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Qc
71
I
Ziel und Struktur
der
physikalischen Theorien
fVo
Pierre Duhem
siat BrjrtJeüiMc
Am<»riHier(€ Ol>en%et7ung von
Dr. Friedrich Adler
Krivisldoicittai an der Unlveisllüt li^arkH
Ma clficm Varwoii von
Ernst Mach
<^^p-
■^
Leipzig
S eriug von Johann AnitTosiui. barili
1W8
.c
f l
^ ^ r Verlag von Johann Ambrosius Barth in Leipzig
pOLTZMANN, L, Populäre Schriften. VII, 440 Seiten. 1905. M. 10.— , geb.M. 11.—
"^ Physikalische Zeitschrift. DaQ die lA>ktfire des Werkes Jedem I^eser unserer Zeitschrift ge-
nußreiohe Stunden bereiten wird, bedarf wohl kaum der Versicherung. VortrSge Qbor grundlegende
Fragen der exakten Wissenschaften, Gedächtnisreden auf Kirchhof f, Stefan, Loschmidt,
Erörterungen Ober philosophische (iegenstände und last not least die Reise eines deutschen Pro«
fessora ins Eldorado Toli köstlichen Humors, Ernst und Scherz In geistvollem Geplauder Ter-
mengend, das alles zieht an dem Leser Tor&ber, auch Überraschungen harren desselben, die aber
hier nicht verraten werden sollen. MuQ der Itoferenf jet^t noch versichern, daß die populftren
Schriften Boltzmanns auch in den Hftnden der Obrigen I^eser sein sollten?
BOLTZMANN, L, Voriesungen Ober Maxwells Theorie der EIcictrizität und des Lichtes.
/. Teil. XII, 139 Seiten mit vielen Textfiguren und 2 lithographischen Tafeln.
1891. IL Teil, VIII, 166 Seiten mit Figuren im Text und zwei Tabellen. 1893.
je M. 5.—, geb. M. 6.—
Nur ein Boltzmann konnte den oft unentwirrbar komplizierten Plan des Maxwelischen helir>
geb&udes bis iu alle Dntails so ventehen, um ihn mit die>er Klarheit bloOzuIeKen. Aus den ein-
fkohsten Annahmen — den Gesetzen der cykllschen Bewegungen und der Lagrangeschen Gleichung —
entwickeln sich die weittragendsten ScblQsse mit einer Klarheit und Eleganz, die neben der voll-
endeten wissenschaftlichen Befriedigung auch einen hervorragenden ästhetischen Genuß bi^^tet.
BOLTZMANN, L., Voriesungen über Gastheorie. /. Teil. Theorie der Gase mit ein-
atomigen Molekülen, deren Dimensionen gegen die mittlere Weglänge ver-
schwinden. IV, 200 Seiten. 1895. M. 6.—, geb. M. 7.— //. Teil: Über die
van der VVaals'sche Theorie, die Gase mit mehratomigen Molekülen und die
Dissoziation. X, 265 Seiten. 1898. M. 7—, geb- M. 8.—
BOLTZMANN, U Voriesungen über die Prinzipe der Mechanik. L Teil: X, 241 S.
1897. M. 6.—, geb. M. 7.-
//. Teily enthalt'^c'^: Die Wirkungsprinzipe, die Lagrangeschen Gleichungen und
deren Anwendungen. X, 336 Seiten mit 10 Figuren. 1904. M. 9.—, geb. M. 10.-—
BUCHHOLZ, HUGO, Das mechanische Potential, nach Vorlesungen von L. Boltzmann
bearbeitet und Die Theorie der Figur der Erde. Zur Einführung in die höhere
Geodäsie (Angewandte Mathematik) I. Teil. XVI, 470 Seiten mit 137 Ab-
bUdungen. 1908. M. 15.—, geb. M. 16.—
Der vorliegende Band enthält außer den geodätischen Fundamentalbeatimuiungen (Qr die
Oberfläche d*-8 ErdsphSrotda eine zusammenhängende Darst<>llunp: der klassischen mechanischen
Theorie dor Figur der Erde nach Clairaut und Laplace. Von besonderem lnt<>re8se dürfte auch
der einleitende Teil des Werkes sein, in dem Verfasser den Inhalt einer Vorlesung seines ver-
storbenen Lehrers Ludwig Boltzmann Ober das muchanische Potential als Voraussetzung der
potentialtheoretischen Bestimmung »1er Erdfigur darstellt ^^^
EBERT, H., Magnetische Kraftfelder. Die Ersclietnungen des Magnetismus, Elektro-
magnetismus und der Induktion, dargestellt auf Grund des Kraftlinien-Begriffes.
Zweite, vollkommen neu bearbeitete Auflage. 8°. XII, 415 Seiten mit 167 Ab-
bildungen im Text. 1905. M. 7. — , geb. M. 8.—
Zeitschr. f. d. Osterr. Gymnasien: Das vorliegende Buch »tollt wohl von allen bisher erschienenen
Schriften Qber denselben Gegenstand eine dor heston Entwiclclungeu des neuesten Standes der
theoretischen Klektrizitätslehro auf mechauisclier Grundlage dttr
Zeitschr. f. d. phytikal. u. ehem. Unterr.: Vöiliie QberflQs^ig wäre es, die Facbgenossen auf den
hervorragenden Wert des vorliegenden Werkes noch besonders hinzuweisen, lat es doch die beste
wissenschaftliche KQstkammer fQr die Entschoidun^ der Jetzt im Vordergrunde stehenden metho-
dischen Frage, wie und in welchem Umfang der Kraltliuienbegrlff in dem pbystkalitioheo Unterricht
der verschiedenen höheren Lehranstalten 7.\\ vorwrert^n sei.
HOPPE, FRITZ, Wie stellt man Projekte, Kostenanschläge und Betriebskostenberechnungen
für elektrische Licht- und Kraftanlagen auf? 4. vervollständifrto Auflage. V,
487 Suiten. 1907. geb. M. 5.50
Die:>es l>ereits in dritter Auflage erschienene Ruch liohandelt die für jeden in der Praxis
stehenden Klektrotechntkcr und Ingenieur, fQr jod<-n an einem ruiytechnikum oder Technikum
Studierenden dt»r Elektrotechnilc, lür jeden projektierenden und akquiriereiulen Ingenieur wich-
tige F'rage dor Äufsirllung von Projekten und K«»stcnau>ciilaßcii Hir elektrische Anhigen Jeden
Umfanges und jeden Systeme» in erschöpfender Wol^e.
LORENTZ, H. A., Lehrbuch der Physik zum Gebrauch bei alcademisciien Vorlesungen.
Nach der vierten, von H. A. Lorentz und L. H. Siertseina bearbeiteten Auf-
lage und unter Mitwirkung de.s Verfassers aus dem lioiiändischen übersetzt von
G. Siebert. In 2 Bänden. M. 18.—, geb. M. 20.—
I.Band: V, 482 S. mit 236 Abbild. 190«. M. 8.— , geb. M. 9.—
II. Band: VI, 621 S. mit 257 Abbild. 1907. M. 10.—, geb. M. 11.—
Zeitschrift für physikal. Chemie: Dies ist ein Werk, welches man fast rückhaltlos der «tudlerenden
Jugend empfehlen kann. Nicht nur den Medizinern, sondern insbesoudere den Chemikern, fQr
welche Umfang und liehandlungsweiite gerade rocht erscheinen, wird es die allerbesten Dienste
leisten. Daß bei einem Meistor seines FHches, wie li. Lorentz, sachlich nn dem Inhalte nichts
ausruüetren ist, braucht nicht erst gesagt zu werden. \V. O.
//<^<*aÄ4;V«5^
Ziel und Struktur
der
physikalischen Theorien
von ^^-yvior^
Pierre puhem"*''
Korrespondierendem Mitglied des Institut de France
Professor der Theoretischen Physik an der Universität Bordeaux
Autorisierte Obersetzung von
Dr. Friedrich Adler
Privatdozenten an der Universität Zürich
Mit einem Vorwort von
Ernst Mach
Leipzig
Verlag von Johann Ambrosius Barth
1908
G5
Druck von Emil Hernnann senior in Leipzig.
Vorwort zur deutschen Ausgabe.
Der Verfasser des vorliegenden Buches, Pierre Maurice
Marie Duhem, Professor der theoretischen Physik an der
Universität Bordeaux, ist durch seine Leistungen auf allen
Gebieten der theoretischen Physik und Chemie, durch seine
Forschungen über die ältere Geschichte der Physik, insbe-
sondere auch über Leonardo da Vinci und dessen Beziehungen
zu Vorgängern und Nachfolgern so bekannt und berfihmt,
daß eine besondere Empfehlung seiner Schriften überflüßig
scheint
Als idi aber von dem Plan hörte, eine von Dr. Friedrich
Adler besorgte Obersetzung des Duhemschen Buches „La
thtorie physique, son objet et sa structure'' herauszugeben,
folgte idi gern der Einladung des Herrn Verlegers, dieselbe
bei dem deutschen Publikum einzuführen. Denn eine eigen-
artige philosophische, oder genauer erkenntniskritische Arbeit
liegt hier vor, zu welcher der Verfasser durch seine viel-
seitige vorausgegangene Lebensarbeit berufen scheint.
Nicht in trockener, abstrakter Weise, sondern unter fort-
währender Beleuchtung durch lebendige historische Tat-
sachen, zeigt der Verfasser, wie die physikalische Theorie
allmählich aus einer vermeintlichen Erklärung auf Grundlage
einer vulgären, oder mehr oder wehiger wissenschaftlichen
Metaphysik in ein auf wenigen Prinzipien ruhendes System
mathematischer, die Erfahrungen ökonomisch beschreibender
und klassifizierender Sätze sich umwandelt. Hierbei wechselt
das erklärende Bild vielfach, bis es schließlich ganz abfällt;
während der beschreibende Teil fast unverändert in die neue
vollkommenere Theorie fibergeht. Die Gegenüberstellung
IV Vorwort zur deutschen Ausgrabe.
von Descartes und Laplace einerseits, Pascal und Ampere
anderseits zeigt uns die letzteren auf einem höheren Niveau
der philosophischen Einsicht. Natürlich nimmt die Indi-
vidualität der Forscher einen bedeutenden Einfluß auf die
historische Entwicklung. Dies wird erläutert durch an-
sprechende Betrachtungen über den Gegensatz umfassender
und tiefer Geister, über Modelle und logisch aufgebaute Theo-
rien, über die englische Schule einerseits, die französische
und deutsche Schule anderseits. Das Modell wie das Bild
hält Duhem für ein parasitäres Gewächs. Daß und worin
hier Duhem zu weit zu gehen scheint, habe ich anderwärts
ausgeführt.
I>em ersten und allgemeinen Teil folgt ein zweiter, auf
das besondere Gefüge der physikalischen Theorie eingehender
Teil. Hier werden die Begriffe Quantität, Qualität, Zahl, Größe,
Intensität erörtert. Das Streben Galileis und Descartes', die
Qualitäten aus der mathematischen Physik zu entfernen, wird
wieder an historischen Beispielen verständlich gemacht und
lebendig veranschaulicht Die Zahl der primären Qualitäten
darf, ohne alle Wissenschaft illusorisch zu machen, nicht be-
liebig vermehrt, dagegen auch nicht willkürlich beschränkt
werden, vielmehr sind alle primären Qualitäten als vorläufig
nicht reduzierbar anzusehen. Faradays elektrodynamische Ro-
tation ericennt Ampere mit einem Blick als nicht reduzierbar
auf elektrostatische Kräfte und entdeckt in derselben eine neue
primäre Qualität. Wichtig ist die Betonung der engen Ver-
flechtung, der Untrennbarkeit von Experiment und Theorie.
CNe Sätze der Theorie müssen logisch verträglich und in ihrer
Gesamtheit mit dem Experiment in Übereinstimmung sein.
Wegen der Genauigkeitsgrenzen der Beobachtung, wodurch
einem theoretischen Wert eine Unzahl von experimentellen
Werten zugeordnet werden kann, hat jedes theoretische Gesetz
nur provisorische Geltung. Lehrreich ist der Hinweis auf
Beispiele mathematischer Theorien, welche experimentell über-
haupt unprüfbar bleiben. Verfasser kommt zu dem Schluß,
daß der Unterricht weder rein deduktiv, noch rein induktiv vor-
gehen kann. Die beste Darlegung sei die historische, welche
Vorbemeiining des Übersetzers. V
sich dem Entwicklungsgänge der Wissenschaft anschließt, deren
Grundannahmen (Hypothesen) ja nicht willkürlich erfunden
oder gewählt wurden, sondern, allmählich keimend, sich den
Forschem aufgedrängt haben.
Möge das Buch nach Verdienst auch in Deutschland An-
erkennung finden, aufklärend und fördernd wirken!
Wien, im November 1907.
Ernst Mach.
Vorbemerkung des Übersetzers.
Für die Veranstaltung einer deutschen Ausgabe des vor-
liegenden Werkes waren im wesentlichen folgende Gesichts-
punkte maßgebend.
Die physikalische Theorie ist ein außerordentlich kompli-
zierter Organismus, der nur auf Grund langjähriger praktischer
und theoretischer Arbeit vollständig verstanden werden kann.
Trotzdem muß eine systematische leicht faßliche Darstellung
des Wesens der physikalischen Theorie jedem, der am Anfang
physikalischer Studien steht, außerordentlich willkommen sein.
Die Klarlegung der verschiedenen Auffassungen des Zieles
der Physik, die prinzipielle Aufklärung über den Zusammen-
hang zwischen Experiment und Theorie, über die Bedeutung
der Korrektionen, der mathematischen Symbole usw. wird den
Studierenden vor allem vor der Verfolgung von Scheinpro-
blemen schützen und sein Verständnis für die Methoden,
die er anwendet, wesentlich beschleunigen. Eine derartige
Orientierung erfüllt ihren Zweck natürlich nur, wenn sie leicht
zugänglich, also in der Muttersprache lesbar ist.
Aber auch bei dem selbständigen Forscher erfährt infolge
des gewaltigen Anwachsens der Literatur die fremdsprachige
naturgemäß oft eine Vernachlässigung. Gerade das Duhem-
sdie Werk verdient es aber von diesem Umstände verschont
VI Vorbemerkung des Übersetzers.
ZU bleiben, deim es gibt eine Darstellung der Probleme, wie
wir sie bisher überhaupt nicht besaßen. Die Elimination aller
Metaphysik bildet die Grundtendenz des Werkes und das Prin-
zip der Ökonomie des Denkens, das Mach als erster formu-
liert hat, wird konsequent festgehalten. Dadurch kommen eine
Reihe von Problemen in vollständig neue Beleuchtung imd
viele Tatsachen der historischen Entwickltmg erfahren eine
andere Deutung.
Endlich soll aber durch die Obersetzung auch die kri-
tische Auseinandersetzung mit Duhem erleichtert werden. Da-
bei liegt mir vor allem an der Auseinandersetzung mit der
Machschen Auffassung. Duhem hat die Konsequenzen des
Okonomieprinzips im weitesten Maße gezogen, er hat aber
den weiteren Schritt, den Mach getan, die Aufzeigung der „Ele-
mente'' als grundl^endes Material der Wissenschaft in keiner
.Weise berührt Durch die Betrachtung der Elemente, wird
aber die Elimination aller absolut unveränderlichen
Körper erreicht und eine Physik, die vom erfahrungsmäßig
gegebenen (veränderlichen) Körper ausgeht, möglich. Für diese
Auffassung löst sich dann in einfachster Weise die Frage, ob
die ökonomische Darstellung auch naturgemäß sei und alle
„Realitäten, die hinter den Erscheinungen verboten sind''
werden nicht nur als Objekt der Theorie beseitigt, sondern
auch als Objekt der Wirklichkeit mit samt ihrem „Reflex",
auf das Nichts, das sie tatsächlich sind, reduziert.^) Es wird
dann wohl auch außer der Anwendung der theoretischen
Vorstellungen als Grundlagen (Duhem sagt „Hypothesen''
im etymologischen Sinn des Wortes) für die mathematische
Deduktion der Entstehung derselben aus dem Eriahrungs-
material besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden sein. Es kann
jede und muß mindestens eine der Erfahrungen, die sich bei
den Deduktionen als Konsequenzen ergeben, als Ausgangspunkt
zur Erlangung der theoretischen Vorstellungen dienen. In dieser
Hinsicht werden dann wohl die theoretischen Vorstellungen
anstatt als Grundlagen als Knotenpunkte im Erfahrungs-
*) Vcrgl. z. B. p. 29 sowie p. 369 des vorliegenden Werkes.
Vorwort zur französischen Ausgabe. VII
material (Funktionen) zu bezeichnen sein« Auf die ausfuhrliche
Diskussion aller dieser Fragen soll bei anderer Gel^enheit
eingegangen werden.
Was die formale Seite betrifft, so habe ich mich möglichst
streng an den Wortlaut des Originals und die Terminologie
Duhems gehalten. Die angeführten Zitate habe ich bis auf
einige, die mir nicht zugänglich waren, mit den Originalen ver-
glichen und diejenigen aus anderen Sprachen, dort wo es mir
nötig schien, direkt aus dem Urtext übersetzt Die vorhandenen
Übersetzungen fremder Autoren ins Deutsche habe ich soweit
es angängig war, direkt übernommen.
Ein Teil der Obersetzung wurde von meiner Frau, der
andere von mir hergestellt, und auch ersterer von mir durch-
gesehen. Hr. Prof. Duhem hatte die große Freundlichkeit
ein Korrekturexemplar selbst zu lesen, ein weiteres revidierte
mein Freund Dr. H. v. Halban. Die Herren Prof. Dr. H. Burck-
hardt und Prof. Dr. A. Kleiner waren so freundlich, mir in bezug
auf verschiedene Fragen Auskunft zu erteilen. Allen, die mich
bei der Arbeit unterstützt haben, spreche ich auch an dieser
Stelle meinen herzlichsten Dank aus.
Zürich, 31. Dezember 1907.
Friedrich Adler.
Vorwort zur französischen Ausgabe.
In dieser Schrift sollen die Methoden, auf Orund deren
die physikalische Wissenschaft sich entwickelt, einer einfachen
logischen Analyse unterzogen werden. Vielleicht werden manche
Leser die hier dargelegten Oberl^ungen auf andere Wissen-
schaften als die Physik ausdehnen wollen, vielleicht werden sie
auch über das spezielle Oebiet der Logik hinausgehende Schlüsse
zu ziehen wünschen. Wir haben uns jedoch sorgsam vor der
einen wie der andern Verallgemeinerung zu hüten gesucht.
Wir haben uhseren Untersuchungen enge Grenzen gesetzt, um
VIII Vorwort zur französischen Ausgabe.
in möglichst vollständiger Weise das beschränkte Gebiet, welches
wir uns abgesteckt haben, erforschen zu können.
Bevor der gewissenhafte Experimentator ein Instrument zur
Erforschung einer Erscheinung verwendet, zeri^ er es, prüft
jeden Teil, studiert die Einrichtung desselben und unterwirft es
verschiedenen Vorversuchen. Er weiß dann genau, was die
Angaben des Apparates bedeuten, kennt die Grenzen ihrer Prä-
zision und wird ihn so mit Sicherheit verwenden können.
In der gleichen Weise haben wir die physikalische Theorie
analysiert. Wir haben vor allem gesucht ihr Ziel mit Genauigkeit
festzustellen. Nachdem wir dasselbe erkannt, haben wir ihre
Struktur geprüft Wir haben der Reihe nach den Mechanismus
einer jeden Operation, durch die sie zustande kommt, studiert,
wir haben gezeigt, was jede einzelne derselben zur Erreichung
des Zieles der Theorie beiträgt.
Wir haben uns Mühe gegeben, unsere Behauptungen durch
Beispiele zu eriäutem, da wir vor allem Erörterungen, die in
keinem unmittelbarem Zusammenhang mit der Wirklichkeit stehen,
zu vermeiden suchten.
Überdies ist die in voriiegender Schrift dargelegte Auffassung
nicht ein logisches System, das allein aus Betrachtungen über
allgemeine Begriffe hervorging. Sie entstand nicht aus einem
Gedankengang, der den konkreten Einzeltatsachen feindlich gegen-
übersteht Der täglichen Praxis der Wissenschaft verdankt sie
ihre Entstehung, aus ihr hat sie sich entwickelt
Es gibt beinahe kein Kapitel der theoretischen Physik, das
wir nicht bis in seine Einzelheiten zu lehren hatten, es gibt
kaum eines, für dessen Fortschritt wir nicht wiederholt unsere
Kraft eingesetzt haben. Die Gedanken über das Ziel und die
Struktur der physikalischen Theorien, die wir heute im Zusammen-
hang voriegen, sind die Frucht dieser zwanzigjährigen Arbeit
Wir haben durch diese lange Prüfung uns vergewissem können,
daß sie richtig und fruchtbar sind.
Pierre Duhem.
Inhaltsverzeichnis.
Sdte
Vorwort znr dentschen Ausgabe III
Vorbemerkung de« Übersetzers V
Vorwort zur französischen Ausgabe VII
Erster Teil.
Das Ziel der physikalischen Theorien«
Brstes Kapitel. ^ Physikalische Theorie und metaphysische
Erklärung 3
§ 1. Die Auffassung der physikalischen Theorie als Eridarung. . 3
§ 2. Auf Orund der vorstehenden Ansicht sind die physikalischen
Theorien der Metaphysik unteigeordnet 6
§ 3. Auf Orund der vorstehenden Ansicht hängt der Wert einer
physikalischen Theorie vom metaphysischen System, das man
anerkennt, ab 8
§ 4. Der Streit über die verborgenen Ursachen 13
§ 5. Kein metaphysisches System reicht für den Aufbau einer
physikalischen Theorie aus 16
Zweites Kapitel« — Physikalische Theorie und naturgemäße
Klassifikation 20
§ 1. Die wahre Natur der physikalischen Theorie und die Ope-
rationen, durch die sie zustande kommt 20
§ 2. Welchen Nutzen hat eine physikalische Theorie? Die Theorie
als Ökonomie des Denkens 23
§ 3. Die Auffassung der Theorie als Klassifikation 25
§ 4. Die Theorie hat die Tendenz sich in eine natuigemäße Klassi-
fikation umzuformen 27
§ 5. Die der Erfahrung vorangehende Theorie 31
Drittes Kapitel« — Die beschreibenden Theorien und die
Oeschichte der Physik 35
§ 1. Die Rolle der natuigemäBen Klassifikation und der Erklärungen
in der Entwiddung der physikalischen Theorien 35
§ 2. Die Meinungen der Physiker über das Wesen der physi-
kalischen Theorien 47
X Inhaltsverzeidinis.
Sdtt
Vierte« Kapitel. — Die abstrakten Theorien und die mecha-
nischen Modelle 67
§ 1. Zwei Arten Denker: Umfassende Denker und tiefe Denker . 67
§ 2. Ein Beispiel umfassenden Geistes. Der Geist Napoleons 70
§ 3. Das umfassende, das scharfe und das geometrische Denken 75
§ 4. Der umfassende und der englische Geist 79
§ 5. Die englische Physik und die mechanischen Modelle ... 86
§ 6. Die englische Schule und die mathematische Physik ... 95
§ 7. Die englische Schule und der logische Aufbau einer Theorie 101
§ 8. Die Weiterverbreitung der englischen Methode 111
§ 9. Tragt die Anwendung mechanischer Modelle bei Entdeckungen
Friichte? 121
§ 10. Soll der Gebrauch mechanischer Modelle die Forschung nach
abstirakten und logisch geordneten Theorien hindern? ... 128
Zweiter Teil.
Die Stmkttir der physikalischen Theorien«
Fflnftes Kapitel. — Quantität und Qualität 139
§ 1. Theoretische Physik ist mathematische Physik 139
§ 2. Quantität und Maß 140
§ 3. Quantität und Qualität 144
§ 4. Die rein quantitative Physik 147
§ 5. Die verschiedenen Intensitäten derselben Qualität sind durch
Zahlen ausdrfickbar 150
Sechstes Kapitel. — Die primären Qualitäten 157
§ 1. Über die übermässige Vermehrung der primären Qualitäten 157
§ 2. Eine primäre Qualität ist eine in der Tat, aber nicht von
rechtswegen irreduzierbare Qualität 161
§ 3. Eine primäre Qualität ist stets nur in provisorischem Sinne
primär 167
Siebentes Kapitel. — Mathematische Deduktion und physi-
kalische Theorie 172
§ 1. Physikalische Annäherung und mathematische Präzision . . 172
§ 2. Mathematische Deduktionen, die physikalisch verwendbar und
solche, die physikalisch unverwendbar sind 176
§ 3. Beispiel einer mathematischen Deduktion, die niemals ver-
wendbar werden kann 180
§ 4. Die Annäherungsmathematik 185
Achtes Kapitel. — Das physikalische Experiment 188
§ 1. Ein physikalisches Experiment ist nidit einfach die Beob-
achtung einer Erscheinung, es ist außerdem die ttieoretische
Interpretation derselben 188
Inhaltsverzeichnis. XI
Sdte
§ 2. Das Resultat eines physikalischen Experimentes ist em ab-
straktes und symbolisches Urteil 192
§ 3. Nur die theoretische Interpretation der Erscheinungen er-
möglicht den Gebrauch der Instrumente 201
§ 4. Ober die Kritik physikalischer Experimente und den Unter-
schied der zwisdien ihr und der Prüfung gewöhnlicher Aus-
sagen besteht 209
§ 5. Das physikalische Experiment ist weniger sicher, aber genauer
und detaillierter, als die nichtwissenschaftliche Konstatierung
einer Tatsache 215
NennteB KapiteL — Das physikalische Gesetz 217
§ 1. Die physikalischen Gesetze sind symbolische Beziehungen . 217
§ 2. Ein physikalisches Gesetz ist genau gesprochen, weder richtig
noch falsch, sondern angenähert 222
§ 3. Jedes physikalische Gesetz ist provisorisch und relativ, weil
es angenähert ist 227
§ 4. Jedes phjrsikalische Gesetz ist provisorisch, weil es sym-
bolisch ist 230
§ 5. Die physikalischen Gesetze sind detaillierter als jene des ge-
wöhnlichen Verstandes 236
Zehntem Kapitel. — Die physikalische Theorie und das
Experiment 238
§ 1. Die experimentelle Kontrolle einer Theorie besitzt in der
Physik nicht die gleiche logische Einfachheit wie in der
Physiologie 238
§ 2. Ein physikalisches Experiment kann niemals zur Verwerfung
einer isolierten Hypotiiese, sondern immer nur zu der einer
ganzen theoretischen Gruppe, fuhren 243
§ 3. Das experimentum crucis ist in der Physik unmöglich . . . 249
§ 4. Kritik der Newtonschen Methode. — Erstes Beispiel: Die
JVtechanik des Himmels 253
§ 5. Kritik der Newtonschen Methode (Fortsetzung). — Zweites
Beispiel: Die Elektrodynamik 260
§ 6. Konsequenzen in bezug auf den physikalischen Unterricht . 267
§ 7. Konsequenzen in bezug auf die mathematische Entwicklung
der physikalischen Theorie 274
§ 8. Gibt es gewisse Postulate der physikalischen Theorie, die
durch das Experiment nicht widerlegt werden können? . . 279
§ 9. Hypothesen, deren Wortlaut keine experimentelle Deutung
zuläßt 285
§ 10. Der gesunde Menschenverstand hat zu beurteilen, welche
Hypothesen aufgegeben werden mfissen 290
XU Inhaltsveneichnis.
BUtM Kapitel. — Die Wahl der Hypothesen 293
§ 1. Worauf sich die von der Logik bei der Wahl der Hypothesen
gestellten Bedingungen reduzieren 293
8 2. Die Hypothesen sind nicht das Produkt einer plötzlichen
Schöpfung, sondern das Eiigebnis einer fortschreitenden Ent*
Wicklung. ~ Die allgemeine Gravitation als Beispiel . . . 296
§ 3. Der Physiker wählt nicht die Hypothesen, auf die er euie
Theorie stützt, sie entstehen in ihm ohne sein Zutun . . . 342
§ 4. Ober die Darlegung der Hypothesen im physikalischen
Unterricht 348
§ 5. Die Hypothesen können nicht aus Axiomen des gewöhnlichen I
Wissens abgeleitet werden 352 I
§ 6. Die Wichtigkeit der historischen Methode üi der Physik . . 364
ERSTER TEIL.
DAS ZIEL DER PHYSIKALISCHEN
THEORIEN.
Erstes Kapitel.
Physikalische Theorie und metaphysische Erklärung;
§ I. — Die Auffassung der physikalischen Theorie
als Erklärung.
Die erste Frage, die sich uns aufdrängt, ist folgende:
Welches Ziel hat eine physikalische Theorie? Auf diese
Frage hat man verschiedene Antworten g^eben, die sich jedoch
in zwei Hauptgruppen zusammenfassen lassen.
Eine physikalische Theorie, haben gewisse Denker
geantwortet, hat die ERKLÄRUNG einer Gruppe experi-
mentell festgestellter Gesetze zum Ziel.
Andere Denker sagten: Eine physikalische Theorie ist
ein abstraktes System, welches eine Gruppe experimen-
teller Gesetze zusammenzufassen und logisch zu
KLASSIFIZIEREN hat, ohne jedoch den Anspruch zu
erheben, diese Gesetze zu erklären.
Wir gehen nun daran, diese beiden Antworten nacheinander
zu prüfen und die Gründe abzuwägen, die für die Zulassung
oder Verwerfung derselben sprechen. Wir wollen mit der ersten,
welche dne physikalische Theorie als Erklärung betrachtet, be-
ginnen.
Was ist nun vor allem eine Erklärung?
Erklären (expliquer— explicare) heißt die Wirklichkeit aus
den Erscheinungen, die sie wie Schleier umhüllen, heraus-
schälen, um diese Wirklichkeit nackt von Angesicht zu Angesicht
zu sehen.
!•
4 Erstes Kapitel.
Die Beobachtung physikalischer Phänomene macht uns nicht
mit der Wirklichkeit, die sich unter den sinnlich wahrnehm-
baren Erscheinungen verbirgt, sondern nur mit diesen sinnlich
wahrnehmbaren Erscheinungen selbst, die in spezieller und
konkreter Form erfaßt werden, bekannt Die experimentellen
Gesetze haben nicht mehr die materielle Wirklichkdt zum O^en-
stand, sondern sie handeln von diesen sinnlich wahrnehmbaren
Erscheinungen, die allerdings in abstrakter und allgemeiner Form
zur Behandlung kommen. Indem die Theorie die Hülle von
den sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen ablöst und zerreißt,
sucht sie in ihnen und unter ihnen, das was wirklich in den
Körpern ist, auf.
Nehmen wir ein Beispiel. Saiten- und Blasinstrumente haben
Töne hervorgebracht, auf die wir aufmerksam lauschten, die wir
sich verstärken und sich abschwächen, steigen und fallen, sich
tausendfach nuancieren hörten, die in uns Empfindungen und
Gemütsbewegungen entstehen ließen. Das alles bezeichnen wir
als akustische Tatsachen.
Unser Verstand hat entsprechend den Gesetzen, die seine
Tätigkeit bestimmen, diese speziellen und konkreten Eindrücke
einer Durcharbeitung unterworfen, die uns zu allgemeinen und
abstrakten Begriffen wie: Intensität, Tonhöhe, Oktave, ganzer
Dur- und Mollakkord, Klangfarbe usw. führt. Die experi-
mentellen Gesetze der Akustik haben die Aufgabe, feste
Beziehungen zwischen diesen Begriffen und andern ebenso
abstrakten und allgemeinen Begriffen auszudrücken. Zum Bei-
spiel lehrt uns ein Gesetz, welche Beziehung zwischen den
Dimensionen zweier Saiten aus gleichem Metall besteht, die
Töne von gleicher Höhe oder zwei Töne, deren einer die
Oktave des andern ist, hervorbringen.
Aber diese abstrakten Begriffe wie Intensität, Höhe eines
Tones oder Klangfarbe, spielen für unsem Verstand nur die
Rolle allgemeiner Zeichen für unsere Tonempfindungen. Sie
lehren ihn den Ton so kennen, wie er in Beziehung zu uns ist,
nicht aber wie er selbst in den tönenden Körpern beschaffen
ist. Die Theorien der Akustik gehen darauf aus, uns die
Wirklichkeit, von der unsere Eindrücke bloß die Hülle und
Physikalische Theorie und metaphysische Erklärung. 5
der Schieier sind, zur Kenntnis zu bringen. Sie wollen uns
lehren, daß da, wo wir nur diese Erscheinung, die wir den
Ton nennen, wahrnehmen, in Wirklichkeit eine sehr kleine
und sehr schnelle Schwingung vorhanden ist. Die Intensität
und die Höhe seien nichts anderes als die äußere Erschei-
nung der Amplitude und der Geschwindigkeit dieser Be-
wegung, die Klangfarbe, die wahrnehmbare Äußerung der
wirklichen Beschaffenheit dieser Bewegung, d. h. eine zu-
sammengesetzte Empfindung, welche aus verschiedenen pen-
delartigen Schwingungen, in die man die Bewegung zerlegen
kann, hervorgeht. Die Theorien der Akustik sind somit Er-
klärungen.
Die Erklärung, die die Theorien der; Akustik von den
experimentellen Gesetzen, die die Tonempfindüngen beherr-
schen, geben, ist wohl sicher richtig. Die Bewegungen, denen
sie diese Erscheinungen zuschreiben, können in einer großen
Zahl von Fällen mit den Augen gesehen, mit den Fingern ge-
tastet werden.
Meistens kann eine physikalische Theorie keinen solchen
Grad von Vollkommenheit erreichen, sie kann nicht als
sichere Erklärung der Sinneswahmehmungen gelten, sie
kann die Wirklichkeit, die nach ihrer Behauptung unter den
Erscheinungen besteht, unseren Sinnen nicht zugänglich
machen. Sie begnügt sich dann darzutun, daß alle unsere
Wahrnehmungen so auftreten, wie wenn die Wirklichkeit
so beschaffen wäre, wie sie es behauptet. Eine solche Theorie
ist eine hypothetische Erklärung.
Betrachten wir z. B. die Gesamtheit der vom Gesichtssinn
wahrgenommenen Phänomene. Die wissenschaftliche Ver-
arbeitung dieser Phänomene führt uns zur Feststellung ge-
wisser abstrakter allgemeiner B^jiffe, die die Merkmale
ausdrücken, welche wir in jeder Lichtwahmehmung wieder-
finden: einfache oder zusammengesetzte Farbe, Helligkeit usw.
Die experimentellen Gesetze der Optik lehren uns feste Be-
ziehungen zwischen diesen allgemeinen abstrakten Begriffen
und andern analogen Begriffen kennen. Zum Beispiel zeigt
ein Gesetz, wie die Intensität des gelben Lichtes, welches von
5 Erstes KapiteL
einem dünnen Blättchen reflektiert wird, von der Dicke dieses
Blättchens und dem Einfallswinkel der auffallenden Strahlen
abhängig ist
Die Wellentheorie des Lichtes gibt eine hypothetische Er-
klärung dieser experimentellen Gesetze. Sie setzt voraus, daß
alle Körper, die wir sehen, die wir tasten, die wir wägen, sich
in einem unseren Sinnen unzugänglichen und unwägbaren
Medium, das sie Äther nennt, befindet Diesem Äther schreibt
sie mechanische Eigenschaften zu, sie nimmt an, daß alles ein-
fache Licht in kleinen und schnellen transversalen Schwin-
gungen dieses Äthers besteht, daß von der Frequenz und der
Amplitude dieser Schwingungen die Helligkeit und Farbe des
Lichtes abhängig ist
Trotzdem sie uns den Äther nicht sichtbar machen kann,
trotzdem sie uns nicht einmal In den Stand setzt, durch
Augenschein die Hin- und Herbewegung in der Lichtschwin-
gung zu konstatieren, behauptet sie doch, daß ihre Postulate
zu Ergebnissen führen, die in jedem Punkt mit den Gesetz-
mäßigkeiten, welche uns die experimentelle Optik angibt, über-
einstimmen.
§ 2. — Auf Grund der vorstehenden Ansicht sind die
physikalischen Theorien der Metaphysik untergeordnet
Soll eine physikalische Theorie eine Erklärung sein, so
hat sie ihr Ziel erst erreicht, wenn sie jede Sinneswahmeh-
mung ausgeschaltet Und die physische Realität erfaßt hat
So haben uns z. B. die Untersuchungen Newtons über die
Lichtdispersion gelehrt, die Empfindung, die Licht von der
Art, wie es die Sonne aussendet, in uns hervorruft, zu zer-
legen. Sie haben uns gelehrt, daß dieses Licht zusammen-
gesetzt sei, daß es sich in eine gewisse Anzahl einfacherer
Lichtarten von bestimmter und unveränderlicher Farbe auf-
lösen läßt Aber dieses einfache oder monochromatische
Licht ist noch eine abstrakte und allgemeine Vorstellung einer
bestimmten Empfindung, es ist noch eine sinnlich wahmehm- i
bare Erscheinung. Wir haben eine kompliziertere Erscheinung
in andere einfachere zerlegt, wir sind aber nicht bis zur Wirk-
I
I
Physikalische Theorie und metaphysische Erklärung. 7
lichkeit gelangt, wir haben keine Erklärung der Farbeneffekte
gegeben, wir haben keine Lichttheorie konstruiert.
Somit muß man, um beurteilen zu können, ob eine gewisse
Gruppe von Lehrsätzen den Titel einer physikalischen Theorie
verdient, prüfen, ob die Begriffe, die durch diese Lehrsätze
in Verbindung gebracht werden, in abstrakter und allgemeiner
Form die Elemente, aus denen die materiellen Dinge wirklich
bestehen, ausdrücken, oder aber, ob diese Begriffe nur das all-
gemeine und charakteristische unserer Wahrnehmungen dar-
stellen.
Weim eine solche Prüfung einen Sinn haben soll, wenn
man sich vornehmen will, sie auszuführen, muß man vor allem
folgende Behauptung als richtig anerkennen: Unter den sinn-
lichen Erscheinungen, welche sich unseren Wahrnehmungen
kundgeben, gibt es eine Wirklichkeit, die sich von diesen Er-
scheinungen unterscheidet.
Hat man diesem Satze zugestimmt — tind nur wenn dieses
geschieht, ist das Forschen nach einer physikalischen Erklä-
rung verständlich — so muß man, um erkennen zu können,
daß man tatsächlich zu einer solchen Erklärung gelangt ist,
folgende weitere Frage beantworten: Welcher Art sind die
Grundbestandteile, die die materielle Wirklichkeit bilden?
Bei den zwei Fragen:
Gibt es eine materielle Realität, die sich von den Sinnes-
erscheinungen unterscheidet?
Welches ist diese Realität?
kann man nicht die Experimentaluntersuchung zu Rate
ziehen. Diese kennt nichts außer den Sinneserscheinungen
und kann nichts, was über diese hinausgeht, entdecken. Die
Lösung dieser Fragen geht über die auf Beobachtung be-
ruhenden Methoden, deren sich die Physik bedient, hinaus,
sie ist Gegenstand der Metaphysik.
Wenn somit die physikalischen Theorien die Er-
klärung der experimentellen Gesetze zum Gegenstand
haben, ist die theoretische Physik keine autonome Wis-
senschaft, sondern der Metaphysik untergeordnet.
8 Erstes Kapitel.
§ 3. — Auf Orund der vorstehenden Ansicht hängt der
Wert einer physilcaüschen Theorie vom metaphysischen
Systemi das man anerlcennt, ab.
Die Lehrsätze der rein mathematischen Wissenschaften
sind im höchsten Maße Wahrheiten, die allgemeine Anerken-
nung finden ; die Schärfe der Ausdrucksweise, die Genauigkeit
der Beweisführung verhindern, daß Differenzen in den Ansich*
ten der Mathematiker bestehen bleiben. Durch die Jahrhun-
derte entfalten sich die Lehren in kontinuierlichem Fortschritt,
ohne daß etwa früher erworbene Gebiete durch neue Er-
rungenschaften in Verlust gerieten.
Es gibt keinen Denker, der nicht der Wissenschaft, in der
er tätig ist, einen so regelmäßigen und ungestörten Gang
wünschen würde, wie ihn die Mathematik aufweist, wenn es
aber eine Wissenschaft gibt, für die dieser Wunsch besonders
berechtigt erscheint, ist es die theoretische Physik, weil sie
unter allen Zweigen der Wissenschaften sich zweifellos am wenig-
sten von der Algebra und Geometrie entfernt.
Es ist nun nicht das richtige Mittel, der physikalischen Theo-
rie allgemeine Anerkennung zu verschaffen, wenn man sie in Ab-
hängigkeit von der Metaphysik bringt. In der Tat könnte kein
Philosoph, wie viel Vertrauen er auch zu den Methoden, die
bei Behandlung der metaphysischen Probleme zur Anwendung
kommen, haben möge, die tatsächliche Wahrheit bestreiten,
daß, wenn man alle Gebiete, in denen der menschliche Geist
sich betätigt, Revue passieren läßt, in keinem derselben sie
in verschiedenen Epochen entstandenen Systeme, ebenso wie
die Systeme verschiedener Schulen derselben Zeit, sich tief-
greifender imterscheiden, sich strenger abgrenzen, sich hef-
tiger bekämpfen als auf dem Gebiete der Metaphysik.
Wenn die Physik der Metaphysik untergeordnet ist, wer-
den die Zwistigkeiten, die zwischen den verschiedenen meta-
physischen Systemen bestehen, sich in das Gebiet der Physik
verpflanzen. Eine physikalische Theorie, die die Zufriedenheit
aller Sektierer einer metaphysischen Sdiule erregt, wird von
den Anhängern einer anderen Schule verworfen werden.
Physikalische Theorie und metaphysische Eridäning. g
Betrachten wir z. B. die Wirkungen, die der Magnet auf
das Eisen ausübt, und nehmen wir einen Augenblick an, wir
seien Peripatetiker.
Was lehrt uns die Metaphysik des Aristoteles über die
wahre Natur der Körper? Jede Substanz und speziell jede
materielle Substanz geht aus der Vereinigung zweier Elemente,
eines bleibenden, des Stoffes, und eines veränderlichen, der
«Form, hervor. Durch Unveränderlichkeit seines Stoffes bleibt
das Stück Eisen, das ich betrachte, immer unter allen Umstän-
den dasselbe Stück Eisen; durch die Veränderungen, die
seine Form erleidet, können die Eigenschaften dieses selben
Stückes Eisen den Umständen entsprechend wechseln. Es kann
fest oder flüssig, warm oder kalt sein, die oder jene Qestalt
annehmen.
Wird dieses Stück Eisen in den Bereich eines Magneten
gebracht, so erfährt es in seiner Form eine spezielle Ände-
rung, die um so intensiver ist, je näher sich der Magnet be-
findet. Diese Änderung bezieht sich auf das Auftreten den
beiden Pole, sie ist für das Eisenstück ein Bewegungsprinzip.
Das Wesen dieses Prinzips ist ein solches, daß jeder Pol sich
dem Pol des Magneten mit entgegengesetztem Vorzeichen zu
nähern, sich von dem gleichbezeichneten zu entfernen sucht.
Die Wirklichkeit, die sich unter den magnetischen Er-
scheinungen verbirgt, ist für einen peripatetischen Philosophen
so beschaffen, daß man eine vollständige Erklärung geben
würde, wenn man alle jene Erscheinungen so weit analysiert
hätte, bis sie auf die Eigenschaften der magnetischen Quali-
tät und deren beider Pole zurückgeführt wären. Man hätte
damit eine vollständig befriedigende Theorie formuliert. Eine
solche Theorie wurde tatsächlich im Jahre 1629 von Nikolaus
Cabeol in seiner merkwürdigen „magnetischen Philoso-
phie'' aufgestellt.
^) Philosophia magnetica, in qua magnetis natura penitus explicatur
et omnium quae hoc laptde cerauntur causae propriae affenintur, multa quoque
dicuntur de electrids et aliis attractionibus, et eonim causis; äuctore Nicoiao
Cabeo Ferrariensi, Societ. Jesu; Coloniae, apud Joannem Kinciduni,
anno MDCXXIX.
10 Erstes Kapitel.
Ein Peripatetiker könnte sich mit einer Theorie, wie sie
Pater Cabeo entworfen hat, zufrieden geben, bei einem Philo-
sophen der Newtonschen Schule, der der Kosmologie des
Pater Boscovich treu bleibt wäre dies aber nicht mehr
der FalL ; ' ! j
Oemäß der Naturphilosophie, die Boscovich^) aus den Prin-
zipien Newtons und seiner Schüler entwickelt hat, heißt es
nichts erklären, wenn man die Gesetze der Anziehungen, die
der Magnet auf das Eisen ausübt, durch eine magnetische
Änderung der substantiellen Form des Eisens erklärt; es heißt
geradezu unsere Unkenntnis der Wirklichkeit unter Worten
verstecken, die lun so besser tönen, je hohler sie sind.
Die materielle Substanz setzt sich nicht aus Stoff und
Form zusammen, sondern sie geht aus einer unendlichen Zahl
von Punkten, denen Ausdehntmg und Qestalt fehlt, die aber
mit Masse behaftet sind, hervor; zwischen je zwei beliebigen
dieser Punkte besteht eine gegenseitige Wirkung der An-
ziehung oder Abstoßung, die dem Produkte der Massen der
beiden Punkte proportional und eine gewisse Funktion ihres
Abstandes ist. Unter diesen Punkten gibt es solche, die die
Körper im eigentlichen Sinne bilden; zwischen diesen Punk-
ten besteht eine gegenseitige Wirkung; sobald ihr Abstand
eine gewisse Grenze fiberschreitet, reduziert sich diese Wir-
kung auf die von Newton erforschte allgemeine Gravitation.
Andere derselben, die mit dieser Gravitationswirkung nicht
versehen sind, bilden imponderable Fluida, wie das elektrische
Fluidtun oder das Wärmefluidum. Entsprechende Annahmen
über die Massen aller dieser materiellen Punkte, über ihre Ver-
teilung, über die Art der Fimktionen des Abstandes, von denen
ihre gegenseitigen Wirkungen abhängen, sollen von allen phy-
sikalischen Erscheinungen Rechenschaft geben.
Um zum Beispiel die magnetischen Wirkungen zu er-
klären, nimmt man an, daß jedes Molekül des Eisens gleiche
Mengen des süd- und nordmagnetischem Fluidums besitzt und
^) Theoria philosophiae naturalis redacta ad unicam legem
virfuin in natura existentium, auctore P. Rogerio Josepho Bosco-
vich, SodetatU Jesu, Viennae, MDCCLVIII.
Physikalische Theorie und metaphysische ErkULntng. \l
daß die Verteilung des Fluidums auf diesem Molekül den Ge-
setzen der Mechanik entspricht. Die Wirkung, die die beiden
magnetischen Massen aufeinander ausiiben, ist direkt dem
Produkt dieser Massen und indirekt dem Quadrat ihres Ab-
Standes proportional. Die Wirkung ist eine abstoßende oder
anziehende je nachdem, ob die beiden Massen von gleicher
oder ungleicher Art sind. Das ist das Wesen der Theorie des
Magnetismus, die von Franklin, Oepinus, Tobias Mayer und
Coulomb inauguriert wurde und ihre weiteste Entfaltung in
den klassischen Abhandlungen Poissons gefunden hat
Gibt diese Theorie eine Erklärung der magnetischen Er-
scheinungen, die einen Atomisten zufrieden stellen könnte?
Sicher nicht. Sie anerkennt die Existenz anziehender oder
abstoßender Wirkungen zwischen den voneinander entfernten
Teilchen der magnetischen Fliissigkeit Für einen Atomisten
sind nun derartige Wirkungen Erscheinungen, die nicht als
Realitäten aufgefaßt werden können.
Gemäß den atomistischen Lehren setzt sich die Materie
aus äußerst kleinen Körpern zusammen, die hart und starr
sind, verschiedene Form haben, und in ungeheurer Zahl im
leeren Räume verteilt sind. Wenn zwei solche Teilchen von-
einander getrennt sind, können sie sich in keiner Weise beein-
flussen. Nur wenn das eine mit dem anderen in Berührung
kommt, wenn sie, die beide undurchdringlich sind, aufein-
anderstoßen, werden ihre Geschwindigkeiten geändert und
zwar nach festen Gesetzen. Die Größen, Gestalten und Massen
der Atome, und die Normen, die bei ihren Stößen zur Geltung
kommen, sollen die einzig befriedigende Erklärung sein,
welche physikalische Gesetze erhalten können.
Um die Erklärung der verschiedenen Bewegungen, die
ein Stück Eisen in Gegenwart eines Magneten erfährt, möglich
zu machen, wird man sich vorstellen müssen, daß Ströme von
magnetischen Teilchen, die zwar dicht, dabei aber weder sicht-
bar noch tastbar sind, aus dem Magneten hervorgehen oder
in ihn eindringen. Bei ihrer rapiden Fortbewegung stoßen
diese Teilchen verschiedentlich auf die Moleküle des Eisens,
und diese Stöße bewirken die Drucke, die eine oberflädiliche
12 Erstes Kapitel
Philosophie magnetischen Anziehungen und Abstoßungen zu-r
schrieb. Das ist das Prinzip einer Theorie der Magnetisierung,
die bereits Lucretius entworfen hatte und die im 17. Jahrr
hundert von Qassendi entwickelt und seit dieser Zeit oft wieder
aufgenommen worden ist
Werden nicht manche anspruchsvolle Denker dieser Theor
rie vorwerfen, daß sie nichts erklärt und die Erscheinungen als
Realitäten nimmt? Das tun die Cartesianer.
Nach Descartes ist die Materie dem Wesen nach mit der
Ausdehnung nach Länge, Breite und Tiefe, die die Geometer be«
handeln, identisch. Man darf nichts anderes als verschiedene Ge-
stalten und verschiedene Bewegungen in Betracht ziehen. Die
cartesische Materie ist, wenn man so sagen will, eine Art un-
geheures Fluidum, das inkompressibel und absolut homogen
ist. Die harten und unteilbaren Atome, der leere Raum, der
sie trennt, sind nur Erscheinungen, sind nur Illusionen. Ge:;
wisse Teile des allgemeinen Fluidums können von dauernden
Wirbelbewegungen erfüllt sein, diese Wirbel werden den
groben Augen der Atomisten als unteilbare Teilchen erscheinen;
Von einem Wirbel zum anderen werden durch das dazwischen
befindliche Fluidum Drucke fibertragen, die die Anhänger
Newtons infolge einer unzureichenden Analyse für Feme-
wirkungen halten. Das sind die Prinzipien einer Physik, deren
ersten Entwurf Descartes schuf, die Malebranche tiefer er-
forscht hat, der W. Thomson, gestutzt auf die hydrodynami-
schen Untersuchungen von Cauchy und Helmholtz, den Um-
fang und die Präzision, gegeben hat, die die mathematischen
Systeme heute besitzen.
EMese cartesianische Physik wäre nicht vollkommen ohne
eine Theorie des Magnetismus. Schon Descartes hat versucht
eine solche zu schaffen. Die Spiralen aus feiner Materie,
welche in dieser Theorie nicht ohne eine gewisse Naivität die
magnetischen Teilchen von Gassendi ersetzten, haben bei den
Cartesianem des XIX. Jahrhunderts, den mit weit größerer
Gelehrsamkeit erdachten Wirbeln Maxwells Platz gemacht.
So sehen wir jede philosophische Schule eine Theorie
predigen, welche die magnetischen Erscheinungen auf die Elet
Physikalische Theorie und metaphysische Eridärung. 13
menfe zuruckfflhrt, die das Wesen der Materie bilden. Aber
die anderen Schulen verwerfen diese Theorie oder werden
wenigstens durch ihre Prinzipien verhindert, in ihr eine be-
friedigende Erklärung des Magnetismus zu finden.
§ 4. — Der Streit über die verborgenen Ursachen.
Sehr häufig nehmen die Vorwürfe, die eine kosmologische
Schule gegen die andere richtet, die Form an, daß die eine
die andere der Berufung auf verborgene Ursachen an-
klagt.
Die großen kosmologischen Schulen — die peripatetische,
die Newtonsche, die atomistische und die cartesianische —
können in eine solche Reihenfolge gebracht werden, daß jede
derselben der Materie eine kleinere Zahl wesentlicher Eigen-
schaften zubilligt, als es die in der Reihe folgenden tun.
Die peripatetische Schule setzt die Substanz der Körper
nur aus zwei Elementen, dem Stoff und der Form, zusammen.
Aber diese Form kann Eigenschaften annehmen, deren Zahl
ohne Grenzen ist. So kann jede physikalische Eigenschaft
einer besonderen Qualität zugeschrieben werden, sie kennt
wahrnehmbare Eigenschaften, die direkt unseren Sinnen zu-
gänglich sind, wie die Schwere, die Dichte, das Flüssigsein,
die Wärme, das Licht und verborgene Eigenschaften, die
ihre Wirkungen unseren Sinnen nur in indirekter Weise kund-
geben, wie die Magnetisierung oder die Elektrisierung.
Die Anhänger Newtons verwerfen diese unendliche Man-
nigfaltigkeit von Eigenschaften, lun in einem hohen Grad den
Begriff der materiellen Substanz zu vereinfachen. Als Ele-
mente der Materie lassen sie einzig Massen, gegenseitige Wir-
kungen und Gestalten bestehen, wenn sie nicht wie Boscovich
und mehrerer seiner Nachfolger so weit gehen, dieselben auf
Punkte ohne Ausdehnung zu reduzieren.
Noch weiter geht die atomistische Schule. Nach ihr be-
halten die materiellen Elemente Masse, Gestalt und Härte,
aber die Kräfte, durch welche sie sich gemäß der Newtonschen
Schule gegenseitig beeinflussen, verschwinden aus dem Reiche
14 &Bte8 KapiteL
der Wirklichkeit, sie werden nur als Erscheinungen und Fik-
tionen betrachtet
Die Cartesianer endlich treiben die Tendenz, die mate-
rielle Substanz der verschiedenen Eigenschaften zu berauben»
auf die Spitze. Sie verwerfen die Härte der Atome, sie ver-
werfen selbst die Unterscheidung des erfüllten vom leeren
Räume, um die Materie nach einem Wort von Leibniz^) mit
„der Ausdehnung und ihrer bloßen Änderung'^ zu identifizieren.
So läßt jede kosmologische Schule in ihren Erklärungen
gewisse Eigenschaften der Materie zu, welchen die folgende
Schule die Anerkennung als Realitäten verweigert, die sie bloß
als Worte betrachtet, die die viel tiefer liegenden Realitäten
anzeigen ohne sie aufzudecken, die sie mit einem Wort zu
den verborgenen Ursachen rechnet, die die Scholastik im
Oberfluß geschaffen hat.
Es ist kaum nötig daran zu erinnern, daß alle anderen
kosmologischen Schulen es verstanden haben, der peripate-
tischen ihr Arsenal von Eigenschaften vorzuwerfen, welches
sie in der substantiellen Form unterbringt, ein Arsenal, das
jedesmal, wenn es sich darum handelte, ein neues Phänomen
zu erklären, durch eine neue Eigenschaft bereichert wurde.
Aber die peripatetische Physik war keineswegs die einzige»
die solche Vorwürfe zu ertragen hatte.
Die in der Entfernung bewiricten Anziehungen und Ab-
stoßungen, die die Anhänger Newtons den materiellen Ele-
menten zuschreiben, halten die Atomisten und Cartesianer für
eine jener bloßen Worterklärungen, wie sie in der alten Scho-
lastik üblich waren. Die „Prinzipien" Newtons hatten noch
kaum das Tageslicht erblickt, als sie bereits die Spöttereien
des atomistischen Clans, der sich um Huygens scharte, er-
regten: „Was die Ursache von Ebbe und Flut betrifft, die
Herr Newton angibt", schrieb Huygens an Leibniz^), „so gebe
ich mich damit absolut nicht zufrieden, ebensowenig wie mit
') Leibniz: Oeuvres, Edition Gerhardt, t. IV. p. 464.
*) Huygens k Leibniz, 18. novembre 1690 (Oeuvres compl^tes
de Huygens, t IX. p. 528.)
Physikalische Theorie und metaphysische Erklärung. 15
seinen andern Theorien, die er auf sein Anziehüngsprinzip,
das mir absurd erscheint, stützt'^
Wenn Descartes in jener Epoche gelebt hätte, würde er
in analoger Weise gesprochen haben, wie Huygens. In der
Tat hat Pater Mersenne ihm ein Werk von Roberval^) vor-
gelegt, in dem dieser Autor lange vor Newton eine allge-
meine Gravitation annahm. Am 20. April 1646 drückte Des-
cartes seine Meinung darüber folgendermaßen aus:^)
„Nichts ist absurder als die dem vorangehenden hinzu-
gefugte Annahme: der Autor nimmt an, daß eine gewisse
Eigenschaft jedem einzelnen Teil der Materie der Welt zu-
kommt, und daß kraft dieser Eigenschaft der eine zum andern
gebracht wird und sie sich gegenseitig anziehen; er nimmt
auch an, daß eine gleiche Eigenschaft jedem Teil der Erde
in Beziehung zu den andern Teilen der Erde zukommt, und
daß diese Eigenschaft keineswegs die vorherige stört. Um
das zu begreifen, muß man nicht nur annehmen, daß jedes der
materiellen Teilchen belebt ist und sogar von einer großen
Zahl von verschiedenen Seelen, die einander nicht stören, be-
lebt ist, sondern auch daß diese Seelen der materiellen Par-
tikeln mit Bewußtsein begabt sind, daß sie wahrhaftig gött-
lich sind, damit sie ohne ein Zwischenmedium erkennen können,
was an sehr entfernten Orten geschieht und so dort ihre
Wirkungen ausüben können.'^
Die Cartesianer stimmen soweit mit den Atomisten über-
ein, wenn es sich darum handelt, die Femewirkung, auf welche
sich die Anhänger Newtons in ihren Theorien berufen, als
verborgene Ursache zu verdammen. Aber die Cartesianer wen-
den sich sofort auch gegen die Atomisten und verurteilen
mit derselben Strenge die Härte und Unteilbarkeit, welche
*) Aristarchi Samii De mundi systemate, partibus et motibus
ejasdem, liber singularis; Parisiis 1643. — Dieses Werk wurde 1647
in dem Band III der Cogitata physico-mathematica von Mersenne
reproduziert.
*) Descartes: Correspondance, Edition P. Tannery etCh. Adam
no CLXXX t IV. p. 396.
16 Erstes Kapitel.
diese ihren Partikeln zuschreiben. y^Eine andere Sache,
welche mir mißfällt^S schreibt^) der Cartesianer Denis Papin
an den Atomisten Huygens, »»ist . . . ., daß Sie die vollkom-
mene Härte zum eigentlichen Wesen der Körper rechnen.
Es scheint mir, daß man damit eine inhärierende Qualität
voraussetzt, die uns von den mathematischen oder mecha-
nischen Prinzipien entfernt." Eter Atomist Huygens beur-
teilte allerdings nicht weniger streng die cartesianische Mei-
nung: „Die andere Schwierigkeit, die Sie erheben", antwor-
tete er Papin,2) „ist, daß ich annehme, daß die Härte zum
eigentlichen Wesen der Körper gehört, anstatt mit Herrn Des-
cartes nur ihre Ausdehnung hierzu zu rechnen. Daraus sehe
ich, daß Sie sich noch nicht von dieser Meinung befreit haben,
die ich seit langem als ganz absurd betrachte."
Es ist nun wohl klar, daß wenn man die theoretische
Physik in Abhängigkeit von der Metaphysik bringt, man nicht
dazu beiträgt, ihr den Vorteil der allgemeinen Anerkennung
zu sichern.
§ 5. — Kein metaphysisches System reicht für den
Aufbau einer physikalischen Theorie aus.
Jede metaphysische Schule wirft ihren Rivalen vor, daß
sie in ihren Erklärungen zu Begriffen greifen, die selbst un-
erklärt, die wirklich verborgenen Qualitäten seien. Könnte sie
nicht beinahe immer diesen Vorwurf an sich selbst richten?
Damit die Philosophen, welche einer gewissen Schule an-
gehören, vollständig mit einer von den Physikern derselben
Schule ausgebauten Theorie zufrieden sind, müssen alle Prin-
zipien, welche in dieser Theorie angewendet werden, aus der
Metaphysik abgeleitet worden sein, zu welcher sich diese
Schule bekennt. Wenn man sich im Verlaufe der Erklärung
eines physikalischen Phänomens auf irgend ein Gesetz be-
*) Denis Papin k Christiaan Huygens, 18. Juni 1690. (Oeuvres
compl^tes de Huygens t IX. p. 429.)
■) Christiaan Huygens ä Denis Papin, 2. September 1690.
(Oeuvres compl^tes de Huygens t IX. p. 484.)
Physikalische Theorie und metaphysische Erklärung. 17
rufen hat, welches diese Metaphysik nicht beweisen kann, ist
die Erklärung nicht gelungen, hat die physikalische Theorie
ihr Ziel nicht erreicht.
Keine Metaphysik gibt nun so scharfe und so detaillierte
Anweisungen, daß es möglich wäre, aus ihnen die Elemente
einer physikalischen Theorie abzuleiten.
In der Tat bestehen die Anweisungen, die eine meta-
physische Lehre in betreff der wahren Natur der Körper
gibt, meistens aus Negationen. Die Peripatetiker, und auch
die Cartesianer leugnen die Möglichkeit eines leeren Raumes.
Die Anhänger Newtons verwerfen jede Eigenschaft, welche
sich nicht auf eine Kraft, die zwischen materiellen Punkten
besteht, zurückführen läßt. Die Atomisten und Cartesianer
leugnen jede Fernewirkung. Die Cartesianer anerkennen kei-
nen anderen Unterschied zwischen den verschiedenen Teilen
der Materie als den der Gestalt und Bewegung.
Alle diese Negationen liefern gute Argumente, wenn man
eine von einer gegnerischen Schule stammende Theorie ver-
dammen will, sie bleiben aber merkwürdig unfruchtbar, wenn
man aus ihnen die Prinzipien einer physikalischen Theorie
abzuleiten wünscht.
Descartes zum Betspiel leugnet, daß die Materie ein
anderes Merkmal besitze als die Ausdehnung nach Länge,
Breite und Tiefe und deren verschiedene Formen, d. h. keine
anderen als Gestalten und Bewegungen. Wenn aber diese
Größen allein gegeben sind, kann er die Erklärung eines phy-
sikalischen Gesetzes nicht einmal beginnen.
Zum allermindesten müßte er, bevor er den Aufbau irgend
einer Theorie versucht, die allgemeinen Regeln kennen, welche
bei den verschiedenen Bewegungen zur Geltung kommen.
Ooch er geht sogleich daran, aus seinen metaphysischen Prin-
zipien eine Dynamik abzuleiten.
Die Vollkommenheit Gottes erfordert, daß sein Wille un-
wandelbar sei; aus dieser Unwandelbarkeit ergibt sich die
Konsequenz: Gott erhält die Menge der Bewegung in der
Welt, welche er ihr am Anfang gegeben hat, unveränderlich.
Aber diese Konstanz der Bewegungsmenge in der Welt
Dnhem, Physikalische Theorie. 2
18 Erstes Kapitel.
ist noch kein Prinzip, welches genügend scharf und genügend
definiert ist, um auch nur eine Gleichung der Dynamik auf-
schreiben zu können.
Es muß von uns quantitativ formuliert werden, was da-
durch geschieht, daß der in den bisherigen Entwicklungen
enthaltene allzu vage Begriff der Bewegüngsmenge in
einen vollständig bestimmten algebraischen Ausdruck über-
setzt wird.
Welcher mathematische Sinn wird also vom Physiker dem
Worte Bewegungsmenge zugeschrieben?
Nach Descartes würde die Bewegungsmenge jedes ma-
teriellen Teilchens das Produkt aus seiner Masse — oder aus
seinem Volumen, das in der cartesischen Physik mit der Masse
identisch ist — in die Geschwindigkeit, die es besitzt, sein.
Die Bewegungsmenge der ganzen Materie würde die Summe
der Bewegungsmengen der einzelnen Teile sein. Diese
Summe wird bei jeder physikalischen Änderung einen unver-
änderlichen Wert behalten.
Die Kombination von algebraischen Größen, durch die
Descartes den Begriff Bewegungsmenge auszudrücken sucht,
entspricht sicheriich den Erwartungen, die unsere instinktiven
Kenntnisse von vornherein in bezug auf einen solchen Ausdruck
hegten. Er ist null für ein unbewegliches System, dagegen
immer positiv für eine Gruppe von Körpern, die sich in Be-
wegung befinden. Sein Wert wächst, wenn eine gegebene
Masse ihre Geschwindigkeit erhöht, und ebenso steigt er, wenn
man die Masse vergrößert, die eine gewisse Geschwindigkeit
besitzt. Aber eine Unzahl anderer Ausdrücke hätten eben-
sogut diesen Bedingungen genügt. An Stelle der Geschwin-
digkeit hätte man bekanntlich auch das Quadrat der Geschwin-
digkeit setzen können. Man würde dann einen algebraischen
Ausdruck erhalten, der mit dem übereinstimmt, den Leibniz
als lebendige Kraft bezeichnet. Anstatt die Konstanz der
cartesischen Bewegungsmenge hätte man aus der Unwandel-
barkeit Gottes auch die Konstanz der Leibnizschen lebendigen
Kraft ableiten können.
Ohne Zweifel stimmt also das Gesetz, das Descartes als
Physikalische Theorie und metaphysische Erklärung. 19
Grundlage der Oynamlk festzusetzen sucht, mit der cartesi-
sehen Metaphysik überein. Aber es ist keine notwendige Folge
derselben. Wenn also E>escartes zeigt, daß gewisse physi-
kalische Erscheinungen nur Folgen eines solchen Gesetzes sind,
so beweist er allerdings, daß diese Erscheinungen ru den
Prinzipien seiner Philosophie nicht in Widerspruch stehen,
aber er erklärt sie nicht aus seinen Prinzipien.
Was wir eben vom Cartesianismus gesagt haben, kann
man bezüglich einer jeden metaphysischen Lehre wiederholen,
welche beansprucht, als Grundlage einer physikalischen Theorie
betrachtet ru werden. Stets sind in einer solchen Theorie ge-
wisse Annahmen getroffen, die keineswegs die Prinzipien der
metaphysischen Lehre zur Grundlage haben. Die Anhänger
von Boscovich nehmen an, daß alle Anziehungen oder Ab-
stoßungen, die in wahrnehmbarer Entfernung erfolgen, um-
gekehrt proportional dem Quadrat der Entfernung sind. CMese
Annahme ermöglicht ihnen eine Mechanik des Himmels, eine
Mechanik der Elektrizität, eine Mechanik des Magnetismus
auszubilden. Aber diese Form des Gesetzes ist ihnen durch
den Wunsch diktiert, ihre Erklärungen mit den Tatsachen in
Obereinstimmtmg zu bringen, sie ist nicht eine notwendige
Folge ihrer Philosophie. Die Atomisten nehmen an, daß die
Stöße der Atome einem gewissen Gesetz folgen. Aber
dieses Gesetz leitet man nicht aus der epikuräischen Philo-
sophie ab, sondern es ist eine merkwürdig kühne Erweiterung
eines anderen Gesetzes auf die Welt der Atome, eines Ge-
setzes, welches man nur an Massen studieren kann, die ge-
nügend groß sind, um unseren Sinnen wahrnehmbar zu sein.
Es ist somit unmöglich, aus einem metaphysischen System
alle diejenigen Elemente abzuleiten, die nötig sind, um eine
physikalische Theorie zu schaffen. Eine solche macht stets
von Annahmen Gebrauch, welche durch das System nicht ge-
geben sind und infolgedessen für die Anhänger desselben
Mysterien bleiben. Stets liegt Unerklärtes den Erklärungen zu
Grunde, die das System zu geben behauptet
20 Zweites Kapitel.
Zweites Kapitel.
Physikalische Theorie und naturgemäße Klassifikation.
§ 1. — Die wahre Natur der physikalischen Theorie und
die Operationen, durch die sie zustande kommt
Wenn man eine physikalische Theorie als hypothetische
Erklärung der materiellen Wirklichkeit betrachtet, bringt man sie
in Abhängigkeit von der Metaphysik. Man gibt ihr damit eine
Form, die keineswegs geeignet ist, ihr die Anerkennung der
großen Mehrzahl der Denker zu verschaffen, man beschränkt
im Gegenteil die Zustimmung auf jene, die sich zu der Philo-
sophie bekennen, auf die sie sich beruft. Aber auch diese
selbst fühlen sich von dieser Theorie nicht vollkommen be-
friedigt, denn sie leitet nicht alle ihre Prinzipien aus der meta-
physischen Lehre ab, von der sie auszugehen behauptet.
Diese Gedanken, die den Gegenstand des vorhergehenden
Kapitels bildeten, führen uns naturgemäß dazu, uns die folgenden
zwei Fragen zu stellen:
Könnte man nicht das Ziel der physikalischen Theorie so
bestimmen, daß sie selbständig würde? Wird sie auf Prinzipien
gegründet, die nicht irgend einer metaphysischen Lehre ent-
stammen, dann wird sie für sich beurteilt werden können, und
die Meinungen der verschiedenen Physiker über sie werden in
keiner Weise von den verschiedenen philosophischen Schulen
abhängen, zu denen diese sich zählen mögen.
Könnte man nicht eine Methode ersinnen, die ausreichend
wäre, um eine physikalische Theorie zu schaffen? Eine Theorie,
die in Übereinstimmung mit ihrer eigenen Definition ist, wird
kein Prinzip anwenden, wird auf keine Voraussetzung Bezug
nehmen, von der sie nicht berechtigterweise Gebrauch machen
kann.
Dieses Ziel und diese Methode wollen wir festsetzen und
studieren:
Von jetzt an sei folgende Definition der physikalischen
Theorie aufgestellt, die im Veriaufe unserer Ausführungen sich
klären und deren ganzer Inhalt hervortreten wird:
Eine physikalische Theorie ist keine Erklärung.
Physikalische Theorie und natuiigemäße Klassifikation. 21
Sie ist ein System mathematischer Lehrsätze, die aus
einer kleinen Zahl von Prinzipien abgeleitet werden und
den Zweck haben, eine zusammengehörige Gruppe
experimenteller Gesetze ebenso einfach, wie vollständig
und genau darzustellen.
Um diese Definition schon jetzt ein wenig zu präzisieren,
charakterisieren wir die vier aufeinander folgenden Operationen,
durch welche eine physikalische Theorie entsteht:
1. Unter den physikalischen Eigenschaften, die wir darstellen
wollen, wählen wir diejenigen, die wir als einfache Eigen-
schaften betrachten, aus, während wir die anderen als Gruppen
und Kombinationen jener auffassen. Wir ordnen ihnen, durch
geeignete Meßmethoden, entsprechend viele mathematische
Symbole, Zahlen, Größen zu. Diese mathematischen Symbole
haben mit den Eigenschaften, die sie repräsentieren, von Natur
aus keine Beziehung. Ihre einzige Beziehung ist die des Zeichens
mit dem Bezeichneten. Durch die Meßmethoden kann man jedem
Zustand einer physikalischen Eigenschaft einen Wert des re-
präsentierenden Symbols zuordnen und umgekehrt.
2. Wir verbinden die verschiedenen Arten derartig ein-
geführter Größen untereinander in einer kleineren Zahl von Glei-
chungen, die als Prinzipien für unsere Deduktionen dienen sollen.
Diese Prinzipien können — im etymologischen Sinn des Wortes —
als Hypothesen bezeichnet werden, denn sie sind wirklich die
Grundlagen, auf denen sich die Theorie erhebt. Aber sie
machen in keiner Weise den Anspruch, tatsächliche Beziehungen
der realen Eigenschaften der Körper anzugeben. Diese Hypo-
thesen können demnach in willkürlicher Weise formuliert werden.
Der logische Widerspruch sowohl zwischen den Gliedern ein
und derselben Hypothese als auch unter den verschiedenen
Hypothesen derselben Theorie ist die einzige absolut unüber-
schreitbare Schranke, vor der diese Willkür Halt macht.
3. Die verschiedenen Prinzipien oder Hypothesen einer
Theorie sind miteinander gemäß den Regeln der mathematischen
Analysis verbunden. Die Erfordernisse der algebraischen Logik
sind die einzigen, denen der Theoretiker beim Gange der Ab-
leitung genügen muß. Die Größen, auf welchen seine Rechnungen
22 Zweites Kapitel.
beruhen, erheben keineswegs den Anspruch, physische Realitäten
zu sein, die Prinzipien, auf die er sich bei seinen Deduktionen
stützt, geben sich keineswegs als der Ausdruck tatsächlicher
Beziehungen zwischen solchen Realitäten aus. Es ist somit
belanglos, ob die Operationen, welche er ausfuhrt, realen oder
auch nur begreifbaren physikalischen Veränderungen entsprechen
oder nicht. Alles, was man rechtmäßig von ihm fordern darf,
ist, daß seine Schlüsse zutreffend und seine Rechnungen richtig
seien.
4. Die verschiedenen Konsequenzen, die man so aus den
Hypothesen gefolgert hat, können in ebensoviele Aussagen Ober
die physikalischen Eigenschaften der Körper fibersetzt werden.
Die Methoden, die diese physikalischen Eigenschaften zu defi-
nieren und zu messen gestatten, sind gleichsam ein Vokabularium,
gleichsam ein Schlüssel, der diese Übersetzung ermöglicht. Diese
Aussagen vergleicht man mit den experimentellen Gesetzen, die
die Theorie darstellen soll. Wenn sie mit diesen Gesetzen in
der Annäherung, wie es die angewendeten Meßmethoden zu-
lassen, übereinstimmen, hat die Theorie ihr Ziel erreicht, sie
wird als gut erklärt. Wenn dies nicht der Fall ist, so ist sie
schlecht, sie muß geändert oder ganz verworfen werden.
Sonach ist als richtige Theorie nicht die anzusehen, die
eine der Wirklichkeit entsprechende Erklärung der physikalischen
Erscheinungen gibt, sondern die, die eine Gruppe experimenteller
Gesetze befriedigend darstellt. Eine falsche Theorie ist nicht
ein Erklärungsversuch, welcher auf Annahmen gegründet ist, die
der Wirklichkeit widersprechen, sondern eine Gruppe von
Gleichungen, welche nicht mit den experimentellen Gesetzen
übereinstimmen. Die Übereinstimmung mit der Erfahrung
ist das einzige Kriterium der Wahrheit für eine physi-
kalische Theorie.
Die Definition, welche wir eben skizzierten, unterscheidet
an einer physikalischen Theorie vier fundamentale Operationen:
1. Die Definition und das Maß der physikalischen Größen.
2. Die Wahl der Hypothesen.
3. Die mathematische Entwicklung der Theorie.
4. Die Vergleichung der Theorie mit dem Experiment.
Physikalische Theorie und naturgemäße Klassifikation. 23
Jede dieser Operationen wird uns in dieser Schrift lange
beschäftigen, denn jede von ihnen bietet Schwierigkeiten, die
die sorgfältigste Analyse erfordern. Es ist uns aber bereits
jetzt möglich, einige Fragen zu beantworten, einige Entgegnungen
zu wideriegen, welche durch die vorli^ende Definition der
physikalischen Theorie angeregt werden.
§ 2. — Welchen Nutzen hat eine physikalische Theorie?
Die Theorie als Ökonomie des Denkens.
Und wozu kann nun eine solche Theorie dienen?
In betreff der wahren Natur der Dinge, in betreff der Reali-
täten, welche sich unter den Phänomenen, die wir studieren,
verbergen, lehrt uns eine nach dem eben entwickelten Plane
entworfene Theorie absolut nichts und beansprucht auch nicht
diesbezüglich etwas zu lehren. Welchen Nutzen hat sie also?
Welchen Vorteil finden die Physiker darin, die Gesetzmäßigkeiten,
die uns das Experiment direkt liefert, durch ein System sie
darstellender, mathematischer Lehrsätze, zu ersetzen?
Vor allem ersetzt die Theorie eine sehr große Zahl von
Gesetzen, die uns als unabhängig voneinander gegenObertreten,
deren jedes für sich gelernt und behalten werden müßte, durch
eine ganz kleine Zahl von Sätzen, von grundlegenden Hypothesen.
Kennt man einmal die Hypothesen, so ermöglicht eine voll-
kommen sichere mathematische Deduktion, die weder Lücke
noch Wiederholung aufweist, alle physikalischen Gesetze wieder
zu finden. Eine derartige Kondensation einer Menge von Ge-
setzen in eine kleine Zahl von Prinzipien ist eine ungeheure
Erleichterung für den menschlichen Verstand, der ohne einen
derartigen Kunstgriff die neuen Reichtümer, die er täglich tsr-
wirbt, nicht unterbringen könnte.
Die Reduktion der physikalischen Gesetze auf Theorien trägt
indirekt zu der Ökonomie des Denkens bei, in der Herr E.
Mach ^) das Ziel, das Richtungsprinzip der Wissenschaft erblickt.
^) E. Mach, Die ökonomische Natur der physikalischen For-
schung (Populärwissenschaftliche Vorlesungen, III. Auflage, Leipzig
1903. XIII^ p. 215). — Die Mechanik in ihrer Entwicklung, historisch-
kritisch dargestellt. Leipzig 1904. V.Aufl.. Kap. IV. Art.4: Die Ökonomie
der Wissenschaft, p. 521. [In der franz. Ausgabe Paris 1904, p. 449.]
24 Zweites Kapitel.
Das experimentelle Gesetz repräsentierte bereits eine erste
Ökonomie des Denkens. Der menschliche Geist hatte eine
ungeheure Zahl von konkreten Tatsachen vor sich, deren jede
in der Verwicklung vieler einander unähnlicher Details bestand.
Kein Mensch könnte die Kenntnis aller dieser Tatsachen
eriangen und behalten, keiner könnte sie seinen Mitmenschen
mitteilen. Ist aber die Abstraktion ins Spiel getreten, so läßt sie
das Eigenartige, Individuelle jeder dieser Tatsachen beiseite,
sucht was an ihrer Gesamtheit allgemein und gemeinsam ist,
und ersetzt so diese ungeheure Menge von Tatsachen durch
einen einzigen Satz, der im Gedächtnis wenig Raum einnimmt
und leicht im Unterricht mitteilbar ist. Die Abstraktion hat so
ein physikalisches Gesetz formuliert.
„Statt z. B. die verschiedenen vorkommenden Fälle der Licht-
brechung uns einzeln zu merken, können wir alle vorkommenden
sofort nachbilden oder vorbilden, wenn wir wissen, daß der
einfallende, der gebrochene Strahl und das Lot in einer Ebene
liegen und -r-^ = n ist. Wir haben dann statt der unzähligen
Brechungsfälle bei verschiedenen Stoffkombinationen und Ein-
fallswinkeln nur diese Anweisung und die Werte der n zu
merken, was viel leichter angeht. Die ökonomische Tendenz
ist hier unverkennbar."^)
Die Ökonomie, die aus der Ersetzung der Einzeltatsachen
durch Gesetze hervorgeht, verdoppelt der menschliche Geist,
indem er die Gesetze in Theorien verdichtet. Was das Brechungs-
gesetz gegenüber den unzähligen Tatsachen der Brechung, be-
deutet die optische Theorie gegenüber den endlos verschiedenen
Gesetzen der Lichtphänomene.
Von den Lichtphänomenen hatten die Alten nur eine sehr
kleine Zahl in Gesetzen zusammengefaßt. Die einzigen optischen
Gesetze, die sie kannten, waren das der geradlinigen Fortpflanzung
des Lichtes und die der Reflexion. Dieser mäßige Bestand wurde
In der Zeit von Descartes um das Brechungsgesetz vermehrt.
^) E. Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung historisch-
kritisch dargestellt Leipzig 1904, V. Aufl., p. 526. [In der franz. Aus-
gabe Paris 1904, p. 453.]
Physikalische Theorie und nahirgemäße Klassifikation. 25
Eine so eingeschränkte Optik konnte eine Theorie entbehren.
Es war leicht jedes Gesetz für sich zu studieren und zu lehren.
Wäre es dagegen einem Physiker, der die moderne Optik
studieren will, möglich, ohne Hilfe einer Theorie eine auch nur
oberflächliche Kenntnis dieses ungeheuren Gebietes zu eriangen?
Die Tatsachen der einfachen Brechung, der Doppelbrechung
durch ein- oder zweiachsige Kristalle, der Reflexion an isotropen
und kristallisierten Medien, der Interferenz, der Beugung, der
Polarisation durch einfache oder doppelte Brechung, der Rotations-
polarisation usw., alle diese großen Kategorien von Phänomenen
ermöglichen die Formulierung einer Menge von Gesetzmäßig-
keiten, deren Zahl und Verwicklung das aufnahmsfähigste und
veriäßlichste Gedächtnis erschrecken würde.
Die optische Theorie tritt hinzu, sie bemächtigt sich aller
dieser Gesetze und verdichtet sie in eine kleine Zahl von Prin-
zipien. Aus diesen Prinzipien kann man jederzeit exakt und
sicher das Gesetz, von dem man Gebrauch machen will, ab-
leiten. Man braucht sich sodann nicht mehr alle diese Gesetze,
sondern nur die Prinzipien, auf denen sie beruhen, zu merken.
Dieses Beispiel läßt uns auf das deutlichste den Weg er-
kennen, auf dem die physikalischen Wissenschaften vorwärts
schreiten. Ununterbrochen bringt der Experimentator bisher
nicht vermutete Tatsachen ans Tageslicht und formuliert neue
Gesetze. Damit aber der menschliche Geist die Reichtumer
beherbergen kann, ersinnt der Theoretiker ununterbrochen Dar-
stellungsarten, die immer kondensierter, Systeme, die immer
ökonomischer werden. Die Entwicklung der Physik bewirkt
einen fortwährenden Kampf zwischen „der Natur, die nicht
müde wird. Neues zu zeigen** und dem Verstand, der „nicht
müde werden will, zu begreifen".
§ 3. — Die Auffassung der Theorie als Klassifikation.
Die Theorie besteht nicht nur in einer ökonomischen Dar-
stellung der experimentellen Gesetze, sondern auch in einer
Klassifikation derselben.
Die experimentelle Physik liefert uns alle Gesetze ge-
meinsam, sozusagen im gleichen Felde, ohne sie in Gruppen
26 Zweites Kapitel.
von Gesetzen zu teilen, denen eine Art Verwandtschaft zu-
kommt Sehr oft sind es ganz zufällige Gründe, ganz ober-
flächliche Analogien, die die Beobachter dazu geführt haben,
in ihren Veröffentlichungen ein Gesetz neben einem anderen
zu behandeln. So hat Newton in dem gleichen Werke die
Gesetze über die Dispersion des Lichtes beim Ehirchgang durch
ein Prisma, und die Gesetze der Farben, die eine Seifenblase
schmücken, behandelt, einfach deshalb, weil die Augen auf
diese beiden Arten von Phänomenen durch auffallende Farben
aufmerksam werden.
Im Gegensatz dazu stellt die Theorie bei der Entwicklung
der zahlreichen Verzweigungen der deduktiven Schlußfolge-
rungen, welche die Prinzipien mit den experimentellen Ge-
setzen verbinden, unter letzteren eine Ordnung und Klassi-
fikation her. Es gibt solche, die sie, eng aneinandergeschlos-
sen, in derselben Gruppe vereinigt, wieder andere, die sie von-
einander trennt und in zwei äußerst weit entfernten Gruppen
unterbringt. Sie gibt sozusagen das Verzeichnis und die Titel
der Kapitel an, in welche die zu studierende Wissenschaft
methodisch zerfällt, und bestimmt die Gesetze, die in jedes
dieser Kapitel eingeordnet werden sollen.
So setzt sie neben die Gesetze des durch ein Prisma
hervorgerufenen Spektrums die Gesetze der Farben des Regen-
bogens. Die Gesetze aber, denen die Farben der Newtonschen
Ringe Unterliegen, bringt sie in ein ganz anderes Gebiet, indem
sie sie mit den Gesetzen der von Young und Fresnel ent-
deckten Interferenzstreifen vereinigt. In einer anderen Klasse
werden wieder die feinen, von Grimaldi untersuchten Farben
in ihrer Verwandtschaft mit den von Fraunhofer hergestellten
Beugungsspektren betrachtet. EHe Gesetze aller dieser Phä-
nomene, die ein einfacher Beobachter infolge ihrer auffallen-
den Farben untereinander mengt, werden durch die Bemü-
hungen des Theoretikers klassifiziert und geordnet.
Klassifizierte Erkenntnisse sind leicht anwendbar und
sicher zu gebrauchen. Aus kunstgerechten Werkzeugkästen,
in denen die Instrumente, die demselben Zweck dienen, bei-
einander liegen, diejenigen aber, die verschiedene Aufgaben
Physikalische Theorie und natuigemäße Klassifikation. 27
haben, durch Scheidewände getrennt sind, nimmt der Arbeiter
blitzschnell, ohne Zögern oder Ängstlichkeit, das Werkzeug,
das er braucht. Dank der Theorie findet der Physiker mit
Sicherheit, ohne Wesentliches außer acht zu lassen oder Über-
flüssiges anzuwenden, die Gesetze, die ihm zur Lösung eines
gegebenen Problemes dienlich sein können.
Überall, wo Ordnung herrscht, herrscht auch Schönheit.
Die Theorie bewirkt daher nicht nur, daß die Gruppe von
physikalischen Gesetzen, die sie darstellt, leichter, bequemer
und fruchtbringender anwendbar werden, sondern daß sie auch
schöner wird.
Verfolgt man den Gang einer der großen Theorien der
Physik, wie sie sich majestätisch entfaltet, wie aus den ersten
Hypothesen ihre geordneten Deduktionen folgen, wie ihre Er-
gebnisse eine Fülle experimenteller Gesetze bis ins kleinste
Detail darstellen, dann ist es ausgeschlossen, daß man nicht
von der Schönheit eines solchen Baues hingerissen wird, daß
man nicht eine solche Schöpfung des menschlichen Geistes
als wahres Kunstwerk empfindet.
§4. — Die Theorie hat die Tendenz sich in eine natur-
gemäße Klassifikation umzuformen.^) .
Dieses ästhetische Gefühl ist nicht das einzige Gefühl,
welches eine Theorie, die einen hohen Grad der Vollkommen-
heit erreicht hat, hervorruft Sie erweckt in uns auch die Über-
zeugung, daß sie als naturgemäße Klassifikation betrachtet
werden müsse.
Was ist nun eine naturgemäße Klassifikation? Was will,
zum Beispiel, ein Naturforscher sagen, wenn er eine natur-
gemäße Klassifikation der Wirbeltiere aufstellt?
Die Klassifikation, die er ersonnen hat, besteht in einem
Zusammenhang geistiger Operationen. Sie behandelt nicht die
konkreten Individuen, sondern Abstraktionen : die Arten. Diese
^) Wir haben bereits in dem Aufsatze „L'l^cole anglaise et les
th^ories physiques, ait 6." (Revue des questions scientifiques
octobrel903) die naturgemäße Klassifikation als die ideale Form, nach
der die physikalische Theorie streben sollte, bezeichnet
28 Zweites Kapitel.
Arten teilt sie so in Gruppen, daß die speziellen sich den all-
gemeineren unterordnen. Um diese Gruppen zu bilden, be-
trachtet der Naturforscher die verschiedenen Organe, — die
Wirbelsäule, den Schädel, das Herz, den Verdauungskanal,
die Lunge, die Schwimmblase — nicht in der besonderen,
konkreten. Form, die sie bei dem jeweiligen Individuum be-
sitzen, sondern in abstrakter, allgemeiner, schematischer Form
die allen Arten derselben Gruppe zukommt. Unter diesen
derart durch die Abstraktion umgebildeten Organen stellt er
Vergleiche an, sucht er Analogien und Verschiedenheiten fest-
zustellen. So erklärt er zum Beispiel, daß die Schwimmblase
der Fische mit der Lunge der Wirbeltiere gleichbedeutend
sei. Dieses Gleichbedeutendsein ist eine rein ideelle Zusam-
menstellung, welche nicht auf den wirklichen Organen, sondern
auf den verallgemeinerten und vereinfachten Vorstellungen, die
sich im Geiste des Naturforschers gebildet haben, beruht. Die
Klassifikation ist nur eine kurze Übersicht, welche alle diese
Zusammenstellungen resümiert.
Wenn der Zoologe behauptet, daß eine derartige Klassi-
fikation naturgemäß sei, meint er, daß die ideellen Verbin-
dungen, die durch seinen Verstand zwischen den abstrakten
Gedanken hergestellt wurden, realen Beziehungen zwischen
den konkreten Wesen, in denen diese Abstraktionen Gestalt
gewinnen, entsprechen. Er meint zum Beispiel, daß die mehr
oder weniger auffallenden Ähnlichkeiten, die er zwischen ver-
schiedenen Arten konstatiert hat, der Beweis einer mehr oder
minder engen Verwandtschaft im eigentlichen Sinn unter den
Individuen, die diese Gattung bilden, seien. Er meint, daß die
Bindestriche, mit denen er die Abhängigkeitsverhältnisse der
Klassen, Ordnungen, Familien und Arten versinnbildlicht, die
Verzweigungen des Stammbaumes wiedergeben, der die Ent-
wicklung der verschiedenen Wirbeltiere aus einem Stamm zur
Darstellung bringt. Zu diesen Beziehungen der wirklichen
Verwandtschaft, der Abstammung, kann die vergleichende
Anatomie allein nicht gelangen, sie zu erfassen und zu be-
stätigen ist Aufgabe der Physiologie und Paläontologie. Der
Anatom, der über die Ordnung, die sein Vergleichungsver-
Physikalische Theorie und natui^emäße Klassifikation. 29
fahren in die verwirrende Menge der Tiere bringt, nachsinnt,
kann die Beziehungen, deren Prüfung über seine Methoden
hinausgeht, nicht beweisen. Und wenn die Physiologie und
Paläontologie ihm eines Tages zeigen würden, daß die Ver-
wandtschaft, die er sich vorstellt, nicht bestehe, daß die Evo-
hitionsh3rpothese erdichtet sei, würde er dennoch fortfahren
zu glauben, daß das System, das durch seine Klassifikation
entstanden ist, wirkliche Beziehungen zwischen den Tieren
darstellt. Er würde zugeben, daß er sich zwar über die Natur
dieser Beziehungen getäuscht habe, nicht aber über deren
Existenz.
Die Leichtigkeit, mit der eine jede Erfahrungstatsache in
der vom Physiker geschaffenen Klassifikation untergebracht
werden kann, die blendende Klarheit, die diese so vollkommen
geordnete Gruppierung aufweist, wecken in uns die unbe-
siegbare Oberzeugung, daß eine solche Klassifikation nicht
rein künstlich, daß eine solche Ordnung nicht das Resul-
tat einer rein willkürlichen Gruppierung sei, die ein erfinde-
rischer Systematiker den Gesetzen gegeben hat. Ohne uns
von unserer Oberzeugung Rechenschaft geben, aber auch ohne
uns von ihr befreien zu können, sehen wir in der exakten
Ordnung dieses Systemes ein Zeichen, an dem eine natur-
gemäße Klassifikation erkennbar ist. Wenn wir auch nur
die Gesetze der Phänomene gruppieren und nicht vorgeben, die
unter ihnen verborgene Wirklichkeit zu erklären, so fühlen
wir doch, daß die durch unsere Theorie hergestellten Gruppen
den wirkUchen Beziehungen zwischen den Dingen selbst ent-
sprechen.
Der Physiker, der in jeder Theorie eine Erklärung sieht,
ist überzeugt, daß er in der Lichtschwingung den eigent-
lichen und innersten Grund der Eigenschaft, die unsere Sinne
uns als Licht und Farbe kundtun, gefunden hat. Er glaubt
an einen Körper, den Äther, dessen einzelne Teile durch
solche schnelle hin und her gehende Schwingungen belebt
sind.
Sicherlich teilen wir nicht diese Illusionen. Wenn wir
bei Gelegenheit einer optischen Theorie auch von der Licht-
30 Zweites Kapitel.
Schwingung sprechen, denken wir doch nicht an eine wahr-
haftige hin und her gehende Bewegung- eines wirklichen Kör-
pers. Wir stellen uns nur eine abstrakte Größe, einen rein
mathematischen Ausdruck vor. Die periodisch wechselnde Lange
dient uns dairu, die Hypothesen der Optik zu formulieren, durdi
regelrechte Rechnungen die experimentell feststellbaren Ge-
setzmäßigkeiten des Lichtes abzuleiten. EXese Schwingung ist
für uns ein Bild, aber keine Erklärung.
Aber wenn wir nach langen Versuchen mit Hilfe dieser
Schwingung dam gelangt sind, einen Grundstock fundamen-
taler Hypothesen zu formulieren, wenn wir sehen, daß sich in
dem ungeheuren Gebiet der Optik, welches erst so verschlungen
und verworren erscheint, auf Grund dieser Hypothesen Ord-
nung und Organisation einstellen, dann ist es uns unmöglich
zu glauben, daß diese Ordnung und diese Organisation nicht
das Bild einer wirklichen ondnung Und Organisation sei.
Wir können nicht glauben, daß die Phänomene, die die Theorie
zueinander in Nachbarschaft bringt, wie die Interferenzstreifen
und die Farben dünner Blättchen nicht wirklich wenig ver-
schiedene Kundgebungen des gleichen Merkmales des Lichtes
seien, daß die Phänomene, die die Theorie trennt, wie die
Beugungs- und die Dispersionsspektren, nicht wesentlich ver-
schiedene Eigenschaften aufweisen.
So gibt uns dielphysikalische Theorie niemals die Erklärung
der experimentellen Gesetzmäßigkeiten, niemals enthüllt sie
uns die Realitäten, die sich hinter den wahrnehmbaren Er-
scheinungen verbergen. Aber je mehr sie sich vervollkomm-
net, um so mehr ahnen wir, daß die logische Ordnung, in der
sie die Erfahrungstatsachen darstellt, der Reflex einer onto-
logischen Ordnung sei. Je mehr wir mutmaßen, daß die
Beziehungen, welche sie zwischen den Beobachtungsergeb-
nissen herstellt, den Beziehungen zwischen den CMngen ent-
sprechen^), um so mehr können wir prophezeien, daß sie sich
einer naturgemäßen Klassifikation nähere.
Diese Überzeugung könnte der Physiker nicht rechtfer-
*) vergl. Poincar^: La Science et T Hypothese, p. 190. Paris 1903.
Physikalische Theorie und natuiig^einäße Klassifikation. 31
iigen. EMe Methode, die er verwendet, ist auf die Ergebnisse
der Beobachtung beschränkt, sie kann daher nicht beweisen,
daß die Ordnung der experimentellen Gesetze der Reflex einer
über die Erfahrung hinausgehenden Ordnung sei und eben-
sowenig kann sie die Natur der wirklichen Beziehungen ahnen,
denen die durch die Theorie aufgestellten Beziehungen ent-
sprechen.
Aber wenn es dem Physiker unmöglich ist, seine Ober-
zeugung zu verifizieren, so ist es ihm nicht minder unmöglich,
ihr den Boden zu entziehen. Vergebens sucht er sich mit der
Idee zu durchdringen, daß seine Theorien unvermögend seien,
die Wirklichkeit zu erfassen, daß sie einzig dazu dienen, eine
zusammengefaßte Und klassifizierte Darstellung der Erfahrungs-
tatsachen zu geben, er kann sich doch nicht zu dem Glauben
zwingen, daß ein System, welches so einfach und so leicht
eine ungeheure Zahl anfänglich so unvereinbarer Gesetzmäßig-
keiten ordnen kann, rein künstlich sei. In einer Intuition, in
der Pascal eines der Urteile des Herzens, „die die Vernunft
nicht kennt'', gesehen hätte, betont er seinen Glauben an eine
wirkliche Ordnung, von der seine Theorien ein von Tag zu
Tag klareres und treueres Bild geben.
Derart beweist uns die Analyse der Methoden, auf denen
sich die physikalischen Theorien aufbauen, mit vollkommener
Sicherheit, daß diese Theorien nicht als Erklärungen der ex-
perimentellen Gesetze auftreten können. Andererseits erfüllt
uns ein wirkUcher Glaube, den diese Analyse ebensowenig
rechtfertigen wie bezähmen kann, daß diese Theorien nicht
ein rein künstliches System, sondern eine naturgemäße Klassi-
fikation seien. Man kann hier den tiefen Gedanken Pascals
anwenden: „Wir haben eine Ohnmacht im Beweisen, die kein
Dogmatismus überwinden kann, und eine Idee des Wahren,
die allen Pyrrhonismus überwindet."
§ 5. — Die der Erfahrung vorangehende Theorie.
Es gibt einen Umstand, an dem sich mit besonderer Deut-
lichkeit unser Glaube an den natürlichen Charakter einer theo-
retischen Klassifikation zeigt. Dieser Umstand tritt auf, wenn
32 Zweites Kapitel.
wir von der Theorie die Angabe der Resultate eines Experi-
ments fordern, bevor dieses Experiment ausgeführt wurde,
wenn wir ihr ausdrücklich den kühnen Befehl erteilen: „Pro-
phezeie uns!"
Eine ansehnliche Gruppe experimenteller Gesetze wurde
durch die Beobachter festgestellt. Der Theoretiker, der sich
vorgenommen hatte, sie in einer ganz kleinen Zahl von Hypo-
thesen zusammenzufassen, hat seine Aufgabe gelöst: Jedes dieser
experimentellen Gesetze ist genau als Folgerung aus diesen
Hypothesen darstellbar.
Aber man kann aus diesen Hypothesen unbegrenzt viel
Folgerungen ziehen, man kann auch solche ableiten, die keinem
der früher bekannten experimentellen Gesetze entsprechen, die
lediglich mögliche experimentelle Gesetze darstellen.
Unter diesen Folgerungen gibt es solche, die auf prak-
tisch realisierbare Bedingungen Bezug haben und daher be-
sonders interessant sind, weil sie mit den Tatsachen konfron-
tiert werden können. Wenn sie die experimentellen Gesetze,
denen diese Tatsachen unterliegen, genau darstellen, wird der
Wert der Theorie wachsen, das Gebiet, auf dem sie herrscht,
wird mit neuen Gesetzen bereichert sein. Wenn dagegen ge-
wisse dieser Folgerungen im deutlichen Widerspruch mit den
Tatsachen, deren Gesetz die Theorie darstellen sollte, stehen,
muß sie mehr oder minder modifiziert, vielleicht vollständig
verworfen werden.
Nehmen wir nun an, es gelte im Moment, wenn die Vor-
aussagungen der Theorie mit der Wirklichkeit konfrontiert
werden, eine Wette für oder gegen die Theorie zu schließen.
Zugunsten welcher Seite würden wir unseren Einsatz wagen ?
Wenn die Theorie ein rein künstliches System ist, wenn
wir in den Hypothesen, auf denen sie ruht. Ausdrücke sehen,
die mit Geschick so aufgestellt werden, daß sie die bereits
bekannten experimentellen Gesetze darstellen, wenn wir in
ihnen aber keinen Reflex der wirklichen Beziehungen zwischen
den Realitäten, die sich vor unseren Augen verbergen, ver-
muten, so werden wir denken, daß eine derartige Theorie von
einer neu gefundenen Tatsache eher widerlegt als bestätigt
Physikalische Theorie und naturgemäße Klassifikation. 33
werden wird. Es wäre ein wunderbarer Zufall, wenn die bis-
her unbekannte Gesetzmäßigkeit gerade einen ganz geeigneten
Platz in dem Räume finden würde, der von den anderen Gesetz-
mäßigkeiten freigelassen wurde, und wir wären toll, wollten
wir auf diese Hoffnung hin unseren Einsatz wagen.
Wenn wir im Gegenteil in der Theorie eine naturgemäße
Klassifikation erkennen, wenn wir wissen, daß ihre Prinzipien
tiefe imd wirkliche Beziehungen zwischen den Dingen aus-
drücken, werden wir nicht erstaunt sein zu sehen, daß ihre
Folgerungen der Erfahrung vorauseilen und die Entdeckung
neuer Gesetze befördern. Wir werden kühn auf sie wetten.
Wenn wir von einer Klassifikation fordern, daß sie von
vornherein Tatsachen, die erst in Zukunft entdeckt werden,
ihren Platz anweist, zeigt das am deutlichsten, daß wir diese
Klassifikation für naturgemäß halten. Und wenn die Erfah-
rung die Voraussagungen unserer Theorie bestätigt, dann
fühlen wir, wie sich in uns die Überzeugung festigt, daß die
Beziehungen, die unser Verstand zwischen den abstrakten Be-
griffen hergestellt hat, tatsächlich den Beziehungen zwischen
den Dingen entsprechen.
So stellt die moderne chemische Bezeichnung, indem sie
sich der Konstitutionsformeln bedient, eine Klassifikation her,
in die sich die verschiedenen Verbindungen einordnen. CHe
wunderbare Ordnung, die diese Klassifikation in das gewaltige
Arsenal der Chemie bringt, macht uns schon sicher, daß sie nicht
ein rein künstliches System sei. Die Bande der Analogie und
der Ableitung durch Substitution, welche sie zwischen den ver-
schiedenen Verbindungen herstellt, haben nur in unserem Geist
Sinn. Und doch sind wir überzeugt, daß sie Verwandtschafts-
beziehungen zwischen den Substanzen selbst entsprechen, deren
Natur uns zwar tief verborgen bleibt, deren Realität uns aber
nicht zweifelhaft erscheint. Nichtsdestoweniger kann sich diese
Überzeugung erst in eine unwiderlegliche Sicherheit verwan-
deln, wenn wir sehen, daß die chemische Theorie die Formeln
einer Menge von Körpern im Voraus schreiben kann, und daß
die Synthese, indem sie diese Angaben befolgt, Substanzen
Dnhem, PhjsOaüiscbe Theorie. 3
34 Zweites Kapifel.
herstellt, deren Zusammensetzung, ja sogar deren Eigenart
wir kannten, bevor sie bestanden.
Ebenso wie die vorausgesagten Synthesen bestätigen, daB
die chemische Bezeichnung eine naturgemäße Klassifikation
sei, ebenso beweist die physikalische Theorie, daß sie der Re-
flex einer realen Ordnung sei, indem sie der Beobachtui^
vorauseilt.
EHe Geschichte der Physik gibt uns nun eine Fülle von
Beispielen solcher hellseherischer Wahrsagungen. Häufig hat
eine Theorie noch nicht beobachtete Tatsachen und sogar
solche, die unwahrscheinlich schienen, vorausgesehen, indem
sie den Experimentator zur Entdeckung anreizte und zu ihr
hinführte.
Die Academie des Sciences hatte als Thema für die Be-
werbung um den Preis für Physik, welchen sie in der Sitzung
im März 1819 zuerkennen sollte, die allgemeine Prüfung der
Beugungserscheinungen des Lichtes festgesetzt. Von den zwei
vorgelegten Arbeiten hatte die eine, die preisgekrönt wurde,
Fresnel zum Verfasser. Biot, Arago, Laplace, Qay-Lussac und
Poisson bildeten die Kommission.
Aus den von Fresnel aufgestellten Prinzipien leitete Poisson
durch eine elegante Analyse folgende befremdende Folgerung
ab: Wenn ein kleiner, kreisförmiger Schirm in den Weg der
Strahlen, die von einem leuchtenden Punkt ausgehen, gestellt
wird, dann existieren hinter dem Schirm, auf der Achse dieses
Schirmes selbst, Punkte, die nicht nur beleuchtet, sondern genau
ebenso hell sind, als wenn der Schirm nicht zwischen sie und
die Lichtquelle gestellt worden wäre.
Eine derartige Konsequenz schien, da sie den frühesten und
zuverlässigsten experimentellen Feststellungen scheinbar so ent-
gegengesetzt war, wohl dazu angetan, zur Zurückweisung der
Beugungstheorie, die Fresnel aufgestellt, zu führen. Arago hatte
gestützt auf die Klarheit dieser Theorie Zutrauen zu deren
naturgemäßen Charakter und versuchte eine Prüfung. Die
Beobachtung ergab Resultate, die vollständig mit den so
Physikalische Theorie und naturgemäße Klassifikation. 35
wenig wahrscheinlichen Voraussagungen der Rechnung über-
einstimmten^).
So gibt die physikalische Theorie, wie wir sie definiert
haben, eine gedrängte Darstellung einer großen Menge experi-
menteller Gesetze, die für die Ökonomie des Denkens förder-
lich ist.
Sie klassifiziert diese Gesetze. Indem sie sie klassifiziert,
macht sie sie leichter und sicherer brauchbar. Indem sie in
ihre Gesamtheit Ordnung bringt, erfüllt sie sie gleichzeitig
mit Schönheit.
Sie nimmt, indem sie sich vervollkommnet, den Charakter
einer naturgemäßen Klassifikation an. Die Gruppierungen,
die sie herstellt, lassen die wirklichen Verwandtschaften der
Dinge ahnen.
Dieser Charakter der naturgemäßen Klassifikation macht
sich vor allem durch die Fruchtbariceit der Theorie bemerkbar,
die bisher nicht beobachtete Erfahrungstatsachen vorhersagt
und deren Entdeckung beeinflußt.
Das genügt, um zu vermeiden, daß die Forschung nach
physikalischen Theorien als unnütze und müßige Arbeit
angesehen wird, obschon sie nicht die Erklärung der Erschei-
nungen anstrebt.
Drittes Kapitel.
Die beschreibenden Theorien und die Gescliiclite der
Physik.
§ 1. — Die Rolle der naturgemäßen Klassifikation und
der Erklärungen in der Entwicklung der physikali-
schen Theorien.
Als Ziel einer physikalischen Theorie betrachten wir, daß
sie zu einer naturgemäßen Klassifikation werde, das heißt,
daß sie zwischen den verschiedenen experimentellen Gesetzen
eine logische Beziehung herstelle, die gleichsam ein Bild und
ein Reflex der wirklichen Ordnung ist, in der die Realitäten, die
^) Oeuvres compl^tes d^ Augustin Fresnel, 1. 1., pp. 236, 365, 368.
3*
36 Drittes Kapitel.
uns entgehen, angeordnet sind. Dies ist die Bedingung
daffir, daß die Theorie fruchtbar sei, daß sie Entdeckungen
bewirke.
Aber gegen die Lehre, die wir hier auseinandersetzen, er-
hebt sich sogleich ein Einwand.
Wenn die Theorie eine naturgemäße Klassifikation sein
will, wenn sie suchen soll die Erscheinungen so zu gruppieren,
wie die Realitäten gruppiert sind, ist dann nicht die sicherste
Methode, um dieses Ziel zu erreichen, vor allem nach diesen
Realitäten zu forschen? Wäre es nicht verständiger, anstatt ein
logisches System aufzubauen, welches in möglichst gedrängter
und möglichst genauer Weise die experimentellen Gesetze in
der Hoffnung darstellt, daß dieses logische System sich zu
einem Bilde der ontologischen Ordnung der Dinge entwickeln
werde, sogleich die Erklärung dieser Gesetze, die Enthüllung
dieser verborgenen Dinge zu versuchen? Ist nicht dies über-
haupt der Weg, den die Meister der Wissenschaft eingeschlagen
haben? Haben sie nicht jene fruchtbaren Theorien, deren frap-
pierende Wahrsagungen unser Erstaunen erregen, geschaffen,
indem sie sich um die Erklärung der physikalischen Erschei-
nungen bemühten? Was können wir besseres tun als ihrem
Beispiel folgen, als zu den Methoden zurückzukehren, die wir
in unserem ersten Kapitel verurteilt haben?
Es ist unzweifelhaft, daß viele der Genies, denen wir die
moderne Physik verdanken, ihre Theorien in der Hoffnung er-
sonnen haben, eine Erklärung der Naturerscheinungen geben
zu können, daß manche sogar geglaubt haben, bis zu dieser
Erklärung vorgedrungen zu sein. Aber dies läßt keinen Schluß
gegen die Meinung, die wir in betreff der physikalischen Theorien
entwickelt haben, zu. Phantastische Hoffnungen konnten wunder-
bare Erfindungen veranlassen, ohne daß diese Erfindungen den
Hirngespinsten Gestalt gaben, denen sie ihre Entstehung ver-
dankten. Kühne Erforschungen, die viel zum Fortschritt der
Geographie beigetragen haben, sind Abenteurern zn verdanken,
die das Goldland suchten. Und doch ist dies kein zureichender
Grund, das Eldorado in unseren Weltkarten aufzuzeichnen.
Wenn man daher beweisen will, daß die Forschung nach
Die beschreibende Theorie und die Geschichte der Physik. 37
Erklärungen fQr die Physik wirklich fruchtbar sei, dann genügt
es nicht, den Beweis zu führen, daß eine ansehnliche Zahl von
Theorien von Denkern geschaffen wurden, die nach solchen
Erklärungen strebten. Man muß vielmehr beweisen, daß die
Forschung nach einer Erklärung wirklich der Ariadnefaden sei,
der sie inmitten der verwirrenden Mannigfaltigkeit der physi-
kalischen Tatsachen geführt und ihnen ermöglicht hat, den Plan
dieses Labyrinthes zu zeichnen.
Es ist nun nicht nur unmöglich, diesen Beweis zu liefern,
sondern ein auch nur oberflächliches Studium der Geschichte
der Physik liefert im Überfluß Argumente, die gerade das Gegen-
teil schließen lassen.
Wenn man eine der von den Physikern geschaffenen Theorien,
die die wahrnehmbaren Erscheinungen erklären wollen, analysiert,
erkennt man gewöhnlich bald, daß diese Theorie aus zwei wesent-
lich verschiedenen Teilen besteht: der eine ist der einfach be-
schreibende, der die Gesetzmäßigkeiten klassifizieren will, der
andere ist der erklärende, der unter den Erscheinungen die
Realität zu erfassen sucht
Der erklärende Teil bildet nun bei weitem nicht die zu-
reichende Grundlage des beschreibenden. Er ist nicht der Same,
aus dem dieser entsproßt, oder die Wurzel, die sein Wachstum
fördert. Das Band zwischen den beiden Teilen ist fast immer
recht schwach und künstlich. Der beschreibende Teil entwickelt
sich auf eigene Rechnung durch die eigentlichen und selb-
ständigen Methoden der theoretischen Physik. An diesen voll-
ständig ausgebildeten Organismus rankt sich der erklärende
Tai wie eine Schmarotzerpflanze an.
Nicht diesem parasitären, erklärenden Teil verdankt die
Theorie ihre Kraft und Fruchtbarkeit. Ganz im Gegenteil. Alles,
was die Theorie an Gutem enthält, was sie als naturgemäße
Klassifikation erscheinen läßt, was ihr die Möglichkeit verleiht,
die Erfahrung vorauszusagen, befindet sich in dem beschreiben-
den Teil. Alles das wurde von dem Physiker entdeckt, als er
an die Forschung nach Erklärungen vergessen hatte. Was da-
g^en die Theorie an Schlechtem enthält, was durch die Tat-
sachen wideriegt wird, befindet sich vor allem in dem erklärenden
38 Drittes Kapitel.
Teil, in den es der Physiker, von dem Wunsche geleitet, die
Realitäten zu erfassen, eingeführt hat
Daraus folgt: Wenn die Fortschritte der experimentellen
Physik eine Theorie umstoßen, wenn sie erfordern, daß sie
geändert oder umgewandelt werde, geht der rein beschreibende
Teil fast vollständig in die neue Theorie über, indem er ihr die
Erbschaft von alledem Übermacht, was die alte Theorie an
Kostbarem besaß, während der erklärende Teil w^ällt, um einer
anderen Erklärung Platz zu machen.
So überträgt jede physikalische Theorie durch eine stetige
Oberiieferung der ihr folgenden den Teil der naturgemäßen
Klassifikation, den sie aufstellen konnte, wie in gewissen antiken
Spielen jeder Läufer die brennende Fackel dem Läufer, der nach
ihm kam, entgegenstreckte. Diese fortgesetzte Überlieferung
verschafft der Wissenschaft Beständigkeit des Lebens und des
Fortschrittes.
Diese Kontinuität der Überlieferung ist für den oberfläch-
lichen Beobachter unter dem unaufhörlichen Getöse der zer-
schmetternden Erklärungen verborgen, die nur entstehen, um
zu vergehen.
Bekräftigen wir alles das, was wir ausführten, durch einige
Beispiele. Wir benützen als solche die Theorien, zu denen die
Brechung des Lichtes Anlaß gegeben hat. Wir bedienen uns
dieser Theorien nicht etwa deshalb, weil sie unserer These
außerordentlich günstig sind, sondern im Gegenteil gerade?
darum, weil Leute, die die Geschichte der Physik oberfläch-
lich studieren, meinen könnten, daß diese Theorien ihre haupt-
sächlichsten Fortschritte der Forschung nach Erklärungen ver-
danken.
Descartes hat eine Theorie aufgestellt, die die Phänomene
der einfachen Brechung beschreibt. Sie bildet den Haupt-
gegenstand der beiden wunderbaren Abhandlungen, der
Dioptrik und der Meteore, denen die Abhandlung über
die Methode als Einleitung dient. In ihr werden auf Grund
des konstanten Verhältnisses zwischen dem Sinus des Einfalls-
und jenem des Brechungswinkels die Eigenschaften verschie-
den geschliffener Gläser, sowie die der mit solchen Gläsern
Die beschreibende Theorie und die Geschichte der Physik. 39
ausgestatteten optischen Institimente klar und übersichtlich dar-
gelegt. Es wird in ihr von den Erscheinungen, die bei der
Gesichtswahmehmung auftreten, Rechenschaft gegeben, und
die Gesetze des Regenbogens werden analysiert.
Descartes hat außerdem eine Erklärung der Lichter*
scheinungen gegeben. Das Licht ist nur eine Erscheinung,
während die Realität in einem Druck besteht, der durch die
schnellen Bewegungen der glühenden Körper hervorgebracht
wird, die im Innern eines feinen, alle Körper durchdringenden
Stoffes stattfinden. Dieser feine Stoff ist inkompressibel, so
daß der Druck, den das Licht ausübt, sich momentan in jede
Entfernung fortpflanzt. So weit auch ein Punkt von einer
Lichtquelle entfernt ist, in dem gleichen Augenblick, in dem
sie zu leuchten beginnt, ist er auch beleuchtet. Diese augen-
blickliche Fortpflanzung des Lichtes ist eine absolut notwen-
dige Folge des Systemes von Erklärungen, das E)escartes ge-
schaffen. An Beeckmann, der dieser Meinung nicht beitreten
und sie nach Galileis Vorbild mit Hilfe — allerdings kindi-
licher — Experimente widerlegen wollte, schrieb er:^) „Für
mich ist sie so sicher, daß wenn sie, was unmöglich ist, als
Irrtum erkannt würde, ich auf der Stelle bereit wäre, Ihnen
zu erklären, daß ich nichts von Philosophie verstehe. Sie
haben so großes Zutrauen zu Ihrem Versuche, daß Sie sich
bereit erklären, Ihre ganze Philosophie für falsch zu erklären,
wenn kein Zeitunterschied zwischen dem Moment, in dem
man die Bewegung der Laterne im Spiegel und dem, in dem
man sie in der Hand sieht, besteht. Ich erkläre Ihnen da-
gegen, daß meine ganze Philosophie auf den Kopf gestellt
würde, wenn dieser Zeitunterschied beobachtet werden
könnte."
