Full text of "Erkenntnis und Irrtum : Skizzen zur Psychologie der Forschung"
Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung. Von ERNST MACH Emer. Professor an der Universität Wien. Zweite durchgesehene Auflage. ^»_(i^ ^r^^ LEIPZIG Verlag von Johann Ambrosius Barth 1906. Alle Rechte vorbehalten. Druck von Grimme & Trömel in Leipzig. WILHELM SCHUPPE IN HERZLICHER VEREHRUNG GEWIDMET. Vorwort. Ohne im geringsten Philosoph zu sein oder auch nur heißen zu wollen, hat der Naturforscher ein starkes Bedürfnis, die Vor- gänge zu durchschauen, durch welche er seine Kenntnisse er- wirbt und erweitert. Der nächstliegende Weg hierzu ist, das Wachstum der Erkenntnis im eigenen Gebiet und in den ihm leichter zugänglichen Nachbargebieten aufmerksam zu betrachten, und vor allem die einzelnen den Forscher leitenden Motive zu erspähen. Diese müssen ja ihm, welcher den Problemen so nahe gestanden, die Spannung vor der Lösung und die Ent- lastung nach derselben so oft miterlebt hat, leichter als einem andern sichtbar sein. Das Systematisieren und Scfiematisieren wird ihm, der fast an jeder größeren Problemlösung immer noch Neues erblickt, schwerer, erscheint ihm immer noch ver- früht, und er überläßt es gern den darin geübteren Philosophen. Der Naturforscher kann zufrieden sein, wenn er die bewußte psycliiscJie Tätigkeit des Forschers als eine methodisch geklärte, verschärfte und verfeinerte Abart der instinktiven Tätigkeit der Tiere und Menschen wiedererkennt, die im Natur- und Kultur- leben täglich geübt wird. Die Arbeit der Schematisierung und Ordnung der metho- dologischen Kenntnisse, wenn sie im geeigneten Entwicklungs- stadium des Wissens und in zureichender Weise ausgeführt wird, dürfen wir nicht unterschätzen.^) Es ist aber zu betonen, daß V) Eine systematische Darstellung, welcher ich in allem Wesentlichen zustimmen kann, in welcher auch strittige psychologische Fragen, deren Entscheidung für die Erkenntnistheorie nicht dringend und nicht unbedingt nötig ist, sehr geschickt ausgeschaltet sind, gibt Prof. Dr. H. Kleinpeter (Die Erkenntnistheorie der Gegenwart. Leipzig, J. A. Barth, 1905). J Vorwort. die Übung im Forschen, sofern sie überhaupt erworben werden kann, viel mehr gefördert wird durch einzelne lebendige Bei- spiele, als durch abgeblaßte abstrakte Formeln, welche doch wieder nur durch Beispiele konkreten, verständlichen Inhalt ge- winnen. Deshalb waren es auch besonders Naturforscher, wie Kopernikus, Gilbert, Kepler, Galilei, Huygens, Newton, unter den neueren J. F. W. Herschel, Faraday, Whewell, Maxwell, Jevons u. a., welche dem Jünger der Naturforschung mit ihren Anleitungen wirkliche Dienste geleistet haben. Hoch- verdienten Männern, wie J. F. Fries und E. F. Apelt, denen manche Teile der naturwissenschaftlichen Methodik so ausgiebige Förderung verdanken, ist es nicht gelungen, sich von vorge- faßten philosophischen Ansichten ganz zu befreien. Diese Philo- sophen, wie selbst der Naturforscher Whewell, sind durch ihre Anhänglichkeit an Kant sehe Gedanken zu recht wunder- lichen Auffassungen sehr einfacher naturwissenschaftlicher Fragen gedrängt worden. Die folgenden Blätter werden darauf zurück- kommen. Unter den älteren deutschen Philosophen ist vielleicht nur F. E. Beneke als derjenige zu nennen, welcher sich von solchen vorgefaßten Meinungen ganz frei zu machen wußte. Rückhaltlos bekennt er seine Dankesschuld an die englischen Naturforscher. Im Winter 1895/96 hielt ich eine Vorlesung über „Psycho- logie und Logik der Forschung", in welcher ich den Versuch machte, die Psychologie der Forschung nach Möglichkeit auf autochthone Gedanken der Naturwissenschaft zurückzuführen. Die vorliegenden Blätter enthalten im wesentlichen eine Aus- wahl des dort behandelten Stoffes in freier Bearbeitung. Ich hoffe hiermit jüngeren Fachgenossen, insbesondere Physikern, manche Anregung zu weiteren Gedanken zu bringen, und die- selben zugleich auf von ihnen wenig kultivierte Nachbargebiete hinzuweisen, deren Beachtung doch jedem Forscher über das eigene Denken reiche Aufklärung bietet. Die Durchführung wird natürlich mit mancherlei Mängeln behaftet sein. Obgleich ich mich nämlich stets für die Nach- bargebiete meines Spezialfaches und auch für Philosophie leb- haft interessierte, so konnte ich selbstverständlich manche dieser Gebiete, und so besonders das letztgenannte, doch nur als Vorwort. ( VII Sonntagsjäger durchstreifen. Wenn ich hierbei das Glück hatte, mit meinem naturwissenschaftlichen Standpunkt namhaften Philo- sophen, wie Avenarius, Schuppe, Ziehen u. a., deren jüngeren Genossen Cornelius, Petzoldt, v. Schubert-Soldern u. a., auch einzelnen hervorragenden Naturforschern recht nahe zu kommen, so mußte ich mich hiermit von andern bedeutenden Philosophen, wie es die Natur der gegenwärtigen Philosophie notwendig mit sich bringt, wieder sehr entfernen.^) Ich muß mit Schuppe sagen: Das Land des Transscendenten ist mir ver- schlossen. Und wenn ich noch das offene Bekenntnis hinzufüge, daß dessen Bewohner meine Wißbegierde gar nicht zu reizen vermögen, so kann man die weite Kluft ermessen, welche zwischen vielen Philosophen und mir besteht. Ich habe schon deshalb ausdrücklich erklärt, daß ich gar kein Philosoph, sondern nur Naturforscher bin. Wenn man mich trotzdem zuweilen, und in etwas lauter Weise, zu den ersteren gezählt hat, so bin ich hierfür nicht verantwortlich. Selbstverständlich will ich aber auch kein Naturforscher sein, der sich blind der Führung eines >) In je einem Kapitel der „Mechanik" und der „Analyse" habe ich die mir bekannt gewordenen Einwendungen gegen meine Ansichten beantwortet. Hier muß ich nur einige Bemerkungen über Hönigswalds „Zur Kritik der Mach sehen Philosophie" (Berlin 1903) einfügen. Es gibt vor allem keine Mach sehe Philosophie, sondern höchstens eine naturwissenschaftliche Metho- dologie und Erkenntnispsychologie, und beide sind, wie alle naturwissen- schaftlichen Theorien vorläufige, unvollkommene Versuche. Für eine Philo- sophie, die man mit Hilfe fremder Zutaten aus diesen konstruieren kann, bin ich nicht verantwortlich. Daß meine Ansichten mit den Kantschen Ergeb- nissen nicht stimmen können, mußte, bei der Verschiedenheit der Ansätze, die sogar einen gemeinsamen Boden für die Diskussion ausschließen (vgl. Kleinpeters „Erkenntnistheorie" und auch die vorliegende Schrift), für jeden Kantianer und auch für mich von vornherein feststehen. Ist denn aber die Kant sehe Philosophie die alleinige unfehlbare Philosophie, daß es ihr zusteht, die SpezialWissenschaften zu warnen, daß sie ja nicht auf eigenem Gebiet, auf eigenen Wegen zu leisten versuchen, was sie selbst vor mehr als hundert Jahren denselben zwar versprochen, aber nicht geleistet hat? Ohne also im mindesten an der guten redlichen Absicht von Hönigswald zu zweifeln, glaube ich doch, daß eine Auseinandersetzung etwa mit den „Empiriokritikern" oder mit den „Immanenten", mit welchen er doch noch mehr Berührungspunkte finden konnte, für ihn und andere bessere Früchte getragen hätte. Sind die Philosophen einmal untereinander einig, so wird die Verständigung mit den Naturforschern nicht mehr so schwer fallen. VIII VorworL einzelnen Philosophen anvertraut, so wie dies etwa ein Moliere- scher Arzt von seinem Patienten erwartet und fordert. Die Arbeit, welche ich im Interesse der naturwissenschaft- lichen Methodologie und Erkenntnispsychologie auszuführen ver- sucht habe, besteht in folgendem. Zunächst habe ich getrachtet, nicht etwa eine neue Philosophie in die Naturwissenschaft ein- zuführen, sondern eine alte abgestandene aus derselben zu ent- fernen, ein Bestreben, das übrigens auch von manchen Natur- forschern recht übelgenommen wird. Unter den vielen Philo- sophemen, die im Laufe der Zeit aufgetreten sind, befinden sich nämlich manche, welche die Philosophen selbst als Irrtümer erkannt oder doch so durchsichtig dargelegt haben, daß sie von jedem Unbefangenen leicht als solche erkannt werden konnten. Diese haben sich in der Naturwissenschaft, wo sie einer weniger aufmerksamen Kritik begegneten, länger lebend gehalten, so wie eine wehrlose Tierspecies auf einer abgelegenen Insel von Feinden verschont bleibt. Solche Philosopheme, welche in der Naturwissenschaft nicht nur nutzlos sind, sondern schädliche müßige Pseudoprobleme erzeugen, haben wohl nichts Besseres verdient, als beseitigt zu werden. Habe ich damit etwas Gutes getan, so ist dies eigentlich das Verdienst der Philosophen. Sollten sie dieses von sich weisen, so wird die künftige Gene- ration vielleicht gegen sie gerechter sein, als sie selbst es sein wollten. Ferner habe ich im Verlauf von mehr als 40 Jahren, als von keinem System befangener naiver Beobachter, im Labora- torium und Lehrsaal Gelegenheit gehabt, die Wege zu erschauen, auf welchen die Erkenntnis fortschreitet. Ich habe versucht, dieselben in verschiedenen Schriften darzulegen. Aber auch, was ich da erblickt habe, ist nicht mein ausschließliches Eigen- tum. Andere aufmerksame Forscher haben oft dasselbe oder sehr Naheliegendes wahrgenommen. Wäre die Aufmerksamkeit der Naturforscher nicht so sehr von den sich drängenden Einzel- aufgaben der Forschung in Anspruch genommen gewesen, so daß manche methodologische Funde wieder in Vergessenheit geraten konnten, so müßte, was ich an Erkenntnispsychologie zu bieten vermag, seit langer Zeit schon in gesichertem Besitz der Naturforscher sich befinden. Eben darum glaube ich, daß meine Arbeit nicht verloren sein wird. Vielleicht erkennen sogar Vorwort. IX die Philosophen einmal in meinem Unternehmen eine philo- sophische Läuterung der naturwissenschaftlichen Methodologie und kommen ihrerseits einen Schritt entgegen. Wenn dies aber auch nicht geschieht, hoffe ich doch den Naturforschern ge- nützt zu haben. Herr Dr. W. Pauli, Privatdocent für interne Medizin, hatte die besondere Freundlichkeit, eine Korrektur zu lesen, wofür ich ihm hiermit meinen herzlichen Dank ausspreche. Wien, im Mai 1905. D. V. Vorwort zur zweiten Auflage. Der Text der zweiten Auflage unterscheidet sich nur un- wesentlich von jenem der ersten. Zu eingreifender Umarbeitung fehlte sowohl die Zeit als der Anlaß. Manche kritische Be- merkungen wurden mir auch zu spät bekannt, um dieselben noch berücksichtigen zu können. Verweisungen auf Schriften verwandten Inhalts, welche gleich- zeitig mit oder unmittelbar nach der ersten Auflage dieses Buches erschienen sind, habe ich in Form von Anmerkungen hinzugefügt. Eine nähere Verwandtschaft meiner Grundansichten zu jenen Jerusalems offenbart sich durch dessen Buch „Der kritische Idealismus und die reine Logik" (1905); dieselbe ist wohl enger, als wir beide, auf verschiedenem spezialwissenschaftlichen Boden stehend, vorher annehmen konnten; sie dürfte auf die gemein- same Anregung durch die Biologie, insbesondere durch die Entwicklungslehre zurückzuführen sein. Manche Berührungs- punkte und reiche Anregung fand ich auch in Stöhrs origineller Arbeit „Leitfaden der Logik in psychologisierender Darstellung" (1905). Sehr erfreut war ich durch Duhems Werk „La theorie physique, son objet et sa structure" (1906). So weit gehende Übereinstimmung hoffte ich bei Physikern noch nicht zu finden. Duhem weist jede metaphysische Auffassung physikalischer Fragen ab; er sieht in der begrifflich-ökonomischen Fixierung des Tatsächlichen das Ziel der Physik; er hält die historisch- genetische Darstellung der Theorien für die einzig richtige und didaktisch zweckmäßige. Das sind Ansichten, die ich in Bezug auf Physik seit reichlich drei Decennien vertrete. Die Übereinstimmung ist mir um so wertvoller, als Duhem ganz unabhängig zu denselben Ergebnissen gelangt ist. Während Vorwort zur zweiten Auflage. & ich aber, wenigstens in dem vorliegenden Buch, hauptsächlich die Verwandtschaft des vulgären und des wissenschaftlichen Denkens hervorhebe, beleuchtet Duhem besonders die Unter- schiede des vulgären und des kritisch-physikalischen Beobachtens und Denkens, so daß ich sein Buch meinen Lesern als ergänzende und aufklärende Lektüre wärmstens empfehlen möchte. In dem Folgenden werde ich oft auf Duhem s Äußerungen zu verweisen und nur selten, in untergeordneten Punkten, eine Meinungsdifferenz zu bemerken haben. Herr Dr. James Moser, Privatdocent an der hiesigen Uni- versität, hatte die besondere Freundlichkeit, eine Korrektur zu lesen, wofür ich ihm auch hier herzlich danke. Wien, im April 1906. D. V. Inhaltsverzeichnis. Seite Vorwort V Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken 1 Eine psj»cho-physiologische Betrachtung 20 Gedächtnis. Reproduktion und Association 31 Reflex, Instinkt, Wille, Ich 50 Die Entwicklung der Individualität in der natürlichen und kulturellen Umgebung 70 Die Wucherung des Vorstellungslebens 88 Erkenntnis und Irrtum 108 Der Begriff 126 Empfindung, Anschauung, Phantasie 144 Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander .... 164 Über Gedankenexperimente 183 Das physische Experiment und dessen Leitmotive 201 Ähnlichkeit und Analogie als Leitmotive der Forschung 220 Die Hypothese 232 Das Problem 251 Die Voraussetzungen der Forschung 275 Beispiele von Forschungswegen 287 Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung 304 Zahl und Maß 320 Der physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen 337 Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie .... 353 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Naturforschung 389 Die physiologische Zeit im Gegensatz zur metrischen 423 Zeit und Raum physikalisch betrachtet 434 Sinn und Wert der Naturgesetze 449 Sachregister 464 Namenregister 470 Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. 1. Unter einfachen, beständigen, günstigen Verhältnissen lebende niedere Tiere passen sich durch die angeborenen Reflexe den augenblicklichen Umständen an. Dies genügt gewöhnlich zur Erhaltung des Individuums und der Art durch eine angemessene Zeit. Verwickelteren und weniger beständigen Verhältnissen kann ein Tier nur widerstehen, wenn es sich einer räumlich und zeit- lich ausgedehnteren Mannigfaltigkeit der Umgebung anzupassen vermag. Es ist hierzu eine räumliche und zeitliche Fernsichtig- keit nötig, welcher zunächst durch vollkommenere Sinnesorgane, und bei weiterer Steigerung der Anforderungen durch Entwick- lung des Vorstellungslebens entsprochen wird. In der Tat hat ein mit Erinnerung ausgestattetes Lebewesen eine ausgedehntere räumliche und zeitliche Umgebung im psj>chischen Gesichtsfeld, als es durch seine Sinne zu erreichen vermag. Es nimmt sozu- sagen auch die Teile der Umgebung wahr, die an die unmittel- bar sichtbare grenzen, sieht Beute oder Feinde herankommen, welche noch kein Sinnesorgan anmeldet. Was dem primitiven Menschen einen quantitativen Vorteil über seine tierischen Ge- nossen verbürgt, ist wohl nur die Stärke seiner individuellen Erinnerung, die allmählich durch die mitgeteilte Erinnerung der Vorfahren und des Stammes unterstützt wird. Auch der Fort- schritt der Kultur überhaupt ist wesentlich dadurch gekennzeichnet, daß zusehends größere räumliche und zeitliche Gebiete in den Bereich der Obsorge des Menschen gezogen werden. Mit der teilweisen Entlastung des Lebens, welche bei steigender Kultur zunächst durch die Teilung der Arbeit, die Entwicklung der Gewerbe u. s. w. eintritt, gewinnt das auf ein engeres Tatsachen- Mach, Erkenntnis und Irrtum. \ 2 Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. gebiet gerichtete Vorstellungsleben des einzelnen an Kraft, ohne daß jenes des gesamten Volkes an Umfang verliert. Das so er- starkte Denken kann nun selbst allmählich zu einem Beruf werden. Das wissenschaftliche Denken geht aus dem volkstümlichen Denken hervor. So schließt das wissenschaftliche Denken die kontinuier- liche biologische Entwicklungsreihe, welche mit den ersten ein- fachen Lebensäußerungen beginnt. 2. Das Ziel des vulgären Vorstellungslebens ist die gedank- liche Ergänzung, Vervollständigung einer teilweise beobachteten Tatsache. Der Jäger stellt sich die Lebensweise eines eben erspähten Beutetiers vor, um danach sein eigenes Verhalten zweckentsprechend zu wählen. Der Landwirt denkt an den passenden Nährboden, die richtige Aussaat, die Zeit der Frucht- reife einer Pflanze, die er zu kultivieren gedenkt. Diesen Zug der gedanklichen Ergänzung einer Tatsache aus einem gegebenen Teil hat das wissenschaftliche Denken mit dem vulgären ge- mein. Auch Galilei will nichts anderes, als den ganzen Ver- lauf der Bewegung sich vergegenwärtigen, wenn die anfäng- liche Geschwindigkeit und Richtung eines geworfenen Steines gegeben ist. Allein durch einen andern Zug unterscheidet sich das wissenschaftliche Denken vom vulgären oft sehr bedeutend. Das vulgäre Denken, wenigstens in seinen Anfängen, dient prak- tischen Zwecken, zunächst der Befriedigung leiblicher Bedürf- nisse. Das erstarkte wissenschaftliche Denken schafft sich seine eigenen Ziele, sucht sich selbst zu befriedigen, jede intellektuelle Unbehaglichkeit zu beseitigen. Im Dienste praktischer Zwecke gewachsen, wird es sein eigener Herr. Das vulgäre Denken dient nicht reinen Erkenntniszwecken , und leidet deshalb an mancherlei Mängeln, welche auch dem von diesem abstammenden wissenschaftlichen Denken anfänglich anhaften. Von diesen befreit sich letzteres nur sehr allmählich. Jeder Rückblick auf eine voraus- gehende Periode lehrt, daß wissenschaftliches Denken in seinem Fortschritt in einer unausgesetzten Korrektur des vulgären Denkens besteht. Mit dem Wachsen der Kultur äußert aber das wissenschaftliche Denken seine Rückwirkung auch auf jenes Denken, welches praktischen Zwecken dient. Mehr und mehr wird das vulgäre durch das vom wissenschaftlichen durch- drungene technische Denken eingeschränkt und vertreten. Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. 3 3. Die Abbildung der Tatsachen in Gedanken, oder die An- passung der Gedanken an die Tatsachen, ermögHcht dem Den- ken, nur teilweise beobachtete Tatsachen gedanklich zu ergänzen, soweit die Ergänzung durch den beobachteten Teil bestimmt ist. Die Bestimmung besteht in der Abhängigkeit der Merkmale der Tatsachen voneinander, auf welche somit das Denken auszu- gehen hat. Da nun das vulgäre und auch das beginnende wissenschaftliche Denken sich mit einer recht rohen Anpassung der Gedanken an die Tatsachen begnügen muß, so stimmen auch die den Tatsachen angepaßten Gedanken untereinander nicht vollständig überein. Anpassung der Gedanken aneinander ist also die weitere Aufgabe, welche das Denken zu seiner vollen Befriedigung lösen muß. Dies letztere Streben, welches die logische Läuterung des Denkens bedingt, aber weit über dieses Ziel hinausragt, kennzeichnet vorzugsweise die Wissen- schaft im Gegensatz zum vulgären Denken. Letzteres genügt sich, wenn es nur ungefähr der Verwirklichung praktischer Zwecke dient. 4. Das wissenschaftliche Denken tritt uns in zwei anscheinend recht verschiedenen Typen entgegen: dem Denken des Philo- sophen und dem Denken des Spezialforschers. Der erstere sucht eine möglichst vollständige, weltumfassende Orientierung über die Gesamtheit der Tatsachen, wobei er nicht umhin kann, seinen Bau auf Grund fachwissenschaftlicher Anleihen auszu- führen. Dem anderen ist es zunächst um Orientierung und Übersicht in einem kleineren Tatsachengebiet zu tun. Da aber die Tatsachen immer etwas willkürlich und gewaltsam, mit Rück- sicht auf den ins Auge gefaßten augenblicklichen intellektuellen Zweck, gegeneinander abgegrenzt werden, so verschieben sich diese Grenzen beim Fortschritt des forschenden Denkens immer weiter und weiter. Der Spezialforscher kommt schließlich auch zur Einsicht, daß die Ergebnisse aller übrigen Spezialforscher zur Orientierung in seinem Gebiet berücksichtigt werden müssen. So strebt also auch die Gesamtheit der Spezialforscher ersichtlich nach einer Weltorientierung durch Zusammenschluß der Spezial- gebiete. Bei der Unvollkommenheit des Erreichbaren führt dieses Streben zu offenen oder mehr oder minder verdeckten Anleihen beim philosophischen Denken. Das Endziel aller Forschung ist 4 Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. also dasselbe. Es zeigt sich dies auch darin, daß die größten Philosophen, wie Plato, Aristoteles, Descartes, Leibniz u. a. zugleich auch der Spezialforschung neue Wege eröffnet und ander- seits Forscher wie Galilei, Newton und Darwin u. a., ohne Philosophen zu heißen, doch das philosophische Denken mächtig: gefördert haben. Es ist allerdings richtig: Was der Philosoph für einen mög- lichen Anfang hält, winkt dem Naturforscher erst als das sehr ferne Ende seiner Arbeit. Allein diese Meinungsverschiedenheit soll die Forscher nicht hindern, und hindert sie tatsächlich auch nicht, voneinander zu lernen. Durch die zahlreichen Versuche, die allgemeinsten Züge großer Gebiete zusammenzufassen, hat sich die Philosophie in dieser Richtung reichliche Erfahrung er- worben; sie hat nach und nach sogar teilweise die Fehler er- kannt und vermeiden gelernt, in die sie selbst verfallen ist und in die der philosophisch nicht geschulte Naturforscher seinerseits noch heute fast gewiß verfällt. Aber auch positive wertvolle Ge- danken, wie z. B. die verschiedenen Erhaltungsideen, hat das philosophische Denken der Naturforschung geliefert. Der Philo^ soph entnimmt wieder der Spezialforschung solidere Grundlagen,, als sie das vulgäre Denken ihm zu bieten vermag. Die Natur- wissenschaft ist ihm einerseits ein Beispiel eines vorsichtigen^ festen und erfolgreichen wissenschaftlichen Baues, während er anderseits aus der allzugroßen Einseitigkeit des Naturforschers nützliche Lehren zieht. In der Tat hat auch jeder Philosoph seine Privat -Naturwissenschaft und jeder Naturforscher seine Privat-Philosophie. Nur sind diese Privat-Wissenschaften meist etwas rückständiger Art. In den seltensten Fällen kann der Naturforscher die Naturwissenschaft des Philosophen, wo sich dieselbe gelegentlich äußert, für voll nehmen. Die meisten Naturforscher hingegen pflegen heute als Philosophen einen 150 Jahre alten Materialismus, dessen Unzulänglichkeit aller- dings nicht nur die Fachphilosophen, sondern alle dem philo- sophischen Denken nicht zu fern Stehenden, längst durchschaut haben. Nur wenige Philosophen nehmen heute an der natur- wissenschaftlichen Arbeit teil, und nur ausnahmsweise widmet der Naturforscher eigene Denkarbeit philosophischen Fragen. Dies ist aber zur Verständigung durchaus notwendig, denn Philosophisches und naturmssenschaftliches Denken. 5 bloße Lektüre kann hier dem einen wie dem andern nicht helfen. Überblicken wir die Jahrtausende alten Wege, welche Philo- sophen und Naturforscher gewandelt sind, so finden wir die- selben teilweise wohl gebahnt. An manchen Stellen scheinen sie aber durch sehr natürliche, instinktive, philosophische und naturwissenschaftliche Vorurteile verlegt, welche als Schutt älterer Versuche, mißlungener Arbeit, zurückgeblieben sind. Es möchte sich empfehlen, daß von Zeit zu Zeit diese Schutthalden weg- geräumt oder umgangen werden. 5. Nicht nur die Menschheit, sondern auch jeder einzelne findet beim Erwachen zu vollem Bewußtsein eine fertige Welt- ansicht in sich vor, zu deren Bildung er nichts absichtlich bei- getragen hat. Diese nimmt er als ein Geschenk der Natur und Kultur hin. Hier muß jeder beginnen. Kein Denker kann mehr tun, als von dieser Ansicht ausgehen, dieselbe weiter entwickeln und korrigieren, die Erfahrungen der Vorfahren benützen, die Fehler derselben nach seiner besten Einsicht vermeiden, kurz seinen Orientierungsweg selbständig und mit Umsicht noch einmal gehen. Worin besteht nun diese Weltansicht? Ich finde mich im Raum umgeben von verschiedenen in demselben beweglichen Körpern. Diese Körper sind teils „leblos", teils Pflanzen, Tiere und Menschen. Mein im Räume ebenfalls beweglicher Leib ist für mich ebenso ein sichtbares, tastbares, überhaupt sinnliches Objekt, welches einen Teil des sinnlichen Raumfeldes einnimmt, neben und außer den übrigen Körpern sich befindet, wie diese selbst. Mein Leib unterscheidet sich von den Leibern der übrigen Menschen nebst individuellen Merkmalen dadurch, daß sich bei Berührung desselben eigentümliche Empfindungen einstellen, die ich bei Berührung anderer Leiber nicht beobachte. Derselbe ist ferner meinem Auge nicht so vollständig sichtbar, wie der Leib anderer Menschen. Ich kann meinen Kopf, wenigstens un- mittelbar, nur zum kleinsten Teil sehen. Überhaupt erscheint mein Leib unter einer Perspektive, die von jener aller übrigen Leiber ganz verschieden ist. Denselben optischen Standpunkt kann ich andern Leibern gegenüber nicht einnehmen. Analoges gilt in Bezug auf den Tastsinn, aber auch in Bezug auf die übrigen Sinne. Auch meine Stimme höre ich z. B. ganz anders, 6 Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. als die Stimme der andern Menschen. ^) Ich finde ferner Erinnerungen, Hoffnungen, Befürchtungen, Triebe, Wünsche, "Willen u. s. w. vor, an deren Entwicklung ich ebenso unschuldig bin, wie an dem Vorhandensein der Körper in der Umgebung. An diesen Willen knüpfen sich aber Bewegungen des einen bestimmten Leibes, der sich dadurch und durch das Voraus- gehende als \mein Leib kennzeichnet. — Bei Beobachtung des Verhaltens der übrigen Menschenleiber zwingt mich nebst dem praktischen Bedürfnis eine starke Analogie, der ich nicht wider- stehen kann, auch gegen meine Absicht, Erinnerungen, Hoff- nungen, Befürchtungen, Triebe, Wünsche, Willen, ähnlich den mit meinem Leib zusammenhängenden, auch an die andern Menschen- und Tierleiber gebunden zu denken. Das Verhalten anderer Menschen nötigt mich ferner anzunehmen, daß mein Leib und die übrigen Körper für sie ebenso unmittelbar vor- handen sind, wie für mich ihre Leiber und die übrigen Körper, daß dagegen meine Erinnerungen, Wünsche u. s. w. für sie ebenso nur als Ergebnis eines unwiderstehlichen Analogieschlusses be- stehen, wie für mich ihre Erinnerungen, Wünsche u. s. w. Die Gesamtheit des für alle im Räume unmittelbar Vorhandenen mag als das Physische, dagegen das nur einem unmittelbar Gegebene, allen anderen aber nur durch Analogie Erschließbare vorläufig als das Psychische bezeichnet werden. Die Gesamt- heit des nur einem unmittelbar Gegebenen wollen wir auch dessen (engeres) Ich nennen. Man beachte des Descartes Gegenüberstellung: „Materie, Geist-Ausdehnung, Denken". Hierin liegt die natürliche Begründung des Dualismus, der übrigens noch alle möglichen Übergänge vom bloßen Materialismus zum reinen Spiritualismus darstellen kann, je nach der Wertschätzung des Physischen oder Psychischen, nach der Auffassung des einen als des Fundamentalen, des andern als des Ableitbaren. Die Auffassung des im Dualismus ausgesprochenen Gegensatzes kann sich aber auch zu solcher Schärfe steigern, daß an einen Zusammenhang des Physischen und Psychischen — entgegen der natürlichen Ansicht — gar nicht mehr gedacht werden kann, ') An guten Phonographen erkennt man die Klangfarbe der Stimme der Freunde, die eigene Stimme hat aber einen fremden Klang, da die Kopf- resonanz fehlt. Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. 7 woraus die wunderlichen monströsen Theorien des „Occasiona- lismus" und der „prästabiHerten Harmonie" hervorgehen/) 6. Die Befunde im Räume, in meiner Umgebung, hängen von- einander ab. Eine Magnetnadel gerät in Bewegung, sobald ein anderer Magnet genügend angenähert wird. Ein Körper erwärmt sich am Feuer, kühlt aber ab bei Berührung mit einem Eisstück. Ein Blatt Papier im dunklen Raum wird durch die Flamme einer Lampe sichtbar. Das Verhalten anderer Menschen nötigt mich zu der Annahme, daß darin ihre Befunde den meinigen gleichen. Die Kenntnis der Abhängigkeit der Befunde, der Erlebnisse von- einander ist für uns von dem größten Interesse, sowohl praktisch zur Befriedigung der Bedürfnisse, als auch theoretisch zur ge- danklichen Ergänzung eines unvollständigen Befundes. Bei Be- achtung der gegenseitigen Abhängigkeit des Verhaltens der Körper voneinander kann ich die Leiber der Menschen und Tiere wie leblose Körper ansehen, indem ich von allem durch Analogie Erschlossenen abstrahiere. Dagegen bemerke ich wieder, daß mein Leib auf diesen Befund immer einen wesentlichen Einfluß übt. Auf ein weißes Papier kann ein Körper einen Schatten werfen; ich kann aber einen diesem Schatten ähnlichen Fleck auf diesem Papier sehen, wenn ich unmittelbar zuvor einen recht hellen Körper angeblickt habe. Durch passende Stellung meiner Augen kann ich einen Körper doppelt, oder zwei sehr ähnliche Körper dreifach sehen. Körper, welche mechanisch bewegt sind, kann ich, wenn ich mich zuvor rasch gedreht habe, ruhig sehen, oder umgekehrt ruhige bewegt. Bei Schluß meiner Augen verschwindet überhaupt mein optischer Befund. Analoge haptische oder Wärmebefunde u. s. w. lassen sich durch ent- sprechende Beeinflussung meines Leibes ebenfalls herbeiführen. Wenn aber mein Nachbar die betreffenden Versuche an seinem Leibe vornimmt, so ändert dies an meinem Befund nichts, wie- wohl ich durch Mitteilung erfahre und schon nach der Analogie annehmen muß, daß seine Befunde in entsprechender Weise modifiziert werden. ') Euler hat in seinem 83. Brief an eine deutsche Prinzessin dargelegt, wie lächerlich und aller täglichen Erfahrung zuwider es ist, zwischen dem eigenen Leib und der eigenen Psyche keine engere Beziehung anzunehmen, als zwischen irgend einem Leib und irgend einer Psyche. 8 Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. Die Bestandteile meines Befundes im Räume hängen also nicht nur im allgemeinen voneinander ab, sondern insbesondere auch von den Befunden an meinem Leib, und dies gilt mutatis mutandis von den Befunden eines jeden. Wer nun auf die letztere Abhängigkeit aller unserer Befunde von unserem Leib einen übertriebenen Wert legt, und darüber alle anderen Ab- hängigkeiten unterschätzt, der gelangt leicht dazu, alle Befunde als ein bloßes Produkt unseres Leibes anzusehen, alles für ,ysub- jektiv'^ zu halten. Wir haben aber die räumliche Umgrenzung U unseres Leibes immer vor Augen und sehen, daß die Befunde außerhalb U ebensowohl voneinander , als auch von den Be- funden innerhalb U abhängen. Die Erforschung der außerhalb U liegenden Abhängigkeiten ist allerdings viel einfacher und weiter fortgeschritten, als jene der U überschreitenden Abhängig- keiten. Schließlich werden wir aber doch erwarten dürfen, daß letztere Abhängigkeiten doch von derselben Art sind wie erstere, wie wir aus der fortschreitenden Untersuchung fremder, außerhalb unserer 6^- Grenze gelegener Tier- und Menschenleiber mit zu- sehends wachsender Sicherheit entnehmen. Die entwickelte, mehr und mehr auf Physik sich stützende Physiologie kann auch die subjektiven Bedingungen eines Befundes klarlegen. Ein naiver Subjektivismus, der die abweichenden Befunde derselben Person unter wechselnden Umständen und jene verschiedener Personen als verschiedene Fälle von Schein auffaßte und einer vermeint- lichen sich gleichbleibenden Wirklichkeit entgegenstellte, ist jetzt nicht mehr zulässig. Denn nur auf die volle Kenntnis sämtlicher Bedingungen eines Befundes kommt es uns an; nur diese hat für uns praktisches oder theoretisches Interesse. 7. Meine sämtlichen physischen Befunde kann ich in derzeit nicht weiter zerlegbare Elemente auflösen: Farben, Töne, Drücke, Wärmen, Düfte, Räume, Zeiten u. s. w. Diese Elemente zeigen sich sowohl von außerhalb U, als von innerhalb U liegenden Umständen abhängig. Insofern und nur insofern letzteres der *) Vgl. Analyse d. Empfindungen. 4. Aufl. 1903. — Ich möchte hier auch auf die sehr interessanten Ausführungen von R. v. Sterneck hinweisen, obwohl ich in manchen Punkten anderer Meinung bin. (v. Sterneck, Über die Elemente des Bewußtseins. Ber. d. Wiener philosophischen Gesell- schaft. 1903.) Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. 9 Fall ist, nennen wir diese Elemente auch Empfindungen. Da mir die Empfindungen der Nachbarn ebensowenig unmittelbar gegeben sind, als ihnen die meinigen, so bin ich berechtigt die- selben Elemente, in welche ich das Physische aufgelöst habe, auch als Elemente des Psj>chischen anzusehen. Das Physische und idas Psychische enthält also gemeinsame Elemente, steht also keineswegs in dem gemeinhin angenommenen schroffen Gegensatze. Dies wird noch klarer, wenn sich zeigen läßt, daß Erinnerungen, Vorstellungen, Gefühle, Willen, Begriffe sich aus zurückgelassenen Spuren von Empfindungen aufbauen, mit letz- teren also keineswegs unvergleichbar sind. Wenn ich nun die Gesamtheit meines Psychischen — die Empfindungen eingerech- net — mein Ich im weitesten Sinne nenne (im Gegensatz zu dem engeren Ich, S. 6), so kann ich ja in diesem Sinne sagen, daß mein Ich die Welt eingeschlossen (als Empfindung und Vor- stellung) enthalte. Es ist aber nicht außer acht zu lassen, daß diese Auffassung andere gleichberechtigte nicht ausschließt. Diese solipsistische Position bringt die Welt scheinbar als Selbständiges zum Verschwinden, indem sie den Gegensatz zwischen derselben und dem Ich verwischt. Die Grenze, welche wir U genannt haben, bleibt aber dennoch bestehen; dieselbe geht nunmehr nicht lim das engere Ich, sondern mitten durch das erweiterte Ich, mitten durch das „Bewußtsein". Ohne Beachtung dieser Grenze und ohne Rücksicht auf die Analogie unseres Ich mit dem fremden Ich, hätten wir die solipsistische Position gar nicht gewinnen können. Wer also sagt, daß die Grenzen des Ich für die Er- kenntnis unüberschreitbar seien, meint das erweiterte Ich, welches die Anerkennung der Welt und der fremden Ich schon enthält. Auch die Beschränkung auf den „theoretischen" Solipsismus ^) des Forschers macht die Sache nicht erträglicher. Es gibt keinen isolierten Forscher. Jeder hat auch praktische Ziele, jeder lernt auch von andern, und arbeitet auch zur Orientierung anderer. 8. Bei Konstatierung unserer physischen Befunde unterliegen wir mancherlei Irrtümern oder „Täuschungen". Ein schief ins Wasser getauchter gerader Stab wird geknickt gesehen, und der ') Vgl. J. Petzoldt, Solipsismus auf praktischem Gebiet. Vierteljahrs- schrift f. wissensch. Philosophie. XXV. 3. S. 339. — Schuppe, Der Sol- ipsismus. Zeitschr. für immanente Philosophie. B. III S. 327. 10 Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. Unerfahrene könnte meinen, daß er auch haptisch sich als geknickt erweisen werde. Das Luftbild eines Hohlspiegels halten wir für greifbar. Einem grell beleuchteten Gegenstand schreiben wir weiße Körperfarbe zu und sind erstaunt, denselben bei mäßiger Beleuchtung schwarz zu finden. Die Form eines Baumstamms im Dunkeln bringt uns die Gestalt eines Menschen in Erinnerung, und wir meinen diesen vor uns zu haben. Alle solche „Täu- schungen" beruhen darauf, daß wir die Umstände, unter welchen ein Befund gemacht wird, nicht kennen, oder nicht beachten, oder andere als die bestehenden voraussetzen. Unsere Phantasie er- gänzt auch teilweise Befunde in der ihr geläufigsten Weise und fälscht sie zuweilen eben dadurch. Was also im vulgären Denken zur Entgegenstellung von Schein und Wirklichkeit, von Erschei- nung und Ding führt, ist die Verwechslung von Befunden unter den verschiedensten Umständen mit Befunden unter ganz be- stimmten Umständen. Sobald einmal durch das ungenaue vul- gäre Denken der Gegensatz von Erscheinung und Ding sich herausgebildet hat, dringt die betreffende Auffassung auch in das philosophische Denken ein, welche dieselbe schwer genug los wird. Das monströse, unerkennbare „Ding an sich", welches hinter den Erscheinungen steht, ist der unverkennbare Zwillings- bruder des vulgären Dinges, welcher den Rest seiner Bedeutung verloren hat!^) Nachdem durch Verkennen der Grenze U der ganze Inhalt des Ich zum Schein gestempelt ist, was soll uns da noch ein unerkennbares Etwas außerhalb der vom Ich niemals überschreitbaren Grenzen? Bedeutet es etwas anderes als einen Rückfall in das vulgäre Denken|, das hinter der „trügerischen" Erscheinung, wenigstens doch immer noch einen soliden Kern zu finden weiß? Wenn wir die Elemente: rot, grün, warm, kalt u. s. w., wie sie alle heißen mögen, betrachten, welche in ihrer Abhängigkeit von außerhalb U gelegenen Befunden physische, in ihrer Ab- hängigkeit von Befunden innerhalb ^aber psychische Elemente, gewiß aber in beiderlei Sinn unmittelbar gegeben und identisch sind, so hat bei dieser einfachen Sachlage die Frage nach Schein ') Vgl. die vortrefflichen polemischen Ausführungen Schuppes gegen Ueberweg (Brasch, Welt- und Lebensanschauung F. Ueberwegs. Leipzig 1889). Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. \ \ und Wirklichkeit ihren Sinn verloren. Wir haben hier die Elemente der realen Welt und die Elemente des Ich zugleich vor uns. Was uns allein noch weiter interessieren kann, ist die funktionale Ab- hängigkeit {yra mathematischen Sinne) dieser Elemente voneinander. Man mag diesen Zusammenhang der Elemente immerhin ein Ding nennen. Derselbe ist aber kein unerkennbares Ding. Mit jeder neuen Beobachtung, mit jedem naturwissenschaftlichen Satz schreitet die Erkenntnis dieses Dinges vor. Wenn wir das (engere) Ich unbefangen betrachten, so zeigt sich dieses eben- falls als ein funktionaler Zusammenhang der Elemente. Nur die Form dieses Zusammenhanges ist hier eine etwas anders geartete, als wir sie im „physischen" Gebiet anzutreffen gewöhnt sind. Man denke an das verschiedene Verhalten der „Vorstellungen" gegenüber jenem der Elemente des ersteren Gebietes, an die associative Verknüpfung der letzteren u. s. w. Ein unbekanntes, unerkennbares Etwas hinter diesem Getriebe haben wir nicht nötig, und dasselbe hilft uns auch nicht im mindesten zu besserem Verständnis. Ein fast noch Unerforschtes steht allerdings hinter dem Ich; es ist unser Leib. Aber mit jeder neuen physio- logischen und psychologischen Beobachtung wird uns das Ich besser bekannt. Die introspektive und experimentelle Psycho- logie, die Hirnanatomie und Psychopathologie, welchen wir schon so wertvolle Aufklärungen verdanken, arbeiten hier der Physik (im weitesten Sinne) kräftig entgegen, um sich mit dieser zu mehr eindringender Weltkenntnis zu ergänzen. Wir können erwarten, daß alle vernünftigen Fragen sich nach und nach der Beantwortbarkeit nähern werden.^) 9. Wenn man die Abhängigkeit der wechselnden Vorstellungen voneinander untersucht, so tut man das in der Hoffnung, die psychischen Vorgänge, seine eigenen Erlebnisse und Handlungen zu begreifen. Wer aber zum Schluß seiner Untersuchung im ') Die Ausführungen in 5—8 schienen vereinzelten Lesern von den in „Analyse der Empfindungen" gegebenen abzuweichen. Das ist jedoch nicht der Fall. Ich habe, ohne an dem Wesen der Sache etwas zu ändern, mit dieser Form nur der Scheu der Naturforscher vor allem, was an Psycho- monismus zu streifen scheint, Rechnung tragen wollen. Für mich ist es übrigens ganz ohne Belang, mit welchem Namen man meinen Standpunkt bezeichnet. 12 Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. Hintergrunde doch wieder ein beobachtendes und handelndes Subjekt braucht, der bemerkt nicht, daß er sich die ganze Mühe der Untersuchung hätte ersparen können, denn er ist beim Aus- gangspunkt derselben wieder angelangt. Die ganze Situation erinnert lebhaft an die Geschichte von dem Landwirt, der sich die Dampfmaschinen einer Fabrik erklären ließ, um schließlich nach den Pferden zu fragen, durch welche die Maschinen ge- trieben würden. Das war ja das Hauptverdienst Herbarts, daß er das Getriebe der Vorstellungen an sich untersuchte. Aller- dings verdarb er sich die ganze Psychologie wieder durch seine Voraussetzung der Einfachheit der Seele. In neuester Zeit erst fängt man an, sich mit einer „Psychologie ohne Seele" zu be- freunden. 10. Das Vordringen der Analyse unserer Erlebnisse bis zu den „Elementen", über die wir vorläufig nicht hinaus können^), ^) Die Zerlegung in die hier als Elemente bezeichneten Bestandteile ist auf dem vollkommen naiven Standpunkt des primitiven Menschen kaum denk- bar. Derselbe faßt, wie das Tier, wahrscheinlich die Körper der Umgebung als Ganzes auf, ohne die Beiträge, welche die einzelnen Sinne liefern, die ihm aber nur zusammen gegeben sind, zu trennen. Noch weniger wird er Farbe und Gestalt zu scheiden, oder die Mischfarbe in ihre Bestandteile zu zerlegen vermögen. Das alles ist schon Ergebnis einfacher wissenschaft- licher Erfahrungen und Überlegungen. Die Zerlegung der Geräusche in ein- fache Tonempfindungen, der Tastempfindungen in mehrere Teilempfindungen, der Lichtempfindungen in die Grundfarbenempfindungen u. s. w. gehört ja so- gar der neueren "Wissenschaft an. Daß hier die Grenze der Analyse erreicht sei, und daß diese durch kein Mittel der Physiologie weiter getrieben werden könnte, werden wir nicht glauben. Unsere Elemente sind also vorläufige, so wie es jene der Alchimie waren, und die jetzt geltenden der Chemie auch sind. — Wenn für unsere Zwecke, zur Ausschaltung philosophischer Schein- probleme, die Reduktion auf die besagten Elemente auch der beste "Weg schien, so folgt daraus noch nicht, daß Jede wissenschaftliche Untersuchung bei diesen Elementen beginnen muß. "Was für den Psychologen der ein- fachste und natürlichste Anfang ist, muß ein solcher durchaus nicht für den Physiker oder Chemiker sein, der ganz andere Probleme vor sich hat, oder dem dieselben Fragen ganze andere Seiten darbieten. Aber eins ist zu beachten. "Während es keiner Schwierigkeit unterliegt, Jedes physische Erlebnis aus Empfindungen, a.\so psychischen Elementen auf- zubauen, ist keine Möglichkeit abzusehen, wie man aus den in der heutigen Physik gebräuchlichen Elementen: Massen und Bewegungen (in ihrer für diese SpezialWissenschaft allein dienlichen Starrheit) irgend ein psychisches Erlebnis darstellen könnte. WennDubois letzteres richtig erkannte, so bestand sein Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. 13 hat hauptsächlich den Vorteil die beiden Probleme des „uner- gründlichen" Dinges und des ebenso „unerforschlichen" Ich auf Fehler doch darin, daß er an den umgekehrten Weg gar nicht dachte, und die Reduktion beider Gebiete aufeinander darum überhaupt für unmöglich hielt. Man bedenke, daß nichts Gegenstand der Erfahrung oder einer Wissen- schaft ist, was nicht irgendwie Bewußtseinsinhalt werden kann. Die klare Erkenntnis dieses Sachverhalts befähigt uns, je nach dem Bedürfnis und dem Ziel der Untersuchung, bald den psychologischen, bald den physikalischen Standpunkt als Ausgangspunkt zu wählen. So wird auch der das Opfer eines sonderbaren aber weit verbreiteten System -Aberglaubens, welcher meint, weil er das eigene Ich als Medium als Erkenntnis erkannt hat, den Analogie- schluß auf die fremden Ich nicht mehr machen zu dürfen. Dient doch die- selbe Analogie auch zur Ergründung des eigenen Ich. Ich freue mich hier noch auf M. Verworn (Naturwissenschaft und Weltanschauung 1904) hinweisen zu können, welcher wieder sehr verwandte Ansichten vertritt. Man vergleiche insbesondere die Anmerkung S. 45. V.'s Ausdruck „Psychomonismus" scheint mir jetzt allerdings weniger sachgemäß, als es in einer älteren, idealistischen Jugendphase meines Denkens der Fall gewesen wäre. H. Hoff ding (Moderne Philosophen, 1905, S. 121) referiert die münd- liche Äußerung von R. Avenarius: „Ich kenne weder Physisches noch Psychi- sches, sondern nur ein Drittes." Diese Worte würde ich sofort unterschreiben, wenn ich nicht fürchten müßte, daß man unter diesem Dritten ein unbekanntes Dritte, etwa ein Ding an sich oder eine andere metaphysische Teufelei ver- steht. Für mich ist das Physische und Psychische dem Wesen nach identisch, unmittelbar bekannt und gegeben, nur der Betrachtung nach verschieden. Diese Betrachtung, und demnach die Unterscheidung beider, kann überhaupt erst bei höherer psychischer Entwickluug und reicherer Erfahrung eintreten. Vorher ist das Physische und das Psychische ununterscheidbar. Für mich ist jede wissenschaftliche Arbeit verloren, die nicht das unmittelbar Ge- gebene festhält, und die, statt die Beziehungen der Merkmale des Gegebenen zu ermitteln, irgendwo im Leeren fischt. Sind diese Beziehungen ermittelt, so kann man sich noch allerlei Gedanken über dieselben machen. Mit diesen beschäftige ich mich aber nicht. Meine Aufgabe ist keine philosophische, sondern eine rein methodologische. Man soll auch nicht denken, daß ich die vulgären auf guter empirischer Grundlage instinktiv entwickelten Begriffe: Subjekt, Objekt, Empfindung u. s. w., angreifen oder gar abschaffen will. Mit diesem praktisch zureichenden Nebel ist aber methodologisch nichts an- zufangen; da muß vielmehr untersucht werden, welche funktionalen Abhängig- keiten der Merkmale des Gegebenen voneinander zu diesen Begriffen ge- drängt haben, wie es hier geschehen ist. Kein schon erworbenes Wissen soll weggeworfen, sondern erhalten und kritisch verwertet werden. In unserer Zeit finden sich wieder Naturforscher, welche nicht ganz in der Spezialforschung aufgehen, sondern nach allgemeineren Gesichtspunkten 14 Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. ihre einfachste durchsichtigste Form zu bringen und dieselben eben dadurch als Scheinprobleme leicht erkennbar zu machen. suchen. Höffding nennt sie, um sie zweckentsprechend von den eigent- lichen Philosophen zu scheiden, „philosophierende Naturforscher". Wenn ich zunächst zwei derselben, Ostwald und Haeckel, nenne, so steht vor allem deren hervorragende fachliche Bedeutung ganz außer Frage. In Bezug auf die allgemeine Orientierung muß ich die beiden Genannten als Strebens- genossen ansehen und hochschätzen, wenn ich ihnen auch nicht in allen Punkten zustimmen kann. In Ostwald verehre ich außerdem einen mäch- tigen und erfolgreichen Streiter gegen die Erstarrung der Methode, in Haeckel einen aufrechten, unbestechlichen Kämpfer für Aufklärung und Denkfreiheit. Wenn ich nun mit einem Wort sagen soll, nach welcher Rich- tung ich von diesen beiden Forschern mich am meisten entferne, so ist es dies: Mir erscheint die psychologische Beobachtung als eine ebenso wichtige und fundamentale Erkenntnisquelle, wie die physikalische Beobachtung. Von der Gesamtforschung der Zukunft wird wohl gelten, was Hering einmal (Zur Lehre vom Lichtsinn, Wien 1878, S. 106) so treffend von der Physio- logie gesagt hat, sie wird einem von zwei Seiten her (von der physischen und psychischen) zugleich durchgeführten Tunnelbau gleichen. Wie sich Hering auch sonst stellen mag, in diesem Punkte stimme ich ihm voll- kommen bei. Das Streben, zwischen diesen beiden scheinbar so differenten Gebieten eine Brücke und eine homogene Auffassung beider zu finden, liegt in der ökonomischen Konstitution des Menschengeistes. Ich möchte auch nicht bezweifeln, daß bei zweckmäßiger Umformung der Begriffe dieses Ziel so- wohl von der physischen wie von der psychischen Seite her zu erreichen ist, und nur dem unerreichbar scheint, der seit seiner Jugendzeit in starre instinktive oder konventionelle Begriffe eingeschnürt bleibt. Wenn ich mich nicht täusche, so äußert sich auch in der eigentlich philosophischen Literatur, die mir ferner liegt, das Streben nach dem be- zeichneten Ziel. Betrachte ich z. B. das Buch von G. Heymans (Einführung in die Metaphysik auf Grundlage der Erfahrung, 1905), so werden die meisten Naturforscher gegen dessen einfache und klare Ausführungen ebensowenig einzuwenden haben, wie gegen dessen schließlich erreichten Standpunkt, den „kritischen Psychomonismus"; nur daß vielleicht stark materialistische Denker sich noch vor dem Namen scheuen. Allerdings muß man fragen, wenn nach Heymans die Methode der Metaphysik ganz dieselbe ist, wie jene der Naturwissenschaft, nur auf ein weiteres Gebiet übertragen, wozu dann der Name, der seit Kant einen so fatalen Klang hat, und dem der Zusatz „auf Grundlage der Erfahrung" zu widersprechen scheint? Endlich wäre zu er- wägen, daß die Naturwissenschaft seit Newton gelernt hat, Hypothesen, Einschaltungen von x und y zwischen das bekannte Gegebene, nach ihrem wahren, geringen Wert einzuschätzen. Nicht die vorläufige Arbeitshypothese, sondern die Methode der analytischen Untersuchung ist es, was die Natur- wissenschaft wesentlich fördert. — Wenn es nun einerseits sehr erfreulich Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. 15 Indem das, was zu erforschen überhaupt keinen Sinn hat, aus- geschieden wird, tritt das wirklich durch die Spezialwissen- schaften Erforschbare um so deutlicher hervor: die mannigfaltige, allseitige Abhängigkeit der Elemente voneinander. Gruppen solcher Elemente können immerhin als Dinge (als Körper) be- zeichnet werden. Es ergibt sich aber, daß ein isoliertes Ding genau genommen nicht existiert. Nur die vorzugsweise Berück- sichtigung auffallender, stärkerer Abhängigkeiten und die Nicht- beachtung weniger merklicher, schwächerer Abhängigkeiten er- laubt uns bei einer ersten vorläufigen Untersuchung die Fiktion isolierter Dinge. Auf demselben graduellen Unterschiede der Abhängigkeiten beruht auch der Gegensatz der Welt und des Ich. Ein isoliertes Ich gibt es ebensowenig, als ein isoliertes Ding. Ding und Ich sind provisorische Fiktionen gleicher Art. 11. Unsere Betrachtung bietet dem Philosophen sehr wenig oder nichts. Sie ist nicht bestimmt ein oder 7 oder 9 Welt- rätsel zu lösen. Sie führt nur zur Beseitigung falscher, den Naturforscher störender Probleme und überläßt der positiven Forschung das Weitere. Wir bieten zunächst nur ein negatives Regulativ für die naturwissenschaftliche Forschung, um welches der Philosoph gar nicht nötig hat sich zu kümmern, namentlich nicht derjenige, welcher schon sichere Grundlagen einer Welt- anschauung kennt, oder doch zu kennen glaubt. Will also diese Darlegung zunächst vom naturwissenschaftlichen Standpunkt be- urteilt werden, so kann damit doch nicht gemeint sein, daß der Philosoph nicht Kritik an derselben üben, sie nicht nach seinen Bedürfnissen modifizieren oder nicht ganz verwerfen soll. Für den Naturforscher ist es jedoch eine ganz sekundäre Angelegen- heit, ob seine Vorstellungen in irgend ein philosophisches System passen oder nicht, wenn er sich derselben nur mit Vorteil als Ausgangspunkt der Forschung bedienen kann. Die Denk- und Arbeitsweise des Naturforschers ist nämlich von jener des Philo- sophen sehr verschieden. Da er 'nicht in der glücklichen Lage ist, unerschütterliche Prinzipien zu besitzen, hat er sich gewöhnt, und ermutigend ist, daß wir alle fast in derselben Richtung suchen, so können doch anderseits die zurückbleibenden Differenzen jeden von uns warnen, das Gesuchte nicht etwa für ein schon Gefundenes oder gar für eine allein seligmachende Lehre zu halten. 16 Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. auch seine sichersten, bestbegründeten Ansichten und Grundsätze als provisorisch und durch neue Erfahrungen modifizierbar zu betrachten. In der Tat sind die größten Fortschritte und Ent- deckungen nur durch dieses Verhalten ermöglicht worden. 12. Auch dem Naturforscher kann unsere Überlegung nur ein Ideal weisen, dessen annähernde allmähliche Verwirklichung der Forschung der Zukunft vorbehalten bleibt. Die Ermittlung der direkten Abhängigkeit der Elemente voneinander ist eine Aufgabe von solcher Komplikation, daß sie nicht auf einmal, sondern nur schrittweise gelöst werden kann. Es war viel leichter erst ungefähr und in rohen Umrissen die Abhängigkeit ganzer Komplexe von Elementen (von Körpern) voneinander zu ermitteln, wobei es sehr vom Zufall, vom praktischen Bedürfnis, von früheren Ermittlungen abhing, welche Elemente als die wichtigeren erschienen, auf welche die Aufmerksamkeit hingelenkt wurde, welche hingegen unbeachtet blieben. Der einzelne Forscher steht immer mitten in der Entwicklung, muß an die unvollkom- menen von den Vorgängern erworbenen Kenntnisse anknüpfen, und kann dieselben nur seinem Ideal entsprechend vervollstän- digen und korrigieren. Indem er die Hilfe und die Fingerzeige, welche in diesen Vorarbeiten enthalten sind, dankbar für seine eigenen Unternehmungen verwendet, fügt er oft unvermerkt auch Irrtümer der Vorgänger und Zeitgenossen den eigenen hinzu. Die Rückkehr auf den vollkommen naiven Standpunkt, wenn sie auch möglich wäre, würde für jenen, der sich von Ansichten der Zeitgenossen ganz frei machen könnte, neben dem Vorteil der Voraussetzungslosigkeit auch deren Nachteil bedingen: die Verwirrung durch die Komplikation der Aufgabe und die Un- möglichkeit, eine Untersuchung zu beginnen. Wenn wir also heute scheinbar auf einen primitiven Standpunkt zurückkehren^ um die Untersuchung von neuem auf besseren Wegen zu führen, so ist dies eine künstliche Naivität, welche die auf einem langen Kulturwege gewonnenen Vorteile nicht aufgibt, sondern im Gegenteil Einsichten verwendet, die eine recht hohe Stufe des physikalischen, physiologischen und psychologischen Denkens voraussetzen. Nur auf einer solchen ist die Auflösung in die „Elemente" denkbar. Es handelt sich um Rückkehr zu den Ausgangspunkten der Forschung mit der vertieften und reicheren Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. 17 Einsicht, welche eben die vorausgehende Forschung gezeitigt hat. Eine gewisse psychische Entwicklungsstufe muß erreicht sein, bevor die wissenschaftliche Betrachtung beginnen kann. Keine Wissen- schaft kann aber die vulgären Begriffe in ihrer Verschwommen- heit verwenden; sie muß auf deren Anfänge, auf deren Ursprung zurückgehen, um sie bestimmter, reiner zu gestalten. Sollte dies nur der Psychologie und der Erkenntnislehre verwehrt sein? 13. Wenn eine Mannigfaltigkeit vielfach voneinander ab- hängiger Elemente zu untersuchen ist, so steht uns zur Ermitt- lung der Abhängigkeiten nur eine Methode zur Verfügung: die Methode der Variation. Es bleibt uns nichts übrig, als die Veränderung eines jeden Elementes zu beobachten, welche an die Veränderung jedes anderen gebunden ist, wobei es einen ge- ringen Unterschied macht, ob die letztere „von selbst" eintritt oder durch unsern „Willen" herbeigeführt wird. Die Abhängig- keiten werden durch „Beobachtung" und „Experiment" ermittelt. Selbst wenn die Elemente nur paarweise voneinander abhängig, von den übrigen aber unabhängig wären, würde eine syste- matische Erforschung dieser Abhängigkeiten schon eine recht mühsame Aufgabe sein. Eine mathematische Überlegung lehrt aber, daß bei Abhängigkeiten in Kombinationen zu 3, zu 4 u. s. w. Elementen die Schwierigkeit der planmäßigen Untersuchung sich sehr rasch zur praktischen Unerschöpflichkeit steigert. Jede vorläufige Außerachtlassung weniger auffallender Abhängigkeiten, jede Vorwegnahme der auffallendsten Zusammenhänge muß hier- nach als eine wesentliche Erleichterung empfunden werden. Beide Erleichterungen sind unter dem Einfluß des praktischen Bedürf- nisses, der Not und der psychischen Organisation zunächst in- stinktiv gefunden und nachher von den Naturforschern bewußt, geschickt und methodisch benützt worden. Ohne diese Erleich- terungen, welche man immerhin als Unvollkommenheiten ansehen mag, hätte die Wissenschaft überhaupt nicht wachsen und ent- stehen können. Die Naturforschung hat Ähnlichkeit mit der Entwirrung kompliziert verschlungener Fäden, wobei der glück- liche Zufall fast ebenso wichtig ist, als GeschickHchkeit und scharfe Beobachtung. Die Arbeit des Forschers ist ebenso auf- regend, wie für den Jäger die Verfolgung eines wenig bekannten Wildes unter störenden Umständen. Mach, Erkenntnis und Irrtum. 2 181 Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. Wenn man die Abhängigkeit irgend welcher Elemente unter- suchen will, so tut man gut, Elemente, deren Einfluß unzweifel- haft ist, aber bei der Untersuchung störend empfunden wird,, möglichst konstant zu halten. Darin besteht die erste und wichtigste Erleichterung der Forschung. Die Erkenntnis der Doppelabhängigkeit eines jeden Elementes von Elementen außer- halb U, und von Elementen innerhalb U^ führt nun dazu, zu- nächst die Wechselbeziehung der Elemente außerhalb 6^ zu unter- suchen, und jene innerhalb U konstant^ d. h. das beobachtende Subjekt unter möglichst gleichen Umständen zu belassen. Indem die Abhängigkeit des Leuchtens der Körper, oder ihrer Tempe- raturen, oder ihrer Bewegungen voneinander unter möglichst gleichen Umständen desselben^ oder auch verschiedener an der Beobachtung teilnehmender Subjekte untersucht wird, befreien wir die Kenntnis des physikalischen Gebietes nach Möglichkeit von dem Einfluß unseres individuellen Leibes. Die Ergänzung hierzu bildet die Erforschung der U überschreitenden und inner- halb U liegenden physiologischen und psychologischen Abhängig- keiten, welche aber nun durch die vorweg genommenen physi- kalischen Forschungen schon wesentlich erleichtert ist. Auch diese Teilung der Untersuchung hat sich instinktiv ergeben, und es handelt sich nur darum, dieselbe mit dem Bewußtsein ihres Vorteils methodisch festzuhalten. Für analoge Teilungen kleinerer Untersuchungsgebiete liefert die Naturforschung zahl- reiche Beispiele. 14. Nach diesen einleitenden Bemerkungen wollen wir die Leitmotive der Naturforschung näher in Augenschein nehmen. Hierbei machen wir keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Wir wollen uns überhaupt vor verfrühtem Philosophieren und Syste- matisieren hüten. Wir wollen als aufmerksame Spaziergänger,, das Gebiet der Naturforschung durchstreifend, das Verhalten des Naturforschers in seinen einzelnen Zügen beobachten. Wir fra- gen: Durch welche Mittel ist die Naturerkenntnis bisher tatsäch- lich gewachsen, und wie hat sie Aussicht, noch fernerhin zu ge- deihen? Das Verhalten des Forschers hat sich in der praktischen Tätigkeit; im volkstümlichen Denken instinktiv entwickelt, und ist von diesem nur auf das wissenschaftliche Gebiet übertragen und zuletzt zu bewüßtei Methodik entwickelt worden. Wir werden Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken. 19 ZU unserer Befriedigung nicht nötig haben, über das empirisch Gegebene hinauszugehen. Wenn wir die Züge in dem Verhalten des Forschers auf tatsächlich beobachtbare Züge unseres phy- sischen und psychischen Lebens zurückführen können, welche sich auch im praktischen Leben, im Handeln und Denken der Völker wiederfinden, wenn wir nachweisen können, daß dieses Verhalten wirklich praktische und intellektuelle Vorteile herbei- führt, so wird uns dies genügen. Eine allgemeine Betrachtung unseres physischen und psychischen Lebens wird hierfür die natürliche Grundlage bilden. Eine psycho-physiologische Betrachtung. 1. Die Erfahrung wächst durch fortschreitende Anpassung der Gedanken an die Tatsachen. Durch Anpassung der Gedanken aneinander entsteht das übersichtlich geordnete, vereinfachte, widerspruchlose Gedankensystem, welches uns als Ideal der Wissenschaft vorschwebt. Meine Gedanken sind unmittelbar nur mir zugänglich, wie die meines Nachbars nur ihm direkt bekannt sind. Dieselben gehören dem psychischen Gebiet an. Erst durch deren Zusammenhang mit Physischem: Geberden, Mienen, Worten, Taten, kann ich auf Grund meiner Physisches und Psychisches umfassenden Erfahrung einen mehr oder weniger sicheren Analogieschluß auf die Gedanken des Nachbars wagen. Anderseits lehrt mich dieselbe Erfahrung auch meine Gedanken, mein Psychisches, als abhängig von der physischen Umgebung mit Einschluß meines Leibes und des Verhaltens meiner Nach- barn erkennen. Die Betrachtung des Psychischen durch „Intro- spektion" ist nicht erschöpfend; sie muß mit der Untersuchung des Physischen Hand in Hand gehen. 2. Wie Mannigfaltiges finde ich „in mir" vor, z. B. auf einem Gang zur Vorlesung! Meine Beine bewegen sich, ein Schritt löst den andern aus, ohne daß ich etwas Besonderes dazu tue, außer wenn es etwa ein Hindernis zu umgehen gilt. Ich komme an den Anlagen des Stadtparks vorbei, erblicke und erkenne das Rathaus, das mich an gotische und maurische Bauten er- innert, ebenso wie an den mittelalterlichen Geist, der in dessen Räumen herrscht. In der Hoffnung auf kulturwürdigere Zu- stände will ich mir eben die Zukunft ausphantasieren, als beim Überschreiten der Straße ein dahersausender Radfahrer mich streift und meinen unwillkürlichen Seitensprung auslöst. Ein leiser Groll gegen diese rücksichtslosen Geschwindigkeitsidealisten Eine psycho-physiologische Betrachtung. 21 tritt an die Stelle meiner Zukunftsphantasien. Der Anblick der Rampe des Universitätsgebäudes bringt mir nun mein Ziel, die Aufgabe der nächsten Stunde, nochmals in Erinnerung und be- schleunigt meine Schritte. 3. Lösen wir dieses psychische Erlebnis in seine Bestandteile auf. Da finden wir zunächst diejenigen, welche in ihrer Abhängig- keit von unserm Leib: Offensein der Augen, Richtung der Augen- achsen, normaler Beschaffenheit und Erregung der Netzhaut u.s.w. „Empfindungen" heißen, in ihrer Abhängigkeit von anderem Physischem: Anwesenheit der Sonne, greifbarer Körpern u. s. w. Merkmale, „Eigenschaften" des Phj^sischen sind. Ich meine das Grün des Stadtparks, das Grau und die Formen des Rathauses, den Widerstand des Bodens, auf welchen ich trete, die streifende Berührung des Radfahrers u. s. w. Bleiben wir für die psycho- logische Analyse bei dem Ausdruck Empfindung. Gegenüber den Empfindungen, wie Heiß, Kalt, Hell, Dunkel, einer lebhaften Farbe, Ammoniakgeruch, Rosenduft u. s. w. verhalten wir uns in der Regel nicht indifferent. Sie sind uns angenehm oder unan- genehm, d. h. unser Leib reagiert gegen dieselben mit mehr oder weniger intensiven Annäherungs- oder Entfernungsbewegungen, welche selbst wieder der Introspektion als Komplexe von Emp- findungen sich darstellen. Im Beginn des psychischen Lebens lassen nur die Empfindungen deutliche, starke Erinnerungen zurück, an welche eine starke Reaktion geknüpft war. Mittelbar können aber auch andere Empfindungen im „Gedächtnis" bleiben. Der an sich recht gleichgültige Anblick der Flasche, welche Ammoniak enthielt, ruft die Erinnerung des Geruches hervor und hört dadurch auf, indifferent zu sein. Das ganze vorausgehende Empfindungsleben, soweit es in der Erinnerung aufbewahrt ist, wirkt nun bei jedem neuen Empfindungserlebnis mit. Das Rathaus, an dem ich vorbei gehe, wäre für mich nur eine räumliche Anordnung von farbigen Flecken, wenn ich nicht schon viele Gebäude gesehen, deren Gänge durchschritten, deren Treppen erstiegen hätte. Erinnerungen an mannigfaltige Emp- findungen verweben sich hier mit der optischen Empfindung zu einem viel reicher ausgestatteten Komplex, der Wahrnehmung, von welcher wir die bloße augenblickliche Empfindung nur mit Mühe trennen. Wenn mehreren Personen dasselbe optische 22 ^ine psycho-physiologische Betrachtung. Gesichtsfeld geboten wird, so wird die „Aufmerksamkeit" einer jeden in einer besonderen Richtung erregt, d. h. das psipchische Leben derselben durch individuelle starke Erinnerungen in be- sondere Bewegung gesetzt. Ein älterer Herr, Ingenieur, macht in Begleitung eines 18jährigen Sohnes und eines 5jährigen Knaben einen Spaziergang durch eine Wiener Straße. Ihre Augen haben dieselben Bilder aufgenommen. Der Ingenieur hat aber fast nur die Straßenbahn, der Jüngling besonders die hübschen Mädchen und der Knabe vielleicht nur die Spielzeuge in den Auslagen der Mechaniker beachtet. Angeborene und erworbene organische Umstände spielen hier mit. Die Erinnerungsspuren älterer Emp- findungserlebnisse, welche das psychische Schicksal neu ein- tretender Empfindungskomplexe wesentlich mitbestimmen, sich mit letzteren unvermerkt verweben und, an das Empfindungs- erlebnis anknüpfend, dieses weiterspinnend sich anschließen, wollen wir Vorstellungen nennen. Dieselben unterscheiden sich von den Empfindungen nur durch ihre geringere Kraft und durch ihre größere Flüchtigkeit und Veränderlichkeit, sowie durch die Art der Verknüpfung miteinander (Association). Eine neue Art von Elementen stellen sie den Empfindungen gegen- über nicht vor; sie scheinen vielmehr von derselben Natur zu sein wie diese. ^) 4. Neue Elemente scheinen auf den ersten Blick die Gefühle, Affekte, Stimmungen: Liebe, Haß, Zorn, Furcht, Niedergeschlagen- heit, Trauer, Fröhlichkeit u. s. w. darzubieten. Betrachten wir aber diese Zustände genauer, so finden wir weniger ana- lysierte Empfindungen, die mit weniger bestimmten, diffusen, unscharf lokalisierten Raumelementen innerhalb U verbunden sind, und die eine gewisse, aus der Erfahrung bekannte Reak- tionsstimmung unseres Leibes von bestimmter Richtung kenn- zeichnen, welche bei genügender Stärke wirklich in Angriffs- oder Fluchtbewegungen ausbricht. Der Umstand, daß diese Zustände für die Gesamtheit ein viel geringeres Interesse haben, als für den einzelnen, und daß selbst für diesen deren Beobach- tung viel schwieriger ist, weil die Elemente des Leibes nicht so offen für die Untersuchung daliegen, wie die allgemein zugäng- ^) Vgl. Analyse der Empfindungen. 4. Aufl., S. 159. Eine psycho-physiologische Betrachtung. 23 liehen äußeren Objekte und die Sinnesorgane, bedingt eine ge- ringere Kenntnis, eine schwierigere Beschreibung und eine un- vollkommene Nomenklatur derselben. Gefühle können sowohl mit Vorstellungen als auch mit (außerhalb U lokalisierten) Empfin- dungen verknüpft sein. Bricht eine Reaktionsstimmung in eine durch einen Empfindungskomplex bestimmte bewußte Angriffs- oder Abwehrbewegung von voraus bekanntem Ziel aus, so sprechen wir von einem Willensakt. Wenn ich von einem Gang zur Vorlesung spreche, wenn man mir den Besuch eines fremden Gelehrten ankündigt, wenn ein Mann als gerecht be- zeichnet wird, so vermag ich die gesperrt ausgesetzten Worte zwar nicht als einen bestimmten Komplex von Empfindungen oder Vorstellungen zu deuten; dieselben haben aber durch ihren vielfachen mannigfaltigen Gebrauch doch die Eigenschaft ge- wonnen, die betreffenden Komplexe, welche sie bezeichnen können, so zu umschreiben und zu umgrenzen, daß jedenfalls mein Verhalten, meine Reaktionsweise gegenüber diesen Kom- plexen hierdurch bestimmt ist. Worte, welche gar keine Kom- plexe von sinnlichen Erlebnissen bezeichnen könnten, wären eben unverständlich, ohne Bedeutung. Auch wenn ich die Worte: Rot, Grün, Rose gebrauche, hat die deckende Vor- stellung schon einen beträchtlichen Spielraum. Derselbe erweitert sich in den oben angeführten Beispielen, noch mehr aber im wissenschaftlichen begrifflichen Denken, indem zugleich die Schärfe der Umgrenzung, welche unsere Reaktionsweise gegen- über den betreffenden Komplexen bestimmt, zunimmt. Der Übergang von den bestimmtesten sinnlichen Vorstellungen durch das vulgäre Denken bis zu dem abstraktesten wissenschaftlichen Denken ist ein ganz kontinuierlicher. Auch diese Entwicklung, welche durch den Gebrauch der Sprache ermöglicht ist, voll- zieht sich zunächst ganz instinktiv, und ihr Ergebnis findet erst in der wissenschaftlichen Begriffsdefinition und der termino- logischen Bezeichnung bewußte methodische Anwendung. Über die Kontinuität zwischen Individualvorstellung und Begriff und über die Empfindungen als Grundelemente alles psychischen Lebens kann uns der scheinbar weite Abstand von konkreter sinnlicher Vorstellung und Begriff nicht täuschen. Es gibt also kein isoliertes Fühlen, Wollen und Denken. 24 Eine pSYcho-physiologische Betrachtung. Das Empfinden, welches zugleich physisch und psychisch ist, bildet die Grundlage alles psychischen Lebens. Die Empfin- dungen sind stets auch mehr oder weniger aktiv, indem sie bei den niederen Tieren unmittelbar, bei den höheren auf einem Umwege durch das Großhirn die verschiedensten Reaktionen des Leibes auslösen.^) Die bloße Introspektion ohne stete Rück- sicht auf den Leib und demnach auf das gesamte Physische, von dem der Leib einen unabtrennbaren Teil ausmacht, vermag keine zureichende Psychologie zu begründen. Betrachten wir also einmal das organische, insbesondere des tierische Leben als Ganzes, bald mehr die physische, bald mehr die psychische Seite beachtend. Wählen wir auch solche Beispiele, in welchen dieses Leben sich in besonders einfachen Formen offenbart. 5. Der Falter, der auf prächtigen Schwingen von Blume zu Blume schwebt, die Biene, welche den eifrig gesammelten Honig der heimatlichen Vorratskammer zuführt, der bunte erzglänzende Sandläufer, der klug der haschenden Hand entwischt, bietet uns ein wohlvertrautes Bild überlegten, bedächtigen Handelns. Wir fühlen uns diesen kleinen Wesen verwandt. Sehen wir aber den Falter wiederholt sich versengend immer wieder in die Flamme fliegen, beobachten wir, wie die Biene am halb offenen Fenster ratlos summend stets gegen das undurchdringliche Glas anstürmt, sehen wir deren verzweifelte Verlegenheit bei geringer Verschiebung des Fluglochs, jagen wir als harmlose Spazier- gänger durch unsern vorauseilenden Schatten den Sandläufer, ihn immer wieder aufscheuchend, kilometerweit auf unserm Wege vor uns her, während er doch so leicht ausweichen könnte, so wird es uns verständlich, wie Descartes darauf verfallen konnte, die Tiere als Maschinen, als eine Art wunderbarer oder unheim- licher Automaten anzusehen. Die treffende burschikose ironische Bemerkung der jungfräulichen Königin Christine, daß die Fort- pflanzung der Uhren doch etwas Unerhörtes sei, war übrigens wohl geeignet, den Philosophen auf die Mängel seiner Auf- fassung hinzuweisen und ihn zur Vorsicht zu mahnen. Betrachten wir nun aber genauer die beiden gegensätzlichen ') Vgl. A. Fouillee, La Psychologie des idees-forces. Paris 1893. — Dieser richtige und wichtige Gedanke ist dort nur etwas breit in zwei Bän- den durchgeführt. Eine psycho-physiologische Betrachtung. 25 Züge des tierischen Lebens, welche uns so widersprechend an- muten, so finden wir sie beide deutlich in unserer eigenen Natur ausgeprägt. Die Pupillen unserer Augen verengern sich maschinen- mäßig bei hellerer Beleuchtung und erweitern sich ebenso regel- mäßig entsprechend den Graden der Dunkelheit, ohne unser Wissen und Wollen, ganz so wie die Funktionen der Verdauung, der Ernährung und des Wachstums ohne unser bewußtes Tun sich vollziehen. Unser Arm hingegen, der sich streckt und die Lade des Tisches öffnet, wenn wir uns des darin liegenden Maßstabes erinnern, dessen wir augenblicklich bedürfen, scheint ganz ohne äußern Anstoß nur unserem wohl erwogenen Befehl zu gehorchen. Doch zieht sich die zufällig gebrannte Hand, der an der Sohle gekitzelte Fuß auch ohne Absicht und Über- legung, auch beim schlafenden und sogar beim apoplektisch gelähmten Menschen zurück. In der Bewegung der Augenlider, die sich bei plötzlicher Annäherung eines Gegenstandes unwill- kürlich schließen, die aber auch willkürlich geschlossen und geöffnet werden, sowie in unzähligen andern Bewegungen, z. B. jenen des Atmens und Gehens, wechseln und mischen sich un- ausgesetzt beide Charakterzüge. 6. Die genaue Selbstbeobachtung der Vorgänge, die wir Er- wägung, Entschluß, Willen nennen, lehrt uns einen einfachen Tatbestand kennen. An ein sinnliches Erlebnis, z. B. die Be- gegnung eines Freundes, der uns einlädt, ihn zu besuchen, ihn in seine Wohnung zu begleiten, knüpfen sich mannigfaltige Er- innerungen. Diese Erinnerungen werden nacheinander lebendig, wechseln und verdrängen sich gegenseitig. In der Erinnerung vernehmen wir die geistvolle Unterhaltung des Freundes, sehen wir sein Klavier in seinem Zimmer stehen, hören wir sein vor- zügliches Spiel; jetzt fällt uns aber ein, daß heute Dienstag ist und daß ein zänkischer Herr an diesem Tage unsern Freund zu besuchen pflegt; wir lehnen die Begleitung dankend ab und entfernen uns. Wie auch unsere Entscheidung ausfallen mag, in den einfachsten wie in den verwickeltsten Fällen beeinflussen die zur Wirkung gelangenden Erinnerungen unsere Bewegungen gerade so bestimmt, lösen gerade dieselben Annäherungs- oder Entfernungsbewegungen aus, wie die betreffenden sinnlichen Erlebnisse, deren Spuren sie sind. Wir sind nicht Herren 26 Eine psycho-physiologische Betrachtung. darüber, welche Erinnerungen uns auftauchen und welche den Sieg davon tragen.^) In unsern ,fWillkürhandlungen" sind wir nicht minder Automaten als die einfachsten Organismen. Doch ist von diesen Automaten ein Teil des Mechanismus, der durch das Leben selbst fortdauernd kleine Veränderungen erfährt, nur für uns selbst sichtbar, bleibt dem fremden Beobachter verborgen, und die feineren Züge desselben können selbst un- serer eigenen gespanntesten Aufmerksamkeit entgehen. So ist es also ein viel größerer, viel weniger durchsichtiger und über- sichtlicher Ausschnitt des Weltgeschehens, ein räumlich und zeit- lich viel weiter reichender Weltzüsammenhang^ der in unsern Willkürhandlungen zu Tage tritt, und deshalb erscheinen die- selben unberechenbar. Die Organe der niederen Tiere reagieren in verhältnismäßig regelmäßiger und einfacher Weise auf die Reize, die offen vor uns liegen. Alle maßgebenden Umstände scheinen fast auf einen Raum- und Zeitpunkt zusammengedrängt. Der Eindruck des Automatischen tritt hier besonders leicht her- vor. Doch lehrt die feinere Beobachtung auch hier individuelle, teils angeborene, teils erworbene Unterschiede kennen. Große Verschiedenheit zeigt ja das Gedächtnis der Tiere |e nach Genus und Spezies, kleinere auch nach dem Individuum. Von dem Hunde des Odysseus, der verendend und schon unfähig sich zu erheben, den nach 20 Jahren wiederkehrenden Herrn noch erkennt und wedelnd begrüßt, bis zur Taube, deren Gedächtnis für eine Wohltat kaum einen Tag vorhält und zur Biene, welche den Ort, der Futter bot, eben noch wiederfindet — welch ein Abstand! Ob wohl bei den niedersten Organismen das Ge- dächtnis gänzlich fehlt? *) Aus dem Verkennen dieses Sachverhalts bei nachträglicher Über- legung ergibt sich die Reue, die nur einen Sinn und eine Bedeutung hat für künftige Wiederholungen derselben oder ähnlicher Situationen. Und da ist nicht Buße oder Sühne von Wert, sondern allein die Sinnesänderung. Die Frage der Freiheit und der Zurechnung kann sich nur darauf beziehen, ob das Individuum psychisch hinreichend entwickelt ist, um bei seinen Ent- schlüssen die Folgen seiner Handlungen für sich und andere in Betracht zu ziehen. — Man vergleiche die Ansichten, die A. Menger in seinem bemer- kenswerten Buch „Neue Sittenlehre" (Jena, 1905) vertritt. Der Mut der Wahr- haftigkeit, den Menger in allen seinen Schriften bekundet, verdient alle Hoch- achtung. Eine psycho-physiologische Betrachtung. 27 Daß wir Menschen uns für etwas so ganz anderes zu halten geneigt sind, als die einfachst organisierten Tiere, liegt bloß an der Verwicklung und Mannigfaltigkeit der Äußerungen unseres psychischen Lebens im Gegensatz zu denen jener Tiere. Die Fliege, deren Bewegungen durch Licht, Schatten, Geruch u. s. w. unmittelbar bestimmt und geleitet zu sein scheinen, setzt sich zehnmal verjagt immer wieder auf dieselbe Stelle des Gesichtes. Sie kann nicht nachgeben, bis sie erschlagen am Boden liegt. Der arme Hausierer, der in der Sorge um den Pfennig, welcher das Leben des Tages sichern soll, den behaglich hindämmernden Bourgeois wiederholt in seiner Ruhe stört, bis er mit einem kräftigen Fluch abgewiesen ist, hat sich nicht minder als Automat verhalten, wie der letztere; nur sind beide etwas weniger ein- fache Automaten. 7. Das fest Bestimmte, Regelmäßige, Automatische ist der Grundzug des tierischen und menschlichen Verhaltens, der uns nur in beiden Fällen in so verschiedenen Graden der Entwick- lung und Komplikation entgegentritt, daß wir glauben können, zwei ganz verschiedene Grundmotive wahrzunehmen. Für das Verständnis unserer eigenen Natur ist es nun von der größten Wichtigkeit, den Zug von Bestimmtheit so weit zu verfolgen, als uns dies nur immer gelingen mag. Denn die Wahrnehmung einer Regellosigkeit bietet weder praktischen noch wissenschaftlichen Gewinn. Vorteil und Einsicht ergeben sich erst durch Auffindung der Regel in dem bisher für gesetzlos Gehaltenen. Die An- nahme einer frei und gesetzlos wirkenden Seele wird sich immer schwer widerlegen lassen, da die Erfahrung immer einen un- durchschauten Rest von Tatsachen aufweisen wird. Aber die freie Seele als wissenschaftliche Hypothese, und gar ein Forschen nach derselben ist meines Erachtens eine methodologische Ver- kehrtheit, i) Was uns insbesondere an den Menschen als frei, willkürlich, unberechenbar erscheint, schwebt nur wie ein leichter Schleier, wie ein Hauch, wie ein verhüllender Nebel über dem Automa- tischen. Wir sehen die menschlichen Individuen sozusagen aus zu großer Nähe. Das Bild ist daher mit zu vielen verwirrenden, 1) Aus einer gänzlich verschiedenen philosophischen Grundstimmung gehen die Ansichten hervor, die H. Driesch in seinen Schriften vertritt. 28 Eine psycho-physiologische Betrachtung. nicht sofort zu durchschauenden Einzelheiten überladen. Könnten wir die Menschen aus größerer Entfernung, aus der Vogelper- spektive, vom Monde aus beobachten, so würden die feineren Einzelheiten mit den von individuellen Erlebnissen herrührenden Einflüssen für uns verschwinden, und wir würden nichts wahr- nehmen, als Menschen, die mit großer Regelmäßigkeit wachsen, sich nähren, sich fortpflanzen. Eine Beobachtungsweise, welche das Individuelle absichtlich verwischt, ignoriert und nur die wesentlichsten, am stärksten zusammenhängenden Umstände ins Auge faßt, wird in der Statistik wirklich angewendet. In der Tat zeigen sich dann die Willkürhandlungen der Menschen von einer ebenso bestimmten Regelmäßigkeit, wie irgend ein vege- tativer oder selbst ein mechanischer Vorgang, bei welchem nie- mand an einen psychischen Einfluß, an den Einfluß eines Willens zu denken pflegt. Die Zahl der jährlichen Eheschließungen und Selbstmorde in einem Lande schwankt ebensowenig, oder noch weniger, als die Zahl der Geburten und der natürlichen Todes- fälle, obgleich bei den ersteren der Wille gar sehr in Betracht kommt, bei den letzteren aber gar nicht. Wenn aber bei diesen Massenerscheinungen auch nur ein Element ohne Regel mitbe- stimmend wäre, so könnte auch in der größten Zahl der Fälle keine Regel mehr hervortreten.^) Nur einen kleinen Schritt hatte also De carte s zu tun, und nicht nur die Tiere, sondern auch die Menschen wären ihm als Automaten erschienen. Der große Zweifler gegenüber allem Geltenden hatte ja die beste Absicht, die ganze Welt zu mecha- nisieren, oder genauer gesagt, zu geometrisieren. Hier aber mochte ihm, angesichts der Macht der Inquisition und wohl auch angesichts der Macht seiner eigenen überkommenen Meinungen, die ja in seinem Dualismus lauten Ausdruck finden, der Mut des Zweifels abhanden gekommen sein. Von dieser Inkonse- quenz kam schon Spinoza zurück. Unter den späteren ist Lamettrie^) wegen seiner homogenen Auffassung der Menschen ') über diesen Punkt habe ich schon einige Bemerkungen gemacht: Vor- lesungen über Psychophysik. Zeitschr. f. praktische Heilkunde. Wien. 1863. S. 148, 168, 169. *) Lamettrie, Oeuvres philosophiques, pr^cedees de son 61oge par Fr^d^ric IL Berlin. 1796. Eine psycho-phYsiologische Betrachtung. 29 und der Tiere hervorzuheben, die in seiner Schrift „rhomme machine" 1748, sowie in dessen Abhandlungen „rhomme plante" und „les animaux plus que machines" hervortritt. Eine tiefe Philosophie darf man bei Lamettrie nicht suchen. Seine Schriften, wichtig für ihre Zeit, sind heute eine recht öde Lektüre. Das Gegenteil gilt von den Ausführungen seines Zeitgenossen Diderot, der in seinem geistvollen Artikel „Entretien entre D'Alembert et Diderot. Le reve de D'Alembert" die modernen biologischen Ideen vorweg nimmt. 8. Der Reiz, lebende Wesen durch Automaten, durch Maschinen nachzuahmen und das Streben, dieselben hierdurch wenigstens teilweise zu verstehen, hat überall gewirkt, wo und wann man die Natur denkend zu erfassen suchte. Einer der ältesten Auto- maten, von dem wir mehr als fabelhafte Nachrichten haben, ist die fHegende Taube des Archytas von Tarent. Auch Heron von Alexandrien^) hat sich viel mit Konstruktion von Automaten beschäftigt und diese Bestrebungen wurden in späterer Zeit besser verstanden, als die allerdings bescheidenen Reste antiker Wissenschaft, welche in seinen Schriften überliefert sind. Im 16. Jahrhundert sehen wir die kunstvollen Uhren mit beweglichen Menschen- und Tierfiguren in Straßburg, Prag, Nürnberg u. s. w. entstehen, im 18. Jahrhundert Vaucansons schwimmende und fressende Ente, dessen Flötenspieler, dann Droz' zeichnenden Knaben und seine Klavierspielerin. So sehr man geneigt sein kann, derartige Versuche als bloße Spielerei zu betrachten, darf man doch nicht vergessen, daß die hierbei erworbenen Kennt- nisse bei wissenschaftlichen Untersuchungen, wie sie Borelli in seinem Buche „de motu animalium" (1680) niedergelegt hat, unmittelbar verwertet werden können. Auch W. Kempelen macht mit seiner Sprechmaschine (beschrieben unter dem Titel: „Mechanismus der menschlichen Sprache, nebst Beschreibung einer sprechenden Maschine", Wien 1791) einen wesentlichen, wissenschaftlichen Fortschritt.^) Ein guter Teil der wissenschaft- lichen Physiologie kann als Fortsetzung der Arbeit der Auto- *) Herons Werke herausg. von W. Schmidt. Leipzig. 1896. Bd. I. *) Was von der Kempelenschen Sprechmaschine noch vorhanden ist, befindet sich in der physikalischen Sammlung der Wiener technischen Hoch- schule. (Mitteilung von Prof. Dr. A. Lampa.) 30 Eine psycho-physiologische Betrachtung. matenverfertiger angesehen werden. Kempelen mit seinem automatischen Schachspieler, in welchem er einen Menschen ver- bergen mußte, liefert anderseits den allerdings überflüssigen Be- weis, daß die Intelligenz nicht auf diese einfache, mechanische Weise ersetzt werden kann. Die Lebewesen sind eben Auto- maten, auf welche die ganze Vergangenheit Einfluß geübt hat, die sich im Laufe der Zeit noch fortwährend ändern^ die aus andern ähnlichen entstanden sind und wieder solche zu erzeugen vermögen. Es besteht eine natürliche Neigung, daß man nach- zuahmen, zu reproduzieren versucht, was man verstanden hat. Wieweit dies gelingt, ist wieder eine gute Probe des Verständ- nisses. Wenn wir den Nutzen betrachten, welchen der moderne Maschinenbau aus der Automatenkonstruktion gezogen hat, wenn wir die Rechenmaschinen, die Kontrollapparate, die Verkaufsauto- maten betrachten, so dürfen wir noch weitere Fortschritte der technischen Kultur erwarten. Ein absolut verläßlicher automa- tischer Postbeamter, der eingeschriebene Briefe übernimmt, scheint durchaus nicht unmöglich, als erfreuliche Entlastung, der durch mechanische Manipulationen gequälten menschlichen Intelligenz. Auf unserm Standpunkt haben wir keinen Grund, uns weiter mit dem Gegensatz des Physischen und Psychischen zu be- schäftigen. Was uns allein interessieren kann, ist die Erkenntnis der Abhängigkeit der Elemente voneinander. Daß diese Ab- hängigkeit eine feste, wenn auch komplizierte und schwer er- mittelbare sei, setzen wir vernünftigerweise voraus , wenn wir an die Erforschung gehen. Die bisherige Erfahrung hat uns diese Voraussetzung an die Hand gegeben, und jeder neue Forschungserfolg bestärkt uns in derselben, wie dies aus den folgenden Einzeluntersuchungen noch deutlicher hervorgehen wird. Gedächtnis. Reproduktion und Association. 1. Auf einem Spaziergang durch die Straßen von Innsbruck begegnet mir ein Herr, dessen Gesicht, Gestalt, Gang und Redeweise mir die lebhafte Vorstellung eines solchen Gesichtes, Ganges u. s. w. in einer andern Umgebung, in Riva am Garda- see, erregt. Ich erkenne den Herrn Ay der in der Umgebung / als sinnliches Erlebnis vor mir steht, als denselben, der auch einen Bestandteil meiner Erinnerungsvorstellung mit der Um- gebung R ausmacht. Das Wiedererkennen, Identifizieren hätte keinen Sinn, wenn Ä nicht zweimal gegeben wäre. Alsbald fallen mir auch mit A 'm R geführte Gespräche ein, ich erinnere mich der Ausflüge in seiner Gesellschaft u. s. w. Ähnliche Tat- sachen, die wir bei den mannigfaltigsten Anlässen beobachten, lassen sich in eine Regel zusammenfassen: Ein sinnliches Erlebnis aus den Bestandteilen ABCD . . . bringt ein früheres sinnliches Erlebnis mit den Bestandteilen AKLM . . . in Erinnerung, d. h. letzteres tritt als Vorstellung auf, wird reproduziert. Da nun die Reproduktion von KLM. . . durch BCD. . . im allgemeinen nicht erfolgt, so ergibt sich die natürliche Ansicht, daß dieselbe durch den gemeinsamen Bestandteil A eingeleitet wird und von diesem ausgeht. An die Reproduktion von A schließt sich jene von KLM..., die mit A unmittelbar oder mit andern bereits repro- duzierten Gliedern gleichzeitig (in zeitlicher Berührung) sinnlich gegeben waren. Auf dieses einzige Associationsgesetz lassen sich alle hierher gehörigen Vorgänge zurückführen. 2. Die Association ist von großer biologischer Wichtigkeit. Auf derselben beruht jede psychische Anpassung an die Um- gebung, jede vulgäre und auch jede wissenschaftliche Erfahrung. Wenn die Umgebung der Lebewesen nicht wenigstens aus an- nähernd konstant bleibenden Teilen bestünde, oder in periodisch 32 Gedächtnis. Reproduktion und Association. sich wiederholende Ereignisse sich zerlegen ließe, wäre die Er- fahrung unmöglich, die Association wertlos. Nur bei unver- änderter Umgebung kann der Vogel an den sichtbaren Teil der Umgebung die Vorstellung der Lage seines Nestes anschließen. Nur wenn immer dasselbe Geräusch den nahenden Feind oder die fliehende Beute voraus ankündigt, kann die associierte Vor- stellung dazu dienen, die entsprechende Flucht- oder Angriffs- bereitschaft auszulösen. Eine annähernde Stabilität macht die Er- fahrung möglich, und die tatsächliche Möglichkeit der Erfahrung läßt umgekehrt auf die Stabilität der Umgebung schließen. Der Erfolg rechtfertigt unsere wissenschaftlich-methodische Voraus- setzung der Beständigkeit.^) 3. Das neugeborene Kind ist, wie ein Tier von niederer Organisation, auf seine Reflexbewegungen angewiesen. Es hat den angeborenen Trieb zu saugen, zu schreien, wenn es der Hilfe bedarf u. s. w. Heranwachsend erwirbt es, wie die höheren Tiere, durch Association die ersten primitiven Erfah- rungen. Es lernt die Berührung der Flamme, das Anstoßen an harte Körper als schmerzhaft vermeiden, lernt mit dem Anblick des Apfels die Vorstellung von dessen Geschmack verbinden u. s. w. Bald aber läßt es alle Tiere an Reichtum und Feinheit der Erfahrung weit hinter sich. Es ist sehr lehrreich, die Bildung der Associationen an jungen Tieren zu beobachten, wie dies C. L. Morgan^) an jungen Hühnchen und Enten systematisch getan hat, die in einem Brutofen ausgeschlüpft waren. Die Hühnchen sind wenige Stunden nach dem Ausschlüpfen schon mit zweckmäßigen Reflexbewegungen ausgestattet. Sie laufen, picken nach auffallenden Objekten und treffen dieselben mit Sicherheit. Rebhühner sieht man sogar, noch zum Teil mit der Eierschale bedeckt, davonlaufen. Die jungen Hühnchen pickten ') Die Erfahrung hat uns Stabilitäten kennen gelehrt, unsere psychische Organisation paßt sich denselben leicht an und gewährt uns Vorteile. Wir führen dann die Voraussetzung weiterer Stabilitäten bewußt und willkürlich ein, in der Erwartung weiterer Vorteile, wenn sich dieselbe bewährt. Die Annahme eines a priori gegebenen Begriffes zur Begründung dieses metho- dischen Verfahrens haben wir weder nötig, noch würde sie uns irgend wel- chen Nutzen gewähren. Sie wäre eine Verkehrtheit, angesichts der augen- scheinlich empirischen Bildung dieses Begriffes. *) C. L. Morgan, Comparative Pspchologp, London, 1894. S. 85 u. f. Gedächtnis. Reproduktion und Association. 33 anfänglich nach allem, nach den Lettern eines bedruckten Blattes, nach den eigenen Zehen, nach den eigenen Exkrementen. Im letzteren Falle warf aber das Hühnchen das schlecht schmeckende Objekt sofort wieder weg, schüttelte den Kopf und reinigte den Schnabel wetzend am Boden. Ähnlich verfuhr das Tier, nach- dem es eine Biene oder Raupe von schlechtem Geschmack aufgefaßt hatte. Das Picken nach unpassenden, nicht zweck- dienlichen Objekten hört aber bald auf. Eine Schale mit Wasser lassen die Hühnchen unbeachtet, trinken aber sofort, sobald sie beim Laufen mit den Füßen zufällig ins Wasser geraten.^) Junge Entchen hingegen stürzen gleich in die dargebotene Wasser- schale, waschen sich in derselben, tauchen unter u. s. w. Als ihnen am nächsten Tage dieselbe Schale leer dargeboten wurde, stürzten sie wieder in dieselbe hinein und führten auch da die- selben Bewegungen aus wie im Wasser. Sie lernten aber bald die leere Schale von der gefüllten unterscheiden. Ich selbst deckte einmal ein Trinkglas über ein vor mehreren Stunden aus- geschlüpftes Hühnchen und brachte eine Fliege in seine Gesell- schaft. Sofort begann eine höchst ergötzliche, aber resultatlose Jagd. Das Hühnchen war doch noch zu wenig geschickt. 4. Die Manieren der Hühner und Enten sind den jungen Tieren angeboren; sie üben dieselben ohne jeden Unterricht. Dieselben sind durch den Bewegungsmechanismus vorbereitet, ebenso wie die Lautäußerungen. Man unterscheidet bei Hühnchen die Laut- äußerung der Behaglichkeit, wenn sie sich in die dargebotene warme Hand verkriechen, den Gefahrschrei beim Anblick etwa eines großen schwarzen Käfers, das Geschrei der Einsamkeit u.s.w. Soviel auch bei diesen Tieren mechanisch vorbereitet und an- geboren ist, so sehr auch das Zustandekommen gewisser Asso- ciationen anatomisch begünstigt und erleichtert sein mag, die Associationen selbst sind nicht angeboren, sondern müssen durch individuelle Erfahrung erworben werden. Dies wird wohl richtig sein, wenn wir die Bezeichnung „Association" nur auf (bewußte) Vorstellungen anwenden. Nehmen wir dieselbe in dem weiteren Sinne einer Auslösung gleichzeitig ') So verhalten sich aber auch des Großhirns beraubte Vögel. Die Er- scheinung beruht also wohl auf einem von den Vorfahren erworbenen Reflex. Vgl. den Schluß dieses Kapitels. Mach, Erkenntnis und Irrtum. ' 3 34 Gedächtnis. Reproduktion und Association. Stattgehabter organischer Vorgänge durcheinander, so möchte die Grenze zwischen Angeborenem (Ererbtem) und individuell Erworbenem recht schwer zu ziehen sein. Und so muß es sich wohl verhalten, sollen die Erwerbungen der Art vom Individuum vermehrt oder modifiziert werden. Mein zahmer Sperling kennt keine Furcht, setzt sich den Familiengliedern auf die Schulter, zupft sie an Haaren und Bart, wehrt sich tapfer und mit Zorn- geschnatter gegen die Hand, die ihn von der Schulter einer bevorzugten Person vertreiben will. Doch zucken seine Flügel nervös bei jedem Geräusch, bei jeder Bewegung in seiner Um- gebung. Wenn er beim Mittagstisch kleine Bissen auffaßt, so fliegt er mit jedem, wenn auch nur einen Fuß weit, fort, ganz wie seine Kollegen auf der Straße, obgleich er von keinem Genossen gestört wird. Junge Hühnchen, die im Brutofen gezogen wurden, beachten das Glucken der Henne nicht, fürchten weder die Katze noch den Falken. Wenn junge, noch blinde Kätzchen, mit einer Hand angefaßt, die eben einen Hund gestreichelt hat, wirklich fauchen sollten, so müßte man diese Äußerung für einen Otvxxchsreflex halten.^) Durch ungewöhnliche Erscheinungen werden junge Tiere allerdings leicht in Furcht gesetzt. So schlucken junge Hühner, die mit kleinen Würmern gefüttert werden, gelegentlich auch gedrehte Wolle, bleiben aber vor einem großen Stück der- selben bedenklich stehen. Ein junger zahmer Sperling getraute sich lange nicht an seinen Futterbehälter, als versuchsweise ein großer Mehlwurm in denselben getan wurde. ^) Die Furcht vor dem Ungewöhnlichen, Auffallenden scheint eben für viele Tiere eines der wichtigsten Schutzmittel zu sein. 5. Bei höher entwickelten Tieren kann man die Bildung von Associationen noch auffallender wahrnehmen und zugleich deren Dauerhaftigkeit konstatieren. In dem Dorfe, in welchem ich einen Teil meiner Jugend zugebracht habe, hatten viele Hunde, von den Dorfjungen schikaniert, die Gewohnheit angenommen, winselnd auf drei Beinen davonzulaufen, sobald jemand einen Stein vom Boden aufhob. Natürlich war man geneigt, dies nach ») Schneider, Der tierische Wille. Leipzig 1880. *) Beobachtung meiner Tochter. Gedächtnis. Reproduktion und Association. 35 menschlichem Maß für einen schlauen Kunstgriff zur Erregung des Mitleids zu halten. Selbstverständlich war es aber nur eine lebhafte, associierte Erinnerung an die Qual, welche zuweilen dem aufgehobenen Stein gefolgt war. Einen jungen Jagdhund meines Vaters sah ich einmal ungestüm einen Ameisenhaufen durchwühlen, darauf aber sofort sein empfindliches Geruchsorgan in verzweifelter Weise mit den Pfoten putzen. Von da an respektierte er sorgfältig das Domizil der Ameisen. Als einmal dieser Hund durch seine unerwünschte übertriebene Anhäng- lichkeit mich in der Arbeit beharrlich störte, klappte ich ihm ein Buch mit lautem Schall vor der Nase zu. Erschrocken zog er sich zurück. Das Ergreifen eines Buches genügte von da an, um jede Störung fernzuhalten. Dieser Hund muß, nach seinem Muskelspiel im Schlaf zu urteilen, auch eine lebhafte Traum- phantasie gehabt haben. Als er einmal ruhig schlafend dalag, brachte ich ein kleines Stückchen Fleisch in die Nähe seiner Nase. Nach einiger Zeit begann ein lebhaftes Muskelspiel, ins- besondere der Nasenflügel. Nach einer halben Minute etwa er- wachte der Hund, schnappte den Bissen und schlief dann ruhig weiter. Von der Dauerhaftigkeit der Associationen dieses Hundes konnte ich mich ebenfalls überzeugen. Als ich nach neunjähriger Abwesenheit im Dunkel des Abends und zu Fuß unerwartet ins Vaterhaus kam, empfing mich der Hund mit wütendem Gebell; ein einziger Anruf genügte aber, um sofort das freundlichste Be- nehmen desselben auszulösen. Ich halte daher die homerische Erzählung von dem Hunde des Odpsseus für keine poetische Übertreibung. ^) 6. Die Wichtigkeit der Vergleichung eines sinnlichen Erleb- nisses ÄBCD ... mit einem in der Vorstellung reproduzierten sinnlichen Erlebnis AKLM . . . kann für die psychische Entwick- lung gar nicht hoch genug angeschlagen werden. Die einzelnen ') Nächst den Schriften von Morgan ist in Bezug auf Psychologie der niederen und höheren Tiere sehr lehrreich: K. Möbius, Die Bewegungen der Tiere und ihr psychischer Horizont. (Schriften des naturwissensch. Vereins f. Schleswig- Holstein 1873.) — Ferner: A. Ölzelt-Newin, Kleinere philo- sophische Schriften. Zur Psychologie der Seesterne. Wien 1903. — Von älteren Schriften möchte ich empfehlen: H. S. Reimarus, Triebe der Tiere, 1790, ferner J. H. F. Autenrieth, Ansichten über Natur- und Seelenleben. 1836. 3* 36 Gedächtnis. Reproduktion und Association. Buchstaben mögen zunächst ganze Komplexe von Elementen bedeuten. A sei z. B. ein Körper, den wir einmal in der Um- gebung BCD . . . angetroffen haben, jetzt aber in der Umgebung KLM . . . treffen, ein Körper etwa, der sich vor seinem Grunde bewegt und der eben dadurch als ein besonderes Gebilde von relativer Selbständigkeit erkannt wird. Geben wir nun den einzelnen Buchstaben die Bedeutung von einzelnen Elementen (Empfindungen), so lernen wir diese als selbständige Bestand- teile unserer Erlebnisse kennen, indem z. B. das Rotgelb Ä nicht nur an der Orange, sondern auch an einem Stück Tuch, einer Blume oder einem Mineral, also in verschiedenen Komplexen auftritt. Aber nicht nur die Analyse, sondern auch die Kombi- nation beruht auf der Association. A sei z. B. das Gesichtsbild einer Orange, bezw. einer Rose, während Km dem reproduzierten Komplex den Geschmack der Orange, bezw. den Geruch der Rose bedeute. Sofort associieren wir dem neuerlich auftreten- den Gesichtsbild die vorher erprobten Eigenschaften. Die Vor- stellungen, welche uns durch die uns umgebenden Dinge auf- tauchen, entsprechen darum nicht genau den aktuellen Empfin- dungen, sondern sind in der Regel weit reicher. Es sind ganze Bündel von associierten Vorstellungen, welche, von voraus- gehenden Erlebnissen herrührend, mit den aktuellen Empfindungen sich verweben, die unser Verhalten viel weiter bestimmen, als die letzteren allein es vermöchten. Wir sehen nicht nur eine rotgelbe Kugel, sondern meinen ein weiches, wohlriechendes und erfrischend säuerlich schmeckendes körperliches Ding wahr- zunehmen. Wir sehen nicht eine braune vertikale glänzende Fläche, sondern etwa den Kleiderschrank. Dafür können wir aber auch gelegentlich durch eine gelbe Holzkugel, ein Gemälde oder ein Spiegelbild irregeführt werden. Mit der Dauer unseres Lebens wächst die Mannigfaltigkeit und der Reichtum unserer sinnlichen Erlebnisse, sowie die Zahl und Mannigfaltigkeit der associativen Verbindungen zwischen denselben. Dadurch kommt es, wie wir gesehen haben, sowohl zu einer fortschreitenden Zerlegung in die Bestandteile dieser Erlebnisse, als auch zu einer fortgesetzten Bildung neuer Synthesen aus denselben. Nach Erstarkung des Vorstellungslebens können auch Vorstellungs- komplexe gegeneinander ebenso sich reproduzierend und asso- Gedächtnis. Reproduktion und Association. 37 ciativ verhalten, wie sinnliche Erlebnisse. Auch in den Vor- stellungskomplexen treten neue Analysen und Synthesen auf, wie jeder Roman und jede wissenschaftliche Arbeit lehrt und wie dies jeder Denker an sich selbst beobachten kann. 7. Obgleich nun nur ein Prinzip der Reproduktion und Asso- ciation, nämlich das der Gleichzeitigkeit y aufgefunden werden kann, so nimmt doch der Vorstellungsverlauf in verschiedenen Fällen einen sehr differenten Charakter an. Dies wird durch folgende Überlegung aufgeklärt. Die meisten Vorstellungen haben sich im Laufe des Lebens mit sehr vielen andern associiert, und diese nach verschiedenen Richtungen auseinander gehenden Associationen widerstreben sich zum Teil und schwächen sich gegenseitig. Wenn nun nicht gerade einige davon, welche nach demselben Punkt konvergieren, das Übergewicht erhalten oder ein zufälliger Anlaß die eine besonders begünstigt, so werden diese Associationen nicht wirksam werden. Weiß etwa jemand anzugeben, wo und wann er einen bestimmten Buchstaben, ein Wort, einen Begriff, eine Rechnungsweise gebraucht, in An- wendung gesehen oder kennen gelernt hat? Je häufiger er die betreffenden Mittel verwendet, je vertrauter er mit denselben ist, desto weniger wird er hierzu im stände sein. Der Name Schmidt ist selbst in dieser bestimmten Orthographie so mannig- faltig mit den verschiedensten Fächern und Beschäftigungen verbunden, daß er für sich allein eben gar keine Association auslöst. Je nach meiner augenblicklichen Gedankenrichtung oder Beschäftigung kann mir derselbe einen Philosophen, Zoologen, Literaturhistoriker, Archäologen, Maschinenbauer u. s. w. in Er- innerung bringen. Auch bei selteneren Namen kann man dies beobachten. Oft fuhr ich bei einem Plakat von Maggis Fleisch- extrakt vorbei und erinnerte mich doch nur einmal des gleich- namigen Verfassers einer für mich interessanten Mechanik, als ich eben an Physikalisches dachte. So wird auch die blaue Farbe eines Tuches dem Erwachsenen für sich allein nichts suggerieren, während sich das Kind vielleicht der Kornblume erinnert, die es gestern gepflückt hat. Bei dem Namen Paris fallen mir vielleicht die Sammlungen des Louvre, oder dessen berühmte Physiker und Mathematiker, oder dessen feine Restau- rants ein, je nachdem ich gerade für Kunstgenuß, für wissen- 38 Gedächtnis. Reproduktion und Association. schaftliche Beschäftigung oder für kulinarische Genüsse ge- stimmt bin. Auch Umstände, welche in keiner sachlichen Be- ziehung zu der eingeschlagenen Gedankenrichtung stehen, können entscheidend werden. So soll sich Grillparzer eines infolge langer Krankheit gänzlich vergessenen poetischen Entwurfs wieder erinnert haben, als er die Symphonie wieder spielte, die er zur Zeit der Beschäftigung mit jenem Entwurf gespielt hatte. Daß auch Associationen durch unbewußte Mittelglieder herbeigeführt werden können, lehrt Qm von Jerusalem mitgeteilter Fall.^) Das Prinzip der Gleichzeitigkeit äußert sich in diesen Fällen sehr rein und deutlich.^) 8. Betrachten wir nun einige Tippen des Vorstellungsver- laufes.^) Wenn ich ohne Plan und Ziel, möglichst abgeschlossen von äußeren Störungen, etwa in einer schlaflosen Nacht, mich ganz meinen Gedanken überlasse, so komme ich, wie man zu sagen pflegt, vom Hundertsten aufs Tausendste. Komische und tragische, erinnerte und erfundene Situationen wechseln mit wissenschaft- lichen Einfällen und Arbeitsplänen, und es wäre sehr schwer, die kleinen Zufälligkeiten zu bezeichnen, welche in jedem Augen- blick dieser yjreien Phantasie''' die Richtung gegeben haben. Nicht viel anders verlaufen die Vorstellungen, wenn zwei oder mehrere Personen zwanglos miteinander plaudern, nur daß hier die Gedanken mehrerer Personen sich gegenseitig beeinflussen. Die überraschenden Sprünge und Wendungen des Gespräches lösen da oft die verwunderte Frage aus: Ja, wie sind wir denn auf das gekommen? Die Fixierung der Gedanken durch laut ausgesprochene Worte und die Mehrzahl der Beobachter er- leichtert hier auch die Beantwortung, welche nur selten aus- bleibt. Die wunderlichsten Wege schlagen die Vorstellungen wohl im Traum ein. Der Faden der Association ist aber in diesem Falle am schwersten zu verfolgen, teils wegen der un- vollständigen Erinnerung, welche der Traum zurückläßt, teils auch wegen der häufigeren Störung durch leise Empfindungen 1) Wundt, Philosophische Studien. Bd. X, S. 323. 2) Daß nicht alle psychischen Vorgänge durch temporär erworbene (be- wußte) Associationen erklärt werden können, soll später noch zur Sprache kommen. Hier handelt es sich darum, was durch Association verständlich ist. ^) Vgl. James, The Principles of Pspchology. I. p. 550—604. Gedächtnis. Reproduktion und Association. 39 des Schlafenden. Im Traum erlebte Situationen, erschaute Ge- stalten, gehörte Melodien sind oft sehr wertvolle Grundlagen des künstlerischen Schaffens,^) an die Traumgedanken kann aber der Forscher nur in äußerst seltenen Fällen anknüpfen. 9. Lucians köstliche Münchhauseniade entspricht nicht mehr ganz dem Typus der freien Phantasie. Dieser geistreichste Feuilletonist der antiken Welt hält hier aus Prinzip nur die abenteuerlichsten und unwahrscheinlichsten seiner Einfälle fest. Er erfindet kolossale Spinnen, die den Raum zwischen Mond und Morgenstern mit einem gangbaren Gewebe durchziehen, weist spielend den Mondbewohnern flüssige Luft als Getränk an, 1700 Jahre vor deren wirklicher Darstellung. Ein Reiseplan ist es, an dem er als leitenden Faden seine Phantasien aufreiht. Diese Reise führt ihn auch auf die Insel der Träume, deren unbestimmtes widerspruchsvolles Wesen er wunderbar dadurch charakterisiert, daß sie desto mehr zurückweicht, je mehr der Reisende sich ihr nähert. Trotz dieser überreich wuchernden Phantasie lassen sich die Fäden der Association doch auffinden, wo dieselben etwa nicht absichtlich verborgen wurden. Die Reise beginnt bei den Säulen des Herakles und geht westwärts. Nach 80 Tagen erreicht er eine Insel mit einer Denksäule und Inschrift des Herakles und Dionysos, sowie mit kolossalen Fuß- spuren beider. Natürlich gibt es daselbst einen Fluß, der Wein führt mit Fischen, deren Genuß Rausch erzeugt. Die Quellen dieses Flusses entspringen an den Wurzeln üppig wachsender Weinstöcke, und an dessen Ufern trifft man Frauen, welche ähnlich Daphne teilweise zu Weinstöcken umgewandelt wurden. An dieser Stelle ist ja der Faden der Association zu einem recht tragfähigen Strick angeschwollen. An andern Stellen hat der Autor Triebe und Blüten seiner Phantasie, welche dem ästhe- tischen und satirischen Zweck' nicht entsprachen, eben weg- geschnitten. Durch dieses Ausmerzen des Unbrauchbaren unter- scheidet sich das Vorstellungsleben, welches sich in einem >) Bekannte Fälle dieser Art sind folgende: Voltaire träumt einen vollständigen variierten Gesang der „Henriade". Noch merkwürdiger ist, daß der Teufel im Traum Tartini den Satz einer Sonate vorspielt, den der Künstler wachend nicht zu stände gebracht hatte, wenn nicht Dichtung und Wahrheit in dem Bericht ein Kompromiß geschlossen haben. / 40 Gedächtnis. Reproduktion und Association. literarischen oder sonstigen noch so freien Kunstwerk äußert, von dem planlosen Hingeben an die eigenen Vorstellungen. 10. Wenn ich an einen Ort und in eine Umgebung komme, in welcher ich einen Teil meiner Jugendzeit verlebt habe, und wenn ich mich einfach den Eindrücken dieser Umgebung überlasse, so ergibt sich wieder ein anderer Typus des Vorstellungsverlaufes. Was sich dort meinen Sinnen darbietet, ist so vielfach mit den Erlebnissen meiner Jugend associiert und mit spätem Ereignissen so schwach oder gar nicht verknüpft, daß die Vorgänge jener Lebensperiode nach und nach alle^ in vollkommener Treue und in fester Verknüpfung untereinander, zeitlich und räumlich ge- ordnet, aus der Vergessenheit auftauchen. Immer entdeckt man in einem solchen Falle, wie Jerusalem^) treffend bemerkt, sich selbst als beteiligt. Man kann deshalb an dem Faden der Person die Elemente der Erinnerung zeitlich aufreihen. Ähnliches, wenn auch weniger vollständig, stellt sich schon ein, sobald mir das Bild der Heimat auftaucht, wenn dasselbe nur nicht gestört und demselben Zeit gelassen wird, sich zu ergänzen. Die jedem wohlbekannten Erzählungen alter Leute aus ihrer Jugendzeit oder der Bericht über deren Sommeraufenthalt und ihre Erleb- nisse daselbst, wobei uns nicht die geringste Einzelheit erlassen wird, sind Beispiele für diesen Typus. 11. Handelte es sich in dem vorigen Fall wesentlich um Auf- frischung schon bestehender Vorstellungsverbindungen, um ein- fache Erinnerungen, so erfordert die Lösung eines Wort- oder Sachrätsels, einer geometrischen oder technischen Konstruktions- aufgabe, eines wissenschaftlichen Problems, die Ausführung eines künstlerischen Vorwurfs u. s. w. eine Vorstellungsbewegung mit einem bestimmten Ziel und Zweck. Es wird hierbei etwas Neues., zurzeit nur teilweise Bekanntes, gesucht. Diese Vorstellungs- bewegung, welche das mehr oder weniger umschriebene Ziel nie aus den Augen verliert, nennen wir Nachdenken. Steht eine Person vor mir, die mir ein Rätsel aufgibt, eine Aufgabe stellt, oder sitze ich an meinem Schreibtisch, auf welchem ich schon die Spuren meiner Arbeitsvorkehrungen sehe, so ist hiermit ein Empfindungskomplex gesetzt, welcher meine Gedanken immer ^) Jerusalem, Lehrbuch der Psychologie. 3. Aufl. Wien 1902. S. 91. Gedächtnis. Reproduktion und Association. 41 auf das Ziel zurückführt und deren planloses Herumschweifen verhindert. Diese äußerliche Einschränkung der Gedanken ist schon für sich nicht zu unterschätzen. Wenn ich mit einer wissenschaftlichen Aufgabe im Sinne endlich ermüdet einschlafe, so fehlt sofort jener äußerliche Mahner und Weiser auf das Ziel, und meine Vorstellungen diffundieren und verlassen die passen- den Wege. Dies ist wohl mit ein Grund, warum die Lösung wissenschaftlicher Aufgaben so selten im Traume gefördert wird. Wird aber das unwillkürliche Interesse an der Lösung einer Auf- gabe stark genug, dann sind allerdings die äußerlichen Mahner ganz überflüssig. Alles, was man denkt und beobachtet, führt dann von selbst auf die Aufgabe zurück, zuweilen sogar im Traum. Die im Nachdenken gesuchte Vorstel- lung hat gewisse Bedingungen zu erfüllen. Sie hat ein Rätsel oder ein Problem zu lösen, eine Konstruktion zu ermöglichen. Die Bedingungen sind bekannt, die Vor- stellung aber nicht. Um die Art der Ge- dankenbewegung zu erläutern, welche zur Auffindung des Gesuchten führt, wählen wir eine einfache geometrische Konstruktion. Die Form des Vorganges ist nämlich in allen hier in Betracht kommenden Fällen dieselbe, und ein Beispiel genügt, um alle Fälle ver- ständlich zu machen. Zwei zueinander senk- rechte Gerade a und ^, Fig. 1, werden von einer dritten beliebig schiefen geschnitten. In das so entstandene Dreieck soll ein Quadrat eingeschrieben werden, dessen vier Ecken bezw. auf a, by dem Durchschnittspunkt von a und b, und auf c liegen. Wir versuchen nun, uns Quadrate vorzustellen und herzustellen, welche alle diese Bedingungen erfüllen. Drei Ecken genügen ohne weiteres den Bedingungen, wenn wir eine Ecke eines beliebigen Quadrates mit dem Durchschnittspunkt von a und b und zwei Quadratseiten mit a, bezw. b zusammen- fallen lassen. Damit fällt aber die vierte Ecke nicht gerade auf c^ sondern innerhalb oder außerhalb des Dreieckes. Nimmt man hingegen einen Eckpunkt beliebig auf c, so ist das Rechteck, welches man ergänzend hierzu zeichnet, im allgemeinen kein Fig. 1. 42 Gedächtnis. Reproduktion und Association. Quadrat. Man sieht aber, daß man von einem Rechteck mit größerer vertikaler Seite, durch Wahl des Eckpunktes auf c, zu einem Rechteck mit größerer horizontaler Seite übergehen kann, also auf einen Zwischenfall mit gleichen Seiten stoßen muß. Man kann also unter der Reihe der eingeschriebenen Rechtecke das Quadrat mit beliebiger Annäherung heraussuchen. Es gibt aber noch einen andern Weg. Geht man von einem Quadrat aus, dessen vierter Eckpunkt innerhalb des Dreieckes fällt, und vergrößert dasselbe, bis dieser Eckpunkt außerhalb fällt, so muß derselbe hierbei c passieren. Also auch in der Reihe der Quadrate läßt sich dasjenige von richtiger Größe mit beliebiger Annähe- rung heraussuchen. Solche tatonnierende Sondierungen der Vor- stellungsgebiete, in welchen wir die Lösung der Aufgabe zu suchen haben, gehen naturgemäß der vollkommenen Lösung voraus. Das vulgäre Denken mag sich auch mit einer praktisch zureichenden annähernden Lösung begnügen. Die Wissenschaft fordert die allgemeinste, kürzeste und übersichtlichste Lösung. Diese erhalten wir, indem wir (von der Betrachtung der Recht- ecke oder der Quadrate ausgehend) uns erinnern, daß alle ein- geschriebenen Quadrate die von dem Durchschnittspunkt der a und b ausgehende Winkelhalbierende als Diagonale gemein haben. Zieht man also von diesem bekannten Punkt aus diese Winkel- halbierende, so kann man, von deren gefundenem Durchschnitts- punkt mit c aus, ohne weiteres das gesuchte Quadrat ergänzen. So simpel auch dieses mit Absicht gewählte und ausführlich dargelegte Beispiel ist, so bringt es doch das Wesentliche jeder Problemlösung, das Experimentieren mit Gedanken, mit Erinne- rungen,^) sowie die Identität mit der jedem geläufigen Rätsel- lösung zu klarem Bewußtsein. Das Rätsel wird gelöst durch eine Vorstellung, welche den Bedingungen ABC . . . ent- sprechende Eigenschaften aufweist. Die Association liefert uns Reihen von Vorstellungen von der Eigenschaft A, von der Eigen- schaft B u. s. w. Das Glied (oder die Glieder), welches atien diesen Reihen angehört, in welchem sich alle diese Reihen kreuzen, löst die Aufgabe. Wir kommen auf diesen wichtigen Gegenstand noch ausführlicher zurück. Hier galt es nur den *) Diese Fragen werden noch ausführlicher erörtert. Gedächtnis. Reproduktion und Association. 43 Typus des Vorstellungsverlaufs darzulegen, welchen man Nach- denken nennt. ^) 12. Das Vorausgehende setzt die Bedeutung der reproduzier- baren und associierbaren Erinnerungsspuren der sinnlichen Erleb- nisse für das ganze psychische Leben außer Zweifel, und zeigt zugleich, daß psychologische und physiologische Untersuchungen nicht voneinander getrennt werden können, da schon in den Elementen der Erlebnisse beiderlei Beziehungen aufs engste ver- knüpft sind. 13. Die Reproduzierbarkeit und Associierbarkeit bildet auch die Grundlage des „Bewußtseins''^ Das unausgesetzte Bestehen einer unveränderlichen Empfindung wird schwerlich jemand als Bewußtsein bezeichnen wollen. Schon Hobbes sagt: Sentire semper idem et non sentire ad idem recidunt. ^) Es ist auch nicht einzusehen, was durch die Annahme einer besonderen, von allen übrigen physikalischen Energien verschiedenen „Energie des Bewußtseins" gewonnen sein soll. Das wäre eine Voraus- setzung, welche im Gebiete der Physik gar keine Funktion hätte, unnötig wäre, im Gebiete der Psychologie aber nichts verständ- licher machen würde. Das Bewußtsein ist keine besondere (psychische) Qualität oder Klasse von Qualitäten, die sich von den physischen Qualitäten unterscheidet; es ist auch keine be- sondere Qualität, die zu der physischen hinzukommen müßte, um das Unbewußte zum Bewußten zu machen. Sowohl die Intro- spektion als auch die Beobachtung anderer Lebewesen, welchen wir Bewußtsein analog dem unsrigen zuschreiben müssen, lehrt, daß das Bewußtsein in der ReproduJition und Association seine Wurzel hat und daß die Höhe des Bewußtseins mit dem Reich- tum, der Leichtigkeit, Geschwindigkeit, Lebhaftigkeit und Ord- nung dieser Funktionen parallel geht. Das Bewußtsein besteht *) Man könnte versucht sein, das „aktive" Nachdenken als wesentlich verschieden von dem „passiven" Laufenlassen der Gedanken anzusehen. Allein, so wie wir bei einer körperlichen Handlung nicht Herren sind über die Sinnesempfindungen und Erinnerungen, welche diese Handlung auslösen, so vermögen wir auch nichts über eine Vorstellung von unmittelbarem oder mittelbarem biologischen Interesse, die immer wieder auftaucht und an welche sich immer wieder neue Associationsreihen anschließen. Vgl. populär-wissensch. Vorlesungen. 3. Aufl. S. 287—308. 2) Hobbes, Physica, IV, 25. 44 Gedächtnis. Reproduktion und Association. nicht in einer besonderen Qualität, sondern in einem besondern Zusammenhang gegebener Qualitäten. Die Empfindung muß man nicht erklären wollen. Sie ist etwas so Einfaches und Funda- mentales, daß ihre Zurückführung auf noch Einfacheres, wenigstens heute, nicht gelingen kann. Die einzelne Empfindung ist übrigens weder bewußt, noch unbewußt. Bewußt wird dieselbe durch die Einordnung in die Erlebnisse der Gegenwart.^) Jede Störung der Reproduktion und Association ist eine Störung des Bewußtseins, welches alle Grade aufweisen kann, von der vollkommenen Klarheit bis zur vollen Bewußtlosigkeit im traumlosen Schlaf oder in der Ohnmacht. Temporäre oder dauernde Störung des Zusammenhanges der Gehirnfunktionen ist auch temporäre oder dauernde Störung des Bewußtseins. Vergleichend anatomische, physiologische und pspchopatho- logische Tatsachen nötigen zur der Annahme, daß durch die Integrität der Großhirnlappen die Integrität des Bewußtseins be- dingt ist. Verschiedene Teile der Hirnrinde bewahren die Spuren verschiedener Sinneserregungen, bestimmte Teile die optischen, andere die akustischen, andere die haptischen u. s. w. Diese ver- schiedenen Rindenfelder stehen untereinander in den mannig- faltigsten Verbindungen durch die „Associationsfaserri' . Jeder Ausfall der Funktion eines Rindenfeldes oder jede Unterbrechung einer Verbindung hat psychische Störungen zur Folge. ^) Ohne auf viele Einzelheiten einzugehen, soll dies doch durch typische Beispiele erläutert werden. 14. Die Vorstellung einer Orange ist eine äußerst komplizierte Sache. Gestalt, Farbe, Geschmack, Geruch, Tastbarkeit u. s. w. sind in eigentümlicher Weise verwebt. Wenn ich den Namen „Orange" höre, so zieht diese Folge von akustischen Empfin- dungen wie an einem Faden das ganze Bündel der genannten Vorstellungen hervor. Hierzu kommt noch, daß sich an den >) Wer meint, die Welt aus Bewußtsein aufbauen zu können, hat sich wohl nicht klar gemacht, was für eine Komplikation die Tatsache des Be- wußtseins einschließt. Sehr lesenswerte und gedrängte Ausführungen über die Natur und die Bedingungen des Bewußtseins finden sich bei Wern icke, Gesammelte Aufsätze. Berlin 1893. Über das Bewußtsein S. 130—145. — Vgl. auch die in der folgenden Anmerkung zitierten Vorträge von Mepnert. ») Meynert, Populäre Vorträge. Wien 1892, S. 2—40. Gedächtnis. Reproduktion und Association. 45 gehörten Namen die Erinnerung an die Empfindungen beim Aus- sprechen des Namens, sowie die Erinnerung an die Empfindungen bei den betreffenden Schreibbewegungen und an das Gesichts- bild des geschriebenen oder gedruckten Wortes anschließt. Gibt es also im Gehirn ein besonderes optisches, akustisches, hap- tisches Feld, so müssen bei Ausschaltung eines dieser Felder, durch Unterdrückung der Funktion eines dieser Felder oder Aufhebung der Association desselben mit den übrigen Feldern eigentümliche Erscheinungen auftreten. Solche sind wirklich be- obachtet worden. Bleibt das optische bezw. akustische Feld in Funktion, während die associativen Verbindungen desselben mit andern wichtigen Feldern außer Funktion treten, so entsteht die „Seelenblindheit" bezw. „Seelentaubheit", welche Munk an Hunden bei Operationen am Großhirn beobachtet hat. ^) Solche Hunde sehen, allein sie verstehen das Gesehene nicht, erkennen die Futterschale, die Peitsche, die drohende Geberde nicht. Im Falle der Seelentaubheit hört der Hund, achtet aber nicht auf den gewohnten Anruf, versteht denselben nicht. Die Beobachtungen der Physiologen werden hier durch jene der Psychopathologen bestätigt und ergänzt. Besonders ergiebig ist hier das Studium der Sprachstörungen.^) Die Bedeutung des Wortes liegt ja in der Menge der Associationen, welche dasselbe wachruft, und der richtige Gebrauch desselben beruht umgekehrt auf dem Vorhandensein dieser Associationen. Störungen der letzteren müssen sich hier auffallend äußern. Die meisten Menschen sind r^t?/?/5händig, üben daher die linke Großhirn- hemisphäre für die feineren Arbeiten und auch für die Sprache ein. Broca erkannte nun die Wichtigkeit des hintern Dritteiis der dritten linken Stirnwindung für die artikulierte Sprache, welche durch Erkrankung dieses Hirnteils (Apoplexie) jedesmal verloren geht. Die Sprachlosigkeit (Aphasie) kann noch durch ^) An einer Verschiedenheit der Leistungen verschiedener Hirnpartien ist wohl kaum zu zweifeln. Wenn aber doch, wie Goltz nachgewiesen hat, allmählich ein Teil der Großhirnrinde für den anderen ersetzend eintreten kann, so ist an eine schroffe Abgrenzung der Funktionen nicht zu denken, sondern nur an eine „graduelle Lokalisation" im Sinne von R. Semon (Die Mneme. Leipzig 1904. S. 160). Vgl. auch Analyse der Empfindungen. 1886. S. 82. 4. Aufl. S. 155. 2) Kußmaul, Störungen der Sprache. Leipzig 1885. 46 Gedächtnis. Reproduktion und Association. sehr mannigfache verschiedene Defekte bedingt sein. Der Patient erinnert sich z. B. der Worte als Lautbilder, kann dies auch durch die Schrift kund tun und vermag trotz der Beweglichkeit der Zunge, Lippen u. s. w. die Worte nicht auszusprechen; das motorische Wortbild fehlt und löst die passende Bewegung nicht aus. Auch die optischen oder motorischen Schriftbilder können fehlen (Agraphie). Die Vorstellungen können vorhanden sein, das akustische Wortbild aber fehlt. Auch kommt es um- gekehrt vor, daß das gesprochene bezw. geschriebene Wort nicht verstanden wird, keine Associationen auslöst, was man Worttaubheit bezw. Wortblindheit genannt hat. Einen solchen Fall von Worttaubheit und Wortblindheit bei sonst erhaltener Intelligenz hat Lordat an sich selbst erlebt und konnte nach seiner Heilung über denselben berichten. Er schildert bewegt den Augenblick, als er nach traurigen Wochen in seiner Bibliothek auf dem Rücken eines Buches die Worte: „Hippocratis opera" erblickte, dieselben wieder lesen und verstehen konnte.^) Man kann schon nach dieser summarischen, keineswegs vollständigen und detaillierten Aufzählung der hier vorkommenden Fälle er- messen, wie viele Verbindungsbahnen zwischen den sensorischen und motorischen Feldern hier in Betracht kommen. ^) Geringere Störungen der Sprache, wie sie sich im Versprechen und Ver- schreiben äußern, kommen als Folgen temporärer Ermüdung und Zerstreutheit auch bei ganz gesunden Menschen vor. So zitierte jemand die beiden Chemiker Liebig undMitscherlich als „Mitschich und Liederlich". Ein anderer bezeichnete einen Magister der Pharmacie als „Philister der Magie". ^) 15. Einen interessanten Fall von Seelenblindheit führt Wil- brand*) an. Ein sehr gebildeter belesener Kaufmann erfreute sich eines ausgezeichneten optischen Gedächtnisses. Die Gesichts- züge der Personen, an welche er sich erinnerte, die Formen und Farben der Gegenstände, an welche er dachte, Bühnenszenen, ') Kußmaul, a.a.O. S. 175. 2) Kußmaul, a.a.O. S. 182. ^) Über merkwürdige, der Aphasie und Agraphie analoge Störungen bei Musikern berichtet R. Wallaschek (Psychologie und Pathologie der Vorstellung. Leipzig, J. A. Barth, 1905). *) Wilbrand, Seelenblindheit. Wiesbaden 1887. S. 43— 51. Gedächtnis. Reproduktion und Association. 47 Landschaftsbilder, die er gesehen hatte, standen in voller Deut- lichkeit mit allen Einzelheiten vor ihm. Er konnte aus dem Ge- dächtnis Briefstellen und mehrere Seiten aus von ihm bevor- zugten Schriftstellern ablesen, indem er den Text mit allen Einzel- heiten vorsieh sah. Das Gedächtnis für Gehörseindrücke war gering und der Sinn für Musik fehlte. Schweren Sorgen, die sich als unbe- gründet erwiesen, folgte eine Zeit der Verwirrung und darauf eine vollständige Umwandlung seinespsipchischen Lebens. Seine optische Erinnerung war vollständig verloren gegangen. Eine Stadt, in welche er oft zurückkehrte, erschien ihm jedesmal neu, als ob er zum erstenmal dahin käme. Die Züge seiner Frau und seiner Kinder waren ihm fremd, ja sich selbst, als er sich im Spiegel sah, hielt er für eine fremde Person. Wenn er jetzt rechnen wollte, was vorher durch Gesichtsvorstellungen vermittelt war, mußte er die Zahlen leise aussprechen, und ebenso mußte er Gehörsvorstellungen, Vorstellungen von Sprach- und Schreib- bewegungen zu Hilfe nehmen, um Redensarten zu merken oder an Geschriebenes sich zu erinnern. — Nicht minder bemerkens- wert ist ein anderer Fall von Verlust des optischen Gedächt- nisses. ^) Eine Dame stürzt plötzlich zusammen. Sie wird nachher für blind gehalten, da sie keine Person ihrer Umgebung erkennt. Der Anfall läßt aber außer einer Einschränkung des Gesichts- feldes, welche sich allmählich verbessert, nur den Verlust des optischen Gedächtnisses zurück, dessen sich Patientin vollkommen bewußt ist. Sie tut die charakteristische Äußerung: „Nach meinem Zustand zu folgern, sieht der Mensch mehr mit dem Gehirn, als mit dem Auge, das Auge ist bloß das Mittel zum Sehen; denn ich sehe ja alles klar und deutlich, ich erkenne es aber nicht und weiß oft nicht, was das Gesehene sein soll."^) 16. Nach den oben angeführten Tatsachen muß man sagen, daß es nicht ein Gedächtnis gibt, sondern daß das Gedächtnis sich aus vielen Partialgedächtnissen zusammensetzt, welche von- einander getrennt werden und einzeln verloren gehen können. Diesen Partialgedächtnissen entsprechen verschiedene Teile des Hirns, von welchen sich einige schon jetzt mit ziemlicher Be- stimmtheit lokalisieren lassen. Andere Fälle von Gedächtnis- ») Wilbrand, a.a.O. S. 54. 2) Wilbrand, a.a.O. S. 57. 48 Gedächtnis. Reproduktion und Association. Verlust scheinen schwerer auf ein Prinzip zurückzuführen. Wir wollen nur einige von jenen betrachten, welche Ribot (les mala- dies de la memoire, Paris 1888) zusammengestellt hat. Eine junge Frau, die ihren Mann leidenschaftlich liebte, ver- fiel im Kindbett in eine lange währende Bewußtlosigkeit, infolge welcher die Erinnerung an die Zeit ihrer Ehe gänzlich entschwand, während die Erinnerung an ihr früheres Leben bis zu ihrer Ver- heiratung ungeschwächt blieb. Nur das Zeugnis ihrer Eltern vermochte sie dazu, den Mann und das Kind als die ihrigen anzuerkennen. Der Gedächtnisverlust blieb irreparabel. — Eine Frau wird von Schlafsucht befallen, welche zwei Monate dauert. Nach dem Erwachen kennt sie keine Person ihrer Umgebung und hat alles vorher Erlernte vergessen. Sie lernt alles wieder leicht und in kurzer Zeit, jedoch ohne Erinnerung daran, daß sie es vorher schon gekonnt. — Eine Frau fällt zufällig ins Wasser und ertrinkt fast. Als sie wieder die Augen öffnet, erkennt sie ihre Umgebung nicht, hat die Sprache, das Gehör, den Geruch und den Geschmack verloren. Sie muß gefüttert werden. Sie fängt täglich an, von neuem zu lernen. Ihr Zustand bessert sich allmählich. Sie erinnert sich einer Liebschaft, ihres Sturzes ins Wasser und wird durch Eifersucht geheilt. 17. Am merkwürdigsten sind die periodisch wechselnden Gedächtnisverluste. Eine Frau hat nach einem langen Schlaf alles Erlernte vergessen. Sie muß von neuem lesen, rechnen und ihre Umgebung kennen lernen. Nach einigen Monaten tritt wieder ein tiefer Schlaf ein. Erwacht, befindet sie sich im Besitze ihrer Jugenderinnerungen, wie vor dem ersten Schlaf, hat aber die Vorgänge zwischen den beiden Schlafanfällen vergessen. Von da an wechseln durch vier Jahre periodisch die beiden Bewußt- seins- und Gedächtniszustände. In dem ersten Zustand hat sie eine schöne Schrift, in dem zweiten eine mangelhafte. Personen, die sie dauernd kennen soll, müssen ihr in beiden Zuständen vorgestellt sein. — Der letztere Fall wird durch einen oft zitierten eines Dienstmannes illustriert, welcher im Rausch ein Paket ver- liert und nur in einem zweiten Rausch dasselbe wiederzufinden vermag. — Im wachen Zustande erinnert man sich selbst leb- hafter Träume sehr schwer, sowie umgekehrt im Traum die Verhältnisse des Wachens uns meist gänzlich entschwinden. Da- Gedächtnis. Reproduktion und Association. 49 gegen wiederholen sich dieselben Situationen oft genug im Traum. Endlich kann jeder auch im Wachen den Wechsel der Stimmungen an sich bemerken, mit welchem zugleich die Erlebnisse ver- schiedener Lebensperioden in ganz verschiedener Lebhaftigkeit in das Bewußtsein treten. Alle diese Fälle bilden einen konti- nuierlichen Übergang von schroffer Trennung verschiedener Be- wußtseinszustände bis zu fast vollständiger Verwischung der Grenze. Dieselben lassen sich auffassen als Beispiele der Bil- dung verschiedener Ässociationszentren, um welche, durch Zeit und Stimmung begünstigt, die Vorstellungsmassen sich scharen, während diese Massen untereinander keinen oder nur einen ge- ringen Grad des Zusammenhanges aufweisen.^) 18. Schreibt man den Organismen (mit Hering) überhaupt die Eigenschaft zu, sich wiederholenden Vorgängen successive besser anzupassen, so erkennt man das, was wir gewöhnlich Gedächtnis nennen, als eine Teilerscheinung einer allgemeinen organischen Erscheinung. Es ist die Adaption an periodische Vorgänge, so- weit sie unmittelbar ins Bewußtsein fällt. Vererbung, Instinkt u.s.w. können dann als über das Individuum hinausreichendes Gedächt- nis bezeichnet werden. In dem oben zitierten „Mneme" be- titelten Buch von R. Semon liegt wohl der erste Versuch vor, das Verhältnis von Vererbung und Gedächtnis wissenschaftlich zu erforschen und zu erklären.^) . ') Mit Rücksicht auf solche periodische Störungen des Gedächtnisses erscheinen Beobachtungen wie die von Swoboda (Die Perioden des mensch- lichen Organismus. 1904) durchaus nicht so abenteuerlich, als sie auf den ersten Blick sich darstellen. 2) C. Detto, Über den Begriff des Gedächtnisses in seiner Bedeutung für die Biologie (Naturwiss. Wochenschr. 1905, Nr. 42). — Der Verfasser wird wohl kaum annehmen, daß Hering oder Semon in die von ihm ge- rügten Fehler verfallen werden. Den Vorteil der Untersuchung des Orga- nischen von zwei Seiten her scheint er mir aber bedeutend zu unterschätzen. Die psychologische Beobachtung kann uns die Existenz von physikalischen Vorgängen enthüllen, zu deren Kenntnis wir auf physikalischem Wege nicht so bald gelangen würden. Mach, Erkenntnis und Irrtum. Reflex, Instinkt, Wille, Ich. 1. Bevor wir unsere psycho-physiologischen Betrachtungen fortsetzen, bemerken wir, daß keine der Einzelwissenschaften, deren wir bedürfen, den wünschenswerten Grad der Entwicklung erreicht hat, um als sichere Grundlage für die andern zu gelten. Die beobachtende Psychologie bedarf gar sehr der Stütze der Physiologie oder Biologie. Letztere kann aber von physikalisch- chemischer Seite gegenwärtig nur sehr unvollkommen aufgeklärt werden. Unter diesen Umständen sind alle unsere Überlegungen nur als vorläufige, und deren Ergebnisse als problematische, durch künftige Untersuchungen vielfach zu korrigierende, anzu- sehen. Das Leben besteht aus Vorgängen, welche sich tat- sächlich erhalten, fort und fort wiederholen und ausbreiten, d. h. successive größere Quantitäten von „Materie" in ihr Be- reich ziehen. Die Lebensvorgänge gleichen also einem Brand, mit dem sie auch sonst verwandt, wenn auch nicht so einfach sind. Die meisten physikalisch-chemischen Prozesse hingegen kommen, wenn sie nicht durch besondere äußere Umstände immer wieder von neuem hervorgerufen oder im Gang erhalten werden, sehr bald zu einem Stillstand. Abgesehen von diesem Haupt- unterschied im Charakter, weiß die heutige Physik und Chemie auch den Einzelheiten des Lebensprozesses nur sehr unvoll- kommen zu folgen. Dem Hauptzug der Selbsterhaltung ent- sprechend müssen wir erwarten, daß die Teile eines kompli- zierteren Organismus, einer Symbiose von Organen, auf die Erhaltung des Ganzen abgestimmt sein werden, welche ja sonst sich nicht ergeben könnte. Und auch an den psychischen Vor- gängen, die jenen Teil der Lebensvorgänge vorstellen, welche sich im Großhirn abspielen, die somit ins Bewußtsein reichen, wird Reflexy Instinkt, Wille, Ich. 5l uns diese Richtung auf Erhaltung des Organismus nicht über- raschen können. 2. Betrachten wir zunächst einige Tatsachen, welche Goltz ^) genau studiert hat. Ein gesunder unverletzter Frosch benimmt sich derart, daß man demselben eine gewisse „Intelligenz'^ und „willkürliche" Bewegung zuschreiben muß. Er bewegt sich aus eigenem Antrieb in unberechenbarer Weise, entflieht dem Feinde, sucht einen neuen Sumpf auf, wenn der alte vertrocknet, ent- weicht eingefangen durch eine Lücke des Behälters u. s. w. Die Intelligenz ist allerdings nach menschlichem Maß eine sehr be- schränkte. Der Frosch schnappt sehr geschickt nach sich bewe- genden Fliegen, gelegentlich aber auch nach einem Stückchen roten Tuches und wiederholt erfolglos auch etwa nach den Fühlhörnern einer Schnecke, verhungert aber lieber, statt frisch getötete Fliegen anzunehmen. Das Benehmen des Frosches ist eng begrenzten Lebensumständen angepaßt. Wird der Frosch des Großhirns beraubt, so bewegt er sich nur mehr auf einen äußeren Anlaß. Ohne denselben sitzt er ruhig da. Er schnappt nicht nach Fliegen, nicht nach dem roten Tuch und reagiert nicht auf Knall. Eine über ihn kriechende Fliege streift er bloß ab. Die in das Maul gebrachte Fliege verschluckt er jedoch. Auf schwachen Hautreiz kriecht er fort, durch starken wird er zu einem Sprunge ver- anlaßt, wobei er Hindernissen ausweicht, die er also sieht. Wird ein Bein festgenäht, so gelingt es ihm dennoch, das Hindernis kriechend zu vermeiden. Der Frosch ohne Großhirn kompensiert die Drehung, die ihm auf einer horizontalen Drehscheibe erteilt wird. Setzt man ihn auf ein Brett, das man vorn hebt, so kriecht er hinan, um nicht hinabzufallen, und überkriecht sogar die obere Kante, wenn das Brett noch in demselben Sinne weiter gedreht wird. Unverletzte Frösche springen bei diesem Versuch davon. So wird das, was man Seele oder Intelligenz nennen könnte, durch Abtragung von Hirnteilen auf eine kleinere Sphäre ein- geschränkt. Der Frosch mit bloßem Rückenmark, auf den Rücken gelegt, weiß sich nicht aufzurichten. Die Seele — sagt Goltz — ist nichts Einfaches; sie ist teilbar, wie deren Organ. Ein Frosch ohne Großhirn quakt nie spontan. Streicht man *) Goltz, Die Nervenzentren des Frosches. Berlin 1869. 4* 52 Reflex, Instinkt, Wille, Ich. aber demselben einmal mit dem feuchten Finger über die Rücken- haut zwischen den Armen, so quakt er ganz regelmäßig re- flektorisch einmal. Er verhält sich wie ein Mechanismus. Daß geköpfte Frösche die aufgetropfte Säure mit den Hinterbeinen ganz mechanisch abwischen, ist schon nach älteren Versuchen bekannt. Solche Reflexmechanismen sind für die Lebensführung von Bedeutung. Wie vielfach wichtige Lebensfunktionen, wie die Begattung der Frösche, durch diese Mechanismen gesichert sind, hat Goltz durch ausführliche Untersuchungen gezeigt.^) 3. Wenden wir unsere Betrachtung gleich anderen Lebewesen zu, welchen wohl, wenigstens instinktiv, niemand Intelligenz und Willen zuschreibt — den Pflanzen. Auch hier finden wir zweck- mäßige, die Erhaltung des Ganzen fördernde Bewegungs- reaktionen. Unter diesen fallen uns zunächst auf die durch Licht und Temperatur bestimmten Schlafbewegungen der Blätter und Blüten, die durch Erschütterungen ausgelösten Reizbewe- gungen der insektenfressenden Pflanzen. Solche Bewegungen könnten aber als Ausnahmen erscheinen. Ein allgemeines Ver- halten liegt dagegen darin, daß der Stamm der Pflanzen der Schwere entgegen nach oben wächst, wo Licht und Luft ihm die Assimilation ermöglichen, während die Wurzel, das Wasser und die darin gelösten Stoffe aufsuchend, nach unten in den Boden eindringt. Wird ein Teil des Stammes aus seiner vertikalen Richtung gebracht, so krümmen sich die noch im Wachstum befindlichen Teile desselben sofort aufwärts, kehren ihre kon- vexe Seite der Erde zu, indem die unteren Teile stärker wachsen als die oberen. Hierin spricht sich der „negative Geotropismus'^ des Stammes aus, im Gegensatze zu dem umgekehrten Ver- halten der Wurzel, die wir als „positiv geotropisch'' be- zeichnen. Der Stamm wendet sich in der Regel dem Lichte zu, wobei die noch wachsenden Teile desselben die konvexe Seite dem Dunkeln zuwenden, also an der beschatteten Seite stärker wachsen. Wir nennen den sich so verhaltenden Stamm „positiv heliotropisch'' , während die Wurzel in der Regel das entgegen- gesetzte „negativ heliotropische" Verhalten zeigt. Nach älteren und neueren Untersuchungen (Knight, J. v. Sachs) kann kein ') Goltz, a.a.O. S. 20u.f. Reflex, Instinkt, Wille, Ich. 53 Zweifel bestehen, daß die Richtung der Massenbeschleunigung (der Schwere) und die Richtung des Lichtes das geotropische, bezw. heliotropische Verhalten bestimmt. Das entgegengesetzte Verhalten von Stamm und Wurzel deutet auf Teilung der Arbeit im Interesse des Ganzen. Sehen wir die Wurzel steinzerklüftend in die Tiefe dringen, so können wir noch glauben, daß sie dies im eigenen Interesse tut. Dieser Eindruck verschwindet aber, wenn wir die Wurzel auch im Quecksilber, wo sie nichts zu suchen hat, abwärts dringen sehen. Die Vorstellung absicht- licher Zweckmäßigkeit muß hier weichen und jener eines physi- kalisch-chemisch bestimmten Geschehens Platz machen. Die bestimmenden Umstände müssen wir aber aus der Verbin- dung von Wurzel und Stamm zu einem Ganzen hervorgehend denken. ^) 4. J. Loeb^) hat in einer Reihe von Arbeiten nachgewiesen, daß sich die Begriffe: Geotropismus, Heliotropismus u. s. w., welche sich auf dem Gebiete der Pflanzenphysiologie ergeben haben, auf die Tierphysiologie übertragen lassen. Selbstver- ständlich werden sich die betreffenden Erscheinungen dort am einfachsten und klarsten äußern, wo die Tiere unter so einfachen Verhältnissen leben, daß ein hoch entwickeltes psychisches Leben noch unnötig ist und daher nicht störend eingreifen kann. Der eben aus der Puppe geschlüpfte Schmetterling kriecht aufwärts und orientiert sich an der vertikalen Wand, welche er mit Vor- liebe wählt, mit dem Kopfe nach oben. Eben ausgeschlüpfte Räupchen kriechen rastlos nach oben. Will man eine Eprouvette mit solchen Räupchen entleeren, so muß man dieselbe, wie ein Gefäß mit Wasserstoff, mit der Mündung nach oben kehren. Küchenschaben suchen mit Vorliebe vertikale Wände auf. Stuben- fliegen, deren Schwingkolben oder Flügel man abgeschnitten hat, kriechen an einem vertikalen Brett vertikal aufwärts. Dreht man während dessen das Brett in seiner Ebene, so kompensiert die Fliege jede Drehung. Auf einem schiefen Brett kriecht sie *) J. V. Sachs, Vorlesungen über Pflanzen-Physiologie. Leipzig 1887. 