 
dreifache Mannigfaltigkeiten. Jedem Punkt des geometrischen 
Raumes^, B, C, D . . . entspricht ein Punkt Ä', B' , C , D' . . . 
des physiologischen Raumes. Wenn C zwischen B und D liegt, 
so liegt auch C zwischen B' und D'. Man kann auch sagen: 
einer kontinuierlichen Bewegung im geometrischen Raum ent- 
spricht eine kontinuierliche Bewegung des zugeordneten Punktes 
im physiologischen Raum. Daß die zur Bequemlichkeit fingierte 
Kontinuität weder für den einen ^ noch für den andern Raum 
eine wirkliche Kontinuität sein muß, wurde schon anderwärts 
^) Diderot, Lettre sur les aveugles. 
344 D^r physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen. 
bemerkt.^) Wenn man auch unbedenklich annimmt, daß der 
phjjsiologische Raum angeboren ist, so zeigt dieser eine zu 
geringe Übereinstimmung mit dem geometrischen, um als aus- 
reichende Grundlage einer a priori (im Kantschen Sinne) ent- 
wickelten Geometrie angesehen zu werden. Höchstens könnte 
man auf Grund desselben eine Topologie aufbauen.^) Wie 
kommt es nun, daß der physiologische Raum vom geometrischen 
so sehr verschieden ist? Wie gelangt man doch von ersteren 
Vorstellungen allmählich zu den letzteren. Diese Fragen wollen 
wir in dem Folgenden nach Möglichkeit zu beantworten ver- 
suchen. 
9. Stellen wir eine einfache, allgemeine teleologische Be- 
trachtung an. Einem Frosch mögen verschiedene Stellen der 
Haut durch Säuretropfen gereizt werden. Er wird auf jede 
Reizung mit einer spezifischen, der gereizten Stelle entsprechen- 
den Abwehrbewegung antworten. Qualitativ gleiche Reize, die 
verschiedene Elementarorgane treffen, auf verschiedenen Bahnen 
in den Tierkörper eindringen, lösen auch Reaktionsprozesse aus, 
welche durch verschiedene Organe auf verschiedenen Wegen in 
die Umgebung des Tieres sich zurück fortpflanzen.^) Was für 
den Hautsinn gilt, gilt auch für den Gesichtssinn und für jeden 
andern Sinn. Nicht nur die Abwehr- und Fluchtbewegungen, 
sondern auch die Angriffsbewegungen spezialisieren sich nach 
der gereizten Stelle, nach der Individualität der betroffenen 
Elementarorgane. Man denke an das Schnappen des Frosches 
nach Fliegen, an das Picken des eben ausgeschlüpften Hühnchens 
nach Körnern. Was bisher gesagt wurde, gilt auch für bloße 
Reflexreaktionen^ für Pflanzen sowohl wie für niedere Tiere. 
Soll aber die Reflexreaktion zweckmäßig beeinflußt, modifiziert 
werden, soll die Willkürhandlung an Stelle derselben treten, so 
müssen die Reize als Empfindungen bewußt werden, und ihre 
Spuren im Gedächtnis zurücklassen. In der Tat erkennen wir, 
*) Prinzipien der Wärmelehre. S. 76. 
*) Vgl. Listing, Vorstudien zur Topologie. Göttingen 1847. 
8) Ich schließe mich hier einer von R. Wlassak geäußerten Ansicht 
in etwas modifizierter und erweiterter Fassung an. Vgl. dessen schönes 
Referat: „Über die statischen Funktionen des Ohrlabyrinths." ( Viertel jahrschr. 
f. wiss. Philosophie, XVII, I, S. 29.) 
Der physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen. 345 
wie die Selbstbeobachtung lehrt, nicht nur die Qualität des 
Reizes, z. B. des Brennens, welche empfindende Stelle davon 
auch betroffen sei, unterscheiden aber doch zugleich auch die 
gereizten Stellen. Durch beide Momente wird unsere Reaktions- 
bewegung bestimmt. Wir dürfen also wohl annehmen, daß in 
diesen Fällen der qualitativ gleichen Empfindung ein differenter 
Bestandteil anhaftet, der von der spezifischen Natur des Elementar- 
organs, von der gereizten Stelle, mit Hering zu reden, von 
dem Orte der Aufmerksamkeit abhängt. Die vollkommenste 
gegenseitige biologische Anpassung einer Vielheit von Elementar- 
organen kommt eben in der räumlichen Wahrnehmung besonders 
deutlich zum Ausdruck. 
10. Wir können uns die räumliche Wahrnehmung in folgender 
Weise physiologisch begründet denken. Die Empfindung, welche 
ein Elementarorgan liefert, hängt zum Teil von der Art (Qualiät) 
des Reizes ab; wir wollen diesen Teil Sinnesempfindung n^nntn. 
Ein Teil der Tätigkeit des Elementarorgans sei aber nur durch 
die Individualität des Elementarorgans bestimmt, bei jeder 
Reizung derselbe, und nur von Organ zu Organ variierend; 
diesen Teil nennen wir Organempfindung., und betrachten ihn 
als identisch mit der Raumempfindung. Die Organempfindung 
nehmen wir als desto mehr variierend an, je ferner die onto- 
genetische Verwandtschaft der Elementarorgane gemeinsamer Ab- 
stammung wird. Die Organempfindung (Raumempfindung) kann 
nur auftreten, wenn überhaupt eine Reizung des Elementarorgans 
platzgreift; sie bleibt jedesmal dieselbe, wenn dasselbe Organ 
oder derselbe Organkomplex gereizt, derselbe Zusammenhang 
der Organe lebendig wird. Man kann sagen, daß der physio- 
logische Raum ein System von abgestuften Organempfindungen 
ist, welches ohne Sinnesempfindungen allerdings nicht vorhanden 
wäre; wenn es aber durch variierende Sinnesempfindungen wach- 
gerufen wird, so bildet es ein bleibendes Register, in welches 
jene veränderlichen Sinnesempfindungen eingeordnet werden. 
Wir machen hier über die Elementarorgane nur ganz ähnliche 
Voraussetzungen, wie wir sie in Bezug auf getrennte Individuen 
gleicher Abstammung, aber verschiedenen Grades der Verwandt- 
schaft, sehr natürlich und durch die Erfahrung bewährt finden 
würden. Was wir hier versuchen, ist allerdings keine eigentliche 
346 J^^^ physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen. 
Theorie der Raum Wahrnehmung, sondern lediglich eine physio- 
logische Umschreibung des psychologisch Beobachteten. Diese 
Umschreibung scheint aber das zu enthalten, was mit einer 
nativistischen Auffassung des physiologischen Raumes, mit den 
Beobachtungen von E. H. Weber, ^) mit dessen Theorie der 
Empfindungskreise, mit Lotzes*) Lehre von den Lokalzeichen, 
soweit dieselbe physiologisch ist, mit den Ansichten von Hering 
und mit den kritischen Betrachtungen von Stumpft) vereinbar 
ist. Hiermit scheint sich die Aussicht zu eröffnen auf ein 
phylogenetisches und ontogenetisches Verständnis der Raum- 
wahrnehmung, und wenn die betreffenden Verhältnisse einmal 
klargelegt sein werden, auch auf ein prinzipielles physikalisch- 
physiologisches Verständnis derselben. 
11. Soll das System der Raumempfindungen dem unmittel- 
baren biologischen Bedürfnis entsprechen, die erhaltungsgemäßen 
Reaktionen des Leibes leiten, so kann es wohl nicht anders 
gedacht werden, als wir es vorfinden. Jedes System der Emp- 
findungen, so auch das System der Raumempfindungen ist end- 
lich; eine unerschöpfliche Reihe von Empfindungsqualitäten oder 
Intensitäten ist eben physiologisch undenkbar. Verschiedene 
Organe des Leibes bedürfen zur Leitung ihrer Funktionen einer 
ungleichen Raumempfindlichkeit. Daher die reiche Ausstattung 
der macula lutea der Netzhaut, der Zungenspitze und der Finger- 
spitzen mit raumempfindenden Organen gegenüber den seitlichen 
Teilen der Netzhaut, der Haut des Oberarms oder des Rückens. 
Die Raumempfindungen müssen sich auf die Glieder des Leibes 
beziehen, und nach diesen orientiert sein, sollen sie dem bio- 
logischen Bedürfnis genügen. Es ist für uns wichtig, das Oben 
und Unten, das Vorn und Hinten, das Rechts und Links, das 
Nah und Fern, also Beziehungen auf unsern Leib zu unter- 
scheiden. Mit einer bloßen Relation der Orte gegeneinander, 
») A. a. O. 
*) Lotze hat seine Lehre in verschiedenen Schriften dargelegt (Medi- 
zinische Psychologie. 1852. — Mikrokosmos. 1856. — Wagners Hand- 
wörterbuch der Physiologie. — Anhang zu dem in folgender Anmerkung 
zitierten Buch von Stumpf). 
*) Stumpf, Über den psychologischen Ursprung der Raumvor- 
stellungen. 1873. 
Der physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen. 347 
wie in der Geometrie, wäre uns nicht gedient. Zweckentsprechend 
ist weiter, daß für nähere, biologisch wichtigere Gesichtsobjekte 
die verfügbaren stereoskopischen Tiefenindizes reicher abgestuft 
sind, und daß dagegen für fernere, weniger wichtige Objekte 
mit dem begrenzten Vorrat der Indizes gespart wird. Wenn 
wir den physiologischen Raum, vom geometrischen ausgehend, 
nach Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit konstruieren sollten, 
so könnte derselbe kaum viel anders ausfallen, als wir ihn vorfinden. 
12. Wenn nun die Inkongruenz zwischen dem phj^siologischen 
und geometrischen Raum den Menschen, die nicht eine besondere 
Untersuchung darüber anstellen, gar nicht auffällt, wenn nicht 
gerade der geometrische Raum ihnen als ein Monstrum, als eine 
Fälschung des angebornen Raumes erscheint, so erklärt sich 
dies durch nähere Beachtung der Lebensumstände und der Ent- 
wicklung der Menschen. Die Raumempfindungen leiten unsere 
Bewegungen, aber ein Grund, dieselben an sich genau zu be- 
achten und zu analysieren, ergibt sich nur selten. Das Ziel der 
Bewegung hat ein viel größeres Interesse für die Menschen. 
Nachdem die ersten primitiven Erfahrungen über (physikalische) 
Körper, Entfernungen u. s. w. gewonnen sind, nehmen diese 
unsere Aufmerksamkeit und unser Interesse fast ganz in An- 
spruch. Könnte der Mensch, wie ein festsitzendes Seetier, seinen 
Ort nicht verlassen und seine Orientierung nicht wesentlich 
ändern, so würde er schwerlich jemals zur Vorstellung des 
Euklidischen Raumes gelangen. Sein Raum würde sich dann 
zum Euklidischen ungefähr so verhalten, wie ein triklines zu 
einem tesseralen Medium, derselbe würde immer anisotrop und 
begrenzt bleiben. Die beliebige Lokomotion des Leibes als 
Ganzes, und die Möglichkeit beliebiger Orientierung desselben, 
fördern die Einsicht, daß wir überall und nach allen Richtungen 
dieselben Bewegungen ausführen können, daß der Raum überall 
und nach allen Richtungen ^/^/<?/{ beschaffen und daß derselbe 
als unbegrenzt und unendlich vorgestellt werden kann. Der 
Geometer sagt, von jedem Punkte des Raumes aus, und in 
jeder Orientierung, seien dieselben Konstruktionen ausführbar. 
Bei gleichmäßig fortschreitender Lokomotion wiederholen sich 
immer dieselben Änderungen der Raumwerte. Dasselbe ist bei 
fortgesetzter Änderung der Orientierung, z. B. Drehung um die 
348 I^^r physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen. 
Vertikalachse der Fall. Dadurch macht sich nicht nur die Gleich- 
mäßigkeity sondern auch die Unerschöpflichkeit, die unbegrenzte 
Wiederholbarkeit , Fortsetzbarkeit gewisser Raucnerfahrungen 
geltend. An die Stelle der fixen Raumwerte der Objekte, welche 
der nur die Glieder bewegende Mensch vorfindet, treten bei der 
Lokomotion fließende Raumwerte auf. So kommen unsere Raum- 
erfahrungen allmählich dem euklidischen Raum näher, ohne 
übrigens denselben auf diesem Wege vollständig zu erreichen. 
13. So wie die Raumempfindungen die Bewegung einzelner 
Glieder bestimmen, führen sie unter Umständen auch zur allge- 
meinen Lokomotion. Ein Hühnchen kann nach einem Objekt 
blicken, nach demselben picken, oder durch den Reiz sogar 
bestimmt werden, sich hinzuwenden, hinzudrehen, hinzulaufen. 
Ein Kind, das nach einem Ziele blickt und greift, wenn dies 
unerreichbar, dahin kriecht, endlich eines Tages aufsteht und 
mit einigen Schritten dahinläuft, verhält sich ebenso. Wir werden 
alle solche Fälle, welche kontinuierlich ineinander übergehen, in 
homogener Weise auffassen müssen. Anregung zu ausgiebiger 
Lokomotion und Änderung der Orientierung geht nicht nur von 
optischen Reizen aus, sondern kann auch durch chemische, 
thermische, akustische, galvanische Reize ^) u. s. w., und auch 
bei blinden Tieren eingeleitet werden. In der Tat beobachten 
wir auch bei von Haus aus blinden Tieren (blinden Würmern), 
sowie bei durch Rückbildung blinden Tieren (Maulwurf, Höhlen- 
tiere) ausgiebige Lokomotions- und Orientierungsbewegungen. 
Nur wird die bewegungsbestimmende Fernwahrnehmung bei 
blinden Tieren und Menschen auf einen engeren Bezirk ein- 
geschränkt sein. 
14. Die Hauptschwierigkeit, die wir bei der Analyse des 
physiologischen Raumes finden, besteht darin, daß uns als 
gebildeten Menschen, wenn wir über diesen Stoff zu denken 
beginnen, die wissenschaftlichen geometrischen Vorstellungen 
schon zu geläufig sind, und daß wir diese überall als selbst- 
verständlich hineintragen. Der beste Beleg dafür ist die be- 
kannte Lehre von den optischen Richtungslinien, welche sich seit 
Ptolemaeus, Kepler und Descartes halten konnte, und die erst 
^) Loeb, Vergleichende Gehirnphpsiologie. Leipzig 1899. S. 118u. f. 
Der physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen. 349 
von Hering definitiv beseitigt wurde. Der auf diesem Gebiet 
Forschende muß sich in eine künstliche Naivetät versetzen, zuvor 
viel Erlerntes zu vergessen suchen, um unbefangenen Blick zu 
gewinnen. Ohne auf physiologische Einzelheiten einzugehen,^) 
wollen wir nur noch eine einfache allgemeine Betrachtung anstellen. 
15. Auf gewisse Reize hin treten reflektorisch bestimmte 
Gliederbewegungen ein. Durch diese Bewegungen werden 
wieder peripherisch Reize erregt, welche in der Großhirnrinde 
als Spuren der Bewegungsempfindungen, als Bilder dieser Be- 
wegungen zurückbleiben. Werden diese Bilder durch irgend 
einen Anlaß, z. B. Association, wieder lebendig, so sind sie 
geeignet, dieselben Bewegungen aufs neue hervorzurufen. Die 
Punkte des Raumes kennen wir physiologisch als Ziele ver- 
schiedener Bewegungen, Greif-, Blick- und Lokomotionsbe- 
wegungen. Die genannten Bewegungsbilder werden wohl an 
mehr oder weniger scharf bestimmte Teile des Gehirns ge- 
bunden, also irgendwie lokalisiert sein. Das ganze Hirn kann 
kaum bei allen in gleicher Weise beteiligt sein, wie schon aus 
den zentrifugalen Ableitungs- und aus den zentripetalen Zu- 
leitungsverhältnissen hervorgeht. Dann dürfen wir uns vielleicht 
die verschiedenen Ziele den Zentren der Komplexe der Be- 
wegungsbilder in der Rinde zugeordnet denken. Die Punkte 
des Raumes, soweit dieser physiologisch in Betracht kommt, 
wären dann als Stellen im Gehirn abgebildet. Die Raum- 
empfindungen würden dann den Or^a/zempfindungen dieser 
Stellen entsprechen. Wenn man auch annehmen wird, daß in 
der Hauptsache die räumliche Auffassung durch die angeborene 
Organisation vorgebildet ist, so bleibt doch der individuellen 
Entwicklung noch ein weiter Spielraum. Recht verschieden muß 
letztere ausfallen, je nachdem es sich um ein blindes oder 
sehendes Individuum handelt, je nachdem wir mit einem Plastiker, 
Maler, Jäger oder Musiker zu tun haben. ^) 
*) In Bezug auf Einzelheiten muß ich auf die physiologische Literatur 
im allgemeinen verweisen. Vgl. auch Analyse der Empfindungen. 4. Aufl. 
S. 137—146. Vgl. ferner den Artikel in „The Monist«. Vol. XI, April 1901, 
S. 321—338. 
') Der Raumsinn erfährt im Laufe der individuellen menschlichen Ent- 
wicklung wahrscheinlich bedeutende Veränderungen. Als Kind hatte ich bei 
350 -öer physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen. 
16. Kant hat behauptet: „Man kann sich niemals eine Vor- 
stellung davon machen, daß kein Raum sei, ob man sich gleich 
ganz wohl denken kann, daß keine Gegenstände darin ange- 
troffen werden." Heute zweifelt kaum jemand daran, daß die 
Sinnesempfindungen und die Raumempfindungen nur miteinander 
ins Bewußtsein treten und aus demselben wieder verschwinden 
können. Dasselbe muß wohl von den betreffenden Vorstellungen 
gelten. Wenn für Kant der Raum kein „Begriff", sondern eine 
„reine (bloße) Anschauung a priori" ist, so sind die heutigen 
Forscher sehr geneigt, den geometrischen Raum für einen Be- 
griff, und zwar für einen durch Erfahrung erworbenen Begriff, 
zu halten. Das bloße System der Raumempfindungen können 
wir nicht anschauen; wir können aber von den als nebensächlich 
betrachteten Sinnesempfindungen absehen, und wenn man diesen 
leicht und unvermerkt vor sich gehenden Prozeß nicht genug 
beachtet, kann leicht der Gedanke entstehen, man habe eine reine 
Anschauung vollzogen. Wenn die Raumempfindungen von der 
Qualität der sie miterregenden Reize unabhängig sind, so können 
wir über erstere (innerhalb der oben bezeichneten Grenzen 
S. 344) unabhängig von der physikalischen Erfahrung Aussagen 
Eisenbahnfahrten fast regelmäßig die Erscheinung der Mikropsie. Ich sah 
die fernen Hügel, Berge, die Gebäude und Menschen auf denselben als ganz 
kleine und nahe Modelle, als reizende Liliputanerlandschaften, obgleich ich 
wußte, daß dies nicht der Wirklichkeit entsprach. Später war es mir un- 
möglich, diesen Eindruck wieder zu gewinnen. Vgl. Analyse der Empfindungen, 
S. 194, eine analoge Beobachtung über den Zeitsinn. — Aber auch sehr rasche 
temporäre Veränderungen kann der Raumsinn erfahren. Als Kind nach einer 
schweren Krankheit, wenn ich durch die Unterrichtstunden ermüdet war, sah 
ich die andern Personen sehr klein und sehr weit entfernt. Manche Narko- 
tika, wie Haschisch, bewirken bekanntlich ebenfalls starke temporäre Ände- 
rungen des Raumsinnes. Solche Vorkommnisse sind kaum zu vereinigen mit 
der Annahme, daß die Raumwahrnehmung auf einer bloßen Anordnung der 
Elemente der Sinnesorgane und des Gehirns beruhe, also gewissermaßen in 
einer bloßen Ordnung und Nachbarschaft der Wahrnehmungselemente bestehe, 
welche sich auf die Ordnung und Nachbarschaft der Organe gründet. Man 
wird eher an Empfindungsqualitäten denken, welche abgestuften chemischen 
Prozessen entsprechen, welche daher auch chemischen Einflüssen unter- 
liegen können. — Vgl. Veraguth, Über Mikropsie und Makropsie. (Deutsche 
Zeitschr. f. Nervenheilkunde von Strümpell. Bd. 24, 1903. S. 453). — 
Kost er, Zur Kenntnis der Mikropsie und Makropsie. (Graefes Archiv für 
Ophthalmologie. Bd. 42, 1896. S. 134.) 
Der physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen. 351 
machen, wie dies übrigens von jedem System der Empfindungen^ 
z. B. den Farbenempfindungen oder Tonempfindungen auch 
gilt. Dies bleibt an Kants Auffassung richtig. Zur Entwick- 
lung einer Geometrie reicht aber diese Grundlage nicht aus, 
denn hierzu sind noch Begriffe, und zwar Erfahrungsbegriffe, 
durchaus notwendig.^) 
17. Der geometrische Raum ist begrifflich klarer, der phj?- 
siologische Raum steht hingegen der Empfindung näher. Daher 
kommt es, daß bei geometrischen Beschäftigungen die Eigen- 
schaften des physiologischen Raumes doch vielfach sich geltend 
machen. Wir unterscheiden an unsern Figuren die näheren von 
den ferneren Punkten, die rechts liegenden von den links 
liegenden, die oberen von den unteren nach physiologischen 
Momenten, obgleich der geometrische Raum keine Beziehungen 
zu unserem Leib, sondern nur Beziehungen der Punkte zu- 
einander kennt. Unter den geometrischen Gebilden zeichnet 
sich die Gerade und die Ebene durch ihre physiologischen 
Eigenschaften aus, und sie sind auch die ersten geometrischen 
Untersuchungsobjekte. Die Symmetrie fällt vor allem durch ihre 
physiologischen Vorzüge auf und zieht durch diese die Auf- 
merksamkeit des Geometers auf sich. Sie wirkt auch ohne 
Zweifel bei Wahl der Raumteilung nach rechten Winkeln mit. 
Daß die Ähnlichkeit vor anderen geometrischen Verwandtschaften 
untersucht wurde, beruht ebenfalls auf physiologischen Umständen. 
Die Descartessche Koordinatengeometrie bedeutet eine Be- 
freiung der Geometrie von physiologischen Einflüssen, doch 
bleiben noch Reste derselben übrig in der Unterscheidung posi- 
tiver und negativer Koordinaten, je nachdem dieselben nach 
rechts oder links, oben oder unten u. s. w. gezählt werden. Dies 
ist bequem und anschaulich, aber nicht notwendig. Eine vierte 
Koordinatenebene oder die Bestimmung eines Punktes durch die 
Abstände von vier nicht in einer Ebene liegenden Fundamental- 
punkten befreit den Raum von dem fortwährenden Rekurrieren 
auf physiologische Momente. Die Notwendigkeit der Angabe 
„rechts herum", „links herum" und der Unterscheidung von 
*) über die verschiedenen Auffassungen der Stellung Kants vgl. K.Siegel, 
Über Raum Vorstellung und Raumbegriff. Leipzig, J. A. Barth, 1905. 
352 ^^^ physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen. 
eigentlich kongruenten und S3?mmetrisch kongruenten Gebilden 
entfällt hiermit. Die historischen Einflüsse der physiologischen 
Auffassung auf die Entwicklung der Geometrie sind natürlich 
nicht zu eliminieren. 
18. Selbst in seiner größten Annäherung an den euklidischen 
Raum bleibt der physiologische Raum von ersterem noch be- 
trächtlich verschieden. Dies äußert sich auch in der Physik. 
Den Unterschied von rechts und links, vorn und hinten über- 
windet der naive Mensch leicht, nicht so jenen von oben und 
unten, wegen der Schwierigkeiten, welche sein Geotropismus 
einem dauernden Tausch dieser Richtungen entgegensetzt. Um 
die Unmöglichkeit einer Sache zu bezeichnen, läßt Herodot 
(V, 92) Sosikles von Korinth sagen: „Eher wird der Himmel 
unter der Erde sein, und die Erde über dem Himmel in der 
Luft schweben, als" .... Was der Kirchenvater Lactantius 
gegen die Antipodenlehre, gegen die mit den Köpfen nach 
unten hängenden Menschen und die abwärts gekehrten Baum- 
wipfel vorbrachte, wogegen Augustinus sich sträubte, und was 
noch nach Jahrhunderten naiven Menschen unbegreiflich schien, 
wird uns aus den Eigenschaften des physiologischen Raumes 
verständlich. Wir haben weniger Ursache über die Beschränkt- 
heit der Gegner der Antipodenlehre zu staunen, als die Kraft 
der Abstraktion bei Archytas von Tarent, Aristarch von 
Samos und andern antiken Denkern zu bewundern. 
Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung 
der Geometrie.') 
1. Für den tierischen Organismus sind die Beziehungen der 
Teile des eigenen Leibes zueinander und der physikalischen Ob- 
jekte zu den Teilen dieses Leibes zunächst von der höchsten 
Bedeutung. Auf dieselben gründet sich das phjjsiologische 
System der Raumempfindungen. Kompliziertere Lebensbedingun- 
gen, die keine einfache und direkte Befriedigung der Bedürfnisse 
mehr zulassen, bewirken eine Steigerung der Intelligenz. Das 
physikalische, insbesondere auch das räumliche Verhalten der 
Körper zueinander kann dann ein mittelbares, indirektes Interesse 
gewinnen, welches das Interesse an den augenblicklichen Emp- 
findungen weit übersteigt. Hierdurch entwickelt sich ein räum- 
liches Weltbild, erst instinktiv, dann handwerksmäßig, endlich 
wissenschaftlich, in Form der Geometrie. Geometrisch sind die 
Beziehungen der Körper, insofern dieselben sich durch Raum- 
empfindungen bestimmt zeigen oder in solchen ihren Ausdruck 
finden. So wie es ohne Wärmeempfindungen keine Wärme- 
lehre gäbe, so auch keine Geometrie ohne Raumempfindungen. 
Allein Wärmelehre und Geometrie bedürfen noch der Erfah- 
rungen über Körper, d. h. beide müssen über das engbegrenzte 
Sinnesgebiet, das ihre eigentümliche Grundlage bildet, hinaus- 
greifen. 
2. Selbständige Bedeutung hat die einzelne Empfindung nur 
auf der tiefsten Stufe des tierischen Lebens. So bei der Reflex- 
bewegung, bei Beseitigung eines unangenehmen Hautreizes, 
beim Schnappreflex des Frosches u. s. w. Bei höherer Ent- 
wicklung richtet sich die Aufmerksamkeit nicht auf die Raum- 
') Dieser Artikel erschien in „The Monist". July 1902. 
Mach, Erkenntnis und Irrtum. 23 
354 '2'iir Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 
empfindungen allein, sondern auf jene innigen Komplexe von 
Sinnesempfindungen mit Raumempfindungen, welche wir Körper 
nennen. Der Körper erregt unser Interesse und ist das Ziel 
unserer Tätigkeit. Die Art dieser Tätigkeit wird aber dadurch 
mitbestimmt, wo der Körper sich befindet, ob nah oder fern, ob 
oben oder unten u. s. w., d. h. durch welche Raumempfindungen 
er charakterisiert ist. Dadurch ist es bedingt, wie^ durch welche 
Reaktion, der Körper erreichbar ist, ob durch Ausstrecken des 
Armes, durch eine größere oder geringere Anzahl von Schritten, 
durch Schleudern, Werfen u. s. w. Die Menge der empfindenden 
Elemente, welche der Körper erregt, die Menge der Orte, welche 
derselbe deckt, das Volumen des Körpers, entspricht in gleich- 
artigen Fällen der Quantität der Bedürfnisbefriedigung und hat 
demnach eine biologische Bedeutung. Wenn unsere Gesichts- 
und Tastempfindungen zunächst auch nur durch die Oberfläche 
der Körper ausgelöst werden, so drängen doch mächtige As- 
sociationen gerade den primitiven Menschen dazu, sich mehr 
vorzustellen, oder wie er meint, mehr wahrzunehmen, als er 
beobachtet. Er stellt sich auch die von der allein wahrge- 
nommenen Oberfläche eingeschlossenen Orte materiell erfüllt 
vor. Dies gilt besonders beim Erblicken und Ergreifen schon 
einigermaßen bekannter Körper. Es würde sogar eine bedeu- 
tende Abstraktion erfordern, sich zum Bewußtsein zu bringen, 
daß man nur die Oberfläche wahrnimmt. Eine solche Abstraktion 
kann man dem primitiven Menschen nicht zumuten. 
3. Wichtig in dieser Beziehung sind auch die eigentümlichen 
typischen Formen der Beute- und Gebrauchsobjekte. Besondere 
Formen, d. h. besondere Komplexe von Raumempfindungen, 
welche der Mensch durch den Verkehr mit der Umgebung kennen 
lernt, sind schon rein physiologisch unzweideutig charakterisiert. 
Die Gerade und die Ebene zeichnen sich durch ihre physio- 
logische Einfachheit vor anderen Formen aus, ebenso der Kreis 
und die Kugel. Symmetrische und geometrisch ähnliche Formen 
offenbaren sich schon durch rein physiologische Eigenschaften 
als verwandt. Die Mannigfaltigkeit an Gestalten, die wir aus der 
physiologischen Erfahrung kennen, ist nicht unbedeutend. Bei 
Beschäftigung mit körperlichen Objekten tritt die physikalische 
Erfahrung bereichernd hinzu. 
Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 355 
4. Die rohe physikalische Erfahrung drängt uns dazu, den 
Körpern eine gewisse Beständigkeit zuzuschreiben. Wenn nicht 
besondere Gründe dagegen sprechen, nehmen wir diese Be- 
ständigkeit auch für die einzelnen Merkmale des Komplexes 
„Körper" an. Wir denken uns auch die Farbe, die Härte, die 
Form u. s. w. als beständig. Wir sehen insbesondere den Kör- 
per als räumlich beständig, unzerstörbar an. Diese Voraus- 
setzung der räumlichen Beständigkeit, räumlichen Substanzialität, 
kommt eben in der Geometrie zum Ausdruck. Die physiologisch- 
psychologische Organisation neigt schon für sich zur Betonung 
der Beständigkeiten. Denn allgemeine physikalische Beständig- 
keiten müssen auch in dieser sich aussprechen, welche ja selbst 
einen physikalischen Fall darstellt; besondere physikalische Be- 
ständigkeiten aber werden doch in der Anpassung der Art wirk- 
sam. Indem das Gedächtnis die Bilder der wahrgenommenen 
Körper in den ursprünglichen Formen und Größen aufleben läßt, 
bedingt es das Wiedererkennen derselben Körper, und liefert so 
die erste Grundlage des Eindrucks der Beständigkeit. Die Geo- 
metrie muß aber noch besondere individuelle Erfahrungen heran- 
ziehen. 
5. Ein Körper A' entferne sich von einem Beobachter A, indem 
ersterer aus der Umgebung FGH rasch in die Umgebung MNO 
versetzt wird. Für den optischen Beobachter A wird hierbei 
der Körper K kleiner und im allgemeinen von anderer Form. 
Für einen optischen Beobachter B jedoch, der sich mit /T bewegt, 
und gegen K dieselbe Stellung beibehält, bleibt K unverändert. 
Auch für den greifenden, haptischen Beobachter gilt Analoges, 
wenngleich die perspektivische Verkleinerung, weil der Tastsinn 
überhaupt kein Fernsinn ist, wegfällt. Die Wahrnehmungen von 
A und B müssen nun widerspruchslos vereinigt werden, und 
diese Forderung wird besonders dadurch dringend, daß der- 
selbe Beobachter abwechselnd die Rolle von A und B über- 
nehmen kann. Sie können nur vereinigt werden, indem man 
K gewisse konstante von der Lage gegen andere Körper un- 
abhängige räumliche Eigenschaften zuerkennt. Man erkennt die 
Raumempfindungen des Beobachters A, die durch K bestimmt 
sind, als abhängig von andern Raumempfindungen (der Lage 
von K gegen den Leib des Beobachters Ä). Die von /T an /l 
23* 
356 ^^^^ Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 
bestimmten Raumempfindungen sind aber unabhängig von andern 
Raumempfindungen, welche die Lage des A' gegen B oder gegen 
FGH . . . MNO charakterisieren. In dieser Unabhängigkeit liegt 
das Konstante, um das es sich handelt. Die Grundvoraussetzung 
der Geometrie beruht also auf einer, wenn auch idealisierten, 
Erfahrung. 
6. Sollen die erwähnten Erfahrungen auffallend und mit voller 
Bestimmtheit sich ergeben, so muß der Körper A"ein sogenannter 
starrer Körper sein. Wenn die mit drei distinkten Sinnesempfin- 
dungen verknüpften Raumempfindungen unverändert bleiben, so 
ist hiermit auch die Unveränderlichkeit des ganzen Komplexes 
der Raumempfindungen gegeben, welcher durch einen starren 
Körper bestimmt ist. Diese Festlegung der von dem Körper 
ausgelösten Raumempfindungen durch drei Raumempfindungs- 
elemente charakterisiert also sinnesphysiologisch den starren Kör- 
per. Dies gilt in gleicher Weise für den Gesichts- und Tastsinn. 
Wir denken bei dieser Benennung nicht an die physikalischen 
Bedingungen der Starrheit, wobei wir in verschiedene Sinnes- 
gebiete übergreifen müßten, sondern an die bloße, dem Raum- 
sinn gegebene Tatsache. Wir betrachten hier im Gegenteil 
jeden Körper als geometrisch starr, solange er die angegebene 
Eigenschaft tatsächlich hat, also auch eine Flüssigkeit, solange 
sich deren Teile gegeneinander nicht bewegen. 
7. So sehr es immer wieder und mit starkem Recht betont 
wird, daß sich die Geometrie nicht mit physischen, sondern mit 
idealen Objekten beschäftigt, so kann man anderseits nicht be- 
zweifeln, daß dieselbe aus dem Interesse für die Raumverhältnisse 
der physischen Körper entsprungen ist. Die Spuren hiervon trägt 
sie deutlich an sich, und nur durch Beachtung dieser Spuren 
wird der Entwicklungsgang derselben ganz verständlich. Unser 
Wissen über das räumliche Verhalten der Körper gründet sich 
auf die Vergleichung der durch dieselben ausgelösten Raum- 
empfindungen. Auch ohne irgend welche künstliche oder wissen- 
schaftliche Hilfsmittel erwerben wir uns eine ausgiebige Raum- 
erfahrung. Wir vermögen ungefähr zu beurteilen, ob starre 
Körper, die wir nebeneinander in ungleicher Lage, in verschie- 
dener Entfernung wahrnehmen, nacheinander in gleiche Lage 
gebracht, nahe gleiche oder ungleiche Raumempfindungen aus- 
Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 357 
lösen werden. Wir wissen ungefähr, ob ein Körper einen andern 
decken, ob ein horizontal liegender Stab zu einer gewissen Höhe 
hinanreichen kann. Die Raumempfindungen unterliegen jedoch 
physiologischen Umständen, die für die verglichenen Glieder 
nie ganz identisch sein können. Genau genommen muß auch 
immer die Gedächtnisspur einer Empfindung mit einer eigent- 
lichen Empfindung verglichen werden. Wenn es sich also um 
das genaue räumliche Verhalten der Körper gegeneinander handelt, 
müssen wir uns Merkmale derselben verschaffen, welche von den 
wenig kontrollierbaren physiologischen Umständen möglichst un- 
abhängig sind. Dies geschieht durch Vergleichung der Körper 
mit Körpern. Ob ein Körper A einen andern B deckt, ob einer 
genau an die vom andern eingenommenen Orte gebracht werden 
kann, d. h. ob beide unter gleichen Umständen dieselben Raum- 
empfindungen auslösen, läßt sich mit großer Genauigkeit be- 
urteilen. Wir betrachten solche Körper als räumlich, geometrisch 
in jeder Beziehung gleich, kongruent. Die Art der Empfindungen 
ist hierbei gar nicht mehr maßgebend; es handelt sich nur mehr 
um deren Gleichheit oder Ungleichheit. Sind beide Körper 
starr, so können wir alle Erfahrungen, die wir an dem einen, 
etwa dem leichter beweglicheren, handlicheren Maßstab A ge- 
winnen, auch auf den andern B übertragen. Auf den Umstand, 
daß es weder möglich noch notwendig ist, für jeden Körper einen 
besonderen Vergleichskörper oder Maßstab zu verwenden, kommen 
wir noch zurück. Die bequemsten, wenn auch nur in roher Weise 
verwendbaren Vergleichskörper, deren Unveränderlichkeit beim 
Transport wir stets vor den Augen haben, sind unsere Hände 
und Füße, unsere Arme und Beine. Die Namen der ältesten 
Maße zeigen auch deutlich, daß wir ursprünglich mit Handbreiten, 
Fußlängen, Armlängen, Schrittweiten u. s. w. gemessen haben. 
Mit der Einführung konventioneller, aufbewahrter, körperlicher 
Maße beginnt nur eine Y*er\odiQ größerer Genauigkeit der Messung; 
das Prinzip derselben bleibt das gleiche. Der Maßstab ermög- 
licht uns die Vergleichung schwer transportabler oder überhaupt 
praktisch unbeweglicher Körper. 
8. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß nicht die räum- 
lichen, sondern vor allem die materiellen Eigenschaften der 
Körper das stärkste Interesse für uns haben. Dieser Umstand 
358 Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 
äußert sich gewiß auch in den Anfängen der Geometrie. Das 
Volumen des Körpers kommt instinktiv als Quantität der mate- 
riellen Eigenschaften in Betracht, und bildet als solches ein Streit- 
objekt, lange vor jeder tieferen geometrischen Einsicht. Hiermit 
gewinnt aber die Vergleichung, die Messung der Volumina schon 
ihren Wert, und stellt sich unter die ersten und wichtigsten Auf- 
gaben der primitiven Geometrie. Die ersten Volumenmessungen 
wurden wahrscheinlich durch Hohlmaße für Flüssigkeiten und 
Früchte vorgenommen. Dieselben hatten also den Zweck, die 
Quantität gleichartiger Materie oder die Menge (Zahl) gleich- 
artiger gleichgeformter (identischer) Körper bequem zu ermitteln. 
So ist umgekehrt wahrscheinlich auch der Raum von Vorrats- 
kammern (Speichern) ursprünglich nach der Menge, Zahl der 
gleichartigen Körper, die derselbe aufzunehmen vermochte, ge- 
schätzt worden. Die Messung des Volumens durch eine Volumen- 
einheit ist aller Wahrscheinlichkeit nach ein viel späterer Gedanke 
und kann sich gewiß nur auf einer höheren Stufe der Abstraktion 
entwickelt haben. 
9. Auch die Flächenschätzung wird nach der Menge (Zahl) 
der Frucht- oder Nutzpflanzen, nach der Saat, die ein Feld auf- 
zunehmen vermochte, gelegentlich wohl auch nach der Arbeit, die 
dasselbe in Anspruch nahm, stattgefunden haben. Die Messung 
einer Fläche durch eine Fläche ergab sich hier leicht und an- 
schaulich, wenn gleich große, gleich geformte Felder neben- 
einander lagen. Da wird man wohl nicht im Zweifel gewesen 
sein, daß das Feld, welches aus n Feldern von gleicher Größe 
und Form besteht, auch den /z-fachen wirtschaftlichen Wert hat. 
Man wird aber nicht geneigt sein, die Bedeutung dieses intellek- 
tuellen Schrittes zu unterschätzen, wenn man die Unrichtigkeiten 
in der Flächenmessung in Betracht zieht, welche bei den 
Ägyptern^) und selbst noch bei den römischen Agrimensoren ^) 
vorkamen. Als der persische ,Übermensch' Xerxes^) das Heer 
zählen wollte, welches er „zu verzehren" hatte, das er mit 
Peitschenhieben über den Hellespont und gegen die Griechen 
') Eisenlohr, EinmathematischesHandbuchderaltenÄgypter. Papyrus 
Rhind. Leipzig 1877. 
*) M. Cantor, Die römischen Agrimensoren. Leipzig 1875. 
«) Herodot, Vll, 22, 56, 103, 223. 
Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 359 
trieb, wandte er folgendes Verfahren an: Es wurden 10000 Mann 
dicht gedrängt aufgestellt, der von denselben eingenommene 
Platz wurde umzäunt, und jede folgende Abteilung des Heeres 
oder vielmehr der Herde von Sklaven, welche nachher in die 
Umzäunung hineingetrieben den Platz ausfüllte, galt wieder 
für 10000. Hier begegnen wir der umgekehrten Anwendung 
des Gedankens, wonach eine Fläche gemessen wird durch die 
Menge (Zahl) gleicher, identischer, dichtliegender Körper, welche 
dieselbe bedecken. Indem zunächst instinktiv, dann bewußt von 
der Höhendimension dieser Körper abgesehen wird, findet der 
Übergang zur Flächenmessung durch die Flächeneinheit statt. 
Der analoge Schritt zur Volumenmessung durch die Volumen- 
einheit fordert eine viel geübtere, geometrisch geschulte An- 
schauung, vollzieht sich später und ist auch heute noch dem 
Volke weniger geläufig. 
10. Die älteste Schätzung von großen Entfernungen nach 
Tagereisen, Wegstunden u. s. w. zog wohl die Mühe, Arbeit, den 
Zeitaufwand der Überwindung dieser Entfernungen in Betracht. 
Mißt man aber die Länge durch wiederholtes Anlegen der Hände, 
Füße, der Armlänge, des Maßstabes, der Meßkette, so ist dies, 
genau genommen, eine Messung durch Auszählung gleicher 
Körper, also eigentlich wieder eine Volumenmessung. Das Be- 
fremdliche dieser Auffassung wird im Verlauf dieser Darstellung 
verschwinden. Sieht man hierbei ab, erst instinktiv und dann 
bewußt, von den beiden Querdimensionen der zur Auszählung 
verwendeten Körper, so gelangt man dazu, die Länge durch 
eine Längeneinheit zu messen. 
11. Man definiert gewöhnlich die Fläche als die Grenze 
eines Raumes. So ist die Oberfläche einer Metallkugel die 
Grenze zwischen Metall und Luft, sie gehört weder dem Metall- 
noch dem Lufträume an; derselben schreibt man bloß 2 Di- 
mensionen zu. Analog ist die eindimensionale Linie die Grenze 
einer Fläche, z. B. der Äquator die Grenze der Halbkugelfläche. 
Der ausdehnungslose Punkt ist die Grenze einer Linie, z. B. 
eines Kreisbogens. Den Punkt läßt man durch Bewegung eine 
eindimensionale Linie, diese ebenso eine zweidimensionale Fläche, 
und letztere analog einen dreidimensionalen körperlichen Raum 
erzeugen. Der geschulten Abstraktion erwachsen durch diese 
360 ^lii' Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 
Auffassung keine Schwierigkeiten. Dieselbe leidet nur an dem 
Übelstand, daß sie den natürlichen Weg, auf welchem man zu 
den Abstraktionen gelangt ist, nicht aufzeigt, sondern im Gegen- 
teil künstlich verdeckt. Es wird darum doch eine gewisse Un- 
behaglichkeit fühlbar, wenn auf diesem Standpunkte, z. B. das 
Flächenmaß, die Flächeneinheit definiert werden soll, nachdem 
die Längenmessung abgehandelt ist.^) 
12. Man gewinnt eine homogenere Auffassung, wenn man 
jede Messung als eine Raumauszählung durch dichtliegende, 
räumlich identische^ oder doch als identisch angesehene Körper 
betrachtet, handle es sich um Volumina, Flächen oder Linien. 
Die Flächen kann man als körperliche Blätter von überall gleicher, 
konstanter, beliebig kleiner, verschwindender Dicke, die Linien 
als Schnüre oder Fäden von konstanter, verschwindender Dicke 
ansehen. Der Punkt wird dann ein kleiner körperlicher Raum, 
von dessen Ausdehnung man willkürlich absieht, ob derselbe 
nun einem andern Raum, einer Fläche oder Linie angehört. Die 
zur Auszählung verwendeten Körper können nach Bedürfnis 
beliebig klein und von beliebiger passender Form gewählt werden. 
Nichts hindert uns, diese auf dem bezeichneten natürlichen Wege 
gewonnenen Vorstellungen durch Absehen von der Dicke der 
Flächenblätter und Linienfäden in üblicher Weise begrifflich zu 
idealisieren. Die übliche, etwas ängstliche Darstellung der Grund- 
begriffe der Geometrie rührt wohl daher, daß die von zufälligen, 
historischen, elementaren Fesseln befreiende, infinitesimale Me- 
thode erst in einem späten Entwicklungsstadium der Geometrie 
wirksam wurde und daß noch viel später (durch Gauß) die 
unbefangene Anknüpfung der Geometrie an die /7/z}'s/s^/z^/z Wissen- 
schaften sich wiederfand. Warum aber die bessere Einsicht den 
Elementen nicht jetzt wenigstens zu gut kommen sollte, ist nicht 
recht einzusehen. Schon Leibniz weist darauf hin, daß es 
rationeller ist, mit den geometrischen Definitionen beim Körper 
zu beginnen.^) 
13. Die Ausmessung von Räumen, Flächen und Linien durch 
Körper ist unserer verfeinerten Geometrie ganz fremd geworden; 
*) Holder, Anschauung u. Denken in der Geometrie. Leipzig 1900. S. 18. 
