Full text of "Die Welt als Wille und Vorstellung"
»«.IV • » » '^ "\ fu j^ > i * ^ t>* i ^^ LIBRARY OF WELLESLEY COLLEGE From the Library of Henry F. Schwarz BIBLIOTHEK DER PHILOSOPHEN GELEITET VON FRITZ MAUTHNER ZEHNTER BAND iA~Aiitni'tlf SCHOPENHAUERS WERKE HI SCHOPENHAUER DIE WELT ALS WILLE UND VORSTELLUNG HERAUSGEGEBEN VON LUDWIG BERNDE ZWEITER BAND I • 9 • 1.3 MÜNCHEN BEI GEORG MÜLLER 6 3/3? /VVVV\AA(VVVIAAAA^VVM/VVV\AA1A/M VVVVVVVVVVVVVVVVVVV>yVVVVAA/VVVX VVVVWWV\WW'<AAAAAWWWWV\ INHALTSVERZEICHNIS DES ZWEITEN BANDES ERGÄNZUNGEN ZUM ERSTEN BUCH ERSTE HÄLFTE: DIE LEHRE VON DER ANSCHAULICHEN VORSTELLUNG Seite Kap. I . Zur idealistischen Grundansicht .... 5 „ 2. Zur Lehre von der anschauenden oder Ver- standes-Erkenntniss 2 5 „ 3. Ueber die Sinne 34 ,, 4- Von der Erkenntniss a priori 4' ZWEITE HÄLFTE: DIE LEHRE VON DER ABSTRAKTEN VORSTELLUNG, ODER DEM DENKEN Kap. 5. Vom vernunftlosen Intellekt yi „ 6. Zur Lehre von der ahstiakten, oder Vernunft- Erkenntniss y6 „ 7. Vom Verhältniss der anschauenden zur ab- strakten Erkenntniss 86 „ 8. Zur Theorie des Lächerlichen i i i „ 9. Zur Logik überhaupt 126 „ 10. Zur Syllogistik . . i32 „ II. Zur Rhetorik i45 „ 12. Zur Wissenschaftslehre 147 „ i3. Zur Metliodenlehre der Mathematik . . . iSg „ i4- Ueber die Gedankenassociation .... 162 „ i5. Von den wesentlichen Unvollkommenheiten des Intellekts 168 V Seite Kap. i6. Ueber den praktischen Gebrauch der Ver- nunft und den Stoicismus 182 „ 17. Ueber das metaphysische ßedürfniss des Men- schen 196 ERGÄNZUNGEN ZUM ZWEllTEN BUCH Kap. 18. Von der Erkennbarkeit des Dinjjes an sich 289 19. Vom Primat desWillens im .Scll)stbe\vusslseyn 2.')i 20. (Ibjektivatiun des Willens im tliicrischen Or- ganismus 3 I o 21. Rückblick und allgemcincic Hotraclitun{} . 34o 22. Objektive Ansicht des Intellekts .... 344 23. Ueber die Objektivation des Willens in der erkenntnisslosen Natur 371 24. Von der Materie 387 25. Transscendente I5etrachtun{jen über den Wil- len als Din{j an sich 4t>5 26. Zur Teleolü{;ie 4 '7 27. Vom Instinkt und Kuiisttricb 436 28. Cliarakteristik des Willens zum Leben . . 44^ ERGÄNZUNGEN ZUM DRITTEN BUCH Kap. 29. Von dei- Erkenntniss der Ideen .... ^G3 3u. Vom reinen Subjekt des Krkcnnens . . . 4^7 3i. Vom Genie 479 32. Ueber den Wahnsinn 508 33. Vereinzelte Bemerkun{jen über Naturschöidieit .'114 34. Ueber das innere Wesen der Kunst . . . 5 16 35. Zur Aesthetik der Architektur 52 2 36. Vereinzelte Bemerkungen zur Aesthetik der bildenden Künste 533 37. Zur Aestiietik der Diclitkuiisl 540 38. Ueber Geschichte 56o 39. Zur Metaphysik der Musik 571 ERGÄNZUNGEN ZUM VIERTELN BUCH Kap. 4"- Vorwort 591 „ 4'- Ueber den Tod und sein Verhältniss zur Un- zerstöibarkeit unsers Weseiis an sich . . 5q3 „ ^2. Leben dei' Gattung 654 „ ^3. Erblichkeit der Eigenschaltcn 663 „ 44' Metaphysik der Geschlechtsliebf . . 681 „ ^5. Von der ik-Jahung des Willens zum Leben 730 VI Seite Kap. 46. Von dej Nichtigkeit und dem Leiden des Lebens 786 „ 47. Zur Ethik ^56 „ 48. Zur Lehre von der Verneinung des Willens zum Leben __/ ,, 49- Die Heilsordnung 8,5 „ 5o. Epiphilosophie gaS VII ERGÄNZUNGEN ZUM ERSTEN BUCH „Warum willst du dich von uns Allen Cnd unsrer Meinung entfernen?" — Ich schreibe nicht eucli zu gefallen, Ihr sollt was lernen. Goethe. ZUM ERSTEN BUCH. ERSTE HÄLFTE DIE LEHRE VON DER ANSCHAU- LICHEN VORSTELLUNG (Zu §. I — 7 des ersten Bandes.*) *) S. 3 — 43 dieser Ausgabe. VWVIMMMVVVVVVVVIlV\«MVMIVVVVVMnMMVVWVVWMVVIMAM«MfVVVV^ KAPITEL I. ZUR IDEALISTISCHEN GRUNDANSICHT. IM unendlichen Raum zahllose leuchtende Kugeln, um jede von welchen etwan ein Dutzend kleine- rer, beleuchteter sich wälzt, die inwendig heiss, mit erstarrter, kalter Rinde überzogen sind, auf der ein Schimmelüberzug lebende und erkennende Wesen er- zeugt hat; — dies ist die empirische Wahrheit, das Reale, die Welt. Jedoch ist es für ein denkendes Wesen eine missliche Lage, auf einer jener zahllosen im grän- zenlosen Raum frei schwebenden Kugeln zu stehen, ohne zu wissen woher noch wohin, und nur Eines zu seyn von unzählbaren ähnlichen Wesen, die sich drän- gen, treiben, quälen, rastlos und schnell entstehend und vergehend, in anfangs- und endloser Zeit : dabei nichts Beharrliches, als allein die Materie und die Wiederkehr der selben, verschiedenen, organischen Formen, mittelst gewisser Wege und Kanäle, die nun ein Mal da sind. Alles was empirische Wissenschaft lehren kann, ist nur die genauere Beschaffenheit und Regel dieser Hergänge. — Da hat nun endlich die Philosophie der neueren Zeit, zumal durch Berkeley und Kant, sich darauf besonnen, dass Jenes alles zu- nächst doch nur ein Gehirnphänomen und mit so gros- sen, vielen und verschiedenen subjektwen Bedingun- gen behaftet sei, dass die gewähnte absolute Realität desselben verschwindet und für eine ganz andere Welt- ordnung Raum lässt, die das jenem Phänomen zum Grunde Liegende wäre, d. h. sich dazu verhielte, wie zur blossen Erscheinung das Ding an sich selbst. „Die Welt ist meine Vorstellung" — ist, gleich den Axiomen Euklids, ein Satz, den Jeder als wahr erken- nen muss, sobald er ihn versteht; wenn gleich nicht ein solcher, den Jeder versteht, sobald er ihn hört. — Die- sen Satz zum Bewusstseyn gebracht und an ihn das Problem vom Verhältniss des Idealen zum Realen, d. h. der Welt im Kopf zur Welt ausser dem Kopf, ge- knüpft zu haben, macht, neben dem Problem von der moralischen Freiheit, den auszeichnenden Charakter der Philosophie der Neueren aus. Denn erst nachdem man sich Jahrtausende lang im bloss objektiven Phi- losophieren versucht hatte, entdeckte man, dass unter dem Vielen, was die Welt so räthselhaft und bedenk- lich macht, das Nächste und Erste Dieses ist, dass, so unermesslich und massiv sie auch seyn mag, ihr Da- seyn dennoch an einem einzigen Fädchen hängt: und dieses ist das jedesmalige Bewusstseyn, in welchem sie dasteht. Diese Bedingung, mit welcher das Daseyn der Welt unwiderruflich behaftet ist, drückt ihr, trotz aller empirischen Realität, den Stempel der Idealität und so- mit der blossen Erscheinung auf; wodurch sie, wenig- stens von Einer Seite als dem Traume verwandt, ja als in die selbe Klasse mit ihm zu setzen, erkannt wer- den muss. Denn die selbe Gehirnfunktion, welche, während des Schlafes, eine vollkommen objektive, an- schauliche, ja handgreifliche Welt hervorzaubert, muss eben so viel Antheil an der Darstellung der objektiven Welt des Wachens haben. Beide Welten nämlich sind, wenn auch durch ihre Materie verschieden, doch offen- bar aus Einer Form gegossen. Diese Form ist der In- tellekt, die Gehirnfunktion. — Wahrscheinlich ist Car- tesius der Erste, welcher zu dem Grade von Besinnung gelangte, den jene Grundwahrheit erfordert und, in Folge hievon, dieselbe, wenn gleich vorläufig nur in der Gestalt skeptischer Bedenklichkeit, zum Ausgangs- punkt seiner Philosophie machte. Wirklich war da- durch, dass er das Cogito ergo sum als allein gewiss, das Daseyn der Welt aber vorläufig als problematisch Dahm, der wesentliche und allein richtige Ausgangs- punkt und zugleich der wahre Stützpunkt aller Philo- sophie gefunden. Dieser nämlich ist wesentlich und unumgänglich das Subjektive, das eigene Bewusstseyn. Denn dieses allein ist und bleibt das Unmittelbare: alles Andre, was immer es auch sei, ist durch dasselbe erst vermittelt und bedingt, sonach davon abhängig. Daher geschieht es mit Recht, dass man die Philosophie der Neueren, von Cartesius, als dem Vater derselben, ausgehn lässt. Auf diesem Wege weiter gehend gelangte, nicht lange darauf, Berkeley zum eigentlichen Idea- lismus, d. h. zu der Erkenntniss, dass das im Raum Ausgedehnte, also die objektive, materielle Welt über- haupt, als solche, schlechterdings nur in unserer Vor- stellung existirt, und dass es falsch, ja absurd ist, ihr, als solcher, ein Daseyn ausserhalb aller Vorstellung und unabhängig vom erkennenden Subjekt beizulegen, also eine schlechthin vorhandene an sich seiende Ma- terie anzunehmen. Diese sehr richtige und tiefe Ein- sicht macht aber auch eigentlich Berkeley' s ganze Phi- losophie aus: er hatte sich daran erschöpft. Deinnach muss die wahre Philosophie jedenfalls idealistisch seyn : ja, sie muss es, um nur redlich zu seyn. Denn nichts ist gewisser, als dass Keiner jemals aus sich herauskann, um sich mit den von ihm verschie- denen Dingen unmittelbar zu identifizieren : sondern Alles, wovon er sichere, mithin unmittelbare Kunde, hat, liegt innerhalb seines Rewusstseyns. Ueber dieses hinaus kann es daher keine unmittelbare Gewissheit geben : eine solche aber müssen die ersten Grundsätze einer Wissenschaft haben. Dem empirischen Stand- punkt der übrigen Wissenschaften ist es ganz ange- messen, die objektive Welt als schlechthin vorhanden anzunehmen : nicht so dem der Philosophie, als welche auf das Erste und Ursprüngliche zurückzugehn hat. Nur das Bewusstseyn ist unmittelbar gegeben, daher ist ihre Grundlage auf Thatsachen des Rewusstseyns beschränkt: d. h. sie ist wesentlich idealistisch. — Der Realismus, der sich dem rohen Verstandedadurch emp- fiehlt, dass er sich das Ansehn giebt thatsächlich zu 7 sevn, geht (>eracle von einer willkürlichen Annahme aus und ist mithin ein windiges Luftgehäude, indem er die allererstel'hatsache üherspringt oder verleugnet, diese, dass Alles was wir kennen innerhalb des Be- wusstseyns liegt. Denn, dass das objektive Daseyn der Dinge bedingt sei durch ein sie Vorstellendes, und folg- lich die objektive Welt nur als Voistellung existire, ist keine Hvpothese, noch weniger ein Machtspruch, oder gar ein Disputirens halber aufgestelltes Paradoxon; sondern es ist die gewisseste und einfachste Wahrheit, deren Erkenntniss nur dadurch erschwert wird, dass sie sogar zu einfach ist, und nicht Alle Besonnenheit genug haben, um auf die ersten Elemente ihres Be- wusstseyns von den Dingen zurückzugehen. Nimmer- mehr kann es ein absolut und an sich selbst objektives Daseyn geben ; ja, ein solches ist geradezu undenkbar; denn immer und wesentlich hat das Objektive, als solches, seine Existenz im Bewusstseyn eines Subjekts, ist also dessen Vorstellung, folglich bedingt durch das- selbe und dazu noch durch dessen Vorstellungsformen, als welche dem Subjekt, nicht dem Objekt anhängen. Dass die objektive Welt da wäre, auch wenn gar kein erkennendes Wesen existirte, scheint freilich auf den ersten Anlauf gewiss; weil es sich in abstracto denken lässt, ohne dass der Widerspruch zu Tage käme, den es im Innern trägt. — Allein wenn man diesen ab- strakten Gedanken reo /mre/i,d. h. ihn auf anschauliche Vorstellungen, von welchen allein er doch (wie alles Abstrakte) Gehalt und Wahrheit haben kann, zurück- führen will und demnat h versucht, eine objektive Welt ohne erkennendes Subjekt zu iniaginiren; so wird man inne, dass Das, was man da imaginirt, in Wahrheit das Gegen tbeil von Dem ist, was man beabsichtigte, nämlich nichts Anderes, als eben nur der Vorgang im Intellekt eines Erkennenden, der eine objektive Welt anschaut, also {^erade Das, was man ausschlicssen ge- wollt hatte. Denn diese anschauliche und reale Welt ist offenbar ein Gehirnphänomen: daher liegt ein Wi- derspruch in der Annahme, dass sie auch unabhängig von allen Gehirnen, als eine solche, daseyn sollte. Der Haupteinwand gegen die unumgängliche vmd 8 wesentliche Idealität alles Objekts, der Einwand, der sich in Jedem, deutlichoder undeuthch, regt, ist wohl dieser: Auch meine eigene Person ist Objekt für einen Andern, ist also dessen Vorstellung; und doch weiss ich gewiss, dass ich dawäre, auch ohne dass Jener mich vorstellte. In demselben Verhaltniss aber, in welchem ich zu seinem Intellekt stehe, stehen auch alle andern Objekte zu diesem: folglich wären auch sie da, ohne dass jener Andre sie vorstellte. — Hieraufist die iVnt- wort: Jener Andere, als dessen Objekt ich jetzt meine Person betrachte, ist nicht schlechthin das Subjekt, sondern zunächst ein erkennendes Individuum. Daher, wenn er auch nicht dawäre, ja sogar wenn überhaupt kein anderes erkennendes Wesen als ich selbst existirte; so wäre damit noch keineswegs das .S'ut/eÄ"/ aufgehoben, in dessen Vorstellung allein alle Objekte existiren. Denn dieses Subjekt bin ja eben auch ich selbst, wie jedes Erkennende es ist. Folglich wäre, im angenom- menen Fall, meine Person allerdings noch da, aber wieder als Vorstellung, nämlich in meiner eigenen Erkenntniss. Denn sie wird, auch von mir selbst, immer nur mittelbar nie unmittelbar erkannt : weil alles Vor- stellungseyn ein mittelbares ist. Nämlich als Objekt, d. h. als ausgedehnt, raumerfüllend und wirkend, er- kenne ich meinen Leib nur in der Anschauung meines Gehirns: diese ist vermittelt durch die Sinne, auf deren Data der anschauende Verstand seine Funktion, von der Wirkung auf die Ursache zu gehen, vollzieht, und dadurch, indem das Auge den Leib sieht oder die Hände ihn betasten, die räumliche Figur konstruirt, die im Räume als mein Leib sich darstellt. Keineswegs aber ist mir unmittelbar, etwan im Gemeingefühl des Lei- bes, oder im inneru Selbstbewusstseyn, irgend eine Ausdehnung,Gestalt und Wirksamkeitgegeben, welche dann zusammenfallen würde mit meinem Wesenselbst, das demnach, um so dazuseyn, keines Andern, in dessen Erkenntniss es sich darstellte, bedürfte. Vielmehr ist jenes Gemeingefühl, wie auch das Selbstbewusstseyn, unmittelbar nur in Bezug auf den Willen da, nämlich als behaglich oder unbehaglich, und als aktiv in den Willensakten, welche, für die äussere Anschauung, sich als Leibesaktionen darstellen. Hieraus nun folgt, dass das Daseyn meiner Person oder meines Leibes, als eines ausgedehnten und Wirkenden, allezeit ein da- von verschiedenes Erkennendes voraussetzt: weil es wesentlich ein Daseyn in der Apprehension, in der Vorstellunjf, also ein Daseyn für ein Anderes ist. In der That ist es ein Gehirnpbänomen, {gleichviel ob das Ge- hirn, in welchem es sich darstellt, der ei^^enen, oder einer fremden Person an^jehört. Im ersten Fall zerfällt dann die ei^jene Person in Erkennendes und Erkanntes, in Objekt und Subjekt, die sich hier, wie überall, unzer- trennlich und unvereinbar {jegenüberstehen. — Wenn nun also meine eifjene Person, um als solche dazuseyn, stets eines Erkennenden bedarf; so wird dies wenig- stens eben so sehr von den übrigen Objekten gelten, welchen ein von der Erkenntniss und deren Subjekt unabhängiges Daseyn zu vindiciren, der Zweck des obigen Einwandes war. Inzwischen versteht es sich, dass das Daseyn, welches durch ein Erkennendes bedingt ist, ganz allein das Daseyn im Raum und daher das eines Ausgedehnten und Wirkenden ist: dieses allein ist stets ein erkanntes, folglich ein Daseyn für ein Anderes. Hingegen mag jedes auf diese Weise Daseyende noch eiii Daseyn für sich selbst haben, zu welchem es keines Subjekts be- darf. Jedoch kann dieses Daseyn für sich selbst nicht Ausdehnung und Wirksamkeit (zusammen Raumer- füllung) seyn; sondern es ist noth wendig ein Sevn an- derer Art, nämlich das eines Dinges an sich selbst, welches, eben als solches, nie Objekt sevn kann. — Dies also wäre die Antwort auf den oben dargelegten Haupteinwand, der demnach die Grundwahrheit, dass die objektiv vorhandene Welt nur in der Vorstellung, also nur für ein Subjekt daseyn kann, nicht umstösst. Hier sei noch bemerkt, dass auch Kant unter seinen Dingen an sich, wenigstens so lange er konsequent blieb, keine O^i/fAYe gedacht haben kann. Denndiesgehtschon daraus hervor, dass er bewies, der Raum, wie auch die Zeit, sei eine blosse Form unserer xVnschauung, die fol{jlich nicht den Dingen an sich angehöre. Was nicht im Raum, noch in der Zeit ist, kann auch nicht 10 Objekt seyn: also kann das Seyn der Dinge an sich kein objektives mehr seyn, sondern nur ein (janz anderar- tiges, ein metaphysisches. Folghch he^jt in jenem Kan- tischen Satze auch schon dieser, dass die objektive Welt nur als Vorstellung existirt. Nichts wird so anhaltend, Allem was man sagen mag zum Trotz und stets wieder von Neuem missver- standen, wie der Idealismus, indem er dahin ausgelegt wird, dass man die empirische Realität der Aussenwelt leugne. Hierauf heruht die beständige Wiederkehr der Appellation an den gesunden Verstand, die in mancherlei Wendungen und Verkleidungen auftritt, z. B. ah„Grundiibe}'zeugung^^ in der Schottischen Schule, oder als Jacobischer Glaube an die Realität der Aussen- welt. Keineswegs giebt sich, wie Jacobi es darstellt, die Aussenwelt bloss auf Kredit und wird von uns auf Treu und Glauben angenommen: sie giebt sich als das was sie ist, und leistet unmittelbar was sie ver- spricht. Man muss sich erinnern, dass Jacobi, der ein solches Kreditsystem der Welt aufstellte und es glück- lich einigen Philosophieprofessoren aufband, die es dreissig Jahre lang ihm behaglich und breit nachphi- losophirt haben, der selbe war, der einst Lessingen als Spinozisten und später Schellingen als Atheisten de- nunzirte, von welchemLetzteren er die bekannte, wohl- verdiente Züchtigung erhielt. Solchem Eifer gemäss wollte er, indem er die Aussenwelt zur Glaubenssache herabsetzte, nur das Pförtchen für den Glauben über- haupt eröffnen und den Kredit vorbereiten für Das, was nachher wirklich auf Kredit an den Mann gebracht werden sollte: wie wenn man, um Papiergeld einzu- führen, sich darauf berufen wollte, dass der Werth der klingenden Münze doch auch nur auf dem Stempel beruhe, den der Staat darauf gesetzt hat. Jacobi, in seinem Philosophem über die auf Glauben angenom- mene Realität der Aussenwelt, ist ganz genau der von Kant (Kritik der reinen Vernunft, erste Auflage, S. 869) getadelte „transscendentale Realist, der den empiri- schen Idealisten spielt." — Der wahre Idealismus hingegen ist eben nicht der empirische, sondern der transscendentale. Dieser lässt 1 I die empirische Realität der Welt unangetastet, hält aber fest, dass alles Objekt^ also das empirisch Reale überhaupt, durch das Subjekt zwiefach bedingt ist: erstlich inateriell, oder als Objekt überhaupt, weil ein objektives Daseyn nur einem Subjekt gegenüber und als dessen Vorstellung denkbar ist; zweitens formell, indem die Art und Weise der Existenz des Objekts, d. h. des Vorgestelltwerdens (Raum, Zeit, Kausalität), vom Subjekt ausgeht, im Subjekt prädisponirt ist. Also an den einfachen oder Berkeley sehen Idealismus, wel- cher das Objekt überhaupt betrifft, schliesst sich un- mittelbar der Kantische, welcher die speciell gegebene Jrt und Weise des Objektseyns betrifft. Dieser weist nach, dass die gesammte materielle Welt, mit ihren Körpern im Raum,welche ausgedehnt sind und, mittelst der Zeit, Kausalverhältnisse zu einander haben, und was dem anhängt, — dass dies Alles nicht ein unab- hängig von unserm Kopfe Vorhandenes sei; sondern seine Grundvoraussetzungen habe in unsern Gehirn- funktionen, mittelst welcher und in welchen allein eine solche objektive Ordnung der Dinge möglich ist ; weil Zeit, Raum und Kausalität, aufweichen alle jene rea- len und objektiven Vorgänge beruhen, selbst nichts weiter, als P'unktionen des Gehirnes sind; dass also jene unwandelbare Ordnung der Dinge, welche das Kriterium und den Leitfaden ihrer empirischen Rea- lität abgiebt, selbst erst vom Gehirn ausgeht und von diesem allein ihre Kreditive hat: dies hat Kant aus- führlich und gründlich dargethan; nur dass er nicht das Gehirn nennt, sondern sagt: „das Erkenntnissver- mögen". Sogar hat er zu beweisen versucht, dass jene objektive Ordnung in Zeit, Raum, Kausalität, Materie u. s. f., auf welcher alle Vorgänge der realen Welt zuletzt beruhen, sich als eine für sich bestehende, d. h. als Ordnung der Dinge an sich selbst, oder als et- was absolut Objektives und schlechthin Vorhandenes, genau betrachtet, nicht ein Mal denken lässt, indem sie, wenn man versucht sie zu Ende zu denken, auf W^idersprüche leitete. Dies darzuthun war die Absicht der Antinomien: jedoch habe ich, im Anhange zu meinem Werke, das Misslingen des Versuches nach- 12 gewiesen. — Hingegen leitet die Kantische Lehre, auch ohne die Antinomien, zu der Einsicht, dass die Dinge und die ganze Art und Weise ihres Daseyns mit unserm Bewusstseyn von ihnen unzertrennhch verknüpft sind ; daher wer Dies deuthch begriffen hat, bald zu der Ueberzeugung gelangt, dass die Annahme, die Dinge existirten als solche auch ausserhalb unsers Bewusstseyns und unabhängig davon, wirklich absurd ist. Dass wir nämlich so tief eingesenkt sind in Zeit, Raum, Kausalität und den ganzen darauf beruhenden gesetzmässigen Hergang der Erfahrung, dass wir (ja sogar die Thiere) darin so vollkommen zu Hause sind und uns von Anfang an darin zurecht zu finden wis- sen, — Dies wäre nicht möglich, wenn unser Intellekt Eines und die Dinge ein Anderes wären; sondern ist nur daraus erklärlich, dass Beide ein Ganzes ausma- chen, der Intellekt selbst jene Ordnung schafft und er nur für die Dinge, diese aber auch nur für ihn da sind. Allein selbst abgesehn von den tiefen Einsichten, welche nur die Kantische Philosophie eröffnet, lässt sich die UnStatthaftigkeit der so hartnäckig festgehal- tenen Annahme des absoluten Realismus auch wohl unmittelbar nachweisen, oder doch wenigstens fühl- bar machen, durch die blosse Verdeutlichung ihres Sinnes, mittelst Betrachtungen, wie etwan folgende. — Die Welt soll, dem Realismus zufolge, so wie wir sie erkennen, auch unabhängig von diesem Erkennen da- seyn. Jetzt wollen wir ein Mal alle erkennenden Wesen daraus wegnehmen, also bloss die unorganische und die vegetabilische Natur übrig lassen. Fels, Baum und Bach sei da und blauer Himmel: Sonne, Mond und Sterne erhellen diese Welt, wie zuvor; nur freilich ver- geblich, indem kein Auge da ist, solche zu sehn. Nun- mehr aber wollen wir, nachträglich, ein erkennendes Wesen hineinsetzen. Jetzt also stellt, in dessen Gehirne, jene Welt sich nochmals dar und wiederholt sich inner- halb desselben, genau eben so, wie sie vorher ausser- halb war. Zur ersten Welt ist also jetzt eine zweite ge- kommen, die, obwohl von jener völlig getrennt, ihr auf ein Haar gleicht. Wie im objektiven endlosen Raum die objektive Welt, genau so ist jetzt im subjektiven, i3 erkannten Raum die 5uft/eÄ-f?W Welt dieser Anschauung beschaffen. Die letztere hat aber vor der erstem noch die Erkenntnis« voraus, dass jener Raum, da draussen, endlos ist, sojjar auch kann sie die {janze Gesetzmässig- keit aller in ihm möglichen und noch nicht wirklichen Verhältnisse haarklein und richtig angeben, zum vor- aus, und braucht nicht erst nachzusehen: eben so viel giebt sie über den Lauf der Zeit an, wie auch über das Verhältniss von Ursach und Wirkung, welches da draussen die Veränderungen leitet. Ich denke, dass dies Alles, bei näherer Retrachtung, absurd genug aus- fällt und dadiu'ch zu der Ueberzeugung führt, dass jene absolut objektive Welt, ausserhalb des Kopfes, unabhängig von ihm und vor aller Erkenntniss, wel- che wir zuerst gedacht zu haben wähnten, eben keine andere war, als schon die zweite, die subjektiv erkannte, die Welt der Vorstellung, als welche allein es ist, die wir wirklich zu denken vermögen. Demnach drängt sich von selbst die Annahme auf, dass die Welt, so wie wir sie erkennen, auch nur für unsere Erkenntniss da ist, mithin in der Vorstellung allein, und nicht noch ein Mal ausser derselben. Dieser Annahme entspre- chend ist sodann das Ding an sich, d. h. das von un- serer und jeder Erkenntniss unabhängig Daseyende, als ein von der Vorstellung und allen ihren Attributen, also von der Objektivität überhaupt, gänzlich Ver- schiedenes zu setzen: was dieses sei, wird nachher das Thema unsers zweiten Ruches. Hingegen auf der so eben kritisirten Annahme einer objektiven und einer subjektiven Welt, beideim Räume, und auf der bei dieser Voraussetzung entstehenden Unmöglichkeit eines Ueberganges, einer Rrücke, zwi- schen beiden, beruht der, §. 5 des ersten Randes*), in Retracht gezogene Streit über die Realität der Aussen- welt; hinsichtlich auf welchen ich noch Folgendes beizubringen habe. Das Subjektive und das Objektive bilden kein Kon- tinuum : das unmittelbar Rewusste ist abgegränzt durch die Haut, oder vielmehr durch die äussersten Enden der vom Cerebralsystem ausgehenden Nerven. Dar- •) S. i5 d. Ausg. ■ 4 über hinaus liegt eine Welt, von der wirkeine andere Kunde haben, als durch Bilder in unserm Kopfe. Ob nun und inwiefern diesen eine unabhängig von uns vorhandene Welt entspreche, ist die Frage. Die Be- ziehung zwischen Beiden könnte allein vermittelt wer- den durch das Gesetz der Kausalität: denn nur dieses führt von einem Gegebenen auf ein davon ganz Ver- schiedenes. Aber dieses Gesetz selbst hat zuvörderst seine Gültigkeit zu beglaubigen. Es muss nun entweder objektiven^ oder subjektiven Ursprungs seyn: in beiden Fällen aber liegt es auf dem einen oder dem andern Ufer, kann also nicht die Brücke abgeben. Ist es, wie Locke und Harne annahmen, a posteriori, also aus der Erfahrung abgezogen; so ist es objektiven Ursprungs, gehört dann selbst zu der in Frage stehenden Aussen- welt und kann daher ihre Realität nicht verbürgen: denn da würde, nach Locke's Methode, das Kausalitäts- gesetz aus der Erfahrung, und die Realität der Erfah- rung aus dem Kausalitätsgesetz bewiesen. Ist es hin- gegen, wie Kant uns richtiger belehrt hat, a priori gegeben; so ist es subjektiven Ursprungs, und dann ist klar, dass wir damit stets im Subjektiven bleiben. Denn das einzige wirklich ew^j'mcA Gegebene, bei der Anschauung, ist der Eintritt einer Empfindung im Sinnesorgan: die Voraussetzung, dass diese, auch nur überhaupt, eine Ursache haben müsse, beruht auf einem in der Form unsers Erkennens, d. h. in den Funktionen unsers Gehirns, wurzelnden Gesetz, dessen Ursprung daher eben so subjektiv ist, wie jene Sinnes- empfindung selbst. Die in Folge dieses Gesetzes zu der gegebenen Empfindung vorausgesetzte Ursache stellt sich alsbald in der Anschauung dar als Objekt, welches Raum und Zeit zur Form seines Erscheinens hat. Aber auch diese Formen selbst sind wieder ganz subjektiven Ursprungs: denn sie sind die Art und Weise unsers Anschauungsvermögens. Jener Übergang von der Sinnesempfindung zu ihrer Ursache, der, wieich wie- derholentlich dargethan habe, aller Sinnesanschauung zum Grunde liegt, ist zwar hinreichend, uns die empi- rische Gegenwart, in Raum und Zeit, eines empirischen Objekts anzuzeigen, also völlig genügend für das prak- i5 tische Leben ; aber er reicht keineswe^js hin, uns Auf- schluss zu {^eben über das Daseyn und Wesen an sich der auf sobhe Weise Ir'ür uns entstehenden Erschei- nungen, oder vielmehr ihres inteUigibeln Substrats. Dass also auf Anlass gewisser, in meinen Sinnesorganen eintretender Empfindungen, in meinem Kopfe eine yinschamtng von räumlich ausgedehnten, zeitlich be- harrenden, und ursächlich wirkenden Dingen entsteht, berechtigt mich durchaus nicht zu der Annahme, dass auch an sich selbst, d. h. unabhängig von meinem Kopfe und ausser demselben dergleichen Dinge mit solchen ihnen schlechthin angehörigen Eigenscbaften existiren. - — Dies ist das richtige Ergebniss der Kanti- schen Philosophie. Dasselbe knüpft sich an ein früheres, eben so richtiges, aber sehr viel leichter fassliches Resul- tat Locke s. Wenn nämlich auch, wie Locke s Lehre es zulässt, zu den Sinnesempfindungen äussere Dinge als ihre Ursachen schlechthin angenommen werden; so kann doch zwischen der Empfindung^ in welcher die Wirkung besteht, und der objektiven Beschaffenheit der sie veranlassenden Ursache gar keine ^Ähnlichkeit seyn; weil die Empfindung, als organische Funktion, zunächst bestimmt ist durch die sehr künstliche und komplizirte Beschaffenheit unserer Sinneswerkzeuge, daher sie von der äussern Ursache bloss angeregt, dann aber ganz ihren eigenen Gesetzen gemäss vollzogen wird, also völlig subjektiv ist. — Locke's Philosophie war die Kritik der Sinnesfunktionen: Kant aber hat die Kritik der Gehirnfunktionen geliefeit. — Nun aber ist diesem Allen noch das Berkeley sehe, von mir er- neuerte Resultat unterzubreiten, dass nämlich alles Objekt, welchen Ursprung es auch haben möge, schon als Objekt durch das Subjekt bedingt, nämlich wesent- lich bloss dessen Vorstellung ist. Der Zielpunkt des Realismus ist eben das Objekt ohne Subjekt: aber ein solches auch nur klar zu denken ist unmöglich. Aus dieser ganzen Darstellung geht sicher und deut- lich hervor, das die Absicht, das JVesen an sich der Dinge zu erfassen, schlechthin unerreichbar ist auf dem Wege der blossen Erkenntniss und Forstellung; weil diese stets von aussen zu den Dingen kommt und l6 daher ewig draussen bleiben muss. Jene Absicht könnte allein dadurch erreicht werden, dass wi?' selbst uns im Innern der Dinge befänden, wodurch es uns unmittel- bar bekannt würde. Inwiefern dies nun wirklich der Fall sei, betrachtet mein zweites Buch. So lange wir aber, wie in diesem ersten Buche, bei der objektiven Auffassung, also bei der Erkemitniss, stehen bleiben, ist und bleibt uns die Welt eine blosse Vorstellimg, weil hier kein Weg möglich ist, der darüber hinaus- führte. Ueberdies nun aber ist das Festhalten des ideali- Ä/iscAen Gesichtspunktes ein notwendiges Gegengewicht gegen den materialistischen. Die Kontroverse über das Reale und Ideale lässt sich nämlich auch ansehen als betreffend die Existenz der Materie. Denn die Realität, oder Idealität dieser ist es zuletzt, um die gestritten wird . Ist die Materie als solche bloss in unserer Vorstellung vorhanden; oder ist sie es auch unabhängig davon? Im letzteren Falle wäre sie das Ding an sich, und wer eine an sich existirende Materie annimmt, muss, kon- sequent, auch Materialist sein, d. h. sie zum Erklärungs- prinzip aller Dinge machen. Wer sie hingegen als Ding an sich leugnet, ist eo ipso Idealist. Geradezu und ohne Umweg die Realität der Materie behauptet hat, unter den Neueren, nnv Locke: daher hat seine Lehre, unter Condillacs Vermittelung, zum Sensualismus und Materialismus der Franzosen geführt. Geradezu und ohne Modifikationen geleugnet hat die Materie nur^er- keley. Der durchgeführte Gegensatz ist also Idealismus und Materialismus, in seinen Extremen repräsentirt durch Berkeley und die französischen Materialisten {Holbach). Fichte ist hier nicht zu erwähnen: er ver- dient keine Stelle unter den wirklichen Philosophen, unter diesen Auserwählten der Menschheit, die mit hohem Ernst nicht ihre Sache, sondern die Wahrheit suchen und daher nicht mit Solchen verwechselt wer- den dürfen, die unter diesem Vorgeben bloss ihr per- sönliches Fortkommen im Auge haben. Fichte ist der Vater der Schein-Philosophie, der unredlichen Methode, welche durch Zweideutigkeit im Gebrauch der Worte, durch unverständliche Reden und durch Sophismen 2 Schopenhauer II ^ 7 zu täuschen, dabei durch einen vornehmen Ton zu iniponiren, also den Lernbejjierigen zu übertölpeln sucht; ihren Gipfel hat diese, nachdem auch Schelling sie angewandt hatte, bekanntlich in Hegeln erreicht, als woselbst sie zur eigentlichen Scharlatanerie her- angereift war. Wer aber selbst niu' jenen Fichte ganz ernsthaft neben Kant nennt, beweist, dass er keine Ahndung davon hat, was Kant sei. — Hingegen hat auch der Materialismus seine Berechtigung. Es ist eben so wahr, dass das Erkennende ein Produkt der Materie sei, als dass die Materie eine blosse Vorstellung des Erkennenden sei : aber es ist auch eben so einseitig. Denn der Materialismus ist die Philosophie des bei seiner Rechnung sich selbst vergessenden Subjekts. Darum eben muss der Behauptung, dass ich eine blosse Modifikation der Materie sei, gegenüber, diese geltend gemacht werden, dass alle Materie bloss in meiner Vorstellung existire: und sie hat nicht minder Recht. Einenoch dunkle Erkenntnis dieserVerhältnissescheint den Platonischen Ausspruch uXt] aXrjdivov (j^suoo? (ma- tcria mendacium verax) hervorgerufen zu haben. Der Realismus führt, wie gesagt, notwendig zum Materialismus. Denn liefert die empirische Anschau- ung die Dinge an sich, wie sie unabhängig von unserm Erkennen da sind; so liefert auch die Erfahrung die Ordnung der Dinge an sich, d. h. die wahre und alleinige Weltordnunjf. Dieser W^eg aber führt zu der Annahme, dass es nur em Ding an sich gebe, die Ma- terie, deren Modifikation alles Uebrige sei; da hier der Naturlauf die absolute und alleinige Weltordnung: ist. Um diesen Konsequenzen auszuweichen, wurde, so lange der Realismus in unangefochtener Geltung war, dev Spiritualismus aufgestellt, also die Annahme einer zweiten Substanz, ausser und neben der Materie, einer immateriellen Substanz. Dieser von Erfahrung, Beweisen und Begreiflichkeit gleich sehr verlassene Dualismus und Spiritualismus wurde von Spinoza geleugnet und von Kant als falsch nachgewiesen, der dies durfte, weil er zugleich den Idealismus in seine Rechte ein- setzte. Denn mit dem Realismus fällt der Materialis- mus, als dessen Gegengewicht man den Spiritualismus i8 ersonnen hatte, von selbst weg, indem alsdann die Materie, nebst dem Naturlauf, zur blossen Erscheinung wird, welche durch den Intellekt bedingt ist, indem sie in dessen Vorstellung allein ihr Dasein hat. Sonach ist gegen den Materialismus das scheinbare und falsche Rettungsmittel der Spiritualismus, das wirkliche und wahre aber der Idealismus, der dadurch, dass er die objektive Welt in Abhängigkeit von uns setzt, das nötige Gegengev^^icht gibt zu der Abhängigkeit, in welche der Naturlauf uns von ihr setzt. Die Welt, aus der ich durch den Tod scheide, war andrerseits nur meine Vorstellung. Der Schwerpunkt des Daseins fällt ins Subjekt zurück. Nicht, wie im Spiritualismus, die Unabhängigkeit des Erkennenden von der Materie, sondern die Abhängigkeit aller Materie von ihm wird nachgewiesen. P'reilich ist das nicht so leicht fasslich und bequem zu handhaben, wie der Spiritualismus mit seinen zwei Substanzen: aber yaksTza xa xaXa. Allerdings nämlich steht dem subjektiven Ausgangs- punkt ,,die W^elt ist meine Vorstellung" vorläuiig mit gleicher Berechtigung gegenüber der objektive „die Welt ist Materie", oder „die Materie allein ist schlecht- hin" (da sie allein dem Werden und Vergehen nicht unterworfen ist), oder „alles Existirende ist Materie". Dies ist der Ausgangspunkt des Demokritos,Leukippos und Epikuros. Näher betrachtet aber bleibt dem Aus- gehen vom Subjekt ein wirklicher Vorzug: es hat einen völlig berechtigten Schritt voraus. Nämlich das Be- wusstseyn allein ist das Unmittelbare : dieses aber über- springen wir, wenn wir gleich zur Materie gehen und sie zum Ausgangspunkt machen. Andererseits müsste es möglich seyn, aus der Materie und den richtig, voll- ständig und erschöpfend erkannten Eigenschaften der- selben (woran uns noch viel fehlt) die Welt zu kon- struiren. Denn alles Entstandene ist durch Ursachen wirklich geworden, welche nur vermöge der Grund- kräfte der Materie wirken und zusammenkommen konnten : diese aber müssen wenigstens objective voll- ständig nachweisbar seyn, wenn wir auch subjective nie dahin kommen werden, sie zu erkennen. Immer aber würde einer solchen Erklärung und Konstruktion 19 der Welt nicht nur die Voraussetzung^ eines Daseyns an sich der Materie (während es in Wahrheit durch das Subjekt l)edinfjt ist) zum Grunde liegen; sondern sie müsste auch noch an dieser Materie alle ihre ur- sprünglichen Eigenschaften als schlechthin unerklär- liche, also als qualitates occultae, gelten und stehen lassen. (Siehe §. 26, 27 des ersten Bandes*).) Denn die Materie ist nur der Träger dieser Kräfte, wie das Ge- setz der Kausalität nur der Ordner ihrer Erscheinun- gen. Mithin würde eine solche Erklärung der Welt doch immernur eine relative und bedingte seyn, eigent- lich das Werk einer Physik, die sich bei jedem Schritte nach einer Metaphysik sehnte. — Andererseits hat auch der subjektive Ausgangspunkt und Ursatz „die Welt ist meine Vorstellung" sein Inadäquates: theils sofern er einseitig ist, da die Welt doch ausserdem noch viel mehr ist (nämlich Ding an sich, Wille), ja, das V^orstellungseyn ihr gewissermaassen accidentell ist; theils aber auch, sofern er bloss das Bedingtseyn des Objekts durch das Subjekt ausspricht, ohne zu- gleich zu besagen, dass auch das Subjekt als solches durch das Objekt bedingt ist. Denn eben so falsch wie der Satz des rohen Verstandes, „die Welt, das Objekt, wäre doch da, auch wenn es kein Subjekt gäbe", ist dieser: „das Subjekt wäre doch ein Erken- nendes, wenn es auch kein Objekt, d. h. gar keine Vorstellung hätte". Ein Bewusstseyn ohne Gegenstand ist kein Bewusstseyn. Ein denkendes Subjekt hat Be- griffe zu seinem Objekt, ein sinnlich anschauendes hat Objekte mit den seiner Organisation entsprechen- den Qualitäten. Berauben wir nun das Subjekt aller näheren Bestimmungen und Formen seines Erkennens; so verschwinden auch am Objekt alle Eigenschaften, und nichts bleibt übrig, als die Materie ohne Form und Qualität, welche in der Erfahrung so wenig vor- kommen kann, wie das Subjekt ohne Formen seines Erkennens, jedoch dem nackten Subjekt als solchem gegenüber stehen bleibt, als sein Reflex, der nur mit ihm zu{;leich verschwinden kann. Wenn auch der Materialismus nichts weiter als diese Materie, etwan *) S. i6<j u. I 72 (1. Aiisp. 20 Atome, zu postuliren wähnt; so setzt er doch unbe- wusst nicht nur das Subjekt, sondern auch Raum, Zeit und KausaHtät hinzu, die auf speciellen Bestimmungen des Subjekts beruheu. Die Welt als Vorstellung, die objektive Welt, hat also gleichsam zwei Kugel-Pole: nämlich das erken- nende Subjekt schlechthin, ohne die Formen seines Erkennens, und dann die rohe Materie ohne Form und Qualität. Beide sind durchaus unerkennbar: das Subjekt, weil es das Erkennende ist; die Materie, weil sie ohne Form und Qualität nicht angeschaut werden kann. Dennoch sind beide die Grundbedingungen aller empirischen Anschauung. So steht der rohen, form- losen, ganz todten (d. i. willenslosen) Materie, die in keiner Erfahrung gegeben, aber in jeder vorausgesetzt wird, als reines Widerspiel gegenüber das erkennende Subjekt, bloss als solches, welches ebenfalls Voraus- setzung aller Erfahrung ist. Dieses Subjekt ist nicht in der Zeit: denn die Zeit ist erst die nähere Form alles seines Vorstellens; die ihm gegenüberstehende Materie ist, dem entsprechend, ewig unvergänglich, beharrt durch alle Zeit, ist aber eigentlich nicht ein- mal ausgedehnt, weil Ausdehnung Form giebt, also nicht räumlich. Alles Andere ist in beständigem Ent- stehen und Vergehen begriffen, während jene beiden die ruhenden Kugel-Pole der Welt als Vorstellung darstellen. Man kann daher die Beharrlichkeit der Materie betrachten als den Reflex der Zeitlosigkeit des reinen, schlechthin als Bedingung alles Objekts ange- nommenen Subjekts. Beide gehören der Erscheinung an, nicht dem Dinge an sich: aber sie sind das Grund- gerüst der Erscheinung. Beide werden nur durch Ab- straktion herausgefunden, sind nicht unmittelbar rein und für sich gegeben. Der Grundfehler aller Systeme ist das Verkennen dieser Wahrheit, dass der Intellekt und die Materie Korrelata sind, d. h. Eines nur für das Andere da ist, Beide mit einander stehen und fallen. Eines nur der Reflex des Andern ist, ja, dass sie eigentlich Eines und dasselbe sind, von zwei entgegengesetzten Seiten be- trachtet; welches Eine, was ich hier anticipire, — die 2 I Erscheinxinjj des Willens, oder Dinges an sich ist; dass mithin beide sekundär sind: daher der Ursprung der Welt in keinem von Beiden zu suchen ist. A her in Folge jenes Verkennens suchten alle Systeme (den Spinozis- mus etwan ausgenonnnen) den Ursprung aller Dinge in einem jener lieiden. Sie setzen nämlich entweder einen Intellekt, vou?, als schlechthin Erstes und orj- jjLioup'j'o«;, lassen denmach in diesem eine Voistelliaig der Dinge imd der Welt vor der Wirklichkeit der- selben vorliergeben : mithin unterscheiden sie die reale Welt von der Welt als Vorstellung; welches falsch ist. Daher tritt jetzt als Das, wodurch Beide unter- schieden sind, die Mateiie auf, als ein Ding an sich. Hieraus entsteht die Verlegenheit, diese Materie, die uXt], herbeizuschaffen, damit sie zur blossen Vorstel- lung der Welt hinzukommend, dieser Realität ertheile. Da muss nun entweder jener ursprüngliche Intellekt sie vorfinden: dann ist sie, so gut wie er, ein absolut Erstes, und wir erhalten zwei absolut Erste, den or^- ijLioupYo; und die uXt]. Oder aber er bringt sie aus nichts hervor; eine Annahme, der unser Verstand sich widersetzt, da er nur Veränderungen an der Materie, nicht aber ein Entstehen oder Vergehen derselben zu fassen fähig ist; welches im Grunde gerade darauf be- ruht, dass die Materie sein wesentliches Korrelat ist. — Die diesen Systemen entgegengesetzten, welche das andere der beiden Korrelate, also die Materie, zum absolut Ersten machen, setzen eine Materie, die da- wäre, ohne vorgestellt zu werden, welches, wie aus allem oben Gesagten genugsam erhellt, ein gerader Widerspruch ist; da wir im Daseyn der Materie stets mu" ihr Vorgesfelltwerden denken. Danach aber ent- steht ihnen die Verlegenheit, zu dieser Materie, die allein ihr absolut Erstes ist, den Intellekt hinzuzu- bringen, der endlich von ibr erfahren soll. Diese Blosse des Materialismus habe ich §. 