2) Loeb, Orientierung der Tiere gegen das Licht. SB. d. Würzburger ph.-med. Gesellschaft. 1888. — Orient, d. Tiere gegen d. Schwerkraft. Ebenda. 1888. — Heliotropismus d. Tiere. Würzburg 1890. — Geotropismus d. Tiere. Pflügers Archiv. 1891. 54 Reflex, Instinkt, Wille, Ich. nach der Richtung der steilsten Linie aufwärts. Auch hoch ent- wickelte Tiere werden von der Richtung der Schwere beeinflußt, sind geotropisch, wie die neueren Untersuchungen über das Ohrlabyrinth und dessen Bedeutung für die Orientierung lehren; nur werden diese Erscheinungen durch das Eingreifen mannig- faltiger anderer überdeckt. Ähnlich verhält es sich mit dem Heliotropismus. Wie bei den Pflanzen ist auch bei den Tieren die Richtung des Lichtes maßgebend. Unsj^mmetrische Reizung durch das Licht bewirkt Änderung der Orientierung des Tieres, welche mit der Ein- stellung der Lichtrichtung in die Symmetrieebene zur Ruhe kommt. Nun wendet das Tier entweder den oralen oder den aboralen Pol dem Lichte zu und bewegt sich entweder dem Lichte zu oder von diesem weg; es ist positiv oder negativ heliotropisch. Die Motte ist positiv, der Regenwurm, die Muscidenlarve ist negativ heliotropisch. Wenn eine positiv heliotropische Larve auf einer Ebene sich bewegt, so kriecht sie nach der Komponente der Lichtrichtung^ welche in diese Ebene entfällt. Indem sie so dem einfallenden Lichte entgegen sich bewegt, kann sie ganz wohl von einer helleren in eine weniger helle Beleuchtung kommen. Ohne in weitere Einzelheiten einzugehen, bemerken wir, daß in Bezug auf die Tropismen volle Übereinstimmung zwischen den Ergebnissen der pflanzenphysiologischen Studien von J. V. Sachs und jenen der tierphysiologischen Versuche von Loeb besteht.^) 5. In neuester Zeit hat sich in Bezug auf die Auffassung der Insekten ein starker Gegensatz herausgebildet. Manche Forscher wollen dieselben als reine Reflexmaschinen ansehen, während andere ihnen ein reiches psychisches Leben zuschreiben. Dieser Gegensatz beruht auf der Abneigung gegen bezw. Neigung für das Mystische, indem man, alles Psychische für ein Mystisches hal- tend, dieses womöglich ganz zu beseitigen oder zu retten strebt. Auf unserem Standpunkte ist das Psychische nicht mehr und nicht weniger rätselhaft als das Physische und überhaupt von letzterem nicht wesentlich verschieden. Wir haben daher gar keinen Grund, in dieser Frage parteiisch zu sein, und nehmen *) Vgl. die oben zitierten Schriften von Sachs und Loeb. Reflex, Instinkt, Wille, Ich. 55 eine neutrale Stellung ein, die etwa jener von A. ForeP) ent- spricht. Wenn wir z. B. eine Spinne sehr oft durch Berührung ihres Netzes mit einer schwingenden Stimmgabel irre führen können, so beweist dies die Stärke ihres Reflexmechanismus. Wenn sie aber endlich dennoch den Betrug merkt und nicht mehr erscheint, so dürfen wir ihr doch Erinnerung nicht mehr absprechen. Die am halb offenen Fenster ratlos an der Glas- scheibe summenden, dem Licht und der Luft zustrebenden Stall- fliegen, welche dennoch durch den schmalen Rahmen der Glas- scheibe verhindert werden, ihren Weg hinaus zu finden, machen in der Tat den Eindruck von Automaten. Wenn aber ein den- selben so nahestehendes Wesen, wie die grazilere Stubenfliege, sich weitaus klüger benimmt, so müssen wir doch bei beiden, wenn auch in geringem Grade, die Fähigkeit voraussetzen, be- scheidene Erfahrungen zu machen. So scheinen mir der topo- chemische Geruchsinn der Ameisen und das topochemische Gedächtnis, welches ihnen Forel zuschreibt, doch glücklichere Annahmen, als die polarisierte Geruchsspur Bethes.^) Forel will sogar einen Wasserkäfer, der sonst nur im Wasser frißt, zum Fressen außer dem Wasser dressiert haben. Der kann also kein reiner Automat im gewöhnlichen engeren Sinne sein. Die Unterscheidung und das Gedächtnis für Farbe und Geschmack bei Wespen und Bienen hat Forel in den zitierten Schriften nachgewiesen. 6. Es ist nicht wertlos, die großen gemeinsamen Züge des organischen Lebens durch die Tier- und Pflanzenwelt zu ver- folgen. Bei den Pflanzen ist alles einfacher, der Untersuchung zugänglicher, für die Beobachtung offen daliegend und geht langsamer vor sich. Was wir am Tier als Bewegung, Instinkt- ') A. Forel, Psychische Fähigkeiten der Ameisen. Verh. d. 5. internat. Zoologenkongresses. Jena 1902. — Geruchsinn bei den Insekten. Ebenda. 1902. — Experiences et remarques critiques sur les sensations des Insectes, 1—5 partie. Rivista di scienze biologiche. Como 1900—1901. *) Durch das topochemische Gedächtnis soll eine Art räumlichen Ge- ruchsbildes der durchwanderten Gegend zu stände kommen, wie dies dem Hunde kaum abzusprechen sein wird. An der polarisierten Geruchsspur soll die Ameise erkennen, ob der Weg zum Nest oder vom Nest führt. Es müßte also an der Spur rechts und links durch den Geruch unterscheid- bar sein. 56 Reflex, Instinkt, Wille, Ich. äußerung, Willkürhandlung wahrnehmen, tritt uns bei den Pflanzen als Wachstumserscheinung in einer Folge von Formen entgegen oder erscheint in den Gestalten der Blätter, Blüten, Früchte, Samen für die dauernde Betrachtung fixiert. Der Unterschied liegt auch großenteils nur in unserem subjektiven Zeitmaß. Denken wir uns die langsamen Bewegungen des Chamäleons noch weiter verlangsamt, hingegen die langsamen Greifbewegungen der Lianen sehr beschleunigt,^) so verwischt sich für den Be- obachter durch beide Prozeduren der Unterschied zwischen den tierischen Bewegungen und den pflanzlichen Wachstumserschei- nungen ganz bedeutend. Die Versuchung, Vorgänge der Pflanzen- welt psychologisch zu interpretieren, ist nur sehr gering, dagegen der Trieb, dieselben physikalisch aufzufassen, desto stärker. Bei Betrachtung der Tiere verhält es sich gerade umgekehrt. Bei der engen Verwandtschaft beider Erscheinungsgebiete ist aber der Wechsel dieser verschiedenen Betrachtungsweisen sehr lehr- reich und ergiebig. Endlich ist auch die Wechselbeziehung von Pflanzen und Tieren, sowohl in chemisch-physikalischer als in morphologisch-biologischer Beziehung unerschöpflich reich an Anregungen. Man denke z. B. an die von Sprengel 1787 ent- deckten, von Darwin in seinem Orchideenwerk zu neuem Leben erweckten Entdeckungen der gegenseitigen Anpassung von Blüten und Insekten.^) Hier sind es scheinbar voneinander unabhängige Lebewesen, welche dennoch in ihren Lebens- äußerungen fast ebenso durcheinander bestimmt und aufeinander angewiesen sind, wie die Teile eines Tier- oder Pflanzenkörpers aufeinander. 7. Die Bewegungen, welche auf bestimmte Reize hin, ohne Mitwirkung des Großhirns, eintreten, nennen wir /PeyZ^j^'^^iv^^K/z^^/z. Dieselben sind durch die Verbindung der Organe und deren Stimmung vorbereitet. Die Tiere führen auch recht komplizierte Verrichtungen aus, die ein bestimmtes Ziel, einen Zweck an- zustreben scheinen, dessen Kenntnis oder absichtliche Verfolgung wir aber denselben unmöglich zutrauen können. Wir nennen diese Verrichtungen Instinkthandlungen. Solche Instinkthand - 1) Vgl. Haberlandt, Über den tropischen Urwald. Sehr. d. Vereins z, Verbr. naturw. Kenntnisse. Wien 1898. 2) H. Müller, Befruchtung der Blumen durch Insekten. Leipzig 1873. Reflex, Instinkt, Wille, Ich. 57 lungen lassen sich am besten als eine Kette von Reflex- bewegungen verstehen, von denen jedes folgende Glied durch das vorausgehende ausgelöst wird. *) Ein einfacher Fall dieser Art ist folgender. Der Frosch schnappt nach einer ihn um- summenden Fliege und verschluckt sie. Daß hier der erste Akt durch den optischen oder akustischen Reiz ausgelöst wird, liegt auf der Hand. Daß das Schlingen aber eine Folge des Schnappens ist, folgern wir, weil der Frosch ohne Großhirn, welcher nicht mehr schnappt, doch die Fliege verschlingt, sobald sie ihm ins Maul gesteckt wird. Ähnlich verhalten sich junge Nestvögel, welche ihre Nahrung noch nicht aufzunehmen wissen. Beim plötzlichen Herannahen ihrer Pfleger sperren sie aber schreiend, vielleicht auch erschreckt, den Schnabel auf und verschlingen die eingebrachte Nahrung. Das Picken und Schnappen kommt erst später hinzu. Das Sammeln der Wintervorräte durch den Hamster wird vielleicht verständlich, wenn man bedenkt, daß man es hier mit einem sehr gefräßigen, unverträglichen und zu- gleich scheuen Tier zu tun hat, das mehr aufnimmt als es ver^ zehren kann und verscheucht den Überfluß in seinem Schlupfwinkel wieder ablegt. Die wiederholte Instinkthandlung, etwa im nächsten Jahr, brauchen wir nicht mehr als unbeeinflußt vom individuellen Gedächtnis aufzufassen. Im Gegenteil kann bei höherer psychischer Entwicklung die Instinkthandlung unter dem Einfluß des Intellektes modifiziert oder sogar die Wiederholung durch den Intellekt hervorgerufen werden.^) Nach dem Prinzip der Kettenreflexe ^) Loeb, Vergleichende Gehirnphpsiologie. Leipzig 1899. *) Die ersten Male treten bei dem Gefühl von Hunger oder Durst Reflex- bewegungen ein, welche unter geeigneten Umständen zur Befriedigung des Bedürfnisses führen. Man denke an das Verhalten der Säuglinge. Je reifer der Mensch ist, desto klarere und deutlichere Erinnerungen helfen bei Be- friedigung der Bedürfnisse mit, sich an die Empfindungen vor und nach der Befriedigung knüpfend und ihm die Wege weisend. Die Mischung des Be- wußten und Instinktiven kann übrigens in den verschiedensten Verhältnissen eintreten. Vor einigen Jahren litt ich an einer heftigen Neuralgie im Bein, welche pünktlich um 3 Uhr nachts einsetzte und mich bis zum Morgen quälte. Da bemerkte ich einmal, daß es mir sehr schwer wurde, den Morgenkaffee zu erwarten. Ich kam auf den Einfall, um 3 Uhr nachts Kaffee zu nehmen, und unterdrückte so in der Tat die Neuralgie. Dieser Erfolg, der nahe an die für wunderbar gehaltene Selbstordination hypersensibler somnambuler Per- 58 Reflex, Instinkt, Wille, Ich. wird man wohl auch äußerst komplizierte Instinkthandlungen dem Verständnis näher bringen können. Bedenken wir, daß ein In- stinkt die Erhaltung der Art sichert, wenn derselbe nur in der Mehrzahl der Fälle (also wahrscheinlich) zum Ziele führt, so werden wir nicht nötig haben, die Form des Instinktes im ganzen und in den einzelnen Gliedern für genau bestimmt und absolut unveränderlich zu halten. Vielmehr werden wir den Eintritt von Variationen desselben, welche durch zufällige Umstände bedingt sind, erwarten, sowohl bei der Art im Laufe der Zeit, als auch bei gleichzeitigen Individuen derselben Art. ^) 8. Das einige Monate alte Kind greift nach allem, was seine Sinne reizt und führt das Ergriffene in der Regel in den Mund, so wie das Hühnchen nach allem pickt. Es greift auch ebenso reflektorisch nach einer etwa durch eine Fliege gereizten Haut- stelle, wie dies der Frosch tut. Der Reflexmechanismus ist nur bei dem neugeborenen Kinde noch weniger reif und entwickelt, als bei den genannten Tieren. Aber die unwillkürlich eintreten- den Bewegungen unserer Glieder sind ebenso mit Empfindungen und zwar mit optischen und haptischen Empfindungen verknüpft, wie die Vorgänge in unserer Umgebung; sie hinterlassen Er- innerungsspuren, optische und haptische Bewegungsbilder. Diese Erinnerungsspuren der Bewegungen verknüpfen sich associativ mit andern zugleich auftretenden angenehmen oder unangenehmen Empfindungen. Wir merken uns, daß Lecken am Zucker mit der Empfindung „süß", Greifen in die Flamme oder Stoßen gegen einen harten Körper oder gegen den eigenen Leib ^) mit „Schmerz- empfindung" verknüpft ist. So sammeln wir Erfahrungen so- sonen streift, überraschte mich anfangs selbst. Der aufmerksamen Erwägung kann aber die Mystik nicht standhalten. Die Schmerzen hatten eben bald nach dem Frühstück sich regelmäßig sehr gemildert, und das hierauf ein- tretende Gefühl der Behaglichkeit hatte sich mit der Vorstellung „Kaffee" associiert, ohne daß es mir noch klar bewußt war. *) Variationen in den geschlechtlichen Instinkten beruhen wohl auf zu- fälligen Umständen der erstmaligen Erregung. Es wird kaum gerechtfertigt sein, aus jeder „Perversität" eine besondere Species der „psychopathia sexualis" (!) zu machen und dieselbe sogar für anatomisch begründet zu halten. Man denke nur an die antiken Gymnasien, die relative Abgeschlossen- heit der Frauen und die Päderastie. ^) Preyer, Die Seele des Kindes. Leipzig 1882. Reflex, Instinkt, Wille, Ich. 59 wohl Über die Vorgänge in unserer Umgebung, als auch über die Vorgänge in unserem Leibe, insbesondere über dessen Be- wegungen. Die letzteren Vorgänge stehen uns am nächsten, sind für uns am wichtigsten und bieten sich der Beobachtung fort- während dar. Es ist also natürlich, daß uns diese Erfahrungen schnell am geläufigsten werden. Ein Kind hat reflektorisch ein Stück Zucker ergriffen und in den Mund geführt, ein andres Mal aber nach einer Flamme gegriffen und ebenso reflektorisch die Hand zurückgezogen. Wenn das Kind später wieder den Zucker oder die Flamme erblickt, so ist dessen Verhalten schon durch die Erinnerung modifiziert. Im ersteren Falle wird die Greif- bewegung gefördert, im zweiten durch die Erinnerung an den Schmerz gehemmt. Die Schmerzerinnerung wirkt nämlich ganz ähnlich wie der Schmerz selbst und erregt die zur Greifbewegung entgegengesetzte Bewegung. Die „iv/7/Mr//(?Äe" Bewegung ist eine durch die Erinnerung beeinflußte Reflexbewegung. Wir können keine willkürliche Bewegung ausführen, welche nicht als Ganzes oder in ihren Teilen schon als Reflexbewegung oder Instinkthandlung aufgetreten und von uns als solche wäre er- fahren worden. Wenn wir uns bei Bewegungen beobachten, merken wir, daß wir uns einer vorher schon ausgeführten Be- wegung lebhaft erinnern und daß hierbei diese Bewegung wirk- lich erfolgt. Genauer gesagt: wir stellen uns den zu ergreifen- den oder zu beseitigenden Körper, also auch dessen Ort und die optischen und haptischen Empfindungen beim Greifen dahin vor, welche Vorstellungen die Bewegung selbst sofort nach sich ziehen. Sehr geläufige Bewegungen kommen uns jedoch kaum mehr als besondere Vorstellungen zum Bewußtsein. Indem wir an den Laut eines Wortes denken, ist es schon ausgesprochen, indem wir das Schriftbild desselben uns vorstellen, ist es schon geschrieben, ohne daß uns die vermittelnden Sprach- und Schreib- bewegungen deutlich vorgeschwebt hätten. Die lebhafte Vor- stellung des Zieles oder Ergebnisses einer Bewegung löst hier in rascher Folge eine Reihe psycho-physiologischer Vorgänge aus, welche in der Bewegung selbst endigt. 9. Was wir Willen nennen, ist nur eine besondere Form des Eingreifens der temporär erworbenen Associationen in den voraus gebildeten festen Mechanismus des Leibes. Unter einfachen 60 Reflex, Instinkt, Wille, Ich. Lebensumständen genügt der angeborene Mechanismus des Leibes fast allein, um die Zusammenwirkung der Teile zur Erhaltung des Lebens zu sichern. Bei größerer zeitlicher und räumlicher Variation der Lebensumstände sind aber die Reflexmechanismen nicht mehr zureichend. Ein gewisser Spielraum ihrer Funktion und eine gewisse Modifikation von Fall zu Fall wird nötig. Diese immerhin geringe Modifikation besorgt nun die Association, in welcher die relative Stabilität, die begrenzte Variation der Lebensumstände zum Ausdruck kommt. Die Modifikation der Reflexvorgänge, welche durch die im Bewußtsein auftretenden Erinnerungsspuren bestimmt ist, nennen wir Willen. Ohne Reflex und Instinkt gibt es auch keine Nuancierung derselben, keinen Willen. Erstere bleiben immer der Kern der Lebensäußerungen. Nur wo diese zur Lebenserhaltung nicht mehr ausreichen, tritt die Modifikation, ja auch die zeitweilige Unterdrückung dieser natürlichen Akte ein, und es wird auf einem oft langen Umwege erreicht, was unmittelbar nicht erlangt werden konnte. Ein solcher Fall ist es, wenn ein Tier eine Beute mit List anschleicht und im Sprunge hascht, die eben nicht anders zu gewinnen ist, wenn der Mensch Hütten baut und Feuer macht, um sich gegen Kälte- grade zu schützen, die er vermöge seiner bloßen Organisation nicht mehr ertragen kann. Was der Mensch in seinem Vor- stellungsleben und demnach auch im Handeln vor dem Tier, der kultivierte Mensch vor dem unkultivierten voraus hat, ist nur die Länge des Umweges zu demselben Ziel, die Fähigkeit, solche Umwege aufzufinden und einzuschlagen. Die ganze technische und wissenschaftliche Kultur kann als ein solcher Umweg an- gesehen werden. Wächst nun auch im Dienste der Kultur die Kraft des Intellektes (des Vorstellungslebens) so, daß dieser sich endlich seine eigenen Bedürfnisse schafft und die Wissen- schaft um ihrer selbst willen treibt, so sieht man doch, daß diese Erscheinung nur ein Produkt der sozialen Kultur sein kann, welche eine so weit gehende Teilung der Arbeit ermöglicht. Außerhalb der Gesellschaft wäre der in seine Gedanken ganz vertiefte Forscher eine biologisch unhaltbare pathologische Erscheinung. 10. Joh. Müller^) hat noch als möglich angenommen, daß 1) J. Müller, Handbuch der Physiologie. Koblenz 1840. II. S. 500. Reflex, Instinkt, Wille, Ich. 61 die Bewegungsimpulse, Innervationen, welche vom Hirn aus zu den Muskeln abgehen, unmittelbar als solche empfunden werden, ebenso wie die peripherischen Nervenerregungen, sich zum Hirn fortpflanzend, Empfindungen bedingen. Diese Ansicht, welche bis in die neuere Zeit noch vertreten wurde, hat sich, gegenüber dem genaueren Studium der Willensfrage, von psycho- logischer Seite vorzüglich durch W. James^) und Münster- berg, ^) von physiologischer Seite besonders durch Hering^) als nicht haltbar erwiesen. Der aufmerksame Beobachter muß zugeben, daß solche Innervationsemp findungen nicht wahrzu- nehmen sind, daß man nicht weiß, wie man eine Bewegung aus- führt, welche Muskeln ins Spiel kommen, mit welchen Spannungen sich dieselben beteiligen u. s. w. Alles dies ist durch die Orga- nisation bedingt. Wir stellen uns nur das Ziel der Bewegung vor und erfahren durch peripherische Empfindungen der Haut, der Muskel, Bänder u. s. w. erst von der ausgeführten Bewegung. So wie sich also Vorstellungen durch Vorstellungen associativ im Bewußtsein ergänzen, so können sich auch Erinnerungen an sinnliche Empfindungen durch die zugehörigen motorischen Pro- zesse associativ ergänzen, wobei aber diese letzteren nicht mehr ins Bewußtsein fallen, sondern nur wieder mit deren Folgen hineinreichen. Daß das Prinzip der Association, oder der Ver- bindung durch Gewohnheit, im ganzen Nervensystem wirksam ist, kann man nach der Gleichartigkeit des letzteren wohl an- nehmen. Auf die besonderen Nervenverbindungen mit dem Großhirn wird es ankommen, welche Glieder der Associations- ketten ins Bewußtsein fallen. Als Beispiele der Erregung ver- schiedener leiblicher Prozesse durch Vorstellungen erwähnen wir, daß Erbrechen bei empfindlichen Personen leicht durch die Vorstellung des Erbrechens ausgelöst wird. Wer leicht an den Händen schwitzt, wer in der Verlegenheit leicht errötet, darf an diese Vorgänge nicht denken, ohne daß sie sofort eintreten. Die Speicheldrüsen des Feinschmeckers reagieren prompt auf dessen Geschmacksphantasien. Als ich einmal längere Zeit an Malaria ») W. James, The feeling of effort. Boston 1880. — Principles of Psychologe. New York 1890. II. S. 486 u. f. 2) Münsterberg, Die Willenshandlung. Freiburg i. B. 1888. 8) Hering in Hermanns Handb. d. Physiol. III, 1. S. 547, 548. 62 Reflex, Instinkt, Wille, Ich. litt, erwarb ich mir die unangenehme Fertigkeit, durch den bloßen Gedanken an Schüttelfrost diesen selbst hervorzurufen, welche Fertigkeit mir viele Jahre verblieb. Die hier dargelegte Auf- fassung wird noch durch andere Tatsachen bestätigt. Wenn eine Muskelkontraktion nicht „zentral", nicht durch den „Willen", sondern durch den Induktionsstrom ausgelöst wird, so empfinden wir diese Kontraktion ganz ebenso als Anstrengung wie die willkürliche; diese Empfindung ist also peripherisch ausgelöst. Am interessantesten sind aber die Beobachtungen Strümpells^) über das Verhalten eines Knaben, der bloß mit dem rechten Auge sah und mit dem linken Ohre hörte, der aber sonst ganz emp- findungslos war. Bei verbundenen Augen konnten dessen Glieder in die ungewöhnlichsten Stellungen gebracht werden, ohne daß er es merkte. Auch das Gefühl der Ermüdung fehlte gänzlich. Verlangte man, daß er den Arm erhebe und erhoben halte, so tat er dies, aber nach 1 — 2 Minuten begann dieser zu zittern und zu sinken, obgleich der Patient behauptete, denselben er- hoben zu halten. Ebenso glaubte derselbe die Hand zu schließen und zu öffnen, während man diese fest hielt. ^) 11. Bewegung, Empfindung und Vorstellung stehen überhaupt in einem sehr innigen Zusammenhang. Wir dürfen uns über das Bestehen desselben durch die notwendigen Einteilungen und das Schematisieren der Psychologie nicht täuschen lassen. Wenn eine Wildkatze durch ein leises Geräusch erregt, sich des Tieres erinnert, welches dieses Geräusch bewirken könnte, so richtet sie die Augen auf den Ort des Geräusches und stellt sich sprung- bereit. Die associierte Vorstellung hat hier Bewegungen aus- gelöst, welche eine deutlichere optische Empfindung des er- warteten interessanten, zur Nahrung dienenden Objektes bedingen, das nun mit gut bemessenem Sprunge eingefangen werden kann.^) Dagegen sind die Augen der Katze jetzt ganz von der Beute 1) Strümpell, Deutsch. Archiv f. klin. Medic. XXII. S. 321. ") Ich selbst konnte mich einige Zeit von der Müll ersehen Ansicht nicht losmachen. Die Beobachtungen (Analyse 4. Aufl. S. 135) an meiner eigenen apoplektisch gelähmten, aber sensiblen Hand, an welcher keine Be- wegung zu sehen ist, während ich doch ein Schließen und öffnen in geringem Ausmaß zu fühlen glaube, weiß ich auch in den Rahmen der neuen Theorie nicht recht einzupassen. 8) Groos, Die Spiele der Tiere. Jena 1896. S. 210 u. f. Reflex, Instinkt, Wille, Ich. 63 in Anspruch genommen und eben deshalb zur Aufnahme von anderwärts herkommenden Eindrücken wenig geeignet, weswegen das lauernde Tier dem Jäger leicht zum Opfer fällt. Wir sehen, wie hier Empfindung, Vorstellung und Bewegung ineinander- greifen, um den Zustand zu bestimmen, den wir Aufmerksamkeit nennen. Ähnlich jener Katze verhalten wir uns, wenn wir über etwas, das unmittelbar unsere Lebenserhaltung betrifft oder aus irgend einem andern Grunde für uns von Interesse ist, nach- denken.^) Wir überlassen uns da nicht beliebigen Einfällen. Zu- nächst wenden wir den Blick von allen gleichgültigen Vorkomm- nissen ab, achten nicht auf Geräusche in unserer Umgebung oder suchen dieselben abzuhalten. Wir setzen uns wohl gar an unseren Arbeitstisch und entwerfen eine Konstruktion oder fangen an, eine Formel zu entwickeln. Wir werfen den Blick wieder- holt auf die Konstruktion oder die Formel. Nur jene Asso- ciationen, welche zur Aufgabe in Beziehung stehen, treten auf. Kommen andere zum Vorschein, so werden sie bald wieder von ersteren verdrängt. Bewegungen, Empfindungen und Asso- ciationen wirken im Falle des Nachdenkens gerade so zusammen, den Zustand der intellektuellen Aufmerksamkeit zu schaffen, wie sie in dem Fall der Katze die sinnliche Aufmerksamkeit hergestellt haben. Wir glauben unser Denken „willkürlich" zu leiten, aber in Wahrheit ist dasselbe bestimmt durch den immer wiederkehrenden Gedanken des Problems, das mit 1000 Asso- ciationsfäden unmittelbar oder mittelbar an den Interessen unseres Lebens hängt, die uns nicht los lassen.^) Wie in dem Fall der sinnlichen Aufmerksamkeit der auf ein bestimmtes Objekt ein- gestellte Sinn eben dadurch relativ blind oder taub wird für jedes andere Objekt, so werden auch durch die auf das Problem be- züglichen Associationen den andern die Bahnen verschlossen.^) Die Katze merkt das Herannahen des Jägers nicht, der speku- lierende Sokrates überhört „zerstreut" die Fragen seiner Xanthippe und der konstruierende Archimedes büßt seine mangelhafte bio- 1) Vgl. s. 40. =>) Vgl. Popul. Vorlesungen, 3. Aufl. S. 287 u. f. *) Vgl. Zur Theorie des Gehörorgans. Sitzb. d. Wiener Akademie. Bd. 48, Juli 1863. Daselbst schon eine mehr biologische Auffassung der Aufmerksamkeit. 64 Reflex, Instinkt, Wille, Ich. logische Anpassung an die augenblicklichen Umstände mit dem Leben. 12. Es gibt keinen Tillen und keine Aufmerksamkeit als be- sondere psychische Mächte. Dieselbe Macht, die den Leib bildet, führt auch die besonderen Formen der Zusammenwirkung der Teile des Leibes herbei, für welche wir die Kollektivnamen „Wille" und „Aufmerksamkeit" angenommen haben. Wille und Aufmerksamkeit sind so nahe verwandt, daß es schwer ist, die- selben gegeneinander abzugrenzen.^) Im Willen und in der Aufmerksamkeit liegt eine „\^aÄ/", ebenso wie im Geotropismus und Heliotropismus der Pflanzen und in dem Fall des Steines zur Erde. Alle sind in gleicher Weise rätselhaft oder in gleicher Weise verständlich.^) Der Wille besteht in der Unterordnung der weniger wichtigen oder nur zeitweilig wichtigen Reflexakte unter die die Lebensfunktion leitenden Vorgänge. Diese leitenden Vorgänge sind aber die Empfindungen und Vorstellungen, welche die Lebensbedingungen registrieren. 13. Manche Bewegungen, deren unausgesetzte Fortdauer für die Erhaltung des Lebens notwendig ist, wie die Herzbewegung, die Atmung, die peristaltische Bewegung des Darms u. s. w., sind vom „Willen" unabhängig oder werden höchstens in sehr beschränktem Maße von psychischen Vorgängen (Gemütsbewe- gungen) beeinflußt. Die Grenze zwischen willkürlichen und un- willkürlichen Bewegungen ist aber keine absolut feststehende, sondern variiert etwas von Individuum zu Individuum. Bei ein- zelnen Menschen gehorchen manche Muskeln dem Willen, welche bei anderen dem Einfluß desselben ganz entzogen sind. So soll Fontana im stände gewesen sein, die Pupillen willkürlich zu verengern, und E. F. Weber hätte sogar die Fähigkeit gehabt, die Herzbewegung willkürlich zu unterdrücken.^) Wenn die Innervation eines Muskels zufällig gelingt, und man kann die hierbei auftretenden Empfindungen in der Erinnerung reprodu- zieren^ so tritt hierbei die Kontraktion des Muskels in der Regel wieder ein, und derselbe bleibt der Herrschaft des Willens unter- ') Vgl. J. C. Kreibig, Die Aufmerksamkeit als Willenserscheinung. Wien 1897. 2) Vgl. Schopenhauer, Über den Willen in der Natur. ») Ribot, Maladies de la volonte. Paris 1888. S. 27. Reflex, Instinkt, Wille, Ich. 65 worfen.^) Die Grenze der Willkürbewegung kann also durch glückliche Versuche und Übung erweitert werden. — In krank- haften Zuständen kann die Beziehung zwischen dem Vorstel- lungsleben und der Bewegung bedeutende Veränderungen er- fahren, was nur durch einige Beispiele erläutert werden soU.^) Th. de Quincey erfuhr nach seinem eigenen Geständnis durch den Gebrauch des Opiums eine solche Schwächung des "Willens, daß er eingelangte wichtige Briefe durch Monate unbeantwortet liegen ließ und es dann noch schwer über sich gewann, eine Antwort von wenigen Worten zu schreiben. Ein kräftiger, in- telligenter Mann, Notar, verfiel in Melancholie. Er sollte eine Reise nach Italien antreten, erklärte wiederholt, es sei ihm un- möglich, leistete aber seinem Begleiter nicht den geringsten Widerstand. Eine Vollmacht, die er ausstellte, unterzeichnete er, konnte aber durch drei Viertelstunden nicht dazu gelangen, den Namen durch den üblichen Zug zu ergänzen. Nachdem sich noch in vielen ähnlichen Fällen seine Willensschwäche geäußert hatte, gewann er seine Energie wieder beim Anblick einer von den Pferden zu Boden geworfenen Frau. Er sprang rasch aus dem Wagen, um ihr Hilfe zu leisten. Die „Abulie" wurde also hier durch einen starken Affekt überwunden. Anderseits können bloße Vorstellungen so impulsiv werden, daß sie drohen in die Tat auszubrechen. Ein Mensch wird z. B. von dem Gedanken beherrscht, eine bestimmte Person oder sich selbst ermorden zu müssen, und läßt sich freiwillig fesseln, um sich vor den Folgen dieses furchtbaren Triebes zu schützen. 14. Schon eine vorausgehende Überlegung hat gezeigt, daß die Abgrenzung des Ich gegen die Welt etwas schwierig und von Willkürlichkeit nicht frei ist. Betrachten wir die Gesamtheit der miteinander zusammenhängenden Vorstellungen, also dasjenige, was nur für uns allein unmittelbar vorhanden ist, als das Ich. Dann besteht das Ich aus den Erinnerungen unserer Erlebnisse, mit den durch diese selbst bedingten Associationen. Dieses ganze Vorstellungsleben ist aber an die historischen Schicksale des Großhirns gebunden, welches ein Teil der physischen Welt ist, den wir nicht ausscheiden können. Nun haben wir aber kein ') Hering, Die Lehre vom binocularen Sehen. Leipzig 1868. S. 27. 2) Ribot, a.a.O. S. 40— 48. Mach, Erkenntnis und Irrtum. / 5 6Q Reflex, Instinkt, Wille, Ich. Recht, die Empfindungen aus der Reihe der psychischen Ele- mente auszuschahen. Beschränken wir uns zunächst auf die Organempf indüngen (Gemeingefühle), welche von dem Lebens- prozeß aller Körperteile herrühren, der in das Großhirn aus- strahlt und als Hunger, Durst u. s. w. die Grundlage der Triebe wird, die vermöge eines im embryonalen Leben erworbenen Mechanismus unsere Bewegungen, Reflexe und Instinkthand- lungen auslösen, die durch das später entwickelte Vorstellungs- leben nur modifiziert werden können. Dieses weitere Ich hängt schon mit unserem ganzen Leib, ja nicht minder mit dem Leib unserer Ehern untrennbar zusammen. Endlich können wir auch die von der gesamten physischen Umgebung ausgelösten Sinnes- empfindungen zum Ich im weitesten Sinn rechnen, und dieses ist dann von der ganzen Welt nicht mehr trennbar. Dem er- wachsenen denkenden Menschen, welcher sein Ich analysiert, fällt das Vorstellungsleben vermöge seiner Stärke und Klarheit als der wichtigste Inhalt des Ich auf. Anders ist es, wenn wir ein Individuum in der Entwicklung betrachten. Das einige Monate alte Kind wird noch ganz von seinen Organempfindungen beherrscht. Der Ernährungstrieb ist am mächtigsten wirksam. Sehr allmählich entwickelt sich das Sinnesleben und später das Vorstellungsleben. Erst spät kommt der Geschlechtstrieb hinzu und wandeh bei gleichzeitigem Wachstum des Vorstellungslebens die ganze Persönlichkeit um. So entwickelt sich ein Weltbild, in dem als deutlich abgegrenztes und wichtigstes Zentralglied der eigene Leib sich abhebt; die stärksten Vorstellungen zielen mit ihren Associationen auf Befriedigung der Triebe ab, sind auf dieselbe abgestimmt, sozusagen nur Zwischenmittel zur Be- friedigung derselben. Das Zentralglied dieses Weltbildes hat der Mensch mit den höheren Tieren gemein, nur tritt das Vor- stellungsleben desto mehr zurück, je einfachere Organismen wir betrachten. Beim sozialen Menschen, dessen Leben teilweise entlastet ist, können die Vorstellungen, welche mit dessen Beruf, Stellung, Lebensaufgabe u. s. w. zusammenhängen, obgleich sie ursprünglich nur Zwischenmittel zur Befriedigung zunächst der eigenen und nebenher und mittelbar der fremden Triebe waren, doch eine solche Stärke und einen solchen Wert gewinnen, daß alles übrige daneben unbedeutend erscheint. So entsteht das, Reflex, Instinkt, Wille, Ich. 67 was Meynert^) das sekundäre Ich genannt hat im Gegensatz zum primären Ich, in welchem letzteren vor allem das animale Leben des Leibes sich hervorhebt. 15. Bei dem wichtigen Beitrag, den die Organempfindungen zur Bildung des Ich liefern, ist es begreiflich, daß Störungen dieser Organempfindungen auch das Ich alterieren. Ribot^) hat die interessantesten Fälle dieser Art beschrieben. Ein in der Schlacht von Austerlitz schwer verwundeter Soldat hielt sich seither für tot. Wurde er um sein Befinden gefragt, so ant- wortete er: Ihr wollt wissen, wie es Vater Lambert geht? Er ist nicht mehr, eine Kanonenkugel hat ihn mitgenommen. Das, was ihr hier seht, ist eine schlechte Maschine, die ihm ähnlich ist. Man sollte eine andere machen. Indem er von sich sprach, sagte er nie „ich", sondern „dieses da". Seine Haut war empfindungslos, und oft verfiel er in vollständige Bewußtlosig- keit und Unbeweglichkeit, welche mehrere Tage währte. — Die monströsen Zwillinge mit teilweise gemeinschaftlichem Leib, wie die bekannten siamesischen Zwillinge oder die zu Szongy in Ungarn geborenen Schwestern Helene und Judith, haben auch ein teilweise gemeinschaftliches Ich und fallen, wie natürlich, durch Ähnlichkeit, ja Identität des Charakters auf. Dies geht so weit, daß im Gespräch oft die von einem Teil begonnene Phrase von dem andern vollendet wird. ^) Übrigens zeigen or- ganisch zusammenhängende Zwillinge nur in gesteigertem Maß die physische und psychische Ähnlichkeit der organisch ge- trennten Zwillinge, welche in antiker und moderner Zeit dank- bare Lustspielstoffe geliefert hat.*) — Wenn die Organisation für das primäre Ich bestimmend ist, so haben die Erlebnisse auf das sekundäre Ich bedeutenden Einfluß. In der Tat kann plötz- licher oder dauernder Wechsel der Umgebung das sekundäre Ich mächtig alterieren. Dies wird in treffender Weise illustriert ») Meiner t, Populäre Vorträge. Wien 1892. S. 36 u. f. 2) Ribot, Les maladies de la personnalite. Paris 1888. ä) Vaschide etVurpas, Essai sur la Psycho-Phj>siologie des Monstres humains. Paris (ohne Jahreszahl). *) Man vergleiche des Plautus „Menaechmi" oder Shakespeares „Komödie der Irrungen". — Galtons „History of Twins" ist in Bezug auf die Tatsachen lehrreich. / 5* 08 Reflex, Instinkt, Wille, Ich. durch die Erzählung „vom Schlafenden und Wachenden" in der arabischen Märchenerzählung „Tausend und eine Nacht", sowie in dem bekannten Zwischenspiel Shakespeares in „Zähmung einer Widerspenstigen". 16. Merkwürdig sind die Fälle, in welchen sich zugleich zwei verschiedene Persönlichkeiten in einem Körper äußern. Ein Mann, welcher bewußtlos im Typhus liegt, erwacht eines Tages, glaubt aber zwei Körper zu haben, die in zwei verschiedenen Betten liegen, von denen der eine genesen ist und einer köstlichen Ruhe genießt, während der andere sich elend befindet. — Ein Polizei- soldat, welcher durch mehrere Schläge auf den Kopf eine Ge- dächtnisschwächung erfuhr, glaubte aus zwei Personen von ver- schiedenem Charakter und Willen zu bestehen, welche beziehungs- weise in der rechten und linken Körperhälfte ihren Sitz hatten. — Die Fälle von sogenannter Besessenheit, in welchen sich in dem Leib einer Person eine zweite, kontrollierende oder befehlende, oft mit fremder Stimme herausschreiende breit zu machen scheint, gehören auch hierher. Es ist nicht zu verwundern, daß der furcht- bare unheimliche Eindruck solcher Vorkommnisse eine dämono- logische Auffassung derselben veranlaßt hat.^) — Häufiger äußern sich verschiedene Persönlichkeiten in einem Leib nacheinander oder alternieren miteinander. Eine bekehrte Prostituierte wurde in ein Kloster aufgenommen, verfiel in religiösen Wahnsinn, worauf Stupidität folgte. Dann folgt eine Zeit, in welcher sie abwechselnd Nonne und Prostituierte zu sein glaubt und sich dementsprechend benimmt. Es sind sogar Fälle des Wechsels von drei ver- schiedenen Persönlichkeiten beobachtet worden. Wenn man sich mit Berücksichtigung sämtlicher Momente, die bei der Bildung des Ich mitwirken, über die angeführten 1) In Bezug auf die dämonologische Auffassung vergleiche man: Enne- moser, Geschichte der Magie. Leipzig 1844. — Roskoff, Geschichte des Teufels. Leipzig 1869.- Hecker, Die großen Volkskrankheiten des Mittel- alters. Berlin 1865. — Pathologische Erscheinungen, psychische Störungen, insbesondere Hallucinationen, seien sie nun dauernd (wie z. B. im Verfolgungs- wahn) oder temporär durch Gifte (Hexensalbe) hervorgebracht, stützen, bei mangelhafter wissenschaftlicher Kritik, den Dämonen- und Hexenglauben, so- wohl bei den Betroffenen wie bei den Beobachtern. Vgl. P. Max Simon, Le Monde des Reves. Paris 1888. — Interessante Daten auch bei Walter Scott, Letters on Demonology and Witchcraft, 4«^ edit, London 1898. Reflex, Instinkt, Wille, Ich. 69 Fälle eine naturwissenschaftliche Ansicht bilden will, so hat man sich etwa zu denken, daß an die wechselnden Organgefühle sich mit diesen fest verbundene Associationskreise knüpfen, die unter- einander nicht zusammenhängen. Mit dem Wechsel der Organ- empfindungen, etwa durch Krankheit, wechseln dann auch die Erinnerungen und die ganze Persönlichkeit. Im Übergangs- zustande aber, wenn derselbe von genügender Dauer ist, tritt die doppelte Persönlichkeit auf. Wer im Traume im stände ist, sich zu beobachten, dem sind solche Zustände nicht ganz fremd und keineswegs unvorstellbar. 17. Die Teile des menschlichen Leibes stehen in einem sehr engen Zusammenhang, und fast alle Lebensvorgänge ragen in irgend einer Weise ins Großhirn, also ins Bewußtsein hinein. Dies ist keineswegs bei allen Organismen der Fall. Wenn wir eine Raupe beobachten, welche, am Hinterteil verwundet, sich von rückwärts aufzufressen beginnt,^) wenn eine Wespe sich durch Abschneiden des Abdomens nicht im Honigsaugen stören läßt, wenn ein Regenwurm, mitten entzwei geschnitten, nach Ver- bindung beider Teile durch einen Faden fast wie ein unver- letzter weiterkriecht, so müssen wir annehmen, daß bei diesen Tieren nicht unmittelbar sich berührende Teile in keiner so innigen Wechselbeziehung stehen wie beim Menschen. Es wirkt z. B. beim Wurm ein Leibesring erregend auf den folgenden, weshalb er auch fortkriecht, wenn der vorhergehende Ring durch den Faden den folgenden reizt. Aber von einer Zentralisierung des ganzen Lebens in einem Hirn und einer ent- sprechenden /<?Ä-Bildung kann kaum die Rede sein. 1) Dieser Vorgang wird in biologischen Schriften erwähnt. Meine Schwester, welche sich viele Jahre mit der Aufzucht von Yama Mai im freien Eichenwald beschäftigt hat, wo häufig genug Verletzungen von Raupen, aber auch Heilungen vorkamen, bestreitet die Richtigkeit der Beobachtung. Die Raupen scheinen die Wunde zu untersuchen und bestreben sich vielleicht, dieselbe zu schließen. Die Entwicklung der Individualität in der natürlichen und kulturellen Umgebung. 1. Vom Elternleibe losgetrennt beginnt der tierische Organis- mus ein selbständiges Leben. Als Erbe nimmt er nur eine Anzahl von Reflexreaktionen mit, die ihm über die erste Not hinweghelfen sollen. Indem er diesen Besitz seiner besonderen Umgebung anpaßt, entsprechend modifiziert und vermehrt, Er- fahrungen erwirbt, wird er zur leiblichen und psychischen Indi- vidualität. Das menschliche Kind verhält sich hier gerade so, wie das mit der Eierschale davonlaufende und pickende Reb- huhn, und der an der Nabelschnur die Schale noch nach sich ziehende eben ausgeschlüpfte Alligator,^) der aber schon mit off enem Rachen fauchend und schnappend auf jeden angenäherten Körper losfährt. Nur weniger reif, weniger reich ausgestattet, trennt sich das menschliche Kind äußerlich von der Mutter, deren leiblicher und psychischer Besitz noch lange ergänzen muß, was dem Kinde zur Selbständigkeit fehlt. 2. Individuelle Erfahrungen sammeln die Tiere in derselben Weise wie der Mensch. Die Biologie und die Kulturgeschichte sind gleichwertige, sich gegenseitig ergänzende Quellen der Psycho- logie und Erkenntnislehre. Mag es auch recht schwierig sein, sich in das psychische Leben der Insekten z. B. hineinzudenken, deren Lebensbedingungen, deren Sinne uns so wenig bekannt sind, mag es auch verlockend scheinen, dieselben als bloße Maschinen zu studieren, von Schlüssen auf das psychische Leben ganz ab- zusehen, den wertvollen Leitfaden der Analogie zur eigenen Psyche sollte man desto weniger unbenutzt lassen, je unzureichender *) Morgan, Comparative Psychologp. London 1894. p. 209. Die Entwicklung der Individualität etc. 71 gerade hier die übrigen Mittel der Forschung sind. "Wir sind ja gelegentlich sehr geneigt, die Kluft zwischen dem Menschen und seinen tierischen Genossen zu überschätzen. Wir vergessen zu leicht, wie viel in unserem eigenen psychischen Leben mechanisch verläuft. Halten wir das Benehmen der Insekten, Fische und Vögel der Flamme und dem Glase gegenüber für auffallend dumm, so bedenken wir nicht, wie wir selbst uns gegen solche Objekte verhalten würden, wenn dieselben unserer Erfahrung gänzlich fremd wären und nun plötzlich auftreten würden. Die- selben müßten uns geradezu als Zauberei erscheinen, und wir würden wohl mehr als einmal gegen dieselben anrennen. Gehen wir von dem Studium der dem Menschen nächststehenden Tiere aus, zu den fernerstehenden allmählich fortschreitend, so muß dies zu einer soliden vergleichenden Psychologie führen. Erst eine solche wird die Erscheinungen des höchsten und des nie- dersten psychischen Lebens durchleuchten, die wahren Über- einstimmungen und Unterschiede beider klarlegen. 3. Einige Beispiele mögen das Verhältnis der tierischen zur menschlichen Psyche beleuchten. L. Morgan^) ließ einen jungen Hund einen Stock herbeibringen. Derselbe brannte sich beim Aufnehmen des Stockes an Nesseln und wollte denselben Stock nicht mehr anfassen, auch wenn dieser im freien Felde lag. Andere Stöcke faßte er ohne Widerstand an, und so auch den verhängnisvollen Stock nach einigen Stunden, nachdem mit dem Schmerz auch die lebhafte Vorstellung desselben geschwunden war. — Ein anderer Hund faßte einen Stock mit schwerem Knopf in der Mitte, was ihm große Unbequemlichkeiten verursachte. Durch viele Versuche lernte er aber den Stock nahe am Knopf — in der Nähe des Schwerpunktes — fassen. — Zwei junge Hunde trugen Stöcke quer im Maul, deren Enden an die Pfeiler eines engen Durchgangs für Fußgänger anstießen. Die Hunde ließen die Stöcke fallen und liefen hindurch. Zurückgesandt, faßte der eine den Stock an einem Ende und zog ihn ohne Schwierigkeit hindurch, während der andere fortfuhr, in der Mitte anzufassen, anzustoßen und fallen zu lassen. Bei der Rückkehr an denselben Ort, nach einer Stunde, hatte auch der scheinbar klügere vergessen, den ») Morgan, 1. c. p. 91, 254, 288, 301, 302. 72 I^i^ Entwicklung der Individualität in der Vorteil zu nützen, den ihm offenbar der Zufall dargeboten hatte. — Ein Hund lernt leicht ein Gittertor öffnen, indem er den Kopf unter den Riegel schiebt und diesen hebt. Beobachtet man genau, so zeigt sich, daß dieses Verfahren, durch spielende oder ungestüme Versuche, hinaus zu gelangen, zufällig gefunden wurde und keineswegs in der klaren Einsicht der Bedingungen des Öffnens. — Ein Hund verfolgte mehrmals ein aufgescheuchtes Kaninchen auf einem krummen Pfad durch das Gebüsch, wobei ihm dasselbe schließlich in seinen Bau entwischte. Endlich aber schlug der Hund, nachdem er das Tier aufgejagt, den geraden Weg zum Bau ein, woselbst er das ankommende Tier erwartete und erfaßte. — Pferde und Hunde, welche eine Last einen steilen Hügel hinanzuschleppen haben, ziehen den Zickzackweg von geringerer Steigung dem geraden Weg vor. Aus diesen Beispielen scheinen sich folgende Regeln ab- leiten zu lassen: 1. Die Tiere wissen Associationen, welche der Zufall herbeiführt, zu ihrem Vorteil zu nützen. 2. Wegen Kom- plikation der Tatsachen können auch nicht fest zusammen- hängende Merkmale sich ässociieren; es kann z. B. das Brennen dem Stock zugeschrieben werden, auf den die Aufmerksamkeit eben gerichtet ist, während die Nesseln unbeachtet bleiben. 3. Nur oft erneuerte, biologisch wichtige Associationen erhalten sich. — Man wird zugeben, daß das Verhalten der meisten Menschen nach denselben Regeln verständlich ist. — Züge von unglaub- licher Dummheit erzählt Morgan^) von einer Kuh, deren Kalb bald nach der Geburt verendete. Da diese Kuh sich nur in Gegenwart des Kalbes melken ließ, stopfte der Hirt den Balg des Kalbes ohne Kopf und Beine mit Heu aus, welches Phantom die Kuh beroch und mit Zärtlichkeit leckte, während der Hirt das Melken vornahm. Als aber später durch das beharrliche Liebkosen das Heu zum Vorschein kam, fraß die Kuh dieses mit aller Gemütsruhe auf. Züge von gelegentlicher menschlicher ') Morgan, Animal Life. London 1891. p. 334. — Gute pspchologische und biologische Betrachtungen bei Th. Zell (Ist das Tier unvernünftig? Stuttgart — Tierfabeln. Ebendaselbst — Das rechnende Pferd. Berlin). Sehr gut ist die Unterscheidung von Augentieren und Nasentieren, sowie das Sparsamkeitsgesetz. Bei seinen Lesern setzt Zell eine allzugroße Naivetät voraus, was den Büchern nicht zum Vorteil gereicht. natürlichen und kulturellen Umgebung. 73 Stumpfheit, welche an die referierten erinnern, erzählt aber Mau- passant in mancher seiner meisterhaften Novellen; dieselben beruhen kaum auf reiner Erfindung. 4. Ist das psychische Leben durch die biologische Notwendig- keit einmal zu gewisser Stärke entwickelt, so äußert es sich auch selbständig über diese Notwendigkeit hinaus. Ein solcher Über- schuß des psychischen Lebens tritt in der Neugier zu Tage. Man kennt das kurze abgebrochene Bellen, welches der Hund hören läßt, wenn irgend eine ungewöhnliche Erscheinung seine Auf- merksamkeit in Anspruch nimmt. Er beruhigt sich erst, wenn sich diese in einer für ihn verständlichen Weise aufklärt. — Eine schlafende Katze*) wurde durch den Schall eines Kindertrompet- chens sehr erregt, legte sich aber ruhig wieder nieder, als sie den Knaben wahrnahm, der das Geräusch verursachte. — Ein Affe^) in einem Tiergarten fing ein Oppossum, untersuchte dasselbe, fand den Beutel, aus dem er die Jungen herausnahm, und legte sie nach genauer Besichtigung wieder hinein. In letzterem Falle geht das Interesse des kleinen Zoologen schon beträchtlich über die biologische Notwendigkeit hinaus. Romanes^) beobachtete, daß ein Hund beunruhigt und furchtsam wurde, als ein Knochen, den er benagt hatte, durch einen verborgenen Faden in Be- wegung gesetzt wurde. Er deutete dies, etwas kühn, als Anlage zum Fetischismus. Es erinnert dies in der Tat entfernt an die Verehrung eines Südseeinsulaners für einen beschriebenen Holzspan,^) der in einer ihm unverständlichen Weise eine Nach- richt vermittelt hatte. 5. Das psychische Leben des Tieres wird noch wesentlich bereichert durch Beobachtung des Verhaltens seiner Artgenossen, durch deren Beispiel und deren, wenn auch unvollkommene, ') Morgan, 1. c. p. 339. ^) Morgan, 1. c. p. 340. ') Morgan, Comparative Psychologe, p. 259. — Schopenhauers Hund wußte „a priori", daß jeder Vorgang seine Ursache hat, suchte in einem ana- logen Falle nach dieser und behalf sich ohne Fetischismus. (Schopenhauer, Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. Leipzig 1864. 3. Aufl. S. 76.) So merkwürdig richtet sich die Philosophie des Hun- des nach jener seines Beobachters. *) Tplor, Einleitung i. d. Studium d. Anthropologie. Braunschweig 1883. S. 197. 74 Die Entwicklung der Individualität in der sprachliche Mitteilungen, welche schon in den reflektorisch ent- stehenden Warnungs- und Lockzeichen liegen. So können Ver- haltungsweisen älterer Artgenossen auf jüngere, durch Tradition,^) übertragen werden, so können aber auch von einzelnen Individuen neu aufgebrachte Verhaltungsweisen auf viele oder alle Mitglieder einer Art übergehen. Das Leben einer Art erfährt also im Ver- lauf der Zeit Veränderungen. Wenn diese auch sehr selten so rapid ^) auftreten, wie dies im Kulturleben des Menschen etwa durch Erfindungen geschieht, so sind die Vorgänge doch hier wie dort gleichartig, und hier wie dort können wir von einer Geschichte^) sprechen. 6. Die Unterschiede, welche der Mensch in psychischer Be- ziehung gegen die Tiere darbietet, sind nicht qualitativer, son- dern bloß quantitativer Art. Infolge seiner verwickelten Lebens- bedingungen hat sich 1. sein psychisches Leben intensiver und reicher gestaltet, 2. ist sein Interessenkreis größer und weiter, 3. ist er fähig, zur Erreichung seiner biologischen Ziele, einen längeren Umweg einzuschlagen, 4. übt das Leben der Zeit- genossen und Vorfahren, vermöge der vollkommeneren münd- lichen und schriftlichen Mitteilung, einen stärkeren und direkteren Einfluß auf das Individuum, 5. findet in der Lebenszeit des ein- zelnen eine raschere Umwandlung des psychischen Lebens statt. 7. Der Mensch erwirbt seine kulturellen Errungenschaften in kleinen Schritten auf dem Weg primitiver Erfahrungen, wie die Tiere. Wenn die Früchte der Bäume nicht mehr reichen, be- schleicht er wie ein Raubtier seine Jagdbeute und verwendet ähnliche Kunstgriffe wie dieses. Allerdings zeigt sich hier schon in der Wahl der Mittel die größere Kraft seiner durch reichere Erfahrung gestärkten Phantasie. Der Indianer beschleicht in der •) Auf Nachahmung hoffte man die Wanderungen der Zugvögel zurück- zuführen. Dieselben entstanden vielleicht zu einer Zeit, als die Ziele der Wanderung noch nicht durch Meere getrennt waren. — Neue Blicke und neue größere Rätsel bei K. Graeser, Der Zug der Vögel. Berlin 1905. *) Doch soll ein australischer Papagei auf den Einfall gekommen sein, die Schafe anzufallen und anzufressen, welches Beispiel von den übrigen Vertretern der Art nachgeahmt worden sein soll. *) Vgl. H. V. Buttel-Reepen, Die stammesgeschichtliche Entstehung des Bienenstaates. Leipzig 1903. natürlichen und kulturellen Umgebung. 75 Renntiermaske die Renntierherde ;^) der Australier schwimmt, durch ein Rohr atmend, unter Wasser an die Wasservögel heran, die er so mühelos herabzieht und erstickt; der Ägy^pter verbirgt zu demselben Zweck seinen Kopf in einem Kürbis. Zur Ver- wendung solcher Mittel mögen wohl zufällige Erfahrungen ge- geleitet haben. Der Zufall hat vermutlich auch das Fangen der Fische bei Ebbe durch einen Pfahlzaun gelehrt.^) Die äußerst sinnreiche Konstruktion der verschiedenen Fallen zeugt ebenso sehr für die Schlauheit des Menschen, wie für jene der Tiere, welche dieselben bald kennen und vermeiden lernen und so dem Menschen stets neue Aufgaben stellen. Neue wichtige Erfahrungen mußte der Mensch machen, als ihn die Vermehrung seines Ge- schlechtes zwang, von dem Jäger- zum Nomadenleben und schließlich zum Landbau überzugehen. Die Muschelschalenhaufen, „Kjökkenmöddings", an den Küsten zeigen, daß die Ernährung vieler Menschen der Steinzeit von jenen der Tiere kaum verschieden war. Der primitive Mensch schlägt sein Lager in Baumgeflechten auf, wie die Vögel und Affen oder benutzt eine Höhle als Wohnung, wie die Raubtiere. Die runde Indianerhütte, ^) welche durch das Zusammenbinden der Wipfel von Bäumchen entsteht, weicht allmählich bei größerem Raumbedarf der länglichen rechteckigen Hütte. Klimatische Ver- hältnisse und die Art des vorhandenen Materials bedingen den Übergang zum Holzbau und Steinbau mit rohen oder behauenen Steinen. 8. Sehr auffallend unterscheidet sich der Mensch von seinen tierischen Genossen durch den Gebrauch der Kleidung. Zwar schützen sich zarte Krebse durch Verkriechen in Muschelschalen, und gewisse Insektenlarven bereiten sich eine Hülle von Stein- chen und Blättern, allein solche Fälle sind verhältnismäßig sehr selten. Meist genügt die von der Natur mitgegebene Körper- hülle zu ausreichendem Schutz. Durch welche Umstände verlor nun der Mensch bis auf ein Rudiment das vermutlich von seinen Vorfahren ererbte Haarkleid? Was mußte wohl vorausgehen, bevor der Mensch unter ungünstigen klimatischen Verhältnissen ») Tylor, Anthropologie, S. 246. 2) Diodor, III, 15, 22. ') Tylor, I.e. S. 275. 76 Die Entwicklung der Individualität in der durch Kleider sich zu schützen suchte? Hat der aus wärmerem Klima nach dem Norden vertriebene Mensch durch die Kleider die Behaarung verloren? Oder haben verwickelte prähistorische Vorgänge den gegenwärtigen Zustand herbeigeführt? Tier- felle und Baumrinden') waren die ersten Hüllen, nach welchen der schutzbedürftige Mensch griff. Auch Geflechte aus Gras mußten diese gelegentlich ersetzen. Fortschreitend führte dies zur Herstellung von gedrehten Fäden aus Pflanzenfasern, Haaren und Wolle, zum Spinnen und zum Flechten mit diesen Fäden, d. h. zum Weben. Die Notwendigkeit, die Häute oder gewebten Stücke zu Kleidern zu verbinden, lehrte das Nähen. 9. Das Tier und der Mensch wählen bei Befriedigung ihrer Bedürfnisse etwas verschiedene Wege. Beide können sich nur durch die Muskel ihres Leibes mit den Körpern der Umgebung in Beziehung setzen. Während aber das Tier, ganz von seinem Bedürfnis erfüllt, meist unmittelbar die Ergreifung des bedürf- nisbefriedigenden oder die Entfernung des störenden Körpers anstrebt, sieht der Mensch in größerer psychischer Stärke und Freiheit auch noch die Seitenwege und wählt von diesen den bequemsten. Er hat schon die Muße gefunden, das Verhalten der Körper gegen Körper zu beobachten, obgleich dies unmittel- bar ihn wenig berührt, und weiß es gelegentlich zu nützen. Er weiß, daß die Tiere ihre Genossen, die Vögel den Kürbis nicht fürchten und wählt danach seine Masken. Während der Affe ver- gebens nach dem Vogel hascht, trifft ihn der Mensch mit dem Wurf- geschoß, dessen Verhalten und Wirkung beim Zusammentreffen mit andern Körpern er im planmäßigen Spiel erprobt hat. Auch der Affe hüllt sich gern in die Decke, wenn er sie hat; er weiß sich aber das Fell und die Rinde nicht zu schaffen. Der Affe wirft gelegentlich nach dem Feind, schlägt auch mit dem Stein Früchte auf. Der Mensch stabilisiert aber jedes vorteilhaftere Verfahren; er ist mehr ökonomisch veranlagt. Er beschäftigt sich mit dem Stein, formt ihn zu Hammer und Axt, schleift wochenlang an seinem Speer, erfindet, den Zwischenmitteln die Aufmerksamkeit zuwendend, Waffen und Werkzeuge, die ihm unschätzbare Vorteile verschaffen. ») Tylor, I.e. S. 290. natürlichen und kulturellen Umgebung. 77 10. Wenn durch einen Blitzschlag z. B. ein Feuer entsteht, so benützen die Affen diese Gelegenheit, sich zu wärmen, so gern als der Mensch. Aber nur der letztere bemerkt, daß zugelegtes Holz das Feuer erhält. Nur er macht von dieser Beobachtung Gebrauch, pflegt, erhält und überträgt für seinen Zweck das Feuer. ^) Ja die neuen Erfahrungen, die er bei Beschaffung leicht entzündbaren und fortglimmenden Materials, des Zunders, ge- winnt, befähigen ihn, sogar das Feuer neu zu erzeugen, den Feuerbohrer zu erfinden und in den dauernden Besitz des Feuers zu gelangen. Im Besitz des Feuers erschaut er gelegentlich mit seinem über das Dringendste hinausreichenden Blick die Glas- bildung, die Metallschmelzung u. s. w. Die Benützung des Feuers ist der Schlüssel zu den Schätzen der chemischen Technologie, sowie die Benützung der Werkzeuge und Waffen zu jenen der mechanischen Technologie. So verlockend und psychologisch lehrreich es wäre, die Entwicklung der Technologie aus primi- tiven Erfahrungen zu verfolgen, so würde dies hier doch zu weit führen. Die psychologischen Folgerungen, die sich aus einem solchen Studium ergeben, habe ich gedrängt darzustellen versucht in meinem Vortrag: „Über den Einfluß zufälliger Um- stände auf die Entwicklung von Erfindungen und Entdeckungen."^) Viel Material findet man in kulturgeschichtlichen Schriften.^) 11. Jeder, der experimentiert hat, weiß, daß es viel leichter ist, eine zweckmäßige Bewegung der Hand auszuführen, welche ja fast von selbst unseren Absichten entspricht, als das Verhalten von Körpern gegeneinander genau zu beobachten und in der Vorstellung zu reproduzieren. Ersteres gehört zu unserer fort- während geübten biologischen Funktion, während letzteres, außer- halb unseres unmittelbaren Interesses liegend, ein solches erst bei einem Überschuß sich spielend betätigenden Sinnen- und Vor- stellungslebens gewinnen kann. Das Beobachten und erfinde- rische Phantasieren setzt schon ein gewisses Wohlbehagen und ') Vgl. Populär-wissenschaftliche Vorlesungen, 3. Aufl., S. 293. 2) Populär-wissenschaftliche Vorlesungen, S. 287. *) Vgl. Tylor, Urgeschichte der Menschheit. Leipzig. Ambrosius Abel (ohne Jahresz.). — E. B. Tylor, Einleitung i. d. Studium d. Anthropologie u. Zivilisation. Braunschweig 1883. — Otis T. Mason, The Origins of In- vention. London 1895. 78 Die Entwicklung der Individualität in der Muße voraus. Um dieses zu üben, mußte der primitive Mensch schon unter relativ günstigen Verhältnissen leben. Übrigens er- finden die wenigsten Menschen. Die meisten benützen und lernen das von jenen wenigen Erfundene. Darin besteht die Erziehung, welche mäßige Mängel der Anlage ersetzen und den Kultur- gewinn wenigstens erhalten kann. Es liegt in der Natur der Sache, daß der über das unmittelbar Nützliche hinausschweifende Blick ein größerer Segen ist für die Gesamtheit als für den Inhaber desselben. 12. Erwägt man das eben Gesagte, so kann man ermessen, wie nur sehr schwer und langsam sich der primitive Mensch über seine tierischen Genossen erheben konnte. Erst mit der Er- hebung selbst nimmt das Wachstum der Kultur rascher zu. Mächtig steigt dieselbe durch die Bildung der Gesellschaft, durch die Teilung in Stände, Berufe, Handwerke, wobei dem einzelnen ein Teil der Sorge um den Unterhalt abgenommen und dafür ein engeres Feld der Tätigkeit zugewiesen wird, welches er nun vollständiger beherrschen kann. Die gesellige Vereinigung erzeugt noch besondere Erfindungen, welche nur durch dieselbe möglich, ihr eigentümlich sind. Es ist dies die räumlich und zeitlich (rhythmisch) organisierte Arbeit^) vieler mit gemeinsamem Ziel, wie wir sie in der Handhabung der Waffen kämpfender Truppen, in der Fortschaffung großer Lasten, z. B. bei den Ägyptern, teilweise in der Fabriksarbeit der Gegenwart antreffen. Die durch historische Umstände bevorzugten Stände solcher Associationen verfehlen nicht, die Arbeit der andern mehr als billig auszunützen. Indem aber die ersteren neue Bedürfnisse erfinden, regen sie auch zum Suchen nach neuen Mitteln der leichteren Befriedigung an, und was nicht den letzteren zuliebe geschah, kommt ihnen oft durch die Kultursteigerung doch indirekt zu statten. Dies gilt in Bezug auf materielle und geistige Kultur. 13. Der Mensch lernt die Leistungen der Tiere für seine Zwecke ausnützen und steigert hierdurch ungemein seine Kraft. In der Association gewinnt er Erfahrungen über den hohen Wert der ') Wallaschek, Primitive Music. London 1893. — Deutsch und er- weitert. Leipzig 1903. In dieser Schrift wird die praktische Bedeutung des Rhythmus erörtert. Bücher (Arbeit und Rhythmus. Leipzig 1902. 3. Aufl.) erörtert dieses Thema in etwas anderer Weise. natürlichen und kulturellen Umgebung. 79 Menschenarbeit. Dies führt dazu, Kriegsgefangene nicht zu töten, sondern zur Arbeit zu zwingen. Die Sklaverei, welche einen Grundpfeiler der antiken Kultur bildet und unter ver- schiedenen Formen bis in die Neuzeit fortbesteht, hat hierin ihren Ursprung. In Europa und Amerika ist heute die Sklaverei dem Namen und der Form nach aufgehoben, das Wesen der Sache aber, die Ausnützung vieler Menschen durch wenige, ist geblieben. Die Unterjochung von Genossen anderer oder der- selben Art wird übrigens nicht nur vom Menschen geübt; wir finden sie auch anderwärts, z. B. im Ameisenstaat. 14. Neben der Tier- und Menschenarbeit verfiel man nach und nach auf die Ausnützung der Arbeitskräfte der „unbelebten" Natur. So entstanden die Wassermühlen, die Windmühlen. Mehr und mehr Arbeiten, die zuvor durch Tier- oder Menschenkraft ver- richtet worden waren, übertrug man nun dem bewegten Wasser und der bewegten Luft, welche nur die Maschinenanlage er- forderten, nicht genährt werden mußten und im allgemeinen auch weniger widerspenstig waren, als Tiere und Menschen. Die Erfindung der Dampfmaschine erschloß den reichen Arbeitsvorrat, welcher in der seit Jahrmillionen als Steinkohle aufgespeicherten Waldvegetation der Vorwelt verborgen war und nun zur Leistung für die Menschen herangezogen wird. Die neu erstandene Elektrotechnik erweitert durch die elektrische Kraftübertragung das Anwendungsgebiet der Dampfmaschine sowohl, als auch jenes der an abgelegenen Orten angreifenden Wind- und Wasser- kräfte. Schon im Jahre 1878, also vor dem großen Aufschwung der Elektrotechnik, waren in England Dampfmaschinen mit der Gesamtsumme von 4V2 Millionen Pferdekräften in Gang, welche der Arbeitskraft von 100 Millionen Menschen entsprachen. Die mehrfache Bevölkerung von England hätte also diese Arbeit nicht leisten können. Die Industriemaschinen Englands verrichteten aber im Jahre 1860 so viel, als 1200 Millionen fleißiger Hand- arbeiter, also fast die ganze Bevölkerung der Erde hätte zustande bringen können.^) 15. Man sollte nun meinen, daß bei einer solchen Steigerung der Arbeitskräfte der arbeitende Teil der Menschheit, der nur 1) Bourdeau, Les Forces de l'Industrie. Paris 1884. p. 209—240. 80 -ö/e Entwicklung der Individualität in der mehr die Maschinen zu bedienen hat, bedeutend entlastet werden müßte. Wenn man aber genau zusieht, so ist dies keineswegs der Fall. Die Arbeit bleibt so aufreibend wie zuvor. Der Traum des Aristoteles von einem zukünftigen maschinen-technischen Zeitalter ohne Sklaverei hat sich nicht erfüllt. Die Umstände, an welchen dies liegt, hat J. Popper in einer sehr schönen und aufklärenden Schrift dargelegt.^) Die kolossale Leistung der Maschinen wird nämlich nicht sowohl zur Erleichterung des Unter- halts der Menschen, als vielmehr größtenteils zur Befriedigung der Luxusbedürfnisse des herrschenden Teiles der Menschheit aufgewendet. Es ist z. B. sehr angenehm, sich die Schnellig- keit der heutigen Eisenbahnzüge, die Leichtigkeit des Post-, Telegraphen- und Telephonverkehrs vorzustellen, für jenen, der diese Leichtigkeit genießt. Anders sieht es aber aus, wenn man die Kehrseite dieser Dinge ins Auge faßt und die Qual derjenigen betrachtet, welche diese Verkehrshetze aufrecht zu halten haben. Angesichts des intensiven Kulturlebens regen sich noch andere Gedanken. Die summenden Straßenbahnen, die schwirrenden Räder der Fabriken, das strahlende elektrische Licht betrachten wir nicht mehr mit reinem Vergnügen, wenn wir die Masse der Kohle erwägen, welche hierbei stündlich in die Luft geht. Wir nähern uns mit unheimlicher Geschwindig- keit der Zeit, da die Erde diese Schätze, die Ersparnisse ihrer Jugendzeit, wie ein alternder Organismus fast erschöpft haben wird. Was dann? Werden wir in die Barbarei zurücksinken? Oder wird sich bis dahin die Menschheit die Weisheit des Alters erworben und haushalten gelernt haben? Fortschritte der Kultur sind nur bei einem gewissen Übermute denkbar und können deshalb im allgemeinen nur von den teilweise ent- lasteten Menschen angeregt werden. Dies gilt für die materielle und für die geistige Kultur. Die letztere hat aber die köst- liche Eigenschaft, daß ihre Verbreitung auf den belasteten Teil der Menschheit nicht zu hindern ist. Es kann also nicht fehlen, daß einmal dieser Teil der Menschen in richtiger Erkenntnis der Verhältnisse gegen den herrschenden Teil Front macht und ') J. Popper, Die technischen Fortschritte nach ihrer ästhetischen und kulturellen Bedeutung. Leipzig 1888. S. 59 u. f. natürlichen und kulturellen Umgebung. 81 eine billigere^ zweckmäßigere Verwendung des gemeinsamen Besitzes fordert.^) 16. Zu den Erfindungen, welche aus dem sozialen Leben des Menschen hervorgehen, gehört auch die Sprache und die Schrift, Die reflektorischen Lautäußerungen, die bei durch bestimmte Anlässe hervorgerufenen Gemütserregungen eintreten, werden von selbst und unwillkürlich zu Erinnerungen, Zeichen dieser Anlässe und Erregungen, d. h. sie werden von einem unter gleichen Umständen lebenden Individuum derselben Art ver- standen. So wenig spezialisiert die Lautäußerungen der Tiere auch sein mögen, so ist die Menschensprache doch nur eine weitere Entwicklung der Tiersprache. Sie entsteht, indem bei größerer Mannigfaltigkeit der Erlebnisse die Laute sich weiter modifizieren und spezialisieren, durch Nachahmung sich in dieser Spezialisierung verbreiten und durch Tradition sich erhalten. Das emotionelle Moment, welches den Laut erzeugt hat, tritt immer mehr zurück, der Laut spezialisiert sich und associiert sich immer mehr mit den entsprechenden Vorstellungen. Jerusalem verfolgt sehr schön die Bildung von Namen aus solchen Ge- fühlslauten bei Laura Bridgman. ^) In beschränktem Maße können wir die Vorgänge der Sprachwandlung an unseren Kindern be- obachten. Ausgedehnteres Material liefert uns die Vergleichung der Sprachen von Völkern gemeinschaftlicher Abstammung. Wir sehen da, wie mit der Teilung des Volkes in mehrere Zweige, die in verschiedenen Verhältnissen leben, die Sprache sich eben- ') Ein Programm hierzu gibt J. Popper in seinem Buche: „Das Recht zu leben und die Pflicht zu sterben." Leipzig 1878. Poppers Ziele stehen den ursprünglichen sozialdemokratischen nahe, unterscheiden sich aber darin vorteilhaft, daß nach seinem Programm die Organisation sich auf das Wich- tigste und Notwendigste beschränken, im übrigen aber die Freiheit des In- dividuums gewahrt werden soll. Im entgegengesetzten Falle könnte wohl die Sklaverei in einem sozialdemokratischen Staat noch allgemeiner und drückender werden, als in einem monarchischen oder oligarchischen. In einer ergänzenden Schrift (Fundament eines neuen Staatsrechts. 1905) führt Popper das Leitmotiv durch: „Für sekundäre Bedürfnisse das Majoritätsprinzip; für fundamentale das Prinzip der garantierten Individualität." — In wichtigen Punkten stimmt mit Popper überein: A. Menger, Neue Staatslehre. Jena, G. Fischer, 1902. 2) Psychologie, S. 105. Ausführlicher: Laura Bridgman. Wien 1891. S. 41 u. f. Mach, Erkenntnis und Irrtum. ' ß 82 -O/'ß Entwicklung der Individualität in der falls teilt. Die Worte wandeln sich. Worte, für welche keine Objekte mehr vorhanden sind, verschwinden, oder werden zur Bezeichnung anderer verwandter oder ähnlicher Objekte ver- wendet wegen des für dieselben fehlenden Ausdrucks. Da der Ver- gleichungspunkt von Fall zu Fall wechselt, erlangt dasselbe Wort in verwandten Sprachen nach und nach oft weit voneinander entfernte Bedeutungen. Dadurch kann die Lektüre einer hollän- dischen Zeitung, oder der Aufschriften in den Straßen einer holländischen Stadt, einem Deutschen eine harmlose ergötzliche Unterhaltung gewähren und ohne Zweifel mutatis mutandis auch umgekehrt.^) Die Wichtigkeit des Wortes als Zentrum der Associationen wurde schon früher (S. 44 u. f.) hervorgehoben. Die psychische Entwicklung erfährt durch die sprachliche Mit- teilung und Übertragung von Erfahrungen die mächtigste För- derung. Die Bedeutung der Sprache für die Abstraktion soll später noch erörtert werden.^) Die Lautsprache bedient sich nur ganz ausnahmsweise der Nachahmung eines zu bezeichnenden Hörbaren. Die Geberden- sprache, welcher sich fremde Völker zur Verständigung unter- einander bedienen, oder die natürliche Geberdensprache der Taubstummen (im Gegensatz zur künstlichen Fingersprache der- selben), macht von der Nachahmung des Sichtbaren, wo nicht direkt auf dasselbe hingewiesen werden kann, den ausgiebigsten Gebrauch. ^) 17. Durch die Verwendung bleibender sichtbarer statt momen- taner hörbarer Zeichen der Verständigung entsteht die Schrift. In dem Verharren'') liegt der Vorzug der Schrift vor dem ver- ') Analoge Beispiele aus der Sprache der Kinder s. Analyse S. 250. ») Von älteren sprachphilosophischen Schriften ist wegen ihrer Origi- nalität besonders lesenswert: L. Geiger, Ursprung und Entwicklung der menschlichen Sprache und Vernunft. Stuttgart 1868. — L. Noire, Logos. Ursprung und Wesen der Begriffe. Leipzig 1885. — Whitnep, Leben und "Wachstum der Sprache. Leipzig 1876. — In vielen Richtungen sehr anregend: Fritz Mauthner, Beiträge zur Kritik der Sprache. Stuttgart, Cotta, 1901. ») Tplor, Urgeschichte der Menschheit. S. 17—104. *) Seit Erfindung des Phonographen kann eine gesprochene Rede be- liebig oft reproduziert werden wie eine geschriebene. Das phonographische Archiv der Wiener Akademie ist ein Beispiel hierfür. Die Idee des Phono- graphen schuf die Phantasie des Cyrano de Bergerac (Histoire comique des ^tats et empires de la lune. 1648). natürlichen und kulturellen Umgebung. 83 gänglichen, rasch verfliegenden und wieder vergessenen, ge- sprochenen Wort. Am nächsten liegt es, Mitteilungen oder Nachrichten über Vorgänge zu geben durch Abbildung derselben. Die Indianer Nordamerikas bedienen sich in der Tat dieses Mittels. Ein Beispiel dafür ist die Zeichnung auf einem Felsen am Oberen See, welche Nachricht über einen Kriegszug zu Schiff gibt. ^) Anfänge der Schrift liegen ferner im Tätowieren, indem die Zeichnungen auf der Haut nach und nach von selbst zu Stammeszeichen, zu „Totems" werden. Die konventionellen Erinnerungszeichen, Knoten, quere Kerben auf Stäben, welche der Länge nach gespalten von beiden einen Vertrag schließenden Teilen aufbewahrt wurden, die in der peruanischen Verwaltung verwendeten Knotenschnüre, „Quipus", die „Wampungürtel" sind ebenfalls solche Anfänge. Die weitere Entwicklung der Schrift kann nun zwei verschiedene Wege einschlagen. Entweder schrumpfen die Abbildungen der Dinge durch schnelles verein- fachendes Schreiben zu konventionellen Begriffszeichen ein, wie in der chinesischen Schrift, oder die Abbildungen werden nach Art eines „Rebus", indem sie an die Laute des Namens der ab- gebildeten Dinge erinnern, zu phonetischen Zeichen, wie in der Hieroglyphik der Ägypter. Die Neigung abstrakt zu denken und der Wunsch die Schrift dieser Neigung dienstbar zu machen, leitete auf den ersten, dagegen die Notwendigkeit Personennamen, überhaupt Eigennamen zu schreiben, leitete auf den zweiten Weg, auf dem sich die Buchstabenschrift entwickelt hat. Jede dieser Methoden hat ihre besonderen Vorteile. Die zweite kommt mit sehr wenigen Mitteln aus und folgt jeder phonetisch-sprachlichen und begrifflichen Wandlung mit Leichtigkeit. Die erstere ist von der Phonetik ganz unabhängig, wie denn das Chinesische auch von den Japanern, die eine ganz andere phonetische Sprache sprechen, gelesen wird. Die chinesische Schrift ist fast eine Pasi- graphie, die allerdings, jeder begrifflichen Umwandlung ent- sprechend, ebenfalls einer Umwandlung bedarf.^) 1) Wuttke, Geschichte der Schrift. Leipzig 1872. I. S. 156, Abbil- dungen: S. 10, Taf. XIII. Auch andere Stellen für das hier Besprochene wichtig. 2) Gegenwärtig werden die alten philosophischen Probleme der Pasi- graphie und internationalen Sprache wieder theoretisch erörtert und praktisch in lösen versucht, letzteres namentlich von der „Delegation pour l'adoption 6* 84 Die Entwicklung der Individualität in der 18. Sprache und Schrift, ein Produkt der sozialen Kultur, wirken steigernd auf diese zurück. Man kann sich leicht vorstellen, daß das menschliche Leben sich vom tierischen nicht wesentlich unterscheiden könnte, wenn keine vollkommenere Mitteilung der Erfahrungen von Individuum zu Individuum stattfinden würde, jedes Individuum von neuem beginnen müßte und auf seine eigenen Erfahrungen beschränkt bliebe. Der Zustand der Wild- heit könnte aber nicht überschritten werden, wenn die direkten Mitteilungen über die Zeit eines Menschenalters nicht weit hinaus- reichen würden. Die teilweise materielle Entlastung des einzelnen durch die Gesellschaft und die geistige Unterstützung desselben durch die Mitteilung der Zeitgenossen und Vorfahren, ermög- lichen erst die Entstehung jenes Produktes des sozialen Lebens, welches wir Wissenschaft nennen. Der Wilde ist im Besitze der mannigfaltigsten Erfahrungen. Er kennt die giftigen und die genießbaren Pflanzen, verfolgt die Spuren der Jagdtiere und weiß sich vor den Raubtieren und Giftschlangen zu hüten. Er weiß Feuer und Wasser für seine Zwecke zu benutzen. Steine und Holz für seine Waffen auszuwählen, lernt Metalle schmelzen und bearbeiten. Er lernt an den Fingern zählen und rechnen, mit Hilfe seiner Hände und Füsse messen. Er sieht wie ein Kind das Himmelsgewölbe, beobachtet die Drehung desselben und die Lagenveränderung der Sonne und der Planeten auf dem- selben. Alle oder die meisten seiner Beobachtungen macht er jedoch bei Gelegenheit, oder zum Zwecke der nützlichen An- wendung für sich. Dieselben primitiven Erfahrungen bilden die Keime verschiedener Wissenschaften. ^) Die Wissenschaft selbst kann erst entstehen, wenn durch materielle Entlastung so viel Freiheit und Muße gewonnen, anderseits durch häufige Inanspruch- nahme der Intellekt so weit gestärkt ist, daß die Beobachtung an sichy ohne direkte Rücksicht auf deren Verwendung, das nötige Interesse gewonnen hat. Nun werden die Beobachtungen der Zeitgenossen und Vorfahren gesammelt, geordnet, geprüft, die durch zufällige Umstände veranlaßten Irrtümer ausgeschieden. d'une langue auxiliaire internationale". Sollte die Lösung dieser sprachtech- nischen Aufgabe gelingen, so würde dies einen der wichtigsten Kulturfort- schritte bedeuten. ») Tylor, Anthropologie, S. 371 u. f. natürlichen und kulturellen Umgebung. 85 und der Zusammenhang des Feststehenden wird ermittelt. Was hierbei die Schrift leistet, sieht man schon an einem denkwürdigen Falle. Als die europäische Menschheit, nach länger als ein Jahr- tausend währenden barbarischen Zuständen, den Faden der antiken Wissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert wieder aufnahm, hatte sie nicht nötig, von neuem denselben Anlauf zu wiederholen, sondern konnte rasch die antike Höhe erreichen und übersteigen. Die historische Verfolgung der Bildung der Wissenschaften durch Aufsammlung und Ordnung von primitiven Erfahrungen gewährt ein reizendes und genußreiches Studium.^) Einige Wissensgebiete, wie Mechanik, Wärmelehre u. a. sind besonders lehrreich, weil in denselben das Emporwachsen der Wissenschaft aus dem Handwerk, aus dem Gewerbe besonders deutlich her- vortritt.^) Man sieht hier, wie das materielle, das technische Be- dürfnis, welches ursprünglich das Treibende war, sehr allmählich dem rein intellektuellen Interesse Platz macht. Die intellektuelle Beherrschung eines Tatsachengebietes wirkt nun auf die in- stinktive Technik, aus welcher sie hervorgegangen ist, zurück, und verwandelt dieselbe in eine zielbewußte wissenschaftliche Technik, welche nicht mehr auf zufällige Erfahrungen angewiesen ist, sondern planmäßig auf die Lösung ihrer Aufgaben losgehen kann. So bleiben theoretisches und praktisches Denken, wissen- schaftliche und technische Erfahrung in dauerndem Kontakt und fördern sich gegenseitig. 19. Wie die Wissenschaft ist auch die Kunst^) ein Nebenpro- dukt, das sich bei Befriedigung der Bedürfnisse ergibt. Das Notwendige, das Nützliche, das Zweckmäßige wird zunächst gesucht. Ergibt sich hierbei Gefälliges ohne Rücksicht auf den Nutzen, so erregt auch dieses gelegentlich das Interesse, wird seiner selbst wegen festgehalten und gepflegt. So entsteht durch ^) Auf die Entwicklungsgeschichte der Wissenschaften im einzelnen kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. Schriften allgemeineren Inhalts, wie Whewell, Geschichte der induktiven Wissenschaften. Deutsch v. Littrow. Stuttgart 1840. Besonders lehrreich sind Werke über Spezialgebiete, wie M. Cantor, Mathematische Beiträge zum Kulturleben der Völker. Halle 1863, Cantor, Geschichte der Mathematik. 1880. 2) Vgl. des Verf. „Mechanik" und „Prinzipien der Wärmelehre". 8) Vgl. Haddon, Evolution in Art. London 1895. — Wallaschek, Primitive Music, und Tylor, Anthropologie, S. 343 u. f. 86 J^ic Entwicklung der Individualität in der das nützliche Geflecht, mit seiner regelmäßigen Wiederkehr der Formen, das Gefallen am Ornament, durch den nützlichen Rhythmus (S. 78) das Vergnügen am Metrum. Aus dem Bogen als Waffe entwickelt sich der Musikbogen^^) die Harfe und das Klavier u. s. w. Kunst und Wissenschaft, jede rechtliche^) und ethische, ja jede höhere geistige Kultur kann nur in der geselligen Ver- einigung gedeihen, nur wenn ein Teil für den andern Lasten übernimmt. Möchten die „obersten Zehntausend" klar erkennen, was sie dem arbeitenden Volke schulden! Möchten Künstler und Forscher bedenken, daß es ein großer gemeinsamer und gemein- sam erworbener Besitz der Menschheit ist, den sie für diese verwalten und mehren! 20. Die Verwicklung und Mannigfaltigkeit der Einflüsse, welche aus der natürlichen und kulturellen Umgebung des Menschen hervorgehen, bedingen bei demselben einen weit größeren Er- fahrungs-, Associations- und Interessenkreis, als irgend ein Tier zu gewinnen vermag. Dem entspricht die höhere Intelligenz. Vergleichen wir aber die Menschen einer sozialen Klasse, oder sogar nur eines Berufes untereinander, so werden diese natürlich gemeinsame, der Klasse oder dem Beruf entsprechende Züge aufweisen; trotzdem wird aber jeder einzelne, der Variation seiner erblichen Anlage und der Eigentümlichkeit seiner Erlebnisse ent- sprechend, eine einzige, nicht wieder auffindbare psychische Individualität darstellen. Die Differenz der intellektuellen Indi- vidualitäten wird selbstverständlich ungemein vergrößert, wenn wir uns an die Schranken der Klasse und des Berufes nicht binden. Stellen wir uns nun vor, daß diese so verschiedenen Intelligenzen in freien Verkehr treten, in innigerer Berührung sich gegenseitig anregen bei Unternehmungen, welche wie Wissenschaft, Technik, Kunst u. s. w. eben gemeinsame Ange- legenheiten sind, so kann man die gewaltige, gegenwärtig fast noch unausgenützte geistige Potenz der Menschheit abschätzen. Durch Zusammenwirken vieler verschiedener Individualitäten er- gibt sich eben eine mächtige Bereicherung und Erweiterung des ') Tplor, a. a. O. S. 353. '») Lubbock, Die Entstehung der Zivilisation. Jena 1875. — Lubbock, Die vorgeschichtliche Zeit. Jena 1874. natürlichen und kulturellen Umgebung. 87 Umfanges der Erfahrung ohne Abstumpfung der Schärfe und Lebendigkeit derselben. Ein zweckmäßig organisierter Unter- richt kann ja zum Teil diesen freien Verkehr ersetzen. Aber eine allzustramme Organisation des Unterrichtes, Uniformierung der Volkserziehung nach Klassen und Berufen, Aufrichtung und Erhöhung der Schranken zwischen Klassen und Berufen, kann wieder sehr viel verderben. Hüten wir uns vor allzufesten starren Formen!^) 1) Die Naturwissenschaften möchten sich aus dem Handwerk als Neben- produkt ergeben haben. Da nun das Handwerk und überhaupt die körper- liche Arbeit in der antiken Welt mißachtet, die arbeitenden, die Natur be- obachtenden Sklaven von den mit Muße spekulierenden und dilettierenden Herren, welche die Natur oft nur vom Hörensagen kannten, streng geschieden waren, so erklärt sich hieraus ein guter Teil des Naiven, Verschwommenen und Traumhaften der antiken Naturwissenschaft. Nur selten bricht der Trieb, selbst zu versuchen, zu experimentieren, durch bei Geometern, Astronomen, Ärzten und Ingenieuren. Und dann ergibt sich auch immer ein bedeutender Fortschritt, wie bei Archytas von Tarent oder Archimedes von Syrakus. Die Wucherung des Vorstellungslebens. 1. Die Entwicklung des Vorstellungslebens bringt zunächst Vorteile für das organische, insbesondere für das vegetative Leben mit sich. Gewinnt aber das Vorstellungsleben ein zu großes Übergewicht über das Sinnenleben, so kann es gelegent- lich auch zum Nachteil des organischen Lebens ausschlagen. Die Seele wird dann zum Parasiten des Leibes, welcher das Öl des Lebens verzehrt, wie Herbart sich gelegentlich ausdrückt. Wir verstehen dies, wenn wir bedenken, daß die Association, auf welcher die Anpassung der Gedanken an die Tatsachen beruht, wie dies schon durch Beispiele erläutert wurde, Zufällig- keiten unterliegt. Haben günstige Umstände die Vorstellungen so gelenkt, daß ihr Lauf den Tatsachen folgt oder vorauseilt, so gewinnen wir Erkenntnis. Ungünstige Umstände können aber die Aufmerksamkeit auf Unwesentliches lenken und Gedanken- verbindungen befördern, welche den Tatsachen nicht entsprechen und irre führen. Gedanken, welche nach wiederholter Prüfung den Tatsachen entsprechend gefunden worden sind, können als Regulativ der Handlung nur fördern. Nimmt man aber unter besonderen Umständen zufällig entstandene Gedankenverbin- dungen ohne Prüfung als den Tatsachen allgemein entsprechend hin, so ergeben sich daraus schwere Irrtümer, und bei Leitung der Handlungen durch dieselben die schlimmsten praktischen Folgen. Dies soll nun hier zunächst durch einige Beispiele aus der Kulturgeschichte erläutert werden. 2. Kinder schlagen nach dem Bilde einer unbeliebten Per- son, geben ihren Unwillen wohl auch laut in Worten Ausdruck. Sie mißhandeln das Bild des Raubtieres, suchen das Bild des angegriffenen Tieres vor demselben zu schützen. Mit steigender Entwicklung wird eben das erstarkte Vorstellungsleben selbst- Die Wucherung des Vorstellungslebens. 89 Ständig und gewinnt zuweilen das Übergewicht über die Sinne. Es ist anzunehmen, daß wenig kultivierte Menschen, Wilde, sich ähnlich verhalten werden. Wenn nun ein solcher das Bild eines Feindes mißhandelt und verwünscht, der Feind aber nun zufällig wirklich erkrankt oder gar stirbt, so kann er leicht den Gedanken fassen, daß seine Handlungsweise, sein Wunsch, den Tod des Feindes zur Folge gehabt hat. Dieser Glaube wird sich um so leichter halten können, als auf diesem unkontrollier- baren Gebiet der Gegenbeweis sehr schwer zu erbringen ist. In der Tat ist das Verfahren, eine Puppe des Feindes oder einen Körperteil desselben, Haare, Nägel zu mißhandeln und Ver- wünschungen auszusprechen, ebenso wie der Glaube an die Wirk- samkeit dieser Handlung ungemein weit verbreitet. Dr. Martius teilt folgende nächtliche Beobachtung aus einer Indianerhütte mit:^) „In einem dunklen Winkel erhob sich ein altes Weib, nackt, mit Staub und Asche bedeckt, ein Jammerbild des Hungers und Elends; sie war die Sklavin meiner Wirte, eine Gefangene, die man einem andern Stamme entführt hatte. Sie schlich sich vor- sichtig zum Herde und blies das Feuer an, brachte einige Kräuter und Abschnitzel von Menschenhaar zum Vorschein, murmelte etwas in ernstem Tone und grinste und gestikulierte seltsam gegen die Kinder ihrer Herren. Sie kratzte einen Schädel, warf Kräuter und Haare zu Kugeln geballt ins Feuer u. s. f. Eine Zeitlang konnte ich nicht begreifen, was dies alles bedeutet, bis ich endlich, aus meiner Hängematte springend und dicht zu ihr hingehend, aus ihrem Schrecken und ihrer flehenden Geberde, sie nicht zu verraten, erkannte, daß sie Zauberkünste übte, um die Kinder ihrer Feinde und Unterdrücker zu vernichten. Dies war nicht das erste Beispiel von Zauberei, dem ich unter den Indianern begegnet war." Hier lernen wir die einfachen psj^cho- logischen Grundlagen der unter den wilden Stämmen weit ver- breiteten Zauberei verstehen und begreifen auch, daß man auf dieser Stufe sich vor den Hexen zu schützen suchte, indem man dieselben, wie es noch heute in Afrika üblich ist, zu Asche ver- brannte. Es ist bekannt, wie dieser alte Glaube der wilden Völker seit dem 13. Jahrhundert unter der Autorität der Kirche (!) 1) Tylor, Urgeschichte, S. 173. 90 -ö/c Wucherung des Vorstellungslebens. auch in Europa wieder stärker hervortrat, wie derselbe durch die Bulle des Papstes Innozenz VIII (1448) förmlich sanktioniert wurde, wie dem durch den „Hexenhammer" geregelten teuf- lischen Prozeßverfahren im 15., 16. und 17. Jahrhundert Tausende von Menschen jeden Alters, Standes und Geschlechtes, nament- lich aber arme alte Weiber zum Opfer fielen, wie endlich zu Ende des 17. Jahrhunderts die Vernunft zum Worte kam, so daß 1782 (!) zu Glarus die letzte Hexe hingerichtet wurde. Dieser furchtbare, Jahrhunderte währende Wahn mit seinen schrecklichen verwüstenden Folgen sollte die Menschheit warnen, sich von irgend einem Glauben die Lebenswege vorschreiben zu lassen.^) Daß solche Vorstellungen selbst den gebildeteren Kreisen der antiken Kulturvölker nicht allzufern lagen, ersehen wir z. B. aus der Satyre des Petronius (Werwolfgeschichte des Niceros, Hexenabenteuer des Trimalchio). Die ersten 3 Bücher der aller- dings zur Unterhaltung dienenden „Metamorphosen" des Apu- leius sind ganz von diesem Stoff erfüllt. Lucians beißender Spott über gebildete Leute, die solche Dinge ernst nehmen, bricht in der Erzählung der Unterhaltung bei dem kranken Eu- krates rückhaltlos hervor.^) 3. Im allgemeinen ist es ja richtig, daß was sinnlich sich nahe berührt, sich auch gedanklich verbindet. Da aber Gedanken durch Association leicht in mannigfaltige und zufällige Verbin- dung treten, so ist man häufigen Irrtümern ausgesetzt, wenn man umgekehrt auch alles gedanklich Verknüpfte für sinnlich ver- knüpft hält. Das Wort ist ein Associationszentrum, in welchem vielfältige Gedankenfäden zusammenlaufen. Es wird dadurch zur Quelle eines sonderbaren und sehr verbreiteten Aberglaubens, des Wortaberglaubens. ^) Wer ein Wort ausspricht, erinnert sich leb- Ennemoser, Geschichte der Magie. Leigzig 1844. — Roskoff, Geschichte des Teufels. Leipzig 1869. — Sold an, Geschichte der Hexen- prozesse. Stuttgart 1843. — Wer bei dieser Lektüre den Humor verlieren sollte, lese zur Erholung Voltaires Artikel: Bekker, Incubes, Magie, Super- stition in dessen Dictionaire philosophique, und zur völligen Aufheiterung Mises (G. T. Fechner), Vier Paradoxen. Leipzig 1846, und zwar: „Es gibt Hexerei". *) Über die pathologischen Tatsachen, welche die Entwicklung solcher Vorstellungen (Lykanthropie, Vampprismus u. s. w.), den Glauben an Zauberei fördern, vgl. die Anmerkung S. 68. ») Tylor, Urgeschichte, S. 159. Die Wucherung des Vor Stellungslehens. _ 91 haft des Bezeichneten und aller seiner Beziehungen. Den ge- nannten gefürchteten Feind sieht er herankommen; er hütet sich denselben zu nennen. „Wenn man den Wolf nennt, kommt er gerennt." Man will „den Teufel nicht nennen", den „Teufel nicht an die Wand malen". „Dii avertite omen" riefen die Römer, wenn ein Wort von böser Bedeutung gesprochen wurde. Um- gekehrt tritt ein ausgesprochener Wunsch lebhafter ins Bewußt- sein, erscheint der Verwirklichung näher. Hat der Mensch doch oft den Wunsch anderer erfüllt, und haben ja andere seinem Worte Folge geleistet. Warum sollte nicht irgend ein Dämon, den der Naturmensch immer und überall vermutet, auch den aus- gesprochenen Wunsch erfüllen? Der Name der Person erscheint dem Wilden als ein Teil derselben; er wird vor dem Feind ge- heim gehalten, um diesem keine Macht über die Person, keinen Anknüpfungspunkt für Zaubereien zu geben. Der Name wird bei Krankheiten geändert, um den Dämon der Krankheit zu täuschen. Der Name des Verstorbenen und Worte, die an den- selben anklingen, dürfen nicht ausgesprochen werden; sie sind „Tapu". Wer den großen, geheim gehaltenen Namen Gottes kennen würde, meinen die Mohammedaner, könnte durch Aus- sprechen desselben die größten Wunder verrichten. Um Miß- brauch hintanzuhalten, muß derselbe geheim gehalten werden. „Den Namen Gottes nicht eitel nennen!" Der Gedanke reicht weit zurück bis in das alte Ägippten. Die schlaue Göttin Isis be- zwingt den Gott Re, indem sie ihm durch List das Geheimnis seines eigentlichen Namens entlockt. (A. Er man, Ägypten JI, S. 359.) Der Wilde weiß, daß seine Glieder seinem Willen folgen und seine Umgebung nach seinem Wunsche ändern; er täuscht sich aber, indem er die genaue Grenze verkennt, die seinem Willen gezogen ist. So sehen wir auch am Sonntag den kegelschieben- den Bauer sich unwillkürlich nach der Seite neigen, nach welcher die längst losgelassene Kugel laufen soll. Und ähnliches beob- achtet der Aufmerksame am eifrigen Billardspieler. Die Nicht- beachtung der Grenze^ welche wir U genannt haben, ist über- haupt eine Hauptquelle der schon besprochenen und noch zu besprechenden Verirrungen. 4. Ein Mensch liegt schlafend regungslos da und erwacht dann. In der Zwischenzeit hat er aber von einem Gang in ferner 92 -ö/'e Wucherung des Vorstellungslebens. Gegend geträumt, wohin sein Leib tatsächlich nicht gekommen ist; vielleicht hat er im Traume auch mit seinem längst ver- storbenen Vater verkehrt, mit diesem Gespräche geführt. Nehmen wir den Fall der Ohnmacht, des Scheintodes, des Todes hinzu. Bei naiven Menschen, die wie die Kinder zwischen Träumen und Wachen keine scharfe Grenze ziehen, entsteht notwendig die Vorstellung eines zweiten, schattenhaften Ich des Menschen, welches sich von dem Leibe trennen und mit demselben wieder vereinigen kann, wobei im ersten Fall der Leib leblos, im zweiten wieder belebt wird. Es bildet sich so die Vorstellung von einer Seele y^) die ein selbständiges Leben führt. Besteht die Vor- stellung von einem zweiten schattenhaften Leben nach dem Tode länger, so wird sie im einzelnen ausgemalt. Die Menschen träumen von diesem Leben, von dem Schattenreich, von dem sie so oft reden gehört haben, und die Vorstellungen hiervon werden immer reicher und mannigfaltiger. Eine solche Erzählung des Neuseeländers Te Wharewera teilt Tylor^) mit: „Eine Tante dieses Mannes starb in einer einsamen Hütte nahe den Ufern des Rotorua-Sees. Da sie eine Dame von Stande war, so wurde sie in ihrer Hütte gelassen, Tür und Fenster wurden geschlossen und die Wohnung aufgegeben, da der Todesfall sie zum Tapu gemacht hatte. Aber einen oder zwei Tage nach- her ruderte Te Wharewera mit einigen anderen in einem Boote nahe bei jenem Orte und sah am frühen Morgen eine Gestalt am Ufer sitzen, die ihm zuwinkte. Es war die Tante, die wieder zum Leben zurückgekehrt war, aber schwach und frierend und halb verhungert. Als sie durch ihre rechtzeitige Hilfe wieder- hergestellt war, erzählte sie ihre Erlebnisse. Ihre Seele hatte, den Leib verlassend, ihren Flug nach dem Nordkap genommen und war am Eingange von Reigna angekommen. Dort hielt sie an bei dem Stamme der kriechenden Akike-Pflanze, stieg den Abhang hinab und befand sich am sandigen Ufer eines Flusses. Als sie um sich schaute, erblickte sie in einiger Entfernung ') Neben der Vorstellung von der Schattenseele entwickelt sich aus leicht begreiflichen, dem wachen Leben entnommenen Gründen der Gedanke einer Hauch- und einer Blutseele. Vgl. Odpssee G. XI, V. 33—154. Die Schattenseelen gewinnen Erinnerung, indem sie Blut trinken. ä) Tplor, Anfänge der Kultur, II, S. 49. Die Wucherung des Vorstellungslebens. 93 einen ungeheuren Vogel (Moa), größer als ein Mensch, der in schneller Bewegung auf sie zukam. Dieser furchtbare Anblick setzte sie so in Schrecken, daß ihr erster Gedanke war den Versuch zu machen, die steile Klippe wieder zu übersteigen; als sie aber einen alten Mann ein kleines Boot auf sich zurudern sah, eilte sie ihm entgegen und entkam so dem Vogel. Als sie sicher hinüber gebracht worden war, fragte sie den alten Charon, indem sie ihren Familiennamen nannte, wo die Geister ihrer Ver- wandten wohnten, und als sie den Pfad, den der alte Mann ihr bezeichnet hatte, verfolgte, war sie überrascht, gerade so einen Weg zu finden, wie sie ihn auf Erden gegangen war; der An- blick der Gegend, die Bäume, Sträucher und Kräuter, das war ihr alles bekannt. Sie erreichte das Dorf und unter der ver- sammelten Menge fand sie ihren Vater und viele nahe Ver- wandte. Sie begrüßten sie und bewillkommneten sie mit dem Klagegesange, den die Maoris immer anstimmen, wenn sie mit Bekannten nach langer Trennung wieder zusammentreffen. Aber als ihr Vater sie nach seinen noch lebenden Verwandten und besonders nach ihrem eigenen Kinde gefragt hatte, erklärte er ihr, daß sie auf die Erde zurückkehren müsse, denn es wäre keiner übrig geblieben, um für seinen Enkel Sorge zu tragen. Auf seine Veranlassung weigerte sie sich, die Nahrung zu ge- nießen, welche die Toten ihr anboten, und trotz ihrer An- strengungen, sie zurückzuhalten, brachte ihr Vater sie sicher in das Boot, setzte mit ihr über und gab ihr zwei ungeheure Ba- taten, die er unter dem Mantel hervorholte, damit sie dieselben zur besonderen Nahrung seines Enkels zu Hause einpflanze. Als sie aber anfing, den Abhang wieder emporzuklimmen, hielten sie zwei nachgefolgte Kinderseelen fest, und sie entkam nur dadurch, daß sie die Bataten nach ihnen warf, bei deren Ver- zehren sich jene aufhielten, während sie mit Hilfe des Akike- stammes den Felsen emporstieg, bis sie die Erde wieder erreichte und dann dahin zurückflog, wo sie ihren Körper verlassen hatte. Bei der Rückkehr zum Leben befand sie sich im Dunkeln, und was vorgefallen war, schien ihr wie ein Traum, bis sie wahr- nahm, daß sie verlassen und die Türe fest verschlossen war, woraus sie den Schluß zog, daß sie wirklich gestorben und zum Leben zurückgekehrt sei. Als der Morgen dämmerte, drang ein 94 I^ic Wucherung des Vorstellungslebens. schwaches Licht durch die Spalten des verschlossenen Hauses herein und sie sah auf dem Flur in ihrer Nähe einen Flaschen- kürbis, der zum Teil mit roter Ockererde und mit Wasser ge- füllt war; dies trank sie begierig bis zum Bodensatze aus, worauf sie sich ein wenig gekräftigt fühlte; es gelang ihr, die Tür zu öffnen und zum Ufer hinabzukriechen, wo sie ihre Freunde bald nachher auffanden. Diejenigen, welche ihrer Er- zählung zuhörten, waren fest von der Glaubwürdigkeit ihrer Abenteuer überzeugt, doch bedauerte man sehr, daß sie nicht wenigstens eine der ungeheuren Bataten als Beweis ihrer Reise in das Land der Geister mit zurückgebracht hatte." Diese poetische und anheimelnde Erzählung hört sich wie ein Märchen von Baumbach an. Fast möchte man die Maoris um ihre be- haglichen Vorstellungen beneiden. Übrigens ließen sich dieser Erzählung noch viele andere ähnliche von andern Stämmen her- rührende an die Seite stellen. Wir wollen nur noch eine er- wähnen, weil dieselbe lehrt, daß Traumerscheinungen auch die Vorstellung von Tier- und Gegenstandseelen begründen. Ein Indianerhäuptling am oberen See wünschte, daß man seine schöne Flinte mit ihm begrabe. Nach einer Krankheit von wenigen Tagen schien er zu sterben, doch wurde er, weil man seines Todes nicht sicher war, nicht bestattet. Seine Frau wartete vier Tage bei ihm, er kehrte zum Leben zurück und erzählte seine Geschichte.^) „Nach dem Tode wanderte sein Geist auf der breiten Straße der Toten zum Lande der Glückseligen; dabei kam er durch große, üppig grünende Ebenen, sah schöne Haine und hörte den Gesang unzähliger Vögel, bis er schließlich von dem Gipfel eines Hügels die ferne Stadt der Toten zu Gesicht bekam, weit, weit hinten, zum Teil in Nebel gehüllt und mit glitzernden Seen und Strömen überstreut. Da sah er Herden von stattlichen Hirschen und Elentiere und anderes Wild, das ohne Furcht nahe am Pfade einherging. Aber er hatte keine Flinte, und da er sich erinnerte, wie er seine Freunde gebeten hatte, ihm seine Flinte mit ins Grab zu legen, so kehrte er um, um sie zu holen. Da traf er den ganzen Zug von Männern, Frauen und Kindern, die nach der Stadt der Toten wanderten. ») Tylor, a. a. O., I, S. 474. Die Wucherung des Vorstellungslebens. 95 Sie waren schwer beladen mit Flinten, Pfeifen, Kesseln, Fleisch und anderen Gegenständen; Frauen trugen Korbwerk und be- malte Ruder, und kleine Knaben hatten ihre bunt geschnitzten Keulen und ihre Bogen und Pfeile, die Geschenke ihrer Freunde." — Als der Häuptling aus seiner Entrückung erwachte, gab er seiner Umgebung den Rat, sie sollten den Toten nicht so viele schwere Dinge mitgeben, die sie nur behinderten, sondern nur solche, die sie ausdrücklich verlangten. 5. Nach diesen Vorstellungen entspricht also nicht nur jedem Menschen- oder Tierleib, sondern auch jedem Gegenstand eine Seele oder eine Art Geist., der natürlich nach Analogie des eigenen gedacht wird. Der Wilde versteht die Vorgänge, die er in seiner Umgebung hervorbringt, am besten als Wirkungen seines Willens. So faßt er auch alle ihm angenehmen oder unangenehmen Vor- kommnisse als Äußerungen eines ihm freundlich oder feindlich ge- sinnten geistigen Wesens auf. Die stets geschäftige und wuchernde Phantasie des nach einer Unternehmung gierigen oder durch Feinde geängstigten Negers erblickt in den unbedeutendsten ihm auffallenden Dingen die Spuren solcher freundlichen oder feind- lichen Geister. Diese Objekte — ^.,Fetische^^ — werden ge- sammelt, verehrt und gepflegt, mit Branntwein begossen, wenn sie sich günstig erweisen, wohl auch mißhandelt im Fall der vermeintlichen Ungefügigkeit. „Ein Neger wollte einst zu einem wichtigen Geschäft ausgehen, als er aber die Türschwelle über- schritt, trat er auf einen Stein und verletzte sich dabei. Aha, dachte er, bist du da? So nahm er den Stein auf und er half ihm tagelang bei seinem Unternehmen."^) Es gibt nichts, was ein Fetisch nicht tun und verrichten kann, wenn es nur der rechte Fetisch ist! Wir sind geneigt uns dieser Auffassung gegenüber sehr stolz zu fühlen, aber auch unter uns finden sich Menschen, welche Amulette, Glücksschweinchen, Medaillons und andere Dinge mit sich tragen und nicht nur zum Scherz. Unsere wissen- schaftliche Auffassung von der Abhängigkeit der Naturvorgänge voneinander ist eben doch eine andere als jene, welche noch in dem Volke lebt, von dem wir ein Teil sind. 6. Die dualistischen Vorstellungen von Geistern, von einem ») Tylor, a. a. O., II, S. 159. 96 Die Wucherung des Vor Stellungslebens. jenseitigen Leben u. s. w. sind sehr harmlos, solange sie rein theoretisch bleiben und sich auf einem gänzlich unkontrollier- baren Gebiet bewegen. Wenn aber die durch Träume erzeugten knsxchXtn praktische Folgen haben, zu Handlungen treiben, welche das Wohlbefinden und Leben der Genossen zerstören, ohne auch nur einem den geringsten Nutzen zu bringen, wenn das Un- kontrollierbare hinreichende Macht gewinnt, sich mit dem Kon- trollierbaren in Widerspruch zu setzen, dann führt dies zu den furchtbarsten Tatsachen der Kulturgeschichte. Wir denken zu- nächst an die Menschenopfer bei der Leichenfeier der Ver- storbenen, um diesen auch nach dem Tode Frauen, Diener, kurz alle Bequemlichkeiten zu verschaffen. „Der König von Dahome ^) muß in das Totenland mit einem Geisterhofe von Hunderten von Frauen, Eunuchen, Sängern, Trommlern und Soldaten einziehen." — „Von Zeit zu Zeit versehen sie den abgeschiedenen Monarchen in der Schattenwelt mit frischer Dienerschaft." — „Selbst dieses jährliche Gemetzel wird noch durch fast tägliche Hinmordungen ergänzt: jede Handlung, welche der König vollzieht, muß, mag sie noch so trivial sein, pflichtgetreu seinem Vater ins Schatten- reich gemeldet werden. Dazu wird ein Unglücklicher, fast immer ein Kriegsgefangener, erwählt." Solche Gebräuche sind sehr verbreitet und waren in älterer Zeit noch viel allgemeiner. Auf Borneo werden bei der Leichenfeier eines angesehenen Mannes Sklaven zu Tode gespeert, um dem Verstorbenen zu dienen. Auf den Fidschi-Inseln werden die Frauen, Freunde und Sklaven des angesehenen Verstorbenen erwürgt. Untergeordnete Diener dienen als „Gras zur Ausbettung des Grabes". Wir alle kennen die Leichenfeier des Patroklos, die Witwenverbrennung der Inder. Dergleichen Riten reichen in verschiedener Form bis in „hoch zivilisierte" Zeiten herauf. 7. Wo tote Menschen schon nach Mord so lüstern waren, konnten Geister, Dämonen und Gottheiten nicht bescheidener sein. „Die Karthager waren im Kriege mit Agathokles besiegt und hart bedrängt worden und schrieben ihre Niederlage gött- lichem Zorn zu. In früheren Zeiten wählten sie die Opfer für den Kronos (Moloch) unter ihren eigenen Söhnen aus, später ') Tylor, a.a.O., I, S. 451. Die Wucherung des Vorstellungslebens. 97 aber speisten sie ihn mit Kindern ab, die sie zu diesem Zweck kauften und aufzogen. Sie waren damit der natürlichen Tendenz des Opfers zur Substitution gefolgt, jetzt aber, in der Zeit des Unglücks, trat der Rückschlag ein. Um die Rechnung auszu- gleichen und den aus Sparsamkeit begangenen Betrug wieder gut zu machen, wurde ein ungeheures Opfer veranstaltet. Zwei- hundert Kinder aus den edelsten Familien des Landes wurden zu dem Idol des Moloch gebracht; denn sie hatten dort eine eherne Bildsäule des Kronos, deren ausgestreckte Arme abwärts gerichtet waren, so daß das hineingelegte Kind herabrollte und in einen feuergefüllten Schlund fiel."^) Die große Verbreitung der den Göttern dargebrachten Menschenopfer ist bekannt. Die wilden oder halbkultivierten Vorfahren aller Kulturvölker übten das Menschenopfer. Teils ist dies historisch nachgewiesen, teils deuten Sagen auf einen solchen Gebrauch (Opfer des Isaak, Opfer der Iphigenie). Kein Volk hat da dem anderen etwas vor- zuwerfen. Es sei nur noch auf die nach Zeit und Ort weit ent- legenen Menschenopfer hingewiesen, welche die Spanier bei der Eroberung von Mexiko daselbst vorfanden. Diese Dämonen und Gottheiten, von denen ein eingebildeter Vorteil so teuer gegen einen reellen Schaden erkauft wird, sind nun leider sehr mannigfaltiger Art und von ungeheurer Anzahl. Herodot^) erzählt vom Zuge des Xerxes gegen die Griechen: „Diese Landschaft um das Pangäische Gebirge wird Phpllis ge- nannt, westwärts zieht sie sich bis an den Fluß Angites, welcher in den Strynom mündet, nach Süden zu bis an den Strymon selbst, wo die Magier weiße Rosse schlachteten zu einem gün- stigen Übergang. Nachdem sie zur Beruhigung des Flusses dieses und noch vieles andere getan, zogen sie bei Ennea Hodoi (Neunwege) im Lande der Hedonen über die Brücken, da sie den Strom überbrückt gefunden hatten. Und als sie hörten, daß dieser Ort Ennea Hodoi genannt werde, begruben sie bei dem- selben ebensoviele (neun) Knaben und Jungfrauen von den Landes- bewohnern lebendig. Es ist nämlich persische Sitte, lebendig ») Tylor, a.a.O., II, S. 405. Das Tatsächliche findet sich bei Diodor XX, 14. — Bei diesem noch andere Berichte über Menschenopfer. — Ferner Herodot, IV, 62. 2) Herodot, VII, C. 113, 114. iMach, Erkenntnis und Irrtum. i 7 98 Die Wucherung des Vorstellungslebens. ZU begraben, wie ich ja auch vernehme, daß Amestris, des Xerxes Weib, in ihrem AUer zweimal sieben persische Knaben von an- gesehenen Männern vergraben ließ, um dem Gotte, der unter der Erde wohnen soll, damit sich dankbar zu erweisen." Andere Völker, andere Zeiten sind nicht klüger als die Perser.^) „In Galam in Afrika pflegte man einen Knaben und ein Mädchen vor dem großen Tore der Stadt lebendig zu begraben, um die- selbe dadurch uneinnehmbar zu machen." — „Bei den Milanau- Dajaks auf Borneo wurde bei Erbauung des größten Hauses ein tiefes Loch gegraben, um den ersten Pfosten aufzunehmen, der sodann darüber aufgehängt wurde; dann wurde eine Sklavin in die Aushöhlung gebracht; auf ein Signal wurden die Stricke zerschnitten, und der ungeheure Balken stürzte herab und zer- schmetterte das Mädchen zu Tode, ein Opfer den Geistern." Alte grauenhafte Sagen, welche sich an europäische Bauten knüpfen und der abgeschwächte Gebrauch, bei solchen Gelegenheiten kleine Tiere zu schlachten oder leere Särge einzumauern, deuten darauf, daß auch unseren Vorfahren diese Handlungsweise nicht fremd war. Die Wassergeister sind ebenso grausam. „Der Hindu rettet keinen Menschen, welcher im heiligen Ganges ertrinkt." Die Insulaner des malayischen Archipels teilen mit vielen europäischen Völkern den Glauben, daß man einen Ertrinkenden nicht unge- straft retten dürfe. „Der See, der Fluß will sein Opfer haben." Auch Vulkanen werden Menschen geopfert, d. h. in die Krater geworfen. So ist also die müßige wuchernde menschliche Phan- tasie eifrig beschäftigt, die natürlichen Übel, die der Mensch ohnehin zu ertragen hat, noch ausgiebig zu vermehren. Diese Qualen sind keineswegs nur an die niederste Kultur gebunden. Auch die europäische Menschheit der neueren Zeit hatte noch schwer an denselben zu tragen. Bedenken wir nur, daß die Inquisition, nachdem sie durch Jahrhunderte gewütet, den grau- samen Tod von vielen Tausenden von Menschen verschuldet, blühende Staaten und Kulturen zu Grunde gerichtet, erst mit dem Ende des 18. Jahrhunderts zur Einstellung ihrer verhängnis- vollen Tätigkeit sich gezwungen sah. ^) Den Betroffenen macht ») Tylor, a.a.O., I, S. 106 u. f. *) F. Hoffmann, Geschichte der Inquisition. Bonn 1878. — Lea, A history of the inquisition. New York 1888. Die Wucherung des Vorstellungslebens. 99 es gewiß keinen Unterschied, ob sie für die Erdgeister lebendig begraben oder für die Geister der Dogmen verbrannt werden, ob sie dem Aberglauben und dem Despotismus des Xerxes, den Intriguen der Magier, oder der Herrschsucht und Intoleranz moderner Priester zum Opfer fallen. Unsere Kultur ist der Barbarei noch bedenklich nahe. 8. Wenden wir uns nun freundlicheren Bildern zu. Die spon- tan spielenden Vorstellungen, die wechselnden Verbindungen der Gedanken, welche unabhängig von der jedesmaligen sinnlichen Leitung und ohne Nötigung durch das materielle Bedürfnis, ja weit über dessen Maß hinaus, ihr Leben betätigen, erheben den Menschen über das Tier. Das Phantasieren über das Erlebte, das Gesehene, die Poesie, ist die erste Erhebung über das All- tägliche, über das keuchende Lasttragen des Lebens. Mag diese Poesie, kritiklos ins Praktische übersetzt, auch oft schlimme Früchte tragen, wie wir eben gesehen haben, so ist sie doch der Anfang der geistigen Entwicklung. Wenn diese Phantasien sich mit der sinnlichen Erfahrung in Beziehung setzen, in der ernsten Absicht, letztere zu durchleuchten und sich anderseits von dieser zurechtweisen zu lassen, so ergeben sich stufen- weise religiöse, philosophische, wissenschaftliche Vorstellungen (A. Comte). Betrachten wir also diese poetische Phantasie, welche geschäftig alles Erlebte ergänzt und modifiziert. 9. Die Knochen großer Tiere, wie Rhinozeros, Mammut u. s. w., welche in der Erde gefunden werden, erzeugen bei den naiven Bewohnern der betreffenden Gegend fast regelmäßig die Vor- stellung und die Sage eines Kampfes von Riesen, der hier statt- gefunden hat. ^) Eine Sandhose, welche durch die Wüste, eine Wasserhose, welche über das Meer dahinschreitet, wird für den naiven Beobachter zum riesigen Dämon, dem „Dschin" von „Tausend und einer Nacht". Dem Chinesen gelingt es sogar, den Kopf oder Schweif des Drachen zu erkennen, der sich aus den Wolken ins Meer stürzt. Die Sintflutsage der hebräischen Bibel ist, wie aus vielen gemeinsamen Einzelheiten hervorgeht, der älteren babylonischen Sage nachgebildet. Die weite Ver- ') Tylor, Urgeschichte, S. 104—112, Tplor, Anfänge der Kultur, I, S. 288, 289. 7* 100 ^^^ Wucherung des Vor Stellungslebens. breitung analoger Sagen rührt aber daher, daß dieselben überalt fast notwendig entstehen. Wenn auf größeren Höhen versteinerte Muscheln und andere Wassertiere gefunden, gelegentlich auch Boote von nicht mehr gebräuchlicher Form daselbst ausgegraben werden, welche Befunde in der Tat weit verbreitet sind, so muß dem naiven Beobachter, der nichts von Hebungen und Senkungen weiß, dem geologische Betrachtungen fremd sind, der Gedanke einer großen, in ungewöhnliche Höhe reichenden Flut sich auf- drängen. ') Vulkane werden oft als von Geistern geheizte, von Titanen bewohnte Berge aufgefaßt, deren Bewohner Brände und Steine ausschleudern. In eigentümlicher Weise legen sich die Kamtschadalen das Vorkommen der Walfischknochen auf Vul- kanen zurecht, welche letztere sie als von Geistern bewohnt fürchten. Die Geister fangen in der Nacht Walfische, kochen dieselben und werfen die Knochen hinaus. „Wenn die Geister ihre Berge geheizt haben, wie wir unsere Jurten, werfen sie den Rest der Brände zum Schornstein hinaus, um zuschließen zu können. Gott im Himmel macht es bisweilen auch so, zur Zeit, wenn unser Sommer und sein Winter ist, und wenn er seine Jurte heizt." So erklären sie die Blitze.^) 10. Alles, was der primitive Mensch nicht versteht, erscheint ihm in einem eigentümlichen Licht. Wir können diese Beleuch- tung nur wiedergewinnen, wenn wir uns lebhaft in die frühe Jugendzeit, in die Kindheit zurückversetzen. Da lernen wir be- greifen, wie dem Wilden sein Spiegelbild im Wasser oder das Echo seiner Stimme unter unbekannten, seltener eintretenden Um- ständen als etwas Geisterhaftes erscheint.^) Wer hätte als Kind ») Tylor, Urgeschichte, S. 409 u. f. — Ich selbst hörte einmal bei Ge- legenheit eines Aufenthaltes am Gardasee von einem Landmann die An- sicht aussprechen, daß der See einst viel höher gestanden und der Monte Brione zwischen Riva und Torbole eine Insel gewesen sei, weil man oben Muscheln finde. 2) Tylor, Urgeschichte, S. 411. 3) T.W.Powell, Truth and error. Chicago 1898. p. 348. — Von einem Echo, welches einen gespenstischen oder dämonischen Eindruck hinterlassen mußte, berichtet Cardanus (De subtilitate, 1560, Lib. XVIII, p. 527) nach dem Erlebnis eines Freundes A. L. Derselbe kommt nachts an einen Fluß,^ den er überschreiten will, und ruft: Oh! — Echo: Oh! — A. L.: Unde debo passä? — Echo: Passä! — A. L.: Debo passä qui? — Echo: Passä qui! — Die Wucherung des Vorstellungslebens. 101 nicht ähnliches empfunden? Und in der Tat, kann es auch nach dem theoretischen Verständnis etwas Merkwürdigeres geben als dies körperlose Gesichtsobjekt, oder dies einfachste Phonogramm, das unsere Stimme der Luft eingeprägt hat, und das wir nach einigen Sekunden nochmals mit dem Ohr abfassen? Aber leider verliert der zivilisierte Mensch zu seinem Schaden so leicht die Fähigkeit, sich zu verwundern. 11. Ein anderer Zug, den die Wilden mit dem Kinde gemein haben, ist das Verhalten gegen die Tiere. Dem Wilden sind die Tiere fast seinesgleichen, seine „jüngeren Brüder", mit denen er, wie die Kinder, spricht. Er wünscht ihre Sprache zu ver- stehen, um zu erfahren, was sie wissen. Er schreibt ihnen Kräfte zu, welche die seinigen übersteigen.^) Er kann ja nicht wie der Vogel fliegen, wie der Fisch tauchen, wie die Spinne an einem Faden klettern. Als mein etwa vierjähriger Junge einen mäch- tigen zahmen Raben auf der Schwelle eines Hauses sitzen sah, blieb er verwundert vor ihm stehen, und tat ganz ernsthaft die Frage: „Wer ist das?" Die Form der Rede hat ja bei Kindern nicht viel zu bedeuten. Aber auch ich konnte mich des Ein- drucks einer bedächtigen Persönlichkeit nicht erwehren, zumal ich kurz zuvor gesehen, wie der Vogel einen ihn neckenden Schusterjungen „zurechtgewiesen" hatte. 12. Steht man am Ufer des Meeres, so erscheint dieses als eine flache Scheibe, das Land, wenn man weiteren Horizont hat, eben- falls als eine Scheibe, welche auf dem Meere sozusagen schwimmt. Das Ganze deckt das „Gewölbe" des Himmels. Diese Beobach- tungen bilden zugleich die ersten Grundlagen der primitiven Geographie und Astronomie. Daß dieser Anblick auf physio- logischen Umständen beruht, erkennt der Beobachter auf einer hohen isolierten Bergspitze oder gar im Luftballon. Er glaubt sich dann in einer bemalten Hohlkugel zu befinden, deren untere Hälfte die Erde, deren obere Hälfte der Himmel vorstellt, die der Ballonbewegung entgegen fortzurollen oder zu fließen scheinen. Da aber an der betreffenden Stelle sich ein furchtbarer Wirbel zeigt, wird A. L. von Entsetzen erfaßt und kehrt um. Cardanus erkennt die Erscheinung als Echo und weist darauf hin, daß sie nach dem Tonfall leicht als solches zu erkennen war. ») Powell, a. a. O. S. 384. 102 ^^'ß Wucherung des Vorstellungslebens. Diese Beobachtung ergibt sich aber zu selten, um auf die popu- läre Vorstellung Einfluß zu üben. Für den gemeinen Mann bleibt Meer und Erde (physikalisch) eine Scheibe, der Himmel ein Ge- wölbe. Wenn nun dieser Mann an einer westlichen Meeresküste die glühende Sonne ins Wasser tauchen sieht, so glaubt er, er müsse sie zischen hören. Er hört sie wohl auch wirklich zischen, indem er irgend ein zufälliges Geräusch hierauf bezieht. So entsteht die Vorstellung und Sage, welche nach Strabo^) beim „heiligen Vorgebirge" (St. Vincent) in Iberien (Spanien) in Um- lauf war und die Mr. Ellis in weiter Ferne, auf den Gesell- schaftsinseln der Südsee wieder gefunden hat.^) 13. Das Kind und die Völker im Urzustand haben keine Ge- legenheit, über solche naive Vorstellungen hinauszukommen. Das Kind sieht die Sonne hinter einem Hügel auf- oder untergehen und läuft hin, um dieselbe zu fassen. Zwar zeigt sich dann, daß der Hügel nicht der richtige war, daß dahinter ein zweiter und dritter sich erhebt, an dem die Sonne hängt, aber einer wird doch der richtige sein.^) Der Gedanke, die Sonne mit einem Netz anzufangen, schließt für das Kind keine Unmöglichkeit ein. Die über die Erde weit verbreiteten Märchen vom Sonnenfänger lassen uns eine primitive Kulturstufe vermuten, für welche das, was uns zur angenehmen Beschäftigung der Phantasie erfunden scheint, ganz wohl ernst gemeint sein konnte. Ähnlich verhält es sich wahrscheinlich mit anderen Märchen, z. B. jenem von Hans und dem Bohnenstengel, und der ganzen Gruppe analoger Geschichten. Der Himmel erscheint den naiven Sinnen des Kindes keineswegs so hoch, daß es denselben durch Klettern an einem hohen Baum für unerreichbar halten müßte. Und dies ist das gemeinsame, für uns märchenhafte Motiv der genannten Gruppe von Erzählungen.^) Erst nach und nach, mit steigender Kultur, erhalten solche Erzählungen einen leisen Zug von Humor und ») Strabo, HI. Iberia, 1. '^) Ich selbst hörte noch als Kind von 4 oder 5 Jahren die Sonne zischen, als sie scheinbar in einen großen Teich tauchte, und wurde darob von den Erwachsenen verlacht. Die Erinnerung ist mir aber sehr wertvoll. ") Auch ich bin als Kind der untergehenden Sonne von Hügel zu Hügel nachgelaufen. ♦) Tplor, Urgeschichte, S. 436 u. f., 443 u. f. Die Wucherung des Vorstellungslebens. 103 Ironie, bis sie endlich als Hirngespinste zur bloßen Belustigung behandelt werden. Durch die Märchen primitiver Stämme, ver- bunden mit der Beobachtung der Kinder, erhalten wir einen Einblick in die Anfänge der Kultur, wie derselbe größer und tiefer kaum gedacht werden kann. 14. Ergreift die Phantasie ergänzend und modifizierend schon die einzelne Beobachtung, so schont sie auch den ganzen Kom- plex eines historischen Berichtes nicht. Mit einiger Vorsicht läßt sich aber der tatsächliche Kern aus der poetischen Hülle herausschälen, und braucht nicht mit dieser als wertlos weg- geworfen zu werden. Als Beispiel sei die Tradition eines zentral- amerikanischen Stammes über die Einwanderung aus dem Norden angeführt:^) „Sie wanderten von Sonnenaufgang aus. Aber es ist nicht klar, wie sie über die See gelangten, sie gingen vor- wärts, als ob es keine See gegeben hätte, denn sie gingen über zerstreute Felsen, und diese Felsen waren auf Sand gerollt. Des- halb nannten sie den Ort: gereihte Steine und aufgewühlter Sand, welchen Namen sie ihm gaben während ihres Zuges in der See, indem das Wasser geteilt war, während sie durch- gingen. Dann sammelte sich das Volk auf einem Berge, genannt Chi Pixab, und dort fasteten sie in Dunkelheit und Nacht. Her- nach wird berichtet, daß sie abzogen und die nahende Dämmerung erwarteten. Nunmehr, siehe, waren unsere Vorfahren und unsere Väter Herren geworden und hatten ihre Dämmerung. Wir wollen auch berichten das Kommen der Dämmerung und das Erscheinen der Sonne, des Mondes und der Sterne. Groß war ihre Freude, als sie den Morgenstern sahen, der mit seinem leuchtenden Antlitz zuerst erschien vor der Sonne. Endlich begann die Sonne selbst hervorzukommen; die Tiere, große und kleine, waren voll Freude; sie erhoben sich aus den Flußtälern und Schluchten und standen auf den Berggipfeln, mit ihren Köpfen der kommenden Sonne zugewandt. Es war da eine zahllose Menschenmenge und die Dämmerung warf ihr Licht auf alle diese Völker auf einmal. Endlich ward die Fläche des Bodens von der Sonne getrocknet; wie ein Mann zeigte sich die Sonne und ihre Gegenwart wärmte und trocknete die Oberfläche des Bodens. Bevor die Sonne ') Tylor, Urgeschichte, S. 387. 104 Die Wucherung des Vorstellungslebens. erschien, war die Oberfläche des Bodens schlammig und feucht, und es war bevor die Sonne erschien, und dann nur erhob sich die Sonne wie ein Mann. Aber ihre Hitze hatte keine Kraft, und sie zeigte sich nur, als sie sich erhob, sie blieb nur gleich (einem Bild in) einem Spiegel, und es ist in der Tat nicht die näm- liche Sonne, die jetzt erscheint, wie man in den Sagen berichtet." — Der Bericht ist nicht sehr klar, doch das Charakteristische der arktischen Region, die lange Winternacht, die gefrorene mit Eisstücken bedeckte See, die beim Wiederscheinen kraftlose Sonne, ist unverkennbar. 15. Aus phantastisch verwobenen Naturbeobachtungen und historischen Traditionen entstehen die Vorstellungen des primi- tiven Menschen über seine Herkunft, über sein Verhältnis zu den Geistern, das Leben nach dem Tode, kurz die Ansichten, die man gewöhnlich als die religiösen oder mythologischen bezeichnet. Welchen Wert dieselben als poetische Erhebung haben, wurde bereits besprochen. Schon indem der Mensch die Hilfe seiner Götter oder Dämonen erhofft, wird er manche Notlage leichter ertragen, und indem er im Glück auch Schlimmes befürchtet, mag sein Übermut oft in heilsamer Weise gedämpft werden. Diese Ansichten sollen hier nicht weiter diskutiert werden. Dem Be- obachter, der die modernen Religionen kennt, fällt an allen diesen primitiven Systemen auf, daß dieselben, und insbesondere die Vorstellungen von einem Leben nach dem Tode, nichts mit Lohn und Strafe, nichts mit Vergeltung und überhaupt nichts mit Ethik zu tun haben. 16. Die Ethik des primitiven Menschen, die allerdings von der modernen, den ungleichen Lebensbedingungen entsprechend, sehr verschieden, aber darum nicht minder streng ist, wird ihm von der öffentlichen Meinung vorgeschrieben, welche wohl erkennt, was dem Gemeinwesen dient oder nicht zuträglich ist. Bei Ver- stößen gegen diese Ethik hat er sich mit dieser öffentlichen Meinung und deren Folgen abzufinden. Sein Verhalten regelt sich in natürlicher Weise nach den Verhältnissen des gegen- wärtigen Lebens. Es ist gewiß nicht rationell, die Ethik auf in Be- zug ihrer Richtigkeit unkontrollierbare Grundlagen zu stellen. Wo aber ein Teil des Volkes zu dauernder Sklaverei verurteilt, der andere Teil bestrebt ist, alles Gute des diesseitigen Lebens Die Wucherung des Vorstellungslebens. 105 für sich zu nehmen, da ist eine Ethik, welche mit Vergeltung nach dem Tode rechnet, für ersteren Teil ein nicht zu unter- schätzender Trost, für letzteren Teil recht bequem. Gesünder aber ist eine Ethik, welche, wie die hoch entwickelte chinesische, nur auf Tatsächliches sich gründet. Ethik und Recht gehören zur sozialen Kulturtechnik, und stehen desto höher, je mehr das vulgäre Denken durch wissenschaftliches Denken aus beiden Gebieten verdrängt ist. 17. Es wird wohl auch behauptet, daß manchen Stämmen alle religiösen oder mythologischen Vorstellungen fehlen. Als Bei- spiel mag folgender Bericht Erwähnung finden.*) „Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Arafuras von Vorkay, einer der süd- licheren Aru-Inseln, nicht die mindeste Religion besitzen . . . Von der Unsterblichkeit der Seele haben sie nicht die leiseste Ahnung. Erkundigte ich mich danach, so antworteten sie stets: Es ist noch nie ein Arafura nach seinem Tode zu uns zurück- gekehrt, daher wissen wir nichts von einem zukünftigen Leben, heute hören wir zum erstenmal davon. Ihr Glaubensbekenntnis hieß: Mati, Mati sudah, d. h. wenn du tot bist, dann ist es mit dir zu Ende. Auch über die Erschaffung der Welt hatten sie nie nachgedacht. Um mich zu überzeugen, ob sie wirklich nichts von einem höheren Wesen wußten, fragte ich sie, zu wem sie um Hilfe flehten, wenn sie in Not seien und ihre Schiffe von der Gewalt eines heftigen Sturmes erfaßt würden? Der Älteste hielt eine Beratung mit seinen Genossen, dann erwiderte er: Wir wissen nicht, wen wir um Beistand anrufen können; wenn du es aber weißt, so sei so gut und sag es uns." Wir glauben zunächst aus diesen Worten die überlegene Ironie eines Freigeistes heraus- zuhören, welcher die vermeintliche höhere Einsicht des aufdring- lichen proselytenmachenden Europäers gebührend zurückweist. Allein derartige Berichte sind mit größter Vorsicht aufzunehmen. Wir wissen, wie allgemein bei wilden Stämmen der Glaube an Geister und Dämonen ist, und wie sehr sie von demselben ge- peinigt werden. Sollte also der Bericht nicht doch auf irgend einem Mißverständnis beruhen, sondern der klare, reine Ausdruck des Sachverhalts sein, so müßte man diesen als eine Ausnahme, als ein seltenes Vorkommnis betrachten. *) Lubbock, Entstehung der Zivilisation. Jena 1875. S. 175. 106 Die Wucherung des Vor Stellungslebens. 18. Religion, Philosophie und Naturauffassung sind auf primi- tiver Entwicklungsstufe untrennbar. Wo, wie im antiken Griechen- land, eine geschlossene Priesterkaste fehlt, welche ihre Interessen kräftig vertreten könnte, entwickelt sich leichter eine freiere, die Schranken der herkömmlichen religiös- mythologischen Vorstel- lungen durchbrechende Philosophie. Phantastisch und abenteuer- lich ist auch diese erste Philosophie, wie wir an den Versuchen der Jonier und Pythagoräer sehen. Und wie sollte es auch anders sein. Gilt es doch vor allem, überhaupt eine Weltansicht zu gewinnen, und kann doch die Kritik erst einsetzen, wenn mehrere Versuche, mehrere ungleichwertig scheinende Ansichten zu Vergleich, Widerspruch oder Zustimmung auffordern. Philo- sophie und Naturwissenschaft ist da noch eins. Die ersten Philo- sophen sind auch Astronomen, Geometer, Physiker, kurz Natur- forscher. Gelingt es ihnen aber, neben ihrer Weltanschauung von zweifelhaftem Wert auch die Bilder kleinerer Naturausschnitte in vor der Kritik besser standhaltender Weise festzuhalten, so sammeln sich diese, werden allgemeiner anerkannt und bilden die Anfänge einer besonderen Naturwissenschaft. Man denke etwa an die geometrischen Funde des Thaies und Pythagoras, an die akustischen Beobachtungen des letzteren. Auch diese beginnende Naturwissenschaft enthält noch reichlich phantastische Elemente. Wir können sie unbedenklich größeren Teils als eine Naturmythologie bezeichnen. Indem nun der sehr vernünftige Versuch gemacht wird, die ganze Natur durch einen dem For- scher leichter verständlichen Teil zu begreifen, wird allmählich eine animistisch-dämonologische Naturmythologie, durch eine Mythologie der Stoffe oder Kräfte, durch eine mechanisch- atomistische oder durch eine dynamische Naturmythologie ab- gelöst. Häufig bestehen diese verschiedenen Auffassungen auch nebeneinander, und die Spuren derselben reichen bis in die neue Zeit. Man denke an die Lichtteilchen Newtons, an die Atome Demokrits und Daltons, an die Theorien der modernen Chemiker, an die Käfigmoleküle und gyrostatischen Systeme, endlich an die modernen Ionen und Elektronen. Die mannigfaltigen physikali- schen Stoffhypothesen, die Descartesschen und Eulerschen Wirbel, die in den neuen elektromagnetischen Strömungs- und Wirbel- theorien wieder aufleben, die Sink- und Quellstellen, welche in Die Wucherung des Vorstellungslebens. {(f] die vierte Dimension des Raumes führen, die ultramundanen Körperchen, welche die Gravitation erzeugen u. s. w. u. s. w, mögen noch erwähnt werden. Ich denke, das ist ein Achtung gebietender Hexensabbat von abenteuerlichen modernen Vor- stellungen. Diese Ausgeburten der Phantasie kämpfen ums Da- sein, indem sie sich gegenseitig zu überwuchern suchen. Zahl- lose dieser Phantasiesprossen und Blüten müssen angesichts der Tatsachen von der unerbittlichen Kritik vernichtet werden, bevor eine sich weiter entwickeln kann und längeren Bestand hat. Um diesen Vorgang zu würdigen, bedenke man, daß es gilt, die Naturvorgänge auf die einfachsten begrifflichen Elemente zurück- zuführen. Dem Begreifen der Natur muß aber die Erfassung durch die Phantasie vorausgehen, um den Begriffen lebendigen anschaulichen Inhalt zu schaffen. Und eine desto lebhaftere Phantasie ist erforderlich, je ferner die zu lösende Aufgabe dem unmittelbaren biologischen Interesse liegt. Erkenntnis und Irrtum. 1. Die Lebewesen haben sich teils durch angeborene (per- manente), teils durch erworbene (temporäre) Anpassung mit den Umständen ihrer Umgebung ins Gleichgewicht gesetzt. Die Organisation und die Gewohnheit des Verhaltens aber, welche unter gewissen Umständen biologisch förderlich ist, wird unter veränderten Verhältnissen nachteilig und kann sogar zur Zer- störung des Lebens führen. Der Vogel ist für das Leben in der Luft, der Fisch für das Leben unter Wasser organisiert, nicht aber umgekehrt. Der Frosch schnappt nach den fliegenden In- sekten, von welchen er sich nährt, wird aber ein Opfer dieser Gewohnheit, wenn er ein Stück bewegten Tuches erwischt und an der damit verbundenen Angel hängen bleibt. Die Falter, welche im Interesse ihrer Lebenserhaltung dem Lichten und Farbigen zufliegen, geraten vermöge dieses im allgemeinen zweckmäßigen Verhaltens gelegentlich an die gemalten Blüten einer Tapete, die ihnen keine Nahrung bieten, oder in die Flamme, die ihnen den Tod bringt. Jedes in einer Falle gefangene oder von einem andern erbeutete Tier weist uns die Grenzen der Zweckmäßigkeit seiner ps3?cho-physiologischen Organisation. Bei den am einfachsten organisierten Tieren ist Reiz und Reaktion, etwa Angriff oder Flucht, in so regelmäßiger Weise verbunden, daß die beobachteten Tatsachen uns nicht veranlassen würden, zwischen die beiden verbundenen Glieder: Empfindung, Vor- stellung, Gefühlsstimmung und Willen eingeschaltet zu denken, wenn nicht die Analogie zu den an uns selbst wahrgenommenen Vorgängen dies so nahe legen würde. Der Reiz wirkt hier un- mittelbar aktiv^ wie bei einer Reflexbewegung, etwa dem Sehnen- reflex, von dem wir erst erfahren, nachdem derselbe stattgefunden hat. Erst wenn der einfache Reiz wegen Komplikation der Erkenntnis und Irrtum. 109 Lebensbedingungen zu vieldeutig wird, um den zweckmäßigen Anpassungsvorgang zu bestimmen, tritt die Empfindung als selbständiges Element auf, welches mit den Erinnerungen, Vor- stellungen, den Zustand des Organismus, die Gefühlsstimmung bedingt, welche endlich die Handlung mit bewußtem Ziel aus- löst. Den komplizierteren Lebensbedingungen entspricht eben auch ein komplizierterer diesen angepaßter Organismus mit Wechselwirkung mannigfaltiger aneinander angepaßter Teile. Das Bewußtsein besteht eben in einer besonderen wichtigen Wechsel- beziehung der Teile (des Gehirns). Wenn ein Element, ein Teilvorgang des Bewußtseins, eine Empfindung, eine Vorstellung uns nicht direkt aktiv erscheint, so liegt dies an den mannig- faltigen, vielseitigen Beziehungen, die dies Element im ent- wickelten Individuum erlangt hat, wodurch die einzelne Be- ziehung im allgemeinen in den Hintergrund gedrängt, und erst bei der geeigneten Kombination von Elementen (Empfindungen, Vorstellungen) zum Hervortreten bestimmt wird. Es gibt keinen Gegensatz zwischen Vorstellung und Willen etwa. Beide sind Produkte der Organe, erstere vorwiegend einzelner Organe, letzterer des Zusammenhanges der Organe. Die gesamten Lebensvorgänge des Individuums sind Reaktionen im Interesse der Lebenserhaltung, und die Wandlungen im Vorstellungsleben sind nur ein Teil der ersteren. Das Bestehen einer Art von Lebewesen zeigt, daß die Anpassungen hinreichend überwiegend erhaltungsgemäß gelingen, um das Fortbestehen zu sichern. Daß im physischen wie im psychischen Leben auch Reaktionen vorkommen, welche nicht erhaltungsgemäß ausfallen, welche im Sinn der Anpassung als mißlungen zu betrachten sind, zeigt die tägliche Beobachtung. Physische und psychische Reaktionen regeln sich nach dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit. Ob die Reaktion Nutzen oder Schaden bringt, ob insbesondere biologisch fördernde oder irreleitende Vorstellungen sich einfinden, in beiden Fällen liegen dieselben physischen und psychischen Vorgänge zugrunde. 2. Betrachten wir einige Beispiele. Schon bei unmittelbarer Auslösung einer Reaktion durch den Reiz können sich nachteilige Folgen einstellen. Fliegen werden durch den Aasgeruch mancher Pflanzen verleitet auf denselben ihre Eier abzulegen; die aus- 110 Erkenntnis und Irrtum. schlüpfenden Larven, welche daselbst keine Nahrung finden, gehen natürlich zugrunde. Giften, welche Nahrungsstoffen ähn- lich schmecken, fallen Insekten häufig zum Opfer. Auch Rinder und Schafe, besonders auf fremder, exotischer Weide, ereilt zu- weilen dasselbe Schicksal. Physikalisch //z/z/^ zusammenhängende Umstände, welche verschiedene Empfindungen auslösen, kommen häufiger zusammen vor, als andere Umstände, welche nur der Zufall zusammenführt; demnach werden die dem ersten Fall entsprechenden Empfindungen und Vorstellungen stärker asso- ciiert sein, als im zweiten Fall. Die angeborene und erworbene Aufmerksamkeitsstimmung (Apperzeption) ist überdies auf das biologisch Wichtige gerichtet. Trotzdem ist das Spiel ungünstiger Zufälle und folglich der Fall irreführender Associationen nicht auszuschließen. Wenn Darwins Ansicht richtig ist, werden schlecht schmeckende oder stechende giftige Insekten mit leb- haften auffallenden Farben gemieden, ebenso bleiben aber harm- lose Insekten verschont, welche den ersteren ähnlich gefärbt sind (Mimicry). Wenn das optische Bild eines bekannten Körpers auf unsere Netzhaut fällt, so stellt sich associativ auch die Vor- stellung des Tasteindrucks und der übrigen Eigenschaften ein. Berühren wir im Dunkeln einen Körper, so steht wieder dessen optisches Bild vor uns. Es ist biologisch wichtig, daß diese Associationen so rasch und lebhaft erfolgen, daß sie fast Illusionen gleich zu achten sind; in selteneren Fällen werden wir aber durch dieselben Prozesse doch auch irregeführt. Die Stimmung oder Gedankenrichtung hat hier wesentlichen mitbestimmenden Ein- fluß. Ein Jüngling ist damit beschäftigt, die Prärie mit einem Ochsengespann in Ackerland zu verwandeln und wird öfter durch Klapperschlangen gestört, die er tötet. Als er die entfallene Peitschenschnur aufheben will, ergreift er zufällig einen Stock, den er für eine Schlange hält, deren Klappern er zugleich zu hören glaubt.^) Umgekehrt kann man unter Umständen, einen Stock suchend, auch eine Schlange anfassen, die man für einen Stock oder ein anderes harmloses Ding hält. Wie weit diese Geläufigkeit der associativen psychischen Ergänzung beim Men- schen, namentlich beim zivilisierten Menschen reichen kann, sieht ') Powell, Truth and error, S. 309. Erkenntnis und Irrtum. 111 man am besten an der leichten räumlichen Auffassung von ebenen perspektivischen Linearzeichnungen. Man erkennt die Treppe, eine Maschine, selbst komplizierte Kristallformen ohne Schwierig- keit in ihrer räumlichen Form, obgleich die Linearzeichnung nur ein Minimum davon andeutet. Interessant ist die Mitteilung von Powell,^) daß die Indianer in der Interpretation von derartigen Linearzeichnungen Schwierigkeiten finden, die sie aber bald überwinden. Farbige Malereien verstehen sie nur dann leicht, wenn die Darstellung ihnen bekannte Objekte betrifft. Übrigens ist die Fähigkeit der Menschen in dieser Richtung höchst ver- schieden und spezialisiert. Ich kannte eine phantasiereiche alte Frau, welche wunderbare Märchen trefflich zu erzählen wußte, für die aber ein Gemälde so unverständlich war, wie für einen Idioten oder ein Tier. Sie wußte kaum, ob sie eine Landschaft oder ein Porträt vor sich habe.^) Die Ungenauigkeit der Asso- ciation, die Störung einer Association durch eine andere, äußert sich in den rudimentären ersten Zeichenversuchen unserer Kinder. Wessen sie sich erinnern, und was sie an einer Person einmal gesehen haben, bringen sie an deren „Bild" zum Ausdruck, gleichgültig, ob dies auf einmal gesehen werden kann oder nicht. Ebenso verfahren nach K. von den Steinen^) die Indianer und ebenso verfuhren die Begründer der Malerei bei den alten Ägyptern. Ehrwürdiges Altertum und Züge von tech- nisch hoch entwickelter und doch primitiv kindlicher Kunst finden wir zugleich auf den Tempelwänden verkörpert. 3. Stärkere physikalische Abhängigkeiten können vom Zufall nicht leicht ganz verdeckt werden, und das biologische Interesse fördert die Beachtung richtiger und wichtiger Associationen. Letztere werden also, auch ohne besondere psychische Entwick- lung, eine Tendenz zeigen, permanent^) zu werden und die Lebensfunktionen schon instinktiv überwiegend erhaltungsgemäß zu leiten. Wo aber irreführende Associationen empfindliche 1) Powell, a. a. O. S. 340. *) Selbst klügere Hunde sollen zuweilen das Porträt ihres Herrn erkennen. ») K. von den Steinen, Unter den Naturvölkern Zentral -Brasiliens. Berlin 1897. S. 230— 241. *) Vgl. Analyse d. Empfindungen. 4. Aufl. 1903. S. 248. — Die vor- liegende Schrift S. 32 u. f. 112 Erkenntnis und Irrtum. Folgen nach sich ziehen, werden gerade letztere als Korrektiv wirken und zur weiteren psjjchischen Entwicklung beitragen. Die traumhafte Association wird der aufmerksamen, bewußten, absichtlichen Beachtung der wichtigen Übereinstimmungen und Unterschiede verschiedener Fälle, der klaren Abhebung der richtig leitenden und der irreführenden Merkmale der Fälle und deren scharfer Unterscheidung weichen. Hier stehen wir an dem Be- ginn der absichtlichen Vorstellungsanpassung, an der Schwelle der Forschung. Diese strebt, um es kurz zu sagen, außer der Permanenz des Vorstellungslebens auch eine für die Mannig- faltigkeit der Erlebnisse zureichende Differenzierung^) an. Der Verlauf der Vorstellungen soll sich möglichst genau den Erleb- nissen, seien es nun physische oder psychische, anpassen, er soll denselben sich anschließend folgen und vorauseilen, er soll in verschiedenen Fällen sich möglichst wenig ändern und den- noch der Verschiedenheit der Fälle gerecht werden. Der Vor- stellungsverlauf soll ein möglichst getreues Abbild des Natur- laufes selbst sein. Es wurde schon erwähnt, daß erhebliche Fortschritte der Forschung nur zu erzielen sind durch Zusammen- wirkung der sozialen Vereinigung der Menschen, durch gegen- seitige Mitteilung, durch Sprache und Schrift. 4. Wer es unangenehm empfunden hat, einen Giftschwamm mit einem eßbaren Schwamm verwechselt zu haben, wird genau auf die roten und weißen Flecke des Fliegenschwammes achten, wird dieselben als warnendes Zeichen der Giftigkeit auffassen. Dieselben heben sich dann deutlich von dem Gesamtbilde des Schwammes ab. Ähnlich verhalten wir uns gegenüber giftigen Beeren u. s. w. So lernen wir also die wichtigeren Bestimmungs- stücke eines Erlebnisses gesondert beachten, dasselbe in Teile auflösen oder aus Teilen zusammensetzen. Indem wir eine Seite eines Erlebnisses durch eine andere uns auffallende oder wichtig scheinende als näher bestimmt ansehen, und dies sprachlich aus- drücken, fällen wir ein Urteil. Gewiß kann man auch innerlich urteilen, ohne sprachlichen Ausdruck, oder vor demselben. Der geniale Wilde, der seine Kürbisschale durch Tonüberzug zuerst vor dem Verbrennen schützte, befand sich wohl in diesem Falle. ') Analyse S. 248. Erkenntnis und Irrtum. 113 Er urteilte: „Die Kürbisschale verbrennt." „Ton brennt nicht." „Der mit Ton überzogene Kürbis brennt nicht." Man kann ein- fache Beobachtungen, Erfahrungen sammeln, Erfindungen machen, urteilen, ohne zu sprechen. Man kann dies an klugen Hunden und an Kindern, die noch nicht sprechen können, sehr gut beob- achten.^) Der sprachliche Ausdruck des Urteils hat aber seine bedeutenden Vorteile. Indem derselbe zwingt, für die Mitteilung jedes Erlebnis in allgemein bekannte und benannte Bestandteile zu zerlegen, gewinnt der Sprechende selbst ungemein an Klar- heit.