') Brief an Giordano (Leibniz, Mathem. Schriften, herausg. v. Ger- 
hardt. Berlin 1849. \. Abt., I. Bd., S. 199). 
Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 361 
dennoch tritt dieser Gedanke nicht bloß als Vorläufer idea- 
lisierter Methoden auf. Derselbe spielt in der Psychologie der 
Geometrie eine wichtige Rolle, und wir finden ihn noch in einem 
späten Entwicklungsstadium in der Werkstätte des Forschers 
und Erfinders auf diesem Gebiete sehr wirksam. Cavalieris 
Methode der Indivisibilien scheint durch diesen Gedanken am 
besten verständlich. Nach dessen eigener Erläuterung denke 
man sich die zu vergleichenden Flächen (Quadraturen) mit be- 
liebig zahlreichen äquidistanten parallelen Fäden nach Art der 
Kette eines Gewebes, und die zu vergleichenden Räume (Kuba- 
turen) durch parallele Buchblätter ausgefüllt. Die Gesamt/ä/z^^ 
der Fäden kann dann als Maß der Flächen^ und die Gesamt- 
fläche der Blätter als Maß der Volumina dienen, und zwar kann 
man in der Genauigkeit so weit gehen, als man will. Die Zahl 
äquidistanter gleicher Körper kann bei hinreichend dichter Lage 
und passender Wahl der Form ebensogut die Maßzahlen von 
Flächen und Räumen liefern, als die Zahl der identischen Körper, 
welche die Flächen absolut dicht bedecken, oder die Räume 
absolut dicht ausfüllen. Läßt man diese Körper zu Linien 
(Geraden), bezw. zu Flächen (Ebenen) schrumpfen, so erhält 
man die Teilung der Flächen in Flächenelemente und der Räume 
in Raumelemente, somit die übliche Messung der Flächen durch 
Flächen und der Räume durch Räume. Die mangelhafte, dem 
Stande seiner zeitgenössischen Geometrie wenig angemessene 
Darstellung Cavalieris hat die Historiker der Geometrie zu 
recht harten Urteilen über dessen schönen und fruchtbaren Er- 
findungsgedanken bewogen.^) Wenn noch Helmholtz in seiner 
bedeutenden Jugendarbeit,^) in einem Momente des Übergewichts 
der Phantasie über die Kritik, die Fläche als die Summe der in 
ihr liegenden Linien (Ordinalen) ansieht, so lehrt dies, wie tief 
die ursprüngliche natürliche Auffassung sitzt, und wie leicht 
dieselbe immer wieder entsteht.^) 
*) Weißenborn, Prinzipien der höheren Analpsis in ihrer Entwicklung. 
Halle 1856. — Gerhardt, Entdeckung der höheren Analysis. Halle 1855. 
S. 18 u. f. — M. Cantor, Geschichte der Mathematik. Leipzig 1892. II. Bd. 
2) Helmholtz, Erhaltung der Kraft. Berlin 1847. S. 14. 
') Für Leser, welche der Geometrie ferner stehen, mag dieCavalieri sehe 
Methode durch ein einfaches Beispiel erläutert werden. Wir denken uns aus 
362 ^^r Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 
14. Außer der allgemeinen Erfahrung, daß es bewegliche 
Körper gibt, denen trotz der Beweglichkeit eine räumliche Be- 
ständigkeit in dem oben erläuterten Sinne, eine identisch bleibende 
Eigenschaft zugeschrieben werden muß, welche die Grundlage 
aller Maßbegriffe bildet, sammeln sich instinktiv, dann bei berufs- 
mäßiger, handwerksmäßiger Beschäftigung, noch mancherlei Spe- 
zial-Erfahrungen an, die der Geometrie zu gut kommen. Indem 
dieselben zum Teil in überraschender Form auftreten, zum Teil 
miteinander im Einklang zu stehen, zum Teil aber auch bei un- 
vorsichtiger Verwertung in paradoxen Widerstreit zu geraten 
scheinen, beunruhigen sie das Denken und reizen sie dasselbe, 
dem geordneten logischen Zusammenhang dieser Erfahrungen 
nachzugehen. Diesen Prozessen wollen wir zunächst unsere 
Aufmerksamkeit zuwenden. 
einem Block von Papierblättern auf einem Tische einen geraden Zylinder 
mit horizontaler Kreisbasis herausgeschnitten, und zugleich einen Kegel von 
derselben Basis und Höhe in den Zylinder eingeschrieben. Während die vom 
Zylinder ausgeschnittenen Blätter alle gleich sind, wachsen die dem Kegel 
angehörigen Blätter quadratisch mit der Entfernung vom Scheitel. Die Elemen- 
targeometrie lehrt in diesem Falle das Kegelvolumen als den dritten Teil des 
Zylindervolumens kennen. Hiervon 
ergibt sich nun sofort eine Anwen- 
dung auf die Quadratur der Parabel. 
Um ein Parabelstück werde ein Recht- 
eck beschrieben, durch die Achse, die 
Scheiteltangente und die zugehörigen 
Gegenseiten (Fig. 11). Denkt man sich 
das Rechteck mit einem zu .r parallelen 
Fadensystem überzogen, so gehört zu 
jedem Faden von der zu x parallelen 
P'S« 11' Rechteckseitenlänge ein y^ propor- 
tionales Fadenstück außerhalb des 
Parabelabschnittes. Demnach steht die Fläche außerhalb des Parabel- 
abschnittes zur Fläche des gesamten Rechteckes im Verhältnis 1 : 3, gerade 
so wie das Volumen des Kegels zu jenem des Zylinders. 
Es spricht für die Natürlichkeit der Cavalierischen Anschauung, daß 
auch Schreiber dieser Zeilen, der als Gymnasiast von der höheren Geometrie 
hörte, aber nichts von derselben zu sehen bekam, auf sehr ähnliche An- 
schauungen verfiel, was ja im 19. Jahrhundert nicht mehr schwierig war. 
Er machte mit Hilfe derselben eine Menge kleiner, natürlich längst bekannter 
Entdeckungen, fand so den Güldinschen Satz, berechnete einige der Kepl er- 
sehen Rotationskörper u. s. w. 
Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 363 
15. Wenn auch die bekannte Äußerung des Herodot/) in 
welcher er den Ursprung der Geometrie auf die Feldmessung 
der Ägypter zurückführt, nicht vorläge, und wenn des Eudemus 
Bericht über die Vorgeschichte der Geometrie, den wir durch 
den Auszug des Proklus kennen, gänzlich verloren gegangen 
wäre, 2) könnten wir doch an einem vorwissenschaftlichen Stadium 
der Geometrie nicht zweifeln. Die ersten geometrischen Ein- 
sichten ergaben sich zufällig und ungesucht auf dem Wege der 
handwerksmäßigen Erfahrung bei Gelegenheit der verschie- 
densten Beschäftigungen. Es geschah dies zu einer Zeit, in 
welcher der wissenschaftliche Sinn, das Interesse für den Zu- 
sammenhang dieser Erfahrungen noch sehr wenig entwickelt 
war. Selbst in unserer dürftigen Geschichte der Anfänge der 
Geometrie tritt dies deutlich hervor, noch mehr aber in der all- 
gemeinen Kulturgeschichte, welche handwerksmäßige geometrische 
Verrichtungen in einer so frühen und barbarischen Zeit nach- 
weist, daß die Annahme wissenschaftlicher Bestrebungen aus- 
geschlossen ist. 
Fig. 12. 
16. Alle wilden Stämme führen Flechtarbeiten aus, bei 
welchen, so wie bei ihren Zeichnungen, Malereien und Kerb- 
arbeiten, sich vorzugsweise ornamentale Motive ergeben, die 
aus den einfachsten geometrischen Formen bestehen. Denn diese 
entsprechen, wie die Zeichnungen unserer Kinder, der verein- 
fachten, typischen, schematischen Auffassung der Objekte, welche 
sie abbilden wollen, und diese sind anderseits ihrer Handfertig- 
keit und ihren primitiven Werkzeugen am leichtesten erreichbar. 
Ein solches Ornament, aus einer Reihe (Fig. 12) von gleich- 
geformten, abwechselnd verkehrt gestellten Dreiecken oder einer 
Reihe von Parallelogrammen bestehend, legt nun die Erfahrung 
1) Herodot, II, 109. 
*) Jam£s Gow, History of Greek mathematics. Cambridge 1884. S. 134. 
364 '2-ttr Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 
sehr nahe, daß die Summe der 3 Winkel des Dreieckes beim 
Zusammenlegen der Scheitel, 2 Rechte ausmacht. Diese Er- 
fahrung konnte auch unmöglich den Ton- und Steinarbeitern der 
Assyrier, Ägypter, Chinesen, Griechen u. s. w. entgehen, sobald 
sie aus gleichgeformten verschiedenfarbigen Steinen die gebräuch- 
lichen Mosaiken, Pflasterungen zusammensetzten. Der Satz der 
Pythagoräer, wonach die Ebene um einen Punkt herum durch 
6 gleichseitige Dreiecke, 4 Quadrate und 3 reguläre Sechsecke 
vollständig erfüllt wird, deutet ebenfalls auf die bezeichnete 
Erkenntnisquelle. ^) Dieselbe offenbart sich auch in dem alt- 
griechischen Nachweis der Winkelsumme eines beliebigen Drei- 
Fig. 13. Fig. 14. 
eckes durch Zerschneiden desselben in rechtwinklige Dreiecke 
(durch Ziehen der Höhe) und Ergänzung der so entstandenen 
Teile zu Rechtecken.^) Dieselben Erfahrungen ergeben sich 
bei mannigfaltigen anderen Gelegenheiten. Ein Feldmesser um- 
schreite ein polygonales Grundstück. Am Anfangspunkt seines 
Weges wieder angelangt, wird er finden, daß er eine volle Um- 
drehung von 4 Rechten ausgeführt hat. Im Falle des Dreieckes 
bleiben also von den 6 Rechten (Fig. 13) an allen drei Ecken 
und an den Innenseiten der drei Seiten nach Abzug der drei 
Drehungswinkel a, b, c für die Summe der Innenwinkel 2 Rechte 
') Der Satz wird von Proklus den Pythagoräern zugeschrieben. Vgl. 
Gow, History. S. 143. 
«) Hankel, Geschichte der Mathematik. Leipzig 1874. S, 96. 
Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 365 
Übrig. Diese Ableitung verwendete Thibaut,^) ein Zeitgenosse 
von Gauß. Wenn ein Zeichner ein Dreieck in der Weise be- 
schreibt, daß er das Lineal nacheinander an den Ecken um den 
betreffenden Innenwinkel immer in demselben Sinne dreht, so 
findet er, bei der ersten Seite wieder anlangend, die Schneide 
des Lineals an der Innenseite des Dreiecks liegend, wenn sie 
das erste Mal an der Außenseite lag (Fig. 14). Das Lineal hat 
also bei dieser Prozedur, die Innenwinkel in demselben Sinne 
beschreibend, eine Äa/^^ Drehung 
ausgeführt.^) Tylor^) bemerkt, 
daß auch das Falten von Stoff 
oder Papier zu denselben Erfah- 
rungen leiten kann. Falten wir 
ein dreieckiges Papier in der 
(Fig. 15) angedeuteten Weise, Fig. 15. 
so entsteht ein doppelt belegtes 
Rechteck, dessen doppelte Fläche also der Dreiecksfläche ent- 
spricht. Die Summe der bei a koinzidierenden Dreieckswinkel 
ist 2 R. Wiewohl man durch Faltungen sehr überraschende Er- 
gebnisse erzielt hat, kann man doch kaum glauben, daß diese 
Prozeduren historisch für die geometrische Erkenntnis sehr er- 
giebig waren. Dieses Material ist von zu beschränkter An- 
wendung, und die mit demselben beschäftigten Arbeiter sind zu 
wenig zu exakter Beobachtung gedrängt.*) 
17. Die Einsicht, daß die Winkelsumme des ebenen Drei- 
eckes eine bestimmte Quantität^ nämlich 2R beträgt, ist also 
auf dem Wege der Erfahrung gewonnen worden, nicht anders 
als etwa der Hebelsatz und das Bople-Mariottesche Ga&- 
gesetz. Gewiß kann der bloße Augenschein und selbst die 
Messung mit den feinsten Instrumenten nicht lehren, daß die 
1) Thibaut, Grundriß der reinen Mathematik. Göttingen 1809. S. 177. 
— Die möglichen Einwendungen gegen diese und die folgenden Ableitungen 
lassen wir vorläufig unberücksichtigt. 
*) Auch vom Verfasser bei Gelegenheit des Zeichnens bemerkt. 
*) Tylor, Einleitung in das Studium der Anthropologie. Braunschweig 
1883. S. 383. 
*) Vgl. z.B. Sundara Row, Geometrie Exercises in Paper-Folding. 
Chicago 1901. 
366 2ur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 
Winkelsumme absolut genau 2 R ist. Ebenso verhält es sich 
mit dem Hebelsatz und mit dem Gasgesetz. Alle diese Sätze 
sind idealisierte, schematisierte Erfahrungen; denn Messungen 
werden immer kleine Abweichungen von denselben zeigen. 
Während wir aber das Gasgesetz bei weiteren Versuchen bald 
als eine Annäherung erkennen und dasselbe modifizieren müssen, 
um die Tatsachen genauer darzustellen, bleibt der Hebelsatz 
und der Winkelsatz mit diesen immer in so genauer Überein- 
stimmung, als dies bei den unvermeidlichen Versuchsfehlern 
erwartet werden kann, und von allen Folgerungen^ die sich auf 
diese beiden Sätze als Voraussetzungen gründen, kann dasselbe 
behauptet werden. 
18. Wenn beim Pflastern gleiche 
und gleichgeformte Dreiecke mit den 
Grundlinien in einer Geraden neben- 
einander gestellt wurden (Fig. 16), 
so mußte dies wieder zu einer höchst 
wichtigen geometrischen Einsicht lei- 
ten. Bei Verschiebung des Dreieckes 
in einer Ebene und längs einer Ge- 
raden (also ohne Drehung), beschrei- 
ben alle Punkte, auch jene der Grenz- 
linien, den gleichen Weg. Dieselbe 
Grenzgerade liefert also in beiden 
Lagen ein überall ^/^/^Ä weit getrenn- 
tes Geradenpaar. Zugleich verbürgte 
die Operation die Gleichheit der Winkel mit der Verschiebungs- 
geraden an derselben Seite der beiden Geraden des Paares. 
Die Summe der Innenwinkel zur selben Seite der Verschiebungs- 
geraden war hiermit zu 2/? bestimmt. Der Euklidsche 
Parallelensatz war hiermit gewonnen. Fügen wir hinzu, daß 
die Möglichkeit, eine solche Pflasterung beliebig weit auszu- 
dehnen, die berührte Einsicht besonders fühlbar machen mußte. 
Die Verschiebung eines Dreieckes längs eines Lineals ist bis 
heute das einfachste und natürlichste Verfahren geblieben, Parallele 
zu ziehen. Es ist kaum nötig zu bemerken, daß der Winkel- 
summen- und der Parallelensatz aneinander gebunden sind, nur 
verschiedene Formen derselben Erfahrung darstellen. 
Fig. 16. 
Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 367 
19. Die zuvor erwähnten Steinarbeiter mußten leicht zur 
Einsicht gelangen, daß ein reguläres Sechseck sich aus gleich- 
seitigen Dreiecken zusammensetzen läßt. Die einfachsten Fälle 
der Kreisteilung, die Sechsteilung durch den Radius, die Drei- 
teilung u. s. w. ergaben sich sofort. Wie der Zimmermann fast 
ohne Überlegung, instinktiv findet, läßt sich aus einem zylin- 
drischen Baumstamm wegen der allseitigen Symmetrie des Kreises 
in unendlich mannigfaltiger Weise ein Balken von rechteckigem, 
symmetrischem Querschnitt schneiden, dessen Kanten in der 
Zylinderfläche liegen. Die Diagonalen des Rechteckes gehen 
durch den Kreismittelpunkt. Nach Hankels^) und Tylors^) 
Meinung wurde wahrscheinlich so der Winkel im Halbkreise 
als ein rechter erkannt. 
20. Ein gespannter Faden verschafft uns die eigentümliche 
Anschauung der geraden Linie. Dieselbe ist charakterisiert 
durch ihre physiologische Einfachheit. Alle Teile derselben be- 
dingen die gleiche Richtungsempfindung, jeder Punkt löst das 
Mittel der Raumempfindungen der Nachbarpunkte aus, jeder noch 
so kleine Teil ist jedem beliebig großen ähnlich. Mit dieser 
physiologischen Charakteristik, obgleich dieselbe auf die Defi- 
nition mancher Geometer Einfluß genommen haben mag,^) 
könnte dennoch der Geometer nur wenig anfangen. Das An- 
schauungsbild muß durch physikalische Erfahrungen über körper- 
liche Objekte bereichert werden, um geometrisch brauchbar zu 
sein. Eine Schnur sei mit dem einen Ende bei A befestigt und 
mit dem andern durch den bei B festgemachten Ring gezogen. 
Zieht man an dem Ende bei 5, so sieht man Schnurteile, welche 
vorher zwischen A und B lagen, bei B hervortreten, während 
sich die Schnur zugleich der Form der Geraden nähert. Eine 
geringere Anzahl von gleichen Schnurteilchen, identischen 
Körperchen ^ genügt, um zwischen A und B eine verbindende 
Gerade, als um eine Krumme zu erfüllen. Es ist ein Irrtum zu 
behaupten, daß die Gerade durch die bloße Anschauung als die 
Kürzeste erkannt wird. Allerdings kann man die gleichzeitige 
Form- und Längenänderung der Schnur in der Vorstellung 
») H an kel, Gesch. d. Mathem. S. 206— 207. 
«) Tylor, a. a. O. 
») Euklid, Elemente. I. Def. 3. 
368 2^'' Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 
qualitativ vollkommen richtig und verläßlich reproduzieren, allein 
es ist dies das Wiederaufleben einer Erfahrung mit Körpern — 
ein Gedankenexperiment. Die bloße, ruhige Raumanschauung 
würde nie zu einer solchen Einsicht führen. Messung ist Er- 
fahrung einer körperlichen Reaktion, ein Deckungs-Experiment. 
Angeschaute, vorgestellte Linien verschiedener Richtung und 
Länge lassen sich überhaupt nicht ohne weiteres aneinander 
anlegen. Die Möglichkeit eines solchen Vorganges muß er- 
fahren werden an Materiellem, für unveränderlich Geltendem. 
Wenn zuweilen sogar den Tieren die instinktive Kenntnis der 
Geraden als der Kürzesten zugeschrieben wird, so beruht dies 
auf einem Irrtum. Wirkt auf ein Tier ein anziehender Reiz, 
und hat sich dasselbe einmal so gewendet, daß dessen Sym- 
metrieebene durch das Reizobjekt hindurchgeht, so ist die 
Gerade die durch den Reiz eindeutig bestimmte Bewegungs- 
bahn. Dies geht aus Loebs Untersuchungen über die Tropismen 
der Tiere deutlich hervor. 
21. Daß insbesondere zwei Seiten eines Dreieckes größer 
sind als die dritte, lehrt nicht die bloße Anschauung. Legt man 
zwei Seiten durch Drehung um die Winkelscheitel an der Grund- 
linie in diese um, so sieht man allerdings schon in der Vor- 
stellung^ daß jene, mit ihren freien Enden sich in Kreisbogen 
bewegend, ^ich schließlich teilweise überdecken, also mehr als 
die Grundlinie erfüllen. Ohne aber diesen Vorgang einmal an 
körperlichen Objekten gesehen zu haben, wird man nicht zu 
dieser Vorstellung gelangen. Euklid^) leitet dieselbe Einsicht 
auf einem künstlichen Umwege daraus ab, daß im Dreieck die 
größere Seite an den größeren gegenüberliegenden Winkel ge- 
bunden ist. Die eigentliche Erkenntnisquelle ist auch hier die 
Erfahrung bei Bewegung einer körperlichen Dreiecksseite; sie 
ist nur mühsam durch die Form der Ableitung verdeckt, und 
nicht zum Vorteil der Klarheit und Kürze. 
22. Mit den eben erwähnten Erfahrungen sind die Eigen- 
schaften der Geraden nicht erschöpft. Wird ein beliebig ge- 
formter Draht an zwei an einem Brett befestigte Stifte angelegt 
und in steter Berührung mit diesen verschoben, so ändert sich 
>) Euklid, Elemente. I. Prop. 20. 
Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 369 
hierbei die Form und die Lage der Drahtteile zwischen den 
Stiften unausgesetzt. Je gerader der Draht wird, desto kleiner 
fällt diese Änderung aus. Ein gerader Draht verschiebt sich 
bei diesem Vorgang in sich selbst. Um zwei seiner fest- 
gehaltenen Punkte gedreht, ändert ein krummer Draht fort und 
fort seine Lage, während ein gerader dieselbe stets beibehält, 
sich in sich selbst dreht. ^) Wenn wir nun die Gerade defi- 
nieren als diejenige Linie, welche durch zwei ihrer Punkte voll- 
kommen bestimmt ist, so liegt in diesem Begriff nichts als die 
Idealisierung der durch jene Erfahrung gewonnenen Vorstellung, 
welche mit der (phjjsiologischen) Anschauung durchaus noch 
nicht gegeben ist. 
23. Die Ebene ist wie die Gerade 
schon physiologisch durch ihre Einfach- 
heit charakterisiert. Dieselbe erscheint 
überall gleich.^) Jeder Punkt löst das 
Mittel der Raumempfindungen der Nach- 
barpunkte aus. Jeder kleine Teil ist jedem 
beliebig großen ähnlich. Erfahrungen an 
körperlichen Objekten müssen dennoch 
hinzukommen, damit alles dies geo- 
metrisch verwertbar werde. Die Ebene 
ist wie die Gerade zu sich selbst physio- 
logisch symmetrisch, wenn sie in die Mediane fällt oder zu der- 
selben senkrecht steht. Um aber die Symmetrie als eine bleibende 
geometrische Eigenschaft der Ebene und der Geraden zu er- 
kennen, müssen dieselben schon als bewegliche, unveränderliche, 
körperliche Objekte gegeben sein. Das Gebundensein der physio- 
logischen Symmetrie an metrische Eigenschaften bedarf auch 
eines besonderen metrischen Nachweises. 
24. Die Ebene wird körperlich dargestellt, indem man an drei 
Fig. 17. 
») Leibniz in einem Brief an Vitale Giordano (abgedr. inLeibnizens 
math. Schriften, herausgegeben von Gerhardt, Berlin 1849, 1. Abt., Bd. I, 
S. 195, 196) benützt letztere Eigenschaft zur Definition der Geraden. Die 
Verschiebbarkeit in sich selbst teilt die Gerade mit dem Kreise und der 
Kreiszylinderspirale. Die Drehung in sich selbst und die Bestimmung durch 
zwei Punkte sind ihr aber ausschließlich eigen. 
2) Vgl. Euklid, Elemente I. Definition 7. 
Mach, Erkenntnis und Irrtum. / 24 
370 ^^f Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 
Körpern durch Schleifen aneinander drei Flächen A, B, C her- 
stellt, von welchen jede auf jede paßt, was (wie an der Fig. 17 
ersichtlich) weder bei konvexen noch bei konkaven, sondern 
nur bei ebenen Flächen möglich ist. Durch das Schleifen ver- 
schwinden eben die Konvexitäten und Konkavitäten. Ähnlich 
erhält man mit Hilfe eines unvollkommenen Lineals eine genauere 
Gerade, indem man ersteres mit den Endpunkten an die 
Punkte A^ B anlegt, dann nach einer Drehung um 180° aus 
seiner Ebene wieder an A, B anlegt, und dann die mittlere 
zwischen beiden gezogenen Linien als vollkommenere Gerade 
ansieht, mit welcher man dasselbe Verfahren wiederholen kann. 
Hat man durch Schleifen eine Ebene, also eine Fläche hergestellt, 
welche überall und zu beiden Seiten dieselbe Form hat, so er- 
geben sich weitere Erfahrungen. Zwei solche Ebenen aufein- 
ander gelegt lehren, daß die Ebene in sich verschiebbar und 
in sich drehbar ist, ähnlich wie die Gerade. Ein zwischen zwei 
Punkten der Ebene gespannter Faden fällt ganz in die Ebene. 
Ein über ein begrenztes Ebenenstück gespanntes Tuch fällt mit 
dieser zusammen. Die Ebene stellt also das Minimum der 
Fläche innerhalb ihrer Begrenzung dar. Legt man die Ebene 
auf zwei Spitzen, so kann man sie noch um die Verbindungs- 
gerade derselben drehen; eine dritte Spitze außerhalb dieser 
Geraden legt die Ebene fest, bestimmt dieselbe also vollkommen. 
Leibniz benutzt in der Tat in der natürlichsten Weise die Er- 
fahrungen an körperlichen Objekten, wenn er in dem oben 
zitierten Brief an Giordano die Ebene definiert als eine Fläche, 
welche einen unbegrenzten Körper in zwei kongruente Teile zer- 
schneidet, und die Gerade als jene Linie, welche die unbegrenzte 
Ebene in zwei kongruente Teile zerschneidet.^) 
25. Wenn man auf die Symmetrie der Ebene zu sich selbst die 
Aufmerksamkeit richtet und zu beiden Seiten derselben je einen 
zum andern symmetrischen Punkt annimmt, so findet man jeden 
Punkt der Ebene von diesem Punktepaar gleich weit entfernt, 
^) „Et difficulter absolvi poterit demonstratio, nisi quis assumat notionem 
rectae, qualis est qua ego uti soleo, quod corpore aliquo duobus punctis 
immotis revoluto locus omnium punctorum quiescentium sit recta, vel saltem 
quod recta sit linea secans planum interminatum in duas partes congruas; 
et planum sit superficies secans solidum interminatum in duas partes congruas.'' 
Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 371 
man gelangt also zur Leibniz sehen Definition^) der Ebene. 
Die Gleichförmigkeit und die Symmetrie der Geraden und der 
Ebene sind an deren absolutes Längen-, bezw. Flächenminimum 
gebunden. Der gegebenen Grenze, ohne sonstige Neben- 
bedingung, soll das Minimum entsprechen.. Das Minimum ist 
eindeutig, einzigartig , und daher die Symmetrie in Bezug auf 
die Grenzpunkte. Wegen des absoluten Minimums stellt jedes 
noch so kleine Stück selbst wieder dieselbe Minimumeigenschaft 
dar. Daher die Gleichförmigkeit. 
26. Miteinander zusammenhängende Erfahrungen können 
unabhängig voneinander sich darbieten und sind ohne Zweifel 
oft so gefunden worden, noch vor der Kenntnis ihres Zusammen- 
hanges. Dies schließt nicht aus, daß nachträglich die eine als 
durch die andere gegeben und mitbestimmt, als aus derselben 
ableitbar erkannt werde. Kennt man z. B. die S5>mmetrie und 
Gleichförmigkeit der Geraden und Ebene, so leitet man hieraus 
leicht den geraden Durchschnitt der Ebenen ab, ebenso, daß je 
zwei Punkte der Ebene durch eine ganz in dieselbe fallende 
Gerade verbunden werden können u. s. w. Dadurch, daß nur ein 
Minimum von unscheinbaren, kaum beachteten Erfahrungen zu 
solchen Ableitungen nötig ist, darf man sich nicht verleiten 
lassen, dieses Minimum für ganz überflüssig zu halten und zu 
glauben, daß Anschauung und Raisonnement allein zum Aufbau 
der Geometrie genügen. 
27. Ähnlich wie die Anschauungsbilder der Geraden und Ebene 
werden auch jene des Kreises, der Kugel, des Ziplinders u. s. w. 
durch metrische Erfahrungen bereichert und dadurch erst geo- 
metrisch fruchtbar. Derselbe ökonomische Zug, der unsere 
Kinder treibt, nur das Typische in ihrer Auffassung und in ihren 
Zeichnungen festzuhalten, führt auch zur Schematisierung und 
begrifflichen Idealisierung unserer durch die Erfahrung ge- 
wonnenen Vorstellungen. Obgleich wir in Wirklichkeit keine 
vollkommene Gerade, keinen genauen Kreis vorfinden, ziehen 
wir doch vor, in unserem Denken von den betreffenden Ab- 
weichungen abzusehen. Die Geometrie beschäftigt sich also 
') Leibniz in seiner „geometrischen Charakteristik" in dem Brief an 
Huygens vom 8. September 1679, Gerhardt, a. a. O., II. Abt., Bd. I, S. 23. 
/ 24* 
372 ^^r Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 
mit Idealen, welche aber durch Schematisierung von Erfahrungs- 
objekten entstanden sind. 
28. Ich habe schon anderwärts darauf hingewiesen, daß man 
unrecht tut, beim Elementarunterricht vorzugsweise nur die 
logische Seite der Geometrie zu pflegen, und die Erkenntnis- 
quellen, welche in der Erfahrung liegen, der Jugend nicht zu 
erschließen. Kürzlich haben nun die Amerikaner, welchen gegen- 
über die Tradition eine geringere Macht übt, in erfreulicher 
Weise mit diesem System gebrochen und haben eine Art ex- 
perimenteller Geometrie als Vorstufe des systematischen geo- 
metrischen Unterrichtes eingeführt.^) 
29. Eine scharfe Grenze zwischen der instinktiven, handwerks- 
mäßigen und wissenschaftlichen Erwerbung geometrischer Vor- 
stellungen läßt sich nicht ziehen. Im allgemeinen kann man wohl 
sagen, daß mit der Teilung der wirtschaftlichen Aufgaben, mit 
der Beschäftigung mit besonderen Objekten, die instinktive Er- 
werbung von Kenntnissen in den Hintergrund tritt und die hand- 
werksmäßige beginnt. Wird endlich das Messen selbst Zweck 
und Beruf so gewinnt auch der Zusammenhang der einzelnen 
Meßoperationen ein starkes ökonomisches Interesse, und wir ge- 
langen in die Periode der wissenschaftlichen Entwicklung der 
Geometrie, zu welcher wir jetzt übergehen. 
30. Die Abhängigkeit der Maße voneinander ergibt sich auf 
mannigfaltige Art. War man einmal zur Messung von Flächen 
durch Flächen gelangt, so mußten sich hieran weitere Fortschritte 
anschließen. In einem parallelogrammatischen Feld, das sich in 
gleiche parallelogrammatische Teilfelder zerlegen ließ, so daß n 
Reihen solcher Felder von je m Feldern nebeneinander lagen, 
war ein Auszählen dieser Felder unnötig. Durch Multiplikation 
der Seitenmaßzahlen ergab sich der Flächeninhalt zu m-n solchen 
Teilfeldern, und ebenso leicht der Flächeninhalt eines jeden der 
beiden durch den Diagonalschnitt entstandenen Dreiecke zu m • /z/2 
Teilfeldern. Hierin lag die erste und einfachste Anwendung der 
Arithmetik auf die Geometrie. Zugleich drängte sich hierbei 
die Abhängigkeit der Flächenmaße von andern Maßen, Längen- 
") W. T. Campbell, Observational Geometry. New York 1899. 
W. W. Speer, Advanced Arithmetic. Boston 1899. 
Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 373 
und Winkelmaßen auf. Die Fläche eines Rechteckes erweist sich 
größer als jene eines schiefwinkligen Parallelogramms von den 
gleichen Seiten; dieselbe hängt also außer von den Seitenlängen 
noch von deren Winkeln ab. Ein Rechteck hingegen, das aus 
Streifen, Latten parallel zur Grundlinie aufgebaut ist, kann er- 
sichtlich mit Erhaltung der Höhe zu einem beliebigen Parallelo- 
gramm verschoben werden, ohne dessen Fläche zu ändern. 
Vierecke mit gegebenen Seiten sind noch in den Winkeln un- 
bestimmt, wie jeder Zimmermann erfahren hat. Er fügt Dia- 
gonalen hinzu und bewirkt eine Verwandlung in Dreiecke, welche 
bei gegebenen Seiten starr, d. h. also auch in den Winkeln un- 
veränderlich sind. Mit der Erkenntnis der Abhängigkeit der 
Maße voneinander, war man auf die eigentliche Aufgabe der 
Geometrie geführt. Mit gutem Grund nennt J. Steiner sein 
Hauptwerk: , Systematische Entwicklang der Abhängigkeit der 
geometrischen Gestalten voneinander^ In Snells^) originellem, 
zu wenig geschätztem Elementarbuch tritt die bezeichnete Auf- 
gabe schon dem Anfänger klar vor Augen. 
31. Man stelle aus Drähten ein ebenes körperliches Dreieck 
dar. Dreht man dann eine Seite um eine Ecke, den Innenwinkel 
an dieser Ecke vergrößernd, so sieht man auch diese Seite sich 
ändern und die gegenüberliegende Seite mit dem Winkel zu- 
gleich wachsen. Neue Drahtteile neben den früher vorhandenen 
werden nötig, um die letztere Seite zu bilden. Dieses und 
andere analoge Experimente können in Gedanken wiederholt 
werden, wobei aber das Gedankenexperiment doch immer nur 
eine Kopie des physischen Experimentes bleibt. Ersteres wäre 
unmöglich, wenn nicht vorher die physische Erfahrung zur 
Kenntnis räumlich unveränderlicher physischer Körper,^) zum 
Maßbegriff geführt hätte. Durch solche Erfahrungen gelangt 
man zur Einsicht, daß von den sechs an einem Dreieck bemerk- 
baren Maßgrößen (3 Seiten und 3 Winkeln) drei, worunter 
mindestens eine Seite, zur Bestimmung des Dreieckes genügen. 
•) Snell, Lehrbuch der Geometrie. Leipzig 1869. 
2) Der ganze Aufbau der Euklidischen Geometrie läßt diese Grund- 
lage schon deutlich erkennen. Noch klarer äußert sich dieselbe in der schon 
erwähnten Leibniz sehen Charakteristik. Wir kommen auf diese Sache 
noch zurück. 
374 -^w Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 
Ist nur ein Winkel unter den Bestimmungsstücken, so muß der- 
selbe zur eindeutigen Bestimmung ein von den gegebenen 
Seiten eingeschlossener oder der größeren Seite gegenüber- 
liegender sein. Ist einmal die Bestimmtheit des Dreiecks durch 
drei Seiten, sowie die Unabhängigkeit der Form von der Lage 
erkannt, so können im gleichseitigen Dreieck alle drei Winkel 
und im gleichschenkligen die beiden den gleichen Seiten gegen- 
überliegenden Winkel nut gleich sein, in welcher Art auch 
Winkel und Seiten voneinander abhängen mögen. Dies steht 
logisch fest. Die Erfahrungsgrundlage ist aber darum ebenso- 
wenig überflüssig wie in analogen Fällen der Physik. 
32. Die Art der Abhängigkeit von Seiten und Winkeln wird 
natürlich zuerst in Spezialfällen erkannt. Bei der Flächenberech- 
nung von Rechtecken und von Dreiecken, welche durch Dia- 
gonalschnitt aus diesen hervorgehen, mußte es auffallen, daß das 
Rechteck mit den Seiten 3, 4 ein rechtwinkliges Dreieck von 
den Seiten 3, 4, 5 liefert. Die Rechtwinkligkeit zeigte sich an 
ein bestimmtes rationales Seitenverhältnis gebunden. Man be- 
nützte diese Erfahrung, um durch drei miteinander verknüpfte 
Schnüre, von den Längen 3, 4, 5, rechte Winkel abzustecken.^) 
Die Gleichung 3^ + 4^ = 5^, welche in ganz analoger Weise 
für alle rechtwinkligen Dreiecke von den Seitenlängen a, b, c 
sich als bestehend erwies (ß^ + ^* = ^^)j fesselte nun die Auf- 
merksamkeit. Es ist bekannt, wie tief diese Relation in die 
Geometrie des Maßes eingreift, wie alle indirekten Entfernungs- 
messungen sich auf dieselbe zurückführen lassen. 
33. Wir wollen nun versuchen, 
der Grundlage dieser Relation 
nachzugehen. Da ist nun zu- 
nächst zu bemerken, daß weder 
die griechischen geometrischen 
p. jg noch die indischen arithmetischen 
Ableitungen des sogenannten Pp- 
thagoräischen Satzes von Flächenbetrachtungen absehen können. 
Ein wesentlicher Punkt, auf den sich alle Ableitungen stützen, 
der nur in verschiedener Form, mehr oder weniger deutlich 
>) M. Cantor, Geschichte der Mathematik. Leipzig 1880. I, S. 55, 56. 
Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 375 
bei allen hervortritt, ist folgender. Verschiebt man das Dreieck 
abc (Fig. 18) ein wenig in seiner Ebene, so nimmt man an, daß 
die eben verlassenen Flächenraumelemente durch die neu ein- 
genommenen ersetzt, kompensiert, aufgewogen werden. Es ist 
also die bei der Verschiebung von zwei Seiten beschriebene 
Fläche der von der dritten Seite beschriebenen Fläche gleich. 
Dieser Auffassung liegt die Annahme der Flächenerhaltung des 
Dreieckes zu Grunde. Sehen wir eine Fläche als einen Körper 
von sehr kleiner überall gleicher Dicke, dritter Dimension an, 
die eben deshalb bei dieser Betrachtung einflußlos ist, so tritt 
hier wieder die Volumenerhaltung der Körper als fundamentale 
Voraussetzung hervor. Die Auffassung läßt sich auf die Ver- 
schiebung eines Tetraeders anwenden, ohne indessen hierdurch 
zu neuen Gesichtspunkten zu führen. Die Volumenerhaltung ist 
eine starren und flüssigen Körpern gemeinsame, von der alten 
Physik als Undurchdringlichkeit idealisierte Eigenschaft. Bei 
starren Körpern kommt die Erhaltung aller Entfernungen ihrer 
Teile hinzu. Die flüssigen Körper haben die Eigenschaften der 
starren nur in den kleinsten Raum- und Zeitelementen. 
34. Wird ein schiefwinkliges 
Dreieck mit den Seiten a, b, c nach 
der Richtung der Seite b ver- 
schoben, so beschreiben nur a 
und c nach dem Obigen flächen- 
gleiche Parallelogramme, welche 
in einem gleichen, durch die- 
selben Parallelen gebildeten Ge- 
genseitenpaar übereinstimmen. 
Bildet a mit b einen rechten Win- 
kel und verschiebt man das Drei- 
eck senkrecht zu c um das Stück c, 
so beschreibt die Seite c das 
Quadrat t?^, die beiden andern Seiten aber Parallelogramme, 
deren Flächensumme der Fläche des Quadrates gleich ist. Die 
einzelnen Parallelogrammflächen entsprechen nach der unmittel- 
bar vorausgehenden Beobachtung a^, beziehungsweise ^^, womit 
der Ppthagoräische Satz gegeben ist. Man kann (Fig. 19) auch 
zuerst senkrecht zu a um a, dann senkrecht zu b um b ver- 
Fig. 19. 
376 ^i^t" Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 
schieben, und findet a^ -\- b^ gleich der Summe der von c be- 
schriebenen Flächen, welche ersichtlich c^ ist. Die letztere Pro- 
zedur ergibt im Falle eines schiefwinkligen Dreieckes ebenso 
leicht und anschaulich den allgemeineren Satz: 
c^ = a^-\-b^ — lab -cos ab. 
35. Die Abhängigkeit der dritten Dreieckseite von den beiden 
andern ist also durch die Fläche des umschriebenen Dreieckes, 
also in unserem Sinne durch eine Volumenbedingung bestimmt. 
Man sieht auch ohne weiteres, daß die betreffenden Gleichungen 
Flächenrelationen ausdrücken. Allerdings kann man auch den 
Winkel der beiden Dreieckseiten als maßgebend für die dritte 
Seite betrachten, und den Gleichungen eine scheinbar ganz andere 
Form geben. Sehen wir uns nun diese verschiedenen Maße 
genauer an! Wenn zwei Gerade von den Längen a, b mit ihren 
Enden in einem Punkt zusammenstoßen, so ist die Länge der 
Geraden c, welche ihre freien Enden verbindet, in bestimmte 
Grenzen eingeschlossen. Es ist c^a-\- b und cSa — b. Dies 
lehrt zwar nicht die Anschauung^ aber das auf physikalische Er- 
fahrung sich stützende und dieselbe reproduzierende Gedanken- 
experiment. Man sieht dies, indem man z. B. a festhält und b 
dreht, bis es einmal die Verlängerung von a bildet, und ein 
zweites Mal mit a zusammenfällt. Die Gerade ist zunächst eine 
eigenartige, durch physiologische Eigenschaften charakterisierte 
Anschauung, welche wir durch einen physischen Körper von 
besonderer Beschaffenheit gewinnen, der in Form einer Schnur 
oder eines Drahtes von beliebig kleiner aber konstanter Dicke 
zwischen die Orte seiner Endpunkte ein Minimumvolumen ein- 
schaltet, was nur in eindeutig bestimmter, einzigartiger Weise 
geschehen kann. Gehen mehrere Gerade durch einen Punkt, so 
unterscheiden wir dieselben ohne weiteres physiologisch nach 
ihrer Richtung. Im begrifflichen, durch metrisch-physikalische 
Erfahrungen gewonnenen Räume gibt es aber keinen Unterschied 
der Richtungen. Eine Gerade, welche durch einen Punkt geht, 
kann da nur dadurch vollkommen bestimmt werden, daß noch 
ein zweiter physischer Punkt derselben angegeben wird. Man 
definiert nach physiologischen Momenten, wenn man die Gerade 
als Linie von konstanter Richtung, den Winkel als Abweichung 
Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 377 
der Richtungen, parallele Gerade als Gerade von gleicher Rich- 
tung bezeichnet. 
36. Um Winkel, welche uns anschaulich gegeben sind, auch 
geometrisch zu charakterisieren, zu bestimmen, stehen uns ver- 
schiedene Mittel zu Gebote. Wenn für 2 bestimmte, übrigens 
beliebige Punkte, von welchen je einer auf je einem Schenkel 
(außerhalb des Schnittpunktes) liegt, die Entfernung gegeben ist, 
so ist der Winkel bestimmt. Um Gleichförmigkeit in die Be- 
stimmung zu bringen, könnte man den Abstand jener Punkte vom 
Scheitel ein für allemal von bestimmter gleicher Größe wählen. 
Die Unzukömmlichkeit, daß dann dem 2, 3 . . . fach mit zusammen- 
fallendem Scheitel in derselben Ebene nebeneinander gelegten 
Winkel nicht das 2, 3 . . . fache Entfernungs- 
maß jener Punkte entspricht, hat diese Be- 
stimmungsweise in den Elementen nicht auf- 
kommen lassen.^) Ein einfacheres Maß, eine 
einfachere Charakteristik des Winkels erhält 
man durch den aliquoten Teil des Kreis- 
bogens oder der Kreisfläche, welche der in 
die Ebene des Kreises mit dem Scheitel auf 
das Zentrum gelegte Winkel ausschneidet. 
Es liegt hierin eine bequemere Überein- 
kunft. 2) Wenn wir den Kreisbogen zur Be- _ 
Stimmung des Winkels benutzen, so messen 
wir eigentlich wieder ein Volumen, welches 
durch einen Körper von besonderer einfacher Form, zwischen 
vom Scheitel gleich weit abstehende Schenkelpunkte eingeschaltet 
wird. Der Kreis kann aber durch bloße (gerade) Entfernungen 
charakterisiert werden. Es ist Sache der Anschaulichkeit, Un- 
mittelbarkeit, der daraus hervorgehenden Geläufigkeit und Be- 
quemlichkeit, daß hauptsächlich zwei Maße, das (gerade) Längen- 
maß und das Winkelmaß als Grundmaße verwendet und die 
übrigen Maße aus diesen abgeleitet werden. Notwendig ist dies 
keineswegs. Man kann z. B. ohne besonderes Winkelmaß die 
Fig. 20. 
*) In der Trigonometrie kommt doch ein nahe verwandtes Maßprinzip 
zur Anwendung. 
