Pierre Duhem

Ziel und Struktur der physikalischen Theorien

이윤진이카루스 2015. 1. 1. 21:20

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Ziel und Struktur 
der 
physikalischen Theorien 
fVo 
Pierre Duhem 
siat BrjrtJeüiMc 
Am<»riHier(€ Ol>en%et7ung von 
Dr. Friedrich Adler 
Krivisldoicittai an der Unlveisllüt li^arkH 
Ma clficm Varwoii von 
Ernst Mach 
<^^p- 
■^ 
Leipzig 
S eriug von Johann AnitTosiui. barili 
1W8 
.c 
f l 
^ ^ r Verlag von Johann Ambrosius Barth in Leipzig 
pOLTZMANN, L, Populäre Schriften. VII, 440 Seiten. 1905. M. 10.— , geb.M. 11.— 
"^ Physikalische Zeitschrift. DaQ die lA>ktfire des Werkes Jedem I^eser unserer Zeitschrift ge- 
nußreiohe Stunden bereiten wird, bedarf wohl kaum der Versicherung. VortrSge Qbor grundlegende 
Fragen der exakten Wissenschaften, Gedächtnisreden auf Kirchhof f, Stefan, Loschmidt, 
Erörterungen Ober philosophische (iegenstände und last not least die Reise eines deutschen Pro« 
fessora ins Eldorado Toli köstlichen Humors, Ernst und Scherz In geistvollem Geplauder Ter- 
mengend, das alles zieht an dem Leser Tor&ber, auch Überraschungen harren desselben, die aber 
hier nicht verraten werden sollen. MuQ der Itoferenf jet^t noch versichern, daß die populftren 
Schriften Boltzmanns auch in den Hftnden der Obrigen I^eser sein sollten? 
BOLTZMANN, L, Voriesungen Ober Maxwells Theorie der EIcictrizität und des Lichtes. 
/. Teil. XII, 139 Seiten mit vielen Textfiguren und 2 lithographischen Tafeln. 
1891. IL Teil, VIII, 166 Seiten mit Figuren im Text und zwei Tabellen. 1893. 
je M. 5.—, geb. M. 6.— 
Nur ein Boltzmann konnte den oft unentwirrbar komplizierten Plan des Maxwelischen helir> 
geb&udes bis iu alle Dntails so ventehen, um ihn mit die>er Klarheit bloOzuIeKen. Aus den ein- 
fkohsten Annahmen — den Gesetzen der cykllschen Bewegungen und der Lagrangeschen Gleichung — 
entwickeln sich die weittragendsten ScblQsse mit einer Klarheit und Eleganz, die neben der voll- 
endeten wissenschaftlichen Befriedigung auch einen hervorragenden ästhetischen Genuß bi^^tet. 
BOLTZMANN, L., Voriesungen über Gastheorie. /. Teil. Theorie der Gase mit ein- 
atomigen Molekülen, deren Dimensionen gegen die mittlere Weglänge ver- 
schwinden. IV, 200 Seiten. 1895. M. 6.—, geb. M. 7.— //. Teil: Über die 
van der VVaals'sche Theorie, die Gase mit mehratomigen Molekülen und die 
Dissoziation. X, 265 Seiten. 1898. M. 7—, geb- M. 8.— 
BOLTZMANN, U Voriesungen über die Prinzipe der Mechanik. L Teil: X, 241 S. 
1897. M. 6.—, geb. M. 7.- 
//. Teily enthalt'^c'^: Die Wirkungsprinzipe, die Lagrangeschen Gleichungen und 
deren Anwendungen. X, 336 Seiten mit 10 Figuren. 1904. M. 9.—, geb. M. 10.-— 
BUCHHOLZ, HUGO, Das mechanische Potential, nach Vorlesungen von L. Boltzmann 
bearbeitet und Die Theorie der Figur der Erde. Zur Einführung in die höhere 
Geodäsie (Angewandte Mathematik) I. Teil. XVI, 470 Seiten mit 137 Ab- 
bUdungen. 1908. M. 15.—, geb. M. 16.— 
Der vorliegende Band enthält außer den geodätischen Fundamentalbeatimuiungen (Qr die 
Oberfläche d*-8 ErdsphSrotda eine zusammenhängende Darst<>llunp: der klassischen mechanischen 
Theorie dor Figur der Erde nach Clairaut und Laplace. Von besonderem lnt<>re8se dürfte auch 
der einleitende Teil des Werkes sein, in dem Verfasser den Inhalt einer Vorlesung seines ver- 
storbenen Lehrers Ludwig Boltzmann Ober das muchanische Potential als Voraussetzung der 
potentialtheoretischen Bestimmung »1er Erdfigur darstellt ^^^ 
EBERT, H., Magnetische Kraftfelder. Die Ersclietnungen des Magnetismus, Elektro- 
magnetismus und der Induktion, dargestellt auf Grund des Kraftlinien-Begriffes. 
Zweite, vollkommen neu bearbeitete Auflage. 8°. XII, 415 Seiten mit 167 Ab- 
bildungen im Text. 1905. M. 7. — , geb. M. 8.— 
Zeitschr. f. d. Osterr. Gymnasien: Das vorliegende Buch »tollt wohl von allen bisher erschienenen 
Schriften Qber denselben Gegenstand eine dor heston Entwiclclungeu des neuesten Standes der 
theoretischen Klektrizitätslehro auf mechauisclier Grundlage dttr 
Zeitschr. f. d. phytikal. u. ehem. Unterr.: Vöiliie QberflQs^ig wäre es, die Facbgenossen auf den 
hervorragenden Wert des vorliegenden Werkes noch besonders hinzuweisen, lat es doch die beste 
wissenschaftliche KQstkammer fQr die Entschoidun^ der Jetzt im Vordergrunde stehenden metho- 
dischen Frage, wie und in welchem Umfang der Kraltliuienbegrlff in dem pbystkalitioheo Unterricht 
der verschiedenen höheren Lehranstalten 7.\\ vorwrert^n sei. 
HOPPE, FRITZ, Wie stellt man Projekte, Kostenanschläge und Betriebskostenberechnungen 
für elektrische Licht- und Kraftanlagen auf? 4. vervollständifrto Auflage. V, 
487 Suiten. 1907. geb. M. 5.50 
Die:>es l>ereits in dritter Auflage erschienene Ruch liohandelt die für jeden in der Praxis 
stehenden Klektrotechntkcr und Ingenieur, fQr jod<-n an einem ruiytechnikum oder Technikum 
Studierenden dt»r Elektrotechnilc, lür jeden projektierenden und akquiriereiulen Ingenieur wich- 
tige F'rage dor Äufsirllung von Projekten und K«»stcnau>ciilaßcii Hir elektrische Anhigen Jeden 
Umfanges und jeden Systeme» in erschöpfender Wol^e. 
LORENTZ, H. A., Lehrbuch der Physik zum Gebrauch bei alcademisciien Vorlesungen. 
Nach der vierten, von H. A. Lorentz und L. H. Siertseina bearbeiteten Auf- 
lage und unter Mitwirkung de.s Verfassers aus dem lioiiändischen übersetzt von 
G. Siebert. In 2 Bänden. M. 18.—, geb. M. 20.— 
I.Band: V, 482 S. mit 236 Abbild. 190«. M. 8.— , geb. M. 9.— 
II. Band: VI, 621 S. mit 257 Abbild. 1907. M. 10.—, geb. M. 11.— 
Zeitschrift für physikal. Chemie: Dies ist ein Werk, welches man fast rückhaltlos der «tudlerenden 
Jugend empfehlen kann. Nicht nur den Medizinern, sondern insbesoudere den Chemikern, fQr 
welche Umfang und liehandlungsweiite gerade rocht erscheinen, wird es die allerbesten Dienste 
leisten. Daß bei einem Meistor seines FHches, wie li. Lorentz, sachlich nn dem Inhalte nichts 
ausruüetren ist, braucht nicht erst gesagt zu werden. \V. O. 
//<^<*aÄ4;V«5^ 
Ziel und Struktur 
der 
physikalischen Theorien 
von ^^-yvior^ 
Pierre puhem"*'' 
Korrespondierendem Mitglied des Institut de France 
Professor der Theoretischen Physik an der Universität Bordeaux 
Autorisierte Obersetzung von 
Dr. Friedrich Adler 
Privatdozenten an der Universität Zürich 
Mit einem Vorwort von 
Ernst Mach 
Leipzig 
Verlag von Johann Ambrosius Barth 
1908 
G5 
Druck von Emil Hernnann senior in Leipzig. 
Vorwort zur deutschen Ausgabe. 
Der Verfasser des vorliegenden Buches, Pierre Maurice 
Marie Duhem, Professor der theoretischen Physik an der 
Universität Bordeaux, ist durch seine Leistungen auf allen 
Gebieten der theoretischen Physik und Chemie, durch seine 
Forschungen über die ältere Geschichte der Physik, insbe- 
sondere auch über Leonardo da Vinci und dessen Beziehungen 
zu Vorgängern und Nachfolgern so bekannt und berfihmt, 
daß eine besondere Empfehlung seiner Schriften überflüßig 
scheint 
Als idi aber von dem Plan hörte, eine von Dr. Friedrich 
Adler besorgte Obersetzung des Duhemschen Buches „La 
thtorie physique, son objet et sa structure'' herauszugeben, 
folgte idi gern der Einladung des Herrn Verlegers, dieselbe 
bei dem deutschen Publikum einzuführen. Denn eine eigen- 
artige philosophische, oder genauer erkenntniskritische Arbeit 
liegt hier vor, zu welcher der Verfasser durch seine viel- 
seitige vorausgegangene Lebensarbeit berufen scheint. 
Nicht in trockener, abstrakter Weise, sondern unter fort- 
währender Beleuchtung durch lebendige historische Tat- 
sachen, zeigt der Verfasser, wie die physikalische Theorie 
allmählich aus einer vermeintlichen Erklärung auf Grundlage 
einer vulgären, oder mehr oder wehiger wissenschaftlichen 
Metaphysik in ein auf wenigen Prinzipien ruhendes System 
mathematischer, die Erfahrungen ökonomisch beschreibender 
und klassifizierender Sätze sich umwandelt. Hierbei wechselt 
das erklärende Bild vielfach, bis es schließlich ganz abfällt; 
während der beschreibende Teil fast unverändert in die neue 
vollkommenere Theorie fibergeht. Die Gegenüberstellung 
IV Vorwort zur deutschen Ausgrabe. 
von Descartes und Laplace einerseits, Pascal und Ampere 
anderseits zeigt uns die letzteren auf einem höheren Niveau 
der philosophischen Einsicht. Natürlich nimmt die Indi- 
vidualität der Forscher einen bedeutenden Einfluß auf die 
historische Entwicklung. Dies wird erläutert durch an- 
sprechende Betrachtungen über den Gegensatz umfassender 
und tiefer Geister, über Modelle und logisch aufgebaute Theo- 
rien, über die englische Schule einerseits, die französische 
und deutsche Schule anderseits. Das Modell wie das Bild 
hält Duhem für ein parasitäres Gewächs. Daß und worin 
hier Duhem zu weit zu gehen scheint, habe ich anderwärts 
ausgeführt. 
I>em ersten und allgemeinen Teil folgt ein zweiter, auf 
das besondere Gefüge der physikalischen Theorie eingehender 
Teil. Hier werden die Begriffe Quantität, Qualität, Zahl, Größe, 
Intensität erörtert. Das Streben Galileis und Descartes', die 
Qualitäten aus der mathematischen Physik zu entfernen, wird 
wieder an historischen Beispielen verständlich gemacht und 
lebendig veranschaulicht Die Zahl der primären Qualitäten 
darf, ohne alle Wissenschaft illusorisch zu machen, nicht be- 
liebig vermehrt, dagegen auch nicht willkürlich beschränkt 
werden, vielmehr sind alle primären Qualitäten als vorläufig 
nicht reduzierbar anzusehen. Faradays elektrodynamische Ro- 
tation ericennt Ampere mit einem Blick als nicht reduzierbar 
auf elektrostatische Kräfte und entdeckt in derselben eine neue 
primäre Qualität. Wichtig ist die Betonung der engen Ver- 
flechtung, der Untrennbarkeit von Experiment und Theorie. 
CNe Sätze der Theorie müssen logisch verträglich und in ihrer 
Gesamtheit mit dem Experiment in Übereinstimmung sein. 
Wegen der Genauigkeitsgrenzen der Beobachtung, wodurch 
einem theoretischen Wert eine Unzahl von experimentellen 
Werten zugeordnet werden kann, hat jedes theoretische Gesetz 
nur provisorische Geltung. Lehrreich ist der Hinweis auf 
Beispiele mathematischer Theorien, welche experimentell über- 
haupt unprüfbar bleiben. Verfasser kommt zu dem Schluß, 
daß der Unterricht weder rein deduktiv, noch rein induktiv vor- 
gehen kann. Die beste Darlegung sei die historische, welche 
Vorbemeiining des Übersetzers. V 
sich dem Entwicklungsgänge der Wissenschaft anschließt, deren 
Grundannahmen (Hypothesen) ja nicht willkürlich erfunden 
oder gewählt wurden, sondern, allmählich keimend, sich den 
Forschem aufgedrängt haben. 
Möge das Buch nach Verdienst auch in Deutschland An- 
erkennung finden, aufklärend und fördernd wirken! 
Wien, im November 1907. 
Ernst Mach. 
Vorbemerkung des Übersetzers. 
Für die Veranstaltung einer deutschen Ausgabe des vor- 
liegenden Werkes waren im wesentlichen folgende Gesichts- 
punkte maßgebend. 
Die physikalische Theorie ist ein außerordentlich kompli- 
zierter Organismus, der nur auf Grund langjähriger praktischer 
und theoretischer Arbeit vollständig verstanden werden kann. 
Trotzdem muß eine systematische leicht faßliche Darstellung 
des Wesens der physikalischen Theorie jedem, der am Anfang 
physikalischer Studien steht, außerordentlich willkommen sein. 
Die Klarlegung der verschiedenen Auffassungen des Zieles 
der Physik, die prinzipielle Aufklärung über den Zusammen- 
hang zwischen Experiment und Theorie, über die Bedeutung 
der Korrektionen, der mathematischen Symbole usw. wird den 
Studierenden vor allem vor der Verfolgung von Scheinpro- 
blemen schützen und sein Verständnis für die Methoden, 
die er anwendet, wesentlich beschleunigen. Eine derartige 
Orientierung erfüllt ihren Zweck natürlich nur, wenn sie leicht 
zugänglich, also in der Muttersprache lesbar ist. 
Aber auch bei dem selbständigen Forscher erfährt infolge 
des gewaltigen Anwachsens der Literatur die fremdsprachige 
naturgemäß oft eine Vernachlässigung. Gerade das Duhem- 
sdie Werk verdient es aber von diesem Umstände verschont 
VI Vorbemerkung des Übersetzers. 
ZU bleiben, deim es gibt eine Darstellung der Probleme, wie 
wir sie bisher überhaupt nicht besaßen. Die Elimination aller 
Metaphysik bildet die Grundtendenz des Werkes und das Prin- 
zip der Ökonomie des Denkens, das Mach als erster formu- 
liert hat, wird konsequent festgehalten. Dadurch kommen eine 
Reihe von Problemen in vollständig neue Beleuchtung imd 
viele Tatsachen der historischen Entwickltmg erfahren eine 
andere Deutung. 
Endlich soll aber durch die Obersetzung auch die kri- 
tische Auseinandersetzung mit Duhem erleichtert werden. Da- 
bei liegt mir vor allem an der Auseinandersetzung mit der 
Machschen Auffassung. Duhem hat die Konsequenzen des 
Okonomieprinzips im weitesten Maße gezogen, er hat aber 
den weiteren Schritt, den Mach getan, die Aufzeigung der „Ele- 
mente'' als grundl^endes Material der Wissenschaft in keiner 
.Weise berührt Durch die Betrachtung der Elemente, wird 
aber die Elimination aller absolut unveränderlichen 
Körper erreicht und eine Physik, die vom erfahrungsmäßig 
gegebenen (veränderlichen) Körper ausgeht, möglich. Für diese 
Auffassung löst sich dann in einfachster Weise die Frage, ob 
die ökonomische Darstellung auch naturgemäß sei und alle 
„Realitäten, die hinter den Erscheinungen verboten sind'' 
werden nicht nur als Objekt der Theorie beseitigt, sondern 
auch als Objekt der Wirklichkeit mit samt ihrem „Reflex", 
auf das Nichts, das sie tatsächlich sind, reduziert.^) Es wird 
dann wohl auch außer der Anwendung der theoretischen 
Vorstellungen als Grundlagen (Duhem sagt „Hypothesen'' 
im etymologischen Sinn des Wortes) für die mathematische 
Deduktion der Entstehung derselben aus dem Eriahrungs- 
material besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden sein. Es kann 
jede und muß mindestens eine der Erfahrungen, die sich bei 
den Deduktionen als Konsequenzen ergeben, als Ausgangspunkt 
zur Erlangung der theoretischen Vorstellungen dienen. In dieser 
Hinsicht werden dann wohl die theoretischen Vorstellungen 
anstatt als Grundlagen als Knotenpunkte im Erfahrungs- 
*) Vcrgl. z. B. p. 29 sowie p. 369 des vorliegenden Werkes. 
Vorwort zur französischen Ausgabe. VII 
material (Funktionen) zu bezeichnen sein« Auf die ausfuhrliche 
Diskussion aller dieser Fragen soll bei anderer Gel^enheit 
eingegangen werden. 
Was die formale Seite betrifft, so habe ich mich möglichst 
streng an den Wortlaut des Originals und die Terminologie 
Duhems gehalten. Die angeführten Zitate habe ich bis auf 
einige, die mir nicht zugänglich waren, mit den Originalen ver- 
glichen und diejenigen aus anderen Sprachen, dort wo es mir 
nötig schien, direkt aus dem Urtext übersetzt Die vorhandenen 
Übersetzungen fremder Autoren ins Deutsche habe ich soweit 
es angängig war, direkt übernommen. 
Ein Teil der Obersetzung wurde von meiner Frau, der 
andere von mir hergestellt, und auch ersterer von mir durch- 
gesehen. Hr. Prof. Duhem hatte die große Freundlichkeit 
ein Korrekturexemplar selbst zu lesen, ein weiteres revidierte 
mein Freund Dr. H. v. Halban. Die Herren Prof. Dr. H. Burck- 
hardt und Prof. Dr. A. Kleiner waren so freundlich, mir in bezug 
auf verschiedene Fragen Auskunft zu erteilen. Allen, die mich 
bei der Arbeit unterstützt haben, spreche ich auch an dieser 
Stelle meinen herzlichsten Dank aus. 
Zürich, 31. Dezember 1907. 
Friedrich Adler. 
Vorwort zur französischen Ausgabe. 
In dieser Schrift sollen die Methoden, auf Orund deren 
die physikalische Wissenschaft sich entwickelt, einer einfachen 
logischen Analyse unterzogen werden. Vielleicht werden manche 
Leser die hier dargelegten Oberl^ungen auf andere Wissen- 
schaften als die Physik ausdehnen wollen, vielleicht werden sie 
auch über das spezielle Oebiet der Logik hinausgehende Schlüsse 
zu ziehen wünschen. Wir haben uns jedoch sorgsam vor der 
einen wie der andern Verallgemeinerung zu hüten gesucht. 
Wir haben uhseren Untersuchungen enge Grenzen gesetzt, um 
VIII Vorwort zur französischen Ausgabe. 
in möglichst vollständiger Weise das beschränkte Gebiet, welches 
wir uns abgesteckt haben, erforschen zu können. 
Bevor der gewissenhafte Experimentator ein Instrument zur 
Erforschung einer Erscheinung verwendet, zeri^ er es, prüft 
jeden Teil, studiert die Einrichtung desselben und unterwirft es 
verschiedenen Vorversuchen. Er weiß dann genau, was die 
Angaben des Apparates bedeuten, kennt die Grenzen ihrer Prä- 
zision und wird ihn so mit Sicherheit verwenden können. 
In der gleichen Weise haben wir die physikalische Theorie 
analysiert. Wir haben vor allem gesucht ihr Ziel mit Genauigkeit 
festzustellen. Nachdem wir dasselbe erkannt, haben wir ihre 
Struktur geprüft Wir haben der Reihe nach den Mechanismus 
einer jeden Operation, durch die sie zustande kommt, studiert, 
wir haben gezeigt, was jede einzelne derselben zur Erreichung 
des Zieles der Theorie beiträgt. 
Wir haben uns Mühe gegeben, unsere Behauptungen durch 
Beispiele zu eriäutem, da wir vor allem Erörterungen, die in 
keinem unmittelbarem Zusammenhang mit der Wirklichkeit stehen, 
zu vermeiden suchten. 
Überdies ist die in voriiegender Schrift dargelegte Auffassung 
nicht ein logisches System, das allein aus Betrachtungen über 
allgemeine Begriffe hervorging. Sie entstand nicht aus einem 
Gedankengang, der den konkreten Einzeltatsachen feindlich gegen- 
übersteht Der täglichen Praxis der Wissenschaft verdankt sie 
ihre Entstehung, aus ihr hat sie sich entwickelt 
Es gibt beinahe kein Kapitel der theoretischen Physik, das 
wir nicht bis in seine Einzelheiten zu lehren hatten, es gibt 
kaum eines, für dessen Fortschritt wir nicht wiederholt unsere 
Kraft eingesetzt haben. Die Gedanken über das Ziel und die 
Struktur der physikalischen Theorien, die wir heute im Zusammen- 
hang voriegen, sind die Frucht dieser zwanzigjährigen Arbeit 
Wir haben durch diese lange Prüfung uns vergewissem können, 
daß sie richtig und fruchtbar sind. 
Pierre Duhem. 
Inhaltsverzeichnis. 
Sdte 
Vorwort znr dentschen Ausgabe III 
Vorbemerkung de« Übersetzers V 
Vorwort zur französischen Ausgabe VII 
Erster Teil. 
Das Ziel der physikalischen Theorien« 
Brstes Kapitel. ^ Physikalische Theorie und metaphysische 
Erklärung 3 
§ 1. Die Auffassung der physikalischen Theorie als Eridarung. . 3 
§ 2. Auf Orund der vorstehenden Ansicht sind die physikalischen 
Theorien der Metaphysik unteigeordnet 6 
§ 3. Auf Orund der vorstehenden Ansicht hängt der Wert einer 
physikalischen Theorie vom metaphysischen System, das man 
anerkennt, ab 8 
§ 4. Der Streit über die verborgenen Ursachen 13 
§ 5. Kein metaphysisches System reicht für den Aufbau einer 
physikalischen Theorie aus 16 
Zweites Kapitel« — Physikalische Theorie und naturgemäße 
Klassifikation 20 
§ 1. Die wahre Natur der physikalischen Theorie und die Ope- 
rationen, durch die sie zustande kommt 20 
§ 2. Welchen Nutzen hat eine physikalische Theorie? Die Theorie 
als Ökonomie des Denkens 23 
§ 3. Die Auffassung der Theorie als Klassifikation 25 
§ 4. Die Theorie hat die Tendenz sich in eine natuigemäße Klassi- 
fikation umzuformen 27 
§ 5. Die der Erfahrung vorangehende Theorie 31 
Drittes Kapitel« — Die beschreibenden Theorien und die 
Oeschichte der Physik 35 
§ 1. Die Rolle der natuigemäBen Klassifikation und der Erklärungen 
in der Entwiddung der physikalischen Theorien 35 
§ 2. Die Meinungen der Physiker über das Wesen der physi- 
kalischen Theorien 47 
X Inhaltsverzeidinis. 
Sdtt 
Vierte« Kapitel. — Die abstrakten Theorien und die mecha- 
nischen Modelle 67 
§ 1. Zwei Arten Denker: Umfassende Denker und tiefe Denker . 67 
§ 2. Ein Beispiel umfassenden Geistes. Der Geist Napoleons 70 
§ 3. Das umfassende, das scharfe und das geometrische Denken 75 
§ 4. Der umfassende und der englische Geist 79 
§ 5. Die englische Physik und die mechanischen Modelle ... 86 
§ 6. Die englische Schule und die mathematische Physik ... 95 
§ 7. Die englische Schule und der logische Aufbau einer Theorie 101 
§ 8. Die Weiterverbreitung der englischen Methode 111 
§ 9. Tragt die Anwendung mechanischer Modelle bei Entdeckungen 
Friichte? 121 
§ 10. Soll der Gebrauch mechanischer Modelle die Forschung nach 
abstirakten und logisch geordneten Theorien hindern? ... 128 
Zweiter Teil. 
Die Stmkttir der physikalischen Theorien« 
Fflnftes Kapitel. — Quantität und Qualität 139 
§ 1. Theoretische Physik ist mathematische Physik 139 
§ 2. Quantität und Maß 140 
§ 3. Quantität und Qualität 144 
§ 4. Die rein quantitative Physik 147 
§ 5. Die verschiedenen Intensitäten derselben Qualität sind durch 
Zahlen ausdrfickbar 150 
Sechstes Kapitel. — Die primären Qualitäten 157 
§ 1. Über die übermässige Vermehrung der primären Qualitäten 157 
§ 2. Eine primäre Qualität ist eine in der Tat, aber nicht von 
rechtswegen irreduzierbare Qualität 161 
§ 3. Eine primäre Qualität ist stets nur in provisorischem Sinne 
primär 167 
Siebentes Kapitel. — Mathematische Deduktion und physi- 
kalische Theorie 172 
§ 1. Physikalische Annäherung und mathematische Präzision . . 172 
§ 2. Mathematische Deduktionen, die physikalisch verwendbar und 
solche, die physikalisch unverwendbar sind 176 
§ 3. Beispiel einer mathematischen Deduktion, die niemals ver- 
wendbar werden kann 180 
§ 4. Die Annäherungsmathematik 185 
Achtes Kapitel. — Das physikalische Experiment 188 
§ 1. Ein physikalisches Experiment ist nidit einfach die Beob- 
achtung einer Erscheinung, es ist außerdem die ttieoretische 
Interpretation derselben 188 
Inhaltsverzeichnis. XI 
Sdte 
§ 2. Das Resultat eines physikalischen Experimentes ist em ab- 
straktes und symbolisches Urteil 192 
§ 3. Nur die theoretische Interpretation der Erscheinungen er- 
möglicht den Gebrauch der Instrumente 201 
§ 4. Ober die Kritik physikalischer Experimente und den Unter- 
schied der zwisdien ihr und der Prüfung gewöhnlicher Aus- 
sagen besteht 209 
§ 5. Das physikalische Experiment ist weniger sicher, aber genauer 
und detaillierter, als die nichtwissenschaftliche Konstatierung 
einer Tatsache 215 
NennteB KapiteL — Das physikalische Gesetz 217 
§ 1. Die physikalischen Gesetze sind symbolische Beziehungen . 217 
§ 2. Ein physikalisches Gesetz ist genau gesprochen, weder richtig 
noch falsch, sondern angenähert 222 
§ 3. Jedes physikalische Gesetz ist provisorisch und relativ, weil 
es angenähert ist 227 
§ 4. Jedes phjrsikalische Gesetz ist provisorisch, weil es sym- 
bolisch ist 230 
§ 5. Die physikalischen Gesetze sind detaillierter als jene des ge- 
wöhnlichen Verstandes 236 
Zehntem Kapitel. — Die physikalische Theorie und das 
Experiment 238 
§ 1. Die experimentelle Kontrolle einer Theorie besitzt in der 
Physik nicht die gleiche logische Einfachheit wie in der 
Physiologie 238 
§ 2. Ein physikalisches Experiment kann niemals zur Verwerfung 
einer isolierten Hypotiiese, sondern immer nur zu der einer 
ganzen theoretischen Gruppe, fuhren 243 
§ 3. Das experimentum crucis ist in der Physik unmöglich . . . 249 
§ 4. Kritik der Newtonschen Methode. — Erstes Beispiel: Die 
JVtechanik des Himmels 253 
§ 5. Kritik der Newtonschen Methode (Fortsetzung). — Zweites 
Beispiel: Die Elektrodynamik 260 
§ 6. Konsequenzen in bezug auf den physikalischen Unterricht . 267 
§ 7. Konsequenzen in bezug auf die mathematische Entwicklung 
der physikalischen Theorie 274 
§ 8. Gibt es gewisse Postulate der physikalischen Theorie, die 
durch das Experiment nicht widerlegt werden können? . . 279 
§ 9. Hypothesen, deren Wortlaut keine experimentelle Deutung 
zuläßt 285 
§ 10. Der gesunde Menschenverstand hat zu beurteilen, welche 
Hypothesen aufgegeben werden mfissen 290 
XU Inhaltsveneichnis. 
BUtM Kapitel. — Die Wahl der Hypothesen 293 
§ 1. Worauf sich die von der Logik bei der Wahl der Hypothesen 
gestellten Bedingungen reduzieren 293 
8 2. Die Hypothesen sind nicht das Produkt einer plötzlichen 
Schöpfung, sondern das Eiigebnis einer fortschreitenden Ent* 
Wicklung. ~ Die allgemeine Gravitation als Beispiel . . . 296 
§ 3. Der Physiker wählt nicht die Hypothesen, auf die er euie 
Theorie stützt, sie entstehen in ihm ohne sein Zutun . . . 342 
§ 4. Ober die Darlegung der Hypothesen im physikalischen 
Unterricht 348 
§ 5. Die Hypothesen können nicht aus Axiomen des gewöhnlichen I 
Wissens abgeleitet werden 352 I 
§ 6. Die Wichtigkeit der historischen Methode üi der Physik . . 364 
ERSTER TEIL. 
DAS ZIEL DER PHYSIKALISCHEN 
THEORIEN. 
Erstes Kapitel. 
Physikalische Theorie und metaphysische Erklärung; 
§ I. — Die Auffassung der physikalischen Theorie 
als Erklärung. 
Die erste Frage, die sich uns aufdrängt, ist folgende: 
Welches Ziel hat eine physikalische Theorie? Auf diese 
Frage hat man verschiedene Antworten g^eben, die sich jedoch 
in zwei Hauptgruppen zusammenfassen lassen. 
Eine physikalische Theorie, haben gewisse Denker 
geantwortet, hat die ERKLÄRUNG einer Gruppe experi- 
mentell festgestellter Gesetze zum Ziel. 
Andere Denker sagten: Eine physikalische Theorie ist 
ein abstraktes System, welches eine Gruppe experimen- 
teller Gesetze zusammenzufassen und logisch zu 
KLASSIFIZIEREN hat, ohne jedoch den Anspruch zu 
erheben, diese Gesetze zu erklären. 
Wir gehen nun daran, diese beiden Antworten nacheinander 
zu prüfen und die Gründe abzuwägen, die für die Zulassung 
oder Verwerfung derselben sprechen. Wir wollen mit der ersten, 
welche dne physikalische Theorie als Erklärung betrachtet, be- 
ginnen. 
Was ist nun vor allem eine Erklärung? 
Erklären (expliquer— explicare) heißt die Wirklichkeit aus 
den Erscheinungen, die sie wie Schleier umhüllen, heraus- 
schälen, um diese Wirklichkeit nackt von Angesicht zu Angesicht 
zu sehen. 
!• 
4 Erstes Kapitel. 
Die Beobachtung physikalischer Phänomene macht uns nicht 
mit der Wirklichkeit, die sich unter den sinnlich wahrnehm- 
baren Erscheinungen verbirgt, sondern nur mit diesen sinnlich 
wahrnehmbaren Erscheinungen selbst, die in spezieller und 
konkreter Form erfaßt werden, bekannt Die experimentellen 
Gesetze haben nicht mehr die materielle Wirklichkdt zum O^en- 
stand, sondern sie handeln von diesen sinnlich wahrnehmbaren 
Erscheinungen, die allerdings in abstrakter und allgemeiner Form 
zur Behandlung kommen. Indem die Theorie die Hülle von 
den sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen ablöst und zerreißt, 
sucht sie in ihnen und unter ihnen, das was wirklich in den 
Körpern ist, auf. 
Nehmen wir ein Beispiel. Saiten- und Blasinstrumente haben 
Töne hervorgebracht, auf die wir aufmerksam lauschten, die wir 
sich verstärken und sich abschwächen, steigen und fallen, sich 
tausendfach nuancieren hörten, die in uns Empfindungen und 
Gemütsbewegungen entstehen ließen. Das alles bezeichnen wir 
als akustische Tatsachen. 
Unser Verstand hat entsprechend den Gesetzen, die seine 
Tätigkeit bestimmen, diese speziellen und konkreten Eindrücke 
einer Durcharbeitung unterworfen, die uns zu allgemeinen und 
abstrakten Begriffen wie: Intensität, Tonhöhe, Oktave, ganzer 
Dur- und Mollakkord, Klangfarbe usw. führt. Die experi- 
mentellen Gesetze der Akustik haben die Aufgabe, feste 
Beziehungen zwischen diesen Begriffen und andern ebenso 
abstrakten und allgemeinen Begriffen auszudrücken. Zum Bei- 
spiel lehrt uns ein Gesetz, welche Beziehung zwischen den 
Dimensionen zweier Saiten aus gleichem Metall besteht, die 
Töne von gleicher Höhe oder zwei Töne, deren einer die 
Oktave des andern ist, hervorbringen. 
Aber diese abstrakten Begriffe wie Intensität, Höhe eines 
Tones oder Klangfarbe, spielen für unsem Verstand nur die 
Rolle allgemeiner Zeichen für unsere Tonempfindungen. Sie 
lehren ihn den Ton so kennen, wie er in Beziehung zu uns ist, 
nicht aber wie er selbst in den tönenden Körpern beschaffen 
ist. Die Theorien der Akustik gehen darauf aus, uns die 
Wirklichkeit, von der unsere Eindrücke bloß die Hülle und 
Physikalische Theorie und metaphysische Erklärung. 5 
der Schieier sind, zur Kenntnis zu bringen. Sie wollen uns 
lehren, daß da, wo wir nur diese Erscheinung, die wir den 
Ton nennen, wahrnehmen, in Wirklichkeit eine sehr kleine 
und sehr schnelle Schwingung vorhanden ist. Die Intensität 
und die Höhe seien nichts anderes als die äußere Erschei- 
nung der Amplitude und der Geschwindigkeit dieser Be- 
wegung, die Klangfarbe, die wahrnehmbare Äußerung der 
wirklichen Beschaffenheit dieser Bewegung, d. h. eine zu- 
sammengesetzte Empfindung, welche aus verschiedenen pen- 
delartigen Schwingungen, in die man die Bewegung zerlegen 
kann, hervorgeht. Die Theorien der Akustik sind somit Er- 
klärungen. 
Die Erklärung, die die Theorien der; Akustik von den 
experimentellen Gesetzen, die die Tonempfindüngen beherr- 
schen, geben, ist wohl sicher richtig. Die Bewegungen, denen 
sie diese Erscheinungen zuschreiben, können in einer großen 
Zahl von Fällen mit den Augen gesehen, mit den Fingern ge- 
tastet werden. 
Meistens kann eine physikalische Theorie keinen solchen 
Grad von Vollkommenheit erreichen, sie kann nicht als 
sichere Erklärung der Sinneswahmehmungen gelten, sie 
kann die Wirklichkeit, die nach ihrer Behauptung unter den 
Erscheinungen besteht, unseren Sinnen nicht zugänglich 
machen. Sie begnügt sich dann darzutun, daß alle unsere 
Wahrnehmungen so auftreten, wie wenn die Wirklichkeit 
so beschaffen wäre, wie sie es behauptet. Eine solche Theorie 
ist eine hypothetische Erklärung. 
Betrachten wir z. B. die Gesamtheit der vom Gesichtssinn 
wahrgenommenen Phänomene. Die wissenschaftliche Ver- 
arbeitung dieser Phänomene führt uns zur Feststellung ge- 
wisser abstrakter allgemeiner B^jiffe, die die Merkmale 
ausdrücken, welche wir in jeder Lichtwahmehmung wieder- 
finden: einfache oder zusammengesetzte Farbe, Helligkeit usw. 
Die experimentellen Gesetze der Optik lehren uns feste Be- 
ziehungen zwischen diesen allgemeinen abstrakten Begriffen 
und andern analogen Begriffen kennen. Zum Beispiel zeigt 
ein Gesetz, wie die Intensität des gelben Lichtes, welches von 
5 Erstes KapiteL 
einem dünnen Blättchen reflektiert wird, von der Dicke dieses 
Blättchens und dem Einfallswinkel der auffallenden Strahlen 
abhängig ist 
Die Wellentheorie des Lichtes gibt eine hypothetische Er- 
klärung dieser experimentellen Gesetze. Sie setzt voraus, daß 
alle Körper, die wir sehen, die wir tasten, die wir wägen, sich 
in einem unseren Sinnen unzugänglichen und unwägbaren 
Medium, das sie Äther nennt, befindet Diesem Äther schreibt 
sie mechanische Eigenschaften zu, sie nimmt an, daß alles ein- 
fache Licht in kleinen und schnellen transversalen Schwin- 
gungen dieses Äthers besteht, daß von der Frequenz und der 
Amplitude dieser Schwingungen die Helligkeit und Farbe des 
Lichtes abhängig ist 
Trotzdem sie uns den Äther nicht sichtbar machen kann, 
trotzdem sie uns nicht einmal In den Stand setzt, durch 
Augenschein die Hin- und Herbewegung in der Lichtschwin- 
gung zu konstatieren, behauptet sie doch, daß ihre Postulate 
zu Ergebnissen führen, die in jedem Punkt mit den Gesetz- 
mäßigkeiten, welche uns die experimentelle Optik angibt, über- 
einstimmen. 
§ 2. — Auf Grund der vorstehenden Ansicht sind die 
physikalischen Theorien der Metaphysik untergeordnet 
Soll eine physikalische Theorie eine Erklärung sein, so 
hat sie ihr Ziel erst erreicht, wenn sie jede Sinneswahmeh- 
mung ausgeschaltet Und die physische Realität erfaßt hat 
So haben uns z. B. die Untersuchungen Newtons über die 
Lichtdispersion gelehrt, die Empfindung, die Licht von der 
Art, wie es die Sonne aussendet, in uns hervorruft, zu zer- 
legen. Sie haben uns gelehrt, daß dieses Licht zusammen- 
gesetzt sei, daß es sich in eine gewisse Anzahl einfacherer 
Lichtarten von bestimmter und unveränderlicher Farbe auf- 
lösen läßt Aber dieses einfache oder monochromatische 
Licht ist noch eine abstrakte und allgemeine Vorstellung einer 
bestimmten Empfindung, es ist noch eine sinnlich wahmehm- i 
bare Erscheinung. Wir haben eine kompliziertere Erscheinung 
in andere einfachere zerlegt, wir sind aber nicht bis zur Wirk- 
I 
I 
Physikalische Theorie und metaphysische Erklärung. 7 
lichkeit gelangt, wir haben keine Erklärung der Farbeneffekte 
gegeben, wir haben keine Lichttheorie konstruiert. 
Somit muß man, um beurteilen zu können, ob eine gewisse 
Gruppe von Lehrsätzen den Titel einer physikalischen Theorie 
verdient, prüfen, ob die Begriffe, die durch diese Lehrsätze 
in Verbindung gebracht werden, in abstrakter und allgemeiner 
Form die Elemente, aus denen die materiellen Dinge wirklich 
bestehen, ausdrücken, oder aber, ob diese Begriffe nur das all- 
gemeine und charakteristische unserer Wahrnehmungen dar- 
stellen. 
Weim eine solche Prüfung einen Sinn haben soll, wenn 
man sich vornehmen will, sie auszuführen, muß man vor allem 
folgende Behauptung als richtig anerkennen: Unter den sinn- 
lichen Erscheinungen, welche sich unseren Wahrnehmungen 
kundgeben, gibt es eine Wirklichkeit, die sich von diesen Er- 
scheinungen unterscheidet. 
Hat man diesem Satze zugestimmt — tind nur wenn dieses 
geschieht, ist das Forschen nach einer physikalischen Erklä- 
rung verständlich — so muß man, um erkennen zu können, 
daß man tatsächlich zu einer solchen Erklärung gelangt ist, 
folgende weitere Frage beantworten: Welcher Art sind die 
Grundbestandteile, die die materielle Wirklichkeit bilden? 
Bei den zwei Fragen: 
Gibt es eine materielle Realität, die sich von den Sinnes- 
erscheinungen unterscheidet? 
Welches ist diese Realität? 
kann man nicht die Experimentaluntersuchung zu Rate 
ziehen. Diese kennt nichts außer den Sinneserscheinungen 
und kann nichts, was über diese hinausgeht, entdecken. Die 
Lösung dieser Fragen geht über die auf Beobachtung be- 
ruhenden Methoden, deren sich die Physik bedient, hinaus, 
sie ist Gegenstand der Metaphysik. 
Wenn somit die physikalischen Theorien die Er- 
klärung der experimentellen Gesetze zum Gegenstand 
haben, ist die theoretische Physik keine autonome Wis- 
senschaft, sondern der Metaphysik untergeordnet. 
8 Erstes Kapitel. 
§ 3. — Auf Orund der vorstehenden Ansicht hängt der 
Wert einer physilcaüschen Theorie vom metaphysischen 
Systemi das man anerlcennt, ab. 
Die Lehrsätze der rein mathematischen Wissenschaften 
sind im höchsten Maße Wahrheiten, die allgemeine Anerken- 
nung finden ; die Schärfe der Ausdrucksweise, die Genauigkeit 
der Beweisführung verhindern, daß Differenzen in den Ansich* 
ten der Mathematiker bestehen bleiben. Durch die Jahrhun- 
derte entfalten sich die Lehren in kontinuierlichem Fortschritt, 
ohne daß etwa früher erworbene Gebiete durch neue Er- 
rungenschaften in Verlust gerieten. 
Es gibt keinen Denker, der nicht der Wissenschaft, in der 
er tätig ist, einen so regelmäßigen und ungestörten Gang 
wünschen würde, wie ihn die Mathematik aufweist, wenn es 
aber eine Wissenschaft gibt, für die dieser Wunsch besonders 
berechtigt erscheint, ist es die theoretische Physik, weil sie 
unter allen Zweigen der Wissenschaften sich zweifellos am wenig- 
sten von der Algebra und Geometrie entfernt. 
Es ist nun nicht das richtige Mittel, der physikalischen Theo- 
rie allgemeine Anerkennung zu verschaffen, wenn man sie in Ab- 
hängigkeit von der Metaphysik bringt. In der Tat könnte kein 
Philosoph, wie viel Vertrauen er auch zu den Methoden, die 
bei Behandlung der metaphysischen Probleme zur Anwendung 
kommen, haben möge, die tatsächliche Wahrheit bestreiten, 
daß, wenn man alle Gebiete, in denen der menschliche Geist 
sich betätigt, Revue passieren läßt, in keinem derselben sie 
in verschiedenen Epochen entstandenen Systeme, ebenso wie 
die Systeme verschiedener Schulen derselben Zeit, sich tief- 
greifender imterscheiden, sich strenger abgrenzen, sich hef- 
tiger bekämpfen als auf dem Gebiete der Metaphysik. 
Wenn die Physik der Metaphysik untergeordnet ist, wer- 
den die Zwistigkeiten, die zwischen den verschiedenen meta- 
physischen Systemen bestehen, sich in das Gebiet der Physik 
verpflanzen. Eine physikalische Theorie, die die Zufriedenheit 
aller Sektierer einer metaphysischen Sdiule erregt, wird von 
den Anhängern einer anderen Schule verworfen werden. 
Physikalische Theorie und metaphysische Eridäning. g 
Betrachten wir z. B. die Wirkungen, die der Magnet auf 
das Eisen ausübt, und nehmen wir einen Augenblick an, wir 
seien Peripatetiker. 
Was lehrt uns die Metaphysik des Aristoteles über die 
wahre Natur der Körper? Jede Substanz und speziell jede 
materielle Substanz geht aus der Vereinigung zweier Elemente, 
eines bleibenden, des Stoffes, und eines veränderlichen, der 
«Form, hervor. Durch Unveränderlichkeit seines Stoffes bleibt 
das Stück Eisen, das ich betrachte, immer unter allen Umstän- 
den dasselbe Stück Eisen; durch die Veränderungen, die 
seine Form erleidet, können die Eigenschaften dieses selben 
Stückes Eisen den Umständen entsprechend wechseln. Es kann 
fest oder flüssig, warm oder kalt sein, die oder jene Qestalt 
annehmen. 
Wird dieses Stück Eisen in den Bereich eines Magneten 
gebracht, so erfährt es in seiner Form eine spezielle Ände- 
rung, die um so intensiver ist, je näher sich der Magnet be- 
findet. Diese Änderung bezieht sich auf das Auftreten den 
beiden Pole, sie ist für das Eisenstück ein Bewegungsprinzip. 
Das Wesen dieses Prinzips ist ein solches, daß jeder Pol sich 
dem Pol des Magneten mit entgegengesetztem Vorzeichen zu 
nähern, sich von dem gleichbezeichneten zu entfernen sucht. 
Die Wirklichkeit, die sich unter den magnetischen Er- 
scheinungen verbirgt, ist für einen peripatetischen Philosophen 
so beschaffen, daß man eine vollständige Erklärung geben 
würde, wenn man alle jene Erscheinungen so weit analysiert 
hätte, bis sie auf die Eigenschaften der magnetischen Quali- 
tät und deren beider Pole zurückgeführt wären. Man hätte 
damit eine vollständig befriedigende Theorie formuliert. Eine 
solche Theorie wurde tatsächlich im Jahre 1629 von Nikolaus 
Cabeol in seiner merkwürdigen „magnetischen Philoso- 
phie'' aufgestellt. 
^) Philosophia magnetica, in qua magnetis natura penitus explicatur 
et omnium quae hoc laptde cerauntur causae propriae affenintur, multa quoque 
dicuntur de electrids et aliis attractionibus, et eonim causis; äuctore Nicoiao 
Cabeo Ferrariensi, Societ. Jesu; Coloniae, apud Joannem Kinciduni, 
anno MDCXXIX. 
10 Erstes Kapitel. 
Ein Peripatetiker könnte sich mit einer Theorie, wie sie 
Pater Cabeo entworfen hat, zufrieden geben, bei einem Philo- 
sophen der Newtonschen Schule, der der Kosmologie des 
Pater Boscovich treu bleibt wäre dies aber nicht mehr 
der FalL ; ' ! j 
Oemäß der Naturphilosophie, die Boscovich^) aus den Prin- 
zipien Newtons und seiner Schüler entwickelt hat, heißt es 
nichts erklären, wenn man die Gesetze der Anziehungen, die 
der Magnet auf das Eisen ausübt, durch eine magnetische 
Änderung der substantiellen Form des Eisens erklärt; es heißt 
geradezu unsere Unkenntnis der Wirklichkeit unter Worten 
verstecken, die lun so besser tönen, je hohler sie sind. 
Die materielle Substanz setzt sich nicht aus Stoff und 
Form zusammen, sondern sie geht aus einer unendlichen Zahl 
von Punkten, denen Ausdehntmg und Qestalt fehlt, die aber 
mit Masse behaftet sind, hervor; zwischen je zwei beliebigen 
dieser Punkte besteht eine gegenseitige Wirkung der An- 
ziehung oder Abstoßung, die dem Produkte der Massen der 
beiden Punkte proportional und eine gewisse Funktion ihres 
Abstandes ist. Unter diesen Punkten gibt es solche, die die 
Körper im eigentlichen Sinne bilden; zwischen diesen Punk- 
ten besteht eine gegenseitige Wirkung; sobald ihr Abstand 
eine gewisse Grenze fiberschreitet, reduziert sich diese Wir- 
kung auf die von Newton erforschte allgemeine Gravitation. 
Andere derselben, die mit dieser Gravitationswirkung nicht 
versehen sind, bilden imponderable Fluida, wie das elektrische 
Fluidtun oder das Wärmefluidum. Entsprechende Annahmen 
über die Massen aller dieser materiellen Punkte, über ihre Ver- 
teilung, über die Art der Fimktionen des Abstandes, von denen 
ihre gegenseitigen Wirkungen abhängen, sollen von allen phy- 
sikalischen Erscheinungen Rechenschaft geben. 
Um zum Beispiel die magnetischen Wirkungen zu er- 
klären, nimmt man an, daß jedes Molekül des Eisens gleiche 
Mengen des süd- und nordmagnetischem Fluidums besitzt und 
^) Theoria philosophiae naturalis redacta ad unicam legem 
virfuin in natura existentium, auctore P. Rogerio Josepho Bosco- 
vich, SodetatU Jesu, Viennae, MDCCLVIII. 
Physikalische Theorie und metaphysische ErkULntng. \l 
daß die Verteilung des Fluidums auf diesem Molekül den Ge- 
setzen der Mechanik entspricht. Die Wirkung, die die beiden 
magnetischen Massen aufeinander ausiiben, ist direkt dem 
Produkt dieser Massen und indirekt dem Quadrat ihres Ab- 
Standes proportional. Die Wirkung ist eine abstoßende oder 
anziehende je nachdem, ob die beiden Massen von gleicher 
oder ungleicher Art sind. Das ist das Wesen der Theorie des 
Magnetismus, die von Franklin, Oepinus, Tobias Mayer und 
Coulomb inauguriert wurde und ihre weiteste Entfaltung in 
den klassischen Abhandlungen Poissons gefunden hat 
Gibt diese Theorie eine Erklärung der magnetischen Er- 
scheinungen, die einen Atomisten zufrieden stellen könnte? 
Sicher nicht. Sie anerkennt die Existenz anziehender oder 
abstoßender Wirkungen zwischen den voneinander entfernten 
Teilchen der magnetischen Fliissigkeit Für einen Atomisten 
sind nun derartige Wirkungen Erscheinungen, die nicht als 
Realitäten aufgefaßt werden können. 
Gemäß den atomistischen Lehren setzt sich die Materie 
aus äußerst kleinen Körpern zusammen, die hart und starr 
sind, verschiedene Form haben, und in ungeheurer Zahl im 
leeren Räume verteilt sind. Wenn zwei solche Teilchen von- 
einander getrennt sind, können sie sich in keiner Weise beein- 
flussen. Nur wenn das eine mit dem anderen in Berührung 
kommt, wenn sie, die beide undurchdringlich sind, aufein- 
anderstoßen, werden ihre Geschwindigkeiten geändert und 
zwar nach festen Gesetzen. Die Größen, Gestalten und Massen 
der Atome, und die Normen, die bei ihren Stößen zur Geltung 
kommen, sollen die einzig befriedigende Erklärung sein, 
welche physikalische Gesetze erhalten können. 
Um die Erklärung der verschiedenen Bewegungen, die 
ein Stück Eisen in Gegenwart eines Magneten erfährt, möglich 
zu machen, wird man sich vorstellen müssen, daß Ströme von 
magnetischen Teilchen, die zwar dicht, dabei aber weder sicht- 
bar noch tastbar sind, aus dem Magneten hervorgehen oder 
in ihn eindringen. Bei ihrer rapiden Fortbewegung stoßen 
diese Teilchen verschiedentlich auf die Moleküle des Eisens, 
und diese Stöße bewirken die Drucke, die eine oberflädiliche 
12 Erstes Kapitel 
Philosophie magnetischen Anziehungen und Abstoßungen zu-r 
schrieb. Das ist das Prinzip einer Theorie der Magnetisierung, 
die bereits Lucretius entworfen hatte und die im 17. Jahrr 
hundert von Qassendi entwickelt und seit dieser Zeit oft wieder 
aufgenommen worden ist 
Werden nicht manche anspruchsvolle Denker dieser Theor 
rie vorwerfen, daß sie nichts erklärt und die Erscheinungen als 
Realitäten nimmt? Das tun die Cartesianer. 
Nach Descartes ist die Materie dem Wesen nach mit der 
Ausdehnung nach Länge, Breite und Tiefe, die die Geometer be« 
handeln, identisch. Man darf nichts anderes als verschiedene Ge- 
stalten und verschiedene Bewegungen in Betracht ziehen. Die 
cartesische Materie ist, wenn man so sagen will, eine Art un- 
geheures Fluidum, das inkompressibel und absolut homogen 
ist. Die harten und unteilbaren Atome, der leere Raum, der 
sie trennt, sind nur Erscheinungen, sind nur Illusionen. Ge:; 
wisse Teile des allgemeinen Fluidums können von dauernden 
Wirbelbewegungen erfüllt sein, diese Wirbel werden den 
groben Augen der Atomisten als unteilbare Teilchen erscheinen; 
Von einem Wirbel zum anderen werden durch das dazwischen 
befindliche Fluidum Drucke fibertragen, die die Anhänger 
Newtons infolge einer unzureichenden Analyse für Feme- 
wirkungen halten. Das sind die Prinzipien einer Physik, deren 
ersten Entwurf Descartes schuf, die Malebranche tiefer er- 
forscht hat, der W. Thomson, gestutzt auf die hydrodynami- 
schen Untersuchungen von Cauchy und Helmholtz, den Um- 
fang und die Präzision, gegeben hat, die die mathematischen 
Systeme heute besitzen. 
EMese cartesianische Physik wäre nicht vollkommen ohne 
eine Theorie des Magnetismus. Schon Descartes hat versucht 
eine solche zu schaffen. Die Spiralen aus feiner Materie, 
welche in dieser Theorie nicht ohne eine gewisse Naivität die 
magnetischen Teilchen von Gassendi ersetzten, haben bei den 
Cartesianem des XIX. Jahrhunderts, den mit weit größerer 
Gelehrsamkeit erdachten Wirbeln Maxwells Platz gemacht. 
So sehen wir jede philosophische Schule eine Theorie 
predigen, welche die magnetischen Erscheinungen auf die Elet 
Physikalische Theorie und metaphysische Eridärung. 13 
menfe zuruckfflhrt, die das Wesen der Materie bilden. Aber 
die anderen Schulen verwerfen diese Theorie oder werden 
wenigstens durch ihre Prinzipien verhindert, in ihr eine be- 
friedigende Erklärung des Magnetismus zu finden. 
§ 4. — Der Streit über die verborgenen Ursachen. 
Sehr häufig nehmen die Vorwürfe, die eine kosmologische 
Schule gegen die andere richtet, die Form an, daß die eine 
die andere der Berufung auf verborgene Ursachen an- 
klagt. 
Die großen kosmologischen Schulen — die peripatetische, 
die Newtonsche, die atomistische und die cartesianische — 
können in eine solche Reihenfolge gebracht werden, daß jede 
derselben der Materie eine kleinere Zahl wesentlicher Eigen- 
schaften zubilligt, als es die in der Reihe folgenden tun. 
Die peripatetische Schule setzt die Substanz der Körper 
nur aus zwei Elementen, dem Stoff und der Form, zusammen. 
Aber diese Form kann Eigenschaften annehmen, deren Zahl 
ohne Grenzen ist. So kann jede physikalische Eigenschaft 
einer besonderen Qualität zugeschrieben werden, sie kennt 
wahrnehmbare Eigenschaften, die direkt unseren Sinnen zu- 
gänglich sind, wie die Schwere, die Dichte, das Flüssigsein, 
die Wärme, das Licht und verborgene Eigenschaften, die 
ihre Wirkungen unseren Sinnen nur in indirekter Weise kund- 
geben, wie die Magnetisierung oder die Elektrisierung. 
Die Anhänger Newtons verwerfen diese unendliche Man- 
nigfaltigkeit von Eigenschaften, lun in einem hohen Grad den 
Begriff der materiellen Substanz zu vereinfachen. Als Ele- 
mente der Materie lassen sie einzig Massen, gegenseitige Wir- 
kungen und Gestalten bestehen, wenn sie nicht wie Boscovich 
und mehrerer seiner Nachfolger so weit gehen, dieselben auf 
Punkte ohne Ausdehnung zu reduzieren. 
Noch weiter geht die atomistische Schule. Nach ihr be- 
halten die materiellen Elemente Masse, Gestalt und Härte, 
aber die Kräfte, durch welche sie sich gemäß der Newtonschen 
Schule gegenseitig beeinflussen, verschwinden aus dem Reiche 
14 &Bte8 KapiteL 
der Wirklichkeit, sie werden nur als Erscheinungen und Fik- 
tionen betrachtet 
Die Cartesianer endlich treiben die Tendenz, die mate- 
rielle Substanz der verschiedenen Eigenschaften zu berauben» 
auf die Spitze. Sie verwerfen die Härte der Atome, sie ver- 
werfen selbst die Unterscheidung des erfüllten vom leeren 
Räume, um die Materie nach einem Wort von Leibniz^) mit 
„der Ausdehnung und ihrer bloßen Änderung'^ zu identifizieren. 
So läßt jede kosmologische Schule in ihren Erklärungen 
gewisse Eigenschaften der Materie zu, welchen die folgende 
Schule die Anerkennung als Realitäten verweigert, die sie bloß 
als Worte betrachtet, die die viel tiefer liegenden Realitäten 
anzeigen ohne sie aufzudecken, die sie mit einem Wort zu 
den verborgenen Ursachen rechnet, die die Scholastik im 
Oberfluß geschaffen hat. 
Es ist kaum nötig daran zu erinnern, daß alle anderen 
kosmologischen Schulen es verstanden haben, der peripate- 
tischen ihr Arsenal von Eigenschaften vorzuwerfen, welches 
sie in der substantiellen Form unterbringt, ein Arsenal, das 
jedesmal, wenn es sich darum handelte, ein neues Phänomen 
zu erklären, durch eine neue Eigenschaft bereichert wurde. 
Aber die peripatetische Physik war keineswegs die einzige» 
die solche Vorwürfe zu ertragen hatte. 
Die in der Entfernung bewiricten Anziehungen und Ab- 
stoßungen, die die Anhänger Newtons den materiellen Ele- 
menten zuschreiben, halten die Atomisten und Cartesianer für 
eine jener bloßen Worterklärungen, wie sie in der alten Scho- 
lastik üblich waren. Die „Prinzipien" Newtons hatten noch 
kaum das Tageslicht erblickt, als sie bereits die Spöttereien 
des atomistischen Clans, der sich um Huygens scharte, er- 
regten: „Was die Ursache von Ebbe und Flut betrifft, die 
Herr Newton angibt", schrieb Huygens an Leibniz^), „so gebe 
ich mich damit absolut nicht zufrieden, ebensowenig wie mit 
') Leibniz: Oeuvres, Edition Gerhardt, t. IV. p. 464. 
*) Huygens k Leibniz, 18. novembre 1690 (Oeuvres compl^tes 
de Huygens, t IX. p. 528.) 
Physikalische Theorie und metaphysische Erklärung. 15 
seinen andern Theorien, die er auf sein Anziehüngsprinzip, 
das mir absurd erscheint, stützt'^ 
Wenn Descartes in jener Epoche gelebt hätte, würde er 
in analoger Weise gesprochen haben, wie Huygens. In der 
Tat hat Pater Mersenne ihm ein Werk von Roberval^) vor- 
gelegt, in dem dieser Autor lange vor Newton eine allge- 
meine Gravitation annahm. Am 20. April 1646 drückte Des- 
cartes seine Meinung darüber folgendermaßen aus:^) 
„Nichts ist absurder als die dem vorangehenden hinzu- 
gefugte Annahme: der Autor nimmt an, daß eine gewisse 
Eigenschaft jedem einzelnen Teil der Materie der Welt zu- 
kommt, und daß kraft dieser Eigenschaft der eine zum andern 
gebracht wird und sie sich gegenseitig anziehen; er nimmt 
auch an, daß eine gleiche Eigenschaft jedem Teil der Erde 
in Beziehung zu den andern Teilen der Erde zukommt, und 
daß diese Eigenschaft keineswegs die vorherige stört. Um 
das zu begreifen, muß man nicht nur annehmen, daß jedes der 
materiellen Teilchen belebt ist und sogar von einer großen 
Zahl von verschiedenen Seelen, die einander nicht stören, be- 
lebt ist, sondern auch daß diese Seelen der materiellen Par- 
tikeln mit Bewußtsein begabt sind, daß sie wahrhaftig gött- 
lich sind, damit sie ohne ein Zwischenmedium erkennen können, 
was an sehr entfernten Orten geschieht und so dort ihre 
Wirkungen ausüben können.'^ 
Die Cartesianer stimmen soweit mit den Atomisten über- 
ein, wenn es sich darum handelt, die Femewirkung, auf welche 
sich die Anhänger Newtons in ihren Theorien berufen, als 
verborgene Ursache zu verdammen. Aber die Cartesianer wen- 
den sich sofort auch gegen die Atomisten und verurteilen 
mit derselben Strenge die Härte und Unteilbarkeit, welche 
*) Aristarchi Samii De mundi systemate, partibus et motibus 
ejasdem, liber singularis; Parisiis 1643. — Dieses Werk wurde 1647 
in dem Band III der Cogitata physico-mathematica von Mersenne 
reproduziert. 
*) Descartes: Correspondance, Edition P. Tannery etCh. Adam 
no CLXXX t IV. p. 396. 
16 Erstes Kapitel. 
diese ihren Partikeln zuschreiben. y^Eine andere Sache, 
welche mir mißfällt^S schreibt^) der Cartesianer Denis Papin 
an den Atomisten Huygens, »»ist . . . ., daß Sie die vollkom- 
mene Härte zum eigentlichen Wesen der Körper rechnen. 
Es scheint mir, daß man damit eine inhärierende Qualität 
voraussetzt, die uns von den mathematischen oder mecha- 
nischen Prinzipien entfernt." Eter Atomist Huygens beur- 
teilte allerdings nicht weniger streng die cartesianische Mei- 
nung: „Die andere Schwierigkeit, die Sie erheben", antwor- 
tete er Papin,2) „ist, daß ich annehme, daß die Härte zum 
eigentlichen Wesen der Körper gehört, anstatt mit Herrn Des- 
cartes nur ihre Ausdehnung hierzu zu rechnen. Daraus sehe 
ich, daß Sie sich noch nicht von dieser Meinung befreit haben, 
die ich seit langem als ganz absurd betrachte." 
Es ist nun wohl klar, daß wenn man die theoretische 
Physik in Abhängigkeit von der Metaphysik bringt, man nicht 
dazu beiträgt, ihr den Vorteil der allgemeinen Anerkennung 
zu sichern. 
§ 5. — Kein metaphysisches System reicht für den 
Aufbau einer physikalischen Theorie aus. 
Jede metaphysische Schule wirft ihren Rivalen vor, daß 
sie in ihren Erklärungen zu Begriffen greifen, die selbst un- 
erklärt, die wirklich verborgenen Qualitäten seien. Könnte sie 
nicht beinahe immer diesen Vorwurf an sich selbst richten? 
Damit die Philosophen, welche einer gewissen Schule an- 
gehören, vollständig mit einer von den Physikern derselben 
Schule ausgebauten Theorie zufrieden sind, müssen alle Prin- 
zipien, welche in dieser Theorie angewendet werden, aus der 
Metaphysik abgeleitet worden sein, zu welcher sich diese 
Schule bekennt. Wenn man sich im Verlaufe der Erklärung 
eines physikalischen Phänomens auf irgend ein Gesetz be- 
*) Denis Papin k Christiaan Huygens, 18. Juni 1690. (Oeuvres 
compl^tes de Huygens t IX. p. 429.) 
■) Christiaan Huygens ä Denis Papin, 2. September 1690. 
(Oeuvres compl^tes de Huygens t IX. p. 484.) 
Physikalische Theorie und metaphysische Erklärung. 17 
rufen hat, welches diese Metaphysik nicht beweisen kann, ist 
die Erklärung nicht gelungen, hat die physikalische Theorie 
ihr Ziel nicht erreicht. 
Keine Metaphysik gibt nun so scharfe und so detaillierte 
Anweisungen, daß es möglich wäre, aus ihnen die Elemente 
einer physikalischen Theorie abzuleiten. 
In der Tat bestehen die Anweisungen, die eine meta- 
physische Lehre in betreff der wahren Natur der Körper 
gibt, meistens aus Negationen. Die Peripatetiker, und auch 
die Cartesianer leugnen die Möglichkeit eines leeren Raumes. 
Die Anhänger Newtons verwerfen jede Eigenschaft, welche 
sich nicht auf eine Kraft, die zwischen materiellen Punkten 
besteht, zurückführen läßt. Die Atomisten und Cartesianer 
leugnen jede Fernewirkung. Die Cartesianer anerkennen kei- 
nen anderen Unterschied zwischen den verschiedenen Teilen 
der Materie als den der Gestalt und Bewegung. 
Alle diese Negationen liefern gute Argumente, wenn man 
eine von einer gegnerischen Schule stammende Theorie ver- 
dammen will, sie bleiben aber merkwürdig unfruchtbar, wenn 
man aus ihnen die Prinzipien einer physikalischen Theorie 
abzuleiten wünscht. 
Descartes zum Betspiel leugnet, daß die Materie ein 
anderes Merkmal besitze als die Ausdehnung nach Länge, 
Breite und Tiefe und deren verschiedene Formen, d. h. keine 
anderen als Gestalten und Bewegungen. Wenn aber diese 
Größen allein gegeben sind, kann er die Erklärung eines phy- 
sikalischen Gesetzes nicht einmal beginnen. 
Zum allermindesten müßte er, bevor er den Aufbau irgend 
einer Theorie versucht, die allgemeinen Regeln kennen, welche 
bei den verschiedenen Bewegungen zur Geltung kommen. 
Ooch er geht sogleich daran, aus seinen metaphysischen Prin- 
zipien eine Dynamik abzuleiten. 
Die Vollkommenheit Gottes erfordert, daß sein Wille un- 
wandelbar sei; aus dieser Unwandelbarkeit ergibt sich die 
Konsequenz: Gott erhält die Menge der Bewegung in der 
Welt, welche er ihr am Anfang gegeben hat, unveränderlich. 
Aber diese Konstanz der Bewegungsmenge in der Welt 
Dnhem, Physikalische Theorie. 2 
18 Erstes Kapitel. 
ist noch kein Prinzip, welches genügend scharf und genügend 
definiert ist, um auch nur eine Gleichung der Dynamik auf- 
schreiben zu können. 
Es muß von uns quantitativ formuliert werden, was da- 
durch geschieht, daß der in den bisherigen Entwicklungen 
enthaltene allzu vage Begriff der Bewegüngsmenge in 
einen vollständig bestimmten algebraischen Ausdruck über- 
setzt wird. 
Welcher mathematische Sinn wird also vom Physiker dem 
Worte Bewegungsmenge zugeschrieben? 
Nach Descartes würde die Bewegungsmenge jedes ma- 
teriellen Teilchens das Produkt aus seiner Masse — oder aus 
seinem Volumen, das in der cartesischen Physik mit der Masse 
identisch ist — in die Geschwindigkeit, die es besitzt, sein. 
Die Bewegungsmenge der ganzen Materie würde die Summe 
der Bewegungsmengen der einzelnen Teile sein. Diese 
Summe wird bei jeder physikalischen Änderung einen unver- 
änderlichen Wert behalten. 
Die Kombination von algebraischen Größen, durch die 
Descartes den Begriff Bewegungsmenge auszudrücken sucht, 
entspricht sicheriich den Erwartungen, die unsere instinktiven 
Kenntnisse von vornherein in bezug auf einen solchen Ausdruck 
hegten. Er ist null für ein unbewegliches System, dagegen 
immer positiv für eine Gruppe von Körpern, die sich in Be- 
wegung befinden. Sein Wert wächst, wenn eine gegebene 
Masse ihre Geschwindigkeit erhöht, und ebenso steigt er, wenn 
man die Masse vergrößert, die eine gewisse Geschwindigkeit 
besitzt. Aber eine Unzahl anderer Ausdrücke hätten eben- 
sogut diesen Bedingungen genügt. An Stelle der Geschwin- 
digkeit hätte man bekanntlich auch das Quadrat der Geschwin- 
digkeit setzen können. Man würde dann einen algebraischen 
Ausdruck erhalten, der mit dem übereinstimmt, den Leibniz 
als lebendige Kraft bezeichnet. Anstatt die Konstanz der 
cartesischen Bewegungsmenge hätte man aus der Unwandel- 
barkeit Gottes auch die Konstanz der Leibnizschen lebendigen 
Kraft ableiten können. 
Ohne Zweifel stimmt also das Gesetz, das Descartes als 
Physikalische Theorie und metaphysische Erklärung. 19 
Grundlage der Oynamlk festzusetzen sucht, mit der cartesi- 
sehen Metaphysik überein. Aber es ist keine notwendige Folge 
derselben. Wenn also E>escartes zeigt, daß gewisse physi- 
kalische Erscheinungen nur Folgen eines solchen Gesetzes sind, 
so beweist er allerdings, daß diese Erscheinungen ru den 
Prinzipien seiner Philosophie nicht in Widerspruch stehen, 
aber er erklärt sie nicht aus seinen Prinzipien. 
Was wir eben vom Cartesianismus gesagt haben, kann 
man bezüglich einer jeden metaphysischen Lehre wiederholen, 
welche beansprucht, als Grundlage einer physikalischen Theorie 
betrachtet ru werden. Stets sind in einer solchen Theorie ge- 
wisse Annahmen getroffen, die keineswegs die Prinzipien der 
metaphysischen Lehre zur Grundlage haben. Die Anhänger 
von Boscovich nehmen an, daß alle Anziehungen oder Ab- 
stoßungen, die in wahrnehmbarer Entfernung erfolgen, um- 
gekehrt proportional dem Quadrat der Entfernung sind. CMese 
Annahme ermöglicht ihnen eine Mechanik des Himmels, eine 
Mechanik der Elektrizität, eine Mechanik des Magnetismus 
auszubilden. Aber diese Form des Gesetzes ist ihnen durch 
den Wunsch diktiert, ihre Erklärungen mit den Tatsachen in 
Obereinstimmtmg zu bringen, sie ist nicht eine notwendige 
Folge ihrer Philosophie. Die Atomisten nehmen an, daß die 
Stöße der Atome einem gewissen Gesetz folgen. Aber 
dieses Gesetz leitet man nicht aus der epikuräischen Philo- 
sophie ab, sondern es ist eine merkwürdig kühne Erweiterung 
eines anderen Gesetzes auf die Welt der Atome, eines Ge- 
setzes, welches man nur an Massen studieren kann, die ge- 
nügend groß sind, um unseren Sinnen wahrnehmbar zu sein. 
Es ist somit unmöglich, aus einem metaphysischen System 
alle diejenigen Elemente abzuleiten, die nötig sind, um eine 
physikalische Theorie zu schaffen. Eine solche macht stets 
von Annahmen Gebrauch, welche durch das System nicht ge- 
geben sind und infolgedessen für die Anhänger desselben 
Mysterien bleiben. Stets liegt Unerklärtes den Erklärungen zu 
Grunde, die das System zu geben behauptet 
20 Zweites Kapitel. 
Zweites Kapitel. 
Physikalische Theorie und naturgemäße Klassifikation. 
§ 1. — Die wahre Natur der physikalischen Theorie und 
die Operationen, durch die sie zustande kommt 
Wenn man eine physikalische Theorie als hypothetische 
Erklärung der materiellen Wirklichkeit betrachtet, bringt man sie 
in Abhängigkeit von der Metaphysik. Man gibt ihr damit eine 
Form, die keineswegs geeignet ist, ihr die Anerkennung der 
großen Mehrzahl der Denker zu verschaffen, man beschränkt 
im Gegenteil die Zustimmung auf jene, die sich zu der Philo- 
sophie bekennen, auf die sie sich beruft. Aber auch diese 
selbst fühlen sich von dieser Theorie nicht vollkommen be- 
friedigt, denn sie leitet nicht alle ihre Prinzipien aus der meta- 
physischen Lehre ab, von der sie auszugehen behauptet. 
Diese Gedanken, die den Gegenstand des vorhergehenden 
Kapitels bildeten, führen uns naturgemäß dazu, uns die folgenden 
zwei Fragen zu stellen: 
Könnte man nicht das Ziel der physikalischen Theorie so 
bestimmen, daß sie selbständig würde? Wird sie auf Prinzipien 
gegründet, die nicht irgend einer metaphysischen Lehre ent- 
stammen, dann wird sie für sich beurteilt werden können, und 
die Meinungen der verschiedenen Physiker über sie werden in 
keiner Weise von den verschiedenen philosophischen Schulen 
abhängen, zu denen diese sich zählen mögen. 
Könnte man nicht eine Methode ersinnen, die ausreichend 
wäre, um eine physikalische Theorie zu schaffen? Eine Theorie, 
die in Übereinstimmung mit ihrer eigenen Definition ist, wird 
kein Prinzip anwenden, wird auf keine Voraussetzung Bezug 
nehmen, von der sie nicht berechtigterweise Gebrauch machen 
kann. 
Dieses Ziel und diese Methode wollen wir festsetzen und 
studieren: 
Von jetzt an sei folgende Definition der physikalischen 
Theorie aufgestellt, die im Veriaufe unserer Ausführungen sich 
klären und deren ganzer Inhalt hervortreten wird: 
Eine physikalische Theorie ist keine Erklärung. 
Physikalische Theorie und natuiigemäße Klassifikation. 21 
Sie ist ein System mathematischer Lehrsätze, die aus 
einer kleinen Zahl von Prinzipien abgeleitet werden und 
den Zweck haben, eine zusammengehörige Gruppe 
experimenteller Gesetze ebenso einfach, wie vollständig 
und genau darzustellen. 
Um diese Definition schon jetzt ein wenig zu präzisieren, 
charakterisieren wir die vier aufeinander folgenden Operationen, 
durch welche eine physikalische Theorie entsteht: 
1. Unter den physikalischen Eigenschaften, die wir darstellen 
wollen, wählen wir diejenigen, die wir als einfache Eigen- 
schaften betrachten, aus, während wir die anderen als Gruppen 
und Kombinationen jener auffassen. Wir ordnen ihnen, durch 
geeignete Meßmethoden, entsprechend viele mathematische 
Symbole, Zahlen, Größen zu. Diese mathematischen Symbole 
haben mit den Eigenschaften, die sie repräsentieren, von Natur 
aus keine Beziehung. Ihre einzige Beziehung ist die des Zeichens 
mit dem Bezeichneten. Durch die Meßmethoden kann man jedem 
Zustand einer physikalischen Eigenschaft einen Wert des re- 
präsentierenden Symbols zuordnen und umgekehrt. 
2. Wir verbinden die verschiedenen Arten derartig ein- 
geführter Größen untereinander in einer kleineren Zahl von Glei- 
chungen, die als Prinzipien für unsere Deduktionen dienen sollen. 
Diese Prinzipien können — im etymologischen Sinn des Wortes — 
als Hypothesen bezeichnet werden, denn sie sind wirklich die 
Grundlagen, auf denen sich die Theorie erhebt. Aber sie 
machen in keiner Weise den Anspruch, tatsächliche Beziehungen 
der realen Eigenschaften der Körper anzugeben. Diese Hypo- 
thesen können demnach in willkürlicher Weise formuliert werden. 
Der logische Widerspruch sowohl zwischen den Gliedern ein 
und derselben Hypothese als auch unter den verschiedenen 
Hypothesen derselben Theorie ist die einzige absolut unüber- 
schreitbare Schranke, vor der diese Willkür Halt macht. 
3. Die verschiedenen Prinzipien oder Hypothesen einer 
Theorie sind miteinander gemäß den Regeln der mathematischen 
Analysis verbunden. Die Erfordernisse der algebraischen Logik 
sind die einzigen, denen der Theoretiker beim Gange der Ab- 
leitung genügen muß. Die Größen, auf welchen seine Rechnungen 
22 Zweites Kapitel. 
beruhen, erheben keineswegs den Anspruch, physische Realitäten 
zu sein, die Prinzipien, auf die er sich bei seinen Deduktionen 
stützt, geben sich keineswegs als der Ausdruck tatsächlicher 
Beziehungen zwischen solchen Realitäten aus. Es ist somit 
belanglos, ob die Operationen, welche er ausfuhrt, realen oder 
auch nur begreifbaren physikalischen Veränderungen entsprechen 
oder nicht. Alles, was man rechtmäßig von ihm fordern darf, 
ist, daß seine Schlüsse zutreffend und seine Rechnungen richtig 
seien. 
4. Die verschiedenen Konsequenzen, die man so aus den 
Hypothesen gefolgert hat, können in ebensoviele Aussagen Ober 
die physikalischen Eigenschaften der Körper fibersetzt werden. 
Die Methoden, die diese physikalischen Eigenschaften zu defi- 
nieren und zu messen gestatten, sind gleichsam ein Vokabularium, 
gleichsam ein Schlüssel, der diese Übersetzung ermöglicht. Diese 
Aussagen vergleicht man mit den experimentellen Gesetzen, die 
die Theorie darstellen soll. Wenn sie mit diesen Gesetzen in 
der Annäherung, wie es die angewendeten Meßmethoden zu- 
lassen, übereinstimmen, hat die Theorie ihr Ziel erreicht, sie 
wird als gut erklärt. Wenn dies nicht der Fall ist, so ist sie 
schlecht, sie muß geändert oder ganz verworfen werden. 
Sonach ist als richtige Theorie nicht die anzusehen, die 
eine der Wirklichkeit entsprechende Erklärung der physikalischen 
Erscheinungen gibt, sondern die, die eine Gruppe experimenteller 
Gesetze befriedigend darstellt. Eine falsche Theorie ist nicht 
ein Erklärungsversuch, welcher auf Annahmen gegründet ist, die 
der Wirklichkeit widersprechen, sondern eine Gruppe von 
Gleichungen, welche nicht mit den experimentellen Gesetzen 
übereinstimmen. Die Übereinstimmung mit der Erfahrung 
ist das einzige Kriterium der Wahrheit für eine physi- 
kalische Theorie. 
Die Definition, welche wir eben skizzierten, unterscheidet 
an einer physikalischen Theorie vier fundamentale Operationen: 
1. Die Definition und das Maß der physikalischen Größen. 
2. Die Wahl der Hypothesen. 
3. Die mathematische Entwicklung der Theorie. 
4. Die Vergleichung der Theorie mit dem Experiment. 
Physikalische Theorie und naturgemäße Klassifikation. 23 
Jede dieser Operationen wird uns in dieser Schrift lange 
beschäftigen, denn jede von ihnen bietet Schwierigkeiten, die 
die sorgfältigste Analyse erfordern. Es ist uns aber bereits 
jetzt möglich, einige Fragen zu beantworten, einige Entgegnungen 
zu wideriegen, welche durch die vorli^ende Definition der 
physikalischen Theorie angeregt werden. 
§ 2. — Welchen Nutzen hat eine physikalische Theorie? 
Die Theorie als Ökonomie des Denkens. 
Und wozu kann nun eine solche Theorie dienen? 
In betreff der wahren Natur der Dinge, in betreff der Reali- 
täten, welche sich unter den Phänomenen, die wir studieren, 
verbergen, lehrt uns eine nach dem eben entwickelten Plane 
entworfene Theorie absolut nichts und beansprucht auch nicht 
diesbezüglich etwas zu lehren. Welchen Nutzen hat sie also? 
Welchen Vorteil finden die Physiker darin, die Gesetzmäßigkeiten, 
die uns das Experiment direkt liefert, durch ein System sie 
darstellender, mathematischer Lehrsätze, zu ersetzen? 
Vor allem ersetzt die Theorie eine sehr große Zahl von 
Gesetzen, die uns als unabhängig voneinander gegenObertreten, 
deren jedes für sich gelernt und behalten werden müßte, durch 
eine ganz kleine Zahl von Sätzen, von grundlegenden Hypothesen. 
Kennt man einmal die Hypothesen, so ermöglicht eine voll- 
kommen sichere mathematische Deduktion, die weder Lücke 
noch Wiederholung aufweist, alle physikalischen Gesetze wieder 
zu finden. Eine derartige Kondensation einer Menge von Ge- 
setzen in eine kleine Zahl von Prinzipien ist eine ungeheure 
Erleichterung für den menschlichen Verstand, der ohne einen 
derartigen Kunstgriff die neuen Reichtümer, die er täglich tsr- 
wirbt, nicht unterbringen könnte. 
Die Reduktion der physikalischen Gesetze auf Theorien trägt 
indirekt zu der Ökonomie des Denkens bei, in der Herr E. 
Mach ^) das Ziel, das Richtungsprinzip der Wissenschaft erblickt. 
^) E. Mach, Die ökonomische Natur der physikalischen For- 
schung (Populärwissenschaftliche Vorlesungen, III. Auflage, Leipzig 
1903. XIII^ p. 215). — Die Mechanik in ihrer Entwicklung, historisch- 
kritisch dargestellt. Leipzig 1904. V.Aufl.. Kap. IV. Art.4: Die Ökonomie 
der Wissenschaft, p. 521. [In der franz. Ausgabe Paris 1904, p. 449.] 
24 Zweites Kapitel. 
Das experimentelle Gesetz repräsentierte bereits eine erste 
Ökonomie des Denkens. Der menschliche Geist hatte eine 
ungeheure Zahl von konkreten Tatsachen vor sich, deren jede 
in der Verwicklung vieler einander unähnlicher Details bestand. 
Kein Mensch könnte die Kenntnis aller dieser Tatsachen 
eriangen und behalten, keiner könnte sie seinen Mitmenschen 
mitteilen. Ist aber die Abstraktion ins Spiel getreten, so läßt sie 
das Eigenartige, Individuelle jeder dieser Tatsachen beiseite, 
sucht was an ihrer Gesamtheit allgemein und gemeinsam ist, 
und ersetzt so diese ungeheure Menge von Tatsachen durch 
einen einzigen Satz, der im Gedächtnis wenig Raum einnimmt 
und leicht im Unterricht mitteilbar ist. Die Abstraktion hat so 
ein physikalisches Gesetz formuliert. 
„Statt z. B. die verschiedenen vorkommenden Fälle der Licht- 
brechung uns einzeln zu merken, können wir alle vorkommenden 
sofort nachbilden oder vorbilden, wenn wir wissen, daß der 
einfallende, der gebrochene Strahl und das Lot in einer Ebene 
liegen und -r-^ = n ist. Wir haben dann statt der unzähligen 
Brechungsfälle bei verschiedenen Stoffkombinationen und Ein- 
fallswinkeln nur diese Anweisung und die Werte der n zu 
merken, was viel leichter angeht. Die ökonomische Tendenz 
ist hier unverkennbar."^) 
Die Ökonomie, die aus der Ersetzung der Einzeltatsachen 
durch Gesetze hervorgeht, verdoppelt der menschliche Geist, 
indem er die Gesetze in Theorien verdichtet. Was das Brechungs- 
gesetz gegenüber den unzähligen Tatsachen der Brechung, be- 
deutet die optische Theorie gegenüber den endlos verschiedenen 
Gesetzen der Lichtphänomene. 
Von den Lichtphänomenen hatten die Alten nur eine sehr 
kleine Zahl in Gesetzen zusammengefaßt. Die einzigen optischen 
Gesetze, die sie kannten, waren das der geradlinigen Fortpflanzung 
des Lichtes und die der Reflexion. Dieser mäßige Bestand wurde 
In der Zeit von Descartes um das Brechungsgesetz vermehrt. 
^) E. Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung historisch- 
kritisch dargestellt Leipzig 1904, V. Aufl., p. 526. [In der franz. Aus- 
gabe Paris 1904, p. 453.] 
Physikalische Theorie und nahirgemäße Klassifikation. 25 
Eine so eingeschränkte Optik konnte eine Theorie entbehren. 
Es war leicht jedes Gesetz für sich zu studieren und zu lehren. 
Wäre es dagegen einem Physiker, der die moderne Optik 
studieren will, möglich, ohne Hilfe einer Theorie eine auch nur 
oberflächliche Kenntnis dieses ungeheuren Gebietes zu eriangen? 
Die Tatsachen der einfachen Brechung, der Doppelbrechung 
durch ein- oder zweiachsige Kristalle, der Reflexion an isotropen 
und kristallisierten Medien, der Interferenz, der Beugung, der 
Polarisation durch einfache oder doppelte Brechung, der Rotations- 
polarisation usw., alle diese großen Kategorien von Phänomenen 
ermöglichen die Formulierung einer Menge von Gesetzmäßig- 
keiten, deren Zahl und Verwicklung das aufnahmsfähigste und 
veriäßlichste Gedächtnis erschrecken würde. 
Die optische Theorie tritt hinzu, sie bemächtigt sich aller 
dieser Gesetze und verdichtet sie in eine kleine Zahl von Prin- 
zipien. Aus diesen Prinzipien kann man jederzeit exakt und 
sicher das Gesetz, von dem man Gebrauch machen will, ab- 
leiten. Man braucht sich sodann nicht mehr alle diese Gesetze, 
sondern nur die Prinzipien, auf denen sie beruhen, zu merken. 
Dieses Beispiel läßt uns auf das deutlichste den Weg er- 
kennen, auf dem die physikalischen Wissenschaften vorwärts 
schreiten. Ununterbrochen bringt der Experimentator bisher 
nicht vermutete Tatsachen ans Tageslicht und formuliert neue 
Gesetze. Damit aber der menschliche Geist die Reichtumer 
beherbergen kann, ersinnt der Theoretiker ununterbrochen Dar- 
stellungsarten, die immer kondensierter, Systeme, die immer 
ökonomischer werden. Die Entwicklung der Physik bewirkt 
einen fortwährenden Kampf zwischen „der Natur, die nicht 
müde wird. Neues zu zeigen** und dem Verstand, der „nicht 
müde werden will, zu begreifen". 
§ 3. — Die Auffassung der Theorie als Klassifikation. 
Die Theorie besteht nicht nur in einer ökonomischen Dar- 
stellung der experimentellen Gesetze, sondern auch in einer 
Klassifikation derselben. 
Die experimentelle Physik liefert uns alle Gesetze ge- 
meinsam, sozusagen im gleichen Felde, ohne sie in Gruppen 
26 Zweites Kapitel. 
von Gesetzen zu teilen, denen eine Art Verwandtschaft zu- 
kommt Sehr oft sind es ganz zufällige Gründe, ganz ober- 
flächliche Analogien, die die Beobachter dazu geführt haben, 
in ihren Veröffentlichungen ein Gesetz neben einem anderen 
zu behandeln. So hat Newton in dem gleichen Werke die 
Gesetze über die Dispersion des Lichtes beim Ehirchgang durch 
ein Prisma, und die Gesetze der Farben, die eine Seifenblase 
schmücken, behandelt, einfach deshalb, weil die Augen auf 
diese beiden Arten von Phänomenen durch auffallende Farben 
aufmerksam werden. 
Im Gegensatz dazu stellt die Theorie bei der Entwicklung 
der zahlreichen Verzweigungen der deduktiven Schlußfolge- 
rungen, welche die Prinzipien mit den experimentellen Ge- 
setzen verbinden, unter letzteren eine Ordnung und Klassi- 
fikation her. Es gibt solche, die sie, eng aneinandergeschlos- 
sen, in derselben Gruppe vereinigt, wieder andere, die sie von- 
einander trennt und in zwei äußerst weit entfernten Gruppen 
unterbringt. Sie gibt sozusagen das Verzeichnis und die Titel 
der Kapitel an, in welche die zu studierende Wissenschaft 
methodisch zerfällt, und bestimmt die Gesetze, die in jedes 
dieser Kapitel eingeordnet werden sollen. 
So setzt sie neben die Gesetze des durch ein Prisma 
hervorgerufenen Spektrums die Gesetze der Farben des Regen- 
bogens. Die Gesetze aber, denen die Farben der Newtonschen 
Ringe Unterliegen, bringt sie in ein ganz anderes Gebiet, indem 
sie sie mit den Gesetzen der von Young und Fresnel ent- 
deckten Interferenzstreifen vereinigt. In einer anderen Klasse 
werden wieder die feinen, von Grimaldi untersuchten Farben 
in ihrer Verwandtschaft mit den von Fraunhofer hergestellten 
Beugungsspektren betrachtet. EHe Gesetze aller dieser Phä- 
nomene, die ein einfacher Beobachter infolge ihrer auffallen- 
den Farben untereinander mengt, werden durch die Bemü- 
hungen des Theoretikers klassifiziert und geordnet. 
Klassifizierte Erkenntnisse sind leicht anwendbar und 
sicher zu gebrauchen. Aus kunstgerechten Werkzeugkästen, 
in denen die Instrumente, die demselben Zweck dienen, bei- 
einander liegen, diejenigen aber, die verschiedene Aufgaben 
Physikalische Theorie und natuigemäße Klassifikation. 27 
haben, durch Scheidewände getrennt sind, nimmt der Arbeiter 
blitzschnell, ohne Zögern oder Ängstlichkeit, das Werkzeug, 
das er braucht. Dank der Theorie findet der Physiker mit 
Sicherheit, ohne Wesentliches außer acht zu lassen oder Über- 
flüssiges anzuwenden, die Gesetze, die ihm zur Lösung eines 
gegebenen Problemes dienlich sein können. 
Überall, wo Ordnung herrscht, herrscht auch Schönheit. 
Die Theorie bewirkt daher nicht nur, daß die Gruppe von 
physikalischen Gesetzen, die sie darstellt, leichter, bequemer 
und fruchtbringender anwendbar werden, sondern daß sie auch 
schöner wird. 
Verfolgt man den Gang einer der großen Theorien der 
Physik, wie sie sich majestätisch entfaltet, wie aus den ersten 
Hypothesen ihre geordneten Deduktionen folgen, wie ihre Er- 
gebnisse eine Fülle experimenteller Gesetze bis ins kleinste 
Detail darstellen, dann ist es ausgeschlossen, daß man nicht 
von der Schönheit eines solchen Baues hingerissen wird, daß 
man nicht eine solche Schöpfung des menschlichen Geistes 
als wahres Kunstwerk empfindet. 
§4. — Die Theorie hat die Tendenz sich in eine natur- 
gemäße Klassifikation umzuformen.^) . 
Dieses ästhetische Gefühl ist nicht das einzige Gefühl, 
welches eine Theorie, die einen hohen Grad der Vollkommen- 
heit erreicht hat, hervorruft Sie erweckt in uns auch die Über- 
zeugung, daß sie als naturgemäße Klassifikation betrachtet 
werden müsse. 
Was ist nun eine naturgemäße Klassifikation? Was will, 
zum Beispiel, ein Naturforscher sagen, wenn er eine natur- 
gemäße Klassifikation der Wirbeltiere aufstellt? 
Die Klassifikation, die er ersonnen hat, besteht in einem 
Zusammenhang geistiger Operationen. Sie behandelt nicht die 
konkreten Individuen, sondern Abstraktionen : die Arten. Diese 
^) Wir haben bereits in dem Aufsatze „L'l^cole anglaise et les 
th^ories physiques, ait 6." (Revue des questions scientifiques 
octobrel903) die naturgemäße Klassifikation als die ideale Form, nach 
der die physikalische Theorie streben sollte, bezeichnet 
28 Zweites Kapitel. 
Arten teilt sie so in Gruppen, daß die speziellen sich den all- 
gemeineren unterordnen. Um diese Gruppen zu bilden, be- 
trachtet der Naturforscher die verschiedenen Organe, — die 
Wirbelsäule, den Schädel, das Herz, den Verdauungskanal, 
die Lunge, die Schwimmblase — nicht in der besonderen, 
konkreten. Form, die sie bei dem jeweiligen Individuum be- 
sitzen, sondern in abstrakter, allgemeiner, schematischer Form 
die allen Arten derselben Gruppe zukommt. Unter diesen 
derart durch die Abstraktion umgebildeten Organen stellt er 
Vergleiche an, sucht er Analogien und Verschiedenheiten fest- 
zustellen. So erklärt er zum Beispiel, daß die Schwimmblase 
der Fische mit der Lunge der Wirbeltiere gleichbedeutend 
sei. Dieses Gleichbedeutendsein ist eine rein ideelle Zusam- 
menstellung, welche nicht auf den wirklichen Organen, sondern 
auf den verallgemeinerten und vereinfachten Vorstellungen, die 
sich im Geiste des Naturforschers gebildet haben, beruht. Die 
Klassifikation ist nur eine kurze Übersicht, welche alle diese 
Zusammenstellungen resümiert. 
Wenn der Zoologe behauptet, daß eine derartige Klassi- 
fikation naturgemäß sei, meint er, daß die ideellen Verbin- 
dungen, die durch seinen Verstand zwischen den abstrakten 
Gedanken hergestellt wurden, realen Beziehungen zwischen 
den konkreten Wesen, in denen diese Abstraktionen Gestalt 
gewinnen, entsprechen. Er meint zum Beispiel, daß die mehr 
oder weniger auffallenden Ähnlichkeiten, die er zwischen ver- 
schiedenen Arten konstatiert hat, der Beweis einer mehr oder 
minder engen Verwandtschaft im eigentlichen Sinn unter den 
Individuen, die diese Gattung bilden, seien. Er meint, daß die 
Bindestriche, mit denen er die Abhängigkeitsverhältnisse der 
Klassen, Ordnungen, Familien und Arten versinnbildlicht, die 
Verzweigungen des Stammbaumes wiedergeben, der die Ent- 
wicklung der verschiedenen Wirbeltiere aus einem Stamm zur 
Darstellung bringt. Zu diesen Beziehungen der wirklichen 
Verwandtschaft, der Abstammung, kann die vergleichende 
Anatomie allein nicht gelangen, sie zu erfassen und zu be- 
stätigen ist Aufgabe der Physiologie und Paläontologie. Der 
Anatom, der über die Ordnung, die sein Vergleichungsver- 
Physikalische Theorie und natui^emäße Klassifikation. 29 
fahren in die verwirrende Menge der Tiere bringt, nachsinnt, 
kann die Beziehungen, deren Prüfung über seine Methoden 
hinausgeht, nicht beweisen. Und wenn die Physiologie und 
Paläontologie ihm eines Tages zeigen würden, daß die Ver- 
wandtschaft, die er sich vorstellt, nicht bestehe, daß die Evo- 
hitionsh3rpothese erdichtet sei, würde er dennoch fortfahren 
zu glauben, daß das System, das durch seine Klassifikation 
entstanden ist, wirkliche Beziehungen zwischen den Tieren 
darstellt. Er würde zugeben, daß er sich zwar über die Natur 
dieser Beziehungen getäuscht habe, nicht aber über deren 
Existenz. 
Die Leichtigkeit, mit der eine jede Erfahrungstatsache in 
der vom Physiker geschaffenen Klassifikation untergebracht 
werden kann, die blendende Klarheit, die diese so vollkommen 
geordnete Gruppierung aufweist, wecken in uns die unbe- 
siegbare Oberzeugung, daß eine solche Klassifikation nicht 
rein künstlich, daß eine solche Ordnung nicht das Resul- 
tat einer rein willkürlichen Gruppierung sei, die ein erfinde- 
rischer Systematiker den Gesetzen gegeben hat. Ohne uns 
von unserer Oberzeugung Rechenschaft geben, aber auch ohne 
uns von ihr befreien zu können, sehen wir in der exakten 
Ordnung dieses Systemes ein Zeichen, an dem eine natur- 
gemäße Klassifikation erkennbar ist. Wenn wir auch nur 
die Gesetze der Phänomene gruppieren und nicht vorgeben, die 
unter ihnen verborgene Wirklichkeit zu erklären, so fühlen 
wir doch, daß die durch unsere Theorie hergestellten Gruppen 
den wirkUchen Beziehungen zwischen den Dingen selbst ent- 
sprechen. 
Der Physiker, der in jeder Theorie eine Erklärung sieht, 
ist überzeugt, daß er in der Lichtschwingung den eigent- 
lichen und innersten Grund der Eigenschaft, die unsere Sinne 
uns als Licht und Farbe kundtun, gefunden hat. Er glaubt 
an einen Körper, den Äther, dessen einzelne Teile durch 
solche schnelle hin und her gehende Schwingungen belebt 
sind. 
Sicherlich teilen wir nicht diese Illusionen. Wenn wir 
bei Gelegenheit einer optischen Theorie auch von der Licht- 
30 Zweites Kapitel. 
Schwingung sprechen, denken wir doch nicht an eine wahr- 
haftige hin und her gehende Bewegung- eines wirklichen Kör- 
pers. Wir stellen uns nur eine abstrakte Größe, einen rein 
mathematischen Ausdruck vor. Die periodisch wechselnde Lange 
dient uns dairu, die Hypothesen der Optik zu formulieren, durdi 
regelrechte Rechnungen die experimentell feststellbaren Ge- 
setzmäßigkeiten des Lichtes abzuleiten. EXese Schwingung ist 
für uns ein Bild, aber keine Erklärung. 
Aber wenn wir nach langen Versuchen mit Hilfe dieser 
Schwingung dam gelangt sind, einen Grundstock fundamen- 
taler Hypothesen zu formulieren, wenn wir sehen, daß sich in 
dem ungeheuren Gebiet der Optik, welches erst so verschlungen 
und verworren erscheint, auf Grund dieser Hypothesen Ord- 
nung und Organisation einstellen, dann ist es uns unmöglich 
zu glauben, daß diese Ordnung und diese Organisation nicht 
das Bild einer wirklichen ondnung Und Organisation sei. 
Wir können nicht glauben, daß die Phänomene, die die Theorie 
zueinander in Nachbarschaft bringt, wie die Interferenzstreifen 
und die Farben dünner Blättchen nicht wirklich wenig ver- 
schiedene Kundgebungen des gleichen Merkmales des Lichtes 
seien, daß die Phänomene, die die Theorie trennt, wie die 
Beugungs- und die Dispersionsspektren, nicht wesentlich ver- 
schiedene Eigenschaften aufweisen. 
So gibt uns dielphysikalische Theorie niemals die Erklärung 
der experimentellen Gesetzmäßigkeiten, niemals enthüllt sie 
uns die Realitäten, die sich hinter den wahrnehmbaren Er- 
scheinungen verbergen. Aber je mehr sie sich vervollkomm- 
net, um so mehr ahnen wir, daß die logische Ordnung, in der 
sie die Erfahrungstatsachen darstellt, der Reflex einer onto- 
logischen Ordnung sei. Je mehr wir mutmaßen, daß die 
Beziehungen, welche sie zwischen den Beobachtungsergeb- 
nissen herstellt, den Beziehungen zwischen den CMngen ent- 
sprechen^), um so mehr können wir prophezeien, daß sie sich 
einer naturgemäßen Klassifikation nähere. 
Diese Überzeugung könnte der Physiker nicht rechtfer- 
*) vergl. Poincar^: La Science et T Hypothese, p. 190. Paris 1903. 
Physikalische Theorie und natuiig^einäße Klassifikation. 31 
iigen. EMe Methode, die er verwendet, ist auf die Ergebnisse 
der Beobachtung beschränkt, sie kann daher nicht beweisen, 
daß die Ordnung der experimentellen Gesetze der Reflex einer 
über die Erfahrung hinausgehenden Ordnung sei und eben- 
sowenig kann sie die Natur der wirklichen Beziehungen ahnen, 
denen die durch die Theorie aufgestellten Beziehungen ent- 
sprechen. 
Aber wenn es dem Physiker unmöglich ist, seine Ober- 
zeugung zu verifizieren, so ist es ihm nicht minder unmöglich, 
ihr den Boden zu entziehen. Vergebens sucht er sich mit der 
Idee zu durchdringen, daß seine Theorien unvermögend seien, 
die Wirklichkeit zu erfassen, daß sie einzig dazu dienen, eine 
zusammengefaßte Und klassifizierte Darstellung der Erfahrungs- 
tatsachen zu geben, er kann sich doch nicht zu dem Glauben 
zwingen, daß ein System, welches so einfach und so leicht 
eine ungeheure Zahl anfänglich so unvereinbarer Gesetzmäßig- 
keiten ordnen kann, rein künstlich sei. In einer Intuition, in 
der Pascal eines der Urteile des Herzens, „die die Vernunft 
nicht kennt'', gesehen hätte, betont er seinen Glauben an eine 
wirkliche Ordnung, von der seine Theorien ein von Tag zu 
Tag klareres und treueres Bild geben. 
Derart beweist uns die Analyse der Methoden, auf denen 
sich die physikalischen Theorien aufbauen, mit vollkommener 
Sicherheit, daß diese Theorien nicht als Erklärungen der ex- 
perimentellen Gesetze auftreten können. Andererseits erfüllt 
uns ein wirkUcher Glaube, den diese Analyse ebensowenig 
rechtfertigen wie bezähmen kann, daß diese Theorien nicht 
ein rein künstliches System, sondern eine naturgemäße Klassi- 
fikation seien. Man kann hier den tiefen Gedanken Pascals 
anwenden: „Wir haben eine Ohnmacht im Beweisen, die kein 
Dogmatismus überwinden kann, und eine Idee des Wahren, 
die allen Pyrrhonismus überwindet." 
§ 5. — Die der Erfahrung vorangehende Theorie. 
Es gibt einen Umstand, an dem sich mit besonderer Deut- 
lichkeit unser Glaube an den natürlichen Charakter einer theo- 
retischen Klassifikation zeigt. Dieser Umstand tritt auf, wenn 
32 Zweites Kapitel. 
wir von der Theorie die Angabe der Resultate eines Experi- 
ments fordern, bevor dieses Experiment ausgeführt wurde, 
wenn wir ihr ausdrücklich den kühnen Befehl erteilen: „Pro- 
phezeie uns!" 
Eine ansehnliche Gruppe experimenteller Gesetze wurde 
durch die Beobachter festgestellt. Der Theoretiker, der sich 
vorgenommen hatte, sie in einer ganz kleinen Zahl von Hypo- 
thesen zusammenzufassen, hat seine Aufgabe gelöst: Jedes dieser 
experimentellen Gesetze ist genau als Folgerung aus diesen 
Hypothesen darstellbar. 
Aber man kann aus diesen Hypothesen unbegrenzt viel 
Folgerungen ziehen, man kann auch solche ableiten, die keinem 
der früher bekannten experimentellen Gesetze entsprechen, die 
lediglich mögliche experimentelle Gesetze darstellen. 
Unter diesen Folgerungen gibt es solche, die auf prak- 
tisch realisierbare Bedingungen Bezug haben und daher be- 
sonders interessant sind, weil sie mit den Tatsachen konfron- 
tiert werden können. Wenn sie die experimentellen Gesetze, 
denen diese Tatsachen unterliegen, genau darstellen, wird der 
Wert der Theorie wachsen, das Gebiet, auf dem sie herrscht, 
wird mit neuen Gesetzen bereichert sein. Wenn dagegen ge- 
wisse dieser Folgerungen im deutlichen Widerspruch mit den 
Tatsachen, deren Gesetz die Theorie darstellen sollte, stehen, 
muß sie mehr oder minder modifiziert, vielleicht vollständig 
verworfen werden. 
Nehmen wir nun an, es gelte im Moment, wenn die Vor- 
aussagungen der Theorie mit der Wirklichkeit konfrontiert 
werden, eine Wette für oder gegen die Theorie zu schließen. 
Zugunsten welcher Seite würden wir unseren Einsatz wagen ? 
Wenn die Theorie ein rein künstliches System ist, wenn 
wir in den Hypothesen, auf denen sie ruht. Ausdrücke sehen, 
die mit Geschick so aufgestellt werden, daß sie die bereits 
bekannten experimentellen Gesetze darstellen, wenn wir in 
ihnen aber keinen Reflex der wirklichen Beziehungen zwischen 
den Realitäten, die sich vor unseren Augen verbergen, ver- 
muten, so werden wir denken, daß eine derartige Theorie von 
einer neu gefundenen Tatsache eher widerlegt als bestätigt 
Physikalische Theorie und naturgemäße Klassifikation. 33 
werden wird. Es wäre ein wunderbarer Zufall, wenn die bis- 
her unbekannte Gesetzmäßigkeit gerade einen ganz geeigneten 
Platz in dem Räume finden würde, der von den anderen Gesetz- 
mäßigkeiten freigelassen wurde, und wir wären toll, wollten 
wir auf diese Hoffnung hin unseren Einsatz wagen. 
Wenn wir im Gegenteil in der Theorie eine naturgemäße 
Klassifikation erkennen, wenn wir wissen, daß ihre Prinzipien 
tiefe imd wirkliche Beziehungen zwischen den Dingen aus- 
drücken, werden wir nicht erstaunt sein zu sehen, daß ihre 
Folgerungen der Erfahrung vorauseilen und die Entdeckung 
neuer Gesetze befördern. Wir werden kühn auf sie wetten. 
Wenn wir von einer Klassifikation fordern, daß sie von 
vornherein Tatsachen, die erst in Zukunft entdeckt werden, 
ihren Platz anweist, zeigt das am deutlichsten, daß wir diese 
Klassifikation für naturgemäß halten. Und wenn die Erfah- 
rung die Voraussagungen unserer Theorie bestätigt, dann 
fühlen wir, wie sich in uns die Überzeugung festigt, daß die 
Beziehungen, die unser Verstand zwischen den abstrakten Be- 
griffen hergestellt hat, tatsächlich den Beziehungen zwischen 
den Dingen entsprechen. 
So stellt die moderne chemische Bezeichnung, indem sie 
sich der Konstitutionsformeln bedient, eine Klassifikation her, 
in die sich die verschiedenen Verbindungen einordnen. CHe 
wunderbare Ordnung, die diese Klassifikation in das gewaltige 
Arsenal der Chemie bringt, macht uns schon sicher, daß sie nicht 
ein rein künstliches System sei. Die Bande der Analogie und 
der Ableitung durch Substitution, welche sie zwischen den ver- 
schiedenen Verbindungen herstellt, haben nur in unserem Geist 
Sinn. Und doch sind wir überzeugt, daß sie Verwandtschafts- 
beziehungen zwischen den Substanzen selbst entsprechen, deren 
Natur uns zwar tief verborgen bleibt, deren Realität uns aber 
nicht zweifelhaft erscheint. Nichtsdestoweniger kann sich diese 
Überzeugung erst in eine unwiderlegliche Sicherheit verwan- 
deln, wenn wir sehen, daß die chemische Theorie die Formeln 
einer Menge von Körpern im Voraus schreiben kann, und daß 
die Synthese, indem sie diese Angaben befolgt, Substanzen 
Dnhem, PhjsOaüiscbe Theorie. 3 
34 Zweites Kapifel. 
herstellt, deren Zusammensetzung, ja sogar deren Eigenart 
wir kannten, bevor sie bestanden. 
Ebenso wie die vorausgesagten Synthesen bestätigen, daB 
die chemische Bezeichnung eine naturgemäße Klassifikation 
sei, ebenso beweist die physikalische Theorie, daß sie der Re- 
flex einer realen Ordnung sei, indem sie der Beobachtui^ 
vorauseilt. 
EHe Geschichte der Physik gibt uns nun eine Fülle von 
Beispielen solcher hellseherischer Wahrsagungen. Häufig hat 
eine Theorie noch nicht beobachtete Tatsachen und sogar 
solche, die unwahrscheinlich schienen, vorausgesehen, indem 
sie den Experimentator zur Entdeckung anreizte und zu ihr 
hinführte. 
Die Academie des Sciences hatte als Thema für die Be- 
werbung um den Preis für Physik, welchen sie in der Sitzung 
im März 1819 zuerkennen sollte, die allgemeine Prüfung der 
Beugungserscheinungen des Lichtes festgesetzt. Von den zwei 
vorgelegten Arbeiten hatte die eine, die preisgekrönt wurde, 
Fresnel zum Verfasser. Biot, Arago, Laplace, Qay-Lussac und 
Poisson bildeten die Kommission. 
Aus den von Fresnel aufgestellten Prinzipien leitete Poisson 
durch eine elegante Analyse folgende befremdende Folgerung 
ab: Wenn ein kleiner, kreisförmiger Schirm in den Weg der 
Strahlen, die von einem leuchtenden Punkt ausgehen, gestellt 
wird, dann existieren hinter dem Schirm, auf der Achse dieses 
Schirmes selbst, Punkte, die nicht nur beleuchtet, sondern genau 
ebenso hell sind, als wenn der Schirm nicht zwischen sie und 
die Lichtquelle gestellt worden wäre. 
Eine derartige Konsequenz schien, da sie den frühesten und 
zuverlässigsten experimentellen Feststellungen scheinbar so ent- 
gegengesetzt war, wohl dazu angetan, zur Zurückweisung der 
Beugungstheorie, die Fresnel aufgestellt, zu führen. Arago hatte 
gestützt auf die Klarheit dieser Theorie Zutrauen zu deren 
naturgemäßen Charakter und versuchte eine Prüfung. Die 
Beobachtung ergab Resultate, die vollständig mit den so 
Physikalische Theorie und naturgemäße Klassifikation. 35 
wenig wahrscheinlichen Voraussagungen der Rechnung über- 
einstimmten^). 
So gibt die physikalische Theorie, wie wir sie definiert 
haben, eine gedrängte Darstellung einer großen Menge experi- 
menteller Gesetze, die für die Ökonomie des Denkens förder- 
lich ist. 
Sie klassifiziert diese Gesetze. Indem sie sie klassifiziert, 
macht sie sie leichter und sicherer brauchbar. Indem sie in 
ihre Gesamtheit Ordnung bringt, erfüllt sie sie gleichzeitig 
mit Schönheit. 
Sie nimmt, indem sie sich vervollkommnet, den Charakter 
einer naturgemäßen Klassifikation an. Die Gruppierungen, 
die sie herstellt, lassen die wirklichen Verwandtschaften der 
Dinge ahnen. 
Dieser Charakter der naturgemäßen Klassifikation macht 
sich vor allem durch die Fruchtbariceit der Theorie bemerkbar, 
die bisher nicht beobachtete Erfahrungstatsachen vorhersagt 
und deren Entdeckung beeinflußt. 
Das genügt, um zu vermeiden, daß die Forschung nach 
physikalischen Theorien als unnütze und müßige Arbeit 
angesehen wird, obschon sie nicht die Erklärung der Erschei- 
nungen anstrebt. 
Drittes Kapitel. 
Die beschreibenden Theorien und die Gescliiclite der 
Physik. 
§ 1. — Die Rolle der naturgemäßen Klassifikation und 
der Erklärungen in der Entwicklung der physikali- 
schen Theorien. 
Als Ziel einer physikalischen Theorie betrachten wir, daß 
sie zu einer naturgemäßen Klassifikation werde, das heißt, 
daß sie zwischen den verschiedenen experimentellen Gesetzen 
eine logische Beziehung herstelle, die gleichsam ein Bild und 
ein Reflex der wirklichen Ordnung ist, in der die Realitäten, die 
^) Oeuvres compl^tes d^ Augustin Fresnel, 1. 1., pp. 236, 365, 368. 
3* 
36 Drittes Kapitel. 
uns entgehen, angeordnet sind. Dies ist die Bedingung 
daffir, daß die Theorie fruchtbar sei, daß sie Entdeckungen 
bewirke. 
Aber gegen die Lehre, die wir hier auseinandersetzen, er- 
hebt sich sogleich ein Einwand. 
Wenn die Theorie eine naturgemäße Klassifikation sein 
will, wenn sie suchen soll die Erscheinungen so zu gruppieren, 
wie die Realitäten gruppiert sind, ist dann nicht die sicherste 
Methode, um dieses Ziel zu erreichen, vor allem nach diesen 
Realitäten zu forschen? Wäre es nicht verständiger, anstatt ein 
logisches System aufzubauen, welches in möglichst gedrängter 
und möglichst genauer Weise die experimentellen Gesetze in 
der Hoffnung darstellt, daß dieses logische System sich zu 
einem Bilde der ontologischen Ordnung der Dinge entwickeln 
werde, sogleich die Erklärung dieser Gesetze, die Enthüllung 
dieser verborgenen Dinge zu versuchen? Ist nicht dies über- 
haupt der Weg, den die Meister der Wissenschaft eingeschlagen 
haben? Haben sie nicht jene fruchtbaren Theorien, deren frap- 
pierende Wahrsagungen unser Erstaunen erregen, geschaffen, 
indem sie sich um die Erklärung der physikalischen Erschei- 
nungen bemühten? Was können wir besseres tun als ihrem 
Beispiel folgen, als zu den Methoden zurückzukehren, die wir 
in unserem ersten Kapitel verurteilt haben? 
Es ist unzweifelhaft, daß viele der Genies, denen wir die 
moderne Physik verdanken, ihre Theorien in der Hoffnung er- 
sonnen haben, eine Erklärung der Naturerscheinungen geben 
zu können, daß manche sogar geglaubt haben, bis zu dieser 
Erklärung vorgedrungen zu sein. Aber dies läßt keinen Schluß 
gegen die Meinung, die wir in betreff der physikalischen Theorien 
entwickelt haben, zu. Phantastische Hoffnungen konnten wunder- 
bare Erfindungen veranlassen, ohne daß diese Erfindungen den 
Hirngespinsten Gestalt gaben, denen sie ihre Entstehung ver- 
dankten. Kühne Erforschungen, die viel zum Fortschritt der 
Geographie beigetragen haben, sind Abenteurern zn verdanken, 
die das Goldland suchten. Und doch ist dies kein zureichender 
Grund, das Eldorado in unseren Weltkarten aufzuzeichnen. 
Wenn man daher beweisen will, daß die Forschung nach 
Die beschreibende Theorie und die Geschichte der Physik. 37 
Erklärungen fQr die Physik wirklich fruchtbar sei, dann genügt 
es nicht, den Beweis zu führen, daß eine ansehnliche Zahl von 
Theorien von Denkern geschaffen wurden, die nach solchen 
Erklärungen strebten. Man muß vielmehr beweisen, daß die 
Forschung nach einer Erklärung wirklich der Ariadnefaden sei, 
der sie inmitten der verwirrenden Mannigfaltigkeit der physi- 
kalischen Tatsachen geführt und ihnen ermöglicht hat, den Plan 
dieses Labyrinthes zu zeichnen. 
Es ist nun nicht nur unmöglich, diesen Beweis zu liefern, 
sondern ein auch nur oberflächliches Studium der Geschichte 
der Physik liefert im Überfluß Argumente, die gerade das Gegen- 
teil schließen lassen. 
Wenn man eine der von den Physikern geschaffenen Theorien, 
die die wahrnehmbaren Erscheinungen erklären wollen, analysiert, 
erkennt man gewöhnlich bald, daß diese Theorie aus zwei wesent- 
lich verschiedenen Teilen besteht: der eine ist der einfach be- 
schreibende, der die Gesetzmäßigkeiten klassifizieren will, der 
andere ist der erklärende, der unter den Erscheinungen die 
Realität zu erfassen sucht 
Der erklärende Teil bildet nun bei weitem nicht die zu- 
reichende Grundlage des beschreibenden. Er ist nicht der Same, 
aus dem dieser entsproßt, oder die Wurzel, die sein Wachstum 
fördert. Das Band zwischen den beiden Teilen ist fast immer 
recht schwach und künstlich. Der beschreibende Teil entwickelt 
sich auf eigene Rechnung durch die eigentlichen und selb- 
ständigen Methoden der theoretischen Physik. An diesen voll- 
ständig ausgebildeten Organismus rankt sich der erklärende 
Tai wie eine Schmarotzerpflanze an. 
Nicht diesem parasitären, erklärenden Teil verdankt die 
Theorie ihre Kraft und Fruchtbarkeit. Ganz im Gegenteil. Alles, 
was die Theorie an Gutem enthält, was sie als naturgemäße 
Klassifikation erscheinen läßt, was ihr die Möglichkeit verleiht, 
die Erfahrung vorauszusagen, befindet sich in dem beschreiben- 
den Teil. Alles das wurde von dem Physiker entdeckt, als er 
an die Forschung nach Erklärungen vergessen hatte. Was da- 
g^en die Theorie an Schlechtem enthält, was durch die Tat- 
sachen wideriegt wird, befindet sich vor allem in dem erklärenden 
38 Drittes Kapitel. 
Teil, in den es der Physiker, von dem Wunsche geleitet, die 
Realitäten zu erfassen, eingeführt hat 
Daraus folgt: Wenn die Fortschritte der experimentellen 
Physik eine Theorie umstoßen, wenn sie erfordern, daß sie 
geändert oder umgewandelt werde, geht der rein beschreibende 
Teil fast vollständig in die neue Theorie über, indem er ihr die 
Erbschaft von alledem Übermacht, was die alte Theorie an 
Kostbarem besaß, während der erklärende Teil w^ällt, um einer 
anderen Erklärung Platz zu machen. 
So überträgt jede physikalische Theorie durch eine stetige 
Oberiieferung der ihr folgenden den Teil der naturgemäßen 
Klassifikation, den sie aufstellen konnte, wie in gewissen antiken 
Spielen jeder Läufer die brennende Fackel dem Läufer, der nach 
ihm kam, entgegenstreckte. Diese fortgesetzte Überlieferung 
verschafft der Wissenschaft Beständigkeit des Lebens und des 
Fortschrittes. 
Diese Kontinuität der Überlieferung ist für den oberfläch- 
lichen Beobachter unter dem unaufhörlichen Getöse der zer- 
schmetternden Erklärungen verborgen, die nur entstehen, um 
zu vergehen. 
Bekräftigen wir alles das, was wir ausführten, durch einige 
Beispiele. Wir benützen als solche die Theorien, zu denen die 
Brechung des Lichtes Anlaß gegeben hat. Wir bedienen uns 
dieser Theorien nicht etwa deshalb, weil sie unserer These 
außerordentlich günstig sind, sondern im Gegenteil gerade? 
darum, weil Leute, die die Geschichte der Physik oberfläch- 
lich studieren, meinen könnten, daß diese Theorien ihre haupt- 
sächlichsten Fortschritte der Forschung nach Erklärungen ver- 
danken. 
Descartes hat eine Theorie aufgestellt, die die Phänomene 
der einfachen Brechung beschreibt. Sie bildet den Haupt- 
gegenstand der beiden wunderbaren Abhandlungen, der 
Dioptrik und der Meteore, denen die Abhandlung über 
die Methode als Einleitung dient. In ihr werden auf Grund 
des konstanten Verhältnisses zwischen dem Sinus des Einfalls- 
und jenem des Brechungswinkels die Eigenschaften verschie- 
den geschliffener Gläser, sowie die der mit solchen Gläsern 
Die beschreibende Theorie und die Geschichte der Physik. 39 
ausgestatteten optischen Institimente klar und übersichtlich dar- 
gelegt. Es wird in ihr von den Erscheinungen, die bei der 
Gesichtswahmehmung auftreten, Rechenschaft gegeben, und 
die Gesetze des Regenbogens werden analysiert. 
Descartes hat außerdem eine Erklärung der Lichter* 
scheinungen gegeben. Das Licht ist nur eine Erscheinung, 
während die Realität in einem Druck besteht, der durch die 
schnellen Bewegungen der glühenden Körper hervorgebracht 
wird, die im Innern eines feinen, alle Körper durchdringenden 
Stoffes stattfinden. Dieser feine Stoff ist inkompressibel, so 
daß der Druck, den das Licht ausübt, sich momentan in jede 
Entfernung fortpflanzt. So weit auch ein Punkt von einer 
Lichtquelle entfernt ist, in dem gleichen Augenblick, in dem 
sie zu leuchten beginnt, ist er auch beleuchtet. Diese augen- 
blickliche Fortpflanzung des Lichtes ist eine absolut notwen- 
dige Folge des Systemes von Erklärungen, das E)escartes ge- 
schaffen. An Beeckmann, der dieser Meinung nicht beitreten 
und sie nach Galileis Vorbild mit Hilfe — allerdings kindi- 
licher — Experimente widerlegen wollte, schrieb er:^) „Für 
mich ist sie so sicher, daß wenn sie, was unmöglich ist, als 
Irrtum erkannt würde, ich auf der Stelle bereit wäre, Ihnen 
zu erklären, daß ich nichts von Philosophie verstehe. Sie 
haben so großes Zutrauen zu Ihrem Versuche, daß Sie sich 
bereit erklären, Ihre ganze Philosophie für falsch zu erklären, 
wenn kein Zeitunterschied zwischen dem Moment, in dem 
man die Bewegung der Laterne im Spiegel und dem, in dem 
man sie in der Hand sieht, besteht. Ich erkläre Ihnen da- 
gegen, daß meine ganze Philosophie auf den Kopf gestellt 
würde, wenn dieser Zeitunterschied beobachtet werden 
könnte." 