Die Frage, ob Descartes das grundlegende Gesetz der
Brechung selbst gefunden, oder ob er es gemäß einer An-
deutung von Huygens bei Snellius entlehnt, ist mit Leiden-
schaft diskutiert worden. IDie Entscheidung ist zweifelhaft,
aber sie braucht uns wenig zu kümmern. Sicher ist, daß dieses
^) Correspondance de Descartes, Edition Paul Tannery et Ch.
Adam no LVII, 22. aofit 1634. t. L, p. 307.
40 Drittes Kapitel.
Gesetz, daß die beschreibende Theorie, deren Grundlage es
bildet, nicht aus der Erklärung der Lichterscheinungen, die
Descartes aufgestellt hat, entsprossen ist. An ihrer Entstehung
hatte die cartesianische Kosmologie keinen Anteil. Einzig die
Erfahrung, die Induktion und Generalisation haben sie ge-
schaffen.
Ja noch mehr. Niemals hat Descartes einen Versuch unter-
nommen, um das Brechungsgesetz mit seiner erklärenden
Theorie des Lichtes in Verbindung z!u bringen.
Es ist wohl wahr, daß er am Anfang der Dioptrik in be-
treff dieses Gesetzes mechanische Analogien aufstellt, daß er
die Änderung der Richtung des Strahles beim Übergang von
Luft in Wasser mit der Änderung der Bewegungsrichtung einer
heftig geschleuderten Kugel vergleicht, die von einem gewissen
Medium in ein anderes, weniger dichtes, übergeht Aber diese
mechanischen Vergleiche, die in bezug auf Strenge Anlaß zu
mancher Kritik geben würden, verketten die Theorie der
Brechimg weit eher mit der Emissionstheorie, einer Lehre,
in der ein Lichtstrahl mit einem Schwärm kleiner Projektile
verglichen wird, die heftig vom leuchtenden Körper ausgestoßen
werden. Diese Erklärung, die zur Zeit von Descartes von
Gassendi unterstutzt und später von Newton wieder auf-
genommen wurde, bildet keine Analogie zur cartesianischen
Lichttheorie. Sie ist unvereinbar mit ihr.
So werden die cartesianische Erklärung der Lichtersdiei-
nungen und die verschiedenen Brechungsgesetze einfach neben-
einander gestellt, es gibt kein Band, keine Durchdringung der-
selben. So fällt auch an dem Tage, an dem der dänische
Astronom Römer auf Grund des Studiums der Verfinsterungen
der Jupitermonde zeigt, daß das Licht sich mit einer endlichen
und meßbaren Geschwindigkeit im Raiune fortpflanzt, die
cartesianische Erklärung der Lichterscheinungen mit einem
Schlage. Aber sie reißt auch nicht den kleinsten Teil der
Lehre, die die Gesetzmäßigkeiten der Brechung beschreibt und
klassifiziert, mit sich; diese besteht weiter und bildet auch
heute noch den Hauptteil unserer elementaren Optik.
Wenn ein Lichtstrahl von Luft in gewisse kristallinische
Die beschreibende Theorie und die Geschichte der Physik. 41
Medien, wie z. B. in isländischen Doppelspat eintritt, teilt
er sich in zwei verschieden gebrochene Strahlen, deren einer,
der ordinäre Strahl, dem Gesetz von Descartes entspricht,
während der andere, der extraordinäre Strahl, durch dieses
Gesetz nicht gefaßt werden kann. Diese „wunderbare und
ungewöhnliche Brechung des spaltbaren Kristalls aus Island^'
wurde im Jahre 1657 von dem I>änen Erasmus Berthelsen oder
Bartolinus entdeckt und studiert^). Huygens suchte eine Theo-
rie aufzustellen, die gleichzeitig die Gesetze der einfachen
Brechung, die den Gegenstand der Arbeiten von Des-
cartes bildeten, sowie die Gesetze der Doppelbrechung um-
fassen sollte. Er hatte damit vollen Erfolg. Aus seinen geo-
metrischen Konstruktionen erhielt er für amorphe Medien und
kubische Kristalle einen einzigen gebrochenen Strahl, wie er
dem Gesetz von Descartes entspricht, während sich für nicht
kubische Kristalle nicht nur zwei gebrochene Strahlen,
sondern auch die Gesetze, denen diese zwei Strahlen unter-
liegen, vollständig ergaben. Diese Gesetze sind so kompliziert,
daß das auf seine eigenen Hilfsmitteln beschränkte Experi-
ment sie wohl nicht ergründet hätte. Nachdem aber die Theo-
rie eine Formel für sie aufgestellt, werden sie vom Experiment
auf das genaueste bestätigt.
Hat mm Huygens diese schöne und fruchtbare Theorie
aus den Prinzipien der Kosmologie abgeleitet, aus jenen „Be-
weisen der Mechanik", auf Grund deren nach ihm „die
wahre Philosophie die Ursache aller natürlichen Wirkungen
bereift"? Keineswegs. Die Betrachtung des Leeren, der
Atome, ihrer Härte und ihrer Bewegungen hat bei der Auf-
stellung dieser Beschreibung keine Rolle gespielt. EÄe Mittel,
durch die der große holländische Physiker die Prinzipien seiner
Klassifikation erlangt hat, waren ein Vergleich zwischen der
Fortpflanzung des Schalles und der des Lichtes, die Konsta-
tierung des Experimentes, daß einer der beiden gebrochenen
Strahlen dem Gesetz von EVescartes entspricht, während der
andere ihm nicht folgte und eine glückliche und kühne Hypo-
^) Erasmus Bartolinus. Experimenta cristalli Islandici dis-
diaclasttci, quibus mira et insolita refractio detegitur. Havniae, 1657.
42 Drittes Kapitel.
these über die Gestalt der Oberfläche einer optischen Welle
im Inneren der Kristalle.
Aber Huygens hat nicht nur nicht die Theorie der Doppel-
brechung aus den Prinzipien der atomistischen Physik ab-
geleitet, er hat auch keineswegs, nachdem diese Theorie ein-
mal gefunden war, versucht, sie an seine Prinzipien anzuglie-
dern. Er stellt sich zwar, um die kristallinischen Formen zu
erklären, vor, daß der Doppelspat und der Bergkristall aus
regelmäßigen Anordnungen sphäroidischer Moleküle bestehen,
indem er so die Ansicht von Haüy und Bravais vorbereitet,
er begnügt sich aber, nachdem er diese Annahme entwickelt
hat, zu schreiben A) „Ich will nur hinzufügen, daß diese kleinen
Sphäroide wohl zur Bildung der weiter oben angenommenen
sphäroiden Lichtwellen beitragen können. Beide sind in glei-
cher Weise orientiert und haben parallele Achsen." Auf diesen
kurzen Satz, in dem er den Kristallen eine entsprechende Ge-
stalt zuschreibt, beschränkt sich alles, was er zur Erklärung
der Gestalt der Wellenfläche des Lichtes unternommen hat.
So wird auch seine Theorie unversehrt bleiben, während
die verschiedenen gebrechlichen und morschen Erklärungen
der Lichterscheinungen aufeinanderfolgen, trotz des Zutrauens,
das diejenigen zu ihrer Lebensdauer hegten, die sie entworfen.
Unter dem Einfluß Newtons triumphiert die Erklärung auf
Grund der Annahme der Emission. Diese Erklärung ist der-
jenigen vollständig entgegengesetzt, die Huygens der Schöpfer
der Undulationstheorie von den Lichterscheinungen gab. Aus
dieser Erklärung im Verein mit einer den Prinzipien von Bos-
covich entsprechenden Anziehungslehre, die der große hollän-
dische Atomistiker für absurd gehalten hätte, leitet Laplace
eine Rechtfertigung der Huygensschen Konstruktionen ab.
Laplace erklärt nicht nur durch eine auf Anziehung ge-
gründete Physik die Theorie der einfachen und doppelten
Brechung, die durch einen Physiker entdeckt wurde, der ganz
^) Huygens: Tratte de la lumi^re, oü sont expliqu^es les
causes de ce qui luy arrive dans la r^flexion et dans la r^fraction
et particuli^rement, dans T^trange r^fraction du cristal d'Islande.
Edition W, Burckhardt, p. 71.
Die beschreibende Theorie und die Geschichte der Physik. 43
entgegengesetzte Anschauungen hegte, er leitet sie nicht nur
„aus diesen Prinzipien,^) für die man Newton zu Dank ver-
pflichtet ist, mit Hilfe deren alle Phänomene der Bewegung
des Lichtes durch eine beliebige Zahl von durchsichtigen Me-
dien und durch die Atmosphäre strengen Berechnungen unter-
worfen worden sind" ab, sondern er denkt sogar, daß durch
diese Deduktion ihre Sicherheit und Genauigkeit wachse. Ohne
Zweifel muß die Lösung der Probleme der Doppelbrechung,
die die Konstruktion von Huygens gibt, „als ein Resultat der
Erfahrung angesehen werden und vielleicht in die Reihe der
schönsten Entdeckungen dieses seltenen Genius aufgenommen
werden . . . Man braucht nicht erst abzuwägen, um sie unter
die sichersten und schönsten Resultate der Physik aufzu-
nehmen." Aber „bisher war dieses Gesetz nur ein Resultat
der Beobachtung, welches der Wirklichkeit innerhalb der Gren-
zen der Fehler, die auch den genauesten Versuchen anhaften,
nahe kam. Nunmehr kann es auf Grund der Einfachheit des
Anziehungsgesetzes, von dem es abhängt, als ein strenges Ge-
setz betrachtet werden." Laplace geht in dem Zutrauen zu
dem Wert der Erklärung, die er vorbringt, sogar so weit,
daß er behauptet, daß diese Erklärung allein die Unwahrschein-
lichkeit der Huygensschen Theorie beseitigen und sie klaren
Köpfen annehmbar machen kann, denn „dieses Gesetz hat
dasselbe Schicksal erlitten, wie die schönen Gesetze von Kepler,
die lange Zeit mißkannt wurden, da sie mit systematischen
Gedanken vereinigt waren, mit d^nen dieser große Mann
imglücklicherweise alle seine Werke erfüllt hat".
Im gleichen Augenblick, in dem Laplace mit solcher Ver-
achtung die Wellenlehre der Optik behandelt, gewinnt diese,
durch Young und Fresnel gefördert, die Oberhand über die
Emissionslehre. Aber dank Fresnel hat die Wellenlehre der
Optik eine einschneidende Änderung erfahren. Die Licht-
schwingung findet nicht mehr in der Richtung des Strahles,
sondern normal zu ihm statt. Die Analogie zwischen Schall
und Licht, die Huygens leitete, ist verschwunden. Nichtsdesto-
^) Laplace: Exposition du Systeme du monde 1. IV. c XVIII.:
De Tattraction mol6cuIaire.
44 Drittes Kapitel.
weniger führt auch die neue Erklärung die Physiker zur Akzep-
tierung der Konstruktion der gebrochenen Strahlen in einem
Kristall, wie sie Huygens erdacht.
Ja noch mehr. Indem die Huygenssche Lehre ihren er-
klärenden Teil änderte, bereicherte sie ihren beschreibenden.
Sie stellt nicht mehr bloß die Qesetze des Ganges der Strahlen,
sondern auch die Gesetze des Polarisationszustandes der-
selben dar.
Die Anhänger dieser Theorie wären nun recht gut in der
Lage, Laplace das verachtende Mitleid, das er ihnen gegenüber
zeigte, zu vei^gelten. Es wird schwer, ohne Lächeln die Sätze
zu lesen, die der große Mathematiker zur gleichen Zeit als
Fresnels Optik siegte, niederschrieb^). „Die Phänomene der
Ekoppelbrechung und der Aberration der Gestirne scheinen
mir dem System der Lichtemission, wenn schon nicht eine
vollkommene Sicherheit, so doch zum mindesten die äußerste
Wahrscheinlichkeit zu verleihen. CKese Phänomene sind auf
Grund der Annahme von Wellen in einem ätherartigen Flui-
dum unerklärlich. ENe eigentümliche Eigenschaft, daß ein
durch einen Kristall polarisierter Strahl sich beim Durchgang
durch einen zweiten parallelen Kristall nicht mehr teilt, zeigt
deutlich die verschiedenen Wirkungen desselben Kristalls auf
die verschiedenen Seiten eines Lichtteilchens an."
Die Theorie der Brechung, die Huygens aufgestellt hatte,
umfaßte nicht alle möglichen Fälle. Eine sehr große Gruppe
kristallisierter Körper, die zweiachsigen Kristalle, zeigen Er-
scheinungen, die nicht innerhalb ihres Rahmens untergebracht
werden können. Diesen Rahmen beabsichtigte Fresnel in der
Art zu erweitem, daß man in ihn nicht nur die Gesetze der
einfachen Brechung, Isowie die der einachsigen Doppelbrechung,
sondern auch die der zweiachsigen Doppelbrechung einordnen
könnte. Wie erreichte er dieses Ziel ? Suchte er eine Erklärung
des Wesens der Lichtfortpflanzung in Kristallen? Keineswegs.
Er erreichte es durch unmittelbare geometrische Erkenntnis,
in der keine Hypothese über die Natur des Lichtes oder über
') Laplace: Exposition du Systeme du monde. loc cit
Die beschreibende Theorie und die Geschichte der Physik. 45
die Konstitution der durchsichtigen Körper Raum hatte. Er
bemerkte, daß alle Wellenflächen, die Huygens in Betracht
zog, durch eine einfache geometrische Konstruktion aus einer
gewissen Fläche zweiter Ordnung abgeleitet werden können.
Diese Fläche ergab sich als Kugel für einfachbrechende Medien,
als Rotationsellipsoid für einachsige doppelbrechende Medien.
Er meinte nun, daß wenn man dieselbe Konstruktion auf ein
Ellipsoid mit drei verschiedenen Achsen anwenden würde, man
die Wellenfläche erhielte, die zweiachsigen Kristallen zukommt.
Diese kühne Intuition war vom glänzendsten Erfolg be-
gleitet. Die Fresnelsche Theorie war nicht nur im genauesten
Einklang mit allen experimentellen Bestimmungen, sondern
sie regte auch zur Forschung und Entdeckung unerwarteter
und paradoxer Tatsachen an, die zti suchen dem sich selbst
überlassenen Experimentator wohl nie eingefallen wäre.
Solche Tatsachen sind die beiden Arten der konischen
Refraktion. Der große Mathematiker Hamilton leitete aus
der Gestalt der Wellenfläche der zweiachsigen Kristalle die
Gesetze dieser wunderbaren Erscheinungen ab, um deren Auf-
findung der Physiker Lloyd sich sogleich bemühte und sie
tatsächlich auch entdeckte.
Die Theorie der zweiachsigen Doppelbrechung besitzt da-
her jene Fruchtbarkeit und Sehergabe, die wir als Kennzeichen
einer naturgemäßen Klassifikation betrachten. Und doch ist
sie nicht aus einem Erklärungsversuch hervorgegangen.
Damit soll nicht gesagt sein, daß Fresnel nicht versucht
hat, die Gestalt der Wellenfläche, die er erhalten, zu erklären.
Im Gegenteil erfüllten ihn diese Versuche sogar mit solcher
Leidenschaft, daß er die Methode, die ihn tatsächlich zu seiner
Entdeckung führte, gar nicht veröffentlichte. Diese Methode
wurde erst nach seinem Tode bekannt, als man endlich seine
erste Abhandlung^) über die Doppelbrechung dem Druck über-
gab. In den Schriften über die Doppelbrechung, die er zu
seinen Lebzeiten veröffentiichte, bemühte er sich ohne Unter-
*) Siehe l'Introduction aux oe|uvres d'Augustin Fresnel par
E. Verdet, art 11 et 12 (Oeuvres compl^tes d'Augustin Fresnel,,
i I., p. UCX et p. LXXII.)
46 Drittes Kapitel.
laß mit Hilfe von Hypothesen über die Eigenschaften des
Äthers, die Gesetze, die er entdeckt hatte, wiederaufzufinden,
„aber diese Hypothesen, auf denen er seine Prinzipien auf-
baute, halten keiner eingehenderen Prüfung stand".^) Die
Theorie von Fresnel erscheint wunderbar, solange sie sich
auf die Rolle einer naturgemäßen Klassifikation beschränkt,
sie wird unhaltbar, wenn sie sich als Erklärung gebärdet.
Ebenso steht es mit den meisten physikalischen Lehren.
Dauerhaft und fruchtbar ist die in ihnen aufgewendete logische
Arbeit, die die naturgemäße Klassifikation einer großen Zahl
von Tatsachen durch Ableitung aus wenigen Prinzipien be-
wirkt, unfruchtbar und vergänglich dagegen jene Arbeit, die
auf die Erklärung dieser Prinzipien aufgewendet wurde, um
sie mit Annahmen über die Realitäten, die sich unter den
wahrnehmbaren Erscheinungen verbergen, zu verknüpfen.
Man hat sehr oft den Fortschritt der Wissenschaft mit der
Meeresflut verglichen. In der Anwendung auf die Entwick-
lung der physikalischen Theorien scheint uns dieser Vergleich
besonders richtig und kann bis in seine Details durchgeführt
werden.
Wer nur einen kurzen Blick auf die Wellen, die einen
Strand zu erobern suchen, wirft, bemerkt nicht das Ansteigen
der Flut. Er sieht, wie eine Woge sich erhebt, näher kommt,
sich schäumend bricht, er sieht wie sie einen schmalen Strei-
fen Sand bedeckt und sich dann wieder zurückzieht, wobei der
Boden, der erobert schien, wieder trocken wird. Eine neue
Woge folgt ihr, welche manchmal ein wenig weiter geht als
die vorherige, manchmal dagegen nicht einmal jenen Kiesel
erreicht, den diese benetzt hatte. Aber unter dieser ober-
flächlichen Hin- und Herbewegung entsteht eine andere, tie-
fergehende, langsamere, dem kurzen Beobachter unmerkliche
Bewegung, die stets im selben Sinne fortschreitet, der zufolge
das Meer unaufhörlich steigt. Das Hin- und Hergehen der
Wogen ist das treue Bild der Erklärungsversuche, die nur
entstehen, um zu vergehen. Durch sie verdeckt vollzieht sich
») E. Verdet: loc cit p. 84.
Die beschreibende Theorie und die Geschichte der Physik. 47
der langsame und stetige Fortschritt der naturgemäßen Klassi-
fikation, deren Flut ohne Unterlaß neue Gebiete erobert und
die den Lehren der Physik die Kontinuität der Überlieferung
sichert.
§ Z — Die Meinungen der Physiker über das Wesen
der physikalischen Theorien.
Einer der Denker, die am lebhaftesten daffir eingetreten
sind, daß die physikalischen Theorien als Beschreibungen und
nicht als Erklärungen betrachtet werden — Herr Ernst Mach —
hat folgendes geschrieben:^)
„Die Vorstellung von einer Ökonomie des Denkens ent-
wickelte sich mir durch Lehrerfahrungen, durch die Praxis des
Unterrichtes. Ich hatte dieselbe schon, als ich 1861 meine Vor-
lesungen als Privatdozent begann, und glaubte damals im all-
einigen Besitz derselben zu sein, was man wohl verzeihlich finden
wird. Ich bin jetzt im Gegenteil davon überzeugt, daß wenigstens
eine Ahnung dieser Einsicht stets ein Gemeingut aller Forscher
gewesen sein muß, welche über das Forschen als solches sich
überhaupt Gedanken gemacht haben.''
In der Tat haben bereits im Altertum gewisse Philosophen
sehr richtig erkannt, daß die physikalischen Theorien keines-
w^s Erklärungen, daß ihre Hypothesen keineswegs Urteile
über das Wesen der Dinge, sondern nur Voraussetzungen
seien, die bestimmt sind, den Erfahrungstatsachen entsprechende
Folgerungen zu ergeben.
Die Griechen kannten eigentlich nur eine einzige physi-
kalische Theorie, diejenige der Bewegungen der Himmelskörper.
Sie haben daher anläßlich der Behandlung der kosmographischen
Systeme ihre Gedanken über die physikalische Theorie ge-
äußert und entwickelt. Was sie sonst an anderen Theorien,
die heute zur Physik gehören, bis zu einem gewissen Grad der
Vollkommenheit gebracht haben, nämlich die Theorie des Gleich-
gewichtes am Hebel und die Hydrostatik, gründete sich auf
Prinzipien, deren Natur nicht Gegenstand des Zweifels sein
^) E. Mach: Die Mechanik etc, V. Aufl. 1904, pag. 537. [In der
franz. Ausg. p. 360.]
48 I^ittes Kapitel.
konnte. Die Fragen des Archimedes waren offensichtlich Sätze
erfahrungsmäßigen Ursprunges, die die Oeneralisation umgeformt
hatte. Auf Grund der Obereinstimmung ihrer Folgerungen mit
den Tatsachen wurden diese zusammengefaßt und geordnet,
nicht aber erklärt.
Die Griechen schieden in der Diskussion über eine Theorie
der Bewegung der Gestirne sehr wohl das, was den Physiker
— wir wurden heute sagen den Metaphysiker — betrifft, von
dem, was den Astronomen angeht Der Physiker soll auf Grund
der Beweise der Kosmologie entscheiden, welche wirklichen
Bewegungen die Gestirne haben. Der Astronom dagegen braucht
sich nicht zu kümmern, ob die Bewegungen, die er erdenkt,
wirklich oder fiktiv sind. Seine Aufgabe ist, möglichst genau
die relativen Lagenänderungen der Gestirne darzustellen.^)
In seinen schönen Untersuchungen über die kosmographi-
sehen Systeme der Griechen hat Schiaparelli eine sehr bemerkens-
werte Stelle, die diese Unterscheidung zwischen Astronomie und
Physik betrifft, ans Licht gezogen. Diese Stelle, die von Posi-
donius herrührt, von Geminus resümiert oder zitiert wurde, und
uns durch Simplicius erhalten blieb, ist folgende:
„Es kommt der Astronomie nicht zu, in absoluter Weise zu
wissen, was in der Natur fest ist und was sich bew^ Sie
prüft aber die Hjrpothesen, die das Unbewegliche und das Be-
wegliche betreffen, um diejenigen zu finden, die den Himmels-
erscheinungen entsprechen. W^en der Prinzipien muß man
sich an den Physiker wenden."
Diese Gedanken, die die reine perepatetische Lehre aus-
drücken, haben manche Stelle in den Schriften der Astronomen
des Altertums beeinflußt. Die Scholastik hat sie förmlich über-
nommen. Auf Grund der Physik, d. h. der Kosmologie, wird
von den astronomischen Erscheinungen Rechenschaft g^eben,
^) Wir bedienen uns einiger der Aufschlüsse, die sich aus einem sehr
wichtigen Artikel des Herrn P. Mansion: Note sur le caract^re gio»
m^trique de Tancienneastronomie (AbhandlungenzurOeschichte
der Mathematik, IX. Leipzig, B. O. Teubner) ergeben. Siehe auch P,
Mansion: Sur les principes fondamentaux de la g^om^trie, de la
m^canique et de Tastronomie. Paris, Oauthier-Villars, 1903.
Die beschreibende Theorie und die Geschichte der Physik. 49
indem auf die eigentlichen Ursachen rekurriert wird, während
die Astronomie nur die Beobachtung der Phänomene und die
Schlüsse, die die Mathematik ermöglicht, behandelt: „Die Astro-
nomie," sagt der heilige Thomas, indem er die Physik des
Aristoteles kommentiert, „zieht Schlüsse, die denen der Physik
gleich sind. Aber da sie nicht rein physikalisch ist, gelangt sie
zu ihnen auf anderen Wegen. So demonstriert der Physiker, daß
die Erde kugelförmig sei auf Orund eines physikalischen Ver-
fahrens, indem er z. B. darauf hinweist, daß ihre Teile sich
nach allen Seiten und gleichmäßig gegen ein Zentrum erstrecken,
der Astronom hingegen auf Grund der Gestalt des Mondes bei
den Finsternissen oder auch auf Grund der Tatsachen, daß die
Sterne nicht von allen Teilen der Erde in gleicher Weise ge-
sehen werden."
Auf Grund dieser Auffassung der Rolle [der Astronomie
drückt sich der heilige Thomas in seinem Kommentar des
aristotelischen De coelo folgendermaßen über die Planeten-
bew^^ng aus: „Die Astronomen haben sich verschiedentlich
bemüht, diese Bewegung zu erklären. Aber es ist nicht nötig,
daß die Annahmen, die sie ersonnen haben, wahr seien, denn
es könnten vielleicht die Erscheinungen, die die Sterne aufweisen,
auch durch irgend eine andere den Menschen noch unbekannte
Art der Bewegung gerechtfertigt werden. Aristoteles verwendet
indessen solche die Natur der Bewegung betreffende Annahmen,
wie wenn sie wahr wären."
In einer Stelle der Summa theologiae (1. 32) weist der
heilige Thomas noch klarer darauf hin, daß die physikalische
Methode außerstande sei, in den Besitz einer bestimmten Er-
klärung zu kommen: „Man kann," sagt er, „nach zwei ver-
schiedenen Arten von einer Sache Rechenschaft geben. Die erste
besteht darin, daß man in zureichender Weise ein gewisses Prinzip
beweist So gibt man in der Kosmologie (Scientia naturalis)
einen zureichenden Grund dafür an, um zu beweisen, daß die
Bew^ung des Himmels gleichförmig sei. Nach der zweiten
Art führt man keinen Grund an, der in zureichender Weise das
Prinzip beweisen würde, sondern man zeigt, daß, wenn das
Prinzip vorausgesetzt wird, seine Konsequenzen mit den Tat-
Dahem, Physikalische Thtorie. 4
50 Drittes Kapitel
Sachen in Übereinstimmung sind. So verwendet man in der
Astronomie die Hypothese der Epizykeln und exzentrischen
Kreise, weil auf Orund dieser Hypothese die wahrnehmbaren
Erscheinungen der Himmelsbewegungen sicher dargestellt werden
können. Dies ist aber kein hinreichender Beweisgrund, weil sie
vielleicht auch auf Grund einer anderen Hypothese ebenso
sicher dargestellt werden könnten.^
Diese Meinung Ober die Rolle und das Wesen der astro-
nomischen Hypothesen kann sehr leicht mit vielen Stellen bei
Kopemikus und bei dessen Kommentator Rheticus in Überein-
stimmung gebracht werden. Kopemikus fflhrt bekanntlich in
seinem Commentariolus de hypothesibus motuum coe-
lestium a se constitutis bloS die Unbeweglichkeit der Sonne
und die Beweglichkeit der Erde als Postulate ein, die er zu-
gestanden zu erhalten wünscht: Si nobis aliquae petitiones...
conceduntur. Es ist allerdings richtig, daß an gewissen Stellen
seiner Schrift „De revolutionibus coelestibus libri sex" er
sich in betreff der Realität seiner Hypothesen zu einer weniger
reservierten Meinung bekennt, als die Qberiieferte Scholastik,
und als sie im Commentariolus auseinandergesetzt ist
Diese letztere Lehre ist in der berühmten Einleitung, die
Oslander zu dem Werke: De revolutionibus coelestibus
libri sex schrieb, in aller Form ausgesprochen. Oslander
drückt sich folgendermaßen aus: Neque enim necesse est
eas hypotheses esse veras, imo, ne verisimiles quidem;
sed sufficit hoc unum, si calculum observationibus
congruentem exhibeant, und schließt seine Einleitung mit
folgenden Worten: Neque quisquam, quod ad hypotheses
attinet, quicquam certi ab astronomia expectet, cum
nihil tale praestare queai
Eine solche Lehre Ober die astronomischen Hypothesen
empörte Kepler^): „Niemals,** sagte er in seiner ersten Schrift •),
^) Im Jahre 1597 veröffentlichte Nicolas Raimarus Ursus in Prag
eine Schrift, betitelt: De hypothesibus astronomicis, in der er die
Meinungen Osianders überschätzte und unterstützte. Drei Jahre spater, also
1600 oder 1601, antwortet Kepler mit folgender Schrift: Joannis Kepler!
apologia Tychonis contra Nicolaum Raymarum Ursum. Diese Schrift,
Die beschreibende Theorie und die Geschichte der Physik. 51
„könnte ich meine Zustimmung zu der Meinung der Leute
geben, die als Vorbild irgendeine beiläufige Darlegung anfuhren,
in der auf Grund falscher Voraussetzungen ein strenger Ver-
nunftschluB zu irgendeiner richtigen Folgerung führt, und die
gestützt auf dieses Beispiel sich um den Beweis bemühen, daß
die von Kopemikus angenommenen Hypothesen falsch sein
könnten, und daß dennoch wirkliche nahvofitva aus ihnen folgen
können, wie aus ihren eigenen Prinzipien Ich zögere nicht
zu erklären, daß alles das, was Kopemikus a posteriori zu-
sammengestellt und durch die Beobachtung bestätigt hat, daß
alles das, ohne irgendein Hindernis a priori mit Hilfe der
geometrischen Axiome aufgezeigt werden kann, und sogar in
solcher Vollkommenheit, daß Aristoteles, wenn er noch leben
würde, freudig seine Zustimmung bekennen würde/'
Dieses enthusiastische und ein wenig naive Vertrauen zu
der grenzenlosen Macht der physikalischen Methode nimmt bei
den großen Erfindern, die am Anfang des XVII. Jahrhunderts auf-
traten, ab. Galilei unterscheidet sehr wohl zwischen dem Stand-
punkt der Astronomie, deren Hypothesen keine andere Be-
stätigung als die Übereinstimmung mit der Erfahrung finden
können, und dem Standpunkt der Naturphilosophie, die die
Realitäten erfaßt Er behauptet, indem er die Lehre von der
Bewegung der Erde unterstützt, nur als Astronom zu reden und
keinesw^s seine Annahmen als Wahrheiten auszugeben. Aber
diese Unterscheidungen sind bei ihm nur Ausflüchte, um der
Zensur der Kirche zu entgehen. Seine Richter haben sie nicht
als aufrichtige Meinungen betrachtet, und sie hätten wohl recht
geringen Scharfblick bewiesen, wenn sie es getan hätten. Wenn
sie angenommen hätten, daß Galilei aufrichtig als Astronom
und nicht als Naturphilosoph — resp. als Physiker gemäß
die im Manuskript und sehr unvollständig blieb, wurde erst 1858 durch
Frisch veröffentlicht (Joannis Kepleri astronomi Opera omnia.
Band I, p. 215. Frankfurt a. M und Erlangen.) Dieses Werk enthält leb-
hafte Zurüdcweisungen der Gedanken Oslanders.
*) Prodromus dissertationum cosmographicarum continens
mysterium cosmographicum . . . a M. Joanne Keplero Wirtem-
bergio, Tubingae, Georgius Oruppenbachius. MDXCVI; — Joannis
Kepleri astronomi Opera omnia. Band I, p. 112—153.
4^
52 Drittes Kapitel.
ihrer Ausdrucks weise — spreche, wQrden sie seine Theorien
als System angesehen haben , das die Himmelsbew^^ngen
beschreibti und nicht als Lehre Ober die wahre Natur der
astronomischen Phänomene, sie hätten somit seine Ideen nicht
der Zensur unterworfen. Wir sind dessen durch einen Briefe)
sicher, den der Hauptgegner Galileis, der Kardinal Bellarmin
am 12. April 1615 an Foscarini schrieb: „Ew. Vaterschaft und
Herr Galilei werden weise handeln, wenn sie sich darauf be-
schränken ex suppositione zu sprechen und nicht absolut,
wie es, wie ich glaube, Kopemikus stets getan. In der Tat
läßt sich sehr wohl sagen, daß man von allen Erscheinungen
viel bessere Rechenschaft gibt, indem man die Erde als beweglich
und die Sonne als unbeweglich annimmt, als wenn man exzen-
trische Kreise und Epizykeln verwendet. Das stellt keine Gefahr
dar und genfigt dem Mathematiker." An dieser Stelle verwendet
Bellarmin die den Scholastikern geläufige Unterscheidung
zwischen der physikalischen und der metaphysischen Methode,
die fflr Galilei allerdings nur eine Ausflucht war.
Descartes hat sicher am meisten dazu beigetragen, die
Scheidewand zwischen der physikalischen und der metaphysi-
schen Methode zu durchbrechen, und deren Gebiete, die die
peripatetische Philosophie reinlich geschieden hatte, zu ver-
einigen.
Die Methode von Descartes zieht die Prinzipien aller unserer
Erkenntnisse in Zweifel und setzt sie diesem methodischen
Zweifel bis zu dem Augenblicke aus, in dem er deren Recht-
mäßigkeit durch eine lange Kette von Deduktionen, die mit dem
berühmten Cogito, ergo sum beginnt, erweisen kann. Es
gibt keinen größeren Gegensatz, als den zwischen einer der-
artigen Methode und der peripatetischen Auffassung. Nach
dieser beruht eine Wissenschaft wie die Physik auf selbstver-
ständlichen Prinzipien, deren Wesen die Metaphysik zwar er-
forschen, deren Sicherheit sie aber nicht zu erhöhen vermag.
Der erste physikalische Satz, den Descartes in Befolgung
seiner Methode aufstellt*), erfaßt und erläutert das eigentliche
^) Orisar, Oalilei-Studien, Beilage IX. Regensbuiig 1882.
*) Descartes: Principia Philosophiae, pars. II, 4.
Die beschreibende Theorie und die Geschichte der Physik. 53
Wesen der Materie. ,,Die Natur des Körpers besteht nur in
seiner Substanz, die nach Länge, Breite und Tiefe ausgedehnt
ist'' Ist so das Wesen der Materie erkannt, so ist es möghch,
nach geometrischem Verfahren aus ihm die Erklärung aller
Naturerscheinungen abzuleiten. „Ich lasse in der Physik keine
Prinzipien zu'', sagt Descartes, indem er die Methode, die er bei
der Behandlung dieser Wissenschaft einschlägt, resümiert, „die
nicht auch in der Mathematik zulässig sind, um alles, was ich ab-
leite, durch Beweise stützen zu können. Diese Prinzipien genfigen,
um alle Naturphänomene mit ihrer Hilfe erklären zu können."
Die kfihne Formel der cartesianischen Kosmologie ist fol-
gende: Der Mensch kennt das eigentliche Wesen der Materie,
das in der Ausdehnung besteht, er kann daher auf logischem
W^e alle Eigenschaften der Materie aus ihm ableiten. Die
Unterscheidung zwischen der Physik, die die Erscheinungen
und deren Oesetze studiert und der Metaphysik, die das Wesen
der Materie, insofern es Ursache der Erscheinungen und Grund
des Bestehens der Gesetze ist, zu erkennen sucht, wird daher
grundlos. Der Verstand geht nicht von der Kenntnis der Er-
scheinung aus, um sich darauf zur Kenntnis der Materie zu
erheben, sondern er kennt zuerst die eigentliche Natur der
Materie, aus der sich die Erklärung der Erscheinungen ergibt.
Descartes treibt die Konsequenzen dieses hochfahrenden
Prinzipes bis zur Spitze. Er begnügt sich nicht mit der Ver-
sicherung, daß alle Naturerscheinungen aus dem einzigen Satze:
„Das Wesen der Materie ist die Ausdehnung" abgeleitet werden
können, sondern er versucht diese Ableitung im einzelnen
durchzufahren. Er versucht die Welt, ausgehend von dieser
Definition, aus Gestalt und Bewegung aufzubauen. Und als
sein Werk vollendet war, hielt er inne, um es zu betrachten
und erklärte, daß es gut sei: „Es gibt keine Erscheinung in der
Natur, die nicht in dem, was in dieser Abhandlung erklärt
wurde, enthalten wäre." So lautet der Titel eines der letzten
Paragraphen^) der Prinzipien der Philosophie.
Dennoch scheint Descartes einen Augenblick fiber die
KQhnheit seiner kosmologischen Lehre erschreckt gewesen zu
^) Descartes: Principia Philosophiae, pars. IV, 199.
54 Drittes Kapitel.
sein und den Versuch unternommen zu haben, sie der peri-
patetischen näherzubringen. Dies geht aus einem der Ab-
schnitte^) des Werkes über die Prinzipien hervor. Wir wollen
diesen Abschnitt vollständig zitieren, da er den Gegenstand, der
uns beschäftigt, nahe berührt:
„Wenn man auch vielleicht auf diese Weise erkennt, wie
alle Naturkörper haben entstehen können, so darf man daraus
doch nicht folgern, daB sie wirklich so gemacht worden sind.
Denn derselbe Künstler kann zwei Uhren fertigen, .die beide
die Stunden gleich gut anzeigen und sich äuBeriich ganz gleichen,
aber innerlich doch aus sehr verschiedenen Verbindungen der
Räder bestehen. So hat unzweifelhaft auch der höchste Werk-
meister alles Sichtbare auf mehrere verschiedene Weisen hervor-
bringen können, ohne daß es dem menschlichen Verstände
möglich wäre zu erkennen, welches dieser verschiedenen Mittel
er tatsächlich angewendet hat Ich gebe diese Wahrheit bereit-
willigst zu und bin zufrieden, wenn nur das, was ich geschrieben
habe, derart ist, daß es mit allen Erscheinungen der Natur ge-
nau übereinstimmt. Dies wird auch für die Zwecke des Lebens
genügen, weil sowohl die Medizin und Mechanik, wie alle
anderen Künste, welche der Hilfe der Physik bedürfen, nur das
Sichtbare und deshalb zu den Naturerscheinungen Gehörige zu
ihrem Ziel haben. Dies kann man aber in gleicher Weise bei
Betrachtung der Folgen irgendwelcher ersonnenen Ursachen er-
reichen, ob sie nun falsch oder richtig, wenn diese Folgen
nur denen ähnlich sind, die man an den sichtbaren Erschei-
nungen erkennt Und damit niemand glaube, daß Aristoteles
mehr geleistet habe oder habe leisten wollen, so erklärt derselbe
im I. Buch seiner Meteorologie im Eingang des 7. Kapitels
ausdrücklich, daß er über das den Sinnen nicht Wahrnehmbare
glaube, genügende Gründe und Beweise beizubringen, sobald
er nur zeige, daß das Wahrnehmbare nach seinen Voraus-
setzungen so hätte entstehen können.^'
Eine derartige Konzession an die Lehren der Schule steht
zu der eigentlichen Methode Descartes in deutlichem Wider-
spruch. Sie ist auch nur eine der Vorsichtsmaßregeln, die der,
^) Descartes: Ibid., pars. IV, 204.
Die beschreibende Theorie und die Geschichte der Physik. 55
wie man weiß, durch die Verurteilung Galileis heftig err^e
Philosoph, gegen die Zensur der Inquisition getroffen. Schließ-
lich scheint aber Descartes selbst gefürchtet zu haben, daß man
seine kluge Vorsicht zu ernst nehme und ließ deshalb dem
zitierten Abschnitt zwei andere folgen, die folgende Titel tragen:
„Man hat wenigstens die moralische Sicherheit, daß alle Dinge
dieser Welt so sind, wie sie hier als möglich aufgezeigt wurden.'^
— „Und man hat sogar eine mehr als moralische Sicherheit''
Die Worte: moralische Sicherheit genügen in der Tat
nicht, um den unbegrenzten Glauben, den Descartes zu seiner
Methode hegte, auszudrucken. Er glaubte nicht nur eine be-
friedigende Erklärung aller Naturerscheinungen gegeben zu
haben, sondern er dachte auch, daß sie die einzig mögliche
sd, und daß er sie mathematisch beweisen könne. „Ober die
Physik," schrieb^) er am 11. März 1640 an Mersenne, „würde
ich nichts zu wissen glauben, wenn ich nur zu sagen wußte,
wie die Dinge sein können, nicht aber beweisen, daß sie nicht
anders sein können. Da ich alles auf Gesetze der Mathematik
zurQckgeffihrt habe, ist dies auch möglich, und ich glaube dies
an allem, was ich kenne, durchführen zu können, obwohl ich
es weder in meinen Essais, in denen ich nicht meine Prin-
zipien auseinandersetzen wollte, getan, noch bis jetzt einen Anlaß
sehe, der mich veriocken würde, es in Zukunft zu tun."
Dieses hochmütige Vertrauen zu der unbegrenzten Macht
der metaphysischen Methode war wohl geeignet, auf den Lippen
Päscals ein verächtliches Lächeln hervorzurufen. Welche
Tollheit ist es, ganz abgesehen von der Zuveriässigkeit der
Annahme, daß die Materie nur in der Ausdehnung nach Länge,
Breite und Tiefe besteht, aus ihr die Erklärung der Welt im
einzelnen ableiten zu wollen. „Man kann im großen und ganzen
sagen: Dies vollzieht sich durch Gestalt und Bewegung, denn
dies ist wahr. Wenn man aber sagen will, in welcher Art sich
*) Descartes: Oeuvres, Edition P.^Tannery et Ch. Adam, Corres-
pondance t III, p. 39.
*) Pascal: Pens6es, 6dition Havet, art24. Diesem Gedanken sind
folgende Worte vorangestellt: „Geschrieben gegen diejenigen, die die Wissen-
schaften zu sehr vertiefen. Descartes."
56 Drittes Kapitel.
dies vollzieht, und wenn man das Weltgebäude zusammensetzen
will, so ist dies lächerlich, denn es ist unnutz, ungewiß und
schwierig."
Der berühmte Nacheiferer Pascals, Christiaan Huygens, zeigt
nicht dieselbe Strenge gegenüber der Methode, die aus kosmo-
logischen Prinzipien die Erklärung der Naturerscheinungen ab-
leiten will. Sicherlich scheinen ihm die Erklärungen von Des-
cartes in mehr als einem Punkte unhaltbar, aber nur weil seine
Kosmologie, die die Materie auf die Ausdehnung zurückführt,
nicht die gesunde Naturphilosophie ist. Diese besteht in der
Physik der Atomisten. Man kann hoffen, aus dieser die Er-
klärung der Naturerscheinungen, wenn auch mit großen Schwierig-
keiten, abzuleiten.
„Herr Descartes^) hat besser als irgendeiner seiner Vor-
gänger erkannt, daß man in der Physik nur so weit Nützliches
begreifen wird, als man sie auf Prinzipien zurückführen kann,
die nicht über den Bereich unseres Verstandes hinausgehen.
Solche sind diejenigen, die von qualitätslosen Körpern und
deren Bewegungen abhängen. Da aber die größte Schwierig-
keit darin besteht, aufzuzeigen, in welcher Weise soviele
verschiedene Dinge durch diese wenigen Prinzipien ins
Werk gesetzt werden, ist es nicht merkwürdig, daß er in
mehreren speziellen Fragen, deren Prüfung er beabsichtigte,
keinen Erfolg hatte. Zu diesen gehört unter anderen, nach
meiner Meinung, das Problem der Schwere. Man wird darüber
auf Orund der Bemerkungen, die ich an einigen Stellen über
das mache, was er in dieser Beziehung geschrieben hat, urteilen
können. Ich hätte deren noch mehrere hinzuzufügen vermocht
Trotzdem bekenne ich, daß seine Versuche und seine Ansichten,
obgleich sie falsch sind, mir den Weg, zu dem, was Ich in der
gleichen Sache gefunden, geebnet haben."
„Ich stelle dies nicht als über allen Zweifel erhaben hin,
noch als etwas, wogegen man keine Einwände machen könnte.
Es ist zu schwierig, bei Unternehmungen dieser Art so weit zu
kommen. Ich glaube aber, daß, wenn die Orundannahme, auf
^) Christiaan Huygens: Discours de la cause de la Pesanteur.
Leyde 1690.
Die beschreibende Theorie uud die Geschichte der Physik. 57
die ich mich stütze, nicht die richtige ist, wenig Hoffnung vor-
handen bleibt, daß man sie innerhalb der Grenzen der wahren
und gesunden Philosophie finden wird.^
In der Zeit zwischen dem Augenblick, in dem Huygens
sdnen Discours de la cause de la Pesanteur der Akademie
der Wissenschaften in Paris voriegte und demjenigen, in dem
er ihn drucken ließ, erschien das unsterbliche Werk Newtons:
Philosophiae naturalis principiamathematica. Mit diesem
Werk, das die Mechanik des Himmels umbildete, traten auch
neue Ansichten über das Wesen der physikalischen Theorien
ins Leben, die denen von Descartes und Huygens vollständig
«ntg^engesetzt waren.
Was Newton über den Bau der physikalischen Theorien denkt,
sagt er an mehreren Stellen seiner Werke mit aller Klarheit
Das aufmerksame Studium der Erscheinungen und ihrer
Gesetze ermöglicht dem Physiker auf Grund der ihm eigentüm-
lichen induktiven Methode, einige sehr allgemeine Prinzipien zu
entdecken, aus denen alle Erfahrungstatsachen abgeleitet werden
können. In dieser Art sind alle Himmelserscheinungen in dem
Prinzip der allgemeinen Gravitation kondensiert.
Eine derartige kondensierte Beschreibung ist keine Erklärung.
Die gegenseitige Anziehung, die die Mechanik des Himmels
zwischen zwei beliebigen Teilen der Materie annimmt, ermöglicht
es, alle Himmelsbewegungen der Rechnung zu unterwerfen,
aber die eigentliche Ursache dieser Anziehung wird dadurch
nicht bloßgelegt. Muß man in ihr eine grundlegende und un-
auflösbare Eigenschaft der Materie sehen? Muß man sie, was
Newton in gewissen Epochen seines Lebens für wahrscheinlich
hielt, als Wirkung der Stöße eines besonderen Äthers betrachten?
Schwierige Fragen, deren Lösung höchstens in der Zukunft
erhalten werden kann! Diese Untersuchung ist aber auf jeden
Fall Aufgabe des Philosophen und nicht des Physikers. Was
deren Ergebnis auch sein möge, die vom Physiker aufgestellte
beschreibende Theorie wird ihren vollen Wert behalten.
Die Lehre, die das Scholium generale, das den Schluß
des Werkes über die Philosophiae naturalis principia
bildet, in wenig Worten formuliert, ist folgende:
58 Drittes Kapitel.
,,Bis hierher habe ich die Erscheinungen, die der Himmel
und unsere Meere aufweisen, auf Orund der Schwerkraft dar-
gestellt, aber ich habe noch nicht die Ursache dieser Schwere
ang^eben. Sicherlich geht diese Kraft aus einer Ursache her-
vor, die bis ins Zentrum der Sonne und der Planeten dringt,
ohne daß ihre Stärke vermindert wOrde. Sie betätigt sich nicht
proportional zur Oberfläche der festen Teilchen, auf die sie
ihre Wirkung ausübt, wie die gewöhnlichen mechanischen Ur-
sachen, sondern proportional zu deren Volumen. Ihre Wirkung
erstreckt sich nach allen Richtungen in riesige Entfernungen,
wobei sie stets in umgekehrtem Verhältnis des Quadrates der
Entfernung abnimmt. Die Schwere gegen die Sonne ist aus
den verschiedenen Schwerkräften, die auf die einzelnen kleinen
Teilchen der Sonne wirken, zusammengesetzt und sie nimmt
bei Entfernung von der Sonne bis zur Bahn des Satums, wie
es die Unveränderlichkeit der Aphelien der Planeten zeigt, und bis
zu den äußersten Aphelien der Kometen, wenn überhaupt diese
Aphelien unveränderiich sind, im quadratischen Verhältnis des Ab-
standes ab. Aber bis jetzt habe ich aus den Erscheinungen
den Orund dieser Eigenschaften der Schwere nicht ableiten
können, und Hypothesen mache ich nicht Denn alles, was
nicht aus den Erscheinungen abgeleitet wird, muß als Hypo-
these bezeichnet werden. Für Hypothesen, ob sie nun meta-
physisch oder physikalisch seien, ob sie verborgene oder
mechanische Ursachen zu Hilfe nehmen, ist kein Platz in der
Erfahrungs Wissenschaft (Philosophia experimentalis). In
dieser Wissenschaft werden die Lehrsätze aus den Erscheinungen
abgeleitet und durch Induktion generalisiert. In dieser Art hat
man die Undurchdringlichkeit, die Beweglichkeit, die lebendige
Kraft der Körper, sowie die Oesetze der Bew^ungen und der
Schwere erkannt. Es genügt, daß diese Schwere wirklich existiert,
daß sie gemäß den Oesetzen, die wir dargelegt haben, wirkt
und allen Bewegungen der Himmelskörper und unseres Meeres
entspricht."
Später spricht Newton — in der berühmten XXXI. Frage,
die die zweite Ausgabe seiner Optik abschließt — wieder seine
Meinung über die physikalischen Theorien mit aller Schärfe
Die beschreibende Theorie und die Geschichte der Physik. 5Q
aus. Er bezeichnet die ökonomische Kondensation als deren
Ziel: „Wenn man uns sagt, daß jede Art von Dingen mit einer
besonderen geheimen Eigenschaft begabt sei, durch die sie
wirkt und sichtbare Wirkungen hervorbringt, so ist damit gar
nichts gesagt. Wenn man aber zwei oder drei allgemeine
Prinzipien der Bewegung aus den Erscheinungen ableiten und
hernach uns zeigen wurde, wie die Eigenschaften und
Wirkungen aller körperiichen Dinge sich aus diesen offen-
kundigen Prinzipien ergeben, so wurde dies einen sehr großen
Fortschritt in der Philosophie bedeuten, wenn auch die Ursachen
dieser Prinzipien noch nicht entdeckt wären. Darum zögere
ich nicht die Prinzipien der Bewegung aufzustellen, während ich
die Forschung nach ihren Ursachen vollständig beiseite lasse.^
Diejenigen, welche die hochmütige Zuversicht der Cartesianer
und Atomisten teilten, konnten nicht dulden, daß man den An-
sprüchen der theoretischen Physik so bescheidene Grenzen
setze. Die Beschränkung auf die mathematische Darstellung
der Erscheinungen hieß nach ihrer Meinung in der Erkenntnis
der Natur nicht vordringen. Wer sich mit einem so nichtigen
Fortschritt zufrieden gab, verdiente nichts besseres als mit
Sarkasmus behandelt zu werden.
„Ich glaube, daß es nicht unangebracht sei,'' sagt ein Car-
tesianer^), „bevor von den aufgestellten Prinzipien Gebrauch
gemacht wird, eine Prüfung derjenigen vorzunehmen, die Herr
Newton als Grundlage seines Systems verwendet Dieser neue
Philosoph, der durch das außerordentliche Wissen, das er in
der Geometrie erworben, sich bereits berühmt gemacht hat,
erduldete es nur schwer, daß eine der seinigen fremde Nation
auf einen Besitz pochen sollte, auf Grund dessen sie die anderen
lehren und ihnen als Vorbild dienen konnte. Aufgestachelt
durch einen edlen Wetteifer und geleitet von der Oberi^enheit
seines Genius dachte er nur mehr daran, sein Vaterland aus
der Not, in der er es zu sehen glaubte, zu befreien. Es sollte in
Zukunft nicht mehr nötig haben, bei uns die Kunst zu entlehnen.
^) De Oamaches: Principes g6n6raux de la Nature appliqu^s
au m^canisnie astronomique et compar^s aux principes de la
Philosophie de M. Newton. Paris 1740. p. 67.
60 Drittes Kapitel.
wie die Vorgänge in der Natur geklärt und wie sie in ihren
Wirkungen verfolgt werden können. Das war aber noch nicht
genug für ihn. Als Feind jedes Zwanges und im Oefühl, daß
die Physik ihn ohne Unterlaß stören würde, verbannte er sie
aus der Philosophie. Aus Furcht, daß er manchmal gezwungen
sein würde, ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen, bemühte er sich,
die innersten Ursachen jeder einzelnen Erscheinung in Grund-
gesetzen festzuhalten. Dadurch war jede Schwierigkeit beseitigt.
Seine Arbeit betraf nur mehr leicht behandelbare Gegenstände,
die er seinen Rechnungen unterwerfen konnte. Ein Phänomen,
das mathematisch analysiert war, betrachtete er als erklärt. So
hatte dieser berühmte Rivale des Herrn Descartes bald die
seltene Befriedigung, als großer Philosoph betrachtet zu werden,
und zwar einzig und allein deshalb, weil er ein großer Mathe-
matiker war."
„ . . . Ich komme nun^) auf das zurück, was ich eingangs
vorgebracht habe und ziehe den Schluß, daß nichts leichter ist,
als nach der Methode des großen Mathematikers den Mecha-
nismus der Natur auseinanderzusetzen. Wollen Sie den Grund
einer komplizierten Erscheinung angeben? Legen Sie sie mathe-
matisch dar und Sie haben alles Nötige geleistet, denn die
Schwierigkeiten, die für den Physiker noch übrig bleiben könnten,
werden sicheriich entweder von einem Grundgesetz oder einer
besonderen Bestimmung abhängig sein."
Nicht alle Schüler Newtons bewahrten übrigens die kluge
Zurückhaltung ihres Meisters. Manche konnten nicht in den
engen Grenzen, die ihnen seine Methode der Physik anwies,
bleiben. Indem sie diese Grenzen überschritten, versicherten
sie, als Metaphysiker, daß die gegenseitigen Anziehungen
wirkliche und grundlegende Eigenschaften der Materie seien,
und daß eine Erscheinung, die auf diese Anziehungen zurück-
geführt worden ist, wirklich erklärt sei. Diese Meinung äußerte
auch Roger Cotes in der berühmten Einleitung, die er an der
Spitze der zweiten Ausgabe der Prinzipia Newtons veröffent-
lichte. Auch die von Boscovich entwickelte Lehre, die vielfach
die Leibnizsche Metaphysik beeinflußte, war von dieser Art.
^) De Gamaches: loc. cit. p. 81.
Die beschreibende Theorie und die Geschichte der Physik. 61
Dennoch haben viele, die nicht weniger berflhmt sind, das
Newtonsche Werk fortgesetzt und sich an die Methode, die ihr
berflhmter Vorgänger so gut dargelegt hatte, gehalten.
Laplace bekennt sein vollstes Vertrauen zu dem Anziehungs-
prinzip. Dieses Vertrauen ist indessen nicht blind. An einigen
Steilen der Exposition du syst&me du monde deutet er an,
daß die allgemeine Anziehung, die in der Form der Gravitation
oder der molekularen Anziehung alle Naturerscheinungen ver-
knüpft, vielleicht nicht die letzte Erklärung sei, daß sie selbst
von einer tieferen Ursache abhängen könne Diese Ursache
scheint Laplace allerdings in ein unerkennbares Gebiet zu ver-
weisen. Jedenfalls erkennt er aber mit Newton, daß die For-
schung nach dieser Ursache, falls sie Oberhaupt möglich ist,
ein vollständig getrenntes Problem gegenüber jenen bildet, die
die astronomischen und physikalischen Theorien lösen können.
»Ist dieses Prinzip,** sagt er^), „ein Grundgesetz der Natur? Ist
CS nicht nur eine allgemeine Wirkung einer unbekannten Ur-
sache? Hier versperrt uns die Unwissenheit, in der wir uns
fiber die innersten Eigenschaften der Materie befinden, den
W^, und raubt uns alle Hoffnung, daß wir eine befriedigende
Antwort auf diese Fragen finden werden." — „Ist das Prinzip
der allgemeinen Schwere,** sagt er nochmals^, „ein Grundgesetz
der Natur oder ist es nur eine allgemeine Wirkung einer un-
bekannten Ursache? Kann man nicht auf dieses Prinzip das der
chemischen Verwandtschaft zurückfuhren? Newton, der vor-
sichtiger als viele seiner Schüler war, hat sich nicht über solche
Fragen, auf die, bei unserer Unkenntnis über die Eigenschaften
der Materie, eine befriedigende Antwort ausgeschlossen ist,
geäußert*'
Ampfere, der ein tieferer Philosoph gewesen als Laplace,
erkennt mit voller Klarheit, welchen Vorteil es gewährt, eine
physikalische Theorie von jeglicher metaphysischer Erklärung
unabhängig zu machen. Dadurch entzieht man sie in der Tat
dem Streit, der die verschiedenen kosmologischen Schulen
scheidet und macht sie Denkern, die sich zu unvereinbaren
^) Laplace: Exposition du Systeme du monde, 1. IV, c XVII.
«) Idem: Ibid., 1. V, c. V.
62 Drittes Kapitel.
philosophischen Meinungen bekennen, gleichzeitig annehmbar.
Man ist dabei weit entfernt, die Forschungen jener, die eine
Erklärung der Erscheinungen geben wollen, zu hemmen, man
erleichtert ihnen vielmehr ihre Arbeit. Man kondensiert die
unzähligen Erfahrungstatsachen, von denen sie Rechenschaft
geben wollen, in eine kleine Zahl sehr allgemeiner Sätze, so daß
die Erklärung jener wenigen Sätze genügt, damit die ungeheure
Gesamtheit der Erfahrungstatsachen nichts Geheimnisvolles mehr
enthalte.
„Der Hauptvorteil ^) der Formeln, die so unmittelbar aus
gewissen Tatsachen gefolgert werden, die durch eine so große
Zahl von Beobachtungen gegeben sind, daß sie nicht in Zweifel
gezogen werden können, besteht darin, daß sie in gleicher
Weise von den Hypothesen unabhängig sind, deren sich ihre
Urheber bei der Forschung nach diesen Formeln bedient haben,
als auch von denen, die ihnen später unterlegt werden können.
Der Ausdruck für die allgemeine Anziehung, der aus den
Keplerschen Gesetzen abgeleitet ist, hängt nicht von den
Hypothesen über eine mechanische Ursache, die ihr manche
Autoren zuzuweisen wünschten, ab. Die Theorie der Wärme
ruht wirklich auf den allgemeinen Tatsachen, die unmittelbar
durch die Beobachtung gegeben sind. Die aus diesen Tatsachen
abgeleitete Gleichung, die durch die Übereinstimmung der
Resultate, die man aus ihr ableitet, mit denen, die die Er-
fahrung ergibt, bestätigt wird, kann gleicherweise als Ausdruck
der wirklichen Gesetze der Wärmefortpflanzung von denen
aufgefaßt werden, die sie einer Strahlung der wärmeerzeugenden
Moleküle zuschreiben, als von denen, die, um die gleiche Er-
scheinung zu erklären, auf die Schwingungen eines im Räume
verbreiteten Fluidums rekurrieren. Der Unterschied besteht nur
darin, daß die ersteren zeigen müssen, wie die Gleichung, um
die es sich handelt, aus ihren Ansichten hervorgeht, während
die letzteren dieselben aus den allgemeinen Formeln der
Schwingungsbewegungen ableiten. Sie müssen dies nicht tun,
^) Andre-Marie Ampere: Theorie math^matique des ph6-
nom^nes 61ectrodynainiques,uniquementd^duitederexp^rience.
£dition Herrmann, p. 3.
Die beschreibende Theorie und die Geschichte der Physik. 63
um die Sicherheit dieser Gleichung zu erhöhen, sondern damit
ihre diesbezüglichen Hypothesen fortbestehen können. Der
Physiker, der in dieser Beziehung nicht Partei ergriffen hat, läßt
diese Gleichung als genaue Beschreibung der Tatsachen gelten,
ohne sich über die Art, wie sie aus der einen oder der anderen
der Erklärungen, von denen wir sprachen, folgen kann, zu be-
unruhigen.^
Auch Fourier teilt in betreff der Wärmetheorie die Gedanken
Amperes. In dem Vorwort, das sein unsterbliches Werk^)
einleitet, drückt er sich folgendermaßen aus:
„Von den letzten Ursachen der Erscheinungen ist uns nichts
bekannt, wir wissen aber, daß alle Naturprozesse einfachen und
unveränderlichen Gesetzen unterworfen sind, die man durch
Beobachtung klarzulegen vermag. Das Studium derselben ist
die Aufgabe der physikalischen Wissenschaften.'^
„Ich werde es in diesem Werke mit einem besonderen
Teile dieser Wissenschaften zu tun haben, mit dem, der sich
auf die Wärme bezieht, des Agens, das wie die Schwere durch
alle Substanzen des Weltalls dringt, dessen Strahlen alle Teile
des Raumes erfüllen. Ich habe mir vorgenommen, in diesem
Werk die mathematischen Gesetze, welchen die Verbreitung der
Wärme gehorcht, zu entwickeln, und glaube, daß die nach-
folgende Theorie einen der wichtigsten Zweige der ganzen
Physik ausmachen wird/'
„ . • . . Die Prinzipien dieser Theorie habe ich nach dem
Muster der rationellen Mechanik aus einer sehr geringen Anzahl
fundamentaler Tatsachen abgeleitet, bei denen die Mathematiker
nicht nach dem Grund fragen, weil sie sie als Resultate der
gewöhnlichsten Beobachtungen betrachten, die bei jedem dies-
bezüglichen Experimente sich immer in derselben Weise geltend
machen.^
Ebensowenig wie Ampere oder Fourier bezeichnet Fresnel
die metaphysische Erklärung der wahrnehmbaren Erscheinungen
als Ziel der Theorie. Er sieht in dieser, da sie eine zusammen*
gefaßte und klassifizierte Darstellung unserer experimentellen
*) Fourier: Theorie analytique de la chaleur. Edition Darboux,
p. XV et p. XXI. (Deutsche Ausgabe von Weinstein, p. VII u. p. XII.)
64 Drittts Kapitel.
Erkenntnisse ist, ein mächtiges Hilfsmittel für Neuerforschungen:
„Es ist nicht unnQtz^), die Tatsachen unter demselben Gesichts-
punkt zu vereinigen, indem man sie an eine kleine Zahl all-
gemeiner Prinzipien anknüpft Dies ist ein Mittel, um die Oe-
setzmäBigkeiten leichter zu erfassen, und ich denke, daß die
Bemühungen dieser Art ebensoviel als die Beobachtungen selbst
zum Fortschritt der Wissenschaft beitragen können.''
Die rasche Entwicklung der Thermodynamik in der Mitte
des XIX. Jahrhunderts brachte die Annahmen über die Natur
der Wärme, die zuerst Descartes formuliert hatte, wieder in
Mode. Die cartesianischen und atomistischen Ansichten er-
langten scheinbar wieder Lebensfähigkeit, und die Hoffnung,
erklärende physikalische Theorien aufbauen zu können, gewann
in den Gedanken mehr als eines Physikers Raum.
Einige der Schöpfer der neuen Lehre und nicht die ge*
ringsten ließen sich aber nicht von dieser Hoffnung benebeln.
Unter diesen, und zwar in erster Linie, muß man Robert Mayer
anführen. „Was Wärme, was Elektrizität usw.," schrieb Robert
Mayer an Griesinger*), „dem inneren Wesen nach sei, weiß ich
nicht, so wenig als ich das innere Wesen einer Materie oder
irgendeines Dinges überhaupt kenne.''
Die ersten Beiträge, die Macquom Rankine für den Fort-
schritt der mechanischen Wärmetheorie beisteuerte, waren Er-
klärungsversuche. Aber bald entwickelten sich seine Ideen
weiter. Er charakterisierte nun in einer kleinen, zu wenig be-
kannten Schrift') mit wunderbarer Klarheit den Unterschied
zwischen einer beschreibenden Theorie — er nennt sie ab-
strakte Theorie — und einer erklärenden — , die er als
hypothetische Theorie bezeichnet.
Führen wir einige Stellen dieses Werkes an:
„Es ist nötig, im Prozeß, durch den unsere Kenntnis der
*) A. Fresnel: Oeuvres compUtes, t I, p. 480.
*) Robert Mayer: Kleinere Schriften und Briefe, p. 181. Stutt*
gart 1893.
*) J. Macquorn Rankine: Outlines of the Science of Energetics,
voigetragen in der Philosophical Society zu Glasgow am 2. Mai '855 und
veröffentlicht in The Edinburgh New Philos. Joum. Vol. II (New series) p. 120.
1855. — Ebenso: Rankine, Miscellaneous scientific Papers, p. 209,
Die beschreibende Theorie und die Geschichte der Physik. 65
physikalischen Gesetze fortschreitet, zwei Stufen zu unterscheiden.
Die erste Stufe besteht in der Beobachtung der Beziehungen,
die zwischen den Erscheinungen bestehen, wie sie uns in
Naturprozessen entg^entreten oder wie sie künstlich bei Ex-
perimentaluntersuchungen hergestellt werden, und in der For-
mulierung dieser derartig beobachteten Beziehungen in Lehr-
sätzen, die man formale Gesetze nennt. Die zweite Stufe besteht
in der Zusammenfassung der formalen Gesetze einer ganzen
Erscheinungsklasse zu wissenschaftlicher Gestalt, d. h. in der
Forschung nach dem einfachsten System von Prinzipien, aus
dem alle formalen Gesetze dieser Erscheinungsklasse als Konse-
quenzen abgeleitet werden können."
„Ein derartiges System von Prinzipien bildet im Verein mit
den aus ihnen ordnungsgemäß abgeleiteten Konsequenzen die
physikalische Theorie einer Erscheinungsklasse."
„Man kann zwei Methoden des Aufbaues einer physikali-
schen Theorie unterscheiden, die im wesentlichen durch die
Art, wie die Erscheinungsklassen definiert werden, charakterisiert
sind. Sie sollen entsprechend alsabstrakteund hypothetische
Methode bezeichnet werden."
„Gemäß der abstrakten Methode erfolgt die Definition
einer Klasse von Objekten oder Erscheinungen durch Beschrei-
bung oder eine andere Art der Darstellung derjenigen Gruppe
von Eigenschaften, die allen Objekten oder allen Erscheinungen^
die diese Klasse bilden, gemeinsam ist, wobei sie so betrachtet
werden, wie die Sinne sie uns zeigen und nichts Hypothetisches
eingeführt wird. Jeder dieser Eigenschaften wird ein Name
oder ein Symbol zugewiesen."
„Gemäß der hypothetischen Methode erfolgt die De-
finition einer Klasse von Objekten oder Erscheinungen aus
einer mutmaßlichen Auffassung über deren Natur, wobei man
sich vorstellt, daß sie in einer sinnlich nicht wahrnehmbaren
Art als Modifikation irgendeiner anderen Klasse von Objekten
oder Erscheinungen, deren Gesetze bereits bekannt sind, kon-
stituiert seien. Wenn die Konsequenzen einer derartigen hypo-
thetischen Definition mit den Resultaten der Beobachtung und
des Experimentes in Einklang stehen, kann sie dazu dienen, die
Dahen, PhytOcaliiche Theorie. 5
66 I>ritte8 Kapitel.
Gesetze einer Klasse von Objekten oder Erscheinungen aus
den entsprechenden Gesetzen einer anderen Klasse abzuldten.''
In dieser Art würde man zum Beispiel die Gesetze des Lichtes
oder der Wärme aus der Mechanik ableiten/'
Rankine meint, daß die hypothetischen Theorien nach und
nach durch die abstrakten Theorien ersetzt werden. Er denkt
jedoch, „dsiü eine hypothetische Theorie als erste Stufe not-
wendig sei, um Einfachheit und Ordnung in die Darstellung
der Erscheinungen zu bringen, was geschehen muß, bevor es
möglich ist, irgendeinen Erfolg bei dem Bau einer abstrakten
Theorie zu erreichen". Wir haben im vorangehenden Para-
graphen gesehen, daß diese Behauptung in der Geschichte der
physikalischen Theorien keineswegs Bestätigung findet, und wir
werden im Kapitel IV, § 9 nochmals Gelegenheit haben, sie zu
diskutieren.
In der Mitte des XIX. Jahrhunderts haben die hypothetischen
Theorien, die sich als mehr oder minder wahrscheinliche Er-
klärungen der Erscheinungen gebärden, eine außerordentliche
Vermehrung erfahren. Der Lärm ihrer Kämpfe und das Getöse bei
ihrem Untergang haben die Physiker ermüdet und haben sie nach
und nach zu den gesunden Lehren, denen Newton mit so großer
Kraft Ausdruck gegeben hat, zurückgeführt. Hr. Ernst Mach*)
hat, indem er an die unterbrochene Tradition wieder anknüpfte,
die physikalische Theorie als eine abstrakte und kondensierte
Beschreibung der Naturerscheinungen definiert, G. Kirchhoff*)
bezeichnete als Aufgabe der Mechanik „die in der Natur vor
sich gehenden Bewegungen vollständig und auf die einfachste
Weise zu beschreiben".
Wenn auch einige sehr große Physiker auf die Möglich-
keiten, die die von ihnen angewendete Methode eröffnet, so stolz
E. Mach: Die Gestalten der Flüssigkeit Prag 1872. — Die
ökonomische Natur der physikalischen Forschung. Wien 1882. —
Die Mechanik in ihrer Entwicklung, historisch -kritisch dargestellt
Leipzig 1883. Das letztere Werk wurde von Hm. Bertrand unter dem Titel:
La M^canique; expos^ historique et critique de son d^veloppe-
ment, Paris 1904, ins Französische fibertragen.
*) O. Kirchhoff: Vorlesungen über mathematische Physik;
Mechanik. Leipzig 1874, p. 1.
Die beschreibende Theorie und die Geschichte der Physik. 67
wurden, daß sie deren Tragweite fiberschätzten und* annahmen,
daß ihre Theorien die metaphysische Natur der Dinge bloßlegen
könnten, so sind doch viele Forscher, die unsere Bewunderung
err^en, bescheidener und weitblickender gewesen. Sie haben
erkannt, daß die physikalische Theorie keine Erklärung sei, sie
haben in ihr eine vereinfachte und geordnete Beschreibung ge-
sehen, die die Gesetze in einer immer vollkommeneren, immer
naturgemäßeren Klassifikation gruppiert.
Viertes Kapitel.
Die abstrakten Theorien und die mechanisclien
ModeUe.')
§ 1. — Zwei Arten Denker: Umfassende Denker
und tiefe Denker.
Jede physikalische Theorie geht aus einer zweifachen Ar-
beit hervor: der Abstraktion und der Generalisation.
In erster Instanz analysiert der Verstand eine ungeheure
Zahl von verschiedenen, konkreten, verwickelten Einzeltat-
sachen. Das, was er in ihnen als gemeinsam und wesentlich
erkennt, faßt er in einem Gesetz zusammen, d. h. in einem
Lehrsatz, der abstrakte Begriffe verbindet.
In zweiter Instanz betrachtet er eine ganze Gruppe von
Gesetzen; diese Gruppe ersetzt er durch eine ganz kleine Zahl
außerordentlich allgemeiner Urteile, die auf einigen sehr ab-
strakten Begriffen beruhen; er wählt diese grundlegenden
Eigenschaften, er formuliert diese fundamentalen Hypo-
thesen in der Art, daß auf Grund einer zwar vielleicht recht
langen, aber sehr sicheren Deduktion aus ihnen alle Gesetze
abgeleitet werden können, welche zu der Gruppe gehören, die
ihn beschäftigt. Dieses System von Hypothesen und aus ihnen
sich ergebenden Folgerungen — ein Werk der Abstraktion,
^) Die in diesem Kapitel auseinandergesetzten Gedanken sind die
Erweiterung eines „Vt.co\e anglaise et les Th^ories physiques''
betitelten Artikels, welcher im Oktober 18Q3 in der „Revue des Questions
scientifiques'' erschien.
5^
68 Viertes Kapitel.
Generalisation und Deduktion — bildet die physikalische Theo-
rie, wie wir sie definiert haben; sie verdient sicher das Epi-
theton einer abstrakten Theorie, mit welchem Rankine sie
belegt.
Die zweifache Arbeit der Abstraktion und Generalisation,
durch welche eine Theorie gebildet wird, schafft, wie wir aus-
geführt haben^), eine zweifache Oedankenökonomie, sie ist
ökonomisch, indem sie ein einziges Gesetz an Stelle vieler
Tatsachen setzt, sie ist es außerdem, indem sie eine kleine
Zahl von Hypothesen an Stelle einer großen Gruppe von Ge-
setzen setzt.
Werden aber auch alle jene, die über die Methoden der
Physik Betrachtungen anstellen, mit uns einverstanden sein,
wenn wir einer abstrakten Theorie diesen zweifach ökonomi-
schen Charakter zubilligen?
Für viele Menschen ist die Aufgabe unlösbar oder wenig-
stens äußerst schwierig, sich eine sehr große Zahl von Dingen
in der Vorstellung so vor Augen zu halten, daß sie alle
auf einmal in ihrer verwickelten Gruppierung erfaßt werden,
daß also nicht eines nach dem andern willkürlich aus dem
realen Zusammenhang gerissen, zur Betrachtung kommt. Eine
Menge von unterschiedslos aufgeführten Tatsachen, die keine
Klassifikation gruppiert, die kein System verbindet oder ein-
ander unterordnet, erscheint ihnen als Chaos, das ihre Vor-
stellung erstarren macht, als Labyrinth, in dem sich ihr Ver-
stand verliert. Hingegen erfassen sie ohne Mühe einen Ge-
danken, den die Abstraktion von allem, was das gute
Gedächtnis anregt, befreit hat, sie erfassen klar und voll-
ständig den Sinn eines Urteils, der solche Gedanken verbindet,
sie sind fähig, ohne Ermüdung oder Schwäche eine Überlegung,
die derartige Urteile zur Grundlage hat, bis in ihre letzten Kon-
sequenzen zu verfolgen. Bei solchen Menschen ist die Fähigkeit,
abstrakte Gedanken zu erfassen und zu durchdenken, besser
entwickelt als die, sich konkrete Gegenstände vorzustellen.
Für diese abstrakten Denker bildet die Zurückführung
der Tatsachen auf Gesetze ebenso wie die Zurückführung der
*) Kapitel II, § Z
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 6Q
Gesetze auf Theorien wirklich eine Ökonomie des Denkens.
Eine jede dieser beiden Operationen vermindert in hohem
Grade die Mühe, die ihr Verstand auf sich nehmen muß, um
zur Erkenntnis der Physik vorzudringen.
Aber nicht alle ausgebildeten Denker sind abstrakte Denker.
Es gibt solche, die eine außerordentliche Veranlagung
haben, sich in der Vorstellung eine verwickelte Gruppierung
tmgleichartiger Dinge zu vergegenwärtigen. Sie erfassen sie
mit einem Blick, ohne ihre Aufmerksamkeit zuerst auf einen,
dann auf den andern Gegenstand richten zu müssen. Und zu-
dem ist dieser Oberblick nicht unsicher und verwirrt, sondern
bestimmt und genau, so daß jede Einzelheit an ihrem Platz und
in der ihr zukommenden Bedeutung klar erkannt wird.
Aber dieses geistige Vermögen ist an eine Bedingung
geknüpft: Die Gegenstände, mit denen es sich befaßt, müssen
in das Gebiet der Wahrnehmungen fallen, müssen angefaßt
oder gesehen werden können. Die Denker, die es besitzen,
bedürfen bei der geistigen Arbeit der Unterstützung eines
guten Gedächtnisses. Der abstrakte Gedanke, der von allem
entkleidet ist, was dieses Gedächtnis vorzustellen vermag, scheint
ihnen wie ein ungreifbarer Nebel zu entschwinden. Ein all-
gemeines Urteil klingt für sie wie eine leere sinnlose Formel.
Eine lange und strenge Deduktion erscheint ihnen wie das
eintönige Klappern einer Mühle, deren Mühlsteine sich unauf-
hörlich drehen und die doch nichts als Luft zermahlen. Diese
Denker sind zwar mit einer starken Vorstellungskraft begabt,
zu Abstraktionen und Deduktionen dagegen schlecht gerüstet.
Wird solchen phantasievollen Denkern der Aufbau
einer abstrakten physikalischen Theorie als Ökonomie des Den-
kens erscheinen? Sicherlich nicht. Sie werden in ihr wohl
viel eher eine Arbeit sehen, deren Mühseligkeit ihnen weniger
zweifelhaft erscheint als deren Nutzen, so daß sie sich sicher
ihre physikalischen Theorien nach einem ganz anderen Typus
bilden werden.
Die physikalische Theorie, wie wir sie aufgefaßt haben,
wird daher nur von den abstrakten Denkern ohne weiteres als
die geeignete Gestalt, in der die Natur dargestellt werden soll,
70 Viertes Kapitel.
angesehen werden. Pascal vergißt nicht in dem Fragment^),
in dem er so deutlich die zwei Arten Denker, die wir unter-
scheiden, charakterisiert, dies zu bemerken:
„Es gibt verschiedene Arten des geraden Sinnes, manche
denken in einer Art von Dingen Ungereimtes und nicht in der
andern. Manche leiten von wenigen Prinzipien Folgerungen
ab, das ist eine Geradheit des Sinnes. Die anderen leiten Fol-
gerungen aus Dingen ab, die viele Prinzipien einschließen.
Zum Beispiel begreifen einige die Wirkungen des Wasseis,
in denen es wenige Prinzipien gibt, deren Folgerungen aber
so fein sind, daß nur außerordentlich strenges Denken bis zu
ihnen dringen kann. CKese Menschen würden vielleicht nicht
groß in der Geometrie isein, weil die Geometrie eine große Zahl
von Grundsätzen in sich faßt und die Natur eines Verstandes
so sein kann, daß er wenige Grundsätze bis auf die Wurzel
ergründet, daß er aber keineswegs in solche Gegenstände ein-
dringen kann, die viele Grundsätze in sich zusammenfassen.^'
„Es gibt daher zwei Arten des menschlichen Geistes,
die eine dringt lebhaft und tief in die Folgerungen der Prin-
zipien, das ist richtiger Verstand, die andere umfaßt eine große
Zahl von Prinzipien, ohne sie zu verwirren, das ist geometri-
scher Geist. In einem liegt Stärke und Richtigkeit des Ver-
standes, im anderen Weite. Es kann nun das eine ohne das
andere sein, der Verstand kann stark und begrenzt oder auch
umfassend und schwach sein.''
Die abstrakte physikalische Theorie, wie wir sie definiert
haben, wird sicher die starken aber begrenzten Denker auf
ihrer Seite haben, dagegen muß sie sich gefaßt machen, daß sie
von den umfassenden aberschwacheniDenkemverworfen werde.
Da wir nun die Weite des Denkens zu bekämpfen haben wer-
den, lernen wir sie vor allen gut kennen.
§ 2. — Ein Beispiel umfassenden Geistes.
Der Geist Napoleons.
Ein Zoologe, der ein bestimmtes Organ studieren will,
ist hocherfreut, wenn er ein Tier auffindet, bei dem dieses
') Pascal: Pens^es, Edition Havet, art VII, 2.
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 71
Organ eine außergewöhnliche Entwicklung erlangt hat, weil
er an einem solchen die verschiedenen Teile leichter zerglie-
dert, seinen Bau deutlicher sieht und seine Tätigkeit leichter
begreift. Ebenso wird dem Psychologen, der eine gewisse
Eigenschaft untersuchen will, gedient sein, wenn er auf ein
Wesen stößt, das diese Eigenschaft in hervorragendem Maße
besitzt.
Nun zeigt uns die Geschichte einen Mann, bei dem die
I>enkart, die Pascal als Weite imd Schwäche des Denkens be-
zeichnet, bis zu einer geradezu ungeheueren Stufe entwickelt
war. Dieser Mann war Napoleon.
Man lese wieder nach. Wo Taine^) so plastisch und so sorg-
sam mit Urkunden belegt das Bild vom Geiste Napoleons
zeichnet! Man wird daran sofort folgende zwei wesentlichen
Charakterzüge erkennen, die so auffallend sind, daß sie auch
dem ungeübtesten Blick nicht entgehen können: Einerseits
eine außergewöhnliche Fähigkeit, sich eine äußerst komplizierte
Gesamtheit von Gegenständen im Verstände zu vergegenwär-
tigen, vorausgesetzt, daß diese Gegenstände den Sinnen zu-
gänglich sind, daß sie Gestalt und Farbe in der Vorstellung
annehmen können; andererseits eine Unfähigkeit zur Abstrak-
tion und Verallgemeinerung, die bis zum tiefen Widerwillen
gegen diese geistigen Operationen steigt.
Reine Gedanken, die aus der Verkleidung der besonderen
und konkreten Details, die sie sichtbar und greifbar machen,
herausgeschält sind, werden vom Geiste Napoleons nicht auf-
genommen. „Schon in Brienne^) stellte man fest, daß er kein
Talent für Sprachen und Literatur hatte." Er faßt die abstrak-
ten Begriffe nicht nur schwer auf, sondern weist sie mit Ab-
scheu von sich. „Er prüfte die Dinge nur in bezug auf ihre
unmittelbare Nützlichkeit," sagt Mme de Stael, „ein allgemei-
nes Prinzip mißfällt ihm wie eine Albernheit oder erscheint
ihm wie etwas Feindliches." Diejenigen, denen die Abstraktion,
die Generalisation und Deduktion als gewöhnliche Denkmittel
^) H. Taine: Les Origines de la France contemporaine. Le
Regime moderne, i I, 1. 1, c. I, art 2, 3, 4. Paris 1891.
*) Alle Zitate sind dem Taineschen Werte entnommen.
72 Viertes Kapitel.
dienen, kommen ihm wie fehlerhafte und unvollständige Wesen
vor; er behandelt diese „Ideologen" mit tiefer Verachtung.
„Es sind dort zwölf oder fünfzehn Metaphysiker, die ins Wasser
geworfen werden sollten," sagt er, „es ist das ein Ungeziefer,
das ich auf meinen Kleidern habe."
Wenn sein Verstand bei Aufnahme der allgemeinen Prin-
zipien versagt, wenn nach der Aussage Stendhals, „er die Mehr-
zahl der großen Wahrheiten, die seit hundert Jahren entdeckt
wurden, nicht kennt," so hatte er zum Ersatz dafür eine außer-
ordentliche Fähigkeit, auf einen Schlag die verwickeltste Masse
von Tatsachen, von konkreten Objekten zu sehen, mit einem
Blick, der die Oesamtheit klar erfaßt und sich trotzdem keine
Einzelheit entgehen läßt. „Er hatte," sagt Bourienne, „ein
schlechtes Gedächtnis für Eigennamen, für Worte und Daten,
aber ein erstaunliches für Tatsachen und Ortschaften. Ich
erinnere mich, daß er mich am Wege von Paris nach Toulon
auf zehn zur Lieferung großer Schlachten geeignete Orte
aufmerksam machte. . . . Das war damals eine Erinnerung
an die ersten Reisen seiner Jugend, und er beschrieb mir das
Terrain, bezeichnete sogar die Stellung, welche er einnehmen
würde, bevor wir an die Orte kamen." Übrigens bemühte sich
Napoleon selber, diese Eigenheit seines Gedächtnisses, das so
stark für Tatsachen und so schwach für alles nicht Konkrete
war, hervorzuheben. „Meine Verzeichnisse sind mir immer
gegenwärtig. Ich besitze nicht genug Gedächtnis um einen
Alexandriner zu behalten, aber ich vergesse keine Silbe von
meinen Verzeichnissen. Ich finde sie heute abend in meinem
Zimmer und lege mich nicht nieder, bevor ich sie gelesen habe."
Ebenso wie er die Abstraktion und Generalisation fürch-
tet, weil diese Operationen sich in ihm mit großer Mühe und
Qual vollziehen, macht es ihm Freude, seine erstaunliche
Vorstellungsgabe arbeiten zu lassen, \vie es einen Athleten freut,
die Fähigkeit seiner Muskeln zu prüfen. Seine Wißbegierde
nach greifbaren und genauen Tatsachen ist „unersättlich"
nach den Worten Molliens. „Die gute Beschaffenheit meiner
Regimenter", sagte er uns selber, „rührt daher, daß ich mich
mit ihnen täglich ein bis zwei Stunden beschäftige, und wenn
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 73
man mir jeden Monat das Verzeichnis meiner Truppen und
meiner Flotte einsendet, das circa zwanzig starke Büchelchen
bildet, so gebe ich jede andere Beschäftigung auf, um es im
einzelnen zu lesen, und den Unterschied zwischen einem Monat
und dem anderen zu sehen. Ich habe an dieser Lektüre mehr
Freude wie ein junges Mädchen an der eines Romans.^'
Diese Vorstellungsgabe, von der Napoleon so leicht und
gern Gebrauch macht, zeigt eine erstaunliche Auffassung;s-
fähig^eit. Weite und Genauigkeit. Es gibt einen Oberfluß
an Beispielen, an denen diese wunderbaren Eigenschaften ge-
würdigt werden können. Die zwei folgenden sind genügend
charakteristisch, um eine lange Aufzählung zu ersparen.
„Herr de Segur, der beauftragt war, alle Plätze der nörd-
lichen Küste zu besichtigen, hatte seinen Bericht vorgelegt.
,Ich habe alle Ihre Verzeichnisse durchgesehen,' sagte mir
der erste Konsul, ,sie sind genau, nur haben Sie bei Ostende
zwei vierpfündige Kanonen vergessen.' — Und er bezeich-
nete ihm den Platz, eine Straße mitten in der Stadt." — Das
war richtig. — „Ich ging hinaus, verblüfft vor Erstaunen, daß
von den Tausenden an der Küste in festen und beweglichen
Batterien zerstreuten Kanonen zwei Vierpfünder seinem Ge-
dächtnis nicht entfallen waren.''
„Auf der Rückkehr aus dem Lager von Boulogne trifft
Napoleon ein Häuflein verirrter Soldaten, fragt nach der Num-
mer ihres Regimentes, berechnet den Tag ihres Aufbruches,
den Weg den sie genommen, den Weg den sie hätten machen
sollen und sagt ihnen : ,Ihr werdet euer Regiment an dem und
dem Platz finden.' — Die Armee bestand nun damals aus!
200000 Mann."
Durch Handlungen, durch die Haltung und sichtbare Ge-
bärden wird der Mensch von seinesgleichen erkannt, enthüllt
er ihm seine Gefühle, seine Instinkte, seine Leidenschaften.
Bei einer derartigen Enthüllung ist oft die untergeordnetste,
flüchtigste Einzelheit, eine unmerkliche Röte, ein kaum ange-
deutetes Zucken der Lippen das wesentliche Zeichen, das ein
plötzliches Licht auf eine in derTiefe der Seele verborgene Freude
oder Enttäuschung wirft. Eine so winzige Einzelheit entgeht
74 Viertes Kapitel.
dem forschenden Blick Napoleons nicht, und sein Vorstellungs-
gedächtnis bewahrt sie für immer auf, wie wenn es eine Mo-
mentaufnahme machen würde. Daher rührt seine tiefe Kennt-
nis der Menschen, mit denen er zu tun hat. „Eine solche
unsichtbare moralische Kraft^) kann durch ihre wahrnehmbare
Äußerung festgestellt und annähernd gemessen werden, durch
die Stichprobe wie dieses Wort, dieser Ausdruck, diese Be-
wegung beschaffen sei. Diese Worte, diese Bewegungen und
diese Ausdrücke sucht er aufzulesen. Er sieht die innersten
Oefühle in ihrem äußeren Ausdruck, er malt sich das Innere
nach dem Äußeren auf Grund dieses charakteristischen Ge-
sichtes, jener ausdrucksvollen Haltung, jenes kleinen, einfachen
und bezeichnenden Vorganges, auf Grund von Proben und
Abrissen, die so gut gewählt und so ausführlich geschildert
werden, daß sie die ganze unbestimmte Reihe der analogen
Fälle zusammenfassen. Auf diese Weise werden flüchtige und
schwankende Objekte plötzlich aufgefaßt, zusammengesetzt,
alsdann gemessen und gewogen." Die seltsame Psychologie
Napoleons ist vollständig durch seine Fähigkeit, sich mit Ge-
nauigkeit in der Gesamtheit und in den Einzelheiten sicht-
bare und greifbare Gegenstände, Menschen aus Fleisch und
Knochen vorzustellen, gegeben.
Diese Fähigkeit ist es auch, welche seine Umgangsspradie
so lebhaft und farbenreich macht. Keine abstrakten Bezeich-
nungen oder allgemeinen Urteile, nur Bilder, die sofort das
Auge oder Ohr packen: „Ich bin mit der Zollverwaltung auf
den Alpen unzufrieden, sie gibt kein Lebenszeichen, man hört
nicht, wie ihre Taler in die Staatskasse rollen."
Alles im geistigen Wesen Napoleons, die Furcht vor der
Ideologie, der Blick des Verwalters und Taktikers, die tiefe
Kenntnis des gesellschaftlichen Milieus und der Menschen, die
bisweilen triviale Kraft seiner Ausdilicksweise, alles dies ent-
springt demselben Hauptcharakterzug: der Weite und Schwäche
des Denkens.
*) Taine: Loc. cit., p. 35.
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 75
§ 3. — Das umfassende, das scharfe und das
geometrische Denken.
Beim Studium des geistigen Wesens Napoleons konnten
wir alle charakteristischen Eigenschaften des umfassenden
I>enkens beobachten, wir sahen sie außerordentlich vergrößert,
wie durch ein Mikroskop. Es wird uns nun in Zukunft leicht
sein, sie überall wiederzuerkennen, wo wir ihnen begegnen,
und zwar manche von ihnen an den mannigfachen Gegen-
ständen, denen der Geist, den sie charakterisieren, Aufmeric-
samkeit schenkt.
Wir werden sie vor allem überall dort wiedererkennen,
wo wir dem Scharfsinn begegnen, denn der Scharfsinn, wie
ihn Pascal uns beschreibt, besteht im wesentlichen in der Fähig-
keit, eine sehr große Zahl konkreter Begriffe klar zu sehen
und sie in ihrer Gesamtheit sowie in ihren Einzelheiten gleich-
zeitig zu erfassen. „Die Grundsätze des Scharfsinnes^) sind
im allgemeinen Gebrauch und liegen vor den Augen aller
Welt. Man braucht, ohne sich im geringsten Gewalt anzutun,
nur seinen Kopf zu wenden. Es kommt nur auf gutes Sehen
an, aber gut sehen muß man, denn die Grundsätze dieser
Art sind so verbreitet und zahlreich', daß sie sich unmög-
lich verbergen können. Nun leitet aber die Nichtachtung eines
Grundsatzes zum Irrtum, daher ist ein gutes Auge erforderlich,
um alle Grundsätze zu sehen . . . Man erkennt sie kaum, fühlt
sie mehr als man sie sieht. Es kostet unendliche Mühe, sie denen,
die sie nicht selbst fühlen, fühlbar zu machen. Es handelt sich
um so feine und zahlreiche Sachen, daß ein besonders feiner
und klarer Sinn zu ihrem Empfinden gehört. Sehr oft kann
man sie gar nicht reihenweise demonstrieren, wie in der Geometrie,
weil man nicht deren Prinzipien inne hat und ein solches Unter-
nehmen ohne Ende sein würde. Man muß die ganze Sache
wenigstens bis zu gewissem Grade mit einem Blick sehen
und nicht durch Überiegungen zu ihnen gelangen.^
„ . . . Scharfsinnige Denker, die sich so nach einem einzigen
Blick zu urteilen gewöhnt haben, sind daher sehr erstaunt, wenn
Pascal: Pens^es, Edition Havet, art 7.
76 Viertes Kapitel.
man ihnen Sätze vorlegt, die sie nicht erfassen, bei denen man
durch Definitionen und unfruchtbare Grundsätze, die sie so
einzeln zerlegt, zu sehen nicht gewohnt smd, durchdringen muß,
vor denen sie zurückweichen und die ihnen verleidet werden . . .
Den scharfsinnigen Denkern, die nur scharfsinnig sind, fehlt
die Geduld, bis zu den ersten Grundsätzen spekulativer und
imaginativer Gegenstände herabzusteigen, die sie niemals in der
Welt und vor allem nie im Gebrauch gesehen haben.^
Aus der Weite des Geistes entspringt der Scharfsinn des
Diplomaten, der im Aufzeichnen der kleinsten Tatsachen, der
geringsten Bewegungen, der untergeordnetsten Gebärden des
Menschen, mit dem er verhandelt und dessen Verstellungskunst
er durchschauen will, geübt ist Der Scharfsinn eines Talleyrand
gruppiert Tausende unmerklicher Aufschlüsse, welche er aus
dem Ehrgeiz, der Eitelkeit, der Rachsucht, der Eifersucht, dem
Hasse aller der Bevollmächtigten des Wiener Kongresses schöpft.
Sie ermöglichen es ihm, mit diesen Menschen wie mit Marionetten,
deren Fäden er in Händen hält, zu spielen.
Diese Weite des Geistes finden wir bei den Verfassern von
Chroniken wieder, die in ihren Schriften die Details der Tat-
sachen und des Verhaltens der Menschen feststellen; bei einem
Saint-Simon, der uns in seinen Memoiren „die Porträts von
vierhundert Spitzbuben, von denen keine zwei sich gleichen,"*
hinteriieB. Sie ist das wesentliche Werkzeug des großen Roman-
ciers, nur mit ihrer Hilfe konnte ein Balzac die Menge von
Personen, die die „Com^die humaine'' bevölkern, schaffen,
eine jede von ihnen vor uns in Fleisch und Knochen hinstellen,
aus diesem Fleisch alle die Runzeln, Warzen und Falten bilden,
welche von jeder einzelnen Leidenschaft, jedem Laster, jeder
Lächeriichkeit der Seele an die Oberfläche getrieben werden;
diese Körper bekleiden, ihnen Haltung und Gebärden verieihen,
sie mit Dingen umgeben, die ihr Milieu bilden, aus ihnen mit
einem Wort Menschen machen, die in einer Welt, die sich
bewegt, leben.
Die Weite des Geistes gibt dem Stil eines Rabelais Farbe
und Wärme, überhäuft ihn mit sichtbaren, greifbaren, faßbaren
Bildern, die bis zur Karikatur konkret, bis zum Zappeln lebendig
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 77
sind. Der weite Oeist steht auch im Oegensatz zum klassi-
schen Oeist, den Taine schildert, jenem Geist, der die ab-
strakten B^ffe, Ordnung und Einfachheit hebt, der ganz
naturlich in dem Stil Buffons spricht, der beim Ausdruck eines
Gedankens immer die allgemeinste Bezeichnung wählt
Alle die sind weite Geister, die in ihrer Phantasie ein klares,
genaues, detailliertes Bild der Beziehungen einer Menge von
Dingen festhalten können. Ein weiter Geist ist der Börsen-
spekulant, der aus einem Haufen von Telegrammen den Stand
des Kornes oder der Wolle auf allen Märkten der Welt erkennt,
und mit einem Blick beurteilen kann, ob er Hausse oder Baisse
spielen soll. Ein weiter Geist ist der Oberbefehlshaber^), der
einen Mobilisierungsplan auszudenken vermag, auf Grund dessen
Millionen von Menschen ohne Gedränge, ohne Verwirrung am
festgelegten Tag den bestimmten Kampfplatz besetzen werden.
Ein weiter Geist ist auch der Schachspieler, der ohne auf das
Schachbrett zu blicken, gleichzeitig gegen fünf Gegner spielt.
Die Weite des Geistes macht auch das Genie manches
Geometers und manches Algebraikers aus. Mehr als ein
Leser Pascals wird wohl erstaunt gewesen sein, als er ihn die
Mathematiker in die Zahl der weiten aber schwachen Geister
einreihen sah; diese Einreihung ist indessen keine der geringsten
Proben sdner Verstandesschärfe.
Zweifellos behandelt jeder Zweig der Mathematik Vor-
stellungen, die im höchsten Grade abstrakt sind. Diese Ab-
straktion liefert die Begriffe der Zahl, der Geraden, der Ober-
fläche, des Winkels, der Masse, der Kraft und des Druckes.
Die Abstraktion und philosophische Analyse ordnen und präzi-
sieren die Eigenschaften dieser verschiedenen Begriffe, die die
Axiome und Postulate ausdrücken. Die strengste Deduktion
gibt die Sicherheit, daß diese Postulate einander nicht wider-
sprechen, voneinander unabhängig sind, sie entwickelt in fehler-
freier Ordnung die lange Kette von Theoremen, die sie enthalten.
Dieser mathematischen Methode verdanken wir die vollkommensten
Die Weite des Geistes war bef Cäsar beinahe ebenso ausgebildet
wie bei Napo eon. Man weiß, daß er gleichzeitig vier Sekretaren komplizierte
Briefe in vier verschiedenen Sprachen diktiert hat
78 Viertes Kapitel
Meisterwerke, die die Sicherheit und Tiefe des Denkens der
Menschheit geschenkt haben, deren erste die Elemente des
Euklid, die Abhandlungen des Archimedes Ober den Hebel und
das Schwimmen der Körper gewesen.
Aber gerade deshalb, weil diese Methode fast ausschließlich
die logischen Fähigkeiten des Intellektes beansprucht, weil sie
ein im höchsten Maß starkes und genaues Denkvermögen er-
fordert, erscheint sie jenen, bei denen es weit aber schwach
ist, äußerst mühsam und schwierig.
Gerade deshalb haben die Mathematiker ein Verfahren er-
dacht, welches diese rein abstrakte und deduktive Methode
durch eine andere ersetzt, nach der dem Vorstellungsvermögen
mehr Anteil zukommt, als der Denkfähigkeit. Anstatt die ab-
strakten Begriffe, mit denen sie sich beschäftigen, direkt zu be-
handeln, sie an sich zu betrachten, nützen sie deren einfachste
Eigenschaften aus, die sie in Zahlen ausdrücken, die sie messen.
Anstatt also die Eigenschaften der Begriffe selbst in eine Reihe
von Schlüssen aneinander zu ketten, unterwerfen sie die Zahlen,
die sie durch die nach festen Regeln ausgeführten Meßmani-
pulationen eriangt haben, den Regeln der Algebra. Anstatt
abzuleiten, rechnen sie Diese Handhabung algebraischer
Symbole, die man im weitesten Sinne des Wortes als Rechnung
bezeichnen kann, setzt nun ebenso bei demjenigen, der sie ge-
schaffen, wie bei dem, der sie anwendet, viel weniger das Ver-
mögen der Abstraktion und das der Ordnung von Oedanken-
reihen, als die Fähigkeit voraus, sich verschiedene und verwickelte
Kombinationen, die man aus bestimmten, sichtbaren und schreib-
baren Zeichen bilden kann, vorzustellen und auf einen Schlag
die Umwandlungen zu bemerken, die den Übergang von einer
Kombination zur anderen ermöglichen. Ein Entdecker auf
algebraischem Gebiet, z. B. ein jacobi, hatte nichts von einem
Metaphysiker an sich, er gleicht eher einem Schachspieler, der
den Turm oder Springer zum sicheren Siege führt. Unter ge-
wissen Umständen tritt der geometrische neben dem scharf-
sinnigen in die Reihe der umfassenden aber schwachen
Denker ein.
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 79
§4. — Der umfassende und der englische Geist.
Bei allen Nationen findet man Menschen von umfassendem
Geist, es gibt aber ein Volk, bei dem er geradezu einheimisch
ist, nämlich bei dem englischen.
Suchen wir in erster Linie in den schriftstellerischen Werken,
die der englische Genius geschaffen, die zwei Merkmale des
umfassenden und schwachen Geistes: die außerordentliche
Leichtigkeit, sich sehr verwickelte Gruppierungen konkreter
O^enstände vorzustellen und die außerordentliche Schwer-
fälligkeit, abstrakte Begriffe zu erfassen und sie in allgemeine
Prinzipien zu formulieren.
Was fällt dem französischen Leser beim Durchblättern eines
englischen Romanes, sei es nun das Werk eines Meisters in
seinem Fache, wie Dickens oder George Elliot, sei es der erste
Versuch einer jungen Autorin, die literarischen Ruhm anstrebt,
auf? Er wundert sich über die Länge und Ausffihriichkeit der
Beschreibungen. Am Anfang fühlt er seine Neugier durch das
Pittoreske eines jeden Gegenstandes gereizt, aber bald verliert
er die Obersicht über das Ganze. Die zahlreichen Bilder, welche
der Autor heraufbeschwört, verwirren und vermengen sich mit-
einander, während unaufhöriich neue Bilder dazu kommen, um
die Verwirrung noch zu vermehren. Wenn er mit einem Viertel
der Beschreibung fertig ist, hat er bereits den Anfang vergessen.
Sodann wendet er die Blätter ohne sie zu lesen, erschreckt von
dieser Aufzählung konkreter Dinge, die ihm vorbeizumarschieren
scheinen, wie in einem quälenden Traum. Sein tiefer aber
enger Geist sehnt sich nach den Beschreibungen eines Loti,
der in drei Zeilen das Wesen einer ganzen Landschaft ab-
strahiert und zusammenfaßt. Der Engländer hat keine ähnlichen
Wünsche. Alle diese sichtbaren, greifbaren und tastbaren Dinge,
die ihm der Schriftsteller, sein Landsmann, aufzählt und aufs
genaueste beschreibt, erfaßt er ohne Anstrengung in ihrer Ge-
samtheit, ein jedes an seinem Platze mit allen Einzelheiten, die
es charakterisieren. Er sieht ein Bild, das ihn entzückt, wo wir
nur ein erdrückendes Chaos erblicken.
Dieser Gegensatz zwischen dem französischen Geist, der
so stark ist, daß er Abstraktionen und Verallgemeinerungen
80 Viertes Kapitel.
nicht furchtet, aber zu eng, um sich irgendetwas Verwickelteres,
bevor es in vollkommene Ordnung gebracht ist, vorstellen zu
können, und dem umfassenden aber schwachen Geiste des
Engländers, werden wir beim Vergleich aller Schriftdenkmale,
die von diesen beiden Nationen stammen, stets wieder finden
können.
Sollen wir es an den dramatischen Werken feststellen?
Nehmen wir einen Helden Corneilles, Auguste, wie er zwischen
Rache und Milde schwankt, oder Rodrigue, wie er seine Ehr-
furcht gegen die Eltern und seine Liebe einander gegenüber-
stellt. Zwei Oeffihle streiten in seinem Herzen, aber welche
großartige Ordnung in ihrer Auseinandersetzung! Sie nehmen
das Wort, ein jedes, wenn die Reihe an ihm ist, wie zwei
Advokaten, die im Oerichtssaale in wohlgefügten Plaidoyers
ihre überzeugenden Gründe auseinandersetzen. Und wenn dann
von der einen wie der anderen Seite die Gründe klar dargel^
worden sind, schließt der Wille die Debatte mit einer Ent-
scheidung, die so genau ist wie ein Urteil des Gerichtshofes
oder eine Schlußfolgerung der Mathematik.
Und nun denken wir uns an Stelle des Auguste oder des
Rodrigue Corneilles die Shakespearsche Lady Macbeth, oder
den Hamlet. Welches Gemisch unklarer, unausgearbeiteter Ge-
fühle, deren Konturen unbestimmt und unzusammenhängend,
bald herrschen, bald beherrscht werden! Der in unserem klassi-
schen Theater erzogene französische Zuschauer erschöpft sich
in vergeblichen Anstrengungen, solche Persönlichkeiten zu ver-
stehen, d. h. mit Klarheit aus einem bestimmten Seelenzustand
diese Menge unbestimmter und einander widersprechender
Eigenschaften abzuleiten. Der englische Zuschauer weiß von
solcher Arbeit nichts. Er sucht nicht diese Persönlichkeiten zu
verstehen, ihre Gesten zu klassifizieren und zu ordnen, er be-
gnügt sich, sie in ihrem lebendigen Zusammenhang zu sehen.
Sollen wir diesen Gegensatz zwischen dem französischen
und englischen Geiste beim Studium der philosophischen
Schriften nochmals aufzeigen? Ersetzen wir Corneille und
Shakespeare durch Descartes und Bacon.
Welchen Titel trägt die Einleitung, mit der Descartes seine
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 81
Werke beginnt? „Eine Abhandlung über die Methode.'^ Sie
bestand darin, „in meinem Oedanicengang die Ordnung festzu-
halten, daß ich mit den einfachsten und leichtesten Gegenständen
b^ann und nur nach und nach zu Untersuchungen der ver-
wickeltsten aufstieg, und eine gleiche Ordnung auch in den
Dingen selbst anzunehmen, selbst wenn auch das eine nicht
von Natur dem anderen vorangeht".
Und welche Dinge „sind am leichtesten erkennbar", mit
denen „man beginnen muß"? Descartes wiederholt es des öfteren.
Es sind die einfachsten Dinge und unter diesen Worten ver-
steht er die abstraktesten, von wahrnehmbaren Wirkungen voll-
ständig entblößten Begriffe, die umfassendsten Prinzipien, die
allgemeinsten Urteile Ober Denken und Sein, die grundlegendsten
Wahrheiten der Mathematik.
Von diesen Begriffen und Prinzipien ausgehend, entwickelt
die deduktive Methode ihre Schlüsse, deren lange, aus lauter
geprüften Gliedern bestehende Kette die speziellsten Konse-
quenzen fest an die Grundlage des Systems knüpft. „Die lange
Kette einfacher und leichter Sätze, deren die Geometrie sich
bedient, um ihre schwierigsten Beweise zustande zu bringen,
ließ mich erwarten, daß alle dem Menschen erreichbaren Dinge
sich ebenso folgen. Wenn man also sich nur vorsieht und
nichts für wahr nimmt, was es nicht ist, und wenn man die
zur Ableitung des einen aus dem anderen nötige Ordnung be-
obachtet, so kann man selbst den entferntesten Gegenstand
endlich erreichen und den verborgensten entdecken."
Welche Fehlerquelle fürchtet Descartes einzig noch bei der
Anwendung dieser so genauen und strengen Methode? Eine
Lücke, denn er fühlt, daß er einen engen Geist hat, daß es
ihm Mühe macht, sich ein verwickeltes Ganzes vorzustellen.
Gerade in Hinsicht darauf nimmt er sich in acht, er veranstaltet
eine Gegenprobe, indem er sich vornimmt, „von Zeit zu Zeit
alles vollständig zu überzählen und im allgemeinen zu über-
schauen, um so gegen jedes Obersehen gesichert zu sein."
So ist diese cartesianische Methode beschaffen, deren exakte
Anwendung in den „Prinzipien der Philosophie" stattfindet.
Dnhem, Phytikaliscfae Theorie. 6
82 Viertes Kapitel.
In ihr hat der starke und enge Oeist den Mechanismus, nach
dem er arbeitet, klar dargestellt.
Schlagen wir nun das „Novum Organum^ auf. Suchen
wir nicht nach der Methode Bacons, denn er hat keine. Die
Anordnung seines Buches reduziert sich auf eine Teilung von
kindlicher Einfachheit. In dem y,Pars destruens'^ beschimpft
er Aristoteles, der „die Naturphilosophie durch seine Dialektik
verdorben, und die Welt mit seinen Kationen aufgebaut hat**.
Im „Pars aedificans** verherrlicht er die wahre Philosophie;
dieselbe hat nicht den Aufbau eines klaren und wohlgeordneten
Systems von Wahrheiten zum Ziel, die logisch aus sicheren
Prinzipien abgeleitet sind, ihr O^enstand ist durchaus prak-
tischer, ich wage zu sagen industrieller Natur. „Man muB sehen,
welche Regel, welche Vorschrift vor allem eingehalten werden
muB, um eine gewisse neue Eigenschaft an einem gegebenen
Körper hervorzurufen und zu erzeugen sowie versuchen, sie
in einfachen Ausdrücken und möglichst klar zu erklären.**
„Wenn man z. B. dem Silber die Farbe des Goldes oder
ein erheblicheres Gewicht geben will (unter Anpassung an die
Gesetze der Materie), oder einem Stein, der kein Diamant ist,
Durchsichtigkeit, oder dem Glase Zähigkeit, oder einem nicht
wachsenden Körper Wachstum, so muB man vor allem, sagen
wir, darauf bedacht sein, eine Regel, eine Vorschrift zu suchen,
um es zu erhalten.**
Lehren uns nun diese Vorschriften, unsere Experimente
nach festen Regeln durchzuführen und zu ordnen? Liefern sie
uns ein Mittel, unsere Beobachtungen zu klassifizieren? Keines-
wegs. Die Experimente werden ohne vorhergehende Überiegung
gemacht, die Beobachtungen auf gut Glück gesammelt, die
Resultate werden vollständig unbearbeitet, wie sie sich gerade
darbieten, in Tabellen als positive Fälle, negative Fälle,
Grade oder Vergleichungen, Ausnahmen oder Aus-
scheidungen aufgezeichnet, in denen ein französischer Geist
nichts als einen ungeordneten Haufen unbrauchbarer Fest-
stellungen sehen würde. Allerdings bequemt sich Bacon, be-
stimmte Kategorien bevorzugter Tatsachen aufzustellen, aber
diese Kategorien werden von ihm nicht klassifiziert, sondern
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 83
nur aufgezählt Er analysiert sie nicht, so daß er nicht die-
jenigen in derselben Gattung zusammenbringen kann, die auf-
einander reduzierbar sind, er zählt siebenundzwanzig Arten auf,
und läßt uns im unklaren, warum er die Liste nach der sieben-
undzwanzigsten abschließt. Er sucht nach keiner genauen
Formel, welche eine jede dieser Kategorien der ausgewählten
Tatsachen charakterisieren und bestimmen würde, er begnügt
sich, sie mit einem Namen auszustatten, der ein wahrnehmbares
Bild hervorruft: isolierte Tatsachen, Wanderung, Anzeigendes,
Heimliches, Büschel, Angrenzendes, Feindliches, Bündnisartiges,
Kreuzartiges , Zwietrachtartiges , Lampenartiges , Türartiges,
Wasserlaufartiges. So ist das Durcheinander beschaffen, das
gewisse Leute, — die nie Bacon gelesen haben — , der carte-
sianischen Methode entgegenhalten und als Baconsche Methode
bezeichnen. In keinem anderen Werke läßt die Weite des eng-
lischen Geistes so sehr die durch sie verdeckte Schwäche durch-
scheinen.
Wie der Descartessche Geist in der ganzen französischen
Philosophie heimisch zu sein scheint, so scheint die Vor-
stellungsgabe Bacons, sein Sinn für das Konkrete und Praktische,
seine Unkenntnis und Verachtung für die Abstraktion und De-
duktion in das Blut, das die englische Philosophie belebt, über-
gegangen zu sein. „Nacheinander haben ^) Locke, Hume, Bent-
ham und die beiden Mills die Philosophie der Erfahrung und
Beobachtung dargelegt. In der Utilitätsmoral, der induktiven
Logik, der assoziativen Psychologie bestehen die großen Bei-
träge der englischen Philosophie zu der universellen Gedanken-
arbeit. Alle diese Denker kommen weniger an Hand von Ober-
legungen, als durch Anhäufungen von Beispielen vorwärts.
Anstatt Schlüsse aneinander zu ketten, sammeln sie Tatsachen.
Darwin oder Spencer greifen ihre Gegner nicht in einem ge-
lehrten Diskussionsgefecht an, sondern sie vernichten sie, indem
sie sie steinigen.
Der Gegensatz zwischen der französischen und englischen
Begabung macht sich in allen geistigen Schöpfungen geltend
^) A. Chevrillon: Sydney Smith et la renaissance des id^es
liberales en Angleterre au XIX« stiele, p. 90. Paris 1894.
84 Viertes Kapitel.
und tritt gleicherweise bei allen Äußerungen des öffentlichen
Lebens hervor.
Oibt es einen größeren Unterschied, als zwischen unserem
französischen Recht, das in mehrere Codices gruppiert ist, in
denen die Gesetzesartikel methodisch unter Titeln, die abstrakte,
klar definierte Begriffe ausdrucken, eingereiht sind, und der
englischen Gesetzgebung, die aus einem überwältigenden Haufen
unzusammenhängender und oft einander widersprechender Ge-
setze und Gewohnheitsrechte besteht, die seit der Magna Charta
aneinandergereiht wurden, ohne daß die neu hinzukommenden
den früheren Abbruch taten? Die englischen Richter fühlen sich
durch diesen chaotischen Zustand der Gesetzgebung keineswegs
beengt, sie beanspruchen weder einen Pothier noch einen Portalis,
sie leiden nicht unter der Unordnung der Texte, die sie anzu-
wenden haben. Das Bedürfnis nach Ordnung offenbart Enge
des Geistes, der eine Gesamtheit nicht mit einem Blick umfassen
kann und einen zuveriässigen Führer benötigt, der ihm ein jedes
der Elemente dieser Gesamtheit einzeln, ohne Lücke oder Wieder-
holung vorführt.
Der Engländer ist im wesentlichen konservativ, er hütet
alle Traditionen, gleichviel woher sie stammen. Es verletzt ihn
keineswegs, ein Andenken an Cromwell mit einem an Karl I.
zusammengestellt zu sehen. Die Geschichte seines Landes er-
scheint ihm so, wie sie gewesen ist: als eine Folge verschiedener
kontrasibildender Tatsachen, in der eine jede politische Partei
nach der Reihe Glück und Mißgeschick erfahren, abwechselnd
Verbrechen und ruhmvolle Taten vollführt hat Ein solcher
Hang an der Überiieferung, der alles Vergangene als solches
achtet, ist mit der Enge des französischen Geistes unvereinbar.
Der Franzose will eine Geschichte, die klar und einfach ist, die
nach einer gewissen Ordnung und Methode entwickelt wird,
in der alle Ereignisse aus den politischen Prinzipien, auf die sie
sich beruft, ebenso hervorgehen, wie die Corollare aus einem
mathematischen Theorem. Wenn die Wirklichkeit ihm nicht
eine solche Geschichte liefert, so ist es um so schlimmer für
diese Wirklichkeit. Er wird dann Tatsachen entsteilen, manche
unterdrücken, andere erfinden, da er es lieber mit einem Roman,
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 85
der klar und methodisch, als mit einer wahrheitsgetreuen Ge-
schichte, die verwirrt und kompliziert ist, zu tun hat.