2) So dient auch die ausgeschnittene KugelFläche als Maß des Körper- 
winkelS' 
378 -^^^ Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 
senkrecht eine Gerade durchschneidende Gerade dadurch be- 
stimmen, daß alle ihre Punkte von zwei Punkten der ersteren 
Geraden, welche vom Durchschnittspunkt gleich weit abstehen, 
durchaus gleiche Entfernungen haben (Fig. 20). Die Halbierungs- 
linie eines Winkels kann in ganz ähnlicher Weise bestimmt, und 
durch fortgesetzte Halbierungen kann eine beliebig kleine Winkel- 
einheit abgeleitet werden. Als eine zu einer Geraden parallele 
Gerade kann diejenige bezeichnet werden, deren sämtliche Punkte 
durch kongruente, krumme oder gerade Bahnen in Punkte der 
ersteren übergeführt werden, oder ebenso aus letzteren hervor- 
gehen.^) Es ist ganz wohl möglich von der (Geraden) Länge 
als Grundmaß allein auszugehen. Es sei uns ein fester phy- 
sischer Punkt a gegeben. Ein anderer Punkt m hätte die Ent- 
fernung r« von demselben. Dann kann er noch überall in der 
mit ra um a beschriebenen Kugelfläche liegen. Kennt man noch 
einen zweiten festen Punkt b, von dem m die Entfernung a hat, 
so ist das Dreieck abm starr, bestimmt; aber m kann sich noch 
auf dem Kreis bewegen, der durch die Achsendrehung um ab 
beschrieben wird. Hält man nun den Punkt m in irgend einer 
Lage fest, so ist auch der ganze starre Körper, dem etwa die 
drei Punkte a, b, m angehören, fest. 
37. Durch die Entfernungen /•«, r^ rc von mindestens drei im 
Räume festen Punkten a, b, c ist also ein Punkt m räumlich be- 
stimmt. Diese Bestimmung ist jedoch keine eindeutige, denn 
die Pyramide mit den Kanten /•«, r&, rc, in deren Scheitel m liegt, 
läßt sich sowohl auf der einen wie auf der andern Seite der 
Ebene abc konstruieren. Wollte man die Seite, etwa durch ein 
Zeichen festsetzen, so wäre dies eine physiologische Bestimmung, 
denn geometrisch sind die beiden Seiten der Ebene nicht ver- 
schieden. Soll ein Punkt m eindeutig bestimmt sein, so muß 
noch dessen Entfernung ra von einem vierten Punkt d, der außer 
der Ebene abc liegt, gegeben sein. Ein anderer Punkt m' be- 
stimmt sich ebenso vollkommen durch vier Entfernungen r«', rh\ 
rc\ r'd. Demnach ist auch die Entfernung von m und m' hiermit 
schon gegeben. Dasselbe gilt für beliebige weitere Punkte bei 
') Bei dieser Fassung wäre der Zweifel an dem Euklidischen Parallelen- 
satz wahrscheinlich viel später aufgetreten. 
Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 379 
Bestimmung derselben durch je vier Entfernungen. Zwischen 
(4 — 1) 
4 Punkten sind 4^—^— = 6 Entfernungen denkbar und ebenso- 
viele müssen gegeben sein, um die Form des Punktkomplexes 
zu bestimmen. Bei 4 + z = /z Punkten genügen 6 -j- 4z oder 
4/z — 10 Entfernungen zur Bestimmung, während eine größere 
Zahl, nämlich — \-^ — Entfernungen existieren, so daß also der 
Überschuß derselben mit bestimmt ist.^) 
38. Geht man von drei Punkten aus und setzt fest, daß alle 
Entfernungen weiter zu bestimmender Punkte für eine Seite der 
Ebene jener 3 Punkte gelten, so genügen für ein System von n 
Punkten 3/z — 6 Entfernungen zur Form- und Größenbestimmung 
und zur Lagenbestimmung in Bezug auf die drei Ausgangs- 
punkte. Wird aber über die Seite der Ebene nichts festgesetzt, 
welche Festsetzung, wie gesagt, sich an anschauliche, physio- 
logische, nicht aber an begriffliche, metrische Merkmale hält, 
so kann das Punktsystem statt der beabsichtigten Form und Lage 
die zu ersterer symmetrische annehmen, oder es kann sich aus 
den Punkten beider kombinieren. Symmetrische geometrische 
Gebilde erscheinen uns vermöge unserer symmetrischen physio- 
logischen Organisation sehr leicht als gleich, während dieselben 
metrisch und physisch gänzlich verschieden sind. Eine rechts- 
und eine linksgewundene Schraube, zwei entgegengesetzt rotie- 
rende Körper u. s. w. sind für die Anschauung sehr ähnlich, wir 
dürfen sie aber deshalb nicht für geometrisch oder physisch 
gleichwertig halten. Beachtung dieses Umstandes möchte manche 
paradoxe Frage ausschalten. Man bedenke, was solche Fragen 
Kant zu schaffen gemacht haben. Anschauliche physiologische 
Merkmale sind durch Beziehungen zu unserem Leib, zu einem 
körperlichen System von besonderer Beschaffenheit, metrische 
Merkmale aber durch Verhältnisse zur allgemeinen Körperwelt 
bestimmt. Die letzteren können nur durch Deckungserfahrungen, 
durch Messung ermittelt werden. 
') Ein interessanter Versuch, die Euklid sehe und auch die Nicht- 
Euklidsche Geometrie auf den bloßen Begriff der Entfernung zu gründen, 
rührt her von De Tillp, Essai sur les principes fondamentaux de la geo- 
metrie et de la mecanique (Memoires de la societe des sciences physiques 
et naturelles de Bordeaux 1880). 
380 ^Uf" Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 
39. Wie wir sehen, kommt jede geometrische Bestimmung im 
Grunde auf eine Volumenmessung, auf eine Körperauszählung 
zurück. Die Längenmessung wie die Flächenmessung beruht 
auf der Volumenvergleichung sehr dünner Schnüre, Stäbe und 
Blätter von konstanter Dicke. Dem widerspricht nicht, daß man 
aus Längenmaßen Flächenmaße, aus Längenmaßen allein oder mit 
Flächenmaßen zusammen Körpermaße arithmetisch ableiten kann. 
Es zeigt dies nur, daß verschiedenartige Volumenmessungen von- 
einander abhängig sind. Diese Abhängigkeiten zu ermitteln, ist 
die Grundaufgabe der Geometrie, so wie es die Aufgabe der 
Arithmetik ist, die Abhängigkeit der Zähloperationen, unserer 
Ordnungstätigkeiten voneinander zu ermitteln. 
40. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Erfahrungen des Gesichts- 
sinnes die rasche Entwicklung der Geometrie bedingt haben. 
Die Vertrautheit mit den Eigenschaften der Lichtstrahlen, die wir 
bei der heutigen Entwicklung der Technik haben, darf uns aber 
nicht verleiten, Erfahrungen an Lichtstrahlen für die wesent- 
liche Grundlage der Geometrie zu halten. Strahlen in staubiger 
oder rauchiger Luft liefern uns ja eine sehr schöne Anschauung 
der Geraden. Die metrischen Eigenschaften der Geraden können 
wir aber von einem Lichtstrahl ebensowenig abnehmen, als von 
einer vorgestellten Geraden. Hierzu sind unbedingt Erfahrungen 
an körperlichen Objekten notwendig. Das Seilspannen der 
praktischen Geometer ist gewiß älter als die Anwendung der 
Diopter. Kennen wir aber einmal die körperliche Gerade, so 
liefert uns der Lichtstrahl ein sehr anschauliches und bequemes 
Mittel, zu neuen Ansichten zu gelangen. Die moderne synthe- 
tische Geometrie hätte ein Blinder kaum erfinden können. Die 
ältesten und stärksten Erfahrungen, welche der Geometrie zu 
Grunde liegen, sind aber dem Blinden durch den Tastsinn eben- 
so zugänglich, wie dem Sehenden. Beide kennen die räumliche 
Beständigkeit der Körper trotz deren Beweglichkeit ; beide ge- 
winnen eine Vorstellung des Volumens beim Ergreifen derselben. 
Der Schöpfer der primitiven Geometrie sieht erst instinktiv, dann 
absichtlich und bewußt von den Eigenschaften der Körper ab, 
die für seine Operationen nicht von Belang sind, die ihn augen- 
blicklich nicht interessieren. So entstehen nach und nach auf 
Grund der Erfahrungen die idealisierten Begriffe der Geometrie. 
Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 381 
41. Unsere geometrische Erkenntnis stammt also aus verschie- 
denen Quellen. Eine Menge räumlicher Formen ist uns durch 
die unmittelbare Anschauung, durch den Gesichts- und Tastsinn 
phipsiologisch geläufig. An dieselben knüpfen sich physikalische 
(metrische) Erfahrungen (über die Vergleichung der unter gleichen 
Umständen durch verschiedene Körper ausgelösten Raumempfin- 
dungen), die sich allerdings wieder auf den Zusammenhang 
von Sinnesempfindungen zurückführen lassen. Diese Erfahrungen 
verschiedener Ordnung sind meist so innig verschmolzen, daß 
sie sich nur bei sorgfältiger Analyse trennen. Daher rühren 
auch die weit auseinander gehenden Ansichten über Geometrie. 
Bald wird dieselbe auf die bloße Anschauung, bald auf die phj?- 
sische Erfahrung zurückgeführt, je nachdem das eine Moment 
überschätzt wird oder unbeachtet bleibt. Beide Momente haben 
aber zur Entwicklung der Geometrie mitgewirkt und sind auch 
in der heutigen Geometrie noch wirksam, da sich diese, wie 
gezeigt wurde, keineswegs ausschließlich rein metrischer Begriffe 
bedient. 
42. Wenn man einen unbefangenen aufrichtigen Menschen 
fragt, wie er sich den Raum, z. B. auf ein Descartessches Koordi- 
natensystem bezogen, vorstellt, so wird derselbe etwa sagen: 
„Ich stelle mir ein System von starren (formfesten), durchsichtigen, 
durchdringlichen, sich berührenden Würfeln vor, deren Grenz- 
flächen nur durch schattenhafte Gesichts- oder Tastvorstellungen 
gezeichnet sind, mit einem Wort eine Art Gespenster von Würfeln. 
Über und durch diese Körper-Gespenster bewegt sich ein wirk- 
licher Körper oder dessen Gespenst mit Wahrung seiner räum- 
lichen Beständigkeit (in dem oben angegebenen Sinne) hinweg, 
wenn wir praktische oder theoretische Geometrie oder Phoronomie 
treiben. Die berühmte Gaußsche Untersuchung über krumme 
Flächen z. B. handelt eigentlich von der Applikation unendlich 
dünner blattförmiger, demnach biegsamer Körper aneinander. 
Daß Erfahrungen verschiedener Ordnung bei Bildung der be- 
treffenden Grundvorstellungen zusammengewirkt haben, ist nicht 
zu verkennen. 
43. So mannigfaltig auch die Spezialerfahrungen waren, von 
welchen die Geometrie ihren Ausgang genommen hat, so lassen 
sich dieselben doch auf ein Minimum von Tatsachen zurück- 
382 "^^r Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 
führen: Es gibt bewegliche Körper von besonderer räumHcher 
Beständigkeit, starre Körper. Die Beweglichkeit ist aber in fol- 
gender Weise charakterisiert. Wir ziehen von einem Punkt aus 
drei Gerade, welche nicht alle drei in einer Ebene liegen, sonst 
aber ganz beliebig sind. Durch drei Fortschreitungen parallel 
diesen Geraden kann von jedem Punkt aus jeder andere erreicht 
werden. Drei physiologisch und metrisch als einfachste charak- 
terisierte Abmessungen, Dimensionen, genügen also für alle räum- 
lichen Bestimmungen. Dies sind die Grundtatsachen. 
44. Die physikalisch-metrischen Erfahrungen werden wie alle 
Erfahrungen, welche die Grundlage einer experimentellen Wissen- 
schaft bilden, begrifflich idealisiert. Das Bedürfnis, die Tat- 
sachen durch einfache, durchsichtige, logisch leicht zu beherr- 
schende Begriffe darzustellen, führt hierzu. Es gibt einen absolut 
starren, räumlich ganz unveränderlichen Körper, eine vollkommene 
Gerade, eine absolute Ebene so wenig, als es ein vollkommenes 
Gas, eine vollkommene Flüssigkeit gibt. Dennoch operieren wir 
lieber und leichter mit diesen Begriffen, als mit anderen, welche 
genauer den Eigenschaften der Objekte entsprechen, und nehmen 
dafür nachträglich auf die Abweichungen Rücksicht. Die theo- 
retische Geometrie braucht diese Abweichungen überhaupt nicht 
zu beachten, indem sie eben Objekte voraussetzt, welche die 
Bedingungen der Theorie vollkommen erfüllen, wie die theo- 
retische Physik. Hat die praktische Geometrie sich aber mit 
wirklichen Objekten zu beschäftigen, so ist sie in dieselbe Not- 
wendigkeit versetzt, wie die praktische Physik, die Abweichungen 
von den theoretischen Annahmen zu berücksichtigen. Außerdem 
hat aber die Geometrie noch den Vorteil, daß jede Abweichung 
ihrer Objekte von den Voraussetzungen der Theorie, welche 
man noch erkennt, auch beseitigt werden kann, während die 
Physik aus naheliegenden Gründen keine vollkommeneren Gase 
herzustellen vermag, als sie eben in der Natur vorkommen. Denn 
in letzterem Falle handelt es sich nicht um eine willkürlich her- 
stellbare räumliche Eigenschaft allein, wie im ersteren, sondern 
um die in der Natur vorkommende, von unserer Willkür unab- 
hängige Beziehung zwischen Druck, Volumen und Temperatur. 
45. Die Wahl der Begriffe ist zwar durch die Tatsachen nahe- 
gelegt, gewährt aber, da sie auf selbsttätiger Nachbildung der 
Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 383 
ersteren in Gedanken beruht, der Willkür einen gewissen Spiel- 
raum. Die Wichtigkeit der Begriffe wird nach der Größe des 
Anwendungsgebietes geschätzt. Deshalb wird der Begriff der 
Geraden und der Ebene in den Vordergrund gestellt, weil jedes 
geometrische Objekt sich wenigstens mit hinreichender Annähe- 
rung in eben und geradlinig begrenzte Elemente auflösen läßt. 
Welche Eigenschaften der Geraden, der Ebene u. s. w. wir be- 
sonders beachten wollen, bleibt willkürlich, und dies spricht sich 
in den verschiedenen Definitionen desselben Begriffes aus.^) 
46. Es kann nicht bezweifelt werden, daß die Grundsätze der 
Geometrie der physikalischen Erfahrung entnommen sind, indem 
ja die Raumanschauung, die Raumempfindung an sich der Mes- 
sung gar nicht zugänglich ist, keine metrischen Erfahrungen 
zuläßt. Ebenso gewiß ist es aber, daß, wenn einmal der Zu- 
sammenhang der Raumanschauung mit den einfachsten metri- 
schen Erfahrungen geläufig geworden ist, geometrische Tatsachen 
mit Leichtigkeit und Sicherheit in der bloßen Vorstellung, im 
Gedankenexperiment reproduziert werden können. Schon der 
Umstand, daß einer kontinuierlichen metrischen Änderung der 
Körper eine kontinuierliche Änderung der Raumempfindung ent- 
spricht, ermöglicht in der bloßen Vorstellung zu ermitteln, welche 
metrischen Elemente überhaupt voneinander abhängen. Wenn 
nun solche metrische Elemente in gleicher Weise in verschiedene 
Konstruktionen von verschiedener Lage eingehen, so wird man 
deren metrische Ergebnisse als gleich ansehen. Der vorher er- 
wähnte Fall des gleichschenkligen und gleichseitigen Dreiecks 
mag als Beispiel dienen. Das geometrische Gedankenexperi- 
ment ist gegen das physikalische nur darin im Vorteil, daß 
ersteres auf Grund viel einfacherer, leichter und fast unbewußt 
gewonnener Erfahrungen ausgeführt werden kann. 
47. Die Raumanschauung und Raumvorstellung ist an sich 
qualitativ, nicht quantitativ, nicht metrisch. Wir entnehmen aus 
denselben Übereinstimmungen und Verschiedenheiten der Ausdeh- 
nung, aber keine eigentlichen Größen. Man denke sich z. B. 
eine feste Münze und an dieser ohne Gleiten Rand an Rand im 
^) Man vergleiche z. B. die Definition der Geraden bei Euklid und 
bei Archimedes. 
384 ^i^t" Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 
Sinne des Uhrzeigers abrollend eine gleich große zweite Münze. 
So lebhaft man sich auch das Abrollen vorstellen mag, wird man 
doch vergebens versuchen, aus dieser Vorstellung allein den 
Drehungswinkel bei vollem Umlauf abzuleiten. Berücksichtigt 
man aber, daß zu Beginn der Bewegung die Radien a, a' 
(Fig. 21) eine Gerade bilden, nach Abrollen des Wertumfangs 
der festen Münze aber die Radien b, b' in einer Geraden liegen, 
so sieht man sofort, daß nun der Radius a vertikal aufwärts 
gerichtet ist, also eine halbe Drehung gemacht hat. Das Aus- 
maß der Drehung wird also aus metrischen 
Begriffen abgeleitet, welche idealisierte Er- 
fahrungen an körperlichen Objekten fixieren, 
der Sinn der Drehung aber wird hierbei in 
der anschaulichen Vorstellung festgehalten. 
Die metrischen Begriffe stellen nur fest, daß 
zu gleichen Bogen gleicher Kreise auch 
gleiche Winkel gehören, daß die an den 
Berührungspunkt gezogenen Kreisradien in 
eine Gerade fallen u. s. w. 
48. Stelle ich mir ein Dreieck mit wach- 
sendem Winkel vor, so sehe ich auch die 
gegenüberliegende Seite wachsen. Es ent- 
steht dadurch der Eindruck, daß die be- 
treffende Abhängigkeit a priori aus der Vor- 
stellung folgt. Doch reproduziert hier die 
Vorstellung nur eine Erfahrungstatsache. 
Winkelmaß und Seitenmaß sind zwei auf dieselbe Tatsache an- 
wendbare physikalische Begriffe, die uns so geläufig sind, daß 
sie uns nur als zwei verschiedene Merkmale derselben Tatsachen- 
vorstellung, demnach als notwendig verbunden erscheinen. Doch 
würden wir ohne physikalische Erfahrung jene Begriffe nie ge- 
wonnen haben. 
49. Das Zusammenwirken der Anschauung und idealisierter 
Erfahrungsbegriffe zeigt sich bei jeder geometrischen Ableitung. 
Betrachten wir z. B. den einfachen Satz, daß die drei Senk- 
rechten auf den Seitenmittelpunkten des Dreieckes ABC sich in 
einem Punkte schneiden. Das Experiment und die Anschauung 
hat wohl auf den Satz geleitet. Je feiner man aber die Kon- 
Fig. 21. 
Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 385 
struktion ausführt, desto besser überzeugt man sich, daß die 
dritte Senkrechte nicht genau durch den Schnittpunkt der beiden 
ersten hindurchgeht, daß also bei einer wirklichen Konstruktion 
drei nahe aneinander liegende Schnittpunkte gefunden werden. 
Denn in Wirklichkeit zieht man weder vollkommene Gerade, noch 
vollkommene Senkrechte, noch setzt man dieselben genau auf 
die Seitenmittelpunkte auf u. s. w. Nur für diese idealen Vor- 
aussetzungen enthält die Senkrechte auf die Mitte von AB alle 
von A, B gleich weit entfernten Punkte, die Senkrechte auf die 
Mitte von BC alle von 5, C gleich abstehenden Punkte. Dem- 
nach ist der Schnittpunkt beider gleich weit von A, B, C und 
gehört wegen des gleichen Abstandes von A, C auch der dritten 
Senkrechten auf die Mitte von AC an. Der Satz sagt also nur, 
daß je genauer die Voraussetzungen erfüllt sind, desto genauer 
die drei Schnittpunkte zusammenfallen. 
50. Wie wichtig die Zusammenwirkung der Anschauung und 
des Begriffes ist, möchte durch diese Beispiele deutlich geworden 
sein. „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne 
Begriffe sind blind", sagt Kant. ^) Vielleicht könnte man noch 
besser sagen: „Begriffe ohne Anschauung sind blind, Anschau- 
ungen ohne Begriffe sind lahm". Denn es möchte doch nicht 
ganz berechtigt sein, die Anschauung blind und die Begriffe 
leer zu nennen. Wenn Kant^) ferner behauptet, „daß in jeder 
besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft an- 
getroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist", 
so kann man vielleicht von allen Wissenschaften und von der 
Mathematik sagen, „daß sie nur insofern Wissenschaften sind, 
als sie mit Begriffen operieren". Denn nur über Begriffe, deren 
Inhalt wir selbst bestimmt haben, erstreckt sich unsere logische 
Herrschaft. 
51. Die Tatsachen der Starrheit und der Beweglichkeit der 
Körper würden genügen, um jede noch so komplizierte geo- 
metrische Tatsache zu begreifen, d. h. aus ersteren abzuleiten. 
Allein die Geometrie hat sowohl in ihrem eigenen Interesse, wie 
als Hilfswissenschaft, oder zur Verfolgung praktischer Zwecke, 
') Kritik der reinen Vernunft. 1787. S. 75. 
') Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Vorwort. 
Mach, Erkenntnis und Irrtum. 25 
386 ^ur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 
Fragen von oft wiederkehrender Form zu beantworten. Es wäre 
nun nicht ökonomisch, jedesmal von den elementarsten Tatsachen 
beginnend jeden neuen Fall immer wieder von Grund aus zu 
analysieren. Vielmehr empfiehlt es sich, aus einigen wenigen 
einfachen, geläufigen und unbezweifelten Sätzen, bei deren Wahl 
die Willkür durchaus nicht ausgeschlossen ist,^) die Antworten 
auf häufiger vorkommende Fragen in Form von Lehrsätzen ein 
für allemal für den Gebrauch zurecht zu legen. Aus diesem 
Gesichtspunkt versteht man sofort die Form der Geometrie, 
z. B. den Wert, den dieselbe auf ihre Dreieckssätze u. s. w. legt. 
Für den bezeichneten Zweck ist es wünschenswert, möglichst 
allgemeine Sätze von weitestem Gültigkeitsbereich zu gewinnen. 
Die Geschichte lehrt, daß solche Sätze durch Zusammenfassung 
von Spezialerkenntnissen zu einer allgemeineren Erkenntnis ge- 
wonnen wurden. Auch gegenwärtig ist man zu diesem Vorgang 
noch genötigt, wenn es sich um den Zusammenhang zweier 
geometrischen Gebilde handelt, und wenn die Spezialfälle der 
Form und Lage zu Modifikationen der Ableitungsschritte nötigen. 
Als bekanntestes Beispiel aus der Elementargeometrie mag die 
Ableitung des Verhältnisses von Zentri- und Peripheriewinkel 
angeführt werden. Kroman^) hat sich die Frage vorgelegt, 
wieso wir einen Nachweis für eine spezielle Figur (ein beson- 
deres Dreieck) als allgemein gültig ansehen? Er findet die Auf- 
klärung in der Annahme, daß wir die Figur in Gedanken rasch 
variierend alle möglichen Formen annehmen lassen und uns so 
von der Zulässigkeit derselben Schlußweise in allen Spezialfällen 
überzeugen. Die Geschichte und die Selbstbeobachtung lehren 
diesen Gedanken als einen im wesentlichen richtigen kennen. 
Allein wir dürfen nicht (mit Kroman) annehmen, daß jedes Geo- 
metrie treibende Individuum sich in jedem Einzelfall ^^blitzschneW^ 
diese vollständige Übersicht verschafft und sich zu dieser Klar- 
heit und Stärke der geometrischen Überzeugung erhebt. Oft ist 
die verlangte Operation gar nicht ausführbar, und Irrtümer be- 
weisen, daß sie in andern Fällen nicht ausgeführt wurde, daß 
man sich mit einer Vermutung nach der Analogie begnügt 
1) Z in dl er, Zur Theorie der mathematischen Erkenntnis. Sitzber. d. 
Wiener Akadem. philos.-histor. Cl., Bd. 118. 1889. 
*) Kroman, Unsere Naturerkenntnis. Kopenhagen 1883. S. 74 u. f. 
Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 387 
hat.^) Was das Individuum aber in einem Augenblick nicht leistet 
oder nicht leisten kann, dazu hat es sein ganzes Leben lang Zeit. 
Ganze Generationen arbeiten an der Kontrolle der Geometrie. 
Die Überzeugung von deren Richtigkeit wird auch durch diese 
Kollektivarbeit gestärkt.^) Ich kannte einen sonst ausgezeichneten 
Lehrer, welcher seine Schüler nötigte, alle Nachweise an einer 
falschen Figur zu führen, da es, wie er meinte, auf die Figur 
überhaupt nicht ankäme, sondern nur auf den logischen Zu- 
sammenhang der Begriffe. Die in den Begriffen fixierten Er- 
fahrungen haften aber an den Anschauungen. Welche Begriffe 
nun auf einen Fall anwendbar sind, darüber kann uns nur die 
angeschaute oder vorgestellte Figur belehren. Um den Anteil 
der logischen Operationen an einer Einsicht fühlbar zu machen, 
eignet sich das Verfahren jenes Lehrers vorzüglich. Wer es 
aber regelmäßig anwendet, verkennt gewiß, daß die Begriffe ihre 
Kraft aus der Sinnlichkeit schöpfen. 
Die Meinung, daß eine neue Einsicht durch glücklich zurecht- 
gelegte Syllogismen in wenigen Minuten für immer sich ein- 
fangen läßt, ist den genau beobachteten Tatsachen gegenüber 
*) Holder, Anschauung und Denken in der Geometrie. Leipzig 1900. 
S. 12. 
2) Gerken, der sich in seiner Programmabhandlung: „Die philo- 
sophischen Grundlagen der Mathematik" (Perleberg 1887, S. 27) ähnlich aus- 
spricht wie Kroman, beruft sich hierbei auf Beneke. Beneke behandelt 
nun an mehreren Stellen seiner „Logik als Kunstlehre des Denkens" die 
mathematische Erkenntnis recht ausführlich, so z. B. II, S. 51 u. f. Es heißt 
dort S. 52— 53: „Zuerst ist es keinem Zweifel unterworfen, daß eine solche 
unendliche Vergleichung wirklich vollzogen werden könne; ja dies läßt sich 
in manchen Fällen selbst unmittelbar anschaulich nachweisen. Man nehme 
den vorher angeführten geometrischen Satz (von der Winkelsumme im Dreieck). 
Wenn ich den der verlängerten Grundlinie gegenüberliegenden Winkelpunkt 
des Dreieckes im Kreise herumführe und hierbei zugleich (indem ich die 
Hilfslinien und den ganzen Beweis ebenso herumführe) in stetigem Fort- 
schritte anschaulich mache, daß das bezeichnete Verhältnis bei allen Lagen 
des Dreieckes, und (was hiermit unmittelbar zusammenhängt) bei allen Größen- 
verhältnissen ebenso stattfinde: habe ich hierbei eine endliche oder unend- 
liche Anzahl von Fällen verglichen?" . . . Von der bedenklichen Blitzesschnellig- 
keit ist aber bei Beneke nicht die Rede. — Vgl. hierzu die abweichenden 
Ausführungen von C.Siegel, Versuch einer empiristischen Darstellung der 
räumlichen Grundgebilde u. s. w. (Vierteljahrschr. f. wiss. Philosophie, 1900, 
insbesondere S. 203.) 
25* 
388 2ur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 
nicht aufrecht zu halten. Sie ist weder für den einzelnen Lernen- 
den oder Forscher, noch für ein Volk oder die Menschheit, weder 
für die Geometrie, noch für irgend eine andere Wissenschaft 
zutreffend. Die Geschichte der Wissenschaft lehrt im Gegenteil, 
daß eine neue richtige, und auf richtige Grundlagen zurück- 
geführte Einsicht, bald mehr oder weniger sich trüben, einseitig 
und unvollständig hervortreten, einem Teil der Forscher sogar 
verloren gehen, und wieder aufleuchten kann. Das einmalige 
Finden und Aussprechen einer Einsicht genügt nicht. Jahre und 
Jahrhunderte sind oft nötig, das allgemeine Denken soweit zu 
entwickeln, damit eine Einsicht dem gemeinsamen Besitz sich 
einverleibe und dauernd erhalten bleibe. Besonders schön wird 
dies beleuchtet durch Duhems^) eingehende Untersuchungen 
zur Geschichte der Statik. 
*) Duhem, Les origines de la statique, Paris 1905, besonders T. I, 
S. 181 u. f. 
Raum und Geometrie vom Standpunkt 
der Naturforschung.') 
1. Die Raumanschauung des Menschen wurzelt in dessen 
physiologischer Konstitution. Die geometrischen Begriffe ent- 
wickeln sich durch Idealisierung physikalischer Raumerfahrungen. 
Das geometrische System endlich wird durch die logische Ord- 
nung des gewonnenen begrifflichen Stoffes geschaffen. Alle 
drei Momente haben in der heutigen Geometrie deutlich ihre 
Spuren ausgeprägt. Erkenntnistheoretische Fragen über Raum 
und Geometrie gehen also den Physiologen und Psychologen, 
den Physiker, Mathematiker, den Philosophen und Logiker an, 
und können nur durch Beachtung der sehr verschiedenen sich 
hier darbietenden Gesichtspunkte allmählich ihrer Lösung zu- 
geführt werden. 
Wenn wir in früher Jugend zu vollem Bewußtsein erwacht 
sind, finden wir uns bereits im Besitze der Vorstellung eines 
uns umgebenden, unsern Leib mit umfassenden Raumes ^ in 
welchem verschiedene Körper teils sich verändernd, teils in 
gleichbleibender Größe und Gestalt sich bewegen. Wie wir zu 
dieser Vorstellung gelangt sind, vermögen wir nicht anzugeben. 
Nur die genaue Analyse absichtlich und planmäßig angestellter 
») Dieser Artikel ist in „The Monist", Vol. XIV. Oktober 1903 erschienen. 
Ich versuche hier als Physiker zur sogenannten Metageometrie Stellung zu 
nehmen. Ausführliche geometrische Entwicklungen muß man in den Quellen 
nachsehen. Ich hoffe jedoch durch Hinweis auf jedem bekannte und geläufige 
Beispiele allgemein verständlich zu bleiben. — Gegen die folgenden Aus- 
führungen hat Professor F. Brentano mündlich und brieflich Einwendungen 
erhoben, die mir zu denken geben, die ich jedoch jetzt, mit andern Dingen 
beschäftigt, nicht genügend erwägen kann. 
390 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forschung. 
Experimente läßt uns erraten, daß hierbei schon angeborene 
Eigentümlichkeiten des Leibes und einfache rohe physikalische 
Erfahrungen zusammengewirkt haben. 
Ein Gesichts- oder Tastobjekt kennzeichnet sich neben der 
Sinnesempfindungsqualität (rot, rauh, kühl u. s. w.) auch noch 
durch seine Ortsqualität (rechts, oben, vorn u. s. w.). Die Sinnes- 
qualität kann dieselbe bleiben, während die Ortsqualität sich kon- 
tinuierlich ändert, d. h.: dasselbe sinnliche Objekt kann sich im 
Räume bewegen. Wenn derartige Vorgänge durch physikalisch- 
phipsiologische Umstände oft ausgelöst werden, so wiederholen 
sich bei der größten Mannigfaltigkeit der zufälligen Sinnesquali- 
täten immer wieder dieselben Reihen der Ortsqualitäten, so daß 
die letzteren bald als ein festes bleibendes Schema oder Register 
erscheinen, in welches die oben gegebenen Sinnesqualitäten ein- 
geordnet werden. Obgleich nun Sinnes- und Ortsqualitäten nur 
miteinander erregt werden und nur miteinander auftreten können, 
so entsteht so doch leicht der Eindruck, als ob das System der 
geläufigeren Ortsqualitäten vor den Sinnesqualitäten gegeben wäre. 
2. Ausgedehnte Gesichts- und Tastobjekte bestehen aus 
mehr oder weniger unterscheidbaren Sinnesqualitäten, welche mit 
benachbarten unterscheidbaren, stetig abgestuften Ortsqualitäten 
verbunden sind. Bewegen sich solche Objekte, namentlich im 
Bereiche unserer Hände, so nehmen wir ein Schrumpfen oder 
Schwellen (im ganzen oder in deren Teilen), oder ein Gleich- 
bleiben derselben wahr, d. h. die Kontraste der Grenz-Orts- 
qualitäten verändern sich oder bleiben konstant. Im letzteren 
Falle nennen wir die Objekte starr. Durch die Erkenntnis eines 
sich Gleichbleibenden, trotz der räumlichen Verschiebung, treten 
die verschiedenen Teile unserer Raumanschauung in das Ver- 
hältnis der Vergleichbarkeit^ zunächst im physiologischen Sinne. 
Durch die Vergleichung der verschiedenen Körper untereinander, 
durch die Einführung des physikalischen Maßes, wird die Ver- 
gleichbarkeit zu einer genaueren quantitativen, welche zugleich 
die Schranken des Individuums durchbricht. So treten an die 
Stelle der individuellen, nicht übertragbaren Raumanschauung 
die allgemein für alle Menschen gültigen Begriffe der Geo- 
metrie. Jeder hat seinen besonderen Anschauungsraum; der 
geometrische Raum ist gemeinsam. Zwischen dem Anschauungs- 
Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forschung. 391 
räum und dem auch physikalische Erfahrungen enthaltenden 
metrischen Raum müssen wir scharf unterscheiden. 
3. Das Bedürfnis nach einer tiefgehenden erkenntnistheore- 
tischen Aufklärung der Grundlagen der Geometrie hat um die 
Mitte des abgelaufenen Jahrhunderts Riemann^) dazu geführt, 
die Frage nach der Natur des Raumes zu stellen, nachdem schon 
vorher durch Gauß, Lobatschefskij und die beiden Bolyai 
die Aufmerksamkeit auf die empirisch-hypothetische Bedeutung 
gewisser Grundannahmen der Geometrie gelenkt worden war. 
Wenn Riemann den Raum als einen besonderen Fall einer 
mehrfach ausgedehnten „Größe" bezeichnet, so denkt er wohl 
an ein geometrisches Gebilde, das etwa auch als den ganzen 
Raum erfüllend vorgesteUt werden könnte, z. B. ein Descartes- 
sches Koordinatensystem. Riemann spricht es ferner aus, „daß 
die Sätze der Geometrie sich nicht aus allgemeinen Größen- 
begriffen ableiten lassen, sondern daß diejenigen Eigenschaften, 
durch welche sich der Raum von anderen denkbaren dreifach 
ausgedehnten Größen unterscheidet, nur aus der Erfahrung ent- 
nommen werden können" . . . „Diese Tatsachen sind wie alle 
Tatsachen nicht notwendig, sondern nur von empirischer Gewiß- 
heit, sie sind Hypothesen." Wie die Grundannahmen jeder Natur- 
wissenschaft, könnte man sagen, so sind auch die Grundannahmen 
der Geometrie, zu welchen die Erfahrung hingeleitet hat, Ideali- 
sierungen dieser Erfahrung. Mit seiner naturwissenschaftlichen 
Auffassung der Geometrie steht Riemann auf dem Boden seines 
Lehrers Gauß. Gauß spricht gelegentlich die Überzeugung 
aus, „daß wir die Geometrie nicht vollständig a priori begründen 
können" . . .^) „Wir müssen in Demut zugeben, daß, wenn die 
Zahl bloß unseres Geistes Produkt ist, der Raum auch außer 
unserm Geiste eine Realität hat, der wir a priori ihre Gesetze 
nicht vollständig vorschreiben können."^) 
4. Jeder Forscher hat es erfahren, daß die Erkenntnis eines zu 
*) über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen. Göt- 
tingen 1867. 
^) Brief von Gauß an Bessel, 27. Januar 1829. 
ä) Brief von Gauß an Bessel vom 9. April 1830. — Der Ausdruck: 
„Die Zahl ist Produkt oder Schöpfung des Geistes" wird seither von den 
Mathematikern wiederholt gebraucht. Unbefangene psychologische Beobach- 
tung lehrt jedoch, daß die Bildung des Zahlbegriffes ebenso durch die Er- 
392 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forschung. 
untersuchenden Objektes durch die Vergleichung mit verwandten 
Objekten wesentlich gefördert wird. Wie natürlich sieht sich 
also Riemann nach Dingen um, welche eine Analogie zum Raum 
darbieten. Der geometrische Raum wird von ihm als eine drei- 
fach ausgedehnte, stetige Mannigfaltigkeit bezeichnet, als deren 
Elemente die durch je drei Koordinatenwerte bestimmten Punkte 
anzusehen sind. Er findet, „daß die Orte der Sinnesgegenstände 
und die Farben wohl die einzigen Begriffe (?) sind, deren Be- 
stimmungsweisen eine mehrfache ausgedehnte Mannigfaltigkeit 
bilden". Dieser Analogie wurden von anderen noch neue hin- 
zugefügt und weiter verfolgt, doch, wie ich glaube, nicht immer 
in glücklicher Weise. ^) 
5. Vergleichen wir zunächst die Raumempßndung mit der 
Farbenempßndung, so sehen wir, daß den stetigen Reihen: oben — 
unten, rechts — links, nahe — fern die drei Empfindungsreihen der 
Farben: schwarz — weiß, rot — grün, gelb — blau entsprechen. Das 
System der empfundenen (angeschauten) Orte ist ebenso eine 
dreifache stetige Mannigfaltigkeit, wie das System der Farben- 
empfindungen. Die Einwendung, welche gegen diese Analogie 
vorgebracht worden ist, daß nämlich im ersteren Falle die drei 
Variationen (Dimensionen) homogen (gleichartig) und mitein- 
ander vertauschbar sind, im zweiten Falle aber heterogen und 
nicht vertauschbar, trifft nicht zu, wenn man die Räume mpßnäung 
mit der Farbenempßnäung vergleicht. Denn psycho-physiologisch 
kann rechts — links ebensowenig mit oben— unten vertauscht 
werden, als rot — grün mit schwarz — weiß. Nur wenn man den 
geometrischen Raum mit dem System der Farben vergleicht, ge- 
fahrung eingeleitet wird, wie die Bildung der geometrischen Begriffe. Min- 
destens muß man die Erfahrung gemacht haben, daß in gewissem Sinne gleich- 
wertige Objekte mehrfach und unveränderlich vorhanden sind, bevor Zahl- 
begriffe sich bilden können. Auch das Zählejrperiment spielt in der Ent- 
wicklung der Arithmetik eine bedeutende Rolle. 
*) Wenn Tonhöhe, Stärke und Klangfarbe, wenn Farbenton, Sättigung 
und Lichtstärke mit den 3 Dimensionen des Raumes in Analogie gesetzt 
werden, so wird dies wenige Menschen befriedigen. Die Klangfarbe, sowie 
der Farbenton ist von mehreren Variablen abhängig. Wenn also die Analogie 
überhaupt einen Sinn hat, entsprechen der Klangfarbe und dem Farbenton 
mehrere Dimensionen. — Vgl. Benno Erdmann, Die Axiome der Geometrie. 
Leipzig 1877. 
Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forschung. 393 
winnt die Einwendung einen Anschein von Berechtigung. Allein 
zur vollen Analogie des Anschauungsraumes und des Systems 
der Farbenempfindung fehlt noch manches. Während nahe gleiche 
Entfernungen im Anschauungsraum unmittelbar als solche er- 
kannt werden, können wir über die Differenz der Farben nichts 
derartiges aussagen, und es fehlt daher dem letzteren Gebiete 
die physiologische Vergleichbarkeit seiner Teile untereinander. 
Wenn es auch keiner Schwierigkeit unterliegt, durch Zuziehung 
physikalischer Erfahrungen jede Farbe des Systems durch drei 
Zahlen zu bezeichnen, wie die Orte im geometrischen Raum, 
und so ein dem letzteren ähnliches metrisches System zu schaffen, 
so wird sich doch schwerlich etwas finden, das der Distanz 
oder dem Volumen entspricht, und das für das Farbensystem 
eine analoge physikalische Bedeutung hat. 
6. Analogien haben immer etwas Willkürliches, da es auf die 
Übereinstimmungen ankommt, auf die man die Aufmerksamkeit 
richtet. Man wird aber wohl allgemein die Analogie zwischen 
Raum und Zeit zugeben, und zwar sowohl wenn man die Worte 
im physiologischen, als auch wenn man sie im physikalischen 
Sinne nimmt. In beiden Bedeutungen ist ersterer eine dreifache, 
letztere eine einfache stetige Mannigfaltigkeit. Ein durch die 
Umstände genau bestimmter physikalischer Vorgang von mäßiger, 
nicht zu langer oder kurzer Dauer erscheint uns jetzt und zu 
einer beliebigen andern Zeit unmittelbar physiologisch von gleicher 
Dauer. Physikalische Vorgänge, die sich irgendwann zeitlich 
decken, decken sich auch zeitlich zu jeder andern Zeit. Es gibt 
also zeitliche Kongruenz, so wie es räumliche Kongruenz gibt. 
Es existiert also ein unveränderliches physikalisches Zeitobjekt, 
so wie es ein unveränderliches physikalisches Raumobjekt (den 
starren Körper) gibt. Es gibt nicht nur räumliche, sondern auch 
zeitliche Substanzialität. Leibliche Vorgänge: Puls und Atmung 
verwendete noch Galilei zur Zeitschätzung, so wie man ehemals 
Hände und Füße zur Raumschätzung benützte. 
7. Der dreifachen Mannigfaltigkeit der Raumempfindungen ist 
auch analog die einfache Mannigfaltigkeit der Tonempfindungen}) 
*) Auf diese Analogie bin ich 1863 beim Studium des Gehörorgans auf- 
merksam geworden, und habe sie seither weiter verfolgt. S. „Analyse der 
Empfindungen". 4. Aufl. S. 222 u. f. 
394 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forschung. 
Die Vergleichbarkeit der verschiedenen Teile des S5>stems der 
Tonempfindungen ist durch die unmittelbare Empfindung des 
musikalischen Intervalls gegeben. Man erhält ein dem geo- 
metrischen Raum entsprechendes metrisches System am ein- 
fachsten, indem man die Tonhöhe durch den Logarithmus der 
Schwingungszahl charakterisiert. Dem konstanten musikalischen 
Intervall entspricht hier der Ausdruck 
log — = log n — log n — log t — log t' = konst., 
wobei ri , n die Schwingungszahl, -z' , t die Schwingungsdauer 
des höheren, bezw. des tieferen Tones bedeutet. Der Unter- 
schied der Logarithmen vertritt hier die bei der Verschiebung 
konstant bleibende Länge. Das unveränderliche substanzielle 
phj>sikalische Objekt, welches wir als Intervall empfinden, ist 
für das Ohr zeitlich bestimmt, während das analoge Objekt für 
den Gesichts- und Tastsinn räumlich bestimmt ist. Das Raum- 
maß erscheint uns nur deshalb einfacher, weil wir die Länge 
selbst, die für den Sinn unveränderlich bleibt, auch als Grund- 
maß der Geometrie wählen, während wir zu dem Maße im Ge- 
biet der Töne erst auf einem langen physikalischen Umwege 
gelangt sind. 
8. Es ist nun notwendig, außer den Übereinstimmungen der in 
Analogie gesetzten Gebilde auch deren Unterschiede zu betonen. 
Fassen wir Zeit und Raum als Empfindungsmannigfaltigkeiten 
auf, so sind die Objekte, deren Bewegung durch Änderung der 
Zeit- und Ortsqualitäten sich bemerklich macht, durch andere 
Empfindungsqualitäten: Farben, Tastempfindungen, Töne u. s. w. 
gekennzeichnet. Wird aber z. B. das System der Tonempfindungen 
als analog dem optischen Anschauungsraum angesehen, so er- 
gibt sich die Sonderbarkeit, daß in ersterem Gebiet die Orts- 
qualitäten allein ohne andere den Objekten entsprechende Em- 
pfindungsqualitäten auftreten, so als ob man einen Ort oder eine 
bestimmte Bewegung sehen könnte, ohne ein Objekt zu sehen, 
welches diesen Ort einnimmt, oder diese Bewegung ausführt. 
Stellt man sich die Ortsqualitäten als Organempfindungen vor, 
welche nur mit den Sinnesqualitäten ^) erregt werden können, so 
1) Vgl. S. 345. 
Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forschung. 395 
wird man die genannte Analogie nicht besonders einladend finden. 
Für den Mannigfaltigkeitsmathematiker liegt im wesentlichen der- 
selbe Fall vor, ob ein Objekt von bestimmter Farbe sich stetig 
im optischen Räume bewegt, oder ob ein Gegenstand von fest 
bestimmtem Ort in stetiger Veränderung die Mannigfaltigkeit der 
Farben durchläuft. Für den Physiologen und Psychologen sind die 
beiden Fälle sehr verschieden, nicht nur nach dem oben Bemerkten, 
sondern noch durch einen besonderen Umstand. Das System 
der Ortsqualitäten ist uns sehr geläufig, während wir uns ein 
System der Farbenempfindung nur mühsam und künstlich auf 
Grund wissenschaftlicher Studien vergegenwärtigen. Die Farbe 
erscheint uns als ein herausgerissenes Glied einer Mannigfaltig- 
keit, deren Ordnung uns nicht geläufig ist. 