^) Seine Aufmerksamkeit muß einzelnes hervorheben; er muß abstrahieren und nötigt auch andere hierzu. Wenn ich sage „der Stein ist rund", so trenne ich die Form vom Material. Im Urteil „der Stein dient als Hammer" ist der Gebrauch vom Objekt getrennt. Der Satz „das Blatt ist grün" stellt der Form die Farbe gegenüber. So sehr nun das Gedankenleben einer- seits durch den sprachlichen Ausdruck gewinnt, so wird es doch anderseits hierbei in zufällige konventionelle Formen eingeschränkt. Ob ich sage „der Holzklotz schwimmt auf dem Wasser" oder „das Wasser trägt den Holzklotz" macht im Gedanken keinen Unter- schied, ist psychologisch dasselbe. Im sprachlichen Ausdruck ist aber die Rolle des Subjekts vom Holz auf das Wasser übergegangen. Ob ich sage „das Tuch ist zerrissen" oder „das Tuch ist nicht ganz" ist psychologisch dasselbe, sprachlich aber habe ich ein bejahendes Urteil in ein verneinendes verwandelt. Die Urteile „alle Ä sind 5" und „einige A sind 5" kann ich psychologisch als eine Summe vieler Urteilsakte auffassen. Da die Logik sich der Sprache bedienen muß, hat sie sich mit den historisch hergebrachten gram- matischen Formen abzufinden, welche den psychischen Vorgängen durchaus nicht genau parallel gehen. ^) Wie weit eine Logik, die sich einer künstlichen selbstgeschaffenen Sprache bedient, sich von diesem Übelstand befreien und genauer an die psychologischen Vorgänge anschließen kann, soll hier nicht erörtert werden.*) ») Prep er, Die Seele des Kindes. Leipzig 1882. S. 222—233. *) Vgl. Prinzipien d. Wärmelehre, S. 406—414. — Populär-wissenschaft- liche Vorlesungen, 3. Aufl. 1903, S. 265 u. f. «) A. Stöhr, Algebra der Grammatik. Wien 1898. *) Boole, An investigation of the laws of thought. London 1854. — E. Schröder, Operationskreis des Logikkalküls. Math. Annal. 1877. Mach, Erkenntnis und Irrtum. g 114 Erkenntnis und Irrtum. 5. Nicht jedes Urteil läßt sich auf eine so einfache sinnen- fällige Beobachtung oder Anschauung gründen, wie die „intuitiven" Urteile: „Der Stein fällt ohne Unterlage zu Boden", „Wasser ist flüssig", „Kochsalz zerfließt im Wasser", „Holz läßt sich bei Luftzutritt entzünden". Weitere Erfahrung lehrt z. B., daß im letzteren Falle die Bedingungen der Entzündung des Holzes viel zusammengesetzter sind, als jenes Urteil angibt. Nicht in jeder Luft brennt das Holz; die Luft muß eine genügende Menge Sauerstoff enthalten, und das Holz muß eine gewisse Temperatur erreichen. Der Sauerstoff (und ebenso die Temperatur) lassen sich nicht durch einen einfachen Anblick erkennen; die betreffen- den Worte erregen keine einfache anschauliche Vorstellung. Viel- mehr müssen wir an das gesamte chemische und physikalische Verhalten des Sauerstoffes denken, an alle die Erfahrungen und Beobachtungen, die wir mit demselben gemacht, an die Urteile, die wir bei dieser Gelegenheit gefällt haben, um die Bedingung: „Gegenwart des Sauerstoffes" in Gedanken richtig darzustellen. „Sauerstoff" ist ein Begriff, der nicht durch eine anschauliche Vorstellung, sondern nur durch dessen Definition, die eine Summe von Erfahrungen l^onzentriert enthält, erschöpft wird.^) Dasselbe gilt von den Begriffen: „Temperatur, mechanische Arbeit, Wärme- menge, elektrischer Strom, Magnetismus" u. s. w. Durch die eingehende Beschäftigung mit dem Erfahrungs- und Wissens- gebiet, dem ein Begriff angehört, erwerben wir uns die Fertig- keit, daß bei Gebrauch des den Begriff bezeichnenden und ver- körpernden Wortes alle an denselben geknüpften Erfahrungen leise in uns anklingen, ohne daß wir sie deutlich und explicit vorstellen. Es ist ein potentielles Wissen, wie S. Stricker ein- mal treffend gesagt hat, welches im Begriff liegt. Durch häufigen Gebrauch eines Begriffswortes erhalten wir ein sicheres und feines Gefühl dafür, in welchem Sinne und innerhalb welcher Grenzen wir dasselbe dem Begriff entsprechend verwenden dürfen. Menschen, welchen ein Begriff weniger geläufig ist, steigt bei Gebrauch des Begriffswortes eine anschauliche Vorstellung auf, welche den Begriff repräsentiert und irgend eine hervorstechende wichtige Seite des Begriffes versinnlicht. So stellt man sich im ') Wir denken hier zunächst an empirische Begriffe. Erkenntnis und Irrtum, 115 vulgären Denken bei dem Worte Sauerstoff leicht einen glim- menden und hell aufflammenden Span vor, bei dem Worte Tem- peratur ein Thermometer, bei dem Worte Arbeit ein gehobenes Gewicht u. s. w. Jerusalem hat solche Vorstellungen treffend als typische^) Vorstellungen bezeichnet. 6. Ein selbstgefälltes oder uns mitgeteiltes Urteil, das wir dem physischen oder psychischen Befund,^) auf welchen es sich be- zieht, angemessen, entsprechend finden, nennen wir richtig, und sehen, namentlich wenn es uns neu und wichtig ist, in demselben eine Erkenntnis. Eine Erkenntnis ist stets ein uns unmittelbar oder doch mittelbar biologisch förderndes psychisches Erlebnis. Bewährt sich hingegen das Urteil nicht, so bezeichnen wir es als Irrtum^ und in dem schlimmeren Fall einer absichtlichen Irreführung als Lüge.^) Dieselbe psychische Organisation, welche so förderlich ist und bewirkt, daß wir z. B. eine Wespe so rasch wiedererkennen, kann bei anderer Gelegenheit bewirken, daß wir einen wespenähnlichen Bockkäfer irrtümlich für eine Wespe hahen (Mimicry). Schon die unmittelbare sinnliche Beobachtung kann zu Erkenntnis und auch zu Irrtum führen, indem wichtige Unterschiede übersehen, oder Übereinstimmungen verkannt, z. B. eine mattgefärbte Wespe trotz der charakteristischen Körperform für eine Fliege gehalten wird. Noch weit leichter unterliegt der Mensch durch ein solches Versehen im begrifflichen Denken 1) Jerusalem, Lehrbuch der Psychologie, 3. Aufl. 1902, S. 97 u. f. 2) Der Befund kann sich auf physische oder psychische Tatsachen be- ziehen, wobei wir unter letzteren auch die logischen begreifen. =*) Ich kann mich nicht mit der Ansicht befreunden, daß das Glauben ein besonderer psychischer Akt sei, welcher dem Urteil zu Grunde liegt und dessen Wesen ausmacht. Urteile sind keine Glaubensangelegenheiten, sondern naive Befunde. Glauben, Zweifel, Unglauben beruhen vielmehr auf Urteilen über die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung von zuweilen recht komplizierten Urteilskomplexen. Die Zurückweisung von Urteilen, welchen wir nicht zustimmen können, ist oft von einer starken Emotion begleitet, welche zu unwillkürlichen Lautäußerungen Anlaß gibt. Aus einer solchen Lautäußerung entsteht nach Jerusalem (Psychologie S. 121) die Verneinungspartikel. Das Bedürfnis für eine Bejahungspartikel ist viel geringer; dieselbe tritt viel später auf. Einer meiner Knaben bediente sich im Alter von 2 — 3 Jahren der mit Energie ausgesprochenen Abweisungssilbe „meich", indem er zugleich das zur Unzeit Dargebotene mit einer kräftigen Handbewegung von sich schob. Es war ein gekürztes „meichni" (mag nicht). 116 Erkenntnis und Irrtum. dem Irrtum, namentlich der in diesem Gebiete ungeübte, der sich mit tjjpischen Vorstellungen begnügt, ohne nachträgliche genaue Analyse der verwendeten Begriffe. Erkenntnis und Irrtum fließen aus denselben psychischen Quellen; nur der Er- folg vermag beide zu scheiden. Der klar erkannte Irrtum ist als Korrektiv ebenso erkenntnisfördend wie die positive Er- kenntnis. 7. Wenn wir uns fragen, aus welcher Quelle die irrtümlichen auf Beobachtung gegründeten Urteile entspringen, die wir hier ins Auge fassen, so müssen wir die unzureichende Beachtung der Umstände der Beobachtung als solche bezeichnen. Jede einzelne Tatsache als solche, sei es nun eine physische oder psychische, oder eine aus beiden gemischte, bleibt bestehen. Der Irrtum ergibt sich erst, wenn wir dieselbe auch unter anderen Umständen als bestehend ansehen, indem wir der Änderung der physischen oder psychischen Umstände, oder beider, [keine Rechnung tragen. Vor allem dürfen wir die Grenze U nicht unbeachtet lassen, in- dem die Abhängigkeiten außerhalb U^ innerhalb U und über U hinweg wesentliche Verschiedenheiten darbieten.^) Die Ver- wechslung einer echten Hallucination mit einer Empfindung ge- hört hierher, kommt aber im Zustande der Gesundheit nicht leicht vor. Dagegen ist die Verwechslung oder ungenaue Sonderung einer Empfindung von der dadurch associativ erregten Vor- stellung etwas Alltägliches. Die Auffassung des Spiegelbildes als Körper ist das einfachste Beispiel. Wir können sie täglich auch an Vögeln und anderen Tieren beobachten. Affen greifen hinter den Spiegel und äußern ihrer höheren psychischen Stufe gemäß Verdruß über die Neckerei.^) Wenn eine stärkere Er- wartung bereit ist, die Empfindung^ associativ zu ergänzen, er- geben sich weniger angenehme Täuschungen, wie die erwähnte mit der Schlange und dem Stock. Solche stellen sich besonders- leicht ein, wenn die Empfindungsintensität herabgesetzt, z. B. das Licht schwach und dafür die Phantasie stark erregt ist. Solche Fälle der Überwindung der Empfindung durch eine Illusion können auch bei der wissenschaftlichen Forschung Schaden anrichten.^) ») Vgl. S. 8. *) Darwin, Kleinere Schriften, übersetzt von E. Krause. II. S. 14L ") Vgl. Analyse d. Empfindungen. 4. Aufl. S. 158, 159. Erkenntnis und Irrtum. 117 Welche Rolle im volkstümlichen Denken 'die Übersetzung der Traumphantasmen ins Physische gespielt [haben, ist schon be- trachtet worden. Mancher wird sich erinnern, daß er als Kind aus dem Traum erwacht ist, weinend um das schöne Spielzeug, das er eben noch in der Hand hatte und das nun dahin war. Jugendliche Völker verhalten sich nicht viel anders, als ein sol- ches Kind. Daher die Wichtigkeit, welche bei ihnen den Träumen, als das wache Leben bestimmend, beigemessen wird, und die eifrige Pflege der Traumdeutung. 8. Die Grenze zwischen Traum und Wachen gewinnt nur ganz allmählich ihre volle Deutlichkeit, wie ich dies durch kürzlich Erlebtes erläutern will. Ich erwache nachts dadurch, daß ich die Türe öffnen und jemand eintreten höre. Trotz der tiefen Dunkel- heit sehe ich eine lange Gestalt der Wand entlang schleichen und vor dem schwach erhellten Fenster stehen bleiben. Mich ruhig verhaltend und beobachtend höre ich nicht mehr das ge- ringste Geräusch, sehe aber die Gestalt allerlei langsame Be- wegungen ausführen. Nun wird mir klar, daß vor dem Fenster €in Kleiderständer sich befindet, dessen Umrisse bei der großen Dunkelheit durch mein Wachphantasma, welches von meinem Traumphantasma übriggeblieben war, fortwährend verändert werden. ^) Letztere Erscheinung ist mir von dunklen schlaflosen Nächten her geläufig und wohl bekannt. Ich sehe in den dun- kelsten Nächten die Fenster meines Schlafzimmers. Da ich aber über den Ort der Fenster, ihre Breite u. s. w. etwas unsicher ur- teile, so decke ich die Augen mit der Hand, oder schließe sie ganz und sehe die Fenster auch dann noch. Dies ist also ein gutes Mittel, um ein Phantasma bei tiefer Dunkelheit von einer physikalisch bedingten Empfindung zu unterscheiden. 9. Aus dem schon angezogenen Buch von Powell, welches ich nicht gerade in philosophischer Hinsicht empfehlen möchte, welches aber viele gute Einzelheiten enthält, möchte ich als interessantes Beispiel „physikalischen" Denkens die Ansicht eines ') Es gibt auf der Netzhaut ruhende Phantasmen, dunkle Flecke, oder auch sich erweiternde und kontrahierende Ringe. Bedenkt man die Unmög' lichkeit, im Dunkeln scharf zu fixieren, so können auch die ersteren Phan- tasmen mit dem objektiv Gesehenen zusammen Bewegungen vortäuschen. 118 Erkenntnis und Irrtum. Indianerhäuptlings anführen. ^) Eine Gesellschaft von Weißen und Indianern unterhält sich nach des Tages Arbeit mit dem Versuch, Steine über eine tiefe Schlucht (Cafion) zu werfen, in deren Nähe sie Rast gemacht hat. Keinem der Beteiligten will dies gelingen, alle Steine fallen in die Tiefe, nur der Häuptling Chuar streift eben noch die gegenüberliegende Felswand. Das Gespräch be- schäftigt sich mit dieser auffallenden Erscheinung und Chuar meint: Wenn die Schlucht ausgefüllt wäre, würde man sie mit Leichtigkeit überwerfen, so aber zieht der leere Raum den Stein mächtig herab. Dem europäisch-amerikanischen Zweifel an der Richtigkeit dieser Auffassung begegnet Chuar mit der Frage: Fühh ihr denn nicht selbst, wie der Abgrund euch hinabzieht, so daß ihr euch zurücklehnen müßt, um nicht hinabzufallen? Fühlt ihr nicht beim Erklettern eines hohen Baumes, daß es desto schwieriger wird, je höher ihr kommt und je mehr leerer Raum unter euch ist? — Uns modernen Menschen scheint diese „wilde Phipsik" in mehrfacher Beziehung irrig. Chuar deutet zunächst sein subjektives Schwindelgefühl als eine physikalische Kraft, die alle Körper in den Abgrund zieht. Daß der große Abgrund ober uns nicht ebenso aktiv ist, stört Chuar natürlich nicht, denn das „Unten" ist für ihn eine absolute Richtung. Wir dürfen ja von ihm nicht verlangen, daß er in dieser Richtung klüger sei als die Kirchenväter Lactantius und Augustinus. Daß Chuar dem leeren Raum Kräfte zuschreibt, würde Descartes und seinen Genossen Entsetzen verursacht haben; seit Fresnel, Faraday, Maxwell und Hertz darf uns das nicht mehr in die Verwun- derung setzen, die es bei den gebildeten weißen Genossen Chuars erregt hat. — Der moderne Physiker würde vor allem zweifeln, daß hier eine wirkliche physikalische Tatsache vorliegt, die eine Erklärung fordert. Er würde nötigenfalls durch Messung den Nachweis führen, daß man ober der Schlucht nicht weniger weit wirft, sondern wieder physiologisch die Breite der Schlucht unter- schätzt. Eine gleichbelastete Wage, deren eine Schale an einem langen Wagebalken ober dem Abgrund sich befände, würde im Gleichgewicht bleiben und wenn sie genug empfindlich wäre, so würde die Schale ober dem Abgrund sogar etwas nach oben ') Powell, a.a.O. S. 1,2. Erkenntnis und Irrtum. 119 ausschlagen. — Unsere subjektiven Empfindungen und Gefühle hppostasieren wir nicht mehr als physikalische Kräfte. Darin sind wir über den Indianerhäuptling hinaus. Um aber nicht zu stolz zu werden, dürfen wir nur bedenken, daß wir dafür noch immer unsere subjektiven Begriffe als physikalische Realitäten betrachten, wie Stallo^) gezeigt hat und wie ich selbst nach- gewiesen habe. ^) Von der Irreführung der Forschung, welche sich dadurch ergibt, soll anderwärts die Rede sein. 10. Man schützt sich vor dem Irrtum und zieht sogar Nutzen aus demselben, indem man die Motive, welche verführend ge- wirkt haben, aufdeckt. Diese treten am reinsten und deutlichsten hervor in Fällen der bewußten absichtlichen Irreführung. Über die kunstvollen Trugschlüsse der Sophisten, welche das begriff- liche Denken irreleiten, wollen wir hier zunächst nicht sprechen. Es gibt aber nicht nur Sophisten des Wortes, sondern auch So- phisten der Tat, welche durch eine Scheinhandlung die Beobach- tung, auf die wir hier unser Augenmerk richten, irreführen. Recht lohnend ist es, das Verfahren der Escamoteure oder Taschen- spieler zu analysieren, durch welches diese mit sehr einfachen Mitteln das Publikum täuschen und überraschen. Ein sehr plumpes Mittel besteht darin, den Zuschauer zur Annahme einer Identität zu veranlassen, welche nicht besteht. Eine entlehnte Taschenuhr z. B. wird in einen Mörser gelegt, der verdeckt seitwärts auf einen Tisch gestellt wird, worauf irgend eine gleichgültige Zau- berei die Aufmerksamkeit des Publikums ablenkt, damit ein ver- borgener Gehilfe die eingelegte Uhr unbemerkt herausnehmen und durch eine ähnliche wertlose ersetzen kann. Die falsche Uhr wird nun zertrümmert. Während die Trümmer herumgezeigt werden und wieder eine gleichgültige Scheinhandlung vorge- nommen wird, kommt durch den Gehilfen die Originaluhr unver- sehrt an einem Orte zum Vorschein, wo sie niemand vermutete.^) Ausnahmsweise läßt sich der Escamoteur zur Erhöhung seines Rufes diesen Spaß auch ein schönes Stück Geld kosten. So zertrümmerte Houdin^) in einer Vorstellung vor Papst Pius VII. ') Stallo, Die Begriffe und Theorien der modernen Physik. Leipzig 190L «) Vgl. Mechanili, 4. Aufl. 1901. *) Decremps, La magie blanche devoil6e. Paris 1789, I. S. 47. *) Houdin, Confidences d'un prestidigitateur. Paris 1881, I. S. 129. 120 Erkenntnis und Irrtum. eine teuer erkaufte Uhr, welche derjenigen eines Kardinals genau nachgebildet war und sogar mit dessen Namenszug versehen wurde. Houdin gibt auch kn\t\{\xx[g Scheinbewegungen 2i\xsz\x- führen, die z. B. den Eindruck machen, als hätte man einen Körper irgendwo hingelegt, während es nicht geschehen ist; er zeigt, wie man bei offener Hand und ausgestreckten Fingern kleine Körper unbemerkt halten kann und erläutert dies durch eine Tafel. ^) Der Escamoteur benützt feine, für Ungeübte un- sichtbare Zeichen, die ihn allein leiten. H o u d i n , ^) aufgefordert die einer Falschspielerbande abgenommenen Karten zu unter- suchen, konnte an der ganz weißen und glatten Rückseite der Karten, trotz beharrlichen Suchens, keinerlei Zeichen entdecken. Als er das Spiel endlich geärgert und mutlos hinwarf, bemerkte er auf der glänzenden Rückseite einer Karte ein kleines mattes Fleckchen. Nun zeigte die genauere Untersuchung, daß jede Karte in der Ecke ein solches Fleckchen aufwies, welches sozu- sagen, in eine Tafel mit doppeltem Eingang, in ein Koordinaten- system eingetragen war. Der Abstand des matten Fleckchens vom oberen horizontalen Rande der Karte bezeichnete die Farbe, der Abstand vom linken vertikalen Rand den Wert der Karte. So erhielt also der Spieler eine vollständige Kenntnis der Karten seines Gegners, ohne daß dieser eine Ahnung davon hatte. — Die Verwendung ungewöhnlicher, wenn auch simpler Mittel, an die niemand denkt, wird fast immer dem Escamoteur zu Erfolg verhelfen. 11. In Europa wird man heute durch Anwendung eines kräftigen Elektromagneten kein Aufsehen erregen, und die Anordnung wird bald durchschaut werden. Als aber H o u d i n ^) bei einer Vorstellung vor den Arabern in Algier ein leichtes Kofferchen (mit eisernem Boden) durch einen Elektromagnet unter dem Teppich „für den stärksten Mann zu schwer" machte, ergriff die Zuschauer natürlich ein unbeschreiblicher Schrecken. Wie auf sehr einfache Weise auch gebildete und erfahrene Leute aus der Fassung gebracht werden können, lehrt folgender von Decremps*) mitgeteilter *) Houdin, Comment on devient sorcier. Paris 1882. S. 22. «) Houdin, Confidences ect., I, S. 288— 291. 8) Houdin, Confidences, II, S. 218 u. f. ♦) Decremps, a. a. O., I, S. 76 u. f. Erkenntnis und Irrtum. 121 Fall. Herr van Estin, ein holländischer Kaufmann auf der Insel Bourbon, bat den auf der Reise verweilenden Herrn Hill, indem er ihm ein Blatt Papier und einen Bleistift darbot, eine beliebige Frage niederzuschreiben, das Blatt aber bei sich zu behalten, und keinem Menschen zu zeigen, oder besser dasselbe sogar zu verbrennen. Nachdem dies alles in Abwesenheit des Herrn van Estin geschehen war, kam dieser mit einem zusammen- gefalteten Blatt und erklärte, daß dieses die Antwort enthalte. Damit Herr Hill aber nicht an ein gewöhnliches Escamotier- stückchen glaube, ließ er ihn das gefaltete Papier mit seinem Namenszug versehen und wies ihn an, das so markierte Blatt in der Schreibtischlade eines Pavillons am Ende eines Parkes zu holen, indem er ihm zugleich die Schlüssel des Pavillons und des Schreibtisches übergab. Herr Hill lief eilends nach dem Pavillon und fand an dem bezeichneten Ort in der Tat das von ihm be- zeichnete Blatt mit der korrekten Antwort auf seine Frage. Ohne uns mit den mechanischen, optischen und akustischen Teufeleien aufzuhalten, welche Herrn Hill im Pavillon begegneten und die ihn in der Tat irritierten, und seine Aufmerksamkeit nach allen Richtungen hin und her zerrten, betrachten wir gleich die Auf- klärung dieses überraschend scheinenden Kunststückes. Wozu muß Hill seine Frage niederschreiben? Warum genügt nicht eine gedachte Frage? Natürlich, weil sie eine Spur zurücklassen muß. Das Blatt, auf welches Hill schrieb, lag auf einer schwarzen Mappe, die Kopierpapier enthielt. Das gefaltete Blatt van Estins, auf welches die Antwort sehr bequem nach der Entfernung Hills geschrieben werden konnte, wurde pneumatisch durch ein Rohr in den fernen Schreibtisch befördert. Der komplizierte Aufputz diente nur zur Verhüllung des einfachen Sachverhaltes. Wenn wir uns fragen, wodurch sich eine taschenspielerische, von einer technischen Erfindung unterscheidet, so ist es dies, daß die erstere durchaus keinen positiven Nutzen zu schaffen vermag.^) 12. Ein interessantes von Decremps^) referiertes Stück ver- dient noch Erwähnung. Ein Mann steht vor den Geschworenen 1) Vgl. „Mechanik", 4. Aufl., S. 535. — Cardanus, De Subtilitate, 1560, S. 494, sagt, indem er von der Verachtung der Alchpmisten und anderer Gaukler spricht: „Causa multiplex est ut opinor: primo, quod circa inutilia versetur." 2) Decremps, a. a. O., II, S. 158 u. f.; 122 Erkenntnis und Irrtum. unter der Anklage, ein Kind in den Fluß geworfen und ertränkt zu haben. Nicht weniger als 52 Zeugen sagen belastend gegen ihn aus. Einige sahen ihn das Kind in den Fluß werfen, andere hörten das Kind schreien, wieder andere hatten den Mann im höchsten Zorn auf das Kind losschlagen gesehen u. s. w. Der Mann verteidigt sich, indem er sagt, daß niemand den Verlust eines Kindes zur Anzeige gebracht habe und daß keine Leiche gefunden worden sei. Das Gericht ist natürlich in großer Ver- legenheit. Da bittet der Angeklagte, man möchte einem seiner Freunde den Eintritt gestatten, was gewährt wird. Der Freund erscheint mit einem großen Pack, aus welchem sich eine Wiege mit einem Kind entwickelt. Der Angeklagte liebkost zärtlich das Kind, welches sofort zu weinen beginnt. „Nein du armer Wurm, du sollst nicht allein und schutzlos in der Welt zurückbleiben!" ruft der Angeklagte und zieht sofort einen Säbel aus dem Pack, und mit dem Rufe: , Jetzt sollst du deinem Bruder folgen!", schlägt er, ehe es jemand hindern kann, dem Kinde den Kopf ab. Statt des erwarteten Blutes sieht und hört man einen hölzernen Kopf über den Boden kollern. Nun entpuppt sich der Mann als Escamoteur und Bauchredner, welcher zu diesem Mittel gegriffen hat, um von seiner Kunst zu leben, wozu er sich den nötigen Ruf verschaffen mußte. — Mag nun diese Geschichte wahr oder erfunden sein, jedenfalls ist sie lehrreich. Es kann etwas sehr wahrscheinlich und doch nicht wahr sein. Was sehen nicht alles Zeugen, wenn sie einmal glauben, daß dieser oder jener ein Mörder oder Dieb ist, und was bezeugen nicht befangene Zeugen! Aber was sollen Geschichtchen nützen, wo die jährlich bekannt werdenden tatsächlichen Justizmorde nur lehren, wie leicht man Menschen verurteilt, die man für schuldig hält. Als ob es nicht viel wichtiger wäre, daß kein Unschuldiger verurteilt wird, als daß jeder Schuldige der Strafe verfällt! Die Strafrechtspflege soll dem Schutze der Menschheit dienen; sie verhält sich aber dieser gegenüber zuweilen mehr wie der Bär der Legende, der die Fliege auf der Stirn seines schlafenden Wohltäters mit einem Stein erschlägt.*) ') In der Übersetzung des Licius von Ernst Faber, die 1877 zu Elber- feld erschien, finden sich einige Stellen, welche die Wirkung der Suggestion und eines falschen Verdachtes wunderbar beleuchten: S. 207 wird die Spiel- Erkenntnis und Irrtum. 123^ 13. Wir können aus der Beobachtung der Escamoteure und dem Verhalten des Publikums für unser Verhalten bei wissenschaft- lichen Untersuchungen fruchtbringende Lehren ziehen. Die Natur ist zwar keine Gauklerin, die uns hinter das Licht führen will, allein die Naturvorgänge sind doch äußerst zusammen- gesetzt. Außer den Umständen, deren Zusammenhang wir in einem gegebenen Falle untersuchen wollen, und auf welche unsere Aufmerksamkeit eben gerichtet ist, sind noch eine Menge anderer Umstände für die Vorgänge mitbestimmend, und ver- decken den uns interessierenden Zusammenhang, komplizieren und fälschen scheinbar den ins Auge gefaßten Vorgang. Des- halb darf der Forscher keinen ohne seine Absicht mitspielenden Nebenumstand unberücksichtigt lassen, deshalb muß er alle Fehlerquellen in Betracht ziehen. Ein Forscher untersucht z. B. eine neue Wirkung des elektrischen Stromes mit Hilfe des Gal- vanometers, vergißt aber im Eifer, daß der Ausschlag vielleicht auch teilweise oder ganz von einer übersehenen Stromschleife herrühren kann, und möglicherweise mit dem untersuchten Vor- gang gar nichts zu tun hat. Besonders müssen wir uns hüten, Identitäten anzunehmen, ohne uns von dem Bestehen derselben zu überzeugen. Ein Chemiker findet eine neue Reaktion eines gesellschaft eines Reichen geschildert. Ein Bussard fliegt vorüber und läßt eine tote Maus unter die Leute auf der Straße fallen. „Herr Yu hat lange Zeit reiche und fröhliche Tage gehabt und hegt beständig geringschätzige Gedanken gegen andere Menschen. Wir haben ihm nichts zuleide getan, und er beschimpft uns mit einer toten Maus. Wenn dies nicht vergolten wird, so können wir schwerlich in der Welt bestehen. Es wird also gebeten, alle, die zu uns gehören, mit energischem Willen hinaufzuführen; sein Haus muß vernichtet werden! . . . Am Abend desselbigen Tages versammelte sich die Menge, nahm die Waffen, griff den Herrn Yu an und richtete eine große Verwüstung in seinem Eigentum an." — S. 217. „Ein Mann vermißte seine Axt und beargwöhnte den Sohn des Nachbars. Er beobachtete ihn nun; aus Schritt und Tritt blickte der Axtdieb; aus dem Ausdruck seiner Augen blickte der Axtdieb; aus seinen Worten und Reden blickte der Axtdieb; aus Be- wegung, Gestalt und Benehmen, aus jeglichem Tun — blickte der Axtdieb heraus. — Zufällig grub er in seiner Schlucht nach und fand da die Axt. — Den andern Tag sah er wieder den Sohn seines Nachbars. Bewegung, Hand- lung, Gestalt und Benehmen waren nicht mehr denen eines Axtdiebes ähnlich." — Sehr wertvoll und lehrreich für den Juristen scheinen mir W. Sterns „Beiträge zur Psychologie der Aussage", von welchen 1903 das erste Heft erschienen ist. 124 Erkenntnis und Irrtum. Stoffes. Der Stoff wurde aber vielleicht durch ein neues Ver- fahren dargesteUt, ist vielleicht nicht rein, also gar nicht der- selbe Stoff, den er zu untersuchen vermeint. Endlich haben wir uns gegenwärtig zu halten, daß die größte Wahrscheinlichkeit noch immer keine ausgemachte Wahrheit ist. 14. Ich möchte diese Ausführungen mit der Erzählung eines kleinen Erlebnisses schließen, das für mich äußerst lehrreich war. Eines Sonntags Nachmittags zeigte der Vater uns Kindern den Ver- such, welchen Athanasius Kircher ^) als „experimentum mirabile de immaginatione gallinae" beschreibt, nur mit einer ganz gering- fügigen Änderung. Ein Huhn wird trotz seines Sträubens auf die Diele niedergedrückt und eine halbe Minute etwa festgehalten. Es hat sich einstweilen beruhigt. Mit Kreide wird nun ein Strich über den Rücken des Huhns und auf dem Boden um das Huhn herum geführt. Läßt man nun das Huhn los, so bleibt es ruhig sitzen. Man bedarf nun recht kräftiger Schreckmittel, um das Huhn zum Aufspringen und Davonlaufen zu bewegen, „denn es bildet sich ein, angebunden zu sein". Viele Jahre später kam ich mit einem Laboratoriumsgenossen, Prof. J. Kessel, auf die Hypnose zu sprechen, und da erinnerte ich mich wieder einmal des Kirch ersehen Versuchs. Wir ließen ein Huhn kommen und wiederholten den Versuch mit dem besten Erfolg. Aber auch, als bei nochmaliger Wiederholung das Huhn einfach nieder- gedrückt, und die Zauberei mit dem Kreidestrich weggelassen wurde, gelang der Versuch ebensogut. Die „imaginatio gallinae", welche seit der Kinderzeit in meinem Kopfe unangefochten fort- bestanden hatte, war hiermit für immer zerstört. 15. Wir lernen aus diesem Fall, daß es nicht ratsam ist, ein einzelnes Experiment oder eine einzelne Beobachtung als be- weisend für die Richtigkeit einer Meinung anzusehen, welche dadurch scheinbar bestätigt wird. Vielmehr muß man, ob das Experiment ein eigenes oder fremdes ist, sowohl die Umstände, welche man für maßgebend hält, als auch die scheinbar gleich- gültigen, nach Möglichkeit variieren. Newton hat diese Methode in der Optik in ausgiebiger und musterhafter Weise geübt, und ') A. Kircher, Ars magna lucis et umbrae, Amstelodami, 1671, S. 112 bis 113. Erkenntnis und Irrtum. 125 hat dadurch zur modernen Experimentalphysik ebenso den Grund gelegt, wie er durch seine Prinzipien der Naturphilosophie zum Schöpfer der mathematischen Physik geworden ist. Beide Werke sind auch als Erziehungsmittel zur Forschung in gleichem Maße unersetzlich und unübertrefflich. Halten wir uns als Ergebnis unserer Betrachtung gegen- wärtig, daß es dieselben psychischen Funktionen, nach denselben Regeln ablaufend , sind, welche einmal zur Erkenntnis, das andere Mal zum Irrtum führen, und daß nur die wiederholte, sorgfältige, allseitige Prüfung uns vor letzterem schützen kann. Der Begriff. 1. Es ist nun notwendig den Begriff als psychologisches Ge- bilde näher in Augenschein zu nehmen. Wer sich gegenwärtig hält, daß er sich einen Menschen, der weder jung noch alt, weder ^roß noch klein ist, kurz einen allgemeinen Menschen nicht vor- stellen kann, wer überlegt, daß jedes vorgestellte Dreieck ent- weder rechtwinklig, spitzwinklig oder stumpfwinklig, demnach kein allgemeines Dreieck ist, der kommt leicht zu dem Gedanken, daß solche psychische Gebilde, die wir Begriffe nennen, nicht existieren, daß es abstrakte Vorstellungen überhaupt nicht gibt, was mit besonderer Lebhaftigkeit insbesondere Berkeley ver- fochten hat. Diese Überlegung führt auch leicht zu der von Roscellinus vertretenen Ansicht, daß die allgemeinen Begriffe (Universalien) nicht als Sachen bestünden, sondern nur „flatus vocis" seien, während die Gegner seines „Nominalismus", die „Realisten", die allgemeinen Begriffe als in den Dingen be- gründet ansahen. Daß allgemeine Begriffe nicht bloße Worte seien, wie noch kürzlich ein geachteter Mathematiker behauptet hat, geht deutlich genug daraus hervor, daß sehr abstrakte Sätze verstanden und in konkreten Fällen richtig angewendet werden. Die unzählichen Anwendungen des Satzes: „Die Energie bleibt konstant" mögen ein Beispiel dafür abgeben. Man würde sich aber vergebens bemühen, beim Sprechen oder Hören dieses Satzes einen momentanen konkreten anschaulichen Vorstellungs- inhalt im Bewußtsein zu finden, welcher den Sinn desselben voll- ständig decken würde. Diese Schwierigkeiten verschwinden, wenn wir dem Umstände Rechnung tragen, daß der Begriff kein Augenblicksgebilde ist, wie eine einfache konkrete sinnliche Vor- stellung, wenn wir bedenken, daß jeder Begriff seine zuweilen recht lange und ereignisreiche psychologische Bildungsgeschichte Der Begriff. 127 hat, und daß sein Inhalt ebensowenig durch einen Augenbh'cks- gedanken explicite dargelegt werden kann/) 2. Man kann annehmen, daß ein Hase sich bald im Besitze der typischen Vorstellung^) eines Krautkopfes, eines Menschen, eines Hundes oder Rindes befindet, daß er durch den ersten angelockt wird, den zweiten und dritten flieht, gegen das vierte sich gleich- gültig verhält, infolge der nächsten Associationen, welche sich an die betreffenden Wahrnehmungen oder die zugehörigen typi- schen Vorstellungen knüpfen. Je reicher aber die Erfahrung dieses Tieres wird, desto mehr gemeinsame Reaktionen der Objekte je eines dieser Typen werden ihm bekannt, Reaktionen, die nicht alle zugleich in seiner Vorstellung lebendig werden können. Wird das Tier durch ein Objekt angelockt, welches einem Krautkopf ähnlich ist, so wird sofort eine prüfende Tätig- keit ausgelöst; das Tier wird durch Beschnuppern, Benagen u.s.w. sich überzeugen, ob das Objekt wirklich die bekannten erwarteten Reaktionen: Geruch, Geschmack, Konsistenz u. s. w. darbietet. Durch eine menschenähnliche Vogelscheuche im ersten Moment erschreckt, kommt das aufmerksam beobachtende Tier bald zur Einsicht, daß hier wichtige Reaktionen des Typus Mensch, die Bewegung, die Ortsveränderung, das aggressive Verhalten u. s. w. fehlen. Hier knüpfen sich schon an die typische Vorstellung zu- nächst latent oder potentiell die nach und nach aufgespeicherten Erinnerungen an eine Menge von Erfahrungen oder Reaktionen, welche bei einer prüfenden Tätigkeit auch nur nach und nach ins Bewußtsein treten können. Hierin scheint mir nun das >) Eine psychologische Theorie des Begriffs habe ich versucht zu geben: Analyse d. Empfindungen. 1886, 4. Aufl. 1903, S. 249—255. — Populär- wissensch. Vorlesungen. 3. Aufl. 1903, S. 277—280. — Prinzipien d. Wärme- lehre, 2. Aufl. 1900, S. 415—422. — Vgl. ferner: H. Rickert, Zur Theorie der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Viertel), f. wiss. Philosoph. Bd. 18, 1894, S. 277. — H. Gomperz, Zur Psychologie d. logisch. Grund- tatsachen. Wien 1897. — Th. Ribot, L'^volution des Idees generales. Paris 1897. — M. Keibel, Die Abbildtheorie u. ihr Recht in d. Wissenschaftslehre. Zeitschr. f. immanente Philos. Bd. 3, 1898. — Endlich möchte ich auf die gleichzeitig mit der ersten Auflage des vorliegenden Buches gedruckte Schrift von A. Stöhr (Leitfaden der Logik in psychologisierender Darstellung, Wien 1905) verweisen. Gleich die ersten Seiten enthalten eine originelle Beleuch- tung der Begriffslehre vom Standpunkt der Neuronentheorie. 2) Vgl. S. 115. 128 Der Begriff. Charakteristische des Begriffs im Gegensatz zu einer individu- ellen Augenblicksvorstellung zu liegen. Die letztere entwickelt sich durch associative Bereicherung ganz allmählich zu ersterem, so daß wir einen kontinuierlichen Übergang vor uns haben. Ich glaube hiernach, daß man Anfänge der Begriffsbildung den höheren Tieren nicht absprechen kann.^) 3. Der Mensch bildet seine Begriffe in derselben Weise wie das Tier, wird aber durch die Sprache und durch den Verkehr mit den Genossen, welche beiden Mittel dem Tier nur geringe Hilfe leisten, mächtig unterstützt. In dem Wort besitzt er eine sinnlich allgemein faßbare Etikette des Begriffes, auch in Fällen, in welchen die typische Vorstellung unzureichend wird oder überhaupt nicht mehr existiert. Ein Wort deckt allerdings nicht immer einen Be- griff. Kinder und jugendliche Völker, die noch einen geringen Vorrat von Wörtern haben, gebrauchen ein Wort zur Bezeichnung einer Sache oder eines Vorganges, bei nächster Gelegenheit aber zur Bezeichnung einer andern Sache oder eines andern Vor- ganges, welche mit ersteren irgend eine Ähnlichkeit der Reak- tion darbieten.^) Dadurch schwankt und wechselt die Bedeutung der Worte. Unter gegebenen Umständen ist aber die Zahl der biologisch wichtigen Reaktionen, auf welche die überwiegende Mehrheit achtet, eine geringe, und dadurch wird der Gebrauch der Worte wieder stabilisiert. Jedes Wort dient dann zur Be- zeichnung einer Klasse von Objekten (Sachen oder Vorgängen) bestimmter Reaktion. Die Mannigfaltigkeit der biologisch meh- ligen Reaktionen ist viel geringer als die Mannigfaltigkeit des Tatsächlichen. Dadurch wurde der Mensch zuerst in die Lage versetzt, das Tatsächliche begrifflich zu klassifizieren. Dies Ver- hältnis bleibt bestehen, wenn ein Stand oder ein Beruf einem Tatsachengebiet den Blick zuwendet, welches kein unmittelbares biologisches Interesse mehr darbietet. Auch da ist die Mannig- faltigkeit der für den besonderen Zweck mehligen Reaktionen geringer als die Mannigfaltigkeit des Tatsächlichen. Die Reak- tionen sind aber jetzt andere, als in dem früheren Falle, weshalb jeder Stand oder Beruf seine eigene begriffliche Klassifikation ») Vgl. Wärmelehre S. 416. 2) Vgl. Analyse S. 250. Der Begriff. 129 vornimmt. Der Handwerker, der Arzt, der Jurist, der Techniker, der Naturforscher bildet seine eigenen Begriffe, gibt den Worten durch umschreibende Einschränkung (Definition) eine von der Vulgärsprache verschiedene, engere Bedeutung, oder wählt zur Begriffsbezeichnung gar neue Worte. Ein solches, etwa natur- wissenschaftliches Begriffswort hat nun den Zweck, an die Ver- bindung aller in der Definition bezeichneten Reaktionen des definierten Objektes zu erinnern, und diese Erinnerungen wie an einem Faden ins Bewußtsein zu ziehen. Man denke etwa an die Definition des Wasserstoffes, der Bewegungsquantität eines mechanischen Systems oder des Potentials in einem Punkt. Natürlich kann jede Definition wieder Begriffe enthalten, so daß erst die letzten, untersten begrifflichen Bausteine in sinnenfällige Reaktionen als deren Merkmale aufgelöst werden können. Wie schnell und wie leicht eine solche Auflösung gelingt, hängt von der genauen Kenntnis und Geläufigkeit des Begriffes ab, und wie weit sie notwendig ist, wird durch den verfolgten Zweck bestimmt. Überlegt man, wie diese Begriffe sich gebildet haben, daß Jahre und Jahrhunderte an deren Bildung gearbeitet haben, so wird man sich nicht wundern, daß deren Inhalt nicht durch eine individuelle Augenblicksvorstellung zu erschöpfen ist. 4. Welche Begriffe zu bilden und wie dieselben gegen- einander abzugrenzen sind, darüber hat nur das praktische oder wissenschaftliche Bedürfnis zu entscheiden. In die Definition werden die Reaktionen aufgenommen, welche zur Bestimmung des Begriffes hinreichen. Andere Reaktionen, von denen es schon bekannt und geläufig ist, daß sie an die in den Defini- tionen enthaltenen unabänderlich gebunden sind, braucht man nicht besonders anzuführen. Die Definition würde dadurch nur mit Überflüssigem belastet. Es kann aber allerdings vorkommen, daß die Auffindung solcher weiterer Reaktionen eine Entdeckung vorstellt. Bestimmen die neuen Reaktionen für sich allein eben- falls den Begriff, so können dieselben gleichfalls zur Definition dienen. Wir definieren den Kreis als die ebene Kurve, deren sämtliche Punkte von einem bestimmten Punkte gleichen Ab- stand haben. Andere Eigenschaften des Kreises zählen wir nicht auf, z. B. die Gleichheit aller Peripheriewinkel über einem beliebigen Bogen, das konstante Verhältnis der Abstände eines Mach, Erkenntnis und Irrtum. 9 130 Der Begriff. jeden Kurvenpunktes von zwei bestimmten Punkten seiner Ebene u. s. w. Jede der beiden genannten Eigenschaften für sich allein definiert aber ebenfalls den Kreis, Dieselbe Tatsache oder Gruppe von Tatsachen kann nach Umständen das Interesse und die Aufmerksamkeit auf verschiedene Reaktionen, auf verschie- dene Begriffe leiten. Ein Kreis kann als Durchschnitt projek- tivischer Büschel, als Kurve von konstanter Krümmung, ein kreisförmiger Faden als Kurve gleicher Spannung, als Umfang der eingeschlossenen Fläche u. s. w. in Betracht kommen. Einen Eisenkörper können wir ansehen als Komplex von Sinnesemp- findungen, als Gewicht, als Masse, als Wärme- oder Elektrizitäts- leiter, als Magneten, als starren oder elastischen Körper, als chemisches Element u. s. w. 5. Jeder Beruf hat seine eigenen Begriffe. Der Musiker liest seine Partitur, so wie der Jurist seine Gesetze, der Apotheker seine Rezepte, der Koch sein Kochbuch, der Mathematiker oder Physiker seine Abhandlung liest. Was für den Berufsfremden ein leeres Wort oder Zeichen ist, hat für den Fachmann einen ganz bestimmten Sinn, enthält für ihn die Anweisung zu genau begrenzten psychischen oder physischen Tätigkeiten, welche ein psychisches oder physisches Objekt von ebenso umschriebener Reaktion in der Vorstellung zu erzeugen oder vor die Sinne zu stellen vermag, wenn er die betreffenden Tätigkeiten wirklich ausführt. Hierzu ist es aber unerläßlich, daß er die genannten Tätigkeiten wirklich geübt, und sich in denselben die nötige Geläufigkeit erworben, daß er in dem Beruf mit gelebt hat.^) Bloße Lektüre erzieht ebensowenig einen Fachmann, wie das bloße Anhören einer noch so guten Vorlesung. Es fehlt da jede Nötigung zur Prüfung der aufgenommenen Begriffe auf ihre Richtigkeit, die bei direkter Berührung mit den Tatsachen im Laboratorium durch die empfindlichen begangenen Fehler sich sofort einstellt. Begriffe, welche auf durch Hörensagen unvollständig und oberflächlich bekannte Tatsachen gegründet sind, gleichen Ge- bäuden aus morschem Material, die bei der ersten Störung halt- los zusammenstürzen. Ungeduldiges Drängen zu verfrühter ») Vgl. Analyse S. 253. Der Begriff. 131 Abstraktion^) beim Unterricht kann deshalb nur schädlich wirken. So entstandene Begriffe enthalten potentiell nur schlecht um- schriebene und schattenhafte Individualbilder, die besonders leicht zu Irrtum verführen werden. 6. Am deutlichsten offenbart sich die Natur des Begriffes demjenigen, der eben anfängt das Gebiet einer Wissenschaft zu beherrschen. Die Kenntnis der zu Grunde liegenden Tatsachen hat er sich nicht instinktiv angeeignet, sondern er hat aufmerk- sam, sorgfältig und absichtlich beobachtet. Von den Tatsachen zu den Begriffen und umgekehrt hat er den Weg oft zurück- gelegt, und dieser ist ihm in lebhafter Erinnerung, so daß er ihn jederzeit zu durchschreiten und auf jedem Punkt zu verweilen im Stande ist. Anders verhält es sich mit den weniger bestimmten Begriffen, welche von den Worten der Vulgärsprache bezeichnet werden.^) Hier hat sich alles instinktiv ohne unser absichtliches Zutun ergeben, sowohl die Kenntnis der Tatsachen als auch die Begrenzung der Bedeutung der Worte. Durch vielfache Übung ist uns das Sprechen, Hören und Verstehen der Sprache so ge- läufig geworden, daß alles beinahe automatisch verläuft. Wir halten uns bei der Analyse der Bedeutung der Worte nicht mehr auf, und die sinnlichen Vorstellungen, welche der Rede zu Grunde liegen, treten kaum in Andeutungen oder gar nicht mehr ins Bewußtsein. Kein Wunder also, daß ein Mensch, plötzlich ge- fragt, was er bei einem Worte, namentlich von abstrakterer Be- *) Ich hatte selbst Gelegenheit mich von der Nutzlosigkeit des Drängens zur Abstraktion zu überzeugen. Kinder, welche recht gut kleine Mengen oder Gruppen von Objekten auffassen und unterscheiden, auch auf die Frage: „wie viele Nüsse sind drei Nüsse und zwei Nüsse?" rasch und richtig ant- worten, werden durch die Frage: „wieviel ist zwei und drei?" in Verlegen- heit gesetzt. Einige Tage später tritt die Abstraktion ganz von selbst ein. 2) Ich schenkte meinem Jungen im Alter zwischen 4 und 5 Jahren ein Kistchen mit Holzmodellen geometrischer Körper, die ich benannte, aber natürlich nicht definierte. Seine Anschauung wurde dadurch sehr bereichert und seine Phantasie so gestärkt, daß er, ohne das Modell zu sehen, z. B. die Ecken, Kanten und Flächen eines Würfels oder Tetraeders herzählen konnte. Auch zur Beschreibung seiner kleinen Beobachtungen benützte er die neuen Anschauungen und Namen. So nannte er eine Wurst einen krummen Zplinder. Geometrische Begriffe hatte aber der Junge doch noch nicht. Der Zplinder müßte ganz anders als üblich definiert werden, um die Wurstform als Spezial- fall zu umfassen. 9* 132 ^er Begriff. deutung, in seinem Bewußtsein vorfindet? sehr oft antwortet: „Nichts als das Wort!"^) Eine Phrase braucht aber nur Zweifel oder Wiederspruch zu erregen, so holen wir sofort das an das Wort geknüpfte potentielle Wissen aus der Tiefe der Erinnerung hervor. Man lernt eben sprechen und die Sprache verstehen, so wie man gehen lernt. Die einzelnen Momente einer geläufigen Tätigkeit werden für das Bewußtsein verwischt. Wenn nun ein tüchtiger Gelehrter den Ausspruch tut: „Ein Begriff ist nur ein Wort", so beruht dies gewiß auf mangelhafter psychologischer Selbstbeobachtung. Er verwendet die Begriffsworte infolge langer Übung richtig, so wie wir Löffel, Gabel, Schlüssel und Feder richtig verwenden, fast ohne daß uns deren langsam er- lernter Gebrauch bewußt wird. Er kann das potentielle Wissen des Begriffs erwecken, ist aber dazu nicht immer genötigt. 7. Betrachten wir nun noch etwas genauer den Prozeß der Abstraktion, durch welchen Begriffe zu stände kommen. Die Dinge (Körper) sind für uns verhältnismäßig stabile Komplexe von anein- ander gebundenen, von einander abhängigen Sinnesempfindungen. Nicht alle Elemente dieses Komplexes sind aber von gleicher biologischer Wichtigkeit. Ein Vogel nährt sich z. B. von roten, süßen Beeren. Die für ihn biologisch wichtige Empfindung „süß", für welche sein Organismus in angeborener Weise eingestellt ist, hat zur Folge, daß derselbe Organismus die associative Ein- stellung auf das auffallende und fernwirkende Merkmal „rot" erwirbt. Mit anderen Worten: Der Organismus wird für die beiden Elemente süß und rot mit einer viel empfindlicheren Reaktion ausgestattet, es wird denselben vorzugsweise die Auf- merksamkeit zugewendet, dagegen von anderen Elementen des Komplexes Beere abgewendet. In dieser Teilung der Einstellung, des Interesses,^) der Aufmerksamkeit besteht nun wesentlich der Prozeß der Abstraktion. Dieser Prozeß bedingt es, daß in dem ») Vgl. die statistische Datensammlung bei Ribot, a. a. O. S. 131—145. — Ribot bringt bezüglich des „type auditif" S. 139 die ansprechende Hypo- these vor, daß derselbe in der Zeit des mittelalterlichen mündlichen Unter- richts und der damals üblichen mündlichen Disputationen vielleicht vorherr- schend war, und daß diesem Umstand der Ausdruck „flatus vocis" seinen Ursprung verdankt. 2) Ich möchte hier nochmals auf die S. 127 erwähnte Schrift von Stöhr hinweisen. Man beachte, was Stöhr „Begriffszentrum" nennt. Der Begriff. 133 Erinnerungsbild Beere nicht alle Empfindungsmerkmale des sinn- lich physischen Komplexes Beere in gleicher Stärke ausgeprägt sind, wodurch sich das erstere schon der Eigentümlichkeit des Begriffes nähert. Selbst die beiden beachteten sinnlichen Merk- male süß und rot können in dem physischen Komplex Beere noch in sehr beträchtlichem Spielraum variieren — man denke z. B. an die Varation der Wellenlängen und Farben des Spektrums, die wir sämtlich als rot bezeichnen — ohne daß das psychische Gebilde Beere hiervon Notiz nimmt. Wir können eben annehmen, daß alle mit dem Worte rot bezeichneten Empfindungsvariationen oder Empfindungsmischungen durch den einfachen, vielleicht ein- mal isolierbaren physiologischen Grundempfindungsprozeß rot vorzugsweise charakterisiert sind.^) So entspricht also schon in so primitiven Fällen der unerschöpflichen sinnlich-physischen Mannigfaltigkeit eine sehr eingeschränkte gleichmäßige sinnlich- psychische Reaktion und hiermit eine entschiedene Tendenz zur begrifflichen Schematisierung. 8. Denken wir uns die in einer Gegend wachsenden, genieß- baren und ungenießbaren Beerenarten zahlreicher und schwerer unterscheidbar, so müssen die leitenden Erinnerungsbilder an Merkmalen reicher und mannigfaltiger werden. Für den primi- tiven Menschen schon kann sich sogar die Notwendigkeit ergeben, besondere mit klar bewußter Absicht auszuführende Proben, Prüfungsmittel im Gedächtnis zu behalten, um brauchbare von unbrauchbaren Objekten zu unterscheiden, wenn die bloße sinn- liche Betrachtung hierzu nicht mehr ausreicht. Dies ist besonders der Fall, sobald an die Stelle der wenigen einfachen unmittel- baren biologischen Ziele, wie Beschaffung der Nahrung u. s. w., die viel zahlreicheren und mannigfaltigeren technischen und wissen- schaftlichen Zwischenziele treten. Hier sehen wir den Begriff von seinem einfachsten Rudiment bis zur höchsten Stufe, dem wissenschaftlichen Begriff, sich entwickeln, wobei jede höhere Stufe die tieferen als Grundlage benützt. 9. Auf der höchsten Stufe der Entwicklung ist der Begriff ^) Man kann also ganz wohl sagen, daß die einfachen Empfindungen Abstraktionen sind, darf aber darum noch nicht behaupten, daß denselben kein tatsächlicher Vorgang zu Grunde liegt. Vgl. Popul.-wissensch. Vorlesungen. 3. Aufl. S. 122. 134 Der Begriff. das an das Wort, den Terminus, gebundene Bewußtsein von den Reaktionen, die man von der bezeichneten Klasse von Objekten (Tatsachen) zu erwarten hat. Nur allmählich und nacheinander können aber diese Reaktionen und die oft komplizierten psychischen und physischen Tätigkeiten, durch welche erstere hervorgerufen werden, als anschauliche Vorstellung hervortreten. Man kann eine genießbare Frucht durch Farbe, Geruch und Geschmack erkennen. Daß aber Walfisch und Delphin zur Klasse der Säuger gehören, läßt sich nicht durch den Anblick, sondern nur durch eine eingehende anatomische Untersuchung feststellen. Ein Blick kann oft über den biologischen Wert eines Objektes entscheiden. Ob aber ein mechanisches System einen Gleichgewichts- oder Bewegungsfall vorstellt, kann nur durch eine komplizierte Tätig- keit entschieden werden. Man mißt alle Kräfte und alle zu- gehörigen miteinander verträglichen kleinen Verschiebungen im Sinne der Kräfte, multipliziert jede Maßzahl der Kraft mit der Maßzahl der zugehörigen Verschiebung und summiert diese Produkte. Ergibt diese Summe, d. h. die Arbeit, mit Rücksicht auf die Zeichen der Produkte, d-en Wert Null oder einen nega- tiven Wert, so hat man einen Gleichgewichtsfall vor sich, wenn dies nicht zutrifft, einen Bewegungsfall. Natürlich hat die Ent- wicklung des Begriffes Arbeit eine lange Geschichte, welche mit dem Studium der einfachsten Fälle (Hebel u. s. w.) beginnt, welche von der naheliegenden Bemerkung ausgeht, daß nicht nur die Gewichte, sondern auch die Verschiebungsgrößen auf den Vorgang von Einfluß sind. Wer aber das Bewußtsein hat, daß er die genannte Prüfung jederzeit korrekt ausführen kann, wer weiß, daß der Gleichgewichtsfall mit der Summe Null, der dynamische Fall mit einer positiven Summe auf diese Prüfung reagiert, der besitzt den Begriff Arbeit und kann durch denselben den statischen vom dynamischen Fall unterscheiden. So läßt sich jeder physikalische oder chemische Begriff darlegen. Das Objekt entspricht dem Begriff, wenn es auf Ausführung einer Prüfung, die man im Sinne hat, die erwartete Reaktion gibt. Die Prüfung kann je nach den Umständen im bloßen Beschauen oder in einer verwickelten psychischen oder technischen Operation, die hierauf erfolgende Reaktion in einer einfachen Sinnes- empfindung oder in einem komplizierten Vorgang bestehen. Der Begriff. 135 10. Dem Begriff fehlt die unmittelbare Anschaulichkeit aus zwei Gründen. Erstens umfaßt derselbe eine ganze Klasse von Objekten (Tatsachen), deren Individuen nicht auf einmal vor- gestellt werden können. Dann sind die gemeinsamen Merkmale der Individuen, um die es sich im Begriff allein handelt, in der Regel solche, zu deren Kenntnis wir im Verlaufe der Zeit nach- einander gelangen und deren anschauliche Vergegenwärtigung ebenfalls beträchtliche Zeit in Anspruch nimmt. Das Gefühl der Geläufigkeit und sicheren Reproduzierbarkeit , der potentiellen Anschaulichkeit muß hier die aktuelle Anschaulichkeit ersetzen.^) Eben diese beiden Umstände machen aber den Begriff wissen- schaftlich so wertvoll und geeignet, große Gebiete von Tat- sachen in Gedanken zu repräsentieren und symbolisieren. Der Zweck des Begriffes ist es, in der verwirrenden Verwicklung der Tatsachen sich zurecht zu finden. 11. So wie es biologisch wichtig ist, durch Beobachtung den Zusammenhang von Reaktionen — Aussehen einer Frucht und deren Nährwert — zu konstatieren, so geht auch jede Natur- wissenschaft darauf aus, Beständigkeiten des Zusammenhanges oder der Verbindung der Reaktionen^ der Abhängigkeit der Reaktionen voneinander aufzufinden. Eine Klasse von Objekten (ein Tatsachengebiet) A gibt z. B. die Reaktionen fl, ^, c. Weitere Beobachtung lehrt etwa noch die Reaktionen d^ e^ f kennen. Wenn es sich nun zeigt, daß ß, ^, c das Objekt A für sich allein eindeutig charakterisiert, und ebenso d^ e^ f dasselbe Objekt eindeutig charakterisiert, so ist damit die Verbindung der Reaktion ß, ^, c mit der Reaktion d^ e^ f an dem Objekt A festgestellt. Es verhält sich hier ähnlich wie bei einem Dreieck, das durch die beiden Seiten a, b und den eingeschlossenen Winkel y, ebensowohl aber durch die dritte Seite c und die beiden Winkel a, ß bestimmt sein kann, woraus folgt, daß am Dreieck letztere Trias an erstere gebunden und aus derselben ableitbar ist. Der Zustand einer gegebenen Gasmasse ist durch das Volumen v und den Druck /?, aber auch durch das Volumen v und die ab- solute Temperatur T bestimmt. Demnach besteht zwischen den drei Bestimmungsstücken /?, 7", v eine Gleichung (/?v/r = konst.), ») Vgl. S. 114 d. vorl. Sehr. 136 Der Begriff. welche jede der drei Größen aus den beiden anderen Bestim- mungsstücken des Gases abzuleiten erlaubt. Als weitere Bei- spiele der Abhängigkeit der Reaktionen voneinander mögen die Sätze dienen: „In einem System, das bloße Leitangsvorgänge zuläßt, bleibt die Wärmemenge konstant." — „In einem mecha- nischen System ohne Reibung ist die Änderung der lebendigen Kraft in einem Zeitelement durch die in demselben Zeitelement geleistete Arbeit bestimmt." — ^^Derselbe Körper, welcher mit Chlor Kochsalz erzeugt, bildet mit Schwefelsäure Glaubersalz.^'' 12. Die Bedeutung der begrifflichen Fassung für die wissen- schaftliche Forschung ergibt sich leicht. Durch Unterordnung einer Tatsache unter einen Begriff vereinfachen wir dieselbe, indem wir alle für den verfolgten Zweck unwesentlichen Merkmale außer acht lassen. Zugleich bereichern wir aber dieselbe durch Zuteilung aller Merkmale der Klasse.^) Die beiden erwähnten ordnenden, vereinfachenden ökonomischen Motive der Permanenz und der zureichenden Differenzierung können erst am begrifflich gegliederten Stoff recht zur Geltung kommen,^) 13. Wem der Begriff als ein luftiges Idealgebilde erscheint, dem nichts Tatsächliches entspricht, mag folgende Überlegung anstellen. Als selbständige physische „Sachen" bestehen die abstrakten Begriffe allerdings nicht. Allein wir reagieren tatsäch- lich auf Objekte derselben Begriffsklasse psycho-physiologisch in gleicher, auf Objekte in verschiedener Klasse in verschiedener Weise, wie dies besonders deutlich wird, wenn es sich um biologisch wichtige Objekte handelt. Die Empfindungselemente^ auf welche sich die Begriffsmerkmale in letzter Linie zurück- führen lassen, sind physische und psychische Tatsachen. Die Beständigkeit der Verbindung der Reaktionen aber, welche die physikalischen Sätze darlegen, sind die höchste Substanzialität, welche die Forschung bisher enthüllen konnte, beständiger als alles, was man Substanz genannt hat. Der Gehalt der Begriffe an tatsächlichen Elementen darf uns aber doch nicht verführen, diese psychischen Gebilde, welche einer Korrektur immer noch fähig und auch bedürftig sind, mit den darzustellenden Tat- sachen selbst zu identifizieren. >) Analpse, 4. Aufl. S. 253. ») A. a. O. S. 248 und S. 112 d. vorliegenden Schrift. Der Begriff. • 137 14. Unser Leib, und namentlich unser Bewußtsein, ist ein verhältnismäßig abgeschlossenes, isoliertes System von Tatsachen. Dieses System antwortet auf die Vorgänge in der physikalischen Umgebung nur in einem beschränkteren Spielraum, und nach wenigen Richtungen. Es verhält sich ähnlich wie ein Thermo- meter, das nur auf Wärmevorgänge, wie ein Galvanometer, das nur auf Stromvorgänge reagiert, kurz ähnlich wie ein nicht sehr vollkommener physikalischer Apparat. Was uns nun auf den ersten Blick als ein Mangel erscheint: die geringe Verschieden- heit der Reaktion auf große und vielseitige Variationen in der physikalischen Umgebung, das ermöglicht die erste rohe be- griffliche Klassifikation der Vorgänge in der Umgebung, welche durch fortgesetzte Korrekturen an Feinheit gewinnt. Schließlich lernen wir die Eigentümlichkeiten, die Konstanten und Fehler- quellen des Bewußtseinsapparates ebenso berücksichtigen und eliminieren, wie jene anderer Apparate. Wir sind ebensolche Dinge, wie die Dinge der physikalischen Umgebung, die wir durch uns selbst auch kennen lernen. 15. Die maßgebende Rolle der Abstraktion bei der Forschung liegt auf der Hand. Es ist weder möglich, alle Einzelheiten einer Erscheinung zu beachten, noch hätte dies einen gesunden Sinn. Wir beachten eben die Umstände, die für uns ein Interesse haben und diejenigen, von welchen erstere abhängig zu sein scheinen. Die erste Aufgabe, die sich dem Forscher darbietet, ist es also, durch Vergleichung verschiedener Fälle die vonein- ander abhängigen Umstände in seinen Gedanken hervorzuheben^ und alles, wovon das Untersuchte unabhängig scheint, als für den vorliegenden Zweck nebensächlich oder gleichgültig auszu- sondern. In der Tat ergeben sich die wichtigsten Entdeckungen durch diesen Prozeß der Abstraktion. Dies hebt Apelt^) treff- lich hervor, indem er sagt: „Das zusammengesetzte Besondere steht immer früher vor unserem Bewußtsein, als das einfachere Allgemeine. In den abgesonderten Besitz des letzteren kommt der Verstand immer erst durch Abstraktion. Die Abstraktion ist daher die Methode der Aufsuchung der Prinzipien.''^ Diese An- sicht vertritt Apelt insbesondere in bezug auf das Trägheits- *) Apelt, Die Theorie der Induktion. Leipzig 1854. S. 59. 138 I>er Begriff. gesetz und das Gesetz der Relativität der Bewegung, die wir hier gleich als Beispiele der Entdeckung durch Abstraktion näher betrachten wollen. Zur vollen Erkenntnis des Trägheitsgesetzes ist Galilei sehr spät und durch allerlei Umwege gelangt. Nach- dem Apelt^) dies besprochen, sagt er: „Wie und wann aber auch Galilei darauf gekommen sein mag, so ist doch so viel gewiß, daß die Erkenntnis dieses Gesetzes nicht, wie Whewell zu zeigen sich bemüht, der Induktion, sondern der Abstraktion ihren Ursprung verdankt." WhewelP) spricht allerdings von der „Induktion, welcher das erste Gesetz der Bewegung seinen Ursprung verdankt", allein er erwähnt sofort die Kreiselexperimente von Hooke mit successive vermindertem Widerstand, und sagt dann: „Die allgemeine Regel wurde aus dem konkreten Experiment herausgezogen." Wh e well scheint also trotz des unpassend gewählten Ausdrucks derselben Ansicht zu sein wie Apelt, nur daß er die Wichtigkeit der Bekanntschaft mit verschiedenen Fällen als Vorbedingung zur Betätigung der Abstraktion weit besser her- vorhebt als Apelt. Im übrigen nehmen beide a priori gegebene Verstandesbegriffe an, und beide werden dadurch zu sonder- baren, unnötigen, gezwungenen Auffassungen verführt. Apelt^) scheint das Trägheitsgesetz selbstverständlich (!), es leuchtet von selbst ein, wenn man nur den „richtigen" Begriff von Materie mitbringt, deren Grundeigenschaft die „Leblosigkeit" ist, welche Veränderung durch andere als „äußere Einwirkung" ausschließt. Auch WhewelH) führt das Trägheitsgesetz darauf zurück, daß nichts ohne Ursache (!) geschehen kann. Wäre der Mensch nicht vorzugsweise ein psj>chologisches, sondern nur ein logisches Wesen, so hätte sich die Abstraktion, welche zum Trägheits- gesetz führt, wie ich anderwärts^) gezeigt habe, in sehr einfacher Weise ergeben. Sind einmal die Kräfte als beschleunigungsbe- stimmende Umstände erkannt, so folgt sofort, daß ohne Kräfte nur 1) A. a. o. s. 60. 2) Wh e well, Geschichte der induktiven Wissenschaften. Deutsch von J. J. V. Littrow. Stuttgart 1840. II. S. 31. ») Apelt, a. a. O. S. 60,61. *) Whewell, The Philosophi? of inductive sciences. London 1847. I. S. 216. **) Die Mechanik in ihrer Entwicklung. 5. Aufl. 1904. S. 140—143. Der Begriff. 139 unbeschleunigte, also geradlinige und gleichförmige Bewegungen denkbar sind. Die Geschichte, und selbst heutige Diskussionen lehren geradezu pleonastisch, daß sich das Denken nicht von selbst in so glatten logischen Bahnen bewegt; gehäufte variierte Fälle, allerlei Schwierigkeiten, bei sich durchkreuzenden und widersprechenden Überlegungen, müssen die Abstraktion beinahe erzwingen. WhewelP) bemerkt richtig, daß ein Bewegungsfall ohne Kräfte in Wirklichkeit nicht vorkommt. Indem also die Wissenschaft abstrahiert, idealisiert sie auch ihre Objekte. Zur Charakteristik von Apelts^) Standpunkt diene noch folgende Stelle: „Niemand ist dem Grundsatze der Relativität aller Be- wegung vielleicht näher gekommen als Kepler bei den zahl- reichen Umformungen seiner Konstruktionen aus dem einen in das andere Weltsystem, aber das Verdienst, dieses Gesetz zuerst erkannt zu haben, gebührt Galilei. Und wie und wodurch hat er es erkannt? Nicht durch einen Beweis aus Tatsachen, sondern durch bloßes Nachdenken über die Natur der Bewegung (!) und über das Verhältnis unserer Beobachtung der Bewegung zum Raum (!), der selbst zwar ein Gegenstand der reinen Anschauung, aber dennoch kein Gegenstand der Beobachtung für uns ist." „Der Grundsatz der Relativität aller Bewegung dagegen kann nur eingesehen, aber nicht bewiesen werden: man ist von seiner Wahrheit unmittelbar überzeugt, sobald man ihn in abstracto gefaßt und verstanden hat, ohne daß er eines anderen Satzes weder zu seinem Verständnis noch zu seiner Begründung be- dürfte." Deshalb meint Apelt, konnte wohl der abstrahierende Galilei, nicht aber der induzierende Kepler den Grundsatz finden. Ich bin nun der Meinung, daß Galilei den fraglichen Grundsatz allerdings durch Abstraktion erkannt hat, aber durch Vergleichung beobachteter Fälle. Nachdem er die Bewegung frei fallender Körper durchschaut und analysiert hatte, mußte ihm auffallen, daß die Fallbewegung neben einem ruhenden Turm ebenso vorzugehen scheint, wie die Fallbewegung neben dem Mastbaum eines schnell bewegten Bootes für den Beobachter auf demselben, wodurch sich zunächst die bekannte Auffassung ») Whewell, Geschichte u. s. w. II. S. 31. ») Apelt, a. a. O. S. 61, 62. 140 ^er Begriff. der Wurfbewegung als Kombination einer gleichförmigen Hori- zontalbewegung mit einer beschleunigten Fallbewegung ergab. Die weiteren Verallgemeinerungen und Anwendungen bereiteten keine Schwierigkeiten mehr. — Apelt^) hat sogar die Neigung, Galileis Entdeckung des Fallgesetzes für eine deduktive zu halten. Aus Galileis Schriften geht aber deutlich hervor, daß er die Form des Fallgesetzes als Hypothese aufgesteUt, ver- mutet, richtig erraten und durch das Experiment bestätigt hat. Eben indem er sich auf die Beobachtung stützt, wird Galilei zum Begründer der modernen Physik. 16. Newtons in den Prinzipien aufgestellte „leges motus", auf die wir noch an einem anderen Orte zurückkommen, sind überhaupt vorzügliche Beispiele der Entdeckung durch Ab- straktion. Lex I (Trägheitsgesetz) wurde schon berührt. Wenn wir von der Tautologie in Lex II (mutationem motus proportio- nalem esse vi motrici impressae) absehen, so steckt hier noch ein nicht ausdrücklich hervorgehobener Inhalt, der gerade die wichtigste durch Abstraktion gewonnene Entdeckung vorstellt. Es ist dies die Voraussetzung, daß alle ^^tv^^/z^sbestimmenden Umstände („Kräfte") beschleumgangsbQstmtnQnd sind. Wie kam man zu dieser Abstraktion, nachdem ein direkter Nachweis durch Galilei nur für die Schwere geliefert war? Woher wußte man, daß dies auch für elektrische und magnetische Kräfte gilt? Man mochte wohl denken: Allen Kräften gemeinsam ist der Druck, falls die Bewegung verhindert wird; der Druck wird immer die- selben Folgen haben, woher derselbe auch rühren mag; was für einen Druck gilt, wird auch für den anderen gelten. Diese Doppelvorstellung von der Kraft, als beschleunigungsbestimmend und als Druck, scheint mir auch die psychologische Quelle der Tautologie zu sein in dem Ausdrucke von Lex II. Ich glaube übrigens, daß man solche Abstraktionen nur richtig würdigt, wenn man dieselben als ein intellektuelles Wagnis auffaßt, das durch den Erfolg gerechtfertigt wird. Wer garantiert uns, daß wir bei unseren Abstraktionen die richtigen Umstände beachten, und gerade die gleichgültigen unbeachtet lassen? Der geniale Intellekt unterscheidet sich von dem normalen eben durch die ») Apelt, a. a. O. S. 62, 63. Der Begriff. 141 rasche und sichere Voraussicht des Erfolges einer intellektuellen Maßregel. In diesem Zuge gleichen sich große Forscher, Künstler, Erfinder, Organisatoren u. s. w. Um mit unseren Beispielen nicht bloß auf dem Gebiete der Mechanik zu bleiben, betrachten wir Newtons Entdeckung der Dispersion des Lichtes. 'HQbtndtv feineren Unterscheidung von Lichtern verschiedener Farbe und ungleicher Brechungsexponenten im weißen Licht, hat Newton das Licht auch zuerst als aus verschiedenen voneinander unabhängigen Strahlungen bestehend erkannt. Der zweite Teil der Entdeckung scheint durch Ab- straktion, der erste durch den entgegengesetzten Prozeß ge- wonnen zu sein; allein beide beruhen auf der Fähigkeit und Freiheit, die Umstände nach Belieben und Zweckmäßigkeit zu beachten oder außer acht zu lassen. Newtons unabhängige Lichtstrahlungen haben eine ähnliche Bedeutung, wie die Unab- hängigkeit der Bewegungen voneinander, die Prevotschen unabhängigen Wärmestrahlungen, welche zur Erkenntnis des be- weglichen Gleichgewichtes der Wärme führten, und viele andere Auffassungen, welche Volkmann ^) als Isolation bezeichnet hat. Solche Auffassungen sind für die Vereinfachung der Wissenchaft sehr wesentlich. 17. Wenn auch Begriffe keine bloßen Worte sind, sondern ihre Wurzeln in den Tatsachen haben, muß man sich doch hüten, Begriffe und Tatsachen für gleichwertig zu halten, dieselben mit einander zu verwechseln. Aus solchen Verwechslungen gehen ebenso schwere Irrtümer hervor, wie aus jenen der anschaulichen Vorstellungen mit Sinnesempfindungen, ja die ersteren sind viel allgemeiner schädlich. Die Vorstellung ist ein Gebilde, an welchem die Bedürfnisse des Einzelmenschen wesentlich mit gebaut haben, während die Begriffe, von den intellektuellen Be- dürfnissen der Gesamtmenschheit beeinflußt, das Gepräge der Kultur ihrer Zeit tragen. Wenn wir Vorstellungen oder Begriffe mit Tatsachen vermengen, so identifizieren wir Ärmeres, be- stimmten Zwecken Dienendes, mit Reicherem, ja Unerschöpflichem. Wir lassen wieder die Grenze U außer acht, die wir, falls es *) Volkmann, Einführung i. d. Studium d. theoretischen Physili. Leipzig 1900. S. 28. 142 Der Begriff. sich um Begriffe handelt, als alle beteiligten Menschen um- schließend zu denken haben. Die logischen Deduktionen aus unseren Begriffen bleiben aufrecht, solange wir diese Begriffe festhalten; die Begriffe selbst müssen aber stets einer Korrektur durch die Tatsachen gewärtig sein. Endlich darf man nicht an- nehmen, daß unseren Begriffen absolute Beständigkeiten ent- sprechen, wo unsere Forschung nur Beständigkeiten der Ver- bindung der Reaktionen aufzufinden vermag.^) 18. J. B. Stall hat in ausführlicher Darstellung und in anderer Form, unabhängig, im wesentlichen mit dem unmittelbar zuvor Gesagten übereinstimmende Gedanken dargelegt.^) Stallos Ausführungen lassen sich kurz zusammenfassen in folgenden Sätzen: 1. Das Denken beschäftigt sich nicht mit den Dingen, wie sie an sich sind, sondern mit unseren Gedankenvorstellungen (Begriffen) von denselben. 2. Gegenstände sind uns lediglich durch ihre Beziehungen zu anderen Gegenständen bekannt. Die Relativität ist also ein notwendiges Prädikat der Gegenstände der (begrifflichen) Erkenntnis. 3. Ein besonderer Denkakt schließt niemals die Gesamtheit aller erkennbaren Eigenschaften eines Objektes in sich, sondern nur die zu einer besonderen Klasse gehörigen Beziehungen. — Aus der Nichtbeachtung dieser Sätze gehen, wie Stallo weiter ausführt, mehrere sehr verbreitete, natürliche, so zu sagen in unserer geistigen Organisation begrün- dete Irrtümer hervor. Als solche werden aufgezählt: 1. Jeder Be- griff ist das Gegenstück einer unterscheidbaren objektiven Realität; es gibt so viele Dinge, als es Begriffe gibt. 2. Die allgemeineren oder umfassenderen Begriffe und die ihnen entsprechenden Reali- täten sind früher da, als die weniger allgemeinen; die letzteren Begriffe und Realitäten bilden oder entwickeln sich aus den ersteren durch Hinzufügung von Merkmalen. 3. Die Aufeinander- folge der Entstehung der Begriffe ist identisch mit der Aufein- 1) Diese Gedanken habe ich in „Erhaltung der Arbeit" 1872, in „Mecha- nik" 1883 und in „Prinzipien d. Wärmelehre" 1896 in Bezug auf Physik aus- führlich dargelegt. *) J. B. Stallo, The Concepts and Theories of modern Physics. 1882. — Deutsch unter dem Titel: Die Begriffe und Theorien der modernen Physik. Herausgegeben von H. Kleinpeter, mit einem Vorwort von E. Mach. Leipzig 1901. Vgl. insbesondere S. 126—212. Der Begriff. 143 anderfolge der Entstehung der Dinge. 4. Die Dinge existieren unabhängig von ihren Beziehungen, In der Entgegensetzung von Materie und Bewegung, Masse und Kraft als besonderer Realitäten sieht Stallo den ersten der bezeichneten Irrtümer, in der Hinzufügung der Bewegung zur trägen Materie den zweiten. Die dynamische Gastheorie wird auf die Theorie der starren Körper gegründet, da wir mit letzteren früher vertraut geworden sind als mit den Gasen. Betrachtet man aber das starre Atom als das ursprünglich Existierende, aus dem alles abzuleiten ist, so unterliegt man der dritten der bezeichneten Täuschungen. Die Eigenschaften der Gase sind in der Tat viel einfacher als jene der Flüssigkeiten und starren Körper, wie schon J. F. Fries ^) hervorgehoben hat. Als Beispiele des vierten Fehlers behandelt Stallo die Hypostasierung von Raum und Zeit, wie sie namentlich in Newtons Lehre von dem absoluten Raum und der absoluten Zeit sich offenbart. 19. In dem Vorwort zur deutschen Ausgabe von Stallos Buch habe ich die Übereinstimmungen und auch die Differenzen zwischen seinen und meinen Ansichten bezeichnet. Ich möchte hier nochmals betonen, daß sowohl Stallos als auch meine Aus- führungen sich niemals gegen physikalische Arbeitshypothesen, sondern nur gegen erkenntnistheoretische Verkehrtheiten richten. Meine Darlegungen gehen stets von physikalischen Einzelheiten aus und erheben sich von da zu allgemeineren Erwägungen, während Stallo gerade den umgekehrten Weg einschlägt. Er spricht mehr zu den Philosophen, ich zu den Naturforschern. ^) J. F. Fries, Die mathematische Naturphilosophie. Heidelberg 1822. 446. Empfindung, Anschauung, Phantasie. 1. Aus den Empfindungen und durch deren Zusammenhang entspringen unsere Begriffe und das Ziel der letzteren ist, uns in jedem gegebenem Fall auf den bequemsten und kürzesten Wegen zu sinnlichen Vorstellungen zu leiten, welche mit den Sinnes- empfindungen in bester Übereinstimmung sich befinden. So geht alles intellektuelle Leben von den Sinnesempfindungen aus und kehrt wieder zu diesen zurück. Unsere eigentlichen psychischen Arbeiter sind die sinnlichen Vorstellungen, die Begriffe aber die Ordner und Aufseher, welche die Scharen der ersteren auf ihren Platz stellen, und ihnen ihr Geschäft anweisen. Bei einfachen Verrichtungen verkehrt der Intellekt unmittelbar mit den Arbeitern, bei größeren Unternehmungen aber mit den leitenden Ingenieuren, welche ihm jedoch nichts nützen würden, wenn er nicht auch für die Beistellung verläßlicher Arbeiter gesorgt hätte. Schon das Tier ist durch sein Vorstellungsleben davon befreit, den Ein- drücken des Augenblicks ganz zu unterliegen. Wenn die Vor- sorge des kultivierten Menschen für die Zukunft über jene des Wilden hinausgeht, wenn der erstere für Ziele arbeitet, welche sogar weit über das eigene Leben hinausreichen, so ist er hierzu durch seine Begriffe und den Reichtum derselben an geordneten Vorstellungen befähigt. Wie sehr aber der Verkehr mit Begriffen jenem mit sinnlichen Vorstellungen an Unmittelbarkeit nach- steht, erfahren wir häufig genug. Einem Unglücklichen, mit dem wir persönlich zusammentreffen, verweigern wir nicht leicht die Hilfe, während uns ein gedruckter Aufruf zur Hilfeleistung, den wir lesen, doch sehr besonnen findet. Der platonische Sokrates erklärt gelegentlich die Tugend für ein Wissen. Allein sie muß ein Wissen sein, das nicht immer sehr lebendig ist. Wenige Verbrechen würden ja begangen, wenn deren Folgen Empfindung, Anschauung, Phantasie. 145 immer lebhaft und deutlich vorgesteHt würden. Wir würden nicht das Elend mit Luxus zudecken, nicht für die Leidenden tanzen, oder einen Blumenkorso veranstalten, wenn der Unter- schied des Begriffs und der sinnlichen Vorstellung nicht be- stünde. Der geizige Rentner befiehlt den armen Schnorrer vor die Türe zu setzen, „denn er zerbricht ihm durch seine Klage das Herz". Mit dem Begriff des Elends weiß er sich besser abzufinden.^) Die Sinnesempfindungen sind eben die eigent- lichen ursprünglichen Motoren ^ während die Begriffe sich auf jene, oft nur durch andere begriffliche Zwischenglieder berufen. 2. Alles, was der Mensch vor der Verwendung von Werk- zeugen von der Natur erfahren konnte, haben ihm direkt die Sinne verraten. Dies spricht sich noch deutlich genug aus in der heutigen, historisch hergebrachten, nicht mehr konsequenten und nicht zureichenden Einteilung der Physik. Sobald aber Werkzeuge in Verwendung kommen, kann nach Spencers^) *) Wie sehr die Begriffe an Unmittelbarkeit den Empfindungen und sinnlichen Vorstellungen nachstehen, lehrt folgender Vorfall. In einer Uni- versitätsstadt, in welcher zwei Nationalitäten A und B auf gespanntem Fuße lebten, wohnte ein der Nationalität A angehöriger Professor im zweiten Stock- werk des Institutes für pathologische Anatomie und gab gelegentlich einen Hausball. Sofort erschien in einem die Interessen des Volksstamms B ver- tretenden Journal ein Artikel „ein Ball ober Leichen", welcher einen pöbel- haften Straßenexzeß gegen den Professor provozierte. Die tatenlustige Menge mochte wohl glauben, daß ein Professor, der täglich mit Leichen verkehrt, keine vergnügte Stunde mehr haben dürfe, wenn er nicht ein ganz roher und herzloser Mensch sei, und iene Journalisten gaben wenigstens vor dies zu glauben. "Wer läßt sich aber durch den Gedanken, daß jeden Augen- blick ein Mensch sein Leben aushaucht, oder daß seine Angehörigen auf dem Friedhof liegen, in seinem Vergnügen stören? 2) Spencer, The Principles of Psychologe, London 1870, 1, § 164, S. 365. — „We map properly sap that in the higher forms, the correspondence bet- ween the organism and its environment is effected bp means of supple- mentary senses and supplementär^ limbs. All observing Instruments, all weights, measures, scales, micrometers, verniers, microscopes, thermometers, etc., are artificial extensions of the senses; and all levers, screws, hammers, wedges, lathes, etc., are artificial extensions of the limbs. The magnifying glass adds but another lens to the lenses existing in the eye. The crowbar is but one more lever attached to the series of levers forming the arm and hand. And the relationship which is so obvious in these first Steps, holds throughout." Mach, Erkenntnis und Irrtum. / 10 146 Empfindung, Anschauung, Phantasie. Auffassung jeder Beobachtungsapparat als eine künstliche Er- weiterung der Sinne, jede Maschine als eine künstliche Aus- dehnung der Bewegungsorgane aufgefaßt werden. Dieser natür- liche Gedanke scheint sich mehrmals dargeboten zu haben. Viel später als Spencer, wohl unabhängig von demselben, aber leider in recht phantastischer Form, wurde derselbe ausführlich dargelegt von E. Kapp.^) Eine an interessanten und instruktiven Einzelheiten reiche Ausführung verdanken wir O. Wiener.^) 3. Ohne der Darstellung von Wiener genau zu folgen, wollen wir hier einige wichtige Gesichtspunkte herausheben. Die Sinnes- organe sind im allgemeinen sehr empfindliche Organe, was darauf beruht, daß dieselben physikalische Reize nicht bloß wie leblose Objekte aufnehmen, sondern daß diese Reize in den Organen aufgespeicherte und bereitliegende Energieen auslösen, wie dies bei physikalischen Apparaten nur ausnahmsweise etwa beim Mikrophon, Telegraphen-Relais u. s. w. vorkommt. Das Auge und das Ohr wird ungefähr durch ein Hundertmillionenteil eines Erg^) in einen merklichen Reizzustand versetzt, welche Arbeit eben auch genügt, um bei den empfindlichsten Wagen einen sichtbaren Ausschlag zu bewirken. Das Auge ist hundertmal so empfindlich als die empfindlichste photographische Platte. Wenn wir ein Gewicht von 100—1000 Gramm auf der Hand liegen haben, so empfinden wir ungefähr eine Verminderung desselben um 30% unmittelbar durch den Drucksinn, und beim Auf- und Abbewegen der Hand kann diese Unterschieds- ') E. Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik. Braunschweig 1877. — Alle Instrumente, Werkzeuge und Maschinen werden als unbewußte Projektionen der Organe des Leibes angesehen. Hiermit scheint mir der Gedanke von Spencer recht vernebelt, und ich glaube, daß wir auf diesem Wege nur zu einer traumhaften „Philosophie der Technik" kommen können. Man frage sich doch, welches Organ in der Schraube, dem Rade, der Dynamo- maschine, dem Interferenzrefraktometer u. s. w. projiziert ist. Richtig ist nur, daß wir durch das Studium der Technik auch zum Verständnis einiger Organe unseres Leibes gelangt sind. 2) O. Wiener, Die Erweiterung der Sinne. Antrittsvorlesung. Leip- zig 1900. ') Ich habe gelegentlich selbst eine solche Empfindlichkeitsschätzung eines Sinnesorgans versucht. Vgl. Bewegungsempfindungen. Leipzig 1875. S. 119u. f. Empfindung, Anschauung, Phantasie. 147 empfindlichkeit bis zu etwa 10 7o gesteigert werden. Die empfindlichsten Wagen zeigen aber bei 1 kg Belastung noch V200 mg> also V2-Vio^ der Belastung an. Die Töplersche Libellenwage zeigt Druckunterschiede an, die Vio^ einer Atmo- sphäre betragen. Das Auge kann zwei Striche von Vio mm Ab- stand in 10 cm Entfernung eben noch unterscheiden. Mit dem Mikroskop gelingt aber die Auflösung noch bei '/tooo mm Ab- stand. Durch Benützung der Lichtwellenlängen können noch weit kleinere Distanzen geschätzt werden. Wenn durch das bloße Ohr noch ein Zeitunterschied von V500 Sekunden zwischen zwei elektrischen Funken bemerkt werden kann, so erlaubt das Wheatstone -Feddersensche Verfahren des rotierenden Spiegels dagegen noch auf optischem Wege Zeitmessungen bis zu Vio** Sekunde. Unser Wärmesinn empfindet einen Temperatur- unterschied von etwa Vs Grad Celsius. Nach der bolometrischen Methode von Langlep und Paschen gelingt es, Temperatur- unterschiede von Vin^ Grad Celsius nachzuweisen. Die Emp- findlichkeit der Sinnesorgane kann also durch physikalische Apparate in manchen Beziehungen erreicht, in anderen sehr be- deutend überschritten werden. Der Physiker gelangt hierdurch zur Kenntnis so feiner Abstufungen der Reaktionen, wie sie ihm ohne diese Mittel stets unbekannt bleiben müßten. 4. Die Physik kennt aber auch Mittel, einen Sinn durch den anderen vertreten zu lassen. Durch optische Vorkehrungen können wir Schallvorgänge sichtbar und umgekehrt Lichtprozesse hör- bar machen. Man denke an die verschiedenen vibroskopischen Methoden, an die Sichtbarkeit der Luftwellen im Schlieren- apparat, an das Photophon u. s. w. Die Wärme verrät sich un- mittelbar nur dem Tastsinn,^) mit Hilfe des Thermometers aber auch dem Auge. Selbst Vorgänge, welche unmittelbar sich gar keinem unserer Sinne offenbaren würden, wie sehr schwache elektrische Ströme oder Schwankungen der magnetischen In- tensität, die wir weder sehen, noch hören, noch tasten könnten, machen wir durch das Galvanometer und Magnetometer dem Gesichtssinn zugänglich, der überhaupt meist eintritt, wo es sich um sehr feine Reaktionen handelt. Nun dürfen wir freilich ') Eigentlich dem mit dem Tastsinn räumlich vereinigten Wärmesinn. 10* 148 Empfindung, Anschauung, Phantasie. nicht vergessen, daß Vorgänge, die sich wirklich streng jedem unserer natürlichen Sinne entziehen würden, ewig unentdeckt und unentdeckbar bleiben müßten. Es handelt sich also bei An- wendung künstlicher Mittel genau genommen immer nur um Auf- findung von zahlreicheren, mannigfaltigeren und feiner abgestuften Reaktionen, welche in eines der Gebiete unserer natürlichen Sinne hereinragen. 5. Um diese Betrachtung zu ergänzen, denken wir uns z. B. eine Orange, dann einen Kochsalzwürfel, Platin und Luft. Der erste dieser Körper reagiert ohne irgend welche künstliche Ver- anstaltungen auf alle Sinne, beim zweiten fehlt die Geruchs-, beim dritten auch die Geschmacksreaktion. Die Luft ist für uns auch unsichtbar; wir fühlen sie höchstens warm oder kalt, und bei starker Bewegung reizt sie den Tastsinn nur noch als Wind. Von ihrer Körperlichkeit überzeugen wir uns erst recht durch künstliche Einschließung derselben in einen Schlauch, welches Verfahren in der Tat zu den ältesten physikalischen Experi- menten gehört. Durch künstliche Vorkehrungen können nun bei jedem der genannten Körper noch verschiedene Reaktionen hervorgerufen werden, welche denselben charakterisieren. Die Körper sind also nichts weiter als Bündel gesetzmäßig zu- sammenhängender Reaktionen. Dasselbe gilt von Vorgängen jeder Art, die wir unserem Übersichtsbedürfnis entsprechend klassifizieren und benennen. Ob es sich um Wasserwellen handelt, die wir mit dem Auge und mit dem Tastsinn verfolgen, oder um Schallwellen in der Luft, die wir nur hören und nur künstlich sichtbar machen können, oder um einen elektrischen Strom, der überhaupt fast nur in künstlich herbeigeführten Re- aktionen zu verfolgen ist, immer ist der gesetzmäßige Zu- sammenhang der Reaktionen, und dieser allein, das Beständige. Dies ist der kritisch geläuterte Substanzbegriff, welcher wissen- schaftlich an die Stelle des vulgären zu treten hat. Der vulgäre Substanzbegriff, welcher im gewöhnlichen Hausgebrauch nicht nur ganz unschädlich, sondern sogar bei Handgriffen sehr nütz- lich ist — er wäre ja sonst nicht instinktiv entstanden — spielt in der wissenschaftlichen Physik dieselbe trügerische Rolle wie das „Ding an sich" in der Philosophie. 6. Im Verlauf des obzitierten Vortrages gelangt Wiener zur Empfindung, Anschauung, Phantasie. 149 Fiktion von intelligenten Wesen mit von den unsrigen ver- schiedenen Sinnen. Nervenorgane, von hinreichend intensiven magnetischen Körpern umgeben, würden z. B. einen magne- tischen Sinn vorstellen, wie ein solcher künstlich gelegentlich bei Krebsen von Kreidl wirklich dargestellt worden ist. ^) Das Auge könnte z. B., statt für die kurzwelligen, für die ultraroten Strahlen empfindlich sein. Dann könnten Fernrohre mit Hartgummi- linsen zur Verwendung kommen u. s. w. u. s. w. Durch solche an- sprechende, auch mir sympathische Betrachtungen, denkt Wiener von der besonderen Natur unserer Sinne sich unabhängig machen zu können, und eine Aussicht auf eine einheitliche physikalische Theorie zu gewinnen. Meine Meinung über diesen Punkt ist folgende. Ich denke mir alle organischen Wesen, wenigstens auf der Erde, sehr nahe verwandt, demnach die Sinne des einen als bloße Variationen der Sinne des anderen. Die Empfindungen unserer gegenwärtigen natürlichen Sinne werden wohl immer die Grundelemente unserer psychischen und physischen Welt bleiben. Das hindert aber nicht, daß unsere physikalischen Theorien von der besondern Qualität unserer Sinnesempfin- dungen unabhängig werden. Wir treiben Physik, indem wir Variationen des beobachtenden Subjekts ausschließen, durch Korrektionen entfernen, oder in irgend einer Weise von den- selben abstrahieren. Wir vergleichen die physikalischen Körper oder Vorgänge untereinander^ so daß es nur auf Gleichheit und Ungleichheit einer Empfindungsreaktion ankommt, die Besonder- heit der Empfindung aber für die gefundene Beziehung, die in Gleichungen ihren Ausdruck findet, nicht mehr von Belang ist. Hierdurch gewinnt das Ergebnis der physikalischen Forschung Gültigkeit nicht nur für alle Menschen, sondern selbst für Wesen mit anderen Sinnen, sobald sie unsere Empfindungen als Anzeigen einer Art physikalischer Apparate betrachten.^) Dieselben wür- den nur für diese Wesen keine direkte Anschaulichkeit haben, sondern müßten hierzu in ihre Sinnesempfindungen übersetzt werden, etwa so, wie wir uns Unanschauliches durch graphische Darstellung veranschaulichen. ») Populäre Vorlesungen. 3. Aufl. Leipzig 1903. S. 398. *) Analyse der Empfindungen. 4. Aufl. 1903. S. 209. 150 Empfindung, Anschauung, Phantasie. 7. In den vorstehenden Ausführungen haben wir unser Augen- merk hauptsächHch auf die einzelnen Empfindungen und deren Bedeutung gerichtet. Das ganze System der räumlich und zeit- lich geordneten Empfindungen, welche uns der Gesichtssinn vor- führt, der uns z. B. die ganze Anordnung der Körper oder deren Bewegung gegeneinander in einem Blick erkennen läßt, nennen wir vorzugsweise Anschauung. Der Name trägt deutlich sein Ursprungszeugnis an sich. Für den Sehenden ist ja die Gesichts- anschauung die wichtigste, durch die er am meisten und vieles auf einmal erfährt. Hoch intelligente Blinde, z. B. der Geometer Saunderson, belehren uns jedoch darüber, daß man auch durch den Tastsinn rasch eine geordnete Übersicht gewinnen kann, für welche der Name Tastanschauung passend wäre. Gewandten Musikern wird man eine Art anschaulicher Übersicht der zeitlich- rhythmischen Bewegungen, der Verteilung und des Fortschreitens der Stimmen im Tongebiet oder im Tonraum nicht absprechen können. Von den beiden hervorragenden Künstlern im Kopfrech- nen Inaudi und Diamandi gehörte der erstere dem auditiven^ der letztere dem visuellen Typus ^) an. Der erstere hatte seine Kunst- übungen begonnen, als er noch nicht lesen konnte, er stellte sich die Zahlen durch das Gehör vor. Der andere hatte bei Beginn seiner Übungen schon die Schule besucht und Schreiben gelernt. Ordnete man Zahlen in horizontale Zeilen, die man so unter- einander setzte, daß deren Ziffern auch vertikale Kolumnen bil- deten, und las man dieselben zeilenweise vor, so wußte Diamandi sofort auch die Ziffern aus dem Gedächtnis anzugeben, welche eine Kolumne bildeten, denn er sah die Zahlen in Ziffern räumlich an- geordnet vor sich. Inaudi hingegen brachte dies nur mit einiger Mühe zu Stande, denn er hörte im Geiste die Zahlen nacheinander nennen, und mußte diese zeitliche Reihe sozusagen erst in Stücke teilen, die er untereinander setzte. Diamandi hatte eine visuelle räumliche, Inaudi eine auditive zeitliche Anschauung. Wir lassen es dahingestellt, ob etwa auch in anderen Sinnesgebieten, z. B. bei hoch entwickeltem Geruchssinn (Hunde, Ameisen), wie Forel meint, etwas Analoges möglich sei. 8. Darüber ist kein Zweifel, daß nach der einzelnen Empfindung ^) Revue generale des sciences. 1892. Empfindung, Anschauung, Phantasie. 151 zunächst die Anschauung die Vorstellungen und die Handlungen in Bewegung gesetzt hat, als noch das begriffliche Denken sehr im Rückstand war. Die Anschauung ist organisch älter und stärker fundiert, als das begriffliche Denken. Wir übersehen mit einem Blick die Plastik eines Terrains, bewegen uns ohne weiteres dem entsprechend, weichen einem rollenden Stein aus, reichen einem fallenden Gefährten die Hand, ergreifen einen uns interessierenden Gegenstand, ohne daß wir nötig haben, dies alles zu überlegen. An dem Anschaulichen entwickeln sich die ersten klaren Vorstellungen, die ersten Begriffe, das erste Denken. Wo es also immer möglich ist, das begriffliche Denken durch die Anschauung zu stärken, da wird dies mit Vorteil geschehen. Man stützt hierbei die individuellen neuen Erwerbungen auf die alten erprobten Erwerbungen der Art. 9. Die graphischen Künste, insbesondere die Photographie und Stereoskopie ermöglichen heute einen Reichtum von Anschauungen zu gewinnen, welcher vor einem halben Jahrhundert nur mit dem größten Aufwand zu erlangen war. Ferne Länder, deren Völker- typen und Architekturen, Scenen des tropischen Urwaldes und der eisigen Polargegenden treten mit gleicher Lebendigkeit vor unsere Augen. Die Farbenphotographie, der Kinematograph werden die Natürlichkeit noch steigern und der Phonograph wird auf akustischem Gebiete mit seinen optischen Vorbildern wett- eifern. Die Wissenschaft hat auch die Mittel gefunden, Objekte, welche der natürlichen Anschauung unzugänglich sind, dennoch in das Gebiet derselben zu ziehen. Die Momentphotographie fixiert jede Phase einer für die direkte Beobachtung zu raschen Bewegung, sie annulliert die Geschwindigkeit, läßt das Objekt sozusagen erstarren. Marey, Anschütz, Muybridge haben die Phasen der Bewegungen der Tiere fixiert. Sogar die Bilder von Schallwellen, fliegenden Projektilen u. s. w. sind durch feinere Methoden festgehalten worden. Die Methode der Serienbilder, seit langer Zeit in der speziellen Form der stroboskopischen Methode zur Beobachtung rascher periodischer Bewegungen an- gewandt, läßt eine dreifache Verwertung zu. Es gibt Bewegungen, deren Geschwindigkeit im Bereich unserer natürlichen Anschauung liegt. Der Kinematograph reproduziert sie mit der ihr eigentüm- lichen Geschwindigkeit. Bewegungen, die zu rasch vorgehen. 152 Empfindung, Anschauung, Phantasie. um gesehen zu werden, wie die Flugbewegungen der Insekten, die Schallschwingungen u. s. w. können mit Hilfe der Serienbilder beliebig verlangsamt werden. Veränderungen hingegen, welche zu langsam vorgehen, um direkt gesehen zu werden, wie das Wachstum einer Pflanze, eines Embryo, einer Stadt u. s. w. kann man mit Hilfe der Serienbilder kinematographisch in beliebiger Geschwindigkeit ablaufen sehen. Man denke sich die Änderungen einer wachsenden Pflanze mit allen ihren geotropischen und heliotropischen Bewegungen in gesteigerter Geschwindigkeit, die Bewegungen eines Tieres in entsprechender Langsamkeit vor- geführt, so muß der Eindruck des Tierischen und Pflanzlichen geradezu sich vertauschen. Die kinematographische Vorführung eines Kindes, welches heranwächst, aufblüht, reift und als Greis verfällt, könnte in ihrer Wirkung durch keine noch so ergreifende Bußpredigt übertroffen werden. 10. Der Gegensatz zwischen zeitlicher Verlängerung und Ver- kürzung ist analog jenem zwischen räumlicher Vergrößerung und Verkleinerung. Dem hochgeschätzten Mikroskop gegenüber steht die wenig beachtete aber ebenso wichtige bildliche Verkleinerung für unser Gesichtsfeld zu großer Objekte, wie wir sie z. B. in der geographischen Kartendarstellung üben. Auch in diesem letzeren Falle bringen wir schwerfällig begrifflich erkannte Ob- jekte in den Bereich der bequemen geläufigen Anschuung. Die Stärkung des abstrakten Denkens durch Kurven zeichnende Registrierapparate verwenden wir schon beim Experimentieren, und ebenso bei Darstellung bereits gewonnener Ergebnisse durch Kurven, geometrische Konstruktionen u. s. w.^) Ein einziges Bei- spiel genügt, um den Wert der Eroberung eines Gebietes für die Anschauung fühlbar zu machen. Man weiß, welche Mühe Kepler aufwenden mußte, um aus einzelnen begrifflichen Daten die elliptischen Planetenbahnen zu konstruieren. Kaum mehr als ein Blick hätte genügt, das Richtige zu erraten, wenn diese Bewegungen anschaulich in verkleinertem Raum- und Zeitmaßstab gegeben gewesen wären. 11. Aus der Anschauung schöpft die Erinnerung. Wenn bei einem zufälligen Anlaß mir das Bild des kleinen glattrasierten ') Populäre Vorlesungen, S. 124—134. Empfindung, Anschauung, Phantasie. 153 graugelockten Herrn auftaucht, der nach allen Seiten freundlich grüßend zur Table d'höte hereinkommt, wenn ich von verschie- denen Seiten flüstern höre: Ein deutscher Professor! Voila un professeur allemand! Aoh! a German professor! wenn alles in der Vorstellung, wesentlich in der Verbindung auftritt, in der ich es erlebt habe, so nenne ich dies eine Erinnerung. Haben sich aber durch viele verschiedene Erlebnisse mannigfaltige associative Verbindungen unter den Elementen der Anschauung hergestellt, und dadurch die einzelnen gelockert, so können sich durch Nebeneinflüsse verschiedene dieser Verbindungen kombinieren, welche in den sinnlichen Erlebnissen sich noch nie zusammen gefunden hatten, und jetzt in der Vorstellung zum erstenmal beisammen sind. Solche Vorstellungen nennen wir Phantasievorstellungen. Wenn ich nur einen Hund in meinem Leben gesehen hätte, und mir jetzt einen Hund vorstelle, so würde derselbe wahrscheinlich alle Merkmale an sich tragen, welche bei der Beobachtung dieses Hundes meiner Aufmersam- keit nicht entgangen sind. Ich habe aber unzählige verschiedene Hunde und auch hundeähnliche andere Tiere gesehen. Infolge- dessen ist wohl der Hund, den ich mir vorstelle, von jedem Hund verschieden, den ich je gesehen habe. Ein Wirt wählt das Schild „Zum blauen Hund". Sein Schild ist ein Hund von Holz. Nun soll er Farbe bekommen. Der Wirt hat aber beim Anstreicher viele Töpfe mit verschiedenen Farben nebeneinander gesehen, und will etwas Auffallendes haben. So entsteht also seine „Phantasieschöpfung" durch Kombination von Associationen, welche verschiedenen Erlebnissen angehören. Diese einfachen Betrachtungen lehren, daß eine absolut scharfe Grenze zwischen Erinnerung und Phantasie nicht zu ziehen ist. Kein Erlebnis steht so allein, daß andere Erlebnisse die Erinnerung an ersteres nicht beeinflussen könnten. Jede Erinnerung ist „Dichtung und Wahrheit". Anderseits werden die Erinnerungselemente in den Phantasievorstellungen meist nachzuweisen sein. 12. Ein Kind erblickt einen Hinkenden. „Der arme Mann ist auf einem großen Pferd gesessen, herabgefallen und hat sein Bein an einem Stein verletzt." Diese Phantasiegeschichte eines 3 V2 Jahre alten Kindes kombiniert sich leicht aus dessen Erinnerungen. Ein anderes Sjähriges Kind wünscht wie ein Fisch im Wasser oder 154 Empfindung, Anschauung, Phantasie. wie ein Stern am Himmel zu leben, und ist eben so phantasie- reich wie jenes, das eine Bohrung in einem zufällig gefundenen Stein von Feen bewohnt sein läßt. Ob es als Phansieschöpfung anzusehen ist, wenn ein Kind einen Flaschenstöpsel eine „Türe", eine kleine Münze ein „Dollarkind" nennt, bei Anblick betauten Grases ausruft: „Der Rasen weint", ist mir nach Erfahrungen an meinen eigenen Kindern recht fraglich.^) Das Kind im Stadium der Sprachentwicklung hat wenig Worte, und spricht wie der Wilde poetisch aus Not, indem es durch jede Ähnlichkeit zur Übertragung von Wortbedeutungen veranlaßt wird. Ganz ähn- lich wie die kindliche Phantasie setzt der Wilde seine Kosmogonien aus den ihm aus der Erinnerung vertrauten Elementen zusammen. Riesige Frösche, Kröten, Spinnen und Heuschrecken spielen darin eine Rolle. Bei Stämmen, welche an der See oder an großen Flüssen leben, beteiligen sich kolossale aus der Tiefe auftauchende Fische oder Schildkröten an der Herstellung der gegenwärtigen Weltordnung. Wenn ein kleines Mädchen, als Tochter eines Ökonomen mit dem Hühnerhof vertraut, die Frage hören läßt: „ob die Sterne die Eier seien, welche der Mond gelegt hat?", so ist dies ein schönes Beispiel für die Art der Bildung naiver Kosmogonien. 2) So sehen wir, daß bei den Ägyptern, einem Volke, welches die Töpferei sehr früh auf eine hohe Stufe ge- bracht hat, Gott Ptah auf der Töpferscheibe das Ei bildet, aus welchem sich die Welt entwickelt.^) Man braucht sich nur der eigenen Jugend zu erinnern, um es zu begreifen, daß bei dem gänzlichen Fehlen einer soliden Erfahrungsgrundlage für das Weltverständnis, notwendig die Phantasie gut oder übel die Lücke ausfüllen und das Bedürfnis decken muß. 13. Wer die Entwicklungsgeschichte der Wissenschaft kennt, oder wer an der Forschung teilgenommen hat, wird nicht bezweifeln, daß die wissenschaftliche Forscherarbeit eine recht starke Phantasie erfordert. Die Art der Phantasie ist allerdings etwas verschieden von jener des Künstlers, auf welche wir nachher noch zu sprechen •) Ribot, Essai sur l'imagination creatrice. Paris 1900. S. 89—97. — Vgl. Analyse der Empfindungen. S. 250. *) Beobachtung meiner Schwester. ») Er man, Ägypten II, S. 352, 605 u. f. Empfindung, Anschauung, Phantasie. 155 kommen. Betrachten wir zunächst die Tätigkeit des forschenden Experimentators in einigen Beispielen. Jedem Zeitgenossen Galileis war es bekannt, daß der Schall sich langsamer fort- pfanzt als das Licht, da man das Aufschlagen des Hammers eines in der Entfernung arbeitenden Zimmermanns zuerst sieht und erst später hört. Hier dient das unvergleichlich schnellere Licht als Zeitmarke des Abganges des Schalles. Um die Licht- geschwindigkeit zu bestimmen, ist dies Verfahren nicht anwendbar. Wie soll man die Zeit des Lichtabganges markieren? Galilei denkt sich das Licht von einem Beobachter A, bei plötzlich ab- gedeckter Laterne, einem fernen Beobachter B, und von diesem durch Abdeckung seiner Laterne wieder zum Beobachter Ä zurück- gesendet, so daß A selbst sowohl die Abgangs- als Ankunfts- zeit bei Durchlaufen der Strecke 2 AB markieren kann. Diese geniale Anordnung entstand durch die kombinierende, allen Be- dingungen Rechnung tragende Phantasie. Vielleicht hat die Er- innerung an das Echo hierbei mitgewirkt. Obgleich Galilei selbst den Versuch wegen der großen Lichtgeschwindigkeit als unaus- führbar erkannte, so konnte doch Fizeau, mehr als 200 Jahre später, seine Phantasiearbeit fortsetzen. Er dachte sich statt des Beobachters B einen nach A zurückreflektierenden Spiegel, in A ein regelmäßig rotierendes Zahnrad, welches den Lichtabgang und die Lichtrückkehr in A gleich exakt markiert, in A und B Fernrohre zur Verminderung der Lichtverluste. Das lebhafte Interesse für das Ziel hält die Associationen in Bewegung, und die Vergegenwärtigung der zu erfüllenden Bedingungen bewirkt die Auslese der für den Zweck brauchbaren Associationen, aus deren Kombination das Phantasieprodukt hervorgeht. — Blitz und Knall des elektrischen Funkens erregen Franklin die Ver- mutung, daß Blitz und Donner elektrischer Natur seien. Es ent- steht der lebhafte Wunsch, dieser vermuteten Elektrizität habhaft zu werden. Aber wie das anfangen? Eine leitende Stange reicht nicht; einen babylonischen Turm kann er nicht bauen. Da fällt ihm ein, daß es Papierdrachen gibt, welche im Winde steigen. Er versieht einen solchen Drachen mit einer metallenen Spitze, mit einer Hanfschnur mit einem Schlüssel am unteren Ende, und läßt den Drachen bei Herannahen eines Gewitters steigen, indem er zwischen die Hanfschnur und seine Hand ein Stück einer 156 Empfindung, Anschauung, Phantasie. seidenen Schnur einschaltet. In der Tat wird die Hanfschnur durch den Regen leitend. Franklin kann aus dem Schlüssel Funken ziehen, mit denselben Flaschen laden, das „elektrische Feuer" auf Flaschen füllen. Ein Fesselballon könnte heute den Drachen vertreten. — Von solchen durch die Phantasie herbei- geschafften Hilfsmitteln des Experimentes mögen noch erwähnt werden Newtons Kombination von Konvexlinse und Planglas, welche alle Farben dünner Plättchen zugleich darbietet und die jeder Farbe entsprechende Dicke leicht zu bestimmen gestattet, Sauveurs Reiter zum Nachweis der Schwingungsknoten, Wheatstones rotierender Spiegel, Königs akustische Flammen- zeiger u. s. w. 14. Schon in den zuvor erwähnten Fällen der Lösung experi- menteller Aufgaben, haben wir nicht bloß mit sinnlichen Vor- stellungen zu tun, sondern auch mit Begriffen. Hat man sich einmal geläufige Begriffe erworben, welche durch Worte, Zeichen, Formeln, Definitionen fixiert sind, so stellen diese Begriffe eben auch Objekte des Gedächtnisses, der Erinnerung, der Phantasie vor. Man kann auch in Begriffen phantasieren, das Gebiet der- selben an dem Faden der Association durchwühlen, und den Bedingungen der Aufgabe gemäß eine kombinierende Auslese treffen. Dies geschieht besonders bei Lösung einer der Theorie an- gehörigen Aufgabe, wenn man das Begriffsgebilde erschaut, wel- ches alles durchleuchtet, den Schlüssel zur Lösung gibt. Bei seinen hydrostatischen Untersuchungen bemerkt Stevin, daß die Erstar- rung eines beliebigen Teiles der im Gleichgewicht befindlichen Flüssigkeit dieses Gleichgewicht nicht stört, dagegen eine Reihe hydrostatischer Aufgaben auf bereits gelöste Aufgaben der Statik starrer Körper zurückführt. — Die Kepler sehen Gesetze sind gefunden, und Newton geht daran, das Rätsel derselben zu lösen. Die krumme Bahn der Planeten (Gesetz 1) weist ihn auf eine von einem Punkte innerhalb der Bahn ausgehende An- ziehungskraft hin. Das für die Sonne gültige 2. Sektorengesetz bestimmt genauer die Sonne als diesen Punkt. Das 3. Gesetz r'//^ = konst., wobei r die Entfernung, t die Umlaufszeit des Planeten bedeutet, stimmt mit dem Huygensschen Ausdruck für die Zentralbeschleunigung 9 = 4r7c2//^ nur, wenn <p = klr^. Eine dem Quadrat der Entfernung verkehrt proportionale Zentral- Empfindung, Anschauung, Phantasie. 157 kraft löst also das ganze von Kepler aufgegebene Rätsel.^) — Die Gesetze der Reflexion und Brechung des Lichtes klären sich für Huygens durch die Vorstellung des Zusammen- wirkens von Elementarwellen, deren Geschwindigkeit durch das Medium bestimmt ist. — Die Malus sehen quantitativen Gesetze der Lichtpolarisation, die Analogie der Farben doppeltbrechender Kristallplatten mit den Farben dünner Plättchen, die Biotschen Formeln für erstere, werden sämtlich aufgeklärt und in Zusammen- hang gebracht durch die Young-Fresnelsche Konzeption der Transversalschwingungen des Lichtes in Verbindung mit dem Begriff der Kohärenz. 15. Das Gesetz der Association hat sich ausreichend gezeigt, die hier betrachtete Tätigkeit der wissenschaftlichen Phantasie zu durchleuchten. Die künstlerische Phantasie weist aber in ihren Äußerungen gewisse Eigentümlichkeiten auf, zu deren Darstellung wir etwas weiter ausholen müssen. Die Association beschränkt sich nicht auf die Vorgänge des Bewußtseins, auf die Vorstellungen. Überhaupt alle Vorgänge des Organismus, welche öfter miteinander aufgetreten sind, zeigen eine Tendenz sich dauernd zu verbinden. So associieren sich Bewegungen durch Übung mit- einander, es treten auch associativ Sekretionen auf u. s. w. Die Association ist die temporär erworbene Verbindung verschiedener organischer Funktionen miteinander, die temporär erworbene Er- regung einer organischen Tätigkeit durch eine andere, die zeitliche Anpassung der Teile des Organismus aneinander im Dienste des Ganzen und durch die Umstände des individuellen Lebens. Allein die Verbindung der Organe, welche eine solche Wechselwirkung ermöglicht, entsteht nicht erst durch das individuelle Leben, sondern sie ist dem Organismus schon als ererbter Besitz wenigstens großenteils auf den Lebensweg mitgegeben. Hier- mit ist schon ein Bestand von Wechselwirkung gegeben (z. B. die Reflexbewegungen), welcher Bestand im Laufe der organischen Entwicklung (Pubertät) noch weiter sich vermehrt, und der durch die temporären Erwerbungen des individuellen Lebens nur modifiziert werden kann. Mit den temporär erworbenen Asso- ciationen allein kann also die Psj^chologie nicht für alle Fälle ') Mechanik, 5. Aufl. 1904. S. 88, 195. 158 Empfindung, Anschauung, Phantasie. auskommen.^) Das Leben auf Grund bloßer Associationen im gewöhnlichen Sinn wäre gar nicht möglich. Wir haben ferner zu bedenken, daß die Organe zwar für einander da sind und einander dienen, daß aber jedes doch auch sein besonderes selbständiges Leben führt. Dieses Leben äußert sich in dessen spezifischen Energieen,^) die zwar durch die Erregung von außen oder durch andere Organe modifiziert werden können, im ganzen aber einen bestimmten Charakter haben, und die sich gelegentlich auch selbständig bemerklich machen. So kann das Gesichts- oder Gehörsorgan, oder jedes andere Sinnesorgan die Empfindungen, welche es gewöhnlich unter dem Einfluß phj^si- kalischer Reize entwickelt, unter eigentümlichen noch näher zu er- forschenden Lebensbedingungen selbständig als Hallucinationen produzieren, so kann die Hirnrinde fixe Ideen produzieren, so kann ein Muskel auch ohne willkürliche Innervation sich kon- trahieren, eine Drüse ohne den gewöhnlichen Anlaß secernieren. Die Hallucinationen sind es ja, die uns recht eigentlich die Empfindungen als Zustände des eigenen Leibes kennen lehren. Die einseitige Überschätzung dieser Erkenntnis dient dann eben- so einseitigen philosophischen (solipsistischen) Sipstemen zur Grundlage. 16. Die Gesichtshallucinationen, in welchen sich die selb- ständigen spontanen Lebensäußerungen des Gesichtssinns aus- sprechen, hat Johannes Müller^) eingehend studiert und an- schaulich beschrieben. Lebhaft gefärbte Gestalten, z. B. von Pflanzen, Tieren, Menschen, treten im Gesichtsfelde auf und ändern sich ohne unser Zutun durch allmähliche Umbildung. Diese Gestalten sind Neubildungen, keine Erinnerungsbilder vorher ge- sehener Objekte, und nicht durch Gedanken an diese hervorgerufen. Der Wille hat keinen nachweisbaren Einfluß auf dieselben. Müller benützt den Anlaß, um die Wertlosigkeit der Associationsgesetze zu betonen. Das ist aber entschieden zu weit gegangen. Gewiß 1) Analyse u. s. w. S. 185. *) Hier ist die von Johannes Müller aufgestellte, von Hering weiter entwickelte Theorie gemeint. *) J.Müller, Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz 1826. — F. P. Gruithuisen, Beiträge zur Physiognosie und Eautognosie. München 1812, S. 202—296. Empfindung, Anschauung, Phantasie. 159 kann, was spontan hervortritt, sich auch spontan ändern. Die Phantasmen widersprechen aber nicht den Associationsgesetzen, wenn deren Bildung auch nicht nach denselben allein verständ- lich ist; sie gehören eben einer andern Klasse von Erscheinungen an. Dafür sind uns die Associationsgesetze in vielen Gebieten wertvolle Führer. Es gibt übrigens eine Art von Phantasmen, die sich an unmittelbar zuvor Gesehenes genauer anschließen; es sind die besonders von Fechner^) beschriebenen Erscheinungen des Sinnengedächtnisses. Wenn wir uns mit einer Art von Ge- sichtsobjekten andauernd beschäftigt haben, so treten uns die Bilder derselben, namentlich im Halbdunkel, blitzartig, aber ohne Änderung und mit voller Objektivität entgegen. Diese sind den zuvor gesehenen Objekten sehr ähnlich, wenn auch vielleicht nicht mit denselben identisch.^) Wenn wir Objekte bei schwacher Be- leuchtung durch Illusion modifiziert sehen, so deutet dies darauf, daß die extremen Prozesse: spontane Phantasmen und durch phipsikalische Reize bestimmte Bilder in allen Verhältnissen kom- biniert vorkommen können. Ebenso scheinen alle Zwischenstufen zwischen Empfindung und Vorstellung zu bestehen. Halten wir nun fest, daß eine Vorstellung gewöhnlich durch die andere er- regt wird, unter besonderen Umständen aber auch spontan her- vortreten kann, so wird dies mit den bisher bekannten Tatsachen in gutem Einklang stehen.^) 17. Sogenannte frei steigende Vorstellungen, plötzliche leb- hafte Erinnerungen an einmal Gesehenes, an irgendwann gehörte Melodieen u. s. w., ohne daß man den associativen Anknüpfungs- punkt in den vorausgehenden Gedanken oder in der augen- 1) Fechner, Elemente der Psychophysik. Leipzig 1860. II. S. 498. — Vgl. ferner Analyse der Empfindungen S. 157. «) Oelzelt-Newin, Über Phantasie -Vorstellungen, Graz 1889, S. 12 berichtet, daß er, nachdem er von Schlangen belästigt, viele getötet hatte, in der folgenden schlaflosen Nacht fortwährend von deren objektiv erscheinen- den Bildern und Bewegungen verfolgt war. Ähnliches widerfuhr mir, als ich mehrere Tage mit Spinnen experimentierte. Ich sah sie im Traume mich umkriechen. Als ich einen jungen Sperling mit Heuschrecken auffütterte, kam einmal im Traum eine Heuschrecke von Menschengröße wie drohend auf mich zugekrochen, als wollte sie sagen: Raum für alle hat die Erde, was verfolgst du meine Herde? 8) Analyse. S. 159. 160 Empfindung, Anschauung, Phantasie. blicklichen Situation aufzufinden vermag, hat wohl jeder schon beobachtet. Herbart kannte die Erscheinung und suchte sie in seiner Weise zu erklären. Dieselbe scheint den Hallucinationen verwandt zu sein. Wenn man aber die Association in einem weiteren Sinne nimmt, wenn man sich vorstellt, daß eine Asso- ciationsreihe auch mit unbewußten Vorgängen beginnen oder endigen kann, so hat man nicht nötig, jede scheinbar frei steigende Vorstellung als die Associationsgesetze wirklich durchbrechend anzusehen. Mit denselben körperlichen bewußten oder unbe- wußten Zuständen können auch dieselben Vorstellungen sich ein- stellen. Diese Auffassung scheint mir die interessanten Beob- achtungen von Swoboda^) von einer neuen Seite zu beleuchten und mit den Ansichten von R. Semon^) gut zu stimmen. 18. Als Merkmal der künstlerisch produzierenden Phantasie wird gewöhnlich die spontane mühelose Neubildung ihrer Schöp- fungen angesehen, welche die einfache Nachahmung des Erlebten ausschließt. Hierzu kommt die Plötzlichkeit, mit der wenigstens die Grundzüge der Schöpfung sich entweder geradezu als Hallu- cination oder in nahe verwandter Form dem Künstler darbieten. In den Schriften über Phantasie, namentlich in dem oben zitierten originellen und ansprechenden Buch von Oelzelt-Newin, werden zahlreiche Beispiele dieser Art angeführt. Um aber nicht als Regel anzusehen, was zuweilen eintreten mag, und um nicht Übertreibungen an Stelle nüchterner wissenschaftlicher Auffassung zu setzen, frage man sich, ob man es für möglich hält, daß ein Beethoven oder Raphael unter Wilden aufgetreten wäre? Da wird man sofort fühlen, daß der ganze Charakter der Schöp- fungen solcher Künstler gar sehr von der vorausgehenden Kunst, also von deren Erlebnissen mit bestimmt ist. ^) Die hallucina- torische Form ihrer Inspirationen zugegeben, müssen wir auch diese als abhängig von dem Erlebten betrachten. Nun kommt ') Swoboda, Die Perioden des menschlichen Organismus. Wien 1904. — Eine genaue Periodicität konnte ich an mir nicht beobachten, wiewohl mir die Erscheinung der frei steigenden Vorstellungen häufig vorkommt. Vielleicht zeigt sich die scharfe Periodicität nur bei sehr sensiblen Individuen. *) Semon, Mneme. Leipzig 1904. ') Sehr gesunde und nüchterne Ansichten hierüber bei R. Wallaschek, Anfänge der Tonkunst. Leipzig 1903, insbesondere S. 291 u. f. Empfindung, Anschauung, Phantasie. 161 noch die Detailarbeit hinzu, welche von der wissenschaftlichen Detailarbeit sich kaum durch anderes unterscheiden wird, als durch den mehr sinnlichen, weniger abstrakten Charakter. Wer sich eine Schumann sehe Symphonie oder ein Heinesches Ge- dicht genau zu Gemüte führt, erkennt darin die Spuren der älteren Kunst. Ja man wird zugeben, daß ein guter Teil des Reizes dieser Werke in der überraschenden Variation alter Wendungen besteht, welche uns angenehm enttäuschen. Ohne das ältere Trivialere konnten sie weder entstehen, noch verstanden werden.^) 19. Kann nun eine wissenschaftliche Entdeckung mit einem hallucinatorischen Blick beginnen? Vielleicht ist Goethes Meta- morphose der Pflanzen so eingeleitet worden. Seltene Aus- nahmen kann man nicht ausschließen; im allgemeinen wird aber hier das gelten, was über die Traumphantasmen (S. 38) gesagt wurde. Ich bin mit Hallucinationen und Traumphantasmen aus eigener Erfahrung wohl vertraut, und mir ist manches optische und musikalische Phantasma vorgekommen, das einer künstlerischen Verwendung wohl fähig gewesen wäre. Dagegen kenne ich keinen Fall einer hallucinatorischen wissenschaftlichen Entdeckung, weder unter den großen klassischen historischen Beispielen, noch aus der eigenen Erfahrung. 2) Die Fälle sind ja nicht selten, daß sich plötzlich eine Perspektive eröffnet, wie ein Problem zu lösen ist, und ich habe selbst solche erlebt. Sieht man aber genau nach, so findet man, daß hier immer eine lange mühsame Arbeit, ein Durchwühlen des Gebietes vorausgegangen ist, oder daß man mühelos spielend, aber von einem bestimmt gerichteten ^) Vgl. die reizende kleine Schrift von E. Kulke, Über die Umbildung der Melodie. Prag 1884. — Analoge Betrachtungen lassen sich über die Um- bildung der Harmonie anstellen. Um nur ein Beispiel zu nennen, sei auf den Gang im Fliegenden Holländer, Balladenszene und Ouvertüre hingewiesen, in welchem die Dreiklänge: F-Dur, Es-Dur, D-Moll, noch dazu mit auffallen- der Mißachtung des Quintenverbotes sich folgen. Es liegt hier eine geringe Modifikation des trivialen Ganges vor: F-Dur-Dreiklang, Dominant-Septimen- akkord, F-Dur-Dreiklang, und gerade darin besteht der Reiz. 2) Es wird erzählt, daß Kekule seinen Benzolring als Hallucination im Londoner Nebel erschaut hätte, allein sein eigener schlichter Bericht über seine spekulative Beschäftigung in London und Gent spricht durchaus nicht für diese Auffassung. (Berichte d. Deutschen ehem. Gesellschaft, 23. Jahrg., 1890, S. 1306 u. f.) Mach, Erkenntnis und Irrtum. / H 162 Empfindung, Anschauung, Phantasie. Interesse beherrscht, Daten gesammelt hat, die sich mit einem letzten Fund zu einem Ganzen schließen. Warum verhält sich nun Kunst und Wissenschaft in diesem Punkt so verschieden? Ich glaube der Grund ist leicht anzugeben. Die Kunst bleibt überwiegend sinnlich und wendet sich hauptsächlich an einen Sinn. Jeder Sinn kann für sich hallucinieren. Die Wissenschaft aber bedarf der Begriffe. Gibt es Begriffshallucinationen? Wie könnten sie zu stände kommen? Welchen Sinn könnte es haben, die letzte menschliche intellektuelle Erwerbung, den wissen- schaftlichen Begriff, welcher seiner Natur nach durch bewußte absichtliche Arbeit entstanden ist, als Geschenk von dem unbe- wußten Organischen zu erwarten? 20. Betrachten wir zum Schluß noch einmal das Verhältnis des Begriffes zur Anschauung und Empfindung. Der Vorteil geläufiger, selbst erworbener, nicht bloß durch Worte oder Lektüre übertragener Begriffe besteht in der leichten Erweckbarkeit der in denselben potentiell enthaltenen Anschauungen und Empfindungen, welche letzteren man ebenso leicht wieder in Begriffen aufzu- speichern vermag. Ein triviales Beispiel soll dies erläutern. Wir denken an die etwa 3600 Jahre zurückliegende Zeit der Pharaonen, aus welcher wir noch historische Nachrichten haben. Diese 3600 Jahre sind fast nur „flatus vocis", solange wir sie nicht in Anschaulicheres umsetzen. Denken wir uns aber einen alten Ägypter von 60 Jahren, der einen Sohn erzeugt; dieser tut des- gleichen im gleichen Alter u. s. f., so gehört der sechzigste Nachkomme dieser Reihe, die wir leicht an der Wand eines mäßigen Zimmers aufgestellt denken können, schon der Gegen- wart an. Die Pharaonenzeit rückt uns hiermit bedenklich nahe, und wir wundern uns nicht mehr, daß noch so viel Barbarei auf uns lastet. Wer an seine braven Vorfahren denkt oder sich gern die schöne Zukunft seiner Nachkommen ausmalt, der setze seine anschaulichen Vorstellungen umgekehrt in Begriffe um. Jeder hat 2 Eltern, 4 Großeltern, 8 Urgroßeltern, und kommt so fort- rechnend in wenigen Jahrhunderten zu einer Volkszahl, welche kein Land zu fassen vermag. Da nun um so weniger jeder seine besonderen eigenen braven Vorfahren haben kann, so muß er sich damit zufrieden geben unter den gemeinsamen Vorfahren eine Unmasse von Dieben, Mördern u. s. w. zu seiner Ver- Empfindung, Anschauung, Phantasie. 163 wandtschaft zu rechnen, mit deren psychischen Erbschaften er sich abfinden muß. Wer bescheiden 3 Kinder hinterläßt, die desgleichen tun u. s. f., dessen Nachkommen würden in wenigen Jahrhunderten die Erde füllen. Es folgt, daß die meisten derselben im Kampf ums Dasein, der gewiß nicht immer mit den edelsten Mitteln geführt werden wird, umkommen müssen. Vielleicht wird dieses einfache Beispiel der Umsetzung der Begriffe in An- schauungen und umgekehrt den Gedanken nahe legen, daß die exzessive rücksichtslose egoistische Sorge für die eigenen Nach- kommen auf einer Illusion beruht und besser durch die Sorge für die Menschheit ersetzt werden sollte. 21. Der Besitzer eines reich gegliederten, seinen Interessen Rechnung tragenden Begriffsystems, das er durch Sprache, Er- ziehung und Unterricht sich zu eigen gemacht hat, erfreut sich großer Vorteile gegenüber dem auf bloße Wahrnehmungen An- gewiesenen. Wem aber die Fähigkeit fehlen würde, sinnliche Vorstellungen rasch und geläufig in Begriffe umzusetzen und umgekehrt, der könnte gelegentlich auch durch seine Begriffe irregeführt werden; dieselben könnten dann für ihn zu einer bloßen Belastung mit Vorurteilen werden. 11* Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. 1. Die Vorstellungen passen sich den Tatsachen allmählich so an, daß sie ein den biologischen Bedürfnissen entsprechendes, hinreichend genaues Abbild der ersteren darstellen. Natürlich reicht die Genauigkeit der Anpassung nicht weiter als die augen- blicklichen Interessen und Umstände es forderten, unter welchen dieselbe stattfand. Da aber diese Interessen und Umstände von Fall zu Fall wechseln, so stimmen die Anpassungsergebnisse verschiedener Fälle nicht genau untereinander überein. Das biologische Interesse treibt nun wieder zur Korrektur verschie- dener Abbildungsergebnisse durch einander, zu dem bestmög- lichen, vorteilhaftesten Ausgleich der Abweichungen. Diese Forderung wird erfüllt durch Vereinigung des Prinzips der Permanenz mit jenem der zureichenden Differenzierung der Vorstellungen. Die beiden Prozesse, der Anpassung der Vor- stellungen an die Tatsachen und der Anpassung der ersteren aneinander, lassen sich in Wirklichkeit nicht scharf trennen. Werden die ersten Sinneseindrücke schon durch die angeborene und temporäre Stimmung des Organismus mit bestimmt, so er- scheinen die späteren Sinneseindrücke schon durch die früheren beeinflußt. So ist also fast immer der erste Prozeß schon durch den zweiten kompliziert. Diese Prozesse vollziehen sich zuerst ohne Absicht und ohne klares Bewußtsein. Wir finden ja, wenn wir zu vollem Bewußtsein erwachen, schon ein recht reiches Weltbild in uns vor. Später aber zeigt sich ein ganz allmählicher Übergang zu klar bewußter und absichtlicher Fortsetzung der beiden Prozesse, und sobald dieser eingetreten ist, beginnt eben die Forschung. Die Anpassung der Gedanken an die Tat- sachen, wie wir jetzt besser sagen wollen, bezeichnen wir als Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. 165 Beobachtung^ die Anpassung der Gedanken aneinander aber als Theorie. Auch Beobachtung und Theorie sind nicht scharf zu trennen, denn fast jede Beobachtung ist schon durch die Theorie beeinflußt und äußert bei genügender Wichtigkeit anderseits ihre Rückwirkung auf die Theorie. Wir wollen nun Beispiele solcher Prozesse betrachten. 2. Wir haben uns nicht darum bemüht zu erfahren, daß Milch und Brot gut schmecken und unseren Hunger stillen, daß der Stoß schwerer harter Körper schmerzt, daß die Flamme brennt, daß das Wasser abwärts fließt, daß nach dem Blitz der Donner folgt u. s. w. Der Leib und seine Umgebung haben diese Vorstellungsanpassung zu stände gebracht. Die An- passungen vollziehen sich fast von selbst im unmittelbaren eigenen biologischen Interesse des Individuums. Die Sache ändert sich aber, sobald das Interesse der Gedankenanpassung nur ein mittelbares ist und durch Mitteilbarkeit des Ergebnisses auch der Allgemeinheit zu gute kommen, also sprachlichen Aus- druck finden soll. Hier wird das psychische Leben viel mehr in Anspruch genommen. Die neue Tatsache muß mit vielen anderen Fällen verglichen ^ die Übereinstimmungen und Unter- schiede müssen beachtet^ und die bereits bekannten und be- nannten Elemente, aus welchen die neue Tatsache zusammen- gesetzt gedacht werden kann, müssen aufgesucht werden. Nur eine im Dienste des Lebens gekräftigte, psychische Tätigkeit läßt mittelbare Interessen von der nötigen Stärke aufkommen und vermag auch deren Antrieben zu genügen. Wir lernen als Kinder Flüssigkeiten durch ein Rohr aufsaugen, ohne zu wissen wie, ohne auch nur darum zu fragen, ohne es mitteilen zu können. Man erwäge nun, welche Entwicklung dazu gehört, sich auf dem Umwege einer Pumpe Wasser zu verschaffen. Wie stark muß das indirekte Interesse sein, damit unter Herrschaft desselben die Phantasie durch passende Auslese der Erinnerungen das Vor- bild zur Konstruktion der Pumpe schafft. Was muß alles ver- glichen worden sein, um endlich sagen zu können: das Wasser folgt trotz seines Gewichtes, durch die „Scheu vor dem leeren Raum", dem sich erhebenden Pumpenkolben. Für die ersten Stufen der Anpassung genügt oft eine neue Kombination an- schaulicher Erinnerungsvorstellungen durch die Phantasietätig- \QQ Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. keit. Man denke an die „Anziehung und Abstoßung" der Mag- nete, an das „Ausschleudern" der Lichtteilchen, an die gegen- wärtig wieder auflebende, in sich geschlossene magnetische Strömung Eulers, an den „Wärmestoff", der aus dem wärmeren in den kälteren Körper „überfließt", wie das Wasser aus einem nassen Schwamm in den trockenen, ja selbst an die Amperesche „Schwimmerregel". Die weitere Anpassung erfordert aber ab- strakte begriffliche Operationen, die Betrachtung ganzer Klassen von Tatsachen, bezw. der für dieselben charakteristischen Reak- tionen. Hierher haben wir zu zählen Galileis Erkenntnis der Fallbewegung als einer „gleichförmig beschleunigten" Bewegung, Keplers Nachweis der „geradlinigen" Ausbreitung des Lichtes und des zugehörigen Intensitätsgesetzes, Blacks Konstruktion des Begriffes der „Wärmemenge", Coulombs Aufstellung des Gesetzes der „verkehrt quadratischen" Wirkung der Elektrizität. 3. Betrachten wir nun den Konflikt der Gedanken unter- einander und das Ergebnis desselben, deren Anpassung anein- ander, in einfachen Beispielen. Oft geschieht es, daß ein sinn- liches Erlebnis verschiedene Erinnerungen weckt, welche teils übereinstimmend zum Handeln in demselben Sinne hindrängen, teils widerstreitend sich gegenseitig paralj^sieren. In dieser Lage befindet sich z. B. ein Fuchs, der ein zappelndes Beutetier er- blickt, zugleich aber die Nähe des Jägers wittert, oder Anzeichen einer Falle vermutet, welche ihn an schlimme Erlebnisse mahnt. Erkennt er den vermeintlichen Jäger als einen harmlosen Knaben ohne Waffen und Hund, oder die vermeintliche Falle als Ge- strüpp, in welches sich das Tier zufällig verwickelt hat, so ist er von dem Konflikt befreit. Vor jeder Unternehmung, die teils günstige, teils ungünstige Aussichten bietet, werden wir durch die widerstreitenden Gedanken in eine mehr oder minder quälende Spannung versetzt, die erst weicht, wenn wir die Befürchtungen oder die Hoffnungen als eitel, und in den Umständen nicht be- gründet erkannt, uns demgemäß zu der Unternehmung ent- schlossen oder dieselbe aufgegeben haben. Wir fühlen dann im Gegensatz zur früheren Qual eine angenehme Befreiung vom Druck. Im Dienste des Lebens passen sich die Gedanken den Tatsachen an, im Dienste des Lebens setzen sich die Gedanken auch untereinander ins Gleichgewicht. Ist das Denken im Dienste Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. 167 des Lebens schon genügend erstarkt, so ist Nichtübereinstim- mung der Gedanken an sich schon eine Qual, und die Lösung des Konfliktes wird schon zur Beseitigung des intellektuellen Unbehagens angestrebt, selbst wenn auch gar kein praktisches Interesse mehr auf dem Spiel steht. 4. Ein junger Wilder hat einen Korb mit Früchten zugleich mit einem Brief zu überbringen, verzehrt unterwegs einen Teil der ersteren und ist erstaunt, daß der Brief dies verraten konnte. Ein zweites Mal legt er den Brief unter einen Stein, um den „Verräter" an der Beobachtung zu verhindern, muß aber auch diesmal erkennen, daß er vor dem „Zauberer" nicht gehörig auf der Hut war. Erst nachdem er zählen und die Zahl etwa durch Striche bezeichnen gelernt, hat er endlich eine ungefähr zu- treffende Vorstellung davon gewonnen, auf welche Weise ihn der Brief verraten konnte. So wird also, sozusagen, in der Gesellschaft der Erinnerungen die ursprüngliche Vorstellung des Briefes so lange umgebildet, bis sie sich mit denselben ver- trägt. — Wir sehen zum erstenmal einen schief ins Wasser ge- tauchten Stab geknickt. Aber wir haben beim Eintauchen ins Wasser keinen Widerstand empfunden; der herausgezogene Stab ist auch wieder gerade, was er doch von selbst nicht werden konnte, wenn er einmal geknickt war. So lassen wir die Knickung als minderwertigen Schein oder Täuschung gegenüber den unter- einander besser übereinstimmenden Vorstellungen von höherer Autorität unbeachtet. Allein das Nichtbeachten eines praktisch unwichtigen Erlebnisses mag wohl praktischen Zwecken genügen, dem wissenschaftlichen Standpunkt, für welchen Jede Tatsache unter Umständen Bedeutung gewinnen kann, entspricht es gewiß nicht. Diesem genügen wir erst, wenn wir das gerade und das geknickte optische Bild in gleicher Weise als durch die Um- stände der Lichtfortpflanzung bestimmt erkennen. 5. Die Gedankenanpassungen, die das Individuum nur im eigenen Interesse vornimmt, können unter Mitwirkung der Sprache stattfinden, sind aber nicht ausschließlich an dieselbe gebunden. Dagegen muß das Ergebnis der Gedankenanpassung, welches der Allgemeinheit förderlich sein soll, notwendig sprachlichen Aus- druck finden in Begriffen und Urteilen, womit alle Vorteile aber auch alle Nachteile dieser Form wirksam werden. Dies gilt 168 Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. insbesondere von allen wissenschaftlichen Anpassungsprozessen. Dieselben werden also in diesem Falle in der Korrektur zum Ausdruck kommen, welche Gruppen von Begriffen und Urteilen durch andere Gruppen von Begriffen und Urteilen erfahren. 6. Die Beunruhigung des Vorstellungslebens durch Wider- streit treibt sichtlich die Eleaten zu ihren philosophischen Ver- suchen. Allerdings suchen sie die Lösung in einer für uns wunderlichen Weise darin, daß sie der in der Sprache ver- körperten Einheit der Auffassung die Alleinherrschaft zugestehen und ihr zuliebe den Sinnen mit ihren Unterscheidungen jedes Recht mitzureden entziehen. Mag man aber diese primitiven Versuche wie immer ansehen, so wird man doch zugeben, daß die durch dieselben angeregten Debatten die Aufmerksamkeit auf das eigene Denken und Sprechen gelenkt, die Fertigkeit und Bestimmtheit des Denkens und Sprechens erhöht und durch das Gefühl der Befreiung bei wirklichen oder vermeintlichen Lösungen die Freude am Denken kennen gelehrt haben. Das Vergnügen der Überlegenheit gegenüber weniger Geübten darf als treibende Kraft auch nicht unterschätzt werden. Denn, wenn Zeno von Elea auch vor allem gewiß die Unerschöpflichkeit des von den Sinnen vorgespiegelten Kontinuums durch diskretes Zählen unangenehm gefühlt hat, worin ja die eigentliche Schwierig- keit besteht, so dürfen wir in seinem „Achilles" mit der unend- lichen geometrischen Progression, die bis zu dem Punkte und Momente des Einholens in seiner Weise eben nicht zu Ende gedacht werden kann, doch auch das Werk eines Schlaukopfes sehen, der sich seiner Überlegenheit freut. Die von den Eleaten angeregten Sophisten im schlimmen Sinne, ^) die sich die Auf- gabe stellten, „die schlechtere Sache zur besseren zu machen", die Eristiker mit ihren Trugschlüssen, welche jede Meinung zu vertreten sich getrauten, wenn sie auch zunächst auf ihren Vor- teil bedacht waren, förderten doch indirekt die Kritik des Denkens und der Sprache. Wenn uns heute Trugschlüsse, wie sie in Piatons „Euthj>demos" oder „Gorgias" Sophisten in den Mund gelegt werden, nur mehr fade und abgeschmackt erscheinen, wenn wir über witzige Schlußweisen wie den „Lügner", den „Ver- 1) Th. Gomperz, Griechische Denker. Leipzig 1896. I, S. 331 u. f. Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. 169 hüllten", das „Krokodil", den „Gehörnten" uns nicht mehr den Kopf zerbrechen, wenn der Prozeß des Sophisten Protagoras gegen seinen Schüler Eualthus (Aulus Gellius, Attische Nächte, V, 10) den modernen Juristen weniger Schwierigkeiten bereiten würde als den antiken, so verdanken wir dies dem Umstand, daß solche Schwierigkeiten eben schon von unseren Vorfahren erledigt worden sind. Wir sehen hieraus, „ein wie großer Ab- stand zwischen der Reflexion in ihrem Kindesalter und der ge- reifteren ist; und wir können uns Glück wünschen, daß wir durch letztere in den Stand gesetzt worden sind, uns, indem wir diese Schlüsse und was einen verwandten Charakter an sich trägt, rasch zur Seite schieben, mit unsern Forschungen wich- tigeren und fruchtbareren Problemen zuzuwenden".^) Wir dürfen aber nicht undankbar vergessen, daß neben dieser indirekten Förderung des Denkens durch dessen Mißbrauch^ viele griechische Philosophen die wahre Methode der Anpassung der Gedanken aneinander, die Korrektur schwächer begründeter durch stärker begründete Gedanken, durch den geometrischen Beweis an einem einfachen und soliden Stoff entwickelt und dadurch einen un- vergänglichen intellektuellen Besitz geschaffen haben. Das Er- gebnis dieser Bemühungen, Euklids „Elemente", sind noch heute in logischer Beziehung mustergültig. 7. Die mittelalterliche Scholastik war in Bezug auf die Forschung fast vollkommen steril. Um aber ihre Ansichten mit den Dogmen der Kirche und mit den Aussprüchen des Leib- philosophen derselben (Aristoteles) in Übereinstimmung zu bringen, hat sie die antike Dialektik ausgebildet und verwertet. Je ge- ringer das sachliche Material war, desto mehr mußte man darauf bedacht sein, alles, was ein für richtig geltender Satz enthalten konnte, herauszupressen. Was durch diese Methode zum Vor- schein kam, war ja größtenteils eine recht wenig nahrhafte, papierne Kost, die der heutige Naturforscher schon in der Ver- dünnung schwer verträgt, in welcher sie bei Kepler, Grimaldi, *) E. F. Beneke, System der Logik als Kunstlehre des Denkens. Berlin 1842. II, S. 141. —Vgl. auch J. F. Fries, System der Logik. Heidelberg 1819. S. 492 u. f. und endlich die vortreffliche und ansprechende Darstellung der Trugschlüsse bei W. Schuppe, Erkenntnistheoretische Logik. Bonn 1878. S. 673 u. f. 170 Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. Kircher u. a. geboten wird. Die Schulung in der Ausnützung eines Gedankens durch Übung dieser Methode darf aber nicht unterschätzt werden; dieselbe wird auch sichtbar, sobald sich ein wirklicher Forschungsstoff darbietet. Ich meine damit natürlich nicht, daß eine gütige Gottheit mit Vorbedacht die Scholastik vor den Beginn der Naturforschung gesetzt hat. War aber die Scholastik einmal da, so mußte sie ihre guten und schlimmen Wirkungen ausüben. Die letzteren hat sie leider durch Jahr- hunderte ausgeübt, bis endlich Ereignisse eintraten, nach welchen sie nur mehr für künstlich geblendete Menschen ein Scheinleben fortführen konnte.^) 8. Ein kräftiges Vorstellungsleben wird sich, auch wenn keine ernsten Aufgaben vorliegen, leicht spielend betätigen und eben durch dieses Spiel für den Ernstfall weiter entwickeln und stärken. Ich glaube, daß beide hier berührten Auffassungen des Spiels berechtigt sind, während gewöhnlich nur die eine oder die andere Seite betont wird.^) Betrachten wir als Beispiel die intellektuellen Spielaufgaben aus dem „Thaumaturgus mathema- ticus" (Coloniae 1651). Das Buch ist in der Zeit des Auf- schwungs der naturwissenschaftlichen Forschung gedruckt und ') Nach dem Rat von Prof. A. Marty lernt man die scholastische Dialektik am besten kennen durch Francisci Suarez, Disputationes metaphysicae. (Opera. Tom. 22, 23. Venetiis, 1751.) Man vergleiche z. B. den Aufwand von Scharfsinn in Disput 23 „de causa finali" (T. 22, p. 442), oder Disput 40 „de quantitate continua" (T. 23, p. 281), welcher immer nur dazu dient, um auf einem großen Umwege schließlich in recht matter Weise in eine kirchliche oder aristotelische Lehre einzulenken. — Bezeichnend für den Charakter der Scho- lastik ist, was H. Reuter (Gesch. d. religiösen Aufklärung im Mittelalter, Berlin 1877, II, S. 19 u. f.) von Simon von Tournay erzählt. Derselbe sprach nach einem erfolgreichen Vortrag unter unmäßigem Lachen: „O mein Jesulein, wieviel habe ich in dieser Frage zur Befestigung und Verherrlichung deiner Lehre beigetragen! Wahrlich, wenn ich als ihr böswilliger Gegner auftreten wollte, ich würde sie mit noch stärkeren Vernunftgründen und Argumenten zu schwächen, herabzuwürdigen, zu widerlegen wissen." Kaum hatte er die Worte vollendet, als er stumm ward. Er hatte Sprache und Gedächtnis ver- loren. — Die Dialektik ist ja oft eine Kunst andere und gelegentlich auch sich selbst irre zu führen; die Freude am Denken hat sie aber doch gefördert. Das stille Glück, welches die genossen, die in den engen geschlossenen Gedankenkreis der Scholastik sich hineingefunden hatten, können bei aller Karikatur selbst die „epistolae obscurorum virorum" nicht verdecken. *) Vgl. K. Groos, Die Spiele der Tiere. Jena 1896. Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. 171 trägt die Spuren antiken, scholastischen und modernen Denkens deutlich an sich. Die 13. Aufgabe verlangt die Wägung des Rauches eines verbrennenden Gegenstandes. Die Auflösung be- steht in der Wägung des Gegenstandes und der zurückbleibenden Asche; die Differenz beider sei das Gewicht des Rauches. Auf- gabe und Lösung sind zweifellos antik, denn nach Lucians Bericht hat der Cjpniker Demonax diese ihm vorgelegte Vexier- frage in der bezeichneten Weise beantwortet. Obgleich wir wissen^ daß die Lösung falsch ist, so zeigt sich in derselben doch deutlich das Gefühl für die allgemeinere Erfahrung, die wir heute als Prinzip der Erhaltung der Masse aussprechen, und das Bedürfnis^ die Einzelgedanken mit diesem wichtigeren in Einklang zu bringen, sie demselben anzupassen.^) — Einige Aufgaben sind solche, daß die Lösung derselben durch Experi- mentieren in Gedanken gefunden werden muß. Dieser Art ist z. B. die 15. Aufgabe von dem Wolf, der Ziege und dem Kohl- kopf, welche über den Fluß gesetzt werden sollen, während der Nachen nur für eines Platz bietet, und mit der Bedingung, daß unterdessen keines das andere verzehrt. Man beginnt natürlich mit dem Transport der Ziege, und das übrige ergibt sich von selbst. — Verwandt ist die vorausgehende 14. Aufgabe: Drei Herren mit ihren drei Sklaven zu übersetzen. Die Schwierigkeit bildet der Umstand, daß der Nachen nur 2 Personen faßt, während doch nach antiker Sitte „Dominorum quisque suum amat servum." — Eine schöne durch das Gedankenexperiment lösbare zahlen- theoretische Aufgabe ist die 9. Drei Gefäße von 3, 5 und 8 Maßeinheiten sind gegeben, die ersten beiden leer, das letztere mit Flüssigkeit gefüllt, welche mit deren Hilfe allein in 2 gleiche Teile geteilt werden soll. Die Lösung fordert nur eine lebhafte Phantasie und ist nur durch die Unbestimmtheit des Beginns der Operationen etwas erschwert. — Eigentümlich ist die 29. Auf- gabe: Einen Menschen zugleich aufrecht und verkehrt zu stellen. Das ist scheinbar unmöglich, solange man, wie die Antipoden- leugner, unter ^^aufrechf^ eine absolute Richtung versteht. Wandeh man aber diesen Begriff in einen relativen um, so löst >) Lavoisier hat nicht das Gesetz der Erhaltung der Masse entdeckt, sondern diese schon dem Altertum geläufige instinktive Annahme hat ihn zu seinen großen chemischen Entdeckungen geleitet. 172 Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. ein im Mittelpunkt der Erde stehender Mensch die Aufgabe.