Die Enge des Geistes erweckt im Franzosen den Wunsch
nach Klarheit, Ordnung und Methode, und diese Liebe zur
Klarheit, Ordnung und Methode veranlaßt ihn, in jedem Gebiet
das Erbe der Vergangenheit umzureißen und dem Erdboden
gleichzumachen, um die Gegenwart nach einem vollständig ge-
ordneten FMan aufzubauen. Descartes, der vielleicht charakteri-
stischste Vertreter des französischen Geistes, hat sich be-
müht^), die Prinzipien, auf die sich alle berufen, die so oft die
Kette unserer Überlieferung zerstört haben, zu formulieren. „So
sieht man, daß die von einem Baumeister unternommenen und
ausgeführten Bauten in der Regel schöner und von besserer
Anordnung sind, als solche, an denen mehrere gebessert haben
und an denen man alte Mauern, die zu anderem Zwecke gedient,
benutzt hat So sind jene alten Häusergruppen, die im Anfang
nur Burgflecken waren und im Laufe der Zeit große Städte
geworden sind, im Vergleich zu den regelmäßigen Plätzen, die
ein Ingenieur nach freiem Ermessen in einer Ebene anlegt,
meist so schlecht eingeteilt, daß ungeachtet der hohen Kunst
des einzelnen man doch beim Anblick ihrer schlechten Ordnung
und der krummen und unregelmäßigen Straßen sie eher für
Werke des Zufalles, als für die vernünftiger Wesen hält" An
dieser Stelle preist der große Philosoph im voraus den
Vandalismus, der zur Zeit Ludwig XIV. so viele Denkmäler der
vorangegangenen Jahrhunderte zertrümmerte, er prophezeit
Versailles.
Der Franzose begreift den Gang des sozialen und politischen
Lebens nur als fortwährende Erneuerung, als unbegrenzte Serie
von Revolutionen; der Engländer sieht dagegen in ihm eine
kontinuieriiche Entwickelung. Taine hat gezeigt, welchen ent-
scheidenden Einfluß der klassische Geist, d. h. der starke
aber enge Geist, mit dem die meisten Franzosen begabt sind,
auf die Geschichte Frankreichs ausgeübt hat; man könnte ebenso
an dem Gang der Geschichte Englands die Spuren des um-
^) Descartes: Discours de la Methode.
86 Viertes Kapitel.
fassenden aber schwachen Geistes des englischen Volkes mit
Sicherheit verfolgen^).
Nachdem wir nun die Fähigkeit, sich eine große Menge
konkreter Tatsachen vorzustellen, in Verbindung mit dem Un-
vermögen, abstrakte und allgemeine Gedanken zu erfassen, in
ihren verschiedenen Äußerungen kennen gelernt haben, wird es
uns nicht merkwürdig erscheinen, daß diese Weite und Schwäche
des Geistes einen neuen Typus von physikalischen Theorien
demjenigen entgegengestellt hat, den der starke aber enge Geist
schuf. Wir werden uns auch nicht wundern, daß dieser neue
Typus seine größte Entfaltung in den Werken „jener großen
englischen Schule der mathematischen Physik, deren Arbeiten
eine der Ruhmestaten des XIX. Jahrhunderts sind^'', erreicht hat
§ 5. — Die englische Physik und die mechanischen
Modelle.
Beim Studitun der in England erscheinenden physikalischen
Abhandlungen stößt dem Franzosen jeden Augenblick ein
höchst befremdendes Element auf. Dieses Element, das fast
stets die Darlegtmg einer Theorie begleitet, ist das Modell.
Nichts macht den Unterschied zwischen der englischen und
unserer Art des Aufbaues der Wissenschaft anschaulicher, wie
diese Verwendung des Modells.
Wir haben vor uns zwei elektrische Körper, man soll eine
Theorie ihrer gegenseitigen Anziehung bezw. Abstoßung geben.
Der französische oder deutsche Physiker, heiße er nun Poisson
oder Gauß, denkt sich in der äußeren Umgebung dieser Kör-
per die Abstraktion, die man als materiellen Punkt bezeichnet,
in Verbindung mit jener andern Abstraktion, die man elek-
^) Der Leser findet eine sehr eingehende, scharfsinnige und gut mit
Beweisen belegte Analyse eines zugleich umfassenden und schwachen eng-
lischen Geistes im Werke von Andr^ Chevrillon: Sydney Smith et la
renaissance des id^es liberales en Angleterre au XIX^ si^cle.
Paris 1894.
") O. Lodge: Les Th^ories modernes de l'^lectricit^. Essai
d'une th^orie nouvelle. Traduit de Fanglais et annot^ par E. Meylan,
p. 3, Paris 1891. [Deutsch herausgegeben von R. Wachsmut unter dem
Titel: „Neueste Anschauungen über Elektrizität", Leipzig 1896.]
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 87
trische Ladung nennt, gesetzt; er sucht sodann eine dritte
Abstraktion zu berechnen, die Kraft, der der materielle Punkt
unterworfen ist Er gibt Formeln an, die die Bestimmung
der Größe und Richtung dieser Kraft für jede mögliche Lage
dieses materiellen Punktes ermöglichen. Aus diesen Formeln
leitet er eine Reihe von Konsequenzen ab. Er zeigt nament-
lich, daß an jedem Punkte des Raumes die Kraft die Rich-
tung der Tangente an eine bestimmte Linie, die Kraftlinie,
besitzt; daß alle Kraftlini;en zu bestimmten Flächen, deren
Gleichung er angibt, den Flächen gleichen Potentials
senkrecht sind, daß sie, im Speziellen, zu den Oberflächen
der zwei elektrisierten Leiter normal stehen, die in die Reihe
der Flächen gleichen Potentials gehören. Er berechnet die
Kraft, der ein jedes Element der beiden Oberflächen unter-
worfen ist, und setzt endlidi alle diese elementaren Kräfte,
entsprechend den Regeln der Statik zusammen. Er kennt nun-
mehr die Gesetze der gegenseitigen Wirkungen zweier elek-
trischer Körper.
Diese ganze Theorie der Elektrostatik bildet eine Grup-
pierung abstrakter Begriffe und allgemeiner Sätze, die in der
klaren und genauen Sprache der Geometrie und Algebra for-
muliert, und die durch die Regeln einer strengen Logik unter-
einander verbunden sind. Diese Gruppierung befriedigt den
Verstand eines französischen Physikers ebenso vollständig,
wie seinen Sinn für Klarheit, Einfachheit und Ordnung.
Beim Engländer ist dies anders. Die abstrakten Begriffe
des materiellen Punktes, der Kraft, der Kraftlinie, der Fläche
gleichen Potentials, befriedigen sein Bedürfnis, sich konkret
materielle, sichtbare und greifbare Dinge vorzustellen, nicht.
„Solange wir uns an diese Darstellungsmethode halten'^ sagt
ein englischer Physiker^), „können wir uns keine gedankUche
Vorstellung von den sich in der Wirklichkeit vollziehenden
Erscheinungen machen.^' Um diesem Bedürfnis zu genügen,
schafft er ein Modell.
Der französische oder deutsche Physiker stellt sich im
Räume, der zwei Konduktoren voneinander trennt, abstrakte
*) O. Lodge: op. dt., p. 16.
88 Viertes Kapitel.
Kraftlinien, die weder Dicke noch reale Existenz haben, vor.
Der englische Physiker geht sofort daran, diese Linien zu mate-
rialisieren, sie bis zu den Dimensionen einer Röhre zu er-
weitern, die er aus vulkanisiertem Kautschuk herstellt. An
Stelle einer Gruppe idealer Kraftlinien, die nur dem Verstände
faßbar sind, hat er ein Bündel elastischer Bänder, die sicht-
bar und tastbar, mit ihren beiden Enden an der Oberfläche
der zwei Konduktoren festgeklebt sind, sich in Spannung
befinden, so daß sie sich zu verkürzen und gleidizeitig zu ver-
dicken suchen. Wenn die beiden Konduktoren sich einander
nähern, sieht er, wie diese elastischen Bänder sie ziehen, er
sieht, wie jedes von ihnen sich zusammenzieht und anschwillt.
So ist das berühmte von Faraday erdachte Modell der elek-
trostatischen Wirkungen beschaffen, das von Maxwell und der
ganzen engUschen Schule als Werk des Genies bewundert
wird.
In englischen physikalischen Abhandlungen wird bestän-
dig von derartigen mechanischen Modellen, die durch gewisse
mehr oder minder grobe Analogien die Eigenschaften der
Theorie, die auseinandergesetzt werden soll, ins Gedächtnis
rufen, Gebrauch gemacht. Manche machen von ihnen nur
mäßigen Gebrauch, andere greifen im Gegenteil jeden Augen-
blick zu diesen mechanischen Darstellungen. Vor uns hegt
ein Buch^), das die modernen Theorien der Elektrizität dar-
legen will. Es ist darin nur die Rede von Seilen, die sich auf
Rollen bewegen, sich um Walzen winden, durch kleine Ringe
hindurchgehen und Gewichte tragen, von Röhren, deren man-
che Wasser aufsaugen, andere anschwellen und sich wieder
zusammenziehen, von Zahnrädern, die ineinander eingreifen
oder an Zahnstangen geführt werden; wir glaubten in die
friedliche und sorgfältig geordnete Behausung der deduktiven
Vernunft einzutreten, und befinden uns in einer Fabrik.
Der Gebrauch ähnlicher mechanischer Modelle erleichtert
dem französischen Leser keineswegs die Einsicht in eine Theo-
rie, er braucht im Gegenteil oft einen Kraftaufwand, um die
Funktion des manchmal sehr komplizierten Apparates, den ihm
O. Lodge: op. cit
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 89
der englische Autor beschreibt, zu verstehen, um die Analo-
gien zwischen den Eigentümlichkeiten dieses Apparates und
den Sätzen der Theorie, welche er illustrieren soll, zu er-
kennen. Dieser Kraftaufwand ist oft viel größer, als der-
jenige, den der Franzose aufbringen muß, um die abstrakte
Theorie, die das Modell verkörpern will, in ihrer Reinheit
zu verstehen. Der Engländer hingegen findet die Verwen-
dung der Modelle beim Studium der Physik dermaßen not-
wendig, daß sich der Anblick des Modells für ihn mit dem
Sinn der Theorie selbst vermischt. Es ist merkwürdig, daß
diese Verwirrung von demjenigen förmlich anerkannt und pro-
klamiert wird, der heute der höchste Ausdruck des englisdien
wissenschaftlichen Genius ist, der lange Zeit unter dem Namen
William Thomson berühmt war, und der, in die Pairswürde
erhoben, den Titel Lord Kelvin erhielt.
„Mein Ziel", sagt W. Thomson in seinen Vorlesungen
über molekulare Dynamik^), „ist zu zeigen, wie man in jeder
der Kategorien von physikalischen Phänomenen, die wir zu
betrachten haben, wie immer auch diese Phänomene beschaffen
seien, ein mechanisches Modell, welches den gestellten Be-
dingungen genügt, konstruieren kann. Wenn wir die Phäno-
mene der Elastizität fester Körper betrachten, fühlen wir das
Bedürfnis, uns ein Modell dieser Phänomene vorzustellen.
Wenn wir bei anderer Gelegenheit die Lichtschwingungen zu
betrachten haben, brauchen wir ein Modell der Wirkungen,
die sich in diesen Erscheinungen kundgeben. Wir fühlen das
Bedürfnis, an dieses Modell unser Verständnis der Gesamtheit
zu knüpfen. Es scheint mir, daß der wahre Sinn der Frage:
Verstehen wir das betreffende physikalische Problem oder ver-
stehen wir es nicht? folgender ist: Können wir ein entspre-
chendes mechanisches Modell konstruieren? Ich habe eine
außerordentliche Bewunderung für das mechanische Modell
^) W. Thomson: Lectures on molecular Dynamics, and the
Wawe-Theory of Light John Hopkins University, Baltimore, 1884, p. 131.
Siehe auch: Sir W. Thomson (lord Kelvin): Conferences scienti-
fiques et allocutions, trad. par P. Lugol et annot^es par M. Brillouin:
Constitution de la mati&re, Paris, 1893.
90 Viertes Kapitel.
der elektromagnetischen Induktion, welches wir Maxwe ver-
danken; er hat ein Modell geschaffen, das aUe ^'^ X?^!"
Wirkungen, die die Elektrizität vermittelst induzierter Stroiac Ptr
ausübt, hervorbringen kann. Unzweifelhat
mechanisches Modell außerordentlich lehrn
einen klar bestimmten Schritt zu einer me
des Elektromagnetismus."
„Ich bin niemals zufrieden", sagt "•
an einer anderen Stelle^), „bevor ich von
den ich studiere, ein mechanisches Modell
Wenn ich ein mechanisches Modell mach
ich, wenn ich keins machen kann, verste.
diesem Gründe verstehe ich die elektron
theorie nicht. Ich glaube fest an eine t
Lichttheorie. Wenn wir die Elektrizität,
und das Licht verstehen werden, werden \
sie der Teil eines Ganzen sind. Ich wünsc
nach bester Möglichkeit zu verstehen, ohne
die ich noch weniger verstehe. Deshalb
die reine Dynamik. Ich kann in der reine
aber im Elektromagnetismus ein Modell fi
So bedeutet für die Physiker der engl
physikalisches Phänomen verstehen so vie
zusammenstellen können, das dieses Phä:
Folglich heißt die Natur der materiellen Din
einen Mechanismus vorstellen, dessen Spiel •
der Körper darstellt, resp. nachahmt. Die wugnsciie Schule
ist vollständig vom Gedanken der rein mechanischen Erklä-
rung der physikalischen Phänomene eingenommen.
Die rein abstrakte Theorie, die Newton verkündete, die
wir ausführlich studiert haben, erscheint den Anhängern dieser
Schule wenig verständlich.
„Eine andere Klasse mathematischer Theorien", schrieb
W. Thomson^), „die bis zu gewissem Grade auf Experimente
^) W. Thomson: Lectures on molecular Dynamics, p. 270.
*) W.Thomson & P. 0. Tait: Treatise on natural Philosophy
vol. I., I«r part., all 385.
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. Ql
basiert sind, ist auch von Nutzen und hat sogar in gewissen
Fällen auf neue und wichtige Resultate hingewiesen, die nach-
träglich experimentell bestätigt worden sind. Hierher gehören
die dynamische Theorie der Wärme, die Undulationstheorie
des Lichtes usw. In der ersteren, welche auf der experimen-
tellen Tatsache beruht, daß die Wärme eine Form der Ener-
gie ist, sind viele Formeln für jetzt dunkel und nicht zu inter-
pretieren, da wir den Mechanismus der Bewegung und die
Formänderungen der Moleküle nicht kennen . . . Dieselben
Schwierigkeiten treten in der Theorie des Lichtes auf. Bevor
aber diese Chinkelheit völlig aufgeklärt werden kann, müßten
wir etwas über die letzte oder molekulare Konstitution der
Körper oder Molekülgruppen wissen, die uns bis jetzt nur in
ihren Vereinigungen bekannt sind.'^
Diese Vorliebe für erklärende und mechanische Theorien
kann wohl sicher nicht als unterscheidendes Merkmal der eng-
lischen Theorien und derjenigen wissenschaftlichen Traditio-
nen, die in andern Ländern blühen, genügen. Die mechanischen
Theorien haben ihre ausgesprochenste Form bei einem fran-
zösischen Qenie, bei Descartes angenommen. Der Hollän-
der Huygens und die schweizerische Schule der BernouUis
haben dafür gekämpft, den Prinzipien der Atomistik ihre ganze
Strenge zu bewahren. Die englische Schule unterscheidet sich
von andern nicht durch den Versuch, die Materie auf einen
Mechanismus zurückzuführen, sondern durch die spezielle
Form, in der diese Versuche unternommen wurden.
Zweifellos verdanken die mechanischen Theorien überall
dort, wo sie Wurzel schlagen und sich entfalten, ihre Ent-
stehung und Entwicklung einer verminderten Abstraktions-
fähigkeit, einem Siege der Vorstellungskraft über die Vernunft.
Wenn Descartes und die ihm nachfolgenden Philosophen der
Materie nur rein geometrische oder kinematische Eigenschaf-
ten zubilligen wollten, so geschah es, weil alle Eigenschaften
verborgen, weil sie dem Verstände, nicht aber der Vor-
stellungskraft zugänglich waren. Die Zurückführung der
Materie auf die Geometrie durch die großen Denker des
XVII. Jahrhunderts beweist klar, daß in dieser Epoche die
92 Viertes Kapitel.
Fähigkeit zu tiefen eingehenden Abstraktionen, die sich in
den Exzessen der untergehenden Scholastik erschöpfte, nach-
gelassen hatte.
Wohl kann bei den großen Physikern Frankreichs, Hol-
lands, der Schweiz und Deutschlands der Sinn für die Ab-
straktion einer Ohnmacht ausgesetzt sein, er schläft aber nie-
mals vollständig. Allerdings ist die Hypothese, daß alles in
der materiellen Natur sich auf Geometrie und Kinematik zurück-
führen läßt, ein Sieg der Vorstellungskraft über den Verstand.
Aber nachdem der Verstand in diesem wesentlichen Punkt
zurückgetreten ist, nimmt er wenigstens seine Rechte wieder
auf, wenn es sich um die Ableitung der Folgerungen, um den
Aufbau des Mechanismus, der die Materie darstellen soll, han-
delt. Die Eigenschaften dieses Mechanismus müssen logisch
den Hypothesen folgen, die als Grundlagen des kosmologi-
schen Systems angenommen wurden. Descartes z. B. und
nach ihm Malebranche bemühten sich, nachdem sie den Grund-
satz, daß die Ausdehnung das Wesen der Materie sei, ange-
nommen hatten, zu zeigen, daß die Materie überall die gleiche
Natur habe, daß es nicht mehrere voneinander verschiedene
materielle Substanzen geben könne, daß die verschiedenen
Teile der Materie sich einzig und allein durch die Form und
die Bewegungen voneinander unterscheiden können, daß die
gleiche Quantität Materie immer den gleichen Raum einnimmt,
daß dergestalt die Materie inkompressibel sei, und sie suchen
ein System logisch aufzubauen, das bei der Erklärung der
Naturerscheinungen die zwei einzigen Elemente, die Form der
bewegten Teile und die Bewegung, die sie erfüllt, benutzt
Der Bau des Mechanismus, der zur Erklärung der physi-
kalischen Gesetze dienen soll, wird nicht nur bestimmten logi-
schen Bedingungen unterworfen und ist gezwungen, vor be-
stimmten Prinzipien haltzumachen, sondern auch die Kör-
per, die für die Zusammenstellung dieser Mechanismen die-
nen, sind den sichtbaren und konkreten Körpern, die wir
jeden Tag beobachten und berühren, nicht im geringsten ähn-
lich. Sie sind aus einer abstrakten ideellen Materie, die durch
die Prinzipien der Kosmologie, auf die sich der Physiker be-
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 93
ruft, definiert ist, einer Materie, die nicht in dem Gebiet der
Sinne liegt, die allein der Vernunft sichtbar und greifbar ist,
einer cartesianischen Materie, die nur aus Ausdehnung und
Bewegung besteht, oder einer atomistischen Materie, die keine
Eigenschaft außer Gestalt und Härte besitzt, gebildet
Wenn ein englischer Physiker ein Modell zur Darstellung
einer Gruppe physikalischer Gesetze sucht, so kümmert er
sich tim keinen kosmologischen Grundsatz, so hält er sich
an keine logische Anforderung. Er sucht nicht sein Modell
von einem philosophischen System abzuleiten, oder es auch
nur mit einem solchen in Einklang zu bringen. Er hat nichts
als das eine Ziel, eine sichtbare und handgreifliche Darstel-
lung der abstrakten Gesetze, die sein Geist ohne Hilfe eines
solchen Modells nicht erfassen kann, zu schaffen; ob die ato-
mistische Kosmologie sich von seinem Mechanismus befrie-
digt erklärt, oder er nach den Prinzipien des Cartesianismus
verworfen wird, kümmert ihn wenig, wenn er nur für die An-
schauung genügend konkret, genügend klar ist.
Der englische Physiker verlangt von keiner Metaphysik,
daß sie ihm die Elemente, aus denen er seine Mechanismen
zusammenstellen will, liefere, er sucht nicht die nicht redu*-
zierbaren Eigenschaften der letzten Elemente der Materie zu
kennen. W. Thomson stellt sich z. B. niemals philosophische
Fragen wie folgende: Ist die Materie kontinuierlich oder ist
sie aus individuellen Elementen zusammengesetzt? Ist das
Volumen eines letzten Elementes der Materie variabel oder
unvariabel? Wie sind die Wirkungen eines Atoms beschaffen,
werden sie auf Distanz oder nur bei Berührung ausgeübt?
Solche Fragen entstehen nicht einmal in seinem Kopf, oder
vietmehr, wenn sie bei ihm entstehen, weist er sie als für
den Fortschritt der Wissenschaft müßig und schädlich zurück.
„Der Begriff des Atoms", sagt er^), „wurde stets mit
unzulässigen Annahmen, wie die der unendlichen Härte, der
absoluten Starrheit, einer mystischen Fernewirkung sowie der
») W. Thomson: The Size of Atoms, Nature, März 1870. —
Wieder abgedruckt in Thomson and Tait: Treatise on Natural Philo-
sophy, Ile part., app. F.
04 Viertes Kapitel.
Unteilbarkeit, verknüpft, so, daß die Chemiker und mandie
anderen vernünftigen Naturforscher der Gegenwart alle Ge-
duld mit ihm verloren haben, und es in das Reich der Meta^-
physik verbannten, sie machten aus ihm einen Gegenstand, der
kleiner als alles war, was man begreifen kann. Wenn
aber das Atom von einer unbegreifbaren Kleinheit ist, warum
gehen dann die chemischen Prozesse nicht unendlich' schnell
vor sich? Die Chemie ist nicht in der Lage, diese Frage und
noch viele andere Probleme von größter Bedeutung zu be-
handeln. Sie ist durch die Starrheit ihrer grundlegenden Vor-
aussetzungen beengt, die es verhindern, daß sie das Atom als
reellen Teil der Materie auffaßt, der einen endlichen Raum
einnimmt, der Dimensionen hat, die nicht so klein sind, daß
sie allen Messungen unzugänglich blieben, und der zum Auf-
bau aller greifbaren Körper dient."
Die Körper, aus denen der englische Physiker seine Mo-
delle konstruiert, sind nicht abstrakte, durch die Metaphysik
verarbeitete Vorstellungen. Es sind konkrete Körper, die den
uns umgebenden gleichen, sie sind fest oder flüssig, starr
oder biegsam, flüchtig oder zähe ; und unter Festigkeit, Flüch-
tigkeit, Härte, Biegsamkeit und Zähigkeit braucht man nicht
die abstrakten Eigenschaften zu verstehen, deren Definition
sich aus einer bestimmten Kosmologie ergibt. Diese Eigen-
schaften werden nämlich keineswegs definiert, sondern nur
an Hand von sinnbildlichen Beispielen vorgestellt: Die Härte
ruft das Bild eines Stahlblockes, die Biegsamkeit das eines
Kokonfadens, die Zähigkeit das des Glyzerins wach. Um den
konkreten Charakter der Körper, aus denen er seine Mecha-
nismen verfertigt, in möglichst faßbarer Weise darzutun,
schreckt W. Thomson nicht davor zurück, sie mit den ge-
wöhnlichsten Ausdrücken zu bezeichnen. So bezeichnet er
sie als Klingelzugwinkel, Bindfaden, Gallerte. Man kann nicht
klarer zeigen, daß es sich nicht um Zusammenstellungen han-
delt, die von der Vernunft erfaßt, sondern um Mechanismen,
die von dem Vorstellungsvermögen gesehen werden sollen.
Er könnte uns auch nicht deutlicher ankündigen, daß die
Modelle, die er uns vorsetzt, nicht als Erklärungen der Ge-
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. Q5
setze in der Natur betrachtet werden dürfen. Wer ihnen einen
solchen Sinn zuschreiben wollte, würde sonderbaren Ober-
raschungen ausgesetzt sein.
Navier und Poisson stellten eine Theorie der Elastizität
der kristallisierten Körper auf; diese Körper werden im allge-
meinen durch 18 voneinander verschiedene Koeffizienten
charakterisiert.!) W. Thomson sucht diese Theorie mit Hilfe
eines mechanischen Modells zu illustrieren. ,,Wir konnten
uns", sagt er2), „erst für befriedigt erklären, als es ims
gelungen war, ein Modell mit 18 unabhängigen Modulen
zu schaffen." Dieses Modell wird aus acht harten Kugeln,
die an den acht Ecken eines Parallelepipedes angebracht sind
und die untereinander durch eine genügende Anzahl Spiral-
federn verbunden sind, gebildet. Wer von dem Anblick des-
selben eine Erklärung der Gesetze der Elastizität erwartet,
ivird eine große Enttäuschimg erleben. Wie ericlärt sich denn
die Elastizität der Spiralfedern? Der große englische Phy-
siker führt dieses Modell auch nicht als Erklärung an. „Wenn
auch der molekulare Bau der festen Körper, der in diesen
Betrachtungen vorausgesetzt und der durch unser Modell
mechanisch veranschaulicht wurde, nicht als in der Natur
genau verwirklicht aufgefaßt werden muß, so ist
nichtsdestoweniger der Aufbau eines mechanischen Modells
dieser Art sicher sehr lehrreich."
§ 6. — Die englische Schule und die mathematische
Physik.
Pascal hat mit vollem Recht erkannt, daß die Weite des
Geistes eine Fähigkeit sei, die bei einer großen Menge geo-
metrischer Untersuchungen ins Spiel kommt, in noch viel höherem
Maße ist sie die Eigenschaft, die das Genie des reinen Alge-
braikers charakterisiert. Für den Algebraiker handelt es sich
') Wenigstens nach W. Thomson. In Wirklichkeit hat Navier nur isotrope
Körper behandelt. Nach der Theorie von Poisson hängt die Elastizität
eines kristallisierten Körpers nur von 15 Koeffizienten ab. Die Prinzipien
der Navierschen Theorie führen, auf kristallisierte Körper angewendet, zu
den gleichen Resultaten.
*) W. Thomson: Lectures on molecular Dynamics, p. 131.
gO Viertes Kapitel.
nicht um die Analyse abstrakter B^friffe, um die Diskussion
der Zulässigkeit allgemeiner Prinzipien, sondern um die ge-
schickte, nach festen Regeln stattfindende Kombination von
Zeichen, die mit der Feder geschrieben werden können. Ein
großer Algebraiker benötigt keinesw^s besondere Kraft des
Denkens, eine große Weite desselben genügt. Die Geschicklich-
keit für algebraisches Rechnen ist keine Oabe der Vernunft,
sondern ein Attribut des Vorstellungsvermögens.
Es ist daher nicht merkwürdig, daß die Begabung für
Algebra unter den englischen AAathematikem stark verbreitet ist;
sie äußert sich nicht nur in der Zahl äußerst hervorragender
Algebraiker, die die englische Schule zählt, sondern auch in der
Vorliebe der Engländer für die verschiedenen Arten des sym-
bolischen Rechnens.
Ein Wort zur Erläuterung dieser Sache.
Ein Mensch, dessen Geist nicht umfassend ist, wird leichter
Dame, als Schach spielen. Denn wenn er im Damespiel einen
Zug kombinieren will, hat er es bei seiner Kombination nur mit
zwei Elementen, den höchst einfachen Regeln, nach denen die
Steine und die Damen gezogen werden, zu tun. Die Taktik
des Schachspielers kombiniert hingegen ebensoviele verschiedene
elementare Operationen, als es Arten von Figuren gibt, und
manche dieser Operationen, z. B. der Zug des Springers sind
so kompliziert, daß sie ein schwaches Vorstellungsvermögen
verwirren können.
Derselbe Unterschied, wie zwischen dem Dame- und dem
Schachspiel, besteht zwischen der klassischen Algebra, die wir
alle anwenden, und den verschiedenen Arten algebraischer
Symbolik, die im XIX. Jahrhundert geschaffen wurden. Die
klassische Algebra gebraucht bloß einige elementare Operationen,
die durch spezielle Symbole dargestellt werden, und jede dieser
Operationen ist recht einfach. Eine komplizierte algebraische
Rechnung besteht in nichts anderem, als in einer langen Reihe
dieser wenigen elementaren Operationen, in einer aus-
gedehnten Behandlung dieser wenigen Zeichen. Die Aufgabe
einer symbolischen Algebra besteht in der Abkürzung dieser
Rechnungen. Zu diesem Zweck fügt sie den elementaren
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. Q7
Operationen der klassischen Algebra andere Operationen hinzu,
die sie als elementare behandelt, die sie durch spezielle Symbole
darstellt, und deren jede eine nach einer festgesetzten Regel
ausgeführte Kombination, resp. Kondensation von Operationen,
die der alten Algebra entlehnt sind, bildet In einer symbolischen
Algebra kann man beinahe mit einem Schlag eine Rechnung
ausführen, die in der alten Algebra in eine lange Reihe von
Zwischenrechnungen zerfällt Dafür muß man sich aber einer
sehr großen Zahl von verschiedenen Zeichen bedienen, deren
jedes einer sehr komplizierten Regel folgt. Anstatt des Dame-
spieles spielt man eine Art Schach, bei dem jede der vielen
verschiedenen Figuren nach ihrer eigenen Art bewegt wird.
Es ist klar, daß der Geschmack an symbolischer Algebra
ein Anzeichen für die Weite des Geistes ist, und daß er ins-
besondere bei den Engländern verbreitet sein wird.
Diese Veranlagung des englischen Geistes für kondensierte
algebraische Rechnung wird vielleicht nicht klar erkannt werden,
wenn wir uns darauf beschränken, die Mathematiker, die ein
solches Rechnungssystem geschaffen haben, Revue passieren
zu lassen. Die englische Schule würde mit Stolz die von
Hamilton erdachte Quaternionenrechnung anführen, die Franzosen
könnten ihr aber die Cauchysche Symbolik (Theorie des clefs)
und die Deutschen die Ausdehnungslehre Graßmanns entgegen-
halten. Darüber braucht man keineswegs erstaunt zu sein, in
jeder Nation kommen Denker mit umfassendem Geist vor.
Aber nur bei den Engländern ist der umfassende Geist
häufig, gewöhnlich, ja einheimisch. Auch die verschiedenen
Arten algebraischer Symbolik, die Quaternionenrechnung, die
Vektoranalysis, sind nur bei den englischen Wissenschaftlern
so stark in Gebrauch. Die meisten englischen Abhandlungen be-
dienen sich dieser komplizierten, abgekürzten Sprache. Die
französischen oder deutschen Mathematiker lernen diese Sprache
nicht gerne. Sie kommen nie dazu, sie geläufig zu sprechen,
oder direkt in den Formeln, die sie zusammensetzen, zu denken;
um einer nach der Quaternionenrechnung oder der Vektor-
analysis ausgeführten Rechnung zu folgen, müssen sie sie erst
in die klassische Algebra übersetzen. Einer der französischen
Duhem, Physikalische Theorie. 7
98 Viertes Kapitel.
Mathematiker, die am gründlichsten die verschiedenen Arten des
symbolischen Rechnens studiert haben, Paul Morin, sagte mir
einmal: „Ich bin von einem Resultat, das ich nach der Quatem-
ionenrechnung erhalten habe, erst fiberzeugt, wenn ich es
durch unsere alte cartesianische Algebra bestätigt habe.''
Die häufige Anwendung, die die englischen Physiker von
den verschiedenen Arten der symbolischen Algebra machen, ist
eine; Äußerung der Weite ihres Geistes; sie hüllt ihre mathe-
matische Theorie in ein eigenartiges Oewand, sie gibt aber der
Theorie als solcher keine besondere Physiognomie. Wenn man
dies Oewand beseitigt, kann man diese Theorie leicht nach der
Mode der klassischen Algebra kleiden.
Nun genügt in vielen Fällen dieser Wechsel der Kleider
nicht, um den englischen Ursprung einer Theorie der mathe-
matischen Physik zu verhfillen, so daß man sie für eine fran-
zösische oder deutsche Theorie nehmen könnte, sie wird viel-
mehr erkennen lassen, daß die Engländer beim Aufbau einer
physikalischen Theorie der Mathematik nicht immer dieselbe
Rolle, wie die Gelehrten des Kontinents, zuerkennen.
FQr einen Franzosen oder Deutschen ist die physikalische
Theorie ihrem Wesen nach ein logisches System; vollkommen
strenge Ableitungen vereinigen die Hypothesen, auf denen die
Theorie ruht, mit den Folgerungen, die man aus ihnen ziehen
kann, und die man mit den Erfahrungstatsachen vergleichen
will. Wenn eine algebraische Rechnung dazukommt, so nur
deshalb, damit die Kette von Schlüssen, die die Folgerungen
an die Hypothesen knüpft, weniger schwerfällig und leichter
zu handhaben sei. Bei einer richtig gebauten Theorie kann
aber nie übersehen werden, daß die Algebra rein die Rolle eines
Hilfsmittels spielt. Man muß in jedem Augenblick die Mög-
lichkeit sehen, die Rechnung durch eine rein logische Überiegung,
deren abgekürzter Ausdruck sie ist, zu ersetzen. Damit diese
Substitution in genauer und sicherer Weise ausführbar sei, muß
eine sehr exakte und strenge Obereinstimmung zwischen den
Symbolen, den Buchstaben, die die algebraische Rechnung mit-
einander in Verbindung bringt, und den Eigenschaften, die der
Physiker gemessen hat, zwischen den fundamentalen Gleichungen,
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 99
die dem Analytiker als Ausgangspunkt dienen und den Hypo-
thesen, auf denen die Theorie ruht, hergestellt werden.
So haben auch diejenigen, die in Frankreich und Deutsch-
land Grundlegendes in der mathematischen Physik geschaffen
haben, die Laplace, Fourier, Cauchy, Ampfere, Gauß, Franz Neu-
mann, mit äußerster Sorgfalt die Brücke konstruiert, die den
Ausgangspunkt der Theorie mit dem Weg, auf dem sich die
algebraische Entwickelung vollziehen soll, verbindet. Diese
Brücke besteht in der Definition der in der Theorie zu be-
handelnden Größen und in der Rechtfertigung der Hypothesen,
auf denen die Deduktionen ruhen. Daher stammen jene Ein-
leitungen, die Muster an Klarheit und Methode sind, mit denen
die meisten ihrer Abhandlungen beginnen.
Diese Einleitungen einer physikalischen Theorie, die zur
Einführung der Gleichungen bestimmt sind, wird man wohl
n den Schriften der englischen Autoren stets vergeblich suchen.
Wünscht man davon ein krasses Beispiel?
Zu der von Ampfere geschaffenen Elektrodynamik der
leitenden Körper hat Maxwell eine neue Elektrodynamik, die-
jenige der dielektrischen Körper, hinzugefügt. Dieser Zweig
der Physik geht von der Betrachtung eines dem Wesen nach
neuen Elementes aus, das man, nebenbei gesagt, recht unpassend
als Verschiebungsstrom bezeichnet hat. Der Verschiebungs-
strom wurde zur Ergänzung der Definition der Eigenschaften
eines Dielektrikums in einem gegebenen Moment, die durch die
Kenntnis der Polarisation in demselben nicht vollständig be-
stimmt sind, in derselben Weise eingeführt, wie der Leitungs-
strom neben der elektrischen Ladung, der die Definition des
veränderiichen Zustandes eines Leiters vervollständigte. Der
Verschiebungs- und der Leitungsstrom weisen wohl enge
Analogien, aber auch tiefe Verschiedenheiten auf. Infolge
der Einführung dieses neuen Elementes erfuhr die Elektro-
dynamik eine vollständige Umwälzung; Phänomene, von denen
die Wissenschaft nicht einmal eine Ahnung hatte, die Hertz erst
zwanzig Jahre später entdeckte, wurden angekündigt, man sieht
eine neue Theorie der Fortpflanzung elektrischer Wirkungen in
nicht leitenden Medien entstehen, eine Theorie, die zu einer
100 Viertes Kapitel.
unvorausgesehenen Interpretation der optischen Erscheinungen,
zur elektromagnetischen Lichttheorie, fuhrt
Zweifellos wird nun Maxwell dieses so neue, so unvorher-
gesehene Element, das sich beim Studium so fruchtbar an selt-
samen und wichtigen Folgen erweist, erst in seine Gleichungen
einführen, nachdem er es mit der peinlichsten Sorgfalt definiert
und analysiert hat — Schlägt man die Schrift, in der Maxwell
seine neue Theorie des elektromagnetischen Feldes dargelegt
hat, auf, so findet man darin zur Rechtfertigung der Einfährung
des Verschiebungsstromes in die elektrodynamischen Gleichungen
nur folgende Zeilen:
„Die Änderungen der elektrischen Verschiebung müssen zu
den Strömen hinzugefügt werden, um die vollständige Bewegung
der Elektrizität zu erhalten/'
Wodurch läßt sich dieses beinahe vollständige Fehlen einer
Definition in einem Falle, in dem es sich ja um die neuesten
und wichtigsten Elemente handelt, diese Gleichgültigkeit gegen-
über der Aufstellung der Gleichungen einer physikalischen
Theorie, erklären? Die Antwort scheint uns nicht zweifelhaft
Während für einen französischen oder deutschen Physiker der
algebraische Teil einer Theorie die SchluBreihe, in der ihre Ent-
wickelung vor sich geht, genau ersetzen soll, spielt er für den
englischen Physiker die Rolle eines Modells. Dieser algebraische
Teil der Theorie ist eine dem Vorstellungsvermögen faßbare
Gruppierung der Zeichen, deren, nach den Regeln der Algebra,
ausgeführte Veränderungen mehr oder weniger richtig die Ge-
setze der zu studierenden Phänomene nachahmen, ebenso, wie
dies durch eine Anordnung verschiedener, sich nach den Ge-
setzen der Mechanik bewegender Körper geschehen würde.
Wenn daher ein französischer oder deutscher Physiker
Definitionen einführt, die es ihm ermöglichen sollen, eine logische
Ableitung durch eine algebraische Rechnung zu ersetzen, so
muß er mit äußerster Sorgfalt verfahren, wenn er nicht die
für seine Schlüsse erforderiiche Strenge und Sicherheit preisgeben
will. Wenn hingegen W. Thomson ein mechanisches Modell
einer Gruppe von Erscheinungen vorbringt, so bemüht er sich
nicht, in genauen Überiegungen die Übereinstimmung zwischen
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 101
dieser Anordnung der konkreten Körper und den physikalischen
Gesetzen, die sie darstellen soll, herzustellen. Die Vorstellung,
die allein das Modell interessiert, soll allein Richter Aber die
Ähnlichkeit zwischen dem Bild und dem abzubildendem Ding
sein. Ebenso verfährt Maxwell, der die Aufgabe, die physikalischen
Gesetze mit den allgemeinen Modellen, die sie nachbilden sollen,
miteinander zu vergleichen, der intuitiven Vorstellungsgabe
uberläBt. Er hält sich mit einem derartigen Vergleich nicht auf
und verfolgt ohne weiteres das Spiel dieses Modells. Er kom-
biniert die elektrodynamischen Gleichungen, meistens ohne in
jeder dieser Kombinationen nach ihrer Anpassung an die physi-
kalischen Gesetze zu suchen.
Der französische oder deutsche Physiker kommt meistens
durch eine derartige Auffassung der mathematischen Physik aus
der Fassung, da er nicht begreift, daß er vor sich nur ein
Modell sieht, das seine Vorstellungskraft packen, nicht aber
seinen Verstand befriedigen soll. Er beharrt darauf, in den
algebraischen Transformationen eine Folge von Deduktionen
zu suchen, die von genau formulierten Hypothesen zu Folge-
rungen fuhren, die durch das Experiment bestätigt werden
können, da er sie aber nicht findet, fragt er sich ängstlich,
was denn nun eigentlich die Maxwellsche Theorie sein könne;
worauf ihm derjenige, der in den Geist der englischen mathe-
matischen Physik eingedrungen ist, antwortet, daß es in ihr gar
nichts Übereinstimmendes mit der Theorie, die er sucht, sondern
bloß algebraische | Formeln, die sich kombinieren und trans-
formieren, gibt „Auf die Frage: was ist die Maxwellsche
Theorie?* sagte H. Hertz ^), „wüßte ich also keine kürzere und
bestimmtere Antwort, als diese: die Maxwellsche Theorie ist
das System der Maxwellschen Gleichungen.**
§ 7. — Die englische Schule und der logische Aufbau
einer Theorie.
Die von den großen Mathematikern des Kontinents, seien
es Franzosen oder Deutsche, Holländer oder Schweizer, ge-
^) H. Hertz: Untersuchungen über die Ausbreitung der elek-
trischen Kraft Einleitende Obersicht, p. 23. Leipzig 1892.
102 Viertes Kapitel.
schaffenen Theorien lassen sich in zwei große Kategorien ein-
teilen, in die erklärenden und in die rein beschreibenden Theo-
rien. Aber diese beiden Arten von Theorien zeigen einen ge-
meinsamen Charakterzug, sie sollen als nach den Regeln
strenger Logik aufgebaute Systeme betrachtet werden. Als
Werke des Verstandes, der weder tiefe Abstraktionen noch
lange Deduktionen scheut, aber vor allem nach Ordnung
und Klarheit begehrt, wollen sie, daß durch eine einwand-
freie Methode die Folge ihrer Sätze vom ersten bis zum letzten,
von den grundlegenden Hypothesen bis zu den mit den Tat-
sachen zu vergleichenden Folgerungen gekennzeichnet sei.
Von dieser Methode stammen jene großartigen Systeme
der Natur her, die behaupten, die Physik in die vollkommene
Form der euklidischen Geometrie bringen zu können. Sie
nehmen eine bestimmte Anzahl sehr klarer Postulate als Grund-
lage an, und bemühen sich, eine vollkommen strenge und regel-
mäßige Konstruktion, in der jede Erfahrungstatsache richtig
untergebracht ist, auszuführen. Sie waren seit der Zeit, da
Descartes seine Prinzipien der Philosophie entwarf, bis
zu dem Tag, an dem Laplace und Poisson auf Grund der
Anziehungshypothese das umfassende Gebäude ihrer Meca-
nique physique errichteten, das dauernde Ideal der ab-
strakten Denker und insbesondere des französischen Geistes.
Im Streben nach diesem Ideal errichtete er Monumente, deren
einfache Linien und großartige Proportionen noch heute, wo
diese Gebäude, von allen Seiten untergraben, in ihrem Unter-
bau wankend geworden sind, Bewunderung erregen.
Diese Einheit der Theorie, diese logische Verkettung aller
Teile, die sie zusammensetzen, sind so natürliche, so folge-
richtige Konsequenzen der Idee, die ein starker Geist von
einer physikalisdien Theorie hat, daß für sie eine Störung
in dieser Einheit oder ein Riß in dieser Verkettung die Ver-
letzung der Prinzipien der Logik, die Ausführung einer Ab-
surdität bedeutet.
Für das Umfassende aber schwache Denken des englischen
Physikers ist dies keineswegs der Fall.
Die Theorie ist für ihn weder eine Erklärung noch eine
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 103
rationelle Klassifikation der physikalischen Gesetze, sondern
ein Modell dieser Gesetze. Sie ist nicht zur Befriedigung des
Verstandes, sondern zum Ergötzen der Vorstellungskraft auf-
gebaut. Demzufolge entgeht sie der Herrschaft der Logik.
Dem englischen Physiker ist es erlaubt, ein Modell zur Dar-
stellung einer Gruppe von Gesetzen, und wieder ein anderes,
vom früheren ganz verschiedenes zur Darstellung einer ande-
ren Gruppe von Gesetzen, zu benützen und zwar auch dann,
wenn gewisse Gesetze beiden Gruppen gemeinsam angehören.
Ein Mathematiker der Laplaceschen oder Amp^reschen
Schule würde es für absurd halten, vom gleichen Gesetze zwei
verschiedene theoretische Erklärungen zu geben und die-
selben gleichzeitig als gültig zu betrachten. Für einen Phy-
siker der Thomsonschen oder Maxwellsdien Schule liegt
darin kein Widerspruch, wenn das gleiche Gesetz sich durch
zwei verschiedene Modelle darstellen läßt. Und noch mehr
Die so in die Wissenschaft eingeführte Komplikation stört
den Engländer keineswegs, sondern sie hat für ihn eher noch
den Reiz der Abwechslung. Da seine Vorstellungskraft weit
mächtiger als die unsere ist, fehlt ihm das Bedürfnis nach
Ordnung und Einfachheit, sie findet sich dort leicht zurecht,
wo sich die unsere verwirren würde.
Daher kommen diese Ungleichförmigkeiten, diese Mängel
an Zusammenhang, diese Widersprüche in den englischen Theo-
rien, an die wir leicht einen strengen Maßstab anlegen, weil
wir ein verstandesmäßiges System dort suchen, wo der Ver-
fasser uns nichts weiter als ein Werk der Vorstellungskraft
geben wollte.
Da haben wir z. B. eine Reihe von Vorlesungen^), die
W. Thomson über die molekulare Dynamik und die Undula-
^) W. Thomson: Notes of Lectures on molecular Dynamics
and the Wawe Theory of Light, Baltimore, 1884. Der Leser kann ebenso
benutzen: Sir W.Thomson (lord Kelvin): Conferences scientifiques
et allocutions, traduites et annot^es sur la deuxi^me Edition par P. Lugol;
avec des extraits de m^moires rtonts de Sir W. Thomson et quelques
notes, par M. Brillouin: Constitution de la Mati^re. Paris, Oauthier-
Villars, 1893.
104 Viertes Kapitel.
tionstheorie des Lichtes gehalten hat. Der französische Leser,
der die Marginalien dieses Lehrbuches beim Durchblättern
ansieht, hofft, eine Gruppierung richtig formulierter Hypothe-
sen über die Beschaffenheit des Äthers und der ponderablen
Materie, eine Reihe methodisch ausgeführter, von diesen Hypo-
thesen ausgehender Rechnungen, eine genaue Obereinstim-
mung zwischen den Ergehnissen dieser Rechnungen und den
experimentellen Tatsachen zu finden. Seine Enttäuschung
wird groß, seine Geringschätzung hingegen kurz sein ! Es war
keineswegs eine derartig geordnete Theorie, die W. Thomson
aufbauen wollte; er wollte^) einfach verschiedene Klassen von
Erfahrungstatsachen betrachten und für jede dieser Klassen
ein mechanisches Modell konstmieren. Und zwar ebensoviel ver-
schiedene Modelle wie es Kategorien von Erscheinungen gibt,
um so die Rolle des materiellen Moleküls in eben diesen Er-
scheinungen darzutun.
Wenn es sich darum handelt, die Eigenschaften der Elek-
trizität in einem kristallisierten Körper darzustellen*), so wird
das materielle Molekül durch acht massive Kugeln dargestellt,
die an den Enden eines Parallelepipedes angebracht sind und
durch eine größere oder kleinere Anzahl von Spiralfedern mit-
einander zusammenhängen.
Wenn die Theorie der Dispersion des Lichtes für die
Vorstellung faßbar gemacht werden soll, so wird das mate-
rielle Molekül aus einer gewissen Zahl kugelförmiger, harter,
konzentrischer Hüllen zusammengesetzt,*) die durch Spiral-
solcher kleinen Mechanismen ist im Äther zerstreut. EMeser
federn in der gleichen Lage festgehalten werden. Eine Menge
ist*) ein homogener inkompressibler Körper, der für sehr
schnelle Schwingungen hart, für Wirkungen von größerer
Dauer dagegen vollkommen weich ist. Er ist einer Gallerte
oder dem Glyzerin ähnlich.*)
*) W. Thomson: loc cit., p. 132.
") W. Thomson: loc. dt., p. 127.
•) W. Thomson: loc. cit., p. 10, 105, 118.
*) W. Thomson: loc. dt, p. Q.
*) W. Thomson: loc. dt., p. 118.
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 105
Wenn man ein Modell wünscht, das geeignet sein soll,
die Polarisation nachzubilden, so werden die materiellen Mo-
leküle, die wir zu Tausenden in unsere Gallerte ausstreuen,
nicht mehr nach der beschriebenen Konstruktion gebaut. Es
werden^) kleine harte Hüllen sein, in deren jeder ein Oyrostat
mit großer Geschwindigkeit sich um eine in dieser Hülle
befestigte . Achse dreht.
Aber das ist noch eine zu grobe Anordnung, ein rohes
gyrostatfeches MoleküF), das bald durch einen vollständigeren
Mechanismus ersetzt werden wird. Die feste Hülle enthält
nunmehr nicht nur einen^) Gyrostaten, sondern deren zwei,
die sich in entgegengesetztem Sinne drehen. Mit Schmier-
büchsen versehene Kugelgelenke verbinden sie miteinander
und mit den inneren Wänden der Hülle, wobei sie ihren Ro-
tationsachsen einen gewissen Spielraum lassen.
Unter diesen verschiedenen Modellen, die in den „Vor-
lesungen über molekulare Dynamik** aufgeführt werden,
wird es wohl schwierig werden, dasjenige, das am besten den
Bau des materiellen Moleküls darstellt, zu wählen. Um wie
viel schwieriger wird dies aber wohl werden, wenn wir
noch die anderen von W. Thomson in seinen verschiedenen
Schriften erdachten Modelle in Betracht ziehen.
An einer Stelle*) haben wir es mit einem homogenen in-
kompressiblen Fluidum ohne Viskosität, welches den ganzen
Raum erfüllt, zu tun. Gewisse Teile dieses Fluidums führen
ununterbrochen wirbeiförmige Bewegtingen aus. Diese Teile
stellen die materiellen Atome dar.
An anderer Stelle*) wird die inkompressible Flüssigkeit
durch eine Anordnung harter Kugeln, die miteinander durch
geeignete Gestänge verbunden sind, dargestellt.
W. Thomson: loc. cit., p. 242, 290.
«) W. Thomson: loc dt., p. 327.
■) W. Thomson: loc. cit, p. 320.
*) W. Thomson: on Vortex Atoms (Edinburgh Philosophical
Society Proceedings, 18. Februar 1867).
*) W. Thomson: Comptes rendus de TAcademie des Sciences,
16. septembre 1889. — Scientific Papers, vol. III, p. 466.
106 Viertes Kapitel.
Wieder an anderer Stelle^) beruft er sich auf die kine^
tischen Theorien von Maxwell und Tait, um die Eigenschaften
der festen Körper, der Flüssigkeiten und Gase zu versinn-
bildlichen.
Wird uns vielleicht die Bestimmung die Konstitution,
die W. Thomson dem Äther zuschreibt, leichter sein?
Als W. Thomson seine Theorie der Wirbelatome ent-
wickelte, war der Äther ein Teil dieses homogenen inkom-
pressiblen Fluidums, dem alle Viskosität fehlt, das den ganzen
Raum erfüllt. Er wurde durch den Teil des Fluidums dar-
gestellt, der keinerlei Wirbelbewegungen enthält. Um aber
die Schwere, die die materiellen Moleküle gegeneinander aus-
üben, darzustellen, nahm der große Physiker^) bald die Be-
schaffenheit des Äthers komplizierter an. Indem er eine alte
Hypothese von Fatio de Chiilliers und Lesage wieder auf-
nimmt, wirft er in das homogene Fluidum einen Schwärm
kleiner fester Körperchen, die mit außerordentlicher Geschwin-
digkeit nach allen Richtungen versehen sind.
In einer andern Schrift^ wird der Äther wieder zu einem
homogenen, inkompressiblen Körper, aber dieser Körper ist
jetzt einem sehr zähen Fluidum einer Gallerte, ähnlich. Diese
Analogie wird auch, wenn die Reihe an ihr ist, fallen gelassen ;
um die Eigenschaften des Äthers darzustellen, greift W. Thom-
son*) auf die Formeln, die wir MacCuUagh*) verdanken, zurück
und stellt sie, um sie der Vorstellung zugänglich zu machen,
') W. Thomson: Molecular Constitution of Matter, §§ 29—44
(Proceedings of the Royal Society of Edimburgh, 1. und 15. Juli 1889;
— Scientific Papers, vol. III, p. 404); — Lectures on molecular Dyna-
mics, p. 280.
') W. Thomson: on the ultramondane Corpuscles of Lesage
(Philosophical Magazine, vol. XLV., p. 321, 1873).
■) W. Thomson: Lectures on molecular Dynamics, pp. 9, 118.
*) W. Thomson: Equilibrium or motion of an ideal Substance
called for brevity Ether (Scientific Papers, vol. III, p. 445).
^) Mac Cullagh: An essay towards a dynamical theory of
crystalline reflexion and refraction (Transactions Royal Irish
Academy, vol. XXI, 9. Dezember 1839; — The Collected works of
James Mac Cullagh, p. 145).
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 107
durch ein mechanisches Modell dar^). Starre Schachteln, von
denen jede einen Gyrostaten enthält, der eine schnelle Rota-
tionsbewegung um eine mit den Innenwänden fest verbun-
dene Achse besitzt, sind miteinander durch Bänder aus einem
biegsamen aber unausdehnbaren Stoff verbunden.
Diese wohl unvollständige Aufzählung der verschiedenen
Modelle, durch die W. Thomson die verschiedenen Eigen-
schaften des Äthers und der ponderablen Moleküle darzu-
stellen suchte, gibt uns nur eine schwache Vorstellung von
der Menge von Bildern, die in Iseinem Geiste durch die
Worte: Beschaffenheit der Materie hervorgerufen werden. Es
müßten noch alle von den andern Physikern geschaffenen und
von ihm zur Verwendung empfohlenen Modelle hinzugefügt
werden, man müßte dazu z. B. das Modell der elektrischen Wir-
kungen von Maxwell^), für das Thomson eine unwandelbare
Bewunderung bekennt, hinzufügen. An diesem können wir den
Äther und alle die Elektrizität schlechtleitenden Körper in der
Art von Honigwaben aufgebaut sehen. Die Zellwände sind
nicht aus Wachs, sondern aus einem elastischen Körper ge-
bildet, dessen Deformationen die elektrostatischen Wirkungen
darstellen. Der Honig, der durch ein vollkommenes Fluidum,
das sich in sehr schnellen Wirbelbewegungen befindet, er-
setzt wird, stellt die magnetischen Wirkungen dar.
Diese Sammlung von Maschinen und Mechanismen ver-
wirrt den französischen Leser der eine geordnete Reihenfolge
von zusammengehörigen Voraussetzungen über die Konstitu-
tion der Materie, eine hypothetische Erklärung dieser Kon-
stitution suchte. Aber W. Thomson beabsichtigte in keinem
Augenblick eine solche Erklärung zu geben. Unaufhörlich
warnt sogar die von ihm verwendete Ausdrucksweise den
^) W. Thomson: on agyrostatic adynamic Constitution ofthe
Ether (Edimburgh Royal Society Proceedings, 17. März 1890; —
Scientific Papers, vol. III, p. 466): — Ether, Electricity and Ponde-
rable Matter (Scientific Papers, vol. III, p. 505).
*) J. Clerk Maxwell: on physical Lines of Force, Ille part.:
The Theory of molecular Vortices applied to statical Electricity
(Philosophical Magazine, Januar und Februar 1882. — Scientific
Papers, vol. I, p. 491).
108 Viertes Kapitel.
Leser vor einer solchen Interpretation seines Gedankenganges.
Die Mechanismen, die er anführt» sind „grobe Modelle"^), „rohe
Bilder''^); sie sind „mechanisch nicht natürlich, un natural
mechanically''^, „die in diesen Betrachtungen dargestellte
und in unserem Modell veranschaulichte mechanische Konsti-
tution der festen Körper darf nicht als in der Natur verwirk-
licht angesehen werden''^), „es ist kaum nötig, zu bemerken,
daß der Äther, den wir versinnbildlicht haben, eine durchaus
ideale Substanz sei^'^). Der provisorische Charakter aller dieser
Modelle zeigt sich in der Ungezwungenheit, mit der der Autor
sie aufgibt oder wieder aufnimmt, je nach dem Erfordernis der
Erscheinung, die er gerade studiert. „Weg mit unsem sphäri-
schen Hohlräumen und deren festen konzentrischen Hüllen,
dies war, wie Sie sich erinnern, nur eine grobe mechanische
Illustration. Ich will ein anderes mechanisches Modell geben,
obwohl ich glaube, daß es auch von dem wahren Mechanismus
der Erscheinungen sehr weit entfernt ist"*). Höchstens gibt
er manchmal der Hoffnung Raum, daß diese scharfsinnig er-
dachten Modelle den Weg angeben, der in einer entfernten
Zukunft zu einer physikalischen Erklärung der materiellen
Welt führen wird').
Die Fülle und Verschiedenheit der Modelle, die W. Thom-
son zur Darstellung der Beschaffenheit der Materie vorbringt,
wundert den französischen Leser nicht übermäßig, denn er
erkennt sehr bald, daß der große Physiker keineswegs eine
für die Vernunft annehmbare Erklärung, sondern bloß ein
Werk der Vorstellung schaffen wollte. Hingegen wird sein
Erstaunen groß und dauernd sein, wenn er findet, daß ebenso
wie in einer Sammlung mechanischer Modelle auch in dem
Gang algebraischer Theorien Ordnung wie Methode fehlen.
^) W. Thomson: Lectures on molecular Dynamics, p. 11, 105.
■) W. Thomson: op. cit., p. 11.
^ W. Thomson: op. cit., p. 105.
*) W. Thomson: op. cit., p. 131.
^) W. Thomson: Scientific Papers, vol. III, p. 464.
*) W. Thomson: Lectures on molecular Dynamics, p. 280.
W. Thomson: Scientific Papers, vol. III, p. 510.
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 109
und die Logik mit Gleichgültigkeit behandelt wird. Wie
soll er in der Tat die Möglichkeit einer unlogischen mathe-
matischen Entwicklung begreifen? Daher stammt das Gefühl
der Betroffenheit, das ihn beim Studium einer Schrift wie
das „Lehrbuch der Elektrizität und des Magnetismus^' von
Maxwell erfaßt:
„Wenn ein Franzose zum ersten Male das Werk von Max-
well aufschlägt," schreibt Hr. Poincare^), „so mischt sich in
seine Bewunderung ein Gefühl des Unbehagens, ja oft sogar
des Mißtrauens . . . ."
„Der englische Gelehrte sucht nicht ein einheitliches wohl
geordnetes und endgültiges Gebäude zu errichten, es scheint
vielmehr, als wolle er eine ganze Anzahl von vorläufigen und
unzusammenhängenden Konstruktionen geben, zwischen denen
die Verbindung schwierig, ja bisweilen unmöglich ist."
„Greifen wir beispielsweise das Kapitel heraus, in wel-
chem die elektrostatischen Anziehungen erklärt werden durch
Druck und Spannungsverhältnisse, die in dem dielektrischem
Medium herrschen sollen. Dies Kapitel könnte fortgelassen
werden, ohne daß der Rest des Buches an Klarheit und Voll-
ständigkeit einbüßen würde, und andererseits enthält es eine
in sich abgeschlossene Theorie, die man verstehen könnte,
ohne auch nur eine einzige Zeile von dem, was vorhergeht
oder folgt, gelesen zu haben. Aber es steht nicht allein außer
Zusammenhang mit dem Reste des Werkes, sondern es ist
sogar schwer, es mit den grundlegenden Ideen des Buches
in Einklang zu bringen,*) wie wir später durch eine eingehende
*) H. Poincar^: £lectricit6 et Optique, I. Les th^ories de Max-
well et la th^orie 61ectro-niagn6tique de la lumi^re. Introduction
p. VIII. [Deutsche Ausgabe von Jäger und Oumlich (Berlin 1891) p. 1.]
— Der Leser, der zu erfahren wünscht, bis zu welchem Grade die Gleich-
gültigkeit gegen jede Logik und selbst gegen jede mathematische Genauig-
keit bei Maxwell geht, kann darüber viele Beispiele in folgender Schrift
finden: P. Duhem, Les Th^ories 61ectriques de J. Clerk Maxwell,
£tude historique et critique, Paris 1902.
*) In Wirklichkeit entspringt diese Theorie von Maxwell aus einem
vollständigen Mißverständnis der Gesetze der Elastizität. Wir haben dieses
Mißverständnis festgestellt und die genaue Theorie, die an Stelle des Irrtums
110 Viertes Kapitel.
Diskussion nachweisen werden. Maxwell versucht es auch
nicht, diese Übereinstimmung herzustellen, er beschränkt sich
vielmehr auf die Bemerkung :i) „I have not been able to make
the next step, namely, to account by medianical considerations
for these stress in the dielectric"
„Dies Beispiel wird genügen, um meine Ansicht klarzu-
legen ; ich könnte deren noch viele andere anführen. Wer würde
beispielsweise beim Lesen der von der magnetischen Drehung
der Polarisationsebene handelnden Stellen vermuten, daß
zwischen den optischen und magnetischen Erscheinungen
Identität herrscht?"
Das Lehrbuch der Elektrizität und des Magnetis-
mus von Maxwell kleidet sich vergebens in mathematische
Form, es ist ebensowenig ein logisches System, wie die Vor-
lesungen über molekulare Dynamik von W. Thomson.
Wie diese Vorlesungen setzt es sich aus einer Reihe von
Modellen zusammen, von denen ein jedes eine Gruppe von
Gesetzen darstellt, die ohne Rücksicht auf die anderen Mo-
delle, aufgestellt werden, die zur Darstellung anderer mitunter
aber auch der gleichen Gesetze oder einer Anzahl derselben
dienen. Nur sind diese Modelle nicht mehr aus Gyrostaten,
Spiralfedern und Glyzerin konstruiert, sondern bestehen aus
Anordnungen algebraischer Zeichen. CHese verschiedenen
Einzeltheorien, von denen eine jede für sich ohne Rücksicht
auf die vorausgehenden entwickelt wird, die manchmal Teile
Maxwells zu setzen ist, entwickelt (a); ein Ausdruck, der fälschlicherweise
an unserer Berechnung vernachlässigt wurde, wurde von Herrn Li6nard (b)
wieder eingesetzt, dessen Resultate wir durch direkte Analyse bestätiget
haben (c).
a) P. Duhem: Le^ons sur T^lectricit^ et le Magn6tisme, t II,
1. XII. Paris 1892.
b) Li^nard: La Lumi^re ^lectrique, t LH, p. 7, 67. 1894.
c) P. Duhem: American Journal of Mathematics, vol. XVII,
p. 117, 1895.
^) Ich bin nicht imstande gewesen, den zweiten Schritt, die Ableitung
dieses Zwangszustandes des Dielektrikums aus mechanischen Betrachtungen
auszuführen. [Maxwell, A Treatise on Electricity and Magnetism.
Vol. I, p, 132, 1873.1
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. Hl
eines Gebietes wieder behandeln, die bereits behandelt wurden,
wenden sich mehr an unsere Vorstellung als an unseren Ver-
stand, sie sind Bilder, bei deren Ausführung der Künstler mit
vollster Freiheit die Gegenstände, die er darstellen und die
Ordnung, in die er sie gruppieren wollte, gewählt hat. Da
verschlägt es nicht viel, wenn eine der Personen dem Maler
schon in anderer Stellung für ein anderes Bild gesessen hat.
Der Logiker würde scheel angesehen werden, wenn er daran
Anstoß nehmen wollte. Eine Bildergalerie ist keine Kette
logischer Schlüsse.
§8. — Die Weiterverbreitung der englischen Methode.
Der englische Geist ist durch die umfassende Fähigkeit,
sich konkrete Gruppierungen vorzustellen und durch die geringe
Fähigkeit für Abstraktion und Generalisation genau charakterisiert.
Diese eigenartige Form des Geistes erzeugt eine eigenartige
Form von physikalischer Theorie. Die Gesetze einer gewissen
Gruppe sind in keiner Weise in ein logisches System zusammen-
gefügt, sondern sie werden durch ein Modell dargestellt.
Dieses Modell kann dann entweder in einem aus konkreten
Körpern konstruierten Mechanismus, oder in einer Anordnung
algebraischer Zeichen bestehen. Jedenfalls beugt sich die eng-
lische Theorie in ihren Entwickelungen nicht den von der Logik
geforderten Regeln der Ordnung und Einheitlichkeit.
Während langer Zeit waren diese Eigenheiten förmlich die
Fabrikmarke der in England aufgestellten physikalischen Theorien.
Am Kontinent wurde von diesen Theorien nicht Gebrauch
gemacht Seit einigen Jahren ist dies anders. Die englische Art
der Behandlung der Physik hat sich überall mit außerordentlicher
Schnelligkeit verbreitet. Heute wird sie in Frankreich ebenso
wie in Deutschland gebraucht. Wir wollen daran gehen, die
Ursachen dieser Weiterverbreitung aufzusuchen.
Vor allem darf man nicht vergessen, daß die Form des
Verstandes, die von Pascal als Umfang und Schwäche des Denkens
bezeichnet wurde, bei den Engländern zwar sehr verbreitet,
daß sie aber weder das Attribut aller Engländer, noch die Eigen-
schaft der Engländer allein ist.
112 Viertes Kapitel.
In der Fähigkeit, sich abstrakte Gedanken vollständig klar
zu machen, die allgemeinsten Prinzipien bis zum äußersten genau
zu erfassen, wie in der Geschicklichkeit, sowohl eine Reihe von
Experimenten, als auch eine SchluBfolge in tadelloser Ordnung
durchzuführen, tritt Newton in keiner Weise hinter Descartes
noch hinter irgendeinem der klassischen Denker zurflck, seine
Geisteskraft war eine der schärfsten, die die Menschheit
gekannt hat.
Ebenso wie man bei den Engländern — und dafür bürgt uns
Newton — starke und tiefe Denker finden kann, kann man
außerhalb Englands umfassende aber schwache Denker antreffen.
Ein solcher war Gassendi.
Der von Pascal so klar definierte Gegensatz der beiden
Verstandesarten tritt außerordentlich lebhaft in der berühmten
Diskussion^), in der Gassendi und Descartes einander gegen-
überstanden, hervor. Mit welchem Ungestüm beharrt *) Gassendi
darauf, „daß der Geist sich nicht von dem Vorstellungsvermögen
unterscheide"; mit welcher Kraft versichert er, daß „die Phantasie
sich nicht vom Begreifen unterscheidet**, daß „wir nur eine
einzige Fähigkeit besitzen, durch die wir alle Dinge überhaupt
erkennen"! Mit welchem Hochmut antwortet Descartes *),
Gassendi: „Was ich über die Vorstellung sagte, ist genügend
klar, wenn man darauf achten will, es ist aber kein Wunder,
daß es denen, die nie nachdenken und sich das, worüber sie
denken, nicht wieder überiegen, undeutlich erscheint!" Die beiden
Gegner scheinen verstanden zu haben, daß ihre Debatte einen
anderen Anstrich habe als die Mehrzahl der so häufigen Dis-
kussionen zwischen Philosophen, daß sie kein Streit zwischen
zwei Menschen oder zwei Doktrinen war, sondern ein Kampf
zweier Arten des Denkens, des weiten aber schwachen
gegen das starke aber enge. O anima! Omens! ruft Gassendi,
wenn er an den Kämpen der Abstraktion eine Anfrage
richtet. O caro! erwidert Descartes, indem er unter seiner
^) P. Oassendi: Disquisitio metaphysica, seu dubitationes et
instantiae adversus Renati Cartesii Metaphysicam, et responsa.
') P. Oassendi: Dubitationes in Meditationem 11««.
') Cartesii: Reponsum ad DubitationemV in Meditationen! Ilun.
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 113
hochmutigen Verachtung die Vorstellungsgabe, die sich auf die
konkreten Dinge beschränkt, zermalmt.
Man versteht daher die Vorliebe Oassendis für die epiku-
räische Kosmologie. Unbeschadet ihrer außerordentlichen Klein-
heit sind die Atome, die er sich vorstellt, den Körpern, die er
taglich sehen und betasten kann, sehr ähnlich. Dieser konkrete,
der Vorstellung faßbare Charakter der Physik von Oassendi
zdgt sich in vollem Licht in der folgenden Stelle^), in der der
Philosoph in der ihm eigenen Art die Neigungen und Ab-
neigungen der Schule auseinandersetzt: „Man muß begreifen,
daß diese Wirkungen sich in derselben Art wie die leichter
wahrnehmbaren zwischen den Körpern vollziehen. Der einzige
Unterschied ist, daß die Mechanismen im letzteren Fall grob,
im ersteren sehr fein sind. Überall, wo uns der gewöhnliche
Anblick eine Anziehung und Vereinigung zeigt, sehen wir Haken,
Schnüre, irgend etwas, was hält und irgend etwas, was gehalten
wird; überall, wo er uns eine Abstoßung und Trennung zeigt,
sehen wir Stachel, Spieße, irgend einen Körper, der eine
Sprengung verursacht usw. Ebenso müßten wir uns, um die
Wirkungen, die nicht in das Gebiet der gewöhnlichen Sinne
gehören, zu erklären, kleine Haken, kleine Schnüre, kleine
Stachel, kleine Spieße und andere Vermittler derselben Art
vorstellen. Diese Vermittler sind unfühlbar und untastbar,
man darf aber daraus nicht etwa folgern, daß sie nicht
existieren."
In allen Perioden der wissenschaftlichen Entwicklung wird
man unter den Franzosen Physiker finden, die mit Oassendi
geistig verwandt sind, und die wie er Erklärungen zu schaffen
wünschen, die die Vorstellung fassen kann. Einer der scharf-
sinnigsten und fruchtbarsten Theoretiker, die unserer Epoche
zur Ehre gereichen, Hr. J. Boussinesq, hat mit vollkommener
Klarheit das Bedürfnis gewisser Denker, sich die Gegenstände,
über die sie nachdenken, vorzustellen, dargelegt „Wenn der
menschliche Geist," sagt Hr. Boussinesq^, „die Naturerschei-
^) Oassendi: Syntagma philosophicum, lU pars, 1. VI, c XIV.
*) J. Boussinesq: Legons synth^tiques deM^canique g^n^rale,
p. 1; Paris, 1889.
Dahem, Physikalische Theorie. 8
114 Viertes Kapitel.
nungen beobachtet, erkennt er neben vielen verworrenen Elementen,
die er nicht ins klare zu bringen vermag, ein deutliches Element,
das durch seine Bestimmtheit zum Gegenstand wirklich wissen-
schaftlicher Erkenntnisse geeignet ist. Das ist das geometrische
Element, das an die Lokalisierung der Dinge im Räume anknüpft
und das es ermöglicht, sich dieselben vorzustellen, sie zu be-
zeichnen, oder sie in mehr oder minder idealer Art zu kon-
struieren. Es ist aus den Dimensionen und Formen der Körper
oder Systeme von Körpern zusammengesetzt, aus dem, was man
mit einem Worte als ihre Konfiguration im gegebenen Moment
bezeichnet. Diese Formen, diese Konfigurationen, deren meßbare
Teile Entfernungen oder Winkel sind, bleiben bald während
einer gewissen Zeit unverändert oder wenigstens nahezu un-
verändert bestehen, und scheinen sich sogar in denselben Oe-
bieten des Raumes zu behaupten, und bilden somit das, was
man Ruhe nennt, bald ändern sie sich unaufhöriich, aber stetig,
wobei ihre Ortsänderungen das sind, was man als Ortsver-
änderung oder schlechtweg als Bewegung bezeichnet^'.
Diese verschiedenen Konfigurationen der Körper, ihr Wechsel
von einem Moment zum anderen, sind die einzigen Elemente,
die der Oeometer zu entwerfen vermag, es sind auch die einzigen,
die ein phantasievoller Kopf sich deutlich vergegenwärtigen kann,
und daher nach seiner Meinung die einzigen, die als Objekte
der Wissenschaft geeignet sind. Eine physikalische Theorie
würde erst richtig beschaffen sein, wenn sie das Studium einer
Gruppe vonOesetzen auf die Beschreibung solcher geometrischen
Figuren, solcher Ortsveränderungen zurückgeführt hat „Bis
jetzt ^) ist die Wissenschaft, wenn man ihre fertigen Partien
oder die, die es sein könnten, betrachtet, von Aristoteles aus-
gehend bis zu Descartes und Newton vorgeschritten, von den
Begriffen der Qualitäten und Zustandsänderungen, die
nicht darstellbar sind, zu den Begriffen der Formen und
Ortsveränderungen, die darstellbar und sichtbar sind.*^
Hr. Boussinesq wünscht nicht intensiver als Gassendi, daß
die theoretische Physik ein Werk des Verstandes sei, mit dem
') J. Boussinesq: Th6orie analytique de la Chaleur, t. 1,
p. XV, 1901.
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 115
die Vorstellungskraft nichts zu tun hat. Er drückt seinen Ge-
danken in dieser Hinsicht in Formeln aus, deren Klarheit an
gewisse Ausspruche Lord Kelvins erinnert.
Damit indessen kein Mißverständnis entsteht, muß gesagt
werden, daß Hr. Boussinesq keineswegs den großen englischen
Physikern bis ans Ende folgen würde. Wenn er auch wünscht,
daß die Konstruktionen der theoretischen Physik in allen ihren
Teilen der Vorstellung faßbar seien, so beabsichtigt er doch
keinesw^s, bei der Darstellung des Planes seiner Konstruktionen
auf die Unterstützung der Logik zu verzichten. Er ist keines-
w^s damit einverstanden, und ebensowenig würde Oassendi
damit einverstanden gewesen sein, daß diese Konstruktionen
aller Ordnung und Einheit entblößt werden, daß sie nur ein
Labyrinth unabhängiger und unzusammenhängender Bauten dar-
stellen sollen.
Die französischen und deutschen Physiker haben in keinem
Augenblick die physikalischen Theorien aus sich heraus auf
eine Sammlung von Modellen beschränkt. Die Meinung ist
nicht von der kontinentalen Wissenschaft aus eigenem Antrieb
erzeugt, sondern aus England importiert worden.
Wir verdanken sie vor allem dem Ansehen des Maxwellschen
Werkes; sie ist in die Wissenschaft durch die Kommentatoren
und Nachfolger dieses großen Physikers eingeführt worden.
Auch hat sie sich im ersten Anfang in ihrer verwirrendsten
Form verbreitet. Bevor nämlich die französischen und deutschen
Physiker daran gegangen sind, mechanische Modelle zu ver-
wenden, hatten sich schon mehrere von ihnen daran gewöhnt,
die mathematische Physik als Sammlung algebraischer Modelle
zu behandeln.
In erster Linie muß man unter denen, die dazu beigetragen
haben, eine solche Art der Behandlung der mathematischen
Physik zu befördern, den berühmten Heinrich Hertz anführen.
Wir hörten ihn folgende Erklärung aussprechen: „Die
Maxwellsche Theorie ist das System der Maxwellschen
Gleichungen.'' Entsprechend diesem Prinzip und sogar vor
seiner Formulierung hat Hertz eine Theorie der Elektrodynamik
116 Viertes Kapitel.
entwickelt^). Die von Maxwell aufgestellten Gleichungen bildeten
deren Grundlage; sie wurden ohne eine wie immer geartete
Diskussion, ohne Prüfung der Definitionen und Hypothesen»
von denen sie abgeleitet wurden, akzeptiert. Sie wurden ffir
sich allein behandelt, ohne daß die erhaltenen Folgerungen der
Kontrolle des Experimentes unterworfen worden wären.
Ein solches Verfahren würde man bei einem Algebraiker
verstehen, wenn er die Gleichungen studieren wollte, die
aus Prinzipien abgeleitet sind, die von allen Physikern akzeptiert
und durch das Experiment vollständig bestätigt worden sind.
Man würde sich keineswegs wundem, wenn ein Algebraiker
die Art der Aufstellung der Gleichungen und deren experimentelle
Prüfung, in bezug auf die niemand irgendwelche Zweifel
hegt, mit Schweigen übergehen würde. Das ist aber nicht
bei den von Hertz studierten Gleichungen der Elektrodynamik
der Fall. Die Oberiegungen und Rechnungen, mit denen Maxwell
sie wiederholt zu rechtfertigen suchte, weisen im Überfluß
Widersprüche, Unklarheiten und Irrtümer auf. Was die Be-
stätigung, die durch das Experiment möglich wäre, betrifft, so
kann sie nur teilweise und begrenzt sein. Es springt tatsächlich
in die Augen, daß die einfache Existenz eines Stückes magneti«
sierten Stahls mit einer solchen Elektrodynamik unvereinbar ist.
Dieser kolossale Widerspruch ist auch der Analyse von Hertz
nicht entgangen*).
Man könnte vielleicht denken, daß die Annahme einer so
strittigen Theorie dadurch notwendig geworden sei, daß keine
andere Lehre vorhanden war, deren Unterbau logischer, und deren
Übereinstimmung mit den Tatsachen genauer gewesen ist Dies
ist nicht der Fall. Helmholtz hat eine elektrodynamische Theorie
aufgestellt, die sich vollständig logisch aus den am besten ge-
^) H.Hertz: Über die Orundgleichungen der Elektrodynamik
für ruhende Körper. (Oöttinger Nachrichten, 19. März 1890. —
Wiedemanns Annalen der Physik und Chemie, Bd. XL. p. 577. —
Gesammelte Werke von H. Hertz, Bd. II: Untersuchungen über die
Ausbreitung der elektrischen Kraft 2. Aufl., p. 206.)
') H. Hertz: Untersuchungen über die Ausbreitung derelek^
trischen Kraft, 2. Auflage, p. 240.
Die abstrakten Theorien und die mechanisdien Modelle. 117
stutzten Prinzipien der Elektrizitätslehre ergibt, in der bei der
Formulierung der Gleichungen keine Fehlschlüsse vorkommen,
wie sie in den Werken Maxwells so häufig sind, die alle Tat-
sachen, von denen die Maxwellschen und Hertzschen Gleichungen
Rechenschaft geben, darlegt, ohne von der Wirklichkeit Lügen
gestraft zu werden, wie dies den letzteren geschieht; man kann
nicht daran zweifeln, daß der Verstand veriangen wurde, daß
man diese Theorie vorzieht, aber die Vorstellung liebt mehr
mit den von Hertz und in der gleichen Zeit von Heaviside und
von Cohn gestalteten eleganten algebraischen Modellen zu
spielen. Der Gebrauch dieses Modells hat sich sehr schnell
unter den Denkern verbreitet, die so schwach sind, daß sie
sich vor langen Ableitungen fürchten. Die Schriften häuften
sich, in denen Maxwells Gleichungen ohne Diskussion an-
genommen wurden. Gleichsam wie ein offenbartes Dogma, bei
dem die Unklarheiten wie heilige Mysterien verehrt werden.
Noch ausdrucklicher als Hertz hat Hr. Poincar£ das Recht
der mathematischen Physik proklamiert, das Joch einer wirklich
strengen Logik abzuwerfen, und das Band, das diese verschiedenen
Theorien aneinanderknupft, zu zerreißen. „Man darf sich also
nicht einbilden,'^ sagt er^), „jeden Widerspruch gelöst zu sehen,
aber man muß eben Partei ergreifen. In der Tat kann von zwei
sich widersprechenden Theorien, vorausgesetzt, daß man sie
nicht durcheinander wirft, und daß man darin nicht nach dem
Ursprünge der Erscheinungen sucht, eine jede für sich betrachtet,
als nutzliches Hilfsmittel für Untersuchungen dienen, und viel-
leicht wäre die Lektüre von Maxwell weniger anregend, wenn
sie uns nicht so viele neue und verschiedenartige Ausblicke er-
öfftiet hätte."
Dieser Ausspruch, der den Methoden der englischen Physik,
den mit solchem Aufsehen von Lord Kelvin gelehrten Ideen,
in Frankreich die Bahn frei machte, blieb nicht ohne Wider-
hall. Viele Ursachen sicherten ihm eine starke und dauernde
Resonanz.
^) H. Poincar^: £lectricit6 et Optique. I. Les th^ories de
Maxwell et la th6orie 6]ectro-magn^tique de la lumi^re. Intro-
duction p. IX. (Deutsche Ausgabe von Jäger und Oumlich, p. 3.)
118 Viertes Kapitel.
Ich will hier weder von der hohen Autorität desjenigen,
der diesen Ausspruch getan, noch von der Bedeutung der Ent-
deckungen in bezug auf die er getan wurde, sprechen. Die
Ursachen, die ich angeben will, sind zwar von rechtswegen
weniger begründet. Oben aber keineswegs geringeren Einfluß aus.
Unter diesen Ursachen muB man in erster Linie den Ge-
schmack am Exotischen, den Wunsch, das Fremde nachzuahmen,
das Bedürfnis, seinen Geist wie seinen Körper nach der Londoner
Mode zu kleiden, anführen. Wie viele von denen, die erklären,
die Physik von Maxwell und von Thomson der bisher in
unserem Lande üblichen klassischen vorzuziehen, könnten sich
auf kein anderes Motiv berufen als auf das: sie ist englisch!
Überdies ist die laute Bewunderung für die englische
Methode für viele nur ein Mittel, um vergessen zu machen, wie
wenig geschickt sie in der französischen Methode sind, wie
schwer es ihnen ist, einen abstrakten Begriff zu fassen, einer
strengen Überi^[ung zu folgen. Da ihnen die Kraft des Denkens
fehlt, versuchen sie, indem sie die Haltung umfassender Denker an-
nehmen, glauben zu machen, daß sie Weite des Geistes besitzen.
Diese Gründe würden indessen vielleicht nicht genügt
haben, um der englischen Physik das Ansehen zu verschaffen,
dessen sie sich heute erfreut, wenn nicht auch die Bedürfnisse
der Industrie hinzugekommen wären.
Der Industrielle ist sehr oft ein weiter Geist Die Not-
wendigkeit, Einrichtungen zu kombinieren, Geschäfte zu führen,
Menschen zu behandeln, gewöhnen ihn früh daran, klar und
schnell verwickelte Gruppierungen konkreter Dinge zu erfassen.
Dafür ist er fast immer ein sehr schwacher Denker. Seine
tägliche Beschäftigung hält ihn von den abstrakten Begriffen
und allgemeinen Prinzipien fem. Die Fähigkeiten, die die geistige
Kraft ausmachen, gehen bei ihm nach und nach zurück, wie es
bei Organen geschieht, die nicht funktionieren. Das englische
Modell kann daher nicht verfehlen, ihm als die seinen geistigen
Fähigkeiten am besten angepaßte Form der physikalischen Theorie
zu erscheinen.
Selbstredend wünscht er, daß die Physik in dieser Form
den Leitern der Werkstätten und Fabriken dargelegt werde.
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 119
Überdies verlangt der künftige Ingenieur einen Unterricht von
kurzer Dauer. Er beeilt sich, Oeld aus seinen Kenntnissen
herauszuschlagen. Er wünscht keine Zeit zu verschwenden,
die für ihn Geld bedeutet. Nun kennt die abstrakte Physik,
die vor allem eine absolute Solidität des von ihr aufgestellten
Gebäudes fordert, diese fieberhafte Hast nicht Sie will auf
Felsen bauen, und um dies zu erreichen, gräbt sie so tief es
nötig ist Von denen, die ihre Schüler sein wollen, verlangt
sie einen in den verschiedenen Übungen der Logik bewanderten,
durch die Gymnastik der mathematischen Wissenschaften ge-
schmeidig gewordenen Geist Sie erläßt ihnen kein Mittelglied,
sie erspart ihnen keine Verwicklung. Warum sollen sich jene,
die sich nur um die Nützlichkeit, nicht aber um die Wahrheit
kümmern, dieser strengen Disziplin unterwerfen? Warum sollen
sie nicht die schnellen Methoden, die sich an die Vorstellung
wenden, vorziehen? Jene, die die Aufgabe haben, den tech-
nischen Unterricht zu erteilen, haben daher lebhaft darauf ge-
drungen, daß die englischen Methoden angenommen werden,
daß jene Physik gelehrt werde, die sogar in den mathematischen
Formeln nur Modelle sieht
Die meisten unter ihnen setzen diesen Bestrebungen keinen
Widerstand entgegen. Ganz im Gegenteil. Sie übertreiben noch
die Geringschätzung der Ordnung und die Verachtung der
Strenge, zu der sich die englischen Physiker bekennen. Sie
fragen im Moment, wo sie eine Formel in ihre Voriesungen
oder Abhandlungen einführen, niemals danach, ob sie genau,
nur ob sie bequem sei und ob sie sich an die Vorstellung
wende. Für den, der nicht die schwere Pflicht gehabt, solche
Schriften aufmerksam zu lesen, ist es kaum glaublich, bis zu
welchem Grade diese Verachtung gegen alle verstandesmäßigen
Methoden, gegen alle genauen Ableitungen geht, die sich in
vielen Schriften, die sich mit den Anwendungen der Physik
beschäftigen, finden. Die ungeheuerlichsten Trugschlüsse, die
fehlerhaftesten Rechnungen zeigen sich dort in reinstem Lichte.
Unter dem Einfluß des technischen Unterrichtes ist die theo-
retische Physik eine konstante Herausforderung des richtigen
Denkens geworden.
120 Viertes Kapitel.
Denn das Obel berührt nicht nur die BQcher und Vorlesungen,
die für die künftigen Ingenieure bestimmt sind. Es ist fiberall
eingedrungen, es hat Verbreitung gefunden durch die gering-
schätzigen Reden und Vorurteile der Menge, die die Wissen-
schaft mit der Industrie verwechselt, die das staubige, schnaubende,
stinkende Automobil für den Triumphwagen des menschlichen
Denkens hält Der höhere Unterricht ist bereits mit dem Utili-
tarismus infiziert, und die Mittelstufe ist eine Beute der Epidemie.
Im Namen dieses Utilitarismus macht man mit den Methoden,
die bisher zur Darstellung der physikalischen Wissenschaften
gedient, reinen Tisch. Man verwirft die abstrakten und deduktiven
Theorien, man bemüht sich, den Schülern induktive und konkrete
Ausblicke zu eröffnen. Man sucht in die jungen Köpfe nicht
Begriffe und Prinzipien, sondern Zahlen und Tatsachen hinein-
zubringen.
Wir wollen uns nicht damit aufhalten, diese minderwertigen
und unwürdigen Formen der auf Vorstellung gegründeten
Theorien lange zu diskutieren.
Den Snobs gegenüber wollen wir bemerken, daß, wenn
es auch leicht ist, die Verschrobenheiten eines fremden Volkes
nachzuäffen, es um so schwieriger ist, seine vererbten,
charakteristischen Eigenschaften zu erhalten. Sie können wohl
auf die Kraft des französischen Denkers verzichten, nicht aber
auf seine Begrenztheit, sie können leicht in bezug auf die
Schwäche mit dem englischen Oeist rivalisieren, nicht aber in
bezug auf seine Weite, so daß sie sich verurteilen können,
gleichzeitig schwache und enge, das heißt falsche Denker
zu sein.
Die Industriellen, die sich nicht um die Richtigkeit einer
Formel kümmern, sofern sie nur bequem ist, erinnern wir daran,
daß die einfache aber falsche Gleichung früher oder später
durch eine unerwartete Vergeltung der Logik zu dem Unter-
nehmen, das scheitert, zu dem Damme, der bricht, zu der Brücke,
die einstürzt, führt. Sie bedeutet den finanziellen Ruin, wenn
nicht das Unheil, das Menschenleben verschlingt!
Den Utilitaristen endlich, die praktische Menschen zu erziehen
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 121
glauben, indem sie ihre Schüler nur konkrete Dinge lehren,
sagen wir, daß ihre Schüler höchstens routinierte Handlanger,
die mechanisch unverstandene Vorschriften anwenden, sein
werden, denn nur die abstrakten und allgemeinen Prinzipien
können das Denken in unbekannte Regionen leiten und ihm
die Lösung unvorhergesehener Schwierigkeiten ermöglichen.
§ Q. — Trägt die Anwendung mechanischer Modelle
bei Entdeckungen Früchte?
Um die auf Vorstellung beruhende physikalische Theorie
richtig einschätzen zu können, nehmen wir sie nicht in der Art,
wie sie uns diejenigen zeigen, die vorgeben, von ihr Gebrauch
zu machen, ohne die Weite des Geistes zu besitzen, die nötig
ist, um sie richtig zu gebrauchen. Betrachten wir sie von der
Seite, von der es diejenigen getan, deren mächtige Vorstellungs-
kraft sie erzeugt, im speziellen von der Seite, von der sie die
großen englischen Physiker ansehen.
In betreff des Verfahrens, das die Engländer bei der Be-
handlung der Physik anwenden, ist heute die Meinung gang
und gäbe, daß eine übermäßige Sorge um die logische Einheit
auf den alten Theorien lastete, so daß die Ersetzung der streng
verketteten Deduktionen, die früher im Gebrauch waren, durch
voneinander unabhängige Modelle den Forschungen des Physikers
eine Anpassungsfähigkeit und Freiheit sichert, die außerordent-
liche Früchte bei Entdeckungen tragen.
Diese Meinung scheint uns zu recht großem Teile auf
Illusionen zu beruhen.
Allzu oft schreiben die, die dieser Meinung beipflichten, dem
Gebrauch von Modellen Entdeckungen zu, die auf ganz anderem
W^e erhalten wurden.
In einer sehr großen Zahl von Fällen wurde ein Modell
von einer bereits ausgebildeten Theorie entweder durch den
Schöpfer der Theorie selbst oder durch irgendeinen anderen
Physiker konstruiert. Alsdann wurde nach und' nach die ab-
strakte Theorie durch das Modell in Vergessenheit gebracht,
während sie ihm doch vorangegangen war, und es ohne sie
nicht ersonnen worden wäre. Das Modell gibt sich dann als
122 Viertes Kapitel.
ein Instrument der Entdeckung aus, während es nur ein Dar-
stellungsmittel ist. Ein Leser, der nicht von vornherein in
Kenntnis darüber ist, dem die Zeit fOr historische Studien und
Quellenforschungen fehlt, kann durch diese Entstellung zu falschen
Schlüssen verleitet werden.
Nehmen wir als Beispiel den „Rapport,^' in dem Hr. £mile
Picard^) in so großen und so knappen Zügen ein Bild des
Standes der Wissenschaften im Jahre 1900 zeichnet. Lesen wir
die Stellen, die zwei gegenwärtig sehr wichtigen Theorien der
Physik gewidmet sind: der Theorie der Kontinuität des flussigen
und gasförmigen Zustandes und der des osmotischen Druckes.
Es wird uns scheinen, daß der Anteil mechanischer Modelle,
bildlicher Hypothesen über die Moleküle, ihre Bewegungen und
Stöße bei der Schöpfung und Entwicklung dieser Theorien sehr
groß war. Indem uns der „Rapport" des Hm. Picard diese An-
nahme beibringt, spiegelt er nur ganz genau die Meinungen wieder,
die täglich in den Hörsälen und Laboratorien geäußert werden.
Aber diese Ansichten entbehren der Begründung. An der
Schöpfung und Entwickelung der zwei Theorien, die uns be-
schäftigen, hat die Verwendung von Modellen beinahe keinen
Anteil gehabt
Die Vorstellung der Kontinuität zwischen dem flüssigen
und gasförmigen Zustand entstand im Kopfe von Andrews als
experimentelle Induktion. Ebenso führten die Induktion und
Generalisation James Thomson zur Auffassung der theoreti-
schen Isotherme. Aus einem System, das der Typus einer
abstrakten Theorie ist, aus der Thermodynamik hat Gibbs eine
vollkommen zusammenhängende Darstellung dieses neuen Teiles
der Physik abgeleitet, während dieselbe Thermodynamik Maxwell
eine wesentliche Beziehung zwischen der theoretischen und der
praktischen Isotherme lieferte
Während die abstrakte Thermodynamik so ihre Fruchtbar-
keit offenbarte, nahm Hr. Van der Waals seinerseits mit Hilfe
von Annahmen über die Natur und die Bewegung der Moleküle
^) Exposition universelle de 1900 ä Paris. Rapport du Jury
international. Introduction g^n6ra1e. II« partie: Sciences, par M.
fimile Picard, Paris 1901, pp. 53ff.
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 123
das Studium der Kontinuität zwischen dem flüssigen und gas^
förmigen Zustand in Angriff. Die Beisteuer der kinetischen
Hypothesen zu diesem Studium bestand in einer Gleichung der
theoretischen Isotherme, aus der sich eine Folgerung, das
Gesetz der korrespondierenden Zustände ergab. Aber bei
der Konfrontation mit den Tatsachen mußte man erkennen, daß
die Gleichung der Isotherme zu einfach und das Gesetz der
korrespondierenden Zustände zu grob war, als daß eine Physik,
die etivas auf Genauigkeit hält, sie beibehalten könnte.
Die Geschichte des osmotischen Druckes ist nicht minder
deutlich. Die abstrakte Thermodynamik hat von Anfang an
Oibbs die Grundgleichungen geliefert. In gleicher Weise war
die Thermodynamik der einzige Führer des Hm. J. H. Van't Hoff
bei seinen ersten Arbeiten, während die experimentelle Induktion
Raoult die zum Fortschritt der neuen Lehre notwendigen Gesetze
lieferte. Sie war erwachsen und stark gebaut, als die mechani-
schen Modelle und kinetischen Hypothesen ihr Hilfe bringen
wollten, nach der sie nicht verlangte, mit der sie nichts an-
fangen konnte und aus der sie keinen Vorteil gezogen hat.
Bevor man daher die Schöpfung einer Theorie den mecha-
nischen Modellen, unter denen sie heute begraben sind, zuschreibt,
muß man sich vergewissem, ob diese Modelle wirklich bei ihrer
Entstehung entscheidend oder wenigstens nützlich gewesen, ob
sie nicht, wie ein parasitäres Gewächs, erschienen sind, um sich
an einem starken und lebensvollen Baum emporzuranken.
Ebenso darf man, wenn man die Fmchtbarkeit, die der
Gebrauch der Modelle mit sich bringen kann, genau abschätzen
will, nicht diesen Gebrauch mit der Verwendung der Analogie
verwechseln.
Der Physiker, der die Gesetze einer gewissen Kategorie
von Phänomenen zu vereinigen und zu klassifizieren sucht,
läßt sich sehr oft durch die Analogie, die er zwischen diesen
Phänomenen und den Phänomenen einer anderen Kategorie
sieht, leiten. Wenn diese letzteren schon geordnet und in einer
befriedigenden Theorie dargestellt sind, wird der Physiker ver-
suchen, die ersteren in einem System desselben Typus und
derselben Form zu gmppieren.
124 Viertes Kapitel.
Die Geschichte der Physik zeigt uns, daß die Forschung^
nach Analogien zweier verschiedener Kategorien von Erschei-
nungen vielleicht von allen beim Bau physikalischer Theorien
verwendeten Mitteln die sicherste und fruchtbarste Methode
gewesen ist.
So hat die Analogie, die Huygens zwischen den Licht-
phänomenen und denen, die den Ton bilden, bemerkte, ihn zum
Begriff der Li cht welle geführt, die er so wunderbar zu benutzen
wußte. Später führte diese selbe Analogie Malebranche und
sodann Young zur Darstellung des monochromatischen Lichtes
durch eine Formel, die der gleicht, die einen Ton darstellt.
Eine Ähnlichkeit, die Ohm zwischen der Fortpflanzung der
Wärme und der der Elektrizität bemerkte, ermöglichte es ihm,
die Gleichungen, die Fourier für die erstere Erscheinungsklasse
aufgestellt hatte, auf die zweite zu übertragen.
Die Geschichte der Theorien des Magnetismus und der
dielektrischen Polarisation besteht nur in der Entwicklung von
Analogien zwischen den Magneten und elektrischen Isolatoren,
die seit langem von den Physikern vermutet worden waren.
Dank dieser Analogie hat jede der beiden Theorien vom Fort-
schritt der anderen Nutzen gezogen.
Die Verwendung der physikalischen Analogie nimmt manch-
mal eine noch bestimmtere Form an.
Wenn zwei Kategorien von sehr verschiedenen, sehr
unähnlichen Erscheinungen auf abstrakte Theorien reduziert
worden sind, kann es geschehen, daß die Gleichungen, in denen
die eine derselben formuliert ist, algebraisch, mit den Gleichungen,
die die andere ausdrücken, identisch ist. Wenn nun auch diese
beiden Theorien auf Grund der Natur der Gesetze, die sie
ordnen, im Wesen verschieden sind, stellt doch die Algebra
zwischen ihnen eine genaue Übereinstimmung her. Jedem Satz
der einen dieser Theorien entspricht ein homologer in der
andern. Jedes Problem, das in der ersten gelöst wird, stellt
und löst ein ähnliches Problem in der zweiten. Von diesen
zwei Theorien kann jede nach dem von den Engländern an-
gewendeten Wort dazu dienen, die andere zu illustrieren:
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 125
„Unter physikalischer Analogie verstehe ich/' sagt Maxwell^), „die
teilweise Ähnlichkeit zwischen den Gesetzen eines Wissenszweiges
und denjenigen eines anderen, die bewirkt, daß der eine Wissens-
zweig dazu dienen kann, den anderen zu illustrieren/'
Eines der vielen Beispiele dieser wechselseitigen Illustration
zweier Theorien sei hier angeführt:
Der Begriff des wannen und der des elektrisierten Körpers
sind zwei dem Wesen nach verschiedene Begriffe. Die Gesetze,
die die stationäre Verteilung der Temperaturen auf einer Gruppe
von Körpern, die gute Wärmeleiter sind, bestimmen, und die
Gesetze, die den elektrischen Gleichgewichtszustand auf einer
Gruppe von Körpern, die gute Elektrizitätsleiter sind, angeben,
handeln von vollkommen verschiedenen physikalischen Objekten.
Dennoch werden die beiden Theorien, die die Aufgabe haben,
diese Gesetze zu klassifizieren, durch zwei Gruppen von
Gleichungen ausgedrückt, die der Algebraiker nicht voneinander
unterscheiden kann. Er löst auch jedesmal, wenn er die Lösung
eines Problemes über die stationäre Temperaturverteilung findet,
gleichzeitig ein Problem der Elektrostatik und umgekehrt.
Eine derartige algebraische Übereinstimmung zwischen zwei
Theorien, eine derartige Illustration der einen durch die andere
ist außerordentlich wertvoll. Sie bietet nicht nur eine wesent-
liche Gedankenökonomie, da sie erlaubt, den ganzen für eine
Theorie aufgestellten algebraischen Apparat ohne weiteres auf
andere zu übertragen, sondern stellt auch ein Verfahren der
Neuforschung dar. Es kann in der Tat geschehen, daß in
einem dieser beiden Gebiete, denen derselbe algebraische Grund-
riß entspricht, die Anschauung auf Grund des Experiments voll-
ständig natüriich ein Problem ergibt und dessen Lösung nahe-
legt, während in dem anderen Gebiete der Physiker nicht so
leicht dazu geführt worden wäre, diese Frage zu stellen oder
die betreffende Lösung zu geben.
Diese verschiedenen Arten, in denen an die Analogie
zwischen zwei Gruppen physikalischer Gesetze und zwischen
zwei verschiedenen Theorien appelliert wird, sind daher für Ent-
deckungen fruchtbar, aber man darf sie nicht mit dem Gebrauch
^) J. Clerk Maxwell: Scientific Papers, vol. I, p. 156.
126 Viertes Kapitel.
der Modelle verwechseln. Sie bestehen in der Annäherung
zweier abstrakter Systeme aneinander, indem entweder das eine
schon bekannte zur Auffindung der Form des anderen, das
man noch nicht kennt, dient, oder, wenn beide schon formuliert
sind, machen sie einander gegenseitig deutlicher. Es gibt darin
nichts, was den strengsten Logiker in Erstaunen versetzen
könnte, aber es ist noch weniger darin, was an die Methoden,
die die weiten aber schwachen Denker bevorzugen, erinnert.
In keiner Weise ersetzt der Gebrauch der Vorstellung den
Gebrauch des Verstandes, in keiner Weise wird logisch geführte
Einsicht in die abstrakten B^riffe und allgemeinen Urteile ver-
worfen, um sie durch die Anschauung konkreter Gruppierungen
zu ersetzen.
Wenn wir nicht dem Gebrauch von Modellen Entdeckungen
zuschreiben, die in Wirklichkeit den abstrakten Theorien zu
verdanken sind, wenn wir uns hüten, den Gebrauch derartiger
Modelle mit dem Gebrauch der Analogie zu verwechseln,
welchen Anteil haben dann wirklich die auf Vorstellung ge-
gründeten Theorien an dem Fortschritt der Physik?
Dieser Anteil wird sehr gering sein.
Der Physiker, der am ausgesprochensten das Verständnis
einer Theorie mit der Anschauung eines Modelles identifiziert
hat, Lord Kelvin, hat sich durch berühmte Entdeckungen aus-
gezeichnet. Wir sehen aber unter diesen keine, zu der er durch
die auf Vorstellung gegründete Physik inspiriert worden wäre.
Seine schönsten Funde, der nach ihm benannte Effekt, die
Eigenschaften variabler Ströme, die Gesetze der oszillierenden
Entladung und viele andere, die nicht alle aufgezählt werden
können, wurden mit Hilfe der abstrakten Systeme der klassischen
Thermodynamik und Elektrodynamik gemacht. Oberall, wo er
die mechanischen Modelle zu Hilfe ruft, beschränkt er sich auf
die Arbeit der Darstellung bereits erhaltener Resultate; um Neu-
erforschungen handelt es sich in diesem Falle niemals.
Ebenso scheint es nicht, daß das Modell der elektrostatischen
und elektromagnetischen Wirkungen, das Maxwell in der Ab-
handlung: on physical Lines of Force angibt, ihn bei der
Schaffung der elektromagnetischen Lichttheorie geleitet habe.
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 127
Ohne Zweifel bemüht er sich, aus diesem Modell die beiden
wesentlichen Formeln dieser Theorie abzuleiten, aber schon die
Art, in der er bei seinen Bemühungen vorgeht, zeigt deutlicher
als nötig, daß die Resultate, die erhalten werden sollten, ihm
schon von einem andern Wege her bekannt gewesen sind.
In seinem Bestreben, sie, koste es was immer, wieder zu finden,
geht er bis zur Verdrehung einer der Orundformeln der
Elastizität^). Er konnte die Theorie, die ihm vorschwebte, nur
schaffen, indem er auf die Verwendung aller Modelle verzichtete,
indem er auf dem Weg der Analogie das abstrakte System der
Elektrodynamik auf die Verschiebungsströme ausdehnte.
So hat weder in den Leistungen Lord Kelvins, noch in den
Leistungen Maxwells der Gebrauch mechanischer Modelle die
Fruchtbarkeit gezeigt, die man ihm heute so gern zuschreibt.
Soll damit gesagt sein, daß niemals ein Physiker zu einer
Entdeckung durch diese Methode inspiriert worden sei? Eine
derartige Behauptung wäre eine lächeriiche Übertreibung. Die
Erfindungsgabe ist keiner festen Regel unterworfen. Es gibt
keine Lehre, die so dumm wäre, daß sie nicht eines Tages zu
einer neuen und glücklichen Idee anregen könnte. So hat die
Stemdeuterkunst ihren Anteil an der Entwickelung der Prinzipien
der Mechanik des Himmels gehabt.
Überdies würde der, welcher dem Gebrauch mechanischer
Modelle jedwede Fruchtbarkeit absprechen wollte, durch Bei-
spiele aus der letzten Zeit wideriegt werden. Man würde gegen
ihn die elektrooptische Theorie des Hm. Lorentz anführen,
die die Teilung der Spektrallinien in einem magnetischen Feld
voraussah und Hm. Zeeman zur Beobachtung dieses Phä-
nomens veranlaßte, man würde gegen ihn die von Hm.
J. J. Thomson erdachten Mechanismen anführen, die den Trans-
port der Elektrizität im Innem einer Gasmasse darstellen, sowie
die merkwürdigen Experimente, die sich daran knüpften.
Ohne Zweifel würden auch diese Beispiele Anlaß zur Dis-
kussion geben.
*) P. Duhem: Les Th^ories electriques de J. Clerk Maxwell,
^tude historique et critique. Paris 1902, p. 212.
128 Viertes Kapitel.
Man könnte einwenden, daß das elektrooptische System
des Hm. Lorentz, obwohl es auf mechanische Hypothesen
gegründet ist, nicht mehr in einem einfachen Modell, sondern
in einer ausgedehnten Theorie besteht, deren verschiedene Teile
logisch verbunden und geordnet sind, daß überdies der Zeeman-
effekt weit entfernt ist, die Theorie, die seine Entdeckung ver-
anlaßt hat, zu bestätigen, vielmehr in erster Linie den Beweis
lieferte, daß diese Theorie nicht so wie sie war beibehalten
werden könne, sondern daß sie mindestens einschneidenden
Änderungen unterworfen werden müsse.
Man könnte auch bemerken, daß das Band zwischen den
Bildern, die Hr. J. J. Thomson unserer Anschauung voriegt
und den gut beobachteten Tatsachen der Oasionisation recht
locker sei, daß die mechanischen Modelle, die neben diese Tat-
sachen gesetzt werden, eher die bereits vollzogenen Entdeckungen
verdunkeln als die in Aussicht stehenden beleuchten.
Aber halten wir uns nicht mit diesen Spitzfindigkeiten auf.
Oeben wir ohne Umschweif zu, daß die Anwendung mechanischer
Modelle manche Physiker auf den Weg der Entdeckung führen
konnte, und daß sie noch zu anderen Funden führen kann.
Sicher ist aber, daß sie nicht jenen reichen Beitrag zum Fort-
schritt der Physik beigesteuert, den man uns angepriesen hat
Der Teil der Ausbeute, den sie zu der Menge unserer Kenntnisse
hinzugefügt hat, scheint recht mager zu sein, wenn man ihn
mit den reichlichen Errungenschaften der abstrakten Theorien
vergleicht.
§ 10. — Soll der Oebrauch mechanischer Modelle die
Forschung nach abstrakten und logisch geordneten
Theorien hindern?
Wir haben gesehen, daß die berühmtesten Physiker unter
jenen, die den Oebrauch mechanischer Modelle empfehlen, in
dieser Form der Theorie weit weniger ein Hilfsmittel der Neu-
forschung als eine Darstellungsmethode suchen. Lord Kelvin hat
selbst keineswegs behauptet, daß die Mechanismen, die er in
so großer Zahl konstruierte, die Fähigkeit der Weissagung be-
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 120
sitzen. Er beschränkte sich auf die Erklärung, daß derartige
konkrete Darstellungen für seinen Verstand eine unentbehrliche
Stütze bilden, daß er ohne sie nicht zur klaren Auffassung einer
Theorie gelangen könne.
Die starken Denker, die es nicht nötig haben, um einen
abstrakten Gedanken zu begreifen, ihm in einem konkreten Bild
Ausdruck zu geben, können den umfassenden aber schwachen
Denkern, die das, was weder Farbe noch Form besitzt, nicht
leicht begreifen, vernünftigerweise nicht das Recht absprechen,
sich die Gegenstände der physikalischen Theorien in ihrer Vor-
stellung zu zeichnen und zu malen. Das beste Mittel, um die
Entwickelung der Wissenschaft zu fördern, besteht darin, jeder
Denkart zu gestatten, sich gemäß der ihr eigentümlichen Gesetze
zu entwickeln und ihren Typus vollständig auszubilden, d. h.
man lasse die starken Denker sich von abstrakten Begriffen und
allgemeinen Prinzipien nähren, die umfassenden Denker aber
von sichtbaren und greifbaren Dingen oder mit einem Wort,
man zwinge die Engländer nicht französisch, noch die Franzosen
englisch zu denken. Das Prinzip dieses intellektuellen Libe-
ralismus, das selten verstanden und angewendet wird, hat
Hdmholtz, der ein so außerordentlich tiefer und starker Denker
gewesen, formuliert^): „Englische Physiker, wie Lord Kelvin in
seiner Theorie der Wirbelatome, und Maxwell in seiner Annahme
eines Systemes von Zellen mit rotierendem Inhalt, die er seinem
Versuch einer mechanischen Erklärung der elektromagnetischen
Vorgänge zugrunde gelegt hat, haben sich offenbar durch
ähnliche Erklärungen besser befriedigt gefühlt, als durch die
bloße allgemeinste Darstellung der Tatsachen und ihrer Gesetze,
wie sie durch die Systeme der Differentialgleichungen der Physik
gegeben wird. Ich muß gestehen, daß ich selbst bisher an
dieser letzteren Art der Darstellung festgehalten und mich am
besten gesichert fühlte; doch möchte ich gegen den Weg, den
so hervorragende Physiker, wie die drei genannten eingeschlagen
haben, keine prinzipiellen Einwendungen erheben."
*) H. von Helmholtz: Vorwort zu: „Die Prinzipien der Mechanik''
von H. Hertz, p. XXI.
Dahem, Physikalische Theorie. Q
130 Viertes Kapitel.
Übrigens handelt es sich heute für die starken Denker nicht
mehr darum, ob sie eriauben wollen, daß die phantasievollen
Köpfe Bilder und Modelle gebrauchen, sondern darum, ob sie
sich selbst das Recht wahren, den physikalischen Theorien
Einheit und logische Ordnung zu geben. Die phantasievollen
Köpfe beschränken sich in der Tat nicht mehr auf die Ver-
sicherung, daß der Gebrauch konkreter Bilder ihnen für das
Verständnis abstrakter Theorien unentbehrlich sei, sondern sie
behaupten, allen berechtigten Erfordernissen des Verstandes
Rechnung getragen zu haben, wenn sie für jedes Kapitel der
Physik ein mechanisches oder angenähertes algebraisches Modell
schaffen, das in keiner Verbindung mit dem Modell steht, das
zur Illustration des vorangehenden oder folgenden Kapitels dient.
Sie behaupten, daß die Bemühungen derjenigen Physiker, die
zu einer logischen, auf eine möglichst kleine Zahl unabhängiger
und genau formulierter Hypothesen gestutzten Theorie gelangen
wollen, keinem Bedürfnis eines richtig gebildeten Geistes ent-
sprechen. Infolgedessen sollen diejenigen, die das Amt haben,
die Studien zu lenken und die Richtung der wissenschaftlichen
Forschung zu bestimmen, die Physiker von dieser nutzlosen
Arbeit abhalten.
Was werden wir diesen Behauptungen, die man jeden
Augenblick in hundert verschiedenen Formen von allen schwachen
und utilitarischen Denkern hört, entgegenhalten, um die Be-
rechtigung, die Notwendigkeit und den Vorzug der abstrakten,
logisch geordneten Theorien darzutun?
Was werden wir auf folgende Frage, die uns g^enwärtig
so dringend gestellt wird, antworten: Ist es erlaubt, mehrere
verschiedene Gruppen von experimentellen Gesetzen,
oder sogar eine einzige Gruppe von Gesetzen mit Hilfe
mehrerer Theorien zu versinnbildlichen, wenn jede der-
selben auf Hypothesen beruht, die mit den Hypothesen,
auf denen die anderen beruhen, unvereinbar sind?
Auf diese Frage zögern wir nicht, folgendes zu antworten:
WENN MAN SICH STRENG AN REIN LOOISCHEER-
WÄQUNOEN HÄLT, kann man den Physiker nicht hindern,
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 131
verschiedene Gruppen von Gesetzen oder sogar eine
einzige Gruppe von Gesetzen durch mehrere unverein-
bare Theorien zu beschreiben, man kann den Mangel
an Zusammenhang in der physikalischen Theorie nicht
verurteilen.
An einer solchen Erklärung würden diejenigen, die eine
physikalische Theorie als Erklärung der Gesetze der anorganischen
Welt betrachten, argen Anstoß nehmen. Es wäre in der Tat
absurd, zu behaupten, daß zwei verschiedene Erklärungen des-
selben Gesetzes zu gleicher Zeit richtig seien. Es wäre absurd,
eine Gruppe von Gesetzen auf Grund der Annahme einer ge-
wissen Konstitution der Materie und eine andere Gruppe auf
Grund der Annahme einer ganz anderen Konstitution zu er-
klären. Die erklärende Theorie muß unbedingt den Schein sogar
des Widerspruches vermeiden.
Wenn man aber annimmt, wie wir es zu zeigen gesucht
haben, daß eine physikalische Theorie einfach ein System sei,
welches eine Gruppe experimenteller Gesetze klassifizieren soll,
wie kann man dann aus den Lehren der Logik das Recht zur
Verurteilung eines Physikers schöpfen, der verschiedene Klassi-
fikationsverfahren anwendet, um verschiedene Gruppen von
Gesetzen zu ordnen oder der für dieselbe Gruppe von Gesetzen
mehrere Klassifikationen, die aus verschiedenen Methoden stammen,
angibt? Verbietet die Logik den Naturforschem eine Gruppe
von Tieren auf Grund des Nervensystems, eine andere Gruppe
auf Grund des Blutkreislaufes zu klassifizieren? Wird ein
Malakologe eine Absurdität begehen, wenn er nach dem System
des Hm. Bouvier, der die Mollusken nach der Anlage ihrer
Nervenfasem gmppiert, das des Hm. Remy Perrier anführt,
der seine Vergleiche auf das Studium des Bojanischen Organes
stützt? Ebenso wird ein Physiker das Recht haben, einmal
. die Materie als kontinuieriich, ein anderes Mal als aus dis-
kreten Atomen bestehend aufzufassen, er wird die Kapillar-
wirkungen durch Anziehungskräfte, die zwischen den un-
bew^lichen Teilchen bestehen, erklären und denselben Par-
tikeln schnelle Bewegungen zuschreiben, um von den Wärme-
9*
132 Viertes Kapitel.
Wirkungen Rechenschaft zu geben. Keine dieser Verschieden-
heiten wird die Prinzipien der Logik verletzen.
Die Logik legt augenscheinlich dem Physiker nur eine Be-
dingung auf: er darf die verschiedenen Klassifikationsverfahren,
die er anwendet, nicht miteinander vermengen. Das heißt, wenn
er zwischen zwei Gesetzen eine gewisse Verbindung herstellt,
muß er ganz genau angeben, durch welche der angegebenen
Methoden diese Verbindung gerechtfertigt wird. Das suchte
Hr. Poincar6 auszudrücken, als er die Worte schrieb^), die wir
schon zitiert haben: „In der Tat kann von zwei sich wider-
sprechenden Theorien, vorausgesetzt, daß man sie nicht
durcheinander wirft, und daß man darin nicht nach dem
Ursprung der Erscheinungen sucht, eine jede fflr sich betrachtet,
als nützliches Hilfsmittel für Untersuchungen dienen.''
Die Logik liefert daher kein einwandfreies Argument für
den, der der physikalischen Theorie eine vollständig wider-
spruchsfreie Ordnung auferlegen will. Wird man zureichende
Gründe für diese Ordnung in dem Prinzip, das in dem Streben
der Wissenschaft nach größter Ökonomie des Denkens aus-
gedrückt ist, finden? Wir glauben nein.
Am Anfang dieses Kapitels haben wir gezeigt, welchen
Unterschied verschiedene Denker in der Einschätzung der Ge-
dankenökonomie, die aus einer gewissen intellektuellen Operation
hervorgeht, machen können. Wir haben gesehen, daß da, wo
ein starker, aber begrenzter Denker eine Erleichterung, ein weiter,
aber schwacher Denker ein Anwachsen der Mühe fühlt
Es ist klar, daß Köpfe, die in der Aufnahme abstrakter
Gedanken, in der Bildung allgemeiner Urteile, in der Ableitung
strenger Deduktionen geübt, dag^en in einer ein wenig ver-
wickelten Gruppierung leicht verwirrt werden, eine Theorie um
so befriedigender, umso ökonomischer finden, je vollkommener
ihre Ordnung, je weniger oft ihre Einheit durch Lücken oder
Widersprüche gestört sein wird.