Die Frage, ob Descartes das grundlegende Gesetz der 
Brechung selbst gefunden, oder ob er es gemäß einer An- 
deutung von Huygens bei Snellius entlehnt, ist mit Leiden- 
schaft diskutiert worden. IDie Entscheidung ist zweifelhaft, 
aber sie braucht uns wenig zu kümmern. Sicher ist, daß dieses 
^) Correspondance de Descartes, Edition Paul Tannery et Ch. 
Adam no LVII, 22. aofit 1634. t. L, p. 307. 
40 Drittes Kapitel. 
Gesetz, daß die beschreibende Theorie, deren Grundlage es 
bildet, nicht aus der Erklärung der Lichterscheinungen, die 
Descartes aufgestellt hat, entsprossen ist. An ihrer Entstehung 
hatte die cartesianische Kosmologie keinen Anteil. Einzig die 
Erfahrung, die Induktion und Generalisation haben sie ge- 
schaffen. 
Ja noch mehr. Niemals hat Descartes einen Versuch unter- 
nommen, um das Brechungsgesetz mit seiner erklärenden 
Theorie des Lichtes in Verbindung z!u bringen. 
Es ist wohl wahr, daß er am Anfang der Dioptrik in be- 
treff dieses Gesetzes mechanische Analogien aufstellt, daß er 
die Änderung der Richtung des Strahles beim Übergang von 
Luft in Wasser mit der Änderung der Bewegungsrichtung einer 
heftig geschleuderten Kugel vergleicht, die von einem gewissen 
Medium in ein anderes, weniger dichtes, übergeht Aber diese 
mechanischen Vergleiche, die in bezug auf Strenge Anlaß zu 
mancher Kritik geben würden, verketten die Theorie der 
Brechimg weit eher mit der Emissionstheorie, einer Lehre, 
in der ein Lichtstrahl mit einem Schwärm kleiner Projektile 
verglichen wird, die heftig vom leuchtenden Körper ausgestoßen 
werden. Diese Erklärung, die zur Zeit von Descartes von 
Gassendi unterstutzt und später von Newton wieder auf- 
genommen wurde, bildet keine Analogie zur cartesianischen 
Lichttheorie. Sie ist unvereinbar mit ihr. 
So werden die cartesianische Erklärung der Lichtersdiei- 
nungen und die verschiedenen Brechungsgesetze einfach neben- 
einander gestellt, es gibt kein Band, keine Durchdringung der- 
selben. So fällt auch an dem Tage, an dem der dänische 
Astronom Römer auf Grund des Studiums der Verfinsterungen 
der Jupitermonde zeigt, daß das Licht sich mit einer endlichen 
und meßbaren Geschwindigkeit im Raiune fortpflanzt, die 
cartesianische Erklärung der Lichterscheinungen mit einem 
Schlage. Aber sie reißt auch nicht den kleinsten Teil der 
Lehre, die die Gesetzmäßigkeiten der Brechung beschreibt und 
klassifiziert, mit sich; diese besteht weiter und bildet auch 
heute noch den Hauptteil unserer elementaren Optik. 
Wenn ein Lichtstrahl von Luft in gewisse kristallinische 
Die beschreibende Theorie und die Geschichte der Physik. 41 
Medien, wie z. B. in isländischen Doppelspat eintritt, teilt 
er sich in zwei verschieden gebrochene Strahlen, deren einer, 
der ordinäre Strahl, dem Gesetz von Descartes entspricht, 
während der andere, der extraordinäre Strahl, durch dieses 
Gesetz nicht gefaßt werden kann. Diese „wunderbare und 
ungewöhnliche Brechung des spaltbaren Kristalls aus Island^' 
wurde im Jahre 1657 von dem I>änen Erasmus Berthelsen oder 
Bartolinus entdeckt und studiert^). Huygens suchte eine Theo- 
rie aufzustellen, die gleichzeitig die Gesetze der einfachen 
Brechung, die den Gegenstand der Arbeiten von Des- 
cartes bildeten, sowie die Gesetze der Doppelbrechung um- 
fassen sollte. Er hatte damit vollen Erfolg. Aus seinen geo- 
metrischen Konstruktionen erhielt er für amorphe Medien und 
kubische Kristalle einen einzigen gebrochenen Strahl, wie er 
dem Gesetz von Descartes entspricht, während sich für nicht 
kubische Kristalle nicht nur zwei gebrochene Strahlen, 
sondern auch die Gesetze, denen diese zwei Strahlen unter- 
liegen, vollständig ergaben. Diese Gesetze sind so kompliziert, 
daß das auf seine eigenen Hilfsmitteln beschränkte Experi- 
ment sie wohl nicht ergründet hätte. Nachdem aber die Theo- 
rie eine Formel für sie aufgestellt, werden sie vom Experiment 
auf das genaueste bestätigt. 
Hat mm Huygens diese schöne und fruchtbare Theorie 
aus den Prinzipien der Kosmologie abgeleitet, aus jenen „Be- 
weisen der Mechanik", auf Grund deren nach ihm „die 
wahre Philosophie die Ursache aller natürlichen Wirkungen 
bereift"? Keineswegs. Die Betrachtung des Leeren, der 
Atome, ihrer Härte und ihrer Bewegungen hat bei der Auf- 
stellung dieser Beschreibung keine Rolle gespielt. EÄe Mittel, 
durch die der große holländische Physiker die Prinzipien seiner 
Klassifikation erlangt hat, waren ein Vergleich zwischen der 
Fortpflanzung des Schalles und der des Lichtes, die Konsta- 
tierung des Experimentes, daß einer der beiden gebrochenen 
Strahlen dem Gesetz von EVescartes entspricht, während der 
andere ihm nicht folgte und eine glückliche und kühne Hypo- 
^) Erasmus Bartolinus. Experimenta cristalli Islandici dis- 
diaclasttci, quibus mira et insolita refractio detegitur. Havniae, 1657. 
42 Drittes Kapitel. 
these über die Gestalt der Oberfläche einer optischen Welle 
im Inneren der Kristalle. 
Aber Huygens hat nicht nur nicht die Theorie der Doppel- 
brechung aus den Prinzipien der atomistischen Physik ab- 
geleitet, er hat auch keineswegs, nachdem diese Theorie ein- 
mal gefunden war, versucht, sie an seine Prinzipien anzuglie- 
dern. Er stellt sich zwar, um die kristallinischen Formen zu 
erklären, vor, daß der Doppelspat und der Bergkristall aus 
regelmäßigen Anordnungen sphäroidischer Moleküle bestehen, 
indem er so die Ansicht von Haüy und Bravais vorbereitet, 
er begnügt sich aber, nachdem er diese Annahme entwickelt 
hat, zu schreiben A) „Ich will nur hinzufügen, daß diese kleinen 
Sphäroide wohl zur Bildung der weiter oben angenommenen 
sphäroiden Lichtwellen beitragen können. Beide sind in glei- 
cher Weise orientiert und haben parallele Achsen." Auf diesen 
kurzen Satz, in dem er den Kristallen eine entsprechende Ge- 
stalt zuschreibt, beschränkt sich alles, was er zur Erklärung 
der Gestalt der Wellenfläche des Lichtes unternommen hat. 
So wird auch seine Theorie unversehrt bleiben, während 
die verschiedenen gebrechlichen und morschen Erklärungen 
der Lichterscheinungen aufeinanderfolgen, trotz des Zutrauens, 
das diejenigen zu ihrer Lebensdauer hegten, die sie entworfen. 
Unter dem Einfluß Newtons triumphiert die Erklärung auf 
Grund der Annahme der Emission. Diese Erklärung ist der- 
jenigen vollständig entgegengesetzt, die Huygens der Schöpfer 
der Undulationstheorie von den Lichterscheinungen gab. Aus 
dieser Erklärung im Verein mit einer den Prinzipien von Bos- 
covich entsprechenden Anziehungslehre, die der große hollän- 
dische Atomistiker für absurd gehalten hätte, leitet Laplace 
eine Rechtfertigung der Huygensschen Konstruktionen ab. 
Laplace erklärt nicht nur durch eine auf Anziehung ge- 
gründete Physik die Theorie der einfachen und doppelten 
Brechung, die durch einen Physiker entdeckt wurde, der ganz 
^) Huygens: Tratte de la lumi^re, oü sont expliqu^es les 
causes de ce qui luy arrive dans la r^flexion et dans la r^fraction 
et particuli^rement, dans T^trange r^fraction du cristal d'Islande. 
Edition W, Burckhardt, p. 71. 
Die beschreibende Theorie und die Geschichte der Physik. 43 
entgegengesetzte Anschauungen hegte, er leitet sie nicht nur 
„aus diesen Prinzipien,^) für die man Newton zu Dank ver- 
pflichtet ist, mit Hilfe deren alle Phänomene der Bewegung 
des Lichtes durch eine beliebige Zahl von durchsichtigen Me- 
dien und durch die Atmosphäre strengen Berechnungen unter- 
worfen worden sind" ab, sondern er denkt sogar, daß durch 
diese Deduktion ihre Sicherheit und Genauigkeit wachse. Ohne 
Zweifel muß die Lösung der Probleme der Doppelbrechung, 
die die Konstruktion von Huygens gibt, „als ein Resultat der 
Erfahrung angesehen werden und vielleicht in die Reihe der 
schönsten Entdeckungen dieses seltenen Genius aufgenommen 
werden . . . Man braucht nicht erst abzuwägen, um sie unter 
die sichersten und schönsten Resultate der Physik aufzu- 
nehmen." Aber „bisher war dieses Gesetz nur ein Resultat 
der Beobachtung, welches der Wirklichkeit innerhalb der Gren- 
zen der Fehler, die auch den genauesten Versuchen anhaften, 
nahe kam. Nunmehr kann es auf Grund der Einfachheit des 
Anziehungsgesetzes, von dem es abhängt, als ein strenges Ge- 
setz betrachtet werden." Laplace geht in dem Zutrauen zu 
dem Wert der Erklärung, die er vorbringt, sogar so weit, 
daß er behauptet, daß diese Erklärung allein die Unwahrschein- 
lichkeit der Huygensschen Theorie beseitigen und sie klaren 
Köpfen annehmbar machen kann, denn „dieses Gesetz hat 
dasselbe Schicksal erlitten, wie die schönen Gesetze von Kepler, 
die lange Zeit mißkannt wurden, da sie mit systematischen 
Gedanken vereinigt waren, mit d^nen dieser große Mann 
imglücklicherweise alle seine Werke erfüllt hat". 
Im gleichen Augenblick, in dem Laplace mit solcher Ver- 
achtung die Wellenlehre der Optik behandelt, gewinnt diese, 
durch Young und Fresnel gefördert, die Oberhand über die 
Emissionslehre. Aber dank Fresnel hat die Wellenlehre der 
Optik eine einschneidende Änderung erfahren. Die Licht- 
schwingung findet nicht mehr in der Richtung des Strahles, 
sondern normal zu ihm statt. Die Analogie zwischen Schall 
und Licht, die Huygens leitete, ist verschwunden. Nichtsdesto- 
^) Laplace: Exposition du Systeme du monde 1. IV. c XVIII.: 
De Tattraction mol6cuIaire. 
44 Drittes Kapitel. 
weniger führt auch die neue Erklärung die Physiker zur Akzep- 
tierung der Konstruktion der gebrochenen Strahlen in einem 
Kristall, wie sie Huygens erdacht. 
Ja noch mehr. Indem die Huygenssche Lehre ihren er- 
klärenden Teil änderte, bereicherte sie ihren beschreibenden. 
Sie stellt nicht mehr bloß die Qesetze des Ganges der Strahlen, 
sondern auch die Gesetze des Polarisationszustandes der- 
selben dar. 
Die Anhänger dieser Theorie wären nun recht gut in der 
Lage, Laplace das verachtende Mitleid, das er ihnen gegenüber 
zeigte, zu vei^gelten. Es wird schwer, ohne Lächeln die Sätze 
zu lesen, die der große Mathematiker zur gleichen Zeit als 
Fresnels Optik siegte, niederschrieb^). „Die Phänomene der 
Ekoppelbrechung und der Aberration der Gestirne scheinen 
mir dem System der Lichtemission, wenn schon nicht eine 
vollkommene Sicherheit, so doch zum mindesten die äußerste 
Wahrscheinlichkeit zu verleihen. CKese Phänomene sind auf 
Grund der Annahme von Wellen in einem ätherartigen Flui- 
dum unerklärlich. ENe eigentümliche Eigenschaft, daß ein 
durch einen Kristall polarisierter Strahl sich beim Durchgang 
durch einen zweiten parallelen Kristall nicht mehr teilt, zeigt 
deutlich die verschiedenen Wirkungen desselben Kristalls auf 
die verschiedenen Seiten eines Lichtteilchens an." 
Die Theorie der Brechung, die Huygens aufgestellt hatte, 
umfaßte nicht alle möglichen Fälle. Eine sehr große Gruppe 
kristallisierter Körper, die zweiachsigen Kristalle, zeigen Er- 
scheinungen, die nicht innerhalb ihres Rahmens untergebracht 
werden können. Diesen Rahmen beabsichtigte Fresnel in der 
Art zu erweitem, daß man in ihn nicht nur die Gesetze der 
einfachen Brechung, Isowie die der einachsigen Doppelbrechung, 
sondern auch die der zweiachsigen Doppelbrechung einordnen 
könnte. Wie erreichte er dieses Ziel ? Suchte er eine Erklärung 
des Wesens der Lichtfortpflanzung in Kristallen? Keineswegs. 
Er erreichte es durch unmittelbare geometrische Erkenntnis, 
in der keine Hypothese über die Natur des Lichtes oder über 
') Laplace: Exposition du Systeme du monde. loc cit 
Die beschreibende Theorie und die Geschichte der Physik. 45 
die Konstitution der durchsichtigen Körper Raum hatte. Er 
bemerkte, daß alle Wellenflächen, die Huygens in Betracht 
zog, durch eine einfache geometrische Konstruktion aus einer 
gewissen Fläche zweiter Ordnung abgeleitet werden können. 
Diese Fläche ergab sich als Kugel für einfachbrechende Medien, 
als Rotationsellipsoid für einachsige doppelbrechende Medien. 
Er meinte nun, daß wenn man dieselbe Konstruktion auf ein 
Ellipsoid mit drei verschiedenen Achsen anwenden würde, man 
die Wellenfläche erhielte, die zweiachsigen Kristallen zukommt. 
Diese kühne Intuition war vom glänzendsten Erfolg be- 
gleitet. Die Fresnelsche Theorie war nicht nur im genauesten 
Einklang mit allen experimentellen Bestimmungen, sondern 
sie regte auch zur Forschung und Entdeckung unerwarteter 
und paradoxer Tatsachen an, die zti suchen dem sich selbst 
überlassenen Experimentator wohl nie eingefallen wäre. 
Solche Tatsachen sind die beiden Arten der konischen 
Refraktion. Der große Mathematiker Hamilton leitete aus 
der Gestalt der Wellenfläche der zweiachsigen Kristalle die 
Gesetze dieser wunderbaren Erscheinungen ab, um deren Auf- 
findung der Physiker Lloyd sich sogleich bemühte und sie 
tatsächlich auch entdeckte. 
Die Theorie der zweiachsigen Doppelbrechung besitzt da- 
her jene Fruchtbarkeit und Sehergabe, die wir als Kennzeichen 
einer naturgemäßen Klassifikation betrachten. Und doch ist 
sie nicht aus einem Erklärungsversuch hervorgegangen. 
Damit soll nicht gesagt sein, daß Fresnel nicht versucht 
hat, die Gestalt der Wellenfläche, die er erhalten, zu erklären. 
Im Gegenteil erfüllten ihn diese Versuche sogar mit solcher 
Leidenschaft, daß er die Methode, die ihn tatsächlich zu seiner 
Entdeckung führte, gar nicht veröffentlichte. Diese Methode 
wurde erst nach seinem Tode bekannt, als man endlich seine 
erste Abhandlung^) über die Doppelbrechung dem Druck über- 
gab. In den Schriften über die Doppelbrechung, die er zu 
seinen Lebzeiten veröffentiichte, bemühte er sich ohne Unter- 
*) Siehe l'Introduction aux oe|uvres d'Augustin Fresnel par 
E. Verdet, art 11 et 12 (Oeuvres compl^tes d'Augustin Fresnel,, 
i I., p. UCX et p. LXXII.) 
46 Drittes Kapitel. 
laß mit Hilfe von Hypothesen über die Eigenschaften des 
Äthers, die Gesetze, die er entdeckt hatte, wiederaufzufinden, 
„aber diese Hypothesen, auf denen er seine Prinzipien auf- 
baute, halten keiner eingehenderen Prüfung stand".^) Die 
Theorie von Fresnel erscheint wunderbar, solange sie sich 
auf die Rolle einer naturgemäßen Klassifikation beschränkt, 
sie wird unhaltbar, wenn sie sich als Erklärung gebärdet. 
Ebenso steht es mit den meisten physikalischen Lehren. 
Dauerhaft und fruchtbar ist die in ihnen aufgewendete logische 
Arbeit, die die naturgemäße Klassifikation einer großen Zahl 
von Tatsachen durch Ableitung aus wenigen Prinzipien be- 
wirkt, unfruchtbar und vergänglich dagegen jene Arbeit, die 
auf die Erklärung dieser Prinzipien aufgewendet wurde, um 
sie mit Annahmen über die Realitäten, die sich unter den 
wahrnehmbaren Erscheinungen verbergen, zu verknüpfen. 
Man hat sehr oft den Fortschritt der Wissenschaft mit der 
Meeresflut verglichen. In der Anwendung auf die Entwick- 
lung der physikalischen Theorien scheint uns dieser Vergleich 
besonders richtig und kann bis in seine Details durchgeführt 
werden. 
Wer nur einen kurzen Blick auf die Wellen, die einen 
Strand zu erobern suchen, wirft, bemerkt nicht das Ansteigen 
der Flut. Er sieht, wie eine Woge sich erhebt, näher kommt, 
sich schäumend bricht, er sieht wie sie einen schmalen Strei- 
fen Sand bedeckt und sich dann wieder zurückzieht, wobei der 
Boden, der erobert schien, wieder trocken wird. Eine neue 
Woge folgt ihr, welche manchmal ein wenig weiter geht als 
die vorherige, manchmal dagegen nicht einmal jenen Kiesel 
erreicht, den diese benetzt hatte. Aber unter dieser ober- 
flächlichen Hin- und Herbewegung entsteht eine andere, tie- 
fergehende, langsamere, dem kurzen Beobachter unmerkliche 
Bewegung, die stets im selben Sinne fortschreitet, der zufolge 
das Meer unaufhörlich steigt. Das Hin- und Hergehen der 
Wogen ist das treue Bild der Erklärungsversuche, die nur 
entstehen, um zu vergehen. Durch sie verdeckt vollzieht sich 
») E. Verdet: loc cit p. 84. 
Die beschreibende Theorie und die Geschichte der Physik. 47 
der langsame und stetige Fortschritt der naturgemäßen Klassi- 
fikation, deren Flut ohne Unterlaß neue Gebiete erobert und 
die den Lehren der Physik die Kontinuität der Überlieferung 
sichert. 
§ Z — Die Meinungen der Physiker über das Wesen 
der physikalischen Theorien. 
Einer der Denker, die am lebhaftesten daffir eingetreten 
sind, daß die physikalischen Theorien als Beschreibungen und 
nicht als Erklärungen betrachtet werden — Herr Ernst Mach — 
hat folgendes geschrieben:^) 
„Die Vorstellung von einer Ökonomie des Denkens ent- 
wickelte sich mir durch Lehrerfahrungen, durch die Praxis des 
Unterrichtes. Ich hatte dieselbe schon, als ich 1861 meine Vor- 
lesungen als Privatdozent begann, und glaubte damals im all- 
einigen Besitz derselben zu sein, was man wohl verzeihlich finden 
wird. Ich bin jetzt im Gegenteil davon überzeugt, daß wenigstens 
eine Ahnung dieser Einsicht stets ein Gemeingut aller Forscher 
gewesen sein muß, welche über das Forschen als solches sich 
überhaupt Gedanken gemacht haben.'' 
In der Tat haben bereits im Altertum gewisse Philosophen 
sehr richtig erkannt, daß die physikalischen Theorien keines- 
w^s Erklärungen, daß ihre Hypothesen keineswegs Urteile 
über das Wesen der Dinge, sondern nur Voraussetzungen 
seien, die bestimmt sind, den Erfahrungstatsachen entsprechende 
Folgerungen zu ergeben. 
Die Griechen kannten eigentlich nur eine einzige physi- 
kalische Theorie, diejenige der Bewegungen der Himmelskörper. 
Sie haben daher anläßlich der Behandlung der kosmographischen 
Systeme ihre Gedanken über die physikalische Theorie ge- 
äußert und entwickelt. Was sie sonst an anderen Theorien, 
die heute zur Physik gehören, bis zu einem gewissen Grad der 
Vollkommenheit gebracht haben, nämlich die Theorie des Gleich- 
gewichtes am Hebel und die Hydrostatik, gründete sich auf 
Prinzipien, deren Natur nicht Gegenstand des Zweifels sein 
^) E. Mach: Die Mechanik etc, V. Aufl. 1904, pag. 537. [In der 
franz. Ausg. p. 360.] 
48 I^ittes Kapitel. 
konnte. Die Fragen des Archimedes waren offensichtlich Sätze 
erfahrungsmäßigen Ursprunges, die die Oeneralisation umgeformt 
hatte. Auf Grund der Obereinstimmung ihrer Folgerungen mit 
den Tatsachen wurden diese zusammengefaßt und geordnet, 
nicht aber erklärt. 
Die Griechen schieden in der Diskussion über eine Theorie 
der Bewegung der Gestirne sehr wohl das, was den Physiker 
— wir wurden heute sagen den Metaphysiker — betrifft, von 
dem, was den Astronomen angeht Der Physiker soll auf Grund 
der Beweise der Kosmologie entscheiden, welche wirklichen 
Bewegungen die Gestirne haben. Der Astronom dagegen braucht 
sich nicht zu kümmern, ob die Bewegungen, die er erdenkt, 
wirklich oder fiktiv sind. Seine Aufgabe ist, möglichst genau 
die relativen Lagenänderungen der Gestirne darzustellen.^) 
In seinen schönen Untersuchungen über die kosmographi- 
sehen Systeme der Griechen hat Schiaparelli eine sehr bemerkens- 
werte Stelle, die diese Unterscheidung zwischen Astronomie und 
Physik betrifft, ans Licht gezogen. Diese Stelle, die von Posi- 
donius herrührt, von Geminus resümiert oder zitiert wurde, und 
uns durch Simplicius erhalten blieb, ist folgende: 
„Es kommt der Astronomie nicht zu, in absoluter Weise zu 
wissen, was in der Natur fest ist und was sich bew^ Sie 
prüft aber die Hjrpothesen, die das Unbewegliche und das Be- 
wegliche betreffen, um diejenigen zu finden, die den Himmels- 
erscheinungen entsprechen. W^en der Prinzipien muß man 
sich an den Physiker wenden." 
Diese Gedanken, die die reine perepatetische Lehre aus- 
drücken, haben manche Stelle in den Schriften der Astronomen 
des Altertums beeinflußt. Die Scholastik hat sie förmlich über- 
nommen. Auf Grund der Physik, d. h. der Kosmologie, wird 
von den astronomischen Erscheinungen Rechenschaft g^eben, 
^) Wir bedienen uns einiger der Aufschlüsse, die sich aus einem sehr 
wichtigen Artikel des Herrn P. Mansion: Note sur le caract^re gio» 
m^trique de Tancienneastronomie (AbhandlungenzurOeschichte 
der Mathematik, IX. Leipzig, B. O. Teubner) ergeben. Siehe auch P, 
Mansion: Sur les principes fondamentaux de la g^om^trie, de la 
m^canique et de Tastronomie. Paris, Oauthier-Villars, 1903. 
Die beschreibende Theorie und die Geschichte der Physik. 49 
indem auf die eigentlichen Ursachen rekurriert wird, während 
die Astronomie nur die Beobachtung der Phänomene und die 
Schlüsse, die die Mathematik ermöglicht, behandelt: „Die Astro- 
nomie," sagt der heilige Thomas, indem er die Physik des 
Aristoteles kommentiert, „zieht Schlüsse, die denen der Physik 
gleich sind. Aber da sie nicht rein physikalisch ist, gelangt sie 
zu ihnen auf anderen Wegen. So demonstriert der Physiker, daß 
die Erde kugelförmig sei auf Orund eines physikalischen Ver- 
fahrens, indem er z. B. darauf hinweist, daß ihre Teile sich 
nach allen Seiten und gleichmäßig gegen ein Zentrum erstrecken, 
der Astronom hingegen auf Grund der Gestalt des Mondes bei 
den Finsternissen oder auch auf Grund der Tatsachen, daß die 
Sterne nicht von allen Teilen der Erde in gleicher Weise ge- 
sehen werden." 
Auf Grund dieser Auffassung der Rolle [der Astronomie 
drückt sich der heilige Thomas in seinem Kommentar des 
aristotelischen De coelo folgendermaßen über die Planeten- 
bew^^ng aus: „Die Astronomen haben sich verschiedentlich 
bemüht, diese Bewegung zu erklären. Aber es ist nicht nötig, 
daß die Annahmen, die sie ersonnen haben, wahr seien, denn 
es könnten vielleicht die Erscheinungen, die die Sterne aufweisen, 
auch durch irgend eine andere den Menschen noch unbekannte 
Art der Bewegung gerechtfertigt werden. Aristoteles verwendet 
indessen solche die Natur der Bewegung betreffende Annahmen, 
wie wenn sie wahr wären." 
In einer Stelle der Summa theologiae (1. 32) weist der 
heilige Thomas noch klarer darauf hin, daß die physikalische 
Methode außerstande sei, in den Besitz einer bestimmten Er- 
klärung zu kommen: „Man kann," sagt er, „nach zwei ver- 
schiedenen Arten von einer Sache Rechenschaft geben. Die erste 
besteht darin, daß man in zureichender Weise ein gewisses Prinzip 
beweist So gibt man in der Kosmologie (Scientia naturalis) 
einen zureichenden Grund dafür an, um zu beweisen, daß die 
Bew^ung des Himmels gleichförmig sei. Nach der zweiten 
Art führt man keinen Grund an, der in zureichender Weise das 
Prinzip beweisen würde, sondern man zeigt, daß, wenn das 
Prinzip vorausgesetzt wird, seine Konsequenzen mit den Tat- 
Dahem, Physikalische Thtorie. 4 
50 Drittes Kapitel 
Sachen in Übereinstimmung sind. So verwendet man in der 
Astronomie die Hypothese der Epizykeln und exzentrischen 
Kreise, weil auf Orund dieser Hypothese die wahrnehmbaren 
Erscheinungen der Himmelsbewegungen sicher dargestellt werden 
können. Dies ist aber kein hinreichender Beweisgrund, weil sie 
vielleicht auch auf Grund einer anderen Hypothese ebenso 
sicher dargestellt werden könnten.^ 
Diese Meinung Ober die Rolle und das Wesen der astro- 
nomischen Hypothesen kann sehr leicht mit vielen Stellen bei 
Kopemikus und bei dessen Kommentator Rheticus in Überein- 
stimmung gebracht werden. Kopemikus fflhrt bekanntlich in 
seinem Commentariolus de hypothesibus motuum coe- 
lestium a se constitutis bloS die Unbeweglichkeit der Sonne 
und die Beweglichkeit der Erde als Postulate ein, die er zu- 
gestanden zu erhalten wünscht: Si nobis aliquae petitiones... 
conceduntur. Es ist allerdings richtig, daß an gewissen Stellen 
seiner Schrift „De revolutionibus coelestibus libri sex" er 
sich in betreff der Realität seiner Hypothesen zu einer weniger 
reservierten Meinung bekennt, als die Qberiieferte Scholastik, 
und als sie im Commentariolus auseinandergesetzt ist 
Diese letztere Lehre ist in der berühmten Einleitung, die 
Oslander zu dem Werke: De revolutionibus coelestibus 
libri sex schrieb, in aller Form ausgesprochen. Oslander 
drückt sich folgendermaßen aus: Neque enim necesse est 
eas hypotheses esse veras, imo, ne verisimiles quidem; 
sed sufficit hoc unum, si calculum observationibus 
congruentem exhibeant, und schließt seine Einleitung mit 
folgenden Worten: Neque quisquam, quod ad hypotheses 
attinet, quicquam certi ab astronomia expectet, cum 
nihil tale praestare queai 
Eine solche Lehre Ober die astronomischen Hypothesen 
empörte Kepler^): „Niemals,** sagte er in seiner ersten Schrift •), 
^) Im Jahre 1597 veröffentlichte Nicolas Raimarus Ursus in Prag 
eine Schrift, betitelt: De hypothesibus astronomicis, in der er die 
Meinungen Osianders überschätzte und unterstützte. Drei Jahre spater, also 
1600 oder 1601, antwortet Kepler mit folgender Schrift: Joannis Kepler! 
apologia Tychonis contra Nicolaum Raymarum Ursum. Diese Schrift, 
Die beschreibende Theorie und die Geschichte der Physik. 51 
„könnte ich meine Zustimmung zu der Meinung der Leute 
geben, die als Vorbild irgendeine beiläufige Darlegung anfuhren, 
in der auf Grund falscher Voraussetzungen ein strenger Ver- 
nunftschluB zu irgendeiner richtigen Folgerung führt, und die 
gestützt auf dieses Beispiel sich um den Beweis bemühen, daß 
die von Kopemikus angenommenen Hypothesen falsch sein 
könnten, und daß dennoch wirkliche nahvofitva aus ihnen folgen 
können, wie aus ihren eigenen Prinzipien Ich zögere nicht 
zu erklären, daß alles das, was Kopemikus a posteriori zu- 
sammengestellt und durch die Beobachtung bestätigt hat, daß 
alles das, ohne irgendein Hindernis a priori mit Hilfe der 
geometrischen Axiome aufgezeigt werden kann, und sogar in 
solcher Vollkommenheit, daß Aristoteles, wenn er noch leben 
würde, freudig seine Zustimmung bekennen würde/' 
Dieses enthusiastische und ein wenig naive Vertrauen zu 
der grenzenlosen Macht der physikalischen Methode nimmt bei 
den großen Erfindern, die am Anfang des XVII. Jahrhunderts auf- 
traten, ab. Galilei unterscheidet sehr wohl zwischen dem Stand- 
punkt der Astronomie, deren Hypothesen keine andere Be- 
stätigung als die Übereinstimmung mit der Erfahrung finden 
können, und dem Standpunkt der Naturphilosophie, die die 
Realitäten erfaßt Er behauptet, indem er die Lehre von der 
Bewegung der Erde unterstützt, nur als Astronom zu reden und 
keinesw^s seine Annahmen als Wahrheiten auszugeben. Aber 
diese Unterscheidungen sind bei ihm nur Ausflüchte, um der 
Zensur der Kirche zu entgehen. Seine Richter haben sie nicht 
als aufrichtige Meinungen betrachtet, und sie hätten wohl recht 
geringen Scharfblick bewiesen, wenn sie es getan hätten. Wenn 
sie angenommen hätten, daß Galilei aufrichtig als Astronom 
und nicht als Naturphilosoph — resp. als Physiker gemäß 
die im Manuskript und sehr unvollständig blieb, wurde erst 1858 durch 
Frisch veröffentlicht (Joannis Kepleri astronomi Opera omnia. 
Band I, p. 215. Frankfurt a. M und Erlangen.) Dieses Werk enthält leb- 
hafte Zurüdcweisungen der Gedanken Oslanders. 
*) Prodromus dissertationum cosmographicarum continens 
mysterium cosmographicum . . . a M. Joanne Keplero Wirtem- 
bergio, Tubingae, Georgius Oruppenbachius. MDXCVI; — Joannis 
Kepleri astronomi Opera omnia. Band I, p. 112—153. 
4^ 
52 Drittes Kapitel. 
ihrer Ausdrucks weise — spreche, wQrden sie seine Theorien 
als System angesehen haben , das die Himmelsbew^^ngen 
beschreibti und nicht als Lehre Ober die wahre Natur der 
astronomischen Phänomene, sie hätten somit seine Ideen nicht 
der Zensur unterworfen. Wir sind dessen durch einen Briefe) 
sicher, den der Hauptgegner Galileis, der Kardinal Bellarmin 
am 12. April 1615 an Foscarini schrieb: „Ew. Vaterschaft und 
Herr Galilei werden weise handeln, wenn sie sich darauf be- 
schränken ex suppositione zu sprechen und nicht absolut, 
wie es, wie ich glaube, Kopemikus stets getan. In der Tat 
läßt sich sehr wohl sagen, daß man von allen Erscheinungen 
viel bessere Rechenschaft gibt, indem man die Erde als beweglich 
und die Sonne als unbeweglich annimmt, als wenn man exzen- 
trische Kreise und Epizykeln verwendet. Das stellt keine Gefahr 
dar und genfigt dem Mathematiker." An dieser Stelle verwendet 
Bellarmin die den Scholastikern geläufige Unterscheidung 
zwischen der physikalischen und der metaphysischen Methode, 
die fflr Galilei allerdings nur eine Ausflucht war. 
Descartes hat sicher am meisten dazu beigetragen, die 
Scheidewand zwischen der physikalischen und der metaphysi- 
schen Methode zu durchbrechen, und deren Gebiete, die die 
peripatetische Philosophie reinlich geschieden hatte, zu ver- 
einigen. 
Die Methode von Descartes zieht die Prinzipien aller unserer 
Erkenntnisse in Zweifel und setzt sie diesem methodischen 
Zweifel bis zu dem Augenblicke aus, in dem er deren Recht- 
mäßigkeit durch eine lange Kette von Deduktionen, die mit dem 
berühmten Cogito, ergo sum beginnt, erweisen kann. Es 
gibt keinen größeren Gegensatz, als den zwischen einer der- 
artigen Methode und der peripatetischen Auffassung. Nach 
dieser beruht eine Wissenschaft wie die Physik auf selbstver- 
ständlichen Prinzipien, deren Wesen die Metaphysik zwar er- 
forschen, deren Sicherheit sie aber nicht zu erhöhen vermag. 
Der erste physikalische Satz, den Descartes in Befolgung 
seiner Methode aufstellt*), erfaßt und erläutert das eigentliche 
^) Orisar, Oalilei-Studien, Beilage IX. Regensbuiig 1882. 
*) Descartes: Principia Philosophiae, pars. II, 4. 
Die beschreibende Theorie und die Geschichte der Physik. 53 
Wesen der Materie. ,,Die Natur des Körpers besteht nur in 
seiner Substanz, die nach Länge, Breite und Tiefe ausgedehnt 
ist'' Ist so das Wesen der Materie erkannt, so ist es möghch, 
nach geometrischem Verfahren aus ihm die Erklärung aller 
Naturerscheinungen abzuleiten. „Ich lasse in der Physik keine 
Prinzipien zu'', sagt Descartes, indem er die Methode, die er bei 
der Behandlung dieser Wissenschaft einschlägt, resümiert, „die 
nicht auch in der Mathematik zulässig sind, um alles, was ich ab- 
leite, durch Beweise stützen zu können. Diese Prinzipien genfigen, 
um alle Naturphänomene mit ihrer Hilfe erklären zu können." 
Die kfihne Formel der cartesianischen Kosmologie ist fol- 
gende: Der Mensch kennt das eigentliche Wesen der Materie, 
das in der Ausdehnung besteht, er kann daher auf logischem 
W^e alle Eigenschaften der Materie aus ihm ableiten. Die 
Unterscheidung zwischen der Physik, die die Erscheinungen 
und deren Oesetze studiert und der Metaphysik, die das Wesen 
der Materie, insofern es Ursache der Erscheinungen und Grund 
des Bestehens der Gesetze ist, zu erkennen sucht, wird daher 
grundlos. Der Verstand geht nicht von der Kenntnis der Er- 
scheinung aus, um sich darauf zur Kenntnis der Materie zu 
erheben, sondern er kennt zuerst die eigentliche Natur der 
Materie, aus der sich die Erklärung der Erscheinungen ergibt. 
Descartes treibt die Konsequenzen dieses hochfahrenden 
Prinzipes bis zur Spitze. Er begnügt sich nicht mit der Ver- 
sicherung, daß alle Naturerscheinungen aus dem einzigen Satze: 
„Das Wesen der Materie ist die Ausdehnung" abgeleitet werden 
können, sondern er versucht diese Ableitung im einzelnen 
durchzufahren. Er versucht die Welt, ausgehend von dieser 
Definition, aus Gestalt und Bewegung aufzubauen. Und als 
sein Werk vollendet war, hielt er inne, um es zu betrachten 
und erklärte, daß es gut sei: „Es gibt keine Erscheinung in der 
Natur, die nicht in dem, was in dieser Abhandlung erklärt 
wurde, enthalten wäre." So lautet der Titel eines der letzten 
Paragraphen^) der Prinzipien der Philosophie. 
Dennoch scheint Descartes einen Augenblick fiber die 
KQhnheit seiner kosmologischen Lehre erschreckt gewesen zu 
^) Descartes: Principia Philosophiae, pars. IV, 199. 
54 Drittes Kapitel. 
sein und den Versuch unternommen zu haben, sie der peri- 
patetischen näherzubringen. Dies geht aus einem der Ab- 
schnitte^) des Werkes über die Prinzipien hervor. Wir wollen 
diesen Abschnitt vollständig zitieren, da er den Gegenstand, der 
uns beschäftigt, nahe berührt: 
„Wenn man auch vielleicht auf diese Weise erkennt, wie 
alle Naturkörper haben entstehen können, so darf man daraus 
doch nicht folgern, daB sie wirklich so gemacht worden sind. 
Denn derselbe Künstler kann zwei Uhren fertigen, .die beide 
die Stunden gleich gut anzeigen und sich äuBeriich ganz gleichen, 
aber innerlich doch aus sehr verschiedenen Verbindungen der 
Räder bestehen. So hat unzweifelhaft auch der höchste Werk- 
meister alles Sichtbare auf mehrere verschiedene Weisen hervor- 
bringen können, ohne daß es dem menschlichen Verstände 
möglich wäre zu erkennen, welches dieser verschiedenen Mittel 
er tatsächlich angewendet hat Ich gebe diese Wahrheit bereit- 
willigst zu und bin zufrieden, wenn nur das, was ich geschrieben 
habe, derart ist, daß es mit allen Erscheinungen der Natur ge- 
nau übereinstimmt. Dies wird auch für die Zwecke des Lebens 
genügen, weil sowohl die Medizin und Mechanik, wie alle 
anderen Künste, welche der Hilfe der Physik bedürfen, nur das 
Sichtbare und deshalb zu den Naturerscheinungen Gehörige zu 
ihrem Ziel haben. Dies kann man aber in gleicher Weise bei 
Betrachtung der Folgen irgendwelcher ersonnenen Ursachen er- 
reichen, ob sie nun falsch oder richtig, wenn diese Folgen 
nur denen ähnlich sind, die man an den sichtbaren Erschei- 
nungen erkennt Und damit niemand glaube, daß Aristoteles 
mehr geleistet habe oder habe leisten wollen, so erklärt derselbe 
im I. Buch seiner Meteorologie im Eingang des 7. Kapitels 
ausdrücklich, daß er über das den Sinnen nicht Wahrnehmbare 
glaube, genügende Gründe und Beweise beizubringen, sobald 
er nur zeige, daß das Wahrnehmbare nach seinen Voraus- 
setzungen so hätte entstehen können.^' 
Eine derartige Konzession an die Lehren der Schule steht 
zu der eigentlichen Methode Descartes in deutlichem Wider- 
spruch. Sie ist auch nur eine der Vorsichtsmaßregeln, die der, 
^) Descartes: Ibid., pars. IV, 204. 
Die beschreibende Theorie und die Geschichte der Physik. 55 
wie man weiß, durch die Verurteilung Galileis heftig err^e 
Philosoph, gegen die Zensur der Inquisition getroffen. Schließ- 
lich scheint aber Descartes selbst gefürchtet zu haben, daß man 
seine kluge Vorsicht zu ernst nehme und ließ deshalb dem 
zitierten Abschnitt zwei andere folgen, die folgende Titel tragen: 
„Man hat wenigstens die moralische Sicherheit, daß alle Dinge 
dieser Welt so sind, wie sie hier als möglich aufgezeigt wurden.'^ 
— „Und man hat sogar eine mehr als moralische Sicherheit'' 
Die Worte: moralische Sicherheit genügen in der Tat 
nicht, um den unbegrenzten Glauben, den Descartes zu seiner 
Methode hegte, auszudrucken. Er glaubte nicht nur eine be- 
friedigende Erklärung aller Naturerscheinungen gegeben zu 
haben, sondern er dachte auch, daß sie die einzig mögliche 
sd, und daß er sie mathematisch beweisen könne. „Ober die 
Physik," schrieb^) er am 11. März 1640 an Mersenne, „würde 
ich nichts zu wissen glauben, wenn ich nur zu sagen wußte, 
wie die Dinge sein können, nicht aber beweisen, daß sie nicht 
anders sein können. Da ich alles auf Gesetze der Mathematik 
zurQckgeffihrt habe, ist dies auch möglich, und ich glaube dies 
an allem, was ich kenne, durchführen zu können, obwohl ich 
es weder in meinen Essais, in denen ich nicht meine Prin- 
zipien auseinandersetzen wollte, getan, noch bis jetzt einen Anlaß 
sehe, der mich veriocken würde, es in Zukunft zu tun." 
Dieses hochmütige Vertrauen zu der unbegrenzten Macht 
der metaphysischen Methode war wohl geeignet, auf den Lippen 
Päscals ein verächtliches Lächeln hervorzurufen. Welche 
Tollheit ist es, ganz abgesehen von der Zuveriässigkeit der 
Annahme, daß die Materie nur in der Ausdehnung nach Länge, 
Breite und Tiefe besteht, aus ihr die Erklärung der Welt im 
einzelnen ableiten zu wollen. „Man kann im großen und ganzen 
sagen: Dies vollzieht sich durch Gestalt und Bewegung, denn 
dies ist wahr. Wenn man aber sagen will, in welcher Art sich 
*) Descartes: Oeuvres, Edition P.^Tannery et Ch. Adam, Corres- 
pondance t III, p. 39. 
*) Pascal: Pens6es, 6dition Havet, art24. Diesem Gedanken sind 
folgende Worte vorangestellt: „Geschrieben gegen diejenigen, die die Wissen- 
schaften zu sehr vertiefen. Descartes." 
56 Drittes Kapitel. 
dies vollzieht, und wenn man das Weltgebäude zusammensetzen 
will, so ist dies lächerlich, denn es ist unnutz, ungewiß und 
schwierig." 
Der berühmte Nacheiferer Pascals, Christiaan Huygens, zeigt 
nicht dieselbe Strenge gegenüber der Methode, die aus kosmo- 
logischen Prinzipien die Erklärung der Naturerscheinungen ab- 
leiten will. Sicherlich scheinen ihm die Erklärungen von Des- 
cartes in mehr als einem Punkte unhaltbar, aber nur weil seine 
Kosmologie, die die Materie auf die Ausdehnung zurückführt, 
nicht die gesunde Naturphilosophie ist. Diese besteht in der 
Physik der Atomisten. Man kann hoffen, aus dieser die Er- 
klärung der Naturerscheinungen, wenn auch mit großen Schwierig- 
keiten, abzuleiten. 
„Herr Descartes^) hat besser als irgendeiner seiner Vor- 
gänger erkannt, daß man in der Physik nur so weit Nützliches 
begreifen wird, als man sie auf Prinzipien zurückführen kann, 
die nicht über den Bereich unseres Verstandes hinausgehen. 
Solche sind diejenigen, die von qualitätslosen Körpern und 
deren Bewegungen abhängen. Da aber die größte Schwierig- 
keit darin besteht, aufzuzeigen, in welcher Weise soviele 
verschiedene Dinge durch diese wenigen Prinzipien ins 
Werk gesetzt werden, ist es nicht merkwürdig, daß er in 
mehreren speziellen Fragen, deren Prüfung er beabsichtigte, 
keinen Erfolg hatte. Zu diesen gehört unter anderen, nach 
meiner Meinung, das Problem der Schwere. Man wird darüber 
auf Orund der Bemerkungen, die ich an einigen Stellen über 
das mache, was er in dieser Beziehung geschrieben hat, urteilen 
können. Ich hätte deren noch mehrere hinzuzufügen vermocht 
Trotzdem bekenne ich, daß seine Versuche und seine Ansichten, 
obgleich sie falsch sind, mir den Weg, zu dem, was Ich in der 
gleichen Sache gefunden, geebnet haben." 
„Ich stelle dies nicht als über allen Zweifel erhaben hin, 
noch als etwas, wogegen man keine Einwände machen könnte. 
Es ist zu schwierig, bei Unternehmungen dieser Art so weit zu 
kommen. Ich glaube aber, daß, wenn die Orundannahme, auf 
^) Christiaan Huygens: Discours de la cause de la Pesanteur. 
Leyde 1690. 
Die beschreibende Theorie uud die Geschichte der Physik. 57 
die ich mich stütze, nicht die richtige ist, wenig Hoffnung vor- 
handen bleibt, daß man sie innerhalb der Grenzen der wahren 
und gesunden Philosophie finden wird.^ 
In der Zeit zwischen dem Augenblick, in dem Huygens 
sdnen Discours de la cause de la Pesanteur der Akademie 
der Wissenschaften in Paris voriegte und demjenigen, in dem 
er ihn drucken ließ, erschien das unsterbliche Werk Newtons: 
Philosophiae naturalis principiamathematica. Mit diesem 
Werk, das die Mechanik des Himmels umbildete, traten auch 
neue Ansichten über das Wesen der physikalischen Theorien 
ins Leben, die denen von Descartes und Huygens vollständig 
«ntg^engesetzt waren. 
Was Newton über den Bau der physikalischen Theorien denkt, 
sagt er an mehreren Stellen seiner Werke mit aller Klarheit 
Das aufmerksame Studium der Erscheinungen und ihrer 
Gesetze ermöglicht dem Physiker auf Grund der ihm eigentüm- 
lichen induktiven Methode, einige sehr allgemeine Prinzipien zu 
entdecken, aus denen alle Erfahrungstatsachen abgeleitet werden 
können. In dieser Art sind alle Himmelserscheinungen in dem 
Prinzip der allgemeinen Gravitation kondensiert. 
Eine derartige kondensierte Beschreibung ist keine Erklärung. 
Die gegenseitige Anziehung, die die Mechanik des Himmels 
zwischen zwei beliebigen Teilen der Materie annimmt, ermöglicht 
es, alle Himmelsbewegungen der Rechnung zu unterwerfen, 
aber die eigentliche Ursache dieser Anziehung wird dadurch 
nicht bloßgelegt. Muß man in ihr eine grundlegende und un- 
auflösbare Eigenschaft der Materie sehen? Muß man sie, was 
Newton in gewissen Epochen seines Lebens für wahrscheinlich 
hielt, als Wirkung der Stöße eines besonderen Äthers betrachten? 
Schwierige Fragen, deren Lösung höchstens in der Zukunft 
erhalten werden kann! Diese Untersuchung ist aber auf jeden 
Fall Aufgabe des Philosophen und nicht des Physikers. Was 
deren Ergebnis auch sein möge, die vom Physiker aufgestellte 
beschreibende Theorie wird ihren vollen Wert behalten. 
Die Lehre, die das Scholium generale, das den Schluß 
des Werkes über die Philosophiae naturalis principia 
bildet, in wenig Worten formuliert, ist folgende: 
58 Drittes Kapitel. 
,,Bis hierher habe ich die Erscheinungen, die der Himmel 
und unsere Meere aufweisen, auf Orund der Schwerkraft dar- 
gestellt, aber ich habe noch nicht die Ursache dieser Schwere 
ang^eben. Sicherlich geht diese Kraft aus einer Ursache her- 
vor, die bis ins Zentrum der Sonne und der Planeten dringt, 
ohne daß ihre Stärke vermindert wOrde. Sie betätigt sich nicht 
proportional zur Oberfläche der festen Teilchen, auf die sie 
ihre Wirkung ausübt, wie die gewöhnlichen mechanischen Ur- 
sachen, sondern proportional zu deren Volumen. Ihre Wirkung 
erstreckt sich nach allen Richtungen in riesige Entfernungen, 
wobei sie stets in umgekehrtem Verhältnis des Quadrates der 
Entfernung abnimmt. Die Schwere gegen die Sonne ist aus 
den verschiedenen Schwerkräften, die auf die einzelnen kleinen 
Teilchen der Sonne wirken, zusammengesetzt und sie nimmt 
bei Entfernung von der Sonne bis zur Bahn des Satums, wie 
es die Unveränderlichkeit der Aphelien der Planeten zeigt, und bis 
zu den äußersten Aphelien der Kometen, wenn überhaupt diese 
Aphelien unveränderiich sind, im quadratischen Verhältnis des Ab- 
standes ab. Aber bis jetzt habe ich aus den Erscheinungen 
den Orund dieser Eigenschaften der Schwere nicht ableiten 
können, und Hypothesen mache ich nicht Denn alles, was 
nicht aus den Erscheinungen abgeleitet wird, muß als Hypo- 
these bezeichnet werden. Für Hypothesen, ob sie nun meta- 
physisch oder physikalisch seien, ob sie verborgene oder 
mechanische Ursachen zu Hilfe nehmen, ist kein Platz in der 
Erfahrungs Wissenschaft (Philosophia experimentalis). In 
dieser Wissenschaft werden die Lehrsätze aus den Erscheinungen 
abgeleitet und durch Induktion generalisiert. In dieser Art hat 
man die Undurchdringlichkeit, die Beweglichkeit, die lebendige 
Kraft der Körper, sowie die Oesetze der Bew^ungen und der 
Schwere erkannt. Es genügt, daß diese Schwere wirklich existiert, 
daß sie gemäß den Oesetzen, die wir dargelegt haben, wirkt 
und allen Bewegungen der Himmelskörper und unseres Meeres 
entspricht." 
Später spricht Newton — in der berühmten XXXI. Frage, 
die die zweite Ausgabe seiner Optik abschließt — wieder seine 
Meinung über die physikalischen Theorien mit aller Schärfe 
Die beschreibende Theorie und die Geschichte der Physik. 5Q 
aus. Er bezeichnet die ökonomische Kondensation als deren 
Ziel: „Wenn man uns sagt, daß jede Art von Dingen mit einer 
besonderen geheimen Eigenschaft begabt sei, durch die sie 
wirkt und sichtbare Wirkungen hervorbringt, so ist damit gar 
nichts gesagt. Wenn man aber zwei oder drei allgemeine 
Prinzipien der Bewegung aus den Erscheinungen ableiten und 
hernach uns zeigen wurde, wie die Eigenschaften und 
Wirkungen aller körperiichen Dinge sich aus diesen offen- 
kundigen Prinzipien ergeben, so wurde dies einen sehr großen 
Fortschritt in der Philosophie bedeuten, wenn auch die Ursachen 
dieser Prinzipien noch nicht entdeckt wären. Darum zögere 
ich nicht die Prinzipien der Bewegung aufzustellen, während ich 
die Forschung nach ihren Ursachen vollständig beiseite lasse.^ 
Diejenigen, welche die hochmütige Zuversicht der Cartesianer 
und Atomisten teilten, konnten nicht dulden, daß man den An- 
sprüchen der theoretischen Physik so bescheidene Grenzen 
setze. Die Beschränkung auf die mathematische Darstellung 
der Erscheinungen hieß nach ihrer Meinung in der Erkenntnis 
der Natur nicht vordringen. Wer sich mit einem so nichtigen 
Fortschritt zufrieden gab, verdiente nichts besseres als mit 
Sarkasmus behandelt zu werden. 
„Ich glaube, daß es nicht unangebracht sei,'' sagt ein Car- 
tesianer^), „bevor von den aufgestellten Prinzipien Gebrauch 
gemacht wird, eine Prüfung derjenigen vorzunehmen, die Herr 
Newton als Grundlage seines Systems verwendet Dieser neue 
Philosoph, der durch das außerordentliche Wissen, das er in 
der Geometrie erworben, sich bereits berühmt gemacht hat, 
erduldete es nur schwer, daß eine der seinigen fremde Nation 
auf einen Besitz pochen sollte, auf Grund dessen sie die anderen 
lehren und ihnen als Vorbild dienen konnte. Aufgestachelt 
durch einen edlen Wetteifer und geleitet von der Oberi^enheit 
seines Genius dachte er nur mehr daran, sein Vaterland aus 
der Not, in der er es zu sehen glaubte, zu befreien. Es sollte in 
Zukunft nicht mehr nötig haben, bei uns die Kunst zu entlehnen. 
^) De Oamaches: Principes g6n6raux de la Nature appliqu^s 
au m^canisnie astronomique et compar^s aux principes de la 
Philosophie de M. Newton. Paris 1740. p. 67. 
60 Drittes Kapitel. 
wie die Vorgänge in der Natur geklärt und wie sie in ihren 
Wirkungen verfolgt werden können. Das war aber noch nicht 
genug für ihn. Als Feind jedes Zwanges und im Oefühl, daß 
die Physik ihn ohne Unterlaß stören würde, verbannte er sie 
aus der Philosophie. Aus Furcht, daß er manchmal gezwungen 
sein würde, ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen, bemühte er sich, 
die innersten Ursachen jeder einzelnen Erscheinung in Grund- 
gesetzen festzuhalten. Dadurch war jede Schwierigkeit beseitigt. 
Seine Arbeit betraf nur mehr leicht behandelbare Gegenstände, 
die er seinen Rechnungen unterwerfen konnte. Ein Phänomen, 
das mathematisch analysiert war, betrachtete er als erklärt. So 
hatte dieser berühmte Rivale des Herrn Descartes bald die 
seltene Befriedigung, als großer Philosoph betrachtet zu werden, 
und zwar einzig und allein deshalb, weil er ein großer Mathe- 
matiker war." 
„ . . . Ich komme nun^) auf das zurück, was ich eingangs 
vorgebracht habe und ziehe den Schluß, daß nichts leichter ist, 
als nach der Methode des großen Mathematikers den Mecha- 
nismus der Natur auseinanderzusetzen. Wollen Sie den Grund 
einer komplizierten Erscheinung angeben? Legen Sie sie mathe- 
matisch dar und Sie haben alles Nötige geleistet, denn die 
Schwierigkeiten, die für den Physiker noch übrig bleiben könnten, 
werden sicheriich entweder von einem Grundgesetz oder einer 
besonderen Bestimmung abhängig sein." 
Nicht alle Schüler Newtons bewahrten übrigens die kluge 
Zurückhaltung ihres Meisters. Manche konnten nicht in den 
engen Grenzen, die ihnen seine Methode der Physik anwies, 
bleiben. Indem sie diese Grenzen überschritten, versicherten 
sie, als Metaphysiker, daß die gegenseitigen Anziehungen 
wirkliche und grundlegende Eigenschaften der Materie seien, 
und daß eine Erscheinung, die auf diese Anziehungen zurück- 
geführt worden ist, wirklich erklärt sei. Diese Meinung äußerte 
auch Roger Cotes in der berühmten Einleitung, die er an der 
Spitze der zweiten Ausgabe der Prinzipia Newtons veröffent- 
lichte. Auch die von Boscovich entwickelte Lehre, die vielfach 
die Leibnizsche Metaphysik beeinflußte, war von dieser Art. 
^) De Gamaches: loc. cit. p. 81. 
Die beschreibende Theorie und die Geschichte der Physik. 61 
Dennoch haben viele, die nicht weniger berflhmt sind, das 
Newtonsche Werk fortgesetzt und sich an die Methode, die ihr 
berflhmter Vorgänger so gut dargelegt hatte, gehalten. 
Laplace bekennt sein vollstes Vertrauen zu dem Anziehungs- 
prinzip. Dieses Vertrauen ist indessen nicht blind. An einigen 
Steilen der Exposition du syst&me du monde deutet er an, 
daß die allgemeine Anziehung, die in der Form der Gravitation 
oder der molekularen Anziehung alle Naturerscheinungen ver- 
knüpft, vielleicht nicht die letzte Erklärung sei, daß sie selbst 
von einer tieferen Ursache abhängen könne Diese Ursache 
scheint Laplace allerdings in ein unerkennbares Gebiet zu ver- 
weisen. Jedenfalls erkennt er aber mit Newton, daß die For- 
schung nach dieser Ursache, falls sie Oberhaupt möglich ist, 
ein vollständig getrenntes Problem gegenüber jenen bildet, die 
die astronomischen und physikalischen Theorien lösen können. 
»Ist dieses Prinzip,** sagt er^), „ein Grundgesetz der Natur? Ist 
CS nicht nur eine allgemeine Wirkung einer unbekannten Ur- 
sache? Hier versperrt uns die Unwissenheit, in der wir uns 
fiber die innersten Eigenschaften der Materie befinden, den 
W^, und raubt uns alle Hoffnung, daß wir eine befriedigende 
Antwort auf diese Fragen finden werden." — „Ist das Prinzip 
der allgemeinen Schwere,** sagt er nochmals^, „ein Grundgesetz 
der Natur oder ist es nur eine allgemeine Wirkung einer un- 
bekannten Ursache? Kann man nicht auf dieses Prinzip das der 
chemischen Verwandtschaft zurückfuhren? Newton, der vor- 
sichtiger als viele seiner Schüler war, hat sich nicht über solche 
Fragen, auf die, bei unserer Unkenntnis über die Eigenschaften 
der Materie, eine befriedigende Antwort ausgeschlossen ist, 
geäußert*' 
Ampfere, der ein tieferer Philosoph gewesen als Laplace, 
erkennt mit voller Klarheit, welchen Vorteil es gewährt, eine 
physikalische Theorie von jeglicher metaphysischer Erklärung 
unabhängig zu machen. Dadurch entzieht man sie in der Tat 
dem Streit, der die verschiedenen kosmologischen Schulen 
scheidet und macht sie Denkern, die sich zu unvereinbaren 
^) Laplace: Exposition du Systeme du monde, 1. IV, c XVII. 
«) Idem: Ibid., 1. V, c. V. 
62 Drittes Kapitel. 
philosophischen Meinungen bekennen, gleichzeitig annehmbar. 
Man ist dabei weit entfernt, die Forschungen jener, die eine 
Erklärung der Erscheinungen geben wollen, zu hemmen, man 
erleichtert ihnen vielmehr ihre Arbeit. Man kondensiert die 
unzähligen Erfahrungstatsachen, von denen sie Rechenschaft 
geben wollen, in eine kleine Zahl sehr allgemeiner Sätze, so daß 
die Erklärung jener wenigen Sätze genügt, damit die ungeheure 
Gesamtheit der Erfahrungstatsachen nichts Geheimnisvolles mehr 
enthalte. 
„Der Hauptvorteil ^) der Formeln, die so unmittelbar aus 
gewissen Tatsachen gefolgert werden, die durch eine so große 
Zahl von Beobachtungen gegeben sind, daß sie nicht in Zweifel 
gezogen werden können, besteht darin, daß sie in gleicher 
Weise von den Hypothesen unabhängig sind, deren sich ihre 
Urheber bei der Forschung nach diesen Formeln bedient haben, 
als auch von denen, die ihnen später unterlegt werden können. 
Der Ausdruck für die allgemeine Anziehung, der aus den 
Keplerschen Gesetzen abgeleitet ist, hängt nicht von den 
Hypothesen über eine mechanische Ursache, die ihr manche 
Autoren zuzuweisen wünschten, ab. Die Theorie der Wärme 
ruht wirklich auf den allgemeinen Tatsachen, die unmittelbar 
durch die Beobachtung gegeben sind. Die aus diesen Tatsachen 
abgeleitete Gleichung, die durch die Übereinstimmung der 
Resultate, die man aus ihr ableitet, mit denen, die die Er- 
fahrung ergibt, bestätigt wird, kann gleicherweise als Ausdruck 
der wirklichen Gesetze der Wärmefortpflanzung von denen 
aufgefaßt werden, die sie einer Strahlung der wärmeerzeugenden 
Moleküle zuschreiben, als von denen, die, um die gleiche Er- 
scheinung zu erklären, auf die Schwingungen eines im Räume 
verbreiteten Fluidums rekurrieren. Der Unterschied besteht nur 
darin, daß die ersteren zeigen müssen, wie die Gleichung, um 
die es sich handelt, aus ihren Ansichten hervorgeht, während 
die letzteren dieselben aus den allgemeinen Formeln der 
Schwingungsbewegungen ableiten. Sie müssen dies nicht tun, 
^) Andre-Marie Ampere: Theorie math^matique des ph6- 
nom^nes 61ectrodynainiques,uniquementd^duitederexp^rience. 
£dition Herrmann, p. 3. 
Die beschreibende Theorie und die Geschichte der Physik. 63 
um die Sicherheit dieser Gleichung zu erhöhen, sondern damit 
ihre diesbezüglichen Hypothesen fortbestehen können. Der 
Physiker, der in dieser Beziehung nicht Partei ergriffen hat, läßt 
diese Gleichung als genaue Beschreibung der Tatsachen gelten, 
ohne sich über die Art, wie sie aus der einen oder der anderen 
der Erklärungen, von denen wir sprachen, folgen kann, zu be- 
unruhigen.^ 
Auch Fourier teilt in betreff der Wärmetheorie die Gedanken 
Amperes. In dem Vorwort, das sein unsterbliches Werk^) 
einleitet, drückt er sich folgendermaßen aus: 
„Von den letzten Ursachen der Erscheinungen ist uns nichts 
bekannt, wir wissen aber, daß alle Naturprozesse einfachen und 
unveränderlichen Gesetzen unterworfen sind, die man durch 
Beobachtung klarzulegen vermag. Das Studium derselben ist 
die Aufgabe der physikalischen Wissenschaften.'^ 
„Ich werde es in diesem Werke mit einem besonderen 
Teile dieser Wissenschaften zu tun haben, mit dem, der sich 
auf die Wärme bezieht, des Agens, das wie die Schwere durch 
alle Substanzen des Weltalls dringt, dessen Strahlen alle Teile 
des Raumes erfüllen. Ich habe mir vorgenommen, in diesem 
Werk die mathematischen Gesetze, welchen die Verbreitung der 
Wärme gehorcht, zu entwickeln, und glaube, daß die nach- 
folgende Theorie einen der wichtigsten Zweige der ganzen 
Physik ausmachen wird/' 
„ . • . . Die Prinzipien dieser Theorie habe ich nach dem 
Muster der rationellen Mechanik aus einer sehr geringen Anzahl 
fundamentaler Tatsachen abgeleitet, bei denen die Mathematiker 
nicht nach dem Grund fragen, weil sie sie als Resultate der 
gewöhnlichsten Beobachtungen betrachten, die bei jedem dies- 
bezüglichen Experimente sich immer in derselben Weise geltend 
machen.^ 
Ebensowenig wie Ampere oder Fourier bezeichnet Fresnel 
die metaphysische Erklärung der wahrnehmbaren Erscheinungen 
als Ziel der Theorie. Er sieht in dieser, da sie eine zusammen* 
gefaßte und klassifizierte Darstellung unserer experimentellen 
*) Fourier: Theorie analytique de la chaleur. Edition Darboux, 
p. XV et p. XXI. (Deutsche Ausgabe von Weinstein, p. VII u. p. XII.) 
64 Drittts Kapitel. 
Erkenntnisse ist, ein mächtiges Hilfsmittel für Neuerforschungen: 
„Es ist nicht unnQtz^), die Tatsachen unter demselben Gesichts- 
punkt zu vereinigen, indem man sie an eine kleine Zahl all- 
gemeiner Prinzipien anknüpft Dies ist ein Mittel, um die Oe- 
setzmäBigkeiten leichter zu erfassen, und ich denke, daß die 
Bemühungen dieser Art ebensoviel als die Beobachtungen selbst 
zum Fortschritt der Wissenschaft beitragen können.'' 
Die rasche Entwicklung der Thermodynamik in der Mitte 
des XIX. Jahrhunderts brachte die Annahmen über die Natur 
der Wärme, die zuerst Descartes formuliert hatte, wieder in 
Mode. Die cartesianischen und atomistischen Ansichten er- 
langten scheinbar wieder Lebensfähigkeit, und die Hoffnung, 
erklärende physikalische Theorien aufbauen zu können, gewann 
in den Gedanken mehr als eines Physikers Raum. 
Einige der Schöpfer der neuen Lehre und nicht die ge* 
ringsten ließen sich aber nicht von dieser Hoffnung benebeln. 
Unter diesen, und zwar in erster Linie, muß man Robert Mayer 
anführen. „Was Wärme, was Elektrizität usw.," schrieb Robert 
Mayer an Griesinger*), „dem inneren Wesen nach sei, weiß ich 
nicht, so wenig als ich das innere Wesen einer Materie oder 
irgendeines Dinges überhaupt kenne.'' 
Die ersten Beiträge, die Macquom Rankine für den Fort- 
schritt der mechanischen Wärmetheorie beisteuerte, waren Er- 
klärungsversuche. Aber bald entwickelten sich seine Ideen 
weiter. Er charakterisierte nun in einer kleinen, zu wenig be- 
kannten Schrift') mit wunderbarer Klarheit den Unterschied 
zwischen einer beschreibenden Theorie — er nennt sie ab- 
strakte Theorie — und einer erklärenden — , die er als 
hypothetische Theorie bezeichnet. 
Führen wir einige Stellen dieses Werkes an: 
„Es ist nötig, im Prozeß, durch den unsere Kenntnis der 
*) A. Fresnel: Oeuvres compUtes, t I, p. 480. 
*) Robert Mayer: Kleinere Schriften und Briefe, p. 181. Stutt* 
gart 1893. 
*) J. Macquorn Rankine: Outlines of the Science of Energetics, 
voigetragen in der Philosophical Society zu Glasgow am 2. Mai '855 und 
veröffentlicht in The Edinburgh New Philos. Joum. Vol. II (New series) p. 120. 
1855. — Ebenso: Rankine, Miscellaneous scientific Papers, p. 209, 
Die beschreibende Theorie und die Geschichte der Physik. 65 
physikalischen Gesetze fortschreitet, zwei Stufen zu unterscheiden. 
Die erste Stufe besteht in der Beobachtung der Beziehungen, 
die zwischen den Erscheinungen bestehen, wie sie uns in 
Naturprozessen entg^entreten oder wie sie künstlich bei Ex- 
perimentaluntersuchungen hergestellt werden, und in der For- 
mulierung dieser derartig beobachteten Beziehungen in Lehr- 
sätzen, die man formale Gesetze nennt. Die zweite Stufe besteht 
in der Zusammenfassung der formalen Gesetze einer ganzen 
Erscheinungsklasse zu wissenschaftlicher Gestalt, d. h. in der 
Forschung nach dem einfachsten System von Prinzipien, aus 
dem alle formalen Gesetze dieser Erscheinungsklasse als Konse- 
quenzen abgeleitet werden können." 
„Ein derartiges System von Prinzipien bildet im Verein mit 
den aus ihnen ordnungsgemäß abgeleiteten Konsequenzen die 
physikalische Theorie einer Erscheinungsklasse." 
„Man kann zwei Methoden des Aufbaues einer physikali- 
schen Theorie unterscheiden, die im wesentlichen durch die 
Art, wie die Erscheinungsklassen definiert werden, charakterisiert 
sind. Sie sollen entsprechend alsabstrakteund hypothetische 
Methode bezeichnet werden." 
„Gemäß der abstrakten Methode erfolgt die Definition 
einer Klasse von Objekten oder Erscheinungen durch Beschrei- 
bung oder eine andere Art der Darstellung derjenigen Gruppe 
von Eigenschaften, die allen Objekten oder allen Erscheinungen^ 
die diese Klasse bilden, gemeinsam ist, wobei sie so betrachtet 
werden, wie die Sinne sie uns zeigen und nichts Hypothetisches 
eingeführt wird. Jeder dieser Eigenschaften wird ein Name 
oder ein Symbol zugewiesen." 
„Gemäß der hypothetischen Methode erfolgt die De- 
finition einer Klasse von Objekten oder Erscheinungen aus 
einer mutmaßlichen Auffassung über deren Natur, wobei man 
sich vorstellt, daß sie in einer sinnlich nicht wahrnehmbaren 
Art als Modifikation irgendeiner anderen Klasse von Objekten 
oder Erscheinungen, deren Gesetze bereits bekannt sind, kon- 
stituiert seien. Wenn die Konsequenzen einer derartigen hypo- 
thetischen Definition mit den Resultaten der Beobachtung und 
des Experimentes in Einklang stehen, kann sie dazu dienen, die 
Dahen, PhytOcaliiche Theorie. 5 
66 I>ritte8 Kapitel. 
Gesetze einer Klasse von Objekten oder Erscheinungen aus 
den entsprechenden Gesetzen einer anderen Klasse abzuldten.'' 
In dieser Art würde man zum Beispiel die Gesetze des Lichtes 
oder der Wärme aus der Mechanik ableiten/' 
Rankine meint, daß die hypothetischen Theorien nach und 
nach durch die abstrakten Theorien ersetzt werden. Er denkt 
jedoch, „dsiü eine hypothetische Theorie als erste Stufe not- 
wendig sei, um Einfachheit und Ordnung in die Darstellung 
der Erscheinungen zu bringen, was geschehen muß, bevor es 
möglich ist, irgendeinen Erfolg bei dem Bau einer abstrakten 
Theorie zu erreichen". Wir haben im vorangehenden Para- 
graphen gesehen, daß diese Behauptung in der Geschichte der 
physikalischen Theorien keineswegs Bestätigung findet, und wir 
werden im Kapitel IV, § 9 nochmals Gelegenheit haben, sie zu 
diskutieren. 
In der Mitte des XIX. Jahrhunderts haben die hypothetischen 
Theorien, die sich als mehr oder minder wahrscheinliche Er- 
klärungen der Erscheinungen gebärden, eine außerordentliche 
Vermehrung erfahren. Der Lärm ihrer Kämpfe und das Getöse bei 
ihrem Untergang haben die Physiker ermüdet und haben sie nach 
und nach zu den gesunden Lehren, denen Newton mit so großer 
Kraft Ausdruck gegeben hat, zurückgeführt. Hr. Ernst Mach*) 
hat, indem er an die unterbrochene Tradition wieder anknüpfte, 
die physikalische Theorie als eine abstrakte und kondensierte 
Beschreibung der Naturerscheinungen definiert, G. Kirchhoff*) 
bezeichnete als Aufgabe der Mechanik „die in der Natur vor 
sich gehenden Bewegungen vollständig und auf die einfachste 
Weise zu beschreiben". 
Wenn auch einige sehr große Physiker auf die Möglich- 
keiten, die die von ihnen angewendete Methode eröffnet, so stolz 
E. Mach: Die Gestalten der Flüssigkeit Prag 1872. — Die 
ökonomische Natur der physikalischen Forschung. Wien 1882. — 
Die Mechanik in ihrer Entwicklung, historisch -kritisch dargestellt 
Leipzig 1883. Das letztere Werk wurde von Hm. Bertrand unter dem Titel: 
La M^canique; expos^ historique et critique de son d^veloppe- 
ment, Paris 1904, ins Französische fibertragen. 
*) O. Kirchhoff: Vorlesungen über mathematische Physik; 
Mechanik. Leipzig 1874, p. 1. 
Die beschreibende Theorie und die Geschichte der Physik. 67 
wurden, daß sie deren Tragweite fiberschätzten und* annahmen, 
daß ihre Theorien die metaphysische Natur der Dinge bloßlegen 
könnten, so sind doch viele Forscher, die unsere Bewunderung 
err^en, bescheidener und weitblickender gewesen. Sie haben 
erkannt, daß die physikalische Theorie keine Erklärung sei, sie 
haben in ihr eine vereinfachte und geordnete Beschreibung ge- 
sehen, die die Gesetze in einer immer vollkommeneren, immer 
naturgemäßeren Klassifikation gruppiert. 
Viertes Kapitel. 
Die abstrakten Theorien und die mechanisclien 
ModeUe.') 
§ 1. — Zwei Arten Denker: Umfassende Denker 
und tiefe Denker. 
Jede physikalische Theorie geht aus einer zweifachen Ar- 
beit hervor: der Abstraktion und der Generalisation. 
In erster Instanz analysiert der Verstand eine ungeheure 
Zahl von verschiedenen, konkreten, verwickelten Einzeltat- 
sachen. Das, was er in ihnen als gemeinsam und wesentlich 
erkennt, faßt er in einem Gesetz zusammen, d. h. in einem 
Lehrsatz, der abstrakte Begriffe verbindet. 
In zweiter Instanz betrachtet er eine ganze Gruppe von 
Gesetzen; diese Gruppe ersetzt er durch eine ganz kleine Zahl 
außerordentlich allgemeiner Urteile, die auf einigen sehr ab- 
strakten Begriffen beruhen; er wählt diese grundlegenden 
Eigenschaften, er formuliert diese fundamentalen Hypo- 
thesen in der Art, daß auf Grund einer zwar vielleicht recht 
langen, aber sehr sicheren Deduktion aus ihnen alle Gesetze 
abgeleitet werden können, welche zu der Gruppe gehören, die 
ihn beschäftigt. Dieses System von Hypothesen und aus ihnen 
sich ergebenden Folgerungen — ein Werk der Abstraktion, 
^) Die in diesem Kapitel auseinandergesetzten Gedanken sind die 
Erweiterung eines „Vt.co\e anglaise et les Th^ories physiques'' 
betitelten Artikels, welcher im Oktober 18Q3 in der „Revue des Questions 
scientifiques'' erschien. 
5^ 
68 Viertes Kapitel. 
Generalisation und Deduktion — bildet die physikalische Theo- 
rie, wie wir sie definiert haben; sie verdient sicher das Epi- 
theton einer abstrakten Theorie, mit welchem Rankine sie 
belegt. 
Die zweifache Arbeit der Abstraktion und Generalisation, 
durch welche eine Theorie gebildet wird, schafft, wie wir aus- 
geführt haben^), eine zweifache Oedankenökonomie, sie ist 
ökonomisch, indem sie ein einziges Gesetz an Stelle vieler 
Tatsachen setzt, sie ist es außerdem, indem sie eine kleine 
Zahl von Hypothesen an Stelle einer großen Gruppe von Ge- 
setzen setzt. 
Werden aber auch alle jene, die über die Methoden der 
Physik Betrachtungen anstellen, mit uns einverstanden sein, 
wenn wir einer abstrakten Theorie diesen zweifach ökonomi- 
schen Charakter zubilligen? 
Für viele Menschen ist die Aufgabe unlösbar oder wenig- 
stens äußerst schwierig, sich eine sehr große Zahl von Dingen 
in der Vorstellung so vor Augen zu halten, daß sie alle 
auf einmal in ihrer verwickelten Gruppierung erfaßt werden, 
daß also nicht eines nach dem andern willkürlich aus dem 
realen Zusammenhang gerissen, zur Betrachtung kommt. Eine 
Menge von unterschiedslos aufgeführten Tatsachen, die keine 
Klassifikation gruppiert, die kein System verbindet oder ein- 
ander unterordnet, erscheint ihnen als Chaos, das ihre Vor- 
stellung erstarren macht, als Labyrinth, in dem sich ihr Ver- 
stand verliert. Hingegen erfassen sie ohne Mühe einen Ge- 
danken, den die Abstraktion von allem, was das gute 
Gedächtnis anregt, befreit hat, sie erfassen klar und voll- 
ständig den Sinn eines Urteils, der solche Gedanken verbindet, 
sie sind fähig, ohne Ermüdung oder Schwäche eine Überlegung, 
die derartige Urteile zur Grundlage hat, bis in ihre letzten Kon- 
sequenzen zu verfolgen. Bei solchen Menschen ist die Fähigkeit, 
abstrakte Gedanken zu erfassen und zu durchdenken, besser 
entwickelt als die, sich konkrete Gegenstände vorzustellen. 
Für diese abstrakten Denker bildet die Zurückführung 
der Tatsachen auf Gesetze ebenso wie die Zurückführung der 
*) Kapitel II, § Z 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 6Q 
Gesetze auf Theorien wirklich eine Ökonomie des Denkens. 
Eine jede dieser beiden Operationen vermindert in hohem 
Grade die Mühe, die ihr Verstand auf sich nehmen muß, um 
zur Erkenntnis der Physik vorzudringen. 
Aber nicht alle ausgebildeten Denker sind abstrakte Denker. 
Es gibt solche, die eine außerordentliche Veranlagung 
haben, sich in der Vorstellung eine verwickelte Gruppierung 
tmgleichartiger Dinge zu vergegenwärtigen. Sie erfassen sie 
mit einem Blick, ohne ihre Aufmerksamkeit zuerst auf einen, 
dann auf den andern Gegenstand richten zu müssen. Und zu- 
dem ist dieser Oberblick nicht unsicher und verwirrt, sondern 
bestimmt und genau, so daß jede Einzelheit an ihrem Platz und 
in der ihr zukommenden Bedeutung klar erkannt wird. 
Aber dieses geistige Vermögen ist an eine Bedingung 
geknüpft: Die Gegenstände, mit denen es sich befaßt, müssen 
in das Gebiet der Wahrnehmungen fallen, müssen angefaßt 
oder gesehen werden können. Die Denker, die es besitzen, 
bedürfen bei der geistigen Arbeit der Unterstützung eines 
guten Gedächtnisses. Der abstrakte Gedanke, der von allem 
entkleidet ist, was dieses Gedächtnis vorzustellen vermag, scheint 
ihnen wie ein ungreifbarer Nebel zu entschwinden. Ein all- 
gemeines Urteil klingt für sie wie eine leere sinnlose Formel. 
Eine lange und strenge Deduktion erscheint ihnen wie das 
eintönige Klappern einer Mühle, deren Mühlsteine sich unauf- 
hörlich drehen und die doch nichts als Luft zermahlen. Diese 
Denker sind zwar mit einer starken Vorstellungskraft begabt, 
zu Abstraktionen und Deduktionen dagegen schlecht gerüstet. 
Wird solchen phantasievollen Denkern der Aufbau 
einer abstrakten physikalischen Theorie als Ökonomie des Den- 
kens erscheinen? Sicherlich nicht. Sie werden in ihr wohl 
viel eher eine Arbeit sehen, deren Mühseligkeit ihnen weniger 
zweifelhaft erscheint als deren Nutzen, so daß sie sich sicher 
ihre physikalischen Theorien nach einem ganz anderen Typus 
bilden werden. 
Die physikalische Theorie, wie wir sie aufgefaßt haben, 
wird daher nur von den abstrakten Denkern ohne weiteres als 
die geeignete Gestalt, in der die Natur dargestellt werden soll, 
70 Viertes Kapitel. 
angesehen werden. Pascal vergißt nicht in dem Fragment^), 
in dem er so deutlich die zwei Arten Denker, die wir unter- 
scheiden, charakterisiert, dies zu bemerken: 
„Es gibt verschiedene Arten des geraden Sinnes, manche 
denken in einer Art von Dingen Ungereimtes und nicht in der 
andern. Manche leiten von wenigen Prinzipien Folgerungen 
ab, das ist eine Geradheit des Sinnes. Die anderen leiten Fol- 
gerungen aus Dingen ab, die viele Prinzipien einschließen. 
Zum Beispiel begreifen einige die Wirkungen des Wasseis, 
in denen es wenige Prinzipien gibt, deren Folgerungen aber 
so fein sind, daß nur außerordentlich strenges Denken bis zu 
ihnen dringen kann. CKese Menschen würden vielleicht nicht 
groß in der Geometrie isein, weil die Geometrie eine große Zahl 
von Grundsätzen in sich faßt und die Natur eines Verstandes 
so sein kann, daß er wenige Grundsätze bis auf die Wurzel 
ergründet, daß er aber keineswegs in solche Gegenstände ein- 
dringen kann, die viele Grundsätze in sich zusammenfassen.^' 
„Es gibt daher zwei Arten des menschlichen Geistes, 
die eine dringt lebhaft und tief in die Folgerungen der Prin- 
zipien, das ist richtiger Verstand, die andere umfaßt eine große 
Zahl von Prinzipien, ohne sie zu verwirren, das ist geometri- 
scher Geist. In einem liegt Stärke und Richtigkeit des Ver- 
standes, im anderen Weite. Es kann nun das eine ohne das 
andere sein, der Verstand kann stark und begrenzt oder auch 
umfassend und schwach sein.'' 
Die abstrakte physikalische Theorie, wie wir sie definiert 
haben, wird sicher die starken aber begrenzten Denker auf 
ihrer Seite haben, dagegen muß sie sich gefaßt machen, daß sie 
von den umfassenden aberschwacheniDenkemverworfen werde. 
Da wir nun die Weite des Denkens zu bekämpfen haben wer- 
den, lernen wir sie vor allen gut kennen. 
§ 2. — Ein Beispiel umfassenden Geistes. 
Der Geist Napoleons. 
Ein Zoologe, der ein bestimmtes Organ studieren will, 
ist hocherfreut, wenn er ein Tier auffindet, bei dem dieses 
') Pascal: Pens^es, Edition Havet, art VII, 2. 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 71 
Organ eine außergewöhnliche Entwicklung erlangt hat, weil 
er an einem solchen die verschiedenen Teile leichter zerglie- 
dert, seinen Bau deutlicher sieht und seine Tätigkeit leichter 
begreift. Ebenso wird dem Psychologen, der eine gewisse 
Eigenschaft untersuchen will, gedient sein, wenn er auf ein 
Wesen stößt, das diese Eigenschaft in hervorragendem Maße 
besitzt. 
Nun zeigt uns die Geschichte einen Mann, bei dem die 
I>enkart, die Pascal als Weite imd Schwäche des Denkens be- 
zeichnet, bis zu einer geradezu ungeheueren Stufe entwickelt 
war. Dieser Mann war Napoleon. 
Man lese wieder nach. Wo Taine^) so plastisch und so sorg- 
sam mit Urkunden belegt das Bild vom Geiste Napoleons 
zeichnet! Man wird daran sofort folgende zwei wesentlichen 
Charakterzüge erkennen, die so auffallend sind, daß sie auch 
dem ungeübtesten Blick nicht entgehen können: Einerseits 
eine außergewöhnliche Fähigkeit, sich eine äußerst komplizierte 
Gesamtheit von Gegenständen im Verstände zu vergegenwär- 
tigen, vorausgesetzt, daß diese Gegenstände den Sinnen zu- 
gänglich sind, daß sie Gestalt und Farbe in der Vorstellung 
annehmen können; andererseits eine Unfähigkeit zur Abstrak- 
tion und Verallgemeinerung, die bis zum tiefen Widerwillen 
gegen diese geistigen Operationen steigt. 
Reine Gedanken, die aus der Verkleidung der besonderen 
und konkreten Details, die sie sichtbar und greifbar machen, 
herausgeschält sind, werden vom Geiste Napoleons nicht auf- 
genommen. „Schon in Brienne^) stellte man fest, daß er kein 
Talent für Sprachen und Literatur hatte." Er faßt die abstrak- 
ten Begriffe nicht nur schwer auf, sondern weist sie mit Ab- 
scheu von sich. „Er prüfte die Dinge nur in bezug auf ihre 
unmittelbare Nützlichkeit," sagt Mme de Stael, „ein allgemei- 
nes Prinzip mißfällt ihm wie eine Albernheit oder erscheint 
ihm wie etwas Feindliches." Diejenigen, denen die Abstraktion, 
die Generalisation und Deduktion als gewöhnliche Denkmittel 
^) H. Taine: Les Origines de la France contemporaine. Le 
Regime moderne, i I, 1. 1, c. I, art 2, 3, 4. Paris 1891. 
*) Alle Zitate sind dem Taineschen Werte entnommen. 
72 Viertes Kapitel. 
dienen, kommen ihm wie fehlerhafte und unvollständige Wesen 
vor; er behandelt diese „Ideologen" mit tiefer Verachtung. 
„Es sind dort zwölf oder fünfzehn Metaphysiker, die ins Wasser 
geworfen werden sollten," sagt er, „es ist das ein Ungeziefer, 
das ich auf meinen Kleidern habe." 
Wenn sein Verstand bei Aufnahme der allgemeinen Prin- 
zipien versagt, wenn nach der Aussage Stendhals, „er die Mehr- 
zahl der großen Wahrheiten, die seit hundert Jahren entdeckt 
wurden, nicht kennt," so hatte er zum Ersatz dafür eine außer- 
ordentliche Fähigkeit, auf einen Schlag die verwickeltste Masse 
von Tatsachen, von konkreten Objekten zu sehen, mit einem 
Blick, der die Oesamtheit klar erfaßt und sich trotzdem keine 
Einzelheit entgehen läßt. „Er hatte," sagt Bourienne, „ein 
schlechtes Gedächtnis für Eigennamen, für Worte und Daten, 
aber ein erstaunliches für Tatsachen und Ortschaften. Ich 
erinnere mich, daß er mich am Wege von Paris nach Toulon 
auf zehn zur Lieferung großer Schlachten geeignete Orte 
aufmerksam machte. . . . Das war damals eine Erinnerung 
an die ersten Reisen seiner Jugend, und er beschrieb mir das 
Terrain, bezeichnete sogar die Stellung, welche er einnehmen 
würde, bevor wir an die Orte kamen." Übrigens bemühte sich 
Napoleon selber, diese Eigenheit seines Gedächtnisses, das so 
stark für Tatsachen und so schwach für alles nicht Konkrete 
war, hervorzuheben. „Meine Verzeichnisse sind mir immer 
gegenwärtig. Ich besitze nicht genug Gedächtnis um einen 
Alexandriner zu behalten, aber ich vergesse keine Silbe von 
meinen Verzeichnissen. Ich finde sie heute abend in meinem 
Zimmer und lege mich nicht nieder, bevor ich sie gelesen habe." 
Ebenso wie er die Abstraktion und Generalisation fürch- 
tet, weil diese Operationen sich in ihm mit großer Mühe und 
Qual vollziehen, macht es ihm Freude, seine erstaunliche 
Vorstellungsgabe arbeiten zu lassen, \vie es einen Athleten freut, 
die Fähigkeit seiner Muskeln zu prüfen. Seine Wißbegierde 
nach greifbaren und genauen Tatsachen ist „unersättlich" 
nach den Worten Molliens. „Die gute Beschaffenheit meiner 
Regimenter", sagte er uns selber, „rührt daher, daß ich mich 
mit ihnen täglich ein bis zwei Stunden beschäftige, und wenn 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 73 
man mir jeden Monat das Verzeichnis meiner Truppen und 
meiner Flotte einsendet, das circa zwanzig starke Büchelchen 
bildet, so gebe ich jede andere Beschäftigung auf, um es im 
einzelnen zu lesen, und den Unterschied zwischen einem Monat 
und dem anderen zu sehen. Ich habe an dieser Lektüre mehr 
Freude wie ein junges Mädchen an der eines Romans.^' 
Diese Vorstellungsgabe, von der Napoleon so leicht und 
gern Gebrauch macht, zeigt eine erstaunliche Auffassung;s- 
fähig^eit. Weite und Genauigkeit. Es gibt einen Oberfluß 
an Beispielen, an denen diese wunderbaren Eigenschaften ge- 
würdigt werden können. Die zwei folgenden sind genügend 
charakteristisch, um eine lange Aufzählung zu ersparen. 
„Herr de Segur, der beauftragt war, alle Plätze der nörd- 
lichen Küste zu besichtigen, hatte seinen Bericht vorgelegt. 
,Ich habe alle Ihre Verzeichnisse durchgesehen,' sagte mir 
der erste Konsul, ,sie sind genau, nur haben Sie bei Ostende 
zwei vierpfündige Kanonen vergessen.' — Und er bezeich- 
nete ihm den Platz, eine Straße mitten in der Stadt." — Das 
war richtig. — „Ich ging hinaus, verblüfft vor Erstaunen, daß 
von den Tausenden an der Küste in festen und beweglichen 
Batterien zerstreuten Kanonen zwei Vierpfünder seinem Ge- 
dächtnis nicht entfallen waren.'' 
„Auf der Rückkehr aus dem Lager von Boulogne trifft 
Napoleon ein Häuflein verirrter Soldaten, fragt nach der Num- 
mer ihres Regimentes, berechnet den Tag ihres Aufbruches, 
den Weg den sie genommen, den Weg den sie hätten machen 
sollen und sagt ihnen : ,Ihr werdet euer Regiment an dem und 
dem Platz finden.' — Die Armee bestand nun damals aus! 
200000 Mann." 
Durch Handlungen, durch die Haltung und sichtbare Ge- 
bärden wird der Mensch von seinesgleichen erkannt, enthüllt 
er ihm seine Gefühle, seine Instinkte, seine Leidenschaften. 
Bei einer derartigen Enthüllung ist oft die untergeordnetste, 
flüchtigste Einzelheit, eine unmerkliche Röte, ein kaum ange- 
deutetes Zucken der Lippen das wesentliche Zeichen, das ein 
plötzliches Licht auf eine in derTiefe der Seele verborgene Freude 
oder Enttäuschung wirft. Eine so winzige Einzelheit entgeht 
74 Viertes Kapitel. 
dem forschenden Blick Napoleons nicht, und sein Vorstellungs- 
gedächtnis bewahrt sie für immer auf, wie wenn es eine Mo- 
mentaufnahme machen würde. Daher rührt seine tiefe Kennt- 
nis der Menschen, mit denen er zu tun hat. „Eine solche 
unsichtbare moralische Kraft^) kann durch ihre wahrnehmbare 
Äußerung festgestellt und annähernd gemessen werden, durch 
die Stichprobe wie dieses Wort, dieser Ausdruck, diese Be- 
wegung beschaffen sei. Diese Worte, diese Bewegungen und 
diese Ausdrücke sucht er aufzulesen. Er sieht die innersten 
Oefühle in ihrem äußeren Ausdruck, er malt sich das Innere 
nach dem Äußeren auf Grund dieses charakteristischen Ge- 
sichtes, jener ausdrucksvollen Haltung, jenes kleinen, einfachen 
und bezeichnenden Vorganges, auf Grund von Proben und 
Abrissen, die so gut gewählt und so ausführlich geschildert 
werden, daß sie die ganze unbestimmte Reihe der analogen 
Fälle zusammenfassen. Auf diese Weise werden flüchtige und 
schwankende Objekte plötzlich aufgefaßt, zusammengesetzt, 
alsdann gemessen und gewogen." Die seltsame Psychologie 
Napoleons ist vollständig durch seine Fähigkeit, sich mit Ge- 
nauigkeit in der Gesamtheit und in den Einzelheiten sicht- 
bare und greifbare Gegenstände, Menschen aus Fleisch und 
Knochen vorzustellen, gegeben. 
Diese Fähigkeit ist es auch, welche seine Umgangsspradie 
so lebhaft und farbenreich macht. Keine abstrakten Bezeich- 
nungen oder allgemeinen Urteile, nur Bilder, die sofort das 
Auge oder Ohr packen: „Ich bin mit der Zollverwaltung auf 
den Alpen unzufrieden, sie gibt kein Lebenszeichen, man hört 
nicht, wie ihre Taler in die Staatskasse rollen." 
Alles im geistigen Wesen Napoleons, die Furcht vor der 
Ideologie, der Blick des Verwalters und Taktikers, die tiefe 
Kenntnis des gesellschaftlichen Milieus und der Menschen, die 
bisweilen triviale Kraft seiner Ausdilicksweise, alles dies ent- 
springt demselben Hauptcharakterzug: der Weite und Schwäche 
des Denkens. 
*) Taine: Loc. cit., p. 35. 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 75 
§ 3. — Das umfassende, das scharfe und das 
geometrische Denken. 
Beim Studium des geistigen Wesens Napoleons konnten 
wir alle charakteristischen Eigenschaften des umfassenden 
I>enkens beobachten, wir sahen sie außerordentlich vergrößert, 
wie durch ein Mikroskop. Es wird uns nun in Zukunft leicht 
sein, sie überall wiederzuerkennen, wo wir ihnen begegnen, 
und zwar manche von ihnen an den mannigfachen Gegen- 
ständen, denen der Geist, den sie charakterisieren, Aufmeric- 
samkeit schenkt. 
Wir werden sie vor allem überall dort wiedererkennen, 
wo wir dem Scharfsinn begegnen, denn der Scharfsinn, wie 
ihn Pascal uns beschreibt, besteht im wesentlichen in der Fähig- 
keit, eine sehr große Zahl konkreter Begriffe klar zu sehen 
und sie in ihrer Gesamtheit sowie in ihren Einzelheiten gleich- 
zeitig zu erfassen. „Die Grundsätze des Scharfsinnes^) sind 
im allgemeinen Gebrauch und liegen vor den Augen aller 
Welt. Man braucht, ohne sich im geringsten Gewalt anzutun, 
nur seinen Kopf zu wenden. Es kommt nur auf gutes Sehen 
an, aber gut sehen muß man, denn die Grundsätze dieser 
Art sind so verbreitet und zahlreich', daß sie sich unmög- 
lich verbergen können. Nun leitet aber die Nichtachtung eines 
Grundsatzes zum Irrtum, daher ist ein gutes Auge erforderlich, 
um alle Grundsätze zu sehen . . . Man erkennt sie kaum, fühlt 
sie mehr als man sie sieht. Es kostet unendliche Mühe, sie denen, 
die sie nicht selbst fühlen, fühlbar zu machen. Es handelt sich 
um so feine und zahlreiche Sachen, daß ein besonders feiner 
und klarer Sinn zu ihrem Empfinden gehört. Sehr oft kann 
man sie gar nicht reihenweise demonstrieren, wie in der Geometrie, 
weil man nicht deren Prinzipien inne hat und ein solches Unter- 
nehmen ohne Ende sein würde. Man muß die ganze Sache 
wenigstens bis zu gewissem Grade mit einem Blick sehen 
und nicht durch Überiegungen zu ihnen gelangen.^ 
„ . . . Scharfsinnige Denker, die sich so nach einem einzigen 
Blick zu urteilen gewöhnt haben, sind daher sehr erstaunt, wenn 
Pascal: Pens^es, Edition Havet, art 7. 
76 Viertes Kapitel. 
man ihnen Sätze vorlegt, die sie nicht erfassen, bei denen man 
durch Definitionen und unfruchtbare Grundsätze, die sie so 
einzeln zerlegt, zu sehen nicht gewohnt smd, durchdringen muß, 
vor denen sie zurückweichen und die ihnen verleidet werden . . . 
Den scharfsinnigen Denkern, die nur scharfsinnig sind, fehlt 
die Geduld, bis zu den ersten Grundsätzen spekulativer und 
imaginativer Gegenstände herabzusteigen, die sie niemals in der 
Welt und vor allem nie im Gebrauch gesehen haben.^ 
Aus der Weite des Geistes entspringt der Scharfsinn des 
Diplomaten, der im Aufzeichnen der kleinsten Tatsachen, der 
geringsten Bewegungen, der untergeordnetsten Gebärden des 
Menschen, mit dem er verhandelt und dessen Verstellungskunst 
er durchschauen will, geübt ist Der Scharfsinn eines Talleyrand 
gruppiert Tausende unmerklicher Aufschlüsse, welche er aus 
dem Ehrgeiz, der Eitelkeit, der Rachsucht, der Eifersucht, dem 
Hasse aller der Bevollmächtigten des Wiener Kongresses schöpft. 
Sie ermöglichen es ihm, mit diesen Menschen wie mit Marionetten, 
deren Fäden er in Händen hält, zu spielen. 
Diese Weite des Geistes finden wir bei den Verfassern von 
Chroniken wieder, die in ihren Schriften die Details der Tat- 
sachen und des Verhaltens der Menschen feststellen; bei einem 
Saint-Simon, der uns in seinen Memoiren „die Porträts von 
vierhundert Spitzbuben, von denen keine zwei sich gleichen,"* 
hinteriieB. Sie ist das wesentliche Werkzeug des großen Roman- 
ciers, nur mit ihrer Hilfe konnte ein Balzac die Menge von 
Personen, die die „Com^die humaine'' bevölkern, schaffen, 
eine jede von ihnen vor uns in Fleisch und Knochen hinstellen, 
aus diesem Fleisch alle die Runzeln, Warzen und Falten bilden, 
welche von jeder einzelnen Leidenschaft, jedem Laster, jeder 
Lächeriichkeit der Seele an die Oberfläche getrieben werden; 
diese Körper bekleiden, ihnen Haltung und Gebärden verieihen, 
sie mit Dingen umgeben, die ihr Milieu bilden, aus ihnen mit 
einem Wort Menschen machen, die in einer Welt, die sich 
bewegt, leben. 
Die Weite des Geistes gibt dem Stil eines Rabelais Farbe 
und Wärme, überhäuft ihn mit sichtbaren, greifbaren, faßbaren 
Bildern, die bis zur Karikatur konkret, bis zum Zappeln lebendig 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 77 
sind. Der weite Oeist steht auch im Oegensatz zum klassi- 
schen Oeist, den Taine schildert, jenem Geist, der die ab- 
strakten B^ffe, Ordnung und Einfachheit hebt, der ganz 
naturlich in dem Stil Buffons spricht, der beim Ausdruck eines 
Gedankens immer die allgemeinste Bezeichnung wählt 
Alle die sind weite Geister, die in ihrer Phantasie ein klares, 
genaues, detailliertes Bild der Beziehungen einer Menge von 
Dingen festhalten können. Ein weiter Geist ist der Börsen- 
spekulant, der aus einem Haufen von Telegrammen den Stand 
des Kornes oder der Wolle auf allen Märkten der Welt erkennt, 
und mit einem Blick beurteilen kann, ob er Hausse oder Baisse 
spielen soll. Ein weiter Geist ist der Oberbefehlshaber^), der 
einen Mobilisierungsplan auszudenken vermag, auf Grund dessen 
Millionen von Menschen ohne Gedränge, ohne Verwirrung am 
festgelegten Tag den bestimmten Kampfplatz besetzen werden. 
Ein weiter Geist ist auch der Schachspieler, der ohne auf das 
Schachbrett zu blicken, gleichzeitig gegen fünf Gegner spielt. 
Die Weite des Geistes macht auch das Genie manches 
Geometers und manches Algebraikers aus. Mehr als ein 
Leser Pascals wird wohl erstaunt gewesen sein, als er ihn die 
Mathematiker in die Zahl der weiten aber schwachen Geister 
einreihen sah; diese Einreihung ist indessen keine der geringsten 
Proben sdner Verstandesschärfe. 
Zweifellos behandelt jeder Zweig der Mathematik Vor- 
stellungen, die im höchsten Grade abstrakt sind. Diese Ab- 
straktion liefert die Begriffe der Zahl, der Geraden, der Ober- 
fläche, des Winkels, der Masse, der Kraft und des Druckes. 
Die Abstraktion und philosophische Analyse ordnen und präzi- 
sieren die Eigenschaften dieser verschiedenen Begriffe, die die 
Axiome und Postulate ausdrücken. Die strengste Deduktion 
gibt die Sicherheit, daß diese Postulate einander nicht wider- 
sprechen, voneinander unabhängig sind, sie entwickelt in fehler- 
freier Ordnung die lange Kette von Theoremen, die sie enthalten. 
Dieser mathematischen Methode verdanken wir die vollkommensten 
Die Weite des Geistes war bef Cäsar beinahe ebenso ausgebildet 
wie bei Napo eon. Man weiß, daß er gleichzeitig vier Sekretaren komplizierte 
Briefe in vier verschiedenen Sprachen diktiert hat 
78 Viertes Kapitel 
Meisterwerke, die die Sicherheit und Tiefe des Denkens der 
Menschheit geschenkt haben, deren erste die Elemente des 
Euklid, die Abhandlungen des Archimedes Ober den Hebel und 
das Schwimmen der Körper gewesen. 
Aber gerade deshalb, weil diese Methode fast ausschließlich 
die logischen Fähigkeiten des Intellektes beansprucht, weil sie 
ein im höchsten Maß starkes und genaues Denkvermögen er- 
fordert, erscheint sie jenen, bei denen es weit aber schwach 
ist, äußerst mühsam und schwierig. 
Gerade deshalb haben die Mathematiker ein Verfahren er- 
dacht, welches diese rein abstrakte und deduktive Methode 
durch eine andere ersetzt, nach der dem Vorstellungsvermögen 
mehr Anteil zukommt, als der Denkfähigkeit. Anstatt die ab- 
strakten Begriffe, mit denen sie sich beschäftigen, direkt zu be- 
handeln, sie an sich zu betrachten, nützen sie deren einfachste 
Eigenschaften aus, die sie in Zahlen ausdrücken, die sie messen. 
Anstatt also die Eigenschaften der Begriffe selbst in eine Reihe 
von Schlüssen aneinander zu ketten, unterwerfen sie die Zahlen, 
die sie durch die nach festen Regeln ausgeführten Meßmani- 
pulationen eriangt haben, den Regeln der Algebra. Anstatt 
abzuleiten, rechnen sie Diese Handhabung algebraischer 
Symbole, die man im weitesten Sinne des Wortes als Rechnung 
bezeichnen kann, setzt nun ebenso bei demjenigen, der sie ge- 
schaffen, wie bei dem, der sie anwendet, viel weniger das Ver- 
mögen der Abstraktion und das der Ordnung von Oedanken- 
reihen, als die Fähigkeit voraus, sich verschiedene und verwickelte 
Kombinationen, die man aus bestimmten, sichtbaren und schreib- 
baren Zeichen bilden kann, vorzustellen und auf einen Schlag 
die Umwandlungen zu bemerken, die den Übergang von einer 
Kombination zur anderen ermöglichen. Ein Entdecker auf 
algebraischem Gebiet, z. B. ein jacobi, hatte nichts von einem 
Metaphysiker an sich, er gleicht eher einem Schachspieler, der 
den Turm oder Springer zum sicheren Siege führt. Unter ge- 
wissen Umständen tritt der geometrische neben dem scharf- 
sinnigen in die Reihe der umfassenden aber schwachen 
Denker ein. 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 79 
§4. — Der umfassende und der englische Geist. 
Bei allen Nationen findet man Menschen von umfassendem 
Geist, es gibt aber ein Volk, bei dem er geradezu einheimisch 
ist, nämlich bei dem englischen. 
Suchen wir in erster Linie in den schriftstellerischen Werken, 
die der englische Genius geschaffen, die zwei Merkmale des 
umfassenden und schwachen Geistes: die außerordentliche 
Leichtigkeit, sich sehr verwickelte Gruppierungen konkreter 
O^enstände vorzustellen und die außerordentliche Schwer- 
fälligkeit, abstrakte Begriffe zu erfassen und sie in allgemeine 
Prinzipien zu formulieren. 
Was fällt dem französischen Leser beim Durchblättern eines 
englischen Romanes, sei es nun das Werk eines Meisters in 
seinem Fache, wie Dickens oder George Elliot, sei es der erste 
Versuch einer jungen Autorin, die literarischen Ruhm anstrebt, 
auf? Er wundert sich über die Länge und Ausffihriichkeit der 
Beschreibungen. Am Anfang fühlt er seine Neugier durch das 
Pittoreske eines jeden Gegenstandes gereizt, aber bald verliert 
er die Obersicht über das Ganze. Die zahlreichen Bilder, welche 
der Autor heraufbeschwört, verwirren und vermengen sich mit- 
einander, während unaufhöriich neue Bilder dazu kommen, um 
die Verwirrung noch zu vermehren. Wenn er mit einem Viertel 
der Beschreibung fertig ist, hat er bereits den Anfang vergessen. 
Sodann wendet er die Blätter ohne sie zu lesen, erschreckt von 
dieser Aufzählung konkreter Dinge, die ihm vorbeizumarschieren 
scheinen, wie in einem quälenden Traum. Sein tiefer aber 
enger Geist sehnt sich nach den Beschreibungen eines Loti, 
der in drei Zeilen das Wesen einer ganzen Landschaft ab- 
strahiert und zusammenfaßt. Der Engländer hat keine ähnlichen 
Wünsche. Alle diese sichtbaren, greifbaren und tastbaren Dinge, 
die ihm der Schriftsteller, sein Landsmann, aufzählt und aufs 
genaueste beschreibt, erfaßt er ohne Anstrengung in ihrer Ge- 
samtheit, ein jedes an seinem Platze mit allen Einzelheiten, die 
es charakterisieren. Er sieht ein Bild, das ihn entzückt, wo wir 
nur ein erdrückendes Chaos erblicken. 
Dieser Gegensatz zwischen dem französischen Geist, der 
so stark ist, daß er Abstraktionen und Verallgemeinerungen 
80 Viertes Kapitel. 
nicht furchtet, aber zu eng, um sich irgendetwas Verwickelteres, 
bevor es in vollkommene Ordnung gebracht ist, vorstellen zu 
können, und dem umfassenden aber schwachen Geiste des 
Engländers, werden wir beim Vergleich aller Schriftdenkmale, 
die von diesen beiden Nationen stammen, stets wieder finden 
können. 
Sollen wir es an den dramatischen Werken feststellen? 
Nehmen wir einen Helden Corneilles, Auguste, wie er zwischen 
Rache und Milde schwankt, oder Rodrigue, wie er seine Ehr- 
furcht gegen die Eltern und seine Liebe einander gegenüber- 
stellt. Zwei Oeffihle streiten in seinem Herzen, aber welche 
großartige Ordnung in ihrer Auseinandersetzung! Sie nehmen 
das Wort, ein jedes, wenn die Reihe an ihm ist, wie zwei 
Advokaten, die im Oerichtssaale in wohlgefügten Plaidoyers 
ihre überzeugenden Gründe auseinandersetzen. Und wenn dann 
von der einen wie der anderen Seite die Gründe klar dargel^ 
worden sind, schließt der Wille die Debatte mit einer Ent- 
scheidung, die so genau ist wie ein Urteil des Gerichtshofes 
oder eine Schlußfolgerung der Mathematik. 
Und nun denken wir uns an Stelle des Auguste oder des 
Rodrigue Corneilles die Shakespearsche Lady Macbeth, oder 
den Hamlet. Welches Gemisch unklarer, unausgearbeiteter Ge- 
fühle, deren Konturen unbestimmt und unzusammenhängend, 
bald herrschen, bald beherrscht werden! Der in unserem klassi- 
schen Theater erzogene französische Zuschauer erschöpft sich 
in vergeblichen Anstrengungen, solche Persönlichkeiten zu ver- 
stehen, d. h. mit Klarheit aus einem bestimmten Seelenzustand 
diese Menge unbestimmter und einander widersprechender 
Eigenschaften abzuleiten. Der englische Zuschauer weiß von 
solcher Arbeit nichts. Er sucht nicht diese Persönlichkeiten zu 
verstehen, ihre Gesten zu klassifizieren und zu ordnen, er be- 
gnügt sich, sie in ihrem lebendigen Zusammenhang zu sehen. 
Sollen wir diesen Gegensatz zwischen dem französischen 
und englischen Geiste beim Studium der philosophischen 
Schriften nochmals aufzeigen? Ersetzen wir Corneille und 
Shakespeare durch Descartes und Bacon. 
Welchen Titel trägt die Einleitung, mit der Descartes seine 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 81 
Werke beginnt? „Eine Abhandlung über die Methode.'^ Sie 
bestand darin, „in meinem Oedanicengang die Ordnung festzu- 
halten, daß ich mit den einfachsten und leichtesten Gegenständen 
b^ann und nur nach und nach zu Untersuchungen der ver- 
wickeltsten aufstieg, und eine gleiche Ordnung auch in den 
Dingen selbst anzunehmen, selbst wenn auch das eine nicht 
von Natur dem anderen vorangeht". 
Und welche Dinge „sind am leichtesten erkennbar", mit 
denen „man beginnen muß"? Descartes wiederholt es des öfteren. 
Es sind die einfachsten Dinge und unter diesen Worten ver- 
steht er die abstraktesten, von wahrnehmbaren Wirkungen voll- 
ständig entblößten Begriffe, die umfassendsten Prinzipien, die 
allgemeinsten Urteile Ober Denken und Sein, die grundlegendsten 
Wahrheiten der Mathematik. 
Von diesen Begriffen und Prinzipien ausgehend, entwickelt 
die deduktive Methode ihre Schlüsse, deren lange, aus lauter 
geprüften Gliedern bestehende Kette die speziellsten Konse- 
quenzen fest an die Grundlage des Systems knüpft. „Die lange 
Kette einfacher und leichter Sätze, deren die Geometrie sich 
bedient, um ihre schwierigsten Beweise zustande zu bringen, 
ließ mich erwarten, daß alle dem Menschen erreichbaren Dinge 
sich ebenso folgen. Wenn man also sich nur vorsieht und 
nichts für wahr nimmt, was es nicht ist, und wenn man die 
zur Ableitung des einen aus dem anderen nötige Ordnung be- 
obachtet, so kann man selbst den entferntesten Gegenstand 
endlich erreichen und den verborgensten entdecken." 
Welche Fehlerquelle fürchtet Descartes einzig noch bei der 
Anwendung dieser so genauen und strengen Methode? Eine 
Lücke, denn er fühlt, daß er einen engen Geist hat, daß es 
ihm Mühe macht, sich ein verwickeltes Ganzes vorzustellen. 
Gerade in Hinsicht darauf nimmt er sich in acht, er veranstaltet 
eine Gegenprobe, indem er sich vornimmt, „von Zeit zu Zeit 
alles vollständig zu überzählen und im allgemeinen zu über- 
schauen, um so gegen jedes Obersehen gesichert zu sein." 
So ist diese cartesianische Methode beschaffen, deren exakte 
Anwendung in den „Prinzipien der Philosophie" stattfindet. 
Dnhem, Phytikaliscfae Theorie. 6 
82 Viertes Kapitel. 
In ihr hat der starke und enge Oeist den Mechanismus, nach 
dem er arbeitet, klar dargestellt. 
Schlagen wir nun das „Novum Organum^ auf. Suchen 
wir nicht nach der Methode Bacons, denn er hat keine. Die 
Anordnung seines Buches reduziert sich auf eine Teilung von 
kindlicher Einfachheit. In dem y,Pars destruens'^ beschimpft 
er Aristoteles, der „die Naturphilosophie durch seine Dialektik 
verdorben, und die Welt mit seinen Kationen aufgebaut hat**. 
Im „Pars aedificans** verherrlicht er die wahre Philosophie; 
dieselbe hat nicht den Aufbau eines klaren und wohlgeordneten 
Systems von Wahrheiten zum Ziel, die logisch aus sicheren 
Prinzipien abgeleitet sind, ihr O^enstand ist durchaus prak- 
tischer, ich wage zu sagen industrieller Natur. „Man muB sehen, 
welche Regel, welche Vorschrift vor allem eingehalten werden 
muB, um eine gewisse neue Eigenschaft an einem gegebenen 
Körper hervorzurufen und zu erzeugen sowie versuchen, sie 
in einfachen Ausdrücken und möglichst klar zu erklären.** 
„Wenn man z. B. dem Silber die Farbe des Goldes oder 
ein erheblicheres Gewicht geben will (unter Anpassung an die 
Gesetze der Materie), oder einem Stein, der kein Diamant ist, 
Durchsichtigkeit, oder dem Glase Zähigkeit, oder einem nicht 
wachsenden Körper Wachstum, so muB man vor allem, sagen 
wir, darauf bedacht sein, eine Regel, eine Vorschrift zu suchen, 
um es zu erhalten.** 
Lehren uns nun diese Vorschriften, unsere Experimente 
nach festen Regeln durchzuführen und zu ordnen? Liefern sie 
uns ein Mittel, unsere Beobachtungen zu klassifizieren? Keines- 
wegs. Die Experimente werden ohne vorhergehende Überiegung 
gemacht, die Beobachtungen auf gut Glück gesammelt, die 
Resultate werden vollständig unbearbeitet, wie sie sich gerade 
darbieten, in Tabellen als positive Fälle, negative Fälle, 
Grade oder Vergleichungen, Ausnahmen oder Aus- 
scheidungen aufgezeichnet, in denen ein französischer Geist 
nichts als einen ungeordneten Haufen unbrauchbarer Fest- 
stellungen sehen würde. Allerdings bequemt sich Bacon, be- 
stimmte Kategorien bevorzugter Tatsachen aufzustellen, aber 
diese Kategorien werden von ihm nicht klassifiziert, sondern 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 83 
nur aufgezählt Er analysiert sie nicht, so daß er nicht die- 
jenigen in derselben Gattung zusammenbringen kann, die auf- 
einander reduzierbar sind, er zählt siebenundzwanzig Arten auf, 
und läßt uns im unklaren, warum er die Liste nach der sieben- 
undzwanzigsten abschließt. Er sucht nach keiner genauen 
Formel, welche eine jede dieser Kategorien der ausgewählten 
Tatsachen charakterisieren und bestimmen würde, er begnügt 
sich, sie mit einem Namen auszustatten, der ein wahrnehmbares 
Bild hervorruft: isolierte Tatsachen, Wanderung, Anzeigendes, 
Heimliches, Büschel, Angrenzendes, Feindliches, Bündnisartiges, 
Kreuzartiges , Zwietrachtartiges , Lampenartiges , Türartiges, 
Wasserlaufartiges. So ist das Durcheinander beschaffen, das 
gewisse Leute, — die nie Bacon gelesen haben — , der carte- 
sianischen Methode entgegenhalten und als Baconsche Methode 
bezeichnen. In keinem anderen Werke läßt die Weite des eng- 
lischen Geistes so sehr die durch sie verdeckte Schwäche durch- 
scheinen. 
Wie der Descartessche Geist in der ganzen französischen 
Philosophie heimisch zu sein scheint, so scheint die Vor- 
stellungsgabe Bacons, sein Sinn für das Konkrete und Praktische, 
seine Unkenntnis und Verachtung für die Abstraktion und De- 
duktion in das Blut, das die englische Philosophie belebt, über- 
gegangen zu sein. „Nacheinander haben ^) Locke, Hume, Bent- 
ham und die beiden Mills die Philosophie der Erfahrung und 
Beobachtung dargelegt. In der Utilitätsmoral, der induktiven 
Logik, der assoziativen Psychologie bestehen die großen Bei- 
träge der englischen Philosophie zu der universellen Gedanken- 
arbeit. Alle diese Denker kommen weniger an Hand von Ober- 
legungen, als durch Anhäufungen von Beispielen vorwärts. 
Anstatt Schlüsse aneinander zu ketten, sammeln sie Tatsachen. 
Darwin oder Spencer greifen ihre Gegner nicht in einem ge- 
lehrten Diskussionsgefecht an, sondern sie vernichten sie, indem 
sie sie steinigen. 
Der Gegensatz zwischen der französischen und englischen 
Begabung macht sich in allen geistigen Schöpfungen geltend 
^) A. Chevrillon: Sydney Smith et la renaissance des id^es 
liberales en Angleterre au XIX« stiele, p. 90. Paris 1894. 
84 Viertes Kapitel. 
und tritt gleicherweise bei allen Äußerungen des öffentlichen 
Lebens hervor. 
Oibt es einen größeren Unterschied, als zwischen unserem 
französischen Recht, das in mehrere Codices gruppiert ist, in 
denen die Gesetzesartikel methodisch unter Titeln, die abstrakte, 
klar definierte Begriffe ausdrucken, eingereiht sind, und der 
englischen Gesetzgebung, die aus einem überwältigenden Haufen 
unzusammenhängender und oft einander widersprechender Ge- 
setze und Gewohnheitsrechte besteht, die seit der Magna Charta 
aneinandergereiht wurden, ohne daß die neu hinzukommenden 
den früheren Abbruch taten? Die englischen Richter fühlen sich 
durch diesen chaotischen Zustand der Gesetzgebung keineswegs 
beengt, sie beanspruchen weder einen Pothier noch einen Portalis, 
sie leiden nicht unter der Unordnung der Texte, die sie anzu- 
wenden haben. Das Bedürfnis nach Ordnung offenbart Enge 
des Geistes, der eine Gesamtheit nicht mit einem Blick umfassen 
kann und einen zuveriässigen Führer benötigt, der ihm ein jedes 
der Elemente dieser Gesamtheit einzeln, ohne Lücke oder Wieder- 
holung vorführt. 
Der Engländer ist im wesentlichen konservativ, er hütet 
alle Traditionen, gleichviel woher sie stammen. Es verletzt ihn 
keineswegs, ein Andenken an Cromwell mit einem an Karl I. 
zusammengestellt zu sehen. Die Geschichte seines Landes er- 
scheint ihm so, wie sie gewesen ist: als eine Folge verschiedener 
kontrasibildender Tatsachen, in der eine jede politische Partei 
nach der Reihe Glück und Mißgeschick erfahren, abwechselnd 
Verbrechen und ruhmvolle Taten vollführt hat Ein solcher 
Hang an der Überiieferung, der alles Vergangene als solches 
achtet, ist mit der Enge des französischen Geistes unvereinbar. 
Der Franzose will eine Geschichte, die klar und einfach ist, die 
nach einer gewissen Ordnung und Methode entwickelt wird, 
in der alle Ereignisse aus den politischen Prinzipien, auf die sie 
sich beruft, ebenso hervorgehen, wie die Corollare aus einem 
mathematischen Theorem. Wenn die Wirklichkeit ihm nicht 
eine solche Geschichte liefert, so ist es um so schlimmer für 
diese Wirklichkeit. Er wird dann Tatsachen entsteilen, manche 
unterdrücken, andere erfinden, da er es lieber mit einem Roman, 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 85 
der klar und methodisch, als mit einer wahrheitsgetreuen Ge- 
schichte, die verwirrt und kompliziert ist, zu tun hat. 
Die Enge des Geistes erweckt im Franzosen den Wunsch 
nach Klarheit, Ordnung und Methode, und diese Liebe zur 
Klarheit, Ordnung und Methode veranlaßt ihn, in jedem Gebiet 
das Erbe der Vergangenheit umzureißen und dem Erdboden 
gleichzumachen, um die Gegenwart nach einem vollständig ge- 
ordneten FMan aufzubauen. Descartes, der vielleicht charakteri- 
stischste Vertreter des französischen Geistes, hat sich be- 
müht^), die Prinzipien, auf die sich alle berufen, die so oft die 
Kette unserer Überlieferung zerstört haben, zu formulieren. „So 
sieht man, daß die von einem Baumeister unternommenen und 
ausgeführten Bauten in der Regel schöner und von besserer 
Anordnung sind, als solche, an denen mehrere gebessert haben 
und an denen man alte Mauern, die zu anderem Zwecke gedient, 
benutzt hat So sind jene alten Häusergruppen, die im Anfang 
nur Burgflecken waren und im Laufe der Zeit große Städte 
geworden sind, im Vergleich zu den regelmäßigen Plätzen, die 
ein Ingenieur nach freiem Ermessen in einer Ebene anlegt, 
meist so schlecht eingeteilt, daß ungeachtet der hohen Kunst 
des einzelnen man doch beim Anblick ihrer schlechten Ordnung 
und der krummen und unregelmäßigen Straßen sie eher für 
Werke des Zufalles, als für die vernünftiger Wesen hält" An 
dieser Stelle preist der große Philosoph im voraus den 
Vandalismus, der zur Zeit Ludwig XIV. so viele Denkmäler der 
vorangegangenen Jahrhunderte zertrümmerte, er prophezeit 
Versailles. 