7 des ersten Bandes*) ge- schildert. — Bei mir hingegen sind Materie und In- tellekt unzertrennliche Korrelata, nur für einander, daber nur relativ, da: die Materie ist die Vorstellung des Intellekts; der Intellekt ist das, in dessen Vorstel- •) S. 3i d. A. 22 lung allein die Materie existirt. Beide zusammen ma- chen die Welt als Vorstellung aus, welche eben Kants Erscheinung^ mithin ein sekundäres ist. Das Primäre ist das Erscheinende, das Ding an sich selbst, als wel- ches wir nachher den Willen kennen lernen. Dieser ist an sich weder Vorstellendes, noch Vorgestelltes; sondern von seiner Erscheinungsweise völlig verschie- den. Zum nachdrücklichen Schluss dieser so wichtigen, wie schwierigen Betrachtung will ich jetzt jene beiden Abstrakta ein Mal personificirt und im Dialog auf- treten lassen, nach dem Vorgang des Prabodha Tschan- dro Daya: auch kann man damit einen ähnlichen Dialog der Materie mit der Form in des Raimund Lullius Duodecim principia philosophiae, c. i et 2, vergleichen. Das Subjekt. Ich bin, und ausser mir ist nichts. Denn die Welt ist meine Vorstelkmg. Die Materie. Vermessener Wahn ! Ich, ich bin : und ausser mir ist nichts. Denn die Welt ist meine vorübergehende Form. Du bist ein blosses Resultat eines Teiles dieser Form und durchaus zufällig. Das Subjekt. Welch thörichter Dünkel! Weder du noch deine Form wären vorhanden ohne mich: ihr seyd durch mich bedingt. Wer mich wegdenkt und dann glaubt euch noch denken zu können, ist in einer groben Täuschung begriffen: denn euer Daseyn ausserhalb meiner Vorstellung ist ein gerader Widerspruch, ein Sideroxylon. Ihr seyd heisst eben nur, ihr werdet von mir vorgestellt. Meine Vorstellung ist der Ort eures Daseyns: daher bin ich die erste Bedingung desselben. Die Materie. Zum Glück wird die Vermessenheit deiner Behaup- tung bald auf eine reale Weise widerlegt werden und nicht durch blosse Worte. Noch wenige Augenblicke, und du — bist wirklich nicht mehr, bist mit sammt 23 deiner Grosssprecherei ins Nichts versunken, hast, nach Schatten -Weise, vorüber{;eschwebt und das Schick- sal jeder meiner vergänglichen F'ormen erhtten. Ich aber, ich bleibe, unverletzt und unvermindert, von Jahrtausend zu Jahrtausend, die unendliche Zeit hin- durch, und schaue unerschüttert dem Spiel des Wech- sels meiner Formen zu. Das Subjekt. Diese unendliche Zeit, welche zu durchleben du dich rühmst, ist, wie der unendliche Raum, den du füllst, bloss in meiner Vorstellung vorhanden, ja, ist blosse Form meiner Vorstellung, die ich fertig in mir trage, und in der du dich darstellst, die dich aufnimmt, wodurch du allererst dabist. Die Vernichtung aber, mit der du mir drohest, trifft nicht tiiich; sonst wärst du tnit vernichtet: vielmehr trifft sie bloss das Indi- viduum, welches auf kurze Zeit mein Träger ist und von mir vorgestellt wird, wie alles Andere. Die Materie. Und wenn ich dir dies zugestehe und darauf ein- gehe, dein Daseyn, welches doch an das dieser vergäng- lichen Individuen unzertrennlich geknüpft ist, als ein für sich l)estehendes zu betrachten ; so bleibt es den- noch von dem nieinigen abhängig. Denn du bist Sub- jekt nur sofern du ein Objekt hast: und dieses Objekt bin ich. Ich bin dessen Kern und Gehalt, das Blei- bende darin, welches es zusammenhält und ohne wel- ches es so unzusammenhängend wäre und so wesen- los verschwebte, wie die Träume und Phantasien deiner Individuen, die selbst ihren Scheingehalt doch noch von mir geborgt haben. Das Subjekt. Du thust wohl, mein Daseyn mir deshalb, dass es an die Individuen geknüpft ist, nicht abstreiten zu wollen: denn so unzertrennlich, wie ich an diese, bist du an deine Schwester, die Form, gekettet, und bist noch nie ohne sie erschienen. Dich Avie mich, hat nackt und isolirt noch kein Auge gesehen: denn beide sind wir nur Abstraktionen. Ein Wesen ist es im 24 Grunde, das sich selbst anschaut und von sich selbst angeschaut wird, dessen Seyn an sich aber weder im Anschauen noch im Angeschautwerden bestehen kann, da diese zwischen uns Beide vertheilt sind. Beide. So sind wir denn unzertrennlich verknüpft, als notli- wendige Theile eines Ganzen, das uns Beide umfasst und durch uns besteht. Nur ein Missverständniss kann uns Beide einander feindlich gegenüber stellen und dahin verleiten, dass Eines des Andern Daseyn be- kämpft, mit welchem sein eigenes steht und fällt. Dieses Beide umfassende Ganze ist die Welt als Vor- stellung, oder die Erscheinung. Nach deren Weg- nahme bleibt nur noch das rein Metaphysische, das Ding an sich, welches wir im zweiten Buche als den Willen erkennen werden. KAPITEL 2. ZUR LEHRE VON DER ANSCHAUENDEN, ODER VERSTANDES-ERKENNTNISS. BEI aller transscendentalen Idealität behält die ob- jektive Welt emph'ische Realität: das Objekt ist zwar nicht Ding an sich; aber es ist als empirisches Objekt real. Zwar ist der Raum nur in meinem Kopf; aber empirisch ist mein Kopf im Raum. Das Kausali- tätsgesetz kann zwar nimmermehr dienen, den Idea- lismus zu beseitigen, indem es nämlich zwischen den Dingen an sich und unserer Erkenntniss von ihnen eine Brücke bildete und sonach der in Folge seiner Anwendung sich darstellenden Welt absolute Reali- tät zusicherte: allein Dies hebt keineswegs das Kau- salverhältniss der Objekte unter einander, also auch nicht das auf, welches zAvisclien dem eijjenen Leibe jedes Erkennenden und den ühii{jen materiellen Ob- jekten unstreiti{j Statt hat. Aber das Kausalitäts^jesetz verbindet bloss die Erscheinunjjen, führt hingegen nicht über sie hinaus. Wir sind und bleiben mit dem- selben in der Welt der Objekte, d. h. der Erschei- nungen, also eijjentlich der Vorstellungen. Jedoch bleibt das Ganze einer solchen Erfahrungswelt zu- nächst durch die Erkenntniss eines Subjekts über- haupt, als nothwendige Voraussetzung derselben, vmd sodann diu'ch die speciellen Formen unserer Anschau- inig und Apprehension bedingt, fallt also nothwendig der blossen Erscheiuunfj anheim und hat keinen An- spruch, für die Welt der Dinge an sich selbst zu gel- ten. Sogar das Subjekt selbst (sofern es bloss Erken- nendes ist) gehört der blossen Erscheinung an, deren ergänzende andere Hälfte es ausmacht. Ohne Anwendung desGesetzes der Kausalität könnte es inzwischen nie zur Anschauung einer objektiven Welt kommen: denn diese Anschauung ist, wie ich oft auseinandergesetzt habe, wesentlich inlelleldiial und nicht ])loss sensual. Die Sinne geben blosse Emp- findung, die noch lange keine Anschauung ist. Den Antheil der Sinnesempfindung an der Anschauung sonderte Locke aus, unter dem Namen der sekundären Qualitäten, welche er mit Recht den Dingen an sich selbst absprach. Aber Kant, Lockens Methode weiter führend, sonderte überdies aus und sprach den Dingen an sich ab was der Vei-arheitung jenes Stoffes (der Sinnesemj)findung) durch das Gehirn angehört, und da ergab sich, dass hierin alles Das begriffen war, was Locke, als primäre Qualitäten, den Dingen an sich ge- lassen hatte, nämlich Ausdehnung, Gestalt, Solidität u. s. w., wodurch bei Kant das Ding an sich zu einem völlig Unbekannten = x wird. Bei Locke ist demnach das Ding an sich zwar ein Farbloses, Klangloses, Ge- ruchloses, Geschmackloses, ein weder Warmes, noch Kaltes, weder Weiches noch Hartes , weder Glattes noch Rauhes; jedoch bleibt es ein Ausgedehntes, Ge- staltetes, Undurchdringliches, Ruhendes oder Beweg- tes, und Maass und Zahl Habendes. Hingegen bei Kant 26 hat es auch diese letzteren Eigenschaften sämmtHch abgelegt; weil sie nur mittelst Zeit, Raum und Kau- salität möglich sind, diese aber aus unserm Intellekt (Gehirn) eben so entspringen, wie Farben, Töne, Ge- rüche u. s. w. aus den Nerven der Sinnesorgane. Das Ding an sich ist bei7irt?i< eiuRaumloses, ünausgedehntes, Unkörperliches geworden. Was also zur Anschauung, in der die objektive Welt dasteht, die blossen Sinne liefern, verhält sich zu Dem, was dazu die Gehirn- funktion liefert (Raum, Zeit, Kausalität), wie die Masse der Sinnesnerven zur Masse des Gehirns, nach Abzug desjenigen Theiles von dieser, der überdies zum ei- gentlichen Denken, d. h. dem abstrakten Vorstellen, verwendet wird und daher den Thieren abgeht. Denn, verleihen die Nerven der Sinnesorgane den erschei- nenden Objekten Farbe, Klang, Geschmack, Geruch, Temperatur u. s. w.; so verleiht das Gehirn denselben Ausdehnung, Form, Undurchdringlichkeit, Beweglich- keit u. s. w., kurz Alles, was erst mittelst Zeit, Raum und Kausalität vorstellbar ist. Wie gering bei der An- schauung der Antheil der Sinne ist, gegen den des Intellekts, bezeugt also auch der Vergleich zwischen dem Nervenapparat zum Empfangen der Eindrücke mit dem zum Verarbeiten derselben; indem die Masse der Empfindungsnerven sämmtlicher Sinnesorgane sehr gering ist, gegen die des Gehirns, selbst noch bei den Thieren, deren Gehirn, da sie nicht eigentlich, d. h. abstrakt, denken, bloss zur Hervoi'bringung der Anschauung dient und doch, wo diese vollkommen ist, also bei den Säugethieren, eine bedeutende Masse hat; auch nach Abzug des kleinen Gehirns, dessen Funktion die geregelte Leitung der Bewegungen ist. Von der Unzulänglichkeit der Sinne zur Hervor- bringung der objektiven Anschauung der Dinge, wie auch vom nichtempirischen Ursprung der Anschauung des Raumes und der Zeit, erhält man, als Bestätigung der Kantischen Wahrheiten, ^n^ negativem Wege, eine sehr gründliche Überzeugung durch Thomas Reids\or- treffliches Buch; Inquiry into the human mind, first edition 1764, 6th edition 1810. Dieser widerlegt die Locke'sche Lehre, dass die Anschauung ein Produkt der Sinne sei, Indem er ^,rüiidlich und scharfsinnig darthut, dass sünimtliche Sinnesempfindungen niclit die mindeste Aehnlichkeit lialien mit der anschaulich erkannten Welt, besonders aber die fünf primären Qualitäten Locke s (Ausdehnung, Gestalt, Solidität, Be- wegung, Zahl) durchaus von keiner Sinnesempfindung ims geliefert werden können. Er giebt sonach die Frage nach der Kntstehungsart und dem Ursprung der An- schauung als völlig unlösbar auf. So liefert er, obwohl nnlKanten völlig unbekannt, gleichsam nach der regula falsi, einen gründlichen Beweis für die (eigentlich von mir, in Folge der Kantischen Lehre, zuerst dargelegte) Intellektualität der Anschauung und für den von Kant entdeckten apriorischen Ursprung der Grundbestand- theile derselben, also des Raumes, der Zeit und der Kau- salität, aus welchen jene Locke'schen primären Eigen- schaften allererst hervorgehen, mittelst ihrer aber leicht zu konstruiren sind. Thotnas Beids Buch ist sehr lehrreich und lesenswerth, zehn Mal mehr, als Alles was seit Kant Philosophisches geschrieben worden zu- sammengenommen. Einen andern indirekten Beweis für die selbe Lehre liefern, wiewohl auf dem Wege des Irrthums, die französischen Sensualphilosophen, welche, seitdem Condillac in die Fussstapfen Locke s trat, sich abmühen, wirklich darzuthun, dass unser ganzes Vorstellen und Denken auf blosse Sinnesemp- ßndungen zurücklaufe (penser c'est sentir), welche sie, nach Locke's Vorgang, idees simples nennen, und durch deren blosses Zusammentreten und Vergbchen- werden die ganze objektive Welt sich in miserm Kopie aufbauen soll. Diese Herren haben wirklich des idees bien simples: es ist belustigend zu sehend, wie sie, denen sowohl die Tiefe des Deutschen, als die Red- lichkeit des luighschen Philosophen abging, jenen ärm- lichen Stoff der Sinnesem|)Hndung hin und her wenden und ihn wichtig zu machen suchen, um das so bedeu- tungsvolle Phänomen derVorstellungs-imd Gedanken- Welt daraus zusammenzusetzen. Aber der von ihnen konstruirte Mensch müsste, anatomisch zu reden, ein Anencephalus, eine Tete de crapaud sevn, mit blossen Sinneswerkzeugen, ohne Gehirn. Um aus unzähligen 28 nur ein Paar der besseren Versuclie dieser Art bei- spielsweise anzuführen, nenne ich Condorcet im An- fang seines Buches: Des progres de Tesprit hurnaia, und Tourtual über das Sehen, im zweiten Bande der Scriptores ophthahnologici minores; edidit Justus Ra- dius (1828). Das Gefühl der Unzulänglichkeit einer bloss sensua- listischen Erklärung der Anschauung zeigt sich gleich- falls in der, kurz vor dem Auftreten der Kantischen Philosophie ausgesprochenen Behauptung, dass wir nicht blosse, durch Sinnesempfindung erregte Vor- stellungen von den Dingen hätten, sondern unmittel- bar die Dinge selbst wahrnähmen, obwohl sie ausser uns lägen; welches freilich unbegreiflich sei. Und dies war nicht etwan idealistisch gemeint, sondern vom gewöhnlichen realistischen Standpunkt aus gesagt. Gut und bündig drückt jene Behauptung der berühmte Euler aus, in seinen „Briefen an eine Deutsche Prin- zessin", Bd. 2, S. 68. „Ich glaube daher, dass die Emp- findungen (der Sinne) noch etwas mehr enthalten, als die Philosophen sich einbilden. Sie sind nicht bloss leere Wahrnehmungen von gewissen im Gehirn ge- machten Eindrücken: sie geben der Seele nicht bloss Ideen von Dingen ; sondern sie stellen ihr auch wirklich Gegenstände vor, die ausser ihr existiren, ob man gleich nicht begreifen kann, wie dies eigentlich zugehe." Diese Meinung erklärt sich aus Folgendem. Obwohl, wie ich hinlänglich bewiesen habe, die Anwendung des uns a priori bewussten Kausalitätsgesetzes die An- schauung vermittelt; so tritt dennoch, beim Sehen, der Verstandesakt, mittelst dessen wir von der Wir- kung zur Ursache übergehen, keineswegs ins deutliche Bewusstseyn; daher sondert sich die Sinnesempfindung nicht von der aus ihr, als dem rohen Stoff, erst vom Verstände gebildeten Vorstellung. Noch weniger kann ein, überhaupt nicht Statt habender, Unterschied zwischen Gegenstand und Vorstellung ins Bewusstseyn treten ; sondern wir nehmen ganz unmittelbar die Dinge selbst wahr, und zwar als ausser uns gelegen ; obwohl gewiss ist, dass das Unmittelbare nur die Empfindung seyn kann, und diese auf das Gebiet unterhalb unserer 29 Haut beschränkt ist. Dies ist daraus erklärlich, dass das Aussei- uns eine ausschliesslich räumliche Bestim- mung, der Raum selbst aber eine Form unsers An- schauungsvermögens, d. h. eine Funktion unsers Ge- hirns ist: daher liegt das Ausser uns, wohin wir, auf Anlass der Gesichtsempfindung, Gegenstände ver- setzen, selbst innerhalb unsers Kopfes : denn da ist sein ganzer Schauplatz. Ungefähr wie wir im Theater Berge, Wald und Meer sehen, aber doch Alles im Hause bleibt. Hieraus wird begreiflich, dass wir die Dinge mit der Bestimmung Ausserhalb und doch ganz un- mittelbar anschauen, nicht aber eine von den Dingen, die ausserhalb lägen, verschiedene Vorstellung der- selben innerhalb. Denn im Räume und folglich auch ausser uns sind die Dinge nur sofern wir sie vorstellen : daher sind diese Dinge, die wir solchermaassen un- mittelbar selbst, und nicht etwan ihr blosses Abbild, anschauen, eben selbst auch nur unsere Vorstellungen^ imd als solche mu- in unserm Kopfe vorhanden. Also nicht sowohl, wie Euler sagt, schauen wir die ausser- halb gelegenen Dinge unmittelbar selbst an; als viel- mehr: die von uns als ausserhalb gelegen angeschauten Dinge sind nur unsere Vorstellungen und deshalb ein von uns unmittelbar Wahrgenommenes. Die ganze oben in Eulej'S Worten gegebene und richtige Bemer- kung liefert also eine neue Bestätigung der Kantischen transscendentalen Aesthetik und meiner darauf ge- stützten Theorie der Anschauung, wie auch des Idea- lismus überhaupt. Die oben erwähnte Unmittelbarkeit und Bewusstlosigkeit, mit der wir, bei der Anschau- ung, den Übergang von der Empfindung zu ihrer Ur- sache machen, lässt .sich erläutern durch einen ana- logen Hergang beim a^.s^?rtA/enVorstellen, oder Denken. Beim Lesen und Hören nämlich empfangen wir blosse Worte, gehen aber von diesen so unmittelbar zu den durch sie be/eichneten Begriflen über, dass es ist, als ob wir unmittelbar die Begriffe empfiengen : denn wir werden uns des Cber{;angs zu diesen gar nicht bewusst. Daher wissen wir bisweilen nicht, in welcher Sprache wir gestern etwas, dessen wir vms erinnern, gelesen haben. Dass ein solcher Übergang dennoch jedes Mal 3o Statt hat, wird bemerklich, wenn er ein Mal ausbleibt, d. h. wenn wir, in der Zerstreuung, gedankenlos lesen und dann inne werden, dass wir zwar alle Worte, aber keinen Begriff empfangen haben. Bloss wenn wir von abstrakten Begriffen zu Bildern der Phantasie übergehen, werden wir uns der Umsetzung bewusst. Uebrigens findet, bei der empirischen Wahrneh- mung, die Bewusstlosigkeit, mit welcher der U eber- gang von der Empfindung zur Ursache derselben ge- schieht, eigentlich nur bei der Anschauung im engsten Sinn, also beim Sehen Statt; hingegen geschieht er bei allen übrigen sinnlichen Wahrnehmungen mit mehr oder minder deutlichem Bewusstseyn, daher, bei der Apprehension durch die gröberen vier Sinne seine Realität sich unmittelbar faktisch konstatiren lässt. Im Finstern betasten wir ein Ding so lange von allen Seiten, bis wir aus dessen verschiedenen Wirkungen auf die Hände die Ursache derselben als bestimmte Gestalt konstruiren können. Ferner, wenn etwas sich glatt anfühlt, so besinnen wir uns bisweilen, ob wir etwan Fett oder Oel an den Händen haben: auch wohl, wenn es uns kalt berührt, ob wir sehr warme Hände haben. Bei einem Ton zweifeln wir bisweilen, ob er eine bloss innere, oder wirklich eine von Aussen kommende Affektion des Gehörs war, sodann, ob er nah und schwach, oder fern und stark erscholl, dann, aus welcher Richtung er kam, endlich, ob er die Stimme eines Menschen, eines Thieres, oder eines In- struments war: wir forschen also, bei gegebener Wir- kung, nach der Ursache. Beim Geruch und Geschmack ist die Ungewissheit über die Art der objektiven Ur- sache der empfundenen Wirkung alltäglich: so deut- lich treten sie hier auseinander. Dass beim Sehen der Uebergang von der Wirkung zur Ursache ganz unbe- wusst geschieht, und dadurch der Schein entsteht, als wäre diese Art der Wahrnehmung eine völlig unmittelbare, in der sinnlichen Empfindung allein, ohne Verstandesoperation, bestehende, dies hat seinen Grund theils in der hohen Vollkommenheit des Or- gans, theils in der ausschliesslich geradlinigen Wir- kungsart des Lichts. Vermöge dieser letzteren leitet 3i der Eindruck selbst schon auf den Ort der Ursache hin, und da das Auge alle Nuancen von Licht, Schat- ten, Farbe und Uinriss, wie auch die Data, nach wel- chen der Verstand die Entfernunfj schätzt, auf das Feinste und mit Einem IJlick zu empfinden die Fähig- keit hat; so {jeschieht, bei Eindrücken auf diesen Sinn, die Verstandesoperation mit einer Schnelligkeit und Sicherheit, welche sie so wenig zum Bewusstseyn kom- men lässt, wie das Buchstabiren beim Lesen; wodurch also der Schein entsteht, als ob schon die Emj)findung selbst unmittelbar die Gegenstände gäbe. Dennoch ist, gerade ])eim Sehen, die Operation des f^erstandes, be- stehend im Erkennen der Ursache aus der Wirkung, am bedeutendsten : vermöge ihrer wird das doppelt, mit zwei Augen, Em[)fundene einfach angeschaut; vermöge ihrer wird der Eindruck, welcher auf der Retina, in Folge der Kreuzung der Strahlen in der Pupille, verkehrt, das Oberste unten, eintrifft, bei Ver- folgung der Ursache desselben auf dem Rückwege in gleicher Richtung, wieder zurechtgestellt, oder, wie man sich ausdrückt, sehen wir die Dinge aufrecht, obgleich ihr Bild im Auge verkehrt steht; vermöge jener Verstandesoperation endlich werden, aus fünf verschiedenen Datis, die Th. Reid sehr deutlich und schön beschreibt, Grösse und Entfernung in unmittel- barer Anschauung von uns abgeschätzt. Ich habe dies Alles, wie auch die Beweise, welche die Intellektuali- tät der Anschauung unwiderleglich darthun, schon 1 8 1 6 auseinandergesetzt in meiner Abhandlung „Ueljer das Sehn und die Farben" (in zweiter Auflage i854) mit bedeutenden Vermehrungen aber in der fünfzehn Jahre spätem und verbesserten Lateinischen Bear- beitung derselben, welche, unter dem Titel Theoria colorum physiologica eademque primaria, im dritten Bande der von Justus Badius i83o herausgegebenen Scriptores oplithalmologici minores steht, am aus- führlichsten und gründlichsten jedoch in der zweiten Auflage meiner Abhandlung „Ueber den Satz vom Grunde", §. 21. Dahin also verweise ich über diesen wichtigen Gegenstand, um gegenwärtige Erläute- rungen nicht noch mehr anzuschwellen. 32 Hinfjegen mag eine ins Aesthetische einschlagende Bemerkung hier ihre Stelle finden. Vermöge der be- wiesenen Intellektualität der Anschauung ist auch der Anblick schöner Gegenstände, z. B. einer schönen Aussicht, ein Gehirnphänomen. Die Reinheit und Voll- kommenheit desselben hängt daher nicht bloss vom Objekt ab, sondern auch von der Beschaffenheit des Gehirns, nämlich von der Forni und Grösse desselben, von der Feinheit seiner Textur vind von der Belebung seiner Thätigkeit durch die Energie des Pulses der Gehirnadern. Demnach fällt gewiss das Bild der selben Aussicht in verschiedenen Köpfen, auch bei gleicher Schärfe ihrer Augen, so verschieden aus, wie etwan der erste und letzte Abdruck einer stark gebrauchten Kupferplatte. Hierauf beruht die grosse Verschieden- heit der Fähigkeit zum Genüsse der schönen Natur und folglich auch zum Nachbilden derselben, d. h. zum Hervorbringen des gleichen Gehirnphänomens mittelst einer ganz anderartigen Ursache, nämlich der Farbenllecke auf einer Leinwand. Uebrigens hat die auf der gänzlichen Intellektuali- tät der Anschauung beruhende scheinbare Unmittel- barkeit derselben, vermöge welcher wir, wie Euler sagt, die Dinge selbst und als ausser uns gelegen apprehendiren, ein Analogen an der Art, wie wir die Theile unsers eigenen Leibes empfinden, zumal wenn sie schmerzen, welches, sobald wir sie empfinden, meistens der Fall ist. Wie wir nämlich wähnen, die Dinge unmittelbar dort wo sie sind, wahrzunehmen, während es doch wirklich im Gehirn geschieht; so glauben wir auch den Schmerz eines Gliedes in die- sem selbst zu empfinden, während dieser ebenfalls im Gehirn empfunden wird, wohin ihn der Nerv des affizirten Theiles leitet. Daher werden nur die Affek- tionen solcher Theile, deren Nerven zum Gehirn gehen, empfunden, nicht aber die, deren Nerven dem Gan- gliensystem angehören; es sei denn, dass eine überaus starke Aft'ektion derselben auf Umwegen bis ins Ge- hirn dringe, wo sie sich doch meistens nur als dumpfes Unbehagen und stets ohne genaue Bestimmimg ihres Ortes zu erkennen giebt. Daher auch werden die Ver- 3 Schopenhauer II -^^ letzungen eines Gliedes, dessen Nervenstamm durch- schnitten oder unterbunden ist, nicht em{)funden. Daher endlich fühlt wer ein Glied verloren hat, doch noch bisweilen Schmerz in demselben, weil die zum Gehirn {gehenden Nerven noch dasind. — Also in bei- den hier veqjlichenen Phänomenen wird was im Ge- hirn vorgeht als ausser demselben apprehendirt: bei der Anschauung, durch Vermittelung des Verstandes, der seine Fühltäden in die Aussenwelt streckt; bei der Empfindung der Glieder, durch Vermittelung der Nerven. KAPITEL 3. UEBER DIE SINNE. \/0N Anderen Gesagtes zu wiederholen ist nicht T der Zweck meiner Schriften: daher gebe ich hier nur einzelne, eigene Betrachtungen über die Sinne. Die Sinne sind bloss die Ausläufe des Gehirns, durch welche es von aussen den Stoff empfängt (in Gestalt der Empfindung), den es zur anschaulichen Vorstel- lung verarbeitet. Diejenigen Empfindungen, welche hauptsächlich zur objektiven Auffassung der Aussen- welt dienen sollten, nnissten an sich selbst weder an- genehm noch unangenehm seyn; dies besagt eigent- lich, dass sie denWillen ganz unberührt lassen mussten. Ausserdem nämlich würde die Empfindung selbst un- sere Aufmerksamkeit fesseln und wir bei der Wirkung stehen bleiben, statt, wie hier bezweckt war, sogleich zur Ursach überzugehen: so nämlich bringt es der entschiedene Vorrang mit sich, den, für unsere Be- achtung, der fVille ül)erall vor der blossen Vorstellung hat, als welcher wir uns erst dann zuwenden, wann jener schweigt. Demgemäss sind Farben und Töne an sich selbst und so lange ihr Eindruck das normale Maass nicht übersi.hreitet, weder schmerzliche, noch angenehme Empfindungen; sondern treten mit der- 34 jenigen Gleichgültigkeit auf, die sie zum Stoff rein objektiver Anschauungen eignet. Dies ist nämlich so weit der Fall, als es an einem Leibe, der an sich selbst durch und durch Wille ist, überhaupt möglich seyn konnte, und ist eben in dieser Hinsicht bewunderungs- werth. Physiologisch beruht es darauf, dass in den Organen der edleren Sinne, also des Gesichts und Gehörs, diejenigen Nerven, welche den specifischen äussern Eindruck aufzunehmen haben, gar keiner Empfindung von Schmerz fähig sind, sondern keine andere Empfindung, als die ihnen specifisch eigen- tümliche, der blossen Wahrnehmung dienende, ken- nen. Demnach ist die Retina, wie auch der optische Nerv, gegen jede Verletzung unempfindlich, und eben so ist es der Gehörnerv: in beiden Organen wird Schmerz nur in den übrigen Theilen derselben, den Umgebungen des ihnen eigenthümlichen Sinnesner- ven, empfunden, nie in diesem selbst: beim Auge hauptsächlich in der conjunctiva; beim Ohr im meatus auditorius. Sogar mit dem Gehirn verhält es sich eben so, indem dasselbe, wenn unmittelbar selbst, also von oben, angeschnitten, keine Empfindung davon hat. Also nur vermöge dieser ihnen eigenen Gleichgültig- keit in Bezug auf den Willen werden die Empfindun- gen des Auges geschickt, dem Verstände die so man- nigfaltigen und so fein nuancierten Data zu liefern, aus denen er, mittelst Anwendung des Kausalitäts- gesetzes und auf Grundlage der reinen Anschauungen Raum und Zeit, die wundervolle objektive Welt in unserm Kopfe aufbaut. Eben jene Wirkungslosigkeit der Farbenempfindungen auf den Willen befähigt sie, wann ihre Energie durch Transparenz erhöht ist, wie beim Abendroth, gefärbten Fenstern u. dgl., uns sehr leicht in den Zustand der rein objektiven, willenslosen Anschauung zu versetzen, welche, wie ich im dritten Buche nachgewiesen habe, einen Hauptbestandtheil des ästhetischen Eindrucks ausmacht. Eben diese Gleichgültigkeit in Bezug auf den fVillen eignet die Laute, den Stoff der Bezeichnung für die endlose Mannigfaltigkeit der Begriffe der Vernunft abzugeben. Indem der missere Sinn, d, h. die Empfänglichkeit 3* 35 fiir äussere Eindrücke als reine Data für den Verstand, sich in fünf Sinne spaltete, richteten diese sich nach den vier Elementen, d. h. den vier Aggrejjationszu- ständen, nebst dem der Imponderabilität. So ist der Sinn für das Feste (Erde) das Getast, für das Flüssige (Wasser) der Geschmack, für das Dampfförmige, d. h. Verflüchtigte (Dunst, Duft) der Geruch, für das per- manent Elastische (Luft) das Gehör, für das Impon- derabile (Feuer, Licht) das Gesicht. Das zweite Im- ponderabile, Wärme, ist eigentlich kein Gegenstand der Sinne, sondern des Gemeingefühls, wirkt daher auch stets direkt auf den Willen, als angenehm oder unangenehm. Aus dieser Klassifikation ergiebt sich auch die relative Dignität der Sinne. Das Gesicht hat den ersten Rang, sofern seine Sphäre die am weitesten reichende, und seine Empfänglichkeit die feinste ist; was darauf beruht, dass sein Anregendes ein Impon- derabile, d, h. ein kaum noch Körperliches, ein quasi Geistiges, ist. Den zweiten Rang hat das Gehör, ent- sprechend der Luft. Inzwischen bleibt das Getast ein gründlicher und vielseitiger Gelehrter. Denn während die anderen Sinne uns jeder nur eine ganz einseitige Beziehung des Objekts, wie seinen Klang, oder .sein Verhältniss zum Licht, angeben, liefert das, mit dem Gemeingefühl und der Muskelkraft fest verwachsene Getast dem Verstände die Data zugleich für die Form, Grösse, Härte, Glätte, Textur, Festigkeit, Temperatur und Schwere der Körper, und dies Alles mit der ge- ringsten Möglichkeit des Scheines und der Täuschung, denen alle anderen Sinne weit mehr unterliegen. Die beiden niedrigsten Sinne, Geruch und Geschmack, sind schon nicht mehr frei von einer unmittelbaren Erregimg des Willens d. h. sie werden stets angenehm oder unangenehm affizirt, sind daher mehr subjektiv als objektiv. Die Wahrnehmungen des Gehörs sind ausschliess- lich in der Zeit: daher das ganze Wesen der Musik im Zeitmaa.ss besteht, als worauf .sowohl die Qualität oder Höhe der Töne, mittelst der Vibrationen, als die Quantität oder Dauer derselben, mittelst des Taktes, beruht. Die Wahrnehmungen des Gesichts hingegen 36 sind zunächst und vorwaltend im Baume., sekundär, mittelst ihrer Dauer, aber auch in der Zeit. Das Gesicht ist der Sinn des Verstandes, welcher anschaut, das Gehör der Sinn der Vernunft, welche denkt und vernimmt. Worte werden durch sichtbare Zeichen nur unvollkommen vertreten: daher zweifle ich, dass ein Taubstummer, der lesen kann, aber vom Laute der Worte keine Vorstellung hat, in seinem Denken mit den bloss sichtbaren Begriffszeichen so behende operirt, wie wir mit den wirklichen, d. h. hörbaren Worten. Wenn er nicht lesen kann, ist er bekanntlich fast dem unvernünftigen Thiere gleich; während der Blindgeborene, von Anfang an, ein ganz vernünftiges Wesen ist. Das Gesicht ist ein aktiver, das Gehör ein passiver Sinn. Daher wirken Töne störend und feindhch auf unsern Geist ein, und zwar mn so mehr, je thätiger und entwickelter dieser ist: sie zerreissen alle Gedan- ken, zerrütten momentan die Denkkraft. Hingegen giebt es keine analoge Störung durch das Auge, keine unmittelbare Einwirkung des Gesehenen, als solchen, auf die denkende Thätigkeit (denn natürlich ist hier nicht die Rede von dem Einfluss der erblickten Gegen- stände auf den Willen); sondern die bunteste Mannig- faltigkeit von Dingen, vor unseren Augen, lässt ein ganz ungehindertes, ruhiges Denken zu. Demzufolge lebt der denkende Geist mit dem Auge in ewigem Frieden, mit dem Ohr in ewigem Krieg. Dieser Gegen- satz der beiden Sinne bewährt sich auch darin, dass Taubstumme, wenn durch Galvanismus hergestellt, beim ersten Ton, den sie hören, vor Schrecken todten- blass werden (Gilberts „Annalen der Physik" Bd. lo, S. 382), operirte Blinde dagegen das erste Licht mit Entzücken erblicken, vmd nur ungern die Binde sich über die Augen legen lassen. Alles Angeführte aber ist daraus erklärlich, dass das Hören vermöge einer me- chanischen Erschütterung des Gehörnervens vor sich geht, die sich sogleich bis ins Gehirn fortpflanzt, wäh- rend hingegen das Sehn eine wirkliche Aktion der Retina ist, welche durch das Licht und seine Modifi- kationen bloss erregt und hervorgerufen wird: wie 37 ich dies in meiner pliysiolojjischen Farhentheorie aus- führlich {je/,oi{}t habe. Fin Widerstreit, hingegen steht dieser ganze Gegensatz mit der jetzt überall so unver- schämt aufgetischten kolorirten xAether- Trommel- schlag-Theorie, welche die Lichtemphndung des A uges zu einer mechanischen Erschütterung, wie die des Ge- hörs zunächst wirklich ist, erniedrigen will, während nichts heterogener seyn kann, als die stille, sanfte Wirkung des Lichts und die Allarmtrommel des Ge- hörs. Setzen wir hiemit noch den besondern Umstand in Verbindung, dass wir, obwohl mit zwei Ohren, deren EmpHndlichkeit oft sehr verschieden ist, hörend, doch nie einen Ton doppelt vernehmen, wie wir mit zwei Augen oft doppelt sehen; so werden wir zu der Vermuthung geführt, dass die Empfindung des Hörens nicht im Labyrinth, oder der Schnecke entsteht, son- dern erst da, wo, tief im Gehirn, beide Gehörnerven zusammentreffen, wodurch der Eindruck einfach wird : dies aber ist da, wo der pons Varolii die medulla ob- longata umfasst, also an der absolut letalen Stelle, durch deren Verletzung jedes Thier augenblicklich getödtet wird, und von wo der Gehörnerv nur einen kurzen Verlauf hat zum Labyrinth, dem Sitze der akustischen Erschütterung. Eben dieser sein Ur- sprung, an jener gefährlichen Stelle, von welcher auch alle Gliederbewegung ausgeht, ist Ursache, dass man bei einem plötzlichen Knall zusammenfährt; wel- ches bei einer plötzlichen Erleuchtung, z. B. einem Blitz, keineswegs Statt findet. Der Sehnerv hingegen tritt viel weiter nach vorn aus seinen thalamis (wenn auch vielleicht sein erster Ursprung hinter diesen liegt) hervor, ist in seinem Fortgang überall von den vor- deren Gehirn-lobis bedeckt, wiewohl stets von ihnen gesondert, bis er, ganz aus dem Gehirn hinausgelangt, sich in die Retina ausbreitet, auf welcher nun aller- erst die Empfindung, auf Anlass des Lichtreizes, ent- steht und daselbst wirklich ihren Sitz hat; wie dieses meine Abhandlung über das Sehn und die Farben be- weist. Aus jenem Ursprung des Gehörnervens erklärt sich denn auch die grosse Störung, welche die Denk- kraft durch Töne erleidet, wegen welcher denkende 38 Köpfe und überhaupt Leute von vielem Geist, ohne Ausnahme, durchaus kein Geräusch vertragen können. Denn es stört den beständigen Strom ihrer Gedanken, unterbricht und lähmt ihr Denken, eben weil die Er- schütterung des Gehörnervens sich so tief ins Gehirn fortpflanzt, dessen ganze Masse daher die durch den Gehörnerven erregten Schwingungen dröhnend mit empfindet, und weil das Gehirn solcher Leute viel leichter beweglich ist, als das der gewöhnlichen Köpfe. Auf der selben grossen Beweglichkeit und Leitungs- kraft ihres Gehirns beruht es gerade, dass bei ihnen jeder Gedanke alle ihm analogen, oder verwandten, so leicht hervorruft, wodurch eben ihnen die Aehn- lichkeiten, Analogien und Beziehungen der Dinge überhaupt, so schnell und leicht in den Sinn kommen, dass der selbe Anlass, den Millionen gewöhnlicher Köpfe vor ihnen gehabt, sie auf t/en Gedanken, auf <fje Entdeckung bringt, welche nicht gemacht zu haben die Anderen, weil sie wohl nach-, aber nicht vorden- ken können, sich nachher verwundern: so schien die Sonne auf alle Säulen ; aber nur Memnons Säule klang. Demgemäss waren Kant, Goethe, Jean Paul höchst empfindlich gegen jedes Geräusch, wie ihre Biogra- phien bezeugen. Goethe kaufte, in seinen letzten Jah- ren, ein in Verfall gerathenes Haus, neben dem seini- gen, bloss damit er nicht den Lerm bei dessen Aus- besserung anzuhören hätte. Vergebens also war er, schon in seiner Jugend, der Trommel nachgegangen, um sich gegen Geräusch abzuhärten. Es ist nicht Sache der Gewohnheit. Dagegen ist die wahrhaft stoische Gleichgültigkeit gewöhnlicher Köpfe gegen das Ge- räusch bewunderungswürdig: sie stört kein Lerm in ihrem Denken, oder beim Lesen, Schreiben u. dgl., während der vorzügliche Kopf dadurch völlig unfähig gemacht wird. Aber eben Das, was sie so unempfind- lich macht gegen Lerm jeder Art, macht sie auch un- empfindlich gegen das Schöne in den bildenden, und das tief Gedachte oder fein Ausgedrückte in den reden- den Künsten, kurz, gegen Alles, was nicht ihr per- sönliches Interesse angeht. Auf die paralysirende Wir- kung, welche hingegen das Geräusch auf die Geist- 39 reichen ausübt, findet fol(jende Bemerkung Lichten- hergs Anwendung} : ,,E.s ist alle Mal ein gutes Zeichen, wenn Künstler von Kleinigkeiten gehindert werden können, ihre Kunst gehörig auszuüben. F steckte seine Finger in Hexenmehl, wenn er Klavier spielen wollte. Den mittelmässigen Kopf hindern solche Sachen nicht: er führt gleichsam ein grobes Sieb." (Vermischte Schriften, Bd. I, S. 398.) Ich hege wirklich langst die Meinung, dass die (Quan- tität Lerm, die Jeder unbeschwert vertragen kann, in umgekehrtem Verhältniss zu seinen Geisteskräften steht, und daher als das ungefähre Maass derselben betrachtet werden kann. Wenn ich daher auf dem Hofeeines HausesdieHunde stundenlang unbeschwich- tigt bellen höre, so weiss ich schon, was ich von den Geisteskräften der Bewohner zu halten habe. Wer habituell die Stubenthüren, statt sie mit der Hand zu schliessen, zuwirft, oder es in seinem Hause gestattet, ist nicht bloss ein ungezogener, sondern auch ein roher und bornirter Mensch. Dass im Englischen sensible auch ,, verständig" bedeutet, beruht demnach auf einer richtigen und feinen Beobachtung. Ganz civili- sirt werden wir erst seyn, wann auch die Ohren nicht mehr vogelfrei seyn werden und nicht mehr Jedem das Recht zustehen wird, das Bewusstseyn jedes den- kenden Wesens, auf tausend Schritte in die Runde, zu durchschneiden mittelst Pfeifen, Heulen, Brüllen, Hämmern, Peitschenklatschen, Bellenlassen u. dgl. Die Sybariten hielten die lermenden Handwerke ausser- halb der Stadt gebannt: die ehrwürdige Sekte der Shakers in Nordamerika duldet kein unnöthiges Ge- räusch in ihren Dörfern: von den Herrnhutern wird das Gleiche berichtet. — Ein Mehreres über diesen Gegenstand findet man im dreissigsten Kapitel des zweiten FJandes der Parerga. Aus der dargelegten passive» Natur des Gehörs er- klärt sich auch die so eindringende, so unmittelbare, .so unfehlbare Wirkung der Musik auf den Geist, nebst der ihr bisweilen folgenden, in einer besondern Er- habenheit der Stimnumg bestehenden Nachwirkung. Die in kombinirten, rationalen Zahlenverhältnissen 40 erfolgenden Schwingungen der Töne versetzen näm- lich die Gehirnfibern selbst in gleiche Schwingungen. Hingegen wird aus der dem Hören ganz entgegenge- setzten aktiven Natur des Sehns begreiflich, warum es kein Analogen der Musik für das Auge geben kann und das Farbenklavier ein lächerlicher MissgritY war. Eben auch wegen der aktiven Natur des Gesichtssinnes ist er bei den verfolgenden Thieren, also den Raub- thieren, ausgezeichnet scharf, wie umgekehrt der pas- sive Sinn, das Gehör, bei den verfolgten, den fliehen- den, furchtsamen Thieren; damit es von selbst ihnen den herbeieilenden, oder heranschleichenden Verfolger zeitig verrate. Wie wir im Gesicht den Sinn des Verstandes, im Gehör den der Vernunft erkannt haben, so könnte man den Geruch den Sinn des Gedächtnisses nennen; weil er unmittelbarer, als irgend etwas Anderes, den speci- fischen Eindruck eines Vorganges, oder einer Um- gebung, selbst aus der fernsten Vergangenheit, uns zurückruft. KAPITEL 4. VON DER ERKENNTNISS A PRIORI. AUS der Thatsache, dass wir die Gesetze der Ver- hältnisse im Räume, ohne hiezu der Erfahrung zu bedürfen, aus uns selbst angeben und bestimmen können, folgerte P/afo (Meno, p. 353. Bip.), dass alles Lernen bloss ein Erinnern sei; Kant hingegen, dass der Raum subjektiv bedingt und bloss eine Form des Er- kenntnissvermögens sei. Wie hoch steht in dieser Hin- sicht Kant über Plato! Cogito, ergo sum ist ein analytisches Urtheil: Par- menides hat es sogar für ein identisches gehalten: ro 7ap auTO voetv eon re xai eivai (nam intelligere et esse idem est, Clem. Alex. Strom. VI 2, §. 