^) H. Poincar^: £lectricit6 et Optique. 1. Les th^ories de
Maxwell et la th^orie 6]ectro-magn6tique de la lumi^re. Intro-
duction, p. IX. (Deutsche Ausgabe von Jäger und Oumlich, p. 3.)
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 133
Eine Vorstellungskraft aber, die so umfassend ist, daß sie
mit dnem einzigen Blick eine verwickelte Gruppierung unzu-
sammenhängender Dinge erfassen kann, und kein Bedürfnis
nach Ordnung derselben empfindet, ist im allgemeinen mit einem
Verstand verbunden, der so schwach ist, daß er die Abstraktion,
Oeneralisation und Deduktion fürchtet Die Köpfe, in denen
diese zwei Anlagen vereinigt sind, werden finden, daß die be-
trächtliche logische Arbeit, die die verschiedenen Teile der
Theorien zu einem einzigen System zusammenfaßt, ihnen
mehr MQhe bereitet als das Erfassen der getrennten Teile.
Sie werden keinesw^[S den Übergang von der Zusammen-
hangslosigkeit zur Einheit als ökonomische Denkoperation
betrachten.
Weder das Prinzip des Widerspruches, noch das Gesetz
der Ökonomie des Denkens ertauben in unwiderlegbarer Weise
zu beweisen, daß eine physikalische Theorie logisch geordnet
sein muß. Woher werden wir ein Argument zugunsten dieser
Mtinung nehmen?
Die Meinung ist berechtigt, denn sie stammt aus einem
uns angeborenen Gefühl, das mit rein logischen Betrachtungen
nicht bewiesen, aber auch nicht vollständig erstickt werden
kann. Selbst diejenigen, die Theorien aufgestellt haben, deren
einzelne Teile nicht miteinander übereinstimmen, die eben-
soviel verschiedene voneinander getrennte mechanische oder
algebraische Modelle beschreiben, wie ihr Buch Kapitel hat, tun
es nur mit Bedauern, mit Widerwillen. Man muß bloß das
Vorwort lesen, das Maxwell an die Spitze seines Lehrbuches
der Elektrizität und des Magnetismus, in dem es unlösbare
Widersprüche im Überfluß gibt, gesetzt hat, um zu erkennen,
daß diese Widersprüche weder gesucht noch willkommen
waren, daß der Autor vielmehr eine widerspruchsfreie Theorie
des Elektromagnetismus zu erhalten wünschte. Lord Kelvin
hofft bei der Konstruktion seiner unzähligen Modelle unauf-
hörlich, daß einst der Tag kommen werde, an dem eine mecha-
nische Erklärung der Materie möglich wird. Er schmeichelt
sich, daß seine Modelle den Weg abstecken, der zur Entdeckung
dieser Erklärung führen wird.
134 Viertes Kapitel.
Jeder Physiker strebt natfl'rltch nach der Einheit der Wissen-
schaft. Das ist der Orund, warum der Oebrauch unzusammen-
hängend er und unvereinbarer Modelle erst seit wenigen Jahren
in Vorschlag gebracht wurde. Sowohl der Verstand, der nach
einer Theorie verlangt, deren Teile alle logisch geordnet sind,
als auch die Vorstellungskraft, die den verschiedenen Teilen der
Theorie in konkreten Vorstellungen Ausdruck geben will, hätten,
wenn eine vollständige und detaillierte, mechanische Erklärung
der Gesetze der Physik erreichbar gewesen wäre, in ihr das
Ziel ihrer Tendenzen zu eriangen geglaubt Daher rührt das
Feuer, mit dem während langer Zeit die Theoretiker sich um eine
derartige Erklärung bemühten. Als die Vergeblichkeit dieser
Anstrengungen klar gezeigt hatte, daß eine derartige Erklärung
eine Schimäre^) sei, mußten die Physiker, die zur Oberzeugung
gekommen waren, daß es unmöglich sei, gleichzeitig den Be-
dürfnissen des Verstandes und denen der Vorstellungskraft zu
genügen, eine Wahl treffen. Die starken und tiefen Denker,
die vor allem unter der Herrschaft des Verstandes stehen, ver-
zichteten darauf, von der physikalischen Theorie die Erklärung
der Naturgesetze zu veriangen, um dadurch die Einheit und
Strenge zu retten. Die umfassenden aber schwachen Denker
verzichteten unter dem Einfluß der Vorstellungskraft, die bei
ihnen mächtiger als der Verstand ist, darauf, ein logisches System
aufzubauen, um die Teile ihrer Theorie in sichtbarer und greif-
barer Gestalt aufstellen zu können. Aber der Verzicht dieser
letzteren — oder wenigstens derjenigen, deren Meinung es ver-
dient in Betracht gezogen zu werden — war niemals vollständig
und endgültig. Sie gaben ihre vereinzelten und unzusammen-
hängenden Konstruktionen stets nur als Notbaracken, als Gerüste,
die wieder zu verschwinden haben, aus. Sie gaben die Hoff-
nung nicht auf, daß eines Tages ein genialer Architekt ein
Gebäude herstellen würde, dessen Teile nach einem voll-
kommen einheitlichen Plan angeordnet sind. Nur diejenigen,
die vorgeben, daß sie die Kraft des Denkens geringschätzen,
um den Glauben zu erwecken, daß sie Weite desselben
*) Wegen näherer Details über diesen Punkt sei auf mein Werfe:
L'Evolution de la M6canique, Paris 1903, verwiesen.
Die abstrakten Theorien und die mechanischen Modelle. 135
besitzen, sind so weit herabgestiegen, diese Gerüste für ein voll-
endetes Monument zu nehmen.
So fühlen alle, die fähig sind zu überlegen, die sich über
ihre eigenen Gedanken Rechenschaft geben können, in sich
dieses ununterdrückbare Streben nach der logischen Einheit der
physikalischen Theorie. Dieses Streben nach einer Theorie, deren
Teile sich in logischer Obereinstimmung befinden, ist anderer-
seits unzertrennlich mit jenem anderen verbunden, dessen un-
widerstehliche Macht wir schon konstatiert haben ^), mit dem
Streben nach einer Theorie, die eine naturgemäße Klassifi-
kation der physikalischen Gesetze ergibt. Wir fühlen in
der Tat, daß, wenn die wirklichen Beziehungen der Dinge, die
durch die Methoden, die der Physiker benützt, nicht gefaßt
werden können, sich bis zu gewissem Grade in unseren physi-
kalischen Theorien spiegeln, dieses Spiegelbild Ordnung und
Einheit besitzen muß. Es ginge über die Hilfsmittel der Physik
hinaus, wollte man mit zwingenden Gründen zu beweisen ver-
suchen, daß dieses Gefühl der Wahrheit entsprechend sei. Wie
können wir aber die Eigentümlichkeiten, die dieses Spiegelbild
aufweisen soll, angeben, wenn die Objekte, aus denen dieser
Reflex hervorgeht, uns nicht sichtbar sind? Und dennoch ent-
steht dieses Gefühl in uns mit unwiderstehlicher Gewalt, und
wer in ihm nur ein Trugbild, eine Illusion sehen wollte, könnte
allerdings nicht durch das Widerspruchsprinzip zum Schweigen
gebracht werden, er würde aber vom gesunden Menschen-
verstand in den Bann getan.
In diesem wie in allen anderen Fällen kann die Wissen-
schaft die Berechtigung ihrer eigenen Prinzipien, die ihre
Methoden bestimmt und ihre Untersuchungen leitet, nur
dartun, wenn sie sich auf den gesunden Menschenverstand
beruft Am Grunde unserer am klarsten formulierten, am
strengsten abgeleiteten Lehren, finden wir immer wieder diesen
ungeordneten Haufen von Tendenzen, Bestrebungen und
Intuitionen. Es gibt keine Analyse, die so tiefgehend wäre, um
sie voneinander zu trennen, um sie in einfachere Elemente zu
') Siehe Kapitel II, § 4.
136 Viertes Kapitel.
zerlegen. Keine Sprache ist genügend, genau und schmi^sam,
um sie zu definieren und zu formulieren. Und doch sind die
Wahrheiten, die uns der gesunde Menschenverstand offenbart,
so klar und so gewiß, daß wir sie weder mißverstehen, noch
in Zweifel ziehen können. Noch mehr, alle wissenschaftliche
Klarheit und Sicherheit ist nur ein Reflex ihrer Klarheit und
eine Erweiterung ihrer Sicherheit
Der Verstand besitzt daher kein logisches Argument, das
eine physikalische Theorie hindern könnte, die Ketten der
logischen Strenge zu brechen, aber „die Natur unterstfitzt den
ohnmächtigen Verstand und hindert ihn soweit, vom rechten
Wege abzuschweifen"^).
^) Pascal: Pens^es Edition Havet, ait 8.
ZWEITER TEIL.
DIE STRUKTUR DER PHYSIKALISCHEN
THEORIEN.
Fünftes Kapitel.
Quantität und QuaUtät
§ 1. — Theoretische Physik ist mathematische Physik.
Die Eförterungen des ersten Teiles dieser Schrift haben
uns genau über das Ziel, das sich ein Physiker bei der Auf-
stellung einer Theorie setzen muß, aufgeklärt
Eine physikalische Theorie wird demnach ein System logisch
aneinandergeketteter Lehrsätze, nicht aber eine unzusammen-
hängende Folge mechanischer oder algebraischer Modelle sein.
Dieses System soll uns nicht eine Erklärung, sondern eine Dar-
stellung und naturgemäße Klassifikation einer Gruppe von
Gesetzen geben.
Die Forderung, daß eine große Zahl von Lehrsätzen in
vollständiger, logischer Ordnung verkettet seien, ist weder
gering noch leicht zu erfüllen. Die Erfahrung der Jahrhunderte
zeigt uns, wie sich ein Fehlschluß in eine Reihe vollständig
tadelloser Schlußfolgerungen einschleichen kann.
Es gibt indessen eine Wissenschaft, in der die Logik einen
solchen Grad der Vollkommenheit erreicht hat, daß in ihr Irr-
tümer leicht zu vermeiden und wenn sie dennoch begangen
wurden, leicht zu erkennen sind: Diese Wissenschaft ist die
Wissenschaft der Zahlen, die Arithmetik und deren Er-
weiterung, die Algebra. Diese Vollkommenheit verdankt sie
einer symbolischen Sprache von äußerster Kürze, in der jeder
B^ff durch ein Zeichen, dessen Definition jede Zweideutig-
keit ausschließt, dargestellt wird, in der jede Stufe der deduk-
tiven Überi^ung durch eine Operation, die die Zeichen nach
streng festgelegten Regeln kombiniert, durch eine Rechnung,
deren Genauigkeit immer leicht feststellbar ist, ersetzt wird.
140 Fünftes Kapitel.
Diese kurze und genaue Sprache sichert der Algebra Fort-
schritte, wie sie bei den einander feindlichen Doktrinen und
Kämpfen der scholastischen Schulen nicht oder fast nicht
bekannt sind.
Einer der Ruhmestitel der Geisteshelden, die das 16. und
17. Jahrhundert zierten, bestand in der Erkenntnis folgender
Wahrheit: Die Physik wird keine klare, genaue Wissenschaft
werden, sie wird von den fortwährenden, unfruchtbaren Streitig-
keiten, deren Gegenstand sie bis dahin gewesen, nicht befreit,
ihre Lehren werden nicht die Zustimmung aller Köpfe finden
können, solange sie sich nicht der Sprache der Mathematik
bedienen wird. Sie haben die wahre theoretische Physik
geschaffen, indem sie begriffen, daß sie mathematische
Physik sein mfisse.
Die im 17. Jahrhundert geschaffene mathematische Physik
hat durch die erstaunlichen und unaufhörlichen Fortschritte im
Studium der Natur bewiesen, daß sie die gesunde, physikalische
Methode verkörpere. Heute würde man beim primitivsten ge-
sunden Menschenverstand Anstoß err^en, wollte man leugnen,
daß die theoretische Physik sich in der Sprache der Mathematik
ausdrücken müsse.
Damit sich eine physikalische Theorie in der Form einer
Kette algebraischer Rechnungen darstellen lasse, ist es nötig,
daß alle Begriffe, deren sie sich bedient, durch Zahlen darstellbar
seien. Wir sind somit so weit gekommen, uns folgende Frage
vorzulegen: Unter welcher Bedingung kann eine physi-
kalische Eigenschaft durch ein numerisches Symbol
bezeichnet werden?
§ 2. — Quantität und Maß.
Die erste Antwort auf die gestellte Frage, die im Kopfe
entsteht, ist folgende: Damit eine Eigenschaft, die wir in den
Körpern finden, sich durch ein numerisches Symbol ausdrücken
lasse, ist es notwendig und hinreichend, daß, in der Sprache
von Aristoteles gesprochen, diese Eigenschaft in die Kategorie
der Quantität und nicht in die Kategorie der Qualität
gehöre. Es ist notwendig und hinreichend, daß diese Eigen-
Quantität und Qualität 141
Schaft, um in einer von den modernen Mathematikern lieber
verwendeten Sprache zu sprechen, eine Oröße sei.
Welches sind nun die wichtigsten Kennzeichen einer Größe?
Woran erkennen wir z, B., daß die Länge einer Geraden eine
Oröße ist?
Wenn wir verschiedene Längen miteinander vergleichen,
stoßen wir auf den B^^riff der gleichen und den der ungleichen
Längen. Diese Begriffe ergeben folgende zwei wesentlichen
Kennzeichen:
Zwei Längen, die derselben Länge gleich sind, sind auch
untereinander gleich.
Wenn eine Länge größer ist als eine zweite und diese größer
als eine dritte, so ist auch die erste Länge größer als die dritte.
Diese zwei Kennzeichen ermöglichen es uns schon aus-
zudrücken, daß zwei Längen A und B untereinander gleich sind»
indem wir von dem arithmetischen Zeichen = Gebrauch machen
und schreiben A = B. Ebenso ermöglichen sie uns auszudrucken»
daß die Länge A größer als die Länge B ist, indem wir schreiben»
i4 > Ä oder B <iA. In der Tat sind die einzigen Eigenschaften
der Zeichen der Gleichheit oder Ungleichheit, auf die man sich
in der Arithmetik oder Algebra beruft, die folgenden:
1. Die zwei Gleichungen A = By B=C haben die Gleichung
i4 = C zur Folge.
2. Die zwei Ungleichungen -4 > Ä, B^ C haben die Un-
gleichung i4 > C zur Folge.
Diese Eigenschaften besitzen die Gleichheits- und Un-
gleichheitszeichen auch dann noch, wenn sie bei den Unter-
suchungen Ober Längen verwendet werden.
Setzen wir einige Längen i4, Ä, C . . . aneinander, so erhalten
wir eine neue Länge S; diese resultierende Länge 5 ist größer
als jede der gegebenen Längen A, By C; sie bleibt unverändert,
wenn man die Reihenfolge, in der sie aneinandergesetzt werden,
ändert; sie ändert sich auch dann nicht, wenn man einige der
Längen, die sie bilden, z. B. B^ C, durch die Länge, die man^
durch deren Zusammensetzung erhält, ersetzt.
Diese wenigen Kennzeichen ermöglichen es uns, die arith-
metischen Zeichen der Addition zur Darstellung der Operation,.
142 Fünftes Kapitel.
die darin besteht, mehrere Längen aneinanderzusetzen, zu ge-
brauchen und zu schreiben S = i4-}-5 + C + ...
Tatsächh'ch können wir nach dem, was gesagt wurde,
schreiben:
A + B>A, A + B>B
A-\-B = B-^A
A-{-B-j-C = A-\-{B + C).
Diese Gleichungen und Ungleichungen stellen die einzigen,
grundlegenden Postulate der Arithmetik dar; es erstrecken sich
somit alle in der Arithmetik für die Kombination von Zahlen
aufgestellten Rechnungsregeln auch auf Längen.
Die nächstliegende derselben ist die der Multiplikation;
eine Länge, die durch das Aneinandersetzen von n Längen, die
untereinander und einer Länge A gleich sind, erhalten wird, kann
durch das Zeichen Ay<in dargestellt werden. Diese Erweiterung
bildet den Ausgangspunkt für das Messen von Längen, das
uns ermöglicht, jede Länge durch eine Zahl auszudrucken, die
in Verbindung mit einer bestimmten ein für allemal gewählten
Normaleinheit gebraucht wird.
Wählen wir nun eine solche Längeneinheit, z. B. das Meter,
d. h. die Länge, die durch ein unter genau festgelegten Be-
dingungen im „Bureau international des poids et mesures*' auf-
bewahrtes, bestimmtes Stück Metall dargestellt wird.
Bestimmte Längen können dadurch dargestellt werden, daß
man n Längen von je einem Meter aneinandersetzt Die Zahl
n in Verbindung mit der Bezeichnung Meter stellt dann voll-
ständig eine solche Länge dar, die wir als eine Länge von
n Meter bezeichnen.
Gewisse andere Längen können nicht in dieser Art her-
gestellt werden. Es kann dies dagegen geschehen, indem man
p gleiche Teile aneinandersetzt, wobei angenommen sei, daß
die Aneinandersetzung von q derselben die Länge eines Meters
ergebe; eine solche Länge wird dann vollständig bekannt sein,
wenn man den Bruch — in Verbindung mit der Bezeichnung
Meter kennt. Es wird dies eine Länge von — Meter sein.
Quantität und Qualität. 143
Eine inkommensurable Zahl — auch wieder in Verbindung
mit der Bezeichnung des Normalmaßes — wird es ermöglichen,
in gleicher Weise jede Länge, die in keine der zwei von uns
definierten Kategorien gehört, darzustellen. Mit einem Wort,
es wird irgend eine Länge dann vollständig bekannt sein, wenn
wir sagen, daß es eine Länge von x Meter sei, wobei x eine
ganze, gebrochene oder inkommensurable Zahl ist
Somit kann die symbolische Addition i4 + Ä+C-|-...,
durch die wir die Operation der Aneinanderfügung mehrerer
Längen darstellen, durch eine wirkliche arithmetische Addition
ersetzt werden. Sie ermöglicht uns, jede der Längen i4, Ä, C
mit einer Einheit, z. B. mit dem Meter zu messen. Wir erhalten
so die Zahlen a, b, c . . . der Meter. Die Länge S, die durch
die aneinandergefügten Längen i4, B^ C gebildet wurde, wird,
wenn man sie auch in Metern ausdrückt, durch eine Zahl 5 dar-
gestellt, die die arithmetische Summe der Zahlen a, 6, c, die
das Maß der Längen i4, B, C . . . bilden, sein wird. Die sym-
bolische Gleichung zwischen den zusammengefügten Längen
und der resultierenden Länge
>I + Ä+C... = S
wird durch die arithmetische Gleichung zwischen den Zahl-
angaben der Meter, die diese Längen darstellen,
a + Ä + r-f ... = 5
ersetzt
So können wir die Zeichen der Arithmetik und Algebra,
die geschaffen wurden, um Operationen mit den Zahlen aus-
zuführen, mit Hilfe der Wahl einer Längeneinheit und des
Messens auch zur Darstellung von Operationen, die an Größen
ausgeführt werden, benützen.
Das, was wir von den Längen gesagt haben, können wir
bezuglich der Flächen, der Volumina, der Winkel und der Zeiten
wiederholen. Alle physikalischen Eigenschaften, die Größen sind,
weisen analoge Kennzeichen auf. Immer sehen wir, wie die
verschiedenen Werte einer Größe Beziehungen der Gleichheit
oder Ungleichheit bilden, die durch die Zeichen =, >, < dar-
gestellt werden können; immer können wir eine solche Größe
einer Operation unterwerfen, die sowohl kommutativ wie
144 Fünftes Kapitel.
assoziativ ist und infolgedessen durch das arithmetische
Symbol der Addition, durch das Zeichen -f dargestellt werden
kann. Durch eine solche Operation wird das Maß in die Unter-
suchung dieser Größe eingeführt und die vollständige Definition
durch die Vereinigung einer ganzen, gebrochenen oder inkom-
mensurablen Zahl mit einer Normaleinheit ermöglicht Eine
derartige Verbindung ist unter dem Namen benannte Zahl
bekannt.
§ 3. — Quantität und Qualität
Das wesentliche Merkmal jeder Eigenschaft, die in die
Kategorie der Quantität gehört, ist daher das folgende: Jeder
Orößenwert einer Quantität kann immer auf dem W^e der
Addition aus kleineren Werten derselben Quantität gebildet
werden. Jede Quantität besteht auf Grund einer kommutativen
und assoziativen Operation in der Vereinigung von Quantitäten,
die kleiner als die erstere, aber von derselben Art wie sie, sind,
und deren Teile bilden.
Dieses Merkmal drückte die peripathetische Philosophie
durch folgende Formel aus, die zu kurz gefaßt war, um alle
Details des Gedankens vollständig klarzumachen: Die Quanti-
tät ist das, was Teile hat, von denen die einen sich
außerhalb der anderen befinden.
Jede Eigenschaft, die nicht eine Quantität ist, ist eine
Qualität
„Qualität," sagt Aristoteles, „ist eines jener Worte, die in
mehrfachem Sinn gebraucht werden." Qualität ist die Gestalt
einer geometrischen Figur, die aus einem Kreis oder einem
Dreieck besteht; Qualitäten sind die wahrnehmbaren Eigen-
schaften der Körper, das Warme und Kalte, das Helle und
Dunkle, das Rote und Blaue; gesund sein, eine Qualität;
tugendhaft sein, eine Qualität; Grammatiker, Geometer oder
Musiker sein, alles Qualitäten.
„Es gibt Qualitäten," fügt der Stagirit hinzu, die dem Mehr
oder Minder nicht zugänglich sind. Ein Kreis kann nicht mehr
oder minder kreisförmig, ein Dreieck nicht mehr oder minder
dreieckig sein. Aber der Hauptteil der Qualitäten ist dem
Quantität und Qualität 145
Mehr oder Minder zugänglich; sie sind fähig, Intensität zu
besitzen; ein wdBes Ding kann weißer werdend
Im ersten Augenblick kann man versucht sein, eine Verwandt-
schaft zwischen den verschiedenen Intensitäten derselben Qualität
und den verschiedenen GröBenwerten derselben Quantität herzu-
stellen; man würde das Steigen der Intensität (intensio) oder
das Fallen der Intensität (remis sio) mit dem Wachsen oder
Abnehmen einer Länge, einer Fläche, eines Volumens ver-
gleichen.
A, B, C . . . sind verschiedene Mathematiker. A kann ein
ebenso guter, besserer oder weniger guter Mathematiker als B
sein. Wenn A ein ebenso guter Mathematiker als B und B
ein ebenso guter wie C ist, ist auch A ein ebenso guter Mathe-
matiker wie C. Wenn A ein besserer Mathematiker als B ist,
und B ein besserer als C, so ist auch A ein besserer Mathe-
matiker als C
A, B, C . . . sind rote Stoffe, deren Nuancen wir ver-
gleichen. Der Stoff A kann ein ebenso, mehr, oder minder
lebhaftes Rot besitzen als der Stoff B. Wenn die Nuance von
A ebenso lebhaft ist, wie die von B und die Nuance von B
ebenso wie die von C, so ist auch die Nuance von A ebenso
lebhaft wie die von C. Wenn der Stoff A ein lebhafteres Rot
besitzt, als der Stoff B und dieser ein lebhafteres als der Stoff
C, so besitzt auch der Stoff A ein lebhafteres Rot als der
Stoff C
So kann man mit Hülfe der Zeichen =, >, < ausdrücken,
daß zwei Qualitäten derselben Art von gleicher oder ungleicher
Intensität sind. Sie behalten dieselben Eigenschaften wie in
der Arithmetik.
Hier hört die Analogie zwischen den Quantitäten und
Qualitäten auf.
Eine große Quantität kann immer, wie wir gesehen haben,
durch Addition einer gewissen Zahl kleiner Quantitäten der-
selben Art gebildet werden. Die große Zahl Kömer, die sich
in einem Oetreidesack befindet, kann stets durch die Ver-
einigung von Oetreidehaufen, deren jeder aus einer kleineren
Quantität Kömer besteht, erhalten werden. Ein Jahrhundert
Dnhem, PhyiikaHsche Theorie. 10
146 Fünftes Kapitel.
ist eine Reihe von Jahren, ein Jahr eine Reihe von Tagen,
Stunden und Minuten. Ein mehrere Meilen langer Weg wird
durchschritten, indem die kleinen Stücke, die der Wanderer bei
jedem Schritt zurücklegt, aneinandergefügt werden. Ein Feld
von großer Ausdehnung kann in kleinere Flächen parzelliert
werden.
Etwas Derartiges gibt es in der Kategorie der Qualität nicht
Bringt man einen Kongreß von soviel mittelmäßigen Mathe
matikem, als man nur irgend auftreiben kann, zusammen, so
hat man doch kein Äquivalent eines Archimedes oder Lagrange.
Näht man dunkelrote Stofflappen aufeinander, so ist das erhaltene
Stück deswegen nocht nicht lebhaft rot
Eine Qualität gewisser Art und gewisser Intensität geht
in keiner Weise aus mehreren Qualitäten derselben Art und
geringerer Intensität hervor. Jede Intensität einer Qualität hat
ihre eigenen individuellen Kennzeichen, die sie absolut von den
niederen und höheren Intensitäten unterscheiden. Eine Qualität
von gewisser Intensität enthält nicht als integrierenden Bestand-
teil dieselbe Qualität von niederer Intensität Sie geht nicht als
Teil in die Zusammensetzung derselben intensiver gemachten
Qualität ein. Siedendes Wasser ist wärmer als siedender Alkohol
und dieser wärmer als siedender Äther. Aber weder der Wärme-
grad des siedenden Alkohols noch der des siedenden Äthers
sind Teile des Wärmegrades des siedenden Wassers. Wer sagen
wollte, daß die Wärme ^) des siedenden Wassers die Summe der
Wärmen des siedenden Alkohols und des siedenden Äthers seien,
würde einen Unsinn aussprechen. Diderot fragte scherzweise,
wieviel Schneeballen zur Heizung eines Ofens notwendig seien;
die Frage ist nur für den, der Qualität und Quantität verwechselt,
verwickelt
So findet man in der Kategorie der Qualität nichts, das
der Bildung einer großen Quantität aus kleinen Quantitäten,
die deren Teile sind, gleicht; man findet keine Operation, die
kommutativ und assoziativ ist, die den Namen Addition ver-
^) Selbstverständlich nehmen wir hier das Wort Wärme im Sinn der
gewöhnlichen Sprache, der nichts mit dem zu tun hat, was die Physiker
unter dem Wort Wärmequantität verstehen.
Quantität und Qualität 147
dienen und durch das Zeichen -f- dargestellt werden könnte.
Auf Grund der Qualität hätte das Maß, das aus dem B^ff
der Addition hervorgeht, nicht festgestellt werden können.
§ 4. — Die rein quantitative Physik.
Die algebraische Sprache ist stets, wenn eine Eigenschaft
der Messung zugänglich, wenn sie eine Quantität ist, geeignet, die
verschiedenen Werte derselben auszudrücken. Können nun nur
die Quantitäten algebraisch ausgedrückt werden und ist dies
bei den Qualitäten vollständig unmöglich? Die Philosophen,
die im XVII. Jahrhundert die mathematische Physik geschaffen,
haben dies gewiß gedacht Daher mußten sie, um die mathe-
matische Physik, die ihnen als Ziel vorschwebte, zu realisieren,
die Bedingung aufstellen, daß ihre Theorien ausschließlich von
Quantitäten handeln und daß jeder qualitative Begriff aus den-
selben streng verbannt bleibe.
Überdies sahen alle diese Philosophen in der physikalischen
Theorie nicht die Darstellung, sondern die Erklärung der aus
der Erfahrung abgeleiteten Gesetze Die Begriffe, die diese
Theorie in ihren Ausdrücken kombinierte, waren für sie nicht
Zeichen und Symbole der sinnlichen Eigenschaften, sondern
der eigentliche Ausdruck der Realität, die sich hinter diesen
Erscheinungen verbirgt. Das Universum, das sich unseren
Sinnen als ein ungeheurer Zusammenhang von Qualitäten dar-
bietet, müßte daher der Vernunft als System von Quantitäten
offenbar werden.
Die Wünsche, die allen großen wissenschaftlichen Refor-
matoren zu Beginn des XVII. Jahrhunderts gemein waren,
fanden ihre Erfüllung in der Begründung der Cartesianischen
Philosophie.
Die vollständige Verdrängung der Qualitäten aus dem
Studium der materiellen Dinge ist das Ziel und auch das
Charakteristikum der Cartesianischen Physik.
Unter den Wissenschaften ist allein die Arithmetik und
deren Erweiterung, die Algebra, rein von jedem der Kategorie
der Qualität entlehnten Begriffe; sie allein entspricht dem Ideal,
das Descartes der ganzen Naturwissenschaft zuweist
10*
148 Fänftes Kapitel.
Schon in der Geometrie stößt der Geist auf das quali-
tative Element, denn diese Wissenschaft bleibt „so sehr an
die Betrachtung der Figuren gebunden, daß sie nicht das Ver-
ständnis Oben kann, ohne die Phantasie sehr zu ermüden". —
„Die Bedenken, die die Alten gegen die Anwendung der Aus-
drücke der Arithmetik in der Geometrie erhoben, die nur deshalb
nicht fortschreiten konnte, weil sie deren Beziehung zu ersterer
nicht klar genug erkannten, verursachten viel Unklarheit und Ver-
wirrung in der Art, wie sie sich ausdrückten." Diese Unklarheit,
diese Verwirrung wird verschwinden, wenn man aus der Geometrie
den qualitativen Begriff der Form und Gestalt ausschaltet und
in ihr nur den quantitativen Begriff des Abstandes, nur die
Gleichungen, die die gegenseitigen Abstände der verschiedenen
Punkte, die man studiert, miteinander verbinden, aufrecht erhält.
Obwohl ihre Objekte ganz verschiedene Natur besitzen, sehen
die verschiedenen Zweige der Mathematik in diesen Objekten
nichts anderes, als die verschiedenen Verhältnisse oder Pro-
portionen, die sich in ihnen finden, und zwar derart, daß es
genügt, diese Verhältnisse im allgemeinen nach den Methoden
der Algebra zu behandeln, ohne sich um die Objekte, in denen
sie sich finden, um die Figuren, in denen sie realisiert sind, zu
kümmern; dadurch „reduziert sich alles, was der Behandlung^
der Mathematiker unteriiegt, auf das gleiche Problem, das darin
besteht, den Wert der Wurzeln einer Gleichung zu suchen".
Die ganze Mathematik ist auf die Wissenschaft der Zahlen
zurückgeführt, man behandelt in ihr nur Quantitäten, die Quali-
täten haben in ihr keinen Platz.
Nachdem die Qualitäten aus der Geometrie ausgemerzt
sind, muß man sie nun auch aus der Physik verbannen. Um
das zu erreichen, genügt es, die Physik auf Mathematik zu
reduzieren, die die einzig auf Quantität g^^ründete Wissen-
schaft ist. Das ist das Werk, das Descartes auszuführen
versuchte.
„Ich erhalte keine Prinzipien in der Physik," sagt er, „die
nicht auch in der Mathematik erhalten werden." — „Denn ich
gestehe^) offen, daß ich keine andere Materie der körperiichen
*) Descartes: Principia Philosophiae, Pars 11, art. LXIV.
Quantität und Qualität 149
Dinge anerkenne, als jene durchaus teilbare, gestaltbare und
bewegliche, welche die Oeometer die OröBe nennen und zu
dem Gegenstände ihrer Beweise machen, und daß ich in ihr
nur diese Teilungen, Gestalten und Bewegungen beachte und
nichts an ihnen als wirklich anerkenne, was sich nicht aus
jenen Gemeinbegriffen, an deren Wahrheit man nicht zweifeln
kann, so klar ergibt, daß es als mathematisch bewiesen gelten
kann. Da nun alle Naturerscheinungen hieraus erklärt werden
können, wie das folgende ergeben wird, so halte ich andere
Prinzipien der Naturwissenschaft weder für zulässig noch für
wünschenswert."
Was ist nun vor allem die Materie? „Ihre Natur besteht
nicht*) in der Härte, noch in der Schwere, Wärme oder anderen
Qualitäten dieser Art," sondern nur in „der Ausdehnung nach
Länge, Breite und Tiefe," in dem „was die Geometer Quantität
nennen" oder Volumen. Die Materie ist daher Quantität; die
Quantität einer gewissen Materie besteht in dem Volumen, das
sie einnimmt; ein Schiff enthält gleichviel Materie, ob es nun
mit Quecksilber oder mit Luft gefüllt ist. „Diejenigen, die
behaupten^, daß sie die materielle Substanz von der Aus-
dehnung und der Quantität unterscheiden, denken sich ent-
weder unter dem Worte Substanz nichts oder teilen der körper-
lichen Substanz fälschlich die verworrene Vorstellung einer
unkörperiichen Substanz zu."
Was ist die Bewegung? Auch eine Quantität. Multipli-
zieren wir die Quantität der Materie eines jeden Körpers eines
Systems mit der Geschwindigkeit, die dieser Körper besitzt
und addieren wir alle diese Produkte, so erhalten wir die
Bew^[ungsquantität des Systems. So lange dieses System an
keinen fremden Körper, der ihm Bewegung erteilt oder ent-
nimmt, anstößt, behält es eine unveränderiiche Bewegungs-
quantität.
So ist im ganzen Universum eine einzige, homogene, in-
kompressible und undilatierbare Materie ausgebreitet, von der
wir nichts wissen, außer daß sie ausgedehnt sei; diese Materie
*) Descartes: loc cii Pars II, ari IV.
') Descartes: loc cit Pars II, art. IX.
150 Fünftes Kapitel.
ist in Teile von verschiedener Gestalt zerl^bar und diese
Teile können sich gegeneinander bewegen; dies sind die ein-
zigen wirklichen Eigenschaften, aus denen die Körper gebildet
sind; auf diese Eigenschaften müssen sich alle scheinbaren
Qualitäten, die auf unsere Sinne wirken, zurückführen lassen.
Die Aufgabe der Cartesianischen Physik besteht in der Er-
klärung, wie diese Zurückführung stattfindet.
Was ist die Schwere? Die Wirkung, die durch Wirbel aus
feiner Materie auf die Körper ausgeübt wird. Was ist ein warmer
Körper? Ein Körper, „der aus kleinen Teilen zusammengesetzt ist,
die sich getrennt gegeneinander mit sehr schneller und sehr hef-
tiger Geschwindigkeit bewegend Was ist das Licht? Ein Druck,
der auf den Äther durch die Bewegung der glühenden Körper
ausgeübt und augenblicklich in die größten Entfernungen über-
tragen wird. Alle Qualitäten der Körper ohne Ausnahme finden
ihre Erklärung in einer Theorie, in der man nur den geomet-
rischen Raum, die verschiedenen Gestalten, die man in ihm ab-
grenzen kann und die verschiedenen Bewegungen, denen diese
Figuren zugänglich sind, betrachtet. „Das Universum ist eine
Maschine, in der es nichts zu betrachten gibt, als die Gestalten
und die Bewegungen ihrer Teile.'' So wird die ganze Wissen-
schaft von der materiellen Natur auf eine Art universeller Arith-
metik zurückgeführt, in der die Kategorie der Qualität radikal
ausgemerzt ist
§ 5. — Die verschiedenen Intensitäten derselben Qua-
lität sind durch Zahlen ausdrückbar.
Nach unserer Auffassung hat die theoretische Physik nicht
die Möglichkeit, unter den sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen
die wirklichen Eigenschaften der Körper zu erfassen. Sie kann
daher nicht, ohne über die rechtmäßigen Grenzen ihrer Methoden
hinauszugehen, entscheiden, ob diese Eigenschaften qualitativ
oder quantitativ seien. Da der Cartesianismus über diesen Punkt
eine Behauptung aufstellt, macht er Ansprüche geltend, die uns
nicht erfüllbar erscheinen.
Die theoretische Physik erfaßt nicht die Realität der Dinge,
sie beschränkt sich darauf, die wahrnehmbaren Erscheinungen
Quantität und Qualität. 151
durch Zeichen, durch Symbole darzustellen. Wenn wir nun
wollen, daß unsere theoretische Physik eine mathematische
Physik sei, werden unsere Symbole algebraische Symbole,
Combinationen von Zahlen sein. Wenn daher nur die Größen
durch Zahlen ausgedrückt werden können, werden wir in unsere
Theorie nur Begriffe, die Größen sind, einführen dürfen. Ohne
die Behauptung aufzustellen, daß im letzten Grund der mate-
riellen Dinge alles Quantität sei, würden wir nichts als das
quantitative in dem Bilde der Gesamtheit der physikalischen
Gesetze, die wir konstruieren, festhalten; der Qualität würde in
unserem System kein Platz zukommen.
Die genannte Behauptung muß man nun keineswegs unter*
schreiben. Der rein qualitative Charakter eines Begriffes ist
nicht damit unvereinbar, daß die Zahlen zur Darstellung der
verschiedenen Werte desselben dienen; dieselbe Qualität kann
in einer Unzahl verschiedener Intensitäten auftreten; diese ver-
schiedenen Intensitäten kann man sozusagen kotieren, numerieren,
indem man in zwei Fällen, in denen die gleiche Qualität mit der-
selben Intensität auftritt, die gleiche Zahl setzt und durch eine
zweite höhere Zahl einen anderen Fall bezeichnet, in dem die
betrachtete Qualität intensiver ist, als im ersten Fall.
Zum Beispiel besteht eine Qualität darin, daß man Mathe-
matiker ist Wenn eine gewisse Zahl junger Mathematiker sich einer
Prüfung unterziehen, erteilt der Examinator, der sie beurteilen
muß, einem jeden von ihnen eine Note und zwar gibt er zwei
Kandidaten, die er für gleich gute Mathematiker hält, dieselbe
Note, diesem aber eine bessere Note als jenem, wenn er den
ersteren für einen besseren Mathematiker hält
Ein Kaufmann ordnet Stoffstücke, deren Rot von verschie-
dener Intensität ist, in seine Regale ein und bezeichnet sie mit
2^1en, jeder Nummer entspricht eine ganz bestimmte Nuance
des Rot; je höher die Nummer ist, eine umso lebhaftere Inten-
sität besitzt das Rot
Vor uns liegen erhitzte Körper; der erste Körper ist ebenso
warm, wärmer, oder weniger warm als der zweite Körper; dieser
Körper ist in diesem Augenblick wärmer oder weniger warm,
als jener andere. Jeder Teil eines Körpers erscheint uns, so
152 Fünftes Kapitel.
klein man ihn auch annimmt, mit einer gewissen Qualität,
die wir Wärme nennen, versehen und die Intensität dieser
Qualität ist nicht im gleichen Augenblick in jedem Teil des
Körpers dieselbe; im selben Punkt des Körpers variiert sie von
einem Augenblick zum anderen.
Wir könnten in unseren Oberiegungen von dieser Qualität,
der Wärme und ihren verschiedenen Intensitäten sprechen;
aber, wenn wir soviel als möglich die Sprache der Algebra an-
wenden wollen, werden wir die Betrachtung dieser Qualität, die
Wärme durch die eines numerischen Symbols, die Temperatur
ersetzen.
Die Temperatur wird eine jedem Punkt eines Körpers in
jedem Augenblick zugeschriebene Zahl sein. Sie ist an die
Wärme, die in diesem Punkt und in diesem Augenblick herrscht,
gebunden. Zwei gleich intensiven Wärmen werden zwei
numerisch gleiche Temperaturen entsprechen; wenn es in
einem Punkte wärmer ist als im anderen, so ist die Temperatur
des ersteren eine größere Zahl, als die des zweiten.
Wenn daher Af, M\ M" verschiedene Punkte und TJ T, T\
die Zahlen, die deren Temperatur ausdrucken, sind, so
hat die arithmetische Gleichung r= T den gleichen Sinn, wie
folgender Satz: Es ist eben so warm im Punkte M\ wie im
Punkte M. Die arithmetische Umgleichung T^T' ist gleich-
bedeutend mit dem Satz: Es ist im Punkte M' wärmer, als im
Punkt M'.
Der Gebrauch einer Zahl, der Temperatur, zur Darstellung
der verschiedenen Intensitäten einer Qualität, der Wärme, beruht
vollständig auf folgenden zwei Lehrsätzen:
Wenn der Körper A ebenso warm ist, wie der Körper B und
der Körper B ebenso warm, wie der Körper C, ist auch der
Körper A ebenso warm, wie der Körper C.
Wenn der Körper A wärmer ist, als der Körper B und der
Körper B wärmer, als der Körper C, so ist auch der Körper A
wärmer, als der Körper C.
Diese beiden Lehrsätze genügen in der Tat dafür, daß durch
die Zeichen =, >, < die Beziehungen, die die verschiedenen
Wärmeintensitäten miteinander haben können, ausdrückbar
Quantität und Qualität. 153
werden, ebenso, wie sie die Darstellung der gegenseitigen Be-
ziehungen der Zahlen oder die gegenseitigen Beziehungen der
verschiedenen OröBenwerte ein und derselben Quantität er-
möglichen.
Wenn man mir sagt, daß zwei Längen durch die Zahlen 5
und 10 gemessen seien, ohne mir irgend eine andere Angabe zu
machen, so gibt man mir in bezug auf diese Längen gewisse
Aufschlüsse, ich weiß, daß die zweite länger ist, als die erste;
ich weiß sogar, daß sie deren doppelten Wert besitzt Diese
Aufschlüsse sind aber dennoch sehr unvollständig; sie ermög-
lichen mir nicht, eine dieser Längen zu reproduzieren, sogar
nicht zu wissen, ob sie groß oder klein seien.
Diese Angaben werden vollständig, wenn man sich nicht
b^^ugt, mir die Zahlen 5 und 10, die diese zwei Längen
messen, anzugeben, sondern mir sagt, daß diese Längen in
Metern gemessen seien und man mir die Meter-Normaleinheit
oder eine ihrer Kopien vorweist; ich werde dann, wenn ich
will, diese beiden Längen reproduzieren können.
Ebenso geben die Zahlen, die die Größen der gleichen Art
messen, uns nur dann vollständig diese Größen an, wenn wir
die konkrete Kenntnis der Maßeinheit besitzen.
Einige Mathematiker standen im Examen; man sagt mir,
daß sie die Noten 5, 10 und 15 verdient haben; das liefert mir
eine gewisse Angabe über sie, die mir zum Beispiel ermöglichen
wird, sie in ihrem Verhältnis zueinander zu klassifizieren. Aber
diese Angabe ist unvollständig; sie ermöglicht mir nicht, mir
eine Vorstellung des Talentes eines jeden von ihnen zu bilden,
ich kenne den absoluten Wert der Noten, die ihnen gegeben
wurden, nicht; mir fehlt die Kenntnis der Skale, auf die diese
Noten bezogen sind.
Ebenso erfahre ich, wenn man mir bloß sagt, daß die
Temperaturen verschiedener Körper durch die Zahlen 10, 20
und 100 dargestellt seien, nur daß der erste Körper weniger
warm als der zweite und dieser weniger warm als der dritte
sei. Aber ist der erste warm oder kalt? Bringt er das Eis
zum Schmelzen oder nicht? Wird mich der letzte verbrennen?
Wird er bewirken, daß ein Ei hart wird? Das weiß ich nicht,
154 Fünftes Kapitel.
solange man mir nicht die Thermometer-Skale, auf die diese
Temperaturen 10, 20, 100 bezogen sind, angibt, das heißt ein
Verfahren, welches mir ermöglicht, in konkreter Weise die Wärme-
intensitäten, welche durch die Zahlen 10, 20, 100 bezeichnet sind,
zu realisieren. Wenn man mir ein graduiertes Olasgefäß gibt,
das Quecksilber enthält und mir sagt, daß die Temperatur einer
Wassermasse allemal gleich 10 oder 20 oder 100 genommen
werden muß, wenn man in sie das Thermometer eintaucht und
sieht, daß das Quecksilber bis zum zehnten oder zwanzigsten
resp. hundertsten Teilstrich steigt, so wird meine Ungewißheit
vollständig verschwunden sein. Jedesmal, wenn der numerische
Wert einer Temperatur mir angegeben wird, werde ich, wenn
ich will, tatsächlich eine Wassermasse realisieren können, die
diese Temperatur hat, wenn ich ein Thermometer besitze, auf
dem sie ablesbar ist
Ebenso, wie eine Größe nicht einfach durch eine abstrakte
Zahl, sondern nur durch eine Zahl in Verbindung mit einer
Maßeinheit definiert ist, ebenso ist die Intensität einer Qualität
nicht vollkommen durch ein numerisches Symbol dargestellt; mit
diesem Symbol muß zugleich ein konkretes Verfahren ang^eben
werden, das geeignet ist, die Skale der Intensitäten her-
zustellen. Nur die Kenntnis dieser Skale ermöglicht es, daß
wir den algebraischen Lehrsätzen, die wir in bezug auf die
Zahlen, die die verschiedenen Intensitäten der studierten Qualität
darstellen, aussprechen, einen physikalischen Sinn geben.
NatQriich beruht die Skale, die zur Kennzeichnung der ver-
schiedenen Intensitäten einer Qualität dient, auf einer quanti-
tativen Wirkung, die diese Qualität zur Ursache hat; man wählt
eine derartige Wirkung so, daß deren Größe wächst, während
die Qualität, die sie verursacht, intensiver wird. So erfährt das
Quecksilber in dem Glasgefäß, daß vom warmen Körper um-
geben ist, eine sichtbare Ausdehnung; diese Ausdehnung
ist um so größer, je wärmer der Körper ist; dies ist eine quanti-
tative Wirkung, die ein Thermometer liefert, das ermöglicht,
eine Skale von Temperaturen zur numerischen Bezeichnung der
verschiedenen Wärmeintensitäten zu konstruieren.
Im Gebiet der Qualität kann der Begriff der Addition nicht
Quantität und Qualität 155
auftreten; er findet sich dag^en wieder, wenn man die quanti-
tative Wirkung, die eine Skale zur Kennzeichnung der ver-
schiedenen Intensitäten einer Qualität lieferti studiert. Man
könnte nicht verschiedene Wärmeintensitäten aneinanderfügen;
aber die sichtbaren Ausdehnungen einer Flüssigkat in einem
festen Gefäß können aneinandergefügt werden; man kann die
Summe verschiedener Zahlen, die verschiedene Temperaturen
darstellen, bilden.
So ermöglicht es die Wahl einer Skale, daß das Studium
der verschiedenen Intensitäten einer Qualität mit der Betrachtung
der Zahlen, die den Regeln der algebraischen Rechnung unter-
worfen sind, vertauscht werde. Die Vorteile, die die alten
Physiker erwarteten, indem sie eine hypothetische Quantität an
Stelle der qualitativen Eigenschaft, die die Sinne ihnen anzeigten,
setzten und indem sie die Größe dieser Quantität maßen, kann
man sehr oft erlangen, ohne sich auf eine solche angenommene
Quantität zu berufen, indem man einfach eine geeignete Skale wählt
Die elektrische Ladung wird uns dafür ein Beispiel liefern.
Das, was durch das Experiment an sehr kleinen elektrisierten
Körpern zu allererst sichtbar wird, ist etwas qualitatives; bald
merkt man jedoch, daß diese Qualität, die Elektrisierung nicht
einfach sei; sie ist zweier einander entgegengesetzter Formen
fähig, die sich g^enseitig zerstören, sie kann harzelektrisch
oder glaselektrisch sein.
Außer dem Unterschied, daß die Elektrisierung eines kleinen
Körpers sich wie die des Harzes oder wie die des Glases ver-
hält, kann sie auch noch mehr oder minder stark sein; sie ist
verschiedener Intensitäten fähig.
Alle Schöpfer der Elektrizitätslehre wie Franklin, Oepinus,
Coulomb, Laplace, Poisson dachten, daß die Qualitäten bei der
Bildung einer physikalischen Theorie nicht als zulässig betrachtet
werden dürften, daß nur die Quantitäten in ihr Bürgerrecht hätten.
Daher suchte ihr Verstand unter dieser Qualität der Elektri-
sierung, die ihre Sinne ihnen anzeigten, eine Quantität, die
Elektrizitätsmenge. Um zum Verständnis dieser Quantität
zu gelangen, dachten sie, daß jede der beiden Elektrisierungen
an die Gegenwart eines gewissen elektrischen Fluidums im
156 Fünftes Kapitel.
Innern des elektrisierten Körpers gebunden sei. Ein Körper
wies eine um so intensivere Elektrisierung auf, je größer die
Masse des elektrischen Fluidums, die er enthielt, war. Die
Größe dieser Masse ergab dann die Elektrizitätsmenge.
Die Betrachtung dieser Quantität spielte in der Theorie eine
wesentliche Rolle, die aus folgenden zwei Gesetzen hervorging:
Die algebraische Summe der Elektrizitätsmengen, die sich
auf einer Gruppe von Körpern befinden, eine Summe, bei der
die Glaselektrizitätsmengen mit dem Zeichen + und die Harz-
elektrizitätsmengen mit dem Zeichen — belegt werden, ändert
sich nicht, solange diese Gruppe nicht mit irgend einem anderen
Körper in Verbindung kommt.
In einer bestimmten Distanz stoßen sich zwei elektrisierte
Körper mit einer Kraft ab, die proportional dem Produkt der
sich auf ihnen befindlichen Elektrizitätsmengen ist.
Nun gut! Wir können diese beiden Ausdrücke vollständig
beibehalten, ohne uns auf hypothetische und wenig wahrschein-
liche Fluida zu berufen, ohne die Elektrisierung ihres quali-
tativen Charakters, den unsere unmittelbaren Beobachtungen
ihr zuschreiben, zu berauben; es genügt uns eine geeignete
Skale zu wählen, auf die wir die Intensitäten der elektrischen
Qualität beziehen.
Nehmen wir einen kleinen glaselektrischen Körper, der stets
ungeändert bleiben soll, in einer ein für allemal gewählten Distanz
und lassen wir auf ihn jeden der kleinen Körper, deren Elektri-
sierung wir studieren wollen, wirken; jeder von ihnen wird auf
den ersten eine Kraft ausüben, deren Größe wir messen können
und die wir mit dem Zeichen -{- wenn sie abstoßend, mit dem
Zeichen — im entgegengesetzten Fall belegen wollen; jeder
glaselektrische Körper wird somit auf den ersten eine positive
Kraft ausüben, die um so größer sein wird, je intensiver seine
Elektrisierung ist; jeder harzelektrische Körper wird eine negative
Kraft ausüben, deren absoluter Wert im Maße, wie die Elektri-
sierung stärker wird, wächst.
Diese Kraft, ein quantitatives Element, das der Messung
und Addition zugänglich ist, wählen wir für die elektrometrische
Skale, die uns die verschiedenen positiven Zahlen zur Dar-
Quantität und Qualität. 157
Stellung der verschiedenen Intensitäten der Olaselektrizität, die
verschiedenen negativen Zahlen zur Darstellung der verschiedenen
Stufen der Harzelektrizität liefert. Diese Zahlen, die Angaben,
die uns durch die elektrometrischen Methoden geliefert werden,
kann man, wenn man will, als Elektrizitätsmengen bezeichnen.
Die beiden wesentlichen Ausdrücke, die die Lehre von den
elektrischen Fluiden formulierte, erhalten nun wieder einen Sinn
und werden richtig.
Dieses Beispiel scheint uns unter allen am geeignetsten,
folgende Wahrheit festzulegen: Es ist unnötig, um aus der Physik,
wie dies Descartes wollte, eine universelle Arithmetik zu machen,
dem großen Philosophen zu folgen und jede Qualität zu ver-
werfen, denn die Sprache der Algebra ermöglicht ebensogut die
Behandlung der verschiedenen Intensitäten einer Qualität, wie
die der verschiedenen Größen einer Quantität.
Sechstes Kapitel.
Die primftren Qualitäten.
%y — Ober die übermäßige Vermehrung der primären
Qualitäten.
Aus der Mitte der physikalischen Welt, die uns die Er-
fahrung kennen lehrt, lösen wir jene Eigenschaften los, die, wie
wir glauben, als primäre betrachtet werden müssen. Diese
Eigenschaften versuchen wir nicht zu erklären, noch auf
andere verborgenere zurückzuführen. Wir akzeptieren sie so,
wie unsere Beobachtungsmittel sie uns kennen lehren, ob sie
sich uns nun in der Form von Quantitäten darbieten, oder ob
sie das Aussehen von Qualitäten aufweisen. Wir werden sie
als irreduzierbare Begriffe betrachten, als die Elemente selbst,
die unsere Theorien zusammensetzen sollen. Aber diesen quali-
tativen oder quantitativen Eigenschaften werden wir mathe-
matische Symbole entsprechen lassen, die uns gestatten werden,
bei ihrer Behandlung die Sprache der Algebra zu benutzen.
Wird diese Methode nicht zu jenem Mißbrauch führen,
den die Urheber der wissenschaftlichen Renaissance so schroff
158 Sechstes Kapitel.
der scholastischen Physik vorgeworfen und die sie so streng
und endgültig gerichtet haben?
Ohne Zweifel konnten die Gelehrten, denen wir die moderne
Physik verdanken, den scholastischen Philosophen ihren Wider-
willen gegen die Diskussion der Naturgesetze in mathematischer
Sprache nicht verzeihen: „Wenn wir irgend etwas wissen" rief
Oassendi^), „wissen wir es aus der Mathematik; aber um das
wahre und gerechtfertigte Wissen der Dinge kümmern sich
diese Leute nicht! Sie klammem sich nur an Lappalien!"
Dies ist aber nicht die Beschwerde, die die Reformatoren
der Physik am häufigsten und lebhaftesten gegen die Vertreter
der Scholastik erheben. Sie klagen sie an, daß sie jedesmal,
wenn ihr Blick auf eine neue Erscheinung fällt, eine neue
Qualität entdecken, daß sie jeder Wirkung, die sie weder studiert
noch analysiert haben, eine besondere Eigenschaft zuschreiben,
daß sie sich einbilden in Fällen eine Erklärung gegeben zu
haben, wo sie nur einen Namen gesetzt und so die Wissen-
schaft in einen anspruchsvollen und leeren Jargon verwandelt
haben.
„Diese Art des Philosophierens" sagte Galilei*), „scheint mir
jedoch eine große Analogie zu haben mit einer Art von Malei;^!,
die einem meiner Freunde eigen war; er schrieb nämlich mit
Oyps auf die Leinwand: Hier soll eine Quelle mit Diana und
ihren Nymphen sein, dort ein Paar Windhunde, in der Ecke
ein Jäger mit einem Hirschgeweih, das übrige Feld, Wald und
Hügel; alles andere überließ er dem Maler, mit Farben auszu-
führen. So redete er sich ein, selber die Geschichte von Aktäon
gemalt zu haben, während er von sich aus nichts, als die
Namen dazu hergegeben hatte." Und Leibniz*) verglich die in
der Physik von den Philosophen befolgte Methode, die bei
jeder Gelegenheit neue Formen und neue Qualitäten einführten,
mit der „die sich begnüge zu sagen, daß eine Uhr eine stunden-
^) Oassendi: Exercitationes paradoxicae adversus Aristo-
telicos. Exerdtatio I.
') Galilei: Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo.
Oioraata terza. [Deutsche Übersetzung von E. Strauß, Leipzig 1891, p.429.]
*) Leibniz: Oeuvres, Edition Gerhardt t IV, p. 434.
Die primären Qualitäten. 159
zeigende Qualität besitze, die aus ihrer Form hervorgehe, ohne
zu betrachten, worin das alles bestehe.''
Die geistige Faulheit, die es bequem findet, sich mit Worten
bezahlt zu machen, die geistige Unredlichkeit, die darin einen
Vorteil findet, auch andere damit zu bezahlen, sind unter den
Menschen weitverbreitete Laster. Sicherlich waren die scholas-
tischen Physiker, die so schnell dabei waren der Form eines
jeden Körpers alle Kräfte zu verieihen, die ihre vagen und zu-
fälligen Systeme erforderten, häufig und stark von ihm angekränkelt.
Aber die Philosophie, die die qualitativen Eigenschaften zuläßt,
besitzt nicht das traurige Monopol dieser Fehler. Man findet
sie eben so gut bei den Sektierern jener Schulen, die ihren
Stolz dreinsetzen, alles auf die Quantität zu reduzieren.
Gassendi zum Beispiel ist ein überzeugter Atomist; fflr ihn
ist jede sinnliche Qualität nur eine Erscheinung; es gibt in der
Wirklichkeit nur Atome, deren Gruppierungen und Bewegungen.
Was antwortet er uns, wenn wir von ihm veriangen, daß er
gemäß seinen Prinzipien die wesentlichen physikalischen Quali-
täten erkläre, wenn wir ihm die Frage stellen: was ist der Ge-
schmack? was ist der Geruch? was ist der Ton? was ist das
Licht?
„In dem Ding selbst^), das wir wohlschmeckend nennen,
scheint der Geschmack in keiner anderen Sache zu bestehen,
als in Partikeln von solcher Gestalt, daß sie, wenn sie in die
Zunge oder in den Gaumen eindringen, an den Geweben dieses
Organes haften bleiben und sie derart in Bewegung bringen,
daß sie die Empfindung erregen, die wir Geschmack nennen.''
„In Wirklichkeit scheint der Geruch in nichts anderem als
bestimmten Partikeln von solcher Gestalt zu bestehen, daß, wenn
sie ausdünsten und in die Nasenlöcher eindringen, sie den
Geweben dieser Organe in der Art entsprechen, daß sie die
Empfindung, die wir Riechen oder Geruch nennen, hervor-
bringen."
„Der Ton scheint in nichts anderem, als in gewissen Par-
tikeln zu bestehen, die in gewisser Art angeordnet sich sehr
^) P. Qassendi: Syntagma philosophicum, 1. V, cc. IX, X et XI.
IM) Sechstes Kapitel.
schnell vom tönenden Körper weit entfernen, In das Ohr ein-
dringen und die Empfindung hervorrufen, die Hören genannt wird."
„Das Licht scheint in den leuchtenden Körpern in nichts
anderem als sehr feinen Partikeln zu bestehen, die in gewisser
Art geformt sind und vom leuchtenden Körper mit einer un-
geheueren Geschwindigkeit ausgestoßen werden, die in das
Sehorgan andringen und geeignet sind, es in Bew^[ung zu
setzen und so die Empfindung, die Sehen genannt wird, hervor-
zurufen."
Er war ein Peripathetiker, jener doctus bachelierus, der
auf die Frage:
Demandabo causam et rationem quare
Opium facit dormire?
antwortete:
Quia est in eo
Virtus dormitiva
Cujus est natura
Sensus assoupire.
Wenn dieser Baccalaureus Aristoteles verieugnet und ein
Atomist geworden wäre, hätte ihn Moli^re ohne Zweifel den
philosophischen Zusammenkünften, die bei Gassendi abgehalten
wurden und die der große Satiriker besuchte, beigezogen.
Die Cartesianer hätten übrigens Unrecht, allzulaut über
die Lächerlichkeiten, denen sie gleichzeitig die Atomisten und
Peripathetiker verfallen sehen, zu triumphieren. Es war einer
von ihnen, an den Pascal dachte, als er schrieb^): „Es gibt
Leute, die sich bis zu der Absurdität versteigen, ein Wort durch
das Wort selbst zu erklären. Ich kenne solche, welche das
Licht folgendermaßen definiert haben: Das Licht ist eine
Leuchtbew^;ung der leuchtenden Körper*). Als ob das Wort
leuchtend uns mehr sagen würde, als das Wort Licht
Diese Anspielung war gegen den Pater Noel, der ehemals Lehrer
von Descartes am College in La Fläche und bald einer seiner
eifrigsten Schüler geworden war, gerichtet. Derselbe hatte in
^) Pascal: De Tesprit g^om^trique.
^ Franz. Wortlaut: La lumi^re est un mouvement luminaire des corps
lumineux.
Die primären Qualitäten. 151
dnem Brief Ober das Leere, der an Pascal gerichtet war, fol-
genden Satz geschrieben: „Das Licht oder vielmehr die Be-
leuchtung ist eine Leuchtbewegung der Strahlen, die aus leuch-
tenden Körperchen zusammengesetzt sind, die die durchsichtigen
Körper erfüllen und lichtartige Bew^[ung nur von anderen
leuchtenden Körpern erhalten können.''
Wenn man das Licht einer Leuchtkraft, leuchtenden Partikeln
oder einer Leuchtbewegung zuschreibt, ist man Peripathetiker,
Atomist oder Cartesianer. Wenn man aber damit prahlt, auf
diese Weise irgend etwas unseren Kenntnissen Ober das Licht
hinzugefugt zu haben, ist man kein vernünftiger Mensch mehr.
In allen Schulen treten falsche Denker auf, die sich einbilden,
eine Flasche mit einer kostbaren Flüssigkeit zu füllen, während
sie ihr nur eine pompöse Etikette aufkleben. Alle physikalischen
Lehren, die vernünftig interpretiert werden, stimmen in der Ver-
urteilung dieser Einbildung überein. Unsere Bemühungen werden
somit dahingehen müssen, sie zu vermeiden.
§ Z — Eine primäre Qualität ist eine in der Tat, aber
nicht von Rechts wegen irreduzierbare Qualität
Übrigens bewirken unsere Prinzipien selbst, daß wir vor
der Verschrobenheit auf der Hut sind, den Körpern so viele
oder nahezu so viele Qualitäten zuzuschreiben, als es Wirkungen
zu erklären gibt. Wir setzen uns die Aufgabe, von einer
Gruppe physikalischer Gesetze eine möglichst einfache, möglichst
zusammenfassende Darstellung zu geben; unser Ehrgeiz ist es,
die vollständigste Ökonomie des Denkens, die wir eriangen
können, zu erreichen. Es ist daher klar, daß wir bei der Auf-
stellung unserer Theorie die kleinste Zahl von Begriffen, die
als primäre, von Qualitäten, die als einfache betrachtet werden,
verwenden müssen. Wir werden die Methode der Analyse und
der Reduktion, die die zusammengesetzten Eigenschaften, die
die Sinne ohne weiteres erfassen, sondert und sie auf eine kleine
Zahl elementarer Eigenschaften bringt, auf die Spitze treiben
müssen.
Woran werden wir erkennen, daß unsere Zeriegung ihr
Ziel erreicht hat, daß die Qualitäten, zu denen unsere Analyse
Dohem, Phyaikaliscfae Theorie. 11
162 Sechstes Kapitel.
fOhrte, nicht ihrerseits wieder in einfache Qualitäten aufgelöst
werden können?
Die Physiker, die erklärende Theorien aufzubauen suchten,
leiteten aus philosophischen Vorschriften, denen sie sich unter-
warfen, Probiersteine und Reagentien ab, die geeignet waren zu
zeigen, ob die Analyse einer Eigenschaft bis zu den Elementen
vorgedrungen war. So wußte zum Beispiel ein Atomist, daß
seine Aufgabe nicht erledigt sei, solange er eine physikalische
Wirkung nicht auf Größe, Oestalt und Gruppierung der Atome
und die Gesetze des Stoßes zurückgeführt hatte; solange ein
Cartesianer in einer Qualität ein anderes Ding als „die Aus-
dehnung und ihre bloße Änderung^ fand, war er sicher, daß er
nicht zur wirklichen Natur vorgedrungen sei.
Woher werden wir, die wir nicht die Eigenschaften der
Körper zu erklären suchen, sondern nur eine algebraische,
kondensierte Darstellung derselben geben wollen, die wir uns
bei der Aufstellung unserer Theorien auf kein metaphysisches
Prinzip berufen, sondern aus der Physik eine autonome Wissen-
schaft machen wollen, woher werden wir ein Kriterium nehmen,
das es uns ermöglicht, eine gewisse Qualität als wirklich einfach
und irreduzierbar, eine gewisse andere als zusammengesetzt und
gründlicherer Trennung bedürftig zu bezeichnen?
Wenn wir eine Eigenschaft als primäre und elementare
betrachten, so wollen wir damit keineswegs behaupten, daß
diese Qualität von Natur aus einfach und unzeriegbar sei; wir
stellen bloß eine tatsächliche Wahrheit fest, wir erklären, daß
alle unsere Anstrengungen, um die Qualität auf andere zu redu-
zieren, gescheitert seien, daß es uns unmöglich war, sie zu
zeriegen.
Stets wird daher ein Physiker, wenn er eine Gruppe bis
dahin nicht beobachteter Erscheinungen feststellt, wenn er eine
Gruppe von Gesetzen, die eine neue Eigenschaft aufzuweisen
scheinen, entdeckt, vor allem suchen, ob diese Eigenschaft nicht
eine früher nicht vermutete Kombination bereits bekannter und
akzeptierter Qualitäten in den als zulässig erkannten Theorien sei.
Nur wenn seine tausendfach variierten Anstrengungen gescheitert
sind, wird er sich entschließen, diese Eigenschaft als eine neue,
Die primären Qualitäten. 163
primäre zu betrachten und in seine Theorien ein neues mathe-
matisches Symbol einfuhren.
„Immer, wenn man eine außerordentliche Tatsache ent-
deckt," schreibt H. Sainte-Claire Deville^), indem er die Un-
schlussigkeit in seinen Oberiegungen beschreibt, als er die ersten
Erscheinungen der Dissoziation wahrnahm, „ist es die erste
Arbeit, ich möchte beinahe sagen die erste Pflicht, die dem
Manne der Wissenschaft obliegt, alle MOhe aufzuwenden, um
sie in die gewöhnliche Regel durch eine Erklärung einzuordnen,
eine Operation, die oft mehr Arbeit und Überiegung erfordert,
als die Entdeckung selbst Wenn man Erfolg hat, empfindet
man eine lebhafte Genugtuung, indem man sozusagen das Ge-
biet eines physikalischen Gesetzes erweitert, indem man die
Einfachheit und die Gültigkeit einer großen Klassifikation er-
höht . . «
„Wenn aber gegenüber einer außerordentlichen Tatsache
jede Erklärung oder wenigstens alle Anstrengungen, die man
gewissenhaft macht, um sie den gewöhnlichen Gesetzen zu
unterwerfen, versagen, muß man andere derartige Tatsachen
suchen, die ihr analog sind. Wenn man diese dann gefunden
hat, muß man sie provisorisch mit Hilfe der Theorie, die
man ausgebildet hat, klassifizieren."
Als Ampire die mechanischen Wirkungen, die zwischen
zwd elektrisierten Drähten, deren jeder zwei Pole einer Säule
veii)indet, entdeckte, kannte man bereits seit langem die an-
ziehenden und abstoßenden Wirkungen, die zwischen elektrisierten
Konduktoren bestehen. Die Qualität, die diese Anziehungen
und Abstoßungen kennzeichnen, war analysiert und durch ein
angenähertes mathematisches Symbol, die positive oder negative
Ladung eines jeden materiellen Teilchens dargestellt worden.
Die Verwendung dieses Symboles führte Poisson zur Aufstellung
einer mathematischen Theorie die in glücklichster Weise die
von Coulomb festgestellten Experimente zur Darstellung brachte.
^) H. Sainte-Claire Deville: Recherches sur lad^composition
des Corps par la chaleur et la dissociation. (Biblioth^que Universelle,
Archives, nouvelle Periode, t. IX, p. 59; 1860.)
ir
164 Sechstes Kapitel.
Konnte man nicht die neu entdeckten Gesetze auf diese
Eigenschaft, deren Einführung in die Physik bereits dne voll-
endete Tatsache gewesen, zurückführen? Konnte man nicht die
Anziehungen und Abstoßungen zwischen zwei Drähten, von
denen jeder ein Element schließt, durch die Annahme erklären,
daß bestimmte elektrische Ladungen so an der Oberfläche dieser
Drähte oder in deren Innerem verteilt sind, daß diese Ladungen
sich umgekehrt proportional dem Quadrat der Entfernung an-
ziehen oder abstoßen, wie es der fundamentalen Hypothese, auf
der die Theorie von Coulomb und Poisson ruht, entspricht?
Die Aufwerfung dieser Frage, die Prüfung derselben durch die
Physiker war wohlberechtigt Wenn einer von ihnen sie in
bejahendem Sinne hätte beantworten können, wenn er die Ge-
setze der durch Ampere beobachteten Erscheinungen auf die
von Coulomb aufgestellten Oesetze der Elektrostatik hätte
zurückführen können, wäre die Theorie der Elektrizität vor der
Betrachtung jeder anderen Qualität als der der elektrischen
Ladung bewahrt worden.
Oleich von Anfang an war man mannigfach bemüht, die
Oesetze der Kräfte, die Ampere aufgezeigt hatte, auf elcJdro-
statische Wirkungen zurückzuführen. Faraday machte diesen
Bemühungen rasch ein Ende, indem er zeigte, daß diese Kräfte
kontinuierliche Rotationsbewegungen erzeugen können. In der
Tat begriff Ampere, sobald er von dem durch den großen
englischen Physiker entdeckten Phänomen Kenntnis erhielt, dessen
ganze Tragweite. Dieses Phänomen, sagte er^), „beweist, daß die
Wirkung, die zwischen galvanischen Leitern besteht, nicht
von einer besonderen Verteilung gewisser auf diesen Konduk-
toren in Ruhe befindlicher Fluida herrühren kann, wie dies bei
den gewöhnlichen elektrischen Abstoßungen und Anziehungen
der Fall ist". — „In der Tat") folgt gemäß dem Prinzip der
^) Ampere: Expos6 sommaire des nouvelles exp^riences
61ectrodynamiques, lu k l'Acad^mie le 8 avril 1822. (Journal de
Physique, t XCIV, p. 65.)
') Ampere: Theorie math^matique des ph^nom^nes ^lectro-
dynamiques uniquement d^duite de Texp^rience. Paris 1826. —
Edition Hermann, Paris 1883, p. 96.
Die primären Qualitäten. 165
Erhaltung der lebendigen Kräfte, das eine notwendige Folge
der dgentlichen Bewegungsgesetze ist, mit Notwendigkeit, daß,
— wenn die elementaren Kräfte, die in unserem Falle Anziehungen
und AbstoBungen auf Orund des umgekehrten Verhältnisses der
Quadrate der Entfernungen sind, durch einfache Funktionen der
gegenseitigen Abstände der Punkte, zwischen denen sie wirken,
ausgedruckt werden und wenn ein Teil dieser Punkte unver-
änderlich miteinander verbunden, sich nur auf Orund dieser
Kräfte bew^ ein anderer derselben festbleibt — die ersten in
die gleiche Lage in bezug auf die letzteren, nur mit einer größeren
Geschwindigkeit kommen können, als die ist, die sie besaßen,
als sie den ursprunglichen Ort verließen. Es kommen nun bei
einer kontinuierlichen Bewegung, die einem beweglichen Leiter
durch die Wirkung eines festen erteilt wird, alle Punkte des
ersteren mit Oesch windigkeiten, die bei jeder Umdrehung
wachsen, in die gleiche Lage zurflck. Das geht so lange fort,
bis die Reibungen und der Widerstand des angesäuerten Wassers,
in das die Spitze des Leiters taucht, der Steigerung der Rotations-
geschwindigkeit desselben eine Orenze setzen. Sie wird dann
konstant, ungeachtet dieser Reibungen und dieses Wider-
standes.^
„Es ist daher vollständig bewiesen, daß man von den Er-
scheinungen, die von der Wirkung zweier galvanischer Leiter
herrfihren, nicht durch die Annahme, daß elektrische Moleküle,
die umgekehrt dem Quadrat der Entfernung wirken, auf den
leitenden Drähten verteilt seien, Rechenschaft geben kann."
Notwendigerweise muß man den verschiedenen Teilen eines
galvanischen Leiters eine Eigenschaft zuschreiben, die nicht auf
die Elektrisierung zurflckfQhrbar ist Man muß an ihm eine
neue primäre Qualität erkennen, deren Existenz Ausdruck ge-
geben wird, wenn man sagt, der Draht ist von einem Strom
durchflössen. Dieser elektrische Strom scheint an eine ge-
wisse Richtung gebunden, mit einem gewissen Sinn versehen
zu sein; er äußert sich mehr oder weniger intensiv. Dieser
mehr oder minder starken Intensität des elektrischen Stromes
kann durch die Wahl einer Skala Ausdruck gegeben werden,
die es ermöglicht, ihm eine mehr oder minder große Zahl ent-
166 Sechstes Kapitel
sprechen zu lassen, eine Zahl, für die man den Namen elek-
trische Stromintensität beibehält Diese elektrische Strom-
intensität, die das mathematische Symbol einer primären Qualität
ist, ermöglichte es Ampere, jene Theorie der elektrodynamischen
Erscheinungen zu entwickeln, die die Franzosen davor bewahrt,
die Engländer um den Ruhm Newtons beneiden zu müssen.
Der Physiker, der einer metaphysischen Lehre die Prinzipien
entlehnt, nach denen er seine Theorien entwickeln will, erhält
von dieser Lehre auch die Merkmale, nach denen er erkennen
kann, ob eine Qualität einfach oder zusammengesetzt ist. Diese
beiden Worte haben für ihn einen absoluten Sinn. Der Phy-
siker, der seine Theorien selbständig und unabhängig von jedem
philosophischen System zu machen sucht, schreibt den Worten:
Einfache Qualität, primäre Eigenschaft einen vollständig relativen
Sinn zu. Sie bezeichnen für ihn einfach eine Eigenschaft, deren
Zeriegung in andere Qualitäten ihm unmöglich war.
Der Sinn, den die Chemiker der Bezeichnung einfacher
Körper zuschreiben, hat eine analoge Umwandlung erfahren.
Für einen Peripathetiker verdienten nur die vier Elemente:
das Feuer, die Luft, das Wasser, die Erde den Namen einfacher
Körper; jeder andere Körper war zusammengesetzt; solange man
ihn nicht so weit zeriegt hatte, daß man zur Trennung der vier
Elemente, aus denen er zusammengesetzt sein konnte, gelangt
war, hatte die Analyse ihr Ziel nicht erreicht Ebenso wußte
ein Alchymist, daß die Wissenschaft der Zeri^^ungen die
Perfektionierungskunst das letzte Ziel ihrer Operationen
nicht erreicht habe, solange sie nicht das Salz, den Schwefel,
das Quecksilber und den ErdrOckstand, aus deren Vereinigung
sich alle Verbindungen zusammensetzen, getrennt hatte. Der
Alchymist und der Peripathetiker behaupteten, einer wie der andere,
die Merkmale, die den wahrhaft einfachen Körper charakterisieren,
in absolut sicherer Weise zu kennen.
Die Schule von Lavoisier lehrte die Chemiker^) einen voll*
^) Der Leser, der die Phasen, die der Begriff des einfachen Körpers
durchgemacht hat, kennen lernen will, kann unsere Schrift: Le Mixte etia
Combinaison chimique. Essai sur T^volution d'une id6e, Paris
1902. Ile partie c 1 zu Rate ziehen.
Die primären Qualitäten. 167
ständig anderen Begriff des einfachen Körpers kennen. Der ein-
fache Körper ist nicht mehr der Körper, den eine gewisse philo-
sophische Doktrin für unzeriegbar erklärt, sondern derjenige, den
wir nicht zerlegen konnten, der allen Hilfsmitteln der Analyse, die
in den Laboratorien angewendet werden, Widerstand leistete.
Wenn der Alchymist und der Peripathetiker das Wort
Element aussprachen, behaupteten sie stolz, die eigentliche
Natur der Stoffe, die zum Aufbau der Körper des Universums
gedient, zu kennen. Im Munde des modernen Chemikers ist
dasselbe Wort ein Ausdruck der Bescheidenheit, ein Bekenntnis
der Ohnmacht. Er sagt, daß ein Körper gegen alle Versuche,
die unternommen wurden, ihn zu zeriegen, siegreichen Wider-
stand geleistet habe.
Diese Bescheidenheit wurde der Chemie mit einer außer-
ordentlichen Fruchtbarkeit vergolten. Ist die Hoffnung unbe-
rechtigt, daß eine ähnliche Bescheidenheit auch der theoretischen
Physik gleiche Vorteile bringen würde?
§ 3. — Eine primäre Qualität ist stets nur in proviso-
rischem Sinne primär.
„Wir können daher nicht behaupten," sagt Lavoisier^), „daß
das, was wir heute als einfach ansehen, es in Wirklichkeit sei:
Alles, was wir sagen können, ist, daß diese Substanz gegen-
wärtig den Endpunkt bildet, bis zu dem die chemische Analyse
vorgedrungen ist und daß sie bei dem gegenwärtigen Stand
unserer Kenntnisse nicht mehr weiter geteilt werden kann. Es
ist anzunehmen, daß man die Erden bald nicht mehr unter die
einfachen Substanzen rechnen wird . . ."
In der Tat machte Humphry Davy im Jahre 1807 die Weis-
sagung Lavoisiers zu einer bewiesenen Wahrheit Er zeigte,
daß das Ätzkali und Ätznatron die Oxyde zweier Metalle seien,
die er Kalium und Natrium nannte. Seit dieser Zeit wurde eine
Menge von Körpern, die lange Zeit jedem Versuch der Analyse
Widerstand geleistet hatten, aus der Reihe der Elemente aus-
geschaltet
*) Lavoisier: Trait6 61^mentaire de Chitnie. Troisiime Edition
t 1. p. 194.
168 Sechstes Kapitel.
Die Bezeichnung Element, die gewisse Körper fuhren, ist
eine ganz provisorische. Sie besteht nur so lange, als nicht eine
scharfsinnigere oder wirksamere analytische Methode gefunden
ist, wie die zurzeit gebräuchliche, eine Methode, nach der sich
vielleicht der Stoff, den wir als einfach betrachten, in mehrere
verschiedene Körper zeriegen läßt.
Nicht weniger provisorisch ist die Bezeichnung primäre
Qualität. Die Qualität, deren ZurOckführung auf eine andere
physikalische Eigenschaft uns heute unmöglich erscheint, wird ihre
Unabhängigkeit vielleicht morgen verloren haben. Der Fortschritt
der Physik wird uns vielleicht morgen in ihr eine Kombination
von Eigenschaften erkennen lassen, die als scheinbar ganz ver-
schiedene Wirkungen uns bereits seit langem bekannt waren.
Das Studium der Lichterscheinungen führt uns dazu, das
Licht als primäre Qualität zu betrachten. Dieser Qualität ist
eine gewisse Richtung eigen; ihre Intensität, weit entfernt
konstant zu sein, ändert sich periodisch mit ungeheurer
Geschwindigkeit, indem sie mehrere hundert Trillionen mal in
der Sekunde wieder die gleiche Größe erhält; eine Linie, deren
Länge periodisch mit dieser außerordentlichen Frequenz variiert,
liefert ein geometrisches Symbol, das geeignet ist, das Licht
darzustellen; dieses Symbol, die Lichtwelle, dient dazu, diese
Qualität mit Hilfe mathematischer Überiegungen zu behandeln.
Die Lichtwelle ist das wesentliche Element, mit dessen Hilfe
die Theorie des Lichtes aufgebaut wird. Ihre Komponenten
dienen dazu, einige partielle Differentialgleichungen aufzustellen,
einige Grenzbedingungen, in denen sich alle Gesetze der Licht-
fortpflanzung, der partiellen und totalen Reflexion, der Brechung
und Beugung in wunderbarer Ordnung und Kürze kondensiert
und klassifiziert, finden.
Andererseits hat die Analyse der Erscheinungen, die in
Gegenwart elektrisierter Körper an isolierenden Substanzen wie
dem Schwefel, dem Ebonit, dem Paraffin auftreten, die Physiker
dazu geführt, diesen dielektrischen Körpern eine bestimmte
Eigenschaft zuzuschreiben. Nachdem sie vergeblich versucht
hatten, diese Eigenschaft auf die elektrische Ladung zurück-
zuführen, mußten sie sich entschließen, sie als primäre Qualität
Die primären Qualitäten. 169
unter dem Namen dielektrische Polarisation zu behandeln.
In jedem Punkt der isolierenden Substanz und in jedem Augen-
blick hat dieselbe nicht nur eine bestimmte Intensität, sondern
auch eine bestimmte Richtung und einen bestimmten Sinn, in
der Art, daß eine gerade Strecke das mathematische Symbol
darstellt, das gestattet, in der Sprache der Geometrie von der
dielektrischen Polarisation zu sprechen.
Durch eine kflhne Ausdehnung der von Ampere formu-
lierten Elektrodynamik erhielt Maxwell eine Theorie des
veränderiichen Zustandes der Dielektrika. Diese Theorie kon-
densiert und ordnet die Gesetze aller Erscheinungen, die in
isolierenden Substanzen auftreten, in denen die dielektrische
Polarisation sich von einem Augenblick zum andern ändert.
Alle diese Gesetze werden in einer kleinen Zahl von Gleichungen
zusammengefaßt, von denen gewisse in jedem Punkt des iso-
lierenden Körpers, die übrigen in jedem Punkt der Grenzfläche
zweier verschiedener Dielektrika erfüllt sein mfissen.
Die Gleichungen, welche die Lichtwellen beherrschen,
wurden aufgestellt, wie wenn die dielektrische Polarisation
nicht bestehen würde; die Gleichungen, durch die die dielek-
trische Polarisation bestimmt ist, wurden auf Grund einer
Theorie entdeckt, in der das Wort Licht nicht einmal aus-
gesprochen wird.
Zwischen diesen Gleichungen zeigte sich nun eine merk-
würdige Obereinstimmung.
Eine dielektrische Polarisation, die periodisch variiert, muß
Gleichungen erfüllen, die alle den Gleichungen ähnlich sind,
denen die Lichtschwingung unteriiegt.
Diese Gleichungen haben nicht nur dieselbe Form, sondern
die Koeffizienten, die in ihnen auftreten, haben auch denselben
numerischen Wert. So pflanzt sich die elektrische Polarisation
im leeren Raum oder in der Luft, in denen anfangs keineriei
elektrische Wirkung bestand, mit einer gewissen Geschwindig-
keit fort, wenn ein gewisses Gebiet polarisiert wurde. Die
Maxwellschen Gleichungen ermöglichen es, diese Geschwindig-
keit nach rein elektrischen Methoden, wobei von der Optik
keineriei Gebrauch gemacht wird, zu bestimmen. Zahlreiche
170 Sechstes Kapitel.
flbereinstimmende Messungen lehren uns den Wert dieser Ge-
schwindigkeit zu 300000 km in der Sekunde kennen. Diese
Zahl ist genau so groß wie die Geschwindigkeit des Lichtes
in Luft oder im leeren Raum, die durch vier voneinander ver-
schiedene rein optische Methoden bestimmt wurde
Aus dieser unerwarteten Obereinstimmung ergibt sich der
Schluß: das Licht ist keine primäre Qualität, die Lichtwelle ist
nichts anderes als eine periodisch veränderiiche, dielektrische
Polarisation. Die elektromagnetische Lichttheorie, die
Maxwell geschaffen, hat eine Eigenschaft, die man für irredu-
zierbar hielt, aufgelöst, sie ließ sie zu einer Qualität werden,
mit der sie während langer Jahre keineriei Band zu verbinden schien.
So können die Fortschritte der Theorien selbst zur Reduktion
der Zahl der Qualitäten, die sie ursprünglich als primäre be-
trachtet hatten, führen. Sie können beweisen, daß zwei Eigen-
schaften, die für verschieden gehalten wurden, nur zwei ver-
schiedene Seiten derselben Eigenschaft sind.
Soll man daraus schließen, daß die Zahl der in unseren
Theorien zugelassenen Qualitäten von Tag zu Tag kleiner
werde, daß die Materie, von der unsere Spekulationen handeln,
immer weniger reich an Attributen, die ihr Wesen bilden, werde,
daß sie zu einer Einfachheit tendiere, die mit der der atomisti-
schen Materie oder der cartesianischen Materie vergleichbar
wäre? Das wäre, glaube ich, ein verw^ener Schluß. Die
Entwicklung der Theorie selbst kann ohne Zweifel hin und
wieder einmal zwei verschiedene Qualitäten zusammenfließen
lassen, ähnlich wie das Zusammenfließen des Lichtes und der
dielektrischen Polarisation, die elektromagnetische Lichttheorie
hervorgebracht hat. Aber anderseits bringt der unaufhörtiche
Fortschritt der experimentellen Physik häufig die Entdeckung
neuer Kategorien von Erscheinungen mit sich, so daß es notwendig
wird, um diese Erscheinungen zu klassifizieren und aus ihnen
Gesetze aufzubauen, der Materie neue Eigenschaften zuzuerkennen.
Welche von diesen beiden entg^engesetzten Bewegungen,
deren eine die Materie zu vereinfachen sucht, indem sie die
Qualitäten aufeinander reduziert, deren andere durch Entdeckung
neuer Eigenschaften sie verwickelter gestaltet, wird den Sieg
Die primären Qualitäten. 171
davontragen ? Es wäre unklug, in dieser Hinsicht eine Prophe-
zeiung auf lange Sicht auszusprechen. Zumindest scheint es
sicher, daß in unserer Epoche der zweite Strom viel mächtiger
sei als der erste, indem er unsere Theorien zu einer immer
verwickeiteren Auffassung der Materie, die immer reicher an
Attributen wird, führt.
Übrigens zeigt sich die Analogie zwischen den primären
Qualitäten der Physik und den einfachen Körpern der Chemie
auch hier. Vielleicht wird einst der Tag kommen, wo wirksame
Mittel der Analyse die zahlreichen Körper, die wir heute ein-
fache nennen, in eine kleine Zahl von Elementen auflösen
werden ; aber kein sicheres, noch wahrscheinliches Zeichen er-
laubt uns die Morgenröte dieses Tages zu verkünden. In der
Epoche, in der wir leben, schreitet die Chemie vor, indem sie
ohne Unterlaß neue einfache Körper entdeckt. Seit einem halben
Jahrhundert liefern die seltenen Erden ohne Unterlaß neue Bei-
trage zu der bereits so langen Liste der Metalle. Das Gallium,
das Germanium, das Skandium zeigen uns, wie stolz die Chemiker
sind, in diese Liste den Namen ihres Vaterlandes eintragen zu
können. In der Luft, die wir einatmen, die seit Lavoisier als
eine Mischung von Stickstoff und Sauerstoff bekannt zu sein
schien, findet sich eine ganze Familie neuer Gase, das Argon,
das Helium, das Xenon, das Krypton. Endlich liefert das
Studium der neuen Strahlungen, das die Physik sicher nötigen
wird, den Kreis ihrer primären QuaUtäten zu erweitern, der
Chemie früher unbekannte Körper, das Radium und vielleicht
auch das Polonium und Aktinium. Sicher sind wir jetzt von
den einfachen Körpern, von denen Descartes träumte, diesen
Körpern, die sich „auf die Ausdehnung und deren bloße Ände-
rung" zurückführen lassen, noch recht weit entfernt. Die Chemie
stellt eine Sammlung von einem Hundert körperlicher Materien
auf, die aufeinander nicht zurückführbar sind, und einer jeden
dieser Materien verleiht die Physik Formen, die in einer Menge
verschiedener Qualitäten bestehen können. Jede der beiden
Wissenschaften bemüht sich soweit als irgend möglich die Zahl
ihrer Elemente zu reduzieren, und dennoch sieht sie in dem
Maße, wie sie fortschreitet, deren Zahl wachsen.
172 Siebentes Kapitel.
Siebentes Kapitel.
Mathematische Deduktion und physikalische Theorie.
§ 1. — Physiicalische Annäherung und mathematische
Präzision.
Wenn man eine physikalische Theorie aufstellen will, hat
man vor allem unter den Eigenschaften, die uns die Beobachtung
darbietet, diejenigen auszuwählen, die man als primäre Qualitäten
betrachten wird und sie durch algebraische oder geometrische
Symbole darzustellen.
Ist diese erste Operation, deren Studium wir die zwei
vorangehenden Kapitel gewidmet haben, beendet, so muB man an
eine zweite gehen: Man muß zwischen den algebraischen oder
geometrischen Symbolen, die die primären Eigenschaften dar-
stellen, Beziehungen aufstellen; diese Beziehungen werden den
Deduktionen, auf Orund deren sich die Theorie entwickelt, als
Prinzipien dienen.
Es würde daher entsprechend erscheinen, nun diese zweite
Operation, den Ausdruck der Hypothesen zu analysieren.
Bevor man aber den Plan der Fundamente, die ein Gebäude
tragen, zeichnet, bevor man die Materialien wählt, aus denen
man es bauen wird, ist es unbedingt notwendig, zu wissen,
welcher Art das Gebäude sein soll, den Druck, den es auf seine
Grundlagen ausüben wird, zu kennen. Erst am Ende unserer
Studien werden wir daher die Bedingungen präzisieren können,
auf die wir bei der Wahl der Hypothesen achten müssen.
Wir gehen daher sogleich zur Prüfung der dritten Operation,
durch die jede Theorie konstituiert wird, der mathematischen
Entwicklung über.
Die mathematische Deduktion ist ein Zwischenglied. Sie
hat das Ziel, uns zu lehren, wie auf Grund der fundamentalen
Hypothesen der Theorie unter bestimmten Umständen bestimmte
Konsequenzen entstehen, daß beim Auftreten bestimmter Tat-
sachen auch bestimmte andere Tatsachen auftreten werden. Sie zeigt
uns zum Beispiel auf Grund der Hypothesen der Thermodynamik,
daß ein einem bestimmten Druck ausgesetzter Eisblock schmelzen
wird, wenn das Thermometer einen bestimmten Grad anzeigt
Mathematische Deduktion und physikalische Theorie. 173
FQhrt die mathematische Deduktion die Tatsachen, die wir
die Bedingungen nennen in der konkreten Form, in der wir
sie beobachten, in ihre Rechnungen direkt ein? Leitet sie die
Tatsache, die wir als Konsequenz bezeichnen in der konkreten
Form, in der wir sie konstatieren werden, ab? Sicherlich nicht
Ein Kompressionsapparat, ein Eisblock, ein Thermometer sind
Dinge, mit denen der Physiker in seinem Laboratorium mani-
puliert, sie sind nicht Elemente, auf die die algebraische Rechnung
angewendet werden kann. Die algebraische Rechnung kombiniert
nur 2^hlen miteinander. Damit daher der Mathematiker in seinen
Formeln die konkreten Bedingungen eines Experimentes ein-
fuhren könne, müssen diese Bedingungen durch das Zwischen-
glied der Maße in Zahlen umgesetzt worden sein, daß er zum
Beispiel die Worte: ein solcher Druck durch eine bestimmte
Zahl von Atmosphären, die er in seiner Oleichung an Stelle des
Buchstaben P einsetzt, ersetzen kann. Ebenso wird der Mathe-
matiker am Ende seiner Rechnung eine bestimmte Zahl erhalten.
Er muß auf die Maßmethoden Bezug nehmen, um dieser Zahl
eine konkrete und beobachtbare Tatsache entsprechen zu lassen,
zum Beispiel um einer gewissen Angabe des Thermometers den
numerischen Wert, den er für den Buchstaben T, aus seiner
algebraischen Oleichung erhält, entsprechen zu lassen.
So kann die mathematische Entwickelung einer Theorie,
sowohl bei ihrem Ausgangspunkt, als auch bei ihrem Endpunkt
nur durch eine Übersetzung mit den beobachtbaren Tatsachen
verbunden werden. Um in die Rechnungen die Bedingungen
eines Experimentes einzuführen, ist eine Obersetzung nötig, die
die Sprache der konkreten Beobachtung durch die Sprache der
Zahlen ersetzt. Um das Resultat, das die Theorie für ein ge-
wisses Experiment voraussagt, konstatierbar zu machen, ist es
nötig, die Aufgabe zu lösen, einen numerischen Wert in eine
in der Sprache des Experimentes formulierte Angabe umzubilden.
Die Maßmethoden sind, wie wir bereits gesagt haben, das Voka-
bularium, das diese beiden Übersetzungen ermöglicht.
Wer aber übersetzt, fälscht; traduttore, traditore; es gibt
niemals eine vollständige Übereinstimmung zwischen den zwei
Texten, die Übersetzungen voneinander sind. Der Unterschied
174 Siebentes Kapitel,
zwischen den konkreten Tatsachen, wie sie der Physiker be-
obachtet und den numerischen Symbolen, durch die diese Tat-
sachen in den Rechnungen des Theoretikers dargestellt werden,
ist außerordentlich. Wir werden später Gelegenheit haben,
diesen Unterschied zu analysieren und dessen Hauptmeiicmale
zu kennzeichnen. Augenblicklich erregt nur eines dieser Meric- .
male unsere Aufmerksamkeit.
Betrachten wir vor allem das, was wir als theoretische
Tatsache bezeichnen wollen, d. h. jene Gruppe mathematischer
Angaben, durch die eine konkrete Tatsadie in den Ober-
legungen und Rechnungen des Theoretikers ersetzt wird.
Nehmen wir zum Beispiel folgende Tatsache: ^,I>ie Temperatur
ist in dieser Art auf diesem Körper verteilt."
Eine derartige theoretische Tatsache besitzt nichts Un-
bestimmtes, nichts Schwankendes, alles ist in genauer Weise
festgelegt. Der Körper, der studiert wird, ist geometrisch de-
finiert. Seine Kanten sind wirkliche Linien ohne Dicke, seine
Ecken wirkliche Punkte ohne Dimensionen, die verschiedenen
Längen und verschiedenen Winkel, die seine Gestalt bestimmen,
sind genau bekannt. Jedem Punkt dieses Körpers entspricht
eine Temperatur, und diese Temperatur ist für jeden Punkt
eine Zahl, die von jeder anderen scharf geschieden ist.
Dieser theoretiischen Tatsache stellen wir die prak-
tische Tatsache, deren Übersetzung sie ist, gegenüber. Hier
ist nichts mehr von der Präzision zu merken, die wir eben kon-
statiert haben. Der Körper ist kein geometrischer mehr, son-
dern ein konkreter Block. So scharf auch seine Kanten sein
mögen, keine von ihnen ist mehr der geometrische Schnitt
zweier Flächen, sondern ein mehr oder minder abgerundeter,
mehr oder minder zackiger Grat. Seine Punkte sind mehr
oder minder breitgedrückt und abgestumpft. Das Thermo-
meter zeigt uns nicht mehr die Temperatur in jedem Punkte,
sondern eine Art mittlerer Temperatur in einem gewissen Vo-
lumen an, dessen wirkliche Ausdehnung nicht ganz genau
festgestellt werden kann. Wir können überdies nicht behaup-
ten, daß diese Temperatur durch jene bestimmte Zahl mit
Ausschluß jeder anderen Zahl dargestellt sei. Wir können zum
Mathematische Deduktion und physikalische Theorie. 175
Beispiel nicht erklären, daß diese Temperatur streng, genau
10^ sei, wir können nur behaupten, daß die Differenz zwischen
dieser Temperatur und 10^ einen gewissen Bruchteil des Gra-
des, der von der Genauigkeit unserer thermometrischen Metho-
den abhängt, nicht überschreite.
Während also die Konturen des Bildes mit einer gewissen
Schärfe gezogen sind, sind die Konturen des Objektes verschwom-
men, verdeckt und verwischt. Es ist unmöglich die praktische Tat-
sache zu beschreiben ohne durch den Ausdruck näherungs-
weise die allzugroße Bestimmtheit jedes Satzes abzuschwächen.
Dagegen sind alle Elemente, die die theoretische Tatsache
bilden, mit strenger Genauigkeit definiert.
Daraus ergibt sich folgende Konsequenz: Eine Unzahl
verschiedener theoretischer Tatsachen können als
Obersetzung derselben praktischen Tatsache dienen.
Wenn wir zum Beispiel eine theoretische Tatsache dahin aus-
drücken, daß idiese Linie eine Länge von 1 cm oder von 0,999 cm
oder von 0,993 cm oder von 1,002 cm oder von 1,003 cm be-
sitze, so drücken wir damit Sätze aus, die für den Mathe-
matiker dem Wesen nach verschieden sind. Aber wir ändern
dadurch nichts an der praktischen Tatsache, deren Obersetzung
die theoretische Tatsache ist, wenn unsere Maßmethoden uns
nicht gestatten, Längen zu bestimmen, die kleiner sind, als ein
Zehntel Millimeter. . Wenn wir sagen, daß die Temperatur
eines Körpers 10^ oder 9,99 ^ oder 10,01 ^ sei, so formulieren
wir drei unvereinbare theoretische Tatsachen. Aber diese drei
unvereinbaren theoretischen Tatsachen entsprechen ein und der-
selben praktischen Tatsache, wenn die Genauigkeit unseres
Thermometers nicht ein fünfzigstel Grad erreicht.
Eine praktische Tatsache läßt sich daher nicht nur durch
eine einzige theoretische Tatsache, sondern durch eine Art Bün-
del, das eine Unzahl verschiedener theoretischer Tatsachen um-
faßt, übersetzen. Jedes dieser mathematischen Elemente, die ge-
meinsam eine dieser Tatsachen bilden, kann bei jeder Tat-
sache anders sein. Aber die Veränderung, die jedes dieser
Elemente erfahren kann, kann eine gewisse Grenze nicht über-
schreiten. Diese Grenze ist jene des Fehlers, dem das Maß
176 Siebentes Kapitel.
dieses Elementes ausgiesetzt ist. Je mehr die Maßmethoden
sich vervolikommnen, je mehr die Annäheilmg, die sie zu-
lassen, wächst, desto enger wird diese Grenze. Aber sie ver-
engt sich nie so weit, daß sie verschwindet.
§ 2. — Mathematische Deduktionen, die physikalisch
verwendbar und solche, die physikalisch unverwend-
bar sind.
Diese Bemerkungen sind ganz einfach. Sie sind jedem
Physiker so geläufig, daß sie beinahe banal erscheinen. Nichts-
destoweniger haben sie für die mathematische Entwicklung
einer physikalischen Theorie einschneidende Konsequenzen.
Wenn die numerischen Angaben einer Reclmung in
präziser Weise festgestellt sind, lehrt diese Rechnung, so kom-
pliziert sie auch sein mag, stets den genauen numerischen
Wert des Resultates kennen. Wenn man den Wert der An-
gaben ändert, ändert man im allgemeinen auch den Wert
des Resultates. Wenn man demgemäß die Bedingungen eines
Experimentes durch eine theoretische Tatsache genau defi-
niert hat, wird die mathematische Entwicklung durch eine
andere, theoretisch genau definierte Tatsache das Resultat,
das dieses Experiment liefern soll, darstellen. Wenn man die
theoretische Tatsache, die die Bedingungen des Experimentes
ausdrückt, ändert, wird die theoretische Tatsache, <Üe das Re-
sultat ausdrückt, sich auch ändern. — Wenn wir zum Beispiel
in der aus den thermodynamischen Hypothesen abgelöteten
Formel, die die Abhängigkeit des Schmelzpunktes des Eises
vom Drucke zeigt, den Buchstaben P, der den Druck darstellt,
durch eine gewisse Zahl ersetzen, werden wir auch die Zahl
kennen, die man dem Buchstaben T, dem Symbol der Schmelz-
temperatur substituieren muß. Wenn wir den numerischen
Wert des Druckes ändern, ändern wir gleichzeitig auch den
numerischen Wert des Schmelzpunktes.
Man kann nun, wie wir im § 1 gesehen, wenn die Be-
dingungen eines Experimentes in konkreter Weise gegeben
sind, sie nicht durch eine unzweideutige theoretische Tatsache
Mathematische Deduktion und physikalische Theorie. 177
übersetzen. Man muß ihnen ein Bündel von zahllosen theo-
retischen Tatsachen entsprechen lassen. Daher sagen die Rech-
nungen des Theoretikers das Resultat eines Experimentes nicht
in der Form einer einzigen theoretischen Tatsache voraus»
sondern in der Form unzähliger theoretischer Tatsachen.
Um zum Beispiel die Bedingungen unseres Versuches über
die Eisschmelzting auszudrücken, können wir nicht für das
Symbol P des Druckes einen einzigen numerischen Wert
— zum Beispiel 10 Atmosphären — setzen. Wenn die Fehler-
gfrenze unseres Manometers ein Zehntel Atmosphäre ist, müssen
wir annehmen, daß P alle Werte zwischen 9,95 und 10,05
Atmosphären annehmen kann. Natürlich wird jedem dieser
Werte des Druckes durch unsere Formel ein verschiedener
Wert des Eisschmelzpunktes zugeordnet werden.
So lassen sich die Bedingungen eines Experimentes, die
in konkreter Weise gegeben sind, durch ein Bündel theoreti-
scher Tatsachen übersetzen. Diesem ersteren Bündel theo-
retischer Tatsachen läßt die mathematische Entwicklung der
Theorie ein zweites entsprechen, das bestimmt ist, das Re-
sultat des Experimentes darzustellen.
Diese letzteren theoretischen Tatsachen können wir nicht
in der Form, in der wir sie erhalten, verwenden. Wir müssen
sie übersetzen Und in die Form praktischer Tatsachen bringen,
denn nur dann wenden wir wirklich das Resultat, das die
Theorie für Unser Experiment angibt, kennen. Wir dürfen
uns zum Beispiel nicht damit begnügen, solange wir aus unse-
rer thermodynamischen Formel nicht verschiedene numerische
Werte für den Buchstaben T abgeleitet haben. Wir werden
suchen müssen, welchen wirklich beobachtbaren Angaben, die
auf der graduierten Skala unseres Thermometers ablesbar sind,
diese Angaben wirklich entsprechen.
Welche Aufgabe haben wir nun eigentiich, wenn wir
diese neue Obersetzung, die derjenigen entgegengesetzt ist,
die wir eben ausgeführt, die die theoretischen in praktische
Tatsachen umwandeln soll, ausführen?
Es kann sein, daß das Bündel von zahllosen theoretisdien
Tatsachen, durch das die mathematische Deduktion das Resultat
Dnhcm» PhytikaUscfae Theorie. 12
178 Siebentes Kapitel.
unseres Experimentes ausdrückt, uns nach der Übersetzung
nicht verschiedene praktische Tatsachen, sondern nur eine ein-
zige liefert. Es kann zum Beispiel geschehen, daß zwei nimie-
rische Werte, die für den Buchstaben T gefunden wurden, nicht
um mehr als ein himdertstel Grad differieren, und daß das
hundertstel Grad auch die Grenze der Empfindlichkeit unseres
Thermometers sei. In dieser Art entsprechen alle verschiedenen
theoretischen Werte von T praktisch ein und derselben Ab-
lesung auf der Skala des Thermometers.
In einem derartigen Falle wird die mathematische Deduk-
tion ihr Ziel erreicht haben. Es wird uns möglich sein, auf
Grund der Hypothesen, auf denen die Theorie ruht, zu be-
haupten, daß dieses Experiment, das unter diesen praktisdi
gegebenen Bedingungen ausgeführt wurde, das konkrete und
beobachtbare Resultat liefern muß. CHe mathematische De-
duktion ermöglicht so den Veigleich' zwischen den Konse-
quenzen der Theorie und |den Tatsachen.
Aber es^ist nicht immer so. Auf Grund der mathematischen
Deduktion ergeben sich eine Unzahl theoretischer Tatsachen als
mögliche Konsequenzen imseres Experimentes. Bei der Ober-
setzung dieser theoretischen Tatsachen in die konkrete Spradie
kann es geschehen, daß wir nicht nur eine einzige praktisdie
Tatsache erhalten, sondern mehrere, die sich auf Grund der Emp-
findlichkeit unserer Instrumente voneinander unterscheiden
lassen. Es' kann zum Beispiel vorkommen, daß die verschiedenen
numerischen Werte, die durch Unsere thermodynamische Formel
für den Eisschmelzpunkt gegeben werden, einen Unterschied
voneinander aufweisen, der ein Zehntel oder selbst einen ganzen
Grad erreicht, während uns unser Thermometer die Bestim-
mung eines himdertstel Grades ermöglicht. In diesem Falle
wird die mathematische Deduktion ihren Nutzen verloren haben.
Die Bedingungen eines praktisch gegebenen Experimentes
können uns nicht mehr in praktisch bestimmter Weise das zu
beobachtende Resultat anzeigen.
Eine mathematische Deduktion, die aus den Hypothesen,
auf denen die Theorie ruht, hervorgeht, kann daher nützlich
oder überflüssig sein, je nachdem, ob aus den praktisch ge-
Mathematische Deduktion und physikalische Theorie. 179
g^ebenen Bedingungen eines Experimentes eine praktisch
bestimmte Atissage über das Experiment abgeleitet werden
kann oder nicht.
Diese Bestimmung der Nützlichkeit einer mathematischen
Deduktion ist nicht immer absolut. Sie hängt vom Grade
der Empfindlichkeit der Apparate, die zur Beobachtung des
Versuchsergebnisses dienen sollen, ab. Nehmen wir zum Bei-
spiel an, daß unsere thermodynamische Formel einem praktisch
gegebenen Druck ein Bündel von Eisschmelzpunkten ent-
sprechen lasse. Zwischen zweien dieser Schmelzpunkte bestehe
ein Unterschied, der manchmal ein hundertste des Grades
übersteigt, aber niemals ein Zehntel Grad erreicht. Die mathe-
matische Deduktion, die diese Formel liefert, wird von dem
Physiker, dessen Thermometer nur Zehntelgrade festzustellen
erlaubt, für nützlich, von dem Physiker, dessen Instrument noch
sicher einen Temperaturunterschied von einem hundertste Grad
za imterscheiden gestattet, für unbrauchbar gehalten werden.
Man sieht daraus, wie sehr das Urteil über den Nutzen einer
mathematischen Entwicklung von einer Epoche zur anderen,
von einem Laboratorium zum anderen, von einem Physiker
zum anderen gemäß der Geschicklichkeit der Konstrukteure,
gemäß der Vervollkommnung der Werkzeuge, gemäß der An-
wendung, die man von den Versuchsergebnissen machen will,
sich ändern kann.
Diese Bestimmung kann auch von der Empfindlichkeit der
Meßmethoden, die dazu dienen, die praktisch gegebenen Bedin-
gungen des Experimentes in Zahlen zu übersetzen, abhängen.
Nehmen wir wieder die verwendete Formel der Thermo-
dynamik, die uns bisher immer als Beispiel diente. Wir seien im
Besitze eines Thermometers, das die Bestimmung einer Tempe-
raturdifferenz bis auf ein himdertstel Grad mit Sicherheit ge-
statte. Damit unsere Formel uns ohne praktische Zweideutig-
keit den Schmelzpunkt des Eises imter einem gegebenen Druck
anzeige, ist es notwendig und zureichend, daß sie uns bis
auf ein himdertstel Grad genau den numerischen Wert für den
Buchstaben T kennen lehre.
Wenn wir nun ein grobes Manometer anwenden, das
12*
180 Siebentes Kapitel.
zwei Drucke nur unterscheiden läßt, wenn ihre Differenz über
zehn Atmosphären beträgt, kann es geschehen, daß ein prak-
tisch gegebener Druck in der Formel Schmelzpunkten ent-
spricht, die um mehr als ein hundertstel Grad voneinander ab-
weichen. Wenn wir dagegen den Druck mit einem empfind-
lichen Manometer bestimmen würden, das sicher zwei Drucke,
die um eine Atmosphäre differieren, tmterscheiden läßt, würde
die Formel dem gegebenen Dittck einen Schmelzpunkt ent-
sprechen lassen, der mit einer größeren Annäherung als ein
hundertstel Grad bestimmbar wäre. Die Formel, die beim
Gebrauch des ersten Manometers imverwendbar wäre, würde
sich beim Gebrauch des zweiten als verwendbar erweisen.
§ 3. — Beispiel einer mathematischen Deduktion, die
niemals verwendbar werden kann.
In dem Falle, den wir als Beispiel genommen haben, er-
höhten wir die Genauigkeit der Meßmethoden, die dazu dienten,
die praktisch gegebenen Bedingungen des Experimentes in theo-
retische Tatsachen zu übersetzen. Dadurch haben wir mehr
und mehr das Bündel theoretischer Tatsachen, die diese Ober-
setzung einer einzigen praktischen Tatsache entsprechen läßt»
verkleinert. Dadurch wurde gleichzeitig auch das Bündel theo-
retischer Tatsachen, durch das unsere mathematische Deduktion
das für das Experiment angekündigte Resultat darstellt, ver-
kleinert. Es wurde so klein gemacht, daß unsere Meßmethoden
ihm nur eine einzige praktische Tatsache entsprechen ließen.
In diesem Moment war unsere mathematische Deduktion ver-
wendbar geworden.
Es scheint, daß das immer so sein muß. Wenn man
eine einzige theoretische Tatsache als gegeben annimmt, läßt
die mathematische Deduktion ihr wieder eine einzige theo-
retische Tatsache entsprechen. Daher wird man naturgemäß
zu folgendem Schluß geführt: Das Bündel theoretischer Tat-
sachen, das man als Resultat erhält, läßt sich auf Grund der
mathematischen [>eduktion so dünn wie man wünscht gestalten,
wenn man das Bündel theoretischer Tatsachen, das das ge-
gebene versinnbildlicht, genügend verkleinert.
Mathematische Deduktion und physikalische Theorie. 181
Wenn diese Meinung richtig wäre, könnte eine mathe-
matische I>eduktion, die aus den Hypothesen, auf denen eine
physikalische Theorie ruht, abgeleitet wurde, stets nur in rela-
tiver und provisorischer Weise unverwendbar sein. Wie subtil
auch immer die Methoden zur Messung der Resultate eines
Versudies sein mögen, so könnte man doch immer, indem man
die Hilfsmittel, durch die man die Bedingungen dieses Experi-
mentes in Zahlen übersetzt, genügend präzise und genau macht,
sie in der Art herstellen, daß aus den praktisch bestimmten
Bedingungen luisere Deduktion nur ein einziges praktisches
Residtat ableitet. Eine Deduktion, die heute unbrauchbar ist,
würde an dem Tage, an dem man die Empfindlichkeit der In-
strumente, die zur Bestimmung der Versuchsbedingungen
dienen, erhebUch steigert, nützlich werden.
Der moderne Mathematiker hütet sich sehr vor diesen augen-
scheinlichen Übereinstimmungen, die nur zu oft trügen. Dieje-
nige, die wir anführen wollen, soll nur als Exempel dienen. Man
kann Fälle anführen, in denen diese Obereinstimmung in augen-
scheinUchem Widerspruch mit der Wahrheit steht. Eine derar-
tige Deduktion läßt einer einzigen, als gegeben angenommenen
theoretischen Tatsache eine einzige als Resultat bezeichnete
theoretische Tatsache entsprechen. Wenn ein Bündel theoreti-
scher Tatsachen gegeben ist, so besteht das Resultat in einem
anderen Bündel theoretischer Tatsachen. Aber läßt man auch
das erste Bündel unbegrenzt kleiner werden, macht man es
so dünn als möglich, so kann man doch nicht die Ausdehnung
des zweiten Bündels um so viel vermindern, als man gerade will.
Wenn auch das erste Bündel unbegrenzt klein ist, so können
doch die Fäden, die das zweite Bündel bilden, divergieren und
sich voneinander trennen, ohne daß man ihren gegenseitigen
Abstand unter eine gewisse Grenze herabdrücken könnte. Eine
derartige mathematische Deduktion ist für den Physiker un-
brauchbar und wird es immer bleiben. Wie präzis und genau
die Instrumente auch immer sein mögen, durch die die Ver-
suchsbedingungen in Zahlen übersetzt werden, stets wird diese
I>eduktion praktisch bestimmten experimentellen Bedingungen
eine Unzahl praktisch verschiedener Resultate entsprechen
182 Siebentes Kapitel.
lassen. Durch sie wird eine Voraussage des Geschehens unter
gegebenen Bedingtmgen nicht möglich sein.
Ein sehr treffendes Beispiel einer solchen für immer un-
brauchbaren Deduktion liefern tms die Untersuchungen des
Herrn J. Hadamard. Es ist einem der einfachsten Probleme,
die die am wenigsten verwickelte unter den physikalischen
Theorien, die Mechanik zu behandeln hat, entnommen.
Eine materielle Masse gleitet auf einer Fläche. Weder die
Schwere, noch sonst eine Kraft beeinflußt sie. Auch die Rei-
bung stört nicht ihre Bewegung. Wenn die Fläche, auf der sie
bleiben muß, eine Ebene ist, beschreibt sie eine gerade Linie
mit gleichförmiger Geschwindigkeit. Wenn die Fläche eine
Kugel ist, beschreibt sie einen Bogen auf einem größten Kreis
und zwar auch mit gleichförmiger Geschwindigkeit. Wenn
unser materieller Punkt sich auf einer beliebigen Fläche be-
wegt, beschreibt er eine Linie, die die Geometer als geo-
dätische Linie der betrachteten Fläche bezeichnen. Wenn
die Anfangslage unseres materiellen Punktes und die Richtung
der Anfangsgeschwindigkeit gegeben sind, ist die geodätische
Linie vollständig bestimmt
Die Untersuchungen des Herrn Hadamard^) handelten im
speziellen von den geodätische^ Linien auf mehrfach zusammen-
hängenden Flädien entgegengesetzter Krümmung, die unend-
liche Kegelmantel darstellen. Wir wollen uns hier nicht da-
mit aufhalten, solche Flächen geometrisch zu definieren, wir
begnügen uns von ihnen ein Beispiel zu geben.
Denken wir uns die Stirn eines Stieres mit den Er-
höhungen, von denen die Homer im<d Ohren ausgehen. Ver-
längern wir diese Homer und Ohren in der Art, daß sie sich
ins Unendliche ausdehnen, so haben wir eine Fläche, wie wir
sie studieren wollen.
Auf einer solchen Fläche können die geodätischen Linien
recht verschieden aussehen.
^) J. Hadamard: Les surfaces k courbures oppos^es et leurs
lignes g^od^siques. (Journal de Math^matiques pures et appli-
qu^es, 5e s^rie, t IV, p. 27; 1898.)
Mathematische Deduktion und physikalische Theorie. 183
Es gibt vor allem geodätische Linien, die in sich seibist
zurückkehren. Weiter gibt es solche, die niemals genau zu
ihrem Ausgangspunkt zurückkehren, sich aber auch niemals
unendlich weit von ihm entfernen. Die einen winden sich
unaufhörlich um das rechte Hom, die anderen um das linke
oder auch um das redite resp. linke Ohr. Wieder andere,
die viel komplizierter sind, beschreiben Windungen, die sie
nach bestimmten Regeln um eines der Homer ausführen, ab-
ivechselnd mit solchen um das andere Hom, oder eines der
Ohren. Endlich gibt es auf der Stirn imseres Stieres mit
unbegrenzten Hörnern und Ohren geodätische Linien, die sich
ins Unendliche erstrecken, wobei die einen das redite Hom,
die anderen das linke, wieder andere entsprechend das rechte
oder linke Ohr erklimmen.