9. Die hier mit dem Raum in Analogie gesetzten Mannigfaltig- 
keiten sind wie das Farbensystem ebenfalls dreifach, oder bieten 
eine geringere Zahl von Variationen dar. Der Raum selbst ent- 
hält in sich Flächen als zweifache, Linien als einfache Mannig- 
faltigkeiten, zu welchen der Mathematiker in seiner verallge- 
meinernden Sprache noch die Punkte als 0-fache zählen könnte. 
Es ist aber auch keine Schwierigkeit die analytische Mechanik, 
wie es geschehen ist, als analytische Geometrie von 4 Dimen- 
sionen — die Zeit als vierte betrachtet — aufzufassen. Über- 
haupt legen die in Bezug auf die Koordinaten konformen Glei- 
chungen der analytischen Geometrie dem Mathematiker den Ge- 
danken nahe, derartige Betrachtungen auf eine beliebige größere 
Zahl von Dimensionen auszudehnen. Auch die Physik könnte 
ein ausgedehntes materielles Kontinuum, von dem jedem Punkt 
eine Temperatur, ein magnetisches, elektrisches, Gravitations- 
potential u. s. w. zugeschrieben würde, als ein Stück, einen Aus- 
schnitt einer mehrfachen Mannigfaltigkeit betrachten. Die Ope- 
ration mit solchen symbolischen Darstellungen kann, wie die 
Geschichte der Wissenschaft lehrt, keineswegs als ganz unfrucht- 
bar angesehen werden. Symbole, welche anfänglich gar keinen 
Sinn zu haben schienen, gewannen, sozusagen bei den Ge- 
dankenexperimenten mit denselben, allmählich eine klare und 
präcise Bedeutung. Man denke z. B. an die negativen, ge- 
brochenen und variablen Potenzexponenten und ähnliche Fälle, 
in welchen sich auf diesem Wege wichtige und wesentliche Be- 
396 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forschung. 
griffserweiterungen ergaben, die sonst ganz ausgeblieben wären, 
oder sich erst viel später eingestellt hätten. Man denke an die 
sogenannten Imaginären, mit welchen man lange rechnete, und 
sogar wichtige Resultate gewann, bevor man im stände war, den- 
selben einen genau bestimmten und sogar auch anschaulichen 
Sinn beizulegen. Die sjpmbolische Darstellung hat aber aller- 
dings den Nachteil, daß man den dargestellten Gegenstand gar 
zu leicht ganz aus den Augen verliert, und mit Zeichen operiert, 
welchen gelegentlich auch gar kein Objekt entspricht.^) 
10. Zu der Riemann sehen Vorstellung seiner /z-fachen ste- 
tigen Mannigfaltigkeit kann man sich in der Tat leicht erheben und 
es gelingt sogar, Teile einer solchen Mannigfaltigkeit zu reali- 
sieren und anschaulich zu machen. Es seien a^^a^^a^^a^^ Un+x 
beliebige Elemente (Empfindungsqualitäten, Stoffe u. s. w.). Wenn 
wir uns diese Elemente in allen möglichen Verhältnissen gemischt 
vorstellen, so ist jede einzelne Mischung durch den Ausdruck 
dargestellt 
*) Ich gestehe, daß ich als junger Student über jede Ableitung mit Sym- 
bolen, deren Bedeutung nicht ganz klar und anschaulich war, mich empörte. 
Das historische Studium ist aber wohl geeignet den Hang zur Mystik zu 
beseitigen, der durch die traumhafte Anwendung solcher Methoden leicht 
begünstigt und anerzogen wird, indem dasselbe den heuristischen Wert dieser 
Methoden kennen lehrt, und zugleich erkenntnistheoretisch aufklärt, worin die 
Hilfe, die sie leisten, besteht. Eine symbolische Darstellung einer Rechnungs- 
operation hat für den Mathematiker dieselbe Bedeutung, wie ein Modell oder 
eine anschauliche Arbeitshypothese für den Physiker. Das Symbol, das 
Modell, die Hypothese geht dem Darzustellenden parallel. Aber der Paralle- 
lismus kann weiter reichen, oder weiter geführt werden, als es bei Wahl 
dieser Mittel ursprünglich beabsichtigt war. Indem das Dargestellte und das 
Darstellungsmittel doch verschieden ist, fällt an dem einen auf, was an 
2 
dem andern verborgen bleiben würde. Auf eine Operation a^ könnte man 
schwerlich unmittelbar verfallen. Die Rechnung mit solchen Symbolen führt 
aber dazu, diesem Symbol einen verständlichen Sinn beizulegen. Man rech- 
nete nach dem Vorgange von Euler viele Decennien mit Ausdrücken wie 
cos.r+ Y— • •sin.r, und mit Exponentiellen mit imaginären Exponenten, bis 
in dem Streben der gegenseitigen Anpassung von Gedanke und Symbol end- 
lich durch Argand 1806 die seit einem Jahrhundert keimende Idee durch- 
brach, daß ein V erhä ltnis nach Größe und Richtung aufgefaßt werden könne, 
wodurch sich V"— 1 als mittlere Richtungsproportionale zwischen + 1 und 
— 1 herausstellte. 
Raum und Geometrie vom Standpunkt der Naturforschung. 397 
a, öl -f- 0'2^2 +0^3 03 H~ «n + l ßn + 1, 
wobei die Koeffizienten a der Gleichung genügen 
ai+a2+a3H- a„4-i=l. 
Da hiernach n der Koeffizienten a beliebig gewählt werden 
können, so stellt die Gesamtheit der Mischungen aus n-\-\ Elementen 
eine /z-fache stetige Mannigfaltigkeit dar.^) Als Koordinaten eines 
Punktes, Elementes dieser Mannigfaltigkeit kann man Ausdrücke 
vonderPorm— oderF( — ), z.B. log( — ) ansehen. Aber bei 
der Wahl der Definition der Entfernung, oder anderer den geo- 
metrischen analoger Begriffe wird man recht willkürlich vorgehen 
müssen, wenn nicht Erfahrungen über die betreffende Mannig- 
faltigkeit lehren, daß bestimmte metrische Begriffe eine reelle 
Bedeutung haben, und deshalb zu bevorzugen sind, wie dies 
für den geometrischen Raum mit der aus der Volumenbeständig- 
keit der Körper folgenden Definition 2) für das Entfernungselement 
ds^ = dx^ + dy^ + ^z', und für die Tonempfindungen mit dem 
erwähnten logarithmischen Ausdruck der Fall ist. In den meisten 
Fällen einer solchen künstlichen Konstruktion werden solche An- 
haltspunkte fehlen, und die ganze Betrachtung wird demnach 
eine müßige sein. Die Analogie zum Raum verliert dadurch an 
Vollständigkeit, Fruchtbarkeit und fördernder Kraft. 
11. Noch in einer anderen Richtung hat Riemann Gedanken 
von Gauß weitergesponnen, anknüpfend an die Untersuchungen 
des letzteren über die krummen Flächen. Das Gauß sehe Krüm- 
mungsmaß ^) einer Fläche in einem Punkte ist gegeben durch den 
Ausdruck k — -^, wobei ds ein Element der Fläche, de das Ober- 
flächenelement der Einheitskugel bedeutet, dessen Grenzradien 
den Grenznormalen des Elementes ds parallel sind. Dieses 
Krümmungsmaß kann auch in der Form ausgedrückt werden 
^) Wären die 6 Grundfarbenempfindungen voneinander ganz unabhängig, 
so würde das System der Farbenempfindungen eine fünffache Mannigfaltig- 
keit darstellen. Da sie paarweise im Gegensatz stehen, entspricht das System 
einer dreifachen Mannigfaltigkeit. 
*) Vgl. S. 374, 375. 
') Disquisitiones generales circa superficies curvas. 1827. 
398 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forschung. 
A*= , wobei pi, g^ die Hauptkrümmungsradien der Fläche 
in dem betreffenden Punkt bedeuten. Von besonderem Interesse 
sind die Flächen, deren Krümmungsmaß für alle Punkte denselben 
Wert hat, die Flächen von konstantem Krümmungsmaß. Denkt 
man sich die Flächen als unendlich dünne nicht ausdehnbare aber 
biegsame Körper, so können Flächen von gleichem Krümmungs- 
maß durch Biegung zur Deckung gebracht werden, wie man 
z. B. ein ebenes Blatt Papier um den Mantel eines Zylinders 
oder Kegels wickeln, nicht aber mit einer Kugelfläche zur Deckung 
bringen kann. Bei dieser Deformation, ja selbst bei beliebiger 
Zerknitterung, bleiben die Maßverhältnisse in der Fläche gezeich- 
neter Figuren mit ihren Längen und Winkeln unverändert, sobald 
man nur messend aus den zwei Dimensionen der Fläche nicht 
herausgeht. Umgekehrt hängt auch das Krümmungsmaß der 
Fläche gar nicht von deren Gestaltung nach der dritten Dimen- 
sion des Raumes, sondern nur von deren inneren Maßverhält- 
nissen ab. Riemann faßte nun den Gedanken, den Begriff des 
Krümmungsmaßes für Räume von drei und mehreren Dimensionen 
zu verallgemeinern. Demgemäß nimmt er die Möglichkeit von 
endlichen unbegrenzten Räumen konstanten positiven Krümmungs- 
maßes an, entsprechend der unbegrenzten aber endlichen zwei- 
dimensionalen Kugelfläche, während der nach unserer gewöhn- 
lichen Vorstellung unendliche Raum der endlosen Ebene vom 
Krümmungsmaß Null, und ebenso eine dritte Raumspecies den 
Flächen von negativem Krümmungsmaß entsprechen würde. So 
wie die auf einer Fläche von bestimmtem konstantem Krümmungs- 
maß gezeichnete Figur nur auf dieser ohne Verzerrung ver- 
schoben werden kann, wie z. B. eine sphärische Figur nur auf 
dieser Sphäre, eine ebene Figur nur in der Ebene, so müßte das 
Analoge für räumliche Figuren, für starre Körper gelten. Nur 
in Räumen von konstantem Krümmungsmaß könnten die letzteren 
frei beweglich sein, wie Helmholt z^) weiter ausgeführt hat. So 
wie die kürzesten Linien in der Ebene unendlich, auf der Kugel- 
fläche aber als größte Kreise von bestimmter endlicher Länge 
') über die Tatsachen, welche der Geometrie zu Grunde liegen. Göt- 
tinger Nachrichten. 1868. 3. Juni. 
Raum und Geometrie vom Standpunkt der Naturforschung. 399 
und geschlossen (in sich zurücklaufend) sind, so dachte sich 
Riemann im dreidimensionalem Raum von positivem Krümmungs- 
maß die Analoga der Geraden und Ebene endlich aber unbe- 
grenzt. Nun besteht hier eine Schwierigkeit. Hätte man den 
Begriff des Krümmungsmaßes für einen vierdimensionalen Raum, 
so wäre der Übergang auf den speziellen Fall des dreidimensio- 
nalen Raumes leicht sinngemäß auszuführen. Der Übergang von 
dem spezielleren auf den allgemeineren Fall schließt aber eine 
gewisse Willkür in sich, und wie natürlich haben hier verschie- 
dene Forscher ungleiche Wege eingeschlagen.^) (Riemann, 
Kronecker.) Schon der Umstand, daß es für den eindimen- 
sionalen Raum — eine beliebige krumme Linie — ein Krümmungs- 
maß von der Bedeutung eines inneren Maßes gar nicht gibt, 
und daß das letztere erst bei zweidimensionalen Gebilden auf- 
tritt, drängt uns die Frage auf, ob und wie weit Analoges für 
dreidimensionale Gebilde überhaupt einen Sinn hat? Unterliegen 
wir hier nicht einer Illusion, indem wir mit Symbolen operieren, 
welchen vielleicht überhaupt nichts Wirkliches entspricht, jeden- 
falls nichts Anschauliches, an dem wir unsere Begriffe verifizieren 
und rektifizieren könnten? 
So hätten wir also die höchsten und allgemeinsten Ideen 
über den Raum und dessen Beziehungen zu analogen Mannig- 
faltigkeiten gewonnen, die sich aus der Gaußschen Überzeugung 
von der empirischen Begründung der Geometrie ergeben haben. 
Die Genesis dieser Überzeugung hat aber eine zweitausend- 
jährige Vorgeschichte, deren Hauptphänomene wir, von der ge- 
wonnenen Höhe aus, vielleicht besser überschauen wefden. 
12. Die naiven Menschen, welche mit dem Maßstab in der 
Hand die ersten geometrischen Kenntnisse erwarben, hielten sich 
an die einfachsten körperlichen Gebilde: die Gerade, die Ebene, 
den Kreis u. s. w., und untersuchten an Formen, die sich als 
Kombination jener einfachen Gebilde auffassen ließen, den Zu- 
sammenhang der Abmessungen. Es kann ihnen nicht entgangen 
sein, daß die Beweglichkeit eines Körpers beschränkt wird, wenn 
man einen, dann zwei Punkte desselben fixiert, und daß sie 
') Vgl. z. B. Kronecker, Über Systeme von Funktionen mehrerer 
Variablen. Ber. d. Berliner Akademie. 1869. 
400 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Naturforschung. 
endlich durch Festhalten dreier Punkte vollkommen aufgehoben 
wird. War die Drehung um eine Achse, um zwei Punkte, oder 
die Drehung um einen Punkt in der Ebene, sowie die Ver- 
schiebung bei stetigem Kontakt zweier Punkte mit einer Geraden, 
und eines dritten Punktes mit einer durch jene Gerade gelegten 
festen Ebene isoliert beobachtet^ so wußte man die reine Drehung, 
r^m^ Verschiebung und die aus beiden unabhängigen Bewegungen 
kombinierte Bewegung zu unterscheiden. Die erste Geometrie 
war natürlich nicht auf rein metrische Begriffe gegründet, sondern 
machte dem physiologischen Moment, der Anschauung, bedeutende 
Zugeständnisse. ^) So er- 
klärt sich das Auftreten von 
zwei verschiedenen Grund- 
maßen: (gerade) Länge und 
Wif'/zA"^/ (Kreismaß). Die Ge- 
rade wurde als starrer be- 
weglicher Körper (Maßstab), 
der Winkel als Drehung 
einer Geraden gegen eine 
andere (gemessen durch den 
hierbei beschriebenen Kreis- 
bogen) aufgefaßt. Für die 
Gleichheit der durch die- 
selbe Drehung beschriebenen Scheitelwinkel wird gewiß niemand 
einen besondern Beweis verlangt haben. Auch andere Winkel- 
sätze ergaben sich sehr einfach. Dreht man (Fig. 22) die Gerade b, 
den Winkel a beschreibend, um den Schnittpunkt mit c bis zum 
Zusammenfallen mit dieser, hierauf um den Schnittpunkt mit a, 
den Winkel ß beschreibend, bis zur Deckung mit dieser, so 
hat man b aus der Anfangslage in die Endlage a um den 
Winkel u in demselben Sinne gedreht. Daher der Außen- 
winkel w = a + ß, und weil h + y = 2/?, auch a + ß + 7 = 2/?.^) 
Fig. 22. 
») Vgl. S. 351, 376. 
*) C. R. Kosack, Beiträge zu einer systematischen Entwicklung der 
Geometrie aus der Anschauung. Nordhausen 1852. — Dieses Programm hat 
mir Herr Prof. F. Pietzker in Nordhausen gütigst zur Ansicht gesendet. — 
Ähnliche einfache Ableitungen finden sich bei Bernhard Becker, Leitfaden 
für den ersten geometrischen Unterricht in der Geometrie. Frankfurt a. M. 1874, 
Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forschung.' 401 
Verschiebt man (Fig. 23) das starre System der in 1 sich 
schneidenden Geraden a, b, c in seiner Ebene bis 2, so daß 
die Gerade a in sich verbleibt, so ändert sich durch die reine 
Verschiebung kein Winkel. Die Summe der Innenwinkel des 
hierbei entstandenen Dreiecks 123 ist ersichtlich 2/?. Dieselbe 
Betrachtung setzt auch die Eigenschaften der Parallelen ins Licht. 
Bedenken wie die, ob die successive Drehung um mehrere 
Punkte wirklich äquivalent ist der Drehung um einen Punkt, 
ob es eine reine Verschiebung überhaupt gibt — die sofort be- 
rechtigt sind, sobald man an die Stelle der (Euklidischen) Ebene 
eine Fläche mit von Null ver- 
schiedener Krümmung treten 
läßt — können bei dem freu- 
digen naiven Finder dieser Be- 
ziehungen auf dieser Stufe 
natürlich nicht auftreten. Die " 
Betrachtung der Bewegung 
starrer Körper, welche Euklid 
sorgfältig vermeidet, und die 
er nur verdeckt im Kongruenz- 
prinzip einführt, ist heute noch Fig. 23. 
das zweckmäßigste Mittel für 
den geometrischen Elementarunterricht. Am besten wird eine 
Einsicht Eigentum des Lernenden auf demselben Wege, auf 
welchem sie gefunden wurde.j 
13. Die gesunde naive Auffassung verschwand, und die Be- 
handlung der Geometrie änderte sich wesentlich, sobald dieselbe 
Gegenstand des berufsmäßigen gelehrten Denkens wurde. Nun 
galt es zunächst für die eigene Übersicht das Wissen in ein 
System zu bringen, das unmittelbar Erkannte von dem Ableit- 
baren und Abgeleiteten zu ^sondern, den Faden der Ableitung 
deutlich hervorzuheben. Für den Zweck des Unterrichts wurden 
die einfachsten, am leichtesten zu erwerbenden Kenntnisse, welche 
keinem Zweifel und Widerspruch ausgesetzt schienen, an die 
Spitze gestellt, um das übrige darauf zu gründen. Man be- 
und in desselben Verfassers Schrift: Über die Methode des geometrischer 
Unterrichts. Frankfurt a. M. 1845. — Erstere Schrift erhielt ich durch die 
Güte des Herrn Dr. M. Schuster in Oldenburg i. Gr. zur Einsicht. 
Mach, Erkenntnis und Irrtum. 26 
402 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forschung. 
mühte sich, diese Ausgangssätze noch auf das Notwendigste 
zu reduzieren, wie wir dies alles an dem System des Euklid 
sehen. Bei diesem Streben jede Einsicht durch eine andere zu 
stützen, und nur das wenigste der unmittelbaren Erkenntnis zu 
überlassen, wurde die Geometrie von dem empirischen Boden, 
auf welchem sie entstanden war, allmählich losgelöst. Man ge- 
wöhnte sich die abgeleitete Einsicht höher zu schätzen als die 
unmittelbar erschaute, und verlangte schließlich Beweise für Sätze, 
an welchen niemand ernstlich zweifelte. So entstand — der 
Tradition nach zum Schutz gegen die Angriffe der Sophisten — 
das logisch vollendete geschlossene System Euklids. Bei dieser 
künstlichen Aufreihung der Sätze an einem willkürlich gewählten 
Faden der Ableitung wurden aber nicht nur die Wege der 
Forschung absichtlich verdeckt, sondern auch der vielfache 
organische Zusammenhang der geometrischen Lehren blieb un- 
sichtbar.^) Das System war eher geeignet, ängstliche sterile 
Pedanten, als fruchtbare produktive Forscher zu erziehen. Dieser 
Zustand wurde nicht gebessert, als die fremde Geistesprodukte 
mit Vorliebe sklavisch kommentierende Scholastik die Menschen 
an eine sehr geringe Empfindlichkeit für die Rationalität der 
Grundannahmen, und dafür an desto größere Achtung für die 
logische Form der Ableitung gewöhnte. Die ganze Zeit nach 
Euklid bis auf Gauß leidet mehr oder weniger unter dieser 
Stimmung. 
') Das Euklidische System hat durch seine logischen Vorzüge be- 
stochen. Darüber wurden dessen übrige Mängel übersehen. Große Forscher 
bis in die moderne Zeit hinein haben sich verleiten lassen, bei Darstellung 
ihrer Forschungsergebnisse dem Beispiel Euklids zu folgen und zum Nach- 
teile der Wissenschaft ihre Forschungswege zu verdecken. Allein die Wissen- 
schaft ist kein Advokatenkunststück. Die wissenschaftlichste Darstellung ist 
jene, welche alle Motive eines Gedankens so darlegt, daß sie jederzeit auf 
ihre Kraft und Stichhaltigkeit nachgeprüft werden können. Nicht mit halb- 
verbundenen Augen soll der Lernende geführt werden. Es erhob sich des- 
halb unter den Philosophen und Didaktikern Deutschlands auch eine gesunde 
Reaktion, welche namentlich von Herbart, Schopenhauer und Trendelen - 
bürg ausging. Man bemühte sich größere Anschaulichkeit, eine mehr gene- 
tische Methode und logisch durchsichtigere Ableitungen in den Unterricht 
einzuführen. — Vgl. die modernen Schriften: M. Pasch (Vorlesungen über 
neuere Geomatrie. Leipzig 1832). — D. Hilbert (Grundlagen der Geometrie. 
Leipzig 1899). 
Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forschung. 403 
14. Unter den Sätzen, auf welche Euklid sein System 
gründete, befand sich die sogenannte fünfte Forderung (auch 
als II. Axiom bezeichnet): „2 Gerade, die von einer dritten so 
geschnitten werden, daß die innern an derselben Seite der Schnei- 
denden liegenden Winkel zusammen kleiner sind als 2 Rechte, 
treffen genügend verlängert an eben dieser Seite zusammen." 
Es gelingt Euklid leicht zu zeigen, daß 2 Gerade, die mit einer 
dritten Schneidenden gleiche Wechsel winkel bilden, sich nicht 
treffen, parallel sind. Die Umkehrung aber, daß Parallele mit 
jeder schneidenden Geraden gleiche Wechselwinkel bilden, muß 
er auf die fünfte Forderung stützen. Diese Umkehrung ist 
gleichbedeutend mit dem Satze, daß durch einen Punkt zu einer 
Geraden nur eine Parallele möglich ist. Da nun mit Hilfe dieser 
Umkehrung nachgewiesen wird, daß die Winkelsumme des Drei- 
ecks 2R ist, und 'da aus letzterer Behauptung erstere wieder 
folgt, so ist hiermit der Zusammenhang der genannten Sätze 
deutlich gemacht, und die fundamentale Bedeutung der fünften 
Forderung für die Euklidische Geometrie klargelegt. 
15. Der Schnitt schwach konvergierender Geraden liegt 
außerhalb des Gebietes der Konstruktion und der Beobachtung. 
Es ist daher begreiflich, daß die durch Euklid an Strenge ge- 
wöhnten Nachfolger desselben, bei der Wichtigkeit der Aussage 
der fünften Forderung schon in der antiken Zeit bemüht waren, 
diese Aussage zu beweisen, oder durch einen unmittelbar ein- 
leuchtenden Satz zu ersetzen. Von Euklid bis auf Gauß 
wurden zahlreiche erfolglose Versuche unternommen, den Inhalt 
der fünften Forderung, aus den übrigen Euklidischen Annahmen 
abzuleiten. Es ist ein erhebendes Beispiel, das diese Menschen 
darbieten, indem sie durch Jahrhunderte .lediglich im reinen Trieb 
nach wissenschaftlicher Aufklärung nach der Erkenntnisquelle 
eines Satzes suchen, an dessen Richtigkeit weder ein Theore- 
tiker noch ein Praktiker bis auf den heutigen Tag wirklich ernst- 
lich gezweifelt hat. Mit Spannung verfolgen wir die beharrlichen 
Äußerungen der ethischen Kraft des Wissenstriebes, und erfreut 
beobachten wir, wie die Forscher durch ihre Mißerfolge allmählich 
zur Erfahrung als der wahren Grundlage der Geometrie hinge- 
leitet werden. Wir wollen uns an einigen Beispielen genügen 
lassen. 
26* 
404 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Naturforschung. 
16. Zu [den Forschern, welche sich bedeutende Verdienste 
um die Lehre von den Parallelen (erworben haben, gehört der 
Italiener Saccheri und der deutsche Mathematiker Lambert. 
Um die Art, wie beide die Frage anfassen, deutlich zu machen, 
bemerken wir zunächst, daß die Existenz von Rechtecken und 
Quadraten, die wir doch fortwährend zu beobachten glauben, 
ohne Hilfe der fünften Forderung nicht nachgewiesen werden 
kann. Betrachten wir z.fB. zwei kongruente, gleichschenklige 
bei Ä und D rechtwinklige Dreiecke ABC und DBC (Fig. 24), 
welche wir mit den Hypotenusen SC aneinanderlegen, so daß 
das gleichseitige Viereck AB CD entsteht, so genügen die ersten 
27 Sätze Euklids nicht, die Art und Größe der beiden gleichen 
(rechten) Winkel bei B und C zu bestimmen. Das Längenmaß 
und das Winkelmaß sind ja grundverschieden und nicht einfach 
Fig. 24. 
vergleichbar, daher die ersten Sätze über den Zusammenhang 
der Seiten und Winkel des Dreiecks nur qualitative, daher ein 
quantitativer Winkelsatz, wie der Winkelsummensatz unbedingt 
erforderlich. Bemerken wir ferner, daß den 27 planimetrischen 
Sätzen analoge für die Kugelfläche und die Flächen konstanter 
negativer Krümmung aufgestellt werden können, und daß dann 
die analoge Konstruktion die Winkel bei B und C stumpf, bezw. 
spitz ergibt. 
17. Das Hauptverdienst Saccheris^) liegt nun in der Form 
seiner Problemstellung. Steckt die fünfte Forderung schon in 
den übrigen Voraussetzungen Euklids, so muß es auch ohne 
dieselbe gelingen zu beweisen, daß in dem Viereck AB CD 
(Fig. 25) mit den rechten Winkeln in A und B, und bei AC= BDy 
die Winkel in C, D rechte sind. Dagegen muß in diesem Falle 
^) Euklid es ab omni fiaevo vindicatus. Mediolani 1733. Übersetzt in 
Engel und Stäckel, Die Theorie der Parallellinien. Leipzig 1895. 
Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forschung. 405 
die Annahme, C und D seien stumpf oder spitz zu Widersprüchen 
führen. Saccheri versucht also aus den Hypothesen des rechten 
stumpfen oder spitzen Winkels Folgerungen zu ziehen. Es ge- 
lingt ihm zu zeigen, daß jede dieser Hi?pothesen in allen Fällen 
gilt, wenn sie nur in einem Falle richtig ist. Durch irgend ein 
Dreieck, dessen Winkelsumme 'gleich 2 .ff, größer oder kleiner 
ist, wird die Gültigkeit der Hypothese des rechten, stumpfen 
oder spitzen Winkels allgemein nachgewiesen. Bemerkenswert 
ist, daß Saccheri schon divA physikalisch-geometrische Versuche 
hinweist, welche die Hypothese des rechten Winkels stützen. 
Verbindet (Fig. 25) [eine Gerade \CD |die Endpunkte der auf 
einer^Geraden AB errichteten gleichen Lote ÄC und BD^ und 
ist das von einem beliebigen Punkte N der ersteren Geraden 
auf AB gefällte Lot NM=CA = DB, so ist die Richtigkeit 
Fig. 26. 
der Hypothese des rechten Winkels nachgewiesen. Daß die 
Linie gleichen Abstandes von einer Geraden wieder eine Gerade 
sei, hält Saccheri mit Recht nicht für selbstverständlich. Man 
denke nur an den Parallelkreis zum größten Kreise der Kugel, 
welcher auf der Kugel keine Kürzeste darstellt, und dessen 
beide Seiten sich nicht decken. Andere experimentelle Beweise 
für die Richtigkeit der Hypothese des rechten Winkels sind noch 
folgende. Erweist sich der Winkel im Halbkreise (Fig. 26) als 
ein [rechter, a-f ß = /?, so ist auch 2a-|-2ß = 2/? die Winkel- 
summe in dem Dreieck ABC. Wenn der Radius im Halbkreise 
dreimal aufgetragen wird, und die Verbindungsgerade des ersten 
und vierten Endpunktes durch den Mittelpunkt geht, so ist bei C 
(Fig. 27) 3a = 2/?, und demnach hat jedes der drei Dreiecke 
die Winkelsumme 27?. Die Existenz ungleich großer gleich- 
winkliger (ähnlicher) Dreiecke ist ebenfalls ein experimenteller 
Beweis. Denn wenn (Fig. 28) die Winkel bei B und C ergeben 
ß + S + T + s = 4/?, so ist 4/? auch die Winkelsumme des Vier- 
406 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Naturforschung. 
ecks BCB'C Schon Wallis^) hatte 1663 den Beweis der 
fünften Forderung auf die Voraussetzung der Existenz ähnlicher 
Dreiecke gegründet, und ein moderner Geometer, Delboeuf, 
leitete aus der Annahme der Ähnlichkeit die ganze Euklidische 
Geometrie ab. 
Die Hypothese des stumpfen Winkels meinte Saccheri 
leicht widerlegen zu können. Die Hypothese des spitzen Winkels 
bereitete ihm aber Schwierigkeiten, und trieb 
ihn im Suchen nach den erwarteten Wider- 
sprüchen zu weiter und weiter gehenden 
Folgerungen, die später Lobatschefskij 
und Bolyai auf ihren Wegen wiederfanden. 
Schließlich glaubt er letztere Hypothese als 
mit der Natur der Geraden unverträglich 
aufgeben zu müssen, denn sie führt zur An- 
nahme von verschiedenen Geraden, welche 
im Unendlichen zusammenfallen, also dort 
ein gemeinsames Lot haben. Saccheri 
Fig. 28. ^^t die spätere Aufklärungsarbeit wesentlich 
vorbereitet und gefördert, zeigte aber den 
hergebrachten Ansichten gegenüber noch eine gewisse Be- 
fangenheit. 
18. Die Arbeit Lamberts 1766^) ist in der Methode jener 
Saccheris verwandt, geht aber in den Folgerungen etwas 
weiter und bekundet einen noch freieren Blick. Lambert geht 
von der Betrachtung eines Viereckes mit drei rechten Winkeln 
aus, und untersucht die Folgen, die sich ergeben, je nachdem 
man den vierten Winkel als einen rechten, stumpfen oder spitzen 
voraussetzt. Die Ähnlichkeit der Figuren findet er mit der 
zweiten und dritten Annahme unverträglich. Den Fall des 
stumpfen Winkels, an welchen eine 2/? überschreitende Winkel- 
summe des Dreiecks geknüpft ist, findet er in der Geometrie 
der Kugel fläche verwirklicht, in welcher die Schwierigkeit der 
Parallellinien ganz wegfällt. Dies führt ihn auf die Vermutung, 
daß der Fall des spitzen Winkels, mit einer Dreieckswinkelsumme 
») Engel und Stäckel, 1. c, S. 21 u. f. 
») Ebenda S. 152 u. f. 
Raum und Geometrie vom Standpunkt der Naturforschung. 407 
unter 2/?, auf einer imaginären Kugel verwirklicht sein möchte. 
Die Abweichung der Winkelsumme von 2R ist in beiden ^Fällen 
der Dreiecksfläche proportional, wie sich durch passende Teilung 
größerer Dreiecke in kleinere, welche mit der Verkleinerung der 
Winkelsumme 2/? beliebig nahekommen, nachweisen läßt. ; Hier- 
mit nähert sich Lambert bedeutend dem Standpunkt der modernen 
Geometer. Eine Kugel mit imaginärem Radius r V — 1 ist zwar 
I^ein anschauliches geometrisches Gebilde, ist aber analgetisch 
eine Fläche von negativem konstantem Gaußschem Krümmungs- 
maß. Man sieht an diesem Fall wieder, wie auch das Experi- 
mentieren mit Symbolen eine Untersuchung auf den richtigen 
Weg weisen kann, in einem Stadium, wo andere Anhaltspunkte 
eben noch ganz fehlen, und wo jedes Mittel, das fördern kann, 
geschätzt werden muß.^) Scheint doch auch Gauß an die 
imaginäre Kugel gedacht zu haben, wie aus seiner Formel für 
den Kreisumfang (Brief an Schumacher vom 12. Juli 1831) 
hervorgeht. Dennoch glaubt auch Lambert dem Beweis der 
fünften Forderung so nahe gekommen zu sein, daß. das Fehlende 
leicht zu ergänzen wäre. 
19. Wenden wir uns nun zu dem Forscher, dessen Ansichten 
die radikalste Wendung in Bezug auf die Auffassung der Geo- 
metrie bedeuten, der aber dieselben leider nur in kurzen münd- 
lichen oder brieflichen Bemerkungen mitgeteilt hat. „Die Geo- 
metrie betrachtete Gauß nur als ein konsequentes Gebäude, 
nachdem die Parallelentheorie als Axiom an der Spitze zuge- 
geben sei; er sei indes zur Überzeugung gelangt, daß dieser 
Satz nicht bewiesen werden könne, doch wisse man aus der 
Erfahrung, z. B. aus den Winkeln des Dreieckes: Brocken, 
Hohenhagen, Inselsberg, daß er näherungsweise richtig sei. 
Wolle man dagegen das genannte Axiom nicht zugeben, so 
folge daraus eine andere, ganz selbständige Geometrie, die er 
gelegentlich einmal verfolgt und mit dem Namen Antieuklidische 
Geometrie bezeichnet habe." So dachte Gauß nach dem Be- 
richt von Sartorius von Waltershausen. 2) O. Stolz hat 
hieran anknüpfend versucht, in einer kleinen sehr lehrreichen 
1) Vgl. Anmerkung S. 396. 
2) Gauß zum Gedächtnis. Leipzig 1856. 
408 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forschung. 
Abhandlung^) die Hauptsätze der Euklidischen Geometrie ab- 
zuleiten, ohne das Gebiet der beobachtbaren Tatsachen zu ver- 
lassen. Aus derselben soll hier das Wichtigste mitgeteih werden. 
Es sei also (Fig. 29) ein großes Dreieck ABC mit der Winkel- 
summe 2R gegeben. Wir ziehen die Senkrechte AD auf BC^ 
ergänzen die Figur durch BAE^ABD und CAF^ ACD^ 
und fügen der Figur BCFAE die kongruente CBHA'G hinzu. 
Wir erhalten so ein Rechteck, denn die Winkel bei E,F,G,H 
sind rechte und jene bei A, C, A', B gestreckte (gleich 2/?), 
die Grenzlinien also Gerade, und die gegenüberliegenden gleich. 
Ein Rechteck kann durch eine im Mittelpunkt einer Seite er- 
richtete Senkrechte in zwei kongruente Rechtecke zerlegt werden, 
und durch Fortsetzung dieses Verfahrens läßt sich die Teilungs- 
A 
D 
N 
Q 
^^ 
M 
Fig. 29. 
Fig. 30. 
linie an eine beliebige Stelle der geteilten Seite bringen. Das- 
selbe gilt für das andere Gegenseitenpaar. Man kann also aus 
einem gegebenen Rechteck AB CD (Fig. 30) ein kleineres AMQP 
von beliebigem Seitenverhältnis herausschneiden. Der Diagonal- 
schnitt des letzteren zerlegt dasselbe in zwei kongruente recht- 
winklige Dreiecke, deren also jedes (unabhängig vom Seiten- 
verhältnis) die Winkelsumme 2R hat. Jedes schiefwinklige Drei- 
eck kann durch Ziehen einer Höhe in rechtwinklige Dreiecke 
zerfällt werden, deren jedes wieder ebenso in rechtwinklige 
Dreiecke von kleinerer Seitenlänge zerlegt werden kann, so 
daß also 2R als Winkelsumme für jedes Dreieck sich ergibt, 
wenn dies nur von einem (exakt) gilt. Mit Hilfe dieser auf die 
') Das letzte Axiom der Geometrie. Berichte des naturw.-medizin. 
Vereins zu Innsbruck. 1886. S. 25—34. 
Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forscfiung. 409 
Beobachtung aufgebauter Sätze /ö/g'ß/'/ man leicht, daß das Gegen- 
seitenpaar eines Rechteckes (oder überhaupt eines sogenannten 
Parallelogramms) überall, auch beliebig verlängert, denselben 
Abstand hat, sich also nicht schneidet. Es hat die Eigenschaften 
der Euklidischen Parallelen^ kann also als solche benannt und 
definiert werden. Ebenso folgt nun aus den Eigenschaften der 
Dreiecke und Rechtecke, daß zwei Gerade, welche von einer 
dritten so geschnitten werden, daß die Summe der Innenwinkel 
zur selben Seite der letzteren kleiner ist als 2^, nach dieser 
Seite sich schneiden, zu beiden Seiten des Schnittpunktes sich 
aber ohne Ende voneinander entfernen. Die Gerade ist demnach 
unendlich. Was also als Axiom, als Ausgangssatz eine grand- 
lose Behauptung ist, kann als Folgerang einen guten Sinn 
haben. 
20. Die Geometrie besteht also in einer Anwendung der Mathe- 
matik auf Raumerfahrungen. Sie wird wie die mathematische 
Physik nur dadurch zu einer deduktiven exakten Wissenschaft, 
daß sie die Erfahrungsobjekte durch schematisierende, idea- 
lisierende Begriffe darstellt. So wie die Mechanik nur innerhalb 
der Beobachtangs-F etiler grenzen die Konstanz der Massen be- 
haupten, die Wechselwirkung der Körper auf bloße Beschleu- 
nigungen zurückführen kann, so kann die Existenz von Geraden, 
Ebenen, der Wert der Winkelsumme u. s. w. nur unter demselben 
Vorbehalt festgestellt werden. Aber so wie die Physik sich zu- 
weilen veranlaßt sieht, an die -Stelle ihrer idealen Annahmen 
andere, meist allgemeinere zu setzen, statt der konstanten Fall- 
beschleunigung eine von der Entfernung abhängige, statt der 
konstanten Wärmemenge eine variable zu setzen u. s. w., so 
darf dies :'[auch die Geometrie durch die Tatsachen veranlaßt, 
oder auch nur versuchsweise zur wissenschaftlichen Aufklärung 
tun.^) So werden uns also jetzt die Versuche von Legendre, 
Lobatschefskij, der beiden Bolyai, von welchen der jüngere 
vielleicht indirekt durch Gauß angeregt war, in dem richtigen 
Lichte erscheinen. 
21. Von den Versuchen von Schweickart und Taurinus 
*) Den Unterschied zwischen Geometrie und Phpsik, den Duhem (La 
Theorie physique, p. 290) als einen fundamentalen qualitativen auffaßt, halte 
ich nur für einen Gradunterschied. 
410 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Naturforschung. 
— ebenfalls Zeitgenossen von Gauß — wollen wir absehen. 
Lobatschefskijs Arbeiten sind zuerst in weiteren Kreisen be- 
kannt und dadurch wirksam geworden (1829). Sehr bald folgte 
die Publikation des Jüngern Bolyai 1833, der in allen wesent- 
lichen Punkten mit Lobatschefskij übereinstimmt, und nur in 
der Form seiner Entwicklungen abweicht. Nach den Akten, die 
jetzt durch die schönen Ausgaben von Engel und StäckeP) 
leicht zugänglich geworden sind, und recht vollständig vorliegen, 
läßt sich annehmen, daß auch Lobatschefskij seine Entwick- 
lungen in der Hoffnung unternommen hat, durch Fallenlassen 
des Euklidischen Axioms auf Widersprüche geführt zu werden. 
Nachdem er aber in dieser Erwartung sich getäuscht sah, hatte 
er den intellektuellen Mut, hieraus alle Konsequenzen zu ziehen. 
Lobatschefskij gibt seine Entwicklungen in synthetischer Form. 
Wir können aber die allgemeinen ana- 
lysierenden Überlegungen uns ver- 
gegenwärtigen, welche den Aufbau 
seiner Geometrie mutmaßlich vorbe- 
reitet haben. Man nimmt (Fig. 31) 
außerhalb einer Geraden g einen Punkt 
an, von welchem man ein Lot p auf g 
fällt, und durch welchen man in der 
Ebene gp eine Gerade h zieht, die mit dem Lote einen spitzen 
Winkel s bildet. Versucht man nun die Annahme, daß g und h 
sich nicht schneiden, daß aber bei der geringsten Verkleinerung 
von s dies eintritt, so nötigt die Gleichmäßigkeit des Raumes 
sofort zu der Folgerung, daß noch eine zweite Gerade k mit 
demselben Winkel s nach der andern Seite des Lotes sich ebenso 
verhält. Alle durch denselben Punkt gezogenen nicht schneiden- 
den Geraden liegen dann zwischen h und k. Letztere bilden die 
Grenze zwischen Schneidenden und Nichtschneidenden, und wer- 
den von Lobatschefskij Parallele genannt. Lobatschefskij 
zeigt sich in der Einleitung zu seinen „Neuen Anfangsgründen 
der Geometrie" 1835 ganz als Naturforscher. Niemand darf auch 
nur einem gewöhnlichen besonnenen Menschen die Annahme 
') F. Engel, N. I. Lobatschefskij, Zwei geometrische Abhandlungen. 
Leipzig 1899. 
Raum und Geometrie vom Standpunkt der Naturforschung. 411 
eines bedeutend unter einem R liegenden „Parallelenwinkels'' s 
zumuten, bei Geraden, die sich so nahe liegen, daß deren 
Durchschnitt bei geringer Verlängerung augenscheinlich wäre. 
Obgleich die hier zu besprechenden Verhältnisse sich nur in roh 
karikierenden Zeichnungen darstellen lassen, hat man sich doch 
vielmehr vorzustellen, daß bei den Dimensionen der Zeichnung 
die Abweichung des s von einem R so klein sei, daß für das 
Auge h und k ununterscheidbar zusammenfallen. Zieht man 
nun, das Lot p über den Schnitt mit h verlängernd, durch dessen 
Endpunkt eine neue Parallele / zu h, die natürlich auch zu g 
parallel ist, so muß der Parallelenwinkel s'<Cs sein, wenn wir 
in Bezug auf h und / nicht wieder auf den Euklidischen Fall 
zurückkommen sollen. Fährt man so mit der Verlängerung des 
Fig. 32. 
Fig. 33. 
Lotes und mit dem Parallelenziehen fort, so nimmt der Parallelen- 
winkel fort und fort ab. Verfolgt man nun weiter abstehende, 
und daher stärker konvergente Parallele nach der Seite der Kon- 
vergenz, so müssen wir konsequenterweise annehmen, daß mit 
der Annäherung, mit der Verkürzung des Lotes, der Parallelen- 
winkel wieder zunimmt, um mit dem Vorigen nicht in Wider- 
spruch zu geraten. Der Parallelenwinkel s ist also eine inverse 
Funktion des Lotes p, welche Lobatschefskij mit n(/7) be- 
zeichnet. Eine Schar Parallelen in einer Ebene zeigt die An- 
ordnung der schematischen Fig. 32. Sämtliche Parallelen nähern 
sich asymptotisch nach der Seite ihrer Konvergenz. Die Gleich- 
mäßigkeit des Raumes fordert, daß jeder „Sf reifen'' zwischen 
zwei Parallelen mit jedem andern, sobald man nur nach der 
Längsrichtung die gehörige Verschiebung vornimmt, zur Deckung 
gebracht werden kann. 
412 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Naturforschung. 
22. Lassen wir einen Kreis ins Unbegrenzte wachsen, so 
müssen dessen Radien aufhören sich zu durchschneiden, sobald 
beim Anwachsen der zwischenliegenden Bogen ihre Konvergenz 
dem ParalleHsmus entspricht. Der Kreis geht dann in die so- 
genannte „Grenzlinie" über. Analog wird bei unbegrenztem 
Wachstum die Kugelfläche in eine Fläche umgewandelt, welche 
Lobatschefskij „Grenzfläche" nennt. Die Grenzlinie steht zur 
Grenzfläche in analoger Beziehung wie der größte Kreis zur 
Kugelfläche. Die Geometrie der Kugelfläche ist unabhängig vom 
Parallelenaxiom. Da sich nun nachweisen läßt, daß Dreiecke aus 
Grenzlinien auf der Grenzfläche so wenig einen Winkelsummen- 
exzeß darbieten wie endliche sphärische Dreiecke auf einer Kugel 
von unendlichem Radius, so gelten für jene Grenzdreiecke die 
Regeln der Euklidischen Geometrie. Um Punkte der Grenz- 
linie zu finden, bestimmt man an einer Schar Parallelen (in der 
Ebene): aa, ^ß, ^y, dh^ . . . (Fig. 33) zu einem Punkt a der 
Geraden aa an den übrigen Parallelen die Punkte b, c, d . . . so, 
daß die Winkel (xab = ^'ba, a.ac = -ica, aad=hda . . . werden. 