^) — Eine reizende Denkprobe ist die 49. Aufgabe. Rings um die Erde wird eine ganz gleichmäßige Brücke gebaut, von welcher nachher gleichzeitig alle Stützen weggenommen werden. Was geschieht dann? „Si praxis tam exacta accesserit quam specu- latio est certa", müßte die Brücke, als in sich geschlossenes Gewölbe, schweben bleiben, denn kein Teil kann eher fallen als der andere. Alle Vorstellungen werden hier dem allge- meineren Gedanken angepaßt, daß jeder Vorgang durch die Umstände eindeutig bestimmt ist. Man bemerkt, daß der Sa- turnusring eine solche Brücke vorstellen könnte. Es ist aber hierbei auf das verkehrt quadratische Gesetz der Gravitation und das dadurch bedingte labile Gleichgewicht eines starren schwebenden Ringes natürlich noch keine Rücksicht genommen. Der wirkliche Saturnusring kann nur bestehen, wenn er aus iso- lierten kreisenden Massen sich zusammensetzt. Auch die fol- genden Aufgaben dienen noch dazu, den Satz der zureichenden Bestimmtheit oder des zureichenden Grundes fühlbar zu machen. So wird in 53 ausgeführt, daß ein vollkommen gleichmäßiger kreisförmiger Spinnenfaden durch die gleichmäßig ausgeübten Kräfte aller „Engel und Menschen" nicht gesprengt werden könnte. — S. 230 wird die Frage gestellt, ob es 2 Menschen gibt, welche eine genau gleiche Zahl von Kopfhaaren aufweisen? Die Frage scheint zunächst unbeantwortbar. Dieselbe wird aber benützt, um den Wert der Ordnung und Übersicht der Vor- stellungen, kurz den Wert der Mathematik fühlbar zu machen. Ist man nämlich darüber klar geworden, daß die Zahl der Menschen zweifellos viel größer ist als das Maximum der Haar- zahl n eines Kopfes, so stelle man die ersten n Menschen, die größtmöglichste Verschiedenheit voraussetzend, nach der Haarzahl von 1 bis n fortschreitend in eine Reihe. Dann muß man den (/?-[- Uten, (/z + 2)ten u. s. f. schon auf einem der n besetzten Plätze unterbringen. 9. An diesen Beispielen sei es genug. Wir sehen, daß die Menschen des 17. Jahrhunderts nach der Denkfähigkeit und ^) Auch diese Aufgabe und ihre Auflösung ist antik. Sie wird beiPlutarch diskutiert in der Unterredung „über das Gesicht in der Mondscheibe". Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander, 173 Denkübung, welche sich in deren intellektuellen Spielen äußert, für große naturwissenschaftliche Entdeckungen wohl gerüstet waren. Die Methode des Gedankenexperiments, die Anpassung der Einzelvorstellungen an allgemeinere durch die Erfahrung und das Streben nach Übereinstimmung entwickelte Denkgewohn- heiten (Beständigkeit, eindeutige Bestimmtheit), die Ordnung der Vorstellungen in Reihen, werden in diesen Spielen geübt, und dieselben stellen gerade diejenigen Tätigkeiten vor, welche die Naturforschung am meisten fördern. 10. Wenden wir uns nun zu Beispielen der Anpassung der Gedanken aneinander, wie sie im Verlauf der Entwicklung der Wissenschaft wirklich stattgefunden hat und von ernster Be- deutung gewesen ist. Stevin sucht den Wert einer auf der schiefen Ebene liegenden Last als Zug längs der Länge der schiefen Ebene. Er nimmt denjenigen Wert als richtig an, bei dessen Geltung eine geschlossene, um die schiefe Ebene gelegte gleichmäßige Kette in Ruhe bleibt, was aus der täglichen Er- fahrung bekannt ist. Er paßt den weniger sicheren Gedanken dem sicher begründeten an. — Galilei findet bei Beginn seiner Forschungen noch die überlieferte Vorstellung einer allmählich abnehmenden „vis impressa" des geschleuderten Körpers vor, welche auch ein natürlicher Ausdruck der täglichen Erfahrung ist. Seine Untersuchungen lehren ihn die gleichförmig beschleunigte Fallbewegung und die gleichförmig verzögerte Steigebewegung in vertikaler und gegen den Horizont schiefer Richtung kennen. Zugleich hat er sich, insbesondere bei Pendelversuchen, gewöhnt, die Widerstände als die Geschwindigkeit vermindernd, als ver- zögernd aufzufassen. Indem ihm nun die gleichförmige Horizontal- bewegung als spezieller Fall einer gleichförmig beschleunigten oder verzögerten Bewegung mit der Beschleunigung oder Ver- zögerung Null entgegentritt, wird die abnehmende vis impressa überflüssig und verwirrend und muß der überall passenden Träg- heitsvorstellung weichen.^) — Die Newtonschen „Prinzipien" be- ') Vgl. Mechanik 5. Aufl., S. 139 u. f. — Über ältere Auffassungen des Trägheitsgesetzes ref eriert W h e w e 1 1 (The Philosophy of the inductive sciences, 1, p. 216 u. f.). Whewell ist sich darüber klar, daß die erste Quelle der Erkenntnis der Trägheit nur die Erfahrung sein kann. Hat man aber die Kraft als eine Ursache der Bewegung oder BQ\^Qgwr\gsänderung erkannt, 174 Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. ginnen mit acht Definitionen (der Masse, der Bewegungsquantität, des Trägheitswiderstandes, der Zentralkraft u. s. w.) und mit drei Bewegungsgesetzen, sowie den aus diesen gezogenen Folge- sätzen. Diese Aufstellungen sind aus der Erfahrung abstrahiert oder dieser angepaßt und tragen auch schon den Stempel der Anpassung aneinander. Die letztere ist jedoch nicht zu Ende geführt, denn es befinden sich unter den Aufstellungen über- flüssige. Zur vollen Würdigung dieser Aufstellungen muß man in Betracht ziehen, daß sie in der Zeit der Entwicklung der Statik zur Dynamik entstanden sind, und daher eine doppelte Auf- fassung der Kraft (einerseits als Zug oder Druck, anderseits als beschleunigungsbestimmenden Umstand) enthalten. Die Fassung des 2. und 3. Gesetzes ist nur auf diese Weise verständlich. Geht man, die Statik als Spezialfall der Dynamik betrachtend, von der Tatsache aus, daß die Körper paarweise aneinander Gegenbeschleunigungen bestimmen, welche Paare voneinander unabhängig sind, definiert man das Massenverhältnis dynamisch durch das umgekehrte Beschleunigungsv^r/zä/Z/z/s, und fügt die so folgt nach ihm bei Abwesenheit einer Kraft gleichförmige geradlinige Be- wegung. Dies fällt mit meiner Auffassung zusammen, wenn man bestimmter, kürzer und genauer die Kraft als einen beschleunigungsbestimmenden Um- stand definiert. Die Ausführungen D'Alemberts (Traite de Dynamique 1743, -p. 4—6), welche auch bei Whewell p. 218 besprochen werden, sind, ohne wesentliche Änderung ihrer Form, geradezu unverständlich. Ein Körper sei (durch einen Anstoß?) in Bewegung gesetzt. Entweder genügt die Ursache, denselben einen Fuß weit (sie!) zu bewegen, oder die dauernde Fortwirkung war schon für diesen Fuß nötig. In beiden Fällen bleibt derselbe Grund für die Bewegung durch den zweiten, dritten u. s. w. Fuß bestehen. — Nun ist klar, daß die Betrachtung über den zurückgelegten Weg zu keinem Ergebnis führen kann, solange über den Weg als Funktion der Zeit keine Voraussetzung gemacht ist. Nimmt man aber an, daß nur in einem Zeitdifferential nach dem Anstoß die Bewegung gleichförmig ist, so hat man allerdings das Träg- heitsgesetz schon implicite statuiert, und kann es nun leicht herausphiloso- phieren. D'Alemberts Darlegung ist ein prächtiges Sophisma. Playfair (zitiert bei Whewell p. 219) meint, man müßte, das Trägheitsgesetz ablehnend, annehmen, daß die Abnahme der Geschwindigkeit v irgend eine Funktion der Zeit sei /(/), einfacher v = c{\ — kt), wobei c die Anfangsgeschwindigkeit wäre. Plapfair sieht aber keinen Grund, einer Funktionsform oder einem Wert der Konstanten A- vor dem andern einen Vorzug zu geben. Whewell bemerkt darauf richtig, daß unser Mangel an Einsicht nicht über die Er- fahrung entscheiden kann. Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. 175 Erfahrung hinzu, daß die Massenverhältnisse dieselben bleiben, ob sie direkt oder mittelbar gewonnen werden, so läßt sich hier- auf die ganze Dynamik gründen. Hierbei reduziert sich Lex II auf" die Tatsache der gegenseitigen Beschleunigung der Körper, bezw. auf eine willkürliche Maßdefinition, Lex I wird ein Spezial- fall von Lex II und Lex III wird ganz überflüssig.^) Die Newton- schen Aufstellungen stimmen natürlich vollkommen untereinander, das Pleonastische dieser Aufstellungen äußert sich jedoch darin, daß aus einigen derselben andere abgeleitet werden können.^) — Black hatte bereits auf Grund der Wärmestoff Vorstellung den Begriff Wärmemenge konstruiert und die Vorstellung der kon- stanten Wärmemengensumme gewonnen; es war ihm auch be- kannt, daß von einem wärmeren Körper auf den denselben be- rührenden kälteren Wärmemenge übergeht, wodurch die Temperatur des ersteren sinkt, die des letzteren steigt. Nun bot sich ihm die Beobachtung, daß die Temperatur schmelzender und siedender Körper durch Berührung mit der viel heißeren Flamme nicht gesteigert wird, solange das Schmelzen oder Sieden währt. Die Konstanz der Wärmemengensumme kann nun zugleich mit dem Verschwinden von Wärmemenge bei den erwähnten Prozessen nicht aufrecht erhalten werden. Black nimmt an, daß Schmelzen und Sieden Wärmemenge latent macht, während die moderne Thermodynamik die Konstanz der Wärmemengensumme fallen läßt. Die Anpassung kann also in verschiedener Weise erfolgen. Jener Gedanke unter zwei widerstreitenden, den man zurzeit für weniger wichtig und vertrauenswürdig hält, muß sich die Modifikation zu Gunsten des andern gefallen lassen. — S. Carnot hat erkannt, daß Wärmemenge von höherem auf ein tieferes Temperaturniveau sinken, auf einen kälteren Körper übergehen muß, wenn etwa durch Ausdehnung des letzteren Arbeit geleistet werden soll. Die Wärmemenge sah er zunächst im Blackschen Sinne als unveränderlich an. Mayer und Joule finden aber eine Ver- 1) Mechanik. 5. Aufl., insbesondere S. 267 u. f. *) Außer dem in der Mechanik Gesagten sei darauf hingewiesen, daß aus dem Prinzip des Kräfteparallelogramms (Coroll. I) sich die in Lex II aus- gesprochene Proportionalität ableiten läßt. Die in Coroll. I enthaltene Annahme der Unabhängigkeit der Kräfte voneinander erfordert aber eine besondere Aufstellung. 176 Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. minderung der Wärmemenge bei deren Arbeitsleistung und halten anderseits die Vermehrung der Wärmemenge durch Arbeit, die Erzeugung von Wärme (durch Reibung) aufrecht. Clausius und Thomson lösen diese scheinbare Paradoxie, indem sie die bei der Arbeitsleistung verschwundene Wärme als abhängig von der übergeführten Wärme und den Temperaturen erkennen. Die Carnotsche und die Mayersche Auffassung werden hier modi- fiziert und in der neuen Form vereinigt. — Der Carnotsche Satz bringt W. Thomson auf den Gedanken, durch isother- mische Ausdehnung und Kompression von Luft bei 0° C, also ohne Arbeit, Eis zu erzeugen. J. Thomson bemerkt aber, weil Wasser beim Gefrieren sich ausdehnend Arbeit leisten kann, daß letztere Arbeit aus nichts gewonnen werden müßte. Zur Be- seitigung der Widersprüche mußte angenommen werden, daß der Gefrierpunkt durch Druck in quantitativ bestimmter Weise er- niedrigt wird, was der Versuch auch bestätigte. So liegt also in den Paradoxien selbst die stärkste treibende Kraft^ welche zur Anpassung der Gedanken aneinander und hiermit zu neuen Aufklärungen und Entdeckungen drängt. 11. Die Anpassung der Gedanken aneinander erschöpft sich nicht in der Abschleifung der Widersprüche. Jede Zersplitterung der Aufmerksamkeit, jede Belastung des Gedächtnisses durch zu vielerlei, wird unangenehm empfunden, auch wenn keine Wider- sprüche mehr vorhanden sind. Jedes Erkennen des noch Un- bekannten und Neuen als Kombination des Altbekannten, jede Enthüllung des scheinbar Verschiedenartigen als eines Gleich- artigen, jede Verminderung der zureichenden Zahl der leitenden Gedanken, jede organische Ordnung der letzteren nach dem Prinzip der Permanenz und der zureichenden Differenzierung, wird als eine angenehme Entlastung empfunden. Das Ökonomi- sieren, Harmonisieren, Organisieren der Gedanken, welches wir als ein biologisches Bedürfnis fühlen, geht weit über die For- derung der logischen Widerspruchslosigkeit hinaus. 12. Das ptolomaeische System enthält keine Widersprüche; alle Einzelheiten desselben sind wohl miteinander verträglich. Allein wir haben hier eine ruhende Erde, eine als Ganzes rotierende Fixsternsphäre, und die individuellen Bewegungen der Sonne, des Mondes und der Planeten. Im Sipstem des Kopernikus, sowie Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. 177 seiner antiken Vorgänger, reduzieren sich alle Bewegungen auf kreisende und Achsendrehungen. — In Keplers 3 Gesetzen liegt kein Widerspruch. Wie angenehm ist aber die Reduktion auf das eine Newtonsche Gravitationsgesetz, welches zudem noch den irdischen Fall und Wurf, das Flutphänomen u. a. unter einen Gesichtspunkt faßt. — Brechung und Reflexion des Lichtes, Interferenz und Polarisation bildeten gesonderte Kapitel, deren Lehren jedoch untereinander nicht in Widerspruch standen. Die Zurückführung aller dieser Lehren auf transversale Schwingungen durch Fresnel war dennoch eine große Erleichterung und ein sehr erfreulicher Fortschritt. Eine weitaus größere Vereinfachung ist aber die Einreihung der ganzen Optik als eines Kapitels der Elektrizitätslehre durch Maxwell. — Die geologische Kata- strophentheorie, die Cuviersche Vorstellung der Schöpfungs- perioden enthalten keine Widersprüche. Jedermann wird aber Lamarck, LytW und Darwin dafür dankbar sein, daß sie eine einfachere Auffassung der Geschichte der Erde, der Tier- und Pflanzenwelt versucht haben. ^) 13. Nach der Betrachtung dieser Beispiele wird eine allge- meinere Ausführung am Platze sein. Die in Form von Urteilen fixierten Ergebnisse der Anpassung der Gedanken an die Tat- sachen werden der Vergleichung unterzogen und sind die Objekte eines weiteren Anpassungsprozesses. Sind dieselben unverträg- lich, so kann ein minder bewährtes zu Gunsten eines besser be- währten fallen gelassen werden. Es hängt natürlich ganz ab von dem Grade der Bekanntschaft mit einem Gebiet, von der Denk- erfahrung und Denkübung des Urteilenden, auch von den ein- gelebten Ansichten der Zeitgenossen, welchen Urteilen eine höhere Autorität gegenüber andern beigemessen wird. Der ge- übte Physiker oder Chemiker wird z. B. einem Gedanken, welcher gegen die Voraussetzung der eindeutigen Bestimmtheit des Naturlaufs, gegen das Energieprinzip oder das Prinzip der Erhaltung der Masse verstößt, keine Autorität zuerkennen, während der Dilettant, der Konstrukteur eines Perpetuum mobile, darin weniger Schwierigkeiten findet. Zu Newtons Zeit gehörte sehr *) Sie bringen außerdem noch die Newtonsche Regel zur Geltung, nach Möglichkeit nur eine tatsächlich beobachtete Ursache (vera causa) zur Erklärung zu verwenden. Mach, Erkenntnis und Irrtum. 12 178 Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. viel Mut dazu, Fernwirkungen anzunehmen, selbst wenn man diese als etwas noch zu Erklärendes hinstellte. Später wurde diese Auffassung durch ihre Erfolge so geläufig, daß niemand mehr an derselben Anstoß nahm. Heute hat man wieder ein zu starkes Bedürfnis, alle Wechselbeziehungen in ihrer Kontinuität durch Raum und Zeit zu verfolgen, um unvermittelte Fern- wirkungen anzunehmen. Unmittelbar nach Black war es ein Wagnis, an der Unveränderlichkeit der Wärmemenge zu zweifeln, während ein halbes Jahrhundert später eine starke Neigung be- stand, die Black sehe Annahme aufzugeben. Jede Zeit bevor- zugt allgemein die Urteile, unter deren Leitung sie die größten praktischen und intellektuellen Erfolge erzielt hat. Große, weit vorausblickende Forscher sind häufig in die Lage versetzt, zu den Ansichten ihrer Zeitgenossen in Opposition zu treten. Sie führen eine Wandlung herbei. Auch bisher maßgebende Urteile müssen nun mit neuen, welche sonst unbedingt verworfen worden wären, ein Kompromiß schließen, durch welches meist beide mo- difiziert werden. Die thermodynamischen Arbeiten von Clau- sius und W. Thomson einerseits, jene über Elektrizität von Faraday und Maxwell anderseits bieten Beispiele hierfür. 14. Die Urteile, die sich zur Vergleichung darbieten, können von vornherein auch verträglich sein, ohne Widerspruch neben- einander bestehen. Nun scheint weitere Anpassung unnötig. Es hängt aber wieder von der Individualität des Denkers, von dessen ästhetischem, logisch-ökonomischem Bedürfnis ab, ob nicht eine weitere Harmonisierung gefordert wird. In manchen Köpfen vertragen sich die verschiedenartigsten Vorstellungen miteinander deshalb, weil sie Gebieten angehören, die nie in Berührung kommen, z. B. der sonderbarste Aberglaube in einem Gebiet mit der größten Nüchternheit in einem andern. Dies trifft bei den Stimmungs- und Gelegenheitsdenkern zu, die von Fall zu Fall verschiedene Register ansprechen lassen, ohne sich um den organischen Zusammenhang größerer Gedankenkreise zu kümmern. Im Gegensatz zu diesen stehen Forscher wie Descartes, Newton, Leibniz, Darwin u. a.^) ») Duhem (La Theorie phpsique, S. 84—167) unterscheidet zweierlei intellektuelle Individualitäten: umfassende und //e/e Geister. Die umfassen- den Geister (esprits amples) haben lebhafte Phantasie, ein empfindliches Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. 179 15. Das Ideal der ökonomischen und organischen Zusammen- passung der einem Gebiet angehörigen verträglichen Urteile ist erreicht, wenn es gelungen ist, die geringste Zahl einfachster unabhängiger Urteile zu finden, aus welchen sich alle übrigen als logische Folgen ergeben, d. h. ableiten lassen. Ein Beispiel eines solchen geordneten Systems von Urteilen ist die euklidische Geometrie. Die auf diese Weise deduzierten Urteile können ur- Gedächtnis, Feinheit der Beurteilung, vermögen sehr Mannigfaltiges aufzufassen, zeigen aber wenig Sinn für logische Schärfe und Reinheit. Tiefe, aber enge Geister (esprits profonds et etroits) haben einen engeren Gesichtskreis; sie sind ihrer Natur nach geneigt, alles in vereinfachter abstrakter Weise auf- zufassen, wissen die intellektuelle Ökonomie, den logischen Zusammenhang und die Folgerichtigkeit zu schätzen und auch zur Geltung zu bringen. Die erstere Art des Intellekts sei besonders bei den Engländern, die zweite bei den Franzosen und den Deutschen vertreten. Namen berühmter Gelehrten, wissenschaftliche Leistungen, englische und französische Gesetze u. s. w. illustrieren diesen Gedanken in recht ansprechender Weise. Darüber, daß diese Charakteristik nur im allgemeinen gilt, und nicht ohne weiteres auf den einzelnen übertragen werden darf, ist Duhem vollkommen klar. Ich möchte aber glauben, daß nicht nur alle möglichen Zwischenstufen zwischen diesen beiden Extremen vertreten sind, sondern auch, daß jeder einzelne je nach seiner Denkstimmung und Aufgabe bald nach der einen, bald nach der andern Seite neigen kann. William Thomson (Lord Kelvin) wird z. B. von Duhem wegen seiner vielen, auf den verschiedensten Prinzipien beruhenden mechanischen Modelle zur Darstellung physikalischer Gesetze zu dem ersteren Typus gezählt; wer aber etwa seine thermodynamischen Arbeiten ins Auge faßt, wird eher sagen, daß er dem zweiten Typus angehört. Descartes wird von Duhem als Repräsentant des zweiten Typus angeführt. Betrachtet man des Descartes haarsträubend unlogische Versuche, das Brechungs- gesetz zu begründen, wobei er eine zeitlose Fortpflanzung des Lichtes an- nimmt, und doch wieder Zeiten und Geschwindigkeiten im ersten und zweiten Medium in Betracht zieht, vergleicht man diesen Gedankengang mit den schönen logischen Ableitungen, die Descartes in der Dioptrik auf das Brechungsgesetz selbst gründet, so möchte man nicht glauben, daß hier der selbe Autor spricht. Ich meine, man muß unterscheiden zwischen der Denk- arbeit der Ableitung aus gegebenen Prinzipien und dem Suchen nach den Prinzipien, welche brauchbare Grundlagen weiterer Ableitungen darstellen. Werden die von Duhem und Poincare recht hart beurteilten Arbeiten Maxwells aus dem letzteren Gesichtspunkt betrachtet, so sind sie das Wunder- barste, was man sich vorstellen kann. Wir können uns ja Glück wünschen, wenn ein ganzes Volk besonders geschickt ist im Suchen nach neuen Grund- lagen eines Wissensgebietes, ein anderes dagegen viel geschickter darin, in dieses Gebiet logische Ordnung, Zusammenhang und Einheit zu bringen. 12* / 180 Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. sprünglich auf ganz andere, von der Deduktion unabhängige Weise gefunden sein, und dies ist sogar der gewöhnliche Fall. Dann dient die Ableitung entweder, um das Urteil durch ein- fachere geläufigere verständlich zu machen, also zur Erklärung, oder um dasselbe Zweifeln gegenüber auf Einfacheres, nicht Be- zweifeltes zu gründen, also zum Beweis. War das abgeleitete Urteil zuvor nicht bekannt, sondern wurde es erst durch die Ableitung gefunden, so stellt es eine auf dem Wege der Deduktion gemachte Entdeckung vor. 16. Der einfache, durchsich- tige, allgemein geläufige geome- trische Stoff ist sehr geeignet, die Zusammenpassung der Urteile leb- haft vor Augen zu führen. Wir wollen deshalb einen besonderen Fall betrachten. Man ziehe an einen Kreis vier beliebige Gerade, welche denselben in vier Punkten berühren und das Viereck ABCD (Fig. 2) bilden. Nicht alles, was wir von diesem Viereck aussagen können, dürfen wir von einem be- liebigen Viereck behaupten. Denn die Seiten des ersteren Vierecks sind Kreistangenten, und was wir von diesen aussagen, muß mit den Urteilen über den Kreis zu- sammenpassen. Die Kreisradien nach den Berührungspunkten stehen auf den Viereckseiten senkrecht; alle übrigen Punkte dieser Geraden haben größere Entfernungen vom Mittelpunkt als diese Senkrechten und liegen außerhalb des Kreises. Die von einer Ecke aus gezogenen Tangenten liegen in Bezug auf die Zentri- linie durch diese Ecke sjpmmetrisch, und deren Stücke zwischen der Ecke und den Berührungspunkten sind beiderseits gleich lang.^) Dies gilt für jede Ecke. Daher ist die Länge eines Gegenseitenpaares zusammengenommen gleich der Länge des andern Gegenseitenpaares zusammengenommen. ') Man beachte die leicht ersichtliche Kongruenz der für die Ecke A angedeuteten Dreiecke. Fig. 2. Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. ( 181/ Diese metrische Eigenschaft kommt nur dem Kreise um- schriebenen Vierecken zu. Zieht man z. B. statt AD eine das Viereck vollendende Sekante, oder eine außerhalb des Kreises liegende Gerade, so gilt ersichtlich die Eigenschaft nicht mehr. Einem jeden beliebigen Viereck kann auch nicht ein Kreis ein- geschrieben werden. Der einzuschreibende Kreis ist nämlich schon durch drei Tangenten, bezw. durch den Durchschnitt zweier Winkelhalbierenden der Tangenten bestimmt. Die vierte Seite legt Forderungen auf, die im allgemeinen nicht mehr mit den früheren vereinbar sind. Man kann solche Zusammenpassungen von Urteilen leicht in die Form einer Erklärung, einer Aufgabe, eines Beweises oder einer deduktiven Entdeckung bringen. Auch die Einkleidung in die euklidische oder die aristotelisch-logische Form macht keine Schwierigkeit. Beispiele dieser Art behandelt ausführlich J. F. Fries ^) und in etwas mehr anziehender Form Drobisch. ^) 17. Die Formen der Logik, welche nicht Gegenstand unserer Darstellung sind, wurden aus Fällen wirklichen wissenschaftlichen Denkens durch Abstraktion gewonnen. Jedes besondere, etwa geometrische Beispiel kann aber deutlich machen, wie wenig die Kenntnis dieser Formen allein nützt. Sie kann allenfalls dazu dienen, einen Gedankengang nachzuprüfen, nicht aber einen neuen zu finden. Das Denken vollzieht sich eben nicht an der leeren Form, sondern an dem lebhaft unmittelbar oder begrifflich vorgestellten Inhalt. ^) In einer geometrischen Ableitung kommt die Gerade bald der Lage, bald der Länge nach, bald als Tangente, bald als Senk- rechte zum Radius, bald als Teil einer symmetrischen Figur in Betracht; am Parallelogramm ist einmal die Fläche, einmal das Seiten- oder Diagonalenverhältnis, dann sind die Winkel zu be- achten. Wem nicht alle anschaulichen und begrifflichen Be- ziehungen geläufig wären, wer dieselben nicht ineinander um- zusetzen wüßte, wessen Aufmerksamkeit nicht durch das Interesse für den vermuteten Zusammenhang auf die richtigen Bahnen ge- leitet würde, der würde gewiß keine geometrischen Sätze finden. 1) Fries, System der Logik. Heidelberg 1819. S. 282 u. f. ^) Drobisch, Neue Darstellung der Logik. Leipzig 1895. Anhang. *) Vgl. Schuppe, Erkenntnistheoretische Logik. Bonn 1878. — Grundriß der Erkenntnistheorie und Logik. Berlin 1894. 182/ Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander. Die leeren logischen Formen können die Sachkenntnis nicht er- setzen.^) Daß aber die Aufmerksamkeit auf das Denken als solches, die symbolische Darstellung der abstrakten Formen der Denkhandlungen keineswegs ganz wertlos ist, lehrt ein Blick auf die Algebra und die mathematische Zeichensprache überhaupt. Wer die betreffenden Denkhandlungen nicht ohne diese Hilfe auszuführen wüßte, dem würden diese Mittel allerdings nichts nützen. Wenn es sich aber um ganze Reihen von Denkopera- tionen handeh, welche dieselben oder analoge Denkhandlungen in häufiger Wiederholung enthalten, dann liegt in der symbo- lischen Ausführung derselben eine bedeutende Entlastung der Denkarbeit und Aufsparung der Leistung für wichtigere neue Fälle, welche nicht symbolisch erledigt werden können. In der Tat haben die Mathematiker in der mathematischen Zeichensprache eine sehr wertvolle logische Symbolik für ihre Zwecke ent- wickelt. Die mathematischen Denkoperationen sind von einer Mannigfaltigkeit, welche durch den Rahmen der einfachen klassi- fikatorischen aristotelischen Logik nicht umspannt werden kann. Es entwickelt sich auch auf dem Boden dieser Wissenschaft eine eigene umfassendere symbolische Logik, ^) deren Operationen sich keineswegs nur auf Quantitatives beschränken. Die Anfänge hiervon gehen bis auf Leib niz^) zurück, und sind in Deutschland um die Mitte des abgelaufenen Jahrhunderts, wie es scheint, allein von Beneke*) gepflegt worden. Nur Mathematiker wie H. Grass- mann, Boole, E. Schroeder, A. W. Russell u. a. verfolgen wieder Lei bniz sehe Wege. *) Vgl. hingegen die reichen Anregungen bei einem Sachkundigen wie F. Mann (Die logischen Grundoperationen der Mathematik. Erlangen und Leipzig 1895). 2) Boole, An investigation of the laws of thought. London 1854. — E. Schroeder, Algebra der Logik. Leipzig 1890—1895. — Russell, The principles of mathematics. Cambridge 1903. *) Couturat, La logique de Leibniz. Paris 1901. *) F. E. Beneke, System der Logik als Kunstlehre des Denkens. Berlin 1842. — B.s Logik ist keine bloße formale Logik, sondern enthält wichtige psychologische Untersuchungen, die leider nicht in verdienter Weise be- achtet worden sind. über Gedankenexperimente. ') 1. Der Mensch sammelt Erfahrungen durch Beobachtung der Veränderungen in seiner Umgebung. Die für ihn interes- santesten und lehrreichsten Veränderungen sind jedoch jene, welche er durch sein Eingreifen, durch seine willkürlichen Be- wegungen beeinflussen kann. Diesen gegenüber hat er nicht nötig, sich rein passiv zu verhalten, er kann sie aktiv seinen Bedürfnissen anpassen; dieselben haben für ihn auch die größte ökonomische, praktische und intellektuelle Wichtigkeit. Darin ist der Wert des Experimentes begründet. Wenn wir beobachten, wie ein Kind, welches die erste Stufe der Selbständigkeit erreicht hat, die Empfindlichkeit seiner eigenen Glieder prüft, wie es von seinem Spiegelbilde, oder von seinem eigenen Schatten im hellen Sonnenschein befremdet, durch Be- wegungen die Bedingungen desselben zu ermitteln sucht, wie es sich im Werfen nach einem Ziele übt; so müssen wir sagen, daß die instinktive Neigung zum Experimentieren dem Menschen angeboren ist, und daß er ebenso die Grundmethode des Ex- periments, die Methode der Variation^ ohne viel nach derselben zu suchen, in sich vorfindet. Wenn diese Schätze dem Er- wachsenen zeitweilig wieder abhanden kommen und sozusagen wieder neu entdeckt werden müssen, so wird dies dadurch ver- ständlich, daß dieser meist für einen engeren Interessenkreis durch die Gesellschaft erzogen, in denselben gebannt ist und gleichzeitig eine Menge fertiger und vermeintlich über die Prü- fung erhabener Ansichten, um nicht zu sagen Vorurteile, über- nommen hat. *) Teile dieses Artikels wurden schon publiziert in Poskes Zeitschr. f. physik. u. ehem. Unterricht. 1897. Januarheft. 184 (^ber Gedankenexperimente. Der Intellekt kann beim Experimentieren in verschiedenem Grade beteiligt sein. Ich konnte dies beobachten, als ich vor Jahren, von einer Lähmung der rechten Hand betroffen, vieles, was man sonst mit beiden Händen tut, mit einer Hand verrichten mußte, wenn ich nicht unausgesetzt von fremder Hilfe abhängig sein wollte. Indem ich die Bewegungen mit der Richtung auf ein bestimmtes Ziel, wohl auch planlos und ungestüm, variierte, befand ich mich bald ohne viel Nachdenken, nur durch Fest- halten, Angewöhnen des Förderlichen, im Besitze einer Menge kleiner Erfindungen. So lernte ich das Aufschneiden der Bücher und anderes. Entschieden durch Nachdenken aber fand ich ein Verfahren mit Zirkel, Lineal und mit Hilfe eines Gewichtes, als Ersatz der zweiten Hand, geometrische Zeichnungen auszuführen, sowie alle jene Kunstgriffe, für welche die Bewegungen meiner Hand überhaupt nicht ausreichten. Es ist kaum zu zweifeln, daß die Grenze zwischen dem instinktiven und dem durch Denken geleiteten Experiment keine scharfe ist. Hauptsächlich Ergeb- nisse des ersteren sind wohl die meisten in die prähistorische Zeit zurückreichenden Erfindungen, welche, wie Spinnen, Flechten, Weben, Knotenschlingen u. s. w. den Eindruck des Tiefdurch- dachten machen und als deren biologische Vorläufer wir den Nest- bau der Vögel und Affen ansehen können. Dieselben rühren wahr- scheinlich größtenteils von Frauen her, und sind vermutlich halb spielend gewonnen worden, indem das zufällig sich ergebende Vorteilhafte oder Gefällige erst nachträglich mit Absicht fest- gehalten wurde. Ist einmal ein Anfang gemacht, so führt Denken und Vergleichung leicht zu vollkommeneren Versuchen.^) ^) Recht zweckmäßige Mittel ergeben sich mitunter durch das bloße Probieren. Ich sah einem Dienstmädchen zu, welches einen großen Teppich unter einen schweren Speisetisch legen sollte, der von einer Person nicht getragen werden konnte. Im Augenblick stand der Tisch auf dem Teppich, ohne verschoben worden zu sein. Das Mädchen behauptete nicht nachgedacht zu haben. Der Teppich wurde fast ganz zusammengerollt vor den Tisch gelegt, der Tisch an dieser Seite gehoben, und während das aufgerollte Ende des Teppichs mit einem Fuße festgehalten wurde, erhielt die Rolle durch den andern Fuß einen Stoß, so daß sie unter den Tisch bis zur Gegenseite rollend sich aufwickelte. Eine analoge Prozedur an der andern Seite voll- endete die Aufgabe. — Als ich, auf den Gebrauch einer Hand angewiesen, den Fenstervorhang aufziehen wollte, konnte dies wegen der Länge der Schnur über Gedankenexperimente. 185 2. Das Experiment ist nicht ausschließliches Eigentum des Menschen. Man kann auch Experimente der Tiere beobachten, und zwar in verschiedenen Stufen der Entwicklung. Die un- gestümen Bewegungen eines Hamsters, die den Deckel einer Büchse, in welcher er Futter wittert, bei aller Planlosigkeit endlich doch zum Fallen bringen, stellen wohl die roheste Stufe vor. Interessanter sind schon die Hunde C. Lloyd Morgans, welche nach mehreren Versuchen einen Stock mit schwerem Knopf zu tragen, denselben nicht mehr in der Mitte, sondern nahe am schweren Ende (im Schwerpunkt) fassen, und ebenso nach frucht- losen Anstrengungen den in der Mitte gefaßten Stock durch eine schmale Tür zu bringen, denselben an einem Ende packen und hindurchziehen. Diese Tiere zeigen aber dennoch wenig Fähig- keit, die Erfahrung eines Falles für den nächsten gleichartigen zu verwerten. Kluge Pferde sah ich durch Stampfen sorgfältig einen bedenklichen Steg untersuchen, und Katzen die Wärme der dargebotenen dampfenden Milch durch Eintauchen der Pfote erpro- ben. Vom bloßen Prüfen durch die Sinnesorgane, dem Wenden der Körper, Wechsel des Standpunktes bis zu wesentlicher Änderung der Umstände, von der passiven Beobachtung zum Experiment, ist der Übergang ein ganz allmählicher. Was die Tiere vom Menschen hier unterscheidet, ist vor allem die Enge des Inter- essenkreises. Eine junge Katze untersucht neugierig ihr Spiegel- bild, sieht wohl auch hinter dem Spiegel nach, wird aber sofort gleichgültig, sobald sie merkt, daß sie nicht mit einer körperlichen Katze zu tun hat. Das Turteltauben-Männchen erreicht nicht einmal diese Stufe. Es ist im stände, wie ich oft beobachtet habe, viertelstundenlang vor seinem eigenen Spiegelbild zu gurren und Komplimente mit den zwei etikettemäßigen Schritten auszuführen, ohne die Täuschung zu merken. Welche Niveau- differenz! wenn man dann ein vierjähriges Kind beobachtet, welches spontan mit Verwunderung und Interesse bemerkt, daß nur in mehreren Absätzen geschehen. Plötzlich befand ich mich aber, ohne mit Bewußtsein und Absicht nachgedacht zu haben, im Besitz eines bequemeren Verfahrens. Meine Hand kletterte an der Schnur ein Stück in die Höhe, indem sie die Schnur abwechselnd mit Daumen und Zeigefinger einerseits faßte, und dann wieder mit den drei übrigen Fingern umschlang. War die größtmög- liche Höhe erreicht, so wurde die Schnur herabgezogen und die Operation wiederholt. / 186 (^ber Gedankenexperimente. eine zur Kühlung ins Wasser versenkte Weinflasche verkürzt erscheint. Ein anderes Kind in nahe gleichem Alter verwunderte sich über die stereoskopischen Erscheinungen, die sich beim zufälligen Schielen vor einer Tapete ergaben.^) Das durch Denken geleitete Experiment begründet die Wis- senschaft, erweitert mit Bewußtsein und Absicht die Erfahrung. Man darf aber deshalb die Funktion von Instinkt und Gewohn- heit im Experiment nicht unterschätzen. Man kann die Menge der Umstände, die bei einem Versuch mitspielen, unmöglich so- gleich denkend überschauen. Wem die Fähigkeit fehlt, das Un- gewöhnliche festzuhalten, und die Bewegungen der Hand dem Bedürfnis rasch anzupassen, wird schlechten Erfolg haben bei den Verrichtungen, welche die Vorstufe eines planmäßig einge- leiteten Experimentes begründen. Man experimentiert ganz anders auf einem Gebiete, mit dem man durch längere Be- schäftigung vertraut geworden. Wenn man nach einer längeren Pause auf dieses Gebiet zurückkehrt, so kann man bemerken, wie das meiste von dem, was nicht begrifflich fixiert wurde, das feine Gefühl für die Bedeutung der Nebenumstände, die Geschick- lichkeit der Hand, meist wieder neu erworben werden muß. 3. Außer dem physischen Experiment gibt es noch ein an- deres, welches auf höherer intellektueller Stufe in ausgedehntem Maße geübt wird — das Gedankenexperiment. Der Projekten- macher, der Erbauer von Luftschlössern, der Romanschreiber, ^) der Dichter sozialer oder technischer Utopien experimentiert in Gedanken. Aber auch der solide Kaufmann, der ernste Erfinder oder Forscher tut dasselbe. Alle stellen sich Umstände vor, und knüpfen an diese Vorstellung die Erwartung, Vermutung gewisser Folgen; sie machen eine Gedankenerfahrung. Während aber die ersteren in der Phantasie Umstände kombinieren, die in Wirklichkeit nicht zusammentreffen, oder diese Umstände von Folgen begleitet denken, welche nicht an dieselben gebunden ') Die Weite des Interessenkreises ist es vor allem, welche nach meiner Meinung die Überlegenheit der Intelligenz eines 3— 4jährigen Kindes über jene des klügsten Tieres bedingt. Ich kann es kaum verstehen, wie jemand, der mit Kindern und Tieren verkehrt hat, an wirkliche Zahlbegriffe, an wirk- liches Rechnen eines Pferdes denken kann. Vgl. die S. 12 erwähnte Schrift von Th. Zell. *) Vgl. E. Zola, Le Roman experimental. Paris 1898. über Gedankenexperimente. 187 sind, werden letztere, deren Vorstellungen gute Abbilder der Tatsachen sind, in ihrem Denken der Wirklichkeit sehr nahe bleiben. Auf der mehr oder weniger genauen unwillkürlichen Abbildung der Tatsachen in unseren Vorstellungen beruht ja die Möglichkeit der Gedankenexperimente. Wir können ja in der Erinnerung noch Einzelheiten finden, die wir bei unmittel- barer Beobachtung der Tatsache keiner Aufmerksamkeit ge- würdigt haben. Wie wir in der Erinnerung einen Zug entdecken, der uns den bisher verkannten Charakter eines Menschen plötz- lich entschleiert, so bietet uns das Gedächtnis auch neue bis- her unbemerkte Eigenschaften von physikalischen Tatsachen, und verhilft uns zu Entdeckungen. Unsere Vorstellungen haben wir leichter und bequemer zur Hand, als die physikalischen Tatsachen. Wir experimentieren mit den Gedanken sozusagen mit geringeren Kosten. So dürfen wir uns also nicht wundern, daß das Gedankenexperiment viel- fach dem phjJsischen Experiment vorausgeht, und dasselbe vor- bereitet. So sind ja die physikalischen Untersuchungen des Aristoteles großenteils Gedankenexperimente, in welchen die in der Erinnerung und namentlich in der Sprache, aufbewahrten Erfahrungsschätze verwertet werden. Das Gedankenexperiment ist aber auch eine notwendige Vorbedingung des physischen Experimentes. Jeder Experimentator, jeder Erfinder muß die auszuführende Anordnung im Kopfe haben, bevor er dieselbe in die Tat übersetzt. Kennt Stephenson auch den Wagen, die Schienen, die Dampfmaschine aus Erfahrung, so muß er doch die Kombination des auf Schienen ruhenden, durch die Dampf- maschine getriebenen Wagens in Gedanken vorgebildet haben, bevor er an die Ausführung schreiten kann. Nicht minder muß Galilei die Anordnung zur Untersuchung der Fallbewegung in der Phantasie vor sich sehen, bevor er dieselbe verwirklicht. Jeder Anfänger im Experimentieren erfährt, daß ein ungenügen- der Voranschlag, Nichtbeachtung der Fehlerquellen u. s. w. für ihn nicht minder tragikomische Folgen hat, als das sprichwört- liche „Vorgetan und Nachbedacht" im praktischen Leben. 4. Wenn die physische Erfahrung reicher geworden ist, und dieselben sinnlichen Elemente zahlreiche mannigfaltigere und dafür schwächere psychische Associationen gewonnen haben, so kann 188 ^ber Gedankenexperimente. das Spiel der Phantasie beginnen, in welchem über die wirklich eintretenden Associationen durch die ausschlaggebende momen- tane Stimmung, Umgebung und Gedankenrichtung entschieden wird. Wenn sich nun der Physiker fragt, was unter mannig- faltig kombinierten Umständen im möglichst genauen Anschluß an die physische Erfahrung zu erwarten ist, so kann dies na- türlich nicht wesentlich neu und verschieden sein, von dem was die physiche Einzelerfahrung bieten könnte. Indem der Physiker immer auf die Wirklichkeit reflektiert, unterscheidet sich ja seine Tätigkeit von der freien Dichtung. Aber der einfachste Gedanke des Physikers, welcher irgend eine physische sinnliche Einzel- erfahrung betrifft, deckt diese nicht genau. Er enthält gewöhnlich weniger als die Erfahrung, welche derselbe nur schematisch nachbildet, zuweilen auch eine unabsichtliche Zutat. Die Umschau in der Erinnerung an die Erfahrungen und die Fiktion neuer Kombinationen von Umständen wird also darüber belehren können, wie genau die Erfahrungen durch die Gedanken dargestellt werden, und wie weit diese Gedanken untereinander überein- stimmen. Es handelt sich hier um einen logisch-ökonomischen Läuterungsprozeß, um Klärung des gedanklich geformten Inhahs der Erfahrungen. Welche Umstände bei einem Erfolg maßgebend sind, was zusammenhängt, welche Umstände voneinander un- abhängig sind, wird durch eine solche Umschau viel klarer, als es durch die Einzelerfahrung werden kann. Es wird uns hierbei deutlich, auf welche Weise wir unsere Bequemlichkeit mit der Notwendigkeit, den Erfahrungen gerecht zu werden, vereinigen können, welche Gedanken die einfachsten sind, die zugleich mit sich selbst und mit der Erfahrung in umfassendster Weise in Übereinstimmung gebracht werden können. Dies erreichen wir durch Variation der Tatsachen in Gedanken. Der Ausfall eines Gedankenexperimentes, die Vermutung, die wir an die in Gedanken variierten Umstände knüpfen, kann so bestimmt und entschieden sein, daß dem Autor — mit Recht oder Unrecht — jede weitere Prüfung durch das physische Ex- periment unnötig scheint. ^) Je schwankender, unbestimmter aber ') Mit Recht warnt Duhem (Theorie physique, S. 331) davor, Gedanken- experimente so darzustellen, als ob es physische Experimente wären, also Postulate für Tatsachen auszugeben. über Gedankenexperimente. 189 dieser Ausfall ist, desto mehr drängt das Gedankenexperiment zu dem physischen Experiment als seiner natürlichen Fortsetzung, welche nun ergänzend, bestimmend einzugreifen hat. Auf Fälle der letzteren Art kommen wir noch zurück. Hier sollen zunächst einige Beispiele der ersteren Art betrachtet werden. 5. Umstände, die man in Bezug auf einen gewissen Erfolg als einflußlos erkannt hat, kann man in Gedanken beliebig va- riieren, ohne diesen Erfolg zu ändern. Man gelangt aber durch geschickte Handhabung dieses Verfahrens zu Fällen, welche auf den ersten Blick von dem Ausgangsfall wesentlich verschieden scheinen, also zur Verallgemeinerung der Auffassung. Stevin und Galilei üben dieses Verfahren meisterhaft bei ihrer Be- handlung des Hebels und der schiefen Ebene. Auch Poinsot^) benutzt diese Methode in der Mechanik. Er fügt einem Kraft- system A ein System B und C hinzu, wobei aber C so gewählt wird, daß es sowohl A als auch B das Gleichgewicht hält. Die Überlegung nun, daß es auf die Auffassung des Beschauers nicht ankommt, führt dazu, A und B als äquivalent zu erkennen, obgleich sie sonst sehr verschieden sein können. Hupgens' den Stoß betreffende Entdeckungen beruhen auf Gedanken- experimenten. Von der Erkenntnis ausgehend, daß die Bewegung der umgebenden Körper für die Stoßenden so gleichgültig sei, wie der Standpunkt des Beschauers, ändert er diesen und die (relative) Bewegung der Umgebung. Er gelangt auf diese Weise, von dem einfachsten, speziellsten Fall ausgehend, zu bedeutenden Verallgemeinerungen. Ein Beispiel dieses Verfahrens bieten ferner die Betrachtungen der Dioptrik, wobei ein Strahl bald als diesem, bald als jenem Bündel von bekannten Eigenschaften ange- hörig aufgefaßt wird. 6. Auch die für einen Erfolg maßgebenden Umstände in Gedanken zu variieren ist nützlich, und am ergiebigsten ist die kontinuierliche Variation, welche uns eine vollständige Übersicht der möglichen Fälle verschafft. Es ist kein Zweifel, daß Ge- dankenexperimente dieser Art die größten Umwandlungen in unserem Denken herbeigeführt, und die bedeutendsten Forschungs- wege eröffnet haben. Wenn auch die Legende von Newtons >) Poinsot, El^mens de Statique. lOme edit. Paris 1861. / 190 (^ber Gedankenexperimente. fallendem Apfel, die Euler noch für richtig hält, nicht buch- stäblich zu nehmen ist, so waren es doch Gedankenprozesse ganz ähnlich denjenigen, die Euler ^) und auch Gruithuisen^) so vortrefflich darzulegen weiß, welche allmählich von der Auf- fassung des Kopernikus zu jener Newtons übergeleitet haben, und die Elemente derselben lassen sich, wenn auch bei ver- schiedenen Personen, und in weit voneinander entlegenen Zeiten, sogar historisch nachweisen. Der Stein fällt zur Erde. Lassen wir dessen Entfernung von der Erde wachsen. Wir müßten uns Gewalt antun, um diesem kontinuierlichen Wachstum eine Diskontinuität der Erwartung entgegenzusetzen. Auch in der Entfernung des Mondes wird der Stein nicht plötzlich sein Fallbestreben verlieren. Der große Stein fällt so wie der kleine. Der Stein werde so groß wie der Mond. Auch der Mond strebt zur Erde zu fallen. Der Mond möge wachsen bis er so groß wird, wie die Erde. Nun würde unsere Vorstellung die zureichende Bestimmtheit verlieren, wenn wir annehmen wollten, daß nur das eine zum andern gezogen wird, nicht aber umgekehrt. Die Anziehung ist also gegenseitig. Sie bleibt aber auch gegenseitig bei ungleichen Körpern, denn der eine Fall geht in den andern kontinuierlich über. Man sieht, daß hier nicht bloß logische Momente wirksam sind. Logisch wären die angedeuteten Diskontinuitäten ganz wohl denkbar. Aber wie unwahrscheinlich ist es, daß ihr Bestehen sich nicht durch irgend welche Erfahrung verraten hätte. Wir ziehen auch die Auffassung vor, die uns eine geringere psychische Anstrengung bereitet, wenn sie mit der Erfahrung vereinbar ist. Ein Stein fällt neben den andern. Der Mond besteht aus Steinen. Die Erde besteht aus Steinen. Jeder Teil zieht jeden andern an. Einfluß der Massen. Mond und Erde sind nicht wesentlich verschieden von anderen Weltkörpern. Die Gravita- tion ist allgemc.i. Die Kepler sehe Bewegung ist eine Wurf- bewegung, aber mit von der Entfernung abhängiger Fallbeschleu- nigung. Die Fallbeschleunigung, auch die irdische, ist über- haupt von der Entfernung abhängig. Die Kepl ersehen Gesetze *) Euler, Lettres ä une Princesse d'Allemagne. London 1775. *) F. Gruithuisen, Die Naturgeschichte im Kreise der Ursachen und Wirkungen. München 1810. über Gedankenexperimente. 191 sind nur ideale Fälle (Störungen). Hier tritt das begrifflich- logische Moment, die Forderung der Übereinstimmung der Ge- danken mit sich selbst hervor. Wie man sieht, ist die Grundmethode des Gedankenexperi- mentes, ebenso wie jene des physischen Experimentes, die Me- thode der Variation. Durch wenn möglich kontinuierliche Va- riation der Umstände wird das Geltungsbereich einer an dieselben geknüpften Vorstellung (Erwartung) erweitert; durch Modifikation und Spezialisierung der ersteren wird die Vorstellung modifiziert, spezialisiert, bestimmter gestaltet; und diese beiden Prozesse wechseln. Galilei ist in dieser Art von Gedankenexperimenten Meister. Das Schweben spezifisch sehr schweren Staubes in der Luft und im Wasser klärt er auf, indem er einen Würfel durch drei Schnitte in 8 kleinere Würfel geteilt denkt, wobei das treibende Gewicht gleich bleibt, aber der Querschnitt und mit diesem der Widerstand verdoppelt wird, so daß letzterer bei mehrmaliger Wiederholung der Operation ungeheuer vergrößert wird. Ähnlich denkt sich Galilei ein Tier mit Beibehaltung der geometrischen Ähnlichkeit in allen Dimensionen gleichmäßig vergrößert, um zu zeigen, daß dieses unter seinem im kubischen Verhältnisse wachsendem Gewicht zusammenbrechen müßte, indem die Festig- keit der Knochen in einem viel geringeren Verhältnis steigt. Das bloße Gedankenexperiment genügt oft, um eine nach dem Augenschein vermeintlich erschaute Regel ad absurdum zu führen. Wenn der Körper von größerem Gewicht wirklich die Eigenschaft hätte rascher zu fallen, so müßte nach Galilei die Verbindung eines schwereren mit einem leichteren Körper, wodurch ein noch schwererer Körper entsteht, wieder langsamer fallen, weil der schwerere Körper durch den leichteren verzögert würde. Die vermeintliche Regel ist also nicht haltbar, indem sie sich selbst widerspricht. Derartige Überlegungen spielen in der Wissen- schaft eine große historische Rolle. 7. Betrachten wir einen andern Prozeß dieser Art. Körper von gleicher Temperatur ändern diese durch gegenseitige Ein- wirkung nicht. Der wärmere Körper A (eine glühende Eisen- kugel) erwärmt den kälteren B (ein Thermometer) auch auf Distanz durch Strahlung, z. B. bei dem bekannten Versuch mit 192 ^f^^^ Gedankenexperimente. den conaxialen Hohlspiegeln. Setzt man mit Pictet statt A ein Blechkästchen mit einer Kältemischung, so wird B abgekühlt. Das ist ein physisches Experiment, an welches Gedankenexperi- mente anknüpfen. Gibt es auch Kältestrahlen? Ist der neue Fall nicht derselbe, wie der vorige, nur daß Ä und B ihre Rolle ge- tauscht haben? In beiden Fällen erwärmt der wärmere Körper den kälteren. Es sei A wärmer als By die Temperaturen mögen dann gleich werden und endlich nehme A eine niedere Tempe- ratur an als B. Welcher Körper strahlt in dem Mittelfall dem andern Wärme zu? Ändert sich das Verhalten der Körper plötzlich beim Durchgang durch die Temperaturgleichheit? Beide Körper strahlen unabhängig voneinander und nehmen unabhängig von- einander auf. Bewegliches Wärmegleichgewicht (Prevost). Ver- schiedene Körper von gleicher Temperatur strahlen nach den Versuchen Leslies und Rumfords ungleiche Wärmemengen aus. Soll das bewegliche Gleichgewicht fortbestehen, wie es in der Tat besteht, so muß der doppelt ausstrahlende auch doppelt aufnehmen. Ein wichtiger Vorgang besteht darin, daß man einen oder mehrere Umstände, welche quantitativ auf ein Ergebnis Einfluß haben, in Gedanken quantitativ vermindert und schließlich zum Verschwinden bringt, so daß die übrigen Umstände als allein maß- gebend angesehen werden. Es ist dieser Prozeß physisch oft nicht durchführbar, und man kann denselben daher als Ideali- sierung oder Abstraktion bezeichnen. Indem man sich den Be- wegungswiderstand eines auf horizontaler Bahn angestoßenen Körpers, oder die Verzögerung eines auf wenig geneigter schiefen Ebene aufsteigenden Körpers, bis zum Verschwinden abnehmend denkt, kommt man zu der Vorstellung des ohne Widerstand gleichförmig bewegten Körpers. In Wirklichkeit kann dieser Fall nicht dargestellt werden. Deshalb bemerkt Apelt mit Recht, daß das Gesetz der Trägheit durch Abstraktion entdeckt worden sei. Das Gedankenexperiment, kontinuierliche Variation, hat aber hierzu geführt. Alle allgemeinen physikalischen Be- griffe und Gesetze, der Begriff des Strahles, die dioptrischen Ge- setze, das Mariottesche Gesetz u. s. w. werden durch Idealisierung gewonnen. Sie nehmen dadurch jene einfache und zugleich all- gemeine, wenig bestimmte Gestalt an, welche es ermöglicht, eine über Gedankenearperimente. 193 beliebige, auch kompliziertere Tatsache durch synthetische Kom- bination dieser Begriffe und Gesetze zu rekonstruieren, d. h. sie zu verstehen. Solche Idealisierungen sind bei den Carnot- schen Betrachtungen der absolut nichtleitende Körper, die volle Temperaturgleichheit der sich berührenden Körper, die nicht umkehrbaren Prozesse, bei Kirchhoff der absolut schwarze Körper u. s. w. 8. Die unabsichtlich gewonnene instinktive rohe Erfahrung gibt uns wenig bestimmte Bilder der Welt. Sie lehrt uns z. B., daß die schweren Körper nicht von selbst aufwärts steigen, daß gleich warme Körper einander gegenübergestellt gleich warm bleiben u. s. w. Das scheint dürftig, ist aber dafür um so sicherer, steht auf sehr breiter Grundlage. Das planmäßig ausgeführte quantitative Experiment gibt viel reichere Einzelheiten. Die an dem letzteren geschulten quantitativen Vorstellungen gewinnen aber ihre sicherste Stütze, wenn wir sie zu jenen rohen Er- fahrungen in Beziehung setzen. So paßt Stevin seine quanti- tativen Vorstellungen über die schiefe Ebene, und Galilei die seinigen über den Fall, jener Erfahrung über die schweren Körper durch mustergültige Gedankenexperimente an. Fourier wählt jene Strahlungsgesetze und Kirchhoff die Beziehung zwischen Absorption und Emission, welche zu der angeführten Wärme- erfahrung passen. Durch solche versuchsweise Anpassung einer quantitativen Vorstellung an die verallgemeinerte Erfahrung über die schweren Körper (das Prinzip des ausgeschlossenen perpetuum mobile) findet S. Carnot seinen folgenreichen Wärmesatz, und stellt hiermit das großartigste Gedankenexperiment an. Seine Methode ist von unerschöpflicher Fruchtbarkeit geworden, seit James Thomson und William Thomson sich derselben zu bemäch- tigen wußten. 9. Von der Art und dem Ausmaß der aufgenommenen Er- fahrung hängt es ab, ob ein Gedankenexperiment als solches mit einem bestimmten Ausfall zum Abschluß gebracht werden kann. Der kältere Körper nimmt von dem berührten wärmeren Körper Wärme auf. Ein schmelzender oder siedender Körper befindet sich in diesem Fall, wird aber hierbei doch nicht wärmer. Hiernach ist es für Black nicht zweifelhaft, daß die Wärme bei Mach, Erkenntnis und Irrtum. 13 194 (^ber Gedankenexperimente. Umwandlung eines Körpers in Dampf oder Flüssigkeit „latent" wird. So weit reicht das Gedankenexperiment. Allein die Quantität der latenten Wärme kann Black nur durch ein phy- sisches Experiment bestimmen, wenn dieses auch in der Form so- gar sich an das Gedankenexperiment anschließt. Die Existenz des mechanischen Wärmeäquivalents enthüllt sich Mayer und Joule durch Gedankenexperimente. Den Zahlenwert muß Joule durch ein physisches Experiment ermitteln, während Mayer sogar diesen, sozusagen, aus erinnerten Zahlen abzuleiten vermag. Wenn ein Gedankenexperiment kein bestimmtes Ergebnis hat, d. h. wenn sich an die Vorstellung gewisser Umstände keine sichere eindeutig bestimmte Erwartung eines Erfolges knüpft, so pflegen wir in der Zeit zwischen dem intellektuellen und physischen^^ Experiment uns aufs Raten zu verlegen, d. h. wir nehmen versuchsweise eine nähere zureichende Bestimmung des Erfolges an. Dieses Raten ist kein unwissenschaftliches Verfahren. Wir können vielmehr diesen natürlichen Vorgang an klassischen historischen Beispielen erläutern. Bei näherem Zu- sehen wird es uns sogar klar, daß dieses Raten oft allein dem physischen Experiment, der natürlichen Fortsetzung des Ge- dankenexperimentes, die Form zu geben vermag. Bevor Ga- lilei die Fallbewegung experimentell untersucht, von welcher er durch Beobachtung und Überlegung nur weiß, daß die Ge- schwindigkeit zunimmt, verlegt er sich aufs Raten in Bezug auf die Art der Zunahme. Durch die Prüfung der Folgerungen aus der Annahme wird sein Experiment erst möglich. Es liegt dies daran, daß der analytische Schluß von dem Fallraumgesetz auf das bedingende Geschwindigkeitsgesetz schwieriger war als der umgekehrte synthetische Schluß. Häufig ist ja der analytische Vorgang, wegen seiner Unbestimmtheit, sehr schwierig, und die Situation, in der sich Galilei befand, wiederholt sich bei den späteren Forschern noch oft. Auch die Rieh mann sehe Mischungsregel ist erraten, und durch Experimente nachträglich bestätigt, ebenso die Sinusperiodizität des Lichtes und viele andere wichtige physikalische Auffassungen. 10. Die Methode, den Erfolg einer Versuchsanordnung erraten zu lassen, hat auch einen hohen didaktischen Wert. Ich hatte als Gymnasiast durch kurze Zeit einen ausgezeichneten Lehrer, über Gedankenexperimente. 195 H. Phillipp, der durch dieses Verfahren die Aufmerksamkeit aufs höchste zu spannen wußte/) und auch bei einem andern tüchtigen Schulmann, F. Pisko, habe ich bei Gelegenheit eines Besuches seiner Schule dasselbe Verfahren beobachtet. Nicht nur der Schüler, sondern auch der Lehrer gewinnt ungemein durch diese Methode. Letzterer lernt hierbei seine Schüler besser als auf eine andere Weise kennen. Während einige auf das nächstliegende Wahrscheinlichste raten, vermuten andere un- gewöhnliche wunderbare Erfolge. Meist wird auf das geläufige, Ässoa'ö//V Naheliegende geraten. So wie der Sklave in Piatons „Menon" glaubt, daß die Verdopplung der Quadratseite auch die Quadratfläche verdoppelt, wird man von dem Elementarschüler leicht hören, daß die Verdopplung der Pendellänge auch die Schwingungsdauer verdoppelt, und der Fortgeschrittene wird weniger auffallende, aber analoge Mißgriffe machen. Durch solche Mißgriffe wird aber das Gefühl für die Unterschiede des logisch, physisch und associativ Bestimmten oder Naheliegenden geschärft, man lernt endlich das Erratbare von überhaupt nicht Erratbarem unterscheiden. Die hier getrennt beschriebenen Pro- zesse, und die hierbei unterschiedenen Fälle, kommen bei der denkenden Überlegung in reicher Abwechslung nacheinander, wohl auch zugleich kombiniert vor. Hält man sich gegenwärtig, wieviel die Erinnerung beim Aufbau des Wissens leistet, so wird Piatons Ansicht verständlich, welcher meinte, daß alles Nach- forschen und Erlernen nichts sei, als ein Erinnern (an ein früheres Leben). Allerdings enthält diese Ansicht neben einer bedeutenden Übertreibung gewisser Momente eine ebenso große Unterschätzung anderer. Auch jede gegenwärtige Einzelerfahrung kann sehr wichtig sein, und wenn wir auch das frühere Leben, nach mo- derner Auffassung die Stammesgeschichte, welche dem Leib ihre Spuren aufgeprägt hat, nicht für nichts achten, so ist doch noch viel wichtiger die individuelle Erinnerung an das gegen- wärtige Leben. 11. Das Experimentieren in Gedanken ist nicht nur für den Forscher von Beruf wichtig, sondern auch der psychischen Ent- ^) Leider verdarb sich dieser geniale Didaktiker fast seinen ganzen Er- folg durch seine mangelhafte Pädagogik, durch seine beispiellose Ungeduld. 13* 196 6^öer Gedankenexperimente. Wicklung überhaupt sehr förderlich. Wie wird dasselbe eingeleitet? Wie kann es sich zu einer mit Absicht, Bewußtsein und Verständnis gebrauchten Methode entwickeln? So wie jede Bewegung, be- vor dieselbe eine willkürliche werden konnte, zufällig als Re- flexbewegung eintreten mußte, so kommt es auch hier darauf an, daß einmal durch passende Umstände ein unabsichtliches Variieren der Gedanken eingeleitet werde, damit dieses durch- schaut, und zu einer bleibenden Gepflogenheit werde. Dies geschieht am natürlichsten durch das Paradoxe. Nicht nur lernt man durch das Paradoxe am besten die Natur eines Problems fühlen, welches ja eben durch den paradoxen Gehalt zu einem Problem wird, sondern die widerstreitenden Elemente lassen auch die Gedanken nicht mehr zur Ruhe kommen, und lösen eben den Prozeß aus, den wir als Gedankenexperiment be- zeichnet haben. Man denke nur an eine der bekannten Vexier- fragen, die man zum ersten Male hört. In ein auf der Wage äquilibriertes Gefäß mit Wasser wird ein von einem besonderen Ständer getragenes Gewicht eingetaucht. Sinkt die Wagschale oder nicht? Eine Fliege sitzt in einem verschlossenen äquili- brierten Kochfläschchen. Was geschieht, wenn sie auffliegt und im Innern des Fläschchens sich schwebend erhält? Oder man denke an einen wichtigen historischen Fall, den paradoxen Gegen- satz, die scheinbare Unvereinbarkeit des Carnotschen und des Mayerschen Wärmesatzes; man denke an die Beziehungen der chromatischen Polarisation zur Interferenz, welche bei viel- facher Übereinstimmung doch wieder unvereinbar schienen. Die verschiedenen Erwartungen, welche sich an die einzelnen in ver- schiedenen Fällen vereinigten Umstände knüpfen, müssen not- wendig beunruhigend und eben dadurch auch klärend und för- dernd wirken. Clausius und W. Thomson haben in dem einen, Young und Fresnel in dem andern Falle die Wirkung des Paradoxen empfunden. Durch die Analj?se fremder und eigener Arbeiten kann sich jeder überzeugen, wie aller Erfolg und Miß- erfolg hauptsächlich davon abhängt, ob an paradoxen Punkten die ganze Kraft angewendet wurde oder nicht. 12. Die eigentümliche kontinuierliche Variation, welche in einigen der zuvor betrachteten Gedankenexperimente auftritt, erinnert lebhaft an die kontinuierliche Änderung der Gesichts- über Gedankenexperimente. 197 Phantasmen, welche J. Müller^) so schön beschrieben hat. Man wird finden, daß entgegen der Ansicht Müllers die kontinuier- liche Änderung der Gesichtsphantasmen ganz wohl mit den Associationsgesetzen vereinbar ist, ja zum Teil geradezu als eine Erinnerungserscheinung, Nachahmung der perspektivischen Wandlung der Bilder, aufgefaßt werden kann. Wenn das Auf- treten von Tonfolgen, Melodieen und Harmonieen in der Phantasie nicht befremdet, und den Associationsgesetzen nicht wider- sprechend gefunden wird, so wird es sich wohl mit den Ge- sichtsphantasmen ebenso verhalten. Das spontane hallucinatorische Element soll in allen diesen Fällen nicht in Abrede gestellt werden. Eigenleben der Organe und Anregung durcheinander, Erinnerung, wirken hier wohl zusammen. Übrigens ist zwischen Hallucination und schöpferischer Phantasie der Künstler und Forscher doch noch zu unterscheiden. In der Hallucination mögen sich die Bilder an einen grob sinnlichen Erregungs- zustand anschließen, bei der schöpferischen Phantasie gruppieren sie sich um einen herrschenden hartnäckig wiederkehrenden Ge- danken. Daß das Phantasieren des Künstlers der Hallucination näher steht als jenes des Forschers wurde schon bemerkt.^) 13. Es ist kaum zu zweifeln, daß das Gedankenexperiment nicht nur im Gebiete der Physik, sondern in allen Gebieten von Wichtigkeit ist, selbst dort, wo der Fernerstehende es am wenigsten vermuten würde, in der Mathematik. Euler mit seiner Forschungs- weise, mit deren Fruchtbarkeit die Kritik keineswegs gleichen Schritt hält, macht ganz den Eindruck eines Experimentators, der *) J.Müller, Die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz 1826. *) Ohne übrigens den Wert der Associationsgesetze für die Psychologie zu unterschätzen, kann man doch deren ausschließliche Geltung mit Recht bezweifeln. Es gibt im Nervensystem neben den vom Individuum erworbenen temporären organischen Verkehrswegen auch angeborne bleibende (wenigstens nicht vom Individuum erworbene), wie die Reflexbewegungen lehren, und letztere sind sogar für die nichtindividuellen Funktionen viel wichtiger. Ein Prozeß kann in einem Organ von einem Nachbarorgan aus auf den beiden genannten Wegen eingeleitet werden, wahrscheinlich aber unter Umständen auch spontan in dem Organ auftreten. Ist der Prozeß besonders energisch, so wird er sich vermutlich vom Ursprungsorte auf allen zu Gebote stehenden Wegen ausbreiten. Es scheint mir, daß alles dies sein psychisches Gegen- bild haben müßte. 198 '^ber Gedankenexperimente. ein neues Gebiet zum erstenmal sondiert. Auch wenn die Dar- stellung einer Wissenschaft rein deduktiv ist, darf man sich durch die Form nicht täuschen lassen. Wir haben es hier mit einer Gedankenkonstruktion zu tun, welche an die Stelle der vorausgegangenen Gedankenexperimente getreten ist, nachdem der Erfolg derselben dem Autor vollkommen bekannt und ge- läufig war. Jede Erklärung, jeder Beweis, jede Deduktion ist ein Ergebnis dieses Vorganges. Die Geschichte der Wissenschaft läßt keinen Zweifel darüber aufkommen, daß die Mathematik, Arithmetik und Geometrie, aus der zufälligen Aufsammlung einzelner Erfahrungen an zählbaren und meßbaren körperlichen Objekten sich entwickelt hat. Indem nun die physischen Erfahrungen in Gedanken oft und oft gegen- einander gehalten wurden, ergab sich erst die Einsicht in deren Zusammenhang. Und jedesmal, so oft uns diese Einsicht mo- mentan nicht gegenwärtig ist, hat unser mathematisches Wissen den Charakter einmal erworbener Erfahrung. Auch wird jeder, der einmal forschend Mathematik getrieben oder Aufgaben ge- löst, die Integration einer Gleichung versucht hat, zugeben, daß Gedankenexperimente der definitiven Gedankenkonstruktion vor- ausgehen. Die historisch wichtige und fruchtbare „Methode der unbestimmten Koeffizienten" ist eigentlich eine experimentelle Methode. Nachdem die Reihen für sin .r, cos x^ e^ gefunden waren, ergaben sich durch den Versuch, die symbolischen Aus- drücke für ^^* und e-""' in Reihenform zu entwickeln, wie von selbst die Ausdrücke ^ 4- e'""^ . ^ — er~^ cosjr = — -!^ , smj-= — ^. — , 2 ' 2/ ' welche lange eine bloß symbolische, aber rechnerisch gut ver- wertbare Bedeutung behielten, bevor man deren eigentlichen Sinn anzugeben vermochte. Wer einen Kreis beschreibt bemerkt, daß zu jedem von einer bestimmten Anfangslage nach links geschwenktem Radius ein gleich viel nach rechts geschwenkter Radius existiert, daß der Kreis in Bezug auf jene willkürliche Anfangslage, also all- seitig symmetrisch ist. Jeder Durchmesser ist eine Symmetrale; alle von demselben halbierten Sehnen, auch jene von der Länge Null, die Tangente, stehen auf demselben senkrecht. Zwei gegen über Gedankeneo'perimente. 199 die Symmetrale gleich geschwenkte Durchmesser bezeichnen mit ihren Enden immer die Ecken eines symmetrisch einschreibbaren Rechteckes. Mit Überraschung mag der antike Forscher oder mancher moderne Anfänger so erfahren haben, daß der Winkel im Halbkreise immer ein rechter ist. Einmal auf die Beziehung von Zentri- und Peripheriewinkel aufmerksam, entdeckt man durch Bewegung des Scheitelpunktes in der Peripherie, daß von jedem Punkte derselben derselbe Bogen unter gleichem Gesichtswinkel erscheint, was auch dann noch gilt, wenn der Scheitel von außen oder innen bis an das Ende des Kreisbogens rückt. Der eine Schenkel des Peripheriewinkels wird hierbei zur Sehne, der andere zur Tangente an dem Endpunkte des Bogens. Der Satz, betreffend die Proportionalität der Abschnitte zweier von einem Punkt durch den Kreis gezogener Sekanten, geht in den entsprechenden Tangentensatz über, wenn man die beiden Durchschnittspunkte der einen Sekante gegeneinander rücken und zusammenfallen läßt. Je nachdem man sich den Kreis mit dem Zirkel beschrieben, oder 'durch einen starren Winkel mit stets durch zwei feste Punkte ^geführten Schenkeln erzeugt denkt, oder darauf achtet, daß zwei Kreise immer als ähnlich und ähnlich liegend angesehen werden können, ergeben sich immer neue Eigenschaften. Die Veränderung, Bewegung der Figuren, kontinuierliche Deformation, Verschwindenlassen und unbegrenzte Vergrößerung einzelner Elemente sind auch hier die Mittel, welche die Forschung beleben, neue Eigenschaften kennen lehren und die Einsicht in deren Zusammenhang fördern. Man muß wohl annehmen, daß gerade auf diesem so einfachen fruchtbaren und leicht zugänglichen Gebiet die Methode des physischen und des Gedankenexperimentes sich zuerst entwickelt und von da aus auf die Naturwissenschaften übertragen hat. Diese Ansicht wäre gewiß viel populärer, wenn der elementar- mathematische Unterricht, namentlich der geometrische, sich nicht vorzugsweise in so starren dogmatischen Formen bewegen, wenn der Vortrag nicht in einzelnen abgerissenen Sätzen fortschreiten würde, wobei die Kritik in so monströser Weise hervorgekehrt und die heuristischen Methoden in so unverant- wortlicher Art verdeckt werden. Die große scheinbare Kluft zwischen Experiment und Deduktion besteht in Wirklichkeit nicht. 200 iJber Gedankenexperimente. Immer handelt es sich um ein Zusammenstimmen der Gedanken mit den Tatsachen und der Gedanken untereinander. Zeigt ein Versuch nicht den erwarteten Ausfall, so mag das für den Er- finder oder für den konstruierenden Techniker sehr nachteilig sein, der Forscher wird darin nur den Beweis erblicken, daß seine Gedanken den Tatsachen nicht genau entsprechen. Ge- rade eine solche sich deutlich aussprechende Inkongruenz kann zu neuen Aufklärungen und Entdeckungen führen. 14. Der enge Anschluß des Denkens an die Erfahrung baut die moderne Naturwissenschaft. Die Erfahrung erzeugt einen Gedanken. Derselbe wird fortgesponnen, und wieder mit der Erfahrung verglichen und modifiziert, wodurch eine neue Auf- fassung entsteht, worauf der Prozeß sich aufs neue wiederholt. Eine solche Entwicklung kann mehrere Generationen in Anspruch nehmen, bevor sie zu einem relativen Abschluß gelangt. Man hört häufig sagen, das Forschen könne nicht gelehrt werden. Dies ist auch in gewissem Sinne richtig. Die Schab- lonen der formalen und auch der induktiven Logik können nicht viel nützen, denn die intellektuellen Situationen wiederholen sich nicht genau. Aber die Beispiele der großen Forscher sind sehr anregend, und Übung im Experimentieren in Gedanken nach dem Muster derselben, wozu hier eine kleine Anleitung gegeben wurde, ist gewiß sehr förderlich. Die späteren Generationen haben auch wirklich auf diese Weise eine Förderung der Forschung erfahren, denn Aufgaben, welche früheren Forschern große Schwierigkeiten bereitet haben, werden jetzt mit Leichtigkeit gelöst. Das physische Experiment und dessen Leitmotive. 1. Das Experiment kann als die selbsttätige Aufsuchung neuer Reaktionen, bezw. neuer Zusammenhänge derselben be- zeichnet werden. Das physische Experiment haben wir schon als die natürliche Fortsetzung des Gedankenexperiments kennen gelernt, welche überall da eintritt, wo eine Entscheidung durch ersteres zu schwierig, oder zu unvollständig, oder unmöglich ist. Auch eine gelegentliche auffallende Beobachtung kann instinktiv zu einem besonderen motorischen Verhalten Anlaß geben, durch welches wir zur Kenntnis neuer Reaktionen oder deren Zu- sammenhänge gelangen. Solche Fälle können wir an Tieren und bei genügender Aufmerksamkeit auch an uns selbst wahr- nehmen. Wir können in solchen Fällen von einem instinktiven Experimentieren sprechen. Wenn aber eine zufällige Beobach- tung uns in ungewöhnlicher Weise an einen bereits bekannten Zusammenhang erinnert^ noch mehr aber, wenn dieselbe zu dem Bekannten oder Gewohnten in auffallendem Gegensatz steht, werden durch dieselbe Gedanken suggeriert, welche als das eigentlich Treibende in dem nun folgenden phipsischen Experi- ment angesehen werden können. Unter den zahlreichen Fällen dieser Art erinnern wir an Galileis schwingende Lampe, an Grimaldis farbige, den Schatten säumende Streifen, an Boy 1 es und Hookes Farben der Seifenblasen und feiner Sprünge im Glase. Wir erinnern ferner an Galvanis Frosch, an Aragos Dämpfung der schwingenden Magnetnadel durch eine Kupfer- scheibe, an seinen Fund der chromatischen Polarisation, an Fara- days Entdeckung der Induktion u. s. w. Jeder Experimentator wird aus seiner Erfahrung solche Beispiele anführen können, wenn auch nur wenige historisch so wichtig und folgenschwer ge- worden sind, wie die angeführten. Meine Untersuchungen über 202 -Öß5 physische Experiment und dessen Leitmotive. Sinnesorgane wurden eingeleitet durch den Kontrast des Anblicks eines Quadrates mit vertikaler Seite gegen jenen eines solchen mit vertikaler Diagonale. Eine Erweiterung der Gesetze des Helligkeitskontrastes fand ich durch die zufällige Beobachtung einer Erscheinung an rotierenden Sektoren mit geknickter Be- grenzung, welche Erscheinung nach dem Talbot-Plateauschen Gesetze eben unverständlich war. Ebenso wie theoretisch wichtige Entdeckungen können auch praktisch wertvolle Erfin- dungen durch zufällige Beobachtungen veranlaßt werden. So soll Samuel Brown durch den Anblick einer Spinne in ihrem Netz zur Konstruktion der Kettenbrücke, James Watt durch Betrachtung einer Krebsschale zum Plan einer Wasserleitung gelangt sein.^) Welchen Anteil man in solchen Fällen dem Zu- fall zuschreiben kann, und worin dessen Funktion besteht, habe ich anderwärts auseinandergesetzt.^) 2. Die absichtliche selbsttätige Erweiterung der Erfahrung durch das phipsische Experiment, und die planmäßige Beobachtung, steht also immer unter Leitung der Gedanken, und ist von dem Gedankenexperiment nie scharf abzugrenzen und zu trennen.^) Deshalb haben die für das physische Experiment aufzustellenden Leitmotive, die wir nun betrachten wollen, auch für das Ge- dankenexperiment und die Forschung überhaupt Bedeutung. Diese Leitmotive lassen sich aus den Arbeiten der Forscher abstrahieren; sie haben sich bisher bewährt, und wir können daher bei Beachtung derselben noch weitere Erfolge erwarten. Auf Erschöpfung der Möglichkeiten macht unsere Darstellung keinen Anspruch. 3. Alles, was wir durch ein Experiment erfahren können, ist *) G. A. Colozza, L'Immaginatione nella scienza. Torino 1900. p. 156. *) Über den Einfluß zufälliger Umstände auf die Entwicklung von Er- findungen und Entdeckungen. Popul.-wissensch. Vorlesungen. 3. Aufl. 1903. S. 287 u. f. ä) Claude Bernard erteilt den Rat, bei der experimentellen Unter- suchung von jeder Theorie abzusehen, die Theorie vor der Tür zu lassen. Duhem wendet mit Recht ein, daß dies in der Phpsik, wo das Experiment ohne Theorie ganz unverständlich ist, unmöglich sei. Ich meine, es ist in der Physiologie nicht viel anders. In der Tat kann man nur empfehlen, achtzugeben, ob der Ausfall des Experimentes überhaupt zu der mitge- brachten Theorie paßt. Vgl. Duhem (La Theorie physique, S. 297 u. f.). Das physische Experiment und dessen Leitmotive. 203 durch die Abhängigkeit oder Unabhängigkeit der Elemente (oder Umstände) einer Erscheinung voneinander gegeben und erschöpft. Indem wir eine gewisse Gruppe oder auch ein Element, will- kürlich variieren, ändern sich hiermit auch andere Elemente oder bleiben unter Umständen unverändert. Die Grundmethode des Experimentes ist die Methode der Variation. Könnte man jedes Element allein für sich variieren, so wäre die Untersuchung ver- hältnismäßig leicht. Man würde durch ein systematisches Ver- fahren bald die bestehenden Abhängigkeiten ermitteln. Allein die Elemente hängen meist gruppenweise zusammen, manche können nur miteinander variiert werden; jedes Element wird ge- wöhnlich von mehreren andern und in verschiedener Weise be- einflußt. Dadurch wird also eine Kombination von Variationen notwendig. Wächst die Zahl der Elemente, so steigt die Zahl der durch den Versuch zu erprobenden Kombinationen, wie ein- fache Rechnungen lehren, so rasch, daß eine sipstematische Er- ledigung der Aufgabe immer schwieriger und schließlich prak- tisch unmöglich wird. Das willkürliche Experiment wäre, ohne eine gewisse vorher erworbene Erfahrung auf Grund unabsicht- licher Beobachtungen, in den meisten Fällen machtlos. Die im Dienste des biologischen Bedürfnisses erworbene Erfahrung er- leichtert uns nun die Aufgabe wesentlich, indem sie uns ein rohes Bild der stärksten Abhängigkeiten und Unabhängigkeiten bietet, welches allerdings für die ganz neuen wissenschaftlichen Zwecke einer starken Korrektur bedarf. Wenn wir also an eine experimentelle Untersuchung gehen, so wissen wir wenigstens ungefähr, von welchen Umständen wir vorläufig absehen können. Die genauere Ermittelung solcher Unabhängigkeiten ist aber sehr wichtig. Dadurch z. B., daß die an einem Körper durch verschiedene andere bestimmten Beschleunigungen aufeinander keinen Einfluß üben, daß dasselbe für sich durchkreuzende Strahlungen, stationäre elektrische und thermische Strömungen gilt, können wir in der Untersuchung derselben das Prinzip der Isolation., bei Kombination derselben aber das Prinzip der Super- position zur Anwendung bringen (P. Volkmann s. S. 141). 4. Es handle sich nun um die Ermittelung der Abhängigkeit der Erscheinungselemente voneinander. Da haben wir die quali- tative von der quantitativen Abhängigkeit zu unterscheiden. Wir 204 ^^^ physische Experiment und dessen Leitmotive. ermitteln z. B. eine qualitative Abhängigkeit, wenn wir durch das Experiment erfahren, daß von den Tönen der diatonischen Tonleiter, die wir uns durch das bloße Gehör gefunden vor- stellen, c und g konsonieren, c und h aber dissonieren. Ebenso ist es ein qualitatives Versuchsergebnis, daß ein bestimmtes Rot und Grün sich zu Weiß vereinigen lassen, während Rot und Blau sich zu Violett ergänzen. Qualitativ experimentiert auch ein Chemiker, der die Reaktion von Stoffen bestimmter sinn- licher Eigenschaften aufeinander untersucht, oder ein Pharma- kologe, welcher die giftige, z. B. narkotische Wirkung gewisser Pflanzenstoffe auf den tierischen Organismus erprobt. Wenn wir dagegen die Abhängigkeit des Brechungswinkels vom Ein- fallswinkel, oder die Abhängigkeit des Fallraums von der Fall- zeit zu bestimmen suchen, so stellen wir uns eine quantitative Aufgabe. Die einzelnen Winkel sind nicht so verschieden von- einander, miteinander nicht so unvergleichbar, wie etwa Rot und Grün; die ersteren lassen sich vielmehr in lauter gleiche Elemente zerlegen, und ein Winkel unterscheidet sich von dem andern nur durch die Zahl dieser gleichen Elemente. Ebenso läßt sich der Fallraum in gleiche Elemente teilen, desgleichen die Fallzeit u. s. w. Tragen wir nun die zusammengehörigen Werte von Fallraum und Fallzeit in eine Tabelle ein, so reduziert sich die ganze Abhängigkeit darauf, daß jetzt einer gewissen Anzahl Fallzeit- elemente eine bestimmte von ersterer abhängige Anzahl Fallraum- elemente entspricht. Die quantitative Abhängigkeit ist ein besonderer einfacherer Fall der qualitativen Abhängigkeit. Wenn sich nun gar eine Rechnungsregel von immer gleicher Form finden läßt, durch welche man aus der Zahl der Fallzeit- elemente / die Zahl der Fallraumelemente s, {s = gt^l2), oder aus der Zahl der Einfallswinkelelemente a die Zahl der Brechungs- winkelelemente ß, (sin a/sin ß = /z) ableiten kann, so wird das schwerfällige Mittel der Tabellen mit großem Vorteil durch diese Rechnungsregeln, Formeln oder Gesetze ersetzt oder vertreten. Zu diesem Vorteil kommt noch, daß durch das Zahlensystem, ohne neue Erfindung., ohne besondere Nomenklatur die Feinheit der Unterscheidung der besonderen, voneinander abhängigen Umstände beliebig weit getrieben werden kann. Bei der quanti- tativen Abhängigkeit liegt ein übersichtliches, anschauliches Kon- Das physische Experiment und dessen Leitmotive. 205 tinuum von Fällen vor, während im Falle der qualitativen Ab- hängigkeit immer nur eine Anzahl von Individualfällen gesondert betrachtet werden muß.^) Natürlich wird man die Einfachheit, Gleichförmigkeit und Übersichtlichtkeit der quantitativen Behand- lung überall einzuführen trachten, wo dieser Vorteil erreichbar ist. Dies ist möglich, sobald es gelingt für qualitativ ungleich- artige Elemente quantitativ gleichartige, dieselben vollkommen charakterisierende Merkmale aufzufinden.^) Wenn man, statt die Tonqualitäten nach dem Gehör zu unterscheiden, die Höhe durch die Schwingungszahl charakterisiert, kann man die Konsonanz sofort als an die einfachsten rationalen Schwingungszahlenver- hältnisse gebunden erkennen. Wie die verschiedenfarbigen Licht- strahlen im Prisma gebrochen werden, muß im einzelnen be- schrieben werden. Hat man aber die Farbenqualität durch die Wellenlänge (die Interferenzstreifenbreite unter bestimmten Um- ständen) charakterisiert, so findet sich alsbald eine Formel, welche den Brechungsexponenten aus der Wellenlänge ableitet. Die Naturwissenschaften zeigen ein entschiedenes Streben, so- weit als möglich qualitative Abhängigkeiten durch quantitative zu ersetzen. 5. Die positive Untersuchung wird wesentlich erleichtert, wenn man zuvor alles ausschaltet, was auf die Elemente, deren Ab- hängigkeit von andern man prüfen will, keinen Einfluß übt, und dadurch das Gebiet der Untersuchung einschränkt. Ein schönes historisches Beispiel dieses Motivs liefert die Beugung am Rande von Schirmen, welche Newton auf eine Massenwirkung des Schirmes auf die Lichtteilchen zurückzuführen dachte. s'Gra- vesand und Fresnel zeigten aber, daß die Dicke und das Ma- terial des Schirmes auf das Beugungsphänomen ohne Einfluß und nur die Art der Begrenzung des Lichtes maßgebend ist. Brewster gelang es, den Perlmutterglanz und dessen Farben- schimmer auf einem Abdruck in Siegellack zu erhalten, wodurch die Form der Oberfläche allein als maßgebend nachgewiesen war. Le Monnier zeigte, daß hohle und massive Leiter von gleicher Form sich in Bezug auf die elektrische Ladung ganz ^) Über das Prinzip der Vergleichung. Popul. Vorlesungen. S. 263 u. f. ") Analyse der Empfindungen. 4. Aufl. 1903. S. 209. 206 ^^^ physische Experiment und dessen Leitmotive. gleich verhalten, und schränkte dadurch die Untersuchung auf die Abhängigkeit der Ladung von der Größe und Form der Oberfläche ein. 6. Die Beseitigung dessen, was die zu verfolgende Ab- hängigkeit verdeckt oder stört, ist ungemein wichtig. Um die Brechung im Prisma rein zu beobachten, experimentiert Newton im verdunkelten Zimmer; er läßt sehr dünne Sonnenlichtbündel eintreten, damit die Teile dickerer Lichtbündel sich nicht stören und gegenseitig überdecken; er bildet die kleine Lichtöffnung durch eine Linse ab, um die Bilder verschiedenfarbiger Strahlen nebeneinander zu erhalten. Bei Untersuchung der Spiegel- und Linsenfehler blenden Foucault und Toepler das regelmäßig reflektierte und gebrochene Licht ab, und es gelangt nur das von den Fehlern herrührende, nun nicht mehr von anderem über- deckte und unterdrückte Licht rein zur Wahrnehmung, wodurch eine der feinsten optischen Methoden gewonnen ist. 7. Große Experimentatoren haben stets die Anordnung ihrer Versuche so vereinfacht^ daß fast nur das zu Untersuchende sich äußerte und alle übrigen Einflüsse unmerklich wurden. Man ver- gleiche z. B. die geniale Art, in welcher Ramsden die ther- mische Längenausdehnung der Stäbe bestimmt, und die nicht minder sinnreiche Methode von Dulong und Petit zur Be- stimmung der absoluten kubischen Wärmeausdehnung des Queck- silbers nach dem hydrostatischen Prinzip. Die Schriften der großen Forscher sind reich an Mustern dieser Art und können durch nichts ersetzt werden. Galilei weist ohne Luftpumpe das Gewicht der Luft nach, mißt bei seinen Fallversuchen kleine Zeiten durch Ausfließen von Wasser und läßt statt des freien Falles die Körper auf der schiefen Ebene herabrollen. Newton prüft die Gegenwirkung der Magnete durch Einschließen der- selben in auf Wasser schwimmende Gläschen. Derselbe ver- gleicht seine errechnete Schallgeschwindigkeit mit dem Versuch, indem er in einem langen Gang, ein Fadenpendel von veränder- licher Länge beobachtend, auf das mehrfache Echo achtet. Die Ampereschen, Faradayschen, Bunsenschen Apparate sind Muster von Einfachheit und Zweckmäßigkeit. Aber nicht nur bei absichtlich angestellten Versuchen hat man nach Einfachheit zu streben, sondern man soll von den großen Forschern auch Das physische Experiment und dessen Leitmotive. 207 lernen, in ganz gewöhnlichen Vorkommnissen mehr zu sehen als gleichgültige Dinge. Die durch ein bestimmtes Interesse ge- schärfte Aufmerksamkeit vermag auch ohne besondere Veran- staltungen die Spuren wichtiger Zusammenhänge in der täglichen Umgebung zu erschauen. Wer sich diese Fähigkeit nicht er- worben hat, wird auf experimentellem Wege schwerlich viele Entdeckungen machen. Huygens sieht in Siegellackstückchen, welche in wirbelndem Wasser sich in der Drehungsachse am Boden sammeln, Vorgänge, die ihn zu Gedanken über die Gra- vitation leiten. Das vollkommen scharfe Bild zarter monochro- matisch beleuchteter Fliegenfüßchen, durch ein Prisma gesehen, ist für Newton ein Zeichen, daß monochromatisches Licht keine weitere prismatische Auflösung erfährt. In dem Haften eines großen flach aufliegenden Hutes auf einer Platte sieht Pascal eine hydrodj>namische Erscheinung, eine Äußerung des Luft- druckes. Die Spuren von Farben an Sprüngen im Glase, die Hooke wahrgenommen hat, leiten ihn zur Aufeinanderlegung zweier Brillengläser, welche die vollständige Ringerscheinung zeigt, die Newton nachher genau quantitativ untersucht hat. An der Stanniolkapsel einer Weinflasche werden die meisten Menschen nichts Besonderes bemerken. Wer aber gewohnt ist auf Wärmeerscheinungen zu achten, fühlt sofort die reflektierte Strahlung seines eigenen Fingers, sobald er diesen ohne Be- rührung in die Kapsel taucht. An dem Felde einer schwingenden Saite meint man nichts besonderes zu sehen. Der geübte Akustiker sieht aber an einer Schattierung des Feldes die Ober- töne, welche die Saite gibt. An dem gleichmäßigen Felde einer gestrichenen Saite erkennt man, daß jedes Element sein Feld mit konstanter Geschwindigkeit durcheilt. Sobald der Bogen ab- gesetzt wird, erhält das Feld einen stärkeren Rand; die frei schwingende Saite verweilt also an den Grenzen des Feldes ver- hältnismäßig länger. Ein zufälliges glänzendes Flitterchen auf der Saite verrät dem Beobachter bei einer raschen Augenbewegung durch das ausgezogene Nachbild des Flitterchens die Schwingungs- form. Experimente mit den gewöhnlichsten Utensilien, wie sie z.B. G. Tissandier^) in seinem bekannten Buche beschreibt. *) Tissandier, La Physique sans appareils. Paris. 7nie edit. 208 -005 physische Experiment und dessen Leitmotive. sind deshalb recht förderlich, indem sie den Blick schärfen und auf meist gar nicht beachtete Dinge lenken. 8. Wenn in einem Komplex von Umständen ein Umstand B durch einen Umstand A bedingt ist, so wird zu erwarten sein, daß mit dem Eintreten von Ä auch B erscheint, mit dem Ver- schwinden von A auch B verschwindet, mit der Verstärkung von A auch B sich verstärkt und mit der Umkehrung von A auch B sich umkehrt. Es bedeute A die Temperatursteigerung, die Stärke des Magnetpols, den Druck, B hingegen bezw. die Gasspannung, den induzierten Strom, die Doppelbrechung eines durchsichtigen Körpers. Dieses Leitmotiv des Parallelismus, wie man es nennen könnte, welches schon J. F. W. HerscheP) angibt, ist ein sicherer Führer des Experimentierenden. 9. Wenn der Einfluß von A auf B nur gering ist, so daß die Variationen von B nur schwer zu beobachten sind, so gilt es, die letzteren zu verstärken. Galilei erläutert schon den Vor- gang der Summation der Effekte an einer schweren Glocke, welche durch taktmäßige kleine Impulse, die stets in derselben Schwingungsphase angebracht werden, in ausgiebige Schwingun- gen gerät. Er erklärt auf diese Weise das Mitschwingen. Das Ver- fahren wird gegenwärtig angewendet, um durch die sogenannte ballistische Methode kräftige Ausschläge der Galvanometernadel mit sehr schwachen Strömen zu erzielen. Durch Vermehrung der stromleitenden Windungen vergrößert man bis zu einer gewissen Grenze den Ausschlag der Galvanometernadel bei schwachen Strömen (Multiplikator). Voltas Erfindung des Elek- trophors hat den Weg gezeigt, durch Verwendung zweier Kon- densator-Elektroskope eine kaum merkliche Elektrizitätsmenge zu multiplizieren, insbesondere den Prozeß der Duplikation oft nacheinander anzuwenden. Die Influenzmaschinen verwenden diesen Prozeß automatisch zur Erzeugung größerer Elektrizitäts- mengen. Wenn Fresnel viele Prismen hinter einander stellt, um die geringe Doppelbrechung durch Druck in denselben sichtbar zu machen, wenn er in seinem Interferenzrefraktometer lange Lichtwege anwendet, um einen merklichen Gangunterschied der ^) J. F.W. Herschel, A preliminary discourse on the study of natural philosophy. London 1831. p. 151 u. f. Das physische Experiment und dessen Leitmotive. 209 Strahlen in trockener und feuchter Luft zu erzielen, wenn Farad aj? den polarisierten Strahl nach der Richtung der mag- netischen Kraftlinien oft hin und her reflektiert, um in seinem schweren Glase die Drehung der Polarisationsebene deutlicher hervortreten zu lassen, so sind dies ebensoviele Beispiele der Häufung der Effekte. Maxwell hat an einer zähen Flüssigkeit durch Reibungszug momentane Doppelbrechung beobachtet, und ich habe dieselbe an halbflüssigen plastischen Massen bei Druck wahrgenommen. Beide Erscheinungen waren aber nur von kurzer Dauer. Kundt schloß nun solche Flüssigkeiten zwischen zwei lange konachsiale Zylinder ein, von welchen er den einen konti- nuierlich rasch rotierte. Durch den langen Weg einerseits und durch den dauernden Reibungszug anderseits trat nun die Er- scheinung kräftig, dauernd und leicht meßbar hervor. 10. Um ein Element zu bestimmen, dessen direkte Ermittelung unbequem, schwierig oder unmöglich ist, bedient man sich zu- weilen der Substitution eines bekannten äquivalenten Elementes. Zur Bestimmung eines galvanischen Leitungswiderstandes setzt man z. B. an die Stelle desselben so viel vorher geaichten Rheo- statendraht, daß alle Erscheinungen gleich bleiben. Als Hirn seine Versuche über die Wärmeproduktion eines arbeitenden und nicht arbeitenden Menschen anstellte, und hierbei einen Mann in ein großes Kalorimeter einschloß, in welchem er an einem Tret- rad aufsteigen, absteigen oder sich ruhig verhalten konnte, war die produzierte Wärmemenge wegen der gleichzeitigen Verluste des Kalorimeters direkt schwer zu bestimmen. Deshalb wurde in Parallelversuchen der Mann durch einen Gasbrenner ersetzt, der in derselben Zeit denselben Effekt am Kalorimeter hervor- brachte, dessen Wärmeproduktion aber aus dem Gasverbrauch leicht bestimmt werden konnte.^) Joule komprimierte durch eine in dem Kompressionsgefäß eingeschlossene Pumpe Luft, während das Gefäß selbst in ein Kalorimeter versenkt war. Die Be- stimmung der Kompressionswärme, welche der Kompressions- arbeit entsprach, war dadurch erschwert, daß die Reibungswärme der Pumpe zu ersterer Wärme sich hinzufügte. Ließ man aber die Pumpe durch dieselbe Zeit mit derselben Geschwindigkeit 1) Hirn, Theorie m^canique de la chaleur. Paris 1865. S. 26—34. Mach, Erkenntnis und Irrtum. 14 210 ^^5 physische Experiment und dessen Leitmotive. leer gehen, so konnte man die Kompressionswärme indirekt rein bestimmen.^) 11. Zur indirekten Bestimmung dient auch die Methode der Kompensation. Durch irgend einen Umstand wird ein schwer bestimmbares Element B hervorgerufen. Man fügt das bestimm- bare Element — B hinzu, wodurch B wieder verschwindet, kom- pensiert, zugleich aber bestimmt ist. Bringt man zwei inter- ferierenden Strahlen einen größeren Gangunterschied bei, so ver- schwindet das Interferenzstreifensystem, und der Gangunterschied ist eben deshalb durch Ausmessung der Verschiebung in Streifen- breiten nicht mehr direkt bestimmbar. Vernichtet man aber den Gangunterschied wieder durch Einschaltung von Glas bestimm- barer Dicke auf der vorher nicht verzögerten Seite, so ist der Gangunterschied kompensiert und indirekt bestimmt. So kann man auch den Galvanometerausschlag, der durch eine unbekannte Bestrahlung einer Thermosäule hervorgebracht wird, durch eine bekannte der Gegenseite zugeführte Bestrahlung vernichten und dadurch erstere bestimmen. 12. Das Prinzip der Kompensation ist noch in anderer Be- ziehung wichtig. Ein Umstand A bedingte das Eintreten von B\ wenn aber A außerdem den Eintritt von A^ bestimmt, welches selbst wieder auf B Einfluß nimmt, so wird hierdurch die reine Beziehung von A und B getrübt. Es muß also dafür gesorgt werden, N zu kompensieren. Jamin leitet zwei interferierende Lichtbündel durch gleich lange Röhren mit Wasser. Wird in der einen Röhre das Wasser unter Druck gesetzt, so wird das be- treffende Lichtbündel sofort verzögert, aber mehr als der Ver- dichtung des Wassers allein entspricht, da die Röhre sich zu- gleich etwas verlängert. Letzterer Umstand wird aber bis auf eine leicht anzubringende Korrektur kompensiert, wenn man beide Röhren in eine weitere Röhre mit Wasser (ohne Druck) legt. Das Prinzip der Kompensation ist auch in technischer und praktisch-wissenschaftlicher Richtung wichtig, wo es sich um das Konstanthalten gewisser Umstände, z. B. um die Erhaltung der Länge eines zeitmessenden Pendels handelt. 1) Joule, on the changes oF temperature produced bp the rarefaction and condensation of air. Phil. Mag. 1845. Das physische Experiment und dessen Leitmotive. 211 13. Die Substitution, besonders aber die Kompensation führt in ihrer Verfeinerung zu den sogenannten Nullmethoden. Wenn kleine von A abhängige Änderungen von B untersucht werden sollen, so erzielt man die höchste Empfindlichkeit, indem man B durch Kompensation unwahrnehmbar macht, so daß es erst bei Änderung von A hervortritt. Es sei A die Temperatur, B der von derselben abhängige galvanische Leitungswiderstand. Man kompensiert in einer galvanometrischen Aufstellung B bis zur gänzlichen Unterdrückung des Auschlages durch einen gleichen Widerstand (Wheatstonesche Brücke). Sobald aber B durch Temperatursteigerung wächst, natürlich ohne Änderung des kom- pensierenden Widerstandes, wird diese Änderung von B durch den Ausschlag sofort angezeigt (Bolometer). Legt man an zwei Punkte derselben Niveaulinie einer durchströmten Platte die Drahtenden eines Galvanometers, so gibt dieses keinen Ausschlag. Die geringste asymmetrische Verschiebung der Niveaulinien, etwa durch magnetische Änderung des Leitungswiderstandes, bewirkt aber sofort einen Ausschlag (Hallsches Phänomen). Die An- wendung des Soleiischen Doppelquarzes bei Versuchen über Drehung der Polarisationsebene ist ebenfalls ein Beispiel der Nullmethode. 14. Vorgänge, welche für unsere direkte Beobachtung zu rapid sind, müssen natürlich indirekt ermitteU werden. Man benützt hierzu die Methode der Zusammensetzung. Der unbekannte zu untersuchende Vorgang liefert die eine Komponente, welche mit einer anderen bekannten Komponente eine beobachtbare Resul- tante gibt. Die vertikale Fallbewegung verrät ihre Eigentüm- lichkeit durch die entstehende Parabel, wenn sie mit einer gleich- förmigen Horizontalbewegung von bekannter Geschwindigkeit kombiniert wird, wie in dem verbreiteten Apparat von Morin, oder bei Zusammensetzung mit einer harmonischen horizontalen Schwingung wie in dem Apparat von Lippich, oder am ein- fachsten am horizontal ausgeworfenen Wasserstrahl. Eine mächtige Anregung zur Ausbildung dieser Methode ging von Wheatstone aus, als er den rotierenden Spiegel zur Ermittlung der Fort- pflanzungsgeschwindigkeit und der Dauer der elektrischen Ent- ladung anwendete. Die Vervollkommnung dieses Verfahrens durch Feddersen führte zur genauen Kenntnis der elektrischen 14* 212 ^^5 physische Experiment und dessen Leitmotive. Oszillationen. Eine andere Ausbildung liegt in Foucaults Methode zur Bestimmung der Lichtgeschwindigkeit. Sehr zahlreich sind die akustischen Anwendungen des rotierenden Spiegels. Die Wahl einer optischen Bewegung als bekannte Komponente liegt so nahe, weil durch diese der zu untersuchende Vorgang in keiner Weise beeinflußt wird. Auch Fizeaus Verfahren zur Messung der Lichtgeschwindigkeit ist ein schönes Beispiel einer genialen Anwendung dieses Mittels. Die Benützung rasch ro- tierender Scheiben und Zylinder zur Aufnahme von Funkenmarken behufs sonst schwieriger Zeitbestimmungen, etwa bei Projektil-, Schall- oder Entladungsversuchen, die stroboskopische Methode, das Wheatstonesche Kaleidophon, die Lissajoussche Stimm- methode, das Helmholtzsche Vibrationsmikroskop u. s. w. ge- hören alle hierher. Die Kombination der Ausströmungsge- schwindigkeit eines explosiven Gases mit dessen Explosions- geschwindigkeit zur Bestimmung der letzteren, die Benützung der Schallgeschwindigkeit zur Messung anderer Geschwindig- keiten ist nicht mehr ungewöhnlich, und es ist nicht abzusehen, warum die Lichtgeschwindigkeit nicht in ähnlicher Weise zu noch viel feineren Zeitbestimmungen dienen sollte. Die Komposition unbekannter Prozesse mit Bewegungen empfiehlt sich aus dem bezeichneten Grunde am besten. Es ist aber nicht von vornherein auszuschließen, daß auch die Kombination zweier beliebiger Pro- zesse, von welchen der eine zu erforschen, der andere schon bekannt ist, wertvolle Ergebnisse liefern könnte, wenn nur der eine vom andern unabhängig oder in bekannter Weise beein- flußt ist. 15. Von besonderem Interesse sind solche Experimente, durch welche nicht nur die Zusammengehörigkeit zweier Werte eines Paares von Umständen A und B festgestellt, sondern die Über- sicht über ein ganzes System von zusammengehörigen Werten gewonnen wird. Die Hooke-Newtonsche Glaskombination liefert schon ein solches Experiment. Wenn Newton seine Glaskombination durch das Spektrum führt und die Kontraktion der Ringe vom Rot gegen Violett beobachtet, so stellt er wieder ein solches Experiment an. Löst man die Beugungserscheinung einer engen, sehr kurzen, vertikalen Spalte nach derSpaltenrichtung, Das physische Experiment und dessen Leitmotive. 213 also senkrecht zur Beugungsrichtung spektral auf, ^) so erhält man die verschiedenen monochromatischen Beugungserscheinungen zugleich untereinander gesetzt. Die Achsenbilder der chroma- tischen Polarisation der Kristallplatten, der von Spott iswoode und mir angegebene rotierende Polarisationsapparat, Kundts Bestäubung pproelektrischer Kristalle mit dem Gemisch von Mennige und Schwefelblumen, Chi ad nis Sandfiguren auf tönen- den Platten, die bekannten magnetischen Kurven sind andere Bei- spiele der Experimente, die HerscheP) „collective instances", Jevons^) „collective experiments" nennt. 16. Bei jedem Experiment muß man die möglichen Fehler be- achten, um dasselbe nicht irrtümlich auszulegen. Insbesondere ist dies aber dann nötig, wenn man nur minimale Anzeigen zu erwarten hat. Als Farad ay den Einfluß eines starken Elektro- magneten auf schwach magnetische und diamagnetische Substanzen untersuchte, versäumte er nicht, den bloßen Aufhängeapparat, die Papiere und Gläschen, in welche die zu untersuchenden Körper eingeschlossen wurden, für sich auf das magnetische Verhalten zu prüfen. Erst wenn die Aufhängevorrichtung nicht reagierte, schenkte er den Versuchen mit der Substanz selbst Vertrauen. Ein solcher Versuch mit Ausschaltung des eigent- lichen Versuchsobjektes heißt ein blinder Versuch. Dieselbe Vor- sicht ist geboten, wenn man z. B. eine sehr kleine zu unter- suchende Elektrizitätsmenge durch Duplikation vergrößern muß, um sie deutlich beobachtbar zu machen. Da muß man sich überzeugen, ob nicht die Kondensatorelektroskope noch eine rückständige Ladung von einem früheren Versuch hatten, oder ob nicht die Prozedur des Duplizierens selbst eine Ladung ent- wickelt. Bevor der Chemiker den Marsh sehen Apparat zur Prüfung einer Substanz auf Arsengehalt verwendet, überzeugt er sich, ob die Arsenanzeige nicht schon erfolgt, ohne daß die zu prüfende Substanz eingebracht worden wäre, ob also nicht die Substanzen des Apparates selbst Arsen enthalten. 17. Die Geschichte der Wissenschaft lehrt, daß Experimente mit negativem Ergebnis niemals als definitiv entscheidend angesehen ») Fraunhofer, Gesammelte Schriften. München 1888. S. 71. 4 Herschel, a.a.O. S. 185. 8) W. S. Jevons, The Principles of science. London 1892. S. 447. 214 ^ö-s physische Experiment und dessen Leitmotive. werden dürfen. Hooke vermochte den Einfluß der Entfernung von der Erde auf das Gewicht der Körper mit seinen Wagen nicht nachzuweisen, dies gelingt aber ohne Schwierigkeit mit den viel empfindlicheren Wagen der Gegenwart. J. F. W. Herschel gelang es nicht, galvanische oder magnetische Drehung der Po- larisationsebene zu beobachten, wohl aber Farad aj?. Die Ver- suche J. Kerrs über die elektrische Doppelberechnung der Di- electrica wurden lange vor ihm oft mit negativem Erfolg ange- stellt. Bennet versuchte vergebens den Druck des Lichtes auf die bestrahlte Fläche nachzuweisen, Crookes gelang dieser Nachweis mit seinem Radiometer, A.Schuster aber zeigte, daß dieser Druck von inneren Kräften des Apparates herrührt und nicht durch heranfliegende Teilchen erklärt werden kann. So bleibt also sowohl der Ausfall, als auch die Auslegung eines negativen Experimentes problematisch. 18. Die hier dargelegten formgebenden Motive des Experi- mentes sind von wirklieh ausgeführten Experimenten abstrahiert. Die Aufzählung derselben soll keine vollständige sein, denn diese Motive werden durch geniale Forscher immer noch vermehrt. Die Aufzählung soll aber auch keine Einteilung vorstellen, denn diese Motive schließen sich nicht allgemein aus. In einem Ex- periment können mehrere derselben vereinigt sein. Fizeaus und Foucaults Methoden zur Bestimmung der Lichtgeschwindigkeit enthalten z. B. das Motiv der Zusammensetzung des Bekannten mit dem noch Unbekannten zu einem beobachtbaren Resultat, aber auch das Motiv der Häufung der Effekte, und auch noch die zeitliche Stabilisierung einer momentanen Erscheinung. Bei Fizeaus Bestimmungen sind von der Geschwindigkeit abhängige Maxima und Minima der Helligkeit, bei Foucaults Messungen dagegen von den Geschwindigkeiten abhängige Verschiebungs- größen eines Bildes maßgebend.^) 19. Betrachten wir nun noch die Ideen zur Erweiterung unserer Kenntnisse durch experimentelle Untersuchungen. Alle unsere Ideen können nur durch die bisher gewonnene Erfahrung ent- ^) Foucault, Recueil des travaux scientifiques. Paris 1878. S. 197. Foucault charakterisiert seine Methode als „l'observation d'une image fixe d'une image mobile", womit mir übrigens das Wesentliche nicht bezeichnet zu sein scheint. Das physische Experiment und dessen Leitmotive. 215 standen sein und durch die künftige weiter entwickelt werden. Die Gedanken, welche der Erfahrung vorauseilen und die Er- wartung, die das Experiment vorbildet, können nur Überein- stimmungen oder Unterschiede des Neuen und des Bekannten betreffen. Wie weit darf man ein experimentelles Ergebnis als gültig betrachten? Wie weit muß dasselbe bei veränderten Um- ständen eingeschränkt werden? Diese Fragen bezeichnen die Hauptideen des an die experimentelle Untersuchung herantretenden Forschers. Die Spezialideen sollen wieder aus historisch wich- tigen Fällen abstrahiert werden. 20. Man kennt ein experimentelles Ergebnis und versucht nun rein kollektiv dasselbe möglichst weit auszudehnen. Es gibt magnetische Eisenerze. Sind noch andere Körper magnetisch? Ist der Doppelspat der einzige doppelt brechende Körper? Welche Körper können durch Reibung elektrisch werden? Welche sind Leiter, welche Isolatoren? Wie weit reicht die Verbreitung der Phosphoreszenz?^) Hierher gehört auch die Aufsuchung aller Fälle, in welchen eine durch Einzelbeobachtung entdeckte Erscheinung auftritt. Oerstedt sucht alle möglichen Lagen der Magnetnadel gegen den Stromleiter und deren Verhalten zu be- stimmen, nachdem er einen Fall der Ablenkung beobachtet hat, und gelangt so zur vollständigen Kenntnis des magnetischen Feldes des Stromleiters. 21. Die Ausdehnung einer Untersuchung von einem bekannten Fall auf analoge Fälle wird besonders einladend sein. Die Ana- logien zwischen Wärme, Elektrizität, mechanischen und Diffusions- vorgängen u. s. w. haben zahlreiche Experimente veranlaßt. Es sei nur die Fi ck sehe Untersuchung über den Diffusionsstrom er- wähnt. Magnete stehen in Wechselwirkung; ein Strom mit einem Magnet auch. Der Strom wirkt auf den Magnet ähnlich wie ein Magnet. Sollten sich Ströme gegen Ströme magnetähnlich ver- halten? Arago hat darauf hingewiesen, daß man bei Über- tragungen nach Analogie auch auf das Auftreten von Unter- schieden gefaßt sein muß. Magnete und weiches Eisen ziehen sich gegenseitig an; weiches Eisen verhält sich in diesem Falle ^) J. P. Heinrich, Die Phosphoreszenz der Körper. Nürnberg 1820. — A. E. Becquerel, Sur la phosphorescence par Insolation. Ann. chim. phys. T. 22. 1848. / 216 D^s physische Experiment und dessen Leitmotive. magnetähnlich; dennoch verhalten sich weiche Eisenstücke gegen- einander indifferent. Allerdings verhält sich der Strom und weiches Eisen dem Magnet gegenüber nicht ganz übereinstimmend; ersterer zeigt in diesem Falle Polarität, letzteres aber nicht. 22. Wo Erscheinungen in verschiedenem Grade auftreten, wird man auch an die Möglichkeit eines Gegensatzes denken dürfen. Verschieden starke Magnetismen legen den Gedanken eines ent- gegengesetzten Verhaltens, des diamagnetischen, nahe. Kennt man die eine Art der Doppelbrechung, etwa die als negativ be- zeichnete, so sucht man nach dem Gegensatz, nach der posi- tiven. Nicht alles, was man durch diesen Ideengang hätte finden können, ist auf diesem Wege wirklich gefunden worden, sondern wurde oft durch Zufall entdeckt, wie z. B. zu der bereits be- kannten einen Art der Elektrizität die andere durch Dufay. Nicht jeder Gegensatz, der zuerst als solcher erscheint, muß es wirklich sein. So faßt man Magnetismus und Diamagnetismus heute nicht als Gegensatz, sondern besser als Gradunterschiede gegen ein allgemein verbreitetes Medium auf, so wie man in der Luft auf- steigenden Körpern nicht mehr absolute Leichtigkeit, negative Schwere, sondern nur geringeres Gewicht als dem gleichen Volum Luft zuschreibt. Ähnliches kann man über den Gegensatz von Wärme und Kälte, von positiver und negativer Elektrizität u. s. w. sagen. Solche Wandlungen gehören übrigens in das Gebiet der Theorie. 23. Der Kontinuität der Variation der Umstände entspricht eine Kontinuität der Erwartung in Bezug auf die experimentellen Er- gebnisse. Ungleicher Druck in verschiedener Richtung erzeugt an starren Körpern Doppelbrechung. Nun ist der Übergang von der Starrheit zur Flüssigkeit in Bezug auf die Rigidität und Viskosität ein ganz allmählicher. Man darf also erwarten, daß auch plastische Körper und zähe Flüssigkeiten durch passenden Druck oder Zug Doppelbrechung erlangen werden, wie es wirklich beobachtet worden ist. Ja, da keine Flüssigkeit ganz ohne Ri- gidität oder Viskosität sein wird, so wird es nur auf die Größe der Kräfte und die Geschwindigkeit der Deformationen ankommen, ob die Doppelbrechung bemerklich wird. Auch zwischen Gasen und Dämpfen finden wir eine kontinuierliche Variation der Eigen- schaften, weshalb der Gedanke, alle Gase bei entsprechender Das physische Experiment und dessen Leitmotive. 217 Temperatur durch Druck zu verflüssigen, sich ganz natürlich er- gab. Es gibt starre und flüssige Körper, welche die Polari- sationsebene drehen; man kann vermuten, daß dies auch bei Dämpfen und Gasen vorkommen wird. Die magnetische Drehung ist für jeden Aggregatzustand nachgewiesen, zuletzt für Gase 1879 von Kundt und gleichzeitig unabhängig von Lippich. Gibt es noch einen vierten Aggregatzustand? (Crookes.) 24. Die Variation einer Erscheinung bei Variation der Umstände erregt den Wunsch, die erstere auch bei den extremen Vierten der letzteren kennen zu lernen. So untersucht man das Ver- halten der Körper bei den höchsten und tiefsten erreichbaren Tem- peraturen in Bezug auf Härte, Elastizität, galvanischen Leitungs- widerstand u. s. w. Man setzt die schmelzenden, frierenden, verdampfenden Körper unter den höchsten erreichbaren Druck. Man untersucht die Eigenschaften des vollkommensten Vakuums, trachtet die größten elektrischen Spannungen, den stärksten Strom zu erzielen. Man unterwirft die längsten und die kürzesten Lichtwellen der Untersuchung. Bei Versuchen dieser Art kann man immer auf Ergiebigkeit rechnen. 25. So wie wir einerseits durch Aufsuchung möglichst weit reichender Übereinstimmungen unsere Erfahrung bereichern, ge- schieht dies auch durch die den jedesmaligen Umständen ent- sprechende Restriktion^ Spezialisierung., Individualisierung. Kennen wir auch die Brechung als eine allgemeine bei jedem Übergang aus einem Medium ins andere auftretende Erscheinung, so bleibt uns noch der für jedes Medienpaar charakteristische Brechungsexponent, oder die jedem Medium entsprechende Fort- pflanzungsgeschwindigkeit zu bestimmen. In solchen Restrik- tionen können ebenso große Entdeckungen liegen, wie in Ver- allgemeinerungen. Man denke an die Newtonsche Entdeckung der Dispersion durch Zuweisung besonderer Brechungsexpo- nenten an die besonderen Farben, an die Klassifikation der Farben nach Periodenlängen. Alle quantitativen Bestimmungen der für Stoffindividuen charakteristischen Konstanten, wie Dichten, spezifische Wärmen, Ausdehnungs- und Spannungskoeffizienten, Leitungs widerstände, Dielektrizitätskonstanten und Magnetisie- rungszahlen u. s. w. gehören hierher. 26. Ein fruchtbares Leitmotiv ist das der vereinigten Wirkung 218 I^os physische Experiment und dessen Leitmotive. und Gegenwirkung. Schärfer als durch einen Namen läßt es sich so formulieren. Wenn der Umstand A das Eintreten des Um- standes + B bedingt, so bedingt der Umstand + B das Eintreten von — Ay des Gegenteils von A. Beispiel hierfür ist in der Me- chanik Druck und Gegendruck. Erwärmtes Gas dehnt sich aus, unter Druck sich ausdehnendes Gas kühlt sich ab. Der Strom treibt den Magnetpol, der Magnetpol den Strom in entgegengesetztem Sinne. Der Widerstand wird durch den Strom erwärmt, Erwärmung des Widerstandes schwächt den Strom. Der dauernde Strom macht das Eisen zum Magnet, der angenäherte Magnet, oder der Magnet von wachsender Intensität, erzeugt einen Strom von der Dauer der Änderung, welcher jenen Magnet zu entfernen, bezw. zu schwächen strebt. Wenn der Seebecksche Thermostrom durch die erwärmte Berührungsstelle von M z\x N fließt, so wird nach Peltier^) der von M z\x Abfließende Strom die passierte Be- rührungsstelle abkühlen. Bei weitem wieder nicht alle Phäno- mene, zu welchen dieses Motiv hätte leiten können, sind auf diesem Wege gefunden worden. Farad aj) sucht als Gegen- erscheinung zur Erregung des Elektromagneten durch den Strom eine Stromerregung durch Einlegen eines Magnetkerns in die Drahtspule. Er fand aber nur beim Einführen oder Entfernen des magnetischen Kerns den momentanen „induzierten" Strom. Auch Peltier suchte nicht die Gegenerscheinung zur Seebeck- schen Erscheinung. Er denkt an einen Einfluß der Wärmeleitungs- fähigkeit der Metalle bei der Seebeck sehen Erscheinung. Indem er die Metalle der Thermosäule durch den Strom erwärmt, findet er eine Ungleichheit der Erwärmung der Lötstellen je nach dem Stromsinne. Durch Einschließen eines dicken^) Wismut- und eines ebensolchen Antimonstabes in das Gefäß eines Luftthermo- meters ergibt sich Erwärmung durch den positiven Strom vom Antimon zum Wismut, aber eine unerwartete Abkühlung durch den entgegengesetzten Stromsinn. Wenn wir zu einer Erscheinung die Gegenerscheinung suchen, so kann uns das oben bezeichnete Motiv wohl einen Fingerzeig geben, allein es vermag uns nicht allein zu leiten. Ein dauernder Strom kann wohl einen Magnet ») L'Institut 1834. 21. April und 11. August. 2) Weil dadurch die Peltiersche Temperaturänderung der Lötstellen gegen die Joulesche-Erwärmung deutlich hervortritt. Das physische Experiment und dessen Leitmotive. 219 erzeugen, allein ein ruhender Magnet kann keinen Strom hervor- bringen, der ja Arbeit ohne Energieverbrauch repräsentieren würde. Energieprinzip und Induktionsgesetz zusammen liefern erst ein vollständig geschlossenes System von Erscheinungen und Gegenerscheinungen. Das obige Motiv bedarf also einer Er- gänzung durch Spezialerfahrungen. Dies liegt daran, daß wir in den untersuchten Phänomenen selten einfache, reine und un- mittelbare Zusammenhänge vor uns haben. Von zwei in un- mittelbarer Wechselbeziehung stehenden Körpern kann der eine nur auf Kosten des anderen Bewegungsquantität, Wärmemenge, Elektrizitätsmenge u. s. w. erhalten. Wären alle Verhältnisse so einfach, so könnte das bezeichnete Motiv sehr sicher leiten. Bei vermittelten Wechselbeziehungen ist die Sache nicht so einfach, und die direkte Umkehrung ist unzulässig.^) ») Vgl. Analyse der Empfindungen S. 69—76. Die Ähnlichkeit und die Analogie als Leitmotiv der Forschung.') 1. Ähnlichkeit ist teilweise Identität. Die Merkmale ähnlicher Objekte stimmen zum Teil überein, zum Teil sind sie verschieden. Die Analogie ist jedoch ein besonderer Fall der Ähnlichkeit. Nicht ein einziges unmittelbar wahrnehmbares Merkmal des einen Objektes braucht mit einem Merkmal des anderen Objektes über- einzustimmen, und doch können zwischen den Merkmalen des einen Objektes Beziehungen bestehen, welche zwischen den Merkmalen des anderen Objektes in übereinstimmender, iden- tischer Weise wiedergefunden werden. Jevons^) nennt die Ana- logie „eine tiefer liegende Ähnlichkeit"; man könnte dieselbe auch eine abstrakte Ähnlichkeit nennen. Die Analogie kann unter Umständen der unmittelbaren sinnlichen Beobachtung ganz ver- borgen bleiben, und sich erst durch die Vergleichung der begriff- lichen Beziehungen der Merkmale des einen Objektes unter- einander mit den Beziehungen der Merkmale des anderen Ob- jektes untereinander offenbaren. MaxwelP) gibt nicht sowohl eine Definition der Analogie, als er vielmehr deren wichtigste Eigenschaft für den Naturforscher hervorhebt, wenn er sagt: „Unter einer physikalischen Analogie verstehe ich jene teilweise Ähnlichkeit zwischen den Gesetzen eines Erscheinungsgebietes mit jenen eines anderen, welche bewirkt, daß jedes das andere illustriert." Wir werden jedoch sehen, daß Max we 11s Auf- fassung von der hier dargelegten nicht verschieden ist. Hoppe*) ^) Mit Erweiterungen aus Ostwalds „Annalen der Naturphilosophie" B. I abgedruckt. ») Jevons, The principles of science. London 1892. p. 627. 8) Maxwell, Transact. of the Cambridge Philos. Soc. Vol. X, p. 27. 1855. (Ostwalds Klassiker Nr. 69.) ♦) Hoppe, Die Analogie. Berlin 1873. Die Ähnlichkeit und die Analogie als Leitmotiv der Forschung. 221 hält den Begriff „Analogie^' für ganz überflüssig, indem es bei derselben, wie bei der Ähnlichkeit überhaupt, nur auf begriffliche Übereinstimmung, Übereinstimmung in gewissen Merkmalen der in Analogie gesetzten Objekte ankomme. Es ist dies letztere richtig, doch hat man guten Grund die Analogie als einen be- sonderen Fall der Ähnlichkeit von dem allgemeineren Begriff zu unterscheiden. Insbesondere der Naturforscher, der durch Be- achtung von Analogien sehr gefördert wird, fühlt sich hierzu gedrängt. Es liegt übrigens die Bemerkung nahe, daß auch Ob- jekte, deren Ähnlichkeit der sinnlichen Beobachtung unmittelbar auffällt, Analogie, Beziehungsgleichheit zwischen den Merkmalen des einen Objektes untereinander und jenen des anderen unter- einander darbieten können, welche als selbstverständlich oft un- beachtet bleiben. 2. Die sinnlich beobachtete Ähnlichkeit bedingt schon un- bewußt und unwillkürlich ein ähnliches Verhalten, ähnliche moto- rische Reaktionen gegenüber den ähnlichen Objekten. Beim Er- wachen des Intellekts wird sich auch dieser den ähnlichen Objekten gegenüber ähnlich verhalten, wie dies Stern ^) bezüglich des volkstümlichen Denkens ausführlich dargelegt hat. Übrigens ent- halten die Schriften von Tylor*) hierfür schon reichliche Belege. Wenn nun das begriffliche Denken erstarkt, so wird auch das absichtliche zielbewußte Streben, sich von einer praktischen oder intellektuellen Unbehaglichkeit zu befreien, ebenfalls durch Ähn- lichkeiten, und bald auch durch tiefer liegende Analogien, ge- leitet sein. 3. In einer älteren Schrift^) habe ich die Analogie definiert als eine Beziehung von Begriffssystemen^ in welcher sowohl die Ver- schiedenheit je zweier homologer Begriffe als auch die Über- einstimmung in den logischen Verhältnissen je zweier homologer Begriffspaare zum klaren Bewußtsein kommt. Es scheint, daß zuerst im Gebiete der Mathematik, wo allerdings die Sache am einfachsten liegt, die klärende, vereinfachende, heuristische Funktion der Analogie sich deutlich geoffenbart hat. Wenigstens bezieht Aristoteles die Analogie, wo er von derselben spricht, ') W. Stern, Die Analogie im volkstümlichen Denken. Berlin 1893. ") Tylor, Die Anfänge der Kultur. Deutsch. Leipzig 1873. 3) Populär-wissenschaftliche Vorlesungen. 3. Aufl. 1903. S. 277. 222 ^'^ Ähnlichkeit und die Analogie als Leitmotiv der Forschung. auf quantitative (proportionale) Verhältnisse. Einfachere Ana- logien mußten schon den antiken Forschern auffallen. So nennt Euklid (im 7. Buch seiner Elemente Definition 16) das Produkt zweier Zahlen „Fläche" und die Faktoren „Seiten", ebenso (De- finition 17) ein Produkt aus drei Faktoren „Körper" und die Fak- toren selbst „Seiten", ein Produkt aus zwei, bezw. drei gleichen Faktoren (Definition 18, 19) Quadrat und Würfel.^) Wo Piaton Geometrisches berührt, bedient er sich einer ähnlichen Redeweise. Die Erfindung der Algebra beruht auf dem Erschauen der Ana- logie der Rechnungsoperationen bei aller Verschiedenheit der in Betracht kommenden Zahlen. Sie erledigt das begrifflich Gleiche daran auf einmal und ein für allemal. Wo Größen in ana- loger Weise in eine Rechnung eingehen, erhält man, wenn nur eine berechnet ist, die übrigen durch eine einfache Vertauschung der Zeichen nach der Analogie. Die Descartessche Geometrie benützt in ausgiebiger Weise die Analogie zwischen Algebra und Geometrie, die Graßmannsche Mechanik (Ausdehnungs- lehre) jene zwischen Linien und Kräften, zwischen Flächen und Momenten u. s. w. Jede physikalische Anwendung der Mathe- matik beruht auf der Beachtung der Analogie zwischen Natur- tatsachen und Rechnungsoperationen. 4. Den hohen Wert der Analogie für die Erkenntnis hat sich schon Kepler^) zum klaren Bewußtsein gebracht. Indem er die Kegelschnitte mit Rücksicht auf ihre optischen Eigenschaften be- handelt, sagt er: „Focus igitur in circulo unus est A^ isque idem qui et centrum: in ellipsi foci duo sunt Ä, B, aequaliter a centro figurae remoti et plus in acutiore. In parabola unus D est intra sectionem, alter vel extra vel intra sectionem in axe fingendus est infinito intervallo a priore remotus, adeo ut educta HG vel IG ex illo caeco foco in quodcunque punctum sectionis G sit axi parallelos. In hyperbola focus externus F interno E tanto est propior, quanto est hpperbole obtusior. Et qui externus est alteri sectionum oppositarum, is alteri est internus et contra." „Sequitur ergo per analogiam, ut in recta linea uterque focus (ita loquimur de recta, sine usu, tantum ad analogiam complen- *) Euklids Elemente. Ausgabe von J. F. Lorenz. Halle 1798. ^) Kepler, Opera, edidlt Frisch. Vol. II, p. 186. — Die dem Zitat ent- sprechenden Figuren sind als selbstverständlich weggelassen. Die Ähnlichkeit und die Analogie als Leitmotiv der Forschung. 223 dam) coincidat in ipsam rectam: sitque unus ut in circulo. In circulo igitur focus in ipso centro est^ longissime recedens a circumferentia proxima, in ellipsi jam minus recedit, et in para- bola multo minus, tandem in recta focus minimum ab ipsa re- cedit, hoc est, in ipsam incidit. Sic itaque in terminis, circulo et recta, coeunt foci, illic longissime distat, hie plane incidit focus in lineam. In media parabole infinito intervallo distant, in ellipsi et hpperbole lateralibus bini actu foci spatio dimenso distant; in ellipsi alter etiam intra est, in hpperbole alter extra. Undique sunt rationes oppositae." . . . „Oportet enim nobis servire voces geometricas analogiae; plurimum namque amo analogias fidelissimos meos magistroSy omnium naturae arcanorum conscios: in geometria praecipue suspiciendos, dum infinitos casus interjectos intra saa extrema mediumque quantumvis absurdis locutionibus concludunf, totam- que rei alicujus essentiam luculenter ponunt oh oculos" 5. Mit diesen klassischen Worten betont Kepler nicht nur den Wert der Analogie^ sondern mit Recht auch das Prinzip der Kontinuität^ welches ihn allein zu dem Grade der Abstraktion leiten konnte, der die Erfassung so tiefliegender Analogien er- möglichte. Aus der Werkstätte der antiken Forschung wissen wir ja sehr wenig. Es sind kaum die wichtigsten Ergebnisse der Forschung uns überliefert worden. Die Form der Darstellung ist aber, wie das drastische Beispiel Euklids lehrt, oft ganz dazu angetan, die Forschungswege zu verdecken. Leider ist ent- gegen dem Interesse der Wissenschaft und im Interesse einer falsch bewerteten Strenge das antike Beispiel in neuerer Zeit noch oft nachgeahmt worden. Am vollständigsten und strengsten ist jedoch ein Gedanke begründet, wenn alle Motive und Wege, welche zu demselben geleitet und ihn befestigt haben, klar dar- gelegt sind. Von dieser Begründung ist die logische Verknüpfung mit älteren, geläufigeren, unangefochtenen Gedanken doch eben nur ein Teil. Ein Gedanke, dessen Entstehungsmotive ganz klargelegt sind, ist für alle Zeiten unverlierbar, so lange letztere gelten, und kann andererseits sofort aufgegeben werden, sobald diese Motive als hinfällig erkannt werden. 6. Der Verkehr mit den Klassikern der Periode des Wieder- auflebens der Naturforschung gewährt eben dadurch einen so 224 I^i^ Ähnlichkeit und die Analogie als Leitmotiv der Forschung. unvergleichlichen Genuß und eine so ausgiebige, nachhaltige, unersetzliche Belehrung, daß diese großen, naiven Menschen ohne jede zunftmäßige gelehrte Geheimtuerei in der liebenswürdigen Freude des Suchens und Findens alles mitteilen, was und wie es ihnen klar geworden ist. So lernen wir bei Kopernikus, Stevin, Galilei, Gilbert, Kepler die Leitmotive der For- schung ohne allen Pomp an Beispielen der größten Forschungs- erfolge kennen. Die Methoden des phipsischen und des Gedanken- experiments, ^) der Analogie, das Prinzip der Simplizität und Kontinuität u. s. w. werden uns in der einfachsten Weise vertraut. 7. Außer diesem kosmopolitischen Zuge von Offenheit zeichnet sich die Wissenschaft jener Zeit noch durch einen ungewöhn- lichen Aufschwung der Abstraktion aus. Aus Einzelerkenntnissen wächst die Wissenschaft hervor, und am einzelnen bleibt auch die antike Forschung meist haften. Wer aber einen reichen Besitz schon als Erbschaft übernimmt, befindet sich in günstigerer Lage. Er kann über die ihm schon vertraut und geläufig gewordenen einzelnen Erkenntnisschätze den vergleichenden Blick oft, in verschiedener Ordnung, und in rascher Folge führen. Hierbei entdeckt er in weit Abliegendem noch Gemeinsames, wo dies dem Finder oder Neuling noch vor dem Verschiedenen zu- rücktrat. Namentlich eine Änderung der betrachteten Objekte, welche kontinuierlich oder doch in kleinen Stufen stattfindet, macht die Verwandtschaft weit abstehender Glieder einer Reihe fühlbar und bringt zum Bewußtsein, was trotz aller Änderung gleich geblieben ist. So kann ein sich schneidendes Geradenpaar als Hyperbel, eine Gerade als zwei zusammenfallende Hpperbel- äste, eine begrenzte Gerade als Ellipse erscheinen u. s. w. Pa- rallele und sich schneidende Gerade unterscheiden sich für Kepler nur mehr durch die Größe der Entfernung des Durch- schnittspunktes. Für seinen jüngeren Zeitgenossen Desargues^) ist die Gerade ein Kreis von unendlich fernem Mittelpunkt, die Tangente eine Sekante von zusammenfallenden Schnittpunkten, die Asymptote eine Tangente an einen unendlich fernen Punkt u. s. w. Alle diese für uns schon selbstverständlichen Schritte bereiteten ^) Vgl. S. 183 u. F. 2) Oeuvres de Desargues. Ed. Poudra. Paris 1864. Die Ähnlichkeit und die Analogie als Leitmotiv der Forschung. 225 dem antiken Geometer noch unüberwindliche Schwierigkeiten. Mit der unter Leitung des Kontinuitätsprinzips erreichten Höhe der Abstraktion steigt natürlich die Fähigkeit zur Erfassung von Analogien. Analogien kontinuierlicher Größenänderungen zu an- schaulicheren Verhältnissen der Geometrie führen zur Entwick- lung der Infinitesimalrechnung sowohl in der Newtonschen als auch in der Leibnizschen Form. Die Vergleichung der alge- braischen Zeichensprache mit der Vulgärsprache erweckt Leibniz den Gedanken einer allgemeinen Charakteristik oder Begriffs- schrift und leitet ihn zu logischen Entdeckungen, welche eben erst wieder neues Leben gewinnen.^) Die hohe Abstraktion, die sich Lagrange angeeignet hat, ermöglicht ihm, die Analogie zwischen den kleinen Änderungen durch Zuwüchse der unab- hängig Variablen und den kleinen Änderungen durch Variation der Funktionsform zu erschauen. So entsteht die wunderbare Schöpfung der Variationsrechnung. 8. Wenn ein Objekt der Betrachtung M die Merkmale ß, b, c^ d^ e aufweist und ein anderes Objekt A'' mit ersterem in den Merkmalen ö, b, c übereinstimmt, so ist man sehr geneigt, zu er- warten, daß das letztere auch die Merkmale ^, e aufweisen, mit M auch in diesen übereinstimmen werde. Diese Erwartung ist logisch nicht berechtigt. Denn das logische Verfahren verbürgt nur die Übereinstimmung mit dem einmal Festgesetzten, das Bei- behalten desselben, schließt den Widerspruch gegen dieses aus. Unsere Neigung, unsere Erwartung ist aber in unserer psycho- logisch-physiologischen Organisation begründet. Schlüsse nach Ähnlichkeit und Analogie sind genau genommen kein Gegenstand der Logik, wenigstens nicht der formalen Logik, sondern nur der Psychologie. Wenn in dem obigen Falle ö, b, Cy d, e unmittel- bar wahrnehmbare Merkmale sind, so sprechen wir von Ähnlich- keit, bedeuten aber a, b, c, d, e begriffliche Beziehungen der Objektmerkmale von M zueinander, und ebenso in Bezug auf das Objekt A^, so entspricht die Bezeichnung Analogie besser dem Sprachgebrauch. Ist uns das Objekt mit der Kombination seiner Merkmale a, b, c, d, e geläufig, so wird bei Betrachtung von N neben den Merkmalen a, b, c auch d, e durch Association in ^) Vgl. Couturat, La logique de Leibniz. Paris, 1901. Mach, Erkenntnis und Irrtum. 15 226 -ö/e Ähnlichkeit und die Analogie als Leitmotiv der Forschung. Erinnerung gebracht, womit bei Gleichgültigkeit der Merkmale d, e der Prozeß abgeschlossen ist. Anders ist es, sobald d, e wegen ihrer nützlichen oder schädlichen Eigenschaft ein starkes biologisches Interesse, oder für einen technischen oder rein wissenschaftlich -intellektuellen Zweck einen besonderen Wert haben. Dann fühlen wir uns gedrängt nach d, e zu suchen; wir erwarten mit gespannter Aufmerksamkeit die Entscheidung. Diese erfolgt entweder durch einfache sinnliche Beobachtung, oder durch kompliziertere technische oder wissenschaftlich-be- griffliche Reaktionen. Wie nun auch die Entscheidung erfolgen mag, ob wir die Merkmale d, e an dem Objekt A'' in Überein- stimmung mit M finden oder nicht, in beiden Fällen hat sich unsere Kenntnis des Objektes erweitert, indem sich eine neue Übereinstimmung oder ein neuer Unterschied gegen M ergeben hat. Beide Fälle sind gleich wichtig, beide schließen eine Ent- deckung ein. Der Fall der Übereinstimmung hat aber außerdem noch die Bedeutung einer ökonomischen Ausdehnung einer gleichförmigen Auffassung auf ein größeres Gebiet, weshalb wir solche Fälle mit Vorliebe suchen. Das eben Gesagte enthält also die einfache biologische und erkenntnis- theoretische Be- gründung der Wertschätzung des Schlusses nach Ähnlichkeit und Analogie. 9. Das Leitmotiv der Ähnlichkeit und Analogie erweist sich in mehrfacher Hinsicht als treibend und fruchtbar für die Erweiterung der Erkenntnis. Ein noch wenig geläufiges Tatsachengebiet A^ offenbare in irgend einer Weise seine Analogie zu einem uns geläufigeren, der unmittelbaren Anschauung zugänglicheren Ge- biet M. Sofort fühlen wir uns angetrieben in Gedanken, durch Beobachtung und Experiment zu den bekannten Merkmalen oder Beziehungen der Merkmale von M die Homologen von A^ auf- zusuchen. Unter diesen Homologen werden sich im allgemeinen bislang unbekannte Tatsachen des Gebietes N finden, die wir auf diese Weise entdecken. Trifft aber unsere Erwartung auch nicht zu, finden wir unvermutete Unterschiede von N gegen M, so hat sich unser Trieb doch nicht vergebens betätigt. Wir haben das Tatsachengebiet N genauer kennen gelernt, unsere begriffliche Kenntnis desselben hat sich bereichert. Die Ope- ration mit Hypothesen wird durch den Reiz der Ähnlichkeit und Die Ähnlichkeit und die Analogie als Leitmotiv der Forschung. 227 Analogie eingeleitet. Die Hypothese belebt die Anschauung, die Phantasie, und erregt durch diese die physische Reaktionstätig- keit. Die Funktion der Hypothese ist sonst teils eine sich selbst befestigende, verschärfende, teils eine sich selbst zerstörende, jedenfalls aber eine kenntniserweiternde. ^) 10. Mehrere gleich gut bekannte Gebiete M, N, 0, P können ebenfalls in Analogie zueinander treten, entweder paarweise oder mehrere zugleich. Selbstverständlich zeigen diese Tatsachengebiete außer den Übereinstimmungen auch Unterschiede, da sie ja sonst identisch wären. Daraus geht hervor, daß man beim Analogi- sieren bald das eine, bald das andere bevorzugen, bald von dem einen, bald von dem andern ausgehen kann, wobei verschiedene Analogien hervortreten und ihre Berechtigung geltend machen. Es ist klar, daß bei diesem Prozeß sich herausstellen muß, was an unseren Auffassungen zufällig und willkürlich ist, und welche Auffassungen sich in homogener Weise auf das weiteste Gebiet anwenden lassen, welche also dem Ideal der Wissenschaft am besten entsprechen. 11. An Beispielen für die Bedeutung der Analogie fehlt es nicht. Dieselbe kann in der Naturwissenschaft kaum überschätzt werden. Schon in der antiken Zeit haben die unmittelbar sichtbaren Wasser- wellen den Vorgang der Schallfortpflanzung erläutert und ver- ständlich gemacht.^) Die Vorstellungen über die Lichtfortpflanzung haben sich jenen über die Schallbewegung nachgebildet.^) Die Entdeckung der Jupitertrabanten durch Galilei hat das Koper- nikanische System mächtiger als alle anderen Argumente durch die Analogie gestützt. Das Jupitersystem stellt ein verkleinertes Modell des Planetensystems dar. Wir sehen, wie sehr Huygens diese Stütze zu schätzen wußte. 12. Die Drehung der Polarisationsebene des Lichtes durch den elektrischen Strom, welche Faraday im Jahre 1845 nach- zuweisen glückte, ist eines der merkwürdigsten Beispiele einer großen Entdeckung unter Leitung der Analogie. J. F. W. Herschel hatte diese Beziehung zwischen Licht und Elektrizität schon ^) Mach, Bemerkungen über die historische Entwicklung der Optik. Poskes Zeitschrift f. physik. u. ehem. Unterricht. XI. (1898.) ^) Vitruvius, De architectura. V. Cap. III, 6. 8) Huygens, Traite de la lumiere. Leiden, 1690. 15* 228 -ö^^ Ähnlichkeit und die Analogie als Leitmotiv der Forschung. zwanzig Jahre vorher vermutet, und war bei seinen Experimenten, wenngleich dieselben wegen Anwendung zu geringer Kräfte negativ ausfielen, von einem richtigen Gedanken geleitet. Wir wissen dies aus einem Brief Herschels^) an Faradap vom 9. November 1845. Herschel erhielt durch die Drehung der Polarisationsebene des Lichtes beim Fortschreiten des Strahles in gewissen starren und flüssigen Medien den Eindruck einer Schraube. Er suchte nun nach einer Schraubenstruktur (heli- coidal dissymmetry) im Quarz. In der Tat äußert sich dieselbe bei diesem stark drehenden Körper in den plagiedrischen Flächen, obgleich die Quarzkristalle sonst den Eindruck der Symmetrie machen. Die optische helikoidale Dissymmetrie ist also an eine ebensolche Dissymmetrie des Mediums gebunden. Faßt man nun einen geradlinigen elektrischen Strom ins Auge, der den Nordpol der Magnetnadel, wo dieselbe auch in seiner Nähe sich befinden mag, stets zur Linken des Ampere sehen Schwimmers ablenkt, stets links herumtreibt, so erkennt man die helikoidale Dissym- metrie des magnetischen Stromfeldes. Herschel erwartete also, daß ein magnetisches Stromfeld das polarisierte Licht ähnlich be- einflussen würde, wie der Quarz. Seiner Vermutung entsprechend ließ er einmal einen Strahl durch die Achse einer durchströmten Drahtspule, ein anderes Mal zwischen zwei entgegengesetzt durchströmten parallelen Drähten längs der Länge derselben pas- sieren, ohne ein positives Resultat zu erhalten. Die erstere Ver- suchsform entspricht bekanntlich der Faradayschen. 13. Ein anderes Beispiel mag die Vorteile des Analogisierens mehrerer schon bekannter Tatsachengebiete untereinander er- läutern. Die Fouriersche Theorie des Wärmestroms scheint sich durch Beachtung der Analogie mit dem Wasserstrom ent- wickelt zu haben. Andererseits sind der Fouri ersehen Wärme- leitungstheorie andere Theorien, wie jene des elektrischen und des Diffusionsstroms nachgebildet worden. Unabhängig von diesen, und neben diesen, hat sich eine konforme Theorie der Fernkräfte, eine Attraktionstheorie entwickelt. Wenn man nun diese verschiedenen, große Tatsachengebiete zusammenfassend darstellenden Theorien vergleicht, so ergeben sich mannigfache ») Bence Jones, The life of Faradap. Vol. II, p. 205. London 1870. Die Ähnlichkeit und die Analogie als Leitmotiv der Forschung. 229 Analogien. W. Thomson^) (Lord Kelvin) hat zunächst die Wärmeleitungstheorie mit der Attraktionstheorie verglichen und gefunden, daß die Formeln des ersteren Gebietes in jene des letzteren übergehen, wenn man an die Stelle des Begriffes Temperatur den Begriff Potential und an die Stelle des Begriffes Temperaturgefälle den Begriff Kraft einsetzt. Diese nahe Ver- wandtschaft ist sehr auffallend, wenn man bedenkt, daß die Grundvorstellungen, von welchen man in beiden Gebieten aus- geht, gänzlich verschieden zu sein scheinen, indem man die Wärmeleitung auf Nahe Wirkungen (Berührungswirkungen), die Attraktion auf Fernwirkungen zurückführt. Diese Gedanken haben wohl auf Maxwell sehr anregend gewirkt. Er erkannte auf diesem Wege die Gleichberechtigung der Far ad aj> sehen Nahe- wirkungstheorie der Elektrizität und des Magnetismus mit der bis dahin von den mathematischen Phj>sikern allein anerkannten Fernwirkungstheorie, und wandte schließlich den großen Vor- zügen der ersteren die Aufmerksamkeit zu. ^) Eine andere große Leistung dieser Art, die Erkenntnis der Analogie zwischen den Gleichungen der Lichtbewegung und jenen der elektrischen Schwingungen, die Begründung der elektromagnetischen Licht- theorie durch Max welP) und die sich anschließende Eröffnung eines neuen Feldes der experimentellen Forschung durch Hertz '^) ist so bekannt, daß die bloße Erwähnung genügt. 14. Maxwell^) hat die Benützung der Analogie mit Be- wußtsein zu einer sehr geklärten physikalischen Methode ent- wickelt. Maxwell findet, daß wir die Erscheinungen zu sehr 1) W. Thomson, Cambridge mathemat. Journal. III, February 1842. ') Maxwell, A Treatise on Electricity and Magnetism. Vol. I, p. 99. Oxford 1873. 8) Maxwell, Dynamical Theory of the electromagn. field. London Phil. Trans. 1865. *) Hertz, Untersuchungen über die Ausbreitung der elektrischen Kraft. Leipzig 1892. ^) Maxwell, Transact. of the Cambridge Phil. Societp. Vol. X, p. 27, 1855. — Als ich selbst in der Prager Zeitschr. „Lotos" (Februarnummer 1871) und in „Erhaltung der Arbeit" (Prag 1872) diese Analogien in ähnlichem Sinne erörterte, waren mir Thomsons und Maxwells Arbeiten noch unbekannt und unzugänglich. S. Carnot scheint als der erste diese Denkweise mit Bewußtsein benützt zu haben. 230 ^^^ Ähnlichkeit und die Analogie als Leitmotiv der Forschung. „aus den Augen verlieren", wenn wir die Ergebnisse der Unter- suchung nur in mathematischen Formeln darstellen. Wenn wir aber eine Hypothese benützen, sehen wir „wie durch eine ge- färbte Brille", und die Erklärung von einem einseitigen Stand- punkt aus macht uns „gegen die Tatsachen blind". Maxwell findet in den Erscheinungen des Gleichgewichtes der Elektrizität, des Magnetismus, der Strömung der Elektrizität u. s. w. gemein- same Züge, die sämtlich an die Strömungserscheinungen einer Flüssigkeit erinnern. Um die Analogie ganz vollständig zu machen, wird jene Flüssigkeit von Maxwell idealisiert. Die- selbe wird ohne Trägheit (masselos), inkompressibel vorausgesetzt, und durch ein widerstehendes Medium strömend angenommen, dessen Widerstand der Stromgeschwindigkeit proportional ge- setzt wird. Es wird also ein imaginäres, analogisierendes, aber darum nicht minder anschauliches Bild angewendet. Man hält es nicht für etwas Wirkliches, und weiß genau, worin dasselbe mit dem Darzustellenden begrifflich übereinstimmt. Der Druck der Flüssigkeit entspricht den verschiedenen Potentialen, die Stromrichtung den Kraft- und Stromrichtungen, das Druckgefälle den Kräften u. s. w. Maxwell gelingt es auf diese Weise in seinen Darstellungen, ohne die Anschaulichkeit aufzugeben, die Unbefangenheit und die begriffliche Reinheit zu wahren. Er vereinigt die Vorteile der Hypothese mit jenen der mathema- tischen Formel.^) Das Bild, welches er noch anwendet, ist, um einen modifizierten Ausdruck von Hertz zu gebrauchen, ein solches, dessen psychische Folgen wieder Bilder der Folgen der Tatsachen sind. Maxwell nähert sich sehr einer idealen Methode der Naturforschung. Daher seine ungewöhnlichen Erfolge! 15. Es sei zum Schlüsse nochmals hervorgehoben, daß nicht nur die Verfolgung von vollständigen Analogien, welche zur Erkenntnis neuer Übereinstimmungen führen, sondern auch die Beachtung unvollständiger Analogien, welche die Unterschiede der verglichenen Tatsachengebiete enthüllen, der Forschung sehr förderlich sein kann. So wäre eine Energielehre bei bloßer Beachtung der Konformität der Energien auf Kenntnis des ersten *) Vgl. Machs oben erwähnten Artikel in Zeitschr. f. phpsik. u. ehem. Unterricht. X. (1897.) Die Ähnlichkeit und die Analogie als Leitmotiv der Forschung. 231 Hauptsatzes der Thermodynamik beschränkt geblieben, während gerade die Beachtung der Unterschiede zur wichtigen Kenntnis der Dissipation der Energie geleitet hat.^) Ein sehr lehrreiches und historisch wichtiges Beispiel des vorzeitigen Fallenlassens einer fruchtbaren Analogie bietet ein Forscher wie Newton. Die 28. Frage der Optik beschäftigt sich mit der Descart es- schen Drucktheorie und mit der Huj>gens sehen Wellentheorie des Lichtes.^) Nachdem Newton die erstere abgewiesen hat, spricht er sich auch gegen die zweite aus. Denn er vermißt beim Licht die Beugung in den Schattenraum. Zwar weiß er, daß Wasserwellen stärker gebeugt werden als Schallwellen, allein da er nur Versuche angestellt hat, bei welchen ihm die noch geringere Beugung des Lichtes in den Schattenraum leicht ent- gehen konnte, und nur die entgegengesetzte bemerkt wurde, zieht er es vor, die letztere auf eine ablenkende von dem ge- streiften Körper ausgehende Kraft zurückzuführen. Diese einmal gefaßte Stellung verschließt ihm auch das Verständnis der Huy- gensschen Arbeiten. Er bleibt bei seiner Projektiltheorie. Er erklärt alles „ex congenitis et immutabilibus radiorum proprie- tatibus"; das sei ohnehin noch schwierig genug. 