Trotz dieser Komplikation wird die geodätische Linie, die
ein materieller Punkt bei seiner Bewegung beschreibt, ohne
Zweideutigkeit bestimmt sein, wenn man mit voller Genauig-
keit die Anfangslage desselben auf der Stime des Stieres
und die Richtung der Anfangsgeschwindigkeit kennt. Man
kann vor allem speziell sehr genau wissen, ob der bewegliche
Punkt stets in endlicher Entfernung bleiben muß oder sich auf
Nimmerwiedersehen in die Unendlichkeit entfemt.
Ganz anders würde es stehen, wenn die Anfangsbedin-
gtingen nicht mathematisch sondem praktisch gegeben wären.
Die Anfangslage Unseres materiellen Punktes wäre nicht auf
der Fläche bestimmt, sondem es wäre irgend ein Punkt inner-
halb eines kleinen Fleckens. Die Richtung der Anfangs-
geschwindigkeit wäre nicht mehr eine unzweideutig definierte
Gerade, sondem eine der Geraden, die in dem engen Bündel
enthalten sind, dessen Begrenzung die Kontur des kleinen
Flecken bildet. Unseren praktisch gegebenen Anfangsbedin-
gtingen wird für den Geometer eine imbegrenrte Menge ver-
schiedener Anfangsbedingtingen entsprechen.
Stellen wir Uns vor, daß gewisse dieser geometrischen
Angaben einer geodätischen Linie entsprechen, die sich nicht
ins Unendliche entfemt, die sich zum Beispiel stets um das
rechte Hom dreht. CHe Geometrie ermöglicht uns nun fol-
184 Siebentes Kapitel.
gende Behauptung aufzustellen: Unter den unzähligen matiie-
matisdien Angaben, die denselben praktisch gegebenen ent-
sprechen, gibt es solche, die eine geodätische Linie bestimmen,
die sich unendlich weit vom Anfangspunkte entfernt; nachdem
sie eine gewisse Zahl von Umdrehungen um das rechte Hom
vollendet, wird sich diese geodätische Linie entweder über das
rechte Hom oder das linke oder das redite oder auch linke
Ohr ins Unendliche entfernen. Ja noch mehr! Trotz der engen
Grenzen, die die geometrischen Angaben, die unsere prakti-
schen Angaben darstellen sollen, haben, kann man immer diese
geometrischen Angaben in der Art nehmen, daß die geodäti-
sche Linie sich von dem unendlichen Kegelmantel, den man
vorher gewählt, entfernt
Man kann die Genauigkeit, mit der die praktischen
Angaben bestimmt sind, beliebig erhöhen, man kann den
Flecken, der die Anfangslage des materiellen Punktes bildet,
verkleinem, man kann das Bündel, das die Richtung der An-
fangsgeschwindigkeit enthält, zusammenschnüren, man wird
doch niemals die geodätische Linie, die sich ohne Unterlaß
um das rechte Hom dreht, von ihren ungetreuen Kameraden
befreien, die, nachdem sie sich zuerst, ebenso wie erstere, um
dasselbe Hörn gewunden, ins Unendliche entfernen. Die ein-
zige Wirkung dieser größeren Genauigkeit in der Feststellung
der ursprünglichen Angaben kann darin bestehen, daß man
diese geodätischen Linien zwingt, eine größere Zahl von Win-
dungen um das rechte Hom auszuführen, bevor sie zu ihrem
unendlichen Zweig gelangen. Aber dieser unendliche Zweig
kann niemals beseitigt werden. Wenn daher ein materieller
Punkt auf der studierten Fläche von einer gegebenen mathe-
matischen Lage aus mit einer mathematisch gegebenen Ge-
schwindigkeit bewegt wird, kann die mathematische De-
duktion die Bahn dieses Punktes bestimmen, und sagen,
ob diese Bahn sich ins Unendliche entferne oder nicht. Wenn
aber die Angaben nicht mathematisch bekannt sind, sondern
durch physikalische Methoden bestimmt wurden, die beliebig
genau sein mögen, wird die gestellte Frage unbeantwortbar
sein und auch stets unbeantwortbar bleiben.
Mathematische Deduktion und physikalische Theorie. 185
§ 4. — Die Annäherungsmathematik.
Das Beispiel, das wir analysiert haben, wurde uns wie
gesagt, in einem der einfachsten Probleme, die die Mechanik,
das ist die am wenigsten verwickelte unter den physikalischen
Theorien, zu behandeln hat, geliefert. Diese außerordentliche
Einfachheit ermöglichte es Herrn Hadamard im Studium des
Problemes genügend weit vorzudringen, um die absolute, un-
ausbleibliche Unverwendbarkeit gewisser mathematischer I>e-
duktionen für die Physik bloßzulegen. Wird ein solcher trü-
gerischer Schluß nicht noch in einer Menge anderer Probleme,
die zu kompliziert sind, als daß man deren Lösung genügend
analysieren könnte, auftreten? Die Antwort auf diese Frage
scheint kaum zweifelhaft. Die Fortschritte der mathematischen
Wissenschaften zeigen uns ohne Zweifel eine Menge von Pro-
blemen, die für den Mathematiker sehr wohl definiert sind,
für den Physiker aber allen Sinn verlieren.
Wir wollen hier eines^), und zwar ein sehr berühmtes
anführen, dessen Verwandtschaft mit dem von Herrn Hada-
mard behandelten augenfällig ist.
Beim Studium der Bewegungen der Gestirne, die das Son-
nensystem bilden, ersetzen die Mathematiker die Sonne, die
großen und kleinen Planeten sowie die Monde durch materi-
elle Punkte. Sie nehmen an, daß je zwei dieser Punkte sich
proportional dem Produkt ihrer Massen und im umgekehrten
Verhältnis des Quadrates der Entfernung, die sie trennt, an-
ziehen. Dias Studium der Bewegungen eines derartigen Systems
ist ein viel verwickelteres als das von dem wir auf den voran-
gehenden Seiten gesprochen haben. Es ist in der Wissenschaft
unter dem Namen Problem' 'der n Körper berühmt. Wenn sogar
die Zahl der Körper, die gegenseitig in Wirkung treten, auf
drei reduziert wird, bleibt noch immer ein von den Mathe-
matikern gefürchtetes Rätsel, das Dreikörperproblem, be-
stehen.
Nichtsdestoweniger kann man, wenn man in einem ge-
gebenen Augenblick mit mathematischer Genauigkeit die Lage
und Geschwindigkeit jedes der Gestirne, die das System bilden,
*) J. Hadamard: Loc. cit p. 71.
186 Siebentes Kapitel.
kennt, behaupten, daß jedes Oestim von diesem Augenblick
an eine vollständig definierte Bahn beschreibt. Die wirkliche
Bestimmung dieser Bahn kann den Bemühungen der Mathe-
matiker Hindemisse in den Weg legen, die noch lange nicht
behoben sind. Dennoch kann man annehmen, daß ein Tag^
kommen werde, an dem diese Hindemisse beseitigt werden.
Demzufolge kann sich der Mathematiker folgende Frage
stellen: Werden die Gestime des Sonnensystems imter der
Annahme, daß die Lagen und Geschwindigkeiten derselben
die gleichen seien wie heute, alle weiter und unaufhörlich sich
um die Sonne drehen? Wird es nicht im Gegenteil geschehen,
daß eines dieser Gestime sich von dem Schwärm seiner Ge-
fährten trennt, um sich in der Unendlichkeit zu verlieren?
Diese Frage bildet das Problem der Stabilität des Sonnen-
systems, das Laplace gelöst zu haben glaubte, dessen außer-
ordentliche Schwierigkeit aber die Bemühungen der modernen
Mathematiker, vor allem die des Herrn Poincar^ dartun.
Für den Mathematiker hat das Problem der Stabilität des
Sonnensystems sicherlich einen Sinn, denn die Anfangslagen
der Gestime und ihre Anfangsgeschwindigkeiten sind für ihn
Elemente, die mit mathematischer Genauigkeit bekannt sind.
Für den Astronomen sind diese Elemente aber nur auf Gmnd
physikalischer Verfahren bekannt Diese Verfahren bringen
Fehler mit sich, die die an den Instrumenten und an den Be-
obachtungsmethoden angebrachten Verbesserungen mehr und
mehr reduzieren, niemals aber ganz aufheben werden. Es
könnte daher sein, daß das Problem der Stabilität des Sonnen-
systems für den Astronomen eine Frage ohne jeden Sinn wäre.
Die praktischen Angaben, die er dem Mathematiker liefert,
bedeuten für diesen eine Unzahl einander benachbarter, aber
dennoch verschiedener theoretischer Angaben. Vielleicht sind
unter diesen Angaben solche, nach denen alle Steme ewig in
endlicher Distanz bleiben, während andere irgend einen dieser
Himmelskörper in die Unendlichkeit verweisen. Wenn ein
solcher Umstand, dem analog, der sich in dem von Hm.
Hadamard behandelten Problem zeigte, hier wieder aufträte,
wäre jede mathematische Deduktion in bezug auf die Stabi-
Mathematiscfae Deduktion und physikalische Theorie. 187
lität des Sonnensystems für den Physiker eine für immer un-
verwendbare.
Man kann die vielen und schwierigen I>eduktionen der
Mechanik des Himmels und der mathematischen Physik nicht
durchsehen ohne in Furcht zu geraten, daß viele dieser De-
duktionen zu ewiger Unfruchtbarkeit verdammt seien.
In der Tat nützt eine imathematische Deduktion dem Phy-
siker nichts, solange er sich auf die Behauptung beschränkt,
daß wenn dieser Satz streng richtig ist, die strenge Richtigkeit
jenes anderen Satzes folge. Damit sie dem Physiker nützlich
sei, muß er auch beweisen, daß der zweite Satz annähernd
richtig bleibe, wenn der erste tiur annähernd wahr ist. Und
das genügt auch noch nicht. Er muß den Umfang dieser beiden
Annäherungen abgrenzen. Er muß die Fehlergrenzen des Re-
sultates feststellen, die aus der Kenntnis des Grades der Ge-
nauigkeit der Methoden, die zur Messung der Angaben gedient
haben, hervorgehen. Man muß den Grad der Unsicherheit,
die man den Angaben zuschreiben muß, definieren, wenn man
das Resultat mit bestimmter Annäherung kennen will.
So sind die strengen Bedingungen beschaffen, die man
der mathematischen Deduktion auferlegen muß, wenn man
will, daß diese Sprache mit absoluter Genauigkeit, ohne zu
fälschen, die Sprache des Physikers übersetze. Denn die Aus-
drücke dieser letzteren Sprache sind und werden immer un-
bestimmt und imgenau sein, wie die Wahrnehmungen, die sie
ausdrücken sollen. Unter diesen Bedingungen und nur unter
diesen wird man eine mathemathische Darstellung der An-
näherung haben.
Aber man täusche sich nicht in dieser Beziehung. Diese
Annäherungsmath'ematik ist nicht eine einfachere und grö-
bere Mathematik, sondern im Gegenteil eine vollständigere,
verfeinerte Form derselben. Sie erfordert die Lösung von mit-
unter sehr schwierigen Problemen, deren manche sogar über
die Methoden der gegenwärtigen Algebra hinausgehen.
188 Achtes Kapitel.
Achtes Kapitel.
Das physikalische Experiment^).
§ 1. — Ein physikalisches Experiment ist nicht einfach
die Beobachtung einer Erscheinung, es ist außerdem
die theoretische Interpretation derselben.
Das Ziel jeder physikalischen Theorie ist die Darstellung
experimenteller Gesetze. Die Worte Wahrheit, Sicherheit
haben in bezug auf eine solche Theorie nur eine einzige Be-
deutung; sie drücken die Übereinstimmung der Schlußfolgerungen
der Theorie mit den Gesetzmäßigkeiten, die die Beobachter fest-
gestellt haben, aus. Wir können daher in der Kritik der physi-
kalischen Theorie nicht weiter kommen, bevor wir nicht genau
die Natur der von den Experimentatoren ausgesprochenen Ge-
setze analysiert, bevor wir nicht den Grad der Sicherheit, der
^) Dieses Kapitel und die zwei folgenden sind der Analyse der ex-
perimentellen Methode, die der Physiker anwendet, gewidmet. Wir bitten
den Leser um Eriaubnis, diesbezüglich einige Daten fixieren zu dürfen.
Wie uns scheint haben wir diese Analyse zuerst durchgeführt und zwar in
einem Artikel, dessen Titel: „Quelques reflexions au sujet de la
Physique exp^rimentale" (Revue des Questions scientifiques,
deuxi^me s^rie t III, 1894) lautete. Hr. Q. Milhaud machte die Aus-
führungen eines Teiles dieser Gedanken zum Gegenstand semer Vorlesungen
im Jahre 1895/96. Er veröffentlichte darauf ein Resum6 seiner Voriesungen,
in dem er uns zitierte, unter dem Titel: „La science rationelle" (Revue
de M^taphysique et de Morale, 4« ann^e 1896 p. 290. — Le Rationnel,
Paris 1898.) Die gleiche Analyse machte sich auch Hr. Edouard Le Roy
in dem zweiten Artikel seiner Schrift: „Science et Philosophie" (Revue
de Metaphysique et de Morale, 7e ann^e, 1899, p. 503) zu eigen und
ebenso in einer anderen Schrift: „La science positive et lesphilosophies
de la libert^." (Congr^s international de Philosophie tenu ä Paris
en 1900. Biblioth^que du Congr^s: L Philosophie g^n^rale et Meta-
physique p. 313). Ebenso kommt in dem Artikel: „La m^thode des
Sciences physiques" (Revue de Metaphysique et de Morale
7e ann^e 1899, p. 579) des Hm. E. Wilbois eine analoge Auffassung zur
Geltung. Verschiedene der von uns zitierten Autoren haben manchmal
aus dieser Analyse der in der Physik verwendeten experimentellen Methode
Schlüsse gezogen, die über das Gebiet der Physik hinausgehen. Wir werden
ihnen dahin nicht folgen und uns beständig in den Grenzen der physikalischen
Wissenschaft halten.
Das physikalische Experiment 189
ihnen zukommt, präzisiert haben. Außerdem ist das physikalische
Gesetz nicht nur der Inbegriff einer Unzahl von Experimenten,
die ausgeführt wurden oder reahsiert werden könnten. Wir
werden daher naturgemäß dahin geführt, uns folgende Frage
zu stellen: Was ist eigentlich ein physikalisches Experiment?
Diese Frage wird ohne Zweifel manchen Leser in Erstaunen
setzen. Ist es nötig sie zu stellen, Ist die Antwort nicht selbst-
verständlich? Bezeichnet nicht jedermann mit den Worten: „Aus-
führung eines physikalischen Experimentes'^ eine Operation, die
darin besteht, daß man eine physikalische Erscheinung unter
den Bedingungen hervorbringt, die man genau und scharf mit
Hilfe geeigneter Instrumente beobachten kann?
Treten Sie in dieses Laboratorium ein. Gehen Sie an diesen
Tisch heran, den eine Menge von Apparaten bedecken: eine
galvanische Säule, mit Seide umsponnene Kupferdrähte, mit
Quecksilber gefüllte Näpfe, Spulen, ein Eisenstät>chen, das einen
Spiegel trägt. Ein Beobachter steckt in kleine Löcher den metal-
lischen Stiel eines Stöpsels, dessen Kopf aus Ebonit besteht.
Das Eisen gerät in Sdiwingungen und vom Spiegel, der mit
ihm verbunden ist, wird auf einen Maßstab aus Zelluloid ein
leuchtender Streifen geworfen, dessen Bewegungen der Beob-
achter verfolgt. Das ist ohne Zweifel ein Experiment. Mit Hilfe
des Hin- und Hergehens dieses leuchtenden Zeichens beobachtet
der Physiker genau die Schwingungen des Eisenstückes. Wenn
Sie nun fragen, was er tue, glauben Sie, daß er Ihnen dann
antworten wird: „Ich studiere die Oszillationen des Eisenstabes,
der den Spiegel trägf9 Keineswegs. Er wird Ihnen antworten,
daß er den elektrischen Widerstand einer Spule messe. Wenn
Sie in Erstaunen geraten und Ihn fragen, welchen Sinn diese
Worte hätten imd welche Beziehung zwischen ihnen und den
Phänomenen, die er gleichzeitig mit Ihnen konstatiert hat,
bestünde, würde er Ihnen antworten, daß Ihre Frage allzu-
langer Erklärungen bedürfe und Ihnen anraten, einen Kursus
in der Elektrizitätslehre zu nehmen.
Es ist in der Tat ein physikalisches Experiment, dessen
Ausführung Sie beiwohnten, und das wie jedes Experiment in
der Physik in zwei Teile zerfällt Es besteht in erster Linie in
190 Achtes KaptteU
der Beobachtung gewisser Tatsachen. Um diese Beobachtung
ausfuhren zu können, genügen Aufmerksamkeit und aufnahms-
fähige Sinne. Die Kenntnis der Physik ist dazu nicht nötig;
der Direktor des Laboratoriums kann darin weniger geschickt
sein, als der Laboratoriumsdiener. Sie besteht in zweiter Linie
in der Interpretation der beobachteten Tatsachen. Um diese
Interpretation durchführen zu können, genflgen ein geübtes
Auge und geweckte Aufmerksamkeit nicht Man muß die ein-
schlägigen Theorien kennen, man muß sie anzuwenden ver-
stehen, man muß ein Physiker sein. Jedermann kann, wenn er
gesunde Augen hat, die Bewegungen eines Lichtstreifens auf
einem durchsichtigen Maßstab verfolgen, wie er nach rechts
oder nach links geht, wie er an diesem oder jenem Punkt still-
steht; er braucht dazu kein großer Gelehrter zu sein. Wenn
er aber die Elektrodynamik nicht kennt, wird er das Experiment
nicht vollenden, wird er den Widerstand der Spule nicht messen
können.
Nehmen wir ein anderes Beispiel. Regnault studiert die
Kompressibilität der Oase. Er nimmt eine gewisse Quantität
Oas und sperrt sie in ein Olasrohr ein. Er hält die Temperatur
konstant, er mißt den Druck, unter dem das Gas steht und das
Volumen, das es einnimmt Das ist, wird man sagen, die ge-
naue und scharfe Beobachtung gewisser Erscheinungen, ge-
wisser Tatsachen. Sicheriich haben sich unter den Händen und
Augen von Regnault, unter den Händen und Augen seiner
Gehilfen konkrete Tatsachen vollzogen. Besteht das, was Regnault
als Beitrag zum Fortschritt der Physik aufgezeichnet hat in der
Beschreibung dieser Tatsachen? Nein. In einer Visiervorrichtung
hat Regnault das Bild einer gewissen Quecksilberkuppe einen
bestimmten Strich tangieren gesehen; hat er das in dem Bericht
über seine Untersuchungen aufgeschrieben? Nein; er hat auf-
gezeichnet, daß das Gas ein Volumen von bestimmter Größe
einnehme. Ein Gehilfe hat das Femrohr eines Kathetometers
gehoben und gesenkt, bis das Bild eines anderen Quecksilber-
niveaus einen bestimmten Faden eines Netzes tangierte. Er
beobachtete sodann die Lage gewisser Striche auf dem Maß-
stabe und auf dem Nonius des Kathetometers; ist es das, was
Das physikalische Experiment 191
wir in dem Bericht von Regnault finden? Nein; wir lesen dort,
welche OröBe der vom Oas ausgeübte Druck besitzt Ein anderer
Gehilfe hat am Thermometer gesehen, wie sich das FlQssigkeits-
niveau von einem bestimmten Strich zu einem andern verschob;
hat er das aufgezeichnet? Nein; man hat vermerkt, daß die
Temperatur des Oases von einem bestimmten Orade bis zu
einem anderen variierte.
Was ist nun die OröBe des Volumens, das das Oas ein-
nimmt, was ist die Oröße des Druckes, den es ausübt, was ist
der Orad der Temperatur, auf den es gebracht wird? Sind es
drei konkrete Objekte? Nein; es sind drei abstrakte Symbole,
die allein die physikalische Theorie mit den wirklich beobachteten
Tatsachen verbinden.
Um die erste dieser Abstraktionen, die Oröße des von dem
Oase eingenommenen Volumens zu bilden und sie mit der be-
obachteten Tatsache in Übereinstimmung zu bringen, d. h. mit
dem Tangieren des Quecksilbers an einem bestimmten Strich,
war es nötig, die Olasröhre zu aichen, d. h. zu rekurrieren,
nicht nur auf die abstrakten Begriffe der Arithmetik und der
Geometrie, auf die abstrakten Prinzipien, auf denen diese
Wissenschaften beruhen, sondern auch auf den abstrakten Be-
griff der Masse, auf die Hypothesen der allgemeinen Mechanik
und der des Himmels, die den Gebrauch der Wage zur Ver-
gleichung der Massen rechtfertigen. Man mußte das spezifische
Gewicht des Quecksilbers bei der Temperatur, bei der diese
Aichung ausgeführt wurde, kennen und zu diesem Zwecke das
spezifische Gewicht bei 0®, von dem man nicht Gebrauch
machen kann, ohne die Gesetze der Hydrostatik zu kennen.
Man mußte das Gesetz der Ausdehnung des Quecksilbers
kennen, das mit Hilfe eines Apparates bestimmt wird, bei dem
ein Vergrößerungsglas Anwendung findet und demzufolge ge-
wisse Gesetze der Optik vorausgesetzt sind. In dieser Art wird
die Kenntnis einer Menge von Kapiteln der Physik notwendiger-
weise vorausgesetzt, um zur Bildung dieses abstrakten Begriffes:
das vom Gas eingenommene Volumen, zu kommen.
Noch viel komplizierter, noch enger mit den tiefsten Theorien
der Physik verbunden ist die Entstehungsgeschichte jenes anderen
192 Achtes Kapitel.
abstrakten Begriffes: die OröBe des vom Oase ausgeübten Druckes.
Um sie zu definieren, um sie auszuwerten, mußte man so heikle,
so schwer erlangbare Begriffe, wie den des Druckes und der
Adhäsion verwenden. Man mußte die von Laplace ang^ebene
Formel für die barometrische Höhenmessung, die aus den Ge-
setzen der Hydrostatik abgfeleitet ist, zu Hilfe nehmen, man
mußte das Gesetz der Kompressibilität des Quecksilbers, dessen
Bestimmung an die heikelsten und meist umstrittenen Fragen
der Elastizitätstheorie geknüpft ist, in Betracht ziehen.
So hatte Regnault, wenn er einen Versuch ausführte, Tat-
sachen vor Augen, er beobachtete Erscheinungen. Was er uns
aber von diesem Experiment mitteilt, besteht nicht in einem
Bericht über die beobachteten Tatsachen. Es sind die abstrakten
Symbole, welche er mit Hilfe der in Betracht kommenden
Theorien an Stelle der konkreten Aussagen, die er erhielt, setzen
konnte.
Was Regnault tat, muß notwendigerweise jeder physikalische
Experimentator tun. Deshalb können wir folgendes Prinzip
aussprechen, dessen Konsequenzen sich im Veriaufe unserer
AusÜhrungen ergeben werden:
Ein physikalisches Experiment ist die genaue Be-
obachtung einer Gruppe von Erscheinungen, die ver-
bunden wird mit der INTERPRETATION derselben; diese
Interpretation ersetzt das konkret Gegebene, mit Hilfe
der Beobachtung wirklich Erhaltene durch abstrakte
und symbolische Darstellungen, die mit ihnen überein-
stimmen auf Grund der Theorien, die der Beobachter
als zulässig annimmt.
§2. — Das Resultat eines physikalischen Experimentes
ist ein abstraktes und symbolisches Urteil.
Das Charakteristikum, welches so klar das physikalische
Experiment von einem gewöhnlichen Experiment unterscheidet,
indem es in das erstere als wesentliches Element die theore-
tische Interpretation einführt, die bei dem letzteren ausge-
schlossen ist, zeigt gleichzeitig die Resultate an, auf die diese
beiden Arten von Experimenten hinzielen.
Das physikalische Experiment 193
DsLS Resultat des gewöhnlichen Experiments ist die Kon-
statierung einer Beziehung zwischen verschiedenen konkreten
Tatsachen. Eine bestimmte Tatsache wurde künstlich hervor-
gebracht, eine andere resultierte daraus. Man hat zum Bei-
spiel einen Frosch enthauptet und in dessen linken Fuß mit
einer Nadel gestochen. Der rechte Fuß hat sich bewegt und
das Bestreben gezeigt die Nadel zu entfernen. Das ist das
Resultat eines physiologischen Experimentes. Es ist ein Be-
richt über die konkreten Tatsachen. Um diesen Bericht zu
verstehen braucht man kein Wort von Physiologie zu wissen.
Das Resultat der Operationen, die den physikalischen Ex-
perimentator beschäftigen ist keineswegs die Konstatierung
einer Gruppe konkreter Tatsachen. Es ist der Ausdruck eines
Urteils, das gewisse abstrakte symbolische Begriffe mit ein-
ander verbindet, deren Abhängigkeit von den wirklich be-
obachteten Tatsachen allein durch die Theorien hergestellt
wird. Diese Wahrheit springt jedem, der nachdenkt, in die
Augen. Offnen wir irgend eine Abhandlung aus dem Gebiete
der experimentellen Physik und lesen wir die Schlußfolge-
rungen. Diese Schlußfolgerungen sind keineswegs die bloße
einfache Darlegung gewisser Erscheinungen. Sie sind ab-
strakte Ausdrücke, denen wir keinen Sinn unterlegen können,
wenn wir nicht die physikalischen Theorien kennen, auf die
sich der Autor stützt. Wir lesen zum Beispiel dort, daß die
elektromotorische Kraft einer bestimmten Qassäule um eine
gewisse Anzahl Volt steigt, wenn der Druck um eine bestimmte
Anzahl Atmosphären wächst. Was bedeutet dieser Satz? Man
kann seinen Sinn nicht erfassen, ohne zu den mannigfaltigsten
und höchsten Theorien der Physik zu greifen. Wir haben
bereits gesagt, daß der Druck ein quantitatives Symbol sei,
das durch die Mechanik eingeführt wird und das eines der
subtilsten ist, die diese Wissenschaft behandelt. Um die Be-
deutung des Wortes elektromotorische Kraft zu verstehen,
muß man von der von Ohm und Kirchhoff begründeten elektro-
kinetischen Theorie Gebrauch machen. Das Volt ist die Ein-
heit der elektromotorischen Kraft in dem System praktischer
elektromagnetischer Einheiten. Die Definition dieser Einheit
DQhem, Physikalische Theorie. 13
194 Achtes Kapitel.
wird aus den Gleichungen des Elektromagnetismus und der
Induktion, die von Ampere, F. E. Neumann und W. Weber
aufgestellt wurden, abgeleitet. Keines der Worte, die bei dem
Aussprechen des Resultates eines solchen Versuches verwendet
werden, drückt direkt ein sichtbares und tastbares Objekt aus.
Jedes von ihnen hat einen abstrakten und symbolischen Sinn.
CNeser Sinn ist ntjt den konkreten Realitäten durch lange kompli-
zierte theoretische Mittelglieder verbimden.
Bleiben wir noch bei diesen Bemerkungen, die so wichtig
für ein wirkliches Verständnis der Physik sind und dabei so
oft mißverstanden werden.
Jemand, der die Physik nicht kennt, für den der Wortiaut
eines experimentellen Resultates toter Buchstabe bleibt, könnte
versucht sein in einem Satz, wie Sem angeführten, einfach die
Darstellung der vom Experimentator beobachteten Tatsachen
in einer technischen Terminologie, die den Laien unfaßbar,
den Eingeweihten aber klar ist, zu sehen. Das wäre ein Irrtum.
Ich bin auf einem Segelschiff, ich höre den Wachtoffizier
folgendes Kommando ausrufen: „Bram und Oberbram strei-
chen !'' Da ich das Marinewesen nicht kenne, verstehe ich
diese Worte nicht, aber ich sehe die Mannschaft auf vorher
festgesetzte Posten laufen, bestimmte Taue ergreifen und sie
im Takt heben. Die Worte, die der Offizier ausgesprochen
hat, bilden für sie die Bezeichnung konkreter klar bestimmter
Objekte, die in ihrem Kopf den Gedanken eines bekannten
Manövers, das sie auszuführen haben, erwecken. Dies ist für
den Eingeweihten die Wirkung eines technischen Ausdrudces.
Ganz anders ist die Sprache des Physikers. Nehmen wir
an, daß vor einem Physiker folgender Satz ausgesprochen
werde : Wenn man den Druck um so und so viel Atmosphären
steigert, vergrößert man die elektromotorische Kraft der Säule
um so und so viel Volt. Es ist wohl wahr, daß der Ein-
geweihte, der die Theorien der Physik kennt, diesen Ausspruch
in die Wirklichkeit übersetzen, dieses Experiment, dessen Re-
sultat so ausgedrückt wird, realisieren kann. Aber es ist zu
beachten, daß er es in einer Unzahl verschiedener Arten reali-
Das physikalische Experiment 195
sieren kann. Er kann den Druck erzeugen, indem er Quedc-
silber in eine Glasröhre gießt, indem er ein mit Flüssigkeit
gefülltes Reservoir in die Höhe hebt, indem er eine hydraulische
Presse in Bewegung setzt oder einen Kolben in ein mit Wasser
gefülltes Gefäß einschraubt. Er kann diesen Druck mit einem
mit gewöhnlicher Luft oder mit einem mit komprimierter Luft
gefüllten Manometer oder schließlich mit einem metallischen
Manometer messen. Um die Änderung der elektromotorischen
Kraft zu bestimmen, kann er der Reihe nach alle bekannten
Typen von Elektrometern, Galvanometern, Elektrodynamo-
metem und Voltmetern verwenden. Jede neue Anordnung der
Apparate führt ihn zur Konstatierung neuer Tatsachen. Er kann
Anordnungen von Apparaten verwenden, die der Urheber des
Versuches nicht geahnt hat und Erscheinungen sehen, die der-
selbe niemals beobachtet hat. Dabei sind alle diese Verrich-
tungen, die für den Laien keinerlei Analogie aufweisen, tatsäch-
lich nicht verschiedene Experimente. Sie sind nur verschiedene
Formen desselben Experimentes. Die Tatsachen, die wirklich
hervortraten, waren einander so unähnlich wie nur möglich;
die Konstatierung dieser Tatsachen dagegen wird durch ein
und denselben Satz vollzogen: Die elektromotorische Kraft
dieser Säule wächst tun so und so viele Volt, wenn der Druck
um so und so viele Atmosphären steigt.
Es ist demnach klar, daß die Sprache, in welcher der
Physiker die Resultate seiner Experimente ausdrückt nicht in
technischen Ausdrücken besteht, die denen gleichen, die die
verschiedenen Künste und Handwerke verwenden. Sie gleicht
der technischen Sprache darin, daß der Eingeweihte sie in
die Wirklichkeit übersetzen kann; sie unterscheidet sich aber
von dieser dadurch, daß ein in einer technischen Sprache ge-
gebener Satz eine bestimmte an konkreten, klar definierten
Objekten auszuführende Operation anzeigt, während ein Satz
der physikalischen Sprache in einer Unzahl verschiedener Arten
realisiert werden kann.
Denjenigen, welche mit Hm. Le Roy den wesentlichen
Anteil, der der theoretischen Interpretation bei der Darlegung
einer experimentellen Tatsache zukommt, betonen, hat Hr.
13*
196 Achtes Kapitel.
H. Poincare^) die gleiche Meinung, die wir jetzt gerade be-
kämpfen, entgegen gestellt. Nach ihm ist die physikalische
Theorie ein einfadies Vokabularium, das die Obersetzimg der
konkreten Tatsachen in eine, auf Konvention beruhende, ein-
fache und bequeme Sprache ermöglicht. „Die wissenschaft-
liche Tatsache", sagt er^), „ist nur die rohe Tatsache, in eine
bequeme Sprache übersetzt." Und weiter^): „Alles, was der
Gelehrte an einer Tatsache erschafft ist die Sprache, in der er
sie ausdrückt."
„Wenn ich ein Galvanometer^) beobachte und einen Laien,
der mich besucht frage : Fließt der Strom ? wird er den Draht
betrachten, und sich bemühen an demselben irgend ein CMng,
das sich bewegt, zu bemerken. Wenn ich dieselbe Frage aber
meinem Gehilfen stelle, der meine Sprache versteht, weiß er,
daß das heißen soll: Bewegt sich der Lichtstreifen? und er wird
auf die Skala sehen."
„Welcher Unterschied besteht nun zwischen dem Wortlaut
einer rohen und dem einer wissenschaftlichen Tatsache? Es
ist derselbe Unterschied wie zwischen dem Wortlaut einer
rohen Tatsache in der französischen Sprache und dem Wortlaut
derselben Tatsache in der deutschen Sprache. Der wissen-
schaftliche Wortlaut ist die Obersetzung des rohen Wortlautes
in eine Sprache, die sich vor allem dadurch vom gewöhnlichen
Französischen oder gewöhnlichem Deutsch unterscheidet, daß
sie von einer weit geringeren Anzahl von Personen gesprochen
wird."
Es ist nicht richtig, daß die Worte: „Der Strom fließt"
eine einfache auf Konvention beruhende Art des Ausdruckes
der Tatsache sei, daß das Magnetstäbchen dieses Galvano-
meters abgelenkt sei. In der Tat könnte auf die Frage : „Fließt
der Strom?" mein Gehilfe sehr wohl antworten: „Der Strom
^) H. Poincar6: Sur la valeur objective des th^ories physiques
(Revue de M6taphysique et de Morale, lOe ann6e, 1Q02, p. 263).
') H. Poincar6: Loc cit p. 272 [in der deutschen Übersetzung von
Poincar^s „Der Wert der Wissenschaft", Leipzig 1906, p. 174].
') H. Poincar^: Loc cit p. 273 [deutsch 1. c p. 176].
*) H. Poincar^: Loc cit p. 270 [deutsch 1. c p. 171).
Das physikalische Experiment 197
fließt, der Magnet ist aber nicht abgelenkt, das Galvanometer
scheint irgend einen Fehler zu haben''. Warum behauptet er
obgleich die Angabe des Galvanometers fehlt, daß der Strom
fließt? Weil er an einem Voltameter, das in denselben Strom-
kreis eingeschaltet ist, das Auftreten von Gasblasen konsta-
tierte, oder auch, daß eine Glühlampe, die in denselben Kreis
eingeschaltet ist leuchtete, oder wohl auch, daß eine Spule
die aus dem Draht, der denselben bildet, gewickelt ist, sich
erwärmte, oder, daß bei einer Unterbrechung der Verbindimg
Funken auftraten. Es kann daher auf Grund der als zulässig
erkannten Theorien jede dieser Tatsachen, ebenso wie die
Ablenkung des Galvanometers von ihm durch die Worte : „Der
Strom fließt" übersetzt werden. Diese Anordnung der Worte
bedeutet daher nicht eine gewisse konkrete Tatsache, in einer
technischen und konventionellen Sprache, sondern eine symbo-
lische Formel, die keinen Sinn für den hat, der die physi-
kalischen Theorien nicht kennt. Für den aber, der diese Theo-
rien kennt, läßt sie sich in einer Unzahl verschiedener Arten
in konkrete Tatsachen übersetzen, da alle diese unzu-
sammenhängenden Tatsachen dieselbe theoretische
Interpretation zulass:en.
Herr H. Poincar^ weiß^), daß man gegen die Lehre, deren
Anhänger er ist, diesen Einwand erheben kann. Im folgen-
den sehen wir, wie er ihn darlegt*) und wie er ihn beantwortet:
„Doch übereilen wir uns taicht! Um einen Strom zu messen,
kann ich mich einer großen Anzahl verschiedenartiger Galvano-
meter oder auch eines Elektrodynamometers bedienen. Wenn
ich dann sage, in diesem Kreis fließt ein Strom von so und so
viel Ampere, so bedeutet das: wenn ich in diesen Stromkreis
ein bestimmtes Galvanometer einschalte, so wird der Licht-
^) Man braucht übrigens darüber nicht erstaunt zu sein, wenn man
bedenkt, daß die vorangehenden Ausführungen von uns mit beinahe gleich-
lautenden Worten schon im Jahre 1894 veröffentlicht wurden^ während der
Artikel des Hm. Poincar^ 1902 erschien. Wenn man unsere zwei Artikel
vergleicht, kann man sich leicht überzeugen, daß Hr. Poincar^ an dieser
Stelle unsere Ansicht ebensosehr bekämpft, wie die des Hm. Le Roy.
«) Loc. cit p. 270 [deutsch 1. c p. 171—172).
198 Achtes Kapitel.
streifen auf den Teilstrich a fallen; es bedeutet aber auch:
wenn ich in diesen Stromkreis ein bestimmtes Elektrodyna-
mometer einschalte, so wird der Lichtstreifen auf den Teilstrich b
fallen. Und es bedeutet noch vielerlei anderes; denn der Strom
^ann sich nicht nur durch mechanische Wirkungen kundgeben,
sondern auch durch chemische Wirkungen, durch Licht und
Wärmewirkungen usw."
„Dies ist also der gleiche Wortlaut, der auf eine große
Zahl durchaus verschiedener Tatsachen paßt. Wie kommt das?
Weil ich ein Gesetz annehme, nach dem jedesmal, wenn sich
ein bestimmter mechanischer Vorgang zeigt, sich auch ein
bestimmter chemischer Vorgang zeigen wird. Sehr zahlreiche
frühere Erfahrungen haben mir gezeigt, daß dieses Gesetz
niemals trügt, und dann habe ich mir klar gemacht, daß ich
zwei so unveränderlich miteinander verbundene Tatsadien
durch die gleichen Worte ausdrücken könnte."
Herr H. Poincar^ erkennt somit, daß die Worte: „Dieser
Draht ist von einem Strom von so und soviel Ampere durch-
flössen" nicht eine einzige Tatsache, sondern eine Unzahl mög-
licher Tatsachen und zwar gemäß den konstanten Beziehungen
zwischen verschiedenen experimentellen Gesetzen, ausdrückt
Aber sind diese Beziehungen nicht genau das, was jedermann
die Theorie des elektrischen Stromes nennt? Eben weil
die Ausbildung dieser Theorie vorausgesetzt wird, ist es mög-
lich in den Worten : „Es fließt in diesem Draht ein Strom von
so und so viel Ampfere" so viel verschiedene Bedeutungen
zu kondensieren. Die Aufgabe des Gelehrten hat sich daher
nicht darauf beschränkt eine klare und bündige Sprache zu
schaffen, um die konkreten Tatsachen auszudrücken, vielmehr
setzte das Entstehen dieser Sprache die Ausbildung einer phy-
sikalischen Theorie voraus.
Zwischen einem abstrakten Symbol und einer konkreten
Tatsache kann eine Verbindung bestehen, niemals aber voll-
kommene Gleichheit. E>as abstrakte Symbol kann keine adä-
quate Darstellung der konkreten Tatsache, die konkrete Tat-
sache niemals die strenge Verwirklichung des al^trakten Sym-
Das physikalische Experiment 199
boles seia Die abstrakte und symbolische Formel, durch die
ein Physiker die konkreten Tatsachen, die er bei der Aus-
führung eines Experimentes konstatiert hat, ausdrückt, kann
nicht ein genauer Ersatz, eine getreue Wiedergabe dieser Fest-
stellungen sein.
Dieser Unterschied zwischen der praktischen Tatsache,
die wirklich beobachtet wurde imd der theoretischen Tat-
sache, d. h. der symbolischen und abstrakten Formel, die
vom Physiker ausgesprochen wird, zeigt sich uns darin, daß
konkrete, sehr verschiedene Tatsachen miteinander vermengt
W€rden können, wenn sie durch die Theorie so interpretiert sind,
daß sie nur ein einziges Experiment bilden und durch einen
einzigen symbolischen Ausdruckdargestelltwerden: Derselben
theoretischen Tatsache können eine Unzahl prak-
tischer Tatsachen entsprechen.
CHeser selbe Unterschied zeigt sich uns auch noch in einer
anderen Konsequenz: Derselben praktischen Tatsache
können eine Unzahl theoretischer Tatsachen entspre-
chen, die logisch mit einander nicht vereinbar sind.
Derselben Gruppe konkreter Tatsachen kann im allgemeinen
nicht nur ein einziges symbolisches Urteil entsprechen, sondern
eine Unzahl voneinander verschiedener Urteile, die sich logisch
widersprechen.
Ein Experimentator hat gewisse Beobachtungen ausgeführt
und folgendermaßen dargestellt: Eine Vermehrung des Druckes
um 100 Atmosphären erhöht die elektromotorische Kraft dieser
Oassäule um 0,0845 Volt; er hätte mit derselben Berechtigung
sagen können, daß diese Vermehrung des Druckes die elektro-
motorische Kraft um 0,0844 Volt oder um 0,0846 Volt erhöhe.
Wieso können diese verschiedenen Angaben für den Physiker
gleichwertig sein? Für den Mathematiker widersprechen sie
einander, denn wenn eine Zahl 845 ist, kann sie weder 844
noch 846 sein.
Der Physiker will folgendes ausdrücken, wenn er er-
klärt, daß diese drei Urteile für ihn identisch sind: Indem er
den Wert 0,0845 Volt für die Abnahme der elektromotorischen
Kraft annimmt, berechnet er mit Hilfe der als zulässig er-
200 Achtes Kapitel.
kannten Theorien die Ablenkung, die die Nadel seines Gal-
vanometers erfahren würde, wenn er durch das Instrument
den von der Säule gelieferten Strom leiten würde; das ist in
der Tat die Erscheintmg, die seine Sinne beobachten können.
Er findet, daß diese Ablenkung eine gewisse Größe haben
wird. Wenn er dieselbe Rechnung imter der Annahme, daß
die elektromotorische Kraft der Säule um 0,0844 oder auch
um 0,0846 Volt abnehme, wiederiiolt, findet er andere Werte
für die Ablenkung des Magneten. Aber diese drei so be-
rechneten Ablenkungen differieren zu wenig, als daß man sie
unterscheiden könnte. Das ist der Grund, warum der Phy-
siker die drei Werte der Verminderung der elektromotorischen
Kraft 0,0845 Volt, 0,0844 Volt und 0,0846 Volt nicht ausein-
anderhält, während der Mathematiker sie als unvereinbar be-
trachtet.
Zwischen der theoretischen Tatsache, die genau und streng
ist und der praktischen Tatsache mit ihren Konturen, die so
verschwommen und unbestimmt, wie alles, was uns durch
unsere Wahrnehmung kund wird, sind, gibt es keine über-
einstimmende Beziehimg. Daher kann dieselbe praktische Tat-
sache einer Unzahl theoretischer Tatsachen entsprechen. Wir
haben im vorausgehenden Kapitel diesen Unterschied und seüie
Konsequenzen genügend ausführlich behandelt, um hier nicht
wieder darauf zurückkommen zu müssen.
Eine einzige theoretische Tatsache kann daher durch eine
Unzahl ^sammenhangloser praktischer Tatsachen ausgedrückt
werden, eine einzige praktische Tatsache entspricht einer Un-
zahl unvereinbarer theoretischer Tatsachen. Diese zweifache
Konstatierung bringt ims die Wahrheit, die wir darlegen woll-
ten, vor Augen: Zwischen den bei der Ausführung eines Ex-
perimentes wirklich festgestellten Erscheinungen und dem Re-
sultat dieses Experimentes, das vom Physiker formuliert wird,
muß eine intellektuelle, sehr komplizierte Arbeit eingeschaltet
werden, die einen Bericht über die konkreten Tatsachen durch
ein abstraktes und symbolisches Urteil substituiert.
Das physikalische Experiment 201
§3. — Nur die theoretische Interpretation der Erschei-
nungen ermöglicht den Gebrauch der Instrumente.
Die Bedeutung dieser intellektuellen Operation, durch die
die vom Physiker wirklich beobachteten Erscheinungen ge-
mäß der als zulässig erkannten Theorien interpretiert werden,
äußert sich nicht nur in der Form, die das Resultat des Ex-
perimentes annimmt, sondern gleichermaßen an den Hilfs-
mitteln, die der Experimentator anwendet.
Es wäre in der Tat unmöglich, die Instrumente, die man
in den physikalischen Laboratorien findet, anzuwenden, wenn
man nicht die konkreten Objekte, die diese Instrumente dar-
stellen durch ein abstraktes und schematisches Bild ersetzte,
das die mathematische Betrachtung ermöglicht, wenn man nicht
diese Kombination von Abstraktionen den Deduktionen und
Rechnungen unterlegen würde, die den Zusammenhang mit
den Theorien herstellen.
Im Anfang wird diese Behauptung den Leser in Verwunde-
rung setzen.
Viele Leute verwenden die Lupe, die ein physikalisches
Instrument ist. Um von ihr Gebrauch zu machen, haben sie
es nicht nötig, dieses gewölbte, geschliffene, glänzende, schwere
Stück Glas, das in Kupfer oder Hom gefaßt ist, durch zwei
zusammenhängende sphärische Flächen, die ein Medium von ge-
wissem Brechungsindex begrenzen, zu ersetzen, obwohl allein
diese Flächen den Betrachtungen der Dioptrik zugänglich sind.
Sie haben kein Studium der Dioptrik nötig, sie brauchen die
Theorie der Lupe nicht zu kennen. Es genügt für sie, das
gleiche Objekt erst mit bloßem Auge und dann mit der Lupe
zu betrachten, um zu konstatieren, daß das Objekt in beiden
Fällen den gleichen Anblick darbietet, daß es aber im zweiten
viel größer erscheint, als im ersten. Wenn ihnen daher durch
die Lupe ein Objekt sichtbar wird, das das bloße Auge nicht
bemerkt, so ermöglicht ihnen eine ganz spontane Generalisa-
tion, die dem gewöhnlichen Laienverstand entspringt, die Be-
hauptung, daß dieses Objekt durch die Lupe bis zur Sicht-
barkeit vergrößert wtirde, daß es aber durch die Linse weder
202 Achtes Kapitel.
geschaffen noch umgeformt wurde. Die spontanen Urteile
des Laienverstandes genügen daher um den Gebrauch, den sie
von der Lupe bei ihren Beobachtungen machen, zu rechtfer-
tigen, die Resultate dieser Beobachtungen hängen in keiner
Weise von den Theorien der Dioptrik ab.
Als Beispiel wurde eines der einfachsten und gröbsten
Instrumente der Physik gewählt. Ist es aber wirklich wahr,
daß man dieses Instrument verwenden kamt; ohne auf die
Theorien der Dioptrik Bezug zu nehmen? Die Objekte, die
durch die Lupe gesehen werden, scheinen einen Rand bestehend
aus den Regenbogenfarben zu besitzen. Bedürfen wir nicht
der Theorie der Dispersion, die uns lehrt, daß diese Farben
vom Instrumente geschaffen werden, um von ihnen zu abstra-
hieren, wenn wir das beobachtete Objekt beschreiben? Und
um wieviel bedeutungsvoller wird diese Bemerkung, wenn es
sich nicht um eine einfache Lupe, sondern um ein Mikroskop
von starker Vergrößerung handelt! Welchen eigenartigen Irr-
tümern würde man sich aussetzen, wenn man naiverweise den
beobachteten Objekten die Form und Farbe, in der sie im
Instrument erscheinen, zuschreiben wollte, wenn eine Diskus-
sion, die aus den optischen Theorien abgeleitet ist, uns nicht
erlauben würde den Anteil der Erscheinungen und den der
Wirklichkeit zu sondern!
Bei dem Mikroskop indessen, das nur zur rein qualita-
tiven Beschreibung sehr kleiner konkreter Objekte bestimmt
ist, sind wir noch weit von den Instrumenten entfernt, die
der Physiker anwendet. Die mit Hilfe solcher Instrumente
kombinierten Versuche sollen nicht zu einem Bericht über
reale Tatsachen, zu einer Beschreibung konkreter Objekte,
sondern zur numerischen Auswertung gewisser, durch die
Theorien geschaffener Symbole führen.
Nehmen wir zum Beispiel das Instrument, das man Tan-
gentenbüssole nennt. Über einem kreisförmigen Rahmen
ist ein seidenumsponnener Kupferdraht aufgewickelt. Im Zen-
trum des Rahmens ist an einem Kokonfaden ein kleines Mag-
netstäbchen aus Stahl aufgehängt. Eine Aluminiumnadel, die
von diesem Stäbchen getragen wird, bewegt sich über einem
Das physikalische Experiment. 203
in Grade geteilten Kreis und ermöglicht so die Orientierung
des Stäbebens mit Genauigkeit festzustellen. Wenn die beiden
Enden des Kupferdrahtes mit den Polen einer Säule verbunden
werden, erfährt der Magnet eine Ablenkung, die wir an dem
geteilten Kreise ablesen können; sie sei zum Beispiel 30 o.
EHe einfache Konstatierung dieser Tatsache erfordert
keinerlei Beschäftigung mit den physikalischen Theorien, aber
sie bildet ebensowenig ein physikalisches Experiment. Der
Physiker beabsichtigt ja tatsächlich nicht, die Ablenkung, die
der Magnet erfährt, kennen zu lernen, sondern vielmehr die
Intensität des Stromes zu messen, der den Kupferdraht durch-
fließt.
Um nun die Grösse dieser Intensität auf Grund der Größe
30 ^ die die beobachtete Ablenkung aufwies, zu berechnen,
ist es nötig diesen letzteren Wert in eine bestimmte Formel
einzusetzen. EHese Formel ist eine Konsequenz der Gesetze
des Elektromagnetismus. Für den, der die elektromagnetische
Theorie von Laplace und Ampere nicht als richtig anerkennen
würde, wäre der Gebrauch dieser Formel, die Rechnung, die
die Stromintensität kennen lehren soll, tatsächlich ohne Sinn.
Diese Formel wird für alle möglichen Tangentenbussolen,
für alle Ablenkungen, für alle Stromintensitäten angewendet.
Um aus ihr die Größe der bestimmten Intensität, die es zu
messen gilt, abzuleiten muß man sie spezialisieren, indem man
nicht nur in sie die besondere Größe der Ablenkung — 30^ —
die beobachtet wurde, einführt, sondern indem man sie statt
auf eine beliebige Tangentenbussole auf die bestimmte, mit
der gearbeitet wird, anwendet. Wie wird diese Spezialisierung
ausgeführt? Gewisse Buchstaben in der Formel stellen die
charakteristischen Konstanten des Instrumentes dar:
Den Radius des kreisförmigen Drahtes, den der Strom durch-
fließt, das Moment des Magneten, die Größe und Richtung
der Feldstärke an dem Ort, wo sich das Instrument befindet.
Diese Buchstaben ersetzt man durch die numerischen Werte,
die dem angewendeten Instrumente und dem Laboratorium
in dem es sich befindet, zukommen.
Was setzt nun diese Art in der wir ausdrücken, daß wir
204 Achtes Kapitel.
uns dieses bestimmten Instrumentes bedient, daß wir in
diesem bestimmten Laboratorium gearbeitet haben, voraus?
Sie setzt voraus, daß wir an Stelle des Kupferdrahtes von
einer gewissen Dicke, durch den wir den Strom geschickt
haben, einen Kreisbogen substituieren, eine geometrische Linie
ohne Dicke, die vollständig durch ihren Radius definiert ist.
An Stelle des magnetisierten Stahlstückes von bestimmter Größe
und bestimmter Form, das an einem Kokonfaden hängt, sub-
stituieren wir eine horizontale magnetische Achse, die unend-
lich klein, ohne Reibimg um eine vertikale Achse beweglich
ist und ein gewisses magnetisches Moment besitzt. An Stelle
des Laboratoriums, wo der Versuch ausgeführt wird, substi-
tuieren wir einen gewissen Raum, der durch eine bestimmte
Richtung und Größe der magnetischen Feldstärke vollständig
definiert ist.
Wenn es sich so bloß um die Ablesung der Ablenkung
des Magneten handelt, so haben wir nur eine gewisse Anord-
nung von Kupfer, Stahl, Alimiinium, Glas und Seide betastet
und betrachtet, die mit drei Stellschrauben auf einer bestimm-
ten Konsole in einem bestimmten Laboratorium ruht, das sich
in der Faculte des Sciences in Bordeaux im Erdgeschoß be-
findet. Aber dieses Laboratorium, in das ein Besucher, der
in der Physik Laie ist, eintreten kann, dieses Instrument, das
man untersuchen kann, ohne irgend etwas vom Elektromag-
netismus zu wissen, haben wir außer Betracht gelassen,
wenn es sich darum handelt, unser Experiment durch
die Interpretation der ausgeführten Ablesungen zu voll-
enden, was durch die Anwendung der Formel für die
Tangentenbussole geschieht. Wir haben die Anordnung
eines magnetischen Feldes, einer magnetischen Achse, eines
magnetischen Momentes, eines kreisförmigen Stromes von be-
stimmter Intensität angenommen, d. h. eine Gruppierung von
Symbolen, denen nur die physikalischen Theorien einen Sinn
verleihen, die für diejenigen, die den Elektromagnetismus nicht
kennen, unbegreiflich sind.
Wenn daher ein Physiker einen Versuch ausführt, ist sein
Geist gleichzeitig mit zwei wohlunterschiedenen Vorstellungen
Das physikalische Experiment 205
des Instrumentes, an dem er arbeitet, beschäftigt. Die eine
ist das Bild des konkreten Instrumentes, das er in Wirklichkeit
handhabt, die andere ist ein schematisdier Typus desselben
Instrumentes, der mit Hilfe der Symbole, die diese Theorie
liefert, konstruiert wird. Es ist das ideale und symbolische
Instrument, über das er nachdenkt, auf das er die Gesetze
und Formeln der Physik anwendet.
Diese Prinzipien ermöglichen die Definition dessen, was
man versteht, wenn man von der Erhöhung der Genauigkeit
eines Experimentes durch Elimination der Fehlerquellen
mit Hilfe geeigneter Korrektionen spricht. Wir werden
in der Tat sehen, daß diese Korrektionen, nichts anderes sind,
als Verbesserungen, die an der theoretischen Interpretation des
Experimentes angebracht werden.
Nach Maßgabe des Fortschrittes der Physik wird die Un-
bestimmtheit der Gruppe abstrakter Urteile, die der Physiker
derselben konkreten Tatsache entsprechen läßt, eingeschränkt.
Die Genauigkeit der experimentellen Resultate wächst nicht
mir, weil die Konstrukteure immer genauere Instrumente liefern,
sondern auch, weil die physikalischen Theorien immer ge-
eignetere Methoden angeben, um die Beziehimg zwischen den
Tatsachen und den schematischen Begriffen, die sie darstellen
sollen, herzustellen. Diese wachsende Genauigkeit wird, das
muß zugegeben werden, durch eine wachsende Kompliziert-
heit erkauft, durch die Notwendigkeit zu gleicher Zeit mit
der Grundtatsache eine Serie von Nebentatsachen zu beobach-
ten, durch die Notwendigkeit, die rohen Feststellungen des
Experimentes immer zahlreicheren und heikleren Kombina-
tionen und Transformationen zu unterwerfen. EMese Trans-
formationen, die man an den ^unmittelbar gegebenen Tatsachen
des Experimentes vornimmt, sind die Korrektionen.
Wenn das physikalische Experiment die einfache Kon-
statierung einer Tatsache wäre, erschiene es absurd, an ihm
Korrektionen anzubringen. Wenn der Beobachter aufmerk-
sam, sorgfältig und genau beobachtet hat, wäre es lächerlich
ihm zu sagen: Das, was Sie gesehen haben, ist nicht das,
was sie hätten sehen sollen, erlauben Sie mir einige Rech-
206 Achtes Kapitel.
nungen anzustellen, die Ihnen zeigen werden, was Sie hätten
konstatieren sollen.
CMe logische Rolle der Korrektionen wird dagegen sehr
wohl begreiflich, wenn man sich erinnert, daß ein physikali-
sches Experiment nicht nur in der Konstatierung einer Gruppe
von Tatsachen, sondern auch in der Übersetzung dieser Tat-
sachen in eine logische Sprache mit Hilfe der von den physi-
kalischen Theorien gelieferten Regeln besteht. Es geht daraus
in der Tat hervor, daß der Physiker unaufhörlich zwei In-
strumente miteinander vergleicht: Das wirkliche Instrument,
mit dem er manipuliert und das ideale und symbolische In-
strument, das ihm vorschwebt. Das Wort Manometer be-
zeichnet zum Beispiel bei Regnault zwei im Wesen verschie-
dene Dinge, die aber unlösbar miteinander verbunden sind:
Einerseits eine Reihe von Glasröhren, die fest miteinander
verbunden an den Turm des Lyceums Henri IV. angelehnt und
mit einem flüssigen sehr schweren Metall, das die Chemiker
Quecksilber nennen, angefüllt sind, anderseits eine Säule jenes
idealen Dinges, das die Mechaniker vollkommene Flüssigkeit
nennen, die in jedem Punkte eine bestimmte Dichte und eine
bestimmte Temperatur besitzt, die durch eine bestimmte
Gleichung der Kompressibilität und Dilatation definiert ist. Auf
das erste dieser beiden Manometer richtet der Gehilfe von
Regnault das Fernrohr des Kathetometers, auf das zweite wen-
det der große Physiker die Gesetze der Hydrostatik an.
Das schematische Instrument kann nicht ein genauer Er-
satz für das wirkliche Instrument sein; aber man begreift, daß
es davon ein mehr oder minder vollkommenes Bild geben
kann; man begreift, daß der Physiker, nachdem er über ein
zu einfaches und zu sehr von der Wirklichkeit entferntes, sche-
matisches Instrument Betrachtungen angestellt hat, versucht,
es durch ein komplizierteres aber ähnlicheres Schema zu er-
setzen. Dieser Übergang von einem gewissen schematischen
Instrument zu einem anderen, welches besser das konkrete In-
strument darstellt, ist im wesentlichen die Operation, die man
in der Physik mit dem Worte Korrektion bezeichnet.
Ein Gehilfe von Regnault gibt ihm die Höhe der Queck-
Das physikalische Experiment. 207
Silbersäule eines Manometers an; Regnault korrigiert sie; hat
er seinen Oehülfen im Verdacht, daß er schlecht gesehen, daß
er sich in seinen Ablesungen getäuscht habe? Nein; er hat
volles Vertrauen in die Beobachtungen, die ausgeführt wurden;
wenn er dieses Vertrauen nicht hätte, könnte er dieses Ex-
periment nicht korrigieren; er könnte es nur von neuem be-
ginnen. Wenn daher Regnault diese durch seinen Gehilfen
bestimmte Höhe durch eine andere ersetzt, so geschieht
dies auf Qrund intellektueller Operationen, die dazu be-
stimmt sind, den Unterschied zwischen dem idealen, sym-
bolischen Manometer, das nur in seinen Gedanken existiert,
das den Gegenstand seiner Rechnungen bildet, und dem wirk-
lichen Manometer aus Glas und Quecksilber, das er vor Augen
hat, an dem sein Gehilfe Ablesungen macht, zu verkleinem.
Regnault könnte dieses wirkliche Manometer durch ein ideales
Manometer darstellen, das aus einer inkompressibeln Flüssig-
keit gebildet ist, das überall dieselbe Temperatur besitzt, das
in jedem Punkte seiner freien Oberfläche einem von der Höhe
unabhängigen Atmosphärendruck ausgesetzt ist; zwischen die-
sem allzueinfachen Schema imd der Wirklichkeit wäre der Unter-
schied allzugroß imd die Genauigkeit des Experimentes wäre,
wenn man von ihm ausginge, imgenügend. Daher ersinnt er
ein neues, ideales Manometer, das komplizierter als das erste
ist, aber besser das wirkUche, konkrete Manometer darstellt.
Er setzt dieses neue Manometer aus einer kompressibeln Flüssig-
keit zusammen, er läßt zu, daß die Temperatur sich von Punkt
zu Punkt ändere und gleicherweise, daß der Barometerdruck
variiere, wenn man sich in der Atmosphäre erhebt. Jede dieser
Änderungen am primitiven Schema bildet eine Korrektion : Eine
Korrektion in bezug auf die Kompressibilität des Quecksilbers,
eine Korrektion in bezug auf die ungleiche Erwärmung der
Quecksilbersäule, die Laplacesche Korrektion in bezug auf die
Abhängigkeit des Barometerstandes von der Höhe. Alle diese
Korrektionen haben die Wirkung, die Genauigkeit des Experi-
mentes zu erhöhen.
Der Physiker, der durch Korrektionen die theoretische Dar-
stellung der beobachteten Tatsachen kompliziert, um diese Dar-
208 Achtes Kapitel.
Stellung der Wirklichkeit näher zu bringen gleidit dem Künstier,
der nachdem er ein Bild in den Umrissen ausgeführt hat, noch
Schatten hinzufügt, um auf der ebenen Fläche die Plastik des
Modelies besser hervorzuheben.
Wer in den Experimenten der Physik nur Feststellungen
von Tatsachen sieht, wird die Rolle, die die Korrektionen bei
den Experimenten spielen, nicht begreifen.' Er wird weiter
nicht begreifen, was man darunter versteht, wenn man von
systematischen Fehlern spricht, die bei einem Experi-
ment auftreten können.
Wenn man bei einem Experiment die Ursache eines syste-
matischen Fehlers bestehen läßt, so heißt das so viel, daß man
eine Korrektion, welche man hätte ausführen können und die
die Genauigkeit des Experimentes erhöht hätte, unterlassen
hat. Es heißt das, daß man sich mit einem zu einfachem theo-
retischen Bild begnügt hat, während man es durch ein kompli-
zierteres, das aber besser die Wirklichkeit darstellt, ersetzen
könnte. Es heißt, daß man sich mit einer Skizze der Umrisse
begnügt, während man eine schattierte Zeichnung ausführen
könnte.
Bei seinen Versuchen über die Kompressibilität der Oase
ließ Regnault eine systematische Fehlerquelle bestehen, die
er nicht bemerkte, die aber seither aufgewiesen wurde. Er
hatte die Wirkung der Schwere auf das Gas, das der Kom-
pression ausgesetzt wird, nicht in Betracht gezogen. Was
will man sagen, wenn man Regnault vorwirft, diese Wirkung
nicht in Betracht gezogen, diese Korrektion unterlassen zu
haben ? Will man sagen, daß ihn seine Sinne bei der Beobach-
tung der Erscheinungen, die vor seinen Augen auftraten, täusch-
ten, keineswegs; man wirft ihm vor, daß er das theoretische
Bild dieser Tatsachen allzusehr vereinfacht habe, indem er sidi
das Gas, das der Kompression unterworfen wurde, als ho-
mogene Flüssigkeit vorstellt. Ctenn wenn er es als Flüssig-
keit, deren Druck mit der Höhe gemäß einem bestimmten
Gesetz variiert, betrachtet hätte, würde er ein neues abstraktes
Bild erhalten haben, das zwar komplizierter als das erste ist,
aber die Wirklichkeit getreuer darstellt.
Das physikalische Experiment 209
§ 4. — Ober die Kritik physikalischer Experimente und
den Unterschied der zwischen ihr und der Prüfung
gewöhnlicher Aussagen besteht
Da ein physikalisches Experiment ein ganz anderes Ding
ist, als die einfache Konstatierung einer Tatsache, begreift
man leicht, daß die Sicherheit desselben von ganz anderer
Größenordnung ist als die einer bloß sinnlich konstatierten
Tatsache. Ebenso versteht man, daß diese Sicherheiten, die
von Natur aus so verschieden sind, nach ganz verschiedenen
Methoden eingesdiätzt werden.
Wenn ein aufrichtiger Zeuge, dessen Kopf soweit klar ist,
daß er nicht das Spiel seiner Phantasie mit den Wahrnehmungen
vermengt, der die Sprache, deren er sich bedient, genügend ver-
steht, um seine Gedanken klar ausdrücken zu können, be-
hauptet, eine Tatsache konstatiert zu haben, so ist diese Tat-
sache gewiß. Wenn ich Ihnen erkläre, daß ich an dem Tag,
zu dieser Stunde, in dieser Straße der Stadt ein weißes Pferd
gesehen habe, so werden Sie, falls Sie nicht Gründe haben,
anzunehmen, daß ich lüge oder an Halluzinationen leide, glau-
ben, daß sich an diesem Tage, z!u dieser Stunde, in dieser Straße
ein weißes Pferd befand.
Das Zutrauen, das man einem Satze, den ein Physiker als
Resultat seines Experimentes ausspricht, entgegenbringen muß,
ist nicht von derselben Art. Wenn ein Physiker sich darauf
beschränken würde, uns die Tatsachen aufzuzähkn, die er ge-
sehen, die er wirklich mit seinen Augen gesehen hat, so würde
sein Zeugnis nach den allgemeinen Regeln, die dazu dienen,
den Grad der Glaubwürdigkeit der Aussage eines Menschen
zu bestimmen, geprüft werden müssen. Wenn der Physiker
vertrauenswürdig befunden würde — und ich glaube, das wäre
der gewöhnliche Fall -— müßte seine Aussage als Ausdruck
der Wahrheit aufgefaßt werden.
Aber nochmals, das was der Physiker als Resultat eines
Experimentes ausspricht, ist nicht ein Bericht über konstatierte
Tatsachen, es ist die Interpretation dieser Tatsachen, es ist ihre
Versetzung in eine ideale, abstrakte, symbolische Welt, die
Dnhem, PhytOnliadic Theorie. 14
210 Achtes Kapitel.
durch die Theorie, die er als gültig betrachtet, geschaffen
wurde.
Wenn wir daher die Aussage des Physikers den Regeln
unterworfen haben, die den Orad der Zuverlässigkeit bestim-
men, den die Erzählung eines Zeugen verdient, haben wir erst
einen Teil und zwar den leichtesten Teil der Kritik, die den
Wert des Experimentes bestimmt, ausgeführt.
In erster Linie müssen wir mit großer Sorgsamkeit die
Theorien kennen lernen, die der Physiker als gültig betrachtet
und die er zur Interpretation der von ihm konstatierten Tat-
sachen benützte. Würden wir der Kenntnis dieser Theorien
ermangeln, so wäre es uns unmöglich den Sinn zu erfassen,
den er seinen eigenen Aussagen zuschreibt. Dieser Physiker
wäre für uns, was ein Zeuge für einen Richter ist, der dessen
Sprache nicht versteht.
Wenn die Theorien, die dieser Physiker als gültig be-
trachtet, dieselben sind, die wir anerkennen, wenn wir darüber
übereingekommen sind, dieselben Regeln bei der Interpretation
der gleichen Erscheinungen zu befolgen, so sprechen wir in
der gleichen Sprache und wir können uns verstehen. Aber es
ist nicht immer so ; es ist nicht so, wenn wir die Experimente
eines Physikers diskutieren, der nicht unserer Schule angehört ;
es ist vor allem nicht so, wenn wir die Experimente eines
Physikers diskutieren, den fünfzig Jahre, ein Jahrhundert, zwei
Jahrhunderte von uns trennen. Es ist dann nötig eine Verbin-
dung zwischen den theoretischen Gedanken des Autors, den
wir studieren, und den unsrigen herzustellen. Es ist nötig, von
neuem mit Hilfe der Symbole, deren wir uns bedienen, das
was er mit Hilfe der von ihm verwendeten Symbole inter-
pretierte, zu interpretieren. Wenn wir dies erreichen, so wird
die Diskussion seines Experimentes möglich. Dieses Experi-
ment wird eine Zeugenaussage sein, die in einer uns fremden
Sprache abgegeben wurde, aber in einer Sprache, deren Vo-
kabularium wir besitzen. Wir können sie übersetzen und sie
einer Prüfung unterziehen.
Zum Beispiel hat Newton gewisse Beobachtungen über
Farbenringe gemacht. Diese Beobachtungen interpretierte er
Das physikalische Experiment. 211
nach der von ihm geschaffenen Emissionstheorie. Er inter-
pretierte sie, indem er für die leuchtenden Partikeln jeder
Farbe den Abstand zwischen einer Anwandlung leichter
Reflexion und einer Anwandlung leichter Trans-
mission angab. Als Young und Fresnel eines Tages die Un-
dulationstheorie wieder zur Geltung brachten und durch sie die
Emissionstheorie ersetzten, war es ihnen möglich, gewisse Ele-
mente der neuen Theorie mit gewissen Elementen der alten
in Verbindung zu bringen. Sie sahen im besonderen, daß der
Abstand zwischen einer Anwandlung leichter Reflexion und
einer Anwandlung leichter Transmission dem vierten Teil
dessen entsprach, was die neue Theorie als Wellenlänge be-
zeichnete. Dank dieser Bemerkung konnten die Resultate der
Versuche Newtons in die Sprache der Wellenlehre übersetzt
werden. Die Zahlen, die Newton erhalten hatte, ergaben mit
vier multipliziert die Wellenlängen der verschiedenen Farben.
Ebenso hatte Biot eine sehr große Zahl genauer Experi-
mente über die Polarisation des Lichtes ausgeführt, die er auf
Grund der Emissionstheorie interpretiert hatte. Fresnel konnte
sie in die Sprache der Wellenlehre übersetzen und sie zur
Kontrolle dieser Theorie verwenden.
Wenn wir dagegen keine zureichenden Aufschlüsse über
die theoretischen Gedanken des Physikers, dessen Experiment
wir diskutieren, erlangen können, wenn wir nicht zur Auf-
stellung einer Beziehung zwischen den Symbolen, die er ver-
wendete und den Symbolen, die uns die von uns angenommenen
Theorien liefern, gelangen, werden die Sätze, in denen dieser
Physiker die Resultate seiner Experimente ausgesprochen hat,
für Uns weder wahr noch falsch sein ; sie werden jeden Sinnes
ermangeln, sie werden tote Buchstaben sein; sie werden in
unseren Augen ebensoviel bedeuten, wie die etruskischen oder
ligurischen Inschriften in den Augen der Inschriftenkenner:
Dokumente, die in einer Sprache geschrieben sind, die wir
nicht lesen können. Wie viele Beobachtungen, die durch frühere
Physiker gesammelt wurden, sind so für immer verloren ! Diese
Forscher haben es imterlassen, uns von den Methoden, die
ihnen zur Interpretation der Tatsachen dienten, Kenntnis zu
14*
212 Achtes Kapitel.
geben. Es ist uns unmöglich, ihre Interpretationen in unsere
Theorien zu übertragen, da sie ihre Ideen in Zeichen ausge-
drückt haben, ta denen uns der Schlüssel fehlt.
Diese Grundregeln werden vielleicht als naiv ersdieinen
und man wird in Erstaunen geraten, daß wir uns bei ihnen
aufhalten. Wenn jedoch diese Regeln banal sind, dann ist
es noch banaler, sie außer acht zu lassen. Wie viele wissen-
schaftliche Diskussionen gibt es aber, in denen jeder der beiden
Opponenten seinen Qegner durch das unwiderlegliche Zeugnis
der Tatsachen z!u vernichten meint. Man hält einander wider-
sprechende Beobachtungen entgegen. Der Widerspruch hegt
nicht in der Wirklichkeit, die immer im Einklang mit sich selbst
ist, sondern vielmehr in den Theorien, durch die die beiden
Qegner diese Wirklichkeit ausdrüdcen. Wie viel Sätze gibt
es in den Schriften unserer Vorfahren, die als ungeheuerlidie
Irrtümer betrachtet werden. Man würde sie vielleicht als große
Wahrheiten feiern, wenn man von den Theorien Kenntnis er-
langen könnte, die diesen Sätzen ihren wi^iren Sinn geben,
wenn man sich bemühte, sie in die Sprache der heute ver-
kündeten Theorien z!u übersetzen.
Nehmen wir an, wir hätten die Obereinstimmung zwischen
den Theorien, die ein Experimentator als zulässig betraditet
und denen, die wir für richtig halten, konstatiert. Es ist sehr
wohl möglidi, daß wir uns die Urteile, in denen er die Re-
sultate seiner Experimente ausspricht, ohne weiteres zu eigen
machen. Es ist dann nötig zu prüfen, ob er bei der Inter-
pretation der beobachteten Tatsachen genau die Regehi ange-
wendet hat, die durch die Theorien, die wir mit ihm gemein-
sam haben, vorgezeichnet sind. Manchmal werden wir kon-
statieren, daß der Experimentator nicht allen berechtigten An-
sprüchen genügt habe. Bei der Anwendung der Theorien kann
er einen Fehler in der Überlegung oder in der Redinimg
gemacht haben. In diesem Falle muß die Überlegung er-
neuert oder die Rechnung wieder ausgeführt werden^ Das
Resultat des Experimentes muß modifiziert, die erhaltene Zahl
durch eine andere ersetzt werden.
Das physikalische Experiment 213
Die Ausführung^ des Experimentes bestand in einer fort-
währenden Nebeneinanderstelhing zweier Apparate : des wirk-
lichen Apparates, mit dem der Beobachter manipulierte und
des idealen schematischen Apparates, der ihm in Gedanken
vorschwebte. Den Vergleich dieser beiden Apparate müssen
wir wieder aufnehmen, um beide genau kennen zu lernen.
Vom zweiten können wir eine entsprechende Kenntnis
haben, da er durch mathematische Symbole und Formeln
definiert ist. Beim ersten ist dies nicht in gleicher Weise der
Fall. Wir müssen uns einen möglichst genauen Begriff von
ihm machen nach der Beschreibung, die der Experimentator
aufgestellt hat. Ist diese Beschreibung zureichend? Liefert
sie uns alle Aufschlüsse, die uns nötig sein können? Wurden
der Zustand der studierten Körper, der Grad ihrer chemischen
Reinheit, die Lage, in der sie sich befanden, die störenden Ein-
flüsse, denen sie ausgesetzt sein konnten, die tausend Um«
stände, die auf das Resultat des Experimentes einzuwirken
vermochten, wurden sie alle mit einer Genauigkeit, die nichts
zu wünschen übrig läßt, bestimmt?
Wenn wir einmal alle diese Fragen beantwortet haben,
können wir prüfen, bis zu welchem Punkt der schematische
Apparat ein ähnliches Bild des konkreten Apparates gibt. Wir
können untersuchen, ob es nicht möglich gewesen wäre, diese
Ähnlichkeit durch Komplikation der Definition des idealen
Apparates noch mehr zu steigern. Wir können uns fragen, ob
man alle systematischen Fehlerquellen von irgend welcher Be-
deutung eliminiert, ob man alle wünschenswerten Korrektionen
ausgeführt habe.
Der Experimentator habe bei der Interpretation seiner
Beobachtungen Theorien angewendet, die wir auch akzeptie-
ren; er habe bei der Ausführung dieser Interpretation die
Regeln, die diese Theorien vorschreiben, korrekt angewendet;
er habe den Apparat, den er gebraucht, genau studiert und
beschrieben; er habe die systematischen Fehlerquellen elimi-
niert oder deren Einflüsse korrigiert; das ist noch nicht genug,
damit wir das Resultat seines Versuches akzeptieren können.
Die abstrakten und mathematischen Sätze, die die Theorien
214 Achtes Kapitel.
mit den beobachteten Tatsachen in Verbindung bringen, sind,
wie wir gesagt haben, nicht vollkommen bestimmt; denselben
Tatsachen können eine Unzahl verschiedener Sätze entsprechen,
denselben Maßgrößen eine Unzahl von Auswertungen, die durch
verschiedene Zahlen ausgedrückt werden. Der Orad der Un-
bestimmtheit des abstrakten mathematischen Satzes, durdi den
das Resultat eines Experimentes ausgedrückt wird, ist das,
was man die Fehlergrenze dieses Experimentes nennt. Wir
müssen die Fehlergrenze des Experimentes, das wir prüfen,
kennen. Wenn der Beobachter sie angegeben hat, müssen wir
das Verfahren, durch das er sie ausgewertet hat, kontrollleren ;
wenn er sie nicht angegeben hat, müssen wir sie auf Grund
eigener Diskussion bestimmen. Eine verwickelte und außer-
ordentlich heikle Operation! Die Bestimmung der Fehler-
grenze eines Experimentes erfordert in erster Linie die Fest-
stellung der Schärfe der Sinne des Beobachters. Die Astro-
nomen versuchen dieselbe in der mathematischen Form der
persönlichen Gleichung festzulegen. Aber diese Gleichung
hat recht wenig Anteil an der unabänderlichen Konstanz der
Geometrie, denn sie ist von einer Migräne oder einer schlech-
ten Verdauung abhängig. Diese Bestimmung erfordert in
zweiter Linie die Auswertung der systematischen Fehler,
die man nicht korrigieren konnte. Aber auch wenn man eine
möglichst vollständige Aufzählung dieser Fehlerquellen vor-
genommen hat, ist man sicher, ungleich mehr übersehen zu
haben, als man aufgezählt hat, denn die Verwickeltheit der
konkreten Realität ist so groß, daß wir sie nicht meistern
können. Diese systematischen Fehler faßt man alle unter dem
Namen zufällige Fehler zusammen. Die Unkenntnis der
Umstände, die sie bestimmen, macht es unmöglich, sie zu
korrigieren. Die Mathematiker haben den Spielraum, den ihnen
diese Unkenntnis läßt, benützt, um in Bezug auf diese Fehler
Hypothesen aufzustellen, die ihnen erlauben, mit Hilfe gewisser
mathematischer Operationen den Einfluß derselben abzu-
schwächen. Aber die Theorie der zufälligen Fehler ist nur
ebensoviel wert wie diese Hypothesen. Und was weiß man
über den Wert dieser Hypothesen, solange man nichts von
Das physikalische Experiment. 215
den Fehlem weiß, die sie behandeln, solange man über deren
Quellen in Unkenntnis ist?
Die Bestimmung der Fehlergrenze eines Experimentes ist
daher eine außerordentlich verwickelte Arbeit. Oft ist es schwer,
dabei eine vollständig logische Ordnung einzuhalten. Die Über-
legung muß dann oft jener seltenen und subtilen Eigenschaft,
j€ner Art von Instinkt oder Witterung* Platz machen, die experi-
menteller Sinn genannt wird — die viel eher ein Attribut des
Scharfsinns als des mathematischen Denkens ist.
Die einfache Darstellung der Regeln, die bei der Prüfung
eines physikalischen Experimentes bei seiner Anerkentiung'oder
Verwerfung zur Geltung kommen, geniigt, um folgende wesent-
liche Wahrheit deutlich zu machen : Das Rusultat eines physi-
kalischen Experimentes besitzt nicht eine Sicherheit gleicher
Ordnung wie eine nach nichtwissenschaftlichen Methoden von
einem an Körper und Geist gesunden Menschen durch ein-
faches Anschauen oder einfaches Antasten konstatierte Tat-
sache; diese Sicherheit, die weniger unmittelbar, die Diskus-
sionen unterworfen ist, von denen die gewöhnliche Aussage
unberührt bleibt, ist immer vom Vertrauen abhängig, das eine
glänze Gruppe von Theorien einflößt.
§ 5. — Das physikalische Experiment ist weniger sicher,
aber genauer und detaillierter, alsdienichtwissenschaft-
liche Konstatierung einer Tatsache
Der Laie glaubt, daß das Resultat eines wissenschaftlichen
Experimentes sich von der gewöhnlichen Art der Beobach-
tung durch einen höheren Grad der Sicherheit unterscheide.
Er täuscht sich, denn die Darstellung eines physikalischen
Experimentes hat nicht die Unmittelbare und leidit kontrollier-
bare Sicherheit einer gewöhnlichen, nichtwissenschaftlichen
Aussage. Weniger sicher als letztere übertrifft sie sie an Zahl
und Genauigkeit der Details, die sie uns kennen lehrt, und
darin besteht ihre wirkliche und wesentliche Überlegenheit.
Die gewöhnliche Aussage, die ims die Konstatierung einer
Tatsache nach den Verfahren des gewöhnlichen Verstandes,
216 Achtes Kapitel.
nicht aber nach den Methoden der Wissenschaft liefert, kann
nur unter der Bedingung sicher sein, daß sie nicht detailliert,
daß sie nicht genau ist, sondern die Tatsache nur im Groben,
nur nach dem, was an ihr am auffallendsten ist, betrachtet
In dieser Straße der Stadt habe ich zu dieser Stunde ein weißes
Pferd gesehen; dies kann ich mit Sicherheit behaupten; viel-
leicht kann ich dieser allgemeinen Behauptung noch irgend
eine Einzelheit, die meine Aufmerksamkeit erregt hat, mit Aus-
schluß anderer Oetaik hinzufügen: Etwas Ungewöhnliches in
der Haltung des Pferdes, ein grell gefärbter Teil seines Ge-
schirres. Aber fragen Sie mich nicht weiter; meine Erinne-
rungen werden sich verwirren, meine Antworten werden un-
bestimmt werden; bald werde ich gezwungen sein, Ihnen zu
sagen: Ich weiß es nicht. Ausnahmen vorbehalten ist die ge-
wöhnliche Aussage um so verläßlicher, je weniger präzise sie
ist, je weniger sie analysiert, je mehr sie sich an die gröbsten
und hervorstechendsten Beobachtungen hält.
Ganz anders ist der Bericht über ein physikalisches Ex-
periment. Er begnügt sich nicht, uns eine Erscheinung im
Groben kennen zu lehren, er will sie analysieren, er will uns
über das geringste Detail, über das speziellste Merkmal unter-
richten, indem er genau die Stellung und relative Bedeutung
jedes Details, jedes Merkmals kennzeichnet. Er will uns diese
Aufschlüsse in solcher Art geben, daß wenn es uns nützlich
erscheint, wir diese Erscheinung, über die er uns berichtet,
oder wenigstens eine theoretisch äquivalente Erscheinung wie-
der herstellen können. Die Verwirklichung dieser Absicht
würde über das Vermögen der wissenschaftlichen Experimen-
tierkunst hinausgehen, ebenso wie sie die Kräfte der gewöhn-
lichen Beobachtung übersteigt, wenn die eine nicht über
bessere Waffen verfügte als die andere. Die Zahl und Ge-
nauigkeit der Details, die jede Erscheinung zusammensetzen
oder begleiten, würde die Vorstellungskraft in Verwirrung
bringen, würde das Gedächtnis überlasten und in nichts der
einfachen Beschreibung nachstehen, wenn der Physiker nicht
in seinem Dienste ein wunderbares Mittel der Klassifikation
und Darstellung, ein symbolisches, erstaunlich klares und kon-
Das physikalische Experiment 217
zises Bild hätte, nämlich die mathematische Theorie, wenn er
nicht zur Kennzeichnung des relativen Einflusses jeder Einzel-
heit über ein genaues und schnelles Bestimmungsverfahren ver-
fügte, das ihm in der numerischen Auswertung, dem Maß
gegeben ist Wenn jemand auf Grund einer Wette es unter-
nehmen wollte, ein Experiment der heutigen Physik unter
AussdiluB aller theoretischen Ausdrücke zu beschreiben, wenn
er zum Beispiel versuchen würde, die Experimente von Reg-
nault über die Kompressibilität der Gase darzulegen und dabei
aus seinem Bericht alle abstrakten und syml>olischen Aus-
drücke, die durch die physikalischen Theorien eingeführt sind,
die Worte: Druck, Temperatur, Dichte, Schwerkraft, optische
Achse eines Femrohrs etc. zu entfernen, würde er sehen, daß
die Darstellung der Experimente allein einen ganzen Band aus-
füllen würde, der die verwirrteste, unlesbarste, unverständ-
lichste Erzählung enthielte, die man sich vorstellen kann.
Wenn daher die theoretische Interpretation den Resultaten
des physikalischen Experimentes die unmittelbare Sicherheit
nimmt, die das durch die gewöhnliche Beobachtung Gegebene
besitzt, so ermöglicht sie zum Ersatz dafür dem wissenschaft-
lichen Experimente viel weiter als dem gewöhnlichen Verstand
in der detaillierten Analyse der Erscheinungen vorzudringen,
von ihnen eine Beschreibung zu geben, deren Genauigkeit er-
heblich die der gewöhnlichen Sprache übersteigt.
Neuntes Kapitel.
Das physikalische Gesetz.
§ 1. — Die physikalischen Gesetze sind symbolische
Beziehungen.
In derselben Art, wie die Gesetze des gewöhnlichen Ver-
standes auf der Beobachtung der Tatsachen durch die natür-
lichen Hilfsmittel des Menschen gegründet sind, beruhen die
Gesetze der Physik auf den Resultaten der physikalischen Ex-
perimente. Es ist ohne weiteres klar, daß die tiefen Differenzen,
die zwischen der nichtwissenschaftlichen Konstatierung einer
218 Neuntes Kapitel.
Tatsache und dem Resultat eines physikalischen Experimentes
bestehen, in gleicher Weise den Unterschied zwischen den Ge-
setzen des gewöhnlichen Verstandes und den Gesetzen der Phy-
sik bilden werden. Auch wird beinahe alles, was wir von den
physikalischen Experimenten ausgesagt haben, auf die Gesetze,
die diese Wissenschaft ausspricht, ausgedehnt werden können
Nehmen wir eines der einfachsten und sichersten Gesetze
des gewöhnlichen Verstandes: Jeder Mensch ist sterblich. Dieses
Gesetz verbindet sicherlich abstrakte Ausdrücke untereinander,
den abstrakten Begriff des Menschen im allgemeinen und nicht
den konkreten Begriff dieses oder jenes Menschen im be-
sonderen; den abstrakten Begriff des Todes und nicht den
konkreten Begriff dieser oder jener Form des Todes. In der
Tat kann es nur unter der Bedingung, daß es abstrakte Aus-
drucke verbindet, allgemein sein. Aber diese Abstraktionen sind
keineswegs theoretische Symbole. Sie drücken einfach aus, was
allen besonderen Fällen, auf die das Gesetz angewendet wird,
gemeinsam ist. Auch finden wir in jedem dieser einzelnen
Fälle, auf die wir das Gesetz anwenden, konkrete Objekte, in
denen diese abstrakten Begriffe realisiert sind. Jedesmal, wenn
wir konstatieren, daß jeder Mensch sterblich ist, befinden wir
uns einem bestimmten, besonderen Menschen g^enüber, der
den allgemeinen Begriff des Menschen verkörpert, einem be-
stimmten besonderen Tod, der den allgemeinen Begriff des
Todes in sich enthält.
Nehmen wir noch ein anderes Gesetz, das von Herrn
G. Milhaud^) als Beispiel zitiert wurde, als er jene Ideen ent-
wickelte, die wir ein wenig früher geäußert hatten. Es ist dies
ein Gesetz, dessen Gegenstand in das Gebiet der Physik ge-
hört. Aber es behält die Form, die die Gesetze der Physik
hatten, als dieser Wissenszweig noch in den Bereich des ge-
wöhnlichen Verstandes gehörte und noch nicht die Würde
einer verstandesmäßigen Wissenschaft eriangt hatte.
^) Q. Milhaud: La Science rationelle (Revue de M6taphysique
et de Morale, 4e ann£e, 1896, p. 280). — Wiederabgedruckt in Le Rationnel,
Paris 1898, p. 44.
Das physikalische Gesetz. 219
Das Gesetz ist folgendes: Bevor man den Donner hört,
sieht man den Blitz leuchten. Die Begriffe Donner und Blitz,
die dieser Ausdruck verbindet, sind wohl abstrakte und all-
gemeine Begriffe, aber diese Abstraktionen sind so instinktiv,
so natOriich aus der speziellen Erfahrung abgeleitet, daß wir
aus der blendenden Helle und dem Rollen, das wir bei jedem
Blitzschlag wahrnehmen, sofort die konkrete Form unserer Be-
griffe Blitz und Donner erkennen.
Bei den Gesetzen der Physik ist dies nicht mehr der Fall.
Nehmen wir eines dieser Gesetze, das von Mariotte, und prüfen
wir was es ausdrückt, ohne uns für den Augenblick um
seine Genauigkeit zu kümmern. Bei konstanter Temperatur sind
die von derselben Oasmasse eingenommenen Volumina um-
gekehrt proportional den Drucken, unter denen sie steht. Dies
ist der Ausdruck des Mariotte'schen Gesetzes. Die Bezeich-
nungen, die in ihm auftreten, die Begriffe der Masse, der Tem-
peratur und des Druckes sind noch abstrakte Begriffe. Aber
diese Begriffe sind nicht nur abstrakt, sondern überdies sym-
bolisch, und die Symbole, die sie bilden, erhalten nur dank der
physikalischen Theorien einen Sinn. Stellen wir uns einen
realen, konkreten Fall vor, auf den wir das Gesetz von Mariotte
anwenden wollen. Wir haben es dann nicht mehr mit einer
konkreten, bestimmten Temperatur, die den allgemeinen Begriff
der Temperatur verwirklicht, sondern mit mehr oder minder
warmem Gas zu tun; wir haben nicht mehr vor uns einen be-
sonderen bestimmten Druck, der den allgemeinen Begriff des
Druckes realisiert, sondern eine bestimmte Pumpe, auf die man
in bestimmter Art gedrückt hat Sicheriich entspricht diesem
mehr oder minder warmen Gas eine bestimmte Temperatur,
diesem auf die Pumpe ausgeübten Kraftaufwand ein bestimmter
Druck. Aber diese Beziehung ist die einer bezeichneten Sache
zu dem Zeichen, das es ersetzt, einer Realität zu dem Symbol,
das es versinnbildlicht. Diese Beziehung ist keineswegs un-
mittelbar. Sie wird mit Hilfe von Instrumenten durch das oft
recht lange und recht komplizierte Mittel von Maßen hergestellt.
Um diesem mehr oder minder warmen Gas eine bestimmte
Temperatur zuzuschreiben, muß man zum Thermometer greifen.
220 Neuntes Kapitel.
Um in der Form des Druckes die an der Pumpe aufgewendete
Arbeit auszuwerten, müssen wir uns des Manometers bedienen.
Der Gebrauch des Thermometers, wie der des Manometers
setzen aber, wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, den
Gebraudi physikalischer Theorien voraus.
Da die abstrakten Ausdrücke, von denen ein Gesetz des
gewöhnlichen Verstandes handelt, nichts anderes als das all-
gemeine der konkreten Objekte, wie sie unsere Sinne kennen,
sind, vollzieht sich der Obergang vom Konkreten zum Abstrakten
durch eine Operation, die so notwendig, so spontan ist, daß
sie unbewußt bleibt. Befinde ich mich einem bestimmten
Menschen, einem bestimmten Fall des Todes g^;enüber, so
beziehe ich sie unmittelbar auf den allgemeinen B^jiff des
Menschen, auf den allgemeinen B^ff des Todes. Diese in-
stinktive unwillküriiche Operation liefert uns nicht analysierte
allgemeine Begriffe, Abstraktionen, die sozusagen en bloc ge-
nommen werden. Ohne Zweifel kann ein Denker jene allge-
meinen und abstrakten Begriffe analysieren, er kann sich fragen,
was ist der Mensch, was ist der Tod, er kann in den tiefen
und ganzen Sinn dieser Worte einzudringen versuchen. Diese
Arbeit wird ihn dazu führen, die Berechtigung des Gesetzes
besser zu erfassen, aber diese Arbeit ist nicht nötig, um das
Gesetz zu verstehen. Für sein Verständnis genügt es, die
Ausdrücke, die es verbindet, in ihrem gewöhnlichen Sinn zu
nehmen, so daß dieses Gesetz für alle, ob sie nun Philosophen
seien oder nicht, klar ist
Die symbolischen Ausdrücke, die ein physikalisches Gesetz
verbindet, sind nicht derartige Abstraktionen, die spontan aus
der konkreten Realität hervorgehen; sie sind Abstraktionen, die
aus einer langen, komplizierten, bewußten hundertjährigen Arbeit,
die die physikalischen Theorien schuf, hervorgingen. Es ist un-
möglich das Gesetz zu verstehen, unmöglich es anzuwenden,
wenn man diese Arbeit nicht geleistet, wenn man die physi-
kalischen Theorien nicht kennt.
Je nachdem, ob man eine Theorie annimmt oder nicht,
ändern dieselben Worte, die in dem Ausdruck eines physikali-
schen Gesetzes stehen, ihren Sinn, so daß es von einem
Das physikalische Gesetz. 221
Physiker, der eine gewisse Theorie für zulässig hält, ange-
nommen, von einem anderen Physiker, der Anhänger einer
anderen Theorie ist, verworfen werden kann.
Nehmen wir einen Bauern, der weder den Begriff Mensch
noch den Begriff Tod jemals analysiert, und einen Metaphy-
siker, der sich sein Leben lang mit dieser Analyse beschäftigt
hat, oder nehmen wir zwei Philosophen, die bei der Analyse
dieser Begriffe verschiedene, unvereinbare Definitionen er-
hielten, für sie alle ist das Gesetz: Jeder Mensch ist steri)lich
gleich klar und gleich wahr. Ebenso besitzt das Gesetz: Be-
vor man den Donner hört, sieht man den Blitz leuchten, für
den Physiker, der die Gesetze der Funkenentladungen in ihrer
ganzen Tiefe kennt, dieselbe Klarheit und dieselbe Sicherheit
wie für einen Mann aus der römischen Plebs, der in dem
Blitzschlag ein Zeichen des Zornes des Jupiter Capitolinus sah.
Betrachten wir im Gegensatz dazu folgendes physikalisches
Gesetz: Alle Gase komprimieren und dilatieren sich in der-
selben Weise, und fragen wir verschiedene Physiker, ob der
Joddampf diesem Gesetz folge oder nicht. Ein Physiker ver-
tritt Theorien, nach denen der Joddampf ein einfaches Gas
ist. Er leitet also aus vorstehendem Gesetze folgende Konse-
quenz ab: Die Dichte des Joddampfes bezogen auf Luft ist
eine konstante. Das Experiment zeigt nun, daß die Dichte
des Joddampfes bezogen auf Luft von der Temperatur und
dem Dmck abhängig ist. Unser Physiker schließt daher, daß
der Joddampf dem angegebenen Gesetze nicht entspreche. Nach
der Meinung eines anderen Physikers ist der Joddampf kein
einfaches Gas, sondern eine Mischung zweier Gase, von denen
das eine ein Polymeres des anderen ist und die sich ineinander
umwandeln können. Demzufolge erfordert das ausgesprochene
Gesetz nicht mehr, daß die Dichte des Joddampfes bezogen
auf Luft konstant sei, sondern daß sie mit der Temperatur
und dem Drude gemäß einer gewissen Formel, die J. Willard-
Gibbs aufgestellt hat, variiere. Diese Formel stellt tatsäch-
lich die Resultate der experimentellen Bestimmungen dar.
Unser zweiter Physiker schließt daraus, daß der Joddampf keine
Ausnahme von der Regel bilde, nach der sich alle Gase in
222 Neuntes Kapitel.
gleicher Weise komprimieren und dilatieren. So haben unsere
beiden Physiker vollständig verschiedene Meinungen betreffe
eines Gesetzes, das sie beide in der gleidien Form aussprechen.
Der eine findet, daß dieses Gesetz durch eine gewisse Tat-
sache außer Kraft gesetzt, der andere, daß es durch die gleiche
Tatsache bestätigt werde. Das rührt daher, daß die verschie-
denen Theorien, auf die sie sich berufen, nicht in derselben
Weise den Sinn der Worte: einfaches Gas festsetzen. So
geschieht es, daß indem sie beide dieselben Worte aus-
sprechen, sie zwei verschiedene Lehrsätze meinen. Um diesen
Ausdruck mit der Wirklichkeit zu vergleichen, führen sie Rech-
nungen aus, die so verschieden sind, daß der eine finden kann,
das Gesetz werde durch die Tatsachen bestätigt, während es
für den anderen durch dieselben widerlegt wird. Daraus geht
deutlich folgende Wahrheit hervor: Ein physikalisches Ge-
setz ist eine symbolische Beziehung, deren Anwendung
auf die konkrete Wirklichkeit erfordert, daß man eine
ganze Gruppe von Theorien kenne und akzeptiere.
§ 2. — Ein physikalisches Gesetz ist genau gesprochen,
weder richtig noch falsch, sondern angenähert
Ein Gesetz des gewöhnlichen Verstandes ist ein einfaches
allgemeines Urteil, das richtig oder falsch ist. Nehmen wir
zum Beispiel folgendes Gesetz, das durch die gewöhnliche
Beobachtung festgestellt wird: In Paris geht die Sonne jeden
Tag im Osten auf, steigt am Himmel empor, senkt sich wieder
und geht im Westen unter. Hier haben wir ein richtiges Gesetz,
das ohne Bedingung, ohne Einschränkung gilt. Nehmen wir im
Gegensatz dazu folgende Aussage: Der Mond ist stets voll
Hier haben wir ein falsches Gesetz. Wenn die Richtigkeit
eines Gesetzes des gewöhnlichen Verstandes in Frage gezogen
wird, kann man mit ja oder nein antworten.
Das gilt nicht mehr für die Gesetze, die die physikalische
Wissenschaft in ihrer vollen Entfaltung in der Form mathe-
matischer Lehrsätze ausspricht. Ein derartiges Gesetz ist
immer symbolisch. Ein Symbol ist nun genau gesprochen
Das physikalische Gesetz. 223
weder richtig noch falsch. Es ist mehr oder weniger gut ge-
wählt, um die Wirklichkeit, die es darstellt, zu bezeichnen, es
stellt sie in einer mehr oder minder genauen, in einer mehr
oder minder detaillierten Art dar. Aber in ihrer Anwendung
auf ein Symbol verlieren die Worte Wahrheit und Irrtum allen
Sinn. So wird auch der Logiker, der auf den strengen Sinn
der Worte achtet, auf die Frage, ob ein bestimmtes Gesetz
der Physik richtig oder falsch sei, antworten müssen: Ich
begreife Ihre Frage nicht. Kommentieren wir diese Antwort,
die paradox zu sein scheint, aber die der verstehen muß, der
wissen will, was die Physik bedeutet.
Einer gegebenen Tatsache läßt die experimentelle Methode,
wie sie in der Physik gehandhabt wird, nicht nur ein einziges
s3rmbolisches Urteil, sondern eine Unzahl symbolischer Ur-
teile entsprechen. Der Grad der Unbestimmtheit des Sym-
boles ist die Fehlergrenze des in Frage stehenden Experimentes.
Nehmen wir eine Reihe analoger Tatsachen. Fär den Physiker
bedeutet die Auffindung des Gesetzes dieser Tatsachen die
Auffindung einer Formel, die die symbolische Darstellung einer
jeden dieser Tatsachen enthält. EMe Unbestimmtheit des Sym-
boles, die jeder Tatsache entspricht, bringt daher die Unbe-
stimmtheit der Formel, die alle diese Symbole umfassen soll,
mit sich. Der gleichen Gruppe von Talsachen kann man eine
Unzahl verschiedener Formeln, eine Unzahl verschiedener
physikalischer Gesetze entsprechen lassen. Jedes dieser Ge-
setze muß, um akzeptiert zu werden, einer jeden Tatsache
nicht das Symbol, sondern irgend eines der Symbole aus der
unendlichen Zahl, die diese Tatsache darstellen können, ent-
sprechen lassen. Das meint man, wenn man erklärt, daß die
Gesetze der Physik nur angenähert gelten.
Stellen wir uns zum Beispiel vor, daß wir uns nicht mit
den Lehren, die Uns jenes Gesetz des gewöhnlichen Verstandes :
In Paris geht die Sonne jeden Tag im Osten auf, steigt
am Himmel empor, senkt sich wieder und geht im Westen
unter, liefert, zufrieden geben können. Wir wenden uns an
die physikalischen Wissenschaften, um ein genaueres Gesetz
der in Paris gesehenen Sonnenbewegung zu erhalten, ein Ge-
224 Neuntes Kapitel.
setz, das dem Pariser Beobachter angibt, welche Lage die
Sonne in jedem Augenblick am Himmel einnimmt. Die phy-
sikalischen Wissenschaften machen bei der Lösung dieses Pro-
blems nicht von wahrnehmbaren Realitäten Gebrauch, von
der Sonne, wie wir sie am Himmel glänzen sehen, sondern von
Symbolen, durch die die Theorien diese Realitäten darstellen.
Sie ersetzen die wirkliche Sonne, trotz der Unregelmäßigkeiten
ihrer Oberfläche, trotz der riesigen Protuberanzen durch eine
vollkommene geometrische Kugel. Es ist die Lage des Zen-
trums dieser idealen Kugel, die sie zu bestimmen versuchen.
Oder vielmehr suchen sie die Lage zu bestimmen, die dieser
Punkt einnehmen würde, wenn die astronomisdie Refraktion
nicht die Sonnenstrahlen ablenken, wenn die jährliche Aber-
ration nicht die scheinbare Lage der Gestirne ändern würde.
Es ist daher wohl ein Symbol, durch das sie die einfache,
sinnliche Realität, die von uns konstatiert wird, die glänzende
Scheibe, auf die unser Femrohr visiert, ersetzen. Um das
Symbol mit der Realität in Verbindung zu bringen, muß man
verwickelte Messungen ausführen, muß man den Sonnenrand
mit dem Faden in einem Mikrometer zur Koinzidenz bringen,
muß man viele Ablesungen an geteilten Kreisen vornehmen,
die wieder verschiedenen Korrektionen unterworfen werden
müssen. Man muß auch lange und verwickelte Rechnungen
ausführen, deren Berechtigung aus den als zulässig erkannten
Theorien, aus der Theorie der Aberration, aus der Theorie
der sphärischen Refraktion folgt.
EMeser Punkt, der symbolisch als Sonnenzentrum be-
zeichnet wird, ist noch nicht das, was unseren Formulierungen
zugänglich ist. Was ihnen zugänglich ist, sind die Koordi-
naten dieses Punktes, seine Länge und seine Breite. Der Sinn
dieser Koordinaten kann nur verstanden werden, wenn man die
Gesetze der Kosmographie kennt. Ihre Größen bezeidmen
am Himmel einen Punkt, auf den man mit dem Finger weisen,
auf den man mit dem Femrohr visieren kann, nur auf Grund
einer ganzen Gruppe von vorher vorgenommenen Bestimmun-
gen: [>er Bestimmung des Meridians des Ortes, seiner geo-
graphischen Koordinaten etc.
Das physikalische Gesetz. 225
Kann man nun einer bestimmten Lage der Sonnenscheibe
nur einen einzigen Wert der Länge und nur einen einzigen
Wert der Breite des Sonnenzentrums entsprechen lassen, wo-
bei vorausgesetzt ist, daß die Korrektionen der Aberration und
Refraktion ausgeführt seien? Keineswegs. Die optische Lei-
stungsfähigkeit des Instrumentes, das uns zum Visieren der
Sonne dient, ist begrenzt. Die Empfindlichkeit der verschiede-
nen Operationen, der verschiedenen Ablesungen, die unser Ex-
periment erfordert, ist begrenzt. Ob die Sonnenscheibe in
dieser oder jener Lage sei, können wir, wenn der Abstand
genügend klein ist, nicht wahrnehmen. Nehmen wir an, daß
wir die Koordinaten eines bestimmten Punktes der Himmels-
kugel nur mit einer Genauigkeit von V bestimmen können.
Es wird uns dann genfigen, um die Lage der Sonne in einem ge-
gebenen Augenblick zu bestimmen, die Länge und Breite des
Sonnenzentrums auf 1' genau zu kennen. Wir können daher,
um den Gang der Sonne darzustellen, obwohl das Gestirn in
jedem Augenblick nur eine einzige Lage einnimmt, ihrer Länge
und Breite in jedem Augenblick nicht nur einen einzigen, son-
dern eine Unzahl von Werten zuschreiben. Es dürfen nur
zwei für den gleichen Augenblick zulässige Werte der Länge
und ebenso zwei der Breite um nicht mehr als V differieren.
Suchen wir nun das Bewegungsgesetz der Sonne zu finden,
d. h. zwei Formeln, die uns ermöglichen, in jedem Augenblick
den Wert der Länge und den der Breite des Sonnenzentrums
zu berechnen. Ist es nicht klar, daß wir, um die Änderung der
Länge als Funktion der Zeit darzustellen, nicht nur eine ein-
zige Formel, sondern eine Unzahl verschiedener Formeln an-
wenden können, vorausgesetzt, daß diese Formeln uns zu Wer-
ten der Länge führen, die um weniger als V differieren? Ist
es nicht klar, daß derselbe Fall bei der Breite eintreten wird ?
Wir können daher unsere Beobachtimgen der Sonnenbewegung
gleichgut durch eine Unzahl verschiedener Gesetze darstellen.
Diese verschiedenen Gesetze werden durch Gleichungen aus-
gedrückt, die die Algebra als unvereinbar ansieht. Wenn eine
dieser Gleichungen durch sie verifiziert wird, kann keine an-
dere es werden. Sie werden auf der Himmelskugel durch
Dshera, PhyiOuüisdie Theorie. 15
226 Neuntes Kapitel.
verschiedene Kurven ausgedrückt werden und es wäre absurd
zu sagen, daß derselbe* Punkt in der gleichen Zeit zwei dieser
Kurven beschreibe. Für den Physiker sind indessen alle diese
Gesetze gleichermaßen akzeptabel, denn sie bestimmen alle
die Lage des Gestirnes mit einer Annäherung, die die der Be-
obachtung übersteigt. Der Physiker hat nicht das Recht zu
sagen, daß eines dieser Gesetze unter Ausschluß der anderen
richtig sei.
Ohne Zweifel hat der Physiker das Recht, unter diesen
Gesetzen zu wählen, und im allgemeinen wird er dies auch
tun. Aber die Motive, die ihn bei seiner Wahl leiten, sind nicht
von derselben Art, drängen sich ihm nicht mit derselben ge-
bieterischen Notwendigkeit auf, wie die, die ihn zwingen, die
Wahrheit dem Irrtum vorzuziehen. Er wird eine gewisse
Formel wählen, weil sie einfacher als die anderen ist Die
Schwäche unseres Geistes zwingt uns, Betrachtungen dieser
Art eine große Wichtigkeit beizulegen. Es gab eine Zeit, wo
die Physiker annahmen, daß der Verstand des Schöpfers unter
derselben Schwäche leide, in der die Einfachheit der Natur*
gesetze als ein unbezweifelbares Dogma galt, in dessen Namen
man jedes Gesetz, das durch eine zu verwickelte algebraische
Gleichung ausgedrückt war, verwarf, in der im Gegenteil die
Einfachheit einem Gesetze eine Sicherheit und Tragweite gab,
die über die experimentelle Methode, die es geliefert, hinaus-
gingen. Das drückte auch Laplace gelegentlich der Behandlung
des von Huygens entdeckten Gesetzes der Doppelbrechung
aus^): „Bis jetzt war dieses Gesetz nur ein Beobachtungs-
resultat, das der Wahrheit innerhalb der Fehlergrenzen, denen
die genauesten Resultate unterworfen sind, nahekam. Jetzt
läßt die Einfachheit des Wirkungsgesetzes, von dem es ab-
hängt, es als strenges Gesetz erscheinen." Diese Zeit ist vor-
über. Wir lassen uns durch den Reiz, den die einfachen
Formeln auf uns ausüben, nicht verführen. Wir betrachten
diesen Reiz nicht mehr als die Äußerung einer größeren
Sicherheit.
^) Laplace: Exposition du Systeme du monde, I. IV, c XVIII:
„De Tattraction mol^culaire."
Das physikalische Gesetz. 227
Der Physiker wird vor allem ein Gesetz dann einem an-
deren vorziehen, wenn es sich aus den Theorien, die er für
zulässig hält, ergibt. Er wird zum Beispiel von der Theorie
der universellen Anziehimg verlangen, daß sie ihm angebe,
welche Formeln er unter allen, die die Bewegung der Sonne
darstellen könnten, vorziehen soll. Aber die physikalischen
Theorien sind nur ein Mittel, die angenäherten Gesetze, denen
die Experimente unterworfen sind, zu klassifizieren und mit-
einander zu vereinigen. Die Theorien können daher nicht
die Natur dieser experimentellen Gesetze modifizieren und
ihnen absolute Wahrheit verschaffen.
So ist jedes physikalische Gesetz ein angenähertes Gesetz.
E>emzufolge kann es für den strengen Logiker weder richtig
noch falsch sein. Jedes andere Gesetz, das dieselben Experi-
mente mit derselben Genauigkeit darstellt, hat ebenso berech-
tigten Anspruch wie das erste als richtiges Gesetz, oder um es
noch schärfer auszudrücken, als zulässiges Gesetz zu gelten.
§ 3. — Jedes physikalische Gesetz ist provisorisch und
relativ, weil es angenähert ist
Das Charakteristikum eines Gesetzes besteht darin, daß
es fest und absolut ist. Ein Lehrsatz ist nur deshalb ein Ge-
setz, weil er, wenn er heute richtig ist, es auch morgen sein
wird, weil er, wenn er für einen richtig ist, es auch für andere
ist. Würden wir nicht in einen Widerspruch geraten, wenn wir
sagen, ein Gesetz sei provisorisch, es kann von dem einen an-
genommen, von dem anderen aber verworfen werden? Sicher-
Hch ja, wenn man unter Gesetzen solche versteht, wie sie uns
der gewöhnliche Verstand angibt, solche, von denen man im
wahren Sinne des Wortes sagen kann, daß sie richtig sind;
ein solches Gesetz kann nicht heute richtig und morgen falsch
sein, es kann nicht richtig für dich und falsch für mich sein.
Dagegen nein, wenn man unter Gesetzen diejenigen versteht,
die die Physik in mathematischer Form ausdrückt. Ein der-
artiges Gesetz ist immer provisorisch. Das will nicht sagen,
daß ein physikalisches Gesetz während einer gewissen
15*
228 Neuntes Kapitel.
Zeit richtig und darauf falsch wird, denn es ist in jedem
Augenblick weder richtig noch falsch. Es ist provisorisch,
weil es die Tatsachen, auf die es angewendet wird, mit einer
Annäherung darstellt, die den Physikern heute hinreichend
erscheint, die ihnen aber eines Tages nicht mehr genügen wird.
Ein derartiges Gesetz ist immer relativ, nicht weil es für einen
Physiker richtig, für einen anderen falsch ist, sondern weil
die Annäherung, die es besitzt, für den Gebrauch, den der eine
Physiker von ihm machen will, ausreicht, nicht aber für den,
den der andere im Auge hat
Der Grad der Annäherung eines Experimentes ist, wie
wir bemerkt haben, nichts festes. Er wächst in dem Maße,
wie die Instrumente vollkommener werden, wie die Fehler-
quellen eliminiert, oder durch genauere Korrektionen besser
auswertbar werden. In dem Maße, wie die experimentellen
Methoden fortschreiten, nimmt die Unbestimmtheit des ab-
strakten Symboles, das das physikalische Experiment mit der
konkreten Tatsache in Beziehung bringt, ab. Viele symbo-
lische Urteile, die in einer Epoche als gute Darstellungen
einer bestimmten konkreten Tatsache angesehen wurden, wer-
den in einer anderen Epoche nicht mehr für eine hinreichend
genaue Kennzeichnimg dieser Tatsache gehalten. Zum Bei-
spiel werden die Astronomen eines gewissen Jahrhunderts
für die Feststellung der Lage des Sonnenzentrums in einem
gegebenen Augenblick alle Werte der Länge, die nicht um
mehr als 1 ' differieren, und ebenso alle Werte der Breite, die
sich in den gleichen Grenzen halten, akzeptieren. Die Astro-
nomen des folgenden Jahrhunderts werden Teleskope, deren
optisches Leistungsvermögen viel größer, Kreise, deren Teilung
viel vollkommener, Beobaditungsmethoden, die viel genauer
und präziser sind, besitzen. Sie werden dann verlangen, daß
die verschiedenen Bestimmungen der Länge des Sonnenzen-
trums in einem gegebenen Augenblick ebenso wie die ver-
schiedenen Bestimmungen der Breite desselben Punktes im
gleichen Augenblick sich auf 10" nähern. Eine Unzahl von
Bestimmungen, mit denen sich ihre Vorgänger begnügt hätten,
werden von ihnen verworfen werden.
Das physikalische Gesetz. 22Q
Im Maße, wie die Unbestimmtheit der Resultate des Ex-
perimentes kleiner wird, wird auch die Unbestimmtheit der
Formeln, die dazu dienen, diese Resultate zu kondensieren,
eingeschränkt. Ein Jahrhundert akzeptierte als Bewegimgs-
gesetz der Sonne jede Gruppe von Formeln, die in jedem
Augenblick die Koordinaten des Zentrums dieses Gestirnes
auf eine Minute genau angab. Das folgende Jahrhundert legt
jedem Bewegungsgesetz der Sonne die Bedingung auf, die
Koordinaten des Sonnenzentrums bis auf 10'^ anzugeben. Eine
Unzahl von Gesetzen, die in dem ersteren Jahrhundert erhalten
wurden, werden im letzteren verworfen werden.
Dieser provisorische Charakter der Gesetze der Physik
zeigt sidi jeden Augenblick, wenn man die Geschichte dieser
Wissenschaft verfolgt. Für Dulong und Arago, sowie für ihre
Zeitgenossen war das Mariottesche Gesetz eine zulässige Form
des Gesetzes der Kompressibilität der Gase, weil es die Tat-
sachen des Experimentes mit Abweichungen darstellte, die
kleiner blieben, als die möglichen Fehler der Beobachtungs-
methoden, über die sie verfügten. Als Regnault die Apparate
und experimentellen Methoden verbessert hatte, mußte das
Mariottesche Gesetz verworfen werden. Die Abweichungen,
die seine Angaben der Versuchsresultate aufwiesen, waren viel
größer, als die Unsicherheiten, mit denen die neuen Apparate
behaftet blieben.
Von zwei zu gleicher Zeit lebenden Physikern kann der
eine solche Bedingungen vorfinden, wie sie Regnault hatte,
während der andere sich noch vor Bedingungen sieht, wie sie
Dulong und Arago besaßen. Der erste besitzt sehr genaue
Apparate und will sehr exakte Beobachtungen ausführen,
während der zweite nur grobe Instrumente besitzt, die Unter-
suchungen aber, die er ausführen will, auch keine große An-
näherung erfordern. Dieser wird das Gesetz von Mariotte
annehmen, jener wird es verwerfen.