Bei der Gleichförmigkeit der ganzen Konstruktion kann jede der 
Parallelen als „Achse" der Grenzlinie angesehen werden, um 
welche rotiert die Grenzfläche durch die Grenzlinie beschrieben 
wird. Ebenso kann jede der Parallelen als Achse der Grenz- 
fläche gelten. Aus demselben Grunde sind alle Grenzlinien und 
Grenzflächen kongruent. Der Schnitt jeder Ebene mit der Grenz- 
fläche ist ein Kreis, nur wenn die Ebene die Achse enthält, wird 
aus dem Kreis eine Grenzlinie. In der Euklidischen Geometrie 
gibt es keine Grenzlinie und Grenzfläche. Die Analoga der- 
selben sind hier die Gerade und die Ebene. Wenn es keine Grenz- 
linie gibt, müssen drei beliebige nicht in einer Geraden liegende 
Punkte notwendig auf einem Kreise liegen. Deshalb konntej, B o 1 y a i 
durch letztere Forderung das Euklidische Axiom ersetzen. 
23. Es seien (Fig. 33) aa, ^ß, cy • • • ein Sipstem von Parallelen 
und ae, a^e^y a^e.^ ... ein System von Grenzlinien, von denen 
jedes das andere in gleiche Teile teilt. Das Verhältnis zweier 
Grenzbogen zwischen denselben Parallelen, z. B. ad^=u und 
a^d^^=u hängt dann nur von deren Entfernung aa^=x ab. 
X 
Man kann allgemein setzen — = e\y wobei k so gewählt ist, daß 
Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forsehung. 413 
e die Basis^der natürlichen Logarithmen wird. Auf diesem Wege 
werden die Exponentiellen und durch diese die Hyperbelfunk- 
tionen eingeführt. Für den Parallelenwinkel findet sich 
1 -^- TC 
s= Qo\-^Jl{p) = e^, Für/7 = o wird s = ^, für /?= oo, s = o. 
Ein Beispiel mag das Verhältnis der Lobatschefskijschen 
Geometrie zur Euklidischen und sphärischen Geometrie beleuchten. 
Für das geradlinige Lobatschefskijsche Dreieck mit den Seiten 
a, b, c und den gegenüberliegenden Winkeln A, B, C ergibt sich, 
wenn C ein rechter Winkel ist: 
shj- = SÄ TT sin Ä. 
Hierbei bedeutet sh den hyperbolischen Sinus 
ßX p — X pxi p — xi 
shx = ^ — , während sin 4^ = ^. , oder 
yt yO y*0 -yA y y»3-v»5-v»7 
sÄx = yj+3j-+5j^ + ^+ . . . und sm.r = j^-3j-+5j— 7J-+ . . . 
Berücksichtigt man die im vorigen enthaltenen Relationen 
sin (jri) = / • sho' oder sh (jri) = i • sinx der Kreis- und Hyperbel- 
funktion, so sieht man, daß die obige Formel für das Loba- 
tschefskijsche Dreieck in die für das sphärische Dreieck gültige 
sin TT = sin TT sin ^ übergeht, wenn man in ersterer ki an die 
Stelle von k setzt, und k als den Kugelradius ansieht, der aller- 
dings in den gewöhnlich gebräuchlichen Formeln den Wert 1 
annimmt. Die Rückverwandlung der sphärischen Formel in die 
Lobatschefskijsche auf demselben Wege liegt auf der Hand. 
Für ein im Verhältnis zu a und c sehr großes k, können wir uns 
auf das erste Glied der Reihenentwicklung von sh oder sin be- 
schränken, und erhalten in beiden Fällen alk= cjk- sin A, oder 
a = C'S\nA, die Formel der ebenen Euklidischen Geometrie, 
welche wir somit als einen Grenzfall sowohl der Lobatschef- 
skijschen als auch der sphärischen Geometrie für sehr große 
Werte von k, oder für A- = oc ansehen können. Wir können auch 
sagen, im unendlich Kleinen fallen alle drei Geometrien zu- 
sammen. 
414 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forschung. 
24. Wie man sieht, läßt sich also ein konsequentes, in sich 
widerspruchsloses System der Geometrie entwickeln, sobald man 
nur einmal die Konvergenz paralleler Geraden zugegeben hat. 
Für diese Annahme spricht allerdings keine Beobachtung der 
uns zugänglichen geometrischen Tatsachen, und dieselbe wider- 
streitet so sehr unserm geometrischen Instinkt, daß sich daraus 
das Verhalten der älteren Forscher, wie Saccheri und Lambert, 
ganz wohl erklärt. Unsere durch die Anschauung und die ge- 
läufigen Euklidischen Begriffe geleitete Vorstellung kann auch 
nur stückweise und nach und nach den Anforderungen einer 
Lobatschefskijschen Betrachtung gerecht werden. Wir müssen 
uns hierbei mehr von den mathematischen Begriffen als von den 
einem kleinen Raumgebiet entstammenden sinnlichen Bildern 
führen lassen. Man muß jedoch zugeben, daß die mathema- 
tischen Quantitätsbegriffe, durch welche wir selbsttätig die Tat- 
sachen der geometrischen Erfahrung darstellen, letzteren nicht 
absolut entsprechen. Die geometrische Theorie ist wie jene der 
Physik einfacher und genauer, als dies durch die Erfahrung 
mit ihren zufälligen Störungen eigentlich verbürgt werden kann. 
Verschiedene Begriffe können in dem der Beobachtung zugäng- 
lichen Gebiete die Tatsachen mit gleicher Genauigkeit aus- 
drücken. Die Tatsachen sind also wohl zu unterscheiden von 
den intellektuellen Gebilden, deren Entstehung sie angeregt haben. 
Die letzteren — die Begriffe — müssen mit der Beobachtung 
verträglich und außerdem untereinander in logischer Überein- 
stimmung sein. Diese beiden Forderungen sind eben in mehr- 
facher Weise erfüllbar, und daher die verschiedenen Systeme 
der Geometrie. 
25. Man sieht es den Arbeiten Lobatschefskijs an, daß sie 
das Ergebnis langen und angestrengten Nachdenkens sind, und 
kann vermuten, daß er erst durch allgemeine Erwägungen und 
analytische (rechnende) Entwicklungen ein klares Bild seines 
Systems gewonnen haben mußte, bevor er im stände war, das- 
selbe synthetisch darzustellen. Einladend sind solche Entwick- 
lungen in dieser schwerfälligen Euklidischen Form keineswegs, 
und es ist vielleicht hauptsächlich dieser Form zuzuschreiben, 
wenn der Wert der Arbeiten Lobatschefskijs und J. Bolyais 
o spät allgemein erkannt wurde. 
Raum und Geometrie vom Standpunkt der Naturforschung. 415 
26. Lobatschefskij entwickelte nur die Folgen der Modi- 
fikation der fünften Forderung Euklids. Läßt man hingegen den 
Euklidischen Satz fallen: „zwei Gerade schließen keinen Raum 
ein", so gelangt man zu einem Gegenstück der Lobatschefskij- 
schen Geometrie.^) In Beschränkung auf die Fläche ist dies 
die Geometrie der Kugelfläche. An die Stelle der Euklidischen 
Geraden treten die größten Kreise, die sich alle zweimal schnei- 
den, und von denen jedes Paar zwei sphärische Zweiecke ein- 
schließt. Es gibt also da gar keine Parallelen. Die Möglich- 
keit einer analogen Geometrie des dreidimensionalen Raumes 
(von positivem Krümmungsmaß) hat erst Riemann angedeutet. 
Dieselbe scheint auch von Gauß nicht in Erwägung gezogen 
worden zu sein, vielleicht aus Vorliebe für die Unendlichkeit des 
Raumes. Helmholtz^) hingegen, der die Untersuchungen von 
Riemann in physikalischem Sinne weiterführte, ließ wieder in 
seiner ersten Publikation den Lobatschefskij sehen Fall eines 
Raumes von negativem Krümmungsmaß (mit imaginärem Para- 
meter k) unbeachtet. In der Tat liegt die Betrachtung dieses 
Falles dem Mathematiker näher als dem Physiker. Helmholtz 
behandelt daselbst nur den Euklidischen Fall mit dem Krüm- 
mungsmaß Null und den Riemannschen Raum mit positivem 
Krümmungsmaß. 
27. Wir können also die Tatsachen der räumlichen Beobach- 
tung mit aller erreichbaren Genauigkeit darstellen, sowohl durch die 
Euklidische Geometrie, als auch durch die Lobatschefskijsche 
und die Riemann sehe, wenn wir nur in den beiden letzteren 
Fällen den Parameter k genügend groß nehmen. Von der Vor- 
aussetzung k=oo der Euklidischen Geometrie abzugehen, 
fanden die Physiker bisher keinen Grund. Sie halten nach be- 
währter zweckmäßiger Übung die einfachsten Voraussetzungen 
so lange fest, bis die Tatsachen zu einer Komplikation oder 
Modifikation derselben nötigen. Dies entspricht auch dem Stand- 
punkt aller bedeutenden Mathematiker in Bezug auf angewandte 
Geometrie. Soweit aber das Verhalten der Naturforscher und 
der Mathematiker den berührten Fragen gegenüber verschieden 
1) Vgl. die S. 379 zitierte Abhandlung von De Tilly. 
2) Über die tatsächlichen Grundlagen der Geometrie. 1866. Wissen- 
schaftliche Abhandlungen. II, S. 610 u. f. 
416 Raum und Geometrie vcm Standpunkt der Naturforschung. 
ist, erklärt es sich dadurch, daß für erstere das physisch Gegebene 
die größte Wichtigkeit hat, und die Geometrie nur ein geläufiges 
Mittel zur Untersuchung desselben ist, während für letztere 
gerade diese Fragen von größtem fachlichen und insbesondere 
von erkenntnistheoretischem Interesse sind. Hat aber der Mathe- 
matiker einmal versucht die nächsten und einfachsten Voraus- 
setzungen, welche die geometrische Erfahrung an die Hand gibt, 
zu modifizieren, und hat dieser Versuch sich durch Gewinn an 
Einsicht gelohnt, so liegt nichts näher, als daß solche Versuche 
in rein mathematischem Interesse noch weitergeführt werden. 
Analoga der uns geläufigen Geometrie unter noch freieren, all- 
gemeineren Voraussetzungen, für eine beliebige Dimensionszahl, 
werden entwickelt, ohne Anspruch, für etwas anderes als wissen- 
schaftliche Gedankenexperimente gehalten zu werden, ohne Ab- 
sicht der Anwendung auf die sinnliche Wirklichkeit. Es genügt 
hier auf die Förderung der Mathematik durch Clifford, Klein, 
Lie u. a. hinzuweisen. Nur selten wird ein Denker so ver- 
träumt und, |der Wirklichkeit abgewandt sein, um an eine die 
Drei übersteigende Dimensionszahl des uns gegebenen sinn- 
lichen Raumes, oder an die Darstellung desselben durch eine 
von der Euklidischen merklich abweichenden Geometrie zu 
denken, Gauß, Lobatschefskij, J. Bolyai, Riemann waren 
darin ganz klar, und können jedenfalls für die später auf diesem 
Gebiete auftretenden Monstrositäten nicht verantwortlich gemacht 
werden. 
28. Dem Geschmack des Physikers entspricht es wenig, Vor- 
aussetzungen über das Verhalten geometrischer Gebilde im Un- 
endlichen, im Unzugänglichen zu machen, und dieselben nach- 
träglich mit den nächstliegenden Erfahrungen zu vergleichen, 
und diesen dann erst anzupassen. Er liebt es (ähnlich der Stolz- 
schen Entwicklung) das unmittelbar Gegebene als Quelle seiner 
Begriffe zu betrachten, die er so lange auch für das Unzugäng- 
liche als gültig ansieht, bis er genötigt wird, dieselben zu ändern. 
Aber auch er darf für die Aufklärung, daß es mehrere genügende 
Geometrien gibt, daß man auch mit einem endlichen Raum das 
Auskommen finden kann u. s. w., kurz für die Beseitigung kon- 
ventioneller Schranken des Denkens recht [dankbar sein. Würden 
wir, auf der Oberfläche eines Planeten mit trüber, undurchsichtiger 
Raum und Geometrie vom Standpunkt der Naturforschung. 417 
Atmosphäre lebend, nur auf Winkelmaß und Meßkette ange- 
wiesen, von der Voraussetzung einer ebenen Oberfläche aus- 
gehend Vermessungen beginnen, so würde uns das Anwachsen 
eines Winkelsummenexzesses bei größeren Dreiecken alsbald 
nötigen, unsere Planimetrie mit einer Sphärometrie zu vertauschen. 
Die Möglichkeit analoger Erfahrungen im dreidimensionalen Raum 
kann der Physiker im Prinzip nicht ausschließen, wenngleich die 
Erscheinungen, die zur Annahme einer Lobatschefskij sehen 
oder Riemannschen Geometrie nötigen würden, so abenteuer- 
lich mit dem bisher Gewohnten im Gegensatz stehen würden, 
daß niemand den Eintritt derselben für wahrscheinlich halten wird. 
29. Die Frage, ob ein vorgelegtes physikalisches Objekt 
eine Gerade oder ein Kreisbogen sei, ist nicht in richtiger Form 
gestellt. Eine gespannte Schnur oder ein Lichtstrahl ist gewiß 
weder das eine noch das andere. Es kann sich nur darum 
handeln, ob das Objekt räumlich so reagiert, daß es besser dem 
einen als dem anderen Begriff entspricht, und ob es mit der uns 
genügenden und erreichbaren Genauigkeit überhaupt einem der 
geometrischen Begriffe entspricht. Wenn der letztere Fall nicht 
gegeben ist, so fragt es sich, ob wir die Abweichung von der 
Geraden oder vom Kreise praktisch beseitigen oder wenigstens 
in Gedanken bestimmen und berücksichtigen, also das Ergebnis 
der Messung korrigieren können. Bei der praktischen Messung 
sind wir jedoch immer auf die Vergleichung physikalischer Ob- 
jekte angewiesen. Würden diese bei direkter Untersuchung mit 
aller erreichbaren Genauigkeit den geometrischen Begriffen ent- 
sprechen, die indirekten Ergebnisse der Messung aber von der 
Theorie mehr abweichen, als nach den möglichen Fehlern zulässig 
erscheint, so müßten wir unsere physikalisch-metrischen Begriffe 
allerdings ändern. Der Physiker wird gut tun, den Eintritt dieser 
Situation abzuwarten, während der Mathematiker für seine -Über- 
legungen stets freien Spielraum hat. 
30. Die Raum- und Zeitbegriffe des Naturforschers sind die 
einfachsten. Räumliche und zeitliche Objekte, welche seinen Be- 
griffskonstruktionen entsprechen, können mit großer Genauigkeit 
hergestellt werden. Fast jede Abweichung, die noch bemerkt 
werden kann, läßt sich auch beseitigen. Jede Raum- oder Zeit- 
konstruktion kann man sich verwirklicht denken, ohne einer Tat- 
Mach, Erkenntnis und Irrtum. , 27 
418 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forschung. 
Sache Gewalt anzutun. Die übrigen physikalischen Eigenschaften 
der Körper hängen so voneinander ab, daß hier die willkürlichen 
Fiktionen eine enge Schranke an den Tatsachen finden. Ein 
vollkommenes Gas, eine vollkommene Flüssigkeit, ein vollkommen 
elastischer Körper existiert nicht; der Physiker weiß, daß seine 
Fiktionen den Tatsachen nur annähernd, willkürlich vereinfachend 
entsprechen; er kennt die Abweichung, die nicht beseitigt werden 
kann. Eine Kugel, Ebene u. s. w. kann man in beliebiger Ge- 
nauigkeit hergestellt denken, ohne mit einer Tatsache in Wider- 
spruch zu geraten. Sollte also irgend eine physikalische Tat- 
sache Modifikation unserer Begriffe fordern, so wird der Physiker 
lieber die weniger vollkommenen Begriffe der Physik opfern, 
als die einfacheren, vollkommeneren, festeren der Geometrie, 
welche die solideste Grundlage aller seiner Konzeptionen bilden. 
31. Nach einer anderen Richtung kann aber der Physiker 
aus den Arbeiten der Geometer wesentlichen Nutzen schöpfen. 
Unsere Geometrie bezieht sich immer auf Objekte der sinnlichen 
Erfahrung. Sobald wir aber mit bloßen Gedankendingen, wie 
Atome und Moleküle, operieren, die ihrer Natur nach nicht in die 
Sinne fallen können, haben wir kein Recht mehr, dieselben not- 
wendig in Beziehungen, in relativen Lagen zu denken, die dem 
Euklidischen dreidimensionalen Raum unserer sinnlichen Er- 
fahrung angehören. Dies haben insbesondere diejenigen zu 
bedenken, welche atomistische Betrachtungen für unentbehrlich 
halten.^) 
32. Denken wir an den Ursprung der Geometrie aus dem 
^) Noch in der atomistischen Theorie befangen, versuchte ich die Linien- 
spektren der Gase durch die Schwingungen der Atombestandteile eines Gas- 
moleküls gegeneinander zu erklären. Die Schwierigkeiten, die ich hierbei 
fand, legten mir 1863 den Gedanken nahe, daß nicfitsinnlicfie Dinge nicht 
notwendig in unserem sinnlichen Räume von drei Dimensionen vorgestellt 
werden müssen. So kam ich auf Analoga des Raumes von verschiedener 
Dimensionszahl. Gleichzeitiges Studium verschiedener physiologischer Mannig- 
faltigkeiten (S. 393) führte mich zu den am Schlüsse dieses Kapitels be- 
rührten Fragen. Der Gedanke endlicher Räume, konvergierender Parallelen 
u. s. w., der sich nur durch das historische Studium der Geometrie ergeben 
konnte, lag mir damals fern. Ich glaube, daß meine Kritiker gut getan hätten, 
die gesperrt gedruckte Klausel nicht zu übersehen. Näheres in den An- 
merkungen zu „Erhaltung der Arbeit". Prag 1872. 
Raum und Geometrie vom Standpunkt der Naturforschung. 419 
praktischen Bedürfnis zurück. Die räumliche Substanzialität, die 
räumliche Unveränderlichkeit eines Raumdinges trotz dessen 
Bewegung zu erkennen, ist für uns biologische Notwendigkeit, 
weil das Raumquantum zur Quantität der Bedürfnisbefriedigung 
in Beziehung steht. Soweit diese Kenntnis nicht schon durch 
unsere physiologische Organisation genügend verbürgt ist, be- 
nützen wir unsere Hände und Füße zur Vergleichung mit dem 
räumlichen Objekt. Mit der Vergleichung der Körper unterein- 
ander treten wir aber schon in das Gebiet der Phj^sik ein, ob 
wir die Hände oder einen künstlichen Maßstab verwenden. Alle 
physikalischen Bestimmungen sind relativ. So gelten auch alle 
geometrischen Bestimmungen relativ zum Maßstab. Der Maß- 
begriff ist ein Relationsbegriff, welcher über den Maßstab selbst 
nichts mehr aussagt. Wir nehmen in der Geometrie nur an, daß 
der Maßstab immer und überall deckt, was derselbe irgendwo 
und irgendwann einmal gedeckt hat. Über den Maßstab selbst 
bestimmt dies nichts. Es tritt hiermit an die Stelle der räum- 
lichen physiologischen Gleichheit eine ganz anders definierte 
physikalische y die mit jener nicht verwechselt werden darf, so 
wie man eine Thermometeranzeige nicht mit der Wärmeempfin- 
dung identifizieren darf. Zwar konstatiert der praktische Geo- 
meter die Ausdehnung eines erwärmten Maßstabes durch einen 
auf konstanter Temperatur gehaltenen Maßstab und nimmt darauf 
Rücksicht, daß durch diesen raumfremden phj^sikalischen Um- 
stand jene Kongruenzbeziehung gestört wird, allein der reinen 
Raumlehre liegt eine Voraussetzung über den Maßstab fern. Es 
wird nur die aus phj?siologischer Quelle stammende Gewohnheit, 
den Maßstab als unveränderlich anzusehen, stillschweigend aber 
unberechtigt festgehalten. Es würde ganz müßig sein und keiner- 
lei Sinn haben, wollte man annehmen, daß der Maßstab, also die 
Körper überhaupt mit der Verschiebung im Räume Veränderungen 
erfahren oder unverändert bleiben, was wieder nur durch einen 
neuen Maßstab konstatiert werden könnte. Die Relativität aller 
räumlichen Beziehungen offenbart sich durch diese Überlegung. 
33. Wird das Kriterium der räumlichen Gleichheit schon durch 
Einführung des Maßes wesentlich modifiziert, so erfährt es eine 
weitere Modifikation, bezw. Verschärfung, durch Einführung des 
Zahlbegriffes in die Geometrie. Es wird hierdurch eine Fein- 
27* 
420 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Naturforschung. 
heit der Unterscheidung bedingt, welche der bloße Kongruenz- 
begriff niemals vermitteln könnte. Nur die Anwendung der 
Arithmetik auf die Geometrie führt zu den Begriffen des In- 
kommensurablen, des Irrationalen. Unsere geometrischen Be- 
griffe enthalten also raumfremde Zutaten; sie stellen das Räum- 
liche mit einer gewissen Freiheit und namentlich willkürlich mit 
einer größeren Genauigkeit dar, als dies die räumliche Beobach- 
tung zu erreichen vermag. Der unvollständige Kontakt zwischen 
Tatsache und Begriff macht eben die Möglichkeit verschiedener 
geometrischer Systeme (Theorien) verständlich.^) Genau das- 
selbe läßt sich aber auch in Bezug auf die Physik sagen. ^) 
34. Die ganze Entwicklung, welche zur Umwandlung in der 
Auffassung der Geometrie geführt hat, muß als eine gesunde 
und kräftige Bewegung bezeichnet werden. Diese Bewegung, 
seit Jahrhunderten vorbereitet, in unseren Tagen erheblich ge- 
steigert, ist keineswegs schon als abgeschlossen zu betrachten. 
Wir dürfen vielmehr erwarten, daß dieselbe nicht nur der Mathe- 
matik und Geometrie, namentlich in erkenntnistheoretischer Be- 
ziehung, sondern auch den andern Wissenschaften noch die reich- 
sten Früchte bringen wird. Diese Bewegung verdankt zwar 
einzelnen bedeutenden Menschen mächtige Anregungen, dieselbe 
ist aber trotzdem nicht einem individuellen, sondern einem all- 
gemeinen Bedürfnis entsprungen. Man sieht dies schon aus dem 
verschiedenen Beruf der Menschen, die sich an dieser Bewegung 
beteiligten. Nicht nur Mathematiker, auch Philosophen und Didak- 
tiker lieferten Beiträge zu den betreffenden Untersuchungen. 
Auch die von verschiedenen Forschern eingeschlagenen Wege 
führen nahe aneinander vorbei. Gedanken, welche Leibniz^) 
äußert, kehren in wenig veränderter Form wieder bei Fourier,*) 
Lobatschefskij, J. Bolyai, H. Erb.^) Indem der Philosoph 
*) "Wir dürfen der Materie nicht zumuten, alle die atomistischen Phanta- 
sien des Physikers zu verwirklichen. Ebensowenig wird der Raum (als 
Erfahrungsobjekt) allen Ideen des Mathematikers genügen, womit kein Zweifel 
an dem Wert der betreffenden Untersuchungen an sich ausgesprochen sein soll. 
«) Vgl. die Anmerkung S. 409. 
») Vgl. S. 369, 370. 
♦) Seances des Ecoles normales. Debats. T. I. 1800. p. 28. 
') H. Erb, GroßherzogHch Badischer Finanzrat, Die Probleme der 
geraden Linie, des Winkels und der ebenen Fläche. Heidelberg 1846. Erb 
Raum und Geometrie vom Standpunkt der Naturforschung. 421 
Überweg^) in seiner Opposition gegen Kant wesentlich an den 
Psychologen Beneke,^) mit seinen geometrischen Ausführungen 
an H. Erb anknüpft, welcher letztere wieder in K. A. Erb^) 
einen Vorgänger nennt, nimmt Überweg einen guten Teil der 
Helmholtz sehen Arbeit vorweg. 
35. Die Ergebnisse, zu welchen die hier besprochene Ent- 
wicklung geführt hat, lassen sich wie folgt zusammenfassen: 
1. Die Erfahrung wurde als Quelle unserer geometrischen 
Begriffe erkannt. 
2. Die Vielfachheit der denselben geometrischen Tatsachen 
genügenden Begriffe wurde klargelegt, 
3. Durch die Vergleichung des Raumes mit anderen Mannig- 
faltigkeiten wurden allgemeinere Begriffe gewonnen, von welchen 
die geometrischen einen besonderen Fall darstellen. Dadurch 
wurde das geometrische Denken von konventionellen, für unüber- 
schreitbar gehaltenen Schranken befreit. 
4. Durch den Nachweis dem Räume verwandter, von dem- 
selben verschiedener Mannigfaltigkeiten wurden ganz neue Fragen 
nahegelegt. Was ist der Raum physiologisch, physikalisch, geo- 
metrisch? Worauf sind dessen besondere Eigenschaften zurück- 
zuführen, da doch andere auch denkbar sind? Warum ist der- 
selbe dreidimensional? u. s. w.* 
36. Mit solchen Fragen, wenn wir deren Beantwortung auch 
nicht heute und nicht morgen erwarten, stehen wir vor der 
ganzen Tiefe des noch zu Erforschenden. Von den unberufenen 
Urteilen der „Böoter", die Gauß kommen sah und die ihn so 
zurückhaltend stimmten, wollen wir schweigen. Was sollen wir 
aber zu den herben und nörgelnden Kritiken sagen, die Gauß, 
hat hier jene Ergänzung Ider Elementargeometrie gegeben, 'die Gauß in 
einem Briefe an Bessel verlangt. In derselbenjRichtung arbeitet]. Schräm 
in seiner als Manuskript gedruckten, 1903 von Obersteig in Nordtirol datierten 
Abhandlung: „Leibnizens Definitionen der Ebene und der Geraden". 
') Die Prinzipien der Geometrie wissenschaftlich dargestellt. Archiv 
für Philologie und Pädagogik. 1851. Abgedruckt in Brasch, Welt- und 
Lebensanschauung F. Überwegs. Leipzig 1889. S. 263—317. 
^2) Logik als Kunstlehre des Denkens. Berlin 1842. |II. Bd., S. 51—55. 
') Zur Mathematik und Logik. Heidelberg 1821. Diese Schrift blieb 
mir unzugänglich. — Leser von vorwiegend philosophischem Interesse seien 
noch auf die S. 387 zitierte Arbeit von C. Siegel verwiesen. 
422 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forschung. 
Riemann und deren Genossen für die gebotenen Aufklärungen 
von Seiten wissenschaftlich hochstehender Männer erfahren mußten? 
Sollten es diese nie am eigenen Leibe erfahren haben, daß der 
Forscher an den äußersten Grenzen des Wissens manches findet, 
das nicht gleich glatt in jeden Kopf drein geht, das darum aber 
noch kein Unsinn ist? Gewiß sind solche Forscher auch dem 
Irrtum ausgesetzt. Aber selbst die Irrtümer mancher Menschen 
sind in ihren Folgen oft fruchtbarer als die Entdeckungen anderer. 
Die physiologische Zeit im Gegensatz zur metrischen. 
1. Wenn wir in einer möglichst gleichmäßigen, möglichst un- 
veränderlichen Umgebung, mit möglichst geringem Vorstellungs- 
wechsel, etwa aus dem Schlaf erwachend dahindämmern, und 
die Uhr gleichmäßig schlagen hören, so unterscheiden wir deut- 
lich den zweiten Schlag von dem ersten, den dritten von dem 
zweiten und ersten, kurz die späteren Schläge von den früheren, 
obgleich alle dieselbe Stärke, Tonhöhe und Klangfarbe darbieten. 
Wir sind auch nicht im Zweifel darüber, daß die Schläge in 
gleichen zeitlichen Abständen sich folgen, und merken auch so- 
fort (ohne Anwendung eines künstlichen Mittels) die etwa ein- 
tretende Störung dieses Verhältnisses. Wir empfinden unmittel- 
bar die Zeit oder die Zeitlage, so wie wir unmittelbar den Raum 
oder die Raumlage empfinden. Ohne diese Zeitempfindung gäbe 
es keine Chronometrie, so wie es ohne Raumempfindung keine 
Geometrie gäbe. 
2. Die Existenz eigenartiger physiologischer Prozesse, welche 
den Zeitempfindungen zu Grunde liegen, wird sehr wahrschein- 
lich durch den Umstand, daß wir die Gleichheit des Rhythmus, 
der Zeitgestalt, an zeitlichen Gebilden der verschiedensten 
Qualität, z. B. an Melodien, welche außer dem Rhythmus keine 
Ähnlichkeit haben, wiedererkennen.^) Wir empfinden den Rhyth- 
mus eines Vorganges unbehindert durch die Qualität desselben. 
Auffallende physiologische ^Tatsachen sprechen dafür, daß schon 
die Elementarorgane zur Fundierung der Zeitempfindung bei- 
') Über die Unzulänglichkeit älterer Theorien des Raumes und der Zeit 
und Verbesserungsversuche vgl. meinen kleinen Artikel „Bemerkungen zur 
Lehre vom räumlichen Sehen", Fichtes Zeitschr. f. Philos. 1865, abgedr. in 
Populär-wissensch. Vorlesungen, 3. Aufl. — Über den Zeitsinn des Ohres. 
Ber. d. Wiener Akademie, Januar 1865. — Analyse der Empfindungen. 4. Aufl. 
424 ^i^ physiologische Zeit im Gegensatz zur metrischen. 
tragen. Solche Tatsachen sind z. B. das Plateau-Oppelsche 
Bewegungsnachbild ^) einer gedrehten Spirale oder des fließenden 
Wassers, und das Dvoi^äksche Erhellungs- oder Verdunkelungs- 
nachbild ^) einer längere Zeit fortgesetzten Helligkeitsänderung. 
Die Änderungsgeschwindigkeit des Ortes und der Helligkeit ist 
innerhalb der Grenzen der unmittelbaren Wahrnehmbarkeit (also 
etwa von der Geschwindigkeit des Uhrzeigers oder eines Pro- 
jektils als extremen Fällen abgesehen) nicht nur ein mathematisch- 
physikalischer Maßbegriff, sondern auch ein physiologisches 
Objekt. 
3. Zwischen unserer physiologischen Zeitanschauung und der 
metrischen Zeit, welche durch zeitliche Vergleichung physika- 
lischer Vorgänge untereinander gewonnen wird, bestehen analoge 
Unterschiede, wie zwischen dem physiologischen und dem metri- 
schen Raum. Beide scheinen ja kontinuierlich; einer stetigen 
Verschiebung in der physikalischen Zeit entspricht eine ebensolche 
in der physiologischen Zeit; beide laufen nur in einem Sinne ab. 
Hiermit scheinen aber die Übereinstimmungen erschöpft. Die 
physikalische Zeit verfließt bald schneller, bald langsamer als 
die physiologische, d. h. nicht alle Vorgänge, welche physikalisch 
von gleicher Dauer sind, erscheinen auch der unmittelbaren Be- 
obachtung so. Die physikalische Unterscheidung der Zeitpunkte 
ist außerordentlich viel feiner als die physiologische. Unserer 
Zeitanschauung erscheint die Gegenwart nicht als Zeitpunkt, der 
natürlich immer ganz inhaltlos sein müßte, sondern als ein Zeit- 
abschnitt von ganz beträchtlicher Dauer mit übrigens schwer 
bestimmbaren, verwischten, und von Fall zu Fall auch verschieb- 
baren, variablen Grenzen. Die Zeitanschauung ist eigentlich 
hierauf beschränkt. Dieselbe wird nur ganz unvermerkt ergänzt 
durch die Erinnerung an die Vergangenheit , und durch die in 
der Phantasie vorgespiegelte Zukunft, welche beide in sehr 
verkürzter Zeitperspektive erscheinen. Hierdurch wird auch die 
Undeutlichkeit der Grenzen der Zeitanschauung verständlich. Für 
») Plateau, Poggendorffs Annalen, Bd. 80, S. 287. — Oppel, ebenda 
Bd. 99, S. 543. 
*) Dvot^äk, Über Nachbilder von Reiz Veränderungen. Ber. d. Wiener 
Akademie. Bd. 61. — Mach, Lehre von den Bewegungsempfindungen. Leipzig 
1875. S. 59—64. 
Die physiologische Zeit im Gegensatz zur metrischen. 425 
die Physik ist ein sich periodisch wiederholender Rhythmus nur 
ein zeitliches Gebilde; für unsere Zeitanschauung ändert sich 
aber die Form dieses Gebildes mit dem Zeitpunkt, in welchem 
die Aufmerksamkeit einsetzt.^) Ebenso ändert sich die Form 
desselben geometrischen Gebildes für die Raumanschauung, je 
nach der Orientierung und dem fixierten Punkt, was ja für die 
eindimensionale Zeit nur in ein Bestimmungsmoment zusammenfällt. 
4. Es kann heute kaum zweifelhaft sein, daß die Zeitanschau- 
ung ebenso wie die Raumanschauung durch unsere ererbte leib- 
liche Organisation bedingt ist. Wir würden uns vergeblich 
bemühen, uns von diesen Anschauungen los zu machen. Mit 
dieser Stellung auf den Standpunkt der nativistischen Theorie 
behauptet man aber noch nicht die vollständige Entwicklung 
der Raum- und Zeitanschauung zu voller Klarheit im Momente 
der Geburt. Man verzichtet ferner nicht auf die Darlegung des 
Zusammenhanges der Raum- und Zeitanschauung mit dem bio- 
logischen Bedürfnis, noch auf die Untersuchung des Einflusses 
des letzteren auf die phylogenetische und ontogenetische Ent- 
wicklung der ersteren. Endlich ist hiermit noch nicht abgewiesen 
eine Untersuchung des Zusammenhanges der Raum- und Zeit- 
anschauung mit den geometrischen und chronometrischen Begriffen. 
Die ersteren sind zur Entwicklung der letzteren zwar unentbehr- 
lich, für sich allein aber unzureichend. Erfahrungen über das 
räumliche Verhalten der physikalischen Körper gegeneinander 
und über das zeitliche Verhalten der physikalischen Prozesse 
gegeneinander müssen zur Bildung der metrischen Begriffe er- 
gänzend eingreifen. 
5. Versuchen wir zunächst uns die biologische Bedeutung der 
Zeitempfindung deutlich zu machen. Bei Spencer findet sich 
die treffliche Bemerkung, daß die Entwicklung des Zeitsinnes an 
jene des Raumsinnes gebunden, von dieser abhängig ist. Ein 
Tier, das sich bloßen Kontaktreizen gegenüber, seien es mecha- 
nische oder chemische, zu erhalten, bezw. anzupassen hat, kommt 
mit diesen Reizen entsprechenden Simultanreaktionen aus. An 
letztere mag sich immerhin ein organisch bedingter, von der Um- 
gebung unbeeinflußter zeitlicher Ablauf von Prozessen schließen; 
') Analyse der Empfindungen. 4. Aufl., S. 201. 
426 -ö/e physiologische Zeit im Gegensatz zur metrischen. 
ein Bedürfnis nach bewußter zeitlicher Auffassung dieser von 
selbst ablaufenden Vorgänge wird dadurch nicht entstehen. Wird 
jedoch die räumliche Fernwirkung der Sinne größer, so daß sich 
die herannahende greifbare Beute zuvor durch den Geruch, ein 
Geräusch oder ein weithin sichtbares Zeichen ankündigt, dann 
ist auch das Bedürfnis nach bewußter Reproduktion solcher An- 
näherungsvorgänge in der natürlichen zeitlichen Ordnung vor- 
handen. Denn ohne diese psj^chische Reproduktion könnten die 
Reaktionen mit ihren zeitlich geordneten und abgemessenen 
Phasen, die etwa zum Fangen der Beute notwendig sind, nicht 
eintreten. Der zeitliche Prozeß der Ernährung nach einmal ver- 
schluckter Nahrung ist aber vom Bewußtsein unabhängig und 
daher auch nicht mehr Gegenstand desselben. Die Zeitempfin- 
dung und Zeitvorstellung entwickelt sich in der Anpassung an 
die zeitliche und räumliche Umgebung. Der Mensch, dessen 
Interessen sich auf die weitesten Räume und die fernsten Zeiten 
erstrecken, erfreut sich auch der meistentwickelten Zeitempfindung 
und Zeitvorstellung. ^) 
6. Es ist ein tatsächlicher Grundzug unserer psychischen 
Reproduktion, daß die Erlebnisse nicht nur in Bezug auf die 
Qualität der Empfindungselemente und deren Kombination und 
Anordnung, sondern auch in Bezug auf räumliche und zeitliche 
Verhältnisse und Ausmaße in der Reproduktion dem Original 
nahe kommen. Allerdings ist in Bezug auf die erreichte Ge- 
nauigkeit die Übung und der Grad der Aufmerksamkeit maß- 
gebend. Allein auch der Unaufmerksame erblickt in der Erinne- 
rung die Häuser nicht mit den Dächern nach unten gekehrt, und 
große Gebäude erscheinen ihm nicht in Liliputanerdimensionen 
oder mit unverhältnismäßig hohen Schloten. Die Erinnerung an 
ein Musikstück kehrt nicht die zeitliche Folge der Töne oder des 
Rhythmus um; ein Adagio wird nicht als Allegro reproduziert 
oder umgekehrt. Alles dies deutet darauf, daß außer den Ele- 
menten unserer Erlebnisse, die wir Ä'/z/z^sempfindungen nennen, 
noch andere einen nicht absolut, aber doch relativ festen Grund 
bildende Elemente (nach Art einer photographischen Platte oder 
Phonographenwalze) vorhanden sind, welche bei jeder Repro- 
1) Spencer, The Principles ofPsychology. 2 Ed. 1870. I, p. 320— 328. 
II, p. 207—215. 
Die physiologische Zeit im Gegensatz zur metrischen. 427 
duktion mit reproduziert werden, und die eine zu starke, räum- 
lich-zeitliche Verzerrung der Erinnerungsbilder verhindern. 
7. Man hat versucht, durch verschiedene Erwägungen zum 
Verständnis der Zeitauffassung zu gelangen. Zunächst ist klar, 
daß ein zeitlicher Verlauf der psychischen Erlebnisse, mögen 
diese nun sinnliche oder Vorstellungserlebnisse sein, noch kein 
Bewußtsein dieses zeitlichen Verlaufs einschließt. Wäre das 
psychische Gesichtsfeld immer auch nur auf eine genügend be- 
grenzte Gegenwart zeitlich eingeschränkt, so könnte nicht einmal 
die Tatsache der Veränderung überhaupt wahrgenommen werden. 
Das Bewußtsein muß also stets einen endlichen Zeitabschnitt 
umfassen, in welchem sich zugleich schwindende und neu auf- 
tauchende Empfindungen oder Vorstellungen befinden, damit jene 
als die früheren, diese als die späteren aufgefaßt werden können. 
Denkt man sich hierzu den relativ beständigen, durch Gemein- 
gefühle u. s. w. charakterisierten Ichkomplex, so stellt dieser ge- 
wissermaßen einen Felsen vor, an dem der zeitlich geordnete 
Strom der Veränderung vorüberzieht. Das scheint ein ganz leid- 
liches Bild zu sein, und die Art, wie wir die einzelnen Glieder 
in die Kette der Erlebnisse einordnen, scheint demselben zu ent- 
sprechen. Die sinnlichen Erlebnisse der Gegenwart unterscheiden 
wir leicht von den blasseren und flüchtigeren Erinnerungen der 
jüngsten Vergangenheit und von den noch mehr abgeblaßten der 
weiter zurückliegenden Vergangenheit. Der Faden der Association 
führt uns von den ältesten Erinnerungen bis zu den jüngsten, 
zur Gegenwart, und durch diese hindurch zu den Erwartungen, 
welche die Phantasie uns vorspiegelt.^) Allein das bloße Nume- 
rieren und Inventieren, Versehen der Glieder mit Ordnungszahlen, 
wie man diesen Prozeß nennen könnte, scheint mir noch nicht 
ganz einer Auffassung des zeitlichen Verlaufs zu entsprechen. 
Dieses Verfahren mögen wir vielleicht üben, wenn uns eine ferne 
Vergangenheit in sehr gekürzter Perspektive in Erinnerung kommt. 
^) Vgl. zu diesen allgemeinen Betrachtungen die Darstellungen der 
Psychologie, insbesondere das originelle Buch von Hoff ding (Psychologie 
in Umrissen. Leipzig 1893. S. 250—260), ferner die fesselnde Darstellung 
von W. James (The Principles of Psychology. I, p. 605—542), endlich die 
sorgfältige Arbeit von Ebbinghaus (Grundzüge der Psychologie. Leipzig 
1902. I, S. 457-466). 
428 -^'^ physiologische Zeit im Gegensatz zur metrischen. 
Eine wirkliche zeitliche Auffassung, z. B. eines Musikstückes 
nach Takt und Rhythmus, sowohl in der sinnlichen Gegenwart, 
als auch in der lebhaften Erinnerung, wird hierdurch kaum zu 
Stande kommen. Es fehlt da sozusagen der feste, die Verzerrung 
ausschließende Hintergrund, von dem oben die Rede war, auf 
den die Erlebnisse projiziert sind. 
8. Um den letzteren Umstand unserem Verständnis näher zu 
bringen, stellen wir eine einfache physikalische Betrachtung an. 
In einen homogenen physikalischen Körper sollen von außen 
Störungen auf verschiedenen Wegen eintreten, z. B. Ströme ein- 
mal durch Aufsetzen der Elektroden in den Punkten a und b, 
das zweitemal aber durch Aufsetzen in den Punkten c und d 
eingeleitet werden. Die Niveauflächen, die Flächen gleicher 
Stromdichte und gleicher Wärmeentwicklung u. s. w. werden in 
beiden Fällen ganz verschiedene sein. Nun lassen wir durch 
dieselben Punkte m und n zwei Stoßwellen ungleichzeitig in 
einen Körper eintreten, und zwar einmal zuerst die Welle durch 
m, und einmal zuerst die Welle durch n. Die Interferenzfläche 
liegt im ersten Fall näher an n, im zweiten Fall näher an m.^) 
Was sich an einem homogenen physikalischen Körper zeigt, tritt 
noch in viel auffallenderer Weise am organisierten Tierkörper 
auf. Auf verschiedenen Wegen eintretende Reize bestimmen auch 
verschiedene, im allgemeinen auf verschiedenen Wegen die Um- 
gebung beeinflussende Reaktionen. Auch die zeitliche Ordnung, 
in der dieselben Organe von gegebenen Reizen getroffen werden, 
ist nicht gleichgültig, sondern eine Änderung derselben wird im 
allgemeinen zu verschiedenen Reaktionen Anlaß geben. So wie 
es für die Reaktion nicht gleichgültig ist, ob die Rückenhaut 
des Frosches rechts oder links gereizt wird, ist es auch nicht 
eineriei, in welchem zeitlichen Zustand dasselbe Organ von dem- 
selben Reiz getroffen wird, ob z.B. eine Geschmacks- oder Geruchs- 
reizung im Zustande des Hungers oder der Sättigung eintritt. 
9. Zum leichteren Verständnis der räumlichen Auffassung 
haben wir angenommen, daß jedes gereizte Organ außer der von 
der Qualität des Reizes mitbestimmten Sinnesempfindung auch 
noch eine bleibend an die Individualität des Organs gebundene 
') Vgl. Analyse. 4. Aufl. S. 192-193. 
Die physiologische Zeit im Gegensatz zur metrischen. 429 
Empfindung liefert. Denken wir uns letztere Empfindung aus 
einem konstanten und einem mit der Tätigkeit des Organs zeitlich 
variierenden Anteil bestehend, so bietet sich die Aussicht, durch 
den letzterwähnten Anteil die Zeitauffassung begreiflich zu machen. 
Es sind dies natürlich keine Theorien oder Erklärungen des 
physiologischen Raumes und der physiologischen Zeit, sondern 
bloße, vielleicht nützliche Paraphrasen und Analysen der Tat- 
sachen, in welchen sich die räumliche und zeitliche Auffassung 
ausspricht. Wie haben wir uns nun die zeitliche Variation des 
von der Organtätigkeit abhängigen Empfindungsanteils zu denken, 
um den Tatsachen der Beobachtung am besten zu entsprechen? 