23). Als ein 4i solches aber, oder auch nur als analytisches, kann es keine besondere Weisheit enthalten; wie auch nicht, wenn man, noch {jrüud lieber, es, als einen Schluss, aus dem Übersatz non-cntis nulla sunt praedicata ab- leiten wollte. Ei{jentlich aber hat Kartesius damit die (jrosse Wahrheit ausdrücken wollen, dass nur dem Selbstbewusstsein, also dem Subjektiven, unmittelbare (Tewissheit zukommt; dem Objektiven, also allem Andern, hin^jegen, als dem durch jenes erst Vermittel- ten, bloss mittelbare; daher dieses, weil aus zweiter Hand, als problematisch zu betrachten ist. Hierauf be- ruht der Werth des so berühmten Satzes. Als seinen Gegensatz können wir, im Sinne der Kantischen Philo- sophie, aufstellen: cogito, ergo est, — d. h. wie ich gewisse Verhaltnisse (die mathematischen) an den Dingen denke, genau so müssen sie in aller irgend möglichen Erfahrung stets ausfallen, — dies war ein wichtiges, tiefes und spätes Appercu, welches im Ge- wände des Problems von der Möglichkeit synthetischer Urtheile a priori auftrat und wirklich den Weg zu tiefer Erkenntnis eröffnet hat. Dies Problem ist die Parole der Kantischen Philosophie, wie der erstere Satz die der Kartesischen, und zeigt, s; otwv et«; oia. Sehr passend stellt Kant seine Untersuchungen über Zeit und Raum an die Spitze aller anderen. Denn dem spekulativen Geiste drängen sich vor allen diese Fragen auf: was ist die Zeit? was ist dies Wesen, das aus lauter Bewegung besteht, ohne etwas, das sich be- wegt? — und was der Raum? dieses allgegenwärtige jNichts, aus welchem kein Ding herauskann, ohne auf- zuhören Etwas zu seyn? — Dass Zeit und Raum dem Subjekt anhängen, die Art und Weise sind, wie der Prozess objektiver Apper- ception im Gehirn vollzogen wird, hat schon einen genügenden Beweis an der gänzlichen Unmöglichkeit Zeit und Raum hinwegzudenken, während man Alles, was in ihnen sich darstellt, sehr leicht hinwegdenkt. Die Hand kann alles fahren lassen; nur sich selbst nicht. Indessen will ich die von Kant gegebenen nähe- ren Beweise jener Wahrheit hier durch einige Bei- spiele und Ausführungen erläutern, nicht zur Wider- 42 le^jung alberner Einwendungfen, sondern zumGebrauch Derer, die künftig Kants Lehren vorzutragen haben werden. „Ein rechtwinklichter gleichseitiger Triangel" ent- hält keinen logischen Widerspruch : den die Prädikate heben einzeln keineswegs das Subjekt auf, noch sind sie mit einander unvereinbar. Erst bei der Konstruk- tion ihres Gegenstandes in der reinen Anschauung tritt ihre Unvereinbarkeit an ihm hervor. Wollte man diese eben deshalb für einen Widerspruch halten; so wäre auch jede physische und erst nach Jahrhunder- ten entdeckte Unmöglichkeit ein solcher; z.B. die Zu- sammensetzung eines Metalles aus seinen Bestandthei- len, oder ein Säugethiermitmehr,odervveniger als sieben Halswirbeln*), oder Hörner und obere Schneidezähne am selben Tier. Allein bloss die logische Unmöglich- keit ist ein Widerspruch, nicht aber die physische, und eben so wenig die mathematische. Gleichseitig und rechtwinklicht widersprechen einander nicht (im Quadrat sind sie beisammen), noch widerspricht jedes von ihnen dem Dreieck. Daher kann die Unvereinbar- keit obiger Begriffe nie durch blosses Denken erkannt werden, sondern ergiebt sich erst aus der Anschau- ung, welche nun aber eine solche ist, zu der es keiner Erfahrung, keines realen Gegenstandes bedarf, eine bloss mentale. Auch gehört hieher der Satz des Jor- danus Brunu?., der wohl auch beim Aristoteles zu fin- den seya wird : „ein unendlich grosser Körper ist noth- wendig unbeweglich", — als welcher weder auf Er- fahrung, noch auf dem Satz des Widerspruchs beruhen kann; da er von Dingen redet, die in keiner Erfahrung vorkommen können, und die BegritTe, „unendlich gross" und ,, beweglich" einander nicht widersprechen ; sondern bloss die reine Anschauung ergiebt, dass die Bewegung einen Raum ausserhalb des Körpers, erfor- dert, seine unendliche Grösse aber keinen übrig lässt. — Wollte man nun gegen das erstere mathematische Beispiel einwenden: es käme nur darauf an, wie voll- ') Dass das dreizehige Faullhier deren neun hätte, soll als Irr- tlmm erkannt worden seyn : jedoch führt Owen, Osteologie comp., p. 4o5, es noch an. 43 ständif; der Be(;riff sei, den der rrteilende vom Tri- arifjel habe; wenn es ein {janz vollständiger wäre, so enthielte er auch die Unniögli< hkeit, dass ein Triangel rechtwinklicht und doch gleichseitig sei; so ist die Antwort: angenommen, sein Begrift vom Dreieck sei nicht so vollständig; so kann er, ohne Hinzuziehimg der Erfahrung, durch die blosse Konstruktion dessel- ben in seiner Phantasie ihn erweitern und sich von der Unmöglichkeit jener BegrifFsverbindimg für alle Ewigkeit überzeugen : eben dieser Process aber ist ein synthetisches Urtheil a priori, d. h. ein solches, durch welches wir, ohne alle Erfahrung und doch mit Gül- tigkeit für alle Ertährunjf, unsere Begriffe bilden und vervollständigen. — - Denn überhaupt, ob ein gegebe- nes Urtheil analytisch oder synthetisch sei, wird, im einzelnen Fall, erst bestimmt werden können, je nach- dem im Kopfe des Urtheilenden der Begriff des Sub- jekts mehr oder weniger Vollständigkeit hat: der Be- griff ,, Katze" enthält im Kopfe Cüviers hundert Mal mehr, als in dem seines Bedienten: daher die selben Urtheile darüber für Diesen synthetisch, für Jenen bloss analytisch seyn werden. Nimmt man aber die Begriffe objektiv, und will nun entscheiden, ob ein gegebenes Urtheil analytisch, oder synthetisch sei; so verwandle man das Prädikat desselben in sein kontra- diktorisches Gegentheil imd lege dieses, ohne Kopula, dem Subjekt bei: giebt nun dies eine Contradictio in adjecto; so war das Urtheil analytisch, ausserdem aber synthetisch. Dass die Arithmetik auf der reinen Anschauung der Zeit beruhe, ist nicht so augenfällig, wie dass die Geo- metrie auf der des Raumes basirt sei*). Man kann es *) Dies entschuldigt jedoch nicht einen Professor der Philoso- phie, welclier, auf Kants Stuhle sitzend, sich also vernehmen lässt : „Dass die Mathematik als solche die Arithmetik und Geometrie enthält, ist richtig; unrichtig jedoch die Arithmetik als die Wissenschaft der Zeit zu fassen, in der That aus keinem andern Grunde, als um der Geometrie, als der Wissenschaft des Raumes, einen Pendanten (sie) zu geben." (Rosenkranz, im „Deutschen Museum", iSSy, 14 Mai, INr. 20). Dies sind die Früchte der Hegelei : ist durch deren sitmlosen Gallimathias der 44 aber auf folgende Art beweisen. Alles Zäblen besteht im wiederholten Setzen der Einheit: bloss um stets zu wissen, wie oft wir schon die Einheit gesetzt haben, markiren wir sie jedes Mal mit einem andern Wort: dies sind die Zahlworte. Nun ist Wiederholung nur möglich durch Succession : diese aber, also das Nach- einander, beruht unmittelbar auf der Anschauung der Zeit, ist ein nur mittelst dieser verständlicher Begriff: also ist auch das Zählen nur mittelst der Zeit möglich. — Dieses Beruhen alles Zählens auf der Zeit verräth sich auch dadurch, dass in allen Sprachen die Multi- plikation durch „Mal'''' bezeichnet wird, also durch einen Zeitbegriff: sexies, e^axi?, six fois, six tinies. Nun aber ist das einfache Zählen schon ein Multipliciren mit Eins, weshalb auch in Pestalozzi's Lehranstalt die Kinder stets so multipliciren mussten: ,,2 Mal 2 ist 4 Mal Eins." — Auch Aristoteles hat schon die enge Verwandtschaft der Zahl mit der Zeit erkannt und dargelegt im vierzehnten Kapitel des vierten Buches der Physik. Die Zeit ist ihm „die Zahl der Bewegung" (6 j^povo? (xpi^[xo<; £0-1 xiV7]0£cu<;). Tiefsinnig wirft er die Frage auf, ob die Zeit seyn könnte, wenn die Seele nicht wäre, und verneint sie. Obwohl die Zeit, wie der Raum, die Erkenntniss- form des Subjekts ist; so stellt sie sich gleichwohl, eben wie auch der Raum, als von demselben unab- Kopf ein Mal {gründlich verdorben ; so geht ernsthafte Kantische Philosophie nicht mehr hinein; und von dem Meister hat man die Dreistigkeit ererbt, in den Tag hinein zu reden über Dinge, die man nicht versteht: so kommt man endhcli dahin, die Grundlehren eines grossen Geistes ohne Umstände im perem- torisch entsclieidenden Tone zu verurtheilen, als wären es eben Hegel'sche Narrenspossen. Wir dürfen es aber nicht hingehen lassen, dass die kleinen Leutchen da unten die Spur der grossen Denker auszutreten sich bemühen. Sie thäten daher besser, sich an Kant nicht zu reiben, sondern sich damit zu begnügen, ihrem Publike über Gott, die Seele, die thatsächliche Freiheit des Willens und was sonst dahin einschlägt, nähere Auskunft zu ertheilen und sodann in ihrer finstern Hinterboutique, dem philosophischen Journal, sich ein Privatvergnügen zu machen : da können sie ungenirt thun und treiben was sie wollen, kein Mensch sieht hin. 45 hän{ji{j und völli{; objektiv vorhanden dar. Wider imsern Willen, oder ohne unser Wissen, eilt oder zöfjert sie: man fragt nach der Uhr, man forscht nach der Zeit, als nach einem {janz Objektiven. Und was ist dieses Objektive? Nicht das Fortschreiten der Ge- stirne, oder der Uhren, als welche bloss dienen, den Lauf der Zeit selbst daran zu messen: sondern es ist etwas von allen Din^j^en Verschiedenes, doch aber wie diese, von unserm Wollen und Wissen Unabhängiges. Es existirt nur in den Köpfen der erkennenden Wesen ; aber die Gleichmässi{jkeit seines Ganges und seine Un- abhängigkeit vom Willen giebt ihm die Berechtigung der Objektivität. Die Zeit ist zunächst die Form des innern Sinnes. Das folgende Buch anticipirend, bemerkeich, dass der alleinige Gegenstand des innern Sinnes der eigene fTiUe des Erkennenden ist. Die Zeit ist daher die Form, mittelst welcher dem ursprünglich und an sich selbst erkenntnislosen individuellen Willen die Selbster- kenntniss möglich wird. In ihr nämlich erscheint sein an sich einfaches und identisches Wesen auseinander- gezogen zu einem Lebenslauf. Aber eben wegen jener ursprünglichen Einfachheit und Identität des sich so Darstellenden bleibt sein Charakter stets genau der- selbe; weshalb auch der Lebenslauf selbst durchweg denselben Griindton beibehält, ja, die mannigfaltigen Vorgänge und Scenen desselben sich im (irnnde doch nur wie Variationen zu einem und demselben Thema verhalten. — Die ^Priorität des Kausalitätsgesetzes ist von den Engländern und Franzosen teils noch gar nicht eifi- geselien, teils nicht recht begriffen: daher Einige von ihnen die früheren Versuche, für dasselbe einen em- pirischen Ursprung zu finden, fortsetzen. Maine de Biran setzt diesen in die Erfahrung, dass dem Willens- akt als Ursache die Bewegung des Leibes als Wirkung folge. Aber diese Thatsache selbst ist falsch. Keines- wegs erkennen wir den eigentlichen unmittelbaren Willensakt als ein von der Aktion des Leibes Ver- schiedenes und Beide als durch das Band der Kausa- lität verknüpft; sondern Beide sind Eins und untheil- 46 bar. Zwischen ihnen ist keine Succession: sie sind zu- gleich. Sie sind Eins und das Selbe, auf doppelte Weise wahrgenommen: was nämlich der innern Wahrneh- mung (demSelbstbewusstsein) sich als wirklicher Wil- lensakt kund giebt, das Selbe stellt sich in der äussern Anschauung, in welcher der Leib objektiv dasteht, sofort dA^ Aktion desselben dar. Das physiologisch die Aktion des Nerven der des Muskels vorhergeht, kommt hier nicht in Betracht; da es nicht ins Selbstbewusst- sein fallt, und hier nicht die Rede ist vom Verhältnis zwischen Muskel und Nerv, sondern von dem zwischen Willensakt imd Leibesaktion. Dieses nun giebt sich nichtals Kausalitätsverhältnis kund. Wenn diese beiden sich uns als Ursach und Wirkung darstellten ; so würde ihre Verbindung uns nicht so unbegreiflich sein, wie es wirklich der Fall ist: denn was wir aus seiner Ur- sache verstehen, das verstehen wir so weites überhaupt für uns ein Verständniss der Dinge giebt. Hingegen ist die Bewegung unserer Glieder vermöge blosser Willensakte zwar ein so alltägliches Wunder, dass wir es nicht mehr bemerken: richten wir aber ein Mal die Aufmerksamkeit darauf, so tritt das Unbegreifliche der Sache uns sehr lebhaft ins Bewusstseyn; eben weil wir hier etwas vor uns haben, was wir nicht als Wir- kung seiner Ursache verstehen. Nimmermehr also könnte diese Wahrnehmung uns auf die Vorstellung der Kausalität führen, als welche darin gar nicht vor- kommt. Maine de Biran selbst erkennt die völlige Gleichzeitigkeit des Willenakts und der Bewegung an. (Nouvelles considerations des rapports du physique au moral, p. 877, 78). In England hat schon Th. Reid (On the tirst principles of contingent truths. Ess. VI, c. 5) ausgesprochen, dass die Erkenntniss des Kausa- litätsverhältnisses in der Beschaffenheit unsers Erkennt- nissvermögens selbst ihren Grund habe. In neuester Zeit lehrt Tli. Brown in seinem höchst weitschweifig abgefassten Buch: Inquiry into the relation of cause and effect, 4th edit., i835, ziemlich das Selbe, nämlich dass jene Erkenntniss aus einer uns angeborenen, in- tuitiven und instinktiven Überzeugung entspringe: er ist also im Wesentlichen auf dem rechten Wege. Un- 4/ verzeihlich jedoch ist die krasse Ignoranz, vermöge welcher, in diesem 476 Seiten starken Buche, davon l3t) der Widerlegung Humes gewidmet sind, Kanfs, der schon vor siebzig Jahren die Sache ins Reine ge- bracht hat, gar keine Erwähnung geschieht. Wäre das Lateinische die ausschliessliche Sprache der Wis- senschaft geblieben; so wiu'de dergleichen nicht vor- kommen. Trotz der im Ganzen richtigen Auseinander- setzung Browtis hat in England eine Modifikation jener von Maine de Biran aufgestellten Lehre vom empiri- schen Ursprung derGrunderkenntniss des Kausalver- hältnisses dennoch Eingang gefunden; da sie nicht ohne einige Scheinbarkeit ist. Es ist diese, dass wir das Gesetz der Kausalität abstrahirten aus der empi- risch wahrgenommenen Einwirkung unsers eigenen Leibes auf andere Körper. Schon Huine hatte sie wider- legt. Ich aber habe die UnStatthaftigkeit derselben in meinerSchrift„Ueberden Willen in der Natur" (S. jS der zweiten Auflage) dargethan, daraus dass, damit wir sowohl unsern eigenen, als die anderen Körper objektiv in räumlicher Anschauung wahrnehmen, die Erkenntniss der Kausalität, weil sie Bedingung solcher Anschauung ist, bereits daseyn muss. Wirklich liegt eben in der Nothwendigkeit eines von der, empirisch allein gegebenen, Sinnesempfindung zur Ui'sache der- selben zu machenden Ueherganges^ damit es zur An- schauung der Aussenwelt komme, der einzige ächte Beweisgrund davon, dass das Gesetz der Kausalität vor aller Erfahrung uns bewusst ist. Daher habe ich diesen Beweis dem Kantischen substituirt, dessen Un- richtigkeit ich dargethan hatte. Die ausführlichste und gründlichste Darstellung des ganzen hier nur berühr- ten, wichtigen Gegenstandes, also der Apriorität des Kausalitätsgesetzes und der Intellektualität der em- pirischen Anschauung, findet man in meiner Abhand- lung über den Satz vom Grunde, §. ai, wohin ich ver- weise, um nicht alles dort Gesagte hier zu wiederholen. Daselbst habe ich den mächtigen Unterschied nach- gewiesen zwischen der blossen Sinnesempfindung und der Anschauung einer objektiven Welt, und habe die weite Kluft, die zwischen beiden liegt, aufgedeckt: 48 über diese führt allein das Gesetz der Kausalität, wel- ches aber zu seiner Anwendung die beiden anderen ihm verwandten Formen, Raum und Zeit, voraussetzt. Allererst mittelst dieser drei im Verein kommt es zur objektiven Vorstellun{^. Ob nun die Empfindung, von welcher ausgehend wir zur Wahrnehmung gelangen, entsteht durch den Widerstand, den die Kraftäusse- rung unserer Muskeln erleidet, oder ob sie durch Licht- eindruck auf die Retina, oder Schalleindruck auf den Gehörnerven u. s. f. entsteht, ist im W^esentlichen einerlei: immer bleibt die Empfindung ein blosses Z)a- tum für den Verstand, welcher allein fähig ist, sie als Wirkung einer von ihr verschiedenen Ursache aufzu- fassen, die er nunmehr als ein Aeusserliches anschaut, d. h. in die ebenfalls vor aller Erfahrung dem Intellekt einwohnende Form, Raum versetzt, als ein diesen Ein- nehmendes und Ausfüllendes. Ohne diese intellektuelle Operation, zu welcher die Formen fertig in uns liegen müssen, könnte nimmermehr aus einer blossen Emp- findung innerhalb unserer Haut die Anschauung einer objektiven Aussemveit entstehen. Wie kann man sich nur denken, dass das blosse, bei einer gewollten Be- wegung, Sich-gehindert-fühlen, welche übrigens auch bei Lähmungen Statt hat, dazu hinreichte? Hiezu kommt noch, dass, damit ich auf äussere Dinge zu wirken versuche, diese nothwendig vorher auf mich gewirkt haben müssen, als Motive: dieses aber setzt schon die Apprehension der Aussen weit voraus. Nach der in Rede stehenden Theorie müsste (wie ich am oben angeführten Ort bereits bemerkt habe) ein ohne Arme und Beine geborener Mensch gar nicht zur Vor- stellung der Kausalität und folglich auch nicht zur Wahrnehmung der Aussenwelt gelangen können. Dass nun aber dem nicht so ist, belegt eine in Fjorieps Notizen, i838, Juli, Nr. i33, mitgetheilte Thatsache, nämlich der ausführliche und von einer Abbildung begleitete Bericht über eine Esthin, Eva Lauk, damals i4 Jahr alt, ganz ohne Arme und Beine geboren, welcher mit folgenden Worten schliesst: „Nach den Aussagen der Mutter hat sie sich geistig eben so schnell entwickelt, wie ihre Geschwister: namentlich ist sie eben sobald 4 Schopenhauer II 49 zu einem richti^jen Urtheil über Grösse und Entfer- nunf; siclitbarer Gegenstande jj.elan{Jt, ohne sich doch der llände bedienen zu können. — Dorpat den i . März i838. Dr. .-/. Hueck.'' Aucl) Ilunies Lehre, der Bej^riff der Kausalität ent- stehe bkiss aus der (ievvoluiheit, zwei Zustände kon- stant auf einander füllen zu sehen, findet eine fak- tische \Viderle{jun{j an der ähesten aller Successionen, nänihch der von Ta{f und Nacht, welche noch Nie- mand für Ursach und \Virkun{j von einander gehalten hat. Und eben diese Succession widerlegt auch Kants falsche Behauptung, dass die objektive Realität einer Succession allererst erkannt würde, indem man beide Succedentia in dem Verhältniss von Ursach und Wir- kung zu einander auffasste. Von dieser Lehre Kants ist sogar das Umgekehrte wahr: nämlich, welcher von zwei verknüpften Zuständen Ursach und welcher /F?r- kung sei, erkennen wir, empirisch, allein an ihrer Succes- sion. Andererseits wieder ist die absurde Behauptung mancher Philosophie-Professoren unserer Tage, dass Ursach imd Wirkung zugleich seien, daraus zu wider- legen, dass in Fällen, wo die Succession, wegen ihrer grossen Schnelligkeit, gar nicht wahrgenommen wer- den kann, wir sie dennoch, und mit ihr das Verstrei- chen einer gewissen Zeit, a priori sicher voraussetzen : so z. B. wissen wir, dass zwischen dem Abdrücken der Flinte und dem Herausfahren der Kugel eine gewisse Zeit verstreichen muss, obwohl wir sie nicht wahr- nehmen, und dass dieselbe wiederum vertheilt seyn muss unter mehrere in streng bestimmter Succession eintretende Zustände, nämlich das Abdrücken, das Funkenschla.gen, das Zünden, das Fortpflanzen des Feuers, die Fxplosion und den Austritt der Kugel. W^ahrgenommen hat (Hese Succession der Zustände noch kein Mensch: aber weil wir wissen, welcher den andern bewirkt, so wissen wir eben dadurch auch, wel- cher dem andern in der Zeit vorhei'gehen nuiss, folg- lich auch, dass während des Verlaufs der ganzen Reihe eine gewisse Zeit verstreicht, obwohl sie so kurz ist, dass sie unserer empirischen Wahrnehnuing entgeht: denn Niemand wird behaupten, dass das Herausflie- 5o gen der Kugel mit dem Abdrücken wirklich gleich- zeitig sei. Also ist uns nicht bloss das Gesetz der Kau- salität, sondern auch dessen Beziehung auf die Zeit, und die Noth wendigkeit der Succession von Ursach und Wirkung a priori bekannt. Wenn wir wissen, welcher von zweien Zuständen Ursach und welcher W^irkung ist; so wissen wir auch, welcher dem andern in der Zeit vorhergeht: ist, im Gegeutheil, uns jenes yiicht bekannt, wohl aber ihr Kausal verhältniss überhaupt; so suchen wir die Succession empirisch auszumachen und bestimmen danach, welcher von beiden die Ur- sach und welcher die Wirkung sei. — Die Falschheit der Behauptung, dass Ursach imd Wirkmig gleich- zeitig wären, ergiebt zudem sich auch aus folgender Betrachtung. Eine ununterbrochene Kette von Ursa- chen und Wirkungen füllt die gesammte Zeit. (Denn wäre sie unterbrochen, so stände die Welt stille, oder es müsste, um sie wieder in Bewegung zu setzen, eine Wirkung ohne Ursache eintreten.) Wäre nun jede Wirkung mit ihrer Ursache zugleich, so würde jede W^irkung in die Zeit ihrer Ursache hinaufgerückt und eine noch so viel gliederige Kette von Ursachen und Wirkungen würde gar keine Zeit, viel weniger eine endlose, ausfüllen; sondern alle zusammen wären in Einem Augenblick. Also schrumpft, imter der An- nahme Ursache und Wirkung seien gleichzeitig, der Weltlauf zur Sache eines Augenblicks zusammen. Die- ser Beweis ist dem analog, dass jedes Blatt Papier eine Dicke haben muss, weil sonst das ganze Buch keine hätte. Anzugeben, wann die Ursache aufhört und die Wirkung anfängt, ist in fast allen Fällen schwer und oft unmöglich. Denn die Ferändei-untjen (d. h. die Succession der Zustände) sind ein Kontinuum, wie die Zeit, welche sie füllen, also auch, wie diese, ins Un- endliche theilbar. Aber ihre Reihenfolge ist so noth- wendig bestimmt und unverkennbar, wie die der Zeit- momente selbst : und jede von ihnen heisst in Beziehung auf die ihr vorhergegangene „Wirkung", auf die ihr nachfolgende ,, Ursach". Jede Fefändermig in der materiellen fVelt kann nur eintreten, sofern eine andere ihr unmittelbar vorherge- r 5l gangen ist: dies ist der wahre und (janze Inhalt des Gesetzes der Kausahtät. Allein kein Begriff ist in der Philosophie mehr gemissbraucht worden, als der der Ursache, mittelst des so beliebten Kunstgriffs oder Missgriffs, ihn, durch das Denken in abstracto, zu weit zu fassen, zu allgemein zu nehmen. Seit der Scho- lastik, ja eigentlich seit Plato und Aristoteles, ist die Philosophie grossentheils ein fortgesetzter Missbrauch allgemeiner Begriffe. Solche sind z. B. Substanz, Grund, Ursache, das Gute, die Vollkommenheit, Nothwendig- keit, und gar viele andere. Eine Neigung der Köpfe zum Operiren mit solchen abstrakten und zu weit gefassten Begriffen hat sich fast zu allen Zeiten gezeigt: sie mag zuletzt auf einer gewissen Trägheit des Intel- lektes beruhen, dem es zu beschwerlich ist, das Den- ken stets durch die Anschauung zu kontroliren. Sol- che zu weite Begriffe werden dann allmälig fast wie algebraische Zeichen gebraucht und wie diese hin und her gew^orfen, wodurch dasPhilosophiren zu einem blos- sen Kombiniren, zu einer Art Rechnerei ausartet, wel- che (wie alles Rechnen) nur niedrige Fähigkeiten be- schäftigt und erfordert. Ja, zuletzt entsteht hieraus ein blosser JVoj^tkram: von einem solchen liefert uns das scheusslichste Beispiel die kopfverderbende Hege- lei, als in welcher er bis zum haaren Unsinn getrieben wird. Aber auch schon die Scholastik ist oft in Wort- kram ausgeartet. Ja, sogar die Topi des Aristoteles, — ganz allgemein gefasste, sehr abstrakte Grundsätze, die man, zum pro oder contra disputiren, auf die ver- schiedenartigsten Gegenstände anwenden und überall ins Feld stellen konnte, — haben schon ihren Ursprung in jenem Missbrauch allgemeiner Begriffe. Von dem Verfahren der Scholastiker mit solchen Abstraktis fin- det man unzählige Beispiele in ihren Schriften, vor- züglich im Thomas Aquinas. Auf der von den Scho- lastikern gebrochenen Bahn ist aber eigentlich die Philosophie fortgegangen, bis auf Locke und Kant, welche endlich sich auf den Ursprung der Begriffe besannen. Ja, wir treffen Kanten selbst, in seinen frü- heren Jahren, noch auf jenem Wege an, in seinem „Beweisgrund des Daseyns Gottes" (S. 191 des ersten 52 Bandes der Rosenkranzischen Ausgabe), wo die Be- griffe Substanz, Grund, Realität in solcher A rt gebraucht werden, wie sie es nimmermehr könnten, wenn man auf den Ursprung und den durch diesen bestimmten wahren Gehalt jener Begriffe zurückgegangen wäre: denn da hätte man gefunden, als Ursprung und Ge- halt von Substanz allein die Materie, von Grund (wenn von Dingen der realen Welt die Rede ist) allein Ur- sache, d. h. die frühere Veränderung, welche die spä- tere herbeiführt, u. s. w. Freilich hätte das hier nicht zum beabsichtigten Resultat geführt. Aber überall, wie hier, entstanden aus solchen zu xveit gefassten Be- griffen, unter welche sich daher mehr subsumiren liess, als ihr wahrer Inhalt gestattet haben würde, falsche Sätze und aus diesen falsche Systeme. Auch Spinoza's ganze Demonstrirmethode beruht auf sol- chen ununtersuchten und zu weit gefassten Begriffen. Hier nun liegt das eminente Verdienst Locke's, der, um allem jenem dogmatischen Unwesen entgegenzu- wirken, auf Untersuchung des Ursprungs der Begriffe drang, wodurch er auf das Anschauliche und die Erfahrung zurückführte. In gleichem Sinn, doch mehr es auf Physik, als auf Metaphysik absehend, hatte vor ihm Baco gewirkt. Kant verfolgte die von Locke gebrochene Bahn, in höherm Sinne und viel weiter; wie bereits oben erwähnt. Den Männern des blossen Scheines hingegen, denen es gelang, die Auf- merksamkeit des Publikums von Kant auf sich zu lenken, waren die Locke'schen und Kantischen Re- sultate beschwerlich. Allein in solchem Fall verstehen sie so gut die Todten, wie die Lebenden zu ignoriren. Sie verliessen also, ohne Umstände, den von jenen Weisen endlich gefundenen allein richtigen Weg, philosophirten in den Tag hinein, mit allerlei aufge- rafften Begriffen, unbekümmert um ihren Ursprung und Gehalt, so dass zuletzt die Hegeische Afterweis- heit darauf hinauslief, dass die Begriffe gar keinen Ursprung hätten, vielmehr selbst der Ursprung der Dinge wären. — Inzwischen hat Kant darin gefehlt, dass er über der reinen Anschauung zu sehr die em- pirische vernachlässigte, wovon ich in meiner Kritik 53 seiner Philosophie ausführlich {jeredet hahe. Bei mir ist durchaus die Anschauun{f die Quelle aller Erkennt- niss. Das Verlan^jUche und Insidiöse der Ahstrakta früh erkennend, wies ich schon i8i3, in meiner Ah- handhuig üher den Satz vom Gnmde, die Verschieden- heit der Verhältnisse nach, die unter diesem Begriffe gedacht werden. Allgemeine Begriffe sollen zwar der Stoff seyn, in welchen die Philosophie ihre Erkenntniss ahsetzt und niederlegt; jedoch nicht die Quelle, aus der sie solche schöpft: der terminus ad quem, nicht a quo. Sie ist nicht, wie Kant sie definirt, eine Wissen- schaft aus Bejjriflen, sondern in Begriffen. — Auch der Begriff der Kausalität also, von dem wir hier reden, ist von den Philosophen, zum Vortheil ihrer dogma- tischen Absichten, stets viel zu weit gefasst worden, wodurch hineinkam, was gar nicht darin liegt: dar- aus entstanden Sätze wie: „Alles was ist hat seine Ur- sache", — ,,die Wirkung kann nicht mehr enthalten, als die Ursache, also nichts, das nicht auch in dieser wäre", — „causa est nobilior suo effectu" — und viele andere eben so unbefugte. Ein ausführliches und besonders lukulentes Beispiel giebt folgende Vernünf- telei des faden Schwätzers Prohlus, in seiner Institutio theologica, §. 76. Flav to airo axtvirjTou -[Ti'voij.svov airia«;, ajisraß^Tj-ov eyei tr^v uTrap^tv" Tiav oe zo ar^o xivoujjlsv/ji;, [i.£TaßXrjTT^v si yap axtvrjxov eoxt TravTif) to ttoiouv, ou Sia xivTjoecoc;, a)X autcp reo eivai Ttapaysi to osuxepov acp' kaurou. (Qtiidquid ab immobili causa manat, immu- tabilem habet essentiam [substantiam]. Quidquid vero a mobili causa manat, essentiam habet mutabilem. Si enim illud, quod aliquid facit, est prorsus immobile, non per motum, sed per ipsum Esse producit ipsum secundum ex se ipso.) Schon recht! aber zeige mir ein Mal eine unbewegte Ursache: sie ist eben unmöglich. Allein die Abstraktion hat hier, wie in so vielen Fäl- len, alle Bestimmungen weggedacht, bis auf die eine, welche man eben brauchen will, ohne Rücksicht dar- auf, dass diese ohne jene nicht existiren kann. — Der allein richtige Ausdruck für das Gesetz der Kausalität ist dieser: Jede Veränderung hat ihre Ursache in eine?' andern, ihr unmittelbar vorhcrgätigigen. Wenn etwas 54 geschieht, d. h. ein neuer Zustand eintritt, d. h. etwas sich verändert; so niuss gleich vorher etwas Anderes sich verändert hahen; vor diesem wieder etwas Ande- res, und so aufwärts ins Unendhche: denn eine erste Ursache ist so unmögHch zu denken, wie ein Anfang der Zeit, oder eine Gränze des Raums. Mehr, als das Angegebene, besagt das Gesetz der Kausalität nicht: also treten seine Ansprüche erst bei Veränderungen ein. So lange sich nichts verändert, ist nach keiner Ur- sache zu fragen : denn es giebt keinen Grund a pinori, vom Daseyn vorhandener Dinge, d. h. Zustände der Materie, auf deren vorheriges Nichtdaseyn und von diesem auf ihr Entstehen, also auf eine Veränderung, zu schliessen. Daher berechtigt das blosse Daseyn eines Dinges nicht, zu schliessen, dass es eine Ursache habe. Gründe a posteriori, d. h. aus früherer Erfahrung ge- schöpft, kann es jedoch geben, zu der Voraussetzung, dass der vorliegende Zustand nicht von jeher dage- wesen, sondern erst in Folge eines andern, also durch eine Veränderung, entstanden sei, von welcher dann die Ursache zu suchen ist, und von dieser eben so: hier sind wir alsdann in dem endlosen Regrcssus be- griffen, zu welchem die x\nvvendung des Gesetzes der Kausalität allemal führt. Oben wurde gesagt: „Dinge, d. h. Zustände der Materie'"'", denn nur auf Zustände bezieht sich die Veränderung und die Kausalität. Diese Zustände sind es, welche man unter Form, im weitern Sinn, versteht: und nur die Formen wechseln; die Materie beharrt. Also ist auch nur die Form dem Ge- setz der Kausalität unterworfen. Aber auch die Form macht das Ding aus, d. h. begründet die Verschieden- heit der Dinge; während die Materie als in allen gleichartig gedacht werden muss. Daher sagten die Scholastiker : forma dat esse rei ; genauer würde dieser Satz lauten: forma dat rei essentiam, materia existen- tiam. Daher eben betrifft die Frage nach der Ursache eines Dinges stets nur dessen Form, d. h. Zustand, Be- schaffenheit, nicht aber dessen Materie, und auch jene nur, sofern man Gründe hat, anzunehmen, dass sie nicht von jeher gewesen, sondern durch eine Ver- änderung entstanden sei. Die Verbindung der Form 55 mit der Materie, oder der Essentia mit der Existentia, giebt das Konkrete, welches stets ein Einzelnes ist, also das DitKj: und die Formen sind es, deren Verbindung mit der Materie, d. h. deren Eintritt an dieser, mit- telst einer Feränderung, dem Gesetze der Kausalität unterliegt. Durch die zu weite Fassung des Begriffes in abstracto also schlich sich der Missbrauch ein, dass man die Kausalität auf das Ding schlechthin, also auf sein ganzes Wesen und Daseyn, mithin auch auf die Ma- terie ausdehnte, und nun am Ende sich berechtigt hielt, sogar nach einer Ursache der Welt zu fragen. Hieraus entstand der kosmo logische Beiveis. Dieser geht eigent- lich davon aus, dass er, ohne alle Berechtigung, vom Daseyn der Welt auf ihr INichtseyn schliesst, welches nämlich dem Daseyn vorhergegangen wäre : zu seinem Endpunkt aber hat er die fürchterliche Inkonsequenz, dass er eben das Gesetz der Kausalität, von welchem allein er alle Beweiskraft entlehnt, geradezu aufhebt, indem er bei einer ersten Ursache stehen bleibt und nicht weiterwill, also gleichsam mit einem Vatermord endigt; wie die Bienen die Drohnen tödten, nachdem diese ihre Dienste geleistet haben. Auf einen verschäm- ten und daher verlarvten kosmologischen Beweis läuft aber all das Gerede vom jihsolutum zurück, welches, im Angesicht der Kritik der reinen Vernunft, seit sech- zig Jahren in Deutschland für Philosophie gilt. Was bedeutet nämlich das Absolutum? - — Etwas das nun einmal ist, und davon man (bei Strafe) nicht weiter fragen darf, woher und Avarum es ist. Ein Kabinet- stück für Philosophie- Professoren! — Beim ehrlich dargelegten kosmologischen Beweis nun aber wird überdies, durch Annahme einer ersten Ursache, mit- hin eines ersten Anfangs in einer schlechterdings an- fangslosen Zeit, dieser Anfang durch die Frage: war- um nicht früher? immer höher hinaufgerückt und so hoch, dass man nie von ihm zur Gegenwart herab- gelangt, sondern stets sich wundern nmss, dass diese nicht schon vor Millionen Jahren gewesen. Ueber- haupt also hndet das Gesetz der Kausalität auf alle Dinge in der W^elt Anwendung, jedoch nicht auf die Welt selbst: denn es ist der Welt immanent, nicht 56 transscendent: mit ihr ist es gesetzt und mit ihr auf- gehoben. Dies liegt zuletzt daran, dass es zur blossen Form unsers Verstandes gehört und, mit sammt der objektiven Welt, die deshalb blosse Erscheinung ist, durch ihn bedingt ist. Also auf alle Dinge in der Welt, versteht sich ihrer Form nach, auf den Wechsel dieser Formen, also auf ihre Veränderungen, findet das Ge- setz der Kausalität volle Anwendung und leidet keine Ausnahme: es gilt vom Thun des Menschen, wie vom Stosse des Steines; jedoch, wie gesagt, immer nur in Bezug auf Vorgänge, auf Veränderiirujen. Wenn wir aber vom Ursprung desselben im Verstände abstra- hiren und es rein objektiv auffassen wollen; so beruht es im tiefsten Grunde darauf, dass jedes Wirkende vermöge seiner ursprünglichen und daher ewigen, d. h. zeitlosen Kraft wirkt, daher seine jetzige Wirkung schon unendlich früher, nämlich vor jeder denkbaren Zeit, eingetreten sein müsste, wenn nicht die zeitliche Bedingung dazu gefehlt hätte: diese ist der Anlass, d. h. die Ursach, vermöge welcher allein die Wirkung erst je^rY, jetzt aber nothwendig eintritt: sie ertheilt ihr ihre Stelle in der Zeit. Allein in Folge der oben erörterten, zu weiten Fas- sung des Begriffes Ursache, im abstrakten Denken, hat man mit demselben auch den Begriff der Kraft ver- wechselt: diese, von der Ursache völlig verschieden, ist jedoch Das, was jeder Ursache ihre Kausalität, d. h. die Möglichkeit zu wirken, ertheilt; wie ich dies im zweiten Buche des ersten Bandes, sodann im „Willen in der Natur", endlich auch in der zweiten Auflage der Abhandlung „Ueber den Satz vom Grunde", §. 20, 8.44» ausführlich und gründlich dargethan habe. x\m plumpesten findet man diese Verwechselung im oben erwähnten Buche von Maine de Biian, worüber das Nähere am zuletzt angeführten Orte: jedoch ist sie auch ausserdem häufig, z. B. wenn nach der Ursache irgend einer ursprünglichen Kraft, z. B. der Schwer- kraft, gefragt wird. Nennt doch Kant selbst (über den einzig möglichen Beweisgrund, Bd. I, S. ai i und 21 5 der Rosenkranzischen Ausgabe) die Naturkräfte „wir- kende Ursachen" und sagt: „die Schwere ist eine 57 Ursaclie", Es ist jedoch uninöfjlicli, mit seinem Den- ken im Klaren 7ai seyn, so lanjje darin Kraft und Ur- sache nicht als völli{} verschieden deutlich erkannt \verden. Zur V^er Wechsel un^j derselhen führt aher sehr leicht der Gebrauch abstrakter Begriffe, wenn die Be- trachtung ihres Ursprungs bei Seite gesetzt wird. Man verlässt die auf der Form des Verstandes beruhende, stets anachantiche Erkenntniss der Ursachen und Wir- kungen, um sich an das x\bstraktum Ursache zu halten: bloss dadurch ist der Begriff der Kausalität, bei aller seiner Einfachheit, so sehr häuHg falsch gefasst wor- den. Daher hnden wir selbst beim ^Aristoteles (Me- taph., IV, 2) die Ursachen in vier Klassen getheilt, welche grundfalsch, ja wirklich roh aufgegriffen sind. Man vergleiche damit meine Eintheilung der Ursachen, wie ich sie in meiner Abhandlung über das Sehen und die Farben, Kap. i, zuerst aufgestellt, in §. 6 unsers ersten Bandes (erste Auflage, S. 29) *) kurz berührt, aus- führlich aber in der Preisschrift „Ueber die Freiheit des Willens", S. 3o — 33 [2. Aufl. S. 29 — 32] darge- legt habe. — Von der Kette der Kausalität, welche vorwärts und rückwärts endlos ist, bleiben in der Natur zwei Wesen unberührt: die Materie und die Natur- kräfte. Diese beiden nämlich sind die Bedingungen der Kausalität, während alles Andere durch diese be- dingt ist. Denn das Eine (die Materie) ist Das, an wel- chem die Zustände und ihre Veränderungen eintreten; Das Andere (die Naturkräfte) Das, vermöye dessen allein sie überhaupt eintreten können. Hiebei aber sei man eingedenk, dass im zweiten Buche und später, auch gründlicher im „Willen in der Natur", die Na- tu rkräfte als identisch mit dem JViller\ in uns nach- gewiesen werden, die Materie aber sich als die blosse Sichtbarkeit des Willens ergiebt; so dass auch sie zuletzt, in gewissem Sinne, als identisch mit dem Willen be- trachtet werden kann. Andererseits bleibt nicht minder wahr und richtig, was §. 4 des ersten Bandes**), und noch besser in der zweiten Auflage der Abhandlung „Ueber den Satz vom Grunde", am Schluss des §. 21, S. 77, auseinan- •) S. 2 3 d. A. **) S. 9 d. A. 58 dergesetzt ist, dass nämlich die Materie die objektiv aufgefasste Kausalität selbst sei, indem ihr ganzes We- sen im JVirkeyi iibefhaupt besteht, sie selbst also die Wirksam/ieit [zvep^Bia =Wirk\ichkeit) der Dinge über- haupt ist, gleichsam das Abstraktum alles ihres ver- schiedenartigen Wirkens. Da demnach das Wesen, Essentia, der Materie im Wirken überhaupt besteht, die Wirklichkeit, Existentia, der Dinge aber eben in ihrer Materialität, die also wieder mit dem Wirken überhaupt Eins ist; so lässt sich von der Materie be- haupten, dass bei ihr Existentia und Essentia zusam- menfallen und Eins seien: denn sie hat keine andern Attribute als das Daseyn selbst überhaupt und abge- sehen von aller näheren Bestimmung desselben. Hin- gegen ist jede empirisch gegebene Materie, also der Stojf (den unsere heutigen unwissenden Materialisten mit der Matei'ie verwechseln) schon in die Hülle der For- men eingegangen und manifestirt sich allein durch deren Qualitäten und Accidenzien; weil in der Er- fahrung jedes Wirken ganz bestimmter und besonderer Art ist, nie ein bloss allgemeines. Daher eben ist die reine Materie ein Gegenstand des Denkens allein, nicht der Anschoiiung; welches den Plotinos (Enneas FI, lib. 4, c. 8 u. 9) und den Jordmius Brunns (Della causa, dial. 4) zu dem paradoxen Ausspruch gebracht hat, dass die Materie keine Ausdehnung, als welche von der Eorm unzertrennlich sei, habe und daher unkör- perlich sei; hatte doch schon Aristoteles gelehrt, dass sie kein Körper sei, wiewohl körperlich : oco[j.a [xev oux av eiTT], oiü\iaxv/.ri oe (Stob. Eck, lib. I. c. 1 2, §. 5). Wirk- lich denken wir unter reiner Mateine das blosse Wirken in abstracto, ganz abgesehen von der Art die- ses Wirkens, also die reine Kausalität selbst: und als solche ist sie nicht Gegenstand, sondern Bedingung der Erfahrung, eben wie Raum und Zeit. Dies ist der Grund, warum auf der hier beigegebenen Tafel un- serer reinen Grunderkenntnisse a priori die Materie die Stelle der Kausalität hat einnehmen können, und neben Zeit und Raum, als das dritte rein Eormelle und daher unserm Intellekt Anhängende figurirt. Diese Tafel nämlich enthält sämmtliche in unserer 59 anschauenden Erkenntniss a priori wurzelnden Grund- wahrheiten, ausfjesprochen als oberste, von einander unal)han{jige Grundsätze; nicht aber ist hier das Spe- cielle angestellt, was den Inhalt der Arithmetik und Geometrie ausmacht, noch Dasjenige, was sich erst durch die Verknüpfung und Anwendung jener for- mellen Erkenntnisse ergiebt, als welches eben den Gegenstand der von Kant dargelegten „Metaphysi- schen Anfangsgründe der Naturwissenschaft" aus- macht, zu welchen diese Tafel gewissermassen die Propädeutik und Einleitung bildet, sich also unmit- telbar daran schliesst. Ich habe bei dieser Tafel zu- nächst den sehr merkwürdigen Parallelismus unserer, das Grundgerüst aller Erfahrung bildenden, Erkennt- nisse a priori im Auge gehabt, besonders aber auch dies, dass, wie ich §. .\ des ersten Bandes auseinander- gesetzt habe, die Materie (wie eben auch die Kausali- tät) als eine Vereinigung, wenn man will, Verschmel- zung des Raumes mit der Zeit zu betrachten ist. In Uebereinstimmung hiemit finden wir dies: was die Geometrie für die reine Anschauung des Raumes, die Arithmethik für die der Zeit ist, das ist Kants Phoro- nomie für die reine Anschauung beider im Verein, denn die Materie allererst ist das Bewegliche im Raum. Der mathematische Punkt lässt sich nämlich nicht ein Mal als beweglich denken; wie schon Aiistoteles dargethan hat: Phys., VI, lo. Dieser Philosoph selbst hat auch schon das erste Beispiel einer solchen Wis- senschaft geliefert, indem er im fünften und sechsten Buche seiner Phvsik, die Gesetze der Ruhe und Be- wegung a priori bestimmt. Nun kann man diese Tafel nach Belieben betrachten entweder als eine Zusammenstellung der ewigen Grundgesetze der Welt, mithin als die Basis einer ontologie; oder al)er als ein Kapitel aus der Physio- logie des Gehirnes; je nachdem man den realistischen, oder den idealistischen Gesichtspunkt fasst; wiewohl der zweite in letzter Instanz Recht behält. Hierüber haben wir zwar uns schon im ersten Kapitel ver- ständigt: doch will ich es noch speciell durch ein Beispiel erläutern. Das Buch des Aristoteles de Xeno- 60 Praedicabilia a priori pr der Zeit. 1 ) Es giebt nur eine Zeit, und alle verschiedenen Zeiten sind Theile derselben. 2) Verschiedene Zeiten sind nicht zugleich, son- dern nach einander. 3) Die Zeit lässt sich nicht wegdenken, jedoch Alles aus ihr. 4) Die Zeit hat drei Abschnitte: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, welche zwei Richtungen mit einem Indifferenzpunkt bilden. 5) Die Zeit ist ins Unendliche theilbar. 6) Die Zeit ist homogen und ein Continuum: d. h. kein Theil derselben ist vom andern verschie- den, noch durch etwas, das nicht Zeit wäre, ge- trennt. 7) Die Zeit hat keinen Anfang noch Ende, son- dern aller Anfang und Ende ist in ihr. 8) Vermöge der Zeit zählen wir. 9) Der Rhythmus ist allein in der Zeit. 10) Wir erkennen die Gesetze der Zeit a priori. 1 1 ) Die Zeit ist a priori, wiewohl nur unter dem Bilde einer Linie, anschaubar. 12) Die Zeit hat keinen Bestand, sondern ver- geht sobald sie da ist. 1 3) Die Zeit ist rastlos. 14) Alles was in der Zeit ist hat eine Dauer. 1 5) Die Zeit hat keine Dauer, sondern alle Dauer ist in ihr, und ist das Beharren des Bleibenden, im Gegensatz ihres rastlosen Laufes. 16) Alle Bewegung ist nur in der Zeit möglich. des Raumes. (Scliopenliiiiin. II. Bd. Zu Seite üi.) der Materie. 1 ) Es giebt nur einen Raum, und alle verschie- denen Räume sind Theile desselben. 2) Verschiedene Räume sind nicht nach ein- ander, sondern zugleich. 3) Der Raum lässt sich nicht wegdenken, je- doch Alles aus ihm. 4) Der Raum hat drei Dimensionen : Höhe. Breite und Länge. 5) Der Raum ist ins Unendliche theilbar. 6) Der Raum ist homogen und ein Continuum: d. h. kein Theil desselben ist vom andern verschie- den, noch durch etwas, das nicht Raum wäre, ge- trennt. 7) Der Raum hat keine Gränzen, sondern alle Gränzen sind in ihm. 8) Vermöge des Raumes messen wir. g) Die Symmetrie ist allein im Räume. 10) Wir erkennen die Gesetze des Raumes a pri- ori. 1 1) Der Raum ist a priori unmittelbar anschau- bar. 1 2) Der Raum kann nie vergehen, sondern be- steht allezeit. i3) Der Raum ist unbeweglich. i4) Alles was im Raum ist hat einen Ort. i.t) Der Raum hat keine Bewegung, sondern alle Bewegung ist in ihm, und ist der Ortwechsel des Be- weglichen, im Gegensatz seiner unerschütterlichen Ruhe. 16) Alle Bewegung ist nur im Raum möglich. 1 ) Es giebt nur eine Materie, und alle verschiedenen) Stoffe sind verschiedene Zustände dersell)en: als solche heisst sie Substanz. a) Verschiedenartige Materien (Stoffe) sind es nicht durch die Substanz, sondern durch die Accidenzien. 3) Vernichtung der Materie lässt sich nicht denken, jedoch die aller ihrer Formen und Qualitäten. 4) Die Materie existirt, d. i. wirkt, nach allen Dimen- sionen des Raumes und durch die ganze Länge der Zeit, wodurch sie beide vereinigt und dadurch erfüllt: hierin besteht ihrWesen : sie ist also durch und durch Kausalität. 5) Die Materie ist ins Unendliche theilbar. 6) Die Materie ist homogen und ein Continuum: d. h. sie besteht nicht aus ursprünglich verschiedenartigen (Homoiomerien), noch ursprünglich getrennten Theilen (Atome); ist also nicht zusammengesetzt aus Theilen, die wesentlich durch etwas, das nicht Materie wäre, getrennt wären. 7) Die Materie hat keinen Ursprung noch Untergang, sondern alles Entstehen und Vergehen ist an ihr. 8) Vermöge der Materie wägen wir. 9) Das Aequilibrium ist allein in der Materie. 1 o) Wir erkennen die Gesetze der Substanz aller Acci- denzien a priori. I 1) Die Materie wird a priori bloss gedacht. 1 2) Die x\ccidenzien wechseln, die Substanz beharrt. i3) Die Materie ist gleichgültig gegen Ruhe und Be- wegung, d. h. zu keinem von beiden ursprünglich geneigt. i4) Alles Materielle hat eine Wirksamkeit. i5) Die Materie ist das Beharrende in der Zeit und das Bewegliche im Raum: durch den Vergleich des Ruhenden mit dem Bewegten messen wir die Dauer. 16) Alle Bewegung ist nur der Materie möglich. Praedicabüia a priori der Zeit. 1 7) Die Geschwindigkeit ist, bei gleichem Raum, im umgekehrten Verhältniss der Zeit. 1 8) Messbar ist die Zeit nicht direkte, durch sich selbst, sondern nur indirekte, durch die Bewegung, als welche im Raum und Zeit zugleich ist : so misst die Bewegung der Sonne und der Uhr die Zeit. 19) Die Zeit ist allgegenwärtig: jedes Zeittheil ist überall, d. h. im ganzen Raum, zugleich. 20) In der Zeit für sich allein wäre Alles nach einander. 21) Die Zeit macht den Wechsel der Accidenzien möglich. 22) Jeder Theil der Zeit enthält alle Theile der Materie. 23) Die Zeit ist das Principium individuationis. 24) Das Jetzt ist ohne Dauer. 26) Die Zeit an sich ist leer und bestimmungslos. 26) Jeder Augenblick ist bedingt durch den vor- hergegangenen, und ist nur sofern dieser aufgehört hat zu seyn. (Satz vom Grunde des Seyns in der Zeit. — Siehe meine Abhandlung über den Satz vom Grunde.) 27) Die Zeit macht die Arithmetik möglich. des Raumes. 1 7) Die Geschwindigkeit ist, bei gleicher Zeit, in geradem Verhältniss des Raumes. 18) Messbar ist der Raum direkte durch sich selbst, und indirekte durch die Bewegung, als wel- che in Zeit und Raum zugleich ist: daher z. B. eine Stunde Weges, und die Entfernung der Fixsterne ausgedrückt durch so viel Jahre Lauf des Lichts. 19) Der Raum ist ewig: jeder Theil desselben ist allezeit. 20) Im Raum für sich allein wäre Alles zugleich. 21) Der Raum macht das Beharren der Substanz möglich. 22) Kein Theil des Raumes enthält mit dem andern die selbe Materie. 23) Der Raum ist das Principium individuationis. 24) Der Punkt ist ohne Ausdehnung. 25) Der Raum an sich ist leer und bestimmungs- los. 26) Durch die Lage jeder Gränze im Raum gegen irgend eine andere ist auch ihre Lage gegen jede mögliche durchaus streng bestimmt. — (Satz vom Grunde des Seyns im Raum.) 27) Der Raum macht die Geometrie möglich. 28) Das Einfache der Arithmetik ist die Einheit. 28) Das Einfache der Geometrie ist der Punkt. der Materie. 1 7) Die Grösse der Beivegung ist, bei gleicher Geschwin- digkeit, im geraden geometrischen Verhältniss der Materie (Masse). 18) Messbar, d. h. ihrer Quantität nach bestimmbar, ist die Materie als solche (die Masse) nur indirekt, näm- lich allein durch die Grösse der Bewegung, welche sie empfängt und giebt, indem sie fortgestossen, oder ange- zogen wird. 19) Die Materie ist absolut: d. h. sie kann nicht ent- stehen noch vergehen, ihr Quantum also weder vermehrt noch vermindert werden. 20), 21) Die Materie vereint die bestandlose Flucht der Zeit mit der starren Unbeweglichkeit des Raumes: daher ist sie die beharrende Substanz der wechselnden Accidenzien. Diesen Wechsel bestimmt, für jeden Ort zu jeder Zeit, die Kausalität, welche eben dadurch Zeit und Raum verbindet und das ganze Wesen der Materie aus- macht. 22) Denn die Materie ist sowohl beharrend, als un- durchdringlich. 23) Die Individuen sind materiell. 24) Das Atom ist ohne Realität. 25) Die Materie an sich ist ohne Form und Qualität, desgleichen träge, d. h. gegen Ruhe oder Bewegung gleichgültig, also bestimmungslos. 26) Jede Veränderung an der Materie kann nur ein- treten vermöge einer andern, ihr vorhergegangenen : da- her ist eine erste Veränderung und also auch ein erster Zustand der Materie so undenkbar, wie ein Anfang der Zeit oder eine Gränze des Raums. — (Satz vom Grunde des Werdens.) 27) Die Materie, als das Bewegliche im Raum, macht die Phoronomie möglich. 28) Das Einfache der Phoronomie ist das Atom. der Materie. 1 7) Die Grösse der Beivegung ist, bei gleicher Geschwin- im U'it, im geraden geometrischen Verhältniss der Materie sej. 18) Messbar, d. h. ihrer Quantität nach bestimmbar, selbse Materie als solche (die Masse) nur indirekt, näm- als wallein durch die Grösse der Bewegung, welche sie die Ekngt und giebt, indem sie fortgestossen, oder ange- I wird. 19) Die Materie ist absolut: d. h. sie kann nicht ent- ist Ulli noch vergehen, ihr Quantum also weder vermehrt vermindert werden. 