Ja noch mehr. Man kann sehen, wie dasselbe physi-
kalische Gesetz abwechselnd vom selben Physiker im Ver-
lauf derselben Arbeit angenommen und verworfen wird. Wenn
ein physikalisches Gesetz als richtig oder falsch bezeichnet
230 Neuntes Kapitel.
werden könnte, wäre dies ein befremdender Trugschluß. I>er
gleiche Satz wäre zur gleichen Zeit anerkannt und verworfen,
was das Kennzeichen des formellen Widerspruches bildet
Regnault arbeitet zum Beispiel an Untersuchungen über
die Kompressibilität der Gase, die die Substituierung des
Mariotteschen Gesetzes durch eine Formel von größerer An-
näherung zum Ziel haben. Im Verlaufe seiner Versuche muß
er den Atmosphärendruck in der Höhe der freien Oberfläche
des Quecksilbers seines Manometers kennen. Diesen Druck
will er aus der Formel von Laplace bestimmen. Die Aufstellung-
dieser Formel von Laplace beruht aber auf der Anwendung^
des Mariotteschen Gesetzes. Es tritt aber dennoch dabei keiner-
lei Trugschluß, keinerlei Widerspruch auf. Regnault weiß, daß
der Fehler, der durch diesen speziellen Gebrauch des Mariotte-
schen Gesetzes eingeführt wird, viel geringer ist, als die Un-
sicherheiten der experimentellen Methode, von der er Ge-
brauch macht.
Da jedes physikalische Gesetz nur angenähert ist, ist es
vom Fortschritt abhängig, der durch die Erhöhung der Ge-
nauigkeit der Experimente den Grad der Annäherung, den
dieses Gesetz hat, unzureichend macht. Es ist seinem Wesen
nach provisorisch. Die Bestimmung seines Wertes ändert sich
von einem Physiker zum anderen im Maße der Beobachtungs-
mittel, über die sie verfügen, und der Genauigkeit, die sie von
ihren Untersuchungen fordern. Es ist seinem Wesen nach
relativ.
§ 4. — Jedes physikalische Gesetz ist provisorisch,
weil es symbolisch ist
Ein physikalisches Gesetz ist provisorisch, nicht nur weil
es angenähert, sondern auch weil es symbolisch ist Es treten
immer Fälle ein, in denen die Symbole, auf denen es ruht, nicht
mehr geeignet sind, die Realität in befriedigender Weise dar-
zustellen.
Um ein gewisses Gas, zum Beispiel den Sauerstoff, zu
studieren, hat der Physiker eine schematische Darstellung, die
Das physikalische Gesetz. 231
der mathematischen Überlegung und der algebraischen Rech*
nung zugänglich ist, geschaffen. Er hat dieses Gas als eines
der vollkommenen Fluida, die die Mechanik studiert, aufge-
faßt, das eine gewisse Dichte hat, eine gewisse Temperatur
besitzt und einem gewissen Druck unterworfen ist Zwischen
diesen drei Elementen, Dichte, Temperatur und Druck, hat er
eine gewisse Beziehung aufgestellt, die durch eine gewisse
Gleichung ausgedrückt wird. Das ist das Gesetz für die
Kompression und Dilatation des Sauerstoffs. Ist dieses Ge-
setz definitiv?
Der Physiker bringe den Sauerstoff zwischen die zwei
Platten eines stark geladenen elektrischen Kondensators. Er
bestimme die Dichte, die Temperatur und den Druck des Gases.
Die Werte dieser drei Elemente werden nicht mehr das Ge-
setz für die Kompression und Dilatation des Sauerstoffs be-
stätigen. Gerät der Physiker in Erstaunen, wenn er findet,
daß an seinem Gesetz etwas auszusetzen sei? Wird er die
Sicherheit der Naturgesetze in Zweifel ziehen? Keineswegs.
Er sagt sich einfach, daß die mangelhafte Beziehung eine sym-
bolische Beziehung sei, die nicht von dem reellen und konkreten
Gase, mit dem er manipuliert, handelt, sondern von einem
gewissen Vorstellungsgebikle, von emem schematischen Gas,
das durch seinen Druck, seine Dichte und seine Temperatur
charakterisiert ist. Er sagt sich, daß dieses Schema ohne Zwei-
fel zu einfach und zu unvollständig ist, um die Eigenschaften
des reellen Gases unter den Bedingungen, in denen es sich
gegenwärtig befindet, darzustellen. Er sucht dann dieses Sche-
ma zu vervollständigen, es für die Darstellung der Wirklich-
keit geeigneter zu machen. Er begnügt sich nicht mehr, den
symbolischen Sauerstoff mit Hilfe seiner Dichte, seiner Tem-
peratur und des Druckes, dem er unterliegt, darzustellen. Er
schreibt ihm ein gewisses dielektrisches Verhalten zu. Er führt
in den Bau des neuen Schemas die Intensität des elektrischen
Feldes, in dem sich das Gas befindet, ein. Er unterwirft dieses
vervollständigte Symbol neuen Studien und erhält das Gesetz
der Kompre^ibilität des dielektrisch polarisierten Sauerstoffes.
Das ist ein viel verwickelteres Gesetz als das, das er anfangs
232 Neuntes Kapitel.
hatte. Es enthält jenes als Spezialfall, aber da es viel umfassen-
der ist, wird es auch in Fällen bestätigt, wo das primitive
Gesetz versagt.
Ist dieses neue Gesetz nun definitiv?
Wenn wir das Gas, auf das es angewendet wird, zwischen
die Pole eines Elektromagneten bringen, wird das neue Ge-
setz nun seinerseits durch das Experiment als falsch erwiesen.
Glauben Sie nicht, daß dieser neue Einwand den Physiker in
Erstaunen setze. Er weiß, daß er es mit einer symbolischen
Beziehung zu tun hat und daß das Symbol, das er geschaffen,
in gewissen Fällen ein treues Bild der WirkUchkeit ist, ihr
aber nicht unter allen Umständen gleichen muß. Er nimmt
daher, ohne sich entmutigen zu lassen, das Schema, durch
das er das Gas, mit dem er experimentiert, darstellt, wieder
vor, er stattet es mit neuen Zügen aus, damit es die Tatsachen
darstellen könne. Es ist nicht mehr genug, daß das Gas eine
gewisse Dichte, eine gewisse Temperatur, ein gewisses dielek-
trisches Verhalten besitze, daß es einem gewissen Druck imter-
liege, daß es sich in einem elektrischen Felde von gegebener
Intensität befinde. Er schreibt ihm außerdem noch einen ge-
wissen Magnetisieiliogskoeffizienten zu. Er gibt Rechenschaft
von dem magnetischen Feld, in dem sich das Gas befindet,
und indem er alle diese Elemente durch eine Gruppierung von
Formeln vereinigt, erhält er das Gesetz für die Kompression
und Dilatation des polarisierten und magnetisierten Gases.
Es ist dies ein verwickelteres, aber weit umfassenderes Ge-
setz, als die, die er früher erhalten. Es wird in einer Unzahl
von Fällen, wo jene versagten, bestätigt und ist dennoch ein
provisorisches Gesetz. Eines Tages werden, wie der Phy-
siker voraussieht, Bedingungen realisiert werden, wo auch
dieses Gesetz seinerseits versagen wird. An diesem Tage
wird man die symbolische Darstellung des studierten Gases
wieder vornehmen müssen, ihr neue Elemente hinzufügen und
ein noch umfassenderes Gesetz aufstellen. Das von der Theorie
ausgeheckte mathematische Symbol paßt sich der Wiriclich-
keit ebenso an, wie die Rüstung an den Körper eines mit
Eisen geharnischten Ritters. Je verwickelter die Rüstung ist.
Das physikalische Gesetz. 233
um so schmiegsamer scheint das harte Metall zu werden. Die
große Anzahl der Stücke, die ihn wie Schuppen bedecken,
sichern einen viel vollkommeneren Kontakt zwischen dem
Stahl und den beschützten Gliedern. Aber so zahlreich auch
die Bestandteile der Rüstung seien, niemals wird sie genau
die Gestalt des menschlichen Körpers annehmen.
Ich weiß, was man mir entgegnen wird. Man wird mir
sagen, daß das Gesetz für die Kompression und Dilatation,
welches ganz am Anfange formuliert wurde, keineswegs durch
die späteren Versuche umgestoßen wurde, daß es das Gesetz
bleibe, wenn sich der Sauerstoff komprimiere und dilatiere,
wenn er jeder elektrischen oder magnetischen Wirkung ent-
zogen sei. Die Untersuchungen des Physikers hätten ledig-
lich gezeigt, daß zu diesem Gesetz, dessen Wert bestehen
bleibe, das Gesetz der Kompressibilität des elektrisierten Gases
und das Gesetz der Kompressibilität des magnetisierten Gases
hinzugefügt werden müsse.
Selbst die, die die CMnge in dieser Art und Weise nehmen,
müssen anerkennen, daß das primitive Gesetz uns zu schweren
Irrtümern führen kann, wenn wir es ohne besondere Ver-
wahrungen aussprechen. Das Gebiet, in dem es gilt, muß
durch die folgenden zwei Einschränkungen eingegrenzt wer-
den: Das Gas ist jeder elektrischen und jeder magnetischen
Wirkung entzogen. Die Notwendigkeit dieser Einschränkung
zeigte sich nun nicht gleich anfangs, sondern sie wurde durch
die Experimente, die wir erwähnten, nötig. Sind diese Ein-
schränkungen die einzigen, die an seinem Ausdruck ange-
bracht werden müssen? Werden die Experimente, die in der
Zukunft ausgeführt werden, nicht andere ebenso wesentliche
Einschränkungen ergeben, als die ersteren? Welcher Phy-
siker würde sich in dieser Richtung aussprechen und behaup-
ten, daß der gegenwärtige Ausdruck nicht provisorisch, son-
dern definitiv sei?
Die physikalischen Gesetze sind daher provisorisch, in-
dem die Symbole, auf denen sie ruhen, zu einfach sind, um
die WirkUchkeit vollständig darzustellen. Immer treten Um-
stände auf, in denen das Symbol den konkreten Dingen nicht
234 Neuntes Kapitel.
mehr genügt, in denen das Gesetz nicht mehr genau die Er-
scheinungen anzeigt Der Ausdruck des Gesetzes muß da-
her von Einschränkungen begleitet sein, die die Elimination
dieser Umstände ermöglichen. Diese Einschränkungen kommen
uns durch die Fortschritte der Physik zur Kenntnis. Niemals
kann man behaupten, daß man die vollständige Aufzählung
derselben besitzt, daß die aufgestellte Liste keinen Zuwachs,
keine Verbesserung erleiden werde.
Diese Arbeit der fortwährenden Verbesserungen, durch
die die physikalischen Gesetze immer mehr den Widerlegungen
durch das Experiment entgehen, spielt eine so wesentliche
Rolle in der Entwicklung der Wissenschaft, daß man uns ge-
statten wird, uns bei ihr noch ein wenig aufzuhalten und ihren
Gang an einem zweiten Beispiel zu studieren.
Von allen physikalischen Gesetzen ist sicher das der all-
gemeinen Gravitation durch seine unzähligen Konsequenzen
am besten bestätigt. Die genauesten Beobachtungen über die
Bewegungen der Gestirne konnten ihm bisher keinen Eintrag
tun. Ist es indessen ein definitives Gesetz? Nein, es ist ein
provisorisches Gesetz, welches ohne Unterlaß modifiziert und
vervollständigt werden muß, um mit der Erfahrung im Ein-
klang zu bleiben.
Wir haben vor uns Wasser, das sidi in einem Gefäß be-
findet. Das allgemeine Gravitationsgesetz lehrt uns die Kraft,
die auf jedes einzelne dieser Teilchen ausgeübt wird, kennen.
Diese Kraft ist das Gewidit des Teilchens. Die Mechanik
gibt uns an, welche Gestalt das Wasser annehmen muß : Wie
immer auch die Beschaffenheit und Gestalt des Gefäßes ist,
das Wasser muß immer durch eine horizontale Ebene be-
grenzt sein. Betrachten wir die Oberfläche des Wassers in
der Nähe. In einer gewissen Entfernung von den Rändern
des Oefässes ist sie horizontal, an den Wandungen des Glases
hingegen nicht mehr. Es erhebt sich entlang dieser Wan-
dungen, in einer engen Röhre steigt es sehr hoch und wird
vollständig konkav. Da sehen wir, wie das Gesetz der all-
gemeinen Anziehung versagt. Damit das Gravitationsgesetz
nicht durch die Kapillarerscheinungen widerlegt werde, muß
Das physikalische Gesetz. 235
man es ändern. Man darf die Formel, nach der die Anziehung
umgekehrt proportional dem Quadrat der Entfernung ist, nicht
als eine genaue, sondern nur als eine angenäherte betrachten.
Man muß annehmen, daß diese Formel mit hinreichender Ge-
nauigkeit die Anziehung zweier entfernter, materieller Teil-
chen darstellt, daß sie aber iunrichtig wird, wenn es sich darum
handelt, die gegenseitige Wirkung zweier sehr wenig entfern-
ter Elemente auszudrücken. Man muß in die Gleichungen einen
ergänzenden Ausdruck einführen, der sie zwar complizierter
aber dabei auch geeignet macht, eine ausgedehntere Klasse
von Erscheinungen darzustellen und ihnen ermöglicht, in dem
gleichen Gesetz sowohl die Bewegungen der Gestirne, als
die Kapillarwirkungen zu umfassen.
Dieses Gesetz wird umfassender sein als das von Newton.
Es wird deswegen aber noch nicht vor jedem Widerspruch
bewahrt sein. Wenn man, wie es Draper getan, an zwei ver-
schiedenen Stellen einer flüssigen Masse metallische Drähte
einführt, die m den beiden Polen einer Säule führen, kommen
die Gesetze der Kapillarität in Widerspruch mit der Beobach-
tung. Um diesen Widerspruch zu beseitigen, muß man die
Formeln der Kapillarwirkungen wieder vornehmen, sie modi-
fizieren und vervollständigen, indem man den elektrischen
Ladungen, die sich auf den Flüssigkeitsteilchen befinden und
den Kräften, die zwischen den elektrisierten Teilchen auftreten,
Rechnung trägt. So wird sich dieser Kampf zwischen der
Wiridichkeit und den physikalischen Gesetzen unendlich aus-
dehnen. Jedem Gesetz, das die Physik formulieren wird, wird
die Wirklichkeit früher oder später die rücksichtslose Wider-
legung durch eine Tatsache entgegenstellen. Aber unermüd-
lich wird die Physik das widerlegte Gesetz verbessern, modi-
fizieren und verwickelter machen, und es so durch ein um-
fassenderes Gesetz ersetzen, in dem die durch das Experiment
aufgezeigte Ausnahme nun ihrerseits ihre Regel findet.
In diesem unaufhörlichen Kampf, in dieser Arbeit, durch
die die Gesetze fortwährend so vervollständigt werden, daß
die Ausnahmen in ihnen Aufnahme finden, besteht der Fort-
schritt der Physik. Weil die Gesetze der Schwere gegenüber
236 Neuntes Kapitel.
einem mit Wolle geriebenen Stück Bernstein versagten, mußte
die Physik die Gesetze der Elektrostatik schaffen. Weil ein
Magnet denselben Gesetzen der Schwere zum Trotz das Eisen
hob, mußte sie die Gesetze des Magnetismus formulieren.
Da Oerstedt eine Ausnahme an den Gesetzen der Elektrostatik
und des Magnetismus gefunden, kam Ampere zur Aufstellung
der Gesetze der Elektrodynamik und des Elektromagnetismus.
Die Physik macht ihre Fortschritte nicht wie die Geometrie, die
neue definitive, außer Diskussion stehende Lehrsätze zu den
definitiven außer Diskussion stehenden Lehrsätzen, die sie schon
besaß, hinzufugt. Sie macht Fortschritte, weil das Experiment
ohne Unteriaß neue Widersprüche zwischen den Gesetzen und
Tatsachen hervortreten läßt und weil die Physiker ohne Unter-
laß die Gesetze verbessern und modifizieren, damit sie genauer
die Tatsachen darstellen.
§ 5. — Die physikalischen Gesetze sind detaillierter
als jene des gewöhnlichen Verstandes.
Die Gesetze, die die gewöhnliche, nichtwissenschaftliche
Erfahrung uns zu formulieren ermöglicht, sind allgemeine Ur-
teile, deren Sinn Unmittelbar einleuchtet. Wenn wir uns einem
dieser Urteile gegenübersehen, können wir fragen: Ist es wahr?
Oft ist die Antwort leicht, in allen Fällen kann sie durch ja
oder nein ausgedrückt werden. Das als wahr erkannte Ge-
setz gilt für alle Zeiten und alle Menschen, es ist fest imd
absolut.
Die wissenschaftlichen Gesetze, die auf physikalische Ex-
perimente gegründet sind, sind symbolische Beziehungen, deren
Sinn dem unfaßbar bleibt, der die physikalischen Theorien
nicht kennt. Da sie symbolisch sind, sind sie stets weder richtig
noch falsch, sondern wie die Experimente, auf denen sie ruhen,
angenähert. Die Annäherung eines Gesetzes, die heute hin-
reicht, wird in der Zukunft durch den Fortschritt der experi-
mentellen Methoden unzureichend. Sie genügt für die Be-
dürfnisse eines Physikers, sie befriedigt nicht die Wünsche
eines anderen. So ist ein physikalisches Gesetz immer
Das physikalische Gesetz. 237
provisorisch und relativ. Es ist auch darin provisorisch, daß
es nicht die Realitäten, sondern die Symbole verbindet und
daß es immer Fälle gibt, in denen das Symbol nicht mehr
der Wirklichkeit entspricht Die physikalischen Gesetze kön-
nen daher nur durch eine kontinuierliche Arbeit bestehend
in Verbesserungen und Modifikationen aufrecht erhalten wer-
den. Das Problem des Wertes der physikalischen Gesetze
tritt daher in einer ganz anderen Art, in einer unendlich ver-
wickeiteren und heikleren Art als das Problem der Sicherheit
der Gesetze des gewöhnlichen Verstandes auf. Man könnte
versucht sein, daraus den befremdenden Schluß abzuleiten, daß
die Kenntnis der physikalischen Gesetze einen niedrigeren Grad
des Wissens bilde, als die einfache Kenntnis der Gesetze des
gewöhnlichen Verstandes. Denjenigen, die versuchen würden,
aus den vorangehenden Betrachtungen diesen paradoxen Schluß
abzuleiten, begnügen wir uns zu antworten, indem wir bezüg-
lich der Gesetze der Physik das, was wir bezüglich der wissen-
schaftiichen Experimente gesagt, wiederholen: Ein physika-*
lisches Gesetz besitzt eine weit weniger unmittelbare und viel
schwerer zu bestimmende Sicherheit, als ein Gesetz des ge-
wöhnlichen Verstandes. Aber es übertrifft dieses letztere durch
die tiefgehende und detaillierte Genauigkeit seiner Voraus-
sagungen.
Wenn man das Gesetz des gewöhnlichen Verstandes: In
Paris geht die Sonne alle Tage im Osten auf, steigt am Himmel
empor, senkt sich wieder und geht im Westen unter, mit
den Formeln, die uns in jedem Augenblick beinahe auf eine
Sekunde genau die Koordinaten des Sonnenzentrums angeben,
vergleicht, wird man von der Richtigkeit dieses Satzes über-
zeugt sein.
Diese Genauigkeit im Detail können die physikalischen
Gesetze nur erlangen, indem sie etwas von der festen und
absoluten Sicherheit der Gesetze des gewöhnlichen Verstandes
opfern. Zwischen der Genauigkeit und der Sicherheit be-
steht eine Art Kompensation; die eine kann nur wachsen,
wenn die andere abnimmt. Der Bergarbeiter, der mir einen
Stein zeigt, kann ohne Zögern, ohne Einschränkung behaupten,
238 Zehntes Kapitel.
daß dieser Stein Gold enthalte. Der Chemiker aber, der mir
eine glänzende Barre vorweist und sagt, das ist reines Qold,
kann verbessernd beifügen : oder beinahe reines. Er kann
nicht behaupten, daß die Barre nicht unmerklidie Spuren
eines anderen Stoffes enthalte.
Der Mensch kann schwören, die Wahrheit zu sagen, aber
es liegt nicht in seiner Macht die ganze Wahrheit und nur
die Wahrheit zu sagen. „Die Wahrheit^) ist ein so feiner
Punkt, daß unsere Instrumente zu stumpf sind, um sie zu
treffen. Wenn sie zu ihr gelangen, drücken sie den Punkt platt
und liegen dann mehr als auf dem Wahren auf dem Falsdien,
das es umgibt."
Zehntes Kapitel.
Die physikalische Theorie und das Experiment
§ 1. — Die experimentelle Kontrolle einer Theorie
besitzt in der Physik nicht die gleiche logische Einfach-
heit wie in der Physiologie.
Die physikalische Theorie hat nur das Ziel, eine Dar-
stellung und Klassifikation der experimentellen Gesetze zu
liefern. Die einzige Probe, die es ermöglicht, eine physikalische
Theorie zu beurteilen, sie als gut oder schlecht zu erklären, ist
der Vergleich zwischen den Konsequenzen dieser Theorie und
den experimentellen Gesetzen, die sie darstellen und gruppieren
soll. Da wir nun genau die Eigenschaften eines Experimentes
der Physik und eines physikalischen Gesetzes analysiert haben,
können wir die Prinzipien festlegen, die bei dem Vergleich
zwischen Experiment und Theorie zur Geltung kommen sollen.
Wir können sagen, wie man erkennt, ob eine Theorie durch
die Tatsachen bestätigt oder widerlegt wird.
Viele Philosophen denken, wenn sie über die experimen-
tellen Wissenschaften sprechen, nur an solche, die in ihrer
Entwicklung noch nicht weit fortgeschritten sind, wie die Phy-
*) Pascal: Pens^es, Wition Havct, art III no 3.
Die physikalische Theorie und das Experiment. 239
siolog^e, wie gewisse Zweige der Chemie, in denen der For-
scher die Tatsachen direkt in Gedanken behandelt, in denen
die Methode, die er benützt, nur die des gewöhnlichen, zu
größerer Aufmerksamkeit angeregten Verstandes ist, in denen
die mathematische Theorie noch nicht ihre symbolischen Dar-
stellungen eingeführt hat. In solchen Wissenschaften ist der
Vergleich zwischen den Deduktionen einer Theorie und den
experimentellen Tatsachen sehr einfachen Regeln unterworfen.
Diese Regeln wurden von Claude Bemard in sehr prägnanter
Weise ausgedrückt und in folgendem einzigem Prinzip zu-
sammengefaßt^) : „Der Experimentator muß zweifeln, die fixen
Ideen fliehen und stets die Freiheit seines Kopfes wahren."
„Die erste Bedingung, die ein Gelehrter erfüllen muß, der
sich der Erforschung der Naturerscheinungen widmet, besteht
darin, daß er sich vollkommene Freiheit des Denkens, die auf
dem philosophischen Zweifel beruht, wahrt."
Die Theorie soll nichts weiter als die Anregung zur Aus-
führung von Experimenten geben; „wir können*) unserem
Gefühl und unseren Gedanken folgen, unserer Phantasie freien
Lauf lassen, vorausgesetzt, daß alle unsere Gedanken nur da-
zu gebraucht werden, um neue Experimente anzuordnen, die
uns Tatsachen liefern, die als Beweise dienlich oder unvorher-
gesehen und fruchtbar sind". Wenn einmal das Experiment
ausgeführt und die Resultate klar konstatiert sind, hat die
Theorie sie nur zu benützen, um sie zu generalisieren, zu ver-
knüpfen Und aus ihnen neue Versuchsobjekte abzuleiten ; „wenn
man^ von den Prinzipien der experimentellen Methode er-
füllt ist, hat man nichts zu fürchten; denn wenn ein Gedanke
richtig ist, fährt man fort ihn zu entwickeln, wenn er irrig ist,
wird ihn das Experiment berichtigen".. Aber solange das
Experiment dauert, muß die Theorie vor der streng verschlos-
senen Türe des Laboratoriums bleiben. Sie muß Stillschweigen
bewahren und den Gelehrten ungestört den Tatsachen
Claude Bernard: Introduction k la Medecine exp^rimentale.
Paris, 1865; p. 63.
') Claude Bernard: loc. cit. p. 64.
') Claude Bernard: loc. cit p. 70.
240 Zehntes Kapitel.
von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen lassen. Diese
müssen ohne vorgefaßte Meinung beobachtet, mit der gleichen
peinlichen Unparteilichkeit gesammelt werden, ob sie nun die
Vorhersagungen der Theorie bestätigen oder ihnen wider-
sprechen. Der Bericht, den uns der Beobachter über sein
Experiment gibt, muß ein getreuer und peinlich genauer Ab-
klatsch der Erscheinungen sein. Er darf uns sogar nicht ahnen
lassen, welchem System der Gelehrte anhängt, gegen welches er
Bedenken hegt.
„Die Leute^), die übertriebenen Glauben an ihre Ge-
danken haben, sind nicht nur schlecht zur Ausführung von
Entdeckungen veranlagt, sondern sie machen auch sehr
schlechte Beobachtungen. Sie beobachten notwendigerweise
mit einer vorgefaßten Meinung, und wenn sie ein Experiment
angeordnet haben, wollen sie in den Resultaten desselben nur
eine Bestätigung ihrer Theorie sehen. Sie entstellen so die
Beobachtung und vernachlässigen oft sehr wichtige Tatsachen,
weil sie nicht ihrem Zwecke entsprechen. Das veranlaßte uns
früher zu sagen, daß man niemals Experimente ausführen soll
um seine Gedanken zu bestätigen, sondern bloß um sie zu
kontrollieren . . . Aber es ist auch ganz natürlich, daß
diejenigen, die zu sehr an ihre eigenen Theorien, zu wenig an
,die der anderen glauben. Bei solchen Leuten, die stets auf
andere herabsehen, herrscht die Idee vor, in den Theorien der
anderen Fehler finden zu müssen und alles daran zu setzen,
um ihnen widersprechen zu können. Dies ist für die Wissen-
schaft ebenso unzukömmlich. Sie führen Experimente nur
aus, um eine Theorie zu vernichten, anstatt um die Wahrheit
zu suchen. Ebenso führen sie schlechte Beobachtungen aus,
weil sie in die Resultate ihrer Experimente nur das aufnehmen,
was ihren Zwecken entspricht, alles vernachlässigen, was sich
ihnen nicht einfügt und alles sorgfältig ausmerzen, was im
Sinne des Gedankens, den sie bekämpfen wollen, liegen könnte.
Man wird daher so auf zwei entgegengesetzten Wegen zu dem
gleichen Resultat, das heißt zur Verfälschung der Wissenschaft
und der Tatsachen, geführt."
^) Claude Bernard: loc cit p. 67.
Die physikalische Theorie und das Experiment 241
,,Aus alledem muß man schließen, daß man ebensosehr seine
eigene Meinung, wie die der anderen gegenüber den Entschei-
dungen des Experimentes zurücktreten lassen muß; . . . daß
man die Resultate des Experimentes, wie sie sich darbieten, mit
all ihrem Unvorhergesehenen und all ihren Zufälligkeiten
akzeptieren muß/'
Nehmen wir zum Beispiel einen Physiologen. Er nimmt
an, daß die vorderen Enden des Rückenmarks die motorischen
Nervenfäden enthalten und die hinteren die sensitiven Fäden.
Die Theorie, die er annimmt, führt ihn dazu, ein Experiment
2:u erdenken. Wenn er das Vordere Ende abschneidet, muß die
Beweglichkeit eines gewissen Körperteiles aufhören, ohne daß
dessen Sensibilität Eintrag geschieht. Nachdem er dieses Ende
abgeschnitten, beobachtet er die Folgen seiner Operation.
Während er von ihnen Rechenschaft gibt, muß er von all seinen
Gedanken über die Physiologie des Markes abstrahieren. Sein
Bericht muß eine unveränderte Beschreibung der Tatsachen
sein. Er darf keine Bewegung, kein Zucken, das seinen Vorher-
sagungen widerspricht, mit Stillschweigen übergehen; er darf
es keiner sekundären Ursache zuschreiben, außer wenn ein
besonderes Experiment diese Ursache klargelegt hat; er muß,
wenn er nicht der wissenschaftlichen Unehrlichkeit angeklagt
werden will, eine absolute Trennung, eme undurchlässige
Scheidewand zwischen den Konsequenzen seiner theoretischen
Deduktionen und der Konstatierung der Tatsachen, die ihm
seine Experimente aufweisen, herstellen.
Eine derartige Regel ist nicht leicht zu befolgen. Sie er-
fordert vom Gelehrten eine absolute Unbefangenheit gegen-
über seinem eigenen Fühlen, vollständigen Mangel an Animosi-
tät gegenüber der Meinung anderer; die Eitelkeit, wie der Neid
dürfen nicht bis zu ihm dringen, oder wie Bacon sagt, „er darf
niemals das Auge durch die menschlichen Leidenschaften be-
netzt haben". Die Freiheit des Denkens, in der nach Claude
Bernard das einzige Prinzip der experimentellen Methode be-
steht, hängt nicht nur von den intellektuellen Bedingungen,
sondern ebensosehr von den moralischen, die sie noch sel-
tener und verdienstvoller machen, ab.
Dohem, Physikalische Theorie. 16
242 Zehntes Kapitel.
Aber wenn die experimenteUe Methode, so wie sie beschrieben
wtirde, schwierig zu handhaben ist, so ist doch ihre logische
Analyse sehr einfach. Dem ist nicht mehr so, wenn die Theorie,
die der Kontrolle der Tatsachen unterworfen werden soll, nicht
mehr der Physiologie, sondern der Physik angehört. In diesem
Falle kann in der Tat nicht mehr die Rede davon sein, die
Theorie, die man prüfen will, vor der Türe des Laboratoriimis
tu lassen, denn ohne sie ist es unmöglich nur ein einziges In-
strument zu justieren, eine einzige Ablesung zu interpretieren.
Wir haben gesehen, daß im Kopfe des Physikers, der experi-
mentiert, stets zwei Apparate vorhanden sind: der eine ist
der konkrete Apparat aus Glas Und Metall, mit dem er manipu-
liert, der andere ist der schematische und abstrakte, den die
Theorie an Stelle des konkreten Setzt und an den der Physiker
seine Betrachtungen anknüpft. Diese beiden Begriffe sind un-
auflöslich in seinem Verstände vereinigt. Jeder von ihnen
ruft notwendigerweise den anderen hervor. E)er Physiker kann
nicht an den konkreten Apparat denken, ohne den Begriff des
schematischen Apparates zu assoziieren, ebenso wie der Fran-
zose nicht an einen Begriff denken kann, ohne das französische
Wort, durch das er ausgedrückt wird, in Gedanken daneben-
zustellen. Diese grundlegende Unmöglichkeit der Trennung
der physikalischen Theorien von den experimentellen Ver-
fahren, die zur Kontrolle dieser selben Theorien dienen sollen,
macht diese Kontrolle besonders kompliziert und nötigt tms
genau deren logisdien Sinn zu prüfen.
Richtig ist, daß der Physiker nicht der einzige ist, der im
Augenblick, in dem er experimentiert oder das Resultat seiner
Experimente wiedergibt, von Theorien Gebrauch macht. Wenn
der Chemiker oder der Physiologe von physikalischen Instru-
menten, dem Thermometer, dem Manometer, dem Kalorimeter,
dem Galvanometer oder Saccharimeter Gebrauch macht, nimmt
er implizite die Richtigkeit von Theorien an, die den Ge-
brauch dieser Apparate rechtfertigen, von Theorien, die den ab-
strakten Begriffen Temperatur, Druck, Wärmemenge, Strom-
intensität, polarisiertes Licht erst einen Sinn geben, durch die
die konkreten Angaben dieser Instrumente übersetzt werden.
Die physikalische Theorie und das Experiment. 243
Aber die Theorien, von denen diese Forscher Gebrauch machen,
S^ehören ebenso wie die Instrumente, die sie anwenden, in das
Gebiet der Physik. Indem der Chemiker und der Physiologe
mit den Instrumenten die Theorien, ohne die deren Angaben
keinen Sinn hätten, akzeptieren, schenken sie dem Physiker
ihr Vertrauen und halten sie ihn für unfehlbar. Der Physiker
aber muß gegen seine eigenen theoretischen Begriffe, wie
£fegen die seiner Fachgenossen mißtrauisch sein. Vom logi-
schen Gesichtspimkt aus hat der Unterschied wenig Bedeu-
tung. Für den Physiologen, für den Chemiker ebenso wie für
den Physiker enthält der Ausdruck eines Resultates seines
Experimentes im allgemeinen einen Akt des Glaubens an eine
ganze Gruppe von Theorien.
§2. — Ein physikalisches Experiment kann niemals zur
Verwerfung einer isolierten Hypothese, sondern immer
nur zu der einer ganzen theoretischen Gruppe, führen.
Der Physiker, der ein Experiment ausführt oder über das-
selbe berichtet, anerkennt implizite die Richtigkeit einer ganzen
Gruppe von Theorien. Nehmen wir dieses Prinzip an und
sehen wir, welche Konsequenzen man daraus ableiten kann,
wenn man die Rolle und logische Tragweite eines physika-
lischen Experimentes einschätzen will.
Um jeden Irrtum zu vermeiden, unterscheiden wir zwei
Arten von Experimenten: Experimentelle Anwendungen, die
uns ohne weiteres eine Angabe machen und experimentelle
Prüfungen, wie sie uns vor allem beschäftigen werden.
Wir befinden uns einem physikalischen Problem gegenüber,
das wir praktisch lösen sollen. Um diese oder jene Wirkung
hervorzubringen, müssen wir von den von den Physikern eriang-
ten Kenntnissen Gebrauch machen. Wir wollen zum Beispiel
eine Glühlampe zum Leuchten bringen. Die als zulässig er-
kannten Theorien geben uns die Hülfsmittel zur Lösung dieses
Problems an. Aber um von diesen Hülfsmitteln Gebrauch
machen zu können, müssen wir uns gewisse Aufschlüsse ver-
schaffen. Wir müssen, wie Wir annehmen wollen, die elektro-
16*
244 Zehntes Kapitel.
motorische Kraft der Akkumulatorenbatterie, die wir besitzen,
bestimmen. Wir messen diese elektromotorische Kraft. Hier
haben wir eine experimentelle Anwendung vor uns. Dieses
Experiment hat nicht den Zweck festzustellen, ob die als zu-
lässig erkannten Theorien richtig sind oder nicht; es soll ein-
fach aus diesen Theorien Nutzen ziehen. Um es auszuführen,
machen wir von diesen Instrumenten, durch die die Richtigkeit
dieser selben Theorien dargelegt wird, Gebrauch. Darin ist
nichts, was die Logik verletzt.
Aber der Physiker hat es nicht nur mit den experimentellen
Anwendungen, durch die die Wissenschaft allein die Praxis
unterstützen kann, zu tun. Nicht durch sie wurde die Wissen«
Schaft geschaffen und entwickelt, sondern durch die experi*
mentellen Prüfungen, die neben den experimentellen
Anwendungen vorgenommen werden.
Wie wird ein Physiker, wenn er ein bestimmtes Gesetz be-
streitet, wenn er einen gewissen Punkt der Theorie in Zweifel
zieht, die Entscheidung über seine Zweifel fällen, wie wird er
die Unrichtigkeit des Gesetzes beweisen? Er wird aus dem in
Frage gestellten Lehrsatz eine Vorhersage einer experimen-
tellen Tatsache folgern, und sodann die Bedingungen, unter
denen diese Tatsache entstehen muß, realisieren. Wenn die
angekündigte Tatsache nicht entsteht, ist der Lehrsatz, der
sie vorhergesagt, unrettbar gerichtet.
F. E. Neumann meinte, daß die Schwingung eines polari-
sierten Lichtstrahles parallel zur Polarisationsebene sei. Viele
Physiker haben diesen Lehrsatz in Zweifel gezogen. Was hat
Hr. O. Wiener getan, um diesen Zweifel in Gewißheit zu ver-
wandeln, um zu zeigen, daß der Lehrsatz von Neumann zu ver-
werfen sei? Er leitete aus diesem Lehrsatz folgende Konse-
quenz ab: Wenn man ein Lichtbündel, das unter 45 ^ an einer
Glasplatte reflektiert wurde mit dem einfallenden Bündel, das
normal zur Einfallsebene polarisiert ist, interferieren läßt,
müssen helle und dunkle Fransen, die parallel zur reflektieren-
den Fläche sind, entstehen. Er realisierte die Bedingungen,
unter denen diese Fransen entstehen sollten und zeigte, daß die
erwartete Erscheinung nicht eintrat. Er folgerte daraus, daß
Die physikalische Theorie und das Experiment 245
der Lehrsatz von F. E. Neumann falsch sei, daß in einem polari-
sierten Strahl die Schwingung nicht parallel zur Polarisations-
ebene sei. Eine derartige Beweismethode scheint ebenso über-
zeugend und unwiderlegbar, wie wenn etwas nach der bei
den Mathematikern üblichen Methode ad absurdum geführt
wird. Dieser Beweis ist übrigens der Methode des ad-absur-
dum-Führens nachgebildet, wobei der experimentelle Wider-
spruch im einen Falle, die Rolle des logischen Widerspruches
im anderen spielt
In Wirklichkeit fehlt viel dahin, daß die Beweiskraft der
experimentellen Methode ebenso streng und absolut sei. Die
Bedingtingen, unter denen sie zur Anwendung kommt, sind viel
verwickelter als wir es vorausgesetzt haben. Die Bestimmung
der Resultate ist viel heikler und der Bestätigung bedürftig.
Ein Physiker will die Unrichtigkeit eines Lehrsatzes be-
weisen. Um aus diesem Lehrsatz eine zu erwartende Er-
scheinung abzuleiten, um das Experiment, das zeigen soll,
ob diese Erscheinung eintritt oder nicht, anzuordnen, um die
Resultate dieses Experimentes zu interpretieren und um zu
konstatieren, ob die erwartete Erscheinung aufgetreten sei,
kann er sich nicht auf die Anwendung des in Frage stehenden
Lehrsatzes beschränken. Er wendet noch eine ganze Gruppe
von Theorien an, die von ihm nicht in Frage gestellt sind.
Das Auftreten oder Nichtauftreten der Erscheinung, das die
Debatte entscheiden soll, ergibt sich nicht aus dem strittigen
Lehrsatz allein, sondern aus der Verbindung desselben mit
dieser ganzen Gruppe von Theorien. Wenn die erwartete Er-
scheinung nicht auftritt, wird nicht nur der einzige strittige
Lehrsatz widerlegt, sondern das ganze theoretische Gerüst, von
dem der Physiker Gebrauch gemacht hat. Das Experiment
lehrt uns bloß, daß unter allen Lehrsätzen, die dazu gedient
haben, die Erscheinung vorauszusagen und zu konstatieren,
daß sie nicht auftritt, mindestens einer ein Irrtum sei. Aber
wo dieser Irrtum li^, sagt es ims nicht. Erklärt der Phy-
siker, daß dieser Irrtum gerade in dem Lehrsatz, den er
widerlegen will, enthalten sei und nirgends anders? Das
würde bedeuten, daß er implizite die Richtigkeit aller anderen
246 Zehntes Kapitel.
Lehrsätze, von denen er Gebrauch macht, annimmt. Ebenso«
viel, wie dieses Vertrauen, ist sein Schluß wert.
Nehmen wir zum Beispiel das von Zenker erdachte und
von Hm. O.Wiener realisierte Experiment. Als Hr. O.Wiener
die Gestalt der Fransen unter gewissen Bedingungen voraus-
sagte und zeigte, daß dieselben nicht auftreten, machte er nidit
nur von dem berühmten Lehrsatz von F. E. Neumann, den er
widerlegen wollte, Gebrauch. Er nahm nicht nur an, daß in
einem polarisierten Strahl die Schwingungen parallel zur Polari-
sationsebene seien, sondern er bediente sich auch unter anderem
der allgemein anerkannten Lehrsätze, der Gesetze und der
Hypothesen, aus denen die Optik besteht. Er nahm an, daß
d^ Licht aus einfachen, periodischen Schwingungen bestehe,
daß diese Schwingungen normal zum Lichtstrahl seien, daß
in jedem Punkte die mittlere lebendige Kraft der Schwingungs-
bewegung die Lichtintensität messe, daß die verschiedenen
Grade dieser Intensität daran gemessen werden, inwieweit eine
photographische Platte angegriffen wird. Diese verschiedenen
Lehrsätze und viele andere, die aufzuzählen zu weitläufig wäre,
mußte er dem von Neumann hinzufiigen, damit er eine Voraus-
sage formulieren und erkennen konnte, daß das Experiment das-
selbe widerlege. Wenn nach Hm. Wiener die Widerlegung
einzig Und allein dem Lehrsatz von Neumann gilt, wenn dieser
allein die Verantwortung für den Fehler, den diese Widerlegung
aufgedeckt hat, trägt, so bedeutet das, daß Hr. Wiener die
anderen Sätze, die er verwendete, über allen Zweifel erhaben
hielt. Aber dieses Vertrauen tritt nicht mit logischer Notwen-
digkeit auf. Nichts hindert uns, den Lehrsatz von F. E. Neu-
mann für richtig zu halten und die Schuld des experimen-
tellen Widerspmches irgend einem anderen gewöhnlich für zu-
lässig gehaltenen Lehrsatz der Optik zuzuschreiben. Man kann
sehr wohl, wie Hr. H. Poincar^ gezeigt hat, die Hypotiiese
von Neumann vor den Fangarmen des Experimentes des
Hm. O. Wiener bewahren, aber nur unter der Bedingung,
daß man zum Tausch dafür die Hypothese, die die mittlere
lebendige Kraft der Schwingungsbewegung zum Maß der
Lichtintensität macht, preisgibt. Man kann, ohne mit dem
Die physikalische Theorie und das Experiment. 247
Experiment in Widerspruch zu kommen, die Schwingung
parallel zur Polarisationsebene annehmen, vorausgesetzt, daß
man die Lichtintensität durch die mittiere potentielle Energie
des Mediums, das durch die Schwingungsbewegung deformiert
wird, mißt
Diese Prinzipien haben eine soldie Bedeutung, daß es
vielleicht nidit Unnütz sein dürfte, sie auf ein anderes Beispiel
anzuwenden. Wählen wir noch ein Experiment, das als eines
der entscheidendsten in der Optik betrachtet wird.
Wie bekannt hat Newton eine Theorie der optischen Er-
scheinungen, die Emissionstheorie, entworfen. Die Emissions-
theorie nimmt an, daß das Licht aus außerordentlich feinen
Projektilen besteht, die mit ungeheurer Geschwindigkeit von
der Sonne und anderen Lichtquellen weggeschleudert werden.
Diese Projektile durchdringen alle durchsichtigen Körper. Von
den verschiedenen Teilen der Medien, in deren Innern sie
sich bewegen, werden auf sie anziehende oder abstoßende
Kräfte ausgeübt. Dieselben sind sehr kräftig, wenn die Distanz,
die die wirkenden Partikeln trennt, ganz klein ist, sie ver-
schwinden, wenn die Massen, zwischen denen sie auftreten,
sich merkbar voneinander entfernen. Diese grundlegenden
H3rpothesen führen in Verbindung mit mehreren andern, die
wir mit Stillschweigen übergehen wollen, ta einer vollständigen
Theorie der Reflexion und Refraktion des Lichtes. Im be-
sonderen ergibt sich aus ihnen folgende Konsequenz: Der
Brechungsindex des Lichtes beim Obergang aus einem Me-
dhmi in ein anderes ist gleich der Geschwindigkeit des leuch-
den Projektils im Innern des Mediums, in das es eintritt, geteilt
durch die Geschwindigkeit desselben Projektils im Innern des
Mediums, das es verläßt.
Diese Konsequenz hat Arago gewählt, um zu beweisen,
daß die Emissionstheorie mit den Tatsachen in Widerspruch
stehe. Aus diesem' Lehrsatz ergibt sich nämlich folgender
andere: Das Licht bewegt sich im Wasser schneller als in Luft.
Arago gab nun ein Verfahren an, um die Geschwindigkeit des
Lichtes in Luft mit der in Wasser zu vergleichen. Das Ver-
fahren war allerdings unanwendbar, aber Foucault modi-
248 Zehntes Kapitel.
fizierte das Experiment in der Art, daB es ausgeführt werden
konnte und führte es audi aus. Er fand, daß das Licht sich
weniger schnell im Wasser als in der Luft bewege. Daraus
kann man mit Foucault schließen, daß das System der Emission
mit den Tatsachen unvereinbar sei.
Ich sage das System der Emission, und nicht die Hypo-
these der Emission, denn es ist in der Tat die ganze Gruppe
der von Newton, ebenso wie nachher von Laplace und Biot
anerkannten Lehrsätze, in der das Experiment einen Fehler
aufgewiesen hat Es ist die ganze Theorie, aus der die Be-
ziehung zwischen dem Brechungsindex und der Lichtgeschwin-
digkeit in verschiedenen Medien abgeleitet wird. Aber indem
das Experiment dieses System als ganzes verwirft, indem es
erklärt, daß es mit einem Fehler behaftet sei, sagt es nichts dar-
über, wo dieser Fehler liegt. Liegt er in der fundamentalen
Hypothese, daß das Licht aus Projektilen besteht, die mit
großer Geschwindigkeit von den leuchtenden Körpern weg-
geschleudert werden? Liegt er in irgend einer anderen An-
nahme über die Wirkungen, die die leuchtenden Teilchen von
Seiten der Medien, in deren Innern sie sich bewegen, erfahren?
Wir wissen darüber nichts. Es wäre verwegen zu glauben,
wie Arago gedacht 2u haben scheint, daß das Experiment von
Foucault unwiderbringlich die Emissions-Hypothese selbst, die
Ersetzung eines Lichtstrahles durch einen Schwärm von Pro-
jektilen, vernichte. Wenn die Physiker einen Preis auf die
Aufstellung eines optischen Systems, das auf diese Annahme
gegründet und dabei mit dem Experiment von Foudaidt in
Übereinstimmung steht, gesetzt hätten, würden sie sicher eine
derartige Arbeit erhalten haben.
All dies zusammengefaßt ergibt sich, daß der Physiker
niemals eine isolierte Hypothese, sondern immer nur eine ganze
Gruppe von Hypothesen der Kontrolle des Experimentes unter-
werfen kann. Wenn das Experiment mit seinen Voraussagun-
gen in WiderspHuch steht, lehrt es ihn, daß wenigstens eine
der Hypothesen, die diese Gruppe bilden, unzulässig ist und
modifiziert werden muß.
Wir befinden uns da recht weit von der experimentellen
Die physikalische Theorie und das Experiment. 249
Methode, wie sie gerne jene Leute, die ihrer Funktioii fremd
gegenüberstehen, auffassen. Man denkt gewöhnlich, daß jede
Hypothese, deren sich die Physik bedient, isoliert genommen
und der Kontrolle des Experimentes unterworfen werden kann.
Wenn dann verschiedene und vielfache Prüfungen den Wert
derselben konstatieren ließen, kann sie in definitiver Weise
in dem System der Physik ihren Platz finden. In Wirklich-
keit ist es nicht so. Die Physik ist keine Maschine, die sich
demontieren läßt Man kann nicht jedes Stück isoliert unter-
suchen und voraussetzen, daß nur genau auf ihre Festigkeit
kontrollierte Stücke montiert werden. Die physikalische
Wissenschaft ist ein System, das man als Ganzes nehmen muß,
ist ein Organismus, von dem man nicht einen Teil in Funktion
setzen kann, ohne daß auch die entferntesten Teile desselben
ins Spiel treten, die einen in höherem die anderen in geringerem,
aber alle in irgend einem Qrade. Wenn irgend eine Störung,
irgend eine Beschwerde in seiner Funktion auftritt, so ist sie
in der Tat durch das gesamte System hervorgerufen, und der
Physiker muß das Organ finden, welches in Ordnung ge-
bracht oder modifiziert werden muß, ohne daß es ihm mög-
lich wäre, dieses Organ zu isolieren und es einzeln zu prüfen.
Der Uhrmacher, dem man eine Uhr gibt, die nicht geht, nimmt
alle Räder derselben heraus und prüft jedes einzeln, bis er
das gefunden, welches fehlerhaft oder gebrochen ist. Der
Arzt, der einen Kranken untersucht, kann diesen nicht zer-
schneiden, um seine Diagnose aufzustellen. Er muß den Sitz
und die Ursache des Übels einzig und allein durch die Fest-
stellung der Unregelmäßigkeiten, die am Körper als Ganzes
auftreten, erkennen. Diesem und nicht jenem gleicht der Phy-
siker, der eine lahme Theorie wieder auf die Beine bringen soll.
§ 3. — Das experimentum crucis. ist in der Physik
unmöglich.
Verweilen wir noch einen Augenblick, da wir es hier
mit einem der wesentlichsten Punkte der experimentellen
Metiiode, wie sie in der Physik angewendet wird, zu tun
haben.
250 Zehntes Kapitel
Die Methode des ad -absurdum -Führens, die nur ein
Mittel der Widerlegung zu sein scheint, kann zu einem Beweis-
mittel werden. Um zu beweisen, daB ein Lehrsatz richtig ist,
genügt es, den genau entgegengesetzten Lehrsatz zu einer ab-
surden Konsequenz zu treiben. Man weiß welch ausgedehnten
Gebrauch die griechischen Mathematiker von dieser Art der
Beweisführung gemacht haben.
Diejenigen, die den experimentellen Widerspruch mit der
Methode des ad-absurdum-Führens gleichsetzen, meinen, daß
man in der Physik von einem Argument Qebraudi madien
kann, das dem von Euklid so häufig in dier Geometrie benütz-
ten gleicht. Wollen Sie von irgend einer Gruppe von Erschei-
nungen eine gewisse, unbestreitbare, theoretische Erklärung
erhalten? Zählen Sie alle Hypothesen auf, die man annehmen
kann, um von dieser Erscheinungsgruppe Redienschaft zu
geben; alsdann eliminieren Sie auf Grund des experimentellen
Widerspruches alle bis auf eine; diese letztere wird keine
Hypothese mehr sein, sondern eine Gewißheit darstellen.
Nehmen Sie im Speziellen an, daß nur zwei Hypothesen
vorhanden seien; suchen Sie experimentelle Bedingungen von
der Art, daß eine dieser Hypothesen das Auftreten einer Er-
scheinung, die andere das einer ganz anderen Erscheinung
anzeige; realisieren Sie diese Bedingungen und beobachten
Sie was geschieht; je nachdem Sie die erste der vorausge-
sagten Erscheinungen beobachten oder die zweite, werden Sie
die zweite resp. die erste Hypothese verwerfen; diejenige, die
nicht verworfen wird, wird in Zukunft unbestreitbar sein; die
Debatte ist geschlossen, die Wissenschaft hat eine neue Wahr-
heit erlangt. Das ist die experimentelle Prüfung, der der
Autor des Novum Organum den Namen „Experimentum
crucis" beilegte, „indem er diesen Ausdruck auf die Kreuze
bezog, die an den Straßenkreuzungen die verschiedenen Wege
anzeigen".
Es liegen zwei Hypothesen über die Natur des Lidites vor.
Für Newton, Laplace, Biot besteht das Licht aus Projektilen,
die sich mit ungeheurer Geschwindigkeit fortbewegen; für
Huygens, Young, Fresnel besteht das Licht in Schwingungen,
Die physikalische Theorie und das Experiment 251
deren Wellen sich im Innern eines Äthers fortpflanzen; die
zwei Hypothesen sind die einzigen^ die man für möglich hält;
die Bewegung wird also entweder durch den Körper, der
sie besitzt und mit dem sie verbunden bleibt, fortgetragen oder
sie geht von einem Körper zum anderen über. Gehen wir
von der ersten Hypothese aus, so ergibt sich, daß sich das
Licht schneller in Wasser als in Luft bewegt; gehen wir von
der zweiten aus, so ergibt sich, daß sich das Licht schneller in
Luft als in Wasser bewegt. Montieren wir den Foucaultschen
Apparat und setzen wir den rotierenden Spiegel in Bewegung.
Vor unseren Augen werden sich zwei leuchtende Streifen bil-
den, deren einer nicht gefärbt, deren anderer grün ist. Wenn
der grünliche Streifen an der linken Seite des ungefärbten auf-
tritt, so bedeutet dies, daß sich das Lidit schneller in Wasser
als in der Luft bewegt, d. h. die Undulationshypothese ist
falsch. Wenn dagegen das grünliche Band an der rechten
Seite des ungefärbten auftritt, so bedeutet das, daß sich das
Licht schneller in Luft als in Wasser bewegt, d. h. daß die
Emissionshypothese widerlegt ist. Wir sehen durch die Lupe,
die dazu dient, die beiden leuchtenden Streifen zu prüfen und
konstatieren, daß der grünliche Streifen an der rechten des
ungefärbten auftritt. Die Debatte ist entschieden, das Licht
ist nicht ein Körper, sondern eine sich im Äther fortpflanzende
Schwingungsbewegung. Die Emissionshypothese hat zu leben
aufgehört, die Undidationstheorie kann nicht mehr in Zweifel
gezogen werden. Dieses experimentum crucis hat in der Tat
einen neuen Glaubensartikel des wissenschaftlichen Credo fest-
gelegt.
Was wir im vorigen Paragraphen ausgeführt, zeigt, wie
sehr man sich täuschen würde, wenn man dem Experiment
von Foucault eine so einfache Bedeutung und eine so ent-
scheidende Tragweite zusdireiben wollte. Das Experiment von
Foucault entscheidet nidit zwischen zwei Hypothesen, der der
Emission und der der Undulation, sondern zwischen zwei theo-
retischen Gruppen, deren jede als Ganzes genommen werden
muß, zwischen zwei vollständigen Systemen, der Optik von
Newton und der Optik von Huygens.
252 Zehntes Kapitel.
Aber nehmen wir einen Augenblick an, daß in jedem dieser
Systeme alles folgerichtig, alles von logisdier Notwendigkeit
sei mit Ausnahme einer einzigen Hypothese ; nehmen wir dem-
zufolge auch an, daß die Tatsachen, indem sie einem dieser
beiden Systeme widersprechen, auch mit Sidierheit die einzis^
zweifelhafte Annahme, die es enthält, verwerfen. Ergibt sich
nun aber daraus, ebenso wie in der Geometrie, in der man,
wenn man einen geometrischen Lehrsatz ad absurdiun fuhrt,
die Gewißheit des widersprechenden erhält, daß man auch im
experimentum crucis ein unwiderlegliches Verfahren be-
sitzt, um eine der beiden voriiegenden Hypothesen in eine
bewiesene Wahrheit zu verwandeln? Neben zwei Theoremen
der Geometrie, die einander widersprechen, gibt es keinen
Platz für ein drittes Urteil; wenn eines falsch ist, ist das
andere notwendigerweise richtig. Bilden zwei physikalische
Hypothesen jemals einen derartig strengen Doppelschluß?
Würden wir jemals zu behaupten wagen, daß keine andere
Hypothese denkbar sei? Das Licht kann ein Schwärm von
Projektilen, es kann eine Schwingungsbewegung, deren Wellen
sich in einem elastischen Medium fortpflanzen, sein; ist
es ihm deshalb verboten, irgend etwas beliebig anderes zu
sein? Arago meinte das ohne Zweifel, als er die folgende
entscheidende Alternative formulierte: Etewegt sich das Licht
schneller in Wasser als in Luft? „Das Licht ist ein Körper.
Besteht das Gegenteil? Das Licht ist eine Welle"i). Uns wäre
es aber schwierig, uns in ebenso entscheidender Form auszu-
drücken. Maxwell hat uns in der Tat gezeigt, daß man das
Licht ebensogut einer periodischen elektrischen Störung, die
sich im Innern eines dielektrischen Mediums fortpflanzt, zu-
schreiben kann.
Der experimentelle Widerspruch ermöglicht es uns nicht
— wie das von den Geometem verwendete ad-absurdum-
Führen — eine physikalische Hypothese in eine unbestreit-
bare Wahrheit zu verwandeln. Um ihr dies zu ermöglichen,
^) Im Original: „La lumi^re est un corps. Le oontraire a-t-il lieu?
La lumiire est une ondulation."
Die physikalische Theorie und das Experiment. 253
müßte man alle verschiedenen Hypothesen aufzählen, die bei
einer bestimmten Gruppe von Erscheinungen auftreten kön-
n^i. E>er Physiker ist nun niemals sicher, alle denkbaren
Annahmen erschöpft zu haben. Die Wahrheit einer physika-
lischen Theorie kann nicht nach Kopf Und Wappen entschieden
werden.
§ 4. — Kritik der Newtonschen Methode. — Erstes
Beispiel: Die Mechanik des Himmels.
Es ist illusorisch, mit Hilfe des experimentellen Wider-
spruches eine Argumentation, die das ad-absurdum- Führen
nachahmt, konstruieren zu wollen. Aber die Geometrie kennt,
um zur Gewißheit zu gelangen, noch andere Mittel, als den Weg
per absurdulm. Der direkte Beweis, bei dem die Wahrheit
eines Lehrsatzes durch ihn selbst und nicht durch die Wider-
legung des widersprechenden Lehrsatzes dargetan wird, er-
scheint ihr als der vollkommenste Gedankengang. Vielleicht
wäre die physikalisdie Theorie in ihren Bemühungen glück-
licher, wenn sie versuchte, den direkten Beweis nach-
zuahmen. Die Hypothesen, aus denen sie ihre Schlüsse
ableitet, müßten dann Stück für Stück bewiesen werden. Jede
von ihnen müßte akzeptiert werden, wie wenn sie die voll-
ständige Gewißheit, die die experimentelle Methode einem
abstrakten und allgemeinen Satz verleihen kann, darstellte.
Das heißt, sie wäre notwendigerweise entweder ein Ge-
setz, das aus der Beobaditung auf Grund der zwei intellek-
tuellen Operationen, die man Induktion und Generalisation
nennt, abgeleitet, oder auch ein mathematisdies Korollar, das
aus solchen Gesetzen deduziert wurde. Eine auf soldien
H)rpothesen begründete Theorie würde nichts Willkürlidies,
nichts Zweifelhaftes besitzen, sie würde das ganze Vertrauen
verdienen, dessen die Hilfsmittel, die uns zur Formulierung
der Naturgesetze dienen, würdig sind.
So ist jene physikalische Theorie besdiaffen, die Newton
pries, als er un Scholium generale, das das Werk über
die Prinzipien krönt, jede Hypothese, die die Indiiktion nicht
254 Zehntes Kapitel.
aus der Erfahrung abgeleitet, so entschieden aus den Grenzen
der Naturwissenschaft verwies, als er behauptete, daß in der
gesunden Physik jeder Lehrsatz aus den Erscheinungen ab-
geleitet und durch die Induktion verallgemeinert werden m&sse.
Die ideale Methode, die wir eben beschrieben, verdient
daher ganz mit Recht den Namen Newtonsche Methode. Hat
Newton nicht überdies, als er das System der allgemeinen An-
ziehung aufstellte, anknüpfend an seine Vorschriften das groß-
artigste Beispiel derselben gegeben? Ist seine Theorie der
Gravitation nicht vollständig aus den Gesetzen, die Kepler
durch Beobachtung fand, Gesetzen, die die Überlegung um-
formt und deren Konsequenzen die Induktion verallgemeinert,
abgeleitet?
Das erste Keplersche Gesetz: „Der Radius vector, der von
der Sonne zu einem Planeten führt, überstreicht eine Fläche,
die proportional der Zeit ist, während welcher man die Be-
wegung beobachtet", hat in der Tat Newton gelehrt, daß jeder
Planet konstant einer gegen die Sonne gerichteten Kraft unter-
worfen ist
Das zweite Keplersche Gesetz: „Die Bahn jedes Planeten
ist eine Ellipse, deren Brennpunkt die Sonne ist", lehrte ihn,
daß die Kraft, die auf einen bestimmten Planeten wirkt, mit
dem Abstand desselben von der Sonne variiere und im um-
gekehrten Verhältnis des Quadrates dieses Abstandes stehe.
Das dritte Keplersche Gesetz: „Die Quadrate der Um-
laufszeiten der verschiedenen Planeten sind proportional den
Kuben der großen Achsen ihrer Bahnen" zeigte ihm, daß
wenn verschiedene Planeten in den gleichen Abstand von der
Sonne gebracht würden, sie von selten dieses Gestirnes An-
ziehungen erfahren würden, die proportional ihren Massen
sind.
Die durch Kepler experimentell erwiesenen, durdi die
mathematische Überlegung umgeformten Gesetze lehren alle
Kennzeichen der Wirkung, die die Sonne auf einen Planeten
ausübt, kennen; durch Induktion generalisiert Newtcm das er-
haltene Resultat; er nimmt an, daß dieses Resultat das Ge-
Die physikalische Theorie und das Experiment. 255
setz ausdrücke, nach dem jede beliebige Menge Materie auf
eine beliebige andere Materie wirkt, und formuliert folgendes
großes Prinzip: y,Zwei beliebige Körper ziehen sich gegen-
seitig mit einer Kraft an, die proportional dem Produkt ihrer
Massen und umgekehrt proportional dem Quadrat ihres Ab-
standes ist'^ Das Prinzip der allgemeinen Gravitation ist ge-
funden; er hatte es, ohne daß er von einer fiktiven Hypothese
Gebrauch gemacht, durch die induktive Methode, deren Richt-
linien er gezeichnet, erhalten.
Nehmen wir diese Anwendung der Newtonschen Me-
thode etwas näher vor. Sehen wir, ob eine etwas strengere,
logische Analyse den Schein der Strenge imd Einfachheit, den
diese allzusummarische Darstellung erzeugt, bestehen läßt
Um dieser Diskussion alle nötige Klarheit zu sichern, be-
ginnen wir mit der Erinnerung an folgendes Prinzip, das jedem,
der sich mit der Mechanik beschäftigt, geläufig ist: Man kann
nicht von der Kraft, die auf einen Körper unter gegebenen
Umständen wirkt, sprechen, bevor man nicht den Punkt be-
zeichnet hat, der als fest angenommen wird, auf den man die
Bewegung des Körpers bezieht; wenn man diesen Beziehungs-
punkt ändert, ändert auch die Kraft, die die auf den
beobachteten Körper von den anderen ihn umgebenden aus-
geübte Wirkung darstellt, ihre Richtung und Größe nach ge-
wissen Regeln, die die Mechanik mit Genauigkeit ausspricht.
Nachdem wir das festgestellt, folgen wir den Überlegungen
Newtons.
Newton nimmt im Anfang die Sonne als unbeweglidien
Vergleichspunkt an. Er betrachtet die Bewegungen, die die
verschiedenen Planeten besitzen, in Bezug auf diesen Punkt
Er nimmt an, daß diese Bewegungen den Keplerschen Gesetzen
gehorchen und leitet aus ihnen folgenden Lehrsatz ab : „Wenn
die Sonne der Beziehungspunkt für alle Kräfte ist, ist jeder
Planet einer gegen die Sonne gerichteten Kraft unterworfen,
die proportional der Masse des Planeten und umgekehrt pro-
portional dem Quadrat seines Abstandes von der Sonne ist
256 Zehntes Kapitel.
Was dieses Gestirn betrifft, so ist es, indem es als Beziehungs-
punkt gewählt wird, keiner Kraft unterworfen.
Newton studiert in analoger Weise die Bewegung der
Satelliten, und für jeden von ihnen wählt er als unbeweglichen
Beziehungspunkt den Planeten, den der Satellit begleitet, die
Erde, wenn es sich um das Studium der Bewegung des Mondes
handelt, den Jupiter, wenn ihn die Trabanten desselben be-
schäftigen. Gesetze, die den Keplerschen vollständig gleichen,
werden als Regeln dieser Bewegungen angenommen. Aus
ihnen ergibt sich, daß man folgenden neuen Lehrsatz formu-
lieren kann: „Wenn man als unbeweglichen Beziehungspunkt
den Planeten, den ein Satellit begleitet, annimmt, so ist dieser
Satellit einer gegen den Planeten gerichteten Kraft unter-
worfen, die in umgekehrtem Verhältnis des Quadrates seines
Abstandes vom Planeten wächst. Wenn, wie es bei Jupiter der
Fall ist, derselbe Planet mehrere Satelliten besitzt, so würden
sie, wenn sie in die gleiche Entfernung von ihm gebracht wür-
den, Kräften unterliegen, die proportional ihren Massen sind.
Der Planet selbst erfährt keinerlei Wirkung von selten des
Satelliten."
Dies sind in sehr präziser Form die Lehrsätze, deren Auf-
stellung die Keplerschen Gesetze über die Planetenbewegungen
und die Ausdehnung derselben auf die Bewegung der Satelliten
ermöglichen. An Stelle dieser Lehrsätze setzt Newton einen
anderen, der folgendermaßen ausgesprochen werden kann:
„Zwei beliebige Himmelskörper üben aufeinander eine An-
ziehungskraft aus, die die Richtung der Geraden, welche sie
verbindet, besitzt, proportional dem Produkt ihrer Massen und
umgekehrt proportional dem Quadrate ihrer Entfernung ist
Dieser Ausdruck setzt voraus, daß alle Bewegungen und alle
Kräfte auf den gleichen Beziehungspunkt bezogen seien. Dieser
Punkt ist ein ideales Zeichen, das der Mathematiker recht wohl
begreifen kann, dessen Lage am Himmel aber kein Körper in
genauer und konkreter Weise bestimmt."
Ist dieses Prinzip der allgemeinen Gravitation eine ein-
fache Generalisation der zwei Ausdrücke, die die Keplerschen
Gesetze und deren Ausdehnung auf die Satellitenbewegungen
Die physikalische Theorie und das Experiment 257
geliefert haben? Kann die Induktion es aus diesen beiden Aus-
drücken ableiten? Keineswegs. In der Tat ist es nicht nur
allgemeiner, als diese beiden Ausdrücke, es ist nicht nur ver-
schieden, sondern es steht in direktem Widerspruch zu ihnen.
Wenn der Mechaniker das allgemeine Anziehungsprinzip an-
erkennt, kann er die Größe und Richtung der Kräfte, die
auf die verschiedenen Planeten und die Sonne wirken, berech-
nen, wobei er letztere als Beziehungspunkt nimmt. Er findet
dann, daß diese Kräfte keineswegs diejenigen sind, die unser
erster Ausdruck verlangen würde. Er kann die Größe und
Richtung jeder der Kräfte, die auf Jupiter und seine Satelliten
wirken, bestimmen, unter der Annahme, daß alle Bewegungen
auf den als unbeweglich vorausgesetzten Planeten bezogen
seien. Er konstatiert, daß diese Kräfte nicht so sind, wie es
unser zweiter Ausdruck erfordern würde.
Das Prinzip der allgemeinen Gravitation kann
daher keineswegs durch Generalisation und Induk-
tion aus den Beobachtungstatsachen, die Kepler for-
muliert hatte, abgeleitet werden, es widerspricht viel-
mehr in aller Form diesen Gesetzen. Wenn die Theorie
von Newton richtig ist, sind die Keplerschen Gesetze
notwendigerweise falsch.
Es sind daher nicht die Gesetze, die Kepler aus der Be-
obachtung der Himmelserscheinungen abgeleitet hat, die ihre
experimentelle Sicherheit auf das Prinzip der allgemeinen
Schwere übertragen, da man im Gegenteil, wenn man die ab-
solute Richtigkeit der Keplerschen Gesetze annimmt, ge-
zwimgen wäre, den Lehrsatz, auf den Newton die Mechanik
des Himmels aufbaut, zu verwerfen. Anstatt sich auf die Kepler-
schen Gesetze berufen zu können, findet der Physiker, der
die Theorie der allgemeinen Gravitation rechtfertigen will, vor
allem in diesen Gesetzen ein Hindernis, das überwunden wer-
den muß. Er muß beweisen, daß seine Theorie, die mit der
Richtigkeit dieser Gesetze unvereinbar ist, die Bewegungen
der Planeten und Satelliten anderen Gesetzen unterwirft, die
so wenig von den ersteren verschieden sind, daß Tycho-Brahe,
Kepler und ihre Zeitgenossen die Abstände der Keplerschen
Dnhem, PhysilcAliscfie Theorie. 17
258 Zehntes Kapitel.
und Newtonschen Bahnen nicht zu unterscheiden vermocht
hätten. Dieser Beweis kann aus dem Umstand, daß die
Masse der Sonne sehr beträchtlich gegenüber den Massen der
verschiedenen Planeten und die Masse eines Planeten sehr
beträchtlich gegenüber den Massen seiner Satelliten ist, abge-
leitet werden.
Wie kann daher die Newtonsche Theorie, wenn sich deren
Gewißheit nicht aus der der Keplerschen Gesetze ergibt, als
gültig bewiesen werden. Man wird aus ihr mit einer An-
näherung, wie sie den stets verbesserten algebraischen Me-
thoden entspricht, die Störungen berechnen, um die in jedem
Augenblick jedes der Gestirne von der Bahn, die ihm gemäß
den Keplerschen Gesetzen vorgezeichnet wäre, abweicht. So-
dann wird man die berechneten Störungen mit den Störungen,
die mit Hülfe der genauesten Instrumente und der präzisesten
Methoden beobachtet wurden, vergleichen. Ein derartiger Ver-
gleich wird nicht nur über diesen oder jenen Teil des Newton-
schen Prinzipes handeln, sondern alle Teile desselben auf ein-
mal in Betracht ziehen, und ebenso auch aber alle Prinzipien der
Dynamik. Außerdem wird er alle Lehrsätze der Optik, der
Statik der Gase, der Wärmetheorie zu Hilfe nehmen, die nötig
sind, um die Eigenschaften der Teleskope festzustellen, um
sie zu konstruieren, zu justieren, zu korrigieren, um die durch
die täglidie und jährliche Aberration und durch die atmos-
phärische Refraktion verursachten Fehler zu eliminieren.
Es handelt sich nicht mehr darum, die durch Beobachtung fest-
gestellten Gesetze Stück für Stück zu nehmen und jedes der-
selben durch Induktion und Generalisation zum Range eines
Prinzips zu erheben, sondern es handelt sich vielmehr darum^
die Folgesätze einer ganzen Gruppe von Hypothesen mit einer
ganzen Gruppe von Tatsachen zu vergleichen.
Wenn wir nun die Ursachen suchen, die die Newtonsche
Methode in dem Falle scheitern ließen, für den sie ersonnen
wurde. Und als dessen vollkommenste Anwendung sie erschien,
finden wir sie in den zwei Kennzeichen, die jedes von der
theoretischen Physik verwendete Gesetz besitzt: Ein solches
Gesetz ist symbolisch und angenähert.
Die physikalische Theorie und das Experiment. 259
Ohne Zweifel handeln die Keplerschen Gesetze direkt von
den eigentlichen Objekten der astronomischen Beobachtung.
Sie sind so wenig symbolisch, wie nur möglich. Aber in
dieser rein experimentellen Form können sie nicht zur Auf-
stellung des Prinzips der allgemeinen Schwere führen. Damit
sie diese Fruchtbarkeit erlangen, müssen sie umgeformt wer-
den, müssen sie die Eigenschaften der Kräfte, mit denen die
Sonne die verschiedenen Planeten anzieht, kennen lehren.
Diese neue Form der Keplerschen Gesetze ist nun eine
symbolische Form. Die Dynamik allein gibt den Worten
Kraft und Masse, die dazu dienen, sie auszudrücken, einen
Sinn. Die Dynamik allein ermöglicht es, die alten, rea-
listischen Formeln, durch die neuen symbolischen, die Ge-
setze bezüglich der Bahnen durch Ausdrücke bezüglich der
Kräfte und Massen zu ersetzen. Die Berechtigung einer
derartigen Substitution setzt volles Vertrauen zu den Ge-
setzen der Dynamik voraus.
Um dieses Vertrauen zu rechtfertigen, wollen wir nicht be-
haupten, daß die Gesetze der Dynamik, im Augenblick, als
Newton von ihnen Gebrauch machte, um die Keplerschen
Gesetze zu symbolisieren, außer allem Zweifel standen,
daß sie durch das Experiment Bestätigungen erfahren haben,
die hinreichend sind, um die Zustimmung der Vernunft herbei-
zuführen. In Wirklichkeit wurden sie bis dahin nur recht spe-
ziellen und recht groben Prüfungen unterworfen. Ihre eigenen
Ausdrücke waren recht unsicher und verschwommen geblieben.
Erst im Werke über die Prinzipien wurden sie zum ersten
Male in scharfer Weise formuliert. In der Übereinstimmung
der Tatsachen mit der Mechanik des Himmels, die aus den
Werken Newtons stammte, fanden sie ihre ersten, überzeugen-
den Verifikationen.
So setzte die Übertragung der Keplerschen Gesetze in
symbolische, die allein für die Theorie dienlich sein können,
von vornherein die Zustimmung des Physikers zu einer ganzen
Gruppe von Hypothesen voraus. Aber noch mehr. Da die
Keplerschen Gesetze nur angenähert sind, ermöglicht die Dyna-
mik von ihnen eine Unzahl symbolischer Übertragungen zu
17*
260 Zehntes Kapitel.
liefern. Unter diesen verschiedenen, ungezählten Formen gibt
es eine, und nur eine, die mit dem Newtonschen Prinzip über-
einstimmt. Die Beobachtungen von Tydho-Brahe, die von Kep-
ler in so glücklicher Weise als Gesetze formuliert wurden,
ermöglichen es dem Theoretiker, diese Form zu suchen,
aber sie drängen sie ihm nicht auf, sie hätten es ihm ebenso
gut ermöglicht, eine Unzahl anderer zu wählen.
Der Theoriker kann sich daher nicht begnügen, zur Recht-
fertigung seiner Wahl die Keplerschen Gesetze heranzuziehen.
Wenn er beweisen will, daß das Prinzip, das er sich zu eigen
machte, wirkUdi ein Prinzip der naturgemäßen Klassifikation
der Bewegungen am Himmel sei, muß er zeigen, daß die
beobachteten Störungen mit den im voraus berechneten über-
einstimmen. Er muß aus der Bahn des Uranus auf die Existenz
und Lage eines neuen Planeten schließen und in der ange-
zeigten Richtung Neptun in seinem Teleskop erscheinen sehen.
§ 5. — Kritik der Newtonschen Methode (Fortsetzung).
— Zweites Beispiel: Die Elektrodynamik.
Nach Newton hat niemand deutlicher als Ampere erklärt,
daß jede physikaUsche Theorie allein durch Induktion aus dem
Experiment abgeleitet werden müsse. Kein Werk hat sich
enger an die Philosophiae naturalis Principia mathe-
matica angeschmiegt, als die Thiorie math^matique des
Ph^nom^nes electrödynatniques uniquement deduite
de Texperiencfe.
„Die Epoche, deren Kennzeichen in der Geschichte der
Wissenschaft die Arbeiten Newtons bilden, ist nidit nur die
der bedeutendsten Entdeckung, die der Mensch jemals über
die Ursachen der großen Erscheinungen in der Natur gemacht,
sondern sie ist auch die Epodie, in der der menschliche Qeist
sich einen neuen Weg in die Wissenschaften, deren Aufgabe
das Studium dieser Erscheinungen ist, gebahnt hat''. Mit diesen
Zj&len beginnt Ampere seine Darlegungen in der Theorie
math^matiqtie. Er fährt folgendermaßen fort:
Die physikalische Theorie und das Experiment 261
„Newton war weit davon entfernt, zu denken", daß das
Gesetz der allgemeinen Schwere „hätte entdeckt werden können,
wenn man von abstrakten, mehr oder minder einleuchtenden
Betrachtungen ausgegangen wäre. Er stellte fest, daß es aus
den beobachteten Tatsachen oder vielmehr aus solchen empi-
rischen Gesetzen, die wie die Keplerschen nur generalisierte
Resultate einer großen Anzahl von Tatsachen sind, abgeleitet
werden müsse",
„Der Weg den Newton ging, war folgender: Zuerst wur-
den die Tatsachen beobachtet und deren Bedingungen, soweit
als irgend möglich, variiert; bei dieser ersten Arbeit werden
genaue Messungen angestellt, um aus ihnen allgemeine, einzig
auf die Erfahrung gegründete Gesetze und sodann aus diesen
Gesetzen unabhängig von jeder Hypothese über die Natur
der Kräfte, die die Phänomene erzeugen, die mathematisdie
Größe derselben, d. h. die Formel, die sie darstellen, abzu-
leiten. Diese Methode wurde allgemein in Frankreich von den
Gelehrten, denen die Physik jene immensen Fortsdiritte, die
sie in der letzten Zeit gemacht hat, verdankt, angewendet und
sie diente auch mir als Führer in allen meinen Untersudiungen
über die elektrodynamischen Ersdieinungen. Ich hielt mich
einzig an das Experiment, um die Gesetze dieser Erscheinungen
aufzustellen und aus ihnen habe ich die Formel, die die
Kräfte, aus denen sie entspringen, allein darstellen kann, abge-
leitet Ich habe keine Untersudiung über die eigentliche Ur-
sache, die man diesen Kräften zuschreiben kann, ausgeführt,
da ich fest überzeugt bin, daß jeder Untersuchung dieser Art
die rein experimentelle Kenntnis der Gesetze und die Be-
stimmung des Wertes der Elementarkraft, die einzig aus diesen
Gesetzen abgeleitet werden kann, vorausgehen muß".
Man hat weder eine sehr aufmerksame noch sehr tief-
gehende Kritik nötig, um zu erkennen, daß die mathematische
Theorie der elektrodynamischen Erscheinungen in
keiner Weise gemäß der Methode, die Ampere ihr vorzeichnet,
verfährt, daß sie nicht einzig aus der Erfahrung abge-
leitet sei. Die Tatsachen des Experimentes wären, roh, wie
sie von Natur aus sind, nicht der mathematischen Behandlung
262 Zehntes Kapitel.
zugänglich gewesen. Um diese Behandlung zu ermöglichen,
müssen sie umgebildet und in symbolische Form gebracht
werden. Dieser Umbildung hat Ampere sie unterworfen. Er
begnügt sich nicht, die Apparate aus Metall, in denen die
Ströme fließen auf einfache geometrische Figuren zu redu-
zieren. Eine derartige Versinnbildlichung drängt sich zu natür-
lich auf, um Gelegenheit zu einem ernsten Zweifel zu geben.
Er begnügt sich auch nicht, den der Mechanik entlehnten Be-
griff der Kraft und die verschiedenen Theoreme, die diese
Wissenschaft bilden, zu verwenden. In der Epodie, in der
er schrieb, konnten diese Theoreme als über jeden Zweifel
erhaben angesehen werden. Er macht überdies von einer
ganzen Gruppe vollständig neuer, vollständig willkürlicher Hy-
pothesen, von denen manche sogar ein wenig überraschend sind,
Gebrauch. In erster Linie muß man unter diesen Hypothesen
die intellektuelle Operation erwähnen, durch die er den elek-
trischen Strom, der in Wirklichkeit nicht gebrochen werden
könnte, ohne daß er zu existieren aufhört, in unendlich kleine
Elemente zerlegt. Sodann die Annahme, daß alle wirklichen
elektrodynamischen Wirkungen sich in fingierte Wirkungen
auf die Paare, die je zwei Stromelemente bilden, zerlegen
lassen. Sodann das Postulat, daß die wechselseitigen Wirkun-
gen von zwei Elementen sich auf zwei Kräfte zurückführen
lassen, die an den Elementen angreifen, die Richtung von deren
Verbindungsgeraden besitzen, einander gleich und entgegen-
gesetzt sind. Sodann jenes andere Postulat, daß der Abstand
der beiden Elemente in der Formel für ihre Wechselwirkung
bloß im Nenner und zu einer bestimmten Potenz erhoben, auftrete.
Diese verschiedenen Annahmen sind so wenig augenschein-
lich, so wenig zwingend, daß mehrere von ihnen von den
Nachfolgern Amperes kritisiert oder verworfen wurden. Andere
Hypothesen, die ebenso geeignet sind die fundamentalen Ex-
perimente der Elektrodynamik auszudrücken, wurden von
anderen Physikern vorgeschlagen. Aber keinem von ihnen
gelang es, einen solchen Ausdruck zu geben, ohne ein neues
Postulat zu formulieren; dies zu verlangen wäre auch absurd.
Die Notwendigkeit für den Physiker, die experimentellen
Die physikalische Theorie und das Experiment 263
Tatsachen symbolisch auszudrücken, bevor er sie in seine
Überlegungen einführt, macht den rein induktiven Weg, den
Ampere vorgezeichnet hat, für ihn unbrauchbar. Dieser Weg
ist ihm ebenso deshalb verboten, weil keines der beobach-
teten Gesetze genau, sondern jedes nur angenähert ist.
Die Annäherung der Ampereschen Experimente ist eine
sehr grobe. Er gibt von den beobachteten Tatsachen eine
symbolische Übertragung, die für den Ausbau seiner Theorie
geeignet ist. Aber wie leicht wäre es ihm gewesen, die Un-
genauigkeit der Beobachtungen zu benützen, um von ihr eine
ganz andere Übertragung zu geben! Hören wir Wilhelm
Weberi):
„Ampere hat seine mathematische Theorie der elektro-
dynamischen Erscheinungen in der Überschrift seiner Abhand-
lung als einzig aus der Erfahrung abgeleitet, bezeich-
net, und man findet in der Abhandlung selbst die sinnreiche
einfache Methode ausführlich entwickelt, welche er zu diesem
Zwecke angewandt hat. Man findet darin die von ihm ge-
wählten Versuche und ihre Bedeutung für die Theorie aus-
führlich erörtert und die Instrumente zu ihrer Ausführung ge-
nau und vollständig beschrieben; doch fehlt es an einer ge-
nauen Beschreibung der Versuche selbst. Bei solchen Funda-
mentalversuchen genügt es aber nicht, den Zweck derselben
anzugeben und die Instrumente zu beschreiben, womit sie
gemacht werden, und im allgemeinen bloß die Versicherung
beizufügen, daß sie von dem erwarteten Erfolge begleitet ge-
wesen seien, sondern es ist auch nötig, in das Detail der Ver-
suche selbst genauer einzugehen und anzugeben, wie oft jeder
Versuch wiederholt, welche Abänderungen gemacht worden,
und welchen Einfluß letztere gehabt haben, kurz, protokoll-
mäßig alle Data mitzuteilen, welche zur Begründung eines
Urteils über den Grad der Sicherheit oder Gewißheit des Re-
sultates beitragen. Solche nähere Angaben über die Versuche
hat Ampere nicht mitgeteilt, und es mangeln dieselben auch
^) Wilhelm Weber: Elektrodynamische Maaßbestimmungen,
Leipzig, 1846, p. 6-7.
264 Zehntes Kapitel.
jetzt noch zur Vervollständigung eines direkten tatsächlichen
Beweises der elektrodynamischen Fundamentalgesetze. Die
Tatsache der Wechselwirkung der Leitungsdrähte im allge-
meinen ist zwar durch häufig wiederholte Versuche außer
Zweifel gesetzt; aber nur mit solchen Mitteln und unter soldien
Umständen, wo an keine quantitativen Bestimmungen ge-
dacht werden konnte, geschweige, daß diese Bestimmungen
eine Schärfe erreicht hätten, welche notwendig ist, um das
Gesetz jener Erscheinungen als erfahrungsmäßig bewiesen zu
betrachten".
„Nun hat zwar Ampere häufiger von dem Ausbleiben
elektrodynamischer .Wirkungen, welches er beobachtet hatte,
eine ähnliche Anwendung gemacht, wie von Messungen, die
das Resultat = ergeben hätten, und hat durch diesen Kunst-
griff mit großem Scharfsinne Und vieler Geschicklichkeit die
notwendigsten Grunddata und Prüfungsmittel für seine theo-
retischen Kombinationen zu gewinnen gesucht, was in Er-
mangelung besserer Data nicht anders möglich war; solchen
negativen Erfahrungen, wenn sie auch einstweilen die Stelle
mangelnder positiver Messungsresultate vertreten müssen,
kann aber,'' da bei diesen Experimenten, alle passiven Wider-
stände, alle Reibungen, alle Fehlerquellen präzise auf Erzeu-
gung der Erscheinung, die man zu beobachten wünscht, hin-
wirken, „keineswegs der ganze Wert und die volle Beweiskraft
zugeschrieben werden, welche die letzteren besitzen, wenn
sie nicht selbst mit solchen Hilfsmitteln und unter solchen
Verhältnissen gewonnen worden sind, mit denen und unter
welchen auch wahre Messungen sich ausführen lassen, was
mit den von Ampfere gebrauchten Instrumenten nicht mög-
lich war".
Bei so wenig genauen Experimenten bleibt dem Physiker
die Sorge überlassen, unter einer Unzahl gleich gut möglicher
symbolischer Übersetzungen zu wählen. Sie bedingen keines-
wegs eine bestimmte Wahl und sie verleihen dieser auch
keine Gewißheit. Einzig die Intuition, die zu der Form der
aufzustellenden Theorie rät, leitet diese Wahl. Diese Rolle
der Intuition ist besonders in dem Werke Amperes wichtig.
Die physikalische Theorie und das Experiment 265
Es genügt die Schriften dieses großen Mathematikers durch-
zublättern, um zu erkennen, daß seine fundamentale Formel
der Elektrodynamik vollständig durch eine Art Sehergabe ge-
funden wurde, daß die Experimente, auf die er sich beruft, nach-
träglich ersonnen und gerade deshalb kombiniert wurden, um
gemäß der Newtonsdien Methode eine Theorie, die tatsäch-
lich auf Grund einer Serie von Postulaten aufgestellt wurde,
darstellen zu können.
Ampere war übrigens zu aufrichtig, um wissentlich
zu verhehlen, daß seine einzig aus der Erfahrung
abgeleitete Auseinandersetzung etwas Künstliches habe.
Am Ende seiner Theorie math^matique des ph6-
nom^nes £lectrodynamiques schreibt er die folgen-
den Zeilen: „Ich glaube am Schluß dieser Abhandlung er-
wähnen zu müssen, daß ich noch nicht Zeit hatte, die in
der Figur 4 der ersten Tafel und in der Figur 20 der zweiten
Tafel dargestellten Instrumente zu konstruieren. Die Expe-
rimente, für die sie bestimmt sind, wurden daher noch nicht
ausgeführt". Der erste der beiden Apparate nun, von denen
hier die Rede ist, hatte den Zwedc, den letzten der vier fun-
damentalen Fälle des Gleichgewichts, die als Säulen des Qe-
bäudes von Ampere dienten, zu verwirklichen. Mit Hilfe
jenes Experimentes, für das dieser Apparat bestimmt
war, sollte die Potenz des Abstandes, nach dem die elektro-
dynamischen Wirkungen vor sich gehen, festgestellt werden.
Die elektrodynamische Theorie von Ampfere ist daher keines-
wegs einzig aus der Erfahrung abgeleitet worden, son-
dern das Experiment hatte im Gegenteil nur einen sehr ge-
ringen Anteil an deren Ausbildung. Es war bloß die Ge-
legenheit, die die Intuition des genialen Physikers wachrief
und diese Intuition tat das übrige.
Durch die Untersudiungen von Wilhelm Weber wurde die
vollständig intuitive Theorie Amperes zum erstenmal einer
eingehenden Prüfung an den Tatsachen unterworfen. Aber
diese Prüfung wurde keineswegs auf Grund der Newtonschen
Methode durchgeführt. Aus der in ihrer Gänze genommenen
Theorie Amperes deduzierte Weber gewisse, der Rechnung zu-
266 Zehntes Kapitel
gängliche Wirkungen. Die Theoreme der Statik und der Dyna-
mik, zu denen sogar noch gewisse Lehrsätze der Optik kamen,
ermöglichten ihm einen Apparat, das Elektrodynamometer
zu ersinnen, durch den dieselben Wirkungen präzisen Messun-
gen unterworfen werden können. Die Übereinstimmung der
Voraussagtingen der Redinung mit den Resultaten der Messun-
gen bestätigt nun nicht diesen oder jenen isolierten Lehrsatz der
Theorie von Ampere, sondern die ganze Gruppe elektrodyna-
mischer, mechanischer und optischer Hypothesen, auf die man
sich bei der Interpretation eines jeden der Weberschen Ex-
perimente berufen muß.
Somit ist dort, wo Newton scheiterte, Ampere noch hef-
tiger auf den Qrund geraten. Das kommt daher, daß zwei
unausweichliche Klippen den rein induktiven Weg für den Phy-
siker ungangbar machen. In erster Linie kann kein experimen-
telles Gesetz dem Theoretiker dienen, bevor es einer Inter-
pretation, die es in ein sjrmbolisches Gesetz umbildet, unter-
worfen wurde. Diese Interpretation schließt nun die Aner-
kennung einer ganzen Gruppe von Theorien in sich. In zweiter
Linie ist kein experimentelles Gesetz genau. Ein jedes ist nur
angenähert und daher eine Unzahl verschiedener symboli-
scher Übersetzungen möglich. Unter allen diesen Über-
setzungen muß der Physiker diejenige wählen, die der Theorie
eine fruchtbare Hypothese liefert, ohne daß das Experiment
irgendwie seine Wahl leiten würde.
Diese Kritik der Newtonschen Methode führt uns auf
Schlußfolgerungen zurück, auf die wir schon bei der Kritik
des experimentellen Widerspruches und des Experimen-
ttim crucis gekommen waren. Diese Schlußfolgerungen ver-
dienen, daß wir sie mit aller Klarheit formulieren. Es sind
folgende :
Man jagt einer Chimäre nach, wenn man irgend
eine der Hypothesen der theoretischen Physik von den
anderen Annahmen, auf denen diese Wissenschaft ruht,
zu trennen sucht, um sie isoliert der Kontrolle der Be-
obachtung zu unterwerfen; es schließt nämlich die
Verwirklichung und Interpretation jedes beliebigen
Die physikalische Theorie und das Experiment 267
Experimentes der Physik die Anerkennung einer ganzen
Gruppe theoretischer Lehrsätze in sich.
Die einzige experimentelle Kontrolle der physi-
kalischen Theorie, die nicht unlogisch ist, besteht in
dem Vergleich DES VOLLSTÄNDIGEN SYSTEMES DER
PHYSIKALISCHEN THEORIE MIT DER GANZEN GRUPPE
EXPERIMENTELLER TATSACHEN und in der Feststellung,
ob diese durch jene in befriedigender Weise dar-
gestellt wird.
§ 6. — Konsequenzen in bezug auf den physikalischen
Unterricht.
Im Gegensatz zu dem, was wir uns darzulegen bemüht
haben, nimmt man im allgemeinen an, daß jede Hypothese
der Physik aus der Gesamtheit getrennt und isoliert der Kon-
trolle des Experimentes unterworfen werden könne. Natür-
lich leitet man aus diesem irrtümlichen Prinzip falsche Konse-
quenzen in bezug auf die Methode des physikalischen Unter-
richtes ab. Man wünscht, daß der Lehrer alle Hypothesen
der Physik in eine bestimmte Ordnung bringe ; daß er die erste
nehme, deren Formulierung angebe, deren experimentelle Be-
stätigungen aufzeige und sodann, wenn diese Bestätigungen
als hinreichend erkannt wurden, die Hypothese als akzeptiert
bezeichne. Ja, noch mehr, man wünscht, daß er diese erste
Hypothese auf Grund induktiver Generalisation eines rein ex-
perimentellen Gesetzes formuliere. Er würde diese Operation
bei der zweiten Hypothese, ebenso der dritten usw. zu wieder-
holen haben, bis die Physik vollständig dargestellt wäre. Man
würde die Physik ebenso lehren können, wie man die Geometrie
lehrt. Die Hypothesen würden einander ebenso wie die Theoreme
folgen. Die experimentelle Prüfung jeder Annahme würde den
Beweis eines jeden Lehrsatzes ersetzen. Man würde kein Er-
gebnis erhalten, welches nicht aus den Tatsachen abgeleitet
ist oder nicht ohne weiters durch die Tatsachen gerechtfertigt
werden könnte.
So ist das Ideal beschaffen, das sich viele Professoren
setzen, das manche vielleicht glauben erreicht zu haben. Es
268 Zehntes Kapitel.
fehlt nicht an gewichtigen Stimmeni die sie zur Verfoigun^^
dieses Ideales anspornen. „Es ist wichtig/' sagt Hr. H. Poin-
car£^), „die Hypothesen nicht übermäßig zu vervielfältigen und
sie einzeln nacheinander aufzustellen. Wenn wir eine, auf
vielfache Hypothesen gegründete Theorie bilden, welche unter
unsern Prämissen muß dann notwendigerweise geändert wer-
den, wenn das Experiment die Theorie widerlegt? Das zu
wissen, ist unmöglich. Und umgekehrt, wenn das Experiment
gelingt, wird man dann glauben, alle Hypothesen auf ein-
mal verifiziert zu haben? Wird man glauben, mit einer ein-
zigen Gleichung mehrere Unbekannte bestimmt zu haben?''
Speziell die rein induktive Methode, deren Gesetze New-
ton formuliert hat, wird von vielen Physikern als die einzige
Methode, die es ermöglicht, verstandesmäßig die Naturwissen-
schaft darzustellen, angesehen: „Die Lehre, die wir bringen
werden'', sagt Gustave Robin') „wird nur eine Kombination
einfacher, durch das Experiment gegebener Induktionen sein.
Was diese Induktionen betrifft, so werden wir sie stets in
leicht merkbaren Ausdrücken formulieren, die direkten Veri-
fikationen zugänglich sind, wobei wir niemals außer Betracht
lassen, daß eine Hypothese niemals durch ihre Konsequenzen
verifiziert werden könne." Es ist jene Newtonsche Methode,
die denjenigen, (die die Aufgabe haben, die Physik in der Mittel-
schule zu unterrichten, empfohlen, wo nicht vorgeschrieben
wird. „Die Methoden der mathematischen Physik im Mittel-
schulunterricht", wird ihnen gesagt*), „sind mangelhaft; sie
gehen von a priori aufgestellten Hypothesen oder Defini-
tionen aus, aus denen Deduktionen abgeleitet werden, die der
Kontrolle des Experimentes unterworfen werden müssen. Diese
Methode kann im Unterricht der speziellen Mathematik ent-
sprechen, man hat aber unrecht, sie gegenwärtig in den Ele-
^) H. Poincar^: Science et Hypothese, p. 179. [Deutsche Aus-
gabe, Leipzig 1906, p. 153.]
') O. Robin: Oeuvres scientifiques, Thermodynamique g6n6-
rale. Introduction p. XU, Paris 1901.
') Note sur une Conference de M. Joubert, inspecteur g^n^ral de
TEnseignement secondaire. (L'Enseignement secondaire, IS.avrfl 1903.)
Die physikalische Theorie und das Experiment 260
mentarkursen der Mechanik, der Hydrostatik, der Optik an-
zuwenden. Ersetzen wir sie durch die induktive Methode/'
Die vorangehenden Erörterungen haben mehr als genü-
gend folgende Wahrheit festgestellt: Die induktive Methode,
deren Gebrauch man dem Physiker empfiehlt, ist für ihn eben-
so unanwendbar, wie für den Mathematiker jene vollkommen
deduktive Methode, die darin besteht, alles zu definieren und
alles zu beweisen, jene Methode, in die sich gewisse Geometer
zu verbeißen scheinen, obwohl Pascal an derselben vor langer
Zeit gerechte und strenge Kritik geübt hat. Es ist daher
wohl klar, daß diejenigen, die behaupten, nach dieser Methode
die Reihe der physikalischen Prinzipien zu entwickeln, von
derselben notwendigerweise eine Darstellung geben werden,
die in irgend einem Punkte fehlerhaft ist.
Unter den Mängeln, die eine derartige Darstellung kenn-
zeichnen, ist der häufigste und gleichzeitig wegen der falschen
Ideen, die er in den Verstand der Schüler einpflanzt, auch
der schwerste, das fingierte Experiment. Der Physiker,
der genötigt ist, sich auf ein Prinzip zu berufen, das in Wirk-
lichkeit keineswegs aus den Tatsachen abgeleitet wurde, das
keineswegs durch Induktion entstand, und dem es dabei wider-
strebt, dieses Prinzip für das auszugeben, was es ist, d. h.
für ein Postulat, ersinnt ein Experiment, das, wenn es aus-
g^eführt und gelungen wäre, zu dem Prinzip führen könnte,
dessen Berechtigung dargetan werden soll.
Die Berufung auf ein derartiges fingiertes Experiment be-
deutet, daß ein auszuführendes Experiment an Stelle eines
ausgeführten gesetzt wird. Man rechtfertigt somit ein Prinzip
nicht mit Hilfe der beobachteten Tatsachen, sondern mit Hilfe
solcher, deren Realisierung man voraussagt. Und diese Vor-
aussagung hat kein anderes Fundament, als den Glauben an
das Prinzip, zu dessen Stütze man sich auf eben dieses Ex-
periment beruft. Ein derartiges Beweisverfahren führt zu
einem Circulus vitiosus, und derjenige, der es vorbringt, ohne
hervorzuheben, daß das angegebene Experiment nicht aus-
geführt wurde, begeht eine Unredlichkeit.
270 Zehntes Kapitel.
Manchmal würde das von dem Physiker beschriebene
fingierte Experiment, wenn man es zu realisieren versuchen
würde, kein irgendwie genaues Resultat ergeben. Die sehr
unbestimmten und groben Wirkungen, die es hervorbringen
würde, könnten ohne Zweifel mit dem zu rechtfertigenden
Lehrsatz in Obereinstimmung gebracht werden, aber sie wür-
den auch mit manchen andern, sehr verschiedenen Lehrsätzen
in Übereinstimmung sein. Die Beweiskraft eines derartigen
Experimentes wäre daher sehr schwach und der Bestätigung
bedürftig. Das Experiment, das Ampere erdacht hat, um zu
beweisen, daß die elektrodynamischen Wirkungen umgekehrt
proportional dem Quadrat der Entfernung vor sich gehen, das
er aber nicht ausgeführt hat, ist ein schlagendes Beispiel eines
solchen fingierten Experimentes.
Aber es kommt Schlimmeres vor. Recht häufig ist das
fingierte Experiment, auf das man sich beruft, nicht nur un-
realisiert, sondern unrealisierbar. Es setzt die Existenz eines
Körpers voraus, den man in der Natur nicht antrifft, phy-
sikalische Eigenschaften, die niemals beobachtet wurden. So
hat Gustave Robin^), um von den Prinzipien der chemischen
Mechanik die von ihm gewünschte rein induktive Darstellung
geben zu können, unter dem Namen Beweiskörper (corps
temoins), Körper erschaffen, die durch ihre bloße Gegen-
wart fähig sind, eine chemische Reaktion in Gang zu bringen
oder aufzuhalten ; niemals hat die Beobachtung den Chemikern
die Existenz derartiger Körper offenbart.
Das nicht realisierte Experiment, das absolut unrealisier-
bare Experiment, erschöpfen noch nicht die verschiedenen
Formen, die das fingierte Experiment in den Schriften der
Physiker, die die induktive Methode zu befolgen behaupten, an-
nehmen kann. Es bleibt noch die Aufzeigung einer noch un-
logischeren Form als die aller anderen übrig, das absurde
Experiment. Dasselbe will einen Lehrsatz beweisen,
der, wenn er als Ausdruck einer experimentellen Tat-
sache angesehen wird, einen Widerspruch aufweist
Gustave Robin: Oeuvres scientifiques, Therinodynamique
g^n^rale, p. II, Paris 1901.
Die physikalische Theorie und das Experiment. 271
Auch den scharfsinnigsten Physikern gelang es nicht immer,
sich gegen das Auftreten des absurden Experimentes in ihren
Darlegungen zu schützen. Führen wir zum Beispiel folgende,
J. Bertrand^) entlehnte Zeilen an: „Wenn man als experimen-
telle Tatsache annimmt, daß sich die Elektrizität an der Ober-
fläche der Körper befinde, und als notwendiges Prinzip, daß die
Wirkung der freien Elektrizität auf leitende Massenpunkte O
sein müsse, so kann man, wenn diese beiden vorausgesetzten
Bedingungen streng erfüllt sind, ableiten, daß die elektrischen
Anziehungen und Abstoßungen umgekehrt proportional dem
Quadrat der Entfemimg sind."
Nehmen wir folgenden Lehrsatz: „Es gibt, wenn elektrisches
Oleichgewicht besteht, keine Elektrizität im Innern des leitenden
Körpers'^ und fragen wir, ob es möglich sei, ihn als Ausdruck
einer experimentellen Tatsache zu betrachten. Wägen wir genau
den Sinn der Worte, die da auftreten und speziell den Sinn
des Wortes Inneres, ab. Im Sinne, in dem man dieses Wort
in diesem Lehrsatz verstehen muß, ist ein Punkt im Innern
eines elektrisierten Kupferstückes, ein solcher, der sich im Innern
der Kupfermasse befindet Wie kann man demzufolge konsta-
tieren, ob sich in dem Punkte Elektrizität befindet oder nicht?
Man müßte dorthin einen Probekörper bringen; dazu müßte
man vorher das Kupfer, welches sich dort befindet, wegnehmen.
Aber dann wäre dieser Punkt nicht mehr im Innern der Kupfer-
masse; er wäre außerhalb dieser Masse. Man kann nicht, ohne
in einen logischen Widerspruch zu verfallen, unseren Lehrsatz
als Beobachtungsresultat auffassen.
Was ergeben daher die Experimente, durch die man diesen
Lehrsatz zu beweisen vorgibt. Sicheriich etwas ganz anderes,
als was man von ihnen behauptet. Man macht in einer leitenden
Masse eine Höhlung und konstatiert, daß die Wände dieser
Höhlung nicht elektrisiert seien. Diese Beobachtung beweist
nichts bezüglich der An- oder Abwesenheit von Elektrizität in
Punkten, die sich im Innern einer leitenden Masse befinden.
Um von dem experimentell konstatierten Oesetz zu dem aus-
^) J. Bertrand: Legons sur la Theorie math^matique de
rfelectricit^, p. 71. Paris, 1890.
272 Zehntes Kapitel.
gesprochenen flberzugehen, spielt man mit dem Sinn des Wortes
Inneres. Aus Furcht, die Elektrostatik auf ein Postulat zu
stützen, stützt man sie auf ein Wortspiel.
Wir brauchten nur die Abhandlungen und Handbücher der
Physik durchzublättern, um eine Menge fingierter Experimente
aufzuzeigen. Wir würden in ihnen im Oberfluß Beispiele der
verschiedenen Formen, die ein derartiges Experiment annehmen
kann, von dem einfach unrealisierten bis zu dem absurden,
finden. Halten wir uns jedoch nicht mit dieser langweiligen
Arbeit auf. Das, was wir gesagt haben, genügt zur Recht-
fertigung folgender Schlußfolgerung: Der physikalische Unter-
richt nach der rein induktiven Methode, wie sie Newton formuliert
hat, ist eine Chimäre. Derjenige, der behauptet, diese Chimäre
erreichen zu können, narrt sich selbst und seine Schüler. Er
gibt ihnen für gesehene blos vorausgesehene Tatsachen, für
genaue Beobachtungen grobe Feststellungen, für realisierbare
Verfahren rein ideale Experimente, für experimentelle Gesetze
Lehrsätze, die nicht ohne Widerspruch als Ausdruck von
Realitäten angenommen werden können. Die Physik, die er
dariegt, ist eine falsche und verfälschte.
Möge daher der Lehrer auf diese ideale, induktive Methode,
die von einer falschen Vorstellung ausgeht, verzichten. Möge
er diese Art der Auffassung des Unterrichts in der experimen-
tellen Wissenschaft, die deren wesentlichen Charakter entstellt
und verdreht, zurückweisen. Wenn die Interpretation des
kleinsten physikalischen Experimentes die Anwendung einer
ganzen Gruppe von Theorien voraussetzt, wenn sogar die Be-
schreibung des Experimentes eine Menge abstrakter symbolischer
Ausdrücke, deren Sinn die Theorien allein festlegen und deren
Verbindung mit den Tatsachen sie allein kennzeichnen, erfordert,
ist es wohl nötig, daß der Physiker sich entschließe, eine lange
Kette von Hypothesen und Deduktionen zu entwickeln, bevor
er den Versuch macht, den geringsten Vergleich zwischen dem
theoretischen Gebäude und der konkreten Realität auszuführen.
Auch wird er oft bei der Beschreibung der Experimente, die
die bereits entwickelten Theorien verifizieren, auf Theorien, zu
denen er erst gelangen wird, vorgreifen müssen. Er wird zum
Die physikalische Theorie und das Experiment 273
Beispiel nicht die geringste experimentelle Bestätigung der
Prinzipien der Mechanik auszuführen versuchen, bevor er nicht
nur die Verkettung der Lehrsätze der allgemeinen Mechanik
entwickelt, sondern auch die Grundlagen der Mechanik des
Himmels skizziert hat Auch muB er, indem er sich auf die
Beobachtungen, welche diese Gruppe von Theorien bestätigen,
bezieht, die Gesetze der Optik als bekannt voraussetzen, die
allein den Gebrauch der astronomischen Instrumente recht-
fertigen.
Möge daher der Lehrer in erster Linie die wesentlichen
Theorien der Wissenschaft entwickeln. Ohne Zweifel ist es,
wenn er die Hypothesen, auf denen diese Theorien ruhen,
darstellt, nötig, daß er auf deren Annahme hinarbdte; es ist
berechtigt, wenn er auf die Erfahrungen des alltäglichen Lebens,
auf die durch gewöhnliche Beobachtung erhaltenen Tatsachen,
auf die einfachen oder noch wenig analysierten Elemente,
die zur Formulierung dieser Hypothese geführt haben, hin-
weist Diesen Punkt werden wir übrigens noch im nächsten
Kapitel ausführiich besprechen. Aber er muß ganz aus-
drücklich betonen, daß diese Tatsachen, die genügen, um
zur Aufstellung dieser Hypothese anzuregen, nicht genügen,
um sie zu bestätigen. Erst nachdem er einen großen Teil
seines Lehrgebäudes aufgebaut, nachdem er eine vollständige
Theorie ausgebildet hat, kann er die Konsequenzen dieser
Theorie mit dem Experimente vergleichen.
Der Unterricht muß dem Schüler folgende Grundwahrheit
deutlich machen: die experimentellen Bestätigungen sind nicht
die Basis der Theorie, sondern deren Krönung; die Physik
schreitet nicht wie die Geometrie vorwärts; diese wächst, in-
dem sie fortwährend neue, ein für allemal bewiesene Theoreme
beibringt, die sie den schon bewiesenen Theoremen hinzu-
fügt> jene ist ein symbolisches Bild, dem fortwährende Ver-
besserungen mehr und mehr Ausdehnung und Einheit geben;
die Gesamtheit der Theoreme gibt ein immer ähnlicheres Bild
der Gesamtheit der experimentellen Tatsachen, während jedes
Detail dieses Bildes abgeschnitten und isoliert vom Ganzen jede
Bedeutung vertiert und nichts mehr darstellt.
Dnhem, Physikalische Theorie. 18
274 Zehntes Kapitel.
Dem Schüler, der diese Wahrheit nicht erkannt hat, wird
die Physik als ein monströser Wortschwall erscheinen, der
nichts anderes als eine petitio principii auf die andere und einen
circulus vitiosus auf den anderen häuft Wenn sein Denken
sehr streng ist, wird er mit Abscheu die fortwährenden Ver-
stöße gegen die Logik zurückweisen. Wenn sein Verstand
minder streng ist, wird er diese Worte mit ungenauem Sinn,
diese Beschreibungen unrealisierter und unrealisierbarer Ex-
perimente, diese Überlegungen, die nur Taschenspielerkünste
sind, auswendig lernen, indem er bei dieser unvernünftigen Qe-
dächtnisarbeit das wenige, was er an gesundem Sinn und
kritischem Denken besaß, verliert.
Der Schüler dagegen, der mit klarem Blick die Gedanken
die wir formuliert haben, erfaßt, wird nicht nur eine gewisse
Zahl physikalischer Sätze gelernt, sondern die Natur und wahre
Methode der experimentellen Wissenschaft begriffen haben ^).
§ 7. — Konsequenzen in bezug auf die mathematische
Entwicklung der physikalischen Theorie.
Auf Grund der vorangegangenen Erörterungen erscheint
uns die wahre Natur der physikalischen Theorie und der Bande,
die sie ans Experiment knüpfen, immer deutlicher und genauer.
Die Materialien, aus denen diese Theorie konstruiert wird,
sind einerseits die mathematischen Symbole, die dazu dienen,
die verschiedenen Qualitäten und Quantitäten der physikali-
schen Erfahrung darzustellen, andererseits die allgemeinen
Postulate, die ihr als Prinzipien dienen. Aus diesen Materi-
alien soll sie ein logisches Gebäude erstellen, sie muß daher,
wenn sie den Plan dieses Gebäudes zeichnet, die Gesetze, die
die Logik jeder deduktiven Schlußfolgerung auferlegt, ebenso
^) Man wird ohne Zweifel einwenden, dafi ein derartiger Unterricht
für junge Intelligenzen schwer anwendbar sei; die Antwort darauf ist einfach:
Man trage die Physik nicht Köpfen vor, die noch nicht geeignet sind sie
aufzunehmen. M^e de S^vign^ sagte, als von kleinen Kindern die Rede
war: „Bevor man ihnen Fuhrmannskost gibt, muß man sich vergewissem,
ob sie einen Fuhrmannsmagen besitzen."
Die physikalische Theorie und das Experiment 275
wie die Regeln, die die Algebra jeder mathematischen Ope-
ration vorschreibt, peinlichst respektieren.
Die mathematischen Symbole, deren sich die Theorie be-
dient, haben nur unter richtig bestimmten Bedingungen einen
Sinn; diese Symbole definieren heißt diese Bedingungen auf-
zählen. Die Theorie muß darauf verzichten, diese Zeichen
unter anderen Bedingungen zu gebrauchen. So kann auf
Grund der Definition eine absolute Temperatur nur positiv
sein, so ist die Masse eines Körpers unveränderlich; niemals
wird die Theorie in ihren Formulierungen der absoluten Tem-
peratur den Wert Null oder einen negativen zuschreiben ; nie-
mals wird sie in ihren Rechnungen die Masse eines bestimmten
Körpers variieren lassen.
Die Theorie hat zum Prinzip Postulate, d. h. Lehrsätze,
die sie aussprechen kann, wie es ihr beliebt, vorausgesetzt, daß
weder zwischen den Ausdrücken desselben Postulates, noch
zwischen zwei verschiedenen Postulaten ein Widerspruch be-
steht. Wenn aber einmal diese Postulate aufgestellt sind, muß
sie sie mit eifriger Strenge hüten. Wenn sie zum Beispiel das
Gesetz der Erhaltung der Energie zur Basis ihres Systemes ge-
macht hat, muß sie auf jede Behaupttmg, die im Widerspruch
mit diesem Princip steht, verzichten.
Solche Regeln — und nur solche — lasten während des
Baues einer physikalischen Theorie mit ihrem ganzen Gewicht
auf derselben. Ein einziger Mangel würde das System unlogisch
machen und uns verpflichten, es umzustoßen, um ein anderes
aufzubauen. IM LAUF IHRER ENTWICKLUNG steht es einer
physikalischen Theorie frei, einen beliebigen Weg ein-
zuschlagen, vorausgesetzt, daß er jeden logischen
Widerspruch vermeidet; im speziellen steht es ihr frei,
keinerlei Rechenschaft von den experimentellen Tat-
sachen zu geben.
Dies ist nicht mehr der Fall, WENN DIE THEORIE
IHRE VOLLSTÄNDIGE AUSBILDUNO ERFAHREN HAT.
Wenn das logische Gebäude vollendet ist, wird es not-
wendig, die Gruppe mathematischer Lehrsätze, die als Schluß-
folgerungen dieser langen Deduktionen erhalten wurden, mit
IS*
276 Zehntes Kapitel.
der Gruppe experimenteller Tatsachen zu vergleichen. Durch
Anwendung der angenommenen Meßverfahren muß man sich
versichern, daß die zweite Gruppe in der ersten ein hinreichend
ähnliches Bild, ein hinreichend genaues und vollständiges Sym-
bol finde. Wenn diese Übereinstimmung zwischen den Schluß-
folgerungen der Theorie und den experimentellen Tatsachen
sich nicht mit befriedigender Annäherung zeigt, so kann die
Theorie zwar logisch richtig aufgebaut sein, sie muß aber
nichtsdestoweniger verworfen werden, weil sie durch die Be-
obachtung widerlegt wird, weil sie physikalisch falsch ist
Dieser Vergleich zwischen den Schlußfolgerungen der
Theorie und den experimentellen Wahrheiten ist daher unum-
gänglich nötig, da allein die Konfrontierung mit den Tatsachen
der Theorie physikalischen Wert verleihen kann. Aber diese
Konfrontierung mit den Tatsachen muß sich ausschließlich
auf die Schlußfolgerungen der Theorie erstrecken, da sie allein
als ein Bild der Wirklichkeit anzusehen sind; die Postulate»
die als Ausgangspunkt der Theorie dienen, die Zwischen-
glieder, durch die man von den Postulaten zu den Schlußfolge-
rungen kommt, dürfen ihr nicht unterworfen werden.
Wir haben bereits sehr vollständig den Fehler derjenigen
analysiert, die eines der fundamentalen Postulate der Physik,
einer Prüfung an den Tatsachen durch ein Verfahren, wie
das experimentum Crucis direkt unterwerfen wollen; und
vor allem den Fehler derjenigen, die als Prinzipien nur „In-
duktionen^' annehmen, „die ausschließlich darin bestehen, daß
in allgemeinen Gesetzen nicht die Interpretation, sondern das
eigentliche Resultat einer sehr großen Anzahl von Ex-
perimenten festgehalten wird".*)
Diesem Irrtum ist ein anderer sehr verwandt; er besteht
in der Forderung, daß alle vom Matheipatiker im Lauf der
Deduktionen, die die Postulate mit den Schlußfolgerungen ver-
binden, ausgeführten Operationen einen physikalischen
Sinn besitzen; er besteht in dem Wunsche, „nur realisier-
^) Gustave Robin: Oeuvres scientifiques. Thermodynainique
g^n^rale; Introduction p. XIV.
Die physikalische Theorie und das Experiment 277
bare Operationen in Betracht zu ziehen^)", „nur Größen,
die dem Experiment zugänglich sind, einzuführen".
Gemäß dieser Forderung müßte vom Physiker in seinen
Formeln, mittelst eines Messungsverfahrens, jede eingeführte
Größe mit einer Eigenschaft eines Körpers verbunden werden ;
jede an diesen Größen ausgeführte algebraische Oi>eration
müßte auf Grund dieser Messungsverfahren in die konkrete
Sprache übersetzbar sein; derartig übersetzt müßte sie eine
wirkliche oder mögliche Tatsache ausdrücken.
Eine derartige Forderung, die berechtigt ist, solange es
sich um die Schlußformeln handelt, auf die die Theorie hinaus-
läuft, verliert ihre Begründung in bezug auf die Formeln und
Operationen, die als Zwischenglieder den Weg von den Postu-
laten zu den Schlußfolgerungen herstellen.