10. Betrachten wir den Menschen oder ein demselben nahe 
stehendes höheres Wirbeltier. Der Leib desselben zeigt eine 
zur Erhaltung des Lebens notwendige, fast unveränderliche Tem- 
peratur, und gewöhnlich durch beträchtliche Zeit auch eine kon- 
stante Temperaturdifferenz gegen die Umgebung. Dies setzt, 
nach physikalischer Betrachtung, einen sehr gleichmäßigen Ver- 
lauf der Lebensfunktionen voraus, welcher durch die unstetigen 
temporären Reaktionen auf die Umgebung nur mäßige Störungen 
erfährt. Nur die kleinsten und einfachsten Organismen befinden 
sich in Verhältnissen, welche eine der gleichmäßigen Konsumtion 
entsprechende gleichmäßige Zufuhr der Nahrung, also gleich- 
mäßige Restitution, ermöglichen. Bei größeren und entwickelteren 
Organismen sind periodische Prozesse zur Erhaltung einer un- 
vollkommenen aber zureichenden Gleichmäßigkeit der Lebens- 
funktionen unvermeidlich. Der Organismus wechselt zwischen 
Schlaf und Wachen, Hunger und Sättigung. Die zum Leben 
nötige Luftquantität kann dem Blute nur durch einen periodisch 
wirkenden Blasebalg, und dieses Blut den Organen nur durch 
die Herzpumpe zugeführt werden. Zur Anpassung an die Um- 
gebung, zur Beschaffung der Nahrung, ist Lokomotion erforder- 
lich, welche durch taktmäßige periodische Bewegung der Ex- 
tremitäten, rhythmische Kontraktionen der Muskeln ausgeführt 
wird.^) Der Muskel selbst zeigt schon bei einer Kontraktion 
rhythmische Erscheinungen. Selbst die optischen Nachbilder und 
*) Daß am Tierleib keine kontinuierlichen Rotationen vorkommen, wie 
dieselben bei Maschinen mit Vorteil verwendet werden, liegt natürlich an der 
Aufhebung des organischen Zusammenhanges, welche dadurch bedingt wäre. 
430 ^/^ physiologische Zeit im Gegensatz zur metrischen. 
Blendungsbilder verlaufen periodisch. Perioden von der ver- 
schiedensten Dauer sind überhaupt im Organismus reichlich ver- 
treten.^) Fassen wir das Leben in Heringschem Sinne als einen 
dvnamischen Gleichgewichtszustand zwischen Konsumtion und 
Restitution auf, so überrascht uns die Häufigkeit dieser perio- 
dischen Vorgänge so wenig wie die Mannigfaltigkeit der physi- 
kalischen Schwingungen. Schwingungen müssen überall auf- 
treten, wo ein stabiles Gleichgewicht gestört wird und wo die 
Dämpfung nicht stark genug ist, um den Ausgleichsprozeß 
aperiodisch zu gestalten. Die Neigung der organischen Funk- 
tionen zur Periodizität zeigt sich auch darin, daß dieselben sich 
einer äußerlich aufgedrängten, mehrfach wiederholten Periode 
von beliebiger Dauer leicht adaptieren, dieselbe annehmen und 
spontan fortsetzen. Die Anpassung des Schrittes an eine uns 
zufällig begegnende Militärmusik ist ein naheliegendes Beispiel. 
Wenn ich einigemal meine Faust taktmäßig balle und dann nicht 
mehr weiter auf diese Bewegung achte, so bedarf es oft eines 
besonderen Entschlusses, um dieselbe einzustellen. 
11. Biologisch wichtige Reize lösen bei niederen oder sehr 
jungen Tieren die Anpassungsreflexe aus. Wenn eine Folge 
von Empfindungen die Aufmerksamkeit eines höher entwickelten 
Tieres auf sich zieht, so sind diese Empfindungen von einer 
Tätigkeit begleitet, welche aus durch Erfahrung (Gedächtnis) 
modifizierten Reflexen besteht. Das Tun ist vom Empfinden 
nicht zu trennen. Selbst das bloße Beobachten ist für Tier und 
Mensch ein leises Mittun.^) Das Tier wird wohl immer nur für 
*) Wären alle diese periodischen Vorgänge von so sehr verschiedener 
Dauer bewußt, wie dies bei den Beinbewegungen gewöhnlich, bei den Atem- 
bewegungen zuweilen, bei den Herzschlägen ganz ausnahmsweise der Fall 
ist, so hätten wir an denselben ein vorzügliches Mittel der Zeitschätzung. 
Ohne Zweifel liegt in der Verwendung dieser Mittel der Anfang der physi- 
kalischen Chronometrie. Vollkommen periodische Vorgänge gibt es übrigens 
weder im physikalischen, noch im physiologischen Gebiet. Jede Periode 
liefert einen nicht umkehrbaren Rest. Jeder Moment des Lebens läßt seine 
unverwischbaren Spuren zurück. Alter und Tod sind die Summe derselben. 
Vgl. W. Pauli (Ergebnisse d. Physiologie 1904, III. Bd., I. Abt. S. 159), ferner 
Analyse, 4. Aufl. S. 184. 
*) Ein Mensch, der einmal mitgetan hat, beobachtet deshalb ganz anders, 
als wenn dies nicht der Fall war. Der Musiker beobachtet und genießt Musik 
anders als der Unmusikalische u. s. w. 
Die physiologische Zeit im Gegensatz zur metrischen. 431 
die kurze Zeit einer Willkürhandlung aus seiner psychischen In- 
differenz geweckt, und dann wohl nur durch Sinnesempfindungen. 
Die Aufmerksamkeit des Menschen hingegen wird häufig genug 
auch durch Erinnerungen (Vorstellungen) erregt. Auch in diesem 
Falle lassen wir aber nicht bloß passiv Bilder an uns vorbei- 
ziehen, sondern sind leise mittätig, wie wir sofort merken, wenn 
wir etwa z. B. an einen erlebten oder auch nur wahrscheinlichen 
oder möglichen Wortwechsel denken. Bei kräftiger entwickeltem 
psychischen Leben ist auch eine länger dauernde Aufmerksam- 
keit möglich, allein dieselbe ist auch da nicht konstant, sondern 
jeder Lernende und Lehrende kann sozusagen ein stoßweises 
periodisches Anspannen und Nachlassen derselben beobachten. 
Das Nachdenken über die Lösung eines Problems erfolgt in 
Anläufen gegen dasselbe Ziel. Oft glauben wir das Gesuchte 
zu erschauen. Gelingt es uns aber nicht, dasselbe vollständig 
festzuhalten, so entschlüpft es uns wieder. Es ist dann für diesmal 
vorbei, und ein neuer Anlauf muß nach einiger Zeit versucht werden. 
12. Die Aufmerksamkeit unterliegt also auch Schwankungen. 
Die Dauer einer solchen Schwankung möchte mehrere Sekunden 
betragen, und dürfte sich ungefähr über die physikalische Zeit 
erstrecken, die wir physiologisch als Gegenwart auffassen und 
bezeichnen. Wenn nun der Mensch den sinnlichen Erlebnissen 
seiner Umgebung in seinen Reaktionen sich angepaßt hat, mögen 
diese nun in ausgiebiger körperlicher Tätigkeit oder nur in ge- 
spannter Beobachtung bestehen, so wird jedem physikalischen 
Moment nach Einsetzen der Aufmerksamkeit eine Phase der 
Aufmerksamkeit entsprechen. Denken wir uns den Verlauf der 
Phasen der Aufmerksamkeit vom Einsetzen bis zum Erlöschen 
oder Abspringen derselben ungefähr gleich, die Empfindungen 
dieser Phasen aber mit den zugehörigen Sinnesempfindungen 
associiert, so werden die Vorstellungsreproduktion und die physi- 
kalische Reproduktion auch in dem zeitlichen Verlauf sich nahezu 
decken, was für eine Funktion der physikalischen Zeit die Phase 
der Aufmerksamkeit auch sei. Eine solche Deckung entspricht 
dem biologischen Bedürfnis. Soll einem Erlebnis durch eine be- 
wußte Willkürhandlung begegnet werden (man denke etwa an 
das Verhalten des Jägers), so wird wohl die Phase der Auf- 
merksamkeit in irgend einer Weise empfunden werden müssen. 
432 -ö'ß physiologische Zeit im Gegensatz zur metrischen. 
Sollte sich diese Auffassung bewähren, so wäre hiermit der starre 
unverzerrbare zeitliche Hintergrund der Erinnerung, die gleich- 
mäßig ablaufende Phonographenwalze, gefunden. Natürlich hilft 
uns diese Auffassung nur die Reproduktion der Verhältnisse 
kleiner Zeiten verstehen. Für die Ordnung der Erlebnisse, die 
sich über lange Zeiten erstrecken, genügt ja der Faden der 
Association; die mikroskopische Detailauffassung befaßt sich da 
höchstens mit einzelnen wichtigeren Szenen. Denn wäre es nicht 
so, so würden unsere Erinnerungen dieselbe Zeit in Anspruch 
nehmen, welche die Erlebnisse selbst schon gekostet haben, und 
es bliebe uns keine Zeit für neue Erlebnisse.^) 
13. Nachdem die Aufmerksamkeitsakte die verschiedensten 
Erlebnisse umfaßt haben, lernt man die Zeitempfindungen als 
bleibend, von dem übrigen Inhalt der Erlebnisse unabhängig, sich 
immer wiederholend, kennen. Die Folge der Zeitempfindungen 
wird zu einem Register, in welches die übrigen Qualitäten der 
Empfindungserlebnisse eingeordnet werden. Es kommt die Er- 
fahrung hinzu, daß es Vorgänge gibt: Pulsschläge, Schritte, 
Pendelschwingungen, welche in ihrer Dauer gleich bleiben, 
welche eine physiologische Zeitbeständigkeit darbieten. Obwohl 
in verschiedenen, leiblichen, normalen und krankhaften Zuständen, 
Schlaf, Fieber, Haschischrausch u. s. w., dieselben Ereignisse 
eine verschiedene Dauer zu haben scheinen, bemerken wir doch, 
daß die Schwingungen desselben Pendels, wann immer wir ihnen 
die normale wache Aufmerksamkeit zuwenden, merklich dieselbe 
Dauer haben. So entwickelt sich die Vorstellung von einer 
gleichmäßig fließenden Zeit. 
14. Auf der tiefsten Stufe des Lebens gehen uns nur die 
unsern Leib betreffenden Vorgänge an. Sobald aber die Be- 
1) Die hier zu Grunde liegende Auffassung der Aufmerksamkeit hat sich 
aus der physiologischen Vorstellung entwickelt, die sich in meinem Artikel 
„Zur Theorie des Gehörorgans" findet. (Ber. d. Wiener Akademie, Juli 1863. 
S. 15—16 des Separatabdrucks.) Hieran knüpfen meine ersten Vorstellungen 
von der physiologischen Zeit an. (Über den Zeitsinn des Ohres. Ber. d. Wiener 
Akademie, Januar 1865. S. 14—15 des Separatabdrucks.) Dann folgte die 
Darstellung in Analyse der Empfindungen 1886. Verwandte Anschauungen 
haben Riehl (Der philosophische Kritizismus Bd. II, T. I, S. 117), Münster- 
berg (Beiträge zur experimentellen Psychologie, 2. Heft. 1889) und J er u s a 1 em 
(Laura Bridgman. 1891. S. 39, 40) vertreten. 
Die physiologische Zeit im Gegensatz zur metrischen. 433 
dürfnisse nicht mehr unmittelbar befriedigt werden können, son- 
dern nur auf dem Umwege durch die zeitlichen Vorgänge in 
unserer Umgebung, müssen letztere ein indirektes Interesse ge- 
winnen, das jenes an der momentanen Empfindung oft weit 
übersteigt. Zur Beurteilung des zeitlichen Verlaufs der Prozesse 
der Umgebung wird aber die physiologische Zeitempfindung zu 
ungenau und unverläßlich. Wir fangen dann an, physikalische 
Vorgänge mit andern physikalischen Vorgängen zu vergleichen, 
z. B. Pendelschwingungen mit Fallbewegungen durch bestimmte 
Fallräume, oder mit dem während der Pendelschwingung voll- 
führten Drehungswinkel der Erde. Da macht man nun die Er- 
fahrung, daß ein Paar genau definierter physikalischer Vorgänge, 
deren Beginn und Ende irgendwann koinzidiert, zeitliche Kon- 
gruenz zeigt, diese Eigenschaft zu jeder Zeit beibehält. Einen 
solchen genau definierten Vorgang kann man nun als Zeitmaß- 
stab benützen. Hierauf beruht die physikalische Chronometrie. 
Man pflegt nun zwar instinktiv die Vorstellung der zeitlichen 
Substantialität auf den chronometrischen Maßstab zu übertragen, 
allein man muß bemerken, daß auf physikalischem Gebiet diese 
Vorstellung gar keinen Sinn mehr hat. Die Messung gibt das 
Verhältnis zum Maßstab an; über den Maßstab selbst liegt in 
der Definition nichts. Man muß zwischen der unmittelbaren 
Empfindung einer Dauer und einer Maßzahl so scharf unter- 
scheiden, wie zwischen Wärmeempfindung und Temperatur.^) 
Jeder hat seine eigene Zeitanschauung; dieselbe ist nicht über- 
tragbar. Die chronometrischen Begriffe sind allen gebildeten 
Menschen gemeinsam; dieselben sind übertragbar. Diese Fragen 
konnten hier so kurz erledigt werden, weil alles mutatis mutandis 
wiederholt werden konnte, was bezüglich des Raumes zu sagen war. 
') Vgl. Prinzipien der Wärmelehre S. 39 u. f. und S. 419 der vorliegenden 
Schrift. 
Mach, Erkenntnis und Irrtum. 28 
Zeit und Raum physikalisch betrachtet. 
1. In phj>siologischer Beziehung sind Zeit und Raum Systeme 
von Orientierungsempfindungen, welche nebst den Sinnesempfin- 
dungen die Auslösung biologisch zweckmäßiger Anpassungs- 
reaktionen bestimmen. In physikalischer Hinsicht sind Zeit und 
Raum besondere Abhängigkeiten der physikalischen Elemente 
voneinander. Dies spricht sich schon darin aus, daß Maßzahlen 
von Zeit und Raum in allen Gleichungen der Physik vertreten 
sind, und daß die chronometrischen Begriffe durch Vergleichung 
der physikalischen Prozesse, die geometrischen Begriffe durch 
Vergleichung der physikalischen Körper untereinander gewonnen 
werden. Wir wenden unsere Betrachtung zunächst der physi- 
kalischen Zeit zu. 
2. Um die zeitliche Abhängigkeit rein hervortreten zu lassen, 
fingieren wir das einfache Beispiel eines Vorganges, in dem der 
Raum sozusagen dadurch eliminiert ist, daß nur 
Körper in Betracht kommen, welche durchaus in 
gleichräumlichen Verhältnissen zueinander stehen. 
Wir denken uns drei gleiche Massen von unendlich 
großer innerer Wärmeleitungsfähigkeit und gleicher 
Fig. 34. spezifischer Wärme, von welchen jede die beiden 
andern in einer gleich großen Fläche gleicher 
äußerer Wärmeleitungsfähigkeit berührt (Fig. 34). Wir schreiben 
den Massen ungleiche Temperaturen u^^u^^ u^ zu und verfolgen 
die zeitliche Änderung derselben. Unter Festhalten unserer 
Voraussetzungen bleibt das Mittel, also auch die Summe dieser 
Temperaturen stets konstant: Wi -}- «2 + W3 = c. 
Für die Änderung von u^ mit der Zeit / erhält man nach 
dem New ton sehen Wärmemitteilungsgesetz die Gleichung: 
Zeit und Raum physikalisch betrachtet. 435 
dUi^ jdt = Ä- (c — 3«i), und durch Vertauschung von u^ mit u^ und u^ 
ergeben sich noch zwei ganz konforme Gleichungen. Die erste 
gibt integriert {c — 3Ui) = K-e-^''\ und wenn man die Integra- 
tionskonstante K durch den Anfangswert C/i von a^ bestimmt, und 
beiderseits durch 3 dividiert: {cß — Ui) = {cjS — Üi) • e-^^\ Jede 
der Temperaturen «1,^2) ^3 strebt also dem Mittel ^/3 zu, welches 
sie nach unendlich langer Zeit erreicht. Bezeichnen wir die 
variable Abweichung vom Mittel für den ersten Körper mit Vi, 
den Anfangs wert derselben mit V^, so schreibt sich die Gleichung, 
der sich zwei konforme anschließen: v^ = V^e-^^^ ... 1). 
Zieht man aus dieser ersten Gleichung e-^^\ und setzt 
es in die beiden anderen konformen ein, so nehmen diese die 
Gestalt an: 
Beide lassen sich in die dreigliederige Gleichung zusammen- 
fassen: vJV, = vJV, = vJV, 2). 
3. Betrachten wir zuerst die Gleichung 1), so sehen wir, daß 
nach dem üblichen Zeitmaß, wonach / dem Drehungswinkel der 
Erde gegen den Fixsternhimmel proportional ist, die Abweichung 
vom Temperaturmittel nach dem Gesetz einer geometrischen 
Progression mit / abnimmt. Drücken wir umgekehrt / durch V^ 
und Vi aus, so ergibt sich /= (1/3A') •log(Vi/Vi). Da es nun 
gänzlich Sache einer zweckmäßigen Übereinkunft ist, welchen 
Prozeß wir als Vergleichsprozeß der Zeitmessung oder Zeit- 
zählung zu Grunde legen, so könnten wir auch log(Vi/Vi) oder 
geradezu Vj/Vi anstatt / als Zeitmaß wählen. Wir würden nur 
im ersten Fall eine andere Zeiteinheit, im zweiten Fall eine andere 
(übrigens ebenfalls unendliche) Zeitskale und auch einen andern 
Anfangspunkt der Zählung erhalten. 
4. Folgen wir dem letzteren Gedanken und messen wir die 
Temperaturänderungen aneinander, so sehen wir an dem in 
Gleichung 2) dargestellten Fall schon das Typische der zeitlichen 
Abhängigkeit. Die Differenzen können sich nur verkleinern und 
nicht vergrößern; der zeitliche Ablauf ist einsinnig. Die Ab- 
weichungen vom Temperaturmittel erfahren simultane, vonein- 
ander abhängige, und zwar bei unmittelbarer Wechselbeziehung 
der Körper einander proportionale Änderungen. Diese Charakter- 
28* 
436 2^if w*^ Raum physikalisch betrachtet. 
Züge der zeitlichen Abhängigkeit sind ganz wohl verständlich. 
Jeden Vorgang, soll die Forschung demselben überhaupt bei- 
kommen können, müssen wir uns doch durch irgend welche 
Unterschiede bestimmt denken. Wo uns keine Unterschiede zu- 
gänglich sind, wissen wir auch keine Bestimmung zu finden. 
Denken wir uns aber für einen Augenblick, die Unterschiede 
würden sich vergrößern, so erkennen wir die Unvereinbarkeit 
dieser Vorstellung mit den gewöhnlichsten Zügen unseres Welt- 
bildes, das nirgends Veränderungen ins Ziellose zeigt, sondern 
überall ein Streben nach einem bestimmten Zustand verrät. Zwar 
kommt es vor, daß gewisse Differenzen sich vergrößern, wenn 
dafür gewisse andere gewichtigere sich verkleinern, allein eine 
unkompensierte spontane Vergrößerung einer Differenz kommt 
nicht vor. Es gibt auch Vorgänge, bei welchen eine Differenz 
sich ebensowohl vergrößern als verkleinern kann, welche scheinbar 
in entgegengesetztem Sinne ablaufen können, und zuweilen wirk- 
lich in solcher Weise periodisch abzulaufen scheinen. Allein in 
solchen Fällen handelt es sich nie um unkompensierte Differenzen. 
Solche Vorgänge sind auch genau und nicht bloß schematisch 
betrachtet, wie alle Arten von Schwingungen, nicht rein perio- 
dische, sondern enthalten stets nicht umkehrbare Komponenten. 
Der zweite Charakterzug der zeitlichen Abhängigkeit, die Ab- 
meßbarkeit simultaner Änderungen aneinander, ist im Falle der 
unmittelbaren Beziehung der Körper zueinander leicht begreiflich. 
Die Bestimmung der Änderungen durch die Differenzen der 
Körper ist gegenseitig, da kein Körper vor dem andern einen 
Vorzug hat, da, wie in unserem Beispiel, der eine Körper empfängt, 
was der andere verliert. In Fällen vermittelter Abhängigkeit 
werden wir keine so einfache Abmeßbarkeit der simultanen 
Änderungen aneinander zu erwarten haben, wie in unserem Bei- 
spiel, doch wird auch da jede Änderung jeder andern parallel 
gehen, wenn die Natur nur homogen ist und nicht unerwartete 
Störungen in den normalen Verlauf eingreifen. Betrachten wir 
z. B. den Umlauf eines Jupitertrabanten und verwenden wir den- 
selben als Uhr. Obgleich schwerlich jemand daran denken wird, 
daß diese Bewegung auf irdische Vorgänge irgend einen merk- 
lichen Einfluß nimmt, wird sich doch ein Abkühlungsvorgang 
auf der Erde gleich gut durch die Formel K-e-^\ natürlich mit 
Zeit und Raum physikalisch betrachtet. 437 
verschiedenem Koeffizienten, darstellen lassen, ob wir das / der 
Trabantenbewegung oder der Erdbewegung entnehmen. Nur 
wenn während unserer Beobachtung der Trabant durch den Stoß 
eines Meteoriten seine Geschwindigkeit ändern würde, würde 
die Formel aufhören zu gelten, und die nicht unmittelbare Ab- 
hängigkeit des Wärmevorganges von der Trabantenbewegung 
würde offenbar.^) 
5. Nun wollen wir unser obiges Beispiel so modifizieren, daß 
der Einfluß verschiedener räumlicher Beziehung in einfachster 
Weise neben der zeitlichen Abhängigkeit zum 
Ausdruck kommt. Vier gleiche Massen, von 
denen je zwei sich unmittelbar berühren, sollen 
sich zu einem Ring schließen (Fig. 35). Hier 
gibt es nur zwei verschiedene räumliche Be- 
ziehungen: jene der sich berührenden, und 
jene der sich nicht berührenden, sich gegen- 
über liegenden Massen. Im übrigen bleiben Fig. 35. 
wir bei den Voraussetzungen des vorigen 
Falles. Wieder besteht die Gleichung Wi -j- «2 + ^s + ^4 = c. 
Für die Änderung von u^ finden wir dUiJdt == k{c — u^ — 3Wi). 
Durch zyklische Vertauschung der u folgen noch drei konforme 
Gleichungen. Die Zusammenfassung der Gleichungen für Ui und 
Ö3 glbtd{Ui -\-Uci)ldt = k[2c — 4(Wi + K3)]. Deren Integrale ist: 
2c-^{u,^u,) = [lc-^{U,-{-U,)\e-'^^,,.2i). 
Die Buchstaben sind in demselben Sinn zu verstehen, wie 
in dem vorigen Beispiel. Wir bilden nun die Gleichungen für 
d{Ui-\-U2)ldt und für d{u.2-\-u^)ldt, ziehen die erste von der 
zweiten ab und integrieren. Das Integrale ist: 
2{u,-u,) = 2{U,-U,)-e~^^' b). 
Addieren wir zu Gl. a) die mit 2 multiplizierte Gl. b), so 
ergibt sich für u^ ein Ausdruck, der sich ohne Mühe auf folgende 
Form bringen läßt: 
u,==\l^[c-{-{U,^U,-U,-U,)e-'^* + 2{U,-U,)e-''% 
») Vgl. Analpse d. Empf. 4. Aufl. S. 272. Ich kann nicht unterlassen zu 
bemerken, daß ich in diesen Gedanken durch die Einwendungen vonPetzoldt 
(Das Gesetz der eindeutigen Bestimmtheit. Vierteljahrsschr. f. wiss. Philo- 
sophie XIX, S. 146 fg,) wesentlich gefördert worden bin. 
438 2^it "^^ Raum physikalisch betrachtet. 
Für / = oo wird Ux = c/4, für / = erhält man natürlich 
Ui=l7i. Während des Temperaturausgleichs nehmen aber die 
Temperaturen der gegeneinander räumlich ungleich liegenden 
Körper auch ungleichen Einfluß auf u^. Durch zyklische Ver- 
tauschung ergeben sich auch die Ausdrücke für Hg? ^s? «4. 
6. Kehren wir nun zu unserem ersten Beispiel zurück, um an 
dasselbe noch einige Bemerkungen anzuschließen. Anstatt der 
gleichräumlichen Beziehung ^m^r Massen hätten wir noch eine 
solche von vier Massen herstellen können, wenn wir jede mit 
jeder in den 6 durch den Schwerpunkt und je eine Kante des 
Tetraeders gelegten Ebenen zur Berührung gebracht, und die 
so entstandenen Teile des Tetraeders mit diesen Massen ausge- 
füllt hätten. Eine analoge Teilung des Hexaeders wäre aber 
für unsern Zweck nicht mehr verwendbar gewesen. Jede Masse 
würde da vier andere berühren, zu einer fünften aber nur in 
mittelbarer Beziehung stehen, was schon dem Schema des zweiten 
Beispiels entsprechen würde. Die physikalische Fiktion einer 
beliebigen Zahl von in gleicher Wärmeleitungsbeziehung stehen- 
den Massen können wir übrigens immer festhalten, indem wir 
uns von jeder Masse zu jeder einen Draht von absoluter innerer 
Leitungsfähigkeit geführt, die Massen aber sonst isoliert denken. 
Die Zahl der in gleicher unmittelbarer Beziehung stehenden 
Massen ändert das Ergebnis unserer Betrachtung nicht. Ein 
Körper allein kann ja an sich keine Veränderung bestimmen. 
Zwei Körper genügen aber schon zur Bestimmung einer Ver- 
änderung aneinander. Das Bedürfnis nach eindeutiger Bestim- 
mung treibt uns, zunächst auf Erfahrungen zu achten, welche 
über den zweifachen möglichen (denkbaren) Sinn der Verände- 
rung entscheiden. Ist dies geschehen und ist für die Differenz- 
verkleinerung entschieden, so suchen wir noch den Anteil zu 
ermitteln, den jeder der Körper an dem Ausgleich nimmt. Die 
simultanen Temperaturänderungen sind z. B. verkehrt proportional 
den Wärmekapazitäten, so daß beide Körper zugleich beim zu- 
sammengesetzten Temperaturmittel anlangen. In anderen Fällen 
finden wir analoge Regeln. Wir können sagen, daß es die ein- 
fachsten unmittelbaren physikalischen Beziehungen sind, die 
sich in der zeitlichen Abhängigkeit aussprechen. 
Zeit und Raum physikalisch betrachtet. 439 
7. Betrachten wir jetzt näher den Einfluß der räumlichen An- 
ordnung in unserem zweiten Beispiel. Die regelmäßige Anord- 
nung der vier Massen in einem Ring entspricht einem einfachsten 
endlichen unbegrenzten linearen Riemann sehen Raum aus vier 
diskreten Elementen. Die Ringform hat uns den Vorteil geboten, 
größere Übersichtlichkeit durch Anwendung der zyklischen Ver- 
tauschung zu erreichen. Wir hätten statt vier Massen, ohne 
wesentliche Änderung des Ergebnisses, deren hundert oder gar, 
wie Fourier, einen homogenen Ring mit kontinuierlicher anfäng- 
licher Verteilung der Temperatur betrachten können. Einen zwei- 
dimensionalen Riemann sehen Raum erhalten wir durch Aus- 
füllung einer dünnen Kugelschale mit den in dieser angeordneten 
Massen von beliebiger Zahl. Durch die Fiktion passender leiten- 
der Verbindungen könnten wir noch andere räumliche Anord- 
nungen in Bezug auf ihre physikalischen Folgen nachahmen. 
Das Ergebnis unserer Betrachtung bleibt immer dasselbe. Der 
Einfluß der vermittelten physikalischen Beziehungen äußert sich 
später, und wird durch die unmittelbaren oder durch eine geringere 
Zahl von Zwischengliedern vermittelten Beziehungen verdeckt, 
verwischt. In den räumlichen Verhältnissen äußert sich die 
vermittelte physikalische Abhängigkeit. 
8. Wie stimmt nun dieses Ergebnis, welches die Raumfrage 
nicht löst, aber vielleicht doch einen kleinen Schritt zur Auf- 
klärung derselben bedeutet, zu den gangbaren Ansichten vom 
Räume? Wenn man eine Vorstellung davon gewinnen will, 
unter welchen Schwierigkeiten die Abstraktion „Raum" sich 
gebildet hat, so geschieht dies wohl am besten durch das Studium 
des vierten Buches der Physik des Aristoteles.^) Die Fragen, 
ob der Raum (Ort) ist oder nicht, wie er ist, und was er ist, 
machen ihm viel zu schaffen. Er kann den Raum nicht als einen 
Körper ansehen, denn dann wäre ein Körper im andern. Er 
vermag aber den Raum auch nicht von der Körperlichkeit zu 
trennen, denn der Ort eines Körpers ist ihm das, was letzteren 
umgibt, einschließt. Daß wir nach dem Räume nicht fragen 
würden, wenn keine Bewegung wäre, hebt Aristoteles hervor. 
Alle Schwierigkeiten der Raumauffassung finden sich natürlich 
') Insbesondere Kap. 1—9. 
440 Zeit und Raum phvsikalisch betrachtet. 
in seinen Erklärungen der Bewegung wieder.^) Die Verquickung 
der Raumvorstellung mit der Körpervorstellung legt natürlich 
die Undenkbarkeit des Vakuums nahe, die von Aristoteles und 
vielen andern antiken Denkern vertreten wird. 2) Die ein Vakuum 
annahmen, wie Leukipp, Demokrit, Epikur u. a., hatten also 
eine der unsrigen näher liegende Raumvorstellung. Der Raum 
war ihnen eine Art Gefäß, welches erfüllt sein kann, und auch 
nicht. In der Tat muß die Geometrie, welche von allen körper- 
lichen Eigenschaften außer der starren Begrenzung absieht, dahin 
leiten. Unterstützt wird diese Entwicklung durch die naive sinn- 
liche Beobachtung der Bewegung der Körper in einem durch- 
sichtigen dünnen Medium, wie die Luft, das wohl gelegentlich 
auch als nichts, als eine Leere aufgefaßt wird. Eine Stelle bei 
Guericke legt dies noch nahe.^) 
9. Die Unvorstellbarkeit des Vakuums pflanzt sich bis in die 
moderne Zeit fort. Descartes*) ist noch so von derselben durch- 
drungen, daß er annimmt, die Wände eines Gefäßes, welches 
man vollständig entleeren könnte, müßten sich sofort berühren. 
Wir wissen, welche Arbeit Guericke,^) Boyle'^) und PascaT) 
hatten, den Zeitgenossen die Existenz des verpönten Vakuums 
in überzeugender Art nachzuweisen. Allerdings war dies kein 
Vakuum im Sinne der heutigen Physik. Nachdem Guericke (L. II 
C. 2 und 3) die antiken und modernen Ansichten über Ort, Zeit, 
') Vgl. Lange, Die geschichtliche Entwicklung des Bewegungsbegriffes. 
Leipzig 1886. 
2) Physik. IV, Kap. 6—9. 
•) Guericke, Experimenta Magdeburgica. 1672. III, C. 4, p. 59. Dum 
distantiam seu intercapedinem duarum turrium seu montium aspicimus, facile 
cogitandum, illam, corpus illud aereum interpositum, non facere, sed per se 
esse; ita ut sublato etiam omni aere, montes vel turres hae sibi invicem non 
fierent contiguae. 
*) Descartes, Principia II, 18. Si quaeratur, quid fiet, si Deus auferat 
omne corpus quod in aliquo vase continetur, et nullum aliud in ablati locum 
venire permittat? Respondendum est: Vasis latera sibi invicem hoc ipso 
fore contigua. — Wie mußte die gelehrte Welt staunen, als das kaum einem 
Gott zugetraute Experiment von einem einfachen geschickten Bürgermeister 
mit ganz entgegengesetztem Erfolg ausgeführt wurde. 
*) Guericke 1. c. 
*) Boyle, New experiments, phvsico-mechanical. Oxford 1660. 
') Pascal, Nouv. experiences touchant le vuide. Paris 1647. 
Zeit und Raum physikalisch betrachtet. 44 1 
Vakuum besprochen hat, sagt er: „Verum enim vero vacuum in 
natura dari, lib. seq. pluribus demonstrabimus experimentis." 
In L. III C. 35 und 36 widerlegt Guericke ausführlich die Ein- 
wendungen gegen die Existenz des Vakuums und die Bedenken 
gegen seine Experimente. Er war durch philosophische Studien 
auf diese Versuche verfallen. Oft hatte sich ihm bei Betrach- 
tung der gewaltigen Himmelsräume die Frage aufgedrängt, ob 
diese nicht etwa das stets geleugnete Vakuum seien? ^) 
10. Der Nachweis des Vakuums hat, wie kaum bezweifelt 
werden kann, sehr viel zur Verselbständigung der Raumvor- 
stellung beigetragen. Hierzu kamen aber noch andere wichtige 
Umstände. Galilei hatte durch Beobachtung irdischer Be- 
wegungen seine dynamischen Gesetze gefunden. Als Haupt- 
vertreter des Kopernikanischen Systems hatte er vielfach Ge- 
legenheit, die gegen dieses System vorgebrachten Einwendungen 
unter den Gesichtspunkten seiner Dynamik zu erörtern. Hierbei 
ergab sich nun, wie von selbst und unvermerkt, der Versuch, 
diese Dynamik, anstatt auf die Erde, auf den als festliegend ge- 
dachten Fixsternhimmel zu beziehen. So fand er z. B. seine 
Theorie der Gezeiten^) als vermeintliche Stütze des Koperni- 
kanischen Systems, die er nur für richtig hielt, weil ihm noch 
die Möglichkeit fehlte, deren Mängel zu erkennen. Newtons Aus- 
bau der Mechanik des Himmels auf Galileischen undHuygens- 
schen Grundlagen machten das neue Bezug%y%X^m^ welches sich 
auch bewährte, geradezu unentbehrlich. Als fruchtbare Grund- 
lage der Himmelsmechanik erschaute Newton die Annahme der 
von der Entfernung abhängigen Gravitationskräfte. Wenn nun 
auch Newton sich diesen Raum lieber erfüllt gedacht und die 
Kräfte durch Vermittelung begriffen hätte, so mußte er doch 
schließlich vorläufig bei einer Ansicht stehen bleiben, welche den 
Raum als solchen zur Geltung brachte und die bis über die Mitte 
des 19. Jahrhunderts in der Physik die fast allein herrschende 
») L. c. L. I, Cap. I, p. 55. Unter den verschiedenen Vermutungen über 
die Erfüllung des Weltraums kommt Guericke zu der Frage: Vel spatium 
ab omni materia, vacuum scilicet illud semper negatum? 
*) Auch auf diese Theorie kommt Galilei in dem Dialog über die 
beiden Weltsysteme. Ein kurzes Referat hierüber in meiner Mechanik. 5. Aufl. 
S. 227—229. 
442 ^^it ""(^ Raum physikalisch betrachtet. 
blieb. Wenn man nun bedenkt, daß für die Gravitationsmechanik 
Newtons auch der Fixsternhimmel nicht mehr als absolut un- 
veränderliches, unbewegliches, starres System gelten konnte, so 
erscheint sein gewagter Versuch einigermaßen begreiflich, die 
ganze Dynamik auf einen absoluten Raum und entsprechend 
auch auf eine absolute Zelt zu beziehen.^) In der Praxis änderte 
ja diese uns sinnlos erscheinende Annahme nicht die Bezug- 
nahme auf den Fixsternhimmel als Raum- und Zeitkoordinaten; 
sie blieb deshalb unschädlich und entging lange einer ernsten 
Kritik. Man kann wohl sagen, daß hauptsächlich seit den New- 
tonschen Aufstellungen Zeit und Raum jene selbständigen und 
doch körperlosen Wesen sind, für die sie heute gelten. 
11. Newtons Gedanke der Fernkräfte war eine große intellek- 
tuelle Tat, welche den Ausbau einer homogenen mathematischen 
Physik in der Zeit eines Jahrhunderts ermöglichte.^) Diese Tat 
beruht auf geistiger Weitsichtigkeit. Er sah die tatsächlichen 
Fernbeschleunigungen, erkannte sie als wichtig; die Vermittelungen 
zeigten sich ihm verschwommen und er beachtete sie vorläufig 
nicht. Allein auch die kleinsten Einzelheiten wollen erforscht 
sein, und hierzu ist schar/sichtige Kurzsichtigkeif förderlicher. 
Der Blick ins Große und Weite muß mit jenem aufs Nahe, Kleine 
und Einzelne wechseln, soll unausgesetzter Fortschritt zu stände 
kommen. Die größten Forscher, unter ihnen vor allem Newton, 
hatten beide Betrachtungsweisen in ihrer Gewalt. Den von 
Newton zurückgelassenen Fragen der Nahewirkung, der ver- 
mittelten Fernwirkung, hat nun im abgelaufenen Jahrhundert 
Faraday mit größtem Erfolge sich zugewandt. Seine Gedanken 
wurden aber den in der Fernwirkungsphysik befangenen Forschern 
erst verständlich, als Maxwell dieselben in die ihnen geläufige 
Sprache übersetzte. 
12. Der naiven Beobachtung fällt zunächst der enge und 
starke Zusammenhang der sinnlichen Elemente einer Zeit- und 
*) Vgl. die ausführliche Darlegung der Stellung der Zeitgenossen zu 
Newtons Auffassung bei Lange (Die geschichtliche Entwicklung des Be- 
wegungsbegriffes. 1886). 
2) Im Kapitel über die Hypothese ist auf den großen Nachteil hinge- 
wiesen, der sich ergeben hätte, wenn Newton die Fernwirkung fallen ge- 
lassen hätte, weil er sie nicht zu „erklären" vermochte. (S. 248, 249.) 
Zeit und Raum physikalisch betrachtet. 443 
Raumstelle auf, mag man nun Zeit und Raum im physiologischen 
oder physikalischen Sinne verstehen. Wir nennen diesen Zu- 
sammenhang Körper. Soweit wir in der Beobachtung eine Zeit- 
und Raumstelle in kleinere Teile teilen können, finden wir in 
diesen kleineren Zeit- und Raumteilen den Zusammenhang der 
sinnlichen Elemente noch inniger. Die Teile des Körpers sind 
wieder Körper. Veränderungen treten in der Regel nicht am 
ganzen Körper zugleich auf, sondern ein Teil nach dem andern 
wird von denselben ergriffen, z. B. ein Teil nach dem andern 
wird gelöst, erwärmt u. s. w. Die Veränderung überträgt sich 
von einem Teil auf den nächstliegenden. Was ist natürlicher, 
als daß wir auch in Fällen der Ausnahme diese nur für scheinbar 
halten, daß wir plötzliche Veränderungen eines ganzen Körpers 
(z. B. die Elektrisierung), Einflüsse in die Ferne (Beleuchtung, 
Gravitationsbeschleunigung) auf eine allmähliche Änderung, Über- 
tragung der Änderung von Teil zu Teil zurückzuführen hoffen. 
Dieser naiven Auffassung, welche auch der antiken Zeit nahe 
liegt, hat nun Faraday durch seine großen Erfolge wieder Gel- 
tung verschafft. Auf dem Farad ansehen Standpunkt wird uns 
der Satz leicht verständlich: Zeitliche Abhängigkeit ist unmittel- 
bare, räumliche Abhängigkeit ist vermittelte Abhängigkeit. 
13. Auf diesem Standpunkt eröffnet sich nun die Aussicht, zu 
einem physikalischen Verständnis von Zeit und Raum zu ge- 
langen, dieselben aus den elementarsten physikalischen Tatsachen 
zu begreifen. Für Newton sind Zeit und Raum etwas Hyper- 
physikalisches; sie sind nicht unmittelbar zugängliche, wenigstens 
nicht genau bestimmbare, unabhängige Urvariable, nach welchen 
sich die ganze Welt richtet, welche durch dieselben regiert wird. 
So wie der Raum die Bewegung der fernsten Planeten um die 
Sonne regelt, so hält auch die Zeit die fernsten himmlischen Be- 
wegungen und die unbedeutendsten irdischen Vorgänge in Über- 
einstimmung. Durch diese Auffassung wird die Welt zu einem 
Organismus oder, wenn man diesen Ausdruck vorzieht, zu einer 
Maschine, von der alle Teile in voller Übereinstimmung nach 
der Bewegung eines Teiles sich richten, gewissermaßen durch 
einen einheitlichen Willen geleitet werden, nur daß uns das Ziel 
dieser Bewegung unbekannt bleibt.^) Diese Ansicht liegt auch 
1) Vgl. Erhaltung der Arbeit. Prag 1872. S. 35—37. 
444 2^it und Raum physikalisch betrachtet. 
als Nachwirkung Newtons der heutigen Physik zu Grunde, 
wenn vielleicht auch eine Abneigung besteht, dieselbe offen ein- 
zugestehen. Dem Faraday sehen Standpunkte entsprechend wird 
sich dieselbe aber modifizieren müssen. Die Welt bleibt auch 
ein Ganzes, wenn nur kein Element isoliert ist, wenn alle Teile 
auch nicht unmittelbar, so doch durch Vermittelung anderer zu- 
sammenhängen. Das übereinstimmende Verhalten nicht unmittel- 
bar zusammenhängender Glieder (die Einheit von Zeit und Raum) 
ergibt sich dann nur scheinbar durch Nichtbeachtung der ver- 
mittelnden Glieder. Das Ziel der Weltbewegung bleibt uns nur 
darum unbekannt, weil der Ausschnitt, den wir betrachten können, 
seine engen Grenzen hat, über die hinaus unsere Forschung 
nicht reicht. Diese Ansicht ist weniger poetisch, weniger groß- 
artig, dafür aber naiver und nüchterner. 
14. Die physikalische Auffassung des Raumes wird begünstigt 
durch die Fortschritte in der Erkenntnis des „Vakuums". Für 
Guericke hatte das Vakuum eigentlich nur negative Eigen- 
schaften. Schon die Luft weist dem naiven Beobachter zunächst 
nur negative Eigenschaften auf. Dieselbe ist nicht sichtbar. Sie 
wird erst tastbar durch ausgiebige Bewegung, verrät dann auch 
ihren Wärmegrad. Durch Einschließen in einen Schlauch oder in 
ein Gefäß erfahren wir deren Undurchdringlichkeit und Gewicht. 
Später kommt noch die Sichtbarkeit hinzu, bis endlich alle 
Charaktere eines Körpers nachgewiesen sind. Ähnlich geht es 
mit dem Vakuum. Es hat erst keine physikalischen Eigenschaften. 
Boyle zeigt, daß ein Brennglas und der Magnet hindurch- 
wirkt. Nach Young und Fresnel muß man sich im vom Licht 
durchsetzten Vakuum in sehr kleinen Abständen gleichzeitig 
dieselben physikalischen Zustände denken, und sich vorstellen, 
daß diese Zustände mit sehr großer Geschwindigkeit in der 
Lichtrichtung sich verschieben. Durch die Arbeiten von Faraday, 
Maxwell, Hertz u. a. hat sich die Existenz elektrischer und 
magnetischer Kräfte im Vakuum ergeben, welche derart zu- 
sammenhängen, daß jede Änderung der einen das Auftreten 
der anderen an derselben Stelle bedingt. Man kann von diesen 
Kräften im allgemeinen unmittelbar nichts wahrnehmen, aus- 
genommen im Falle einer sehr raschen periodischen Veränderung, 
in welchem sie sich als Licht äußern. Auf einem physikalischen 
Zeit und Raum physikalisch betrachtet. 445 
Umweg sind diese Kräfte aber leicht nachweisbar und deren 
gänzliches Fehlen bildet einen sehr seltenen Ausnahmefall. Das 
Vakuum ist also keineswegs Nichts, sondern hat sehr wichtige 
physikalische Eigenschaften. Ob man das Vakuum als Körper 
(Äther) bezeichnen will, ist ohne Belang, daß aber wechselnde, 
voneinander abhängige Eigenschaften demselben anhaften, wie 
den Körpern, kann man nicht in Abrede stellen.^) 
15. Lobatschefskij^) bemerkt als Naturforscher der Geo- 
metrie, daß man bei jeder Messung Körper anwendet, demnach 
bei Aufstellung der geometrischen Begriffe auch vom Körper 
ausgehen müsse. „Die Berührung bildet das unterscheidende 
Merkmal der Körper, und ihr verdanken sie den Namen: geo- 
metrische Körper, sobald wir an ihnen diese Eigenschaft fest- 
halten, während wir alle anderen, mögen sie nun wesentlich sein 
oder zufällig, nicht in Betracht ziehen."^) Obwohl diese Stelle 
an Präzision des Ausdrucks zu wünschen übrig läßt, kann man 
doch annehmen, daß hier auf die Undurchdringlichkeit und Starr- 
heit der Körper hingewiesen wird, die sich bei Berührung der- 
selben äußert und auf der alle Messung beruht. Nun stehen 
aber die Dinge nicht mehr ganz so wie zu Beginn des 19. Jahr- 
hunderts. Wir brauchen zwar noch immer starre Körper zur 
Konstruktion unserer Apparate, sind aber im stände, mit Hilfe der 
Lichtinterferenz im scheinbar unterschiedslosen Vakuum Punkte 
und Strecken viel genauer zu markieren und in Lichtwellenlängen 
auszumessen, als dies durch aneinanderstoßende, sich berührende, 
starre Körper möglich wäre. Es ist sogar wahrscheinlich, daß 
die Lichtwelle im Vakuum der künftigen Physik durch die Länge 
das Raummaß, durch die Schwingungsdauer das Zeitmaß liefern 
wird und daß diese beiden Grundmaße an Zweckmäßigkeit und 
allgemeiner Vergleichbarkeit alle anderen übertreffen werden. 