20), 21) Die Materie vereint die bestandlose Flucht einai^eit mit der starren Unbeweglichkeit des Raumes: 2ir ist sie die beharrende Substanz der wechselnden mögUenzien. Diesen Wechsel bestimmt, für jeden Ort zu Zeit, die Kausalität, welche eben dadurch Zeit und II verbindet und das ganze Wesen der Materie aus- it. 22) Denn die Materie ist sowohl beharrend, als un- Mateidringlich. 23) Die Individuen sind materiell. 24) Das Atom ist ohne Realität. 2-5) Die Materie an sich ist ohne Form und Qualität, eichen träge, d. h. gegen Ruhe oder Bewegung bgültig, also bestimmungslos. 26) Jede Veränderung an der Materie kann nur ein- hergfli vermöge einer andern, ihr vorhergegangenen : da- hat zst eine erste Veränderung und also auch ein erster Zeit, md der Materie so undenkbar, wie ein Anfang der vom oder eine Gränze des Raums. — (Satz vom Grunde Verdens.) 27 ) Die Materie, als das Bewegliche im Raum, macht 'horonomie möglich. 28 ) Das Einfache der Phoronomie ist das Atom. i phane etc. hebt an mit diesen gewichtigen Worten des Xenophanes: Atoiov sivai cpirjoiv, ei ti eoxiv, stirep (XT) ewoeyelai ^evso^ai [xtjosv ex |xr]0£voc (Aeternurn esse, inquit, quicquid est, siquidem fieri non potest, ut ex nihilo, quippiam existat). Hier urteilt also Xeno- 'ha?ies über den Ursprung der Dinge, seiner Möglich- keit nach, über welchen er keine Erfahrung haben kann, nicht ein Mal eine analoge: auch beruft er sich auf keine; sondern er urtheilt apodiktisch, mithin a priori. Wie kann er Dieses, wenn er von aussen und fremd hineinschaut in eine rein objektiv, d. h. unab- hängig von seinem Erkennen, vorhandene Welt? Wie kann Er, ein vorübereilendes Ephemer, dem nur ein flüchtiger Blick in eine solche Welt gestattet ist, über sie, über die Möglichkeit ihres Daseyns und Ursprungs, zum voraus, ohne Erfahrung, apodiktisch urtheilen? — Die Lösung dieses Räthsels ist, dass der Mann es bloss mit seinen eigenen Vorstellungen zu thun hat, die als solche das W^erk seines Gehirnes sind, deren Gesetz- mässigkeit daher nur die Art und Weise ist, wie seine Gehirn funktion allein vollzogen werden kann, d. h. die Form seines Vorstellens. Er urtheilt also nur über sein eigenes Gehirnphänomen und sagt aus, was in dessen Formen, Zeit, Raum und Kausalität, hinein- geht und was nicht : da ist er vollkommen zu Hause und redet apodiktisch. In gleichem Sinne also ist die hier folgende Tafel der Praedicabilia a priori der Zeit, des Raumes und der Materie zu nehmen. ANMERKUNGEN ZUR BEIGEFÜGTEN TAFEL. i) Zu Nr. 4 der Materie. Das Wesen der Materie besteht im Wirken : sie ist das Wirken selbst, in abstracto, also das Wirken über- haupt, abgesehen von aller Verschiedenheit der Wir- kungsart: sie ist durch und durch Kausalität. Eben deshalb ist sie selbst, ihrem Daseyn nach, dem Gesetz der Kausalität nicht unterworfen, also unentstanden und unvergänglich : denn sonst würde das Gesetz der Kausalität auf sich selbst anf^ewandt werden. Da nun die Kausalität uns a priori bewusst ist, so kann der Begriff der Materie, als der unzerstörbaren Grund- lage alles Existirenden, indem er nur die Realisation einer uns a priori gegebenen Form des Erkennens ist, insofern seine Stelle unter den Erkenntnissen a priori einnehmen. Denn sobald wir ein Wirkendes anschauen, stellt es sich eo ipso als materiell dai-, wie auch umge- kehrt, ein Materielles nothvvendig als wirksam : es sind in der That Wechselbegrift'e. Daher wird das Wort ,, wirklich" als Synonym von ,, materiell" gebraucht: auch das Griechische xai' evsp-j-eiav, im Gegensatz von xaxa ouva[xiv, beurkundet den selben Ursprung, da Evsp^eia das Wirken überhaupt bedeutet: eben so actu, im Gegensatz von potentiä; auch das Engli- sche actually für „wirklich". — Was man die Raum- erfüllung oder Undurchdringlichkeit nennt und als das wesentliche Merkmal des Körpers (d. i. des Mate- riellen) angiebt, ist bloss diejenige JVirkimgsart, wel- che a//e« Körpern ohne Ausnahme zukommt, nändich die mechanische. Diese Allgemeinheit, vermöge deren sie zum Begriff eines Körpers gehört und aus diesem Begriff a priori folgt, daher auch nicht weggedacht weiden kann, ohne ihn selbst aufzuheben, ist es allein, die sie vor andern Wirkungsarten, wie die elektrische, die chemische, die leuchtende, die wärmende, aus- zeichnet. Diese Raumerfüllung, oder mechanische Wirkungsart, hat Kant sehr richtig zerlegt in Repul- sions- und Attraktions-Kraft, wie man eine gegebene mechanische Kraft, durch das Parallelogramm der Kräfte, in zwei andere zerlegt. Doch ist jenes im Grunde nur die besonnene Analyse des Phänomens in seine Bestandtheile. Beide Kräfte im Verein stellen den Körper innerhalb seiner Gränzen, d. h. in bestimmtem Volumen dar, während die eine allein ihn ins Unend- liche zerstreuend auflösen, die andere allein ihn in einen Punkt kontrahiren würde. Dieses gegenseitigen Balancements, oder Neutralisation, ungeachtet, wirkt der Körper noch mit der ersten Kraft repellirend auf andere Körper, die ihm den Raum streitig machen, imd mit der andern attrahirend auf alle Körper über- 62 haupt, in der Gravitation; so dass die zwei Kräfte doch nicht in ihrem Produkt, dem Körper, erlöschen, wie etwan zwei in entgegengesetzter Richtung gleich wir- kende Stosskräfte, oder -j- E und — E, oder Oxygen und Hydrogen im Wasser. Dass Undurchdringlich- keit und Schwere wirklich genau zusammenhängen, bezeugt, obwohl wir sie in Gedanken trennen können, ihre empirische Unzertrennlichkeit, indem nie eine ohne die andere auftritt. Ich darf jedoch nicht unerwähnt lassen, dass die hier angezogene Lehre Kants, welche den Grundge- danken des zweiten Hauptstücks seiner „Metaphysi- schen Anfangsgründe der Naturwissenschaft", also der Dynamik, ausmacht, bereits vor Kant deutlich und ausführlich dargelegt war, von Priestley, in seinen so vortrefflichen Disquisitions on matter and spirit, Sect. I et 2, welches Buch 1777, in der zweiten Auflage 1 782, erschien, währendjene Metaphysischen Anfangs- gründe von 1786 sind. Unbewusste Reminiscenzen lassen sich allenfalls bei Nebengedanken, sinnreichen Einfallen, Gleichnissen u. dgl. annehmen, nicht aber bei Haupt- und Grund-Gedanken. Sollen wir also glauben, dass Kant jene so wichtigen Gedanken eines Andern sich stillschweigend zugeeignet habe? Und dies aus einem damals noch neuen Buch? Oder aber, dass dieses Buch ihm unbekannt gewesen und der selbe Gedanke binnen kurzer Zeit in zwei Köpfen entsprungen sei? — Auch die Erklärung, welche Kant in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Natur- wissenschaft" (erste Auflage S. 88, Rosenkranzische Ausgabe S. 384), vom eigentlichen Unterschiede des Flüssigen vom Festen gießt, ist im Wesentlichen schon zu finden in Kaspar Friedr. Wolff s „Theorie von der Generation", ßerün 1764, S. i32. Was sollen wir aber sagen, wenn wir Kants wichtigste und glänzendste Grundlehre, die von der Idealität des Raumes und der bloss phänomenalen Existenz der Körperwelt, schon dreissig Jahre früher ausgesprochen finden von Maupertuis? wie Dies des Näheren zu ersehen ist aus Frauenstädt's Briefen über meine Philosophie, Brief i {. Maupertuis spricht diese paradoxe Lehre so entschie- 63 den und doch ohne Hinzufügnnj^ eines Beweises aus, dass man verniuthen niuss, auch er hahe sie wo an- ders hergenommen. Es wäre sehr wünsdienswerth, dass man der Sache weiter nachforschte; imd da dies mühsame und weitläuftige Untersuchunj^en erfordert, so könnte wohl irgend eine Deutsche Akademie eine Preisfrage darüber aufstellen. Wie Kant hier zu Priest- ley, vielleicht auch zu Kaspar JVolff^ und zu Mauper- tuis oder dessen Vordermann, so steht zu ihm Laplace, dessen bewunderungswürdige und gewiss richtige Lehre vom Ursprung des Planetensystems, dargelegt in seiner Exposition du Systeme du monde Liv. V, c. 2, der Hauptsache und den Grundgedanken nach, ungefähr fünfzig Jahr früher, nämlich lyST), vorge- tragen war von Kant in seiner „Naturgeschichte und Theorie des Himmels", und vollkommener 1763 in seinem „Einzig möglichen Beweisgrund des Daseyns Gottes", Kap. 7; und da er in letzterer Schrift auch zu verstehen giebt, dass Lambeit in seinen „Kosmolo- gischen Briefen", 1761, jene Lehre stillschweigend von ihm entlehnt habe, diese Briefe aber, um die selbe Zeit, auch französisch erschienen sind (Lettres cosmo- logiqvies sur la Constitution de Tunivers); so müssen wir annehmen, dass Laplace jene Kantische Lehre gekannt hat. Zwar stellt er, wie es seinen tiefern astro- nomischen Kenntnissen angemessen ist, die Sache gründlicher, schlagender, ausführlicher und doch ein- facher dar, als Kant: aber in der Hauptsache ist sie schon bei diesem deutlich vorhanden, und würde, bei der hohen Wichtigkeit der Sache, allein hinreichend seyn, seinen Namen unsterblich zu machen. — Es muss uns höchlich betrüben, wenn wir die Köpfe ersten Ranges einer Unredlichkeit verdächtig finden, die selbst denen des letzten zur Schande gereicht; in- dem wir fühlen, dass einem reichen Mann Diebstahl noch weniger zu verzeihen wäre, als einem armen. Wir dürfen aber nicht dazu schweigen; denn hier sind wir die Nachwelt und müssen gerecht seyn; wie wir hoffen, dass auch gegen uns einst die Nachwelt (jerecht seyn werde. Daher will ich zu jenen Fällen noch als drittes Seitenstück anführen, dass die Grund- 64 gedanken der „Metamorphose der Pflanzen", von Goethe, bereits 1764 ausgesprochen waren von Kaspar Friedrich fVol ff'in seiner „ Theorie von der Generation " , S. 148, 229, 243 u. s. w. — Ja, ist es denn anders mit dem Gravitationssy stein? dessen Entdeckung, auf dem Europäischen Festlande, noch immer dem Neivton zugeschrieben wird; während in England wenigstens die Gelehrten sehr wohl wissen, dass sie dem Robert Hooke angehört, welcher sie schon im Jahre 1666, in einer Communication to the Royal Society, zwar nur als Hypothese und ohne Beweis, aber ganz deutlich darlegte. Die Hauptstelle aus dieser ist abgedruckt in Dugald Stewart's Philosophy of the human mind, Vol. 2, p. 434? ^^^ wahrscheinlich aus R. Hooke's Posthumous works entnommen. Den Hergang der Sache und wie Newton dabei ins Gedränge kam, findet man auch in der Biographie universelle, article New- ton. Als ausgemachte Sache wird Hooke' s Prioriät be- handelt in einer kurzen Geschichte der Astronomie, Quarterly review, August 1828, Das Ausführlichere über diesen Gegenstand findet man in meinen Parer- gis, Bd. H, §. 86. Die Geschichte vom Fall eines Apfels ist ein eben so grundloses, als beliebtes Märchen und ohne alle Autorität. 2) Zu Nr. 18 der Materie. Die Grösse der Be^vegung (quantitas motus, schon bei Kartesius) ist das Produkt der Masse in die Ge- schwindigkeit. Dieses Gesetz begründet nicht nur in der Mechanik die Lehre vom Stoss, sondern auch in der Statik die Lehre vom Gleichgewicht. Aus der Stosskraft, welche zwei Körper, bei gleicher Geschwindigkeit, äussern, lässt sich das Verhältniss ihrer Massen zu einander bestimmen: so wird von zwei gleich schnell schla- genden Hämmern der von grösserer Masse den Nagel tiefer in die Wand, oder den Pfahl tiefer in die Erde treiben. Z. B. ein Hammer, dessen Gewicht sechs Pfund ist, wird, bei einer Geschwindigkeit = 6, so viel wirken wie ein Hammer von drei Pfund, bei einer Geschwin- digkeit =z \i: denn in beiden Fällen ist die Grösse der Bewegung =1 36. Von zwei gleich schnell rollenden 5 Schopenhauer II UJ Ku{jelnwird die von grösserer Masse einedritteruhende Kugel weiter fortstossen, als die von kleinerer Masse es kann: weil die Masse der ersteren, muliiplicirt mit der gleichen Geschwindigkeit, ein grösseres Quantum der Bewegung ergiel)t. Die Kanone reicht Aveiter als die Flinte, weil dort die gleiche Geschwindigkeit, einer viel grössern Masse mitgetheilt, ein viel grösseres Quan- tum Bewegung liefert, welches der ermattenden Ein- wirkung derSchwerelänger widersteht. Aus dem näm- lichen Grunde wird der selbe Arm eine bleierne Kugel weiter werfen, als eine steinerne von gleicher Grösse, oder einen grössern Stein weiter, als einen ganz kleinen. Daher auch reicht ein Kartätschenschuss nicht so weit, wie der Schuss mit der Kugel. Das selbe Gesetz liegt der Lehre vom Hebel und von der Waage zum Grunde: denn auch hier hat die kleinere Masse, am längeren Hebelarm oder Waage- balken, beim Fallen eine grössere Geschwindigkeit, mit welcher multiplicirt sie der, am kürzern Arm behnd- lichen, grössern Masse an Grösse der Beivegung gleich kommen, ja, sie übertreflen kann. In dem durch das Gleichgeu'iclit herbeigeführten Zustande der Ruhe ist jedoch diese Geschwindigkeit bloss intentionell, oder virtuell, potentia nicht actu, vorhanden, wirkt jedoch so gut wie actu, welches sehr merkwürdig ist. INach diesen in Erinnerung gebrachten Wahrheiten wird die folgende Erklärung leichter fasslich seyn. Die Quantität einer gegebenen Materie kann über- haupt nur nach ihrer Kraft geschätzt und diese nur an ihrer Aeusserung evkuinnl werden. Diese Aeusserung kann, wo die Materie bloss ihrer Quantität, nicht ihrer Qualität nach in Betracht kommt, nur eine mechanische seyn, d. h. nur bestehen in der Bewegung, die sie an- derer Materie mitteilt. Denn erst in der Bewegung wird die Kraft der Materie gleichsam lebendig: daher der Ausdruck lebendige Kraft für die Kraftäusserung der bewegten Materie. Denmach ist für die Quantität ge- gebener Materie das alleinige Maass die G)'össe ihrer Bewegung. In dieser aber, wenn sie gegeben ist, tritt die Quantität der Materie noch mit dem andern Faktor derselben, der Geschwindigkeit, versetzt und verschmol- 66 zen auf: dieser andere Faktor also muss ausgeschieden werden, wenn man die Quantität der Materie (die Masse) erkennen will. Nun wird zwar die Geschwin- S rft^Ä:ezY unmittelbar erkannt: denn sie ist q^- Alleinder andere Faktor, der durch Ausscheidung dieses übrig bleibt, also die Masse, ist stets nur lelativ erkennbar, nämlich im Vergleich mit andern Massen, die aber selbst wieder nur mittelst der Grösse ihrer Bewegung^ also in ihrer Versetzung mit der Geschwindigkeit, erkennbar sind. Man muss also ein Quantum Bewegung mit dem andern vergleichen, dann aus beiden die Geschwindig- keit abrechnen, um zu ersehen wie viel jedes derselben seiner Masse verdankte. Dies geschieht durch das Wägen der Massen gegen einander, in welchem näm- lich diejenige Gi^össe der Bewegung, welche, in jeder der beiden Massen, die auf beide nur nach Maassgabe ihrer Quantität wirkende Anziehungskraft der Erde erregt, verglichen wird. Daher giebt es zwei Arten des Wagens: nämlich entweder ertheilt man den beiden zu vergleichenden Massen ^/e?cAe Geschwindigkeit, um zu ersehen, welche von beiden der andern jetzt noch Bewegung mittheilt, also selbst ein grösseres Quantum derselben hat, welches, da die Geschwindigkeit auf beiden Seiten gleich ist, dem andern Faktor der Grösse der Bewegung, also der Masse, zuzuschreiben ist (Hand- waage) ; oder aber man wägt dadurch, dass man unter- sucht, wie viel Gesdnvindigkeit die eine Masse mehr erhalten muss, als die andere hat, um dieser an Grösse der Bewegung gleich zu kommen, mithin von ihr sich keine mehr mitthei/en zu lassen; da dann in dem Ver- hältniss, wie ihre Geschwindigkeit die der andern über- treffen muss, ihre Masse, d. h. die Quantität ihrer Ma- terie, geringer ist, als die der andern (Schnellwaage). Diese Schätzung der Massen durch Wägen beruht auf dem günstigen Umstand, dass die bewegende Kraft, an sich selbst, auf beide ganz gleichmässig wirkt, und jede von beiden in der Lage ist, ihren Ueberschussan Grösse der Bewegung unmittelbar der andern mitzu- theilen, wodurch er sichtbar wird. Das Wesentliche dieser Lehren ist längst, \on New- 5' 67 ton und Kant, ausgesprochen worden, aber durch den Zusammenhang und die Klarheit dieser Darstellung glaube ich denselben eine Fasslichkeit verliehen zu haben, welche Jedem die Einsicht zugänglich macht, die ich zur Rechtfertigung des Satzes Nr. 1 8 nöthig erachtete. 68 ZWEITE HÄLFTE DIE LEHRE VON DER ABSTRAKTEN VORSTELLUNG ODER DEM DENKEN tnxv\/vvw\wnx\nn/wnnn/vwnn/wvvvw\nwv^^ KAPITEL 5*). VOM VERNÜNFTLOSEN INTELLEKT. EINE vollkommene Kenntniss desBewusstseyns der Thiere müsste möglich seyn; sofern wir es durch blosse Wegnahme gewisser Eigenschaften des unse- rigen konstruieren können. Jedoch greift in dasselbe andererseits der Instinkt ein, welcher in allen Thieren entwickelter, als im Menschen ist, und in einigen bis zum Kunsttriebe geht. Die Thiere haben Verstand, ohne Vernunft zu haben, mithin anschauliche, aber keine abstrakte Erkenntniss: sie apprehendiren richtig, fassen auch den unmittel- baren Kausalzusammenhang auf, die oberen Thiere selbst durch mehrere Glieder seiner Kette; jedoch denken sie eigentlich nicht. Denn ihnen mangeln die Begrijfe, d. h. die abstrakten Vorstellungen. Hievon aber ist die nächste Folge der Mangel eines eigent- lichen Gedächtnisses, welchem selbst die klügsten Thiere noch unterliegen, und dieser eben begründet hauptsächlich den Unterschied zwischen ihrem Be- wusstseyn und dem menschlichen. Die voUkoinmene Besonnenheit nämlich beruht auf dem deutlichen Be- wusstseyn der Vergangenheit und der eventuellen Zukunft ab solcher und im Zusammenhange mit *) Dieses Kapitel, mit sammt dem folgenden, steht in Bezie- hung auf §. 8 und 9 des ersten Bandes. [S. 43 — 64 ^' ^O 71 der Gegenwart. Das hlezu erforderte eigentliche Gedächtniss ist daher eine geordnete, zusauirnenhän- gende, denkende Riickerinnerung: eine solche aber ist nur möglich mittelst allgemeiner Begrijfe, deren Hülfe sogar das ganz Individuelle bedarf, um in sei- ner Ordnung und Verkettung zurückgerufen zu wer- den. Denn die unübersehbare Menge gleichartiger und ähnlicher Dinge und Begebenheiten, in unserm Lebenslauf, lässt nicht unmittelbar eine anschauliche und individuelle Rückerinnerung jedes Einzelnen zu, als für welche weder die Kräfte der umfassendesten Erinnerungsfähigkeit, noch unsere Zeit ausreichen würde: daher kann dies Alles nur aufbewahrt werden mittelst Subsumtion unter allgemeine Begriffe und daraus entstehende Zurückführung auf verhältniss- mässig wenige Sätze, mittelst welcher wir sodann eine geordnete und genügende Uebersicht unserer Ver- gangenheit beständig zu Gebote haben. Bloss einzelne Scenen der Vergangenheit können wir uns anschau- lich vergegenwärtigen ; aber der seitdem verflossenen Zeit und ihres Inhaltes sind wir uns bloss in abstracto bewusst, mittelst Begriffen von Dingen und Zahlen, welche nun Tage und Jahre, nebst deren Inhalt, ver- treten. Das Erinnerungsvermögen der Thiere hingegen ist, wie ihr gesammter Intellekt, auf das Anscliauliche beschränkt und besteht zunächst bloss darin, dass ein wiederkehrender Eindruck sich als bereits dagewesen ankündigt, indem die gegenwärtige Anschauung die Spur einer frühern auffrischt: ihre Erinnerung ist da- her stets durch das jetzt wirklieb Gegenwärtige ver- mittelt. Dieses regt aber eben deshalb die Empfindung und Stimmung, welche die frühere Erscheinung her- vorgebracht hatte, wieder an. Demnach erkennt der Hund die Bekannten, unterscheidet Freunde und Fein- de, findet den ein Mal zurückgelegten Weg, die schon besuchten Häuser, leicht wieder, und wird durch den Anblick des Tellers, oder den des Stocks, sogleich in die entsprechende Stimmung versetzt. Auf der Be- nutzung dieses anschauenden Erinnerungsvermögens und der bei den Thieren überaus starken Macht der Gewohnheit beruhen alle Arten der Abrichtung: diese 72 ist daher von der menschlichen Erziehung gerade so verschieden, wie Anschauen von Denken. Auch wir sind, in einzelnen Fällen, wo das eigentliche Gedächt- niss seinen Dienst versagt, auf jene hloss anschauende Rückerinnerung heschränkt, wodurch wir den Unter- schied beider aus eigener Erfahrung ermessen können, z. B. beim Anblick einer Person, die uns bekannt vor- kommt, ohne dass wir uns erinnern, wann und wo wir sie gesehen haben; desgleichen, wann wir einen Ort betreten, an welchem wir in früher Kindheit, also bei noch unentwickelter Vernunft, gewesen, solches daher ganz vergessen haben, jetzt aber doch den Ein- druck des Gegenwärtigen als eines bereits Dagewese- nen empfinden. Dieser Art sind alle Erinnerungen der Thiere. Nur kommt noch hinzu, dass, bei den klüg- sten, dieses bloss anschauende Gedächtniss sich bis zu einem gewissen Grade von Phantasie steigert, welche ihm wieder nachhilft und vermöge deren z. B. dem Hunde das Bild des abwesenden Herrn vorschwebt und Verlangen nach ihm erregt, daher er ihn, bei längerem Ausbleiben, überall sucht. Auf dieser Phan- tasie beruhen auch seine Träume. Das Bewusstseyn der Thiere ist demnach eine blosse Succession von Gegenwarten, deren jede aber nicht vor ihrem Ein- tritt als Zukunft, noch nach ihrem Verschwinden als Vergangenheit dasteht; als welches das Auszeichnende des menschlichen Bewusstseyns ist. Daher eben haben die Thiere auch unendlich weniger zu leiden^ als wir, weil sie keine andern Schmerzen kennen, als die, wel- che die Gegenivartnv\\nilte\h^Y herbeiführt. Die Gegen- wart ist aber ausdehnungslos; hingegen Zukunft und Vergangenheit, welche die meisten Ursachen unserer Leiden enthalten, sind weit ausgedehnt, und zu ihrem wirklichen Inhalt kommt noch der bloss mögliche, wodurch dem Wunsch und der Furcht sich ein un- absehbares Feld öffnet: von diesen hingegen unge- stört geniessen die Thiere jede auch nur erträgliche Gegenwart ruhig und heiter. Sehr beschränkte Men- schen mögen ihnen hierin nahe kommen. Ferner kön- nen die Leiden, welche rein der Gegenwart angehören, bloss physische seyn. Sogar den Tod empfinden eigent- lieh die Thiere nicht: erst hei seinem Eintritt könn- ten sie ihn kennen lernen; aber dann sind sie schon nicht mehr. So ist denn das Leben des Thieres eine fortgesetzte Gegenwart. Es lebt dahin ohne Besinnung und geht stets ganz in der Gegenwart auf: selbst der grosse Haufen der Menschen lebt mit sehr geringer Besinnung. Eine andere Folge der dargelegten Be- schaffenheit des Intellekts der Thiere ist der genaue Zusammenhang ihres Bewusstseyns mit ihrer Um- gebung. Zwischen dem Thiere und der Aussenwelt steht nichts: zwischen uns und dieser stehen aber immer noch unsere Gedanken über dieselbe, und machen oft uns ihr, oft sie uns unzugänglich. Nur bei Kindern und sehr rohen Menschen wird diese Vormauer bisweilen so dünn, dass um zu wissen, was in ihnen vorgeht, man nur zu sehen braucht, was um sie vorgeht. Daher auch sind die Thiere weder des Vorsatzes, noch der Verstellung fähig: sie haben nichts im Hinterhalt. In dieser Hinsicht ver- hält sich der Hund zum Menschen, wie ein gläserner zu einem metallenen Becher, und dies trägt viel bei, ihn uns so werth zu machen: denn es gewährt uns ein grosses Ergötzen, alle unsere Neigungen und Affekte, die wir so oft verhehlen, in ihm bloss und haar zu Tage gelegt zu sehen. Ueberhaupt spielen die Thiere gleichsam stets mit offen hingelegten Karten: daher sehen wir mit so vielem Vergnügen ihrem Thun und Treiben unter einander zu, sowohl wenn sie der selben, wie wenn sie verschiedenen Species angehören. Ein gewisses Gepräge von Unschuld charakterisirt dasselbe, im (Gegensatz des menschlichen Thuns, als welches, durch den Eintritt der Vernunft, und mit ihr der Be- sonnenheit der Unschuld der Natur entrückt ist. Da- für aber hat es durchweg das Gepräge der Vorsätz- lichkeit, deren Abwesenheit und mithin das Bestimmt- werden durch den äugen blicklichen Impuls, denGrund- charakter alles thierischen Thuns ausmacht. Eines eigentlichen Vorsatzes nämlich ist kein Thier fähig: ihn zu fassen und zu befolgen ist das Vorrecht des Menschen, und ein höchst folgenreiches. Zwar kann ein Instinkt, wie der der Zugvögel, oder der der Bienen, 74 ferner auch ein bleibender, anhaltender Wunsch, eine Sehnsucht, wie die des Hundes nach seinem abwesen- den Herrn, den Schein des Vorsatzes hervorbringen, ist jedoch mit diesem nicht zu verwechseln. — - Alles Dieses nun hat seinen letzten Grund in dem Verhält- niss zwischen dem menschlichen und dem thierischen [ntellekt, welches sich auch so ausdrücken iässt: die Thiere haben bloss eine unmittelbare Erkenntniss, wir neben dieser auch eine mittelbare^ und der Vorzug, den in manchen Dingen, z. B. in der Trigonometrie und Ana- lysis, im Wirken durch Maschinen statt durch Hand- arbeit u. s. w., das Mittelbare vor dem Unmittelbaren hat, findet auch hier Statt. Diesemnach wieder kann man sagen: die Thiere haben bloss einen einfachen Intellekt, wir einen doppelten^ nämlich neben dem an- schauenden noch den denkenden ; und die Operationen beider gehen oft imabhängig von einander vor sich : wir schauen Eines an und denken an ein Anderes ; oft wiederum greifen sie in einander. Diese Bezeichnimg der Sache macht die oben erwähnte wesentliche Offen- heit undNaivetät der Thiere, im Gegensatz der mensch- lichen Verstecktheit, besonders begreiflich. Inzwischen ist das Gesetz Natura non facit saltus auch in Hinsicht auf den Intellekt der Thiere nicht ganz aufgehoben; wenn gleich der Schritt vom thieri- schen zum menschlichen Intellekt wohl der weiteste ist, den die Natur, bei Hervorbringung ihrer Wesen, gethan hat. Eine schwache Spur von Reflexion, von Vernunft, von Wortverständniss, von Denken, von Vorsatz, von Ueberlegung, giebt sich in den vorzüg- lichsten Individuen der obersten Thiergeschlechter allerdings bisweilen kund, zu unserer jedesmaligen Verwunderung. Die auffallendesten Züge der Art hat der Elephant geliefert, dessen sehr entwickelter Intel- lekt noch durch die Uebung und Erfahrung einer bis- weilen zweihundertjährigen Lebensdauer erhöht und unterstützt wird. Von Prämeditation, welche uns an Thieren stets am meisten überrascht, hat er öfter un- verkennbare Zeichen gegeben, die daher in allbekann- ten Anekdoten aufbewahrt sind : besonders gehört dahin die von dem Schneider, an welchem er, wegen eines 75 Nadelstiches, Rache nahm. Tcli will jedoch ein Seiten- stück zu derselben, weil es den Vorzug hat, durch ge- richtliche Untersuchung beglaubigt zu seyn, hier der Vergessenheit entreissen. Zu Morpeth, in England, wurde, am i'] . August i83o, eine Coroners inquest gehalten, über den von seinem Elephanten getödteten Wärter Baptist Bernhai'd : aus dem Zeugenverhör er- gab sich, aass er zwei Jahre vorher den Elephanten gröblich beleidigt und jetzt dieser ohne Anlass, aber bei günstiger Gelegenheit, ihn plötzlich gepackt und zerschmettert hatte. (Siehe den Spectator und andere Englische Zeitungen jener Tage.) Zur speciellen Kennt- niss des Intellekts der Thiere empfehle ich das vor- treffliche Buch des Leroy, Sur rintelligence des ani- niaux, nouv. ed. i8o9,. KAPITEL 6. ZUR LEHRE VON DER ABSTRAKTEN, ODER VERNUNFT-ERKENNTNISS. DER äussere Eindruck auf die Sinne, sammt der Stimmung, die er allein und für sich in uns her- vorruft, verschwindet mit der Gegenwart der Dinge. Jene Beiden können daher nicht selbst die eigentliche jEr/rtÄ/'M/j^^ ausmachen, deren Belehrung für die Zukunft unser Handeln leiten soll. Das Bild jenes Eindrucks, welches die Phantasie aufbewahrt, ist schon sogleich schwächer als er selbst, schwächt sich täglich mehr ab und verlischt mit der Zeit ganz. Weder jenem augenblicklichen Verschwinden des Eindrucks, noch dem allmäligen seines Bildes unterworfen, mithin frei von der Gewalt der Zeit, ist nur Eines: der Begriff. In ihm also muss die belehrende Erfahrung niederge- legt seyn, und er allein eignet sich zum sichern Lenker unserer Schritte im Leben. Daher sagt Seneka mit Recht: Si vis tibi omnia subjicere, te subjice rationi -6 (ep. 37). Und ich füge hinzu, dass, um im wirklichen Leben den Andern überlegen zu seyn, überlegt seyn, d. h. nach Begriffen verfahren, die unerlässhche Be- dingungist. Ein so wichtiges Werkzeug der Intelhgenz, wie der Begriff ist, kann offenbar nicht identisch seyn mit dem Wort, diesem blossen Klang, der als Sinnes- eindruck mit der Gegenwart, oder als Gehörphantasma mit der Zeit verklänge. Dennoch ist der Begriff eine Vorstellung, deren deutliches Bewusstseyn und deren Aufbewahrung an das Wort gebunden ist: daher be- nannten die Griechen Wort, Begriff, Verhältniss, Ge- danken und Vernunft mit dem Namen des Ersteren: 6 Xofo?. Dennoch ist der Begriff sowohl von dem Worte, an welches er geknüpft ist, als auch von den Anschauungen, aus denen er entstanden, völlig ver- schieden. Er ist ganz anderer Natur, als diese Sinnes- eindrücke. Jedoch vermag er alle Resultate der An- schauung in sich aufzunehmen, um sie, auch nach dem längsten Zeitraum, unverändert und unvermin- dert wieder zurückzugeben : erst hiedurch entsteht die Erfahrung. Aber nicht das Angeschaute, noch das dabei Empfundene, bewahrt der Begriff' auf, sondern dessen Wesentliches, Essentielles, in ganz veränderter Gestalt, und doch als genügenden Stellvertreter Jener. So lassen sich die Blumen nicht aufbewahren, aber ihr ätherisches Oel, ihre Essenz, mit gleichem Geruch und gleichen Kräften. Das Handeln, welches richtige Begriffe zur Richtschnur gehabt hat, wird, im Resul- tat, mit der beabsichtigten Wirklichkeit zusammen- treffen. — Den unschätzbaren Werth der Begriffe und folglich der Vetmunft kann man ermessen, wenn man auf die unendliche Menge und Verschiedenheit von Dingen und Zuständen, die nach und neben einander dasind, den Blick wirft und nun bedenkt, dass Sprache und Schi'ift (die Zeichen der Begriffe) dennoch jedes Ding und jedes Verhältniss, wann und wo es auch ge- wesen seyn mag, zu unserer genauen Kunde zu bringen vermögen; weil eben verhältnissmässig wenige Begriffe eine Unendlichkeit von Dingen und Zuständen be- fassen und vertreten. — Beim eigenen Nachdenken ist die Abstraktion ein Abwerfen unnützen Gepäckes, 77 zum Behuf leichterer Ilandhabiin^j der zu ver{jleichen- den und darum hin und her zu werfenden Erkennt- nisse. Man lässt nämlich dabei das viele Unwesent- liche, daher nvu' Verwirrende, der realen Dinfje weg, und operirt mit wenif^^en, aber wesentlichen, in ab- stracto {gedachten Bestimmungen. Aber eben weil die Allgemeinbegriffe nur durch Wegdenken und Aus- lassen vorhandener Bestimmungen entstehen und da- her je allgemeiner, desto leerer sind, beschrankt der iSutzen jenes Verfahrens sich auf die Ferorbeituruj unserer bereits erworbenen Erkenntnisse, zu der auch das Schliessen aus den in ihnen enthaltenen Prämissen gehört. Neue Grundeinsichten hingegen sind nur aus der anschaulichen, als der allein vollen und reichen Erkenntniss zu schöpfen, mit Hülfe der LIrtheilskraft. — Weil ferner Inhalt und Umfang der Begriffe in entgegengesetztem Verhältnisse stehen, also je mehr unter einem Begriff, desto weniger in ihm gedacht wird; so bilden die Begriffe eine Stufenfolge, eine Hierarchie, vom speciellsten bis zum allgemeinsten, an deren unterm Ende der scholastische Bealismus, am obern der Nominalismus beinahe Recht behält. Denn der speciellste Begriff ist schon beinahe das In- dividuum, also beinahe real: und der allgemeinste Begriff, z. B. das Seyn (d. i. der Infinitiv der Kopula), beinahe nichts als ein Wort. Daher auch sind philo- sophische Systeme, die sich innerhalb solcher sehr allge- meinen Begriffe halten, ohne auf das Reale herabzu- kommen, beinahe blosser Wortkram. Denn da alle Abstraktion im blossen Wegdenken besteht; so behält man, je weiter man sie fortsetzt, desto weniger übrig. Wenn ich daher solche moderne Philosopheme lese, die sich in lauter sehr weiten Abstraktis fortbewegen; so kann ich bald, trotz aller Aufmerksamkeit, fast nichts mehr dabei denken; weil ich eben keinen Stoff zum Denken erhalte, sondern mit lauter leeren Hül- sen operiren soll, weiches eine Empfindung giebt, der ähnlich, die beim Versuch sehr leichte Körper zu werfen entsteht: die Kraft nämlich und auch die An- strengung ist da; aber es fehlt am Objekt, sie aufzu- nehmen, um das andere Moment der Bewegung her- -78 zustellen. Wer dies erfahren will, lese die Schriften der Schellingiancr und, noch besser, der Hegelianer. — Einfache Begriffe niüssten eigentlich solche seyn, die unauflösbar wären; demnach sie nie das Subjekt eines analytischen Urtheils seyn könnten: dies halte ich für unmöglich; da, wenn man einen Begriff denkt, man auch seinen Inhalt muss angeben können. Was man als Beispiele von einfachen Begriffen anzuführen pflegt, sind gar nicht mehr Begriffe, sondern theils blosse Sinnesempfindungen, wie etwan die einer be- stimmten Farbe, theils die a priori uns bewusslen Formen der Anschauung; also eigentlich die letzten Elemente der oiischaiienden Erkenntniss. Diese selbst aber ist für das System aller unserer Gedanken Das, was in der Geognosie der Granit ist, der letzte feste Boden, der Alles trägt und über den man nicht hin- aus kann. Zu?' Deutlichkeit eines Begriffes nämlich ist erfordert, nicht nur, dass man ihn in seine Merkmale zerlegen, sondern auch dass man diese, falls auch sie Abstrakta sind, abermals analysiren könne, und so immerfort, bis man zur anschauenden Erkenntniss her- abgelangt, mithin auf konkrete Dinge hinweist, durch deren klare Anschauung man die letzten Abstrakta belegt und dadurch diesen, wie auch allen auf ihnen beruhenden höhern Abstraktionen, Realität zusichert. Daher ist die gewöhnliche Erklärung, der Begriff sei deutlich, sobald man seine Merkmale angeben kann, nicht ausreichend: denn die Zerlegung dieser Merk- male führt vielleicht immerfort nur auf Begriffe, ohne dass zuletzt Anschauungen zum Grunde lägen, welche allen jenen Begriffen Realität ertheilten. Man nehme z. B. den Begriff" ,, Geist" und analysiere ihn in seine Merkmale, „ein denkendes, wollendes, immaterielles, einfaches, keinen Raum füllendes, unzerstörbares Wesen"; so ist dabei doch nichts Deutliches gedacht; weil die Elemente dieser Begriffe sich nicht durch Anschauungen belegen lassen: denn ein denkendes Wesen ohne Gehirn ist wie ein A^erdauendes Wesen ohne Magen. Klar sind eigentlich nur Anschauungen, nicht Begriffe: diese können höchstens deutlich seyn. Darum auch hat man, so absurd es war, „klar und 79 verworren" zu einander gestellt und als synonym ge- braucht, als man die anschauende Erkenntniss für eine nur verworrene abstrakte erklärte, weil nämlich diese letztere die allein deutliche wäre. Dies hat zu- erst Duiia Skotus gethan, aber auch noch Leibnitz hat im Grunde diese Ansicht, als auf welcher seine Iden- titas indiscernibilium beruht: man sehe /lonfs Wider- legung derselben, S. 275 der ersten Ausgabe der „Kritik der reinen Vernunft". Die oben berührte enge Verbindung des Begriffs mit dem Wort, also der Sprache mit der Vernunft, beruht im letzten Grunde auf Folgendem. Unser ganzes Be- wusstseyn, mit seiner innern und äussern Wahrneh- mung, hat durchweg die Zeit zur Form. Die Begriffe hingegen, als durch Abstraktion entstandene, völlig allgemeine und von allen einzelnen Dingen verschie- dene Vorstellungen, haben, in dieser Eigenschaft, ein zwar gewissermaassen objektives Daseyn, welches je- doch keiner Zeitreihe angehört. Daher müssen sie, um in die vmmittelbare Gegenwart eines individuellen Bewusstseyns treten, mithin in eine Zeitreihe einge- schoben werden zu können, gewissermaassen wieder zur Natur der einzelnen Dinge herabgezogen, indivi- dualisirt und daher an eine sinnliche Vorstellung ge- knüpft werden: diese ist das Wort. Es ist demnach das sinnliche Zeichen des Begriffs und als solches das nothwendige Mittel ihn zu ßxij'en, d. h. ihn dem an die Zeitform gebundenen Bewusstseyn zu vergegen- wärtigen und so eine Verbindung herzustellen zwischen der Vernunft, deren Objekte bloss allgemeine, weder Ort noch Zeitpunkt kennende Universalia sind, und dem an die Zeit gebundenen, sinnlichen und insofern bloss thierischen Bewusstseyn. Nur vermöge dieses Mittels ist uns die willkürliche Reproduktion, also die Erinnerung und Aufbewahrung der Begriffe, mög- lich und disponibel, und erst mittelst dieser die mit denselben vorzunehmenden Operationen, also urthei- len, schliessen, vergleichen, beschränken u. s. w. Zwar geschieht es bisweilen, dass Begriffe auch ohne ihre Zeichen das Bewusstseyn beschäftigen, indem wir mit- unter eine Schlusskette so schnell durchlaufen, dass 80 wir in solcher Zeit nicht hätten die Worte denken können. Allein dergleichen sind Ausnahmen, die eben eine grosse Uebung der Vernunft voraussetzen, welche sie nur mittelst der Sprache hat erlangen können. Wie sehr der Gebrauch der Vernunft an die Sprache gebunden ist, sehen wir an den Taubstummen, welche, wenn sie keine Art von Sprache erlernt haben, kaum mehr Intelligenz zeigen, als die Orangutane und Elephanten: denn sie haben fast nur potentiä nicht actu Vernunft. Wort und Sprache sind also das unentbehrliche Mittel zum deutlichen Denken. Wie aber jedes Mittel, jede Maschine, zugleich beschwert und hindert; so auch die Sprache : weil sie den unendlich nüancirten, beweglichen und modifikabeln Gedanken in gewisse feste, stehende Formen zwängt und indem sie ihn fixiert, ihn zugleich fesselt. Dieses Hinderniss wird durch die Erlernung mehrerer Sprachen zum Theil beseitigt. Denn indem, bei dieser, der Gedanke aus einer Form in die andere gegossen wird, er aber in jeder seiner Gestalt etwas verändert, löst er sich mehr und mehr von jeglicher Form vind Hülle ab; wodurch sein selbst-eigenes Wesen deutlicher ins Bewusstseyn tritt und er auch seine ursprüngliche Modifikabilität wieder erhält. Die alten Sprachen aber leisten diesen Dienst sehr viel besser, als die neuen; weil, vermöge ihrer grossen Verschiedenheit von diesen, der selbe Gedanke jetzt auf ganz andere Weise ausgedrückt werden, also eine höchst verschiedene Form annehmen muss; wozu noch kommt, dass die vollkommenere Grammatik der alten Sprachen eine künstlichere und vollkommenere Konstruktion der Gedanken und ihres Zusammenhanges möglich macht. Daher konnte ein Grieche, oder Römer, allenfalls sich an seiner Sprache genügen lassen. Aber wer nichts weiter, als so einen einzigen modernen Patois versteht, wird, im Schreiben und Reden, diese Dürftigkeit bald verrathen, indem .sein Denken, an so armsälige, stereotypische Formen fest geknüpft, ungelenk und monoton ausfallen muss. Genie freilich ersetzt, wie Alles, so auch dieses, z. B, im Shakespeare. 6 Schopenhauer II *^ ' Von dem, was ich §. 9 des ersten Bandes*) dargelegt habe, dass nämlich die Worte einer Rede vollkommen verstanden werden, ohne anschauliche Vorstellungen, Bilder in unserm Kopie zu veranlassen, hat schon eine ganz richtige und sehr ausführliche Auseinander- setzung ^«rAe gegeben, in seiner Inquiry into the Sub- lime and Beautil'ul, P. 5, Sect. 4 et 5; allein er zieht daraus den jjanz falschen Schluss, dass wir die Worte hören, vernehmen und gebrauchen, ohne irgend eine Vorstellung (idea) damit zu verbinden; während er hätte schliessen sollen, dass nicht alle Vorstellungen (ideas) anschauliche Bilder (images) sind, sondern dass gerade die, welche durch Worte bezeichnet wer- den m üssen, blos^^e Begi-ijf'e (a bstract notions) und diese, ihrer Natur zufolge, nicht anschaulich sind. — Eben weil Worte blosse Allgemeinbegriffe, welche von den anschaulichen Vorstellungen durchaus verschieden sind, mittheilen, werden z. B. bei der Erzählung einer Begebenheit, zwar alle Zuhörer die selben Begriffe er- halten; allein wenn sie nachher sich den Vorgang ver- anschaulichen wollen, wird jeder ein anderes Bild da- von in seiner Phantasie entwerfen, welches von dem richtigen, das allein der Augenzeuge hat, bedeutend abweicht. Hierin liegt der nächste Grund (zu welchem sich aber noch andere gesellen) warum jede That- sache durch Weitererzählen nothwendig entstellt wird; nämlich der zweite Erzähler theilt Begriffe mit, die er aus seinem Phantasiebilde abstrahirt hat und aus denen der Dritte sich wieder ein anderes noch ab- weichenderes Bild entwirft, welches er nun wieder in Begriffe umsetzt, und so geht es immer weiter. Wer trocken genug ist, bei den ihm mitgetheilten Begriffen stehen zu bleiben und diese weiter zu geben, wird der treueste Berichterstatter sein. Die beste und vernünftigste Auseinandersetzung über Wesen und Natur der Begriffe, die ich irgendwo habe finden können, steht in Thom. Beids Essays on the powersof human mind. Vol. 2,essay 5,ch. 6. — Die- selbe ist seitdem gemissbilligt worden von Dugald Ste- wart, in dessen Philosophy of the human mind : über die- •) S. 48 (1. A. 82 sen will ich, um kein Papier an ihn zu verschwenden, nur in der Kürze sagen,dass er zu den Vielen {gehört hat, die durch Gunst und Freunde einen unverdienten Ruf erlangten; daher ich nur rathen kann, mit den Schrei- bereien dieses Flachkopfes keine Stunde zu verlieren. Dass übrigens die Vernunft das Vermögen der ab- strakten, der Ferstand aber das der anschaulichen Vorstellungen sei, hat bereits der fürstliche Schola- stiker Picus de Mirandula eingesehen, indem er in seinem Buche De imaginatione, c. 1 1, Verstand und Vernunft sorgfältig unterscheidet und diese für das diskursive, dem Menschen eigenthümüche Vermögen, jenen aljer für das intuitive, der Erkenn tniss weise der Engel, ja, Gottes verwandte erklärt. — Auch Spinoza charakterisirt ganz richtig die Vernunft als das Ver- mögen allgemeine Begriffe ^u bilden : Eth. IT, prop. 4o, schol. 