Nehmen wir ein Beispiel:
J. Willard Gibbs hat theoretisch die Dissoziation eines
vollkommenen Gasgemisches in seine Elemente, die man für
vollkommene Gase hielt, studiert. Es wurde eine Formel er-
halten, die das Gleichgewicht im Innern eines derartigen
Systemes ausdrückt. Ich will diese Formel diskutieren. Zu
diesem Zwecke lasse ich den Druck, dem die Gasmischung
unterliegt, ungeändert und betrachte die absolute Temperatur,
die in der Formel auftritt und lasse sie von bis + ^o
variieren.
Wenn man dieser mathematischen Operation einen physi-
kalischen Sinn zuschreiben will, wird man vor sich eine Menge
von Widerständen und Schwierigkeiten erstehen sehen. Kein
Thermometer* lehrt uns Temperaturen unter einer gewissen
Grenze kennen, keines kann genügend hohe Temperaturen
bestimmen; dem Symbol, das wir absolute Temperatur
nennen, kann durch keines der Meßverfahren, über die
wir verfügen, irgend ein konkreter Sinn zugeschrieben wer-
den, wenn nicht sein numerischer Wert zwischen einem be-
stimmten Minimum und einem bestimmten Maximum bleibt.
Überdies ist bei genügend tiefen Temperaturen jenes andere
») O. Robin: loc. cii
278 Zehntes Kapitel.
Symboli das in der Thermodynamik vollkommenes Gas ge-
nannt wird, nicht mehr ein auch nur angenähertes Bild eines
wirklichen Qases.
Diese Schwierigkeiten und viele andere, die aufzuzählen
zu langwierig wäre, verschwinden, wenn man auf die Be-
merkungen, die wir formuliert haben, achtet. Bei der Auf-
stellung der Theorie ist die Diskussion, von der wir ge-
sprochen haben, nur ein Zwischenglied und es ist nicht be-
rechtigt, in ihr einen physikalischen Sinn zu suchen. Nur wenn
diese Diskussion uns zu einer Serie von Lehrsätzen geführt hat,
können wir diese Lehrsätze der Konfrontierung mit den Tat-
sachen unterwerfen. Wir werden sodann zwischen den Gren-
zen, in denen die absolute Temperatur durch konkrete thermo-
metrische Angaben ausgedrückt werden kann, innerhalb deren
der Begriff des vollkommenen Gases durch die Fluida, die
wir beobachten, beinahe realisiert ist, prüfen, ob die Schluß-
folgerungen unserer Diskussion mit den experimentellen Tat-
sachen übereinstimmen.
Indem man fordert, daß die mathematischen Operationen,
durch die aus den Postulaten Konsequenzen abgeleitet wer-
den, immer einen physikalischen Sinn haben, legt man den
Mathematikern unüberwindliche, jeden Fortschritt hemmende
Hindernisse in den Weg. Es kann dann geschehen, daß man
mit G. Robin den Gebrauch der Differentialrechnung scheut;
in der Tat würde er, wenn er seinen Stolz darein setzte,
stets und peinlich dieser Anforderung zu genügen, beinahe
keine Rechnung mehr ausführen können ; von den ersten Schrit-
ten an würde die theoretische Deduktion gehemmt sein. Eine
genauere Vorstellung von der physikalischen Methode, eine
schärfere Abgrenzung derjenigen Lehrsätze, die der Konfron-
tierung mit den Tatsachen zu unterwerfen, von denjenigen,
die davon befreit sind, werden dem Mathematiker seine Frei-
heit vollständig wiedergeben und ihm ermöglichen, für die
weiteste Entwicklung der physikalischen Theorien alle Hilfs-
mittel der Algebra zu verwenden.
Die physikalische Theorie und das Experiment 279
§ 8. — Gibt es gewisse Postulate der physikalischen
Theorie, die durch das Experiment nicht widerlegt
werden können?
Daß ein Prinzip richtig ist, erkennt man daran, daß es leicht
die Verwirrung beseitigt, in die wir durch den Gebrauch irr-
tumlicher Prinzipien gekommen sind.
Wenn daher der Gedanke, den wir ausgesprochen haben,
richtig ist, wenn der Vergleich notwendigerweise zwischen
der gesamten Theorie und den gesamten experimentellen
Tatsachen vollzogen wird, werden wir sehen können, wie vor
dem Lichte dieses Prinzips die Dunkelheiten verschwinden,
in die wir uns verirren, wenn wir jede theoretische Hypo-
these isoliert mit den Tatsachen konfrontieren.
In erster Linie wollen wir unter den Behauptungen, deren
paradoxes Aussehen wir zu beseitigen suchen werden, eine
hier behandeln, die in den letzten Jahren oft formuliert und
kommentiert wurde. Nachdem sie zuerst von Herrn G. Mil-
haud^) in bezug auf den reinen Körper der Chemie ausge-
sprochen wurde, hat Herr H. Poincare^ sie ausführlich und
eingehend in bezug* auf die Prinzipien der Mechanik entwickelt;
ebenso hat sie Herr Edouard Le Roy mit großer Klarheit
formuliert*).
Diese Behauptung ist die folgende:
Gewisse fundamentale Hypothesen in der physikalischen
Theorie können durch kein Experiment widerlegt werden, weil
sie in Wirklichkeit Definitionen bilden und gewisse, vom
Physiker gebrauchte Ausdrücke ihren Sinn nur durch sie er-
halten.
^) O. Milhaud: La science rationnelle (Revue de M^taphysique
et de Morale, 4e ann6e, 1896, p. 280). — Le Rationnel, Paris 1898, p. 45.
*) H. Poincar^: Sur les Principes de laM^canique (Biblioth^que
du Congr^ international de Philosophie. III. Logique et Histoire des
Sdences. Paris, 1901; p. 457). — Sur la valeur objective des th^ories
physiques (Revue de M^taphysique et de Morale, lOe ann6e, 1902,
p. 263). — La Science et THypoth^se p. 110.
") Edouard Le Roy: Un positivismenouveau (Revue de M£ta-
physique et de Morale, 9« ann^e, 1901, pp. 143—144).
280 Zehntes Kapitel.
Nehmen wir eines der von Herrn Ed. Le Roy angeführten
Beispiele: Wenn ein schwerer Körper frei fällt, ist seine Fall-
beschleunigung konstant. Kann ein derartiges Gesetz durch
das Experiment widerlegt werden? Nein, denn es bildet die
eigentliche Definition dessen, was man unter freiem Fall
verstehen muß. Wenn wir beim Studium des Falles eines
schweren Körpers finden, daß derselbe keine gleichförmig be-
schleunigte Bewegung besitze, schließen wir daraus nicht, daß
das ausgesprochene Gesetz falsch sei, sondern, daß der Körpei:
nicht frei falle, fdaß irgend eine Ursache die Bewegung hindere;
der Unterschied zwischen dem ausgesprochenen Gesetz und
den beobachteten Tatsachen wird uns dazu dienen, diese Ur-
sache zu entdecken und deren Wirkungen zu analysieren.
So schließt Herr Ed. Le Roy, daß „die Gesetze nicht veri-
fizierbar seien, wenn man die Dinge in aller Strenge nimmt,
weil sie selbst das Kriterium bilden, nadi dem man die Er-
scheinungen und Methoden beurteilt, die man verwenden
müßte, um sie einer Prüfung, deren Genauigkeit jede angeb-
bare Grenze fiberschreitet, zu unterwerfen".
Nehmen wir den Vergleich zwischen dem Fallgesetz der
Körper und dem Experiment mehr im Detail, in der Beleuch-
tung, die sie durch die früher aufgestellten Prinzipien erhalten,
in Augenschein.
Unsere täglichen Beobachtungen haben uns eine ganze
Kategorie von Bewegungen kennen gelehrt, die wir mitein-
ander unter dem Namen Bewegungen schwerer Körper ver-
einigt haben. Unter diesen Bewegungen befindet sich auch
der Fall, den ein schwerer Körper erieidet, wenn er durch
keinerlei Hindernis gestört wird. Es folgt daraus, daß die
Worte: „Freier Fall eines schweren Körpers" für den Men-
schen, der einzig die Kenntnisse des gewöhnlichen Lebens
zu Rate zieht und keinen Begriff von physikalischen Theorien
besitzt, einen Sinn haben.
Andererseits hat der Physiker, um die Gesetze der Be-
wegungen, um die es sich handelt, zu klassifizieren, eine
Theorie geschaffen, die Theorie der Schwere, eine wichtige
Anwendung der wissenschaftlichen Mechanik. In dieser
Die physikalische Theorie und das Experiment 281
Theorie, die eine symbolische Darstellung der Wirklichkeit
liefern soll, ist gleidierweise die Rede vom „freien Fall eines
schweren Körpers". Infolge der Hypothesen, die dieses ganze
Schema tragen, muß ein freier Fall notwendigerweise ein gleich-
förmig besdileunigter Fall sein.
Die Worte „freier Fall eines schweren Körpers" haben
jetzt einen zweifach verschiedenen Sinn. Für denjenigen, der
die physikalischen Theorien nicht kennt, haben sie einen
wirklichen Sinn, bezeichnen sie, was man im gewöhnlidien
Leben meint, wenn man sie ausspricht; für den Physiker haben
sie einen symbolischen Sinn, bezeichnen sie „einen gleich-
förmig beschleunigten Fall". Die Theorie hätte ihre Aufgabe
nicht erfüllt, wenn der zweite Sinn nicht das Zeidien des
ersten wäre, wenn ein Fall, der im gewöhnlidien Leben als
frei betrachtet wird, nicht gleichzeitig ein Fall von gleich-
förmiger oder von nahezu gleichförmiger Beschleunigung
wäre, da die Konstatierungen des gewöhnlichen Lebens dem
Wesen nach, wie bereits gesagt, der Präzision entbehren.
Diese Übereinstimmung, bei deren Mangel die Theorie
ohne umständliche Untersuchungen verworfen worden wäre,
tritt tatsächlich auf. Ein Fall, der im gewöhnlichen Leben
als nahezu frei bezeichnet wird, ist auch ein Fall, dessen Be-
schleunigung nahem konstant ist. Aber die Konstatierung
dieser nur grob angenäherten Obereinstimmung befriedigt uns
nicht. Wir wollen den Qrad der Genauigkeit, zu dem man
im gewöhnlichen Leben gelangen kann, erhöhen und über-
treffen. — Mit Hilfe der von uns erdachten Theorie konstruieren
wir Apparate, die mit Genauigkeit erkennen lassen, ob der
Fall eines Körpers gleichförmig beschleunigt ist oder nicht
Diese Apparate zeigen uns, daß ein bestimmter Fall, der im
gewöhnlichen Leben als freier bezeichnet wird, eine etwas
veränderliche Beschleunigung besitzt. Der Lehrsatz, der in
unserer Theorie dem Worte „freier Fall" seinen symbolisdien
Sinn gibt, stellt nicht mit hinreichender Genauigkeit die Eigen-
schaften des wirklichen und konkreten Falles, den wir be-
obachtet haben, dar.
282 Zehntes Kapfiel.
Zwei Wege stehen uns nun offen.
In erster Linie können wir erklären, daß wir recht gehabt
haben, den studierten Fall als freien Fall zu betrachten und
zu verlangen, daß die theoretische Definition dieser Worte
mit unseren Beobachtungen übereinstimme. In diesem Falle
muß, da unsere theoretisdie Definition unserer Forderung
nicht entspricht, dieselbe verworfen werden. Wir müssen
eine andere Mechanik auf neue Hypothesen aufbauen, eine
Mechanik, in der die Worte „Freier Fall" nidit mehr bezeich-
nen „gleichförmig beschleunigter Fall", sondern „Fall, dessen
Beschleunigung gemäß einem bestimmten Gesetze variiert".
In zweiter Linie können wir erklären, daß wir unrecht ge-
habt haben, eine Bezeichnung zwischen dem konkreten Falle,
den wir beobachtet haben und dem symbolischen freien Fall,
wie er durdi unsere Theorie definiert wurde, herzustellen,
daß dieser ein zu vereinfadites Schema des ersteren gewesen.
Damit der Theoretiker in geeigneter Weise den Fall, auf den
unsere Experimente gegründet sind, darstellen kann, muß er
nicht mehr an einen frei fallenden, schweren Körper denken,
sondern an einen, der durch bestimmte Hindemisse, wie den
Luftwiderstand gestört wird. Indem er die Wirkung dieser
Hindemisse mit Hilfe geeigneter Hypothesen darstellt, wird
er ein viel verwickelteres Schema, als den frei fallenden Körper
bilden, das aber viel geeigneter sein wird, die Details des
Experimentes wiederzugeben. Alles in allem können wir ge-
mäß den Ausdrücken, die wir im Vorhergehenden (Kap. VIII,
§ 3) festgelegt haben, versuchen, mit Hilfe geeigneter Kor-
rektionen die unser Experiment beeinflussenden Fehlerquellen,
wie den Luftwiderstand, zu eliminieren.
Herr Le Roy behauptet, daß wir den zweiten W^ ein-
schlagen werden und nicht den ersten, darin hat er sicher-
lidi recht. Die Ursachen, die uns diese Entscheidung auf-
drängen, sind leidit zu begreifen. Wenn wir den ersten Weg
einschlagen würden, wären wir gezwungen ein sehr großes
theoretisches System, das in sehr befriedigender Weise eine
sehr große und sehr verwickelte Qmppe experimenteller Oe-
Die physikalische Theorie und das Experiment 283
setze darstellt, von Grund aus zu zerstören. Der zweite Weg
dagegen läßt uns nichts von jenem Terrain, das die physi-
kalische Theorie bereits erobert hat, vertieren. Noch mehr, wir
haben auf ihm in einer so großen Zahl von Fällen Erfolgi
gehabt, daß wir berechtigt sind, einen neuen Erfolg zu ge-
wärtigen. Aber in diesem Vertrauen, das wir dem Fallgesetz
der schweren Körper entgegenbringen, sehen wir keinerlei
Analogie zu der Sicherheit, die die geometrische Definition
aus ihrem Wesen selbst ableitet, zu jener Sicherheit, die nur
den Verruckten zweifeln läßt, daß alle Punkte eines Kreisumfanges
gleich weit vom Zentrum entfernt sind.
Wir sehen hier nur eine spezielle Anwendung des im
§ 2 auseinandergesetzten Prinzipes. Eine Nichtübereinstim-
mung zwischen den konkreten Tatsachen, die ein Experiment
bilden und der symbolischen Darstellung, die die Theorie für
dieses Experiment substituiert, beweist uns, daß irgend ein
Teil dieses Symboles zu verwerfen seL Aber welcher Teil?
Das sagt uns das Experiment nicht, das zu ergründen überläßt
es unserer Einsicht. Unter den theoretischen Elementen, die in
den Zusammenhang dieses Symbols eintreten, gibt es nun
immer eine gewisse Zahl, denen die Physiker einer gewissen
Epoche ohne Kontrolle zustimmen, die sie als über jede An-
zweiflung erhaben betrachten. Daher wird der Physiker, der
dieses Symbol modifizieren muß, sicher seine Modifikation an
anderen Elementen als jenen anbringen.
Es ist aber keine logische Notwendigkeit, die den Phy-
siker dazu treibt, so zu verfahren; wenn er anders verfährt,
kann er ungeschickt und schlecht beraten sein, aber er würde
sich deshalb doch nicht auf den Bahnen eines Oeometers
bewegen, der so verrückt wäre, seiner eigenen Definition zu
widersprechen; er würde nichts Absurdes tun. Ja noch mehr.
Wenn er vielleicht eines Tages anders handelt, wenn er darauf
verzichtet, die Fehlerquellen in Betracht zu ziehen, auf die
Korrektionen zu rekurrieren, die die Übereinstimmung zwischen
dem theoretischen Schema und der Tatsache herstellen, indem
er entschlossen ist, die Reformierung der Lehrsätze, die all-
284 Zehntes Kapitel.
gemein übereinstimmend als unantastbar erklärt werden in
die Hand zu nehmen, wird er ein geniales Werk vollbringen,
das der Theorie neue Bahnen öffnet.
In der Tat sollte man sich wohl vor dem Glauben hüten, daß
jene Hypothesen, die zu allgemein anerkannten Konventionen
geworden sind, deren Gewißheit den experimentellen Wider-
spruch niederzuschlagen und auf andere, zweifelhaftere An-
nahmen zu verweisen scheint, für ewig gesichert seien. Die
Geschichte der Physik zeigt uns recht oft, wie der menschUche
Geist dazu geführt wurde, derartige Prinzipien, die durch
Jahrhunderte allgemein als unverletzbare Axiome anericannt
wurden, von Grund aus umzustürzen und seine physikalischen
Theorien auf neuen Hypothesen wieder aufzubauen.
Gab es zum Beispiel während Jahrtausenden ein klareres
und sichereres Prinzip als folgendes: In einem homogenen
Medium pflanzt sich das Licht geradlinig fort? Auf diese
Hypothese stützte sich nicht nur die alte Optik, die Katoptrik
und Dioptrik, deren elegante geometrische Ableitungen nach
Wunsch eine ungeheure Zahl von Tatsachen darstellten,
sondern sie war auch sozusagen die physikalische Definition
der geraden Linie geworden. Auf diese Hypothese mußte
jeder Bezug nehmen, der eine Gerade realisieren wollte, der
Zimmermann, der die Geradheit einer Holzkante prüft, der
Feldmesser, der eine Bahnlinie absteckt, der Geodät, der eine
Richtung mit Hilfe der Diopter seiner Alhidade aufnimmt,
der Astronom, der die Stellung der Sterne, über die er Betrachtungen
anstellt, durch die optische Achse seines Femrohres angibt. In-
dessen kam der Tag, wo man überdrüssig wurde, die durch
Grimaldi beobachteten Beugungserscheinungen irgend einer
Fehlerquelle zuzuschreiben, wo man sich entschloß, das Gesetz
der geradlinigen Fortpflanzung des Lichtes zu verwerfen und
der Optik vollständig neue Grundlagen zu geben. Dieser
kühne Entschluß war für die physikalische Theorie der An-
stoß zu wunderbaren Fortschritten.
Die physikalische Theorie und das Experiment 28S
§ 9. — Hypothesen, deren Worflaut keine experimentelle
Deutung zuläßt
Dieses Beispiel und die anderen, die wir auf Qrund der
Geschichte der Wissensdiaft hinzufügen könnten, zeigen uns^
daß wir sehr imklug wären, bezüglidi heute allgemein aner-
kannter Hypothesen zu sagen: „Wir sind sicher, daß wir nie-
mals durch ein neues Experiment, wie genau es auch immer
sei, dazu geführt werden, sie aufzugeben." Hr. H. Poincare
zögert indessen nicht, diese Behauptung bezüglich der Prin-
zipien der Mechanik aufzustellen^).
Zu den bereits angeführten Gründen, die beweisen, daß
diese Prinzipien nicht experimentell widerlegt werden können,
fügt Hr. H. Poincare einen hinzu, welcher noch überzeu-
gender scheint: Diese Prinzipien können nicht nur deshalb
nicht durch das Experiment widerlegt werden, weil sie all-
gemein anerkannte Regeln sind, die uns dazu dienen, in un-
seren Theorien die durdi diese Widersprüche angezeigten
Fehler zu entdecken, sondern weil sie durch das Experiment
nicht widerlegt werden können, da die Operation, die sie
mit den Tatsachen vergleichen soll, keinen Sinn hat
Erläutern wir das durdi ein Beispiel.
Das Prinzip der Trägheit lehrt uns, daß ein materieller
Punkt, der der Einwirkung eines jeden anderen Körpers ent-
zogen ist, sich mit gleichförmiger Geschwindigkeit geradlinig
fortbewegt Man kann nun nur relative Bewegungen beo-»
bachten. Man kann daher diesem Prinzip nur dann einen
experimentellen Sinn geben, wenn man einen gewissen Be-
ziehungspunkt als gewählt betrachtet, einen gewissen festen
geometrischen Körpers als fixes Merkmal nimmt, auf das die
Bewegung des materiellen Punktes bezogen wird. Die Fest-
legung dieses Merkmals bildet einen integrierenden Teil des
Ausdruckes des Gesetzes. Wenn man diese Festlegung unter-
ließe, würde dieser Ausdruck allen Sinnes beraubt werden.
^) H. Poincar6: Sur les principes de la M^canique (Biblioth^que
du Congr^s international de Philosophie. III. Logique et Histoiredes
Sciences. Paris, 1901; pp. 475, 491).
286 Zehntes Kapitel
Es gibt ebensoviel« verschiedene Gesetze, wie verschiedene
Beziehungspunkte. Man spricht ein Gesetz der Beharrung
aus, wenn man sagt, daß die Bewegung eines isolierten
Punktes, vorausgesetzt, daß sie von der Erde aus gesehen
werde, geradlinig und gleichförmig sei, ein anderes, wenn
man denselben Satz wiederholt, indem man die Bewegung
auf die Sonne bezieht, noch ein anderes, wenn das Be-
ziehungszeichen das gesamte Fixstemsystem ist Eines ist
nun aber wohl sicher: Wie immer auch die Bew^[ung eines
materiellen Punktes von einem Beziehungspunkt aus gesehen,
beschaffen sei, immer kann man in mannigfachster Weise
einen zweiten Beziehungspunkt in der Art wählen, daß von
ihm aus gesehen, unser materieller Punkt sich geradlinig mit
gleichförmiger Geschwindigkeit zu bewegen scheint. Man
dürfte daher eine experimentelle Bestätigung des Trägheits-
prinzipes nicht versuchen; wenn es bei Beziehung der Be-
wegungen auf einen gewissen Punkt falsch wäre, wurde
es bei der Wahl eines anderen richtig werden und es
würde einem immer frei stehen, diesen letzteren zu wählen.
Wenn das Trägheitsgesetz, das bezüglich der Erde als
Beziehungspunkt ausgesprochen wurde, durch die Beobachtung
widerlegt wird, wird man es durch das Trägheitsgesetz, das
die Bewegungen auf die Sonne bezieht, ersetzen. Wenn dieses
seinerseits für falsch befunden wird, wird man die Sonne
durch das Fixstemsystem ersetzen und so fort. Es ist un-
möglich, diese Hintertür zu schließen.
Das Prinzip der Gleichheit der Aktion und Reaktion, das
ausführlich von Hrn. Poincard^) analysiert wurde, bietet Ge-
legenheit zu analogen Bemerkungen. Dieses Prinzip kann
folgendermaßen ausgesprodien werden:
„Der Schwerpunkt eines isolierten Systemes, kann nur
eine geradlinige und gleichförmige Bewegung besitzen."
Dieses Prinzip wollen wir durch das Experiment veri-
fizieren. „Können wir diese Verifikation ausführen? Dazu
wäre nötig, daß ein isoliertes System bestehe; solche Systeme
^) H. Poincar6: loc cit pp. 472 et seqq.
Die physikalische Theorie und das Experiment 287
bestehen nun nicht; das einzige isolierte System ist das ge-
samte Universum."
„Aber wir können nur relative Bewegungen beobachten;
die absolute Bewegung des Schwerptmktes des Universums
wird uns daher für immer unbekannt bleiben; wir können
niemals wissen, ob sie geradlinig und gleichförmig sei oder
besser gesagt, die Frage hat keinen Sinn. Wie immer auch
die Beobachtungstatsachen beschaffen seien, es bleibt uns
stets freigestellt anzunehmen, daß unser Prinzip richtig sei."
So haben mandie Prinzipien der Mechanik eine derartige
Form, daß die Frage absurd ist: Ist dieses Prinzip mit der
Erfahrung in Obereinstimmung oder nicht? Dieser befrem-
dende Charakter ist nicht den Prinzipien der Mechanik eigen-
tümlich. Er kennzeidinet in gleicher Weise gewisse funda-
mentale H3rpothesen unserer physikalischen und chemisdien
Theorien^).
Die chemische Theorie zum Beispiel ruht vollständig auf
dem Gesetz der multiplen Proportionen; der genaue
Wortlaut dieses Gesetzes ist folgender:
Einfache Körper Aj Ä, C können bei ihrer Vereinigung
in verschiedenen Verhältnissen verschiedene Verbindungen
My M' . . . bilden. Die Massen der Körper Ay B, C die die
Verbindung M bilden, verhalten sich zueinander, wie die drei
Zahlen a, by c. Die Massen der Elemente, die die Verbindung
M bilden, werden sich nun zu einander wie die Zahlen aüj ßb, yc
verhalten, wobei a, ßy y drei ganze Zahlen sind.
Kann dieses Gesetz der Kontrolle durdi das Experiment
unterworfen werden? Die chemische Analyse lehrt uns die
chemische Zusammensetzung des Körpers M nicht genau,
sondern nur mit einer gewissen Annäherung kennen; die Un-
sicherheit der erhaltenen Resultate wird außerordentlich klein,
sie wird aber niemals streng O sein. In welchen Beziehungen
nun die Elemente Ay Ä, C sich in der Verbindung M kom-
biniert finden, immer wird man diese Beziehungen mit einer
^) P. Duhem: Le mixte et la comblnaison chimique; Essai
sur l'^volution d'une id^e, Paris, 1902; p. 159—161.
288 Zehntes Kapitel.
beliebig großen Annäherung durch die gegenseitigen Be-
ziehungen der drei Produkte aa^ ßb^ yc darstellen können,
wobei er, ß^ y ganze Zahlen sind. Mit anderen Worten, wie
immer die Resultate, die die chemische Analyse der Verbin-
dung M* ergibt, sein mögen, man ist stets sicher drei ganze
Zahlen a^ ßj y za finden, dank deren das Gesetz der multiplen
Proportionen mit einer höheren Genauigkeit als sie die Ex-
perimente besitzen, verifizierbar ist. Es wird daher keine che-
mische Analyse, so fein sie auch immer sei, jemals dem Gesetz
der multiplen Proportionen widersprechen können.
In gleicher Weise ruht die ganze Kristallographie auf
dem Gesetz der rationalen Indices, das in folgender
Weise formuliert wird:
Ein Trieder wird von drei Kristallflächen gebildet, eine
vierte Flädie schneidet die drei Kanten dieses Trieders in
Distanzen von der Spitze, die sich untereinander wie die Zahlen
a, 6, c die Parameter des Kristalles verhalten. Irgend eine
andere Fläche soll dieselben Kanten in Abständen von der
Spitze, die sich zueinander wie aa^ ßb^ yc verhalten, schneiden,
wobei a, ß^ y drei ganze Zahlen, die Indices der neuen
Kristallfläche, sind.
Das vollkommenste Goniometer bestimmt die Orientierung
einer Kristallfläche nur mit einer gewiss^ Genauigkeit; die
Beziehungen zwischen den drei Abschnitten, die eine der-
artige Fläche auf den Kanten des grundlegenden Trieders
bestimmt, sind mirner einem gewissen Fehler unterworfen. So
klein nun dieser Fehler auch sein mag, kann man doch immer
drei Zahlen a, /9, / in der Art wählen, daß die g^enseitigen
Verhältnisse dieser Abschnitte, mit einem Fehler der nodi
kleiner ist, durch die gegenseitigen Verhältnisse der drei
Zahlen aa, ßb^ yc dargestellt werden. Der Kristallograph
der das Gesetz der rationalen Indices durch sein Goniometer
rechtfertigen wollte, hat sicher nicht den eigentlichen Sinn
der Worte, die er anwendet, erfaßt.
Das Gesetz der multiplen Proportionen, das Gesetz der
rationalen Indices sind mathematische Ausdrücke, denen jeder
physikalische Sinn fehlt. Ein mathematischer Ausdruck hat
Die physikalische Theorie und das Experiment 289
nur dann physikalischen Sinn, wenn er nach Einführung des Wortes
annähernd noch seine Bedeutung behält Dies ist bei den
Ausdrucken, die wir erwähnten, nicht der Fall. Sie bestehen in
der Tat in der Behauptung, daß gewisse Verhältnisse kom-
mensurable Zahlen seien. Sie würden zu einfachen Gemein-
plätzen werden, wenn sie aussagen sollten, daß diese Ver-
hältnisse annähernd kommensurabel seien. Denn iigend
ein beliebiges inkommensurables Verhältnis ist immer an-
nähernd kommensurabel ; es ist immer, so nahe man wUl, kom-
mensurabel.
Es wäre daher absurd, gewisse Prinzipien der Mechanik
der direkten Kontrolle des Experimentes unterwerfen zu
wollen; ebenso wäre es absurd, das Gesetz der multiplen
Proportionen oder das Gesetz der rationalen Indices dieser
direkten Kontrolle zu unterwerfen.
Folgt daraus, daß diese Hypothesen, die vom direkten
experimentellen Widerspruch nicht erreicht werden können,
nidits vom Experiment zu fürditen haben? Sind sie sidier
unveränderlich zu bleiben, welche Entdeckungen auch immer
die Beobaditung der Tatsachen uns aufspart? Es hieße einen
schweren Irrtum begehen, wollte man dies behaupten.
Isoliert genommen, haben diese verschiedenen Hypothesen
keine experimentelle Bedeutung; es kann sich nicht darum
handeln sie durch das Experiment zu bestätigen oder zu wider-
legen. Aber diese Hypothesen werden als wesentliche Fun-
damente beim Bau gewisser Theorien, der wissenschaftlichen
Mechanik, der chemischen Theorie, der Kristallographie ver-
wendet; der Zweck dieser Theorien besteht in der Darstellung
experimenteller Gesetze; sie sind Darstellungen, die dem Wesen
nach dazu bestimmt sind, mit den Tatsachen verglichen zu werden.
Dieser Vergleich könnte nun sehr wohl eines Tages uns
erkennen lassen, daß eine unserer Darstellungen schlecht zur
Wirklichkeit, die sie versinnbildlichen soll, paßt, daß die Korrek-
tionen, die unser Schema komplizierter machen, nicht genügen,
um eine hinreichende Übereinstimmung zwischen dieser Dar-
stellung und den Tatsachen herzustellen. Die lange Zeit ohne
Widerspruch als zulässig betrachtete Theorie muß verworfen
Dohem, PhygiluüJiche Theorie. 19
290 Zehntes Kapitel
und eine vollständig andere auf ganz neuen Hypothesen auf-
gebaut werden. An diesem Tage würde eine der H3rpotbeseii9
die isoliert genommen, vom direkten Widerspruch des Ex-
perimentes nicht erreicht werden könnte, mit dem System, das
sie trug unter dem Gewichte der Widersprüche, in denen die
Realität zu den Konsequenzen dieses als Ganzes genommenen
Systemes steht, zusammenbrechen^).
In Wirklichkeit unterliegen die Hypothesen, die selbst
keine physikalische Bedeutung besitzen, genau in derselben
Weise der Kontrolle durch das Experiment, wie die anderen
Hypothesen. Wir haben am Anfang dieses Kapitels gesehen,
daß wie immer auch eine Hypothese beschaffen sei, sie niemals
isoliert durch das Experiment wideriegt werden kann. Der
experimentelle Widerspruch handelt immer über eine theore-
tische Gruppe als Ganzes, ohne daß in dieser Gruppe der
Lehrsatz, der verworfen werden muß, irgendwie bezeichnet
werden könnte.
So verschwindet das, was an der Behauptung: Gewisse
physikalische Theorien ruhen auf Hypothesen, die physikalisch
nicht gedeutet werden können, hätte paradox scheinen können.
§10. — Der gesunde Menschenverstand hat zu beurteilen,
welche Hypothesen aufgegeben werden müssen.
Wenn das Experiment gewissen Konsequenzen einer
Theorie widerspricht, lehrt es uns wohl, daß diese Theorie
modifiziert, aber es sagt uns nicht, was an ihr geändert werden
müsse. Dem Scharfsinn des Physikers bleibt die Sorge überiassen,
den Fehler zu suchen, an dem das ganze System leidet. Kein
^) Am internationalen philosophischen Kongreß, der in Paris im Jahre
1900 abgehalten wurde, hatte Hr. Poincar6 folgende Schlußfolgerung ent-
wickelt: „So erklärt es sich, daß das Experiment die Prinzipien der Mechanik
wohl aufbauen (oder anregen), sie aber niemals umstürzen konnte." Gegen
diese Schlußfolgerung hatte Hr. Hadamard mehrere Einwände erhoben,
unter anderen folgenden: „Übrigens ist es entsprechend einer Bemerkung
des Hra. Duhem nicht eine isolierte Hypothese, sondern die Gesamtheit
der Hypothesen der Mechanik, deren experimentelle Bestätigung man ver-
suchen kann." (Revue de M6taphysique et de Morale, 8« ann6e,
1900, p. 559.)
Die physikalische Theorie und das Experiment 291
absolutes Prinzip leitet diese Untersuchung, die die verschie-
denen Physiker auf sehr verschiedene Art und Weise aus-
führen können, ohne das Recht zu haben, einander als
unlogisch anzuklagen. Der eine kann sich zum Beispiel be-
müßigt sehen, gewisse fundamentale Hypothesen aufrechtzu-
erhalten, indem er sich bemüht, durch Komplikation der Dar-
stellung, in der diese Hypothesen angewendet werden, durch
Aufsuchung verschiedener Fehlerquellen, durch Vermehrung
der Korrektionen, die Übereinstimmung zwisdien den Kon-
sequenzen der Theorie lund den Tatsachen wieder herzustellen.
Ein anderer, der diese komplizierten Kniffe verschmäht, kann
zum Entschluß kommen, eine der wesentlichen Annahmen,
die das ganze System tragen, zu ändern. Der erstere hat
nicht das Recht, von vornherein die Kühnheit des zweiten zu
verdammen, ebensowenig, wie der zweite, die Zaghaftigkeit
des ersten als absurd behandeln darf. Die Methoden, die
sie verfolgen, können nur durch das Experiment gerecht-
fertigt werden, und wenn sie alle beide seinen Anforderungen
genügen, ist es logisch zulässig, daß sowohl der eine wie
der andere mit seiner Arbeit zufrieden ist.
Das will keineswegs sagen, daß man nicht mit sehr großer
Berechtigung die Arbeit des einen der des anderen vorziehen
kann. Die reine Logik ist keineswegs die einzige Regel unserer
Urteile. Gewisse Meinungen, die nicht durch das Prinzip
des Widerspruchs . unmöglich werden, können dennoch voll-
kommen unvernünftig sein. Jene Motive, die nicht aus der
Logik hervorgehen und dennoch unsere Wahl bestimmen, jene
„Gründe, die die Vernunft nidit kennt", die zum Scharfeinn
und nicht zum mathematischen Denken sprechen, bilden das,
was man recht geeignet als gesunden Menschenverstand
bezeichnet.
Es kann nun gesdiehen, daß der gesunde Menschen-
verstand uns ermöglicht, zwischen unseren beiden Physikern
zu entscheiden. Es kann geschehen, daß wir die Eile, mit
der der zweite die Prinzipien einer großen und harmonisch
gebauten Theorie zertrümmert, wenig verständig finden,
während eine Änderung im Detail, eine einfache Korrektion
19*
202 Zehntes KapiteL
genügt hätte, diese Theorie wieder mit den Tatsachen in
Einklang zu bringen. Es kann dagegen geschehen, daß wir
die Hartnäckigkeit, mit der der erste Physiker, koste es was
es wolle, um den Preis fortwährender Verbesserungen und
eines Wirrwarrs verwickelter Stützpfeiler an den wurmstichi-
gen Säulen eines Gebäudes festhält, das an allen Ecken
wackelt, für kindisch und unvernünftig halten, während es nach
Demolierung dieses Gebäudes möglich wäre, auf neuen Hy-
pothesen ein einfaches, elegantes und widerstandsfähiges
System zu bauen.
Aber diese Gründe des gesunden Menschenverstandes
drängen sich nicht mit derselben unabänderlichen Strenge,
wie die Vorschriften der Logik auf; sie besitzen etwas Un-
sicheres, Schwankendes ; sie zeigen sich nicht zu gleicher Zeit»
mit gleicher Klarheit in allen Köpfen. Daher rührt die Mög-
lichkeit der langen Streitigkeiten zwischen den Anhängern eines
alten Systemes und den Vorkämpfern einer neuen Lehre, in
denen jedes Lager behauptet, den gesunden Menschenverstand
auf seiner Seite zu haben, in denen jede Partei die Gründe des
Gegners für unzureichend hält. Solche Streitigkeiten zeigt
uns die Geschichte der Physik in unzähligen Fällen, in allen
Epochen, auf allen Gebieten. Beschränken wir uns darauf,
an die Hartnäckigkeit und Scharfsinnigkeit zu erinnern, mit
der Biot in der Optik durch fortgesetztes Anbringen von
Korrektionen und Zusatzhypothesen an der Emissionstheorie
festhielt, während Fresnel dieser Lehre stets neue Experimente
entgegenhielt, die der Undulationstheorie günstig waren.
Dennodi dauert dieser Zustand der Unentschiedenheit stets
nur eine gewisse Zeit. Eines Tages erklärt sich der gesunde
Menschenverstand so deutlich zugunsten der einen der beiden
Parteien, daß die andere auf den Kampf verzichtet, wenn
auch die reine Logik seine Fortsetzung nicht verbieten würde.
Nadidem das Experiment von Foucaxdt gezeigt hatte, daß
das Licht sich schneller in Luft als in Wasser fortpflanze,
verzichtete Biot auf die Aufrechterhaltung der Emissionshy-
pothese. In aller Strenge hätte die reine Logik zu diesem
Verzicht nicht genötigt, denn das Foucaultsche Experiment
Die physikalische Theorie und das Experiment 293
war keineswegs das Experimenttim cnucis, das Arago in
ihm zu sehen glaubte. Wenn aber Biot länger der Undulations-
theorie Widerstand geleistet hätte, würde es ihm an gesun-
dem Menschenverstand gemangelt haben.
Da der Augenblick, in dem eine ungenügende Hypothese
einer fruchtbaren Annahme Platz machen muß, nicht mit
strenger Präzision durch die Logik vorgezeichnet wird, da
der gesunde Menschenverstand diesen Augenblick erkennen
muß, können die Physiker diesen Entscheid beschleunigen
und die Schnelligkeit des wissenschaftlichen Fortschrittes
steigern, indem sie sich bemühen, in sich selbst den gesunden
Menschenverstand möglichst hell und wachsam zu erhalten.
Nichts trägt nun mehr dazu bei, den gesunden Menschenver-
stand einzuengen, die klare Einsicht zu trüben, als Leiden-
schaften und Interessen. Nichts verzögert daher mehr die
Entscheidung, die in einer physikalischen Theorie eine glück-
lichere Form bestimmen soll, als die Eitelkeit, die den Physi-
ker zu nachsichtig gegen sein eigenes, zu strenge gegen ein
fremdes Syatem macht. Wir sind daher zu folgendem Schluß
gelangt, der überaus klar von Claude Bernard formuliert
wurde: Die gesunde experimentelle Kritik einer Hypothese
ist bestimmten moralischen Bedingungen unterworfen; zur
richtigen Einschätzung der Übereinstimmung einer physika-
lischen Theorie mit den Tatsachen genügt es nicht, daß man
ein guter Mathematiker und geschickter Experimentator sei,
man muß auch ein unparteiischer und aufrichtiger Richter sein.
Elftes Kapitel.
Die Wahl der Hypothesen.
§ 1. — Worauf sich die von der Logik bei der Wahl
der Hypothesen gestellten Bedingungen reduzieren.
Wir haben die verschiedenen Operationen, durch die eine
physikalische Theorie zustande kommt, sorgfältig analysiert
und haben im Speziellen die Regeln, die den Vergleich der
aus einer Theorie gefolgerten Schlüsse mit den experimentellen
294 Elftes Kapitel.
Gesetzen ermöglichen, einer strengen Kritik unterworfen.
Nunmehr ist es iuns ermöglicht, auf die Qrundlagen der
Theorie selbst zurückzukommen, und da wir wissen, was sie
tragen müssen, zu sagen, wie sie beschaffen sein sollen. Wir
gehen jetzt an die Beantwortung folgender Frage: Welche
Bedingungen müssen gemäß der Logik bei der Wahl der
Hypothesen, auf denen eine physikalische Theorie ruhen soll,
erfüllt sein?
Die Lösungen der verschiedenen Probleme, die wir in
den vorangegangenen Studien untersucht haben, werden uns
diese Antwort übrigens sozusagen diktieren.
Verlangt die Logik, daß unsere Hypothesen Folgerungen
aus einem kosmologischen System sein sollen, oder daß sie
wenigstens mit den Folgerungen eines solchen Systems in
Einklang stehen? Keineswegs. Unsere physikalischen The-
orien setzen ihren Stolz nicht darein, Erklärungen zu sein;
unsere Hypothesen sind keine Annahmen über die eigentliche
Natur der materiellen Dinge. Unsere Theorien haben einzig
die ökonomische Zusammenfassung und Klassifikation der
experimentellen Gesetze zum Ziel ; sie sind selbständig und von
jedem metaphysischen System unabhängig. Die Hypothesen,
auf die wir sie aufbauen, haben es daher nicht nötig, ihr
Material bei dieser oder jener philosophischen Lehre zu ent-
lehnen; sie berufen sich nicht auf die Autorität einer meta-
physischen Schule und fürchten nicht deren Kritik.
Verlangt die Logik, daß unsere Hypothesen einfach durch
die Induktion verallgemeinerte experimentelle Gesetze sein
sollen? Die Logik kann keine Forderungen stellen, denen zu
genügen unmöglich ist. Wir haben nun festgestellt, daß es
unmöglich ist, eine Theorie allein auf Grund der induktiven
Methode aufzubauen. Newton und Ampere sind bei diesem
Bestreben gescheitert, und doch haben sich diese beiden genialen
Köpfe geschmeichelt, nichts in ihre Systeme aufgenommen zu
haben, was nicht vollständig aus dem Experiment abgeleitet wäre.
Wir sind deshalb gar nicht abgeneigt, unter die Grundlagen,
auf denen unsere Physik beruhen soll, auch Postulate aufzu*
nehmen, die nicht durch das Experiment geliefert wurden.
Die Wahl der Hypothesen. 295
Schreibt uns die Logik vor, unsere Hypothesen nur einzeln,
eine nach der anderen einzuführen und eine jede von ihnen,
bevor sie als zulässig erklärt wird, einer genauen Kontrolle,
betreffs ihrer Zuverlässigkeit zu unterwerfen? Das wäre
wieder eine absurde Forderung. Jede experimentelle Kontrolle
verwendet die verschiedensten Teile der Physik, nimmt auf
unzählige Hypothesen Bezug ; niemals priift sie eine bestimmte
H)rpothese, die sie von allen anderen absondert; die Logik
kann nicht verlangen, daß man alle Hypothesen, deren Ver-
wendung in Betracht kommt, erst der Reihe nach ausprobiert,
da ein solcher Versuch unmöglich ist.
Welche Bedingungen müssen nun gemäß der Logik bei
der Wahl der Hypothesen, auf denen die physikalische Theorie
ruhen soll, erfüllt sein? Diese Bedingungen sind von dreierlei Art
In erster Linie wird eine Hypothese kein sich selbst wider-
sprechender Lehrsatz sein dürfen, da der Physiker nicht Un-
sinniges auszusprechen wünscht.
In zweiter Linie werden die verschiedenen Hypothesen,
die die Physik tragen sollen, einander nicht widersprechen
dürfen; die physikalische Theorie darf sich in der Tat nicht
in einen Haufen unzusammenhängender imd unvereinbarer
Modelle auflösen, sie sucht mit eifriger Sorgfalt die logische
Einheit zu hüten, da uns eine unmittelbare Erkenntnis, die
wir zwar nicht rechtfertigen, aber auch nicht zurückdrängen
können, zeigt, daß nur unter dieser Bedüigung die Theorie
ihre ideale Form, die Form der natürlichen Klassifikation er-
reichen wird.
In dritter Instanz werden die Hypothesen so gewählt
werden, daß die Schlußfolgerungen, die die mathematische
Ableitung aus deren Gesamtheit ziehen kann, mit hinreichen-
der Annäherung die Gesamtheit der experimentellen Gesetze
darstellen. Die schematische Darstellung der vom Experi-
mentator festgestellten Gesetze durch mathematische Symbole
ist in der Tat das eigentliche Ziel der physikalischen Theorie;
jede Theorie, die zu einer Folgerung führt, die in deutlichem Wider-
spruch mit einem beobachteten Gesetze steht, muß schonungs-
296 El^es Kapitd.
los verworfen werden. Es ist aber ganz unmöglich, eine
isolierte Folgerung der Theorie mit einem isolierten experi-
mentellen Gesetz zu vergleichen. Es handelt sich um zwei
Systeme, deren jedes unverletzt in Betracht zu ziehen ist,
einerseits das ganze System theoretischer Darstellungen und
andererseits das ganze System von Beobachtungsergebnissen;
diese beiden Systeme müssen miteinander verglichen werden
und ihre Ähnlichkeit ist Gegenstand der Untersuchung.
§ 2. — Die Hypothesen sind nicht das Produkt einer
plötzlichen Schöpfung, sondern das Ergebnis einer
fortschreitenden Entwicklung. — Die allgemeine Gravi-
tation als Beispiel.
Auf diese drei Bedingungen reduziert sich das, was die
Logik von den Hypothesen, die eine physikalische Theorie
tragen sollen, fordert; sonst verfügt der Theoretiker über voll-
ständige Freiheit, nur auf sie braucht er zu achten; er kann die
Fundamente des Systems, das er bauen will, nach seinem Gut-
dünken gestalten.
Wäre eine derartige Freiheit nicht das bedrückendste aller
Hindemisse?
Und ob! Vor den Augen des Physikers breitet sich
grenzenlos die unzählbare Menge, das imgeordnete Gewühl
experimenteller Gesetze aus, die noch nicht zusammengefaßt,
klassifiziert und verknüpft sind; er soll Prinzipien formulieren,
deren Konsequenzen eine einfache, klare, geordnete Darstellung
dieser erschreckenden Fülle von Beobachtungsergebnissen
bilden; aber bevor er abschätzen kann, ob die Konsequenzen
dieser Hypothesen geeignet sind, bevor er sehen kann, ob
sie ein ähnliches Bild und eine methodische Klassifikation der
experimentellen Gesetze ergeben, muß er das vollständige
System seiner Annahmen aufbauen; und wenn er von der
Logik verlangt, daß sie ihn bei dieser schwierigen Arbeit leiten
möge, daß sie ihm sage, welche Hypothesen er wählen und
welche er verwerfen soll, erhält er die einfache Vorschrift,
Die Wahl der Hypothesen. 297
.Widersprüche zu vermeiden, eine Vorschrift, die ihn durch
den Spielraum, den sie seiner Unsdilüssig^keit läßt, trostlos
macht. Kann ein Mensch eine in diesem Orade unumschränkte
Freiheit nutzbringend verwerten? Ist sein Geist genügend
stark, um eine physikalische Theorie aus einem OuB zu
schaffen?
Sicherlich nicht. Die Geschichte zeigt uns auch, daß keine
physikalische Theorie aus einem Guß geschaffen wurde. Der
Aufbau einer jeden physikalischen Theorie ist immer durch
eine Reibe von Verbesserungen vorgeschritten, die das System
von den ersten, beinahe imförmigen Entwürfen stufenweise
zu größerer Vollkommenheit geführt haben; bei jeder dieser
Verbesserungen wurde die freie Initiative des Physikers durch
die verschiedensten Umstände, durch Meinungen von Men-
schen, wie durch die Lehren der Tatsachen bestimmt, unter
stützt, geleitet, ja manchmal gebieterisch beherrscht. Eine
physikalische Theorie ist nicht das plötzliche Produkt einer
Schöpfung, sondern das langsame und fortschreitende Ergeb-
nis einer Entwicklung.
Wenn einige Schläge des Schnabels die Eierschale zer-
brechen und das Küchlein aus seiner Gefangenschaft heraus-
schlüpft, so kann das Kind sich vorstellen, daß diese starre
und Unbewegliche Masse, die den Kieselsteinen, die es am
Ufer des Baches aufgelesen, gleicht, plötzlich Leben bekommen
und den Vogel, der läuft und piept, erzeugt hat; aber dort,
wo seine kindliche Vorstellung eine plötzliche Schöpfung sieht,
erkennt der Naturforscher die letzte Phase einer langen Ent-
wicklung; er geht in Gedanken bis zur Verschmelzung zweier
mikroskopisch kleiner Kerne zurück, um sodann die Reihe der
Teilungen, der Differenzierungen, der Resorptionen zu ver-
folgen, die den Körper des jungen Huhnes Zelle um Zelle
aufgebaut haben.
Der Laie urteilt über die Entstehung der physikalischen
Theorien ebenso, wie ein Kind über das Ausschlüpfen des
Küchleins. Er glaubt, daß nachdem jene Zauberin, der er
den Namen Wissenschaft gegeben, die Stime eines genialen
298 Elftes Kapitel.
Mannes mit ihrem Zauberstab berührt hat, die Theorie sich
sogleich lebendig und vollendet offenbart, ebenso wie Minerva
in voller Rüstung aus der Stirne des Zeus heraustrat. Er
denkt, daß es genügt, daß Newton einen Apfel auf eine Wiese
herabfallen sieht, damit er die Wirkung des Falles schwerer
Körper, die Bewegungen der Erde, des Mondes, der Planeten
mit ihren Trabanten, die Wanderungen der Kometen, die Ge-
zeiten des Ozeans in dem einzigen Satz zusammenfassen und
klassifizieren kann: Die Anziehungskraft zweier beliebiger
Körper ist proportional dem Produkt ihrer Massen und um-
gekehrt proportional dem Quadrat ihrer Entfernung.
Alle, die eine tiefere Einsicht in die Natur und Geschichte
der physikalischen Theorien besitzen, wissen, daß man in den
Systemen der hellenischen Wissenschaft nach den Keimen der
Lehre von der allgemeinen Anziehung suchen muß ; sie kennen
die langsamen Umbildungen dieses Keimes in seiner Entwick-
lung, die durch Jahrtausende geht; sie führen die Beiträge
jedes Jahrhunderts zu dem Werke, das durch Newton seine
lebensfähige Form erhalten hat, an; sie vergessen nicht die
Bedenken und die Versuche, durch die Newton hindurch mußte,
bevor er sein System vollendet hat; und in keinem Stadium
bemerken sie in der Geschichte der allgemeinen Anziehung
eine Erscheinung, die einer plötzlichen Schöpfung ähnlich wäre,
einen Augenblick, in dem der menschliche Geist von allem
Schwanken befreit, den Einflüssen veralteter Lehren und den
Widersprüchen moderner Beobachtungen imzugänglich, von
der ganzen Freiheit, die ihm die Logik verleiht, Gebrauch
machen würde.
Wir können hier nicht im Einzelnen die Geschichte der
Bemühungen darlegen, durch die die Menschheit die denk-
würdige Entdeckung der universellen Anziehung vorbereitet hat;
es würde dafür ein ganzer Band kaum genügen; wir wollen
sie wenigstens in großen Zügen skizzieren, um zu zeigen,
welche Schicksale diese grundlegende Hypothese erleiden
mußte, bevor sie klar formuliert werden konnte.
Sobald der Mensch an das Studium der physikalischen
Welt herantrat, mußte eine Klasse von Erscheinungen durch
Die Wahl der Hypothesen. 299
ihre Allgemeinheit und Wichtigkeit seine Aufmerksamkeit er-
regen: die Schwere. Sie mußte zum Gegenstände der ersten
Überlegungen der Physiker werden.
Wir wollen uns nicht mit der Erinnerung an alles, was
die Philosophen des alten Hellas über das Schwere und Leichte
sagen konnten, aufhalten. Nehmen wir die von Aristoteles
gelehrte Physik als Ausgangspunkt für den Überblick, den
wir von dieser Geschichte geben wollen. Außerdem soll von
dieser früh begonnenen Entwicklung, die wir aber erst von
diesem Punkte an verfolgen, nichts anderes festgehalten
werden als das, was die Newtonsche Theorie vorbereitet,
indem wir alles andere, was nicht zu diesem Ziel hinführt,
systematisch außer acht lassen.
Für Aristoteles bestehen alle Köri>er aus einer Mischung
der vier Elemente, der Erde, des Wassers, der Luft und des
Feuers in verschiedenen Verhältnissen. Von diesen vier Ele-
menten sind die ersten drei schwer. Die Erde ist schwerer
als das Wasser, dieses schwerer als die Luft. Nur das Feuer
ist leicht. Die Mischungen sind mehr oder minder schwer
bezw. leicht, je nach dem Verhältnis der sie bildenden Elemente.
Was will das sagen? Ein schwerer Körper ist ein mit
einer solchen substantiellen Form versehener Körper, daß
er sich immer, wenn er nicht daran gehindert wird, von selber
gegen einen mathematischen Punkt, das Zentrum des Uni-
versums, bewegt. Damit er daran gehindert werde, muß
sich unter ihm entweder eine feste Stütze oder eine Flüssig-
keit, die schwerer als er ist, befinden. Eine leichtere Flüssig-
keit würde seine Bewegung nicht hindern, weil das Schwere
seinen Platz unter dem weniger Schwereneinzunehmen
SU cht. Ein leichter Körper ist entsprechend ein solcher, dessen
substantielle Form derartig ist, daß er sich von selber vom
Zentrum des Weltalls wegbewegt.
Wenn die Körper mit solchen substantiellen Formen verr
sehen sind, 30 strebt ein jeder von ihnen darnach, seinen
natürlichen Platz einzunehmen. Dieser liegt um so näher
dem Weltzentrum, je reicher der Körper a;i schweren Ele-
300 Elftes Kapitel.
menten ist und um so entfernter von diesem Punkte, je mehr
diese Mischung von leichten Elementen durchdrungen ist
Wenn sich jedes Element an seinem natiirlichen Platz befände,
wäre im Weltall eine Ordnung verwirklicht, in der ein jedes
Element die Vollkommenheit seiner Form erreicht hätte. Die
substantielle Form eines jeden Elementes und einer jeden
Mischung ist nun mit einer dieser Eigenschaften, die man
Schwere bezw. Leichtigkeit nennt, versehen worden, damit
die Ordnung des Weltalls jedesmal durch eine natürliche
Bewegung zu ihrer Vollkommenheit zurüdckehren kann,
wenn sie durch eine gewaltsame Bewegung gestört
worden ist. Im besonderen erklärt dieses Streben aller schwe-
ren Körper nach ihrem natürlichen Platz, dem Zentrum des
Universums, die Rundung der Erde, die vollkommene Kugel-
gestalt der Meeresoberfläche. Schon Aristoteles hat diesbe-
züglich einen mathematischen Beweis angedeutet, den Adrast,
Plinius der Ältere, Theon von Smyma, Simplidus, der heilige
Thomas von Aquino und die ganze Scholastik wiederholt und
weiter entwickelt haben. So ist, entsprechend dem großen
Prinzip der peripathetischen Metaphysik, die wirkende Ur-
sache der Bewegung der schweren Körper gleichzeitig der
Endzweck; sie ist nicht mit einer vom Weltzentrum ausge-
übten gewalttätigen Anziehung identisch, sondern mit einer
jedem Körper innewohnenden Tendenz, den für seine eigene
Erhaltung und für die harmonische Anordnung der Welt gün-
stigsten Platz zu erreichen.
So sind die Hypothesen beschaffen, auf denen die Theorie
der Schwere ruht, die Aristoteles formuliert, die die Kommen-
tatoren der alexandrinisdien Schule, die Araber und die mittel-
alterlichen Philosophen des Westens entwickeln und präzi-
sieren, die Julius Caesar Scaliger^) weitiäufig auseinander-
setzt, der Jean-Baptiste Benedetti^) eine besonders klare Form
^) Julü Caesaris Scaligeri Exotericarum exercitationum, Über
XV: De subtilitate adversus Cardanum, exerdtatio IV; Lutetiae 1557.
") J. Baptistae Benedict! Diversarum speculationum über.
Disputationes de quibusdam placitis Aristotelis, c. XXXV, p. 191;
Taurini, MDLXXXV.
Die Wahl der Hypothesen. 301
gibt und die sogar von Oalilei^) in seine ersten Schriften auf-
genommen wird.
Diese Lehre wurde übrigens im Gange der Überlegungen
der scholastischen Philosophen präzisiert. Die Schwere in
einem Körper besteht nicht in der Tendenz, ihn als Ganzen
dem Zentrum des Universums zu nähern, was absurd wäre,
noch auch darin, irgend einen beliebigen seiner Punkte dort-
hin zu bringen; in jedem schweren Körper gibt es einen
genau bestimmten Punkt, der sich mit dem Zentrum des Uni-
versums zu vereinigen sucht, und dieser Punkt ist der Schwer-
punkt des Körpers; es ist nicht mehr irgend ein beliebiger
Punkt der Erde, sondern der Schwerpunkt der ganzen irdischen
Masse, der sich im Zentrum der Welt befinden muß, damit
die Erde unbeweglich bleibe. Die Schwere wirkt zwischen
zwei Punkten ähnlich wie die Wirkungen von Pol zu Pol,
durch die man so lange die Eigenschaften der Magneten dar-
gestellt hat.
Diese Lehre, die im Keim in einer Stelle von Simplicius
bei seiner Kommentierung des De Coelo von Aristoteles
enthalten ist, wurde in der Mitte des XIV. Jahrhunderts aus-
führlich von einem der Doktoren, die in jener Epoche die
nominalistische Schule der Sorbonne zierten, von Albert de
Saxe formuliert. Nach Albert de Saxe und gemäß seinem
Unterricht wurde sie von den hervorragendsten Denkern der
Schule, von Thimon le Juif, von Marsile d'Inghen, von Pierre
d'Ailly, von Nipho^ angenommen und auseinandergesetzt.
Nachdem sie Leonardo da Vinci einige seiner originellsten
Gedanken eingegeben hatte*), behielt die Lehre von Albert
^) Le opere di Galileo Oalilei, ristampate fedelmente sopra la
edizione nazionale; vol. I, Firenze, 1890. De motu p. 252. (Diese Schrift,
die von Galilei gegen 1590 verfaßt wurde, wurde erst in unserer Zeit durch
Hm. Favaro publiziert)
*) Man findet die detaillierte Geschichte dieser Lehre in unserer Schrift:
„Les origines de la Statique" im XV. Kapitel, das den Titel „Les
propri^t^s mecaniques du centre de gravitd" trägt — D'Albert
deSaxeäTorricelli. Dieses Kapitel wird demnächst in der Revue des
Questions scientifiques veröffentlicht werden.
*) Vergl. P. Duhem: Albert de Saxe et Leonard de Vinci.
(Bulletin italien, t V, p. 1, et p. 113; 1905).
302 Elftes Kapitel.
de Saxe weit über das Mittelalter hinaus ihren mächtigen
Einfluß. Ouido-Ubaldo del Monte formuliert sie klar^): „Wenn
wir sagen, daß ein schwerer Körper durch eine natürliche
Hinneigung dem Zentrum des Universums zustrebt, wollen
wir ausdrücken, daß der eigene Schwerpunkt des schweren
Körpers sich mit dem Zentrum des Universums vereinigen will**
Diese Lehre von Albert de Saxe beherrschte noch während des
ganzen XVII. Jahrhunderts das Denken vieler Physiker. Sie
regt alle jene Überlegungen an, die denjenigen, der diese
Lehre nicht kennt, sehr befremden, jene Überlegungen, durch
die Fermat seinen geostatischen Satz stützte'). Im Jahre
1636 schrieb •) Fermat an Roberval, der die Berechtigung seiner
Argumente bestritt: „Der erste Einwand besteht darin, daß
Sie nicht zugeben wollen, daß die Mitte einer Linie, die zwei
gleiche, frei fallende Gewichte verbindet, dem Zentrum der
Erde zustrebt. Es scheint mir sicher, daß sie darin gegen die
natürliche Einsicht und die grundlegenden Prinzipien ver-
stoßen." Die durch Albert de Saxe formulierten Lehrsätze
hatten aufgehört zu den selbstverständlichen Wahrheiten zu
gehören.
Die kopemikanische Revolution stürzte, indem sie das
geozentrische System beseitigte, die eigentliche Grundlage, auf
denen diese Theorie der Schwere ruhte, um.
Der schwere Körper par excellence, die Erde strebt nicht
mehr danach, sich in das Zentrum des Universums zu stellen;
die Physiker müssen die Theorie der Schwere auf neue Hypo-
thesen stützen; welche Betrachtungen werden sie zu diesen
Hypothesen anregen? Analogiebetrachtungen; sie werden den
Fall der schweren Körper gegen die Erde mit der Bewegung
des Eisens gegen den Magneten vergleichen.
^) Ouidi Ubaldi e Marchionibus Montis: In duos Archimedis
aequiponderantium libros paraphrasis, scholiis illustrata,
Pisauri, 1588, p. 10.
') Vergl. P. Duhem: Les origines de la Statique, c. XVI: La
doctrine d'Albert de Saxe et les O^ostaticiens. Dieses Kapitel
wird demnächst in der Revue des Questions scientifiques erscheinen.
') Fermat: Oeuvres, publikes par les soins de MM. PaulTannery
€t Ch. Henry, i II, Correspondance, p. 31.
Die Wahl der Hypothesen. 303
Die Ordnung* verlangt, daß ein homogener Körper die
Erhaltung seiner Integrität erstrebt; die verschiedenen Teile
dieses Körpers müssen daher mit einer derartigen substan-
tiellen Form versehen sein, daß sie jeder Bewegung, die ihre
Trennung bewirken würde, Widerstand leisten und daß sie
nach ihrer Wiedervereinigung streben, wenn irg^end eine Ge-
walt sie getrennt hat. Ähnliches zieht somit Ähnliches an.
Dies ist der Orund, warum der Magnet den Magneten anzieht
Anderseits sind das Eisen und seine Erze mit dem Ma-
gneten verwandt; wenn man sie in die Nachbarschaft eines
Magneten bringt, so erfordert die Vollkommenheit des Uni-
versums, daß sie sich mit diesem Körper vereinigen; das ist
der Grund, warum ihre substantielle Form in der Nachbar-
schaft eines Magneten geändert wird, warum sie eine ma-
gnetische Kraft erhalten, durch die sie sich gegen den
Magneten bewegen.
So ist die Lehre über die magnetischen Wirkungen be-
schaffen, die die peripathetische Schule und speziell Averroes
und der heilige Thomas einhellig vertreten.
Im XIII. Jahrhundert wurden diese Wirkungen näher stu-
diert; man konstatiert, daß jeder Magnet zwei Pole besitzt,
daß die ungleichnamigen Pole sich anziehen, die gleichnamigen
sich abstoßen. Im Jahre 1269 gibt Pierre de Maricourt, der
unter dem Namen Petrus Peregrinus besser bekannt ist, eine
Beschreibung!) dieser Wirkungen, die ein Wunder an Klar-
heit und experimentellem Scharfsinn ist.
Aber diese neuen Entdeckungen bewirkten nur eine Festi-
gung der peripathetischen Lehre, indem sie sie präzisierten;
wenn man einen natürlichen Magneten zerbricht, besitzen die
beiden Bruchflächen ungleichnamige Pole. Die substantiellen
Formen der beiden Bruchstücke sind derart, daß sich diese
^) Epistola Petri Peregrini Maricurtensis ad Sygerum de
Foucaucourt militem, de tnagnete; actum in castris, in obsidione Lucerae,
anno Domini MCCLXIX, VIII die Augusti. — Gedruckt bei P. Oasser in
Augsburg 1558. Wieder gedruckt in Neudrucke von Schriften und
Karten über Meteorologie und Erdmagnetismus, herausgegeben
von Professor Dr. O. Hellmann. No. 10, Rara Magnetica (Berlin, Asher 1896).
304 Elftes Kapitel.
gegeneinander bewegen und sich wieder zu vereinigen suchen.
Die magnetische Kraft ist demnach derartig, daß sie die Inte-
grität des Magneten zu bewahren strebt, oder auch, wenn
dieser Magnet gebrochen wurde, einen einzigen Magnetea
wieder herzustellen sucht, dessen Pole ebenso angeordnet sind,
wie die des ursprünglichen Magneten^).
Die Schwere hat eine analoge Ursache. Die Erdpartikeln
sind mit einer derartigen substantiellen Form versehen, daß
sie mit dem Gestirn, dessen Teil sie bilden, vereinigt bleiben
und ihm die Kugelgestalt erhalten. Der Vorläufer von Köper-
nikus, Leonardo da Vinci, verkündet bereits*) „wie die Erde
nicht in der Mitte der Sonnenbahn, noch in der Mitte der Welt
sei, sondern, daß sie sich in der Mitte ihrer Partikehi, die sie
begleiten und mit ihr vereinigt sind, befinde." Alle Teile der
Erde streben zu deren Schwerpunkt und dadurch wird die
Kugelgestalt der Wasseroberfläche bewirkt, eine Gestalt, von
der der Tautropfen ein Bild gibt.
Kopernikus verwendet am Beginn des ersten Buches seiner
Abhandlung über die Himmelsbewegungen^) beinahe dieselben
Ausdrücke wie Leonardo da Vinci und bedient sich derselben
Veiigleiche. „Die Erde ist kugelförmig, weil alle ihre Teile
dem Schwerpunkt zustreben." Das Wasser und die Erde
streben beide zu ihm hin, was der Wasseroberfläche die Ge-
stalt eines Teiles einer Kugel verschafft. Die Kugel wäre
vollkommen, wenn das Wasser in hinreichender Menge vor-
handen wäre. Außerdem haben auch die Sonne, der Mond
und die Planeten Kugelgestalt, was sich bei jedem dieser
Himmelskörper, ebenso wie bei der Erde, erklären läßt.
„Ich denke ^), daß die Schwere nichts anderes als ein
gewisses natürlidies Streben sei, welches den Teilen der Erde
*) Petrus Peregrinus: Loc dt I« part. c IX.
^ Les Manuscrits de Leonard de Vinci, publi^s par Ch. Ra-
vaisson-Mollien, Ms. F. de la Biblioth^ue de l'Institut, fol. 41, verso.
Dieses Heft enthält die Bemerkung : Begonnen zu Mailand am 12. September 1 508.
') Nicolai Copernici: De revolutionibus orbium coelestium
libri sex.; 1. I, cc I, II, III, Norimbergae, 1543.
*) Nicolai Copernici: De revolutionibus orbium coelestium
libri sex; 1. I, c IX; Norimbergae 1543.
Die Wahl der Hypothesen. 305
durch die göttliche Vorsehung des Erbauers des Universums
gegeben worden ist, damit sie in ihre Einheit und Integrität
zurückgeführt werden, indem sie sich in der Form einer Kugel
vereinigen. Man kann wohl glauben, daß dieselbe Eigenschaft
sich auch in der Sonne, dem Mond und den anderen wandeln-
den Leuchten finde, damit durch die Wirkung dieser Eigen-
schaft sie die runde Gestalt behalten, in der sie uns erscheinen."
Ist diese Schwere universell? Wird eine Masse, die einem
Himmelskörper angehört, gleichzeitig durch den Schwerpunkt
dieses Körpers und durdi den Schwerpunkt der anderen Ge-
stirne beeinflußt? Nichts in den Schriften von Kopemikus
zeigt an, daß er ein derartiges Streben für zulässig gehalten
hätte; alles in den Schriften seiner Schüler zeigt, daß das
Streben gegen das Zentrum eines Gestirns gemäß ihrer Mei-
nung den Teilen dieses Gestirnes eigentümlich sei. Im Jahre
1626 resümierte^) Mersenne ihre Lehre j nachdem er folgende
Definition gegeben hatte: „Das Zentrum des Universums ist
jener Punkt, dem alle schweren Körper geradlinig zustreben
und der der gemeinsame Schwerpunkt aller Körper ist", er
fügte hinzu: „Man nimmt es an, aber man kann es nicht be-
weisen; denn es existiert wahrscheinlich ein besonderer
Schwerpunkt in jedem der besonderen Systeme, die das Uni-
versum bilden oder, mit anderen Worten, in jedem der großen
Himmelskörper."
Mersenne äußerte jedoch in betreff dieser Lehre einen
Zweifel zugunsten der Hypothese einer universellen Schwere;
ein wenig weiter schrieb er in der Tat'): „Wir nehmen an,
daß alle schweren Körper nach dem Weltzentrum streben und
sich gegen dasselbe geradlinig mit einer natürlichen Bewegung
begeben. Das ist ein Lehrsatz, dem beinahe jedermann bei-
pflichtet, obwohl er keineswegs bewiesen ist; wer weiß, ob
die Teile eines Gestirnes, wenn sie von ihm weggerissen
würden, nicht gegen dieses Gestirn gravitieren und dahin
zurückkehren würden, wie die Steine, die von der Erde los-
^) Mersenne: Synopsis mathematica; Lutetiae, ex offidna Rob.
Stephani, MDCXXVI, Mechanicorum libri p. 7.
•) Mersenne: loc. cit p. 8.
Dnhem, Physiloüische Theorie. 20
306 Elftes Kapitel.
gelöst Und auf dieses Oestim gebracht, zair Erde zurückzukehren
würden? Wer weiß, ob Steine der Erde, die dem Monde
näher sind als der Erde, nicht eher gegen den Mond, als
gegen die Erde fallen würden?" In diesem letzten Satz zeigte
sich Mersenne, wie wir sehen werden, eher versucht der Lehre
Keplers als der des Kopemikus zu folgen.
Treuer und strenger hält Galilei an der kopernikanisdien
Theorie der besonderen Schwere eines jeden Gestirnes fest
Vom ersten Tag des berühmten Dialogs über die zwei
Weltsysteme an lehrt er durch den Mund Salviatis, daß
„die Teile der Erde sich bewegen, nicht um zum Weltzentrum
zu gelangen, sondern um sich zu einem Ganzen zu vereinigen;
das rührt daher, daß sie eine natürliche Neigung haben, sich
dem Zentrum der Erdkugel zu nähern, eine Neigung, durch
die sie sich vereinigen, um sie zu bilden und zu erhalten . . .''
„Da alle Teile der Erde sich übereinstimmend vereinigen,
um sie als Ganzes zu bilden, so eilen sie von jeder Seite mit
einer gleichen Neigung herbei; und damit sie sich möglichst
vereinigen können, nehmen sie Kugelgestalt an. Müssen wir
daher nicht glauben, daß, wenn auch der Mond, die Sonne
und die anderen großen Körper, die die Welt bilden, gleich-
falls Kugelgestalt besitzen, dies nur daher rühren kann, daß
sie einen übereinstimmenden Trieb in sich haben und daß
ein natürliches Zusammenfließen all ihre Teile bewege? Ist
es daher nicht vernünftig zu glauben, daß wenn einer dieser
Teile irgendwie gewaltsam vom Ganzen getrennt wird, er
von selbst und infolge eines natürlichen Instinktes zu diesem
zurückkehren würde?"
Sicherlich besteht zwischen einer derartigen Theorie und
der des Aristoteles ein tiefer Unterschied. Aristoteles wies
mit aller Kraft die Lehre der alten Physiologen, die wie Empe-
dokles in der Schwere eine Zuneigung von Ahnlichem zu
Ähnlichem sahen, zurück. Im vierten Buch des D e C o e 1 o be-
hauptet er, daß die schweren Körper nicht fallen, um sich mit
der Erde, sondern um sich mit dem Zentrum des Universums
zu vereinigen. Und weiter, daß wenn die Erde von ihrem
Platz weggerissen und in der Bahn des Mondes festgehalten
Die Wahl der Hypothesen. 30Y
wfirde» die Steine nicht zur Erde, sondern zum Weltzentrum
fallen würden.
Von der Theorie des Aristoteles halten die Kopemikaner
soviel als möglich aufrecht. Für sie ist, ebenso wie für den
Stagiriten, die Schwere eine dem schweren Körper inne-
wohnende Tendenz und nicht eine von einem fremden Körper
ausgeübte gewaltsame Anziehung; für sie, wie für den Stagi-
riten besteht diese Tendenz gegen einen mathematischen Punkt
hin; dieser Punkt ist das Zentrum der Erde oder das Zen-
trum des Sternes, welchem der studierte Körper angehört;
für sie, wie für den Stagiriten ist diese Tendenz aller Teil-
chen gegen einen Punkt der Qrund für die Kugelgestalt eines
jeden Himmelskörpers.
Galilei geht noch weiter und überträgt auf das koperni-
kanische System die Theorie von Albert de Saxe. Bei der
Definition des Schwerpunktes eines Körpers sagt er in seiner
berühmten Schrift Della scienza meccanica: „Das ist auch
jener Punkt, der sich mit dem universellen Zentrum der schwe-
ren Dinge zu vereinigen sucht, d. h. mit dem der Erde"; und
dieser Gedanke leitet ihn, wenn er folgendes Prinzip formu-
liert: Ein System schwerer Körper befindet sich im Oleichge-
wicht, wenn der Schwerpunkt dieses Systemes sich möglichst
nahe beim Erdzentrum befindet.
Es lag daher im Wesen der kopemikanisdien Physik,
das Streben eines jeden Elementes zu seinem natürlichen Ort
zu leugnen und dieses Streben durch die gegenseitige Zunei-
gung der Teile eines Ganzen, die dieses Ganze wieder her-
zustellen suchen, zu ersetzen. In der Zeit, in der Kopernikus
diese Zuneigung zu Hilfe nahm, um die jedem Gestirn eigen-
tümliche Schwere zu erklären, formulierte Fracasto die all-
gemeine Theorie derselben^): Wenn zwei Teile desselben
Ganzen voneinander getrennt sind, sendet jeder derselben zum
anderen eine Ausstrahlung seiner substantiellen Form, eine
species, welche sich im Zwischenraum fortpflanzt; durch
die Berührung dieser species strebt jeder der Teile gegen
^) Hieronymi Fracastorii: De sympathia et antipathia rerum,
iber unus (Hieronymi Fracastorii: Opera omnia; Venetiis MDLV).
20^
308 Elftes Kapitel.
den anderen, damit sie sich zu einem einzigen Ganzen ver-
einigen; so erklären sich die wechselseitigen Anziehungen von
Ähnlichem, deren Typus die Zuneigung des Eisens zum Ma-
gneten ist
Nach dem Beispiel von Fracasto nahmen die meisten Ärzte
und Astrologen (es war selten, daß man nicht gleichzeitig
das eine wie das andere war) gerne auf solche Zuneigungen
Bezug; wir werden übrigens sehen, daß die Rolle der Ärzte
und Astrologen keineswegs von geringem Einfluß auf die
Entwicklung der Lehre von der allgemeinen Anziehung gewesen ist
Niemand hat dieser Lehre von den Zuneigungen weitere
Ausdehnung gegeben, als W. Gilbert. In dem Werke, das
für die Theorie des Magnetismus grundlegend war, durch
das er die wissenschaftliche Arbeit des XVL Jahriiunderts
abschließt, gibt Gilbert in betreff der Schwere ähnlichen Ideen
wie Kopemikus Ausdruck: „Die einfache und gerade Be-
wegung gegen den Boden, wie sie von den Peripathetikem
betrachtet wurde, die Bewegung des schweren Körpers", sagt
er^), „ist eine Bewegung der Wiedervereinigung (coacer-
vatio) der getrennten Teile, die auf Grund der Materie^
die sie bildet, sich in geraden Linien gegen die Erde wenden»
wobei diese Linien auf dem kürzesten Wege zum Zentrum
führen. Die Bewegungen der magnetischen, von der Erde ge-
trennten Teilchen, bestehen abgesehen von der Bewegung, die
sie mit dem Ganzen vereinigt, aus den Bewegungen, welche sie
miteinander vereinigen, und denen, durch die sie in Anbetracht der
Harmonie und Übereinstimmung gegen das Ganze gewendet und
geleitet werden." — „Diese geradlinige Bewegung'), die nur die
Neigung zu ihrem Ursprung ist, ist nicht nur den Teilchen der Erde^
sondern auch den Teilchen der Sonne, des Mondes und der
anderen Himmelskörper eigen/' Diese Anziehungskraft ist
übrigens keineswegs eine allgemeine Schwere; sie ist eine
Kraft, die jedem Gestirn eigentümlich ist, wie der Magnetis-
^) Oulielmi Oilberti Colcestrensis, media Londinensis, De
magnete, magneticis corporibus, et de magno magnete Tellure»
physiologia nova; Londini 1600, p. 225.
•) Gilbert: Loc cit p. 227.
Die Wahl der Hypothesen. 30Q
mus der Er<te oder dem Magneten: ,,Geben wir nun'S sagt
Gilbert^), „den Grund dieser Vereinigung und dieser Be-
wegung, die die ganze Natur ergreift an . . . Es ist dies eine
spezielle, eigentümliche, substantielle Form, die den Haupt-
himmelskörpern eigen ist; es ist dies eine eigentümliche Enti-
iät und Wesenheit ihrer homogenen und nicht verdorbenen
Teilchen, welche wir primäre, wurzelhafte und astrale Form
nennen können ; das ist nicht die primäre Form des Aristoteles,
sondern jene spezielle Form, durch die die Kugel das, was ihr
eigentümlich ist, bewahrt und festsetzt. In jeder der Kugeln,
in der Sonne, dem Mond, den Sternen gibt es eine derartige
Form; es gibt auch eine in der Erde; sie bildet jenes wahre,
magnetische Vermögen, welches wir als primäre Kraft be-
zeichnen. Es gibt daher eine magnetische Natur, die der
Erde eigentümlich ist und die d'urch einen primären unseres
Erstaunens wohl würdigen Grund in jedem ihrer Teile wirk-
lich bestehen bleibt ... Es gibt in der Erde eine magnetische
Kraft, die ihr eigentümlich ist, wie es eine substantielle Form
in der Sonne und im Mond gibt; der Mond verfügt über die
Teile, welche sich von ihm losgelöst, in einer Art, wie sie dem
Monde entspricht, entsprechend seiner Form und den Grenzen,
die ihm gesetzt sind; ein Stück der Sonne bewegt sich gegen
die Sonne, wie ein Magnet gegen die Erde oder einen anderen
Magneten durch seine natürliche Neigung und wie wenn er
angelockt worden wäre."
Diese Gedanken sind in dem Buch von Gilbert über den
Magneten ausgestreut. In der Schrift über das Weltsystem, das
er verfaßt hat und das sein Bruder nach seinem Tode publi-
zierte*) werden sie breit entwickelt und gewinnen dominieren-
den Einfluß. Der Hauptgedanke dieser Schrift ist in folgender
Stelle zusammengefaßt^): „Alles, was irdisch ist, vereinigt sich'
») Gilbert: Loc cit. p. 65.
^ Oulielmi Qilberti Colcestrensis, media Regit, De mundo
nostro sublunari philosophia nova; Opus posthumum, ab authoris
fratre collectum pridem et dispositum. Amstelodami MDCLI. — Gilbert
starb im Jahre 1603.
•) Gilbert: Loc. cit. p. 115.
310 Elftes Kapitel.
mit der Erdkugel; und ebenso strebt alles, was mit der Sonne
gleichartig ist, der Sonne, alle dem Mond angehörigen Dinge
dem Monde zu und dasselbe gilt für alle Körper, die das
Universum bilden. Jedes Teilchen eines solchen Körpers haftet
an seinem Ganzen und trennt sich nicht freiwillig von ihm;
wenn es weggerissen wurde, strebt es nicht nur dahin zurück-
zukehren, sondern es wird gerufen und angelodct durch die
Kräfte der Kugel. Wenn es nicht so wäre, wenn die TeUe
sich von selbst trennen könnten, wenn sie nicht zu ihrem
Ursprung zurückkehren würden, wäre die ganze Welt bald
aufgelöst und in Verwirrung. Es handelt sich nicht um eine
Begierde, die die Teile zu einem gewissen Platz, einem ge-
wissen Raum, einem gewissen Punkt führt, sondern um eine
Neigung zu dem Körper hin, zu der gemeinsamen Quelle,
zu der Mutter, der sie entstammen, zu ihrem Ursprung, wo
alle diese Teile sich vereinigt, bewahrt finden und wo sie
in Ruhe vor jeder Gefahr gefeit, bleiben werden."
Die magnetische Philosophie von Gilbert gewann
unter den Physikern zahlreiche Anhänger; begnügen wir uns
Francis Bacon^) zu erwähnen, dessen Meinungen die ver-
worrene Widerspiegelung der Lehren seines gelehrten Zeit-
genossen sind und gehen wir sogleich zum wahren Schöpfer
der allgemeinen Gravitation, zu Kepler über.
Während Kepler in vielen Wiederholungen seine Bewun-
derung für Gilbert ausspricht, während er sich zugunsten der
magnetischen Philosophie erklärt, geht er daran, alle ihre
Prinzipien zu ändern; er ersetzt das Streben der Teile eines
Gestirns gegen das Zentrum desselben durch die wechsel-
seitige Anziehung von Teil zu Teil; er erklärt, daß diese
Anziehung aus ein und derselben Kraft hervorgehe, ob es sich
nun um Teile des Mondes oder um Teile der Erde handle.
Er läßt jede Betrachtung von Endzwecken außer Spiel, die
diese Kraft an die Erhaltung der Gestalt eines jeden Gestirnes
knüpfen; er bahnt mit einem Wort alle Wege, die die Lehre
von der allgemeinen Gravitation gehen wird.
') Bacon: Novum Organum 1. II, c XLVIII, artt 7, 8, 9.
Die Wahl der Hypothesen. 31 1
Vor allem leugnet Kepler, daß irgend ein magnetischer
Pimkt, sei es nun das Zentrum der Erde, wie es Kopemikus,
sei es das Zentrum des Universums, wie es Aristoteles meinte,
ein Anziehungs- oder AbstoBtmgsvermögen besitzen könne:
„Das Bestreben des Feuers^) besteht nicht darin, die Fläche,
welche die Welt begrenzt, zu erreichen, sondern das Zentrum
zu fliehen; und zwar nicht das Zentrum des Universums,
sondern das Zentrum der Erde; und dieses Zentrum nicht
nur insoweit es ein Punkt ist, sondern insoweit es sich in der
Mitte eines Körpers befindet, welcher Körper der Natur des
Feuers, welches sich ausdehnen will, sehr entgegengesetzt
ist; ich sage noch mehr, die Flamme flieht nicht, sondern sie
wird durch die schwerere Luft gejagt, wie eine Luftblase durch
das Wasser . . . Wenn man die unbewegliche Erde an irgend
einen Ort stellen imd eine größere Erde nähern würde, würde
die erstere in bezug auf die zweite schwer und von ihr an-
gezogen, wie der Stein von der Erde angezogen wird. Die
Schwere ist keine Wirkung, sondern ein Trieb des Steines,
der angezogen wird."
„Ein mathematischer Punkt^), sei es nun das Zentrum der
Welt oder irgend ein anderer Punkt, könnte nicht tatsächlich
die schweren Körper bewegen; noch weniger könnte er das
Objekt sein, dem sie zustreben. Mögen daher die Physiker
beweisen, daß eine derartige Kraft einem Punkte eigen sein
kann, der kein Körper ist und der nur in ganz relativer Weise
begreifbar ist!"
„Es ist unmöglich, daß die substantielle Form des Steines,
wenn sie diesen Stein als Körper in Bewegung setzt, einen
mathematischen Punkt, zum Beispiel das Zentrum der Welt
suche, unbekümmert um den Körper, in dem sich dieser Punkt
befindet. Mögen daher die Physiker zeigen, daß die natürlichen
Dinge Sympathie für das haben, was nicht existiert!"
^) Jo. Kepleri: Littera ad Herwartum, 28. März 1605. — Joannis
Kepler! astronomi Opera omnia, ^it Ch. Frisch, t II, p. 87.
^) Joannis Kepleri: De motibus stellae Martis commentarii,
Pragae, 1609. — Kepleri: Opera omnia t III, p. 151.
312 Elftes Kapitel.
„... Hier haben wir die wahre Lehre über die
Schwere: Die Schwere ist eine wechselseitige Zuneigung;
unter verwandten Körpern, die sie zu vereinigen und zu ver-
binden sucht; die magnetische Kraft ist eine Eigenschaft glei-
cher Art; die Erde zieht viel eher den Stein an, als daß der
Stein zur Erde strebt Selbst wenn wir das Erdzentrum in
das Weltzentrum setzen würden, wäre es nicht das Welt-
zentrum, gegen das die schweren Körper sich bewegen
würden, sondern das Zentmm des runden Körpers, mit
dem sie verwandt sind, das heißt das Zentrum der
Erde. An welchen Ort man auch die Erde bringe, immer
werden sich die schweren Körper, dank der Kraft, die ihr
innewohnt, zu ihr bewegen. Wenn die Erde nicht rund wäre,
würden die schweren Körper nicht von jeder Seite gerade
zum Erdzentrum bewegt werden, sondern sie würden, je
nachdem von welchem Platz sie kommen, sich nach verschie-
denen Punkten bewegen. Wenn sich an einem gewissen
Punkt der Welt zwei Steine befinden würden, die einander
nahe und außerhalb der Kraftsphäre irgend eines anderen,
ihnen verwandten Körpers wären, so würden diese Steine
nach Art zweier Magneten sich an einem dazwischen liegen-
den Ort zu vereinigen suchen und die Wege, die sie zurück-
legen würden, wären umgekehrt proportional ihren Massen."
Diese wahre Lehre über die Schwere verbreitete sich
bald in Europa und fand die Anerkennung vieler Mathe-
matiken Schon im Jahre 1626 erwähnt sie Mersenne in
seiner Synopsis mathematica. Am 16. August 1636 schrei-
ben ^tienne Pascal und Roberval an Fermat einen Briefe),
dessen Hauptgegenstand die Bestreitung des alten Prinzipes
von Albert de Saxe ist, das von dem Toulouser Mathematiker
eifrig gehütet wurde, „daß wenn zwei gleiche Gewichte durch
eine gerade, feste und gewichtslose Linie verbunden und so
angeordnet sind, daß sie frei fallen können, sie nicht zur
Ruhe kommen werden, bis die Mitte der Linie (die der Schwer-
punkt der Alten ist) sich mit dem gemeinsamen Zentrum
^) Fermat: Oeuvres, publikes par les soins de MM. Paul Tannery
et Ch. Henry; t II, Correspondatice, p. 35.
Die Wahl der Hypothesen. 313
der schweren Dinge vereinigt hat". Diesem Prinzip halten sie
folgendes entgegen: „Es kann sein und es ist sehr wahr-
sdieinlich, daß die Schwere eine wechselseitige Anziehung
oder ein natürlicher Wunsch sei, den die Körper haben, um
sich miteinander zu vereinigen, wie dies beim Eisen und beim
Magneten klar ist, die derartig beschaffen sind, daß, wenn
der Magnet festgehalten wird, das Eisen keineswegs verhin-
dert ist, ihn aufzusuchen; wenn das Eisen festgehalten wird,
geht der Magnet zu ihm ; tmd wenn beide frei sind, werden
sie sich gegenseitig nähern und zwar in der Art, daß der
Stärkere der beiden den kleineren Weg zurücklegen wird/'
Haben die Körper, die sidi auf der Erde befinden, kein
anderes magnetisches Vermögen als das, welches sie
zum Boden, von dem sie entfernt wurden, zurückbringt und
das ihre Schwere bildet?
Die Bewegung, welche das Wasser des Meeres aufwühlt
und die Flut hervorbringt, folgt so genau dem Ehirchgang
des Mondes durch den Meridian, daß man den Mond als die
Ursache dieser Erscheinung betrachten mußte, sobald deren
Gesetze mit einiger Genauigkeit erkannt worden waren. Die
Beobachtungen^) von Eratosthenes, Seleucus, Hypparch und
Vor allem von Posidonius verschafften den alten Philo-
sophen eine Kenntnis dieser Gesetze, die so vollständig war,
daß Cicero, Plinius der Altere, Strabo und Ptolemäus nicht
zögerten, die Behauptung aufzustellen, daß die Erscheinung
der Gezeiten von der Bewegung des Mondes abhänge. Aber
diese Abhängigkeit wurde vor allem durch die ins einzelne
gehende Beschreibung der verschiedenen Unregelmäßigkeiten
der Flut, die der arabische Astronom Albumasar im IX. Jahr-
hundert in seinem Introductorium magnum ad Astro-
nom i am gab, festgestellt.
Der Mond bestimmt somit das Anschwellen des Wassers
des Ozeans; aber in welcher Weise bestimmt er es?
^) Vei^L: Roberto Almagia: Sulla dottrina della marea nelT
antichitä classica e nel medio evo (Atti del Congresso inter-
nationale di Scienze storiche, Roma, 1—9 aprile 1903; vol. XII, p. 151).
314 Elftes Kapitel.
Ptolemäus, Albutnasar zögern nicht, sich auf eine eigen-
artige Kraft, auf einen besonderen Einfhiß des Mondes auf
das Meerwasser zu berufen. Eine derartige Erklärung war
keineswegs geeignet, den wirklichen Schülern des Aristo-
teles zu gefallen. Was man auch in dieser Beziehung ge-
sagt haben mag, die orthodoxen Peripathetiker, sowohl die
Araber als die Lehrer der westlichen Scholastik, bekämpf-
ten heftig die Erklärungen, in denen man auf verborgene,
den Sinnen unzugängliche Kräfte Bezug nahm. Die Wirkung
des Magneten auf das Eisen war beinahe die einzige dieser
mysteriösen Kräfte, die sie anzuerkennen geneigt waren. Sie
anerkannten nicht, daß die Sterne irgend einen Einfluß aus-
üben könnten, der nicht von ihrer Bewegung oder ihrem
Licht herrührt. Es war daher das Licht des Mondes, die
Wärme, die dieses Licht erzeugen kann, die Strömungen, die
durch diese Wärme in der Atmosphäre bestimmt werden können,
das Aufwallen, das sie im Innern der Meeresgewässer hervor-
bringen kann, denen Avicenna, Averrhoes, Robert Orosse-Teste,
Albertus Magnus, Roger Bacon die Erklärung von Flut und
Ebbe zuschrieben.
Dies war eine recht schwach fundierte Erklärung, die
von vornherein durch allzu naheliegende Einwände zunichte
gemacht wurde. Schon Albumasar hatte beobachtet, daß das
Mondlicht nichts mit der Meeresflut zu tun habe, da diese
Flut ebensowohl bei Neumond wie bei Vollmond entsteht,
da sie in gleicher Weise eintritt, ob nun der Mond im Zenith
oder im Nadir steht. Die ein wenig kindische Erklärung,
die Robert Grosse-Teste vergeschlagen hatte, um diesen letz-
teren Vorwand zu beheben, konnte trotz der enthusiastischen
Zustimmung Roger Bacons die Argumentation Albumasars
nicht zunichte machen. Seit dem XIIL Jahrhundert hielten
die Besten unter den Scholastikern, unter anderen der heilige
Thomas von Aquino die Möglichkeit von den Sternen
eigentümlichen, vom Licht verschiedenen Einflüssen für
zulässig; damals verglich Guillaume d'Auvergne in seiner
Schrift De Universo die Wirkung des Mondes auf die
Meeresgewässer mit der Wirkung des Magneten auf das Eisen^
Die Wahl der Hypothesen. 315
Die magnetische Theorie der Gezeiten ist den
großen Physikern, die um die Mitte des XIV. Jahrhunderts
die nominalistische Schule der Sorbonne zierten, bekannt;
Albert de Saxe, Thimon le Juif legen sie in ihren Fragen
über den De Coelo und über die Meteore des Aristo-
teles dar; aber sie zögern ihr voll und ganz zuzustimmen; sie
kennen allzugut den Wert der Einwände Albumasars, um
sidi rückhaltlos bei den Erklärungen von Albertus Magnus
und Roger Bacon zu beruhigen; dabei widerspricht diese ver-
borgene magnetische Anziehung, die durch den Mond auf
die Meeresgewässer ausgeübt wird, ihrem peripathetischen
Rationalismus.
Die Kraft, deren Zeugnis die Gezeiten sind, war dagegen
wohl geeignet, das Wohlgefallen der Astrologen zu finden.
Sie sahen in ihr den unleugbaren Beweis der Einflüsse, die
die Gestirne auf die Dinge unter dem Monde ausüben. Nicht
minder war diese Hypothese bei den Ärzten in Gunst. Sie
verglichen die Rolle, die die Gestirne bei dem Phänomen
der Gezeiten spielen, mit der, die sie ihnen bei den Krisen
der Krankheiten zuschrieben. War es nicht Galen, der die
kritischen Tage der schleimabsondernden Krank-
heiten mit den Phasen des Mondes in Zusammenhang brachte ?
Am Ende des XV. Jahrhunderts nimmt Jean Pic de La
Mirandole mit Entschlossenheit die peripathetische These von
Avicenna und Averrhoes wieder auf^), er leugnet, daß die
Sterne hier unten irgend wie anders als durch ihr Licht wirken
können; er verwirft jede die Zukunft verkündende Sterndeute-
kunst als Illusion; er weist die medizinische Lehre der kriti-
schen Tage zurück und erklärt gleichzeitig die magnetische
Theorie der Gezeiten für irrtümlich.
Die Herausforderung, die Jean Pic de La Mirandole an
die Astrologen und Mediziner richtete, wurde von einem Arzt
aus Siena, Lucius Bellantius, sogleich in einer Schrift^), deren
^) Joannis Ptci Mirandulae: Adversus astrologos; Bononiae, 1495.
^ Lucii Beliantii Senensis: Liber de astrologica veritate et
in disputationes Joannis Pici adversus astrologos responsiönes^
Bononlae, 1495; Florentiae, 1498; Venetiis, 1502; Basileae, 1504.
316 Elftes Kapitel.
Auflagen unausgesetzt aufeinanderfolgten, aufgenommen. Im
III. Buch dieses Werkes schreibt der Autor, indem er das,
was Pic de La Mirandole über die Gezeiten gesagt hatte,
prüft, folgende Zeilen: „Die Strahlen, durch die der Mond
wirkt, insbesondere, wenn er die Gewässer des Meeres an-
zieht und anschwellen macht, sind nicht die Strahlen des
Mondlichtes; denn im Augenblick der Konjunktionen würde
es dann keine Flut und Ebbe geben, die wir aber zu dieser
Zeit konstatieren können; es sind virtuelle Strahlen, durdi
die der Mond das Meer anzieht, wie der Magnet das Eisen.
Mit Hilfe dieser Strahlen schlägt man leicht alle Einwände
über diesen Gegenstand nieder."
Das Buch von Lucius Bellantius war ohne Zweifel das
Signal, daß die magnetische Theorie neue verdoppelte
Zustimmung fand; von der Mitte des XVL Jahrhunderts wird
diese Theorie ganz allgemein anerkannt
Kardano^) zählt unter die sieben einfachen Bewegungen:
„. .. abermals, eine andere natürliche, die durch einen ge-
wissen Gehorsam der Dinge bewirkt wird, wie die des Was-
sers, die vom Monde herrührt, wie die des Eisens, die vom
Magneten, der Stein des Herkules genannt wird, herrührt."
Julius -Caesar Scaliger teilt^) auch diese Ansicht: „Das
Eisen", sagt er, „wird durch den Magneten bewegt, ohne
mit ihm in Berührung zu sein; warum soll nicht ebenso das
Meer dem Körper eines sehr erhabenen Sternes folgen?"
Duret erwähnt^) die Meinung von Lucius Bellantius, aller-
dings ohne sie zu akzeptieren: „Dieser Autor behauptet, daß
der Mond die Meeresgewässer nicht durch die Lichtstrahlen
anziehe, sondern durch die Kraft tmd das Vermögen gewisser,
^) Les livres d'Hi^rome Cardanus, m^ecin müanois, intitul6s de
la subtilit^ et subtiles inventions, traduis de latin en fran^ois par
Richard Le Blanc, Paris, 1556, p. 35.
*) Julii Caesaris Scaligeri: Exercitationes exotericae de
subtilitate adversus Cardanum, Exerdtatio LH.
*) Claude Duret: Discours de la v^rit^ des causes et effects
|le divers cours, mouvemens, flux et reflux de la mer oc£ane|
mer mtditerann^e et autres mers de la Terre. Paris, 1600, p. 204.
Die Wahl der Hypothesen. 317
ihm eigentümlicher, verborgener Eigenschaften, ebenso wie
der Magnet auf das Eisen wirkt/'
Gilbert endlich lehrt^), daß „der Mond auf das Meer nicht
durch seine Strahlen, nicht durch sein Licht wirke. Wie wirkt er
nun? Durch das Zusammenwirken der zwei Körper, und
um meinen Gedanken mit Hilfe einer Analogie zu erklären,
durch die magnetische Anziehung/'
EMese Wirkung des Mondes auf die Gewässer des Meeres
gehört übrigens zu jenen sympathischen Neigungen des Glei-
chen zum Gleichen, in denen die Kopemikaner die Erklärung
der Schwere sehen. Jeder Körper hat eine derartige substan«
tielle Form, daß er sich mit einem anderen Körper gleicher
Art zu vereinigen sucht; es ist daher natürlich, daß das Wasser
des Meeres sich wieder mit dem Monde zu vereinigen sucht,
der für die Astrologen wie für die Arzte das feuchte Gestirn
im wahrsten Sinne des Wortes ist.
Wie Ptolemäus in seinem Opus quadripartitum und
Albumasar in seinem Introductorium magnum aus-
führen, soll der Saturn Kälte erzeugen, der Jupiter mäßige
Wärme, der Mars brennende Hitze, während der Mond Feuch«
iigkeit hervorbringen soll. Die Wirkung des Mondes auf die
Gewässer des Meeres besteht daher in der Zuneigung zweier
Körper der gleichen Familie, in einer cognata virtus,
wie der arabische Autor sagt.
Diese Lehren wurden von den Ärzten und Astrologen
des Mittelalters und der Renaissance beibehalten: „Man kann
nicht'S sagt Kardano^ „an dem durch die Gestirne ausge-
übten Einfluß zweifeln; es ist dies eine geheime Wirkung,
die alle verborgenen Dinge regiert; und dennoch wagen ge-
wisse unredliche, ehrgeizige und noch mehr ungläubige Gei-
ster, wie Herostrat, dieselben zu leugnen . . . Sehen wir nicht,
daß selbst unter den Substanzen der Erde es solche gibt,
wie den Magneten, dessen Eigenschaften deutliche Wiricungen
ausüben? ... Warum sollen wir solche Wirkungen dem Fir-
^) OuHelmi Oilberti: De mundo nostro philosophia nova, p. 307.
*) Hieronymi Cardani: De rerum varietate libri XVII, I. II, c XIII;
Basfleae, 1557.
318 Elftes Kapitel.
tnament, dem ewigen und hoch erhabenen Körper absprechen ?
... Durch ihre Größe, durch die Menge von Licht, die sie
verbreitet, ist die Sonne der Hauptlenker aller Dinge. Nach-
her kommt aus denselben Gründen der Mond, weil er uns
als das größte Gestirn nach der Sonne erscheint, obwohl
er es in Wirklichkeit nicht ist. Er beherrscht vor allem die
feuchten Dinge, die Fische, die Gewässer, das Marie und Ge-
hirn der Tiere und unter den Wurzeln die Knollen und Zwie-
beln, die vor allem Feuchtigiceit enthalten.^'
Kepler selbst, der sich mit solcher Kraft gegen die unge-
rechtfertigten Ansprüche der Astrologie wendet, scheut sich nicht
zu schreiben^) : „Die Erfahrung beweist, daß alles, was Feuch-
tigkeit enthält, beim Wachsen des Mondes aufschwillt und
beim Abnehmen des Mondes schlaff wird."
Kepler schmeichelt sich^) der erste gewesen zu sein, der
jene Meinung umgestürzt hat, nach der die Flut in dem Be-
streben der Meeresgewässer besteht, sich mit der Feuchtigkeit
des Mondes zu vereinigen. „Ebenso wie die Flut und Ebbe
des Meeres sichere Dinge sind, ebenso sicher ist es, daß
die Mondfeuchtigkeit mit der Ursache dieser Erscheinung nichts
zu tun hat. Ich bin, so weit ich weiß, der erste, der den
Vorgang, durch den der Mond die Flut und Ebbe des Meeres
verursacht, klargestellt hat und zwar in meinen Prolegomena
zu den Kommentaren über die Bewegungen des Mars.
Er besteht in folgendem: Der Mond wirkt nicht als feuchter
oder benetzender Körper, sondern als Masse, die der Masse
der Erde verwandt ist; er zieht die Gewässer des Meeres
durch eine magnetische Wirkung an, nicht weil sie feucht,
sondern weil sie mit Erdsubstanz versehen sind, einer Sub-
stanz, der sie gleicherweise ihre Schwere verdanken."
Die Flut ist wohl eine Neigung, die Gleiches mit Gleichem
vereinigen will ; aber die Körper, die sich zu vereinigen suchen,
gleichen sich nicht darin, daß sie beide an der Natur des
^) Joannis Kepleri: De fundamentis Astrologiae, Pragae 1602;
thesis XV. — J. Kepleri: Opera omnia, t. I, p. 422.
*) J. Kepleri: Notae in librum Plutarchi de facie in orbe Lunae,
Francofurti, 1634. — J. Kepleri: Opera omnia, L VIII, p. 118.
Die Wahl der Hypothesen. 319
Wassers teilhaftig sind, sondern daß sie beide zur Natur der
Massen, die unsere Erdkugel bilden, gehören. Ebenso wird
die Anziehung des Mondes nicht nur auf die Gewässer, die
die Erde bedecken, sondern auch auf die festen Teile und
auf die Erde als Ganzes ausgeübt; und umgekehrt übt die
Erde eine magnetische Anziehung auf die schweren Körper
des Mondes aus. „Wenn der Mond und die Erde^) nicht
durch eine wirkende oder durch irgend eine äquivalente Kraft
in ihren Bahnen zurückgehalten würden, würde die Erde sich
zum Monde erheben und der Mond zur Erde herabsinken,
bis sich beide Gestirne vereinigen. Wenn die Erde aufhören
würde, die Gewässer, die sie bedecken, anzuziehen, würden
die Meereswogen sich ganz erheben und zum Monde fließen."
Diese Meinungen hatten für mehr als einen Physiker
etwas Bestechendes; am 1. September 1631 schrieb*) Mer-
senne an Jean Rey: „Ich zweifle keineswegs, daß die Steine,
die ein auf dem Mond befindlicher Mensch in die Höhe werfen
würde, auf den Mond zurückfallen würden, obwohl er von
unserer Seite aus der höchste Punkt ist; denn sie fallen auch
zur Erde zurück, weil sie ihr viel näher sind, als den anderen
Systemen." Aber Jean Rey nimmt diese Kepler entlehnte
Anschauungsweise nicht günstig auf; Neujahr 1632 antwortet
er") Mersenne: „Sie zweifeln nicht, sagen Sie, daß die Steine,
die ein auf dem Monde befindlicher Mensch in die Höhe
schleudern würde^ auf eben diesen Mond zurückfallen wür-
den, obwohl er von unserer Seite aus der höchste Punkt ist
Ich bemerice, daß mich dies abschreckt; wenn ich zu Ihnen
offen sprechen soll, so glaube ich gerade das Gegenteil; denn
ich setze voraus, daß Sie von Steinen sprechen, die von hier
genommen sind (vielleicht würde man auch keine auf dem
Monde finden). Solche Steine haben nun keine andere Nei-
^) Joannis Kepler!: De motibus stellae Martis, 1609. — J. Kepler!:
Opera omnia, t III, p. 151.
") Essays de Jean Rey, Docteur en m^dedne, sur la recherche
de la cause pour laquelle l'estaln et le plomb augmentent de
poids quand on les calcine. Nouvelle Edition (augment^e de la corres-
pondance de Mersenne et de Jean Rey), Paris, 1777, p. 109.
«) Jean Rey: Loc cit p. 122.
320 Elftes Kapitel.
gung, als die, sich zu ihrem Zentrum zu begeben, welches
das der Erde ist; sie würden zu uns mit dem Menschen
kommen, der sie wirft, wenn er ein Erdbewohner wäre, wo-
durch die Wahrheit des Spruches Nescio qua natale, solum
dulcedine, cunctos allicit bekräftigt würde. Und wenn es
geschehen würde, daß sie von dem Monde, wie von einem
Magneten angezogen würden (woran Sie ebenso zweifeln
sollten, wie an der Anziehung der Erde), so sind in diesem
Falle die Erde imd der Mond mit dem gleichen magne-
tischen Vermögen versehen, da sie ja den gleichen Körper
anziehen. Stimmen sie aber darin miteinander überein,
so müssen sie es auch darin, daß sie sich wechselseitig
anziehen oder besser gesagt, daß sie sich bewegen und
sich miteinander vereinigen, ebenso wie ich sehe, daß
sich zwei Magnetkugeln, die ich in einer mit Wasser ge-
füllten Schale schwimmen lasse, einander nähern und sich
vereinigen. Etenn der Einwand, daß der Abstand zu groß
sei, hält nicht stand: Die Einflüsse, die der Mond auf die
Erde geltend macht und die, die die Erde auf den Mond
ausübt, da sie ihm gemäß Ihrer Meinung nun einmal als
Mond dient, machen uns klar, daß einer in der Wirkungsphäre
des anderen ist"
EHes ist indessen der Einwand, den Descartes erhebt;
auf die Frage Mersennes, ob er „wisse, ob ein Körper
mehr oder weniger wiege, wenn er sich näher beim
Erdzentrum befinde, oder wenn er entfernter von
ihm sei", antwortet er mit folgendem Argument, das wohl
geeignet ist, zu beweisen, daß die von der Erde entfernteren
Körper weniger wiegen als die in ihrer Nähe befindlichen^):
„Die Planeten, die in sich kein Licht besitzen, wie der Mond,
die Venus, der Merkur etc., sind wahrscheinlich Körper aus
der gleichen Materie wie die Erde ..., es scheint daher, daß
diese Planeten schwer sein und gegen die Erde fallen müßten,
wenn nicht deren große Entfernung ihnen diese Neigung
rauben würde."
^) Descartes: Correspondance, Edition P. Tannery et Ch. Adam,
No. CXXIX, 13 juillet 1638; t II, p. 225.
Die Wahl der Hypothesen. 321
Trotz der Schwierigkeiten, welche den Physikern in der ersten
Hälfte des XVII. Jahrhunderts die Erklärung der Tatsache bereitet^
daß die g^enseitige Schwere der Erde und des Mondes
nicht bewirke, daß sie aufeinanderfallen, verbreitete und festigte
sich der Glaube an eine derartige Schwere mehr und mehr.
Descartes dachte, wie wir gesehen haben, daß eine derartige
Schwere zwischen der Erde und den anderen Planeten, so gegen-
über der Venus und dem Merkur, bestehen könne. Francis Bacon
war weiter vorgedrungen; er dachte, daß die Sonne auf die
verschiedenen Planeten eine Wirkung gleicher Art ausiiben
könne. Im Novum Organum^) setzt der berühmte Kanzler
in eine spezielle Kategorie „die magnetische Bewegung, die
in die Klasse der Bewegungen kleinerer Vereinigung
(Congregatio minor) gehört, aber da sie oft mit großen
Abständen und beträchtlichen Massen operiert, in diesem Sinne
eine spezielle Forschung verdient, vor allem, da sie nicht mit
einer Berührung beginnt, wie die meisten anderen Vereini-
gungsbewegungen imd sich darauf beschränkt, die Körper zu
heben oder aufzuschwellen, ohne etwas anderes zu erzeugen.
Wenn es wahr ist, daß der Mond die Gewässer anzieht und
daß unter seinem Einfluß die feuchten Massen aufgewühlt
werden . . . ; wenn die Sonne die Gestirne Venus und Merkur
bindet und ihnen nicht erlaubt, sich über eine gewisse Ent-
fernung hinaus zu begeben, so scheint es wohl, daß diese
Bewegungen nicht zur Art der größeren Vereinigung (Con-
gregatio major), noch zur Art der kleineren Vereinigung
(Congregatio minor) gehören, sondern daß sie zu einer mitt-
leren und unvollkommenen Vereinigung führen und eine be-
sondere Art bilden müssen.^'
Die Hypothese, daß die Sonne auf die Planeten eine ähn-
liche Wirkung ausüben könne, wie die, die die Erde und
die Planeten auf ihre eigenen Teile ausüben und eine solche
sogar, wie die Erde und die Planeten untereinander austau-
schen können, mußte als eine recht gewagte Annahme er-
scheinen. Sie schloß in der Tat in sich, daß eine natürliche
Obereinstimmung zwischen der Sonne und den Planeten be-
^) F. Baconis Novum Organum; Londini 1620, 1. II, c XLVHI, art 9.
Dnhcm, Phytiluüische Thtorie. 21
322 Elft«i KaptteL
stehe und mancher Physiker mußte sich diesem Postulat ver-
schließen. Wir finden in den Schriften Oassendis den Beweis
des Widerwillens, den mehr als ein Denker gegen dessen Zu-
lässigkeit empfand. In folgendem betrachten wir die Umstände,
unter denen sich dieser Widerwille bei Qassendi äußerte.
Die Kopemikaner, die die Schwere so gern einer gegen-
seitigen Zuneigung der irdischen Körper zugeschrieben, die
eine entsprechende Zuneigung zwischen den verschiedenen
Teilen desselben Gestirnes angenommen hatten, um die
Kugelgestalt desselben zu erklären, weigerten sich im allge-
meinen die magnetische Anziehung in der Wirkung des
Mondes auf die Gewässer des Meeres wiederzuerkennen.
Sie hielten an einer ganz anderen Theorie der Gezeiten fest,
die aus den Grundlagen ihres Systemes entsprang und ihnen
dadurch als besonders überzeugend bewiesen erschien.
Im Jahre 1544 erschienen in Basel die Werke von Caelio
Calcagnini^) ; der Autor war drei Jahre früher gestorben, zur
selben Zeit, als Joachim Rethicus in seiner Narratio prima
das kopemikanische System bekannt machte, bevor der große
polnische Astronom seine De revolutionibus orbium
coelestium libri sex hatte drucken lassen. Die Werke von
Calcagnini enthielten eine viel früher verfaßte^) Abhandlung
mit dem Titel: Quod Coelum stet. Terra vero moveatur,
vel de perenni motu Terrae. Dieser Vorläufer von Koper-
nikus hat bereits die tägliche Bewegung der Gestirne der
Umdrehung der Erde zugeschrieben,, ohne jedoch zu der An-
schauung von der jährlichen Bewegung der Erde um die
Sonne vorgedrungen zu sein. In seiner Abhandlung kann man
folgende Stelle lesen^): „Notwendigerweise bewegt sich ein
^) Caelii Calcagnini Ferrarensis: Opera aliquot, Basfleae
MDXLIV.
*) Diese Abhandlung, die an Bonaventure Pistophile gerichtet ist, ist
nicht datiert; sie folgt in den Opera von Calcagnini einer anderen Ab-
handlung, die an dieselbe Persönlichkeit gerichtet und vom Januar 1525
datiert ist Es ist wahrscheinlich, daß die erste Abhandlung aus einer
früheren Zeit herstammt
*) Calcagnini: Opera, p. 392.
Die Wahl der Hypothesen. 323
Ding um so schneller, je weiter es sich vom Zentrum ent-
fernt befindet. Darin findet man eine ungeheure Schwierig-
keit gelöst, die den Gegenstand langer und zahlreicher Unter-
suchungen gebildet hat imd die, wie man erzählt, Aristoteles
zu solcher Verzweiflung brachte, daß sie seinen Tod ver-
ursachte. Es handelt sich um die Ursache, die in vollkommen
bestimmten Zeitintervallen jene beachtenswerte Schwankung
des Meeres hervorbringt . . . Die Schwierigkeit wird ohne
Mühe gelöst, wenn man von den Rückstößen, die die Erde
beleben, Rechenschaft gibt. Dieselben bewirken, daß bald
ein Teil sich hebt, bald wieder zurücksinkt, was bald eine
Senkung der Gewässer bewirkt, bald sie in die Höhe
schleudert."
Galilei mußte diese Theorie, die Flut imd Ebbe des Ozeans
durch die Wirkungen, die die Rotation der Erde hervorbringt,
zu erklären versucht, wieder aufgreifen, präzisieren und in den
Einzelheiten darlegen.
Die Erklärung war unhaltbar, denn sie verlangte, daß
das Intervall zweier Fluten gleich der Hälfte eines Sonnen-
tages sei, während die Beobachtungen zeigen, daß sie gleich
einem halben Mondtag ist; Galilei beharrte indessen darauf,
diese Erklärung als einen der besten Beweise für die Be-
wegung der Erde auszugeben und diejenigen, die mit ihm
an der Wirklichkeit dieser Bewegung festhielten, wieder-
holten gerne dieses Argument; so Gassendi in seiner Schrift:
De motu impresso a motore translato, die er in Paris
im Jahre 1641 herausgab.
Natürlich hielten die Anhänger des Kopemikus an der Er-
klärung der Gezeiten durch die Mondanziehung fest, da die-
selbe nicht die Erdrotation voraussetzt.
Unter den heftigsten Gegnern des kopemikanischen
Systems muß man Morin anführen, der mit gleichem Feuer
die Astrologie wieder aufzufrischen und Horoskope zu stellen
suchte. Auf die Schrift von Gassendi, in der er einen per-
sönlichen Angriff zu sehen glaubt, antwortet Morin mit einem
Pasquill, betitelt: Alae telluris fractae; in dieser Schrift
21*
324 Elftes Kapitel.
setzt er der Theorie von Galilei die magnetische Theorie
der Gezeiten entgegen.
Eter Unterschied zwischen Flut und Ebbe ist in der Zeit
des Vollmonds oder des Neumonds sehr groß, dagegen viel
geringer, wenn der Mond im ersten oder letzten Viertel steht.
Dieses Altemieren der Springfluten und Nippfluten hatte
bis dahin die Anhänger der magnetischen Philosophie stark in
Verlegenheit gesetzt.
Morin gab davon eine Erklärung, die er wie er ßagt,.
aus den Prinzipien der Astrologie ableitet Dieses Alternieren
erklärt sich durch das Zusammenwirken von Sonne und Mond ;
bei ihren Konjunktionen wie bei ihren Oppositionen haben
ihre Kräfte die Richtung derselben Geraden, die durch die
Erde geht und es ist „ein allgemein bekanntes Axiom, daß
die vereinigten Kräfte stärker sind als die zerstreuten."
Morin berief sich, um die Rolle, die die Sonne bei den
Änderungen der Gezeiten spielt, zu beweisen, auf die Prin-
zipien der weissagenden Astrologie; und es ist in der Tat
unbestreitbar, daß den Astrologen die Ehre zukommt, die
Newtonsche Theorie der Gezeiten in allen Teilen vorbereitet
zu haben, während die Verteidiger der rationellen wissen-
schaftlichen Methoden, die Peripathetiker, Kopernikaner, Ato-
misten und Cartesianer, deren erstes Auftreten mit Elan be-
kämpft haben.