1) Vgl. Mach, Prinzipien der Wärmelehre. 2. Aufl. 1900. 2) Optice. Ed. Clarke. Londini 1719. p. 366. Die Hypothese. 1. Isolierte Tatsachen gibt es nur infolge der Beschränktheit unserer Sinne und unserer intellektuellen Mittel. Instinktiv und unwillkürlich spinnen die Gedanken eine Beobachtung fort, in- dem sie die Tatsache in Bezug auf ihre Teile, oder ihre Folgen, oder ihre Bedingungen ergänzen. Der Jäger findet eine Feder, und seine Phantasie führt ihm sofort das Bild des ganzen Vogels, des Nußhähers vor, der dieselbe verloren hat. Eine Meeresströmung führt fremdartige Pflanzen, Tierleichen, kunstvoll geschnitzte Hölzer herbei, und vor Kolumbus zeigt sich das ferne noch unbekannte Land, dem jene Dinge entstammen. Herodot (II, 19 — 27) beobachtet die regelmäßigen Nilüber- schwemmungen und bildet sich die sonderbarsten Vorstellungen über die Vorgänge, mit welchen dieselben zusammenhängen möchten. Selbst den höher entwickelten Tieren ist ein solches Fortspinnen der beobachteten Tatsache in den Vorstellungen ganz geläufig, wenn auch in höchst primitiver Form. Die Katze, welche ihr Spiegelbild hinter dem Spiegel sucht, hat, wenn auch instinktiv und unbewußt, eine Hypothese über dessen Körperlichkeit gemacht, und geht eben daran, dieselbe auf die Probe zu stellen. Hiermit ist aber für sie der Prozeß zu Ende, während der Mensch im analogen Falle gerade erst hier zu staunen und zu denken beginnt. 2. In der Tat ist die naturwissenschaftliche Hippothesen- bildung nur eine weitere Entwicklungsstufe des instinktiven primitiven Denkens, und wir können zwischen diesem und jener alle Übergänge aufweisen.^) In einem sehr gut bekannten Tat- sachengebiete werden auch nur sehr geläufige naheliegende *) Vgl. Populär-wissenschaftliche Vorlesungen. 3. Aufl. S. 256. Die Hypothese. 233 Vermutungen auftreten, welchen man die Hypothesennatur kaum anmerkt, obwohl von einem qualitativen Unterschiede nicht die Rede sein kann. So verhält es sich in den oben angeführten Beispielen. Ob Kolumbus im Westen ein Land, oder Leverrier in einer gewissen Richtung einen störenden, dorthin ablenkenden Planeten vermutet, in beiden Fällen wird eine Beobachtung nur in ganz geläufiger Weise nach der täglichen Erfahrung des Beobachters durch die Vermutung ergänzt. Je mehr die Be- obachtungen, an die wir anknüpfen, neu, ungewöhnlich und uns fremd sind, desto sonderbarer, ungewöhnlicher sind auch die Vermutungen. Doch müssen auch die hier auftretenden Vor- stellungen dem Stoffe der Erfahrung entnommen sein, so wunder- lich dieselben auch kombiniert sein mögen. Ein Blitzschlag und der noch seltener auftretende Meteoritenfall erzeugt den Ge- danken eines geschleuderten Donnerkeils und werfender Titanen. Die Mammutfunde in Sibirien führten die Einwohner zu der Vermutung, daß man es hier mit einer riesigen in der Erde wühlenden Ratte (Mäusemutter, Wühlochse, Fen-schu der Chi- nesen) zu tun habe, welche sterbe, sobald sie an die Luft komme. Für Vogelklauen gehaltene Rhinoceroshörner in gold- reicher, unwirtlicher Gegend gaben Anlaß zur Vorstellung der goldbewachenden Greifen, des Vogels Roch u. s. w. In be- deutender Höhe gefundene Muschellager legen die Vorstellung der Sintflut nahe.^) 3. Die wissenschaftlichen Ansichten knüpfen unmittelbar an die volkstümlichen an, von welchen sie anfänglich überhaupt nicht zu trennen sind, und entwickeln sich allmählich aus diesen. Der Himmel erscheint uns aus physiologischen Gründen als eine Kugel von einem bestimmten nicht einmal sehr großen Radius. Das ist die volkstümliche und auch die erste wissen- schaftliche Ansicht. Der nächtliche Anblick führt uns dazu, dieser Kugel eine Drehung zuzuschreiben, und die Sterne an. derselben für befestigt und vor dem Fallen geschützt zu halten. Die ungleichen Bewegungen, die nun bei näherem Zusehen an den Planeten, an dem Monde und an der Sonne bemerkt werden, führen zur Annahme mehrerer durchsichtiger ineinander ge- >) Vgl. T5>lor, Urgeschichte. S. 398—403. 234 ^^^ Hypothese. schachtelter Sphären mit verschiedenen Drehungen. So ent- wickeh sich allmählich die Epicykeltheorie, das ptolemäische, das antike heliozentrische und das kopernikanische System. Der Mond steht in einer Beziehung zur Flutwelle, das entgeht auch dem Volke nicht. Solange die Forscher nur mit Druck und Stoß als Bewegungsursachen vertraut sind, glauben sie an eine Luftdruckwelle, die der Mond unter sich hertreibt. Bei Vertrautheit mit Fernwirkungen wird der Druck durch einen Zug abgelöst. 4. Die Wirkung der vorläufigen Ergänzung der Tatsache in Gedanken ist zunächst eine raschere Erweiterung der Erfahrung. Der Seemann, in dessen Phantasie durch die an die Küste ge- triebenen Objekte das Bild des fernen Landes mit sinnlicher Lebendigkeit auftaucht, sucht nach demselben. Ob er es findet oder nicht, ob dessen Lage und Natur seiner Vorstellung ent- spricht, oder nicht, ob er auch statt der vermuteten indischen oder chinesischen Küste eine neue findet, auf jeden Fall hat er seine Erfahrung erweitert. Wer Körperlichkeit des Spiegelbildes erwartend dieser nachgeht, ohne sie zu finden, kennt von nun an eine neue Art von Gesichtsobjekten, welchen zwar die Körperlichkeit fehlt, deren Bedingung aber das Vorhandensein anderer körperlicher Objekte ist. Selbst in jenen Fällen, in welchen die gedankliche Ergänzung keine neuen Erfahrungen auszulösen vermag, bringt sie doch die schon gesammelten in einen übersichtlichen Zusammenhang. So verhält es sich mit der Vorstellung über das Mammut. Daß es in der Erde ge- funden wird, daß sein Fleisch noch frisch ist, daß es nur tot gefunden wird, folgt alles aus der Vorstellung, die man sich über dasselbe gebildet hat. Dasselbe läßt sich an dem astro- nomischen Beispiel erläutern. Wenn die Ergänzung mit lebhafter sinnlicher Anschaulichkeit auftritt, und zugleich mit der Über- ^ Zeugung der Auffindbarkeit des Hinzugedachten, ist sie besonders geeignet, die zur Erweiterung der Erfahrung nötige Tätigkeit hervorzurufen. Die gedankliche Ergänzung ist eine Gedanken- erfahrung^ welche zur Erprobung durch die physische Erfah- rung antreibt. 5. Wenn wir nun die naturwissenschaftliche Hypothese näher ins Auge fassen, so sehen wir zunächst, daß alles, was durch Die Hypothese. 235 die Beobachtung noch nicht unmittelbar festgestellt werden konnte, Gegenstand einer gedanklichen Ergänzung, Vermutung, Annahme, Voraussetzung oder Hypothese sein kann. Wir können nicht direkt beobachtete Teile der Tatsache als vorhanden an- nehmen; der Geologe und Paläontologe wird sehr häufig in die Lage kommen, dies zu tun. Es können über die Folgen einer Tatsache Annahmen gemacht werden, wenn dieselben nicht un- mittelbar eintreten, oder nicht direkt beobachtet sind. Die Formen der Gesetze einer Tatsache sind oft Gegenstand einer Annahme, da ja eigentlich nur unendlich viele Beobachtungen mit Aus- schluß aller störenden Umstände das Gesetz liefern könnten. Die Annahmen aber, die man vorzugsweise als Hypothesen be- zeichnet, beziehen sich auf die Bedingungen einer Tatsache, welche dieselben verständlich machen, es sind die Erklärungs- hypothesen. Diese wollen wir jetzt ausschließlich betrachten. „Hypothesis'^ heißt, altem Gebrauch entsprechend, die Summe der Bedingungen, unter welchen ein mathematischer Satz, die Thesis gilt, und aus der Hypothesis abgeleitet, d. h. demonstriert, bewiesen werden kann. Hier ist die „Hypothesis" das Gegebene, welches zudem an gar keine andere Bedingung, als die mathe- matische und logische Möglichkeit, gebunden ist; die Thesis ist das Erschlossene. In der Naturwissenschaft haben wir um- gekehrt von der gegebenen sicheren Tatsache auszugehen, den regressiven, analytischen, unbestimmten Schluß auf die Be- dingungen auszuführen. Viele Möglichkeiten bieten sich in diesem Falle dar, und dieselben sind desto zahlreicher, je un- vollständiger noch die Erfahrung ist, die in diesem Gebiet noch neben der Logik viel mehr mitzusprechen hat, als in der Mathe- matik. Eine vorläufige versuchsweise Annahme zum Zwecke des leichteren Verständnisses von Tatsachen, welche aber dem tatsächlichen Nachweis sich noch entzieht, nennen wir eine Hypothese.^) Die Vorläufigkeit kann von sehr verschiedener ^) Ich nehme hier mit einer geringen Modifikation den Ausdruck an, den P. Biedermann, Die Bedeutung der Hippothese, Dresden 1894, S. 10 ge- braucht: „Solche Voraussetzungen nun, welche um der Tatsachen willen ge- macht werden, aber selbst der tatsächlichen Nachweisung sich entziehen, nennen wir Hypothesen." In dieser vortrefflichen Abhandlung ist die nahe Verwandtschaft zwischen dem, was im wissenschaftlichen Denken Hypothese, 236 ^i^ Hypothese. Dauer sein, einen Augenblick währen, wie in dem Beispiel des Spiegelbildes, oder ein Jahrhundert und ein Jahrtausend, wie im Fall der Emissionshppothese des Lichtes und des ptolemäischen Systems. Das psychologisch -logische Wesen der Hypothese wird hierdurch nicht geändert. 6. Eine entschiedene Abneigung gegen Hypothesen hat Newton an den Tag gelegt. Seine erste philosophische oder Forschungsregel lautet: „An Ursachen zur Erklärung der Natur nicht mehr zuzulassen, als wirklich sind, und zur Erklärung der Erscheinungen ausreichen." ^) Sie enthält eine deutliche Mahnung, keine Erklärungen zu erdichten, wenn das tatsächlich Bekannte zum Verständnis ausreicht. In derselben Schrift findet sich noch eine zweite für Newtons Haltung charakteristische Stelle. „Rationem vero härum gravitatis proprietatum ex phaenomenis nondum potui deducere, et hypotheses non fingo. Quidquid enim ex phaenomenis non deducitur, hypothesis vocanda est, et hypotheses seu metaphysicae, seu physicae, seu qualitatum occul- tarum, seu mechanicae, in philosophia experimentali locum non habent. In hac philosophia propositiones deducuntur ex phae- nomenis, et redduntur generales per inductionem." ^) In diesem Zusammenhange kann das vielzitierte „hypotheses non fingo" zunächst, und zwar mit Recht, auf eine weitere Erklärung der Schwere bezogen werden. Newton hat die tatsächlich be- stehende verkehrt quadratische Schwerebeschleunigung nach- gewiesen, aus den Erscheinungen abgeleitet. Diese ist also keine Hypothese. Woher aber diese Eigenschaften der Schwere kommen, weiß er nicht, vermag es den Erscheinungen nicht zu entnehmen, und lehnt es ab, eine erdichtete Erklärung vor- zubringen. Dies geht mit voller Deutlichkeit aus den zwei folgenden Stellen der Briefe Newtons an Bentley hervor. Newton schreibt: im volkstümlichen Denken aber Vermutung heißt, sehr klar dargelegt. — Unter allen Umständen können wir von einer Ergänzung der Tatsachen in der Vor- stellung oder in Gedanken sprechen, geschieht dieselbe absichtlich und be- wußt, so ist der Ausdruck Vermutung oder Annahme passender. *) Philosophiae naturalis Principia mathematica. Lib. III. Regulae philo- sophandi. Reg. 1. «) Ebendaselbst. Lib. III, Sect. V. Die Hypothese. 2S1 „You sometimes speak of gravitj? as essential and inherent to matter. Pray do not ascribe that notion to me; for the cause of gravity is what I do not pretend to know, and therefore would take more time to consider of it." (Jan. 17, 1692 — 1693.) „It is inconceivable, that inanimate brüte matter should, without the mediation of something eise, which is not material, operate upon, and affect other matter without mutual contact; as it must do, if gravitation, in the sense of Epicurus, be essential and inherent in it. And this is one reason, why I desired you would not ascribe innate gravity to me. That gravity should be innate, inherent and essential to matter, so that one body may act upon another at a distance through a vacuum, without the mediation of any thing eise, by and through which their action and force map be conveyed from one to another, is to me so great an absurdity, that I believe no man who has in philosophical matters a competent faculty of thinking, can ever fall into it. Gravity must be caused by an agent acting con- stantly according to certain laws; but whether this agent be material or immaterial, I have left to the consideration of my readers." (Febr. 25. 1692—1693.)^) >) Newtoni Opera. Ed. Horseley. London 1782. Tom. IV, p. 437— 438. In dem Briefwechsel mit Bentley handelt es sich für Newton darum, aus der Anordnung des "Weltsystems Beweise für das Walten einer göttlichen Weis- heit zu gewinnen. Der Ausdruck „inanimate brüte matter" zeigt deutlich, daß Newton die beseelte Materie für etwas wesentlich anderes hält, und ihr mehr zutraut, als der rohen toten Materie. Der Dualismus, der uns von unseren wilden Urvätern her so fest in den Knochen steckt, ist auch heute nicht überwunden. Auch W. Thomson in seiner Arbeit „on the dynamical theory of heat" (1852) findet es notwendig zu sagen: „It is impossible, by means of inanimate material agency, to derive mechanical effect from any portion of matter by cooling it below the temperature of the coldest of the surrounding objects." Und auch H. Hertz (Die Prinzipien der Mechanik 1894), welcher annimmt, daß die gesamte Physik mechanisch-atomistisch zu ergrün- den sei, hält es doch für nötig — 200 Jahre nach Newton — diese Auf- fassung (S. 165) ausdrücklich auf die unbelebte Natur zu beschränken. Boltzmann endlich behandelt (1897) die Frage „nach der oh)Qkt\vQn Existenz der Vorgänge in der unbelebten Natur". Ich gestehe offen, daß mir die „leblose" Materie nicht weniger rätselhaft scheint als die belebte, und daß ich die gegenteilige Auffassung für den Rest eines alten Aberglaubens halte. Solange man glaubt, die ganze Physik durch Mechanik erschöpfen zu können, und solange man die Mechanik selbst durch die bisher bekannten einfachen 238 Die Hypothese. 7. Newtons Forschungsweg und Stellung scheint also ganz klar. Er wurde zu der Annahme geführt, daß die Massen Fernwirkungen aufeinander ausüben, analog jener der Erde auf die zur selben fallenden Körper. Er nahm ferner an, daß diese Fernwirkung verkehrt proportional dem Quadrate der Entfernung sei. Als es sich aber durch die analiptische Untersuchung zeigte, daß durch diese Annahmen alle Bewegungen im Planetensystem und auf der Erde wirklich dargestellt werden, hörte diese Vor- stellung auf für ihn Hypothese zu sein. Sie war für Newton ein Ergebnis der Analyse der Erscheinungen. Er trennte dies scharf von der Frage, ob die Fernwirkung selbst weiter auf Einfacheres zurückgeführt, erklärt werden könne. Dies letztere allein blieb für ihn Gegenstand der Spekulation oder „Hypo- these". Es wäre gewiß eine schwere Schädigung des wissen- schaftlichen Fortschritts gewesen, diese beiden Dinge als gleich- wertig zu betrachten, dieselben zu konfundieren, oder die Annahme der Fernwirkung wegen ihrer wirklichen oder schein- baren Unerklärbarkeit unausgesprochen zu lassen. Die Auffassung aber, als ob Newtons Ablehnung von Hypothesen sich nur auf das Gebiet der Mechanik und Gravitation bezöge, ist jedoch nicht aufrecht zu halten. Denn im Gebiete der Optik, in welcher er selbst reichlich Hypothesen entwickelt, die er aber auch immer sorgfältig von dem Tatsächlichen trennt, und als solche bezeichnet, spricht er sich ebenfalls sehr abfällig über den Wert der Hypothesen aus.^) „Quemadmodum in mathematica, ita etiam in physica, in- vestigatio rerum difficilium ea methodo, quae vocatur analytica^ semper antecedere debet eam quae appellatur synthetica. Metho- dus analytica est, experimenta capere, phaenomena observare; indeque conclusiones generales inductione inferre, nee ex adverso Ullas objectiones admittere, nisi quae vel ab experimentis vel ab Lehren für erschöpft hält, muß das Leben wirklich als etwas hpperphpsi- kalisches erscheinen. Beiden Auffassungen kann ich mich aber nicht an- schließen. ») Wer die Opposition Newtons gegen die Hypothesen übertrieben findet, wird dieselbe leichter verstehen, wenn er den Mißbrauch beachtet, welcher in der Descartesschen Zeit mit diesem Forschungsmittel getrieben wurde. Die Hypothese. 239 aliis certis veritatibus desumantur. Hypotheses enim, in philosophia quae circa experimenta versatur, pro nihilo sunt habendae."^) 8. Man hat sich viel Mühe gegeben, Newtons Aussprüche und sein Verhalten in Einklang zu bringen. Wenn dies aber auch nicht ganz gelingen sollte, so wäre dies nicht so schlimm. Auch bedeutende Menschen sprechen und schreiben zuweilen in Stimmungen, in welchen sie etwas mehr behaupten als sie auf- recht zu halten vermögen. Solche Fälle findet man bei Newton mehrere, bei Descartes gewiß viele. Ich glaube jedoch, daß Newtons Worte und sein Verhalten als Forscher sehr wohl verständlich sind. Wollte man das „hypotheses non fingo" ohne Vorbehalt nehmen, so würde es heißen: „Ich vermute nichts über das hinaus, was ich sehe, ich mache mir über die Beobachtung hinaus gar keine Gedanken." Diese Auffassung widerlegt Newton auf jeder Seite seiner Schriften. Er zeichnet sich gerade durch seinen Reichtum an Vermutungen aus. Er weiß auch sehr rasch durch Experimente, die unbrauchbaren, welche die Probe nicht bestehen, auszuscheiden. Was nicht aus den Erscheinungen abgeleitet werden kann, sagt er, ist eine Hypo- these. Demnach ist das, was aus den Erscheinungen folgt, in seinem Sinn keine Hypothese, sondern, wenn wir uns seine Denkweise aneignen, ein Ergebnis der analytischen Unter- suchung. Gebraucht er auch Bilder, um seine Gedanken zu veranschaulichen, so legt er denselben doch keinen besonderen Wert bei. Könnte man ihn etwa fragen, was er an seiner Vor- stellung der Lichtpolarisation für wesentlich halte, so würde er wohl sagen, die verschiedenen Seiten des Lichtstrahls, denn diese seien ein Ergebnis der analytischen Untersuchung^ die Teilchen aber mit magnetähnlichen Eigenschaften seien ein gleichgültiges veranschaulichendes Bild, das auch durch ein anderes ersetzt werden könnte. Die scharfe prinzipielle Unter- scheidung und sehr verschiedene Bewertung des wirklichen, definitiv festgestellten Wissens^ und der bloßen Vermutung^ bezw. der bildlichen Darstellung^ spricht sich bei Newton überall aus. Irrtümer im einzelnen sind dieser Tendenz gegen- über nicht von Belang. ^) Newtoni Optice. Londini 1719. p. 412, 413. 240 Di^ Hypothese. 9. Verschiedene Autoren haben sich bemüht, die Anforde- rungen, welche an eine gute naturwissenschaftliche Hypothese gestellt werden müssen, zu präzisieren. Sehr weitläufig hat sich J. St. Mi 11 ^) darüber ausgesprochen. Seine Forderung, daß die Hypothese sich auf die Annahme einer schon als vorhanden bekannten Ursache für das zu Erklärende, einer wahren Ursache (vera causa im Newtonschen Sinne) aufbauen müsse, hat F. Hillebrand^) eingehend als nicht haltbar dargetan. Man kann Mills Grundsätze, wie Hillebrand gezeigt hat, nicht be- folgen, ohne doch fortwährend mit denselben in Widerspruch zu geraten. In der Tat würde man, mit dem Beginn der bewußten Forschung, nach Mills Prinzipien, die augenblickliche Unwissenheit in Permanenz erklären; es könnte von da an, durch Denken wenigstens, keine wesentlich neue Entdeckung mehr gemacht werden.^) Jevons, dessen Ausführungen auf den Naturforscher den angenehmen Eindruck der vollen Vertrautheit mit dem Gegenstande machen, hält es für genügend, daß eine Hypothese mit den Tatsachen in Übereinstimmung sei.^) Bei- spiele werden dies übrigens besser erläutern, als allgemeine ab- strakte Darlegungen. 10. Die wesentliche Funktion einer Hypothese besteht darin, daß sie zu neuen Beobachtungen und Versuchen führt, wodurch unsere Vermutung bestätigt, widerlegt oder modifiziert, kurz die Erfahrung erweitert wird. Sehr gesunde Ansichten hierüber äußert schon Priestley in seiner Geschichte der Optik. „The very imperfect views and conclusions of the philosophers of this period exhibit an amusing and instructive prospect; as they demonstrate that it is by no means necessary to have just views, and a true hypothesis, a priori, in order to make real discoveries. Very lame and imperfect theories are sufficient to suggest useful experiments, which serve to correct those theories, and give birth to others more perfect. These then occasion farther experiments, which bring us still nearer to 1) Min, Induktive Logik. Ed. Gomperz. 1885. II. S. 208—225. 2) Hillebrand, Zur Lehre von der Hypothesenbildung. Sitzungsber. d. Wiener Akademie. Philos.-histor. Cl. Bd. 134. 1896. 8) Vgl. auch A. Stöhr, Leitfaden d. Logik, S. 172 u. f. *) Jevons, The principles of science. London, 1892. S. 510. Die Hypothese. 241 the truth, and in this method of approximation, we must be content to proceed, and we ought to think ourselves happy, if, in this slow method, we make anp real progress".^) Man kann den Gebrauch der Hypothese am besten durch ein Ver- fahren erläutern, welches in der Mathematik unter dem Namen der „regula falsi" bekannt ist. Man will eine numerische Gleichung x^ -f (^-^^ + bx^ -\-cx-\- d = versuchsweise auf- lösen, und substituiert einen gewissen Wert x^ für x^ d. h. man macht über diesen Wert eine bestimmte Voraussetzung. Das Polynom erhält dadurch den Wert + m^ statt 0. Eine andere Substitution x^ führt etwa zu dem Werte — m^ des Polynoms. Dann können wir zwischen x^ und x^ eine Wurzel der Gleichung suchen. Haben wir aber einen Wert x' gefunden, welcher das Polynom auf einen kleinen Wert [x reduziert, so können wir die Differenzen des x' von der Wurzel x, also (.r — x') und die Werte [x einander proportional setzen, und uns dadurch dem Werte x^ der Wurzel, beliebig annähern.^) 11. Als Beispiel betrachten wir zunächst die Wärmestoff- hypothese. Dieselbe enthält eine anschauliche Vorstellung, welche als psychisches Phantasie-Merkmal associativ dem sinn- lichen Wärmemerkmal eines Körpers hinzugefügt wird. Die Beobachtung des Feuers, der Erwärmung eines Körpers durch einen anderen wärmeren, und auf Kosten des letzteren, hat die Stoff- oder Flüssigkeitsvorstellung in ganz naiver, natürlicher, unwillkürlicher Weise entwickeh. Diese Vorstellung stellt zu- *) Priestley, Historp and present State of discoveries relating to viston, light and colours. London, 1772. Vol. I, p. 181. *) Eine Besprechung des vorliegenden Buches durch Prof. G. Vailati in „Leonardo" hat mich auf drei kleine Abhandlungen von G. L. Le Sage, „Sur la methode d'hppothese", und zwei Supplemente über die Analogie und die Exklusion aufmerksam gemacht, welche P. Prevost im zweiten Bande seines „Essai de Philosophie", Geneve, An XIII (S. 253 — 335) abge- druckt hat. Le Sage erläutert den Gebrauch der Hypothese in logischer Beziehung in der Tat sehr gut an mathematischen Beispielen. Die psycho- logische Bedeutung der Hypothese scheint mir weniger gewürdigt. Für den Deutschen ist auch interessant die Besonnenheit in Prevosts Philosophie, die nie den Kontakt mit den positiven Wissenschaften verliert zu einer Zeit, in welcher der ungezügelte Dämon der Spekulation sich in Deutschland aller Lehrstühle bemächtigt. Ich verdanke Prof. Th. Flournoy in Genf die Ein- sicht in dieses heute schwer zu beschaffende Buch. Mach, Erkenntnis und Irrtum. ]6 242 Die Hypothese. nächst die Tatsachen, welche sie erzeugt haben, lebhaft an- schaulich dar, erleichtert aber auch die Auffindung neuer: der Rieh mann sehen Mischungsregel, der Verschiedenheit der spe- zifischen Wärme, der Dampf- und Schmelzwärme, indem sie der Beobachtung auf halbem Wege entgegenkommt. Ganz ähnlich entstehen die elektrischen Fluidumsvorstellungen unter Leitung der Tatsachen der Mitteilung des elektrischen Zustandes, der Funkenbildung u. s. w. Die Vorstellung der in dem Leiter be- weglichen, in dem Nichtleiter festgehaltenen Flüssigkeiten, an welchen die Anziehungs- und Abstoßungskräfte haften, reprodu- ziert aber nicht nur in anschaulicher Weise die bekannten Tat- sachen, sondern fördert auch die Auffindung ganz neuer: der Ladung der Leiter an der Oberfläche, der Verteilung der Ladung nach der Krümmung, der Influenz, |a sogar der quantitativen Coulombschen Gesetze. Wie viel solche Vorstellungen als in- direkte Beschreibungen ^) noch bleibenden Wert haben, nachdem sie längst überwunden sind, und nicht mehr ernst genommen werden, sieht man z. B. daraus, daß man auch heute die Pro- duktion einer bestimmten Elektrizitätsmenge, entsprechend dem Farad ansehen elektrolytischen Grundgesetz, an einen pro- portionalen Stoffaufwand gebunden denken muß. 12. Auch die Emissionshippothese in Bezug auf das Licht gehört zu der Klasse der Stoffhippothesen. Die Beobachtung eines Lichtstrahls, der Verdichtung und Verdünnung von Strahlen mit Vergrößerung und Verkleinerung der Helligkeit führt ganz ohne Absicht dazu, den Strahl als einen Flüssigkeit-, Staub- oder Projektilstrahl aufzufassen, und nur die Flüchtigkeit des Lichtes stellt sich dieser Auffassung gelegentlich wieder in den Weg. Die große Anpassungsfähigkeit der Hypothesen an die Tatsachen zeigt sich darin, daß die Stoffhypothese des Lichtes, welche uns heute als eine so ungelenkige erscheint, Malus nicht ver- hindert hat, das sogenannte Cosinusquadratgesetz, das Teilungs- gesetz des polarisierten Strahls, in zwei zueinander senkrecht polarisierte Komponenten zu finden. Dasselbe Gesetz, welches Fresnel aus der Erhaltung der lebendigen Kraft des Lichtes ableitete, gewann Malus höchstwahrscheinlich, indem er sich ') Vgl. Popul.-wissensch. Vorlesungen. 3. Aufl. S. 267 u. f. Die Hypothese. 243 von dem unausgesprochenen Gedanken beherrschen ließ, daß bei der Teilung in Komponenten die Quantität des Lichtstoffes unverändert bleiben müsse, was wieder nur bei Erfüllung des Cosinusquadratgesetzes in einfachster Weise zutrifft. Jevons') hat Unrecht, derartige Stoffhypothesen als bloß beschreibende aus den eigentlich erklärenden auszuscheiden. Jede Hypothese muß die Tatsache, für welche sie zunächst gemacht ist, dar- stellen. Dies folgt schon aus der einzigen Forderung, die Jevons selbst an eine Hypothese stellt. Wie weit oder wie wenig eine Hypothese über diese Tatsache hinausreicht, welche zu deren Entstehung Anlaß gegeben hat, ob sie zu vielen oder wenigen Entdeckungen verhilft, das hängt vom Glück ab. 13. Bei Bildung einer Hypothese sucht man den Eigen- schaften einer Tatsache unter den besonderen beschränkten Umständen, welche die Beobachtung eben kennen gelehrt hat, gerecht zu werden, ohne natürlich voraus zu wissen, ob ihr diese Eigenschaften auch noch unter andern allgemeinern Um- ständen zukommen werden, ob also die Hypothese auch noch unter diesen Umständen passen, und wie weit sie reichen wird. Den Stoff, die Elemente zu den hypothetischen Vorstellungen können wir nur unserer derzeit bekannten sinnlichen Umgebung entlehnen, durch Beachtung von Fällen, welche mit den aktuellen eine Ähnlichkeit oder Analogie darbieten. Ähnlichkeit ist nicht Identität. Ähnlichkeit ist teilweise Gleichheit, teilweise Ver- schiedenheit. Darin liegt schon, daß eine nach der Analogie aufgestellte Hypothese bei Erweiterung der Erfahrung in manchen Fällen zutreffen, in anderen Fällen gewiß nicht zutreffen wird. Die Hypothese ist also schon ihrer Natur nach dazu bestimmt, im Laufe der Untersuchung geändert, den neuen Erfahrungen angepaßt, ja wieder fallen gelassen, durch eine ganz neue oder durch die volle Kenntnis der Tatsachen ersetzt zu werden. Forscher, die sich das eben Gesagte gegenwärtig halten, werden bei Aufstellung einer Hypothese nicht gar zu ängstlich sein. Etwas Mut bei dieser Gelegenheit ist im Gegenteil sehr förderlich. Die Huygenssche Wellenhypothese paßte durchaus nicht allseitig, und ihre Begründung ließ viel zu wünschen *) Jevons, Principles of science. S. 522 u. f. 16* 244 I^i^ Hypothese. Übrig, machte auch noch späten Nachfolgern viel zu schaffen. Hätte aber Huygens um dieser Schwierigkeiten willen die Hypothese fallen gelassen, so wäre viel Vorarbeit für Young und Fresnel ungetan geblieben, und diese Forscher hätten sich wahrscheinlich auf den ersten Anlauf beschränken müssen. 14. Die Emissionshppothese der Optik paßt sich allmählich den neu zuwachsenden Erfahrungen an. Ein gleichmäßiger Emissionsstrom genügt Grimaldi nicht mehr. Seine Beugungs- streifen führen ihn zur Vorstellung eines wellenförmigen Ab- flusses der Lichtflüssigkeit, wahrscheinlich nach Analogie der Stauungswellen. Für Newton handelt es sich nicht mehr um einen einfachen Emissionsstrom, sondern um eine große Zahl sich deckender, qualitativ verschiedener Emissionsströme. In Newtons Hand wird die Hypothese sogar der Periodizität des Lichts gerecht, wenn auch in unzureichender, ungelenkiger Weise, und auf Grund von teilweise unrichtigen Erfahrungs- prämissen. Endlich tritt die Wellenhypothese offen an die Stelle der Emissionstheorie. Zunächst nimmt sie in der Huygens- schen Form keine Rücksicht auf die Periodizität und Polarisation. Die Hookesche führt zwar das Element der Periodizität ein, weiß dasselbe aber, anderer Unvollkommenheiten nicht zu ge- denken, in keine angemessene Beziehung zu den Farben zu setzen. Young und Fresnel endlich vereinigen in ihren Hypothesen die Vorzüge der Huygensschen und Hooke- schen; namentlich Fresnel weiß die Mängel beider zu beseitigen und neue Eigenschaften mit Rücksicht auf die Po- larisation hinzuzufügen. So arbeitet die Erfahrung unaus- gesetzt an der Umwandlung und Vervollständigung unserer Vorstellungen. ^) 15. Aber auch die Vorstellungen^ welche wir uns gebildet *) Duhem (La Theorie physique, p. 364 u. f.) führt aus, daß Hypothesen vom Forscher nicht so sehr beliebig und willkürlich gewählt werden, als vielmehr im Laufe der historischen Entwicklung unter dem Eindruck der allmählich bekannt werdenden Tatsachen dem Forscher sich aufdrängen. Eine solche Hypothese besteht gewöhnlich aus einem ganzen Komplex von Vorstellungen. Ergibt sich nun, z. B. durch ein „experimentum crucis", ein mit einer Hypothese unverträglicher Erfolg, so kann man diesen zunächst nur als dem ganzen Vorstellungskomplex widersprechend ansehen. In Bezug auf letzteren Punkt vgl. Duhem, 1. c. p. 311 u. f. Die Hypothese. 245 haben, äußern ihren Einfluß auf den Gang der Erfahrung. Die Gri maidischen Streifen veranlassen uns auch, dem einzelnen Lichtstrahl eine periodische Beschaffenheit zuzuschreiben, ob- gleich dieselbe an diesem nicht unmittelbar wahrgenommen werden kann, sondern sich nur bei Kombination von Strahlen unter besonders günstigen Bedingungen äußert. Dieser Ge- danke wird durch die Wellenhypothese sehr anschaulich und lebendig gestaltet. Indem wir nun die Vorstellung der Perio- dizität, die in einem Falle gewonnen wurde, in allen Fällen, wo Lichtstrahlen auftreten, festhalten, bereichern wir durch diesen Gedanken jede optische Tatsache. Wir denken eigentlich zu jedem Fall mehr hinzu als man in demselben sieht, wir be- reichern jeden optischen Fall um den Grimaldi sehen. Der so ausgestattete Physiker wird sich nun, ganz wie jeder Mensch mit reicherer Erfahrung im praktischen Leben, dem Einzelfall gegenüber anders verhalten, als es ohne diese Nebenvorstellungen geschehen würde. Er wird mehr und anderes erwarten, wird seine Versuche anders anlegen. So wird es verständlich, daß Fresnel, der immer die Grimaldische Erfahrung gegenwärtig hat, über die Beugung, die Farben dünner Blättchen, die Re- flexion und Polarisation anders denkt und experimentiert als Newton, Huygens und Malus. 16. Außer den Elementen, welche zur Darstellung der Tat- sachen, aus der eine Hypothese geschöpft ist, unerläßlich sind, enthält dieselbe immer, oder doch gewöhnlich noch andere, die zu dieser Darstellung nicht notwendig sind. Denn die Hypo- these wird nach einer Analogie gebildet, deren Ähnlichkeits- und Differenzpunkte unvollständig bekannt sind, da ja sonst nichts mehr daran zu erforschen wäre. Die Lichtlehre spricht z. B. von Wellen, während nur die Periodizität zum Verständnis der Tatsachen notwendig ist. Diese über die Notwendigkeit hinaus- gehenden accessorischen Elemente sind es, welche in der Wechsel- wirkung von Denken und Erfahrung von der Umwandlung ergriffen werden. Dieselben werden allmählich ausgeschieden, und durch notwendige Elemente ersetzt. So bleibt von der Emissionsvorstellung nichts übrig, als die große Fortpflanzungs- geschwindigkeit vieler verschiedener Lichter von verschiedener Periodizität in demselben Strahl. Diese Vorstellung deckt sich 246 ^^^ Hypothese. in wesentlichen Punkten mit der an ihre Stelle tretenden Wellen- hypothese, welche aber ihrerseits ihre accessorischen Elemente, die nach Analogie des Schalles gedachten longitudinalen Schwin- gungen, wieder fallen lassen muß. 17. Die Vorstellungen, die wir uns auf Grund der Be- obachtungen gebildet haben, erregen Erwartungen, wirken aktiv und konstruktiv, drängen zu neuen Beobachtungen und Experi- menten. Die haltbaren Elemente dieser Vorstellungen werden dadurch gestärkt^ die unhaltbaren abgeworfen, modifiziert, gelegentlich auch durch neue ersetzt. Von besonderer Wichtig- keit sind solche Experimente, welche zur Entscheidung zwischen zwei die Tatsachen darstellenden Vorstellungen oder Vorstellungs- komplexen nötigen. Die Frage, ob die Farben durch Brechung entstehen, oder schon vor der Brechung vorhanden sind, und nur durch Verschiedenheit des Brechungsexponenten sichtbar werden, hat Newton durch sein experimentum crucis entschieden. Es ist dies der von Bacon eingeführte, von Newton angenom- mene Name für solche zwischen zwei Ansichten entscheidende Experimente. Ein wichtiges derartiges Experiment ist Fou- caults Versuch, durch welchen nachgewiesen wird, daß die Lichtgeschwindigkeit im Wasser kleiner ist als in der Luft, wo- durch die Emissionstheorie als unhaltbar nachgewiesen und zu Gunsten der Vibrationstheorie entschieden wird. Die Ent- deckung der Phasen der Venus durch Galilei entschied für das kopernikanische System, aus welchem diese Erscheinung notwendig folgte. In demselben Sinne wirkte die Beobachtung der von Hooke erwarteten Lotabweichung fallender Körper, sowie der Foucaultsche Pendelversuch. 18. Eine Hypothese kann in sehr verschiedener Art und in sehr verschiedenem Maße problematisch sein. Zur Erklärung des Saugens wurde die bekannte Hypothese des horror vacui erdacht. Würden wir nirgends in der Welt, unter keinerlei Umständen ein Vakuum antreffen, so könnten wir diese Auf- fassung festhalten. Eine andere Hypothese führt dieselben Er- scheinungen auf den Druck zurück, den die Luft durch ihr Gewicht ausübt. Obgleich nun das Gewicht der Luft zur Zeit der Aufstellung dieser Erklärung bereits tatsächlich nachgewiesen war, so war diese Erklärung doch so lange eine Hypothese, bis Die Hypothese. 247 durch das Experiment von Torricelli und die Versuche von Pascal, namentlich durch das Bergexperiment, auch der tat- sächliche Nachweis geliefert war, daß sich alle fraglichen Er- scheinungen ohne Rest erklären lassen, und daß daneben nach einer anderen Erklärung weder ein Bedürfnis besteht, noch auch für dieselbe Raum bleibt. Obgleich also die eine Erklärung, um es deutlich auszudrücken, ganz freie Erfindung ist, die andere aber nur mit tatsächlichen Elementen operiert, so haben doch beide zur Zeit ihrer Aufstellung den Charakter der Hypo- these. Ein anderes Beispiel ist die Erklärung kosmischer Be- wegungen durch die Schwere. Die Vorstellung der tatsächlich gegebenen Schwerebeschleunigung wird mit einer verallgemei- nernden Modifikation in das astronomische Gebiet eingeführt. Ich kann darin F. Hillebrand^) nicht beistimmen, daß in der Newtonschen Gravitationstheorie die Hj^pothese keine Rolle gespielt habe. Es ist ja richtig, in der fertigen Gravitations- lehre kommt alles auf zweckmäßige Beschreibung der kos- mischen Bewegungen durch Beschleunigungen hinaus. In diesem System geht auch die Beschleunigung eines Massenteilchens einfach ohne Rest in die irdische Schwerebeschleunigung über, wenn wir uns das Teilchen an der Oberfläche der Erde denken. Da ist also jede Hypothese überflüssig, indem sich die Erd- schwere als ein spezieller Fall der Gravitation ergibt. Es ist auch logisch denkbar, daß jemand die Kepl ersehe Bewegung rein phoronomisch analysiert, und darauf verfällt, sie durch Be- schleunigungen zu beschreiben, welche den Radien nach der Sonne verkehrt quadratisch proportioniert und nach denselben gerichtet sind. Dieser Vorgang ist aber nach meiner Meinung psychologisch undenkbar. Wie soll jemand ohne leitende physi- kalische Vorstellung gerade auf die Beschleunigungen verfallen, warum nicht auf die ersten oder dritten Differentialquotienten? Wie soll jemand unter den unendlich vielen möglichen Zer- legungen der Bewegung nach zwei Richtungen gerade auf diejenigen verfallen, welche ein so einfaches Resultat liefern? Ich halte schon die Analyse der parabolischen Wurfbewegung für sehr schwierig, ohne die leitende Vorstellung der Schwere- *) Hillebrand, a. a. O. 248 ^^^ Hypothese. beschleunigung, die nur an einem viel einfacheren Fall gewonnen werden konnte, und die hier verwendet wird. 19. Die werdende Wissenschaft bewegt sich in Vermutungen und Gleichnissen — das läßt sich nicht in Abrede stellen. Je mehr sie sich aber der Vollendung nähert, desto mehr geht sie in bloße direkte Beschreibung des Tatsächlichen über. Die Analogie einer Tatsache zu anderen hilft uns nach neuen Eigen- schaften suchen. Ob sich aber neue Übereinstimmungen oder Unterschiede gegen jene Analogie ergeben, jedenfalls gewinnt dabei die Erfahrung. Sowohl die beobachteten Übereinstim- mungen, als auch die Differenzen bedeuten ebensoviele neue begriffliche Bestimmungen der Eigenschaften der Tatsachen. Die Anknüpfung der Forscher an die Vorgänger, welche den Verlust bereits erworbener Erfahrung ausschließt, ist für diesen Prozeß ebenso wichtig, wie der Wechsel der forschenden Individuen, Völker und Rassen, welcher die Vielseitigkeit und Unbefangen- heit des Blickes verbürgt. 20. Die Hypothese führt also in ihrer selbstzerstörenden Funktion endlich zum begrifflichen Ausdruck der Tatsachen. Erinnern wir uns, durch welche Reihe von Annahmen und Korrek- turen man zur Ansicht der transversalen Lichtschwingungen ge- langte, die anfänglich als ganz abenteuerlich und ohne Analogie dastehend bedenklich gefunden wurde. Doch ist die Einsicht, daß die periodischen Eigenschaften des Lichtstrahls sich wie geo- metrisch summierbare Strecken in einem zweidimensionalen Räume (der zur Strahlenrichtung senkrechten Ebene) verhalten, lediglich ein begrifflicher Ausdruck der Tatsachen. Ebenso haben sich die Eigenschaften des Äthers, des lichtfortpflanzenden Raumes, der sich teilweise wie eine Flüssigkeit, teilweise aber wieder wie ein starrer Körper verhält, nach und nach begrifflich bestimmt. Die Auffassungen, welche sich so ergeben haben, sind keine Hypothesen mehr, sondern Forderungen der Denkbarkeit der Tatsachen, Ergebnisse der analytischen Untersuchung. Wir können an denselben als sicher festhalten, auch wenn wir gar keine Analogie dafür finden, wenn wir sonst nirgends in der Welt transversale Schwingungen oder eine Flüssigkeit, in der solche möglich wären, antreffen. Hätten Young und Fresnel die Annahme der transversalen Wellen wegen der Schwierigkeit Die Hypothese. 249 der Erklärung derselben verschwiegen, so hätte die Wissenschaft dadurch einen ebenso schweren Verlust erlitten, wie durch die Unterdrückung des Newton sehen Gravitationsgesetzes wegen analoger Bedenken. Wir dürfen vor ungewohnten Auffassungen, wenn sie auf sicheren Grundlagen ruhen, nicht zurückschrecken. Denn die Möglichkeit auf fundamental neue Tatsachen zu treffen hat nicht nur in den früheren Forschungsperioden bestanden, sie besteht auch jetzt noch fort und hat an keinem Tage aufgehört zu bestehen. In den Mi II sehen, die Hypothese beschränkenden Regeln spricht sich eine große Überschätzung des bereits Ge- fundenen gegenüber dem noch zu Erforschenden aus. 21. Wenn wir abstrakt genug denken würden, so würden wir einer Tatsache nur diejenigen begrifflichen Merkmale zu- schreiben, welche ihr notwendig zukommen. Wir hätten dann nichts zurückzunehmen, würden aber auch die Anregung zu neuen Versuchen durch anschauliche Analogien entbehren. Eine solche rein begriffliche Darstellung kann in abgeschlossenen Partien der Wissenschaft angewendet werden, in welchen die Hjppothese, die nur in der werdenden Wissenschaft eine fördernde Funktion hat, keinen Raum findet. Der Gebrauch von Bildern, die mit Bewußtsein als solche verwendet werden, ist auch hier nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern sehr zweckmäßig. Es gibt Tatsachen, die wir unmittelbar sinnlich wahrnehmen, die wir sozusagen mit einem Blick überschauen. Andere Tatsachen er- geben sich erst durch ein kompliziertes Beobachtungs- und be- griffliches Reaktionssystem. Die Periodizität des Lichtes ist nicht ohne weiteres sichtbar, und deren Erfassung wird noch durch die hypermikroskopische Periodenlänge erschwert. Auch die Polarisation erkennt man nicht unmittelbar. Da wir nun mit anschaulichen sinnlichen Vorstellungen viel vertrauter sind, einfacher und geläufiger mit denselben verkehren, als mit ab- strakten Begriffen^ die sich doch immer auf anschauliche Vor- stellungen als ihre letzten Grundlagen aufbauen; so lehrt uns schon der Instinkt, mit dem Lichtstrahl eine Welle von anschau- licher größerer Wellenlänge, mit bestimmter an die Reflexions- ebene des polarisierenden Spiegels gebundener Schwingungs- ebene vorzustellen, welche sich bei analogen Versuchen ähnlich verhalten würde, wie jener Lichtstrahl. Mit Hilfe solcher Vor- 250 ^'^ Hypothese. Stellungen übersehen wir rascher und leichter die Lichtphänomene als durch abstrakte Begriffe. Dieselben sind, um einen modi- fizierten Ausdruck von Hertz zu gebrauchen, Bilder von Tat- sachen, deren psychische Folgen wieder Bilder der Folgen der Tatsachen sind. Hat man einmal genau festgestellt, worin das Bild mit der Tatsache begrifflich übereinstimmt, so verbindet dieses den Vorteil der Anschaulichkeit mit dem der begrifflichen Reinheit. Es ist nun geeignet, die durch neue (elektromagnetische, chemische) Tatsachen geforderten weiteren Bestimmungen ohne Widerstreben anzunehmen. 22. So sehr die Meinung verbreitet ist, daß in der Mathematik die Hypothese gar keine Funktion hat, so sei hier doch hervor- gehoben, daß sie auch hier in der werdenden Wissenschaft eine bedeutende Rolle spielt. Die Mathematik pflegt allerdings die Spuren ihres Entwickelungsganges in der Darstellung mehr als jede andere Wissenschaft zu beseitigen, wodurch allein jene Meinung entstehen konnte. Die vollkommen klare Erkenntnis der mathematischen Sätze ergibt sich aber auch nicht auf einmal, sondern wird durch gelegentliche Bemerkungen, Vermutungen, Gedankenexperimente und auch physische Experimente mit Zählobjekten und geometrischen Gebilden eingeleitet und vor- bereitet, wie dies schon erwähnt wurde und noch zur Sprache kommen wird.^) *) Ausführliche Darlegungen über die Hypothese im engen Anschluß an die SpezialWissenschaften und deren Entwicklungsstufe s. bei E. Naville, La logique de l'hypothese. Paris, 2nie e. 1895. Das Problem. 1. Wenn die Ergebnisse der psychischen Partialanpassungen in solchen Widerstreit geraten, daß das Denken nach verschie- denen Richtungen getrieben wird, wenn die Beunruhigung so weit sich steigert, daß mit Absicht und Bewußtsein ein leitender einheitlicher Faden durch dieses Wirrsal gesucht wird, so ist ein Problem entstanden. Ein stabiler, gewohnter Erfahrungskreis, dem sich die Gedanken bald in praktisch zureichender Weise angepaßt haben, gibt selten Gelegenheit zur Bildung von Pro- blemen; wenigstens gehört eine besondere Energie des Denkens und eine große psychische Unterschiedsempfindlichkeit dazu, da- mit auch da noch Probleme auftreten. Wenn aber der Erfahrungs- kreis durch irgend welche Umstände sich erweitert, wenn die Gedanken mit bisher unbekannten Tatsachen in Berührung kommen, welchen sie nicht genügend angepaßt sind, wenn die durch Neuanpassung modifizierten Gedanken auf die Anpassungs- ergebnisse älterer Perioden reagieren, dann entwickeln sich, wie die allgemeine Kulturgeschichte und die Geschichte der Wissen- schaft insbesondere lehrt, reichlich neue Probleme. Die Inkon- gruenz der Gedanken und Tatsachen, sowie jene der Gedanken untereinander, ist die Quelle der Probleme. Es liegt außer unserer Macht bisher unbekannte Tatsachen, deren Abhängigkeit von in unserer Machtsphäre befindlichen Umständen wir nicht kennen, herbeizuführen. Dieselben treten gegen unsere Absicht, ohne oder gegen unsere Voraussicht ein, ergeben sich, obgleich sie außer der Richtung unserer Beschäftigung oder Untersuchung liegen, durch den „ZüfaU\ d. h. durch zwar nicht regellose aber uns unbekannte und von uns nicht beeinflußbare Umstände. Der psychische Zufall ist es auch, der Gedanken zusammenführt, die vielleicht lange in einem Individuum beisammen waren, ohne / 252 I>as Problem. je sich zu berühren, ohne je in die Reaktionsnähe zu kommen, welche ein Problem erzeugen konnte. Der Zufall enthüllt also in der Mehrzahl der Fälle die noch vorhandenen Inkongruenzen zwischen Gedanken und Tatsachen, sowie zwischen Gedanken untereinander, und derselbe fördert die weitere Anpassung, in- dem er die Mängel derselben fühlbar macht. ^) Bei Bildung und Lösung der Probleme spielt also der Zufall nicht eine un- wesentliche Nebenrolle, sondern seine Funktion ist in der Natur der Sache begründet. 2. Ist einmal die Inkongruenz klar erkannt, das Problem ge- stellt, so gilt es die Lösung zu suchen. Die Gedankentätigkeit eines Menschen, der mit einem bestimmten Ziel und Interesse eine Lösung sucht, von der er doch nur gewisse Eigenschaften kennt, während ihm andere noch unbekannt sind, ist nach der treffenden Bemerkung von W. James ^) ähnlich derjenigen, die zur Erinnerung an etwas Vergessenes führt. Das Vergessene wußte man schon einmal, und dasselbe wird, nachdem man sich dessen erinnert hat, sofort als das Richtige wieder erkannt. Die gesuchte Lösung hingegen ist neu, und daß sie die richtige ist, muß erst durch eine besondere Prüfung dargetan werden. Darin besteht der Unterschied beider Fälle. Sucht man eine vergessene Problemlösung, z. B. eine mathematische Substitution, wieder, so verwandelt sich der zweite Fall in den ersteren leichteren, mit dessen Betrachtung wir beginnen. Ich will z. B. ein mir augenblicklich wichtiges Citat wiederfinden, an dessen genauen Wortlaut ich mich nicht erinnere, oder dessen Quelle mir ent- fallen ist. Ich denke an die Zeit und Gelegenheit, da mir dieses Citat bekannt wurde, an den Stoff, mit welchem ich mich damals beschäftigte, an die Schriften, die zu jenem Stoff in Beziehung standen, und die ich etwa gelesen haben konnte, an die Autoren, deren Denkweise jenes Citat entsprechen könnte, auch an den Ort meiner Studien, die Anregungen und Hilfsmittel, die mir die Umgebung bot u. s. w. Ähnlich verhalte ich mich, wenn ich ein verlegtes, lange Zeit nicht gebrauchtes Instrument suche. Je zahlreichere und stärkere Associationen zur Verfügung stehen. ') Popul.-wissensch. Vorlesungen, 3. Aufl. S. 287. *) James, Pspchology. Vol. I, p. 585 u. f. Das Problem. 253 die zu d.em Vergessenen führen, desto leichter wird es gelingen, dieses durch eine oder mehrere kombinierte Associationen an das Licht des Bewußtseins zu ziehen.^) 3. Diesen Fällen recht nahe steht das Nacherfinden einer Er- findung auf die Nachricht von deren Existenz, die wir durch ein historisch wichtiges, merkwürdiges Beispiel erläutern wollen. Galilei erhielt in Venedig die Mitteilung von der Erfindung eines optischen Instrumentes in Holland, welches ferne Gegen- stände näher, größer und deutlicher zeigte.^) In der ersten Nacht nach seiner Rückkehr nach Padua glückte es ihm, das Fernrohr mit einer bleiernen Orgelpfeife und zwei Linsen zu impro- visieren, wovon er den Freunden in Venedig, mit welchen er sich Tags zuvor über den Gegenstand unterhalten hatte, sofort Nachricht gab. Sechs Tage später konnte er ein weit voll- kommeneres Instrument in Venedig vorzeigen. Galilei gibt zu, daß er ohne die Nachricht aus Holland wohl nie auf den Ge- danken einer solchen Konstruktion verfallen wäre, bestreitet aber Anwürfen gegenüber die Behauptung, daß das Verdienst der Erfindung durch die bloße Kenntnis der Existenz derselben so sehr geschmälert werde, als ein Gegner (Sarsi) die Leute glauben machen wollte. Man möge doch versuchen, meint er, die fliegende Taube des Archj^tas, oder die Brennspiegel des Archimedes u. s. w. nachzuerfinden. An das öffentliche Urteil appellierend teilt nun Galilei den Gang der Überlegung mit, die ihn zur Rekonstruktion führte: Das Instrument konnte aus einem Glas oder aus mehreren Gläsern bestehen. Ein Planglas wirkt nicht, ein Konkavglas verkleinert, ein Konvexglas ver- größert zwar, gibt aber undeutliche Bilder. Ein Glas allein ge- nügt also nicht. Zu zwei Gläsern übergehend, das Planglas bei Seite lassend, und eine Kombination der beiden andern ver- suchend, erzielte er nun einen vollen Erfolg.^) Diesen letzten ») Individuelle Beispiele. S. Popul. Vorles. S. 303 u. f. ^) Galilei, Sydereus nuncius. Eingangs die Erzählung über die Nach- richt aus Holland, die Rekonstruktion, die Bestimmung der Vergrößerung durch binokulare Betrachtung u. s. w. Opere di Galilei. Padova 1744. II, p. 4, 5. Nochmals, zum Teil ausführlicher: II saggiatore. Opere II, p. 267, 268. ^) Die wichtigste Stelle im „saggiatore" 1. c. p. 268 lautet im Original: 254 ^^-5 Problem. Schritt scheint Galilei ganz tatonnierend getan zu haben, wie es damals auch sehr natürlich war. Zwar hatte Kepler^) schon 1604 die richtige Theorie des Auges gefunden, allein eine voll- ständigere Dioptrik, und namentlich eine bessere Übersicht der Eigenschaft der Linsen, vermochte er erst 1611, zwei Jahre nach Galileis Erfindung, und wohl durch diese unterstützt, zu geben. ^) Galileis Überlegung war übrigens von subjektiven Zufälligkeiten nicht frei; dieselbe hätte auch anders und namentlich allgemeiner und erschöpfender ausfallen können. Nehmen wir an, wir kennen nur die reellen Bilder der Konvexlisen, die empirischen Eigen- schaften der Lesegläser, Lupen, der Konvex- und Konkavbrillen. Diese waren damals sämtlich bekannt. Diese genügen aber auch als Grundlage der folgenden Überlegung: Schon ein Konvexglas von großer Brennweite, dessen reelles Bild man aus einer einem Bruchteil der Brennweite entsprechenden Entfernung betrachten und doch deutlich sehen kann, stellt ein (Keplersches) Fern- rohr vor, dessen Okular durch das Auge ersetzt ist. Nähert man sich dem Bilde noch weiter an, und verhindert man dessen Undeutlichkeit durch Anwendung einer Lupe vor dem Auge, so hat man ein wirkliches Keplersches Fernrohr. Nähert man sich über das Bild hinaus dem Objektiv, so kann durch ein Konkav- glas vor dem Auge das deutliche Sehen wiederhergestellt werden, und man hat das holländische Fernrohr. Faßt man also Bild- größe und Deutlichkeit als Ziel der Konstruktion auf, so gelangt „Fu dunque tale il mio discorso. Questo artificio o costa d'un vetro solo, di piü d'uno; d'un solo non puö essere, perche la sua flgura o e convessa, cioe piü grossa nel mezzo, che verso gli estremi, o e concava, cioe piü soUile nel mezzo, o e compresa tra superficie parallele; ma questa non altera punto gli oggetti visibili col crescergli, o diminuirgli; la concava gli diminuisce, la convessa gli acresce bene, ma gli mostra assai indistinti, ed abbagliati; adunque un vetro solo non basta per produr l'effetto. Passando poi a due, e sapendo, che il vetro di superficie parallele non altera niente, come si e detto, conchiusi, che l'effetto non poteva ne anco seguir dall' accoppiamento di questo con alcuno degli altri due. onde mi ristrinsi a volere esperimentare quello, che facesse la composizion degli altri due, cio^ del convesso, e del concavo, e vidi come questo mi dava l'intento, e tale fu il progresso del mio ritrovamento, nel quäle di niuno ajuto mi fu la concepita opinione della verita della conclusione." ') Kepler, Ad Vitellionem paralipomena. 1604. «) Kepler, Dioptrice. 1611. Das Problem. 255 man zu allen möglichen Lösungen der Aufgabe. Galileis Wege blieben wahrscheinlich durch den Eifer und die Eile der Nach- erfindung eingeschränkt; sein glücklicher, natürlich nur zufälliger Fund gerade der holländischen Form gewann großen Wert durch seinen genialen Gedanken der Anwendung zur Beobachtung der Himmelskörper. 4. Es darf nicht befremden, daß wir hier die Erfindung mit der wissenschaftlichen Problemlösung auf eine Stufe stellen. In der Tat ist das praktisch-technische oder das theoretische Ziel der einzige Unterschied zwischen beiden, und oft ist auch dieser Unterschied schwer festzuhalten. Die Fälle, in welchen Nach- richten über den Erfolg von Vorgängern weitere identische oder auch differente Lösungen desselben Problems veranlaßt haben, sind in der Geschichte der Technik und der Wissenschaft nicht selten. Dieselben wären noch viel bekannter, wenn die Nach- erfinder, des Mißtrauens wegen, dem sie begegnen, nicht meist schweigen würden. Die mehrfache Lösung desselben Problems ist auch keineswegs überflüssig, sondern im Gegenteil sehr förderlich, indem gewöhnlich eine Beleuchtung verschiedener Seiten derselben Frage sich ergibt. So wird durch die zufällige Erfindung des Holländers Lippershey die mehr wissenschaft- liche von Galilei und die prinzipiell verschiedene von Kepler angeregt. Ob der zweite oder dritte Erfinder oder Entdecker eine leichtere Arbeit hat, hängt ganz von dessen wissenschaft- lichem Gesichtskreis ab, von den intellektuellen Mitteln und der Erfahrung, über die er zufällig verfügt.^) Selbst eine mehrfache ') Die erste Nachricht über Edisons Erfindung des Phonographen er- hielt ich auf der Straße durch einen Kollegen, einen berühmten Naturforscher, der die Glaubwürdigkeit der Nachricht in Zweifel zog. Warum sollte man das nicht glauben? sagte ich. Denken Sie sich die Walze einer Drehorgel, die durch den Schall erst formiert wird, und die bei nochmaliger Drehung denselben zurückgibt. — Ich war noch nicht zu Hause angelangt, so war ich beinahe sicher, daß der Phonograph eine kleine Modifikation des König- schen Phonautographen sei, welche statt der Schreibbewegung in ffer Zplinder- fläche der Walze eine Bewegung senkrecht zu derselben anwendet. Das zu erraten war für mich auch gar nicht schwer, denn ich hatte mich mit Akustik, insbesondere mit dem Königschen Phonautographen beschäftigt und oft die sprachähnlichen Laute demonstriert, die man hört, wenn man mit wechselnder Geschwindigkeit den Fingernagel über den gerippten Einband eines Buches / 256 Das Problem. Stellung desselben Problems von verschiedenen Seiten, ganz ohne Lösung, ist für die Wissenschaft nicht gleichgültig, beson- ders wenn das Problem zur Zeit seines Auftretens noch als un- angreifbar oder gar als absurd gilt. Die Konkurrenten ermutigen sich in diesem Fall gegenseitig, und das ist nicht die unbedeu- tendste Vorbedingung für den Erfolg.^) 5. Bevor wir auf weitere besondere Beispiele der Problem- lösung eingehen, betrachten wir die Methoden der Problemlösung im allgemeinen. Diese Methoden, die in allen Gebieten anwend- bar sind, wurden von den alten griechischen Philosophen an dem einfachen durchsichtigen Stoff der Geometrie erfunden, weiter entwickelt, und bilden einen wertvollen Bestandteil der wissenschaftlichen Forschungsmethoden. Proklos schreibt, Euklid kommentierend, die größten Verdienste in dieser Rich- tung Piaton zu. Die Stelle ist nach der Übersetzung von Bretschneider^) folgende: „Es werden auch Methoden (der Untersuchung) angeführt, von denen die beste die analytische ist, die das Gesuchte auf ein bereits zugestandenes Prinzip zurückführt. Diese soll Piaton dem Laodamas mitgeteilt haben, der dadurch zu vielen geometrichen Entdeckungen hin- geleitet worden sein soll. Die zweite Methode ist die trennende. hinführt. Für den schwierigsten Teil der Konstruktion hielt ich die Wahl des Walzenmaterials, das weich genug wäre, die Eindrücke aufzunehmen, und doch auch hinreichend widerstandsfähig, dieselben wiederzugeben. Diese Wahl ist ohne besondere Erfahrungen unmöglich richtig zu treffen. — Gauß war der Mann, nicht nur den elektromagnetischen Telegraphen zu erfinden, sondern denselben auch zur höchsten technischen Entwicklung zu bringen, wenn er sich überhaupt rein technische Probleme gestellt hätte. Als Wil- helm Weber bei Gelegenheit seiner elektrodynamischen Maßbestimmungen durch eine schwingende durchströmte Saite in einer andern periodische Ströme induzierte, hätte ihm die Erfindung des Telephons sehr nahe gelegen, wenn er Techniker gewesen wäre. Wieviel mehr aber haben diese beiden Männer die Grundlagen der Technik gefördert, indem sie sich der reinen Theorie zuwandten. Es gibt eben verschiedene Wege des Fortschrittes, und nichts ist bedauerlicher, als der so einseitige bornierte Hochmut des Theoretikers gegenüber dem Techniker, und umgekehrt. ') So scheint mir das größte Verdienst Fe chn er s in der Problemstellung der Pspchophysik zu liegen. *) Bretschneider, Die Geometrie und die Geometer vor Euklid. Leipzig 1870. S. 146. Das Problem. 257 die, indem sie den vorgelegten Gegenstand in seine einzelnen Teile zerlegt, dem Beweise durch Entfernung alles der Kon- struktion der Aufgabe Fremdartigen einen festen Ausgangs- punkt gewährt; auch diese rühmt Piaton sehr als eine für alle Wissenschaften förderliche. Die dritte Methode ist die Zurück- führung auf das Unmögliche, welche nicht das zu Findende selbst beweist, sondern das Gegenteil desselben bestreitet, und so die Wahrheit durch Übereinstimmung (des Zulässigen mit dem Behaupteten) findet." Es kann wohl nicht angenommen werden, daß Piaton allein alle diese Methoden erfunden hat, da dieselben zum Teil gewiß vorher angewendet wurden, doch sagt Diogenes Laertius in Bezug auf die analytische Methode ausdrücklich von Piaton ^): „Er zuerst führte die analytische Methode der Untersuchung ein für Laodamas von Thasos." Das Verhältnis der analytischen und synthetischen Methode erläutert Euklid durch die Worte: „Analytisch wird ein Satz bewiesen, wenn man das Gesuchte als bekannt annimmt, und durch daraus gezogene Schlüsse auf erwiesene Wahrheiten zurückkommt; synthetisch hingegen, wenn man von erwiesenen Wahrheiten zu dem Gesuchten gelangt."^) Diese Methoden sind also die progressive oder synthetische, welche von der Bedingung zu dem Bedingten, die regressive oder analytische, welche von dem Bedingten zu dem Bedingenden fortschreitet, und die apagogische oder indirekte, welche durch den Beweis „per absurdum" exemplifiziert wird. Die Methoden können natürlich sowohl zur Untersuchung als auch zum Beweise eines schon Gefundenen dienen. Auch bemerkt man, daß wohl die synthetische und analytische Methode sich gegenseitig aus- schließen, daß hingegen jede dieser beiden Methoden sowohl direkt wie indirekt angewendet werden kann. 6. Um die synthetische Methode durch ein einfaches Bei- spiel zu erläutern, wählen wir eine geometrische Konstruktions- aufgabe. Es soll ein Kreis beschrieben werden, welcher zwei in einer Ebene liegende, also im allgemeinen sich schneidende 1) Bretschneider, 1. c. S. 147. ä) Euklid, Elemente, XIII, 1 nach der Übersetzung von J. F. Lorenz. Halle 1798. Mach, Erkenntnis und Irrtum. , 17 258 Das Problem. Gerade G, C (Fig. 3) berührt, und zwar die erstere in einem Punkte P. Eine Gerade kann in jedem ihrer Punkte zu beiden Seiten von unendlich vielen Kreisen verschiedenen Halbmessers berührt werden. Sollen aber zwei sich schneidende Gerade zugleich von einem Kreise berührt werden, so ist die Wahl des letzteren schon beschränkt, da die Mittelpunkte solcher Kreise wegen der Symmetrie nur mehr in einer der beiden Symmetralen 6*, S' liegen können. Fügen wir noch die Bedingung der Be- rührung von G in dem Punkte P hinzu, so kann diese nur von Kreisen erfüllt werden, deren Mittelpunkte, wieder aus Sym- metriegründen, in dem Lot L auf G durch P liegen. Also nur die gemeinsamen Glieder aller dieser die einzelnen Bedingungen erfüllenden Kreisscharen können die Aufgabe lösen. Solche gemeinsame Glieder gibt es aber nur zwei, näm- lich die Kreise, deren Mittelpunkte in m und m\ den Durchschnitten von L mit 6* und S' liegen, und deren Radien mP und m'P sind. An diesem Bei- spiel sieht man, wie die einzelnen Bedingungen, welche die Lösung zu erfüllen hat, getrennt werden, um aus einer nach der andern für die Lösung die Konsequenz zu ziehen. Man be- merkt ferner, daß das wissenschaftliche Verfahren von dem pro- bierenden, durch welches man die Aufgabe ebenfalls wenigstens annähernd lösen könnte, sich durch ein planmäßiges Vorgehen und sorgfältiges Benützen des schon Bekannten und ein für allemal Ermittelten unterscheidet. Man sucht nur in Scharen von Kreisen, welche den einzelnen Bedingungen schon genügen. Endlich bemerkt man, daß das wissenschaftliche Verfahren nicht wesentlich von jenem der vulgären Rätsellösung verschieden ist, nur daß im letzteren Fall das Terrain gewöhnlich größer, weniger bekannt und vorher erforscht, und daher ein planmäßiges Suchen mehr erschwert ist. Ohne Schwierigkeit läßt sich jede geometrische Konstruktionsaufgabe in die Rätselform kleiden, wie die alt- indischen Mathematiker ganz wohl wußten, die ihre Aufgaben sogar in Versen aussprachen. Fig. 3. Das Problem. 259 7. Stellen wir uns nun vor, wir sollten die obige Aufgabe lösen, ohne daß uns die hierbei verwendeten Sätze schon ge- läufig wären. Wir würden dann nach der antiken Praxis, die Newton^) noch durch einige Anweisungen erläutert hat, nach der analytischen Methode vorgehen, also gewissermaßen die Aufgabe als gelöst ansehend^ irgend einen Kreis zeichnen, an denselben zwei beliebige Tangenten G, G' ziehen, und den Berührungspunkt P mit der einen markieren. Indem wir nun untersuchen, wie der gegebene Mittelpunkt m und Kreisradius Pm mit den Tangenten und dem Berührungspunkt zusammen- hängt, werden wir auf jene Sätze geleitet, welche uns auch den umgekehrten Weg, von G, G', P zu m und Pm weisen, und die Konstruktion an die Hand geben. Um nun den Wert des letzteren Verfahrens fühlbar zu machen, wählen wir eine etwas weniger leichte Aufgabe. Es soll ein Kreis konstruiert werden, der die Geraden G, G' be- rührt, und noch durch einen beliebigen Punkt P (Fig. 4) hin- durchgeht.^) Denken wir uns den G berührenden Kreis gegeben, dessen Mittelpunkt C jedenfalls in der Symmetrale 6" von G, G' liegt, so hat derselbe der Bedingung zu genügen, daß CP der Senkrechten CH auf G, d. h. dem Radius r gleich ist. Gelingt es hieraus C oder H oder r zu finden, so ist die Auf- gabe gelöst. Durch Verschiebung von CH durch P hindurch und über P hinaus^ erkennt man, daß es zwei Lösungen gibt. Setzen wir die Bedingung in eine Gleichung um, indem wir OG als Abscissenachse ansehen, die trigonometrische Tangente *) Newton, Arithmetica universalis. 1732. p. 87. 2) In Fig. 4 ist nur die Gerade G und nur eine der beiden Spmmetralen gezeichnet. 17* 260 Das Problem. des Winkels SOG mit fl, die Koordinaten von C mit x und y = aar, jene von P mit m und /z bezeichnen. Dann ist a^x' = {x—my-^{aa: — ny, oder j:={m-\- an)± y(/w -|- ß/z)* — (/^^ + /z*), welche letztere Gleichung die Konstruktion von x=0// an- gibt. — Ganz ohne Rechnung, nach antiker Methode durch Fig. 5. Zeichnung findet man die Lösung, indem man zu dem Punkt P (Fig. 5) den in Bezug auf 6" symmetrischen P' hinzudenkt, und die Gerade P'PQ zieht. Dann konstruiert man nach dem Sekanten -Tangentensatz QH^ = QP- QP\ und für die zweite Lösung QH^ = QH. — Die einfachste und eleganteste Lösung Fig. 6. ergibt sich aber durch die einfache Bemerkung, daß zur ge- suchten Konstruktion unendlich viele ähnliche, in Bezug auf O ähnlich liegende Konstruktionen existieren. Zieht man also (Fig. 6) durch P die Gerade OP und irgend einen G, G' be- rührenden Kreis ^mit dem Mittelpunkte in 6*, so kann man dessen Durchschnittspunkte mit OP als zu P homologe Punkte be- trachten. Die Parallelen zu den betreffenden beiden Radien Das Problem. 261 dieses Kreises führen, von P aus gezogen, zu den gesuchten Mittelpunkten C, C. 8. Es ist gewiß ein glücklicher psychologischer Instinkt, wie derselbe genialen Naturen eigen ist, der Piaton zur Ent- deckung der analytischen Methode geführt hat. Man kennt nur das, was man schon zufällig einmal sinnlich oder in Gedanken erlebt hat. In einem Gebiet, in welchem man keine Erfahrung hat, kann man keine Aufgaben lösen. Um das Unbekannte auf ein Minimum zu reduzieren, gibt es kein besseres Mittel, als sich an einem schon bekannten Fall das Gesuchte und das Ge- gebene vereinigt zu denken, und den nun leichter erkennbaren Weg von ersterem zu letzterem bei der Konstruktion in um- gekehrtem Sinne zurückzulegen. Dies gilt nicht allein von der Geometrie. Wer sich zur Überschreitung eines Baches einen Baumstamm von Ufer zu Ufer gelegt wünscht, denkt sich eigentlich die Aufgabe gelöst. Indem er überlegt, daß derselbe zuvor herbeigeschafft, vorher aber gefällt werden muß u. s. w., geht er den Weg von dem Gesuchten zu dem Gegebenen, den er bei der Konstruktion der Brücke in umgekehrtem Sinne, in umgekehrter Reihenfolge der Operationen, zurücklegt.^) Dies ist ein Fall recht vulgären praktischen Denkens. Die meisten großen technischen Erfindungen, soweit sie nicht durch den Zu- fall allmählich an die Hand gegeben wurden, sondern spontan mit mehr Energie rasch ins Leben gerufen wurden, beruhen wohl auf demselben Prozeß. Fulton denkt sich ein schnell bewegtes Schiff, versieht dasselbe in Anlehnung an die Land- vehikel statt der rhythmisch wirkenden Ruder mit kontinuierlich rotierenden Schaufelrädern, treibt letztere durch eine Dampf- maschine u. s. w. Man kann auch zeigen, daß gerade die größten und wichtigsten wissenschaftlichen Entdeckungen der analytischen Methode ihren Ursprung verdanken, wobei natürlich synthetische Prozeduren nicht ganz ausgeschlossen werden können. So erweist sich die geistige Tätigkeit des Forschers und Erfinders wieder als nicht wesentlich verschieden von jener des gemeinen Mannes. Was letzterer instinktiv treibt, gestaltet der Natur- forscher zur Methode. Zum Bewußtsein gebracht wurde diese Populär-wissensch. Vorlesungen. 3. Aufl. S. 296. 262 ^^^ Problem. Methode aber schon von der ältesten, einfachsten, exakten Natur- wissenschaft, von der Geometrie. 9. Bevor wir Beispiele analoger Methoden der Natur- forschung behandeln, sei noch ein Blick auf das Gebiet der Geometrie gestattet. Die ersten geometrischen Kenntnisse, auch die komplizierteren, sind gewiß nicht auf dem Wege der De- duktion erworben worden, welcher einer höheren Entwicklungs- stufe der Wissenschaft angehört, die schon einen festen Besitz- stand an Wissen, ein Bedürfnis nach Vereinfachung, Ordnung und Systematisierung voraussetzt. Diese Kenntnisse ergaben sich vielmehr ganz ebenso wie die naturwissenschaftlichen durch das praktische Bedürfnis der genauen Beobachtung, durch Messen, Zählen, Wägen, Schätzen, durch die Anschauung, und erst später durch Ableitung aus schon Bekanntem, durch Spe- kulation (Gedankenexperiment) unter den führenden Gesichts- punkten der Vergleichung, der Induktion, der Ähnlichkeit und Analogie. Sehr lehrreich sind in dieser Beziehung die Schriften eines relativ späten antiken Forschers, des Archimedes.^) Er unterrichtet uns darüber, daß ihm und andern Sätze bekannt waren, bevor sie die exakte Form und die Beweise fanden. Annähernd ergab sich z. B. die Quadratur der Parabel durch Bedeckung der Zeichnung mit dünnen Blättern, durch Aus- schneiden und Abwägen derselben. Archimedes erriet aus den Ergebnissen das exakte Gesetz und es gelang ihm, die Richtig- keit desselben zu beweisen. Auch in neuerer Zeit werden Pro- bleme noch auf empirischen Wege gefunden, annähernd em- pirisch und erst später exakt gelöst. So machte Mersenne 1615 die Mathematiker auf die Entstehung der Cykloide (Rou- lette) aufmerksam. Galilei konnte nur durch Wägung ermitteln, daß deren Fläche annähernd das Dreifache jenes ihres Erzeu- gungskreises sei und Roberval wies 1634 die exakte Richtig- keit dieses Verhältnisses nach. 10. Wenn man nun über das Bestehen eines bestimmten Satzes C eine Vermutung hat, so kann man versuchen, den- selben aus bereits bekannten Sätzen progressiv -synthetisch ab- ') Archimedes' Werke. Deutsch von Nizze. Stralsund 1824. Vgl. insbesondere die Abhandlung über die Quadratur der Parabel. Das Problem. 263 zuleiten. Hierzu gehört aber natürlich, daß man über die Grundlagen, auf welchen derselbe ruht, schon ziemlich sicher ist. Ist dies nicht der Fall, so wird man regressiv -analytisch versuchen, die nächste Bedingung B des Satzes C, nachher die Bedingung Ä des Satzes B zu ermitteln. Wäre nun A ein schon bekannter oder für sich einleuchtender Satz, so hätte man die Deduktion gefunden: Aus A folgt 5, aus B folgt C. Wenn dagegen Nicht- C durch B, B dagegen durch A bedingt wäre, A sich aber als unmöglich erwiese, so wäre hiermit die Richtig- keit von C ebenfalls nachgewiesen. Letzteres Ergebnis bleibt unter allen Umständen aufrecht. Hat man aber die Analipse zur Auffindung des direkten Beweises unternommen, so muß man sich versichern, daß die Sätze: C ist durch B bedingt, B ist durch A bedingt u. s. w. auch alle umkehrbar sind, denn nur dann kann man den umgekehrten Gang als einen wirklichen Beweis des Satzes C ansehen. Bekanntlich ist nicht jeder Satz umkehrbar. Wenn der Satz gilt: Durch M ist A^ bedingt, so gilt nicht immer umgekehrt: Durch A^ ist M bedingt. Wählen wir beispielsweise den Satz: Im Quadrat {M) sind die Diago- nalen gleich (A^). Der umgekehrte Satz: Zwei gleiche Diago- nalen {N) bestimmen ein Quadrat (J/), ist ersichtlich falsch. Um einen umgekehrten Satz zu erhalten, müßte man entweder den Begriff M erweitern^ an die Stelle desselben M' setzen, der alle die mannigfaltigen Vierecke mit gleichen Diagonalen um- faßt, für welche kein gemeinsamer Name bisher gewählt wurde, oder man müßte N zu N' spezialisieren. Der letztere Vorgang würde zu dem umkehrbaren Satze führen: im Quadrat {M) hal- bieren sich die beiden gleichen aufeinander senkrechten Diago- nalen (A^'). Kongruente Figuren {M) sind ähnlich (TV), dagegen nur ähnliche und inhaltsgleiche Figuren (A^') sind kongruent {M). Zwei gleichen Seiten des Dreiecks {M) liegen gleiche Winkel gegenüber (A'') und auch umgekehrt. Diese Beispiele werden genügen, um auf die gebotene Vorsicht bei Anwendung der theoretischen oder problematischen Analysis hinzuweisen. 11. Man hat es oft und mit Recht bedauert, daß die antiken Forscher von den Methoden der Erfindung und Untersuchung so wenig mitgeteilt, ja durch die synthetische Darstellung ihre Forschungswege sogar verhüllt haben. Dem gegenüber hat 264 Das Problem. Ofterdinger hervorgehoben, daß die synthetische Darstellung für die Sipstematik auch ihre Vorteile hat. Betrachtet man z. B. aufmerksam den Euk lidischen Beweis für den Pythagoreischen Satz, so kann man aus den Elementen desselben alle Erklärungen und Sätze in der Ordnung herstellen, in welcher dieselben, das erste Buch bildend, jenem Satz vorausgehen müssen. Lesenswerte Ausführungen über die Methoden der Geometrie enthalten die unten angeführten Schriften von Hankel, Ofterdinger und Mann.^) 12. Die Lösung eines naturwissenschaftlichen Problems kann vorbereitet werden durch Beseitigung von Vorurteilen^ welche der Lösung im Wege stehen und auf abseits liegende Wege führen. Ein Beispiel eines solchen Falles ist das aus der antiken Zeit übernommene Vorurteil, daß die Farben durch Verdünnung des weißen Lichtes, durch Mischung desselben mit Finsternis entstehen. Indem Boyle diesem Vorurteile entgegen- trat, hat er die richtige Lösung des Problems der Farben durch Newton vorbereitet. Die richtige Lösung thermodynamischer Probleme wurde ermöglicht durch Beseitigung der Meinung, daß die Wärme ein Stoff von unveränderlicher Quantität sei. Herings Lösung der Probleme des räumlichen Sehens setzte die Beseitigung vieler alter Vorurteile voraus. Der physio- logische Raum mußte von dem geometrischen unterschieden, die Lehre von den Richtungslinien beseitigt, die Empfindungen als von anderen psychischen Gebilden verschieden erkannt werden. Johannes Müller, Panum und Hering selbst haben diese Vorarbeit ausgeführt.^) 13. Die Lösung von Problemen wird ferner wesentlich gefördert durch das Auftreten von mit denselben zusammen- hängenden ParadoxieUy welche die Gedanken vor Beseitigung derselben nicht mehr zu Ruhe kommen lassen. Untersucht man historisch die Entstehung der Paradoxien, oder verfolgt man ') Hankel, Geschichte der Mathematik. Leipzig 1874. Vgl. insbeson- dere S. 137—156. — Ofterdinger, Beiträge zur Geschichte der griechischen Mathematik. Programmabhandlung. Ulm 1860. — Mann, Abhandlungen aus dem Gebiete der Mathematik. Festschrift zum 300 jährigen Jubiläum der Uni- versität Würzburg. 1882. — Mann, Die logischen Grundoperationen der Mathematik. Erlangen u. Leipzig 1895. ^) Vgl. Analyse der Empfindungen. 4. Aufl. S. 101 u. f. Das Problem. 265 alle Konsequenzen der widerstreitenden Ansichten bis in die letzten Ausläufer, so gelangt man auf dem einen oder anderen Wege zu dem Punkt, mit dessen Beseitigung die Paradoxie verschwindet, womit in der Regel zugleich ein Problem gelöst oder doch klarer gestellt ist. So führt die Descartes-Leib- nizsche Paradoxie bezüglich des Kraftmaßes durch mv oder mv^, auf ihren historischen Ursprung zurückverfolgt, zur Erkenntnis, daß hier eine bloße Konvention vorliegt, indem man nach Belieben die Kraft eines in Bewegung begriffenen Körpers nach der Zeit oder nach dem Weg seiner Bewegung gegen eine andere Kraft messen kann.^) Der paradoxe Kreisprozeß von W. Thomson und J. Thomson mit frierendem Wasser, nach allen Seiten und Konsequenzen betrachtet, leitet zu der Entdeckung der Erniedri- gung des Gefrierpunktes durch Druck. ^) 14. Nicht alle Probleme, welche im Laufe der Entwicklung der Wissenschaft auftreten, werden gelöst; viele werden im Gegenteil fallen gelassen, weil man sie als nichtig erkennt. In der Vernichtung der Probleme, die auf einer verkehrten, falschen Fragestellung beruhen, in dem Nachweise der Unlösbarkeit solcher Probleme, der Sinnlosigkeit oder Unmöglichkeit der Beantwortung derselben, besteht ein wesentlicher Fortschritt der Wissenschaft. Dieselbe wird dadurch von einer nutzlosen und schädlichen Belastung befreit, gewinnt durch solche Nachweise an Tiefe und Klarheit des Blickes, welchen sie nun neuen frucht- baren Aufgaben zuwendet. Ein Kreis kann nicht durch vier beliebige Punkte hindurchgelegt werden, da drei von diesen ihn schon vollkommen bestimmen; das sieht jeder leicht ein. Wenn aber nachgewiesen wird, daß die Quadratur des Kreises nur annähernd konstruiert werden kann,^) wenn gezeigt wird, daß die Gleichungen 5ten Grades nicht in geschlossener algebraischer Form gelöst werden können, *) wenn die Unlösbarkeit oder Sinn- ») Vgl. Mechanik. 5. Aufl. S. 322. *) Vgl. Prinzipien der Wärmelehre. 2. Aufl. S. 234 u. f. *) F. Klein, Ausgewählte Fragen der Elementargeometrie. Leipzig 1895. — F. Rudio, Geschichte des Problems von der Quadratur des Zirkels. Leipzig 1892. *) Abel, Demonstration de Timpossibilitö de la resolution algebrique des equations generales qui depassent le quatrieme degre. Grelles Journal Bd. I, 1826. 266 Das Problem. losigkeit von Aufgaben dargetan wird, welche viele Generationen erfolglos beschäftigt haben, so kann diese Leistung nicht hoch genug geschätzt werden. Von großem Wert ist z. B. der Nach- weis der Unmöglichkeit des perpetuum mobile, bezw. das Auf- decken der Widersprüche unserer bestkonstatierten physikalischen Erfahrungen mit der Annahme eines perpetuum mobile. Diese Problemvernichtung hatte die Auffindung des Prinzips der Erhaltung der Energie zur Folge, welches als Quelle von Spezialentdeckungen außerordentlich ergiebig war. In jedem Gebiet finden wir aufgegebene oder doch im Laufe der Zeit wesentlich modifizierte Probleme, die den ursprünglichen kaum mehr ähnlich sehen. Kosmogonien im alten Sinne werden nicht mehr aufgestellt. Niemand fragt mehr nach dem Sprachur- sprung in dem Sinne, als dies noch vor hundert Jahren geschah. Bald wird wohl auch niemand mehr daran denken, die psy- chischen Erscheinungen auf Bewegung der Atome zu reduzieren, das Bewußtsein durch einen besonderen Stoff, durch eine eigene Qualität oder Energieform zu erklären. 15. Ein naturwissenschaftlicher Satz ist wie jeder geo- metrische stets von der Form „wenn M ist, so ist vV", wobei sowohl M wie N ein mehr oder minder komplizierter Komplex von Erscheinungsmerkmalen sein kann, wovon also einer den andern bestimmt. Ein solcher Satz kann sich sowohl unmittel- bar durch Beobachtungen, als auch mittelbar durch Überlegung, durch Vergleichung schon bekannter Beobachtungen in Ge- danken ergeben. Scheint derselbe mit anderen Beobachtungen, oder mit den sich diesen Beobachtungen anschließenden Ge- danken nicht in Einklang zu stehen, so stellt er ein Problem vor. Dieses Problem kann in zweierlei Weise gelöst werden. Der Satz „wenn M ist, so ist A^" kann aus Sätzen, welche bereits bekannte Tatsachen ausdrücken, durch eine Reihe von Zwischensätzen abgeleitet oder erklärt werden. In diesem Falle waren unsere Gedanken den Tatsachen und einander schon weiter angepaßt, als wir es annahmen und wußten. Sie ent- sprachen auch dem neuen Satz, nur daß dies nicht unmittelbar ersichtlich war. Diese Problemlösung besteht in einer deduk- tiven synthetischen geometrischen Ableitung eines neuen Satzes aus schon bekannten Grundsätzen. Alle leichteren sekundären Das Problem. 267 Probleme gehören hierher. Man wird natürlich diesen Weg immer zuerst betreten, auf diesem zuerst sein Glück versuchen. Ob die Lösung gelingt, hängt natürlich ganz von dem bereits erworbenen Wissen ab. So erklärt Galilei das Schweben sehr schweren Staubes im Wasser und in der Luft aus dem lang- samen Fallen wegen des großen Widerstandes infolge der feinen Verteilung. Huygens leitet die Pendelbewegung vollständig aus Galileis mechanischen Grundsätzen ab. In gleicherweise gelingt Segner, Euler, d'Alembert u. a. die mechanische Er- klärung der gewiß auffallenden Vorgänge am Kreisel. Das Aufwärtsfließen des Wassers in dem kürzeren Arm des Hebers versteht man ebenso wie das Abfließen einer Kette aus einem Glase in ein tiefer stehendes durch das Übergewicht des über dem glatten Glasrand überhängenden längeren Kettenteiles. Nur hängen die Kettenteile von selbst zusammen, während das Wasser durch den Luftdruck, oder, wie man vorher annahm, durch den horror vacui in Zusammenhang gehalten wird. So erklärten sich auch die Farbenerscheinungen, die Brewster an einem Paar gleich dicker Planplatten beobachtet, trotz des Über- raschenden der Erscheinung, aus bereits bekannten Grund- sätzen der Optik. Der Aragosche Rotationsmagnetismus fand seine Aufklärung durch die Faradayschen Gesetze der In- duktion. Nun kann man sich bei aufmerksamer Überlegung nicht verhehlen, daß dieselben oder analoge Probleme in einem früheren Stadium der Wissenschaft auf diese Weise nicht lösbar waren, und zum Teil auch wirklich nicht so gelöst worden sind. Dies führt uns natürlich zur Betrachtung des zweiten Weges. 16. Wir finden also keine bekannten Grundsätze, mit welchen die beobachtete oder aus Beobachtungen richtig gefolgerte Tat- sache übereinstimmt. Dann haben wir eben durch neuerliche Ge- dankenanpassung neue Grundsätze zu suchen.^) Die neue Auf- fassung kann sich entweder unmittelbar auf die fragliche Tatsache beziehen, oder wir gehen analytisch vor. Wir suchen die nächste Bedingung der Tatsache, dann die Bedingung dieser Be- dingung u. s. f. Eine neue Auffassung einer oder der anderen ') Man muß natürlich darauf bedacht sein, nicht mehr Prinzipien zu statuieren, als notwendig sind. Vgl. Duhem (La Theorie physique, S. 195 u. f.). 268 Das Problem. dieser Bedingungen wird nun gewöhnlich die fremdartige oder zu kompliziert erscheinende Tatsache verständlich machen. Ob- gleich die Geometrie ein wohlbekanntes und vielfach durch- forschtes Gebiet ist, so führt doch noch das analytische Ver- fahren zu neuen Auffassungen, welche ungleich leichter und einfacher gefundene Sätze abzuleiten und Aufgaben zu lösen er- lauben, als dies durch die älteren möglich war. Man denke nur an ähnliche und ähnlich liegende Gebilde, an den Reichtum der projektivischen Beziehungen überhaupt. Das Gebiet der Natur- erscheinungen im allgemeinen ist nun ohne Vergleich reicher und weiter als jenes der Geometrie; es ist sozusagen unerschöpflich und fast noch unerforscht. Wir können also darauf gefaßt sein, bei anal5>tischem Vorgehen noch fundamental neue Grundsätze zu finden. Achten wir nun darauf, worin die neue Anpassung oder Auffassung besteht, zu welcher wir geführt werden, so finden wir das eigentümliche derselben in der Beachtung vorher unbeachteter Umstände oder Erscheinungsmerkmale. Dies soll nun an einigen Beispielen erläutert werden. Wir beginnen mit einem der leichtesten. Wir sehen die Körper von oben nach unten drücken und fallen. Diese Richtung, und der Sinn von oben nach unten, ist für uns geotropisch organisierte Menschen zunächst physiologisch bestimmt. Für an demselben Ort ver- weilende Menschen wird dies zu einer physikalischen Orientie- rung (Himmel oben Erde unten), die wir für eine absolute, für die ganze Welt gültige halten. Erfahren wir nun durch die astronomische und geographische Forschung, daß die Erde eine allseitig bewohnte Kugel ist, so können wir zunächst nicht ver- stehen, wieso die beweglichen Objekte auf der uns gegenüber- liegenden Seite nicht herabfallen. Wir alle haben uns als Kinder so verhalten, und die wenigsten von uns haben die gewaltige, historisch wichtige Wandlung mit Bewußtsein durchgemacht, welche darin liegt, daß wir statt nach unserem lokalen Himmel und unserer heimatlichen Erde, die Richtung gegen den Erd- mittelpunkt als Schwererichtung auffassen. Die meisten von uns haben sich unter dem Einfluß der Schulbelehrung aus der einen Auffassung in die andere hinübergeträumt. — Die Bewegung einzelner schwerer Körper [ist uns bald geläufig. Wenn aber ein leichterer Körper durch einen schwereren etwa an einer Rolle Das Problem. 269 in die Höhe gezogen wird, so lernen wir auch auf die Beziehung mehrerer Körper und deren Gewicht achten. Kommen etwa Er- fahrungen am ungleicharmigen Hebel oder anderen Maschinen hinzu, so treiben uns diese nicht nur auf die Gewichte, sondern auch auf die gleichzeitigen Verschiebungsgrößen im Sinne der Schwere, bezw. auf das Produkt der Maßzahlen beider, d. i. auf die Arbeit zu achten. — Sehen wir ins Wasser getauchte Körper versinken, schweben oder schwimmen, so lehrt uns das Streben nach klarer sicherer Orientierung in diesen Vorgängen auch auf die Gewichte gleicher Volumina achten. — Die Erhebung des Wassers unter dem Pumpenkolben trotz der Schwere gibt den genialen Gedanken des horror vacui ein. Diese Auffassung als Grundsatz macht zunächst alles verständlich, insbesondere die überraschende Paralysierung der Schwere. Nun finden sich aber Fälle, in welchen der horror vacui versagt. Torricelli mißt denselben durch verschiedene Flüssigkeitssäulen und findet einen bestimmten Flüssigkeitsdruck für das Verständnis aller Fälle zu- reichend. Von ihm und von Pascal wird also das analytische Verfahren um einen Schritt weiter zurück auf die fernere Be- dingung angewendet. — Geworfene schwere Körper können bald sinken, bald steigen. Die ältere aristotelische Physik betrachtet diese Fälle als verschieden. Galilei achtet auf die Beschleu- nigung der Bewegung, wodurch alle diese Fälle gleichartig und gleich leicht verständlich werden. Der Zufall bringt also fort- während unzureichende Anpassungen zum Vorschein; diese treiben zu neuen analytischen Schritten zur Beachtung neuer Umstände, zu neuen Auffassungen oder Anpassungen, welche zusehends größeren Erfahrungsgebieten gerecht werden. Die Natur bietet uns den geometrischen Sätzen analoge Sätze ohne Ableitung, oder gelöste Aufgaben ohne Auflösung, und überläßt es uns, die Prinzipien der Ableitung und Auflösung zu suchen. Bei der un- vergleichlichen Komplikation der ganzen Natur gegenüber dem bloßen Raum ist dieses Unternehmen recht schwierig.^) 17. Diese wenigen Beispiele zeigen schon, daß gerade die größten und wichtigsten Entdeckungen auf dem Wege der Ana- lyse gefunden werden. Die schon berührte Auffindung der ') Mechanik. 5. Aufl. 1904. 270 D^s Problem. Prinzipien der aligemeinen Mechanik und der Meclianik des Himmels, sowie der Optik durch Newton sind ein weiterer Beleg. Die analytische Aufsuchung der Voraussetzung des Ge- gebenen ist eine viel unbestimmtere Aufgabe, als die Folgerung aus bestimmten Voraussetzungen. Deshalb gelingt dieselbe auch nur schrittweise und versuchsweise, d. h. unter Mithilfe von Hypothesen, indem richtig Erratenes mit Falschem oder Gleich- gültigem verbunden wird. Deshalb ist der Gedankenweg, den verschiedene Forscher hierbei einschlagen^ auch sehr von Zu- fälligkeiten beeinflußt. Die Ähnlichkeit des Verhaltens des Lichtes mit jenem der Wasserwellen und der Schallwellen leitet Huygens^) zu seiner Lichttheorie. Die Ähnlichkeit desselben mit Projektilen und die mangelhafte Beobachtung der Beugung, wonach dieselbe dem Licht zu fehlen schien, führen Newton^) zu seiner Emissionstheorie. Hooke^) aber beachtet gerade die Periodizität des Lichtes, welche von Huygens ganz ignoriert und von Newton in anderer Weise interpretiert wird. Dennoch haty^^^r dieser Forscher in dieser Frage sich große und bleibende Ver- dienste erworben. Jede dieser Analysen war durch Zufällig- keiten des Denkens in eine andere Richtung geleitet und alle drei schließen sich heute zu einer vollständigeren Analyse zu- sammen. 18. Die Funktion der Hypothese klärt sich weiter auf im Lichte der Gedanken Piatons und Newtons über die ana- lytische Methode. Wir wollen die unbekannten Bedingungen einer Tatsache ermitteln. Über Unbekanntes können wir aber keine Gedanken von genügender Klarheit fassen. Wir erdichten also vorläufig anschauliche Bedingungen bekannter Art; wir be- trachten die Aufgabe, die wir zu lösen haben, versuchsweise als gelöst. Der Weg von den angenommenen Bedingungen zur Tatsache ist nun verhältnismäßig leicht zu übersehen. Die An- nahmen werden jetzt so lange modifiziert, bis dieser Weg genau genug zur gegebenen Tatsache führt. Durch Umkehrung des Gedankenganges ergibt sich dann auch der Weg von der Tat- sache zu deren Bedingungen. Nach Ausschaltung alles Über- ') Huygens, Traite de la lumiere. 1690. ») Newton, Optice. 1719. ») Hooke, Mtcrographia. 1665. Das Problem. 271 flüssigen und Erdichteten aus den Annahmen ist die Analyse beendigt. Die geometrische und die naturwissenschaftliche Ana- lyse sind der Methode nach nicht verschieden. Beide gebrauchen als Mittel die Hypothese. Nur ist in dem weiteren, weniger durchforschten, unvollständiger bekannten Gebiete der Natur- wissenschaft die Wahl der Hypothesen weniger methodisch ein- geschränkt, mehr der Willkür, dem Zufall, dem Glück überlassen, und der Gefahr des Irrtums preisgegeben. 19. Betrachten wir insbesondere die Newtonsche Analyse des Lichtes, so sehen wir, daß dieselbe zunächst durch die quan- titativ ungenügende Übereinstimmung des damals angenommenen Brechungsgesetzes mit den Erscheinungen am Prisma eingeleitet wurde. Die Divergenz der aus dem Prisma tretenden farbigen Strahlen war nach der Dispersionsrichtung ungefähr fünfmal so groß (2° 49'), als man nach dem Gesichtswinkel der Sonne (31') erwarten konnte, während die Ausbreitung senkrecht zur Disper- sionsrichtung mit der Theorie übereinstimmte. Zwar hatte schon Marcus Marci die Vergrößerung der Divergenz der Strahlen beim Durchtritt durch das Prisma bemerkt, aber ohne bei seiner ungenauen Kenntnis des Brechungsgesetzes hieraus die richtigen Schlüsse ziehen zu können. Um diese Inkongruenz verständlich zu machen, nahm Newton Strahlen von v^rs^Ä/^^^/z^/z Brechungs- exponenten an. Die Annahme, daß dem Rot stets der kleinste, dem Violett der größte, auch bei folgenden Brechungen in dem- selben Material unveränderliche Brechungsexponent entspreche, machte alle Erscheinungen verständlich. Es war ferner unnötig anzunehmen, daß die Farben erst durch die Brechung entstünden. Auch die Meinung, die Farben entstünden durch eine Mischung von Licht und Finsternis, welche schon Boyle und Grimaldi bezweifelt hatten, erwies sich jetzt als ganz müßig. Newton konnte es aussprechen: Die Farben sind unveränderliche, be- ständige, unabhängige Bestandteile des weißen Lichtes, die Farben sind Substanzen, „Stoffe^'. In dieser Auffassung wurde Newton noch bestärkt durch die unveränderliche jeder Farbe eigentümliche Periodenlänge, welche sich bei Analyse der Farben dünner Blättchen herausstellte. Es bleibt heute noch aufrecht, daß die farbigen Lichter unabhängige, unveränderliche, beständige Komponenten des weißen Lichtes sind; nur die Auffassung der- 272 ^^^ Problem. selben als Stoffe (im chemisch-physikalischen Sinne) war will- kürlich und einseitig. Sie hatte auch zur Folge, daß Newton zwar das Prinzip der Superposition der Strahlen^ nicht aber das Prinzip der Superposition der Phasen erkannte, welches sich auf dem H o ok e-Huy gen s sehen Wege ergibt. Um die Bedeutung von Newtons Analyse voll zu würdigen, muß man sich einerseits die Beständigkeit der Pigmentfarben, wie Zinnober, Ultramarin u. s. w., andererseits die flüchtigen Farben des Regenbogens, der Seifenblasen, der Perlmutter vorstellen, und bedenken, wie verschieden und unter wie verschiedenen Um- ständen sich dieselben darboten. Nach Newton waren alle einheitlich aufzufassen, und die differentesten Glieder der Er- scheinungsreihe waren durch das Prinzip der elektiven Absorp- tion miteinander verbunden. 20. Versuchen wir noch, uns den Gedankengang zu rekon- struieren, durch welchen das Prinzip des ausgeschlossenen per- petüum mobile erschaut wurde. Wir finden Stevin schon im Besitz desselben; er leitet viele schwierig zu ermittelnde Sätze der Statik fester und flüssiger Körper sehr geschickt aus diesem Prinzip ab. Es kann nach den vorliegenden Daten nicht be- zweifelt werden, daß Stevin die Kenntnis vieler Spezialfälle der Statik von seinen Vorgängern übernommen hat. Daß er auch bestrebt war, das Gemeinsame dieser Fälle in einen Ausdruck zusammenzufassen, dafür gibt seine Darstellung der Rollen- systeme Zeugnis. Er spricht bei dieser Gelegenheit den Satz der virtuellen Verschiebungen für einfache Verhältnisse aus. Nehmen wir nun an, er hätte sich die Frage gestellt, was das Gemeinsame aller statischen Fälle sei, welches Prinzip gelten müsse, um die verschiedensten Fälle zu umfassen? Er wird wohl bei der damals allgemein üblichen Messung der Kräfte durch Gewichte erkannt haben, daß eine Gleichgewichtstörung, Einleitung von Bewegung nur stattfindet, wenn ein Überschuß von schwerer Masse sinken kann. Eine Bewegung, bei welcher die Massenverteilung gleich bleibt, tritt nicht ein; denn würde sie einmal eintreten, so müßte sie ewig fortbestehen. Besondere Gleichgewichtsgesetze leitet nun Stevin so ab, daß er zeigt, daß das Nichtbestehen derselben zur Absurdität der endlosen Bewegung ohne Änderung der Gewichtsverteilung führen würde. Das Problem. 273 Spezielle Betrachtungen leiten ihn also zur allgemeinen Gleich- gewichtsbedingung. Ist diese einmal erschaut, so dient sie um- gekehrt wieder zur Stütze anderer Spezialuntersuchungen, welche gewissermaßen die Probe auf die Rechnung darstellen. Stevin bietet hier ein Vorbild aller großen Forscher. Für die Richtig- keit unserer Annahme über Stevin s Gedankengang spricht aber, daß Galilei bei Behandlung der schiefen Ebene fast ebenso denkt. Ein solches allgemeines Prinzip wie das Stevinsche hat nun den Vorzug vor den einzelnen daraus ableitbaren Sätzen, daß dessen Gegenteil sehr stark mit unseren gesamten instink- tiven Erfahrungen kontrastiert. — Als nun Galilei die Dynamik des schweren Körpers gründete, fand er durch einzelne Über- legungen und Versuche die erreichte Fallgeschwindigkeit von der Falltiefe abhängig, jede Vergrößerung der Geschwindigkeit an eine tiefere, jede Verminderung an eine höhere Lage des Körpers gebunden. Besonders ein merkwürdiger Pendelversuch führte ihn dazu, die allgemeine Bedingung aller dieser Einzel- heiten zu erschauen. Auf welchen Bahnen sich ein schwerer Körper auch bewegen mag, so kann derselbe vermöge der er- langten Fallgeschwindigkeit doch eben nur wieder das Niveau erreichen, welches er fallend mit der Geschwindigkeit Null ver- lassen hat. Indem Huygens diese Auffassung auf ein System schwerer Körper ausdehnt, gelangt er zu einem Spezialfall des später „Satz der lebendigen Kräfte" genannten Gesetzes, dessen Gegenteil auch wieder mit unseren instinktiven Erfahrungen stark kontrastiert. Dieses besagt nämlich (wie der Galilei sehe Satz) nach Huygens' ausdrücklicher Bemerkung, daß die schweren Körper nicht von selbst sich erheben. Deshalb löst Huygens im Vertrauen auf die Auffassung, und durch dieselbe, auch das schwierige Problem des Schwingungsmittelpunktes, so wie Galilei mit Hilfe seiner Auffassung Spezialaufgaben gelöst hat. In der schärferen Huygens sehen Beleuchtung würde das Stevinsche Prinzip lauten: Nur bei Zunahme der mittleren Tiefe der schweren Massen kann eine Bewegung derselben be- schleunigt werden. Dadurch daß S. Carnot zuerst ausdrücklich angenommen hat, daß der mechanische Satz der Erhaltung der lebendigen Kräfte auch auf außermechanischem Umwege nicht durchbrochen wird, hat er den Weg zum sogenannten Prinzip Mach, Erkenntnis und Irrtum. 18 274 ^^s Problem. der Erhaltung der Energie eröffnet. Diese allgemeine Auffassung, welche auch wieder unserem Instinkt sehr nahe liegt, hat sich als Hilfe zur Lösung von Spezialaufgaben sehr fruchtbar erwiesen. Indem so die Forschung immer mehr Einzelheiten der Erfahrung in das Licht des bewußten begrifflichen Denkens zieht, wird zu- gleich durch die allgemeinsten Prinzipien die Verbindung mit den instinktiven Grundlagen unseres psychischen Lebens immer enger und fester.^) *) Vgl. „Mechanik" und „Prinzipien der Wärmelehre'' Die Voraussetzungen der Forschung. 1. Der in einer gewissen begrenzten Umgebung aufgewach- sene und verkehrende Mensch hat oft und oft Körper von einer ge- wissen Beständigkeit der räumlichen Größe und Form, der Farbe, des Geruches, Geschmackes, der Schwere u. s. w. vorgefunden. Er hat sich unter dem Einflüsse der Umgebung und der Macht der Association gewöhnt dieselben Empfindungen an einem Ort und in einem Augenblick verbunden anzutreffen; er setzt diese Beständigkeit der Verbindung gewohnheitsmäßig und instinktiv voraus, und diese Voraussetzung wird zu einer wichtigen Be- dingung seines biologischen Gedeihens. Die auf einen Ort und eine Zeit zusammengedrängten Beständigkeiten der Verbindung, welche wohl der Idee einer absoluten Beständigkeit oder Sub- stanz zur Grundlage gedient haben, sind nicht die einzigen. Der gestoßene Körper gerät in Bewegung, stößt einen anderen und setzt diesen in Bewegung, aus dem geneigten Gefäß fließt der Inhalt, der losgelassene Stein fällt, das Salz zerfließt im Wasser, der brennende Körper entzündet einen anderen, erhitzt Metall, bringt es zum Glühen und Schmelzen, u. s. w. Auch hier treten uns Beständigkeiten der Verbindung entgegen, nur daß sie der Variation des Raumes und der Zeit einen größeren Spielraum lassen. 2. Wir haben die (vorläufigen) letzten gemeinsamen Be- standteile unserer physischen und psychischen Erlebnisse Elemente genannt. Wir beobachten 1. einfache Beständigkeiten einzelner Elemente, 2. Beständigkeiten gleichzeitiger und gleichräumlicher Verbindung dieser Elemente, und 3. allgemeinere Beständigkeiten der Verbindung dieser Elemente. Die wiederholte, sorgfältigere Beobachtung lehrt, daß einzelne Elemente jüberhaupt nicht be- 18* 276 ^^^ Voraussetzungen der Forschung. Ständig sind. Wenn sie beständig zu sein scheinen, wie die Farbe bei gleichbleibender Beleuchtung, die Schwere bei un- geänderter Lage gegen die Erde u. s. w., liegt es nur an der zufälligen Konstanz anderer mit denselben verbundenen Ele- mente. Auch die gleichzeitige und gleichräumliche Verbindung ist keine absolute Beständigkeit, wie dies schon durch den vorigen Fall beleuchtet wird, und wie namentlich Physik, Chemie und Sinnesphysiologie täglich lehren. Es bleibt also nur die allgemeine Beständigkeit der Verbindung übrig, von welcher die beiden vorausgehenden sehr spezielle Fälle darstellen. Zählen wir Raum- und Zeitempfindungen mit zu den Elementen, so werden alle Beständigkeiten der Verbindung durch Abhängig- keiten der Elemente voneinander erschöpft.^) Natürlich werden unter Leitung des biologischen Bedürfnisses zunächst die ein- fachsten unmittelbar den Sinnen zugänglichen Abhängigkeiten beobachtet, wie dies durch zahlreiche Beispiele schon erläutert wurde. Erst später gelingt es, kompliziertere und allgemeinere, nur begrifflich darstellbare Abhängigkeiten absichtlich zu er- mitteln, in welchen sich die Elemente selbst in den Begriffen verbergen. 3. Ganz so, wie wir reflektorisch und instinktiv unter dem Einfluß unserer Organisation, unseres biologischen Bedürfnisses und unserer Umgebung greifen gelernt haben, und nun diese Fertigkeit mit bewußter Absicht im Dienste des Lebens üben, ebenso lernen wir die Voraussetzungen, die sich aus unserer psychischen Organisation (Association) und dem Einfluß der Um- gebung instinktiv ergeben, und als biologisch förderlich erwiesen haben, mit bewußter Absicht und mit Voraussicht des vielfach erfahrenen Erfolges festhalten, sobald es sich in der Forschung um das Begreifen handelt. 4. Die Voraussetzung der Abhängigkeit der Erlebnis-Ele- mente voneinander braucht durchaus nicht angeboren zu sein; wir können im Gegenteil ihre allmähliche Entwicklung beob- achten. Das „weil", „da", „folglich" u. s. w. muß sich im Leben und in der Sprachbildung der Völker und des einzelnen lange ») Erhaltung der Arbeit. Prag 1872. S. 35 u. f. — Analyse der Emp- findungen. 4. Aufl. S. 258. Die Voraussetzungen der Forschung. 211. mit der Bedeutung zeitlicher und räumlicher Koinzidenz be- gnügen, bevor es bedingende (kausale) Bedeutung erhält.^) Auch dauert es recht lange, bis das Verhältnis der gegenseitigen Ab- hängigkeit der Elemente voneinander vollständiger und richtiger aufgefaßt wird. Dies ist auch ganz verständlich. Wenn alles ganz regelmäßig verlaufen würde, ohne die geringste Störung, so wie die Nacht auf den Tag folgt, so würden wir uns diesem Gang ganz gedankenlos anpassen.^) Erst ein Wechsel von Regel und Regellosigkeit nötigt uns, in Verfolgung unseres un- mittelbaren oder mittelbaren biologischen Interesses, die Frage zu stellen: Warum sind die Ereignisse einmal diese, ein ander- mal andere? Was hängt unabänderlich zusammen, was be- gleitet sich nur zufällig? Wir gelangen durch diese Unter- scheidung zu den Begriffen Ursache und Wirkung. Ursache nennen wir ein Ereignis, an welches ein anderes (die Wirkung) unabänderlich gebunden ist. Freilich zeigt sich, daß dieses Ver- hältnis meist sehr oberflächlich und unvollständig aufgefaßt wird. Gewöhnlich werden nur zwei besonders auffallende Bestandteile eines Vorganges als Ursache und Wirkung aufgefaßt. Die ge- nauere Analyse eines solchen Vorganges zeigt aber dann fast immer, daß die sogenannte Ursache nur ein Komplement eines ganzes Komplexes von Umständen ist, welcher die sogenannte Wirkung bestimmt. Deshalb ist auch, je nachdem man diesen oder jenen Bestandteil des Komplexes beachtet oder übersehen hat, das fragliche Komplement sehr verschieden. 5. Hat die Voraussetzung der Beständigkeit der Verbindung der Elemente als instinktive Gewohnheit oder als bewußter me- thodologischer Zug sich unserem Denken eingeprägt, so suchen wir sofort nach einer Ursache jeder neu eintretenden, unerwarteten Änderung. Woran hängt es, daß das bisher Beobachtete nicht fortbesteht? Hat sich eine unbeachtete, unbemerkte Bedingung geändert? Jede Veränderung erscheint als eine Störung der Sta- bilität, als eine Auflösung des bisher zusammen Bestehenden. Sie hebt den gewohnten Zusammenhang auf, beunruhigt uns, *) Geiger, Ursprung und Entwickelung der menschlichen Sprache und Vernunft. Stuttgart 1868. 2) J. F. W. Herschel, The studp of natural philosophy. London 1831. S. 35. 278 ^'^ Voraussetzungen der Forschung. setzt ein Problem^ drängt uns, einen neuen Zusammenhang zu suchen, nach der Ursache zu forschen.^) 6. In den höher entwickelten Naturwissenschaften wird der Gebrauch der Begriffe Ursache und Wirkung immer mehr ein- geschränkt, immer seltener. Es hat dies seinen guten Grund darin, daß diese Begriffe nur sehr vorläufig und unvollständig einen Sachverhalt bezeichnen, daß ihnen die Schärfe mangelt, wie dies schon angedeutet wurde. Sobald es gelingt die Ele- mente der Ereignisse durch meßbare Größen zu charakterisieren, was bei Räumlichem und Zeitlichem sich unmittelbar, bei anderen sinnlichen Elementen aber doch auf Umwegen ergibt, läßt sich die Abhängigkeit der Elemente voneinander durch den Funktions- begriff^) viel vollständiger und präziser darstellen, als durch so wenig bestimmte Begriffe, wie Ursache und Wirkung. Dies gilt nicht nur dann, wenn mehr als zwei Elemente in unmittelbarer Abhängigkeit (das Beispiel vom Gas /?v/7'=konst. S. 135), sondern noch viel mehr, wenn die betrachteten Elemente nicht in unmittelbarer, sondern in mittelbarer, durch mehrfache Ketten von Elementen vermittelter Abhängigkeit stehen. Die Physik mit ihren Gleichungen macht dieses Verhältnis deutlicher, als es Worte tun können. 7. Bei unmittelbarer Abhängigkeit zweier oder mehrerer Elemente, wobei z. B. sämtliche Elemente durch eine Gleichung verbunden sind, ergibt sich jedes Element als Funktion der an- deren. In der alten Ausdruckweise müßten wir sagen: In diesem Falle sind die Begriffe Ursache und Wirkung vertauschbar. Wenn z. B. zwei gravitierende Massen sich allein gegenüber- stehen, oder zwei wärmeleitende Körper allein sich berühren, so ist die Geschwindigkeitsänderung des einen die Ursache der Geschwindigkeitsänderung des anderen und umgekehrt, die Tem- peraturänderung des einen die Ursache der Temperaturänderung des anderen und umgekehrt. Wenn ein heißer Körper A durch Vermittelung anderer Körper ß, C . . . an einen Körper A'' Wärme überträgt, so ist nicht mehr allein die Zustandsänderung von A maßgebend für die Zustandsänderung von A^, sondern alle Mittel- *) Analyse der Empfindungen. 4. Aufl. S. 249. 2) A. a. O. S. 74—78. — Erhaltung der Arbeit. S, 35 u. f. Die Voraussetzungen der Forschung. 279 körper und deren Anordnung haben mitzusprechen. Natürh'ch kann jetzt auch nicht die Zustandsänderung von N allein als bestimmend für die Zustandsänderung von A gelten. Das Ver- hältnis der Umkehrbarkeit hat aufgehört. Selbst in dem ein- fachen Falle, daß man alle Körper als Punkte ansehen kann, wird man so viele simultane Differentialgleichungen aufzustellen haben, als Körper vorhanden sind. Jede Gleichung enthält im allgemeinen die Variablen, welche sich auf alle Körper beziehen. Gelingt es eine Gleichung zu gewinnen, die bloß die Variable eines Körpers enthält, so läßt sich diese integrieren. Dies führt auch zu den übrigen Integralen, in welchen die Konstanten durch den Anfangszustand bestimmt werden. Die Durchführung eines solchen einfachsten Beispiels ist genügend, das Unzureichende der vulgären Begriffe Ursache und Wirkung und deren Über- flüssigkeit gegenüber dem Funktionsbegriff fühlbar zu machen.^) 8. Betrachtet man die physikalischen Vorgänge genau und im einzelnen, so scheint es, daß man alle unmittelbaren Ab- hängigkeiten als gegenseitige und simultane ansehen kann. Für die vulgären Begriffe Ursache und Wirkung gilt das gerade Gegenteil, weil sie eben in ganz unanalysierten Fällen einer vielfach vermittelten Abhängigkeit Anwendung finden. Die Wirkung „folgt" der Ursache, und das Verhältnis ist „nicht umkehrbar". Als Beispiel diene die Explosion des Pulvers im Geschütz und das Einschlagen des Projektils, ferner ein leuch- tendes Objekt und die Lichtempfindung. In beiden Fällen liegen Ketten von vermittelter Abhängigkeit von einer Unzahl von ') Ich habe irgendwo gelesen, daß ich „einen erbitterten Kampf" gegen den Begriff Ursache führe. Dies ist nicht der Fall, denn ich bin kein Religions- stifter. Ich habe diesen Begriff für meine Bedürfnisse und Zwecke durch den Funktionsbegriff ersetzt. Findet jemand, daß hierin keine Verschärfung, keine Befreiung oder Aufklärung liegt, so wird er ruhig bei den alten Be- griffen bleiben; ich habe weder die Macht noch auch das Bedürfnis, jeden einzeln zu meiner Meinung zu bekehren. Als jemand verklagt wurde, daß er nicht an die Auferstehung glaube, soll Friedrich II. resolviert haben: „Wenn N. am jüngsten Tage nicht mit auferstehen will, so mag er meinetwegen liegen bleiben." Diese Kombination von Humor und Toleranz ist im allgemeinen sehr empfehlenswert. Die nach uns kommen, werden sich einmal recht verwun- dern, worüber wir streiten, und noch mehr, wie wir uns dabei ereifern konnten. 280 ^'^ Voraussetzungen der Forschung. Gliedern vor. Der getroffene Körper restituiert nicht die Arbeit des Pulvers, die empfindende Netzhaut nicht das Licht; beide sind nur Glieder der Kette der Abhängigkeiten, die sich auf anderen Wegen fortsetzen, als sie eingeführt worden sind. Der Körper liefert etwa fliegende Sprengstücke, der Wahrnehmende greift vielleicht nach dem leuchtenden Objekt. Der ganze Vorgang braucht nicht deshalb momentan und umkehrbar zu sein, weil er sich auf eine vielfache Kette simultaner und um- kehrbarer Abhängigkeiten gründet. Wir kommen auf diesen Punkt noch zurück.') 9. Die Auffassung der Kausalität ist also nicht immer dieselbe gewesen, sie hat im Lauf der Geschichte sich geändert, und kann auch noch ferner sich ändern. Um so weniger wird man glauben, daß es sich hier um einen angeborenen Ver- standsbegriff handelt. Das Hume-Kantsche Problem wurde schon anderwärts besprochen.^) Hier sei nur noch wenig hin- zugefügt. Die psj>chische Individualität entwickelt sich durch Wechselbeziehung des Subjekts und dessen Umgebung. Gewiß bringt der Organismus auch schon Angeborenes mit, vielleicht sogar viel mehr, als Kant angenommen hat. Vor allem ist die Reflexerregbarkeit angeboren. Nicht nur das System der Raum- und Zeitempfindungen ist angeboren, sondern auch die spezi- fischen Energien aller Sinne mit den inbegriffenen Sj>stemen der möglichen Empfindungen.^) Allerdings hat es sich gezeigt, daß der physiologische Raum und die physiologische Zeit ohne Hilfe der physischen Erfahrung weder eine wissenschaftliche Geo- metrie, noch eine wissenschaftliche Mathematik begründen könnten. •) Zu der letzteren Ausführung bin ich durch ein für mich lehrreiches kleines psychologisches Erlebnis veranlaßt worden. Ein Mann, ersichtlich kein Naturforscher, aber philosophisch und poetisch hochbegabt, gelangte zu der Ansicht, dali wie das Bild auf der Netzhaut Empfindung, so auch um- gekehrt eine lebhafte Gesichtsvorstellung ein Netzhautbild hervorrufen müßte, welches auf irgend eine Art nachgewiesen werden könnte, und ver- langte von mir die Ausführung dieses hoffnungslosen Versuchs. Der Funk- tionsbegriff hätte ihn kaum so irre leiten können, wie es hier der Ursachen- begriff getan hat. *) Prinzipien der Wärmelehre. 2. Aufl. S. 432 u.f. *) Vgl. F. J. Schmidt, Crundzüge der konstitutiven Erfahrungsphilo- sophie. Berlin 1901. Die Voraussetzungen der Forschung. 281 Die Frage: „Wie ist reine Mathematik (a priori) möglich?" ent- hielt also zweifellos einen der wichtigsten Forschungskeime. Wichtiger aber wäre es noch gewesen, wenn sie nicht die Voraus- setzung enthalten hätte, daß die Erkenntnisse der Mathematik a priori gewonnen werden. Denn nicht philosophische Dekrete, sondern nur die positiven psycho-physiologische Forschungen können feststellen, was angeboren ist. Was die Kausalitäts- auffassung betrifft, so können höchstens die Grundlagen der Möglichkeit der Association, die organischen Verbindungen an- geboren sein, denn die Associationen selbst sind nachweislich individuell erworben (vgl. S. 33). Der Gedanke einer angeborenen Kausalitätsauffassung hat einen so hochstehenden Forscher wie Whewell zu wunderlichen Wendungen verführt, obgleich er eigentlich als ein recht freier Kantianer bezeichnet werden muß. Fries und seine Schule, insbesondere Apelt, welchen wir sehr viel in Begründung einer rationellen naturwissenschaftlichen Methodik verdanken, machen ja gewaltige Anstrengungen sich von den Fesseln Kants zu befreien, ohne daß es ihnen vollständig ge- lingen würde. (Siehe die Beispiele S. 138 — 140.) Erst Beneke unter den Deutschen macht wesentliche Fortschritte. Er sagt ausdrücklich: „Wir haben im vorigen den Satz durchgeführt, daß alle Begriffe ohne Ausnahme, auch die Kant sehen Kate- gorien, durch Zusammenfassung von Anschauungen entstehen; und so können wir uns denn so weit Whewells Ansicht nicht zu eigen machen."^) „Die allgemeinste Einteilung der Wissenschaften aus diesem Gesichtspunkte ist die in Wissen- schaften, welche sich auf das durch äußere Eindrücke Auf- gefaßte^ und solche, die sich auf das Innerlich- Prädeterminierte beziehen. Die letzteren enthalten allerdings gewissermaßen Erkenntnisse des a priori der Erfahrung in uns Gegebenen. Aber man hat bei der näheren Bestimmung dieses Verhältnisses bisher darin gefehlt, daß man die in der ausgebildeten Seele hervortretenden Formen als schon vor der Erfahrung, oder be- stimmter, der Entwicklung der Seele gegebene (angeborene) voraussetzt. Dies ist falsch: Die Formen, welche für die Er- *) Beneke, System der Logik als Kunstlehre des Denkens. Berlin 1842. S. 23. 282 ^'^ Voraussetzungen der Forschung. Kenntnis zunächst vorliegen, sind erst in der Entwicklung der Seele entstanden.^ vor derselben nur prädeterminiert in an- geborenen Anlagen und Verhältnissen, welche ganz andere Formen an sich tragen."^) Ich wüßte diesen trefflichen allge- meinen Bemerkungen nichts erhebliches hinzuzufügen. 10. Die natürliche Entwicklung führt also dazu, daß die instinktive Erwartung von Beständigkeiten, die durch die Wechsel- beziehung des Subjektes und seiner Umgebung sich heraus- gebildet hat, schließlich als absichtliche j bewußte, als erfolg- reich erprobte und neuen Erfolg versprechende methodologische Voraussetzung, als Postulat an die Forschung herangebracht wird. In der Tat ist die Absicht ein Gebiet zu erforschen nur mit der Annahme der Erforschbarkeit desselben vereinbar.^) Diese setzt aber Beständigkeiten voraus, denn was sonst sollte durch die Forschung ermittelt werden? Solche Beständigkeiten sind aber Abhängigkeiten der Elemente des Gegebenen von- einander, funktionale Beziehungen oder Gleichungen zwischen diesen Elementen. Wenn eine Gleichung erfüllt ist, so liegt hierin eine erweiterte, verallgemeinerte substanzielle Auffassung, aber auch eine weiter entwickelte, verschärfte, geläuterte kausale Auffassung. Es kommt im allgemeinen wenig darauf an, ob wir die Gleichungen der Physik als den Ausdruck von Sub- stanzen, Gesetzen, oder in besonderen Fällen von Kräften an- sehen; jedenfalls drücken sie funktionale Abhängigkeiten aus. Als einfaches, sofort verständliches Beispiel sei nur das Energie- gesetz angeführt, welches sich differenten Auffassungen sehr wohl fügt, die wir darum auch gar nicht als so grundverschieden betrachten können, als sie oft erscheinen.^) 11. Die Richtigkeit der Position des .^Determinismus''' oder .^Indeterminismus^' läßt sich nicht beweisen. Nur eine vollendete oder nachweisbar unmögliche Wissenschaft könnte hier ent- scheiden. Es handelt sich hier eben um Voraussetzungen, die man an die Betrachtung der Dinge heranbringt, je nachdem ») A. a. O. II. S. 282. *) Vgl. Oelzelt-Newin, Kleinere philosophische Schriften. Wien 1901. (Naturnotwendigkeit und Gleichförmigkeit des Naturgeschehens als Postulate. S. 28—42.) Die Ausführungen des Verfassers stehen meiner Ansicht sehr nahe. *) Prinzipien der Wärmelehre. S. 423 u. f. Die Voraussetzungen der Forschung. 283 man den bisherigen Erfolgen oder Mißerfolgen der Forschung ein größeres subjektives Gewicht beimißt. Während der Forschung aber ist jeder Denker notwendig theoretisch Determinist. Dies ist auch dann der Fall, wenn er mit bloßen Wahrscheinlich- keiten zu tun hat. Der Hauptsatz Jacob Bernoullis/) das „Gesetz der großen Zahlen", läßt sich nur auf Grund determi- nistischer Voraussetzungen ableiten. Wenn ein so überzeugter Determinist wie Laplace, der von einer Weltformel träumen konnte, sich gelegentlich zu der Äußerung verleiten läßt, daß aus der Kombination von Zufälligkeiten die wunderbarste Regel- mäßigkeit sich ergeben kann,') so darf dies nicht so verstanden werden, als ob z. B. die statistischen Massenerscheinungen mit dem keinem Gesetz unterliegenden Willen vereinbar wären. Die Sätze der Wahrscheinlichkeitsrechnung gelten nur dann, wenn Zufälligkeiten durch Komplikationen verdeckte Regel- mäßigkeiten sind.^) Nur dann können für gewisse Zeiträume gewonnene Mittelzahlen einen vernünftigen Sinn haben. ^) 12. Die Annahme von Beständigkeiten im allgemeinen schließt aber nicht die Annahme der Unfehlbarkeit einer solchen Annahme im einzelnen ein. Der Forscher muß im Gegenteil stets der Enttäuschung gewärtig sein. Er weiß ja nie, ob er alle für einen Fall in Betracht kommenden Abhängigkeiten schon berücksichtigt hat. Seine Erfahrung ist ja räumlich und zeitlich beschränkt, bietet ihm nur einen kleinen Ausschnitt des Weltgeschehens. Keine Tatsache der Erfahrung wiederholt sich vollkommen genau. Jede neue Entdeckung deckt Mängel unserer Einsicht auf, enthüllt einen bisher unbeachteten Rest von Ab- hängigkeiten. So muß also auch derjenige, welcher in der Theorie einen extremen Determinismus vertritt, praktisch doch Indeterminist bleiben, namentlich dann, wenn er sich nicht die wichtigsten Ent- deckungen wegspekulieren will. 13. Die Wissenschaft besteht tatsächlich. Wissenschaft ist nicht möglich ohne eine gewisse, wenn auch nicht vollkommene »)Jac. Bernoulli, Ars conjectandi. Basel 1713. *) Laplace, Essai philosophique sur les probabilitös. ßme Ed. Paris 1840. ») Analyse d. E. 4. Aufl. S. 65. *) Fries, Kritik der Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Braun- schweig 1842. 284 ^'ß Voraussetzungen der Forschung. Stabilität der Tatsachen und eine dieser entsprechende, durch Anpassung sich ergebende Stabilität der Gedanken. Die letztere Stabilität läßt auf die erstere schließen, setzt die erstere voraus, ist von der ersteren ein Teil. Vielleicht gibt es keine voll- kommene Stabilität. Jedenfalls reicht aber die Stabilität so weit, daß sie genügt, ein förderliches Ideal einer Wissenschaft zu be- gründen.^) 14. Ist man so weit gelangt, auf die Abhängigkeit der Elemente voneinander zu achten und absichtlich nach derselben zu suchen^ so ergibt sich die Methode, dieselbe zu finden^ von selbst. Was voneinander abhängt, ändert sich im allgemeinen miteinander. Die Methode der sich begleitenden Veränderungen ist überall der Führer. Auf derselben beruhen die spärlichen Anweisungen des Aristoteles für den Forscher ebenso, wie die ausführlicheren Aufstellungen des Bacon. Indem J. F. W. Herschel die unauflösliche Verbindung von Ursache und Wirkung, sowie das Folgen der letzteren auf die erstere ins Auge faßt, ferner in Betracht zieht, daß die Verstärkung, das Verschwinden, die Umkehrung der ersteren dieselben Verände- rungen der letzteren bedingt, stellt er die leitenden Regeln der Forschung auf.^) Die vielen Vorbehalte, zu welchen er sich gedrängt sieht, lassen deutlich erkennen, das er das Unzu- reichende der beiden Begriffe als erfahrener Forscher ganz wohl fühlt. Wie sollte auch ein Experimentator nicht wissen, daß der Parallelismus der Variation, der bei einfachen Ab- hängigkeiten meist ^) zutrifft, nicht ohne weiteres auch für kom- pliziertere und vermittelte Abhängigkeiten vorausgesetzt werden ') Vgl. Erhaltung der Arbeit. S. 46. Ferner: Petzoldt, Das Gesetz der Eindeutigkeit. Viertel), f. wissensch. Philosophie, XIX. S. 146 u. f. — Endlich: Analyse der Empfindungen. S. 274. =*) Preliminary Discourse ect. S. 151 u. f. *) Verwendet man den Funktions- statt des Ursachenbegriffes, so ist es sofort klar, daß zwei durch eine Funktionalbeziehung verbundene Variable nicht zugleich Null werden müssen, daß nicht einmal allgemein der Änderung jier einen eine Änderung der andern entsprechen muß. Man denke etwa an die Temperatur und die elektromotorische Kraft der Berührungsstelle zweier Metalle, welche bei Temperatursteigerung zunimmt, dann abnimmt, Null wird und endlich sogar den Sinn umkehrt. Die Voraussetzungen der Forschung. 285 darf. Am ausführlichsten hat MilP) die Anweisungen zur Forschung in schematischer Form dargestellt. Denkt man sich die Ursache und die Wirkung meßbar und aller Werte fähig, so ergeben sich alle Mil Ischen Methoden als spezielle Fälle der Methode der sich begleitenden Veränderungen. Ist in dem Komplex AB CD das A die Ursache von Z), so ist D in allen Komplexen vorhanden^ in welchen A vorhanden ist (Methode der Übereinstimmung). Wird ^4 = 0, so tritt statt des Kom- plexes AB CD der Komplex BC auf, in welchem auchZ) = ist (Methode der Differenz). Durch andere Spezialisierungen ergeben sich auch die übrigen Methoden. Die leitenden Ge- danken, die Schwierigkeiten und Komplikationen sind im wesent- lichen dieselben bei Herschel und Mill. WhewelP) hat die Aufstellungen Mills und dessen Beispiele treffend kritisiert. Nutzlos ist die Schematisierung der Denkprozesse des Forschers, welche die Form derselben zum klaren Bewußtsein bringt, gewiß nicht; eine große Erleichterung der Forschung in beson- deren Fällen darf man aber von derselben nicht erwarten. Die Schwierigkeit liegt ja vielmehr in der Auffindung der maß- gebenden Elemente des Komplexes AB CD, als in der Form des Schlusses. Hat man aber auch, mit oder ohne Hilfe der Mi 11 sehen Schemata, die Abhängigkeit eines Elementes D von einem andern A überhaupt erkannt, so ist hiermit, wie jeder Naturforscher weiß, nur das Allervorläufigste erledigt; denn jetzt beginnt erst die wichtigste Arbeit, das Suchen nach der Art der Abhängigkeit. In den meisten Fällen kann man dem Mil Ischen Schema nur dann einen guten Sinn abgewinnen, wenn man sowohl das A wie das D als einen ganzen Komplex von Elementen auffaßt. Der Forscher wird nun mit Rücksicht auf den Zweck und das Ziel der Forschung nach Möglichkeit solche Komplexe A und D in Untersuchung ziehen, die sich gegenseitig eindeutig bestimmen. Denn nur durch die Kenntnis solcher Komplexe ist er im stände, teilweise gegebene Tatsachen in Gedanken zu ergänzen, oder, wenn sich die Ergänzung auf *) Mill, System der deduktiven und induktiven Logik. Deutsch von Th. Gomperz. Leipzig 1884. 2) Whewell, on the Philosophp of Discovery. London 1860. S. 238 bis 291. / 286 ^^^ Voraussetzungen der Forschung. die Zukunft bezieht, zu prophezeien. Hierbei können ihm die Mi 1 Ischen Anweisungen kaum von Nutzen sein. 15. Mit dem Funktionsbegriff und der Methode der Ver- änderung ausgestattet betritt der Forscher seinen Weg. Was er sonst noch nötig hat, muß ihn die spezielle Kenntnis seines Ge- bietes lehren. Dafür lassen sich keine allgemeinen Anweisungen geben. Die Methode der Veränderung liegt sowohl der qualita- tiven als auch der quantitativen Untersuchung zu Grunde, wird in gleicher Weise beim Beobachten und beim Experiment ver- wendet und leitet nicht minder das Experimentieren in Gedanken, welches zur Theorie führt. Beispiele von Forschungswegen. 1. Wollte man kurz und allgemein zutreffend das Streben des Naturforschers, seine Tätigkeit in jedem einzelnen Fall, das Ziel, dessen Erreichung ihn befriedigt, bezeichnen, so müßte man sagen: Er will seine Gedanken mit den Tatsachen und erstere untereinander in möglichst gute Übereinstimmung bringen. Die „vollständige und einfachste Beschreibung" (Kirch ho ff 1874), „die ökonomische Darstellung des Tatsächlichen" (Mach 1872), „Übereinstimmung des Denkens mit dem Sein und Überein- stimmung der Denkprozesse unter sich" (Grassmann 1844) geben mit geringen Variationen demselben Gedanken Ausdruck. Anpassung der Gedanken an die Tatsachen wird in der Mit- teilung an andere zur Beschreibung, zur ökonomischen Dar- stellung des Tatsächlichen bei vollständiger einfachster Beschrei- bung. Jede vermeidliche Inkongruenz, jede Unvollständigkeit, jede logische Differenz oder Abundanz der beschreibenden Ge- danken bedeutet einen Verlust, ist unökonomisch. So allgemein und wenig bestimmt diese Charakteristik der Forschung auch erscheinen mag, dürfte sie mehr zum Verständnis der Tätigkeit des Forschers beitragen als speziellere, dafür aber einseitigere Beschreibungen dieser Tätigkeit. Erläutern wir dies durch Beispiele. 2. Die wissenschaftlichen astronomischen Vorstellungen haben sich (wie S. 101, 233 erwähnt) aus den naiven vulgären Ansichten entwickelt. Die Drehung des Himmelsgewölbes, der Fixstern- sphäre um die Erde ist der unmittelbare Ausdruck der Be- obachtung. Die Bewegungen der Sonne und des Mondes sowie der Planeten sind von jener der Fixsternsphäre verschieden. 288 Beispiele von Forschungswegen. Hipparch^) versucht zuerst die Bewegung von Sonne und Mond durch Epicykel darzustellen. Es gelingt ihm dadurch, die Ungleichherten der Bewegung aus einer viel einfacheren geometrischen Vorstellung ableitbar zu machen. Die Methode der Epicykel wird von Ptolemaeus^) auf die Bewegung der Planeten ausgedehnt. Die von Philolaus,') Archptas/) Aristarch^) angebahnte heliozentrische Auffassung bricht endlich mit Ko- pernikus*') definitiv durch. Hierdurch werden, wie Kepler^) zeigt, 11 Bewegungen des geozentrischen Systems überflüssig. Von der Voraussetzung ausgehend, daß das Planetensystem von mystischen Zahlen- und geometrischen Verhältnissen beherrscht sein müsse, bemüht sich Kepler durch höchst phantastische Konstruktionen mittels der fünf regulären Körper, diese Ver- hältnisse zu ergründen.^) Diese Spekulationen führen ihn aber nach 22 Jahren zur Entdeckung des Gesetzes, daß die dritte Potenz der Entfernung geteilt durch das Quadrat der Umlaufs- zeit für alle Planeten dieselbe Zahl gibt (sein 3. Gesetz). Er erläutert dies an dem Beispiel der Erde und des Saturn.^) Durch das Studium der Marsbewegung auf Grund der Tychonischen Beobachtungen ergibt sich zunächst das Sektorengesetz ^°) als physikalische Hypothese, die sich nachträglich bewährt. Er denkt sich nämlich die „motrices animas", welche die Himmelskörper um den Zentralkörper herumtreiben mit der Entfernung von letzterem abgeschwächt. Dieser Gedanke leitet ihn sowohl zum dritten und auch zum zweiten (Sektoren-) Gesetz.*^) Nach vielen vergeblichen Versuchen verfällt er auf die elliptische Planeten- bahn^-) mit dem Brennpunkt in der Sonne. Diese drei Gesetze Geb. um 160 v. Chr. Beobachtete ungefähr 125—150 n. Chr. Um 410 V. Chr. Um 400 V. Chr. Lebte 310—250 v. Chr. Copernicus, De revolutlonibus orbium coelestium. 1543. Kepler, Mysterium cosmographicum. 1596. Cap. I. Ebendaselbst. Harmonice Mundi. 1619. Lib. V, S. 189, 190. Astronomia nova. De Motibus stellae Martis. 1609. S. 194. Mysterium cosmographicum. Cap. 20, 2 Ed, p. 75. Ebenda S. 285 u. f. Beispiele von Forschungswegen. 289 werden dann von Kepler auch auf die übrigen Planeten aus- gedehnt.^) Newtons Leistung besteht nun darin, daß er diese immer noch zahlreichen Einzelbeschreibungen, aus der Annahme einer verkehrt dem Quadrate der Entfernung von der Sonne proportionalen Beschleunigung der Planeten ableitbar macht. Diese Beschleunigungen betrachtet er als besondere Fälle einer allgemeinen gegenseitigen Beschleunigung der Massen, von welcher die Fallbeschleunigung der schweren Körper auf der Erde der bekannteste besondere Fall ist. Hiermit macht Newton die astronomischen Bewegungen zu einer Aufgabe der allge- meinen physikalischen Mechanik. Auch diesen Schritt finden wir übrigens schon durch die Ansichten des Kopernikus^) und besonders des Kepler^) über die Schwere als allgemeine gegenseitige Massenanziehung vorbereitet. Kepler braucht nicht nur die motrices animas zum Herumführen im Kreise, sondern äußert auch, daß der Mond zur Erde fallen würde, „si Luna et Terra non retineretur vi animali, aut alia aliqua aequipollenti, quaelibet in suo circuitu."*) Beiden fehlte eben noch die von Galilei und Huygens gewonnene Einsicht in dynamische Vor- gänge, um auch diesen Schritt herbeizuführen. 3. Betrachtet man diese Entwicklung, so kann man in der- selben die fortschreitend immer genauere Nachbildung der astronomischen Tatsachen in Gedanken nicht verkennen. Erst sind die scheinbaren Bewegungen der Himmelskörper auf der Fixsternsphäre in rohen Zügen aufzufassen, dann ziehen die Un- gleichheiten die Aufmerksamkeiten auf sich, endlich auch die Entfernungen von der Erde und ihre Änderungen. Heute kann auch die Fixsternsphäre weder als eine Sphäre, noch als un- veränderlich betrachtet werden. Der Prozeß ist nicht abge- schlossen und wohl auch nicht abschließbar.^) Zugleich sehen ') Epitome astronomiae Copernicanae. 1619. 2) A. a. O., Lib. I, Cap. 9. Die Schwere wird daselbst schon allen Himmelskörpern zugeschrieben. *) Astronomia nova. Insbesondere die fünfte Seite der Introductio. Hier wird von der gegenseitigen Schwere von Erde und Mond gesprochen, daß der Mond das Wasser der Erde an sich ziehen würde, wenn dieses nicht gegen die Erde schwer wäre u. s. w. *) Am zuvor angeführten Orte. *) Seit man weiß, daß der Fixsternhimmel veränderlich und die Fixsterne Mach, Erkenntnis und Irrtum. 19 290 Beispiele von Forschungswegen. wir die Nachbildung in Gedanken, oder die Beschreibung, sich fort und fort vereinfachen oder ölconomischer gestahen, so daß sie zuletzt gar nicht mehr auf die Tatsachen beschränkt ist, für welche sie ursprünglich hergestellt wurde, sondern für ein viel weiteres Gebiet zureicht. Daß aber die Schritte, welche zu Ver- einfachungen führen, nicht auf Augenblicksschlüssen beruhen, die nach irgend einer Formel ausgeführt werden können, sieht man aus dem Zeitaufwand, den sie erfordern. Keplers Astronomia nova ist durch seine eigenen Geständnisse und durch die offene Darlegung seiner Irrwege besonders lehrreich. Erst 22 Jahre Arbeit brachten ihm den erwünschten Erfolg. Aber auch von Newton wissen wir, daß Jahre zwischen dem ersten Einfall und der Ausführung seines Gedankens liegen. Eine mächtig wuchernde Phantasie fördert zahllose Ausgeburten zu Tage, bevor eine oder die andere als das richtige Mittel der Vereinfachung er- kannt wird, und durch den Versuch sich als solches auch bewährt. Planmäßiges Suchen kann wenig nützen, wenn man den erlösen- den Gedanken selbst noch nicht kennt, der erst, nachdem man denselben erraten hat, dem überraschten Finder sich als solcher offenbart. Mit dem Ziele fest im Auge in den Produkten der Phantasie zu wühlen, ist hier vorteilhafter. Das „Mysterium cosmographicum" und die „Harmonice mundi" sind da sehr lehr- reich. Die Astronomie, deren Entwicklung sich durch Jahr- tausende durch die verschiedensten Köpfe fortspinnt, zeigt recht augenscheinlich, daß die Wissenschaft keine persönliche An- gelegenheit ist, sondern nur als soziale Angelegenheit be- stehen kann. 4. Das Bedürfnis nach den klärenden, vereinfachenden Ge- danken muß natürlich dem untersuchten Gebiet selbst entspringen. Diese Gedanken können aber aus irgend einem andern Gebiet herstammen. Die Epicykel sind dem erfahrenen Geometer oder praktischen Mechaniker leicht zur Hand. ^) Alltägliche Er- ungleich weit sind, ist das ursprüngliche koperni Rani sehe Koordinaten- spstem wieder mit einer Unsicherheit behaftet. Aber auch ein rein terrestri- sches System wäre schwerlich mit genügender Genauigkeit festzuhalten. ^) Jedem Mathematiker muß es auffallen, daß die Darstellung einer will- kürlichen periodischen Bewegung durch Epicykel auf demselben Prinzip be- ruht, welches der Anwendung der Fourierschen Reihen zu Grunde liegt. So berührt sich unsere moderne mathematische Physik mit der antiken Astronomie. Beispiele von Forschungswegen. 291 fahrungen über scheinbare Bewegungen und perspektivische Verschiebungen kommen ersichtlich Kopernikus zu Hilfe. Zu allem diesem gesellen sich bei Kepler mystische und ani- mistische Gedanken. Endlich erscheint Newton, der Physiker und überragende Geometer, fügt sein Werk hinzu, und beseitigt das nunmehr Überflüssige. Beim Wettbewerb um die Lösung solcher Fragen ist die Weife des Vorstellungskreises für den Sieg vielleicht ebenso wichtig, wie die Schärfe des kritischen Urteils über den ökonomischen Wert der zufällig gewählten und auf die Probe gestellten Gedanken. Psychologisch möglich muß natürlich der Weg sein, den auch das größte Genie einschlägt, denn wie sollte sonst der normale Durchschnittsmensch ihm folgen können? Die Dynamik muß vorbereitet, muß vorhanden sein, um in der Astronomie Anwendung zu finden. Wie groß aber trotzdem der Einfluß des individuellen psychischen Entwicklungsganges ist, zeigt eine aufmerksame Betrachtung. Huygens, der Astronom und Physiker, hat alle Mittel selbst entwickelt, die das Planetensystem erklären. Er löst trotzdem die Frage nicht, ja er vermag der fertigen Lösung kein rechtes Verständnis ab- zugewinnen. Wer an die Schwere als das Maßgebende für die astronomischen Bewegungen dachte, mußte ja bald den Kern der Frage finden. Unabhängig von der Entfernung konnte die Schwere nicht sein, da sonst nicht einmal die Steine auf der Erde gegen die Erde fallen würden, und da hierbei das 3. Kep- ler sehe Gesetz nicht bestehen könnte. Man mußte also nach einer andern Abhängigkeit der Fallbeschleunigung von der Ent- fernung suchen, und das 3. Gesetz weist deutlich auf die ver- kehrt quadratische hin. In der Tat hat Hook e, als Mathematiker mit Huygens nicht vergleichbar, durch Gedanken über die Strahlung der Schwere unterstützt, diesen Kern erfaßt und sogar einem Newton vorweggenommen. Allein die ganze mathe- matische Aufgabe hat nur Newton bewältigt. 5. Betrachten wir ein weiteres Beispiel. Die seit der antiken Zeit bekannten elektrischen und magnetischen Erscheinungen wurden sehr oberflächlich aufgefaßt und häufig konfundiert, bis Gilbert^) den Unterschied scharf hervorhob, und Guericke^) 1) Gilbert, De Magnete. 1600. ä) Guericke, Experimenta Magdeburgica. 1672. S. 136, 147. 19* 292 Beispiele von Forschungswegen. ein genaueres Studium der Elektrizität einleitete. Die Entdeckung zweier verschiedener elektrischen Zustände durch Dufay,^) die Erkenntnis des Unterschiedes der Leiter und Nichtleiter, der Reichtum der allmählich bekannt werdenden Erscheinungen, er- möglichten Coulomb 2) die Begründung einer vollständigeren dualistischen mathematischen Theorie im Gegensatze zur älteren unitarischen des Aepinus.^) Die magnetischen Erscheinungen konnte Coulomb in ganz ähnlicher Weise behandeln. Beide Theorien wurden von Poisson*) weiter entwickelt, und die Analogie zwischen Magnetismus und Elektrizität trat nun aufs neue hervor. Diese bloße Analogie ließ schon einen Zusammen- hang beider Gebiete vermuten, welche Vermutung noch durch zufällige Beobachtungen, wie die Magnetisierung von Stahl- nadeln durch elektrische Entladungen, bestärkt wurde, ohne doch zu einem faßbaren Ergebnis zu führen. Als nun Volta^) durch Konstruktion seiner Säule dem Studium der Elektrizität eine neue Anregung gab, wurden auch wieder erfolglose Versuche veranlaßt, jenem Zusammenhang nachzugehen. O erste dt war endlich so glücklich, einen solchen Zusammenhang zu finden. Er bemerkte wohl zufällig, bei Gelegenheit einer Vorlesung, die Beunruhigung der Magnetnadel durch die Schließung einer Vo haschen Säule. Hier hatte er nun plötzlich den Faden in der Hand, nach dem er und andere so lange gesucht hatten, und es galt nur, denselben nicht mehr loszulassen. Indem O erste dt ^) die Nadel in alle möglichen Lagen gegen den Schließungsdraht brachte, konnte er eine zusammenfassende Be- schreibung aller hierher gehörigen Erscheinungen geben, die nur durch ihre Umständlichkeit und die ungewohnten Ausdrücke dem heutigen Leser weniger zusagt, sonst aber ganz korrekt ist. Ampere faßte die Tatsachen in die Regel zusammen: Der nach Norden weisende Pol (der Nordpol) der Nadel weicht zur Linken des mit dem positiven Strom schwimmenden, dem Pol ') M6m. de TAcad^mie de Paris. 1733. «) Coulomb, M6m. de Paris. 1788. ') Aepinus, Tentamen theoriae Electricitatis et Magnetismi. 1759. *) M6m. de Paris. 1811. ») Philos. Transact. 1800. •) Oerstedt, Gilberts Annalen. 1820. Beispiele von Forschungswegen. 293 zugewendeten Beobachters aus. Den Ausdruck „Strom" ge- braucht erst Ampere, während Oerstedt „elektrischer Konflikt" sagt. Oerstedt erkennt, daß der elektrische Konflikt keine Anziehung bestimmt, daß derselbe durch Glas, Holz, Metall, Wasser u. s. w. hindurch sich geltend macht, dieselben Be- wegungen der Nadel bestimmt, daß derselbe demnach keine elektrostatische Anziehungs- oder Abstoßungs-Kraft ausübt, daß derselbe nicht auf den leitenden Draht beschränkt ist, sondern sich um diesen weithin im Räume verbreitet. Er stellt sich vor, daß die eine elektrische Materie in einem Sinn um den Draht herumwirbelt und den Nordpol mitnimmt, während die andere im entgegengesetzten Sinne wirbelnde den Südpol mitnimmt. In der Tat wirbelt, wie wir wissen, bei geeigneter Veranstaltung ein Pol um den Stromleiter. Diese naiven Vorstellungen, welche den heutigen viel näher stehen, als die um die Mitte des vorigen Jahrhunderts geltenden Schul Vorstellungen, wurden von Th. See- beck ^) und Faraday^) in diesem Sinne weiter entwickelt und geklärt. Seebeck stellt schon die ringförmigen magnetischen Kraftlinien des Stromes wirklich dar, und betrachtet die durch- strömte Kette als eine Art ringförmigen Magnet. Sehen wir uns den Fall genau an, so bemerken wir, daß hier etwas Gesuchtes durch einen glücklichen Zufall gefunden wurde, welches aber ebensogut auch ungesucht sich dem aufmerksamen Beobachter hätte darbieten können, wie z. B. die Röntgen-Strahlen und manche andere Entdeckung. Aber zwei Umstände, die niemand voraussehen konnte, schlössen das Finden nach einem Plan aus. Erstens konnte niemand wissen, daß nur ein dynamischer elek- trischer Zustand einen statischen magnetischen bestimmen würde. Deshalb blieben auch die vielen Versuche, eine Wirkung der *) Th. Seebeck, Über den Magnetismus der galvanischen Kette, 1820, 1821 in der Berliner Akademie gelesen. *) Faradap, Electro-magnetic Rotation Apparatus. 1822. (Experimental Researches in Electricity. Vol. II, p. 147.) — on the phpsical character of lines of magnetic force. 