2. — Dergleichen brauchte nicht erwähnt zu werden, wäre es nicht wegen der Possen, welche in den letzten fünfzig Jahren sämmtliche Philosophaster in Deutschland mit dem Begriffe der Vemiunft getrie- ben haben, indem sie, mit unverschämter Dreistigkeit, unter diesem Namen ein völlig erlogenes Vermögen unmittelbarer, metaphysischer, sogenannter übersinn- licher Erkenntnisse einschwärzen wollten, die wirk- liche Vernunft hingegen Verstand benannten, den eigentlichen Verstand aber, als ihnen sehr fremd, ganz übersahen und seine intuitiven Funktionen der Sinn- lichkeit zuschrieben. Wie bei allen Dingen dieser Welt jedem Auskunfts- mittel, jedem Vortheil, jedem Vorzug sich sofort auch neue Nachtheile anhängen; so führt auch dieVernunft, welche dem Menschen so grosse Vorzüge vor den Thieren giebt, ihre besondern Nachtheile mit sich und eröffnet ihm Abwege, auf welche das Thier nie ge- rathen kann. Durch sie erlangt eine ganz neue Art von Motiven, der das Thier unzugänglich ist, Macht über seinen Willen; nämlich die abstrakten Motive, die blossen Gedanken, welche keineswegs stets aus der eigenen Erfahrung abgezogen sind, sondern oft nur durch Rede und Beispiel Anderer, durch Tradi- tion und Schrift, an ihn kommen. Dem Gedanken zu- 6- 83 gänglich geworden steht er sofort auch dem Irrthum offen. Allein jeder Irrthum muss, früher oder später, Schaden stiften, und desto grössern, je grösser er war. Den individuellen Irrthum muss, wer ihn hegt, ein Mal büssen und oft theuer bezahlen: das Selbe wird im Grossen von gemeinsamen Irrthümern ganzer Völ- ker gelten. Daher kann nicht zu oft wiederholt wer- den, dass jeder Irrthum, wo man ihn auch antreffe, als ein Feind der Menschheit zu verfolgen und auszurot- ten ist, und dass es keine privilegirte, oder gar sanktio- nirte Irrthümer geben kann. Der Denker soll sie an- {jreifen; wenn auch die Menschheit, gleich einem Kranken, dessen Geschwür der Arzt berührt, laut da- bei aufschrie. — Das Thier kann nie weit vom Wege der Natur abirren : denn seine Motive liegen allein in der anschaulichen Welt, wo nur das Mögliche, ja, nur das Wirkliche Raum findet: hingegen in die abstrak- ten Begriffe, in die Gedanken und Worte, geht alles nur Ersinnliche, mithin auch das Falsche, das Unmög- liche, das Absurde, das Unsinnige. Da nun Vernunft Allen, Urtheilskraft Wenigen zu Theil geworden; so ist die Folge, dass der Mensch dem Wahne offen steht, indem er allen nur erdenklichen Chimären Preis ge- geben ist, die man ihm einredet, und die, als Motive seines Wollens wirkend, ihn zu Verkehrtheiten und Thorheiten jeder Art, zu den unerhörtesten Extra- vaganzen, wie auch zu den seiner thierischen Natur Widerstrebendesten Handlungen bewegen können. Ei- gentliche Bildung, bei welcher Erkenntniss und Ur- theil Iland in Hand gehen, kann nur Wenigen zuge- wandt werden, und noch Wenigere sind fähig sie aufzunehmen. Für den grossen Haufen tritt überall an ihre Stelle eine Art Abrichtung: sie wird bewerk- stelligt durch Beispiel, Gewohnheit und sehr früh- zeitiges, festes Einprägen gewisser Begriffe, ehe irgend Erfahrung, Verstand und Urtheilskraft dawären, das Werk zu stören. So werden Gedanken eingeimpft, die nachher so fest und durch keine Belehrung zu er- schüttern haften, als wären sie angeboren, wofür sie auch oft, selbst von Philosophen, angesehen worden sind. Auf diesem Wege kann man, mit gleicher Mühe, 84 den Menschen das Richtige und Vernünftige, oder auch das Absurdeste einprägen, z. B. sie gewöhnen, sich diesem oder jenem Götzen nur von heihgemSchauer durchdrungen zu nähern und beim Nennen seines Namens nicht nurm it dem Leibe, sondern auch mit dem ganzen Gemüthe sich in den Staub zu werfen; an Worte, an Namen, an die Vertheidigung der aben- theuerhchsten Grillen, willig ihr Eigenthum und Leben zu setzen; die grösste Ehre und die tiefste Schande beliebig an Dieses oder an Jenes zu knüpfen und da- nach Jeden mit inniger Ueberzeugunghoch zu schätzen, oder zu verachten; aller animalischen Nahrung zu entsagen, wie in Hindustan, oder die dem lebenden Thiere herausgeschnittenen , noch warmen und zucken- den Stücke zu verzehren, wie in Abyssinien; Men- schen zu fressen, wie in Neuseeland, oder ihre Kinder dem Moloch zu opfern; sich selbst zu kastriren, sich willig in den Scheiterhaufen des Verstorbenen zu stürzen, — mit Einem Worte, luas man ivill. Daher die Kreuzzüge, die Ausschweifungen fanatischer Sek- ten, daher Chiliasten und Flagellanten, Ketzerverfol- gungen, Autos de Fe, und was immer das lange Regi- ster menschlicher Verkehrtheiten noch sonst darbietet. Damit man nicht denke, dass nur finstere Jahrhun- derte solche Beispiele liefern, füge ich ein Paar neuere hinzu. Im Jahre i8i8 zogen aus dem Württembergi- schen 7000 Chiliasten in die Nähe des Ararat: weil das, besonders durch Jung-Stillingangekündigte, neue Reich Gottes daselbst anbrechen sollte*). Ga// erzählt, dass zu seiner Zeit eine Mutter ihr Kind getödtet und gebraten habe, um mit dessen Fett die Rheumatismen ihres Mannes zu kuriren**). Die tragische Seite des Irrthums und Vorurtheils liegt im Praktischen, die komische ist dem Theoretischen vorbehalten: hätte man z. B. nur erst drei Menschen fest überredet, dass die Sonne nicht die Ursache des Tageslichts sei; so dürfte man hoffen, es bald als die allgemeine Ueberzeugung gelten zu sehen. Einen widerlichen, geistlosen Schar- ") Illgens Zeitschrift für historische Theologie, 1839, erstes Heft, S. 182. ") Gall et Spurzheim, Des clispositions innees 181 i, p. 253. 85 lataniind beispiellosen Unsiniischmierer, Hegel, konnte man, in Deutschland, als den {jrössten Philosophen aller Zeiten aiisschreien, und viele Tausende haben es, zwanzig Jahre lan{j, steif und fest geglaubt, sogar ausser Deutschland die Danische Akademie, welche für seinen Ruhm {jegen mich aufgetreten ist und ihn als einen summus philosophus hat geltend machen wollen. (Siehe hierüber die Vorrede zu meinen, ,Grnnd- problemen der Ethik"). — Dies also sind die Nach- theile, welche, wegen der Seltenheit der Urtheilskraft, an das Daseyn der Vernunft geknüpft sind. Zu ihnen kommt nun noch die Möglichkeit des Wahnsinns: Thiere werden nicht wahnsinnig; wiewohl die Fleisch- fresser der Wuth, die Grasfresser einer Art Raserei ausgesetzt sind. KAPITEL 7*). VOM VRRHÄLTNISS DER ANSCHAUENDEN ZUR ABSTRAKTEN ERKENNTNISS. DA nun, wie gezeigt worden, die Begriffe ihren Stoff von der anschauenden Erkenntniss ent- lehnen, und daher das ganze Gebäude unserer Ge- dankenwelt auf der Welt der Anschauungen ruht; so müssen wir von jedem Begriff, wenn auch durch Mit- telstufen, zurückgehen können auf die Anschauungen, aus denen er unmittelbar selbst, oder aus denen die Begriffe, deren Abstraktion er wieder ist, abgezogen worden: d.h. wir müssen ihn mit Anschauungen, die zu den Abstraktionen \n\ Verhältniss des Beispiels stehen, belegen können. Diese Anschauungen also liefern den realen Gehalt alles unsers Denkens, und überall, wo sie fehlen, haben wir nicht Begriffe, son- dern blosse Worte im Kopfe gehabt. In dieser Hin- sicht gleicht unser Intellekt einer Zettelbank, die, wenn sie solide seyn soll, Kontanten in Kassa haben ") Dieses Kapitel steht in Bezieliung zu §. i 2 des ersten Randes. [S. 66 d. A.] 86 muss, um erforderlichenfalls alle ihre ausgestellten Noten einlösen zu können : die Anschauungen sind die Kontanten, die Begriffe die Zettel. — In diesem Sinne könnten die Anschauungen recht passend pri- märe, die Begriffe hingegen sekundäre Vorstellungen benannt werden: nicht ganz so treffend nannten die Scholastiker, auf Anlass des Aristoteles (Metaph. VI, li; XI, i) die realen Dinge substantias primas, und die Begriffe substantias secundas. — Bücher theilen nur sekundäre Vorstellungen mit. Blosse Begriffe von einer Sache, ohne Anschauung, geben eine bloss all- gemeine Kenntniss derselben. Ein durchaus gründ- liches Verständniss von Dingen und deren Verhält- nissen hat man nur, sofern man fähig ist, sie in lauter deutlichen Anschauungen, ohne Hülfe der Worte, sich vorstellig zu machen. Worte durch Worte erklären, Begriffe mit Begriffen vergleichen, worin das meiste Philosophiren besteht, ist im Grunde ein spielendes Hin- und Herschieben der Begriffssphären; um zu sehen, welche in die andere geht und welche nicht. Im glücklichsten Fall wird man dadurch zu Schlüssen gelangen: aber auch Schlüsse geben keine durchaus neue Erkenntniss, sondern zeigen uns nur, was Alles in der schon vorhandenen lag und was davon etwan auf den jedesmaHgen Fall anwendbar wäre. Hingegen anschauen, die Dinge selbst zu uns reden lassen, neue Verhältnisse derselben auffassen, dann aber dies Alles in Begriffe absetzen und niederlegen, um es sicher zu besitzen: das giebt neue Erkenntnisse. Allein, wäh- rend Begriffe mit Begriffen zu vergleichen so ziem- lich Jeder die Fähigkeit hat, ist Begriff mit Anschau- ungen zu vergleichen eine Gabe der Auserwählten: sie bedingt, je nach dem Grade ihrer Vollkommenheit, Witz, Urtheilskraft, Scharfsinn, Genie. Bei jener erstem Fähigkeit hingegen kommt nie viel mehr heraus, als etwan vernünftige Betrachtungen. — Der innerste Kern jeder ächten und wirklichen Erkenntniss ist eine Anschauung; auch ist jede neue Wahrheit die Aus- beute aus einer solchen. Alles Urdenken geschieht in Bildern: darum ist die Phantasie ein so noth wendiges Werkzeug desselben, und werden phantasielose Köpfe nie envas Grosses leisten, — es sei denn in der Mathe- matik. — Hin{je{jen bloss abstrakte Gedanken, die keinen anschaulichen Kern haben, gleichen Wolken- gebilden ohne Realität. Selbst Schrift und Rede, sei sie Lehre oder Gedicht, hat zum letzten Zweck, den Leser zu derselben anschaulichen Erkenntniss hinzu- leiten, von welcher der Verfasser ausging: hat sie den nicht, so ist sie eben schlecht. Eben darum ist Be- trachtung und Beobachtung jedes JVv'klichen, sobald es irgend etwas dem Beobachter Neues darbietet, be- lehrender als alles Lesen und Hören. Denn sogar ist, wenn wir auf den Grund gehen, in jedem Wirklichen alle Wahrheit und Weisheit, ja, das letzte Geheimniss der Dinge enthalten, freilich eben nur in concreto, und so wie das Gold im Erze steckt: es konunt dar- auf an, es herauszuziehen. Aus einem Buche hingegen erhält man, im besten Fall, die Wahrheit doch nur aus zweiter Hand, öfter aber gar nicht. Bei den meisten Büchern, von den eigentlich schlech- ten ganz abgesehen, hat, w enn sie nicht durchaus em- pirischen Inhalts sind, der Verfasser zwar gedacht, aber nicht geschaut: er hat aus der Reflexion, nicht aus der Intuition geschrieben; und dies eben ist es, was sie mittelmassig und langweilig macht. Denn was Jener gedacht hat, hätte der Leser, bei einiger Bemühung, allenfalls auch denken können : es sind nämlich eben vernünftige Gedanken, nähere Auseinandersetzungen des im Thema implicite Enthaltenen. Aber dadurch kommt keine wirklich neue Erkenntniss in die Welt: diese wird nur im Augenblick der Anschauung, der unmittelbaren Auffassung einer neuen Seite der Dinge, erzeugt. Wo daher, im Gegentheil, dem Denken eines Autors ein Schauen zum Grunde lag; da ist es, als schriebe er aus einem Lande, wo der Leser nicht auch schon gewesen ist; da ist Alles frisch und neu: denn es ist aus der Urquelle aller Erkenntniss unmittelbar geschöpft. Ich will den hier berührten Unterschied durch ein ganz leichtes imd einfaches Beispiel erläu- tern. Jeder gewöhnliche Schriftsteller wird leicht das tiefsinnige Hinstarren, oder das versteinernde Er- staunen, dadurch schildern, dass er sagt: „Er stand 88 wie eine Bildsäule"; aber Cervantes sagt: „wie eine bekleidete Bildsäule: denn der Wind bewegte seine Kleider." (D. Quix., B. 6, Kap. 19.) Solcherniaassen haben alle grosse Köpfe stets in Gegenwart der ^An- schauung gedacht und den Blick unverwandt auf sie geheftet, bei ihrem Denken. Man erkennt dies, unter Anderin, daran, dass auch die heterogensten unter ihnen doch im Einzelnen so oft übereinstimmen und wieder zusammentreffen; weil sie eben Alle von der- selben Sache i-eden, die sie sämmtlich vor Augen hatten: die Welt, die anschauliche Wirklichkeit: ja, gewissermaassen sagen sie sogar alle das Selbe, und die Andern glauben ihnen nie. Man erkennt es ferner an dem Treffenden, Originellen, und der Sache stets genau Angepassten des Ausdrucks, weil ihn die iVn- schauung eingegeben hat, an dem ]Naiven der Aus- sagen, an der Neuheit der Bilder, und dem Schlagen- den der Gleichnisse, welches Alles, ohne Ausnahme, die Werke grosser Köpfe auszeichnet, denen der An- dern hingegen stets abgeht; weshalb diesen nur banale Redensarten und abgenutzte Bilder zu Gebote stehen und sie nie sich erlauben dürfen, naiv zu seyn, bei Strafe ihre Gemeinheit in ihrer traurigen Blosse zu zeigen: statt dessen sind sie preziös: Darum sagte Büjf'on : le style est Fhomme meme. Wenn die ge- wöhnlichen Köpfe dichten, haben sie einige traditio- nelle, ja konventionelle, also in abstracto überkom- mene Gesinnungen, Leidenschaften, noble Sentiments u. dgl., die sie den Helden ihrer Dichtungen unter- legen, welche hiedurch zu einer blossen Personifikation jener Gesinnungen werden, also gewissermaassen selbst schon Abstrakta und daher fade und langweilig sind. Wenn sie philosophiren, haben sie einige weite ab- strakte Begriffe überkommen, mit denen sie, als gelte es algebraische Gleichungen, hin und her werfen, und hoffen, es werde daraus etwas hervorgehen : höchstens sieht man, dass sie Alle das Selbe gelesen haben. Ein solches Hin- und Herwerfen mit abstrakten Begriffen, nach Art der algebraischen Gleichungen, welches man heut zu Tage Dialektik nennt, liefert aber nicht, wie die wirkliche Algebra, sichere Resultate; weil hier 89 der durch das Wort vertretene Begriff keine fest und genau bestimmte Grösse ist, wie die durch den Buch- staben der Algebra bezeichnete, sondern ein Schwan- kendes, Vieldeutiges, der Ausdehnung und Zusamnien- ziehung Fähiges. Genau genommen hat alles Denken, d. h. Kombiniren abstrakter Begriffe, höchstens Er- innefum/en aus dem fridier Angeschauten zum Stoff, und auch noch indirekt, sofern nämlich Dieses die Unterlage aller Begriffe ausmacht : ein wirkliches, d. h. unmittelbares Erkennen hingegen ist allein das An- schauen, das neue frische Percipiren selbst. Nun aber können die Begriffe, welche die Vernunft gebildet und das Gedächtniss aufbehalten hat, nie alle zugleich <lem Bewusstsevn gegenwärtig seyn, vielmehr nur eine sehr kleine Anzahl derselben zur Zeit. Hingegen die Energie, mit welcher die anschauliche Gegenwart, in der eigentlich immer das Wesentliche aller Dinge überhaupt virtualiter enthalten und repräsentirt ist, aufgefasst wird, erfüllt, mit ihrer ganzen Macht, das Bewusstseyn in Einem Moment. Hierauf beruht das unendliche Ueberwiegen des Genies über die Gelehr- samkeit: sie verhalten sich zu einander wie der Text des alten Klassikers zu seinem Kommentar. Wirklich liegt alle Wahrheit und alle Weisheit zuletzt in der Anschauung. Aber leider lässt diese sich weder fest- halten, noch mittheilen : allenfalls lassen sich die ob- yeAfä'en Bedingungen dazu, durch die bildenden Künste und schon viel mittelbarer durch die Poesie, ge- reinigt und verdeutlicht den Andern vorlegen; aber sie beruht eben so sehr auf subjektiven Bedingungen, die nicht Jedem und Keinem jederzeit zu Gebote stehen, ja die, in den höhern Graden der Vollkommen- heit, nur die Begünstigun{j Weniger sind. Unbedingt mittheilbar ist nur die schlechteste Erkenntniss, die abstrakte, die sekundäre, der Begriff', der blosse Schat- ten eigentlicher Erkenntniss. Wenn Anschauimgen mittheilbar wären, da gäbe es eine der Mühe lohnende Mittheilung: so aber muss am Ende Jeder in seiner Haut bleiben und in seiner Hirnschaale, und Keiner kann dem Andern helfen. Den Begriff aus der An- schauung zu bereichern, sind Poesie und Philosophie 90 unablässijj bemüht. — Inzwischen sind die wesent- hchen Zwecke des Menschen pi^aktisch; für diese aber ist es hinreichend, dass das anschauhch Aufgefasste Spuren in ihm hinterlasst, vermöjje deren er es, beim nächsten ähnbchen Fall, wiedererkennt: so wird er wekkkig;. Daher kann der Wehmann, in der Regel, seine gesammelte Wahrheit und Weisheit nicht leh- ren, sondern bloss üben: er fasst jedes Vorkommende richtig auf und beschliesst, was demselben gemäss ist. — Dass Bücher nicht die Erfahrung, und Gelehr- samkeit nicht das Genie ersetzt, sind zwei verwandte Phänomene: ihr gemeinsamer Grund ist, dass das Ab- strakte nie das Anschauliche ersetzen kann. Bücher ersetzen darum die Erfahrung nicht, weil Begriffe stets allgemein bleiben und daher auf das Einzelne, welches doch gerade das im Leben zu Behandelnde ist, nicht herab gelangen: hiezu kommt, dass alle Be- griffe eben aus dem Einzelnen und Anschaulichen der Erfahrung abstrahirt sind, daher man dieses schon kennen gelernt haben muss, um auch nur das All- gemeine, welches die Bücher mittheilen, gehörig zu verstehen. Gelehrsamkeit ersetzt das Genie nicht, weil auch sie bloss Begriffe liefert, die geniale Erkenntnis^ aber in der Auffassung der (Platonischen) Ideen der Dinge besteht, daher wesentlich intuitiv ist. Beim ersten Phänomen fehlt demnach die objektive Be- dingung zur anschauenden Erkenntniss; beim zweiten die subjektive: ]^ex\e lässt sich erlangen; diese nicht. Weisheit und Genie, diese zwei Gipfel des Parnassus menschlicher Erkenntniss, wurzeln nicht im abstrak- ten, diskursiven, sondern im anschauenden Vermögen. Die eigentliche Weisheit ist etwas Intuitives, nicht etwas Abstraktes. Sie besteht nicht in Sätzen und Ge- danken, die Einer als Resultate fremder oder eigener Forschung im Kopfe fertig herumtrüge: sondern sie ist die ganze Art, wie sich die Welt in seinem Kopfe darstellt. Diese ist so höchst verschieden, dass dadurch der Weise in einer andern Welt lebt, als der Thor, und das Genie eine andere Welt sieht, als der Stumpf- kopf. Dass die Werke des Genies die aller Andern himmelweit übertreffen, kommt bloss daher, dass die 9» Welt, die es sieht und der es seine Aussagen entnimmt, so viel klarer, gleichsam tiefer herausgearbeitet ist, als die in den Köpfen der Andern, welche freilich die selben Gegenstände enthält, aber zu jener sich verhält, wie ein Chinesisches Bild, ohne Schatten und Perspek- tive, zum vollendeten Oelgemälde. Der Stoff ist in al- len Köpfen der selbe; aber in der Vollkommenheit der Form, die er in jedem annimmt, liegt der Unterschied, auf welchem die so vielfache Abstufung der Intelli- genzen zuletzt beruht: dieser ist also schon in der Wurzel, in der anschauenden Auffassung, vorhanden und entsteht nicht erst im Abstrakten. Daher eben zeigt die ursprüngliche geistige Ueberlegenheit sich so leicht bei jedem Anlass, und wird augenblicklich den Andern fühlbar und verhasst. Im Praktischen vermag die intuitive Erkenntniss des Verstandes unser Thun und Benehmen unmittel- bar zu leiten, während die abstrakte der Vernunft es nur unter Vermittelung des Gedächtnisses kann. Hier- aus entspringt der Vorzug der intuitiven Erkenntniss für alle die Fälle, die keine Zeit zur Ueberlegung ge- statten, also für den täglichen Verkehr, in welchem eben deshalb die Weiber excellieren. Nur wer das Wesen der Menschen, wie sie in der Regel sind, in- tuitiv erkannt hat und eben so die Individualität des gegenwärtigen Einzelnen auffasst, wird diesen mit Sicherheit und richtig zu behandeln verstehen. Ein Anderer mag alle dreihundert Klugheitsregeln des Gracian auswendig wissen; dies wird ihn nicht vor Balourdisen und Missgriffen schützen, wenn jene in- tuitive Erkenntniss ihm abgeht. Denn alle abstrakte Erkenntniss giebt zuvörderst bloss allgemeine Gnmd- sätze und Regeln; aber der einzelne Fall ist fast nie genau nach der Regel zu{jeschnitten: sodann soll diese nun erst das Gedächtniss zu rechter Zeit vergegen- wärtigen; was selten pünktlich geschieht: dann soll aus dem vorliegenden Fall die propositio minor ge- bildet und endlich die Konklusion gezogen werden. Ehe das Alles geschehen, wird die Gelegenheit uns meistens schon das kahle Hinterhaupt zugekehrt haben, und dann dienen jene trefflichen Grundsätze und 92 Regeln höchstens, uns hinterher die Grösse des be- gangenen Fehlers ermessen zu lassen. Freilich wird hieraus, mittelst Zeit, Erfahrung und Uebung, die Weltklugheit langsam erwachsen; weshalb, in Ver- bindung mit diesen, die Regeln in abstracto allerdings fruchtbar werden können. Hingegen die intuitive Et'~ kenntniss, welche stets nur das Einzelne auffasst, steht in unmittelbarer Beziehung zum gegenwärtigen Fall; Regel, Fall und Anwendung ist für sie Eins, und diesem folgt das Handeln auf den Fuss. Hieraus er- klärt sich, warum, im wirklichen Leben, der Gelehrte, dessen Vorzug im Reich thum abstrakter Erkenntnisse liegt, so sehr zurücksteht gegen den Weltmann, dessen Vorzug in der vollkommenen intuitiven Erkenntniss besteht, die ihm ursprüngliche Anlage verliehen und reiche Erfahrung ausgebildet hat. Immer zeigt sich zwischen beiden Erkenntnissweisen das Verhältniss des Papiergeldes zum haaren: wie jedoch für manche Fälle und Angelegenheiten jenes diesem vorzuziehen ist; so giebt es auch Dinge und Lagen, für welche die abstrakte Erkenntniss brauchbarer ist, als die intuitive. Wenn es nämlich ein Begriff ist, der, bei einer Ange- legenheit, unser Thun leitet; so hat er den Vorzug, ein Mal gefasst, unveränderlich zu seyn; daher wir, unter seiner Leitung, mit vollkommener Sicherheit und Festigkeit zu Werke gehen. Allein diese Sicher- heit, die der Begriff auf der subjektiven Seite ver- leiht, wird aufgewogen durch die auf der objektiven Seite ihn begleitende Unsicherheit: nämlich der ganze Begriff kann falsch und grundlos seyn, oder auch das zu behandelnde Objekt nicht unter ihn gehören, in- dem es gar nicht, oder doch nicht ganz seiner Art wäre. Werden wir nun, im einzelnen Fall, so etwas plötzlich inne; so sind wir aus der Fassung gebracht: werden wir es nicht inne; so lehrt es der Erfolg. Da- her sagt Vauvenargue: Personne n'est sujet ä plus de fautes, que ceux qui n'agissent que par reflexion. — Ist es hingegen unmittelbar die Anschauung der zu be- handelnden Objekte und ihrer Verhältnisse, die unser Thun leitet ; so schwanken wir leicht bei jedem Schritt : deim die Anschauung ist durchweg modifikabel, ist 93 zwcideiitifj, hat iinerscliöj)! liehe Einzelheiten in sich, und zei{jt viele Seiten nach einander: wir handeln da- her ohne volle Zuversicht. Allein die subjektive Un- sicherheit wird durch die objektive Sicherheit kom- pensirt: denn hier steht kein Begriff zwischen dem Objekt und uns, wir verlieren dieses nicht aus dem Auge: wenn wir daher nur richtig sehen, was wir vor uns haben und was wir thun; so werden wir das Rechte treffen. — Vollkommen sicher ist demnach unser Thun nur dann, wann es von einem Begriffe geleitet wird, dessen richtiger Grund, Vollständigkeit und Anwendbarkeit auf den vorliegenden Fall völlig gewiss ist. Das Handeln nach Begriffen kann in Pe- danterie, das nach dem anschaulichen Eindruck in Leichfertigkeit und Thorheit übergehen. Die Anschauung ist nicht nur die Quelle aller Er- kenntniss, sondern sie selbst ist die Erkenntniss xax e^o)(7]v, ist allein die unbedingt wahre, die ächte, die ihres Namens vollkommen würdige Erkenntniss: denn sie allein ertheilt eigentliche Einsicht^ sie allein wird vom Menschen wirklich assimilirt, geht in sein Wesen über und kann mit vollem Grunde sein heissen; wäh- rend die Begriffe ihm bloss ankleben. Im vierten Buche sehen wir sogar die Tugend eigentlich von der an- schauenden Erkenntniss ausgehen : denn nur die Hand- lungen, welche unmittelbar durch diese hervorgerufen werden, mithin aus reinem Antriebe unserer eigenen Natur geschehen, sind eigentliche Symptome unseres wahren und unveränderlichen Charakters; nicht so die, welche aus der Reflexion und ihren Dogmen her- vorgegangen, dem Charakter oft abgezwungen sind, und daher keinen unveränderlichen Grund und Boden in uns haben. Aber auch die fVeisheit^ die wahre Le- bensansicht, der richtige Blick und das treffende Ur- theil, gehen hervor aus der Art, wie der Menseh die anschauliche Welt auffasst; nicht aber aus seinem blossen Wissen, d. h. nicht aus abstrakten Begriffen. Wie der F'onds oder Grundgehalt jeder W^issenschaft nicht in den Beweisen, noch in dem Bewiesenen be- steht, sondern in dem Unbewiesenen, auf welches die Beweise sich stützen und welches zuletzt nur anschau- 94 lieh erfasst wird ; so besteht auch der Fonds der eigent- hchen Weisheit und der wirkHchen Einsicht jedes Menschen nicht in den Begriffen und dem Wissen in abstracto, sondern in dem Angeschauten und dem Gra- de der Schärfe, Richtigkeit und Tiefe, mit dem er es aufgefasst hat. Wer hierin excellirt, erkennt die (Pla- tonischen) Ideen der Welt und des Lebens: jeder P'all, den er gesehen, repräsentirt ihm unzähhge; er fasst immer mehr jedes Wesen seiner wahren Natur nach auf, und sein Thun, wie sein Urtheil, entspricht seiner Einsicht. Allmähg nimmt auch sein Anthtz den Aus- druck des richtigen Bhckes, der wahren Vernünftig- keit und, wenn es weit kommt, der Weisheit an. Denn die Ueberlegenheit in der anschauenden Erkenntniss ist es allein, die ihren Stämpel auch den Gesichtszügen aufdrückt; während die in der abstrakten dies nicht vermag. Dem Gesagten gemäss finden wir unter allen Ständen Menschen von intellektueller Ueberlegenheit, und oft ohne alle Gelehrsamkeit. Denn natürlicher Verstand kann fast jeden Grad von Bildung ersetzen, aber keine Bildung den natürlichen Verstand. Der Gelehrte hat vor Solchen allerdings einen Reichthum von Fällen und Thatsachen (historische Kenntniss) und Kausalbestimmungen (Naturlehre), Alles in wohl- geordnetem, übersehbarem Zusammenhange, voraus : aber damit hat er doch noch nicht die richtigere und tiefere Einsicht in das eigentlich Wesentliche aller jener Fälle, Thatsachen und Kausalitäten. Der Unge- lehrte von Scharfblick und Penetration weiss jenes Reichthums zu entraten : mit Vielem hält man Haus, mit Wenig kommt man aus. Ihn lehrt Ein Fall aus eigener Erfahrung mehr, als manchen Gelehrten tau- send Fälle, die er kennt, aber nicht eigentlich versteht: denn das wenige Wissen jenes Ungelehrten ist leben- dig; indem jede ihm bekannte Thatsache durch rich- tige und wohlgefasste Anschauung belegt ist, wodurch dieselbe ihm tausend ähnliche vertritt. Hingegen ist das viele Wissen der gewöhnlichen Gelehrten todt\ weil es, wenn auch nicht, wie oft der Fall ist, aus blos- sen Worten, doch aus lauter abstrakten Erkenntnissen besteht: diese aber erhalten ihren Werth allein durch 95 die anschauliche Erkenntniss des Individuums, auf die sie sich beziehen, und die zuletzt die sämmtlichen BejTiiffe reahsiren niuss. Ist nun diese sehr dürftig; so ist ein solcher Kopf heschaffen, wie eine Bank, deren Assignationenden haaren Fonds zehnfach übersteigen, wodurch sie zuletzt bankrott wird. Daher, während manchem Ungelehrten die richtige Auffassung der anschaulichen Welt den Stämpel der Einsicht und Weisheit auf die Stirne gedrückt hat, trä{jt das Gesicht manches Gelehrten von seinen vielen Studien keine anderen Spuren, als die der Erschöpfung und Abnut- zung, durch übermassige, erzwungene Anstrengung des Gedächtnisses zu widernatürlicher Anhäufung todter Begriffe: dabei sieht ein solcher oft so einfältig, albern und schaafmässig darein, dass man glauben muss, die übermässige Anstrengimg der dem Abstrak- ten zugewendeten, mittelbaren Erkenntnisskraft be- wirke direkte Schwächung der unmittelbaren und an- schauenden, und der natürliche, richtige Blick werde durch das Bücherlicht mehr und mehr geblendet. Aller- dings muss das fortwährende Einströmen fremder Gedanken die eigenen hemmen und ersticken, ja, auf die Länge, die Denkkraft lähmen, wenn sie nicht den hohen Grad von Elasticität hat, welche jenem un- natürlichen Strom zu widerstehen vermag. Daher ver- dirbt das unaufhörliche Lesen und Studiren geradezu den Kopf; zudem auch dadurch, dass das System un- serer eigenen Gedanken und Erkenntnisse seine Ganz- heit und stetigen Zusammenhang einbüsst, wenn wir diesen so oft willkürlich unterbrechen, um für einen ganz fremden Gedankengang Raum zu gewinnen. Meine Gedanken verscheuchen, um denen eines Buches Platz zu machen, käme mir vor, wie was Shakespeare an den Touristen seiner Zeit tadelt, dass sie ihr eigen Land verkaufen, um Anderer ihres zu sehen. Jedoch ist die Lesewuth der meisten Gelehrten eine Art fuga vacui der Gedankenleere ihres eigenen Kopfes, welche nun das Fremde mit Gewalt hereinzieht: um Gedan- ken zu haben, müssen sie welche lesen, wie die leb- losen Körper nur von aussen Bewegung erhalten; während die Selbstdenkcr den lebendigen gleichen, 96 die sich von selbst bewegen. Es ist sogar gefährlich, früher über einen Gegenstand zu lesen, als man selbst darüber nachgedacht hat. Denn da schleicht sich mit dem neuen Stoff zugleich die fremde Ansicht und Be- handlung desselben in den Kopf, und zwar um so mehr, als Trägheit und Apathie anrathen, sich die Mühe des Denkens zu ersparen und das fertige Gedachte anzunehmen und gelten zu lassen. Dies nistet sich jetzt ein, und fortan nehmen die Gedanken darüber, gleich den in Gräben geleiteten Bächen, stets den ge- wohntenWeg: einen eigenen, neuen zu finden ist dann doppelt schwer. Dies trägt viel bei zum Mangel an Originalität der Gelehrten. Dazu kommt aber noch, dass sie vermeinen, gleich anderen Leuten, ihre Zeit zwischen Genuss und Arbeit theilen zu müssen. Nun halten sie das Lesen für ihre Arbeit und eigentlichen Beruf, überfressen sich also daran, bis zur Unverdau- lichkeit. Da spielt nun nicht mehr bloss das Lesen dem Denken das Prävenire, sondern nimmt dessen Stelle ganz ein: denn sie denken an die Sachen auch gerade nur so lange, wie sie darüber lesen, also mit einem freinden Kopf, nicht mit dem eigenen. Ist aber das Buch weggelegt, so nehmen ganz andere Dinge ihr Interesse viel lebhafter in Anspruch, nämlich per- sönliche Angelegenheiten, sodann Schauspiel, Karten- spiel, Kegelspiel, Tagesbegebenheiten und Geklatsch. Der denkende Kopf ist es dadurch, dass solche Dinge kein Interesse für ihn haben, wohl aber seine Probleme, denen er daher überall nachhängt, von selbst und ohne Buch: dies Interesse sich zu geben, wenn man es nicht hat, ist unmöglich. Daran liegt's. Und daran liegt es auch, dass Jene immer nur von Dem reden, was sie gelesen, er hingegen von Dem, was er gedacht hat, und dass sie sind, wie Pope sagt: For ever reading, ncver to be read*). Der Geist ist seiner Natur nach ein Freier, kein Fröhnling: nur was er von selbst und gern thut, geräth. Hingegen erzwungene Anstrengung eines Kopfes, zu Studien, denen er nicht gewachsen ist, oder wann er *) Beständig lesend, um nie gelesen zu werden. 7 Schopenhauer II 97 müde {geworden, oder überhaupt zu anhaltend und invita Minerva, stumpft das Gehirn so ab, wie Lesen im Mondschein die Augen. Ganz besonders thut dies auch die Anstrengung des noch unreifen Gehirns, in den frü- hen Kinder Jahren : ich glaube, dass das Erlernen der La- teinischen und Griechischen Grammatik vom sechsten bis zum zwölften Jahre den Grund legt zur nachheri- gen Stumpfheit der meisten Gelehrten. Allerdings be- darf der Geist der Nahrung, des Stoffes von aussen. Aber wie nicht Alles was wir essen dem Organismus sofort einverleibt wird, sondern nur sofern es verdaut worden, wobei nur ein kleiner Theil davon wirklich assimilirt wird, das Uebrige wieder abgeht, weshalb mehr essen als man assimiliren kann, unnütz, ja S(;liäd- hch ist; gerade so verhält es sich mit dem was wir lesen: nur sofern es Stoff zum Denken giebt, vermehrt es unsere Einsicht und eigentliches Wissen. Daher sagte schon HeraJdeitos TroXufxaOia vouv ou Sioaoxet (multiscitia non dat intellectum): mir aber scheint die Gelehrsamkeit mit einem schweren Harnisch zu vergleichen, als welcher allerdings den starken Mann völlig unüberwindlich macht, hingegen dem Schwa- chen eine Last ist, unter der er vollends zusammen- sinkt. — Die in unserm dritten Buch ausgeführte Darstellung der Erkenntniss der (Platonischen) Ideen, als der höch- sten dem Menschen erreichbaren und zugleich als einer durchaus anschauenden, ist uns ein Beleg dazu, dass nicht im abstrakten Wissen, sondern in der richtigen und tiefen anschaulichen Auffassung der Welt die Quelle wahrer Weisheit liegt. Daher auch können Weise in jeder Zeit leben, und dieder Vorzeit bleiben es für alle kommenden Geschlechter: Gelehrsamkeit hingegen ist relativ: die Gelehrten der Vorzeit sind meistens Kinder gegen uns und bedürfen der Nachsicht. Dem aber, der studirt, um Einsicht zu erlangen, sind die Bücher und Studien bloss Sprossen der Leiter, auf der er zum Gipfel der Erkenntniss steigt: sobald eine Sprosse ihn um einen Schritt gehoben hat, lässtersie liegen. Die Vielen hingegen, welche studiren, um ihr Gedächtniss zu füllen, benutzen nicht die Sprossea 98 der Leiter zum Steigen, sondern nehmen sie ab und laden sie sich auf, um sie mitzunehmen, sich freuend an der zunehmenden Schwere der Last. Sie bleiben ewig unten, da sie Das tragen, was sie hätte ti^agen sollen. Auf der hier auseinandergesetzten Wahrheit, dass der Kern aller Erkenntniss die anschauende Auffassung ist, beruht auch die richtige und tiefe Bemerkung des Helvetius, dass die wirklich eigenthümlichen und origi- nellen Grundansichten, deren ein begabtes Individuum fähig ist, und deren Verarbeitung, Entwickelung und mannichfaltige Benutzung alle seine, wenn auch viel später geschaffenen Werke sind, nur bis zum fünfund- dreissigsten, spätestens vierzigsten Lebensjahre in ihm entstehen, ja, eigentlich die Folge der in frühester Jugend gernachten Kombinationen sind. Denn sie sind eben nicht blosse Verkettungen abstrakter Begriffe, sondern die ihm eigene intuitive Auffassung der ob- jektiven Welt und des Wesens der Dinge. Dass nun diese bis zu dem angegebenen Alter ihr Werk vollendet haben muss, beruht theils darauf, dass schon bis dahin die Ektypen aller (Platonischen) Ideen sich ihm dar- gestellt haben, daher später keine mehr mit der Stärke des ersten Eindrucks auftreten kann ; theils ist eben zu dieser Quintessenz aller Erkenntniss, zu diesen Ab- drücken avant la lettre der Auffassung, die höchste Energie derGehirnthätigkeit erfordert, welche bedingt ist durch die Frische und Biegsamkeit seiner Fasern und durch die Heftigkeit, mit der das arterielle Blut zum Gehirn strömt: diese aber ist am stärksten nur so lange das arterielle System über das venöse ein entschiedenes Uebergewicht hat, welches schon mit den ersten dreissiger Jahren abnimmt, bis endlich nach dem zwei und vierzigsten Jahre das venöse System das Uebergewicht erhält; wie dies Cahanis vortrefflich und belehrend auseinandergesetzt hat. Daher sind die zwanziger und die ersten dreissiger Jahre für den In- tellekt was der Mai für die Bäume ist: nur jetzt setzen sich dieBlüthen an, deren Entwickelung alle späteren Früchte sind. Die anschauliche W^elt hat ihren Ein- druck gemacht und dadurch den Fonds aller folgenden 7* 99 Gedanken des Individuums gegründet. Dieses kann durch Nachdenken das Aufgefasste sich verdeuthchen, es kann noch viele Kenntnisse erwerhen, als Nahrung der ein Mal angesetzten Frucht, es kann seine An- sichten erweitern, seine Begriffe und Urtheile berich- tigen, durch endlose Kombinationen erst recht Herr des erworbenen Stoffes werden, ja, seine besten Werke wird es meistens viel später produciren, aber neue Ur- erkenntnisse, aus der allein lebendigen Quelle der An- schauung, hat es nicht mehr zu hoffen. Im Gefühl hievon bricht Byron in die wunderschöne Klage aus: No more — no more — Oh ! never more on me The freshness of the heart can fall like dew, Which out of all the lovely things we see Extracts emotions beautiful and new, Hived in our bosoms like the bag o' the bee : Thinkst thou the honey with those objects grew? Alas! 'twas noth in them, but in thy power To double even the sweetness of a flower*). Durch alles Bisherige hoffe ich die wichtige Wahr- heit in helles Licht gestellt zu haben, dass alle abstrakte Erkenntniss, wie sie aus der anschaul ichen entsprungen ist, auch allen W^erth allein durch ihre Beziehung auf diese hat, also dadurch, dass ihre Begriffe, oder deren Theilvorstelhmgen, durch Anschauungen zu realisiren, d. h. zu belegen sind; imgleichen, dass auf die Quali- tät dieser Anschauungen das Meiste ankommt. Be- griffe und Abstraktionen, die nicht zuletzt auf An- schauungen hinleiten, gleichen Wegen im Walde, die ohne Ausgang endigen. Begriffe haben ihren grossen Nutzen dadurch, dass mittelst ihrer der ursprüngliche Stoff der Erkenntniss leichter zu handhaben, zu über- sehen und zu ordnen ist: aber so vielfältige, logische *) Nicht mehr, — nicht mehr, — o nimmermehr auf mich, Kann, gleich dem Thau, des Herzens Frische fallen. Die aus den liolden Dingen, die wir sehn, Gefühle auszieht, neu und wonnevoll: Die Brust bewahrt sie, wie die Zell' den Honig. Denkst du, der Honig sei der Dinge Werk? Ach nein, nicht sie, nur deine eig'ne Kraft Kann selbst der Blume Süssigkeit verdoppeln. lOO und dialektische Operationen mit ihnen auch möghch sind; so wird aus diesen doch nie eine ganz ursprüng- hehe und neue Erkenntniss hervorgehen, d. h. eine solche, deren Stoff nicht schon in der Anschauung läge, oder auch aus dein Selbstbewusstseyn geschöpft wäre. Dies ist der wahre Sinn der dem Aristoteles zu- geschriebenen Lehre nihil est in intellectu, nisi quod antea fuerit in sensu: es ist ebenfalls der Sinn der Locke'schen Philosophie, welche dadurch, dass sie die Frage nach dem Ursprung unserer Erkenntnisse end- lich ein Mal ernstlich zur Sprache brachte, für immer Epoche in der Philosophie macht. Es ist, in der Haupt- sache, auch was die Kritik der reinen Vernunft lehrt. Auch sie nämlich will, das man nicht bei den Begrif- fen stehen bleibe, sondern auf den Urspiung derselben zurückgehe, also auf die uänschauung-^ nur noch mit dem wahren und wichtigen Zusatz, dass was von der Anschauung selbst gilt, sich auch auf die subjekti- ven Bedingungen derselben erstreckt, also auf die For- men, welche im anschauenden und denkenden Gehirn, als seine natürlichen Funktionen, prädisponirt liegen; obgleich diese wenigstens virtualiter der wirklichen Sinnesanschauung vorhergängig, d. h. a priori sind, also nicht von dieser abhängen, sondern diese von ihnen : denn auch diese Formen haben ja keinen andei'n Zweck, noch Tauglichkeit, als auf eintretende Anre- gung der Sinnesnerven die empirische Anschauung hervorzubringen; wie aus dem Stoffe dieser, andere Formen nachmals Gedanken in abstracto zu bilden bestimmt sind. Die Kritik der reinen Vernunft verhält sich daher zur Locke'schen Philosophie wie die Ana- lysis des Unendlichen zur Elementargeometrie; ist jedoch durchaus als Fortsetzung der Locke'schen Phi- losophie zu betrachten. — Der gegebene Stoff jeder Philosophie ist demnach kein anderer, als das empiri- sche Bewusstsejn, welches in das Bewusstseyn des ei- genen Selbst (Selbstbewusstseyn) und in das Bewusst- seyn anderer Dinge (äussere Anschaviung) zerfällt. Denn dies allein ist das Unmittelbare, das wirklich Gegebene. Jede Philosophie, die, statt hievon auszu- gehen, beliebig gewählte abstrakte Begriffe, wie z. B. 101 ALsolutiim,absolnteSubstanz,Gott, Unendliches, End- liches, absolute Identität, Seyn, Wesen u. s. w. u. s. w. zum Aus{5;an{jspunkt nimmt, schwebt ohne Anhalt in der Luft, kann daher nie zu einem wirklichen Er^^jeh- niss führen. Dennoch haben Philosophen zu allen Zeiten es mit derjjleichen versucht; daher so{jar/!ran^ bisweilen, nach her^jehrachter Weise und mehr aus Gewohnheit, als aus Konsequenz, die Philosophie als eine Wissenschaft aus blossen Begriffen dehnirt. Eine solche aber würde eigentlich unternehmen, aus blossen Theilvorstellungen (denn das sind die Abstraktionen) herausbringen, was in den vollständigen Vorstellungen (den Anschauungen), daraus jene, durch Weglassen, abgezogen sind, nicht zu finden ist. Die Möglichkeit der Schlüsse verleitet hiezu, weil hier die Zusammen- fügung der ürtheile ein neues Resultat giebt; wiewohl mehr scheinbar als wirklich, indem der Schluss nur heraushebt, was in den gegebenen Urtheilen schon lag; da ja die Konklusion nicht mehr enthalten kann, als die T^rämissen. Begriffe sind freilich das Material der Philosophie, aber nur so, wie der Marmor das Ma- terial des Bildhauers ist: sie soll nicht mts ihnen, son- dern in sie arbeiten, d. h. ihre Resultate in ihnen nie- derlegen, nicht aber von ihnen, als dem Gegebenen ausgehen. Wer ein recht grelles Beispiel eines solchen verkehrten xVusgehens von blossen Begriffen haben will, betrachte die Institutio theologica des /VoA/o.v, um sich das Nichtige jener ganzen Methode zu ver- deutlichen. Da werden Abstrakta, wie ev, 7rXr,{^oc, aya- dov, irapa^ov xai 7rapoiYO[jLSvov, auTdoxe?, aiTiov, xpeiirov, xivTjTov, axivTjTov, xivoujjLSvov (unum, multa, bonum, pro- ducens et productum, sibi sufficiens, causa, melius, mobile, inunobile, motum) u. s. w. aufgerafft, aber die Anschauungen, denen allein sie ihren Ursprung und allen Gehalt verdanken, ignorirt und darüber vornehm weggesehen : dann wird aus jenen Begiiffen eine Theologie konstruirt, wobei das Ziel, der Oeo?, verdeckt gehalten, also scheinbar ganz unbefangen verfahren wird, als wüsste nicht, schon beim ersten Blatt, der Leser, so {jut wie der Autor, wo das Alles hinaussoll. Ein Bruchstück davon habe ich bereits oben 102 angeführt. Wirklich ist dies Produkt des Proklos ganz besonders geeignet, deuthch zu machen, wie ganz un- tauglich und illusorisch dergleichen Kombinationen abstrakter Begriffe sind, indem sich daraus machen lässt, was Einer will, zumal wenn er noch dazu die Vieldeutigkeit mancher Worte benutzt, wie z. B. xpsit- Tov. Bei persönlicher Gegenwart eines solchen Begriffs- architekten brauchte man nur naiv zu fragen, wo denn alle die Dinge seien, von denen er so Vieles zu be- richten hat, und woher er die Gesetze, aus denen er seine sie betreffenden Folgerungen zieht, kenne? Da würde er denn bald genöthigt seyn, auf die empirische Anschauung zu verweisen, in der ja allein die reale Welt sich darstellt, aus welcher jene Begriffe geschöpft sind. Alsdann hätte man nur noch zu fragen, warum er nicht ganz ehrlich von der gegebenen Anschauung einer solchen Welt ausgienge, wo er bei jedem Schritt seine Behauptungen durch sie belegen könnte, statt mit Begriffen zu operiren, die doch allein aus ihr ab- gezogen sind und daher weiter keine Gültigkeit haben können, als die, welche sie ihnen ertheilt. Aber frei- lich, das ist eben sein Kunststück, dass er durch solche Begriffe, in denen, vermöge der Abstraktion, als ge- trennt gedacht wird was unzertrennlich, und als ver- eint was unvereinbar ist, weit über die Anschauung, die ihnen den Ursprung gab und damit über die Grän- zen ihrer Anwendbarkeit hinausgeht zu einer ganz andern Welt, als die ist, welche den Baustoff hergab, aber eben deshalb zu einer Welt von Hirngespinnsten. Ich habe hier den Pi-oklos angeführt, weil eben bei ihm dies Verfahren, durch die unbefangene Dreistig- keit, mit der es durchgeführt ist, besonders deutlich wird: aber auch beim Plato findet man einige, wenn gleich minder grelle Beispiele der Art, und überhaupt liefert die philosophische Litteratur aller Zeiten eine Menge dergleichen. Die der unserigen ist reich daran : man betrachte z. B. die Schriften der Schelling' sehen Schule und sehe die Konstruktionen, welche aufgebaut werden aus Abstraktis wie Endliches, Unendliches, — Seyn, Nichtseyn, Andersseyn, — Thätigkeit, Hem- mung, Produkt, — Bestimmen, Bestimmt werden, Be- I o3 stimmtheit, — Grunze, Hejjränzen, Bcgränztseyn, — Einheit, Vielheit, Manni{jfakigkeit, — Identität, Di- versitat, hidifleren/, — Denken, Seyn, Wesen u. s. f. ]Nicht nur (jilt von Konstruktionen aus solchem Ma- terial alles oben Gcsajjte; sondern, weil durch der- gleichen weite Abstrakta unendlich Vieles gedacht wird, kann in ihnen nur äusserst wenig gedacht werden : es sind leere Hülsen. Dadurch aber wird nun der Stofi" des ganzen Philosophirens erstaunlich gering und ärmlich, woraus jene unsägliche und marternde Lang- weiligkeit entsteht, die allen solchen Schritten eigen ist. Wollte ich nun gar an den Missbrauch erinnern, den Hegel und seine Gesellen mit dergleichen weiten und leeren Abstraktis getrieben haben; so müsste ich besorgen, dass dem Leser übel würde und mir auch: denn die allerekelhafteste Langweiligkeit schwebt über dem hohlen Wortkram dieser widerlichen Philoso- phaster. Dass ebenfalls in der ^raÄfiScAen Philosophie aus blos- sen abstrakten Begriffen keine Weisheit zu Tage geför- dert wird, ist wohl das Einzige, was zu lernen ist aus den moralischen Abhandlungen des Theologen Schleier- macher, mit deren Vorlesung derselbe, in einer Reihe von Jahren, die Berliner Akademie gelangweilt hat, und die jetzt kürzlich zusammengedruckt erschienen sind. Da werden zum Ausgangspunkt lauter abstrakte Begriffe genommen, wie Pflicht, Tugend, höchstes Gut, Sittengesetz u. dgl., ohne weitere Einführung, als dass sie eben in den Moralsystemen vorzukonunen pflegen, und werden nun behandelt als gegebene Re- alitäten. Ueber dieselben wird dann gar spitzfindig hin und her geredet, hingegen gar nie auf den Ur- sprung jener Begriffe, auf die Sache selbst losgegangen, auf das wirkliche Menschenleben, auf welches doch allein jene Begriffe sich beziehen, aus dem sie {;eschöpft seyn sollen, und mit dem es die Moral eigentlich zu thun hat. Gerade deshalb sind diese Diatriben eben so unfruchtbar und nutzlos, wie sie langweilig sind; wo- mit viel gesagt ist. Leute, wie diese nur {jar zu gern philosophirenden Theologen, findet man zu allen Zeiten, berühmt, während sie leben, nachher bald ver- / io4 gessen. Ich rathe hingegen lieber Die zu lesen, welchen es umgekehrt ergangen: denn die Zeit ist kurz luid kostbar. Wenn nun, allem hier Gesagten zufolge, weite, ab- strakte, zumal aber durch keine Anschauung zu reali- sirende Begriffe nie die Erkenntnissquelle, der Aus- gangspunkt, oder der eigentliche Stoff des Philosophi- rens seyn dürfen; so können doch bisweilen einzelne Resultate desselben so ausfallen, dass sie sich bloss in abstracto denken, nichtaber durch irgendeine Anschau- ung belegen lassen. Erkenntnisse dieser Art werden freilich auch nur halbe Erkenntnisse seyn; sie zeigen gleichsam nur den Ort an, wo das zu Erkennende liegt; aber es bleibt verhüllt. Daher soll man auch nur im äussersten Fall und wo man an den Gränzen der unsern Fähigkeiten möglichen Erkenntniss angelangt ist, sich mit dergleichen Begriffen begnügen. Ein Bei- spiel der Art wäre etwan der Begriffeines Seyns ausser der Zeit; desgleichen der Satz: die Unzerstörbarkeit unsers wahren Wesens durch den Tod ist keine Fort- dauer desselben. Bei Begriffen dieser Art wankt gleich- sam der feste Boden, der unser sämmtliches Erkennen trägt: das Anschauliche. Daher darf zwar bisweilen und im Nothfall das Philosophiren in solche Erkennt- nisse auslaufen, nie aber mit ihnen anheben. Das oben gerügte Operiren mit weiten Abstraktis, unter gänzlichem Verlassen der anschaulichen Er- kenntniss, aus der sie abgezogen worden und welcbe daher die bleibende, naturgemässe Kontrole derselben ist, war zu allen Zeiten die Hauptquelle der Irrthümer des dogmatischen Philosophirens. Eine Wissenschaft aus der blossen Vergleichung von Begriffen, also aus allgemeinen Sätzen aufgebaut, könnte nur dann sicher seyn, wenn alle ihre Sätze synthetische a priori wären, wie dies in der Mathematik der Fall ist: denn nur solche leiden keine Ausnahmen. Haben die Sätze hin- gegen irgend einen empirischen Stoff; so muss man diesen stets zur Hand behalten, um die allgemeinen Sätze zu kontroliren. Denn alle irgendwie aus der Er- fahrung geschöpften Wahrheiten sind nie unbedingt gewiss, haben daher nur eine approximative Allge- lo5 mein{jültigkeit; weil hier keine Rejjel ohne Ausnahme gilt. Kette ich nun der{;leichen Satze, vermöge des In- einandergreifens ihrer Begriffsspharen, an einander; so wird leicht ein Begrilf den andern gerade da treffen, wo die Ausnahme liegt: ist eher dies im Verlauf einer langen Schlusskette auch nur ein einziges Mal gesche- hen ; so ist das ganze Gebäude von seinem Fundament losgerissen und schwebt in der Luft. Sage ich z. B. „die Wiederkäuer sind ohne vordere Schneidezähne", und wende dies und was daraus folgt auf die Kameele an; so wird Alles falsch: denn es gilt nur von den ge- hörnten Wiederkäuern. — Hieher gehört gerade was Kant das fernänfteln nennt und so oft tadelt: denn dies besteht eben in einem Subsumiren von Begriffen unter Begriffe, ohne Rücksicht auf den Ursprung der- selben, und ohne Prüfung der Richtigkeit und Aus- schliesslichkeit einer solcher Subsumtion, wodurch man dann, auf längerm oder kürzerm Umwege, zu fast jedem beliebigen Resultat, das man sich als Ziel vorgesteckt hatte, gelangen kann; daher dieses Ver- nünfteln vom eigentlichen Sophisticiren nur dem Gra- de nach verschieden ist. Nun aber ist, im Theoreti- schen, Sophisticiren eben das, was im Praktischen Schikaniren ist. Dennoch hat selbst Pinto sich sehr häufig jenes Vernünfteln erlaubt: Proklos hat, wie schon erwähnt, diesen Fehler seines Vorbildes, nach Weise aller Nachahmer, viel weiter getrieben. Dio- nysius Areopagita^ De divinis nominibus, ist ebenfalls stark damit behaftet. Aber auch schon in den Frag- menten des Eleaten Melissas finden wir deutliche Bei- spiele von solchem Vernünfteln (besonders §§. 