^) Spontan treten die erwähnten Kräfte im unterschiedlosen Vakuum 
ebensowenig auf wie an einem anderen Körper, an welchem letzteren sie 
eben durch einen zweiten Körper oder durch Differenzen der Teile des Kör- 
pers gegeneinander bedingt sein müssen. 
^) F. Engel, N. I. Lobatschefskij. Zwei geometrische Abhandlungen. 
Leipzig, Teubner, 1899. S. 80, 81. — Lobatschefskij denkt hier wie 
Leibniz. 
») A. a. O. S. 83. 
446 ■^ß^' und Raum physikalisch betrachtet. 
Durch die bezeichneten Wandlungen verlieren aber Zeit und 
Raum immer mehr ihren hyperphysikalischen Charakter.^) 
16. Wir schreiben dem Raum drei Dimensionen zu, und unsere 
Geometrie betrachtet diese Dimensionen als indifferent gleich- 
wertig, den Raum in Bezug auf dieselben als isotrop. In der 
Tat, wenn man nur auf die Undurchdringlichkeit der Körper 
achtet, ergibt sich keine Differenz. Faßt man aber die Geo- 
metrie als eine physikalische Wissenschaft auf, so ist es fraglich, 
ob es immer zweckmäßig sein wird, diese Auffassung aufrecht 
zu erhalten, wie denn die Vektorenrechnung schon auf die Un- 
gleichwertigkeit der Richtungen Rücksicht nehmen muß. Ein 
amorpher oder tesseraler Körper, eine verdünnte Lösung von 
Schwefelsäure, in welcher sich Zinkpulver löst, u. s. w. zeigen 
keinen Unterschied nach verschiedenen Richtungen. Für einen 
triklinen Körper, oder für ein Körperelement, in dem eben ein 
elektrischer Strom induziert wird, der also auch von magne- 
tischen Kraftlinien in bestimmtem Sinne umkreist wird, sind die 
drei Dimensionen ungleichwertig. Könnten wir nur die un- 
geordneten Ströme, welche das sich lösende Zinkpulver erzeugt, 
ordnen und passend orientieren, so wären die Dimensionen nicht 
mehr gleichwertig. So scheint also die Gleichwertigkeit der 
Dimensionen auf einer Verwischung der Ungleichwertigkeit in 
besonderen oft vorkommenden einfacheren Fällen zu beruhen. 
Auch physiologisch sind die Dimensionen nicht gleichwertig, da 
wir sie ja sonst gar nicht unterscheiden könnten. Möglicher- 
weise liegt diese Anisotropie schon in den Elementarorganen, 
aus welchen sich unser Leib zusammensetzt.^) Wenn wir unsern 
^) Durch die Betrachtungen dieses Kapitels wird es klar, daß Raum und 
Zeit in der Untersuchung nicht gut getrennt werden können. Vgl. den geist- 
vollen philosophischen Scherz Fechners in „Vier Paradoxen" und zwar: 
Der Raum hat vier Dimensionen. — Eine ernst gemeinte Ausführung dieser 
Art gibt M. Palägpi, Neue Theorie des Raumes und der Zeit. Leipzig 
1901. — Eine der Fechnerschen verwandte Auffassung s. „Analpse". 1886. 
S. 156. — Die Untrennbarkeit von Raum und Zeit betonte ich in einer kleinen 
Notiz in Fichtes Zeitschr. f. Philosophie. 1866. — Während des Druckes 
erhielt ich noch: K. C. Schneider, Das Wesen der Zeit. (Wiener klinische 
Rundschau, 1905, Nr. II, 12.) Die Schrift enthält Anklänge an Gedanken 
Fechners und Palägpis, was ich hier eben nur erwähnen kann. 
*) Über Anisotropie der Pflanzenorgane vgl. Sachs, Vorlesungen über 
Pflanzen -Physiologie. Leipzig 1887. S. 742—762. — Analoge Fragen über 
Zeit und Raum physikalisch betrachtet. 447 
Leib zur Orientierung in physikalischen Vorgängen verwenden 
können, wie dies durch Anwendung der Amp ereschen Schwimmer- 
regel und anderer analoger Regeln für elektrodynamische Fälle 
mit sicherem Erfolg geschieht, so deutet dies auf einen tief 
liegenden Zusammenhang der physikalischen Umgebung mit 
unserer physiologischen Konstitution, auf eine gemeinsame Aniso- 
tropie beider.^) 
17. Die Zeit- und die Raumanschauung bilden die wichtigsten 
Grundlagen unserer sinnlichen Weltauffassung und sind als solche 
nicht zu eliminieren. Dies schließt aber nicht aus, daß wir ver- 
suchen, die Mannigfaltigkeit der Ortsempfindungsqualitäten auf 
eine physiologisch-chemische Mannigfaltigkeit zurückzuführen. 
Der Betrachtung S. 396 entsprechend würden wir an ein System 
von Mischungen in allen Verhältnissen von vier chemischen Quali- 
täten (Prozessen) zu denken haben. ^) Sollte ein solcher Versuch 
einmal Erfolg haben, so würde dies auch zu der Frage führen, 
ob sich nicht den Herbartschen an Leibniz anknüpfenden 
Spekulationen, seiner Konstruktion des intelligiblen Raumes, ein 
physikalischer Sinn abgewinnen läßt, ob der physikalische Raum 
nicht auf Qualitäts- und Größenbegriffe zurückführbar ist? Gewiß 
kann man gegen die Herbartsche Metaphysik viel einwenden. 
Seine Jagd auf zum Teil künstlich geschmiedete Widersprüche, 
seine eleatischen Neigungen sind nicht gerade anmutend, doch 
wird dieser bedeutende Denker nicht bloß Irrtümer zu Tage 
gefördert haben. Sein Abbrechen der Raumkonstruktion bei der 
dritten Dimension ist gänzlich unbegründet, und auf diesen Punkt 
wäre gerade das Hauptgewicht zu legen. ^) Nach einem Jahr- 
hundert können eben solche Fragen eine ganz neue Physiognomie 
darbieten. 
18. Daß Zeit und Raum physiologisch nur ein scheinbares 
Kontinuum darstellen und höchstwahrscheinlich aus diskontinuier- 
Anisotropie der tierischen Elementarorgane behandelt O. zur Straßen, Über 
die Mechanik der Epithelbildung. Verh. d. D. Zoolog. Gesellsch. 1903. 
») Vgl. Analpse, S. 264, 265. 
2) Vgl. auch Prinzipien der Wärmelehre. 1896. S. 360—361. 
3) Leibniz meinte ja auch die Unmöglichkeit eines werdimensionalen 
Raumes daraus nachweisen zu können, daß es im (dreidimensionalen!) Räume 
nur drei aufeinander Senkrechte gibt! 
448 Zeit und Raum physikalisch betrachtet. 
liehen, aber nicht scharf unterscheidbaren Elementen sich zu- 
sammensetzen, soll hier noch hervorgehoben werden. Wie weit 
in Bezug auf Zeit und Raum in der Physik die Annahme der 
Kontinuität aufrecht erhalten werden kann, ist nur eine Frage 
der Zweckmäßigkeit und der Übereinstimmung mit der Erfahrung. 
Es sind bloße Ansätze zu Gedanken, Gedankenkeime, mit welchen 
ich hier schließen muß. Ob dieselben entwicklungsfähig sind, 
vermag ich nicht zu entscheiden. 
Sinn und Wert der Naturgesetze. 
1. Man spricht oft von Naturgesetzen. Was bedeutet dieser 
Ausdruck? Gewöhnlich wird man der Meinung begegnen, die 
Naturgesetze seien Regeln, nach welchen die Vorgänge in der 
Natur sich richten müssen, ähnlich den bürgerlichen Gesetzen, 
nach welchen die Handlungen der Bürger sich richten sollen. 
Einen Unterschied pflegt man darin zu sehen, daß die letzteren 
Gesetze auch übertreten werden können, während man Ab- 
weichungen der Naturvorgänge von ersteren für unmöglich hält. 
Diese Auffassung der Naturgesetze wird aber erschüttert durch 
die Überlegung, daß wir ja nur aus den Naturvorgängen selbst 
die Naturgesetze ablesen, abstrahieren, und daß wir hierbei vor 
Irrtümern durchaus nicht gesichert sind. Selbstverständlich läßt 
sich dann jede Durchbrechung der Naturgesetze durch unsere 
irrtümliche Auffassung erklären, und die Vorstellung von der 
Unverbrüchlichkeit dieser Gesetze verliert jeden Sinn und Wert. 
Wird einmal die subjektive Seite unserer Naturauffassung hervor- 
gekehrt, so gelangt man leicht zu der extremen Ansicht, nach 
welcher unsere Anschauung und unsere Begriffe allein der 
Natur Gesetze vorschreiben. Betrachten wir aber unbefangen 
das Werden der Naturwissenschaft, so sehen wir deren Ursprung 
darin, daß wir an den Vorgängen zunächst die Seiten beachten, 
welche für uns unmittelbar biologisch wichtig sind, und daß 
später erst unser Interesse auf die mittelbar biologisch wichtigen 
Seiten der Vorgänge fortschreitend sich weiter ausdehnt. An- 
gesichts dieser Überlegung wird vielleicht folgende naheliegende 
Fassung Zustimmung finden: Ihrem Ursprünge nach sind die 
„Naturgesetze" Einschränkungen, die wir unter Leitung der 
Erfahrung unserer Erwartung vorschreiben. 
Mach, Erkenntnis und Irrtum. 29 
450 ^ff^^ ^f^d Wert der Naturgesetze. 
2. K, Pearson^), dessen Ansichten die meinigen recht nahe 
stehen, äußert sich über diese Fragen in folgender Weise: „The 
civil law involves a command and a duty; the scientific law is 
a description, not a prescription. The civil law is valid onlj> 
for a special communitp at a special time; the scientific law is 
valid for all normal human beings, and is unchangeable so long 
as their perceptive faculties remain at the same stage of de- 
velopment. For Austin 2), however, and for many other philo- 
sophers too, the law of nature was not the mental formula, but 
the repeated sequence of perceptions. This repeated sequence 
of perceptions they projected out of themselves, and considered 
as a part of an external world unconditioned by and independent 
of man. In this sense of the word, a sense unfortunately far too 
common to-day, natural law could exist before it was recognised 
by man." Statt des schon in der Diskussion zwischen Mi 11 und 
Whewell auftretenden und seit Kirchhof f eingebürgerten Wortes 
„Beschreibung" möchte ich hier durch den Ausdruck „Ein- 
schränkung der Erwartung" auf die biologische Bedeutung der 
Naturgesetze hinweisen. 
3. Ein Gesetz besteht immer in einer Einschränkung der 
Möglichkeiten, ob dasselbe als Beschränkung des Handelns, als 
unabänderliche Leitbahn des Naturgeschehens oder als Weg- 
weiser für unser dem Geschehen ergänzend vorauseilendes Vor- 
stellen und Denken in Betracht kommt. Galilei und Kepler 
stellen sich die verschiedenen Möglichkeiten der Fall- und der 
Planetenbewegung vor; sie suchen diejenigen zu erraten, welche 
den Beobachtungen entsprechen, sie schränken ihre Vorstellungen 
im Anschluß an die Beobachtung ein, gestalten dieselbe be- 
stimmter. Der Trägheitssatz, welcher nach dem Erlöschen der 
Kräfte dem Körper eine gleichförmige geradlinige Bewegung 
zuschreibt, hebt aus unendlich vielen Denkmöglichkeiten eine als 
maßgebend für die Vorstellung hervor. Auch die Lange sehe') 
Auffassung der Trägheitsbewegung eines Systems freier Massen 
stellt diese als eine Auswahl einer Bewegungsweise aus un- 
zähligen kinematischen Möglichkeiten dar. Schon darin, daß 
') K. Pearson, The grammar of science. 2 ed. London 1900, p. 87. 
^) Der englische Rechtslehrer. 
«) Mechanik. 5. Aufl. S. 259. 
Sinn und Wert der Naturgesetze. 451 
sich ein Tatsachengebiet klassifizieren läßt, daß man den Klassen 
entsprechende Begriffe aufstellen kann, liegt eine Beschränkung 
der Möglichkeiten. Ein Gesetz muß sich nicht notwendig in 
Form eines Lehrsatzes aussprechen. Die Anwendbarkeit des 
Massenbegriffes schließt folgende Beschränkungen ein. Die 
Massensumme eines abgeschlossenen Systems, nach irgend einem 
Körper des Sj^stems als Einheit gemessen, ist unveränderlich. 
Zwei Körper, die sich zu einem dritten als gleiche Massen ver- 
halten, verhalten sich auch untereinander ebenso.^) 
4. Es ist ein Bedürfnis aller mit Gedächtnis ausgestatteten 
Lebewesen, daß deren Erwartung unter gegebenen Umständen 
erhaltangsgemäß geregelt sei. Den unmittelbaren und einfach- 
sten biologischen Bedürfnissen entspricht die psychische Organi- 
sation schon instinktiv, indem sie durch den Mechanismus der 
Association in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle die zweck- 
mäßige Funktionsbereitschaft herstellt. Wenn verwickelte Daseins- 
bedingungen eintreten, welche die Bedürfnisbefriedigung oft nur 
auf langen Umwegen gestatten, so kann nur ein reicher aus- 
gestattetes psychisches Leben diesen Bedürfnissen genügen. Die 
einzelnen Schritte des Umweges, mit den dieselben begleitenden 
Umständen als solchen, gewinnen dann ein mittelbares Interesse. 
Wir können jedes wissenschaftliche Interesse als ein mittelbares 
biologisches Interesse an einem Schritt des bezeichneten Um- 
weges auffassen. Mag nun ein Fall dem unmittelbaren bio- 
logischen Interesse beliebig nahe oder fern liegen, immer ent- 
spricht unserm Bedürfnis nur die den Umständen angemessene, 
richtige Erwartung. In Bezug auf die Richtigkeit der Erwartung 
machen wir in verschiedenen Fällen allerdings sehr ungleiche 
Ansprüche. Sind wir hungrig und finden wir überhaupt dort 
Nahrung, wo wir nach den Umständen dieselbe vermuteten, so 
sind wir von der Richtigkeit unserer Erwartung schon befriedigt. 
Erwarten wir aber nach der Elevation des Geschützrohres, nach 
Projektilgewicht und Pulverladung eine gewisse Wurfweite und 
weicht die wirkliche von der erwarteten nur unbeträchtlich ab, 
so kann hierin schon eine empfindliche Täuschung liegen. Wenn 
auf längerem Wege, durch mehrere oder viele Schritte ein Ziel zu 
•) Ebendaselbst S. 233 u. f. ; 
29* 
452 Si^n ^nd Wert der Naturgesetze. 
erreichen ist, so wird ein geringer Irrtum in der Bemessung der 
Größe und Richtung der einzelnen Schritte schon genügen, um 
das Ziel zu verfehlen. So können schon kleine Fehler mehrerer 
in eine Rechnung eingehender Zahlen das Endergebnis beträcht- 
lich fälschen.^) Da es sich nun in der Wissenschaft eben um 
solche Zwischenschritte handelt, welche in der Theorie oder 
Praxis (Technik) Verwendung finden, so wird es hier auf eine 
besonders genaue Bestimmung der Erwartung durch die ge- 
gebenen Umstände ankommen. 
5. Mit dem Fortschritt der Naturwissenschaft ergibt sich in 
der Tat eine zunehmende Einschränkung der Erwartung, eine 
zusehends bestimmtere Gestaltung derselben. Die ersten Ein- 
schränkungen sind qualitativer Art. Ob die Momente A,B,Cy...y 
welche eine Erwartung M bestimmen, von der Wissenschaft etwa 
in einem Satz auf einmal bezeichnet werden können, oder ob 
diese Anweisung gibt, dieselben nacheinander herbeizuschaffen, 
wie dies z. B. durch eine botanische oder chemische analytische 
Tabelle geschieht, ist unwesentlich. Kann man, in qualitativ 
gleichen Fällen die einzelnen Qualitäten noch der Quantität nach 
unterscheiden, also jedem quantitativ bestimmten Komplex von 
Qualitäten ^i, B^^ Q, . . . eine ebenfalls quantitativ bestimmte 
Erwartung M^ zuordnen, so ist eine weitere Einschränkung er- 
zielt, deren Enge nur durch die erreichbare Genauigkeit der 
Messung und Beobachtung begrenzt ist. Auch hier kann die 
Einschränkung auf einmal oder successive stattfinden. Das letztere 
geschieht, wenn eine Einschränkung durch eine weitere ergän- 
zende Bestimmung noch auf einen kleineren Spielraum eingeengt 
wird. Im ebenen, konvexen, geradlinigen /z-Eck ist die Summe 
der Innenwinkel für den Euklidischen Raum {n — 2) -2/?; für das 
Dreieck (/z = 3) wird dieselbe 2R, wodurch sich jeder der 3 Winkel 
durch die Werte der beiden andern bestimmt. Diese engste Ein- 
schränkung beruht also auf einer ganzen Reihe von Bedingungen, 
die einander ergänzen, oder von welchen einige als grundlegend 
den andern erst einen bestimmteren Sinn geben. Ebenso ver- 
hält es sich in der Physik. Die Gleichung /7v/7'=konst. gilt für 
*) J. R. Maper fand auf Grund nur mäßig ungenauer Zahlen für das 
mechanische Äquivalent der Wärmeeinheit 365 statt 425. 
Sinn und Wert der Naturgesetze. 453 
einen gasförmigen Körper von unveränderlicher Masse, für welchen 
p, V, T für alle Teile dieselben Werte haben, und nur bei hin- 
reichender Entfernung von den Bedingungen der Verflüssigung. 
Die Beschränkung, welche im Brechungsgesetz sina/sinß=7z 
liegt, wird weiter eingeengt durch die Beziehung auf ein be- 
stimmtes Paar von homogenen Stoffen, auf eine bestimmte Tem- 
peratur, auf eine bestimmte Dichte oder einen gewissen Druck, 
auf das Fehlen jeder magnetischen und elektrischen Potential- 
differenz innerhalb dieser Stoffe. Wenn wir ein physikalisches 
Gesetz auf einen bestimmten Stoff beziehen, so bedeutet dies, 
daß das Gesetz für einen Raum gelten soll, in welchem noch 
die bekannten Reaktionen dieses Stoffeslnachweisbar sind. Diese 
ergänzenden Bedingungen werden gewöhnlich durch den bloßen 
Namen des Stoffes gedeckt und verdeckt. Die physikalischen 
Gesetze, welche für den leeren Raum (das Vakuum, den Äther) 
gelten, beziehen sich eben auch nur auf bestimmte Werte der 
elektrischen und magnetischen Konstanten u. s. w. Durch An- 
wendung eines Satzes auf einen Stoff führen wir weitere Be- 
stimmungen (Bedingungsgleichungen) ein, gerade so, als wenn 
wir von einem geometrischen Satz sagen (oder auch stillschwei- 
gend verstehen), daß derselbe für ein Dreieck, für ein Parallelo- 
gramm oder für einen Rhombus gilt. Findet man einmal, daß 
ein Gesetz aufhört zu gelten unter Umständen, unter welchen 
dasselbe bisher immer als gültig befunden wurde, so treibt uns 
dies, nach einer noch anbekannten komplementären Bedingung 
des Gesetzes zu suchen. Das Auffinden derselben bedeutet stets 
eine wichtige Entdeckung. So wurde Elektrizität und Magnetis- 
mus durch die Anziehung und Abstoßung entdeckt, welche Körper 
gegeneinander offenbarten, die man als gegeneinander indifferent 
zu betrachten gewohnt war. Nicht nur die ausgesprochene Hypo- 
thesis allein, sondern auch die stillschweigend mitbegriffenen 
Bedingungen begründen eine geometrische und auch eine physi- 
kalische Thesis. Es wird gut sein, sich stets gegenwärtig zu 
halten, daß auch noch unbekannte Bedingungen (deren merk- 
liche Änderung uns bisher entgangen wäre) mitbestimmend sein 
könnten. 
6. Die Naturgesetze sind nach unserer Auffassung ein Er- 
zeugnis unseres psychologischen Bedürfnisses, uns in der Natur 
454 ^inn und Wert der Naturgesetze. 
zurecht zu finden, den Vorgängen nicht fremd und verwirrt 
gegenüber zu stehen. Dies kommt in den Motiven dieser Ge- 
setze, welche stets diesem Bedürfnis, aber auch dem jeweiligen 
Kulturzustand entsprechen, deutlich zum Ausdruck. Mytho- 
logisch, dämonologisch, poetisch sind die ersten rohen Orien- 
tierungsversuche. In der Zeit des Neuaufschwungs der Natur- 
wissenschaften, in der Periode Kopernikus-Galilei, welche 
nach einer überwiegend qualitativen, vorläufigen Orientierung 
strebt, ist Leichtigkeit, Einfachheit und Schönheit das leitende 
Motiv bei Aufsuchung der Regeln zur gedanklichen Rekon- 
struktion des Tatsächlichen. Die genauere quantitative Forschung 
zielt auf möglichst vollständige Bestimmtheit, auf eindeutige 
Bestimmtheit y wie sich dies schon in der älteren Entwicklungs- 
geschichte der Mechanik äußert. Häufen sich dann die Einzel- 
erkenntnisse, so macht sich das Bedürfnis nach Verminderung 
der psychischen Anstrengung, nach Ökonomie, Kontinuität, Be- 
ständigkeit, möglichst allgemeiner Anwendbarkeit und Brauch- 
barkeit der aufgestellten Regeln mächtig geltend. Es genügt, 
auf die spätere Entwicklungsgeschichte der Mechanik und eines 
jeden weiter fortgeschrittenen Teiles der Physik hinzuweisen. 
7. Es ist sehr natürlich, daß in Zeiten geringer Schärfe der 
erkenntnistheoretischen Kritik die psychologischen Motive in die 
Natur projiziert und dieser selbst zugeschrieben worden sind. 
Gott oder die Natur strebt nach Einfachheit und Schönheit, dann 
nach strenger Gesetzmäßigkeit und Bestimmtheit, endlich nach 
Sparsamkeit und Ökonomie in allen Vorgängen, nach Erzielung 
aller Wirkungen mit dem kleinsten Aufwand. Noch in neuerer 
Zeit schreibt FresneP), wo er die allgemeine Anwendbarkeit 
der Wellentheorie der älteren Emissionstheorie gegenüber her- 
vorheben will, der Natur die Tendenz zu, viel durch die ein- 
fachsten Mittel zu erreichen. „La premiere hypothese a l'avan- 
tage de conduire ä des consequences plus evidentes, parce que 
l'analyse m^canique s'y applique plus aisement: la seconde, au 
contraire, presente sous ce rapport de grandes difficultes. Mais 
dans le choix d'un Systeme, on ne doit avoir egard qu'ä la 
1) Fresnel, Memoire couronn^ sur la diffraction. Oeuvres. Paris 
1866. T. I, p. 248. 
Sinn und Wert der Naturgesetze. 455 
simplicit^ des hypotheses; celle des calculs ne peut-etre d'aucun 
poids dans la balance des probabilites. La nature ne s'est pas 
embarrassee des difficult^s d'analyse; eile n'a evite que la com- 
plication des moyens. Elle parait s'^tre propose de faire beau- 
coup avec peu: c'est un principe que le perfectionnement des 
sciences physiques appuie sans cesse de preuves nouvelles." 
8. Die fortschreitende Verschärfung der Naturgesetze, die 
zunehmende Einschränkung der Erwartung, entspricht einer ge- 
naueren Anpassung der Gedanken an die Tatsachen. Eine voll- 
kommene Anpassung an jede individuelle, künftig auftretende, 
unberechenbare Tatsache ist natürlich unmöglich. Die vielfache, 
möglichst allgemeine Anwendbarkeit der Naturgesetze auf kon- 
krete tatsächliche Fälle wird nur möglich, durch Abstraktion, 
durch Vereinfachung, Schematisierung, Idealisierung der Tat- 
sachen, durch gedankliche Zerlegung derselben in solche ein- 
fache Elemente, daß aus diesen die gegebenen Tatsachen mit 
zureichender Genauigkeit sich wieder gedanklich aufbauen und 
zusammensetzen lassen. Solche elementare idealisierte Tatsachen- 
elemente, wie sie in der Wirklichkeit nie in Vollkommenheit an- 
getroffen werden, sind die gleichförmige und die gleichförmig 
beschleunigte Massenbewegung, die stationäre (unveränderliche) 
thermische und elektrische Strömung und die Strömung von 
gleichmäßig wachsender und abnehmender Stärke u. s. w. Aus 
solchen Elementen läßt sich aber jede beliebig variable Bewegung 
und Strömung genügend beliebig genau zusammengesetzt denken, 
und der Anwendung der Naturgesetze zugänglich machen. Dies 
geschieht in den Differentialgleichungen der Physik. Unsere 
Naturgesetze bestehen also aus einer Reihe für die Anwendung 
bereit liegender, für diesen Gebrauch zweckmäßig gewählter 
Lehrsätze. Die Naturwissenschaft kann aufgefaßt werden als 
eine Art Instrumentensammlung zur gedanklichen Ergänzung 
irgend welcher teilweise vorliegender Tatsachen oder zur mög- 
lichsten Einschränkung unserer Erwartung in künftig sich dar- 
bietenden Fällen.^) 
9. Die Tatsachen sind nicht genötigt, sich nach unsern 
1) Wärmelehre. S. 461 u. f. — Kleinpeter, Erkenntnistheorie. Leipzig 
1905. S. 11—13. 
456 Sinn und Wert der Naturgesetze. 
Gedanken zu richten. Aber unsere Gedanken, unsere Erwar- 
tungen, richten sich nach anderen Gedanken, nach den Begriffen 
nämHch, welche wir uns von den Tatsachen gebildet haben. 
Die instinktive Erwartung, welche sich an eine Tatsache knüpft, 
hat immer einen beträchtlichen Spielraum. Nehmen wir aber an, 
daß eine Tatsache genau unseren einfachen idealen Begriffen 
entspricht, so wird in Übereinstimmung hiermit unsere Erwartung 
auch genau bestimmt sein. Ein naturwissenschaftlicher Satz hat 
immer nur den hypothetischen Sinn: Wenn die Tatsache A genau 
den Begriffen M entspricht, so entspricht die Folge B genau 
den Begriffen N; so genau als A den M, so genau entspricht 
B den N. Die absolute Exaktheit, die vollkommen genaue ein- 
deutige Bestimmung der Folgen einer Voraussetzung besteht in 
der Naturwissenschaft (ebenso wie in der Geometrie) nicht in 
der sinnlichen Wirklichkeit, sondern nur in der Theorie. Aller 
Fortschritt zielt darauf ab, die Theorie mehr und mehr der Wirk- 
lichkeit anzuschmiegen. Wenn wir viele Brechungsfälle an einem 
Paar von Medien, auch quantitativ, beobachtet haben, so bleibt 
unserer Erwartung des zu einem bestimmten einfallenden Strahl 
gehörigen gebrochenen Strahls noch immer der Spielraum der 
Ungenauigkeit der Beobachtung und Messung. Erst nach Fest- 
setzung des Brechungsgesetzes und Wahl eines Wertes des 
Brechungsexponenten gehört zu einem einfallenden Strahl nur 
ein gebrochener Strahl. 
10. Auf die Wichtigkeit, zwischen Begriff und Gesetz einer- 
seits und Tatsache anderseits scharf zu unterscheiden, wurde 
schon mehrfach hingewiesen. Der Oerstedtsche Fall (Strom und 
Nadel in einer Ebene) ist nach den vor O erste dt geltenden 
Begriffen absolut symmetrisch, während sich der tatsächliche 
Fall als unsymmetrisch erweist. Das circular polarisierte Licht 
zeigt in mehrfacher Beziehung das indifferente Verhalten des 
unpolarisierten Lichtes. Erst das genauere Studium enthüllt uns 
die zweifache „helikoidale Dyssymmetrie" desselben, und nötigt 
uns, die Tatsachen durch neue, dieselben vollständiger bezeich- 
nende Begriffe darzustellen. Werden unsere Vorstellungen über 
die Natur von Begriffen beherrscht, die wir für zureichend 
halten, und haben wir uns dementsprechend an Erwartungen 
von eindeutiger Bestimmtheit gewöhnt, so gelangen wir leicht 
Sinn und Wert der Naturgesetze. 457 
dazu, den Gedanken der eindeutigen Bestimmtheit auch in nega- 
tiver Weise anzuwenden. Wo ein gewisser Erfolg, z. B. ein 
Bewegungserfolg, nicht eindeutig bestimmt ist, wie etwa bei 
drei gleichen Kräften, welche denselben Punkt, je zwei einen 
Winkel von 120° bildend, angreifen, werden wir das gänzliche 
Ausbleiben dieses Erfolges erwarten. Soll der in dieser Form 
angewandte „Satz des zureichenden Grundes" nicht irre führen 
(vgl. die eben angeführten Beispiele), so muß man sicher sein, 
daß alle mitbestimmenden Umstände bekannt sind. 
11. Nur eine Theorie, welche die immer komplizierten und 
durch mannigfache Nebenumstände beeinflußten Tatsachen der 
Beobachtung einfacher und genauer darstellt, als dies durch 
die Beobachtung eigentlich verbürgt werden kann, entspricht 
dem Ideal der eindeutigen Bestimmtheit.^) Diese Schärfe der 
Theorie ermöglicht uns, aus derselben durch viele sich folgende 
gleichartige, oder auch durch kombinierte ungleichartige deduk- 
tive Schritte weitgehende Folgerungen zu ziehen, deren Über- 
einstimmung mit jener Theorie verbürgt ist. Die Übereinstimmung 
oder Nichtübereinstimmung dieser Folgerungen mit der Erfahrung 
ist aber meist (wegen der möglichen Häufung der Abweichungen) 
eine viel schärfere Probe der Richtigkeit oder Verbesserungs- 
bedürftigkeit der Theorie, als die Vergleichung der Grundsätze 
mit der Beobachtung. Man denke etwa an die Newton sehen 
Grundsätze der Mechanik und die aus denselben abgeleiteten 
astronomischen Folgerungen. 
12. Die allgemeinen, sich häufig wiederholenden Formen der 
Sätze der Theorie werden verständlich, wenn man dieselben 
unter dem Gesichtspunkt unseres Bedürfnisses nach Bestimmt- 
heit und insbesondere nach eindeutiger Bestimmtheit betrachtet. 
Alles gewinnt hierdurch an Klarheit und Durchsichtigkeit. Wenige 
Bemerkungen genügen für den Physiker. Physikalische Diffe- 
renzen bestimmen alles Geschehen, und die Verkleinerung der 
Differenzen überwiegt in dem Ausschnitt des Geschehens, welchen 
wir ins Auge fassen. Wo viele gleichartige Differenzen in der- 
selben Weise das Geschehen in einem Punkte bestimmen, ist das 
>) Vgl. die Ausführungen von Duhem (La Theorie phpsique, S. 220 u. f., 
-. 32^ u. f.). 
458 ^^f^f^ ^^^ Wert der Naturgesetze. 
Mittel dieser Differenzen bestimmend. Die in so vielen Gebieten 
der Statik und Dynamik, der Wärme, Elektrizität u. s. w. zur An- 
wendung gelangenden Gleichungen von Laplace und Poisson 
besagen,^) und zwar die erstere, daß jenes bestimmende Mittel 
den Wert Null, die andere, welchen es sonst hat. Symmetrische 
Differenzen in Bezug auf einen Punkt bestimmen ein symme- 
trisches Geschehen in demselben, in besonderen Fällen einer 
mehrfachen Symmetrie aber ein Ausfallen des Geschehens. Die 
konjugierten Funktionen, welche die zusammengehörigen Scharen 
der orthogonalen Niveau- und Kraftlinien oder der Niveau- und 
Stromlinien u. s. w. darstellen, bestimmen in den Fällen ihrer 
Anwendung eine Symmetrie des Geschehens in den unendlich 
kleinen Elementen. Ein Größtes oder Kleinstes unter einer Menge 
von vielfachen benachbarten Möglichkeiten kann stets als unter 
einer Art von Symmetriebedingungen stehend aufgefaßt werden. 
Wenn die Differenzen bei jeder beliebigen kleinen Änderung 
einer Anordnung allseitig in demselben Sinne wachsen oder ab- 
nehmen, so bietet diese Anordnung immer in irgend einer Be- 
ziehung ein Maximum oder ein Minimum dar. Gleichgewichts- 
fälle, nicht allein mechanische und dynamische Gleichgewichts- 
"zustände sind in der Regel von dieser Art. An einem andern 
Orte wurde ausgeführt, daß bei dynamischen Gesetzen, wie dem 
Prinzip der kleinsten Wirkung u. a., welche in Form von Maximum- 
Minimumsätzen ausgesprochen werden, nicht das Maximum oder 
Minimum das Maßgebende ist, sondern vielmehr der Gedanke 
der eindeutigen Bestimmtheit.^) 
13. Sind nun die Naturgesetze als bloße subjektive Vor- 
schriften für die Erwartung des Beobachters, an welche die Wirk- 
lichkeit nicht gebunden ist, wertlos? Keineswegs! Denn, wenn 
auch der Erwartung nur innerhalb gewisser Grenzen von der 
sinnlichen Wirklichkeit entsprochen wird, so hat sich erstere doch 
vielfach als richtig bewährt, und bewährt sich täglich mehr. 
Wir haben also mit dem Postulat der Gleichförmigkeit der Natur 
keinen Fehlgriff getan, wenn auch bei der Unerschöpflichkeit 
der Erfahrung die absolute Anwendbarkeit des Postulates nach 
1) Wärmelehre. S. 117u. f. 
>) Mechanik, 5. Aufl. S. 419—421. — Petzoldt, Das Gesetz der Ein- 
deutigkeit. Vierteljahrschrift f. wissensch. Philosophie. XIX. S. 146 u. f. 
Sinn und Wert der Naturgesetze. 459 
Schärfe, zeitlicher und räumlicher Unbeschränktheit sich nie wird 
dartun lassen, und wie jedes wissenschaftliche Hilfsmittel immer 
ein Ideal bleiben wird. Außerdem bezieht sich das Postulat 
überhaupt nur auf Gleichförmigkeiten, sagt aber über die Art 
derselben nichts aus. Im Falle einer Enttäuschung der Erwartung 
hat man also stets die Freiheit, statt der erwarteten Gleichförmig- 
keiten neue zu suchen. 
14. Wer, wie der Naturforscher, das menschliche psychische 
Individuum nicht als ein der Natur gegenüberstehendes isoliertes 
Fremdes, sondern als einen Teil der Natur auffaßt, wer das 
sinnlich-physische und das Vorstellungsgeschehen als ein un- 
trennbares Ganze ansieht, wird sich nicht wundern, daß das 
Ganze nicht durch den Teil zu erschöpfen ist. Doch werden 
ihm Regeln, die sich im Teil offenbaren, die Vermutung von 
Regeln im Ganzen nahelegen. Er wird hoffen, daß, so wie es 
ihm gelingt, in einem kleineren Gebiet eine Tatsache durch die 
andere zu erläutern, auch nach und nach die beiden Gebiete des 
Physischen und Psychischen sich gegenseitig aufklären werden. 
Es handelt sich ja nur darum, die Ergebnisse der physikalischen 
und psychologischen Beobachtung im einzelnen genauer zum 
Zusammenstimmen zu bringen, als es schon geschehen ist; an 
der Beziehung beider im allgemeinen zweifelt niemand mehr. 
An zwei unabhängige oder nur in loser Beziehung stehende 
Welten kann man nicht mehr denken. Die Verbindung derselben 
durch ein unbekanntes Drittes (!) hat aber als Erklärung gar 
keinen Sinn; solche Erklärungen haben hoffentlich für immer 
allen Kredit verloren. 
15. Die Entstehung der berührten Ansichten ist ja ganz ver- 
ständlich. Als der Mensch durch Analogie die Entdeckung 
machte, daß noch andere ihm ähnliche, sich ähnlich verhaltende 
Lebewesen, Menschen und Tiere bestehen, und als er genötigt 
war, sich zum klaren Bewußtsein zu bringen, daß er deren Ver- 
halten mit Rücksicht auf Umstände beurteilen müsse, die er nicht 
unmittelbar sinnlich wahrnehmen konnte, deren Analoga ihm aber 
doch in seiner besonderen Erfahrung bekannt waren, da konnte 
er nicht anders, da mußte er die Vorgänge in zwei Klassen 
teilen: in solche, die allen, und in andere, die nur einem wahr- 
nehmbar waren (S. 6). Das war für ihn die einfachste und zu- 
460 Sinn und Wert der Naturgesetze. 
gleich die praktisch hilfreichste Lösung. So wurde ihm zugleich 
der Gedanke des fremden und des eigenen Ich klar. Beide 
Gedanken sind untrennbar. Wer durch irgend einen Zufall ohne 
lebende Genossen aufwachsen könnte, würde seine dürftigen 
Vorstellungen schwerlich den Empfindungen gegenüberstellen, 
würde nicht zum Gedanken des Ich gelangen, dieses nicht der 
Welt entgegensetzen. Alles Geschehen wäre für ihn nur eines. 
Haben wir aber einmal den Ich-Gedanken gefaßt, so gelingt es 
uns leicht, die Abstraktionen des Phpsischen und Psychischen, 
der eigenen und fremden Empfindung, der eigenen und fremden 
Vorstellung zu bilden. (Vgl. S. 9.) Beide Betrachtungsweisen 
sind für eine umfassende Orientierung förderlich, und beide 
sollen benutzt werden. Die eine führt zur Beachtung der Einzel- 
heiten, die andere dazu, den Blick aufs Ganze nicht zu verlieren.^) 
16. Wenn die Welt durch Abstraktionen zersägt und zer- 
schnitten ist, so erscheinen diese Teilstücke so luftig und so 
wenig massig, daß Zweifel auftreten, ob sich die Welt aus den- 
selben wieder zusammenleimen lassen wird. Man fragt wohl 
auch gelegentlich humoristisch-ironisch, ob so eine Empfindung 
oder Vorstellung, die keinem Ich angehört, allein in der Welt 
spazieren gehen könnte? So waren ja auch die Mathematiker, 
nachdem sie die Welt in Differentiale zerteilt hatten, ein wenig 
in Angst, ob sie die Welt aus solchen Nichtsen wieder ohne 
Schaden würden zusammenintegrieren können? Ich möchte auf 
obige Frage antworten: Gewiß wird eine Empfindung nur in 
einem Komplex auftreten; daß dieser aber immer ein volles, 
waches, menschliches Ich sei — es gibt |a auch ein Traum- 
bewußtsein, ein hypnotisches, ein ekstatisches, ein tierisches Be- 
wußtsein verschiedener Grade — möchte ich in Zweifel ziehen. 
Selbst ein Körper, ein Stück Blei, das Gröbste was wir kennen, 
gehört immer einem Komplex und schließlich der Welt an; es 
existiert nichts isoliert.^) So wie es demjPhysiker freistehen muß, 
die materielle Weh zum Zwecke der wissenschaftlichen Unter- 
») Vgl. W.Jerusalem, Einleitung in die Philosophie. 2. Aufl. 1903. 
S. 1 18 u. f. („Monismus des Geschehens".) 
*) Vgl. die Kontroverse zwischen Ziehen (Zeitschr. f. Psychologie u. 
Physiologie der Sinnesorgane. Bd. 33, S. 91) und Schuppe (ebendaselbst. 
Bd. 35, S. 454). — Analyse. 4. Aufl. S. 281. 
Sinn und Wert der Naturgesetze. 461 
suchung zu analysieren, in Teile zu zerlegen, ohne daß er des- 
halb den allgemeinen Weltzusammenhang vergessen müßte, so 
muß auch dem Psychologen dieselbe Freiheit gewährt werden, 
wenn er überhaupt etwas zu stände bringen soll. (Vgl. S. 142.) 
Die Empfindung, kann man in des Cynikers Demonax Redeweise 
sagen, existiert so wenig allein, als irgend etwas anderes. — 
Introspektiv finde ich mein Ich durch den Komplex der kon- 
kreten Bewußtseinsinhalte erschöpft. Wenn man zuweilen meint, 
neben diesem doch noch etwas wahrzunehmen, so möchte dies 
an Folgendem liegen. Mit dem abstrakten Gedanken des eigenen 
Ich ist eng verbunden jener der fremden Ich und des Unter- 
schiedes beider, ferner der, daß sich das Ich nicht indifferent 
gegen seinen Inhalt verhält. Man frage sich aber, ob diese 
abstrakten Gedanken nicht auch nur konkreten Bewußtseins- 
inhalt bergen und decken, und ob dieselben durch reine Intro- 
spektion überhaupt hätten gewonnen werden können? An der 
physikalisch-physiologischen Unterlage des Ich ist aber gewiß 
noch beinahe alles zu erforschen. Diese ist keineswegs Nichts 
neben dem augenblicklich lebendigen Inhalt des Bewußtseins, 
der ja immer nur einen winzigen Teil ihres Reichtums vorstellt. 
17. Auch die herkömmliche Meinung, daß zwischen dem Ich 
und der Welt, ebenso zwischen den verschiedenen Ich unüber- 
schreitbare Schranken bestehen, ist psychologisch begreiflich. 
Wenn ich etwas empfinde oder mir vorstelle, so scheint dies die 
Welt und auch die andern Ich gar nicht zu beeinflussen. Aber 
es scheint nur so. Schon das leise Mitspielen meiner Muskel 
gehört der Welt und jedem aufmerksamen Beobachter an. Noch 
mehr gilt dies, wenn meine Vorstellungen in Rede und Handlung 
ausbrechen. Sieht Jemand Blau und ein anderer eine Kugel, so 
kann daraus allerdings kein Urteil resultieren: Die Kugel ist blau. 
Es fehlt hierzu „die synthetische Einheit der Apperzeption", mit 
welchem schönen Wort man diese triviale Tatsache bezeichnet.^) 
Beide Vorstellungen müssen eben in Reaktionsnähe kommen, 
ganz ähnlich, wie die Körper im Gebiete der Physik. Solche 
Ausdrücke lösen aber kein Problem, sondern sind vielmehr 
») Wie nun gar hieraus die Unveränderlichkeit des Ich folgen soll, ist 
mir unerfindlich. 
462 Sinn und Wert der Naturgesetze. 
geeignet dasselbe zu decken oder zu verdecken. Das Ich ist 
kein Topf, in welchen das Blau und die Kugel nur hineinzu- 
fallen brauchen, damit ein Urteil resultiere. Das Ich ist mehr 
als eine bloße Einheit, und schon gar nicht eine Herbartsche 
Einfachheit. Dieselben räumlichen Elemente, welche sich zur 
Kugel schließen, müssen blau sein, und das Blau muß auch von 
den Orten als verschieden, als trennbar erkannt werden, damit 
ein Urteil möglich sei. Das Ich ist ein ps5>chischer Organismus, 
dem ein physischer Organismus entspricht. Es ist doch schwer 
zu glauben, daß dies ewig ein Problem bleiben müßte, daß 
Psychologie und Physiologie zusammen daran nichts mehr auf- 
klären könnten. Die Introspektion allein, ohne Hilfe der Physik, 
hätte nicht einmal zur Empfindungsanalyse geführt. Die Philo- 
sophen überschätzen einseitig die introspektive, die Psychiater 
oft ebenso einseitig die physiologische Analyse, während zu 
einem ausgiebigen Erfolg die Vereinigung beider unentbehrlich 
ist. Bei beiden Gruppen von Forschern scheint das von der 
primitiven Kultur herstammende, nicht vollständig erloschene Vor- 
urteil mitzuwirken, wonach Psychisches und Physisches nun 
einmal durchaus inkommensurabel ist. Wie weit die angedeutete 
Untersuchung führen wird, ist vorläufig nicht abzusehen. 