1852. (Exp. Res. Vol. III, p. 418, n. 3265.) — Die elektromagnetischen Rotationen waren deshalb so wichtig, weil Ampere an denselben erkannte, daß die (auf folgender Seite erwähnten) ponderomoto- fischen Fernwirkungen der Ströme nicht auf elektrostatische Wirkungen zurückführbar seien, sondern daß hier etwas fundamental Neues vorliege. Vgl. Duhem, La Theorie physique, S. 203 u. f. 294 Beispiele von Forschungswegen. offenen Kette auf den Magnet zu finden, deren O erste dt er- wähnt, erfolglos. Wie hätten Leute Versuche mit dynamischen Zuständen erfinden sollen, welche nur statische Erscheinungen kannten? Zweitens ist in der Elektrostatik fast^) alles symmetrisch in Bezug auf positiv und negativ, ebenso in der Magnetostatik. Wer hätte je erwarten können, daß der Nordpol aus der durch die Nadel und den parallelen Stromleiter bestimmten Ebene e//z- s^/V/^ (unsymmetrisch) ausweichen würde? Mit den Entdeckungen nach einer Formel oder Regel, sofern sich schon dagewesene intellektuelle Situationen nur wiederholen, hat es eine eigene Bewandtnis; solche Entdeckungen sind eben keine eigentlichen Entdeckungen. (Vgl. S. 200.) Jeder, der das Oerstedtsche Experiment geistig mit erlebte, mußte eine mächtige Erschütterung erfahren, denn er gewann plötzlich den Blick in eine neue bisher ungeahnte Welt. Was war das für ein sonderbares physikalisches Etwas, das hier die sonst scheinbar vollkommene Symmetrie störte? 6. Der Fund Oerstedts hatte die Phantasie und den Eifer der durch Erfolglosigkeit ermüdeten Forscher mächtig angeregt, und rasch folgten nun wichtige Entdeckungen, welche den Zu- sammenhang zwischen Elektrizität und Magnetismus weiter ent- hüllten. Daß bewegliche Stromleiter auch durch den Magnet einen Antrieb erhalten, war als mechanische Gegenwirkung zu erwarten, und schon von Oerstedt nachgewiesen worden. Ampere vermutete eine Wechselwirkung der Ströme unterein- ander auf Grund des magnetähnlichen Verhaltens der Ströme. Seine Vermutung schien ihm selbst gewagt, da weiche Eisen- stücke sich Magneten gegenüber auch als Magnete, gegen- einander aber indifferent verhalten. Das Experiment gab ihm aber recht. Wenn auch seine mathematische Theorie, 2) die von der Newton sehen Vorstellung fernwirkender Elementarkräfte stark beeinflußt war, der heutigen Kritik nicht Stand halten kann, so zeigte er doch, wie man sich in ihren Wirkungen alle Ströme durch Magnete und alle Magnete durch Ströme ersetzt denken kann. Er schuf der damaligen Physik in kürzester Zeit und in glänzender Weise ein vorzügliches Mittel der weiteren Forschung. ») Wenn man von den einseitigen Entladungsvorgängen, Lichtenberg- schen Figuren u. s. w. absieht. *) Ampere, Theorie des Ph6n. ölectrodpnamiques. Paris 1826. Beispiele von Forsc/wngswegen. 295 7. Wenn Ströme sich Magneten gegenüber als Magnete ver- halten, darf man erwarten, daß sie Eisen und Stahl gegenüber sich ebenso verhalten werden. Doch scheint Arago^) nicht durch diese Überlegung allein, sondern auch durch eine zufällige Beobachtung zur Entdeckung des Elektromagnetismus geleitet worden zu sein. Ein stromführender in Eisenfeile tauchender Draht umhüllte sich mit Spänen bis zur Dicke eines Feder- kieles und ließ bei Stromunterbrechung die Späne wieder fallen. Dies veranlaßte ihn, Eisenstäbchen und Stahlnadeln durch den quer darüber gehaltenen Stromleiter, erstere temporär, letztere dauernd zu magnetisieren. Auf Amperes Vorschlag legte Arago dann die Stäbchen in stromleitende Spulen. Eine andere Ent- deckung verdankte Arago ^) der zufälligen Beobachtung der starken Dämpfung einer ober einer Kupferplatte schwingenden Magnetnadel. Die Annahme der Gegenwirkung veranlaßte ihn, die Kupferscheibe in rasche Rotation zu versetzen, wobei die Magnetnadel mitrotierte, das Kupfer also (scheinbar) „Rotations- magnetismus" zeigte. — Die Aufgabe, durch einen Strom aus weichem Eisen einen Magnet zu erzeugen, war gelöst. Farad ay^) versuchte lange vergebens, durch Magnete Ströme zu erzeugen, bis ihm ein glücklicher Zufall auf die Spur half. Er beobachtete während des Einschiebens und Herausnehmens des magnetischen Kerns einer Spule an dem in letztere eingeschalteten Galvano- meter einen momentanen Ausschlag. Die Entdeckung der Induktion war hiermit gesichert, und bald kannte Farad ay> alle ihre Formen und Regeln. Es war ihm nun leicht, in Aragos rotierender Scheibe Ströme nachzuweisen, welche natürlich auch magnetisch wirkten. Dies hatte niemand vorher versucht, ob- gleich es nach dem Amp er eschen Prinzip der Äquivalenz von Strömen und Magneten recht nahe lag. Man sieht aus letzterem Falle, daß bei weitem nicht alle möglichen oder auch nur nahe- liegenden Gedankenwege eingeschlagen werden. Je größer aber die Zahl der Forschenden, desto mehr garantiert die Verschieden- heit der Individuen die Erschöpfung der psychologischen Möglich- keiten, und desto rascher ist der wissenschaftliche Fortschritt. ') Ann. de chimie et de physlque. 1820. T. XV, p. 94. 2) Ann. de chimie et de phpsique. 1825. T. XXVIll, p. 325. 8) Philos. Transact. 1832. 296 Beispiele von Forschungswegen. Natürlich hätte die allseitige Untersuchung der Arago sehen rotierenden Scheibe 7 Jahre früher zur Entdeckung der Induktion führen müssen. Letztere Entdeckung ist aber noch in anderer Beziehung merkwürdig. Es wiederholt sich, wie man Jetzt ohne Schwierigkeit sieht, in derselben nahezu die Oerstedtsche intellektuelle Situation. Ein A verhält sich gleichgültig gegen ein 5, nicht aber gegen eine Änderung von B, Im ersten Fall ist B der statische Zustand, im zweiten die stationäre Strömung. Ein Genie wie Farad ay denkt erst recht nicht nach einer solchen Formel, die sich ja nachträglich leicht abstrahieren läßt. Bemerken wir nur kurz, weil diese Darlegung einen breitern Raum beanspruchen würde, daß die Maxwell-Hertzschen^) Gleichungen nur eine vollständigere Klarlegung des Verhält- nisses von Elektrizität und Magnetismus enthalten, welche jetzt nur ein untrennbares Ganzes ausmachen, und die daran sind, das Gebiet der Optik zu absorbieren, so haben wir hier ein zweites Beipiel einer wissenschaftlichen Entwicklung, welche von der antiken bis in die moderne Zeit reicht. 8. Der eigentümliche Geruch, der während der Wirkung der Elektrisiermaschine namentlich beim Ausströmen der Elektrizität durch Spitzen auftritt, ist von Van Mar um 2) beobachtet worden. Schönbein hatte 1839 mehrmals Gelegenheit, diesen Geruch bei Blitzschlägen gleichzeitig mit der Entwicklung eines bläu- lichen Dunstes, und später bei der Elektrolyse von Wasser an dem entwickelten Sauerstoff wahrzunehmen. Die geschäftige, ergänzende Phantasie des Chemikers bezog diesen Geruch auf einen gasförmigen Stoff, denn nur ein solcher konnte das Ge- ruchsorgan affizieren. Dies geschah um so leichter, als der riechende Stoff eingetauchtes Gold oder Platin rasch negativ polarisierte, Silber und andere Metalle rasch oxydierte, also be- sondere chemische Eigenschaften aufwies, die derselbe durch Erhitzung wieder verlor. Ebenso natürlich war es, daß Schön- bein diesen von ihm Ozon benannten, dem Sauerstoff bei- gemischten, von diesem verschiedenen Stoff zunächst für eine Verbindung hielt. Die Bemerkung, daß der Phosphor bei lang- ») Hertz, Werke. Leipzig 1895. I. S. 295. — II. S. 208—286. *) Van Mar um, D^scription d'une tres grande machine electrique. 1785. Beispiele von Forschungswegen. 2ff7 samem Verbrennen in der Luft den charakteristischen Geruch ebenfalls entwickelt, führt zu chemischen Versuchen, des Ozons habhaft zu werden, die vielfache Kontroversen hervorrufen. De la Rive beweist 1845, daß das Ozon ein allotropischer Sauer- stoff ist, wie Marignac vermutet hatte. Welche wichtige Rolle die Phantasie bei Entdeckungen spielt, indem sie die Verglei- chung und Zusammenpassung der Wahrnehmungen mit den unter andern Umständen gewonnenen Erfahrungen (Erinnerungen) er- möglicht, ist an diesem Beispiel sehr deutlich.^) Wie verschieden sich dieselbe Sache in verschiedenen Köpfen spiegelt, und wie wichtig und förderlich die Teilnahme verschiedener intellektueller Individualitäten bei Behandlung derselben Frage ist, zeigt ein genaueres Studium der Ozonfrage ebenfalls.^) Endlich liegt hier ein typisches Beispiel der Eröffnung neuer Forschungswege durch eine zufällige Beobachtung vor, die sich einem Individuum darbietet, dessen Interesse dadurch berührt wird. 9. Als Daguerre versuchte, auf jodierten Silberplatten durch Belichtung in der Camera obscura Bilder zu erzeugen, gelang ihm dies nicht, trotz vielfacher Bemühungen. Er verwahrte hierauf die Platten in einem Schrank. Als er jedoch nach Wochen die Platten wieder herausnahm, fand er auf denselben die schönsten Bilder vor, ohne sich erklären zu können, wie sie entstanden waren. Die Entfernung der Apparate und Reagentien aus dem Schrank änderte nichts; die eingebrachten belichteten Platten zeigten nach einigen Stunden immer wieder Bilder. Endlich wurde es klar, daß eine Quecksilber enthaltende Wanne, welche zurückgeblieben war, das Wunder bedingte, indem sich die Quecksilberdämpfe nach Art der Mos ersehen Hauchbilder an den belichteten Stellen niedergeschlagen hatten. Es gelang ihm, die verwischbaren Bilder durch Vergoldung zu fixieren.^) Hier führte also der Zufall zu einer gesuchten Erfindung und *) Vgl. die ausführliche Erzählung bei Kahlbaum und Schaer, Ch. F. Schönbein. Ein Blatt zur Geschichte des 19. Jahrhunderts. 1901. *) Ebendaselbst wird auch dargelegt, wie sehr Schönbein den Mit- forschenden gegenüber im Nachteil war, weil er die Hilfe der atomistischen Vorstellungen verschmähte. *) Gekürzt erzählt nach Liebig, Induktion und Deduktion. Reden und Abhandlungen. 1874. S. 304—306. 298 Beispiele von Forschungswegen. ZU einer ungesuchten Entdeckung. Im Wesen der Methode der Variation macht es keinen Unterschied, ob die für den Vorgang maßgebenden Begleitumstände durch physische Variation, oder bei genügend angepaßten Gedanken durch Gedankenexperimente gefunden werden. Um sich zu vergegenwärtigen, in wie mannig- faltiger Weise der physische und der psychische Zufall bei Ent- deckungen und Erfindungen beteiligt ist, braucht man nur einige berühmte Namen herzuzählen, wie Bradley, Fraunhofer, Fou- cault, Galvani, Grimaldi, Hertz, Hooke, Kirchhoff, Malus, J. R. Maper, Roemer, Röntgen u. a. Fast jeder Forscher hat den Einfluß des Zufalls erfahren. 10. Der Stamm der Pflanzen wächst im ganzen der Schwere entgegen nach aufwärts, die Wurzel in der Schwererichtung nach abwärts. Es ist also ein natürlicher Gedanke, bei der steten Verbindung dieser beiden Umstände, die Schwere als Be- dingung dieser Wachstumsrichtung anzusehen. Zudem hat Du HameP) besondere Versuche angestellt, welche zeigen, daß die gewaltsame Richtungsänderung wachsender Pflanzen durch diese selbst immer kompensiert wird, und daß dieselben, immer wieder sich krümmend, in ihre normale Richtung hineinwachsen. Knight ^) hat besonders wichtige Experimente hinzugefügt. Er befestigte auf der Achse eines kleinen vertikalen Wasserrades ein zweites Rad von 11 Zoll Durchmesser, welches 150 Umdrehungen in der Minute machte, und auf welchem in den verschiedensten Lagen angebrachte Gartenbohnen keimten und wuchsen. Die Schwererichtung variierte in Bezug auf die Pflanzen so rasch und regelmäßig, daß sie für die letzteren nicht bestimmend sein konnte. Dagegen richteten sich dieselben jetzt nach der Zentri- fugal-Massenbeschleunigung. Die Wurzeln wuchsen nun aus- wärts, die Stengel aber gegen die Achse zu, überschritten diese und kehrten nach der Achse zu um.^) Auf einem horizontalen Rade von 11 Zoll Durchmesser und 250 Umdrehungen in der ') Du Hamel, La phpsique des arbres. Paris 1738. T. II. p. 137. 4 Philosophical Transact. 1806. ") Die Zentrifugalbeschleunigung bei konstanter Umlaufszeit ist pro- portional der Entfernung von der Achse. Die Umkehrung tritt also dort ein, wo die Massenbeschleunigung für die Pflanze den Schwellenwert erreicht. Beispiele von Forschungswegen. 299 Minute setzte die Zentrifugal- und die Schwerebeschleunigung sich zu einer Resultierenden zusammen, deren Richtung nun für das Wachstum maßgebend war.^) Der Klinostat von Sachs, ^) der bei sehr geringen Dimensionen und sehr langsamen Um- drehungen die Wirkungen der Schwere aufhebt und keine merk- liche Zentrifugalbeschleunigung entwickelt, gestattet den auf demselben befestigten Pflanzen, nach jeder beliebigen Richtung zu wachsen. Mit Unrecht scheint mir aber Sachs ^) auf der- artige Experimente nur einen geringen Wert zu legen. Es kann ja für den unbefangenen Blick höchst wahrscheinlich sein, daß die Schwere für die Wachstumsrichtung bestimmend ist, und doch kann letztere durch ganz andere übersehene Umstände bestimmt sein. Erst die Experimente von Knight haben durch Variation der Größe und Richtung der Massenbeschleunigung zur Evidenz erwiesen, daß diese maßgebend ist. Erst durch das Experiment ist man auch im stände gewesen, den Einfluß verschiedener Um- stände (Licht, Luft, Bodenfeuchtigkeit) von der Schwere zu trennen. Mi 11 hat ja sehr gut dargelegt, daß die Methode der Übereinstimmung nie so sicher leiten kann, als die Methode der Differenz oder die Methode der Begleitveränderung. War nun auch die Schwere als das Bestimmende der Wachstumsrichtung erwiesen, so blieb doch die Art dieser Wirkung fast durch ein Jahrhundert noch ein Rätsel. Noll'^) war der erste, welcher vermutete, daß durch den Schwerkraftreiz die geotropische An- passung der Pflanzen in ähnlicher Weise ausgelöst werde, wie letzteres bei den Tieren durch die Statolithen geschieht. Durch die Untersuchungen von Haberlandt und Nemec hat es sich herausgestellt, daß bei den Pflanzen die Stärkekörner die Rolle der Statolithen übernehmen, welche durch besondere Perceptions- oder Auslösungsorgane die geotropische Anpassung bestimmen.^) ^) Nach den Dimensionen des Rades und den Umlaufszeiten zu urteilen (<p = 4TC*r//^) verwendete Knight Zentrifugalbeschleunigungen, welche am äußern Rande des Rades der Schwerebeschleunigung gleich, drei ein halb- mal und fast zehnmal so groß waren als die Schwerebeschleunigung. Das Verhältnis variiert bei einer Umlaufszeit mit der Distanz von der Achse. *) Sachs, Vorlesungen über Pflanzen-Phpsiologie. 1887. S. 721 u. f. ») Ebenda. S. 719. *) Noll, Über Geotropismus, Jahrb. f. wissensch. Botanik XXXIV. 1900. ■*) Haberlandt, Physiologische Pflanzenanatomie. 1904. S. 523— 534. 300 Beispiele von Forschungswegen. 11. Eine der merkwürdigsten Fragen, welche die Menschen seit jeher beschäftigt hat, ist die nach der Entstehung der organi- schen Wesen. Aristoteles glaubte an die Urzeugung, an die Entstehung des Organischen aus Unorganischem, und das späte Mittelalter teilte noch seine Meinung. Van Helmont (1577 bis 1644) gibt noch eine Anweisung, Mäuse hervorzubringen. Der Gedanke, den Homunculus in der Retorte herzustellen, mochte damals nicht gar so abenteuerlich erscheinen. Redi (1626—1697), ein Mitglied der Accademia del Cimento, zeigte, daß in faulendem Fleisch keine „Würmer" auftreten, wenn man die eierlegenden Fliegen durch einen feinen Flor abhält. Als aber durch den Gebrauch des Mikroskops eine Menge sehr kleiner, schwer zu verfolgender Organismen bekannt wurde, mußten derartige Fragen wieder schwer zu entscheiden sein. Needham^) kam zuerst auf den Gedanken, organische Stoffe in Glasgefäßen zu erhitzen, um alle Keime zu töten, und dieselben nachher hermetisch zu verschließen. Dennoch zeigten sich nach einiger Zeit die ein- geschlossenen Flüssigkeiten von Infusorien belebt. Spallan- zani^) glaubte durch seine analogen Versuche das Gegenteil erweisen zu können, während Needham einwarf, Spallanzani hätte bei seinem Verfahren auch die zum Leben der Organismen nötige Luft verdorben. Obgleich Appert das Verfahren Spallan- zani s mit Erfolg zur Herstellung von Konserven anwandte, und obgleich noch andere Forscher wie Gay-Lussac, Schwann Schroeder, Dusch u. a. sich an der Untersuchung beteiligten, blieb die Frage wegen nicht vollständiger Aufdeckung der Fehler- quellen dieser schwierigen Experimente doch unentschieden. Pasteur^) wurde durch das Studium der Fermente, in welchen er durchaus organisierte Wesen zu erkennen glaubte, auf die Frage der Urzeugung geleitet. Indem er große Quantitäten Luft durch ein Rohr aspirierte, dessen Lumen durch einen Pfropf von Schießbaumwolle verlegt war, fing er in diesem den Staub der Luft auf. Durch Lösung des Pfropfes in Äther und Alkohol und Auswaschen wurde der Staub gewonnen. Die mikroskopische Untersuchung zeigte einen Gehalt an organischen Keimen, der ') Needham, New microscopical discoveries. London. 1745. *) Spallanzani, Opuscules de Phpsique animale et v^g^tale. 1777. ») Pasteur, Ann. de chimie et de physique. 3. Serie. T. LXIV. 1862. Beispiele von Forschungswegen. 301 jedoch, je nachdem man Stadt-, Land- oder Bergluft schöpfte, verschieden und ungleich reich war. Kocht man Wasser, welches Zucker und Eiweiß enthält, einige Minuten in einem Kolben, läßt bei der Abkühlung nur Luft eintreten, welche durch ein glühendes Platinrohr gestrichen ist, und schließt hierauf den Kolben durch Zuschmelzen hermetisch, so kann dieser mehrere Monate bei 25 — 30° C. stehen bleiben, ohne daß sich in der Flüssigkeit Organismen entwickeln. Wird nun in einen solchen Ballon unter den nötigen Vorsichten, welche nur den Eintritt geglühter Luft gestatten, nach Abbrechen der zugeschmolzenen Spitze ein in dem Zuleitungsrohr vorbereitetes Röhrchen mit dem staubgefüllten Pfropf in den Kolben geleitet und dieser wieder durch Zu- schmelzen des Halses geschlossen, so zeigen sich in demselben nach 24 — 48 Stunden regelmäßig organische Bildungen. Aus- geglühter Asbest, in den Kolben eingeführt, zeigt nur organische Bildungen, wenn er zuvor mit Staub angesaugt wurde. In offenen Kolben mit mehrfach gekrümmtem dünnen Hals bleibt die gekochte Flüssigkeit auch nach dem Erkalten sehr lange unverändert stehen, da der Staub in den feuchten gekrümmten Röhren festgehalten wird. Versucht man jedoch, statt des Zu- schmelzens, die Flüssigkeit durch Umkehren der Mündung nach unten und Eintauchen in Quecksilber abzuschließen, so werden die an der Oberfläche und im Innern des Quecksilbers ent- haltenen Keime alsbald lebendig. 12. Diese auch durch die Aufdeckung der Fehlerquellen wertvollen Experimente beweisen entscheidend, daß die uns bekannten Organismen nur aus organischen Keimen sich ent- wickeln. Die allgemeine Frage der Urzeugung greift aber zu weit und zu tief, um durch ein einfaches physikalisches Experi- ment entschieden zu werden. Man kann mit Fechner^) der Meinung sein, daß nicht das Unorganische, sondern das Or- ganische das Primäre sei, daß letzteres in das Unorganische als seinen stabilsten Endzustand übergehen könne, nicht aber um- gekehrt. Die Natur ist nicht gebunden, mit dem für unser Ver- ständnis Einfacheren zu beginnen. Nach dieser Ansicht entsteht ') Eine Vergleichung der Ansicht Fechners mit der von Boltzmann über den 2. Hauptsatz der Thermodynamilc geäußerten s. Prinz, d. Wärme- lehre S. 381. 302 Beispiele von Forschungswegen. die Schwierigkeit, den Beginn des Organischen auf der einst- mals höher temperierten Erde zu begreifen. Sollten auch orga- nische Keime durch die Meteoritentrümmer anderer Weltkörper auf die Erde übertragen worden sein, so können wir an eine lebende Übertragung nur bei den niedersten Organismen denken. Nur die höchst entwickelte Descendenzlehre könnte diese Schwierig- keit lösen. Was nötigt uns aber, einen so schroffen Unterschied zwischen dem Organischen und Unorganischen anzunehmen, zu glauben, daß der Übergang von ersterem zu letzterem absolut nicht umkehrbar sei? Vielleicht besteht eine scharfe Grenze überhaupt nicht. Chemie und Phj>sik sind zwar noch weit vom Verständnis des Organischen, doch haben sie darin schon manches geleistet, und leisten täglich mehr. Pasteur hielt noch alle Fer- mente für organisiert. Heute wissen wir, daß den Ferment- wirkungen analoge katalytische Beschleunigungen möglicher Um- setzungen (Ostwald) auch im Gebiete des Unorganischen anzutreffen sind. Denken wir uns einen Kulturzustand, in dem wir die Natur des Feuers noch sehr wenig kennen, in dem wir das Feuer wohl zu löschen, aber nicht zu erzeugen verstehen, und ganz auf die Benützung natürlich vorkommenden Feuers angewiesen sind. Wir würden da mit Recht sagen: Feuer kann nur von Feuer abstammen. Doch wissen wir es heute besser.*) Wie man auf den Gedanken kommen konnte, die Frage der Urzeugung mit dem Satz der Erhaltung der Energie in Zusam- menhang zu bringen, ist mir gänzlich unerfindlich. 13. Die besprochenen wissenschaftlichen Entwicklungen beginnen meist in weit entlegener Vorzeit mit sehr primitiven Vorstellungen, sind aber in der Gegenwart durchaus nicht ab- geschlossen. Statt der gelösten oder als nichtig erkannten Pro- ') Wie alt und instinktiv naheliegend die Beziehung von Leben und Brennen ist, sehen wir aus dem an eine Missetat des Kambyses anknüpfenden Bericht Herodots (Lib. III, Cap. 16): „Die Ägypter halten das Feuer für ein lebendes Tier, welches alles verzehrt, was es erlangen kann, und das dann mit dem Verzehrten zugleich stirbt." Vgl. bei Ostwald (Vorlesungen über Naturphilosophie, 1902, S. 312 u. f.) eine ausführlichere Parallele zwischen der Selbsterhaltung des Lebens und der Flamme. Vgl. ferner W. Roux (Vorträge und Aufsätze über Entwicklungsmechanik, 1905). Besonders an- sprechend sind daselbst die Ausführungen über Urzeugung und die Ver- gleichung der Flamme mit einem organischen Wesen, S. 108 u. f. Beispiele von Forschungswegen. 303 bleme sind neue, zahlreichere und meist schwierigere aufgetreten. Die Erkenntnis wird auf sehr mannigfaltig gewundenen Pfaden gewonnen, und die einzelnen Schritte sind zwar durch die vor- ausgegangenen bedingt, aber auch durch rein zufällige physische und psychische Umstände mitbestimmt. Die moderne Astronomie muß an die antike anknüpfen. Die letztere macht Anleihen bei der Geometrie. Der ersteren kommt die zufällig und ganz unabhängig von derselben entwickelte Physik und namentlich die Dynamik zu Hilfe. Die zufällig und unabhängig entwickelte technische und theoretische Optik begründet ebenfalls einen neuen Aufschwung der Astronomie. Später treten sogar Astro- nomie und Chemie sich gegenseitig fördernd in Verbindung. Wie wäre unsere moderne Elektrizitätslehre möglich ohne Hilfe der Glas- und Metalltechnik, der Luftpumpe, der Chemie? Wieviel haben aber auch die großen historischen Zufalls- gedanken^ wieviel hat die Gravitationstheorie, von welcher die Potentialtheorie ausgegangen, beigetragen! Die Schematisierung der ausgeführten Erkenntnisschritte mag ja die weitere Forschung einigermaßen fördern bei Wiederholung derselben Situationen. Von einer ausgiebig wirksamen Anweisung zur Forschung nach Formeln kann aber nicht die Rede sein. Immer aber bleibt es richtig, daß wir die Gedanken den Tatsachen und die Ge- danken untereinander anzupassen bestrebt sind. In der bio- logischen Entwicklung entspricht dem: die Anpassung der Orga- nismen an die Umgebung und die Anpassung der Teile des Organismus aneinander. Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung. 1. Nach der von Aristoteles herstammenden Lehre gibt es zwei Arten von Schlüssen oder widerspruchlosen Ableitungs- weisen von Urteilen aus anderen Urteilen: den Schluß von einem allgemeineren Urteil auf das besondere, durch das erstere be- stimmte Urteil, den Syllogismus, und den Schluß von den be- sonderen Urteilen auf das dieselben zusammenfassende allgemeine Urteil, das jetzt den Namen Induktion führt. Die eine Wissenschaft, ein System bildenden Urteile, sind vollkommen, ohne Widerspruch einander angepaßt, wenn sie nach diesen Schlußweisen auseinander ableitbar sind. Hiernach ist schon klar, daß die Regeln der Logik nicht die Aufgabe haben können, neue Erkenntnisquellen zu eröffnen. Die- selben können vielmehr nur dazu dienen, die aus anderen Quellen geschöpften Er- kenntnisse auf ihre Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung zu prüfen, und im letzteren Falle auf die Notwendigkeit der Herstellung voller Übereinstimmung hinzuweisen. 2. Betrachten wir zunächst den durch Fig. 7 graphisch erläuterten Syllogismus in dem konventionellen Beispiel: Alle Menschen sind sterblich (allgem. Obersatz) oder: B ist A Ca jus ist ein Mensch (besond. Untersatz) C ist B Ca jus ist sterblich (Schlußsatz) C ist A MilP) hat hervorgehoben, daß man durch den Syllogismus keine Einsicht gewinnen kann, die man nicht schon vorher hatte, Fig. 7. *) Mill, Spstem der deduktiven und induktiven Logik. Deutsch von Gomperz. 1884. I, S. 209 u. f. Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung. 305 da der Obersatz nicht allgemein ausgesprochen werden darf, wenn man nicht auch des Spezialfalles, des Schlußsatzes sicher ist. Die Sterblichkeit kann ja nicht von allen Menschen be- hauptet werden, bevor sie nicht auch von Cajus gilt. Zur Auf- stellung des Obersatzes muß der bloße Logiker den Tod aller künftigen Cajus e abwarten, und kein auf den Syllogismus an- gewiesener Cajus kann die Gewißheit seiner eigenen Sterblich- keit erleben. Zwar werden nur wenige Menschen an die Schöpfung von Erkenntnissen aus nichts durch die Allmacht der Logik ge- glaubt haben, doch hat Mills Kritik, wie aus den an dieselbe geknüpften Diskussionen hervorgeht, recht klärend und förderlich gewirkt.^) Kant hatte ja längst erkannt, daß Wissenschaften, wie Arithmetik und Geometrie, nicht aus bloßen logischen Ab- leitungen sich aufbauen, sondern daß andere Erkenntnisquellen hierzu nötig sind.^) Die reine Anschauung a priori hat sich allerdings als solche Erkenntnisquelle nicht bewährt. Auch Beneke^) ist vollkommen klar darüber, daß Syllogismen „in keiner Weise über das Gegebene hinausführen". Sie bringen nur die Abhängigkeit der Urteile voneinander zu klarem Be- wußtsein. Für den unachtsamen Beobachter der psychischen Vorgänge kann allerdings leicht der Schein durch Syllogismen herbeigeführter erweiterter Einsicht entstehen. Gehen wir z. B. von dem Satze aus, daß der Außenwinkel u eines Dreieckes gleich ist der Summe der beiden gegenüberliegenden Innen- winkel a-\- b. Lassen wir nun zwei gleiche Seiten in dem Scheitel des Außenwinkels zusammenstoßen, so ist jetzt infolge der besonderen Konstruktion ü = 2a. Legen wir den Mittel- punkt eines Kreises in den Scheitel des Außenwinkels, während die Peripherie durch die beiden andern Ecken geht, so finden wir infolge der neuen Konstruktion den Zentriwinkel u gleich dem doppelten Peripheriewinkel 2 a. Entfernen wir aber aus unserer Vorstellung sorgfältig alles, was nur als Zutat der Konr struktion, durch Spezialisierung, und nicht durch den Syllogis- mus hinein geraten ist, so finden wir in derselben nichts mehr, als den bloßen Ausgangssatz vom Außenwinkel. 1) A. a. O. S. 235. 2) Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik. I. Teil. ä) Beneke, System der Logik als Kunstlehre des Denkens. I, S. 255 u. f. Mach, Erkenntnis und Irrtum. 20 306 Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung. 3. Forschen wir nach der letzten Quelle dieses Satzes, so finden wir sie in der Erfahrungstatsache^^) wonach die Winkelsumme aller für uns meßbaren ebenen Dreiecke von 2/? nicht nachweisbar verschieden ist. — Bei längeren Ableitungen tritt der erwähnte Schein noch stärker hervor. Betrachten wir etwa den Satz des Pythagoras in der Euklidischen Ableitung. Das Quadrat über ab ist gleich der doppelten Fläche von acf. Dreieck acf ist kongruent dem Dreieck aeb. Die doppelte Fläche von aeb ist aber gleich der durch die Senkrechte bd auf ac abgeschnittenen Fläche agde des Quadrates über ac. Der rechte unausgeführte Teil der Fig. 8, analog behandelt, er- ergänzt das Gefundene zum Satz des Pythagoras. Hier haben wir ein- fache Kongruenzsätze (Bestimmung der Größe und Form der Dreiecke durch Seiten und Winkel) und Sätze über die Flächengleichheit der Figuren verwendet. Die merkwürdige uner- wartete Beziehung zwischen den Qua- draten der Dreieckseiten, die hierbei hervortritt, wird jeden Anfänger über- raschen. Doch ist die Neuheit wieder nur durch die Konstruktion und nicht durch die Form der Ableitung bedingt. Machen wir uns klar, daß die verwendeten Sätze auf der Tatsache der Verschieb- barkeit^) der Figuren ohne Form- und Flächenänderung beruhen, so sehen wir in Pythagoras Satz, abgesehen von der be- sonderen Konstruktion, nur dies. — Ein Anfänger lernt einen Parallelogrammsatz etwa an einer schiefwinkligen Figur kennen, und wendet denselben dann auf ein Rechteck an, welches ihm bei jenem Satz vielleicht gar nie in den Sinn gekommen ist. Wenn er aber durch das Ergebnis überrascht ist, so hat er bei jenem vorausgehenden Satz den Parallelismus der Gegenseiten, ohne Rücksicht auf den Winkel der anliegenden Seiten, gewiß nicht richtig abstrakt ins Auge gefaßt. Das Abstrahieren, die *) Vgl. das Kapitel: Zur Ps5>chol. u. natürl. Entwickl. d. Geometrie. ») Ebendaselbst. Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung. 307 Konzentrierung der Aufmerksamkeit auf das Maßgebende, die Nichtbeachtung des Nebensächlichen, erfordert eben Übung, ohne welche die Aufmerksamkeit bald nach dieser, bald nach jener Seite entgleist, wie jeder Student dies erfahren hat. Mehr- fache Überlegung, z. B. bei Gelegenheit einer Ableitung, gibt eben Anlaß, diese Entgleisungen zu bemerken, zu korrigieren und die Abstraktion zu vervollkommnen. Der im Abstrahieren Geübte sieht z. B. in der gegenseitigen Halbierung der Diagonalen des Quadrats eine allen Parallelogrammen, in der Gleichheit der Diagonalen eine allen Rechtecken, und in deren senkrechtem Durchschnitt eine allen Rhomben und noch andern Vierecken gemeinsame Eigenschaft. Indem die syllogistische Deduktion, von allgemeinern (selten in ihrer Spezialisierung explizit vorgestellten) Sätzen ausgehend, durch mehrere vermittelnde Glieder, unter Wechsel und Kom- bination verschiedener Gesichtspunkte, zu spezielleren Sätzen vorschreitet, kann sich hier die Täuschung einer ganz neuen, scheinbar in den Prämissen nicht enthaltenen Einsicht ergeben. Dieselben Sätze hätten aber auch direkt erschaut werden können. Leichter war sie allerdings zu gewinnen durch Nachweis der einzelnen Elemente. Darin, und nicht in der Schaffung neuer Erkenntnis, besteht der eigentliche Wert der Deduktion. 4. Der „Schwäche der Abstraktion"^) kommt man sehr zu Hilfe, indem man die einmal gelungene Abstraktion in Definitionen und Propositionen sprachlich fixiert, und im Gedächtnis auf- bewahrt. Das Denken wird dadurch entlastet, vor Ermüdung bewahrt, da demselben nicht jedesmal dieselbe Anstrengung zu- gemutet wird. Müssen die Grunderkenntnisse, mit welchen der Syllogismus operiert, auch anderswoher beschafft werden, so ist die logische Operation doch nicht nutzlos. Dieselbe bringt uns die Abhängigkeit der Erkenntnisse voneinander zu klarem Be- wußtsein und erspart uns, eine besondere Begründung für einen Satz zu suchen, der schon in einem andern enthalten ist. Selbst wenn die Sätze, von welchen wir logisch ausgehen, nicht absolut sicher sind, bleiben sie noch logisch verwertbar. Gesetzt, es *) Ein von Schuppe in seinen erkenntnistheoretischen Schriften öfter gebrauchter Ausdruck. 20* 308 Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung. wäre der Obersatz: B ist Ä^ nicht ausgemacht, so würde noch immer gelten: wenn B A ist, und C B ist, so ist C A. So sind eigentlich alle Sätze der heutigen Naturwissenschaft zu ver- stehen, ja sogar die Sätze der Mathematik in Anwendung auf wirkliche, natürliche oder künstliche Objekte, welche ja den ab- strakten Idealen nie vollkommen entsprechen.^) 5. Werfen wir nun einen Blick auf das Gegenbild des Syllogismus, auf die Induktion. Es seien Ci, C^, C^ . . . die Individuen einer Begriffsklasse B (Fig. 7). Wir konstatieren, daß Ci unter den Begriff A, C^ unter den Begriff A^ C^ ebenso unter den Brgriff A fällt u. s. w. In dem Falle, als die unter- suchten Ci , Cg , Cg ... den Umfang des Begriffes B erschöpf eny und sämtlich in die Sphäre A fallen, fällt auch B ganz in die Sphäre A. Es ist dies eine vollständige Induktion. Können wir nicht für alle Cj , Cg , Cg ... den Nachweis erbringen, daß sie A sind, und schließen wir, ohne den Umfang von B erschöpft zu haben, dennoch: ^ ist /l, so liegt eine unvollständige Induktion vor. Im letzteren Falle hat aber dieser Schluß gar keine lo- gische Berechtigung.^) Wohl aber können wir durch die Macht der Association, der Gewohnheit uns psychisch zu der Er- wartung gestimmt finden, daß alle C sich als Ay und dem- nach B sich als A erweisen werde. ^) Wir können im Interesse des intellektuellen Vorteils^ des wissenschaftlichen oder prak- tischen Erfolges wünschen, daß es so sei und können instinktiv, oder auch absichtlich methodologisch, in Voraussicht des mög- lichen oder wahrscheinlichen Erfolges versuchsweise annehmen: B sei A, ») Vgl. Fußnote 1 S. 306. 2) Das hat schon Apelt sehr gut dargelegt a. a. O., S. 37 u. f. Apelt glaubt jedoch, daß jeder unvollständigen Induktion die a priori gegebene Er- kenntnis eines bestehenden allgemeinen Gesetzes (Kausalgesetz) zu Grunde liegt. Da er aber selbst zugibt, daß diese Kenntnis nichts über die Anwen- dung in besonderen Fällen aussagt, so hilft sie uns nicht, und kann uns ebenso irre leiten als richtig führen. Eine willkürliche methodische Voraussetzung tut hier dieselben Dienste, ja bessere, da sie aus der Empirie geschöpft schon leitende Charakterzüge dieser enthält. 8) A. Stöhr (Leitfaden der Logik) behandelt die Induktion in dem Ab- schnitt „Erwartungslogik", S. 94 u. f., womit, wie mir scheint, der richtige und fruchtbare Standpunkt bezeichnet ist. Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung. 309 6. In der vollständigen Induktion liegt ebensowenig, wie im Syllogismus, eine Erweiterung der Erkenntnis. Durch Zusammen- ziehung der Individualurteile in ein Klassenurteil gewinnt unsere Erkenntnis lediglich einen konziseren, kompendiöseren Ausdruck. Die unvollständige Induktion hingegen antezipiert zwar eine Er- weiterung der Erkenntnis, schließt aber hiermit die Gefahr des Irrtums ein, und ist von vornherein bestimmt, erst auf die Probe gestellt, korrigiert oder ganz verworfen zu werden. Die weit- aus überwiegende Mehrzahl unserer leichter zu gewinnenden all- gemeinen Urteile sind durch unvollständige Induktion gewonnen, nur wenige durch vollständige Induktion. Die Bildung eines all- gemeinen Urteils auf diesem Wege ist keine Augenblicksangelegen- heit, die sich im einzelnen allein vollzieht. Alle Zeitgenossen, alle Stände, ja ganze Generationen und Völker arbeiten an der Be- festigung oder Korrektur solcher Induktionen. Eine je größere zeitliche und räumliche Ausdehnung die Erfahrung gewinnt, desto schärfer und umfassender wird die Kontrolle der In- duktionen. Man denke an die großen welthistorischen Ereignisse, die Kreuzzüge, die Entdeckungsreisen, den gesteigerten inter- nationalen Verkehr, die Entwicklung der Technik und die den- selben folgenden Wandlungen der Ansichten und Meinungen. Am längsten widerstehen der Korrektur jene falschen Induktionen, welche in das schwer oder gar nicht kontrollierbare subjektive Gebiet hineinragen. Erinnern wir uns der Unglück kündenden Kometen, der Astrologie, des Hexenglaubens, des Spiritismus und anderer Formen des offiziellen und privaten Glaubens und Aberglaubens. Neben dieser direkten Prüfung der Induktionen durch die Erfahrung geht noch eine andere, indirekte, nicht minder wichtige, einher. Die Induktionen treffen mit andern Induktionen zusammen, erweisen sich unmittelbar oder mittelbar durch die aus ihnen gezogenen Folgerungen als verträglich oder unverträglich. Wie nimmt sich etwa die Willensfreiheit im Sinne der Indeterministen gegenüber den Ergebnissen der Statistik aus? Was für eine Induktion von ganz anderem Wert liegt in den Sterblichkeitstabellen der Versicherungs- Gesellschaften, als in dem Satz: alle Menschen sind sterblich. 7. Der Obersatz eines Syllogismus kann auf verschiedene Weise gewonnen sein, ebenso die Einzelurteile, auf welche sich 310 Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung. die Induktion aufbaut. Diese Einzelurteile können selbst wieder das Ergebnis von Induktionen, von unmittelbaren Funden, oder auch von Deduktionen vorstellen. Die Sätze, von welchen die ältesten griechischen Geometer ausgegangen sein mögen, dürften wohl das Ergebnis unmittelbarer Induktionen gewesen sein. So scheint es, daß der Satz: die Gerade ist die Kürzeste zwischen zwei Punkten, sich unmittelbar aus Beobachtungen an ge- spannten Schnüren ergeben hat. Wir treffen den Satz noch bei Archimedes als Grundsatz an. Man kann aber auch von Sätzen ausgehen, deren direkte genaue Prüfung durch die Er- fahrung schwierig ist, deren Folgerungen aber mit der Er- fahrung überall übereinstimmen. Von solchen Sätzen, die man eigentlich als Hypothesen bezeichnen muß, geht die Newtonsche Mechanik aus. 8. Bei der Ableitung mathematischer, z. B. geometrischer Sätze spielt die vollständige Induktion oft eine vermittelnde Rolle. In der Euklidischen Ableitung des Satzes, der das Ver- hältnis von Zentri- und Peripheriewinkel betrifft, werden drei Fälle unterschieden, in welchen der Gang der Ableitung ungleich ist. Erst nachdem für jeden der drei Fälle die Gültigkeit des Satzes nachgewiesen ist, wird er allgemein ausgesprochen. Außerdem liegt hier noch eine verschwiegene, oder nicht ausdrücklich hervorgehobene Induktion zu Grunde. Betrachtet man nämlich einen dieser Fälle besonders, so sieht man, daß der Scheitel des Peripheriewinkels in einem gewissen Spielraum verschoben werden kann, ohne daß sich die angewandte Schlußweise ändert. Endlich kann man sich die Größe des Zentriwinkels beliebig variierend und alle Werte durchlaufend denken, ohne die Betrachtungsweise ändern zu müssen. Man bedient sich kurz gesagt einer voll- ständigen Induktion als Beweismittel. Ähnlich verhält es sich bei andern Ableitungen. Stets muß man sich eine vollständige, durch Erfahrung und Übung beschleunigte Übersicht aller mög- lichen Fälle verschaffen. Ein Versäumnis in dieser Richtung, indem man eine Ableitung an einem Spezialfall für eine allgemeine gelten ließ, hat schon zu recht schweren mathematischen Irrtümern geführt. Wo Mathematik auf Physik, Chemie oder eine andere Naturwissenschaft angewandt wird, ist diese stillschweigende Induktion von selbst eingeschlossen. In der Mathematik ist Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung. 311 eben die vollständige Übersicht aller möglichen Fälle wegen der Gleichförmigkeit und Kontinuität ihrer Objekte verhältnismäßig leicht erreichbar; auch handelt es sich hier um unsere eigene, vielfach geübte, uns vertraute Ordnungstätigkeit. 9. Auch die unvollständige Induktion ist in der Mathematik als heuristisches Mittel vielfach benutzt worden. Wallis') leitet durch dieselbe das allgemeine Glied und die Summe der Reihen ab, die nach einem gewissen Gesetz gebildet sind. Diese Untersuchungen können als die Arithmetisierung der Gedanken Cavalieris^) über die Quadratur und Cubatur, somit als die Anfänge der Integralrechnung angesehen werden. Jacob Ber- noulli^) hat nun die schöne Methode gefunden, wie solche unvollständige Induktionen in vollständige verwandelt werden können. Er erläutert dieselbe zunächst an einem sehr einfachen Beispiel. Es sei die Summe der natürlichen ganzen Zahlen, die Nulle mitgerechnet, zu bilden, und dieselbe werde durch ein- fache Induktion gleich n{n']-\)\2 gefunden, wobei n die höchste Zahl, also n-\- \ die Zahl der Glieder ist. Um nun zu zeigen, daß dieser Ausdruck allgemein für jede Gliederzahl gilt, ver- mehrt man die Gliederzahl um eins. Dann ist die Summe n{n + l)/2 + (;z + 1) = (/z + l)(;z + 2)/2. Es gilt also dieselbe Summenformel noch, wenn man n um eine Einheit vermehrt. Sie gilt also allgemein, da dieser Schluß beliebig fortgesetzt werden kann. 10. Dieses Beispiel ist so einfach, anschaulich und durch- sichtig, daß es eigentlich keines besonderen Beweises bedarf.*) Dann erwähnt Bernoulli noch die Anwendbarkeit dieses Ver- fahrens zur Auffindung derSumme der Quadratzahlen, der Dreiecks- zahlen u. s. w. Für erstere findet man z. B. ^ (^^) = ^- + ^ + ^ 1 O 2 D durch einfache Induktion, welche sich durch das Bernoullische Verfahren auch als für n-\-\ und daher für ein beliebiges n ') Wallis, Arithmetica infinitorum. Oxford 1655. ^) Cavalieri, Geometria indivisibilibus continuorum nova quadam ratione promota. Bologna 1635. ^) Ja c. Bernoulli, Acta Eruditorum. 1686. S. 360— 361. ♦) Dieselbe Überlegung führt Galilei bei Erörterung der Fallbewegung in geometrischer Form aus. / 312 Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung. gültig erweist.^) Das allgemeinere Schema dieser Prozedur ist folgendes. Stellt f{ri) das allgemeine Glied der Reihe, F{n) aber die durch Induktion gefundene Summenformel vor, so ist letztere für jedes n giltig, wenn F{ri) -\-/{n + 1) = F{n + 1). 11. Die Methode Jacob Bernoullis hat auch für die Naturforschung Bedeutung. Dieselbe lehrt uns, daß man eine durch unvollständige Induktion an den Gliedern Q, Cg, Cg . . . des Begriffes ß gefundene Eigenschaft A nur dann dem Begriff B selbst zuschreiben darf, wenn man dieselbe als an die Merkmale des Begriffes B gebunden und voa den Variationen seiner Glieder unabhängig erkannt hat. Wie in vielen andern Fällen, so ist auch hier die Mathematik für die Naturwissenschaft vorbildlich. 12. Syllogismus und Induktion schaffen also keine neue Er- kenntnis, sondern sichern nur die Herstellung der Widerspruchs- losigkeit zwischen unseren Erkenntnissen, legen deren Zusammen- hang klar, lenken unsere Aufmerksamkeit auf verschiedene Seiten einer Einsicht und lehren uns dieselbe Einsicht in verschiedenen Formen wiedererkennen. Es ist also klar, daß die eigentliche Erkenntnisquelle des Forschers anderswo liegen muß. Dem- gegenüber ist es recht befremdlich, daß von den meisten Natur- forschern, welche sich mit den Methoden der Forschung be- schäftigt haben, doch die Induktion als das Hauptmittel der Forschung bezeichnet wird, als hätten die Naturwissenschaften kein anderes Geschäft, wie offen daliegende individuelle Tat- sachen unmittelbar in Klassen zu ordnen. Die Wichtigkeit dieses Geschäftes soll ja nicht bestritten werden, doch ist die Auf- gabe des Forschers hiermit nicht erschöpft; er hat vor allem die in Betracht kommenden Merkmale und deren Zusammenhänge aufzufinden^ was viel schwieriger ist, als das bereits Bekannte zu klassifizieren. Es ist deshalb auch die Bezeichnung der gesamten Naturwissenschaften als „induktive Wissenschaften" nicht gerechtfertigt. 1) Dieses Beispiel ist von Kunze in Weimar ausgeführt bei Apelt, Theorie der Induktion. S. 34—35. Man sieht leicht, wie diese Untersuchungen auf die Integralrechnung führen. Nimmt man n sehr groß, so verschwinden die niederen Potenzen gegenüber den höheren und der Ausdruck ist nur der Form nach verschieden von Jx'^dx=f^' In den Formeln des Textes wird dx durch 1 vertreten. Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung. 313 13. Diese Bezeichnung ist nur verständlich aus einer längst veralteten, noch aufrecht erhaltenen Tradition und Konvention. Wenn wir die Baconschen Tafeln der für oder gegen eine An- nahme sprechenden „Instanzen", oder die Mi 1 Ischen Schemata der Übereinstimmung und Differenz betrachten, so sehen wir, daß die Vergleichung uns auf einen bisher unbeachteten Zu- sammenhang aufmerksam machen kann, auch wenn derselbe nicht auffallend genug ist, um sofort den Blick auf sich zu ziehen. Ist die Aufmerksamkeit auf die voneinander abhängigen Merk- male konzentriert y von den minder wichtigen abgelenkt, so nennen wir dies Abstraktion.^) Hiermit ist die Situation erreicht, die zu einer Entdeckung führen kann, allerdings bei fehler- hafter Leitung der Aufmerksamkeit auch zu einem Irrtum. Dieser Vorgang hat nun mit Induktion nichts zu schaffen. Bedenken wir aber, daß die Beobachtung oder Aufzählung vieler trotz Variation in gewissen Merkmalen übereinstimmender Fälle leichter zu abstrakter Auffassung der stabilen Merkmale leitet, als die Betrachtung eines Falles, so wird man in der Tat an die Ähn- lichkeit dieses Vorganges mit der Induktion erinnert. Vielleicht hat sich deshalb der Name so lange gehalten. 14. Die Ansichten aber, welche verschiedene Vertreter der naturwissenschaftlichen Methodologie darüber hegen, was eigent- lich Induktion zu nennen sei, sind sehr verschieden, sowohl im allgemeinen, als auch im besonderen, wenn es sich um spezielle Anwendungen handelt. Mi 11^) will den Schluß vom Einzelnen auf anderes Einzelne, welches mit ersterem in gewissen Merk- malen übereinstimmt, als Induktion bezeichnen. WhewelP) hingegen will als Induktionsschlüsse nur jene anerkennen, durch welche allgemeine neue Sätze gewonnen werden, in welchen mehr liegt als im Einzelfall. Analogieschlüsse vom Einzelnen auf Einzelnes, wie sie auch von Tieren gemacht werden, oder jede Praxis leiten, will er im Gegensatze zu Mi 11 nicht als Induktionsschlüsse gelten lassen. Es scheint nun eine scharfe ') Die Wichtigkeit der Vergleichung hat schon Wh e well, jene der Ab- straktion besonders Apelt betont, doch scheint mir die Bedeutung beider Momente gegenüber der Induktion nicht genügend bewertet zu sein. ») Mill, Logik. S. I, S. 331—367. ») Wh e well, Philosophy of Discovery. S. 238—291. 314 Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung. psychologische Grenze hier schwer zu ziehen. Keplers Ent- deckung der Bewegung des Mars in einer Ellipse erscheint Mi 11 als eine bloße Beschreibung^ als eine Leistung ganz analog derjenigen eines Schiffers, der eine Insel umschifft und ihre Gestalt fixiert, während sie Whewell ganz so wie die Newton sehe Entdeckung für eine Induktion hält, und bemerkt, daß verschiedene Theorien in der Tat als verschiedene Be- schreibungen^) derselben Sache aufgefaßt werden können; das Wesentliche der Induktion liege in der Einführung eines neuen Begriffes, wie Keplers Ellipse, Descartes Wirbel, Newtons verkehrt quadratische Attraktion. Nach Apelt^) liegt Keplers Entdeckung eine echte Induktion zu Grunde, da er gefunden hat, daß sämtliche Orte des Mars Punkte einer Ellipse seien. Galileis Fallgesetz hält aber Apelt für das Ergebnis einer Deduktion. Ich kann nun zwischen Keplers und Galileis Fund nur den Unterschied erkennen, daß ersterer den hilfreichen Begriff nach der Beobachtung, letzterer vor der Beobachtung errät. Whewell meint, in der Induktion liege etwas Myste- riöses,^) das sich schwer durch Worte ausdrücken lasse. Wir werden auf diesen Punkt zurückkommen. Aus dieser Ver- schiedenheit der Auffassung geht wenigstens ein Mangel in der Präzision der Bezeichnung hervor. Da nun der Name Induktion in der formalen Logik eine feste Bedeutung gewonnen hat, da ferner in der naturwissenschaftlichen Methodologie sehr mannig- faltige und verschiedene Tätigkeiten unter diesem Namen be- griffen werden, wie dies schon angedeutet wurde, so wollen wir in dem folgenden diesen Namen nicht mehr gebrauchen. 15. Versuchen wir nun, ohne uns durch irgend eine Nomen- klatur beirren zu lassen, den Vorgang der Forschung zu ana- lysieren. Die Logik liefert keine neuen Erkenntnisse. Woher kommen diese also? Sie stammen immer aus der Beobachtung, die eine „äußere" sinnliche oder eine „innere", die Vorstellungen betreffende sein kann. Die Aufmerksamkeitsstimmung hebt bald <) Man sieht also, daß man sich schon damals dem Kirchhoffschen Gedanken näherte. 2) Apelt, Theorie der Induktion. S. 62 u. f., S. 143 u. f. ») Whewell, Philosophy of Discovery. S. 284. Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung. 31 5 diesen, bald jenen Zusammenhang von Elementen hervor, welcher Befund begrifflich fixiert, wenn er sich andern Befunden gegen- über bewährt und als haltbar erweist, eine Erkenntnis, im gegen- teiligen Fall einen Irrtum vorstellt/) Die Grundlage aller Erkennt- nis ist also die Intuition^^) welche sich sowohl auf sinnlich Empfundenes, wie auf bloß anschaulich Vorgestelltes, als auch auf potentiell Anschauliches, Begriffliches, beziehen kann. Die logische Erkenntnis ist nur ein besonderer Fall des eben ge- nannten, der sich lediglich mit dem Befund von Übereinstimmung und Widerspruch beschäftigt, und der ohne aus der Wahrneh- mung oder Vorstellung von vorher geschöpften Befunden gar nicht eintreten kann. Ob wir nun durch reinen physischen oder psy- chischen Zufall oder durch planmäßige Erweiterung der Erfah- rung infolge von Gedankenexperimenten zu einem neuen tat- sächlichen Befund des sinnlichen oder des Vorstellungslebens geführt werden, so ist es doch immer dieser Befund, aus dem alle Erkenntnis hervorwächst. Ist unser Interesse für einen neuen Befund erregt, wegen dessen unmittelbarer oder mittelbarer bio- logischen Wichtigkeit, wegen dessen Übereinstimmung oder Gegensatz mit andern Befunden, so konzentrieren wir schon durch den psychischen Mechanismus der Association die Auf- merksamkeit auf zwei oder mehrere in dem Befund verbundene Elemente. Es tritt schon unwillkürlich Abstraktion^ Nichtbeach- tung der unwichtig erscheinenden Elemente ein, wodurch der Individualfall den Charakter eines allgemeinern, viele gleichartige Individualfälle repräsentierenden Falles erhält. Der Eintritt dieser psychologischen Situation wird natürlich begünstigt durch die Häufung mehrerer gleichartiger Befunde, sie kann jedoch bei lebhaftem Interesse schon durch einen solchen Befund herbei- geführt werden. Der erfahrene Forscher kann aber auch ab- sichtlich und mit dem vollen Bewußtsein eines Wagnisses^ von Nebenumständen absehend, in Voraussicht eines möglichen Er- folges, die Abstraktion versuchsweise vornehmen. Der allge- meinere Gedanke ist dann in Bezug auf seine Haltbarkeit durch ») Ein einzelner individueller Befund, der ja immer eine Tatsache ist, kann als solcher nicht als Irrtum oder Erkenntnis bezeichnet werden. *) Die Bedeutung der Anschauung hat, wie mir scheint, nächst Kant Schopenhauer am besten gewürdigt. 316 Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung. Beobachtung und Experiment zu prüfen. Indem aber die Vor- stellung des Individualbefunds versuchsweise zu einem allge- meineren Gedanken geformt und erweitert wird, hat die Willkür bei dieser vorläufigen Ergänzung einen gewissen Spielraum. Für einen Teil dieser Erweiterung können wohl ein oder mehrere beobachtete Fälle Anhaltspunkte bieten. So kann Kepler sehen, daß der Mars in einer geschlossenen ovalen Bahn sich bewegt, Galilei, daß der Fallraum und die Fallgeschwindigkeit zunimmt, Newton, daß ein heißer Körper desto rascher abkühlt, je kälter die Umgebung ist; ein anderer Teil muß aber aus dem eigenen Gedankenvorrat selbsttätig hinzugefügt werden. So ist die ver- suchsweise für die Marsbahn angenommene Ellipse Keplers eigene Konstruktion. Dasselbe gilt für Galileis Voraussetzung der Proportionalität von Fallgeschwindigkeit und Fallzeit, und von Newtons Proportionalität der Abkühlungsgeschwindigkeit und Temperaturdifferenz. Erfahrungen über die eigene begriff- liche, namentlich Ordnungs-, Rechnungs- und Konstruktions- tätigkeit der Forscher müssen zur begrifflichen Formung des allgemeinen Gedankens verhelfen; die Beobachtung allein vermag dies nicht. Hier findet schon alles Anwendung, was über die Hypothese, die Analogie und das Gedankenexperiment gesagt wurde. Ob ein so geformter Gedanke mit hinreichender Ge- nauigkeit die beobachteten Tatsachen darstellt, kann nun einer umfassenden Prüfung unterzogen werden. 16. Schon die bloße genaue Ermittlung des Tatsächlichen und dessen entsprechende Darstellung in Gedanken erfordert mehr Selbsttätigkeit als man gewöhnlich annimmt. Um angeben zu können, daß ein Element von einem oder mehreren andern abhängt, und wie diese Elemente voneinander abhängen, welche funktionale Abhängigkeit hier besteht, muß der Forscher aus Eigenem, außer der unmittelbaren Beobachtung Gelegenem hinzu- fügen. Man darf nicht glauben, dies durch die Bezeichnung als Beschreibung herabsetzen zu können. 17. Es hängt nun ganz von dem Standpunkt des Forschers ab, von seinem Gesichtskreis, von dem Niveau der Wissenschaft seiner Zeit, wie weit ihn die Feststellung einer Tatsache be- friedigt. Descartes konnten die Wirbel als Darstellungsmittel der Planetenbewegung befriedigen. Für Kepler, der noch von Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung. 317 animistischen Vorstellungen ausgegangen war/) stellten ja seine schließlich gefundenen Gesetze eine große Vereinfachung vor. Newton aber kannte schon in der Galileischen und Hupgens- schen Mechanik, die für jeden Zeit- und Raumpunkt die Be- stimmung der Bewegungsumstände eines Körpers lehrte, viel Einfacheres. Ihm mußte eine Bewegung, die in jedem Zeit- und Raumpunkt ihre Richtung und Geschwindigkeit änderte, als etwas sehr Kompliziertes erscheinen. Er vermutete in seinem Trieb der Ergänzung über das unmittelbar Beobachtete hinaus, hier einfachere, vielleicht schon bekannte, sich überdeckende Tat- sachen. Die praktische Mechanik lehrt einen Körper an einem gespannten Faden im Kreise zu schwingen; die theoretische lehrt diesen Vorgang auf die einfachsten Tatsachen zurückzuführen. Diese Erfahrung bringt Newton hinzu. Der Platonischen An- weisung folgend denkt er sich, den umgekehrten Weg ein- schlagend, die Aufgabe als gelöst, die Planetenbewegung als eine solche Schwungbewegung. Der analytische Weg lehrt ihn die Art der Fadenspannung kennen, welche der Aufgabe genügt. In dem letzteren Schritt liegt die Entdeckung der einfacheren /z^M^/z Tatsache, deren Kenntnis alle Kepl ersehen Beschreibungen zu ersetzen vermag. Die Konstatierung dieser Tatsache ist aber auch nur eine Beschreibung, allerdings eines viel elementareren und allgemeinern Tatsächlichen. 18. Ebenso geht es in andern Gebieten. Die gradlinige Fortpflanzung, Reflexion, Brechung des Lichtes werden in ähn- licher Weise konstatiert, wie die Keplerschen Gesetze. Huy- gens, gestützt auf seine Erfahrungen über Wasser- und Schall- wellen, führt versuchsweise diese komplizierten und isolierten Tatsachen auf die wenigen Tatsachen der Wellenbewegung zurück, womit ein dem Newtonschen analoger Schritt ausgeführt ist. Die Fortführung der Newtonschen Untersuchungen über Wasser- und Schallwellen im 18. Jahrhundert ermöglicht endlich auch die Bewältigung der Periodizität und Polarisation des Lichtes durch Young und Fresnel nach dem Huygensschen Vorbild. Hier wie überall werden die durch Synthest in dem einen Gebiet gewonnenen Erfahrungen zur Analyse des andern >) Kepler dachte sich ja die Erde gern belebt, stellte sich dieselbe als ein Tier vor. 318 Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung. Gebietes benützt. Die Methoden Piatons erweisen sich hierbei stets als hilfreich, obgleich dieselben hier weder so sicher führen, noch in der Anwendung so einfach sind, wie in dem bekannteren Gebiet der Geometrie. Durch das allmähliche Heranziehen weiterer und weiterer Erfahrungsgebiete zur Erläuterung des Einen eben untersuchten, treten schließlich alle Gebiete in Zusammen- hang und in das Verhältnis gegenseitiger Erläuterung, wie dies an der heutigen Physik und Chemie schon sich deutlich zeigt. 19. Hat man durch das versuchsweise analytische Verfahren einen grundlegenden Gedanken gefunden, welcher die Aussicht auf eine einfachere, leichtere und vollständigere Auffassung einer Tatsache oder einer Mannigfaltigkeit von Tatsachen bietet, so dient die Deduktion dieser Tatsachen mit allen Einzelheiten aus jenem Grundgedanken als Probe des Wertes desselben. Könnte man nachweisen, was allerdings nur in den seltensten Fällen möglich ist, daß jener Gedanke die einzige mögliche Annahme ist, aus der sich die Tatsachen deduzieren lassen, so wäre der volle Beweis für die Richtigkeit der Analyse erbracht. Whewell hat auf diese notwendige Verbindung und gegenseitige Unter- stützung von Deduktion und .^Jnduktion^^ (nach seiner Termino- logie) hingewiesen. Ein allgemeiner Satz, welcher den Aus- gangspunkt der Deduktion bildet, ist umgekehrt das Ergebnis des induktiven Verfahrens. Während aber die Deduktion schritt- weise methodisch vorgeht, findet die Induktion in Sprüngen statt, die außer dem Bereich der Methode liegen. Das Ergebnis der letzteren muß deshalb nachträglich durch die Deduktion gerecht- fertigt werden.^) 20. Es geht aus allem Besprochenen hervor, daß die psychische Operation, durch welche neue Einsichten gewonnen werden, welche meist mit dem unpassenden Namen „Induktion" bezeichnet wird, kein einfacher, sondern ein recht komplizierter Prozeß ist. ') Whewell, The Philosoph j? of the inductive sciences. II, S. 92. „The doctrine which Is the hypothesis of the deductive reasoning, is the inference of the inductive process .... But still there is a great difference in the character of their movements. Deduction descends steadilp and methodicallp, Step by Step: Induction mounts bj» a leap which is out of the reach of method. She bounds to the top of the stair at once; and then it is the business of Deduction, bp trying each step in order, to establish the soHdity of her com- panions footing. Deduktion und Induktion in psychologischer Beleuchtung. 319 Vor allem ist dieser Prozeß kein logischer, obgleich logische Prozesse als Zwischenglieder und Hilfsglieder eingeschaltet sein können. Der Abstraktion und der Phantasietätigkeit fällt die Hauptarbeit bei Auffindung neuer Erkenntnisse zu. Durch den Umstand, den Whewell selbst hervorhebt, daß die Methode hier wenig leisten kann, wird auch das Mysteriöse verständlich, welches nach Whewells Bemerkung sogenannten „induktiven" Funden anhaftet. Der Forscher sucht nach einem aufklärenden Gedanken. Er kennt aber zunächst weder diesen, noch den Weg, auf dem derselbe sicher zu finden ist. Hat sich ihm aber das Ziel oder der Weg zu demselben offenbart, dann ist er zu- nächst selbst durch seinen Fund so überrascht, wie jemand, der, im Walde verirrt, plötzlich aus dem Dickicht hervortretend eine freie Aussicht gewinnt, und alles klar vor sich liegen sieht. Erst wenn die Hauptsache gefunden ist, kann ordnend und feilend die Methode eingreifen. 21. Führt man, von dem Interesse an dem Zusammenhang der Tatsachen geleitet, den Blickpunkt der Aufmerksamkeit viel- fach über diese Tatsachen hin, ob diese nun sinnlich vorliegen, oder in der Vorstellung einfach fixiert, oder durch das Gedanken- experiment variiert und kombiniert sind, so erschaut man vielleicht in einem glücklichen Augenblick den fördernden, vereinfachenden Gedanken. Das ist alles, was man allgemein sagen kann. Am meisten lernt man hier noch durch sorgfältige Analyse von Bei- spielen erfolgreichen Nachdenkens^ indem man mit Problemen von bekanntem Mittel und Ziel beginnend, zu solchen sich wendet, in welchen das eine oder das andere weniger scharf umschrieben ist, und mit jenen schließt, welche durch eine bloße Unbestimmtheit, Komplikation oder Paradoxie zum Denken an- treiben. Bei dem Fehlen einer zureichenden, zu wissenschaft- lichen Funden anleitenden Methode erscheinen diese Funde, wenn sie geglückt sind, im Lichte einer künstlerischen Leistung, wie dies Johannes Müller,^) Liebig ^) u.a. sehr gut erkannt haben, 1) J. Müller, Phantastische Gesichtserscheinungen. S. 95 u. f. *) Liebig, Induktion und Deduktion. 1874. Zahl und Maß. 1. Naturwissenschaftliche Erkenntnis ergibt sich durch Auf- findung des Zusammenhanges gewisser Reaktionen oder Re-^ aktionsgruppen A und B an einem Objekt, an einem relativ stabilen Komplex von sinnlichen Elementen. Finden wir z. B., daß eine durch Blattform, Blattstellung, Blütenstand u. s. w. (Re- aktion A) systematisch bestimmte Pflanzenspezies auch gewisse Reizbewegungen, geotropische, heliotropische Erscheinungen (Reaktion B) zeigt, so liegt hierin eine naturwissenschaftliche Erkenntnis. Die Fixierung einer solchen Erkenntnis in mitteil- barer Form durch eine, mißverständliche Deutungen ausschließende Beschreibung, ist trotz der Entwicklung einer vereinfachenden klassifikatorischen Terminologie eine umständliche Sache. Die- selbe Umständlichkeit wiederholt sich bei der Beschreibung des Verhaltens einer nahestehenden Pflanzenspezies, welche wieder viele besonders zu merkende Einzelheiten enthält. Noch schwieriger wird es, wegen dieser Einzelheiten in einer zusammenfassenden Beschreibung eine umfassendere Gruppe von Erkenntnissen zu fixieren. Für eine Gruppe von Tieren, welche ausgebildete Junge gebären und dieselben durch Säugen ernähren, gelingt es noch, die höhere Blutwärme, die Lungenatmung, den doppelten Blutkreislauf u. s. w. als gemeinsame physiologische und ana- tomische Reaktionen nachzuweisen. Vergegenwärtigt man sich aber die großen anatomischen, physiologischen Differenzen, welche die Beuteltiere, oder gar die Monotremen, eierlegenden Tiere, Schnabeltier, Ameisenigel, gegen die „Säugetiere" dar- bieten, welchen sie doch in manchen Beziehungen wieder sehr nahe stehen, so erkennt man die Schwierigkeit, eine umfassendere Gruppe von zoologischen Erkenntnissen in einer zusammen- Zahl und Maß. 321 fassenden Beschreibung mitzuteilen. Das Ziel, aus den Eigen- schaften der Zellen, der Keimesanlagen, mit Rücksicht auf die bestimmenden Umstände der Umgebung, die Entwicklung und den Lebenslauf abzuleiten, kann uns bei dieser Sachlage nur als ein sehr fernliegendes Ideal vorschweben. 2. Wenden wir uns nun dem Gebiet der Phj>sik zu, so er- blicken wir ein anderes Bild, welches zu dem vorigen in auf- fallendem Gegensatze zu stehen scheint. Wenn zwei Gewichte an den beiden Enden einer über eine Rolle gezogenen Schnur hängen, so brauchen wir jedes der beiden Gewichte nur durch eine Anzahl kleinerer gleicher Gewichte zu ersetzen, um sagen zu können, daß das aus einer größeren Zahl bestehende Gewicht das andere nach sich ziehen wird. Befinden sich die Gewichte an ungleichen Armen eines Hebels, so teilen wir auch die Arme in kleinere gleiche Teile, zählen die Teile eines Gewichtes und die Teile des zugehörigen Armes und bilden das Produkt aus beiden Zahlen; ebenso verfahren wir auf der anderen Seite. Auf der Seite des größeren Produktes findet sich das Über- gewicht. Die Beschreibung der einzelnen Tatsache ergibt sich also hier leicht auf Grund der Abzahlung der gleichen Teile, in welche sich die Merkmale derselben zerlegen lassen. Dann sind aber alle Fälle eines Gebietes, z. B. alle Hebelfälle, die sich nur durch die Zahl der gleichen Teile der maßgebenden Merk- male unterscheiden, so ähnlich^ daß eine zusammenfassende Be- schreibung durch Angabe der maßgebenden Ableitungs- oder Rechnungsregel aus der Abzahlung nicht schwer fällt. Diese Zusammenfassung gelingt aus diesem Grunde sogar für ein recht umfassendes Gebiet von Tatsachen, z. B. für alle Maschinen mit Hilfe des Arbeitsbegriffes. In ähnlicher Weise kann die Fallbewegung und die Lichtbrechung in einfachster Weise durch Abzahlung tabellarisch beschrieben, und es kann durch einen glücklichen Blick die solche Tabellen ersetzende kompendiöse Ableitungsregel aufgefunden werden. Die Teilung der Raum-, Zeit- und Intensitätsgrößen kann behufs Zählung (Messung) der- selben in beliebig kleine gleiche Teile erfolgen. Dadurch sind wir in den Stand gesetzt, wo wir mit Meßbarem zu tun haben, beliebige Tatsachen aus beliebig kleinen („unendlich kleinen") Elementen aufgebaut zu denken, und deren Verlauf auf das Ver- Mach, Erkenntnis und Irrtum. 21 322 2a/t/ und Maß. halten dieser unendlich kleinen Elemente in den unendlich kleinen Zeitelementen zurückzuführen. Hierfür lassen sich allgemeine Ableitungsregeln (Rechnungsregeln) in Form von Differential- gleichungen aufstellen. Wenige solche Gleichungen genügen, um alle denkbaren mechanischen, thermischen, elektromagne- tischen u. s. w. Tatsachen im Prinzip darzustellen. Die Anwen- dung dieser Gleichungen kann allerdings in besonderen Fällen noch große Schwierigkeiten bereiten. Die analoge Stufe er- scheint in den oben erwähnten Gebieten noch unerreichbar. Gebiete, welche, wie z. B. die Chemie, vorläufig nur einer teil- weisen quantitativen Behandlung zugänglich sind, stehen ver- mittelnd zwischen den beiden extremen Fällen. 3. Zeigt sich eine qualitative Reaktion abc an eine andere klm gebunden, so kann diese Beziehung nur einfach gemerkt und sprachlich fixiert werden. Dasselbe gilt von einem andern Paar verbundener, qualitativer Reaktionen def . . . und nop . . . Sollten die beiden Tatsachen einander auch nahe stehen, so werden dieselben im allgemeinen sich schwer in einen Ausdruck zusammenfassen lassen. Je mehr qualitative Unterschiede aber sich auf bloß quantitative reduzieren, desto leichter wird dies gelingen. Man denke etwa an die Tatsachen der qualitativen chemischen Analyse einerseits und an jene der Phasenlehre der physikalischen Chemie anderseits. Macht man sich diese Ver- hältnisse klar, so sieht man, daß die quantitative Untersuchung nur ein besonderer einfacherer Fall der qualitativen ist. Die Physik hat nur deshalb eine höhere Stufe der Entwicklung erreicht, als z. B. die Physiologie, weil sie mit einfacheren und leichteren Aufgaben sich zu befassen hat, und weil diese einzelnen Auf- gaben untereinander viel homogener sind, und deren Lösungen leichter auf einen zusammenfassenden Ausdruck gebracht werden können. Die Beschreibung durch Zählung ist nämlich die denk- bar einfachste, und kann vermöge des bereitliegenden Zahlen- systems ohne neue Erfindung zu beliebig feiner und genauer Unterscheidung getrieben werden. Das Zahlensystem ist eine Nomenklatur von unerschöpflicher Feinheit und Ausdehnung, und wird trotzdem an Übersichtlichkeit durch keine andere Nomen- klatur übertroffen. Überdies kann durch Anwendung der Zähl- operationen selbst jede Zahl aus jeder anderen abgeleitet werden, Zahl und Maß. 323 wodurch gerade die Zahlen zur Darstellung von Abhängigkeiten sich vorzüglich eignen. Die Einzel-Abhängigkeiten unterscheiden sich nun voneinander wieder nur durch Zählbares, und dessen Beachtung führt auf demselben Wege zu allgemeineren zu- sammenfassenden Abhängigkeits- Regeln. Diese augenschein- lichen Vorteile, welche in der Verwendung des Quantitativen liegen, müssen das Bestreben erzeugen, die Verknüpfung des Qualitativem mit Quantitativem überall aufzusuchen, wo dies ge- lingen mag, um allmählich alle qualitativen auf quantitative Unter- suchungen zu reduzieren. So werden die Farbenqualitäten durch die Brechungsexponenten und Wellenlängen, die Tonqualitäten durch die Schwingungszahlen u. s. w. zu quantitativen Merkmalen. 4. Die quantitative Untersuchung hat noch einen besonderen Vorzug vor der qualitativen, wenn es sich um Ermittelung der sinnlich gegebenen Elemente in ihrer Abhängigkeit voneinander^ also nur um Abhängigkeiten außerhalb der Grenze U^ um Physik im weitesten Sinne handelt. Dann muß, um diese Abhängigkeiten rein zu erhalten, der Einfluß des Beobachters, der innerhalb U liegenden Elemente, möglichst ausgeschlossen werden. Das ge- schieht nun, indem alles Messen sich nur auf Vergleichung des qualitativ Gleichen, auf die Konstatierung von gleich oder un- gleich bezieht, wodurch die Qualität der Empfindung als solche, welche vom beobachtenden Subjekt mit abhängt, aus dem Spiel kommt. Die introspektive Psychologie vermag das Qualitative zunächst nicht auszuschalten. Maßbegriffe haben daher für dieses Gebiet noch kaum eine Bedeutung. Durch Anknüpfung der Psychologie an die Physiologie und mittelbar an die Physik kann sich dies Verhältnis in Zukunft ändern. 5. Versuchen wir nun den Ursprung der Zahlvorstellung und des Zahlbegriffes aus dem unmittelbaren oder mittelbaren biologischen Bedürfnis psychologisch aufzuklären. Kinder, welche noch keinen Begriff vom Zählen haben, etwa im Alter von 2 bis 3 Jahren, merken es sofort, wenn man in einem unbewachten Moment aus einer kleinen Gruppe von gleichen Münzstücken oder Spielsachen etwas wegnimmt oder etwas hinzutut. Gewiß ist auch schon das Tier durch sein biologisches Bedürfnis ge- trieben, kleine Gruppen von gleichen Früchten, z. B. in Bezug auf ihren Gehalt zu unterscheiden, und die gehaltreichere Gruppe ; 21* 324 Z(ihl und Maß. der anderen vorzuziehen. In dem Bedürfnis der feineren Aus- bildung dieser Fähigkeit der Unterscheidung liegt der Ursprung des Zahlbegriffes. Je mehr Glieder man in eine Gruppe zu- sammenfassen kann, ohne doch die Übersicht und die Unter- scheidung der Glieder voneinander zu verlieren, desto höher werden wir die genannte Fähigkeit schätzen. Unsern Kindern gelingt es zunächst, 2, 3, 4 Glieder in eine Gruppe zusammen- zufassen, ohne die Unterscheidung dieser Glieder zu verlieren. Hierbei kann die räumliche oder zeitliche Nähe der Glieder die Gruppenbildung begünstigen, die Verschiedenheit der Glieder aber, nach örtlicher oder zeitlicher Stellung, die Unterscheidung bedingen. So entstehen die ersten Zahl Vorstellungen, je nach dem Einfluß der Umgebung mit oder ohne Namen. Diese Vor- stellungen entwickeln sich durch den Gesichts-, Tast- oder auch durch den Gehörssinn, in letzterem Falle durch Beachtung des Rhythmus.*) Beschäftigung mit der Zahlvorstellung bei Wechsel der Objekte führt unter Beihilfe des Zahlennamens zur Auf- fassung der gleichen, von der Art des Objektes unabhängigen Reaktionstätigkeit, zum Zahlbegriff. ^) Um klarere Zahlvorstellungen von gehaltreicheren Gruppen zu gewinnen, werden dieselben in übersichtlich angeordnete, schon geläufige Teile geteilt. Diese Bildungsgeschichte finden wir in den Zahlzeichen der Assprer, Ägypter, Mexikaner, Römer und anderer Völker verkörpert.^) Auch unsere Spielkarten und Dominosteine zeugen für diese Geschichte. Mit Recht führen wir in den Elementarschulen unsere Kinder auf denselben Wegen, welche alle primitiven Völker von selbst einschlagen, indem wir die Objektgruppen selbst in übersichtlicher Weise geordnet und geteilt abbilden.^) ») Sowohl Sehende und Hörende, als auch Blinde und Taubstumme lernen zählen. Der Taubstumme Massteu sagt selbst: „Ich kannte die Zahlen, be- vor ich unterrichtet wurde, meine Finger lehrten mich dieselben." (Tylor, Einleit. i. d. Studium d. Anthropologie. S. 372. Vgl. auch Tj>Ior, Anfänge d. Kultur. I, S. 241 u. f.) *) Zahlbegriffe werden erst durch Ausführung der Zähloperation in ver- schiedenen Fällen erworben. Vgl. S. 131, Fußnote 1. 8) Man betrachte die Tafel I bei M. Cantor, Mathem. Beiträge zum Kulturleben der Völker. 1863. *) G. Schneider, Die Zahl im grundlegenden Rechenunterricht. Ber- lin 1900. Zahl und Maß. 325 Weit reicht jedoch dieses Mittel, die Übersicht über den Giieder- gehalt einer Gruppe zu bewahren, nicht. 6. Außer diesem Mittel der übersichtlichen Anordnung der Glieder einer Gruppe liegt noch ein anderes Mittel nahe. Man ordnet jedes Glied der Gruppe, welche man zu übersehen wünscht, je einem Glied einer uns sehr geläufigen Gruppe von Objekten zu. Primitive Völker wählen als zweite Gruppe die Finger der Hände und zuweilen auch die Zehen der Füße.^) Wir selbst haben als Kinder uns dieses primitiven Mittels be- dient, um unsere Zahlvorstellungen durch die Anschauung dieser uns sehr geläufigen Objekte zu stärken. Wenn nun die Finger während der Zuordnung benannt und, wenn auch ohne besondere Absicht, aus bloßer Gewohnheit immer in derselben Ordnung verwendet werden, so entstehen aus jenen Fingernamen durch häufigen Gebrauch, sowie durch Vergessen ihrer ursprünglichen Bedeutung, die Zahlwörter.^) Der letzte Name bestimmt wegen der festen Ordnung den ganzen Gliedergehalt, die Anzahl der Glieder der zugeordneten, gezählten Gruppe.^) Dies ist der von der Kulturgeschichte nachgewiesene Ursprung der Zahl- wörter. Das Bedürfnis und der Anlaß zu dieser Entwicklung ergab sich oft genug, wenn es galt, die Zahl der Feinde oder der Freunde festzustellen, die Kriegs- oder die Jagdbeute zu teilen u. s. w. 7. Das Mittel der Zuordnung kann durch einen kleinen nahe- liegenden Kunstgriff zu einem unbegrenzt anwendbaren gemacht >) Näheres bei Tylor, E. i. d. St. d. Anthropologie. S. 372 u. f. Die Tamanacas am Orinoko sagen „ganze Hand" für fünf, „beide Hände" für zehn, „ganzer Mensch" für zwanzig. Die Spuren dieser primitiven Zählweise haben sich noch bei hoch zivilisierten Völkern erhalten, z. B. „quatre vingt" für 80. 2) Tylor, Anfänge der Kultur. I, S. 248 u. f. — Tylor, Anthropologie. S. 373. ^) A. Lanner, Die wissenschaftlichen Grundlagen des ersten Rechen- unterrichts. Wien und Leipzig, 1905. Die Schrift enthält sehr gute psycho- logische Bemerkungen über das Zählenlernen der Kinder, die ersten Zahl- begriffe u. s. w. Der Begriff Einheit kann erst als Spezialisierung der Ab- straktion aus dem allgemeinen Zahlbegriff hervorgehen. Die Aufgabe 1x2 oder gar 1x1 kann erst aus dem Verständnis der Aufgaben 2x2 oder 3x2 begriffen werden, ebenso a^ nach a^^ a«u. s. w. Eine ähnliche Bemerkung bei Ribot, L'evolution des idees generales. Paris 1897. S. 160. 326 -^ö^' "t^d Maß. werden, indem man Gruppen von je 10 Gliedern wieder als Glieder einer höheren Gruppe zählt, mit letzteren höheren Gruppen auf dieselbe Weise verfährt u. s. f. Und, sowie man jede Gruppe als Glied einer höheren Gruppe auffassen kann, läßt sich jedes Glied als eine Gruppe von 10 kleineren gleichen Gliedern an- sehen, was bei der Zählung (Messung) des unbegrenzt Teilbaren, z. B. der Länge, besonders nahe liegt, aber auch sonst überall fingiert werden kann. So wird also das Zahlensystem sowohl zur Zählung des beliebig Großen, wie des beliebig Kleinen an- wendbar.^) 8. Sowohl die Gruppe A als auch die Gruppe B sollen aus lauter gleichen Gliedern bestehen. Ordnen wir jedem Gliede der Gruppe Ä je ein Glied der Gruppe B zu, und werden hierdurch beide Gruppen eben erschöpft, so sagen wir, beide Gruppen haben gleichen Gehalt, oder kürzer, beide Gruppen sind gleich. Wird hierbei B erschöpft, während Ä noch nicht erschöpft ist, so ist der Gehalt von A größer als jener von B. Zahlen nennen wir jene Begriffe, durch welche wir Gruppen von gleichen Gliedern in Bezug auf ihren Gehalt bestimmen und voneinander unterscheiden. Wo Zahlbegriffe an die Stelle von Zahlvorstellungen treten, kommt es nicht mehr auf die un- mittelbare Anschaulichkeit an, sondern nur auf die potentielle Anschaulichkeit. Der Zahlbegriff setzt uns in den Stand, uns den Gehalt einer Gruppe, überall wo es wichtig ist, und wir den Aufwand nicht scheuen, wenigstens mittelbar zu veranschaulichen. Auf den gelehrten Streit, ob die Kardinal- oder die Ordnungs- zahlen psychologisch oder logisch als die primären zu be- trachten seien, wollen wir hier nicht eingehen. Es ist auch gar nicht möglich, von diesen Systemen, die man nachträglich auf- stellen kann, eines als ausschließlich maßgebend für die kulturelle Entwicklung zu betrachten. Zahlennamen für kleinere Zahlen können zweifellos entstehen, ohne ein Ordnungsprinzip. Wo aber die Zahl über das direkt Anschauliche hinausgeht, ist ein Ordnungsprinzip zur Bildung des Begriffes Zahl oder Anzahl unerläßlich, wenn dasselbe auch nicht ausdrücklich ausgesprochen *) Unser dekadisches System, welchem analog ja beliebige andere aus- gedacht werden können, verdankt seinen natürlichen Ursprung den zehn Fingern der Hände. Zahl und Maß. 321 ist. Wenn wir gleiche, oder für uns als gleich geltende Objekte zählen y so heften wir mit dem Zahlennamen den sonst kaum unterscheidbaren Objekten Unterschiedszeichen an, über welche wir aber sehr bald wieder die Übersicht verlieren würden, wenn dieselben nicht zugleich einem einfachen, sehr geläufigen System angehörige Ordnungszeichen wären. Erst das Ordnungsprinzip, vermöge dessen jede Zahl die Vorstellung aller vorausgehenden Zahlen potentiell in sich enthält und zugleich ihre Stellung zwischen zwei bestimmten Gliedern des Systems deutlich zu erkennen gibt, bedingt die große Überlegenheit der Zahl gegen- über den einfachen Namen. Jedes alphabetische Register, die Seitenzahlen eines Buches, jedes nach Nummern geordnete Inventar u. s. w. machen uns den "Wert der Ordnung für die rasche Orientierung deutlich fühlbar. 9. Man bezeichnet die Zahlen oft als „freie Schöpfungen des menschlichen Geistes". Die Bewunderung des menschlichen Geistes, welche sich hierin ausspricht, ist sehr natürlich gegen- über dem fertigen, imposanten Bau der Arithmetik. Das Ver- ständnis dieser Schöpfungen wird aber weit mehr gefördert, wenn man den instinktiven Anfängen derselben nachgeht und die Umstände betrachtet, welche das Bedürfnis nach diesen Schöpfungen erzeugten. Vielleicht kommt man dann zur Ein- sicht, daß die ersten hierher gehörigen Bildungen unbewußte und biologisch durch materielle Umstände erzwungene waren, deren Wert erst erkannt werden konnte, als sie schon vorhanden waren, und sich vielfach als nützlich bewährt hatten. Nur der an solchen einfacheren Bildungen geschulte Intellekt konnte sich allmählich zu freieren, bewußten, dem jeweiligen Bedürfnis rasch entsprechenden Erfindungen erheben. 10. Verkehr und Handel, Kauf und Verkauf fordern die Entwicklung der Arithmetik. Die primitive Kultur bedient sich zur Unterstützung ihrer Rechnungen einfacher Vorrichtungen oder Rechenmaschinen, wie z. B. des römischen Rechenbrettes (Abacus), oder der chinesischen Rechenmaschine, welch letztere durch russische Vermittlung bekannt geworden, sich in unseren Elementarschulen eingebürgert hat. Alle diese Vorrichtungen symbolisieren die zu zählenden Objekte durch bewegliche Körperchen, Knöpfe, Kugeln oder andere Marken, mit welchen 328 Zahl und Maß. Statt der schwerfälligeren Objekte hantiert wird. Die Gruppen der Zehner, Hunderter u. s. w. sind durch besondere Marken vertreten, welchen eigene Abteilungen der Rechenmaschine zu- gewiesen sind. ') Fassen wir den Begriff Maschine (Hilfs- vorrichtung) etwas freier und weiter, so erkennen wir in unsern arabischen (indischen) Ziffern und deren dekadischer Schreib- weise, wobei eine zufällig nicht vertretene Gruppenklasse durch die NulP) bezeichnet wird, ebenfalls eine Rechenmaschine, die in jedem Augenblick durch Papier und Schreibstift hergestellt werden kann. Hierbei ist unsere Aufmerksamkeit noch weiter entlastet, indem uns durch die Ziffern die Zählung der Glieder jeder Gruppenklasse erspart wird. 11. Im Verkehr treten nun verschiedene Aufgaben auf. Es ergibt sich z. B. das Bedürfnis, zwei oder mehrere Gruppen von gleichen Gliedern in eine Gruppe zusammenzufassen und die Zahl der Glieder derselben anzugeben, also die Aufgabe der Addition. Die primitive Lösung wird darin bestanden haben, daß man alle Glieder der Gruppe, die sich durch Vereinigung ergab, durchzählte, ohne Rücksicht darauf, ob die einzelnen Gruppen schon gezählt waren oder nicht. Mit kleinen Zahlen üben unsere Kinder dieses Verfahren in der Tat noch und erwerben sich so Zählerfahrungen, welche sie bei Addition größerer dekadisch geschriebener Zahlen verwerten, indem sie die Einer besonders, ebenso die Zehner u. s. w. zusammen- zählen und die sich hierbei ergebenden Einheiten der höheren Gruppenklasse in diese übertragen. Schon dieses einfache Beispiel zeigt, daß das Rechnen darin besteht, das direkte Zählen zu ersparen, indem man dasselbe unter Benützung von Zählerfahrungen in möglichst einfacher Weise durch schon vor- her ausgeführte Zähloperationen ersetzt. Das Rechnen ist ein indirektes oder mittelbares Zählen. Denken wir uns, es wären 4 oder 5 mehrzifferige Zahlen zu addieren und es werde die Aufgabe einmal durch direktes Durchzählen, ein anderes Mal *) Die mechanischen Rechenmaschinen von Pascal, Leibniz, Babbage, Thomas u. a., welche durch Kurbeldrehungen und Zahnradübertragungen arithmetische Operationen ausführen, sowie die modernen Integraphen, stellen eine natürliche Weiterentwicklung der primitiven Rechenmaschinen vor. *) Die wichtige Erfindung der Null wird den Indern zugeschrieben. Zahl und Maß. 329 aber nach der üblichen Rechnungsweise durchgeführt, so erkennt man die ungeheuere Ersparnis an Zeit und Arbeit^ welche in letzterem Verfahren liegt. Ebenso leicht bietet sich im prak- tischen Leben der Anlaß zu den Aufgaben der Subtraktion, der Multiplikation, der Division u. s. w. Und wieder ließe sich zeigen, daß es sich hier immer um ein vereinfachtes, abgekürztes Zählen unter Verwendung bereits erworbener Zählerfahrungen handelt, womit wir uns hier nicht weiter aufhalten wollen.^) 12. Die materielle Umgebung ist also durchaus nicht so unschuldig an der Entwicklung der arithmetischen Begriffe, als man zuweilen annimmt. Würde die physische Erfahrung nicht lehren, daß eine Vielheit äquivalenter, unveränderlicher, be- ständiger Dinge existiert, würde das biologische Bedürfnis nicht dazu drängen, dieselben in Gruppen zusammenzufassen, so hätte das Zählen gar keinen Zweck und Sinn. Wozu sollten wir zählen, wenn unsere Umgebung gänzlich unbeständig, wie im Traum in jedem Augenblick anders wäre? Wäre das direkte Zählen zur Bestimmung größerer Zahlen wegen des Zeit- und Arbeitsaufwandes nicht praktisch unmöglich, so hätten sich die Erfindungen des Rechnens, des mittelbaren Zählens nicht auf- gedrängt. Durch das direkte Zählen konstatieren wir nur sinn- lich tatsächlich Gegebenes. Da das Rechnen nur ein indirektes Zählen ist, so können wir durch dasselbe nichts wesentlich Neues über die sinnliche Welt erfahren, nichts, was das direkte Zählen nicht auch ergeben könnte. Wie sollte also die Mathe- matik der Natur a priori Gesetze vorschreiben, da sie sich doch darauf beschränken muß, unter Benützung der Erfahrungen über die eigene Ordnungstätigkeit des Rechnenden, die Überein- stimmung des Rechnungsergebnisses mit den Ausgangsdaten nachzuweisen? Die Geläufigkeit im Durchschauen der ver- schiedenen Formen der eigenen Ordnungstätigkeit kann darum ') Meine Darstellung dieser Fragen von 1882 (Populäre Vorlesungen, 3. Aufl., S. 224) trifft sehr nahe zusammen mit den von Helmholtz und Kronecker in der Festschrift für Zeller (1887) mitgeteilten Ansichten. Andere Punkte habe ich zu beleuchten versucht in „Wärmelehre", 2. Aufl., S. 65 u. f. Vgl. auch die schöne ausführliche Behandlung bei M. Fack, „Zählen und Rechnen" (Zeitschr. f. Philos. u. Pädagogik von Flügel u. Rein, Jahrg. 2, S. 196 u. f.). — Ferner: Czuber, Zum Zahl- und Größenbegriff (Zeitschr. f. d. Realschulwesen, Jahrg. 29, S. 257). 330 Zahl und Maß. noch immer von dem höchsten Wert sein, und dieselbe Tatsache von den verschiedensten Gesichtspunkten beleuchten. 13. Die einfachen Anfänge der Arithmetik haben sich im Dienst des praktischen Lebens entwickelt. Weitere Fortschritte ergeben sich dadurch, daß die Arithmetik zu einem besonderen Lebensberuf wird. Wer oft und oft ähnliche Rechnungen aus- zuführen, und darin sich eine besondere Übersicht und Ge- läufigkeit erworben hat, dem liegen Vereinfachungen und Ab- kürzungen des Verfahrens besonders nahe. So entsteht die Algebra, deren allgemeine Symbole keine besonderen Zahlen bezeichnen, welche vielmehr auf die Form der Operationen die Aufmerksamkeit richtet. Dieselbe erledigt alle in der Form übereinstimmenden Operationen ein für allemal^ und es bleibt nur ein Rest von Arbeit der Rechnung mit besonderen Zahlen vorbehalten. Auch die Sätze der Algebra, wie überhaupt die Sätze der Mathematik, drücken immer nur Äquivalenzen von Ordnungstätigkeiten aus. Dies gilt z. B. für die beiden Seiten der Gleichung, welche das Binomialtheorem ausdrückt. Wenn wir neben eine quadratische Gleichung die Formel für die Wurzel derselben hinschreiben, haben wir ebenso die Äqui- valenz zweier Operationen festgelegt, wie durch Zusammen- stellung einer Differentialgleichung mit dem Integrale derselben. Nebenbei bemerken wir, daß die mathematische Zeichensprache wieder eine Art Maschine zur Entlastung des Kopfes vorstellt, an welcher wir symbolisch die Operationen oft und mit Leichtig- keit ausführen, welche uns sonst ermüden würden. Zugleich ist die mathematische Schrift das schönste und vollkommenste Beispiel einer gelungenen Pasigraphie, allerdings für ein be- schränktes Gebiet. 14. Die Betrachtung von Gruppen gleichwertiger Objekte führt unmittelbar nur zu dem Begriff der ganzen Zahlen. Sind die Objekte Individuen, nicht in gleichwertige Teile zerlegbar, so finden überhaupt nur ganze Zahlen bei Zählung derselben sinngemäße Anwendung. Die Division als analytisches Gegen- bild der synthetischen Multiplikation führt aber in besonderen Fällen zur Teilung der einzelnen gezählten Objekte (Einheiten) zu gebrochenen Zahlen, welche natürlich nur für wirklich teil- bare Einheiten einen Sinn haben. Anwendungen der Arith- Zahl und Maß. 331 metik auf Geometrie, z. B. schon der Versuch die Diagonale und Seite des Quadrates in denselben Einheiten auszudrücken, auch rein arithmetische Operationen, das Radizieren als ana- lgetisches Gegenbild des synthetischen Potenzierens, leiten zur Fiktion der durch keine endliche Zähloperation vollständig be- stimmbaren Irrationalzahlen. Auch die einfachsten Operationen, die Addition und die Subtraktion, liefern Anregung zu neuen Begriffsbildungen. Die Operation 7 + 8 ist immer ausführbar, ebenso 8 — 5. Dagegen schließt die Forderung 5 — 8 eine Un- möglichkeit ein, wenn es sich um durchaus gleiche Zählobjekte handelt, die gar keinen Gegensatz darbieten. Die letztgenannte Operation wird aber sofort möglich und erhält einen verständ- lichen Sinn, sobald die fraglichen Einheiten im Gegensatz von Vermögen und Schulden, von Schritten nach vorwärts und Schritten nach rückwärts u. s. w. stehen. So gelangt man zum Begriff des Gegensatzes positiver und negativer Zahlen, zu deren Bezeichnung man das Additions- und Subtraktionszeichen beibehält, bei welchen Operationen eben das Bedürfnis nach Fixierung dieses Gegensatzes sich zuerst geoffenbart hat. Streng genommen wären zur Bezeichnung des Gegensatzes besondere Zeichen nötig. Die Zeichenregel für die Multiplikation be- zeichneter Zahlen ergibt sich durch die Bemerkung, daß das Produkt (fl — b)'{c — d) stimmen muß mit demjenigen, das man erhält, wenn man für die Faktoren die einfachen Werte m und n einsetzt. Bei Zahlen ohne Gegensatz hat eine solche Multi- plikationsregel gar keinen Sinn. Sowohl eine positive, wie eine negative Zahl liefert nach der erwähnten Zeichenregel ein positives Quadrat. Die führt aber dazu, daß die Quadratv^urzel aus einer negativen Zahl zunächst als unmöglich^ als imaginär erscheinen muß. In der Tat hat dieselbe ebenso wie die nega- tive Zahl lange als unmöglich gegolten. Und so lange man keinen andern Gegensatz als den der positiven und negativen Zahlen kennt, bleibt es auch dabei. Wallis^) ist nun zuerst durch geometrische Anwendungen der Algebra auf den Ge- danken geleitet worden V — 1 als die mittlere geometrische Pro- portionale zwischen — 1 und + 1 aufzufassen (-f 1 : /= /: — 1, ») Wallis, Algebra. 1673. Kap. 66—69. 332 ^ahl und Maß. woraus / = V — 1). Diese Auffassung tritt nun mehr oder weniger klar noch einigemal auf, bis Argand^) sie mit voller Allgemeinheit und Deutlichkeit darlegt. Indem er die Pro- portionalität nicht nur auf die Größe, sondern auch auf die Richtung bezieht, gibt er dem Ausdruck a + ^ V — 1 die Be- deutung eines Vektors in der Ebene. Wir gelangen von dem Anfangspunkt zu dem Endpunkt dieses Vektors, indem wir nach einer Richtung um das Stück a, dann nach der hierzu senk- rechten Richtung um das Stück b fortschreiten. Die Punkte der Ebene können also durch Komplexe dargestellt werden. 15. Die Praxis der Arithmetik führt also in manchen Fällen zu (analytischen) Operationen, welche auf den ersten Blick un- möglich, oder deren Ergebnisse keinen Sinn zu haben scheinen. Bei genauerer Betrachtung zeigt es sich aber, daß bei geringer Modifikation und Erweiterung der bisher geltenden arithmetischen Begriffe die Unmöglichkeit verschwindet, und daß das Ergebnis eine ganz klare Interpretation zuläßt, wenngleich auf einem erweiterten Anwendungsgebiet der Arithmetik. Waren die Mathe- matiker so gegen ihre Absicht zur Modifikation ihrer Begriffe gedrängt, und hatten sie den Wert und die Vorteile solcher Vor- gänge kennen gelernt, so lag es jetzt schon näher, dem Be- dürfnis durch freie Erfindung rascher zu entsprechen, oder sogar vorauszueilen. Glänzende Beispiele dafür sind die Erfindungen Graßmanns, Hamiltons u. a. in Bezug auf die Vektoren- rechnung, in welchen die Zahlbegriffe den Bedürfnissen der Geometrie, Kinematik, Mechanik, Physik u. s. w. unmittelbar angepaßt werden. 16. Ein moderner Versuch, außer dem unbegrenzt Wachsenden und Abnehmenden auch noch das aktuell Unendliche in schärfere Begriffe zu fassen, soll noch erwähnt werden. Galilei macht *) R. Argand, Essai sur la maniere de representer les quantit^s ima- ginaires. Paris 1806. Die Argand sehe Auffassung wird durch folgendes Beispiel klar. Es sei der Vektor r von irgend einem Anfangspunkt aus ge- zogen, der Vektor nr von demselben Anfangspunkt gegen den ersteren unter dem Winkel 9, und n^r ebenso in derselben Ebene gegen den zweiten aber- mals um denselben Winkel 9 in gleichem Sinne gedreht. Dann gilt ihm der zweite Vektor als mittlere Proportionale zwischen dem ersten und dritten. — Die Argandsche Schrift ist ein Muster der Darstellung eines neuen Ge- dankens. Zahl und Maß. 333 im ersten Tag seiner Dialoge (1638) auf die Paradoxie auf- merksam, daß die unendliche Menge der ganzen Zahlen weitaus größer zu sein scheint als die Menge der Quadratzahlen, wäh- rend doch zu jeder Zahl eine Quadratzahl gehört, die Menge beider demnach gleich sein müßte. Er kommt zu dem Schlüsse, daß die Kategorien des Gleichen, Größeren, Kleineren auf das Unendliche nicht anwendbar seien. Diese Betrachtungen, deren Spuren sich bis in die antike Zeit zurückverfolgen lassen, leiten zu den Untersuchungen G. Cantors über die Mengenlehre. Man versteht durch das Galileische Beispiel, wie man etwa zu folgenden Definitionen gelangen kann: Zwei Mengen sind von gleicher Mächtigkeit, wenn man jedes Element der einen eindeutig und reziprok einem Element der andern zuordnen kann. Zwei solche Mengen heißen äquivalent. Eine Menge ist unend- lich., wenn sie einem Teil ihrer selbst äquivalent ist.^) Die Cantor sehen Untersuchungen lehren, daß auch im Gebiete des aktuell Unendlichen noch durch zweckmäßige Konstruktion ordnender Begriffe die Übersicht aufrecht erhalten werden kann. 17. In Bezug auf die logisch-mathematische Darstellung der Zahlenlehre möchte ich auf das klar und ansprechend geschriebene Buch von L. Couturat^) verweisen. Der Standpunkt, von dem aus hier der Gegenstand behandelt wurde, entspricht der psycho- logischen und kulturhistorischen Betrachtung, die jedenfalls eine notwendige Ergänzung der zuvor erwähnten logischen bildet. Eingehende entwicklungsgeschichtliche Studien möchten hier so heilsam ernüchternd wirken, wie Felix Kleins^) bekannte Vor- lesungen. 18. Wo schon von vornherein diskrete, für unser aktuelles Interesse gleichwertige Objekte vorliegen, sind die Anwendungen *) G. Cantor, Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre. Leipzig 1883. Vgl. auch das in der folgenden Note zitierte Buch von Couturat. S. 617 u. f. — Vgl. endlich: A. Schoenflies, Die Entwicklung der Lehre von den Punktmannigfaltigkeiten. Jahrb. d. Deutschen Mathematiker -Ver- einigung. Bd. 8, Heft 2. 1900. *) Couturat, De l'infini mathematique. Paris 1896. — Eine kurze schöne Übersicht der Entwicklung des Zahlbegriffs s. bei O. Stolz, Größen und Zahlen. Leipzig 1891. *) F. Klein, Anwendung der Differential- und Integralrechnung auf Geo- metrie. Eine Revision der Prinzipien. Leipzig 1902. 334 ^ahl und Maß. der Zahlenlehre verhältnismäßig einfach. Viele Objekte der Forschung, wie räumliche und zeitliche Ausdehnung, Intensität der Kräfte u. s. w. bieten nicht unmittelbar Gruppen von direkt zählbaren äquivalenten Gliedern dar. Zwar kann man dieselben in vielfacher Weise in gleichwertige, zählbare Glieder, diese wieder in solche Glieder teilen u. s. w., allein sowohl die Teilungs- grenzen dieser Glieder müssen künstlich wahrnehmbar und unter- scheidbar gemacht werden, als auch die Teilung, bei welcher man stehen bleiben will, also die Größe der letzten Teilungs- glieder ist willkürlich und konventionell. Hat man aber ein solches Kontinmim in dieser Weise präpariert, so kann ein Stück desselben, welches in irgend einer Untersuchung für den Erfolg in Betracht kommt, durch Abzahlung seiner Teile, d. h. durch Messung mit beliebiger Genauigkeit bestimmt werden. Das künstlich ausgebildete Zahlenkontinaum ist ein Mittel, die Ver- hältnisse der natürlichen Continua mit beliebig weit reichender Genauigkeit zu verfolgen. Aber bei irgend einer Grenze muß man wegen der Unvollkommenheit selbst der künstlich unter- stützten Sinne dennoch stehen bleiben. Denn die Deckung eines Maßstabes mit dem zu messenden Objekt, oder die Koinzidenz der Enden läßt sich nicht mit unbegrenzter Genauigkeit fest- stellen. Unter dieser Ungenauigkeit leidet dann auch die Zahl^ welche als Ergebnis der Messung das Verhältnis zwischen dem zu messenden Objekt und dem Maßstab angibt. Derselbe Mangel haftet übrigens auch den praktischen Anwendungen der Arithmetik auf diskrete zählbare Objekte an, indem die ideale Voraussetzung der vollkommenen Gleichwertigkeit der letzteren in Wirklichkeit nie erfüllt ist. 19. Handelt es sich darum, kontinuierlich veränderliche phipsikalische Umstände, physikalische Größen, auf ein Maß zurückzuführen, so hat man zunächst ein Vergleichsobjekt, eine Maßeinheit zu wählen, und festzustellen, wie die Gleichheit eines andern Objektes mit diesem zu bestimmen ist. Als gleich in einer bestimmten Beziehung sehen wir Objekte an, die sich unter unveränderten Umständen mit unverändertem Erfolg ver- treten können. Zwei Gewichte sind gleich, wenn sie nach- einander in dieselbe Wagschale derselben Wage gelegt denselben Ausschlag bedingen; zwei elektrische Ströme sind gleich, wenn Zahl und Maß. 335 sie nacheinander durch das unveränderte Galvanometer geführt dieselbe Nadelablenkung bestimmen; ähnliches gilt von Magnet- polen, Wärmegraden, Wärmemengen u. s. w. Legt man nun n der Maßeinheit gleiche Gewichte auf dieselbe Wagschale, führt man n Stromeinheiten durch denselben Galvanometerdraht (oder auch durch dicht nebeneinandergelegte Drähte) u. s. w., so ist der Erfolg (bei der vollkommenen Vertauschbarkeit der Ein- heiten) nur durch die Maßzahl n bestimmt.^) 20. Hat man die maßgebenden Umstände in einer Reihe von gleichartigen physikalischen Fällen durch Maßzahlen bestimmt, so gelingt es oft, deren Abhängigkeit voneinander durch eine einfache Ableitungsregel mit einer für die Darstellung der Tat- sachen ausreichenden Genauigkeit darzustellen. Als Beispiele zur Erläuterung kann das Lichtbrechungsgesetz, das Mariotte- Gap-Lussacsche Gasgesetz, das Biot-Savartsche Gesetz dienen. Solche einmal bekannte Gesetze können oft eine in- direkte Messung erleichtern, wo eine direkte schwer oder un- möglich ist. Es ist z. B. schwierig, die Intensität einer Licht- quelle kontinuierlich abzuändern, dagegen leicht, die Gleichheit zweier Lichtquellen durch die gleiche Helligkeit der Beleuchtung zweier aneinander grenzender gleicher Flächen in gleicher Ent- fernung von jenen Lichtquellen bei senkrechter Bestrahlung durch das Auge zu beurteilen. Wenn nun nachgewiesen wird, daß eine Fläche bei senkrechter Bestrahlung durch ein Licht in derselben Helligkeit erscheint wie eine gleiche Fläche bei Be- strahlung durch 4, 9, 16 . . . dicht zusammengerückte, dem ersteren gleiche Lichter in 2, 3, 4 . . . facher Entfernung, so läßt sich die Messung jedes Lichtintensitätsverhältnisses auf die Ermittelung des Entfernungsverhältnisses bei gleicher Helligkeit zurückführen, obgleich das Auge darauf beschränkt ist, Gleich- heit und Ungleichheit der Helligkeit zu beurteilen. 21. Bei der Zusammensetzung einer phipsikalischen Größe aus gleichartigen Teilen hat man immer darauf zu achten, ob diese Zusammenfügung einer wirklichen Addition entspricht. Während man z. B. ein intensiveres Licht unbedenklich aus ») VgK Helmholtz, Zählen und Messen. (Philos. Aufsätze. E. Zeller gewidmet. 1887. S. 15 u. f.) 336 Z(^hl und Maß. gleichartigen unabhängigen (inkohärenten) Lichtern zusammen- setzen und die Intensität der Summe der Teile gleichsetzen kann, geht dies bekanntlich bei Lichtern derselben kleinen Licht- quelle unter gewissen Umständen nicht mehr an. So ist auch die Tonstärke mehrerer gleichgestimmter Stimmgabeln im allge- meinen nicht die Summe der einzelnen Tonstärken, sondern nur dann, wenn auch die Phasen übereinstimmen. In Bezug auf andere zu beobachtende Vorsichten vergleiche man „Prinzipien der Wärmelehre" S. 39—57. Der physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen. 1. Der physiologische Raum, der Raum unserer sinnlichen Anschauung, den wir bei vollem Erwachen unseres Bewußtseins fertig vorfinden, ist sehr verschieden von dem metrischen, be- grifflichen Raum. Die geometrischen Begriffe werden größten- teils durch absichtliche Erfahrungen erworben. Der Raum der Euklidischen Geometrie hat überall, an allen Stellen und nach allen Richtungen dieselbe Beschaffenheit, ist unbegrenzt und unendlich. Vergleichen wir hiermit den Raum des Gesichtes, den „Sehraum" nach der Bezeichnung von Joh. Müller und Hering, der dem Sehenden vor allem geläufig ist, so finden wir denselben weder überall noch nach allen Richtungen gleich beschaffen, noch unendlich, noch unbegrenzt.^) Die auf das Gestaltensehen bezüglichen Tatsachen, welche ich an einem andern Orte^) besprochen habe, lehren, daß dem „Oben" und dem „Unten", ebenso dem „Nah" und dem „Fern" gänzlich ver- schiedene Empfindungen entsprechen. Auch das „Rechts" und das „Links" beruht auf verschiedenen Empfindungen, wenn auch auf viel ähnlicheren, wie aus den Tatsachen der physiologischen Symmetrie') hervorgeht. Die Ungleichheit der Richtungen spricht sich in den Erscheinungen der physiologischen Ähnlich- keit*) aus. Das scheinbare Schwellen der Steine des Tunnel- einganges beim Einfahren des Eisenbahnzuges, das Schrumpfen derselben Objekte beim Ausfahren, bringt uns nur in recht auf- fallender Weise die tägliche Erfahrung zur Kenntnis, daß die *) Die Ausdrücke sind hier im Riemannschen Sinne zu verstehen. 2) Analyse der Empfindungen. 4. Aufl. S. 86 u. f. 8) A.a.O. S. 88. *) A. a. O. S. 89. Mach, Erkenntnis und Irrtum. 22 338 J^^^ physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen. Gesichtsobjekte im Sehraum nicht ebenso ohne Pressung und Dehnung beweglich sind, wie die denselben entsprechenden un- veränderlichen, geometrischen Objekte. Auch schon ruhende, bekannte Objekte lehren dasselbe. Ein über das Gesicht ge- stülptes, weites tieferes Zylinderglas, oder ein an den Augen- brauenbogen angelegter horizontaler, zylindrischer Spazierstock, scheint in dieser ungewöhnlichen Lage auffallend konisch und gegen das Gesicht zu merklich trompetenförmig erweitert, bezw. verdickt.^) Der Sehraum gleicht mehr den Gebilden der Meta- geometer als dem Euklidischen Raum. Der Sehraum ist nicht nur begrenzt, sondern scheint sogar recht enge Grenzen zu haben. Aus einem Versuch von Plateau geht hervor, daß ein Nachbild sich nicht mehr merklich verkleinert, wenn es auf eine Fläche projiziert wird, deren Entfernung vom Auge über 30 Meter anwächst. Alle naiven, auf den unmittelbaren Eindruck ange- wiesenen Menschen, auch die Astronomen des Altertums, sehen den Himmel ungefähr als eine Kugel von endlichem Radius. Ja die Abplattung des Himmelsgewölbes, welche Ptolemaeus schon kennt, und Euler in moderner Zeit diskutiert, lehrt uns sogar eine ungleiche Ausdehnung des Sehraums in verschiedenen Richtungen kennen. Die physiologische Aufklärung dieser Tat- sache hat Zoth^) angebahnt, indem er die Erscheinung als ab- hängig von der gegen den Kopf orientierten Blickerhebung nachgewiesen hat. Die engen Grenzen des Sehraums folgen schon aus der Möglichkeit der Panoramamalerei. Endlich be- merken wir noch, daß der Sehraum ursprünglich überhaupt nicht ^) Seither ist eine ausführliche gründliche Arbeit über die hier berührte Frage erschienen: F. Hillebrand, Theorie der scheinbaren Größe bei bin- okularem Sehen (Denkschr. d. Wiener Akademie, math.-naturw. CK, Bd. 72. 1902). — Der Verfasser nimmt den Ausdruck „scheinbare Größe" im Sinne der „Sehgröße" Herings. Die im Text erwähnte Erscheinung tritt bei der sinnreichen Beobachtungsmethode des Verfassers sehr deutlich und meßbar hervor. — R. v. Sterneck, Versuch einer Theorie der scheinbaren Ent- fernungen. Ber. d. Wiener Akademie, math.-naturw. CI., Bd. 114, A. IIa, S. 1685 (1905). *) O. Zoth, Über den Einfluß der Blickrichtung auf die scheinbare Größe der Gestirne und die scheinbare Form des Himmelsgewölbes (Pflügers Archiv, Bd. 78, 1899). — Eine Erweiterung von Hillebrands Versuchen mit Rücksicht auf die Blickrichtung wäre sehr wünschenswert. Fig. 9. Der physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen. 339 metrisch ist. Die Orte, Entfernungen u. s. w. des Sehraums sind qualitativ, nicht quantitativ unterschieden. Was wir Augenmaß nennen, entwickelt sich erst auf Grund primitiver physikalisch- metrischer Erfahrungen. 2. Räumliche Wahrnehmungen vermittelt auch die Haut, welche eine geschlossene Fläche von komplizierter geometrischer Form darstellt. Wir unterscheiden nicht nur die Qualität des Reizes, sondern durch irgend eine Zusatzempfindung auch die gereizte Stelle. Wenn nun letztere Empfindung nur von Stelle zu Stelle verschieden ist, und zwar desto mehr verschieden, je weiter die Stellen voneinander sind, so sind hiermit die wesentlichen bio- logischen Bedürfnisse schon gedeckt. Die großen Anomalien, welche der Raumsinn der Haut gegenüber dem metrischen Raum dar- bietet, sind von E. H. Weber ^) dargelegt worden. Die Entfernung zweier Zirkelspitzen, bei welcher die von beiden berührten Orte eben noch deutlich unterschieden werden, ist auf der Zungenspitze 50 — 60mal kleiner als auf der Mitte des Rückens. Die Hautteile zeigen große Abstufungen der Raumempfindlichkeit. Ein Zirkel, dessen Spitzen die Ober- und Unterlippe zwischen sich fassen, scheint sich bedeutend zu schließen, wenn man mit dem- selben horizontal gegen die Seite des Gesichts fährt (Fig. 9). Gibt man den Zirkelspitzen die Entfernung zweier benachbarter Fingerspitzen und führt dieselben von diesen über die innere Handfläche nach dem Unterarm, so scheinen sie daselbst ganz zusammenzuklappen (Fig. 10). In den Figuren ist die wirkliche Bahn punktiert, die scheinbare ausgezogen. Die Formen der Körper, welche die Haut berühren, werden unter- Fig. 10. 1) E. H.Weber, Über den Raumsinn und die Empfindungskreise in der Haut und im Auge. (Ber. d. kgl. sächs. Gesellsch. d. Wissenschaften, math.- naturw. Cl. 1852. S. 85 u. f.) 22* 340 ^^^ physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen. schieden/) doch steht der Raumsinn der Haut gegen jenen des Auges sehr zurück.^) Die Zungenspitze erkennt noch den kreisförmigen Querschnitt einer Röhre bei 2 mm Durchmesser desselben. Der Raum der Haut entspricht einem zweidimen- sionalen, endlichen unbegrenzten (geschlossenen) Riemann sehen Raum. Durch die Empfindungen der Bewegung der Glieder, insbesondere der Arme, Hände und Finger kommt etwas einer dritten Dimension Entsprechendes hinzu. Wir lernen dieses System der Empfindungen allmählich durch das einfachere, an- schaulichere Physikalische interpretieren. So schätzen wir die Dicke einer Tischplatte, die wir im Dunkeln zwischen Daumen und Zeigefinger fassen, ganz leidlich ab. Die Schätzung gelingt sogar, wenn wir zur Berührung der Ober- und Unterseite je einen Finger der rechten und der linken Hand verwenden. Der haptische Raum, oder der Tastraum, hat mit dem metrischen Raum ebensowenig gemein wie der Sehraum. Er ist wie der letztere anisotrop und inhomogen. Die Hauptrichtungen der Organisation: vorn-hinten, oben-unten, rechts-links sind in beiden physiologischen Räumen übereinstimmend ungleichwertig. 3. Daß wir den Raumsinn nicht entwickelt finden, wo der- selbe keine biologische Funktion hat, kann uns nicht sonderlich überraschen. Wozu sollte es uns dienen, über die Lage der inneren Organe unterrichtet zu sein, da wir doch auf deren Funktion keinen Einfluß haben? So erstreckt sich der Raumsinn nicht tief in die Nase hinein. Man kann nicht unterscheiden, ob man die durch eines von zwei Röhrchen eingeführten Gerüche rechts oder links empfindet.^) Dagegen erstreckt sich die Tastempfind- lichkeit nach E. Weber bis in das Trommelfell,"^) durch welche entschieden wird, ob die stärkere Schallaffektion von der rechten *) Man muß natürlich für innige Berührung der Haut und der aufgelegten Körper sorgen. Als man mir in meine apoplektisch gelähmte Hand verschie- dene Objekte legte, erkannte ich manche nicht, und man schloß hieraus auf eine teilweise Störung der Sensibilität. Der Schluß erwies sich aber als irrig. Ich ließ mir nämlich unmittelbar nach dieser Untersuchung die gelähmte Hand durch eine andere Person schließen, und erkannte nun sofort alle ein- gelegten Objekte. ») E. H. Weber, a. a. O. S. 125. ») A. a. O. S. 126. *) A. a. O. S. 127. Der physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen. 341 oder linken Seite kommt. Die roheste Orientierung über die Lage der Schallquelle mag hierdurch vermittelt werden. Für die feinere Orientierung ist dies jedoch nicht zureichend. 4. Wenn auch bei manchen Empfindungen das Merkmal des Ortes und Raumes sehr viel deutlicher sich geltend macht, als bei andern, so dürfte doch James mit der Ansicht das Richtige getroffen haben, daß jeder Empfindung eine gewisse Räumlich- keit anhaftet.^) Jeder Empfindung kommt durch das gereizte Element ein Ort zu, und da der Elemente meist mehrere oder viele sind, so kann man in einem gewissen Sinne auch von einem Volumen der Empfindung sprechen. Bei seinen Aus- führungen beruft sich James mehrfach auf Hering, welcher den Eindruck glühender Flächen, durchleuchteter Räume u. s. w. als raumhaft bezeichnet. Die Töne werden gewöhnlich als Bei- spiel vollständig unräumlicher Empfindungen angeführt. Ich glaube aber die gelegentliche Äußerung von Hering,^) daß tieferen Tönen ein größeres Volumen zukommt als höheren, für zutreffend halten zu dürfen. Die höchsten hörbaren Töne der Königschen Stäbe machen geradezu den Eindruck eines Nadel- stiches, während tiefe Töne den ganzen Kopf (oder besser gesagt, den ganzen akustischen Raum) zu erfüllen scheinen. Die Möglichkeit, die Schallquelle, wenn auch unvollkommen, zu lokalisieren, läßt ebenfalls eine Beziehung der Ton- und Raum- empfindung vermuten. Reicht auch Steinhausers Parallele zwischen binokularem Sehen und binauralem Hören nicht sehr weit, so besteht doch eine gewisse Analogie, und das Lokali- sieren wird vorzugsweise durch die hohen Töne von kleinem Volumen und schärfer bestimmtem Ort vermittelt.^) 5. Die physiologischen Räume verschiedener Sinne umfassen nur teilweise gemeinsame physikalische Gebiete. Dem Tastsinn ist die ganze Haut zugänglich, während nur ein Teil derselben gesehen werden kann. Dafür reicht der Gesichtssinn als Fern- sinn physikalisch überhaupt viel weiter. Die räumliche Orien- tierung durch das Ohr ist viel unbestimmter, und auf ein engeres 1) James, The Principles of Psychologp II, insbesondere S. 136 u. f. 2) Meine Erinnerung dürfte auf einer mündlichen Äußerung beruhen, da ich eine hierauf bezügliche Stelle in Hs. Schriften nicht finde. ') Analyse der Empfindungen. S. 206. 342 ^^f physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen, Gebiet beschränkt, als jene durch das Auge. So lose auch die verschiedenen Raumempfindungen ursprünglich zusammenhängen mögen, so treten sie durch Association doch in Verbindung, und jenes S5?stem, welches im Augenblick die größere praktische Wichtigkeit hat, ist bereit, das andere zu ergänzen uud zu ver- treten. Die Raumempfindungen verschiedener Sinne mögen recht verwandt, werden aber kaum identisch sein. Es ist wohl nicht nötig, das offenbare und ausreichende associative Band durch Annahme eines räumlichen Generalsinns ^) zu stärken und zu ergänzen. 6. Alle Raumempfindungen haben die Funktion, die erhal- tungsgemäßen Bewegungen richtig zu leiten. Diese gemeinsame Funktion bildet auch das associative Band zwischen den Raum- empfindungen. Der Sehende wird vorzugsweise von den Emp- findungen und Vorstellungen des Sehraums geleitet, denn diese sind ihm die geläufigsten und förderlichsten. Eine Figur, die ihm langsam im Dunkeln oder bei geschlossenen Augen auf die Haut gezeichnet wird, übersetzt er sich durch Vermittlung der empfundenen Bewegungen in ein Gesichtsbild, indem er sich selbst die empfundene Bewegung ausführend denkt. Soll mir z. B. eine Figur, die mir jemand auf die Stirne zeichnet, als R erscheinen, so muß der vor mir Stehende fl schreiben. Auf mein Hinterhaupt müßte für den fremden Beschauer R, auf die Bauch- haut U geschrieben werden,*) damit ich die Zeichen, mich selbst schreibend denkend, als R anerkenne. Ich stelle mir gewissermaßen ♦ in den beiden ersten Fällen meinen Kopf als durchsichtig, mich in derselben Orientierung hinter demselben stehend und die ge- wöhnlichen Schreibbewegungen ausführend vor. In dem letzten Falle stelle ich mir mich selbt auf der Bauchhaut schreibend und von dieser ablesend vor. Es ist für den Sehenden recht schwer, sich in die Raumvorstellungen des Blinden hineinzufinden. Daß aber auch diese einen hohen Grad von Klarheit erreichen können, lehren die Leistungen des blinden Geometers Saunderson. Immerhin muß für ihn die Orientierung etwas schwerfällig ge- blieben sein, wie seine in einfachster "Weise in quadratische ^) Vgl. dagegen E. H. Weber, a. a. O. S. 85. *) A. a. O. S. 99. Der physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen. 343 Felder geteilte Tafel beweist. In die Ecken und Mittelpunkte jener Felder pflegte er Nadeln tief einzustecken und deren Köpfe durch Fäden zu verbinden. Seine höchst originellen Darlegungen müssen aber gerade wegen ihrer Einfachheit für Anfänger be- sonders leicht verständlich gewesen sein. So bewies er den Satz, daß das Volumen der Pyramide gleich sei dem dritten Teil des Volumens eines Prismas von gleicher Basis und Höhe, durch Teilung des Würfels in sechs kongruente Pyramiden mit je einer Seitenfläche des Würfels als Basis und mit dem Scheitel im Mittelpunkte des Würfels.^) 7. Wir dürfen annehmen, daß das System der Raumempfin- dungen für alle Tiere, an deren Leib sich, wie beim Menschen, drei ausgezeichnete Hauptrichtungen aufweisen lassen, wenn auch ungleich entwickelt, doch sehr ähnlich ist. Oben und unten sind solche Tiere ungleich, ebenso vorn und hinten. Rechts und links sind diese Tiere zwar scheinbar gleich, allein die geometrische und Massensymmetrie, die im Interesse der raschen Lokomotion besteht, darf uns über die anatomische und physio- logische Asymmetrie nicht täuschen. Mag letztere auch gering erscheinen, so tritt sie doch darin klar zu Tage, daß zu sym- metrischen Tieren sehr nahe Verwandte auffallende unsymmetrische Formen annehmen. Man denke an die unsymmetrischen Schollen (Plattfische), an die symmetrische nackte Schnecke im Gegensatz zu deren unsymmetrisch gestalteten Verwandten. 8. Wenn wir nun fragen, was denn eigentlich der physio- logische Raum mit dem geometrischen Raum gemein hat, so finden wir nur wenige Übereinstimmungen. Beide Räume sind dreifache Mannigfaltigkeiten. Jedem Punkt des geometrischen Raumes^, B, C, D . . . entspricht ein Punkt Ä', B' , C , D' . . . des physiologischen Raumes. Wenn C zwischen B und D liegt, so liegt auch C zwischen B' und D'. Man kann auch sagen: einer kontinuierlichen Bewegung im geometrischen Raum ent- spricht eine kontinuierliche Bewegung des zugeordneten Punktes im physiologischen Raum. Daß die zur Bequemlichkeit fingierte Kontinuität weder für den einen ^ noch für den andern Raum eine wirkliche Kontinuität sein muß, wurde schon anderwärts ^) Diderot, Lettre sur les aveugles. 344 D^r physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen. bemerkt.^) Wenn man auch unbedenklich annimmt, daß der phjjsiologische Raum angeboren ist, so zeigt dieser eine zu geringe Übereinstimmung mit dem geometrischen, um als aus- reichende Grundlage einer a priori (im Kantschen Sinne) ent- wickelten Geometrie angesehen zu werden. Höchstens könnte man auf Grund desselben eine Topologie aufbauen.^) Wie kommt es nun, daß der physiologische Raum vom geometrischen so sehr verschieden ist? Wie gelangt man doch von ersteren Vorstellungen allmählich zu den letzteren. Diese Fragen wollen wir in dem Folgenden nach Möglichkeit zu beantworten ver- suchen. 9. Stellen wir eine einfache, allgemeine teleologische Be- trachtung an. Einem Frosch mögen verschiedene Stellen der Haut durch Säuretropfen gereizt werden. Er wird auf jede Reizung mit einer spezifischen, der gereizten Stelle entsprechen- den Abwehrbewegung antworten. Qualitativ gleiche Reize, die verschiedene Elementarorgane treffen, auf verschiedenen Bahnen in den Tierkörper eindringen, lösen auch Reaktionsprozesse aus, welche durch verschiedene Organe auf verschiedenen Wegen in die Umgebung des Tieres sich zurück fortpflanzen.^) Was für den Hautsinn gilt, gilt auch für den Gesichtssinn und für jeden andern Sinn. Nicht nur die Abwehr- und Fluchtbewegungen, sondern auch die Angriffsbewegungen spezialisieren sich nach der gereizten Stelle, nach der Individualität der betroffenen Elementarorgane. Man denke an das Schnappen des Frosches nach Fliegen, an das Picken des eben ausgeschlüpften Hühnchens nach Körnern. Was bisher gesagt wurde, gilt auch für bloße Reflexreaktionen^ für Pflanzen sowohl wie für niedere Tiere. Soll aber die Reflexreaktion zweckmäßig beeinflußt, modifiziert werden, soll die Willkürhandlung an Stelle derselben treten, so müssen die Reize als Empfindungen bewußt werden, und ihre Spuren im Gedächtnis zurücklassen. In der Tat erkennen wir, *) Prinzipien der Wärmelehre. S. 76. *) Vgl. Listing, Vorstudien zur Topologie. Göttingen 1847. 8) Ich schließe mich hier einer von R. Wlassak geäußerten Ansicht in etwas modifizierter und erweiterter Fassung an. Vgl. dessen schönes Referat: „Über die statischen Funktionen des Ohrlabyrinths." ( Viertel jahrschr. f. wiss. Philosophie, XVII, I, S. 29.) Der physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen. 345 wie die Selbstbeobachtung lehrt, nicht nur die Qualität des Reizes, z. B. des Brennens, welche empfindende Stelle davon auch betroffen sei, unterscheiden aber doch zugleich auch die gereizten Stellen. Durch beide Momente wird unsere Reaktions- bewegung bestimmt. Wir dürfen also wohl annehmen, daß in diesen Fällen der qualitativ gleichen Empfindung ein differenter Bestandteil anhaftet, der von der spezifischen Natur des Elementar- organs, von der gereizten Stelle, mit Hering zu reden, von dem Orte der Aufmerksamkeit abhängt. Die vollkommenste gegenseitige biologische Anpassung einer Vielheit von Elementar- organen kommt eben in der räumlichen Wahrnehmung besonders deutlich zum Ausdruck. 10. Wir können uns die räumliche Wahrnehmung in folgender Weise physiologisch begründet denken. Die Empfindung, welche ein Elementarorgan liefert, hängt zum Teil von der Art (Qualiät) des Reizes ab; wir wollen diesen Teil Sinnesempfindung n^nntn. Ein Teil der Tätigkeit des Elementarorgans sei aber nur durch die Individualität des Elementarorgans bestimmt, bei jeder Reizung derselbe, und nur von Organ zu Organ variierend; diesen Teil nennen wir Organempfindung., und betrachten ihn als identisch mit der Raumempfindung. Die Organempfindung nehmen wir als desto mehr variierend an, je ferner die onto- genetische Verwandtschaft der Elementarorgane gemeinsamer Ab- stammung wird. Die Organempfindung (Raumempfindung) kann nur auftreten, wenn überhaupt eine Reizung des Elementarorgans platzgreift; sie bleibt jedesmal dieselbe, wenn dasselbe Organ oder derselbe Organkomplex gereizt, derselbe Zusammenhang der Organe lebendig wird. Man kann sagen, daß der physio- logische Raum ein System von abgestuften Organempfindungen ist, welches ohne Sinnesempfindungen allerdings nicht vorhanden wäre; wenn es aber durch variierende Sinnesempfindungen wach- gerufen wird, so bildet es ein bleibendes Register, in welches jene veränderlichen Sinnesempfindungen eingeordnet werden. Wir machen hier über die Elementarorgane nur ganz ähnliche Voraussetzungen, wie wir sie in Bezug auf getrennte Individuen gleicher Abstammung, aber verschiedenen Grades der Verwandt- schaft, sehr natürlich und durch die Erfahrung bewährt finden würden. Was wir hier versuchen, ist allerdings keine eigentliche 346 J^^^ physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen. Theorie der Raum Wahrnehmung, sondern lediglich eine physio- logische Umschreibung des psychologisch Beobachteten. Diese Umschreibung scheint aber das zu enthalten, was mit einer nativistischen Auffassung des physiologischen Raumes, mit den Beobachtungen von E. H. Weber, ^) mit dessen Theorie der Empfindungskreise, mit Lotzes*) Lehre von den Lokalzeichen, soweit dieselbe physiologisch ist, mit den Ansichten von Hering und mit den kritischen Betrachtungen von Stumpft) vereinbar ist. Hiermit scheint sich die Aussicht zu eröffnen auf ein phylogenetisches und ontogenetisches Verständnis der Raum- wahrnehmung, und wenn die betreffenden Verhältnisse einmal klargelegt sein werden, auch auf ein prinzipielles physikalisch- physiologisches Verständnis derselben. 11. Soll das System der Raumempfindungen dem unmittel- baren biologischen Bedürfnis entsprechen, die erhaltungsgemäßen Reaktionen des Leibes leiten, so kann es wohl nicht anders gedacht werden, als wir es vorfinden. Jedes System der Emp- findungen, so auch das System der Raumempfindungen ist end- lich; eine unerschöpfliche Reihe von Empfindungsqualitäten oder Intensitäten ist eben physiologisch undenkbar. Verschiedene Organe des Leibes bedürfen zur Leitung ihrer Funktionen einer ungleichen Raumempfindlichkeit. Daher die reiche Ausstattung der macula lutea der Netzhaut, der Zungenspitze und der Finger- spitzen mit raumempfindenden Organen gegenüber den seitlichen Teilen der Netzhaut, der Haut des Oberarms oder des Rückens. Die Raumempfindungen müssen sich auf die Glieder des Leibes beziehen, und nach diesen orientiert sein, sollen sie dem bio- logischen Bedürfnis genügen. Es ist für uns wichtig, das Oben und Unten, das Vorn und Hinten, das Rechts und Links, das Nah und Fern, also Beziehungen auf unsern Leib zu unter- scheiden. Mit einer bloßen Relation der Orte gegeneinander, ») A. a. O. *) Lotze hat seine Lehre in verschiedenen Schriften dargelegt (Medi- zinische Psychologie. 1852. — Mikrokosmos. 1856. — Wagners Hand- wörterbuch der Physiologie. — Anhang zu dem in folgender Anmerkung zitierten Buch von Stumpf). *) Stumpf, Über den psychologischen Ursprung der Raumvor- stellungen. 1873. Der physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen. 347 wie in der Geometrie, wäre uns nicht gedient. Zweckentsprechend ist weiter, daß für nähere, biologisch wichtigere Gesichtsobjekte die verfügbaren stereoskopischen Tiefenindizes reicher abgestuft sind, und daß dagegen für fernere, weniger wichtige Objekte mit dem begrenzten Vorrat der Indizes gespart wird. Wenn wir den physiologischen Raum, vom geometrischen ausgehend, nach Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit konstruieren sollten, so könnte derselbe kaum viel anders ausfallen, als wir ihn vorfinden. 12. Wenn nun die Inkongruenz zwischen dem phj^siologischen und geometrischen Raum den Menschen, die nicht eine besondere Untersuchung darüber anstellen, gar nicht auffällt, wenn nicht gerade der geometrische Raum ihnen als ein Monstrum, als eine Fälschung des angebornen Raumes erscheint, so erklärt sich dies durch nähere Beachtung der Lebensumstände und der Ent- wicklung der Menschen. Die Raumempfindungen leiten unsere Bewegungen, aber ein Grund, dieselben an sich genau zu be- achten und zu analysieren, ergibt sich nur selten. Das Ziel der Bewegung hat ein viel größeres Interesse für die Menschen. Nachdem die ersten primitiven Erfahrungen über (physikalische) Körper, Entfernungen u. s. w. gewonnen sind, nehmen diese unsere Aufmerksamkeit und unser Interesse fast ganz in An- spruch. Könnte der Mensch, wie ein festsitzendes Seetier, seinen Ort nicht verlassen und seine Orientierung nicht wesentlich ändern, so würde er schwerlich jemals zur Vorstellung des Euklidischen Raumes gelangen. Sein Raum würde sich dann zum Euklidischen ungefähr so verhalten, wie ein triklines zu einem tesseralen Medium, derselbe würde immer anisotrop und begrenzt bleiben. Die beliebige Lokomotion des Leibes als Ganzes, und die Möglichkeit beliebiger Orientierung desselben, fördern die Einsicht, daß wir überall und nach allen Richtungen dieselben Bewegungen ausführen können, daß der Raum überall und nach allen Richtungen ^/^/<?/{ beschaffen und daß derselbe als unbegrenzt und unendlich vorgestellt werden kann. Der Geometer sagt, von jedem Punkte des Raumes aus, und in jeder Orientierung, seien dieselben Konstruktionen ausführbar. Bei gleichmäßig fortschreitender Lokomotion wiederholen sich immer dieselben Änderungen der Raumwerte. Dasselbe ist bei fortgesetzter Änderung der Orientierung, z. B. Drehung um die 348 I^^r physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen. Vertikalachse der Fall. Dadurch macht sich nicht nur die Gleich- mäßigkeity sondern auch die Unerschöpflichkeit, die unbegrenzte Wiederholbarkeit , Fortsetzbarkeit gewisser Raucnerfahrungen geltend. An die Stelle der fixen Raumwerte der Objekte, welche der nur die Glieder bewegende Mensch vorfindet, treten bei der Lokomotion fließende Raumwerte auf. So kommen unsere Raum- erfahrungen allmählich dem euklidischen Raum näher, ohne übrigens denselben auf diesem Wege vollständig zu erreichen. 13. So wie die Raumempfindungen die Bewegung einzelner Glieder bestimmen, führen sie unter Umständen auch zur allge- meinen Lokomotion. Ein Hühnchen kann nach einem Objekt blicken, nach demselben picken, oder durch den Reiz sogar bestimmt werden, sich hinzuwenden, hinzudrehen, hinzulaufen. Ein Kind, das nach einem Ziele blickt und greift, wenn dies unerreichbar, dahin kriecht, endlich eines Tages aufsteht und mit einigen Schritten dahinläuft, verhält sich ebenso. Wir werden alle solche Fälle, welche kontinuierlich ineinander übergehen, in homogener Weise auffassen müssen. Anregung zu ausgiebiger Lokomotion und Änderung der Orientierung geht nicht nur von optischen Reizen aus, sondern kann auch durch chemische, thermische, akustische, galvanische Reize ^) u. s. w., und auch bei blinden Tieren eingeleitet werden. In der Tat beobachten wir auch bei von Haus aus blinden Tieren (blinden Würmern), sowie bei durch Rückbildung blinden Tieren (Maulwurf, Höhlen- tiere) ausgiebige Lokomotions- und Orientierungsbewegungen. Nur wird die bewegungsbestimmende Fernwahrnehmung bei blinden Tieren und Menschen auf einen engeren Bezirk ein- geschränkt sein. 14. Die Hauptschwierigkeit, die wir bei der Analyse des physiologischen Raumes finden, besteht darin, daß uns als gebildeten Menschen, wenn wir über diesen Stoff zu denken beginnen, die wissenschaftlichen geometrischen Vorstellungen schon zu geläufig sind, und daß wir diese überall als selbst- verständlich hineintragen. Der beste Beleg dafür ist die be- kannte Lehre von den optischen Richtungslinien, welche sich seit Ptolemaeus, Kepler und Descartes halten konnte, und die erst ^) Loeb, Vergleichende Gehirnphpsiologie. Leipzig 1899. S. 118u. f. Der physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen. 349 von Hering definitiv beseitigt wurde. Der auf diesem Gebiet Forschende muß sich in eine künstliche Naivetät versetzen, zuvor viel Erlerntes zu vergessen suchen, um unbefangenen Blick zu gewinnen. Ohne auf physiologische Einzelheiten einzugehen,^) wollen wir nur noch eine einfache allgemeine Betrachtung anstellen. 15. Auf gewisse Reize hin treten reflektorisch bestimmte Gliederbewegungen ein. Durch diese Bewegungen werden wieder peripherisch Reize erregt, welche in der Großhirnrinde als Spuren der Bewegungsempfindungen, als Bilder dieser Be- wegungen zurückbleiben. Werden diese Bilder durch irgend einen Anlaß, z. B. Association, wieder lebendig, so sind sie geeignet, dieselben Bewegungen aufs neue hervorzurufen. Die Punkte des Raumes kennen wir physiologisch als Ziele ver- schiedener Bewegungen, Greif-, Blick- und Lokomotionsbe- wegungen. Die genannten Bewegungsbilder werden wohl an mehr oder weniger scharf bestimmte Teile des Gehirns ge- bunden, also irgendwie lokalisiert sein. Das ganze Hirn kann kaum bei allen in gleicher Weise beteiligt sein, wie schon aus den zentrifugalen Ableitungs- und aus den zentripetalen Zu- leitungsverhältnissen hervorgeht. Dann dürfen wir uns vielleicht die verschiedenen Ziele den Zentren der Komplexe der Be- wegungsbilder in der Rinde zugeordnet denken. Die Punkte des Raumes, soweit dieser physiologisch in Betracht kommt, wären dann als Stellen im Gehirn abgebildet. Die Raum- empfindungen würden dann den Or^a/zempfindungen dieser Stellen entsprechen. Wenn man auch annehmen wird, daß in der Hauptsache die räumliche Auffassung durch die angeborene Organisation vorgebildet ist, so bleibt doch der individuellen Entwicklung noch ein weiter Spielraum. Recht verschieden muß letztere ausfallen, je nachdem es sich um ein blindes oder sehendes Individuum handelt, je nachdem wir mit einem Plastiker, Maler, Jäger oder Musiker zu tun haben. ^) *) In Bezug auf Einzelheiten muß ich auf die physiologische Literatur im allgemeinen verweisen. Vgl. auch Analyse der Empfindungen. 4. Aufl. S. 137—146. Vgl. ferner den Artikel in „The Monist«. Vol. XI, April 1901, S. 321—338. ') Der Raumsinn erfährt im Laufe der individuellen menschlichen Ent- wicklung wahrscheinlich bedeutende Veränderungen. Als Kind hatte ich bei 350 -öer physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen. 16. Kant hat behauptet: „Man kann sich niemals eine Vor- stellung davon machen, daß kein Raum sei, ob man sich gleich ganz wohl denken kann, daß keine Gegenstände darin ange- troffen werden." Heute zweifelt kaum jemand daran, daß die Sinnesempfindungen und die Raumempfindungen nur miteinander ins Bewußtsein treten und aus demselben wieder verschwinden können. Dasselbe muß wohl von den betreffenden Vorstellungen gelten. Wenn für Kant der Raum kein „Begriff", sondern eine „reine (bloße) Anschauung a priori" ist, so sind die heutigen Forscher sehr geneigt, den geometrischen Raum für einen Be- griff, und zwar für einen durch Erfahrung erworbenen Begriff, zu halten. Das bloße System der Raumempfindungen können wir nicht anschauen; wir können aber von den als nebensächlich betrachteten Sinnesempfindungen absehen, und wenn man diesen leicht und unvermerkt vor sich gehenden Prozeß nicht genug beachtet, kann leicht der Gedanke entstehen, man habe eine reine Anschauung vollzogen. Wenn die Raumempfindungen von der Qualität der sie miterregenden Reize unabhängig sind, so können wir über erstere (innerhalb der oben bezeichneten Grenzen S. 344) unabhängig von der physikalischen Erfahrung Aussagen Eisenbahnfahrten fast regelmäßig die Erscheinung der Mikropsie. Ich sah die fernen Hügel, Berge, die Gebäude und Menschen auf denselben als ganz kleine und nahe Modelle, als reizende Liliputanerlandschaften, obgleich ich wußte, daß dies nicht der Wirklichkeit entsprach. Später war es mir un- möglich, diesen Eindruck wieder zu gewinnen. Vgl. Analyse der Empfindungen, S. 194, eine analoge Beobachtung über den Zeitsinn. — Aber auch sehr rasche temporäre Veränderungen kann der Raumsinn erfahren. Als Kind nach einer schweren Krankheit, wenn ich durch die Unterrichtstunden ermüdet war, sah ich die andern Personen sehr klein und sehr weit entfernt. Manche Narko- tika, wie Haschisch, bewirken bekanntlich ebenfalls starke temporäre Ände- rungen des Raumsinnes. Solche Vorkommnisse sind kaum zu vereinigen mit der Annahme, daß die Raumwahrnehmung auf einer bloßen Anordnung der Elemente der Sinnesorgane und des Gehirns beruhe, also gewissermaßen in einer bloßen Ordnung und Nachbarschaft der Wahrnehmungselemente bestehe, welche sich auf die Ordnung und Nachbarschaft der Organe gründet. Man wird eher an Empfindungsqualitäten denken, welche abgestuften chemischen Prozessen entsprechen, welche daher auch chemischen Einflüssen unter- liegen können. — Vgl. Veraguth, Über Mikropsie und Makropsie. (Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde von Strümpell. Bd. 24, 1903. S. 453). — Kost er, Zur Kenntnis der Mikropsie und Makropsie. (Graefes Archiv für Ophthalmologie. Bd. 42, 1896. S. 134.) Der physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen. 351 machen, wie dies übrigens von jedem System der Empfindungen^ z. B. den Farbenempfindungen oder Tonempfindungen auch gilt. Dies bleibt an Kants Auffassung richtig. Zur Entwick- lung einer Geometrie reicht aber diese Grundlage nicht aus, denn hierzu sind noch Begriffe, und zwar Erfahrungsbegriffe, durchaus notwendig.^) 17. Der geometrische Raum ist begrifflich klarer, der phj?- siologische Raum steht hingegen der Empfindung näher. Daher kommt es, daß bei geometrischen Beschäftigungen die Eigen- schaften des physiologischen Raumes doch vielfach sich geltend machen. Wir unterscheiden an unsern Figuren die näheren von den ferneren Punkten, die rechts liegenden von den links liegenden, die oberen von den unteren nach physiologischen Momenten, obgleich der geometrische Raum keine Beziehungen zu unserem Leib, sondern nur Beziehungen der Punkte zu- einander kennt. Unter den geometrischen Gebilden zeichnet sich die Gerade und die Ebene durch ihre physiologischen Eigenschaften aus, und sie sind auch die ersten geometrischen Untersuchungsobjekte. Die Symmetrie fällt vor allem durch ihre physiologischen Vorzüge auf und zieht durch diese die Auf- merksamkeit des Geometers auf sich. Sie wirkt auch ohne Zweifel bei Wahl der Raumteilung nach rechten Winkeln mit. Daß die Ähnlichkeit vor anderen geometrischen Verwandtschaften untersucht wurde, beruht ebenfalls auf physiologischen Umständen. Die Descartessche Koordinatengeometrie bedeutet eine Be- freiung der Geometrie von physiologischen Einflüssen, doch bleiben noch Reste derselben übrig in der Unterscheidung posi- tiver und negativer Koordinaten, je nachdem dieselben nach rechts oder links, oben oder unten u. s. w. gezählt werden. Dies ist bequem und anschaulich, aber nicht notwendig. Eine vierte Koordinatenebene oder die Bestimmung eines Punktes durch die Abstände von vier nicht in einer Ebene liegenden Fundamental- punkten befreit den Raum von dem fortwährenden Rekurrieren auf physiologische Momente. Die Notwendigkeit der Angabe „rechts herum", „links herum" und der Unterscheidung von *) über die verschiedenen Auffassungen der Stellung Kants vgl. K.Siegel, Über Raum Vorstellung und Raumbegriff. Leipzig, J. A. Barth, 1905. 352 ^^^ physiologische Raum im Gegensatz zum metrischen. eigentlich kongruenten und S3?mmetrisch kongruenten Gebilden entfällt hiermit. Die historischen Einflüsse der physiologischen Auffassung auf die Entwicklung der Geometrie sind natürlich nicht zu eliminieren. 18. Selbst in seiner größten Annäherung an den euklidischen Raum bleibt der physiologische Raum von ersterem noch be- trächtlich verschieden. Dies äußert sich auch in der Physik. Den Unterschied von rechts und links, vorn und hinten über- windet der naive Mensch leicht, nicht so jenen von oben und unten, wegen der Schwierigkeiten, welche sein Geotropismus einem dauernden Tausch dieser Richtungen entgegensetzt. Um die Unmöglichkeit einer Sache zu bezeichnen, läßt Herodot (V, 92) Sosikles von Korinth sagen: „Eher wird der Himmel unter der Erde sein, und die Erde über dem Himmel in der Luft schweben, als" .... Was der Kirchenvater Lactantius gegen die Antipodenlehre, gegen die mit den Köpfen nach unten hängenden Menschen und die abwärts gekehrten Baum- wipfel vorbrachte, wogegen Augustinus sich sträubte, und was noch nach Jahrhunderten naiven Menschen unbegreiflich schien, wird uns aus den Eigenschaften des physiologischen Raumes verständlich. Wir haben weniger Ursache über die Beschränkt- heit der Gegner der Antipodenlehre zu staunen, als die Kraft der Abstraktion bei Archytas von Tarent, Aristarch von Samos und andern antiken Denkern zu bewundern. Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie.') 1. Für den tierischen Organismus sind die Beziehungen der Teile des eigenen Leibes zueinander und der physikalischen Ob- jekte zu den Teilen dieses Leibes zunächst von der höchsten Bedeutung. Auf dieselben gründet sich das phjjsiologische System der Raumempfindungen. Kompliziertere Lebensbedingun- gen, die keine einfache und direkte Befriedigung der Bedürfnisse mehr zulassen, bewirken eine Steigerung der Intelligenz. Das physikalische, insbesondere auch das räumliche Verhalten der Körper zueinander kann dann ein mittelbares, indirektes Interesse gewinnen, welches das Interesse an den augenblicklichen Emp- findungen weit übersteigt. Hierdurch entwickelt sich ein räum- liches Weltbild, erst instinktiv, dann handwerksmäßig, endlich wissenschaftlich, in Form der Geometrie. Geometrisch sind die Beziehungen der Körper, insofern dieselben sich durch Raum- empfindungen bestimmt zeigen oder in solchen ihren Ausdruck finden. So wie es ohne Wärmeempfindungen keine Wärme- lehre gäbe, so auch keine Geometrie ohne Raumempfindungen. Allein Wärmelehre und Geometrie bedürfen noch der Erfah- rungen über Körper, d. h. beide müssen über das engbegrenzte Sinnesgebiet, das ihre eigentümliche Grundlage bildet, hinaus- greifen. 2. Selbständige Bedeutung hat die einzelne Empfindung nur auf der tiefsten Stufe des tierischen Lebens. So bei der Reflex- bewegung, bei Beseitigung eines unangenehmen Hautreizes, beim Schnappreflex des Frosches u. s. w. Bei höherer Ent- wicklung richtet sich die Aufmerksamkeit nicht auf die Raum- ') Dieser Artikel erschien in „The Monist". July 1902. Mach, Erkenntnis und Irrtum. 23 354 '2'iir Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. empfindungen allein, sondern auf jene innigen Komplexe von Sinnesempfindungen mit Raumempfindungen, welche wir Körper nennen. Der Körper erregt unser Interesse und ist das Ziel unserer Tätigkeit. Die Art dieser Tätigkeit wird aber dadurch mitbestimmt, wo der Körper sich befindet, ob nah oder fern, ob oben oder unten u. s. w., d. h. durch welche Raumempfindungen er charakterisiert ist. Dadurch ist es bedingt, wie^ durch welche Reaktion, der Körper erreichbar ist, ob durch Ausstrecken des Armes, durch eine größere oder geringere Anzahl von Schritten, durch Schleudern, Werfen u. s. w. Die Menge der empfindenden Elemente, welche der Körper erregt, die Menge der Orte, welche derselbe deckt, das Volumen des Körpers, entspricht in gleich- artigen Fällen der Quantität der Bedürfnisbefriedigung und hat demnach eine biologische Bedeutung. Wenn unsere Gesichts- und Tastempfindungen zunächst auch nur durch die Oberfläche der Körper ausgelöst werden, so drängen doch mächtige As- sociationen gerade den primitiven Menschen dazu, sich mehr vorzustellen, oder wie er meint, mehr wahrzunehmen, als er beobachtet. Er stellt sich auch die von der allein wahrge- nommenen Oberfläche eingeschlossenen Orte materiell erfüllt vor. Dies gilt besonders beim Erblicken und Ergreifen schon einigermaßen bekannter Körper. Es würde sogar eine bedeu- tende Abstraktion erfordern, sich zum Bewußtsein zu bringen, daß man nur die Oberfläche wahrnimmt. Eine solche Abstraktion kann man dem primitiven Menschen nicht zumuten. 