Der Franzose begreift den Gang des sozialen und politischen 
Lebens nur als fortwährende Erneuerung, als unbegrenzte Serie 
von Revolutionen; der Engländer sieht dagegen in ihm eine 
kontinuieriiche Entwickelung. Taine hat gezeigt, welchen ent- 
scheidenden Einfluß der klassische Geist, d. h. der starke 
aber enge Geist, mit dem die meisten Franzosen begabt sind, 
auf die Geschichte Frankreichs ausgeübt hat; man könnte ebenso 
an dem Gang der Geschichte Englands die Spuren des um- 
^) Descartes: Discours de la Methode. 
86 Viertes Kapitel. 
fassenden aber schwachen Geistes des englischen Volkes mit 
Sicherheit verfolgen^). 
Nachdem wir nun die Fähigkeit, sich eine große Menge 
konkreter Tatsachen vorzustellen, in Verbindung mit dem Un- 
vermögen, abstrakte und allgemeine Gedanken zu erfassen, in 
ihren verschiedenen Äußerungen kennen gelernt haben, wird es 
uns nicht merkwürdig erscheinen, daß diese Weite und Schwäche 
des Geistes einen neuen Typus von physikalischen Theorien 
demjenigen entgegengestellt hat, den der starke aber enge Geist 
schuf. Wir werden uns auch nicht wundern, daß dieser neue 
Typus seine größte Entfaltung in den Werken „jener großen 
englischen Schule der mathematischen Physik, deren Arbeiten 
eine der Ruhmestaten des XIX. Jahrhunderts sind^'', erreicht hat 
§ 5. — Die englische Physik und die mechanischen 
Modelle. 
Beim Studitun der in England erscheinenden physikalischen 
Abhandlungen stößt dem Franzosen jeden Augenblick ein 
höchst befremdendes Element auf. Dieses Element, das fast 
stets die Darlegtmg einer Theorie begleitet, ist das Modell. 
Nichts macht den Unterschied zwischen der englischen und 
unserer Art des Aufbaues der Wissenschaft anschaulicher, wie 
diese Verwendung des Modells. 
Wir haben vor uns zwei elektrische Körper, man soll eine 
Theorie ihrer gegenseitigen Anziehung bezw. Abstoßung geben. 
Der französische oder deutsche Physiker, heiße er nun Poisson 
oder Gauß, denkt sich in der äußeren Umgebung dieser Kör- 
per die Abstraktion, die man als materiellen Punkt bezeichnet, 
in Verbindung mit jener andern Abstraktion, die man elek- 
^) Der Leser findet eine sehr eingehende, scharfsinnige und gut mit 
Beweisen belegte Analyse eines zugleich umfassenden und schwachen eng- 
lischen Geistes im Werke von Andr^ Chevrillon: Sydney Smith et la 
renaissance des id^es liberales en Angleterre au XIX^ si^cle. 
Paris 1894. 
") O. Lodge: Les Th^ories modernes de l'^lectricit^. Essai 
d'une th^orie nouvelle. Traduit de Fanglais et annot^ par E. Meylan, 
p. 3, Paris 1891. [Deutsch herausgegeben von R. Wachsmut unter dem 
Titel: „Neueste Anschauungen über Elektrizität", Leipzig 1896.] 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 87 
trische Ladung nennt, gesetzt; er sucht sodann eine dritte 
Abstraktion zu berechnen, die Kraft, der der materielle Punkt 
unterworfen ist Er gibt Formeln an, die die Bestimmung 
der Größe und Richtung dieser Kraft für jede mögliche Lage 
dieses materiellen Punktes ermöglichen. Aus diesen Formeln 
leitet er eine Reihe von Konsequenzen ab. Er zeigt nament- 
lich, daß an jedem Punkte des Raumes die Kraft die Rich- 
tung der Tangente an eine bestimmte Linie, die Kraftlinie, 
besitzt; daß alle Kraftlini;en zu bestimmten Flächen, deren 
Gleichung er angibt, den Flächen gleichen Potentials 
senkrecht sind, daß sie, im Speziellen, zu den Oberflächen 
der zwei elektrisierten Leiter normal stehen, die in die Reihe 
der Flächen gleichen Potentials gehören. Er berechnet die 
Kraft, der ein jedes Element der beiden Oberflächen unter- 
worfen ist, und setzt endlidi alle diese elementaren Kräfte, 
entsprechend den Regeln der Statik zusammen. Er kennt nun- 
mehr die Gesetze der gegenseitigen Wirkungen zweier elek- 
trischer Körper. 
Diese ganze Theorie der Elektrostatik bildet eine Grup- 
pierung abstrakter Begriffe und allgemeiner Sätze, die in der 
klaren und genauen Sprache der Geometrie und Algebra for- 
muliert, und die durch die Regeln einer strengen Logik unter- 
einander verbunden sind. Diese Gruppierung befriedigt den 
Verstand eines französischen Physikers ebenso vollständig, 
wie seinen Sinn für Klarheit, Einfachheit und Ordnung. 
Beim Engländer ist dies anders. Die abstrakten Begriffe 
des materiellen Punktes, der Kraft, der Kraftlinie, der Fläche 
gleichen Potentials, befriedigen sein Bedürfnis, sich konkret 
materielle, sichtbare und greifbare Dinge vorzustellen, nicht. 
„Solange wir uns an diese Darstellungsmethode halten'^ sagt 
ein englischer Physiker^), „können wir uns keine gedankUche 
Vorstellung von den sich in der Wirklichkeit vollziehenden 
Erscheinungen machen.^' Um diesem Bedürfnis zu genügen, 
schafft er ein Modell. 
Der französische oder deutsche Physiker stellt sich im 
Räume, der zwei Konduktoren voneinander trennt, abstrakte 
*) O. Lodge: op. dt., p. 16. 
88 Viertes Kapitel. 
Kraftlinien, die weder Dicke noch reale Existenz haben, vor. 
Der englische Physiker geht sofort daran, diese Linien zu mate- 
rialisieren, sie bis zu den Dimensionen einer Röhre zu er- 
weitern, die er aus vulkanisiertem Kautschuk herstellt. An 
Stelle einer Gruppe idealer Kraftlinien, die nur dem Verstände 
faßbar sind, hat er ein Bündel elastischer Bänder, die sicht- 
bar und tastbar, mit ihren beiden Enden an der Oberfläche 
der zwei Konduktoren festgeklebt sind, sich in Spannung 
befinden, so daß sie sich zu verkürzen und gleidizeitig zu ver- 
dicken suchen. Wenn die beiden Konduktoren sich einander 
nähern, sieht er, wie diese elastischen Bänder sie ziehen, er 
sieht, wie jedes von ihnen sich zusammenzieht und anschwillt. 
So ist das berühmte von Faraday erdachte Modell der elek- 
trostatischen Wirkungen beschaffen, das von Maxwell und der 
ganzen engUschen Schule als Werk des Genies bewundert 
wird. 
In englischen physikalischen Abhandlungen wird bestän- 
dig von derartigen mechanischen Modellen, die durch gewisse 
mehr oder minder grobe Analogien die Eigenschaften der 
Theorie, die auseinandergesetzt werden soll, ins Gedächtnis 
rufen, Gebrauch gemacht. Manche machen von ihnen nur 
mäßigen Gebrauch, andere greifen im Gegenteil jeden Augen- 
blick zu diesen mechanischen Darstellungen. Vor uns hegt 
ein Buch^), das die modernen Theorien der Elektrizität dar- 
legen will. Es ist darin nur die Rede von Seilen, die sich auf 
Rollen bewegen, sich um Walzen winden, durch kleine Ringe 
hindurchgehen und Gewichte tragen, von Röhren, deren man- 
che Wasser aufsaugen, andere anschwellen und sich wieder 
zusammenziehen, von Zahnrädern, die ineinander eingreifen 
oder an Zahnstangen geführt werden; wir glaubten in die 
friedliche und sorgfältig geordnete Behausung der deduktiven 
Vernunft einzutreten, und befinden uns in einer Fabrik. 
Der Gebrauch ähnlicher mechanischer Modelle erleichtert 
dem französischen Leser keineswegs die Einsicht in eine Theo- 
rie, er braucht im Gegenteil oft einen Kraftaufwand, um die 
Funktion des manchmal sehr komplizierten Apparates, den ihm 
O. Lodge: op. cit 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 89 
der englische Autor beschreibt, zu verstehen, um die Analo- 
gien zwischen den Eigentümlichkeiten dieses Apparates und 
den Sätzen der Theorie, welche er illustrieren soll, zu er- 
kennen. Dieser Kraftaufwand ist oft viel größer, als der- 
jenige, den der Franzose aufbringen muß, um die abstrakte 
Theorie, die das Modell verkörpern will, in ihrer Reinheit 
zu verstehen. Der Engländer hingegen findet die Verwen- 
dung der Modelle beim Studium der Physik dermaßen not- 
wendig, daß sich der Anblick des Modells für ihn mit dem 
Sinn der Theorie selbst vermischt. Es ist merkwürdig, daß 
diese Verwirrung von demjenigen förmlich anerkannt und pro- 
klamiert wird, der heute der höchste Ausdruck des englisdien 
wissenschaftlichen Genius ist, der lange Zeit unter dem Namen 
William Thomson berühmt war, und der, in die Pairswürde 
erhoben, den Titel Lord Kelvin erhielt. 
„Mein Ziel", sagt W. Thomson in seinen Vorlesungen 
über molekulare Dynamik^), „ist zu zeigen, wie man in jeder 
der Kategorien von physikalischen Phänomenen, die wir zu 
betrachten haben, wie immer auch diese Phänomene beschaffen 
seien, ein mechanisches Modell, welches den gestellten Be- 
dingungen genügt, konstruieren kann. Wenn wir die Phäno- 
mene der Elastizität fester Körper betrachten, fühlen wir das 
Bedürfnis, uns ein Modell dieser Phänomene vorzustellen. 
Wenn wir bei anderer Gelegenheit die Lichtschwingungen zu 
betrachten haben, brauchen wir ein Modell der Wirkungen, 
die sich in diesen Erscheinungen kundgeben. Wir fühlen das 
Bedürfnis, an dieses Modell unser Verständnis der Gesamtheit 
zu knüpfen. Es scheint mir, daß der wahre Sinn der Frage: 
Verstehen wir das betreffende physikalische Problem oder ver- 
stehen wir es nicht? folgender ist: Können wir ein entspre- 
chendes mechanisches Modell konstruieren? Ich habe eine 
außerordentliche Bewunderung für das mechanische Modell 
^) W. Thomson: Lectures on molecular Dynamics, and the 
Wawe-Theory of Light John Hopkins University, Baltimore, 1884, p. 131. 
Siehe auch: Sir W. Thomson (lord Kelvin): Conferences scienti- 
fiques et allocutions, trad. par P. Lugol et annot^es par M. Brillouin: 
Constitution de la mati&re, Paris, 1893. 
90 Viertes Kapitel. 
der elektromagnetischen Induktion, welches wir Maxwe ver- 
danken; er hat ein Modell geschaffen, das aUe ^'^ X?^!" 
Wirkungen, die die Elektrizität vermittelst induzierter Stroiac Ptr 
ausübt, hervorbringen kann. Unzweifelhat 
mechanisches Modell außerordentlich lehrn 
einen klar bestimmten Schritt zu einer me 
des Elektromagnetismus." 
„Ich bin niemals zufrieden", sagt "• 
an einer anderen Stelle^), „bevor ich von 
den ich studiere, ein mechanisches Modell 
Wenn ich ein mechanisches Modell mach 
ich, wenn ich keins machen kann, verste. 
diesem Gründe verstehe ich die elektron 
theorie nicht. Ich glaube fest an eine t 
Lichttheorie. Wenn wir die Elektrizität, 
und das Licht verstehen werden, werden \ 
sie der Teil eines Ganzen sind. Ich wünsc 
nach bester Möglichkeit zu verstehen, ohne 
die ich noch weniger verstehe. Deshalb 
die reine Dynamik. Ich kann in der reine 
aber im Elektromagnetismus ein Modell fi 
So bedeutet für die Physiker der engl 
physikalisches Phänomen verstehen so vie 
zusammenstellen können, das dieses Phä: 
Folglich heißt die Natur der materiellen Din 
einen Mechanismus vorstellen, dessen Spiel • 
der Körper darstellt, resp. nachahmt. Die wugnsciie Schule 
ist vollständig vom Gedanken der rein mechanischen Erklä- 
rung der physikalischen Phänomene eingenommen. 
Die rein abstrakte Theorie, die Newton verkündete, die 
wir ausführlich studiert haben, erscheint den Anhängern dieser 
Schule wenig verständlich. 
„Eine andere Klasse mathematischer Theorien", schrieb 
W. Thomson^), „die bis zu gewissem Grade auf Experimente 
^) W. Thomson: Lectures on molecular Dynamics, p. 270. 
*) W.Thomson & P. 0. Tait: Treatise on natural Philosophy 
vol. I., I«r part., all 385. 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. Ql 
basiert sind, ist auch von Nutzen und hat sogar in gewissen 
Fällen auf neue und wichtige Resultate hingewiesen, die nach- 
träglich experimentell bestätigt worden sind. Hierher gehören 
die dynamische Theorie der Wärme, die Undulationstheorie 
des Lichtes usw. In der ersteren, welche auf der experimen- 
tellen Tatsache beruht, daß die Wärme eine Form der Ener- 
gie ist, sind viele Formeln für jetzt dunkel und nicht zu inter- 
pretieren, da wir den Mechanismus der Bewegung und die 
Formänderungen der Moleküle nicht kennen . . . Dieselben 
Schwierigkeiten treten in der Theorie des Lichtes auf. Bevor 
aber diese Chinkelheit völlig aufgeklärt werden kann, müßten 
wir etwas über die letzte oder molekulare Konstitution der 
Körper oder Molekülgruppen wissen, die uns bis jetzt nur in 
ihren Vereinigungen bekannt sind.'^ 
Diese Vorliebe für erklärende und mechanische Theorien 
kann wohl sicher nicht als unterscheidendes Merkmal der eng- 
lischen Theorien und derjenigen wissenschaftlichen Traditio- 
nen, die in andern Ländern blühen, genügen. Die mechanischen 
Theorien haben ihre ausgesprochenste Form bei einem fran- 
zösischen Qenie, bei Descartes angenommen. Der Hollän- 
der Huygens und die schweizerische Schule der BernouUis 
haben dafür gekämpft, den Prinzipien der Atomistik ihre ganze 
Strenge zu bewahren. Die englische Schule unterscheidet sich 
von andern nicht durch den Versuch, die Materie auf einen 
Mechanismus zurückzuführen, sondern durch die spezielle 
Form, in der diese Versuche unternommen wurden. 
Zweifellos verdanken die mechanischen Theorien überall 
dort, wo sie Wurzel schlagen und sich entfalten, ihre Ent- 
stehung und Entwicklung einer verminderten Abstraktions- 
fähigkeit, einem Siege der Vorstellungskraft über die Vernunft. 
Wenn Descartes und die ihm nachfolgenden Philosophen der 
Materie nur rein geometrische oder kinematische Eigenschaf- 
ten zubilligen wollten, so geschah es, weil alle Eigenschaften 
verborgen, weil sie dem Verstände, nicht aber der Vor- 
stellungskraft zugänglich waren. Die Zurückführung der 
Materie auf die Geometrie durch die großen Denker des 
XVII. Jahrhunderts beweist klar, daß in dieser Epoche die 
92 Viertes Kapitel. 
Fähigkeit zu tiefen eingehenden Abstraktionen, die sich in 
den Exzessen der untergehenden Scholastik erschöpfte, nach- 
gelassen hatte. 
Wohl kann bei den großen Physikern Frankreichs, Hol- 
lands, der Schweiz und Deutschlands der Sinn für die Ab- 
straktion einer Ohnmacht ausgesetzt sein, er schläft aber nie- 
mals vollständig. Allerdings ist die Hypothese, daß alles in 
der materiellen Natur sich auf Geometrie und Kinematik zurück- 
führen läßt, ein Sieg der Vorstellungskraft über den Verstand. 
Aber nachdem der Verstand in diesem wesentlichen Punkt 
zurückgetreten ist, nimmt er wenigstens seine Rechte wieder 
auf, wenn es sich um die Ableitung der Folgerungen, um den 
Aufbau des Mechanismus, der die Materie darstellen soll, han- 
delt. Die Eigenschaften dieses Mechanismus müssen logisch 
den Hypothesen folgen, die als Grundlagen des kosmologi- 
schen Systems angenommen wurden. Descartes z. B. und 
nach ihm Malebranche bemühten sich, nachdem sie den Grund- 
satz, daß die Ausdehnung das Wesen der Materie sei, ange- 
nommen hatten, zu zeigen, daß die Materie überall die gleiche 
Natur habe, daß es nicht mehrere voneinander verschiedene 
materielle Substanzen geben könne, daß die verschiedenen 
Teile der Materie sich einzig und allein durch die Form und 
die Bewegungen voneinander unterscheiden können, daß die 
gleiche Quantität Materie immer den gleichen Raum einnimmt, 
daß dergestalt die Materie inkompressibel sei, und sie suchen 
ein System logisch aufzubauen, das bei der Erklärung der 
Naturerscheinungen die zwei einzigen Elemente, die Form der 
bewegten Teile und die Bewegung, die sie erfüllt, benutzt 
Der Bau des Mechanismus, der zur Erklärung der physi- 
kalischen Gesetze dienen soll, wird nicht nur bestimmten logi- 
schen Bedingungen unterworfen und ist gezwungen, vor be- 
stimmten Prinzipien haltzumachen, sondern auch die Kör- 
per, die für die Zusammenstellung dieser Mechanismen die- 
nen, sind den sichtbaren und konkreten Körpern, die wir 
jeden Tag beobachten und berühren, nicht im geringsten ähn- 
lich. Sie sind aus einer abstrakten ideellen Materie, die durch 
die Prinzipien der Kosmologie, auf die sich der Physiker be- 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 93 
ruft, definiert ist, einer Materie, die nicht in dem Gebiet der 
Sinne liegt, die allein der Vernunft sichtbar und greifbar ist, 
einer cartesianischen Materie, die nur aus Ausdehnung und 
Bewegung besteht, oder einer atomistischen Materie, die keine 
Eigenschaft außer Gestalt und Härte besitzt, gebildet 
Wenn ein englischer Physiker ein Modell zur Darstellung 
einer Gruppe physikalischer Gesetze sucht, so kümmert er 
sich tim keinen kosmologischen Grundsatz, so hält er sich 
an keine logische Anforderung. Er sucht nicht sein Modell 
von einem philosophischen System abzuleiten, oder es auch 
nur mit einem solchen in Einklang zu bringen. Er hat nichts 
als das eine Ziel, eine sichtbare und handgreifliche Darstel- 
lung der abstrakten Gesetze, die sein Geist ohne Hilfe eines 
solchen Modells nicht erfassen kann, zu schaffen; ob die ato- 
mistische Kosmologie sich von seinem Mechanismus befrie- 
digt erklärt, oder er nach den Prinzipien des Cartesianismus 
verworfen wird, kümmert ihn wenig, wenn er nur für die An- 
schauung genügend konkret, genügend klar ist. 
Der englische Physiker verlangt von keiner Metaphysik, 
daß sie ihm die Elemente, aus denen er seine Mechanismen 
zusammenstellen will, liefere, er sucht nicht die nicht redu*- 
zierbaren Eigenschaften der letzten Elemente der Materie zu 
kennen. W. Thomson stellt sich z. B. niemals philosophische 
Fragen wie folgende: Ist die Materie kontinuierlich oder ist 
sie aus individuellen Elementen zusammengesetzt? Ist das 
Volumen eines letzten Elementes der Materie variabel oder 
unvariabel? Wie sind die Wirkungen eines Atoms beschaffen, 
werden sie auf Distanz oder nur bei Berührung ausgeübt? 
Solche Fragen entstehen nicht einmal in seinem Kopf, oder 
vietmehr, wenn sie bei ihm entstehen, weist er sie als für 
den Fortschritt der Wissenschaft müßig und schädlich zurück. 
„Der Begriff des Atoms", sagt er^), „wurde stets mit 
unzulässigen Annahmen, wie die der unendlichen Härte, der 
absoluten Starrheit, einer mystischen Fernewirkung sowie der 
») W. Thomson: The Size of Atoms, Nature, März 1870. — 
Wieder abgedruckt in Thomson and Tait: Treatise on Natural Philo- 
sophy, Ile part., app. F. 
04 Viertes Kapitel. 
Unteilbarkeit, verknüpft, so, daß die Chemiker und mandie 
anderen vernünftigen Naturforscher der Gegenwart alle Ge- 
duld mit ihm verloren haben, und es in das Reich der Meta^- 
physik verbannten, sie machten aus ihm einen Gegenstand, der 
kleiner als alles war, was man begreifen kann. Wenn 
aber das Atom von einer unbegreifbaren Kleinheit ist, warum 
gehen dann die chemischen Prozesse nicht unendlich' schnell 
vor sich? Die Chemie ist nicht in der Lage, diese Frage und 
noch viele andere Probleme von größter Bedeutung zu be- 
handeln. Sie ist durch die Starrheit ihrer grundlegenden Vor- 
aussetzungen beengt, die es verhindern, daß sie das Atom als 
reellen Teil der Materie auffaßt, der einen endlichen Raum 
einnimmt, der Dimensionen hat, die nicht so klein sind, daß 
sie allen Messungen unzugänglich blieben, und der zum Auf- 
bau aller greifbaren Körper dient." 
Die Körper, aus denen der englische Physiker seine Mo- 
delle konstruiert, sind nicht abstrakte, durch die Metaphysik 
verarbeitete Vorstellungen. Es sind konkrete Körper, die den 
uns umgebenden gleichen, sie sind fest oder flüssig, starr 
oder biegsam, flüchtig oder zähe ; und unter Festigkeit, Flüch- 
tigkeit, Härte, Biegsamkeit und Zähigkeit braucht man nicht 
die abstrakten Eigenschaften zu verstehen, deren Definition 
sich aus einer bestimmten Kosmologie ergibt. Diese Eigen- 
schaften werden nämlich keineswegs definiert, sondern nur 
an Hand von sinnbildlichen Beispielen vorgestellt: Die Härte 
ruft das Bild eines Stahlblockes, die Biegsamkeit das eines 
Kokonfadens, die Zähigkeit das des Glyzerins wach. Um den 
konkreten Charakter der Körper, aus denen er seine Mecha- 
nismen verfertigt, in möglichst faßbarer Weise darzutun, 
schreckt W. Thomson nicht davor zurück, sie mit den ge- 
wöhnlichsten Ausdrücken zu bezeichnen. So bezeichnet er 
sie als Klingelzugwinkel, Bindfaden, Gallerte. Man kann nicht 
klarer zeigen, daß es sich nicht um Zusammenstellungen han- 
delt, die von der Vernunft erfaßt, sondern um Mechanismen, 
die von dem Vorstellungsvermögen gesehen werden sollen. 
Er könnte uns auch nicht deutlicher ankündigen, daß die 
Modelle, die er uns vorsetzt, nicht als Erklärungen der Ge- 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. Q5 
setze in der Natur betrachtet werden dürfen. Wer ihnen einen 
solchen Sinn zuschreiben wollte, würde sonderbaren Ober- 
raschungen ausgesetzt sein. 
Navier und Poisson stellten eine Theorie der Elastizität 
der kristallisierten Körper auf; diese Körper werden im allge- 
meinen durch 18 voneinander verschiedene Koeffizienten 
charakterisiert.!) W. Thomson sucht diese Theorie mit Hilfe 
eines mechanischen Modells zu illustrieren. ,,Wir konnten 
uns", sagt er2), „erst für befriedigt erklären, als es ims 
gelungen war, ein Modell mit 18 unabhängigen Modulen 
zu schaffen." Dieses Modell wird aus acht harten Kugeln, 
die an den acht Ecken eines Parallelepipedes angebracht sind 
und die untereinander durch eine genügende Anzahl Spiral- 
federn verbunden sind, gebildet. Wer von dem Anblick des- 
selben eine Erklärung der Gesetze der Elastizität erwartet, 
ivird eine große Enttäuschimg erleben. Wie ericlärt sich denn 
die Elastizität der Spiralfedern? Der große englische Phy- 
siker führt dieses Modell auch nicht als Erklärung an. „Wenn 
auch der molekulare Bau der festen Körper, der in diesen 
Betrachtungen vorausgesetzt und der durch unser Modell 
mechanisch veranschaulicht wurde, nicht als in der Natur 
genau verwirklicht aufgefaßt werden muß, so ist 
nichtsdestoweniger der Aufbau eines mechanischen Modells 
dieser Art sicher sehr lehrreich." 
§ 6. — Die englische Schule und die mathematische 
Physik. 
Pascal hat mit vollem Recht erkannt, daß die Weite des 
Geistes eine Fähigkeit sei, die bei einer großen Menge geo- 
metrischer Untersuchungen ins Spiel kommt, in noch viel höherem 
Maße ist sie die Eigenschaft, die das Genie des reinen Alge- 
braikers charakterisiert. Für den Algebraiker handelt es sich 
') Wenigstens nach W. Thomson. In Wirklichkeit hat Navier nur isotrope 
Körper behandelt. Nach der Theorie von Poisson hängt die Elastizität 
eines kristallisierten Körpers nur von 15 Koeffizienten ab. Die Prinzipien 
der Navierschen Theorie führen, auf kristallisierte Körper angewendet, zu 
den gleichen Resultaten. 
*) W. Thomson: Lectures on molecular Dynamics, p. 131. 
gO Viertes Kapitel. 
nicht um die Analyse abstrakter B^friffe, um die Diskussion 
der Zulässigkeit allgemeiner Prinzipien, sondern um die ge- 
schickte, nach festen Regeln stattfindende Kombination von 
Zeichen, die mit der Feder geschrieben werden können. Ein 
großer Algebraiker benötigt keinesw^s besondere Kraft des 
Denkens, eine große Weite desselben genügt. Die Geschicklich- 
keit für algebraisches Rechnen ist keine Oabe der Vernunft, 
sondern ein Attribut des Vorstellungsvermögens. 
Es ist daher nicht merkwürdig, daß die Begabung für 
Algebra unter den englischen AAathematikem stark verbreitet ist; 
sie äußert sich nicht nur in der Zahl äußerst hervorragender 
Algebraiker, die die englische Schule zählt, sondern auch in der 
Vorliebe der Engländer für die verschiedenen Arten des sym- 
bolischen Rechnens. 
Ein Wort zur Erläuterung dieser Sache. 
Ein Mensch, dessen Geist nicht umfassend ist, wird leichter 
Dame, als Schach spielen. Denn wenn er im Damespiel einen 
Zug kombinieren will, hat er es bei seiner Kombination nur mit 
zwei Elementen, den höchst einfachen Regeln, nach denen die 
Steine und die Damen gezogen werden, zu tun. Die Taktik 
des Schachspielers kombiniert hingegen ebensoviele verschiedene 
elementare Operationen, als es Arten von Figuren gibt, und 
manche dieser Operationen, z. B. der Zug des Springers sind 
so kompliziert, daß sie ein schwaches Vorstellungsvermögen 
verwirren können. 
Derselbe Unterschied, wie zwischen dem Dame- und dem 
Schachspiel, besteht zwischen der klassischen Algebra, die wir 
alle anwenden, und den verschiedenen Arten algebraischer 
Symbolik, die im XIX. Jahrhundert geschaffen wurden. Die 
klassische Algebra gebraucht bloß einige elementare Operationen, 
die durch spezielle Symbole dargestellt werden, und jede dieser 
Operationen ist recht einfach. Eine komplizierte algebraische 
Rechnung besteht in nichts anderem, als in einer langen Reihe 
dieser wenigen elementaren Operationen, in einer aus- 
gedehnten Behandlung dieser wenigen Zeichen. Die Aufgabe 
einer symbolischen Algebra besteht in der Abkürzung dieser 
Rechnungen. Zu diesem Zweck fügt sie den elementaren 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. Q7 
Operationen der klassischen Algebra andere Operationen hinzu, 
die sie als elementare behandelt, die sie durch spezielle Symbole 
darstellt, und deren jede eine nach einer festgesetzten Regel 
ausgeführte Kombination, resp. Kondensation von Operationen, 
die der alten Algebra entlehnt sind, bildet In einer symbolischen 
Algebra kann man beinahe mit einem Schlag eine Rechnung 
ausführen, die in der alten Algebra in eine lange Reihe von 
Zwischenrechnungen zerfällt Dafür muß man sich aber einer 
sehr großen Zahl von verschiedenen Zeichen bedienen, deren 
jedes einer sehr komplizierten Regel folgt. Anstatt des Dame- 
spieles spielt man eine Art Schach, bei dem jede der vielen 
verschiedenen Figuren nach ihrer eigenen Art bewegt wird. 
Es ist klar, daß der Geschmack an symbolischer Algebra 
ein Anzeichen für die Weite des Geistes ist, und daß er ins- 
besondere bei den Engländern verbreitet sein wird. 
Diese Veranlagung des englischen Geistes für kondensierte 
algebraische Rechnung wird vielleicht nicht klar erkannt werden, 
wenn wir uns darauf beschränken, die Mathematiker, die ein 
solches Rechnungssystem geschaffen haben, Revue passieren 
zu lassen. Die englische Schule würde mit Stolz die von 
Hamilton erdachte Quaternionenrechnung anführen, die Franzosen 
könnten ihr aber die Cauchysche Symbolik (Theorie des clefs) 
und die Deutschen die Ausdehnungslehre Graßmanns entgegen- 
halten. Darüber braucht man keineswegs erstaunt zu sein, in 
jeder Nation kommen Denker mit umfassendem Geist vor. 
Aber nur bei den Engländern ist der umfassende Geist 
häufig, gewöhnlich, ja einheimisch. Auch die verschiedenen 
Arten algebraischer Symbolik, die Quaternionenrechnung, die 
Vektoranalysis, sind nur bei den englischen Wissenschaftlern 
so stark in Gebrauch. Die meisten englischen Abhandlungen be- 
dienen sich dieser komplizierten, abgekürzten Sprache. Die 
französischen oder deutschen Mathematiker lernen diese Sprache 
nicht gerne. Sie kommen nie dazu, sie geläufig zu sprechen, 
oder direkt in den Formeln, die sie zusammensetzen, zu denken; 
um einer nach der Quaternionenrechnung oder der Vektor- 
analysis ausgeführten Rechnung zu folgen, müssen sie sie erst 
in die klassische Algebra übersetzen. Einer der französischen 
Duhem, Physikalische Theorie. 7 
98 Viertes Kapitel. 
Mathematiker, die am gründlichsten die verschiedenen Arten des 
symbolischen Rechnens studiert haben, Paul Morin, sagte mir 
einmal: „Ich bin von einem Resultat, das ich nach der Quatem- 
ionenrechnung erhalten habe, erst fiberzeugt, wenn ich es 
durch unsere alte cartesianische Algebra bestätigt habe.'' 
Die häufige Anwendung, die die englischen Physiker von 
den verschiedenen Arten der symbolischen Algebra machen, ist 
eine; Äußerung der Weite ihres Geistes; sie hüllt ihre mathe- 
matische Theorie in ein eigenartiges Oewand, sie gibt aber der 
Theorie als solcher keine besondere Physiognomie. Wenn man 
dies Oewand beseitigt, kann man diese Theorie leicht nach der 
Mode der klassischen Algebra kleiden. 
Nun genügt in vielen Fällen dieser Wechsel der Kleider 
nicht, um den englischen Ursprung einer Theorie der mathe- 
matischen Physik zu verhfillen, so daß man sie für eine fran- 
zösische oder deutsche Theorie nehmen könnte, sie wird viel- 
mehr erkennen lassen, daß die Engländer beim Aufbau einer 
physikalischen Theorie der Mathematik nicht immer dieselbe 
Rolle, wie die Gelehrten des Kontinents, zuerkennen. 
FQr einen Franzosen oder Deutschen ist die physikalische 
Theorie ihrem Wesen nach ein logisches System; vollkommen 
strenge Ableitungen vereinigen die Hypothesen, auf denen die 
Theorie ruht, mit den Folgerungen, die man aus ihnen ziehen 
kann, und die man mit den Erfahrungstatsachen vergleichen 
will. Wenn eine algebraische Rechnung dazukommt, so nur 
deshalb, damit die Kette von Schlüssen, die die Folgerungen 
an die Hypothesen knüpft, weniger schwerfällig und leichter 
zu handhaben sei. Bei einer richtig gebauten Theorie kann 
aber nie übersehen werden, daß die Algebra rein die Rolle eines 
Hilfsmittels spielt. Man muß in jedem Augenblick die Mög- 
lichkeit sehen, die Rechnung durch eine rein logische Überiegung, 
deren abgekürzter Ausdruck sie ist, zu ersetzen. Damit diese 
Substitution in genauer und sicherer Weise ausführbar sei, muß 
eine sehr exakte und strenge Obereinstimmung zwischen den 
Symbolen, den Buchstaben, die die algebraische Rechnung mit- 
einander in Verbindung bringt, und den Eigenschaften, die der 
Physiker gemessen hat, zwischen den fundamentalen Gleichungen, 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 99 
die dem Analytiker als Ausgangspunkt dienen und den Hypo- 
thesen, auf denen die Theorie ruht, hergestellt werden. 
So haben auch diejenigen, die in Frankreich und Deutsch- 
land Grundlegendes in der mathematischen Physik geschaffen 
haben, die Laplace, Fourier, Cauchy, Ampfere, Gauß, Franz Neu- 
mann, mit äußerster Sorgfalt die Brücke konstruiert, die den 
Ausgangspunkt der Theorie mit dem Weg, auf dem sich die 
algebraische Entwickelung vollziehen soll, verbindet. Diese 
Brücke besteht in der Definition der in der Theorie zu be- 
handelnden Größen und in der Rechtfertigung der Hypothesen, 
auf denen die Deduktionen ruhen. Daher stammen jene Ein- 
leitungen, die Muster an Klarheit und Methode sind, mit denen 
die meisten ihrer Abhandlungen beginnen. 
Diese Einleitungen einer physikalischen Theorie, die zur 
Einführung der Gleichungen bestimmt sind, wird man wohl 
n den Schriften der englischen Autoren stets vergeblich suchen. 
Wünscht man davon ein krasses Beispiel? 
Zu der von Ampfere geschaffenen Elektrodynamik der 
leitenden Körper hat Maxwell eine neue Elektrodynamik, die- 
jenige der dielektrischen Körper, hinzugefügt. Dieser Zweig 
der Physik geht von der Betrachtung eines dem Wesen nach 
neuen Elementes aus, das man, nebenbei gesagt, recht unpassend 
als Verschiebungsstrom bezeichnet hat. Der Verschiebungs- 
strom wurde zur Ergänzung der Definition der Eigenschaften 
eines Dielektrikums in einem gegebenen Moment, die durch die 
Kenntnis der Polarisation in demselben nicht vollständig be- 
stimmt sind, in derselben Weise eingeführt, wie der Leitungs- 
strom neben der elektrischen Ladung, der die Definition des 
veränderiichen Zustandes eines Leiters vervollständigte. Der 
Verschiebungs- und der Leitungsstrom weisen wohl enge 
Analogien, aber auch tiefe Verschiedenheiten auf. Infolge 
der Einführung dieses neuen Elementes erfuhr die Elektro- 
dynamik eine vollständige Umwälzung; Phänomene, von denen 
die Wissenschaft nicht einmal eine Ahnung hatte, die Hertz erst 
zwanzig Jahre später entdeckte, wurden angekündigt, man sieht 
eine neue Theorie der Fortpflanzung elektrischer Wirkungen in 
nicht leitenden Medien entstehen, eine Theorie, die zu einer 
100 Viertes Kapitel. 
unvorausgesehenen Interpretation der optischen Erscheinungen, 
zur elektromagnetischen Lichttheorie, fuhrt 
Zweifellos wird nun Maxwell dieses so neue, so unvorher- 
gesehene Element, das sich beim Studium so fruchtbar an selt- 
samen und wichtigen Folgen erweist, erst in seine Gleichungen 
einführen, nachdem er es mit der peinlichsten Sorgfalt definiert 
und analysiert hat — Schlägt man die Schrift, in der Maxwell 
seine neue Theorie des elektromagnetischen Feldes dargelegt 
hat, auf, so findet man darin zur Rechtfertigung der Einfährung 
des Verschiebungsstromes in die elektrodynamischen Gleichungen 
nur folgende Zeilen: 
„Die Änderungen der elektrischen Verschiebung müssen zu 
den Strömen hinzugefügt werden, um die vollständige Bewegung 
der Elektrizität zu erhalten/' 
Wodurch läßt sich dieses beinahe vollständige Fehlen einer 
Definition in einem Falle, in dem es sich ja um die neuesten 
und wichtigsten Elemente handelt, diese Gleichgültigkeit gegen- 
über der Aufstellung der Gleichungen einer physikalischen 
Theorie, erklären? Die Antwort scheint uns nicht zweifelhaft 
Während für einen französischen oder deutschen Physiker der 
algebraische Teil einer Theorie die SchluBreihe, in der ihre Ent- 
wickelung vor sich geht, genau ersetzen soll, spielt er für den 
englischen Physiker die Rolle eines Modells. Dieser algebraische 
Teil der Theorie ist eine dem Vorstellungsvermögen faßbare 
Gruppierung der Zeichen, deren, nach den Regeln der Algebra, 
ausgeführte Veränderungen mehr oder weniger richtig die Ge- 
setze der zu studierenden Phänomene nachahmen, ebenso, wie 
dies durch eine Anordnung verschiedener, sich nach den Ge- 
setzen der Mechanik bewegender Körper geschehen würde. 
Wenn daher ein französischer oder deutscher Physiker 
Definitionen einführt, die es ihm ermöglichen sollen, eine logische 
Ableitung durch eine algebraische Rechnung zu ersetzen, so 
muß er mit äußerster Sorgfalt verfahren, wenn er nicht die 
für seine Schlüsse erforderiiche Strenge und Sicherheit preisgeben 
will. Wenn hingegen W. Thomson ein mechanisches Modell 
einer Gruppe von Erscheinungen vorbringt, so bemüht er sich 
nicht, in genauen Überiegungen die Übereinstimmung zwischen 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 101 
dieser Anordnung der konkreten Körper und den physikalischen 
Gesetzen, die sie darstellen soll, herzustellen. Die Vorstellung, 
die allein das Modell interessiert, soll allein Richter Aber die 
Ähnlichkeit zwischen dem Bild und dem abzubildendem Ding 
sein. Ebenso verfährt Maxwell, der die Aufgabe, die physikalischen 
Gesetze mit den allgemeinen Modellen, die sie nachbilden sollen, 
miteinander zu vergleichen, der intuitiven Vorstellungsgabe 
uberläBt. Er hält sich mit einem derartigen Vergleich nicht auf 
und verfolgt ohne weiteres das Spiel dieses Modells. Er kom- 
biniert die elektrodynamischen Gleichungen, meistens ohne in 
jeder dieser Kombinationen nach ihrer Anpassung an die physi- 
kalischen Gesetze zu suchen. 
Der französische oder deutsche Physiker kommt meistens 
durch eine derartige Auffassung der mathematischen Physik aus 
der Fassung, da er nicht begreift, daß er vor sich nur ein 
Modell sieht, das seine Vorstellungskraft packen, nicht aber 
seinen Verstand befriedigen soll. Er beharrt darauf, in den 
algebraischen Transformationen eine Folge von Deduktionen 
zu suchen, die von genau formulierten Hypothesen zu Folge- 
rungen fuhren, die durch das Experiment bestätigt werden 
können, da er sie aber nicht findet, fragt er sich ängstlich, 
was denn nun eigentlich die Maxwellsche Theorie sein könne; 
worauf ihm derjenige, der in den Geist der englischen mathe- 
matischen Physik eingedrungen ist, antwortet, daß es in ihr gar 
nichts Übereinstimmendes mit der Theorie, die er sucht, sondern 
bloß algebraische | Formeln, die sich kombinieren und trans- 
formieren, gibt „Auf die Frage: was ist die Maxwellsche 
Theorie?* sagte H. Hertz ^), „wüßte ich also keine kürzere und 
bestimmtere Antwort, als diese: die Maxwellsche Theorie ist 
das System der Maxwellschen Gleichungen.** 
§ 7. — Die englische Schule und der logische Aufbau 
einer Theorie. 
Die von den großen Mathematikern des Kontinents, seien 
es Franzosen oder Deutsche, Holländer oder Schweizer, ge- 
^) H. Hertz: Untersuchungen über die Ausbreitung der elek- 
trischen Kraft Einleitende Obersicht, p. 23. Leipzig 1892. 
102 Viertes Kapitel. 
schaffenen Theorien lassen sich in zwei große Kategorien ein- 
teilen, in die erklärenden und in die rein beschreibenden Theo- 
rien. Aber diese beiden Arten von Theorien zeigen einen ge- 
meinsamen Charakterzug, sie sollen als nach den Regeln 
strenger Logik aufgebaute Systeme betrachtet werden. Als 
Werke des Verstandes, der weder tiefe Abstraktionen noch 
lange Deduktionen scheut, aber vor allem nach Ordnung 
und Klarheit begehrt, wollen sie, daß durch eine einwand- 
freie Methode die Folge ihrer Sätze vom ersten bis zum letzten, 
von den grundlegenden Hypothesen bis zu den mit den Tat- 
sachen zu vergleichenden Folgerungen gekennzeichnet sei. 
Von dieser Methode stammen jene großartigen Systeme 
der Natur her, die behaupten, die Physik in die vollkommene 
Form der euklidischen Geometrie bringen zu können. Sie 
nehmen eine bestimmte Anzahl sehr klarer Postulate als Grund- 
lage an, und bemühen sich, eine vollkommen strenge und regel- 
mäßige Konstruktion, in der jede Erfahrungstatsache richtig 
untergebracht ist, auszuführen. Sie waren seit der Zeit, da 
Descartes seine Prinzipien der Philosophie entwarf, bis 
zu dem Tag, an dem Laplace und Poisson auf Grund der 
Anziehungshypothese das umfassende Gebäude ihrer Meca- 
nique physique errichteten, das dauernde Ideal der ab- 
strakten Denker und insbesondere des französischen Geistes. 
Im Streben nach diesem Ideal errichtete er Monumente, deren 
einfache Linien und großartige Proportionen noch heute, wo 
diese Gebäude, von allen Seiten untergraben, in ihrem Unter- 
bau wankend geworden sind, Bewunderung erregen. 
Diese Einheit der Theorie, diese logische Verkettung aller 
Teile, die sie zusammensetzen, sind so natürliche, so folge- 
richtige Konsequenzen der Idee, die ein starker Geist von 
einer physikalisdien Theorie hat, daß für sie eine Störung 
in dieser Einheit oder ein Riß in dieser Verkettung die Ver- 
letzung der Prinzipien der Logik, die Ausführung einer Ab- 
surdität bedeutet. 
Für das Umfassende aber schwache Denken des englischen 
Physikers ist dies keineswegs der Fall. 
Die Theorie ist für ihn weder eine Erklärung noch eine 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 103 
rationelle Klassifikation der physikalischen Gesetze, sondern 
ein Modell dieser Gesetze. Sie ist nicht zur Befriedigung des 
Verstandes, sondern zum Ergötzen der Vorstellungskraft auf- 
gebaut. Demzufolge entgeht sie der Herrschaft der Logik. 
Dem englischen Physiker ist es erlaubt, ein Modell zur Dar- 
stellung einer Gruppe von Gesetzen, und wieder ein anderes, 
vom früheren ganz verschiedenes zur Darstellung einer ande- 
ren Gruppe von Gesetzen, zu benützen und zwar auch dann, 
wenn gewisse Gesetze beiden Gruppen gemeinsam angehören. 
Ein Mathematiker der Laplaceschen oder Amp^reschen 
Schule würde es für absurd halten, vom gleichen Gesetze zwei 
verschiedene theoretische Erklärungen zu geben und die- 
selben gleichzeitig als gültig zu betrachten. Für einen Phy- 
siker der Thomsonschen oder Maxwellsdien Schule liegt 
darin kein Widerspruch, wenn das gleiche Gesetz sich durch 
zwei verschiedene Modelle darstellen läßt. Und noch mehr 
Die so in die Wissenschaft eingeführte Komplikation stört 
den Engländer keineswegs, sondern sie hat für ihn eher noch 
den Reiz der Abwechslung. Da seine Vorstellungskraft weit 
mächtiger als die unsere ist, fehlt ihm das Bedürfnis nach 
Ordnung und Einfachheit, sie findet sich dort leicht zurecht, 
wo sich die unsere verwirren würde. 
Daher kommen diese Ungleichförmigkeiten, diese Mängel 
an Zusammenhang, diese Widersprüche in den englischen Theo- 
rien, an die wir leicht einen strengen Maßstab anlegen, weil 
wir ein verstandesmäßiges System dort suchen, wo der Ver- 
fasser uns nichts weiter als ein Werk der Vorstellungskraft 
geben wollte. 
Da haben wir z. B. eine Reihe von Vorlesungen^), die 
W. Thomson über die molekulare Dynamik und die Undula- 
^) W. Thomson: Notes of Lectures on molecular Dynamics 
and the Wawe Theory of Light, Baltimore, 1884. Der Leser kann ebenso 
benutzen: Sir W.Thomson (lord Kelvin): Conferences scientifiques 
et allocutions, traduites et annot^es sur la deuxi^me Edition par P. Lugol; 
avec des extraits de m^moires rtonts de Sir W. Thomson et quelques 
notes, par M. Brillouin: Constitution de la Mati^re. Paris, Oauthier- 
Villars, 1893. 
104 Viertes Kapitel. 
tionstheorie des Lichtes gehalten hat. Der französische Leser, 
der die Marginalien dieses Lehrbuches beim Durchblättern 
ansieht, hofft, eine Gruppierung richtig formulierter Hypothe- 
sen über die Beschaffenheit des Äthers und der ponderablen 
Materie, eine Reihe methodisch ausgeführter, von diesen Hypo- 
thesen ausgehender Rechnungen, eine genaue Obereinstim- 
mung zwischen den Ergehnissen dieser Rechnungen und den 
experimentellen Tatsachen zu finden. Seine Enttäuschung 
wird groß, seine Geringschätzung hingegen kurz sein ! Es war 
keineswegs eine derartig geordnete Theorie, die W. Thomson 
aufbauen wollte; er wollte^) einfach verschiedene Klassen von 
Erfahrungstatsachen betrachten und für jede dieser Klassen 
ein mechanisches Modell konstmieren. Und zwar ebensoviel ver- 
schiedene Modelle wie es Kategorien von Erscheinungen gibt, 
um so die Rolle des materiellen Moleküls in eben diesen Er- 
scheinungen darzutun. 
Wenn es sich darum handelt, die Eigenschaften der Elek- 
trizität in einem kristallisierten Körper darzustellen*), so wird 
das materielle Molekül durch acht massive Kugeln dargestellt, 
die an den Enden eines Parallelepipedes angebracht sind und 
durch eine größere oder kleinere Anzahl von Spiralfedern mit- 
einander zusammenhängen. 
Wenn die Theorie der Dispersion des Lichtes für die 
Vorstellung faßbar gemacht werden soll, so wird das mate- 
rielle Molekül aus einer gewissen Zahl kugelförmiger, harter, 
konzentrischer Hüllen zusammengesetzt,*) die durch Spiral- 
solcher kleinen Mechanismen ist im Äther zerstreut. EMeser 
federn in der gleichen Lage festgehalten werden. Eine Menge 
ist*) ein homogener inkompressibler Körper, der für sehr 
schnelle Schwingungen hart, für Wirkungen von größerer 
Dauer dagegen vollkommen weich ist. Er ist einer Gallerte 
oder dem Glyzerin ähnlich.*) 
*) W. Thomson: loc cit., p. 132. 
") W. Thomson: loc. dt., p. 127. 
•) W. Thomson: loc. cit., p. 10, 105, 118. 
*) W. Thomson: loc. dt, p. Q. 
*) W. Thomson: loc. dt., p. 118. 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 105 
Wenn man ein Modell wünscht, das geeignet sein soll, 
die Polarisation nachzubilden, so werden die materiellen Mo- 
leküle, die wir zu Tausenden in unsere Gallerte ausstreuen, 
nicht mehr nach der beschriebenen Konstruktion gebaut. Es 
werden^) kleine harte Hüllen sein, in deren jeder ein Oyrostat 
mit großer Geschwindigkeit sich um eine in dieser Hülle 
befestigte . Achse dreht. 
Aber das ist noch eine zu grobe Anordnung, ein rohes 
gyrostatfeches MoleküF), das bald durch einen vollständigeren 
Mechanismus ersetzt werden wird. Die feste Hülle enthält 
nunmehr nicht nur einen^) Gyrostaten, sondern deren zwei, 
die sich in entgegengesetztem Sinne drehen. Mit Schmier- 
büchsen versehene Kugelgelenke verbinden sie miteinander 
und mit den inneren Wänden der Hülle, wobei sie ihren Ro- 
tationsachsen einen gewissen Spielraum lassen. 
Unter diesen verschiedenen Modellen, die in den „Vor- 
lesungen über molekulare Dynamik** aufgeführt werden, 
wird es wohl schwierig werden, dasjenige, das am besten den 
Bau des materiellen Moleküls darstellt, zu wählen. Um wie 
viel schwieriger wird dies aber wohl werden, wenn wir 
noch die anderen von W. Thomson in seinen verschiedenen 
Schriften erdachten Modelle in Betracht ziehen. 
An einer Stelle*) haben wir es mit einem homogenen in- 
kompressiblen Fluidum ohne Viskosität, welches den ganzen 
Raum erfüllt, zu tun. Gewisse Teile dieses Fluidums führen 
ununterbrochen wirbeiförmige Bewegtingen aus. Diese Teile 
stellen die materiellen Atome dar. 
An anderer Stelle*) wird die inkompressible Flüssigkeit 
durch eine Anordnung harter Kugeln, die miteinander durch 
geeignete Gestänge verbunden sind, dargestellt. 
W. Thomson: loc. cit., p. 242, 290. 
«) W. Thomson: loc dt., p. 327. 
■) W. Thomson: loc. cit, p. 320. 
*) W. Thomson: on Vortex Atoms (Edinburgh Philosophical 
Society Proceedings, 18. Februar 1867). 
*) W. Thomson: Comptes rendus de TAcademie des Sciences, 
16. septembre 1889. — Scientific Papers, vol. III, p. 466. 
106 Viertes Kapitel. 
Wieder an anderer Stelle^) beruft er sich auf die kine^ 
tischen Theorien von Maxwell und Tait, um die Eigenschaften 
der festen Körper, der Flüssigkeiten und Gase zu versinn- 
bildlichen. 
Wird uns vielleicht die Bestimmung die Konstitution, 
die W. Thomson dem Äther zuschreibt, leichter sein? 
Als W. Thomson seine Theorie der Wirbelatome ent- 
wickelte, war der Äther ein Teil dieses homogenen inkom- 
pressiblen Fluidums, dem alle Viskosität fehlt, das den ganzen 
Raum erfüllt. Er wurde durch den Teil des Fluidums dar- 
gestellt, der keinerlei Wirbelbewegungen enthält. Um aber 
die Schwere, die die materiellen Moleküle gegeneinander aus- 
üben, darzustellen, nahm der große Physiker^) bald die Be- 
schaffenheit des Äthers komplizierter an. Indem er eine alte 
Hypothese von Fatio de Chiilliers und Lesage wieder auf- 
nimmt, wirft er in das homogene Fluidum einen Schwärm 
kleiner fester Körperchen, die mit außerordentlicher Geschwin- 
digkeit nach allen Richtungen versehen sind. 
In einer andern Schrift^ wird der Äther wieder zu einem 
homogenen, inkompressiblen Körper, aber dieser Körper ist 
jetzt einem sehr zähen Fluidum einer Gallerte, ähnlich. Diese 
Analogie wird auch, wenn die Reihe an ihr ist, fallen gelassen ; 
um die Eigenschaften des Äthers darzustellen, greift W. Thom- 
son*) auf die Formeln, die wir MacCuUagh*) verdanken, zurück 
und stellt sie, um sie der Vorstellung zugänglich zu machen, 
') W. Thomson: Molecular Constitution of Matter, §§ 29—44 
(Proceedings of the Royal Society of Edimburgh, 1. und 15. Juli 1889; 
— Scientific Papers, vol. III, p. 404); — Lectures on molecular Dyna- 
mics, p. 280. 
') W. Thomson: on the ultramondane Corpuscles of Lesage 
(Philosophical Magazine, vol. XLV., p. 321, 1873). 
■) W. Thomson: Lectures on molecular Dynamics, pp. 9, 118. 
*) W. Thomson: Equilibrium or motion of an ideal Substance 
called for brevity Ether (Scientific Papers, vol. III, p. 445). 
^) Mac Cullagh: An essay towards a dynamical theory of 
crystalline reflexion and refraction (Transactions Royal Irish 
Academy, vol. XXI, 9. Dezember 1839; — The Collected works of 
James Mac Cullagh, p. 145). 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 107 
durch ein mechanisches Modell dar^). Starre Schachteln, von 
denen jede einen Gyrostaten enthält, der eine schnelle Rota- 
tionsbewegung um eine mit den Innenwänden fest verbun- 
dene Achse besitzt, sind miteinander durch Bänder aus einem 
biegsamen aber unausdehnbaren Stoff verbunden. 
Diese wohl unvollständige Aufzählung der verschiedenen 
Modelle, durch die W. Thomson die verschiedenen Eigen- 
schaften des Äthers und der ponderablen Moleküle darzu- 
stellen suchte, gibt uns nur eine schwache Vorstellung von 
der Menge von Bildern, die in Iseinem Geiste durch die 
Worte: Beschaffenheit der Materie hervorgerufen werden. Es 
müßten noch alle von den andern Physikern geschaffenen und 
von ihm zur Verwendung empfohlenen Modelle hinzugefügt 
werden, man müßte dazu z. B. das Modell der elektrischen Wir- 
kungen von Maxwell^), für das Thomson eine unwandelbare 
Bewunderung bekennt, hinzufügen. An diesem können wir den 
Äther und alle die Elektrizität schlechtleitenden Körper in der 
Art von Honigwaben aufgebaut sehen. Die Zellwände sind 
nicht aus Wachs, sondern aus einem elastischen Körper ge- 
bildet, dessen Deformationen die elektrostatischen Wirkungen 
darstellen. Der Honig, der durch ein vollkommenes Fluidum, 
das sich in sehr schnellen Wirbelbewegungen befindet, er- 
setzt wird, stellt die magnetischen Wirkungen dar. 
Diese Sammlung von Maschinen und Mechanismen ver- 
wirrt den französischen Leser der eine geordnete Reihenfolge 
von zusammengehörigen Voraussetzungen über die Konstitu- 
tion der Materie, eine hypothetische Erklärung dieser Kon- 
stitution suchte. Aber W. Thomson beabsichtigte in keinem 
Augenblick eine solche Erklärung zu geben. Unaufhörlich 
warnt sogar die von ihm verwendete Ausdrucksweise den 
^) W. Thomson: on agyrostatic adynamic Constitution ofthe 
Ether (Edimburgh Royal Society Proceedings, 17. März 1890; — 
Scientific Papers, vol. III, p. 466): — Ether, Electricity and Ponde- 
rable Matter (Scientific Papers, vol. III, p. 505). 
*) J. Clerk Maxwell: on physical Lines of Force, Ille part.: 
The Theory of molecular Vortices applied to statical Electricity 
(Philosophical Magazine, Januar und Februar 1882. — Scientific 
Papers, vol. I, p. 491). 
108 Viertes Kapitel. 
Leser vor einer solchen Interpretation seines Gedankenganges. 
Die Mechanismen, die er anführt» sind „grobe Modelle"^), „rohe 
Bilder''^); sie sind „mechanisch nicht natürlich, un natural 
mechanically''^, „die in diesen Betrachtungen dargestellte 
und in unserem Modell veranschaulichte mechanische Konsti- 
tution der festen Körper darf nicht als in der Natur verwirk- 
licht angesehen werden''^), „es ist kaum nötig, zu bemerken, 
daß der Äther, den wir versinnbildlicht haben, eine durchaus 
ideale Substanz sei^'^). Der provisorische Charakter aller dieser 
Modelle zeigt sich in der Ungezwungenheit, mit der der Autor 
sie aufgibt oder wieder aufnimmt, je nach dem Erfordernis der 
Erscheinung, die er gerade studiert. „Weg mit unsem sphäri- 
schen Hohlräumen und deren festen konzentrischen Hüllen, 
dies war, wie Sie sich erinnern, nur eine grobe mechanische 
Illustration. Ich will ein anderes mechanisches Modell geben, 
obwohl ich glaube, daß es auch von dem wahren Mechanismus 
der Erscheinungen sehr weit entfernt ist"*). Höchstens gibt 
er manchmal der Hoffnung Raum, daß diese scharfsinnig er- 
dachten Modelle den Weg angeben, der in einer entfernten 
Zukunft zu einer physikalischen Erklärung der materiellen 
Welt führen wird'). 
Die Fülle und Verschiedenheit der Modelle, die W. Thom- 
son zur Darstellung der Beschaffenheit der Materie vorbringt, 
wundert den französischen Leser nicht übermäßig, denn er 
erkennt sehr bald, daß der große Physiker keineswegs eine 
für die Vernunft annehmbare Erklärung, sondern bloß ein 
Werk der Vorstellung schaffen wollte. Hingegen wird sein 
Erstaunen groß und dauernd sein, wenn er findet, daß ebenso 
wie in einer Sammlung mechanischer Modelle auch in dem 
Gang algebraischer Theorien Ordnung wie Methode fehlen. 
^) W. Thomson: Lectures on molecular Dynamics, p. 11, 105. 
■) W. Thomson: op. cit., p. 11. 
^ W. Thomson: op. cit., p. 105. 
*) W. Thomson: op. cit., p. 131. 
^) W. Thomson: Scientific Papers, vol. III, p. 464. 
*) W. Thomson: Lectures on molecular Dynamics, p. 280. 
W. Thomson: Scientific Papers, vol. III, p. 510. 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 109 
und die Logik mit Gleichgültigkeit behandelt wird. Wie 
soll er in der Tat die Möglichkeit einer unlogischen mathe- 
matischen Entwicklung begreifen? Daher stammt das Gefühl 
der Betroffenheit, das ihn beim Studium einer Schrift wie 
das „Lehrbuch der Elektrizität und des Magnetismus^' von 
Maxwell erfaßt: 
„Wenn ein Franzose zum ersten Male das Werk von Max- 
well aufschlägt," schreibt Hr. Poincare^), „so mischt sich in 
seine Bewunderung ein Gefühl des Unbehagens, ja oft sogar 
des Mißtrauens . . . ." 
„Der englische Gelehrte sucht nicht ein einheitliches wohl 
geordnetes und endgültiges Gebäude zu errichten, es scheint 
vielmehr, als wolle er eine ganze Anzahl von vorläufigen und 
unzusammenhängenden Konstruktionen geben, zwischen denen 
die Verbindung schwierig, ja bisweilen unmöglich ist." 
„Greifen wir beispielsweise das Kapitel heraus, in wel- 
chem die elektrostatischen Anziehungen erklärt werden durch 
Druck und Spannungsverhältnisse, die in dem dielektrischem 
Medium herrschen sollen. Dies Kapitel könnte fortgelassen 
werden, ohne daß der Rest des Buches an Klarheit und Voll- 
ständigkeit einbüßen würde, und andererseits enthält es eine 
in sich abgeschlossene Theorie, die man verstehen könnte, 
ohne auch nur eine einzige Zeile von dem, was vorhergeht 
oder folgt, gelesen zu haben. Aber es steht nicht allein außer 
Zusammenhang mit dem Reste des Werkes, sondern es ist 
sogar schwer, es mit den grundlegenden Ideen des Buches 
in Einklang zu bringen,*) wie wir später durch eine eingehende 
*) H. Poincar^: £lectricit6 et Optique, I. Les th^ories de Max- 
well et la th^orie 61ectro-niagn6tique de la lumi^re. Introduction 
p. VIII. [Deutsche Ausgabe von Jäger und Oumlich (Berlin 1891) p. 1.] 
— Der Leser, der zu erfahren wünscht, bis zu welchem Grade die Gleich- 
gültigkeit gegen jede Logik und selbst gegen jede mathematische Genauig- 
keit bei Maxwell geht, kann darüber viele Beispiele in folgender Schrift 
finden: P. Duhem, Les Th^ories 61ectriques de J. Clerk Maxwell, 
£tude historique et critique, Paris 1902. 
*) In Wirklichkeit entspringt diese Theorie von Maxwell aus einem 
vollständigen Mißverständnis der Gesetze der Elastizität. Wir haben dieses 
Mißverständnis festgestellt und die genaue Theorie, die an Stelle des Irrtums 
110 Viertes Kapitel. 
Diskussion nachweisen werden. Maxwell versucht es auch 
nicht, diese Übereinstimmung herzustellen, er beschränkt sich 
vielmehr auf die Bemerkung :i) „I have not been able to make 
the next step, namely, to account by medianical considerations 
for these stress in the dielectric" 
„Dies Beispiel wird genügen, um meine Ansicht klarzu- 
legen ; ich könnte deren noch viele andere anführen. Wer würde 
beispielsweise beim Lesen der von der magnetischen Drehung 
der Polarisationsebene handelnden Stellen vermuten, daß 
zwischen den optischen und magnetischen Erscheinungen 
Identität herrscht?" 
Das Lehrbuch der Elektrizität und des Magnetis- 
mus von Maxwell kleidet sich vergebens in mathematische 
Form, es ist ebensowenig ein logisches System, wie die Vor- 
lesungen über molekulare Dynamik von W. Thomson. 
Wie diese Vorlesungen setzt es sich aus einer Reihe von 
Modellen zusammen, von denen ein jedes eine Gruppe von 
Gesetzen darstellt, die ohne Rücksicht auf die anderen Mo- 
delle, aufgestellt werden, die zur Darstellung anderer mitunter 
aber auch der gleichen Gesetze oder einer Anzahl derselben 
dienen. Nur sind diese Modelle nicht mehr aus Gyrostaten, 
Spiralfedern und Glyzerin konstruiert, sondern bestehen aus 
Anordnungen algebraischer Zeichen. CHese verschiedenen 
Einzeltheorien, von denen eine jede für sich ohne Rücksicht 
auf die vorausgehenden entwickelt wird, die manchmal Teile 
Maxwells zu setzen ist, entwickelt (a); ein Ausdruck, der fälschlicherweise 
an unserer Berechnung vernachlässigt wurde, wurde von Herrn Li6nard (b) 
wieder eingesetzt, dessen Resultate wir durch direkte Analyse bestätiget 
haben (c). 
a) P. Duhem: Le^ons sur T^lectricit^ et le Magn6tisme, t II, 
1. XII. Paris 1892. 
b) Li^nard: La Lumi^re ^lectrique, t LH, p. 7, 67. 1894. 
c) P. Duhem: American Journal of Mathematics, vol. XVII, 
p. 117, 1895. 
^) Ich bin nicht imstande gewesen, den zweiten Schritt, die Ableitung 
dieses Zwangszustandes des Dielektrikums aus mechanischen Betrachtungen 
auszuführen. [Maxwell, A Treatise on Electricity and Magnetism. 
Vol. I, p, 132, 1873.1 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. Hl 
eines Gebietes wieder behandeln, die bereits behandelt wurden, 
wenden sich mehr an unsere Vorstellung als an unseren Ver- 
stand, sie sind Bilder, bei deren Ausführung der Künstler mit 
vollster Freiheit die Gegenstände, die er darstellen und die 
Ordnung, in die er sie gruppieren wollte, gewählt hat. Da 
verschlägt es nicht viel, wenn eine der Personen dem Maler 
schon in anderer Stellung für ein anderes Bild gesessen hat. 
Der Logiker würde scheel angesehen werden, wenn er daran 
Anstoß nehmen wollte. Eine Bildergalerie ist keine Kette 
logischer Schlüsse. 
§8. — Die Weiterverbreitung der englischen Methode. 
Der englische Geist ist durch die umfassende Fähigkeit, 
sich konkrete Gruppierungen vorzustellen und durch die geringe 
Fähigkeit für Abstraktion und Generalisation genau charakterisiert. 
Diese eigenartige Form des Geistes erzeugt eine eigenartige 
Form von physikalischer Theorie. Die Gesetze einer gewissen 
Gruppe sind in keiner Weise in ein logisches System zusammen- 
gefügt, sondern sie werden durch ein Modell dargestellt. 
Dieses Modell kann dann entweder in einem aus konkreten 
Körpern konstruierten Mechanismus, oder in einer Anordnung 
algebraischer Zeichen bestehen. Jedenfalls beugt sich die eng- 
lische Theorie in ihren Entwickelungen nicht den von der Logik 
geforderten Regeln der Ordnung und Einheitlichkeit. 
Während langer Zeit waren diese Eigenheiten förmlich die 
Fabrikmarke der in England aufgestellten physikalischen Theorien. 
Am Kontinent wurde von diesen Theorien nicht Gebrauch 
gemacht Seit einigen Jahren ist dies anders. Die englische Art 
der Behandlung der Physik hat sich überall mit außerordentlicher 
Schnelligkeit verbreitet. Heute wird sie in Frankreich ebenso 
wie in Deutschland gebraucht. Wir wollen daran gehen, die 
Ursachen dieser Weiterverbreitung aufzusuchen. 
Vor allem darf man nicht vergessen, daß die Form des 
Verstandes, die von Pascal als Umfang und Schwäche des Denkens 
bezeichnet wurde, bei den Engländern zwar sehr verbreitet, 
daß sie aber weder das Attribut aller Engländer, noch die Eigen- 
schaft der Engländer allein ist. 
112 Viertes Kapitel. 
In der Fähigkeit, sich abstrakte Gedanken vollständig klar 
zu machen, die allgemeinsten Prinzipien bis zum äußersten genau 
zu erfassen, wie in der Geschicklichkeit, sowohl eine Reihe von 
Experimenten, als auch eine SchluBfolge in tadelloser Ordnung 
durchzuführen, tritt Newton in keiner Weise hinter Descartes 
noch hinter irgendeinem der klassischen Denker zurflck, seine 
Geisteskraft war eine der schärfsten, die die Menschheit 
gekannt hat. 
Ebenso wie man bei den Engländern — und dafür bürgt uns 
Newton — starke und tiefe Denker finden kann, kann man 
außerhalb Englands umfassende aber schwache Denker antreffen. 
Ein solcher war Gassendi. 
Der von Pascal so klar definierte Gegensatz der beiden 
Verstandesarten tritt außerordentlich lebhaft in der berühmten 
Diskussion^), in der Gassendi und Descartes einander gegen- 
überstanden, hervor. Mit welchem Ungestüm beharrt *) Gassendi 
darauf, „daß der Geist sich nicht von dem Vorstellungsvermögen 
unterscheide"; mit welcher Kraft versichert er, daß „die Phantasie 
sich nicht vom Begreifen unterscheidet**, daß „wir nur eine 
einzige Fähigkeit besitzen, durch die wir alle Dinge überhaupt 
erkennen"! Mit welchem Hochmut antwortet Descartes *), 
Gassendi: „Was ich über die Vorstellung sagte, ist genügend 
klar, wenn man darauf achten will, es ist aber kein Wunder, 
daß es denen, die nie nachdenken und sich das, worüber sie 
denken, nicht wieder überiegen, undeutlich erscheint!" Die beiden 
Gegner scheinen verstanden zu haben, daß ihre Debatte einen 
anderen Anstrich habe als die Mehrzahl der so häufigen Dis- 
kussionen zwischen Philosophen, daß sie kein Streit zwischen 
zwei Menschen oder zwei Doktrinen war, sondern ein Kampf 
zweier Arten des Denkens, des weiten aber schwachen 
gegen das starke aber enge. O anima! Omens! ruft Gassendi, 
wenn er an den Kämpen der Abstraktion eine Anfrage 
richtet. O caro! erwidert Descartes, indem er unter seiner 
^) P. Oassendi: Disquisitio metaphysica, seu dubitationes et 
instantiae adversus Renati Cartesii Metaphysicam, et responsa. 
') P. Oassendi: Dubitationes in Meditationem 11««. 
') Cartesii: Reponsum ad DubitationemV in Meditationen! Ilun. 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 113 
hochmutigen Verachtung die Vorstellungsgabe, die sich auf die 
konkreten Dinge beschränkt, zermalmt. 
Man versteht daher die Vorliebe Oassendis für die epiku- 
räische Kosmologie. Unbeschadet ihrer außerordentlichen Klein- 
heit sind die Atome, die er sich vorstellt, den Körpern, die er 
taglich sehen und betasten kann, sehr ähnlich. Dieser konkrete, 
der Vorstellung faßbare Charakter der Physik von Oassendi 
zdgt sich in vollem Licht in der folgenden Stelle^), in der der 
Philosoph in der ihm eigenen Art die Neigungen und Ab- 
neigungen der Schule auseinandersetzt: „Man muß begreifen, 
daß diese Wirkungen sich in derselben Art wie die leichter 
wahrnehmbaren zwischen den Körpern vollziehen. Der einzige 
Unterschied ist, daß die Mechanismen im letzteren Fall grob, 
im ersteren sehr fein sind. Überall, wo uns der gewöhnliche 
Anblick eine Anziehung und Vereinigung zeigt, sehen wir Haken, 
Schnüre, irgend etwas, was hält und irgend etwas, was gehalten 
wird; überall, wo er uns eine Abstoßung und Trennung zeigt, 
sehen wir Stachel, Spieße, irgend einen Körper, der eine 
Sprengung verursacht usw. Ebenso müßten wir uns, um die 
Wirkungen, die nicht in das Gebiet der gewöhnlichen Sinne 
gehören, zu erklären, kleine Haken, kleine Schnüre, kleine 
Stachel, kleine Spieße und andere Vermittler derselben Art 
vorstellen. Diese Vermittler sind unfühlbar und untastbar, 
man darf aber daraus nicht etwa folgern, daß sie nicht 
existieren." 
In allen Perioden der wissenschaftlichen Entwicklung wird 
man unter den Franzosen Physiker finden, die mit Oassendi 
geistig verwandt sind, und die wie er Erklärungen zu schaffen 
wünschen, die die Vorstellung fassen kann. Einer der scharf- 
sinnigsten und fruchtbarsten Theoretiker, die unserer Epoche 
zur Ehre gereichen, Hr. J. Boussinesq, hat mit vollkommener 
Klarheit das Bedürfnis gewisser Denker, sich die Gegenstände, 
über die sie nachdenken, vorzustellen, dargelegt „Wenn der 
menschliche Geist," sagt Hr. Boussinesq^, „die Naturerschei- 
^) Oassendi: Syntagma philosophicum, lU pars, 1. VI, c XIV. 
*) J. Boussinesq: Legons synth^tiques deM^canique g^n^rale, 
p. 1; Paris, 1889. 
Dahem, Physikalische Theorie. 8 
114 Viertes Kapitel. 
nungen beobachtet, erkennt er neben vielen verworrenen Elementen, 
die er nicht ins klare zu bringen vermag, ein deutliches Element, 
das durch seine Bestimmtheit zum Gegenstand wirklich wissen- 
schaftlicher Erkenntnisse geeignet ist. Das ist das geometrische 
Element, das an die Lokalisierung der Dinge im Räume anknüpft 
und das es ermöglicht, sich dieselben vorzustellen, sie zu be- 
zeichnen, oder sie in mehr oder minder idealer Art zu kon- 
struieren. Es ist aus den Dimensionen und Formen der Körper 
oder Systeme von Körpern zusammengesetzt, aus dem, was man 
mit einem Worte als ihre Konfiguration im gegebenen Moment 
bezeichnet. Diese Formen, diese Konfigurationen, deren meßbare 
Teile Entfernungen oder Winkel sind, bleiben bald während 
einer gewissen Zeit unverändert oder wenigstens nahezu un- 
verändert bestehen, und scheinen sich sogar in denselben Oe- 
bieten des Raumes zu behaupten, und bilden somit das, was 
man Ruhe nennt, bald ändern sie sich unaufhöriich, aber stetig, 
wobei ihre Ortsänderungen das sind, was man als Ortsver- 
änderung oder schlechtweg als Bewegung bezeichnet^'. 
Diese verschiedenen Konfigurationen der Körper, ihr Wechsel 
von einem Moment zum anderen, sind die einzigen Elemente, 
die der Oeometer zu entwerfen vermag, es sind auch die einzigen, 
die ein phantasievoller Kopf sich deutlich vergegenwärtigen kann, 
und daher nach seiner Meinung die einzigen, die als Objekte 
der Wissenschaft geeignet sind. Eine physikalische Theorie 
würde erst richtig beschaffen sein, wenn sie das Studium einer 
Gruppe vonOesetzen auf die Beschreibung solcher geometrischen 
Figuren, solcher Ortsveränderungen zurückgeführt hat „Bis 
jetzt ^) ist die Wissenschaft, wenn man ihre fertigen Partien 
oder die, die es sein könnten, betrachtet, von Aristoteles aus- 
gehend bis zu Descartes und Newton vorgeschritten, von den 
Begriffen der Qualitäten und Zustandsänderungen, die 
nicht darstellbar sind, zu den Begriffen der Formen und 
Ortsveränderungen, die darstellbar und sichtbar sind.*^ 
Hr. Boussinesq wünscht nicht intensiver als Gassendi, daß 
die theoretische Physik ein Werk des Verstandes sei, mit dem 
') J. Boussinesq: Th6orie analytique de la Chaleur, t. 1, 
p. XV, 1901. 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 115 
die Vorstellungskraft nichts zu tun hat. Er drückt seinen Ge- 
danken in dieser Hinsicht in Formeln aus, deren Klarheit an 
gewisse Ausspruche Lord Kelvins erinnert. 
Damit indessen kein Mißverständnis entsteht, muß gesagt 
werden, daß Hr. Boussinesq keineswegs den großen englischen 
Physikern bis ans Ende folgen würde. Wenn er auch wünscht, 
daß die Konstruktionen der theoretischen Physik in allen ihren 
Teilen der Vorstellung faßbar seien, so beabsichtigt er doch 
keinesw^s, bei der Darstellung des Planes seiner Konstruktionen 
auf die Unterstützung der Logik zu verzichten. Er ist keines- 
w^s damit einverstanden, und ebensowenig würde Oassendi 
damit einverstanden gewesen sein, daß diese Konstruktionen 
aller Ordnung und Einheit entblößt werden, daß sie nur ein 
Labyrinth unabhängiger und unzusammenhängender Bauten dar- 
stellen sollen. 
Die französischen und deutschen Physiker haben in keinem 
Augenblick die physikalischen Theorien aus sich heraus auf 
eine Sammlung von Modellen beschränkt. Die Meinung ist 
nicht von der kontinentalen Wissenschaft aus eigenem Antrieb 
erzeugt, sondern aus England importiert worden. 
Wir verdanken sie vor allem dem Ansehen des Maxwellschen 
Werkes; sie ist in die Wissenschaft durch die Kommentatoren 
und Nachfolger dieses großen Physikers eingeführt worden. 
Auch hat sie sich im ersten Anfang in ihrer verwirrendsten 
Form verbreitet. Bevor nämlich die französischen und deutschen 
Physiker daran gegangen sind, mechanische Modelle zu ver- 
wenden, hatten sich schon mehrere von ihnen daran gewöhnt, 
die mathematische Physik als Sammlung algebraischer Modelle 
zu behandeln. 
In erster Linie muß man unter denen, die dazu beigetragen 
haben, eine solche Art der Behandlung der mathematischen 
Physik zu befördern, den berühmten Heinrich Hertz anführen. 
Wir hörten ihn folgende Erklärung aussprechen: „Die 
Maxwellsche Theorie ist das System der Maxwellschen 
Gleichungen.'' Entsprechend diesem Prinzip und sogar vor 
seiner Formulierung hat Hertz eine Theorie der Elektrodynamik 
116 Viertes Kapitel. 
entwickelt^). Die von Maxwell aufgestellten Gleichungen bildeten 
deren Grundlage; sie wurden ohne eine wie immer geartete 
Diskussion, ohne Prüfung der Definitionen und Hypothesen» 
von denen sie abgeleitet wurden, akzeptiert. Sie wurden ffir 
sich allein behandelt, ohne daß die erhaltenen Folgerungen der 
Kontrolle des Experimentes unterworfen worden wären. 
Ein solches Verfahren würde man bei einem Algebraiker 
verstehen, wenn er die Gleichungen studieren wollte, die 
aus Prinzipien abgeleitet sind, die von allen Physikern akzeptiert 
und durch das Experiment vollständig bestätigt worden sind. 
Man würde sich keineswegs wundem, wenn ein Algebraiker 
die Art der Aufstellung der Gleichungen und deren experimentelle 
Prüfung, in bezug auf die niemand irgendwelche Zweifel 
hegt, mit Schweigen übergehen würde. Das ist aber nicht 
bei den von Hertz studierten Gleichungen der Elektrodynamik 
der Fall. Die Oberiegungen und Rechnungen, mit denen Maxwell 
sie wiederholt zu rechtfertigen suchte, weisen im Überfluß 
Widersprüche, Unklarheiten und Irrtümer auf. Was die Be- 
stätigung, die durch das Experiment möglich wäre, betrifft, so 
kann sie nur teilweise und begrenzt sein. Es springt tatsächlich 
in die Augen, daß die einfache Existenz eines Stückes magneti« 
sierten Stahls mit einer solchen Elektrodynamik unvereinbar ist. 
Dieser kolossale Widerspruch ist auch der Analyse von Hertz 
nicht entgangen*). 
Man könnte vielleicht denken, daß die Annahme einer so 
strittigen Theorie dadurch notwendig geworden sei, daß keine 
andere Lehre vorhanden war, deren Unterbau logischer, und deren 
Übereinstimmung mit den Tatsachen genauer gewesen ist Dies 
ist nicht der Fall. Helmholtz hat eine elektrodynamische Theorie 
aufgestellt, die sich vollständig logisch aus den am besten ge- 
^) H.Hertz: Über die Orundgleichungen der Elektrodynamik 
für ruhende Körper. (Oöttinger Nachrichten, 19. März 1890. — 
Wiedemanns Annalen der Physik und Chemie, Bd. XL. p. 577. — 
Gesammelte Werke von H. Hertz, Bd. II: Untersuchungen über die 
Ausbreitung der elektrischen Kraft 2. Aufl., p. 206.) 
') H. Hertz: Untersuchungen über die Ausbreitung derelek^ 
trischen Kraft, 2. Auflage, p. 240. 
Die abstrakten Theorien und die mechanisdien Modelle. 117 
stutzten Prinzipien der Elektrizitätslehre ergibt, in der bei der 
Formulierung der Gleichungen keine Fehlschlüsse vorkommen, 
wie sie in den Werken Maxwells so häufig sind, die alle Tat- 
sachen, von denen die Maxwellschen und Hertzschen Gleichungen 
Rechenschaft geben, darlegt, ohne von der Wirklichkeit Lügen 
gestraft zu werden, wie dies den letzteren geschieht; man kann 
nicht daran zweifeln, daß der Verstand veriangen wurde, daß 
man diese Theorie vorzieht, aber die Vorstellung liebt mehr 
mit den von Hertz und in der gleichen Zeit von Heaviside und 
von Cohn gestalteten eleganten algebraischen Modellen zu 
spielen. Der Gebrauch dieses Modells hat sich sehr schnell 
unter den Denkern verbreitet, die so schwach sind, daß sie 
sich vor langen Ableitungen fürchten. Die Schriften häuften 
sich, in denen Maxwells Gleichungen ohne Diskussion an- 
genommen wurden. Gleichsam wie ein offenbartes Dogma, bei 
dem die Unklarheiten wie heilige Mysterien verehrt werden. 
Noch ausdrucklicher als Hertz hat Hr. Poincar£ das Recht 
der mathematischen Physik proklamiert, das Joch einer wirklich 
strengen Logik abzuwerfen, und das Band, das diese verschiedenen 
Theorien aneinanderknupft, zu zerreißen. „Man darf sich also 
nicht einbilden,'^ sagt er^), „jeden Widerspruch gelöst zu sehen, 
aber man muß eben Partei ergreifen. In der Tat kann von zwei 
sich widersprechenden Theorien, vorausgesetzt, daß man sie 
nicht durcheinander wirft, und daß man darin nicht nach dem 
Ursprünge der Erscheinungen sucht, eine jede für sich betrachtet, 
als nutzliches Hilfsmittel für Untersuchungen dienen, und viel- 
leicht wäre die Lektüre von Maxwell weniger anregend, wenn 
sie uns nicht so viele neue und verschiedenartige Ausblicke er- 
öfftiet hätte." 
Dieser Ausspruch, der den Methoden der englischen Physik, 
den mit solchem Aufsehen von Lord Kelvin gelehrten Ideen, 
in Frankreich die Bahn frei machte, blieb nicht ohne Wider- 
hall. Viele Ursachen sicherten ihm eine starke und dauernde 
Resonanz. 
^) H. Poincar^: £lectricit6 et Optique. I. Les th^ories de 
Maxwell et la th6orie 6]ectro-magn^tique de la lumi^re. Intro- 
duction p. IX. (Deutsche Ausgabe von Jäger und Oumlich, p. 3.) 
118 Viertes Kapitel. 
Ich will hier weder von der hohen Autorität desjenigen, 
der diesen Ausspruch getan, noch von der Bedeutung der Ent- 
deckungen in bezug auf die er getan wurde, sprechen. Die 
Ursachen, die ich angeben will, sind zwar von rechtswegen 
weniger begründet. Oben aber keineswegs geringeren Einfluß aus. 
Unter diesen Ursachen muB man in erster Linie den Ge- 
schmack am Exotischen, den Wunsch, das Fremde nachzuahmen, 
das Bedürfnis, seinen Geist wie seinen Körper nach der Londoner 
Mode zu kleiden, anführen. Wie viele von denen, die erklären, 
die Physik von Maxwell und von Thomson der bisher in 
unserem Lande üblichen klassischen vorzuziehen, könnten sich 
auf kein anderes Motiv berufen als auf das: sie ist englisch! 
Überdies ist die laute Bewunderung für die englische 
Methode für viele nur ein Mittel, um vergessen zu machen, wie 
wenig geschickt sie in der französischen Methode sind, wie 
schwer es ihnen ist, einen abstrakten Begriff zu fassen, einer 
strengen Überi^[ung zu folgen. Da ihnen die Kraft des Denkens 
fehlt, versuchen sie, indem sie die Haltung umfassender Denker an- 
nehmen, glauben zu machen, daß sie Weite des Geistes besitzen. 
Diese Gründe würden indessen vielleicht nicht genügt 
haben, um der englischen Physik das Ansehen zu verschaffen, 
dessen sie sich heute erfreut, wenn nicht auch die Bedürfnisse 
der Industrie hinzugekommen wären. 
Der Industrielle ist sehr oft ein weiter Geist Die Not- 
wendigkeit, Einrichtungen zu kombinieren, Geschäfte zu führen, 
Menschen zu behandeln, gewöhnen ihn früh daran, klar und 
schnell verwickelte Gruppierungen konkreter Dinge zu erfassen. 
Dafür ist er fast immer ein sehr schwacher Denker. Seine 
tägliche Beschäftigung hält ihn von den abstrakten Begriffen 
und allgemeinen Prinzipien fem. Die Fähigkeiten, die die geistige 
Kraft ausmachen, gehen bei ihm nach und nach zurück, wie es 
bei Organen geschieht, die nicht funktionieren. Das englische 
Modell kann daher nicht verfehlen, ihm als die seinen geistigen 
Fähigkeiten am besten angepaßte Form der physikalischen Theorie 
zu erscheinen. 
Selbstredend wünscht er, daß die Physik in dieser Form 
den Leitern der Werkstätten und Fabriken dargelegt werde. 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 119 
Überdies verlangt der künftige Ingenieur einen Unterricht von 
kurzer Dauer. Er beeilt sich, Oeld aus seinen Kenntnissen 
herauszuschlagen. Er wünscht keine Zeit zu verschwenden, 
die für ihn Geld bedeutet. Nun kennt die abstrakte Physik, 
die vor allem eine absolute Solidität des von ihr aufgestellten 
Gebäudes fordert, diese fieberhafte Hast nicht Sie will auf 
Felsen bauen, und um dies zu erreichen, gräbt sie so tief es 
nötig ist Von denen, die ihre Schüler sein wollen, verlangt 
sie einen in den verschiedenen Übungen der Logik bewanderten, 
durch die Gymnastik der mathematischen Wissenschaften ge- 
schmeidig gewordenen Geist Sie erläßt ihnen kein Mittelglied, 
sie erspart ihnen keine Verwicklung. Warum sollen sich jene, 
die sich nur um die Nützlichkeit, nicht aber um die Wahrheit 
kümmern, dieser strengen Disziplin unterwerfen? Warum sollen 
sie nicht die schnellen Methoden, die sich an die Vorstellung 
wenden, vorziehen? Jene, die die Aufgabe haben, den tech- 
nischen Unterricht zu erteilen, haben daher lebhaft darauf ge- 
drungen, daß die englischen Methoden angenommen werden, 
daß jene Physik gelehrt werde, die sogar in den mathematischen 
Formeln nur Modelle sieht 
Die meisten unter ihnen setzen diesen Bestrebungen keinen 
Widerstand entgegen. Ganz im Gegenteil. Sie übertreiben noch 
die Geringschätzung der Ordnung und die Verachtung der 
Strenge, zu der sich die englischen Physiker bekennen. Sie 
fragen im Moment, wo sie eine Formel in ihre Voriesungen 
oder Abhandlungen einführen, niemals danach, ob sie genau, 
nur ob sie bequem sei und ob sie sich an die Vorstellung 
wende. Für den, der nicht die schwere Pflicht gehabt, solche 
Schriften aufmerksam zu lesen, ist es kaum glaublich, bis zu 
welchem Grade diese Verachtung gegen alle verstandesmäßigen 
Methoden, gegen alle genauen Ableitungen geht, die sich in 
vielen Schriften, die sich mit den Anwendungen der Physik 
beschäftigen, finden. Die ungeheuerlichsten Trugschlüsse, die 
fehlerhaftesten Rechnungen zeigen sich dort in reinstem Lichte. 
Unter dem Einfluß des technischen Unterrichtes ist die theo- 
retische Physik eine konstante Herausforderung des richtigen 
Denkens geworden. 
120 Viertes Kapitel. 
Denn das Obel berührt nicht nur die BQcher und Vorlesungen, 
die für die künftigen Ingenieure bestimmt sind. Es ist fiberall 
eingedrungen, es hat Verbreitung gefunden durch die gering- 
schätzigen Reden und Vorurteile der Menge, die die Wissen- 
schaft mit der Industrie verwechselt, die das staubige, schnaubende, 
stinkende Automobil für den Triumphwagen des menschlichen 
Denkens hält Der höhere Unterricht ist bereits mit dem Utili- 
tarismus infiziert, und die Mittelstufe ist eine Beute der Epidemie. 
Im Namen dieses Utilitarismus macht man mit den Methoden, 
die bisher zur Darstellung der physikalischen Wissenschaften 
gedient, reinen Tisch. Man verwirft die abstrakten und deduktiven 
Theorien, man bemüht sich, den Schülern induktive und konkrete 
Ausblicke zu eröffnen. Man sucht in die jungen Köpfe nicht 
Begriffe und Prinzipien, sondern Zahlen und Tatsachen hinein- 
zubringen. 
Wir wollen uns nicht damit aufhalten, diese minderwertigen 
und unwürdigen Formen der auf Vorstellung gegründeten 
Theorien lange zu diskutieren. 
Den Snobs gegenüber wollen wir bemerken, daß, wenn 
es auch leicht ist, die Verschrobenheiten eines fremden Volkes 
nachzuäffen, es um so schwieriger ist, seine vererbten, 
charakteristischen Eigenschaften zu erhalten. Sie können wohl 
auf die Kraft des französischen Denkers verzichten, nicht aber 
auf seine Begrenztheit, sie können leicht in bezug auf die 
Schwäche mit dem englischen Oeist rivalisieren, nicht aber in 
bezug auf seine Weite, so daß sie sich verurteilen können, 
gleichzeitig schwache und enge, das heißt falsche Denker 
zu sein. 
Die Industriellen, die sich nicht um die Richtigkeit einer 
Formel kümmern, sofern sie nur bequem ist, erinnern wir daran, 
daß die einfache aber falsche Gleichung früher oder später 
durch eine unerwartete Vergeltung der Logik zu dem Unter- 
nehmen, das scheitert, zu dem Damme, der bricht, zu der Brücke, 
die einstürzt, führt. Sie bedeutet den finanziellen Ruin, wenn 
nicht das Unheil, das Menschenleben verschlingt! 
Den Utilitaristen endlich, die praktische Menschen zu erziehen 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 121 
glauben, indem sie ihre Schüler nur konkrete Dinge lehren, 
sagen wir, daß ihre Schüler höchstens routinierte Handlanger, 
die mechanisch unverstandene Vorschriften anwenden, sein 
werden, denn nur die abstrakten und allgemeinen Prinzipien 
können das Denken in unbekannte Regionen leiten und ihm 
die Lösung unvorhergesehener Schwierigkeiten ermöglichen. 
§ Q. — Trägt die Anwendung mechanischer Modelle 
bei Entdeckungen Früchte? 
Um die auf Vorstellung beruhende physikalische Theorie 
richtig einschätzen zu können, nehmen wir sie nicht in der Art, 
wie sie uns diejenigen zeigen, die vorgeben, von ihr Gebrauch 
zu machen, ohne die Weite des Geistes zu besitzen, die nötig 
ist, um sie richtig zu gebrauchen. Betrachten wir sie von der 
Seite, von der es diejenigen getan, deren mächtige Vorstellungs- 
kraft sie erzeugt, im speziellen von der Seite, von der sie die 
großen englischen Physiker ansehen. 
In betreff des Verfahrens, das die Engländer bei der Be- 
handlung der Physik anwenden, ist heute die Meinung gang 
und gäbe, daß eine übermäßige Sorge um die logische Einheit 
auf den alten Theorien lastete, so daß die Ersetzung der streng 
verketteten Deduktionen, die früher im Gebrauch waren, durch 
voneinander unabhängige Modelle den Forschungen des Physikers 
eine Anpassungsfähigkeit und Freiheit sichert, die außerordent- 
liche Früchte bei Entdeckungen tragen. 
Diese Meinung scheint uns zu recht großem Teile auf 
Illusionen zu beruhen. 
Allzu oft schreiben die, die dieser Meinung beipflichten, dem 
Gebrauch von Modellen Entdeckungen zu, die auf ganz anderem 
W^e erhalten wurden. 
In einer sehr großen Zahl von Fällen wurde ein Modell 
von einer bereits ausgebildeten Theorie entweder durch den 
Schöpfer der Theorie selbst oder durch irgendeinen anderen 
Physiker konstruiert. Alsdann wurde nach und' nach die ab- 
strakte Theorie durch das Modell in Vergessenheit gebracht, 
während sie ihm doch vorangegangen war, und es ohne sie 
nicht ersonnen worden wäre. Das Modell gibt sich dann als 
122 Viertes Kapitel. 
ein Instrument der Entdeckung aus, während es nur ein Dar- 
stellungsmittel ist. Ein Leser, der nicht von vornherein in 
Kenntnis darüber ist, dem die Zeit fOr historische Studien und 
Quellenforschungen fehlt, kann durch diese Entstellung zu falschen 
Schlüssen verleitet werden. 
Nehmen wir als Beispiel den „Rapport,^' in dem Hr. £mile 
Picard^) in so großen und so knappen Zügen ein Bild des 
Standes der Wissenschaften im Jahre 1900 zeichnet. Lesen wir 
die Stellen, die zwei gegenwärtig sehr wichtigen Theorien der 
Physik gewidmet sind: der Theorie der Kontinuität des flussigen 
und gasförmigen Zustandes und der des osmotischen Druckes. 
Es wird uns scheinen, daß der Anteil mechanischer Modelle, 
bildlicher Hypothesen über die Moleküle, ihre Bewegungen und 
Stöße bei der Schöpfung und Entwicklung dieser Theorien sehr 
groß war. Indem uns der „Rapport" des Hm. Picard diese An- 
nahme beibringt, spiegelt er nur ganz genau die Meinungen wieder, 
die täglich in den Hörsälen und Laboratorien geäußert werden. 
Aber diese Ansichten entbehren der Begründung. An der 
Schöpfung und Entwickelung der zwei Theorien, die uns be- 
schäftigen, hat die Verwendung von Modellen beinahe keinen 
Anteil gehabt 
Die Vorstellung der Kontinuität zwischen dem flüssigen 
und gasförmigen Zustand entstand im Kopfe von Andrews als 
experimentelle Induktion. Ebenso führten die Induktion und 
Generalisation James Thomson zur Auffassung der theoreti- 
schen Isotherme. Aus einem System, das der Typus einer 
abstrakten Theorie ist, aus der Thermodynamik hat Gibbs eine 
vollkommen zusammenhängende Darstellung dieses neuen Teiles 
der Physik abgeleitet, während dieselbe Thermodynamik Maxwell 
eine wesentliche Beziehung zwischen der theoretischen und der 
praktischen Isotherme lieferte 
Während die abstrakte Thermodynamik so ihre Fruchtbar- 
keit offenbarte, nahm Hr. Van der Waals seinerseits mit Hilfe 
von Annahmen über die Natur und die Bewegung der Moleküle 
^) Exposition universelle de 1900 ä Paris. Rapport du Jury 
international. Introduction g^n6ra1e. II« partie: Sciences, par M. 
fimile Picard, Paris 1901, pp. 53ff. 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 123 
das Studium der Kontinuität zwischen dem flüssigen und gas^ 
förmigen Zustand in Angriff. Die Beisteuer der kinetischen 
Hypothesen zu diesem Studium bestand in einer Gleichung der 
theoretischen Isotherme, aus der sich eine Folgerung, das 
Gesetz der korrespondierenden Zustände ergab. Aber bei 
der Konfrontation mit den Tatsachen mußte man erkennen, daß 
die Gleichung der Isotherme zu einfach und das Gesetz der 
korrespondierenden Zustände zu grob war, als daß eine Physik, 
die etivas auf Genauigkeit hält, sie beibehalten könnte. 
Die Geschichte des osmotischen Druckes ist nicht minder 
deutlich. Die abstrakte Thermodynamik hat von Anfang an 
Oibbs die Grundgleichungen geliefert. In gleicher Weise war 
die Thermodynamik der einzige Führer des Hm. J. H. Van't Hoff 
bei seinen ersten Arbeiten, während die experimentelle Induktion 
Raoult die zum Fortschritt der neuen Lehre notwendigen Gesetze 
lieferte. Sie war erwachsen und stark gebaut, als die mechani- 
schen Modelle und kinetischen Hypothesen ihr Hilfe bringen 
wollten, nach der sie nicht verlangte, mit der sie nichts an- 
fangen konnte und aus der sie keinen Vorteil gezogen hat. 
Bevor man daher die Schöpfung einer Theorie den mecha- 
nischen Modellen, unter denen sie heute begraben sind, zuschreibt, 
muß man sich vergewissem, ob diese Modelle wirklich bei ihrer 
Entstehung entscheidend oder wenigstens nützlich gewesen, ob 
sie nicht, wie ein parasitäres Gewächs, erschienen sind, um sich 
an einem starken und lebensvollen Baum emporzuranken. 
Ebenso darf man, wenn man die Fmchtbarkeit, die der 
Gebrauch der Modelle mit sich bringen kann, genau abschätzen 
will, nicht diesen Gebrauch mit der Verwendung der Analogie 
verwechseln. 
Der Physiker, der die Gesetze einer gewissen Kategorie 
von Phänomenen zu vereinigen und zu klassifizieren sucht, 
läßt sich sehr oft durch die Analogie, die er zwischen diesen 
Phänomenen und den Phänomenen einer anderen Kategorie 
sieht, leiten. Wenn diese letzteren schon geordnet und in einer 
befriedigenden Theorie dargestellt sind, wird der Physiker ver- 
suchen, die ersteren in einem System desselben Typus und 
derselben Form zu gmppieren. 
124 Viertes Kapitel. 
Die Geschichte der Physik zeigt uns, daß die Forschung^ 
nach Analogien zweier verschiedener Kategorien von Erschei- 
nungen vielleicht von allen beim Bau physikalischer Theorien 
verwendeten Mitteln die sicherste und fruchtbarste Methode 
gewesen ist. 
So hat die Analogie, die Huygens zwischen den Licht- 
phänomenen und denen, die den Ton bilden, bemerkte, ihn zum 
Begriff der Li cht welle geführt, die er so wunderbar zu benutzen 
wußte. Später führte diese selbe Analogie Malebranche und 
sodann Young zur Darstellung des monochromatischen Lichtes 
durch eine Formel, die der gleicht, die einen Ton darstellt. 
Eine Ähnlichkeit, die Ohm zwischen der Fortpflanzung der 
Wärme und der der Elektrizität bemerkte, ermöglichte es ihm, 
die Gleichungen, die Fourier für die erstere Erscheinungsklasse 
aufgestellt hatte, auf die zweite zu übertragen. 
Die Geschichte der Theorien des Magnetismus und der 
dielektrischen Polarisation besteht nur in der Entwicklung von 
Analogien zwischen den Magneten und elektrischen Isolatoren, 
die seit langem von den Physikern vermutet worden waren. 
Dank dieser Analogie hat jede der beiden Theorien vom Fort- 
schritt der anderen Nutzen gezogen. 
Die Verwendung der physikalischen Analogie nimmt manch- 
mal eine noch bestimmtere Form an. 
Wenn zwei Kategorien von sehr verschiedenen, sehr 
unähnlichen Erscheinungen auf abstrakte Theorien reduziert 
worden sind, kann es geschehen, daß die Gleichungen, in denen 
die eine derselben formuliert ist, algebraisch, mit den Gleichungen, 
die die andere ausdrücken, identisch ist. Wenn nun auch diese 
beiden Theorien auf Grund der Natur der Gesetze, die sie 
ordnen, im Wesen verschieden sind, stellt doch die Algebra 
zwischen ihnen eine genaue Übereinstimmung her. Jedem Satz 
der einen dieser Theorien entspricht ein homologer in der 
andern. Jedes Problem, das in der ersten gelöst wird, stellt 
und löst ein ähnliches Problem in der zweiten. Von diesen 
zwei Theorien kann jede nach dem von den Engländern an- 
gewendeten Wort dazu dienen, die andere zu illustrieren: 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 125 
„Unter physikalischer Analogie verstehe ich/' sagt Maxwell^), „die 
teilweise Ähnlichkeit zwischen den Gesetzen eines Wissenszweiges 
und denjenigen eines anderen, die bewirkt, daß der eine Wissens- 
zweig dazu dienen kann, den anderen zu illustrieren/' 
Eines der vielen Beispiele dieser wechselseitigen Illustration 
zweier Theorien sei hier angeführt: 
Der Begriff des wannen und der des elektrisierten Körpers 
sind zwei dem Wesen nach verschiedene Begriffe. Die Gesetze, 
die die stationäre Verteilung der Temperaturen auf einer Gruppe 
von Körpern, die gute Wärmeleiter sind, bestimmen, und die 
Gesetze, die den elektrischen Gleichgewichtszustand auf einer 
Gruppe von Körpern, die gute Elektrizitätsleiter sind, angeben, 
handeln von vollkommen verschiedenen physikalischen Objekten. 
Dennoch werden die beiden Theorien, die die Aufgabe haben, 
diese Gesetze zu klassifizieren, durch zwei Gruppen von 
Gleichungen ausgedrückt, die der Algebraiker nicht voneinander 
unterscheiden kann. Er löst auch jedesmal, wenn er die Lösung 
eines Problemes über die stationäre Temperaturverteilung findet, 
gleichzeitig ein Problem der Elektrostatik und umgekehrt. 
Eine derartige algebraische Übereinstimmung zwischen zwei 
Theorien, eine derartige Illustration der einen durch die andere 
ist außerordentlich wertvoll. Sie bietet nicht nur eine wesent- 
liche Gedankenökonomie, da sie erlaubt, den ganzen für eine 
Theorie aufgestellten algebraischen Apparat ohne weiteres auf 
andere zu übertragen, sondern stellt auch ein Verfahren der 
Neuforschung dar. Es kann in der Tat geschehen, daß in 
einem dieser beiden Gebiete, denen derselbe algebraische Grund- 
riß entspricht, die Anschauung auf Grund des Experiments voll- 
ständig natüriich ein Problem ergibt und dessen Lösung nahe- 
legt, während in dem anderen Gebiete der Physiker nicht so 
leicht dazu geführt worden wäre, diese Frage zu stellen oder 
die betreffende Lösung zu geben. 
Diese verschiedenen Arten, in denen an die Analogie 
zwischen zwei Gruppen physikalischer Gesetze und zwischen 
zwei verschiedenen Theorien appelliert wird, sind daher für Ent- 
deckungen fruchtbar, aber man darf sie nicht mit dem Gebrauch 
^) J. Clerk Maxwell: Scientific Papers, vol. I, p. 156. 
126 Viertes Kapitel. 
der Modelle verwechseln. Sie bestehen in der Annäherung 
zweier abstrakter Systeme aneinander, indem entweder das eine 
schon bekannte zur Auffindung der Form des anderen, das 
man noch nicht kennt, dient, oder, wenn beide schon formuliert 
sind, machen sie einander gegenseitig deutlicher. Es gibt darin 
nichts, was den strengsten Logiker in Erstaunen versetzen 
könnte, aber es ist noch weniger darin, was an die Methoden, 
die die weiten aber schwachen Denker bevorzugen, erinnert. 
In keiner Weise ersetzt der Gebrauch der Vorstellung den 
Gebrauch des Verstandes, in keiner Weise wird logisch geführte 
Einsicht in die abstrakten B^riffe und allgemeinen Urteile ver- 
worfen, um sie durch die Anschauung konkreter Gruppierungen 
zu ersetzen. 
Wenn wir nicht dem Gebrauch von Modellen Entdeckungen 
zuschreiben, die in Wirklichkeit den abstrakten Theorien zu 
verdanken sind, wenn wir uns hüten, den Gebrauch derartiger 
Modelle mit dem Gebrauch der Analogie zu verwechseln, 
welchen Anteil haben dann wirklich die auf Vorstellung ge- 
gründeten Theorien an dem Fortschritt der Physik? 
Dieser Anteil wird sehr gering sein. 
Der Physiker, der am ausgesprochensten das Verständnis 
einer Theorie mit der Anschauung eines Modelles identifiziert 
hat, Lord Kelvin, hat sich durch berühmte Entdeckungen aus- 
gezeichnet. Wir sehen aber unter diesen keine, zu der er durch 
die auf Vorstellung gegründete Physik inspiriert worden wäre. 
Seine schönsten Funde, der nach ihm benannte Effekt, die 
Eigenschaften variabler Ströme, die Gesetze der oszillierenden 
Entladung und viele andere, die nicht alle aufgezählt werden 
können, wurden mit Hilfe der abstrakten Systeme der klassischen 
Thermodynamik und Elektrodynamik gemacht. Oberall, wo er 
die mechanischen Modelle zu Hilfe ruft, beschränkt er sich auf 
die Arbeit der Darstellung bereits erhaltener Resultate; um Neu- 
erforschungen handelt es sich in diesem Falle niemals. 
Ebenso scheint es nicht, daß das Modell der elektrostatischen 
und elektromagnetischen Wirkungen, das Maxwell in der Ab- 
handlung: on physical Lines of Force angibt, ihn bei der 
Schaffung der elektromagnetischen Lichttheorie geleitet habe. 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 127 
Ohne Zweifel bemüht er sich, aus diesem Modell die beiden 
wesentlichen Formeln dieser Theorie abzuleiten, aber schon die 
Art, in der er bei seinen Bemühungen vorgeht, zeigt deutlicher 
als nötig, daß die Resultate, die erhalten werden sollten, ihm 
schon von einem andern Wege her bekannt gewesen sind. 
In seinem Bestreben, sie, koste es was immer, wieder zu finden, 
geht er bis zur Verdrehung einer der Orundformeln der 
Elastizität^). Er konnte die Theorie, die ihm vorschwebte, nur 
schaffen, indem er auf die Verwendung aller Modelle verzichtete, 
indem er auf dem Weg der Analogie das abstrakte System der 
Elektrodynamik auf die Verschiebungsströme ausdehnte. 
So hat weder in den Leistungen Lord Kelvins, noch in den 
Leistungen Maxwells der Gebrauch mechanischer Modelle die 
Fruchtbarkeit gezeigt, die man ihm heute so gern zuschreibt. 
Soll damit gesagt sein, daß niemals ein Physiker zu einer 
Entdeckung durch diese Methode inspiriert worden sei? Eine 
derartige Behauptung wäre eine lächeriiche Übertreibung. Die 
Erfindungsgabe ist keiner festen Regel unterworfen. Es gibt 
keine Lehre, die so dumm wäre, daß sie nicht eines Tages zu 
einer neuen und glücklichen Idee anregen könnte. So hat die 
Stemdeuterkunst ihren Anteil an der Entwickelung der Prinzipien 
der Mechanik des Himmels gehabt. 
Überdies würde der, welcher dem Gebrauch mechanischer 
Modelle jedwede Fruchtbarkeit absprechen wollte, durch Bei- 
spiele aus der letzten Zeit wideriegt werden. Man würde gegen 
ihn die elektrooptische Theorie des Hm. Lorentz anführen, 
die die Teilung der Spektrallinien in einem magnetischen Feld 
voraussah und Hm. Zeeman zur Beobachtung dieses Phä- 
nomens veranlaßte, man würde gegen ihn die von Hm. 
J. J. Thomson erdachten Mechanismen anführen, die den Trans- 
port der Elektrizität im Innem einer Gasmasse darstellen, sowie 
die merkwürdigen Experimente, die sich daran knüpften. 
Ohne Zweifel würden auch diese Beispiele Anlaß zur Dis- 
kussion geben. 
*) P. Duhem: Les Th^ories electriques de J. Clerk Maxwell, 
^tude historique et critique. Paris 1902, p. 212. 
128 Viertes Kapitel. 
Man könnte einwenden, daß das elektrooptische System 
des Hm. Lorentz, obwohl es auf mechanische Hypothesen 
gegründet ist, nicht mehr in einem einfachen Modell, sondern 
in einer ausgedehnten Theorie besteht, deren verschiedene Teile 
logisch verbunden und geordnet sind, daß überdies der Zeeman- 
effekt weit entfernt ist, die Theorie, die seine Entdeckung ver- 
anlaßt hat, zu bestätigen, vielmehr in erster Linie den Beweis 
lieferte, daß diese Theorie nicht so wie sie war beibehalten 
werden könne, sondern daß sie mindestens einschneidenden 
Änderungen unterworfen werden müsse. 
Man könnte auch bemerken, daß das Band zwischen den 
Bildern, die Hr. J. J. Thomson unserer Anschauung voriegt 
und den gut beobachteten Tatsachen der Oasionisation recht 
locker sei, daß die mechanischen Modelle, die neben diese Tat- 
sachen gesetzt werden, eher die bereits vollzogenen Entdeckungen 
verdunkeln als die in Aussicht stehenden beleuchten. 
Aber halten wir uns nicht mit diesen Spitzfindigkeiten auf. 
Oeben wir ohne Umschweif zu, daß die Anwendung mechanischer 
Modelle manche Physiker auf den Weg der Entdeckung führen 
konnte, und daß sie noch zu anderen Funden führen kann. 
Sicher ist aber, daß sie nicht jenen reichen Beitrag zum Fort- 
schritt der Physik beigesteuert, den man uns angepriesen hat 
Der Teil der Ausbeute, den sie zu der Menge unserer Kenntnisse 
hinzugefügt hat, scheint recht mager zu sein, wenn man ihn 
mit den reichlichen Errungenschaften der abstrakten Theorien 
vergleicht. 
§ 10. — Soll der Oebrauch mechanischer Modelle die 
Forschung nach abstrakten und logisch geordneten 
Theorien hindern? 
Wir haben gesehen, daß die berühmtesten Physiker unter 
jenen, die den Oebrauch mechanischer Modelle empfehlen, in 
dieser Form der Theorie weit weniger ein Hilfsmittel der Neu- 
forschung als eine Darstellungsmethode suchen. Lord Kelvin hat 
selbst keineswegs behauptet, daß die Mechanismen, die er in 
so großer Zahl konstruierte, die Fähigkeit der Weissagung be- 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 120 
sitzen. Er beschränkte sich auf die Erklärung, daß derartige 
konkrete Darstellungen für seinen Verstand eine unentbehrliche 
Stütze bilden, daß er ohne sie nicht zur klaren Auffassung einer 
Theorie gelangen könne. 
Die starken Denker, die es nicht nötig haben, um einen 
abstrakten Gedanken zu begreifen, ihm in einem konkreten Bild 
Ausdruck zu geben, können den umfassenden aber schwachen 
Denkern, die das, was weder Farbe noch Form besitzt, nicht 
leicht begreifen, vernünftigerweise nicht das Recht absprechen, 
sich die Gegenstände der physikalischen Theorien in ihrer Vor- 
stellung zu zeichnen und zu malen. Das beste Mittel, um die 
Entwickelung der Wissenschaft zu fördern, besteht darin, jeder 
Denkart zu gestatten, sich gemäß der ihr eigentümlichen Gesetze 
zu entwickeln und ihren Typus vollständig auszubilden, d. h. 
man lasse die starken Denker sich von abstrakten Begriffen und 
allgemeinen Prinzipien nähren, die umfassenden Denker aber 
von sichtbaren und greifbaren Dingen oder mit einem Wort, 
man zwinge die Engländer nicht französisch, noch die Franzosen 
englisch zu denken. Das Prinzip dieses intellektuellen Libe- 
ralismus, das selten verstanden und angewendet wird, hat 
Hdmholtz, der ein so außerordentlich tiefer und starker Denker 
gewesen, formuliert^): „Englische Physiker, wie Lord Kelvin in 
seiner Theorie der Wirbelatome, und Maxwell in seiner Annahme 
eines Systemes von Zellen mit rotierendem Inhalt, die er seinem 
Versuch einer mechanischen Erklärung der elektromagnetischen 
Vorgänge zugrunde gelegt hat, haben sich offenbar durch 
ähnliche Erklärungen besser befriedigt gefühlt, als durch die 
bloße allgemeinste Darstellung der Tatsachen und ihrer Gesetze, 
wie sie durch die Systeme der Differentialgleichungen der Physik 
gegeben wird. Ich muß gestehen, daß ich selbst bisher an 
dieser letzteren Art der Darstellung festgehalten und mich am 
besten gesichert fühlte; doch möchte ich gegen den Weg, den 
so hervorragende Physiker, wie die drei genannten eingeschlagen 
haben, keine prinzipiellen Einwendungen erheben." 
*) H. von Helmholtz: Vorwort zu: „Die Prinzipien der Mechanik'' 
von H. Hertz, p. XXI. 
Dahem, Physikalische Theorie. Q 
130 Viertes Kapitel. 
Übrigens handelt es sich heute für die starken Denker nicht 
mehr darum, ob sie eriauben wollen, daß die phantasievollen 
Köpfe Bilder und Modelle gebrauchen, sondern darum, ob sie 
sich selbst das Recht wahren, den physikalischen Theorien 
Einheit und logische Ordnung zu geben. Die phantasievollen 
Köpfe beschränken sich in der Tat nicht mehr auf die Ver- 
sicherung, daß der Gebrauch konkreter Bilder ihnen für das 
Verständnis abstrakter Theorien unentbehrlich sei, sondern sie 
behaupten, allen berechtigten Erfordernissen des Verstandes 
Rechnung getragen zu haben, wenn sie für jedes Kapitel der 
Physik ein mechanisches oder angenähertes algebraisches Modell 
schaffen, das in keiner Verbindung mit dem Modell steht, das 
zur Illustration des vorangehenden oder folgenden Kapitels dient. 
Sie behaupten, daß die Bemühungen derjenigen Physiker, die 
zu einer logischen, auf eine möglichst kleine Zahl unabhängiger 
und genau formulierter Hypothesen gestutzten Theorie gelangen 
wollen, keinem Bedürfnis eines richtig gebildeten Geistes ent- 
sprechen. Infolgedessen sollen diejenigen, die das Amt haben, 
die Studien zu lenken und die Richtung der wissenschaftlichen 
Forschung zu bestimmen, die Physiker von dieser nutzlosen 
Arbeit abhalten. 
Was werden wir diesen Behauptungen, die man jeden 
Augenblick in hundert verschiedenen Formen von allen schwachen 
und utilitarischen Denkern hört, entgegenhalten, um die Be- 
rechtigung, die Notwendigkeit und den Vorzug der abstrakten, 
logisch geordneten Theorien darzutun? 
Was werden wir auf folgende Frage, die uns g^enwärtig 
so dringend gestellt wird, antworten: Ist es erlaubt, mehrere 
verschiedene Gruppen von experimentellen Gesetzen, 
oder sogar eine einzige Gruppe von Gesetzen mit Hilfe 
mehrerer Theorien zu versinnbildlichen, wenn jede der- 
selben auf Hypothesen beruht, die mit den Hypothesen, 
auf denen die anderen beruhen, unvereinbar sind? 
Auf diese Frage zögern wir nicht, folgendes zu antworten: 
WENN MAN SICH STRENG AN REIN LOOISCHEER- 
WÄQUNOEN HÄLT, kann man den Physiker nicht hindern, 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 131 
verschiedene Gruppen von Gesetzen oder sogar eine 
einzige Gruppe von Gesetzen durch mehrere unverein- 
bare Theorien zu beschreiben, man kann den Mangel 
an Zusammenhang in der physikalischen Theorie nicht 
verurteilen. 
An einer solchen Erklärung würden diejenigen, die eine 
physikalische Theorie als Erklärung der Gesetze der anorganischen 
Welt betrachten, argen Anstoß nehmen. Es wäre in der Tat 
absurd, zu behaupten, daß zwei verschiedene Erklärungen des- 
selben Gesetzes zu gleicher Zeit richtig seien. Es wäre absurd, 
eine Gruppe von Gesetzen auf Grund der Annahme einer ge- 
wissen Konstitution der Materie und eine andere Gruppe auf 
Grund der Annahme einer ganz anderen Konstitution zu er- 
klären. Die erklärende Theorie muß unbedingt den Schein sogar 
des Widerspruches vermeiden. 
Wenn man aber annimmt, wie wir es zu zeigen gesucht 
haben, daß eine physikalische Theorie einfach ein System sei, 
welches eine Gruppe experimenteller Gesetze klassifizieren soll, 
wie kann man dann aus den Lehren der Logik das Recht zur 
Verurteilung eines Physikers schöpfen, der verschiedene Klassi- 
fikationsverfahren anwendet, um verschiedene Gruppen von 
Gesetzen zu ordnen oder der für dieselbe Gruppe von Gesetzen 
mehrere Klassifikationen, die aus verschiedenen Methoden stammen, 
angibt? Verbietet die Logik den Naturforschem eine Gruppe 
von Tieren auf Grund des Nervensystems, eine andere Gruppe 
auf Grund des Blutkreislaufes zu klassifizieren? Wird ein 
Malakologe eine Absurdität begehen, wenn er nach dem System 
des Hm. Bouvier, der die Mollusken nach der Anlage ihrer 
Nervenfasem gmppiert, das des Hm. Remy Perrier anführt, 
der seine Vergleiche auf das Studium des Bojanischen Organes 
stützt? Ebenso wird ein Physiker das Recht haben, einmal 
. die Materie als kontinuieriich, ein anderes Mal als aus dis- 
kreten Atomen bestehend aufzufassen, er wird die Kapillar- 
wirkungen durch Anziehungskräfte, die zwischen den un- 
bew^lichen Teilchen bestehen, erklären und denselben Par- 
tikeln schnelle Bewegungen zuschreiben, um von den Wärme- 
9* 
132 Viertes Kapitel. 
Wirkungen Rechenschaft zu geben. Keine dieser Verschieden- 
heiten wird die Prinzipien der Logik verletzen. 
Die Logik legt augenscheinlich dem Physiker nur eine Be- 
dingung auf: er darf die verschiedenen Klassifikationsverfahren, 
die er anwendet, nicht miteinander vermengen. Das heißt, wenn 
er zwischen zwei Gesetzen eine gewisse Verbindung herstellt, 
muß er ganz genau angeben, durch welche der angegebenen 
Methoden diese Verbindung gerechtfertigt wird. Das suchte 
Hr. Poincar6 auszudrücken, als er die Worte schrieb^), die wir 
schon zitiert haben: „In der Tat kann von zwei sich wider- 
sprechenden Theorien, vorausgesetzt, daß man sie nicht 
durcheinander wirft, und daß man darin nicht nach dem 
Ursprung der Erscheinungen sucht, eine jede fflr sich betrachtet, 
als nützliches Hilfsmittel für Untersuchungen dienen.'' 
Die Logik liefert daher kein einwandfreies Argument für 
den, der der physikalischen Theorie eine vollständig wider- 
spruchsfreie Ordnung auferlegen will. Wird man zureichende 
Gründe für diese Ordnung in dem Prinzip, das in dem Streben 
der Wissenschaft nach größter Ökonomie des Denkens aus- 
gedrückt ist, finden? Wir glauben nein. 
Am Anfang dieses Kapitels haben wir gezeigt, welchen 
Unterschied verschiedene Denker in der Einschätzung der Ge- 
dankenökonomie, die aus einer gewissen intellektuellen Operation 
hervorgeht, machen können. Wir haben gesehen, daß da, wo 
ein starker, aber begrenzter Denker eine Erleichterung, ein weiter, 
aber schwacher Denker ein Anwachsen der Mühe fühlt 
Es ist klar, daß Köpfe, die in der Aufnahme abstrakter 
Gedanken, in der Bildung allgemeiner Urteile, in der Ableitung 
strenger Deduktionen geübt, dag^en in einer ein wenig ver- 
wickelten Gruppierung leicht verwirrt werden, eine Theorie um 
so befriedigender, umso ökonomischer finden, je vollkommener 
ihre Ordnung, je weniger oft ihre Einheit durch Lücken oder 
Widersprüche gestört sein wird. 