Die Prinzipien, auf die sich Morin berief, waren aller-
dings sehr alt; schon Ptolemäus vertrat in seinem Opus qua-
dripartitum den Standpunkt, daß die Stellung der Sonne
in bezug auf den Mond die Einflüsse dieses Gestirnes ver-
stärken bezw. abschwächen könne; und diese Meinung wurde
von Generation zu Generation überliefert, bis auf Gaspard
Contarini, der lehrte, daß „die Sonne eine spezielle Wirkung
ausübe, die die Gewässer des Meeres heben bezw. senken
könne"!), bjs auf Chiret*), nach dem „es ganz augenschein-
lich ist, daß die Sonne und der Mond kräftig an jener Be-
^) Oasparis Contarini: De elementis eorumque mixtionibus
libri 11; Lutetiae, MDXLVIII.
*) Claude Duret: Discours de la v^rit6 . . .; Paris 1600, p. 236
Die Wahl der Hypothesen. 325
wegung und Aufwühlung der Wogen des Meeres arbeiten^',
bis auf Gilbert^), der den Mond „die Hilfstruppe der Sonne'^
zu Hilfe rief und erklärte, daß die Sonne fähig sei y,die vom
Mond ausgeübten Kräfte im Momente des Neumondes und
Vollmondes zu vergrößern".
Die Angehörigen der peripathetischen Schule, die an ihrem
Rationalismus festhielten, bemühten sich, das Altemieren der
Spring- und Nippfluten zu erklären, ohne eine verborgene
Kraft der Sonne zu Hilfe zu nehmen. Albertus Magnus be-
hauptete^) bloß die Änderung des Lichtes, das der Mond von
der Sonne, gemäß der gegenseitigen Lage der beiden Ge-
stirne, erhält, zu verwenden. Bei einem rationalistischen Er-
klärungsversuch derselben Art ahnte Thimon le Juif^) wenig-
stens eine große Wahrheit, indem er das Nebeneinanderbe-
stehen zweier Arten von Gezeiten, solcher die vom Monde
und solcher die von der Sonne herrühren, für möglich hielt;
er schrieb die Flut im ersteren Fall einer Entstehung von Wasser
zu, die durch die Kälte des Mondes verursacht wird, im letz-
teren einem durch die Wärme der Sonne verursachten Auf-
wallen.
Man muß aber anerkennen, daß erst bei den Ärzten und
Astrologen des XVI. Jahrhunderts die Idee, die Gesamtflut
in zwei Ruten gleicher Art, dabei aber ungleicher Intensität
zu zerlegen, präzisiert wurde und befruchtend wirkte. Sie
nahmen an, daß die eine Flut vom Monde, die andere von der
Sonne hervorgebracht werde und die Verschiedenartigkeit der
Wechsel von Flut Und Ebbe durch die Übereinstimmung bezw.
den Gegensatz dieser zwei Arten von Gezeiten zu erklären sei.
Dieser Gedanke wurde schon im Jahre 1528 von einem
vornehmen Dalmatiner Federico Chrisogone aus Zara, den
^) Oulielmi Qilberti De mundo nostro philosophia nova,
pp. 309 et 313.
*) Alberti Magni De causis proprietatum elemeniorum liber
unus; tract II, c VI. — B. Alberti Magni: Opera omnia, Lugduni,
1651; t V, p. 306.
*) Quaestiones super quatuor libros meteororum compflatae per
doctissimum philosophum professorem Thimon iem, Lutetiae, 1516 et 1518;
]. II, quaesi II.
326 Elftes Kapitel.
uns Annibal Raimondo als einen „großen Arzt, Philosophen
und Astrologen" vorstellt, klar formuliert^).
In einem Werk, das die kritisdien Tage der Krankheiten
behandelt, stellt er folgendes Prinzip auf: „Die Sonne und
der Mond ziehen die Anschwellung des Meeres in der
Art zu sich, daß sich lotrecht unter jedem dieser Gestirne
die maximale Anschwellung befindet; es gibt daher fOr jedes
derselben zwei Ansdiwellungsmaxima, eines unter dem Qestini
und das andere an der entgegengesetzten Seite, was man dea
Nadir dieses Gestirnes nennt". Federico Chrisogone beschreibt
sodann um die Erdkugel zwei Rotationsellipsoide; die große
Achse des einen derselben ist gegen die Sonne, die große Achse
des anderen gegen den Mond gerichtet; jedes dieser beiden
EUipsoide stellt die Gestalt dar, die das Meer annehmen würde,
wenn es blos der Wirkung eines einzigen Gestirnes ausgesetzt
wäre; indem man die beiden zusammensetzt, erklärt man die
verschiedenen Eigentümlichkeiten der Flut.
Die Theorie Federico Chrisogones aus Zara gewinnt als-
bald Verbreitung. Im Jahre 1557 setzt sie der berühmte Mathe-
matiker, Arzt und Astrologe Hleronymus Kardano übersicht-
lich auseinander.^) Zur selben Zeit lehrt Federico Delfino
in Padua eine Theorie der Gezeiten, die vom gleichen Prin-
zip ausgeht 8) Dreißig Jahre später bringt Paolo Gallucci*)
die Theorie Federico Chrisogones wieder vor, während Anni-
bale Raimondo^) die beiden Theorien von Chrisogone und
^) Federid Chrisogoni nobilis Jadertini De artificioso modo
collegiandi, pronosticandi et curandi febres et de prognosticis
aegritudinuiti per dies criticos necnon de humana felicitate, ac
denique de fluxu et refluxu maris; Venetiis, impr. a Joan. A De
Sabio, 1528.
*) Hieronymi Cardani De rerum varietate libri XVII; Basileae,
MDLVII, 1. 11, cap. XIII.
') Federid Delphini De fluxu, et refluxu aque maris; Venetiis
MDLIX; zweite Auflage, Basileae, MDLXXVIl.
*) Pauli Oallucii Theatrum mundi et temporis»
MDLXXXVIII, p. 70.
*) Annibale Raimondo: Trattato delflusso e reflussodel mare»
in Venetia, 1589.
Die Wahl der Hypothesen. 327
Delfino auseinandersetzt und kommentifert Endlich veröffent-
licht^) am Ende des XVI. Jahrhunderts Claude Duret ohne
Scheu die Theorie E>elfinos unter seinem eigenen Namen.
Die Hypothese einer Wirkung der Sonne auf die Ge-
wässer des Meeres, einer Wirkung, die der vom Monde aus-
geübten ganz gleich ist, war bereits erprobt, hatte bereits
eine sehr befriedigende Theorie der IHut und Ebbe geliefert,
als Morin sie in seinem Pasquill gegen Qassendi zum ersten-
mal in Betracht zog.
Qassendi wendete sich mit Heftigkeit gegen die magne-
tische Kraft, durch die der Mond die Gewässer der Erde an-
ziehen soll; aber noch heftiger weist er die neue, von Morin
formulierte Hypothese zurück^) : „Gewöhnlich wird die Feuch-
tigkeit für die dem Monde eigentümliche Wirkung gehalten
und die Sonne kann diese Wirkung nicht hervorbringen, son-
dern nur aufhalten. Es beliebt nun aber Morin, daß die
Sonne die Wirkung des Mondes imterstütze; er erklärt, daß
die Wirkungen von Sonne und Mond einander verstärken;
er nimmt daher an, daß die Wirkungen der Sonne und die
des Mondes von gleicher Beschaffenheit, oder wie man sagt,
von der gleichen spezifischen Art seien; was das Phänomen
betrifft, das uns beschäftigt, so bedeutet das, daß wenn durch
die Wirkung des Mondes die Gewässer angezogen werden,
dies in gleicher Weise auch durch die Wirkung der Sonne
geschehen muß.''
In jenem Jahre 1643, in dem Gassendi die Hypothese,
daß der Mond und die Sonne analoge Anziehungen hervor-
bringen könnten für unbegründet erklärte, wurde diese Hypo-
these neuerlich formuliert, aber generalisiert und erweitert,
^) Discours de la v^rit6 des causes et effects, des divers
cours, mouvements, flux, reflux et saleure de la mer Oc6ane,
mer M^diterrann^e et autres mers de la Terre, par M. Claude Duret,
consefller du Roy, et premier juge au si^ge präsidial de Moulins en Bour-
bonnais. A Paris, chez Jacques Rez6, MDC.
*) Qassendi Epistolae tres de motu impresso a motore
translato, Epistola III, ari XVI Parisiis, 1643. — Petri Qassendi Diniensis
Opuscula philosophica, t III, p. 534. Lugduni 1658.
328 Elftes Kapitel.
bis zur Annahme einer allgemeinen Gravitation. Diese gran-
diose Annahme war Roberval zu verdanken, der, da er nicht
wagte, sie offen unter seinem Namen zu publizieren, sich
bloß als den Herausgeber und Kommentator einer Schrift^)
ausgab, von der er behauptete, daß Aristarch von Samos sie
verfaßt habe.
„Jedem Fluidum, das den Raum zwischen den Gestirnen
und allen ihren Teilen erfüllt, ist", wie Roberval behauptete,
„eine gewisse Eigenschaft oder ein gewisses Akzidenz eigen;
durch die Kraft dieser Eigenschaft wird diese Materie an ein
und demselben zusammenhängenden Körper festgehalten ; alle
Teile desselben befinden sich durdi eine unaufhörUche Wir-
kung einander gegenüber und ziehen sich gegenseitig so
sehr an, daß sie tatsächlich zusammenhängend sind und
nur durdi eine größere Kraft getrennt werden können. Das
^) Aristarchi Samii De Mundi systemate,partibus et motibus
ejusdem über singularis. Addidae sunt Ae. P. de Roberval notae in
eundem libellum. Parisiis, 1644. DiesesWerk wurde von Mersenne im Jahre 1647
im Band III seiner Cogitata physico-mathematica wieder abgedruckt —
Ich glaube, daß, wenn man den Gedanken Robervals exakt interpretiert, man
in seinem System nicht eine Theorie der allgemeinen Gravitation sehen muß;
die Teile des interplanetarischen Fluidums werden nur Teile desselben
Fluidums anziehen; die Teile der Erde werden nur Teile der Erde anziehen;
die Teile des Systems der Venus nur Teile desselben Systems usw. Dennoch
wird es eine gegenseitige Anziehung zwischen dem System der Erde und
dem des Mondes sowie zwischen dem System des Jupiter und dem Satelliten
dieses Gestirnes geben. Die Anwendung, die Roberval vom archimedischen
Prinzip auf das Gleichgewicht eines einem Planeten angehörigen Systemes
im Innern des interplanetarischen Fluidums macht, wäre somit vollkommen
irrtümlich; aber ähnliche Irrtümer sind in den Arbeiten der Mathematiker
des XVI. Jahrhunderts häufig und finden sich sogar in den ersten Schriften
Galileis. Jedenfalls versteht Descartes^ in der Kritik, in der er das Rober-
valsche System behandelt, dasselbe so, als ob es die allgemeine Schwere
voraussetzen würde: „Denique aliam inesse praeterea similem proprietatem
in Omnibus et singulis terrae, aquae, aerisque partibus, vi cujus ad se invicem
ferantur, et si redproce attrahant; adeo ut hae (similiqüe etiam modo aliae
omnes quae aliquos planetas componunt, vel drcumdant) singulae duas
ejusmodi habeant vires, unam quae ipsas cum aliis partibus sui planetae,
aliam quae easdem cum reliquis partibus Universi conjungat*'
* Descartes: Correspondance, 6dition P. Tannery et Ch. Adam,
t IV, p. 399, lettre de Descartes ä Mersenne dat^e du 20 avril 1646.
Die Wahl der Hypothesen. 329
'rr vorausgesetzt, wird diese Materie, wenn sie allein wäre, das
lir heißt nicht mit der Sonne oder anderen Körpern verbunden,
i:z sich in eine vollkommene Kugel zusammenziehen; sie würde
ir genau die Gestalt einer Kugel annehmen und könnte niemals
^ im Qleidigewicht Ueiben, wenn sie nicht diese Gestalt er-
langt hätte. In dieser Gestalt würde das Wirkungszentrum
oe: mit dem Zentrum des Körpers zusammenfallen; gegen dieses
:y. Zentrum würden alle Teile der Materie streben, durch ihren
t: eigenen Drang oder ihre Begierde und ebenso durch die
e- gegenseitige Anziehung des Ganzen; das wird nicht, wie die
i. Unwissenden meinen, durch die Kraft des Zentrums selbst,
sondern durch die Kraft des ganzen Systemes, dessen Teile
gleichmäßig um dieses Zentrum gelagert sind, geschehen . . .''
„I>em ganzen System der Erde und der irdischen Ele-
mente und jedem der Teile dieses Systemes wohnt ein ge-
!i wisses Akzidenz oder eine gewisse Eigenschaft inne, die der
l Eigenschaft, die wir dem als Ganzes genommenen System
des Mondes zugeschrieben haben, ähnlich ist; durch die Kraft
dieser Eigenschaft vereinigen sich alle Teile dieses Systemes
zu einer einzigen Masse, befinden sich einander gegenüber
und ziehen sich gegenseitig an; sie sind tatsächlich zusammen-
hängend und können nur durch eine größere Kraft getrennt
werden. Aber die verschiedenen Teile der irdischen Körper
haben einen ungleichen Anteil an dieser Eigenschaft, an diesem
Akzidenz; denn ein Teil hat um so mehr Anteil an diesem
Akzidenz, an dieser Eigenschaft, je dichter er ist ... In den
drei Körpern, die Erde, Wasser und Luft genannt werden,
besteht diese Eigenschaft in dem, was wir gewöhnlich die
Schwere bezw. Leichtigkeit nennen ; denn für uns ist die Leich-
tigkeit nur eine geringere Schwere im Vergleich zu einer
größeren Schwere."
Roberval wiederholt ähnliche Betrachtungen in bezug auf
die Sonne und andere Himmelskörper, so daß genau hundert
Jahre nadi der Veröffentlichung der sechs Bücher des Koper-
nikus über die Bewegungen am Himmel, die Hypothese von
der allgemeinen Gravitation formuliert worden war.
330 Elftes Kapitel.
Diese Hypothese war indessen noch immer unvollständig;
sie enthielt eine Lücke: Welchem Gesetze folgt die g^ensdtige
Anziehung zweier materieller Teilchen, wenn der Abstand
dieser beiden Körper wädist? Auf diese Frage hatte Roberval
keine Antwort gegeben. Aber man konnte nicht zögern, diese
Antwort zu formulieren oder besser gesagt, wenn sie noch
nicht formuliert worden war, so deshalb, weil sie für nie-
mand zweifelhaft war.
Die Analogie zwischen den von den Sternen ausgeübten
Wirkungen und dem von ihnen ausgesendeten Licht war für
die Physiker und Astrologen des Mittelalters und der Renais-
sance tatsädilidi ein Gemeinplatz; die Mehrzahl der schola-
stischen Peripathetiker trieben diese Analogie so weit, daß
sie aus ihr ein unlösliches Band oder eine Identität machten.
Scaliger war bereits genötigt, sidi gegen diese Übertreibung^
zu wenden.!) „Die Sterne", sagt er, „können ohne Hilfe
des Lichtes wirken; der Magnet wirkt auch ohne Licht; um
wieviel großartiger werden die Sterne wirken!"
Ob sie nun mit dem Licht identisch sind oder nicht,
müssen dodi alle Kräfte, alle species der substantiellen Form,
die ein Körper um sich im Räume äußert, sich nadi denselben
Gesetzen fortpflanzen oder wie man im Mittelalter sagte, sich
multiplizieren. Schon im XIIL Jahrhundert hat es Roger
Baoon^) unternommen, eine allgemeine Theorie dieser Fort-
pflanzung zu geben; in jedem homogenen Medium findet sie
in geradlinigen Strahlen oder, um den modernen Ausdruck
zu verwenden, in Kugelwellen statt; wenn er ein ebenso-
guter Mathematiker gewesen wäre, wie er forderte, daß die
Physiker es seien, hätte Bacon leicht aus seinen Überlegungen*)
folgenden Schluß gezogen: Die Kraft einer derartigen species
^) Julii-Caesaris Scaligeri De subtilitate adversus Cardanum,
Exerdtatio LXXXV.
*) Rogerii Bacconnis Angli: Specula mathematica in qua de
specierum multiplicatione, earumdemque in inferioribus virtnte
agitur; Francofurti MDCXIV.
*) Roger Bacon: Loc cii disi II, cc I, II, III.
«) Roger Bacon: Loc cii disi III, c II.
Die Wahl der Hypothesen. 331
steht immer im umgekehrten Verhältnis zum Quadrat des
Abstandes von der Quelle, der sie entstammt. Ein derartiges
Gesetz war ein Satz, der ganz natürlich aus der Analogie
zwischen der Fortpflanzung dieser Kräfte und der des Lichtes
hervorgeht
Kein Astronom hat vielleidit auf dieser Analogie mehr
bestanden als Kepler. CMe Drehung der Sonne ist für ihn
die Ursache der Drehung der Planeten; die Sonne sendet
diesen Gestirnen eine gewisse Qualität, eine gewisse Ähn-
lichkeit ihrer Bewegung, eine gewisse species motus, die
dieselben ihrerseits antreiben muß. Diese species motus,
diese virtus movens ist mit dem Sonnenlicht nicht identisch,
hat aber^) mit ihm eine gewisse Verwandtschaft; sie bedient
sich vielleicht des Sonnenlichtes, wie eines Instrumentes oder
eines Beförderungsmittels.
Die Intensität des von einem Gestirne ausgesandten Lichtes
ändert sich nun im umgekehrten Verhältnis zum Quadrat des
Abstandes von diesem Gestirn ; es ist dies ein Lehrsatz, dessen
Kenntnis in das Altertum zurückzureichen scheint, der sich
in einer Schrift über Optik, die Euklid zugeschrieben wurde,
findet und für den Kepler den Beweis geliefert hat.^) Die Ana-
logie würde verlangen, daß die von der Sonne ausgesandte
virtus movens im umgekehrten Verhältnis des Quadrates
des Abstandes von diesem Gestirn sich ändere ; aber die Dyna-
mik, die Kepler anwendet, ist noch die alte Dynamik des Aristo-
teles. Die Kraft, die einen beweglichen Körper bewegt, ist
proportional der Geschwindigkeit desselben; daher führt der
Flächensatz, den Kepler entdeckt hat, ihn zu folgendem Lehr-
satz: Die virtus movens, der ein Planet unterworfen ist,
ändert sich im umgekehrten Verhältnis des einfachen Abstandes
von der Sonne.
*) Joannis Kepler! De motibus stellae Martis commentarii
c. XXXIV. — Joannis Kepler! Opera omnia, i III, p. 302. — Epitome
Astronomlae Copernicanae; 1. IV, 11« pari, art. 3. — Joannis Kepleri
Opera omnia, i VI, p. 347.
V Joannis Kepler! Ad Vitelllum paralipomena quibus Astro-
nomlae pars optica tradltur; Francofurti, 1604, c I, prop. IX.— Joannis
Kepler! Opera omnla, i II, p. 133.
332 Elftes Kapitel.
Di€se Art der Änderung, die recht wenig der Analogie
zwischen der von der Sonne hervorgebrachten species motus
und dem von demselben Gestirne ausgesandten Lichte ent-
spricht, muß jedenfalls Kepler stören; er bemüht sich^),
die Analogie wieder herzustellen, speziell durch folgende
Bemerkung: Das Licht breitet sich im Raum nach allen Rich-
tungen aus, während sich die virtus motrix nur in der Ebene
des Sonnenäquators fortpflanzt; die Intensität des ersteren
steht im umgekehrten Verhältnis des Quadrates des Abstandes
vom Ausgangspunkt, die Intensität der letzteren steht im um-
gekehrten Verhältnis zum einfachen Abstand, der durchlaufen
wurde; diese beiden verschiedenen Gesetze drücken im einen
wie im anderen Fall die gleiche Wahrheit aus: Die gesamte
Quantität des Lichtes oder der species motus erleidet im
Verlauf der Weiterverbreitung keine Einbuße.
Sogar die Erklärungen Keplers zeigen uns, mit welcher
Kraft das Gesetz des umgekehrten Verhältnisses des Quadrates
der Entfernungen in seinem Denken wirksam ist, so daß er
es vor allem der Intensität einer Qualität zuschreiben will,
wenn ein Körper diese Qualität nach allen Richtungen um
sich herum hervorbringt. Dieses Gesetz mußte für seine Zeit-
genossen ebenso evident erscheinen. Ismael BouUiau hat es
in erster Linie für das Licht aufgestellt^) ; er zögert nicht,
es auf die virtus motrix, die nach Kepler die Sonne auf die
Planeten ausübt, auszudehnen : „Diese Kraft", sagt er*), „durch
die die Sonne die Planeten erfaßt oder festhält und die ihr an
Stelle körperlidier Hände dient, wird in gerader Linie in den
ganzen Raum, den die Welt einnimmt, ausgesendet; sie ist
eine Art species der Sonne, die sich mit dem Körper dieses
Gestirnes bewegt; da sie körperlich ist, nimmt sie ab und
^) Joannis Kepler! Commentarii de motibus stellae Martis,
c. XXXVL — Kepler! Opera omnia, t III, pp. 302, 309. — Epitome
Astronomiae Copernicanae, 1. IV, II« pari, art 3. — Kepler! Opera
omnla, t VI, p. 349.
*) Ismaelis BulUaldi De natura lucis; Parisiis 1638, prop.
XXXVII, p. 41.
*) IsmaeHs BuUiald! Astronomla PhilolaTca; Parisüs 1645, p. 23.
Die Wahl der Hypothesen. 333
wird geschwächt, wenn der Abstand zunimmt, und die Art
dieser Abnahme ist, wie für das Licht, die des umgekehrten
Verhältnisses des Quadrates der Entfernung/'
Die virtus motrix, von der Boulliau spricht und die
dieselbe ist, die bei Kepler auftritt, ist nicht in der Richtung
des Strahles, der vom Planeten zur Sonne geht, gerichtet,
sondern normal zu ihm; es ist dies keine Anziehung, die der
gleich ist, die Roberval annimmt und die wir bei Newton be»
gegnen werden; aber wir sehen klar, daß die Physiker des
XVII. Jahrhunderts, wenn sie die Anziehung zweier Körper
behandeln, vom Anbeginn an von der Annahme geleitet wer-
den, daß diese Anziehung im umgekehrten Verhältnis des
Quadrates der gegenseitigen Entfernung der zwei Körper auf-
trete, j
Die Arbeiten des Pater Athanasius Kircher Ober den Magneten
liefern uns hierfür ein zweites Beispiel) ; die Analogie zwischen
dem von einer Quelle ausgesandten Licht und der Kraft, die
jeder der beiden Pole eines Magneten hervorbringt, nötigt
ihn, für die Intensität der einen wie der anderen Qualität
ein Gesetz anzunehmen, nach dem die Abnahme ün umge-
kehrten Verhältnis des Quadrates der Entfernung stattfindet;
wenn er sich dieser Annahme weder für den Magnetismus,
noch für das Licht anschließt, so deshalb, weil sie die Ver-
breitung der beiden Kräfte ins Unendliche ermöglicht, während
er für jede Kraft eine Wirkungssphäre annimmt, außerhalb
deren sie streng aufgehoben ist.
So war seit der ersten Hälfte des XVII. Jahrhunderts
alles Material, das zum Bau der Hypothese der allgemeinen
Anziehung dient, gesammelt, zugerichtet, zur Verwendung be-
reit; aber man ahnt noch keineswegs, welche Ausdehnung
diese Verwendung haben wird; die magnetische Kraft,
^) Athanasii Kircheri Magnes, sive de arte magnetica; Romae
1641; 1. I, prop. XVII, XIX, XX. In dem Uhrsatz XX spricht Kircher von
der Abnahme im umgekehrten Verhältnis des Abstandes; dies ist hier
ein einfaches Versehen, das daher rührt, daß Kircber bei den Überiegungen
über Kugelflächen dieselben durch die Kreisbogen dargestellt hat Der
Oedanke des Autors hierüber ist nichtsdestoweniger ganz klar.
334 Elftes Kapitel«
durch die die verschiedenen Teile der Materie sich gegen^
einander bewegen, wird verwendet, um von dem Fall der
schweren Körper und der Meeresflut Rechenschaft zu geben;
man träumt noch nicht davon, daß es möglich sei, aus ihr
die Darstellung der Bewegimgen der Gestirne abzuleiten ; ganz
im Gegenteil, wenn die Physiker an das Problem der Mecha-
nik des Himmels herantreten, stört sie besonders diese An-
ziehungskraft.
Dies rührte daher, daß die Wissenschaft, die sie mit ihren
Prinzipien unterstützen muß, die Dynamik, noch in den Kinder-
schuhen steckt; da sie noch den Lehren, die Aristoteles im
De Coelo gegeben hat, unterliegen, stellen sie sich die
Wirkung, der zufolge sich ein Planet um die Sonne dreht,
ähnlich vor, wie ein Pferd am Göpelwerk; da sie in jedem
Augenblick, wie die Geschwindigkeit des bewegten Körpers
gerichtet ist, wird sie proportional dieser Geschwindigkeit ge-
setzt; auf Grund dieses Prinzipes vergleicht^) Kardano den
Einfluß des Lebensprinzipes, das den Saturn bewegt, mit
dem Einfluß des Lebensprinzipes, das den Mond bewegt;
diese Rechnung war wohl noch recht naiv, aber doch das erste
Vorbild der Überlegungen, die zum Aufbau der Mechanik
des Himmels führen
Die Mathematiker des XVL und der ersten Hälfte des
XVIL Jahrhunderts, die noch ganz von den Prinzipien erfüllt
sind, die Kardano bei seinen Rechnungen geleitet haben, wissen
nicht, daß ein einmal geschleudertes Gestirn nicht in der Rich-
tung seiner Bewegung gezogen werden muß, um einen Kreis
mit gleichförmiger Geschwindigkeit zu beschreiben; es ist im
Gegenteil nötig, daß ein Zug gegen das Kreiszentrum es
in seiner Bahn halte und hindere entlang der Tangente zu
entfliehen.
Folgende zwei Vorurteile beherrschen daher die Mechanik
des Himmels: Erstens wird an jedem Planeten eine Kraft an-
gebracht, die senkrecht auf dem von der Sonne kommenden
Radiusvektor steht, eine Kraft, die sozusagen an diesem Radius-
^) Hieronymi Cardani Opus novum de proportionibus;
Basileae, 1570; prop. CLXIII, p. 165.
Die Wahl der Hypothesen. 335
Vektor angespannt ist, wie das Pferd im Qöpeiwerk am Hebel-
arm, den es drehen soll; zweitens wird die Anziehung- der
Sonne auf den Planeten, die scheinbar die beiden Gestirne
gegeneinander schleiukm wurde, außer acht gelassen.
Kepler sieht die virtus motrix in einer Qualität, in einer
species motus, die von der Sonne herrührt; die magne-
tische Anziehung, die von ihm so klar herangezogen wird,
um die Schwere und die Gezeiten zu erklären, fibergeht er bei
der Behandlung der Bewegung der Gestirne mit Stillschweigen.
Descartes ersetzt die species motüs durch die hinreißende
Gewalt, die der Atherwirbel ausübt. „Aber Kepler^) hatte so
gut diesen Gegenstand vorbereitet, daß die Anpassung, die
Hr. Descartes zwischen der corpuscularen Philosophie und
der Astronomie des Kopemikus vollbrachte, nicht sehr schwie-
rig war."
Um den Sdiluß zu vermeiden, daß die Anziehung die
Planeten auf die Sonne schleudere, taucht Roberval das ganze
Weltsystem in ein ätherisches Medium, das denselben An-
ziehungen ausgesetzt ist und mehr oder weniger durch die
Sonnenwärme ausgedehnt wird; jeder Planet behauptet, um-
geben von seinen Elementen im Innern dieses Mediums, jene
Gleichgewichtslage, die ihm das Prinzip von Archimedes zu-
weist; überdies bringt die Bewegung der Sonne im Innern
dieses Äthers durch Reibung einen Wirbel hervor, der |die
Planeten genau so mit sich führt, wie die species motus,
auf die Kepler sich berief.
Das System von Borelli^) unterwirft sich gleichzeitig dem
Einfluß Robervals und dem Keplers. Borelli sucht wie Kepler
die Ursache, auf Grund der sich jeder Planet in seiner Bahn
bewegt, in einer Kraft, die von der Sonne herrührt, durch das
Lidit übertragen wird und deren Intensität im umgekehrten
Verhältnis des Abstandes der beiden Gestirne steht. Mit
^) Leibniz^ Brief an Molanus (?) (Leibniz, Werke herausgegeben
von Gerhardt, Band IV, p. 301).
') Alphonsi Borelli Theoriae Mediceorum planetarum ex
causis physicis deductae, Florentiae 1665. — Vergl. Ernst Ooldbeck:
Die Qravitationshypothese bei Galilei und Borelli, Berlin, 1897.
336 Elftes Kapitel.
Roberval nimmt er an^), daß es „in jedem Planeten einen
natürlichen Instinkt gebe, durch den er sich der Sonne
in gerader Linie zu nähern suche. Oleicherweise sehen wir
jeden schweren Körper sich auf Grund eines natürlichen In-
stinktes unserer Erde nähern, indem er durch die Schwere
gestoßen wird, die ihn mit der Erde in Verbindung bringt;
ebenso bemerken wir, daß das Eisen sich in gerader Linie
gegen den Magneten bewegt."
Jene Kraft, die den Planeten zur Sonne bringt, vergleicht
Borelli mit der Schwere; es scheint nicht, daß er sie mit ihr
identifiziert; dadurch ist sein System minderwertiger als das
Robervals; es ist außerdem darin minderwertig, daß es vor-
aussetzt, daß die vom Planeten ausgeübte Anziehung unab-
hängig vom Abstand dieses Gestirnes von der Sonne sei;
aber es übertrifft es üi einem Punkte; um jene Kraft auszu-
gleichen, lun den Planeten an dem Fall gegen die Sonne zu
hindern, nimmt es nicht mehr Drucke eines Fluidums, in
dessen Innern der Planet, gemäß dem Archimedischen Prinzip
schwimmt, zu Hilfe; es beruft sidi auf das Beispiel der Schleu-
der, deren im Kreise bewegter Stein das Band stark spannt;
es hält dem Trieb, durch den der Planet sich zur Sonne be-
wegt, das Gleichgewicht^), indem es ihm die Tendenz eines
jeden Körpers, der pich vom Zentrum der Umdrehung zu
entfernen sucht, die vis repellens entgegenstellt, die er im
umgekehrten Verhältnis des Radius der Bahn annimmt
Die Vorstellung Borellis unterscheidet sich wesentlich von
den Meinungen, bei denen seine unmittelbaren Vorgänger
stehen geblieben waren. War seine Schöpfung indessen un-
vermittelt? War Borelli beim Studium älterer Schriften auf
keine Anregung gestoßen, die diesen Gedanken veranlassen
hätte können? Aristoteles^) berichtet uns, daß Empedokles
die Ruhe der Erde durch die riesig schnelle Drehung des
Himmels erklärte; „so geschieht es, daß das Wasser, das
man in einem offenen Gefäße zur Drehung bringt, selbst
*) Borelli: Loc. cit. p. 76.
«) Borelli: Loc cit p. 47.
*) Aristoteles: IIep\ oupoevoC, B, ay.
Die Wahl der Hypothesen. 337
wenn sich der Boden des Gefäßes oberhalb des Wassers
befindet, nicht herausfließt; die Drehung hindert es daran".
Und Plutarch drückt sich üi einer Schrift^), die von den alten
Astronomen fleißig gelesen und später von Kepler übersetzt
und kommentiert wurde, folgendermaßen aus: „Der Mond
wird vor dem Falle auf die Erde durch seine Bewegung
selbst und durch die Heftigkeit seiner Drehung bewahrt; eben-
so wird der Fall von Dingen, die sich in einer Schleuder be-
finden, durch die Drehung im Kreise verhindert; die der Natur
entsprechende Bewegung (die Schwere) nimmt alle Dinge mit
sich, mit Ausnahme jener, bei denen eine andere Bewegung
sie aufhebt; daher bewegt die Schwere nicht den Mond, weil
die Kreisbewegung bewirkt, daß sie ihren Einfluß verliert".
Plutarch konnte nicht klarer die Hypothese aussprechen, die
Borelli annehmen mußte.
CHese Bezugnahme auf die Zentrifugalkraft ist nichts
desto weniger ein genialer Zug; Borelli kann unglücklicher-
weise aus dem Gedanken, der sich ihm darbot, keinen Vorteil
ziehen; er kennt die genauen Gesetze dieser Zentrifugalkraft
selbst in dem Fall nicht, wo der bewegliche Körper einen
Kreis mit gleichförmiger Geschwindigkeit beschreibt; daher
ist es ihm erst recht unmöglich, sie in dem Falle zu berechnen,
wo der beweglidie Körper eine den Keplerschen Gesetzen
entsprechende Ellipse beschreibt; ebensowenig vermag er durch
einen deduktiven Schluß diese Gesetze aus den von ihm formu-
lierten Hypothesen abzuleiten.
Der Physiker Hooke, der im Jahre 1674 Sekretär der
Royal Society in London ist, nimmt seinerseits das Problem,
das die Bemühungen Keplers, Robervals, Boreliis veranlaßt
hatte, in Angrifft). Er weiß, daß „jeder einmal in Bewegung
gesetzte Körper fortfährt sich in gerader Linie mit gleichför-
miger Geschwindigkeit zu bewegen, bis andere Kräfte seinen
Weg krumm machen und in einen Kreis, eine Ellipse oder
irgend eine andere kompliziertere Kurve biegen". Er weiß
^) Plutarch: ücpl too EiAfaivofxivou Kpoataicw x^ xuxXo Tf;c 0EXr|V7]C, Z.
*) Hooke: on attempt to prove to annual motion of the Earth;
London, 1674.
Dnhcm, PhytOctUschc Theorie. 22
338 Elftes Kapitel.
auch, welche Kräfte die Bahnen der verschiedenen Himmels-
körper bestimmen : ,,Alle Himmelskörper ohne Ausnahme üben
eine Anziehung oder Schwere, die gegen ihr Zentrum ge-
richtet ist, aus, infolgedessen sie nicht nur ihre eigenen Teil-
chen festhalten und sie daran hindern sich in den Raum zu
entfernen, wie wir sehen, daß es bei der Erde geschieht, son-
dern sie ziehen auch alle anderen Himmelskörper an, die
sich in ihrem Wirkungsbereich befinden. Daraus folgt zum
Beispiel, daß nicht nur die Sonne und der Mond den Weg
und die Geschwindigkeit der Erde beeinflussen, ebenso wie
die Erde auf sie wirkt, sondern daß auch Merkur, Venus, Mars,
Jupiter und Saturn infolge ihrer Anziehungskraft einen be-
trächtlichen Einfluß auf die Bewegung der Erde ausüben,
ebenso wie die Erde einen starken Einfluß auf die Bewegung
dieser Körper ausübt". Hooke weiß endlich, daß „die An-
ziehungskräfte mit umso größerer Stärke ausgeübt werden,
je näher die Körper, auf die sie wirken, dem Zentrum, dem
sie entstammen, sind". Er gesteht, daß „er noch nicht ge-
prüft habe, wie dieses Anwachsen für die verschiedenen Ent-
fernungen stattfinde". Aber er nahm bereits in diesem Moment
an, daß die Intensität der Anziehungskraft im umgekehrten
Verhältnis des Quadrates der Entfernung wachse, obwohl
er dieses Gesetz erst im Jahre 1678 veröffentlichte. Seine
Behauptung in dieser Richtung ist umso weniger unwahr-
scheinlidi, als in derselben Zeit ein anderes Mitglied der Royal
Society, Wren nach dem Zeugnis Newtons und Halleys bereits
im Besitz dieses Gesetzes war. Hooke und Wren hatten
ohne Zweifel, einer wie der andere, dasselbe aus dem Ver-
gleich zwischen der Schwere und dem Licht abgeleitet, ein
Vergleich, auf Grund dessen es auch Halley im selben Augen-
blicke vermutete.
Hooke ist daher bereits 1672 im Besitze aller Postulate,
die zum Aufbau des Systemes der allgemeinen Gravitation
dienen; aber er kann diese Postulate nicht weiter verwenden;
die Schwierigkeit, die Borelli gehemmt hatte, hemmt auch
ihn ; er kann nicht die gekrümmte Bewegung, die eine variable
Kraft hervorbringt, nach Größe und Richtung behandeln; er
Die Wahl der Hypothesen. 339
ist gezwungen, seine Hypothesen, die noch unfruchtbar sind,
mit dem Wunsch« zu publizieren, daß ein geschickterer Mathe-
matiker sie verwenden möge: „Es handelt sich um einen Ge-
danken, der, wenn er so verfolgt wird, wie er es verdient,
nidit ermangeln kann, den Astronomen sehr nützlich zu werden,
um alle Himmelsbewegungen auf eine gewisse Regel zurück-
zuführen; diese wird, wie ich glaube, niemals in anderer Weise
aufgestellt werden können. Diejenigen, die die Theorie der
Pendelschwingungen und der Kreisbewegung kennen, werden
leicht begreifen, auf welcher Grundlage das allgemeine Prin-
zip, das ich ausspreche, beruht und sie werden in der Natur
das Mittel finden können, um dessen wahren physikalischen
Charakter klarzustellen".
Das unentbehrliche Hilfsmittel zur Ausführung einer der-
artigen Arbeit ist die Kenntnis der allgemeinen Gesetze,
welche die Abhängigkeit einer krummlinigen Bewegung von
den Kräften, welche sie hervorbringt, darstellen; im Augen-
blick nun, wo der Essay von Hooke erschien, gelang die
Formulierung dieser Gesetze und es ist in der Tat das Studium
der Pendelschwingungen, aus dem ihre Entdeckung hervorging.
Im Jahre 1673 veröffentlicht Huygens^) seine Abhandlung über
die Pendeluhr; die Theoreme, die den Abschluß dieser Ab-
handlung bilden, geben das Mittel, wenigstens für Kreisbahnen,
jene Probleme zu lösen, die Borelli und Hooke nicht be-
handeln konnten.
Die Untersuchungen über die mechanische Erklärung der
Bewegung der Himmelskörper erhalten durch die Publikation
von Huygens einen neuen und fruchtbaren Anstoß. Im
Jahre 1689 greift Leibniz^) wieder zu einer Theorie, die der
von Borelli analog ist; jedes Gestirn ist einer gegen die Sonne
gerichteten Anziehungskraft und einer im entgegengesetzten
Sinne gerichteten Zentrifugalkraft, deren Größe aus den Theo-
remen von Huygens abgeleitet werden muß, unterworfen und
*) Christian! Hugenii De horologio oscillatorio; Parisiis, 1673.
^ Leibnitii Tentamen de motuum coelestium causis (Acta
Eruditorum Lipsiae, anno 1689).
22*
340 Etftes Kapitel.
endlich auch noch einem Antrieb des Atherfluidums, das es
umspült, einem Antrieb, den Leibniz normal zum Radiusvektor
und im umgekehrten Verhältnis der Länge dieses Radius an-
nimmt; dieser Antrieb spielt genau die Rolle der virtus mo-
trix, auf die sich Kepler imd Borelli beriefen ; er besteht in nichts
anderem, als in der Obersetzung derselben in das Wirbelsystem
von Descartes und Roberval. Mit Hilfe der von Huygens for-
mulierten Regeln berechnet Leibniz die Kraft, derzufolge der
Planet gegen die Sonne gravitieren muß, wenn seine Be-
wegung den Keplerschen Gesetzen folgt; er findet sie um-
gekehrt proportional zum Quadrat des Radiusvektor.
Schon 1684 wendet Halley selbst die Theoreme von
Huygens auf die Hypothesen von Hooke an; indem er die
Bahnen der verschiedenen Planeten kreisförmig annimmt, kon-
statiert er, daß die durch Kepler entdeckte Proportionalität
zwischen den Quadraten der Umlaufszeiten und den Kuben
der Durchmesser voraussetzt, daß die verschiedenen Planeten
Kräften unterworfen seien, die direkt proportional zu ihren
Massen und indirekt proportional zu den Quadraten ihrer
Abstände von der Sonne sind. Aber im gleichen Augenblick»
in dem Halley seine Versuche unternimmt, die er erst pub-
liziert, als Leibniz seine Theorie publiziert hatte, teilt Newton
der Royal Society in London die ersten Resultate seiner
Überlegungen über die Mechanik des Himmels mit; im Jahre
1686 legt er ihr seine Philosophiae naturalis principia
mathematica vor, in der die Theorie, von der Hooke, Wren
und Halley nur Bruchstücke erfaßt hatten, in ihrem ganzen
Umfange entwickelt wird.
Diese Theorie, die durch jahrhundertlange Bemühungen
der Physiker vorbereitet worden war, entstand in Newton
keineswegs plötzlich. Bereits im Jahre 1665 oder 1666, sieben
oder acht Jahre, bevor Huygens das De horologio oscilla-
torio herausgibt, hat Newton auf Grund seiner eigenen Be-
mühungen die Gesetze der gleichförmigen Kreisbewegung ent-
deckt; ebenso wie Halley es im Jahre 1684 tat, hat er diese
Gesetze mit dem dritten Keplerschen Gesetze verglichen und bei
Die Wahl der Hypothesen. 341
diesem Vergleich erkannt, daß die Sonne gleiche Massen ver-
schiedener Planeten mit einer Kraft anziehe, die umgekehrt pro-
portional dem Quadrat der Abstände sei. Aber er wollte eine
genauere Kontrolle; er wollte sich überzeugen, ob, wenn
man die Schwere, die wir auf der Erdoberfläche konstatieren,
in einem derartigen Verhältnis vermindere, man genau die
Kraft erhalte, die der vis centrifuga, die den Mond mit
sich zu führen strebt, das Gleichgewicht hält. Die Dimen-
sionen der Erde waren nun damals nicht genau bekannt; sie
lieferten Newton für den Wert der Schwere am Orte des
Mondes einen Wert, der um ein ^/^ den erwarteten überstieg.
Als strenger Anhänger der experimentellen Methode, veröf-
fentlichte Newton nicht eine Theorie, der die Beobachtung
widersprach; bis zum Jahre 1682 steuerte er keine neuen
Resultate seiner Überlegungen, zu denen, die er schon (er-
halten hatte, bei. In diesem Zeitpunkt lernte Newton die
neuen geodätischen Messungen, die durch Picard ausgeführt
wurden, kennen ; er konnte seine Rechnung wieder in Angriff
nehmen, deren Resultat diesmal vollständig befriedigend war;
die Zweifel des großen Mathematikers verschwanden und er
konnte sein bewunderungswürdiges System bekannt machen.
Er brauchte zwanzig Jahre unaufhörlicher Überlegung, um
das Werk zu vollenden, zu dem so viele Mathematiker und
Physiker seit Leonardo da Vinci und Kopemikus ihren Beitrag
geleistet hatten.
Die verschiedensten Betrachtungen, die ünzusammenhän-
gendsten Lehren sind der Reihe nach aufgetaucht, um den
Aufbau der Mechanik des Himmels zu unterstützen: Die ge-
wöhnliche Erfahrung, die Uns die Schwere kennen lehrt, ebenso
wie die wissenschaftlichen Messungen Tycho de Brahes und
Picards, ebenso wie die von Kepler formulierten Gesetze der
Beobachtung; die Wirbel der Kartesianer und Atomisten eben-
so wie die rationelle Dynamik von Huygens; die metaphysi-
schen Lehren der Peripathetiker ebenso wie die Systeme der
Mediziner und die Träumereien der Astrologen; die Ver-
gleiche der Schwere mit den magnetischen Wirkungen, ebenso
wie die Verwandtschaft zwischen dem Licht und den gegen-
342 Elftes Kapitel.
seitig^n Wirkungen der Gestirne. Im Verlaufe dieser langen
und arbeitsreichen Kindheit können wir langsame und grad-
weise Umbildungen, durch die sich das theoretische System
entwickelt hat, beobachten, in keinem Augenblick aber können
wir eine plötzliche und willkürliche Schöpfung neuer H)rpo-
thesen bemerken.
§ 3. — Der Physiker wählt nicht die Hypothesen, auf
die er eine Theorie stfltzt, sie entstehen in ihm ohne
sein Zutun.
Die Entwicklung auf Grund deren das System der all-
gemeinen Gravitation entstanden ist, hat sich im Laufe der
Jahrhunderte langsam vollzogen; wir haben auch die Fort-
schritte, durch die sich der Gedanke nach und nach bis zu
jener Vollkommenheit, die Newton ihm gegeben, erhoben hat.
Schritt für Schritt verfolgen können. Manchmal wird die Ent-
wicklung, die zum Bau eines theoretischen Systemes führt,
außerordentlich zusammengedrängt und es genügen einige
Jahre, um die Hypothesen, die diese Theorie tragen sollen,
vom Zustand in dem sie kaum entworfen bis zu jenem, in
dem sie vollendet sind, zu bringen.
So entdeckt Oerstedt im Jahre 1819 die Wirkung des
elektrischen Stromes auf die Magnetnadel; im Jahre 1820
bringt Arago diesen Versuch der Academie des Sciences zur
Kenntnis; am 18. September 1820 liest Ampere in der Academie
eine Abhandlung vor, in der er die gegenseitigen Wirkungen
der Ströme, die er festgestellt hatte, darstellt; und am 23. De-
zember 1823 läuft eine andere Abhandlung ein, in der Ampere
den Theorien der Elektrodynamik und des Magnetismus ihre
entgiltige Form gibt. Hundertdreiundvierzig Jahre trennten
die De revolutionibus orbium coelestium libri sex von
den Philosophiae naturalis principia mathematica;
weniger als vier Jahre trennen die Veröffentlichungen
des Oerstedtschen Versuches von der denkwürdigen Ab-
handlung Amperes. Aber wenn der Rahmen dieses Werkes
uns erlaubte, die Geschichte der elektrodynamischen Theo-
Die Wahl der Hypothesen. 343
rien^) während dieser vier Jahre im Detail zu erzählen, würden
wir alle charakteristischen Merkmale, denen wir bei der jahr-
hundertelangen Entwicklung der Mechanik des Himmels begeg-
net sind, wiederfinden. Wir würden keineswegs sehen, dafi
das Genie Amperes mit einem einzigen Blick ein weites, bereits
festgestelltes, experimentelles Gebiet umfassen und durch eine
freie, schöpferische Entscheidung das System von Hypothesen,
das diese Beobachtungstatsachen darstellen soll, wählen komite.
Wir würden das Zaudern, das Tasten, den gradweisen Fort-
schritt, der durch eine Folge von einzelnen Verbesserungen
erzielt wird, bemerken können ebenso, wie wir dies in den
drei halben Jahrhunderten, die Kopemikus von Newton tren-
nen, festgestellt haben. Die Geschichte der Elektrodynamik
gleicht sehr der Geschichte der allgemeinen Anziehung; die
vielfachen Bemühungen, die wiederholten Versuche, die das
Gewebe dieser zwei Entwicklungen bilden, folgen sich blos
im eisteren Falle in viel kleineren Intervallen als im letzteren
und zwar dank der ungeheuren Fruchtbarkeit Amperes, von
dem während vier Jahren die Academie des Sciences beinahe
jeden Monat eine Abhandlung zu hören bekam, dank auch der
Plejade gelehrter Mathematiker, geschickter Physiker, genialer
Männer, die sich mit ihm um den Bau der neuen Lehre be-
mühten; denn die Geschichte der Elektrodynamik muB zum
Namen Ampferes nicht nur den Oerstedts, sondern auch die
Aragos, Humphry-Davys, Biots, Savarts, Babinets, Savarys, de
la Rives, Becquerels, Faradays, Fresnels und Laplaces ge-
sellen.
Manchmal bleibt uns die Geschichte der einzelnen Phasen
der Entwicklung, die ein System physikalischer Hypothesen
durchgemacht hat, unbekannt und wird uns immer unbekannt
bleiben ; sie wurden in eine kleine Zahl von Jahren zusammen-
gedrängt und in einem einzigen Kopfe konzentriert; der Ent-
decker hat uns nicht, wie Ampere, seine Ideen, nachdem sie
^) Der Leser, der diese Geschichte zu studieren wünscht, findet alle
nötigen Dokumente in den Bänden II und III der Collection de M^moires
relatifs ä la Physique publi^s par la Sod^t6 fran^aise de Physique
(M^moires sur l'^lectrodynamique, 1885 et 1887).
344 Qftes Kapitel.
in ihm aufgetaucht, zur Kenntnis gebracht; er wartete, indem
er sich die große Geduld Newtons zum Muster nahm, bis seine
Theorien vollendete Form erlangt hatten und brachte sie als-
dann ans Tageslicht. Wir können indessen wohl sicher sein,
daß sie sich nicht in dieser Form seinem Geist gleich anfangs
darboten, daß diese Form das Resultat unzählig^er Verbesse-
rungen und Abänderungen ist und daß bei jeder dieser Ab-
änderungen die freie Wahl des Entdeckers in mehr oder minder
bewußter Weise durch eine Unzahl äußerer und innerer Um-
stände geleitet und bedingt war.
Wie schnell und zusammengedrängt übrigens auch die
Entwicklung einer physikalischen Theorie vor sidi gegangen
sei, immer kann man doch konstatieren, daß eine lange Vor-
bereitung deren Auftreten vorangegangen ist; die Zwischen-
glieder zwischen der ersten Andeutung und der vollkomme-
nen Form können uns so sehr entgehen, daß wir eine freie,
plötzliche Schöpfung zu betrachten meinen; eine Vorarbeit
hat aber den Boden, in den der erste Keim gefallen ist,
zur Aufnahme geeignet gemacht; sie hat diese beschleunigte
Entwicklung ermöglicht und diese Arbeit läßt sich durch Jahr-
hunderte verfolgen.
Der Oerstedtsche Versuch hat genügt, eine intensive und
beinahe fieberhafte Arbeit hervorzurufen, die in vier Jahren
die Elektrodynamik zur Reife brachte; aber gerade in dem
Augenblick, in dem dieser Keim in die Wissenschaft des
XIX. Jahrhunderts eingepflanzt wurde, war sie wunderbar
vorbereitet, ihn aufzunehmen, zu ernähren und zu entwickeln.
Newton hatte bereits bemerkt, daß die elektrischen und mag-
netischen Anziehungen analogen Gesetzen, wie die der allge-
meinen Gravitation folgen müssen; diese Annahme wurde durch
Cavendish und durch Coulomb für die elektrischen Anzieh-
ungen, durch Tobias Mayer und durch Coulomb für die ma-
gnetischen Wirkungen in die experimentelle Wirklichkeit um-
gesetzt; die Physiker hatten sich so daran gewöhnt, alle Kräfte,
die in die Entfernung wirken, in elementare Wirkungen zu
zerlegen, die indirekt proportional den Quadraten der Ab-
stände der Elemente, zwischen denen sie wirken, sind. An-
Die Wahl der Hypothesen. 345
dererseits hatte die Analyse der verschiedenen Probleme,
welche aus der Astronomie hervorgehen, die Mathematiker
mit den Schwierigkeiten, welchen man bei der Zusammen-
setzung derartiger Kräfte begegnet, vertraut gemacht. Die
gigantische mathematische Leistung des XVIII. Jahrhunderts
war in der M^canique Celeste von Laplace zusammen-
gefaßt worden; die Methoden, die zur Behandlung der Be-
wegungen der Himmelskörper geschaffen worden waren,
suchten in allen Teilen der gewöhnlich»! Mechanik nach Ge-
legenheit ihre Fruchtbarkeit zu beweisen und die mathema-
tische Physik schritt mit erstaunlicher Schnelligkeit vorwärts.
Im besonderen entwickelte Poisson mit Hilfe der von Laplace
erdachten analytischen Methoden die mathematische Theorie
der statischen Elektrizität und des Magnetismus, während
Fourier beim Studium der Wärmefortpflanzung wunderbare
Gelegenheiten zur Verwendung der gleichen Verfahren fand
Die elektrodynamischen und elektromagnetischen Erschei-
nungen konnten sich den Physikern und Mathematikern offen-
baren, sie waren gerüstet, um sich ihrer zu bemächtigen und
sie in einer Theorie zusammenzufassen.
Die Betrachtung einer Gruppe experimenteller Gesetze
kann daher nicht dem Physiker zum Bewußtsein bringen,
welche Hypothesen er wählen muß, um von diesen Gesetzen
eine theoretische Darstellung zu geben ; es ist außerdem nötig,
daß die Gedanken zu jenen gewohnten, in seinem Gesichtskreis
befindlichen, gehören, daß die seinem eigenen Geist durch
seine früheren Studien eingeprägten Tendenzen ihn leiten und
den allzu großen Spielraum, den die Gesetze der Logik seinen
Schritten lassen, beschränken. Wie viele Teile der Physik
haben bis heute ihre rein empirische Form behalten und er-
warten, daß Bedingungen entstehen, die einem genialen Physi-
ker ermöglichen, jene Hypothesen zu erkennen, die zum Auf-
bau einer Theorie nötig sind.
Dafür entsteht die Theorie beinahe in gewaltsamer Weise,
wenn die Fortschritte der gesamten Wissenschaft die Köpfe
genügend für ihre Aufnahme vorbereitet haben; und recht
oft stellen Physiker, die einander nicht kennen, die in großer
346 Elftes Kapitel.
Entfernung von einander ihren Überlegungen nadigehen, bei-
nahe zu gleicher Zeit die gleiche Theorie auf; man möchte
sagen, daß die Idee in der Luft liegt, daß sie von einem
Land in das andere durch den Wind geweht wird und so
bereit ist, jeden Genius zu befruchten, der fähig ist, sie auf-
zunehmen und zu entwickeln, gleich dem Pollen, der überall
dort eine Frucht erzeugt, wo er einer reifen Narbe begegnet
Derjenige, der die Geschichte der Wissenschaften schreibt,
hat im Verlaufe seiner Studien Gelegenheit, dieses gleich-
zeitige Auftauchen der gleichen Lehre in voneinander ent-
fernten Ländern zu beobachten; aber wie häufig auch immer
dieses Phänomen sein möge, nie kann er es ohne Verwimde-
rung betrachten^). Wir hatten bereits Gelegenheit, zu sehen,
wie das System der allgemeinen Gravitation zur selben Zeit
in den Köpfen von Hooke, Wren und Halley entstand, in der
es im Gehirn Newtons feste Form annahm. Ebenso können
wir in der Mitte des XIX. Jahrhunderts beobachten, daß das
Prinzip der Äquivalenz zwischen Wärme und Arbeit in ein-
ander sehr naheliegenden Zeitpunkten durch Robert Mayer
in Deutschland, durch Joule in England und durch Colding
in Dänemark formuliert wurde; keiner von ihnen wußte in-
dessen von den Überlegungen der anderen, die zu gleidier
Zeit dem gleichen Ziele zustrebten und keiner von ihnen ahnte,
daß der gleiche Gedanke schon einige Jahre früher in Frank-
reich im Genie Sadi Carnots vorzeitig zur Reife gelangt war.
Wir könnten die Beispiele von solch überraschendem Auf-
treten von Entdeckungen häufen ; beschränken wir uns darauf,
noch eines, welches uns besonders frappierend erscheint, zu
erwähnen.
Das Phänomen der totalen Reflexion des Lichtes an der
Trennungsfläche zweier Medien läßt sich nicht leicht im theo-
retischen Gebäude der Wellenlehre begreifen. Fresnel hatte
im Jahre 1823 Formeln zur Darstellung dieses Phänomens an-
gegeben, aber er hatte sie durch eine der befremdendsten und
*) Vergl. F. Mentr6: La simultan^it^ des d^couvertes scienti-
liques (Revue scientifique, 5« s^rie, t 11, p. 555; 1904).
Die Wahl der Hypothesen. 347
unlogischesten Eingebungen^), die die Geschichte der Physik
verzeichnet, erhalten. Die sinnreichen, experimentellen Be-
stätigungen, die er von diesen Formeln gab, ließen keinen
Zweifel an ihrer Richtigkeit bestehen, aber sie machten eine
logisch zulässige Hypothese, die die Verbindung mit der all-
gemeinen optischen Theorie herstellen würde, nur um so
wünschenswerter. Während dreizehn Jahren konnten die Phy-
siker keine derartige Hypothese entdecken; endlich lieferte
die höchst einfache, aber auch höchst unerwartete und origi-
nelle Betrachtung der verschwindenden Welle (Ponde
evanescente) eine solche. Es war nun eine merkwürdige
Sache, daß der Gedanke, der verschwindenden Welle beinahe
gleichzeitig in den Köpfen von vier verschiedenen Mathema-
tikern auftrat, die zu weit voneinander entfernt waren, um sich
die Gedanken, mit denen sie sich beschäftigen, mitzuteilen.
Cauchy*) formulierte als erster die Hypothese der verschwin-
denden Welle in einem im Jahre 1836 an Ampere gerich-
teten Brief; im Jahre 1837 teilte Green^) sie in der Philoso-
phical Society zu Cambridge mit imd gleichzeitig publizierte
sie F. E. Neumann*) in Deutschland in Poggendorffs Anna-
len; von 1841 bis 1845 machte endlich Mac Cullagh*) sie
zum Gegenstande dreier Mitteilungen, die er der Akademie
zu Dublin vorlegte.
EHeses Beispiel scheint uns wohl geeignet, folgenden
Schluß, mit dem wir diese Betrachtung schließen wollen, in klarem
Lichte erscheinen zu lassen. Die Logik läßt dem Physiker,
der die Wahl einer Hypothese vornehmen will, beinahe ab-
solute Freiheit; aber dieses Fehlen jeder Leitung und jeder
Regel kann ihn nicht stören, denn tatsächlich wählt der Phy-
^) Augustin Fresnel: Oeuvres complMes, t I, p. 782.
') Cauchy: Comptes rendus, 1 11, 1836, p. 364. — Poggendorffs
Annalen, Bd. IXL, 1836, p. 39.
*) George Green: Transactions of the Cambridge Mathematical
Society, vol. VI, 1838, p. 403. — Mathematical Papers, p. 231.
*) F. E. Neumann: Poggendorffs Annalen, Bd. XL, 1837, p. 510.
*) Mac Cullagh: Proceedings of the Royal Irish Academy,
voll. II et III. — Collected Works, pp. 187, 218, 250.
348 Elftes Kapitel.
siker nicht die Hypothese, auf die er eine Theorie gründet;
er wählt sie ebensowenig", wie die Blume das PoUenkorn
wählt, das sie befruchten soll; <üe Blume beschränkt sich
darauf, ihre Krone so weit als möglich dem Winde oder dem
Insekt, das den Samenstaub der Frucht bringt, zu öffnen;
in gleicher Weise beschränkt sich der Physiker darauf, seinen
Geist durch Aufmerksamkeit und Überlegung dem Gedanken
zu öffnen, der in ihm ohne sein Zutun entstehen muß. Newton
antwortete jemandem auf die Frage, wie er es anstelle, eine
Entdeckung zu machen, folgendes^): „Ich halte das Objekt
meiner Untersuchung stets vor mir und erwarte, daß die ersten
Lichtschimmer, die sich langsam und nach und nach zu
zeigen beginnen, sich in vollkommene und ganze Klarheit
verwandeln."
Erst dann kann die freie und mühsame Tätigkeit des
Physikers ins Spiel treten, wenn er beginnt, die erhaltene,
von ihm aber nicht gesuchte, neue Hypothese klar zu sehen;
denn es handelt sich nun darum diese Hypothese mit jenen in
Verbindung zu bringen, die bereits als zulässig erklärt wur-
den, aus ihr zahlreiche und mannigfache Konsequenzen abzu-
leiten, sie peinlich genau mit den experimentellen Gesetzen
zu vergleichen ; diese Arbeiten soll er schnell und richtig aus-
führen; die Erfassung eines neuen Gedankens hängt nicht
von ihm ab, wohl aber hängt es zum großen Teil von ihm ab,
ob dieser Gedanke sich entwickelt und fruchtbar wird.
§ 4. — Über die Darlegung der Hypothesen im
physikalischen Unterricht
EHe Logik gibt dem Lehrer, der die Hypothesen, auf
welche die physikalischen Theorien gegründet sind, darlegen
will, nicht mehr Anhaltspunkte als dem Forscher. Sie lehrt
ihn bloß, daß die Gesamtheit physikalischer Hypothesen ein
System von Prinzipien bilde, dessen Konsequenzen die Gesamt-
heit der durch die Experimentatoren festgestellten Gesetze
^) Diese Antwort ist in dem Artikel: „Newton'% den Biot für die
Biographie universelle von Michaud geschrieben hat, zitiert.
Die Wahl der Hypothesen. 349
darstellen sollen. Daher würde eine wirklich logische Dar-
legung der Physik vor allem mit einer Aufzählung aller
Hypothesen, von denen die verschiedenen Theorien Gebrauch
machen, beginnen, sodann mit der Ableitung einer Fülle
von Folgerungen aus diesen Hypothesen fortfahren und schließ-
lich mit der Konfrontation dieser Menge von Folgerungen
mit der Menge der experimentellen Gesetze, die sie darstellen
sollen, schließen.
Es ist klar, daß eine solche Art der Darlegung der Physik,
die allein logisch wäre, absolut undurchführbar ist; es ist
daher gewiß, daß der Unterricht in der Physik nie in einer
Form gegeben werden kann, die unter dem Gesichtspunkte
der Logik einwandfrei wäre; eine jede Darlegung der phy-
sikalischen Theorien wird wesentlich ein Kompro-
miß zwischen den Forderungen der Logik und den
intellektuellen Bedürfnissen des Studierenden sein.
Der Lehrer wird, wie wir bereits gesagt haben, sich da-
mit zufrieden geben müssen, am Beginn eine mehr oder
weniger ausgedehnte Gruppe von Hypothesen zu formulieren,
aus ihnen eine gewisse Zahl von Folgerungen abzuleiten, die
er allsogleich mit den Tatsachen konfrontieren wird. Diese
Konfrontation wird augenscheinlich nicht vollständig über-
zeugend sein; sie wird gewisse Sätze voraussetzen, die sich
aus noch nicht formulierten Folgerungen ergeben. Der Schüler
wird zweifellos an den fehlerhaften Zirkelschlüssen, die er
bemerkt, Anstoß nehmen, wenn er nicht, wie es sich gehört,
vorher aufgeklärt wurde, wenn er nicht weiß, daß die derart
unternommene Prüfung der Formeln eine vorzeitige ist, ein
Eingriff in das Entwicklungsstadium, das gemäß einer strengen
Logik bevor irgend eine Anwendung der Theorie gemacht
wird, eintreten müßte.
Beispielsweise wird ein Lehrer, der die Gesamtheit von
Hypothesen, auf denen die allgemeine Mechanik und die
Mechanik des Himmels beruhen, dargelegt und aus ihnen eine
gewisse 21ahl von Fragen dieser beiden Wissensgebiete ent-
wickelt hat, nicht warten, bis er die Thermodynamik, die
350 Elftes Kapitel.
Optik, di€ Theorie der Elektrizität und des Magtietismus ab-
geleitet hat, um seine Theoreme mit verschiedenen experimen-
tellen Gesetzen zu vergleichen. Bei diesem Vergleich wird er
indessen gezwungen sein, sich eines astronomischen Fem-
rohres zu bedienen, die Ausdehnungen in Rechnung zu ziehen,
die Fehlerquellen, die von der Elektrisierung und Magneti-
sierung herrühren, zu eliminieren, also sich auf Theorien, die
er noch nicht dargelegt hat, zu berufen. Ein Schüler, der nicht
zum voraus aufgeklärt wurde, wird sich über Fehlschlüsse
beklagen ; seine Verwunderung wird hingegen aufhören, wenn
er versteht, daß diese Verifikationen ihm im voraus gegeben
werden, um ihm so schnell als möglich die theoretischen Lehr-
sätze durch Beispiele zu erläutern, was gemäß der Logik
allerdings erst viel später, erst nachdem er im Besitz des voll-
ständigen Systemes der theoretischen Physik ist, kommen
sollte.
Diese praktische Unmöglichkeit, das System der Physik
in der Form, wie es die logische Strenge verlangen würde,
darzulegen, diese Notwendigkeit eine Art Gleichgewicht zwi-
schen dem, was diese Strenge fordert und dem, was die Intelli-
genz des Schülers aufnehmen kann, herzustellen, macht den
Unterricht in dieser Wissenschaft so außerordentlich heikel.
Es ist in der Tat dem Lehrer sehr wohl erlaubt, einen Vor-
trag zu halten, an dem der spitzfindige Logiker etwas auszu-
setzen findet; diese Toleranz ist aber gewissen Bedingungen
unterworfen; der Schüler muß wissen, daß der gehörte Vor-
trag weder von Lücken noch von ungeprüften Behauptungen
frei ist; er muß klar sehen, wo sich diese Lücken be-
finden und um welche Behauptungen es sich handelt; es ist
mit einem Worte nötig, daß der stark lückenhafte und un-
vollständige Unterricht, mit dem er sich zufrieden geben muß,
in seinem Kopf nicht falsche Vorstellungen erweckt.
Der Kampf gegen falsche Vorstellungen, die sich so schnell
in einen derartigen Unterricht einschleichen, muß daher die
ständige Sorge des Lehrers sein.
Keine isolierte Hypothese, keine von der gesamten Phy-
Die Wahl der Hypothesen. 351
sik getrennte Gruppe von Hypothesen kann einer absolut
selbständigen Prüfung unterzogen werden; kein experimen-
tum crucis kann zwischen zwei isoUert genommenen Hypo-
thesen entscheiden; der Lehrer wird indessen nicht warten
können, bis alle Hypothesen aufgestellt sind, um erst dann
bestimmte von ihnen der Kontrolle der Beobachtung zu unter-
werfen; er wird nicht darauf verzichten können, gewisse Ex-
perimente, zum Beispiel das Foucaulfsche oder das Otto
Wienerische anzuführen, um die Zulässigkeit einer gewissen
Voraussetzung gegenüber der entgegengesetzten darzutun ; er
wird aber genau angeben müssen, bis zu welchem Punkte
die von ihm beschriebene Kontrolle sich auf noch nicht dar-
gelegte Theorien stützt, inwiefern das Experiment, das so-
zusagen als experimentum crucis dient, die Annahme von
Lehrsätzen voraussetzt, die man als nicht anfechtbar betrach-
ten will.
Kein System von Hypothesen kann aus der Erfahrung
allein durch Induktion abgeleitet werden; die Induktion kann
indessen gewissermaßen den Weg, der zu gewissen Hypo-
thesen führt, angeben; es wird ihr nicht untersagt sein, ihn
zu bezeichnen; es wird ihr zum Beispiel nicht untersagt sein,
an den Anfang der Darlegung der Mechanik des Himmels die
Keplerschen Gesetze zu stellen und zu zeigen, wie diese Ge-
setze in der Sprache der Mechanik zu Ausdrücken führen,
die nach der Hypothese der allgemeinen Anziehung geradezu
zu rufen scheinen. Sind aber einmal diese Ausdrücke er-
halten, so muß genau darauf geachtet werden, inwieweit sie
sich von der Hypothese, durch die man sie ersetzt, unter-
scheiden.
Im besonderen muß man in allen Fällen, in denen man
von der experimentellen Induktion die Anregung zu einer
Hypothese verlangt, sich wohl davor hüten, ein unrealisiertes
Experiment als ein ausführbares auszugeben; und vor allem
muß man, was sich von selbst versteht, die Berufung auf das
absurde Experiment streng vermeiden.
352 Elftes Kapitel.
§5. — Die Hypothesen können nicht aus Axiomen des
gewöhnlichen Wissens abgeleitet werden.
Einige der Betrachtungen, mit denen man häufig die Ein-
fährung einer physikalischen Hypothese begleitet, verdienen
unsere spezielle Aufmerksamkeit Derartige Betrachtungen, die
bei einer großen Zahl von Physikern sehr beliebt sind, können,
wenn man sich nicht in acht nimmt, besonders schädlich und
besonders reich an falschen Gedanken sein. Sie bestehen darin»
daß die Einführung gewisser Hypothesen mit Hilfe von Lehr-
sätzen gerechtfertigt wird, die sozusagen evident sind, die aus
dem gewöhnlichen Leben abgeleitet werden.
Es kann vorkommen, daß man in den Lehren des ge-
wöhnlichen Lebens Analogien oder Beispiele zu einer
Hypothese findet; es kann sogar sein, daß sie ein durch die
Analyse deutlicher und genauer gemachter Lehrsatz des ge-
wöhnlichen Lebens ist; in diesen Fällen wird der Lehrer
sicher die Ähnlichkeiten zwischen den Hypothesen, auf denen
die Theorie ruht und den Gesetzen, die uns die tägliche Er-
fahrung offenbart, erwähnen können ; die Wahl dieser Hypo-
thesen wird dadurch dem Verstände um so natürlicher und
befriedigender erscheinen.
Derartige Ähnlichkeiten erfordern aber die sorgsamste
Prüfung; ein Irrtum über die wirkliche Ähnlichkeit zwischen
einer Angabe des gewöhnlichen Lebens und einer Aus-
sage der theoretischen Physik findet außerordentlich leicht
statt; sehr häufig ist die Analogie eine ganz oberfläch-
liche; sie besteht nur zwischen den Worten, nicht aber zwi-
schen den Gedanken; sie kann verschwinden, wenn man die
symbolische Aussage, die die Theorie formuliert, übersetzt;
wenn man jeden Ausdruck, der in dieser Aussage verwendet
wurde, derart umbildet, daß man nach dem Rate Pascals die
Definition durdi das Definierte ersetzt; dann kann man sehen,
in welcher Beziehung die Ähnlichkeit zwischen den beiden
Angaben, die man unklugerweise in Zusammenhang gebracht
hat, eine künstliche, allein den Wortlaut betreffende ist.
Die Wahl der Hypothesen. 353
In jenen ungesunden, gemeinverständlidien Darstellungen,
in denen sich der Geist unserer Zeitgenossen um eine ver-
fälschte Wissenschaft, die seine Begeisterung erregt, bemüht,
bekommt man jeden Augenblick Überlegungen zu lesen, deren
sozusagen intuitive Voraussetzung die Betrachtung der Energie
ist EHese Voraussetzungen sind meistens wirklich nichts ande-
res als Wortspiele; man spielt mit dem doppelten Sinn des
Wortes Energie; man verwendet Urteile, die im alltäglichen
Sinn des Wortes Energie richtig sind, in jenem Sinn, in dem
man sagt, daß die Ourchquerung Afrikas die Oefährten Mar-
cfaands großen Aufwand an Energie gekostet habe; diese Ur-
teile überträgt man sodann im ganzen auf die Energie im
Sinne der Thermodynamik, auf jene Funktion des Zustandes
eines Systemes, deren vollständiges Differential bei jeder ele-
mentaren Änderung dem Oberschuß der äußeren Arbeit über
die frei gewordene Wärme gleich ist.
Vor kurzem noch haben diejenigen, die an derartigen
Betrügereien Gefallen finden, es bedauert, daß das Prinzip
der Zunahme der Entropie viel verwickelter und schwerer
verständlich sei, als das Prinzip der Erhaltung der Energie;
diese beiden Prinzipien verlangen indessen vom Mathematiker
ganz ähnliche Rechnungsoperationen; bloß hat der Ausdruck
Entropie nur in der Sprache des Physikers Sinn; er ist im
gewöhnlichen Sprachgebrauch unbekannt; er gibt keine Ge-
legenheit zu Zweideutigkeiten. Seit kurzem hört man diese
Klagen über die Unklarheit, in der das zweite Prinzip der
Thermodynamik versunken bleibt, nicht mehr; es gilt heute
als klar und gemeinverständlich. Warum? Weil man seinen
Namen geändert hat. Man bezeichnet es jetzt als Prinzip der
Zerstreuung oder der Entwertung der Energie; nun
verstehen auch diejenigen diese Worte, die keine Physiker
sind, aber doch als solche gelten möchten ; sie verleihen ihnen
allerdings einen Sinn, der gar nicht dem entspricht, was die
Physiker unter dieser Bezeichnung verstehen; aber was küm-
mert sie das ? Die Türe für gar manche spezielle Erörterungen,
die sich als Überlegungen ausgeben, aber nur Wortspiele
sind, ist nun offen. Und gerade das war es, was sie wünschten.
Dnhcm, PliytikaHtche Theorie. 23
354 Elftes Kapitel.
Die Anwendung von Pascals wertvoller Regel zerstreut
diese täusdienden Analogien, wie ein Windstoß die Erschei-
nungen der Fata Morgana.
Alle, die aus den Grundlagen des gewöhnlichen Ver-
standes Hypothesen, auf die sich die Theorien stützen sollen,
ableiten wollen, können noch einer anderen Illusion zum
Opfer fallen.
Die Grundlagen des gewöhnlichen Verstandes bestehen
nicht in einem in der Erde vergrabenen Schatz, dem keine
neue Münze mehr hinzugefügt werden kann, sondern in dem
Kapital einer ungeheuer großen imd außerordentlich tätigen
Gesellschaft, das durch die Vereinigung der Intelligenz der
ganzen Menschheit gebildet wird. Dieses Kapital verwandelt
sich und wächst von Jahrhundert zu Jahrhundert. Zu diesen
Verwandlungen und zu diesem Wachstum des Reichtums trägt
die theoretisdie Wissenschaft einen sehr großen Teil bei. Un-
aufhörlich verbreitet sie sich durch den Unterricht, durch die
Konversation, durch die Bücher und Zeitungen; sie dringt
bis zum Grund der allgemeinen Bildung; sie weckt deren
Aufmerksamkeit für früher vernachlässigte Erscheinungen, sie
lehrt sie früher unklar gebliebene Begriffe analysieren; sie
bereichert so das Erbteil der Wahrheiten, die allen Menschen
gemein sind oder wenigstens denen, die einen gewissen Grad
geistiger Kultur erreicht haben. Kommt dann ein Lehrer
mit dem Wunsche, eine physikalische Theorie darzulegen,
so findet er unter den Wahrheiten des gewöhnlichen Lebens
wunderbar geeignete Sätze zur Rechtfertigung seiner Hypo-
thesen; er wird nun glauben, daß er diese aus den grund-
legenden und zwingenden Bedingungen unseres Verstandes
entnommen, daß er sie aus wirklichen Axiomen abgeleitet
habe; tatsächlich wird er aber nur Stücke aus dem Schatze
der allgemeinen Erkenntnis wieder entnommen und in theore-
tische Wissenschaft verwandelt haben, die die theoretische
Wissenschaft selbst diesem Schatze beigefügt hatte.
Krasse Beispiele für diesen schweren Irrtum, diesen Zir-
kelschluß finden wir bei vielen Autoren in den Darlegungen
Die Wahl der Hypothesen. 355
der Prinzipien der Mechanik; folgende Auseinandersetzung
entnehmen wir Euler; das, was wir aber über die Oberiegungen
dieses großen Mathematikers sagen werden, könnten wir be-
züglich einer Menge neuerer Schriften wiederholen.
„Im ersten Kapitel", sagt Euler ^), „stelle ich die allge-
meinen Naturgesetze, welche ein freier und durch keine
Kräfte angetriebener Körper befolgt, dar. Wenn nämlich ein
derartiger Körper sich einmal in Ruhe befindet, muB er be-
ständig in derselben verharren; ist er aber einmal in Be-
wegung, so muß er beständig mit derselben Geschwindigkeit
geradlinig fortgehen. Beide Gesetze kann man sehr bequem
unter der Benenntmg der Erhaltung des Zustandes begreifen.
Es folgt hieraus, daß die Erhaltung des Zustandes eine we-
sentliche Eigenschaft aller Körper ist und daß diese die Kraft
oder das Vermögen besitzen, beständig in ihrem Zustande
zu verharren. Dies ist nichts anderes, als die Kraft der Träg-
heit .... Da also jeder Körper vermöge seiner Natur in
demselben Zustande der Ruhe oder Bewegung beharret, muß
man es äußeren Kräften zuschreiben, wenn der Körper dieses
Gesetz nicht befolgt; sondern entweder mit ungleichförmiger
Bewegung oder längs einer krummen Linie fortschreitet ....
Hieraus ergeben sich die wahren Prinzipien der Mechanik,
aus denen man alles abzuleiten hat, was die Änderung der
Bewegung betrifft. Da dieses noch zu leicht bestätigt werden
würde, habe ich den Beweis so geführt, daß man es nicht
nur als gewiß, sondern als notwendig wahr erkennen wird".
Wenn wir in der Lektüre des Eulerschen Werkes fort-
fahren, finden wir am Anfang des zweiten Kapitels die fol-
genden Stellen:
„Definition: Eine Kraft (potentia) ist die Gewalt (vis),
welche einen Körper von der Ruhe zur Bewegung
bringt oder seine bereits stattfindende Bewegung ver-
ändert. Eine derartige Kraft ist die Schwere, vermöge welcher
^) Leonhardi Euleri Mechanica sive motus scientia, analytice
exposita, Petropoli, 1736; 1 1, Praefatio. [Deutsche Ausgabe von Wolfers,
Oreüswald 1848, pp. 5—6, 33.]
23*
356 Elftes Kapitel.
die Körper, nach Entfernung der Hindemisse, zu sinken bxw
fangen und welche die herabsteigende Bewegung beständig
beschleunigt."
,,Zusatz: Jeder sidi selbst überlassene Körper verharret
entweder in Ruhe oder bewegt sich gleichförmig und gerad-
linig fort. So oft daher ein ruhender, freier Körper sich zu
bewegen anfängt, oder seine Bewegung weder gleichförmig
noch geradlinig fortsetzt, muß man die Ursache hiervon irgend
einer Kraft zuschreiben. Denn dasjenige, was den Zustand
eines Körpers zu stören vermag, nennen wir eine Kraft."
Euler bringt folgenden Satz als Definition: „Eine Kraft
ist die Gewalt, welche einen Körper von der Ruhe zur Be-
wegung bringt oder seine bereits stattfindende Bewegung ver-
ändert." Was soll man darunter verstehen? Will Euler dem
Wort Kraft seinen ganzen früheren Sinn nehmen und eine
einfache Wortdefinition, deren Willkürlichkeit durch nichts be-
grenzt ist, geben? In diesem Falle wird die Deduktion, die
er uns entwickelt, von tadelloser Logik sein; sie wird aber
in einer einfachen Anordnung von Schlüssen bestehen, die
keinerlei Verbindung mit der Wirklichkeit besitzt. Darin be-
steht keineswegs die Arbeit, die Euler ausführen wollte ; es ist
klar, daß Euler, als er den Satz, den wir oben angeführt haben»
aussprach, das Wort Kraft oder Gewalt im Sinne der ge-
wöhnlichen und nicht der wissenschaftlichen Sprache gebraucht
hat; das Beispiel der Schwere, das er unmittelbar nachher
anführt, verbürgt uns das sicher; gerade weil er dem Worte
Kraft nicht einen neuen, willkürlich definierten Sinn, sondern
denjenigen beilegt, den alle Menschen mit ihm verknüpfen»
konnte Euler bei seinen Vorgängern, namentlich bei Varignon»
die Theoreme der Statik, die er anwendet, entlehnen.
Diese Definition ist keine Wortdefinition, sondern eine
Sachdefinition; indem Euler das Wort Kraft in dem Sinne
nimmt, wie es ein jeder versteht, sucht er das wesentliche
Charakteristikum der Kraft zu bestimmen, jenes Charakteristik
kum, aus dem alle anderen Eigenschaften gefolgert werden
können. Der Satz, den wir angeführt haben, ist viel weniger
eine Definition, als ein Lehrsatz, dem Euler Augenscheinlich-
Die Wahl der Hypothesen. 357
keit zuschreibt, er ist ein Axiom. Dieses Axiom und andere
ähnliche ermöglichen ihm allein den Beweis, daß die Gesetze
der Mechanik nicht nur richtig, sondern notwendig seien.
Ist es nun augenscheinlich, leuchtet es dem gewöhnlichen
Verstände ohne weiteres ein, daß ein Körper, auf den keinerlei
Kräfte wirken, sich immer in gerader Linie mit konstanter
Geschwindigkeit bewegt? Ist es klar, daß die Fallgeschwin-
digkeit eines Körpers, der konstant der Schwerkraft junter-
worfen ist, fortwährend steigt? Ganz im Gegenteil; derar-
tige Ansichten sind von den gewöhnlichen Meinungen unge-
heuer weit entfernt; lun sie zutage zu fördern, waren die
fortgesetzten Bemiihimgen aller großen Geister, die sich
während zweier Jahrtausende mit der Dynamik beschäftigt
haben, nötigt).
Die tägliche Erfahrung lehrt uns, daß ein unbespannter
Wagen unbeweglich bleibt, daß ein Pferd, wenn es kontinuier-
lich seine Kräfte anspannt, das Gefährt mit konstanter Ge-
schwindigkeit zieht; wenn der Wagen schneller laufen soll,
muß das Pferd seine Kräfte mehr anspannen, oder man muß
ihm einen Gefährten geben. Wie wurden wir das, was uns
derartige Beobachtungen über die Kraft oder die Gewalt
lehren, übersetzen? Wir würden folgende Ausdrücke for-
mulieren :
Ein Körper, der keiner Kraft unterworfen ist, bleibt un-
beweglich.
Ein Körper, der einer konstanten Kraft unterworfen ist,
bewegt sich mit konstanter Geschwindigkeit.
Wenn man die Kraft, die einen Körper bewegt, vergrößert,
vergrößert man die Geschwindigkeit dieses Körpers.
So sind die charakteristischen Eigenschaften beschaffen,
die der gewöhnliche Verstand der Gewalt oder Kraft zu-
schreibt; so sind die Hypothesen beschaffen, die man zu
VcTigrl. E. Wohlwill: Die Entdeckung des Beharrungsgesetzes
(Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, Bd. XIV u. Bd. XV.
1883—1884.) — P. Duhem: De Tacc^l^ration pröduite parune force
constante (Congr^s d'Histoire des sdences; Oen^ve, 1904).
358 Elftes Kapitel.
Grundlagen der Dynamik madien müßte, wenn man diese
Wissenschaft auf das gründen wollte, was dem gewöhnlichen
Verstände als selbstverständlidi erscheint
Diese charakteristischen Eigenschaften sind nun jene, die
Aristoteles^) der Kraft {övvafiig) oder Gewalt {laxvg) zu-
schreibt; diese Dynamik ist die Dynamik des Stagiriten; wenn
man in einer derartigen Dynamik konstatiert, daß der Fall
der schweren Körper eine beschleunigte Bewegung sei, so
schließt man daraus nicht, daß die schweren Körper einer
konstanten Kraft unterworfen sind, sondern daß ihr Gewicht
in dem Maße zunimmt, wie sie sinken.
Die Prinzipien der peripathetischen Dynamik schienen
übrigens so sicher zu sein, ihre Wurzeln drangen so tief
in den widerstandsfähigen Boden der gewöhnlichen Meinungen,
daß, um sie bis zum Grunde auszurotten, um an ihre
Stelle jene Hypothesen, die Euler als selbstverständlich an-
nimmt, zu setzen, es einer der längsten und ausdauerndsten
Bemühungen bedurfte, die uns die Geschichte des mensch-
lichen Geistes kennen lehrt; es war nötig, daß Alexander
aus Aphrodisias, Themistius, Simplicius, Albert de Saxe,
Nicolas von Cusa, Leonardo da Vinci, Kardano, Tartalea,
Julius Caesar Scaliger, Jean Baptiste Benedetti den Weg
bahnten, auf dem Galilei, Descartes, Beeckman und Gassendi
vorwärtsschreiten konnten.
So sind die Lehrsätze, die Euler als Axiome, die uns selbst-
verständlich sind, betrachtet und auf die er eine nicht nur
richtige, sondern auch notwendige Dynamik gründen will, in
Wirklichkeit Lehrsätze, welche uns die Dynamik allein gelehrt
hat und die sie sehr langsam mit großen Schwierigkeiten
an Stelle der falschen Selbstverständlichkeiten des gewöhn-
lichen Lebens gesetzt hat.
Der Zirkelschluß, in dem sich die Deduktion Eulers be-
wegt, kann auch von denen nicht vermieden werden, die die
Hypothesen, auf denen eine physikalische Theorie ruht, mit
Hilfe allgemein anerkannter Axiome glauben rechtfertigen zu
können; di e angeblichen Axiome, auf die sie sich berufen,
^) Aristoteles: «iKxnxfic ^po^octüc H, s. — ntp\ OupavoL T, ß.
Die Wahl der Hypothesen. 359
wurden eben den Gesetzen entnommen, die sie aus ihnen
ableiten wollten^).
Es ist daher vollständig illusorisch, die Lehren des ge-
wöhnlichen Lebens zu Grundlagen der Hypothesen machen
zu wollen, auf die die theoretische Physilk gegründet wer-
den soll. Auf einem derartigen Wege gelangt man nicht
zur Dynamik von Descartes und Newton, sondern zu der
von Aristoteles.
Das heißt nun nicht, daß die Lehren des gewöhnlichen
Lebens nicht vollständig richtig und vollständig sicher seien ; es
ist vollständig richtig und vollständig sicher, daß ein unbe-
spannter Wagen sich nicht bewegt, daß er, wenn er mit zwei
Pferden bespannt ist, schneller vorwärts kommt, als wenn
nur eines zieht. Wir haben an mehreren Stellen wiederholt:
Die Sicherheiten und Wahrheiten des gewöhnlichen Lebens
sind in letzter Instanz die Quelle, aus der jede wissenschaft-
liche Wahrheit und Gewißheit entspringt. Aber wir haben
auch gesagt, daß die Beobachtungen des gewöhnlichen
Lebens umso zuverlässiger sind, je weniger sie sich in Einzel-
heiten verlieren, je weniger sie sich auf Genauigkeit ver-
legen; die Gesetze des gewöhnlichen Lebens sind nur unter
der ausdrücklichen Bedingung vollständig richtig, daß die all-
gemeinen Bezeichnungen, zwischen denen sie ein Band her-
stellen, zu jenen spontanen und naturgemäßen Abstraktionen
des Konkreten gehören, zu jenen unanalysierten Abstrak-
tionen, die als Ganzes glommen werden, wie der allgemeine
Begriff eines Wagens oder der allgemeine Begriff eines
Pferdes.
Es ist ein schweres Mißverständnis, Gesetze, die so
komplexe, so inhaltsreiche, so wenig analysierte Begriffe ver-
binden, tmmittelbar mit Hilfe jener symbolischen Formen der
mathematischen Sprache, die aus einer bis zum äußersten ge-
^) Der Leser kann sich von dem hier gesagten auch überzeugen, wenn
er die Kritik, die Hr. E. Mach den Ausführungen Daniel BemouUis über
das Gesetz des Kräfteparallelogramms angedeihen läßt, nachließt (Ernst
Mach: Die Mechanik, in ihrer Entwicklung historisch-kritisch dargestellt,
5. Auflage 1Q04, p. 45.)
300 Elftes Kapitel.
triebenen Vereinfachung und Analyse hervorgingen, übersetzen
zu wollendes ist eine merkwürdige Illusion, den Begriff der
konstanten bewegenden Kraft als äquivalent mit dem Begriff
des Pferdes, den Begriff des absolut frei beweglichen Körpers
durch den Begriff des Wagens versinnbildlichen zu wollen. Die
Gesetze des gewöhnlichen Lebens sind Urteile über allgemeine,
außerordentlich komplexe Begriffe, die wir auf Grund unserer
täglichen Beobachtungen begreifen ; die Hypothesen der Physik
sind Beziehungen zwischen mathematischen Symbolen, die im
höchsten Grade vereinfacht wurden; es ist unsinnig, den
außerordentlichen Unterschied, der die beiden Arten von Lehr-
sätzen trennt, nicht sehen zu wollen; es ist unsinnig zu denken,
daß die letzteren sich an die ersteren anschließen, wie ein
KoroUar an ein Theorem.
Gerade in umgekehrter Reihe muß der Obergang von
den Hypothesen der Physik zu den Gesetzen des gewöhnlichen
Lebens stattfinden; aus der Gesamtheit der einfachen Hy-
pothesen, die als Grundlagen der physikalischen Theorien
dienen, lassen sich mehr oder minder femliegende Folgerungen
ziehen und diese liefern eine schematische Darstellung der
Gesetze, die uns die gewöhnliche Erfahrung darbietet; je voll-
kommener die Theorien sind, um so verwickelter wird diese
Darstellung sein; indessen werden die gewöhnlichen Beobach-
tungen sie immer unendlich an Vielseitigkeit übertreffen ; weit
entfernt, daß man die Dynamik aus jenen Gesetzen ableiten
könnte, die der Verstand bei Betrachtung der Bewegung eines
von einem Pferde gezogenen Wagens erkannt hat, genügen
im Gegenteil kaum alle Hilfsmittel der Dynamik, um uns auch
nur ein ganz vereinfachtes BUd der Bewegung dieses Wagens
zu geben.
Der Beweggrund, der die Absicht hervorruft, die Dar-
stellung der Hypothesen, auf denen die physikalischen Theo-
rien ruhen, aus den Kenntnissen des gewöhnlichen Lebens
abzuleiten, besteht in dem Wunsch, die Physik ähnlich der
Geometrie aufzubauen; in der Tat sind die Axiome, aus denen
die Geometrie mit so vollständiger Strenge abgeleitet wird,
Die Wahl der Hypothesen. 361
die Fragen, die Euklid am Anfang seiner Elemente for-
muliert, Lehrsätze, deren Selbstverständlichkeit das gewöhn-
liche Leben bestätigt. Wir haben aber bereits wiederholt
gesehen, wie gefährlich es wäre, eine Annäherung zwischen
der matiiematischen Methode und derjenigen, die die physi-
kalischen Theorien befolgen, herzustellen, wie versteckt unter
einer vollständig äußerlichen Ähnlichkeit, die in dem Gebrauch,
den die Physik von der mathematischen Sprache macht, be-
gründet ist, diese beiden Methoden sich als vollkommen ver-
schieden erweisen ; auf den Unterschied dieser beiden Methoden
müssen wir nochmals zurückkommen.
Die Mehrzahl abstrakter und allgemeiner Begriffe, die in
uns bei Gelegenheit unserer Wahrnehmungen spontan ent-
stehen, sind zusammengesetzte, unanalysierte Vorstellungen;
es gibt indessen unter ihnen auch solche, die sich ohne be-
sondere Anstrengung klar und einfach erweisen; es sind dies
die verschiedenen Begriffe, die sich um jene der Zahl und
Figur gruppieren; die gewöhnliche Erfahrung lehrt uns diese
Begriffe durdi Gesetze zu verbinden, die einerseits die unmittel-
bare Sicherheit der Urteile des gewöhnlichen Lebens und
andererseits eine außerordentliche Klarheit und Genauigkeit
besitzen. Es war daher möglich, eine gewisse Zahl solcher
Urteile zu Prämissen von Deduktionen zu machen, in denen
die unbestreitbare Richtigkeit der allgemeinen Erkenntnis un-
trennbar mit der vollkommenen Klarheit von Schlußreihen ver-
eint war. In dieser Weise wurde die Arithmetik und Geometrie
aufgebaut
Aber die mathematischen Wissenschaften bilden eine voll-
ständige Ausnahme ; sie allein haben das Glück, Vorstellungen
zu behandeln, die sich aus unseren täglichen Wahrnehmungen
durch eine spontane Arbeit der Abstraktion und Generalisation
eigeben und sich dabei ohne weiteres als klar, rein und ein-
fach erweisen.
Dieses Glück ist der Physik versagt. Die durch die Wahr-
nehmungen gelieferten Begriffe, die sie zu behandeln hat,
sind unendlich kompliziert und zusammengesetzt, deren
Studium erfordert eine lange peinliche Arbeit an Analyse;
362 Elftes Kapitel.
di€ genialen Männer, die die theoretische Physik geschaffen,
haben eingesehen, daß, wenn man in diese Arbeit Ord-
nung und Klarheit bringen will, es erforderlich sei, diese
Eigenschaften bei den einzigen Wissenschaften, die naturgemäß
geordnet und jclar sind, bei den mathematischen zu suchen.
Aber sie konnten doch nicht bewirken, daß die Klarheit und
Ordnung in der Physik sich ebenso, wie in der Arithmetik
und Geometrie mit einer Art unmittelbar erlangter Gewißheit
vereinige. Alles, was sie leisten konnten, war, daß sie sich
einer Menge direkt aus der Beobachtung abgeleiteter Gesetze —
verwirrter, verwickelter, ungeordneter, aber mit einer direkt
konstatierbaren Sicherheit versehener Gesetze — gegenüber
stellten und von diesen eine symbolische Darstellung zeich-
neten, eine Darstellung, die bewunderungswürdig klar und
geordnet ist, von der man aber nicht mehr genau sagen kann,
ob sie wahr ist.
Im Gebiete der Gesetze der Beobachtung regiert der ge-
wöhnliche Verstand; er allein entscheidet durch unsere natür-
lichen Mittel des Wahrnehmens und des Urteilens über unsere
Wahrnehmungen, über Wahr und Falsch. Im Gebiete der
schematischen Darstellung ist die mathematische Deduktion
souveräne Herrscherin, alles muß sich den von ihr vorge-
schriebenen Regeln fügen. Aber zwischen den beiden
Gebieten t>esteht eine fortwährende Zirkulation, eine fort-
währender Austausch von Lehrsätzen und Vorstellungen. Die
Theorie fordert von der Beobachtung, daß sie eine ihrer Kon-
sequenzen der Kontrolle der Tatsachen unterwerfe; die Beob-
achtung veranlaßt die Theorie, eine alte Hypothese zu modi-
fizieren oder eine neue zu formulieren. In der Zwischenzone,
durch die sich dieser Austausch vollaeht, durch die die Ver-
bindung zwischen Beobachtung und Theorie gesichert ist, wett-
eifern der gewöhnliche Verstand lund die mathematische Logik,
um ihren Einfluß wirken zu lassen, und mischen in unentwirr-
barer Art die ihnen eigenen Verfahren untereinander.
Diese doppelte Bewegung, die es allein der Physik er-
möglicht, die Gewißheit der Konstatierungen des gewöhn-
lichen Lebens mit der Klarheit mathematischer Deduktionen zu
Die Wahl der Hypothesen. 363
vereinigen, wurde von Heim Edouard Le Roy^) folgender-
maßen geschildert:
,,Kurz gesagt, Notwendigkeit und Wahrheit sind die
beiden äußersten Pole der Wissenschaft. Aber diese beiden
Pole fallen nicht zusammen, sie sind das Rote und das Vio-
lette im Spektrum. In der zwischen ihnen befindlichen Ver-
bindung, der einzigen wirklich erlebten Realität, variieren die
Wahrheit und Notwendigkeit im umgekehrten Sinn, je nach-
dem, welchem der beiden Pole man sich zuwendet . . . Wenn
man sich entschließt, nach dem Notwendigen zu gehen, so
wendet man dem Wahren den Rücken, man arbeitet dann an der
Beseitigung alles dessen, was Erfahrung und Intuition ist, man
beschäftigt sich mit dem Schema der reinen Überlegung, dem
formellen Spiel der Symbole ohne Bedeutung. Dagegen muß
man, um die Wahrheit zu erlangen, den Weg in umgekehrtem
Sinne machen; das Bild, die Eigenschaft, das Konkrete ge-
winnen ihre vorherrschenden Rechte wieder; man sieht dann
die Urteilsnotwendigkeit in der erlebten Zufälligkeit gradweise
vergehen. Schließlich sind es nicht die gleichen Eigenschaften,
durch die die Wissenschaft notwendig und durch die sie wahr
ist, durch die sie streng und durch sie objektiv ist."
Die Tragweite dieser Worte geht vielleicht ein wenig
weiter als ihr Autor gedacht; jedenfalls genügt es, damit sie
vollkommen unsere Gedanken ausdrücken, an Stelle der Worte
Strenge und Notwendigkeit, die Hr. Le Roy verwendet,
die Worte Ordnung und Klarheit zu setzen.
Die Erklärung, daß die physikalische Wissenschaft aus
zwei Quellen hervorgeht, ist sehr richtig. Die eine, die
Sicherheit, das ist der gewöhnliche Verstand, die andere die
Klarheit, das ist die mathematische Deduktion; und die physi-
kalische Wissenschaft besitzt gleichzeitig Sicherheit und Klar-
heit, weil die Fluten, die aus diesen beiden Quellen entsprin-
gen, zusammenlaufen und vollständig ihre Wasser mischen.
^) Edouard Le Roy: Sur quelques objections adress^es k la
nouvelle Philosophie. (Revue de M6taphysique et de Morale,
1901, p. 319.)
364 Elftes Kapitel
In der Qeometrie sind die klare Erkenntnis, wie sie die
deduktive Logik hervorbringt und die gewisse Erkenntnis, wie
sie dem gewöhnlichen Verstände entstammt, so genau zu-
sammengefügt, daß man keine Mischungszone bemerken kann,
wo sich nebeneinander alle unsere Erkenntnismittel um die
Wette betätigen; das ist der Grund, warum der Mathematiker,
wenn er die physikalischen Wissenschaften behandelt, leicht
die Existenz dieser Zone vergißt, warum er die Physik
ebenso, wie seine bevorzugte Wissenschaft auf Axiome, die
unmittelbar aus dem gewöhnlichen Wissen abgeleitet sind,
aufbauen will; er verfolgt jenes Ideal, das Hr. Ernst Mach
so richtig falsche Strenge nennt^) und riskiert dabei, nichts
zu erlangen, als Beweise, die von Trugschlüssen strotzen und
in denen eine petitio principii neben der anderen sich befindet.
§ 6. — Die Wichtigkeit der historischen Methode in
der Physik.
Wie wird der Lehrer, dessen Amt es ist, die Physik dar-
zustellen, seine Schüler vor den Gefahren einer derartigen
Methode bewahren? Wie wird er sie lehren können, den
ungeheuren Abstand, der das Gebiet der gewöhnlichen Er-
fahrung, in dem die Gesetze des gewöhnlichen Lebens herr-
schen, von dem theoretischen Gebiete, das in klare Prin-
zipien geordnet ist, trennt, mit dem Blick zu erfassen? Wie
wird er sie lehren können, gleichzeitig den doppelten Lauf,
durch den der Geist eine fortwährende und wechselseitige
Verbindung zwischen diesen beiden Gebieten herstellt, zu ver-
folgen; diese beiden Gebiete bestehen einerseits aus der
empirischen Kenntnis, die ohne Theorie die Physik auf
ungestaltes Material zurückführen würde und andererseits
aus der mathematischen Theorie, die von der Beobach-
tung getrennt, des Zeugnisses der Sinne beraubt, der Wissen-
schaft nur eine inhaltslose Gestalt geben würde.
Aber warum sollen wir uns diese Methode in allen Ein-
zelheiten ersinnen? Haben wir nicht vor uns einen Studie-
^) Ernst Mach: Die Mechanik in ihrer Entwicklung, historisch-
kritisch daigestellt, 5. Auflage 1904, p. 82.
Die Wahl der Hypothesen. 365
renden, der in der Kindheit keine der physikalischen Theorien
kannte, der aber im Mannesalter zur vollen Kenntnis aller
Hypothesen, auf denen diese Theorien ruhen, gelangt ist
Dieser Studierende, dessen Erziehung sich durch Jahrtausende
vollzog, ist die Menschheit. Warum sollen wir nicht in der
intellektuellen Bildung des einzelnen Menschen den Fortschritt
nachahmen, durch den sich die menschliche Wissenschaft ge-
bildet hat? Warum bereiten wir nicht die Einfiihrung einer
jeden Hypothese in den Unterricht durch eine gedrängte aber
getreue Darlegung der Schicksale, die ihrer Einführung in
die Wissenschaft vorangegangen waren, vor?
Die richtige, sichere und fruchtbare Methode, um einen
Geist zur Aufnahme einer physikalischen Hypothese vorzu-
bereiten, ist die historische. Das beste, ja das einzige Mittel,
um denjenigen, die die Physik studieren, eine richtige Vor-
stellung und einen klaren Überblick über die so verwickelte
und so mannigfaltige Organisation dieser Wissenschaft zu
geben, besteht in folgendem: Man zeichne die Umbildungen,
die bei der Aufstellung der theoretischen Form durch das
Anwachsen des empirischen Materials bedingt waren, man
beschreibe die lange gemeinsame Arbeit, in der der gewöhn-
liche Verstand und die deduktive Logik dieses Material analy-
siert und diese Form gemeißelt haben, bis sie sich genau an-
einander anpaßten.
Ohne Zweifel ist es unmöglich, den langsamen, zögernden,
tastenden Weg, auf dem der menschliche Geist bis zur klaren
Einsicht in jedes physikalische Prinzip vorgeschritten ist. Schritt
für Schritt zu verfolgen. Es wäre hierzu zu viel Zeit nötig; die
Entwicklung jeder Hypothese, die in den Unterricht einge-
führt wird, muß verkürzt und gedrängt dargestellt werden,
sie muß in demselben Verhältnis reduziert werden, in dem
die Dauer der Erziehung eines Menschen zur Dauer des Auf-
baues der Wissenschaft steht; durch eine ähnliche Abkürzung
geben auch die Metamorphosen, durch die ein Wesen vom
embryonalen Zustand zum mannbaren übergeht, die wirkliche
oder ideale Entwicklungslinie wieder, durch die dieses Wesen
mit dem ersten Ursprung aller Lebewesen verknüpft ist.
366 Elftes Kapitel.
Übrigens ist diese Abkürzung fast immer leicht, voraus-
gesetzt, daß man alles Zufällige einfach beiseite läßt — den
Namen des Autors, das Datum der Erfindung, Episoden und
Anekdoten — und sich allein an die historischen Tatsachen häl^
die in den Augen des Physikers wichtig erscheinen, an die Um-
stände, unter denen die Theorie um ein neues Prinzip bereichert
wurde, eine Dunkelheit sich aufhellte, ein Irrtum verschwand
Die Wichtigkeit, die die Geschichte der Methoden, auf
Qrund deren die Entdeckungen ausgeführt wurden, für das Stu-
dium der Physik besitzen, zeigt von neuem den außerordent-
lichen Unterschied zwischen der Physik und der Mathematik.
In der Mathematik, in der die Klarheit der deduktiven
Methode sich direkt mit den Selbstverständlichkeiten des ge-
wöhnlichen Lebens verbindet, kann der Unterricht in rein
logischer Weise gegeben werden; es genügt, daß ein Postulat
ausgesprochen werde, damit der Studierende sogleich das
durch das gewöhnliche Wissen gegebene, das in einem der-
artigen Urteil zusammengefaßt wird, erfasse; er braucht den
Weg, auf dem dieses Postulat in die Wissenschaft gelangt ist,
nicht zu kennen. Die Geschichte der Mathematik verdient
sicherlich mit Recht großes Interesse, aber sie ist nicht wesent-
lich für das Verständnis der Mathematik.
Dem ist nicht so in der Physik. In dieser Wissenschaft
darf der Unterricht, wie wir gesehen haben, nicht bloß und
ganz logisch sein. Folglich ist das einzige Mittel, um die
formalen Urteile der Theorie mit dem Stoff der Tatsachen,
die diese Urteile darstellen sollen, unter Vermeidung des ver-
stohlenen Eindringens falscher Vorstellungen zu verbinden,
wenn man jede wesentliche Hypothese durch ihre Geschichte
rechtfertigt.
Die Darlegung der Geschichte eines physikalischen Prin-
zipes bedeutet gleichzeitig die logische Analyse desselben. Die
Kritik der intellektuellen Methoden, die die Physik verwendet,
verbindet sich in unlöslicher Weise mit der Darlegung der
stufenweisen Entwicklung, durch die die Deduktion die Theorie
vervollkommnet und gibt dadurch ein immer genaueres, immer
geordneteres Bild der Gesetze, die die Beobachtung aufzeigt
Die Wahl der Hypothesen. 367
Überdies kann einzig* die Geschichte der Wissenschaft
den Physiker vor dem törichten Ehrgeiz des Dogmatismus,
wie vor der Verzweiflung des Pyrrhonismus bewahren.
Indem sie ihm wieder die lange Serie der Irrtümer und
Zweifel, die der Entdeckung eines jeden Prinzipes vorange-
gangen sind, aufzeigt, macht sie ihn wachsam gegen die
falschen Augenscheinlichkeiten; indem sie ihm die Schicksale
der kosmologischen Schulen ins Gedächtnis bringt, indem sie
die ehemals triumphierenden Ooktrinen aus ihrer Vergessen-
heit, in der sie nun ruhen, wieder ausgräbt, erinnert sie ihn
daran, daß die verführerischsten Systeme nur provisorische
Darstellungen und nicht definitive Erklärungen sind.
Und andererseits läßt sie vor seinen Augen die ununter-
brochene Tradition vorüberziehen, durch die die Wissenschaft
einer jeden Epoche aus den Systemen vergangener Jahrhun-
derte Nahrung gezogen, durch die sie die Physik der Zukunft
in sich trägt; sie zitiert ihm die Weissagungen, die die Theorie
formuliert und die durch das Experiment realisiert wurden,
sie schafft und befestigt in ihm die Überzeugung, daß die
physikalische Theorie nicht ein rein künstliches System sei,
welches heute bequem, morgen aber nutzlos sein wird, daß
sie eine immer mehr naturgemäße Klassifikation, ein immer
klarerer Reflex der Realitäten werde, die die experimentelle
Methode nicht von Angesicht zu Angesicht sehen kann.
Jedesmal, wenn der Geist des Physikers in die Gefahr
gerät, einen Exzeß zu begehen, bringt ihn das Studium der
Geschichte durch einen entsprechenden Verweis auf den
rechten Weg; die Geschichte könnte die Rolle, die sie in bezug
auf den Physiker spielt, imter Entlehnung eines Wortes
Pascals^) folgendermaßen definieren: „Wenn er sich rühmt,
dann erniedrige ich ihn,. wenn er sich erniedrigt, dann rühme
ich ihn.^^ Sie hält ihn so in jenem Zustande des vollkommenen
Gleichgewichtes, in dem er richtig das Ziel und die Struktur
der physikalischen Theorien einschätzen kann.
^) Pascal: Pens^es, Edition Havet, art. 8.
LIBRAIRIB MARCBL RIVIBRB
30, RUE JACOB, PARIS (6«) — Tä^hone: 816-84
Bibliothfeque de Philosophie
Publice SOU8 la Direction ovnorimonfolo
du Prof. E. PEILLAUBE CApCI llllClllalC
Cette CoUedion est le prolongement naturel de la Revue de Philo-
sophie dont tout Teffort tend a 6difier, sur les bases de l'observation et de
l'exp^rience physiaue ou morale, la synth^se m^taphysique la plus com-
pr^hensive. La Biblioth^que de Philosophie exp^rimentale a €i€ fond6e pour
susciter un certain nombre de monographies sur les probl^mes les plus
importants de l'heure actuelle. Tout espnt cultiv6, sans £tre un sp^aliste,
aura ainsi le moyen de se tenir au courant des prindpales directions de la
pens^e en mati^re de Philosophie et de sciences.
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Le Psychisme inf^rieur
P" l&tude de Physiopathologie
le D'. GRASSET ^^„j
Professeur de dinique
äruniversit^deMontpeiiier des centres psychiques
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Professeur de physique th^orique
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Verlag von Johann Ambrositts Barth in Leipzig,
Erkenntnis und Irrtum.
Skizzen zur Psychologie der Forachnng«
Von
B. MACH
Emer. Professor an der Unlversliit Wien.
Z durchgesehene Auflage.
pCII, 474 Seiten.) 1906. M. 10.—, gebunden M. 11.—.
Zeitschrift für den physik. u. ehem. Unterricht, Heft 1, 1907.
Es ist ein erfreulicher Beweis für das vorhandene Interesse an methodo-
logischer Betrachtung, daß das wertvolle Buch so schnell eine zweite Auf-
lage erlebt hat. Diese unterscheidet sich von der ersten nur unwesentlidi,
insbesondere sind Hinweise auf einige Schriften verwandten Inhalts in An-
merkungen hinzugefüfft Unter diesen Schriften ist besonders bemerkens-
wert das Werk von Duhem, La th^orie physique, son objet et sa
structure (1906), das in den Eivebnissen mit denen Machs zusammentrifft
Während Mach m seinem Buche nauptsächlich die Unterschiede des vulgären
und des wissenschaftlichen Denkens hervorhebt, beleuchtet Duhem besonders
„die Unterschiede des vulgären und des kritisch-physikalischen Beobachtens
und Denkens'', beide Werke ergänzen sich daher auch auf das glücklichste.
Monatsschrift für Kriminalpsychologie, IV., 1.
Für die steigende Teilnahme, die unsere Zeit den theoretischen Grund-
lagen der Forschung entgegenbringt, spricht die Moße Tatsache, daß ein so
umfangreiches und schwieriges Werk, wie das obengenannte von Mach,
in fi;anz kurzer Zeit die zweite Auflage eriebt hat. In erster Linie freilich
dankt es diesen Erfolg seinen „persönlichen" Vorzügen, ja, es ist nicht zu-
viel gesagt, wenn man es zu jenen seltenen Büchern rechnet, die bei aller
Wissenschaftlichkeit so anregend und fesselnd geschrieben sind, daß man
sie ohne Unterbrechung bis zur letzten Seite durchliest Was Mach gibt,
ist nicht mehr und nicht weniger als eine Methodolos^ie der exakten Forschung.
Die Beispiele entnimmt er dabei, seinem engeren Aroeitsbereich entsprechend,
üi der Hauptsache der Physik und der Mathematik. Schon dadurch bildet
das Buch eme hochwillkommene Ergänzung der vorhandenen Wissenschafts-
theorien, die, als von Philosophen geschrieben, sich überwiegend an den
Geisteswissenschaften zu orientiereii pflegen. — Am Schlüsse seiner ,.Analyse'*
sprichtMach von derpflichtgemäßenüberlegenheitdes Rezensenten. Ich gestehe,
daß ich seinem jüngsten Werke gegenüber auf diese „Pflicht" mit Freuden
verzichtet habe. Ich habe nur eelesen und bewundert bald die ungemeine
Belesenheit des Verfassers, bald die außerordentlich lichtvolle Darstellung.
Ich kann lediglich bitten, diesen Satz durch eigne Lektüre nachzuprüfen.
Gewiß erfordert das Studium des Buches Arbeit, aber sie wird über-
reichlich gelohnt
Deutsche Literaturzeitung, Nr. 47.
Mach hat das Verdienst, aus der Naturwissenschaft alte abgestandene
Reste psychologischer und philosophischer Anschauungen entfernt und dafür
solche emgeführt zu haben, die er in vienrigiähriger F^rscherarfoeit bewährt
gefunden hat Eine solche Läuterunfir ihrer Örundlagen wird der Forschung
von größtem Nutzen sein und solche Mißgeburten wie den Haeckelsdien
Monismus, wenn nicht unmöglich machen, so doch aus den Fachkreisen
völlig ausschließen.
Verlag von Johann Ambrosias Barth in Leipzig,
Populärwissenschaflliche Vorlesungen.
Von B. MACH.
3. verm. Aufl. [XI, 403 S. mit 60 Abbildungen.] 1903. M. 6.—, geb. M. 6.80.
Inhalt: Die Gestalten der Flfissigkelt Ober die' Cortischen Fasern des Ohres. Die
ErUirung der Harmonie. Zur Geschichte der Akustik. Ober die Geschwindigkeit des Lichtes.
Wozu hat der Mensch zwei Äugten. Die Symmetrie. Bemerkung^en zur Lehre vom rlnmlichen
Sehen. Ober die Grundbegriffe der Elektrostatik (Menge, Potential, KapaziUlt usw.). Ober
das Prinzip der Erhaltung der Energie. Die ökonomische Natur der physikalischen Forschung.
Ober Umbildung und Anpassung im naturwissenschaftlichen Denken. Ober das Prinzip der Ver-
gleichung in der Physik. Ober den EinfluB zufälliger Umstinde auf die Entwicklung von Er-
findungen und Entdeckungen. Ober den relativen Bfldungswert der philologischen und der
mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichtsflcher der höheren Schulen. Ober Erschei-
nangen an fliegenden Projektilen. Ober Orientieningsempfindungen.
Zeitschrift für phys. Chemie: Mach gehört zu unseren bedeu-
tendsten Denkern im erkenntnistheoretischen Gebiete . . . Auf den Inhalt
des Buches geht der Ref. absichtlich nicht ein; wenn jemand, so muB Mach
im Original gelesen werden. Es wird genügen, allen Lesern dringend an
das Herz zu legen, sich das Buch zu kaufen und es nicht nur einmal,
sondern von Zeit zu Zeit wieder zu lesen. Jeder wird hier oder da den-
selben EinfluB erfahren, den Kant von seinem Studium Humes berichtet:
daß er nämlich aus seinem dogmatischen Schlummer geweckt wird.
Naturwissenschaftliche Rundschau: Jede einzelne der 19 Vor-
lesungen tragt das Gepräge des Machschen Geistes und verdient als Muster
dieser Gattung unserer Literatur die weiteste Verbreitung. . . . Vielleicht
wird mancher Leser durch diese Vorlesungen veranlaBt, sich mit den
sonstigen Schriften unseres gediegenen Naturphilosophen weiter zu be-
schäftigen und aus ihrer vornehmen Haltung, die stets auf der Höhe des
Gedankens bleibt reichen GenuB zu ziehen.
Die Prinzipien der Wärmelehre.
Historisch - kritisch entwickelt.
Von B. MACH.
2. Auflage.
[VIII, 484 S. mit 105 Figuren und 6 Porträts.] 1900. M. 10.—, geb. M. 11.—.
Zeitschrift für phys. Chemie: Mit dem vorliegenden Werke hat
der Verfasser allen denen, die in irgend einer Weise an der heutigen Ent-
wicklung der Wärmeenergetik interessiert sind — und welcher Cnemiker,
Physiker oder Techniker wäre es nicht — einen ungemein dankenswerten
Dienst erwiesen. In gleicher Weise wie in seiner noch viel zu wenig
gelesenen „Mechanik" hat Mach die einzelnen Grundlagen unserer Kenntnisse
fii ihrer geschichtlichen Entwicklung dargestellt und iührt an dem Faden
des historischen Fortschrittes seine Leser in der wirksamsten und anregendsten
Weise in der Beherrschung des tatsächlichen und gedanklichen Materials
ein, welches den Inhalt dieser Wissenschaft bildet.
Münchener Allgem. Zeitung: Wir begrüßen die 2., einigermaßen
erwetterte Auflage von Machs Werk und wollen hiermit dasselbe als die
Geistesarbeit eines im wahrsten Sinne des Wortes hervorragenden Natur-
philosophen einem möglichst großen Kreis von denkenden Lesern empfehlen.