3. Wichtig in dieser Beziehung sind auch die eigentümlichen typischen Formen der Beute- und Gebrauchsobjekte. Besondere Formen, d. h. besondere Komplexe von Raumempfindungen, welche der Mensch durch den Verkehr mit der Umgebung kennen lernt, sind schon rein physiologisch unzweideutig charakterisiert. Die Gerade und die Ebene zeichnen sich durch ihre physio- logische Einfachheit vor anderen Formen aus, ebenso der Kreis und die Kugel. Symmetrische und geometrisch ähnliche Formen offenbaren sich schon durch rein physiologische Eigenschaften als verwandt. Die Mannigfaltigkeit an Gestalten, die wir aus der physiologischen Erfahrung kennen, ist nicht unbedeutend. Bei Beschäftigung mit körperlichen Objekten tritt die physikalische Erfahrung bereichernd hinzu. Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 355 4. Die rohe physikalische Erfahrung drängt uns dazu, den Körpern eine gewisse Beständigkeit zuzuschreiben. Wenn nicht besondere Gründe dagegen sprechen, nehmen wir diese Be- ständigkeit auch für die einzelnen Merkmale des Komplexes „Körper" an. Wir denken uns auch die Farbe, die Härte, die Form u. s. w. als beständig. Wir sehen insbesondere den Kör- per als räumlich beständig, unzerstörbar an. Diese Voraus- setzung der räumlichen Beständigkeit, räumlichen Substanzialität, kommt eben in der Geometrie zum Ausdruck. Die physiologisch- psychologische Organisation neigt schon für sich zur Betonung der Beständigkeiten. Denn allgemeine physikalische Beständig- keiten müssen auch in dieser sich aussprechen, welche ja selbst einen physikalischen Fall darstellt; besondere physikalische Be- ständigkeiten aber werden doch in der Anpassung der Art wirk- sam. Indem das Gedächtnis die Bilder der wahrgenommenen Körper in den ursprünglichen Formen und Größen aufleben läßt, bedingt es das Wiedererkennen derselben Körper, und liefert so die erste Grundlage des Eindrucks der Beständigkeit. Die Geo- metrie muß aber noch besondere individuelle Erfahrungen heran- ziehen. 5. Ein Körper A' entferne sich von einem Beobachter A, indem ersterer aus der Umgebung FGH rasch in die Umgebung MNO versetzt wird. Für den optischen Beobachter A wird hierbei der Körper K kleiner und im allgemeinen von anderer Form. Für einen optischen Beobachter B jedoch, der sich mit /T bewegt, und gegen K dieselbe Stellung beibehält, bleibt K unverändert. Auch für den greifenden, haptischen Beobachter gilt Analoges, wenngleich die perspektivische Verkleinerung, weil der Tastsinn überhaupt kein Fernsinn ist, wegfällt. Die Wahrnehmungen von A und B müssen nun widerspruchslos vereinigt werden, und diese Forderung wird besonders dadurch dringend, daß der- selbe Beobachter abwechselnd die Rolle von A und B über- nehmen kann. Sie können nur vereinigt werden, indem man K gewisse konstante von der Lage gegen andere Körper un- abhängige räumliche Eigenschaften zuerkennt. Man erkennt die Raumempfindungen des Beobachters A, die durch K bestimmt sind, als abhängig von andern Raumempfindungen (der Lage von K gegen den Leib des Beobachters Ä). Die von /T an /l 23* 356 ^^^^ Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. bestimmten Raumempfindungen sind aber unabhängig von andern Raumempfindungen, welche die Lage des A' gegen B oder gegen FGH . . . MNO charakterisieren. In dieser Unabhängigkeit liegt das Konstante, um das es sich handelt. Die Grundvoraussetzung der Geometrie beruht also auf einer, wenn auch idealisierten, Erfahrung. 6. Sollen die erwähnten Erfahrungen auffallend und mit voller Bestimmtheit sich ergeben, so muß der Körper A"ein sogenannter starrer Körper sein. Wenn die mit drei distinkten Sinnesempfin- dungen verknüpften Raumempfindungen unverändert bleiben, so ist hiermit auch die Unveränderlichkeit des ganzen Komplexes der Raumempfindungen gegeben, welcher durch einen starren Körper bestimmt ist. Diese Festlegung der von dem Körper ausgelösten Raumempfindungen durch drei Raumempfindungs- elemente charakterisiert also sinnesphysiologisch den starren Kör- per. Dies gilt in gleicher Weise für den Gesichts- und Tastsinn. Wir denken bei dieser Benennung nicht an die physikalischen Bedingungen der Starrheit, wobei wir in verschiedene Sinnes- gebiete übergreifen müßten, sondern an die bloße, dem Raum- sinn gegebene Tatsache. Wir betrachten hier im Gegenteil jeden Körper als geometrisch starr, solange er die angegebene Eigenschaft tatsächlich hat, also auch eine Flüssigkeit, solange sich deren Teile gegeneinander nicht bewegen. 7. So sehr es immer wieder und mit starkem Recht betont wird, daß sich die Geometrie nicht mit physischen, sondern mit idealen Objekten beschäftigt, so kann man anderseits nicht be- zweifeln, daß dieselbe aus dem Interesse für die Raumverhältnisse der physischen Körper entsprungen ist. Die Spuren hiervon trägt sie deutlich an sich, und nur durch Beachtung dieser Spuren wird der Entwicklungsgang derselben ganz verständlich. Unser Wissen über das räumliche Verhalten der Körper gründet sich auf die Vergleichung der durch dieselben ausgelösten Raum- empfindungen. Auch ohne irgend welche künstliche oder wissen- schaftliche Hilfsmittel erwerben wir uns eine ausgiebige Raum- erfahrung. Wir vermögen ungefähr zu beurteilen, ob starre Körper, die wir nebeneinander in ungleicher Lage, in verschie- dener Entfernung wahrnehmen, nacheinander in gleiche Lage gebracht, nahe gleiche oder ungleiche Raumempfindungen aus- Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 357 lösen werden. Wir wissen ungefähr, ob ein Körper einen andern decken, ob ein horizontal liegender Stab zu einer gewissen Höhe hinanreichen kann. Die Raumempfindungen unterliegen jedoch physiologischen Umständen, die für die verglichenen Glieder nie ganz identisch sein können. Genau genommen muß auch immer die Gedächtnisspur einer Empfindung mit einer eigent- lichen Empfindung verglichen werden. Wenn es sich also um das genaue räumliche Verhalten der Körper gegeneinander handelt, müssen wir uns Merkmale derselben verschaffen, welche von den wenig kontrollierbaren physiologischen Umständen möglichst un- abhängig sind. Dies geschieht durch Vergleichung der Körper mit Körpern. Ob ein Körper A einen andern B deckt, ob einer genau an die vom andern eingenommenen Orte gebracht werden kann, d. h. ob beide unter gleichen Umständen dieselben Raum- empfindungen auslösen, läßt sich mit großer Genauigkeit be- urteilen. Wir betrachten solche Körper als räumlich, geometrisch in jeder Beziehung gleich, kongruent. Die Art der Empfindungen ist hierbei gar nicht mehr maßgebend; es handelt sich nur mehr um deren Gleichheit oder Ungleichheit. Sind beide Körper starr, so können wir alle Erfahrungen, die wir an dem einen, etwa dem leichter beweglicheren, handlicheren Maßstab A ge- winnen, auch auf den andern B übertragen. Auf den Umstand, daß es weder möglich noch notwendig ist, für jeden Körper einen besonderen Vergleichskörper oder Maßstab zu verwenden, kommen wir noch zurück. Die bequemsten, wenn auch nur in roher Weise verwendbaren Vergleichskörper, deren Unveränderlichkeit beim Transport wir stets vor den Augen haben, sind unsere Hände und Füße, unsere Arme und Beine. Die Namen der ältesten Maße zeigen auch deutlich, daß wir ursprünglich mit Handbreiten, Fußlängen, Armlängen, Schrittweiten u. s. w. gemessen haben. Mit der Einführung konventioneller, aufbewahrter, körperlicher Maße beginnt nur eine Y*er\odiQ größerer Genauigkeit der Messung; das Prinzip derselben bleibt das gleiche. Der Maßstab ermög- licht uns die Vergleichung schwer transportabler oder überhaupt praktisch unbeweglicher Körper. 8. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß nicht die räum- lichen, sondern vor allem die materiellen Eigenschaften der Körper das stärkste Interesse für uns haben. Dieser Umstand 358 Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. äußert sich gewiß auch in den Anfängen der Geometrie. Das Volumen des Körpers kommt instinktiv als Quantität der mate- riellen Eigenschaften in Betracht, und bildet als solches ein Streit- objekt, lange vor jeder tieferen geometrischen Einsicht. Hiermit gewinnt aber die Vergleichung, die Messung der Volumina schon ihren Wert, und stellt sich unter die ersten und wichtigsten Auf- gaben der primitiven Geometrie. Die ersten Volumenmessungen wurden wahrscheinlich durch Hohlmaße für Flüssigkeiten und Früchte vorgenommen. Dieselben hatten also den Zweck, die Quantität gleichartiger Materie oder die Menge (Zahl) gleich- artiger gleichgeformter (identischer) Körper bequem zu ermitteln. So ist umgekehrt wahrscheinlich auch der Raum von Vorrats- kammern (Speichern) ursprünglich nach der Menge, Zahl der gleichartigen Körper, die derselbe aufzunehmen vermochte, ge- schätzt worden. Die Messung des Volumens durch eine Volumen- einheit ist aller Wahrscheinlichkeit nach ein viel späterer Gedanke und kann sich gewiß nur auf einer höheren Stufe der Abstraktion entwickelt haben. 9. Auch die Flächenschätzung wird nach der Menge (Zahl) der Frucht- oder Nutzpflanzen, nach der Saat, die ein Feld auf- zunehmen vermochte, gelegentlich wohl auch nach der Arbeit, die dasselbe in Anspruch nahm, stattgefunden haben. Die Messung einer Fläche durch eine Fläche ergab sich hier leicht und an- schaulich, wenn gleich große, gleich geformte Felder neben- einander lagen. Da wird man wohl nicht im Zweifel gewesen sein, daß das Feld, welches aus n Feldern von gleicher Größe und Form besteht, auch den /z-fachen wirtschaftlichen Wert hat. Man wird aber nicht geneigt sein, die Bedeutung dieses intellek- tuellen Schrittes zu unterschätzen, wenn man die Unrichtigkeiten in der Flächenmessung in Betracht zieht, welche bei den Ägyptern^) und selbst noch bei den römischen Agrimensoren ^) vorkamen. Als der persische ,Übermensch' Xerxes^) das Heer zählen wollte, welches er „zu verzehren" hatte, das er mit Peitschenhieben über den Hellespont und gegen die Griechen ') Eisenlohr, EinmathematischesHandbuchderaltenÄgypter. Papyrus Rhind. Leipzig 1877. *) M. Cantor, Die römischen Agrimensoren. Leipzig 1875. «) Herodot, Vll, 22, 56, 103, 223. Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 359 trieb, wandte er folgendes Verfahren an: Es wurden 10000 Mann dicht gedrängt aufgestellt, der von denselben eingenommene Platz wurde umzäunt, und jede folgende Abteilung des Heeres oder vielmehr der Herde von Sklaven, welche nachher in die Umzäunung hineingetrieben den Platz ausfüllte, galt wieder für 10000. Hier begegnen wir der umgekehrten Anwendung des Gedankens, wonach eine Fläche gemessen wird durch die Menge (Zahl) gleicher, identischer, dichtliegender Körper, welche dieselbe bedecken. Indem zunächst instinktiv, dann bewußt von der Höhendimension dieser Körper abgesehen wird, findet der Übergang zur Flächenmessung durch die Flächeneinheit statt. Der analoge Schritt zur Volumenmessung durch die Volumen- einheit fordert eine viel geübtere, geometrisch geschulte An- schauung, vollzieht sich später und ist auch heute noch dem Volke weniger geläufig. 10. Die älteste Schätzung von großen Entfernungen nach Tagereisen, Wegstunden u. s. w. zog wohl die Mühe, Arbeit, den Zeitaufwand der Überwindung dieser Entfernungen in Betracht. Mißt man aber die Länge durch wiederholtes Anlegen der Hände, Füße, der Armlänge, des Maßstabes, der Meßkette, so ist dies, genau genommen, eine Messung durch Auszählung gleicher Körper, also eigentlich wieder eine Volumenmessung. Das Be- fremdliche dieser Auffassung wird im Verlauf dieser Darstellung verschwinden. Sieht man hierbei ab, erst instinktiv und dann bewußt, von den beiden Querdimensionen der zur Auszählung verwendeten Körper, so gelangt man dazu, die Länge durch eine Längeneinheit zu messen. 11. Man definiert gewöhnlich die Fläche als die Grenze eines Raumes. So ist die Oberfläche einer Metallkugel die Grenze zwischen Metall und Luft, sie gehört weder dem Metall- noch dem Lufträume an; derselben schreibt man bloß 2 Di- mensionen zu. Analog ist die eindimensionale Linie die Grenze einer Fläche, z. B. der Äquator die Grenze der Halbkugelfläche. Der ausdehnungslose Punkt ist die Grenze einer Linie, z. B. eines Kreisbogens. Den Punkt läßt man durch Bewegung eine eindimensionale Linie, diese ebenso eine zweidimensionale Fläche, und letztere analog einen dreidimensionalen körperlichen Raum erzeugen. Der geschulten Abstraktion erwachsen durch diese 360 ^lii' Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. Auffassung keine Schwierigkeiten. Dieselbe leidet nur an dem Übelstand, daß sie den natürlichen Weg, auf welchem man zu den Abstraktionen gelangt ist, nicht aufzeigt, sondern im Gegen- teil künstlich verdeckt. Es wird darum doch eine gewisse Un- behaglichkeit fühlbar, wenn auf diesem Standpunkte, z. B. das Flächenmaß, die Flächeneinheit definiert werden soll, nachdem die Längenmessung abgehandelt ist.^) 12. Man gewinnt eine homogenere Auffassung, wenn man jede Messung als eine Raumauszählung durch dichtliegende, räumlich identische^ oder doch als identisch angesehene Körper betrachtet, handle es sich um Volumina, Flächen oder Linien. Die Flächen kann man als körperliche Blätter von überall gleicher, konstanter, beliebig kleiner, verschwindender Dicke, die Linien als Schnüre oder Fäden von konstanter, verschwindender Dicke ansehen. Der Punkt wird dann ein kleiner körperlicher Raum, von dessen Ausdehnung man willkürlich absieht, ob derselbe nun einem andern Raum, einer Fläche oder Linie angehört. Die zur Auszählung verwendeten Körper können nach Bedürfnis beliebig klein und von beliebiger passender Form gewählt werden. Nichts hindert uns, diese auf dem bezeichneten natürlichen Wege gewonnenen Vorstellungen durch Absehen von der Dicke der Flächenblätter und Linienfäden in üblicher Weise begrifflich zu idealisieren. Die übliche, etwas ängstliche Darstellung der Grund- begriffe der Geometrie rührt wohl daher, daß die von zufälligen, historischen, elementaren Fesseln befreiende, infinitesimale Me- thode erst in einem späten Entwicklungsstadium der Geometrie wirksam wurde und daß noch viel später (durch Gauß) die unbefangene Anknüpfung der Geometrie an die /7/z}'s/s^/z^/z Wissen- schaften sich wiederfand. Warum aber die bessere Einsicht den Elementen nicht jetzt wenigstens zu gut kommen sollte, ist nicht recht einzusehen. Schon Leibniz weist darauf hin, daß es rationeller ist, mit den geometrischen Definitionen beim Körper zu beginnen.^) 13. Die Ausmessung von Räumen, Flächen und Linien durch Körper ist unserer verfeinerten Geometrie ganz fremd geworden; *) Holder, Anschauung u. Denken in der Geometrie. Leipzig 1900. S. 18. ') Brief an Giordano (Leibniz, Mathem. Schriften, herausg. v. Ger- hardt. Berlin 1849. \. Abt., I. Bd., S. 199). Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 361 dennoch tritt dieser Gedanke nicht bloß als Vorläufer idea- lisierter Methoden auf. Derselbe spielt in der Psychologie der Geometrie eine wichtige Rolle, und wir finden ihn noch in einem späten Entwicklungsstadium in der Werkstätte des Forschers und Erfinders auf diesem Gebiete sehr wirksam. Cavalieris Methode der Indivisibilien scheint durch diesen Gedanken am besten verständlich. Nach dessen eigener Erläuterung denke man sich die zu vergleichenden Flächen (Quadraturen) mit be- liebig zahlreichen äquidistanten parallelen Fäden nach Art der Kette eines Gewebes, und die zu vergleichenden Räume (Kuba- turen) durch parallele Buchblätter ausgefüllt. Die Gesamt/ä/z^^ der Fäden kann dann als Maß der Flächen^ und die Gesamt- fläche der Blätter als Maß der Volumina dienen, und zwar kann man in der Genauigkeit so weit gehen, als man will. Die Zahl äquidistanter gleicher Körper kann bei hinreichend dichter Lage und passender Wahl der Form ebensogut die Maßzahlen von Flächen und Räumen liefern, als die Zahl der identischen Körper, welche die Flächen absolut dicht bedecken, oder die Räume absolut dicht ausfüllen. Läßt man diese Körper zu Linien (Geraden), bezw. zu Flächen (Ebenen) schrumpfen, so erhält man die Teilung der Flächen in Flächenelemente und der Räume in Raumelemente, somit die übliche Messung der Flächen durch Flächen und der Räume durch Räume. Die mangelhafte, dem Stande seiner zeitgenössischen Geometrie wenig angemessene Darstellung Cavalieris hat die Historiker der Geometrie zu recht harten Urteilen über dessen schönen und fruchtbaren Er- findungsgedanken bewogen.^) Wenn noch Helmholtz in seiner bedeutenden Jugendarbeit,^) in einem Momente des Übergewichts der Phantasie über die Kritik, die Fläche als die Summe der in ihr liegenden Linien (Ordinalen) ansieht, so lehrt dies, wie tief die ursprüngliche natürliche Auffassung sitzt, und wie leicht dieselbe immer wieder entsteht.^) *) Weißenborn, Prinzipien der höheren Analpsis in ihrer Entwicklung. Halle 1856. — Gerhardt, Entdeckung der höheren Analysis. Halle 1855. S. 18 u. f. — M. Cantor, Geschichte der Mathematik. Leipzig 1892. II. Bd. 2) Helmholtz, Erhaltung der Kraft. Berlin 1847. S. 14. ') Für Leser, welche der Geometrie ferner stehen, mag dieCavalieri sehe Methode durch ein einfaches Beispiel erläutert werden. Wir denken uns aus 362 ^^r Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 14. Außer der allgemeinen Erfahrung, daß es bewegliche Körper gibt, denen trotz der Beweglichkeit eine räumliche Be- ständigkeit in dem oben erläuterten Sinne, eine identisch bleibende Eigenschaft zugeschrieben werden muß, welche die Grundlage aller Maßbegriffe bildet, sammeln sich instinktiv, dann bei berufs- mäßiger, handwerksmäßiger Beschäftigung, noch mancherlei Spe- zial-Erfahrungen an, die der Geometrie zu gut kommen. Indem dieselben zum Teil in überraschender Form auftreten, zum Teil miteinander im Einklang zu stehen, zum Teil aber auch bei un- vorsichtiger Verwertung in paradoxen Widerstreit zu geraten scheinen, beunruhigen sie das Denken und reizen sie dasselbe, dem geordneten logischen Zusammenhang dieser Erfahrungen nachzugehen. Diesen Prozessen wollen wir zunächst unsere Aufmerksamkeit zuwenden. einem Block von Papierblättern auf einem Tische einen geraden Zylinder mit horizontaler Kreisbasis herausgeschnitten, und zugleich einen Kegel von derselben Basis und Höhe in den Zylinder eingeschrieben. Während die vom Zylinder ausgeschnittenen Blätter alle gleich sind, wachsen die dem Kegel angehörigen Blätter quadratisch mit der Entfernung vom Scheitel. Die Elemen- targeometrie lehrt in diesem Falle das Kegelvolumen als den dritten Teil des Zylindervolumens kennen. Hiervon ergibt sich nun sofort eine Anwen- dung auf die Quadratur der Parabel. Um ein Parabelstück werde ein Recht- eck beschrieben, durch die Achse, die Scheiteltangente und die zugehörigen Gegenseiten (Fig. 11). Denkt man sich das Rechteck mit einem zu .r parallelen Fadensystem überzogen, so gehört zu jedem Faden von der zu x parallelen P'S« 11' Rechteckseitenlänge ein y^ propor- tionales Fadenstück außerhalb des Parabelabschnittes. Demnach steht die Fläche außerhalb des Parabel- abschnittes zur Fläche des gesamten Rechteckes im Verhältnis 1 : 3, gerade so wie das Volumen des Kegels zu jenem des Zylinders. Es spricht für die Natürlichkeit der Cavalierischen Anschauung, daß auch Schreiber dieser Zeilen, der als Gymnasiast von der höheren Geometrie hörte, aber nichts von derselben zu sehen bekam, auf sehr ähnliche An- schauungen verfiel, was ja im 19. Jahrhundert nicht mehr schwierig war. Er machte mit Hilfe derselben eine Menge kleiner, natürlich längst bekannter Entdeckungen, fand so den Güldinschen Satz, berechnete einige der Kepl er- sehen Rotationskörper u. s. w. Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 363 15. Wenn auch die bekannte Äußerung des Herodot/) in welcher er den Ursprung der Geometrie auf die Feldmessung der Ägypter zurückführt, nicht vorläge, und wenn des Eudemus Bericht über die Vorgeschichte der Geometrie, den wir durch den Auszug des Proklus kennen, gänzlich verloren gegangen wäre, 2) könnten wir doch an einem vorwissenschaftlichen Stadium der Geometrie nicht zweifeln. Die ersten geometrischen Ein- sichten ergaben sich zufällig und ungesucht auf dem Wege der handwerksmäßigen Erfahrung bei Gelegenheit der verschie- densten Beschäftigungen. Es geschah dies zu einer Zeit, in welcher der wissenschaftliche Sinn, das Interesse für den Zu- sammenhang dieser Erfahrungen noch sehr wenig entwickelt war. Selbst in unserer dürftigen Geschichte der Anfänge der Geometrie tritt dies deutlich hervor, noch mehr aber in der all- gemeinen Kulturgeschichte, welche handwerksmäßige geometrische Verrichtungen in einer so frühen und barbarischen Zeit nach- weist, daß die Annahme wissenschaftlicher Bestrebungen aus- geschlossen ist. Fig. 12. 16. Alle wilden Stämme führen Flechtarbeiten aus, bei welchen, so wie bei ihren Zeichnungen, Malereien und Kerb- arbeiten, sich vorzugsweise ornamentale Motive ergeben, die aus den einfachsten geometrischen Formen bestehen. Denn diese entsprechen, wie die Zeichnungen unserer Kinder, der verein- fachten, typischen, schematischen Auffassung der Objekte, welche sie abbilden wollen, und diese sind anderseits ihrer Handfertig- keit und ihren primitiven Werkzeugen am leichtesten erreichbar. Ein solches Ornament, aus einer Reihe (Fig. 12) von gleich- geformten, abwechselnd verkehrt gestellten Dreiecken oder einer Reihe von Parallelogrammen bestehend, legt nun die Erfahrung 1) Herodot, II, 109. *) Jam£s Gow, History of Greek mathematics. Cambridge 1884. S. 134. 364 '2-ttr Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. sehr nahe, daß die Summe der 3 Winkel des Dreieckes beim Zusammenlegen der Scheitel, 2 Rechte ausmacht. Diese Er- fahrung konnte auch unmöglich den Ton- und Steinarbeitern der Assyrier, Ägypter, Chinesen, Griechen u. s. w. entgehen, sobald sie aus gleichgeformten verschiedenfarbigen Steinen die gebräuch- lichen Mosaiken, Pflasterungen zusammensetzten. Der Satz der Pythagoräer, wonach die Ebene um einen Punkt herum durch 6 gleichseitige Dreiecke, 4 Quadrate und 3 reguläre Sechsecke vollständig erfüllt wird, deutet ebenfalls auf die bezeichnete Erkenntnisquelle. ^) Dieselbe offenbart sich auch in dem alt- griechischen Nachweis der Winkelsumme eines beliebigen Drei- Fig. 13. Fig. 14. eckes durch Zerschneiden desselben in rechtwinklige Dreiecke (durch Ziehen der Höhe) und Ergänzung der so entstandenen Teile zu Rechtecken.^) Dieselben Erfahrungen ergeben sich bei mannigfaltigen anderen Gelegenheiten. Ein Feldmesser um- schreite ein polygonales Grundstück. Am Anfangspunkt seines Weges wieder angelangt, wird er finden, daß er eine volle Um- drehung von 4 Rechten ausgeführt hat. Im Falle des Dreieckes bleiben also von den 6 Rechten (Fig. 13) an allen drei Ecken und an den Innenseiten der drei Seiten nach Abzug der drei Drehungswinkel a, b, c für die Summe der Innenwinkel 2 Rechte ') Der Satz wird von Proklus den Pythagoräern zugeschrieben. Vgl. Gow, History. S. 143. «) Hankel, Geschichte der Mathematik. Leipzig 1874. S, 96. Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 365 Übrig. Diese Ableitung verwendete Thibaut,^) ein Zeitgenosse von Gauß. Wenn ein Zeichner ein Dreieck in der Weise be- schreibt, daß er das Lineal nacheinander an den Ecken um den betreffenden Innenwinkel immer in demselben Sinne dreht, so findet er, bei der ersten Seite wieder anlangend, die Schneide des Lineals an der Innenseite des Dreiecks liegend, wenn sie das erste Mal an der Außenseite lag (Fig. 14). Das Lineal hat also bei dieser Prozedur, die Innenwinkel in demselben Sinne beschreibend, eine Äa/^^ Drehung ausgeführt.^) Tylor^) bemerkt, daß auch das Falten von Stoff oder Papier zu denselben Erfah- rungen leiten kann. Falten wir ein dreieckiges Papier in der (Fig. 15) angedeuteten Weise, Fig. 15. so entsteht ein doppelt belegtes Rechteck, dessen doppelte Fläche also der Dreiecksfläche ent- spricht. Die Summe der bei a koinzidierenden Dreieckswinkel ist 2 R. Wiewohl man durch Faltungen sehr überraschende Er- gebnisse erzielt hat, kann man doch kaum glauben, daß diese Prozeduren historisch für die geometrische Erkenntnis sehr er- giebig waren. Dieses Material ist von zu beschränkter An- wendung, und die mit demselben beschäftigten Arbeiter sind zu wenig zu exakter Beobachtung gedrängt.*) 17. Die Einsicht, daß die Winkelsumme des ebenen Drei- eckes eine bestimmte Quantität^ nämlich 2R beträgt, ist also auf dem Wege der Erfahrung gewonnen worden, nicht anders als etwa der Hebelsatz und das Bople-Mariottesche Ga&- gesetz. Gewiß kann der bloße Augenschein und selbst die Messung mit den feinsten Instrumenten nicht lehren, daß die 1) Thibaut, Grundriß der reinen Mathematik. Göttingen 1809. S. 177. — Die möglichen Einwendungen gegen diese und die folgenden Ableitungen lassen wir vorläufig unberücksichtigt. *) Auch vom Verfasser bei Gelegenheit des Zeichnens bemerkt. *) Tylor, Einleitung in das Studium der Anthropologie. Braunschweig 1883. S. 383. *) Vgl. z.B. Sundara Row, Geometrie Exercises in Paper-Folding. Chicago 1901. 366 2ur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. Winkelsumme absolut genau 2 R ist. Ebenso verhält es sich mit dem Hebelsatz und mit dem Gasgesetz. Alle diese Sätze sind idealisierte, schematisierte Erfahrungen; denn Messungen werden immer kleine Abweichungen von denselben zeigen. Während wir aber das Gasgesetz bei weiteren Versuchen bald als eine Annäherung erkennen und dasselbe modifizieren müssen, um die Tatsachen genauer darzustellen, bleibt der Hebelsatz und der Winkelsatz mit diesen immer in so genauer Überein- stimmung, als dies bei den unvermeidlichen Versuchsfehlern erwartet werden kann, und von allen Folgerungen^ die sich auf diese beiden Sätze als Voraussetzungen gründen, kann dasselbe behauptet werden. 18. Wenn beim Pflastern gleiche und gleichgeformte Dreiecke mit den Grundlinien in einer Geraden neben- einander gestellt wurden (Fig. 16), so mußte dies wieder zu einer höchst wichtigen geometrischen Einsicht lei- ten. Bei Verschiebung des Dreieckes in einer Ebene und längs einer Ge- raden (also ohne Drehung), beschrei- ben alle Punkte, auch jene der Grenz- linien, den gleichen Weg. Dieselbe Grenzgerade liefert also in beiden Lagen ein überall ^/^/^Ä weit getrenn- tes Geradenpaar. Zugleich verbürgte die Operation die Gleichheit der Winkel mit der Verschiebungs- geraden an derselben Seite der beiden Geraden des Paares. Die Summe der Innenwinkel zur selben Seite der Verschiebungs- geraden war hiermit zu 2/? bestimmt. Der Euklidsche Parallelensatz war hiermit gewonnen. Fügen wir hinzu, daß die Möglichkeit, eine solche Pflasterung beliebig weit auszu- dehnen, die berührte Einsicht besonders fühlbar machen mußte. Die Verschiebung eines Dreieckes längs eines Lineals ist bis heute das einfachste und natürlichste Verfahren geblieben, Parallele zu ziehen. Es ist kaum nötig zu bemerken, daß der Winkel- summen- und der Parallelensatz aneinander gebunden sind, nur verschiedene Formen derselben Erfahrung darstellen. Fig. 16. Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 367 19. Die zuvor erwähnten Steinarbeiter mußten leicht zur Einsicht gelangen, daß ein reguläres Sechseck sich aus gleich- seitigen Dreiecken zusammensetzen läßt. Die einfachsten Fälle der Kreisteilung, die Sechsteilung durch den Radius, die Drei- teilung u. s. w. ergaben sich sofort. Wie der Zimmermann fast ohne Überlegung, instinktiv findet, läßt sich aus einem zylin- drischen Baumstamm wegen der allseitigen Symmetrie des Kreises in unendlich mannigfaltiger Weise ein Balken von rechteckigem, symmetrischem Querschnitt schneiden, dessen Kanten in der Zylinderfläche liegen. Die Diagonalen des Rechteckes gehen durch den Kreismittelpunkt. Nach Hankels^) und Tylors^) Meinung wurde wahrscheinlich so der Winkel im Halbkreise als ein rechter erkannt. 20. Ein gespannter Faden verschafft uns die eigentümliche Anschauung der geraden Linie. Dieselbe ist charakterisiert durch ihre physiologische Einfachheit. Alle Teile derselben be- dingen die gleiche Richtungsempfindung, jeder Punkt löst das Mittel der Raumempfindungen der Nachbarpunkte aus, jeder noch so kleine Teil ist jedem beliebig großen ähnlich. Mit dieser physiologischen Charakteristik, obgleich dieselbe auf die Defi- nition mancher Geometer Einfluß genommen haben mag,^) könnte dennoch der Geometer nur wenig anfangen. Das An- schauungsbild muß durch physikalische Erfahrungen über körper- liche Objekte bereichert werden, um geometrisch brauchbar zu sein. Eine Schnur sei mit dem einen Ende bei A befestigt und mit dem andern durch den bei B festgemachten Ring gezogen. Zieht man an dem Ende bei 5, so sieht man Schnurteile, welche vorher zwischen A und B lagen, bei B hervortreten, während sich die Schnur zugleich der Form der Geraden nähert. Eine geringere Anzahl von gleichen Schnurteilchen, identischen Körperchen ^ genügt, um zwischen A und B eine verbindende Gerade, als um eine Krumme zu erfüllen. Es ist ein Irrtum zu behaupten, daß die Gerade durch die bloße Anschauung als die Kürzeste erkannt wird. Allerdings kann man die gleichzeitige Form- und Längenänderung der Schnur in der Vorstellung ») H an kel, Gesch. d. Mathem. S. 206— 207. «) Tylor, a. a. O. ») Euklid, Elemente. I. Def. 3. 368 2^'' Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. qualitativ vollkommen richtig und verläßlich reproduzieren, allein es ist dies das Wiederaufleben einer Erfahrung mit Körpern — ein Gedankenexperiment. Die bloße, ruhige Raumanschauung würde nie zu einer solchen Einsicht führen. Messung ist Er- fahrung einer körperlichen Reaktion, ein Deckungs-Experiment. Angeschaute, vorgestellte Linien verschiedener Richtung und Länge lassen sich überhaupt nicht ohne weiteres aneinander anlegen. Die Möglichkeit eines solchen Vorganges muß er- fahren werden an Materiellem, für unveränderlich Geltendem. Wenn zuweilen sogar den Tieren die instinktive Kenntnis der Geraden als der Kürzesten zugeschrieben wird, so beruht dies auf einem Irrtum. Wirkt auf ein Tier ein anziehender Reiz, und hat sich dasselbe einmal so gewendet, daß dessen Sym- metrieebene durch das Reizobjekt hindurchgeht, so ist die Gerade die durch den Reiz eindeutig bestimmte Bewegungs- bahn. Dies geht aus Loebs Untersuchungen über die Tropismen der Tiere deutlich hervor. 21. Daß insbesondere zwei Seiten eines Dreieckes größer sind als die dritte, lehrt nicht die bloße Anschauung. Legt man zwei Seiten durch Drehung um die Winkelscheitel an der Grund- linie in diese um, so sieht man allerdings schon in der Vor- stellung^ daß jene, mit ihren freien Enden sich in Kreisbogen bewegend, ^ich schließlich teilweise überdecken, also mehr als die Grundlinie erfüllen. Ohne aber diesen Vorgang einmal an körperlichen Objekten gesehen zu haben, wird man nicht zu dieser Vorstellung gelangen. Euklid^) leitet dieselbe Einsicht auf einem künstlichen Umwege daraus ab, daß im Dreieck die größere Seite an den größeren gegenüberliegenden Winkel ge- bunden ist. Die eigentliche Erkenntnisquelle ist auch hier die Erfahrung bei Bewegung einer körperlichen Dreiecksseite; sie ist nur mühsam durch die Form der Ableitung verdeckt, und nicht zum Vorteil der Klarheit und Kürze. 22. Mit den eben erwähnten Erfahrungen sind die Eigen- schaften der Geraden nicht erschöpft. Wird ein beliebig ge- formter Draht an zwei an einem Brett befestigte Stifte angelegt und in steter Berührung mit diesen verschoben, so ändert sich >) Euklid, Elemente. I. Prop. 20. Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 369 hierbei die Form und die Lage der Drahtteile zwischen den Stiften unausgesetzt. Je gerader der Draht wird, desto kleiner fällt diese Änderung aus. Ein gerader Draht verschiebt sich bei diesem Vorgang in sich selbst. Um zwei seiner fest- gehaltenen Punkte gedreht, ändert ein krummer Draht fort und fort seine Lage, während ein gerader dieselbe stets beibehält, sich in sich selbst dreht. ^) Wenn wir nun die Gerade defi- nieren als diejenige Linie, welche durch zwei ihrer Punkte voll- kommen bestimmt ist, so liegt in diesem Begriff nichts als die Idealisierung der durch jene Erfahrung gewonnenen Vorstellung, welche mit der (phjjsiologischen) Anschauung durchaus noch nicht gegeben ist. 23. Die Ebene ist wie die Gerade schon physiologisch durch ihre Einfach- heit charakterisiert. Dieselbe erscheint überall gleich.^) Jeder Punkt löst das Mittel der Raumempfindungen der Nach- barpunkte aus. Jeder kleine Teil ist jedem beliebig großen ähnlich. Erfahrungen an körperlichen Objekten müssen dennoch hinzukommen, damit alles dies geo- metrisch verwertbar werde. Die Ebene ist wie die Gerade zu sich selbst physio- logisch symmetrisch, wenn sie in die Mediane fällt oder zu der- selben senkrecht steht. Um aber die Symmetrie als eine bleibende geometrische Eigenschaft der Ebene und der Geraden zu er- kennen, müssen dieselben schon als bewegliche, unveränderliche, körperliche Objekte gegeben sein. Das Gebundensein der physio- logischen Symmetrie an metrische Eigenschaften bedarf auch eines besonderen metrischen Nachweises. 24. Die Ebene wird körperlich dargestellt, indem man an drei Fig. 17. ») Leibniz in einem Brief an Vitale Giordano (abgedr. inLeibnizens math. Schriften, herausgegeben von Gerhardt, Berlin 1849, 1. Abt., Bd. I, S. 195, 196) benützt letztere Eigenschaft zur Definition der Geraden. Die Verschiebbarkeit in sich selbst teilt die Gerade mit dem Kreise und der Kreiszylinderspirale. Die Drehung in sich selbst und die Bestimmung durch zwei Punkte sind ihr aber ausschließlich eigen. 2) Vgl. Euklid, Elemente I. Definition 7. Mach, Erkenntnis und Irrtum. / 24 370 ^^f Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. Körpern durch Schleifen aneinander drei Flächen A, B, C her- stellt, von welchen jede auf jede paßt, was (wie an der Fig. 17 ersichtlich) weder bei konvexen noch bei konkaven, sondern nur bei ebenen Flächen möglich ist. Durch das Schleifen ver- schwinden eben die Konvexitäten und Konkavitäten. Ähnlich erhält man mit Hilfe eines unvollkommenen Lineals eine genauere Gerade, indem man ersteres mit den Endpunkten an die Punkte A^ B anlegt, dann nach einer Drehung um 180° aus seiner Ebene wieder an A, B anlegt, und dann die mittlere zwischen beiden gezogenen Linien als vollkommenere Gerade ansieht, mit welcher man dasselbe Verfahren wiederholen kann. Hat man durch Schleifen eine Ebene, also eine Fläche hergestellt, welche überall und zu beiden Seiten dieselbe Form hat, so er- geben sich weitere Erfahrungen. Zwei solche Ebenen aufein- ander gelegt lehren, daß die Ebene in sich verschiebbar und in sich drehbar ist, ähnlich wie die Gerade. Ein zwischen zwei Punkten der Ebene gespannter Faden fällt ganz in die Ebene. Ein über ein begrenztes Ebenenstück gespanntes Tuch fällt mit dieser zusammen. Die Ebene stellt also das Minimum der Fläche innerhalb ihrer Begrenzung dar. Legt man die Ebene auf zwei Spitzen, so kann man sie noch um die Verbindungs- gerade derselben drehen; eine dritte Spitze außerhalb dieser Geraden legt die Ebene fest, bestimmt dieselbe also vollkommen. Leibniz benutzt in der Tat in der natürlichsten Weise die Er- fahrungen an körperlichen Objekten, wenn er in dem oben zitierten Brief an Giordano die Ebene definiert als eine Fläche, welche einen unbegrenzten Körper in zwei kongruente Teile zer- schneidet, und die Gerade als jene Linie, welche die unbegrenzte Ebene in zwei kongruente Teile zerschneidet.^) 25. Wenn man auf die Symmetrie der Ebene zu sich selbst die Aufmerksamkeit richtet und zu beiden Seiten derselben je einen zum andern symmetrischen Punkt annimmt, so findet man jeden Punkt der Ebene von diesem Punktepaar gleich weit entfernt, ^) „Et difficulter absolvi poterit demonstratio, nisi quis assumat notionem rectae, qualis est qua ego uti soleo, quod corpore aliquo duobus punctis immotis revoluto locus omnium punctorum quiescentium sit recta, vel saltem quod recta sit linea secans planum interminatum in duas partes congruas; et planum sit superficies secans solidum interminatum in duas partes congruas.'' Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 371 man gelangt also zur Leibniz sehen Definition^) der Ebene. Die Gleichförmigkeit und die Symmetrie der Geraden und der Ebene sind an deren absolutes Längen-, bezw. Flächenminimum gebunden. Der gegebenen Grenze, ohne sonstige Neben- bedingung, soll das Minimum entsprechen.. Das Minimum ist eindeutig, einzigartig , und daher die Symmetrie in Bezug auf die Grenzpunkte. Wegen des absoluten Minimums stellt jedes noch so kleine Stück selbst wieder dieselbe Minimumeigenschaft dar. Daher die Gleichförmigkeit. 26. Miteinander zusammenhängende Erfahrungen können unabhängig voneinander sich darbieten und sind ohne Zweifel oft so gefunden worden, noch vor der Kenntnis ihres Zusammen- hanges. Dies schließt nicht aus, daß nachträglich die eine als durch die andere gegeben und mitbestimmt, als aus derselben ableitbar erkannt werde. Kennt man z. B. die S5>mmetrie und Gleichförmigkeit der Geraden und Ebene, so leitet man hieraus leicht den geraden Durchschnitt der Ebenen ab, ebenso, daß je zwei Punkte der Ebene durch eine ganz in dieselbe fallende Gerade verbunden werden können u. s. w. Dadurch, daß nur ein Minimum von unscheinbaren, kaum beachteten Erfahrungen zu solchen Ableitungen nötig ist, darf man sich nicht verleiten lassen, dieses Minimum für ganz überflüssig zu halten und zu glauben, daß Anschauung und Raisonnement allein zum Aufbau der Geometrie genügen. 27. Ähnlich wie die Anschauungsbilder der Geraden und Ebene werden auch jene des Kreises, der Kugel, des Ziplinders u. s. w. durch metrische Erfahrungen bereichert und dadurch erst geo- metrisch fruchtbar. Derselbe ökonomische Zug, der unsere Kinder treibt, nur das Typische in ihrer Auffassung und in ihren Zeichnungen festzuhalten, führt auch zur Schematisierung und begrifflichen Idealisierung unserer durch die Erfahrung ge- wonnenen Vorstellungen. Obgleich wir in Wirklichkeit keine vollkommene Gerade, keinen genauen Kreis vorfinden, ziehen wir doch vor, in unserem Denken von den betreffenden Ab- weichungen abzusehen. Die Geometrie beschäftigt sich also ') Leibniz in seiner „geometrischen Charakteristik" in dem Brief an Huygens vom 8. September 1679, Gerhardt, a. a. O., II. Abt., Bd. I, S. 23. / 24* 372 ^^r Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. mit Idealen, welche aber durch Schematisierung von Erfahrungs- objekten entstanden sind. 28. Ich habe schon anderwärts darauf hingewiesen, daß man unrecht tut, beim Elementarunterricht vorzugsweise nur die logische Seite der Geometrie zu pflegen, und die Erkenntnis- quellen, welche in der Erfahrung liegen, der Jugend nicht zu erschließen. Kürzlich haben nun die Amerikaner, welchen gegen- über die Tradition eine geringere Macht übt, in erfreulicher Weise mit diesem System gebrochen und haben eine Art ex- perimenteller Geometrie als Vorstufe des systematischen geo- metrischen Unterrichtes eingeführt.^) 29. Eine scharfe Grenze zwischen der instinktiven, handwerks- mäßigen und wissenschaftlichen Erwerbung geometrischer Vor- stellungen läßt sich nicht ziehen. Im allgemeinen kann man wohl sagen, daß mit der Teilung der wirtschaftlichen Aufgaben, mit der Beschäftigung mit besonderen Objekten, die instinktive Er- werbung von Kenntnissen in den Hintergrund tritt und die hand- werksmäßige beginnt. Wird endlich das Messen selbst Zweck und Beruf so gewinnt auch der Zusammenhang der einzelnen Meßoperationen ein starkes ökonomisches Interesse, und wir ge- langen in die Periode der wissenschaftlichen Entwicklung der Geometrie, zu welcher wir jetzt übergehen. 30. Die Abhängigkeit der Maße voneinander ergibt sich auf mannigfaltige Art. War man einmal zur Messung von Flächen durch Flächen gelangt, so mußten sich hieran weitere Fortschritte anschließen. In einem parallelogrammatischen Feld, das sich in gleiche parallelogrammatische Teilfelder zerlegen ließ, so daß n Reihen solcher Felder von je m Feldern nebeneinander lagen, war ein Auszählen dieser Felder unnötig. Durch Multiplikation der Seitenmaßzahlen ergab sich der Flächeninhalt zu m-n solchen Teilfeldern, und ebenso leicht der Flächeninhalt eines jeden der beiden durch den Diagonalschnitt entstandenen Dreiecke zu m • /z/2 Teilfeldern. Hierin lag die erste und einfachste Anwendung der Arithmetik auf die Geometrie. Zugleich drängte sich hierbei die Abhängigkeit der Flächenmaße von andern Maßen, Längen- ") W. T. Campbell, Observational Geometry. New York 1899. W. W. Speer, Advanced Arithmetic. Boston 1899. Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 373 und Winkelmaßen auf. Die Fläche eines Rechteckes erweist sich größer als jene eines schiefwinkligen Parallelogramms von den gleichen Seiten; dieselbe hängt also außer von den Seitenlängen noch von deren Winkeln ab. Ein Rechteck hingegen, das aus Streifen, Latten parallel zur Grundlinie aufgebaut ist, kann er- sichtlich mit Erhaltung der Höhe zu einem beliebigen Parallelo- gramm verschoben werden, ohne dessen Fläche zu ändern. Vierecke mit gegebenen Seiten sind noch in den Winkeln un- bestimmt, wie jeder Zimmermann erfahren hat. Er fügt Dia- gonalen hinzu und bewirkt eine Verwandlung in Dreiecke, welche bei gegebenen Seiten starr, d. h. also auch in den Winkeln un- veränderlich sind. Mit der Erkenntnis der Abhängigkeit der Maße voneinander, war man auf die eigentliche Aufgabe der Geometrie geführt. Mit gutem Grund nennt J. Steiner sein Hauptwerk: , Systematische Entwicklang der Abhängigkeit der geometrischen Gestalten voneinander^ In Snells^) originellem, zu wenig geschätztem Elementarbuch tritt die bezeichnete Auf- gabe schon dem Anfänger klar vor Augen. 31. Man stelle aus Drähten ein ebenes körperliches Dreieck dar. Dreht man dann eine Seite um eine Ecke, den Innenwinkel an dieser Ecke vergrößernd, so sieht man auch diese Seite sich ändern und die gegenüberliegende Seite mit dem Winkel zu- gleich wachsen. Neue Drahtteile neben den früher vorhandenen werden nötig, um die letztere Seite zu bilden. Dieses und andere analoge Experimente können in Gedanken wiederholt werden, wobei aber das Gedankenexperiment doch immer nur eine Kopie des physischen Experimentes bleibt. Ersteres wäre unmöglich, wenn nicht vorher die physische Erfahrung zur Kenntnis räumlich unveränderlicher physischer Körper,^) zum Maßbegriff geführt hätte. Durch solche Erfahrungen gelangt man zur Einsicht, daß von den sechs an einem Dreieck bemerk- baren Maßgrößen (3 Seiten und 3 Winkeln) drei, worunter mindestens eine Seite, zur Bestimmung des Dreieckes genügen. •) Snell, Lehrbuch der Geometrie. Leipzig 1869. 2) Der ganze Aufbau der Euklidischen Geometrie läßt diese Grund- lage schon deutlich erkennen. Noch klarer äußert sich dieselbe in der schon erwähnten Leibniz sehen Charakteristik. Wir kommen auf diese Sache noch zurück. 374 -^w Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. Ist nur ein Winkel unter den Bestimmungsstücken, so muß der- selbe zur eindeutigen Bestimmung ein von den gegebenen Seiten eingeschlossener oder der größeren Seite gegenüber- liegender sein. Ist einmal die Bestimmtheit des Dreiecks durch drei Seiten, sowie die Unabhängigkeit der Form von der Lage erkannt, so können im gleichseitigen Dreieck alle drei Winkel und im gleichschenkligen die beiden den gleichen Seiten gegen- überliegenden Winkel nut gleich sein, in welcher Art auch Winkel und Seiten voneinander abhängen mögen. Dies steht logisch fest. Die Erfahrungsgrundlage ist aber darum ebenso- wenig überflüssig wie in analogen Fällen der Physik. 32. Die Art der Abhängigkeit von Seiten und Winkeln wird natürlich zuerst in Spezialfällen erkannt. Bei der Flächenberech- nung von Rechtecken und von Dreiecken, welche durch Dia- gonalschnitt aus diesen hervorgehen, mußte es auffallen, daß das Rechteck mit den Seiten 3, 4 ein rechtwinkliges Dreieck von den Seiten 3, 4, 5 liefert. Die Rechtwinkligkeit zeigte sich an ein bestimmtes rationales Seitenverhältnis gebunden. Man be- nützte diese Erfahrung, um durch drei miteinander verknüpfte Schnüre, von den Längen 3, 4, 5, rechte Winkel abzustecken.^) Die Gleichung 3^ + 4^ = 5^, welche in ganz analoger Weise für alle rechtwinkligen Dreiecke von den Seitenlängen a, b, c sich als bestehend erwies (ß^ + ^* = ^^)j fesselte nun die Auf- merksamkeit. Es ist bekannt, wie tief diese Relation in die Geometrie des Maßes eingreift, wie alle indirekten Entfernungs- messungen sich auf dieselbe zurückführen lassen. 33. Wir wollen nun versuchen, der Grundlage dieser Relation nachzugehen. Da ist nun zu- nächst zu bemerken, daß weder die griechischen geometrischen p. jg noch die indischen arithmetischen Ableitungen des sogenannten Pp- thagoräischen Satzes von Flächenbetrachtungen absehen können. Ein wesentlicher Punkt, auf den sich alle Ableitungen stützen, der nur in verschiedener Form, mehr oder weniger deutlich >) M. Cantor, Geschichte der Mathematik. Leipzig 1880. I, S. 55, 56. Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 375 bei allen hervortritt, ist folgender. Verschiebt man das Dreieck abc (Fig. 18) ein wenig in seiner Ebene, so nimmt man an, daß die eben verlassenen Flächenraumelemente durch die neu ein- genommenen ersetzt, kompensiert, aufgewogen werden. Es ist also die bei der Verschiebung von zwei Seiten beschriebene Fläche der von der dritten Seite beschriebenen Fläche gleich. Dieser Auffassung liegt die Annahme der Flächenerhaltung des Dreieckes zu Grunde. Sehen wir eine Fläche als einen Körper von sehr kleiner überall gleicher Dicke, dritter Dimension an, die eben deshalb bei dieser Betrachtung einflußlos ist, so tritt hier wieder die Volumenerhaltung der Körper als fundamentale Voraussetzung hervor. Die Auffassung läßt sich auf die Ver- schiebung eines Tetraeders anwenden, ohne indessen hierdurch zu neuen Gesichtspunkten zu führen. Die Volumenerhaltung ist eine starren und flüssigen Körpern gemeinsame, von der alten Physik als Undurchdringlichkeit idealisierte Eigenschaft. Bei starren Körpern kommt die Erhaltung aller Entfernungen ihrer Teile hinzu. Die flüssigen Körper haben die Eigenschaften der starren nur in den kleinsten Raum- und Zeitelementen. 34. Wird ein schiefwinkliges Dreieck mit den Seiten a, b, c nach der Richtung der Seite b ver- schoben, so beschreiben nur a und c nach dem Obigen flächen- gleiche Parallelogramme, welche in einem gleichen, durch die- selben Parallelen gebildeten Ge- genseitenpaar übereinstimmen. Bildet a mit b einen rechten Win- kel und verschiebt man das Drei- eck senkrecht zu c um das Stück c, so beschreibt die Seite c das Quadrat t?^, die beiden andern Seiten aber Parallelogramme, deren Flächensumme der Fläche des Quadrates gleich ist. Die einzelnen Parallelogrammflächen entsprechen nach der unmittel- bar vorausgehenden Beobachtung a^, beziehungsweise ^^, womit der Ppthagoräische Satz gegeben ist. Man kann (Fig. 19) auch zuerst senkrecht zu a um a, dann senkrecht zu b um b ver- Fig. 19. 376 ^i^t" Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. schieben, und findet a^ -\- b^ gleich der Summe der von c be- schriebenen Flächen, welche ersichtlich c^ ist. Die letztere Pro- zedur ergibt im Falle eines schiefwinkligen Dreieckes ebenso leicht und anschaulich den allgemeineren Satz: c^ = a^-\-b^ — lab -cos ab. 35. Die Abhängigkeit der dritten Dreieckseite von den beiden andern ist also durch die Fläche des umschriebenen Dreieckes, also in unserem Sinne durch eine Volumenbedingung bestimmt. Man sieht auch ohne weiteres, daß die betreffenden Gleichungen Flächenrelationen ausdrücken. Allerdings kann man auch den Winkel der beiden Dreieckseiten als maßgebend für die dritte Seite betrachten, und den Gleichungen eine scheinbar ganz andere Form geben. Sehen wir uns nun diese verschiedenen Maße genauer an! Wenn zwei Gerade von den Längen a, b mit ihren Enden in einem Punkt zusammenstoßen, so ist die Länge der Geraden c, welche ihre freien Enden verbindet, in bestimmte Grenzen eingeschlossen. Es ist c^a-\- b und cSa — b. Dies lehrt zwar nicht die Anschauung^ aber das auf physikalische Er- fahrung sich stützende und dieselbe reproduzierende Gedanken- experiment. Man sieht dies, indem man z. B. a festhält und b dreht, bis es einmal die Verlängerung von a bildet, und ein zweites Mal mit a zusammenfällt. Die Gerade ist zunächst eine eigenartige, durch physiologische Eigenschaften charakterisierte Anschauung, welche wir durch einen physischen Körper von besonderer Beschaffenheit gewinnen, der in Form einer Schnur oder eines Drahtes von beliebig kleiner aber konstanter Dicke zwischen die Orte seiner Endpunkte ein Minimumvolumen ein- schaltet, was nur in eindeutig bestimmter, einzigartiger Weise geschehen kann. Gehen mehrere Gerade durch einen Punkt, so unterscheiden wir dieselben ohne weiteres physiologisch nach ihrer Richtung. Im begrifflichen, durch metrisch-physikalische Erfahrungen gewonnenen Räume gibt es aber keinen Unterschied der Richtungen. Eine Gerade, welche durch einen Punkt geht, kann da nur dadurch vollkommen bestimmt werden, daß noch ein zweiter physischer Punkt derselben angegeben wird. Man definiert nach physiologischen Momenten, wenn man die Gerade als Linie von konstanter Richtung, den Winkel als Abweichung Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 377 der Richtungen, parallele Gerade als Gerade von gleicher Rich- tung bezeichnet. 36. Um Winkel, welche uns anschaulich gegeben sind, auch geometrisch zu charakterisieren, zu bestimmen, stehen uns ver- schiedene Mittel zu Gebote. Wenn für 2 bestimmte, übrigens beliebige Punkte, von welchen je einer auf je einem Schenkel (außerhalb des Schnittpunktes) liegt, die Entfernung gegeben ist, so ist der Winkel bestimmt. Um Gleichförmigkeit in die Be- stimmung zu bringen, könnte man den Abstand jener Punkte vom Scheitel ein für allemal von bestimmter gleicher Größe wählen. Die Unzukömmlichkeit, daß dann dem 2, 3 . . . fach mit zusammen- fallendem Scheitel in derselben Ebene nebeneinander gelegten Winkel nicht das 2, 3 . . . fache Entfernungs- maß jener Punkte entspricht, hat diese Be- stimmungsweise in den Elementen nicht auf- kommen lassen.^) Ein einfacheres Maß, eine einfachere Charakteristik des Winkels erhält man durch den aliquoten Teil des Kreis- bogens oder der Kreisfläche, welche der in die Ebene des Kreises mit dem Scheitel auf das Zentrum gelegte Winkel ausschneidet. Es liegt hierin eine bequemere Überein- kunft. 2) Wenn wir den Kreisbogen zur Be- _ Stimmung des Winkels benutzen, so messen wir eigentlich wieder ein Volumen, welches durch einen Körper von besonderer einfacher Form, zwischen vom Scheitel gleich weit abstehende Schenkelpunkte eingeschaltet wird. Der Kreis kann aber durch bloße (gerade) Entfernungen charakterisiert werden. Es ist Sache der Anschaulichkeit, Un- mittelbarkeit, der daraus hervorgehenden Geläufigkeit und Be- quemlichkeit, daß hauptsächlich zwei Maße, das (gerade) Längen- maß und das Winkelmaß als Grundmaße verwendet und die übrigen Maße aus diesen abgeleitet werden. Notwendig ist dies keineswegs. Man kann z. B. ohne besonderes Winkelmaß die Fig. 20. *) In der Trigonometrie kommt doch ein nahe verwandtes Maßprinzip zur Anwendung. 2) So dient auch die ausgeschnittene KugelFläche als Maß des Körper- winkelS' 378 -^^^ Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. senkrecht eine Gerade durchschneidende Gerade dadurch be- stimmen, daß alle ihre Punkte von zwei Punkten der ersteren Geraden, welche vom Durchschnittspunkt gleich weit abstehen, durchaus gleiche Entfernungen haben (Fig. 20). Die Halbierungs- linie eines Winkels kann in ganz ähnlicher Weise bestimmt, und durch fortgesetzte Halbierungen kann eine beliebig kleine Winkel- einheit abgeleitet werden. Als eine zu einer Geraden parallele Gerade kann diejenige bezeichnet werden, deren sämtliche Punkte durch kongruente, krumme oder gerade Bahnen in Punkte der ersteren übergeführt werden, oder ebenso aus letzteren hervor- gehen.^) Es ist ganz wohl möglich von der (Geraden) Länge als Grundmaß allein auszugehen. Es sei uns ein fester phy- sischer Punkt a gegeben. Ein anderer Punkt m hätte die Ent- fernung r« von demselben. Dann kann er noch überall in der mit ra um a beschriebenen Kugelfläche liegen. Kennt man noch einen zweiten festen Punkt b, von dem m die Entfernung a hat, so ist das Dreieck abm starr, bestimmt; aber m kann sich noch auf dem Kreis bewegen, der durch die Achsendrehung um ab beschrieben wird. Hält man nun den Punkt m in irgend einer Lage fest, so ist auch der ganze starre Körper, dem etwa die drei Punkte a, b, m angehören, fest. 37. Durch die Entfernungen /•«, r^ rc von mindestens drei im Räume festen Punkten a, b, c ist also ein Punkt m räumlich be- stimmt. Diese Bestimmung ist jedoch keine eindeutige, denn die Pyramide mit den Kanten /•«, r&, rc, in deren Scheitel m liegt, läßt sich sowohl auf der einen wie auf der andern Seite der Ebene abc konstruieren. Wollte man die Seite, etwa durch ein Zeichen festsetzen, so wäre dies eine physiologische Bestimmung, denn geometrisch sind die beiden Seiten der Ebene nicht ver- schieden. Soll ein Punkt m eindeutig bestimmt sein, so muß noch dessen Entfernung ra von einem vierten Punkt d, der außer der Ebene abc liegt, gegeben sein. Ein anderer Punkt m' be- stimmt sich ebenso vollkommen durch vier Entfernungen r«', rh\ rc\ r'd. Demnach ist auch die Entfernung von m und m' hiermit schon gegeben. Dasselbe gilt für beliebige weitere Punkte bei ') Bei dieser Fassung wäre der Zweifel an dem Euklidischen Parallelen- satz wahrscheinlich viel später aufgetreten. Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 379 Bestimmung derselben durch je vier Entfernungen. Zwischen (4 — 1) 4 Punkten sind 4^—^— = 6 Entfernungen denkbar und ebenso- viele müssen gegeben sein, um die Form des Punktkomplexes zu bestimmen. Bei 4 + z = /z Punkten genügen 6 -j- 4z oder 4/z — 10 Entfernungen zur Bestimmung, während eine größere Zahl, nämlich — \-^ — Entfernungen existieren, so daß also der Überschuß derselben mit bestimmt ist.^) 38. Geht man von drei Punkten aus und setzt fest, daß alle Entfernungen weiter zu bestimmender Punkte für eine Seite der Ebene jener 3 Punkte gelten, so genügen für ein System von n Punkten 3/z — 6 Entfernungen zur Form- und Größenbestimmung und zur Lagenbestimmung in Bezug auf die drei Ausgangs- punkte. Wird aber über die Seite der Ebene nichts festgesetzt, welche Festsetzung, wie gesagt, sich an anschauliche, physio- logische, nicht aber an begriffliche, metrische Merkmale hält, so kann das Punktsystem statt der beabsichtigten Form und Lage die zu ersterer symmetrische annehmen, oder es kann sich aus den Punkten beider kombinieren. Symmetrische geometrische Gebilde erscheinen uns vermöge unserer symmetrischen physio- logischen Organisation sehr leicht als gleich, während dieselben metrisch und physisch gänzlich verschieden sind. Eine rechts- und eine linksgewundene Schraube, zwei entgegengesetzt rotie- rende Körper u. s. w. sind für die Anschauung sehr ähnlich, wir dürfen sie aber deshalb nicht für geometrisch oder physisch gleichwertig halten. Beachtung dieses Umstandes möchte manche paradoxe Frage ausschalten. Man bedenke, was solche Fragen Kant zu schaffen gemacht haben. Anschauliche physiologische Merkmale sind durch Beziehungen zu unserem Leib, zu einem körperlichen System von besonderer Beschaffenheit, metrische Merkmale aber durch Verhältnisse zur allgemeinen Körperwelt bestimmt. Die letzteren können nur durch Deckungserfahrungen, durch Messung ermittelt werden. ') Ein interessanter Versuch, die Euklid sehe und auch die Nicht- Euklidsche Geometrie auf den bloßen Begriff der Entfernung zu gründen, rührt her von De Tillp, Essai sur les principes fondamentaux de la geo- metrie et de la mecanique (Memoires de la societe des sciences physiques et naturelles de Bordeaux 1880). 380 ^Uf" Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 39. Wie wir sehen, kommt jede geometrische Bestimmung im Grunde auf eine Volumenmessung, auf eine Körperauszählung zurück. Die Längenmessung wie die Flächenmessung beruht auf der Volumenvergleichung sehr dünner Schnüre, Stäbe und Blätter von konstanter Dicke. Dem widerspricht nicht, daß man aus Längenmaßen Flächenmaße, aus Längenmaßen allein oder mit Flächenmaßen zusammen Körpermaße arithmetisch ableiten kann. Es zeigt dies nur, daß verschiedenartige Volumenmessungen von- einander abhängig sind. Diese Abhängigkeiten zu ermitteln, ist die Grundaufgabe der Geometrie, so wie es die Aufgabe der Arithmetik ist, die Abhängigkeit der Zähloperationen, unserer Ordnungstätigkeiten voneinander zu ermitteln. 40. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Erfahrungen des Gesichts- sinnes die rasche Entwicklung der Geometrie bedingt haben. Die Vertrautheit mit den Eigenschaften der Lichtstrahlen, die wir bei der heutigen Entwicklung der Technik haben, darf uns aber nicht verleiten, Erfahrungen an Lichtstrahlen für die wesent- liche Grundlage der Geometrie zu halten. Strahlen in staubiger oder rauchiger Luft liefern uns ja eine sehr schöne Anschauung der Geraden. Die metrischen Eigenschaften der Geraden können wir aber von einem Lichtstrahl ebensowenig abnehmen, als von einer vorgestellten Geraden. Hierzu sind unbedingt Erfahrungen an körperlichen Objekten notwendig. Das Seilspannen der praktischen Geometer ist gewiß älter als die Anwendung der Diopter. Kennen wir aber einmal die körperliche Gerade, so liefert uns der Lichtstrahl ein sehr anschauliches und bequemes Mittel, zu neuen Ansichten zu gelangen. Die moderne synthe- tische Geometrie hätte ein Blinder kaum erfinden können. Die ältesten und stärksten Erfahrungen, welche der Geometrie zu Grunde liegen, sind aber dem Blinden durch den Tastsinn eben- so zugänglich, wie dem Sehenden. Beide kennen die räumliche Beständigkeit der Körper trotz deren Beweglichkeit ; beide ge- winnen eine Vorstellung des Volumens beim Ergreifen derselben. Der Schöpfer der primitiven Geometrie sieht erst instinktiv, dann absichtlich und bewußt von den Eigenschaften der Körper ab, die für seine Operationen nicht von Belang sind, die ihn augen- blicklich nicht interessieren. So entstehen nach und nach auf Grund der Erfahrungen die idealisierten Begriffe der Geometrie. Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 381 41. Unsere geometrische Erkenntnis stammt also aus verschie- denen Quellen. Eine Menge räumlicher Formen ist uns durch die unmittelbare Anschauung, durch den Gesichts- und Tastsinn phipsiologisch geläufig. An dieselben knüpfen sich physikalische (metrische) Erfahrungen (über die Vergleichung der unter gleichen Umständen durch verschiedene Körper ausgelösten Raumempfin- dungen), die sich allerdings wieder auf den Zusammenhang von Sinnesempfindungen zurückführen lassen. Diese Erfahrungen verschiedener Ordnung sind meist so innig verschmolzen, daß sie sich nur bei sorgfältiger Analyse trennen. Daher rühren auch die weit auseinander gehenden Ansichten über Geometrie. Bald wird dieselbe auf die bloße Anschauung, bald auf die phj?- sische Erfahrung zurückgeführt, je nachdem das eine Moment überschätzt wird oder unbeachtet bleibt. Beide Momente haben aber zur Entwicklung der Geometrie mitgewirkt und sind auch in der heutigen Geometrie noch wirksam, da sich diese, wie gezeigt wurde, keineswegs ausschließlich rein metrischer Begriffe bedient. 42. Wenn man einen unbefangenen aufrichtigen Menschen fragt, wie er sich den Raum, z. B. auf ein Descartessches Koordi- natensystem bezogen, vorstellt, so wird derselbe etwa sagen: „Ich stelle mir ein System von starren (formfesten), durchsichtigen, durchdringlichen, sich berührenden Würfeln vor, deren Grenz- flächen nur durch schattenhafte Gesichts- oder Tastvorstellungen gezeichnet sind, mit einem Wort eine Art Gespenster von Würfeln. Über und durch diese Körper-Gespenster bewegt sich ein wirk- licher Körper oder dessen Gespenst mit Wahrung seiner räum- lichen Beständigkeit (in dem oben angegebenen Sinne) hinweg, wenn wir praktische oder theoretische Geometrie oder Phoronomie treiben. Die berühmte Gaußsche Untersuchung über krumme Flächen z. B. handelt eigentlich von der Applikation unendlich dünner blattförmiger, demnach biegsamer Körper aneinander. Daß Erfahrungen verschiedener Ordnung bei Bildung der be- treffenden Grundvorstellungen zusammengewirkt haben, ist nicht zu verkennen. 43. So mannigfaltig auch die Spezialerfahrungen waren, von welchen die Geometrie ihren Ausgang genommen hat, so lassen sich dieselben doch auf ein Minimum von Tatsachen zurück- 382 "^^r Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. führen: Es gibt bewegliche Körper von besonderer räumHcher Beständigkeit, starre Körper. Die Beweglichkeit ist aber in fol- gender Weise charakterisiert. Wir ziehen von einem Punkt aus drei Gerade, welche nicht alle drei in einer Ebene liegen, sonst aber ganz beliebig sind. Durch drei Fortschreitungen parallel diesen Geraden kann von jedem Punkt aus jeder andere erreicht werden. Drei physiologisch und metrisch als einfachste charak- terisierte Abmessungen, Dimensionen, genügen also für alle räum- lichen Bestimmungen. Dies sind die Grundtatsachen. 44. Die physikalisch-metrischen Erfahrungen werden wie alle Erfahrungen, welche die Grundlage einer experimentellen Wissen- schaft bilden, begrifflich idealisiert. Das Bedürfnis, die Tat- sachen durch einfache, durchsichtige, logisch leicht zu beherr- schende Begriffe darzustellen, führt hierzu. Es gibt einen absolut starren, räumlich ganz unveränderlichen Körper, eine vollkommene Gerade, eine absolute Ebene so wenig, als es ein vollkommenes Gas, eine vollkommene Flüssigkeit gibt. Dennoch operieren wir lieber und leichter mit diesen Begriffen, als mit anderen, welche genauer den Eigenschaften der Objekte entsprechen, und nehmen dafür nachträglich auf die Abweichungen Rücksicht. Die theo- retische Geometrie braucht diese Abweichungen überhaupt nicht zu beachten, indem sie eben Objekte voraussetzt, welche die Bedingungen der Theorie vollkommen erfüllen, wie die theo- retische Physik. Hat die praktische Geometrie sich aber mit wirklichen Objekten zu beschäftigen, so ist sie in dieselbe Not- wendigkeit versetzt, wie die praktische Physik, die Abweichungen von den theoretischen Annahmen zu berücksichtigen. Außerdem hat aber die Geometrie noch den Vorteil, daß jede Abweichung ihrer Objekte von den Voraussetzungen der Theorie, welche man noch erkennt, auch beseitigt werden kann, während die Physik aus naheliegenden Gründen keine vollkommeneren Gase herzustellen vermag, als sie eben in der Natur vorkommen. Denn in letzterem Falle handelt es sich nicht um eine willkürlich her- stellbare räumliche Eigenschaft allein, wie im ersteren, sondern um die in der Natur vorkommende, von unserer Willkür unab- hängige Beziehung zwischen Druck, Volumen und Temperatur. 45. Die Wahl der Begriffe ist zwar durch die Tatsachen nahe- gelegt, gewährt aber, da sie auf selbsttätiger Nachbildung der Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 383 ersteren in Gedanken beruht, der Willkür einen gewissen Spiel- raum. Die Wichtigkeit der Begriffe wird nach der Größe des Anwendungsgebietes geschätzt. Deshalb wird der Begriff der Geraden und der Ebene in den Vordergrund gestellt, weil jedes geometrische Objekt sich wenigstens mit hinreichender Annähe- rung in eben und geradlinig begrenzte Elemente auflösen läßt. Welche Eigenschaften der Geraden, der Ebene u. s. w. wir be- sonders beachten wollen, bleibt willkürlich, und dies spricht sich in den verschiedenen Definitionen desselben Begriffes aus.^) 46. Es kann nicht bezweifelt werden, daß die Grundsätze der Geometrie der physikalischen Erfahrung entnommen sind, indem ja die Raumanschauung, die Raumempfindung an sich der Mes- sung gar nicht zugänglich ist, keine metrischen Erfahrungen zuläßt. Ebenso gewiß ist es aber, daß, wenn einmal der Zu- sammenhang der Raumanschauung mit den einfachsten metri- schen Erfahrungen geläufig geworden ist, geometrische Tatsachen mit Leichtigkeit und Sicherheit in der bloßen Vorstellung, im Gedankenexperiment reproduziert werden können. Schon der Umstand, daß einer kontinuierlichen metrischen Änderung der Körper eine kontinuierliche Änderung der Raumempfindung ent- spricht, ermöglicht in der bloßen Vorstellung zu ermitteln, welche metrischen Elemente überhaupt voneinander abhängen. Wenn nun solche metrische Elemente in gleicher Weise in verschiedene Konstruktionen von verschiedener Lage eingehen, so wird man deren metrische Ergebnisse als gleich ansehen. Der vorher er- wähnte Fall des gleichschenkligen und gleichseitigen Dreiecks mag als Beispiel dienen. Das geometrische Gedankenexperi- ment ist gegen das physikalische nur darin im Vorteil, daß ersteres auf Grund viel einfacherer, leichter und fast unbewußt gewonnener Erfahrungen ausgeführt werden kann. 47. Die Raumanschauung und Raumvorstellung ist an sich qualitativ, nicht quantitativ, nicht metrisch. Wir entnehmen aus denselben Übereinstimmungen und Verschiedenheiten der Ausdeh- nung, aber keine eigentlichen Größen. Man denke sich z. B. eine feste Münze und an dieser ohne Gleiten Rand an Rand im ^) Man vergleiche z. B. die Definition der Geraden bei Euklid und bei Archimedes. 384 ^i^t" Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. Sinne des Uhrzeigers abrollend eine gleich große zweite Münze. So lebhaft man sich auch das Abrollen vorstellen mag, wird man doch vergebens versuchen, aus dieser Vorstellung allein den Drehungswinkel bei vollem Umlauf abzuleiten. Berücksichtigt man aber, daß zu Beginn der Bewegung die Radien a, a' (Fig. 21) eine Gerade bilden, nach Abrollen des Wertumfangs der festen Münze aber die Radien b, b' in einer Geraden liegen, so sieht man sofort, daß nun der Radius a vertikal aufwärts gerichtet ist, also eine halbe Drehung gemacht hat. Das Aus- maß der Drehung wird also aus metrischen Begriffen abgeleitet, welche idealisierte Er- fahrungen an körperlichen Objekten fixieren, der Sinn der Drehung aber wird hierbei in der anschaulichen Vorstellung festgehalten. Die metrischen Begriffe stellen nur fest, daß zu gleichen Bogen gleicher Kreise auch gleiche Winkel gehören, daß die an den Berührungspunkt gezogenen Kreisradien in eine Gerade fallen u. s. w. 48. Stelle ich mir ein Dreieck mit wach- sendem Winkel vor, so sehe ich auch die gegenüberliegende Seite wachsen. Es ent- steht dadurch der Eindruck, daß die be- treffende Abhängigkeit a priori aus der Vor- stellung folgt. Doch reproduziert hier die Vorstellung nur eine Erfahrungstatsache. Winkelmaß und Seitenmaß sind zwei auf dieselbe Tatsache an- wendbare physikalische Begriffe, die uns so geläufig sind, daß sie uns nur als zwei verschiedene Merkmale derselben Tatsachen- vorstellung, demnach als notwendig verbunden erscheinen. Doch würden wir ohne physikalische Erfahrung jene Begriffe nie ge- wonnen haben. 49. Das Zusammenwirken der Anschauung und idealisierter Erfahrungsbegriffe zeigt sich bei jeder geometrischen Ableitung. Betrachten wir z. B. den einfachen Satz, daß die drei Senk- rechten auf den Seitenmittelpunkten des Dreieckes ABC sich in einem Punkte schneiden. Das Experiment und die Anschauung hat wohl auf den Satz geleitet. Je feiner man aber die Kon- Fig. 21. Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 385 struktion ausführt, desto besser überzeugt man sich, daß die dritte Senkrechte nicht genau durch den Schnittpunkt der beiden ersten hindurchgeht, daß also bei einer wirklichen Konstruktion drei nahe aneinander liegende Schnittpunkte gefunden werden. Denn in Wirklichkeit zieht man weder vollkommene Gerade, noch vollkommene Senkrechte, noch setzt man dieselben genau auf die Seitenmittelpunkte auf u. s. w. Nur für diese idealen Vor- aussetzungen enthält die Senkrechte auf die Mitte von AB alle von A, B gleich weit entfernten Punkte, die Senkrechte auf die Mitte von BC alle von 5, C gleich abstehenden Punkte. Dem- nach ist der Schnittpunkt beider gleich weit von A, B, C und gehört wegen des gleichen Abstandes von A, C auch der dritten Senkrechten auf die Mitte von AC an. Der Satz sagt also nur, daß je genauer die Voraussetzungen erfüllt sind, desto genauer die drei Schnittpunkte zusammenfallen. 50. Wie wichtig die Zusammenwirkung der Anschauung und des Begriffes ist, möchte durch diese Beispiele deutlich geworden sein. „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind", sagt Kant. ^) Vielleicht könnte man noch besser sagen: „Begriffe ohne Anschauung sind blind, Anschau- ungen ohne Begriffe sind lahm". Denn es möchte doch nicht ganz berechtigt sein, die Anschauung blind und die Begriffe leer zu nennen. Wenn Kant^) ferner behauptet, „daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft an- getroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist", so kann man vielleicht von allen Wissenschaften und von der Mathematik sagen, „daß sie nur insofern Wissenschaften sind, als sie mit Begriffen operieren". Denn nur über Begriffe, deren Inhalt wir selbst bestimmt haben, erstreckt sich unsere logische Herrschaft. 51. Die Tatsachen der Starrheit und der Beweglichkeit der Körper würden genügen, um jede noch so komplizierte geo- metrische Tatsache zu begreifen, d. h. aus ersteren abzuleiten. Allein die Geometrie hat sowohl in ihrem eigenen Interesse, wie als Hilfswissenschaft, oder zur Verfolgung praktischer Zwecke, ') Kritik der reinen Vernunft. 1787. S. 75. ') Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Vorwort. Mach, Erkenntnis und Irrtum. 25 386 ^ur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. Fragen von oft wiederkehrender Form zu beantworten. Es wäre nun nicht ökonomisch, jedesmal von den elementarsten Tatsachen beginnend jeden neuen Fall immer wieder von Grund aus zu analysieren. Vielmehr empfiehlt es sich, aus einigen wenigen einfachen, geläufigen und unbezweifelten Sätzen, bei deren Wahl die Willkür durchaus nicht ausgeschlossen ist,^) die Antworten auf häufiger vorkommende Fragen in Form von Lehrsätzen ein für allemal für den Gebrauch zurecht zu legen. Aus diesem Gesichtspunkt versteht man sofort die Form der Geometrie, z. B. den Wert, den dieselbe auf ihre Dreieckssätze u. s. w. legt. Für den bezeichneten Zweck ist es wünschenswert, möglichst allgemeine Sätze von weitestem Gültigkeitsbereich zu gewinnen. Die Geschichte lehrt, daß solche Sätze durch Zusammenfassung von Spezialerkenntnissen zu einer allgemeineren Erkenntnis ge- wonnen wurden. Auch gegenwärtig ist man zu diesem Vorgang noch genötigt, wenn es sich um den Zusammenhang zweier geometrischen Gebilde handelt, und wenn die Spezialfälle der Form und Lage zu Modifikationen der Ableitungsschritte nötigen. Als bekanntestes Beispiel aus der Elementargeometrie mag die Ableitung des Verhältnisses von Zentri- und Peripheriewinkel angeführt werden. Kroman^) hat sich die Frage vorgelegt, wieso wir einen Nachweis für eine spezielle Figur (ein beson- deres Dreieck) als allgemein gültig ansehen? Er findet die Auf- klärung in der Annahme, daß wir die Figur in Gedanken rasch variierend alle möglichen Formen annehmen lassen und uns so von der Zulässigkeit derselben Schlußweise in allen Spezialfällen überzeugen. Die Geschichte und die Selbstbeobachtung lehren diesen Gedanken als einen im wesentlichen richtigen kennen. Allein wir dürfen nicht (mit Kroman) annehmen, daß jedes Geo- metrie treibende Individuum sich in jedem Einzelfall ^^blitzschneW^ diese vollständige Übersicht verschafft und sich zu dieser Klar- heit und Stärke der geometrischen Überzeugung erhebt. Oft ist die verlangte Operation gar nicht ausführbar, und Irrtümer be- weisen, daß sie in andern Fällen nicht ausgeführt wurde, daß man sich mit einer Vermutung nach der Analogie begnügt 1) Z in dl er, Zur Theorie der mathematischen Erkenntnis. Sitzber. d. Wiener Akadem. philos.-histor. Cl., Bd. 118. 1889. *) Kroman, Unsere Naturerkenntnis. Kopenhagen 1883. S. 74 u. f. Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. 387 hat.^) Was das Individuum aber in einem Augenblick nicht leistet oder nicht leisten kann, dazu hat es sein ganzes Leben lang Zeit. Ganze Generationen arbeiten an der Kontrolle der Geometrie. Die Überzeugung von deren Richtigkeit wird auch durch diese Kollektivarbeit gestärkt.^) Ich kannte einen sonst ausgezeichneten Lehrer, welcher seine Schüler nötigte, alle Nachweise an einer falschen Figur zu führen, da es, wie er meinte, auf die Figur überhaupt nicht ankäme, sondern nur auf den logischen Zu- sammenhang der Begriffe. Die in den Begriffen fixierten Er- fahrungen haften aber an den Anschauungen. Welche Begriffe nun auf einen Fall anwendbar sind, darüber kann uns nur die angeschaute oder vorgestellte Figur belehren. Um den Anteil der logischen Operationen an einer Einsicht fühlbar zu machen, eignet sich das Verfahren jenes Lehrers vorzüglich. Wer es aber regelmäßig anwendet, verkennt gewiß, daß die Begriffe ihre Kraft aus der Sinnlichkeit schöpfen. Die Meinung, daß eine neue Einsicht durch glücklich zurecht- gelegte Syllogismen in wenigen Minuten für immer sich ein- fangen läßt, ist den genau beobachteten Tatsachen gegenüber *) Holder, Anschauung und Denken in der Geometrie. Leipzig 1900. S. 12. 2) Gerken, der sich in seiner Programmabhandlung: „Die philo- sophischen Grundlagen der Mathematik" (Perleberg 1887, S. 27) ähnlich aus- spricht wie Kroman, beruft sich hierbei auf Beneke. Beneke behandelt nun an mehreren Stellen seiner „Logik als Kunstlehre des Denkens" die mathematische Erkenntnis recht ausführlich, so z. B. II, S. 51 u. f. Es heißt dort S. 52— 53: „Zuerst ist es keinem Zweifel unterworfen, daß eine solche unendliche Vergleichung wirklich vollzogen werden könne; ja dies läßt sich in manchen Fällen selbst unmittelbar anschaulich nachweisen. Man nehme den vorher angeführten geometrischen Satz (von der Winkelsumme im Dreieck). Wenn ich den der verlängerten Grundlinie gegenüberliegenden Winkelpunkt des Dreieckes im Kreise herumführe und hierbei zugleich (indem ich die Hilfslinien und den ganzen Beweis ebenso herumführe) in stetigem Fort- schritte anschaulich mache, daß das bezeichnete Verhältnis bei allen Lagen des Dreieckes, und (was hiermit unmittelbar zusammenhängt) bei allen Größen- verhältnissen ebenso stattfinde: habe ich hierbei eine endliche oder unend- liche Anzahl von Fällen verglichen?" . . . Von der bedenklichen Blitzesschnellig- keit ist aber bei Beneke nicht die Rede. — Vgl. hierzu die abweichenden Ausführungen von C.Siegel, Versuch einer empiristischen Darstellung der räumlichen Grundgebilde u. s. w. (Vierteljahrschr. f. wiss. Philosophie, 1900, insbesondere S. 203.) 25* 388 2ur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie. nicht aufrecht zu halten. Sie ist weder für den einzelnen Lernen- den oder Forscher, noch für ein Volk oder die Menschheit, weder für die Geometrie, noch für irgend eine andere Wissenschaft zutreffend. Die Geschichte der Wissenschaft lehrt im Gegenteil, daß eine neue richtige, und auf richtige Grundlagen zurück- geführte Einsicht, bald mehr oder weniger sich trüben, einseitig und unvollständig hervortreten, einem Teil der Forscher sogar verloren gehen, und wieder aufleuchten kann. Das einmalige Finden und Aussprechen einer Einsicht genügt nicht. Jahre und Jahrhunderte sind oft nötig, das allgemeine Denken soweit zu entwickeln, damit eine Einsicht dem gemeinsamen Besitz sich einverleibe und dauernd erhalten bleibe. Besonders schön wird dies beleuchtet durch Duhems^) eingehende Untersuchungen zur Geschichte der Statik. *) Duhem, Les origines de la statique, Paris 1905, besonders T. I, S. 181 u. f. Raum und Geometrie vom Standpunkt der Naturforschung.') 1. Die Raumanschauung des Menschen wurzelt in dessen physiologischer Konstitution. Die geometrischen Begriffe ent- wickeln sich durch Idealisierung physikalischer Raumerfahrungen. Das geometrische System endlich wird durch die logische Ord- nung des gewonnenen begrifflichen Stoffes geschaffen. Alle drei Momente haben in der heutigen Geometrie deutlich ihre Spuren ausgeprägt. Erkenntnistheoretische Fragen über Raum und Geometrie gehen also den Physiologen und Psychologen, den Physiker, Mathematiker, den Philosophen und Logiker an, und können nur durch Beachtung der sehr verschiedenen sich hier darbietenden Gesichtspunkte allmählich ihrer Lösung zu- geführt werden. Wenn wir in früher Jugend zu vollem Bewußtsein erwacht sind, finden wir uns bereits im Besitze der Vorstellung eines uns umgebenden, unsern Leib mit umfassenden Raumes ^ in welchem verschiedene Körper teils sich verändernd, teils in gleichbleibender Größe und Gestalt sich bewegen. Wie wir zu dieser Vorstellung gelangt sind, vermögen wir nicht anzugeben. Nur die genaue Analyse absichtlich und planmäßig angestellter ») Dieser Artikel ist in „The Monist", Vol. XIV. Oktober 1903 erschienen. Ich versuche hier als Physiker zur sogenannten Metageometrie Stellung zu nehmen. Ausführliche geometrische Entwicklungen muß man in den Quellen nachsehen. Ich hoffe jedoch durch Hinweis auf jedem bekannte und geläufige Beispiele allgemein verständlich zu bleiben. — Gegen die folgenden Aus- führungen hat Professor F. Brentano mündlich und brieflich Einwendungen erhoben, die mir zu denken geben, die ich jedoch jetzt, mit andern Dingen beschäftigt, nicht genügend erwägen kann. 390 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forschung. Experimente läßt uns erraten, daß hierbei schon angeborene Eigentümlichkeiten des Leibes und einfache rohe physikalische Erfahrungen zusammengewirkt haben. Ein Gesichts- oder Tastobjekt kennzeichnet sich neben der Sinnesempfindungsqualität (rot, rauh, kühl u. s. w.) auch noch durch seine Ortsqualität (rechts, oben, vorn u. s. w.). Die Sinnes- qualität kann dieselbe bleiben, während die Ortsqualität sich kon- tinuierlich ändert, d. h.: dasselbe sinnliche Objekt kann sich im Räume bewegen. Wenn derartige Vorgänge durch physikalisch- phipsiologische Umstände oft ausgelöst werden, so wiederholen sich bei der größten Mannigfaltigkeit der zufälligen Sinnesquali- täten immer wieder dieselben Reihen der Ortsqualitäten, so daß die letzteren bald als ein festes bleibendes Schema oder Register erscheinen, in welches die oben gegebenen Sinnesqualitäten ein- geordnet werden. Obgleich nun Sinnes- und Ortsqualitäten nur miteinander erregt werden und nur miteinander auftreten können, so entsteht so doch leicht der Eindruck, als ob das System der geläufigeren Ortsqualitäten vor den Sinnesqualitäten gegeben wäre. 2. Ausgedehnte Gesichts- und Tastobjekte bestehen aus mehr oder weniger unterscheidbaren Sinnesqualitäten, welche mit benachbarten unterscheidbaren, stetig abgestuften Ortsqualitäten verbunden sind. Bewegen sich solche Objekte, namentlich im Bereiche unserer Hände, so nehmen wir ein Schrumpfen oder Schwellen (im ganzen oder in deren Teilen), oder ein Gleich- bleiben derselben wahr, d. h. die Kontraste der Grenz-Orts- qualitäten verändern sich oder bleiben konstant. Im letzteren Falle nennen wir die Objekte starr. Durch die Erkenntnis eines sich Gleichbleibenden, trotz der räumlichen Verschiebung, treten die verschiedenen Teile unserer Raumanschauung in das Ver- hältnis der Vergleichbarkeit^ zunächst im physiologischen Sinne. Durch die Vergleichung der verschiedenen Körper untereinander, durch die Einführung des physikalischen Maßes, wird die Ver- gleichbarkeit zu einer genaueren quantitativen, welche zugleich die Schranken des Individuums durchbricht. So treten an die Stelle der individuellen, nicht übertragbaren Raumanschauung die allgemein für alle Menschen gültigen Begriffe der Geo- metrie. Jeder hat seinen besonderen Anschauungsraum; der geometrische Raum ist gemeinsam. Zwischen dem Anschauungs- Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forschung. 391 räum und dem auch physikalische Erfahrungen enthaltenden metrischen Raum müssen wir scharf unterscheiden. 3. Das Bedürfnis nach einer tiefgehenden erkenntnistheore- tischen Aufklärung der Grundlagen der Geometrie hat um die Mitte des abgelaufenen Jahrhunderts Riemann^) dazu geführt, die Frage nach der Natur des Raumes zu stellen, nachdem schon vorher durch Gauß, Lobatschefskij und die beiden Bolyai die Aufmerksamkeit auf die empirisch-hypothetische Bedeutung gewisser Grundannahmen der Geometrie gelenkt worden war. Wenn Riemann den Raum als einen besonderen Fall einer mehrfach ausgedehnten „Größe" bezeichnet, so denkt er wohl an ein geometrisches Gebilde, das etwa auch als den ganzen Raum erfüllend vorgesteUt werden könnte, z. B. ein Descartes- sches Koordinatensystem. Riemann spricht es ferner aus, „daß die Sätze der Geometrie sich nicht aus allgemeinen Größen- begriffen ableiten lassen, sondern daß diejenigen Eigenschaften, durch welche sich der Raum von anderen denkbaren dreifach ausgedehnten Größen unterscheidet, nur aus der Erfahrung ent- nommen werden können" . . . „Diese Tatsachen sind wie alle Tatsachen nicht notwendig, sondern nur von empirischer Gewiß- heit, sie sind Hypothesen." Wie die Grundannahmen jeder Natur- wissenschaft, könnte man sagen, so sind auch die Grundannahmen der Geometrie, zu welchen die Erfahrung hingeleitet hat, Ideali- sierungen dieser Erfahrung. Mit seiner naturwissenschaftlichen Auffassung der Geometrie steht Riemann auf dem Boden seines Lehrers Gauß. Gauß spricht gelegentlich die Überzeugung aus, „daß wir die Geometrie nicht vollständig a priori begründen können" . . .^) „Wir müssen in Demut zugeben, daß, wenn die Zahl bloß unseres Geistes Produkt ist, der Raum auch außer unserm Geiste eine Realität hat, der wir a priori ihre Gesetze nicht vollständig vorschreiben können."^) 4. Jeder Forscher hat es erfahren, daß die Erkenntnis eines zu *) über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen. Göt- tingen 1867. ^) Brief von Gauß an Bessel, 27. Januar 1829. ä) Brief von Gauß an Bessel vom 9. April 1830. — Der Ausdruck: „Die Zahl ist Produkt oder Schöpfung des Geistes" wird seither von den Mathematikern wiederholt gebraucht. Unbefangene psychologische Beobach- tung lehrt jedoch, daß die Bildung des Zahlbegriffes ebenso durch die Er- 392 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forschung. untersuchenden Objektes durch die Vergleichung mit verwandten Objekten wesentlich gefördert wird. Wie natürlich sieht sich also Riemann nach Dingen um, welche eine Analogie zum Raum darbieten. Der geometrische Raum wird von ihm als eine drei- fach ausgedehnte, stetige Mannigfaltigkeit bezeichnet, als deren Elemente die durch je drei Koordinatenwerte bestimmten Punkte anzusehen sind. Er findet, „daß die Orte der Sinnesgegenstände und die Farben wohl die einzigen Begriffe (?) sind, deren Be- stimmungsweisen eine mehrfache ausgedehnte Mannigfaltigkeit bilden". Dieser Analogie wurden von anderen noch neue hin- zugefügt und weiter verfolgt, doch, wie ich glaube, nicht immer in glücklicher Weise. ^) 5. Vergleichen wir zunächst die Raumempßndung mit der Farbenempßndung, so sehen wir, daß den stetigen Reihen: oben — unten, rechts — links, nahe — fern die drei Empfindungsreihen der Farben: schwarz — weiß, rot — grün, gelb — blau entsprechen. Das System der empfundenen (angeschauten) Orte ist ebenso eine dreifache stetige Mannigfaltigkeit, wie das System der Farben- empfindungen. Die Einwendung, welche gegen diese Analogie vorgebracht worden ist, daß nämlich im ersteren Falle die drei Variationen (Dimensionen) homogen (gleichartig) und mitein- ander vertauschbar sind, im zweiten Falle aber heterogen und nicht vertauschbar, trifft nicht zu, wenn man die Räume mpßnäung mit der Farbenempßnäung vergleicht. Denn psycho-physiologisch kann rechts — links ebensowenig mit oben— unten vertauscht werden, als rot — grün mit schwarz — weiß. Nur wenn man den geometrischen Raum mit dem System der Farben vergleicht, ge- fahrung eingeleitet wird, wie die Bildung der geometrischen Begriffe. Min- destens muß man die Erfahrung gemacht haben, daß in gewissem Sinne gleich- wertige Objekte mehrfach und unveränderlich vorhanden sind, bevor Zahl- begriffe sich bilden können. Auch das Zählejrperiment spielt in der Ent- wicklung der Arithmetik eine bedeutende Rolle. *) Wenn Tonhöhe, Stärke und Klangfarbe, wenn Farbenton, Sättigung und Lichtstärke mit den 3 Dimensionen des Raumes in Analogie gesetzt werden, so wird dies wenige Menschen befriedigen. Die Klangfarbe, sowie der Farbenton ist von mehreren Variablen abhängig. Wenn also die Analogie überhaupt einen Sinn hat, entsprechen der Klangfarbe und dem Farbenton mehrere Dimensionen. — Vgl. Benno Erdmann, Die Axiome der Geometrie. Leipzig 1877. Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forschung. 393 winnt die Einwendung einen Anschein von Berechtigung. Allein zur vollen Analogie des Anschauungsraumes und des Systems der Farbenempfindung fehlt noch manches. Während nahe gleiche Entfernungen im Anschauungsraum unmittelbar als solche er- kannt werden, können wir über die Differenz der Farben nichts derartiges aussagen, und es fehlt daher dem letzteren Gebiete die physiologische Vergleichbarkeit seiner Teile untereinander. Wenn es auch keiner Schwierigkeit unterliegt, durch Zuziehung physikalischer Erfahrungen jede Farbe des Systems durch drei Zahlen zu bezeichnen, wie die Orte im geometrischen Raum, und so ein dem letzteren ähnliches metrisches System zu schaffen, so wird sich doch schwerlich etwas finden, das der Distanz oder dem Volumen entspricht, und das für das Farbensystem eine analoge physikalische Bedeutung hat. 6. Analogien haben immer etwas Willkürliches, da es auf die Übereinstimmungen ankommt, auf die man die Aufmerksamkeit richtet. Man wird aber wohl allgemein die Analogie zwischen Raum und Zeit zugeben, und zwar sowohl wenn man die Worte im physiologischen, als auch wenn man sie im physikalischen Sinne nimmt. In beiden Bedeutungen ist ersterer eine dreifache, letztere eine einfache stetige Mannigfaltigkeit. Ein durch die Umstände genau bestimmter physikalischer Vorgang von mäßiger, nicht zu langer oder kurzer Dauer erscheint uns jetzt und zu einer beliebigen andern Zeit unmittelbar physiologisch von gleicher Dauer. Physikalische Vorgänge, die sich irgendwann zeitlich decken, decken sich auch zeitlich zu jeder andern Zeit. Es gibt also zeitliche Kongruenz, so wie es räumliche Kongruenz gibt. Es existiert also ein unveränderliches physikalisches Zeitobjekt, so wie es ein unveränderliches physikalisches Raumobjekt (den starren Körper) gibt. Es gibt nicht nur räumliche, sondern auch zeitliche Substanzialität. Leibliche Vorgänge: Puls und Atmung verwendete noch Galilei zur Zeitschätzung, so wie man ehemals Hände und Füße zur Raumschätzung benützte. 7. Der dreifachen Mannigfaltigkeit der Raumempfindungen ist auch analog die einfache Mannigfaltigkeit der Tonempfindungen}) *) Auf diese Analogie bin ich 1863 beim Studium des Gehörorgans auf- merksam geworden, und habe sie seither weiter verfolgt. S. „Analyse der Empfindungen". 4. Aufl. S. 222 u. f. 394 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forschung. Die Vergleichbarkeit der verschiedenen Teile des S5>stems der Tonempfindungen ist durch die unmittelbare Empfindung des musikalischen Intervalls gegeben. Man erhält ein dem geo- metrischen Raum entsprechendes metrisches System am ein- fachsten, indem man die Tonhöhe durch den Logarithmus der Schwingungszahl charakterisiert. Dem konstanten musikalischen Intervall entspricht hier der Ausdruck log — = log n — log n — log t — log t' = konst., wobei ri , n die Schwingungszahl, -z' , t die Schwingungsdauer des höheren, bezw. des tieferen Tones bedeutet. Der Unter- schied der Logarithmen vertritt hier die bei der Verschiebung konstant bleibende Länge. Das unveränderliche substanzielle phj>sikalische Objekt, welches wir als Intervall empfinden, ist für das Ohr zeitlich bestimmt, während das analoge Objekt für den Gesichts- und Tastsinn räumlich bestimmt ist. Das Raum- maß erscheint uns nur deshalb einfacher, weil wir die Länge selbst, die für den Sinn unveränderlich bleibt, auch als Grund- maß der Geometrie wählen, während wir zu dem Maße im Ge- biet der Töne erst auf einem langen physikalischen Umwege gelangt sind. 8. Es ist nun notwendig, außer den Übereinstimmungen der in Analogie gesetzten Gebilde auch deren Unterschiede zu betonen. Fassen wir Zeit und Raum als Empfindungsmannigfaltigkeiten auf, so sind die Objekte, deren Bewegung durch Änderung der Zeit- und Ortsqualitäten sich bemerklich macht, durch andere Empfindungsqualitäten: Farben, Tastempfindungen, Töne u. s. w. gekennzeichnet. Wird aber z. B. das System der Tonempfindungen als analog dem optischen Anschauungsraum angesehen, so er- gibt sich die Sonderbarkeit, daß in ersterem Gebiet die Orts- qualitäten allein ohne andere den Objekten entsprechende Em- pfindungsqualitäten auftreten, so als ob man einen Ort oder eine bestimmte Bewegung sehen könnte, ohne ein Objekt zu sehen, welches diesen Ort einnimmt, oder diese Bewegung ausführt. Stellt man sich die Ortsqualitäten als Organempfindungen vor, welche nur mit den Sinnesqualitäten ^) erregt werden können, so 1) Vgl. S. 345. Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forschung. 395 wird man die genannte Analogie nicht besonders einladend finden. Für den Mannigfaltigkeitsmathematiker liegt im wesentlichen der- selbe Fall vor, ob ein Objekt von bestimmter Farbe sich stetig im optischen Räume bewegt, oder ob ein Gegenstand von fest bestimmtem Ort in stetiger Veränderung die Mannigfaltigkeit der Farben durchläuft. Für den Physiologen und Psychologen sind die beiden Fälle sehr verschieden, nicht nur nach dem oben Bemerkten, sondern noch durch einen besonderen Umstand. Das System der Ortsqualitäten ist uns sehr geläufig, während wir uns ein System der Farbenempfindung nur mühsam und künstlich auf Grund wissenschaftlicher Studien vergegenwärtigen. Die Farbe erscheint uns als ein herausgerissenes Glied einer Mannigfaltig- keit, deren Ordnung uns nicht geläufig ist. 9. Die hier mit dem Raum in Analogie gesetzten Mannigfaltig- keiten sind wie das Farbensystem ebenfalls dreifach, oder bieten eine geringere Zahl von Variationen dar. Der Raum selbst ent- hält in sich Flächen als zweifache, Linien als einfache Mannig- faltigkeiten, zu welchen der Mathematiker in seiner verallge- meinernden Sprache noch die Punkte als 0-fache zählen könnte. Es ist aber auch keine Schwierigkeit die analytische Mechanik, wie es geschehen ist, als analytische Geometrie von 4 Dimen- sionen — die Zeit als vierte betrachtet — aufzufassen. Über- haupt legen die in Bezug auf die Koordinaten konformen Glei- chungen der analytischen Geometrie dem Mathematiker den Ge- danken nahe, derartige Betrachtungen auf eine beliebige größere Zahl von Dimensionen auszudehnen. Auch die Physik könnte ein ausgedehntes materielles Kontinuum, von dem jedem Punkt eine Temperatur, ein magnetisches, elektrisches, Gravitations- potential u. s. w. zugeschrieben würde, als ein Stück, einen Aus- schnitt einer mehrfachen Mannigfaltigkeit betrachten. Die Ope- ration mit solchen symbolischen Darstellungen kann, wie die Geschichte der Wissenschaft lehrt, keineswegs als ganz unfrucht- bar angesehen werden. Symbole, welche anfänglich gar keinen Sinn zu haben schienen, gewannen, sozusagen bei den Ge- dankenexperimenten mit denselben, allmählich eine klare und präcise Bedeutung. Man denke z. B. an die negativen, ge- brochenen und variablen Potenzexponenten und ähnliche Fälle, in welchen sich auf diesem Wege wichtige und wesentliche Be- 396 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forschung. griffserweiterungen ergaben, die sonst ganz ausgeblieben wären, oder sich erst viel später eingestellt hätten. Man denke an die sogenannten Imaginären, mit welchen man lange rechnete, und sogar wichtige Resultate gewann, bevor man im stände war, den- selben einen genau bestimmten und sogar auch anschaulichen Sinn beizulegen. Die sjpmbolische Darstellung hat aber aller- dings den Nachteil, daß man den dargestellten Gegenstand gar zu leicht ganz aus den Augen verliert, und mit Zeichen operiert, welchen gelegentlich auch gar kein Objekt entspricht.^) 10. Zu der Riemann sehen Vorstellung seiner /z-fachen ste- tigen Mannigfaltigkeit kann man sich in der Tat leicht erheben und es gelingt sogar, Teile einer solchen Mannigfaltigkeit zu reali- sieren und anschaulich zu machen. Es seien a^^a^^a^^a^^ Un+x beliebige Elemente (Empfindungsqualitäten, Stoffe u. s. w.). Wenn wir uns diese Elemente in allen möglichen Verhältnissen gemischt vorstellen, so ist jede einzelne Mischung durch den Ausdruck dargestellt *) Ich gestehe, daß ich als junger Student über jede Ableitung mit Sym- bolen, deren Bedeutung nicht ganz klar und anschaulich war, mich empörte. Das historische Studium ist aber wohl geeignet den Hang zur Mystik zu beseitigen, der durch die traumhafte Anwendung solcher Methoden leicht begünstigt und anerzogen wird, indem dasselbe den heuristischen Wert dieser Methoden kennen lehrt, und zugleich erkenntnistheoretisch aufklärt, worin die Hilfe, die sie leisten, besteht. Eine symbolische Darstellung einer Rechnungs- operation hat für den Mathematiker dieselbe Bedeutung, wie ein Modell oder eine anschauliche Arbeitshypothese für den Physiker. Das Symbol, das Modell, die Hypothese geht dem Darzustellenden parallel. Aber der Paralle- lismus kann weiter reichen, oder weiter geführt werden, als es bei Wahl dieser Mittel ursprünglich beabsichtigt war. Indem das Dargestellte und das Darstellungsmittel doch verschieden ist, fällt an dem einen auf, was an 2 dem andern verborgen bleiben würde. Auf eine Operation a^ könnte man schwerlich unmittelbar verfallen. Die Rechnung mit solchen Symbolen führt aber dazu, diesem Symbol einen verständlichen Sinn beizulegen. Man rech- nete nach dem Vorgange von Euler viele Decennien mit Ausdrücken wie cos.r+ Y— • •sin.r, und mit Exponentiellen mit imaginären Exponenten, bis in dem Streben der gegenseitigen Anpassung von Gedanke und Symbol end- lich durch Argand 1806 die seit einem Jahrhundert keimende Idee durch- brach, daß ein V erhä ltnis nach Größe und Richtung aufgefaßt werden könne, wodurch sich V"— 1 als mittlere Richtungsproportionale zwischen + 1 und — 1 herausstellte. Raum und Geometrie vom Standpunkt der Naturforschung. 397 a, öl -f- 0'2^2 +0^3 03 H~ «n + l ßn + 1, wobei die Koeffizienten a der Gleichung genügen ai+a2+a3H- a„4-i=l. Da hiernach n der Koeffizienten a beliebig gewählt werden können, so stellt die Gesamtheit der Mischungen aus n-\-\ Elementen eine /z-fache stetige Mannigfaltigkeit dar.^) Als Koordinaten eines Punktes, Elementes dieser Mannigfaltigkeit kann man Ausdrücke vonderPorm— oderF( — ), z.B. log( — ) ansehen. Aber bei der Wahl der Definition der Entfernung, oder anderer den geo- metrischen analoger Begriffe wird man recht willkürlich vorgehen müssen, wenn nicht Erfahrungen über die betreffende Mannig- faltigkeit lehren, daß bestimmte metrische Begriffe eine reelle Bedeutung haben, und deshalb zu bevorzugen sind, wie dies für den geometrischen Raum mit der aus der Volumenbeständig- keit der Körper folgenden Definition 2) für das Entfernungselement ds^ = dx^ + dy^ + ^z', und für die Tonempfindungen mit dem erwähnten logarithmischen Ausdruck der Fall ist. In den meisten Fällen einer solchen künstlichen Konstruktion werden solche An- haltspunkte fehlen, und die ganze Betrachtung wird demnach eine müßige sein. Die Analogie zum Raum verliert dadurch an Vollständigkeit, Fruchtbarkeit und fördernder Kraft. 11. Noch in einer anderen Richtung hat Riemann Gedanken von Gauß weitergesponnen, anknüpfend an die Untersuchungen des letzteren über die krummen Flächen. Das Gauß sehe Krüm- mungsmaß ^) einer Fläche in einem Punkte ist gegeben durch den Ausdruck k — -^, wobei ds ein Element der Fläche, de das Ober- flächenelement der Einheitskugel bedeutet, dessen Grenzradien den Grenznormalen des Elementes ds parallel sind. Dieses Krümmungsmaß kann auch in der Form ausgedrückt werden ^) Wären die 6 Grundfarbenempfindungen voneinander ganz unabhängig, so würde das System der Farbenempfindungen eine fünffache Mannigfaltig- keit darstellen. Da sie paarweise im Gegensatz stehen, entspricht das System einer dreifachen Mannigfaltigkeit. *) Vgl. S. 374, 375. ') Disquisitiones generales circa superficies curvas. 1827. 398 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forschung. A*= , wobei pi, g^ die Hauptkrümmungsradien der Fläche in dem betreffenden Punkt bedeuten. Von besonderem Interesse sind die Flächen, deren Krümmungsmaß für alle Punkte denselben Wert hat, die Flächen von konstantem Krümmungsmaß. Denkt man sich die Flächen als unendlich dünne nicht ausdehnbare aber biegsame Körper, so können Flächen von gleichem Krümmungs- maß durch Biegung zur Deckung gebracht werden, wie man z. B. ein ebenes Blatt Papier um den Mantel eines Zylinders oder Kegels wickeln, nicht aber mit einer Kugelfläche zur Deckung bringen kann. Bei dieser Deformation, ja selbst bei beliebiger Zerknitterung, bleiben die Maßverhältnisse in der Fläche gezeich- neter Figuren mit ihren Längen und Winkeln unverändert, sobald man nur messend aus den zwei Dimensionen der Fläche nicht herausgeht. Umgekehrt hängt auch das Krümmungsmaß der Fläche gar nicht von deren Gestaltung nach der dritten Dimen- sion des Raumes, sondern nur von deren inneren Maßverhält- nissen ab. Riemann faßte nun den Gedanken, den Begriff des Krümmungsmaßes für Räume von drei und mehreren Dimensionen zu verallgemeinern. Demgemäß nimmt er die Möglichkeit von endlichen unbegrenzten Räumen konstanten positiven Krümmungs- maßes an, entsprechend der unbegrenzten aber endlichen zwei- dimensionalen Kugelfläche, während der nach unserer gewöhn- lichen Vorstellung unendliche Raum der endlosen Ebene vom Krümmungsmaß Null, und ebenso eine dritte Raumspecies den Flächen von negativem Krümmungsmaß entsprechen würde. So wie die auf einer Fläche von bestimmtem konstantem Krümmungs- maß gezeichnete Figur nur auf dieser ohne Verzerrung ver- schoben werden kann, wie z. B. eine sphärische Figur nur auf dieser Sphäre, eine ebene Figur nur in der Ebene, so müßte das Analoge für räumliche Figuren, für starre Körper gelten. Nur in Räumen von konstantem Krümmungsmaß könnten die letzteren frei beweglich sein, wie Helmholt z^) weiter ausgeführt hat. So wie die kürzesten Linien in der Ebene unendlich, auf der Kugel- fläche aber als größte Kreise von bestimmter endlicher Länge ') über die Tatsachen, welche der Geometrie zu Grunde liegen. Göt- tinger Nachrichten. 1868. 3. Juni. Raum und Geometrie vom Standpunkt der Naturforschung. 399 und geschlossen (in sich zurücklaufend) sind, so dachte sich Riemann im dreidimensionalem Raum von positivem Krümmungs- maß die Analoga der Geraden und Ebene endlich aber unbe- grenzt. Nun besteht hier eine Schwierigkeit. Hätte man den Begriff des Krümmungsmaßes für einen vierdimensionalen Raum, so wäre der Übergang auf den speziellen Fall des dreidimensio- nalen Raumes leicht sinngemäß auszuführen. Der Übergang von dem spezielleren auf den allgemeineren Fall schließt aber eine gewisse Willkür in sich, und wie natürlich haben hier verschie- dene Forscher ungleiche Wege eingeschlagen.^) (Riemann, Kronecker.) Schon der Umstand, daß es für den eindimen- sionalen Raum — eine beliebige krumme Linie — ein Krümmungs- maß von der Bedeutung eines inneren Maßes gar nicht gibt, und daß das letztere erst bei zweidimensionalen Gebilden auf- tritt, drängt uns die Frage auf, ob und wie weit Analoges für dreidimensionale Gebilde überhaupt einen Sinn hat? Unterliegen wir hier nicht einer Illusion, indem wir mit Symbolen operieren, welchen vielleicht überhaupt nichts Wirkliches entspricht, jeden- falls nichts Anschauliches, an dem wir unsere Begriffe verifizieren und rektifizieren könnten? So hätten wir also die höchsten und allgemeinsten Ideen über den Raum und dessen Beziehungen zu analogen Mannig- faltigkeiten gewonnen, die sich aus der Gaußschen Überzeugung von der empirischen Begründung der Geometrie ergeben haben. Die Genesis dieser Überzeugung hat aber eine zweitausend- jährige Vorgeschichte, deren Hauptphänomene wir, von der ge- wonnenen Höhe aus, vielleicht besser überschauen wefden. 12. Die naiven Menschen, welche mit dem Maßstab in der Hand die ersten geometrischen Kenntnisse erwarben, hielten sich an die einfachsten körperlichen Gebilde: die Gerade, die Ebene, den Kreis u. s. w., und untersuchten an Formen, die sich als Kombination jener einfachen Gebilde auffassen ließen, den Zu- sammenhang der Abmessungen. Es kann ihnen nicht entgangen sein, daß die Beweglichkeit eines Körpers beschränkt wird, wenn man einen, dann zwei Punkte desselben fixiert, und daß sie ') Vgl. z. B. Kronecker, Über Systeme von Funktionen mehrerer Variablen. Ber. d. Berliner Akademie. 1869. 400 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Naturforschung. endlich durch Festhalten dreier Punkte vollkommen aufgehoben wird. War die Drehung um eine Achse, um zwei Punkte, oder die Drehung um einen Punkt in der Ebene, sowie die Ver- schiebung bei stetigem Kontakt zweier Punkte mit einer Geraden, und eines dritten Punktes mit einer durch jene Gerade gelegten festen Ebene isoliert beobachtet^ so wußte man die reine Drehung, r^m^ Verschiebung und die aus beiden unabhängigen Bewegungen kombinierte Bewegung zu unterscheiden. Die erste Geometrie war natürlich nicht auf rein metrische Begriffe gegründet, sondern machte dem physiologischen Moment, der Anschauung, bedeutende Zugeständnisse. ^) So er- klärt sich das Auftreten von zwei verschiedenen Grund- maßen: (gerade) Länge und Wif'/zA"^/ (Kreismaß). Die Ge- rade wurde als starrer be- weglicher Körper (Maßstab), der Winkel als Drehung einer Geraden gegen eine andere (gemessen durch den hierbei beschriebenen Kreis- bogen) aufgefaßt. Für die Gleichheit der durch die- selbe Drehung beschriebenen Scheitelwinkel wird gewiß niemand einen besondern Beweis verlangt haben. Auch andere Winkel- sätze ergaben sich sehr einfach. Dreht man (Fig. 22) die Gerade b, den Winkel a beschreibend, um den Schnittpunkt mit c bis zum Zusammenfallen mit dieser, hierauf um den Schnittpunkt mit a, den Winkel ß beschreibend, bis zur Deckung mit dieser, so hat man b aus der Anfangslage in die Endlage a um den Winkel u in demselben Sinne gedreht. Daher der Außen- winkel w = a + ß, und weil h + y = 2/?, auch a + ß + 7 = 2/?.^) Fig. 22. ») Vgl. S. 351, 376. *) C. R. Kosack, Beiträge zu einer systematischen Entwicklung der Geometrie aus der Anschauung. Nordhausen 1852. — Dieses Programm hat mir Herr Prof. F. Pietzker in Nordhausen gütigst zur Ansicht gesendet. — Ähnliche einfache Ableitungen finden sich bei Bernhard Becker, Leitfaden für den ersten geometrischen Unterricht in der Geometrie. Frankfurt a. M. 1874, Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forschung.' 401 Verschiebt man (Fig. 23) das starre System der in 1 sich schneidenden Geraden a, b, c in seiner Ebene bis 2, so daß die Gerade a in sich verbleibt, so ändert sich durch die reine Verschiebung kein Winkel. Die Summe der Innenwinkel des hierbei entstandenen Dreiecks 123 ist ersichtlich 2/?. Dieselbe Betrachtung setzt auch die Eigenschaften der Parallelen ins Licht. Bedenken wie die, ob die successive Drehung um mehrere Punkte wirklich äquivalent ist der Drehung um einen Punkt, ob es eine reine Verschiebung überhaupt gibt — die sofort be- rechtigt sind, sobald man an die Stelle der (Euklidischen) Ebene eine Fläche mit von Null ver- schiedener Krümmung treten läßt — können bei dem freu- digen naiven Finder dieser Be- ziehungen auf dieser Stufe natürlich nicht auftreten. Die " Betrachtung der Bewegung starrer Körper, welche Euklid sorgfältig vermeidet, und die er nur verdeckt im Kongruenz- prinzip einführt, ist heute noch Fig. 23. das zweckmäßigste Mittel für den geometrischen Elementarunterricht. Am besten wird eine Einsicht Eigentum des Lernenden auf demselben Wege, auf welchem sie gefunden wurde.j 13. Die gesunde naive Auffassung verschwand, und die Be- handlung der Geometrie änderte sich wesentlich, sobald dieselbe Gegenstand des berufsmäßigen gelehrten Denkens wurde. Nun galt es zunächst für die eigene Übersicht das Wissen in ein System zu bringen, das unmittelbar Erkannte von dem Ableit- baren und Abgeleiteten zu ^sondern, den Faden der Ableitung deutlich hervorzuheben. Für den Zweck des Unterrichts wurden die einfachsten, am leichtesten zu erwerbenden Kenntnisse, welche keinem Zweifel und Widerspruch ausgesetzt schienen, an die Spitze gestellt, um das übrige darauf zu gründen. Man be- und in desselben Verfassers Schrift: Über die Methode des geometrischer Unterrichts. Frankfurt a. M. 1845. — Erstere Schrift erhielt ich durch die Güte des Herrn Dr. M. Schuster in Oldenburg i. Gr. zur Einsicht. Mach, Erkenntnis und Irrtum. 26 402 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forschung. mühte sich, diese Ausgangssätze noch auf das Notwendigste zu reduzieren, wie wir dies alles an dem System des Euklid sehen. Bei diesem Streben jede Einsicht durch eine andere zu stützen, und nur das wenigste der unmittelbaren Erkenntnis zu überlassen, wurde die Geometrie von dem empirischen Boden, auf welchem sie entstanden war, allmählich losgelöst. Man ge- wöhnte sich die abgeleitete Einsicht höher zu schätzen als die unmittelbar erschaute, und verlangte schließlich Beweise für Sätze, an welchen niemand ernstlich zweifelte. So entstand — der Tradition nach zum Schutz gegen die Angriffe der Sophisten — das logisch vollendete geschlossene System Euklids. Bei dieser künstlichen Aufreihung der Sätze an einem willkürlich gewählten Faden der Ableitung wurden aber nicht nur die Wege der Forschung absichtlich verdeckt, sondern auch der vielfache organische Zusammenhang der geometrischen Lehren blieb un- sichtbar.^) Das System war eher geeignet, ängstliche sterile Pedanten, als fruchtbare produktive Forscher zu erziehen. Dieser Zustand wurde nicht gebessert, als die fremde Geistesprodukte mit Vorliebe sklavisch kommentierende Scholastik die Menschen an eine sehr geringe Empfindlichkeit für die Rationalität der Grundannahmen, und dafür an desto größere Achtung für die logische Form der Ableitung gewöhnte. Die ganze Zeit nach Euklid bis auf Gauß leidet mehr oder weniger unter dieser Stimmung. ') Das Euklidische System hat durch seine logischen Vorzüge be- stochen. Darüber wurden dessen übrige Mängel übersehen. Große Forscher bis in die moderne Zeit hinein haben sich verleiten lassen, bei Darstellung ihrer Forschungsergebnisse dem Beispiel Euklids zu folgen und zum Nach- teile der Wissenschaft ihre Forschungswege zu verdecken. Allein die Wissen- schaft ist kein Advokatenkunststück. Die wissenschaftlichste Darstellung ist jene, welche alle Motive eines Gedankens so darlegt, daß sie jederzeit auf ihre Kraft und Stichhaltigkeit nachgeprüft werden können. Nicht mit halb- verbundenen Augen soll der Lernende geführt werden. Es erhob sich des- halb unter den Philosophen und Didaktikern Deutschlands auch eine gesunde Reaktion, welche namentlich von Herbart, Schopenhauer und Trendelen - bürg ausging. Man bemühte sich größere Anschaulichkeit, eine mehr gene- tische Methode und logisch durchsichtigere Ableitungen in den Unterricht einzuführen. — Vgl. die modernen Schriften: M. Pasch (Vorlesungen über neuere Geomatrie. Leipzig 1832). — D. Hilbert (Grundlagen der Geometrie. Leipzig 1899). Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forschung. 403 14. Unter den Sätzen, auf welche Euklid sein System gründete, befand sich die sogenannte fünfte Forderung (auch als II. Axiom bezeichnet): „2 Gerade, die von einer dritten so geschnitten werden, daß die innern an derselben Seite der Schnei- denden liegenden Winkel zusammen kleiner sind als 2 Rechte, treffen genügend verlängert an eben dieser Seite zusammen." Es gelingt Euklid leicht zu zeigen, daß 2 Gerade, die mit einer dritten Schneidenden gleiche Wechsel winkel bilden, sich nicht treffen, parallel sind. Die Umkehrung aber, daß Parallele mit jeder schneidenden Geraden gleiche Wechselwinkel bilden, muß er auf die fünfte Forderung stützen. Diese Umkehrung ist gleichbedeutend mit dem Satze, daß durch einen Punkt zu einer Geraden nur eine Parallele möglich ist. Da nun mit Hilfe dieser Umkehrung nachgewiesen wird, daß die Winkelsumme des Drei- ecks 2R ist, und 'da aus letzterer Behauptung erstere wieder folgt, so ist hiermit der Zusammenhang der genannten Sätze deutlich gemacht, und die fundamentale Bedeutung der fünften Forderung für die Euklidische Geometrie klargelegt. 15. Der Schnitt schwach konvergierender Geraden liegt außerhalb des Gebietes der Konstruktion und der Beobachtung. Es ist daher begreiflich, daß die durch Euklid an Strenge ge- wöhnten Nachfolger desselben, bei der Wichtigkeit der Aussage der fünften Forderung schon in der antiken Zeit bemüht waren, diese Aussage zu beweisen, oder durch einen unmittelbar ein- leuchtenden Satz zu ersetzen. Von Euklid bis auf Gauß wurden zahlreiche erfolglose Versuche unternommen, den Inhalt der fünften Forderung, aus den übrigen Euklidischen Annahmen abzuleiten. Es ist ein erhebendes Beispiel, das diese Menschen darbieten, indem sie durch Jahrhunderte .lediglich im reinen Trieb nach wissenschaftlicher Aufklärung nach der Erkenntnisquelle eines Satzes suchen, an dessen Richtigkeit weder ein Theore- tiker noch ein Praktiker bis auf den heutigen Tag wirklich ernst- lich gezweifelt hat. Mit Spannung verfolgen wir die beharrlichen Äußerungen der ethischen Kraft des Wissenstriebes, und erfreut beobachten wir, wie die Forscher durch ihre Mißerfolge allmählich zur Erfahrung als der wahren Grundlage der Geometrie hinge- leitet werden. Wir wollen uns an einigen Beispielen genügen lassen. 26* 404 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Naturforschung. 16. Zu [den Forschern, welche sich bedeutende Verdienste um die Lehre von den Parallelen (erworben haben, gehört der Italiener Saccheri und der deutsche Mathematiker Lambert. Um die Art, wie beide die Frage anfassen, deutlich zu machen, bemerken wir zunächst, daß die Existenz von Rechtecken und Quadraten, die wir doch fortwährend zu beobachten glauben, ohne Hilfe der fünften Forderung nicht nachgewiesen werden kann. Betrachten wir z.fB. zwei kongruente, gleichschenklige bei Ä und D rechtwinklige Dreiecke ABC und DBC (Fig. 24), welche wir mit den Hypotenusen SC aneinanderlegen, so daß das gleichseitige Viereck AB CD entsteht, so genügen die ersten 27 Sätze Euklids nicht, die Art und Größe der beiden gleichen (rechten) Winkel bei B und C zu bestimmen. Das Längenmaß und das Winkelmaß sind ja grundverschieden und nicht einfach Fig. 24. vergleichbar, daher die ersten Sätze über den Zusammenhang der Seiten und Winkel des Dreiecks nur qualitative, daher ein quantitativer Winkelsatz, wie der Winkelsummensatz unbedingt erforderlich. Bemerken wir ferner, daß den 27 planimetrischen Sätzen analoge für die Kugelfläche und die Flächen konstanter negativer Krümmung aufgestellt werden können, und daß dann die analoge Konstruktion die Winkel bei B und C stumpf, bezw. spitz ergibt. 17. Das Hauptverdienst Saccheris^) liegt nun in der Form seiner Problemstellung. Steckt die fünfte Forderung schon in den übrigen Voraussetzungen Euklids, so muß es auch ohne dieselbe gelingen zu beweisen, daß in dem Viereck AB CD (Fig. 25) mit den rechten Winkeln in A und B, und bei AC= BDy die Winkel in C, D rechte sind. Dagegen muß in diesem Falle ^) Euklid es ab omni fiaevo vindicatus. Mediolani 1733. Übersetzt in Engel und Stäckel, Die Theorie der Parallellinien. Leipzig 1895. Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forschung. 405 die Annahme, C und D seien stumpf oder spitz zu Widersprüchen führen. Saccheri versucht also aus den Hypothesen des rechten stumpfen oder spitzen Winkels Folgerungen zu ziehen. Es ge- lingt ihm zu zeigen, daß jede dieser Hi?pothesen in allen Fällen gilt, wenn sie nur in einem Falle richtig ist. Durch irgend ein Dreieck, dessen Winkelsumme 'gleich 2 .ff, größer oder kleiner ist, wird die Gültigkeit der Hypothese des rechten, stumpfen oder spitzen Winkels allgemein nachgewiesen. Bemerkenswert ist, daß Saccheri schon divA physikalisch-geometrische Versuche hinweist, welche die Hypothese des rechten Winkels stützen. Verbindet (Fig. 25) [eine Gerade \CD |die Endpunkte der auf einer^Geraden AB errichteten gleichen Lote ÄC und BD^ und ist das von einem beliebigen Punkte N der ersteren Geraden auf AB gefällte Lot NM=CA = DB, so ist die Richtigkeit Fig. 26. der Hypothese des rechten Winkels nachgewiesen. Daß die Linie gleichen Abstandes von einer Geraden wieder eine Gerade sei, hält Saccheri mit Recht nicht für selbstverständlich. Man denke nur an den Parallelkreis zum größten Kreise der Kugel, welcher auf der Kugel keine Kürzeste darstellt, und dessen beide Seiten sich nicht decken. Andere experimentelle Beweise für die Richtigkeit der Hypothese des rechten Winkels sind noch folgende. Erweist sich der Winkel im Halbkreise (Fig. 26) als ein [rechter, a-f ß = /?, so ist auch 2a-|-2ß = 2/? die Winkel- summe in dem Dreieck ABC. Wenn der Radius im Halbkreise dreimal aufgetragen wird, und die Verbindungsgerade des ersten und vierten Endpunktes durch den Mittelpunkt geht, so ist bei C (Fig. 27) 3a = 2/?, und demnach hat jedes der drei Dreiecke die Winkelsumme 27?. Die Existenz ungleich großer gleich- winkliger (ähnlicher) Dreiecke ist ebenfalls ein experimenteller Beweis. Denn wenn (Fig. 28) die Winkel bei B und C ergeben ß + S + T + s = 4/?, so ist 4/? auch die Winkelsumme des Vier- 406 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Naturforschung. ecks BCB'C Schon Wallis^) hatte 1663 den Beweis der fünften Forderung auf die Voraussetzung der Existenz ähnlicher Dreiecke gegründet, und ein moderner Geometer, Delboeuf, leitete aus der Annahme der Ähnlichkeit die ganze Euklidische Geometrie ab. Die Hypothese des stumpfen Winkels meinte Saccheri leicht widerlegen zu können. Die Hypothese des spitzen Winkels bereitete ihm aber Schwierigkeiten, und trieb ihn im Suchen nach den erwarteten Wider- sprüchen zu weiter und weiter gehenden Folgerungen, die später Lobatschefskij und Bolyai auf ihren Wegen wiederfanden. Schließlich glaubt er letztere Hypothese als mit der Natur der Geraden unverträglich aufgeben zu müssen, denn sie führt zur An- nahme von verschiedenen Geraden, welche im Unendlichen zusammenfallen, also dort ein gemeinsames Lot haben. Saccheri Fig. 28. ^^t die spätere Aufklärungsarbeit wesentlich vorbereitet und gefördert, zeigte aber den hergebrachten Ansichten gegenüber noch eine gewisse Be- fangenheit. 18. Die Arbeit Lamberts 1766^) ist in der Methode jener Saccheris verwandt, geht aber in den Folgerungen etwas weiter und bekundet einen noch freieren Blick. Lambert geht von der Betrachtung eines Viereckes mit drei rechten Winkeln aus, und untersucht die Folgen, die sich ergeben, je nachdem man den vierten Winkel als einen rechten, stumpfen oder spitzen voraussetzt. Die Ähnlichkeit der Figuren findet er mit der zweiten und dritten Annahme unverträglich. Den Fall des stumpfen Winkels, an welchen eine 2/? überschreitende Winkel- summe des Dreiecks geknüpft ist, findet er in der Geometrie der Kugel fläche verwirklicht, in welcher die Schwierigkeit der Parallellinien ganz wegfällt. Dies führt ihn auf die Vermutung, daß der Fall des spitzen Winkels, mit einer Dreieckswinkelsumme ») Engel und Stäckel, 1. c, S. 21 u. f. ») Ebenda S. 152 u. f. Raum und Geometrie vom Standpunkt der Naturforschung. 407 unter 2/?, auf einer imaginären Kugel verwirklicht sein möchte. Die Abweichung der Winkelsumme von 2R ist in beiden ^Fällen der Dreiecksfläche proportional, wie sich durch passende Teilung größerer Dreiecke in kleinere, welche mit der Verkleinerung der Winkelsumme 2/? beliebig nahekommen, nachweisen läßt. ; Hier- mit nähert sich Lambert bedeutend dem Standpunkt der modernen Geometer. Eine Kugel mit imaginärem Radius r V — 1 ist zwar I^ein anschauliches geometrisches Gebilde, ist aber analgetisch eine Fläche von negativem konstantem Gaußschem Krümmungs- maß. Man sieht an diesem Fall wieder, wie auch das Experi- mentieren mit Symbolen eine Untersuchung auf den richtigen Weg weisen kann, in einem Stadium, wo andere Anhaltspunkte eben noch ganz fehlen, und wo jedes Mittel, das fördern kann, geschätzt werden muß.^) Scheint doch auch Gauß an die imaginäre Kugel gedacht zu haben, wie aus seiner Formel für den Kreisumfang (Brief an Schumacher vom 12. Juli 1831) hervorgeht. Dennoch glaubt auch Lambert dem Beweis der fünften Forderung so nahe gekommen zu sein, daß. das Fehlende leicht zu ergänzen wäre. 19. Wenden wir uns nun zu dem Forscher, dessen Ansichten die radikalste Wendung in Bezug auf die Auffassung der Geo- metrie bedeuten, der aber dieselben leider nur in kurzen münd- lichen oder brieflichen Bemerkungen mitgeteilt hat. „Die Geo- metrie betrachtete Gauß nur als ein konsequentes Gebäude, nachdem die Parallelentheorie als Axiom an der Spitze zuge- geben sei; er sei indes zur Überzeugung gelangt, daß dieser Satz nicht bewiesen werden könne, doch wisse man aus der Erfahrung, z. B. aus den Winkeln des Dreieckes: Brocken, Hohenhagen, Inselsberg, daß er näherungsweise richtig sei. Wolle man dagegen das genannte Axiom nicht zugeben, so folge daraus eine andere, ganz selbständige Geometrie, die er gelegentlich einmal verfolgt und mit dem Namen Antieuklidische Geometrie bezeichnet habe." So dachte Gauß nach dem Be- richt von Sartorius von Waltershausen. 2) O. Stolz hat hieran anknüpfend versucht, in einer kleinen sehr lehrreichen 1) Vgl. Anmerkung S. 396. 2) Gauß zum Gedächtnis. Leipzig 1856. 408 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forschung. Abhandlung^) die Hauptsätze der Euklidischen Geometrie ab- zuleiten, ohne das Gebiet der beobachtbaren Tatsachen zu ver- lassen. Aus derselben soll hier das Wichtigste mitgeteih werden. Es sei also (Fig. 29) ein großes Dreieck ABC mit der Winkel- summe 2R gegeben. Wir ziehen die Senkrechte AD auf BC^ ergänzen die Figur durch BAE^ABD und CAF^ ACD^ und fügen der Figur BCFAE die kongruente CBHA'G hinzu. Wir erhalten so ein Rechteck, denn die Winkel bei E,F,G,H sind rechte und jene bei A, C, A', B gestreckte (gleich 2/?), die Grenzlinien also Gerade, und die gegenüberliegenden gleich. Ein Rechteck kann durch eine im Mittelpunkt einer Seite er- richtete Senkrechte in zwei kongruente Rechtecke zerlegt werden, und durch Fortsetzung dieses Verfahrens läßt sich die Teilungs- A D N Q ^^ M Fig. 29. Fig. 30. linie an eine beliebige Stelle der geteilten Seite bringen. Das- selbe gilt für das andere Gegenseitenpaar. Man kann also aus einem gegebenen Rechteck AB CD (Fig. 30) ein kleineres AMQP von beliebigem Seitenverhältnis herausschneiden. Der Diagonal- schnitt des letzteren zerlegt dasselbe in zwei kongruente recht- winklige Dreiecke, deren also jedes (unabhängig vom Seiten- verhältnis) die Winkelsumme 2R hat. Jedes schiefwinklige Drei- eck kann durch Ziehen einer Höhe in rechtwinklige Dreiecke zerfällt werden, deren jedes wieder ebenso in rechtwinklige Dreiecke von kleinerer Seitenlänge zerlegt werden kann, so daß also 2R als Winkelsumme für jedes Dreieck sich ergibt, wenn dies nur von einem (exakt) gilt. Mit Hilfe dieser auf die ') Das letzte Axiom der Geometrie. Berichte des naturw.-medizin. Vereins zu Innsbruck. 1886. S. 25—34. Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forscfiung. 409 Beobachtung aufgebauter Sätze /ö/g'ß/'/ man leicht, daß das Gegen- seitenpaar eines Rechteckes (oder überhaupt eines sogenannten Parallelogramms) überall, auch beliebig verlängert, denselben Abstand hat, sich also nicht schneidet. Es hat die Eigenschaften der Euklidischen Parallelen^ kann also als solche benannt und definiert werden. Ebenso folgt nun aus den Eigenschaften der Dreiecke und Rechtecke, daß zwei Gerade, welche von einer dritten so geschnitten werden, daß die Summe der Innenwinkel zur selben Seite der letzteren kleiner ist als 2^, nach dieser Seite sich schneiden, zu beiden Seiten des Schnittpunktes sich aber ohne Ende voneinander entfernen. Die Gerade ist demnach unendlich. Was also als Axiom, als Ausgangssatz eine grand- lose Behauptung ist, kann als Folgerang einen guten Sinn haben. 20. Die Geometrie besteht also in einer Anwendung der Mathe- matik auf Raumerfahrungen. Sie wird wie die mathematische Physik nur dadurch zu einer deduktiven exakten Wissenschaft, daß sie die Erfahrungsobjekte durch schematisierende, idea- lisierende Begriffe darstellt. So wie die Mechanik nur innerhalb der Beobachtangs-F etiler grenzen die Konstanz der Massen be- haupten, die Wechselwirkung der Körper auf bloße Beschleu- nigungen zurückführen kann, so kann die Existenz von Geraden, Ebenen, der Wert der Winkelsumme u. s. w. nur unter demselben Vorbehalt festgestellt werden. Aber so wie die Physik sich zu- weilen veranlaßt sieht, an die -Stelle ihrer idealen Annahmen andere, meist allgemeinere zu setzen, statt der konstanten Fall- beschleunigung eine von der Entfernung abhängige, statt der konstanten Wärmemenge eine variable zu setzen u. s. w., so darf dies :'[auch die Geometrie durch die Tatsachen veranlaßt, oder auch nur versuchsweise zur wissenschaftlichen Aufklärung tun.^) So werden uns also jetzt die Versuche von Legendre, Lobatschefskij, der beiden Bolyai, von welchen der jüngere vielleicht indirekt durch Gauß angeregt war, in dem richtigen Lichte erscheinen. 21. Von den Versuchen von Schweickart und Taurinus *) Den Unterschied zwischen Geometrie und Phpsik, den Duhem (La Theorie physique, p. 290) als einen fundamentalen qualitativen auffaßt, halte ich nur für einen Gradunterschied. 410 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Naturforschung. — ebenfalls Zeitgenossen von Gauß — wollen wir absehen. Lobatschefskijs Arbeiten sind zuerst in weiteren Kreisen be- kannt und dadurch wirksam geworden (1829). Sehr bald folgte die Publikation des Jüngern Bolyai 1833, der in allen wesent- lichen Punkten mit Lobatschefskij übereinstimmt, und nur in der Form seiner Entwicklungen abweicht. Nach den Akten, die jetzt durch die schönen Ausgaben von Engel und StäckeP) leicht zugänglich geworden sind, und recht vollständig vorliegen, läßt sich annehmen, daß auch Lobatschefskij seine Entwick- lungen in der Hoffnung unternommen hat, durch Fallenlassen des Euklidischen Axioms auf Widersprüche geführt zu werden. Nachdem er aber in dieser Erwartung sich getäuscht sah, hatte er den intellektuellen Mut, hieraus alle Konsequenzen zu ziehen. Lobatschefskij gibt seine Entwicklungen in synthetischer Form. Wir können aber die allgemeinen ana- lysierenden Überlegungen uns ver- gegenwärtigen, welche den Aufbau seiner Geometrie mutmaßlich vorbe- reitet haben. Man nimmt (Fig. 31) außerhalb einer Geraden g einen Punkt an, von welchem man ein Lot p auf g fällt, und durch welchen man in der Ebene gp eine Gerade h zieht, die mit dem Lote einen spitzen Winkel s bildet. Versucht man nun die Annahme, daß g und h sich nicht schneiden, daß aber bei der geringsten Verkleinerung von s dies eintritt, so nötigt die Gleichmäßigkeit des Raumes sofort zu der Folgerung, daß noch eine zweite Gerade k mit demselben Winkel s nach der andern Seite des Lotes sich ebenso verhält. Alle durch denselben Punkt gezogenen nicht schneiden- den Geraden liegen dann zwischen h und k. Letztere bilden die Grenze zwischen Schneidenden und Nichtschneidenden, und wer- den von Lobatschefskij Parallele genannt. Lobatschefskij zeigt sich in der Einleitung zu seinen „Neuen Anfangsgründen der Geometrie" 1835 ganz als Naturforscher. Niemand darf auch nur einem gewöhnlichen besonnenen Menschen die Annahme ') F. Engel, N. I. Lobatschefskij, Zwei geometrische Abhandlungen. Leipzig 1899. Raum und Geometrie vom Standpunkt der Naturforschung. 411 eines bedeutend unter einem R liegenden „Parallelenwinkels'' s zumuten, bei Geraden, die sich so nahe liegen, daß deren Durchschnitt bei geringer Verlängerung augenscheinlich wäre. Obgleich die hier zu besprechenden Verhältnisse sich nur in roh karikierenden Zeichnungen darstellen lassen, hat man sich doch vielmehr vorzustellen, daß bei den Dimensionen der Zeichnung die Abweichung des s von einem R so klein sei, daß für das Auge h und k ununterscheidbar zusammenfallen. Zieht man nun, das Lot p über den Schnitt mit h verlängernd, durch dessen Endpunkt eine neue Parallele / zu h, die natürlich auch zu g parallel ist, so muß der Parallelenwinkel s'<Cs sein, wenn wir in Bezug auf h und / nicht wieder auf den Euklidischen Fall zurückkommen sollen. Fährt man so mit der Verlängerung des Fig. 32. Fig. 33. Lotes und mit dem Parallelenziehen fort, so nimmt der Parallelen- winkel fort und fort ab. Verfolgt man nun weiter abstehende, und daher stärker konvergente Parallele nach der Seite der Kon- vergenz, so müssen wir konsequenterweise annehmen, daß mit der Annäherung, mit der Verkürzung des Lotes, der Parallelen- winkel wieder zunimmt, um mit dem Vorigen nicht in Wider- spruch zu geraten. Der Parallelenwinkel s ist also eine inverse Funktion des Lotes p, welche Lobatschefskij mit n(/7) be- zeichnet. Eine Schar Parallelen in einer Ebene zeigt die An- ordnung der schematischen Fig. 32. Sämtliche Parallelen nähern sich asymptotisch nach der Seite ihrer Konvergenz. Die Gleich- mäßigkeit des Raumes fordert, daß jeder „Sf reifen'' zwischen zwei Parallelen mit jedem andern, sobald man nur nach der Längsrichtung die gehörige Verschiebung vornimmt, zur Deckung gebracht werden kann. 412 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Naturforschung. 22. Lassen wir einen Kreis ins Unbegrenzte wachsen, so müssen dessen Radien aufhören sich zu durchschneiden, sobald beim Anwachsen der zwischenliegenden Bogen ihre Konvergenz dem ParalleHsmus entspricht. Der Kreis geht dann in die so- genannte „Grenzlinie" über. Analog wird bei unbegrenztem Wachstum die Kugelfläche in eine Fläche umgewandelt, welche Lobatschefskij „Grenzfläche" nennt. Die Grenzlinie steht zur Grenzfläche in analoger Beziehung wie der größte Kreis zur Kugelfläche. Die Geometrie der Kugelfläche ist unabhängig vom Parallelenaxiom. Da sich nun nachweisen läßt, daß Dreiecke aus Grenzlinien auf der Grenzfläche so wenig einen Winkelsummen- exzeß darbieten wie endliche sphärische Dreiecke auf einer Kugel von unendlichem Radius, so gelten für jene Grenzdreiecke die Regeln der Euklidischen Geometrie. Um Punkte der Grenz- linie zu finden, bestimmt man an einer Schar Parallelen (in der Ebene): aa, ^ß, ^y, dh^ . . . (Fig. 33) zu einem Punkt a der Geraden aa an den übrigen Parallelen die Punkte b, c, d . . . so, daß die Winkel (xab = ^'ba, a.ac = -ica, aad=hda . . . werden. Bei der Gleichförmigkeit der ganzen Konstruktion kann jede der Parallelen als „Achse" der Grenzlinie angesehen werden, um welche rotiert die Grenzfläche durch die Grenzlinie beschrieben wird. Ebenso kann jede der Parallelen als Achse der Grenz- fläche gelten. Aus demselben Grunde sind alle Grenzlinien und Grenzflächen kongruent. Der Schnitt jeder Ebene mit der Grenz- fläche ist ein Kreis, nur wenn die Ebene die Achse enthält, wird aus dem Kreis eine Grenzlinie. In der Euklidischen Geometrie gibt es keine Grenzlinie und Grenzfläche. Die Analoga der- selben sind hier die Gerade und die Ebene. Wenn es keine Grenz- linie gibt, müssen drei beliebige nicht in einer Geraden liegende Punkte notwendig auf einem Kreise liegen. Deshalb konntej, B o 1 y a i durch letztere Forderung das Euklidische Axiom ersetzen. 23. Es seien (Fig. 33) aa, ^ß, cy • • • ein Sipstem von Parallelen und ae, a^e^y a^e.^ ... ein System von Grenzlinien, von denen jedes das andere in gleiche Teile teilt. Das Verhältnis zweier Grenzbogen zwischen denselben Parallelen, z. B. ad^=u und a^d^^=u hängt dann nur von deren Entfernung aa^=x ab. X Man kann allgemein setzen — = e\y wobei k so gewählt ist, daß Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forsehung. 413 e die Basis^der natürlichen Logarithmen wird. Auf diesem Wege werden die Exponentiellen und durch diese die Hyperbelfunk- tionen eingeführt. Für den Parallelenwinkel findet sich 1 -^- TC s= Qo\-^Jl{p) = e^, Für/7 = o wird s = ^, für /?= oo, s = o. Ein Beispiel mag das Verhältnis der Lobatschefskijschen Geometrie zur Euklidischen und sphärischen Geometrie beleuchten. Für das geradlinige Lobatschefskijsche Dreieck mit den Seiten a, b, c und den gegenüberliegenden Winkeln A, B, C ergibt sich, wenn C ein rechter Winkel ist: shj- = SÄ TT sin Ä. Hierbei bedeutet sh den hyperbolischen Sinus ßX p — X pxi p — xi shx = ^ — , während sin 4^ = ^. , oder yt yO y*0 -yA y y»3-v»5-v»7 sÄx = yj+3j-+5j^ + ^+ . . . und sm.r = j^-3j-+5j— 7J-+ . . . Berücksichtigt man die im vorigen enthaltenen Relationen sin (jri) = / • sho' oder sh (jri) = i • sinx der Kreis- und Hyperbel- funktion, so sieht man, daß die obige Formel für das Loba- tschefskijsche Dreieck in die für das sphärische Dreieck gültige sin TT = sin TT sin ^ übergeht, wenn man in ersterer ki an die Stelle von k setzt, und k als den Kugelradius ansieht, der aller- dings in den gewöhnlich gebräuchlichen Formeln den Wert 1 annimmt. Die Rückverwandlung der sphärischen Formel in die Lobatschefskijsche auf demselben Wege liegt auf der Hand. Für ein im Verhältnis zu a und c sehr großes k, können wir uns auf das erste Glied der Reihenentwicklung von sh oder sin be- schränken, und erhalten in beiden Fällen alk= cjk- sin A, oder a = C'S\nA, die Formel der ebenen Euklidischen Geometrie, welche wir somit als einen Grenzfall sowohl der Lobatschef- skijschen als auch der sphärischen Geometrie für sehr große Werte von k, oder für A- = oc ansehen können. Wir können auch sagen, im unendlich Kleinen fallen alle drei Geometrien zu- sammen. 414 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forschung. 24. Wie man sieht, läßt sich also ein konsequentes, in sich widerspruchsloses System der Geometrie entwickeln, sobald man nur einmal die Konvergenz paralleler Geraden zugegeben hat. Für diese Annahme spricht allerdings keine Beobachtung der uns zugänglichen geometrischen Tatsachen, und dieselbe wider- streitet so sehr unserm geometrischen Instinkt, daß sich daraus das Verhalten der älteren Forscher, wie Saccheri und Lambert, ganz wohl erklärt. Unsere durch die Anschauung und die ge- läufigen Euklidischen Begriffe geleitete Vorstellung kann auch nur stückweise und nach und nach den Anforderungen einer Lobatschefskijschen Betrachtung gerecht werden. Wir müssen uns hierbei mehr von den mathematischen Begriffen als von den einem kleinen Raumgebiet entstammenden sinnlichen Bildern führen lassen. Man muß jedoch zugeben, daß die mathema- tischen Quantitätsbegriffe, durch welche wir selbsttätig die Tat- sachen der geometrischen Erfahrung darstellen, letzteren nicht absolut entsprechen. Die geometrische Theorie ist wie jene der Physik einfacher und genauer, als dies durch die Erfahrung mit ihren zufälligen Störungen eigentlich verbürgt werden kann. Verschiedene Begriffe können in dem der Beobachtung zugäng- lichen Gebiete die Tatsachen mit gleicher Genauigkeit aus- drücken. Die Tatsachen sind also wohl zu unterscheiden von den intellektuellen Gebilden, deren Entstehung sie angeregt haben. Die letzteren — die Begriffe — müssen mit der Beobachtung verträglich und außerdem untereinander in logischer Überein- stimmung sein. Diese beiden Forderungen sind eben in mehr- facher Weise erfüllbar, und daher die verschiedenen Systeme der Geometrie. 25. Man sieht es den Arbeiten Lobatschefskijs an, daß sie das Ergebnis langen und angestrengten Nachdenkens sind, und kann vermuten, daß er erst durch allgemeine Erwägungen und analytische (rechnende) Entwicklungen ein klares Bild seines Systems gewonnen haben mußte, bevor er im stände war, das- selbe synthetisch darzustellen. Einladend sind solche Entwick- lungen in dieser schwerfälligen Euklidischen Form keineswegs, und es ist vielleicht hauptsächlich dieser Form zuzuschreiben, wenn der Wert der Arbeiten Lobatschefskijs und J. Bolyais o spät allgemein erkannt wurde. Raum und Geometrie vom Standpunkt der Naturforschung. 415 26. Lobatschefskij entwickelte nur die Folgen der Modi- fikation der fünften Forderung Euklids. Läßt man hingegen den Euklidischen Satz fallen: „zwei Gerade schließen keinen Raum ein", so gelangt man zu einem Gegenstück der Lobatschefskij- schen Geometrie.^) In Beschränkung auf die Fläche ist dies die Geometrie der Kugelfläche. An die Stelle der Euklidischen Geraden treten die größten Kreise, die sich alle zweimal schnei- den, und von denen jedes Paar zwei sphärische Zweiecke ein- schließt. Es gibt also da gar keine Parallelen. Die Möglich- keit einer analogen Geometrie des dreidimensionalen Raumes (von positivem Krümmungsmaß) hat erst Riemann angedeutet. Dieselbe scheint auch von Gauß nicht in Erwägung gezogen worden zu sein, vielleicht aus Vorliebe für die Unendlichkeit des Raumes. Helmholtz^) hingegen, der die Untersuchungen von Riemann in physikalischem Sinne weiterführte, ließ wieder in seiner ersten Publikation den Lobatschefskij sehen Fall eines Raumes von negativem Krümmungsmaß (mit imaginärem Para- meter k) unbeachtet. In der Tat liegt die Betrachtung dieses Falles dem Mathematiker näher als dem Physiker. Helmholtz behandelt daselbst nur den Euklidischen Fall mit dem Krüm- mungsmaß Null und den Riemannschen Raum mit positivem Krümmungsmaß. 27. Wir können also die Tatsachen der räumlichen Beobach- tung mit aller erreichbaren Genauigkeit darstellen, sowohl durch die Euklidische Geometrie, als auch durch die Lobatschefskijsche und die Riemann sehe, wenn wir nur in den beiden letzteren Fällen den Parameter k genügend groß nehmen. Von der Vor- aussetzung k=oo der Euklidischen Geometrie abzugehen, fanden die Physiker bisher keinen Grund. Sie halten nach be- währter zweckmäßiger Übung die einfachsten Voraussetzungen so lange fest, bis die Tatsachen zu einer Komplikation oder Modifikation derselben nötigen. Dies entspricht auch dem Stand- punkt aller bedeutenden Mathematiker in Bezug auf angewandte Geometrie. Soweit aber das Verhalten der Naturforscher und der Mathematiker den berührten Fragen gegenüber verschieden 1) Vgl. die S. 379 zitierte Abhandlung von De Tilly. 