2 — 5 in Brandts Comment. Eleat.): sein V^erfahren mit den Begriffen, die nie die Realität, aus der sie ihren In- halt haben, berühren, sondern, in der Atmosphäre abstrakter Allgemeinheit schwebend, darüber hin- wegfahren, gleicht zum Schein gegebenen Schlägen, die nie treffen. Ein rechtes Muster von solchem Ver- nünfteln ist ferner des Philosophen Sallustius Büchel- chen De Diis et mundo, besonders c. c. 7, 12 et 17. Aber ein eigentliches Kabinetstück von philosophi- schem Vernünfteln, übergehend in entschiedenes So- I 06 phisticiren, ist folgendes Räsonnement des Platonikers Maximus 7^/7 «/5, welches ich, da es kurz ist, hersetzen will. ,,Jede Ungerechtigkeit ist die Entreissung eines Guts: es giebt kein anderes Gut, als die Tugend: die Tugend aber ist nicht zu entreissen: also ist es nicht möglich, dass der Tugendhafte Ungerechtigkeit er- leide von dem Bösen. Nun bleibt übrig, dass entweder gar keine Ungerechtigkeit erlitten werden kann, oder dass solche der Böse von dem Bösen erleide. Allein der Böse besitzt gar kein Gut; da nur die Tugend ein solches ist: also kann ihm keines genommen werden. Also kann auch er keine Ungerechtigkeit erleiden. Also ist die Un(jerechtigkeit eine unmögliche Sache." — Das Original, durch Wiederholungen weniger koncis, lautet so: Aoixia eati acpaipeotc ayai^ou' to os aYotirov xi av £17] aXko 7] aperrj ; — tj 0£ apSTTj avacpaipsTov. Oux aSi- yrjosTai xoivuv 6 Trjv aps~7]v s/cuv, t] oux saxiv aoixta acpat- psaii; a'ea&ou" ouSev y^p rt:[a%rjv acpaipsxov, ouo' aTroßXrjxov, ouo' sXerov, ouoe Xrjtaxov. Etsv ouv, ouo' aBtxctxai 6 )(p7]oxo?, ouo' uTio xou [j,05({)T|pou' avacpaipsxo«; yap. yVeiTiexat xoivuv r^ jXTjOsva aotxsiabai xa&aTra^, t] xov fxoj({)7]pov uko xou ofxoiou" aXXa xtiiiJLO/&7]pu)ouo£vo; [xexeaxtv a^a^ou* tj os aSixta tjv aya^ou acpatpsoi';" o oö ix-i-j £)(a)V 6,xi acpaiosoöir), ouos eic, 6,xi aotx-ir]o^'i[],£j(£i.(Sermo a) Auch ein modernes Beispiel von solchen Beweisen aus abstrakten Begriffen, wodurch ein offenbar absurder Satz als Wahrheit aufgestellt wird, will ich noch hinzufügen und nehme es aus den Werken eines grossen Mannes, des Jordaniis Drunus. In seinem Buche Del Infinito, universo e mondi (vS. 87 der Aus- gabe von A. Wagner) lässt er einen Aristoteliker (mit Benutzung und Uebertreibung der Stelle f , 5 De coelo des Aristoteles) beweisen, dass jenseit der Welt kein Raum seyn könne. Die Welt nämlich sei eingeschlossen von der achten Sphäre des Aristoteles; jenseit dieser aber könne kein Raum mehr seyn. Denn: gäbe es jen- seit derselben noch einen Körper; so wäre dieser ent- weder einfach oder zusammengesetzt. Nun wird aus lauter erbetenen Principien sophistisch bewiesen, dass kein einfacher Körper daselbst seyn könne; aber auch kein zusammengesetzter: denn dieser müsste aus ein- fachen bestehen. Also ist daselbst überhaupt kein 107 Körper: — dann aber auch kein Baum. Denn der Raum wird deHnirt als „das, worin Körper seyn kön- nen": nun ist aber eben bewiesen, dass daselbst keine Körper seyn können. Also ist auch kein Raum da. Dies Letztere ist der Hauptstreicb dieses Beweises aus ab- strakten Begriffen. Im Grunde beruht er darauf", dass der Satz „wo kein Raum ist, können keine Körper seyn" als ein allgemein verneinender genommen und demnach simpliciter konvertirt wird: „wo keine Kör- per seyn können, da ist kein Raum". Aber jener Satz ist, genau betrachtet, ein allgemein bejahender, näm- lich dieser: ,, alles Raumlose ist körperlos": er darf also nicht simpliciter konvertirt werden. Jedoch lässt nicht jeder Beweis aus abstrakten Begriffen, mit einem Ergebniss, welches der Anschauung offenbar wider- streitet (wie hier die Endlichkeit des Raumes), sich auf so einen logischen Fehler zurückführen. Denn das Sophistische liegt nicht immer in der Form, son- dern oft in der Materie, in den Prämissen und in der Unbestimmtheit der Begriffe und ihresUmfangs. Hiezu finden sich zahlreiche Belege bei Spiiioza, dessen Me- thode es ja ist, aus Begriffen zu beweisen; man sehe z. B. die erbärmlichen Sophismen, in seiner Ethica, P. [V, prop. 29 — 3i, mittelst der Vieldeutigkeit der schwankenden Begriffe convenire und commune ha- bere. Doch verhindert Dergleichen nicht, dass den Neo-Spinozisten unserer Tage Alles, was er gesagt hat, als ein Evangelium gilt. Besonders sind unter ihnen die Hegelianer, deren es wirklich noch einige giebt, belustigend, durch ihre traditionelle Ehrfurcht vor seinem Satz omnis determinatio est negatio, bei welchem sie, dem scharlatanischen Geiste der Schule gemäss, ein Gesicht machen, als ob er die Welt aus den Angeln zu heben vermöchte; während man keinenHund damit aus dem Ofen locken kann ; indem auch der Ein- fältigste von selbst begreift,dass wenn ich,durch Bestim- mungen, etwas abgränze, ich eben dadurch das jenseit der Gränze Liegende ausschliesse und also verneine. Also an allen Vernünfteleien obiger Art wird recht sichtbar, welche Abwege jener Algebra mit blossen Begriffen, die keine Anschauung kontrolirt, offen 108 stehen, und dass mithin für unsern Intellekt die An- schauung das ist, was für unsern Leib der feste Boden, auf welchem er steht: verlassen wir jene, so ist Alles instabilis tellus, innabilis unda. Man wird dem Be- lehrenden dieser Auseinandersetzungen und Beispiele die Ausführlichkeit derselben zu Gute halten. Ich habe dadurch den grossen, bisher zu wenig beachteten Un- terschied, ja, Gegensatz zwischen dem anschauenden und dem abstrakten oder reflektirten Erkennen, dessen Feststellung ein Grundzug meiner Philosophie ist, her- vorheben und belegen wollen; da viele Phänomene unsers geistigen Lebens nur aus ihm erklärlich sind. Das verbindende Mittelglied zwischen jenen beiden so verschiedenen Erkenntnissweisen bildet, wie ich §. i4 des ersten Bandes*) dargethan habe, die Urtheils- kraft. Zwar ist diese auch auf dem Gebiete des bloss abstrakten Erkennens thätig, wo sie Begriffe nur mit Begriffen vergleicht: daher ist jedes Urtheil, im logi- schen Sinn dieses Worts, allerdings ein Werk der Ur- theilskraft, indem dabei allemal ein engerer Begriff einem weitern subsumirt wird. Jedoch ist diese Thä- tigkeit der Urtheil skraft, wo sie bloss Begriffe mit ein- ander vergleicht, eine geringere und leichtere, als wo sie den Uebergang vom ganz Einzelnen, dem Anschauli- chen, zum wesentlich Allgemeinen, dem Begriff, macht. Da nämlich dort, durch Analyse der Begriffe in ihre wesentlichen Prädikate, ihre Vereinbarkeit oder Un- vereinbarkeit auf rein logischem Wege muss entschie- den werden können, wozu die Jedem einwohnende blosse Vernunft hinreicht; so ist die Urtheilskraft dabei nur in der Abkürzung jenes Processes thätig, indem der mit ihr Begabte schnell übersieht, was Andere erst durch eine Reihe von Reflexionen herausbringen. Ihre Thätigkeit im engern Sinn aber tritt allerdings erst da ein, wo das anschaulich Erkannte, also das Reale, die Erfahrung, in das deutliche, abstrakte Er- kennen übertragen, unter genau entsprechende Be- griffe subsumirt und so in das reflektirte Wissen ab- gesetzt werden soll. Daher ist es dieses Vermögen, welches die festen Grundlagen aller Wissenschaften, ') S. 77 d. A. I 09 als welche stets im unmittelbar Erkannten, nicht weiter Abzuleitenden bestehen, aufzustellen hat. Hier in den Grundurtheilen liegt daher auch die Schwierigkeit derselben, nicht in den Schlüssen daraus. Schliessen ist leicht, urtheilen schwer. Falsche Schlüsse sind eine Seltenheit, Falsche Urtheile stets an der Tagesordnung. Nicht weniger hat die T^rtheilskraft im praktischen Leben, bei allen Grundbeschlüssen und Hauptentschei- dungen, den Ausschlag zu geben; wie denn der rich- terliche Ausspruch, in der Hauptsache, ihr Werk ist. Bei ihrer Thätigkeit muss, — auf ahnliche Art, wie das Brennglas die Sonnenstrahlen in einen engen Fokus zusanmienzieht, — der Intellekt alle Data, die er über eine Sache hat, so eng zusammenbringen, dass er sie mit Einem Blick erfasst, welchen er nun richtig lixirt und dann mit Besonnenheit das Ergebniss sich deutlich macht. Zudem beruht die grosse Schwierigkeit des Urtheils in den meisten Fällen darauf, dass wir von der Folge auf den Grund zu gehen haben, welcher Weg stets unsicher ist; ja, ich habe nachgewiesen, dass hier die Quelle alles Irrthums liegt. Dennoch ist in allen empirischen Wissenschaften, wie auch in den Angelegenheiten des wirklichen Lebens, dieser Weg meistens der einzige vorhandene. Das Experiment ist schon ein Versuch, ihn in umgekehrter Richtung zu- rückzulegen: daher ist es entscheidend und bringt wenigstens den Irrthum zu Tage; vorausgesetzt, dass es richtig gewählt und redlich angestellt sei, nicht aber wie dielNeutonischen Experimente in der Farbenlehre; aber auch das l^xperiment nuiss wieder beurtheilt wer- den. Die vollkommene Sicherheit der Wissenschaften a priori, also der Logik und Mathematik, beruht haupt- sächlich darauf, dass in ihnen uns derWeg vom Grunde auf die Folge offen steht, der allemal sicher ist. Dies verleiht ihnen den Charkter rein objektiver Wissen- schaften, d.h. solcher,überderen Wahrheiten Alle, wel- che dieselben verstehen, auch übereinstimmend urthei- len müssen; welches um so auffallender ist, als gerade sie auf den subjektiven Formen des Intellekts beruhen, während die empirischen Wissenschaften allein es mit dem handgreiflich Objektiven zu thun haben. I I o Aeusserungen der Urtheilskraft sind auch Witz und Scharfsinn : in jenem ist sie reflektirend, in diesem subsumirend thätig. Bei den meisten Menschen ist die Urtheilskraft bloss nominell vorhanden ; es ist eine Art Ironie, dass man sie den normalen Geisteskräften bei- zählt, statt sie allein den monstris per excessum zu- zuschreiben. Die gewöhnlichen Köpfe zeigen selbst in den kleinsten Angelegenheiten Mangel an Zutrauen zu ihrem eigenen Urtheil; eben weil sie aus Erfahrung wissen, dass es keines verdient. Seine Stelle nimmt bei ihnen Vorurtheil und Nachurtheil ein; wodurch sie in einem Zustand fortdauernder Unmündigkeit erhalten werden, aus welcher unter vielen Hunderten kaum Einer losgesprochen wird. Eingestand lieh ist sie frei- lich nicht; da sie sogar vor sich selber zum Schein urtheilen, dabei jedoch stets nach der Meinung Ande- rer schielen, welche ihr heimlicher Piichtpunkt bleibt. Während Jeder sich schämen würde, in einem geborg- ten Rock, Hut oder Mantel umherzugehen, haben sie Alle keine anderen, als geborgte Meinungen, die sie begierig aufraffen, wo sie ihrer habhaft werden, und dann, sie für eigen ausgebend, damit herumstolziren. Andere borgen sie wieder von ihnen und machen es damit ebenso. Dies erklärt die schnelle und weite Ver- breitungderIrrthümer,wieauchdenRuhmdesSchlech- ten: denn die Meinungsverleiher von Profession, also Journalisten u. dergl., geben in der Regel nur falsche Ware aus, wie die Ausleiher der Maskenanzüge nur falsche Juwelen. KAPITEL 8*). ZUR THEORIE DES LÄCHERLICHEN. AUF dem in den vorhergegangenen Kapiteln er- läuterten, von mir so nachdrücklich hervorge- hobenen Gegensatz zwischen anschaulichen und ab- ') Dieses Kapitel bezieht sich auf §. 1 3 des ersten Bandes. [S. 74 d. A.] I I l strakten Vorstellungen beruht auch meine Theorie des Lächerlichen; weshalb das zu ihrer Erläuterung noch Beizubringende seine Stelle hier findet, obgleich es, der Ordnung des Textes nach, erst weiter unten folgen müsste. Das Problem des überall identischen Ursprungs und damit der eigentlichen Bedeutung des Lachens wurde schon von Cicero erkannt, aber auch sofort als unlösbar aufgegeben. (De orat., H, 58.) Der älteste mir bekannte Versuch einer psychologischen Erklärung des Lachens findet sich in Hutchesons Introduction into moral philosophy Bk. i, eh. i, §. i4- — Eine etwas spätere anonyme Schrift, Traite des causes physiques et mora- les du rire, 1768, ist als Ventilation des Gegenstandes nicht ohne Verdienst. Die Meinungen der von Home bis zu Kant sich an einer Erklärung jenes der mensch- lichen Natur eigenthümlichen Phänomens versuchen- den Philosophen hat Plattier zusammengestellt, in sei- ner Anthropologie, §. 894. — Kants und Jean Pauls Theorie des Lächerlichen sind bekannt. Ihre Unrich- tigkeit nachzuweisen halte ich für überflüssig; da Jeder, welcher gegebene Fälle des Lächerlichen auf sie zu- rückzuführen versucht, bei den allermeisten die Ueber- zeugung von ihrer Unzulänglichkeit sofort erhalten wird. Meiner im ersten Bande ausgeführten Erklärung zufolge ist der Ursprung des Lächerlichen allemal die paradoxe und daher unerwartete Subsumtion eines Gegenstandes unter einen ihm übrigens heterogenen Begriff, und bezeichnet demgemäss das Phänomen des Lachens allemal die plötzliche Wahrnehmung einer Inkongruenz zwischen einem solchen Begriff und dem durch denselben gedachten realen Gegenstand, also zwischen dem Abstrakten und dem x\nschaulichen. Je grösser und unerwarteter, in der Auffassung des Lachenden, diese Inkongruenz ist, desto heftiger wird sein Lachen ausfallen. Demnach muss bei Allem, was Lachen erregt, allemal nachzuweisen seyn ein Begriff und ein Einzelnes, also ein Diujj oder ein Vorgang, welcher zwar unter jenen Begriff sich subsumiren, mithin durch ihn sich denken lässt, jedoch in anderer I I 2 und vorwaltender Beziehung gar nicht darunter ge- hört, sondern sich von Allem, was sonst durch jenen Begriff gedacht wird, auffallend unterscheidet. Wenn, wie zumal hei Witzworten oft der Fall ist, statt eines solchen anschaulichen Realen, ein dem höhern oder Gattungsbegriffuntergeordneter Artbegriff auftritt; so wird er doch das Lachen erst dadurch erregen, dass die Phantasie ihn realisirt, d. h. ihn durch einen an- schaulichen Repräsentanten vertreten lässt, und so der Konflikt zwischen dem Gedachten und dem Ange- schauten Statt findet. Ja, man kann, wenn man die Sache recht explicite erkennen will, jedes Lächerliche zurückführen auf einen Schluss in der erster Figur, mit einer unbestrittenen major und einer unerwarte- ten, gewissermaassen nur durch Schikane geltend ge- machten minor; in Folge welcher Verbindung die Konklusion die Eigenschaft des Lächerlichen an sich hat. Ich habe, im ersten Bande, für überflüssig gehalten, diese Theorie an Beispielen zu erläutern; da Jeder dies, durch ein wenig Nachdenken über ihm erinnerliche Fälle des Lächerlichen, leicht selbst leisten kann. Um jedoch auch der Geistesträgheit derjenigen Leser, die durchaus im passiven Zustand verharren wollen, zu Hülfe zu kommen, will ich mich hier dazu bequemen. Sogar will ich, in dieser dritten Auflage, die Beispiele vermehren und anhäufen; damit es unbestritten sei, dass hier, nach so vielen fruchtlosen, früheren Ver- suchen, die wahre Theorie des Lächerlichen gegeben und das schon vom Cicero aufgestellte, aber auch auf- gegebene Problem definitiv gelöst sei. — Wenn wir bedenken, dass zu einem Winkel zwei auf einander treffende Linien erfordert sind, welche, wenn verlängert, einander schneiden, die Tangente hingegen den Kreis nur an einem Punkte streift, an diesem Punkte aber eigentlich mit ihm parallel geht, und wir demgemäss die abstrakte Ueberzeugung von der Unmöglichkeit eines Winkels zwischen Kreislinie und Tangente gegenwärtig haben; nun aber doch auf dem Papier ein solcher Winkel uns augenscheinlich vorliegt; so wird dieses uns leicht ein Lächeln abnö- 8 Schopenhauer II I I J ihigen. Das Lächerliche in diesem Fall ist zwar äusserst schwach: hingegen tritt gerade in ihm der Ursprung desselben aus der Inkongruenz des Gedachten zum Angeschaulen ungemein deutlich hervor. — Je nach- dem wir, beim Auffinden einer solchen Inkongruenz,, vom Realen, d. i. Anschaulichen, zum Begriff, oder aber umgekehrt vom Begriff zum Realen übergehen, ist das dadurch entstehende Lächerliche entweder ein Witzwort, oder aber eine Ungereimtheit, im höheren Grade, zumal im Praktischen, eine Narrheit; wie im Text auseinandergesetzt worden. Um nun Beispiele des ersten Falles, also des Witzes, zu betrachten, wollen wir zunächst die allbekannte Anekdote nehmen vom Gaskogner, über den der König lachte, als er ihn bei strenger W^interkälte in leichter Sommerkleidung sah, und der darauf zum König sagte: „Hätten Ew. Maj. angezogen, was ich angezogen habe; so würden Sie es sehr warm finden", — und auf die Frage, was er angezogen habe: „meine ganze Garderobe". — Unter diesem letztern Begriff' ist nämlich, so gut wie die un- übersehbare Garderobe eines Königs, auch das einzige Sommerröckchen eines armen Teufels zu denken, des- sen Anblick auf seinem frierenden Leibe sich jedoch dem Begriff' sehr inkongruent zeigt. — Das Publikum eines Theaters in Paris verlanjjte einst, dass die Mar- seillaise gespielt werde, und gerieth, als dies nicht ge- schah, in grosses Schreien und Toben; so dass endlich ein Polizeikommissarius in Uniform auf die Bühne trat und erklärte, es sei nicht erlaubt, dass im Theater etwas Anderes vorkomme, als was auf dem Zettel stehe. Da rief eine »Stimme: Et vous, Monsieur, etes- vous aussi sur Taffiche? welcher Einfall das einstim- migste Gelächter erregte. Denn hier ist die Subsumtion des Heterogenen unmittelbar deutlich und ungezwun- gen. — Das Epigramm: ,jBav ist der treue Hirt, von dem die Bibel sprach: Wenn seine Heerde schläft, bleibt er allein noch wach", subsumirt unter den Begriff' eines bei der schlafenden Heerde wachenden Hirten, den langweiligen Prediger ,^ der die ganze Gemeinde eingeschläfert hat und nun 1,4 ungehört allein fortbelfert. — Analog ist die Grab- schrift eines Arztes: „Hier liegt er, wie ein Held, und die Erschlagenen liegen um ilin her": — es subsumirt unter den dem Helden ehrenvollen Begriff des „von Gelödteten umringt Liegens" den Arzt, der das Leben erhalten soll. — Sehr häufig besteht das Witzwort in einem einzigen Ausdruck, durch den eben nur der Begriff angegeben wird, unter welchen der vorliegende Fall subsumirt werden kann, welcher jedoch Allem, was sonst darunter gedacht wird, sehr heterogen ist. So im Romeo, wenn der lebhafte, aber soeben todtlich verwundete M er kut 10 seinen Freunden, die ihn Morgen zu besuchen versprechen, antwortet : „Ja, kommt nur, ihr werdet einen stillen Mann an mir finden", unter welchen Begriff hier der Todte subsumirt wird; im Englischen kommt aber noch das Wortspiel hinzu, dass a grave man zugleich den ernsthaften, und den Mann des Grabes bedeutet. — Dieser Art ist auch die bekannte Anekdote vom Schauspieler ünzelmann: nachdem auf dem Berliner Theater alles Improvisiren streng untersagt worden war, hatte er zu Pferde auf der Bühne zu erscheinen, wobei, als er gerade auf dem Proscenio war, das Pferd Mist fallen Hess, wodurch das Publikum schon zum Lachen bewogen wurde, je- doch sehr viel mehr, als Ünzelmann zum Pferde sagte: „Was machst denn du? weisst du nicht, dass uns das Improvisiren verboten ist?" Hier ist die Subsumtion des Heterogenen unter den allgemeineren Begriff sehr deutlich, daher das Witzwort überaus treffend und die dadurch erlangte Wirkung des Lächerlichen äus- serst stark. — Hieher gehört ferner eine Zeitungs- nachricht vom März i85i aus Hall: „Die jüdische Gaunerbande, deren wir erwähnt haben, wurde wieder bei uns, unter obligater Begleitung, eingeliefert." Diese Subsumtion einer Polizeieskorte unter einen musikali- schen Ausdruck ist sehr glücklich; wiewohl sich schon dem blossen Wortspiel nähernd. — Hingegen ist es ganz der hier in Rede stehenden Art, wenn Saphir, in einem Federkrieg gegen den Schauspieler Angeli, die- sen bezeichnet als „den an Geist und Körper gleich gros- sen Angeli" — wo, vermöge der stadtbekannten win- I I zigenStatiirdesSchauspielers, unter den Begriff,, gross" das ungemein Kleine sich anschaulich stellt : — so auch, wenn derselbe Saphir die Arien einer neuen Oper „gute alte Bekannte" nennt, also unter einen Begriff, der in andern Fallen zur Empfehlung dient, gerade die tadelhafte Eigenschaft bringt: — ebenso, wenn man von einer Dame, auf deren Gunst Geschenke Einfluss hätten, sagen wollte, sie wisse das utile dnlci zu ver- einigen; wodurch man unter den Begriff der Begel, welche vom Horaz in ästhetischer Hinsicht empfohlen wird, das moralisch Gemeine bringt: —eben so, wenn man, um ein Bordell anzudeuten, es etwan bezeich- nete als einen „bescheidenen Wohnsitz stiller Freu- den". — Die gute Gesellschaft, welche um vollkommen fade zu seyn, alle entschiedenen Aeusserungen und daher alle starken Ausdrücke verbannt hat, pflegt, um skandalöse, oder irgendwie anstössige Dinge zu bezeichnen, sich dadurch zu helfen, dass sie solche, zur Milderung, mittelst allgemeiner Begriffe ausdrückt: hiedurch aber wird diesen auch das ihnen mehr oder minder Heterogene subsumirt, wodurch eben, in ent- sprechendem Grade, die Wirkung des Lächerlichen entsteht. Dahin also gehört das Obige utile dulci: des- gleichen: „er hat auf dem Ball Unannehmlichkeiten gehabt", — wenn er geprügelt und herausgeschmissen worden; oder „er hat des Guten etwas zu viel ge- than", — wenn er betrunken ist; wie auch „die Frau soll schwache Augenblicke haben", — wenn sie ihrem Mann Hörner aufsetzt; u. s. w. Ebenfalls gehören da- hin die Aequivoken, nämlich Begriffe, welche an und für sich nichts Unanständiges enthalten, unter die je- doch das Vorliegende gebracht auf eine unanständige Vorstellung leitet. Sie sind in der Gesellschaft sehr häufig. Aber ein vollkommenes Muster der durchge- führten und grossartigen Aequivoke ist die unver- gleichliche Grabschrift auf den Justice of peace von Shenstone, als welche, in ihrem hochtrabenden Lapi- darstil, von edeln luid erhabenen Dingen zu reden scheint, während unter jeden ihrer Begriffe etwas ganz Anderes zu subsumiren ist, welches erst im allerletzten Wort, als unerwarteter Schlüssel zum Ganzen, hervor- tritt und der Leser laut auflachend entdeckt, dass er bloss eine sehr schmutzige Aequivoke gelesen hat. Sie herzusetzen und gar noch zu übersetzen ist in diesem glatt gekämmten Zeitalter schlechterdings unzulässig: man findet sie in Shenstone's Poetical works, über- schrieben Inscription. Die Aequivoken gehen bisweilen in das blosse Wortspiel über, von welchem im Text das Nöthige gesagt worden. Auch wider die Absicht kann die jedem Lächer- lichen zum Grunde liegende Subsumtion des in einer Hinsicht Heterogenen unter einen ihm übrigens an- gemessenen Begriff Statt finden: z. B. einer der freien Neger in Nordamerika, welche sich bemühen, in allen Stücken den Weissen nachzuahmen, hat ganz kürz- lich seinem gestorbenen Kinde ein Epitaphium gesetzt, welches anhebt: „Liebliche, frühgebrochene Lilie". — Wird hingegen, mit plumper Absichtlichkeit, ein Reales und Anschauliches geradezu unter den Begriff seines Gegentheils gebracht, so entsteht die platte, ge- meine Ironie. Z. B. wenn bei starkem Regen gesagt wird: „das ist heute ein angenehmes Wetter"; — oder, von einer hässlichen Braut: ,,der hat sich ein schönes Schätzchen ausgesucht"; — oder von einem Spitzbuben: „dieser Ehrenmann"; u. dgl. m. Nur Kinder und Leute ohne alle Bildung werden über so etwas lachen : denn hier ist die Inkongruenz zwischen dem Gedachten und dem Angeschauten eine totale. Doch tritt, eben bei dieser plumpen Uebertreibung in der Bewerkstelligung des Lächerlichen, der Grund- charakter desselben, besagte Inkongruenz, sehr deut- lich hervor. — Dieser Gattung des Lächerlichen ist, wegen der Uebertreibung und deutlichen Absichtlich- keit, in etwas verwandt die Parodie. Ihr Verfahren besteht darin, dass sie den Vorgängen und Worten eines ernsthaften Gedichtes oder Dramas unbedeuten- de, niedrige Personen, oder kleinliche Motive und Handlungen unterschiebt. Sie subsumirt also die von ihr dargestellten platten Realitäten unter die im Thema gegebenen hohen Begriffe, unter welche sie nun in gewisser Hinsicht passen müssen, während sie übrigens denselben sehr inkongruent sind; wodurch dann der I n Widerstreit /wischen dem Angeschauten und dem Gedachten sehr grell hervortritt. An bekannten Bei- spielen fehlt es hier nicht: ich führe daher nur eines an, aus der Zoheide von Carlo Gozzi, Akt 4? Scene 3, wo zweien Hanswürsten, die sich soeben geprügelt haben und davon ermüdet ruhig nebeneinander liegen, die berühmte Stanze des Ariosto (Orl. für. I, 22) oh gran bonta de' cavalieri antichi u. s. w. ganz wörtlich in den Mund gelegt ist. — Dieser Art ist auch die in Deutschland sehr beliebte Anwendung ernster, be- sonders Schiller'scher Verse auf triviale Vorfalle, wel- che offenbar eine Subsumtion des Heterogenen unter den allgemeinen Begriff, welchen der Vers ausspi'icht, enthält. So z. B. wann Jemand einen recht charakte- ristischen Streich hat ergehen lassen, wird es selten an Einem fehlen, der dazu sagt: „Daran erkenn' ich meine Pappenheimer." Aber originell und sehr witzig war es, als Einer an ein eben getrautes junges Ehe- paar, dessen weibliche Hälfte ihm gefiel, die Schluss- worte der Schiller'schen Ballade „Die Bürgschaft" (ich weiss nicht wie laut) richtete: „Ich sei, erlaubt mir die Bitte, In euerm Bunde der Dritte."' Die Wirkung des Lächerlichen ist hier stark und un- ausbleiblich, weil unter die Begriffe, durch welche Schiller uns ein moralisch edles Verhältniss zu denken giebt, ein verbotenes und unsittliches, aber richtig und ohne Veränderung subsumirt, also dadurch gedacht wird. — In allen hier angeführten Beispielen des Witzes findet man, dass einem Begriff, oder überhaupt einem abstrakten Gedanken, ein Reales, unmittelbar, oder mittelst eines engern Begriffes, subsumirt wird, welches zwar, nach der Strenge, darunter gehört, je- doch himmelweit verschieden ist von der eigentlichen und ursprünglichen Absicht und Richtung des Ge- dankens. Demgemäss besteht der Witz, als Geistes- fähigkeit, ganz allein in der Leichtigkeit, zu jedem vorkommenden Gegenstande einen Begriff zu finden, unter welchem er allerdings mitgedacht werden kann, jedoch allen andern darunter gehörigen Gegenständen sehr heterogen ist. 118 Die zweite Art des Lächerlichen geht, wie erwähnt, in umgekehrter Richtung, vom abstrakten Begriff zu dem durch diesen gedachten Realen, oder Anschau- lichen, welches nun aber irgend eine Inkongruenz zu demselben, die übersehen worden, an den Tag legt, wodurch eine Ungereimtheit, mithin in praxi eine närrische Handlung entsteht. Da das Schauspiel Hand- lung erfordert, so ist diese Art des Lächerlichen der Komödie wesentlich. Hierauf beruht Voltaires Be- merkung: J'ai cru remarquer aux spectacles, qu'il ne s'eleve presque jamais de ces eclats de rire univer- sels, qu'ä Foccasion d'une meprise. (Preface de Ten- fant prodigue.) Als Beispiele dieserGattung des Lächer- lichen können die folgenden gelten. Als jemand ge- äussert hatte, dass er gern allein spatzieren gienge, sagte ein Oesterreicher zu ihm: „Sie gehn gern allein spatzieren: ich halt auch: da können wir zusammen gehn." Er geht aus von dem Begriff „ein Vergnügen, welches Zwei lieben, können sie gemeinschaftlich ge- niessen", und subsumirt demselben den Fall, der gerade die Gemeinschaft ausschliesst. F'erner der Be- diente, welcher das abgeschabte Seehundsfell am Koffer seines Herrn mit Makassaröl bestreicht, damit es wieder behaart werde; wobei er ausgeht von dem Begriff" „Makassaröl macht Haare wachsen" : — die Soldaten in der Wachtstube, welche dem eben eingebrachten Arrestanten an ihrem Kartenspiel Theil zu nehmen erlauben, weil er aber dabei schikanirt, wodurch Streit entsteht, ihn hinauswerfen : sie lassen sich leiten durch den allgemeinen Begriff „schlechte Gesellen wirft man hinaus", — vergessen aber, dass er zugleich Arrestant, d. h. Einer, den sie festhalten sollen, ist. — Zwei Bauernjungen hatten ihre Flinte mit grobem Schrot geladen, welches sie, um ihm feines zu substituiren, heraushaben wollten, ohne jedoch das Pulver einzu- büssen. Da legte der Eine die Mündung des Laufes in seinen Hut, den er zwischen die Beine nahm, und sagte zum Andern : Jetzt drücke du ganz sachte, sachte, sachte los: da kommt zuerst das Schrot." Er geht aus von dem Begriff „Verlangsamung der Ursache giebt Verlangsamung der Wirkung". Belege sind ferner die meisten Handlungen des Don Quijote, welcher unter Begriffe, die er aus Rittorromanen geschöpft, die ihm vorkommenden ihnen sehr heterogenen Realitäten subsumirt, z. B. um die Unterdrückten zu unterstützen, die Galeerensklaven befreit. Eigentlich gehören auch alle Münchhausianaden hieher: nur sind sie nicht Handlungen, die vollzogen, sondern unmögliche, die als wirklich geschehen dem Zuhörer aufgebunden werden. Bei denselben ist allemal die Tatsache so ge- fasst, dass sie, bloss in abstracto, mithin komparativ a priori gedacht, als möglich und plausibel erscheint: aber hiiiterher, wenn man zur Anschauung des indi- viduellen Falls herabkommt, also a posteriori, tut sich das Unmögliche der Sache, ja, das Absurde der An- nahme hervor und erregt Lachen, durch die augen- fällige Inkongruenz des Angeschauten zum Gedachten: z. B. wenn die im Posthorn eingefrorenen Melodien in der warmen Stube auftauen ; — wenn Münchhau- sen, bei strengem Frost, auf dem Baume sitzend, sein herabgefallenes Messer am gefrierenden Wasserstrahl seines Urins in die Höhe zieht, u. s. w. Dieser Art ist auch die Geschichte von zwei Löwen, welche Nachts die Scheidewand diuchbrechen und in ihrer Wuth sich gegenseitig auffressen; so dass am Morgen nur noch die beiden Schwänze gefunden werden. Noch giebt es Fälle des Lächerlichen, wo der Begriff, unter welchen das Anschauliche gebracht wird, weder ausgesprocheti, noch angedeutet zu werden braucht, sondern vermöge der Ideenassociation von selbst ins Bewusstseyn tritt. Das Lachen, in welches Garricky mitten im Tragiren, ausbrach, weil ein vorn im Par- terre stehender Fleischer, um sich den Schweiss abzu- wischen, einstweilen seinem grossen Hunde, der, mit den Vorderpfoten auf die Parterreschranke gestützt, nach dem Theater hinsah, seine Perrücke aufgesetzt hatte, war dadiu'ch vermittelt, dass Garrick vom hin- zugedachten Begriff" eines Zuschauers ausgin(f. Eben hierauf beruht es, dass gewisse Thiergestalten, wie Affen, Kängurus, Springhaasen u. dgl. ims bisweilen lächerlich erscheinen, weil etwas Menschenähnliches in ihnen uns veranlasst, sie unter den Begriff der I 20 menschlichen (restalt zu subsumiren, von welchem wieder ausgehend, wir ihre Inkongruenz zu demselben wahrnehmen. Die Begriffe, deren hervortretende Inkongruenz zur Anschauung uns zum Lachen bewegt, sind nun ent- weder die eines Andern oder unsere eigenen. Im erstem Fall lachen wir über den Andern: im zweiten fühlen wir eine oft angenehme, wenigstens belustigende Ueberraschung. Kinder und rohe Menschen lachen daher bei den kleinsten, sogar bei widrigen Zufällen, wenn sie ihnen imerwartet waren, also ihren vorge- fassten Begriff' des Irrthums überführten. — In der Regel ist das Lachen ein vergnüglicher Zustand : die Wahrnehmung der Inkongruenz des Gedachten zum Angeschauten, also zur Wirklichkeit, macht uns dem- nach Freude und wir geben uns gern der krampfhaf- ten Erschütterung hin, welche diese Wahrnehmung erregt. Der Grund hievon liegt in Folgendem. Bei jenem plötzlich hervortretenden Widerstreit zwischen dem Angeschauten und dem Gedachten behält das Angeschaute allemal unzweifelhaftes Recht: denn es ist gar nicht dem Irrthuni unterworfen, bedarf keiner Beglaubigung von ausserhalb, sondern vertritt sich selbst. Sein Konflikt mit dem Gedachten entspringt zuletzt daraus, dass dieses mit seinen abstrakten Be- griffen nicht herabkann zur endlosen Mannigfaltigkeit und Nüancirung des Anschaulichen. Dieser Sieg der anschauenden Erkenntniss über das Denken erfreut uns. Denn das Anschauen ist die ursprüngliche, von der thierischen Natur unzertrennliche Erkenntniss- weise, in der sich Alles, was dem Willen unmittel- bares Genügen giebt, darstellt: es ist das Medium der Gegenwart, des Genusses vuid der Fröhlichkeit: auch ist dasselbe mit keiner Anstrengung verknüpft. Vom Denken gilt das Gegentheil : es ist die zweite Potenz des Erkennens, deren Ausübung stets einige, oft be- deutende Anstrengung erfordert, und deren Begriffe es sind, welche sich oft der Befriedigung unserer un- mittelbaren Wünsche entgegensteilen, indem sie, als das Medium der Vergangenheit, der Zukunft und des Ernstes, das Vehikel unserer Befürchtungen, unserer 121 Reue und aller unserer Sorj^en abgeben. Diese strenge, unermüdliche, überlästige Hofineisterin Vernunft jetzt ein Mal der Unzulänglichkeit überführt zu sehen, muss uns daher ergötzlich seyn. Deshalb also ist die Miene des Lachens der der FVeude sehr nahe ver- wandt. Wegen des Mangels an Vernunft, also an Allge- meinbegriffen, ist dasThier, wie der Sprache, so auch des Lachens unfähig. Dieses ist daher ein Vorrecht und charakteristisches Merkmal des Menschen. Jedoch hat, beiläufig gesajjt, auch sein einziger Freund, der Hund, einen analogen, ihm allein eigenen und cha- rakteristischen Akt vor allen andern Thieren voraus, nämlich das so ausdrucksvolle, wohlwollende und grundehrliche Wedeln, Wie vortheilhaft sticht doch diese, ihm von der Natur eingegebene Begrüssung ab, gegen die Bücklinge und grinsenden Höflichkeitsbe- zeugungen der Menschen, deren Versicherung inniger Freundschaft und Ergebenheit es an Zuverlässigkeit, wenigstens für die Gegenwart, tausend Mal übertrifft. — Das Gegentbeil des Lachens und Scherzes ist der Ernst. Demgemäss besteht er im Bewusstseyn der voll- kommenen Uebereinstimmung und Kongruenz des Begriffs, oder Gedankens, mit dem Anschaulichen, oder der Realität. Der Ernste ist überzeugt, dass er die Dinge denkt wie sie sind, und dass sie sind wie er sie denkt. Eben deshalb ist der üebergang vom tiefen Ernst zum Lachen so besonders leicht und durch Klei- nigkeiten zu bewerkstelligen; weil jene vom Ernst an- genommene Uebereinstimmung, je vollkommener sie schien, desto leichter selbst durch eine geringe, uner- wartet zu Tage kommende Inkongruenz aufgehoben wird. Daher je mehr ein Mensch des ganzen Ernstes fähig ist, desto herzlicher kann er lachen. Menschen, deren Lachen stets affektirt und gezwungen heraus- kommt, sind intellektuell und moralisch von leichtem Gehalt; wie denn überhaupt die Art des Lachens, und andererseits der Anlass dazu, sehr charakteristisch für die Person ist. Dass die Geschlechtsverhältnisse den leichtesten, jederzeit bereit liegenden und auch dem schwächsten Witz erreichbaren Stoff zum Scherze ab- I 22 geben, wie die Häufif^fkeit der Zoten beweist, könnte nicht seyn, wenn nicht der tiefste Ernst gerade ihnen zum Grunde läge. Dass das Lachen Anderer über Das, was wir thun oder ernsthch sagen, uns so einpfindHch beleidigt, be- ruht darauf, dass es aussagt, zwischen unsern Begriffen und der objektiven Realität sei eine gewaltige Inkon- gruenz. Aus demselben Grunde ist das Prädikat „lä- cherlich" beleidigend. — Das eigentliche Hohngeläch- ter ruft dem gescheiterten Widersacher triumphirend zu, wie inkongruent die Begriffe, welche er gehegt, zu der sich jetzt ihm offenbarenden Wirklichkeit ge- wesen. Unser eigenes bitteres Lachen, bei der sich uns schrecklich enthüllenden Wahrheit, durch welche fest gehegte Erwartungen sich als täuschend erweisen, ist der lebhafte Ausdruck der nunmehr gemachten Ent- deckung der Inkongruenz zwischen den Gedanken, die wir, in thörichtem Vertrauen auf Menschen oder Schicksal, gehegt, und der jetzt sich entschleiernden Wirklichkeit, Das absichtlich Lächerliche ist der Scherz: er ist das Bestreben, zwischen den Begriffen des Andern und der Realität, durch Verschieben des Einen dieser Bei- den, eine Diskrepanz zu Wege zu bringen; während sein Gegentheil der Ernst in der wenigstens angestreb- ten genauen Angemessenheit Beider zu einandei' be- steht. Versteckt nun aber der Scherz sich hinter den Ernst; so entsteht die Ironie: z. B. wenn wir auf die Meinungen des Andern, welche das Gegentheil der unserigen sind, mit scheinbarem Ernst eingehen und sie mit ihm zu theilen simuliren; bis endlich das Resultat ihn an uns und ihnen irre macht. So verhielt sich Sokrates dem Hippias, Protagoras, Gorgias und andern Sophisten, überhaupt oft seinem Collocutor ge- genüber. — Das Umgekehrte der Ironie wäre dem- nach der hinter den Scherz versteckte Ernst, und dies ist der Humor. Man könnte ihn den doppelten Kontra- punkt der Ironie nennen. — Erklärungen wie „der Humor ist die Wechseldurchdringung des Endlichen und Unendlichen" drücken nichts weiter aus, als die gänzliche Unfähigkeit zum Denken Derer, die an sol- I 23 chen hohlen Floskeln ihr Genügen haben. — Die Ironie ist objektiv, nämlich autden Andern berechnet; der Humor aber subjektiv, nämlich zunächst nur für das eigene Selbst da. Dem{;emäss finden die Meister- stücke der Ironie sich bei den Alten, die des Humors sich bei den Neueren. Denn näher betrachtet, beruht der Humor auf einer subjektiven, aber ernsten und erhabenen Stimnuuig, welche unwillkürlich in Kon- flikt geruth mit einer ihr sehr heterogenen, gemeinen Aussenwelt, der sie weder ausweichen, noch sich selbst aufgeben kann; daher sie, zur Vermittelung, versucht, ihre eigene Ansicht und jene Aussenwelt durch die selben Begriffe zu denken, welche hiedurch eme dop- pelte, bald auf dieser bald auf der andern Seite liegen- de Inkongruenz zu dem dadurch gedachten Realen erhalten, wodurch der Eindruck des absichtlich Lä- cherlichen, also des Scherzes entsteht, hinter welchem jedoch der tiefste Ernst versteckt ist und durchscheint. Fängt die Ironie mit ernster Miene an und endigt mit lächelnder, so hält der Humor es umgekehrt. Als ein Beispiel von diesem kann schon der oben angeführte Ausdruck des Merkutio gelten. Desgleichen im Ham- let: Poloniiis: „Gnädigster Herr, ich will ehrerbietigst Abschied von Ihnen nehmen. — Hamlet: Sie kön- nen nichts von mir nehmen, was ich williger her- gäbe; — ausgenommen mein Leben, ausgenommen mein Leben, ausgenommen