Ist das Ich keine von der Welt isolierte Monade, sondern 
ein Teil der Welt und mitten im Fluß derselben darin, aus dem 
es hervorgegangen und in den zu diffundieren es wieder bereit 
ist, so werden wir nicht mehr geneigt sein, die Welt als ein 
unerkennbares Etwas anzusehen. Wir selbst sind uns dann nahe 
genug und den andern Teilen der Welt verwandt genug, um 
auf wirkliche Erkenntnis zu hoffen. (Vgl. S. 11.) 
18. Die Wissenschaft ist anscheinend als der überflüssigste 
Seitenzweig aus der biologischen und kulturellen Entwicklung 
hervorgewachsen. Wir können aber heute nicht mehr zweifeln, 
daß dieselbe sich zum biologisch und kulturell förderlichsten 
Faktor entwickelt hat. Sie hat die Aufgabe übernommen, an 
die Stelle der tastenden, unbewußten Anpassung die raschere, 
klar bewußte, methodische zu setzen. Der verstorbene Physiker 
E. Reitlinger pflegte pessimistischen Anwandlungen gegenüber 
zu sagen: „Der Mensch trat in der Natur auf, als dessen Da- 
seinsbedingungen, aber noch nicht dessen Wohlseinsbedingungen 
Sinn und Wert der Naturgesetze. 463 
gegeben waren." In der Tat soll er sich die letzteren selbst 
schaffen, und ich glaube, er hat sich dieselben geschaffen. Dies 
gilt wenigstens heute schon von den materiellen Wohlseins- 
bedingungen, wenn auch vorläufig leider nur für einen Teil der 
Menschen. Wir können von der Zukunft noch Besseres er- 
hoffen.^) Sir John Lubbock^) spricht die Hoffnung aus, „daß 
sich die Segnungen der Zivilisation nicht nur auch auf andere 
Länder und andere Völkerschaften erstrecken werden, sondern 
daß sie auch in unserem eigenen Vaterlande nach und nach zur 
allgemeinen, gleichmäßigen Geltung kommen, so daß uns nicht 
mehr stets Landsleute vor die Augen treten, die in unserer Mitte 
ein schlimmeres Leben führen, als die Wilden, und welche weder 
die Vorteile und wahren, wenngleich einfachen Freuden genießen, 
die das Leben der niederen Rassen schmücken, noch die weit 
höheren und edleren Annehmlichkeiten sich zu verschaffen wissen, 
welche im Bereich des zivilisierten Menschen liegen". Bedenken 
wir die Qualen, welche unsere Vorfahren unter der Brutalität 
ihrer sozialen Einrichtungen, ihrer Rechts- und Gerichtsverhält- 
nisse, ihres Aberglaubens, ihres Fanatismus zu erdulden hatten, 
erwägen wir die reichliche Erbschaft der Gegenwart an diesen 
Gütern, stellen wir uns vor, was wir davon noch in unseren 
Nachkommen miterleben werden, so ist uns dies ein genügend 
mächtiger Antrieb, endlich auch an der Verwirklichung des 
Ideales einer sittlichen Weltordnung mit Hilfe unserer psycho- 
logischen und soziologischen Einsichten eifrig und kräftig mit- 
zuarbeiten. Haben wir aber einmal eine solche sittliche Ordnung 
geschaffen, so wird niemand sagen können, daß sie nicht in der 
Welt sei, und niemand wird mehr nötig haben, sie in mystischen 
Höhen oder Tiefen zu suchen. 
*) E. Metschnikoff, Studien über die Natur des Menschen. Eine opti- 
mistische Philosophie. Leipzig 1904. 
2) J. Lubbock, Die Entstehung der Zivilisation. Jena 1875. S. 399. 
Sachregister. 
Abhängigkeit der Erlebnisse vonein- 
ander 7. 
— , funktionale, der Elemente vonein- 
ander 11, 15, 276. 
— , Gegenseitigkeit 279. 
— der Maße voneinander 372. 
— , physiolog.-psycholog. 18. 
— , qualitative 204. 
— , quantitative 204. 
— der Reaktionen voneinander 135. 
— , simultane 279. 
— , Umkehrbarkeit derselben 279. 
— , unmittelbare 278, 438, 443. 
— , vermittelte 278, 439, 443. 
Abstraktion 132, 137, 192, 224, 455. 
— und Aufmerksamkeit 132, 306. 
— durch Vergleichung 139, 313. 
— , ein Wagnis 140, 315. 
Abulie 65. 
Ähnlichkeit 220. 
Algebra 222, 
Analogie 215, 220. 
— , Beispiele 227. 
— bereichert die Vorstellung 226. 
— , Definition 221. 
— als Methode 229. 
— , nicht logisch 225. 
— , psychologisch begründet 226. 
— , "Wert der unvollständigen 230. 
Analyse 238. 
— und Hypothese 238, 270. 
— als Methode 257, 267. 
— , nötige Vorsicht 262. 
Angeborenes 33, 34, 280. 
— , Kategorien 281. 
— , Verstandesbegriffe 280. 
Anisotropie, physik.-physiol. 447. 
Anpassung, begriffliche 166. 
— der Gedanken aneinander 3, 165, 
173. 
— der Gedanken an die Tatsachen 
3, 165. 
— , instinktive 165. 
— durch Reflexe 1. 
— , Vorstellungen 1. 
Anschauung 150, 315. 
— , Hilfsmittel derselben 151. 
— , Wert 249. 
Apperception, Einheit der 461. 
Arbeit, organisierte 78. 
Arbeitshypothesen 143. 
Association 31, 197. 
— , Analyse und Kombination 36. 
— , biolog wichtig 31. 
— , Gesetz der Gleichzeitigkeit 37. 
— , irreführend 110. 
— , nicht angeboren 33. 
— , permanent 111. 
— bei Tieren 32. 
— , Zentren der 49. 
Astronomie, Entwicklung 287. 
— , Ursprung 101. 
Aufmerksamkeit 22, 63, 132, 431. 
— , Phase der 431. 
— und Wille 64. 
Automaten 24, 29. 
Sachregister. 
465 
Begriff 22, 114, 133. 
— , kein Augenblicksgebilde 126. 
— , Beispiele 134. 
— , nach Beruf verschieden 130. 
— , biolog. Funktion 128. 
— , Definition 129. 
— und Hallucination 161. 
— , kindlicher 131. 
— , Menschheit 141. 
— , potentielle Anschaulichkeit 135. 
— , psychologisch 126. 
— und Sinnlichkeit 144, 162. 
— , höchste Substantialität 136. 
— und Tatsache 119. 
— und Wort 128. 
Beobachtung, ein Mittun 430. 
— als Quelle der Erkenntnis 313. 
Besessenheit 68. 
Beständigkeit 275. 
— als Postulat 276, 282. 
— der Verbindung 275. 
Beweis 180. 
Bewußtsein 43. 
— , ein Zusammenhang 44. 
Buchstabenschrift 83. 
Daguerreotypie 297. 
Deduktion und Induktion 318. 
— , Wert der 307. 
Definition 114, 129. 
Denken, Freude am 168. 
— , naturwissenschaftliches 3. 
— , philosophisches 3. 
— , technisches 2, 18. 
— , vulgäres 2. 
— , wissenschaftliches 2. 
Determinismus, Indetermin. 282. 
Differentialgleichung 279, 455. 
Dimensionen, ungleichwertig 446. 
Ding an sich 10. 
— , vulgäres 10. 
Dualismus 6. 
Dpssymmetrie, helikoidale 228, 456. 
Echo 100. 
Eindeutigkeit 285, 438, 457. 
Mach, Erkenntnis und Irrtum. 
Elektrizität 285. 
Eleaten 168. 
Element 8. 
Empfindung 21, 460. 
— , irreführend 110. 
Energie, spezifische 158. 
Entdeckung 180. 
— und Erfindung 255. 
— durch das Experiment 262. 
Ererbt und erworben 34. 
Erinnerung 1, 20, 152. 
Erkenntnis, biolog. Bedeutung 108. 
— u. Irrtum, dieselbe Quelle 116, 125. 
Erklärung 180. 
— eines Gebietes durch das andere 
219, 228, 290, 462. 
Erraten 140, 194, 290, 314. 
Erscheinung 10. 
Escamoteur 119. 
Ethik, primitive 104. 
Experiment, absichtl. Erweiterung d. 
Erfahrung 186. 
Beseitigung der Störung 206. 
blindes 213. 
Einschränkung d. Untersuch. 203. 
instinktives 184. 
Kompensation 210. 
Nullmethoden 211. 
physisches 201. 
Substitution 209. 
Summierung der Effekte 208. 
übersichtliche 212. 
Vereinfachung 206. 
Wert des 183. 
durch Zufall eingeleitet 201. 
zusammenhängende Umstände pa- 
rallel 208. 
— , Zusammensetzung d. Effekte 211. 
Fehlerquellen 123, 301. 
Fernwirkung 178, 236, 441, 442. 
Fetisch 95. 
Flatus vocis 126, 132, 162. 
Forschung, ideales Ziel 16. 
Frosch, Intelligenz 51. 
Funktionsbegriff 278. 
30 
466 
Sachregister. 
Gedächtnis 31, 47. 
— , allgem. organ. 49. 
— , partielles 47. 
— , periodisches 48. 
— der Tiere 32. 
Gedankenexperiment 42, 186. 
— , didaktischer Wert 194. 
— fördert psych. Entwickl. 195, 196. 
— folgt der Erfahrung 188, 193. 
— , geringe Kosten 187. 
— in der Mathematik 197. 
— und Paradoxes 196. 
— variiert Gleichgültiges 188. 
kontinuierlich 191. 
Maßgebendes 189. 
Gefühl 22. 
Gegenwirkung 218. 
Geometrie 353. 
Abhäng. d. Maße voneinander 372. 
Aussichten 421. 
Begriffe 382, 385. 
berufsmäßige 401. 
Entfernung 377. 
Erfahrung über Körper 353. 
Fläche 358. 
Funktion des Maßes 419. 
Funktion der Zahl 419. 
Gedankenexperiment 368, 383. 
Grundlagen 403. 
Idealisierung der Erfahrung 369. 
Induktion 386. 
starrer Körper 356. 
Körperauszählung 360, 380. 
Länge 359. 
Lehrsätze 386. 
Maß 357. 
Mathematiker u. Naturforscher 415. 
Nichteuklidische 407. 
primitive 363, 399. 
Quellen der 380, 384. 
allgem. Reformbedürfnis 420. 
Richtung 376. 
Satz des Ppthagoras 374. 
räumliche Substanzialität 355, 393. 
Symmetrie 379. 
Geometrie, mehrere Syst. mögl. 415. 
— , theoret., prakt. 382. 
— , Volumen 358. 
— , Volumenerhaltung 375. 
— , Winkel 377. 
Geotropismus 52, 53, 298. 
Geschichte und Zufall 302. 
Gesetz der großen Zahlen 283. 
Gleichheit, physikalische 335. 
Hallucination 116, 158, 196, 197. 
Harmonie prästabil 7. 
Hieroglyphen 83. 
Hirnrinde 44. 
Hypnose 124. 
Hypothese, Abneigung Newtons 236. 
— und Analyse 238. 
— , Anforderungen an die 240. 
— , beschreibende 243. 
— , Definition 235. 
— , erfahrungserweitemd 234, 244. 
— , glückliche 243. 
— , instinktive 232. 
— in der Mathematik 250. 
— , notwendige und zufällige Elemente 
347. 
— , selbstzerstörend 227, 248. 
— , wissenschaftliche 232. 
Ich, engeres 6. 
— , weiteres 9. 
— und Welt 65, 459 u. f. 
— , primäres 66. 
— , sekundäres 67. 
— , mehrfaches 68. 
— , rudimentäres 69. 
Ideal, wissensch. 179. 
Idealisierung 192, 391. 
Ideen, Analogie 215. 
— , experimentelle 214. 
— , Extreme 217. 
— , Gegensatz 216. 
— , Gegenwirkung 218. 
— , Kontinuität 216. 
— , Verallgem. u. Einschränk. 215, 217. 
Sachregister. 
467 
Individualität, psychische 66, 70. 
Induktion 304. 
— , mysteriös 314, 319. 
— , unvollständige 309, 311. 
— , unzureichend 312. 
— , Vermittlung durch 310. 
— , Vervollständigung 311. 
— , vollständige 308. 
Industrie 79. 
Infinitesimalrechnung 225, 311, 360. 
Inquisition 98. 
Instinkt und Gedächtnis 57. 
— , als Reflexkette 57. 
— , Variation des 58. 
Jagd 74. 
Kjökkenmöddings 75. 
Kleidung 75. 
Konflikt der Gedanken 166. 
Kontinuität 223. 
Kontrast mit Instinktivem 273. 
Körper 148. 
— , Verhalten gegen Körper 76. 
Kosmogonie 154. 
Kritik, Eleaten 168. 
— , Geometrie 169. 
— , Mathematik 169, 197. 
— , Scholastik 169. 
— , Sophisten 168. 
Krümmungsmaß 398. 
Kunst 85. 
Kunstleistung des Forschers 319. 
Leben 24. 
— , ein Brand 50. 
Licht, Messung durch 445. 
Logik 181, 305. 
— , nicht nutzlos 307. 
— , symbolische 182. 
Luxus 80. 
Maß 357. 
Mengenlehre 333. 
Menschenopfer 96. 
Messung 334. 
Methode, analyt., synthet., apagog. 
257. 
— der Begleitveränderung 284. 
— der Differenz 285, 299. 
— , heuristische 199. 
— der Übereinstimmung 285, 299. 
— der Variation 17, 183. 
Mneme 45, 49. 
Monismus des Geschehens 460. 
Mythen über die Natur 99, 233. 
— , historische 103. 
Naturgesetze 449, 454. 
Naturwissenschaft, antike 87. 
Neugier 73. 
Nominalismus 126. 
Occasionalismus 7. 
Ökonomie und Logik 176. 
Organempfindung 61. 
Organ. Prozesse associativ 61. 
Organismen, gemeinsame Züge 56. 
Ozon 296. 
Paradoxie 176, 196, 264. 
Pasigraphie 83. 
Perioden des Organismus 48, 160, 429. 
Perpetuum mobile 272. 
Permanenz und Differenzierung 112, 
136, 164. 
Phantasie 153. 
— in Begriffen 156. 
— , künstlerische 157. 
— in der Wissenschaft 154. 
Phantasmen 117, 159, 196, 197. 
— , widerspr. nicht d. Associat.-Gesetz 
159, 197. 
Philosophie, primitive 106. 
Physik, primitive 106, 117. 
Physisches und Psychisches 9, 20. 
Poesie 99. 
Problem 251. 
— , analyt. Lösung 267. 
— , Beseitigung von Vorurteilen 264. 
30* 
468 
Sachregister. 
Problem, Beachtung neuer Umstände 
268. 
— , Nacherfinden 252. 
— und Paradoxie 264. 
— , spnthet. Lösung 266. 
— , Vergessenes suchen 252. 
— , Vernichtung des 265. 
— und Zufall 251. 
Psychische Elemente nicht isoliert 23, 
62, 109. 
Psychologie, phpsiolog. 11, 462. 
— , introspektive 20, 462. 
Pythagoras, Satz des 306, 374. 
Qualität 320. 
— , Ausschaltung der 149. 
Quantität 321. 
— , Spezialfall der Qualität 322. 
Quipu 83. 
Raum, anisotrop 340. 
— , Anpassungsprodukt 345. 
— , Bewegung, gemeinsam. Band 342. 
— der Blinden 342. 
— von mehreren Dimensionen 395. 
— , Generalsinn 342. 
— , geometrisch 337, 351. 
— , haptisch 339. 
— , hpperphpsikalisch 443, 446. 
— , inhomogen 340. 
— , intelligibler 447. 
— und Körper 434, 439. 
— und Lokomotion 347. 
— , metrisch 343. 
— , optisch 337. 
— , physiologisch 337. 
— , phpsiolog. Theorie 349. 
— anderer Sinne 341. 
— , teleologisch 344. 
— , Unerschöpflichkeit 348. 
— und Vakuum 441. 
Raumanalogien 392. 
— , Farbe 392. 
— , Störung der 394. 
— , Ton 393. 
— , Zeit 393. 
Raumanschauung, individuell 390. 
Raumbegriff, Entwicklung 439. 
— , gemeinsam 390. 
Räumliche Abhängigk., vermittelte 439. 
Realismus 126. 
Rechenmaschine 328. 
Rechnen, indirektes Zählen 329. 
Reflexkette 57. 
Regulativ,negatives, der Forschung 15. 
Religion, primitive 104. 
Schein und Wirklichkeit 8. 
Schrift 81. 
Seele, Gegenstands- 94. 
— , wissenschaftl. Hypothese 27. 
— , Schatten- 92. 
— , teilbar 51. 
Seelenblind 45, 46. 
Seelentaub 45. 
Selbsterhaltung 50. 
Selbstordination 57. 
Selbsttätigkeit d. Beschreibenden 317. 
— des Forschers 316. 
Sinne, Empfindlichkeit 146. 
Sinnengedächtnis 159. 
Sittliche Ordnung 463. 
Sklaverei 79. 
Solipsismus 9. 
Spiegelbild 100. 
Spiele, intellektuelle 170. 
Sprache 81, 113. 
— , internationale 83. 
Sprachstörung 45. 
Stabilisierung von Erfindungen 76. 
Stabilität der Gedanken 284. 
— der Tatsachen 284. 
Statistik 28. 
Strafrechtspflege 122. 
Substanzbegriff, kritischer 148. 
Substanzialität, räumliche 355, 393. 
— , zeitliche 393, 433. 
Superposition und Isolation 203. 
— der Phasen 272. 
— der Strahlen 272. 
Syllogismus 304. 
Sachregister. 
469 
Technik 85. 
— , Philosophie der 146. 
Technologie 76. 
Theorie 457. 
Tiere 24, 26, 27, 56. 
— , enger Interessenkreis 185. 
— , Psychologie der 32—35, 51—57, 
71—74. 
— und Wilde 101. 
Topologie 344. 
Totem 83. 
Tradition 74. 
Traum 92, 117. 
Tropismen 52, 53, 298. 
Umgrenzung ^8—10, 18, 116, 323. 
Umkehrung des Gedankenweges 261, 
317. 
Urteil 112. 
— , intuitiv 114. 
Urzeugung 299. 
Vakuum 440. 
— , ein Körper 444. 
— , unvorstellbar 440. 
Variationsrechnung 225. 
Vergleichung 313. 
— fördert die Abstraktion 138, 139, 
313. 
Vorstellung 11, 22. 
— , frei steigende 159. 
— , typische 115, 127. 
— , nicht übertragbar 141. 
Vorstellungsverlauf, Typen 38. 
— , Erinnerung 40. 
— , Nachdenken 40. 
— , freie Phantasie 39. 
— , künstlerische Phantasie 39. 
Wachen und Traum 92, 117. 
Waffen 77. 
Wahl 64. 
Wahr und wahrscheinlich 122. 
Wahrnehmung 21. 
Wampun 83. 
Wärmeleitungstheorie 228. 
Welt, Maschine und Organismus 443. 
Weltansicht, natürliche 5. 
Weltorientierung 3. 
Werkzeuge 77. 
Wille 23. 
— und Association 59. 
— und Erinnerung 25. 
— und Reflex 59. 
— und Wahl 64. 
Wissen und Erinnerung 195. 
Wissenschaft, Ideal der 179. 
— als Instrument 455. 
— , primitive 106. 
— , sozial 290. 
— , Ursprung 84. 
Wohnung 75. 
Wortaberglaube 90. 
Zahlbegriff 324. 
— , potentielle Anschaulichkeit 326. 
— , Definition 326. 
— , Entwicklung 330. 
— , empirische Grundlage 329. 
Zahlen, Kulturgeschichte 327. 
— , Ordnungsprinzip 326. 
— , Unterschiedzeichen 327. 
Zahlenkontinuum 334. 
Zahlvorstellung 323. 
Zählweisen, Äquivalenz der 329. 
Zauberei, Hexerei 89. 
Zeit, physiologische 423. 
— , Anschauung 424. 
— und Raum, physik. Abhängigkeit 
434, 441, 446. 
Zeitanschauung, individuell 433. 
Zeitbegriff, übertragbar 433. 
Zeitempfindung, biolog. wichtig 425. 
Zeitliche Abhängigkeit, Typisches der 
■ 435. 
, unmittelbar 438. 
— Reproduktion 426. 
Zufall, verdeckte Regelmäßigkeit 251, 
283. 
Namenregister. 
Abel 265. 
Aepinus 292. 
d'Alembert 29, 174, 267. 
Ampere 166, 206, 293 bis 
296, 447. 
Anschütz 151. 
Apelt 137—140, 281, 308, 
312, 314. 
Appert 300. 
Apuleius 90. 
Arago 201, 215, 267, 295. 
Archimedes 87, 262, 310, 
383. 
Archytas 29, 87, 288, 352. 
Argand 332, 396. 
Aristarch 288, 352. 
Aristoteles 4, 80, 221, 
284, 300, 304, 439, 440. 
Augustinus 352. 
Austin 450. 
Autenrieth 35. 
Avenarius 13. 
Babbage 328. 
Bacon 246, 284. 
Baumbach 94. 
Becker 400. 
Becquerel 215. 
Beneke 169, 182, 281, 
305, 387, 421. 
Bennet 214. 
Bentlep 236. 
Bergerac 82. 
Berkeley 126. 
Bernard, Cl. 202. 
Bemoulli, Jac. 283, 311, 
312. 
Bessel 391, 421. 
Bethe 55. 
Biedermann 235. 
Biot 335. 
Black 175, 178, 193, 194. 
Boltzmann 237, 301. 
Bolyai 391, 406—420. 
Boole 113, 182. 
BorelH 29. 
Bourdeau 79. 
Boyle 201, 271, 440. 
Bradley 298. 
Brasch 10, 421. 
Brentano 389. 
Bretschneider 256, 257. 
Brewster 205, 267. 
Bridgman, L. 81, 432. 
Brown, S. 202. 
Bücher 78, 
Bunsen 206. 
Buttel-Reepen, v. 74. 
Campbell 372. 
Cantor, G. 333. 
Cantor, M. 85, 324, 358, 
361, 374. 
Cardanus 100, 101, 121. 
Carnot, S. 175, 176, 193, 
196, 229, 273. 
Cavalieri 311, 361, 362. 
Chladni 213. 
Clausius 176, 178, 196. 
Clifford 416. 
Colozza 202. 
Comte, A. 99. 
Coulomb 166, 242, 292. 
Couturat 182, 225, 333. 
Crookes 214, 217. 
Cuvier 177. 
Czuber 329. 
Daguerre 297. 
Darwin 4, 56, 110, 116, 
177, 178. 
Decremps 119—121. 
De la Rive 297. 
Delboeuf 406. 
Demokrit 440. 
Demonax 171, 461. 
Desargues 224. 
Descartes 4, 6, 28, 118, 
178, 179,222,231,238, 
239, 265, 314, 316, 348, 
351, 381, 391, 440. 
Detto, C. 49. 
Diamandi 150. 
Diderot 29, 343. 
Diodor 75, 97. 
Diogenes Laertius 257. 
Driesch 27. 
Drobisch 181. 
Droz 29. 
Namenregister. 
471 
Dubois-Repmond 12. 
Dufay 216, 292. 
Du Hamel 298. 
Duheml78, 179, 188,202, 
244, 267, 293, 388, 409, 
457. 
Dulong 206. 
Dusch 300. 
Dvorak 424. 
Ebbinghaus 427. 
Edison 255. 
Eisenlohr 358. 
Engel 404, 406, 410. 
Ennemoser 68, 90. 
Epikur 440. 
Erb, H. 420, 421. 
Erb, K. A. 421. 
Erman 91, 154. 
Eualthus 169. 
Eudemus 363. 
Euklid 169, 222, 223, 256, 
257, 264, 306, 310, 337, 
338,366—369,373,378, 
379, 383, 401—418. 
Euler 7, 166, 190, 267, 
337, 396. 
Faber 122. 
Pack 329. 
Faraday 118, 178, 201, 
206, 209, 213, 214, 218, 
227—229,242,267,293, 
295, 296, 442—444. 
Fechner 90, 159, 256, 301, 
446. 
Feddersen 147, 211. 
Fizeau 155, 212, 214. 
Flournoy 241. 
Fontana 64. 
Forel 55, 150. 
Foucault 206, 212, 214, 
298. 
Fouillee 24. 
Fourier 228, 290, 420. 
Franklin 155, 156. 
Fraunhofer 213, 298. 
Fresnel 118, 157, 196, 
205, 242, 244, 245, 248, 
317, 444, 454. 
Fries, J. F. 143, 169, 181, 
281, 283. 
Fulton 261. 
Galilei 2, 4, 138—140, 
155, 166, 173, 187—194, 
201, 206, 208, 224, 227, 
246,253—255,262,267, 
269, 273, 289, 310, 314, 
316, 317, 332, 333, 393, 
441, 454. 
Galvani 201, 298. 
Gauß 360, 365, 381,391, 
397, 399, 402, 403, 407, 
409, 410, 415, 416, 421. 
Gay-Lussac 300, 335. 
Geiger, L. 82, 277. 
Gerhardt 360, 361, 369, 
371. 
Gerken 387. 
Gilbert 224, 291. 
Giordano 360, 369, 370. 
Goltz 45, 51, 52. 
Gomperz, H. 127. 
Gomperz, Th. 168. 
Gow, J. 363, 364. 
Graefe 350. 
Graeser 74. 
Grassmann 182, 222, 287, 
332. 
s'Gravesand 205. 
Grillparzer 38. 
Grimaldi 169, 201, 244, 
245, 271, 298. 
Groos 62, 170. 
Gruithuisen 158, 190. 
Güldin 362. 
Guericke 291, 440, 441, 
444. 
Haberlandt 56, 299. 
Haddon 85. 
Haeckel 14. 
Hall 211. 
Hamilton 332. 
Hankel 264, 364, 367. 
Hecker 68. 
Heine 161. 
Heinrich 215. 
Helmholtz 212, 329, 335, 
361, 398, 415, 421. 
Helmont, van 300. 
Herbart 12, 88, 402, 447, 
462. 
Hering, E. 14, 49, 61, 65, 
264, 337, 341, 345, 346, 
349, 430. 
Herodot 97, 232, 302, 
352, 358, 363. 
Heron 29. 
Herschel, J. F. W. 208, 
213, 214, 227, 228, 277, 
284, 291. 
Hertz 1 18, 229, 230, 237, 
250, 296, 298, 444. 
Hepmans 14. 
Hubert 402. 
Hillebrand 240, 247, 338. 
Hipparch 288. 
Hirn 209. 
Hobbes 43. 
Hoff ding 13, 14, 427. 
Hoffmann 98. 
Holder 360, 387. 
Hooke201,207,212,214, 
244, 246, 270, 272, 291, 
298. 
Hoppe 220. 
Horselep 237. 
Houdin 119, 120. 
Hume 280. 
Hupgens 156, 157, 189, 
207,227,231,243—245, 
267,270—273,289,291, 
317, 371, 441. 
472 
Namenregister. 
Inaudi 150. 
James, W. 38, 61, 252, 
341, 427. 
Jerusalem 38, 40, 81, 115, 
432, 460. 
Jevons 213, 220, 240, 243. 
Jones, B. 228. 
Joule 175, 194, 209, 210, 
218. 
Kahlbaum 297. 
Kant 280, 281, 305, 315, 
344, 350, 385, 421. 
Kapp 146. 
Keibel 127. 
Kekule 161. 
Kempelen 29, 30. 
Kepler 139, 152, 156, 157, 
166, 169, 177, 222, 224, 
247,254,255,288—291, 
314, 316, 317, 348, 362. 
Kerr 214. 
Kessel 124. 
Kircher 124. 
Kirchhoff 193, 287, 298, 
314, 450. 
Klein, F. 265, 333, 416. 
Kleinpeter 455. 
Knight 52, 298, 299. 
Kolumbus 232, 233. 
König 156, 255. 
Kopernikus 190,224,227, 
288, 289, 441, 454. 
Kosak 400. 
Koster 350. 
Kreibig 64. 
Kreidl 149. 
Kromann 386, 387. 
Kronecker 329, 399. 
Kulke 161. 
Kundt 209, 217. 
Kunze 312. 
Lactantius 352. 
Lagrange 225. 
Lamarck 177. 
Lambert 404, 406, 407, 
414. 
Lamettrie 28, 29. 
Lampa 29. 
Lange, L. 440, 442. 
Langley 147. 
Lanner, A. 325. 
Laodamas 256, 257. 
Laplace 283, 458. 
Lavoisier 171. 
Lea 98. 
Legendre 409. 
Leibniz 4, 178, 182, 225, 
265,328,360,369—371, 
373, 420, 445, 447. 
Le Monnier 205. 
Le Sage 241. 
Leukipp 440, 
Leverrier 233. 
Licius 122. 
Lie 416. 
Liebig 297, 319. 
Lippershey 255. 
Lippich 211, 217. 
Lissajous 212. 
Listing 344. 
Lobatschefskij 391, 406, 
409—420, 445. 
Loeb 53, 54, 57, 348, 368. 
Lordat 46. 
Lorenz 257. 
Lotze 346. 
Lubbock 86, 105, 463. 
Lucian 39, 90, 171. 
Lyell 177. 
Malus 157, 242, 245, 298. 
Mann 182, 264. 
Marci, M. 271. 
Marep 151. 
Marignac 297. 
Mariotte 335. 
Marsh 213. 
Martius 89. 
Marty 170. 
Marum, van 296. 
Mason, O. 77. 
Massieu 324. 
Maupassant 73. 
Mauthner, F. 82. 
Maxwell 118, 177—179, 
209, 220, 229, 230, 296, 
442, 444. 
Maiper, R. 175, 176, 194, 
196, 298, 452. 
Menger, A. 26, 81. 
Mersenne 262. 
Metschnikoff 463. 
Mepnert 44, 67. 
Mill 240, 299, 304, 305, 
313, 450. 
Möbius 35. 
Morgan, L. 32, 35, 70 bis 
73, 185. 
Morin 211. 
Moser 297. 
Müller, J. 60, 61, 158, 
197, 264, 319, 337. 
Müller, H. 56. 
Münsterberg 61, 432. 
Munk 45. 
Mupbridge 151. 
Naville 250. 
Needham 300. 
Nemec 299. 
Newton 4, 124, 140, 143, 
156,173—178,189,190, 
205—207,212,217,225, 
231,236—239,240,245 
bis 249, 259, 270—272, 
289, 291, 294, 310, 314 
bis 317, 434, 441—444, 
457. 
Noire 82. 
Noll 299. 
Oelzelt-Newin 35, 159, 
282. 
Namenregister. 
473 
Oerstedt 215, 292—294, 
296, 456. 
Ofterdinger 264. 
Oppel 424. 
Ostwald 14, 302. 
Palägyi 446. 
Panum 264. 
Pascal 207, 269, 328, 440. 
Pasch 402. 
Paschen 147. 
Pasteur 300, 302. 
Pauli 430. 
Pearson 450. 
Peltier 218. 
Petit 206. 
Petronius 90. 
Petzoldt 9, 284, 437, 458. 
Phillipp 195. 
Philolaus 288. 
Pietzker 400. 
Pisko 195. 
Plateau 202, 338, 424. 
Piaton 4, 168, 195, 222, 
256, 257, 261, 270, 317, 
318. 
Playfair 174. 
Plutarch 172. 
Poincare 179. 
Poinsot 189. 
Poisson 458. 
Popper 80, 81. 
Poske 183. 
PowelllOO, 101, 110, 111, 
117, 118. 
Prevost 192, 241. 
Preyer 58, 113. 
Proklos 256, 363, 364. 
Protagoras 169. 
Pythagoras 306, 374. 
Quincey, de 65. 
Ramsden 206. 
Reimarus 35. 
Reitlinger 462. 
Reuter 170. 
Ribot 48, 64, 65, 67, 127, 
132, 154, 325. 
Richmann 194, 242. 
Rickert 127. 
Riehl 432. 
Riemann 337, 391, 392, 
396, 397, 399, 415 bis 
417, 422, 439. 
Roberval 262. 
Roemer 298. 
Romanes 73. 
Röntgen 293, 298. 
Roscellin 126. 
Roskoff 68, 90. 
Roux 302. 
Rudio 265. 
Russell 182. 
Saccheri 404, 405, 414. 
Sachs 52—54, 299, 446. 
Sartorius, W. v. 407. 
Saunderson 150, 342. 
Sauveur 156. 
Savart 335. 
Schneider, C. 446. 
Schneider, G. 324. 
Schneider, G. H. 34. 
Schmidt, F. J. 280. 
Schönbein 296. 
Schönflies 333. 
Schopenhauer 64, 73, 315, 
402. 
Schräm 421. 
Schroeder 113, 300. 
Schumacher 407. 
Schumann 161. 
Schuppe 9, 10, 169, 181, 
307, 460. 
Schuster, A. 214. 
Schuster, M. 401. 
Schwann 300. 
Schweickart 409. 
Scott, W. 68. 
Seebeck, T. 218, 293. 
Segner 267. 
Semon 45, 49, 160. 
Siegel 351, 387, 421. 
Simon, M. 68. 
Snell 373. 
Soldan 90. 
Soleil 211. 
Sosikles 352. 
Spallanzani 300. 
Speer 372. 
Spencer 145, 146, 426. 
Spinoza 28. 
Spottiswoode 213. 
Sprengel 56. 
Stäckel 404, 406, 410. 
Stallo 119, 142, 143. 
Steinen, v. d. 111. 
Steiner, J. 373. 
Steinhauser 341. 
Stephenson 187. 
Stern, W. 221, 123. 
Sterneck, v. 8, 338. 
Stevin 156, 173, 189, 193, 
224, 272, 273. 
Stöhr 113, 127, 132,240, 
308. 
Stolz, O. 333, 407, 416. 
Strabo 102. 
Straßen, O. zur 447. 
Stricker 114. 
Strümpell 62, 350. 
Stumpf 346. 
Suarez 170. 
Sundara Row 365. 
Talbot 202. 
Tartini 39. 
Taurinus 409. 
Thibaut 365. 
Thomas 328. 
Thomson,]. 176, 193,229, 
265. 
Thomson, W. 176, 178, 
179, 193, 196, 229, 237, 
265. 
474 
Namenregister. 
Tilly, de 379, 415. 
Tissandier 207. 
Toepler 147, 206. 
Torricelli 269. 
Trendelenburg 402. 
Tycho 288. 
Tylor 73, 82—103, 221, 
233, 324, 325, 365, 367. 
Ueberweg 10, 421. 
Vailati 241. 
Vaschide 67. 
Vaucanson 29. 
Veraguth 350. 
Verworn 13. 
Vitruvius 227. 
Volkmann, P. 141, 203. 
Volta 208. 
Voltaire 39, 90. 
Vurpas 67. 
Wallascheck 46, 78, 85, 
160. 
Wallis 311, 331, 406. 
Watt 202. 
Weber, E. 340. 
Weber, E. F. 64. 
Weber, E. H. 339, 340, 
342, 346. 
Weißenborn 361. 
Wernicke 44. 
Wiener, O. 146, 148, 149. 
Willbrand 46, 47. 
Wheatstone 147,156,211, 
212. 
Whewell 85, 138, 139, 
173, 174, 281, 313, 314, 
318, 319, 450. 
Whitnep 82. 
Wlassak 344. 
Wuttke 82. 
Xerxes 358. 
Young 157,196,244,248, 
317. 
Zell 72, 186. 
Zeller 335. 
Ziehen 460. 
Zindler 386. 
Zola 186. 
Zoth 338. 
Verlag von Johann Ambrosius Barth in Leipzig. 
Von demselben Verfasser erschienen: 
Populärwissenschaftliche 
Vorlesungen. 
8». [XI, 403 S. mit 60 Abbildungen.] 3. verm. Aufl. 1903. M. 6.—, geb. M. 6.80. 
Inhalt: Die Gestalten der Flüssigkeit. Über die Cortischen Fasern des Ohres. 
Die Erklärung der Harmonie. Zur Geschichte der Akustik. Über die Geschwindig- 
keit des Lichtes. Wozu hat der Mensch zwei Augen. Die Symmetrie. Bemerkungen 
zur Lehre vom räumlichen Sehen. Über die Grundbegriffe der Elektrostatik (Menge, 
Potential, Kapazität usw.). Über das Prinzip der Erhaltung der Energie. Die 
ökonomische Natur der physikalischen Forschung. Über Umbildung und Anpassung 
im naturwissenschaftlichen Denken. Über das Prinzip der Vergleichung in der 
Physik. Über den Einfluß zufälliger Umstände auf die Entwicklung von Erfindungen 
und Entdeckungen. Über den relativen Bildungswert der philologischen und der 
mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichtsfächer der höheren Schulen. Über 
Erscheinungen an fliegenden Projektilen. Über Orientierungsempfindungen. 
Zeil sehr, für pliys. Chemie: Mach gehört zu unsem bedeutendsten Denkern 
im erkenntnistheoretischen Gebiete. . . . Auf den Inhalt des Buches geht der Ref. 
absichtlich nicht ein; wenn jemand, so muß Mach im Original gelesen werden. Es 
wh'd genügen, allen Lesern dringend an das Herz zu legen, sich das Buch zu 
kaufen und es nicht nur einmal, sondern von Zeit zu Zeit wieder zu lesen. Jeder 
wird hier oder da denselben Einfluß erfahren, den Kant von seinem Studium Humes 
berichtet : daß er nämlich aus seinem dogmatischen Schlummer geweckt wird. W. O. 
Naturwissenschaftliche Rundschau: Jede einzelne der 19 Vorlesungen trägt 
das Gepräge des Machschen Geistes und verdient als Muster dieser Gattung unserer 
Literatur die weiteste Verbreitung. . . . Vielleicht wird mancher Leser durch diese 
Vorlesungen veranlaßt, sich mit den sonstigen Schriften unseres gediegenen Natur- 
philosophen weiter zu beschäftigen und aus ihrer vornehmen Haltung, die stets auf 
der Höhe des Gedankens bleibt, reichen Genuß zu ziehen. E. Lampe. 
Die Prinzipien der Wärmelehre. 
Historisch-kritisch entwickelt. 
2. Auflage, gr. 8°. 
[VIII, 484 S. mit 105 Figuren und 6 Porträts.] 1900. M. 10.—, geb. M. 11.—. 
Zeitschr. Itir pliys. Chemie: Mit dem vorliegenden Werke hat der Ver- 
fasser allen denen, die in irgend einer Weise an der heutigen Entwicklung der 
Wärmeenergetik interessiert sind — und welcher Chemiker, Physiker oder Techniker 
wäre es nicht — einen ungemein dankenswerten Dienst erwiesen. In gleicher Weise 
wie in seiner noch viel zu wenig gelesenen ,, Mechanik" hat Mach die einzelnen 
Grundlagen unserer Kenntnisse in ihrer geschichtlichen Entwicklung dargestellt 
und führt an dem Faden des historischen Fortschrittes seine Leser in der wirk- 
samsten und anregendsten Weise in die Beherrschung des tatsächlichen und ge- 
danklichen Materials ein, welches den Inhalt dieser Wissenschaft bildet. 
Müncliener Allg'em. Zeitung*: Wir begrüßen die 2., einigermaßen erweiterte 
Auflage von Machs Werk und wollen hiermit dasselbe als die Geistesarbeit eines 
im wahrsten Sinne des Wortes hervorragenden Naturphilosophen einem möglichst 
großen Kreise von denkenden Lesern empfehlen. 
Verlag von Johann Ambrosius Barth in Leipzig. 
KLEINPETER, Prof. Dr. HANS, Die Erkenntnistlieorie der 
Naturforschung der Gegenwart. Unter Zugrundelegung der Anschau- 
ungen von Mach, Stallo, Clifford, Kirchhoff, Hertz, Pearson und 
Ostwald dargestelh. [XII, 160 S.] 1905. M. 3.—, geb. M. 3.80. 
Das vorliegende Buch deckt sich im allgemeinen mit den Ansichten der im Titel 
genannten Personen. Der Herr Verfasser hat aus deren im Wesen übereinstimmenden 
Ansichten jenen Kern gemeinsamer Überzeugungen darzustellen versucht, der nach seinem 
Dafürhalten die Grundlage zu einer wissenschaftlich haltbaren Erkenntnislehre zu bieten 
geeignet erscheint. Das Buch gibt diejenigen Anschauungen wieder, die heutigentags 
modern sind und wird daher auch außerhalb des Kreises der Fachphilosophen bei Stu- 
denten, Lehrern und dem größeren Publikum Anklang finden. 
CLIFFORD, W. K., Vou der Natur der Dinge an sich. Aus dem 
Englischen übersetzt und herausgegeben von Dr. Hans Kleinpeter. Mit 
einer Einleitung des Herausgebers über Cliffords Leben und Wirken. [48 S.] 
1903. M. 1.20. 
Clifford war ein Mann von seltener Originalität, erfüllt von dem Ideal innigster Ver- 
bindung von Philosophie und Wissenschaft und bestrebt, dasselbe auf allen Gebieten 
menschlicher Tätigkeit zur Geltung zu bringen. Die vorliegende Vorlesung, aus einem 
größeren Werke entnommen, ist besonders charakteristisch und ein Meisterstück des Ver- 
fassers. Die kleine Broschüre dürfte überall Eingang finden ; da Clifford ähnliche Ziele 
verfolgt wie Ernst Mach in Wien, werden besonders alle Besitzer der Machschen Bücher 
dem Werkchen Interesse entgegenbringen. 
OLZAPFEL, RUDOLF, PanideaL Psychologie der sozialen 
GrefÜhle. Mit einem Vorwort von E. Mach. [X, 232 S.] 1901. M. 7.-. 
„ . . . Meine Anteilnahme stieg mit fortschreitender Lektüre dieses Buches und die- 
selbe war mir in vielen Teilen hochinteressant. Ich fühlte eine Seite meines Innern, auf 
die ich bisher als ein den Objekten zugewandter Naturforscher recht wenig geachtet hatte, 
merkwürdig beleuchtet. In der Tat gewinnt man hier tieferen Einblick in die Psychologie 
des Forschers, Erfinders, Künstlers, Religionsstifters, Kulturgestalters. Man lernt es ver- 
stehen, wie sogar das eigene Ich in einem Entwickelungsstadium demselben Ich in einem 
anderen Entwickelungszustand entfremdet werden kann." E. Mach. 
^INYDER, KARL, Das Weltbild der modernen Naturwissen- 
^^ schalt nach den Ergebnissen der neuesten Forschungen. Autorisierte deutsche 
Übersetzung von Prof. Dr. Hans Kleinpeter. [IX, 306 S. mit 16 Bild- 
nissen.] 1905. M. 5.60, geb. M. 6.60. 
Physik, Chemie, Physiologie und Biologie befinden sich heute in einem so gewaltigen 
Umbildungsprozeß, daß es nicht nur dem Fernerstehenden, sondern auch dem mit der 
Entwicklung auf einem Spezialgebiete Vertrauteren schwer wird, dem Fortschritt auf der 
ganzen Linie zu folgen. Das vorliegende Buch ist geeignet, hier helfend einzugreifen. In 
allgemein verständlicher, schlichter Sprache setzt es den Leser, ohne von ihm besondere Vor- 
kenntnisse zu verlangen, von den gewaltigen Errungenschaften der letzten Jahre in Kenntnis. 
Deutsche Literatnrzeitung: ... So darf das von der Verlagsbuchhandlung sehr schön 
ausgestattete Buch als eine erfreuliche Bereicherung auch der deutschen Literatur ange- 
sehen werden. 
^JTALLO, J. B., Die BegriiTe und Theorien der modernen 
*^ Physik. Aus dem Engl, übers, u. herausg. von Prof. Dr. Hans Klein- 
peter. Mit einem Vorwort von Ernst Mach. [XX, 332 S. mit Porträt des 
Verfassers.] 1901. M. 7.—, geb. M. 8.50. 
Stallo, ein Deutsch-Amerikaner, der 1900 in Florenz gestorben ist, behandelte von 
allgemeinen und philosophischen Gesichtspunkten aus dieselben Fragen, die Prof. E. Mach 
aus speziell naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten erörtert hat, und kommt auch zu sehr 
verwandten Resultaten. Das Buch wendet sich in der Hauptsache an die naturwissen- 
schaftlich gebildeten Philosophen. 
Monatsschrift für höhere Schulen: Wie Hume den Kausalbegriff und d'Alembert 
den Kraftbegriff einer kritischen Prüfung unterzog, so nimmt der Verfasser der vor- 
liegenden Schrift den Atombegriff unter die sondierende Lupe der Philosophie. . . . 
Mit gründlichem historischem Wissen ausgerüstet und mit scharfem philosophischem Blick 
begabt, weiß er die Mängel des atomistischen Weltbildes freimütig und mit vielfach 
zwingender Klarheit bloßzulegen. 
(i) 
38 9 
OGi 1 iüö6 
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