^) H. Poincar^: £lectricit6 et Optique. 1. Les th^ories de 
Maxwell et la th^orie 6]ectro-magn6tique de la lumi^re. Intro- 
duction, p. IX. (Deutsche Ausgabe von Jäger und Oumlich, p. 3.) 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 133 
Eine Vorstellungskraft aber, die so umfassend ist, daß sie 
mit dnem einzigen Blick eine verwickelte Gruppierung unzu- 
sammenhängender Dinge erfassen kann, und kein Bedürfnis 
nach Ordnung derselben empfindet, ist im allgemeinen mit einem 
Verstand verbunden, der so schwach ist, daß er die Abstraktion, 
Oeneralisation und Deduktion fürchtet Die Köpfe, in denen 
diese zwei Anlagen vereinigt sind, werden finden, daß die be- 
trächtliche logische Arbeit, die die verschiedenen Teile der 
Theorien zu einem einzigen System zusammenfaßt, ihnen 
mehr MQhe bereitet als das Erfassen der getrennten Teile. 
Sie werden keinesw^[S den Übergang von der Zusammen- 
hangslosigkeit zur Einheit als ökonomische Denkoperation 
betrachten. 
Weder das Prinzip des Widerspruches, noch das Gesetz 
der Ökonomie des Denkens ertauben in unwiderlegbarer Weise 
zu beweisen, daß eine physikalische Theorie logisch geordnet 
sein muß. Woher werden wir ein Argument zugunsten dieser 
Mtinung nehmen? 
Die Meinung ist berechtigt, denn sie stammt aus einem 
uns angeborenen Gefühl, das mit rein logischen Betrachtungen 
nicht bewiesen, aber auch nicht vollständig erstickt werden 
kann. Selbst diejenigen, die Theorien aufgestellt haben, deren 
einzelne Teile nicht miteinander übereinstimmen, die eben- 
soviel verschiedene voneinander getrennte mechanische oder 
algebraische Modelle beschreiben, wie ihr Buch Kapitel hat, tun 
es nur mit Bedauern, mit Widerwillen. Man muß bloß das 
Vorwort lesen, das Maxwell an die Spitze seines Lehrbuches 
der Elektrizität und des Magnetismus, in dem es unlösbare 
Widersprüche im Überfluß gibt, gesetzt hat, um zu erkennen, 
daß diese Widersprüche weder gesucht noch willkommen 
waren, daß der Autor vielmehr eine widerspruchsfreie Theorie 
des Elektromagnetismus zu erhalten wünschte. Lord Kelvin 
hofft bei der Konstruktion seiner unzähligen Modelle unauf- 
hörlich, daß einst der Tag kommen werde, an dem eine mecha- 
nische Erklärung der Materie möglich wird. Er schmeichelt 
sich, daß seine Modelle den Weg abstecken, der zur Entdeckung 
dieser Erklärung führen wird. 
134 Viertes Kapitel. 
Jeder Physiker strebt natfl'rltch nach der Einheit der Wissen- 
schaft. Das ist der Orund, warum der Oebrauch unzusammen- 
hängend er und unvereinbarer Modelle erst seit wenigen Jahren 
in Vorschlag gebracht wurde. Sowohl der Verstand, der nach 
einer Theorie verlangt, deren Teile alle logisch geordnet sind, 
als auch die Vorstellungskraft, die den verschiedenen Teilen der 
Theorie in konkreten Vorstellungen Ausdruck geben will, hätten, 
wenn eine vollständige und detaillierte, mechanische Erklärung 
der Gesetze der Physik erreichbar gewesen wäre, in ihr das 
Ziel ihrer Tendenzen zu eriangen geglaubt Daher rührt das 
Feuer, mit dem während langer Zeit die Theoretiker sich um eine 
derartige Erklärung bemühten. Als die Vergeblichkeit dieser 
Anstrengungen klar gezeigt hatte, daß eine derartige Erklärung 
eine Schimäre^) sei, mußten die Physiker, die zur Oberzeugung 
gekommen waren, daß es unmöglich sei, gleichzeitig den Be- 
dürfnissen des Verstandes und denen der Vorstellungskraft zu 
genügen, eine Wahl treffen. Die starken und tiefen Denker, 
die vor allem unter der Herrschaft des Verstandes stehen, ver- 
zichteten darauf, von der physikalischen Theorie die Erklärung 
der Naturgesetze zu veriangen, um dadurch die Einheit und 
Strenge zu retten. Die umfassenden aber schwachen Denker 
verzichteten unter dem Einfluß der Vorstellungskraft, die bei 
ihnen mächtiger als der Verstand ist, darauf, ein logisches System 
aufzubauen, um die Teile ihrer Theorie in sichtbarer und greif- 
barer Gestalt aufstellen zu können. Aber der Verzicht dieser 
letzteren — oder wenigstens derjenigen, deren Meinung es ver- 
dient in Betracht gezogen zu werden — war niemals vollständig 
und endgültig. Sie gaben ihre vereinzelten und unzusammen- 
hängenden Konstruktionen stets nur als Notbaracken, als Gerüste, 
die wieder zu verschwinden haben, aus. Sie gaben die Hoff- 
nung nicht auf, daß eines Tages ein genialer Architekt ein 
Gebäude herstellen würde, dessen Teile nach einem voll- 
kommen einheitlichen Plan angeordnet sind. Nur diejenigen, 
die vorgeben, daß sie die Kraft des Denkens geringschätzen, 
um den Glauben zu erwecken, daß sie Weite desselben 
*) Wegen näherer Details über diesen Punkt sei auf mein Werfe: 
L'Evolution de la M6canique, Paris 1903, verwiesen. 
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 135 
besitzen, sind so weit herabgestiegen, diese Gerüste für ein voll- 
endetes Monument zu nehmen. 
So fühlen alle, die fähig sind zu überlegen, die sich über 
ihre eigenen Gedanken Rechenschaft geben können, in sich 
dieses ununterdrückbare Streben nach der logischen Einheit der 
physikalischen Theorie. Dieses Streben nach einer Theorie, deren 
Teile sich in logischer Obereinstimmung befinden, ist anderer- 
seits unzertrennlich mit jenem anderen verbunden, dessen un- 
widerstehliche Macht wir schon konstatiert haben ^), mit dem 
Streben nach einer Theorie, die eine naturgemäße Klassifi- 
kation der physikalischen Gesetze ergibt. Wir fühlen in 
der Tat, daß, wenn die wirklichen Beziehungen der Dinge, die 
durch die Methoden, die der Physiker benützt, nicht gefaßt 
werden können, sich bis zu gewissem Grade in unseren physi- 
kalischen Theorien spiegeln, dieses Spiegelbild Ordnung und 
Einheit besitzen muß. Es ginge über die Hilfsmittel der Physik 
hinaus, wollte man mit zwingenden Gründen zu beweisen ver- 
suchen, daß dieses Gefühl der Wahrheit entsprechend sei. Wie 
können wir aber die Eigentümlichkeiten, die dieses Spiegelbild 
aufweisen soll, angeben, wenn die Objekte, aus denen dieser 
Reflex hervorgeht, uns nicht sichtbar sind? Und dennoch ent- 
steht dieses Gefühl in uns mit unwiderstehlicher Gewalt, und 
wer in ihm nur ein Trugbild, eine Illusion sehen wollte, könnte 
allerdings nicht durch das Widerspruchsprinzip zum Schweigen 
gebracht werden, er würde aber vom gesunden Menschen- 
verstand in den Bann getan. 
In diesem wie in allen anderen Fällen kann die Wissen- 
schaft die Berechtigung ihrer eigenen Prinzipien, die ihre 
Methoden bestimmt und ihre Untersuchungen leitet, nur 
dartun, wenn sie sich auf den gesunden Menschenverstand 
beruft Am Grunde unserer am klarsten formulierten, am 
strengsten abgeleiteten Lehren, finden wir immer wieder diesen 
ungeordneten Haufen von Tendenzen, Bestrebungen und 
Intuitionen. Es gibt keine Analyse, die so tiefgehend wäre, um 
sie voneinander zu trennen, um sie in einfachere Elemente zu 
') Siehe Kapitel II, § 4. 
136 Viertes Kapitel. 
zerlegen. Keine Sprache ist genügend, genau und schmi^sam, 
um sie zu definieren und zu formulieren. Und doch sind die 
Wahrheiten, die uns der gesunde Menschenverstand offenbart, 
so klar und so gewiß, daß wir sie weder mißverstehen, noch 
in Zweifel ziehen können. Noch mehr, alle wissenschaftliche 
Klarheit und Sicherheit ist nur ein Reflex ihrer Klarheit und 
eine Erweiterung ihrer Sicherheit 
Der Verstand besitzt daher kein logisches Argument, das 
eine physikalische Theorie hindern könnte, die Ketten der 
logischen Strenge zu brechen, aber „die Natur unterstfitzt den 
ohnmächtigen Verstand und hindert ihn soweit, vom rechten 
Wege abzuschweifen"^). 
^) Pascal: Pens^es Edition Havet, ait 8. 
ZWEITER TEIL. 
DIE STRUKTUR DER PHYSIKALISCHEN 
THEORIEN. 
Fünftes Kapitel. 
Quantität und QuaUtät 
§ 1. — Theoretische Physik ist mathematische Physik. 
Die Eförterungen des ersten Teiles dieser Schrift haben 
uns genau über das Ziel, das sich ein Physiker bei der Auf- 
stellung einer Theorie setzen muß, aufgeklärt 
Eine physikalische Theorie wird demnach ein System logisch 
aneinandergeketteter Lehrsätze, nicht aber eine unzusammen- 
hängende Folge mechanischer oder algebraischer Modelle sein. 
Dieses System soll uns nicht eine Erklärung, sondern eine Dar- 
stellung und naturgemäße Klassifikation einer Gruppe von 
Gesetzen geben. 
Die Forderung, daß eine große Zahl von Lehrsätzen in 
vollständiger, logischer Ordnung verkettet seien, ist weder 
gering noch leicht zu erfüllen. Die Erfahrung der Jahrhunderte 
zeigt uns, wie sich ein Fehlschluß in eine Reihe vollständig 
tadelloser Schlußfolgerungen einschleichen kann. 
Es gibt indessen eine Wissenschaft, in der die Logik einen 
solchen Grad der Vollkommenheit erreicht hat, daß in ihr Irr- 
tümer leicht zu vermeiden und wenn sie dennoch begangen 
wurden, leicht zu erkennen sind: Diese Wissenschaft ist die 
Wissenschaft der Zahlen, die Arithmetik und deren Er- 
weiterung, die Algebra. Diese Vollkommenheit verdankt sie 
einer symbolischen Sprache von äußerster Kürze, in der jeder 
B^ff durch ein Zeichen, dessen Definition jede Zweideutig- 
keit ausschließt, dargestellt wird, in der jede Stufe der deduk- 
tiven Überi^ung durch eine Operation, die die Zeichen nach 
streng festgelegten Regeln kombiniert, durch eine Rechnung, 
deren Genauigkeit immer leicht feststellbar ist, ersetzt wird. 
140 Fünftes Kapitel. 
Diese kurze und genaue Sprache sichert der Algebra Fort- 
schritte, wie sie bei den einander feindlichen Doktrinen und 
Kämpfen der scholastischen Schulen nicht oder fast nicht 
bekannt sind. 
Einer der Ruhmestitel der Geisteshelden, die das 16. und 
17. Jahrhundert zierten, bestand in der Erkenntnis folgender 
Wahrheit: Die Physik wird keine klare, genaue Wissenschaft 
werden, sie wird von den fortwährenden, unfruchtbaren Streitig- 
keiten, deren Gegenstand sie bis dahin gewesen, nicht befreit, 
ihre Lehren werden nicht die Zustimmung aller Köpfe finden 
können, solange sie sich nicht der Sprache der Mathematik 
bedienen wird. Sie haben die wahre theoretische Physik 
geschaffen, indem sie begriffen, daß sie mathematische 
Physik sein mfisse. 
Die im 17. Jahrhundert geschaffene mathematische Physik 
hat durch die erstaunlichen und unaufhörlichen Fortschritte im 
Studium der Natur bewiesen, daß sie die gesunde, physikalische 
Methode verkörpere. Heute würde man beim primitivsten ge- 
sunden Menschenverstand Anstoß err^en, wollte man leugnen, 
daß die theoretische Physik sich in der Sprache der Mathematik 
ausdrücken müsse. 
Damit sich eine physikalische Theorie in der Form einer 
Kette algebraischer Rechnungen darstellen lasse, ist es nötig, 
daß alle Begriffe, deren sie sich bedient, durch Zahlen darstellbar 
seien. Wir sind somit so weit gekommen, uns folgende Frage 
vorzulegen: Unter welcher Bedingung kann eine physi- 
kalische Eigenschaft durch ein numerisches Symbol 
bezeichnet werden? 
§ 2. — Quantität und Maß. 
Die erste Antwort auf die gestellte Frage, die im Kopfe 
entsteht, ist folgende: Damit eine Eigenschaft, die wir in den 
Körpern finden, sich durch ein numerisches Symbol ausdrücken 
lasse, ist es notwendig und hinreichend, daß, in der Sprache 
von Aristoteles gesprochen, diese Eigenschaft in die Kategorie 
der Quantität und nicht in die Kategorie der Qualität 
gehöre. Es ist notwendig und hinreichend, daß diese Eigen- 
Quantität und Qualität 141 
Schaft, um in einer von den modernen Mathematikern lieber 
verwendeten Sprache zu sprechen, eine Oröße sei. 
Welches sind nun die wichtigsten Kennzeichen einer Größe? 
Woran erkennen wir z, B., daß die Länge einer Geraden eine 
Oröße ist? 
Wenn wir verschiedene Längen miteinander vergleichen, 
stoßen wir auf den B^^riff der gleichen und den der ungleichen 
Längen. Diese Begriffe ergeben folgende zwei wesentlichen 
Kennzeichen: 
Zwei Längen, die derselben Länge gleich sind, sind auch 
untereinander gleich. 
Wenn eine Länge größer ist als eine zweite und diese größer 
als eine dritte, so ist auch die erste Länge größer als die dritte. 
Diese zwei Kennzeichen ermöglichen es uns schon aus- 
zudrücken, daß zwei Längen A und B untereinander gleich sind» 
indem wir von dem arithmetischen Zeichen = Gebrauch machen 
und schreiben A = B. Ebenso ermöglichen sie uns auszudrucken» 
daß die Länge A größer als die Länge B ist, indem wir schreiben» 
i4 > Ä oder B <iA. In der Tat sind die einzigen Eigenschaften 
der Zeichen der Gleichheit oder Ungleichheit, auf die man sich 
in der Arithmetik oder Algebra beruft, die folgenden: 
1. Die zwei Gleichungen A = By B=C haben die Gleichung 
i4 = C zur Folge. 
2. Die zwei Ungleichungen -4 > Ä, B^ C haben die Un- 
gleichung i4 > C zur Folge. 
Diese Eigenschaften besitzen die Gleichheits- und Un- 
gleichheitszeichen auch dann noch, wenn sie bei den Unter- 
suchungen Ober Längen verwendet werden. 
Setzen wir einige Längen i4, Ä, C . . . aneinander, so erhalten 
wir eine neue Länge S; diese resultierende Länge 5 ist größer 
als jede der gegebenen Längen A, By C; sie bleibt unverändert, 
wenn man die Reihenfolge, in der sie aneinandergesetzt werden, 
ändert; sie ändert sich auch dann nicht, wenn man einige der 
Längen, die sie bilden, z. B. B^ C, durch die Länge, die man^ 
durch deren Zusammensetzung erhält, ersetzt. 
Diese wenigen Kennzeichen ermöglichen es uns, die arith- 
metischen Zeichen der Addition zur Darstellung der Operation,. 
142 Fünftes Kapitel. 
die darin besteht, mehrere Längen aneinanderzusetzen, zu ge- 
brauchen und zu schreiben S = i4-}-5 + C + ... 
Tatsächh'ch können wir nach dem, was gesagt wurde, 
schreiben: 
A + B>A, A + B>B 
A-\-B = B-^A 
A-{-B-j-C = A-\-{B + C). 
Diese Gleichungen und Ungleichungen stellen die einzigen, 
grundlegenden Postulate der Arithmetik dar; es erstrecken sich 
somit alle in der Arithmetik für die Kombination von Zahlen 
aufgestellten Rechnungsregeln auch auf Längen. 
Die nächstliegende derselben ist die der Multiplikation; 
eine Länge, die durch das Aneinandersetzen von n Längen, die 
untereinander und einer Länge A gleich sind, erhalten wird, kann 
durch das Zeichen Ay<in dargestellt werden. Diese Erweiterung 
bildet den Ausgangspunkt für das Messen von Längen, das 
uns ermöglicht, jede Länge durch eine Zahl auszudrucken, die 
in Verbindung mit einer bestimmten ein für allemal gewählten 
Normaleinheit gebraucht wird. 
Wählen wir nun eine solche Längeneinheit, z. B. das Meter, 
d. h. die Länge, die durch ein unter genau festgelegten Be- 
dingungen im „Bureau international des poids et mesures*' auf- 
bewahrtes, bestimmtes Stück Metall dargestellt wird. 
Bestimmte Längen können dadurch dargestellt werden, daß 
man n Längen von je einem Meter aneinandersetzt Die Zahl 
n in Verbindung mit der Bezeichnung Meter stellt dann voll- 
ständig eine solche Länge dar, die wir als eine Länge von 
n Meter bezeichnen. 
Gewisse andere Längen können nicht in dieser Art her- 
gestellt werden. Es kann dies dagegen geschehen, indem man 
p gleiche Teile aneinandersetzt, wobei angenommen sei, daß 
die Aneinandersetzung von q derselben die Länge eines Meters 
ergebe; eine solche Länge wird dann vollständig bekannt sein, 
wenn man den Bruch — in Verbindung mit der Bezeichnung 
Meter kennt. Es wird dies eine Länge von — Meter sein. 
Quantität und Qualität. 143 
Eine inkommensurable Zahl — auch wieder in Verbindung 
mit der Bezeichnung des Normalmaßes — wird es ermöglichen, 
in gleicher Weise jede Länge, die in keine der zwei von uns 
definierten Kategorien gehört, darzustellen. Mit einem Wort, 
es wird irgend eine Länge dann vollständig bekannt sein, wenn 
wir sagen, daß es eine Länge von x Meter sei, wobei x eine 
ganze, gebrochene oder inkommensurable Zahl ist 
Somit kann die symbolische Addition i4 + Ä+C-|-..., 
durch die wir die Operation der Aneinanderfügung mehrerer 
Längen darstellen, durch eine wirkliche arithmetische Addition 
ersetzt werden. Sie ermöglicht uns, jede der Längen i4, Ä, C 
mit einer Einheit, z. B. mit dem Meter zu messen. Wir erhalten 
so die Zahlen a, b, c . . . der Meter. Die Länge S, die durch 
die aneinandergefügten Längen i4, B^ C gebildet wurde, wird, 
wenn man sie auch in Metern ausdrückt, durch eine Zahl 5 dar- 
gestellt, die die arithmetische Summe der Zahlen a, 6, c, die 
das Maß der Längen i4, B, C . . . bilden, sein wird. Die sym- 
bolische Gleichung zwischen den zusammengefügten Längen 
und der resultierenden Länge 
>I + Ä+C... = S 
wird durch die arithmetische Gleichung zwischen den Zahl- 
angaben der Meter, die diese Längen darstellen, 
a + Ä + r-f ... = 5 
ersetzt 
So können wir die Zeichen der Arithmetik und Algebra, 
die geschaffen wurden, um Operationen mit den Zahlen aus- 
zuführen, mit Hilfe der Wahl einer Längeneinheit und des 
Messens auch zur Darstellung von Operationen, die an Größen 
ausgeführt werden, benützen. 
Das, was wir von den Längen gesagt haben, können wir 
bezuglich der Flächen, der Volumina, der Winkel und der Zeiten 
wiederholen. Alle physikalischen Eigenschaften, die Größen sind, 
weisen analoge Kennzeichen auf. Immer sehen wir, wie die 
verschiedenen Werte einer Größe Beziehungen der Gleichheit 
oder Ungleichheit bilden, die durch die Zeichen =, >, < dar- 
gestellt werden können; immer können wir eine solche Größe 
einer Operation unterwerfen, die sowohl kommutativ wie 
144 Fünftes Kapitel. 
assoziativ ist und infolgedessen durch das arithmetische 
Symbol der Addition, durch das Zeichen -f dargestellt werden 
kann. Durch eine solche Operation wird das Maß in die Unter- 
suchung dieser Größe eingeführt und die vollständige Definition 
durch die Vereinigung einer ganzen, gebrochenen oder inkom- 
mensurablen Zahl mit einer Normaleinheit ermöglicht Eine 
derartige Verbindung ist unter dem Namen benannte Zahl 
bekannt. 
§ 3. — Quantität und Qualität 
Das wesentliche Merkmal jeder Eigenschaft, die in die 
Kategorie der Quantität gehört, ist daher das folgende: Jeder 
Orößenwert einer Quantität kann immer auf dem W^e der 
Addition aus kleineren Werten derselben Quantität gebildet 
werden. Jede Quantität besteht auf Grund einer kommutativen 
und assoziativen Operation in der Vereinigung von Quantitäten, 
die kleiner als die erstere, aber von derselben Art wie sie, sind, 
und deren Teile bilden. 
Dieses Merkmal drückte die peripathetische Philosophie 
durch folgende Formel aus, die zu kurz gefaßt war, um alle 
Details des Gedankens vollständig klarzumachen: Die Quanti- 
tät ist das, was Teile hat, von denen die einen sich 
außerhalb der anderen befinden. 
Jede Eigenschaft, die nicht eine Quantität ist, ist eine 
Qualität 
„Qualität," sagt Aristoteles, „ist eines jener Worte, die in 
mehrfachem Sinn gebraucht werden." Qualität ist die Gestalt 
einer geometrischen Figur, die aus einem Kreis oder einem 
Dreieck besteht; Qualitäten sind die wahrnehmbaren Eigen- 
schaften der Körper, das Warme und Kalte, das Helle und 
Dunkle, das Rote und Blaue; gesund sein, eine Qualität; 
tugendhaft sein, eine Qualität; Grammatiker, Geometer oder 
Musiker sein, alles Qualitäten. 
„Es gibt Qualitäten," fügt der Stagirit hinzu, die dem Mehr 
oder Minder nicht zugänglich sind. Ein Kreis kann nicht mehr 
oder minder kreisförmig, ein Dreieck nicht mehr oder minder 
dreieckig sein. Aber der Hauptteil der Qualitäten ist dem 
Quantität und Qualität 145 
Mehr oder Minder zugänglich; sie sind fähig, Intensität zu 
besitzen; ein wdBes Ding kann weißer werdend 
Im ersten Augenblick kann man versucht sein, eine Verwandt- 
schaft zwischen den verschiedenen Intensitäten derselben Qualität 
und den verschiedenen GröBenwerten derselben Quantität herzu- 
stellen; man würde das Steigen der Intensität (intensio) oder 
das Fallen der Intensität (remis sio) mit dem Wachsen oder 
Abnehmen einer Länge, einer Fläche, eines Volumens ver- 
gleichen. 
A, B, C . . . sind verschiedene Mathematiker. A kann ein 
ebenso guter, besserer oder weniger guter Mathematiker als B 
sein. Wenn A ein ebenso guter Mathematiker als B und B 
ein ebenso guter wie C ist, ist auch A ein ebenso guter Mathe- 
matiker wie C. Wenn A ein besserer Mathematiker als B ist, 
und B ein besserer als C, so ist auch A ein besserer Mathe- 
matiker als C 
A, B, C . . . sind rote Stoffe, deren Nuancen wir ver- 
gleichen. Der Stoff A kann ein ebenso, mehr, oder minder 
lebhaftes Rot besitzen als der Stoff B. Wenn die Nuance von 
A ebenso lebhaft ist, wie die von B und die Nuance von B 
ebenso wie die von C, so ist auch die Nuance von A ebenso 
lebhaft wie die von C. Wenn der Stoff A ein lebhafteres Rot 
besitzt, als der Stoff B und dieser ein lebhafteres als der Stoff 
C, so besitzt auch der Stoff A ein lebhafteres Rot als der 
Stoff C 
So kann man mit Hülfe der Zeichen =, >, < ausdrücken, 
daß zwei Qualitäten derselben Art von gleicher oder ungleicher 
Intensität sind. Sie behalten dieselben Eigenschaften wie in 
der Arithmetik. 
Hier hört die Analogie zwischen den Quantitäten und 
Qualitäten auf. 
Eine große Quantität kann immer, wie wir gesehen haben, 
durch Addition einer gewissen Zahl kleiner Quantitäten der- 
selben Art gebildet werden. Die große Zahl Kömer, die sich 
in einem Oetreidesack befindet, kann stets durch die Ver- 
einigung von Oetreidehaufen, deren jeder aus einer kleineren 
Quantität Kömer besteht, erhalten werden. Ein Jahrhundert 
Dnhem, PhyiikaHsche Theorie. 10 
146 Fünftes Kapitel. 
ist eine Reihe von Jahren, ein Jahr eine Reihe von Tagen, 
Stunden und Minuten. Ein mehrere Meilen langer Weg wird 
durchschritten, indem die kleinen Stücke, die der Wanderer bei 
jedem Schritt zurücklegt, aneinandergefügt werden. Ein Feld 
von großer Ausdehnung kann in kleinere Flächen parzelliert 
werden. 
Etwas Derartiges gibt es in der Kategorie der Qualität nicht 
Bringt man einen Kongreß von soviel mittelmäßigen Mathe 
matikem, als man nur irgend auftreiben kann, zusammen, so 
hat man doch kein Äquivalent eines Archimedes oder Lagrange. 
Näht man dunkelrote Stofflappen aufeinander, so ist das erhaltene 
Stück deswegen nocht nicht lebhaft rot 
Eine Qualität gewisser Art und gewisser Intensität geht 
in keiner Weise aus mehreren Qualitäten derselben Art und 
geringerer Intensität hervor. Jede Intensität einer Qualität hat 
ihre eigenen individuellen Kennzeichen, die sie absolut von den 
niederen und höheren Intensitäten unterscheiden. Eine Qualität 
von gewisser Intensität enthält nicht als integrierenden Bestand- 
teil dieselbe Qualität von niederer Intensität Sie geht nicht als 
Teil in die Zusammensetzung derselben intensiver gemachten 
Qualität ein. Siedendes Wasser ist wärmer als siedender Alkohol 
und dieser wärmer als siedender Äther. Aber weder der Wärme- 
grad des siedenden Alkohols noch der des siedenden Äthers 
sind Teile des Wärmegrades des siedenden Wassers. Wer sagen 
wollte, daß die Wärme ^) des siedenden Wassers die Summe der 
Wärmen des siedenden Alkohols und des siedenden Äthers seien, 
würde einen Unsinn aussprechen. Diderot fragte scherzweise, 
wieviel Schneeballen zur Heizung eines Ofens notwendig seien; 
die Frage ist nur für den, der Qualität und Quantität verwechselt, 
verwickelt 
So findet man in der Kategorie der Qualität nichts, das 
der Bildung einer großen Quantität aus kleinen Quantitäten, 
die deren Teile sind, gleicht; man findet keine Operation, die 
kommutativ und assoziativ ist, die den Namen Addition ver- 
^) Selbstverständlich nehmen wir hier das Wort Wärme im Sinn der 
gewöhnlichen Sprache, der nichts mit dem zu tun hat, was die Physiker 
unter dem Wort Wärmequantität verstehen. 
Quantität und Qualität 147 
dienen und durch das Zeichen -f- dargestellt werden könnte. 
Auf Grund der Qualität hätte das Maß, das aus dem B^ff 
der Addition hervorgeht, nicht festgestellt werden können. 
§ 4. — Die rein quantitative Physik. 
Die algebraische Sprache ist stets, wenn eine Eigenschaft 
der Messung zugänglich, wenn sie eine Quantität ist, geeignet, die 
verschiedenen Werte derselben auszudrücken. Können nun nur 
die Quantitäten algebraisch ausgedrückt werden und ist dies 
bei den Qualitäten vollständig unmöglich? Die Philosophen, 
die im XVII. Jahrhundert die mathematische Physik geschaffen, 
haben dies gewiß gedacht Daher mußten sie, um die mathe- 
matische Physik, die ihnen als Ziel vorschwebte, zu realisieren, 
die Bedingung aufstellen, daß ihre Theorien ausschließlich von 
Quantitäten handeln und daß jeder qualitative Begriff aus den- 
selben streng verbannt bleibe. 
Überdies sahen alle diese Philosophen in der physikalischen 
Theorie nicht die Darstellung, sondern die Erklärung der aus 
der Erfahrung abgeleiteten Gesetze Die Begriffe, die diese 
Theorie in ihren Ausdrücken kombinierte, waren für sie nicht 
Zeichen und Symbole der sinnlichen Eigenschaften, sondern 
der eigentliche Ausdruck der Realität, die sich hinter diesen 
Erscheinungen verbirgt. Das Universum, das sich unseren 
Sinnen als ein ungeheurer Zusammenhang von Qualitäten dar- 
bietet, müßte daher der Vernunft als System von Quantitäten 
offenbar werden. 
Die Wünsche, die allen großen wissenschaftlichen Refor- 
matoren zu Beginn des XVII. Jahrhunderts gemein waren, 
fanden ihre Erfüllung in der Begründung der Cartesianischen 
Philosophie. 
Die vollständige Verdrängung der Qualitäten aus dem 
Studium der materiellen Dinge ist das Ziel und auch das 
Charakteristikum der Cartesianischen Physik. 
Unter den Wissenschaften ist allein die Arithmetik und 
deren Erweiterung, die Algebra, rein von jedem der Kategorie 
der Qualität entlehnten Begriffe; sie allein entspricht dem Ideal, 
das Descartes der ganzen Naturwissenschaft zuweist 
10* 
148 Fänftes Kapitel. 
Schon in der Geometrie stößt der Geist auf das quali- 
tative Element, denn diese Wissenschaft bleibt „so sehr an 
die Betrachtung der Figuren gebunden, daß sie nicht das Ver- 
ständnis Oben kann, ohne die Phantasie sehr zu ermüden". — 
„Die Bedenken, die die Alten gegen die Anwendung der Aus- 
drücke der Arithmetik in der Geometrie erhoben, die nur deshalb 
nicht fortschreiten konnte, weil sie deren Beziehung zu ersterer 
nicht klar genug erkannten, verursachten viel Unklarheit und Ver- 
wirrung in der Art, wie sie sich ausdrückten." Diese Unklarheit, 
diese Verwirrung wird verschwinden, wenn man aus der Geometrie 
den qualitativen Begriff der Form und Gestalt ausschaltet und 
in ihr nur den quantitativen Begriff des Abstandes, nur die 
Gleichungen, die die gegenseitigen Abstände der verschiedenen 
Punkte, die man studiert, miteinander verbinden, aufrecht erhält. 
Obwohl ihre Objekte ganz verschiedene Natur besitzen, sehen 
die verschiedenen Zweige der Mathematik in diesen Objekten 
nichts anderes, als die verschiedenen Verhältnisse oder Pro- 
portionen, die sich in ihnen finden, und zwar derart, daß es 
genügt, diese Verhältnisse im allgemeinen nach den Methoden 
der Algebra zu behandeln, ohne sich um die Objekte, in denen 
sie sich finden, um die Figuren, in denen sie realisiert sind, zu 
kümmern; dadurch „reduziert sich alles, was der Behandlung^ 
der Mathematiker unteriiegt, auf das gleiche Problem, das darin 
besteht, den Wert der Wurzeln einer Gleichung zu suchen". 
Die ganze Mathematik ist auf die Wissenschaft der Zahlen 
zurückgeführt, man behandelt in ihr nur Quantitäten, die Quali- 
täten haben in ihr keinen Platz. 
Nachdem die Qualitäten aus der Geometrie ausgemerzt 
sind, muß man sie nun auch aus der Physik verbannen. Um 
das zu erreichen, genügt es, die Physik auf Mathematik zu 
reduzieren, die die einzig auf Quantität g^^ründete Wissen- 
schaft ist. Das ist das Werk, das Descartes auszuführen 
versuchte. 
„Ich erhalte keine Prinzipien in der Physik," sagt er, „die 
nicht auch in der Mathematik erhalten werden." — „Denn ich 
gestehe^) offen, daß ich keine andere Materie der körperiichen 
*) Descartes: Principia Philosophiae, Pars 11, art. LXIV. 
Quantität und Qualität 149 
Dinge anerkenne, als jene durchaus teilbare, gestaltbare und 
bewegliche, welche die Oeometer die OröBe nennen und zu 
dem Gegenstände ihrer Beweise machen, und daß ich in ihr 
nur diese Teilungen, Gestalten und Bewegungen beachte und 
nichts an ihnen als wirklich anerkenne, was sich nicht aus 
jenen Gemeinbegriffen, an deren Wahrheit man nicht zweifeln 
kann, so klar ergibt, daß es als mathematisch bewiesen gelten 
kann. Da nun alle Naturerscheinungen hieraus erklärt werden 
können, wie das folgende ergeben wird, so halte ich andere 
Prinzipien der Naturwissenschaft weder für zulässig noch für 
wünschenswert." 
Was ist nun vor allem die Materie? „Ihre Natur besteht 
nicht*) in der Härte, noch in der Schwere, Wärme oder anderen 
Qualitäten dieser Art," sondern nur in „der Ausdehnung nach 
Länge, Breite und Tiefe," in dem „was die Geometer Quantität 
nennen" oder Volumen. Die Materie ist daher Quantität; die 
Quantität einer gewissen Materie besteht in dem Volumen, das 
sie einnimmt; ein Schiff enthält gleichviel Materie, ob es nun 
mit Quecksilber oder mit Luft gefüllt ist. „Diejenigen, die 
behaupten^, daß sie die materielle Substanz von der Aus- 
dehnung und der Quantität unterscheiden, denken sich ent- 
weder unter dem Worte Substanz nichts oder teilen der körper- 
lichen Substanz fälschlich die verworrene Vorstellung einer 
unkörperiichen Substanz zu." 
Was ist die Bewegung? Auch eine Quantität. Multipli- 
zieren wir die Quantität der Materie eines jeden Körpers eines 
Systems mit der Geschwindigkeit, die dieser Körper besitzt 
und addieren wir alle diese Produkte, so erhalten wir die 
Bew^[ungsquantität des Systems. So lange dieses System an 
keinen fremden Körper, der ihm Bewegung erteilt oder ent- 
nimmt, anstößt, behält es eine unveränderiiche Bewegungs- 
quantität. 
So ist im ganzen Universum eine einzige, homogene, in- 
kompressible und undilatierbare Materie ausgebreitet, von der 
wir nichts wissen, außer daß sie ausgedehnt sei; diese Materie 
*) Descartes: loc cii Pars II, ari IV. 
') Descartes: loc cit Pars II, art. IX. 
150 Fünftes Kapitel. 
ist in Teile von verschiedener Gestalt zerl^bar und diese 
Teile können sich gegeneinander bewegen; dies sind die ein- 
zigen wirklichen Eigenschaften, aus denen die Körper gebildet 
sind; auf diese Eigenschaften müssen sich alle scheinbaren 
Qualitäten, die auf unsere Sinne wirken, zurückführen lassen. 
Die Aufgabe der Cartesianischen Physik besteht in der Er- 
klärung, wie diese Zurückführung stattfindet. 
Was ist die Schwere? Die Wirkung, die durch Wirbel aus 
feiner Materie auf die Körper ausgeübt wird. Was ist ein warmer 
Körper? Ein Körper, „der aus kleinen Teilen zusammengesetzt ist, 
die sich getrennt gegeneinander mit sehr schneller und sehr hef- 
tiger Geschwindigkeit bewegend Was ist das Licht? Ein Druck, 
der auf den Äther durch die Bewegung der glühenden Körper 
ausgeübt und augenblicklich in die größten Entfernungen über- 
tragen wird. Alle Qualitäten der Körper ohne Ausnahme finden 
ihre Erklärung in einer Theorie, in der man nur den geomet- 
rischen Raum, die verschiedenen Gestalten, die man in ihm ab- 
grenzen kann und die verschiedenen Bewegungen, denen diese 
Figuren zugänglich sind, betrachtet. „Das Universum ist eine 
Maschine, in der es nichts zu betrachten gibt, als die Gestalten 
und die Bewegungen ihrer Teile.'' So wird die ganze Wissen- 
schaft von der materiellen Natur auf eine Art universeller Arith- 
metik zurückgeführt, in der die Kategorie der Qualität radikal 
ausgemerzt ist 
§ 5. — Die verschiedenen Intensitäten derselben Qua- 
lität sind durch Zahlen ausdrückbar. 
Nach unserer Auffassung hat die theoretische Physik nicht 
die Möglichkeit, unter den sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen 
die wirklichen Eigenschaften der Körper zu erfassen. Sie kann 
daher nicht, ohne über die rechtmäßigen Grenzen ihrer Methoden 
hinauszugehen, entscheiden, ob diese Eigenschaften qualitativ 
oder quantitativ seien. Da der Cartesianismus über diesen Punkt 
eine Behauptung aufstellt, macht er Ansprüche geltend, die uns 
nicht erfüllbar erscheinen. 
Die theoretische Physik erfaßt nicht die Realität der Dinge, 
sie beschränkt sich darauf, die wahrnehmbaren Erscheinungen 
Quantität und Qualität. 151 
durch Zeichen, durch Symbole darzustellen. Wenn wir nun 
wollen, daß unsere theoretische Physik eine mathematische 
Physik sei, werden unsere Symbole algebraische Symbole, 
Combinationen von Zahlen sein. Wenn daher nur die Größen 
durch Zahlen ausgedrückt werden können, werden wir in unsere 
Theorie nur Begriffe, die Größen sind, einführen dürfen. Ohne 
die Behauptung aufzustellen, daß im letzten Grund der mate- 
riellen Dinge alles Quantität sei, würden wir nichts als das 
quantitative in dem Bilde der Gesamtheit der physikalischen 
Gesetze, die wir konstruieren, festhalten; der Qualität würde in 
unserem System kein Platz zukommen. 
Die genannte Behauptung muß man nun keineswegs unter* 
schreiben. Der rein qualitative Charakter eines Begriffes ist 
nicht damit unvereinbar, daß die Zahlen zur Darstellung der 
verschiedenen Werte desselben dienen; dieselbe Qualität kann 
in einer Unzahl verschiedener Intensitäten auftreten; diese ver- 
schiedenen Intensitäten kann man sozusagen kotieren, numerieren, 
indem man in zwei Fällen, in denen die gleiche Qualität mit der- 
selben Intensität auftritt, die gleiche Zahl setzt und durch eine 
zweite höhere Zahl einen anderen Fall bezeichnet, in dem die 
betrachtete Qualität intensiver ist, als im ersten Fall. 
Zum Beispiel besteht eine Qualität darin, daß man Mathe- 
matiker ist Wenn eine gewisse Zahl junger Mathematiker sich einer 
Prüfung unterziehen, erteilt der Examinator, der sie beurteilen 
muß, einem jeden von ihnen eine Note und zwar gibt er zwei 
Kandidaten, die er für gleich gute Mathematiker hält, dieselbe 
Note, diesem aber eine bessere Note als jenem, wenn er den 
ersteren für einen besseren Mathematiker hält 
Ein Kaufmann ordnet Stoffstücke, deren Rot von verschie- 
dener Intensität ist, in seine Regale ein und bezeichnet sie mit 
2^1en, jeder Nummer entspricht eine ganz bestimmte Nuance 
des Rot; je höher die Nummer ist, eine umso lebhaftere Inten- 
sität besitzt das Rot 
Vor uns liegen erhitzte Körper; der erste Körper ist ebenso 
warm, wärmer, oder weniger warm als der zweite Körper; dieser 
Körper ist in diesem Augenblick wärmer oder weniger warm, 
als jener andere. Jeder Teil eines Körpers erscheint uns, so 
152 Fünftes Kapitel. 
klein man ihn auch annimmt, mit einer gewissen Qualität, 
die wir Wärme nennen, versehen und die Intensität dieser 
Qualität ist nicht im gleichen Augenblick in jedem Teil des 
Körpers dieselbe; im selben Punkt des Körpers variiert sie von 
einem Augenblick zum anderen. 
Wir könnten in unseren Oberiegungen von dieser Qualität, 
der Wärme und ihren verschiedenen Intensitäten sprechen; 
aber, wenn wir soviel als möglich die Sprache der Algebra an- 
wenden wollen, werden wir die Betrachtung dieser Qualität, die 
Wärme durch die eines numerischen Symbols, die Temperatur 
ersetzen. 
Die Temperatur wird eine jedem Punkt eines Körpers in 
jedem Augenblick zugeschriebene Zahl sein. Sie ist an die 
Wärme, die in diesem Punkt und in diesem Augenblick herrscht, 
gebunden. Zwei gleich intensiven Wärmen werden zwei 
numerisch gleiche Temperaturen entsprechen; wenn es in 
einem Punkte wärmer ist als im anderen, so ist die Temperatur 
des ersteren eine größere Zahl, als die des zweiten. 
Wenn daher Af, M\ M" verschiedene Punkte und TJ T, T\ 
die Zahlen, die deren Temperatur ausdrucken, sind, so 
hat die arithmetische Gleichung r= T den gleichen Sinn, wie 
folgender Satz: Es ist eben so warm im Punkte M\ wie im 
Punkte M. Die arithmetische Umgleichung T^T' ist gleich- 
bedeutend mit dem Satz: Es ist im Punkte M' wärmer, als im 
Punkt M'. 
Der Gebrauch einer Zahl, der Temperatur, zur Darstellung 
der verschiedenen Intensitäten einer Qualität, der Wärme, beruht 
vollständig auf folgenden zwei Lehrsätzen: 
Wenn der Körper A ebenso warm ist, wie der Körper B und 
der Körper B ebenso warm, wie der Körper C, ist auch der 
Körper A ebenso warm, wie der Körper C. 
Wenn der Körper A wärmer ist, als der Körper B und der 
Körper B wärmer, als der Körper C, so ist auch der Körper A 
wärmer, als der Körper C. 
Diese beiden Lehrsätze genügen in der Tat dafür, daß durch 
die Zeichen =, >, < die Beziehungen, die die verschiedenen 
Wärmeintensitäten miteinander haben können, ausdrückbar 
Quantität und Qualität. 153 
werden, ebenso, wie sie die Darstellung der gegenseitigen Be- 
ziehungen der Zahlen oder die gegenseitigen Beziehungen der 
verschiedenen OröBenwerte ein und derselben Quantität er- 
möglichen. 
Wenn man mir sagt, daß zwei Längen durch die Zahlen 5 
und 10 gemessen seien, ohne mir irgend eine andere Angabe zu 
machen, so gibt man mir in bezug auf diese Längen gewisse 
Aufschlüsse, ich weiß, daß die zweite länger ist, als die erste; 
ich weiß sogar, daß sie deren doppelten Wert besitzt Diese 
Aufschlüsse sind aber dennoch sehr unvollständig; sie ermög- 
lichen mir nicht, eine dieser Längen zu reproduzieren, sogar 
nicht zu wissen, ob sie groß oder klein seien. 
Diese Angaben werden vollständig, wenn man sich nicht 
b^^ugt, mir die Zahlen 5 und 10, die diese zwei Längen 
messen, anzugeben, sondern mir sagt, daß diese Längen in 
Metern gemessen seien und man mir die Meter-Normaleinheit 
oder eine ihrer Kopien vorweist; ich werde dann, wenn ich 
will, diese beiden Längen reproduzieren können. 
Ebenso geben die Zahlen, die die Größen der gleichen Art 
messen, uns nur dann vollständig diese Größen an, wenn wir 
die konkrete Kenntnis der Maßeinheit besitzen. 
Einige Mathematiker standen im Examen; man sagt mir, 
daß sie die Noten 5, 10 und 15 verdient haben; das liefert mir 
eine gewisse Angabe über sie, die mir zum Beispiel ermöglichen 
wird, sie in ihrem Verhältnis zueinander zu klassifizieren. Aber 
diese Angabe ist unvollständig; sie ermöglicht mir nicht, mir 
eine Vorstellung des Talentes eines jeden von ihnen zu bilden, 
ich kenne den absoluten Wert der Noten, die ihnen gegeben 
wurden, nicht; mir fehlt die Kenntnis der Skale, auf die diese 
Noten bezogen sind. 
Ebenso erfahre ich, wenn man mir bloß sagt, daß die 
Temperaturen verschiedener Körper durch die Zahlen 10, 20 
und 100 dargestellt seien, nur daß der erste Körper weniger 
warm als der zweite und dieser weniger warm als der dritte 
sei. Aber ist der erste warm oder kalt? Bringt er das Eis 
zum Schmelzen oder nicht? Wird mich der letzte verbrennen? 
Wird er bewirken, daß ein Ei hart wird? Das weiß ich nicht, 
154 Fünftes Kapitel. 
solange man mir nicht die Thermometer-Skale, auf die diese 
Temperaturen 10, 20, 100 bezogen sind, angibt, das heißt ein 
Verfahren, welches mir ermöglicht, in konkreter Weise die Wärme- 
intensitäten, welche durch die Zahlen 10, 20, 100 bezeichnet sind, 
zu realisieren. Wenn man mir ein graduiertes Olasgefäß gibt, 
das Quecksilber enthält und mir sagt, daß die Temperatur einer 
Wassermasse allemal gleich 10 oder 20 oder 100 genommen 
werden muß, wenn man in sie das Thermometer eintaucht und 
sieht, daß das Quecksilber bis zum zehnten oder zwanzigsten 
resp. hundertsten Teilstrich steigt, so wird meine Ungewißheit 
vollständig verschwunden sein. Jedesmal, wenn der numerische 
Wert einer Temperatur mir angegeben wird, werde ich, wenn 
ich will, tatsächlich eine Wassermasse realisieren können, die 
diese Temperatur hat, wenn ich ein Thermometer besitze, auf 
dem sie ablesbar ist 
Ebenso, wie eine Größe nicht einfach durch eine abstrakte 
Zahl, sondern nur durch eine Zahl in Verbindung mit einer 
Maßeinheit definiert ist, ebenso ist die Intensität einer Qualität 
nicht vollkommen durch ein numerisches Symbol dargestellt; mit 
diesem Symbol muß zugleich ein konkretes Verfahren ang^eben 
werden, das geeignet ist, die Skale der Intensitäten her- 
zustellen. Nur die Kenntnis dieser Skale ermöglicht es, daß 
wir den algebraischen Lehrsätzen, die wir in bezug auf die 
Zahlen, die die verschiedenen Intensitäten der studierten Qualität 
darstellen, aussprechen, einen physikalischen Sinn geben. 
NatQriich beruht die Skale, die zur Kennzeichnung der ver- 
schiedenen Intensitäten einer Qualität dient, auf einer quanti- 
tativen Wirkung, die diese Qualität zur Ursache hat; man wählt 
eine derartige Wirkung so, daß deren Größe wächst, während 
die Qualität, die sie verursacht, intensiver wird. So erfährt das 
Quecksilber in dem Glasgefäß, daß vom warmen Körper um- 
geben ist, eine sichtbare Ausdehnung; diese Ausdehnung 
ist um so größer, je wärmer der Körper ist; dies ist eine quanti- 
tative Wirkung, die ein Thermometer liefert, das ermöglicht, 
eine Skale von Temperaturen zur numerischen Bezeichnung der 
verschiedenen Wärmeintensitäten zu konstruieren. 
Im Gebiet der Qualität kann der Begriff der Addition nicht 
Quantität und Qualität 155 
auftreten; er findet sich dag^en wieder, wenn man die quanti- 
tative Wirkung, die eine Skale zur Kennzeichnung der ver- 
schiedenen Intensitäten einer Qualität lieferti studiert. Man 
könnte nicht verschiedene Wärmeintensitäten aneinanderfügen; 
aber die sichtbaren Ausdehnungen einer Flüssigkat in einem 
festen Gefäß können aneinandergefügt werden; man kann die 
Summe verschiedener Zahlen, die verschiedene Temperaturen 
darstellen, bilden. 
So ermöglicht es die Wahl einer Skale, daß das Studium 
der verschiedenen Intensitäten einer Qualität mit der Betrachtung 
der Zahlen, die den Regeln der algebraischen Rechnung unter- 
worfen sind, vertauscht werde. Die Vorteile, die die alten 
Physiker erwarteten, indem sie eine hypothetische Quantität an 
Stelle der qualitativen Eigenschaft, die die Sinne ihnen anzeigten, 
setzten und indem sie die Größe dieser Quantität maßen, kann 
man sehr oft erlangen, ohne sich auf eine solche angenommene 
Quantität zu berufen, indem man einfach eine geeignete Skale wählt 
Die elektrische Ladung wird uns dafür ein Beispiel liefern. 
Das, was durch das Experiment an sehr kleinen elektrisierten 
Körpern zu allererst sichtbar wird, ist etwas qualitatives; bald 
merkt man jedoch, daß diese Qualität, die Elektrisierung nicht 
einfach sei; sie ist zweier einander entgegengesetzter Formen 
fähig, die sich g^enseitig zerstören, sie kann harzelektrisch 
oder glaselektrisch sein. 
Außer dem Unterschied, daß die Elektrisierung eines kleinen 
Körpers sich wie die des Harzes oder wie die des Glases ver- 
hält, kann sie auch noch mehr oder minder stark sein; sie ist 
verschiedener Intensitäten fähig. 
Alle Schöpfer der Elektrizitätslehre wie Franklin, Oepinus, 
Coulomb, Laplace, Poisson dachten, daß die Qualitäten bei der 
Bildung einer physikalischen Theorie nicht als zulässig betrachtet 
werden dürften, daß nur die Quantitäten in ihr Bürgerrecht hätten. 
Daher suchte ihr Verstand unter dieser Qualität der Elektri- 
sierung, die ihre Sinne ihnen anzeigten, eine Quantität, die 
Elektrizitätsmenge. Um zum Verständnis dieser Quantität 
zu gelangen, dachten sie, daß jede der beiden Elektrisierungen 
an die Gegenwart eines gewissen elektrischen Fluidums im 
156 Fünftes Kapitel. 
Innern des elektrisierten Körpers gebunden sei. Ein Körper 
wies eine um so intensivere Elektrisierung auf, je größer die 
Masse des elektrischen Fluidums, die er enthielt, war. Die 
Größe dieser Masse ergab dann die Elektrizitätsmenge. 
Die Betrachtung dieser Quantität spielte in der Theorie eine 
wesentliche Rolle, die aus folgenden zwei Gesetzen hervorging: 
Die algebraische Summe der Elektrizitätsmengen, die sich 
auf einer Gruppe von Körpern befinden, eine Summe, bei der 
die Glaselektrizitätsmengen mit dem Zeichen + und die Harz- 
elektrizitätsmengen mit dem Zeichen — belegt werden, ändert 
sich nicht, solange diese Gruppe nicht mit irgend einem anderen 
Körper in Verbindung kommt. 
In einer bestimmten Distanz stoßen sich zwei elektrisierte 
Körper mit einer Kraft ab, die proportional dem Produkt der 
sich auf ihnen befindlichen Elektrizitätsmengen ist. 
Nun gut! Wir können diese beiden Ausdrücke vollständig 
beibehalten, ohne uns auf hypothetische und wenig wahrschein- 
liche Fluida zu berufen, ohne die Elektrisierung ihres quali- 
tativen Charakters, den unsere unmittelbaren Beobachtungen 
ihr zuschreiben, zu berauben; es genügt uns eine geeignete 
Skale zu wählen, auf die wir die Intensitäten der elektrischen 
Qualität beziehen. 
Nehmen wir einen kleinen glaselektrischen Körper, der stets 
ungeändert bleiben soll, in einer ein für allemal gewählten Distanz 
und lassen wir auf ihn jeden der kleinen Körper, deren Elektri- 
sierung wir studieren wollen, wirken; jeder von ihnen wird auf 
den ersten eine Kraft ausüben, deren Größe wir messen können 
und die wir mit dem Zeichen -{- wenn sie abstoßend, mit dem 
Zeichen — im entgegengesetzten Fall belegen wollen; jeder 
glaselektrische Körper wird somit auf den ersten eine positive 
Kraft ausüben, die um so größer sein wird, je intensiver seine 
Elektrisierung ist; jeder harzelektrische Körper wird eine negative 
Kraft ausüben, deren absoluter Wert im Maße, wie die Elektri- 
sierung stärker wird, wächst. 
Diese Kraft, ein quantitatives Element, das der Messung 
und Addition zugänglich ist, wählen wir für die elektrometrische 
Skale, die uns die verschiedenen positiven Zahlen zur Dar- 
Quantität und Qualität. 157 
Stellung der verschiedenen Intensitäten der Olaselektrizität, die 
verschiedenen negativen Zahlen zur Darstellung der verschiedenen 
Stufen der Harzelektrizität liefert. Diese Zahlen, die Angaben, 
die uns durch die elektrometrischen Methoden geliefert werden, 
kann man, wenn man will, als Elektrizitätsmengen bezeichnen. 
Die beiden wesentlichen Ausdrücke, die die Lehre von den 
elektrischen Fluiden formulierte, erhalten nun wieder einen Sinn 
und werden richtig. 
Dieses Beispiel scheint uns unter allen am geeignetsten, 
folgende Wahrheit festzulegen: Es ist unnötig, um aus der Physik, 
wie dies Descartes wollte, eine universelle Arithmetik zu machen, 
dem großen Philosophen zu folgen und jede Qualität zu ver- 
werfen, denn die Sprache der Algebra ermöglicht ebensogut die 
Behandlung der verschiedenen Intensitäten einer Qualität, wie 
die der verschiedenen Größen einer Quantität. 
Sechstes Kapitel. 
Die primftren Qualitäten. 
%y — Ober die übermäßige Vermehrung der primären 
Qualitäten. 
Aus der Mitte der physikalischen Welt, die uns die Er- 
fahrung kennen lehrt, lösen wir jene Eigenschaften los, die, wie 
wir glauben, als primäre betrachtet werden müssen. Diese 
Eigenschaften versuchen wir nicht zu erklären, noch auf 
andere verborgenere zurückzuführen. Wir akzeptieren sie so, 
wie unsere Beobachtungsmittel sie uns kennen lehren, ob sie 
sich uns nun in der Form von Quantitäten darbieten, oder ob 
sie das Aussehen von Qualitäten aufweisen. Wir werden sie 
als irreduzierbare Begriffe betrachten, als die Elemente selbst, 
die unsere Theorien zusammensetzen sollen. Aber diesen quali- 
tativen oder quantitativen Eigenschaften werden wir mathe- 
matische Symbole entsprechen lassen, die uns gestatten werden, 
bei ihrer Behandlung die Sprache der Algebra zu benutzen. 
Wird diese Methode nicht zu jenem Mißbrauch führen, 
den die Urheber der wissenschaftlichen Renaissance so schroff 
158 Sechstes Kapitel. 
der scholastischen Physik vorgeworfen und die sie so streng 
und endgültig gerichtet haben? 
Ohne Zweifel konnten die Gelehrten, denen wir die moderne 
Physik verdanken, den scholastischen Philosophen ihren Wider- 
willen gegen die Diskussion der Naturgesetze in mathematischer 
Sprache nicht verzeihen: „Wenn wir irgend etwas wissen" rief 
Oassendi^), „wissen wir es aus der Mathematik; aber um das 
wahre und gerechtfertigte Wissen der Dinge kümmern sich 
diese Leute nicht! Sie klammem sich nur an Lappalien!" 
Dies ist aber nicht die Beschwerde, die die Reformatoren 
der Physik am häufigsten und lebhaftesten gegen die Vertreter 
der Scholastik erheben. Sie klagen sie an, daß sie jedesmal, 
wenn ihr Blick auf eine neue Erscheinung fällt, eine neue 
Qualität entdecken, daß sie jeder Wirkung, die sie weder studiert 
noch analysiert haben, eine besondere Eigenschaft zuschreiben, 
daß sie sich einbilden in Fällen eine Erklärung gegeben zu 
haben, wo sie nur einen Namen gesetzt und so die Wissen- 
schaft in einen anspruchsvollen und leeren Jargon verwandelt 
haben. 
„Diese Art des Philosophierens" sagte Galilei*), „scheint mir 
jedoch eine große Analogie zu haben mit einer Art von Malei;^!, 
die einem meiner Freunde eigen war; er schrieb nämlich mit 
Oyps auf die Leinwand: Hier soll eine Quelle mit Diana und 
ihren Nymphen sein, dort ein Paar Windhunde, in der Ecke 
ein Jäger mit einem Hirschgeweih, das übrige Feld, Wald und 
Hügel; alles andere überließ er dem Maler, mit Farben auszu- 
führen. So redete er sich ein, selber die Geschichte von Aktäon 
gemalt zu haben, während er von sich aus nichts, als die 
Namen dazu hergegeben hatte." Und Leibniz*) verglich die in 
der Physik von den Philosophen befolgte Methode, die bei 
jeder Gelegenheit neue Formen und neue Qualitäten einführten, 
mit der „die sich begnüge zu sagen, daß eine Uhr eine stunden- 
^) Oassendi: Exercitationes paradoxicae adversus Aristo- 
telicos. Exerdtatio I. 
') Galilei: Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo. 
Oioraata terza. [Deutsche Übersetzung von E. Strauß, Leipzig 1891, p.429.] 
*) Leibniz: Oeuvres, Edition Gerhardt t IV, p. 434. 
Die primären Qualitäten. 159 
zeigende Qualität besitze, die aus ihrer Form hervorgehe, ohne 
zu betrachten, worin das alles bestehe.'' 
Die geistige Faulheit, die es bequem findet, sich mit Worten 
bezahlt zu machen, die geistige Unredlichkeit, die darin einen 
Vorteil findet, auch andere damit zu bezahlen, sind unter den 
Menschen weitverbreitete Laster. Sicherlich waren die scholas- 
tischen Physiker, die so schnell dabei waren der Form eines 
jeden Körpers alle Kräfte zu verieihen, die ihre vagen und zu- 
fälligen Systeme erforderten, häufig und stark von ihm angekränkelt. 
Aber die Philosophie, die die qualitativen Eigenschaften zuläßt, 
besitzt nicht das traurige Monopol dieser Fehler. Man findet 
sie eben so gut bei den Sektierern jener Schulen, die ihren 
Stolz dreinsetzen, alles auf die Quantität zu reduzieren. 
Gassendi zum Beispiel ist ein überzeugter Atomist; fflr ihn 
ist jede sinnliche Qualität nur eine Erscheinung; es gibt in der 
Wirklichkeit nur Atome, deren Gruppierungen und Bewegungen. 
Was antwortet er uns, wenn wir von ihm veriangen, daß er 
gemäß seinen Prinzipien die wesentlichen physikalischen Quali- 
täten erkläre, wenn wir ihm die Frage stellen: was ist der Ge- 
schmack? was ist der Geruch? was ist der Ton? was ist das 
Licht? 
„In dem Ding selbst^), das wir wohlschmeckend nennen, 
scheint der Geschmack in keiner anderen Sache zu bestehen, 
als in Partikeln von solcher Gestalt, daß sie, wenn sie in die 
Zunge oder in den Gaumen eindringen, an den Geweben dieses 
Organes haften bleiben und sie derart in Bewegung bringen, 
daß sie die Empfindung erregen, die wir Geschmack nennen.'' 
„In Wirklichkeit scheint der Geruch in nichts anderem als 
bestimmten Partikeln von solcher Gestalt zu bestehen, daß, wenn 
sie ausdünsten und in die Nasenlöcher eindringen, sie den 
Geweben dieser Organe in der Art entsprechen, daß sie die 
Empfindung, die wir Riechen oder Geruch nennen, hervor- 
bringen." 
„Der Ton scheint in nichts anderem, als in gewissen Par- 
tikeln zu bestehen, die in gewisser Art angeordnet sich sehr 
^) P. Qassendi: Syntagma philosophicum, 1. V, cc. IX, X et XI. 
IM) Sechstes Kapitel. 
schnell vom tönenden Körper weit entfernen, In das Ohr ein- 
dringen und die Empfindung hervorrufen, die Hören genannt wird." 
„Das Licht scheint in den leuchtenden Körpern in nichts 
anderem als sehr feinen Partikeln zu bestehen, die in gewisser 
Art geformt sind und vom leuchtenden Körper mit einer un- 
geheueren Geschwindigkeit ausgestoßen werden, die in das 
Sehorgan andringen und geeignet sind, es in Bew^[ung zu 
setzen und so die Empfindung, die Sehen genannt wird, hervor- 
zurufen." 
Er war ein Peripathetiker, jener doctus bachelierus, der 
auf die Frage: 
Demandabo causam et rationem quare 
Opium facit dormire? 
antwortete: 
Quia est in eo 
Virtus dormitiva 
Cujus est natura 
Sensus assoupire. 
Wenn dieser Baccalaureus Aristoteles verieugnet und ein 
Atomist geworden wäre, hätte ihn Moli^re ohne Zweifel den 
philosophischen Zusammenkünften, die bei Gassendi abgehalten 
wurden und die der große Satiriker besuchte, beigezogen. 
Die Cartesianer hätten übrigens Unrecht, allzulaut über 
die Lächerlichkeiten, denen sie gleichzeitig die Atomisten und 
Peripathetiker verfallen sehen, zu triumphieren. Es war einer 
von ihnen, an den Pascal dachte, als er schrieb^): „Es gibt 
Leute, die sich bis zu der Absurdität versteigen, ein Wort durch 
das Wort selbst zu erklären. Ich kenne solche, welche das 
Licht folgendermaßen definiert haben: Das Licht ist eine 
Leuchtbew^;ung der leuchtenden Körper*). Als ob das Wort 
leuchtend uns mehr sagen würde, als das Wort Licht 
Diese Anspielung war gegen den Pater Noel, der ehemals Lehrer 
von Descartes am College in La Fläche und bald einer seiner 
eifrigsten Schüler geworden war, gerichtet. Derselbe hatte in 
^) Pascal: De Tesprit g^om^trique. 
^ Franz. Wortlaut: La lumi^re est un mouvement luminaire des corps 
lumineux. 
Die primären Qualitäten. 151 
dnem Brief Ober das Leere, der an Pascal gerichtet war, fol- 
genden Satz geschrieben: „Das Licht oder vielmehr die Be- 
leuchtung ist eine Leuchtbewegung der Strahlen, die aus leuch- 
tenden Körperchen zusammengesetzt sind, die die durchsichtigen 
Körper erfüllen und lichtartige Bew^[ung nur von anderen 
leuchtenden Körpern erhalten können.'' 
Wenn man das Licht einer Leuchtkraft, leuchtenden Partikeln 
oder einer Leuchtbewegung zuschreibt, ist man Peripathetiker, 
Atomist oder Cartesianer. Wenn man aber damit prahlt, auf 
diese Weise irgend etwas unseren Kenntnissen Ober das Licht 
hinzugefugt zu haben, ist man kein vernünftiger Mensch mehr. 
In allen Schulen treten falsche Denker auf, die sich einbilden, 
eine Flasche mit einer kostbaren Flüssigkeit zu füllen, während 
sie ihr nur eine pompöse Etikette aufkleben. Alle physikalischen 
Lehren, die vernünftig interpretiert werden, stimmen in der Ver- 
urteilung dieser Einbildung überein. Unsere Bemühungen werden 
somit dahingehen müssen, sie zu vermeiden. 
§ Z — Eine primäre Qualität ist eine in der Tat, aber 
nicht von Rechts wegen irreduzierbare Qualität 
Übrigens bewirken unsere Prinzipien selbst, daß wir vor 
der Verschrobenheit auf der Hut sind, den Körpern so viele 
oder nahezu so viele Qualitäten zuzuschreiben, als es Wirkungen 
zu erklären gibt. Wir setzen uns die Aufgabe, von einer 
Gruppe physikalischer Gesetze eine möglichst einfache, möglichst 
zusammenfassende Darstellung zu geben; unser Ehrgeiz ist es, 
die vollständigste Ökonomie des Denkens, die wir eriangen 
können, zu erreichen. Es ist daher klar, daß wir bei der Auf- 
stellung unserer Theorie die kleinste Zahl von Begriffen, die 
als primäre, von Qualitäten, die als einfache betrachtet werden, 
verwenden müssen. Wir werden die Methode der Analyse und 
der Reduktion, die die zusammengesetzten Eigenschaften, die 
die Sinne ohne weiteres erfassen, sondert und sie auf eine kleine 
Zahl elementarer Eigenschaften bringt, auf die Spitze treiben 
müssen. 
Woran werden wir erkennen, daß unsere Zeriegung ihr 
Ziel erreicht hat, daß die Qualitäten, zu denen unsere Analyse 
Dohem, Phyaikaliscfae Theorie. 11 
162 Sechstes Kapitel. 
fOhrte, nicht ihrerseits wieder in einfache Qualitäten aufgelöst 
werden können? 
Die Physiker, die erklärende Theorien aufzubauen suchten, 
leiteten aus philosophischen Vorschriften, denen sie sich unter- 
warfen, Probiersteine und Reagentien ab, die geeignet waren zu 
zeigen, ob die Analyse einer Eigenschaft bis zu den Elementen 
vorgedrungen war. So wußte zum Beispiel ein Atomist, daß 
seine Aufgabe nicht erledigt sei, solange er eine physikalische 
Wirkung nicht auf Größe, Oestalt und Gruppierung der Atome 
und die Gesetze des Stoßes zurückgeführt hatte; solange ein 
Cartesianer in einer Qualität ein anderes Ding als „die Aus- 
dehnung und ihre bloße Änderung^ fand, war er sicher, daß er 
nicht zur wirklichen Natur vorgedrungen sei. 
Woher werden wir, die wir nicht die Eigenschaften der 
Körper zu erklären suchen, sondern nur eine algebraische, 
kondensierte Darstellung derselben geben wollen, die wir uns 
bei der Aufstellung unserer Theorien auf kein metaphysisches 
Prinzip berufen, sondern aus der Physik eine autonome Wissen- 
schaft machen wollen, woher werden wir ein Kriterium nehmen, 
das es uns ermöglicht, eine gewisse Qualität als wirklich einfach 
und irreduzierbar, eine gewisse andere als zusammengesetzt und 
gründlicherer Trennung bedürftig zu bezeichnen? 
Wenn wir eine Eigenschaft als primäre und elementare 
betrachten, so wollen wir damit keineswegs behaupten, daß 
diese Qualität von Natur aus einfach und unzeriegbar sei; wir 
stellen bloß eine tatsächliche Wahrheit fest, wir erklären, daß 
alle unsere Anstrengungen, um die Qualität auf andere zu redu- 
zieren, gescheitert seien, daß es uns unmöglich war, sie zu 
zeriegen. 
Stets wird daher ein Physiker, wenn er eine Gruppe bis 
dahin nicht beobachteter Erscheinungen feststellt, wenn er eine 
Gruppe von Gesetzen, die eine neue Eigenschaft aufzuweisen 
scheinen, entdeckt, vor allem suchen, ob diese Eigenschaft nicht 
eine früher nicht vermutete Kombination bereits bekannter und 
akzeptierter Qualitäten in den als zulässig erkannten Theorien sei. 
Nur wenn seine tausendfach variierten Anstrengungen gescheitert 
sind, wird er sich entschließen, diese Eigenschaft als eine neue, 
Die primären Qualitäten. 163 
primäre zu betrachten und in seine Theorien ein neues mathe- 
matisches Symbol einfuhren. 
„Immer, wenn man eine außerordentliche Tatsache ent- 
deckt," schreibt H. Sainte-Claire Deville^), indem er die Un- 
schlussigkeit in seinen Oberiegungen beschreibt, als er die ersten 
Erscheinungen der Dissoziation wahrnahm, „ist es die erste 
Arbeit, ich möchte beinahe sagen die erste Pflicht, die dem 
Manne der Wissenschaft obliegt, alle MOhe aufzuwenden, um 
sie in die gewöhnliche Regel durch eine Erklärung einzuordnen, 
eine Operation, die oft mehr Arbeit und Überiegung erfordert, 
als die Entdeckung selbst Wenn man Erfolg hat, empfindet 
man eine lebhafte Genugtuung, indem man sozusagen das Ge- 
biet eines physikalischen Gesetzes erweitert, indem man die 
Einfachheit und die Gültigkeit einer großen Klassifikation er- 
höht . . « 
„Wenn aber gegenüber einer außerordentlichen Tatsache 
jede Erklärung oder wenigstens alle Anstrengungen, die man 
gewissenhaft macht, um sie den gewöhnlichen Gesetzen zu 
unterwerfen, versagen, muß man andere derartige Tatsachen 
suchen, die ihr analog sind. Wenn man diese dann gefunden 
hat, muß man sie provisorisch mit Hilfe der Theorie, die 
man ausgebildet hat, klassifizieren." 
Als Ampire die mechanischen Wirkungen, die zwischen 
zwd elektrisierten Drähten, deren jeder zwei Pole einer Säule 
veii)indet, entdeckte, kannte man bereits seit langem die an- 
ziehenden und abstoßenden Wirkungen, die zwischen elektrisierten 
Konduktoren bestehen. Die Qualität, die diese Anziehungen 
und Abstoßungen kennzeichnen, war analysiert und durch ein 
angenähertes mathematisches Symbol, die positive oder negative 
Ladung eines jeden materiellen Teilchens dargestellt worden. 
Die Verwendung dieses Symboles führte Poisson zur Aufstellung 
einer mathematischen Theorie die in glücklichster Weise die 
von Coulomb festgestellten Experimente zur Darstellung brachte. 
^) H. Sainte-Claire Deville: Recherches sur lad^composition 
des Corps par la chaleur et la dissociation. (Biblioth^que Universelle, 
Archives, nouvelle Periode, t. IX, p. 59; 1860.) 
ir 
164 Sechstes Kapitel. 
Konnte man nicht die neu entdeckten Gesetze auf diese 
Eigenschaft, deren Einführung in die Physik bereits dne voll- 
endete Tatsache gewesen, zurückführen? Konnte man nicht die 
Anziehungen und Abstoßungen zwischen zwei Drähten, von 
denen jeder ein Element schließt, durch die Annahme erklären, 
daß bestimmte elektrische Ladungen so an der Oberfläche dieser 
Drähte oder in deren Innerem verteilt sind, daß diese Ladungen 
sich umgekehrt proportional dem Quadrat der Entfernung an- 
ziehen oder abstoßen, wie es der fundamentalen Hypothese, auf 
der die Theorie von Coulomb und Poisson ruht, entspricht? 
Die Aufwerfung dieser Frage, die Prüfung derselben durch die 
Physiker war wohlberechtigt Wenn einer von ihnen sie in 
bejahendem Sinne hätte beantworten können, wenn er die Ge- 
setze der durch Ampere beobachteten Erscheinungen auf die 
von Coulomb aufgestellten Oesetze der Elektrostatik hätte 
zurückführen können, wäre die Theorie der Elektrizität vor der 
Betrachtung jeder anderen Qualität als der der elektrischen 
Ladung bewahrt worden. 
Oleich von Anfang an war man mannigfach bemüht, die 
Oesetze der Kräfte, die Ampere aufgezeigt hatte, auf elcJdro- 
statische Wirkungen zurückzuführen. Faraday machte diesen 
Bemühungen rasch ein Ende, indem er zeigte, daß diese Kräfte 
kontinuierliche Rotationsbewegungen erzeugen können. In der 
Tat begriff Ampere, sobald er von dem durch den großen 
englischen Physiker entdeckten Phänomen Kenntnis erhielt, dessen 
ganze Tragweite. Dieses Phänomen, sagte er^), „beweist, daß die 
Wirkung, die zwischen galvanischen Leitern besteht, nicht 
von einer besonderen Verteilung gewisser auf diesen Konduk- 
toren in Ruhe befindlicher Fluida herrühren kann, wie dies bei 
den gewöhnlichen elektrischen Abstoßungen und Anziehungen 
der Fall ist". — „In der Tat") folgt gemäß dem Prinzip der 
^) Ampere: Expos6 sommaire des nouvelles exp^riences 
61ectrodynamiques, lu k l'Acad^mie le 8 avril 1822. (Journal de 
Physique, t XCIV, p. 65.) 
') Ampere: Theorie math^matique des ph^nom^nes ^lectro- 
dynamiques uniquement d^duite de Texp^rience. Paris 1826. — 
Edition Hermann, Paris 1883, p. 96. 
Die primären Qualitäten. 165 
Erhaltung der lebendigen Kräfte, das eine notwendige Folge 
der dgentlichen Bewegungsgesetze ist, mit Notwendigkeit, daß, 
— wenn die elementaren Kräfte, die in unserem Falle Anziehungen 
und AbstoBungen auf Orund des umgekehrten Verhältnisses der 
Quadrate der Entfernungen sind, durch einfache Funktionen der 
gegenseitigen Abstände der Punkte, zwischen denen sie wirken, 
ausgedruckt werden und wenn ein Teil dieser Punkte unver- 
änderlich miteinander verbunden, sich nur auf Orund dieser 
Kräfte bew^ ein anderer derselben festbleibt — die ersten in 
die gleiche Lage in bezug auf die letzteren, nur mit einer größeren 
Geschwindigkeit kommen können, als die ist, die sie besaßen, 
als sie den ursprunglichen Ort verließen. Es kommen nun bei 
einer kontinuierlichen Bewegung, die einem beweglichen Leiter 
durch die Wirkung eines festen erteilt wird, alle Punkte des 
ersteren mit Oesch windigkeiten, die bei jeder Umdrehung 
wachsen, in die gleiche Lage zurflck. Das geht so lange fort, 
bis die Reibungen und der Widerstand des angesäuerten Wassers, 
in das die Spitze des Leiters taucht, der Steigerung der Rotations- 
geschwindigkeit desselben eine Orenze setzen. Sie wird dann 
konstant, ungeachtet dieser Reibungen und dieses Wider- 
standes.^ 
„Es ist daher vollständig bewiesen, daß man von den Er- 
scheinungen, die von der Wirkung zweier galvanischer Leiter 
herrfihren, nicht durch die Annahme, daß elektrische Moleküle, 
die umgekehrt dem Quadrat der Entfernung wirken, auf den 
leitenden Drähten verteilt seien, Rechenschaft geben kann." 
Notwendigerweise muß man den verschiedenen Teilen eines 
galvanischen Leiters eine Eigenschaft zuschreiben, die nicht auf 
die Elektrisierung zurflckfQhrbar ist Man muß an ihm eine 
neue primäre Qualität erkennen, deren Existenz Ausdruck ge- 
geben wird, wenn man sagt, der Draht ist von einem Strom 
durchflössen. Dieser elektrische Strom scheint an eine ge- 
wisse Richtung gebunden, mit einem gewissen Sinn versehen 
zu sein; er äußert sich mehr oder weniger intensiv. Dieser 
mehr oder minder starken Intensität des elektrischen Stromes 
kann durch die Wahl einer Skala Ausdruck gegeben werden, 
die es ermöglicht, ihm eine mehr oder minder große Zahl ent- 
166 Sechstes Kapitel 
sprechen zu lassen, eine Zahl, für die man den Namen elek- 
trische Stromintensität beibehält Diese elektrische Strom- 
intensität, die das mathematische Symbol einer primären Qualität 
ist, ermöglichte es Ampere, jene Theorie der elektrodynamischen 
Erscheinungen zu entwickeln, die die Franzosen davor bewahrt, 
die Engländer um den Ruhm Newtons beneiden zu müssen. 
Der Physiker, der einer metaphysischen Lehre die Prinzipien 
entlehnt, nach denen er seine Theorien entwickeln will, erhält 
von dieser Lehre auch die Merkmale, nach denen er erkennen 
kann, ob eine Qualität einfach oder zusammengesetzt ist. Diese 
beiden Worte haben für ihn einen absoluten Sinn. Der Phy- 
siker, der seine Theorien selbständig und unabhängig von jedem 
philosophischen System zu machen sucht, schreibt den Worten: 
Einfache Qualität, primäre Eigenschaft einen vollständig relativen 
Sinn zu. Sie bezeichnen für ihn einfach eine Eigenschaft, deren 
Zeriegung in andere Qualitäten ihm unmöglich war. 
Der Sinn, den die Chemiker der Bezeichnung einfacher 
Körper zuschreiben, hat eine analoge Umwandlung erfahren. 
Für einen Peripathetiker verdienten nur die vier Elemente: 
das Feuer, die Luft, das Wasser, die Erde den Namen einfacher 
Körper; jeder andere Körper war zusammengesetzt; solange man 
ihn nicht so weit zeriegt hatte, daß man zur Trennung der vier 
Elemente, aus denen er zusammengesetzt sein konnte, gelangt 
war, hatte die Analyse ihr Ziel nicht erreicht Ebenso wußte 
ein Alchymist, daß die Wissenschaft der Zeri^^ungen die 
Perfektionierungskunst das letzte Ziel ihrer Operationen 
nicht erreicht habe, solange sie nicht das Salz, den Schwefel, 
das Quecksilber und den ErdrOckstand, aus deren Vereinigung 
sich alle Verbindungen zusammensetzen, getrennt hatte. Der 
Alchymist und der Peripathetiker behaupteten, einer wie der andere, 
die Merkmale, die den wahrhaft einfachen Körper charakterisieren, 
in absolut sicherer Weise zu kennen. 
Die Schule von Lavoisier lehrte die Chemiker^) einen voll* 
^) Der Leser, der die Phasen, die der Begriff des einfachen Körpers 
durchgemacht hat, kennen lernen will, kann unsere Schrift: Le Mixte etia 
Combinaison chimique. Essai sur T^volution d'une id6e, Paris 
1902. Ile partie c 1 zu Rate ziehen. 
Die primären Qualitäten. 167 
ständig anderen Begriff des einfachen Körpers kennen. Der ein- 
fache Körper ist nicht mehr der Körper, den eine gewisse philo- 
sophische Doktrin für unzeriegbar erklärt, sondern derjenige, den 
wir nicht zerlegen konnten, der allen Hilfsmitteln der Analyse, die 
in den Laboratorien angewendet werden, Widerstand leistete. 
Wenn der Alchymist und der Peripathetiker das Wort 
Element aussprachen, behaupteten sie stolz, die eigentliche 
Natur der Stoffe, die zum Aufbau der Körper des Universums 
gedient, zu kennen. Im Munde des modernen Chemikers ist 
dasselbe Wort ein Ausdruck der Bescheidenheit, ein Bekenntnis 
der Ohnmacht. Er sagt, daß ein Körper gegen alle Versuche, 
die unternommen wurden, ihn zu zeriegen, siegreichen Wider- 
stand geleistet habe. 
Diese Bescheidenheit wurde der Chemie mit einer außer- 
ordentlichen Fruchtbarkeit vergolten. Ist die Hoffnung unbe- 
rechtigt, daß eine ähnliche Bescheidenheit auch der theoretischen 
Physik gleiche Vorteile bringen würde? 
§ 3. — Eine primäre Qualität ist stets nur in proviso- 
rischem Sinne primär. 
„Wir können daher nicht behaupten," sagt Lavoisier^), „daß 
das, was wir heute als einfach ansehen, es in Wirklichkeit sei: 
Alles, was wir sagen können, ist, daß diese Substanz gegen- 
wärtig den Endpunkt bildet, bis zu dem die chemische Analyse 
vorgedrungen ist und daß sie bei dem gegenwärtigen Stand 
unserer Kenntnisse nicht mehr weiter geteilt werden kann. Es 
ist anzunehmen, daß man die Erden bald nicht mehr unter die 
einfachen Substanzen rechnen wird . . ." 
In der Tat machte Humphry Davy im Jahre 1807 die Weis- 
sagung Lavoisiers zu einer bewiesenen Wahrheit Er zeigte, 
daß das Ätzkali und Ätznatron die Oxyde zweier Metalle seien, 
die er Kalium und Natrium nannte. Seit dieser Zeit wurde eine 
Menge von Körpern, die lange Zeit jedem Versuch der Analyse 
Widerstand geleistet hatten, aus der Reihe der Elemente aus- 
geschaltet 
*) Lavoisier: Trait6 61^mentaire de Chitnie. Troisiime Edition 
t 1. p. 194. 
168 Sechstes Kapitel. 
Die Bezeichnung Element, die gewisse Körper fuhren, ist 
eine ganz provisorische. Sie besteht nur so lange, als nicht eine 
scharfsinnigere oder wirksamere analytische Methode gefunden 
ist, wie die zurzeit gebräuchliche, eine Methode, nach der sich 
vielleicht der Stoff, den wir als einfach betrachten, in mehrere 
verschiedene Körper zeriegen läßt. 
Nicht weniger provisorisch ist die Bezeichnung primäre 
Qualität. Die Qualität, deren ZurOckführung auf eine andere 
physikalische Eigenschaft uns heute unmöglich erscheint, wird ihre 
Unabhängigkeit vielleicht morgen verloren haben. Der Fortschritt 
der Physik wird uns vielleicht morgen in ihr eine Kombination 
von Eigenschaften erkennen lassen, die als scheinbar ganz ver- 
schiedene Wirkungen uns bereits seit langem bekannt waren. 
Das Studium der Lichterscheinungen führt uns dazu, das 
Licht als primäre Qualität zu betrachten. Dieser Qualität ist 
eine gewisse Richtung eigen; ihre Intensität, weit entfernt 
konstant zu sein, ändert sich periodisch mit ungeheurer 
Geschwindigkeit, indem sie mehrere hundert Trillionen mal in 
der Sekunde wieder die gleiche Größe erhält; eine Linie, deren 
Länge periodisch mit dieser außerordentlichen Frequenz variiert, 
liefert ein geometrisches Symbol, das geeignet ist, das Licht 
darzustellen; dieses Symbol, die Lichtwelle, dient dazu, diese 
Qualität mit Hilfe mathematischer Überiegungen zu behandeln. 
Die Lichtwelle ist das wesentliche Element, mit dessen Hilfe 
die Theorie des Lichtes aufgebaut wird. Ihre Komponenten 
dienen dazu, einige partielle Differentialgleichungen aufzustellen, 
einige Grenzbedingungen, in denen sich alle Gesetze der Licht- 
fortpflanzung, der partiellen und totalen Reflexion, der Brechung 
und Beugung in wunderbarer Ordnung und Kürze kondensiert 
und klassifiziert, finden. 
Andererseits hat die Analyse der Erscheinungen, die in 
Gegenwart elektrisierter Körper an isolierenden Substanzen wie 
dem Schwefel, dem Ebonit, dem Paraffin auftreten, die Physiker 
dazu geführt, diesen dielektrischen Körpern eine bestimmte 
Eigenschaft zuzuschreiben. Nachdem sie vergeblich versucht 
hatten, diese Eigenschaft auf die elektrische Ladung zurück- 
zuführen, mußten sie sich entschließen, sie als primäre Qualität 
Die primären Qualitäten. 169 
unter dem Namen dielektrische Polarisation zu behandeln. 
In jedem Punkt der isolierenden Substanz und in jedem Augen- 
blick hat dieselbe nicht nur eine bestimmte Intensität, sondern 
auch eine bestimmte Richtung und einen bestimmten Sinn, in 
der Art, daß eine gerade Strecke das mathematische Symbol 
darstellt, das gestattet, in der Sprache der Geometrie von der 
dielektrischen Polarisation zu sprechen. 
Durch eine kflhne Ausdehnung der von Ampere formu- 
lierten Elektrodynamik erhielt Maxwell eine Theorie des 
veränderiichen Zustandes der Dielektrika. Diese Theorie kon- 
densiert und ordnet die Gesetze aller Erscheinungen, die in 
isolierenden Substanzen auftreten, in denen die dielektrische 
Polarisation sich von einem Augenblick zum andern ändert. 
Alle diese Gesetze werden in einer kleinen Zahl von Gleichungen 
zusammengefaßt, von denen gewisse in jedem Punkt des iso- 
lierenden Körpers, die übrigen in jedem Punkt der Grenzfläche 
zweier verschiedener Dielektrika erfüllt sein mfissen. 
Die Gleichungen, welche die Lichtwellen beherrschen, 
wurden aufgestellt, wie wenn die dielektrische Polarisation 
nicht bestehen würde; die Gleichungen, durch die die dielek- 
trische Polarisation bestimmt ist, wurden auf Grund einer 
Theorie entdeckt, in der das Wort Licht nicht einmal aus- 
gesprochen wird. 
Zwischen diesen Gleichungen zeigte sich nun eine merk- 
würdige Obereinstimmung. 
Eine dielektrische Polarisation, die periodisch variiert, muß 
Gleichungen erfüllen, die alle den Gleichungen ähnlich sind, 
denen die Lichtschwingung unteriiegt. 
Diese Gleichungen haben nicht nur dieselbe Form, sondern 
die Koeffizienten, die in ihnen auftreten, haben auch denselben 
numerischen Wert. So pflanzt sich die elektrische Polarisation 
im leeren Raum oder in der Luft, in denen anfangs keineriei 
elektrische Wirkung bestand, mit einer gewissen Geschwindig- 
keit fort, wenn ein gewisses Gebiet polarisiert wurde. Die 
Maxwellschen Gleichungen ermöglichen es, diese Geschwindig- 
keit nach rein elektrischen Methoden, wobei von der Optik 
keineriei Gebrauch gemacht wird, zu bestimmen. Zahlreiche 
170 Sechstes Kapitel. 
flbereinstimmende Messungen lehren uns den Wert dieser Ge- 
schwindigkeit zu 300000 km in der Sekunde kennen. Diese 
Zahl ist genau so groß wie die Geschwindigkeit des Lichtes 
in Luft oder im leeren Raum, die durch vier voneinander ver- 
schiedene rein optische Methoden bestimmt wurde 
Aus dieser unerwarteten Obereinstimmung ergibt sich der 
Schluß: das Licht ist keine primäre Qualität, die Lichtwelle ist 
nichts anderes als eine periodisch veränderiiche, dielektrische 
Polarisation. Die elektromagnetische Lichttheorie, die 
Maxwell geschaffen, hat eine Eigenschaft, die man für irredu- 
zierbar hielt, aufgelöst, sie ließ sie zu einer Qualität werden, 
mit der sie während langer Jahre keineriei Band zu verbinden schien. 
So können die Fortschritte der Theorien selbst zur Reduktion 
der Zahl der Qualitäten, die sie ursprünglich als primäre be- 
trachtet hatten, führen. Sie können beweisen, daß zwei Eigen- 
schaften, die für verschieden gehalten wurden, nur zwei ver- 
schiedene Seiten derselben Eigenschaft sind. 
Soll man daraus schließen, daß die Zahl der in unseren 
Theorien zugelassenen Qualitäten von Tag zu Tag kleiner 
werde, daß die Materie, von der unsere Spekulationen handeln, 
immer weniger reich an Attributen, die ihr Wesen bilden, werde, 
daß sie zu einer Einfachheit tendiere, die mit der der atomisti- 
schen Materie oder der cartesianischen Materie vergleichbar 
wäre? Das wäre, glaube ich, ein verw^ener Schluß. Die 
Entwicklung der Theorie selbst kann ohne Zweifel hin und 
wieder einmal zwei verschiedene Qualitäten zusammenfließen 
lassen, ähnlich wie das Zusammenfließen des Lichtes und der 
dielektrischen Polarisation, die elektromagnetische Lichttheorie 
hervorgebracht hat. Aber anderseits bringt der unaufhörtiche 
Fortschritt der experimentellen Physik häufig die Entdeckung 
neuer Kategorien von Erscheinungen mit sich, so daß es notwendig 
wird, um diese Erscheinungen zu klassifizieren und aus ihnen 
Gesetze aufzubauen, der Materie neue Eigenschaften zuzuerkennen. 
Welche von diesen beiden entg^engesetzten Bewegungen, 
deren eine die Materie zu vereinfachen sucht, indem sie die 
Qualitäten aufeinander reduziert, deren andere durch Entdeckung 
neuer Eigenschaften sie verwickelter gestaltet, wird den Sieg 
Die primären Qualitäten. 171 
davontragen ? Es wäre unklug, in dieser Hinsicht eine Prophe- 
zeiung auf lange Sicht auszusprechen. Zumindest scheint es 
sicher, daß in unserer Epoche der zweite Strom viel mächtiger 
sei als der erste, indem er unsere Theorien zu einer immer 
verwickeiteren Auffassung der Materie, die immer reicher an 
Attributen wird, führt. 
Übrigens zeigt sich die Analogie zwischen den primären 
Qualitäten der Physik und den einfachen Körpern der Chemie 
auch hier. Vielleicht wird einst der Tag kommen, wo wirksame 
Mittel der Analyse die zahlreichen Körper, die wir heute ein- 
fache nennen, in eine kleine Zahl von Elementen auflösen 
werden ; aber kein sicheres, noch wahrscheinliches Zeichen er- 
laubt uns die Morgenröte dieses Tages zu verkünden. In der 
Epoche, in der wir leben, schreitet die Chemie vor, indem sie 
ohne Unterlaß neue einfache Körper entdeckt. Seit einem halben 
Jahrhundert liefern die seltenen Erden ohne Unterlaß neue Bei- 
trage zu der bereits so langen Liste der Metalle. Das Gallium, 
das Germanium, das Skandium zeigen uns, wie stolz die Chemiker 
sind, in diese Liste den Namen ihres Vaterlandes eintragen zu 
können. In der Luft, die wir einatmen, die seit Lavoisier als 
eine Mischung von Stickstoff und Sauerstoff bekannt zu sein 
schien, findet sich eine ganze Familie neuer Gase, das Argon, 
das Helium, das Xenon, das Krypton. Endlich liefert das 
Studium der neuen Strahlungen, das die Physik sicher nötigen 
wird, den Kreis ihrer primären QuaUtäten zu erweitern, der 
Chemie früher unbekannte Körper, das Radium und vielleicht 
auch das Polonium und Aktinium. Sicher sind wir jetzt von 
den einfachen Körpern, von denen Descartes träumte, diesen 
Körpern, die sich „auf die Ausdehnung und deren bloße Ände- 
rung" zurückführen lassen, noch recht weit entfernt. Die Chemie 
stellt eine Sammlung von einem Hundert körperlicher Materien 
auf, die aufeinander nicht zurückführbar sind, und einer jeden 
dieser Materien verleiht die Physik Formen, die in einer Menge 
verschiedener Qualitäten bestehen können. Jede der beiden 
Wissenschaften bemüht sich soweit als irgend möglich die Zahl 
ihrer Elemente zu reduzieren, und dennoch sieht sie in dem 
Maße, wie sie fortschreitet, deren Zahl wachsen. 
172 Siebentes Kapitel. 
Siebentes Kapitel. 
Mathematische Deduktion und physikalische Theorie. 
§ 1. — Physiicalische Annäherung und mathematische 
Präzision. 
Wenn man eine physikalische Theorie aufstellen will, hat 
man vor allem unter den Eigenschaften, die uns die Beobachtung 
darbietet, diejenigen auszuwählen, die man als primäre Qualitäten 
betrachten wird und sie durch algebraische oder geometrische 
Symbole darzustellen. 
Ist diese erste Operation, deren Studium wir die zwei 
vorangehenden Kapitel gewidmet haben, beendet, so muB man an 
eine zweite gehen: Man muß zwischen den algebraischen oder 
geometrischen Symbolen, die die primären Eigenschaften dar- 
stellen, Beziehungen aufstellen; diese Beziehungen werden den 
Deduktionen, auf Orund deren sich die Theorie entwickelt, als 
Prinzipien dienen. 
Es würde daher entsprechend erscheinen, nun diese zweite 
Operation, den Ausdruck der Hypothesen zu analysieren. 
Bevor man aber den Plan der Fundamente, die ein Gebäude 
tragen, zeichnet, bevor man die Materialien wählt, aus denen 
man es bauen wird, ist es unbedingt notwendig, zu wissen, 
welcher Art das Gebäude sein soll, den Druck, den es auf seine 
Grundlagen ausüben wird, zu kennen. Erst am Ende unserer 
Studien werden wir daher die Bedingungen präzisieren können, 
auf die wir bei der Wahl der Hypothesen achten müssen. 
Wir gehen daher sogleich zur Prüfung der dritten Operation, 
durch die jede Theorie konstituiert wird, der mathematischen 
Entwicklung über. 
Die mathematische Deduktion ist ein Zwischenglied. Sie 
hat das Ziel, uns zu lehren, wie auf Grund der fundamentalen 
Hypothesen der Theorie unter bestimmten Umständen bestimmte 
Konsequenzen entstehen, daß beim Auftreten bestimmter Tat- 
sachen auch bestimmte andere Tatsachen auftreten werden. Sie zeigt 
uns zum Beispiel auf Grund der Hypothesen der Thermodynamik, 
daß ein einem bestimmten Druck ausgesetzter Eisblock schmelzen 
wird, wenn das Thermometer einen bestimmten Grad anzeigt 
Mathematische Deduktion und physikalische Theorie. 173 
FQhrt die mathematische Deduktion die Tatsachen, die wir 
die Bedingungen nennen in der konkreten Form, in der wir 
sie beobachten, in ihre Rechnungen direkt ein? Leitet sie die 
Tatsache, die wir als Konsequenz bezeichnen in der konkreten 
Form, in der wir sie konstatieren werden, ab? Sicherlich nicht 
Ein Kompressionsapparat, ein Eisblock, ein Thermometer sind 
Dinge, mit denen der Physiker in seinem Laboratorium mani- 
puliert, sie sind nicht Elemente, auf die die algebraische Rechnung 
angewendet werden kann. Die algebraische Rechnung kombiniert 
nur 2^hlen miteinander. Damit daher der Mathematiker in seinen 
Formeln die konkreten Bedingungen eines Experimentes ein- 
fuhren könne, müssen diese Bedingungen durch das Zwischen- 
glied der Maße in Zahlen umgesetzt worden sein, daß er zum 
Beispiel die Worte: ein solcher Druck durch eine bestimmte 
Zahl von Atmosphären, die er in seiner Oleichung an Stelle des 
Buchstaben P einsetzt, ersetzen kann. Ebenso wird der Mathe- 
matiker am Ende seiner Rechnung eine bestimmte Zahl erhalten. 
Er muß auf die Maßmethoden Bezug nehmen, um dieser Zahl 
eine konkrete und beobachtbare Tatsache entsprechen zu lassen, 
zum Beispiel um einer gewissen Angabe des Thermometers den 
numerischen Wert, den er für den Buchstaben T, aus seiner 
algebraischen Oleichung erhält, entsprechen zu lassen. 
So kann die mathematische Entwickelung einer Theorie, 
sowohl bei ihrem Ausgangspunkt, als auch bei ihrem Endpunkt 
nur durch eine Übersetzung mit den beobachtbaren Tatsachen 
verbunden werden. Um in die Rechnungen die Bedingungen 
eines Experimentes einzuführen, ist eine Obersetzung nötig, die 
die Sprache der konkreten Beobachtung durch die Sprache der 
Zahlen ersetzt. Um das Resultat, das die Theorie für ein ge- 
wisses Experiment voraussagt, konstatierbar zu machen, ist es 
nötig, die Aufgabe zu lösen, einen numerischen Wert in eine 
in der Sprache des Experimentes formulierte Angabe umzubilden. 
Die Maßmethoden sind, wie wir bereits gesagt haben, das Voka- 
bularium, das diese beiden Übersetzungen ermöglicht. 
Wer aber übersetzt, fälscht; traduttore, traditore; es gibt 
niemals eine vollständige Übereinstimmung zwischen den zwei 
Texten, die Übersetzungen voneinander sind. Der Unterschied 
174 Siebentes Kapitel, 
zwischen den konkreten Tatsachen, wie sie der Physiker be- 
obachtet und den numerischen Symbolen, durch die diese Tat- 
sachen in den Rechnungen des Theoretikers dargestellt werden, 
ist außerordentlich. Wir werden später Gelegenheit haben, 
diesen Unterschied zu analysieren und dessen Hauptmeiicmale 
zu kennzeichnen. Augenblicklich erregt nur eines dieser Meric- . 
male unsere Aufmerksamkeit. 
Betrachten wir vor allem das, was wir als theoretische 
Tatsache bezeichnen wollen, d. h. jene Gruppe mathematischer 
Angaben, durch die eine konkrete Tatsadie in den Ober- 
legungen und Rechnungen des Theoretikers ersetzt wird. 
Nehmen wir zum Beispiel folgende Tatsache: ^,I>ie Temperatur 
ist in dieser Art auf diesem Körper verteilt." 
Eine derartige theoretische Tatsache besitzt nichts Un- 
bestimmtes, nichts Schwankendes, alles ist in genauer Weise 
festgelegt. Der Körper, der studiert wird, ist geometrisch de- 
finiert. Seine Kanten sind wirkliche Linien ohne Dicke, seine 
Ecken wirkliche Punkte ohne Dimensionen, die verschiedenen 
Längen und verschiedenen Winkel, die seine Gestalt bestimmen, 
sind genau bekannt. Jedem Punkt dieses Körpers entspricht 
eine Temperatur, und diese Temperatur ist für jeden Punkt 
eine Zahl, die von jeder anderen scharf geschieden ist. 
Dieser theoretiischen Tatsache stellen wir die prak- 
tische Tatsache, deren Übersetzung sie ist, gegenüber. Hier 
ist nichts mehr von der Präzision zu merken, die wir eben kon- 
statiert haben. Der Körper ist kein geometrischer mehr, son- 
dern ein konkreter Block. So scharf auch seine Kanten sein 
mögen, keine von ihnen ist mehr der geometrische Schnitt 
zweier Flächen, sondern ein mehr oder minder abgerundeter, 
mehr oder minder zackiger Grat. Seine Punkte sind mehr 
oder minder breitgedrückt und abgestumpft. Das Thermo- 
meter zeigt uns nicht mehr die Temperatur in jedem Punkte, 
sondern eine Art mittlerer Temperatur in einem gewissen Vo- 
lumen an, dessen wirkliche Ausdehnung nicht ganz genau 
festgestellt werden kann. Wir können überdies nicht behaup- 
ten, daß diese Temperatur durch jene bestimmte Zahl mit 
Ausschluß jeder anderen Zahl dargestellt sei. Wir können zum 
Mathematische Deduktion und physikalische Theorie. 175 
Beispiel nicht erklären, daß diese Temperatur streng, genau 
10^ sei, wir können nur behaupten, daß die Differenz zwischen 
dieser Temperatur und 10^ einen gewissen Bruchteil des Gra- 
des, der von der Genauigkeit unserer thermometrischen Metho- 
den abhängt, nicht überschreite. 
Während also die Konturen des Bildes mit einer gewissen 
Schärfe gezogen sind, sind die Konturen des Objektes verschwom- 
men, verdeckt und verwischt. Es ist unmöglich die praktische Tat- 
sache zu beschreiben ohne durch den Ausdruck näherungs- 
weise die allzugroße Bestimmtheit jedes Satzes abzuschwächen. 
Dagegen sind alle Elemente, die die theoretische Tatsache 
bilden, mit strenger Genauigkeit definiert. 
Daraus ergibt sich folgende Konsequenz: Eine Unzahl 
verschiedener theoretischer Tatsachen können als 
Obersetzung derselben praktischen Tatsache dienen. 
Wenn wir zum Beispiel eine theoretische Tatsache dahin aus- 
drücken, daß idiese Linie eine Länge von 1 cm oder von 0,999 cm 
oder von 0,993 cm oder von 1,002 cm oder von 1,003 cm be- 
sitze, so drücken wir damit Sätze aus, die für den Mathe- 
matiker dem Wesen nach verschieden sind. Aber wir ändern 
dadurch nichts an der praktischen Tatsache, deren Obersetzung 
die theoretische Tatsache ist, wenn unsere Maßmethoden uns 
nicht gestatten, Längen zu bestimmen, die kleiner sind, als ein 
Zehntel Millimeter. . Wenn wir sagen, daß die Temperatur 
eines Körpers 10^ oder 9,99 ^ oder 10,01 ^ sei, so formulieren 
wir drei unvereinbare theoretische Tatsachen. Aber diese drei 
unvereinbaren theoretischen Tatsachen entsprechen ein und der- 
selben praktischen Tatsache, wenn die Genauigkeit unseres 
Thermometers nicht ein fünfzigstel Grad erreicht. 
Eine praktische Tatsache läßt sich daher nicht nur durch 
eine einzige theoretische Tatsache, sondern durch eine Art Bün- 
del, das eine Unzahl verschiedener theoretischer Tatsachen um- 
faßt, übersetzen. Jedes dieser mathematischen Elemente, die ge- 
meinsam eine dieser Tatsachen bilden, kann bei jeder Tat- 
sache anders sein. Aber die Veränderung, die jedes dieser 
Elemente erfahren kann, kann eine gewisse Grenze nicht über- 
schreiten. Diese Grenze ist jene des Fehlers, dem das Maß 
176 Siebentes Kapitel. 
dieses Elementes ausgiesetzt ist. Je mehr die Maßmethoden 
sich vervolikommnen, je mehr die Annäheilmg, die sie zu- 
lassen, wächst, desto enger wird diese Grenze. Aber sie ver- 
engt sich nie so weit, daß sie verschwindet. 
§ 2. — Mathematische Deduktionen, die physikalisch 
verwendbar und solche, die physikalisch unverwend- 
bar sind. 
Diese Bemerkungen sind ganz einfach. Sie sind jedem 
Physiker so geläufig, daß sie beinahe banal erscheinen. Nichts- 
destoweniger haben sie für die mathematische Entwicklung 
einer physikalischen Theorie einschneidende Konsequenzen. 
Wenn die numerischen Angaben einer Reclmung in 
präziser Weise festgestellt sind, lehrt diese Rechnung, so kom- 
pliziert sie auch sein mag, stets den genauen numerischen 
Wert des Resultates kennen. Wenn man den Wert der An- 
gaben ändert, ändert man im allgemeinen auch den Wert 
des Resultates. Wenn man demgemäß die Bedingungen eines 
Experimentes durch eine theoretische Tatsache genau defi- 
niert hat, wird die mathematische Entwicklung durch eine 
andere, theoretisch genau definierte Tatsache das Resultat, 
das dieses Experiment liefern soll, darstellen. Wenn man die 
theoretische Tatsache, die die Bedingungen des Experimentes 
ausdrückt, ändert, wird die theoretische Tatsache, <Üe das Re- 
sultat ausdrückt, sich auch ändern. — Wenn wir zum Beispiel 
in der aus den thermodynamischen Hypothesen abgelöteten 
Formel, die die Abhängigkeit des Schmelzpunktes des Eises 
vom Drucke zeigt, den Buchstaben P, der den Druck darstellt, 
durch eine gewisse Zahl ersetzen, werden wir auch die Zahl 
kennen, die man dem Buchstaben T, dem Symbol der Schmelz- 
temperatur substituieren muß. Wenn wir den numerischen 
Wert des Druckes ändern, ändern wir gleichzeitig auch den 
numerischen Wert des Schmelzpunktes. 
Man kann nun, wie wir im § 1 gesehen, wenn die Be- 
dingungen eines Experimentes in konkreter Weise gegeben 
sind, sie nicht durch eine unzweideutige theoretische Tatsache 
Mathematische Deduktion und physikalische Theorie. 177 
übersetzen. Man muß ihnen ein Bündel von zahllosen theo- 
retischen Tatsachen entsprechen lassen. Daher sagen die Rech- 
nungen des Theoretikers das Resultat eines Experimentes nicht 
in der Form einer einzigen theoretischen Tatsache voraus» 
sondern in der Form unzähliger theoretischer Tatsachen. 
Um zum Beispiel die Bedingungen unseres Versuches über 
die Eisschmelzting auszudrücken, können wir nicht für das 
Symbol P des Druckes einen einzigen numerischen Wert 
— zum Beispiel 10 Atmosphären — setzen. Wenn die Fehler- 
gfrenze unseres Manometers ein Zehntel Atmosphäre ist, müssen 
wir annehmen, daß P alle Werte zwischen 9,95 und 10,05 
Atmosphären annehmen kann. Natürlich wird jedem dieser 
Werte des Druckes durch unsere Formel ein verschiedener 
Wert des Eisschmelzpunktes zugeordnet werden. 
So lassen sich die Bedingungen eines Experimentes, die 
in konkreter Weise gegeben sind, durch ein Bündel theoreti- 
scher Tatsachen übersetzen. Diesem ersteren Bündel theo- 
retischer Tatsachen läßt die mathematische Entwicklung der 
Theorie ein zweites entsprechen, das bestimmt ist, das Re- 
sultat des Experimentes darzustellen. 
Diese letzteren theoretischen Tatsachen können wir nicht 
in der Form, in der wir sie erhalten, verwenden. Wir müssen 
sie übersetzen Und in die Form praktischer Tatsachen bringen, 
denn nur dann wenden wir wirklich das Resultat, das die 
Theorie für Unser Experiment angibt, kennen. Wir dürfen 
uns zum Beispiel nicht damit begnügen, solange wir aus unse- 
rer thermodynamischen Formel nicht verschiedene numerische 
Werte für den Buchstaben T abgeleitet haben. Wir werden 
suchen müssen, welchen wirklich beobachtbaren Angaben, die 
auf der graduierten Skala unseres Thermometers ablesbar sind, 
diese Angaben wirklich entsprechen. 
Welche Aufgabe haben wir nun eigentiich, wenn wir 
diese neue Obersetzung, die derjenigen entgegengesetzt ist, 
die wir eben ausgeführt, die die theoretischen in praktische 
Tatsachen umwandeln soll, ausführen? 
Es kann sein, daß das Bündel von zahllosen theoretisdien 
Tatsachen, durch das die mathematische Deduktion das Resultat 
Dnhcm» PhytikaUscfae Theorie. 12 
178 Siebentes Kapitel. 
unseres Experimentes ausdrückt, uns nach der Übersetzung 
nicht verschiedene praktische Tatsachen, sondern nur eine ein- 
zige liefert. Es kann zum Beispiel geschehen, daß zwei nimie- 
rische Werte, die für den Buchstaben T gefunden wurden, nicht 
um mehr als ein himdertstel Grad differieren, und daß das 
hundertstel Grad auch die Grenze der Empfindlichkeit unseres 
Thermometers sei. In dieser Art entsprechen alle verschiedenen 
theoretischen Werte von T praktisch ein und derselben Ab- 
lesung auf der Skala des Thermometers. 
In einem derartigen Falle wird die mathematische Deduk- 
tion ihr Ziel erreicht haben. Es wird uns möglich sein, auf 
Grund der Hypothesen, auf denen die Theorie ruht, zu be- 
haupten, daß dieses Experiment, das unter diesen praktisdi 
gegebenen Bedingungen ausgeführt wurde, das konkrete und 
beobachtbare Resultat liefern muß. CHe mathematische De- 
duktion ermöglicht so den Veigleich' zwischen den Konse- 
quenzen der Theorie und |den Tatsachen. 
Aber es^ist nicht immer so. Auf Grund der mathematischen 
Deduktion ergeben sich eine Unzahl theoretischer Tatsachen als 
mögliche Konsequenzen imseres Experimentes. Bei der Ober- 
setzung dieser theoretischen Tatsachen in die konkrete Spradie 
kann es geschehen, daß wir nicht nur eine einzige praktisdie 
Tatsache erhalten, sondern mehrere, die sich auf Grund der Emp- 
findlichkeit unserer Instrumente voneinander unterscheiden 
lassen. Es' kann zum Beispiel vorkommen, daß die verschiedenen 
numerischen Werte, die durch Unsere thermodynamische Formel 
für den Eisschmelzpunkt gegeben werden, einen Unterschied 
voneinander aufweisen, der ein Zehntel oder selbst einen ganzen 
Grad erreicht, während uns unser Thermometer die Bestim- 
mung eines himdertstel Grades ermöglicht. In diesem Falle 
wird die mathematische Deduktion ihren Nutzen verloren haben. 
Die Bedingungen eines praktisch gegebenen Experimentes 
können uns nicht mehr in praktisch bestimmter Weise das zu 
beobachtende Resultat anzeigen. 
Eine mathematische Deduktion, die aus den Hypothesen, 
auf denen die Theorie ruht, hervorgeht, kann daher nützlich 
oder überflüssig sein, je nachdem, ob aus den praktisch ge- 
Mathematische Deduktion und physikalische Theorie. 179 
g^ebenen Bedingungen eines Experimentes eine praktisch 
bestimmte Atissage über das Experiment abgeleitet werden 
kann oder nicht. 
Diese Bestimmung der Nützlichkeit einer mathematischen 
Deduktion ist nicht immer absolut. Sie hängt vom Grade 
der Empfindlichkeit der Apparate, die zur Beobachtung des 
Versuchsergebnisses dienen sollen, ab. Nehmen wir zum Bei- 
spiel an, daß unsere thermodynamische Formel einem praktisch 
gegebenen Druck ein Bündel von Eisschmelzpunkten ent- 
sprechen lasse. Zwischen zweien dieser Schmelzpunkte bestehe 
ein Unterschied, der manchmal ein hundertste des Grades 
übersteigt, aber niemals ein Zehntel Grad erreicht. Die mathe- 
matische Deduktion, die diese Formel liefert, wird von dem 
Physiker, dessen Thermometer nur Zehntelgrade festzustellen 
erlaubt, für nützlich, von dem Physiker, dessen Instrument noch 
sicher einen Temperaturunterschied von einem hundertste Grad 
za imterscheiden gestattet, für unbrauchbar gehalten werden. 
Man sieht daraus, wie sehr das Urteil über den Nutzen einer 
mathematischen Entwicklung von einer Epoche zur anderen, 
von einem Laboratorium zum anderen, von einem Physiker 
zum anderen gemäß der Geschicklichkeit der Konstrukteure, 
gemäß der Vervollkommnung der Werkzeuge, gemäß der An- 
wendung, die man von den Versuchsergebnissen machen will, 
sich ändern kann. 
Diese Bestimmung kann auch von der Empfindlichkeit der 
Meßmethoden, die dazu dienen, die praktisch gegebenen Bedin- 
gungen des Experimentes in Zahlen zu übersetzen, abhängen. 
Nehmen wir wieder die verwendete Formel der Thermo- 
dynamik, die uns bisher immer als Beispiel diente. Wir seien im 
Besitze eines Thermometers, das die Bestimmung einer Tempe- 
raturdifferenz bis auf ein himdertstel Grad mit Sicherheit ge- 
statte. Damit unsere Formel uns ohne praktische Zweideutig- 
keit den Schmelzpunkt des Eises imter einem gegebenen Druck 
anzeige, ist es notwendig und zureichend, daß sie uns bis 
auf ein himdertstel Grad genau den numerischen Wert für den 
Buchstaben T kennen lehre. 
Wenn wir nun ein grobes Manometer anwenden, das 
12* 
180 Siebentes Kapitel. 
zwei Drucke nur unterscheiden läßt, wenn ihre Differenz über 
zehn Atmosphären beträgt, kann es geschehen, daß ein prak- 
tisch gegebener Druck in der Formel Schmelzpunkten ent- 
spricht, die um mehr als ein hundertstel Grad voneinander ab- 
weichen. Wenn wir dagegen den Druck mit einem empfind- 
lichen Manometer bestimmen würden, das sicher zwei Drucke, 
die um eine Atmosphäre differieren, tmterscheiden läßt, würde 
die Formel dem gegebenen Dittck einen Schmelzpunkt ent- 
sprechen lassen, der mit einer größeren Annäherung als ein 
hundertstel Grad bestimmbar wäre. Die Formel, die beim 
Gebrauch des ersten Manometers imverwendbar wäre, würde 
sich beim Gebrauch des zweiten als verwendbar erweisen. 
§ 3. — Beispiel einer mathematischen Deduktion, die 
niemals verwendbar werden kann. 
In dem Falle, den wir als Beispiel genommen haben, er- 
höhten wir die Genauigkeit der Meßmethoden, die dazu dienten, 
die praktisch gegebenen Bedingungen des Experimentes in theo- 
retische Tatsachen zu übersetzen. Dadurch haben wir mehr 
und mehr das Bündel theoretischer Tatsachen, die diese Ober- 
setzung einer einzigen praktischen Tatsache entsprechen läßt» 
verkleinert. Dadurch wurde gleichzeitig auch das Bündel theo- 
retischer Tatsachen, durch das unsere mathematische Deduktion 
das für das Experiment angekündigte Resultat darstellt, ver- 
kleinert. Es wurde so klein gemacht, daß unsere Meßmethoden 
ihm nur eine einzige praktische Tatsache entsprechen ließen. 
In diesem Moment war unsere mathematische Deduktion ver- 
wendbar geworden. 
Es scheint, daß das immer so sein muß. Wenn man 
eine einzige theoretische Tatsache als gegeben annimmt, läßt 
die mathematische Deduktion ihr wieder eine einzige theo- 
retische Tatsache entsprechen. Daher wird man naturgemäß 
zu folgendem Schluß geführt: Das Bündel theoretischer Tat- 
sachen, das man als Resultat erhält, läßt sich auf Grund der 
mathematischen [>eduktion so dünn wie man wünscht gestalten, 
wenn man das Bündel theoretischer Tatsachen, das das ge- 
gebene versinnbildlicht, genügend verkleinert. 
Mathematische Deduktion und physikalische Theorie. 181 
Wenn diese Meinung richtig wäre, könnte eine mathe- 
matische I>eduktion, die aus den Hypothesen, auf denen eine 
physikalische Theorie ruht, abgeleitet wurde, stets nur in rela- 
tiver und provisorischer Weise unverwendbar sein. Wie subtil 
auch immer die Methoden zur Messung der Resultate eines 
Versudies sein mögen, so könnte man doch immer, indem man 
die Hilfsmittel, durch die man die Bedingungen dieses Experi- 
mentes in Zahlen übersetzt, genügend präzise und genau macht, 
sie in der Art herstellen, daß aus den praktisch bestimmten 
Bedingungen luisere Deduktion nur ein einziges praktisches 
Residtat ableitet. Eine Deduktion, die heute unbrauchbar ist, 
würde an dem Tage, an dem man die Empfindlichkeit der In- 
strumente, die zur Bestimmung der Versuchsbedingungen 
dienen, erhebUch steigert, nützlich werden. 
Der moderne Mathematiker hütet sich sehr vor diesen augen- 
scheinlichen Übereinstimmungen, die nur zu oft trügen. Dieje- 
nige, die wir anführen wollen, soll nur als Exempel dienen. Man 
kann Fälle anführen, in denen diese Obereinstimmung in augen- 
scheinUchem Widerspruch mit der Wahrheit steht. Eine derar- 
tige Deduktion läßt einer einzigen, als gegeben angenommenen 
theoretischen Tatsache eine einzige als Resultat bezeichnete 
theoretische Tatsache entsprechen. Wenn ein Bündel theoreti- 
scher Tatsachen gegeben ist, so besteht das Resultat in einem 
anderen Bündel theoretischer Tatsachen. Aber läßt man auch 
das erste Bündel unbegrenzt kleiner werden, macht man es 
so dünn als möglich, so kann man doch nicht die Ausdehnung 
des zweiten Bündels um so viel vermindern, als man gerade will. 
Wenn auch das erste Bündel unbegrenzt klein ist, so können 
doch die Fäden, die das zweite Bündel bilden, divergieren und 
sich voneinander trennen, ohne daß man ihren gegenseitigen 
Abstand unter eine gewisse Grenze herabdrücken könnte. Eine 
derartige mathematische Deduktion ist für den Physiker un- 
brauchbar und wird es immer bleiben. Wie präzis und genau 
die Instrumente auch immer sein mögen, durch die die Ver- 
suchsbedingungen in Zahlen übersetzt werden, stets wird diese 
I>eduktion praktisch bestimmten experimentellen Bedingungen 
eine Unzahl praktisch verschiedener Resultate entsprechen 
182 Siebentes Kapitel. 
lassen. Durch sie wird eine Voraussage des Geschehens unter 
gegebenen Bedingtmgen nicht möglich sein. 
Ein sehr treffendes Beispiel einer solchen für immer un- 
brauchbaren Deduktion liefern tms die Untersuchungen des 
Herrn J. Hadamard. Es ist einem der einfachsten Probleme, 
die die am wenigsten verwickelte unter den physikalischen 
Theorien, die Mechanik zu behandeln hat, entnommen. 
Eine materielle Masse gleitet auf einer Fläche. Weder die 
Schwere, noch sonst eine Kraft beeinflußt sie. Auch die Rei- 
bung stört nicht ihre Bewegung. Wenn die Fläche, auf der sie 
bleiben muß, eine Ebene ist, beschreibt sie eine gerade Linie 
mit gleichförmiger Geschwindigkeit. Wenn die Fläche eine 
Kugel ist, beschreibt sie einen Bogen auf einem größten Kreis 
und zwar auch mit gleichförmiger Geschwindigkeit. Wenn 
unser materieller Punkt sich auf einer beliebigen Fläche be- 
wegt, beschreibt er eine Linie, die die Geometer als geo- 
dätische Linie der betrachteten Fläche bezeichnen. Wenn 
die Anfangslage unseres materiellen Punktes und die Richtung 
der Anfangsgeschwindigkeit gegeben sind, ist die geodätische 
Linie vollständig bestimmt 
Die Untersuchungen des Herrn Hadamard^) handelten im 
speziellen von den geodätische^ Linien auf mehrfach zusammen- 
hängenden Flädien entgegengesetzter Krümmung, die unend- 
liche Kegelmantel darstellen. Wir wollen uns hier nicht da- 
mit aufhalten, solche Flächen geometrisch zu definieren, wir 
begnügen uns von ihnen ein Beispiel zu geben. 
Denken wir uns die Stirn eines Stieres mit den Er- 
höhungen, von denen die Homer im<d Ohren ausgehen. Ver- 
längern wir diese Homer und Ohren in der Art, daß sie sich 
ins Unendliche ausdehnen, so haben wir eine Fläche, wie wir 
sie studieren wollen. 
Auf einer solchen Fläche können die geodätischen Linien 
recht verschieden aussehen. 
^) J. Hadamard: Les surfaces k courbures oppos^es et leurs 
lignes g^od^siques. (Journal de Math^matiques pures et appli- 
qu^es, 5e s^rie, t IV, p. 27; 1898.) 
Mathematische Deduktion und physikalische Theorie. 183 
Es gibt vor allem geodätische Linien, die in sich seibist 
zurückkehren. Weiter gibt es solche, die niemals genau zu 
ihrem Ausgangspunkt zurückkehren, sich aber auch niemals 
unendlich weit von ihm entfernen. Die einen winden sich 
unaufhörlich um das rechte Hom, die anderen um das linke 
oder auch um das redite resp. linke Ohr. Wieder andere, 
die viel komplizierter sind, beschreiben Windungen, die sie 
nach bestimmten Regeln um eines der Homer ausführen, ab- 
ivechselnd mit solchen um das andere Hom, oder eines der 
Ohren. Endlich gibt es auf der Stirn imseres Stieres mit 
unbegrenzten Hörnern und Ohren geodätische Linien, die sich 
ins Unendliche erstrecken, wobei die einen das redite Hom, 
die anderen das linke, wieder andere entsprechend das rechte 
oder linke Ohr erklimmen. 