mein Leben." — So- dann, vor der Aufführung des Schauspiels bei Hofe, sagt Hamlet zur Ophelia: „Was sollte ein Mensch Anderes thun, als lustig seyn? Denn seht nur, wie vergnügt meine Mutter aussieht, und mein Vater ist doch erst vor zwei Stunden gestorben. — Ophelia: Vor zwei Mal zwei Monaten, gnädigster Herr. — Ham- let: So lange ist's ber?! Ei, da mag der Teufel noch schwarz gehen! ich will mir ein munteres Kleid ma- chen lassen." — Ferner auch in Jean Pauls „Titan", wenn der tiefsinnig gewordene und nun über sich selbst brütende Schoppe öfter seine Hände ansehend zu sich sagt: „Da sitzt ein Herr leibhaftig und ich in ihm : wer ist aber solcher?" — Als wirklicher Humorist tritt Heinrich Heine auf, in seinem „Romancero" : hin- I 24 ter allen seinen Scherzen und Possen merken wir einen tiefen Ernst, der sich schämt nnverschleiert hervor- zutreten. — Demnach beruht der Humor auf einer hesondern Art der Laune (wahrscheinlich von Luna), durch welchen Begriff, in allen seinen Modillkationen, ein entschiedenes Ueberwiegen des Subjektiven über das Objektive, bei der Auffassung der Aussenwelt, ge- dacht wird. Auch jede poetische, oder künstlerische Darstellung einer komischen, ja sogar possenhaften Scene, als deren verdeckter Hintergrund jedoch ein ernster Gedanke durchschimmert, ist Produkt des Humors, also humoristisch. Dahin gehört z. B. eine kolorirte Zeichnung von Tischhein: sie stellt ein ganz leeres Zimmer dar, welches seine Beleuchtung allein von dem im Kamin lodernden Feuer erhält. Vor die- sem steht ein Mensch, in der Weste, so dass, von sei- nen Füssen ausgehend, der Schatten seiner Person sich über das ganze Zimmer erstreckt. „Das ist einer", kommentirte Tischbein dazu, ,,dem in der Welt nichts hat gelingen wollen und der es zu nichts gebracht hat: jetzt freut er sich, dass er doch einen so grossen Schatten werfen kann." Sollte ich nun aber den hin- ter diesen Scherz versteckten Ernst aussprechen, so könnte ich es am besten durch folgende dem Persischen Gedichte Amvari Soheili entnommene Verse: „Ist einer Welt Besitz für dich zeironnen, Sei nicht im Leid darüber, es ist nichts; Und hast du einer Welt Besitz gewonnen. Sei nicht erfreut darüber, es ist nichts. Vorüber gehn die Schmerzen und die Wonnen, Geh' an der W^elt vorüber, es ist nichts." — Dass heut zu Tage in der Deutschen Litteratur „humoristisch" durchgängig in der Bedeutung von „komisch" überhaupt gebraucht wird, entspringt aus der erbärmlichen Sucht, den Dingen einen vorneh- meren Namen zu geben, als ihnen zukommt, nämlich den einer über ihnen stehenden Klasse; so will jedes Wirtshaus Hotel, jeder Geldwechsler Banquier, jede Reiterbude Girkus, jedes Konzert Musikalische Aka- demie, das Kaufmannskomptoir Bureau, der Töpfer Thonkünstler heissen, — demnach auch jeder Hans- I 25 wurst Humorist. Das Wort Hutnor ist von den Eng- ländern entlehnt, um eine, bei ihnen zuerst bemerkte, ganz eigenthümliche, sogar, wie oben gezeigt, dem Erhabenen verwandte Art des Lächerlichen auszuson- dern, und zu bezeichnen; nicht aber um jeden Spaass und jede Hanswurstiade damit zu betiteln, wie jetzt in Deutschland allgemein, ohne Opposition, geschieht, von Litteraten und Gelehrten ; weil der wahre Begriff jener Abart, jener Geistesrichtung, jenes Kindes des Lächerlichen und Erhabenen, zu subtil und zu hoch seyn würde für ihr Publikum, welchem zu gefallen, sie bemüht sind, Alles abzuplatten und zu pöbelari- siren. Je nun, „hohe Worte und niedriger Sinn" ist überhaupt der Wahlspruch der edeln „Jetztzeit" : dem- gemäss heisst heut zu Tage ein Humorist, was ehe- mals ein Hanswurst genannt wurde. KAPITEL 9*). ZUR LOGHi ÜBERHAUPT. LOGIK, Dialekt und Rhetorik gehören zusammen, indem sie das Ganze einer Technik derf^'^et-nurift aus- machen, unter welcher Benennung sie auch zusam- men gelehrt werden sollten, Logik als Technik des eigenen Denkens, Dialektik des DisputirensmitAnderen und Rhetorik des Redens zu Vielen (concionatio); also entsprechend dem Singular, Dual und Plural, wie auch dem Monolog, Dialog und Panegyrikus. Unter Dialektik verstehe ich, in Uebereinstimmung mit Aristoteles (Metaph. III, 2, et Analyt. post I, 1 1), die Kunst des auf gemeinsame Erforschung der Wahr- heit, namentlich der philosophischen, gerichteten Ge- spräches. Ein Gespräch dieser Art geht aber nothwen- dig, mehr oder weniger, in die Kontroverse über; da- *) Dieses Kapitel, mit sainmt dem folfjenden, steht in Bezieh- ung zu § 9 des ersten Bandes. [S. 48 d. A.] I 26 her Dialektik auch erklärt werden kann als Disputir- kunst. Beispiele und Muster der Dialektik haben wir an den Platonischen Dialogen: aber für die eigentliche Theorie derselben, also für die Technik des Disputi- rens, die Eristik, ist bisher sehr wenig geleistet wor- den. Ich habe einen Versuch der Art ausgearbeitet und eine Probe desselben im zweiten Bande der Parerga mitgetheilt; daher ich die Erörterung dieser Wissen- schaft hier ganz übergehe. In der Rhetorik sind die rhetorischen Figuren un- gefähr was in der Logik die syllogistischen, jeden Falls aber der Betrachtung würdig. Zu Aristoteles Zeit schei- nen sie noch nicht Gegenstand theoretischer Unter- suchungen gewesen zu seyn; da er in keiner seiner Rhetoriken von ihnen handelt, und wir in dieser Hin- sicht an den Rutilius Lubus, den Epitomator eines späteren Gorgias, verwiesen sind. Alle drei Wissenschaften haben das Gemeinsame, dass man, ohne sie gelernt zu haben, ihre Regeln be- folgt, welche sogar selbst erst aus dieser natürlichen Ausübung abstrahiert sind. — Daher haben sie, bei vielem theoretischen Interesse, doch nur geringen prak- tischen Nutzen: theils weil sie zwar die Regel, aber nicht den Fall der Anwendung geben; theils weil wäh- rend der Praxis gewöhnlich keine Zeit ist, sich der Regeln zu erinnern. Sie lehren also nur was Jeder schon von selbst weiss und übt: dennoch ist die abstrakte Erkenntniss desselben interessant und wichtig. Prak- tischen Nutzen wird die Logik, wenigstens für das eigene Denken, nicht leicht haben. Denn die Fehler unseres eigenen Räsonnements liegen fast nie in den Schlüssen, noch sonst in der Form, sondern in den Urtheilen, also in der Materie des Denkens. Hingegen können wir bei der Kontroverse bisweilen einigen prak- tischen Nutzen von der Logik ziehen, indem wir die, aus deutlich oder undeutlich bewusster Absicht, trü- gerische Argumentation des Gegners, welche er unter dem Schmuck und der Decke fortlaufender Rede vor- bringt, auf die strenge Form regelmässiger Schlüsse zurückführen und dann ihm Fehler gegen die Logik nachweisen, z. B. einfache Umkehrung allgemein be- 12' jahender Urtheile, Schlüsse mit vier Terminis, Schlüsse von der Folge auf den Grund, Schlüsse in der zweiten Figur aus lauter affirmirenden Prämissen u. dgl. m. Mir dünkt, dass man die Lehre von den Denkgesetzen dadurch vereinfachen könnte, dass man deren nur zwei aufstellte, nämlich das vom ausgeschlossenen Dritten und das vom zureichenden Grunde. Ersteres so: „jedem Subjekt ist jegliches Prädikat entweder beizulegen oder abzusprechen." Hier liegt im Entweder Oder schon, dass nicht Beides zugleich geschehen darf, folglich eben Das, was die Gesetze der Identität und des Wideispruchs besagen: diese würden also als Korollarien jenes Satzes hinzukommen, welcher ei- gentlich besagt, dass jegliche zwei Begriffssphären ent- weder als vereint, oder als getrennt zu denken sind, nie aber als Beides zuglei<;h; mithin dass, wo Worte zusammengefügt sind, welche Letzteres dennoch aus- drücken, diese Worte einen Denkprocess angeben, der unausführbar ist: das Innewerden dieser Unausführ- barkeit ist das Gefühl des Widerspruchs. — Das zweite Denkgesetz, der Satz vom Grunde, würde besagen, dass obiges Beilegen oder Absprechen durch etwas vom Unheil selbst Verschiedenes bestimmt seyn muss, welches eine (reine oder empirische) Anschauung, oder aber bloss ein anderes Urtheil seyn kann : dieses Andere und Verschiedene heisst alsdann der Grund des Ur- theils. Sofern ein Urtheil dem ersten Denkgesetze ge- nügt, ist es denkbar., sofern es dem zweiten genügt, ist es iva/u; wenigstens logisch oder formell wahr, wenn nämlich der Grund des Unheils wieder nur ein Urtheil ist. Die materielle, oder absolute Wahrheit aber ist zuletzt doch immer nur das Verhältniss zwi- schen einem Urtheil und einer Anschauung, also zwi- schen der abstrakten und der anschaulichen Vorstel- lung. Dies Verhältniss ist entweder ein unmittelbares, oder aber vermittelt durch andere Urtheile, d. h. durch andere abstrakte Vorstellungen. Hienach ist leicht ab- zusehen, dass nie eine Wahrheit die andere umstossen kann, sondern alle zuletzt in Uebereinstimmung seyn müssen; weil im Anschaulichen, ihrer gemeinsamen Grundlage, kein W^iderspruch möglich ist. Daher hat 128 keine Wahrheit die andere zu fürchten. Trug und Irrthum hingegen haben jede Wahrheit zu fürchten; weil, durch die logische Verkettung aller, auch die entfernteste ein Mal ihren Stoss auf jeden Irrthum fortpflanzen muss. Dieses zweite Denkgesetz ist dem- nach der Anknüpfungspunkt der Logik an Das, was nicht mehr Logik, sondern Stoff des Denkens ist. Folg- lich besteht in der Übereinstimmung der Begriffe, also der abstrakten Vorstellung, mit dem in der anschau- lichen Vorstellung Gegebenen, nach der Seite des Ob- jekts, die fVoh'/ieit, und nach der Seite des Subjekts, das Wissen. Das obige Vereint- oder Getrennt-seyn zweier Be- griffssphären auszudrücken ist die Bestimmung der Kopula: „ist — ist nicht." Durch diese ist jedes Ver- bum mittelst seines Particips ausdrückbar. Daher be- steht alles Urtheilen im Gebrauch eines Verbi, und umgekehrt. Demnach ist die Bedeutung der Kopula, dass im Subjekt das Prädikat mitzudenken sei — nichts weiter. Jetzt erwäge man, worauf der Inhalt des In- finitivs der Kopula, „^Sejn" hinausläuft. Dieser nun aber ist ein Hauptthema der Professorenphilosophie gegenwärtiger Zeit. Indessen muss man es mit ihnen nicht so genau nehmen: die meisten nändich wollen damit nichts Anderes, als die materiellen Dinge, die Körperwelt, bezeichnen, welcher sie, als vollkommen unschuldige Realisten, im Grunde ihres Herzens, die höchste Realität beilegen. Nun aber so geradezu von den Körpern zu reden scheint ihnen zu vulgär: daher sagen sie „das Seyn", als welches vornehmer klingt — und denken sich dabei die vor ihnen stehenden Tische und Stühle. „Denn, weil, warum, darum, also, da, obgleich, zwar, dennoch, sondern, wenn — so, entweder — oder", und ähnliche mehr, sind eigentlich logische Par- tikeln; da ihr alleiniger Zweck ist, das Formelle der Denkprocesse auszudrücken. Sie sind daher ein kost- bares Eigen thum einer Sprache und nicht allen in gleicher Anzahl eigen. Namentlich scheint zwar (das zusammengezogene ,,es ist wahr") der deutschen Spra- che ausschliesshch anzugehören: es bezieht sich alle- 9 Schopenhauer II '^ -^9 mal auf ein folgendes, oder hinzugedachtes aber, wie wenn auf 50. Die logische Regel, dass die der Quantität nach einzelnen Urtheile, also die, welche einen Einzelbegrijjf (notio singularis) zum Subjekt haben, eben so zu be- handeln sind, wie die allgemeinen Urtheile, beruht darauf, dass sie in der That allgemeine Urtheile sind» die bloss das Eigene haben, dass ihr Subjekt ein Be- griff ist, der nur durch ein einziges reales Objekt be- legt werden kann, mithin nur ein einziges unter sich begreift: so, wenn der Begriff durch einen Eigennamen bezeichnet wird. Dies kommt aber eigentlich erst in Betracht, wenn man von der abstrakten Vorstellung abgeht zur anschaulichen, also die Begriffe realisiren will. Beim Denken selbst, beim Operiren mit den Ur- theilen, entsteht daraus kein Unterschied, weil eben zwischen Einzelbegriffen und Allgemeinbegriffen kein logischer Unterschied ist: ,, Immanuel Kant" bedeutet logisch : „alle Immanuel Kant". Demnach ist die Quan- tität der Urtheile eigentlich nur zwiefach : allgemeine und partikulare. Eine einzelne Porstellung kann gar nicht das Subjekt eines Urtheils seyn; weil sie kein Ab- straktum, kein Gedachtes, sondern ein Anschauliches ist: jeder Begriff hingegen ist wesentlich allgemein, und jedes Urtheil muss einen Begriff zum Subjekt haben. Der Unterschied der hesondern Urtheile (proposi- tiones particulares) von den allgemeinen beruht oft nur auf dem äussern und zufälligen Umstände, dass die Sprache kein Wort hat, um den hier abzuzwei- genden Theil des allgemeinen Begriffs, der das Subjekt eines solchen Urtheils ist, für sich auszudrücken, in welchem Fall manches besondere Urtheil ein allge- meines seyn würde. Z. B. das besondere Urtheil : „ei- nige Bäume tragen Galläpfel", wird zum allgemeinen, weil man für diese Abzweigung des Begriffs Baum ein eigenes Wort hat: ,,alle Eichen tragen Galläpfel". Eben so verhält sich das Urtheil : „einige Menschen sind schwarz", zu dem : „alle Mohren sind schwarz". — Oder aber jener Unterschied bciidit darauf, dass im Kopfe des Urtheilenden der Begriff, welchen er zum 100 Subjekt des besondern ürtheils macht, sich nicht deut- lich abgesondert hat von dem allgemeinen Begriff, als dessen Theil er ihn bezeichnet, sonst er statt dessen ein allgemeines Urtheil würde aussprechen können: z. B. statt des Unheils: „einige Wiederkäuer haben obere Vorderzähne", dieses: „alle ungehörnten Wie- derkäuer haben obere Vorderzähne". Das hypothetische und das disjunktive Urtheil sind Aussagen über das Verhältniss zweier (beim disjunk- tiven auch mehrerer) kategorischer Urtheile zu ein- ander. — Das hypothetische Urtheil sagt aus, dass von der Wahrheit des ersten der hier verknüpften kate- gorischen Urtheile die des zweiten abhängt, und von der Unwahrheit des zweiten die des ersten: also, dass diese zwei Sätze, in Hinsicht auf Wahrheit und Un- wahrheit, in direkter Gemeinschaft stehen. — Das disjunktive Urtheil hingegen sagt aus, dass von der Wahrheit des einen der hier verknüpften kategorischen Urtheile die Unwahrheit der übrigen abhänge, und umgekehrt; also dass diese Sätze, in Hinsicht auf Wahrheit und Unwahrheit, in Widerstreit stehen. — DieFrcKje ist ein Urtheil, von dessen drei Stücken eines offen gelassen ist: also entweder die Kopula: „ist Kajus ein Römer — oder nicht? oder das Prädikat: „ist Kajus ein Römer — oder etwas Anderes?" oder das Subjekt: „ist Kajus ein Römer — oder ist es ein Anderer?" — Die Stelle des offen gelassenen Begriffs kann auch ganz leer bleiben, z. B. was ist Kajus? — wer ist ein Römer? Die £7raYa)Y7j, inductio, bei Aristoteles, ist das Ge- gentheil der aizaf w'fri. Diese weist einen Satz als falsch nach, indem sie zeigt, dass was aus ihm folgen würde, nicht wahr ist; also durch die instantia in contrarium. Die sTraYfüYTrj hingegen weist die Wahrheit eines Satzes dadurch nach, dass sie zeigt, dass was aus ihm folgen würde, wahr ist. Sie treibt demnach durch Beispiele zu einer iVnnahme hin; die aT:a'(isy^ri treibt eben so von ihr ab. Mithin ist die eTtaYcoyT], oder Induktion, ein Schluss von den Folgen auf den Grund, und zwar modo ponente; denn sie stellt aus vielen Fällen die Regel auf, aus der diese dann wieder die Folgen sind. Q* l3l Eben deshalb ist sie nie vollkommen sieber, sondern bringt es höchstens zu sehr grosser Wahrscheinlich- keit. Indessen kann diese formelle Unsicherheit, durch die Menge der aufgezählten Folgen, einer materiellen Sicherheit Raum geben; in ähnlicher Weise, wie in der Mathematik die irrationalen Verhältnisse, mittelst Decimalbrüchen, der Rationalität unendlich nahe ge- bracht weiden. Die aTraYcoyTi hingegen ist zunächst der Schluss vom Grunde auf die Folgen, verfährt je- doch nachher modo tollente, indem sie das Nichtda- seyn einer nothwendigen Folge nachweist und da- durch die Wahrheit des angenommenen Grundes auf- hebt. Eben deshalb ist sie stets voUkonnnen sicher und leistet durch ein einziges sicheres Beispiel in con- trarium mehr, als die Induktion durch unzählige Bei- spiele für den aufgestellten Satz. So sehr viel leichter ist widerlegen, als beweisen, umwerfen, als aufstellen. KAPITEL lo. ZUR SYLLOGISTIK. WIEWOHL es sehr schwer hält, über einen seit mehr als zwei Tausend Jahren von Unzähligen behandelten Gegenstand, der überdies nicht durch Erfahrungen Zuwachs erhält, eine neue und richtige Grundansicht aufeustellen; so darf dies mich doch nicht abhalten, den hier folgenden Versuch einer sol- chen dem Denker zur Prüfung vorzulegen. Ein Schluss ist die Operation unserer Vernunft, vermöge welcher aus zwei Urtheilen, durch Ver- gleichung derselben, ein drittes entsteht, ohne dass dabei irgend anderweitige Erkenntniss zur Hülfe ge- nommen würde. Die Bedingun{j hiezu ist, dass solche zwei Urtheile einen Begriff gemein haben: denn sonst sind sie sich fremd und ohne alle Gemeinschaft. Un- ter dieser Bedingung aber werden sie Vater und Mut- i3ii ter eines Kindes, welches von Beiden etwas an sich hat. Auch ist besagte Operation kein Akt der Willkür, sondern der Vernunft, welche, der Betrachtung sol- cher Urtheile hingegeben, ihn von selbst, nach ihren eigenen Gesetzen, vollzieht: insofern ist er objektiv, nicht subjektiv, und daher den strengsten Regeln un- terworfen. Beiläufig fragt sich, ob der Schliessende durch den neu entstandenen Satz wirklich etwas Neues erfährt, etwas ihm vorher Unbekanntes? — Nicht schlecht- hin; aber doch gewissermaassen. Was er erfährt, lag in dem, was er wusste: also wusste er es schon mit. Aber er wusste nicht, dass er es wusste, welches ist, wie wenn man etwas hat, aber nicht weiss, dass man es hat; wo es so gut ist, als hätte man es nicht. Näm- lich er wusste es nur implicite, jetzt weiss er es ex- plicite: dieser Unterschied aber kann so gross seyn, dass ihm der Schlusssatz als eine neue Wahrheit er- scheint. Z. B. Alle Diamanten sind Steine; Alle Diamanten sind verbrennlich : Also sind einige Steine verbrennlich. Das Wesen des Schlusses besteht folglich darin, dass wir uns zum deutlichen Bewusstseyn bringen, die Aussage der Konklusion schon in den Prämissen mit- gedacht zu haben: er ist demnach ein Mittel, sich seiner eigenen Erkenntniss deutlicher bewusst zu wer- den, näher zu erfahren, oder inne zu werden, was man weiss. Die Erkenntniss, welche der Schlusssatz liefert, war latent, wirkte daher so wenig, wie latente Wärme aufs Thermometer wirkt. Wer Salz hat, hat auch Chlor; aber es ist als hätte er es nicht: denn nur wenn es chemisch entbunden ist, kann es als Chlor wirken; also erst dann besitzt er es wirklich. Eben so verhält sich der Erwerb, welchen ein blosser Schhiss aus schon bekannten Prämissen liefert: eine vorher r/ebnndene oder latente Erkenntniss wird dadurch fj-ei. Diese Vergleiche könnten zwar etwas übertrieben scheinen, sind es jedoch wohl nicht. Denn, weil wir viele der aus unsern Erkenntnissen möglichen Schlüsse sehr bald, sehr schnell und ohne Förmlickheit voll- i33 ziehen, weshalb auch keine deutliche Erinnerunjj der- selben bleibt; so scheint es, dass keine Prämissen zu möfjlichen Schlüssen lanjje unbenutzt aufbewahrt blieben, sondern wir zu allen Prämissen, die im Be- reich unseres Wissens liejjen, auch schon die Kon- klusionen fertijj hätten. Allein dies ist nicht immer der F'all: vielmehr können, in einem Kopfe, zwei Prämissen lanjje Zeit ein isolirtes Daseyn haben, bis endlich ein Anlass sie zusammenführt, wo dann die Konklusion plötzlich hervorspringt, wie aus Stahl und Stein, erst wann sie aneinander schlagen, der Funke. Wirklich liegen, sowohl zu theoretischen Einsichten, als zu Motiven, welche Entschlüsse herbeiführen, die von Aussen aufgenommenen Prämissen oft lange in uns und werden, zum Theil durch undeutlich bewusste, selbst wortlose Denkakte, mit unserm übrigen Vor- rath von Erkenntnissen verglichen, ruminirt und gleichsam durcheinander geschüttelt, bis endlich die rechte Major auf die rechte Minor trifft, wo diese als- bald sich gehörig stellen und nun die Konklusion mit Einem Male dasteht, als ein uns plötzlich aufgegange- nes Licht, und ohne unser Zuthun, als wäre sie eine Inspiration: da begreifen wir nicht, wie wir und wie Andere Das so lange nicht erkannt haben. Freilich wird im glücklich organisirten Kopf dieser Process schneller und leichter vor sich gehen, als im gewöhn- lichen: und eben w^eil er spontan, ja ohne deutliches Bewusstsein vollzogen wird, ist er nicht zu erlernen. Daher sagt Goethe: ,,\Vie etwas sei leicht, Weiss, der es erfunden und der es erreicht." Als ein Gleichniss des geschilderten Gedankenprocesses kann man jene Vorhängschlösser betrachten, die aus Ringen mit Buchstaben bestehen: am Koffer eines Reisewagens hängend w erden sie so lange geschüttelt, bis endlich die Buchstaben des Wortes gehörig zu- sammentreffen und das Schloss aufgeht. Uebrigens aber ist dabei zu bedenken, dass der Syllogismus im Gedankengange selbst besteht, die Worte und Sätze aber, durch welche man ihn ausdrückt, bloss die nach- i34 gebliebene Spur desselben bezeichnen: sie verhalten sich zu ihm, wie die Klangfiguren aus Sand zu den Tönen, deren Vibrationen sie darstellen. Wann wir etwas überdenken wollen, rücken wir unsere Data zu- sammen, sie konkresciren zu Urtheilen, welche sä mmt- lich schnell aneinandergehalten und verglichen wer- den, wodurch sich augenblicklich die daraus mögli- chen Konklusionen, mittelst des Gebrauchs aller drei syllogistischen Figuren, absetzen; wobei jedoch, wegen der grossen Schnelligkeit dieser Operationen, nur we- nige, bisweilen gar keine Worte gebraucht werden und bloss die Konklusion förmlich ausgesprochen wii'd. So geschieht es denn auch bisweilen, dass, indem wir auf diesem Wege, oder auch auf dem bloss intui- tiven, d. h. durch ein glückliches Appercu, irgend eine neue Wahrheit uns zum Bewusstseyn gebracht haben, wir nun zu ihr, als der Konklusion, die Prämissen suchen, d. h. einen Beweis für die selbe aufstellen möchten: denn die Erkenntnisse sind in der Regel früher da, als ihre Beweise. Wir durchwühlen alsdann den Vorrath unserer Erkenntnisse, um zu sehen, ob wir nicht darin irgend eine Wahrheit finden können, in welcher die neu entdeckte schon implicite enthalten wäre, oder zwei Sätze, durch deren regelmässige An- einanderfügung diese sich als Resultat ergäbe. — Hin- gegen liefert den förmlichsten und grossartigsten Syl- logismus, und zwar in der ersten Figur, jeder gericht- liche Process. Die Civil- oder Kriminal-Uebertretung, wegen welcher geklagt wird, ist die Minor: sie wird vom Kläger festgestellt. Das Gesetz für solchen Fall ist die Major. Das Urtheil ist die Konklusion, welche daher, als ein Noth wendiges, vom Richter bloss „er- kannt" wird. Jetzt aber will ich versuchen, von dem eigentlichen Mechanismus des Schliessens die einfachste und rich- tigste Darstellung zu geben. Das Urtheilen, dieser elementare und wichtigste Process des Denkens, besteht im Vergleichen zweier Begrißfe; das Schliessen im Vergleichen zweier Ur- theile. Inzwischen wird gewöhnlich, in den Lehrbü- chern, das Schliessen ebenfalls auf ein Vergleichen i35 von Begriffen zuiückgefiihrt, wiewohl von dreien; in- dem nämlich aus dem Verhältniss, welches zwei dieser Befjrifi'e /um dritten hahen, Dasjenige, welches sie zu einander haben, erkannt würde. Dieser Ansicht lässt sich die Wahrheit auch nicht absprechen, und indem dieselbe Anlass zu der, auch von mir im Text gelobten, anschaulichen Darstellung der syllogistischen Ver- hältnisse mittelst gezeichneter Begritfssphären giebt, hat sie den Vorzug, die Sache leicht fasslich zu machen. Allein mir scheint, dass hier, wie in so manchen Fällen, die Fasslichkeit auf Kosten der Gründlichkeit erreicht wird. Der eigentliche Denkprocess beim Schliessen, mit welchem die drei syllogistischen Figuren und ihre Nothwendigkeit genau zusammenhängen,wirddadurch nicht erkannt. Wir operiren nämlich beim Schliessen nicht mit blossen Begrijf'en, sondern mit ganzen Ur- theilen, denen die Qualität, die allein in der Kopula und nicht in den Begriflen liegt, wie auch die Quan- tität, durchaus wesentlich ist, wozu auch sogar noch die Modalität kommt. Jene Darstellung des Schlusses als eines Verhältnisses dreier BegriJJ'e fehlt darin, dass sie die Urtheile sogleich in ihre letzten Bestandtheile (die Begritlfe) auflöst, wobei das Bindungsmittel dieser verloren geht und das den Urtheilen als solchen und in ihrer Ganzheit Eigenthümliche, welches gerade die Nothwendigkeit der aus ihnen hervorgehenden Kon- klusion herbeiführt, aus den Augen gebracht wird. Sie verfällt hiedurch in einen Fehler, der dem analog ist, den die organische Chemie begienge, wenn sie z. B. in der Analyse der Pflanzen, diese sogleich in ihre letzten Bestandtheile auflöste, wo sie denn bei allen Pflanzen Karbon, Hydro(;en undOxvgen erhalten, aber die specifischen Unterschiede verlieren würde, welche zu gewinnen man bei den nähern Bestandtheilen, den sogenannten A Ikaloiden, stehen blei ben und sich hüten muss, diese gleich wieder zu zersetzen. — Aus drei gegebenen Begriffen lässt sich noch kein Schluss ziehen. Da sagt man freilich: das Verhältniss zweier derselben zum dritten muss dabei gegeben seyn. Der Ausdruck dieses Verhältnisses sind ja aber gerade die jene Be- griffe verbindenden Urtheile: also sind Ur-theile, nicht i36 blosse Begriffe, der Stoff des Schlusses. Demnach ist Schliessen wesentlich ein Vergleichen zweier Ujtheite: mit diesen, mit den durch sie ausgedrückten Gedanken, und nicht bloss mit drei Begriffen, geht der Denk- process in unserm Kopfe, auch wenn er unvollständig oder gar nicht durch Worte bezeichnet wird, vorsieh, und als solchen, als ein Aneinanderhalten der ganzen, unzerlegten ürtheile, muss man ihn in Betrachtung nehmen, um den technischen Hergang beim Schliessen eigentlich zu verstehen, woraus dann auch die Noth- wendigkeit dreier, wirklich vernunftgemässer, syllo- gisiischer Figuren sich ergeben wird. Wie man, bei der Darstellung der Syllogistik mit- telst Begriffssphären, diese sich unter dem Bilde von Kreisen denkt; so hat man, bei der Darstellung mit- telst ganzer ürtheile, sich diese unter dem Bilde von Stäben zu denken, die, zum Behuf der Vergleichung bald mit dem einen, bald mit dem andern Ende an- einander gehalten werden; die verschiedenen Weisen aber, nach denen dies geschehen kann, geben die drei Figuren. Da nun jede Prämisse ihr Subjekt und ihr Prädikat enthält; so sind diese zwei Begriffe als an den beiden Enden jedes Stabes befindlich vorzustellen. Verglichen werden jetzt die beiden ürtheile hinsicht- lich der in ihnen beiden verschiede7ien Begriffe: denn der dritte Begriff muss in beiden, wie schon erwähnt, der selbige seyn; daher er keiner Vergleichung unter- worfen, sondern das ist, ivoran, d. h. in Bezug worauf, die beiden andern verglichen werden; es ist der Me- diiis. Dieser ist sonach immer nur das Mittel und nicht die Hauptsache. Die beiden disparaten Begriffe hin- gegen sind der Gegenstand des Nachdenkens, und ihr Verhältniss zu einander, mittelst der ürtheile in denen sie enthalten sind, herauszubringen, ist der Zweck des Syllogismus : daher eben redet die Konklusion nur von ihnen, nicht aber vom Medius, als welcher ein blosses Mittel, ein Maassstab war, den man fallen lässt, sobald er gedient hat. Ist nun dieser in beiden Sätzen identische Begriff, also der Medius, in e»ier Prämisse, das Subjekt derselben; so muss der zu vergleichende Begriff ihr Prädikat seyn, und umgekehrt. Sogleich stellt sich hier ■ 37 a priori die Möj^lichkeit dreier Falle heraus, entwe- der nämlich wird dasSubjekt der eme/il*räinis.se mit dem Prädikat der andern ver^jlichen, oder aber das Subjekt der einen mit dem Subjekt der andern, oder endlich das Prädikat der einen mit dem Prädikat der andern. Hieraus entstehen die drei syllogistischen Figuren des Aristoteles: die vierte, welche, etwas naseweis, hinzujje- fügt worden, ist unächt und eine Afterart: man schreibt sie dem Galenus zu; jedoch beruht dies bloss auf Ara- bischen Auktoritäten. Jede der drei Figuren stellt ei- nen ganz verschiedenen, richtigen und natürhchen Gedankengang der Vernunft beim Schliessen dar. Ist nämlich, in den zwei zu vergleichenden Urthei- len, das Verhältniss zwischen dem Prädikat des einen und dem Subjekt des andern der Zweck der Verglei- chung: so entsteht die erste Figur. Diese allein hat den Vorzvig, dass die Begriffe, welche in der Konklusion Subjekt und Prädikat sind, beide auch schon in den Prämissen in derselben Eigenschaft auftreten; wäh- rend in den zwei andern Figuren stets einer von ihnen in der Konklusion seine Rolle wechseln muss. Dadurch aber hat in der ersten Figur das Resultat stets weni- ger Neuheit und Ueberraschendes, als in den beiden andern. Jener Vorzug der ersten Figur wird nun da- durch erreicht, dass das Prädikat der Major vergli- chen wird mit dem Subjekt der Minor; nicht aber um- gekehrt; Avelches daher hier wesentlich ist und her- beifühi-t, dass der Medius die beiden ungleichnamigen Stellen einnimmt, d. h. in der Major Subjekt und in der Minor Prädikat ist; woraus eben wieder seine un- tergeordnete Bedeutung hervorgeht, indem er figurirt als ein blosses Gewicht, welches man beliebig bald in die eine, bald in die andere Waagschale legt. Der Ge- dankengang bei dieser Figur ist, dass dem Subjekt der Minor das Prädikat der Major zukommt, weil das Sub- jekt der Major dessen eigenes Prädikat ist; oder im negativen Fall, aus demselben Grunde, dasUmgekehrte. Hier wird also den durch einen Begriff gedachten Din- gen eine Eigenschaft beigelegt, weil sie einer andern an- hängt, die wir schon an ihnen kennen; oder umge- kehrt. Daher ist hier das leitende Princip : nota notae i38 est nota rei ipsius, et repujjnans notae repugnat rei ipsi. Vergleichen wir hingegen zwei Urtheile in der Ab- sicht, das Verhäkniss, welches die Subjekte beider zu einander haben mögen, herauszubringen; so müssen wir zum gemeinsamen Maassstab das Prädikat dersel- selben nehmen : dieses wird demnach hier der Medius und muss folghch in beiden ürtheilen dasselbe seyn. Daraus entsteht die zweite Figur. Hier wird das Ver- hältniss zweier Subjekte zu einander bestimmt, durch dasjenige, welches sie zu einem und demselben Prä- dikat haben. Dies Verhältniss kann aber nur dadurch bedeutsam werden, dass dasselbe Prädikat dem einen Subjekt beigelegt, dem andern abgesprocheu wird, als wodurch es zu einem wesentlichen ünterscheidungs- grunde beider wird. Denn würde es beiden Subjekten beigelegt; so könnte dies über ihr Verhältniss zu ein- ander nicht entscheidend seyn: weil fast jedes Prädi- kat unzähligen Subjekten zukommt. Noch weniger würde es entscheiden, wenn man es Beiden abspräche. Hieraus folgt der Grundcharakter der zweiten Figur, dass nämlich die beiden Prämissen entgegengesetzte Qualität haben müssen: die eine muss bejahen, die andere verneinen. Daher ist hier die oberste Regel: sit altera negans : deren KoroUarium ist: e meris afhr- mativis nihil sequitur; eine Regel, gegen welche in einer losen, durch viele Zwischensätze verdeckten Ar- gumentation bisweilen gesündigt wird. Aus dem Ge- sagten geht der Gedankengang, den diese Figur dar- stellt deutlich hervor: es ist die Untersuchung zweier Arten von Dingen, in der Absicht sie zu unterscheiden; also festzustellen, dass sie nicht gleicher Gattung sind, welches hier dadurch entschieden wird, dass der einen Art eine Eigenschaft wesentlich ist, welche der andern fehlt. Dass dieser Gedankengang ganz von selbst die zweite Figur annimmt und nur in dieser sich scharf ausprägt, zeige ein Beispiel: Alle Fische haben kaltes Blut; Kein Wallfisch hat kaltes Blut: Also ist kein Wallfisch ein Fisch. i39 Hin^^egen stellt dieser Gedanke sich in der ersten Figur matt, gezwungen und zuletzt ausgeflickt dar: Keines, was kaltes Blut hat, ist ein WallHsch; Alle Fische haben kaltes Blut: Also ist kein Fisch ein VVallhsch, Und folglich kein Wallfisch ein Fisch. — Auch ein Beispiel mit bejahender Minor: Kein Mohammedaner ist ein Jude; Einige Türken sind Juden: Also sind einige Türken keine Mohammedaner. Als das leitende Princip für diese Figur stelle ich demnach auf: für die Modi mit verneinender Minor: cui repugnat nota, etiam repugnat notatum: und für die mit bejahender Minor: notato repugnat id cui nota repugnat. Deutsch lässt es sich so zusammenfassen : zwei Subjekte, die zu einem Prädikat in entgegenge- setztem Verhältnisse stehen, haben zu einander ein negatives. Der dritte Fall ist der, dass es die Prädikate zweier Urtheile sind, deren Verhältniss zu erforschen wir die Urtheile zusammenstellen : hieraus entsteht die dritte Figur, in welcher demgemäss der Medius in beiden Prämissen als Subjekt auftritt. Er ist auch hier das tertium comparationis, der Maassstab, der an beide zu untersuchende Begriffe gelegt wird, oder gleichsam ein chemisches Reagens: an welchem man beide -prüft, um aus ihrem Verhältniss zu ihm, das zu erfahren, welches zwischen ihnen selbst Statt fin- det: demzufolge sagt dann die Konklusion aus, ob zwischen ihnen beiden ein Verhältniss von Subjekt und Pi'ädikat vorhanden ist und wie weit sich dieses erstreckt. Demnach stellt in dieser Figur sich das Nachdenken über zwei Eigenschaften dar, welche man entweder für unvereinbar, oder aber für unzertrenn- lich zu halten geneigt ist, und um dieses zu entschei- den, sie in zwei Urtheilen zu Prädikaten eines und desselben Subjekts zu macheu versucht. Hierdurch ergiebt sich nun, entweder dass beide Eigenschaften einem und demselben Dinge zukommen, folglich ihre P^ereinharkeit, oder aber, dass ein Ding zwar die i4o eine, jedoch nicht die andere hat, IblgHch ihre Trenn- bai-keit: Ersteres in allen Modis mit zwei affirmi- renden, Letzteres in allen mit einer negirenden Prä- misse: z. B. Einige Thiere können sprechen; Alle Thiere sind unvernünftig: x\lso können einige Unvernünltige sprechen. Nach Kant (die falsche Spitzfindigkeit §. 4) würde nun dieser Schluss nur dadurch konklusiv seyn, dass wir in Gedanken hinzufügten: „also einige Unver- nünftige sind Thiere". Dies scheint hier aber durchaus überflüssig und keineswegs der natürliche Gedanken- gang zu seyn. Um aber denselben Gedankenprocess direkt mittelst der ersten Figur zu vollziehen, müsste ich sagen: „Alle Thiere sind unvernünftig; Einige Sprechenkönnende sind Thiere", welches offenbar nicht der natürliche Gedankengang ist: ja, die alsdann sich ergebende Konklusion „einige Sprechenkönnende sind unvernünftig" müsste umge- kehrt werden, um den Schlusssatz zu erhalten, den die dritte Figur von selbst ergiebt und auf welchen der ganze Gedankengang es abgesehen hat. — Nehmen wir noch ein Beispiel: Alle Alkalimetalle schwimmen auf dem Wasser; Alle Alkalimetalle sind Metalle: Also einige Metalle schwimmen auf dem Wasser. Bei der Versetzung in die erste Figur muss die Minor umgekehrt werden, lautet also: „einige Me- talle sind Alkalimetalle"; sie besagt mithin nur, dass einige Metalle in der Sphäre „Alkalimetalle" lie- gen, so: i4. während unsere wirkliche Erkenntniss ist, dass alle Alkalimetalle in der Sphäre „Metalle" liegen, so: Folglich müssten wir, wenn die'^erste Figur die allein normale seyn soll, um naturgemäss zu denken, we- niger denken, als wir wissen, und unbestimmt den- ken, während wir bestimmt wissen. Diese Annahme hat zu viel gegen sich. Ueberhaupt also ist zu leug- nen, dass wir, beim Schliessen in der zweiten und drit- ten Figur, im Stillen einen Satz umkehren. Vielmehr stellt die dritte und auch die zweite Figur einen eben so vernunftgemässen Gedankenprocess dar, wie die erste. Betrachten wir jetzt noch ein Beispiel der an- dern Art der dritten Figur, wo die Trennbarkeit der beiden Prädikate das Ergebniss ist; weshalb hier eine Prämisse negirend seyn muss: Kein Buddhaist glaubt einen Gott; Einige Buddhaisten sind vernünftig : Also glauben einige Vernünftige keinen Gott. Wie in den obigen Beispielen die Vereinbarkeit, so ist jetzt die Trennbarkeit zweier Eigenschaften das Problem der Reflexion, welches auch hier dadurch entschieden wird, dass n)an sie an einem Subjekt ver- gleicht und an diesem die eii^e ohne die andere nach- weist: dadurch erreicht man seinen Zweck unmittel- bar, während man ihn durch die erste Figur nur mittelbar erreichen könnte. Denn um den Schluss auf diese zu reduziren, müsste man die Minor umkehren, mithinsagen: „Einige Vernünftige sind Buddhaisten", welches nur ein verfehlter Ausdruck des Sinnes der- selben wäre, als welcher besagt: „Einige Buddhaisten sind denn doch wohl vernünftig." Als das leitende Princip dieser Figur stelle ich demnach auf: für die bejahenden Modi: ejusdein rei notae, modo sit altera universahs, sibi invicem sunt notae particulares: und für die verneinenden Modi: nota rei competens, notae eidem repu^jnanti, particu- lariterrepugnat,modositaherauniversaHs. Zu deutsch: Werden von einem Subjekte zwei Prädikate bejaht, und zwar wenigstens eines allgemein, so werden sie auch von einander partikulär bejaht; hingegen parti- kulär verneint, sobald eines derselben dem Subjekt widerspricht, von dem das andere bejaht wird: nur muss Jenes oder Dieses allgemein geschehen. In der vieTten Figui^ soll nun das Subjekt der Major mit dem Prädikat der Minor verglichen werden: al- lein in der Konklusion müssen Beide ihren Werth und ihre Stelle wieder vertauschen, so dass als Prä- dikat auftritt, was in der Major Subjekt war und als Subjekt, was in der Minor Prädikat war. Hieran wird sichtbar, dass diese Figur bloss die muthwillig auf den Kopf gestellte e?'ste, keineswegs aber der Aus- druck eines wirklichen und der Vernunft natürlichen Gedankenganges ist. Hingegen sind die drei ersten Figuren der Ektypos dreier wirklicher und wesentlich verschiedener Denk- operationen. Diese haben das Gemeinsame, dass sie in der Vergleichung zweier Urtheile bestehen; aber eine solche wird nur dann fruchtbar, wann sie e/«e/i Be- griff gemeinschaftlich haben. Diesen können wir, wenn wir uns die Prämissen unter dem Bilde zweier Stäbe versinnlichen, als einen Haken denken, der sie mit einander verbindet: ja man könnte, beim Vortrage, sich solcher Stäbe bedienen. Die drei Figuren unter- scheiden sich hingegen dadurch, dass jene Urtheile verglichen werden entweder hinsichtlich ihrer beiden Subjekte, oder aber ihrer beiden Prädikate, oder end- lich hinsichtlich des Subjekts des einen und des Prä- dikats des andern. Da nun jeder Begriff bloss sofern er bereits Theil eines ürtheils ist die Eigenschaft hat, Subjekt oder Prädikat zu seyn; so bestätigt dies meine Ansicht, dass im Syllogismus zunächst nur Urtheile verglichen werden, Begriffe aber bloss sofern sie Theile von Urtheilen sind. Beim Vergleich zweier Urtheile i 43 kommt es aber wesentlich darauf an, in Hinsicht auf was man sie ver{jleicht, nicht aber darauf, wodurch man sie vergleicht: jenes sind die disparaten Begriffe derselben, letzteres der Medius, d. h. der in beiden identische Begriff'. Es ist daher nicht der rechte Ge- sichtspunkt, den Lambert, ja eigentlich schon jlristo- teles und fast alle Neueren genommen haben, bei der Analyse der Schlüsse vom Medius auszugeben, ihn zur Hauptsache und seine Stellung zum wesentlichen Charakter der Schlüsse zu machen. Vielmehr ist seine Rolle nur eine sekundäre und seine Stellung eine Folge des logischen Werthes der im Syllogismus ei- gentlich zu vergleichenden Begriffe. Diese sind zweien Substanzen, die chemisch zu prüfen wären, zu ver- gleichen, der Medius aber dem Reagens, an welchem sie geprüft werden. Er nimmt daher allemal die Stelle ein, welche die zu vergleichenden Begriffe leer lassen, und kommt in der Konklusion nicht mehr vor. Er wird gewählt je nachdem sein Verhältniss zu beiden Begriffen bekannt ist und er sich zu der einzuneh- menden Stelle eignet: daher kann man ihn in vielen Fällen auch beliebig gegen einen andern vertauschen, ohne dass es den Syllogismus affizirt: z. B. in dem Schluss: Alle Menschen sind sterblieh; Kajus ist ein Mensch: kann ich den Medius „Mensch" vertauschen mit „animalische Wesen". In dem Schluss: Alle Diaujanten sind Steine: Alle Diamanten sind brennbar: kann ich den Medius „Diamant" vertauschen mit „Anthracit". Als äusseres Merkmal, daran man so- gleich die Figur eines Schlusses erkennt, ist allerdings der Medius sehr brauchbar. Aber zum Grundcharak- ter einer zu erklärenden Sache muss man ihr Wesent- liches nehmen: dieses ist hier aber, ob man zwei Sätze zusammenstellt, um ihre Prädikate, oder ihre Subjekte, oder das Prädikat des einen und das Subjekt des an- dern zu vergleichen. Also um als Prämissen eine Konklusion zu erzeugen, müssen zwei Urtheile einen gemeinschaftlichen Begriff' i44 haben, ferner nicht beide verneinend, auch nicht beide partikular seyn, endHch im Fall die beiden in ihnen zu vergleichenden Begriffe ihre Subjekte sind, dürfen sie auch nicht beide bejahend seyn. Als ein Sinnbild des Syllogismus kann man die Voltaische Säule betrachten: ihr Indifferenzpunkt in der Mitte stellt den Medius vor, der das Zusammen- haltende der beiden Prämissen ist, vermöge dessen sie Schlusskraft haben: die beiden disparaten Begriffe hingegen, welche eigentlich das zu Vergleichende sind, werden durch die beiden heterogenen Pole der Säule dargestellt: erst indem diese, mittelst ihrer bei- den Leitungsdrähte, welche die Kopula der beiden ürtheile versinnlichen, zusammengebracht werden, springt bei ihrer Berührung der Funke, — das neue Licht der Konklusion hervor. KAPITEL II*). ZUR RHETORIK. BEREDSAMKEIT ist die Fähigkeit, unsere Ansicht einer Sache, oder unsere Gesinnung hinsichtlich derselben, auch in Andern zu erregen, unser Gefühl da- rüber in ihnen zu entzünden und sie so in Sympathie mit uns zu versetzen; dies Alles aber dadurch, dass wir, mittelst Worten, den Strom unserer Gedanken in ihren Kopf leiten, mit solcher Gewalt, dass er den ihrer eigenen von dem Gange, den sie bereits genom- men, ablenkt, und in seinen Lauf mit fortreisst. Dies Meisterstück wird um so grösser seyn, je mehr der Gang ihrer Gedanken vorher von dem unserigen ab- wich. Hieraus wird leicht begreiflich, warum dieeigene Überzeugung und die Leidenschaft beredt macht, und überhaupt Beredsamkeit mehr Gabe der Natur, als *) Dieses Kapitel steht in Beziehung zum Schlüsse des §. 