2) Über die tatsächlichen Grundlagen der Geometrie. 1866. Wissen- schaftliche Abhandlungen. II, S. 610 u. f. 416 Raum und Geometrie vcm Standpunkt der Naturforschung. ist, erklärt es sich dadurch, daß für erstere das physisch Gegebene die größte Wichtigkeit hat, und die Geometrie nur ein geläufiges Mittel zur Untersuchung desselben ist, während für letztere gerade diese Fragen von größtem fachlichen und insbesondere von erkenntnistheoretischem Interesse sind. Hat aber der Mathe- matiker einmal versucht die nächsten und einfachsten Voraus- setzungen, welche die geometrische Erfahrung an die Hand gibt, zu modifizieren, und hat dieser Versuch sich durch Gewinn an Einsicht gelohnt, so liegt nichts näher, als daß solche Versuche in rein mathematischem Interesse noch weitergeführt werden. Analoga der uns geläufigen Geometrie unter noch freieren, all- gemeineren Voraussetzungen, für eine beliebige Dimensionszahl, werden entwickelt, ohne Anspruch, für etwas anderes als wissen- schaftliche Gedankenexperimente gehalten zu werden, ohne Ab- sicht der Anwendung auf die sinnliche Wirklichkeit. Es genügt hier auf die Förderung der Mathematik durch Clifford, Klein, Lie u. a. hinzuweisen. Nur selten wird ein Denker so ver- träumt und, |der Wirklichkeit abgewandt sein, um an eine die Drei übersteigende Dimensionszahl des uns gegebenen sinn- lichen Raumes, oder an die Darstellung desselben durch eine von der Euklidischen merklich abweichenden Geometrie zu denken, Gauß, Lobatschefskij, J. Bolyai, Riemann waren darin ganz klar, und können jedenfalls für die später auf diesem Gebiete auftretenden Monstrositäten nicht verantwortlich gemacht werden. 28. Dem Geschmack des Physikers entspricht es wenig, Vor- aussetzungen über das Verhalten geometrischer Gebilde im Un- endlichen, im Unzugänglichen zu machen, und dieselben nach- träglich mit den nächstliegenden Erfahrungen zu vergleichen, und diesen dann erst anzupassen. Er liebt es (ähnlich der Stolz- schen Entwicklung) das unmittelbar Gegebene als Quelle seiner Begriffe zu betrachten, die er so lange auch für das Unzugäng- liche als gültig ansieht, bis er genötigt wird, dieselben zu ändern. Aber auch er darf für die Aufklärung, daß es mehrere genügende Geometrien gibt, daß man auch mit einem endlichen Raum das Auskommen finden kann u. s. w., kurz für die Beseitigung kon- ventioneller Schranken des Denkens recht [dankbar sein. Würden wir, auf der Oberfläche eines Planeten mit trüber, undurchsichtiger Raum und Geometrie vom Standpunkt der Naturforschung. 417 Atmosphäre lebend, nur auf Winkelmaß und Meßkette ange- wiesen, von der Voraussetzung einer ebenen Oberfläche aus- gehend Vermessungen beginnen, so würde uns das Anwachsen eines Winkelsummenexzesses bei größeren Dreiecken alsbald nötigen, unsere Planimetrie mit einer Sphärometrie zu vertauschen. Die Möglichkeit analoger Erfahrungen im dreidimensionalen Raum kann der Physiker im Prinzip nicht ausschließen, wenngleich die Erscheinungen, die zur Annahme einer Lobatschefskij sehen oder Riemannschen Geometrie nötigen würden, so abenteuer- lich mit dem bisher Gewohnten im Gegensatz stehen würden, daß niemand den Eintritt derselben für wahrscheinlich halten wird. 29. Die Frage, ob ein vorgelegtes physikalisches Objekt eine Gerade oder ein Kreisbogen sei, ist nicht in richtiger Form gestellt. Eine gespannte Schnur oder ein Lichtstrahl ist gewiß weder das eine noch das andere. Es kann sich nur darum handeln, ob das Objekt räumlich so reagiert, daß es besser dem einen als dem anderen Begriff entspricht, und ob es mit der uns genügenden und erreichbaren Genauigkeit überhaupt einem der geometrischen Begriffe entspricht. Wenn der letztere Fall nicht gegeben ist, so fragt es sich, ob wir die Abweichung von der Geraden oder vom Kreise praktisch beseitigen oder wenigstens in Gedanken bestimmen und berücksichtigen, also das Ergebnis der Messung korrigieren können. Bei der praktischen Messung sind wir jedoch immer auf die Vergleichung physikalischer Ob- jekte angewiesen. Würden diese bei direkter Untersuchung mit aller erreichbaren Genauigkeit den geometrischen Begriffen ent- sprechen, die indirekten Ergebnisse der Messung aber von der Theorie mehr abweichen, als nach den möglichen Fehlern zulässig erscheint, so müßten wir unsere physikalisch-metrischen Begriffe allerdings ändern. Der Physiker wird gut tun, den Eintritt dieser Situation abzuwarten, während der Mathematiker für seine -Über- legungen stets freien Spielraum hat. 30. Die Raum- und Zeitbegriffe des Naturforschers sind die einfachsten. Räumliche und zeitliche Objekte, welche seinen Be- griffskonstruktionen entsprechen, können mit großer Genauigkeit hergestellt werden. Fast jede Abweichung, die noch bemerkt werden kann, läßt sich auch beseitigen. Jede Raum- oder Zeit- konstruktion kann man sich verwirklicht denken, ohne einer Tat- Mach, Erkenntnis und Irrtum. , 27 418 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forschung. Sache Gewalt anzutun. Die übrigen physikalischen Eigenschaften der Körper hängen so voneinander ab, daß hier die willkürlichen Fiktionen eine enge Schranke an den Tatsachen finden. Ein vollkommenes Gas, eine vollkommene Flüssigkeit, ein vollkommen elastischer Körper existiert nicht; der Physiker weiß, daß seine Fiktionen den Tatsachen nur annähernd, willkürlich vereinfachend entsprechen; er kennt die Abweichung, die nicht beseitigt werden kann. Eine Kugel, Ebene u. s. w. kann man in beliebiger Ge- nauigkeit hergestellt denken, ohne mit einer Tatsache in Wider- spruch zu geraten. Sollte also irgend eine physikalische Tat- sache Modifikation unserer Begriffe fordern, so wird der Physiker lieber die weniger vollkommenen Begriffe der Physik opfern, als die einfacheren, vollkommeneren, festeren der Geometrie, welche die solideste Grundlage aller seiner Konzeptionen bilden. 31. Nach einer anderen Richtung kann aber der Physiker aus den Arbeiten der Geometer wesentlichen Nutzen schöpfen. Unsere Geometrie bezieht sich immer auf Objekte der sinnlichen Erfahrung. Sobald wir aber mit bloßen Gedankendingen, wie Atome und Moleküle, operieren, die ihrer Natur nach nicht in die Sinne fallen können, haben wir kein Recht mehr, dieselben not- wendig in Beziehungen, in relativen Lagen zu denken, die dem Euklidischen dreidimensionalen Raum unserer sinnlichen Er- fahrung angehören. Dies haben insbesondere diejenigen zu bedenken, welche atomistische Betrachtungen für unentbehrlich halten.^) 32. Denken wir an den Ursprung der Geometrie aus dem ^) Noch in der atomistischen Theorie befangen, versuchte ich die Linien- spektren der Gase durch die Schwingungen der Atombestandteile eines Gas- moleküls gegeneinander zu erklären. Die Schwierigkeiten, die ich hierbei fand, legten mir 1863 den Gedanken nahe, daß nicfitsinnlicfie Dinge nicht notwendig in unserem sinnlichen Räume von drei Dimensionen vorgestellt werden müssen. So kam ich auf Analoga des Raumes von verschiedener Dimensionszahl. Gleichzeitiges Studium verschiedener physiologischer Mannig- faltigkeiten (S. 393) führte mich zu den am Schlüsse dieses Kapitels be- rührten Fragen. Der Gedanke endlicher Räume, konvergierender Parallelen u. s. w., der sich nur durch das historische Studium der Geometrie ergeben konnte, lag mir damals fern. Ich glaube, daß meine Kritiker gut getan hätten, die gesperrt gedruckte Klausel nicht zu übersehen. Näheres in den An- merkungen zu „Erhaltung der Arbeit". Prag 1872. Raum und Geometrie vom Standpunkt der Naturforschung. 419 praktischen Bedürfnis zurück. Die räumliche Substanzialität, die räumliche Unveränderlichkeit eines Raumdinges trotz dessen Bewegung zu erkennen, ist für uns biologische Notwendigkeit, weil das Raumquantum zur Quantität der Bedürfnisbefriedigung in Beziehung steht. Soweit diese Kenntnis nicht schon durch unsere physiologische Organisation genügend verbürgt ist, be- nützen wir unsere Hände und Füße zur Vergleichung mit dem räumlichen Objekt. Mit der Vergleichung der Körper unterein- ander treten wir aber schon in das Gebiet der Phj^sik ein, ob wir die Hände oder einen künstlichen Maßstab verwenden. Alle physikalischen Bestimmungen sind relativ. So gelten auch alle geometrischen Bestimmungen relativ zum Maßstab. Der Maß- begriff ist ein Relationsbegriff, welcher über den Maßstab selbst nichts mehr aussagt. Wir nehmen in der Geometrie nur an, daß der Maßstab immer und überall deckt, was derselbe irgendwo und irgendwann einmal gedeckt hat. Über den Maßstab selbst bestimmt dies nichts. Es tritt hiermit an die Stelle der räum- lichen physiologischen Gleichheit eine ganz anders definierte physikalische y die mit jener nicht verwechselt werden darf, so wie man eine Thermometeranzeige nicht mit der Wärmeempfin- dung identifizieren darf. Zwar konstatiert der praktische Geo- meter die Ausdehnung eines erwärmten Maßstabes durch einen auf konstanter Temperatur gehaltenen Maßstab und nimmt darauf Rücksicht, daß durch diesen raumfremden phj^sikalischen Um- stand jene Kongruenzbeziehung gestört wird, allein der reinen Raumlehre liegt eine Voraussetzung über den Maßstab fern. Es wird nur die aus phj?siologischer Quelle stammende Gewohnheit, den Maßstab als unveränderlich anzusehen, stillschweigend aber unberechtigt festgehalten. Es würde ganz müßig sein und keiner- lei Sinn haben, wollte man annehmen, daß der Maßstab, also die Körper überhaupt mit der Verschiebung im Räume Veränderungen erfahren oder unverändert bleiben, was wieder nur durch einen neuen Maßstab konstatiert werden könnte. Die Relativität aller räumlichen Beziehungen offenbart sich durch diese Überlegung. 33. Wird das Kriterium der räumlichen Gleichheit schon durch Einführung des Maßes wesentlich modifiziert, so erfährt es eine weitere Modifikation, bezw. Verschärfung, durch Einführung des Zahlbegriffes in die Geometrie. Es wird hierdurch eine Fein- 27* 420 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Naturforschung. heit der Unterscheidung bedingt, welche der bloße Kongruenz- begriff niemals vermitteln könnte. Nur die Anwendung der Arithmetik auf die Geometrie führt zu den Begriffen des In- kommensurablen, des Irrationalen. Unsere geometrischen Be- griffe enthalten also raumfremde Zutaten; sie stellen das Räum- liche mit einer gewissen Freiheit und namentlich willkürlich mit einer größeren Genauigkeit dar, als dies die räumliche Beobach- tung zu erreichen vermag. Der unvollständige Kontakt zwischen Tatsache und Begriff macht eben die Möglichkeit verschiedener geometrischer Systeme (Theorien) verständlich.^) Genau das- selbe läßt sich aber auch in Bezug auf die Physik sagen. ^) 34. Die ganze Entwicklung, welche zur Umwandlung in der Auffassung der Geometrie geführt hat, muß als eine gesunde und kräftige Bewegung bezeichnet werden. Diese Bewegung, seit Jahrhunderten vorbereitet, in unseren Tagen erheblich ge- steigert, ist keineswegs schon als abgeschlossen zu betrachten. Wir dürfen vielmehr erwarten, daß dieselbe nicht nur der Mathe- matik und Geometrie, namentlich in erkenntnistheoretischer Be- ziehung, sondern auch den andern Wissenschaften noch die reich- sten Früchte bringen wird. Diese Bewegung verdankt zwar einzelnen bedeutenden Menschen mächtige Anregungen, dieselbe ist aber trotzdem nicht einem individuellen, sondern einem all- gemeinen Bedürfnis entsprungen. Man sieht dies schon aus dem verschiedenen Beruf der Menschen, die sich an dieser Bewegung beteiligten. Nicht nur Mathematiker, auch Philosophen und Didak- tiker lieferten Beiträge zu den betreffenden Untersuchungen. Auch die von verschiedenen Forschern eingeschlagenen Wege führen nahe aneinander vorbei. Gedanken, welche Leibniz^) äußert, kehren in wenig veränderter Form wieder bei Fourier,*) Lobatschefskij, J. Bolyai, H. Erb.^) Indem der Philosoph *) "Wir dürfen der Materie nicht zumuten, alle die atomistischen Phanta- sien des Physikers zu verwirklichen. Ebensowenig wird der Raum (als Erfahrungsobjekt) allen Ideen des Mathematikers genügen, womit kein Zweifel an dem Wert der betreffenden Untersuchungen an sich ausgesprochen sein soll. «) Vgl. die Anmerkung S. 409. ») Vgl. S. 369, 370. ♦) Seances des Ecoles normales. Debats. T. I. 1800. p. 28. ') H. Erb, GroßherzogHch Badischer Finanzrat, Die Probleme der geraden Linie, des Winkels und der ebenen Fläche. Heidelberg 1846. Erb Raum und Geometrie vom Standpunkt der Naturforschung. 421 Überweg^) in seiner Opposition gegen Kant wesentlich an den Psychologen Beneke,^) mit seinen geometrischen Ausführungen an H. Erb anknüpft, welcher letztere wieder in K. A. Erb^) einen Vorgänger nennt, nimmt Überweg einen guten Teil der Helmholtz sehen Arbeit vorweg. 35. Die Ergebnisse, zu welchen die hier besprochene Ent- wicklung geführt hat, lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. Die Erfahrung wurde als Quelle unserer geometrischen Begriffe erkannt. 2. Die Vielfachheit der denselben geometrischen Tatsachen genügenden Begriffe wurde klargelegt, 3. Durch die Vergleichung des Raumes mit anderen Mannig- faltigkeiten wurden allgemeinere Begriffe gewonnen, von welchen die geometrischen einen besonderen Fall darstellen. Dadurch wurde das geometrische Denken von konventionellen, für unüber- schreitbar gehaltenen Schranken befreit. 4. Durch den Nachweis dem Räume verwandter, von dem- selben verschiedener Mannigfaltigkeiten wurden ganz neue Fragen nahegelegt. Was ist der Raum physiologisch, physikalisch, geo- metrisch? Worauf sind dessen besondere Eigenschaften zurück- zuführen, da doch andere auch denkbar sind? Warum ist der- selbe dreidimensional? u. s. w.* 36. Mit solchen Fragen, wenn wir deren Beantwortung auch nicht heute und nicht morgen erwarten, stehen wir vor der ganzen Tiefe des noch zu Erforschenden. Von den unberufenen Urteilen der „Böoter", die Gauß kommen sah und die ihn so zurückhaltend stimmten, wollen wir schweigen. Was sollen wir aber zu den herben und nörgelnden Kritiken sagen, die Gauß, hat hier jene Ergänzung Ider Elementargeometrie gegeben, 'die Gauß in einem Briefe an Bessel verlangt. In derselbenjRichtung arbeitet]. Schräm in seiner als Manuskript gedruckten, 1903 von Obersteig in Nordtirol datierten Abhandlung: „Leibnizens Definitionen der Ebene und der Geraden". ') Die Prinzipien der Geometrie wissenschaftlich dargestellt. Archiv für Philologie und Pädagogik. 1851. Abgedruckt in Brasch, Welt- und Lebensanschauung F. Überwegs. Leipzig 1889. S. 263—317. ^2) Logik als Kunstlehre des Denkens. Berlin 1842. |II. Bd., S. 51—55. ') Zur Mathematik und Logik. Heidelberg 1821. Diese Schrift blieb mir unzugänglich. — Leser von vorwiegend philosophischem Interesse seien noch auf die S. 387 zitierte Arbeit von C. Siegel verwiesen. 422 Raum und Geometrie vom Standpunkt der Natur forschung. Riemann und deren Genossen für die gebotenen Aufklärungen von Seiten wissenschaftlich hochstehender Männer erfahren mußten? Sollten es diese nie am eigenen Leibe erfahren haben, daß der Forscher an den äußersten Grenzen des Wissens manches findet, das nicht gleich glatt in jeden Kopf drein geht, das darum aber noch kein Unsinn ist? Gewiß sind solche Forscher auch dem Irrtum ausgesetzt. Aber selbst die Irrtümer mancher Menschen sind in ihren Folgen oft fruchtbarer als die Entdeckungen anderer. Die physiologische Zeit im Gegensatz zur metrischen. 1. Wenn wir in einer möglichst gleichmäßigen, möglichst un- veränderlichen Umgebung, mit möglichst geringem Vorstellungs- wechsel, etwa aus dem Schlaf erwachend dahindämmern, und die Uhr gleichmäßig schlagen hören, so unterscheiden wir deut- lich den zweiten Schlag von dem ersten, den dritten von dem zweiten und ersten, kurz die späteren Schläge von den früheren, obgleich alle dieselbe Stärke, Tonhöhe und Klangfarbe darbieten. Wir sind auch nicht im Zweifel darüber, daß die Schläge in gleichen zeitlichen Abständen sich folgen, und merken auch so- fort (ohne Anwendung eines künstlichen Mittels) die etwa ein- tretende Störung dieses Verhältnisses. Wir empfinden unmittel- bar die Zeit oder die Zeitlage, so wie wir unmittelbar den Raum oder die Raumlage empfinden. Ohne diese Zeitempfindung gäbe es keine Chronometrie, so wie es ohne Raumempfindung keine Geometrie gäbe. 2. Die Existenz eigenartiger physiologischer Prozesse, welche den Zeitempfindungen zu Grunde liegen, wird sehr wahrschein- lich durch den Umstand, daß wir die Gleichheit des Rhythmus, der Zeitgestalt, an zeitlichen Gebilden der verschiedensten Qualität, z. B. an Melodien, welche außer dem Rhythmus keine Ähnlichkeit haben, wiedererkennen.^) Wir empfinden den Rhyth- mus eines Vorganges unbehindert durch die Qualität desselben. Auffallende physiologische ^Tatsachen sprechen dafür, daß schon die Elementarorgane zur Fundierung der Zeitempfindung bei- ') Über die Unzulänglichkeit älterer Theorien des Raumes und der Zeit und Verbesserungsversuche vgl. meinen kleinen Artikel „Bemerkungen zur Lehre vom räumlichen Sehen", Fichtes Zeitschr. f. Philos. 1865, abgedr. in Populär-wissensch. Vorlesungen, 3. Aufl. — Über den Zeitsinn des Ohres. Ber. d. Wiener Akademie, Januar 1865. — Analyse der Empfindungen. 4. Aufl. 424 ^i^ physiologische Zeit im Gegensatz zur metrischen. tragen. Solche Tatsachen sind z. B. das Plateau-Oppelsche Bewegungsnachbild ^) einer gedrehten Spirale oder des fließenden Wassers, und das Dvoi^äksche Erhellungs- oder Verdunkelungs- nachbild ^) einer längere Zeit fortgesetzten Helligkeitsänderung. Die Änderungsgeschwindigkeit des Ortes und der Helligkeit ist innerhalb der Grenzen der unmittelbaren Wahrnehmbarkeit (also etwa von der Geschwindigkeit des Uhrzeigers oder eines Pro- jektils als extremen Fällen abgesehen) nicht nur ein mathematisch- physikalischer Maßbegriff, sondern auch ein physiologisches Objekt. 3. Zwischen unserer physiologischen Zeitanschauung und der metrischen Zeit, welche durch zeitliche Vergleichung physika- lischer Vorgänge untereinander gewonnen wird, bestehen analoge Unterschiede, wie zwischen dem physiologischen und dem metri- schen Raum. Beide scheinen ja kontinuierlich; einer stetigen Verschiebung in der physikalischen Zeit entspricht eine ebensolche in der physiologischen Zeit; beide laufen nur in einem Sinne ab. Hiermit scheinen aber die Übereinstimmungen erschöpft. Die physikalische Zeit verfließt bald schneller, bald langsamer als die physiologische, d. h. nicht alle Vorgänge, welche physikalisch von gleicher Dauer sind, erscheinen auch der unmittelbaren Be- obachtung so. Die physikalische Unterscheidung der Zeitpunkte ist außerordentlich viel feiner als die physiologische. Unserer Zeitanschauung erscheint die Gegenwart nicht als Zeitpunkt, der natürlich immer ganz inhaltlos sein müßte, sondern als ein Zeit- abschnitt von ganz beträchtlicher Dauer mit übrigens schwer bestimmbaren, verwischten, und von Fall zu Fall auch verschieb- baren, variablen Grenzen. Die Zeitanschauung ist eigentlich hierauf beschränkt. Dieselbe wird nur ganz unvermerkt ergänzt durch die Erinnerung an die Vergangenheit , und durch die in der Phantasie vorgespiegelte Zukunft, welche beide in sehr verkürzter Zeitperspektive erscheinen. Hierdurch wird auch die Undeutlichkeit der Grenzen der Zeitanschauung verständlich. Für ») Plateau, Poggendorffs Annalen, Bd. 80, S. 287. — Oppel, ebenda Bd. 99, S. 543. *) Dvot^äk, Über Nachbilder von Reiz Veränderungen. Ber. d. Wiener Akademie. Bd. 61. — Mach, Lehre von den Bewegungsempfindungen. Leipzig 1875. S. 59—64. Die physiologische Zeit im Gegensatz zur metrischen. 425 die Physik ist ein sich periodisch wiederholender Rhythmus nur ein zeitliches Gebilde; für unsere Zeitanschauung ändert sich aber die Form dieses Gebildes mit dem Zeitpunkt, in welchem die Aufmerksamkeit einsetzt.^) Ebenso ändert sich die Form desselben geometrischen Gebildes für die Raumanschauung, je nach der Orientierung und dem fixierten Punkt, was ja für die eindimensionale Zeit nur in ein Bestimmungsmoment zusammenfällt. 4. Es kann heute kaum zweifelhaft sein, daß die Zeitanschau- ung ebenso wie die Raumanschauung durch unsere ererbte leib- liche Organisation bedingt ist. Wir würden uns vergeblich bemühen, uns von diesen Anschauungen los zu machen. Mit dieser Stellung auf den Standpunkt der nativistischen Theorie behauptet man aber noch nicht die vollständige Entwicklung der Raum- und Zeitanschauung zu voller Klarheit im Momente der Geburt. Man verzichtet ferner nicht auf die Darlegung des Zusammenhanges der Raum- und Zeitanschauung mit dem bio- logischen Bedürfnis, noch auf die Untersuchung des Einflusses des letzteren auf die phylogenetische und ontogenetische Ent- wicklung der ersteren. Endlich ist hiermit noch nicht abgewiesen eine Untersuchung des Zusammenhanges der Raum- und Zeit- anschauung mit den geometrischen und chronometrischen Begriffen. Die ersteren sind zur Entwicklung der letzteren zwar unentbehr- lich, für sich allein aber unzureichend. Erfahrungen über das räumliche Verhalten der physikalischen Körper gegeneinander und über das zeitliche Verhalten der physikalischen Prozesse gegeneinander müssen zur Bildung der metrischen Begriffe er- gänzend eingreifen. 5. Versuchen wir zunächst uns die biologische Bedeutung der Zeitempfindung deutlich zu machen. Bei Spencer findet sich die treffliche Bemerkung, daß die Entwicklung des Zeitsinnes an jene des Raumsinnes gebunden, von dieser abhängig ist. Ein Tier, das sich bloßen Kontaktreizen gegenüber, seien es mecha- nische oder chemische, zu erhalten, bezw. anzupassen hat, kommt mit diesen Reizen entsprechenden Simultanreaktionen aus. An letztere mag sich immerhin ein organisch bedingter, von der Um- gebung unbeeinflußter zeitlicher Ablauf von Prozessen schließen; ') Analyse der Empfindungen. 4. Aufl., S. 201. 426 -ö/e physiologische Zeit im Gegensatz zur metrischen. ein Bedürfnis nach bewußter zeitlicher Auffassung dieser von selbst ablaufenden Vorgänge wird dadurch nicht entstehen. Wird jedoch die räumliche Fernwirkung der Sinne größer, so daß sich die herannahende greifbare Beute zuvor durch den Geruch, ein Geräusch oder ein weithin sichtbares Zeichen ankündigt, dann ist auch das Bedürfnis nach bewußter Reproduktion solcher An- näherungsvorgänge in der natürlichen zeitlichen Ordnung vor- handen. Denn ohne diese psj^chische Reproduktion könnten die Reaktionen mit ihren zeitlich geordneten und abgemessenen Phasen, die etwa zum Fangen der Beute notwendig sind, nicht eintreten. Der zeitliche Prozeß der Ernährung nach einmal ver- schluckter Nahrung ist aber vom Bewußtsein unabhängig und daher auch nicht mehr Gegenstand desselben. Die Zeitempfin- dung und Zeitvorstellung entwickelt sich in der Anpassung an die zeitliche und räumliche Umgebung. Der Mensch, dessen Interessen sich auf die weitesten Räume und die fernsten Zeiten erstrecken, erfreut sich auch der meistentwickelten Zeitempfindung und Zeitvorstellung. ^) 6. Es ist ein tatsächlicher Grundzug unserer psychischen Reproduktion, daß die Erlebnisse nicht nur in Bezug auf die Qualität der Empfindungselemente und deren Kombination und Anordnung, sondern auch in Bezug auf räumliche und zeitliche Verhältnisse und Ausmaße in der Reproduktion dem Original nahe kommen. Allerdings ist in Bezug auf die erreichte Ge- nauigkeit die Übung und der Grad der Aufmerksamkeit maß- gebend. Allein auch der Unaufmerksame erblickt in der Erinne- rung die Häuser nicht mit den Dächern nach unten gekehrt, und große Gebäude erscheinen ihm nicht in Liliputanerdimensionen oder mit unverhältnismäßig hohen Schloten. Die Erinnerung an ein Musikstück kehrt nicht die zeitliche Folge der Töne oder des Rhythmus um; ein Adagio wird nicht als Allegro reproduziert oder umgekehrt. Alles dies deutet darauf, daß außer den Ele- menten unserer Erlebnisse, die wir Ä'/z/z^sempfindungen nennen, noch andere einen nicht absolut, aber doch relativ festen Grund bildende Elemente (nach Art einer photographischen Platte oder Phonographenwalze) vorhanden sind, welche bei jeder Repro- 1) Spencer, The Principles ofPsychology. 2 Ed. 1870. I, p. 320— 328. II, p. 207—215. Die physiologische Zeit im Gegensatz zur metrischen. 427 duktion mit reproduziert werden, und die eine zu starke, räum- lich-zeitliche Verzerrung der Erinnerungsbilder verhindern. 7. Man hat versucht, durch verschiedene Erwägungen zum Verständnis der Zeitauffassung zu gelangen. Zunächst ist klar, daß ein zeitlicher Verlauf der psychischen Erlebnisse, mögen diese nun sinnliche oder Vorstellungserlebnisse sein, noch kein Bewußtsein dieses zeitlichen Verlaufs einschließt. Wäre das psychische Gesichtsfeld immer auch nur auf eine genügend be- grenzte Gegenwart zeitlich eingeschränkt, so könnte nicht einmal die Tatsache der Veränderung überhaupt wahrgenommen werden. Das Bewußtsein muß also stets einen endlichen Zeitabschnitt umfassen, in welchem sich zugleich schwindende und neu auf- tauchende Empfindungen oder Vorstellungen befinden, damit jene als die früheren, diese als die späteren aufgefaßt werden können. Denkt man sich hierzu den relativ beständigen, durch Gemein- gefühle u. s. w. charakterisierten Ichkomplex, so stellt dieser ge- wissermaßen einen Felsen vor, an dem der zeitlich geordnete Strom der Veränderung vorüberzieht. Das scheint ein ganz leid- liches Bild zu sein, und die Art, wie wir die einzelnen Glieder in die Kette der Erlebnisse einordnen, scheint demselben zu ent- sprechen. Die sinnlichen Erlebnisse der Gegenwart unterscheiden wir leicht von den blasseren und flüchtigeren Erinnerungen der jüngsten Vergangenheit und von den noch mehr abgeblaßten der weiter zurückliegenden Vergangenheit. Der Faden der Association führt uns von den ältesten Erinnerungen bis zu den jüngsten, zur Gegenwart, und durch diese hindurch zu den Erwartungen, welche die Phantasie uns vorspiegelt.^) Allein das bloße Nume- rieren und Inventieren, Versehen der Glieder mit Ordnungszahlen, wie man diesen Prozeß nennen könnte, scheint mir noch nicht ganz einer Auffassung des zeitlichen Verlaufs zu entsprechen. Dieses Verfahren mögen wir vielleicht üben, wenn uns eine ferne Vergangenheit in sehr gekürzter Perspektive in Erinnerung kommt. ^) Vgl. zu diesen allgemeinen Betrachtungen die Darstellungen der Psychologie, insbesondere das originelle Buch von Hoff ding (Psychologie in Umrissen. Leipzig 1893. S. 250—260), ferner die fesselnde Darstellung von W. James (The Principles of Psychology. I, p. 605—542), endlich die sorgfältige Arbeit von Ebbinghaus (Grundzüge der Psychologie. Leipzig 1902. I, S. 457-466). 428 -^'^ physiologische Zeit im Gegensatz zur metrischen. Eine wirkliche zeitliche Auffassung, z. B. eines Musikstückes nach Takt und Rhythmus, sowohl in der sinnlichen Gegenwart, als auch in der lebhaften Erinnerung, wird hierdurch kaum zu Stande kommen. Es fehlt da sozusagen der feste, die Verzerrung ausschließende Hintergrund, von dem oben die Rede war, auf den die Erlebnisse projiziert sind. 8. Um den letzteren Umstand unserem Verständnis näher zu bringen, stellen wir eine einfache physikalische Betrachtung an. In einen homogenen physikalischen Körper sollen von außen Störungen auf verschiedenen Wegen eintreten, z. B. Ströme ein- mal durch Aufsetzen der Elektroden in den Punkten a und b, das zweitemal aber durch Aufsetzen in den Punkten c und d eingeleitet werden. Die Niveauflächen, die Flächen gleicher Stromdichte und gleicher Wärmeentwicklung u. s. w. werden in beiden Fällen ganz verschiedene sein. Nun lassen wir durch dieselben Punkte m und n zwei Stoßwellen ungleichzeitig in einen Körper eintreten, und zwar einmal zuerst die Welle durch m, und einmal zuerst die Welle durch n. Die Interferenzfläche liegt im ersten Fall näher an n, im zweiten Fall näher an m.^) Was sich an einem homogenen physikalischen Körper zeigt, tritt noch in viel auffallenderer Weise am organisierten Tierkörper auf. Auf verschiedenen Wegen eintretende Reize bestimmen auch verschiedene, im allgemeinen auf verschiedenen Wegen die Um- gebung beeinflussende Reaktionen. Auch die zeitliche Ordnung, in der dieselben Organe von gegebenen Reizen getroffen werden, ist nicht gleichgültig, sondern eine Änderung derselben wird im allgemeinen zu verschiedenen Reaktionen Anlaß geben. So wie es für die Reaktion nicht gleichgültig ist, ob die Rückenhaut des Frosches rechts oder links gereizt wird, ist es auch nicht eineriei, in welchem zeitlichen Zustand dasselbe Organ von dem- selben Reiz getroffen wird, ob z.B. eine Geschmacks- oder Geruchs- reizung im Zustande des Hungers oder der Sättigung eintritt. 9. Zum leichteren Verständnis der räumlichen Auffassung haben wir angenommen, daß jedes gereizte Organ außer der von der Qualität des Reizes mitbestimmten Sinnesempfindung auch noch eine bleibend an die Individualität des Organs gebundene ') Vgl. Analyse. 4. Aufl. S. 192-193. Die physiologische Zeit im Gegensatz zur metrischen. 429 Empfindung liefert. Denken wir uns letztere Empfindung aus einem konstanten und einem mit der Tätigkeit des Organs zeitlich variierenden Anteil bestehend, so bietet sich die Aussicht, durch den letzterwähnten Anteil die Zeitauffassung begreiflich zu machen. Es sind dies natürlich keine Theorien oder Erklärungen des physiologischen Raumes und der physiologischen Zeit, sondern bloße, vielleicht nützliche Paraphrasen und Analysen der Tat- sachen, in welchen sich die räumliche und zeitliche Auffassung ausspricht. Wie haben wir uns nun die zeitliche Variation des von der Organtätigkeit abhängigen Empfindungsanteils zu denken, um den Tatsachen der Beobachtung am besten zu entsprechen? 10. Betrachten wir den Menschen oder ein demselben nahe stehendes höheres Wirbeltier. Der Leib desselben zeigt eine zur Erhaltung des Lebens notwendige, fast unveränderliche Tem- peratur, und gewöhnlich durch beträchtliche Zeit auch eine kon- stante Temperaturdifferenz gegen die Umgebung. Dies setzt, nach physikalischer Betrachtung, einen sehr gleichmäßigen Ver- lauf der Lebensfunktionen voraus, welcher durch die unstetigen temporären Reaktionen auf die Umgebung nur mäßige Störungen erfährt. Nur die kleinsten und einfachsten Organismen befinden sich in Verhältnissen, welche eine der gleichmäßigen Konsumtion entsprechende gleichmäßige Zufuhr der Nahrung, also gleich- mäßige Restitution, ermöglichen. Bei größeren und entwickelteren Organismen sind periodische Prozesse zur Erhaltung einer un- vollkommenen aber zureichenden Gleichmäßigkeit der Lebens- funktionen unvermeidlich. Der Organismus wechselt zwischen Schlaf und Wachen, Hunger und Sättigung. Die zum Leben nötige Luftquantität kann dem Blute nur durch einen periodisch wirkenden Blasebalg, und dieses Blut den Organen nur durch die Herzpumpe zugeführt werden. Zur Anpassung an die Um- gebung, zur Beschaffung der Nahrung, ist Lokomotion erforder- lich, welche durch taktmäßige periodische Bewegung der Ex- tremitäten, rhythmische Kontraktionen der Muskeln ausgeführt wird.^) Der Muskel selbst zeigt schon bei einer Kontraktion rhythmische Erscheinungen. Selbst die optischen Nachbilder und *) Daß am Tierleib keine kontinuierlichen Rotationen vorkommen, wie dieselben bei Maschinen mit Vorteil verwendet werden, liegt natürlich an der Aufhebung des organischen Zusammenhanges, welche dadurch bedingt wäre. 430 ^/^ physiologische Zeit im Gegensatz zur metrischen. Blendungsbilder verlaufen periodisch. Perioden von der ver- schiedensten Dauer sind überhaupt im Organismus reichlich ver- treten.^) Fassen wir das Leben in Heringschem Sinne als einen dvnamischen Gleichgewichtszustand zwischen Konsumtion und Restitution auf, so überrascht uns die Häufigkeit dieser perio- dischen Vorgänge so wenig wie die Mannigfaltigkeit der physi- kalischen Schwingungen. Schwingungen müssen überall auf- treten, wo ein stabiles Gleichgewicht gestört wird und wo die Dämpfung nicht stark genug ist, um den Ausgleichsprozeß aperiodisch zu gestalten. Die Neigung der organischen Funk- tionen zur Periodizität zeigt sich auch darin, daß dieselben sich einer äußerlich aufgedrängten, mehrfach wiederholten Periode von beliebiger Dauer leicht adaptieren, dieselbe annehmen und spontan fortsetzen. Die Anpassung des Schrittes an eine uns zufällig begegnende Militärmusik ist ein naheliegendes Beispiel. Wenn ich einigemal meine Faust taktmäßig balle und dann nicht mehr weiter auf diese Bewegung achte, so bedarf es oft eines besonderen Entschlusses, um dieselbe einzustellen. 11. Biologisch wichtige Reize lösen bei niederen oder sehr jungen Tieren die Anpassungsreflexe aus. Wenn eine Folge von Empfindungen die Aufmerksamkeit eines höher entwickelten Tieres auf sich zieht, so sind diese Empfindungen von einer Tätigkeit begleitet, welche aus durch Erfahrung (Gedächtnis) modifizierten Reflexen besteht. Das Tun ist vom Empfinden nicht zu trennen. Selbst das bloße Beobachten ist für Tier und Mensch ein leises Mittun.^) Das Tier wird wohl immer nur für *) Wären alle diese periodischen Vorgänge von so sehr verschiedener Dauer bewußt, wie dies bei den Beinbewegungen gewöhnlich, bei den Atem- bewegungen zuweilen, bei den Herzschlägen ganz ausnahmsweise der Fall ist, so hätten wir an denselben ein vorzügliches Mittel der Zeitschätzung. Ohne Zweifel liegt in der Verwendung dieser Mittel der Anfang der physi- kalischen Chronometrie. Vollkommen periodische Vorgänge gibt es übrigens weder im physikalischen, noch im physiologischen Gebiet. Jede Periode liefert einen nicht umkehrbaren Rest. Jeder Moment des Lebens läßt seine unverwischbaren Spuren zurück. Alter und Tod sind die Summe derselben. Vgl. W. Pauli (Ergebnisse d. Physiologie 1904, III. Bd., I. Abt. S. 159), ferner Analyse, 4. Aufl. S. 184. *) Ein Mensch, der einmal mitgetan hat, beobachtet deshalb ganz anders, als wenn dies nicht der Fall war. Der Musiker beobachtet und genießt Musik anders als der Unmusikalische u. s. w. Die physiologische Zeit im Gegensatz zur metrischen. 431 die kurze Zeit einer Willkürhandlung aus seiner psychischen In- differenz geweckt, und dann wohl nur durch Sinnesempfindungen. Die Aufmerksamkeit des Menschen hingegen wird häufig genug auch durch Erinnerungen (Vorstellungen) erregt. Auch in diesem Falle lassen wir aber nicht bloß passiv Bilder an uns vorbei- ziehen, sondern sind leise mittätig, wie wir sofort merken, wenn wir etwa z. B. an einen erlebten oder auch nur wahrscheinlichen oder möglichen Wortwechsel denken. Bei kräftiger entwickeltem psychischen Leben ist auch eine länger dauernde Aufmerksam- keit möglich, allein dieselbe ist auch da nicht konstant, sondern jeder Lernende und Lehrende kann sozusagen ein stoßweises periodisches Anspannen und Nachlassen derselben beobachten. Das Nachdenken über die Lösung eines Problems erfolgt in Anläufen gegen dasselbe Ziel. Oft glauben wir das Gesuchte zu erschauen. Gelingt es uns aber nicht, dasselbe vollständig festzuhalten, so entschlüpft es uns wieder. Es ist dann für diesmal vorbei, und ein neuer Anlauf muß nach einiger Zeit versucht werden. 12. Die Aufmerksamkeit unterliegt also auch Schwankungen. Die Dauer einer solchen Schwankung möchte mehrere Sekunden betragen, und dürfte sich ungefähr über die physikalische Zeit erstrecken, die wir physiologisch als Gegenwart auffassen und bezeichnen. Wenn nun der Mensch den sinnlichen Erlebnissen seiner Umgebung in seinen Reaktionen sich angepaßt hat, mögen diese nun in ausgiebiger körperlicher Tätigkeit oder nur in ge- spannter Beobachtung bestehen, so wird jedem physikalischen Moment nach Einsetzen der Aufmerksamkeit eine Phase der Aufmerksamkeit entsprechen. Denken wir uns den Verlauf der Phasen der Aufmerksamkeit vom Einsetzen bis zum Erlöschen oder Abspringen derselben ungefähr gleich, die Empfindungen dieser Phasen aber mit den zugehörigen Sinnesempfindungen associiert, so werden die Vorstellungsreproduktion und die physi- kalische Reproduktion auch in dem zeitlichen Verlauf sich nahezu decken, was für eine Funktion der physikalischen Zeit die Phase der Aufmerksamkeit auch sei. Eine solche Deckung entspricht dem biologischen Bedürfnis. Soll einem Erlebnis durch eine be- wußte Willkürhandlung begegnet werden (man denke etwa an das Verhalten des Jägers), so wird wohl die Phase der Auf- merksamkeit in irgend einer Weise empfunden werden müssen. 432 -ö'ß physiologische Zeit im Gegensatz zur metrischen. Sollte sich diese Auffassung bewähren, so wäre hiermit der starre unverzerrbare zeitliche Hintergrund der Erinnerung, die gleich- mäßig ablaufende Phonographenwalze, gefunden. Natürlich hilft uns diese Auffassung nur die Reproduktion der Verhältnisse kleiner Zeiten verstehen. Für die Ordnung der Erlebnisse, die sich über lange Zeiten erstrecken, genügt ja der Faden der Association; die mikroskopische Detailauffassung befaßt sich da höchstens mit einzelnen wichtigeren Szenen. Denn wäre es nicht so, so würden unsere Erinnerungen dieselbe Zeit in Anspruch nehmen, welche die Erlebnisse selbst schon gekostet haben, und es bliebe uns keine Zeit für neue Erlebnisse.^) 13. Nachdem die Aufmerksamkeitsakte die verschiedensten Erlebnisse umfaßt haben, lernt man die Zeitempfindungen als bleibend, von dem übrigen Inhalt der Erlebnisse unabhängig, sich immer wiederholend, kennen. Die Folge der Zeitempfindungen wird zu einem Register, in welches die übrigen Qualitäten der Empfindungserlebnisse eingeordnet werden. Es kommt die Er- fahrung hinzu, daß es Vorgänge gibt: Pulsschläge, Schritte, Pendelschwingungen, welche in ihrer Dauer gleich bleiben, welche eine physiologische Zeitbeständigkeit darbieten. Obwohl in verschiedenen, leiblichen, normalen und krankhaften Zuständen, Schlaf, Fieber, Haschischrausch u. s. w., dieselben Ereignisse eine verschiedene Dauer zu haben scheinen, bemerken wir doch, daß die Schwingungen desselben Pendels, wann immer wir ihnen die normale wache Aufmerksamkeit zuwenden, merklich dieselbe Dauer haben. So entwickelt sich die Vorstellung von einer gleichmäßig fließenden Zeit. 14. Auf der tiefsten Stufe des Lebens gehen uns nur die unsern Leib betreffenden Vorgänge an. Sobald aber die Be- 1) Die hier zu Grunde liegende Auffassung der Aufmerksamkeit hat sich aus der physiologischen Vorstellung entwickelt, die sich in meinem Artikel „Zur Theorie des Gehörorgans" findet. (Ber. d. Wiener Akademie, Juli 1863. S. 15—16 des Separatabdrucks.) Hieran knüpfen meine ersten Vorstellungen von der physiologischen Zeit an. (Über den Zeitsinn des Ohres. Ber. d. Wiener Akademie, Januar 1865. S. 14—15 des Separatabdrucks.) Dann folgte die Darstellung in Analyse der Empfindungen 1886. Verwandte Anschauungen haben Riehl (Der philosophische Kritizismus Bd. II, T. I, S. 117), Münster- berg (Beiträge zur experimentellen Psychologie, 2. Heft. 1889) und J er u s a 1 em (Laura Bridgman. 1891. S. 39, 40) vertreten. Die physiologische Zeit im Gegensatz zur metrischen. 433 dürfnisse nicht mehr unmittelbar befriedigt werden können, son- dern nur auf dem Umwege durch die zeitlichen Vorgänge in unserer Umgebung, müssen letztere ein indirektes Interesse ge- winnen, das jenes an der momentanen Empfindung oft weit übersteigt. Zur Beurteilung des zeitlichen Verlaufs der Prozesse der Umgebung wird aber die physiologische Zeitempfindung zu ungenau und unverläßlich. Wir fangen dann an, physikalische Vorgänge mit andern physikalischen Vorgängen zu vergleichen, z. B. Pendelschwingungen mit Fallbewegungen durch bestimmte Fallräume, oder mit dem während der Pendelschwingung voll- führten Drehungswinkel der Erde. Da macht man nun die Er- fahrung, daß ein Paar genau definierter physikalischer Vorgänge, deren Beginn und Ende irgendwann koinzidiert, zeitliche Kon- gruenz zeigt, diese Eigenschaft zu jeder Zeit beibehält. Einen solchen genau definierten Vorgang kann man nun als Zeitmaß- stab benützen. Hierauf beruht die physikalische Chronometrie. Man pflegt nun zwar instinktiv die Vorstellung der zeitlichen Substantialität auf den chronometrischen Maßstab zu übertragen, allein man muß bemerken, daß auf physikalischem Gebiet diese Vorstellung gar keinen Sinn mehr hat. Die Messung gibt das Verhältnis zum Maßstab an; über den Maßstab selbst liegt in der Definition nichts. Man muß zwischen der unmittelbaren Empfindung einer Dauer und einer Maßzahl so scharf unter- scheiden, wie zwischen Wärmeempfindung und Temperatur.^) Jeder hat seine eigene Zeitanschauung; dieselbe ist nicht über- tragbar. Die chronometrischen Begriffe sind allen gebildeten Menschen gemeinsam; dieselben sind übertragbar. Diese Fragen konnten hier so kurz erledigt werden, weil alles mutatis mutandis wiederholt werden konnte, was bezüglich des Raumes zu sagen war. ') Vgl. Prinzipien der Wärmelehre S. 39 u. f. und S. 419 der vorliegenden Schrift. Mach, Erkenntnis und Irrtum. 28 Zeit und Raum physikalisch betrachtet. 1. In phj>siologischer Beziehung sind Zeit und Raum Systeme von Orientierungsempfindungen, welche nebst den Sinnesempfin- dungen die Auslösung biologisch zweckmäßiger Anpassungs- reaktionen bestimmen. In physikalischer Hinsicht sind Zeit und Raum besondere Abhängigkeiten der physikalischen Elemente voneinander. Dies spricht sich schon darin aus, daß Maßzahlen von Zeit und Raum in allen Gleichungen der Physik vertreten sind, und daß die chronometrischen Begriffe durch Vergleichung der physikalischen Prozesse, die geometrischen Begriffe durch Vergleichung der physikalischen Körper untereinander gewonnen werden. Wir wenden unsere Betrachtung zunächst der physi- kalischen Zeit zu. 2. Um die zeitliche Abhängigkeit rein hervortreten zu lassen, fingieren wir das einfache Beispiel eines Vorganges, in dem der Raum sozusagen dadurch eliminiert ist, daß nur Körper in Betracht kommen, welche durchaus in gleichräumlichen Verhältnissen zueinander stehen. Wir denken uns drei gleiche Massen von unendlich großer innerer Wärmeleitungsfähigkeit und gleicher Fig. 34. spezifischer Wärme, von welchen jede die beiden andern in einer gleich großen Fläche gleicher äußerer Wärmeleitungsfähigkeit berührt (Fig. 34). Wir schreiben den Massen ungleiche Temperaturen u^^u^^ u^ zu und verfolgen die zeitliche Änderung derselben. Unter Festhalten unserer Voraussetzungen bleibt das Mittel, also auch die Summe dieser Temperaturen stets konstant: Wi -}- «2 + W3 = c. Für die Änderung von u^ mit der Zeit / erhält man nach dem New ton sehen Wärmemitteilungsgesetz die Gleichung: Zeit und Raum physikalisch betrachtet. 435 dUi^ jdt = Ä- (c — 3«i), und durch Vertauschung von u^ mit u^ und u^ ergeben sich noch zwei ganz konforme Gleichungen. Die erste gibt integriert {c — 3Ui) = K-e-^''\ und wenn man die Integra- tionskonstante K durch den Anfangswert C/i von a^ bestimmt, und beiderseits durch 3 dividiert: {cß — Ui) = {cjS — Üi) • e-^^\ Jede der Temperaturen «1,^2) ^3 strebt also dem Mittel ^/3 zu, welches sie nach unendlich langer Zeit erreicht. Bezeichnen wir die variable Abweichung vom Mittel für den ersten Körper mit Vi, den Anfangs wert derselben mit V^, so schreibt sich die Gleichung, der sich zwei konforme anschließen: v^ = V^e-^^^ ... 1). Zieht man aus dieser ersten Gleichung e-^^\ und setzt es in die beiden anderen konformen ein, so nehmen diese die Gestalt an: Beide lassen sich in die dreigliederige Gleichung zusammen- fassen: vJV, = vJV, = vJV, 2). 3. Betrachten wir zuerst die Gleichung 1), so sehen wir, daß nach dem üblichen Zeitmaß, wonach / dem Drehungswinkel der Erde gegen den Fixsternhimmel proportional ist, die Abweichung vom Temperaturmittel nach dem Gesetz einer geometrischen Progression mit / abnimmt. Drücken wir umgekehrt / durch V^ und Vi aus, so ergibt sich /= (1/3A') •log(Vi/Vi). Da es nun gänzlich Sache einer zweckmäßigen Übereinkunft ist, welchen Prozeß wir als Vergleichsprozeß der Zeitmessung oder Zeit- zählung zu Grunde legen, so könnten wir auch log(Vi/Vi) oder geradezu Vj/Vi anstatt / als Zeitmaß wählen. Wir würden nur im ersten Fall eine andere Zeiteinheit, im zweiten Fall eine andere (übrigens ebenfalls unendliche) Zeitskale und auch einen andern Anfangspunkt der Zählung erhalten. 4. Folgen wir dem letzteren Gedanken und messen wir die Temperaturänderungen aneinander, so sehen wir an dem in Gleichung 2) dargestellten Fall schon das Typische der zeitlichen Abhängigkeit. Die Differenzen können sich nur verkleinern und nicht vergrößern; der zeitliche Ablauf ist einsinnig. Die Ab- weichungen vom Temperaturmittel erfahren simultane, vonein- ander abhängige, und zwar bei unmittelbarer Wechselbeziehung der Körper einander proportionale Änderungen. Diese Charakter- 28* 436 2^if w*^ Raum physikalisch betrachtet. Züge der zeitlichen Abhängigkeit sind ganz wohl verständlich. Jeden Vorgang, soll die Forschung demselben überhaupt bei- kommen können, müssen wir uns doch durch irgend welche Unterschiede bestimmt denken. Wo uns keine Unterschiede zu- gänglich sind, wissen wir auch keine Bestimmung zu finden. Denken wir uns aber für einen Augenblick, die Unterschiede würden sich vergrößern, so erkennen wir die Unvereinbarkeit dieser Vorstellung mit den gewöhnlichsten Zügen unseres Welt- bildes, das nirgends Veränderungen ins Ziellose zeigt, sondern überall ein Streben nach einem bestimmten Zustand verrät. Zwar kommt es vor, daß gewisse Differenzen sich vergrößern, wenn dafür gewisse andere gewichtigere sich verkleinern, allein eine unkompensierte spontane Vergrößerung einer Differenz kommt nicht vor. Es gibt auch Vorgänge, bei welchen eine Differenz sich ebensowohl vergrößern als verkleinern kann, welche scheinbar in entgegengesetztem Sinne ablaufen können, und zuweilen wirk- lich in solcher Weise periodisch abzulaufen scheinen. Allein in solchen Fällen handelt es sich nie um unkompensierte Differenzen. Solche Vorgänge sind auch genau und nicht bloß schematisch betrachtet, wie alle Arten von Schwingungen, nicht rein perio- dische, sondern enthalten stets nicht umkehrbare Komponenten. Der zweite Charakterzug der zeitlichen Abhängigkeit, die Ab- meßbarkeit simultaner Änderungen aneinander, ist im Falle der unmittelbaren Beziehung der Körper zueinander leicht begreiflich. Die Bestimmung der Änderungen durch die Differenzen der Körper ist gegenseitig, da kein Körper vor dem andern einen Vorzug hat, da, wie in unserem Beispiel, der eine Körper empfängt, was der andere verliert. In Fällen vermittelter Abhängigkeit werden wir keine so einfache Abmeßbarkeit der simultanen Änderungen aneinander zu erwarten haben, wie in unserem Bei- spiel, doch wird auch da jede Änderung jeder andern parallel gehen, wenn die Natur nur homogen ist und nicht unerwartete Störungen in den normalen Verlauf eingreifen. Betrachten wir z. B. den Umlauf eines Jupitertrabanten und verwenden wir den- selben als Uhr. Obgleich schwerlich jemand daran denken wird, daß diese Bewegung auf irdische Vorgänge irgend einen merk- lichen Einfluß nimmt, wird sich doch ein Abkühlungsvorgang auf der Erde gleich gut durch die Formel K-e-^\ natürlich mit Zeit und Raum physikalisch betrachtet. 437 verschiedenem Koeffizienten, darstellen lassen, ob wir das / der Trabantenbewegung oder der Erdbewegung entnehmen. Nur wenn während unserer Beobachtung der Trabant durch den Stoß eines Meteoriten seine Geschwindigkeit ändern würde, würde die Formel aufhören zu gelten, und die nicht unmittelbare Ab- hängigkeit des Wärmevorganges von der Trabantenbewegung würde offenbar.^) 5. Nun wollen wir unser obiges Beispiel so modifizieren, daß der Einfluß verschiedener räumlicher Beziehung in einfachster Weise neben der zeitlichen Abhängigkeit zum Ausdruck kommt. Vier gleiche Massen, von denen je zwei sich unmittelbar berühren, sollen sich zu einem Ring schließen (Fig. 35). Hier gibt es nur zwei verschiedene räumliche Be- ziehungen: jene der sich berührenden, und jene der sich nicht berührenden, sich gegen- über liegenden Massen. Im übrigen bleiben Fig. 35. wir bei den Voraussetzungen des vorigen Falles. Wieder besteht die Gleichung Wi -j- «2 + ^s + ^4 = c. Für die Änderung von u^ finden wir dUiJdt == k{c — u^ — 3Wi). Durch zyklische Vertauschung der u folgen noch drei konforme Gleichungen. Die Zusammenfassung der Gleichungen für Ui und Ö3 glbtd{Ui -\-Uci)ldt = k[2c — 4(Wi + K3)]. Deren Integrale ist: 2c-^{u,^u,) = [lc-^{U,-{-U,)\e-'^^,,.2i). Die Buchstaben sind in demselben Sinn zu verstehen, wie in dem vorigen Beispiel. Wir bilden nun die Gleichungen für d{Ui-\-U2)ldt und für d{u.2-\-u^)ldt, ziehen die erste von der zweiten ab und integrieren. Das Integrale ist: 2{u,-u,) = 2{U,-U,)-e~^^' b). Addieren wir zu Gl. a) die mit 2 multiplizierte Gl. b), so ergibt sich für u^ ein Ausdruck, der sich ohne Mühe auf folgende Form bringen läßt: u,==\l^[c-{-{U,^U,-U,-U,)e-'^* + 2{U,-U,)e-''% ») Vgl. Analpse d. Empf. 4. Aufl. S. 272. Ich kann nicht unterlassen zu bemerken, daß ich in diesen Gedanken durch die Einwendungen vonPetzoldt (Das Gesetz der eindeutigen Bestimmtheit. Vierteljahrsschr. f. wiss. Philo- sophie XIX, S. 146 fg,) wesentlich gefördert worden bin. 438 2^it "^^ Raum physikalisch betrachtet. Für / = oo wird Ux = c/4, für / = erhält man natürlich Ui=l7i. Während des Temperaturausgleichs nehmen aber die Temperaturen der gegeneinander räumlich ungleich liegenden Körper auch ungleichen Einfluß auf u^. Durch zyklische Ver- tauschung ergeben sich auch die Ausdrücke für Hg? ^s? «4. 6. Kehren wir nun zu unserem ersten Beispiel zurück, um an dasselbe noch einige Bemerkungen anzuschließen. Anstatt der gleichräumlichen Beziehung ^m^r Massen hätten wir noch eine solche von vier Massen herstellen können, wenn wir jede mit jeder in den 6 durch den Schwerpunkt und je eine Kante des Tetraeders gelegten Ebenen zur Berührung gebracht, und die so entstandenen Teile des Tetraeders mit diesen Massen ausge- füllt hätten. Eine analoge Teilung des Hexaeders wäre aber für unsern Zweck nicht mehr verwendbar gewesen. Jede Masse würde da vier andere berühren, zu einer fünften aber nur in mittelbarer Beziehung stehen, was schon dem Schema des zweiten Beispiels entsprechen würde. Die physikalische Fiktion einer beliebigen Zahl von in gleicher Wärmeleitungsbeziehung stehen- den Massen können wir übrigens immer festhalten, indem wir uns von jeder Masse zu jeder einen Draht von absoluter innerer Leitungsfähigkeit geführt, die Massen aber sonst isoliert denken. Die Zahl der in gleicher unmittelbarer Beziehung stehenden Massen ändert das Ergebnis unserer Betrachtung nicht. Ein Körper allein kann ja an sich keine Veränderung bestimmen. Zwei Körper genügen aber schon zur Bestimmung einer Ver- änderung aneinander. Das Bedürfnis nach eindeutiger Bestim- mung treibt uns, zunächst auf Erfahrungen zu achten, welche über den zweifachen möglichen (denkbaren) Sinn der Verände- rung entscheiden. Ist dies geschehen und ist für die Differenz- verkleinerung entschieden, so suchen wir noch den Anteil zu ermitteln, den jeder der Körper an dem Ausgleich nimmt. Die simultanen Temperaturänderungen sind z. B. verkehrt proportional den Wärmekapazitäten, so daß beide Körper zugleich beim zu- sammengesetzten Temperaturmittel anlangen. In anderen Fällen finden wir analoge Regeln. Wir können sagen, daß es die ein- fachsten unmittelbaren physikalischen Beziehungen sind, die sich in der zeitlichen Abhängigkeit aussprechen. Zeit und Raum physikalisch betrachtet. 439 7. Betrachten wir jetzt näher den Einfluß der räumlichen An- ordnung in unserem zweiten Beispiel. Die regelmäßige Anord- nung der vier Massen in einem Ring entspricht einem einfachsten endlichen unbegrenzten linearen Riemann sehen Raum aus vier diskreten Elementen. Die Ringform hat uns den Vorteil geboten, größere Übersichtlichkeit durch Anwendung der zyklischen Ver- tauschung zu erreichen. Wir hätten statt vier Massen, ohne wesentliche Änderung des Ergebnisses, deren hundert oder gar, wie Fourier, einen homogenen Ring mit kontinuierlicher anfäng- licher Verteilung der Temperatur betrachten können. Einen zwei- dimensionalen Riemann sehen Raum erhalten wir durch Aus- füllung einer dünnen Kugelschale mit den in dieser angeordneten Massen von beliebiger Zahl. Durch die Fiktion passender leiten- der Verbindungen könnten wir noch andere räumliche Anord- nungen in Bezug auf ihre physikalischen Folgen nachahmen. Das Ergebnis unserer Betrachtung bleibt immer dasselbe. Der Einfluß der vermittelten physikalischen Beziehungen äußert sich später, und wird durch die unmittelbaren oder durch eine geringere Zahl von Zwischengliedern vermittelten Beziehungen verdeckt, verwischt. In den räumlichen Verhältnissen äußert sich die vermittelte physikalische Abhängigkeit. 8. Wie stimmt nun dieses Ergebnis, welches die Raumfrage nicht löst, aber vielleicht doch einen kleinen Schritt zur Auf- klärung derselben bedeutet, zu den gangbaren Ansichten vom Räume? Wenn man eine Vorstellung davon gewinnen will, unter welchen Schwierigkeiten die Abstraktion „Raum" sich gebildet hat, so geschieht dies wohl am besten durch das Studium des vierten Buches der Physik des Aristoteles.^) Die Fragen, ob der Raum (Ort) ist oder nicht, wie er ist, und was er ist, machen ihm viel zu schaffen. Er kann den Raum nicht als einen Körper ansehen, denn dann wäre ein Körper im andern. Er vermag aber den Raum auch nicht von der Körperlichkeit zu trennen, denn der Ort eines Körpers ist ihm das, was letzteren umgibt, einschließt. Daß wir nach dem Räume nicht fragen würden, wenn keine Bewegung wäre, hebt Aristoteles hervor. Alle Schwierigkeiten der Raumauffassung finden sich natürlich ') Insbesondere Kap. 1—9. 440 Zeit und Raum phvsikalisch betrachtet. in seinen Erklärungen der Bewegung wieder.^) Die Verquickung der Raumvorstellung mit der Körpervorstellung legt natürlich die Undenkbarkeit des Vakuums nahe, die von Aristoteles und vielen andern antiken Denkern vertreten wird. 2) Die ein Vakuum annahmen, wie Leukipp, Demokrit, Epikur u. a., hatten also eine der unsrigen näher liegende Raumvorstellung. Der Raum war ihnen eine Art Gefäß, welches erfüllt sein kann, und auch nicht. In der Tat muß die Geometrie, welche von allen körper- lichen Eigenschaften außer der starren Begrenzung absieht, dahin leiten. Unterstützt wird diese Entwicklung durch die naive sinn- liche Beobachtung der Bewegung der Körper in einem durch- sichtigen dünnen Medium, wie die Luft, das wohl gelegentlich auch als nichts, als eine Leere aufgefaßt wird. Eine Stelle bei Guericke legt dies noch nahe.^) 9. Die Unvorstellbarkeit des Vakuums pflanzt sich bis in die moderne Zeit fort. Descartes*) ist noch so von derselben durch- drungen, daß er annimmt, die Wände eines Gefäßes, welches man vollständig entleeren könnte, müßten sich sofort berühren. Wir wissen, welche Arbeit Guericke,^) Boyle'^) und PascaT) hatten, den Zeitgenossen die Existenz des verpönten Vakuums in überzeugender Art nachzuweisen. Allerdings war dies kein Vakuum im Sinne der heutigen Physik. Nachdem Guericke (L. II C. 2 und 3) die antiken und modernen Ansichten über Ort, Zeit, ') Vgl. Lange, Die geschichtliche Entwicklung des Bewegungsbegriffes. Leipzig 1886. 2) Physik. IV, Kap. 6—9. •) Guericke, Experimenta Magdeburgica. 1672. III, C. 4, p. 59. Dum distantiam seu intercapedinem duarum turrium seu montium aspicimus, facile cogitandum, illam, corpus illud aereum interpositum, non facere, sed per se esse; ita ut sublato etiam omni aere, montes vel turres hae sibi invicem non fierent contiguae. *) Descartes, Principia II, 18. Si quaeratur, quid fiet, si Deus auferat omne corpus quod in aliquo vase continetur, et nullum aliud in ablati locum venire permittat? Respondendum est: Vasis latera sibi invicem hoc ipso fore contigua. — Wie mußte die gelehrte Welt staunen, als das kaum einem Gott zugetraute Experiment von einem einfachen geschickten Bürgermeister mit ganz entgegengesetztem Erfolg ausgeführt wurde. *) Guericke 1. c. *) Boyle, New experiments, phvsico-mechanical. Oxford 1660. ') Pascal, Nouv. experiences touchant le vuide. Paris 1647. Zeit und Raum physikalisch betrachtet. 44 1 Vakuum besprochen hat, sagt er: „Verum enim vero vacuum in natura dari, lib. seq. pluribus demonstrabimus experimentis." In L. III C. 35 und 36 widerlegt Guericke ausführlich die Ein- wendungen gegen die Existenz des Vakuums und die Bedenken gegen seine Experimente. Er war durch philosophische Studien auf diese Versuche verfallen. Oft hatte sich ihm bei Betrach- tung der gewaltigen Himmelsräume die Frage aufgedrängt, ob diese nicht etwa das stets geleugnete Vakuum seien? ^) 10. Der Nachweis des Vakuums hat, wie kaum bezweifelt werden kann, sehr viel zur Verselbständigung der Raumvor- stellung beigetragen. Hierzu kamen aber noch andere wichtige Umstände. Galilei hatte durch Beobachtung irdischer Be- wegungen seine dynamischen Gesetze gefunden. Als Haupt- vertreter des Kopernikanischen Systems hatte er vielfach Ge- legenheit, die gegen dieses System vorgebrachten Einwendungen unter den Gesichtspunkten seiner Dynamik zu erörtern. Hierbei ergab sich nun, wie von selbst und unvermerkt, der Versuch, diese Dynamik, anstatt auf die Erde, auf den als festliegend ge- dachten Fixsternhimmel zu beziehen. So fand er z. B. seine Theorie der Gezeiten^) als vermeintliche Stütze des Koperni- kanischen Systems, die er nur für richtig hielt, weil ihm noch die Möglichkeit fehlte, deren Mängel zu erkennen. Newtons Aus- bau der Mechanik des Himmels auf Galileischen undHuygens- schen Grundlagen machten das neue Bezug%y%X^m^ welches sich auch bewährte, geradezu unentbehrlich. Als fruchtbare Grund- lage der Himmelsmechanik erschaute Newton die Annahme der von der Entfernung abhängigen Gravitationskräfte. Wenn nun auch Newton sich diesen Raum lieber erfüllt gedacht und die Kräfte durch Vermittelung begriffen hätte, so mußte er doch schließlich vorläufig bei einer Ansicht stehen bleiben, welche den Raum als solchen zur Geltung brachte und die bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts in der Physik die fast allein herrschende ») L. c. L. I, Cap. I, p. 55. Unter den verschiedenen Vermutungen über die Erfüllung des Weltraums kommt Guericke zu der Frage: Vel spatium ab omni materia, vacuum scilicet illud semper negatum? *) Auch auf diese Theorie kommt Galilei in dem Dialog über die beiden Weltsysteme. Ein kurzes Referat hierüber in meiner Mechanik. 5. Aufl. S. 227—229. 442 ^^it ""(^ Raum physikalisch betrachtet. blieb. Wenn man nun bedenkt, daß für die Gravitationsmechanik Newtons auch der Fixsternhimmel nicht mehr als absolut un- veränderliches, unbewegliches, starres System gelten konnte, so erscheint sein gewagter Versuch einigermaßen begreiflich, die ganze Dynamik auf einen absoluten Raum und entsprechend auch auf eine absolute Zelt zu beziehen.^) In der Praxis änderte ja diese uns sinnlos erscheinende Annahme nicht die Bezug- nahme auf den Fixsternhimmel als Raum- und Zeitkoordinaten; sie blieb deshalb unschädlich und entging lange einer ernsten Kritik. Man kann wohl sagen, daß hauptsächlich seit den New- tonschen Aufstellungen Zeit und Raum jene selbständigen und doch körperlosen Wesen sind, für die sie heute gelten. 11. Newtons Gedanke der Fernkräfte war eine große intellek- tuelle Tat, welche den Ausbau einer homogenen mathematischen Physik in der Zeit eines Jahrhunderts ermöglichte.^) Diese Tat beruht auf geistiger Weitsichtigkeit. Er sah die tatsächlichen Fernbeschleunigungen, erkannte sie als wichtig; die Vermittelungen zeigten sich ihm verschwommen und er beachtete sie vorläufig nicht. Allein auch die kleinsten Einzelheiten wollen erforscht sein, und hierzu ist schar/sichtige Kurzsichtigkeif förderlicher. Der Blick ins Große und Weite muß mit jenem aufs Nahe, Kleine und Einzelne wechseln, soll unausgesetzter Fortschritt zu stände kommen. Die größten Forscher, unter ihnen vor allem Newton, hatten beide Betrachtungsweisen in ihrer Gewalt. Den von Newton zurückgelassenen Fragen der Nahewirkung, der ver- mittelten Fernwirkung, hat nun im abgelaufenen Jahrhundert Faraday mit größtem Erfolge sich zugewandt. Seine Gedanken wurden aber den in der Fernwirkungsphysik befangenen Forschern erst verständlich, als Maxwell dieselben in die ihnen geläufige Sprache übersetzte. 12. Der naiven Beobachtung fällt zunächst der enge und starke Zusammenhang der sinnlichen Elemente einer Zeit- und *) Vgl. die ausführliche Darlegung der Stellung der Zeitgenossen zu Newtons Auffassung bei Lange (Die geschichtliche Entwicklung des Be- wegungsbegriffes. 1886). 2) Im Kapitel über die Hypothese ist auf den großen Nachteil hinge- wiesen, der sich ergeben hätte, wenn Newton die Fernwirkung fallen ge- lassen hätte, weil er sie nicht zu „erklären" vermochte. (S. 248, 249.) Zeit und Raum physikalisch betrachtet. 443 Raumstelle auf, mag man nun Zeit und Raum im physiologischen oder physikalischen Sinne verstehen. Wir nennen diesen Zu- sammenhang Körper. Soweit wir in der Beobachtung eine Zeit- und Raumstelle in kleinere Teile teilen können, finden wir in diesen kleineren Zeit- und Raumteilen den Zusammenhang der sinnlichen Elemente noch inniger. Die Teile des Körpers sind wieder Körper. Veränderungen treten in der Regel nicht am ganzen Körper zugleich auf, sondern ein Teil nach dem andern wird von denselben ergriffen, z. B. ein Teil nach dem andern wird gelöst, erwärmt u. s. w. Die Veränderung überträgt sich von einem Teil auf den nächstliegenden. Was ist natürlicher, als daß wir auch in Fällen der Ausnahme diese nur für scheinbar halten, daß wir plötzliche Veränderungen eines ganzen Körpers (z. B. die Elektrisierung), Einflüsse in die Ferne (Beleuchtung, Gravitationsbeschleunigung) auf eine allmähliche Änderung, Über- tragung der Änderung von Teil zu Teil zurückzuführen hoffen. Dieser naiven Auffassung, welche auch der antiken Zeit nahe liegt, hat nun Faraday durch seine großen Erfolge wieder Gel- tung verschafft. Auf dem Farad ansehen Standpunkt wird uns der Satz leicht verständlich: Zeitliche Abhängigkeit ist unmittel- bare, räumliche Abhängigkeit ist vermittelte Abhängigkeit. 13. Auf diesem Standpunkt eröffnet sich nun die Aussicht, zu einem physikalischen Verständnis von Zeit und Raum zu ge- langen, dieselben aus den elementarsten physikalischen Tatsachen zu begreifen. Für Newton sind Zeit und Raum etwas Hyper- physikalisches; sie sind nicht unmittelbar zugängliche, wenigstens nicht genau bestimmbare, unabhängige Urvariable, nach welchen sich die ganze Welt richtet, welche durch dieselben regiert wird. So wie der Raum die Bewegung der fernsten Planeten um die Sonne regelt, so hält auch die Zeit die fernsten himmlischen Be- wegungen und die unbedeutendsten irdischen Vorgänge in Über- einstimmung. Durch diese Auffassung wird die Welt zu einem Organismus oder, wenn man diesen Ausdruck vorzieht, zu einer Maschine, von der alle Teile in voller Übereinstimmung nach der Bewegung eines Teiles sich richten, gewissermaßen durch einen einheitlichen Willen geleitet werden, nur daß uns das Ziel dieser Bewegung unbekannt bleibt.^) Diese Ansicht liegt auch 1) Vgl. Erhaltung der Arbeit. Prag 1872. S. 35—37. 444 2^it und Raum physikalisch betrachtet. als Nachwirkung Newtons der heutigen Physik zu Grunde, wenn vielleicht auch eine Abneigung besteht, dieselbe offen ein- zugestehen. Dem Faraday sehen Standpunkte entsprechend wird sich dieselbe aber modifizieren müssen. Die Welt bleibt auch ein Ganzes, wenn nur kein Element isoliert ist, wenn alle Teile auch nicht unmittelbar, so doch durch Vermittelung anderer zu- sammenhängen. Das übereinstimmende Verhalten nicht unmittel- bar zusammenhängender Glieder (die Einheit von Zeit und Raum) ergibt sich dann nur scheinbar durch Nichtbeachtung der ver- mittelnden Glieder. Das Ziel der Weltbewegung bleibt uns nur darum unbekannt, weil der Ausschnitt, den wir betrachten können, seine engen Grenzen hat, über die hinaus unsere Forschung nicht reicht. Diese Ansicht ist weniger poetisch, weniger groß- artig, dafür aber naiver und nüchterner. 14. Die physikalische Auffassung des Raumes wird begünstigt durch die Fortschritte in der Erkenntnis des „Vakuums". Für Guericke hatte das Vakuum eigentlich nur negative Eigen- schaften. Schon die Luft weist dem naiven Beobachter zunächst nur negative Eigenschaften auf. Dieselbe ist nicht sichtbar. Sie wird erst tastbar durch ausgiebige Bewegung, verrät dann auch ihren Wärmegrad. Durch Einschließen in einen Schlauch oder in ein Gefäß erfahren wir deren Undurchdringlichkeit und Gewicht. Später kommt noch die Sichtbarkeit hinzu, bis endlich alle Charaktere eines Körpers nachgewiesen sind. Ähnlich geht es mit dem Vakuum. Es hat erst keine physikalischen Eigenschaften. Boyle zeigt, daß ein Brennglas und der Magnet hindurch- wirkt. Nach Young und Fresnel muß man sich im vom Licht durchsetzten Vakuum in sehr kleinen Abständen gleichzeitig dieselben physikalischen Zustände denken, und sich vorstellen, daß diese Zustände mit sehr großer Geschwindigkeit in der Lichtrichtung sich verschieben. Durch die Arbeiten von Faraday, Maxwell, Hertz u. a. hat sich die Existenz elektrischer und magnetischer Kräfte im Vakuum ergeben, welche derart zu- sammenhängen, daß jede Änderung der einen das Auftreten der anderen an derselben Stelle bedingt. Man kann von diesen Kräften im allgemeinen unmittelbar nichts wahrnehmen, aus- genommen im Falle einer sehr raschen periodischen Veränderung, in welchem sie sich als Licht äußern. Auf einem physikalischen Zeit und Raum physikalisch betrachtet. 445 Umweg sind diese Kräfte aber leicht nachweisbar und deren gänzliches Fehlen bildet einen sehr seltenen Ausnahmefall. Das Vakuum ist also keineswegs Nichts, sondern hat sehr wichtige physikalische Eigenschaften. Ob man das Vakuum als Körper (Äther) bezeichnen will, ist ohne Belang, daß aber wechselnde, voneinander abhängige Eigenschaften demselben anhaften, wie den Körpern, kann man nicht in Abrede stellen.^) 15. Lobatschefskij^) bemerkt als Naturforscher der Geo- metrie, daß man bei jeder Messung Körper anwendet, demnach bei Aufstellung der geometrischen Begriffe auch vom Körper ausgehen müsse. „Die Berührung bildet das unterscheidende Merkmal der Körper, und ihr verdanken sie den Namen: geo- metrische Körper, sobald wir an ihnen diese Eigenschaft fest- halten, während wir alle anderen, mögen sie nun wesentlich sein oder zufällig, nicht in Betracht ziehen."^) Obwohl diese Stelle an Präzision des Ausdrucks zu wünschen übrig läßt, kann man doch annehmen, daß hier auf die Undurchdringlichkeit und Starr- heit der Körper hingewiesen wird, die sich bei Berührung der- selben äußert und auf der alle Messung beruht. Nun stehen aber die Dinge nicht mehr ganz so wie zu Beginn des 19. Jahr- hunderts. Wir brauchen zwar noch immer starre Körper zur Konstruktion unserer Apparate, sind aber im stände, mit Hilfe der Lichtinterferenz im scheinbar unterschiedslosen Vakuum Punkte und Strecken viel genauer zu markieren und in Lichtwellenlängen auszumessen, als dies durch aneinanderstoßende, sich berührende, starre Körper möglich wäre. Es ist sogar wahrscheinlich, daß die Lichtwelle im Vakuum der künftigen Physik durch die Länge das Raummaß, durch die Schwingungsdauer das Zeitmaß liefern wird und daß diese beiden Grundmaße an Zweckmäßigkeit und allgemeiner Vergleichbarkeit alle anderen übertreffen werden. ^) Spontan treten die erwähnten Kräfte im unterschiedlosen Vakuum ebensowenig auf wie an einem anderen Körper, an welchem letzteren sie eben durch einen zweiten Körper oder durch Differenzen der Teile des Kör- pers gegeneinander bedingt sein müssen. ^) F. Engel, N. I. Lobatschefskij. Zwei geometrische Abhandlungen. Leipzig, Teubner, 1899. S. 80, 81. — Lobatschefskij denkt hier wie Leibniz. ») A. a. O. S. 83. 446 ■^ß^' und Raum physikalisch betrachtet. Durch die bezeichneten Wandlungen verlieren aber Zeit und Raum immer mehr ihren hyperphysikalischen Charakter.^) 16. Wir schreiben dem Raum drei Dimensionen zu, und unsere Geometrie betrachtet diese Dimensionen als indifferent gleich- wertig, den Raum in Bezug auf dieselben als isotrop. In der Tat, wenn man nur auf die Undurchdringlichkeit der Körper achtet, ergibt sich keine Differenz. Faßt man aber die Geo- metrie als eine physikalische Wissenschaft auf, so ist es fraglich, ob es immer zweckmäßig sein wird, diese Auffassung aufrecht zu erhalten, wie denn die Vektorenrechnung schon auf die Un- gleichwertigkeit der Richtungen Rücksicht nehmen muß. Ein amorpher oder tesseraler Körper, eine verdünnte Lösung von Schwefelsäure, in welcher sich Zinkpulver löst, u. s. w. zeigen keinen Unterschied nach verschiedenen Richtungen. Für einen triklinen Körper, oder für ein Körperelement, in dem eben ein elektrischer Strom induziert wird, der also auch von magne- tischen Kraftlinien in bestimmtem Sinne umkreist wird, sind die drei Dimensionen ungleichwertig. Könnten wir nur die un- geordneten Ströme, welche das sich lösende Zinkpulver erzeugt, ordnen und passend orientieren, so wären die Dimensionen nicht mehr gleichwertig. So scheint also die Gleichwertigkeit der Dimensionen auf einer Verwischung der Ungleichwertigkeit in besonderen oft vorkommenden einfacheren Fällen zu beruhen. Auch physiologisch sind die Dimensionen nicht gleichwertig, da wir sie ja sonst gar nicht unterscheiden könnten. Möglicher- weise liegt diese Anisotropie schon in den Elementarorganen, aus welchen sich unser Leib zusammensetzt.^) Wenn wir unsern ^) Durch die Betrachtungen dieses Kapitels wird es klar, daß Raum und Zeit in der Untersuchung nicht gut getrennt werden können. Vgl. den geist- vollen philosophischen Scherz Fechners in „Vier Paradoxen" und zwar: Der Raum hat vier Dimensionen. — Eine ernst gemeinte Ausführung dieser Art gibt M. Palägpi, Neue Theorie des Raumes und der Zeit. Leipzig 1901. — Eine der Fechnerschen verwandte Auffassung s. „Analpse". 1886. S. 156. — Die Untrennbarkeit von Raum und Zeit betonte ich in einer kleinen Notiz in Fichtes Zeitschr. f. Philosophie. 1866. — Während des Druckes erhielt ich noch: K. C. Schneider, Das Wesen der Zeit. (Wiener klinische Rundschau, 1905, Nr. II, 12.) Die Schrift enthält Anklänge an Gedanken Fechners und Palägpis, was ich hier eben nur erwähnen kann. *) Über Anisotropie der Pflanzenorgane vgl. Sachs, Vorlesungen über Pflanzen -Physiologie. Leipzig 1887. S. 742—762. — Analoge Fragen über Zeit und Raum physikalisch betrachtet. 447 Leib zur Orientierung in physikalischen Vorgängen verwenden können, wie dies durch Anwendung der Amp ereschen Schwimmer- regel und anderer analoger Regeln für elektrodynamische Fälle mit sicherem Erfolg geschieht, so deutet dies auf einen tief liegenden Zusammenhang der physikalischen Umgebung mit unserer physiologischen Konstitution, auf eine gemeinsame Aniso- tropie beider.^) 17. Die Zeit- und die Raumanschauung bilden die wichtigsten Grundlagen unserer sinnlichen Weltauffassung und sind als solche nicht zu eliminieren. Dies schließt aber nicht aus, daß wir ver- suchen, die Mannigfaltigkeit der Ortsempfindungsqualitäten auf eine physiologisch-chemische Mannigfaltigkeit zurückzuführen. Der Betrachtung S. 396 entsprechend würden wir an ein System von Mischungen in allen Verhältnissen von vier chemischen Quali- täten (Prozessen) zu denken haben. ^) Sollte ein solcher Versuch einmal Erfolg haben, so würde dies auch zu der Frage führen, ob sich nicht den Herbartschen an Leibniz anknüpfenden Spekulationen, seiner Konstruktion des intelligiblen Raumes, ein physikalischer Sinn abgewinnen läßt, ob der physikalische Raum nicht auf Qualitäts- und Größenbegriffe zurückführbar ist? Gewiß kann man gegen die Herbartsche Metaphysik viel einwenden. Seine Jagd auf zum Teil künstlich geschmiedete Widersprüche, seine eleatischen Neigungen sind nicht gerade anmutend, doch wird dieser bedeutende Denker nicht bloß Irrtümer zu Tage gefördert haben. Sein Abbrechen der Raumkonstruktion bei der dritten Dimension ist gänzlich unbegründet, und auf diesen Punkt wäre gerade das Hauptgewicht zu legen. ^) Nach einem Jahr- hundert können eben solche Fragen eine ganz neue Physiognomie darbieten. 18. Daß Zeit und Raum physiologisch nur ein scheinbares Kontinuum darstellen und höchstwahrscheinlich aus diskontinuier- Anisotropie der tierischen Elementarorgane behandelt O. zur Straßen, Über die Mechanik der Epithelbildung. Verh. d. D. Zoolog. Gesellsch. 1903. ») Vgl. Analpse, S. 264, 265. 2) Vgl. auch Prinzipien der Wärmelehre. 1896. S. 360—361. 3) Leibniz meinte ja auch die Unmöglichkeit eines werdimensionalen Raumes daraus nachweisen zu können, daß es im (dreidimensionalen!) Räume nur drei aufeinander Senkrechte gibt! 448 Zeit und Raum physikalisch betrachtet. liehen, aber nicht scharf unterscheidbaren Elementen sich zu- sammensetzen, soll hier noch hervorgehoben werden. Wie weit in Bezug auf Zeit und Raum in der Physik die Annahme der Kontinuität aufrecht erhalten werden kann, ist nur eine Frage der Zweckmäßigkeit und der Übereinstimmung mit der Erfahrung. Es sind bloße Ansätze zu Gedanken, Gedankenkeime, mit welchen ich hier schließen muß. Ob dieselben entwicklungsfähig sind, vermag ich nicht zu entscheiden. Sinn und Wert der Naturgesetze. 1. Man spricht oft von Naturgesetzen. Was bedeutet dieser Ausdruck? Gewöhnlich wird man der Meinung begegnen, die Naturgesetze seien Regeln, nach welchen die Vorgänge in der Natur sich richten müssen, ähnlich den bürgerlichen Gesetzen, nach welchen die Handlungen der Bürger sich richten sollen. Einen Unterschied pflegt man darin zu sehen, daß die letzteren Gesetze auch übertreten werden können, während man Ab- weichungen der Naturvorgänge von ersteren für unmöglich hält. Diese Auffassung der Naturgesetze wird aber erschüttert durch die Überlegung, daß wir ja nur aus den Naturvorgängen selbst die Naturgesetze ablesen, abstrahieren, und daß wir hierbei vor Irrtümern durchaus nicht gesichert sind. Selbstverständlich läßt sich dann jede Durchbrechung der Naturgesetze durch unsere irrtümliche Auffassung erklären, und die Vorstellung von der Unverbrüchlichkeit dieser Gesetze verliert jeden Sinn und Wert. Wird einmal die subjektive Seite unserer Naturauffassung hervor- gekehrt, so gelangt man leicht zu der extremen Ansicht, nach welcher unsere Anschauung und unsere Begriffe allein der Natur Gesetze vorschreiben. Betrachten wir aber unbefangen das Werden der Naturwissenschaft, so sehen wir deren Ursprung darin, daß wir an den Vorgängen zunächst die Seiten beachten, welche für uns unmittelbar biologisch wichtig sind, und daß später erst unser Interesse auf die mittelbar biologisch wichtigen Seiten der Vorgänge fortschreitend sich weiter ausdehnt. An- gesichts dieser Überlegung wird vielleicht folgende naheliegende Fassung Zustimmung finden: Ihrem Ursprünge nach sind die „Naturgesetze" Einschränkungen, die wir unter Leitung der Erfahrung unserer Erwartung vorschreiben. Mach, Erkenntnis und Irrtum. 29 450 ^ff^^ ^f^d Wert der Naturgesetze. 2. K, Pearson^), dessen Ansichten die meinigen recht nahe stehen, äußert sich über diese Fragen in folgender Weise: „The civil law involves a command and a duty; the scientific law is a description, not a prescription. The civil law is valid onlj> for a special communitp at a special time; the scientific law is valid for all normal human beings, and is unchangeable so long as their perceptive faculties remain at the same stage of de- velopment. For Austin 2), however, and for many other philo- sophers too, the law of nature was not the mental formula, but the repeated sequence of perceptions. This repeated sequence of perceptions they projected out of themselves, and considered as a part of an external world unconditioned by and independent of man. In this sense of the word, a sense unfortunately far too common to-day, natural law could exist before it was recognised by man." Statt des schon in der Diskussion zwischen Mi 11 und Whewell auftretenden und seit Kirchhof f eingebürgerten Wortes „Beschreibung" möchte ich hier durch den Ausdruck „Ein- schränkung der Erwartung" auf die biologische Bedeutung der Naturgesetze hinweisen. 3. Ein Gesetz besteht immer in einer Einschränkung der Möglichkeiten, ob dasselbe als Beschränkung des Handelns, als unabänderliche Leitbahn des Naturgeschehens oder als Weg- weiser für unser dem Geschehen ergänzend vorauseilendes Vor- stellen und Denken in Betracht kommt. Galilei und Kepler stellen sich die verschiedenen Möglichkeiten der Fall- und der Planetenbewegung vor; sie suchen diejenigen zu erraten, welche den Beobachtungen entsprechen, sie schränken ihre Vorstellungen im Anschluß an die Beobachtung ein, gestalten dieselbe be- stimmter. Der Trägheitssatz, welcher nach dem Erlöschen der Kräfte dem Körper eine gleichförmige geradlinige Bewegung zuschreibt, hebt aus unendlich vielen Denkmöglichkeiten eine als maßgebend für die Vorstellung hervor. Auch die Lange sehe') Auffassung der Trägheitsbewegung eines Systems freier Massen stellt diese als eine Auswahl einer Bewegungsweise aus un- zähligen kinematischen Möglichkeiten dar. Schon darin, daß ') K. Pearson, The grammar of science. 2 ed. London 1900, p. 87. ^) Der englische Rechtslehrer. «) Mechanik. 5. Aufl. S. 259. Sinn und Wert der Naturgesetze. 451 sich ein Tatsachengebiet klassifizieren läßt, daß man den Klassen entsprechende Begriffe aufstellen kann, liegt eine Beschränkung der Möglichkeiten. Ein Gesetz muß sich nicht notwendig in Form eines Lehrsatzes aussprechen. Die Anwendbarkeit des Massenbegriffes schließt folgende Beschränkungen ein. Die Massensumme eines abgeschlossenen Systems, nach irgend einem Körper des Sj^stems als Einheit gemessen, ist unveränderlich. Zwei Körper, die sich zu einem dritten als gleiche Massen ver- halten, verhalten sich auch untereinander ebenso.^) 4. Es ist ein Bedürfnis aller mit Gedächtnis ausgestatteten Lebewesen, daß deren Erwartung unter gegebenen Umständen erhaltangsgemäß geregelt sei. Den unmittelbaren und einfach- sten biologischen Bedürfnissen entspricht die psychische Organi- sation schon instinktiv, indem sie durch den Mechanismus der Association in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle die zweck- mäßige Funktionsbereitschaft herstellt. Wenn verwickelte Daseins- bedingungen eintreten, welche die Bedürfnisbefriedigung oft nur auf langen Umwegen gestatten, so kann nur ein reicher aus- gestattetes psychisches Leben diesen Bedürfnissen genügen. Die einzelnen Schritte des Umweges, mit den dieselben begleitenden Umständen als solchen, gewinnen dann ein mittelbares Interesse. Wir können jedes wissenschaftliche Interesse als ein mittelbares biologisches Interesse an einem Schritt des bezeichneten Um- weges auffassen. Mag nun ein Fall dem unmittelbaren bio- logischen Interesse beliebig nahe oder fern liegen, immer ent- spricht unserm Bedürfnis nur die den Umständen angemessene, richtige Erwartung. In Bezug auf die Richtigkeit der Erwartung machen wir in verschiedenen Fällen allerdings sehr ungleiche Ansprüche. Sind wir hungrig und finden wir überhaupt dort Nahrung, wo wir nach den Umständen dieselbe vermuteten, so sind wir von der Richtigkeit unserer Erwartung schon befriedigt. Erwarten wir aber nach der Elevation des Geschützrohres, nach Projektilgewicht und Pulverladung eine gewisse Wurfweite und weicht die wirkliche von der erwarteten nur unbeträchtlich ab, so kann hierin schon eine empfindliche Täuschung liegen. Wenn auf längerem Wege, durch mehrere oder viele Schritte ein Ziel zu •) Ebendaselbst S. 233 u. f. ; 29* 452 Si^n ^nd Wert der Naturgesetze. erreichen ist, so wird ein geringer Irrtum in der Bemessung der Größe und Richtung der einzelnen Schritte schon genügen, um das Ziel zu verfehlen. So können schon kleine Fehler mehrerer in eine Rechnung eingehender Zahlen das Endergebnis beträcht- lich fälschen.^) Da es sich nun in der Wissenschaft eben um solche Zwischenschritte handelt, welche in der Theorie oder Praxis (Technik) Verwendung finden, so wird es hier auf eine besonders genaue Bestimmung der Erwartung durch die ge- gebenen Umstände ankommen. 5. Mit dem Fortschritt der Naturwissenschaft ergibt sich in der Tat eine zunehmende Einschränkung der Erwartung, eine zusehends bestimmtere Gestaltung derselben. Die ersten Ein- schränkungen sind qualitativer Art. Ob die Momente A,B,Cy...y welche eine Erwartung M bestimmen, von der Wissenschaft etwa in einem Satz auf einmal bezeichnet werden können, oder ob diese Anweisung gibt, dieselben nacheinander herbeizuschaffen, wie dies z. B. durch eine botanische oder chemische analytische Tabelle geschieht, ist unwesentlich. Kann man, in qualitativ gleichen Fällen die einzelnen Qualitäten noch der Quantität nach unterscheiden, also jedem quantitativ bestimmten Komplex von Qualitäten ^i, B^^ Q, . . . eine ebenfalls quantitativ bestimmte Erwartung M^ zuordnen, so ist eine weitere Einschränkung er- zielt, deren Enge nur durch die erreichbare Genauigkeit der Messung und Beobachtung begrenzt ist. Auch hier kann die Einschränkung auf einmal oder successive stattfinden. Das letztere geschieht, wenn eine Einschränkung durch eine weitere ergän- zende Bestimmung noch auf einen kleineren Spielraum eingeengt wird. Im ebenen, konvexen, geradlinigen /z-Eck ist die Summe der Innenwinkel für den Euklidischen Raum {n — 2) -2/?; für das Dreieck (/z = 3) wird dieselbe 2R, wodurch sich jeder der 3 Winkel durch die Werte der beiden andern bestimmt. Diese engste Ein- schränkung beruht also auf einer ganzen Reihe von Bedingungen, die einander ergänzen, oder von welchen einige als grundlegend den andern erst einen bestimmteren Sinn geben. Ebenso ver- hält es sich in der Physik. Die Gleichung /7v/7'=konst. gilt für *) J. R. Maper fand auf Grund nur mäßig ungenauer Zahlen für das mechanische Äquivalent der Wärmeeinheit 365 statt 425. Sinn und Wert der Naturgesetze. 453 einen gasförmigen Körper von unveränderlicher Masse, für welchen p, V, T für alle Teile dieselben Werte haben, und nur bei hin- reichender Entfernung von den Bedingungen der Verflüssigung. Die Beschränkung, welche im Brechungsgesetz sina/sinß=7z liegt, wird weiter eingeengt durch die Beziehung auf ein be- stimmtes Paar von homogenen Stoffen, auf eine bestimmte Tem- peratur, auf eine bestimmte Dichte oder einen gewissen Druck, auf das Fehlen jeder magnetischen und elektrischen Potential- differenz innerhalb dieser Stoffe. Wenn wir ein physikalisches Gesetz auf einen bestimmten Stoff beziehen, so bedeutet dies, daß das Gesetz für einen Raum gelten soll, in welchem noch die bekannten Reaktionen dieses Stoffeslnachweisbar sind. Diese ergänzenden Bedingungen werden gewöhnlich durch den bloßen Namen des Stoffes gedeckt und verdeckt. Die physikalischen Gesetze, welche für den leeren Raum (das Vakuum, den Äther) gelten, beziehen sich eben auch nur auf bestimmte Werte der elektrischen und magnetischen Konstanten u. s. w. Durch An- wendung eines Satzes auf einen Stoff führen wir weitere Be- stimmungen (Bedingungsgleichungen) ein, gerade so, als wenn wir von einem geometrischen Satz sagen (oder auch stillschwei- gend verstehen), daß derselbe für ein Dreieck, für ein Parallelo- gramm oder für einen Rhombus gilt. Findet man einmal, daß ein Gesetz aufhört zu gelten unter Umständen, unter welchen dasselbe bisher immer als gültig befunden wurde, so treibt uns dies, nach einer noch anbekannten komplementären Bedingung des Gesetzes zu suchen. Das Auffinden derselben bedeutet stets eine wichtige Entdeckung. So wurde Elektrizität und Magnetis- mus durch die Anziehung und Abstoßung entdeckt, welche Körper gegeneinander offenbarten, die man als gegeneinander indifferent zu betrachten gewohnt war. Nicht nur die ausgesprochene Hypo- thesis allein, sondern auch die stillschweigend mitbegriffenen Bedingungen begründen eine geometrische und auch eine physi- kalische Thesis. Es wird gut sein, sich stets gegenwärtig zu halten, daß auch noch unbekannte Bedingungen (deren merk- liche Änderung uns bisher entgangen wäre) mitbestimmend sein könnten. 6. Die Naturgesetze sind nach unserer Auffassung ein Er- zeugnis unseres psychologischen Bedürfnisses, uns in der Natur 454 ^inn und Wert der Naturgesetze. zurecht zu finden, den Vorgängen nicht fremd und verwirrt gegenüber zu stehen. Dies kommt in den Motiven dieser Ge- setze, welche stets diesem Bedürfnis, aber auch dem jeweiligen Kulturzustand entsprechen, deutlich zum Ausdruck. Mytho- logisch, dämonologisch, poetisch sind die ersten rohen Orien- tierungsversuche. In der Zeit des Neuaufschwungs der Natur- wissenschaften, in der Periode Kopernikus-Galilei, welche nach einer überwiegend qualitativen, vorläufigen Orientierung strebt, ist Leichtigkeit, Einfachheit und Schönheit das leitende Motiv bei Aufsuchung der Regeln zur gedanklichen Rekon- struktion des Tatsächlichen. Die genauere quantitative Forschung zielt auf möglichst vollständige Bestimmtheit, auf eindeutige Bestimmtheit y wie sich dies schon in der älteren Entwicklungs- geschichte der Mechanik äußert. Häufen sich dann die Einzel- erkenntnisse, so macht sich das Bedürfnis nach Verminderung der psychischen Anstrengung, nach Ökonomie, Kontinuität, Be- ständigkeit, möglichst allgemeiner Anwendbarkeit und Brauch- barkeit der aufgestellten Regeln mächtig geltend. Es genügt, auf die spätere Entwicklungsgeschichte der Mechanik und eines jeden weiter fortgeschrittenen Teiles der Physik hinzuweisen. 7. Es ist sehr natürlich, daß in Zeiten geringer Schärfe der erkenntnistheoretischen Kritik die psychologischen Motive in die Natur projiziert und dieser selbst zugeschrieben worden sind. Gott oder die Natur strebt nach Einfachheit und Schönheit, dann nach strenger Gesetzmäßigkeit und Bestimmtheit, endlich nach Sparsamkeit und Ökonomie in allen Vorgängen, nach Erzielung aller Wirkungen mit dem kleinsten Aufwand. Noch in neuerer Zeit schreibt FresneP), wo er die allgemeine Anwendbarkeit der Wellentheorie der älteren Emissionstheorie gegenüber her- vorheben will, der Natur die Tendenz zu, viel durch die ein- fachsten Mittel zu erreichen. „La premiere hypothese a l'avan- tage de conduire ä des consequences plus evidentes, parce que l'analyse m^canique s'y applique plus aisement: la seconde, au contraire, presente sous ce rapport de grandes difficultes. Mais dans le choix d'un Systeme, on ne doit avoir egard qu'ä la 1) Fresnel, Memoire couronn^ sur la diffraction. Oeuvres. Paris 1866. T. I, p. 248. Sinn und Wert der Naturgesetze. 455 simplicit^ des hypotheses; celle des calculs ne peut-etre d'aucun poids dans la balance des probabilites. La nature ne s'est pas embarrassee des difficult^s d'analyse; eile n'a evite que la com- plication des moyens. Elle parait s'^tre propose de faire beau- coup avec peu: c'est un principe que le perfectionnement des sciences physiques appuie sans cesse de preuves nouvelles." 8. Die fortschreitende Verschärfung der Naturgesetze, die zunehmende Einschränkung der Erwartung, entspricht einer ge- naueren Anpassung der Gedanken an die Tatsachen. Eine voll- kommene Anpassung an jede individuelle, künftig auftretende, unberechenbare Tatsache ist natürlich unmöglich. Die vielfache, möglichst allgemeine Anwendbarkeit der Naturgesetze auf kon- krete tatsächliche Fälle wird nur möglich, durch Abstraktion, durch Vereinfachung, Schematisierung, Idealisierung der Tat- sachen, durch gedankliche Zerlegung derselben in solche ein- fache Elemente, daß aus diesen die gegebenen Tatsachen mit zureichender Genauigkeit sich wieder gedanklich aufbauen und zusammensetzen lassen. Solche elementare idealisierte Tatsachen- elemente, wie sie in der Wirklichkeit nie in Vollkommenheit an- getroffen werden, sind die gleichförmige und die gleichförmig beschleunigte Massenbewegung, die stationäre (unveränderliche) thermische und elektrische Strömung und die Strömung von gleichmäßig wachsender und abnehmender Stärke u. s. w. Aus solchen Elementen läßt sich aber jede beliebig variable Bewegung und Strömung genügend beliebig genau zusammengesetzt denken, und der Anwendung der Naturgesetze zugänglich machen. Dies geschieht in den Differentialgleichungen der Physik. Unsere Naturgesetze bestehen also aus einer Reihe für die Anwendung bereit liegender, für diesen Gebrauch zweckmäßig gewählter Lehrsätze. Die Naturwissenschaft kann aufgefaßt werden als eine Art Instrumentensammlung zur gedanklichen Ergänzung irgend welcher teilweise vorliegender Tatsachen oder zur mög- lichsten Einschränkung unserer Erwartung in künftig sich dar- bietenden Fällen.^) 9. Die Tatsachen sind nicht genötigt, sich nach unsern 1) Wärmelehre. S. 461 u. f. — Kleinpeter, Erkenntnistheorie. Leipzig 1905. S. 11—13. 456 Sinn und Wert der Naturgesetze. Gedanken zu richten. Aber unsere Gedanken, unsere Erwar- tungen, richten sich nach anderen Gedanken, nach den Begriffen nämHch, welche wir uns von den Tatsachen gebildet haben. Die instinktive Erwartung, welche sich an eine Tatsache knüpft, hat immer einen beträchtlichen Spielraum. Nehmen wir aber an, daß eine Tatsache genau unseren einfachen idealen Begriffen entspricht, so wird in Übereinstimmung hiermit unsere Erwartung auch genau bestimmt sein. Ein naturwissenschaftlicher Satz hat immer nur den hypothetischen Sinn: Wenn die Tatsache A genau den Begriffen M entspricht, so entspricht die Folge B genau den Begriffen N; so genau als A den M, so genau entspricht B den N. Die absolute Exaktheit, die vollkommen genaue ein- deutige Bestimmung der Folgen einer Voraussetzung besteht in der Naturwissenschaft (ebenso wie in der Geometrie) nicht in der sinnlichen Wirklichkeit, sondern nur in der Theorie. Aller Fortschritt zielt darauf ab, die Theorie mehr und mehr der Wirk- lichkeit anzuschmiegen. Wenn wir viele Brechungsfälle an einem Paar von Medien, auch quantitativ, beobachtet haben, so bleibt unserer Erwartung des zu einem bestimmten einfallenden Strahl gehörigen gebrochenen Strahls noch immer der Spielraum der Ungenauigkeit der Beobachtung und Messung. Erst nach Fest- setzung des Brechungsgesetzes und Wahl eines Wertes des Brechungsexponenten gehört zu einem einfallenden Strahl nur ein gebrochener Strahl. 10. Auf die Wichtigkeit, zwischen Begriff und Gesetz einer- seits und Tatsache anderseits scharf zu unterscheiden, wurde schon mehrfach hingewiesen. Der Oerstedtsche Fall (Strom und Nadel in einer Ebene) ist nach den vor O erste dt geltenden Begriffen absolut symmetrisch, während sich der tatsächliche Fall als unsymmetrisch erweist. Das circular polarisierte Licht zeigt in mehrfacher Beziehung das indifferente Verhalten des unpolarisierten Lichtes. Erst das genauere Studium enthüllt uns die zweifache „helikoidale Dyssymmetrie" desselben, und nötigt uns, die Tatsachen durch neue, dieselben vollständiger bezeich- nende Begriffe darzustellen. Werden unsere Vorstellungen über die Natur von Begriffen beherrscht, die wir für zureichend halten, und haben wir uns dementsprechend an Erwartungen von eindeutiger Bestimmtheit gewöhnt, so gelangen wir leicht Sinn und Wert der Naturgesetze. 457 dazu, den Gedanken der eindeutigen Bestimmtheit auch in nega- tiver Weise anzuwenden. Wo ein gewisser Erfolg, z. B. ein Bewegungserfolg, nicht eindeutig bestimmt ist, wie etwa bei drei gleichen Kräften, welche denselben Punkt, je zwei einen Winkel von 120° bildend, angreifen, werden wir das gänzliche Ausbleiben dieses Erfolges erwarten. Soll der in dieser Form angewandte „Satz des zureichenden Grundes" nicht irre führen (vgl. die eben angeführten Beispiele), so muß man sicher sein, daß alle mitbestimmenden Umstände bekannt sind. 11. Nur eine Theorie, welche die immer komplizierten und durch mannigfache Nebenumstände beeinflußten Tatsachen der Beobachtung einfacher und genauer darstellt, als dies durch die Beobachtung eigentlich verbürgt werden kann, entspricht dem Ideal der eindeutigen Bestimmtheit.^) Diese Schärfe der Theorie ermöglicht uns, aus derselben durch viele sich folgende gleichartige, oder auch durch kombinierte ungleichartige deduk- tive Schritte weitgehende Folgerungen zu ziehen, deren Über- einstimmung mit jener Theorie verbürgt ist. Die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung dieser Folgerungen mit der Erfahrung ist aber meist (wegen der möglichen Häufung der Abweichungen) eine viel schärfere Probe der Richtigkeit oder Verbesserungs- bedürftigkeit der Theorie, als die Vergleichung der Grundsätze mit der Beobachtung. Man denke etwa an die Newton sehen Grundsätze der Mechanik und die aus denselben abgeleiteten astronomischen Folgerungen. 12. Die allgemeinen, sich häufig wiederholenden Formen der Sätze der Theorie werden verständlich, wenn man dieselben unter dem Gesichtspunkt unseres Bedürfnisses nach Bestimmt- heit und insbesondere nach eindeutiger Bestimmtheit betrachtet. Alles gewinnt hierdurch an Klarheit und Durchsichtigkeit. Wenige Bemerkungen genügen für den Physiker. Physikalische Diffe- renzen bestimmen alles Geschehen, und die Verkleinerung der Differenzen überwiegt in dem Ausschnitt des Geschehens, welchen wir ins Auge fassen. Wo viele gleichartige Differenzen in der- selben Weise das Geschehen in einem Punkte bestimmen, ist das >) Vgl. die Ausführungen von Duhem (La Theorie phpsique, S. 220 u. f., -. 32^ u. f.). 458 ^^f^f^ ^^^ Wert der Naturgesetze. Mittel dieser Differenzen bestimmend. Die in so vielen Gebieten der Statik und Dynamik, der Wärme, Elektrizität u. s. w. zur An- wendung gelangenden Gleichungen von Laplace und Poisson besagen,^) und zwar die erstere, daß jenes bestimmende Mittel den Wert Null, die andere, welchen es sonst hat. Symmetrische Differenzen in Bezug auf einen Punkt bestimmen ein symme- trisches Geschehen in demselben, in besonderen Fällen einer mehrfachen Symmetrie aber ein Ausfallen des Geschehens. Die konjugierten Funktionen, welche die zusammengehörigen Scharen der orthogonalen Niveau- und Kraftlinien oder der Niveau- und Stromlinien u. s. w. darstellen, bestimmen in den Fällen ihrer Anwendung eine Symmetrie des Geschehens in den unendlich kleinen Elementen. Ein Größtes oder Kleinstes unter einer Menge von vielfachen benachbarten Möglichkeiten kann stets als unter einer Art von Symmetriebedingungen stehend aufgefaßt werden. Wenn die Differenzen bei jeder beliebigen kleinen Änderung einer Anordnung allseitig in demselben Sinne wachsen oder ab- nehmen, so bietet diese Anordnung immer in irgend einer Be- ziehung ein Maximum oder ein Minimum dar. Gleichgewichts- fälle, nicht allein mechanische und dynamische Gleichgewichts- "zustände sind in der Regel von dieser Art. An einem andern Orte wurde ausgeführt, daß bei dynamischen Gesetzen, wie dem Prinzip der kleinsten Wirkung u. a., welche in Form von Maximum- Minimumsätzen ausgesprochen werden, nicht das Maximum oder Minimum das Maßgebende ist, sondern vielmehr der Gedanke der eindeutigen Bestimmtheit.^) 13. Sind nun die Naturgesetze als bloße subjektive Vor- schriften für die Erwartung des Beobachters, an welche die Wirk- lichkeit nicht gebunden ist, wertlos? Keineswegs! Denn, wenn auch der Erwartung nur innerhalb gewisser Grenzen von der sinnlichen Wirklichkeit entsprochen wird, so hat sich erstere doch vielfach als richtig bewährt, und bewährt sich täglich mehr. Wir haben also mit dem Postulat der Gleichförmigkeit der Natur keinen Fehlgriff getan, wenn auch bei der Unerschöpflichkeit der Erfahrung die absolute Anwendbarkeit des Postulates nach 1) Wärmelehre. S. 117u. f. >) Mechanik, 5. Aufl. S. 419—421. — Petzoldt, Das Gesetz der Ein- deutigkeit. Vierteljahrschrift f. wissensch. Philosophie. XIX. S. 146 u. f. Sinn und Wert der Naturgesetze. 459 Schärfe, zeitlicher und räumlicher Unbeschränktheit sich nie wird dartun lassen, und wie jedes wissenschaftliche Hilfsmittel immer ein Ideal bleiben wird. Außerdem bezieht sich das Postulat überhaupt nur auf Gleichförmigkeiten, sagt aber über die Art derselben nichts aus. Im Falle einer Enttäuschung der Erwartung hat man also stets die Freiheit, statt der erwarteten Gleichförmig- keiten neue zu suchen. 14. Wer, wie der Naturforscher, das menschliche psychische Individuum nicht als ein der Natur gegenüberstehendes isoliertes Fremdes, sondern als einen Teil der Natur auffaßt, wer das sinnlich-physische und das Vorstellungsgeschehen als ein un- trennbares Ganze ansieht, wird sich nicht wundern, daß das Ganze nicht durch den Teil zu erschöpfen ist. Doch werden ihm Regeln, die sich im Teil offenbaren, die Vermutung von Regeln im Ganzen nahelegen. Er wird hoffen, daß, so wie es ihm gelingt, in einem kleineren Gebiet eine Tatsache durch die andere zu erläutern, auch nach und nach die beiden Gebiete des Physischen und Psychischen sich gegenseitig aufklären werden. Es handelt sich ja nur darum, die Ergebnisse der physikalischen und psychologischen Beobachtung im einzelnen genauer zum Zusammenstimmen zu bringen, als es schon geschehen ist; an der Beziehung beider im allgemeinen zweifelt niemand mehr. An zwei unabhängige oder nur in loser Beziehung stehende Welten kann man nicht mehr denken. Die Verbindung derselben durch ein unbekanntes Drittes (!) hat aber als Erklärung gar keinen Sinn; solche Erklärungen haben hoffentlich für immer allen Kredit verloren. 15. Die Entstehung der berührten Ansichten ist ja ganz ver- ständlich. Als der Mensch durch Analogie die Entdeckung machte, daß noch andere ihm ähnliche, sich ähnlich verhaltende Lebewesen, Menschen und Tiere bestehen, und als er genötigt war, sich zum klaren Bewußtsein zu bringen, daß er deren Ver- halten mit Rücksicht auf Umstände beurteilen müsse, die er nicht unmittelbar sinnlich wahrnehmen konnte, deren Analoga ihm aber doch in seiner besonderen Erfahrung bekannt waren, da konnte er nicht anders, da mußte er die Vorgänge in zwei Klassen teilen: in solche, die allen, und in andere, die nur einem wahr- nehmbar waren (S. 6). Das war für ihn die einfachste und zu- 460 Sinn und Wert der Naturgesetze. gleich die praktisch hilfreichste Lösung. So wurde ihm zugleich der Gedanke des fremden und des eigenen Ich klar. Beide Gedanken sind untrennbar. Wer durch irgend einen Zufall ohne lebende Genossen aufwachsen könnte, würde seine dürftigen Vorstellungen schwerlich den Empfindungen gegenüberstellen, würde nicht zum Gedanken des Ich gelangen, dieses nicht der Welt entgegensetzen. Alles Geschehen wäre für ihn nur eines. Haben wir aber einmal den Ich-Gedanken gefaßt, so gelingt es uns leicht, die Abstraktionen des Phpsischen und Psychischen, der eigenen und fremden Empfindung, der eigenen und fremden Vorstellung zu bilden. (Vgl. S. 9.) Beide Betrachtungsweisen sind für eine umfassende Orientierung förderlich, und beide sollen benutzt werden. Die eine führt zur Beachtung der Einzel- heiten, die andere dazu, den Blick aufs Ganze nicht zu verlieren.^) 16. Wenn die Welt durch Abstraktionen zersägt und zer- schnitten ist, so erscheinen diese Teilstücke so luftig und so wenig massig, daß Zweifel auftreten, ob sich die Welt aus den- selben wieder zusammenleimen lassen wird. Man fragt wohl auch gelegentlich humoristisch-ironisch, ob so eine Empfindung oder Vorstellung, die keinem Ich angehört, allein in der Welt spazieren gehen könnte? So waren ja auch die Mathematiker, nachdem sie die Welt in Differentiale zerteilt hatten, ein wenig in Angst, ob sie die Welt aus solchen Nichtsen wieder ohne Schaden würden zusammenintegrieren können? Ich möchte auf obige Frage antworten: Gewiß wird eine Empfindung nur in einem Komplex auftreten; daß dieser aber immer ein volles, waches, menschliches Ich sei — es gibt |a auch ein Traum- bewußtsein, ein hypnotisches, ein ekstatisches, ein tierisches Be- wußtsein verschiedener Grade — möchte ich in Zweifel ziehen. Selbst ein Körper, ein Stück Blei, das Gröbste was wir kennen, gehört immer einem Komplex und schließlich der Welt an; es existiert nichts isoliert.^) So wie es demjPhysiker freistehen muß, die materielle Weh zum Zwecke der wissenschaftlichen Unter- ») Vgl. W.Jerusalem, Einleitung in die Philosophie. 2. Aufl. 1903. S. 1 18 u. f. („Monismus des Geschehens".) *) Vgl. die Kontroverse zwischen Ziehen (Zeitschr. f. Psychologie u. Physiologie der Sinnesorgane. Bd. 33, S. 91) und Schuppe (ebendaselbst. Bd. 35, S. 454). — Analyse. 4. Aufl. S. 281. Sinn und Wert der Naturgesetze. 461 suchung zu analysieren, in Teile zu zerlegen, ohne daß er des- halb den allgemeinen Weltzusammenhang vergessen müßte, so muß auch dem Psychologen dieselbe Freiheit gewährt werden, wenn er überhaupt etwas zu stände bringen soll. (Vgl. S. 142.) Die Empfindung, kann man in des Cynikers Demonax Redeweise sagen, existiert so wenig allein, als irgend etwas anderes. — Introspektiv finde ich mein Ich durch den Komplex der kon- kreten Bewußtseinsinhalte erschöpft. Wenn man zuweilen meint, neben diesem doch noch etwas wahrzunehmen, so möchte dies an Folgendem liegen. Mit dem abstrakten Gedanken des eigenen Ich ist eng verbunden jener der fremden Ich und des Unter- schiedes beider, ferner der, daß sich das Ich nicht indifferent gegen seinen Inhalt verhält. Man frage sich aber, ob diese abstrakten Gedanken nicht auch nur konkreten Bewußtseins- inhalt bergen und decken, und ob dieselben durch reine Intro- spektion überhaupt hätten gewonnen werden können? An der physikalisch-physiologischen Unterlage des Ich ist aber gewiß noch beinahe alles zu erforschen. Diese ist keineswegs Nichts neben dem augenblicklich lebendigen Inhalt des Bewußtseins, der ja immer nur einen winzigen Teil ihres Reichtums vorstellt. 17. Auch die herkömmliche Meinung, daß zwischen dem Ich und der Welt, ebenso zwischen den verschiedenen Ich unüber- schreitbare Schranken bestehen, ist psychologisch begreiflich. Wenn ich etwas empfinde oder mir vorstelle, so scheint dies die Welt und auch die andern Ich gar nicht zu beeinflussen. Aber es scheint nur so. Schon das leise Mitspielen meiner Muskel gehört der Welt und jedem aufmerksamen Beobachter an. Noch mehr gilt dies, wenn meine Vorstellungen in Rede und Handlung ausbrechen. Sieht Jemand Blau und ein anderer eine Kugel, so kann daraus allerdings kein Urteil resultieren: Die Kugel ist blau. Es fehlt hierzu „die synthetische Einheit der Apperzeption", mit welchem schönen Wort man diese triviale Tatsache bezeichnet.^) Beide Vorstellungen müssen eben in Reaktionsnähe kommen, ganz ähnlich, wie die Körper im Gebiete der Physik. Solche Ausdrücke lösen aber kein Problem, sondern sind vielmehr ») Wie nun gar hieraus die Unveränderlichkeit des Ich folgen soll, ist mir unerfindlich. 462 Sinn und Wert der Naturgesetze. geeignet dasselbe zu decken oder zu verdecken. Das Ich ist kein Topf, in welchen das Blau und die Kugel nur hineinzu- fallen brauchen, damit ein Urteil resultiere. Das Ich ist mehr als eine bloße Einheit, und schon gar nicht eine Herbartsche Einfachheit. Dieselben räumlichen Elemente, welche sich zur Kugel schließen, müssen blau sein, und das Blau muß auch von den Orten als verschieden, als trennbar erkannt werden, damit ein Urteil möglich sei. Das Ich ist ein ps5>chischer Organismus, dem ein physischer Organismus entspricht. Es ist doch schwer zu glauben, daß dies ewig ein Problem bleiben müßte, daß Psychologie und Physiologie zusammen daran nichts mehr auf- klären könnten. Die Introspektion allein, ohne Hilfe der Physik, hätte nicht einmal zur Empfindungsanalyse geführt. Die Philo- sophen überschätzen einseitig die introspektive, die Psychiater oft ebenso einseitig die physiologische Analyse, während zu einem ausgiebigen Erfolg die Vereinigung beider unentbehrlich ist. Bei beiden Gruppen von Forschern scheint das von der primitiven Kultur herstammende, nicht vollständig erloschene Vor- urteil mitzuwirken, wonach Psychisches und Physisches nun einmal durchaus inkommensurabel ist. Wie weit die angedeutete Untersuchung führen wird, ist vorläufig nicht abzusehen. Ist das Ich keine von der Welt isolierte Monade, sondern ein Teil der Welt und mitten im Fluß derselben darin, aus dem es hervorgegangen und in den zu diffundieren es wieder bereit ist, so werden wir nicht mehr geneigt sein, die Welt als ein unerkennbares Etwas anzusehen. Wir selbst sind uns dann nahe genug und den andern Teilen der Welt verwandt genug, um auf wirkliche Erkenntnis zu hoffen. (Vgl. S. 11.) 18. Die Wissenschaft ist anscheinend als der überflüssigste Seitenzweig aus der biologischen und kulturellen Entwicklung hervorgewachsen. Wir können aber heute nicht mehr zweifeln, daß dieselbe sich zum biologisch und kulturell förderlichsten Faktor entwickelt hat. Sie hat die Aufgabe übernommen, an die Stelle der tastenden, unbewußten Anpassung die raschere, klar bewußte, methodische zu setzen. Der verstorbene Physiker E. Reitlinger pflegte pessimistischen Anwandlungen gegenüber zu sagen: „Der Mensch trat in der Natur auf, als dessen Da- seinsbedingungen, aber noch nicht dessen Wohlseinsbedingungen Sinn und Wert der Naturgesetze. 463 gegeben waren." In der Tat soll er sich die letzteren selbst schaffen, und ich glaube, er hat sich dieselben geschaffen. Dies gilt wenigstens heute schon von den materiellen Wohlseins- bedingungen, wenn auch vorläufig leider nur für einen Teil der Menschen. Wir können von der Zukunft noch Besseres er- hoffen.^) Sir John Lubbock^) spricht die Hoffnung aus, „daß sich die Segnungen der Zivilisation nicht nur auch auf andere Länder und andere Völkerschaften erstrecken werden, sondern daß sie auch in unserem eigenen Vaterlande nach und nach zur allgemeinen, gleichmäßigen Geltung kommen, so daß uns nicht mehr stets Landsleute vor die Augen treten, die in unserer Mitte ein schlimmeres Leben führen, als die Wilden, und welche weder die Vorteile und wahren, wenngleich einfachen Freuden genießen, die das Leben der niederen Rassen schmücken, noch die weit höheren und edleren Annehmlichkeiten sich zu verschaffen wissen, welche im Bereich des zivilisierten Menschen liegen". Bedenken wir die Qualen, welche unsere Vorfahren unter der Brutalität ihrer sozialen Einrichtungen, ihrer Rechts- und Gerichtsverhält- nisse, ihres Aberglaubens, ihres Fanatismus zu erdulden hatten, erwägen wir die reichliche Erbschaft der Gegenwart an diesen Gütern, stellen wir uns vor, was wir davon noch in unseren Nachkommen miterleben werden, so ist uns dies ein genügend mächtiger Antrieb, endlich auch an der Verwirklichung des Ideales einer sittlichen Weltordnung mit Hilfe unserer psycho- logischen und soziologischen Einsichten eifrig und kräftig mit- zuarbeiten. Haben wir aber einmal eine solche sittliche Ordnung geschaffen, so wird niemand sagen können, daß sie nicht in der Welt sei, und niemand wird mehr nötig haben, sie in mystischen Höhen oder Tiefen zu suchen. *) E. Metschnikoff, Studien über die Natur des Menschen. Eine opti- mistische Philosophie. Leipzig 1904. 2) J. Lubbock, Die Entstehung der Zivilisation. Jena 1875. S. 399. Sachregister. Abhängigkeit der Erlebnisse vonein- ander 7. — , funktionale, der Elemente vonein- ander 11, 15, 276. — , Gegenseitigkeit 279. — der Maße voneinander 372. — , physiolog.-psycholog. 18. — , qualitative 204. — , quantitative 204. — der Reaktionen voneinander 135. — , simultane 279. — , Umkehrbarkeit derselben 279. — , unmittelbare 278, 438, 443. — , vermittelte 278, 439, 443. Abstraktion 132, 137, 192, 224, 455. — und Aufmerksamkeit 132, 306. — durch Vergleichung 139, 313. — , ein Wagnis 140, 315. Abulie 65. Ähnlichkeit 220. Algebra 222, Analogie 215, 220. — , Beispiele 227. — bereichert die Vorstellung 226. — , Definition 221. — als Methode 229. — , nicht logisch 225. — , psychologisch begründet 226. — , "Wert der unvollständigen 230. Analyse 238. — und Hypothese 238, 270. — als Methode 257, 267. — , nötige Vorsicht 262. Angeborenes 33, 34, 280. — , Kategorien 281. — , Verstandesbegriffe 280. Anisotropie, physik.-physiol. 447. Anpassung, begriffliche 166. — der Gedanken aneinander 3, 165, 173. — der Gedanken an die Tatsachen 3, 165. — , instinktive 165. — durch Reflexe 1. — , Vorstellungen 1. Anschauung 150, 315. — , Hilfsmittel derselben 151. — , Wert 249. Apperception, Einheit der 461. Arbeit, organisierte 78. Arbeitshypothesen 143. Association 31, 197. — , Analyse und Kombination 36. — , biolog wichtig 31. — , Gesetz der Gleichzeitigkeit 37. — , irreführend 110. — , nicht angeboren 33. — , permanent 111. — bei Tieren 32. — , Zentren der 49. Astronomie, Entwicklung 287. — , Ursprung 101. Aufmerksamkeit 22, 63, 132, 431. — , Phase der 431. — und Wille 64. Automaten 24, 29. Sachregister. 465 Begriff 22, 114, 133. — , kein Augenblicksgebilde 126. — , Beispiele 134. — , nach Beruf verschieden 130. — , biolog. Funktion 128. — , Definition 129. — und Hallucination 161. — , kindlicher 131. — , Menschheit 141. — , potentielle Anschaulichkeit 135. — , psychologisch 126. — und Sinnlichkeit 144, 162. — , höchste Substantialität 136. — und Tatsache 119. — und Wort 128. Beobachtung, ein Mittun 430. — als Quelle der Erkenntnis 313. Besessenheit 68. Beständigkeit 275. — als Postulat 276, 282. — der Verbindung 275. Beweis 180. Bewußtsein 43. — , ein Zusammenhang 44. Buchstabenschrift 83. Daguerreotypie 297. Deduktion und Induktion 318. — , Wert der 307. Definition 114, 129. Denken, Freude am 168. — , naturwissenschaftliches 3. — , philosophisches 3. — , technisches 2, 18. — , vulgäres 2. — , wissenschaftliches 2. Determinismus, Indetermin. 282. Differentialgleichung 279, 455. Dimensionen, ungleichwertig 446. Ding an sich 10. — , vulgäres 10. Dualismus 6. Dpssymmetrie, helikoidale 228, 456. Echo 100. Eindeutigkeit 285, 438, 457. Mach, Erkenntnis und Irrtum. Elektrizität 285. Eleaten 168. Element 8. Empfindung 21, 460. — , irreführend 110. Energie, spezifische 158. Entdeckung 180. — und Erfindung 255. — durch das Experiment 262. Ererbt und erworben 34. Erinnerung 1, 20, 152. Erkenntnis, biolog. Bedeutung 108. — u. Irrtum, dieselbe Quelle 116, 125. Erklärung 180. — eines Gebietes durch das andere 219, 228, 290, 462. Erraten 140, 194, 290, 314. Erscheinung 10. Escamoteur 119. Ethik, primitive 104. Experiment, absichtl. Erweiterung d. Erfahrung 186. Beseitigung der Störung 206. blindes 213. Einschränkung d. Untersuch. 203. instinktives 184. Kompensation 210. Nullmethoden 211. physisches 201. Substitution 209. Summierung der Effekte 208. übersichtliche 212. Vereinfachung 206. Wert des 183. durch Zufall eingeleitet 201. zusammenhängende Umstände pa- rallel 208. — , Zusammensetzung d. Effekte 211. Fehlerquellen 123, 301. Fernwirkung 178, 236, 441, 442. Fetisch 95. Flatus vocis 126, 132, 162. Forschung, ideales Ziel 16. Frosch, Intelligenz 51. Funktionsbegriff 278. 30 466 Sachregister. Gedächtnis 31, 47. — , allgem. organ. 49. — , partielles 47. — , periodisches 48. — der Tiere 32. Gedankenexperiment 42, 186. — , didaktischer Wert 194. — fördert psych. Entwickl. 195, 196. — folgt der Erfahrung 188, 193. — , geringe Kosten 187. — in der Mathematik 197. — und Paradoxes 196. — variiert Gleichgültiges 188. kontinuierlich 191. Maßgebendes 189. Gefühl 22. Gegenwirkung 218. Geometrie 353. Abhäng. d. Maße voneinander 372. Aussichten 421. Begriffe 382, 385. berufsmäßige 401. Entfernung 377. Erfahrung über Körper 353. Fläche 358. Funktion des Maßes 419. Funktion der Zahl 419. Gedankenexperiment 368, 383. Grundlagen 403. Idealisierung der Erfahrung 369. Induktion 386. starrer Körper 356. Körperauszählung 360, 380. Länge 359. Lehrsätze 386. Maß 357. Mathematiker u. Naturforscher 415. Nichteuklidische 407. primitive 363, 399. Quellen der 380, 384. allgem. Reformbedürfnis 420. Richtung 376. Satz des Ppthagoras 374. räumliche Substanzialität 355, 393. Symmetrie 379. Geometrie, mehrere Syst. mögl. 415. — , theoret., prakt. 382. — , Volumen 358. — , Volumenerhaltung 375. — , Winkel 377. Geotropismus 52, 53, 298. Geschichte und Zufall 302. Gesetz der großen Zahlen 283. Gleichheit, physikalische 335. Hallucination 116, 158, 196, 197. Harmonie prästabil 7. Hieroglyphen 83. Hirnrinde 44. Hypnose 124. Hypothese, Abneigung Newtons 236. — und Analyse 238. — , Anforderungen an die 240. — , beschreibende 243. — , Definition 235. — , erfahrungserweitemd 234, 244. — , glückliche 243. — , instinktive 232. — in der Mathematik 250. — , notwendige und zufällige Elemente 347. — , selbstzerstörend 227, 248. — , wissenschaftliche 232. Ich, engeres 6. — , weiteres 9. — und Welt 65, 459 u. f. — , primäres 66. — , sekundäres 67. — , mehrfaches 68. — , rudimentäres 69. Ideal, wissensch. 179. Idealisierung 192, 391. Ideen, Analogie 215. — , experimentelle 214. — , Extreme 217. — , Gegensatz 216. — , Gegenwirkung 218. — , Kontinuität 216. — , Verallgem. u. Einschränk. 215, 217. Sachregister. 467 Individualität, psychische 66, 70. Induktion 304. — , mysteriös 314, 319. — , unvollständige 309, 311. — , unzureichend 312. — , Vermittlung durch 310. — , Vervollständigung 311. — , vollständige 308. Industrie 79. Infinitesimalrechnung 225, 311, 360. Inquisition 98. Instinkt und Gedächtnis 57. — , als Reflexkette 57. — , Variation des 58. Jagd 74. Kjökkenmöddings 75. Kleidung 75. Konflikt der Gedanken 166. Kontinuität 223. Kontrast mit Instinktivem 273. Körper 148. — , Verhalten gegen Körper 76. Kosmogonie 154. Kritik, Eleaten 168. — , Geometrie 169. — , Mathematik 169, 197. — , Scholastik 169. — , Sophisten 168. Krümmungsmaß 398. Kunst 85. Kunstleistung des Forschers 319. Leben 24. — , ein Brand 50. Licht, Messung durch 445. Logik 181, 305. — , nicht nutzlos 307. — , symbolische 182. Luxus 80. Maß 357. Mengenlehre 333. Menschenopfer 96. Messung 334. Methode, analyt., synthet., apagog. 257. — der Begleitveränderung 284. — der Differenz 285, 299. — , heuristische 199. — der Übereinstimmung 285, 299. — der Variation 17, 183. Mneme 45, 49. Monismus des Geschehens 460. Mythen über die Natur 99, 233. — , historische 103. Naturgesetze 449, 454. Naturwissenschaft, antike 87. Neugier 73. Nominalismus 126. Occasionalismus 7. Ökonomie und Logik 176. Organempfindung 61. Organ. Prozesse associativ 61. Organismen, gemeinsame Züge 56. Ozon 296. Paradoxie 176, 196, 264. Pasigraphie 83. Perioden des Organismus 48, 160, 429. Perpetuum mobile 272. Permanenz und Differenzierung 112, 136, 164. Phantasie 153. — in Begriffen 156. — , künstlerische 157. — in der Wissenschaft 154. Phantasmen 117, 159, 196, 197. — , widerspr. nicht d. Associat.-Gesetz 159, 197. Philosophie, primitive 106. Physik, primitive 106, 117. Physisches und Psychisches 9, 20. Poesie 99. Problem 251. — , analyt. Lösung 267. — , Beseitigung von Vorurteilen 264. 30* 468 Sachregister. Problem, Beachtung neuer Umstände 268. — , Nacherfinden 252. — und Paradoxie 264. — , spnthet. Lösung 266. — , Vergessenes suchen 252. — , Vernichtung des 265. — und Zufall 251. Psychische Elemente nicht isoliert 23, 62, 109. Psychologie, phpsiolog. 11, 462. — , introspektive 20, 462. Pythagoras, Satz des 306, 374. Qualität 320. — , Ausschaltung der 149. Quantität 321. — , Spezialfall der Qualität 322. Quipu 83. Raum, anisotrop 340. — , Anpassungsprodukt 345. — , Bewegung, gemeinsam. Band 342. — der Blinden 342. — von mehreren Dimensionen 395. — , Generalsinn 342. — , geometrisch 337, 351. — , haptisch 339. — , hpperphpsikalisch 443, 446. — , inhomogen 340. — , intelligibler 447. — und Körper 434, 439. — und Lokomotion 347. — , metrisch 343. — , optisch 337. — , physiologisch 337. — , phpsiolog. Theorie 349. — anderer Sinne 341. — , teleologisch 344. — , Unerschöpflichkeit 348. — und Vakuum 441. Raumanalogien 392. — , Farbe 392. — , Störung der 394. — , Ton 393. — , Zeit 393. Raumanschauung, individuell 390. Raumbegriff, Entwicklung 439. — , gemeinsam 390. Räumliche Abhängigk., vermittelte 439. Realismus 126. Rechenmaschine 328. Rechnen, indirektes Zählen 329. Reflexkette 57. Regulativ,negatives, der Forschung 15. Religion, primitive 104. Schein und Wirklichkeit 8. Schrift 81. Seele, Gegenstands- 94. — , wissenschaftl. Hypothese 27. — , Schatten- 92. — , teilbar 51. Seelenblind 45, 46. Seelentaub 45. Selbsterhaltung 50. Selbstordination 57. Selbsttätigkeit d. Beschreibenden 317. — des Forschers 316. Sinne, Empfindlichkeit 146. Sinnengedächtnis 159. Sittliche Ordnung 463. Sklaverei 79. Solipsismus 9. Spiegelbild 100. Spiele, intellektuelle 170. Sprache 81, 113. — , internationale 83. Sprachstörung 45. Stabilisierung von Erfindungen 76. Stabilität der Gedanken 284. — der Tatsachen 284. Statistik 28. Strafrechtspflege 122. Substanzbegriff, kritischer 148. Substanzialität, räumliche 355, 393. — , zeitliche 393, 433. Superposition und Isolation 203. — der Phasen 272. — der Strahlen 272. Syllogismus 304. Sachregister. 469 Technik 85. — , Philosophie der 146. Technologie 76. Theorie 457. Tiere 24, 26, 27, 56. — , enger Interessenkreis 185. — , Psychologie der 32—35, 51—57, 71—74. — und Wilde 101. Topologie 344. Totem 83. Tradition 74. Traum 92, 117. Tropismen 52, 53, 298. Umgrenzung ^8—10, 18, 116, 323. Umkehrung des Gedankenweges 261, 317. Urteil 112. — , intuitiv 114. Urzeugung 299. Vakuum 440. — , ein Körper 444. — , unvorstellbar 440. Variationsrechnung 225. Vergleichung 313. — fördert die Abstraktion 138, 139, 313. Vorstellung 11, 22. — , frei steigende 159. — , typische 115, 127. — , nicht übertragbar 141. Vorstellungsverlauf, Typen 38. — , Erinnerung 40. — , Nachdenken 40. — , freie Phantasie 39. — , künstlerische Phantasie 39. Wachen und Traum 92, 117. Waffen 77. Wahl 64. Wahr und wahrscheinlich 122. Wahrnehmung 21. Wampun 83. Wärmeleitungstheorie 228. Welt, Maschine und Organismus 443. Weltansicht, natürliche 5. Weltorientierung 3. Werkzeuge 77. Wille 23. — und Association 59. — und Erinnerung 25. — und Reflex 59. — und Wahl 64. Wissen und Erinnerung 195. Wissenschaft, Ideal der 179. — als Instrument 455. — , primitive 106. — , sozial 290. — , Ursprung 84. Wohnung 75. Wortaberglaube 90. Zahlbegriff 324. — , potentielle Anschaulichkeit 326. — , Definition 326. — , Entwicklung 330. — , empirische Grundlage 329. Zahlen, Kulturgeschichte 327. — , Ordnungsprinzip 326. — , Unterschiedzeichen 327. Zahlenkontinuum 334. Zahlvorstellung 323. Zählweisen, Äquivalenz der 329. Zauberei, Hexerei 89. Zeit, physiologische 423. — , Anschauung 424. — und Raum, physik. Abhängigkeit 434, 441, 446. Zeitanschauung, individuell 433. Zeitbegriff, übertragbar 433. Zeitempfindung, biolog. wichtig 425. Zeitliche Abhängigkeit, Typisches der ■ 435. , unmittelbar 438. — Reproduktion 426. Zufall, verdeckte Regelmäßigkeit 251, 283. Namenregister. Abel 265. Aepinus 292. d'Alembert 29, 174, 267. Ampere 166, 206, 293 bis 296, 447. Anschütz 151. Apelt 137—140, 281, 308, 312, 314. Appert 300. Apuleius 90. Arago 201, 215, 267, 295. Archimedes 87, 262, 310, 383. Archytas 29, 87, 288, 352. Argand 332, 396. Aristarch 288, 352. Aristoteles 4, 80, 221, 284, 300, 304, 439, 440. Augustinus 352. Austin 450. Autenrieth 35. Avenarius 13. Babbage 328. Bacon 246, 284. Baumbach 94. Becker 400. Becquerel 215. Beneke 169, 182, 281, 305, 387, 421. Bennet 214. Bentlep 236. Bergerac 82. Berkeley 126. Bernard, Cl. 202. Bemoulli, Jac. 283, 311, 312. Bessel 391, 421. Bethe 55. Biedermann 235. Biot 335. Black 175, 178, 193, 194. Boltzmann 237, 301. Bolyai 391, 406—420. Boole 113, 182. BorelH 29. Bourdeau 79. Boyle 201, 271, 440. Bradley 298. Brasch 10, 421. Brentano 389. Bretschneider 256, 257. Brewster 205, 267. Bridgman, L. 81, 432. Brown, S. 202. Bücher 78, Bunsen 206. Buttel-Reepen, v. 74. Campbell 372. Cantor, G. 333. Cantor, M. 85, 324, 358, 361, 374. Cardanus 100, 101, 121. Carnot, S. 175, 176, 193, 196, 229, 273. Cavalieri 311, 361, 362. Chladni 213. Clausius 176, 178, 196. Clifford 416. Colozza 202. Comte, A. 99. Coulomb 166, 242, 292. Couturat 182, 225, 333. Crookes 214, 217. Cuvier 177. Czuber 329. Daguerre 297. Darwin 4, 56, 110, 116, 177, 178. Decremps 119—121. De la Rive 297. Delboeuf 406. Demokrit 440. Demonax 171, 461. Desargues 224. Descartes 4, 6, 28, 118, 178, 179,222,231,238, 239, 265, 314, 316, 348, 351, 381, 391, 440. Detto, C. 49. Diamandi 150. Diderot 29, 343. Diodor 75, 97. Diogenes Laertius 257. Driesch 27. Drobisch 181. Droz 29. Namenregister. 471 Dubois-Repmond 12. Dufay 216, 292. Du Hamel 298. Duheml78, 179, 188,202, 244, 267, 293, 388, 409, 457. Dulong 206. Dusch 300. Dvorak 424. Ebbinghaus 427. Edison 255. Eisenlohr 358. Engel 404, 406, 410. Ennemoser 68, 90. Epikur 440. Erb, H. 420, 421. Erb, K. A. 421. Erman 91, 154. Eualthus 169. Eudemus 363. Euklid 169, 222, 223, 256, 257, 264, 306, 310, 337, 338,366—369,373,378, 379, 383, 401—418. Euler 7, 166, 190, 267, 337, 396. Faber 122. Pack 329. Faraday 118, 178, 201, 206, 209, 213, 214, 218, 227—229,242,267,293, 295, 296, 442—444. Fechner 90, 159, 256, 301, 446. Feddersen 147, 211. Fizeau 155, 212, 214. Flournoy 241. Fontana 64. Forel 55, 150. Foucault 206, 212, 214, 298. Fouillee 24. Fourier 228, 290, 420. Franklin 155, 156. Fraunhofer 213, 298. Fresnel 118, 157, 196, 205, 242, 244, 245, 248, 317, 444, 454. Fries, J. F. 143, 169, 181, 281, 283. Fulton 261. Galilei 2, 4, 138—140, 155, 166, 173, 187—194, 201, 206, 208, 224, 227, 246,253—255,262,267, 269, 273, 289, 310, 314, 316, 317, 332, 333, 393, 441, 454. Galvani 201, 298. Gauß 360, 365, 381,391, 397, 399, 402, 403, 407, 409, 410, 415, 416, 421. Gay-Lussac 300, 335. Geiger, L. 82, 277. Gerhardt 360, 361, 369, 371. Gerken 387. Gilbert 224, 291. Giordano 360, 369, 370. Goltz 45, 51, 52. Gomperz, H. 127. Gomperz, Th. 168. Gow, J. 363, 364. Graefe 350. Graeser 74. Grassmann 182, 222, 287, 332. s'Gravesand 205. Grillparzer 38. Grimaldi 169, 201, 244, 245, 271, 298. Groos 62, 170. Gruithuisen 158, 190. Güldin 362. Guericke 291, 440, 441, 444. Haberlandt 56, 299. Haddon 85. Haeckel 14. Hall 211. Hamilton 332. Hankel 264, 364, 367. Hecker 68. Heine 161. Heinrich 215. Helmholtz 212, 329, 335, 361, 398, 415, 421. Helmont, van 300. Herbart 12, 88, 402, 447, 462. Hering, E. 14, 49, 61, 65, 264, 337, 341, 345, 346, 349, 430. Herodot 97, 232, 302, 352, 358, 363. Heron 29. Herschel, J. F. W. 208, 213, 214, 227, 228, 277, 284, 291. Hertz 1 18, 229, 230, 237, 250, 296, 298, 444. Hepmans 14. Hubert 402. Hillebrand 240, 247, 338. Hipparch 288. Hirn 209. Hobbes 43. Hoff ding 13, 14, 427. Hoffmann 98. Holder 360, 387. Hooke201,207,212,214, 244, 246, 270, 272, 291, 298. Hoppe 220. Horselep 237. Houdin 119, 120. Hume 280. Hupgens 156, 157, 189, 207,227,231,243—245, 267,270—273,289,291, 317, 371, 441. 472 Namenregister. Inaudi 150. James, W. 38, 61, 252, 341, 427. Jerusalem 38, 40, 81, 115, 432, 460. Jevons 213, 220, 240, 243. Jones, B. 228. Joule 175, 194, 209, 210, 218. Kahlbaum 297. Kant 280, 281, 305, 315, 344, 350, 385, 421. Kapp 146. Keibel 127. Kekule 161. Kempelen 29, 30. Kepler 139, 152, 156, 157, 166, 169, 177, 222, 224, 247,254,255,288—291, 314, 316, 317, 348, 362. Kerr 214. Kessel 124. Kircher 124. Kirchhoff 193, 287, 298, 314, 450. Klein, F. 265, 333, 416. Kleinpeter 455. Knight 52, 298, 299. Kolumbus 232, 233. König 156, 255. Kopernikus 190,224,227, 288, 289, 441, 454. Kosak 400. Koster 350. Kreibig 64. Kreidl 149. Kromann 386, 387. Kronecker 329, 399. Kulke 161. Kundt 209, 217. Kunze 312. Lactantius 352. Lagrange 225. Lamarck 177. Lambert 404, 406, 407, 414. Lamettrie 28, 29. Lampa 29. Lange, L. 440, 442. Langley 147. Lanner, A. 325. Laodamas 256, 257. Laplace 283, 458. Lavoisier 171. Lea 98. Legendre 409. Leibniz 4, 178, 182, 225, 265,328,360,369—371, 373, 420, 445, 447. Le Monnier 205. Le Sage 241. Leukipp 440, Leverrier 233. Licius 122. Lie 416. Liebig 297, 319. Lippershey 255. Lippich 211, 217. Lissajous 212. Listing 344. Lobatschefskij 391, 406, 409—420, 445. Loeb 53, 54, 57, 348, 368. Lordat 46. Lorenz 257. Lotze 346. Lubbock 86, 105, 463. Lucian 39, 90, 171. Lyell 177. Malus 157, 242, 245, 298. Mann 182, 264. Marci, M. 271. Marep 151. Marignac 297. Mariotte 335. Marsh 213. Martius 89. Marty 170. Marum, van 296. Mason, O. 77. Massieu 324. Maupassant 73. Mauthner, F. 82. Maxwell 118, 177—179, 209, 220, 229, 230, 296, 442, 444. Maiper, R. 175, 176, 194, 196, 298, 452. Menger, A. 26, 81. Mersenne 262. Metschnikoff 463. Mepnert 44, 67. Mill 240, 299, 304, 305, 313, 450. Möbius 35. Morgan, L. 32, 35, 70 bis 73, 185. Morin 211. Moser 297. Müller, J. 60, 61, 158, 197, 264, 319, 337. Müller, H. 56. Münsterberg 61, 432. Munk 45. Mupbridge 151. Naville 250. Needham 300. Nemec 299. Newton 4, 124, 140, 143, 156,173—178,189,190, 205—207,212,217,225, 231,236—239,240,245 bis 249, 259, 270—272, 289, 291, 294, 310, 314 bis 317, 434, 441—444, 457. Noire 82. Noll 299. Oelzelt-Newin 35, 159, 282. Namenregister. 473 Oerstedt 215, 292—294, 296, 456. Ofterdinger 264. Oppel 424. Ostwald 14, 302. Palägyi 446. Panum 264. Pascal 207, 269, 328, 440. Pasch 402. Paschen 147. Pasteur 300, 302. Pauli 430. Pearson 450. Peltier 218. Petit 206. Petronius 90. Petzoldt 9, 284, 437, 458. Phillipp 195. Philolaus 288. Pietzker 400. Pisko 195. Plateau 202, 338, 424. Piaton 4, 168, 195, 222, 256, 257, 261, 270, 317, 318. Playfair 174. Plutarch 172. Poincare 179. Poinsot 189. Poisson 458. Popper 80, 81. Poske 183. PowelllOO, 101, 110, 111, 117, 118. Prevost 192, 241. Preyer 58, 113. Proklos 256, 363, 364. Protagoras 169. Pythagoras 306, 374. Quincey, de 65. Ramsden 206. Reimarus 35. Reitlinger 462. Reuter 170. Ribot 48, 64, 65, 67, 127, 132, 154, 325. Richmann 194, 242. Rickert 127. Riehl 432. Riemann 337, 391, 392, 396, 397, 399, 415 bis 417, 422, 439. Roberval 262. Roemer 298. Romanes 73. Röntgen 293, 298. Roscellin 126. Roskoff 68, 90. Roux 302. Rudio 265. Russell 182. Saccheri 404, 405, 414. Sachs 52—54, 299, 446. Sartorius, W. v. 407. Saunderson 150, 342. Sauveur 156. Savart 335. Schneider, C. 446. Schneider, G. 324. Schneider, G. H. 34. Schmidt, F. J. 280. Schönbein 296. Schönflies 333. Schopenhauer 64, 73, 315, 402. Schräm 421. Schroeder 113, 300. Schumacher 407. Schumann 161. Schuppe 9, 10, 169, 181, 307, 460. Schuster, A. 214. Schuster, M. 401. Schwann 300. Schweickart 409. Scott, W. 68. Seebeck, T. 218, 293. Segner 267. Semon 45, 49, 160. Siegel 351, 387, 421. Simon, M. 68. Snell 373. Soldan 90. Soleil 211. Sosikles 352. Spallanzani 300. Speer 372. Spencer 145, 146, 426. Spinoza 28. Spottiswoode 213. Sprengel 56. Stäckel 404, 406, 410. Stallo 119, 142, 143. Steinen, v. d. 111. Steiner, J. 373. Steinhauser 341. Stephenson 187. Stern, W. 221, 123. Sterneck, v. 8, 338. Stevin 156, 173, 189, 193, 224, 272, 273. Stöhr 113, 127, 132,240, 308. Stolz, O. 333, 407, 416. Strabo 102. Straßen, O. zur 447. Stricker 114. Strümpell 62, 350. Stumpf 346. Suarez 170. Sundara Row 365. Talbot 202. Tartini 39. Taurinus 409. Thibaut 365. Thomas 328. Thomson,]. 176, 193,229, 265. Thomson, W. 176, 178, 179, 193, 196, 229, 237, 265. 474 Namenregister. Tilly, de 379, 415. Tissandier 207. Toepler 147, 206. Torricelli 269. Trendelenburg 402. Tycho 288. Tylor 73, 82—103, 221, 233, 324, 325, 365, 367. Ueberweg 10, 421. Vailati 241. Vaschide 67. Vaucanson 29. Veraguth 350. Verworn 13. Vitruvius 227. Volkmann, P. 141, 203. Volta 208. Voltaire 39, 90. Vurpas 67. Wallascheck 46, 78, 85, 160. Wallis 311, 331, 406. Watt 202. Weber, E. 340. Weber, E. F. 64. Weber, E. H. 339, 340, 342, 346. Weißenborn 361. Wernicke 44. Wiener, O. 146, 148, 149. Willbrand 46, 47. Wheatstone 147,156,211, 212. Whewell 85, 138, 139, 173, 174, 281, 313, 314, 318, 319, 450. Whitnep 82. Wlassak 344. Wuttke 82. Xerxes 358. Young 157,196,244,248, 317. Zell 72, 186. Zeller 335. Ziehen 460. Zindler 386. Zola 186. Zoth 338. Verlag von Johann Ambrosius Barth in Leipzig. Von demselben Verfasser erschienen: Populärwissenschaftliche Vorlesungen. 8». [XI, 403 S. mit 60 Abbildungen.] 3. verm. Aufl. 1903. M. 6.—, geb. M. 6.80. Inhalt: Die Gestalten der Flüssigkeit. Über die Cortischen Fasern des Ohres. Die Erklärung der Harmonie. Zur Geschichte der Akustik. Über die Geschwindig- keit des Lichtes. Wozu hat der Mensch zwei Augen. Die Symmetrie. Bemerkungen zur Lehre vom räumlichen Sehen. Über die Grundbegriffe der Elektrostatik (Menge, Potential, Kapazität usw.). Über das Prinzip der Erhaltung der Energie. Die ökonomische Natur der physikalischen Forschung. Über Umbildung und Anpassung im naturwissenschaftlichen Denken. Über das Prinzip der Vergleichung in der Physik. Über den Einfluß zufälliger Umstände auf die Entwicklung von Erfindungen und Entdeckungen. Über den relativen Bildungswert der philologischen und der mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichtsfächer der höheren Schulen. Über Erscheinungen an fliegenden Projektilen. Über Orientierungsempfindungen. Zeil sehr, für pliys. Chemie: Mach gehört zu unsem bedeutendsten Denkern im erkenntnistheoretischen Gebiete. . . . Auf den Inhalt des Buches geht der Ref. absichtlich nicht ein; wenn jemand, so muß Mach im Original gelesen werden. Es wh'd genügen, allen Lesern dringend an das Herz zu legen, sich das Buch zu kaufen und es nicht nur einmal, sondern von Zeit zu Zeit wieder zu lesen. Jeder wird hier oder da denselben Einfluß erfahren, den Kant von seinem Studium Humes berichtet : daß er nämlich aus seinem dogmatischen Schlummer geweckt wird. W. O. Naturwissenschaftliche Rundschau: Jede einzelne der 19 Vorlesungen trägt das Gepräge des Machschen Geistes und verdient als Muster dieser Gattung unserer Literatur die weiteste Verbreitung. . . . Vielleicht wird mancher Leser durch diese Vorlesungen veranlaßt, sich mit den sonstigen Schriften unseres gediegenen Natur- philosophen weiter zu beschäftigen und aus ihrer vornehmen Haltung, die stets auf der Höhe des Gedankens bleibt, reichen Genuß zu ziehen. E. Lampe. Die Prinzipien der Wärmelehre. Historisch-kritisch entwickelt. 2. Auflage, gr. 8°. [VIII, 484 S. mit 105 Figuren und 6 Porträts.] 1900. M. 10.—, geb. M. 11.—. Zeitschr. Itir pliys. Chemie: Mit dem vorliegenden Werke hat der Ver- fasser allen denen, die in irgend einer Weise an der heutigen Entwicklung der Wärmeenergetik interessiert sind — und welcher Chemiker, Physiker oder Techniker wäre es nicht — einen ungemein dankenswerten Dienst erwiesen. In gleicher Weise wie in seiner noch viel zu wenig gelesenen ,, Mechanik" hat Mach die einzelnen Grundlagen unserer Kenntnisse in ihrer geschichtlichen Entwicklung dargestellt und führt an dem Faden des historischen Fortschrittes seine Leser in der wirk- samsten und anregendsten Weise in die Beherrschung des tatsächlichen und ge- danklichen Materials ein, welches den Inhalt dieser Wissenschaft bildet. Müncliener Allg'em. Zeitung*: Wir begrüßen die 2., einigermaßen erweiterte Auflage von Machs Werk und wollen hiermit dasselbe als die Geistesarbeit eines im wahrsten Sinne des Wortes hervorragenden Naturphilosophen einem möglichst großen Kreise von denkenden Lesern empfehlen. Verlag von Johann Ambrosius Barth in Leipzig. KLEINPETER, Prof. Dr. HANS, Die Erkenntnistlieorie der Naturforschung der Gegenwart. Unter Zugrundelegung der Anschau- ungen von Mach, Stallo, Clifford, Kirchhoff, Hertz, Pearson und Ostwald dargestelh. [XII, 160 S.] 1905. M. 3.—, geb. M. 3.80. Das vorliegende Buch deckt sich im allgemeinen mit den Ansichten der im Titel genannten Personen. Der Herr Verfasser hat aus deren im Wesen übereinstimmenden Ansichten jenen Kern gemeinsamer Überzeugungen darzustellen versucht, der nach seinem Dafürhalten die Grundlage zu einer wissenschaftlich haltbaren Erkenntnislehre zu bieten geeignet erscheint. Das Buch gibt diejenigen Anschauungen wieder, die heutigentags modern sind und wird daher auch außerhalb des Kreises der Fachphilosophen bei Stu- denten, Lehrern und dem größeren Publikum Anklang finden. CLIFFORD, W. K., Vou der Natur der Dinge an sich. Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Dr. Hans Kleinpeter. Mit einer Einleitung des Herausgebers über Cliffords Leben und Wirken. [48 S.] 1903. M. 1.20. Clifford war ein Mann von seltener Originalität, erfüllt von dem Ideal innigster Ver- bindung von Philosophie und Wissenschaft und bestrebt, dasselbe auf allen Gebieten menschlicher Tätigkeit zur Geltung zu bringen. Die vorliegende Vorlesung, aus einem größeren Werke entnommen, ist besonders charakteristisch und ein Meisterstück des Ver- fassers. Die kleine Broschüre dürfte überall Eingang finden ; da Clifford ähnliche Ziele verfolgt wie Ernst Mach in Wien, werden besonders alle Besitzer der Machschen Bücher dem Werkchen Interesse entgegenbringen. OLZAPFEL, RUDOLF, PanideaL Psychologie der sozialen GrefÜhle. Mit einem Vorwort von E. Mach. [X, 232 S.] 1901. M. 7.-. „ . . . Meine Anteilnahme stieg mit fortschreitender Lektüre dieses Buches und die- selbe war mir in vielen Teilen hochinteressant. Ich fühlte eine Seite meines Innern, auf die ich bisher als ein den Objekten zugewandter Naturforscher recht wenig geachtet hatte, merkwürdig beleuchtet. In der Tat gewinnt man hier tieferen Einblick in die Psychologie des Forschers, Erfinders, Künstlers, Religionsstifters, Kulturgestalters. Man lernt es ver- stehen, wie sogar das eigene Ich in einem Entwickelungsstadium demselben Ich in einem anderen Entwickelungszustand entfremdet werden kann." E. Mach. ^INYDER, KARL, Das Weltbild der modernen Naturwissen- ^^ schalt nach den Ergebnissen der neuesten Forschungen. Autorisierte deutsche Übersetzung von Prof. Dr. Hans Kleinpeter. [IX, 306 S. mit 16 Bild- nissen.] 1905. M. 5.60, geb. M. 6.60. Physik, Chemie, Physiologie und Biologie befinden sich heute in einem so gewaltigen Umbildungsprozeß, daß es nicht nur dem Fernerstehenden, sondern auch dem mit der Entwicklung auf einem Spezialgebiete Vertrauteren schwer wird, dem Fortschritt auf der ganzen Linie zu folgen. Das vorliegende Buch ist geeignet, hier helfend einzugreifen. In allgemein verständlicher, schlichter Sprache setzt es den Leser, ohne von ihm besondere Vor- kenntnisse zu verlangen, von den gewaltigen Errungenschaften der letzten Jahre in Kenntnis. Deutsche Literatnrzeitung: ... So darf das von der Verlagsbuchhandlung sehr schön ausgestattete Buch als eine erfreuliche Bereicherung auch der deutschen Literatur ange- sehen werden. ^JTALLO, J. B., Die BegriiTe und Theorien der modernen *^ Physik. Aus dem Engl, übers, u. herausg. von Prof. Dr. Hans Klein- peter. Mit einem Vorwort von Ernst Mach. [XX, 332 S. mit Porträt des Verfassers.] 1901. M. 7.—, geb. M. 8.50. Stallo, ein Deutsch-Amerikaner, der 1900 in Florenz gestorben ist, behandelte von allgemeinen und philosophischen Gesichtspunkten aus dieselben Fragen, die Prof. E. Mach aus speziell naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten erörtert hat, und kommt auch zu sehr verwandten Resultaten. Das Buch wendet sich in der Hauptsache an die naturwissen- schaftlich gebildeten Philosophen. Monatsschrift für höhere Schulen: Wie Hume den Kausalbegriff und d'Alembert den Kraftbegriff einer kritischen Prüfung unterzog, so nimmt der Verfasser der vor- liegenden Schrift den Atombegriff unter die sondierende Lupe der Philosophie. . . . Mit gründlichem historischem Wissen ausgerüstet und mit scharfem philosophischem Blick begabt, weiß er die Mängel des atomistischen Weltbildes freimütig und mit vielfach zwingender Klarheit bloßzulegen. (i) 38 9 OGi 1 iüö6 PLEASE DO NOT REMOVE CARDS OR SLIPS FROM THIS POCKET
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