Trotz dieser Komplikation wird die geodätische Linie, die 
ein materieller Punkt bei seiner Bewegung beschreibt, ohne 
Zweideutigkeit bestimmt sein, wenn man mit voller Genauig- 
keit die Anfangslage desselben auf der Stime des Stieres 
und die Richtung der Anfangsgeschwindigkeit kennt. Man 
kann vor allem speziell sehr genau wissen, ob der bewegliche 
Punkt stets in endlicher Entfernung bleiben muß oder sich auf 
Nimmerwiedersehen in die Unendlichkeit entfemt. 
Ganz anders würde es stehen, wenn die Anfangsbedin- 
gtingen nicht mathematisch sondem praktisch gegeben wären. 
Die Anfangslage Unseres materiellen Punktes wäre nicht auf 
der Fläche bestimmt, sondem es wäre irgend ein Punkt inner- 
halb eines kleinen Fleckens. Die Richtung der Anfangs- 
geschwindigkeit wäre nicht mehr eine unzweideutig definierte 
Gerade, sondem eine der Geraden, die in dem engen Bündel 
enthalten sind, dessen Begrenzung die Kontur des kleinen 
Flecken bildet. Unseren praktisch gegebenen Anfangsbedin- 
gtingen wird für den Geometer eine imbegrenrte Menge ver- 
schiedener Anfangsbedingtingen entsprechen. 
Stellen wir Uns vor, daß gewisse dieser geometrischen 
Angaben einer geodätischen Linie entsprechen, die sich nicht 
ins Unendliche entfemt, die sich zum Beispiel stets um das 
rechte Hom dreht. CHe Geometrie ermöglicht uns nun fol- 
184 Siebentes Kapitel. 
gende Behauptung aufzustellen: Unter den unzähligen matiie- 
matisdien Angaben, die denselben praktisch gegebenen ent- 
sprechen, gibt es solche, die eine geodätische Linie bestimmen, 
die sich unendlich weit vom Anfangspunkte entfernt; nachdem 
sie eine gewisse Zahl von Umdrehungen um das rechte Hom 
vollendet, wird sich diese geodätische Linie entweder über das 
rechte Hom oder das linke oder das redite oder auch linke 
Ohr ins Unendliche entfernen. Ja noch mehr! Trotz der engen 
Grenzen, die die geometrischen Angaben, die unsere prakti- 
schen Angaben darstellen sollen, haben, kann man immer diese 
geometrischen Angaben in der Art nehmen, daß die geodäti- 
sche Linie sich von dem unendlichen Kegelmantel, den man 
vorher gewählt, entfernt 
Man kann die Genauigkeit, mit der die praktischen 
Angaben bestimmt sind, beliebig erhöhen, man kann den 
Flecken, der die Anfangslage des materiellen Punktes bildet, 
verkleinem, man kann das Bündel, das die Richtung der An- 
fangsgeschwindigkeit enthält, zusammenschnüren, man wird 
doch niemals die geodätische Linie, die sich ohne Unterlaß 
um das rechte Hom dreht, von ihren ungetreuen Kameraden 
befreien, die, nachdem sie sich zuerst, ebenso wie erstere, um 
dasselbe Hörn gewunden, ins Unendliche entfernen. Die ein- 
zige Wirkung dieser größeren Genauigkeit in der Feststellung 
der ursprünglichen Angaben kann darin bestehen, daß man 
diese geodätischen Linien zwingt, eine größere Zahl von Win- 
dungen um das rechte Hom auszuführen, bevor sie zu ihrem 
unendlichen Zweig gelangen. Aber dieser unendliche Zweig 
kann niemals beseitigt werden. Wenn daher ein materieller 
Punkt auf der studierten Fläche von einer gegebenen mathe- 
matischen Lage aus mit einer mathematisch gegebenen Ge- 
schwindigkeit bewegt wird, kann die mathematische De- 
duktion die Bahn dieses Punktes bestimmen, und sagen, 
ob diese Bahn sich ins Unendliche entferne oder nicht. Wenn 
aber die Angaben nicht mathematisch bekannt sind, sondern 
durch physikalische Methoden bestimmt wurden, die beliebig 
genau sein mögen, wird die gestellte Frage unbeantwortbar 
sein und auch stets unbeantwortbar bleiben. 
Mathematische Deduktion und physikalische Theorie. 185 
§ 4. — Die Annäherungsmathematik. 
Das Beispiel, das wir analysiert haben, wurde uns wie 
gesagt, in einem der einfachsten Probleme, die die Mechanik, 
das ist die am wenigsten verwickelte unter den physikalischen 
Theorien, zu behandeln hat, geliefert. Diese außerordentliche 
Einfachheit ermöglichte es Herrn Hadamard im Studium des 
Problemes genügend weit vorzudringen, um die absolute, un- 
ausbleibliche Unverwendbarkeit gewisser mathematischer I>e- 
duktionen für die Physik bloßzulegen. Wird ein solcher trü- 
gerischer Schluß nicht noch in einer Menge anderer Probleme, 
die zu kompliziert sind, als daß man deren Lösung genügend 
analysieren könnte, auftreten? Die Antwort auf diese Frage 
scheint kaum zweifelhaft. Die Fortschritte der mathematischen 
Wissenschaften zeigen uns ohne Zweifel eine Menge von Pro- 
blemen, die für den Mathematiker sehr wohl definiert sind, 
für den Physiker aber allen Sinn verlieren. 
Wir wollen hier eines^), und zwar ein sehr berühmtes 
anführen, dessen Verwandtschaft mit dem von Herrn Hada- 
mard behandelten augenfällig ist. 
Beim Studium der Bewegungen der Gestirne, die das Son- 
nensystem bilden, ersetzen die Mathematiker die Sonne, die 
großen und kleinen Planeten sowie die Monde durch materi- 
elle Punkte. Sie nehmen an, daß je zwei dieser Punkte sich 
proportional dem Produkt ihrer Massen und im umgekehrten 
Verhältnis des Quadrates der Entfernung, die sie trennt, an- 
ziehen. Dias Studium der Bewegungen eines derartigen Systems 
ist ein viel verwickelteres als das von dem wir auf den voran- 
gehenden Seiten gesprochen haben. Es ist in der Wissenschaft 
unter dem Namen Problem' 'der n Körper berühmt. Wenn sogar 
die Zahl der Körper, die gegenseitig in Wirkung treten, auf 
drei reduziert wird, bleibt noch immer ein von den Mathe- 
matikern gefürchtetes Rätsel, das Dreikörperproblem, be- 
stehen. 
Nichtsdestoweniger kann man, wenn man in einem ge- 
gebenen Augenblick mit mathematischer Genauigkeit die Lage 
und Geschwindigkeit jedes der Gestirne, die das System bilden, 
*) J. Hadamard: Loc. cit p. 71. 
186 Siebentes Kapitel. 
kennt, behaupten, daß jedes Oestim von diesem Augenblick 
an eine vollständig definierte Bahn beschreibt. Die wirkliche 
Bestimmung dieser Bahn kann den Bemühungen der Mathe- 
matiker Hindemisse in den Weg legen, die noch lange nicht 
behoben sind. Dennoch kann man annehmen, daß ein Tag^ 
kommen werde, an dem diese Hindemisse beseitigt werden. 
Demzufolge kann sich der Mathematiker folgende Frage 
stellen: Werden die Gestime des Sonnensystems imter der 
Annahme, daß die Lagen und Geschwindigkeiten derselben 
die gleichen seien wie heute, alle weiter und unaufhörlich sich 
um die Sonne drehen? Wird es nicht im Gegenteil geschehen, 
daß eines dieser Gestime sich von dem Schwärm seiner Ge- 
fährten trennt, um sich in der Unendlichkeit zu verlieren? 
Diese Frage bildet das Problem der Stabilität des Sonnen- 
systems, das Laplace gelöst zu haben glaubte, dessen außer- 
ordentliche Schwierigkeit aber die Bemühungen der modernen 
Mathematiker, vor allem die des Herrn Poincar^ dartun. 
Für den Mathematiker hat das Problem der Stabilität des 
Sonnensystems sicherlich einen Sinn, denn die Anfangslagen 
der Gestime und ihre Anfangsgeschwindigkeiten sind für ihn 
Elemente, die mit mathematischer Genauigkeit bekannt sind. 
Für den Astronomen sind diese Elemente aber nur auf Gmnd 
physikalischer Verfahren bekannt Diese Verfahren bringen 
Fehler mit sich, die die an den Instrumenten und an den Be- 
obachtungsmethoden angebrachten Verbesserungen mehr und 
mehr reduzieren, niemals aber ganz aufheben werden. Es 
könnte daher sein, daß das Problem der Stabilität des Sonnen- 
systems für den Astronomen eine Frage ohne jeden Sinn wäre. 
Die praktischen Angaben, die er dem Mathematiker liefert, 
bedeuten für diesen eine Unzahl einander benachbarter, aber 
dennoch verschiedener theoretischer Angaben. Vielleicht sind 
unter diesen Angaben solche, nach denen alle Steme ewig in 
endlicher Distanz bleiben, während andere irgend einen dieser 
Himmelskörper in die Unendlichkeit verweisen. Wenn ein 
solcher Umstand, dem analog, der sich in dem von Hm. 
Hadamard behandelten Problem zeigte, hier wieder aufträte, 
wäre jede mathematische Deduktion in bezug auf die Stabi- 
Mathematiscfae Deduktion und physikalische Theorie. 187 
lität des Sonnensystems für den Physiker eine für immer un- 
verwendbare. 
Man kann die vielen und schwierigen I>eduktionen der 
Mechanik des Himmels und der mathematischen Physik nicht 
durchsehen ohne in Furcht zu geraten, daß viele dieser De- 
duktionen zu ewiger Unfruchtbarkeit verdammt seien. 
In der Tat nützt eine imathematische Deduktion dem Phy- 
siker nichts, solange er sich auf die Behauptung beschränkt, 
daß wenn dieser Satz streng richtig ist, die strenge Richtigkeit 
jenes anderen Satzes folge. Damit sie dem Physiker nützlich 
sei, muß er auch beweisen, daß der zweite Satz annähernd 
richtig bleibe, wenn der erste tiur annähernd wahr ist. Und 
das genügt auch noch nicht. Er muß den Umfang dieser beiden 
Annäherungen abgrenzen. Er muß die Fehlergrenzen des Re- 
sultates feststellen, die aus der Kenntnis des Grades der Ge- 
nauigkeit der Methoden, die zur Messung der Angaben gedient 
haben, hervorgehen. Man muß den Grad der Unsicherheit, 
die man den Angaben zuschreiben muß, definieren, wenn man 
das Resultat mit bestimmter Annäherung kennen will. 
So sind die strengen Bedingungen beschaffen, die man 
der mathematischen Deduktion auferlegen muß, wenn man 
will, daß diese Sprache mit absoluter Genauigkeit, ohne zu 
fälschen, die Sprache des Physikers übersetze. Denn die Aus- 
drücke dieser letzteren Sprache sind und werden immer un- 
bestimmt und imgenau sein, wie die Wahrnehmungen, die sie 
ausdrücken sollen. Unter diesen Bedingungen und nur unter 
diesen wird man eine mathemathische Darstellung der An- 
näherung haben. 
Aber man täusche sich nicht in dieser Beziehung. Diese 
Annäherungsmath'ematik ist nicht eine einfachere und grö- 
bere Mathematik, sondern im Gegenteil eine vollständigere, 
verfeinerte Form derselben. Sie erfordert die Lösung von mit- 
unter sehr schwierigen Problemen, deren manche sogar über 
die Methoden der gegenwärtigen Algebra hinausgehen. 
188 Achtes Kapitel. 
Achtes Kapitel. 
Das physikalische Experiment^). 
§ 1. — Ein physikalisches Experiment ist nicht einfach 
die Beobachtung einer Erscheinung, es ist außerdem 
die theoretische Interpretation derselben. 
Das Ziel jeder physikalischen Theorie ist die Darstellung 
experimenteller Gesetze. Die Worte Wahrheit, Sicherheit 
haben in bezug auf eine solche Theorie nur eine einzige Be- 
deutung; sie drücken die Übereinstimmung der Schlußfolgerungen 
der Theorie mit den Gesetzmäßigkeiten, die die Beobachter fest- 
gestellt haben, aus. Wir können daher in der Kritik der physi- 
kalischen Theorie nicht weiter kommen, bevor wir nicht genau 
die Natur der von den Experimentatoren ausgesprochenen Ge- 
setze analysiert, bevor wir nicht den Grad der Sicherheit, der 
^) Dieses Kapitel und die zwei folgenden sind der Analyse der ex- 
perimentellen Methode, die der Physiker anwendet, gewidmet. Wir bitten 
den Leser um Eriaubnis, diesbezüglich einige Daten fixieren zu dürfen. 
Wie uns scheint haben wir diese Analyse zuerst durchgeführt und zwar in 
einem Artikel, dessen Titel: „Quelques reflexions au sujet de la 
Physique exp^rimentale" (Revue des Questions scientifiques, 
deuxi^me s^rie t III, 1894) lautete. Hr. Q. Milhaud machte die Aus- 
führungen eines Teiles dieser Gedanken zum Gegenstand semer Vorlesungen 
im Jahre 1895/96. Er veröffentlichte darauf ein Resum6 seiner Voriesungen, 
in dem er uns zitierte, unter dem Titel: „La science rationelle" (Revue 
de M^taphysique et de Morale, 4« ann^e 1896 p. 290. — Le Rationnel, 
Paris 1898.) Die gleiche Analyse machte sich auch Hr. Edouard Le Roy 
in dem zweiten Artikel seiner Schrift: „Science et Philosophie" (Revue 
de Metaphysique et de Morale, 7e ann^e, 1899, p. 503) zu eigen und 
ebenso in einer anderen Schrift: „La science positive et lesphilosophies 
de la libert^." (Congr^s international de Philosophie tenu ä Paris 
en 1900. Biblioth^que du Congr^s: L Philosophie g^n^rale et Meta- 
physique p. 313). Ebenso kommt in dem Artikel: „La m^thode des 
Sciences physiques" (Revue de Metaphysique et de Morale 
7e ann^e 1899, p. 579) des Hm. E. Wilbois eine analoge Auffassung zur 
Geltung. Verschiedene der von uns zitierten Autoren haben manchmal 
aus dieser Analyse der in der Physik verwendeten experimentellen Methode 
Schlüsse gezogen, die über das Gebiet der Physik hinausgehen. Wir werden 
ihnen dahin nicht folgen und uns beständig in den Grenzen der physikalischen 
Wissenschaft halten. 
Das physikalische Experiment 189 
ihnen zukommt, präzisiert haben. Außerdem ist das physikalische 
Gesetz nicht nur der Inbegriff einer Unzahl von Experimenten, 
die ausgeführt wurden oder reahsiert werden könnten. Wir 
werden daher naturgemäß dahin geführt, uns folgende Frage 
zu stellen: Was ist eigentlich ein physikalisches Experiment? 
Diese Frage wird ohne Zweifel manchen Leser in Erstaunen 
setzen. Ist es nötig sie zu stellen, Ist die Antwort nicht selbst- 
verständlich? Bezeichnet nicht jedermann mit den Worten: „Aus- 
führung eines physikalischen Experimentes'^ eine Operation, die 
darin besteht, daß man eine physikalische Erscheinung unter 
den Bedingungen hervorbringt, die man genau und scharf mit 
Hilfe geeigneter Instrumente beobachten kann? 
Treten Sie in dieses Laboratorium ein. Gehen Sie an diesen 
Tisch heran, den eine Menge von Apparaten bedecken: eine 
galvanische Säule, mit Seide umsponnene Kupferdrähte, mit 
Quecksilber gefüllte Näpfe, Spulen, ein Eisenstät>chen, das einen 
Spiegel trägt. Ein Beobachter steckt in kleine Löcher den metal- 
lischen Stiel eines Stöpsels, dessen Kopf aus Ebonit besteht. 
Das Eisen gerät in Sdiwingungen und vom Spiegel, der mit 
ihm verbunden ist, wird auf einen Maßstab aus Zelluloid ein 
leuchtender Streifen geworfen, dessen Bewegungen der Beob- 
achter verfolgt. Das ist ohne Zweifel ein Experiment. Mit Hilfe 
des Hin- und Hergehens dieses leuchtenden Zeichens beobachtet 
der Physiker genau die Schwingungen des Eisenstückes. Wenn 
Sie nun fragen, was er tue, glauben Sie, daß er Ihnen dann 
antworten wird: „Ich studiere die Oszillationen des Eisenstabes, 
der den Spiegel trägf9 Keineswegs. Er wird Ihnen antworten, 
daß er den elektrischen Widerstand einer Spule messe. Wenn 
Sie in Erstaunen geraten und Ihn fragen, welchen Sinn diese 
Worte hätten imd welche Beziehung zwischen ihnen und den 
Phänomenen, die er gleichzeitig mit Ihnen konstatiert hat, 
bestünde, würde er Ihnen antworten, daß Ihre Frage allzu- 
langer Erklärungen bedürfe und Ihnen anraten, einen Kursus 
in der Elektrizitätslehre zu nehmen. 
Es ist in der Tat ein physikalisches Experiment, dessen 
Ausführung Sie beiwohnten, und das wie jedes Experiment in 
der Physik in zwei Teile zerfällt Es besteht in erster Linie in 
190 Achtes KaptteU 
der Beobachtung gewisser Tatsachen. Um diese Beobachtung 
ausfuhren zu können, genügen Aufmerksamkeit und aufnahms- 
fähige Sinne. Die Kenntnis der Physik ist dazu nicht nötig; 
der Direktor des Laboratoriums kann darin weniger geschickt 
sein, als der Laboratoriumsdiener. Sie besteht in zweiter Linie 
in der Interpretation der beobachteten Tatsachen. Um diese 
Interpretation durchführen zu können, genflgen ein geübtes 
Auge und geweckte Aufmerksamkeit nicht Man muß die ein- 
schlägigen Theorien kennen, man muß sie anzuwenden ver- 
stehen, man muß ein Physiker sein. Jedermann kann, wenn er 
gesunde Augen hat, die Bewegungen eines Lichtstreifens auf 
einem durchsichtigen Maßstab verfolgen, wie er nach rechts 
oder nach links geht, wie er an diesem oder jenem Punkt still- 
steht; er braucht dazu kein großer Gelehrter zu sein. Wenn 
er aber die Elektrodynamik nicht kennt, wird er das Experiment 
nicht vollenden, wird er den Widerstand der Spule nicht messen 
können. 
Nehmen wir ein anderes Beispiel. Regnault studiert die 
Kompressibilität der Oase. Er nimmt eine gewisse Quantität 
Oas und sperrt sie in ein Olasrohr ein. Er hält die Temperatur 
konstant, er mißt den Druck, unter dem das Gas steht und das 
Volumen, das es einnimmt Das ist, wird man sagen, die ge- 
naue und scharfe Beobachtung gewisser Erscheinungen, ge- 
wisser Tatsachen. Sicheriich haben sich unter den Händen und 
Augen von Regnault, unter den Händen und Augen seiner 
Gehilfen konkrete Tatsachen vollzogen. Besteht das, was Regnault 
als Beitrag zum Fortschritt der Physik aufgezeichnet hat in der 
Beschreibung dieser Tatsachen? Nein. In einer Visiervorrichtung 
hat Regnault das Bild einer gewissen Quecksilberkuppe einen 
bestimmten Strich tangieren gesehen; hat er das in dem Bericht 
über seine Untersuchungen aufgeschrieben? Nein; er hat auf- 
gezeichnet, daß das Gas ein Volumen von bestimmter Größe 
einnehme. Ein Gehilfe hat das Femrohr eines Kathetometers 
gehoben und gesenkt, bis das Bild eines anderen Quecksilber- 
niveaus einen bestimmten Faden eines Netzes tangierte. Er 
beobachtete sodann die Lage gewisser Striche auf dem Maß- 
stabe und auf dem Nonius des Kathetometers; ist es das, was 
Das physikalische Experiment 191 
wir in dem Bericht von Regnault finden? Nein; wir lesen dort, 
welche OröBe der vom Oas ausgeübte Druck besitzt Ein anderer 
Gehilfe hat am Thermometer gesehen, wie sich das FlQssigkeits- 
niveau von einem bestimmten Strich zu einem andern verschob; 
hat er das aufgezeichnet? Nein; man hat vermerkt, daß die 
Temperatur des Oases von einem bestimmten Orade bis zu 
einem anderen variierte. 
Was ist nun die OröBe des Volumens, das das Oas ein- 
nimmt, was ist die Oröße des Druckes, den es ausübt, was ist 
der Orad der Temperatur, auf den es gebracht wird? Sind es 
drei konkrete Objekte? Nein; es sind drei abstrakte Symbole, 
die allein die physikalische Theorie mit den wirklich beobachteten 
Tatsachen verbinden. 
Um die erste dieser Abstraktionen, die Oröße des von dem 
Oase eingenommenen Volumens zu bilden und sie mit der be- 
obachteten Tatsache in Übereinstimmung zu bringen, d. h. mit 
dem Tangieren des Quecksilbers an einem bestimmten Strich, 
war es nötig, die Olasröhre zu aichen, d. h. zu rekurrieren, 
nicht nur auf die abstrakten Begriffe der Arithmetik und der 
Geometrie, auf die abstrakten Prinzipien, auf denen diese 
Wissenschaften beruhen, sondern auch auf den abstrakten Be- 
griff der Masse, auf die Hypothesen der allgemeinen Mechanik 
und der des Himmels, die den Gebrauch der Wage zur Ver- 
gleichung der Massen rechtfertigen. Man mußte das spezifische 
Gewicht des Quecksilbers bei der Temperatur, bei der diese 
Aichung ausgeführt wurde, kennen und zu diesem Zwecke das 
spezifische Gewicht bei 0®, von dem man nicht Gebrauch 
machen kann, ohne die Gesetze der Hydrostatik zu kennen. 
Man mußte das Gesetz der Ausdehnung des Quecksilbers 
kennen, das mit Hilfe eines Apparates bestimmt wird, bei dem 
ein Vergrößerungsglas Anwendung findet und demzufolge ge- 
wisse Gesetze der Optik vorausgesetzt sind. In dieser Art wird 
die Kenntnis einer Menge von Kapiteln der Physik notwendiger- 
weise vorausgesetzt, um zur Bildung dieses abstrakten Begriffes: 
das vom Gas eingenommene Volumen, zu kommen. 
Noch viel komplizierter, noch enger mit den tiefsten Theorien 
der Physik verbunden ist die Entstehungsgeschichte jenes anderen 
192 Achtes Kapitel. 
abstrakten Begriffes: die OröBe des vom Oase ausgeübten Druckes. 
Um sie zu definieren, um sie auszuwerten, mußte man so heikle, 
so schwer erlangbare Begriffe, wie den des Druckes und der 
Adhäsion verwenden. Man mußte die von Laplace ang^ebene 
Formel für die barometrische Höhenmessung, die aus den Ge- 
setzen der Hydrostatik abgfeleitet ist, zu Hilfe nehmen, man 
mußte das Gesetz der Kompressibilität des Quecksilbers, dessen 
Bestimmung an die heikelsten und meist umstrittenen Fragen 
der Elastizitätstheorie geknüpft ist, in Betracht ziehen. 
So hatte Regnault, wenn er einen Versuch ausführte, Tat- 
sachen vor Augen, er beobachtete Erscheinungen. Was er uns 
aber von diesem Experiment mitteilt, besteht nicht in einem 
Bericht über die beobachteten Tatsachen. Es sind die abstrakten 
Symbole, welche er mit Hilfe der in Betracht kommenden 
Theorien an Stelle der konkreten Aussagen, die er erhielt, setzen 
konnte. 
Was Regnault tat, muß notwendigerweise jeder physikalische 
Experimentator tun. Deshalb können wir folgendes Prinzip 
aussprechen, dessen Konsequenzen sich im Veriaufe unserer 
AusÜhrungen ergeben werden: 
Ein physikalisches Experiment ist die genaue Be- 
obachtung einer Gruppe von Erscheinungen, die ver- 
bunden wird mit der INTERPRETATION derselben; diese 
Interpretation ersetzt das konkret Gegebene, mit Hilfe 
der Beobachtung wirklich Erhaltene durch abstrakte 
und symbolische Darstellungen, die mit ihnen überein- 
stimmen auf Grund der Theorien, die der Beobachter 
als zulässig annimmt. 
§2. — Das Resultat eines physikalischen Experimentes 
ist ein abstraktes und symbolisches Urteil. 
Das Charakteristikum, welches so klar das physikalische 
Experiment von einem gewöhnlichen Experiment unterscheidet, 
indem es in das erstere als wesentliches Element die theore- 
tische Interpretation einführt, die bei dem letzteren ausge- 
schlossen ist, zeigt gleichzeitig die Resultate an, auf die diese 
beiden Arten von Experimenten hinzielen. 
Das physikalische Experiment 193 
DsLS Resultat des gewöhnlichen Experiments ist die Kon- 
statierung einer Beziehung zwischen verschiedenen konkreten 
Tatsachen. Eine bestimmte Tatsache wurde künstlich hervor- 
gebracht, eine andere resultierte daraus. Man hat zum Bei- 
spiel einen Frosch enthauptet und in dessen linken Fuß mit 
einer Nadel gestochen. Der rechte Fuß hat sich bewegt und 
das Bestreben gezeigt die Nadel zu entfernen. Das ist das 
Resultat eines physiologischen Experimentes. Es ist ein Be- 
richt über die konkreten Tatsachen. Um diesen Bericht zu 
verstehen braucht man kein Wort von Physiologie zu wissen. 
Das Resultat der Operationen, die den physikalischen Ex- 
perimentator beschäftigen ist keineswegs die Konstatierung 
einer Gruppe konkreter Tatsachen. Es ist der Ausdruck eines 
Urteils, das gewisse abstrakte symbolische Begriffe mit ein- 
ander verbindet, deren Abhängigkeit von den wirklich be- 
obachteten Tatsachen allein durch die Theorien hergestellt 
wird. Diese Wahrheit springt jedem, der nachdenkt, in die 
Augen. Offnen wir irgend eine Abhandlung aus dem Gebiete 
der experimentellen Physik und lesen wir die Schlußfolge- 
rungen. Diese Schlußfolgerungen sind keineswegs die bloße 
einfache Darlegung gewisser Erscheinungen. Sie sind ab- 
strakte Ausdrücke, denen wir keinen Sinn unterlegen können, 
wenn wir nicht die physikalischen Theorien kennen, auf die 
sich der Autor stützt. Wir lesen zum Beispiel dort, daß die 
elektromotorische Kraft einer bestimmten Qassäule um eine 
gewisse Anzahl Volt steigt, wenn der Druck um eine bestimmte 
Anzahl Atmosphären wächst. Was bedeutet dieser Satz? Man 
kann seinen Sinn nicht erfassen, ohne zu den mannigfaltigsten 
und höchsten Theorien der Physik zu greifen. Wir haben 
bereits gesagt, daß der Druck ein quantitatives Symbol sei, 
das durch die Mechanik eingeführt wird und das eines der 
subtilsten ist, die diese Wissenschaft behandelt. Um die Be- 
deutung des Wortes elektromotorische Kraft zu verstehen, 
muß man von der von Ohm und Kirchhoff begründeten elektro- 
kinetischen Theorie Gebrauch machen. Das Volt ist die Ein- 
heit der elektromotorischen Kraft in dem System praktischer 
elektromagnetischer Einheiten. Die Definition dieser Einheit 
DQhem, Physikalische Theorie. 13 
194 Achtes Kapitel. 
wird aus den Gleichungen des Elektromagnetismus und der 
Induktion, die von Ampere, F. E. Neumann und W. Weber 
aufgestellt wurden, abgeleitet. Keines der Worte, die bei dem 
Aussprechen des Resultates eines solchen Versuches verwendet 
werden, drückt direkt ein sichtbares und tastbares Objekt aus. 
Jedes von ihnen hat einen abstrakten und symbolischen Sinn. 
CNeser Sinn ist ntjt den konkreten Realitäten durch lange kompli- 
zierte theoretische Mittelglieder verbimden. 
Bleiben wir noch bei diesen Bemerkungen, die so wichtig 
für ein wirkliches Verständnis der Physik sind und dabei so 
oft mißverstanden werden. 
Jemand, der die Physik nicht kennt, für den der Wortiaut 
eines experimentellen Resultates toter Buchstabe bleibt, könnte 
versucht sein in einem Satz, wie Sem angeführten, einfach die 
Darstellung der vom Experimentator beobachteten Tatsachen 
in einer technischen Terminologie, die den Laien unfaßbar, 
den Eingeweihten aber klar ist, zu sehen. Das wäre ein Irrtum. 
Ich bin auf einem Segelschiff, ich höre den Wachtoffizier 
folgendes Kommando ausrufen: „Bram und Oberbram strei- 
chen !'' Da ich das Marinewesen nicht kenne, verstehe ich 
diese Worte nicht, aber ich sehe die Mannschaft auf vorher 
festgesetzte Posten laufen, bestimmte Taue ergreifen und sie 
im Takt heben. Die Worte, die der Offizier ausgesprochen 
hat, bilden für sie die Bezeichnung konkreter klar bestimmter 
Objekte, die in ihrem Kopf den Gedanken eines bekannten 
Manövers, das sie auszuführen haben, erwecken. Dies ist für 
den Eingeweihten die Wirkung eines technischen Ausdrudces. 
Ganz anders ist die Sprache des Physikers. Nehmen wir 
an, daß vor einem Physiker folgender Satz ausgesprochen 
werde : Wenn man den Druck um so und so viel Atmosphären 
steigert, vergrößert man die elektromotorische Kraft der Säule 
um so und so viel Volt. Es ist wohl wahr, daß der Ein- 
geweihte, der die Theorien der Physik kennt, diesen Ausspruch 
in die Wirklichkeit übersetzen, dieses Experiment, dessen Re- 
sultat so ausgedrückt wird, realisieren kann. Aber es ist zu 
beachten, daß er es in einer Unzahl verschiedener Arten reali- 
Das physikalische Experiment 195 
sieren kann. Er kann den Druck erzeugen, indem er Quedc- 
silber in eine Glasröhre gießt, indem er ein mit Flüssigkeit 
gefülltes Reservoir in die Höhe hebt, indem er eine hydraulische 
Presse in Bewegung setzt oder einen Kolben in ein mit Wasser 
gefülltes Gefäß einschraubt. Er kann diesen Druck mit einem 
mit gewöhnlicher Luft oder mit einem mit komprimierter Luft 
gefüllten Manometer oder schließlich mit einem metallischen 
Manometer messen. Um die Änderung der elektromotorischen 
Kraft zu bestimmen, kann er der Reihe nach alle bekannten 
Typen von Elektrometern, Galvanometern, Elektrodynamo- 
metem und Voltmetern verwenden. Jede neue Anordnung der 
Apparate führt ihn zur Konstatierung neuer Tatsachen. Er kann 
Anordnungen von Apparaten verwenden, die der Urheber des 
Versuches nicht geahnt hat und Erscheinungen sehen, die der- 
selbe niemals beobachtet hat. Dabei sind alle diese Verrich- 
tungen, die für den Laien keinerlei Analogie aufweisen, tatsäch- 
lich nicht verschiedene Experimente. Sie sind nur verschiedene 
Formen desselben Experimentes. Die Tatsachen, die wirklich 
hervortraten, waren einander so unähnlich wie nur möglich; 
die Konstatierung dieser Tatsachen dagegen wird durch ein 
und denselben Satz vollzogen: Die elektromotorische Kraft 
dieser Säule wächst tun so und so viele Volt, wenn der Druck 
um so und so viele Atmosphären steigt. 
Es ist demnach klar, daß die Sprache, in welcher der 
Physiker die Resultate seiner Experimente ausdrückt nicht in 
technischen Ausdrücken besteht, die denen gleichen, die die 
verschiedenen Künste und Handwerke verwenden. Sie gleicht 
der technischen Sprache darin, daß der Eingeweihte sie in 
die Wirklichkeit übersetzen kann; sie unterscheidet sich aber 
von dieser dadurch, daß ein in einer technischen Sprache ge- 
gebener Satz eine bestimmte an konkreten, klar definierten 
Objekten auszuführende Operation anzeigt, während ein Satz 
der physikalischen Sprache in einer Unzahl verschiedener Arten 
realisiert werden kann. 
Denjenigen, welche mit Hm. Le Roy den wesentlichen 
Anteil, der der theoretischen Interpretation bei der Darlegung 
einer experimentellen Tatsache zukommt, betonen, hat Hr. 
13* 
196 Achtes Kapitel. 
H. Poincare^) die gleiche Meinung, die wir jetzt gerade be- 
kämpfen, entgegen gestellt. Nach ihm ist die physikalische 
Theorie ein einfadies Vokabularium, das die Obersetzimg der 
konkreten Tatsachen in eine, auf Konvention beruhende, ein- 
fache und bequeme Sprache ermöglicht. „Die wissenschaft- 
liche Tatsache", sagt er^), „ist nur die rohe Tatsache, in eine 
bequeme Sprache übersetzt." Und weiter^): „Alles, was der 
Gelehrte an einer Tatsache erschafft ist die Sprache, in der er 
sie ausdrückt." 
„Wenn ich ein Galvanometer^) beobachte und einen Laien, 
der mich besucht frage : Fließt der Strom ? wird er den Draht 
betrachten, und sich bemühen an demselben irgend ein CMng, 
das sich bewegt, zu bemerken. Wenn ich dieselbe Frage aber 
meinem Gehilfen stelle, der meine Sprache versteht, weiß er, 
daß das heißen soll: Bewegt sich der Lichtstreifen? und er wird 
auf die Skala sehen." 
„Welcher Unterschied besteht nun zwischen dem Wortlaut 
einer rohen und dem einer wissenschaftlichen Tatsache? Es 
ist derselbe Unterschied wie zwischen dem Wortlaut einer 
rohen Tatsache in der französischen Sprache und dem Wortlaut 
derselben Tatsache in der deutschen Sprache. Der wissen- 
schaftliche Wortlaut ist die Obersetzung des rohen Wortlautes 
in eine Sprache, die sich vor allem dadurch vom gewöhnlichen 
Französischen oder gewöhnlichem Deutsch unterscheidet, daß 
sie von einer weit geringeren Anzahl von Personen gesprochen 
wird." 
Es ist nicht richtig, daß die Worte: „Der Strom fließt" 
eine einfache auf Konvention beruhende Art des Ausdruckes 
der Tatsache sei, daß das Magnetstäbchen dieses Galvano- 
meters abgelenkt sei. In der Tat könnte auf die Frage : „Fließt 
der Strom?" mein Gehilfe sehr wohl antworten: „Der Strom 
^) H. Poincar6: Sur la valeur objective des th^ories physiques 
(Revue de M6taphysique et de Morale, lOe ann6e, 1Q02, p. 263). 
') H. Poincar6: Loc cit p. 272 [in der deutschen Übersetzung von 
Poincar^s „Der Wert der Wissenschaft", Leipzig 1906, p. 174]. 
') H. Poincar^: Loc cit p. 273 [deutsch 1. c p. 176]. 
*) H. Poincar^: Loc cit p. 270 [deutsch 1. c p. 171). 
Das physikalische Experiment 197 
fließt, der Magnet ist aber nicht abgelenkt, das Galvanometer 
scheint irgend einen Fehler zu haben''. Warum behauptet er 
obgleich die Angabe des Galvanometers fehlt, daß der Strom 
fließt? Weil er an einem Voltameter, das in denselben Strom- 
kreis eingeschaltet ist, das Auftreten von Gasblasen konsta- 
tierte, oder auch, daß eine Glühlampe, die in denselben Kreis 
eingeschaltet ist leuchtete, oder wohl auch, daß eine Spule 
die aus dem Draht, der denselben bildet, gewickelt ist, sich 
erwärmte, oder, daß bei einer Unterbrechung der Verbindimg 
Funken auftraten. Es kann daher auf Grund der als zulässig 
erkannten Theorien jede dieser Tatsachen, ebenso wie die 
Ablenkung des Galvanometers von ihm durch die Worte : „Der 
Strom fließt" übersetzt werden. Diese Anordnung der Worte 
bedeutet daher nicht eine gewisse konkrete Tatsache, in einer 
technischen und konventionellen Sprache, sondern eine symbo- 
lische Formel, die keinen Sinn für den hat, der die physi- 
kalischen Theorien nicht kennt. Für den aber, der diese Theo- 
rien kennt, läßt sie sich in einer Unzahl verschiedener Arten 
in konkrete Tatsachen übersetzen, da alle diese unzu- 
sammenhängenden Tatsachen dieselbe theoretische 
Interpretation zulass:en. 
Herr H. Poincar^ weiß^), daß man gegen die Lehre, deren 
Anhänger er ist, diesen Einwand erheben kann. Im folgen- 
den sehen wir, wie er ihn darlegt*) und wie er ihn beantwortet: 
„Doch übereilen wir uns taicht! Um einen Strom zu messen, 
kann ich mich einer großen Anzahl verschiedenartiger Galvano- 
meter oder auch eines Elektrodynamometers bedienen. Wenn 
ich dann sage, in diesem Kreis fließt ein Strom von so und so 
viel Ampere, so bedeutet das: wenn ich in diesen Stromkreis 
ein bestimmtes Galvanometer einschalte, so wird der Licht- 
^) Man braucht übrigens darüber nicht erstaunt zu sein, wenn man 
bedenkt, daß die vorangehenden Ausführungen von uns mit beinahe gleich- 
lautenden Worten schon im Jahre 1894 veröffentlicht wurden^ während der 
Artikel des Hm. Poincar^ 1902 erschien. Wenn man unsere zwei Artikel 
vergleicht, kann man sich leicht überzeugen, daß Hr. Poincar^ an dieser 
Stelle unsere Ansicht ebensosehr bekämpft, wie die des Hm. Le Roy. 
«) Loc. cit p. 270 [deutsch 1. c p. 171—172). 
198 Achtes Kapitel. 
streifen auf den Teilstrich a fallen; es bedeutet aber auch: 
wenn ich in diesen Stromkreis ein bestimmtes Elektrodyna- 
mometer einschalte, so wird der Lichtstreifen auf den Teilstrich b 
fallen. Und es bedeutet noch vielerlei anderes; denn der Strom 
^ann sich nicht nur durch mechanische Wirkungen kundgeben, 
sondern auch durch chemische Wirkungen, durch Licht und 
Wärmewirkungen usw." 
„Dies ist also der gleiche Wortlaut, der auf eine große 
Zahl durchaus verschiedener Tatsachen paßt. Wie kommt das? 
Weil ich ein Gesetz annehme, nach dem jedesmal, wenn sich 
ein bestimmter mechanischer Vorgang zeigt, sich auch ein 
bestimmter chemischer Vorgang zeigen wird. Sehr zahlreiche 
frühere Erfahrungen haben mir gezeigt, daß dieses Gesetz 
niemals trügt, und dann habe ich mir klar gemacht, daß ich 
zwei so unveränderlich miteinander verbundene Tatsadien 
durch die gleichen Worte ausdrücken könnte." 
Herr H. Poincar^ erkennt somit, daß die Worte: „Dieser 
Draht ist von einem Strom von so und soviel Ampere durch- 
flössen" nicht eine einzige Tatsache, sondern eine Unzahl mög- 
licher Tatsachen und zwar gemäß den konstanten Beziehungen 
zwischen verschiedenen experimentellen Gesetzen, ausdrückt 
Aber sind diese Beziehungen nicht genau das, was jedermann 
die Theorie des elektrischen Stromes nennt? Eben weil 
die Ausbildung dieser Theorie vorausgesetzt wird, ist es mög- 
lich in den Worten : „Es fließt in diesem Draht ein Strom von 
so und so viel Ampfere" so viel verschiedene Bedeutungen 
zu kondensieren. Die Aufgabe des Gelehrten hat sich daher 
nicht darauf beschränkt eine klare und bündige Sprache zu 
schaffen, um die konkreten Tatsachen auszudrücken, vielmehr 
setzte das Entstehen dieser Sprache die Ausbildung einer phy- 
sikalischen Theorie voraus. 
Zwischen einem abstrakten Symbol und einer konkreten 
Tatsache kann eine Verbindung bestehen, niemals aber voll- 
kommene Gleichheit. E>as abstrakte Symbol kann keine adä- 
quate Darstellung der konkreten Tatsache, die konkrete Tat- 
sache niemals die strenge Verwirklichung des al^trakten Sym- 
Das physikalische Experiment 199 
boles seia Die abstrakte und symbolische Formel, durch die 
ein Physiker die konkreten Tatsachen, die er bei der Aus- 
führung eines Experimentes konstatiert hat, ausdrückt, kann 
nicht ein genauer Ersatz, eine getreue Wiedergabe dieser Fest- 
stellungen sein. 
Dieser Unterschied zwischen der praktischen Tatsache, 
die wirklich beobachtet wurde imd der theoretischen Tat- 
sache, d. h. der symbolischen und abstrakten Formel, die 
vom Physiker ausgesprochen wird, zeigt sich uns darin, daß 
konkrete, sehr verschiedene Tatsachen miteinander vermengt 
W€rden können, wenn sie durch die Theorie so interpretiert sind, 
daß sie nur ein einziges Experiment bilden und durch einen 
einzigen symbolischen Ausdruckdargestelltwerden: Derselben 
theoretischen Tatsache können eine Unzahl prak- 
tischer Tatsachen entsprechen. 
CHeser selbe Unterschied zeigt sich uns auch noch in einer 
anderen Konsequenz: Derselben praktischen Tatsache 
können eine Unzahl theoretischer Tatsachen entspre- 
chen, die logisch mit einander nicht vereinbar sind. 
Derselben Gruppe konkreter Tatsachen kann im allgemeinen 
nicht nur ein einziges symbolisches Urteil entsprechen, sondern 
eine Unzahl voneinander verschiedener Urteile, die sich logisch 
widersprechen. 
Ein Experimentator hat gewisse Beobachtungen ausgeführt 
und folgendermaßen dargestellt: Eine Vermehrung des Druckes 
um 100 Atmosphären erhöht die elektromotorische Kraft dieser 
Oassäule um 0,0845 Volt; er hätte mit derselben Berechtigung 
sagen können, daß diese Vermehrung des Druckes die elektro- 
motorische Kraft um 0,0844 Volt oder um 0,0846 Volt erhöhe. 
Wieso können diese verschiedenen Angaben für den Physiker 
gleichwertig sein? Für den Mathematiker widersprechen sie 
einander, denn wenn eine Zahl 845 ist, kann sie weder 844 
noch 846 sein. 
Der Physiker will folgendes ausdrücken, wenn er er- 
klärt, daß diese drei Urteile für ihn identisch sind: Indem er 
den Wert 0,0845 Volt für die Abnahme der elektromotorischen 
Kraft annimmt, berechnet er mit Hilfe der als zulässig er- 
200 Achtes Kapitel. 
kannten Theorien die Ablenkung, die die Nadel seines Gal- 
vanometers erfahren würde, wenn er durch das Instrument 
den von der Säule gelieferten Strom leiten würde; das ist in 
der Tat die Erscheintmg, die seine Sinne beobachten können. 
Er findet, daß diese Ablenkung eine gewisse Größe haben 
wird. Wenn er dieselbe Rechnung imter der Annahme, daß 
die elektromotorische Kraft der Säule um 0,0844 oder auch 
um 0,0846 Volt abnehme, wiederiiolt, findet er andere Werte 
für die Ablenkung des Magneten. Aber diese drei so be- 
rechneten Ablenkungen differieren zu wenig, als daß man sie 
unterscheiden könnte. Das ist der Grund, warum der Phy- 
siker die drei Werte der Verminderung der elektromotorischen 
Kraft 0,0845 Volt, 0,0844 Volt und 0,0846 Volt nicht ausein- 
anderhält, während der Mathematiker sie als unvereinbar be- 
trachtet. 
Zwischen der theoretischen Tatsache, die genau und streng 
ist und der praktischen Tatsache mit ihren Konturen, die so 
verschwommen und unbestimmt, wie alles, was uns durch 
unsere Wahrnehmung kund wird, sind, gibt es keine über- 
einstimmende Beziehimg. Daher kann dieselbe praktische Tat- 
sache einer Unzahl theoretischer Tatsachen entsprechen. Wir 
haben im vorausgehenden Kapitel diesen Unterschied und seüie 
Konsequenzen genügend ausführlich behandelt, um hier nicht 
wieder darauf zurückkommen zu müssen. 
Eine einzige theoretische Tatsache kann daher durch eine 
Unzahl ^sammenhangloser praktischer Tatsachen ausgedrückt 
werden, eine einzige praktische Tatsache entspricht einer Un- 
zahl unvereinbarer theoretischer Tatsachen. Diese zweifache 
Konstatierung bringt ims die Wahrheit, die wir darlegen woll- 
ten, vor Augen: Zwischen den bei der Ausführung eines Ex- 
perimentes wirklich festgestellten Erscheinungen und dem Re- 
sultat dieses Experimentes, das vom Physiker formuliert wird, 
muß eine intellektuelle, sehr komplizierte Arbeit eingeschaltet 
werden, die einen Bericht über die konkreten Tatsachen durch 
ein abstraktes und symbolisches Urteil substituiert. 
Das physikalische Experiment 201 
§3. — Nur die theoretische Interpretation der Erschei- 
nungen ermöglicht den Gebrauch der Instrumente. 
Die Bedeutung dieser intellektuellen Operation, durch die 
die vom Physiker wirklich beobachteten Erscheinungen ge- 
mäß der als zulässig erkannten Theorien interpretiert werden, 
äußert sich nicht nur in der Form, die das Resultat des Ex- 
perimentes annimmt, sondern gleichermaßen an den Hilfs- 
mitteln, die der Experimentator anwendet. 
Es wäre in der Tat unmöglich, die Instrumente, die man 
in den physikalischen Laboratorien findet, anzuwenden, wenn 
man nicht die konkreten Objekte, die diese Instrumente dar- 
stellen durch ein abstraktes und schematisches Bild ersetzte, 
das die mathematische Betrachtung ermöglicht, wenn man nicht 
diese Kombination von Abstraktionen den Deduktionen und 
Rechnungen unterlegen würde, die den Zusammenhang mit 
den Theorien herstellen. 
Im Anfang wird diese Behauptung den Leser in Verwunde- 
rung setzen. 
Viele Leute verwenden die Lupe, die ein physikalisches 
Instrument ist. Um von ihr Gebrauch zu machen, haben sie 
es nicht nötig, dieses gewölbte, geschliffene, glänzende, schwere 
Stück Glas, das in Kupfer oder Hom gefaßt ist, durch zwei 
zusammenhängende sphärische Flächen, die ein Medium von ge- 
wissem Brechungsindex begrenzen, zu ersetzen, obwohl allein 
diese Flächen den Betrachtungen der Dioptrik zugänglich sind. 
Sie haben kein Studium der Dioptrik nötig, sie brauchen die 
Theorie der Lupe nicht zu kennen. Es genügt für sie, das 
gleiche Objekt erst mit bloßem Auge und dann mit der Lupe 
zu betrachten, um zu konstatieren, daß das Objekt in beiden 
Fällen den gleichen Anblick darbietet, daß es aber im zweiten 
viel größer erscheint, als im ersten. Wenn ihnen daher durch 
die Lupe ein Objekt sichtbar wird, das das bloße Auge nicht 
bemerkt, so ermöglicht ihnen eine ganz spontane Generalisa- 
tion, die dem gewöhnlichen Laienverstand entspringt, die Be- 
hauptung, daß dieses Objekt durch die Lupe bis zur Sicht- 
barkeit vergrößert wtirde, daß es aber durch die Linse weder 
202 Achtes Kapitel. 
geschaffen noch umgeformt wurde. Die spontanen Urteile 
des Laienverstandes genügen daher um den Gebrauch, den sie 
von der Lupe bei ihren Beobachtungen machen, zu rechtfer- 
tigen, die Resultate dieser Beobachtungen hängen in keiner 
Weise von den Theorien der Dioptrik ab. 
Als Beispiel wurde eines der einfachsten und gröbsten 
Instrumente der Physik gewählt. Ist es aber wirklich wahr, 
daß man dieses Instrument verwenden kamt; ohne auf die 
Theorien der Dioptrik Bezug zu nehmen? Die Objekte, die 
durch die Lupe gesehen werden, scheinen einen Rand bestehend 
aus den Regenbogenfarben zu besitzen. Bedürfen wir nicht 
der Theorie der Dispersion, die uns lehrt, daß diese Farben 
vom Instrumente geschaffen werden, um von ihnen zu abstra- 
hieren, wenn wir das beobachtete Objekt beschreiben? Und 
um wieviel bedeutungsvoller wird diese Bemerkung, wenn es 
sich nicht um eine einfache Lupe, sondern um ein Mikroskop 
von starker Vergrößerung handelt! Welchen eigenartigen Irr- 
tümern würde man sich aussetzen, wenn man naiverweise den 
beobachteten Objekten die Form und Farbe, in der sie im 
Instrument erscheinen, zuschreiben wollte, wenn eine Diskus- 
sion, die aus den optischen Theorien abgeleitet ist, uns nicht 
erlauben würde den Anteil der Erscheinungen und den der 
Wirklichkeit zu sondern! 
Bei dem Mikroskop indessen, das nur zur rein qualita- 
tiven Beschreibung sehr kleiner konkreter Objekte bestimmt 
ist, sind wir noch weit von den Instrumenten entfernt, die 
der Physiker anwendet. Die mit Hilfe solcher Instrumente 
kombinierten Versuche sollen nicht zu einem Bericht über 
reale Tatsachen, zu einer Beschreibung konkreter Objekte, 
sondern zur numerischen Auswertung gewisser, durch die 
Theorien geschaffener Symbole führen. 
Nehmen wir zum Beispiel das Instrument, das man Tan- 
gentenbüssole nennt. Über einem kreisförmigen Rahmen 
ist ein seidenumsponnener Kupferdraht aufgewickelt. Im Zen- 
trum des Rahmens ist an einem Kokonfaden ein kleines Mag- 
netstäbchen aus Stahl aufgehängt. Eine Aluminiumnadel, die 
von diesem Stäbchen getragen wird, bewegt sich über einem 
Das physikalische Experiment. 203 
in Grade geteilten Kreis und ermöglicht so die Orientierung 
des Stäbebens mit Genauigkeit festzustellen. Wenn die beiden 
Enden des Kupferdrahtes mit den Polen einer Säule verbunden 
werden, erfährt der Magnet eine Ablenkung, die wir an dem 
geteilten Kreise ablesen können; sie sei zum Beispiel 30 o. 
EHe einfache Konstatierung dieser Tatsache erfordert 
keinerlei Beschäftigung mit den physikalischen Theorien, aber 
sie bildet ebensowenig ein physikalisches Experiment. Der 
Physiker beabsichtigt ja tatsächlich nicht, die Ablenkung, die 
der Magnet erfährt, kennen zu lernen, sondern vielmehr die 
Intensität des Stromes zu messen, der den Kupferdraht durch- 
fließt. 
Um nun die Grösse dieser Intensität auf Grund der Größe 
30 ^ die die beobachtete Ablenkung aufwies, zu berechnen, 
ist es nötig diesen letzteren Wert in eine bestimmte Formel 
einzusetzen. EHese Formel ist eine Konsequenz der Gesetze 
des Elektromagnetismus. Für den, der die elektromagnetische 
Theorie von Laplace und Ampere nicht als richtig anerkennen 
würde, wäre der Gebrauch dieser Formel, die Rechnung, die 
die Stromintensität kennen lehren soll, tatsächlich ohne Sinn. 
Diese Formel wird für alle möglichen Tangentenbussolen, 
für alle Ablenkungen, für alle Stromintensitäten angewendet. 
Um aus ihr die Größe der bestimmten Intensität, die es zu 
messen gilt, abzuleiten muß man sie spezialisieren, indem man 
nicht nur in sie die besondere Größe der Ablenkung — 30^ — 
die beobachtet wurde, einführt, sondern indem man sie statt 
auf eine beliebige Tangentenbussole auf die bestimmte, mit 
der gearbeitet wird, anwendet. Wie wird diese Spezialisierung 
ausgeführt? Gewisse Buchstaben in der Formel stellen die 
charakteristischen Konstanten des Instrumentes dar: 
Den Radius des kreisförmigen Drahtes, den der Strom durch- 
fließt, das Moment des Magneten, die Größe und Richtung 
der Feldstärke an dem Ort, wo sich das Instrument befindet. 
Diese Buchstaben ersetzt man durch die numerischen Werte, 
die dem angewendeten Instrumente und dem Laboratorium 
in dem es sich befindet, zukommen. 
Was setzt nun diese Art in der wir ausdrücken, daß wir 
204 Achtes Kapitel. 
uns dieses bestimmten Instrumentes bedient, daß wir in 
diesem bestimmten Laboratorium gearbeitet haben, voraus? 
Sie setzt voraus, daß wir an Stelle des Kupferdrahtes von 
einer gewissen Dicke, durch den wir den Strom geschickt 
haben, einen Kreisbogen substituieren, eine geometrische Linie 
ohne Dicke, die vollständig durch ihren Radius definiert ist. 
An Stelle des magnetisierten Stahlstückes von bestimmter Größe 
und bestimmter Form, das an einem Kokonfaden hängt, sub- 
stituieren wir eine horizontale magnetische Achse, die unend- 
lich klein, ohne Reibimg um eine vertikale Achse beweglich 
ist und ein gewisses magnetisches Moment besitzt. An Stelle 
des Laboratoriums, wo der Versuch ausgeführt wird, substi- 
tuieren wir einen gewissen Raum, der durch eine bestimmte 
Richtung und Größe der magnetischen Feldstärke vollständig 
definiert ist. 
Wenn es sich so bloß um die Ablesung der Ablenkung 
des Magneten handelt, so haben wir nur eine gewisse Anord- 
nung von Kupfer, Stahl, Alimiinium, Glas und Seide betastet 
und betrachtet, die mit drei Stellschrauben auf einer bestimm- 
ten Konsole in einem bestimmten Laboratorium ruht, das sich 
in der Faculte des Sciences in Bordeaux im Erdgeschoß be- 
findet. Aber dieses Laboratorium, in das ein Besucher, der 
in der Physik Laie ist, eintreten kann, dieses Instrument, das 
man untersuchen kann, ohne irgend etwas vom Elektromag- 
netismus zu wissen, haben wir außer Betracht gelassen, 
wenn es sich darum handelt, unser Experiment durch 
die Interpretation der ausgeführten Ablesungen zu voll- 
enden, was durch die Anwendung der Formel für die 
Tangentenbussole geschieht. Wir haben die Anordnung 
eines magnetischen Feldes, einer magnetischen Achse, eines 
magnetischen Momentes, eines kreisförmigen Stromes von be- 
stimmter Intensität angenommen, d. h. eine Gruppierung von 
Symbolen, denen nur die physikalischen Theorien einen Sinn 
verleihen, die für diejenigen, die den Elektromagnetismus nicht 
kennen, unbegreiflich sind. 
Wenn daher ein Physiker einen Versuch ausführt, ist sein 
Geist gleichzeitig mit zwei wohlunterschiedenen Vorstellungen 
Das physikalische Experiment 205 
des Instrumentes, an dem er arbeitet, beschäftigt. Die eine 
ist das Bild des konkreten Instrumentes, das er in Wirklichkeit 
handhabt, die andere ist ein schematisdier Typus desselben 
Instrumentes, der mit Hilfe der Symbole, die diese Theorie 
liefert, konstruiert wird. Es ist das ideale und symbolische 
Instrument, über das er nachdenkt, auf das er die Gesetze 
und Formeln der Physik anwendet. 
Diese Prinzipien ermöglichen die Definition dessen, was 
man versteht, wenn man von der Erhöhung der Genauigkeit 
eines Experimentes durch Elimination der Fehlerquellen 
mit Hilfe geeigneter Korrektionen spricht. Wir werden 
in der Tat sehen, daß diese Korrektionen, nichts anderes sind, 
als Verbesserungen, die an der theoretischen Interpretation des 
Experimentes angebracht werden. 
Nach Maßgabe des Fortschrittes der Physik wird die Un- 
bestimmtheit der Gruppe abstrakter Urteile, die der Physiker 
derselben konkreten Tatsache entsprechen läßt, eingeschränkt. 
Die Genauigkeit der experimentellen Resultate wächst nicht 
mir, weil die Konstrukteure immer genauere Instrumente liefern, 
sondern auch, weil die physikalischen Theorien immer ge- 
eignetere Methoden angeben, um die Beziehimg zwischen den 
Tatsachen und den schematischen Begriffen, die sie darstellen 
sollen, herzustellen. Diese wachsende Genauigkeit wird, das 
muß zugegeben werden, durch eine wachsende Kompliziert- 
heit erkauft, durch die Notwendigkeit zu gleicher Zeit mit 
der Grundtatsache eine Serie von Nebentatsachen zu beobach- 
ten, durch die Notwendigkeit, die rohen Feststellungen des 
Experimentes immer zahlreicheren und heikleren Kombina- 
tionen und Transformationen zu unterwerfen. EMese Trans- 
formationen, die man an den ^unmittelbar gegebenen Tatsachen 
des Experimentes vornimmt, sind die Korrektionen. 
Wenn das physikalische Experiment die einfache Kon- 
statierung einer Tatsache wäre, erschiene es absurd, an ihm 
Korrektionen anzubringen. Wenn der Beobachter aufmerk- 
sam, sorgfältig und genau beobachtet hat, wäre es lächerlich 
ihm zu sagen: Das, was Sie gesehen haben, ist nicht das, 
was sie hätten sehen sollen, erlauben Sie mir einige Rech- 
206 Achtes Kapitel. 
nungen anzustellen, die Ihnen zeigen werden, was Sie hätten 
konstatieren sollen. 
CMe logische Rolle der Korrektionen wird dagegen sehr 
wohl begreiflich, wenn man sich erinnert, daß ein physikali- 
sches Experiment nicht nur in der Konstatierung einer Gruppe 
von Tatsachen, sondern auch in der Übersetzung dieser Tat- 
sachen in eine logische Sprache mit Hilfe der von den physi- 
kalischen Theorien gelieferten Regeln besteht. Es geht daraus 
in der Tat hervor, daß der Physiker unaufhörlich zwei In- 
strumente miteinander vergleicht: Das wirkliche Instrument, 
mit dem er manipuliert und das ideale und symbolische In- 
strument, das ihm vorschwebt. Das Wort Manometer be- 
zeichnet zum Beispiel bei Regnault zwei im Wesen verschie- 
dene Dinge, die aber unlösbar miteinander verbunden sind: 
Einerseits eine Reihe von Glasröhren, die fest miteinander 
verbunden an den Turm des Lyceums Henri IV. angelehnt und 
mit einem flüssigen sehr schweren Metall, das die Chemiker 
Quecksilber nennen, angefüllt sind, anderseits eine Säule jenes 
idealen Dinges, das die Mechaniker vollkommene Flüssigkeit 
nennen, die in jedem Punkte eine bestimmte Dichte und eine 
bestimmte Temperatur besitzt, die durch eine bestimmte 
Gleichung der Kompressibilität und Dilatation definiert ist. Auf 
das erste dieser beiden Manometer richtet der Gehilfe von 
Regnault das Fernrohr des Kathetometers, auf das zweite wen- 
det der große Physiker die Gesetze der Hydrostatik an. 
Das schematische Instrument kann nicht ein genauer Er- 
satz für das wirkliche Instrument sein; aber man begreift, daß 
es davon ein mehr oder minder vollkommenes Bild geben 
kann; man begreift, daß der Physiker, nachdem er über ein 
zu einfaches und zu sehr von der Wirklichkeit entferntes, sche- 
matisches Instrument Betrachtungen angestellt hat, versucht, 
es durch ein komplizierteres aber ähnlicheres Schema zu er- 
setzen. Dieser Übergang von einem gewissen schematischen 
Instrument zu einem anderen, welches besser das konkrete In- 
strument darstellt, ist im wesentlichen die Operation, die man 
in der Physik mit dem Worte Korrektion bezeichnet. 
Ein Gehilfe von Regnault gibt ihm die Höhe der Queck- 
Das physikalische Experiment. 207 
Silbersäule eines Manometers an; Regnault korrigiert sie; hat 
er seinen Oehülfen im Verdacht, daß er schlecht gesehen, daß 
er sich in seinen Ablesungen getäuscht habe? Nein; er hat 
volles Vertrauen in die Beobachtungen, die ausgeführt wurden; 
wenn er dieses Vertrauen nicht hätte, könnte er dieses Ex- 
periment nicht korrigieren; er könnte es nur von neuem be- 
ginnen. Wenn daher Regnault diese durch seinen Gehilfen 
bestimmte Höhe durch eine andere ersetzt, so geschieht 
dies auf Qrund intellektueller Operationen, die dazu be- 
stimmt sind, den Unterschied zwischen dem idealen, sym- 
bolischen Manometer, das nur in seinen Gedanken existiert, 
das den Gegenstand seiner Rechnungen bildet, und dem wirk- 
lichen Manometer aus Glas und Quecksilber, das er vor Augen 
hat, an dem sein Gehilfe Ablesungen macht, zu verkleinem. 
Regnault könnte dieses wirkliche Manometer durch ein ideales 
Manometer darstellen, das aus einer inkompressibeln Flüssig- 
keit gebildet ist, das überall dieselbe Temperatur besitzt, das 
in jedem Punkte seiner freien Oberfläche einem von der Höhe 
unabhängigen Atmosphärendruck ausgesetzt ist; zwischen die- 
sem allzueinfachen Schema imd der Wirklichkeit wäre der Unter- 
schied allzugroß imd die Genauigkeit des Experimentes wäre, 
wenn man von ihm ausginge, imgenügend. Daher ersinnt er 
ein neues, ideales Manometer, das komplizierter als das erste 
ist, aber besser das wirkUche, konkrete Manometer darstellt. 
Er setzt dieses neue Manometer aus einer kompressibeln Flüssig- 
keit zusammen, er läßt zu, daß die Temperatur sich von Punkt 
zu Punkt ändere und gleicherweise, daß der Barometerdruck 
variiere, wenn man sich in der Atmosphäre erhebt. Jede dieser 
Änderungen am primitiven Schema bildet eine Korrektion : Eine 
Korrektion in bezug auf die Kompressibilität des Quecksilbers, 
eine Korrektion in bezug auf die ungleiche Erwärmung der 
Quecksilbersäule, die Laplacesche Korrektion in bezug auf die 
Abhängigkeit des Barometerstandes von der Höhe. Alle diese 
Korrektionen haben die Wirkung, die Genauigkeit des Experi- 
mentes zu erhöhen. 
Der Physiker, der durch Korrektionen die theoretische Dar- 
stellung der beobachteten Tatsachen kompliziert, um diese Dar- 
208 Achtes Kapitel. 
Stellung der Wirklichkeit näher zu bringen gleidit dem Künstier, 
der nachdem er ein Bild in den Umrissen ausgeführt hat, noch 
Schatten hinzufügt, um auf der ebenen Fläche die Plastik des 
Modelies besser hervorzuheben. 
Wer in den Experimenten der Physik nur Feststellungen 
von Tatsachen sieht, wird die Rolle, die die Korrektionen bei 
den Experimenten spielen, nicht begreifen.' Er wird weiter 
nicht begreifen, was man darunter versteht, wenn man von 
systematischen Fehlern spricht, die bei einem Experi- 
ment auftreten können. 
Wenn man bei einem Experiment die Ursache eines syste- 
matischen Fehlers bestehen läßt, so heißt das so viel, daß man 
eine Korrektion, welche man hätte ausführen können und die 
die Genauigkeit des Experimentes erhöht hätte, unterlassen 
hat. Es heißt das, daß man sich mit einem zu einfachem theo- 
retischen Bild begnügt hat, während man es durch ein kompli- 
zierteres, das aber besser die Wirklichkeit darstellt, ersetzen 
könnte. Es heißt, daß man sich mit einer Skizze der Umrisse 
begnügt, während man eine schattierte Zeichnung ausführen 
könnte. 
Bei seinen Versuchen über die Kompressibilität der Oase 
ließ Regnault eine systematische Fehlerquelle bestehen, die 
er nicht bemerkte, die aber seither aufgewiesen wurde. Er 
hatte die Wirkung der Schwere auf das Gas, das der Kom- 
pression ausgesetzt wird, nicht in Betracht gezogen. Was 
will man sagen, wenn man Regnault vorwirft, diese Wirkung 
nicht in Betracht gezogen, diese Korrektion unterlassen zu 
haben ? Will man sagen, daß ihn seine Sinne bei der Beobach- 
tung der Erscheinungen, die vor seinen Augen auftraten, täusch- 
ten, keineswegs; man wirft ihm vor, daß er das theoretische 
Bild dieser Tatsachen allzusehr vereinfacht habe, indem er sidi 
das Gas, das der Kompression unterworfen wurde, als ho- 
mogene Flüssigkeit vorstellt. Ctenn wenn er es als Flüssig- 
keit, deren Druck mit der Höhe gemäß einem bestimmten 
Gesetz variiert, betrachtet hätte, würde er ein neues abstraktes 
Bild erhalten haben, das zwar komplizierter als das erste ist, 
aber die Wirklichkeit getreuer darstellt. 
Das physikalische Experiment 209 
§ 4. — Ober die Kritik physikalischer Experimente und 
den Unterschied der zwischen ihr und der Prüfung 
gewöhnlicher Aussagen besteht 
Da ein physikalisches Experiment ein ganz anderes Ding 
ist, als die einfache Konstatierung einer Tatsache, begreift 
man leicht, daß die Sicherheit desselben von ganz anderer 
Größenordnung ist als die einer bloß sinnlich konstatierten 
Tatsache. Ebenso versteht man, daß diese Sicherheiten, die 
von Natur aus so verschieden sind, nach ganz verschiedenen 
Methoden eingesdiätzt werden. 
Wenn ein aufrichtiger Zeuge, dessen Kopf soweit klar ist, 
daß er nicht das Spiel seiner Phantasie mit den Wahrnehmungen 
vermengt, der die Sprache, deren er sich bedient, genügend ver- 
steht, um seine Gedanken klar ausdrücken zu können, be- 
hauptet, eine Tatsache konstatiert zu haben, so ist diese Tat- 
sache gewiß. Wenn ich Ihnen erkläre, daß ich an dem Tag, 
zu dieser Stunde, in dieser Straße der Stadt ein weißes Pferd 
gesehen habe, so werden Sie, falls Sie nicht Gründe haben, 
anzunehmen, daß ich lüge oder an Halluzinationen leide, glau- 
ben, daß sich an diesem Tage, z!u dieser Stunde, in dieser Straße 
ein weißes Pferd befand. 
Das Zutrauen, das man einem Satze, den ein Physiker als 
Resultat seines Experimentes ausspricht, entgegenbringen muß, 
ist nicht von derselben Art. Wenn ein Physiker sich darauf 
beschränken würde, uns die Tatsachen aufzuzähkn, die er ge- 
sehen, die er wirklich mit seinen Augen gesehen hat, so würde 
sein Zeugnis nach den allgemeinen Regeln, die dazu dienen, 
den Grad der Glaubwürdigkeit der Aussage eines Menschen 
zu bestimmen, geprüft werden müssen. Wenn der Physiker 
vertrauenswürdig befunden würde — und ich glaube, das wäre 
der gewöhnliche Fall -— müßte seine Aussage als Ausdruck 
der Wahrheit aufgefaßt werden. 
Aber nochmals, das was der Physiker als Resultat eines 
Experimentes ausspricht, ist nicht ein Bericht über konstatierte 
Tatsachen, es ist die Interpretation dieser Tatsachen, es ist ihre 
Versetzung in eine ideale, abstrakte, symbolische Welt, die 
Dnhem, PhytOnliadic Theorie. 14 
210 Achtes Kapitel. 
durch die Theorie, die er als gültig betrachtet, geschaffen 
wurde. 
Wenn wir daher die Aussage des Physikers den Regeln 
unterworfen haben, die den Orad der Zuverlässigkeit bestim- 
men, den die Erzählung eines Zeugen verdient, haben wir erst 
einen Teil und zwar den leichtesten Teil der Kritik, die den 
Wert des Experimentes bestimmt, ausgeführt. 
In erster Linie müssen wir mit großer Sorgsamkeit die 
Theorien kennen lernen, die der Physiker als gültig betrachtet 
und die er zur Interpretation der von ihm konstatierten Tat- 
sachen benützte. Würden wir der Kenntnis dieser Theorien 
ermangeln, so wäre es uns unmöglich den Sinn zu erfassen, 
den er seinen eigenen Aussagen zuschreibt. Dieser Physiker 
wäre für uns, was ein Zeuge für einen Richter ist, der dessen 
Sprache nicht versteht. 
Wenn die Theorien, die dieser Physiker als gültig be- 
trachtet, dieselben sind, die wir anerkennen, wenn wir darüber 
übereingekommen sind, dieselben Regeln bei der Interpretation 
der gleichen Erscheinungen zu befolgen, so sprechen wir in 
der gleichen Sprache und wir können uns verstehen. Aber es 
ist nicht immer so ; es ist nicht so, wenn wir die Experimente 
eines Physikers diskutieren, der nicht unserer Schule angehört ; 
es ist vor allem nicht so, wenn wir die Experimente eines 
Physikers diskutieren, den fünfzig Jahre, ein Jahrhundert, zwei 
Jahrhunderte von uns trennen. Es ist dann nötig eine Verbin- 
dung zwischen den theoretischen Gedanken des Autors, den 
wir studieren, und den unsrigen herzustellen. Es ist nötig, von 
neuem mit Hilfe der Symbole, deren wir uns bedienen, das 
was er mit Hilfe der von ihm verwendeten Symbole inter- 
pretierte, zu interpretieren. Wenn wir dies erreichen, so wird 
die Diskussion seines Experimentes möglich. Dieses Experi- 
ment wird eine Zeugenaussage sein, die in einer uns fremden 
Sprache abgegeben wurde, aber in einer Sprache, deren Vo- 
kabularium wir besitzen. Wir können sie übersetzen und sie 
einer Prüfung unterziehen. 
Zum Beispiel hat Newton gewisse Beobachtungen über 
Farbenringe gemacht. Diese Beobachtungen interpretierte er 
Das physikalische Experiment. 211 
nach der von ihm geschaffenen Emissionstheorie. Er inter- 
pretierte sie, indem er für die leuchtenden Partikeln jeder 
Farbe den Abstand zwischen einer Anwandlung leichter 
Reflexion und einer Anwandlung leichter Trans- 
mission angab. Als Young und Fresnel eines Tages die Un- 
dulationstheorie wieder zur Geltung brachten und durch sie die 
Emissionstheorie ersetzten, war es ihnen möglich, gewisse Ele- 
mente der neuen Theorie mit gewissen Elementen der alten 
in Verbindung zu bringen. Sie sahen im besonderen, daß der 
Abstand zwischen einer Anwandlung leichter Reflexion und 
einer Anwandlung leichter Transmission dem vierten Teil 
dessen entsprach, was die neue Theorie als Wellenlänge be- 
zeichnete. Dank dieser Bemerkung konnten die Resultate der 
Versuche Newtons in die Sprache der Wellenlehre übersetzt 
werden. Die Zahlen, die Newton erhalten hatte, ergaben mit 
vier multipliziert die Wellenlängen der verschiedenen Farben. 
Ebenso hatte Biot eine sehr große Zahl genauer Experi- 
mente über die Polarisation des Lichtes ausgeführt, die er auf 
Grund der Emissionstheorie interpretiert hatte. Fresnel konnte 
sie in die Sprache der Wellenlehre übersetzen und sie zur 
Kontrolle dieser Theorie verwenden. 
Wenn wir dagegen keine zureichenden Aufschlüsse über 
die theoretischen Gedanken des Physikers, dessen Experiment 
wir diskutieren, erlangen können, wenn wir nicht zur Auf- 
stellung einer Beziehung zwischen den Symbolen, die er ver- 
wendete und den Symbolen, die uns die von uns angenommenen 
Theorien liefern, gelangen, werden die Sätze, in denen dieser 
Physiker die Resultate seiner Experimente ausgesprochen hat, 
für Uns weder wahr noch falsch sein ; sie werden jeden Sinnes 
ermangeln, sie werden tote Buchstaben sein; sie werden in 
unseren Augen ebensoviel bedeuten, wie die etruskischen oder 
ligurischen Inschriften in den Augen der Inschriftenkenner: 
Dokumente, die in einer Sprache geschrieben sind, die wir 
nicht lesen können. Wie viele Beobachtungen, die durch frühere 
Physiker gesammelt wurden, sind so für immer verloren ! Diese 
Forscher haben es imterlassen, uns von den Methoden, die 
ihnen zur Interpretation der Tatsachen dienten, Kenntnis zu 
14* 
212 Achtes Kapitel. 
geben. Es ist uns unmöglich, ihre Interpretationen in unsere 
Theorien zu übertragen, da sie ihre Ideen in Zeichen ausge- 
drückt haben, ta denen uns der Schlüssel fehlt. 
Diese Grundregeln werden vielleicht als naiv ersdieinen 
und man wird in Erstaunen geraten, daß wir uns bei ihnen 
aufhalten. Wenn jedoch diese Regeln banal sind, dann ist 
es noch banaler, sie außer acht zu lassen. Wie viele wissen- 
schaftliche Diskussionen gibt es aber, in denen jeder der beiden 
Opponenten seinen Qegner durch das unwiderlegliche Zeugnis 
der Tatsachen z!u vernichten meint. Man hält einander wider- 
sprechende Beobachtungen entgegen. Der Widerspruch hegt 
nicht in der Wirklichkeit, die immer im Einklang mit sich selbst 
ist, sondern vielmehr in den Theorien, durch die die beiden 
Qegner diese Wirklichkeit ausdrüdcen. Wie viel Sätze gibt 
es in den Schriften unserer Vorfahren, die als ungeheuerlidie 
Irrtümer betrachtet werden. Man würde sie vielleicht als große 
Wahrheiten feiern, wenn man von den Theorien Kenntnis er- 
langen könnte, die diesen Sätzen ihren wi^iren Sinn geben, 
wenn man sich bemühte, sie in die Sprache der heute ver- 
kündeten Theorien z!u übersetzen. 
Nehmen wir an, wir hätten die Obereinstimmung zwischen 
den Theorien, die ein Experimentator als zulässig betraditet 
und denen, die wir für richtig halten, konstatiert. Es ist sehr 
wohl möglidi, daß wir uns die Urteile, in denen er die Re- 
sultate seiner Experimente ausspricht, ohne weiteres zu eigen 
machen. Es ist dann nötig zu prüfen, ob er bei der Inter- 
pretation der beobachteten Tatsachen genau die Regehi ange- 
wendet hat, die durch die Theorien, die wir mit ihm gemein- 
sam haben, vorgezeichnet sind. Manchmal werden wir kon- 
statieren, daß der Experimentator nicht allen berechtigten An- 
sprüchen genügt habe. Bei der Anwendung der Theorien kann 
er einen Fehler in der Überlegung oder in der Redinimg 
gemacht haben. In diesem Falle muß die Überlegung er- 
neuert oder die Rechnung wieder ausgeführt werden^ Das 
Resultat des Experimentes muß modifiziert, die erhaltene Zahl 
durch eine andere ersetzt werden. 
Das physikalische Experiment 213 
Die Ausführung^ des Experimentes bestand in einer fort- 
währenden Nebeneinanderstelhing zweier Apparate : des wirk- 
lichen Apparates, mit dem der Beobachter manipulierte und 
des idealen schematischen Apparates, der ihm in Gedanken 
vorschwebte. Den Vergleich dieser beiden Apparate müssen 
wir wieder aufnehmen, um beide genau kennen zu lernen. 
Vom zweiten können wir eine entsprechende Kenntnis 
haben, da er durch mathematische Symbole und Formeln 
definiert ist. Beim ersten ist dies nicht in gleicher Weise der 
Fall. Wir müssen uns einen möglichst genauen Begriff von 
ihm machen nach der Beschreibung, die der Experimentator 
aufgestellt hat. Ist diese Beschreibung zureichend? Liefert 
sie uns alle Aufschlüsse, die uns nötig sein können? Wurden 
der Zustand der studierten Körper, der Grad ihrer chemischen 
Reinheit, die Lage, in der sie sich befanden, die störenden Ein- 
flüsse, denen sie ausgesetzt sein konnten, die tausend Um« 
stände, die auf das Resultat des Experimentes einzuwirken 
vermochten, wurden sie alle mit einer Genauigkeit, die nichts 
zu wünschen übrig läßt, bestimmt? 
Wenn wir einmal alle diese Fragen beantwortet haben, 
können wir prüfen, bis zu welchem Punkt der schematische 
Apparat ein ähnliches Bild des konkreten Apparates gibt. Wir 
können untersuchen, ob es nicht möglich gewesen wäre, diese 
Ähnlichkeit durch Komplikation der Definition des idealen 
Apparates noch mehr zu steigern. Wir können uns fragen, ob 
man alle systematischen Fehlerquellen von irgend welcher Be- 
deutung eliminiert, ob man alle wünschenswerten Korrektionen 
ausgeführt habe. 
Der Experimentator habe bei der Interpretation seiner 
Beobachtungen Theorien angewendet, die wir auch akzeptie- 
ren; er habe bei der Ausführung dieser Interpretation die 
Regeln, die diese Theorien vorschreiben, korrekt angewendet; 
er habe den Apparat, den er gebraucht, genau studiert und 
beschrieben; er habe die systematischen Fehlerquellen elimi- 
niert oder deren Einflüsse korrigiert; das ist noch nicht genug, 
damit wir das Resultat seines Versuches akzeptieren können. 
Die abstrakten und mathematischen Sätze, die die Theorien 
214 Achtes Kapitel. 
mit den beobachteten Tatsachen in Verbindung bringen, sind, 
wie wir gesagt haben, nicht vollkommen bestimmt; denselben 
Tatsachen können eine Unzahl verschiedener Sätze entsprechen, 
denselben Maßgrößen eine Unzahl von Auswertungen, die durch 
verschiedene Zahlen ausgedrückt werden. Der Orad der Un- 
bestimmtheit des abstrakten mathematischen Satzes, durdi den 
das Resultat eines Experimentes ausgedrückt wird, ist das, 
was man die Fehlergrenze dieses Experimentes nennt. Wir 
müssen die Fehlergrenze des Experimentes, das wir prüfen, 
kennen. Wenn der Beobachter sie angegeben hat, müssen wir 
das Verfahren, durch das er sie ausgewertet hat, kontrollleren ; 
wenn er sie nicht angegeben hat, müssen wir sie auf Grund 
eigener Diskussion bestimmen. Eine verwickelte und außer- 
ordentlich heikle Operation! Die Bestimmung der Fehler- 
grenze eines Experimentes erfordert in erster Linie die Fest- 
stellung der Schärfe der Sinne des Beobachters. Die Astro- 
nomen versuchen dieselbe in der mathematischen Form der 
persönlichen Gleichung festzulegen. Aber diese Gleichung 
hat recht wenig Anteil an der unabänderlichen Konstanz der 
Geometrie, denn sie ist von einer Migräne oder einer schlech- 
ten Verdauung abhängig. Diese Bestimmung erfordert in 
zweiter Linie die Auswertung der systematischen Fehler, 
die man nicht korrigieren konnte. Aber auch wenn man eine 
möglichst vollständige Aufzählung dieser Fehlerquellen vor- 
genommen hat, ist man sicher, ungleich mehr übersehen zu 
haben, als man aufgezählt hat, denn die Verwickeltheit der 
konkreten Realität ist so groß, daß wir sie nicht meistern 
können. Diese systematischen Fehler faßt man alle unter dem 
Namen zufällige Fehler zusammen. Die Unkenntnis der 
Umstände, die sie bestimmen, macht es unmöglich, sie zu 
korrigieren. Die Mathematiker haben den Spielraum, den ihnen 
diese Unkenntnis läßt, benützt, um in Bezug auf diese Fehler 
Hypothesen aufzustellen, die ihnen erlauben, mit Hilfe gewisser 
mathematischer Operationen den Einfluß derselben abzu- 
schwächen. Aber die Theorie der zufälligen Fehler ist nur 
ebensoviel wert wie diese Hypothesen. Und was weiß man 
über den Wert dieser Hypothesen, solange man nichts von 
Das physikalische Experiment. 215 
den Fehlem weiß, die sie behandeln, solange man über deren 
Quellen in Unkenntnis ist? 
Die Bestimmung der Fehlergrenze eines Experimentes ist 
daher eine außerordentlich verwickelte Arbeit. Oft ist es schwer, 
dabei eine vollständig logische Ordnung einzuhalten. Die Über- 
legung muß dann oft jener seltenen und subtilen Eigenschaft, 
j€ner Art von Instinkt oder Witterung* Platz machen, die experi- 
menteller Sinn genannt wird — die viel eher ein Attribut des 
Scharfsinns als des mathematischen Denkens ist. 
Die einfache Darstellung der Regeln, die bei der Prüfung 
eines physikalischen Experimentes bei seiner Anerkentiung'oder 
Verwerfung zur Geltung kommen, geniigt, um folgende wesent- 
liche Wahrheit deutlich zu machen : Das Rusultat eines physi- 
kalischen Experimentes besitzt nicht eine Sicherheit gleicher 
Ordnung wie eine nach nichtwissenschaftlichen Methoden von 
einem an Körper und Geist gesunden Menschen durch ein- 
faches Anschauen oder einfaches Antasten konstatierte Tat- 
sache; diese Sicherheit, die weniger unmittelbar, die Diskus- 
sionen unterworfen ist, von denen die gewöhnliche Aussage 
unberührt bleibt, ist immer vom Vertrauen abhängig, das eine 
glänze Gruppe von Theorien einflößt. 
§ 5. — Das physikalische Experiment ist weniger sicher, 
aber genauer und detaillierter, alsdienichtwissenschaft- 
liche Konstatierung einer Tatsache 
Der Laie glaubt, daß das Resultat eines wissenschaftlichen 
Experimentes sich von der gewöhnlichen Art der Beobach- 
tung durch einen höheren Grad der Sicherheit unterscheide. 
Er täuscht sich, denn die Darstellung eines physikalischen 
Experimentes hat nicht die Unmittelbare und leidit kontrollier- 
bare Sicherheit einer gewöhnlichen, nichtwissenschaftlichen 
Aussage. Weniger sicher als letztere übertrifft sie sie an Zahl 
und Genauigkeit der Details, die sie uns kennen lehrt, und 
darin besteht ihre wirkliche und wesentliche Überlegenheit. 
Die gewöhnliche Aussage, die ims die Konstatierung einer 
Tatsache nach den Verfahren des gewöhnlichen Verstandes, 
216 Achtes Kapitel. 
nicht aber nach den Methoden der Wissenschaft liefert, kann 
nur unter der Bedingung sicher sein, daß sie nicht detailliert, 
daß sie nicht genau ist, sondern die Tatsache nur im Groben, 
nur nach dem, was an ihr am auffallendsten ist, betrachtet 
In dieser Straße der Stadt habe ich zu dieser Stunde ein weißes 
Pferd gesehen; dies kann ich mit Sicherheit behaupten; viel- 
leicht kann ich dieser allgemeinen Behauptung noch irgend 
eine Einzelheit, die meine Aufmerksamkeit erregt hat, mit Aus- 
schluß anderer Oetaik hinzufügen: Etwas Ungewöhnliches in 
der Haltung des Pferdes, ein grell gefärbter Teil seines Ge- 
schirres. Aber fragen Sie mich nicht weiter; meine Erinne- 
rungen werden sich verwirren, meine Antworten werden un- 
bestimmt werden; bald werde ich gezwungen sein, Ihnen zu 
sagen: Ich weiß es nicht. Ausnahmen vorbehalten ist die ge- 
wöhnliche Aussage um so verläßlicher, je weniger präzise sie 
ist, je weniger sie analysiert, je mehr sie sich an die gröbsten 
und hervorstechendsten Beobachtungen hält. 
Ganz anders ist der Bericht über ein physikalisches Ex- 
periment. Er begnügt sich nicht, uns eine Erscheinung im 
Groben kennen zu lehren, er will sie analysieren, er will uns 
über das geringste Detail, über das speziellste Merkmal unter- 
richten, indem er genau die Stellung und relative Bedeutung 
jedes Details, jedes Merkmals kennzeichnet. Er will uns diese 
Aufschlüsse in solcher Art geben, daß wenn es uns nützlich 
erscheint, wir diese Erscheinung, über die er uns berichtet, 
oder wenigstens eine theoretisch äquivalente Erscheinung wie- 
der herstellen können. Die Verwirklichung dieser Absicht 
würde über das Vermögen der wissenschaftlichen Experimen- 
tierkunst hinausgehen, ebenso wie sie die Kräfte der gewöhn- 
lichen Beobachtung übersteigt, wenn die eine nicht über 
bessere Waffen verfügte als die andere. Die Zahl und Ge- 
nauigkeit der Details, die jede Erscheinung zusammensetzen 
oder begleiten, würde die Vorstellungskraft in Verwirrung 
bringen, würde das Gedächtnis überlasten und in nichts der 
einfachen Beschreibung nachstehen, wenn der Physiker nicht 
in seinem Dienste ein wunderbares Mittel der Klassifikation 
und Darstellung, ein symbolisches, erstaunlich klares und kon- 
Das physikalische Experiment 217 
zises Bild hätte, nämlich die mathematische Theorie, wenn er 
nicht zur Kennzeichnung des relativen Einflusses jeder Einzel- 
heit über ein genaues und schnelles Bestimmungsverfahren ver- 
fügte, das ihm in der numerischen Auswertung, dem Maß 
gegeben ist Wenn jemand auf Grund einer Wette es unter- 
nehmen wollte, ein Experiment der heutigen Physik unter 
AussdiluB aller theoretischen Ausdrücke zu beschreiben, wenn 
er zum Beispiel versuchen würde, die Experimente von Reg- 
nault über die Kompressibilität der Gase darzulegen und dabei 
aus seinem Bericht alle abstrakten und syml>olischen Aus- 
drücke, die durch die physikalischen Theorien eingeführt sind, 
die Worte: Druck, Temperatur, Dichte, Schwerkraft, optische 
Achse eines Femrohrs etc. zu entfernen, würde er sehen, daß 
die Darstellung der Experimente allein einen ganzen Band aus- 
füllen würde, der die verwirrteste, unlesbarste, unverständ- 
lichste Erzählung enthielte, die man sich vorstellen kann. 
Wenn daher die theoretische Interpretation den Resultaten 
des physikalischen Experimentes die unmittelbare Sicherheit 
nimmt, die das durch die gewöhnliche Beobachtung Gegebene 
besitzt, so ermöglicht sie zum Ersatz dafür dem wissenschaft- 
lichen Experimente viel weiter als dem gewöhnlichen Verstand 
in der detaillierten Analyse der Erscheinungen vorzudringen, 
von ihnen eine Beschreibung zu geben, deren Genauigkeit er- 
heblich die der gewöhnlichen Sprache übersteigt. 
Neuntes Kapitel. 
Das physikalische Gesetz. 
§ 1. — Die physikalischen Gesetze sind symbolische 
Beziehungen. 
In derselben Art, wie die Gesetze des gewöhnlichen Ver- 
standes auf der Beobachtung der Tatsachen durch die natür- 
lichen Hilfsmittel des Menschen gegründet sind, beruhen die 
Gesetze der Physik auf den Resultaten der physikalischen Ex- 
perimente. Es ist ohne weiteres klar, daß die tiefen Differenzen, 
die zwischen der nichtwissenschaftlichen Konstatierung einer 
218 Neuntes Kapitel. 
Tatsache und dem Resultat eines physikalischen Experimentes 
bestehen, in gleicher Weise den Unterschied zwischen den Ge- 
setzen des gewöhnlichen Verstandes und den Gesetzen der Phy- 
sik bilden werden. Auch wird beinahe alles, was wir von den 
physikalischen Experimenten ausgesagt haben, auf die Gesetze, 
die diese Wissenschaft ausspricht, ausgedehnt werden können 
Nehmen wir eines der einfachsten und sichersten Gesetze 
des gewöhnlichen Verstandes: Jeder Mensch ist sterblich. Dieses 
Gesetz verbindet sicherlich abstrakte Ausdrücke untereinander, 
den abstrakten Begriff des Menschen im allgemeinen und nicht 
den konkreten Begriff dieses oder jenes Menschen im be- 
sonderen; den abstrakten Begriff des Todes und nicht den 
konkreten Begriff dieser oder jener Form des Todes. In der 
Tat kann es nur unter der Bedingung, daß es abstrakte Aus- 
drucke verbindet, allgemein sein. Aber diese Abstraktionen sind 
keineswegs theoretische Symbole. Sie drücken einfach aus, was 
allen besonderen Fällen, auf die das Gesetz angewendet wird, 
gemeinsam ist. Auch finden wir in jedem dieser einzelnen 
Fälle, auf die wir das Gesetz anwenden, konkrete Objekte, in 
denen diese abstrakten Begriffe realisiert sind. Jedesmal, wenn 
wir konstatieren, daß jeder Mensch sterblich ist, befinden wir 
uns einem bestimmten, besonderen Menschen g^enüber, der 
den allgemeinen Begriff des Menschen verkörpert, einem be- 
stimmten besonderen Tod, der den allgemeinen Begriff des 
Todes in sich enthält. 
Nehmen wir noch ein anderes Gesetz, das von Herrn 
G. Milhaud^) als Beispiel zitiert wurde, als er jene Ideen ent- 
wickelte, die wir ein wenig früher geäußert hatten. Es ist dies 
ein Gesetz, dessen Gegenstand in das Gebiet der Physik ge- 
hört. Aber es behält die Form, die die Gesetze der Physik 
hatten, als dieser Wissenszweig noch in den Bereich des ge- 
wöhnlichen Verstandes gehörte und noch nicht die Würde 
einer verstandesmäßigen Wissenschaft eriangt hatte. 
^) Q. Milhaud: La Science rationelle (Revue de M6taphysique 
et de Morale, 4e ann£e, 1896, p. 280). — Wiederabgedruckt in Le Rationnel, 
Paris 1898, p. 44. 
Das physikalische Gesetz. 219 
Das Gesetz ist folgendes: Bevor man den Donner hört, 
sieht man den Blitz leuchten. Die Begriffe Donner und Blitz, 
die dieser Ausdruck verbindet, sind wohl abstrakte und all- 
gemeine Begriffe, aber diese Abstraktionen sind so instinktiv, 
so natOriich aus der speziellen Erfahrung abgeleitet, daß wir 
aus der blendenden Helle und dem Rollen, das wir bei jedem 
Blitzschlag wahrnehmen, sofort die konkrete Form unserer Be- 
griffe Blitz und Donner erkennen. 
Bei den Gesetzen der Physik ist dies nicht mehr der Fall. 
Nehmen wir eines dieser Gesetze, das von Mariotte, und prüfen 
wir was es ausdrückt, ohne uns für den Augenblick um 
seine Genauigkeit zu kümmern. Bei konstanter Temperatur sind 
die von derselben Oasmasse eingenommenen Volumina um- 
gekehrt proportional den Drucken, unter denen sie steht. Dies 
ist der Ausdruck des Mariotte'schen Gesetzes. Die Bezeich- 
nungen, die in ihm auftreten, die Begriffe der Masse, der Tem- 
peratur und des Druckes sind noch abstrakte Begriffe. Aber 
diese Begriffe sind nicht nur abstrakt, sondern überdies sym- 
bolisch, und die Symbole, die sie bilden, erhalten nur dank der 
physikalischen Theorien einen Sinn. Stellen wir uns einen 
realen, konkreten Fall vor, auf den wir das Gesetz von Mariotte 
anwenden wollen. Wir haben es dann nicht mehr mit einer 
konkreten, bestimmten Temperatur, die den allgemeinen Begriff 
der Temperatur verwirklicht, sondern mit mehr oder minder 
warmem Gas zu tun; wir haben nicht mehr vor uns einen be- 
sonderen bestimmten Druck, der den allgemeinen Begriff des 
Druckes realisiert, sondern eine bestimmte Pumpe, auf die man 
in bestimmter Art gedrückt hat Sicheriich entspricht diesem 
mehr oder minder warmen Gas eine bestimmte Temperatur, 
diesem auf die Pumpe ausgeübten Kraftaufwand ein bestimmter 
Druck. Aber diese Beziehung ist die einer bezeichneten Sache 
zu dem Zeichen, das es ersetzt, einer Realität zu dem Symbol, 
das es versinnbildlicht. Diese Beziehung ist keineswegs un- 
mittelbar. Sie wird mit Hilfe von Instrumenten durch das oft 
recht lange und recht komplizierte Mittel von Maßen hergestellt. 
Um diesem mehr oder minder warmen Gas eine bestimmte 
Temperatur zuzuschreiben, muß man zum Thermometer greifen. 
220 Neuntes Kapitel. 
Um in der Form des Druckes die an der Pumpe aufgewendete 
Arbeit auszuwerten, müssen wir uns des Manometers bedienen. 
Der Gebrauch des Thermometers, wie der des Manometers 
setzen aber, wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, den 
Gebraudi physikalischer Theorien voraus. 
Da die abstrakten Ausdrücke, von denen ein Gesetz des 
gewöhnlichen Verstandes handelt, nichts anderes als das all- 
gemeine der konkreten Objekte, wie sie unsere Sinne kennen, 
sind, vollzieht sich der Obergang vom Konkreten zum Abstrakten 
durch eine Operation, die so notwendig, so spontan ist, daß 
sie unbewußt bleibt. Befinde ich mich einem bestimmten 
Menschen, einem bestimmten Fall des Todes g^;enüber, so 
beziehe ich sie unmittelbar auf den allgemeinen B^jiff des 
Menschen, auf den allgemeinen B^ff des Todes. Diese in- 
stinktive unwillküriiche Operation liefert uns nicht analysierte 
allgemeine Begriffe, Abstraktionen, die sozusagen en bloc ge- 
nommen werden. Ohne Zweifel kann ein Denker jene allge- 
meinen und abstrakten Begriffe analysieren, er kann sich fragen, 
was ist der Mensch, was ist der Tod, er kann in den tiefen 
und ganzen Sinn dieser Worte einzudringen versuchen. Diese 
Arbeit wird ihn dazu führen, die Berechtigung des Gesetzes 
besser zu erfassen, aber diese Arbeit ist nicht nötig, um das 
Gesetz zu verstehen. Für sein Verständnis genügt es, die 
Ausdrücke, die es verbindet, in ihrem gewöhnlichen Sinn zu 
nehmen, so daß dieses Gesetz für alle, ob sie nun Philosophen 
seien oder nicht, klar ist 
Die symbolischen Ausdrücke, die ein physikalisches Gesetz 
verbindet, sind nicht derartige Abstraktionen, die spontan aus 
der konkreten Realität hervorgehen; sie sind Abstraktionen, die 
aus einer langen, komplizierten, bewußten hundertjährigen Arbeit, 
die die physikalischen Theorien schuf, hervorgingen. Es ist un- 
möglich das Gesetz zu verstehen, unmöglich es anzuwenden, 
wenn man diese Arbeit nicht geleistet, wenn man die physi- 
kalischen Theorien nicht kennt. 
Je nachdem, ob man eine Theorie annimmt oder nicht, 
ändern dieselben Worte, die in dem Ausdruck eines physikali- 
schen Gesetzes stehen, ihren Sinn, so daß es von einem 
Das physikalische Gesetz. 221 
Physiker, der eine gewisse Theorie für zulässig hält, ange- 
nommen, von einem anderen Physiker, der Anhänger einer 
anderen Theorie ist, verworfen werden kann. 
Nehmen wir einen Bauern, der weder den Begriff Mensch 
noch den Begriff Tod jemals analysiert, und einen Metaphy- 
siker, der sich sein Leben lang mit dieser Analyse beschäftigt 
hat, oder nehmen wir zwei Philosophen, die bei der Analyse 
dieser Begriffe verschiedene, unvereinbare Definitionen er- 
hielten, für sie alle ist das Gesetz: Jeder Mensch ist steri)lich 
gleich klar und gleich wahr. Ebenso besitzt das Gesetz: Be- 
vor man den Donner hört, sieht man den Blitz leuchten, für 
den Physiker, der die Gesetze der Funkenentladungen in ihrer 
ganzen Tiefe kennt, dieselbe Klarheit und dieselbe Sicherheit 
wie für einen Mann aus der römischen Plebs, der in dem 
Blitzschlag ein Zeichen des Zornes des Jupiter Capitolinus sah. 
Betrachten wir im Gegensatz dazu folgendes physikalisches 
Gesetz: Alle Gase komprimieren und dilatieren sich in der- 
selben Weise, und fragen wir verschiedene Physiker, ob der 
Joddampf diesem Gesetz folge oder nicht. Ein Physiker ver- 
tritt Theorien, nach denen der Joddampf ein einfaches Gas 
ist. Er leitet also aus vorstehendem Gesetze folgende Konse- 
quenz ab: Die Dichte des Joddampfes bezogen auf Luft ist 
eine konstante. Das Experiment zeigt nun, daß die Dichte 
des Joddampfes bezogen auf Luft von der Temperatur und 
dem Dmck abhängig ist. Unser Physiker schließt daher, daß 
der Joddampf dem angegebenen Gesetze nicht entspreche. Nach 
der Meinung eines anderen Physikers ist der Joddampf kein 
einfaches Gas, sondern eine Mischung zweier Gase, von denen 
das eine ein Polymeres des anderen ist und die sich ineinander 
umwandeln können. Demzufolge erfordert das ausgesprochene 
Gesetz nicht mehr, daß die Dichte des Joddampfes bezogen 
auf Luft konstant sei, sondern daß sie mit der Temperatur 
und dem Drude gemäß einer gewissen Formel, die J. Willard- 
Gibbs aufgestellt hat, variiere. Diese Formel stellt tatsäch- 
lich die Resultate der experimentellen Bestimmungen dar. 
Unser zweiter Physiker schließt daraus, daß der Joddampf keine 
Ausnahme von der Regel bilde, nach der sich alle Gase in 
222 Neuntes Kapitel. 
gleicher Weise komprimieren und dilatieren. So haben unsere 
beiden Physiker vollständig verschiedene Meinungen betreffe 
eines Gesetzes, das sie beide in der gleidien Form aussprechen. 
Der eine findet, daß dieses Gesetz durch eine gewisse Tat- 
sache außer Kraft gesetzt, der andere, daß es durch die gleiche 
Tatsache bestätigt werde. Das rührt daher, daß die verschie- 
denen Theorien, auf die sie sich berufen, nicht in derselben 
Weise den Sinn der Worte: einfaches Gas festsetzen. So 
geschieht es, daß indem sie beide dieselben Worte aus- 
sprechen, sie zwei verschiedene Lehrsätze meinen. Um diesen 
Ausdruck mit der Wirklichkeit zu vergleichen, führen sie Rech- 
nungen aus, die so verschieden sind, daß der eine finden kann, 
das Gesetz werde durch die Tatsachen bestätigt, während es 
für den anderen durch dieselben widerlegt wird. Daraus geht 
deutlich folgende Wahrheit hervor: Ein physikalisches Ge- 
setz ist eine symbolische Beziehung, deren Anwendung 
auf die konkrete Wirklichkeit erfordert, daß man eine 
ganze Gruppe von Theorien kenne und akzeptiere. 
§ 2. — Ein physikalisches Gesetz ist genau gesprochen, 
weder richtig noch falsch, sondern angenähert 
Ein Gesetz des gewöhnlichen Verstandes ist ein einfaches 
allgemeines Urteil, das richtig oder falsch ist. Nehmen wir 
zum Beispiel folgendes Gesetz, das durch die gewöhnliche 
Beobachtung festgestellt wird: In Paris geht die Sonne jeden 
Tag im Osten auf, steigt am Himmel empor, senkt sich wieder 
und geht im Westen unter. Hier haben wir ein richtiges Gesetz, 
das ohne Bedingung, ohne Einschränkung gilt. Nehmen wir im 
Gegensatz dazu folgende Aussage: Der Mond ist stets voll 
Hier haben wir ein falsches Gesetz. Wenn die Richtigkeit 
eines Gesetzes des gewöhnlichen Verstandes in Frage gezogen 
wird, kann man mit ja oder nein antworten. 
Das gilt nicht mehr für die Gesetze, die die physikalische 
Wissenschaft in ihrer vollen Entfaltung in der Form mathe- 
matischer Lehrsätze ausspricht. Ein derartiges Gesetz ist 
immer symbolisch. Ein Symbol ist nun genau gesprochen 
Das physikalische Gesetz. 223 
weder richtig noch falsch. Es ist mehr oder weniger gut ge- 
wählt, um die Wirklichkeit, die es darstellt, zu bezeichnen, es 
stellt sie in einer mehr oder minder genauen, in einer mehr 
oder minder detaillierten Art dar. Aber in ihrer Anwendung 
auf ein Symbol verlieren die Worte Wahrheit und Irrtum allen 
Sinn. So wird auch der Logiker, der auf den strengen Sinn 
der Worte achtet, auf die Frage, ob ein bestimmtes Gesetz 
der Physik richtig oder falsch sei, antworten müssen: Ich 
begreife Ihre Frage nicht. Kommentieren wir diese Antwort, 
die paradox zu sein scheint, aber die der verstehen muß, der 
wissen will, was die Physik bedeutet. 
Einer gegebenen Tatsache läßt die experimentelle Methode, 
wie sie in der Physik gehandhabt wird, nicht nur ein einziges 
s3rmbolisches Urteil, sondern eine Unzahl symbolischer Ur- 
teile entsprechen. Der Grad der Unbestimmtheit des Sym- 
boles ist die Fehlergrenze des in Frage stehenden Experimentes. 
Nehmen wir eine Reihe analoger Tatsachen. Fär den Physiker 
bedeutet die Auffindung des Gesetzes dieser Tatsachen die 
Auffindung einer Formel, die die symbolische Darstellung einer 
jeden dieser Tatsachen enthält. EMe Unbestimmtheit des Sym- 
boles, die jeder Tatsache entspricht, bringt daher die Unbe- 
stimmtheit der Formel, die alle diese Symbole umfassen soll, 
mit sich. Der gleichen Gruppe von Talsachen kann man eine 
Unzahl verschiedener Formeln, eine Unzahl verschiedener 
physikalischer Gesetze entsprechen lassen. Jedes dieser Ge- 
setze muß, um akzeptiert zu werden, einer jeden Tatsache 
nicht das Symbol, sondern irgend eines der Symbole aus der 
unendlichen Zahl, die diese Tatsache darstellen können, ent- 
sprechen lassen. Das meint man, wenn man erklärt, daß die 
Gesetze der Physik nur angenähert gelten. 
Stellen wir uns zum Beispiel vor, daß wir uns nicht mit 
den Lehren, die Uns jenes Gesetz des gewöhnlichen Verstandes : 
In Paris geht die Sonne jeden Tag im Osten auf, steigt 
am Himmel empor, senkt sich wieder und geht im Westen 
unter, liefert, zufrieden geben können. Wir wenden uns an 
die physikalischen Wissenschaften, um ein genaueres Gesetz 
der in Paris gesehenen Sonnenbewegung zu erhalten, ein Ge- 
224 Neuntes Kapitel. 
setz, das dem Pariser Beobachter angibt, welche Lage die 
Sonne in jedem Augenblick am Himmel einnimmt. Die phy- 
sikalischen Wissenschaften machen bei der Lösung dieses Pro- 
blems nicht von wahrnehmbaren Realitäten Gebrauch, von 
der Sonne, wie wir sie am Himmel glänzen sehen, sondern von 
Symbolen, durch die die Theorien diese Realitäten darstellen. 
Sie ersetzen die wirkliche Sonne, trotz der Unregelmäßigkeiten 
ihrer Oberfläche, trotz der riesigen Protuberanzen durch eine 
vollkommene geometrische Kugel. Es ist die Lage des Zen- 
trums dieser idealen Kugel, die sie zu bestimmen versuchen. 
Oder vielmehr suchen sie die Lage zu bestimmen, die dieser 
Punkt einnehmen würde, wenn die astronomisdie Refraktion 
nicht die Sonnenstrahlen ablenken, wenn die jährliche Aber- 
ration nicht die scheinbare Lage der Gestirne ändern würde. 
Es ist daher wohl ein Symbol, durch das sie die einfache, 
sinnliche Realität, die von uns konstatiert wird, die glänzende 
Scheibe, auf die unser Femrohr visiert, ersetzen. Um das 
Symbol mit der Realität in Verbindung zu bringen, muß man 
verwickelte Messungen ausführen, muß man den Sonnenrand 
mit dem Faden in einem Mikrometer zur Koinzidenz bringen, 
muß man viele Ablesungen an geteilten Kreisen vornehmen, 
die wieder verschiedenen Korrektionen unterworfen werden 
müssen. Man muß auch lange und verwickelte Rechnungen 
ausführen, deren Berechtigung aus den als zulässig erkannten 
Theorien, aus der Theorie der Aberration, aus der Theorie 
der sphärischen Refraktion folgt. 
EMeser Punkt, der symbolisch als Sonnenzentrum be- 
zeichnet wird, ist noch nicht das, was unseren Formulierungen 
zugänglich ist. Was ihnen zugänglich ist, sind die Koordi- 
naten dieses Punktes, seine Länge und seine Breite. Der Sinn 
dieser Koordinaten kann nur verstanden werden, wenn man die 
Gesetze der Kosmographie kennt. Ihre Größen bezeidmen 
am Himmel einen Punkt, auf den man mit dem Finger weisen, 
auf den man mit dem Femrohr visieren kann, nur auf Grund 
einer ganzen Gruppe von vorher vorgenommenen Bestimmun- 
gen: [>er Bestimmung des Meridians des Ortes, seiner geo- 
graphischen Koordinaten etc. 
Das physikalische Gesetz. 225 
Kann man nun einer bestimmten Lage der Sonnenscheibe 
nur einen einzigen Wert der Länge und nur einen einzigen 
Wert der Breite des Sonnenzentrums entsprechen lassen, wo- 
bei vorausgesetzt ist, daß die Korrektionen der Aberration und 
Refraktion ausgeführt seien? Keineswegs. Die optische Lei- 
stungsfähigkeit des Instrumentes, das uns zum Visieren der 
Sonne dient, ist begrenzt. Die Empfindlichkeit der verschiede- 
nen Operationen, der verschiedenen Ablesungen, die unser Ex- 
periment erfordert, ist begrenzt. Ob die Sonnenscheibe in 
dieser oder jener Lage sei, können wir, wenn der Abstand 
genügend klein ist, nicht wahrnehmen. Nehmen wir an, daß 
wir die Koordinaten eines bestimmten Punktes der Himmels- 
kugel nur mit einer Genauigkeit von V bestimmen können. 
Es wird uns dann genfigen, um die Lage der Sonne in einem ge- 
gebenen Augenblick zu bestimmen, die Länge und Breite des 
Sonnenzentrums auf 1' genau zu kennen. Wir können daher, 
um den Gang der Sonne darzustellen, obwohl das Gestirn in 
jedem Augenblick nur eine einzige Lage einnimmt, ihrer Länge 
und Breite in jedem Augenblick nicht nur einen einzigen, son- 
dern eine Unzahl von Werten zuschreiben. Es dürfen nur 
zwei für den gleichen Augenblick zulässige Werte der Länge 
und ebenso zwei der Breite um nicht mehr als V differieren. 
Suchen wir nun das Bewegungsgesetz der Sonne zu finden, 
d. h. zwei Formeln, die uns ermöglichen, in jedem Augenblick 
den Wert der Länge und den der Breite des Sonnenzentrums 
zu berechnen. Ist es nicht klar, daß wir, um die Änderung der 
Länge als Funktion der Zeit darzustellen, nicht nur eine ein- 
zige Formel, sondern eine Unzahl verschiedener Formeln an- 
wenden können, vorausgesetzt, daß diese Formeln uns zu Wer- 
ten der Länge führen, die um weniger als V differieren? Ist 
es nicht klar, daß derselbe Fall bei der Breite eintreten wird ? 
Wir können daher unsere Beobachtimgen der Sonnenbewegung 
gleichgut durch eine Unzahl verschiedener Gesetze darstellen. 
Diese verschiedenen Gesetze werden durch Gleichungen aus- 
gedrückt, die die Algebra als unvereinbar ansieht. Wenn eine 
dieser Gleichungen durch sie verifiziert wird, kann keine an- 
dere es werden. Sie werden auf der Himmelskugel durch 
Dshera, PhyiOuüisdie Theorie. 15 
226 Neuntes Kapitel. 
verschiedene Kurven ausgedrückt werden und es wäre absurd 
zu sagen, daß derselbe* Punkt in der gleichen Zeit zwei dieser 
Kurven beschreibe. Für den Physiker sind indessen alle diese 
Gesetze gleichermaßen akzeptabel, denn sie bestimmen alle 
die Lage des Gestirnes mit einer Annäherung, die die der Be- 
obachtung übersteigt. Der Physiker hat nicht das Recht zu 
sagen, daß eines dieser Gesetze unter Ausschluß der anderen 
richtig sei. 
Ohne Zweifel hat der Physiker das Recht, unter diesen 
Gesetzen zu wählen, und im allgemeinen wird er dies auch 
tun. Aber die Motive, die ihn bei seiner Wahl leiten, sind nicht 
von derselben Art, drängen sich ihm nicht mit derselben ge- 
bieterischen Notwendigkeit auf, wie die, die ihn zwingen, die 
Wahrheit dem Irrtum vorzuziehen. Er wird eine gewisse 
Formel wählen, weil sie einfacher als die anderen ist Die 
Schwäche unseres Geistes zwingt uns, Betrachtungen dieser 
Art eine große Wichtigkeit beizulegen. Es gab eine Zeit, wo 
die Physiker annahmen, daß der Verstand des Schöpfers unter 
derselben Schwäche leide, in der die Einfachheit der Natur* 
gesetze als ein unbezweifelbares Dogma galt, in dessen Namen 
man jedes Gesetz, das durch eine zu verwickelte algebraische 
Gleichung ausgedrückt war, verwarf, in der im Gegenteil die 
Einfachheit einem Gesetze eine Sicherheit und Tragweite gab, 
die über die experimentelle Methode, die es geliefert, hinaus- 
gingen. Das drückte auch Laplace gelegentlich der Behandlung 
des von Huygens entdeckten Gesetzes der Doppelbrechung 
aus^): „Bis jetzt war dieses Gesetz nur ein Beobachtungs- 
resultat, das der Wahrheit innerhalb der Fehlergrenzen, denen 
die genauesten Resultate unterworfen sind, nahekam. Jetzt 
läßt die Einfachheit des Wirkungsgesetzes, von dem es ab- 
hängt, es als strenges Gesetz erscheinen." Diese Zeit ist vor- 
über. Wir lassen uns durch den Reiz, den die einfachen 
Formeln auf uns ausüben, nicht verführen. Wir betrachten 
diesen Reiz nicht mehr als die Äußerung einer größeren 
Sicherheit. 
^) Laplace: Exposition du Systeme du monde, I. IV, c XVIII: 
„De Tattraction mol^culaire." 
Das physikalische Gesetz. 227 
Der Physiker wird vor allem ein Gesetz dann einem an- 
deren vorziehen, wenn es sich aus den Theorien, die er für 
zulässig hält, ergibt. Er wird zum Beispiel von der Theorie 
der universellen Anziehimg verlangen, daß sie ihm angebe, 
welche Formeln er unter allen, die die Bewegung der Sonne 
darstellen könnten, vorziehen soll. Aber die physikalischen 
Theorien sind nur ein Mittel, die angenäherten Gesetze, denen 
die Experimente unterworfen sind, zu klassifizieren und mit- 
einander zu vereinigen. Die Theorien können daher nicht 
die Natur dieser experimentellen Gesetze modifizieren und 
ihnen absolute Wahrheit verschaffen. 
So ist jedes physikalische Gesetz ein angenähertes Gesetz. 
E>emzufolge kann es für den strengen Logiker weder richtig 
noch falsch sein. Jedes andere Gesetz, das dieselben Experi- 
mente mit derselben Genauigkeit darstellt, hat ebenso berech- 
tigten Anspruch wie das erste als richtiges Gesetz, oder um es 
noch schärfer auszudrücken, als zulässiges Gesetz zu gelten. 
§ 3. — Jedes physikalische Gesetz ist provisorisch und 
relativ, weil es angenähert ist 
Das Charakteristikum eines Gesetzes besteht darin, daß 
es fest und absolut ist. Ein Lehrsatz ist nur deshalb ein Ge- 
setz, weil er, wenn er heute richtig ist, es auch morgen sein 
wird, weil er, wenn er für einen richtig ist, es auch für andere 
ist. Würden wir nicht in einen Widerspruch geraten, wenn wir 
sagen, ein Gesetz sei provisorisch, es kann von dem einen an- 
genommen, von dem anderen aber verworfen werden? Sicher- 
Hch ja, wenn man unter Gesetzen solche versteht, wie sie uns 
der gewöhnliche Verstand angibt, solche, von denen man im 
wahren Sinne des Wortes sagen kann, daß sie richtig sind; 
ein solches Gesetz kann nicht heute richtig und morgen falsch 
sein, es kann nicht richtig für dich und falsch für mich sein. 
Dagegen nein, wenn man unter Gesetzen diejenigen versteht, 
die die Physik in mathematischer Form ausdrückt. Ein der- 
artiges Gesetz ist immer provisorisch. Das will nicht sagen, 
daß ein physikalisches Gesetz während einer gewissen 
15* 
228 Neuntes Kapitel. 
Zeit richtig und darauf falsch wird, denn es ist in jedem 
Augenblick weder richtig noch falsch. Es ist provisorisch, 
weil es die Tatsachen, auf die es angewendet wird, mit einer 
Annäherung darstellt, die den Physikern heute hinreichend 
erscheint, die ihnen aber eines Tages nicht mehr genügen wird. 
Ein derartiges Gesetz ist immer relativ, nicht weil es für einen 
Physiker richtig, für einen anderen falsch ist, sondern weil 
die Annäherung, die es besitzt, für den Gebrauch, den der eine 
Physiker von ihm machen will, ausreicht, nicht aber für den, 
den der andere im Auge hat 
Der Grad der Annäherung eines Experimentes ist, wie 
wir bemerkt haben, nichts festes. Er wächst in dem Maße, 
wie die Instrumente vollkommener werden, wie die Fehler- 
quellen eliminiert, oder durch genauere Korrektionen besser 
auswertbar werden. In dem Maße, wie die experimentellen 
Methoden fortschreiten, nimmt die Unbestimmtheit des ab- 
strakten Symboles, das das physikalische Experiment mit der 
konkreten Tatsache in Beziehung bringt, ab. Viele symbo- 
lische Urteile, die in einer Epoche als gute Darstellungen 
einer bestimmten konkreten Tatsache angesehen wurden, wer- 
den in einer anderen Epoche nicht mehr für eine hinreichend 
genaue Kennzeichnimg dieser Tatsache gehalten. Zum Bei- 
spiel werden die Astronomen eines gewissen Jahrhunderts 
für die Feststellung der Lage des Sonnenzentrums in einem 
gegebenen Augenblick alle Werte der Länge, die nicht um 
mehr als 1 ' differieren, und ebenso alle Werte der Breite, die 
sich in den gleichen Grenzen halten, akzeptieren. Die Astro- 
nomen des folgenden Jahrhunderts werden Teleskope, deren 
optisches Leistungsvermögen viel größer, Kreise, deren Teilung 
viel vollkommener, Beobaditungsmethoden, die viel genauer 
und präziser sind, besitzen. Sie werden dann verlangen, daß 
die verschiedenen Bestimmungen der Länge des Sonnenzen- 
trums in einem gegebenen Augenblick ebenso wie die ver- 
schiedenen Bestimmungen der Breite desselben Punktes im 
gleichen Augenblick sich auf 10" nähern. Eine Unzahl von 
Bestimmungen, mit denen sich ihre Vorgänger begnügt hätten, 
werden von ihnen verworfen werden. 
Das physikalische Gesetz. 22Q 
Im Maße, wie die Unbestimmtheit der Resultate des Ex- 
perimentes kleiner wird, wird auch die Unbestimmtheit der 
Formeln, die dazu dienen, diese Resultate zu kondensieren, 
eingeschränkt. Ein Jahrhundert akzeptierte als Bewegimgs- 
gesetz der Sonne jede Gruppe von Formeln, die in jedem 
Augenblick die Koordinaten des Zentrums dieses Gestirnes 
auf eine Minute genau angab. Das folgende Jahrhundert legt 
jedem Bewegungsgesetz der Sonne die Bedingung auf, die 
Koordinaten des Sonnenzentrums bis auf 10'^ anzugeben. Eine 
Unzahl von Gesetzen, die in dem ersteren Jahrhundert erhalten 
wurden, werden im letzteren verworfen werden. 
Dieser provisorische Charakter der Gesetze der Physik 
zeigt sidi jeden Augenblick, wenn man die Geschichte dieser 
Wissenschaft verfolgt. Für Dulong und Arago, sowie für ihre 
Zeitgenossen war das Mariottesche Gesetz eine zulässige Form 
des Gesetzes der Kompressibilität der Gase, weil es die Tat- 
sachen des Experimentes mit Abweichungen darstellte, die 
kleiner blieben, als die möglichen Fehler der Beobachtungs- 
methoden, über die sie verfügten. Als Regnault die Apparate 
und experimentellen Methoden verbessert hatte, mußte das 
Mariottesche Gesetz verworfen werden. Die Abweichungen, 
die seine Angaben der Versuchsresultate aufwiesen, waren viel 
größer, als die Unsicherheiten, mit denen die neuen Apparate 
behaftet blieben. 
Von zwei zu gleicher Zeit lebenden Physikern kann der 
eine solche Bedingungen vorfinden, wie sie Regnault hatte, 
während der andere sich noch vor Bedingungen sieht, wie sie 
Dulong und Arago besaßen. Der erste besitzt sehr genaue 
Apparate und will sehr exakte Beobachtungen ausführen, 
während der zweite nur grobe Instrumente besitzt, die Unter- 
suchungen aber, die er ausführen will, auch keine große An- 
näherung erfordern. Dieser wird das Gesetz von Mariotte 
annehmen, jener wird es verwerfen. 
Ja noch mehr. Man kann sehen, wie dasselbe physi- 
kalische Gesetz abwechselnd vom selben Physiker im Ver- 
lauf derselben Arbeit angenommen und verworfen wird. Wenn 
ein physikalisches Gesetz als richtig oder falsch bezeichnet 
230 Neuntes Kapitel. 
werden könnte, wäre dies ein befremdender Trugschluß. I>er 
gleiche Satz wäre zur gleichen Zeit anerkannt und verworfen, 
was das Kennzeichen des formellen Widerspruches bildet 
Regnault arbeitet zum Beispiel an Untersuchungen über 
die Kompressibilität der Gase, die die Substituierung des 
Mariotteschen Gesetzes durch eine Formel von größerer An- 
näherung zum Ziel haben. Im Verlaufe seiner Versuche muß 
er den Atmosphärendruck in der Höhe der freien Oberfläche 
des Quecksilbers seines Manometers kennen. Diesen Druck 
will er aus der Formel von Laplace bestimmen. Die Aufstellung- 
dieser Formel von Laplace beruht aber auf der Anwendung^ 
des Mariotteschen Gesetzes. Es tritt aber dennoch dabei keiner- 
lei Trugschluß, keinerlei Widerspruch auf. Regnault weiß, daß 
der Fehler, der durch diesen speziellen Gebrauch des Mariotte- 
schen Gesetzes eingeführt wird, viel geringer ist, als die Un- 
sicherheiten der experimentellen Methode, von der er Ge- 
brauch macht. 
Da jedes physikalische Gesetz nur angenähert ist, ist es 
vom Fortschritt abhängig, der durch die Erhöhung der Ge- 
nauigkeit der Experimente den Grad der Annäherung, den 
dieses Gesetz hat, unzureichend macht. Es ist seinem Wesen 
nach provisorisch. Die Bestimmung seines Wertes ändert sich 
von einem Physiker zum anderen im Maße der Beobachtungs- 
mittel, über die sie verfügen, und der Genauigkeit, die sie von 
ihren Untersuchungen fordern. Es ist seinem Wesen nach 
relativ. 
§ 4. — Jedes physikalische Gesetz ist provisorisch, 
weil es symbolisch ist 
Ein physikalisches Gesetz ist provisorisch, nicht nur weil 
es angenähert, sondern auch weil es symbolisch ist Es treten 
immer Fälle ein, in denen die Symbole, auf denen es ruht, nicht 
mehr geeignet sind, die Realität in befriedigender Weise dar- 
zustellen. 
Um ein gewisses Gas, zum Beispiel den Sauerstoff, zu 
studieren, hat der Physiker eine schematische Darstellung, die 
Das physikalische Gesetz. 231 
der mathematischen Überlegung und der algebraischen Rech* 
nung zugänglich ist, geschaffen. Er hat dieses Gas als eines 
der vollkommenen Fluida, die die Mechanik studiert, aufge- 
faßt, das eine gewisse Dichte hat, eine gewisse Temperatur 
besitzt und einem gewissen Druck unterworfen ist Zwischen 
diesen drei Elementen, Dichte, Temperatur und Druck, hat er 
eine gewisse Beziehung aufgestellt, die durch eine gewisse 
Gleichung ausgedrückt wird. Das ist das Gesetz für die 
Kompression und Dilatation des Sauerstoffs. Ist dieses Ge- 
setz definitiv? 
Der Physiker bringe den Sauerstoff zwischen die zwei 
Platten eines stark geladenen elektrischen Kondensators. Er 
bestimme die Dichte, die Temperatur und den Druck des Gases. 
Die Werte dieser drei Elemente werden nicht mehr das Ge- 
setz für die Kompression und Dilatation des Sauerstoffs be- 
stätigen. Gerät der Physiker in Erstaunen, wenn er findet, 
daß an seinem Gesetz etwas auszusetzen sei? Wird er die 
Sicherheit der Naturgesetze in Zweifel ziehen? Keineswegs. 
Er sagt sich einfach, daß die mangelhafte Beziehung eine sym- 
bolische Beziehung sei, die nicht von dem reellen und konkreten 
Gase, mit dem er manipuliert, handelt, sondern von einem 
gewissen Vorstellungsgebikle, von emem schematischen Gas, 
das durch seinen Druck, seine Dichte und seine Temperatur 
charakterisiert ist. Er sagt sich, daß dieses Schema ohne Zwei- 
fel zu einfach und zu unvollständig ist, um die Eigenschaften 
des reellen Gases unter den Bedingungen, in denen es sich 
gegenwärtig befindet, darzustellen. Er sucht dann dieses Sche- 
ma zu vervollständigen, es für die Darstellung der Wirklich- 
keit geeigneter zu machen. Er begnügt sich nicht mehr, den 
symbolischen Sauerstoff mit Hilfe seiner Dichte, seiner Tem- 
peratur und des Druckes, dem er unterliegt, darzustellen. Er 
schreibt ihm ein gewisses dielektrisches Verhalten zu. Er führt 
in den Bau des neuen Schemas die Intensität des elektrischen 
Feldes, in dem sich das Gas befindet, ein. Er unterwirft dieses 
vervollständigte Symbol neuen Studien und erhält das Gesetz 
der Kompre^ibilität des dielektrisch polarisierten Sauerstoffes. 
Das ist ein viel verwickelteres Gesetz als das, das er anfangs 
232 Neuntes Kapitel. 
hatte. Es enthält jenes als Spezialfall, aber da es viel umfassen- 
der ist, wird es auch in Fällen bestätigt, wo das primitive 
Gesetz versagt. 
Ist dieses neue Gesetz nun definitiv? 
Wenn wir das Gas, auf das es angewendet wird, zwischen 
die Pole eines Elektromagneten bringen, wird das neue Ge- 
setz nun seinerseits durch das Experiment als falsch erwiesen. 
Glauben Sie nicht, daß dieser neue Einwand den Physiker in 
Erstaunen setze. Er weiß, daß er es mit einer symbolischen 
Beziehung zu tun hat und daß das Symbol, das er geschaffen, 
in gewissen Fällen ein treues Bild der WirkUchkeit ist, ihr 
aber nicht unter allen Umständen gleichen muß. Er nimmt 
daher, ohne sich entmutigen zu lassen, das Schema, durch 
das er das Gas, mit dem er experimentiert, darstellt, wieder 
vor, er stattet es mit neuen Zügen aus, damit es die Tatsachen 
darstellen könne. Es ist nicht mehr genug, daß das Gas eine 
gewisse Dichte, eine gewisse Temperatur, ein gewisses dielek- 
trisches Verhalten besitze, daß es einem gewissen Druck imter- 
liege, daß es sich in einem elektrischen Felde von gegebener 
Intensität befinde. Er schreibt ihm außerdem noch einen ge- 
wissen Magnetisieiliogskoeffizienten zu. Er gibt Rechenschaft 
von dem magnetischen Feld, in dem sich das Gas befindet, 
und indem er alle diese Elemente durch eine Gruppierung von 
Formeln vereinigt, erhält er das Gesetz für die Kompression 
und Dilatation des polarisierten und magnetisierten Gases. 
Es ist dies ein verwickelteres, aber weit umfassenderes Ge- 
setz, als die, die er früher erhalten. Es wird in einer Unzahl 
von Fällen, wo jene versagten, bestätigt und ist dennoch ein 
provisorisches Gesetz. Eines Tages werden, wie der Phy- 
siker voraussieht, Bedingungen realisiert werden, wo auch 
dieses Gesetz seinerseits versagen wird. An diesem Tage 
wird man die symbolische Darstellung des studierten Gases 
wieder vornehmen müssen, ihr neue Elemente hinzufügen und 
ein noch umfassenderes Gesetz aufstellen. Das von der Theorie 
ausgeheckte mathematische Symbol paßt sich der Wiriclich- 
keit ebenso an, wie die Rüstung an den Körper eines mit 
Eisen geharnischten Ritters. Je verwickelter die Rüstung ist. 
Das physikalische Gesetz. 233 
um so schmiegsamer scheint das harte Metall zu werden. Die 
große Anzahl der Stücke, die ihn wie Schuppen bedecken, 
sichern einen viel vollkommeneren Kontakt zwischen dem 
Stahl und den beschützten Gliedern. Aber so zahlreich auch 
die Bestandteile der Rüstung seien, niemals wird sie genau 
die Gestalt des menschlichen Körpers annehmen. 
Ich weiß, was man mir entgegnen wird. Man wird mir 
sagen, daß das Gesetz für die Kompression und Dilatation, 
welches ganz am Anfange formuliert wurde, keineswegs durch 
die späteren Versuche umgestoßen wurde, daß es das Gesetz 
bleibe, wenn sich der Sauerstoff komprimiere und dilatiere, 
wenn er jeder elektrischen oder magnetischen Wirkung ent- 
zogen sei. Die Untersuchungen des Physikers hätten ledig- 
lich gezeigt, daß zu diesem Gesetz, dessen Wert bestehen 
bleibe, das Gesetz der Kompressibilität des elektrisierten Gases 
und das Gesetz der Kompressibilität des magnetisierten Gases 
hinzugefügt werden müsse. 
Selbst die, die die CMnge in dieser Art und Weise nehmen, 
müssen anerkennen, daß das primitive Gesetz uns zu schweren 
Irrtümern führen kann, wenn wir es ohne besondere Ver- 
wahrungen aussprechen. Das Gebiet, in dem es gilt, muß 
durch die folgenden zwei Einschränkungen eingegrenzt wer- 
den: Das Gas ist jeder elektrischen und jeder magnetischen 
Wirkung entzogen. Die Notwendigkeit dieser Einschränkung 
zeigte sich nun nicht gleich anfangs, sondern sie wurde durch 
die Experimente, die wir erwähnten, nötig. Sind diese Ein- 
schränkungen die einzigen, die an seinem Ausdruck ange- 
bracht werden müssen? Werden die Experimente, die in der 
Zukunft ausgeführt werden, nicht andere ebenso wesentliche 
Einschränkungen ergeben, als die ersteren? Welcher Phy- 
siker würde sich in dieser Richtung aussprechen und behaup- 
ten, daß der gegenwärtige Ausdruck nicht provisorisch, son- 
dern definitiv sei? 
Die physikalischen Gesetze sind daher provisorisch, in- 
dem die Symbole, auf denen sie ruhen, zu einfach sind, um 
die WirkUchkeit vollständig darzustellen. Immer treten Um- 
stände auf, in denen das Symbol den konkreten Dingen nicht 
234 Neuntes Kapitel. 
mehr genügt, in denen das Gesetz nicht mehr genau die Er- 
scheinungen anzeigt Der Ausdruck des Gesetzes muß da- 
her von Einschränkungen begleitet sein, die die Elimination 
dieser Umstände ermöglichen. Diese Einschränkungen kommen 
uns durch die Fortschritte der Physik zur Kenntnis. Niemals 
kann man behaupten, daß man die vollständige Aufzählung 
derselben besitzt, daß die aufgestellte Liste keinen Zuwachs, 
keine Verbesserung erleiden werde. 
Diese Arbeit der fortwährenden Verbesserungen, durch 
die die physikalischen Gesetze immer mehr den Widerlegungen 
durch das Experiment entgehen, spielt eine so wesentliche 
Rolle in der Entwicklung der Wissenschaft, daß man uns ge- 
statten wird, uns bei ihr noch ein wenig aufzuhalten und ihren 
Gang an einem zweiten Beispiel zu studieren. 
Von allen physikalischen Gesetzen ist sicher das der all- 
gemeinen Gravitation durch seine unzähligen Konsequenzen 
am besten bestätigt. Die genauesten Beobachtungen über die 
Bewegungen der Gestirne konnten ihm bisher keinen Eintrag 
tun. Ist es indessen ein definitives Gesetz? Nein, es ist ein 
provisorisches Gesetz, welches ohne Unterlaß modifiziert und 
vervollständigt werden muß, um mit der Erfahrung im Ein- 
klang zu bleiben. 
Wir haben vor uns Wasser, das sidi in einem Gefäß be- 
findet. Das allgemeine Gravitationsgesetz lehrt uns die Kraft, 
die auf jedes einzelne dieser Teilchen ausgeübt wird, kennen. 
Diese Kraft ist das Gewidit des Teilchens. Die Mechanik 
gibt uns an, welche Gestalt das Wasser annehmen muß : Wie 
immer auch die Beschaffenheit und Gestalt des Gefäßes ist, 
das Wasser muß immer durch eine horizontale Ebene be- 
grenzt sein. Betrachten wir die Oberfläche des Wassers in 
der Nähe. In einer gewissen Entfernung von den Rändern 
des Oefässes ist sie horizontal, an den Wandungen des Glases 
hingegen nicht mehr. Es erhebt sich entlang dieser Wan- 
dungen, in einer engen Röhre steigt es sehr hoch und wird 
vollständig konkav. Da sehen wir, wie das Gesetz der all- 
gemeinen Anziehung versagt. Damit das Gravitationsgesetz 
nicht durch die Kapillarerscheinungen widerlegt werde, muß 
Das physikalische Gesetz. 235 
man es ändern. Man darf die Formel, nach der die Anziehung 
umgekehrt proportional dem Quadrat der Entfernung ist, nicht 
als eine genaue, sondern nur als eine angenäherte betrachten. 
Man muß annehmen, daß diese Formel mit hinreichender Ge- 
nauigkeit die Anziehung zweier entfernter, materieller Teil- 
chen darstellt, daß sie aber iunrichtig wird, wenn es sich darum 
handelt, die gegenseitige Wirkung zweier sehr wenig entfern- 
ter Elemente auszudrücken. Man muß in die Gleichungen einen 
ergänzenden Ausdruck einführen, der sie zwar complizierter 
aber dabei auch geeignet macht, eine ausgedehntere Klasse 
von Erscheinungen darzustellen und ihnen ermöglicht, in dem 
gleichen Gesetz sowohl die Bewegungen der Gestirne, als 
die Kapillarwirkungen zu umfassen. 
Dieses Gesetz wird umfassender sein als das von Newton. 
Es wird deswegen aber noch nicht vor jedem Widerspruch 
bewahrt sein. Wenn man, wie es Draper getan, an zwei ver- 
schiedenen Stellen einer flüssigen Masse metallische Drähte 
einführt, die m den beiden Polen einer Säule führen, kommen 
die Gesetze der Kapillarität in Widerspruch mit der Beobach- 
tung. Um diesen Widerspruch zu beseitigen, muß man die 
Formeln der Kapillarwirkungen wieder vornehmen, sie modi- 
fizieren und vervollständigen, indem man den elektrischen 
Ladungen, die sich auf den Flüssigkeitsteilchen befinden und 
den Kräften, die zwischen den elektrisierten Teilchen auftreten, 
Rechnung trägt. So wird sich dieser Kampf zwischen der 
Wiridichkeit und den physikalischen Gesetzen unendlich aus- 
dehnen. Jedem Gesetz, das die Physik formulieren wird, wird 
die Wirklichkeit früher oder später die rücksichtslose Wider- 
legung durch eine Tatsache entgegenstellen. Aber unermüd- 
lich wird die Physik das widerlegte Gesetz verbessern, modi- 
fizieren und verwickelter machen, und es so durch ein um- 
fassenderes Gesetz ersetzen, in dem die durch das Experiment 
aufgezeigte Ausnahme nun ihrerseits ihre Regel findet. 
In diesem unaufhörlichen Kampf, in dieser Arbeit, durch 
die die Gesetze fortwährend so vervollständigt werden, daß 
die Ausnahmen in ihnen Aufnahme finden, besteht der Fort- 
schritt der Physik. Weil die Gesetze der Schwere gegenüber 
236 Neuntes Kapitel. 
einem mit Wolle geriebenen Stück Bernstein versagten, mußte 
die Physik die Gesetze der Elektrostatik schaffen. Weil ein 
Magnet denselben Gesetzen der Schwere zum Trotz das Eisen 
hob, mußte sie die Gesetze des Magnetismus formulieren. 
Da Oerstedt eine Ausnahme an den Gesetzen der Elektrostatik 
und des Magnetismus gefunden, kam Ampere zur Aufstellung 
der Gesetze der Elektrodynamik und des Elektromagnetismus. 
Die Physik macht ihre Fortschritte nicht wie die Geometrie, die 
neue definitive, außer Diskussion stehende Lehrsätze zu den 
definitiven außer Diskussion stehenden Lehrsätzen, die sie schon 
besaß, hinzufugt. Sie macht Fortschritte, weil das Experiment 
ohne Unteriaß neue Widersprüche zwischen den Gesetzen und 
Tatsachen hervortreten läßt und weil die Physiker ohne Unter- 
laß die Gesetze verbessern und modifizieren, damit sie genauer 
die Tatsachen darstellen. 
§ 5. — Die physikalischen Gesetze sind detaillierter 
als jene des gewöhnlichen Verstandes. 
Die Gesetze, die die gewöhnliche, nichtwissenschaftliche 
Erfahrung uns zu formulieren ermöglicht, sind allgemeine Ur- 
teile, deren Sinn Unmittelbar einleuchtet. Wenn wir uns einem 
dieser Urteile gegenübersehen, können wir fragen: Ist es wahr? 
Oft ist die Antwort leicht, in allen Fällen kann sie durch ja 
oder nein ausgedrückt werden. Das als wahr erkannte Ge- 
setz gilt für alle Zeiten und alle Menschen, es ist fest imd 
absolut. 
Die wissenschaftlichen Gesetze, die auf physikalische Ex- 
perimente gegründet sind, sind symbolische Beziehungen, deren 
Sinn dem unfaßbar bleibt, der die physikalischen Theorien 
nicht kennt. Da sie symbolisch sind, sind sie stets weder richtig 
noch falsch, sondern wie die Experimente, auf denen sie ruhen, 
angenähert. Die Annäherung eines Gesetzes, die heute hin- 
reicht, wird in der Zukunft durch den Fortschritt der experi- 
mentellen Methoden unzureichend. Sie genügt für die Be- 
dürfnisse eines Physikers, sie befriedigt nicht die Wünsche 
eines anderen. So ist ein physikalisches Gesetz immer 
Das physikalische Gesetz. 237 
provisorisch und relativ. Es ist auch darin provisorisch, daß 
es nicht die Realitäten, sondern die Symbole verbindet und 
daß es immer Fälle gibt, in denen das Symbol nicht mehr 
der Wirklichkeit entspricht Die physikalischen Gesetze kön- 
nen daher nur durch eine kontinuierliche Arbeit bestehend 
in Verbesserungen und Modifikationen aufrecht erhalten wer- 
den. Das Problem des Wertes der physikalischen Gesetze 
tritt daher in einer ganz anderen Art, in einer unendlich ver- 
wickeiteren und heikleren Art als das Problem der Sicherheit 
der Gesetze des gewöhnlichen Verstandes auf. Man könnte 
versucht sein, daraus den befremdenden Schluß abzuleiten, daß 
die Kenntnis der physikalischen Gesetze einen niedrigeren Grad 
des Wissens bilde, als die einfache Kenntnis der Gesetze des 
gewöhnlichen Verstandes. Denjenigen, die versuchen würden, 
aus den vorangehenden Betrachtungen diesen paradoxen Schluß 
abzuleiten, begnügen wir uns zu antworten, indem wir bezüg- 
lich der Gesetze der Physik das, was wir bezüglich der wissen- 
schaftiichen Experimente gesagt, wiederholen: Ein physika-* 
lisches Gesetz besitzt eine weit weniger unmittelbare und viel 
schwerer zu bestimmende Sicherheit, als ein Gesetz des ge- 
wöhnlichen Verstandes. Aber es übertrifft dieses letztere durch 
die tiefgehende und detaillierte Genauigkeit seiner Voraus- 
sagungen. 
Wenn man das Gesetz des gewöhnlichen Verstandes: In 
Paris geht die Sonne alle Tage im Osten auf, steigt am Himmel 
empor, senkt sich wieder und geht im Westen unter, mit 
den Formeln, die uns in jedem Augenblick beinahe auf eine 
Sekunde genau die Koordinaten des Sonnenzentrums angeben, 
vergleicht, wird man von der Richtigkeit dieses Satzes über- 
zeugt sein. 
Diese Genauigkeit im Detail können die physikalischen 
Gesetze nur erlangen, indem sie etwas von der festen und 
absoluten Sicherheit der Gesetze des gewöhnlichen Verstandes 
opfern. Zwischen der Genauigkeit und der Sicherheit be- 
steht eine Art Kompensation; die eine kann nur wachsen, 
wenn die andere abnimmt. Der Bergarbeiter, der mir einen 
Stein zeigt, kann ohne Zögern, ohne Einschränkung behaupten, 
238 Zehntes Kapitel. 
daß dieser Stein Gold enthalte. Der Chemiker aber, der mir 
eine glänzende Barre vorweist und sagt, das ist reines Qold, 
kann verbessernd beifügen : oder beinahe reines. Er kann 
nicht behaupten, daß die Barre nicht unmerklidie Spuren 
eines anderen Stoffes enthalte. 
Der Mensch kann schwören, die Wahrheit zu sagen, aber 
es liegt nicht in seiner Macht die ganze Wahrheit und nur 
die Wahrheit zu sagen. „Die Wahrheit^) ist ein so feiner 
Punkt, daß unsere Instrumente zu stumpf sind, um sie zu 
treffen. Wenn sie zu ihr gelangen, drücken sie den Punkt platt 
und liegen dann mehr als auf dem Wahren auf dem Falsdien, 
das es umgibt." 
Zehntes Kapitel. 
Die physikalische Theorie und das Experiment 
§ 1. — Die experimentelle Kontrolle einer Theorie 
besitzt in der Physik nicht die gleiche logische Einfach- 
heit wie in der Physiologie. 
Die physikalische Theorie hat nur das Ziel, eine Dar- 
stellung und Klassifikation der experimentellen Gesetze zu 
liefern. Die einzige Probe, die es ermöglicht, eine physikalische 
Theorie zu beurteilen, sie als gut oder schlecht zu erklären, ist 
der Vergleich zwischen den Konsequenzen dieser Theorie und 
den experimentellen Gesetzen, die sie darstellen und gruppieren 
soll. Da wir nun genau die Eigenschaften eines Experimentes 
der Physik und eines physikalischen Gesetzes analysiert haben, 
können wir die Prinzipien festlegen, die bei dem Vergleich 
zwischen Experiment und Theorie zur Geltung kommen sollen. 
Wir können sagen, wie man erkennt, ob eine Theorie durch 
die Tatsachen bestätigt oder widerlegt wird. 
Viele Philosophen denken, wenn sie über die experimen- 
tellen Wissenschaften sprechen, nur an solche, die in ihrer 
Entwicklung noch nicht weit fortgeschritten sind, wie die Phy- 
*) Pascal: Pens^es, Wition Havct, art III no 3. 
Die physikalische Theorie und das Experiment. 239 
siolog^e, wie gewisse Zweige der Chemie, in denen der For- 
scher die Tatsachen direkt in Gedanken behandelt, in denen 
die Methode, die er benützt, nur die des gewöhnlichen, zu 
größerer Aufmerksamkeit angeregten Verstandes ist, in denen 
die mathematische Theorie noch nicht ihre symbolischen Dar- 
stellungen eingeführt hat. In solchen Wissenschaften ist der 
Vergleich zwischen den Deduktionen einer Theorie und den 
experimentellen Tatsachen sehr einfachen Regeln unterworfen. 
Diese Regeln wurden von Claude Bemard in sehr prägnanter 
Weise ausgedrückt und in folgendem einzigem Prinzip zu- 
sammengefaßt^) : „Der Experimentator muß zweifeln, die fixen 
Ideen fliehen und stets die Freiheit seines Kopfes wahren." 
„Die erste Bedingung, die ein Gelehrter erfüllen muß, der 
sich der Erforschung der Naturerscheinungen widmet, besteht 
darin, daß er sich vollkommene Freiheit des Denkens, die auf 
dem philosophischen Zweifel beruht, wahrt." 
Die Theorie soll nichts weiter als die Anregung zur Aus- 
führung von Experimenten geben; „wir können*) unserem 
Gefühl und unseren Gedanken folgen, unserer Phantasie freien 
Lauf lassen, vorausgesetzt, daß alle unsere Gedanken nur da- 
zu gebraucht werden, um neue Experimente anzuordnen, die 
uns Tatsachen liefern, die als Beweise dienlich oder unvorher- 
gesehen und fruchtbar sind". Wenn einmal das Experiment 
ausgeführt und die Resultate klar konstatiert sind, hat die 
Theorie sie nur zu benützen, um sie zu generalisieren, zu ver- 
knüpfen Und aus ihnen neue Versuchsobjekte abzuleiten ; „wenn 
man^ von den Prinzipien der experimentellen Methode er- 
füllt ist, hat man nichts zu fürchten; denn wenn ein Gedanke 
richtig ist, fährt man fort ihn zu entwickeln, wenn er irrig ist, 
wird ihn das Experiment berichtigen".. Aber solange das 
Experiment dauert, muß die Theorie vor der streng verschlos- 
senen Türe des Laboratoriums bleiben. Sie muß Stillschweigen 
bewahren und den Gelehrten ungestört den Tatsachen 
Claude Bernard: Introduction k la Medecine exp^rimentale. 
Paris, 1865; p. 63. 
') Claude Bernard: loc. cit. p. 64. 
') Claude Bernard: loc. cit p. 70. 
240 Zehntes Kapitel. 
von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen lassen. Diese 
müssen ohne vorgefaßte Meinung beobachtet, mit der gleichen 
peinlichen Unparteilichkeit gesammelt werden, ob sie nun die 
Vorhersagungen der Theorie bestätigen oder ihnen wider- 
sprechen. Der Bericht, den uns der Beobachter über sein 
Experiment gibt, muß ein getreuer und peinlich genauer Ab- 
klatsch der Erscheinungen sein. Er darf uns sogar nicht ahnen 
lassen, welchem System der Gelehrte anhängt, gegen welches er 
Bedenken hegt. 
„Die Leute^), die übertriebenen Glauben an ihre Ge- 
danken haben, sind nicht nur schlecht zur Ausführung von 
Entdeckungen veranlagt, sondern sie machen auch sehr 
schlechte Beobachtungen. Sie beobachten notwendigerweise 
mit einer vorgefaßten Meinung, und wenn sie ein Experiment 
angeordnet haben, wollen sie in den Resultaten desselben nur 
eine Bestätigung ihrer Theorie sehen. Sie entstellen so die 
Beobachtung und vernachlässigen oft sehr wichtige Tatsachen, 
weil sie nicht ihrem Zwecke entsprechen. Das veranlaßte uns 
früher zu sagen, daß man niemals Experimente ausführen soll 
um seine Gedanken zu bestätigen, sondern bloß um sie zu 
kontrollieren . . . Aber es ist auch ganz natürlich, daß 
diejenigen, die zu sehr an ihre eigenen Theorien, zu wenig an 
,die der anderen glauben. Bei solchen Leuten, die stets auf 
andere herabsehen, herrscht die Idee vor, in den Theorien der 
anderen Fehler finden zu müssen und alles daran zu setzen, 
um ihnen widersprechen zu können. Dies ist für die Wissen- 
schaft ebenso unzukömmlich. Sie führen Experimente nur 
aus, um eine Theorie zu vernichten, anstatt um die Wahrheit 
zu suchen. Ebenso führen sie schlechte Beobachtungen aus, 
weil sie in die Resultate ihrer Experimente nur das aufnehmen, 
was ihren Zwecken entspricht, alles vernachlässigen, was sich 
ihnen nicht einfügt und alles sorgfältig ausmerzen, was im 
Sinne des Gedankens, den sie bekämpfen wollen, liegen könnte. 
Man wird daher so auf zwei entgegengesetzten Wegen zu dem 
gleichen Resultat, das heißt zur Verfälschung der Wissenschaft 
und der Tatsachen, geführt." 
^) Claude Bernard: loc cit p. 67. 
Die physikalische Theorie und das Experiment 241 
,,Aus alledem muß man schließen, daß man ebensosehr seine 
eigene Meinung, wie die der anderen gegenüber den Entschei- 
dungen des Experimentes zurücktreten lassen muß; . . . daß 
man die Resultate des Experimentes, wie sie sich darbieten, mit 
all ihrem Unvorhergesehenen und all ihren Zufälligkeiten 
akzeptieren muß/' 
Nehmen wir zum Beispiel einen Physiologen. Er nimmt 
an, daß die vorderen Enden des Rückenmarks die motorischen 
Nervenfäden enthalten und die hinteren die sensitiven Fäden. 
Die Theorie, die er annimmt, führt ihn dazu, ein Experiment 
2:u erdenken. Wenn er das Vordere Ende abschneidet, muß die 
Beweglichkeit eines gewissen Körperteiles aufhören, ohne daß 
dessen Sensibilität Eintrag geschieht. Nachdem er dieses Ende 
abgeschnitten, beobachtet er die Folgen seiner Operation. 
Während er von ihnen Rechenschaft gibt, muß er von all seinen 
Gedanken über die Physiologie des Markes abstrahieren. Sein 
Bericht muß eine unveränderte Beschreibung der Tatsachen 
sein. Er darf keine Bewegung, kein Zucken, das seinen Vorher- 
sagungen widerspricht, mit Stillschweigen übergehen; er darf 
es keiner sekundären Ursache zuschreiben, außer wenn ein 
besonderes Experiment diese Ursache klargelegt hat; er muß, 
wenn er nicht der wissenschaftlichen Unehrlichkeit angeklagt 
werden will, eine absolute Trennung, eme undurchlässige 
Scheidewand zwischen den Konsequenzen seiner theoretischen 
Deduktionen und der Konstatierung der Tatsachen, die ihm 
seine Experimente aufweisen, herstellen. 
Eine derartige Regel ist nicht leicht zu befolgen. Sie er- 
fordert vom Gelehrten eine absolute Unbefangenheit gegen- 
über seinem eigenen Fühlen, vollständigen Mangel an Animosi- 
tät gegenüber der Meinung anderer; die Eitelkeit, wie der Neid 
dürfen nicht bis zu ihm dringen, oder wie Bacon sagt, „er darf 
niemals das Auge durch die menschlichen Leidenschaften be- 
netzt haben". Die Freiheit des Denkens, in der nach Claude 
Bernard das einzige Prinzip der experimentellen Methode be- 
steht, hängt nicht nur von den intellektuellen Bedingungen, 
sondern ebensosehr von den moralischen, die sie noch sel- 
tener und verdienstvoller machen, ab. 
Dohem, Physikalische Theorie. 16 
242 Zehntes Kapitel. 
Aber wenn die experimenteUe Methode, so wie sie beschrieben 
wtirde, schwierig zu handhaben ist, so ist doch ihre logische 
Analyse sehr einfach. Dem ist nicht mehr so, wenn die Theorie, 
die der Kontrolle der Tatsachen unterworfen werden soll, nicht 
mehr der Physiologie, sondern der Physik angehört. In diesem 
Falle kann in der Tat nicht mehr die Rede davon sein, die 
Theorie, die man prüfen will, vor der Türe des Laboratoriimis 
tu lassen, denn ohne sie ist es unmöglich nur ein einziges In- 
strument zu justieren, eine einzige Ablesung zu interpretieren. 
Wir haben gesehen, daß im Kopfe des Physikers, der experi- 
mentiert, stets zwei Apparate vorhanden sind: der eine ist 
der konkrete Apparat aus Glas Und Metall, mit dem er manipu- 
liert, der andere ist der schematische und abstrakte, den die 
Theorie an Stelle des konkreten Setzt und an den der Physiker 
seine Betrachtungen anknüpft. Diese beiden Begriffe sind un- 
auflöslich in seinem Verstände vereinigt. Jeder von ihnen 
ruft notwendigerweise den anderen hervor. E)er Physiker kann 
nicht an den konkreten Apparat denken, ohne den Begriff des 
schematischen Apparates zu assoziieren, ebenso wie der Fran- 
zose nicht an einen Begriff denken kann, ohne das französische 
Wort, durch das er ausgedrückt wird, in Gedanken daneben- 
zustellen. Diese grundlegende Unmöglichkeit der Trennung 
der physikalischen Theorien von den experimentellen Ver- 
fahren, die zur Kontrolle dieser selben Theorien dienen sollen, 
macht diese Kontrolle besonders kompliziert und nötigt tms 
genau deren logisdien Sinn zu prüfen. 
Richtig ist, daß der Physiker nicht der einzige ist, der im 
Augenblick, in dem er experimentiert oder das Resultat seiner 
Experimente wiedergibt, von Theorien Gebrauch macht. Wenn 
der Chemiker oder der Physiologe von physikalischen Instru- 
menten, dem Thermometer, dem Manometer, dem Kalorimeter, 
dem Galvanometer oder Saccharimeter Gebrauch macht, nimmt 
er implizite die Richtigkeit von Theorien an, die den Ge- 
brauch dieser Apparate rechtfertigen, von Theorien, die den ab- 
strakten Begriffen Temperatur, Druck, Wärmemenge, Strom- 
intensität, polarisiertes Licht erst einen Sinn geben, durch die 
die konkreten Angaben dieser Instrumente übersetzt werden. 
Die physikalische Theorie und das Experiment. 243 
Aber die Theorien, von denen diese Forscher Gebrauch machen, 
S^ehören ebenso wie die Instrumente, die sie anwenden, in das 
Gebiet der Physik. Indem der Chemiker und der Physiologe 
mit den Instrumenten die Theorien, ohne die deren Angaben 
keinen Sinn hätten, akzeptieren, schenken sie dem Physiker 
ihr Vertrauen und halten sie ihn für unfehlbar. Der Physiker 
aber muß gegen seine eigenen theoretischen Begriffe, wie 
£fegen die seiner Fachgenossen mißtrauisch sein. Vom logi- 
schen Gesichtspimkt aus hat der Unterschied wenig Bedeu- 
tung. Für den Physiologen, für den Chemiker ebenso wie für 
den Physiker enthält der Ausdruck eines Resultates seines 
Experimentes im allgemeinen einen Akt des Glaubens an eine 
ganze Gruppe von Theorien. 
§2. — Ein physikalisches Experiment kann niemals zur 
Verwerfung einer isolierten Hypothese, sondern immer 
nur zu der einer ganzen theoretischen Gruppe, führen. 
Der Physiker, der ein Experiment ausführt oder über das- 
selbe berichtet, anerkennt implizite die Richtigkeit einer ganzen 
Gruppe von Theorien. Nehmen wir dieses Prinzip an und 
sehen wir, welche Konsequenzen man daraus ableiten kann, 
wenn man die Rolle und logische Tragweite eines physika- 
lischen Experimentes einschätzen will. 
Um jeden Irrtum zu vermeiden, unterscheiden wir zwei 
Arten von Experimenten: Experimentelle Anwendungen, die 
uns ohne weiteres eine Angabe machen und experimentelle 
Prüfungen, wie sie uns vor allem beschäftigen werden. 
Wir befinden uns einem physikalischen Problem gegenüber, 
das wir praktisch lösen sollen. Um diese oder jene Wirkung 
hervorzubringen, müssen wir von den von den Physikern eriang- 
ten Kenntnissen Gebrauch machen. Wir wollen zum Beispiel 
eine Glühlampe zum Leuchten bringen. Die als zulässig er- 
kannten Theorien geben uns die Hülfsmittel zur Lösung dieses 
Problems an. Aber um von diesen Hülfsmitteln Gebrauch 
machen zu können, müssen wir uns gewisse Aufschlüsse ver- 
schaffen. Wir müssen, wie Wir annehmen wollen, die elektro- 
16* 
244 Zehntes Kapitel. 
motorische Kraft der Akkumulatorenbatterie, die wir besitzen, 
bestimmen. Wir messen diese elektromotorische Kraft. Hier 
haben wir eine experimentelle Anwendung vor uns. Dieses 
Experiment hat nicht den Zweck festzustellen, ob die als zu- 
lässig erkannten Theorien richtig sind oder nicht; es soll ein- 
fach aus diesen Theorien Nutzen ziehen. Um es auszuführen, 
machen wir von diesen Instrumenten, durch die die Richtigkeit 
dieser selben Theorien dargelegt wird, Gebrauch. Darin ist 
nichts, was die Logik verletzt. 
Aber der Physiker hat es nicht nur mit den experimentellen 
Anwendungen, durch die die Wissenschaft allein die Praxis 
unterstützen kann, zu tun. Nicht durch sie wurde die Wissen« 
Schaft geschaffen und entwickelt, sondern durch die experi* 
mentellen Prüfungen, die neben den experimentellen 
Anwendungen vorgenommen werden. 
Wie wird ein Physiker, wenn er ein bestimmtes Gesetz be- 
streitet, wenn er einen gewissen Punkt der Theorie in Zweifel 
zieht, die Entscheidung über seine Zweifel fällen, wie wird er 
die Unrichtigkeit des Gesetzes beweisen? Er wird aus dem in 
Frage gestellten Lehrsatz eine Vorhersage einer experimen- 
tellen Tatsache folgern, und sodann die Bedingungen, unter 
denen diese Tatsache entstehen muß, realisieren. Wenn die 
angekündigte Tatsache nicht entsteht, ist der Lehrsatz, der 
sie vorhergesagt, unrettbar gerichtet. 
F. E. Neumann meinte, daß die Schwingung eines polari- 
sierten Lichtstrahles parallel zur Polarisationsebene sei. Viele 
Physiker haben diesen Lehrsatz in Zweifel gezogen. Was hat 
Hr. O. Wiener getan, um diesen Zweifel in Gewißheit zu ver- 
wandeln, um zu zeigen, daß der Lehrsatz von Neumann zu ver- 
werfen sei? Er leitete aus diesem Lehrsatz folgende Konse- 
quenz ab: Wenn man ein Lichtbündel, das unter 45 ^ an einer 
Glasplatte reflektiert wurde mit dem einfallenden Bündel, das 
normal zur Einfallsebene polarisiert ist, interferieren läßt, 
müssen helle und dunkle Fransen, die parallel zur reflektieren- 
den Fläche sind, entstehen. Er realisierte die Bedingungen, 
unter denen diese Fransen entstehen sollten und zeigte, daß die 
erwartete Erscheinung nicht eintrat. Er folgerte daraus, daß 
Die physikalische Theorie und das Experiment 245 
der Lehrsatz von F. E. Neumann falsch sei, daß in einem polari- 
sierten Strahl die Schwingung nicht parallel zur Polarisations- 
ebene sei. Eine derartige Beweismethode scheint ebenso über- 
zeugend und unwiderlegbar, wie wenn etwas nach der bei 
den Mathematikern üblichen Methode ad absurdum geführt 
wird. Dieser Beweis ist übrigens der Methode des ad-absur- 
dum-Führens nachgebildet, wobei der experimentelle Wider- 
spruch im einen Falle, die Rolle des logischen Widerspruches 
im anderen spielt 
In Wirklichkeit fehlt viel dahin, daß die Beweiskraft der 
experimentellen Methode ebenso streng und absolut sei. Die 
Bedingtingen, unter denen sie zur Anwendung kommt, sind viel 
verwickelter als wir es vorausgesetzt haben. Die Bestimmung 
der Resultate ist viel heikler und der Bestätigung bedürftig. 
Ein Physiker will die Unrichtigkeit eines Lehrsatzes be- 
weisen. Um aus diesem Lehrsatz eine zu erwartende Er- 
scheinung abzuleiten, um das Experiment, das zeigen soll, 
ob diese Erscheinung eintritt oder nicht, anzuordnen, um die 
Resultate dieses Experimentes zu interpretieren und um zu 
konstatieren, ob die erwartete Erscheinung aufgetreten sei, 
kann er sich nicht auf die Anwendung des in Frage stehenden 
Lehrsatzes beschränken. Er wendet noch eine ganze Gruppe 
von Theorien an, die von ihm nicht in Frage gestellt sind. 
Das Auftreten oder Nichtauftreten der Erscheinung, das die 
Debatte entscheiden soll, ergibt sich nicht aus dem strittigen 
Lehrsatz allein, sondern aus der Verbindung desselben mit 
dieser ganzen Gruppe von Theorien. Wenn die erwartete Er- 
scheinung nicht auftritt, wird nicht nur der einzige strittige 
Lehrsatz widerlegt, sondern das ganze theoretische Gerüst, von 
dem der Physiker Gebrauch gemacht hat. Das Experiment 
lehrt uns bloß, daß unter allen Lehrsätzen, die dazu gedient 
haben, die Erscheinung vorauszusagen und zu konstatieren, 
daß sie nicht auftritt, mindestens einer ein Irrtum sei. Aber 
wo dieser Irrtum li^, sagt es ims nicht. Erklärt der Phy- 
siker, daß dieser Irrtum gerade in dem Lehrsatz, den er 
widerlegen will, enthalten sei und nirgends anders? Das 
würde bedeuten, daß er implizite die Richtigkeit aller anderen 
246 Zehntes Kapitel. 
Lehrsätze, von denen er Gebrauch macht, annimmt. Ebenso« 
viel, wie dieses Vertrauen, ist sein Schluß wert. 
Nehmen wir zum Beispiel das von Zenker erdachte und 
von Hm. O.Wiener realisierte Experiment. Als Hr. O.Wiener 
die Gestalt der Fransen unter gewissen Bedingungen voraus- 
sagte und zeigte, daß dieselben nicht auftreten, machte er nidit 
nur von dem berühmten Lehrsatz von F. E. Neumann, den er 
widerlegen wollte, Gebrauch. Er nahm nicht nur an, daß in 
einem polarisierten Strahl die Schwingungen parallel zur Polari- 
sationsebene seien, sondern er bediente sich auch unter anderem 
der allgemein anerkannten Lehrsätze, der Gesetze und der 
Hypothesen, aus denen die Optik besteht. Er nahm an, daß 
d^ Licht aus einfachen, periodischen Schwingungen bestehe, 
daß diese Schwingungen normal zum Lichtstrahl seien, daß 
in jedem Punkte die mittlere lebendige Kraft der Schwingungs- 
bewegung die Lichtintensität messe, daß die verschiedenen 
Grade dieser Intensität daran gemessen werden, inwieweit eine 
photographische Platte angegriffen wird. Diese verschiedenen 
Lehrsätze und viele andere, die aufzuzählen zu weitläufig wäre, 
mußte er dem von Neumann hinzufiigen, damit er eine Voraus- 
sage formulieren und erkennen konnte, daß das Experiment das- 
selbe widerlege. Wenn nach Hm. Wiener die Widerlegung 
einzig Und allein dem Lehrsatz von Neumann gilt, wenn dieser 
allein die Verantwortung für den Fehler, den diese Widerlegung 
aufgedeckt hat, trägt, so bedeutet das, daß Hr. Wiener die 
anderen Sätze, die er verwendete, über allen Zweifel erhaben 
hielt. Aber dieses Vertrauen tritt nicht mit logischer Notwen- 
digkeit auf. Nichts hindert uns, den Lehrsatz von F. E. Neu- 
mann für richtig zu halten und die Schuld des experimen- 
tellen Widerspmches irgend einem anderen gewöhnlich für zu- 
lässig gehaltenen Lehrsatz der Optik zuzuschreiben. Man kann 
sehr wohl, wie Hr. H. Poincar^ gezeigt hat, die Hypotiiese 
von Neumann vor den Fangarmen des Experimentes des 
Hm. O. Wiener bewahren, aber nur unter der Bedingung, 
daß man zum Tausch dafür die Hypothese, die die mittlere 
lebendige Kraft der Schwingungsbewegung zum Maß der 
Lichtintensität macht, preisgibt. Man kann, ohne mit dem 
Die physikalische Theorie und das Experiment. 247 
Experiment in Widerspruch zu kommen, die Schwingung 
parallel zur Polarisationsebene annehmen, vorausgesetzt, daß 
man die Lichtintensität durch die mittiere potentielle Energie 
des Mediums, das durch die Schwingungsbewegung deformiert 
wird, mißt 
Diese Prinzipien haben eine soldie Bedeutung, daß es 
vielleicht nidit Unnütz sein dürfte, sie auf ein anderes Beispiel 
anzuwenden. Wählen wir noch ein Experiment, das als eines 
der entscheidendsten in der Optik betrachtet wird. 
Wie bekannt hat Newton eine Theorie der optischen Er- 
scheinungen, die Emissionstheorie, entworfen. Die Emissions- 
theorie nimmt an, daß das Licht aus außerordentlich feinen 
Projektilen besteht, die mit ungeheurer Geschwindigkeit von 
der Sonne und anderen Lichtquellen weggeschleudert werden. 
Diese Projektile durchdringen alle durchsichtigen Körper. Von 
den verschiedenen Teilen der Medien, in deren Innern sie 
sich bewegen, werden auf sie anziehende oder abstoßende 
Kräfte ausgeübt. Dieselben sind sehr kräftig, wenn die Distanz, 
die die wirkenden Partikeln trennt, ganz klein ist, sie ver- 
schwinden, wenn die Massen, zwischen denen sie auftreten, 
sich merkbar voneinander entfernen. Diese grundlegenden 
H3rpothesen führen in Verbindung mit mehreren andern, die 
wir mit Stillschweigen übergehen wollen, ta einer vollständigen 
Theorie der Reflexion und Refraktion des Lichtes. Im be- 
sonderen ergibt sich aus ihnen folgende Konsequenz: Der 
Brechungsindex des Lichtes beim Obergang aus einem Me- 
dhmi in ein anderes ist gleich der Geschwindigkeit des leuch- 
den Projektils im Innern des Mediums, in das es eintritt, geteilt 
durch die Geschwindigkeit desselben Projektils im Innern des 
Mediums, das es verläßt. 
Diese Konsequenz hat Arago gewählt, um zu beweisen, 
daß die Emissionstheorie mit den Tatsachen in Widerspruch 
stehe. Aus diesem' Lehrsatz ergibt sich nämlich folgender 
andere: Das Licht bewegt sich im Wasser schneller als in Luft. 
Arago gab nun ein Verfahren an, um die Geschwindigkeit des 
Lichtes in Luft mit der in Wasser zu vergleichen. Das Ver- 
fahren war allerdings unanwendbar, aber Foucault modi- 
248 Zehntes Kapitel. 
fizierte das Experiment in der Art, daB es ausgeführt werden 
konnte und führte es audi aus. Er fand, daß das Licht sich 
weniger schnell im Wasser als in der Luft bewege. Daraus 
kann man mit Foucault schließen, daß das System der Emission 
mit den Tatsachen unvereinbar sei. 
Ich sage das System der Emission, und nicht die Hypo- 
these der Emission, denn es ist in der Tat die ganze Gruppe 
der von Newton, ebenso wie nachher von Laplace und Biot 
anerkannten Lehrsätze, in der das Experiment einen Fehler 
aufgewiesen hat Es ist die ganze Theorie, aus der die Be- 
ziehung zwischen dem Brechungsindex und der Lichtgeschwin- 
digkeit in verschiedenen Medien abgeleitet wird. Aber indem 
das Experiment dieses System als ganzes verwirft, indem es 
erklärt, daß es mit einem Fehler behaftet sei, sagt es nichts dar- 
über, wo dieser Fehler liegt. Liegt er in der fundamentalen 
Hypothese, daß das Licht aus Projektilen besteht, die mit 
großer Geschwindigkeit von den leuchtenden Körpern weg- 
geschleudert werden? Liegt er in irgend einer anderen An- 
nahme über die Wirkungen, die die leuchtenden Teilchen von 
Seiten der Medien, in deren Innern sie sich bewegen, erfahren? 
Wir wissen darüber nichts. Es wäre verwegen zu glauben, 
wie Arago gedacht 2u haben scheint, daß das Experiment von 
Foucault unwiderbringlich die Emissions-Hypothese selbst, die 
Ersetzung eines Lichtstrahles durch einen Schwärm von Pro- 
jektilen, vernichte. Wenn die Physiker einen Preis auf die 
Aufstellung eines optischen Systems, das auf diese Annahme 
gegründet und dabei mit dem Experiment von Foudaidt in 
Übereinstimmung steht, gesetzt hätten, würden sie sicher eine 
derartige Arbeit erhalten haben. 
All dies zusammengefaßt ergibt sich, daß der Physiker 
niemals eine isolierte Hypothese, sondern immer nur eine ganze 
Gruppe von Hypothesen der Kontrolle des Experimentes unter- 
werfen kann. Wenn das Experiment mit seinen Voraussagun- 
gen in WiderspHuch steht, lehrt es ihn, daß wenigstens eine 
der Hypothesen, die diese Gruppe bilden, unzulässig ist und 
modifiziert werden muß. 
Wir befinden uns da recht weit von der experimentellen 
Die physikalische Theorie und das Experiment. 249 
Methode, wie sie gerne jene Leute, die ihrer Funktioii fremd 
gegenüberstehen, auffassen. Man denkt gewöhnlich, daß jede 
Hypothese, deren sich die Physik bedient, isoliert genommen 
und der Kontrolle des Experimentes unterworfen werden kann. 
Wenn dann verschiedene und vielfache Prüfungen den Wert 
derselben konstatieren ließen, kann sie in definitiver Weise 
in dem System der Physik ihren Platz finden. In Wirklich- 
keit ist es nicht so. Die Physik ist keine Maschine, die sich 
demontieren läßt Man kann nicht jedes Stück isoliert unter- 
suchen und voraussetzen, daß nur genau auf ihre Festigkeit 
kontrollierte Stücke montiert werden. Die physikalische 
Wissenschaft ist ein System, das man als Ganzes nehmen muß, 
ist ein Organismus, von dem man nicht einen Teil in Funktion 
setzen kann, ohne daß auch die entferntesten Teile desselben 
ins Spiel treten, die einen in höherem die anderen in geringerem, 
aber alle in irgend einem Qrade. Wenn irgend eine Störung, 
irgend eine Beschwerde in seiner Funktion auftritt, so ist sie 
in der Tat durch das gesamte System hervorgerufen, und der 
Physiker muß das Organ finden, welches in Ordnung ge- 
bracht oder modifiziert werden muß, ohne daß es ihm mög- 
lich wäre, dieses Organ zu isolieren und es einzeln zu prüfen. 
Der Uhrmacher, dem man eine Uhr gibt, die nicht geht, nimmt 
alle Räder derselben heraus und prüft jedes einzeln, bis er 
das gefunden, welches fehlerhaft oder gebrochen ist. Der 
Arzt, der einen Kranken untersucht, kann diesen nicht zer- 
schneiden, um seine Diagnose aufzustellen. Er muß den Sitz 
und die Ursache des Übels einzig und allein durch die Fest- 
stellung der Unregelmäßigkeiten, die am Körper als Ganzes 
auftreten, erkennen. Diesem und nicht jenem gleicht der Phy- 
siker, der eine lahme Theorie wieder auf die Beine bringen soll. 
§ 3. — Das experimentum crucis. ist in der Physik 
unmöglich. 
Verweilen wir noch einen Augenblick, da wir es hier 
mit einem der wesentlichsten Punkte der experimentellen 
Metiiode, wie sie in der Physik angewendet wird, zu tun 
haben. 
250 Zehntes Kapitel 
Die Methode des ad -absurdum -Führens, die nur ein 
Mittel der Widerlegung zu sein scheint, kann zu einem Beweis- 
mittel werden. Um zu beweisen, daB ein Lehrsatz richtig ist, 
genügt es, den genau entgegengesetzten Lehrsatz zu einer ab- 
surden Konsequenz zu treiben. Man weiß welch ausgedehnten 
Gebrauch die griechischen Mathematiker von dieser Art der 
Beweisführung gemacht haben. 
Diejenigen, die den experimentellen Widerspruch mit der 
Methode des ad-absurdum-Führens gleichsetzen, meinen, daß 
man in der Physik von einem Argument Qebraudi madien 
kann, das dem von Euklid so häufig in dier Geometrie benütz- 
ten gleicht. Wollen Sie von irgend einer Gruppe von Erschei- 
nungen eine gewisse, unbestreitbare, theoretische Erklärung 
erhalten? Zählen Sie alle Hypothesen auf, die man annehmen 
kann, um von dieser Erscheinungsgruppe Redienschaft zu 
geben; alsdann eliminieren Sie auf Grund des experimentellen 
Widerspruches alle bis auf eine; diese letztere wird keine 
Hypothese mehr sein, sondern eine Gewißheit darstellen. 
Nehmen Sie im Speziellen an, daß nur zwei Hypothesen 
vorhanden seien; suchen Sie experimentelle Bedingungen von 
der Art, daß eine dieser Hypothesen das Auftreten einer Er- 
scheinung, die andere das einer ganz anderen Erscheinung 
anzeige; realisieren Sie diese Bedingungen und beobachten 
Sie was geschieht; je nachdem Sie die erste der vorausge- 
sagten Erscheinungen beobachten oder die zweite, werden Sie 
die zweite resp. die erste Hypothese verwerfen; diejenige, die 
nicht verworfen wird, wird in Zukunft unbestreitbar sein; die 
Debatte ist geschlossen, die Wissenschaft hat eine neue Wahr- 
heit erlangt. Das ist die experimentelle Prüfung, der der 
Autor des Novum Organum den Namen „Experimentum 
crucis" beilegte, „indem er diesen Ausdruck auf die Kreuze 
bezog, die an den Straßenkreuzungen die verschiedenen Wege 
anzeigen". 
Es liegen zwei Hypothesen über die Natur des Lidites vor. 
Für Newton, Laplace, Biot besteht das Licht aus Projektilen, 
die sich mit ungeheurer Geschwindigkeit fortbewegen; für 
Huygens, Young, Fresnel besteht das Licht in Schwingungen, 
Die physikalische Theorie und das Experiment 251 
deren Wellen sich im Innern eines Äthers fortpflanzen; die 
zwei Hypothesen sind die einzigen^ die man für möglich hält; 
die Bewegung wird also entweder durch den Körper, der 
sie besitzt und mit dem sie verbunden bleibt, fortgetragen oder 
sie geht von einem Körper zum anderen über. Gehen wir 
von der ersten Hypothese aus, so ergibt sich, daß sich das 
Licht schneller in Wasser als in Luft bewegt; gehen wir von 
der zweiten aus, so ergibt sich, daß sich das Licht schneller in 
Luft als in Wasser bewegt. Montieren wir den Foucaultschen 
Apparat und setzen wir den rotierenden Spiegel in Bewegung. 
Vor unseren Augen werden sich zwei leuchtende Streifen bil- 
den, deren einer nicht gefärbt, deren anderer grün ist. Wenn 
der grünliche Streifen an der linken Seite des ungefärbten auf- 
tritt, so bedeutet dies, daß sich das Lidit schneller in Wasser 
als in der Luft bewegt, d. h. die Undulationshypothese ist 
falsch. Wenn dagegen das grünliche Band an der rechten 
Seite des ungefärbten auftritt, so bedeutet das, daß sich das 
Licht schneller in Luft als in Wasser bewegt, d. h. daß die 
Emissionshypothese widerlegt ist. Wir sehen durch die Lupe, 
die dazu dient, die beiden leuchtenden Streifen zu prüfen und 
konstatieren, daß der grünliche Streifen an der rechten des 
ungefärbten auftritt. Die Debatte ist entschieden, das Licht 
ist nicht ein Körper, sondern eine sich im Äther fortpflanzende 
Schwingungsbewegung. Die Emissionshypothese hat zu leben 
aufgehört, die Undidationstheorie kann nicht mehr in Zweifel 
gezogen werden. Dieses experimentum crucis hat in der Tat 
einen neuen Glaubensartikel des wissenschaftlichen Credo fest- 
gelegt. 
Was wir im vorigen Paragraphen ausgeführt, zeigt, wie 
sehr man sich täuschen würde, wenn man dem Experiment 
von Foucault eine so einfache Bedeutung und eine so ent- 
scheidende Tragweite zusdireiben wollte. Das Experiment von 
Foucault entscheidet nidit zwischen zwei Hypothesen, der der 
Emission und der der Undulation, sondern zwischen zwei theo- 
retischen Gruppen, deren jede als Ganzes genommen werden 
muß, zwischen zwei vollständigen Systemen, der Optik von 
Newton und der Optik von Huygens. 
252 Zehntes Kapitel. 
Aber nehmen wir einen Augenblick an, daß in jedem dieser 
Systeme alles folgerichtig, alles von logisdier Notwendigkeit 
sei mit Ausnahme einer einzigen Hypothese ; nehmen wir dem- 
zufolge auch an, daß die Tatsachen, indem sie einem dieser 
beiden Systeme widersprechen, auch mit Sidierheit die einzis^ 
zweifelhafte Annahme, die es enthält, verwerfen. Ergibt sich 
nun aber daraus, ebenso wie in der Geometrie, in der man, 
wenn man einen geometrischen Lehrsatz ad absurdiun fuhrt, 
die Gewißheit des widersprechenden erhält, daß man auch im 
experimentum crucis ein unwiderlegliches Verfahren be- 
sitzt, um eine der beiden voriiegenden Hypothesen in eine 
bewiesene Wahrheit zu verwandeln? Neben zwei Theoremen 
der Geometrie, die einander widersprechen, gibt es keinen 
Platz für ein drittes Urteil; wenn eines falsch ist, ist das 
andere notwendigerweise richtig. Bilden zwei physikalische 
Hypothesen jemals einen derartig strengen Doppelschluß? 
Würden wir jemals zu behaupten wagen, daß keine andere 
Hypothese denkbar sei? Das Licht kann ein Schwärm von 
Projektilen, es kann eine Schwingungsbewegung, deren Wellen 
sich in einem elastischen Medium fortpflanzen, sein; ist 
es ihm deshalb verboten, irgend etwas beliebig anderes zu 
sein? Arago meinte das ohne Zweifel, als er die folgende 
entscheidende Alternative formulierte: Etewegt sich das Licht 
schneller in Wasser als in Luft? „Das Licht ist ein Körper. 
Besteht das Gegenteil? Das Licht ist eine Welle"i). Uns wäre 
es aber schwierig, uns in ebenso entscheidender Form auszu- 
drücken. Maxwell hat uns in der Tat gezeigt, daß man das 
Licht ebensogut einer periodischen elektrischen Störung, die 
sich im Innern eines dielektrischen Mediums fortpflanzt, zu- 
schreiben kann. 
Der experimentelle Widerspruch ermöglicht es uns nicht 
— wie das von den Geometem verwendete ad-absurdum- 
Führen — eine physikalische Hypothese in eine unbestreit- 
bare Wahrheit zu verwandeln. Um ihr dies zu ermöglichen, 
^) Im Original: „La lumi^re est un corps. Le oontraire a-t-il lieu? 
La lumiire est une ondulation." 
Die physikalische Theorie und das Experiment. 253 
müßte man alle verschiedenen Hypothesen aufzählen, die bei 
einer bestimmten Gruppe von Erscheinungen auftreten kön- 
n^i. E>er Physiker ist nun niemals sicher, alle denkbaren 
Annahmen erschöpft zu haben. Die Wahrheit einer physika- 
lischen Theorie kann nicht nach Kopf Und Wappen entschieden 
werden. 
§ 4. — Kritik der Newtonschen Methode. — Erstes 
Beispiel: Die Mechanik des Himmels. 
Es ist illusorisch, mit Hilfe des experimentellen Wider- 
spruches eine Argumentation, die das ad-absurdum- Führen 
nachahmt, konstruieren zu wollen. Aber die Geometrie kennt, 
um zur Gewißheit zu gelangen, noch andere Mittel, als den Weg 
per absurdulm. Der direkte Beweis, bei dem die Wahrheit 
eines Lehrsatzes durch ihn selbst und nicht durch die Wider- 
legung des widersprechenden Lehrsatzes dargetan wird, er- 
scheint ihr als der vollkommenste Gedankengang. Vielleicht 
wäre die physikalisdie Theorie in ihren Bemühungen glück- 
licher, wenn sie versuchte, den direkten Beweis nach- 
zuahmen. Die Hypothesen, aus denen sie ihre Schlüsse 
ableitet, müßten dann Stück für Stück bewiesen werden. Jede 
von ihnen müßte akzeptiert werden, wie wenn sie die voll- 
ständige Gewißheit, die die experimentelle Methode einem 
abstrakten und allgemeinen Satz verleihen kann, darstellte. 
Das heißt, sie wäre notwendigerweise entweder ein Ge- 
setz, das aus der Beobaditung auf Grund der zwei intellek- 
tuellen Operationen, die man Induktion und Generalisation 
nennt, abgeleitet, oder auch ein mathematisdies Korollar, das 
aus solchen Gesetzen deduziert wurde. Eine auf soldien 
H)rpothesen begründete Theorie würde nichts Willkürlidies, 
nichts Zweifelhaftes besitzen, sie würde das ganze Vertrauen 
verdienen, dessen die Hilfsmittel, die uns zur Formulierung 
der Naturgesetze dienen, würdig sind. 
So ist jene physikalische Theorie besdiaffen, die Newton 
pries, als er un Scholium generale, das das Werk über 
die Prinzipien krönt, jede Hypothese, die die Indiiktion nicht 
254 Zehntes Kapitel. 
aus der Erfahrung abgeleitet, so entschieden aus den Grenzen 
der Naturwissenschaft verwies, als er behauptete, daß in der 
gesunden Physik jeder Lehrsatz aus den Erscheinungen ab- 
geleitet und durch die Induktion verallgemeinert werden m&sse. 
Die ideale Methode, die wir eben beschrieben, verdient 
daher ganz mit Recht den Namen Newtonsche Methode. Hat 
Newton nicht überdies, als er das System der allgemeinen An- 
ziehung aufstellte, anknüpfend an seine Vorschriften das groß- 
artigste Beispiel derselben gegeben? Ist seine Theorie der 
Gravitation nicht vollständig aus den Gesetzen, die Kepler 
durch Beobachtung fand, Gesetzen, die die Überlegung um- 
formt und deren Konsequenzen die Induktion verallgemeinert, 
abgeleitet? 
Das erste Keplersche Gesetz: „Der Radius vector, der von 
der Sonne zu einem Planeten führt, überstreicht eine Fläche, 
die proportional der Zeit ist, während welcher man die Be- 
wegung beobachtet", hat in der Tat Newton gelehrt, daß jeder 
Planet konstant einer gegen die Sonne gerichteten Kraft unter- 
worfen ist 
Das zweite Keplersche Gesetz: „Die Bahn jedes Planeten 
ist eine Ellipse, deren Brennpunkt die Sonne ist", lehrte ihn, 
daß die Kraft, die auf einen bestimmten Planeten wirkt, mit 
dem Abstand desselben von der Sonne variiere und im um- 
gekehrten Verhältnis des Quadrates dieses Abstandes stehe. 
Das dritte Keplersche Gesetz: „Die Quadrate der Um- 
laufszeiten der verschiedenen Planeten sind proportional den 
Kuben der großen Achsen ihrer Bahnen" zeigte ihm, daß 
wenn verschiedene Planeten in den gleichen Abstand von der 
Sonne gebracht würden, sie von selten dieses Gestirnes An- 
ziehungen erfahren würden, die proportional ihren Massen 
sind. 
Die durch Kepler experimentell erwiesenen, durdi die 
mathematische Überlegung umgeformten Gesetze lehren alle 
Kennzeichen der Wirkung, die die Sonne auf einen Planeten 
ausübt, kennen; durch Induktion generalisiert Newtcm das er- 
haltene Resultat; er nimmt an, daß dieses Resultat das Ge- 
Die physikalische Theorie und das Experiment. 255 
setz ausdrücke, nach dem jede beliebige Menge Materie auf 
eine beliebige andere Materie wirkt, und formuliert folgendes 
großes Prinzip: y,Zwei beliebige Körper ziehen sich gegen- 
seitig mit einer Kraft an, die proportional dem Produkt ihrer 
Massen und umgekehrt proportional dem Quadrat ihres Ab- 
standes ist'^ Das Prinzip der allgemeinen Gravitation ist ge- 
funden; er hatte es, ohne daß er von einer fiktiven Hypothese 
Gebrauch gemacht, durch die induktive Methode, deren Richt- 
linien er gezeichnet, erhalten. 
Nehmen wir diese Anwendung der Newtonschen Me- 
thode etwas näher vor. Sehen wir, ob eine etwas strengere, 
logische Analyse den Schein der Strenge imd Einfachheit, den 
diese allzusummarische Darstellung erzeugt, bestehen läßt 
Um dieser Diskussion alle nötige Klarheit zu sichern, be- 
ginnen wir mit der Erinnerung an folgendes Prinzip, das jedem, 
der sich mit der Mechanik beschäftigt, geläufig ist: Man kann 
nicht von der Kraft, die auf einen Körper unter gegebenen 
Umständen wirkt, sprechen, bevor man nicht den Punkt be- 
zeichnet hat, der als fest angenommen wird, auf den man die 
Bewegung des Körpers bezieht; wenn man diesen Beziehungs- 
punkt ändert, ändert auch die Kraft, die die auf den 
beobachteten Körper von den anderen ihn umgebenden aus- 
geübte Wirkung darstellt, ihre Richtung und Größe nach ge- 
wissen Regeln, die die Mechanik mit Genauigkeit ausspricht. 
Nachdem wir das festgestellt, folgen wir den Überlegungen 
Newtons. 
Newton nimmt im Anfang die Sonne als unbeweglidien 
Vergleichspunkt an. Er betrachtet die Bewegungen, die die 
verschiedenen Planeten besitzen, in Bezug auf diesen Punkt 
Er nimmt an, daß diese Bewegungen den Keplerschen Gesetzen 
gehorchen und leitet aus ihnen folgenden Lehrsatz ab : „Wenn 
die Sonne der Beziehungspunkt für alle Kräfte ist, ist jeder 
Planet einer gegen die Sonne gerichteten Kraft unterworfen, 
die proportional der Masse des Planeten und umgekehrt pro- 
portional dem Quadrat seines Abstandes von der Sonne ist 
256 Zehntes Kapitel. 
Was dieses Gestirn betrifft, so ist es, indem es als Beziehungs- 
punkt gewählt wird, keiner Kraft unterworfen. 
Newton studiert in analoger Weise die Bewegung der 
Satelliten, und für jeden von ihnen wählt er als unbeweglichen 
Beziehungspunkt den Planeten, den der Satellit begleitet, die 
Erde, wenn es sich um das Studium der Bewegung des Mondes 
handelt, den Jupiter, wenn ihn die Trabanten desselben be- 
schäftigen. Gesetze, die den Keplerschen vollständig gleichen, 
werden als Regeln dieser Bewegungen angenommen. Aus 
ihnen ergibt sich, daß man folgenden neuen Lehrsatz formu- 
lieren kann: „Wenn man als unbeweglichen Beziehungspunkt 
den Planeten, den ein Satellit begleitet, annimmt, so ist dieser 
Satellit einer gegen den Planeten gerichteten Kraft unter- 
worfen, die in umgekehrtem Verhältnis des Quadrates seines 
Abstandes vom Planeten wächst. Wenn, wie es bei Jupiter der 
Fall ist, derselbe Planet mehrere Satelliten besitzt, so würden 
sie, wenn sie in die gleiche Entfernung von ihm gebracht wür- 
den, Kräften unterliegen, die proportional ihren Massen sind. 
Der Planet selbst erfährt keinerlei Wirkung von selten des 
Satelliten." 
Dies sind in sehr präziser Form die Lehrsätze, deren Auf- 
stellung die Keplerschen Gesetze über die Planetenbewegungen 
und die Ausdehnung derselben auf die Bewegung der Satelliten 
ermöglichen. An Stelle dieser Lehrsätze setzt Newton einen 
anderen, der folgendermaßen ausgesprochen werden kann: 
„Zwei beliebige Himmelskörper üben aufeinander eine An- 
ziehungskraft aus, die die Richtung der Geraden, welche sie 
verbindet, besitzt, proportional dem Produkt ihrer Massen und 
umgekehrt proportional dem Quadrate ihrer Entfernung ist 
Dieser Ausdruck setzt voraus, daß alle Bewegungen und alle 
Kräfte auf den gleichen Beziehungspunkt bezogen seien. Dieser 
Punkt ist ein ideales Zeichen, das der Mathematiker recht wohl 
begreifen kann, dessen Lage am Himmel aber kein Körper in 
genauer und konkreter Weise bestimmt." 
Ist dieses Prinzip der allgemeinen Gravitation eine ein- 
fache Generalisation der zwei Ausdrücke, die die Keplerschen 
Gesetze und deren Ausdehnung auf die Satellitenbewegungen 
Die physikalische Theorie und das Experiment 257 
geliefert haben? Kann die Induktion es aus diesen beiden Aus- 
drücken ableiten? Keineswegs. In der Tat ist es nicht nur 
allgemeiner, als diese beiden Ausdrücke, es ist nicht nur ver- 
schieden, sondern es steht in direktem Widerspruch zu ihnen. 
Wenn der Mechaniker das allgemeine Anziehungsprinzip an- 
erkennt, kann er die Größe und Richtung der Kräfte, die 
auf die verschiedenen Planeten und die Sonne wirken, berech- 
nen, wobei er letztere als Beziehungspunkt nimmt. Er findet 
dann, daß diese Kräfte keineswegs diejenigen sind, die unser 
erster Ausdruck verlangen würde. Er kann die Größe und 
Richtung jeder der Kräfte, die auf Jupiter und seine Satelliten 
wirken, bestimmen, unter der Annahme, daß alle Bewegungen 
auf den als unbeweglich vorausgesetzten Planeten bezogen 
seien. Er konstatiert, daß diese Kräfte nicht so sind, wie es 
unser zweiter Ausdruck erfordern würde. 
Das Prinzip der allgemeinen Gravitation kann 
daher keineswegs durch Generalisation und Induk- 
tion aus den Beobachtungstatsachen, die Kepler for- 
muliert hatte, abgeleitet werden, es widerspricht viel- 
mehr in aller Form diesen Gesetzen. Wenn die Theorie 
von Newton richtig ist, sind die Keplerschen Gesetze 
notwendigerweise falsch. 
Es sind daher nicht die Gesetze, die Kepler aus der Be- 
obachtung der Himmelserscheinungen abgeleitet hat, die ihre 
experimentelle Sicherheit auf das Prinzip der allgemeinen 
Schwere übertragen, da man im Gegenteil, wenn man die ab- 
solute Richtigkeit der Keplerschen Gesetze annimmt, ge- 
zwimgen wäre, den Lehrsatz, auf den Newton die Mechanik 
des Himmels aufbaut, zu verwerfen. Anstatt sich auf die Kepler- 
schen Gesetze berufen zu können, findet der Physiker, der 
die Theorie der allgemeinen Gravitation rechtfertigen will, vor 
allem in diesen Gesetzen ein Hindernis, das überwunden wer- 
den muß. Er muß beweisen, daß seine Theorie, die mit der 
Richtigkeit dieser Gesetze unvereinbar ist, die Bewegungen 
der Planeten und Satelliten anderen Gesetzen unterwirft, die 
so wenig von den ersteren verschieden sind, daß Tycho-Brahe, 
Kepler und ihre Zeitgenossen die Abstände der Keplerschen 
Dnhem, PhysilcAliscfie Theorie. 17 
258 Zehntes Kapitel. 
und Newtonschen Bahnen nicht zu unterscheiden vermocht 
hätten. Dieser Beweis kann aus dem Umstand, daß die 
Masse der Sonne sehr beträchtlich gegenüber den Massen der 
verschiedenen Planeten und die Masse eines Planeten sehr 
beträchtlich gegenüber den Massen seiner Satelliten ist, abge- 
leitet werden. 
Wie kann daher die Newtonsche Theorie, wenn sich deren 
Gewißheit nicht aus der der Keplerschen Gesetze ergibt, als 
gültig bewiesen werden. Man wird aus ihr mit einer An- 
näherung, wie sie den stets verbesserten algebraischen Me- 
thoden entspricht, die Störungen berechnen, um die in jedem 
Augenblick jedes der Gestirne von der Bahn, die ihm gemäß 
den Keplerschen Gesetzen vorgezeichnet wäre, abweicht. So- 
dann wird man die berechneten Störungen mit den Störungen, 
die mit Hülfe der genauesten Instrumente und der präzisesten 
Methoden beobachtet wurden, vergleichen. Ein derartiger Ver- 
gleich wird nicht nur über diesen oder jenen Teil des Newton- 
schen Prinzipes handeln, sondern alle Teile desselben auf ein- 
mal in Betracht ziehen, und ebenso auch aber alle Prinzipien der 
Dynamik. Außerdem wird er alle Lehrsätze der Optik, der 
Statik der Gase, der Wärmetheorie zu Hilfe nehmen, die nötig 
sind, um die Eigenschaften der Teleskope festzustellen, um 
sie zu konstruieren, zu justieren, zu korrigieren, um die durch 
die täglidie und jährliche Aberration und durch die atmos- 
phärische Refraktion verursachten Fehler zu eliminieren. 
Es handelt sich nicht mehr darum, die durch Beobachtung fest- 
gestellten Gesetze Stück für Stück zu nehmen und jedes der- 
selben durch Induktion und Generalisation zum Range eines 
Prinzips zu erheben, sondern es handelt sich vielmehr darum^ 
die Folgesätze einer ganzen Gruppe von Hypothesen mit einer 
ganzen Gruppe von Tatsachen zu vergleichen. 
Wenn wir nun die Ursachen suchen, die die Newtonsche 
Methode in dem Falle scheitern ließen, für den sie ersonnen 
wurde. Und als dessen vollkommenste Anwendung sie erschien, 
finden wir sie in den zwei Kennzeichen, die jedes von der 
theoretischen Physik verwendete Gesetz besitzt: Ein solches 
Gesetz ist symbolisch und angenähert. 
Die physikalische Theorie und das Experiment. 259 
Ohne Zweifel handeln die Keplerschen Gesetze direkt von 
den eigentlichen Objekten der astronomischen Beobachtung. 
Sie sind so wenig symbolisch, wie nur möglich. Aber in 
dieser rein experimentellen Form können sie nicht zur Auf- 
stellung des Prinzips der allgemeinen Schwere führen. Damit 
sie diese Fruchtbarkeit erlangen, müssen sie umgeformt wer- 
den, müssen sie die Eigenschaften der Kräfte, mit denen die 
Sonne die verschiedenen Planeten anzieht, kennen lehren. 
Diese neue Form der Keplerschen Gesetze ist nun eine 
symbolische Form. Die Dynamik allein gibt den Worten 
Kraft und Masse, die dazu dienen, sie auszudrücken, einen 
Sinn. Die Dynamik allein ermöglicht es, die alten, rea- 
listischen Formeln, durch die neuen symbolischen, die Ge- 
setze bezüglich der Bahnen durch Ausdrücke bezüglich der 
Kräfte und Massen zu ersetzen. Die Berechtigung einer 
derartigen Substitution setzt volles Vertrauen zu den Ge- 
setzen der Dynamik voraus. 
Um dieses Vertrauen zu rechtfertigen, wollen wir nicht be- 
haupten, daß die Gesetze der Dynamik, im Augenblick, als 
Newton von ihnen Gebrauch machte, um die Keplerschen 
Gesetze zu symbolisieren, außer allem Zweifel standen, 
daß sie durch das Experiment Bestätigungen erfahren haben, 
die hinreichend sind, um die Zustimmung der Vernunft herbei- 
zuführen. In Wirklichkeit wurden sie bis dahin nur recht spe- 
ziellen und recht groben Prüfungen unterworfen. Ihre eigenen 
Ausdrücke waren recht unsicher und verschwommen geblieben. 
Erst im Werke über die Prinzipien wurden sie zum ersten 
Male in scharfer Weise formuliert. In der Übereinstimmung 
der Tatsachen mit der Mechanik des Himmels, die aus den 
Werken Newtons stammte, fanden sie ihre ersten, überzeugen- 
den Verifikationen. 
So setzte die Übertragung der Keplerschen Gesetze in 
symbolische, die allein für die Theorie dienlich sein können, 
von vornherein die Zustimmung des Physikers zu einer ganzen 
Gruppe von Hypothesen voraus. Aber noch mehr. Da die 
Keplerschen Gesetze nur angenähert sind, ermöglicht die Dyna- 
mik von ihnen eine Unzahl symbolischer Übertragungen zu 
17* 
260 Zehntes Kapitel. 
liefern. Unter diesen verschiedenen, ungezählten Formen gibt 
es eine, und nur eine, die mit dem Newtonschen Prinzip über- 
einstimmt. Die Beobachtungen von Tydho-Brahe, die von Kep- 
ler in so glücklicher Weise als Gesetze formuliert wurden, 
ermöglichen es dem Theoretiker, diese Form zu suchen, 
aber sie drängen sie ihm nicht auf, sie hätten es ihm ebenso 
gut ermöglicht, eine Unzahl anderer zu wählen. 
Der Theoriker kann sich daher nicht begnügen, zur Recht- 
fertigung seiner Wahl die Keplerschen Gesetze heranzuziehen. 
Wenn er beweisen will, daß das Prinzip, das er sich zu eigen 
machte, wirkUdi ein Prinzip der naturgemäßen Klassifikation 
der Bewegungen am Himmel sei, muß er zeigen, daß die 
beobachteten Störungen mit den im voraus berechneten über- 
einstimmen. Er muß aus der Bahn des Uranus auf die Existenz 
und Lage eines neuen Planeten schließen und in der ange- 
zeigten Richtung Neptun in seinem Teleskop erscheinen sehen. 
§ 5. — Kritik der Newtonschen Methode (Fortsetzung). 
— Zweites Beispiel: Die Elektrodynamik. 
Nach Newton hat niemand deutlicher als Ampere erklärt, 
daß jede physikaUsche Theorie allein durch Induktion aus dem 
Experiment abgeleitet werden müsse. Kein Werk hat sich 
enger an die Philosophiae naturalis Principia mathe- 
matica angeschmiegt, als die Thiorie math^matique des 
Ph^nom^nes electrödynatniques uniquement deduite 
de Texperiencfe. 
„Die Epoche, deren Kennzeichen in der Geschichte der 
Wissenschaft die Arbeiten Newtons bilden, ist nidit nur die 
der bedeutendsten Entdeckung, die der Mensch jemals über 
die Ursachen der großen Erscheinungen in der Natur gemacht, 
sondern sie ist auch die Epodie, in der der menschliche Qeist 
sich einen neuen Weg in die Wissenschaften, deren Aufgabe 
das Studium dieser Erscheinungen ist, gebahnt hat''. Mit diesen 
Zj&len beginnt Ampere seine Darlegungen in der Theorie 
math^matiqtie. Er fährt folgendermaßen fort: 
Die physikalische Theorie und das Experiment 261 
„Newton war weit davon entfernt, zu denken", daß das 
Gesetz der allgemeinen Schwere „hätte entdeckt werden können, 
wenn man von abstrakten, mehr oder minder einleuchtenden 
Betrachtungen ausgegangen wäre. Er stellte fest, daß es aus 
den beobachteten Tatsachen oder vielmehr aus solchen empi- 
rischen Gesetzen, die wie die Keplerschen nur generalisierte 
Resultate einer großen Anzahl von Tatsachen sind, abgeleitet 
werden müsse", 
„Der Weg den Newton ging, war folgender: Zuerst wur- 
den die Tatsachen beobachtet und deren Bedingungen, soweit 
als irgend möglich, variiert; bei dieser ersten Arbeit werden 
genaue Messungen angestellt, um aus ihnen allgemeine, einzig 
auf die Erfahrung gegründete Gesetze und sodann aus diesen 
Gesetzen unabhängig von jeder Hypothese über die Natur 
der Kräfte, die die Phänomene erzeugen, die mathematisdie 
Größe derselben, d. h. die Formel, die sie darstellen, abzu- 
leiten. Diese Methode wurde allgemein in Frankreich von den 
Gelehrten, denen die Physik jene immensen Fortsdiritte, die 
sie in der letzten Zeit gemacht hat, verdankt, angewendet und 
sie diente auch mir als Führer in allen meinen Untersudiungen 
über die elektrodynamischen Ersdieinungen. Ich hielt mich 
einzig an das Experiment, um die Gesetze dieser Erscheinungen 
aufzustellen und aus ihnen habe ich die Formel, die die 
Kräfte, aus denen sie entspringen, allein darstellen kann, abge- 
leitet Ich habe keine Untersudiung über die eigentliche Ur- 
sache, die man diesen Kräften zuschreiben kann, ausgeführt, 
da ich fest überzeugt bin, daß jeder Untersuchung dieser Art 
die rein experimentelle Kenntnis der Gesetze und die Be- 
stimmung des Wertes der Elementarkraft, die einzig aus diesen 
Gesetzen abgeleitet werden kann, vorausgehen muß". 
Man hat weder eine sehr aufmerksame noch sehr tief- 
gehende Kritik nötig, um zu erkennen, daß die mathematische 
Theorie der elektrodynamischen Erscheinungen in 
keiner Weise gemäß der Methode, die Ampere ihr vorzeichnet, 
verfährt, daß sie nicht einzig aus der Erfahrung abge- 
leitet sei. Die Tatsachen des Experimentes wären, roh, wie 
sie von Natur aus sind, nicht der mathematischen Behandlung 
262 Zehntes Kapitel. 
zugänglich gewesen. Um diese Behandlung zu ermöglichen, 
müssen sie umgebildet und in symbolische Form gebracht 
werden. Dieser Umbildung hat Ampere sie unterworfen. Er 
begnügt sich nicht, die Apparate aus Metall, in denen die 
Ströme fließen auf einfache geometrische Figuren zu redu- 
zieren. Eine derartige Versinnbildlichung drängt sich zu natür- 
lich auf, um Gelegenheit zu einem ernsten Zweifel zu geben. 
Er begnügt sich auch nicht, den der Mechanik entlehnten Be- 
griff der Kraft und die verschiedenen Theoreme, die diese 
Wissenschaft bilden, zu verwenden. In der Epodie, in der 
er schrieb, konnten diese Theoreme als über jeden Zweifel 
erhaben angesehen werden. Er macht überdies von einer 
ganzen Gruppe vollständig neuer, vollständig willkürlicher Hy- 
pothesen, von denen manche sogar ein wenig überraschend sind, 
Gebrauch. In erster Linie muß man unter diesen Hypothesen 
die intellektuelle Operation erwähnen, durch die er den elek- 
trischen Strom, der in Wirklichkeit nicht gebrochen werden 
könnte, ohne daß er zu existieren aufhört, in unendlich kleine 
Elemente zerlegt. Sodann die Annahme, daß alle wirklichen 
elektrodynamischen Wirkungen sich in fingierte Wirkungen 
auf die Paare, die je zwei Stromelemente bilden, zerlegen 
lassen. Sodann das Postulat, daß die wechselseitigen Wirkun- 
gen von zwei Elementen sich auf zwei Kräfte zurückführen 
lassen, die an den Elementen angreifen, die Richtung von deren 
Verbindungsgeraden besitzen, einander gleich und entgegen- 
gesetzt sind. Sodann jenes andere Postulat, daß der Abstand 
der beiden Elemente in der Formel für ihre Wechselwirkung 
bloß im Nenner und zu einer bestimmten Potenz erhoben, auftrete. 
Diese verschiedenen Annahmen sind so wenig augenschein- 
lich, so wenig zwingend, daß mehrere von ihnen von den 
Nachfolgern Amperes kritisiert oder verworfen wurden. Andere 
Hypothesen, die ebenso geeignet sind die fundamentalen Ex- 
perimente der Elektrodynamik auszudrücken, wurden von 
anderen Physikern vorgeschlagen. Aber keinem von ihnen 
gelang es, einen solchen Ausdruck zu geben, ohne ein neues 
Postulat zu formulieren; dies zu verlangen wäre auch absurd. 
Die Notwendigkeit für den Physiker, die experimentellen 
Die physikalische Theorie und das Experiment 263 
Tatsachen symbolisch auszudrücken, bevor er sie in seine 
Überlegungen einführt, macht den rein induktiven Weg, den 
Ampere vorgezeichnet hat, für ihn unbrauchbar. Dieser Weg 
ist ihm ebenso deshalb verboten, weil keines der beobach- 
teten Gesetze genau, sondern jedes nur angenähert ist. 
Die Annäherung der Ampereschen Experimente ist eine 
sehr grobe. Er gibt von den beobachteten Tatsachen eine 
symbolische Übertragung, die für den Ausbau seiner Theorie 
geeignet ist. Aber wie leicht wäre es ihm gewesen, die Un- 
genauigkeit der Beobachtungen zu benützen, um von ihr eine 
ganz andere Übertragung zu geben! Hören wir Wilhelm 
Weberi): 
„Ampere hat seine mathematische Theorie der elektro- 
dynamischen Erscheinungen in der Überschrift seiner Abhand- 
lung als einzig aus der Erfahrung abgeleitet, bezeich- 
net, und man findet in der Abhandlung selbst die sinnreiche 
einfache Methode ausführlich entwickelt, welche er zu diesem 
Zwecke angewandt hat. Man findet darin die von ihm ge- 
wählten Versuche und ihre Bedeutung für die Theorie aus- 
führlich erörtert und die Instrumente zu ihrer Ausführung ge- 
nau und vollständig beschrieben; doch fehlt es an einer ge- 
nauen Beschreibung der Versuche selbst. Bei solchen Funda- 
mentalversuchen genügt es aber nicht, den Zweck derselben 
anzugeben und die Instrumente zu beschreiben, womit sie 
gemacht werden, und im allgemeinen bloß die Versicherung 
beizufügen, daß sie von dem erwarteten Erfolge begleitet ge- 
wesen seien, sondern es ist auch nötig, in das Detail der Ver- 
suche selbst genauer einzugehen und anzugeben, wie oft jeder 
Versuch wiederholt, welche Abänderungen gemacht worden, 
und welchen Einfluß letztere gehabt haben, kurz, protokoll- 
mäßig alle Data mitzuteilen, welche zur Begründung eines 
Urteils über den Grad der Sicherheit oder Gewißheit des Re- 
sultates beitragen. Solche nähere Angaben über die Versuche 
hat Ampere nicht mitgeteilt, und es mangeln dieselben auch 
^) Wilhelm Weber: Elektrodynamische Maaßbestimmungen, 
Leipzig, 1846, p. 6-7. 
264 Zehntes Kapitel. 
jetzt noch zur Vervollständigung eines direkten tatsächlichen 
Beweises der elektrodynamischen Fundamentalgesetze. Die 
Tatsache der Wechselwirkung der Leitungsdrähte im allge- 
meinen ist zwar durch häufig wiederholte Versuche außer 
Zweifel gesetzt; aber nur mit solchen Mitteln und unter soldien 
Umständen, wo an keine quantitativen Bestimmungen ge- 
dacht werden konnte, geschweige, daß diese Bestimmungen 
eine Schärfe erreicht hätten, welche notwendig ist, um das 
Gesetz jener Erscheinungen als erfahrungsmäßig bewiesen zu 
betrachten". 
„Nun hat zwar Ampere häufiger von dem Ausbleiben 
elektrodynamischer .Wirkungen, welches er beobachtet hatte, 
eine ähnliche Anwendung gemacht, wie von Messungen, die 
das Resultat = ergeben hätten, und hat durch diesen Kunst- 
griff mit großem Scharfsinne Und vieler Geschicklichkeit die 
notwendigsten Grunddata und Prüfungsmittel für seine theo- 
retischen Kombinationen zu gewinnen gesucht, was in Er- 
mangelung besserer Data nicht anders möglich war; solchen 
negativen Erfahrungen, wenn sie auch einstweilen die Stelle 
mangelnder positiver Messungsresultate vertreten müssen, 
kann aber,'' da bei diesen Experimenten, alle passiven Wider- 
stände, alle Reibungen, alle Fehlerquellen präzise auf Erzeu- 
gung der Erscheinung, die man zu beobachten wünscht, hin- 
wirken, „keineswegs der ganze Wert und die volle Beweiskraft 
zugeschrieben werden, welche die letzteren besitzen, wenn 
sie nicht selbst mit solchen Hilfsmitteln und unter solchen 
Verhältnissen gewonnen worden sind, mit denen und unter 
welchen auch wahre Messungen sich ausführen lassen, was 
mit den von Ampfere gebrauchten Instrumenten nicht mög- 
lich war". 
Bei so wenig genauen Experimenten bleibt dem Physiker 
die Sorge überlassen, unter einer Unzahl gleich gut möglicher 
symbolischer Übersetzungen zu wählen. Sie bedingen keines- 
wegs eine bestimmte Wahl und sie verleihen dieser auch 
keine Gewißheit. Einzig die Intuition, die zu der Form der 
aufzustellenden Theorie rät, leitet diese Wahl. Diese Rolle 
der Intuition ist besonders in dem Werke Amperes wichtig. 
Die physikalische Theorie und das Experiment 265 
Es genügt die Schriften dieses großen Mathematikers durch- 
zublättern, um zu erkennen, daß seine fundamentale Formel 
der Elektrodynamik vollständig durch eine Art Sehergabe ge- 
funden wurde, daß die Experimente, auf die er sich beruft, nach- 
träglich ersonnen und gerade deshalb kombiniert wurden, um 
gemäß der Newtonsdien Methode eine Theorie, die tatsäch- 
lich auf Grund einer Serie von Postulaten aufgestellt wurde, 
darstellen zu können. 
Ampere war übrigens zu aufrichtig, um wissentlich 
zu verhehlen, daß seine einzig aus der Erfahrung 
abgeleitete Auseinandersetzung etwas Künstliches habe. 
Am Ende seiner Theorie math^matique des ph6- 
nom^nes £lectrodynamiques schreibt er die folgen- 
den Zeilen: „Ich glaube am Schluß dieser Abhandlung er- 
wähnen zu müssen, daß ich noch nicht Zeit hatte, die in 
der Figur 4 der ersten Tafel und in der Figur 20 der zweiten 
Tafel dargestellten Instrumente zu konstruieren. Die Expe- 
rimente, für die sie bestimmt sind, wurden daher noch nicht 
ausgeführt". Der erste der beiden Apparate nun, von denen 
hier die Rede ist, hatte den Zwedc, den letzten der vier fun- 
damentalen Fälle des Gleichgewichts, die als Säulen des Qe- 
bäudes von Ampere dienten, zu verwirklichen. Mit Hilfe 
jenes Experimentes, für das dieser Apparat bestimmt 
war, sollte die Potenz des Abstandes, nach dem die elektro- 
dynamischen Wirkungen vor sich gehen, festgestellt werden. 
Die elektrodynamische Theorie von Ampfere ist daher keines- 
wegs einzig aus der Erfahrung abgeleitet worden, son- 
dern das Experiment hatte im Gegenteil nur einen sehr ge- 
ringen Anteil an deren Ausbildung. Es war bloß die Ge- 
legenheit, die die Intuition des genialen Physikers wachrief 
und diese Intuition tat das übrige. 
Durch die Untersudiungen von Wilhelm Weber wurde die 
vollständig intuitive Theorie Amperes zum erstenmal einer 
eingehenden Prüfung an den Tatsachen unterworfen. Aber 
diese Prüfung wurde keineswegs auf Grund der Newtonschen 
Methode durchgeführt. Aus der in ihrer Gänze genommenen 
Theorie Amperes deduzierte Weber gewisse, der Rechnung zu- 
266 Zehntes Kapitel 
gängliche Wirkungen. Die Theoreme der Statik und der Dyna- 
mik, zu denen sogar noch gewisse Lehrsätze der Optik kamen, 
ermöglichten ihm einen Apparat, das Elektrodynamometer 
zu ersinnen, durch den dieselben Wirkungen präzisen Messun- 
gen unterworfen werden können. Die Übereinstimmung der 
Voraussagtingen der Redinung mit den Resultaten der Messun- 
gen bestätigt nun nicht diesen oder jenen isolierten Lehrsatz der 
Theorie von Ampere, sondern die ganze Gruppe elektrodyna- 
mischer, mechanischer und optischer Hypothesen, auf die man 
sich bei der Interpretation eines jeden der Weberschen Ex- 
perimente berufen muß. 
Somit ist dort, wo Newton scheiterte, Ampere noch hef- 
tiger auf den Qrund geraten. Das kommt daher, daß zwei 
unausweichliche Klippen den rein induktiven Weg für den Phy- 
siker ungangbar machen. In erster Linie kann kein experimen- 
telles Gesetz dem Theoretiker dienen, bevor es einer Inter- 
pretation, die es in ein sjrmbolisches Gesetz umbildet, unter- 
worfen wurde. Diese Interpretation schließt nun die Aner- 
kennung einer ganzen Gruppe von Theorien in sich. In zweiter 
Linie ist kein experimentelles Gesetz genau. Ein jedes ist nur 
angenähert und daher eine Unzahl verschiedener symboli- 
scher Übersetzungen möglich. Unter allen diesen Über- 
setzungen muß der Physiker diejenige wählen, die der Theorie 
eine fruchtbare Hypothese liefert, ohne daß das Experiment 
irgendwie seine Wahl leiten würde. 
Diese Kritik der Newtonschen Methode führt uns auf 
Schlußfolgerungen zurück, auf die wir schon bei der Kritik 
des experimentellen Widerspruches und des Experimen- 
ttim crucis gekommen waren. Diese Schlußfolgerungen ver- 
dienen, daß wir sie mit aller Klarheit formulieren. Es sind 
folgende : 
Man jagt einer Chimäre nach, wenn man irgend 
eine der Hypothesen der theoretischen Physik von den 
anderen Annahmen, auf denen diese Wissenschaft ruht, 
zu trennen sucht, um sie isoliert der Kontrolle der Be- 
obachtung zu unterwerfen; es schließt nämlich die 
Verwirklichung und Interpretation jedes beliebigen 
Die physikalische Theorie und das Experiment 267 
Experimentes der Physik die Anerkennung einer ganzen 
Gruppe theoretischer Lehrsätze in sich. 
Die einzige experimentelle Kontrolle der physi- 
kalischen Theorie, die nicht unlogisch ist, besteht in 
dem Vergleich DES VOLLSTÄNDIGEN SYSTEMES DER 
PHYSIKALISCHEN THEORIE MIT DER GANZEN GRUPPE 
EXPERIMENTELLER TATSACHEN und in der Feststellung, 
ob diese durch jene in befriedigender Weise dar- 
gestellt wird. 
§ 6. — Konsequenzen in bezug auf den physikalischen 
Unterricht. 
Im Gegensatz zu dem, was wir uns darzulegen bemüht 
haben, nimmt man im allgemeinen an, daß jede Hypothese 
der Physik aus der Gesamtheit getrennt und isoliert der Kon- 
trolle des Experimentes unterworfen werden könne. Natür- 
lich leitet man aus diesem irrtümlichen Prinzip falsche Konse- 
quenzen in bezug auf die Methode des physikalischen Unter- 
richtes ab. Man wünscht, daß der Lehrer alle Hypothesen 
der Physik in eine bestimmte Ordnung bringe ; daß er die erste 
nehme, deren Formulierung angebe, deren experimentelle Be- 
stätigungen aufzeige und sodann, wenn diese Bestätigungen 
als hinreichend erkannt wurden, die Hypothese als akzeptiert 
bezeichne. Ja, noch mehr, man wünscht, daß er diese erste 
Hypothese auf Grund induktiver Generalisation eines rein ex- 
perimentellen Gesetzes formuliere. Er würde diese Operation 
bei der zweiten Hypothese, ebenso der dritten usw. zu wieder- 
holen haben, bis die Physik vollständig dargestellt wäre. Man 
würde die Physik ebenso lehren können, wie man die Geometrie 
lehrt. Die Hypothesen würden einander ebenso wie die Theoreme 
folgen. Die experimentelle Prüfung jeder Annahme würde den 
Beweis eines jeden Lehrsatzes ersetzen. Man würde kein Er- 
gebnis erhalten, welches nicht aus den Tatsachen abgeleitet 
ist oder nicht ohne weiters durch die Tatsachen gerechtfertigt 
werden könnte. 
So ist das Ideal beschaffen, das sich viele Professoren 
setzen, das manche vielleicht glauben erreicht zu haben. Es 
268 Zehntes Kapitel. 
fehlt nicht an gewichtigen Stimmeni die sie zur Verfoigun^^ 
dieses Ideales anspornen. „Es ist wichtig/' sagt Hr. H. Poin- 
car£^), „die Hypothesen nicht übermäßig zu vervielfältigen und 
sie einzeln nacheinander aufzustellen. Wenn wir eine, auf 
vielfache Hypothesen gegründete Theorie bilden, welche unter 
unsern Prämissen muß dann notwendigerweise geändert wer- 
den, wenn das Experiment die Theorie widerlegt? Das zu 
wissen, ist unmöglich. Und umgekehrt, wenn das Experiment 
gelingt, wird man dann glauben, alle Hypothesen auf ein- 
mal verifiziert zu haben? Wird man glauben, mit einer ein- 
zigen Gleichung mehrere Unbekannte bestimmt zu haben?'' 
Speziell die rein induktive Methode, deren Gesetze New- 
ton formuliert hat, wird von vielen Physikern als die einzige 
Methode, die es ermöglicht, verstandesmäßig die Naturwissen- 
schaft darzustellen, angesehen: „Die Lehre, die wir bringen 
werden'', sagt Gustave Robin') „wird nur eine Kombination 
einfacher, durch das Experiment gegebener Induktionen sein. 
Was diese Induktionen betrifft, so werden wir sie stets in 
leicht merkbaren Ausdrücken formulieren, die direkten Veri- 
fikationen zugänglich sind, wobei wir niemals außer Betracht 
lassen, daß eine Hypothese niemals durch ihre Konsequenzen 
verifiziert werden könne." Es ist jene Newtonsche Methode, 
die denjenigen, (die die Aufgabe haben, die Physik in der Mittel- 
schule zu unterrichten, empfohlen, wo nicht vorgeschrieben 
wird. „Die Methoden der mathematischen Physik im Mittel- 
schulunterricht", wird ihnen gesagt*), „sind mangelhaft; sie 
gehen von a priori aufgestellten Hypothesen oder Defini- 
tionen aus, aus denen Deduktionen abgeleitet werden, die der 
Kontrolle des Experimentes unterworfen werden müssen. Diese 
Methode kann im Unterricht der speziellen Mathematik ent- 
sprechen, man hat aber unrecht, sie gegenwärtig in den Ele- 
^) H. Poincar^: Science et Hypothese, p. 179. [Deutsche Aus- 
gabe, Leipzig 1906, p. 153.] 
') O. Robin: Oeuvres scientifiques, Thermodynamique g6n6- 
rale. Introduction p. XU, Paris 1901. 
') Note sur une Conference de M. Joubert, inspecteur g^n^ral de 
TEnseignement secondaire. (L'Enseignement secondaire, IS.avrfl 1903.) 
Die physikalische Theorie und das Experiment 260 
mentarkursen der Mechanik, der Hydrostatik, der Optik an- 
zuwenden. Ersetzen wir sie durch die induktive Methode/' 
Die vorangehenden Erörterungen haben mehr als genü- 
gend folgende Wahrheit festgestellt: Die induktive Methode, 
deren Gebrauch man dem Physiker empfiehlt, ist für ihn eben- 
so unanwendbar, wie für den Mathematiker jene vollkommen 
deduktive Methode, die darin besteht, alles zu definieren und 
alles zu beweisen, jene Methode, in die sich gewisse Geometer 
zu verbeißen scheinen, obwohl Pascal an derselben vor langer 
Zeit gerechte und strenge Kritik geübt hat. Es ist daher 
wohl klar, daß diejenigen, die behaupten, nach dieser Methode 
die Reihe der physikalischen Prinzipien zu entwickeln, von 
derselben notwendigerweise eine Darstellung geben werden, 
die in irgend einem Punkte fehlerhaft ist. 
Unter den Mängeln, die eine derartige Darstellung kenn- 
zeichnen, ist der häufigste und gleichzeitig wegen der falschen 
Ideen, die er in den Verstand der Schüler einpflanzt, auch 
der schwerste, das fingierte Experiment. Der Physiker, 
der genötigt ist, sich auf ein Prinzip zu berufen, das in Wirk- 
lichkeit keineswegs aus den Tatsachen abgeleitet wurde, das 
keineswegs durch Induktion entstand, und dem es dabei wider- 
strebt, dieses Prinzip für das auszugeben, was es ist, d. h. 
für ein Postulat, ersinnt ein Experiment, das, wenn es aus- 
g^eführt und gelungen wäre, zu dem Prinzip führen könnte, 
dessen Berechtigung dargetan werden soll. 
Die Berufung auf ein derartiges fingiertes Experiment be- 
deutet, daß ein auszuführendes Experiment an Stelle eines 
ausgeführten gesetzt wird. Man rechtfertigt somit ein Prinzip 
nicht mit Hilfe der beobachteten Tatsachen, sondern mit Hilfe 
solcher, deren Realisierung man voraussagt. Und diese Vor- 
aussagung hat kein anderes Fundament, als den Glauben an 
das Prinzip, zu dessen Stütze man sich auf eben dieses Ex- 
periment beruft. Ein derartiges Beweisverfahren führt zu 
einem Circulus vitiosus, und derjenige, der es vorbringt, ohne 
hervorzuheben, daß das angegebene Experiment nicht aus- 
geführt wurde, begeht eine Unredlichkeit. 
270 Zehntes Kapitel. 
Manchmal würde das von dem Physiker beschriebene 
fingierte Experiment, wenn man es zu realisieren versuchen 
würde, kein irgendwie genaues Resultat ergeben. Die sehr 
unbestimmten und groben Wirkungen, die es hervorbringen 
würde, könnten ohne Zweifel mit dem zu rechtfertigenden 
Lehrsatz in Obereinstimmung gebracht werden, aber sie wür- 
den auch mit manchen andern, sehr verschiedenen Lehrsätzen 
in Übereinstimmung sein. Die Beweiskraft eines derartigen 
Experimentes wäre daher sehr schwach und der Bestätigung 
bedürftig. Das Experiment, das Ampere erdacht hat, um zu 
beweisen, daß die elektrodynamischen Wirkungen umgekehrt 
proportional dem Quadrat der Entfernung vor sich gehen, das 
er aber nicht ausgeführt hat, ist ein schlagendes Beispiel eines 
solchen fingierten Experimentes. 
Aber es kommt Schlimmeres vor. Recht häufig ist das 
fingierte Experiment, auf das man sich beruft, nicht nur un- 
realisiert, sondern unrealisierbar. Es setzt die Existenz eines 
Körpers voraus, den man in der Natur nicht antrifft, phy- 
sikalische Eigenschaften, die niemals beobachtet wurden. So 
hat Gustave Robin^), um von den Prinzipien der chemischen 
Mechanik die von ihm gewünschte rein induktive Darstellung 
geben zu können, unter dem Namen Beweiskörper (corps 
temoins), Körper erschaffen, die durch ihre bloße Gegen- 
wart fähig sind, eine chemische Reaktion in Gang zu bringen 
oder aufzuhalten ; niemals hat die Beobachtung den Chemikern 
die Existenz derartiger Körper offenbart. 
Das nicht realisierte Experiment, das absolut unrealisier- 
bare Experiment, erschöpfen noch nicht die verschiedenen 
Formen, die das fingierte Experiment in den Schriften der 
Physiker, die die induktive Methode zu befolgen behaupten, an- 
nehmen kann. Es bleibt noch die Aufzeigung einer noch un- 
logischeren Form als die aller anderen übrig, das absurde 
Experiment. Dasselbe will einen Lehrsatz beweisen, 
der, wenn er als Ausdruck einer experimentellen Tat- 
sache angesehen wird, einen Widerspruch aufweist 
Gustave Robin: Oeuvres scientifiques, Therinodynamique 
g^n^rale, p. II, Paris 1901. 
Die physikalische Theorie und das Experiment. 271 
Auch den scharfsinnigsten Physikern gelang es nicht immer, 
sich gegen das Auftreten des absurden Experimentes in ihren 
Darlegungen zu schützen. Führen wir zum Beispiel folgende, 
J. Bertrand^) entlehnte Zeilen an: „Wenn man als experimen- 
telle Tatsache annimmt, daß sich die Elektrizität an der Ober- 
fläche der Körper befinde, und als notwendiges Prinzip, daß die 
Wirkung der freien Elektrizität auf leitende Massenpunkte O 
sein müsse, so kann man, wenn diese beiden vorausgesetzten 
Bedingungen streng erfüllt sind, ableiten, daß die elektrischen 
Anziehungen und Abstoßungen umgekehrt proportional dem 
Quadrat der Entfemimg sind." 
Nehmen wir folgenden Lehrsatz: „Es gibt, wenn elektrisches 
Oleichgewicht besteht, keine Elektrizität im Innern des leitenden 
Körpers'^ und fragen wir, ob es möglich sei, ihn als Ausdruck 
einer experimentellen Tatsache zu betrachten. Wägen wir genau 
den Sinn der Worte, die da auftreten und speziell den Sinn 
des Wortes Inneres, ab. Im Sinne, in dem man dieses Wort 
in diesem Lehrsatz verstehen muß, ist ein Punkt im Innern 
eines elektrisierten Kupferstückes, ein solcher, der sich im Innern 
der Kupfermasse befindet Wie kann man demzufolge konsta- 
tieren, ob sich in dem Punkte Elektrizität befindet oder nicht? 
Man müßte dorthin einen Probekörper bringen; dazu müßte 
man vorher das Kupfer, welches sich dort befindet, wegnehmen. 
Aber dann wäre dieser Punkt nicht mehr im Innern der Kupfer- 
masse; er wäre außerhalb dieser Masse. Man kann nicht, ohne 
in einen logischen Widerspruch zu verfallen, unseren Lehrsatz 
als Beobachtungsresultat auffassen. 
Was ergeben daher die Experimente, durch die man diesen 
Lehrsatz zu beweisen vorgibt. Sicheriich etwas ganz anderes, 
als was man von ihnen behauptet. Man macht in einer leitenden 
Masse eine Höhlung und konstatiert, daß die Wände dieser 
Höhlung nicht elektrisiert seien. Diese Beobachtung beweist 
nichts bezüglich der An- oder Abwesenheit von Elektrizität in 
Punkten, die sich im Innern einer leitenden Masse befinden. 
Um von dem experimentell konstatierten Oesetz zu dem aus- 
^) J. Bertrand: Legons sur la Theorie math^matique de 
rfelectricit^, p. 71. Paris, 1890. 
272 Zehntes Kapitel. 
gesprochenen flberzugehen, spielt man mit dem Sinn des Wortes 
Inneres. Aus Furcht, die Elektrostatik auf ein Postulat zu 
stützen, stützt man sie auf ein Wortspiel. 
Wir brauchten nur die Abhandlungen und Handbücher der 
Physik durchzublättern, um eine Menge fingierter Experimente 
aufzuzeigen. Wir würden in ihnen im Oberfluß Beispiele der 
verschiedenen Formen, die ein derartiges Experiment annehmen 
kann, von dem einfach unrealisierten bis zu dem absurden, 
finden. Halten wir uns jedoch nicht mit dieser langweiligen 
Arbeit auf. Das, was wir gesagt haben, genügt zur Recht- 
fertigung folgender Schlußfolgerung: Der physikalische Unter- 
richt nach der rein induktiven Methode, wie sie Newton formuliert 
hat, ist eine Chimäre. Derjenige, der behauptet, diese Chimäre 
erreichen zu können, narrt sich selbst und seine Schüler. Er 
gibt ihnen für gesehene blos vorausgesehene Tatsachen, für 
genaue Beobachtungen grobe Feststellungen, für realisierbare 
Verfahren rein ideale Experimente, für experimentelle Gesetze 
Lehrsätze, die nicht ohne Widerspruch als Ausdruck von 
Realitäten angenommen werden können. Die Physik, die er 
dariegt, ist eine falsche und verfälschte. 
Möge daher der Lehrer auf diese ideale, induktive Methode, 
die von einer falschen Vorstellung ausgeht, verzichten. Möge 
er diese Art der Auffassung des Unterrichts in der experimen- 
tellen Wissenschaft, die deren wesentlichen Charakter entstellt 
und verdreht, zurückweisen. Wenn die Interpretation des 
kleinsten physikalischen Experimentes die Anwendung einer 
ganzen Gruppe von Theorien voraussetzt, wenn sogar die Be- 
schreibung des Experimentes eine Menge abstrakter symbolischer 
Ausdrücke, deren Sinn die Theorien allein festlegen und deren 
Verbindung mit den Tatsachen sie allein kennzeichnen, erfordert, 
ist es wohl nötig, daß der Physiker sich entschließe, eine lange 
Kette von Hypothesen und Deduktionen zu entwickeln, bevor 
er den Versuch macht, den geringsten Vergleich zwischen dem 
theoretischen Gebäude und der konkreten Realität auszuführen. 
Auch wird er oft bei der Beschreibung der Experimente, die 
die bereits entwickelten Theorien verifizieren, auf Theorien, zu 
denen er erst gelangen wird, vorgreifen müssen. Er wird zum 
Die physikalische Theorie und das Experiment 273 
Beispiel nicht die geringste experimentelle Bestätigung der 
Prinzipien der Mechanik auszuführen versuchen, bevor er nicht 
nur die Verkettung der Lehrsätze der allgemeinen Mechanik 
entwickelt, sondern auch die Grundlagen der Mechanik des 
Himmels skizziert hat Auch muB er, indem er sich auf die 
Beobachtungen, welche diese Gruppe von Theorien bestätigen, 
bezieht, die Gesetze der Optik als bekannt voraussetzen, die 
allein den Gebrauch der astronomischen Instrumente recht- 
fertigen. 
Möge daher der Lehrer in erster Linie die wesentlichen 
Theorien der Wissenschaft entwickeln. Ohne Zweifel ist es, 
wenn er die Hypothesen, auf denen diese Theorien ruhen, 
darstellt, nötig, daß er auf deren Annahme hinarbdte; es ist 
berechtigt, wenn er auf die Erfahrungen des alltäglichen Lebens, 
auf die durch gewöhnliche Beobachtung erhaltenen Tatsachen, 
auf die einfachen oder noch wenig analysierten Elemente, 
die zur Formulierung dieser Hypothese geführt haben, hin- 
weist Diesen Punkt werden wir übrigens noch im nächsten 
Kapitel ausführiich besprechen. Aber er muß ganz aus- 
drücklich betonen, daß diese Tatsachen, die genügen, um 
zur Aufstellung dieser Hypothese anzuregen, nicht genügen, 
um sie zu bestätigen. Erst nachdem er einen großen Teil 
seines Lehrgebäudes aufgebaut, nachdem er eine vollständige 
Theorie ausgebildet hat, kann er die Konsequenzen dieser 
Theorie mit dem Experimente vergleichen. 
Der Unterricht muß dem Schüler folgende Grundwahrheit 
deutlich machen: die experimentellen Bestätigungen sind nicht 
die Basis der Theorie, sondern deren Krönung; die Physik 
schreitet nicht wie die Geometrie vorwärts; diese wächst, in- 
dem sie fortwährend neue, ein für allemal bewiesene Theoreme 
beibringt, die sie den schon bewiesenen Theoremen hinzu- 
fügt> jene ist ein symbolisches Bild, dem fortwährende Ver- 
besserungen mehr und mehr Ausdehnung und Einheit geben; 
die Gesamtheit der Theoreme gibt ein immer ähnlicheres Bild 
der Gesamtheit der experimentellen Tatsachen, während jedes 
Detail dieses Bildes abgeschnitten und isoliert vom Ganzen jede 
Bedeutung vertiert und nichts mehr darstellt. 
Dnhem, Physikalische Theorie. 18 
274 Zehntes Kapitel. 
Dem Schüler, der diese Wahrheit nicht erkannt hat, wird 
die Physik als ein monströser Wortschwall erscheinen, der 
nichts anderes als eine petitio principii auf die andere und einen 
circulus vitiosus auf den anderen häuft Wenn sein Denken 
sehr streng ist, wird er mit Abscheu die fortwährenden Ver- 
stöße gegen die Logik zurückweisen. Wenn sein Verstand 
minder streng ist, wird er diese Worte mit ungenauem Sinn, 
diese Beschreibungen unrealisierter und unrealisierbarer Ex- 
perimente, diese Überlegungen, die nur Taschenspielerkünste 
sind, auswendig lernen, indem er bei dieser unvernünftigen Qe- 
dächtnisarbeit das wenige, was er an gesundem Sinn und 
kritischem Denken besaß, verliert. 
Der Schüler dagegen, der mit klarem Blick die Gedanken 
die wir formuliert haben, erfaßt, wird nicht nur eine gewisse 
Zahl physikalischer Sätze gelernt, sondern die Natur und wahre 
Methode der experimentellen Wissenschaft begriffen haben ^). 
§ 7. — Konsequenzen in bezug auf die mathematische 
Entwicklung der physikalischen Theorie. 
Auf Grund der vorangegangenen Erörterungen erscheint 
uns die wahre Natur der physikalischen Theorie und der Bande, 
die sie ans Experiment knüpfen, immer deutlicher und genauer. 
Die Materialien, aus denen diese Theorie konstruiert wird, 
sind einerseits die mathematischen Symbole, die dazu dienen, 
die verschiedenen Qualitäten und Quantitäten der physikali- 
schen Erfahrung darzustellen, andererseits die allgemeinen 
Postulate, die ihr als Prinzipien dienen. Aus diesen Materi- 
alien soll sie ein logisches Gebäude erstellen, sie muß daher, 
wenn sie den Plan dieses Gebäudes zeichnet, die Gesetze, die 
die Logik jeder deduktiven Schlußfolgerung auferlegt, ebenso 
^) Man wird ohne Zweifel einwenden, dafi ein derartiger Unterricht 
für junge Intelligenzen schwer anwendbar sei; die Antwort darauf ist einfach: 
Man trage die Physik nicht Köpfen vor, die noch nicht geeignet sind sie 
aufzunehmen. M^e de S^vign^ sagte, als von kleinen Kindern die Rede 
war: „Bevor man ihnen Fuhrmannskost gibt, muß man sich vergewissem, 
ob sie einen Fuhrmannsmagen besitzen." 
Die physikalische Theorie und das Experiment 275 
wie die Regeln, die die Algebra jeder mathematischen Ope- 
ration vorschreibt, peinlichst respektieren. 
Die mathematischen Symbole, deren sich die Theorie be- 
dient, haben nur unter richtig bestimmten Bedingungen einen 
Sinn; diese Symbole definieren heißt diese Bedingungen auf- 
zählen. Die Theorie muß darauf verzichten, diese Zeichen 
unter anderen Bedingungen zu gebrauchen. So kann auf 
Grund der Definition eine absolute Temperatur nur positiv 
sein, so ist die Masse eines Körpers unveränderlich; niemals 
wird die Theorie in ihren Formulierungen der absoluten Tem- 
peratur den Wert Null oder einen negativen zuschreiben ; nie- 
mals wird sie in ihren Rechnungen die Masse eines bestimmten 
Körpers variieren lassen. 
Die Theorie hat zum Prinzip Postulate, d. h. Lehrsätze, 
die sie aussprechen kann, wie es ihr beliebt, vorausgesetzt, daß 
weder zwischen den Ausdrücken desselben Postulates, noch 
zwischen zwei verschiedenen Postulaten ein Widerspruch be- 
steht. Wenn aber einmal diese Postulate aufgestellt sind, muß 
sie sie mit eifriger Strenge hüten. Wenn sie zum Beispiel das 
Gesetz der Erhaltung der Energie zur Basis ihres Systemes ge- 
macht hat, muß sie auf jede Behaupttmg, die im Widerspruch 
mit diesem Princip steht, verzichten. 
Solche Regeln — und nur solche — lasten während des 
Baues einer physikalischen Theorie mit ihrem ganzen Gewicht 
auf derselben. Ein einziger Mangel würde das System unlogisch 
machen und uns verpflichten, es umzustoßen, um ein anderes 
aufzubauen. IM LAUF IHRER ENTWICKLUNG steht es einer 
physikalischen Theorie frei, einen beliebigen Weg ein- 
zuschlagen, vorausgesetzt, daß er jeden logischen 
Widerspruch vermeidet; im speziellen steht es ihr frei, 
keinerlei Rechenschaft von den experimentellen Tat- 
sachen zu geben. 
Dies ist nicht mehr der Fall, WENN DIE THEORIE 
IHRE VOLLSTÄNDIGE AUSBILDUNO ERFAHREN HAT. 
Wenn das logische Gebäude vollendet ist, wird es not- 
wendig, die Gruppe mathematischer Lehrsätze, die als Schluß- 
folgerungen dieser langen Deduktionen erhalten wurden, mit 
IS* 
276 Zehntes Kapitel. 
der Gruppe experimenteller Tatsachen zu vergleichen. Durch 
Anwendung der angenommenen Meßverfahren muß man sich 
versichern, daß die zweite Gruppe in der ersten ein hinreichend 
ähnliches Bild, ein hinreichend genaues und vollständiges Sym- 
bol finde. Wenn diese Übereinstimmung zwischen den Schluß- 
folgerungen der Theorie und den experimentellen Tatsachen 
sich nicht mit befriedigender Annäherung zeigt, so kann die 
Theorie zwar logisch richtig aufgebaut sein, sie muß aber 
nichtsdestoweniger verworfen werden, weil sie durch die Be- 
obachtung widerlegt wird, weil sie physikalisch falsch ist 
Dieser Vergleich zwischen den Schlußfolgerungen der 
Theorie und den experimentellen Wahrheiten ist daher unum- 
gänglich nötig, da allein die Konfrontierung mit den Tatsachen 
der Theorie physikalischen Wert verleihen kann. Aber diese 
Konfrontierung mit den Tatsachen muß sich ausschließlich 
auf die Schlußfolgerungen der Theorie erstrecken, da sie allein 
als ein Bild der Wirklichkeit anzusehen sind; die Postulate» 
die als Ausgangspunkt der Theorie dienen, die Zwischen- 
glieder, durch die man von den Postulaten zu den Schlußfolge- 
rungen kommt, dürfen ihr nicht unterworfen werden. 
Wir haben bereits sehr vollständig den Fehler derjenigen 
analysiert, die eines der fundamentalen Postulate der Physik, 
einer Prüfung an den Tatsachen durch ein Verfahren, wie 
das experimentum Crucis direkt unterwerfen wollen; und 
vor allem den Fehler derjenigen, die als Prinzipien nur „In- 
duktionen^' annehmen, „die ausschließlich darin bestehen, daß 
in allgemeinen Gesetzen nicht die Interpretation, sondern das 
eigentliche Resultat einer sehr großen Anzahl von Ex- 
perimenten festgehalten wird".*) 
Diesem Irrtum ist ein anderer sehr verwandt; er besteht 
in der Forderung, daß alle vom Matheipatiker im Lauf der 
Deduktionen, die die Postulate mit den Schlußfolgerungen ver- 
binden, ausgeführten Operationen einen physikalischen 
Sinn besitzen; er besteht in dem Wunsche, „nur realisier- 
^) Gustave Robin: Oeuvres scientifiques. Thermodynainique 
g^n^rale; Introduction p. XIV. 
Die physikalische Theorie und das Experiment 277 
bare Operationen in Betracht zu ziehen^)", „nur Größen, 
die dem Experiment zugänglich sind, einzuführen". 
Gemäß dieser Forderung müßte vom Physiker in seinen 
Formeln, mittelst eines Messungsverfahrens, jede eingeführte 
Größe mit einer Eigenschaft eines Körpers verbunden werden ; 
jede an diesen Größen ausgeführte algebraische Oi>eration 
müßte auf Grund dieser Messungsverfahren in die konkrete 
Sprache übersetzbar sein; derartig übersetzt müßte sie eine 
wirkliche oder mögliche Tatsache ausdrücken. 
Eine derartige Forderung, die berechtigt ist, solange es 
sich um die Schlußformeln handelt, auf die die Theorie hinaus- 
läuft, verliert ihre Begründung in bezug auf die Formeln und 
Operationen, die als Zwischenglieder den Weg von den Postu- 
laten zu den Schlußfolgerungen herstellen. 
Nehmen wir ein Beispiel: 
J. Willard Gibbs hat theoretisch die Dissoziation eines 
vollkommenen Gasgemisches in seine Elemente, die man für 
vollkommene Gase hielt, studiert. Es wurde eine Formel er- 
halten, die das Gleichgewicht im Innern eines derartigen 
Systemes ausdrückt. Ich will diese Formel diskutieren. Zu 
diesem Zwecke lasse ich den Druck, dem die Gasmischung 
unterliegt, ungeändert und betrachte die absolute Temperatur, 
die in der Formel auftritt und lasse sie von bis + ^o 
variieren. 
Wenn man dieser mathematischen Operation einen physi- 
kalischen Sinn zuschreiben will, wird man vor sich eine Menge 
von Widerständen und Schwierigkeiten erstehen sehen. Kein 
Thermometer* lehrt uns Temperaturen unter einer gewissen 
Grenze kennen, keines kann genügend hohe Temperaturen 
bestimmen; dem Symbol, das wir absolute Temperatur 
nennen, kann durch keines der Meßverfahren, über die 
wir verfügen, irgend ein konkreter Sinn zugeschrieben wer- 
den, wenn nicht sein numerischer Wert zwischen einem be- 
stimmten Minimum und einem bestimmten Maximum bleibt. 
Überdies ist bei genügend tiefen Temperaturen jenes andere 
») O. Robin: loc. cii 
278 Zehntes Kapitel. 
Symboli das in der Thermodynamik vollkommenes Gas ge- 
nannt wird, nicht mehr ein auch nur angenähertes Bild eines 
wirklichen Qases. 
Diese Schwierigkeiten und viele andere, die aufzuzählen 
zu langwierig wäre, verschwinden, wenn man auf die Be- 
merkungen, die wir formuliert haben, achtet. Bei der Auf- 
stellung der Theorie ist die Diskussion, von der wir ge- 
sprochen haben, nur ein Zwischenglied und es ist nicht be- 
rechtigt, in ihr einen physikalischen Sinn zu suchen. Nur wenn 
diese Diskussion uns zu einer Serie von Lehrsätzen geführt hat, 
können wir diese Lehrsätze der Konfrontierung mit den Tat- 
sachen unterwerfen. Wir werden sodann zwischen den Gren- 
zen, in denen die absolute Temperatur durch konkrete thermo- 
metrische Angaben ausgedrückt werden kann, innerhalb deren 
der Begriff des vollkommenen Gases durch die Fluida, die 
wir beobachten, beinahe realisiert ist, prüfen, ob die Schluß- 
folgerungen unserer Diskussion mit den experimentellen Tat- 
sachen übereinstimmen. 
Indem man fordert, daß die mathematischen Operationen, 
durch die aus den Postulaten Konsequenzen abgeleitet wer- 
den, immer einen physikalischen Sinn haben, legt man den 
Mathematikern unüberwindliche, jeden Fortschritt hemmende 
Hindernisse in den Weg. Es kann dann geschehen, daß man 
mit G. Robin den Gebrauch der Differentialrechnung scheut; 
in der Tat würde er, wenn er seinen Stolz darein setzte, 
stets und peinlich dieser Anforderung zu genügen, beinahe 
keine Rechnung mehr ausführen können ; von den ersten Schrit- 
ten an würde die theoretische Deduktion gehemmt sein. Eine 
genauere Vorstellung von der physikalischen Methode, eine 
schärfere Abgrenzung derjenigen Lehrsätze, die der Konfron- 
tierung mit den Tatsachen zu unterwerfen, von denjenigen, 
die davon befreit sind, werden dem Mathematiker seine Frei- 
heit vollständig wiedergeben und ihm ermöglichen, für die 
weiteste Entwicklung der physikalischen Theorien alle Hilfs- 
mittel der Algebra zu verwenden. 
Die physikalische Theorie und das Experiment 279 
§ 8. — Gibt es gewisse Postulate der physikalischen 
Theorie, die durch das Experiment nicht widerlegt 
werden können? 
Daß ein Prinzip richtig ist, erkennt man daran, daß es leicht 
die Verwirrung beseitigt, in die wir durch den Gebrauch irr- 
tumlicher Prinzipien gekommen sind. 
Wenn daher der Gedanke, den wir ausgesprochen haben, 
richtig ist, wenn der Vergleich notwendigerweise zwischen 
der gesamten Theorie und den gesamten experimentellen 
Tatsachen vollzogen wird, werden wir sehen können, wie vor 
dem Lichte dieses Prinzips die Dunkelheiten verschwinden, 
in die wir uns verirren, wenn wir jede theoretische Hypo- 
these isoliert mit den Tatsachen konfrontieren. 
In erster Linie wollen wir unter den Behauptungen, deren 
paradoxes Aussehen wir zu beseitigen suchen werden, eine 
hier behandeln, die in den letzten Jahren oft formuliert und 
kommentiert wurde. Nachdem sie zuerst von Herrn G. Mil- 
haud^) in bezug auf den reinen Körper der Chemie ausge- 
sprochen wurde, hat Herr H. Poincare^ sie ausführlich und 
eingehend in bezug* auf die Prinzipien der Mechanik entwickelt; 
ebenso hat sie Herr Edouard Le Roy mit großer Klarheit 
formuliert*). 
Diese Behauptung ist die folgende: 
Gewisse fundamentale Hypothesen in der physikalischen 
Theorie können durch kein Experiment widerlegt werden, weil 
sie in Wirklichkeit Definitionen bilden und gewisse, vom 
Physiker gebrauchte Ausdrücke ihren Sinn nur durch sie er- 
halten. 
^) O. Milhaud: La science rationnelle (Revue de M^taphysique 
et de Morale, 4e ann6e, 1896, p. 280). — Le Rationnel, Paris 1898, p. 45. 
*) H. Poincar^: Sur les Principes de laM^canique (Biblioth^que 
du Congr^ international de Philosophie. III. Logique et Histoire des 
Sdences. Paris, 1901; p. 457). — Sur la valeur objective des th^ories 
physiques (Revue de M^taphysique et de Morale, lOe ann6e, 1902, 
p. 263). — La Science et THypoth^se p. 110. 
") Edouard Le Roy: Un positivismenouveau (Revue de M£ta- 
physique et de Morale, 9« ann^e, 1901, pp. 143—144). 
280 Zehntes Kapitel. 
Nehmen wir eines der von Herrn Ed. Le Roy angeführten 
Beispiele: Wenn ein schwerer Körper frei fällt, ist seine Fall- 
beschleunigung konstant. Kann ein derartiges Gesetz durch 
das Experiment widerlegt werden? Nein, denn es bildet die 
eigentliche Definition dessen, was man unter freiem Fall 
verstehen muß. Wenn wir beim Studium des Falles eines 
schweren Körpers finden, daß derselbe keine gleichförmig be- 
schleunigte Bewegung besitze, schließen wir daraus nicht, daß 
das ausgesprochene Gesetz falsch sei, sondern, daß der Körpei: 
nicht frei falle, fdaß irgend eine Ursache die Bewegung hindere; 
der Unterschied zwischen dem ausgesprochenen Gesetz und 
den beobachteten Tatsachen wird uns dazu dienen, diese Ur- 
sache zu entdecken und deren Wirkungen zu analysieren. 
So schließt Herr Ed. Le Roy, daß „die Gesetze nicht veri- 
fizierbar seien, wenn man die Dinge in aller Strenge nimmt, 
weil sie selbst das Kriterium bilden, nadi dem man die Er- 
scheinungen und Methoden beurteilt, die man verwenden 
müßte, um sie einer Prüfung, deren Genauigkeit jede angeb- 
bare Grenze fiberschreitet, zu unterwerfen". 
Nehmen wir den Vergleich zwischen dem Fallgesetz der 
Körper und dem Experiment mehr im Detail, in der Beleuch- 
tung, die sie durch die früher aufgestellten Prinzipien erhalten, 
in Augenschein. 
Unsere täglichen Beobachtungen haben uns eine ganze 
Kategorie von Bewegungen kennen gelehrt, die wir mitein- 
ander unter dem Namen Bewegungen schwerer Körper ver- 
einigt haben. Unter diesen Bewegungen befindet sich auch 
der Fall, den ein schwerer Körper erieidet, wenn er durch 
keinerlei Hindernis gestört wird. Es folgt daraus, daß die 
Worte: „Freier Fall eines schweren Körpers" für den Men- 
schen, der einzig die Kenntnisse des gewöhnlichen Lebens 
zu Rate zieht und keinen Begriff von physikalischen Theorien 
besitzt, einen Sinn haben. 
Andererseits hat der Physiker, um die Gesetze der Be- 
wegungen, um die es sich handelt, zu klassifizieren, eine 
Theorie geschaffen, die Theorie der Schwere, eine wichtige 
Anwendung der wissenschaftlichen Mechanik. In dieser 
Die physikalische Theorie und das Experiment 281 
Theorie, die eine symbolische Darstellung der Wirklichkeit 
liefern soll, ist gleidierweise die Rede vom „freien Fall eines 
schweren Körpers". Infolge der Hypothesen, die dieses ganze 
Schema tragen, muß ein freier Fall notwendigerweise ein gleich- 
förmig besdileunigter Fall sein. 
Die Worte „freier Fall eines schweren Körpers" haben 
jetzt einen zweifach verschiedenen Sinn. Für denjenigen, der 
die physikalischen Theorien nicht kennt, haben sie einen 
wirklichen Sinn, bezeichnen sie, was man im gewöhnlidien 
Leben meint, wenn man sie ausspricht; für den Physiker haben 
sie einen symbolischen Sinn, bezeichnen sie „einen gleich- 
förmig beschleunigten Fall". Die Theorie hätte ihre Aufgabe 
nicht erfüllt, wenn der zweite Sinn nicht das Zeidien des 
ersten wäre, wenn ein Fall, der im gewöhnlidien Leben als 
frei betrachtet wird, nicht gleichzeitig ein Fall von gleich- 
förmiger oder von nahezu gleichförmiger Beschleunigung 
wäre, da die Konstatierungen des gewöhnlichen Lebens dem 
Wesen nach, wie bereits gesagt, der Präzision entbehren. 
Diese Übereinstimmung, bei deren Mangel die Theorie 
ohne umständliche Untersuchungen verworfen worden wäre, 
tritt tatsächlich auf. Ein Fall, der im gewöhnlichen Leben 
als nahezu frei bezeichnet wird, ist auch ein Fall, dessen Be- 
schleunigung nahem konstant ist. Aber die Konstatierung 
dieser nur grob angenäherten Obereinstimmung befriedigt uns 
nicht. Wir wollen den Qrad der Genauigkeit, zu dem man 
im gewöhnlichen Leben gelangen kann, erhöhen und über- 
treffen. — Mit Hilfe der von uns erdachten Theorie konstruieren 
wir Apparate, die mit Genauigkeit erkennen lassen, ob der 
Fall eines Körpers gleichförmig beschleunigt ist oder nicht 
Diese Apparate zeigen uns, daß ein bestimmter Fall, der im 
gewöhnlichen Leben als freier bezeichnet wird, eine etwas 
veränderliche Beschleunigung besitzt. Der Lehrsatz, der in 
unserer Theorie dem Worte „freier Fall" seinen symbolisdien 
Sinn gibt, stellt nicht mit hinreichender Genauigkeit die Eigen- 
schaften des wirklichen und konkreten Falles, den wir be- 
obachtet haben, dar. 
282 Zehntes Kapfiel. 
Zwei Wege stehen uns nun offen. 
In erster Linie können wir erklären, daß wir recht gehabt 
haben, den studierten Fall als freien Fall zu betrachten und 
zu verlangen, daß die theoretische Definition dieser Worte 
mit unseren Beobachtungen übereinstimme. In diesem Falle 
muß, da unsere theoretisdie Definition unserer Forderung 
nicht entspricht, dieselbe verworfen werden. Wir müssen 
eine andere Mechanik auf neue Hypothesen aufbauen, eine 
Mechanik, in der die Worte „Freier Fall" nidit mehr bezeich- 
nen „gleichförmig beschleunigter Fall", sondern „Fall, dessen 
Beschleunigung gemäß einem bestimmten Gesetze variiert". 
In zweiter Linie können wir erklären, daß wir unrecht ge- 
habt haben, eine Bezeichnung zwischen dem konkreten Falle, 
den wir beobachtet haben und dem symbolischen freien Fall, 
wie er durdi unsere Theorie definiert wurde, herzustellen, 
daß dieser ein zu vereinfadites Schema des ersteren gewesen. 
Damit der Theoretiker in geeigneter Weise den Fall, auf den 
unsere Experimente gegründet sind, darstellen kann, muß er 
nicht mehr an einen frei fallenden, schweren Körper denken, 
sondern an einen, der durch bestimmte Hindemisse, wie den 
Luftwiderstand gestört wird. Indem er die Wirkung dieser 
Hindemisse mit Hilfe geeigneter Hypothesen darstellt, wird 
er ein viel verwickelteres Schema, als den frei fallenden Körper 
bilden, das aber viel geeigneter sein wird, die Details des 
Experimentes wiederzugeben. Alles in allem können wir ge- 
mäß den Ausdrücken, die wir im Vorhergehenden (Kap. VIII, 
§ 3) festgelegt haben, versuchen, mit Hilfe geeigneter Kor- 
rektionen die unser Experiment beeinflussenden Fehlerquellen, 
wie den Luftwiderstand, zu eliminieren. 
Herr Le Roy behauptet, daß wir den zweiten W^ ein- 
schlagen werden und nicht den ersten, darin hat er sicher- 
lidi recht. Die Ursachen, die uns diese Entscheidung auf- 
drängen, sind leidit zu begreifen. Wenn wir den ersten Weg 
einschlagen würden, wären wir gezwungen ein sehr großes 
theoretisches System, das in sehr befriedigender Weise eine 
sehr große und sehr verwickelte Qmppe experimenteller Oe- 
Die physikalische Theorie und das Experiment 283 
setze darstellt, von Grund aus zu zerstören. Der zweite Weg 
dagegen läßt uns nichts von jenem Terrain, das die physi- 
kalische Theorie bereits erobert hat, vertieren. Noch mehr, wir 
haben auf ihm in einer so großen Zahl von Fällen Erfolgi 
gehabt, daß wir berechtigt sind, einen neuen Erfolg zu ge- 
wärtigen. Aber in diesem Vertrauen, das wir dem Fallgesetz 
der schweren Körper entgegenbringen, sehen wir keinerlei 
Analogie zu der Sicherheit, die die geometrische Definition 
aus ihrem Wesen selbst ableitet, zu jener Sicherheit, die nur 
den Verruckten zweifeln läßt, daß alle Punkte eines Kreisumfanges 
gleich weit vom Zentrum entfernt sind. 
Wir sehen hier nur eine spezielle Anwendung des im 
§ 2 auseinandergesetzten Prinzipes. Eine Nichtübereinstim- 
mung zwischen den konkreten Tatsachen, die ein Experiment 
bilden und der symbolischen Darstellung, die die Theorie für 
dieses Experiment substituiert, beweist uns, daß irgend ein 
Teil dieses Symboles zu verwerfen seL Aber welcher Teil? 
Das sagt uns das Experiment nicht, das zu ergründen überläßt 
es unserer Einsicht. Unter den theoretischen Elementen, die in 
den Zusammenhang dieses Symbols eintreten, gibt es nun 
immer eine gewisse Zahl, denen die Physiker einer gewissen 
Epoche ohne Kontrolle zustimmen, die sie als über jede An- 
zweiflung erhaben betrachten. Daher wird der Physiker, der 
dieses Symbol modifizieren muß, sicher seine Modifikation an 
anderen Elementen als jenen anbringen. 
Es ist aber keine logische Notwendigkeit, die den Phy- 
siker dazu treibt, so zu verfahren; wenn er anders verfährt, 
kann er ungeschickt und schlecht beraten sein, aber er würde 
sich deshalb doch nicht auf den Bahnen eines Oeometers 
bewegen, der so verrückt wäre, seiner eigenen Definition zu 
widersprechen; er würde nichts Absurdes tun. Ja noch mehr. 
Wenn er vielleicht eines Tages anders handelt, wenn er darauf 
verzichtet, die Fehlerquellen in Betracht zu ziehen, auf die 
Korrektionen zu rekurrieren, die die Übereinstimmung zwischen 
dem theoretischen Schema und der Tatsache herstellen, indem 
er entschlossen ist, die Reformierung der Lehrsätze, die all- 
284 Zehntes Kapitel. 
gemein übereinstimmend als unantastbar erklärt werden in 
die Hand zu nehmen, wird er ein geniales Werk vollbringen, 
das der Theorie neue Bahnen öffnet. 
In der Tat sollte man sich wohl vor dem Glauben hüten, daß 
jene Hypothesen, die zu allgemein anerkannten Konventionen 
geworden sind, deren Gewißheit den experimentellen Wider- 
spruch niederzuschlagen und auf andere, zweifelhaftere An- 
nahmen zu verweisen scheint, für ewig gesichert seien. Die 
Geschichte der Physik zeigt uns recht oft, wie der menschUche 
Geist dazu geführt wurde, derartige Prinzipien, die durch 
Jahrhunderte allgemein als unverletzbare Axiome anericannt 
wurden, von Grund aus umzustürzen und seine physikalischen 
Theorien auf neuen Hypothesen wieder aufzubauen. 
Gab es zum Beispiel während Jahrtausenden ein klareres 
und sichereres Prinzip als folgendes: In einem homogenen 
Medium pflanzt sich das Licht geradlinig fort? Auf diese 
Hypothese stützte sich nicht nur die alte Optik, die Katoptrik 
und Dioptrik, deren elegante geometrische Ableitungen nach 
Wunsch eine ungeheure Zahl von Tatsachen darstellten, 
sondern sie war auch sozusagen die physikalische Definition 
der geraden Linie geworden. Auf diese Hypothese mußte 
jeder Bezug nehmen, der eine Gerade realisieren wollte, der 
Zimmermann, der die Geradheit einer Holzkante prüft, der 
Feldmesser, der eine Bahnlinie absteckt, der Geodät, der eine 
Richtung mit Hilfe der Diopter seiner Alhidade aufnimmt, 
der Astronom, der die Stellung der Sterne, über die er Betrachtungen 
anstellt, durch die optische Achse seines Femrohres angibt. In- 
dessen kam der Tag, wo man überdrüssig wurde, die durch 
Grimaldi beobachteten Beugungserscheinungen irgend einer 
Fehlerquelle zuzuschreiben, wo man sich entschloß, das Gesetz 
der geradlinigen Fortpflanzung des Lichtes zu verwerfen und 
der Optik vollständig neue Grundlagen zu geben. Dieser 
kühne Entschluß war für die physikalische Theorie der An- 
stoß zu wunderbaren Fortschritten. 
Die physikalische Theorie und das Experiment 28S 
§ 9. — Hypothesen, deren Worflaut keine experimentelle 
Deutung zuläßt 
Dieses Beispiel und die anderen, die wir auf Qrund der 
Geschichte der Wissensdiaft hinzufügen könnten, zeigen uns^ 
daß wir sehr imklug wären, bezüglidi heute allgemein aner- 
kannter Hypothesen zu sagen: „Wir sind sicher, daß wir nie- 
mals durch ein neues Experiment, wie genau es auch immer 
sei, dazu geführt werden, sie aufzugeben." Hr. H. Poincare 
zögert indessen nicht, diese Behauptung bezüglich der Prin- 
zipien der Mechanik aufzustellen^). 
Zu den bereits angeführten Gründen, die beweisen, daß 
diese Prinzipien nicht experimentell widerlegt werden können, 
fügt Hr. H. Poincare einen hinzu, welcher noch überzeu- 
gender scheint: Diese Prinzipien können nicht nur deshalb 
nicht durch das Experiment widerlegt werden, weil sie all- 
gemein anerkannte Regeln sind, die uns dazu dienen, in un- 
seren Theorien die durdi diese Widersprüche angezeigten 
Fehler zu entdecken, sondern weil sie durch das Experiment 
nicht widerlegt werden können, da die Operation, die sie 
mit den Tatsachen vergleichen soll, keinen Sinn hat 
Erläutern wir das durdi ein Beispiel. 
Das Prinzip der Trägheit lehrt uns, daß ein materieller 
Punkt, der der Einwirkung eines jeden anderen Körpers ent- 
zogen ist, sich mit gleichförmiger Geschwindigkeit geradlinig 
fortbewegt Man kann nun nur relative Bewegungen beo-» 
bachten. Man kann daher diesem Prinzip nur dann einen 
experimentellen Sinn geben, wenn man einen gewissen Be- 
ziehungspunkt als gewählt betrachtet, einen gewissen festen 
geometrischen Körpers als fixes Merkmal nimmt, auf das die 
Bewegung des materiellen Punktes bezogen wird. Die Fest- 
legung dieses Merkmals bildet einen integrierenden Teil des 
Ausdruckes des Gesetzes. Wenn man diese Festlegung unter- 
ließe, würde dieser Ausdruck allen Sinnes beraubt werden. 
^) H. Poincar6: Sur les principes de la M^canique (Biblioth^que 
du Congr^s international de Philosophie. III. Logique et Histoiredes 
Sciences. Paris, 1901; pp. 475, 491). 
286 Zehntes Kapitel 
Es gibt ebensoviel« verschiedene Gesetze, wie verschiedene 
Beziehungspunkte. Man spricht ein Gesetz der Beharrung 
aus, wenn man sagt, daß die Bewegung eines isolierten 
Punktes, vorausgesetzt, daß sie von der Erde aus gesehen 
werde, geradlinig und gleichförmig sei, ein anderes, wenn 
man denselben Satz wiederholt, indem man die Bewegung 
auf die Sonne bezieht, noch ein anderes, wenn das Be- 
ziehungszeichen das gesamte Fixstemsystem ist Eines ist 
nun aber wohl sicher: Wie immer auch die Bew^[ung eines 
materiellen Punktes von einem Beziehungspunkt aus gesehen, 
beschaffen sei, immer kann man in mannigfachster Weise 
einen zweiten Beziehungspunkt in der Art wählen, daß von 
ihm aus gesehen, unser materieller Punkt sich geradlinig mit 
gleichförmiger Geschwindigkeit zu bewegen scheint. Man 
dürfte daher eine experimentelle Bestätigung des Trägheits- 
prinzipes nicht versuchen; wenn es bei Beziehung der Be- 
wegungen auf einen gewissen Punkt falsch wäre, wurde 
es bei der Wahl eines anderen richtig werden und es 
würde einem immer frei stehen, diesen letzteren zu wählen. 
Wenn das Trägheitsgesetz, das bezüglich der Erde als 
Beziehungspunkt ausgesprochen wurde, durch die Beobachtung 
widerlegt wird, wird man es durch das Trägheitsgesetz, das 
die Bewegungen auf die Sonne bezieht, ersetzen. Wenn dieses 
seinerseits für falsch befunden wird, wird man die Sonne 
durch das Fixstemsystem ersetzen und so fort. Es ist un- 
möglich, diese Hintertür zu schließen. 
Das Prinzip der Gleichheit der Aktion und Reaktion, das 
ausführlich von Hrn. Poincard^) analysiert wurde, bietet Ge- 
legenheit zu analogen Bemerkungen. Dieses Prinzip kann 
folgendermaßen ausgesprodien werden: 
„Der Schwerpunkt eines isolierten Systemes, kann nur 
eine geradlinige und gleichförmige Bewegung besitzen." 
Dieses Prinzip wollen wir durch das Experiment veri- 
fizieren. „Können wir diese Verifikation ausführen? Dazu 
wäre nötig, daß ein isoliertes System bestehe; solche Systeme 
^) H. Poincar6: loc cit pp. 472 et seqq. 
Die physikalische Theorie und das Experiment 287 
bestehen nun nicht; das einzige isolierte System ist das ge- 
samte Universum." 
„Aber wir können nur relative Bewegungen beobachten; 
die absolute Bewegung des Schwerptmktes des Universums 
wird uns daher für immer unbekannt bleiben; wir können 
niemals wissen, ob sie geradlinig und gleichförmig sei oder 
besser gesagt, die Frage hat keinen Sinn. Wie immer auch 
die Beobachtungstatsachen beschaffen seien, es bleibt uns 
stets freigestellt anzunehmen, daß unser Prinzip richtig sei." 
So haben mandie Prinzipien der Mechanik eine derartige 
Form, daß die Frage absurd ist: Ist dieses Prinzip mit der 
Erfahrung in Obereinstimmung oder nicht? Dieser befrem- 
dende Charakter ist nicht den Prinzipien der Mechanik eigen- 
tümlich. Er kennzeidinet in gleicher Weise gewisse funda- 
mentale H3rpothesen unserer physikalischen und chemisdien 
Theorien^). 
Die chemische Theorie zum Beispiel ruht vollständig auf 
dem Gesetz der multiplen Proportionen; der genaue 
Wortlaut dieses Gesetzes ist folgender: 
Einfache Körper Aj Ä, C können bei ihrer Vereinigung 
in verschiedenen Verhältnissen verschiedene Verbindungen 
My M' . . . bilden. Die Massen der Körper Ay B, C die die 
Verbindung M bilden, verhalten sich zueinander, wie die drei 
Zahlen a, by c. Die Massen der Elemente, die die Verbindung 
M bilden, werden sich nun zu einander wie die Zahlen aüj ßb, yc 
verhalten, wobei a, ßy y drei ganze Zahlen sind. 
Kann dieses Gesetz der Kontrolle durdi das Experiment 
unterworfen werden? Die chemische Analyse lehrt uns die 
chemische Zusammensetzung des Körpers M nicht genau, 
sondern nur mit einer gewissen Annäherung kennen; die Un- 
sicherheit der erhaltenen Resultate wird außerordentlich klein, 
sie wird aber niemals streng O sein. In welchen Beziehungen 
nun die Elemente Ay Ä, C sich in der Verbindung M kom- 
biniert finden, immer wird man diese Beziehungen mit einer 
^) P. Duhem: Le mixte et la comblnaison chimique; Essai 
sur l'^volution d'une id^e, Paris, 1902; p. 159—161. 
288 Zehntes Kapitel. 
beliebig großen Annäherung durch die gegenseitigen Be- 
ziehungen der drei Produkte aa^ ßb^ yc darstellen können, 
wobei er, ß^ y ganze Zahlen sind. Mit anderen Worten, wie 
immer die Resultate, die die chemische Analyse der Verbin- 
dung M* ergibt, sein mögen, man ist stets sicher drei ganze 
Zahlen a^ ßj y za finden, dank deren das Gesetz der multiplen 
Proportionen mit einer höheren Genauigkeit als sie die Ex- 
perimente besitzen, verifizierbar ist. Es wird daher keine che- 
mische Analyse, so fein sie auch immer sei, jemals dem Gesetz 
der multiplen Proportionen widersprechen können. 
In gleicher Weise ruht die ganze Kristallographie auf 
dem Gesetz der rationalen Indices, das in folgender 
Weise formuliert wird: 
Ein Trieder wird von drei Kristallflächen gebildet, eine 
vierte Flädie schneidet die drei Kanten dieses Trieders in 
Distanzen von der Spitze, die sich untereinander wie die Zahlen 
a, 6, c die Parameter des Kristalles verhalten. Irgend eine 
andere Fläche soll dieselben Kanten in Abständen von der 
Spitze, die sich zueinander wie aa^ ßb^ yc verhalten, schneiden, 
wobei a, ß^ y drei ganze Zahlen, die Indices der neuen 
Kristallfläche, sind. 
Das vollkommenste Goniometer bestimmt die Orientierung 
einer Kristallfläche nur mit einer gewiss^ Genauigkeit; die 
Beziehungen zwischen den drei Abschnitten, die eine der- 
artige Fläche auf den Kanten des grundlegenden Trieders 
bestimmt, sind mirner einem gewissen Fehler unterworfen. So 
klein nun dieser Fehler auch sein mag, kann man doch immer 
drei Zahlen a, /9, / in der Art wählen, daß die g^enseitigen 
Verhältnisse dieser Abschnitte, mit einem Fehler der nodi 
kleiner ist, durch die gegenseitigen Verhältnisse der drei 
Zahlen aa, ßb^ yc dargestellt werden. Der Kristallograph 
der das Gesetz der rationalen Indices durch sein Goniometer 
rechtfertigen wollte, hat sicher nicht den eigentlichen Sinn 
der Worte, die er anwendet, erfaßt. 
Das Gesetz der multiplen Proportionen, das Gesetz der 
rationalen Indices sind mathematische Ausdrücke, denen jeder 
physikalische Sinn fehlt. Ein mathematischer Ausdruck hat 
Die physikalische Theorie und das Experiment 289 
nur dann physikalischen Sinn, wenn er nach Einführung des Wortes 
annähernd noch seine Bedeutung behält Dies ist bei den 
Ausdrucken, die wir erwähnten, nicht der Fall. Sie bestehen in 
der Tat in der Behauptung, daß gewisse Verhältnisse kom- 
mensurable Zahlen seien. Sie würden zu einfachen Gemein- 
plätzen werden, wenn sie aussagen sollten, daß diese Ver- 
hältnisse annähernd kommensurabel seien. Denn iigend 
ein beliebiges inkommensurables Verhältnis ist immer an- 
nähernd kommensurabel ; es ist immer, so nahe man wUl, kom- 
mensurabel. 
Es wäre daher absurd, gewisse Prinzipien der Mechanik 
der direkten Kontrolle des Experimentes unterwerfen zu 
wollen; ebenso wäre es absurd, das Gesetz der multiplen 
Proportionen oder das Gesetz der rationalen Indices dieser 
direkten Kontrolle zu unterwerfen. 
Folgt daraus, daß diese Hypothesen, die vom direkten 
experimentellen Widerspruch nicht erreicht werden können, 
nidits vom Experiment zu fürditen haben? Sind sie sidier 
unveränderlich zu bleiben, welche Entdeckungen auch immer 
die Beobaditung der Tatsachen uns aufspart? Es hieße einen 
schweren Irrtum begehen, wollte man dies behaupten. 
Isoliert genommen, haben diese verschiedenen Hypothesen 
keine experimentelle Bedeutung; es kann sich nicht darum 
handeln sie durch das Experiment zu bestätigen oder zu wider- 
legen. Aber diese Hypothesen werden als wesentliche Fun- 
damente beim Bau gewisser Theorien, der wissenschaftlichen 
Mechanik, der chemischen Theorie, der Kristallographie ver- 
wendet; der Zweck dieser Theorien besteht in der Darstellung 
experimenteller Gesetze; sie sind Darstellungen, die dem Wesen 
nach dazu bestimmt sind, mit den Tatsachen verglichen zu werden. 
Dieser Vergleich könnte nun sehr wohl eines Tages uns 
erkennen lassen, daß eine unserer Darstellungen schlecht zur 
Wirklichkeit, die sie versinnbildlichen soll, paßt, daß die Korrek- 
tionen, die unser Schema komplizierter machen, nicht genügen, 
um eine hinreichende Übereinstimmung zwischen dieser Dar- 
stellung und den Tatsachen herzustellen. Die lange Zeit ohne 
Widerspruch als zulässig betrachtete Theorie muß verworfen 
Dohem, PhygiluüJiche Theorie. 19 
290 Zehntes Kapitel 
und eine vollständig andere auf ganz neuen Hypothesen auf- 
gebaut werden. An diesem Tage würde eine der H3rpotbeseii9 
die isoliert genommen, vom direkten Widerspruch des Ex- 
perimentes nicht erreicht werden könnte, mit dem System, das 
sie trug unter dem Gewichte der Widersprüche, in denen die 
Realität zu den Konsequenzen dieses als Ganzes genommenen 
Systemes steht, zusammenbrechen^). 
In Wirklichkeit unterliegen die Hypothesen, die selbst 
keine physikalische Bedeutung besitzen, genau in derselben 
Weise der Kontrolle durch das Experiment, wie die anderen 
Hypothesen. Wir haben am Anfang dieses Kapitels gesehen, 
daß wie immer auch eine Hypothese beschaffen sei, sie niemals 
isoliert durch das Experiment wideriegt werden kann. Der 
experimentelle Widerspruch handelt immer über eine theore- 
tische Gruppe als Ganzes, ohne daß in dieser Gruppe der 
Lehrsatz, der verworfen werden muß, irgendwie bezeichnet 
werden könnte. 
So verschwindet das, was an der Behauptung: Gewisse 
physikalische Theorien ruhen auf Hypothesen, die physikalisch 
nicht gedeutet werden können, hätte paradox scheinen können. 
§10. — Der gesunde Menschenverstand hat zu beurteilen, 
welche Hypothesen aufgegeben werden müssen. 
Wenn das Experiment gewissen Konsequenzen einer 
Theorie widerspricht, lehrt es uns wohl, daß diese Theorie 
modifiziert, aber es sagt uns nicht, was an ihr geändert werden 
müsse. Dem Scharfsinn des Physikers bleibt die Sorge überiassen, 
den Fehler zu suchen, an dem das ganze System leidet. Kein 
^) Am internationalen philosophischen Kongreß, der in Paris im Jahre 
1900 abgehalten wurde, hatte Hr. Poincar6 folgende Schlußfolgerung ent- 
wickelt: „So erklärt es sich, daß das Experiment die Prinzipien der Mechanik 
wohl aufbauen (oder anregen), sie aber niemals umstürzen konnte." Gegen 
diese Schlußfolgerung hatte Hr. Hadamard mehrere Einwände erhoben, 
unter anderen folgenden: „Übrigens ist es entsprechend einer Bemerkung 
des Hra. Duhem nicht eine isolierte Hypothese, sondern die Gesamtheit 
der Hypothesen der Mechanik, deren experimentelle Bestätigung man ver- 
suchen kann." (Revue de M6taphysique et de Morale, 8« ann6e, 
1900, p. 559.) 
Die physikalische Theorie und das Experiment 291 
absolutes Prinzip leitet diese Untersuchung, die die verschie- 
denen Physiker auf sehr verschiedene Art und Weise aus- 
führen können, ohne das Recht zu haben, einander als 
unlogisch anzuklagen. Der eine kann sich zum Beispiel be- 
müßigt sehen, gewisse fundamentale Hypothesen aufrechtzu- 
erhalten, indem er sich bemüht, durch Komplikation der Dar- 
stellung, in der diese Hypothesen angewendet werden, durch 
Aufsuchung verschiedener Fehlerquellen, durch Vermehrung 
der Korrektionen, die Übereinstimmung zwisdien den Kon- 
sequenzen der Theorie lund den Tatsachen wieder herzustellen. 
Ein anderer, der diese komplizierten Kniffe verschmäht, kann 
zum Entschluß kommen, eine der wesentlichen Annahmen, 
die das ganze System tragen, zu ändern. Der erstere hat 
nicht das Recht, von vornherein die Kühnheit des zweiten zu 
verdammen, ebensowenig, wie der zweite, die Zaghaftigkeit 
des ersten als absurd behandeln darf. Die Methoden, die 
sie verfolgen, können nur durch das Experiment gerecht- 
fertigt werden, und wenn sie alle beide seinen Anforderungen 
genügen, ist es logisch zulässig, daß sowohl der eine wie 
der andere mit seiner Arbeit zufrieden ist. 
Das will keineswegs sagen, daß man nicht mit sehr großer 
Berechtigung die Arbeit des einen der des anderen vorziehen 
kann. Die reine Logik ist keineswegs die einzige Regel unserer 
Urteile. Gewisse Meinungen, die nicht durch das Prinzip 
des Widerspruchs . unmöglich werden, können dennoch voll- 
kommen unvernünftig sein. Jene Motive, die nicht aus der 
Logik hervorgehen und dennoch unsere Wahl bestimmen, jene 
„Gründe, die die Vernunft nidit kennt", die zum Scharfeinn 
und nicht zum mathematischen Denken sprechen, bilden das, 
was man recht geeignet als gesunden Menschenverstand 
bezeichnet. 
Es kann nun gesdiehen, daß der gesunde Menschen- 
verstand uns ermöglicht, zwischen unseren beiden Physikern 
zu entscheiden. Es kann geschehen, daß wir die Eile, mit 
der der zweite die Prinzipien einer großen und harmonisch 
gebauten Theorie zertrümmert, wenig verständig finden, 
während eine Änderung im Detail, eine einfache Korrektion 
19* 
202 Zehntes KapiteL 
genügt hätte, diese Theorie wieder mit den Tatsachen in 
Einklang zu bringen. Es kann dagegen geschehen, daß wir 
die Hartnäckigkeit, mit der der erste Physiker, koste es was 
es wolle, um den Preis fortwährender Verbesserungen und 
eines Wirrwarrs verwickelter Stützpfeiler an den wurmstichi- 
gen Säulen eines Gebäudes festhält, das an allen Ecken 
wackelt, für kindisch und unvernünftig halten, während es nach 
Demolierung dieses Gebäudes möglich wäre, auf neuen Hy- 
pothesen ein einfaches, elegantes und widerstandsfähiges 
System zu bauen. 
Aber diese Gründe des gesunden Menschenverstandes 
drängen sich nicht mit derselben unabänderlichen Strenge, 
wie die Vorschriften der Logik auf; sie besitzen etwas Un- 
sicheres, Schwankendes ; sie zeigen sich nicht zu gleicher Zeit» 
mit gleicher Klarheit in allen Köpfen. Daher rührt die Mög- 
lichkeit der langen Streitigkeiten zwischen den Anhängern eines 
alten Systemes und den Vorkämpfern einer neuen Lehre, in 
denen jedes Lager behauptet, den gesunden Menschenverstand 
auf seiner Seite zu haben, in denen jede Partei die Gründe des 
Gegners für unzureichend hält. Solche Streitigkeiten zeigt 
uns die Geschichte der Physik in unzähligen Fällen, in allen 
Epochen, auf allen Gebieten. Beschränken wir uns darauf, 
an die Hartnäckigkeit und Scharfsinnigkeit zu erinnern, mit 
der Biot in der Optik durch fortgesetztes Anbringen von 
Korrektionen und Zusatzhypothesen an der Emissionstheorie 
festhielt, während Fresnel dieser Lehre stets neue Experimente 
entgegenhielt, die der Undulationstheorie günstig waren. 
Dennodi dauert dieser Zustand der Unentschiedenheit stets 
nur eine gewisse Zeit. Eines Tages erklärt sich der gesunde 
Menschenverstand so deutlich zugunsten der einen der beiden 
Parteien, daß die andere auf den Kampf verzichtet, wenn 
auch die reine Logik seine Fortsetzung nicht verbieten würde. 
Nadidem das Experiment von Foucaxdt gezeigt hatte, daß 
das Licht sich schneller in Luft als in Wasser fortpflanze, 
verzichtete Biot auf die Aufrechterhaltung der Emissionshy- 
pothese. In aller Strenge hätte die reine Logik zu diesem 
Verzicht nicht genötigt, denn das Foucaultsche Experiment 
Die physikalische Theorie und das Experiment 293 
war keineswegs das Experimenttim cnucis, das Arago in 
ihm zu sehen glaubte. Wenn aber Biot länger der Undulations- 
theorie Widerstand geleistet hätte, würde es ihm an gesun- 
dem Menschenverstand gemangelt haben. 
Da der Augenblick, in dem eine ungenügende Hypothese 
einer fruchtbaren Annahme Platz machen muß, nicht mit 
strenger Präzision durch die Logik vorgezeichnet wird, da 
der gesunde Menschenverstand diesen Augenblick erkennen 
muß, können die Physiker diesen Entscheid beschleunigen 
und die Schnelligkeit des wissenschaftlichen Fortschrittes 
steigern, indem sie sich bemühen, in sich selbst den gesunden 
Menschenverstand möglichst hell und wachsam zu erhalten. 
Nichts trägt nun mehr dazu bei, den gesunden Menschenver- 
stand einzuengen, die klare Einsicht zu trüben, als Leiden- 
schaften und Interessen. Nichts verzögert daher mehr die 
Entscheidung, die in einer physikalischen Theorie eine glück- 
lichere Form bestimmen soll, als die Eitelkeit, die den Physi- 
ker zu nachsichtig gegen sein eigenes, zu strenge gegen ein 
fremdes Syatem macht. Wir sind daher zu folgendem Schluß 
gelangt, der überaus klar von Claude Bernard formuliert 
wurde: Die gesunde experimentelle Kritik einer Hypothese 
ist bestimmten moralischen Bedingungen unterworfen; zur 
richtigen Einschätzung der Übereinstimmung einer physika- 
lischen Theorie mit den Tatsachen genügt es nicht, daß man 
ein guter Mathematiker und geschickter Experimentator sei, 
man muß auch ein unparteiischer und aufrichtiger Richter sein. 
Elftes Kapitel. 
Die Wahl der Hypothesen. 
§ 1. — Worauf sich die von der Logik bei der Wahl 
der Hypothesen gestellten Bedingungen reduzieren. 
Wir haben die verschiedenen Operationen, durch die eine 
physikalische Theorie zustande kommt, sorgfältig analysiert 
und haben im Speziellen die Regeln, die den Vergleich der 
aus einer Theorie gefolgerten Schlüsse mit den experimentellen 
294 Elftes Kapitel. 
Gesetzen ermöglichen, einer strengen Kritik unterworfen. 
Nunmehr ist es iuns ermöglicht, auf die Qrundlagen der 
Theorie selbst zurückzukommen, und da wir wissen, was sie 
tragen müssen, zu sagen, wie sie beschaffen sein sollen. Wir 
gehen jetzt an die Beantwortung folgender Frage: Welche 
Bedingungen müssen gemäß der Logik bei der Wahl der 
Hypothesen, auf denen eine physikalische Theorie ruhen soll, 
erfüllt sein? 
Die Lösungen der verschiedenen Probleme, die wir in 
den vorangegangenen Studien untersucht haben, werden uns 
diese Antwort übrigens sozusagen diktieren. 
Verlangt die Logik, daß unsere Hypothesen Folgerungen 
aus einem kosmologischen System sein sollen, oder daß sie 
wenigstens mit den Folgerungen eines solchen Systems in 
Einklang stehen? Keineswegs. Unsere physikalischen The- 
orien setzen ihren Stolz nicht darein, Erklärungen zu sein; 
unsere Hypothesen sind keine Annahmen über die eigentliche 
Natur der materiellen Dinge. Unsere Theorien haben einzig 
die ökonomische Zusammenfassung und Klassifikation der 
experimentellen Gesetze zum Ziel ; sie sind selbständig und von 
jedem metaphysischen System unabhängig. Die Hypothesen, 
auf die wir sie aufbauen, haben es daher nicht nötig, ihr 
Material bei dieser oder jener philosophischen Lehre zu ent- 
lehnen; sie berufen sich nicht auf die Autorität einer meta- 
physischen Schule und fürchten nicht deren Kritik. 
Verlangt die Logik, daß unsere Hypothesen einfach durch 
die Induktion verallgemeinerte experimentelle Gesetze sein 
sollen? Die Logik kann keine Forderungen stellen, denen zu 
genügen unmöglich ist. Wir haben nun festgestellt, daß es 
unmöglich ist, eine Theorie allein auf Grund der induktiven 
Methode aufzubauen. Newton und Ampere sind bei diesem 
Bestreben gescheitert, und doch haben sich diese beiden genialen 
Köpfe geschmeichelt, nichts in ihre Systeme aufgenommen zu 
haben, was nicht vollständig aus dem Experiment abgeleitet wäre. 
Wir sind deshalb gar nicht abgeneigt, unter die Grundlagen, 
auf denen unsere Physik beruhen soll, auch Postulate aufzu* 
nehmen, die nicht durch das Experiment geliefert wurden. 
Die Wahl der Hypothesen. 295 
Schreibt uns die Logik vor, unsere Hypothesen nur einzeln, 
eine nach der anderen einzuführen und eine jede von ihnen, 
bevor sie als zulässig erklärt wird, einer genauen Kontrolle, 
betreffs ihrer Zuverlässigkeit zu unterwerfen? Das wäre 
wieder eine absurde Forderung. Jede experimentelle Kontrolle 
verwendet die verschiedensten Teile der Physik, nimmt auf 
unzählige Hypothesen Bezug ; niemals priift sie eine bestimmte 
H)rpothese, die sie von allen anderen absondert; die Logik 
kann nicht verlangen, daß man alle Hypothesen, deren Ver- 
wendung in Betracht kommt, erst der Reihe nach ausprobiert, 
da ein solcher Versuch unmöglich ist. 
Welche Bedingungen müssen nun gemäß der Logik bei 
der Wahl der Hypothesen, auf denen die physikalische Theorie 
ruhen soll, erfüllt sein? Diese Bedingungen sind von dreierlei Art 
In erster Linie wird eine Hypothese kein sich selbst wider- 
sprechender Lehrsatz sein dürfen, da der Physiker nicht Un- 
sinniges auszusprechen wünscht. 
In zweiter Linie werden die verschiedenen Hypothesen, 
die die Physik tragen sollen, einander nicht widersprechen 
dürfen; die physikalische Theorie darf sich in der Tat nicht 
in einen Haufen unzusammenhängender imd unvereinbarer 
Modelle auflösen, sie sucht mit eifriger Sorgfalt die logische 
Einheit zu hüten, da uns eine unmittelbare Erkenntnis, die 
wir zwar nicht rechtfertigen, aber auch nicht zurückdrängen 
können, zeigt, daß nur unter dieser Bedüigung die Theorie 
ihre ideale Form, die Form der natürlichen Klassifikation er- 
reichen wird. 
In dritter Instanz werden die Hypothesen so gewählt 
werden, daß die Schlußfolgerungen, die die mathematische 
Ableitung aus deren Gesamtheit ziehen kann, mit hinreichen- 
der Annäherung die Gesamtheit der experimentellen Gesetze 
darstellen. Die schematische Darstellung der vom Experi- 
mentator festgestellten Gesetze durch mathematische Symbole 
ist in der Tat das eigentliche Ziel der physikalischen Theorie; 
jede Theorie, die zu einer Folgerung führt, die in deutlichem Wider- 
spruch mit einem beobachteten Gesetze steht, muß schonungs- 
296 El^es Kapitd. 
los verworfen werden. Es ist aber ganz unmöglich, eine 
isolierte Folgerung der Theorie mit einem isolierten experi- 
mentellen Gesetz zu vergleichen. Es handelt sich um zwei 
Systeme, deren jedes unverletzt in Betracht zu ziehen ist, 
einerseits das ganze System theoretischer Darstellungen und 
andererseits das ganze System von Beobachtungsergebnissen; 
diese beiden Systeme müssen miteinander verglichen werden 
und ihre Ähnlichkeit ist Gegenstand der Untersuchung. 
§ 2. — Die Hypothesen sind nicht das Produkt einer 
plötzlichen Schöpfung, sondern das Ergebnis einer 
fortschreitenden Entwicklung. — Die allgemeine Gravi- 
tation als Beispiel. 
Auf diese drei Bedingungen reduziert sich das, was die 
Logik von den Hypothesen, die eine physikalische Theorie 
tragen sollen, fordert; sonst verfügt der Theoretiker über voll- 
ständige Freiheit, nur auf sie braucht er zu achten; er kann die 
Fundamente des Systems, das er bauen will, nach seinem Gut- 
dünken gestalten. 
Wäre eine derartige Freiheit nicht das bedrückendste aller 
Hindemisse? 
Und ob! Vor den Augen des Physikers breitet sich 
grenzenlos die unzählbare Menge, das imgeordnete Gewühl 
experimenteller Gesetze aus, die noch nicht zusammengefaßt, 
klassifiziert und verknüpft sind; er soll Prinzipien formulieren, 
deren Konsequenzen eine einfache, klare, geordnete Darstellung 
dieser erschreckenden Fülle von Beobachtungsergebnissen 
bilden; aber bevor er abschätzen kann, ob die Konsequenzen 
dieser Hypothesen geeignet sind, bevor er sehen kann, ob 
sie ein ähnliches Bild und eine methodische Klassifikation der 
experimentellen Gesetze ergeben, muß er das vollständige 
System seiner Annahmen aufbauen; und wenn er von der 
Logik verlangt, daß sie ihn bei dieser schwierigen Arbeit leiten 
möge, daß sie ihm sage, welche Hypothesen er wählen und 
welche er verwerfen soll, erhält er die einfache Vorschrift, 
Die Wahl der Hypothesen. 297 
.Widersprüche zu vermeiden, eine Vorschrift, die ihn durch 
den Spielraum, den sie seiner Unsdilüssig^keit läßt, trostlos 
macht. Kann ein Mensch eine in diesem Orade unumschränkte 
Freiheit nutzbringend verwerten? Ist sein Geist genügend 
stark, um eine physikalische Theorie aus einem OuB zu 
schaffen? 
Sicherlich nicht. Die Geschichte zeigt uns auch, daß keine 
physikalische Theorie aus einem Guß geschaffen wurde. Der 
Aufbau einer jeden physikalischen Theorie ist immer durch 
eine Reibe von Verbesserungen vorgeschritten, die das System 
von den ersten, beinahe imförmigen Entwürfen stufenweise 
zu größerer Vollkommenheit geführt haben; bei jeder dieser 
Verbesserungen wurde die freie Initiative des Physikers durch 
die verschiedensten Umstände, durch Meinungen von Men- 
schen, wie durch die Lehren der Tatsachen bestimmt, unter 
stützt, geleitet, ja manchmal gebieterisch beherrscht. Eine 
physikalische Theorie ist nicht das plötzliche Produkt einer 
Schöpfung, sondern das langsame und fortschreitende Ergeb- 
nis einer Entwicklung. 
Wenn einige Schläge des Schnabels die Eierschale zer- 
brechen und das Küchlein aus seiner Gefangenschaft heraus- 
schlüpft, so kann das Kind sich vorstellen, daß diese starre 
und Unbewegliche Masse, die den Kieselsteinen, die es am 
Ufer des Baches aufgelesen, gleicht, plötzlich Leben bekommen 
und den Vogel, der läuft und piept, erzeugt hat; aber dort, 
wo seine kindliche Vorstellung eine plötzliche Schöpfung sieht, 
erkennt der Naturforscher die letzte Phase einer langen Ent- 
wicklung; er geht in Gedanken bis zur Verschmelzung zweier 
mikroskopisch kleiner Kerne zurück, um sodann die Reihe der 
Teilungen, der Differenzierungen, der Resorptionen zu ver- 
folgen, die den Körper des jungen Huhnes Zelle um Zelle 
aufgebaut haben. 
Der Laie urteilt über die Entstehung der physikalischen 
Theorien ebenso, wie ein Kind über das Ausschlüpfen des 
Küchleins. Er glaubt, daß nachdem jene Zauberin, der er 
den Namen Wissenschaft gegeben, die Stime eines genialen 
298 Elftes Kapitel. 
Mannes mit ihrem Zauberstab berührt hat, die Theorie sich 
sogleich lebendig und vollendet offenbart, ebenso wie Minerva 
in voller Rüstung aus der Stirne des Zeus heraustrat. Er 
denkt, daß es genügt, daß Newton einen Apfel auf eine Wiese 
herabfallen sieht, damit er die Wirkung des Falles schwerer 
Körper, die Bewegungen der Erde, des Mondes, der Planeten 
mit ihren Trabanten, die Wanderungen der Kometen, die Ge- 
zeiten des Ozeans in dem einzigen Satz zusammenfassen und 
klassifizieren kann: Die Anziehungskraft zweier beliebiger 
Körper ist proportional dem Produkt ihrer Massen und um- 
gekehrt proportional dem Quadrat ihrer Entfernung. 
Alle, die eine tiefere Einsicht in die Natur und Geschichte 
der physikalischen Theorien besitzen, wissen, daß man in den 
Systemen der hellenischen Wissenschaft nach den Keimen der 
Lehre von der allgemeinen Anziehung suchen muß ; sie kennen 
die langsamen Umbildungen dieses Keimes in seiner Entwick- 
lung, die durch Jahrtausende geht; sie führen die Beiträge 
jedes Jahrhunderts zu dem Werke, das durch Newton seine 
lebensfähige Form erhalten hat, an; sie vergessen nicht die 
Bedenken und die Versuche, durch die Newton hindurch mußte, 
bevor er sein System vollendet hat; und in keinem Stadium 
bemerken sie in der Geschichte der allgemeinen Anziehung 
eine Erscheinung, die einer plötzlichen Schöpfung ähnlich wäre, 
einen Augenblick, in dem der menschliche Geist von allem 
Schwanken befreit, den Einflüssen veralteter Lehren und den 
Widersprüchen moderner Beobachtungen imzugänglich, von 
der ganzen Freiheit, die ihm die Logik verleiht, Gebrauch 
machen würde. 
Wir können hier nicht im Einzelnen die Geschichte der 
Bemühungen darlegen, durch die die Menschheit die denk- 
würdige Entdeckung der universellen Anziehung vorbereitet hat; 
es würde dafür ein ganzer Band kaum genügen; wir wollen 
sie wenigstens in großen Zügen skizzieren, um zu zeigen, 
welche Schicksale diese grundlegende Hypothese erleiden 
mußte, bevor sie klar formuliert werden konnte. 
Sobald der Mensch an das Studium der physikalischen 
Welt herantrat, mußte eine Klasse von Erscheinungen durch 
Die Wahl der Hypothesen. 299 
ihre Allgemeinheit und Wichtigkeit seine Aufmerksamkeit er- 
regen: die Schwere. Sie mußte zum Gegenstände der ersten 
Überlegungen der Physiker werden. 
Wir wollen uns nicht mit der Erinnerung an alles, was 
die Philosophen des alten Hellas über das Schwere und Leichte 
sagen konnten, aufhalten. Nehmen wir die von Aristoteles 
gelehrte Physik als Ausgangspunkt für den Überblick, den 
wir von dieser Geschichte geben wollen. Außerdem soll von 
dieser früh begonnenen Entwicklung, die wir aber erst von 
diesem Punkte an verfolgen, nichts anderes festgehalten 
werden als das, was die Newtonsche Theorie vorbereitet, 
indem wir alles andere, was nicht zu diesem Ziel hinführt, 
systematisch außer acht lassen. 
Für Aristoteles bestehen alle Köri>er aus einer Mischung 
der vier Elemente, der Erde, des Wassers, der Luft und des 
Feuers in verschiedenen Verhältnissen. Von diesen vier Ele- 
menten sind die ersten drei schwer. Die Erde ist schwerer 
als das Wasser, dieses schwerer als die Luft. Nur das Feuer 
ist leicht. Die Mischungen sind mehr oder minder schwer 
bezw. leicht, je nach dem Verhältnis der sie bildenden Elemente. 
Was will das sagen? Ein schwerer Körper ist ein mit 
einer solchen substantiellen Form versehener Körper, daß 
er sich immer, wenn er nicht daran gehindert wird, von selber 
gegen einen mathematischen Punkt, das Zentrum des Uni- 
versums, bewegt. Damit er daran gehindert werde, muß 
sich unter ihm entweder eine feste Stütze oder eine Flüssig- 
keit, die schwerer als er ist, befinden. Eine leichtere Flüssig- 
keit würde seine Bewegung nicht hindern, weil das Schwere 
seinen Platz unter dem weniger Schwereneinzunehmen 
SU cht. Ein leichter Körper ist entsprechend ein solcher, dessen 
substantielle Form derartig ist, daß er sich von selber vom 
Zentrum des Weltalls wegbewegt. 
Wenn die Körper mit solchen substantiellen Formen verr 
sehen sind, 30 strebt ein jeder von ihnen darnach, seinen 
natürlichen Platz einzunehmen. Dieser liegt um so näher 
dem Weltzentrum, je reicher der Körper a;i schweren Ele- 
300 Elftes Kapitel. 
menten ist und um so entfernter von diesem Punkte, je mehr 
diese Mischung von leichten Elementen durchdrungen ist 
Wenn sich jedes Element an seinem natiirlichen Platz befände, 
wäre im Weltall eine Ordnung verwirklicht, in der ein jedes 
Element die Vollkommenheit seiner Form erreicht hätte. Die 
substantielle Form eines jeden Elementes und einer jeden 
Mischung ist nun mit einer dieser Eigenschaften, die man 
Schwere bezw. Leichtigkeit nennt, versehen worden, damit 
die Ordnung des Weltalls jedesmal durch eine natürliche 
Bewegung zu ihrer Vollkommenheit zurüdckehren kann, 
wenn sie durch eine gewaltsame Bewegung gestört 
worden ist. Im besonderen erklärt dieses Streben aller schwe- 
ren Körper nach ihrem natürlichen Platz, dem Zentrum des 
Universums, die Rundung der Erde, die vollkommene Kugel- 
gestalt der Meeresoberfläche. Schon Aristoteles hat diesbe- 
züglich einen mathematischen Beweis angedeutet, den Adrast, 
Plinius der Ältere, Theon von Smyma, Simplidus, der heilige 
Thomas von Aquino und die ganze Scholastik wiederholt und 
weiter entwickelt haben. So ist, entsprechend dem großen 
Prinzip der peripathetischen Metaphysik, die wirkende Ur- 
sache der Bewegung der schweren Körper gleichzeitig der 
Endzweck; sie ist nicht mit einer vom Weltzentrum ausge- 
übten gewalttätigen Anziehung identisch, sondern mit einer 
jedem Körper innewohnenden Tendenz, den für seine eigene 
Erhaltung und für die harmonische Anordnung der Welt gün- 
stigsten Platz zu erreichen. 
So sind die Hypothesen beschaffen, auf denen die Theorie 
der Schwere ruht, die Aristoteles formuliert, die die Kommen- 
tatoren der alexandrinisdien Schule, die Araber und die mittel- 
alterlichen Philosophen des Westens entwickeln und präzi- 
sieren, die Julius Caesar Scaliger^) weitiäufig auseinander- 
setzt, der Jean-Baptiste Benedetti^) eine besonders klare Form 
^) Julü Caesaris Scaligeri Exotericarum exercitationum, Über 
XV: De subtilitate adversus Cardanum, exerdtatio IV; Lutetiae 1557. 
") J. Baptistae Benedict! Diversarum speculationum über. 
Disputationes de quibusdam placitis Aristotelis, c. XXXV, p. 191; 
Taurini, MDLXXXV. 
Die Wahl der Hypothesen. 301 
gibt und die sogar von Oalilei^) in seine ersten Schriften auf- 
genommen wird. 
Diese Lehre wurde übrigens im Gange der Überlegungen 
der scholastischen Philosophen präzisiert. Die Schwere in 
einem Körper besteht nicht in der Tendenz, ihn als Ganzen 
dem Zentrum des Universums zu nähern, was absurd wäre, 
noch auch darin, irgend einen beliebigen seiner Punkte dort- 
hin zu bringen; in jedem schweren Körper gibt es einen 
genau bestimmten Punkt, der sich mit dem Zentrum des Uni- 
versums zu vereinigen sucht, und dieser Punkt ist der Schwer- 
punkt des Körpers; es ist nicht mehr irgend ein beliebiger 
Punkt der Erde, sondern der Schwerpunkt der ganzen irdischen 
Masse, der sich im Zentrum der Welt befinden muß, damit 
die Erde unbeweglich bleibe. Die Schwere wirkt zwischen 
zwei Punkten ähnlich wie die Wirkungen von Pol zu Pol, 
durch die man so lange die Eigenschaften der Magneten dar- 
gestellt hat. 
Diese Lehre, die im Keim in einer Stelle von Simplicius 
bei seiner Kommentierung des De Coelo von Aristoteles 
enthalten ist, wurde in der Mitte des XIV. Jahrhunderts aus- 
führlich von einem der Doktoren, die in jener Epoche die 
nominalistische Schule der Sorbonne zierten, von Albert de 
Saxe formuliert. Nach Albert de Saxe und gemäß seinem 
Unterricht wurde sie von den hervorragendsten Denkern der 
Schule, von Thimon le Juif, von Marsile d'Inghen, von Pierre 
d'Ailly, von Nipho^ angenommen und auseinandergesetzt. 
Nachdem sie Leonardo da Vinci einige seiner originellsten 
Gedanken eingegeben hatte*), behielt die Lehre von Albert 
^) Le opere di Galileo Oalilei, ristampate fedelmente sopra la 
edizione nazionale; vol. I, Firenze, 1890. De motu p. 252. (Diese Schrift, 
die von Galilei gegen 1590 verfaßt wurde, wurde erst in unserer Zeit durch 
Hm. Favaro publiziert) 
*) Man findet die detaillierte Geschichte dieser Lehre in unserer Schrift: 
„Les origines de la Statique" im XV. Kapitel, das den Titel „Les 
propri^t^s mecaniques du centre de gravitd" trägt — D'Albert 
deSaxeäTorricelli. Dieses Kapitel wird demnächst in der Revue des 
Questions scientifiques veröffentlicht werden. 
*) Vergl. P. Duhem: Albert de Saxe et Leonard de Vinci. 
(Bulletin italien, t V, p. 1, et p. 113; 1905). 
302 Elftes Kapitel. 
de Saxe weit über das Mittelalter hinaus ihren mächtigen 
Einfluß. Ouido-Ubaldo del Monte formuliert sie klar^): „Wenn 
wir sagen, daß ein schwerer Körper durch eine natürliche 
Hinneigung dem Zentrum des Universums zustrebt, wollen 
wir ausdrücken, daß der eigene Schwerpunkt des schweren 
Körpers sich mit dem Zentrum des Universums vereinigen will** 
Diese Lehre von Albert de Saxe beherrschte noch während des 
ganzen XVII. Jahrhunderts das Denken vieler Physiker. Sie 
regt alle jene Überlegungen an, die denjenigen, der diese 
Lehre nicht kennt, sehr befremden, jene Überlegungen, durch 
die Fermat seinen geostatischen Satz stützte'). Im Jahre 
1636 schrieb •) Fermat an Roberval, der die Berechtigung seiner 
Argumente bestritt: „Der erste Einwand besteht darin, daß 
Sie nicht zugeben wollen, daß die Mitte einer Linie, die zwei 
gleiche, frei fallende Gewichte verbindet, dem Zentrum der 
Erde zustrebt. Es scheint mir sicher, daß sie darin gegen die 
natürliche Einsicht und die grundlegenden Prinzipien ver- 
stoßen." Die durch Albert de Saxe formulierten Lehrsätze 
hatten aufgehört zu den selbstverständlichen Wahrheiten zu 
gehören. 
Die kopemikanische Revolution stürzte, indem sie das 
geozentrische System beseitigte, die eigentliche Grundlage, auf 
denen diese Theorie der Schwere ruhte, um. 
Der schwere Körper par excellence, die Erde strebt nicht 
mehr danach, sich in das Zentrum des Universums zu stellen; 
die Physiker müssen die Theorie der Schwere auf neue Hypo- 
thesen stützen; welche Betrachtungen werden sie zu diesen 
Hypothesen anregen? Analogiebetrachtungen; sie werden den 
Fall der schweren Körper gegen die Erde mit der Bewegung 
des Eisens gegen den Magneten vergleichen. 
^) Ouidi Ubaldi e Marchionibus Montis: In duos Archimedis 
aequiponderantium libros paraphrasis, scholiis illustrata, 
Pisauri, 1588, p. 10. 
') Vergl. P. Duhem: Les origines de la Statique, c. XVI: La 
doctrine d'Albert de Saxe et les O^ostaticiens. Dieses Kapitel 
wird demnächst in der Revue des Questions scientifiques erscheinen. 
') Fermat: Oeuvres, publikes par les soins de MM. PaulTannery 
€t Ch. Henry, i II, Correspondance, p. 31. 
Die Wahl der Hypothesen. 303 
Die Ordnung* verlangt, daß ein homogener Körper die 
Erhaltung seiner Integrität erstrebt; die verschiedenen Teile 
dieses Körpers müssen daher mit einer derartigen substan- 
tiellen Form versehen sein, daß sie jeder Bewegung, die ihre 
Trennung bewirken würde, Widerstand leisten und daß sie 
nach ihrer Wiedervereinigung streben, wenn irg^end eine Ge- 
walt sie getrennt hat. Ähnliches zieht somit Ähnliches an. 
Dies ist der Orund, warum der Magnet den Magneten anzieht 
Anderseits sind das Eisen und seine Erze mit dem Ma- 
gneten verwandt; wenn man sie in die Nachbarschaft eines 
Magneten bringt, so erfordert die Vollkommenheit des Uni- 
versums, daß sie sich mit diesem Körper vereinigen; das ist 
der Grund, warum ihre substantielle Form in der Nachbar- 
schaft eines Magneten geändert wird, warum sie eine ma- 
gnetische Kraft erhalten, durch die sie sich gegen den 
Magneten bewegen. 
So ist die Lehre über die magnetischen Wirkungen be- 
schaffen, die die peripathetische Schule und speziell Averroes 
und der heilige Thomas einhellig vertreten. 
Im XIII. Jahrhundert wurden diese Wirkungen näher stu- 
diert; man konstatiert, daß jeder Magnet zwei Pole besitzt, 
daß die ungleichnamigen Pole sich anziehen, die gleichnamigen 
sich abstoßen. Im Jahre 1269 gibt Pierre de Maricourt, der 
unter dem Namen Petrus Peregrinus besser bekannt ist, eine 
Beschreibung!) dieser Wirkungen, die ein Wunder an Klar- 
heit und experimentellem Scharfsinn ist. 
Aber diese neuen Entdeckungen bewirkten nur eine Festi- 
gung der peripathetischen Lehre, indem sie sie präzisierten; 
wenn man einen natürlichen Magneten zerbricht, besitzen die 
beiden Bruchflächen ungleichnamige Pole. Die substantiellen 
Formen der beiden Bruchstücke sind derart, daß sich diese 
^) Epistola Petri Peregrini Maricurtensis ad Sygerum de 
Foucaucourt militem, de tnagnete; actum in castris, in obsidione Lucerae, 
anno Domini MCCLXIX, VIII die Augusti. — Gedruckt bei P. Oasser in 
Augsburg 1558. Wieder gedruckt in Neudrucke von Schriften und 
Karten über Meteorologie und Erdmagnetismus, herausgegeben 
von Professor Dr. O. Hellmann. No. 10, Rara Magnetica (Berlin, Asher 1896). 
304 Elftes Kapitel. 
gegeneinander bewegen und sich wieder zu vereinigen suchen. 
Die magnetische Kraft ist demnach derartig, daß sie die Inte- 
grität des Magneten zu bewahren strebt, oder auch, wenn 
dieser Magnet gebrochen wurde, einen einzigen Magnetea 
wieder herzustellen sucht, dessen Pole ebenso angeordnet sind, 
wie die des ursprünglichen Magneten^). 
Die Schwere hat eine analoge Ursache. Die Erdpartikeln 
sind mit einer derartigen substantiellen Form versehen, daß 
sie mit dem Gestirn, dessen Teil sie bilden, vereinigt bleiben 
und ihm die Kugelgestalt erhalten. Der Vorläufer von Köper- 
nikus, Leonardo da Vinci, verkündet bereits*) „wie die Erde 
nicht in der Mitte der Sonnenbahn, noch in der Mitte der Welt 
sei, sondern, daß sie sich in der Mitte ihrer Partikehi, die sie 
begleiten und mit ihr vereinigt sind, befinde." Alle Teile der 
Erde streben zu deren Schwerpunkt und dadurch wird die 
Kugelgestalt der Wasseroberfläche bewirkt, eine Gestalt, von 
der der Tautropfen ein Bild gibt. 
Kopernikus verwendet am Beginn des ersten Buches seiner 
Abhandlung über die Himmelsbewegungen^) beinahe dieselben 
Ausdrücke wie Leonardo da Vinci und bedient sich derselben 
Veiigleiche. „Die Erde ist kugelförmig, weil alle ihre Teile 
dem Schwerpunkt zustreben." Das Wasser und die Erde 
streben beide zu ihm hin, was der Wasseroberfläche die Ge- 
stalt eines Teiles einer Kugel verschafft. Die Kugel wäre 
vollkommen, wenn das Wasser in hinreichender Menge vor- 
handen wäre. Außerdem haben auch die Sonne, der Mond 
und die Planeten Kugelgestalt, was sich bei jedem dieser 
Himmelskörper, ebenso wie bei der Erde, erklären läßt. 
„Ich denke ^), daß die Schwere nichts anderes als ein 
gewisses natürlidies Streben sei, welches den Teilen der Erde 
*) Petrus Peregrinus: Loc dt I« part. c IX. 
^ Les Manuscrits de Leonard de Vinci, publi^s par Ch. Ra- 
vaisson-Mollien, Ms. F. de la Biblioth^ue de l'Institut, fol. 41, verso. 
Dieses Heft enthält die Bemerkung : Begonnen zu Mailand am 12. September 1 508. 
') Nicolai Copernici: De revolutionibus orbium coelestium 
libri sex.; 1. I, cc I, II, III, Norimbergae, 1543. 
*) Nicolai Copernici: De revolutionibus orbium coelestium 
libri sex; 1. I, c IX; Norimbergae 1543. 
Die Wahl der Hypothesen. 305 
durch die göttliche Vorsehung des Erbauers des Universums 
gegeben worden ist, damit sie in ihre Einheit und Integrität 
zurückgeführt werden, indem sie sich in der Form einer Kugel 
vereinigen. Man kann wohl glauben, daß dieselbe Eigenschaft 
sich auch in der Sonne, dem Mond und den anderen wandeln- 
den Leuchten finde, damit durch die Wirkung dieser Eigen- 
schaft sie die runde Gestalt behalten, in der sie uns erscheinen." 
Ist diese Schwere universell? Wird eine Masse, die einem 
Himmelskörper angehört, gleichzeitig durch den Schwerpunkt 
dieses Körpers und durdi den Schwerpunkt der anderen Ge- 
stirne beeinflußt? Nichts in den Schriften von Kopemikus 
zeigt an, daß er ein derartiges Streben für zulässig gehalten 
hätte; alles in den Schriften seiner Schüler zeigt, daß das 
Streben gegen das Zentrum eines Gestirns gemäß ihrer Mei- 
nung den Teilen dieses Gestirnes eigentümlich sei. Im Jahre 
1626 resümierte^) Mersenne ihre Lehre j nachdem er folgende 
Definition gegeben hatte: „Das Zentrum des Universums ist 
jener Punkt, dem alle schweren Körper geradlinig zustreben 
und der der gemeinsame Schwerpunkt aller Körper ist", er 
fügte hinzu: „Man nimmt es an, aber man kann es nicht be- 
weisen; denn es existiert wahrscheinlich ein besonderer 
Schwerpunkt in jedem der besonderen Systeme, die das Uni- 
versum bilden oder, mit anderen Worten, in jedem der großen 
Himmelskörper." 
Mersenne äußerte jedoch in betreff dieser Lehre einen 
Zweifel zugunsten der Hypothese einer universellen Schwere; 
ein wenig weiter schrieb er in der Tat'): „Wir nehmen an, 
daß alle schweren Körper nach dem Weltzentrum streben und 
sich gegen dasselbe geradlinig mit einer natürlichen Bewegung 
begeben. Das ist ein Lehrsatz, dem beinahe jedermann bei- 
pflichtet, obwohl er keineswegs bewiesen ist; wer weiß, ob 
die Teile eines Gestirnes, wenn sie von ihm weggerissen 
würden, nicht gegen dieses Gestirn gravitieren und dahin 
zurückkehren würden, wie die Steine, die von der Erde los- 
^) Mersenne: Synopsis mathematica; Lutetiae, ex offidna Rob. 
Stephani, MDCXXVI, Mechanicorum libri p. 7. 
•) Mersenne: loc. cit p. 8. 
Dnhem, Physiloüische Theorie. 20 
306 Elftes Kapitel. 
gelöst Und auf dieses Oestim gebracht, zair Erde zurückzukehren 
würden? Wer weiß, ob Steine der Erde, die dem Monde 
näher sind als der Erde, nicht eher gegen den Mond, als 
gegen die Erde fallen würden?" In diesem letzten Satz zeigte 
sich Mersenne, wie wir sehen werden, eher versucht der Lehre 
Keplers als der des Kopemikus zu folgen. 
Treuer und strenger hält Galilei an der kopernikanisdien 
Theorie der besonderen Schwere eines jeden Gestirnes fest 
Vom ersten Tag des berühmten Dialogs über die zwei 
Weltsysteme an lehrt er durch den Mund Salviatis, daß 
„die Teile der Erde sich bewegen, nicht um zum Weltzentrum 
zu gelangen, sondern um sich zu einem Ganzen zu vereinigen; 
das rührt daher, daß sie eine natürliche Neigung haben, sich 
dem Zentrum der Erdkugel zu nähern, eine Neigung, durch 
die sie sich vereinigen, um sie zu bilden und zu erhalten . . .'' 
„Da alle Teile der Erde sich übereinstimmend vereinigen, 
um sie als Ganzes zu bilden, so eilen sie von jeder Seite mit 
einer gleichen Neigung herbei; und damit sie sich möglichst 
vereinigen können, nehmen sie Kugelgestalt an. Müssen wir 
daher nicht glauben, daß, wenn auch der Mond, die Sonne 
und die anderen großen Körper, die die Welt bilden, gleich- 
falls Kugelgestalt besitzen, dies nur daher rühren kann, daß 
sie einen übereinstimmenden Trieb in sich haben und daß 
ein natürliches Zusammenfließen all ihre Teile bewege? Ist 
es daher nicht vernünftig zu glauben, daß wenn einer dieser 
Teile irgendwie gewaltsam vom Ganzen getrennt wird, er 
von selbst und infolge eines natürlichen Instinktes zu diesem 
zurückkehren würde?" 
Sicherlich besteht zwischen einer derartigen Theorie und 
der des Aristoteles ein tiefer Unterschied. Aristoteles wies 
mit aller Kraft die Lehre der alten Physiologen, die wie Empe- 
dokles in der Schwere eine Zuneigung von Ahnlichem zu 
Ähnlichem sahen, zurück. Im vierten Buch des D e C o e 1 o be- 
hauptet er, daß die schweren Körper nicht fallen, um sich mit 
der Erde, sondern um sich mit dem Zentrum des Universums 
zu vereinigen. Und weiter, daß wenn die Erde von ihrem 
Platz weggerissen und in der Bahn des Mondes festgehalten 
Die Wahl der Hypothesen. 30Y 
wfirde» die Steine nicht zur Erde, sondern zum Weltzentrum 
fallen würden. 
Von der Theorie des Aristoteles halten die Kopemikaner 
soviel als möglich aufrecht. Für sie ist, ebenso wie für den 
Stagiriten, die Schwere eine dem schweren Körper inne- 
wohnende Tendenz und nicht eine von einem fremden Körper 
ausgeübte gewaltsame Anziehung; für sie, wie für den Stagi- 
riten besteht diese Tendenz gegen einen mathematischen Punkt 
hin; dieser Punkt ist das Zentrum der Erde oder das Zen- 
trum des Sternes, welchem der studierte Körper angehört; 
für sie, wie für den Stagiriten ist diese Tendenz aller Teil- 
chen gegen einen Punkt der Qrund für die Kugelgestalt eines 
jeden Himmelskörpers. 
Galilei geht noch weiter und überträgt auf das koperni- 
kanische System die Theorie von Albert de Saxe. Bei der 
Definition des Schwerpunktes eines Körpers sagt er in seiner 
berühmten Schrift Della scienza meccanica: „Das ist auch 
jener Punkt, der sich mit dem universellen Zentrum der schwe- 
ren Dinge zu vereinigen sucht, d. h. mit dem der Erde"; und 
dieser Gedanke leitet ihn, wenn er folgendes Prinzip formu- 
liert: Ein System schwerer Körper befindet sich im Oleichge- 
wicht, wenn der Schwerpunkt dieses Systemes sich möglichst 
nahe beim Erdzentrum befindet. 
Es lag daher im Wesen der kopemikanisdien Physik, 
das Streben eines jeden Elementes zu seinem natürlichen Ort 
zu leugnen und dieses Streben durch die gegenseitige Zunei- 
gung der Teile eines Ganzen, die dieses Ganze wieder her- 
zustellen suchen, zu ersetzen. In der Zeit, in der Kopernikus 
diese Zuneigung zu Hilfe nahm, um die jedem Gestirn eigen- 
tümliche Schwere zu erklären, formulierte Fracasto die all- 
gemeine Theorie derselben^): Wenn zwei Teile desselben 
Ganzen voneinander getrennt sind, sendet jeder derselben zum 
anderen eine Ausstrahlung seiner substantiellen Form, eine 
species, welche sich im Zwischenraum fortpflanzt; durch 
die Berührung dieser species strebt jeder der Teile gegen 
^) Hieronymi Fracastorii: De sympathia et antipathia rerum, 
iber unus (Hieronymi Fracastorii: Opera omnia; Venetiis MDLV). 
20^ 
308 Elftes Kapitel. 
den anderen, damit sie sich zu einem einzigen Ganzen ver- 
einigen; so erklären sich die wechselseitigen Anziehungen von 
Ähnlichem, deren Typus die Zuneigung des Eisens zum Ma- 
gneten ist 
Nach dem Beispiel von Fracasto nahmen die meisten Ärzte 
und Astrologen (es war selten, daß man nicht gleichzeitig 
das eine wie das andere war) gerne auf solche Zuneigungen 
Bezug; wir werden übrigens sehen, daß die Rolle der Ärzte 
und Astrologen keineswegs von geringem Einfluß auf die 
Entwicklung der Lehre von der allgemeinen Anziehung gewesen ist 
Niemand hat dieser Lehre von den Zuneigungen weitere 
Ausdehnung gegeben, als W. Gilbert. In dem Werke, das 
für die Theorie des Magnetismus grundlegend war, durch 
das er die wissenschaftliche Arbeit des XVL Jahriiunderts 
abschließt, gibt Gilbert in betreff der Schwere ähnlichen Ideen 
wie Kopemikus Ausdruck: „Die einfache und gerade Be- 
wegung gegen den Boden, wie sie von den Peripathetikem 
betrachtet wurde, die Bewegung des schweren Körpers", sagt 
er^), „ist eine Bewegung der Wiedervereinigung (coacer- 
vatio) der getrennten Teile, die auf Grund der Materie^ 
die sie bildet, sich in geraden Linien gegen die Erde wenden» 
wobei diese Linien auf dem kürzesten Wege zum Zentrum 
führen. Die Bewegungen der magnetischen, von der Erde ge- 
trennten Teilchen, bestehen abgesehen von der Bewegung, die 
sie mit dem Ganzen vereinigt, aus den Bewegungen, welche sie 
miteinander vereinigen, und denen, durch die sie in Anbetracht der 
Harmonie und Übereinstimmung gegen das Ganze gewendet und 
geleitet werden." — „Diese geradlinige Bewegung'), die nur die 
Neigung zu ihrem Ursprung ist, ist nicht nur den Teilchen der Erde^ 
sondern auch den Teilchen der Sonne, des Mondes und der 
anderen Himmelskörper eigen/' Diese Anziehungskraft ist 
übrigens keineswegs eine allgemeine Schwere; sie ist eine 
Kraft, die jedem Gestirn eigentümlich ist, wie der Magnetis- 
^) Oulielmi Oilberti Colcestrensis, media Londinensis, De 
magnete, magneticis corporibus, et de magno magnete Tellure» 
physiologia nova; Londini 1600, p. 225. 
•) Gilbert: Loc cit p. 227. 
Die Wahl der Hypothesen. 30Q 
mus der Er<te oder dem Magneten: ,,Geben wir nun'S sagt 
Gilbert^), „den Grund dieser Vereinigung und dieser Be- 
wegung, die die ganze Natur ergreift an . . . Es ist dies eine 
spezielle, eigentümliche, substantielle Form, die den Haupt- 
himmelskörpern eigen ist; es ist dies eine eigentümliche Enti- 
iät und Wesenheit ihrer homogenen und nicht verdorbenen 
Teilchen, welche wir primäre, wurzelhafte und astrale Form 
nennen können ; das ist nicht die primäre Form des Aristoteles, 
sondern jene spezielle Form, durch die die Kugel das, was ihr 
eigentümlich ist, bewahrt und festsetzt. In jeder der Kugeln, 
in der Sonne, dem Mond, den Sternen gibt es eine derartige 
Form; es gibt auch eine in der Erde; sie bildet jenes wahre, 
magnetische Vermögen, welches wir als primäre Kraft be- 
zeichnen. Es gibt daher eine magnetische Natur, die der 
Erde eigentümlich ist und die d'urch einen primären unseres 
Erstaunens wohl würdigen Grund in jedem ihrer Teile wirk- 
lich bestehen bleibt ... Es gibt in der Erde eine magnetische 
Kraft, die ihr eigentümlich ist, wie es eine substantielle Form 
in der Sonne und im Mond gibt; der Mond verfügt über die 
Teile, welche sich von ihm losgelöst, in einer Art, wie sie dem 
Monde entspricht, entsprechend seiner Form und den Grenzen, 
die ihm gesetzt sind; ein Stück der Sonne bewegt sich gegen 
die Sonne, wie ein Magnet gegen die Erde oder einen anderen 
Magneten durch seine natürliche Neigung und wie wenn er 
angelockt worden wäre." 
Diese Gedanken sind in dem Buch von Gilbert über den 
Magneten ausgestreut. In der Schrift über das Weltsystem, das 
er verfaßt hat und das sein Bruder nach seinem Tode publi- 
zierte*) werden sie breit entwickelt und gewinnen dominieren- 
den Einfluß. Der Hauptgedanke dieser Schrift ist in folgender 
Stelle zusammengefaßt^): „Alles, was irdisch ist, vereinigt sich' 
») Gilbert: Loc cit. p. 65. 
^ Oulielmi Qilberti Colcestrensis, media Regit, De mundo 
nostro sublunari philosophia nova; Opus posthumum, ab authoris 
fratre collectum pridem et dispositum. Amstelodami MDCLI. — Gilbert 
starb im Jahre 1603. 
•) Gilbert: Loc. cit. p. 115. 
310 Elftes Kapitel. 
mit der Erdkugel; und ebenso strebt alles, was mit der Sonne 
gleichartig ist, der Sonne, alle dem Mond angehörigen Dinge 
dem Monde zu und dasselbe gilt für alle Körper, die das 
Universum bilden. Jedes Teilchen eines solchen Körpers haftet 
an seinem Ganzen und trennt sich nicht freiwillig von ihm; 
wenn es weggerissen wurde, strebt es nicht nur dahin zurück- 
zukehren, sondern es wird gerufen und angelodct durch die 
Kräfte der Kugel. Wenn es nicht so wäre, wenn die TeUe 
sich von selbst trennen könnten, wenn sie nicht zu ihrem 
Ursprung zurückkehren würden, wäre die ganze Welt bald 
aufgelöst und in Verwirrung. Es handelt sich nicht um eine 
Begierde, die die Teile zu einem gewissen Platz, einem ge- 
wissen Raum, einem gewissen Punkt führt, sondern um eine 
Neigung zu dem Körper hin, zu der gemeinsamen Quelle, 
zu der Mutter, der sie entstammen, zu ihrem Ursprung, wo 
alle diese Teile sich vereinigt, bewahrt finden und wo sie 
in Ruhe vor jeder Gefahr gefeit, bleiben werden." 
Die magnetische Philosophie von Gilbert gewann 
unter den Physikern zahlreiche Anhänger; begnügen wir uns 
Francis Bacon^) zu erwähnen, dessen Meinungen die ver- 
worrene Widerspiegelung der Lehren seines gelehrten Zeit- 
genossen sind und gehen wir sogleich zum wahren Schöpfer 
der allgemeinen Gravitation, zu Kepler über. 
Während Kepler in vielen Wiederholungen seine Bewun- 
derung für Gilbert ausspricht, während er sich zugunsten der 
magnetischen Philosophie erklärt, geht er daran, alle ihre 
Prinzipien zu ändern; er ersetzt das Streben der Teile eines 
Gestirns gegen das Zentrum desselben durch die wechsel- 
seitige Anziehung von Teil zu Teil; er erklärt, daß diese 
Anziehung aus ein und derselben Kraft hervorgehe, ob es sich 
nun um Teile des Mondes oder um Teile der Erde handle. 
Er läßt jede Betrachtung von Endzwecken außer Spiel, die 
diese Kraft an die Erhaltung der Gestalt eines jeden Gestirnes 
knüpfen; er bahnt mit einem Wort alle Wege, die die Lehre 
von der allgemeinen Gravitation gehen wird. 
') Bacon: Novum Organum 1. II, c XLVIII, artt 7, 8, 9. 
Die Wahl der Hypothesen. 31 1 
Vor allem leugnet Kepler, daß irgend ein magnetischer 
Pimkt, sei es nun das Zentrum der Erde, wie es Kopemikus, 
sei es das Zentrum des Universums, wie es Aristoteles meinte, 
ein Anziehungs- oder AbstoBtmgsvermögen besitzen könne: 
„Das Bestreben des Feuers^) besteht nicht darin, die Fläche, 
welche die Welt begrenzt, zu erreichen, sondern das Zentrum 
zu fliehen; und zwar nicht das Zentrum des Universums, 
sondern das Zentrum der Erde; und dieses Zentrum nicht 
nur insoweit es ein Punkt ist, sondern insoweit es sich in der 
Mitte eines Körpers befindet, welcher Körper der Natur des 
Feuers, welches sich ausdehnen will, sehr entgegengesetzt 
ist; ich sage noch mehr, die Flamme flieht nicht, sondern sie 
wird durch die schwerere Luft gejagt, wie eine Luftblase durch 
das Wasser . . . Wenn man die unbewegliche Erde an irgend 
einen Ort stellen imd eine größere Erde nähern würde, würde 
die erstere in bezug auf die zweite schwer und von ihr an- 
gezogen, wie der Stein von der Erde angezogen wird. Die 
Schwere ist keine Wirkung, sondern ein Trieb des Steines, 
der angezogen wird." 
„Ein mathematischer Punkt^), sei es nun das Zentrum der 
Welt oder irgend ein anderer Punkt, könnte nicht tatsächlich 
die schweren Körper bewegen; noch weniger könnte er das 
Objekt sein, dem sie zustreben. Mögen daher die Physiker 
beweisen, daß eine derartige Kraft einem Punkte eigen sein 
kann, der kein Körper ist und der nur in ganz relativer Weise 
begreifbar ist!" 
„Es ist unmöglich, daß die substantielle Form des Steines, 
wenn sie diesen Stein als Körper in Bewegung setzt, einen 
mathematischen Punkt, zum Beispiel das Zentrum der Welt 
suche, unbekümmert um den Körper, in dem sich dieser Punkt 
befindet. Mögen daher die Physiker zeigen, daß die natürlichen 
Dinge Sympathie für das haben, was nicht existiert!" 
^) Jo. Kepleri: Littera ad Herwartum, 28. März 1605. — Joannis 
Kepler! astronomi Opera omnia, ^it Ch. Frisch, t II, p. 87. 
^) Joannis Kepleri: De motibus stellae Martis commentarii, 
Pragae, 1609. — Kepleri: Opera omnia t III, p. 151. 
312 Elftes Kapitel. 
„... Hier haben wir die wahre Lehre über die 
Schwere: Die Schwere ist eine wechselseitige Zuneigung; 
unter verwandten Körpern, die sie zu vereinigen und zu ver- 
binden sucht; die magnetische Kraft ist eine Eigenschaft glei- 
cher Art; die Erde zieht viel eher den Stein an, als daß der 
Stein zur Erde strebt Selbst wenn wir das Erdzentrum in 
das Weltzentrum setzen würden, wäre es nicht das Welt- 
zentrum, gegen das die schweren Körper sich bewegen 
würden, sondern das Zentmm des runden Körpers, mit 
dem sie verwandt sind, das heißt das Zentrum der 
Erde. An welchen Ort man auch die Erde bringe, immer 
werden sich die schweren Körper, dank der Kraft, die ihr 
innewohnt, zu ihr bewegen. Wenn die Erde nicht rund wäre, 
würden die schweren Körper nicht von jeder Seite gerade 
zum Erdzentrum bewegt werden, sondern sie würden, je 
nachdem von welchem Platz sie kommen, sich nach verschie- 
denen Punkten bewegen. Wenn sich an einem gewissen 
Punkt der Welt zwei Steine befinden würden, die einander 
nahe und außerhalb der Kraftsphäre irgend eines anderen, 
ihnen verwandten Körpers wären, so würden diese Steine 
nach Art zweier Magneten sich an einem dazwischen liegen- 
den Ort zu vereinigen suchen und die Wege, die sie zurück- 
legen würden, wären umgekehrt proportional ihren Massen." 
Diese wahre Lehre über die Schwere verbreitete sich 
bald in Europa und fand die Anerkennung vieler Mathe- 
matiken Schon im Jahre 1626 erwähnt sie Mersenne in 
seiner Synopsis mathematica. Am 16. August 1636 schrei- 
ben ^tienne Pascal und Roberval an Fermat einen Briefe), 
dessen Hauptgegenstand die Bestreitung des alten Prinzipes 
von Albert de Saxe ist, das von dem Toulouser Mathematiker 
eifrig gehütet wurde, „daß wenn zwei gleiche Gewichte durch 
eine gerade, feste und gewichtslose Linie verbunden und so 
angeordnet sind, daß sie frei fallen können, sie nicht zur 
Ruhe kommen werden, bis die Mitte der Linie (die der Schwer- 
punkt der Alten ist) sich mit dem gemeinsamen Zentrum 
^) Fermat: Oeuvres, publikes par les soins de MM. Paul Tannery 
et Ch. Henry; t II, Correspondatice, p. 35. 
Die Wahl der Hypothesen. 313 
der schweren Dinge vereinigt hat". Diesem Prinzip halten sie 
folgendes entgegen: „Es kann sein und es ist sehr wahr- 
sdieinlich, daß die Schwere eine wechselseitige Anziehung 
oder ein natürlicher Wunsch sei, den die Körper haben, um 
sich miteinander zu vereinigen, wie dies beim Eisen und beim 
Magneten klar ist, die derartig beschaffen sind, daß, wenn 
der Magnet festgehalten wird, das Eisen keineswegs verhin- 
dert ist, ihn aufzusuchen; wenn das Eisen festgehalten wird, 
geht der Magnet zu ihm ; tmd wenn beide frei sind, werden 
sie sich gegenseitig nähern und zwar in der Art, daß der 
Stärkere der beiden den kleineren Weg zurücklegen wird/' 
Haben die Körper, die sidi auf der Erde befinden, kein 
anderes magnetisches Vermögen als das, welches sie 
zum Boden, von dem sie entfernt wurden, zurückbringt und 
das ihre Schwere bildet? 
Die Bewegung, welche das Wasser des Meeres aufwühlt 
und die Flut hervorbringt, folgt so genau dem Ehirchgang 
des Mondes durch den Meridian, daß man den Mond als die 
Ursache dieser Erscheinung betrachten mußte, sobald deren 
Gesetze mit einiger Genauigkeit erkannt worden waren. Die 
Beobachtungen^) von Eratosthenes, Seleucus, Hypparch und 
Vor allem von Posidonius verschafften den alten Philo- 
sophen eine Kenntnis dieser Gesetze, die so vollständig war, 
daß Cicero, Plinius der Altere, Strabo und Ptolemäus nicht 
zögerten, die Behauptung aufzustellen, daß die Erscheinung 
der Gezeiten von der Bewegung des Mondes abhänge. Aber 
diese Abhängigkeit wurde vor allem durch die ins einzelne 
gehende Beschreibung der verschiedenen Unregelmäßigkeiten 
der Flut, die der arabische Astronom Albumasar im IX. Jahr- 
hundert in seinem Introductorium magnum ad Astro- 
nom i am gab, festgestellt. 
Der Mond bestimmt somit das Anschwellen des Wassers 
des Ozeans; aber in welcher Weise bestimmt er es? 
^) Vei^L: Roberto Almagia: Sulla dottrina della marea nelT 
antichitä classica e nel medio evo (Atti del Congresso inter- 
nationale di Scienze storiche, Roma, 1—9 aprile 1903; vol. XII, p. 151). 
314 Elftes Kapitel. 
Ptolemäus, Albutnasar zögern nicht, sich auf eine eigen- 
artige Kraft, auf einen besonderen Einfhiß des Mondes auf 
das Meerwasser zu berufen. Eine derartige Erklärung war 
keineswegs geeignet, den wirklichen Schülern des Aristo- 
teles zu gefallen. Was man auch in dieser Beziehung ge- 
sagt haben mag, die orthodoxen Peripathetiker, sowohl die 
Araber als die Lehrer der westlichen Scholastik, bekämpf- 
ten heftig die Erklärungen, in denen man auf verborgene, 
den Sinnen unzugängliche Kräfte Bezug nahm. Die Wirkung 
des Magneten auf das Eisen war beinahe die einzige dieser 
mysteriösen Kräfte, die sie anzuerkennen geneigt waren. Sie 
anerkannten nicht, daß die Sterne irgend einen Einfluß aus- 
üben könnten, der nicht von ihrer Bewegung oder ihrem 
Licht herrührt. Es war daher das Licht des Mondes, die 
Wärme, die dieses Licht erzeugen kann, die Strömungen, die 
durch diese Wärme in der Atmosphäre bestimmt werden können, 
das Aufwallen, das sie im Innern der Meeresgewässer hervor- 
bringen kann, denen Avicenna, Averrhoes, Robert Orosse-Teste, 
Albertus Magnus, Roger Bacon die Erklärung von Flut und 
Ebbe zuschrieben. 
Dies war eine recht schwach fundierte Erklärung, die 
von vornherein durch allzu naheliegende Einwände zunichte 
gemacht wurde. Schon Albumasar hatte beobachtet, daß das 
Mondlicht nichts mit der Meeresflut zu tun habe, da diese 
Flut ebensowohl bei Neumond wie bei Vollmond entsteht, 
da sie in gleicher Weise eintritt, ob nun der Mond im Zenith 
oder im Nadir steht. Die ein wenig kindische Erklärung, 
die Robert Grosse-Teste vergeschlagen hatte, um diesen letz- 
teren Vorwand zu beheben, konnte trotz der enthusiastischen 
Zustimmung Roger Bacons die Argumentation Albumasars 
nicht zunichte machen. Seit dem XIIL Jahrhundert hielten 
die Besten unter den Scholastikern, unter anderen der heilige 
Thomas von Aquino die Möglichkeit von den Sternen 
eigentümlichen, vom Licht verschiedenen Einflüssen für 
zulässig; damals verglich Guillaume d'Auvergne in seiner 
Schrift De Universo die Wirkung des Mondes auf die 
Meeresgewässer mit der Wirkung des Magneten auf das Eisen^ 
Die Wahl der Hypothesen. 315 
Die magnetische Theorie der Gezeiten ist den 
großen Physikern, die um die Mitte des XIV. Jahrhunderts 
die nominalistische Schule der Sorbonne zierten, bekannt; 
Albert de Saxe, Thimon le Juif legen sie in ihren Fragen 
über den De Coelo und über die Meteore des Aristo- 
teles dar; aber sie zögern ihr voll und ganz zuzustimmen; sie 
kennen allzugut den Wert der Einwände Albumasars, um 
sidi rückhaltlos bei den Erklärungen von Albertus Magnus 
und Roger Bacon zu beruhigen; dabei widerspricht diese ver- 
borgene magnetische Anziehung, die durch den Mond auf 
die Meeresgewässer ausgeübt wird, ihrem peripathetischen 
Rationalismus. 
Die Kraft, deren Zeugnis die Gezeiten sind, war dagegen 
wohl geeignet, das Wohlgefallen der Astrologen zu finden. 
Sie sahen in ihr den unleugbaren Beweis der Einflüsse, die 
die Gestirne auf die Dinge unter dem Monde ausüben. Nicht 
minder war diese Hypothese bei den Ärzten in Gunst. Sie 
verglichen die Rolle, die die Gestirne bei dem Phänomen 
der Gezeiten spielen, mit der, die sie ihnen bei den Krisen 
der Krankheiten zuschrieben. War es nicht Galen, der die 
kritischen Tage der schleimabsondernden Krank- 
heiten mit den Phasen des Mondes in Zusammenhang brachte ? 
Am Ende des XV. Jahrhunderts nimmt Jean Pic de La 
Mirandole mit Entschlossenheit die peripathetische These von 
Avicenna und Averrhoes wieder auf^), er leugnet, daß die 
Sterne hier unten irgend wie anders als durch ihr Licht wirken 
können; er verwirft jede die Zukunft verkündende Sterndeute- 
kunst als Illusion; er weist die medizinische Lehre der kriti- 
schen Tage zurück und erklärt gleichzeitig die magnetische 
Theorie der Gezeiten für irrtümlich. 
Die Herausforderung, die Jean Pic de La Mirandole an 
die Astrologen und Mediziner richtete, wurde von einem Arzt 
aus Siena, Lucius Bellantius, sogleich in einer Schrift^), deren 
^) Joannis Ptci Mirandulae: Adversus astrologos; Bononiae, 1495. 
^ Lucii Beliantii Senensis: Liber de astrologica veritate et 
in disputationes Joannis Pici adversus astrologos responsiönes^ 
Bononlae, 1495; Florentiae, 1498; Venetiis, 1502; Basileae, 1504. 
316 Elftes Kapitel. 
Auflagen unausgesetzt aufeinanderfolgten, aufgenommen. Im 
III. Buch dieses Werkes schreibt der Autor, indem er das, 
was Pic de La Mirandole über die Gezeiten gesagt hatte, 
prüft, folgende Zeilen: „Die Strahlen, durch die der Mond 
wirkt, insbesondere, wenn er die Gewässer des Meeres an- 
zieht und anschwellen macht, sind nicht die Strahlen des 
Mondlichtes; denn im Augenblick der Konjunktionen würde 
es dann keine Flut und Ebbe geben, die wir aber zu dieser 
Zeit konstatieren können; es sind virtuelle Strahlen, durdi 
die der Mond das Meer anzieht, wie der Magnet das Eisen. 
Mit Hilfe dieser Strahlen schlägt man leicht alle Einwände 
über diesen Gegenstand nieder." 
Das Buch von Lucius Bellantius war ohne Zweifel das 
Signal, daß die magnetische Theorie neue verdoppelte 
Zustimmung fand; von der Mitte des XVL Jahrhunderts wird 
diese Theorie ganz allgemein anerkannt 
Kardano^) zählt unter die sieben einfachen Bewegungen: 
„. .. abermals, eine andere natürliche, die durch einen ge- 
wissen Gehorsam der Dinge bewirkt wird, wie die des Was- 
sers, die vom Monde herrührt, wie die des Eisens, die vom 
Magneten, der Stein des Herkules genannt wird, herrührt." 
Julius -Caesar Scaliger teilt^) auch diese Ansicht: „Das 
Eisen", sagt er, „wird durch den Magneten bewegt, ohne 
mit ihm in Berührung zu sein; warum soll nicht ebenso das 
Meer dem Körper eines sehr erhabenen Sternes folgen?" 
Duret erwähnt^) die Meinung von Lucius Bellantius, aller- 
dings ohne sie zu akzeptieren: „Dieser Autor behauptet, daß 
der Mond die Meeresgewässer nicht durch die Lichtstrahlen 
anziehe, sondern durch die Kraft tmd das Vermögen gewisser, 
^) Les livres d'Hi^rome Cardanus, m^ecin müanois, intitul6s de 
la subtilit^ et subtiles inventions, traduis de latin en fran^ois par 
Richard Le Blanc, Paris, 1556, p. 35. 
*) Julii Caesaris Scaligeri: Exercitationes exotericae de 
subtilitate adversus Cardanum, Exerdtatio LH. 
*) Claude Duret: Discours de la v^rit^ des causes et effects 
|le divers cours, mouvemens, flux et reflux de la mer oc£ane| 
mer mtditerann^e et autres mers de la Terre. Paris, 1600, p. 204. 
Die Wahl der Hypothesen. 317 
ihm eigentümlicher, verborgener Eigenschaften, ebenso wie 
der Magnet auf das Eisen wirkt/' 
Gilbert endlich lehrt^), daß „der Mond auf das Meer nicht 
durch seine Strahlen, nicht durch sein Licht wirke. Wie wirkt er 
nun? Durch das Zusammenwirken der zwei Körper, und 
um meinen Gedanken mit Hilfe einer Analogie zu erklären, 
durch die magnetische Anziehung/' 
EMese Wirkung des Mondes auf die Gewässer des Meeres 
gehört übrigens zu jenen sympathischen Neigungen des Glei- 
chen zum Gleichen, in denen die Kopemikaner die Erklärung 
der Schwere sehen. Jeder Körper hat eine derartige substan« 
tielle Form, daß er sich mit einem anderen Körper gleicher 
Art zu vereinigen sucht; es ist daher natürlich, daß das Wasser 
des Meeres sich wieder mit dem Monde zu vereinigen sucht, 
der für die Astrologen wie für die Arzte das feuchte Gestirn 
im wahrsten Sinne des Wortes ist. 
Wie Ptolemäus in seinem Opus quadripartitum und 
Albumasar in seinem Introductorium magnum aus- 
führen, soll der Saturn Kälte erzeugen, der Jupiter mäßige 
Wärme, der Mars brennende Hitze, während der Mond Feuch« 
iigkeit hervorbringen soll. Die Wirkung des Mondes auf die 
Gewässer des Meeres besteht daher in der Zuneigung zweier 
Körper der gleichen Familie, in einer cognata virtus, 
wie der arabische Autor sagt. 
Diese Lehren wurden von den Ärzten und Astrologen 
des Mittelalters und der Renaissance beibehalten: „Man kann 
nicht'S sagt Kardano^ „an dem durch die Gestirne ausge- 
übten Einfluß zweifeln; es ist dies eine geheime Wirkung, 
die alle verborgenen Dinge regiert; und dennoch wagen ge- 
wisse unredliche, ehrgeizige und noch mehr ungläubige Gei- 
ster, wie Herostrat, dieselben zu leugnen . . . Sehen wir nicht, 
daß selbst unter den Substanzen der Erde es solche gibt, 
wie den Magneten, dessen Eigenschaften deutliche Wiricungen 
ausüben? ... Warum sollen wir solche Wirkungen dem Fir- 
^) OuHelmi Oilberti: De mundo nostro philosophia nova, p. 307. 
*) Hieronymi Cardani: De rerum varietate libri XVII, I. II, c XIII; 
Basfleae, 1557. 
318 Elftes Kapitel. 
tnament, dem ewigen und hoch erhabenen Körper absprechen ? 
... Durch ihre Größe, durch die Menge von Licht, die sie 
verbreitet, ist die Sonne der Hauptlenker aller Dinge. Nach- 
her kommt aus denselben Gründen der Mond, weil er uns 
als das größte Gestirn nach der Sonne erscheint, obwohl 
er es in Wirklichkeit nicht ist. Er beherrscht vor allem die 
feuchten Dinge, die Fische, die Gewässer, das Marie und Ge- 
hirn der Tiere und unter den Wurzeln die Knollen und Zwie- 
beln, die vor allem Feuchtigiceit enthalten.^' 
Kepler selbst, der sich mit solcher Kraft gegen die unge- 
rechtfertigten Ansprüche der Astrologie wendet, scheut sich nicht 
zu schreiben^) : „Die Erfahrung beweist, daß alles, was Feuch- 
tigkeit enthält, beim Wachsen des Mondes aufschwillt und 
beim Abnehmen des Mondes schlaff wird." 
Kepler schmeichelt sich^) der erste gewesen zu sein, der 
jene Meinung umgestürzt hat, nach der die Flut in dem Be- 
streben der Meeresgewässer besteht, sich mit der Feuchtigkeit 
des Mondes zu vereinigen. „Ebenso wie die Flut und Ebbe 
des Meeres sichere Dinge sind, ebenso sicher ist es, daß 
die Mondfeuchtigkeit mit der Ursache dieser Erscheinung nichts 
zu tun hat. Ich bin, so weit ich weiß, der erste, der den 
Vorgang, durch den der Mond die Flut und Ebbe des Meeres 
verursacht, klargestellt hat und zwar in meinen Prolegomena 
zu den Kommentaren über die Bewegungen des Mars. 
Er besteht in folgendem: Der Mond wirkt nicht als feuchter 
oder benetzender Körper, sondern als Masse, die der Masse 
der Erde verwandt ist; er zieht die Gewässer des Meeres 
durch eine magnetische Wirkung an, nicht weil sie feucht, 
sondern weil sie mit Erdsubstanz versehen sind, einer Sub- 
stanz, der sie gleicherweise ihre Schwere verdanken." 
Die Flut ist wohl eine Neigung, die Gleiches mit Gleichem 
vereinigen will ; aber die Körper, die sich zu vereinigen suchen, 
gleichen sich nicht darin, daß sie beide an der Natur des 
^) Joannis Kepleri: De fundamentis Astrologiae, Pragae 1602; 
thesis XV. — J. Kepleri: Opera omnia, t. I, p. 422. 
*) J. Kepleri: Notae in librum Plutarchi de facie in orbe Lunae, 
Francofurti, 1634. — J. Kepleri: Opera omnia, L VIII, p. 118. 
Die Wahl der Hypothesen. 319 
Wassers teilhaftig sind, sondern daß sie beide zur Natur der 
Massen, die unsere Erdkugel bilden, gehören. Ebenso wird 
die Anziehung des Mondes nicht nur auf die Gewässer, die 
die Erde bedecken, sondern auch auf die festen Teile und 
auf die Erde als Ganzes ausgeübt; und umgekehrt übt die 
Erde eine magnetische Anziehung auf die schweren Körper 
des Mondes aus. „Wenn der Mond und die Erde^) nicht 
durch eine wirkende oder durch irgend eine äquivalente Kraft 
in ihren Bahnen zurückgehalten würden, würde die Erde sich 
zum Monde erheben und der Mond zur Erde herabsinken, 
bis sich beide Gestirne vereinigen. Wenn die Erde aufhören 
würde, die Gewässer, die sie bedecken, anzuziehen, würden 
die Meereswogen sich ganz erheben und zum Monde fließen." 
Diese Meinungen hatten für mehr als einen Physiker 
etwas Bestechendes; am 1. September 1631 schrieb*) Mer- 
senne an Jean Rey: „Ich zweifle keineswegs, daß die Steine, 
die ein auf dem Mond befindlicher Mensch in die Höhe werfen 
würde, auf den Mond zurückfallen würden, obwohl er von 
unserer Seite aus der höchste Punkt ist; denn sie fallen auch 
zur Erde zurück, weil sie ihr viel näher sind, als den anderen 
Systemen." Aber Jean Rey nimmt diese Kepler entlehnte 
Anschauungsweise nicht günstig auf; Neujahr 1632 antwortet 
er") Mersenne: „Sie zweifeln nicht, sagen Sie, daß die Steine, 
die ein auf dem Monde befindlicher Mensch in die Höhe 
schleudern würde^ auf eben diesen Mond zurückfallen wür- 
den, obwohl er von unserer Seite aus der höchste Punkt ist 
Ich bemerice, daß mich dies abschreckt; wenn ich zu Ihnen 
offen sprechen soll, so glaube ich gerade das Gegenteil; denn 
ich setze voraus, daß Sie von Steinen sprechen, die von hier 
genommen sind (vielleicht würde man auch keine auf dem 
Monde finden). Solche Steine haben nun keine andere Nei- 
^) Joannis Kepler!: De motibus stellae Martis, 1609. — J. Kepler!: 
Opera omnia, t III, p. 151. 
") Essays de Jean Rey, Docteur en m^dedne, sur la recherche 
de la cause pour laquelle l'estaln et le plomb augmentent de 
poids quand on les calcine. Nouvelle Edition (augment^e de la corres- 
pondance de Mersenne et de Jean Rey), Paris, 1777, p. 109. 
«) Jean Rey: Loc cit p. 122. 
320 Elftes Kapitel. 
gung, als die, sich zu ihrem Zentrum zu begeben, welches 
das der Erde ist; sie würden zu uns mit dem Menschen 
kommen, der sie wirft, wenn er ein Erdbewohner wäre, wo- 
durch die Wahrheit des Spruches Nescio qua natale, solum 
dulcedine, cunctos allicit bekräftigt würde. Und wenn es 
geschehen würde, daß sie von dem Monde, wie von einem 
Magneten angezogen würden (woran Sie ebenso zweifeln 
sollten, wie an der Anziehung der Erde), so sind in diesem 
Falle die Erde imd der Mond mit dem gleichen magne- 
tischen Vermögen versehen, da sie ja den gleichen Körper 
anziehen. Stimmen sie aber darin miteinander überein, 
so müssen sie es auch darin, daß sie sich wechselseitig 
anziehen oder besser gesagt, daß sie sich bewegen und 
sich miteinander vereinigen, ebenso wie ich sehe, daß 
sich zwei Magnetkugeln, die ich in einer mit Wasser ge- 
füllten Schale schwimmen lasse, einander nähern und sich 
vereinigen. Etenn der Einwand, daß der Abstand zu groß 
sei, hält nicht stand: Die Einflüsse, die der Mond auf die 
Erde geltend macht und die, die die Erde auf den Mond 
ausübt, da sie ihm gemäß Ihrer Meinung nun einmal als 
Mond dient, machen uns klar, daß einer in der Wirkungsphäre 
des anderen ist" 
EHes ist indessen der Einwand, den Descartes erhebt; 
auf die Frage Mersennes, ob er „wisse, ob ein Körper 
mehr oder weniger wiege, wenn er sich näher beim 
Erdzentrum befinde, oder wenn er entfernter von 
ihm sei", antwortet er mit folgendem Argument, das wohl 
geeignet ist, zu beweisen, daß die von der Erde entfernteren 
Körper weniger wiegen als die in ihrer Nähe befindlichen^): 
„Die Planeten, die in sich kein Licht besitzen, wie der Mond, 
die Venus, der Merkur etc., sind wahrscheinlich Körper aus 
der gleichen Materie wie die Erde ..., es scheint daher, daß 
diese Planeten schwer sein und gegen die Erde fallen müßten, 
wenn nicht deren große Entfernung ihnen diese Neigung 
rauben würde." 
^) Descartes: Correspondance, Edition P. Tannery et Ch. Adam, 
No. CXXIX, 13 juillet 1638; t II, p. 225. 
Die Wahl der Hypothesen. 321 
Trotz der Schwierigkeiten, welche den Physikern in der ersten 
Hälfte des XVII. Jahrhunderts die Erklärung der Tatsache bereitet^ 
daß die g^enseitige Schwere der Erde und des Mondes 
nicht bewirke, daß sie aufeinanderfallen, verbreitete und festigte 
sich der Glaube an eine derartige Schwere mehr und mehr. 
Descartes dachte, wie wir gesehen haben, daß eine derartige 
Schwere zwischen der Erde und den anderen Planeten, so gegen- 
über der Venus und dem Merkur, bestehen könne. Francis Bacon 
war weiter vorgedrungen; er dachte, daß die Sonne auf die 
verschiedenen Planeten eine Wirkung gleicher Art ausiiben 
könne. Im Novum Organum^) setzt der berühmte Kanzler 
in eine spezielle Kategorie „die magnetische Bewegung, die 
in die Klasse der Bewegungen kleinerer Vereinigung 
(Congregatio minor) gehört, aber da sie oft mit großen 
Abständen und beträchtlichen Massen operiert, in diesem Sinne 
eine spezielle Forschung verdient, vor allem, da sie nicht mit 
einer Berührung beginnt, wie die meisten anderen Vereini- 
gungsbewegungen imd sich darauf beschränkt, die Körper zu 
heben oder aufzuschwellen, ohne etwas anderes zu erzeugen. 
Wenn es wahr ist, daß der Mond die Gewässer anzieht und 
daß unter seinem Einfluß die feuchten Massen aufgewühlt 
werden . . . ; wenn die Sonne die Gestirne Venus und Merkur 
bindet und ihnen nicht erlaubt, sich über eine gewisse Ent- 
fernung hinaus zu begeben, so scheint es wohl, daß diese 
Bewegungen nicht zur Art der größeren Vereinigung (Con- 
gregatio major), noch zur Art der kleineren Vereinigung 
(Congregatio minor) gehören, sondern daß sie zu einer mitt- 
leren und unvollkommenen Vereinigung führen und eine be- 
sondere Art bilden müssen.^' 
Die Hypothese, daß die Sonne auf die Planeten eine ähn- 
liche Wirkung ausüben könne, wie die, die die Erde und 
die Planeten auf ihre eigenen Teile ausüben und eine solche 
sogar, wie die Erde und die Planeten untereinander austau- 
schen können, mußte als eine recht gewagte Annahme er- 
scheinen. Sie schloß in der Tat in sich, daß eine natürliche 
Obereinstimmung zwischen der Sonne und den Planeten be- 
^) F. Baconis Novum Organum; Londini 1620, 1. II, c XLVHI, art 9. 
Dnhcm, Phytiluüische Thtorie. 21 
322 Elft«i KaptteL 
stehe und mancher Physiker mußte sich diesem Postulat ver- 
schließen. Wir finden in den Schriften Oassendis den Beweis 
des Widerwillens, den mehr als ein Denker gegen dessen Zu- 
lässigkeit empfand. In folgendem betrachten wir die Umstände, 
unter denen sich dieser Widerwille bei Qassendi äußerte. 
Die Kopemikaner, die die Schwere so gern einer gegen- 
seitigen Zuneigung der irdischen Körper zugeschrieben, die 
eine entsprechende Zuneigung zwischen den verschiedenen 
Teilen desselben Gestirnes angenommen hatten, um die 
Kugelgestalt desselben zu erklären, weigerten sich im allge- 
meinen die magnetische Anziehung in der Wirkung des 
Mondes auf die Gewässer des Meeres wiederzuerkennen. 
Sie hielten an einer ganz anderen Theorie der Gezeiten fest, 
die aus den Grundlagen ihres Systemes entsprang und ihnen 
dadurch als besonders überzeugend bewiesen erschien. 
Im Jahre 1544 erschienen in Basel die Werke von Caelio 
Calcagnini^) ; der Autor war drei Jahre früher gestorben, zur 
selben Zeit, als Joachim Rethicus in seiner Narratio prima 
das kopemikanische System bekannt machte, bevor der große 
polnische Astronom seine De revolutionibus orbium 
coelestium libri sex hatte drucken lassen. Die Werke von 
Calcagnini enthielten eine viel früher verfaßte^) Abhandlung 
mit dem Titel: Quod Coelum stet. Terra vero moveatur, 
vel de perenni motu Terrae. Dieser Vorläufer von Koper- 
nikus hat bereits die tägliche Bewegung der Gestirne der 
Umdrehung der Erde zugeschrieben,, ohne jedoch zu der An- 
schauung von der jährlichen Bewegung der Erde um die 
Sonne vorgedrungen zu sein. In seiner Abhandlung kann man 
folgende Stelle lesen^): „Notwendigerweise bewegt sich ein 
^) Caelii Calcagnini Ferrarensis: Opera aliquot, Basfleae 
MDXLIV. 
*) Diese Abhandlung, die an Bonaventure Pistophile gerichtet ist, ist 
nicht datiert; sie folgt in den Opera von Calcagnini einer anderen Ab- 
handlung, die an dieselbe Persönlichkeit gerichtet und vom Januar 1525 
datiert ist Es ist wahrscheinlich, daß die erste Abhandlung aus einer 
früheren Zeit herstammt 
*) Calcagnini: Opera, p. 392. 
Die Wahl der Hypothesen. 323 
Ding um so schneller, je weiter es sich vom Zentrum ent- 
fernt befindet. Darin findet man eine ungeheure Schwierig- 
keit gelöst, die den Gegenstand langer und zahlreicher Unter- 
suchungen gebildet hat imd die, wie man erzählt, Aristoteles 
zu solcher Verzweiflung brachte, daß sie seinen Tod ver- 
ursachte. Es handelt sich um die Ursache, die in vollkommen 
bestimmten Zeitintervallen jene beachtenswerte Schwankung 
des Meeres hervorbringt . . . Die Schwierigkeit wird ohne 
Mühe gelöst, wenn man von den Rückstößen, die die Erde 
beleben, Rechenschaft gibt. Dieselben bewirken, daß bald 
ein Teil sich hebt, bald wieder zurücksinkt, was bald eine 
Senkung der Gewässer bewirkt, bald sie in die Höhe 
schleudert." 
Galilei mußte diese Theorie, die Flut imd Ebbe des Ozeans 
durch die Wirkungen, die die Rotation der Erde hervorbringt, 
zu erklären versucht, wieder aufgreifen, präzisieren und in den 
Einzelheiten darlegen. 
Die Erklärung war unhaltbar, denn sie verlangte, daß 
das Intervall zweier Fluten gleich der Hälfte eines Sonnen- 
tages sei, während die Beobachtungen zeigen, daß sie gleich 
einem halben Mondtag ist; Galilei beharrte indessen darauf, 
diese Erklärung als einen der besten Beweise für die Be- 
wegung der Erde auszugeben und diejenigen, die mit ihm 
an der Wirklichkeit dieser Bewegung festhielten, wieder- 
holten gerne dieses Argument; so Gassendi in seiner Schrift: 
De motu impresso a motore translato, die er in Paris 
im Jahre 1641 herausgab. 
Natürlich hielten die Anhänger des Kopemikus an der Er- 
klärung der Gezeiten durch die Mondanziehung fest, da die- 
selbe nicht die Erdrotation voraussetzt. 
Unter den heftigsten Gegnern des kopemikanischen 
Systems muß man Morin anführen, der mit gleichem Feuer 
die Astrologie wieder aufzufrischen und Horoskope zu stellen 
suchte. Auf die Schrift von Gassendi, in der er einen per- 
sönlichen Angriff zu sehen glaubt, antwortet Morin mit einem 
Pasquill, betitelt: Alae telluris fractae; in dieser Schrift 
21* 
324 Elftes Kapitel. 
setzt er der Theorie von Galilei die magnetische Theorie 
der Gezeiten entgegen. 
Eter Unterschied zwischen Flut und Ebbe ist in der Zeit 
des Vollmonds oder des Neumonds sehr groß, dagegen viel 
geringer, wenn der Mond im ersten oder letzten Viertel steht. 
Dieses Altemieren der Springfluten und Nippfluten hatte 
bis dahin die Anhänger der magnetischen Philosophie stark in 
Verlegenheit gesetzt. 
Morin gab davon eine Erklärung, die er wie er ßagt,. 
aus den Prinzipien der Astrologie ableitet Dieses Alternieren 
erklärt sich durch das Zusammenwirken von Sonne und Mond ; 
bei ihren Konjunktionen wie bei ihren Oppositionen haben 
ihre Kräfte die Richtung derselben Geraden, die durch die 
Erde geht und es ist „ein allgemein bekanntes Axiom, daß 
die vereinigten Kräfte stärker sind als die zerstreuten." 
Morin berief sich, um die Rolle, die die Sonne bei den 
Änderungen der Gezeiten spielt, zu beweisen, auf die Prin- 
zipien der weissagenden Astrologie; und es ist in der Tat 
unbestreitbar, daß den Astrologen die Ehre zukommt, die 
Newtonsche Theorie der Gezeiten in allen Teilen vorbereitet 
zu haben, während die Verteidiger der rationellen wissen- 
schaftlichen Methoden, die Peripathetiker, Kopernikaner, Ato- 
misten und Cartesianer, deren erstes Auftreten mit Elan be- 
kämpft haben. 
Die Prinzipien, auf die sich Morin berief, waren aller- 
dings sehr alt; schon Ptolemäus vertrat in seinem Opus qua- 
dripartitum den Standpunkt, daß die Stellung der Sonne 
in bezug auf den Mond die Einflüsse dieses Gestirnes ver- 
stärken bezw. abschwächen könne; und diese Meinung wurde 
von Generation zu Generation überliefert, bis auf Gaspard 
Contarini, der lehrte, daß „die Sonne eine spezielle Wirkung 
ausübe, die die Gewässer des Meeres heben bezw. senken 
könne"!), bjs auf Chiret*), nach dem „es ganz augenschein- 
lich ist, daß die Sonne und der Mond kräftig an jener Be- 
^) Oasparis Contarini: De elementis eorumque mixtionibus 
libri 11; Lutetiae, MDXLVIII. 
*) Claude Duret: Discours de la v^rit6 . . .; Paris 1600, p. 236 
Die Wahl der Hypothesen. 325 
wegung und Aufwühlung der Wogen des Meeres arbeiten^', 
bis auf Gilbert^), der den Mond „die Hilfstruppe der Sonne'^ 
zu Hilfe rief und erklärte, daß die Sonne fähig sei y,die vom 
Mond ausgeübten Kräfte im Momente des Neumondes und 
Vollmondes zu vergrößern". 
Die Angehörigen der peripathetischen Schule, die an ihrem 
Rationalismus festhielten, bemühten sich, das Altemieren der 
Spring- und Nippfluten zu erklären, ohne eine verborgene 
Kraft der Sonne zu Hilfe zu nehmen. Albertus Magnus be- 
hauptete^) bloß die Änderung des Lichtes, das der Mond von 
der Sonne, gemäß der gegenseitigen Lage der beiden Ge- 
stirne, erhält, zu verwenden. Bei einem rationalistischen Er- 
klärungsversuch derselben Art ahnte Thimon le Juif^) wenig- 
stens eine große Wahrheit, indem er das Nebeneinanderbe- 
stehen zweier Arten von Gezeiten, solcher die vom Monde 
und solcher die von der Sonne herrühren, für möglich hielt; 
er schrieb die Flut im ersteren Fall einer Entstehung von Wasser 
zu, die durch die Kälte des Mondes verursacht wird, im letz- 
teren einem durch die Wärme der Sonne verursachten Auf- 
wallen. 
Man muß aber anerkennen, daß erst bei den Ärzten und 
Astrologen des XVI. Jahrhunderts die Idee, die Gesamtflut 
in zwei Ruten gleicher Art, dabei aber ungleicher Intensität 
zu zerlegen, präzisiert wurde und befruchtend wirkte. Sie 
nahmen an, daß die eine Flut vom Monde, die andere von der 
Sonne hervorgebracht werde und die Verschiedenartigkeit der 
Wechsel von Flut Und Ebbe durch die Übereinstimmung bezw. 
den Gegensatz dieser zwei Arten von Gezeiten zu erklären sei. 
Dieser Gedanke wurde schon im Jahre 1528 von einem 
vornehmen Dalmatiner Federico Chrisogone aus Zara, den 
^) Oulielmi Qilberti De mundo nostro philosophia nova, 
pp. 309 et 313. 
*) Alberti Magni De causis proprietatum elemeniorum liber 
unus; tract II, c VI. — B. Alberti Magni: Opera omnia, Lugduni, 
1651; t V, p. 306. 
*) Quaestiones super quatuor libros meteororum compflatae per 
doctissimum philosophum professorem Thimon iem, Lutetiae, 1516 et 1518; 
]. II, quaesi II. 
326 Elftes Kapitel. 
uns Annibal Raimondo als einen „großen Arzt, Philosophen 
und Astrologen" vorstellt, klar formuliert^). 
In einem Werk, das die kritisdien Tage der Krankheiten 
behandelt, stellt er folgendes Prinzip auf: „Die Sonne und 
der Mond ziehen die Anschwellung des Meeres in der 
Art zu sich, daß sich lotrecht unter jedem dieser Gestirne 
die maximale Anschwellung befindet; es gibt daher fOr jedes 
derselben zwei Ansdiwellungsmaxima, eines unter dem Qestini 
und das andere an der entgegengesetzten Seite, was man dea 
Nadir dieses Gestirnes nennt". Federico Chrisogone beschreibt 
sodann um die Erdkugel zwei Rotationsellipsoide; die große 
Achse des einen derselben ist gegen die Sonne, die große Achse 
des anderen gegen den Mond gerichtet; jedes dieser beiden 
EUipsoide stellt die Gestalt dar, die das Meer annehmen würde, 
wenn es blos der Wirkung eines einzigen Gestirnes ausgesetzt 
wäre; indem man die beiden zusammensetzt, erklärt man die 
verschiedenen Eigentümlichkeiten der Flut. 
Die Theorie Federico Chrisogones aus Zara gewinnt als- 
bald Verbreitung. Im Jahre 1557 setzt sie der berühmte Mathe- 
matiker, Arzt und Astrologe Hleronymus Kardano übersicht- 
lich auseinander.^) Zur selben Zeit lehrt Federico Delfino 
in Padua eine Theorie der Gezeiten, die vom gleichen Prin- 
zip ausgeht 8) Dreißig Jahre später bringt Paolo Gallucci*) 
die Theorie Federico Chrisogones wieder vor, während Anni- 
bale Raimondo^) die beiden Theorien von Chrisogone und 
^) Federid Chrisogoni nobilis Jadertini De artificioso modo 
collegiandi, pronosticandi et curandi febres et de prognosticis 
aegritudinuiti per dies criticos necnon de humana felicitate, ac 
denique de fluxu et refluxu maris; Venetiis, impr. a Joan. A De 
Sabio, 1528. 
*) Hieronymi Cardani De rerum varietate libri XVII; Basileae, 
MDLVII, 1. 11, cap. XIII. 
') Federid Delphini De fluxu, et refluxu aque maris; Venetiis 
MDLIX; zweite Auflage, Basileae, MDLXXVIl. 
*) Pauli Oallucii Theatrum mundi et temporis» 
MDLXXXVIII, p. 70. 
*) Annibale Raimondo: Trattato delflusso e reflussodel mare» 
in Venetia, 1589. 
Die Wahl der Hypothesen. 327 
Delfino auseinandersetzt und kommentifert Endlich veröffent- 
licht^) am Ende des XVI. Jahrhunderts Claude Duret ohne 
Scheu die Theorie E>elfinos unter seinem eigenen Namen. 
Die Hypothese einer Wirkung der Sonne auf die Ge- 
wässer des Meeres, einer Wirkung, die der vom Monde aus- 
geübten ganz gleich ist, war bereits erprobt, hatte bereits 
eine sehr befriedigende Theorie der IHut und Ebbe geliefert, 
als Morin sie in seinem Pasquill gegen Qassendi zum ersten- 
mal in Betracht zog. 
Qassendi wendete sich mit Heftigkeit gegen die magne- 
tische Kraft, durch die der Mond die Gewässer der Erde an- 
ziehen soll; aber noch heftiger weist er die neue, von Morin 
formulierte Hypothese zurück^) : „Gewöhnlich wird die Feuch- 
tigkeit für die dem Monde eigentümliche Wirkung gehalten 
und die Sonne kann diese Wirkung nicht hervorbringen, son- 
dern nur aufhalten. Es beliebt nun aber Morin, daß die 
Sonne die Wirkung des Mondes imterstütze; er erklärt, daß 
die Wirkungen von Sonne und Mond einander verstärken; 
er nimmt daher an, daß die Wirkungen der Sonne und die 
des Mondes von gleicher Beschaffenheit, oder wie man sagt, 
von der gleichen spezifischen Art seien; was das Phänomen 
betrifft, das uns beschäftigt, so bedeutet das, daß wenn durch 
die Wirkung des Mondes die Gewässer angezogen werden, 
dies in gleicher Weise auch durch die Wirkung der Sonne 
geschehen muß.'' 
In jenem Jahre 1643, in dem Gassendi die Hypothese, 
daß der Mond und die Sonne analoge Anziehungen hervor- 
bringen könnten für unbegründet erklärte, wurde diese Hypo- 
these neuerlich formuliert, aber generalisiert und erweitert, 
^) Discours de la v^rit6 des causes et effects, des divers 
cours, mouvements, flux, reflux et saleure de la mer Oc6ane, 
mer M^diterrann^e et autres mers de la Terre, par M. Claude Duret, 
consefller du Roy, et premier juge au si^ge präsidial de Moulins en Bour- 
bonnais. A Paris, chez Jacques Rez6, MDC. 
*) Qassendi Epistolae tres de motu impresso a motore 
translato, Epistola III, ari XVI Parisiis, 1643. — Petri Qassendi Diniensis 
Opuscula philosophica, t III, p. 534. Lugduni 1658. 
328 Elftes Kapitel. 
bis zur Annahme einer allgemeinen Gravitation. Diese gran- 
diose Annahme war Roberval zu verdanken, der, da er nicht 
wagte, sie offen unter seinem Namen zu publizieren, sich 
bloß als den Herausgeber und Kommentator einer Schrift^) 
ausgab, von der er behauptete, daß Aristarch von Samos sie 
verfaßt habe. 
„Jedem Fluidum, das den Raum zwischen den Gestirnen 
und allen ihren Teilen erfüllt, ist", wie Roberval behauptete, 
„eine gewisse Eigenschaft oder ein gewisses Akzidenz eigen; 
durch die Kraft dieser Eigenschaft wird diese Materie an ein 
und demselben zusammenhängenden Körper festgehalten ; alle 
Teile desselben befinden sich durdi eine unaufhörUche Wir- 
kung einander gegenüber und ziehen sich gegenseitig so 
sehr an, daß sie tatsächlich zusammenhängend sind und 
nur durdi eine größere Kraft getrennt werden können. Das 
^) Aristarchi Samii De Mundi systemate,partibus et motibus 
ejusdem über singularis. Addidae sunt Ae. P. de Roberval notae in 
eundem libellum. Parisiis, 1644. DiesesWerk wurde von Mersenne im Jahre 1647 
im Band III seiner Cogitata physico-mathematica wieder abgedruckt — 
Ich glaube, daß, wenn man den Gedanken Robervals exakt interpretiert, man 
in seinem System nicht eine Theorie der allgemeinen Gravitation sehen muß; 
die Teile des interplanetarischen Fluidums werden nur Teile desselben 
Fluidums anziehen; die Teile der Erde werden nur Teile der Erde anziehen; 
die Teile des Systems der Venus nur Teile desselben Systems usw. Dennoch 
wird es eine gegenseitige Anziehung zwischen dem System der Erde und 
dem des Mondes sowie zwischen dem System des Jupiter und dem Satelliten 
dieses Gestirnes geben. Die Anwendung, die Roberval vom archimedischen 
Prinzip auf das Gleichgewicht eines einem Planeten angehörigen Systemes 
im Innern des interplanetarischen Fluidums macht, wäre somit vollkommen 
irrtümlich; aber ähnliche Irrtümer sind in den Arbeiten der Mathematiker 
des XVI. Jahrhunderts häufig und finden sich sogar in den ersten Schriften 
Galileis. Jedenfalls versteht Descartes^ in der Kritik, in der er das Rober- 
valsche System behandelt, dasselbe so, als ob es die allgemeine Schwere 
voraussetzen würde: „Denique aliam inesse praeterea similem proprietatem 
in Omnibus et singulis terrae, aquae, aerisque partibus, vi cujus ad se invicem 
ferantur, et si redproce attrahant; adeo ut hae (similiqüe etiam modo aliae 
omnes quae aliquos planetas componunt, vel drcumdant) singulae duas 
ejusmodi habeant vires, unam quae ipsas cum aliis partibus sui planetae, 
aliam quae easdem cum reliquis partibus Universi conjungat*' 
* Descartes: Correspondance, 6dition P. Tannery et Ch. Adam, 
t IV, p. 399, lettre de Descartes ä Mersenne dat^e du 20 avril 1646. 
Die Wahl der Hypothesen. 329 
'rr vorausgesetzt, wird diese Materie, wenn sie allein wäre, das 
lir heißt nicht mit der Sonne oder anderen Körpern verbunden, 
i:z sich in eine vollkommene Kugel zusammenziehen; sie würde 
ir genau die Gestalt einer Kugel annehmen und könnte niemals 
^ im Qleidigewicht Ueiben, wenn sie nicht diese Gestalt er- 
langt hätte. In dieser Gestalt würde das Wirkungszentrum 
oe: mit dem Zentrum des Körpers zusammenfallen; gegen dieses 
:y. Zentrum würden alle Teile der Materie streben, durch ihren 
t: eigenen Drang oder ihre Begierde und ebenso durch die 
e- gegenseitige Anziehung des Ganzen; das wird nicht, wie die 
i. Unwissenden meinen, durch die Kraft des Zentrums selbst, 
sondern durch die Kraft des ganzen Systemes, dessen Teile 
gleichmäßig um dieses Zentrum gelagert sind, geschehen . . .'' 
„I>em ganzen System der Erde und der irdischen Ele- 
mente und jedem der Teile dieses Systemes wohnt ein ge- 
!i wisses Akzidenz oder eine gewisse Eigenschaft inne, die der 
l Eigenschaft, die wir dem als Ganzes genommenen System 
des Mondes zugeschrieben haben, ähnlich ist; durch die Kraft 
dieser Eigenschaft vereinigen sich alle Teile dieses Systemes 
zu einer einzigen Masse, befinden sich einander gegenüber 
und ziehen sich gegenseitig an; sie sind tatsächlich zusammen- 
hängend und können nur durch eine größere Kraft getrennt 
werden. Aber die verschiedenen Teile der irdischen Körper 
haben einen ungleichen Anteil an dieser Eigenschaft, an diesem 
Akzidenz; denn ein Teil hat um so mehr Anteil an diesem 
Akzidenz, an dieser Eigenschaft, je dichter er ist ... In den 
drei Körpern, die Erde, Wasser und Luft genannt werden, 
besteht diese Eigenschaft in dem, was wir gewöhnlich die 
Schwere bezw. Leichtigkeit nennen ; denn für uns ist die Leich- 
tigkeit nur eine geringere Schwere im Vergleich zu einer 
größeren Schwere." 
Roberval wiederholt ähnliche Betrachtungen in bezug auf 
die Sonne und andere Himmelskörper, so daß genau hundert 
Jahre nadi der Veröffentlichung der sechs Bücher des Koper- 
nikus über die Bewegungen am Himmel, die Hypothese von 
der allgemeinen Gravitation formuliert worden war. 
330 Elftes Kapitel. 
Diese Hypothese war indessen noch immer unvollständig; 
sie enthielt eine Lücke: Welchem Gesetze folgt die g^ensdtige 
Anziehung zweier materieller Teilchen, wenn der Abstand 
dieser beiden Körper wädist? Auf diese Frage hatte Roberval 
keine Antwort gegeben. Aber man konnte nicht zögern, diese 
Antwort zu formulieren oder besser gesagt, wenn sie noch 
nicht formuliert worden war, so deshalb, weil sie für nie- 
mand zweifelhaft war. 
Die Analogie zwischen den von den Sternen ausgeübten 
Wirkungen und dem von ihnen ausgesendeten Licht war für 
die Physiker und Astrologen des Mittelalters und der Renais- 
sance tatsädilidi ein Gemeinplatz; die Mehrzahl der schola- 
stischen Peripathetiker trieben diese Analogie so weit, daß 
sie aus ihr ein unlösliches Band oder eine Identität machten. 
Scaliger war bereits genötigt, sidi gegen diese Übertreibung^ 
zu wenden.!) „Die Sterne", sagt er, „können ohne Hilfe 
des Lichtes wirken; der Magnet wirkt auch ohne Licht; um 
wieviel großartiger werden die Sterne wirken!" 
Ob sie nun mit dem Licht identisch sind oder nicht, 
müssen dodi alle Kräfte, alle species der substantiellen Form, 
die ein Körper um sich im Räume äußert, sich nadi denselben 
Gesetzen fortpflanzen oder wie man im Mittelalter sagte, sich 
multiplizieren. Schon im XIIL Jahrhundert hat es Roger 
Baoon^) unternommen, eine allgemeine Theorie dieser Fort- 
pflanzung zu geben; in jedem homogenen Medium findet sie 
in geradlinigen Strahlen oder, um den modernen Ausdruck 
zu verwenden, in Kugelwellen statt; wenn er ein ebenso- 
guter Mathematiker gewesen wäre, wie er forderte, daß die 
Physiker es seien, hätte Bacon leicht aus seinen Überlegungen*) 
folgenden Schluß gezogen: Die Kraft einer derartigen species 
^) Julii-Caesaris Scaligeri De subtilitate adversus Cardanum, 
Exerdtatio LXXXV. 
*) Rogerii Bacconnis Angli: Specula mathematica in qua de 
specierum multiplicatione, earumdemque in inferioribus virtnte 
agitur; Francofurti MDCXIV. 
*) Roger Bacon: Loc cii disi II, cc I, II, III. 
«) Roger Bacon: Loc cii disi III, c II. 
Die Wahl der Hypothesen. 331 
steht immer im umgekehrten Verhältnis zum Quadrat des 
Abstandes von der Quelle, der sie entstammt. Ein derartiges 
Gesetz war ein Satz, der ganz natürlich aus der Analogie 
zwischen der Fortpflanzung dieser Kräfte und der des Lichtes 
hervorgeht 
Kein Astronom hat vielleidit auf dieser Analogie mehr 
bestanden als Kepler. CMe Drehung der Sonne ist für ihn 
die Ursache der Drehung der Planeten; die Sonne sendet 
diesen Gestirnen eine gewisse Qualität, eine gewisse Ähn- 
lichkeit ihrer Bewegung, eine gewisse species motus, die 
dieselben ihrerseits antreiben muß. Diese species motus, 
diese virtus movens ist mit dem Sonnenlicht nicht identisch, 
hat aber^) mit ihm eine gewisse Verwandtschaft; sie bedient 
sich vielleicht des Sonnenlichtes, wie eines Instrumentes oder 
eines Beförderungsmittels. 
Die Intensität des von einem Gestirne ausgesandten Lichtes 
ändert sich nun im umgekehrten Verhältnis zum Quadrat des 
Abstandes von diesem Gestirn ; es ist dies ein Lehrsatz, dessen 
Kenntnis in das Altertum zurückzureichen scheint, der sich 
in einer Schrift über Optik, die Euklid zugeschrieben wurde, 
findet und für den Kepler den Beweis geliefert hat.^) Die Ana- 
logie würde verlangen, daß die von der Sonne ausgesandte 
virtus movens im umgekehrten Verhältnis des Quadrates 
des Abstandes von diesem Gestirn sich ändere ; aber die Dyna- 
mik, die Kepler anwendet, ist noch die alte Dynamik des Aristo- 
teles. Die Kraft, die einen beweglichen Körper bewegt, ist 
proportional der Geschwindigkeit desselben; daher führt der 
Flächensatz, den Kepler entdeckt hat, ihn zu folgendem Lehr- 
satz: Die virtus movens, der ein Planet unterworfen ist, 
ändert sich im umgekehrten Verhältnis des einfachen Abstandes 
von der Sonne. 
*) Joannis Kepler! De motibus stellae Martis commentarii 
c. XXXIV. — Joannis Kepler! Opera omnia, i III, p. 302. — Epitome 
Astronomlae Copernicanae; 1. IV, 11« pari, art. 3. — Joannis Kepleri 
Opera omnia, i VI, p. 347. 
V Joannis Kepler! Ad Vitelllum paralipomena quibus Astro- 
nomlae pars optica tradltur; Francofurti, 1604, c I, prop. IX.— Joannis 
Kepler! Opera omnla, i II, p. 133. 
332 Elftes Kapitel. 
Di€se Art der Änderung, die recht wenig der Analogie 
zwischen der von der Sonne hervorgebrachten species motus 
und dem von demselben Gestirne ausgesandten Lichte ent- 
spricht, muß jedenfalls Kepler stören; er bemüht sich^), 
die Analogie wieder herzustellen, speziell durch folgende 
Bemerkung: Das Licht breitet sich im Raum nach allen Rich- 
tungen aus, während sich die virtus motrix nur in der Ebene 
des Sonnenäquators fortpflanzt; die Intensität des ersteren 
steht im umgekehrten Verhältnis des Quadrates des Abstandes 
vom Ausgangspunkt, die Intensität der letzteren steht im um- 
gekehrten Verhältnis zum einfachen Abstand, der durchlaufen 
wurde; diese beiden verschiedenen Gesetze drücken im einen 
wie im anderen Fall die gleiche Wahrheit aus: Die gesamte 
Quantität des Lichtes oder der species motus erleidet im 
Verlauf der Weiterverbreitung keine Einbuße. 
Sogar die Erklärungen Keplers zeigen uns, mit welcher 
Kraft das Gesetz des umgekehrten Verhältnisses des Quadrates 
der Entfernungen in seinem Denken wirksam ist, so daß er 
es vor allem der Intensität einer Qualität zuschreiben will, 
wenn ein Körper diese Qualität nach allen Richtungen um 
sich herum hervorbringt. Dieses Gesetz mußte für seine Zeit- 
genossen ebenso evident erscheinen. Ismael BouUiau hat es 
in erster Linie für das Licht aufgestellt^) ; er zögert nicht, 
es auf die virtus motrix, die nach Kepler die Sonne auf die 
Planeten ausübt, auszudehnen : „Diese Kraft", sagt er*), „durch 
die die Sonne die Planeten erfaßt oder festhält und die ihr an 
Stelle körperlidier Hände dient, wird in gerader Linie in den 
ganzen Raum, den die Welt einnimmt, ausgesendet; sie ist 
eine Art species der Sonne, die sich mit dem Körper dieses 
Gestirnes bewegt; da sie körperlich ist, nimmt sie ab und 
^) Joannis Kepler! Commentarii de motibus stellae Martis, 
c. XXXVL — Kepler! Opera omnia, t III, pp. 302, 309. — Epitome 
Astronomiae Copernicanae, 1. IV, II« pari, art 3. — Kepler! Opera 
omnla, t VI, p. 349. 
*) Ismaelis BulUaldi De natura lucis; Parisiis 1638, prop. 
XXXVII, p. 41. 
*) IsmaeHs BuUiald! Astronomla PhilolaTca; Parisüs 1645, p. 23. 
Die Wahl der Hypothesen. 333 
wird geschwächt, wenn der Abstand zunimmt, und die Art 
dieser Abnahme ist, wie für das Licht, die des umgekehrten 
Verhältnisses des Quadrates der Entfernung/' 
Die virtus motrix, von der Boulliau spricht und die 
dieselbe ist, die bei Kepler auftritt, ist nicht in der Richtung 
des Strahles, der vom Planeten zur Sonne geht, gerichtet, 
sondern normal zu ihm; es ist dies keine Anziehung, die der 
gleich ist, die Roberval annimmt und die wir bei Newton be» 
gegnen werden; aber wir sehen klar, daß die Physiker des 
XVII. Jahrhunderts, wenn sie die Anziehung zweier Körper 
behandeln, vom Anbeginn an von der Annahme geleitet wer- 
den, daß diese Anziehung im umgekehrten Verhältnis des 
Quadrates der gegenseitigen Entfernung der zwei Körper auf- 
trete, j 
Die Arbeiten des Pater Athanasius Kircher Ober den Magneten 
liefern uns hierfür ein zweites Beispiel) ; die Analogie zwischen 
dem von einer Quelle ausgesandten Licht und der Kraft, die 
jeder der beiden Pole eines Magneten hervorbringt, nötigt 
ihn, für die Intensität der einen wie der anderen Qualität 
ein Gesetz anzunehmen, nach dem die Abnahme ün umge- 
kehrten Verhältnis des Quadrates der Entfernung stattfindet; 
wenn er sich dieser Annahme weder für den Magnetismus, 
noch für das Licht anschließt, so deshalb, weil sie die Ver- 
breitung der beiden Kräfte ins Unendliche ermöglicht, während 
er für jede Kraft eine Wirkungssphäre annimmt, außerhalb 
deren sie streng aufgehoben ist. 
So war seit der ersten Hälfte des XVII. Jahrhunderts 
alles Material, das zum Bau der Hypothese der allgemeinen 
Anziehung dient, gesammelt, zugerichtet, zur Verwendung be- 
reit; aber man ahnt noch keineswegs, welche Ausdehnung 
diese Verwendung haben wird; die magnetische Kraft, 
^) Athanasii Kircheri Magnes, sive de arte magnetica; Romae 
1641; 1. I, prop. XVII, XIX, XX. In dem Uhrsatz XX spricht Kircher von 
der Abnahme im umgekehrten Verhältnis des Abstandes; dies ist hier 
ein einfaches Versehen, das daher rührt, daß Kircber bei den Überiegungen 
über Kugelflächen dieselben durch die Kreisbogen dargestellt hat Der 
Oedanke des Autors hierüber ist nichtsdestoweniger ganz klar. 
334 Elftes Kapitel« 
durch die die verschiedenen Teile der Materie sich gegen^ 
einander bewegen, wird verwendet, um von dem Fall der 
schweren Körper und der Meeresflut Rechenschaft zu geben; 
man träumt noch nicht davon, daß es möglich sei, aus ihr 
die Darstellung der Bewegimgen der Gestirne abzuleiten ; ganz 
im Gegenteil, wenn die Physiker an das Problem der Mecha- 
nik des Himmels herantreten, stört sie besonders diese An- 
ziehungskraft. 
Dies rührte daher, daß die Wissenschaft, die sie mit ihren 
Prinzipien unterstützen muß, die Dynamik, noch in den Kinder- 
schuhen steckt; da sie noch den Lehren, die Aristoteles im 
De Coelo gegeben hat, unterliegen, stellen sie sich die 
Wirkung, der zufolge sich ein Planet um die Sonne dreht, 
ähnlich vor, wie ein Pferd am Göpelwerk; da sie in jedem 
Augenblick, wie die Geschwindigkeit des bewegten Körpers 
gerichtet ist, wird sie proportional dieser Geschwindigkeit ge- 
setzt; auf Grund dieses Prinzipes vergleicht^) Kardano den 
Einfluß des Lebensprinzipes, das den Saturn bewegt, mit 
dem Einfluß des Lebensprinzipes, das den Mond bewegt; 
diese Rechnung war wohl noch recht naiv, aber doch das erste 
Vorbild der Überlegungen, die zum Aufbau der Mechanik 
des Himmels führen 
Die Mathematiker des XVL und der ersten Hälfte des 
XVIL Jahrhunderts, die noch ganz von den Prinzipien erfüllt 
sind, die Kardano bei seinen Rechnungen geleitet haben, wissen 
nicht, daß ein einmal geschleudertes Gestirn nicht in der Rich- 
tung seiner Bewegung gezogen werden muß, um einen Kreis 
mit gleichförmiger Geschwindigkeit zu beschreiben; es ist im 
Gegenteil nötig, daß ein Zug gegen das Kreiszentrum es 
in seiner Bahn halte und hindere entlang der Tangente zu 
entfliehen. 
Folgende zwei Vorurteile beherrschen daher die Mechanik 
des Himmels: Erstens wird an jedem Planeten eine Kraft an- 
gebracht, die senkrecht auf dem von der Sonne kommenden 
Radiusvektor steht, eine Kraft, die sozusagen an diesem Radius- 
^) Hieronymi Cardani Opus novum de proportionibus; 
Basileae, 1570; prop. CLXIII, p. 165. 
Die Wahl der Hypothesen. 335 
Vektor angespannt ist, wie das Pferd im Qöpeiwerk am Hebel- 
arm, den es drehen soll; zweitens wird die Anziehung- der 
Sonne auf den Planeten, die scheinbar die beiden Gestirne 
gegeneinander schleiukm wurde, außer acht gelassen. 
Kepler sieht die virtus motrix in einer Qualität, in einer 
species motus, die von der Sonne herrührt; die magne- 
tische Anziehung, die von ihm so klar herangezogen wird, 
um die Schwere und die Gezeiten zu erklären, fibergeht er bei 
der Behandlung der Bewegung der Gestirne mit Stillschweigen. 
Descartes ersetzt die species motüs durch die hinreißende 
Gewalt, die der Atherwirbel ausübt. „Aber Kepler^) hatte so 
gut diesen Gegenstand vorbereitet, daß die Anpassung, die 
Hr. Descartes zwischen der corpuscularen Philosophie und 
der Astronomie des Kopemikus vollbrachte, nicht sehr schwie- 
rig war." 
Um den Sdiluß zu vermeiden, daß die Anziehung die 
Planeten auf die Sonne schleudere, taucht Roberval das ganze 
Weltsystem in ein ätherisches Medium, das denselben An- 
ziehungen ausgesetzt ist und mehr oder weniger durch die 
Sonnenwärme ausgedehnt wird; jeder Planet behauptet, um- 
geben von seinen Elementen im Innern dieses Mediums, jene 
Gleichgewichtslage, die ihm das Prinzip von Archimedes zu- 
weist; überdies bringt die Bewegung der Sonne im Innern 
dieses Äthers durch Reibung einen Wirbel hervor, der |die 
Planeten genau so mit sich führt, wie die species motus, 
auf die Kepler sich berief. 
Das System von Borelli^) unterwirft sich gleichzeitig dem 
Einfluß Robervals und dem Keplers. Borelli sucht wie Kepler 
die Ursache, auf Grund der sich jeder Planet in seiner Bahn 
bewegt, in einer Kraft, die von der Sonne herrührt, durch das 
Lidit übertragen wird und deren Intensität im umgekehrten 
Verhältnis des Abstandes der beiden Gestirne steht. Mit 
^) Leibniz^ Brief an Molanus (?) (Leibniz, Werke herausgegeben 
von Gerhardt, Band IV, p. 301). 
') Alphonsi Borelli Theoriae Mediceorum planetarum ex 
causis physicis deductae, Florentiae 1665. — Vergl. Ernst Ooldbeck: 
Die Qravitationshypothese bei Galilei und Borelli, Berlin, 1897. 
336 Elftes Kapitel. 
Roberval nimmt er an^), daß es „in jedem Planeten einen 
natürlichen Instinkt gebe, durch den er sich der Sonne 
in gerader Linie zu nähern suche. Oleicherweise sehen wir 
jeden schweren Körper sich auf Grund eines natürlichen In- 
stinktes unserer Erde nähern, indem er durch die Schwere 
gestoßen wird, die ihn mit der Erde in Verbindung bringt; 
ebenso bemerken wir, daß das Eisen sich in gerader Linie 
gegen den Magneten bewegt." 
Jene Kraft, die den Planeten zur Sonne bringt, vergleicht 
Borelli mit der Schwere; es scheint nicht, daß er sie mit ihr 
identifiziert; dadurch ist sein System minderwertiger als das 
Robervals; es ist außerdem darin minderwertig, daß es vor- 
aussetzt, daß die vom Planeten ausgeübte Anziehung unab- 
hängig vom Abstand dieses Gestirnes von der Sonne sei; 
aber es übertrifft es üi einem Punkte; um jene Kraft auszu- 
gleichen, lun den Planeten an dem Fall gegen die Sonne zu 
hindern, nimmt es nicht mehr Drucke eines Fluidums, in 
dessen Innern der Planet, gemäß dem Archimedischen Prinzip 
schwimmt, zu Hilfe; es beruft sidi auf das Beispiel der Schleu- 
der, deren im Kreise bewegter Stein das Band stark spannt; 
es hält dem Trieb, durch den der Planet sich zur Sonne be- 
wegt, das Gleichgewicht^), indem es ihm die Tendenz eines 
jeden Körpers, der pich vom Zentrum der Umdrehung zu 
entfernen sucht, die vis repellens entgegenstellt, die er im 
umgekehrten Verhältnis des Radius der Bahn annimmt 
Die Vorstellung Borellis unterscheidet sich wesentlich von 
den Meinungen, bei denen seine unmittelbaren Vorgänger 
stehen geblieben waren. War seine Schöpfung indessen un- 
vermittelt? War Borelli beim Studium älterer Schriften auf 
keine Anregung gestoßen, die diesen Gedanken veranlassen 
hätte können? Aristoteles^) berichtet uns, daß Empedokles 
die Ruhe der Erde durch die riesig schnelle Drehung des 
Himmels erklärte; „so geschieht es, daß das Wasser, das 
man in einem offenen Gefäße zur Drehung bringt, selbst 
*) Borelli: Loc. cit. p. 76. 
«) Borelli: Loc cit p. 47. 
*) Aristoteles: IIep\ oupoevoC, B, ay. 
Die Wahl der Hypothesen. 337 
wenn sich der Boden des Gefäßes oberhalb des Wassers 
befindet, nicht herausfließt; die Drehung hindert es daran". 
Und Plutarch drückt sich üi einer Schrift^), die von den alten 
Astronomen fleißig gelesen und später von Kepler übersetzt 
und kommentiert wurde, folgendermaßen aus: „Der Mond 
wird vor dem Falle auf die Erde durch seine Bewegung 
selbst und durch die Heftigkeit seiner Drehung bewahrt; eben- 
so wird der Fall von Dingen, die sich in einer Schleuder be- 
finden, durch die Drehung im Kreise verhindert; die der Natur 
entsprechende Bewegung (die Schwere) nimmt alle Dinge mit 
sich, mit Ausnahme jener, bei denen eine andere Bewegung 
sie aufhebt; daher bewegt die Schwere nicht den Mond, weil 
die Kreisbewegung bewirkt, daß sie ihren Einfluß verliert". 
Plutarch konnte nicht klarer die Hypothese aussprechen, die 
Borelli annehmen mußte. 
CHese Bezugnahme auf die Zentrifugalkraft ist nichts 
desto weniger ein genialer Zug; Borelli kann unglücklicher- 
weise aus dem Gedanken, der sich ihm darbot, keinen Vorteil 
ziehen; er kennt die genauen Gesetze dieser Zentrifugalkraft 
selbst in dem Fall nicht, wo der bewegliche Körper einen 
Kreis mit gleichförmiger Geschwindigkeit beschreibt; daher 
ist es ihm erst recht unmöglich, sie in dem Falle zu berechnen, 
wo der beweglidie Körper eine den Keplerschen Gesetzen 
entsprechende Ellipse beschreibt; ebensowenig vermag er durch 
einen deduktiven Schluß diese Gesetze aus den von ihm formu- 
lierten Hypothesen abzuleiten. 
Der Physiker Hooke, der im Jahre 1674 Sekretär der 
Royal Society in London ist, nimmt seinerseits das Problem, 
das die Bemühungen Keplers, Robervals, Boreliis veranlaßt 
hatte, in Angrifft). Er weiß, daß „jeder einmal in Bewegung 
gesetzte Körper fortfährt sich in gerader Linie mit gleichför- 
miger Geschwindigkeit zu bewegen, bis andere Kräfte seinen 
Weg krumm machen und in einen Kreis, eine Ellipse oder 
irgend eine andere kompliziertere Kurve biegen". Er weiß 
^) Plutarch: ücpl too EiAfaivofxivou Kpoataicw x^ xuxXo Tf;c 0EXr|V7]C, Z. 
*) Hooke: on attempt to prove to annual motion of the Earth; 
London, 1674. 
Dnhcm, PhytOctUschc Theorie. 22 
338 Elftes Kapitel. 
auch, welche Kräfte die Bahnen der verschiedenen Himmels- 
körper bestimmen : ,,Alle Himmelskörper ohne Ausnahme üben 
eine Anziehung oder Schwere, die gegen ihr Zentrum ge- 
richtet ist, aus, infolgedessen sie nicht nur ihre eigenen Teil- 
chen festhalten und sie daran hindern sich in den Raum zu 
entfernen, wie wir sehen, daß es bei der Erde geschieht, son- 
dern sie ziehen auch alle anderen Himmelskörper an, die 
sich in ihrem Wirkungsbereich befinden. Daraus folgt zum 
Beispiel, daß nicht nur die Sonne und der Mond den Weg 
und die Geschwindigkeit der Erde beeinflussen, ebenso wie 
die Erde auf sie wirkt, sondern daß auch Merkur, Venus, Mars, 
Jupiter und Saturn infolge ihrer Anziehungskraft einen be- 
trächtlichen Einfluß auf die Bewegung der Erde ausüben, 
ebenso wie die Erde einen starken Einfluß auf die Bewegung 
dieser Körper ausübt". Hooke weiß endlich, daß „die An- 
ziehungskräfte mit umso größerer Stärke ausgeübt werden, 
je näher die Körper, auf die sie wirken, dem Zentrum, dem 
sie entstammen, sind". Er gesteht, daß „er noch nicht ge- 
prüft habe, wie dieses Anwachsen für die verschiedenen Ent- 
fernungen stattfinde". Aber er nahm bereits in diesem Moment 
an, daß die Intensität der Anziehungskraft im umgekehrten 
Verhältnis des Quadrates der Entfernung wachse, obwohl 
er dieses Gesetz erst im Jahre 1678 veröffentlichte. Seine 
Behauptung in dieser Richtung ist umso weniger unwahr- 
scheinlidi, als in derselben Zeit ein anderes Mitglied der Royal 
Society, Wren nach dem Zeugnis Newtons und Halleys bereits 
im Besitz dieses Gesetzes war. Hooke und Wren hatten 
ohne Zweifel, einer wie der andere, dasselbe aus dem Ver- 
gleich zwischen der Schwere und dem Licht abgeleitet, ein 
Vergleich, auf Grund dessen es auch Halley im selben Augen- 
blicke vermutete. 
Hooke ist daher bereits 1672 im Besitze aller Postulate, 
die zum Aufbau des Systemes der allgemeinen Gravitation 
dienen; aber er kann diese Postulate nicht weiter verwenden; 
die Schwierigkeit, die Borelli gehemmt hatte, hemmt auch 
ihn ; er kann nicht die gekrümmte Bewegung, die eine variable 
Kraft hervorbringt, nach Größe und Richtung behandeln; er 
Die Wahl der Hypothesen. 339 
ist gezwungen, seine Hypothesen, die noch unfruchtbar sind, 
mit dem Wunsch« zu publizieren, daß ein geschickterer Mathe- 
matiker sie verwenden möge: „Es handelt sich um einen Ge- 
danken, der, wenn er so verfolgt wird, wie er es verdient, 
nidit ermangeln kann, den Astronomen sehr nützlich zu werden, 
um alle Himmelsbewegungen auf eine gewisse Regel zurück- 
zuführen; diese wird, wie ich glaube, niemals in anderer Weise 
aufgestellt werden können. Diejenigen, die die Theorie der 
Pendelschwingungen und der Kreisbewegung kennen, werden 
leicht begreifen, auf welcher Grundlage das allgemeine Prin- 
zip, das ich ausspreche, beruht und sie werden in der Natur 
das Mittel finden können, um dessen wahren physikalischen 
Charakter klarzustellen". 
Das unentbehrliche Hilfsmittel zur Ausführung einer der- 
artigen Arbeit ist die Kenntnis der allgemeinen Gesetze, 
welche die Abhängigkeit einer krummlinigen Bewegung von 
den Kräften, welche sie hervorbringt, darstellen; im Augen- 
blick nun, wo der Essay von Hooke erschien, gelang die 
Formulierung dieser Gesetze und es ist in der Tat das Studium 
der Pendelschwingungen, aus dem ihre Entdeckung hervorging. 
Im Jahre 1673 veröffentlicht Huygens^) seine Abhandlung über 
die Pendeluhr; die Theoreme, die den Abschluß dieser Ab- 
handlung bilden, geben das Mittel, wenigstens für Kreisbahnen, 
jene Probleme zu lösen, die Borelli und Hooke nicht be- 
handeln konnten. 
Die Untersuchungen über die mechanische Erklärung der 
Bewegung der Himmelskörper erhalten durch die Publikation 
von Huygens einen neuen und fruchtbaren Anstoß. Im 
Jahre 1689 greift Leibniz^) wieder zu einer Theorie, die der 
von Borelli analog ist; jedes Gestirn ist einer gegen die Sonne 
gerichteten Anziehungskraft und einer im entgegengesetzten 
Sinne gerichteten Zentrifugalkraft, deren Größe aus den Theo- 
remen von Huygens abgeleitet werden muß, unterworfen und 
*) Christian! Hugenii De horologio oscillatorio; Parisiis, 1673. 
^ Leibnitii Tentamen de motuum coelestium causis (Acta 
Eruditorum Lipsiae, anno 1689). 
22* 
340 Etftes Kapitel. 
endlich auch noch einem Antrieb des Atherfluidums, das es 
umspült, einem Antrieb, den Leibniz normal zum Radiusvektor 
und im umgekehrten Verhältnis der Länge dieses Radius an- 
nimmt; dieser Antrieb spielt genau die Rolle der virtus mo- 
trix, auf die sich Kepler imd Borelli beriefen ; er besteht in nichts 
anderem, als in der Obersetzung derselben in das Wirbelsystem 
von Descartes und Roberval. Mit Hilfe der von Huygens for- 
mulierten Regeln berechnet Leibniz die Kraft, derzufolge der 
Planet gegen die Sonne gravitieren muß, wenn seine Be- 
wegung den Keplerschen Gesetzen folgt; er findet sie um- 
gekehrt proportional zum Quadrat des Radiusvektor. 
Schon 1684 wendet Halley selbst die Theoreme von 
Huygens auf die Hypothesen von Hooke an; indem er die 
Bahnen der verschiedenen Planeten kreisförmig annimmt, kon- 
statiert er, daß die durch Kepler entdeckte Proportionalität 
zwischen den Quadraten der Umlaufszeiten und den Kuben 
der Durchmesser voraussetzt, daß die verschiedenen Planeten 
Kräften unterworfen seien, die direkt proportional zu ihren 
Massen und indirekt proportional zu den Quadraten ihrer 
Abstände von der Sonne sind. Aber im gleichen Augenblick» 
in dem Halley seine Versuche unternimmt, die er erst pub- 
liziert, als Leibniz seine Theorie publiziert hatte, teilt Newton 
der Royal Society in London die ersten Resultate seiner 
Überlegungen über die Mechanik des Himmels mit; im Jahre 
1686 legt er ihr seine Philosophiae naturalis principia 
mathematica vor, in der die Theorie, von der Hooke, Wren 
und Halley nur Bruchstücke erfaßt hatten, in ihrem ganzen 
Umfange entwickelt wird. 
Diese Theorie, die durch jahrhundertlange Bemühungen 
der Physiker vorbereitet worden war, entstand in Newton 
keineswegs plötzlich. Bereits im Jahre 1665 oder 1666, sieben 
oder acht Jahre, bevor Huygens das De horologio oscilla- 
torio herausgibt, hat Newton auf Grund seiner eigenen Be- 
mühungen die Gesetze der gleichförmigen Kreisbewegung ent- 
deckt; ebenso wie Halley es im Jahre 1684 tat, hat er diese 
Gesetze mit dem dritten Keplerschen Gesetze verglichen und bei 
Die Wahl der Hypothesen. 341 
diesem Vergleich erkannt, daß die Sonne gleiche Massen ver- 
schiedener Planeten mit einer Kraft anziehe, die umgekehrt pro- 
portional dem Quadrat der Abstände sei. Aber er wollte eine 
genauere Kontrolle; er wollte sich überzeugen, ob, wenn 
man die Schwere, die wir auf der Erdoberfläche konstatieren, 
in einem derartigen Verhältnis vermindere, man genau die 
Kraft erhalte, die der vis centrifuga, die den Mond mit 
sich zu führen strebt, das Gleichgewicht hält. Die Dimen- 
sionen der Erde waren nun damals nicht genau bekannt; sie 
lieferten Newton für den Wert der Schwere am Orte des 
Mondes einen Wert, der um ein ^/^ den erwarteten überstieg. 
Als strenger Anhänger der experimentellen Methode, veröf- 
fentlichte Newton nicht eine Theorie, der die Beobachtung 
widersprach; bis zum Jahre 1682 steuerte er keine neuen 
Resultate seiner Überlegungen, zu denen, die er schon (er- 
halten hatte, bei. In diesem Zeitpunkt lernte Newton die 
neuen geodätischen Messungen, die durch Picard ausgeführt 
wurden, kennen ; er konnte seine Rechnung wieder in Angriff 
nehmen, deren Resultat diesmal vollständig befriedigend war; 
die Zweifel des großen Mathematikers verschwanden und er 
konnte sein bewunderungswürdiges System bekannt machen. 
Er brauchte zwanzig Jahre unaufhörlicher Überlegung, um 
das Werk zu vollenden, zu dem so viele Mathematiker und 
Physiker seit Leonardo da Vinci und Kopemikus ihren Beitrag 
geleistet hatten. 
Die verschiedensten Betrachtungen, die ünzusammenhän- 
gendsten Lehren sind der Reihe nach aufgetaucht, um den 
Aufbau der Mechanik des Himmels zu unterstützen: Die ge- 
wöhnliche Erfahrung, die Uns die Schwere kennen lehrt, ebenso 
wie die wissenschaftlichen Messungen Tycho de Brahes und 
Picards, ebenso wie die von Kepler formulierten Gesetze der 
Beobachtung; die Wirbel der Kartesianer und Atomisten eben- 
so wie die rationelle Dynamik von Huygens; die metaphysi- 
schen Lehren der Peripathetiker ebenso wie die Systeme der 
Mediziner und die Träumereien der Astrologen; die Ver- 
gleiche der Schwere mit den magnetischen Wirkungen, ebenso 
wie die Verwandtschaft zwischen dem Licht und den gegen- 
342 Elftes Kapitel. 
seitig^n Wirkungen der Gestirne. Im Verlaufe dieser langen 
und arbeitsreichen Kindheit können wir langsame und grad- 
weise Umbildungen, durch die sich das theoretische System 
entwickelt hat, beobachten, in keinem Augenblick aber können 
wir eine plötzliche und willkürliche Schöpfung neuer H)rpo- 
thesen bemerken. 
§ 3. — Der Physiker wählt nicht die Hypothesen, auf 
die er eine Theorie stfltzt, sie entstehen in ihm ohne 
sein Zutun. 
Die Entwicklung auf Grund deren das System der all- 
gemeinen Gravitation entstanden ist, hat sich im Laufe der 
Jahrhunderte langsam vollzogen; wir haben auch die Fort- 
schritte, durch die sich der Gedanke nach und nach bis zu 
jener Vollkommenheit, die Newton ihm gegeben, erhoben hat. 
Schritt für Schritt verfolgen können. Manchmal wird die Ent- 
wicklung, die zum Bau eines theoretischen Systemes führt, 
außerordentlich zusammengedrängt und es genügen einige 
Jahre, um die Hypothesen, die diese Theorie tragen sollen, 
vom Zustand in dem sie kaum entworfen bis zu jenem, in 
dem sie vollendet sind, zu bringen. 
So entdeckt Oerstedt im Jahre 1819 die Wirkung des 
elektrischen Stromes auf die Magnetnadel; im Jahre 1820 
bringt Arago diesen Versuch der Academie des Sciences zur 
Kenntnis; am 18. September 1820 liest Ampere in der Academie 
eine Abhandlung vor, in der er die gegenseitigen Wirkungen 
der Ströme, die er festgestellt hatte, darstellt; und am 23. De- 
zember 1823 läuft eine andere Abhandlung ein, in der Ampere 
den Theorien der Elektrodynamik und des Magnetismus ihre 
entgiltige Form gibt. Hundertdreiundvierzig Jahre trennten 
die De revolutionibus orbium coelestium libri sex von 
den Philosophiae naturalis principia mathematica; 
weniger als vier Jahre trennen die Veröffentlichungen 
des Oerstedtschen Versuches von der denkwürdigen Ab- 
handlung Amperes. Aber wenn der Rahmen dieses Werkes 
uns erlaubte, die Geschichte der elektrodynamischen Theo- 
Die Wahl der Hypothesen. 343 
rien^) während dieser vier Jahre im Detail zu erzählen, würden 
wir alle charakteristischen Merkmale, denen wir bei der jahr- 
hundertelangen Entwicklung der Mechanik des Himmels begeg- 
net sind, wiederfinden. Wir würden keineswegs sehen, dafi 
das Genie Amperes mit einem einzigen Blick ein weites, bereits 
festgestelltes, experimentelles Gebiet umfassen und durch eine 
freie, schöpferische Entscheidung das System von Hypothesen, 
das diese Beobachtungstatsachen darstellen soll, wählen komite. 
Wir würden das Zaudern, das Tasten, den gradweisen Fort- 
schritt, der durch eine Folge von einzelnen Verbesserungen 
erzielt wird, bemerken können ebenso, wie wir dies in den 
drei halben Jahrhunderten, die Kopemikus von Newton tren- 
nen, festgestellt haben. Die Geschichte der Elektrodynamik 
gleicht sehr der Geschichte der allgemeinen Anziehung; die 
vielfachen Bemühungen, die wiederholten Versuche, die das 
Gewebe dieser zwei Entwicklungen bilden, folgen sich blos 
im eisteren Falle in viel kleineren Intervallen als im letzteren 
und zwar dank der ungeheuren Fruchtbarkeit Amperes, von 
dem während vier Jahren die Academie des Sciences beinahe 
jeden Monat eine Abhandlung zu hören bekam, dank auch der 
Plejade gelehrter Mathematiker, geschickter Physiker, genialer 
Männer, die sich mit ihm um den Bau der neuen Lehre be- 
mühten; denn die Geschichte der Elektrodynamik muB zum 
Namen Ampferes nicht nur den Oerstedts, sondern auch die 
Aragos, Humphry-Davys, Biots, Savarts, Babinets, Savarys, de 
la Rives, Becquerels, Faradays, Fresnels und Laplaces ge- 
sellen. 
Manchmal bleibt uns die Geschichte der einzelnen Phasen 
der Entwicklung, die ein System physikalischer Hypothesen 
durchgemacht hat, unbekannt und wird uns immer unbekannt 
bleiben ; sie wurden in eine kleine Zahl von Jahren zusammen- 
gedrängt und in einem einzigen Kopfe konzentriert; der Ent- 
decker hat uns nicht, wie Ampere, seine Ideen, nachdem sie 
^) Der Leser, der diese Geschichte zu studieren wünscht, findet alle 
nötigen Dokumente in den Bänden II und III der Collection de M^moires 
relatifs ä la Physique publi^s par la Sod^t6 fran^aise de Physique 
(M^moires sur l'^lectrodynamique, 1885 et 1887). 
344 Qftes Kapitel. 
in ihm aufgetaucht, zur Kenntnis gebracht; er wartete, indem 
er sich die große Geduld Newtons zum Muster nahm, bis seine 
Theorien vollendete Form erlangt hatten und brachte sie als- 
dann ans Tageslicht. Wir können indessen wohl sicher sein, 
daß sie sich nicht in dieser Form seinem Geist gleich anfangs 
darboten, daß diese Form das Resultat unzählig^er Verbesse- 
rungen und Abänderungen ist und daß bei jeder dieser Ab- 
änderungen die freie Wahl des Entdeckers in mehr oder minder 
bewußter Weise durch eine Unzahl äußerer und innerer Um- 
stände geleitet und bedingt war. 
Wie schnell und zusammengedrängt übrigens auch die 
Entwicklung einer physikalischen Theorie vor sidi gegangen 
sei, immer kann man doch konstatieren, daß eine lange Vor- 
bereitung deren Auftreten vorangegangen ist; die Zwischen- 
glieder zwischen der ersten Andeutung und der vollkomme- 
nen Form können uns so sehr entgehen, daß wir eine freie, 
plötzliche Schöpfung zu betrachten meinen; eine Vorarbeit 
hat aber den Boden, in den der erste Keim gefallen ist, 
zur Aufnahme geeignet gemacht; sie hat diese beschleunigte 
Entwicklung ermöglicht und diese Arbeit läßt sich durch Jahr- 
hunderte verfolgen. 
Der Oerstedtsche Versuch hat genügt, eine intensive und 
beinahe fieberhafte Arbeit hervorzurufen, die in vier Jahren 
die Elektrodynamik zur Reife brachte; aber gerade in dem 
Augenblick, in dem dieser Keim in die Wissenschaft des 
XIX. Jahrhunderts eingepflanzt wurde, war sie wunderbar 
vorbereitet, ihn aufzunehmen, zu ernähren und zu entwickeln. 
Newton hatte bereits bemerkt, daß die elektrischen und mag- 
netischen Anziehungen analogen Gesetzen, wie die der allge- 
meinen Gravitation folgen müssen; diese Annahme wurde durch 
Cavendish und durch Coulomb für die elektrischen Anzieh- 
ungen, durch Tobias Mayer und durch Coulomb für die ma- 
gnetischen Wirkungen in die experimentelle Wirklichkeit um- 
gesetzt; die Physiker hatten sich so daran gewöhnt, alle Kräfte, 
die in die Entfernung wirken, in elementare Wirkungen zu 
zerlegen, die indirekt proportional den Quadraten der Ab- 
stände der Elemente, zwischen denen sie wirken, sind. An- 
Die Wahl der Hypothesen. 345 
dererseits hatte die Analyse der verschiedenen Probleme, 
welche aus der Astronomie hervorgehen, die Mathematiker 
mit den Schwierigkeiten, welchen man bei der Zusammen- 
setzung derartiger Kräfte begegnet, vertraut gemacht. Die 
gigantische mathematische Leistung des XVIII. Jahrhunderts 
war in der M^canique Celeste von Laplace zusammen- 
gefaßt worden; die Methoden, die zur Behandlung der Be- 
wegungen der Himmelskörper geschaffen worden waren, 
suchten in allen Teilen der gewöhnlich»! Mechanik nach Ge- 
legenheit ihre Fruchtbarkeit zu beweisen und die mathema- 
tische Physik schritt mit erstaunlicher Schnelligkeit vorwärts. 
Im besonderen entwickelte Poisson mit Hilfe der von Laplace 
erdachten analytischen Methoden die mathematische Theorie 
der statischen Elektrizität und des Magnetismus, während 
Fourier beim Studium der Wärmefortpflanzung wunderbare 
Gelegenheiten zur Verwendung der gleichen Verfahren fand 
Die elektrodynamischen und elektromagnetischen Erschei- 
nungen konnten sich den Physikern und Mathematikern offen- 
baren, sie waren gerüstet, um sich ihrer zu bemächtigen und 
sie in einer Theorie zusammenzufassen. 
Die Betrachtung einer Gruppe experimenteller Gesetze 
kann daher nicht dem Physiker zum Bewußtsein bringen, 
welche Hypothesen er wählen muß, um von diesen Gesetzen 
eine theoretische Darstellung zu geben ; es ist außerdem nötig, 
daß die Gedanken zu jenen gewohnten, in seinem Gesichtskreis 
befindlichen, gehören, daß die seinem eigenen Geist durch 
seine früheren Studien eingeprägten Tendenzen ihn leiten und 
den allzu großen Spielraum, den die Gesetze der Logik seinen 
Schritten lassen, beschränken. Wie viele Teile der Physik 
haben bis heute ihre rein empirische Form behalten und er- 
warten, daß Bedingungen entstehen, die einem genialen Physi- 
ker ermöglichen, jene Hypothesen zu erkennen, die zum Auf- 
bau einer Theorie nötig sind. 
Dafür entsteht die Theorie beinahe in gewaltsamer Weise, 
wenn die Fortschritte der gesamten Wissenschaft die Köpfe 
genügend für ihre Aufnahme vorbereitet haben; und recht 
oft stellen Physiker, die einander nicht kennen, die in großer 
346 Elftes Kapitel. 
Entfernung von einander ihren Überlegungen nadigehen, bei- 
nahe zu gleicher Zeit die gleiche Theorie auf; man möchte 
sagen, daß die Idee in der Luft liegt, daß sie von einem 
Land in das andere durch den Wind geweht wird und so 
bereit ist, jeden Genius zu befruchten, der fähig ist, sie auf- 
zunehmen und zu entwickeln, gleich dem Pollen, der überall 
dort eine Frucht erzeugt, wo er einer reifen Narbe begegnet 
Derjenige, der die Geschichte der Wissenschaften schreibt, 
hat im Verlaufe seiner Studien Gelegenheit, dieses gleich- 
zeitige Auftauchen der gleichen Lehre in voneinander ent- 
fernten Ländern zu beobachten; aber wie häufig auch immer 
dieses Phänomen sein möge, nie kann er es ohne Verwimde- 
rung betrachten^). Wir hatten bereits Gelegenheit, zu sehen, 
wie das System der allgemeinen Gravitation zur selben Zeit 
in den Köpfen von Hooke, Wren und Halley entstand, in der 
es im Gehirn Newtons feste Form annahm. Ebenso können 
wir in der Mitte des XIX. Jahrhunderts beobachten, daß das 
Prinzip der Äquivalenz zwischen Wärme und Arbeit in ein- 
ander sehr naheliegenden Zeitpunkten durch Robert Mayer 
in Deutschland, durch Joule in England und durch Colding 
in Dänemark formuliert wurde; keiner von ihnen wußte in- 
dessen von den Überlegungen der anderen, die zu gleidier 
Zeit dem gleichen Ziele zustrebten und keiner von ihnen ahnte, 
daß der gleiche Gedanke schon einige Jahre früher in Frank- 
reich im Genie Sadi Carnots vorzeitig zur Reife gelangt war. 
Wir könnten die Beispiele von solch überraschendem Auf- 
treten von Entdeckungen häufen ; beschränken wir uns darauf, 
noch eines, welches uns besonders frappierend erscheint, zu 
erwähnen. 
Das Phänomen der totalen Reflexion des Lichtes an der 
Trennungsfläche zweier Medien läßt sich nicht leicht im theo- 
retischen Gebäude der Wellenlehre begreifen. Fresnel hatte 
im Jahre 1823 Formeln zur Darstellung dieses Phänomens an- 
gegeben, aber er hatte sie durch eine der befremdendsten und 
*) Vergl. F. Mentr6: La simultan^it^ des d^couvertes scienti- 
liques (Revue scientifique, 5« s^rie, t 11, p. 555; 1904). 
Die Wahl der Hypothesen. 347 
unlogischesten Eingebungen^), die die Geschichte der Physik 
verzeichnet, erhalten. Die sinnreichen, experimentellen Be- 
stätigungen, die er von diesen Formeln gab, ließen keinen 
Zweifel an ihrer Richtigkeit bestehen, aber sie machten eine 
logisch zulässige Hypothese, die die Verbindung mit der all- 
gemeinen optischen Theorie herstellen würde, nur um so 
wünschenswerter. Während dreizehn Jahren konnten die Phy- 
siker keine derartige Hypothese entdecken; endlich lieferte 
die höchst einfache, aber auch höchst unerwartete und origi- 
nelle Betrachtung der verschwindenden Welle (Ponde 
evanescente) eine solche. Es war nun eine merkwürdige 
Sache, daß der Gedanke, der verschwindenden Welle beinahe 
gleichzeitig in den Köpfen von vier verschiedenen Mathema- 
tikern auftrat, die zu weit voneinander entfernt waren, um sich 
die Gedanken, mit denen sie sich beschäftigen, mitzuteilen. 
Cauchy*) formulierte als erster die Hypothese der verschwin- 
denden Welle in einem im Jahre 1836 an Ampere gerich- 
teten Brief; im Jahre 1837 teilte Green^) sie in der Philoso- 
phical Society zu Cambridge mit imd gleichzeitig publizierte 
sie F. E. Neumann*) in Deutschland in Poggendorffs Anna- 
len; von 1841 bis 1845 machte endlich Mac Cullagh*) sie 
zum Gegenstande dreier Mitteilungen, die er der Akademie 
zu Dublin vorlegte. 
EHeses Beispiel scheint uns wohl geeignet, folgenden 
Schluß, mit dem wir diese Betrachtung schließen wollen, in klarem 
Lichte erscheinen zu lassen. Die Logik läßt dem Physiker, 
der die Wahl einer Hypothese vornehmen will, beinahe ab- 
solute Freiheit; aber dieses Fehlen jeder Leitung und jeder 
Regel kann ihn nicht stören, denn tatsächlich wählt der Phy- 
^) Augustin Fresnel: Oeuvres complMes, t I, p. 782. 
') Cauchy: Comptes rendus, 1 11, 1836, p. 364. — Poggendorffs 
Annalen, Bd. IXL, 1836, p. 39. 
*) George Green: Transactions of the Cambridge Mathematical 
Society, vol. VI, 1838, p. 403. — Mathematical Papers, p. 231. 
*) F. E. Neumann: Poggendorffs Annalen, Bd. XL, 1837, p. 510. 
*) Mac Cullagh: Proceedings of the Royal Irish Academy, 
voll. II et III. — Collected Works, pp. 187, 218, 250. 
348 Elftes Kapitel. 
siker nicht die Hypothese, auf die er eine Theorie gründet; 
er wählt sie ebensowenig", wie die Blume das PoUenkorn 
wählt, das sie befruchten soll; <üe Blume beschränkt sich 
darauf, ihre Krone so weit als möglich dem Winde oder dem 
Insekt, das den Samenstaub der Frucht bringt, zu öffnen; 
in gleicher Weise beschränkt sich der Physiker darauf, seinen 
Geist durch Aufmerksamkeit und Überlegung dem Gedanken 
zu öffnen, der in ihm ohne sein Zutun entstehen muß. Newton 
antwortete jemandem auf die Frage, wie er es anstelle, eine 
Entdeckung zu machen, folgendes^): „Ich halte das Objekt 
meiner Untersuchung stets vor mir und erwarte, daß die ersten 
Lichtschimmer, die sich langsam und nach und nach zu 
zeigen beginnen, sich in vollkommene und ganze Klarheit 
verwandeln." 
Erst dann kann die freie und mühsame Tätigkeit des 
Physikers ins Spiel treten, wenn er beginnt, die erhaltene, 
von ihm aber nicht gesuchte, neue Hypothese klar zu sehen; 
denn es handelt sich nun darum diese Hypothese mit jenen in 
Verbindung zu bringen, die bereits als zulässig erklärt wur- 
den, aus ihr zahlreiche und mannigfache Konsequenzen abzu- 
leiten, sie peinlich genau mit den experimentellen Gesetzen 
zu vergleichen ; diese Arbeiten soll er schnell und richtig aus- 
führen; die Erfassung eines neuen Gedankens hängt nicht 
von ihm ab, wohl aber hängt es zum großen Teil von ihm ab, 
ob dieser Gedanke sich entwickelt und fruchtbar wird. 
§ 4. — Über die Darlegung der Hypothesen im 
physikalischen Unterricht 
EHe Logik gibt dem Lehrer, der die Hypothesen, auf 
welche die physikalischen Theorien gegründet sind, darlegen 
will, nicht mehr Anhaltspunkte als dem Forscher. Sie lehrt 
ihn bloß, daß die Gesamtheit physikalischer Hypothesen ein 
System von Prinzipien bilde, dessen Konsequenzen die Gesamt- 
heit der durch die Experimentatoren festgestellten Gesetze 
^) Diese Antwort ist in dem Artikel: „Newton'% den Biot für die 
Biographie universelle von Michaud geschrieben hat, zitiert. 
Die Wahl der Hypothesen. 349 
darstellen sollen. Daher würde eine wirklich logische Dar- 
legung der Physik vor allem mit einer Aufzählung aller 
Hypothesen, von denen die verschiedenen Theorien Gebrauch 
machen, beginnen, sodann mit der Ableitung einer Fülle 
von Folgerungen aus diesen Hypothesen fortfahren und schließ- 
lich mit der Konfrontation dieser Menge von Folgerungen 
mit der Menge der experimentellen Gesetze, die sie darstellen 
sollen, schließen. 
Es ist klar, daß eine solche Art der Darlegung der Physik, 
die allein logisch wäre, absolut undurchführbar ist; es ist 
daher gewiß, daß der Unterricht in der Physik nie in einer 
Form gegeben werden kann, die unter dem Gesichtspunkte 
der Logik einwandfrei wäre; eine jede Darlegung der phy- 
sikalischen Theorien wird wesentlich ein Kompro- 
miß zwischen den Forderungen der Logik und den 
intellektuellen Bedürfnissen des Studierenden sein. 
Der Lehrer wird, wie wir bereits gesagt haben, sich da- 
mit zufrieden geben müssen, am Beginn eine mehr oder 
weniger ausgedehnte Gruppe von Hypothesen zu formulieren, 
aus ihnen eine gewisse Zahl von Folgerungen abzuleiten, die 
er allsogleich mit den Tatsachen konfrontieren wird. Diese 
Konfrontation wird augenscheinlich nicht vollständig über- 
zeugend sein; sie wird gewisse Sätze voraussetzen, die sich 
aus noch nicht formulierten Folgerungen ergeben. Der Schüler 
wird zweifellos an den fehlerhaften Zirkelschlüssen, die er 
bemerkt, Anstoß nehmen, wenn er nicht, wie es sich gehört, 
vorher aufgeklärt wurde, wenn er nicht weiß, daß die derart 
unternommene Prüfung der Formeln eine vorzeitige ist, ein 
Eingriff in das Entwicklungsstadium, das gemäß einer strengen 
Logik bevor irgend eine Anwendung der Theorie gemacht 
wird, eintreten müßte. 
Beispielsweise wird ein Lehrer, der die Gesamtheit von 
Hypothesen, auf denen die allgemeine Mechanik und die 
Mechanik des Himmels beruhen, dargelegt und aus ihnen eine 
gewisse 21ahl von Fragen dieser beiden Wissensgebiete ent- 
wickelt hat, nicht warten, bis er die Thermodynamik, die 
350 Elftes Kapitel. 
Optik, di€ Theorie der Elektrizität und des Magtietismus ab- 
geleitet hat, um seine Theoreme mit verschiedenen experimen- 
tellen Gesetzen zu vergleichen. Bei diesem Vergleich wird er 
indessen gezwungen sein, sich eines astronomischen Fem- 
rohres zu bedienen, die Ausdehnungen in Rechnung zu ziehen, 
die Fehlerquellen, die von der Elektrisierung und Magneti- 
sierung herrühren, zu eliminieren, also sich auf Theorien, die 
er noch nicht dargelegt hat, zu berufen. Ein Schüler, der nicht 
zum voraus aufgeklärt wurde, wird sich über Fehlschlüsse 
beklagen ; seine Verwunderung wird hingegen aufhören, wenn 
er versteht, daß diese Verifikationen ihm im voraus gegeben 
werden, um ihm so schnell als möglich die theoretischen Lehr- 
sätze durch Beispiele zu erläutern, was gemäß der Logik 
allerdings erst viel später, erst nachdem er im Besitz des voll- 
ständigen Systemes der theoretischen Physik ist, kommen 
sollte. 
Diese praktische Unmöglichkeit, das System der Physik 
in der Form, wie es die logische Strenge verlangen würde, 
darzulegen, diese Notwendigkeit eine Art Gleichgewicht zwi- 
schen dem, was diese Strenge fordert und dem, was die Intelli- 
genz des Schülers aufnehmen kann, herzustellen, macht den 
Unterricht in dieser Wissenschaft so außerordentlich heikel. 
Es ist in der Tat dem Lehrer sehr wohl erlaubt, einen Vor- 
trag zu halten, an dem der spitzfindige Logiker etwas auszu- 
setzen findet; diese Toleranz ist aber gewissen Bedingungen 
unterworfen; der Schüler muß wissen, daß der gehörte Vor- 
trag weder von Lücken noch von ungeprüften Behauptungen 
frei ist; er muß klar sehen, wo sich diese Lücken be- 
finden und um welche Behauptungen es sich handelt; es ist 
mit einem Worte nötig, daß der stark lückenhafte und un- 
vollständige Unterricht, mit dem er sich zufrieden geben muß, 
in seinem Kopf nicht falsche Vorstellungen erweckt. 
Der Kampf gegen falsche Vorstellungen, die sich so schnell 
in einen derartigen Unterricht einschleichen, muß daher die 
ständige Sorge des Lehrers sein. 
Keine isolierte Hypothese, keine von der gesamten Phy- 
Die Wahl der Hypothesen. 351 
sik getrennte Gruppe von Hypothesen kann einer absolut 
selbständigen Prüfung unterzogen werden; kein experimen- 
tum crucis kann zwischen zwei isoUert genommenen Hypo- 
thesen entscheiden; der Lehrer wird indessen nicht warten 
können, bis alle Hypothesen aufgestellt sind, um erst dann 
bestimmte von ihnen der Kontrolle der Beobachtung zu unter- 
werfen; er wird nicht darauf verzichten können, gewisse Ex- 
perimente, zum Beispiel das Foucaulfsche oder das Otto 
Wienerische anzuführen, um die Zulässigkeit einer gewissen 
Voraussetzung gegenüber der entgegengesetzten darzutun ; er 
wird aber genau angeben müssen, bis zu welchem Punkte 
die von ihm beschriebene Kontrolle sich auf noch nicht dar- 
gelegte Theorien stützt, inwiefern das Experiment, das so- 
zusagen als experimentum crucis dient, die Annahme von 
Lehrsätzen voraussetzt, die man als nicht anfechtbar betrach- 
ten will. 
Kein System von Hypothesen kann aus der Erfahrung 
allein durch Induktion abgeleitet werden; die Induktion kann 
indessen gewissermaßen den Weg, der zu gewissen Hypo- 
thesen führt, angeben; es wird ihr nicht untersagt sein, ihn 
zu bezeichnen; es wird ihr zum Beispiel nicht untersagt sein, 
an den Anfang der Darlegung der Mechanik des Himmels die 
Keplerschen Gesetze zu stellen und zu zeigen, wie diese Ge- 
setze in der Sprache der Mechanik zu Ausdrücken führen, 
die nach der Hypothese der allgemeinen Anziehung geradezu 
zu rufen scheinen. Sind aber einmal diese Ausdrücke er- 
halten, so muß genau darauf geachtet werden, inwieweit sie 
sich von der Hypothese, durch die man sie ersetzt, unter- 
scheiden. 
Im besonderen muß man in allen Fällen, in denen man 
von der experimentellen Induktion die Anregung zu einer 
Hypothese verlangt, sich wohl davor hüten, ein unrealisiertes 
Experiment als ein ausführbares auszugeben; und vor allem 
muß man, was sich von selbst versteht, die Berufung auf das 
absurde Experiment streng vermeiden. 
352 Elftes Kapitel. 
§5. — Die Hypothesen können nicht aus Axiomen des 
gewöhnlichen Wissens abgeleitet werden. 
Einige der Betrachtungen, mit denen man häufig die Ein- 
fährung einer physikalischen Hypothese begleitet, verdienen 
unsere spezielle Aufmerksamkeit Derartige Betrachtungen, die 
bei einer großen Zahl von Physikern sehr beliebt sind, können, 
wenn man sich nicht in acht nimmt, besonders schädlich und 
besonders reich an falschen Gedanken sein. Sie bestehen darin» 
daß die Einführung gewisser Hypothesen mit Hilfe von Lehr- 
sätzen gerechtfertigt wird, die sozusagen evident sind, die aus 
dem gewöhnlichen Leben abgeleitet werden. 
Es kann vorkommen, daß man in den Lehren des ge- 
wöhnlichen Lebens Analogien oder Beispiele zu einer 
Hypothese findet; es kann sogar sein, daß sie ein durch die 
Analyse deutlicher und genauer gemachter Lehrsatz des ge- 
wöhnlichen Lebens ist; in diesen Fällen wird der Lehrer 
sicher die Ähnlichkeiten zwischen den Hypothesen, auf denen 
die Theorie ruht und den Gesetzen, die uns die tägliche Er- 
fahrung offenbart, erwähnen können ; die Wahl dieser Hypo- 
thesen wird dadurch dem Verstände um so natürlicher und 
befriedigender erscheinen. 
Derartige Ähnlichkeiten erfordern aber die sorgsamste 
Prüfung; ein Irrtum über die wirkliche Ähnlichkeit zwischen 
einer Angabe des gewöhnlichen Lebens und einer Aus- 
sage der theoretischen Physik findet außerordentlich leicht 
statt; sehr häufig ist die Analogie eine ganz oberfläch- 
liche; sie besteht nur zwischen den Worten, nicht aber zwi- 
schen den Gedanken; sie kann verschwinden, wenn man die 
symbolische Aussage, die die Theorie formuliert, übersetzt; 
wenn man jeden Ausdruck, der in dieser Aussage verwendet 
wurde, derart umbildet, daß man nach dem Rate Pascals die 
Definition durdi das Definierte ersetzt; dann kann man sehen, 
in welcher Beziehung die Ähnlichkeit zwischen den beiden 
Angaben, die man unklugerweise in Zusammenhang gebracht 
hat, eine künstliche, allein den Wortlaut betreffende ist. 
Die Wahl der Hypothesen. 353 
In jenen ungesunden, gemeinverständlidien Darstellungen, 
in denen sich der Geist unserer Zeitgenossen um eine ver- 
fälschte Wissenschaft, die seine Begeisterung erregt, bemüht, 
bekommt man jeden Augenblick Überlegungen zu lesen, deren 
sozusagen intuitive Voraussetzung die Betrachtung der Energie 
ist EHese Voraussetzungen sind meistens wirklich nichts ande- 
res als Wortspiele; man spielt mit dem doppelten Sinn des 
Wortes Energie; man verwendet Urteile, die im alltäglichen 
Sinn des Wortes Energie richtig sind, in jenem Sinn, in dem 
man sagt, daß die Ourchquerung Afrikas die Oefährten Mar- 
cfaands großen Aufwand an Energie gekostet habe; diese Ur- 
teile überträgt man sodann im ganzen auf die Energie im 
Sinne der Thermodynamik, auf jene Funktion des Zustandes 
eines Systemes, deren vollständiges Differential bei jeder ele- 
mentaren Änderung dem Oberschuß der äußeren Arbeit über 
die frei gewordene Wärme gleich ist. 
Vor kurzem noch haben diejenigen, die an derartigen 
Betrügereien Gefallen finden, es bedauert, daß das Prinzip 
der Zunahme der Entropie viel verwickelter und schwerer 
verständlich sei, als das Prinzip der Erhaltung der Energie; 
diese beiden Prinzipien verlangen indessen vom Mathematiker 
ganz ähnliche Rechnungsoperationen; bloß hat der Ausdruck 
Entropie nur in der Sprache des Physikers Sinn; er ist im 
gewöhnlichen Sprachgebrauch unbekannt; er gibt keine Ge- 
legenheit zu Zweideutigkeiten. Seit kurzem hört man diese 
Klagen über die Unklarheit, in der das zweite Prinzip der 
Thermodynamik versunken bleibt, nicht mehr; es gilt heute 
als klar und gemeinverständlich. Warum? Weil man seinen 
Namen geändert hat. Man bezeichnet es jetzt als Prinzip der 
Zerstreuung oder der Entwertung der Energie; nun 
verstehen auch diejenigen diese Worte, die keine Physiker 
sind, aber doch als solche gelten möchten ; sie verleihen ihnen 
allerdings einen Sinn, der gar nicht dem entspricht, was die 
Physiker unter dieser Bezeichnung verstehen; aber was küm- 
mert sie das ? Die Türe für gar manche spezielle Erörterungen, 
die sich als Überlegungen ausgeben, aber nur Wortspiele 
sind, ist nun offen. Und gerade das war es, was sie wünschten. 
Dnhcm, PliytikaHtche Theorie. 23 
354 Elftes Kapitel. 
Die Anwendung von Pascals wertvoller Regel zerstreut 
diese täusdienden Analogien, wie ein Windstoß die Erschei- 
nungen der Fata Morgana. 
Alle, die aus den Grundlagen des gewöhnlichen Ver- 
standes Hypothesen, auf die sich die Theorien stützen sollen, 
ableiten wollen, können noch einer anderen Illusion zum 
Opfer fallen. 
Die Grundlagen des gewöhnlichen Verstandes bestehen 
nicht in einem in der Erde vergrabenen Schatz, dem keine 
neue Münze mehr hinzugefügt werden kann, sondern in dem 
Kapital einer ungeheuer großen imd außerordentlich tätigen 
Gesellschaft, das durch die Vereinigung der Intelligenz der 
ganzen Menschheit gebildet wird. Dieses Kapital verwandelt 
sich und wächst von Jahrhundert zu Jahrhundert. Zu diesen 
Verwandlungen und zu diesem Wachstum des Reichtums trägt 
die theoretisdie Wissenschaft einen sehr großen Teil bei. Un- 
aufhörlich verbreitet sie sich durch den Unterricht, durch die 
Konversation, durch die Bücher und Zeitungen; sie dringt 
bis zum Grund der allgemeinen Bildung; sie weckt deren 
Aufmerksamkeit für früher vernachlässigte Erscheinungen, sie 
lehrt sie früher unklar gebliebene Begriffe analysieren; sie 
bereichert so das Erbteil der Wahrheiten, die allen Menschen 
gemein sind oder wenigstens denen, die einen gewissen Grad 
geistiger Kultur erreicht haben. Kommt dann ein Lehrer 
mit dem Wunsche, eine physikalische Theorie darzulegen, 
so findet er unter den Wahrheiten des gewöhnlichen Lebens 
wunderbar geeignete Sätze zur Rechtfertigung seiner Hypo- 
thesen; er wird nun glauben, daß er diese aus den grund- 
legenden und zwingenden Bedingungen unseres Verstandes 
entnommen, daß er sie aus wirklichen Axiomen abgeleitet 
habe; tatsächlich wird er aber nur Stücke aus dem Schatze 
der allgemeinen Erkenntnis wieder entnommen und in theore- 
tische Wissenschaft verwandelt haben, die die theoretische 
Wissenschaft selbst diesem Schatze beigefügt hatte. 
Krasse Beispiele für diesen schweren Irrtum, diesen Zir- 
kelschluß finden wir bei vielen Autoren in den Darlegungen 
Die Wahl der Hypothesen. 355 
der Prinzipien der Mechanik; folgende Auseinandersetzung 
entnehmen wir Euler; das, was wir aber über die Oberiegungen 
dieses großen Mathematikers sagen werden, könnten wir be- 
züglich einer Menge neuerer Schriften wiederholen. 
„Im ersten Kapitel", sagt Euler ^), „stelle ich die allge- 
meinen Naturgesetze, welche ein freier und durch keine 
Kräfte angetriebener Körper befolgt, dar. Wenn nämlich ein 
derartiger Körper sich einmal in Ruhe befindet, muB er be- 
ständig in derselben verharren; ist er aber einmal in Be- 
wegung, so muß er beständig mit derselben Geschwindigkeit 
geradlinig fortgehen. Beide Gesetze kann man sehr bequem 
unter der Benenntmg der Erhaltung des Zustandes begreifen. 
Es folgt hieraus, daß die Erhaltung des Zustandes eine we- 
sentliche Eigenschaft aller Körper ist und daß diese die Kraft 
oder das Vermögen besitzen, beständig in ihrem Zustande 
zu verharren. Dies ist nichts anderes, als die Kraft der Träg- 
heit .... Da also jeder Körper vermöge seiner Natur in 
demselben Zustande der Ruhe oder Bewegung beharret, muß 
man es äußeren Kräften zuschreiben, wenn der Körper dieses 
Gesetz nicht befolgt; sondern entweder mit ungleichförmiger 
Bewegung oder längs einer krummen Linie fortschreitet .... 
Hieraus ergeben sich die wahren Prinzipien der Mechanik, 
aus denen man alles abzuleiten hat, was die Änderung der 
Bewegung betrifft. Da dieses noch zu leicht bestätigt werden 
würde, habe ich den Beweis so geführt, daß man es nicht 
nur als gewiß, sondern als notwendig wahr erkennen wird". 
Wenn wir in der Lektüre des Eulerschen Werkes fort- 
fahren, finden wir am Anfang des zweiten Kapitels die fol- 
genden Stellen: 
„Definition: Eine Kraft (potentia) ist die Gewalt (vis), 
welche einen Körper von der Ruhe zur Bewegung 
bringt oder seine bereits stattfindende Bewegung ver- 
ändert. Eine derartige Kraft ist die Schwere, vermöge welcher 
^) Leonhardi Euleri Mechanica sive motus scientia, analytice 
exposita, Petropoli, 1736; 1 1, Praefatio. [Deutsche Ausgabe von Wolfers, 
Oreüswald 1848, pp. 5—6, 33.] 
23* 
356 Elftes Kapitel. 
die Körper, nach Entfernung der Hindemisse, zu sinken bxw 
fangen und welche die herabsteigende Bewegung beständig 
beschleunigt." 
,,Zusatz: Jeder sidi selbst überlassene Körper verharret 
entweder in Ruhe oder bewegt sich gleichförmig und gerad- 
linig fort. So oft daher ein ruhender, freier Körper sich zu 
bewegen anfängt, oder seine Bewegung weder gleichförmig 
noch geradlinig fortsetzt, muß man die Ursache hiervon irgend 
einer Kraft zuschreiben. Denn dasjenige, was den Zustand 
eines Körpers zu stören vermag, nennen wir eine Kraft." 
Euler bringt folgenden Satz als Definition: „Eine Kraft 
ist die Gewalt, welche einen Körper von der Ruhe zur Be- 
wegung bringt oder seine bereits stattfindende Bewegung ver- 
ändert." Was soll man darunter verstehen? Will Euler dem 
Wort Kraft seinen ganzen früheren Sinn nehmen und eine 
einfache Wortdefinition, deren Willkürlichkeit durch nichts be- 
grenzt ist, geben? In diesem Falle wird die Deduktion, die 
er uns entwickelt, von tadelloser Logik sein; sie wird aber 
in einer einfachen Anordnung von Schlüssen bestehen, die 
keinerlei Verbindung mit der Wirklichkeit besitzt. Darin be- 
steht keineswegs die Arbeit, die Euler ausführen wollte ; es ist 
klar, daß Euler, als er den Satz, den wir oben angeführt haben» 
aussprach, das Wort Kraft oder Gewalt im Sinne der ge- 
wöhnlichen und nicht der wissenschaftlichen Sprache gebraucht 
hat; das Beispiel der Schwere, das er unmittelbar nachher 
anführt, verbürgt uns das sicher; gerade weil er dem Worte 
Kraft nicht einen neuen, willkürlich definierten Sinn, sondern 
denjenigen beilegt, den alle Menschen mit ihm verknüpfen» 
konnte Euler bei seinen Vorgängern, namentlich bei Varignon» 
die Theoreme der Statik, die er anwendet, entlehnen. 
Diese Definition ist keine Wortdefinition, sondern eine 
Sachdefinition; indem Euler das Wort Kraft in dem Sinne 
nimmt, wie es ein jeder versteht, sucht er das wesentliche 
Charakteristikum der Kraft zu bestimmen, jenes Charakteristik 
kum, aus dem alle anderen Eigenschaften gefolgert werden 
können. Der Satz, den wir angeführt haben, ist viel weniger 
eine Definition, als ein Lehrsatz, dem Euler Augenscheinlich- 
Die Wahl der Hypothesen. 357 
keit zuschreibt, er ist ein Axiom. Dieses Axiom und andere 
ähnliche ermöglichen ihm allein den Beweis, daß die Gesetze 
der Mechanik nicht nur richtig, sondern notwendig seien. 
Ist es nun augenscheinlich, leuchtet es dem gewöhnlichen 
Verstände ohne weiteres ein, daß ein Körper, auf den keinerlei 
Kräfte wirken, sich immer in gerader Linie mit konstanter 
Geschwindigkeit bewegt? Ist es klar, daß die Fallgeschwin- 
digkeit eines Körpers, der konstant der Schwerkraft junter- 
worfen ist, fortwährend steigt? Ganz im Gegenteil; derar- 
tige Ansichten sind von den gewöhnlichen Meinungen unge- 
heuer weit entfernt; lun sie zutage zu fördern, waren die 
fortgesetzten Bemiihimgen aller großen Geister, die sich 
während zweier Jahrtausende mit der Dynamik beschäftigt 
haben, nötigt). 
Die tägliche Erfahrung lehrt uns, daß ein unbespannter 
Wagen unbeweglich bleibt, daß ein Pferd, wenn es kontinuier- 
lich seine Kräfte anspannt, das Gefährt mit konstanter Ge- 
schwindigkeit zieht; wenn der Wagen schneller laufen soll, 
muß das Pferd seine Kräfte mehr anspannen, oder man muß 
ihm einen Gefährten geben. Wie wurden wir das, was uns 
derartige Beobachtungen über die Kraft oder die Gewalt 
lehren, übersetzen? Wir würden folgende Ausdrücke for- 
mulieren : 
Ein Körper, der keiner Kraft unterworfen ist, bleibt un- 
beweglich. 
Ein Körper, der einer konstanten Kraft unterworfen ist, 
bewegt sich mit konstanter Geschwindigkeit. 
Wenn man die Kraft, die einen Körper bewegt, vergrößert, 
vergrößert man die Geschwindigkeit dieses Körpers. 
So sind die charakteristischen Eigenschaften beschaffen, 
die der gewöhnliche Verstand der Gewalt oder Kraft zu- 
schreibt; so sind die Hypothesen beschaffen, die man zu 
VcTigrl. E. Wohlwill: Die Entdeckung des Beharrungsgesetzes 
(Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, Bd. XIV u. Bd. XV. 
1883—1884.) — P. Duhem: De Tacc^l^ration pröduite parune force 
constante (Congr^s d'Histoire des sdences; Oen^ve, 1904). 
358 Elftes Kapitel. 
Grundlagen der Dynamik madien müßte, wenn man diese 
Wissenschaft auf das gründen wollte, was dem gewöhnlichen 
Verstände als selbstverständlidi erscheint 
Diese charakteristischen Eigenschaften sind nun jene, die 
Aristoteles^) der Kraft {övvafiig) oder Gewalt {laxvg) zu- 
schreibt; diese Dynamik ist die Dynamik des Stagiriten; wenn 
man in einer derartigen Dynamik konstatiert, daß der Fall 
der schweren Körper eine beschleunigte Bewegung sei, so 
schließt man daraus nicht, daß die schweren Körper einer 
konstanten Kraft unterworfen sind, sondern daß ihr Gewicht 
in dem Maße zunimmt, wie sie sinken. 
Die Prinzipien der peripathetischen Dynamik schienen 
übrigens so sicher zu sein, ihre Wurzeln drangen so tief 
in den widerstandsfähigen Boden der gewöhnlichen Meinungen, 
daß, um sie bis zum Grunde auszurotten, um an ihre 
Stelle jene Hypothesen, die Euler als selbstverständlich an- 
nimmt, zu setzen, es einer der längsten und ausdauerndsten 
Bemühungen bedurfte, die uns die Geschichte des mensch- 
lichen Geistes kennen lehrt; es war nötig, daß Alexander 
aus Aphrodisias, Themistius, Simplicius, Albert de Saxe, 
Nicolas von Cusa, Leonardo da Vinci, Kardano, Tartalea, 
Julius Caesar Scaliger, Jean Baptiste Benedetti den Weg 
bahnten, auf dem Galilei, Descartes, Beeckman und Gassendi 
vorwärtsschreiten konnten. 
So sind die Lehrsätze, die Euler als Axiome, die uns selbst- 
verständlich sind, betrachtet und auf die er eine nicht nur 
richtige, sondern auch notwendige Dynamik gründen will, in 
Wirklichkeit Lehrsätze, welche uns die Dynamik allein gelehrt 
hat und die sie sehr langsam mit großen Schwierigkeiten 
an Stelle der falschen Selbstverständlichkeiten des gewöhn- 
lichen Lebens gesetzt hat. 
Der Zirkelschluß, in dem sich die Deduktion Eulers be- 
wegt, kann auch von denen nicht vermieden werden, die die 
Hypothesen, auf denen eine physikalische Theorie ruht, mit 
Hilfe allgemein anerkannter Axiome glauben rechtfertigen zu 
können; di e angeblichen Axiome, auf die sie sich berufen, 
^) Aristoteles: «iKxnxfic ^po^octüc H, s. — ntp\ OupavoL T, ß. 
Die Wahl der Hypothesen. 359 
wurden eben den Gesetzen entnommen, die sie aus ihnen 
ableiten wollten^). 
Es ist daher vollständig illusorisch, die Lehren des ge- 
wöhnlichen Lebens zu Grundlagen der Hypothesen machen 
zu wollen, auf die die theoretische Physilk gegründet wer- 
den soll. Auf einem derartigen Wege gelangt man nicht 
zur Dynamik von Descartes und Newton, sondern zu der 
von Aristoteles. 
Das heißt nun nicht, daß die Lehren des gewöhnlichen 
Lebens nicht vollständig richtig und vollständig sicher seien ; es 
ist vollständig richtig und vollständig sicher, daß ein unbe- 
spannter Wagen sich nicht bewegt, daß er, wenn er mit zwei 
Pferden bespannt ist, schneller vorwärts kommt, als wenn 
nur eines zieht. Wir haben an mehreren Stellen wiederholt: 
Die Sicherheiten und Wahrheiten des gewöhnlichen Lebens 
sind in letzter Instanz die Quelle, aus der jede wissenschaft- 
liche Wahrheit und Gewißheit entspringt. Aber wir haben 
auch gesagt, daß die Beobachtungen des gewöhnlichen 
Lebens umso zuverlässiger sind, je weniger sie sich in Einzel- 
heiten verlieren, je weniger sie sich auf Genauigkeit ver- 
legen; die Gesetze des gewöhnlichen Lebens sind nur unter 
der ausdrücklichen Bedingung vollständig richtig, daß die all- 
gemeinen Bezeichnungen, zwischen denen sie ein Band her- 
stellen, zu jenen spontanen und naturgemäßen Abstraktionen 
des Konkreten gehören, zu jenen unanalysierten Abstrak- 
tionen, die als Ganzes glommen werden, wie der allgemeine 
Begriff eines Wagens oder der allgemeine Begriff eines 
Pferdes. 
Es ist ein schweres Mißverständnis, Gesetze, die so 
komplexe, so inhaltsreiche, so wenig analysierte Begriffe ver- 
binden, tmmittelbar mit Hilfe jener symbolischen Formen der 
mathematischen Sprache, die aus einer bis zum äußersten ge- 
^) Der Leser kann sich von dem hier gesagten auch überzeugen, wenn 
er die Kritik, die Hr. E. Mach den Ausführungen Daniel BemouUis über 
das Gesetz des Kräfteparallelogramms angedeihen läßt, nachließt (Ernst 
Mach: Die Mechanik, in ihrer Entwicklung historisch-kritisch dargestellt, 
5. Auflage 1Q04, p. 45.) 
300 Elftes Kapitel. 
triebenen Vereinfachung und Analyse hervorgingen, übersetzen 
zu wollendes ist eine merkwürdige Illusion, den Begriff der 
konstanten bewegenden Kraft als äquivalent mit dem Begriff 
des Pferdes, den Begriff des absolut frei beweglichen Körpers 
durch den Begriff des Wagens versinnbildlichen zu wollen. Die 
Gesetze des gewöhnlichen Lebens sind Urteile über allgemeine, 
außerordentlich komplexe Begriffe, die wir auf Grund unserer 
täglichen Beobachtungen begreifen ; die Hypothesen der Physik 
sind Beziehungen zwischen mathematischen Symbolen, die im 
höchsten Grade vereinfacht wurden; es ist unsinnig, den 
außerordentlichen Unterschied, der die beiden Arten von Lehr- 
sätzen trennt, nicht sehen zu wollen; es ist unsinnig zu denken, 
daß die letzteren sich an die ersteren anschließen, wie ein 
KoroUar an ein Theorem. 
Gerade in umgekehrter Reihe muß der Obergang von 
den Hypothesen der Physik zu den Gesetzen des gewöhnlichen 
Lebens stattfinden; aus der Gesamtheit der einfachen Hy- 
pothesen, die als Grundlagen der physikalischen Theorien 
dienen, lassen sich mehr oder minder femliegende Folgerungen 
ziehen und diese liefern eine schematische Darstellung der 
Gesetze, die uns die gewöhnliche Erfahrung darbietet; je voll- 
kommener die Theorien sind, um so verwickelter wird diese 
Darstellung sein; indessen werden die gewöhnlichen Beobach- 
tungen sie immer unendlich an Vielseitigkeit übertreffen ; weit 
entfernt, daß man die Dynamik aus jenen Gesetzen ableiten 
könnte, die der Verstand bei Betrachtung der Bewegung eines 
von einem Pferde gezogenen Wagens erkannt hat, genügen 
im Gegenteil kaum alle Hilfsmittel der Dynamik, um uns auch 
nur ein ganz vereinfachtes BUd der Bewegung dieses Wagens 
zu geben. 
Der Beweggrund, der die Absicht hervorruft, die Dar- 
stellung der Hypothesen, auf denen die physikalischen Theo- 
rien ruhen, aus den Kenntnissen des gewöhnlichen Lebens 
abzuleiten, besteht in dem Wunsch, die Physik ähnlich der 
Geometrie aufzubauen; in der Tat sind die Axiome, aus denen 
die Geometrie mit so vollständiger Strenge abgeleitet wird, 
Die Wahl der Hypothesen. 361 
die Fragen, die Euklid am Anfang seiner Elemente for- 
muliert, Lehrsätze, deren Selbstverständlichkeit das gewöhn- 
liche Leben bestätigt. Wir haben aber bereits wiederholt 
gesehen, wie gefährlich es wäre, eine Annäherung zwischen 
der matiiematischen Methode und derjenigen, die die physi- 
kalischen Theorien befolgen, herzustellen, wie versteckt unter 
einer vollständig äußerlichen Ähnlichkeit, die in dem Gebrauch, 
den die Physik von der mathematischen Sprache macht, be- 
gründet ist, diese beiden Methoden sich als vollkommen ver- 
schieden erweisen ; auf den Unterschied dieser beiden Methoden 
müssen wir nochmals zurückkommen. 
Die Mehrzahl abstrakter und allgemeiner Begriffe, die in 
uns bei Gelegenheit unserer Wahrnehmungen spontan ent- 
stehen, sind zusammengesetzte, unanalysierte Vorstellungen; 
es gibt indessen unter ihnen auch solche, die sich ohne be- 
sondere Anstrengung klar und einfach erweisen; es sind dies 
die verschiedenen Begriffe, die sich um jene der Zahl und 
Figur gruppieren; die gewöhnliche Erfahrung lehrt uns diese 
Begriffe durdi Gesetze zu verbinden, die einerseits die unmittel- 
bare Sicherheit der Urteile des gewöhnlichen Lebens und 
andererseits eine außerordentliche Klarheit und Genauigkeit 
besitzen. Es war daher möglich, eine gewisse Zahl solcher 
Urteile zu Prämissen von Deduktionen zu machen, in denen 
die unbestreitbare Richtigkeit der allgemeinen Erkenntnis un- 
trennbar mit der vollkommenen Klarheit von Schlußreihen ver- 
eint war. In dieser Weise wurde die Arithmetik und Geometrie 
aufgebaut 
Aber die mathematischen Wissenschaften bilden eine voll- 
ständige Ausnahme ; sie allein haben das Glück, Vorstellungen 
zu behandeln, die sich aus unseren täglichen Wahrnehmungen 
durch eine spontane Arbeit der Abstraktion und Generalisation 
eigeben und sich dabei ohne weiteres als klar, rein und ein- 
fach erweisen. 
Dieses Glück ist der Physik versagt. Die durch die Wahr- 
nehmungen gelieferten Begriffe, die sie zu behandeln hat, 
sind unendlich kompliziert und zusammengesetzt, deren 
Studium erfordert eine lange peinliche Arbeit an Analyse; 
362 Elftes Kapitel. 
di€ genialen Männer, die die theoretische Physik geschaffen, 
haben eingesehen, daß, wenn man in diese Arbeit Ord- 
nung und Klarheit bringen will, es erforderlich sei, diese 
Eigenschaften bei den einzigen Wissenschaften, die naturgemäß 
geordnet und jclar sind, bei den mathematischen zu suchen. 
Aber sie konnten doch nicht bewirken, daß die Klarheit und 
Ordnung in der Physik sich ebenso, wie in der Arithmetik 
und Geometrie mit einer Art unmittelbar erlangter Gewißheit 
vereinige. Alles, was sie leisten konnten, war, daß sie sich 
einer Menge direkt aus der Beobachtung abgeleiteter Gesetze — 
verwirrter, verwickelter, ungeordneter, aber mit einer direkt 
konstatierbaren Sicherheit versehener Gesetze — gegenüber 
stellten und von diesen eine symbolische Darstellung zeich- 
neten, eine Darstellung, die bewunderungswürdig klar und 
geordnet ist, von der man aber nicht mehr genau sagen kann, 
ob sie wahr ist. 
Im Gebiete der Gesetze der Beobachtung regiert der ge- 
wöhnliche Verstand; er allein entscheidet durch unsere natür- 
lichen Mittel des Wahrnehmens und des Urteilens über unsere 
Wahrnehmungen, über Wahr und Falsch. Im Gebiete der 
schematischen Darstellung ist die mathematische Deduktion 
souveräne Herrscherin, alles muß sich den von ihr vorge- 
schriebenen Regeln fügen. Aber zwischen den beiden 
Gebieten t>esteht eine fortwährende Zirkulation, eine fort- 
währender Austausch von Lehrsätzen und Vorstellungen. Die 
Theorie fordert von der Beobachtung, daß sie eine ihrer Kon- 
sequenzen der Kontrolle der Tatsachen unterwerfe; die Beob- 
achtung veranlaßt die Theorie, eine alte Hypothese zu modi- 
fizieren oder eine neue zu formulieren. In der Zwischenzone, 
durch die sich dieser Austausch vollaeht, durch die die Ver- 
bindung zwischen Beobachtung und Theorie gesichert ist, wett- 
eifern der gewöhnliche Verstand lund die mathematische Logik, 
um ihren Einfluß wirken zu lassen, und mischen in unentwirr- 
barer Art die ihnen eigenen Verfahren untereinander. 
Diese doppelte Bewegung, die es allein der Physik er- 
möglicht, die Gewißheit der Konstatierungen des gewöhn- 
lichen Lebens mit der Klarheit mathematischer Deduktionen zu 
Die Wahl der Hypothesen. 363 
vereinigen, wurde von Heim Edouard Le Roy^) folgender- 
maßen geschildert: 
,,Kurz gesagt, Notwendigkeit und Wahrheit sind die 
beiden äußersten Pole der Wissenschaft. Aber diese beiden 
Pole fallen nicht zusammen, sie sind das Rote und das Vio- 
lette im Spektrum. In der zwischen ihnen befindlichen Ver- 
bindung, der einzigen wirklich erlebten Realität, variieren die 
Wahrheit und Notwendigkeit im umgekehrten Sinn, je nach- 
dem, welchem der beiden Pole man sich zuwendet . . . Wenn 
man sich entschließt, nach dem Notwendigen zu gehen, so 
wendet man dem Wahren den Rücken, man arbeitet dann an der 
Beseitigung alles dessen, was Erfahrung und Intuition ist, man 
beschäftigt sich mit dem Schema der reinen Überlegung, dem 
formellen Spiel der Symbole ohne Bedeutung. Dagegen muß 
man, um die Wahrheit zu erlangen, den Weg in umgekehrtem 
Sinne machen; das Bild, die Eigenschaft, das Konkrete ge- 
winnen ihre vorherrschenden Rechte wieder; man sieht dann 
die Urteilsnotwendigkeit in der erlebten Zufälligkeit gradweise 
vergehen. Schließlich sind es nicht die gleichen Eigenschaften, 
durch die die Wissenschaft notwendig und durch die sie wahr 
ist, durch die sie streng und durch sie objektiv ist." 
Die Tragweite dieser Worte geht vielleicht ein wenig 
weiter als ihr Autor gedacht; jedenfalls genügt es, damit sie 
vollkommen unsere Gedanken ausdrücken, an Stelle der Worte 
Strenge und Notwendigkeit, die Hr. Le Roy verwendet, 
die Worte Ordnung und Klarheit zu setzen. 
Die Erklärung, daß die physikalische Wissenschaft aus 
zwei Quellen hervorgeht, ist sehr richtig. Die eine, die 
Sicherheit, das ist der gewöhnliche Verstand, die andere die 
Klarheit, das ist die mathematische Deduktion; und die physi- 
kalische Wissenschaft besitzt gleichzeitig Sicherheit und Klar- 
heit, weil die Fluten, die aus diesen beiden Quellen entsprin- 
gen, zusammenlaufen und vollständig ihre Wasser mischen. 
^) Edouard Le Roy: Sur quelques objections adress^es k la 
nouvelle Philosophie. (Revue de M6taphysique et de Morale, 
1901, p. 319.) 
364 Elftes Kapitel 
In der Qeometrie sind die klare Erkenntnis, wie sie die 
deduktive Logik hervorbringt und die gewisse Erkenntnis, wie 
sie dem gewöhnlichen Verstände entstammt, so genau zu- 
sammengefügt, daß man keine Mischungszone bemerken kann, 
wo sich nebeneinander alle unsere Erkenntnismittel um die 
Wette betätigen; das ist der Grund, warum der Mathematiker, 
wenn er die physikalischen Wissenschaften behandelt, leicht 
die Existenz dieser Zone vergißt, warum er die Physik 
ebenso, wie seine bevorzugte Wissenschaft auf Axiome, die 
unmittelbar aus dem gewöhnlichen Wissen abgeleitet sind, 
aufbauen will; er verfolgt jenes Ideal, das Hr. Ernst Mach 
so richtig falsche Strenge nennt^) und riskiert dabei, nichts 
zu erlangen, als Beweise, die von Trugschlüssen strotzen und 
in denen eine petitio principii neben der anderen sich befindet. 
§ 6. — Die Wichtigkeit der historischen Methode in 
der Physik. 
Wie wird der Lehrer, dessen Amt es ist, die Physik dar- 
zustellen, seine Schüler vor den Gefahren einer derartigen 
Methode bewahren? Wie wird er sie lehren können, den 
ungeheuren Abstand, der das Gebiet der gewöhnlichen Er- 
fahrung, in dem die Gesetze des gewöhnlichen Lebens herr- 
schen, von dem theoretischen Gebiete, das in klare Prin- 
zipien geordnet ist, trennt, mit dem Blick zu erfassen? Wie 
wird er sie lehren können, gleichzeitig den doppelten Lauf, 
durch den der Geist eine fortwährende und wechselseitige 
Verbindung zwischen diesen beiden Gebieten herstellt, zu ver- 
folgen; diese beiden Gebiete bestehen einerseits aus der 
empirischen Kenntnis, die ohne Theorie die Physik auf 
ungestaltes Material zurückführen würde und andererseits 
aus der mathematischen Theorie, die von der Beobach- 
tung getrennt, des Zeugnisses der Sinne beraubt, der Wissen- 
schaft nur eine inhaltslose Gestalt geben würde. 
Aber warum sollen wir uns diese Methode in allen Ein- 
zelheiten ersinnen? Haben wir nicht vor uns einen Studie- 
^) Ernst Mach: Die Mechanik in ihrer Entwicklung, historisch- 
kritisch daigestellt, 5. Auflage 1904, p. 82. 
Die Wahl der Hypothesen. 365 
renden, der in der Kindheit keine der physikalischen Theorien 
kannte, der aber im Mannesalter zur vollen Kenntnis aller 
Hypothesen, auf denen diese Theorien ruhen, gelangt ist 
Dieser Studierende, dessen Erziehung sich durch Jahrtausende 
vollzog, ist die Menschheit. Warum sollen wir nicht in der 
intellektuellen Bildung des einzelnen Menschen den Fortschritt 
nachahmen, durch den sich die menschliche Wissenschaft ge- 
bildet hat? Warum bereiten wir nicht die Einfiihrung einer 
jeden Hypothese in den Unterricht durch eine gedrängte aber 
getreue Darlegung der Schicksale, die ihrer Einführung in 
die Wissenschaft vorangegangen waren, vor? 
Die richtige, sichere und fruchtbare Methode, um einen 
Geist zur Aufnahme einer physikalischen Hypothese vorzu- 
bereiten, ist die historische. Das beste, ja das einzige Mittel, 
um denjenigen, die die Physik studieren, eine richtige Vor- 
stellung und einen klaren Überblick über die so verwickelte 
und so mannigfaltige Organisation dieser Wissenschaft zu 
geben, besteht in folgendem: Man zeichne die Umbildungen, 
die bei der Aufstellung der theoretischen Form durch das 
Anwachsen des empirischen Materials bedingt waren, man 
beschreibe die lange gemeinsame Arbeit, in der der gewöhn- 
liche Verstand und die deduktive Logik dieses Material analy- 
siert und diese Form gemeißelt haben, bis sie sich genau an- 
einander anpaßten. 
Ohne Zweifel ist es unmöglich, den langsamen, zögernden, 
tastenden Weg, auf dem der menschliche Geist bis zur klaren 
Einsicht in jedes physikalische Prinzip vorgeschritten ist. Schritt 
für Schritt zu verfolgen. Es wäre hierzu zu viel Zeit nötig; die 
Entwicklung jeder Hypothese, die in den Unterricht einge- 
führt wird, muß verkürzt und gedrängt dargestellt werden, 
sie muß in demselben Verhältnis reduziert werden, in dem 
die Dauer der Erziehung eines Menschen zur Dauer des Auf- 
baues der Wissenschaft steht; durch eine ähnliche Abkürzung 
geben auch die Metamorphosen, durch die ein Wesen vom 
embryonalen Zustand zum mannbaren übergeht, die wirkliche 
oder ideale Entwicklungslinie wieder, durch die dieses Wesen 
mit dem ersten Ursprung aller Lebewesen verknüpft ist. 
366 Elftes Kapitel. 
Übrigens ist diese Abkürzung fast immer leicht, voraus- 
gesetzt, daß man alles Zufällige einfach beiseite läßt — den 
Namen des Autors, das Datum der Erfindung, Episoden und 
Anekdoten — und sich allein an die historischen Tatsachen häl^ 
die in den Augen des Physikers wichtig erscheinen, an die Um- 
stände, unter denen die Theorie um ein neues Prinzip bereichert 
wurde, eine Dunkelheit sich aufhellte, ein Irrtum verschwand 
Die Wichtigkeit, die die Geschichte der Methoden, auf 
Qrund deren die Entdeckungen ausgeführt wurden, für das Stu- 
dium der Physik besitzen, zeigt von neuem den außerordent- 
lichen Unterschied zwischen der Physik und der Mathematik. 
In der Mathematik, in der die Klarheit der deduktiven 
Methode sich direkt mit den Selbstverständlichkeiten des ge- 
wöhnlichen Lebens verbindet, kann der Unterricht in rein 
logischer Weise gegeben werden; es genügt, daß ein Postulat 
ausgesprochen werde, damit der Studierende sogleich das 
durch das gewöhnliche Wissen gegebene, das in einem der- 
artigen Urteil zusammengefaßt wird, erfasse; er braucht den 
Weg, auf dem dieses Postulat in die Wissenschaft gelangt ist, 
nicht zu kennen. Die Geschichte der Mathematik verdient 
sicherlich mit Recht großes Interesse, aber sie ist nicht wesent- 
lich für das Verständnis der Mathematik. 
Dem ist nicht so in der Physik. In dieser Wissenschaft 
darf der Unterricht, wie wir gesehen haben, nicht bloß und 
ganz logisch sein. Folglich ist das einzige Mittel, um die 
formalen Urteile der Theorie mit dem Stoff der Tatsachen, 
die diese Urteile darstellen sollen, unter Vermeidung des ver- 
stohlenen Eindringens falscher Vorstellungen zu verbinden, 
wenn man jede wesentliche Hypothese durch ihre Geschichte 
rechtfertigt. 
Die Darlegung der Geschichte eines physikalischen Prin- 
zipes bedeutet gleichzeitig die logische Analyse desselben. Die 
Kritik der intellektuellen Methoden, die die Physik verwendet, 
verbindet sich in unlöslicher Weise mit der Darlegung der 
stufenweisen Entwicklung, durch die die Deduktion die Theorie 
vervollkommnet und gibt dadurch ein immer genaueres, immer 
geordneteres Bild der Gesetze, die die Beobachtung aufzeigt 
Die Wahl der Hypothesen. 367 
Überdies kann einzig* die Geschichte der Wissenschaft 
den Physiker vor dem törichten Ehrgeiz des Dogmatismus, 
wie vor der Verzweiflung des Pyrrhonismus bewahren. 
Indem sie ihm wieder die lange Serie der Irrtümer und 
Zweifel, die der Entdeckung eines jeden Prinzipes vorange- 
gangen sind, aufzeigt, macht sie ihn wachsam gegen die 
falschen Augenscheinlichkeiten; indem sie ihm die Schicksale 
der kosmologischen Schulen ins Gedächtnis bringt, indem sie 
die ehemals triumphierenden Ooktrinen aus ihrer Vergessen- 
heit, in der sie nun ruhen, wieder ausgräbt, erinnert sie ihn 
daran, daß die verführerischsten Systeme nur provisorische 
Darstellungen und nicht definitive Erklärungen sind. 
Und andererseits läßt sie vor seinen Augen die ununter- 
brochene Tradition vorüberziehen, durch die die Wissenschaft 
einer jeden Epoche aus den Systemen vergangener Jahrhun- 
derte Nahrung gezogen, durch die sie die Physik der Zukunft 
in sich trägt; sie zitiert ihm die Weissagungen, die die Theorie 
formuliert und die durch das Experiment realisiert wurden, 
sie schafft und befestigt in ihm die Überzeugung, daß die 
physikalische Theorie nicht ein rein künstliches System sei, 
welches heute bequem, morgen aber nutzlos sein wird, daß 
sie eine immer mehr naturgemäße Klassifikation, ein immer 
klarerer Reflex der Realitäten werde, die die experimentelle 
Methode nicht von Angesicht zu Angesicht sehen kann. 
Jedesmal, wenn der Geist des Physikers in die Gefahr 
gerät, einen Exzeß zu begehen, bringt ihn das Studium der 
Geschichte durch einen entsprechenden Verweis auf den 
rechten Weg; die Geschichte könnte die Rolle, die sie in bezug 
auf den Physiker spielt, imter Entlehnung eines Wortes 
Pascals^) folgendermaßen definieren: „Wenn er sich rühmt, 
dann erniedrige ich ihn,. wenn er sich erniedrigt, dann rühme 
ich ihn.^^ Sie hält ihn so in jenem Zustande des vollkommenen 
Gleichgewichtes, in dem er richtig das Ziel und die Struktur 
der physikalischen Theorien einschätzen kann. 
^) Pascal: Pens^es, Edition Havet, art. 8. 
LIBRAIRIB MARCBL RIVIBRB 
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Bibliothfeque de Philosophie 
Publice SOU8 la Direction ovnorimonfolo 
du Prof. E. PEILLAUBE CApCI llllClllalC 
Cette CoUedion est le prolongement naturel de la Revue de Philo- 
sophie dont tout Teffort tend a 6difier, sur les bases de l'observation et de 
l'exp^rience physiaue ou morale, la synth^se m^taphysique la plus com- 
pr^hensive. La Biblioth^que de Philosophie exp^rimentale a €i€ fond6e pour 
susciter un certain nombre de monographies sur les probl^mes les plus 
importants de l'heure actuelle. Tout espnt cultiv6, sans £tre un sp^aliste, 
aura ainsi le moyen de se tenir au courant des prindpales directions de la 
pens^e en mati^re de Philosophie et de sciences. 
Volumes Parne 
I 
Le Psychisme inf^rieur 
P" l&tude de Physiopathologie 
le D'. GRASSET ^^„j 
Professeur de dinique 
äruniversit^deMontpeiiier des centres psychiques 
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par P. DUHEM Son Objet 
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Professeur de physique th^orique 
k rUnivereit^ de Bordeaux SH StrUCturC 
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Dieu L'exp^rience en m^taphysique 
par X, MOISANT 
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IV 
Principes de Linguistique psychologique 
par J. van QINNEHEN 
1 vol. in-8 carrf { ^°^^ " ''"• 
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y Sona Presae 
La Psychologie 
par W. JAMES 
Membre correspondant de l'Insiihit de France, professeur k Harvard University. 
VI 
Les Images 
Essai sur les ph^nom^nes de memoire et d'imagination 
par E. PEILLAUBE 
Professeur k Tlnsiitut catholique de Paris, Directeur de la Revue de Philosophie 
1 vol. in-8 carr^ 
VII 
Cournot et la Philosophie des Sciences 
par F. MENTR^ avec un portrait 
Professeur ä l'^cole des Roches et un autographe 
1 vol. in-8 carr6 
VIII 
L'Activit6 biologique 
par M. R VIGNON 
du Laboratoire de Zoologie k la Sorbonne 
1 vol. in-8 
IX 
La Psychologie de la Main 
par N. VASCHIDE 
Directeur du laboratoire de Psychologie pathologique 
k TEcole pratique des Hautes Etudes k la Sorbonne 
1 voL in-8 
Verlag von Johann Ambrositts Barth in Leipzig, 
Erkenntnis und Irrtum. 
Skizzen zur Psychologie der Forachnng« 
Von 
B. MACH 
Emer. Professor an der Unlversliit Wien. 
Z durchgesehene Auflage. 
pCII, 474 Seiten.) 1906. M. 10.—, gebunden M. 11.—. 
Zeitschrift für den physik. u. ehem. Unterricht, Heft 1, 1907. 
Es ist ein erfreulicher Beweis für das vorhandene Interesse an methodo- 
logischer Betrachtung, daß das wertvolle Buch so schnell eine zweite Auf- 
lage erlebt hat. Diese unterscheidet sich von der ersten nur unwesentlidi, 
insbesondere sind Hinweise auf einige Schriften verwandten Inhalts in An- 
merkungen hinzugefüfft Unter diesen Schriften ist besonders bemerkens- 
wert das Werk von Duhem, La th^orie physique, son objet et sa 
structure (1906), das in den Eivebnissen mit denen Machs zusammentrifft 
Während Mach m seinem Buche nauptsächlich die Unterschiede des vulgären 
und des wissenschaftlichen Denkens hervorhebt, beleuchtet Duhem besonders 
„die Unterschiede des vulgären und des kritisch-physikalischen Beobachtens 
und Denkens'', beide Werke ergänzen sich daher auch auf das glücklichste. 
Monatsschrift für Kriminalpsychologie, IV., 1. 
Für die steigende Teilnahme, die unsere Zeit den theoretischen Grund- 
lagen der Forschung entgegenbringt, spricht die Moße Tatsache, daß ein so 
umfangreiches und schwieriges Werk, wie das obengenannte von Mach, 
in fi;anz kurzer Zeit die zweite Auflage eriebt hat. In erster Linie freilich 
dankt es diesen Erfolg seinen „persönlichen" Vorzügen, ja, es ist nicht zu- 
viel gesagt, wenn man es zu jenen seltenen Büchern rechnet, die bei aller 
Wissenschaftlichkeit so anregend und fesselnd geschrieben sind, daß man 
sie ohne Unterbrechung bis zur letzten Seite durchliest Was Mach gibt, 
ist nicht mehr und nicht weniger als eine Methodolos^ie der exakten Forschung. 
Die Beispiele entnimmt er dabei, seinem engeren Aroeitsbereich entsprechend, 
üi der Hauptsache der Physik und der Mathematik. Schon dadurch bildet 
das Buch eme hochwillkommene Ergänzung der vorhandenen Wissenschafts- 
theorien, die, als von Philosophen geschrieben, sich überwiegend an den 
Geisteswissenschaften zu orientiereii pflegen. — Am Schlüsse seiner ,.Analyse'* 
sprichtMach von derpflichtgemäßenüberlegenheitdes Rezensenten. Ich gestehe, 
daß ich seinem jüngsten Werke gegenüber auf diese „Pflicht" mit Freuden 
verzichtet habe. Ich habe nur eelesen und bewundert bald die ungemeine 
Belesenheit des Verfassers, bald die außerordentlich lichtvolle Darstellung. 
Ich kann lediglich bitten, diesen Satz durch eigne Lektüre nachzuprüfen. 
Gewiß erfordert das Studium des Buches Arbeit, aber sie wird über- 
reichlich gelohnt 
Deutsche Literaturzeitung, Nr. 47. 
Mach hat das Verdienst, aus der Naturwissenschaft alte abgestandene 
Reste psychologischer und philosophischer Anschauungen entfernt und dafür 
solche emgeführt zu haben, die er in vienrigiähriger F^rscherarfoeit bewährt 
gefunden hat Eine solche Läuterunfir ihrer Örundlagen wird der Forschung 
von größtem Nutzen sein und solche Mißgeburten wie den Haeckelsdien 
Monismus, wenn nicht unmöglich machen, so doch aus den Fachkreisen 
völlig ausschließen. 
Verlag von Johann Ambrosias Barth in Leipzig, 
Populärwissenschaflliche Vorlesungen. 
Von B. MACH. 
3. verm. Aufl. [XI, 403 S. mit 60 Abbildungen.] 1903. M. 6.—, geb. M. 6.80. 
Inhalt: Die Gestalten der Flfissigkelt Ober die' Cortischen Fasern des Ohres. Die 
ErUirung der Harmonie. Zur Geschichte der Akustik. Ober die Geschwindigkeit des Lichtes. 
Wozu hat der Mensch zwei Äugten. Die Symmetrie. Bemerkung^en zur Lehre vom rlnmlichen 
Sehen. Ober die Grundbegriffe der Elektrostatik (Menge, Potential, KapaziUlt usw.). Ober 
das Prinzip der Erhaltung der Energie. Die ökonomische Natur der physikalischen Forschung. 
Ober Umbildung und Anpassung im naturwissenschaftlichen Denken. Ober das Prinzip der Ver- 
gleichung in der Physik. Ober den EinfluB zufälliger Umstinde auf die Entwicklung von Er- 
findungen und Entdeckungen. Ober den relativen Bfldungswert der philologischen und der 
mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichtsflcher der höheren Schulen. Ober Erschei- 
nangen an fliegenden Projektilen. Ober Orientieningsempfindungen. 
Zeitschrift für phys. Chemie: Mach gehört zu unseren bedeu- 
tendsten Denkern im erkenntnistheoretischen Gebiete . . . Auf den Inhalt 
des Buches geht der Ref. absichtlich nicht ein; wenn jemand, so muB Mach 
im Original gelesen werden. Es wird genügen, allen Lesern dringend an 
das Herz zu legen, sich das Buch zu kaufen und es nicht nur einmal, 
sondern von Zeit zu Zeit wieder zu lesen. Jeder wird hier oder da den- 
selben EinfluB erfahren, den Kant von seinem Studium Humes berichtet: 
daß er nämlich aus seinem dogmatischen Schlummer geweckt wird. 
Naturwissenschaftliche Rundschau: Jede einzelne der 19 Vor- 
lesungen tragt das Gepräge des Machschen Geistes und verdient als Muster 
dieser Gattung unserer Literatur die weiteste Verbreitung. . . . Vielleicht 
wird mancher Leser durch diese Vorlesungen veranlaBt, sich mit den 
sonstigen Schriften unseres gediegenen Naturphilosophen weiter zu be- 
schäftigen und aus ihrer vornehmen Haltung, die stets auf der Höhe des 
Gedankens bleibt reichen GenuB zu ziehen. 
Die Prinzipien der Wärmelehre. 
Historisch - kritisch entwickelt. 
Von B. MACH. 
2. Auflage. 
[VIII, 484 S. mit 105 Figuren und 6 Porträts.] 1900. M. 10.—, geb. M. 11.—. 
Zeitschrift für phys. Chemie: Mit dem vorliegenden Werke hat 
der Verfasser allen denen, die in irgend einer Weise an der heutigen Ent- 
wicklung der Wärmeenergetik interessiert sind — und welcher Cnemiker, 
Physiker oder Techniker wäre es nicht — einen ungemein dankenswerten 
Dienst erwiesen. In gleicher Weise wie in seiner noch viel zu wenig 
gelesenen „Mechanik" hat Mach die einzelnen Grundlagen unserer Kenntnisse 
fii ihrer geschichtlichen Entwicklung dargestellt und iührt an dem Faden 
des historischen Fortschrittes seine Leser in der wirksamsten und anregendsten 
Weise in der Beherrschung des tatsächlichen und gedanklichen Materials 
ein, welches den Inhalt dieser Wissenschaft bildet. 
Münchener Allgem. Zeitung: Wir begrüßen die 2., einigermaßen 
erwetterte Auflage von Machs Werk und wollen hiermit dasselbe als die 
Geistesarbeit eines im wahrsten Sinne des Wortes hervorragenden Natur- 
philosophen einem möglichst großen Kreis von denkenden Lesern empfehlen.