9 des -ersten Bandes. [S. 48 d. A.] I o Schopenhauer II I 4 ^ Werk der Kunst ist: doch wird auch hier die Kunst die Natur unterstützen. Um einen Andern von einer Wahrheit, die gegen einen von ihm festgehakenen Irrthuui streitet, zu überzeugen, ist die erste zu befolgende Regel eine leichte und natürliche: man lasse die Präinissen vor- angehen, Hie Konklusion aber folgen. Dennoch wird diese Regel selten beobachtet, sondern umgekehrt ver- fahren; weil Eifer, Hasligkeit und Rechthaberei uns treiben, die Konklusion, laut und gellend, dem am entgegengesetzten Irrthum Hängenden entgegen zu schreien. Dies macht ihn leicht kopfscheu, und nun stemmt er seinen Willen gegen alle Gründe und Prä- missen, von denen er schon weiss, zu welcher Konklu- sion sie führen. Daher soll man vielmehr die Kon- klusion völlig verdeckt halten und allein die Prämissen geben, deutlich, vollständig, allseitig. Wo möglich spreche man sogar die Konklusion gar nicht aus: sie wird sich in der Vernunft der Hörer nothwendig und gesetzmässig von selbst einfinden, und die so in ihnen selbst geborene Ueberzeugung wird um so aufrichtiger, zudem von Selbstgefühl, statt von Beschämvmg, be- gleitet seyn. In schwierigen Fällen kann man sogar die Miene machen, zu einer ganz entgegengesetzten Konklusion, als die man wirklich beabsicbtigt, gelan- gen zu wollen. Ein Muster dieser Art ist die beriüimte Rede des Antonius im „Julius Cäsar" von Shakespeare. Beim Vertheidigen einer Sache versehen Viele es darin, dass sie alles Ersinnliche, was sich dafür sagen lässt, getrost vorbringen, Wahres, Halbwahres und bloss Scheinbares durcheinander. Aber das Falsche wird bald erkannt, oder doch gefühlt, und verdäch- tigt nun auch das mit ihm zusammen vorgetragene Triftige und Wahre: man gebe also dieses rein und allein, und hüte sich, eine Wahrheit mit unzuläng- lichen und daher, sofern sie als zulänglich aufgestellt werden, sophistischen Gründen zu vertheifli{jen: denn der Gegner stösst diese um und gewinnt dadurch den Schein, auch die daraufgestützte Wahrbeit selbst um- gestossen zu haben: d. h. er macht argumenta ad ho- minem als argumenta ad rem geltend. Zu weit, auf i46 der andern Seite, flehen vielleicht die Chinesen, indem sie folgenden Spruch haben : „Wer beredt ist und eine scharfe Zunge hat, mag immer die Hälfte eines Satzes unausgesprochen lassen; und wer das Recht auf seiner Seite hat, kann drei Zehntel seiner Behauptung getrost nachgeben." KAPITEL 12*). ZUR WISSENSCHAFTSLEHRE. AUS der in sämmtlichen vorhergegangenen Kapi- teln gegebenen Analyse der verschiedenen Funk- tionen unseres Intellekts erhellt, dass zu einem regel- rechten Gebrauch desselben, sei es in theoretischer oder in praktischer Absicht, Folgendes erforderlich ist: i) die richtige anschauende Auffassung der in Be- tracht genommenen realen Dinge und aller ihrer we- sentlichen Eigenschaften und Verhältnisse, also aller Data. i) Die Bildung richtiger Begriffe aus diesen, also die Zusammenfassung jener Eigenschaften unter richtige Abstrakta, welche jetzt das Material des nachfolgenden Denkens werden. 3) Die Vergleichung dieser Begriffe, theils mit dem Angeschauten, theils unter sich, theils mit dem übrigen Vorrath von Be- griffen : so dass richtige, zur Sache gehörige und diese vollständig befassende und erschöpfende Ürtheile dar- aus hervorgehen : also richtige Beurtheilung der Sache. 4) Die Zusammenstellung, oder Kombination dieser Ürtheile zu Prämissen von Schlüssen: diese kann nach Wahl und Anordnung der Ürtheile sehr verschieden ausfallen und doch ist das eigentliche Resultat der ganzen Operation zunächst von ihr abhängig. Es kommt hiebei darauf an, dass, aus so vielen möglichen Kombinationen jener verschiedenen zur Sache ge- hörigen Ürtheile, die freie Ueberlegung gerade die *) Dieses Kapitel steht in Beziehung zu §. i4 des ersten Bandes. [S. 77 d. A.] i47 zweckdienlichen und entscheidenden treffe. — Ist aber bei der ersten Funktion, also bei der anschauenden Auffassung der Din^je und Verhältnisse, irgend ein wesentlicher Punkt übersehen worden; so kann die Richtigkeit aller nachfolgenden Operationen des Gei- stes doch nicht verhindern, dass das Resultat falsch ausfalle: denn dort liegen die Data, der Stoff der gan- zen Untersuchung. Ohne die Gewissheit, dass diese richtig und vollständig beisammen seien, soll man sich, in wichtigen Dingen, jeder definitiven Entschei- dung enthalten. — Ein Begriff ist 7'ichtig ; ein Urtheil wahr; ein Körper real; ein Verhältniss evident. — Ein Satz von unmittel- barer Gewissheit ist ein Axiom. Nur die Grundsätze der Logik und die aus der Anschauung a priori ge- schöpften der Mathematik, endlich auch das Gesetz der Kausalität, haben unmittelbare Gewissheit. — Ein Satz von mittelbarer Gewissheit ist ein Lehrsatz, und das dieselbe Vermittelnde ist der Beweis. — Wird einem Satz, der keine unmittelbare Gewissheit hat, eine solche beigelegt; so ist er eine petitio principii. — Ein Satz, der sich unmittelbar auf die empirische Anschauung beruft, ist eine Assertion: seine Konfron- tation mit derselben verlangt Urtheilskraft. — Die empirische Anschauung kann zunächst nur einzelne, nicht aber allgemeine Wahrheiten begründen : durch vielfache Wiederholung und Bestätigung erhalten solche zwar auch Allgemeinheit, jedoch nur eine kom- parative und prekäre, weil sie immer noch der An- fechtung offensteht. — Hat aber ein Satz absolute Allgemeingültigkeit; so ist die Anschauung, auf die er sich beruft, keine empirische, sondern a priori. Vollkommen sichere Wissenschaften sind demnach allein Logik und Mathematik: sie lehren uns aber auch eigentlich nur, was wir schon vorher wussten. Denn sie sind blosse Verdeutlichungen des uns a pri- ori Bewussten, nämlich der Formen unseres eigenen Erkennens, die eine der des denkenden, die andere der des auschauenden. Wir spinnen sie daher ganz aus uns selbst heraus. Alles andere Wissen ist empirisch. Ein Beweis beweist zu viel, wenn er sich auf Dinge i48 oder Fälle erstreckt, von denen das zu Beweisende offenbar nicht gilt, daher er durch diese apagogisch widerlegt wird. — Die Deductio ad absurdum besteht eigentlich darin, dass man, die aufgestellte falsche Be- hauptung zum Obersatze nehmend und eine richtige Minor hinzufügend, eine Konklusio erhält, welche er- fehrungsmässigen Thatsachen oder unbezweifelbaren Wahrheiten widerspricht. Auf einem Umwege aber muss eine solche für jede falsch^ Lehre möglich seyn; sofern der Verfechter dieser doch wohl irgend eine Wahrheit erkennt und zugiebt: denn alsdann müssen die Folgerungen aus dieser und andererseits die aus der falschen Behauptung sich so weit fortführen las- sen, bis zwei Sätze sich ergeben, die einander gerade- zu widersprechen. Von diesem schönen Kunstgriff ächter Dialektik finden wir im Plato viele Beispiele. Eine 7'ichtige Hypothese ist nichts weiter, als der wahre und vollständige Ausdruck der vorliegenden Thatsache, welche der Urheber derselben in ihrem eigentlichen Wesen und innern Zusammenhang in- tuitiv aufgefasst hatte. Denn sie sagt uns nur, was hier eigentlich vorgeht. Den Gegensatz der analytischen und synthetischen Methode finden wir schon beim Ai^istoteles angedeutet, deutlich beschrieben jedoch vielleicht zuerst beim Prok/os, als welcher ganz richtig sagt: Me^oSotosTrapa- otoovTaf xaXXioTT] fxev i] oia tt]? ava^uasco? stt' ap)(7jv 6[jLoXoYOU|j.£V7]v ava^ouca xo Cxiiooiiew^' tjv xai llXaxcov, <jjc, <paoi, Aaooa[xavTi TiapeScoxev. x. t. X. (Methodi traduntur sequentes ; pulcherrima quidem ea, quae per analysin quaesitum refert ad principium, de quo jam convenit; quam etiam Plato Laodamanti tradidisse dicitur). In primum Euclidis librum, L. III. Allerdings besteht die analytische Methode im Zurückführen des Ge- gebenen auf ein zugestandenes Princip: die synthe- tische hingegen in dem Ableiten aus einem solchen. Sie haben daher Analogie mit der, Kapitel 9 erörter- ten £TraY(üY7) und aTraycoYT]; nur dass letztere nicht auf das Begründen, sondern stets auf das Umstossen vou Sätzen gerichtet ist. Die analytische Methode geht von den Thatsachen, dem Besondern, zu den Lehrsätzen, dein Allgemeinen, oder von den Folgen zu den Grün- den; die andere umgekehrt. Daher wäre es viel rich- tiger, sie als die induktive und die deduktive Methode zu hezeichnen: denn die hergehrachten Namen sind unpassend und drücken die Sache schlecht aus. Wollte ein Philosoph damit anfangen, die Methode, nach der er philosophiren will, sich auszudenken; so gliche er einem Dichter, der zuerst sich eine Aesthe- lik schriebe, um sodann nach dieser zu dichten: Beide aber glichen einem Menschen, der zuerst sich ein Lied sänge und hinterher danach tanzte. Der denkende Geist muss seinen Weg aus ursprünglichem Triebe finden: Regel und Anwendung, Methode und Leistung müssen, wie Materie und Form, unzertrennlich auf- treten. Aber nachdem man angelangt ist, mag man den zurückgelegten Weg betrachten. Aesthetik und Methodologie sind, ihrer Natur nach, jünger als Poesie und Philosophie; wie die Grammatik jünger ist als die Sprache, der Generalbass jünger als die Musik, die Logik jünger als das Denken. Hier finde beiläufig eine Bemerkung ihre Stelle, durch die ich einem einreissenden Verderb, so lange es noch Zeit ist, Einhalt thun möchte. — Dass das La- teinische aufgehört hat, die Sprache aller wissenschaft- lichen Untersuchungen zu seyn, hat den Nachtheil, dass es nicht mehr eine unmittelbar gemeinsame wissenschaftliche Litteratur für ganz Europa giebt, sondern Nationallitteraturen; wodurch dann jeder Ge- lehrte zunächst auf ein viel kleineres, zudem in na- tionalen Einseitigkeiten imd Vorurtheilen befangenes Publikum beschränkt ist. Sodann muss er jetzt die vier europäischen Hauptsprachen, neben den beiden alten, erlernen. Hiebei nun wird es ihm eine grosse Erleichterung" seyn, dass die termini technici aller Wissenschaften (mit Ausnahme der Mineralogie), als ein Erbtheil von unsern Vorgängern, Lateinisch oder Griechisch sind. Daher auch alle Nationen diese weis- lich beibehalten. Nur die Deutschen sind auf den un- glücklichen Einfall gerathen, die termini technici aller Wissenschaften verdeutschen zu wollen. Dies hat zwei grosse Nachtheile. Erstlich wird der fremde I 5o und auch der deutsche Gelehrte genöthigt, alle Kunst- ausdrücke seiner Wissenschaft zwei Mal zu erlernen, welches, wo deren viele sind, z. B. in der Anatomie, unplaublich mühsam und weitläufig ist. Wären die andern Nationen nicht, in diesem Stücke, klüger als die Deutschen; so hätten wir die Mühe, jeden termi- nus technicus fünf Mal zu erlernen. Fahren die Deut- schen damit fort; so werden die auswärtigen Gelehr- ten die, überdies meistens viel zu ausführlichen, dazu in einem nachlässigen, schlechten, oft auch noch afiFek- tirten und geschmackwidrigen Stile, häufig auch mit einer unartigen Rücksichtslosigkeit gegen den Leser und dessen Bedürfnisse abgefassten Bücher derselben vollends ungelesen lassen. — Zweitens sind jene Ver- deutschungen der termini technici fast durchgängig lange, zusammengeflickte, ungeschickt gewählte, schleppende, dumpftönende, sich von der übrigen Sprache nicht scharf absondernde Worte, welche da- her sich dem Gedächtniss schwer einprägen, während die von den alten, unvergesslichen Urhebern der Wissenschaften gewählten Griechischen und Lateini- schen Ausdrücke die sämmtlichen entgegengesetzten guten Eigenschaften haben und durch ihren sonoren Klang sich leicht einprägen. Was für ein hässliches, kakophonisches W^ort ist nicht schon „Stickstoff" statt Azot! „Verbum, Substantiv, Adjektiv", behält und unterscheidet sich doch leichter, als Zeitwort, Nennwort, Beiwort, oder gar „Umstandswort" statt Adverbium. Ganz unausstehlich und dazu noch ge- mein und barbiergesellenhaft ist es in der Anatomie. Schon „Pulsader und Blutader" sind der augenblick- lichen Verwechselung leichter ausgesetzt, als Arterie und Vene: aber vollends verwirrend sind Ausdrücke wie „Fruchthälter, Fruchtgang und Fruchtleiter" statt Uterus, vagina und tuba Faloppii, die doch jeder Arzt kennen muss und mit denen er in allen Euro- päischen Sprachen ausreicht; desgleichen „Speiche und Ellenbogenröhre" statt radius und ulna, die ganz Europa seit Jahrtausenden versteht: wozu also jene ungeschickte, verwirrende, schleppende, ja abge- schmackte Verdeutschung? Nicht weniger widerlich i5i ist die Uebersetzung der Kunstausdrücke in der Lo- gik, wo denn unsere genialen Philosophieprofessoren die Schöpfer einer neuen Terminologie sind und fast Jeder seine eigene hat : bei G. E. Schulze z. B. heisst das Subjekt „Grundbegriff", das Prädikat ,, Beile- gungsbegriff" : da giebt es „Beilegungsschlüsse, Vor- aussetzungsschlüsse und Entgegensetzungsschlüsse", die Urtheile haben „Grösse, Beschaffenheit, Ver- hältniss und Zuverlässigkeit" d. h. Quantität, Quali- tät, Relation und Modalität. Dieselbe widerwärtige Wirkung jener Deutschthümelei wird man in allen Wissenschaften finden. — Die Lateinischen und Grie- chischen Ausdrücke haben zudem noch den Vorzug, dass sie den wissenschaftlichen Begriff als einen sol- chen stämpeln und ihn aussondern aus den Worten des gemeinen Verkehrs und den diesen anklebenden Ideenassociationen ; während z. B. „Speisebrei", statt Chymus, von der Kost kleiner Kinder zu reden, und „Lungensack'", statt pleura, nebst „Herzbeutel", statt pericardium, eher von Metzgern als von Anatomen her- zurühren scheint. Endlich hängt an den antiken ter- minis technicis die unmittelbarste Nothwendigkeit der Erlernung der alten Sprachen, welche durch den Ge- brauch der lebenden zu gelehrten Untersuchungen mehr und mehr in Gefahr geräth, beseitigt zu werden. Kommt es aber dahin, verschwindet der an die Spra- chen gebundene Geist der Alten aus dem gelehrten Unterricht; dann wird Rohheit, Plattheit und Gemein- heit sich der ganzen Litteratur bemächtigen. Denn die Werke der Alten sind der Nordstern für jedes künst- lerische oder litterarische Streben: geht der euch un- ter; so seid ihr verloren. Schon jetzt merkt man an dem jämmerlichen und läppischen Stil der meisten Schrei- ber, dass sie nie Latein geschrieben haben. Sehr pas- send nennt man die Beschäftigung mit den Schrift- stellern des Alterthums Humanitätsstiidien: denn durch sie wird der Schüler zuvörderst wieder ein Mensch^ indem er eintritt in die Welt, die noch rein war von allen Fratzen des Mittelalters und der Romantik,welche nachher in die Europäische Menschheit so tief ein- drangen, dass auch noch jetzt jeder damit betüncht i52 zur Welt kommt und sie erst abzustreifen hat, um nur zuvörderst wieder ein Mensch zu werden. Denkt nicht, dass eure moderne Weisheit jene Weihe zum Menschen je ersetzen könne: ihr seid nicht, wie die Griechen und Römer, geborene Freie, unbefangene Söhne der Natur. Ihr seid zunächst die Söhne und Er- ben des rohen Mittelalters und seines Unsinns, des schändlichen Pfaffentrugs und des halb brutalen, halb geckenhaften Ritterwesens. Geht es gleich mit beiden jetzt allgemach zu Ende, so könnt ihr darum doch noch nicht auf eigenen Füssen stehen. Ohne die Schule der Alten wird eure Lilteratur in gemeines Geschwätze und platte Philisterei ausarten. — Aus allen diesen Gründen also ist es mein wohlgemeinter Rath, dass man der oben gerügten Deutschmichelei ungesäumt ein Ende mache. Ferner will ich hier die Gelegenheit nehmen, das Unwesen zu rügen, welches seit einigen Jahren, auf unerhörte Weise, mit der deutschen Rechtschreibung getrieben wird. Die Skribler, in jeder Gattung, haben nämlich so etwas vernommen von Kürzedes Ausdrucks, wissen jedoch nicht, dass diese besteht in sorgfältigem Weglassen alles Ueberflüssigen, wozu denn freilich ihre ganze Schreiberei gehört; sondern vermeinen es da- durch zu erzwingen, dass sie die Worte beschneiden, wie die Gauner die Münzen, und jede Silbe, die ihnen überflüssig scheint, weil sie den Werth derselben nicht fühlen, ohne Weiteres abknappen. Z. B, unsere Vor- fahren haben, mit richtigem Takt, „Beweis" und „Ver- weis", hingegen „Nachweisung" gesagt: der feine Un- terschied, analog dem zwischen „Versuch" und „Ver- suchung", „Betracht" und ,, Betrachtung", ist den dicken Ohren und dicken Schädeln nicht fühlbar; daher sie das Wort „Nachweis" erfunden haben, wel- ches sogleich in allgemeinen Gebrauch gekommen ist: denn dazu gehört nur, dass ein Einfall recht plump und ein Schnitzer recht grob sei. Demgemäss ist die gleiche Amputation bereits an unzähligen Worten vor- genommen worden: z.B. statt „Untersuchung" schreibt man „Untersuch", ja, gar statt „allmälig, mälig", statt „beinahe, nahe", statt „beständig, ständig". Un- i53 terfinge sich ein Franzose pres statt presque, ein Eng- länder niost statt alinost zu schreiben; so würde er einstimmig als ein Narr verlacht werden: in Deutsch- land aber gilt man durch so etwas für einen originellen Kopf. Chemiker schreiben bereits „löslich und unlös- lich" statt „unauflöslich" und werden damit, wenn ihnen nicht die Graunnatiker auf die Finger schlagen, die Sprache um ein werthvolies Wort bestehlen : löslich .sind Knoten, Schuhriemen, auch Konglomerate, deren Cäment erweicht wird, und alles diesem Analoge: auflöslich hingegen ist was in einer Flüssigkeit ganz verschwindet, wie Salz im Wasser. „Auflösen" ist der terminus ad hoc, welcher Dies und nichts Anderes be- sagt, einen bestimmten Begriff aussondernd : den aber wollen unsere scharfsinnigen Sprachverbesserer in die allgemeine Spülwanne „Lösen" giessen: konsequenter Weise müssten sie dann auch statt ,, ablösen (von Wa- chen), auslösen, einlösen" u. s. w. überall ,, lösen" setzen, und in diesem, wie in jenem Fall der Sprache die Bestimmtheit des Ausdrucks benehmen. Aber die Sprache um ein Wort ärmer machen heisst das Denken der Nation um einen Begriff ärmer machen. Dahin aber tendiren die vereinten Bemühungen fast aller unserer Bücherschreiber seit zehn bis zwanzig Jahren: denn was ich hier an einem Beispiele gezeigt habe, Hesse sich an hundert andern nachweisen, und die niederträchtigste Silbenknickerei grassirt wie eine Seuche. Die Elenden zählen wahrhaftig die Buchstaben und nehmen keinen Anstand, ein Wort zu verkrüppeln, oder eines in falschem Sinne zu gebrauchen, sobald nur zwei Buchstaben dabei zu lukriren sind. Wer kei- ner neuen Gedanken fähig ist, will wenigstens neue Worte zu Markte bringen, und jeder Tintenklexer hält sich berufen, die Sprache zu verbessern. Am un- verschämtesten treiben es die Zeitungsschreiber, und da ihre Blätter, vermöge der Trivialität ihres Inhalts, das allergrösste Publikum, ja ein solches haben, das grösstentheils nichts Anderes liest; so droht durch sie der Sprache grosse Gefahr; daher ich ernstlich an- rathe, sie einer orthographischen Censur zu unter- werfen, oder sie für jedes ungebräuchliche, oder ver- r54 stümmelte Wort eine Strafe bezahlen zu lassen: denn was könnte unwürdijjer seyn, als dass Sprachumwan- delungen vom allerniedrigsten Zweige der Litteratur ausgien gen? Die Sprache, zu mal eine relati veUrsprache, wie die Deutsche, ist das köstlichste Erbtheil der Na- tion und dabei ein überaus komplicirtes, leicht zu ver- derbendes und nicht wieder herzustellendesKunstwerk, daher ein noli me tangere. Andere Völker haben dies gefühlt und haben gegen ihre, obwohl viel unvoll- kommneren Sprachen grosse Pietät l)e wiesen: daher ist Dantes und Petrarca \s Sprache nur in Kleinigkeiten von der heutigen verschieden, Montaigne noch ganz lesbar, und so auch Shakespeare in seinen ältesten Ausgaben. — Dem Deutschen ist es sogar gut, etwas lange Worte im Munde zu haben : denn er denkt lang- sam und sie geben ihm Zeit zum Besinnen. Aber jene eingerissene Sprachökonomie zeigt sich in noch meh- reren charakteristischen Phänomenen: sie setzen z. ß., gegen alle Logik und Grammatik, das Imperfektum statt des Perfektums und Plusquamperfektums; sie stecken oft das Auxiliaiwerbum in die Tasche; sie brauchen den Ablativ statt des Genitivs; sie machen, um ein Paar logische Partikeln zu lukriren, so ver- flochtene Perioden, dass man sie vier Mal lesen muss, um hinter den Sinn zu kommen: denn bloss das Papier, nicht die Zeit des Lesers wollen sie sparen: bei Eigen- namen deuten sie, ganz hottentottisch, den Kasus weder durch Flexion, noch Artikel an: der Leser mag ihn rathen. Besonders gern aber eskrokiren sie die dop- pelten Vokale und das tonverlängernde h, diese der Prosodie geweihten Buchstaben; welches Verfahren gerade so ist, wie wenn man aus dem Griechischen das r^ und (o verbannen und statt ihrer e und o setzen wollte. Wer nun Scham , Märchen, Mass, Spass schreibt, sollte auch Lon, Son, Stat, Sat, Jar, AI u. s. w. schrei- ben. Die Nachkommen aber werden, da ja die Schrift das Abbild der Rede ist, vermeinen, dass man auszu- sprechen hat, wie man schreibt: wonach dann von der Deutschen Sprache nur ein gekniffenes, spitzmäu- liges, dumpfes Konsonantengeräusch übrig bleiben und alle Prosodie verloren gehen wird. Sehr beliebt ist i55 auch, wegen Ersparnisseines Buchstabens, die Schreib- art „Literatur" statt der richtigen „Litteratur". Zu ih- rer Vertheidigung wird das Participdes Verbums Hnere für den Ursprung des Wortes ausgegeben. Linere heisst aber schmieren : daher möchte für den grössten Theil der Deutschen Buchmacherei die behebte Schreibart wirkhch die richtige seyn; so dass man eine sehr kleine Litteratur und eine sehr ausgedehnte Literatur unter- scheiden könnte. — Um kurz zu schreiben, veredele man seinen Stil und vermeide alles unnütze Gewäsche und Gekaue: da braucht man nicht, des theuren Pa- piers halber, Silben und Buchstaben zu eskrokiren. Aber so viele unnütze Seiten, unnütze Bogen, unnütze Bücher zu schreiben, und dann diese Zeit- und Pa- piervergeudung an den unschuldigen Silben und Buch- staben wieder einbringen zu wollen, — das ist wahrlich der Superlativ Dessen, was man auf Englisch penny- wise and poundfoolish nennt. — Zu beklagen ist es, dass keine Deutsche Akademie da ist, dem litterari- schen Sanskülottismus gegenüber die Sprache in ihren Schutz zu nehmen, zumal in einer Zeit, wo auch die der alten Sprachen Unkundigen es wagen dürfen, die Presse zu beschäftigen. Ueber den ganzen, heut zu Tage mit der Deutschen Sprache getriebenen, unver- zeihlichen Unfug habe ich mich des Weiteren ausge- lassen in meinen Parergis, Bd. II, Kap. 23. — Von der bereits in meiner Abhandlung ,, Ueber den Satz vom Grunde", §. 5t, vorgeschlagenen und auch hier, §. 7 und i5 des ersten Bandes*), wieder berühr- ten, obersten Einteilung der Wissenschaften, nach der in ihnen vorherrschenden Gestalt des Satzes vom Grunde will ich eine kleine Probe hierhersetzen, die jedoch ohne Zweifel mancher Vei'besserung und Ver- vollständigung fähig seyn wird. I. Beine Wissenschaften a priori. 1. Die Lehre vom Grunde des Seyns. a) im Baum: Geometrie. b) in der Zeit: Arithmetik und Algebra. 2. Die Lehre vom Grunde des Erkennens: Logik. II. Empirische oder Wissenschaften a posteriori. •) S. 3 I u. S. 86 d. A. i56 Sämmtlich nach dem Grunde des Werdens, d. i. dem Gesetz der Kausalität, und zwar nach dessen drei Modis. 1. Die Lehre von den Ursachen: a) Allgemeine: Mechanik, Hydrodynamik, Phy- sik, Chemie. b) Besondere: Astronomie, Mineralogie, Geolo- gie, Technologie, Pharmacie. 2. Die Lehre von den Reizen: a) Allgemeine: Physiologie der Pflanzen undThie- re, nebst deren Hülfswissenschaft Anatomie. b) Besondere: Botanik, Zoologie, Zootomie, ver- gleichende Physiologie, Pathologie, Therapie. 3. Die Lehre von den Motiven: a) Allgemeine: Ethik, Psychologie. b) Besondere: Rechtslehre, Geschichte. Die Philosophie oder Metaphysik, als Lehre vom Bewusstseyn und dessen Inhalt überhaupt, oder vom Ganzen der Erfahrung als solcher tritt nicht in die Reihe; weil sie nicht ohne Weiteres der Betrachtung, die der Satz vom Grunde heischt, nachgeht, sondern zuvörderst diesen selbst zum Gegenstande hat. Sie ist als der Grundbass aller Wissenschaften anzusehen, ist aber höherer Art als diese und der Kunst fast so sehr als der Wissenschaft verwandt. — Wie in der Musik jede einzelne Periode dem Ton entsprechen muss, zu welchem der Grundbass eben fortgeschritten ist; so wird jeder Schriftsteller, nach Maassgabe sei- nes Faches, das Gepräge der zu seiner Zeit herrschen- den Philosophie tragen. — Ueberdies aber hat jede Wissenschaft noch ihre specielle Philosophie: daher man von einer Philosophie der Botanik, der Zoologie, der Geschichte usw. redet. Hierunter ist vernünftiger- weise nichts Anderes zu verstehen, als die Hauptre- sultate jeder Wissenschaft selbst, vom höchsten, d.h. allgemeinsten Standpunkt aus, der innerhalb dersel- ben möglich ist, betrachtet und zusammengefasst. Diese allgemeinsten Ergebnisse schliessen sich unmittelbar an die allgemeine Philosophie an, indem sie ihr wich- tige Data liefern und sie der Mühe überheben, diese im philosophisch unbearbeiteten Stoffe der Special- wissenschaften selbst zu suchen. Diese Specialphilo- 157 Sophien stehen demnach vermittelnd zwischen ihren speziellen Wissenschaften nnd der eigentlichen Philo- sophie. Denn da diese die all {gemeinsten Aufschlüsse über das Ganze der Dinge zu ertheilen hat; so müssen solche auch auf das Einzelne jeder Art derselben her- abgeführt und angewandt werden können. Die Phi- losophie jeder Wissenschaft entsteht inzwischen un- abhängig von der allgemeinen Philosophie, nämlich aus den Datis ihrer eigenen Wissenschaft selbst: da- her sie nicht zu warten braucht, bis jene endlich ge- funden worden; sondern schon vorher ausgearbeitet, zur wahren allgemeinen Philosophie jedenfalls passen wird. Diese hingegen muss Bestätigung und Erläute- rung erhalten können aus den Philosophien der ein- zelnen Wissenschaften: denn die allgemeinste Wahr- heit muss durch die specielleren belegt werden kön- nen. Ein schönes Beispiel der Philosophie der Zoo- logie hat Goethe geliefert an seinen Reflexionen über Daltons und Panders Skelette der Nagethiere. (Hefte zur Morphologie, 1824.) Aehnliche Verdienste um dieselbe Wissenschaft haben Kielmayer, Delatnarky Geojfroy St. Hilaire, C'nvier u. a. m., sofern sie Alle die durchgängige Analogie, die innere Verwandtschaft, den bleibenden Typus und den gesetzmässigen Zu- sammenhang der thierischen Gestalten hervorgehoben haben. — Empirische Wissenschaften, rein ihrer selbst wegen und ohne philosophische Tendenz betrieben, gleichen einem Antlitz ohne Augen. Sie sind inzwi- schen eine passende Beschäftigung für gute Kapaci- täten, denen jedoch die höchsten Fähi{jkeiten abgehen, welche auch eben den minutiösen Forschungen sol- cher Art hinderlich sein würden. Solche koncentriren ihre ganze Kraft und ihr gesammtes Wissen auf ein einziges abgestecktes Feld, in welchem sie daher, un- ter der Bedingung gänzlicher Unwissenheit in allem Uebrigen, die möglichst vollständige Erkenntniss er- langen können; während der Philosoph alle Felder übersehen, ja, in gewissem Grad darauf zu Hause seyn muss; wobei diejenige Vollkommenheit, welche man nur durch das Detail erlangt, nothwendig ausgeschlos- sen bleibt. Dafür aber sind Jene den Genfer Arbeitern l58 zu vergleichen, deren Einer lauter Räder, der Andere lauter Federn, der Dritte lauter Ketten macht; der Philosoph hingegen dem Uhrmacher, der aus dem Allen erst ein Ganzes hervorbringt, welches Bewe- gung und Bedeutung hat. Auch kann man sie den Musicis im Orchester vergleichen, jeder von welchen Meister auf seinem Instrument ist, den Philosophen hingegen dem Kapellmeister, der die Natur und Be- handhingsweise jedes Instruments kennen muss, ohne jedoch sie alle, oder auch nur eines, in grosser Voll- kommenheit, zu spielen. Sfiotus Erigena begreift alle Wissenschaften unter dem Namen Scientia, im Gegen- satz der Philosophie, welche er Sapientia nennt. Aber ein überaus glückliches und pikantes Gleichniss des Veihältnisses beider Arten geistiger Bestrebungen zu- einander haben die Alten so oft wiederholt, dass man nicht mehr weiss, wem es angehört. Diogenes Laertius (II, 79) schreibt es dem Aristippos zu, Stobäos (P'loril. til. IV, 110) dem Ariston Chios, dem Aristoteles sein Scholiast (S. 8 der Berliner Ausgabe), Plutarch aber (De puer. educ. c. 10) dem Bion, qui ajebat, sicut Pe- nelopes proci, quum non possent cum Penelope con- cumbere, rem cum ejus ancillis habuissent; ita qui philosophiam nequeunt apprehendere, eos in aliis nullius pretii discipHnis sese conterere. In unserm überwiegend empirischen und historischen Zeitalter kann die Erinnerung daran nicht schaden. KAPITEL i3*). ZUR METHODENLEHRE DER MATHEMATIK. DIEEukleidischeDemonstrirmethodehatausihrem eigenen Schooss ihre treffendeste Parodie und Ka- rikatur geboren, an der berühmten Streitigkeit über *) Dieses Kapitel bezieht sich auf §. 1 5 des ersten Bandes [Seite 86 d. A.l i59 die Theorie der Parallelen und den sich jedes Jahr wiederholenden Versuchen, das elfte Axiom zu be- weisen. Dieses nämlich besagt, und zwar durch das mittelbare Merkmal einer schneidenden dritten Linie, dass zwei sich gegen einander neigende (denn dies eben heisst „kleiner als zwei rechte seyn"), wenn ge- nugsam verlängert, zusammentreffen müssen; welche Wahrheit nun zu komplicirt seyn soll, um für selbst- evident zu gelten, daher sie eines Beweises bedarf, der nun aber nicht aufzubringen ist; eben weil es nichts Unmittelbareres giebt. Mich erinnert dieser Gewis- sensskrupel an die Schillersche Rechtsfrage: „Jahre lang schon bedien' ich mich meiner Nase zum Riechen: Hah' ich denn wirkUch an sie auch ein erweisliches Recht? ja, mir scheint, dass die logische Methode sich hiedurch bis zur Niaiserie steigere. Aber gerade durch die Strei- tigkeiten darüber, nebst den vergeblichen Versuchen, das umnittelhai' Gewisse als bloss mittelbar gewiss darzustellen, tritt die Selbständigkeit und Klarheit der intuitiven Evidenz mit der Nutzlosigkeit und Schwie- rigkeit der logischen üeberführung in einen Kontrast, der nicht weniger belehrend, als belustigend ist. Man will hier nämlich die unmittelbare Gewissheit deshalb nicht gelten lassen, weil sie keine bloss logische, aus dem Begriffe folgende, also allein auf dem Verhält- niss des Prädikats zum Subjekt, nach dem Satze vom Widerspruch, beruhende ist. Nun ist aber jenes Axiom ein synthetischer Satz a priori und hat als solcher die Gewährleistung der reinen, nicht empirischen An- schauung, die eben so unmittelbar und sicher ist, wie der Satz vom Widerspruch selbst, von welchem alle Beweise ihre Gewissheit erst zur Lehn haben. Im Grunde gilt dies von jedem geometrischen Theorem, und es ist willkürlich, wo man hier die Gränze zwi- schen dem unmittelbar Gewissen und dem erst zu Be- weisenden ziehen will. — Mich wundert, dass man nicht vielmehr das achte Axiom angreift. „Figuren, die sich decken, sind einander gleich". Denn das Sich- decken ist entweder eine blosse Tautolgie, oder etwas ganz Empirisches, welches nicht der reinen Anschau- i6o ung, sondern der äussern sinnlichen Erfahrung ange- hört. Es setzt nämhch BewegHchkeit der Figuren vor- aus: aber das Bewegliclie im Raum ist allein die Ma- terie. Mithin verlässt dies Provociren auf das Sich- decken den reinen Raum, das alleinige Element der Geometrie, um zum Materiellen und Empirischen überzugehen. Die angebliche Ueberschrift des Platonischen Lehr- saals, AYStujjLeTpTjTo«; [itjoek; etottu), auf welche die Ma- thematiker so stolz sind, war ohne Zweifel dadurch motivirt, dass Plato die geometrischen Figuren als Mittelwesen zwischen den ewigen Ideen und den ein- zelnen Dingen ansah, wie dies Arhloteles in seiner Metaphysik öfter erwähnt (besonders I, c. 6, S. 887, 998 et Scholia, S. 837, Ed. Berol.). Ueberdies Hess der Gegensatz zwischen jenen für sich bestehenden, ewigen Formen, oder Ideen, und den vergänglichen einzelnen Dingen sich an den geometrischen Figuren am leich- testen fasslich machen und dadurch der Grund legen zur Ideenlehre, welche der Mittelpunkt der Philoso- phie Plato\s, ja, sein einziges ernstliches und entschie- denes theoretisches Dogma ist: heim Vortrag desselben ging er darum von der Geometrie aus. In gleichem Sinn wird uns gesagt, dass er die Geometrie als Vor- übung betrachtete, durch welche der Geist der Schüler sich an die Beschäftigung mit unkörperlichen Gegen- ständen gewöhnte, nachdem derselbe bis dahin, im praktischen Leben, es nur mit körperlichen Dingen zu thun gehabt hatte (Schol. in Aristot., p. 12, i5). Dies also ist der Sinn, in welchem Plato die Geometrie den Philosophen empfahl: man ist daher nicht be- rechtigt, denselben weiterauszudehnen. Vielmehr emp- fehle ich, als Untersuchung des Einflusses der Ma- thematik auf unsere Geisteskräfte und ihres Nutzens für wissenschaftliche Bildung überhaupt, eine sehr gründliche und kenntnissreiche Abhandlung, in Form der Recension eines Buches von Whewell, in der Edin- burgh' Review vom Januar i836: ihr Verfasser, der sie später, zusammen mit einigen andern Abhandlun- gen, unter seinem Namen herausgegeben hat, ist W. Hamilton, Professor der Logik und Metaphysik in 1 1 Schopenhauer II I O I Schottland. Dieselbe hat auch einen Deutschen Ueber- setzer gefunden und ist für sich allein erschienen, unter dein Titel: „Ueber den Werth und Unwerth der Ma- thematilv", aus dem Eii{jlischen, i836. Das Ergebniss derselben ist, dass der Werth der Mathematik nur ein mittelbarer sei, nämlich in der Anwendung zu Zwek- ken, welche allein durch sie erreichbar sind, liege; an sich aber lasse die Mathematik den Geist da, wo sie ihn gefunden hat, und sei der allgemeinen Aus- bildung und Entwickelung desselben keineswegs för- derlich, ja sogar entschieden hinderlich. Dies Ergeb- niss wird nicht nur durch gründliche dianoiologische Untersuchung der mathematischen Geistesthatigkeit dargethan, sondern auch durch eine sehr gelehrte An- häufung von Beispielen und Autoritäten befestigt. Der einzige unmittelbare Nutzen, welcher der Mathematik gelassen wird, ist, dass sie unstäte und flatterhafte Köpfe gewöhnen kann, ihre Aufmerksamkeit zu fixi- ren. — Sogar Ka7'tesiiti>, der doch selbst als Mathema- tiker berühmt war, urtheilte eben so über die Mathe- matik. In der Vie de Descartes par Baillet, 1 6y3, heisst es, Liv. II, eh. 6, p. 54: Sa propre experience Tavait convaincu du peu d'utilite des mathematiques, surtout lorsqu' on ne les cultive que pour elles mcmes. II ne voyait rien de moins solide, que de s'occuper de nombres tout simples et de figures imaginaires u. s. f. KAPITEL 14. IjEBER DIE GEDANKEISASSOCIATION. DIE Gegenwart der Vorstellungen und Gedanken in unserm ßewusslseyn ist dem Satze vom Grund, in seinen verschiedenen Gestalten, so streng unterworfen, wie die Bewegung der Körper dem Gesetze der Kau- salität. So wenig ein Körper ohne Ursache in Be- wegung gerathen kann, ist es mö(;lich, dass ein Ge- danke ohne Anlass ins Bewusstseyn trete. Dieser Anlass 62 ist nun entweder ein äussei-er, also ein Eindruck auf die Sinne; oder ein innerer, also selbst wieder ein Ge- danke, der einen andern herbeiführt, vermöge der Association. Diese wieder beruht entweder auf einem Verhältniss von Grund und Folge zwischen beiden; oder aber auf Aehnlichkeit, auch blosser Analogie; oder endlich auf Gleichzeitigkeit ihrer ersten Auffas- sung, welche wieder in der räumlichen Nachbarschaft ihrer Gegenstände ihren Grund haben kann. Die bei- den letztern Fälle bezeichnet das Wort ä propos. Für den intellektuellen Werth eines Kopfes ist das Vor- herrschen des einen dieser drei Bänder der Gedanken- association vor den andern charakteristisch : das zuerst genannte wird in den denkenden und gründlichen, das zweite in den witzigen, geistreichen, poetischen, das letzte in den beschränkten Köpfen vorherrschen. Nicht weniger charakteristisch ist der Grad der Leich- tigkeit, mit welcher ein Gedanke andere, in irgend einer Beziehung zu ihm stehende, hervoi'ruft : sie macht die Regsamkeit des Geistes aus. Aber die Unmöglich- keit des Eintritts eines Gedankens ohne seinen genü- genden Anlass, selbst beim stärksten Willen ihn her- vorzurufen, bezeugen alle die Fälle, wo wir vergeblich bemüht sind, uns auf etwas zu besinnen, und nun den ganzen Vorrath unserer Gedanken durchprobiren, um irgend einen zu finden, der mit dem gesuchten asso- ciirt sei: finden wir jenen, so ist auch dieser da. Stets sucht wer eine Erinnerung hervorrufen will, zunächst nach einem Faden, an dem sie durch die Gedanken- association hängt. Hierauf beruht die Mnemonik: sie will zu allen aufzubewahrenden Begriffen, Gedanken, oder Worten, uns mit leicht zu findenden Anlässen versehen. Das Schlimme jedoch ist, dass doch auch diese Anlässe selbst erst wiedergefunden werden müs- sen und hiezu wieder eines Anlasses bedürfen. Wie viel bei der Erinnerung der Anlass leistet, lässt sich daran nachweisen, dass Einer, der in einem Anekdo- tenbuch fünfzig Anekdoten gelesen und dann es weg- gelegt hat, gleich darauf bisweilen nicht auf eine ein- zige sich besinnen kann: kommt jedoch ein Anlass, oder fällt ihm ein Gedanke ein, der irgend eine Ana- II* i63 logie mit einer jener Anekdoten bat; so fällt diese ihm sofjleich ein; und so gele{;entlich alle fünfzig. Das Selbe gilt von Allem, was man liest. — Im Grunde beruht unser unmittelbares, d. h. nicht durch mne- monische Künste vermitteltes, Wortgedächtniss, und mit diesem unsere ganze Sprachfahigkelt, auf der un- mittelbaren Gedankenassociation. Denn das Erlernen der Sprache besteht darin, dass wir, auf immer, einen Begriff mit einem Worte so zusammenketten, dass bei diesem Begriff" stets zugleich dieses Wort, und bei diesem Wort dieser Begriff uns einfällt. Den selben Process haben wir nachmals bei Erlernung jeder neuen Sprache zu wiederholen. Erlernen wir jedoch eine Sprache bloss zum passiven, nicht zum aktiven Ge- brauch, d. h. zum Lesen, nicht zum Sprechen, wie z. B. meistens das Griechische; so ist die Verkettung einseitig, indem beim Wort uns der Begriff, nicht aber durchweg beim Begriff* das Wort einfallt. Der selbe Hergang, wie bei der Sprache, wird im Einzelnen augenfällig bei Erlernung jedes neuen Eigennamens. Bisweilen aber trauen wir uns nicht zu, mit dem Ge- danken an ^?>5e Person, oder Stadt, Fluss, Berg, Pflanze, Thier u. s. w. den Namen derselben unmittelbar so fest zu verknüpfen, dass er ihn von selbst herbeizöge: alsdann helfen wir nns mnemonisch und verknüpfen das Bild der Person, oder Sache, mit irgend einer an- schaulichen Eigenschaft deren Name im ihrigen vor- kommt. Jedoch ist dies nur einstweiliges Gerüst zur Stützung: späterhin lassen wir es fallen, indem die Gedankenassociation eine unmittelbare wird. Das Suchen nach einem Faden der Erinnerung zeigt sich in eigenthümlicher Art, wenn es ein Traum ist, den wir beim Erwachen vergessen haben, als wo wir vergeblich nach Dem suchen, was noch vor we- nigen Minuten uns mit der Macht der hellsten Gegen- wart beschäfti{jte, jetzt aber ganz entwichen ist; wes- halb wir dann nach irgend einem zurückgebliebenen Eindruck haschen, an dem das Fädchen hienge, wel- ches, vermöge der x\ssociation, jenen Traum wieder in unser Bewusstsevn zurückziehen könnte. Selbst aus dem magnetisch-somnambulen Schlafe soll bisweilen i64 Erinnerung möglich seyn, durch ein im Wachen vor- gefundenes sinnliches Zeichen: nach Kieser „Telluris- mus", Bd. II, § 271. Auf derselben Unmöglichkeit des Eintritts eines Gedankens ohne seinen Anlass beruht es, dass, wenn wir uns vorsetzen, zu einer bestimmten Zeit irgend etwas zu thun, dieses nur dadurch ge- schehen kann, dass wir entweder bis dahin an nichts Anderes denken, oder aber zur bestimmten Zeit durch irgend etwas daran erinnert werden, welches entweder ein äusserer, dazu vorherbereiteter Eindruck, oder auch ein selbst wieder gesetzmässig herbeigeführter Gedanke seyn kann. Beides gehört dann in die Klasse der Motive. — Jeden Morgen, beim Erwachen, ist das Bewusstseyn eine tabula rasa, die sich aber schnell wieder füllt. Zunächst nämlich ist es die jetzt wieder eintretende Umgebung des vorigen Abends, welche uns an das erinnert, was wir unter eben dieser Um- gebung gedacht haben: daran knüpfen sich die Er- eignisse des vorigen Tages, und so ruft ein Gedanke schnell den andern hervor, bis Alles, was uns gestern beschäftigte, wieder da ist. Darauf, dass dies gehörig geschehe, beruht die Gesundheit des Geistes, im Ge- gensatz des Wahnsinns, der, wie im dritten Buche gezeigt wird, eben darin besteht, dass grosse Lücken im Zusammenhange der Rückerinnerung Statt haben. Wie gänzlich aber der Schlaf den Faden der Erinne- rung unterbricht, so dass dieser an jedem Morgen wieder angeknüpft werden muss, sehen wir an ein- zelnen Un Vollkommenheiten dieser Operation: z. B. eine Melodie, welche Abends uns zum Ueberdruss im Kopfe herumgieng, können wir bisweilen am andern Morgen nicht wiederfinden. Eine Ausnahme zu dem Gesagten scheinen die Fälle zu liefern, wo ein Gedanke, oder ein Bild der Phan- tasie, uns plötzlich und ohne bewussten Anlass in den Sinn konunt. Meistens ist dies jedoch Täuschung, die darauf beruht, dass der Anlass so gering, der Gedanke selbst aber so hell und interessant v/ar, dass er jenen augenblicklich aus dem Bewusstseyn verdrängte: bis- weilen aber mag ein solcher urplötzlicher Eintritt einer Vorstellung innere körperliche Eindrücke, ent- i65 weder der Theile des Gehirns aufeinander, oder auch desor{janischen Nervensystems aufdasGchirn zur Ur- sache haben. Ueberhaupt ist in der WirkHchkeit der Gedanken- process unseres hinern nicht so einfach, wie die Theo- rie desselben; da hier vielerlei ineinandergreift. Ver- gleichen wir, um uns die Sache zu veranschauHchen, unser Bevvusstseyn miteinem Wasser von einiger Tiefe; so sind die deutlich bewussten Gedanken bloss die Oberfläche: die Masse hingegen ist das Undeutliche, die Gefühle, die ISachempfindung der Anschauungen und des Erfehrenen überhaupt, versetzt mit der ei- genen Stimmung unseres Willens, welcher der Kern unseres Wesens ist. Diese Masse des ganzen Bewusst- seyns ist nun, mehr oder weniger, nach Maassgabe der intellektuellen Lebendigkeit, in steter Bewegung, und was in Folge dieser auf die Oberfläche steigt, sind die klaren Bilder der Phantasie, oder die deutlichen, be- wussten, in Worten ausgedrückten Gedanken und die Beschlüsse des Willens. Selten liegt der ganze Process unsers Denkens und Beschliessens auf der Oberfläche, d. h. besteht in einer Verkettung deutlich gedachter Urtheile; obwohl wir dies anstreben, um uns und Andern Rechenschaft geben zu können: gewöhnlich aber geschieht in der dunkeln Tiefe die Humination des von aussen erhaltenen Stoffes, durch welche er zu Gedanken umgearbeitet wird; und sie geht beinahe so unbewusst vor sich, wie die Umwandelung der Nahrung in die Säfte und Substanz des Leibes. Daher kommt es, dass wir oft vom Entstehen unserer tiefsten Gedanken keine Rechenschaft geben können: sie sind die Ausgeburt unsers geheimnissvollen Innern. Ur- theile, Einfälle, Beschlüsse steigen unerwartet und zu unserer eigenen Verwunderung aus jener Tiefe auf. Ein Brief bringt uns unvermuthete, wichtige Nach- richten, in Folge deren eine Verwirrung unserer Ge- danken und Motive eintritt; wir entschlagen uns der Sache einstweilen und denken nicht wieder daran; aber am andern, oder dem dritten, vierten Tage steht bisweilen das ganze Verhältniss, mit dem was wir da- bei zu thun haben, deutlich vor uns. Das Bevvusstseyn i66 ist die blosse Oberfläche unseres Geistes, von welchem, wie vom Erdkörper, wir nicht das Innere, sondern nur die Schaale kennen. Was aber die Gedankenassociation selbst, deren Ge- setze oben dargelegt worden, in Thätigkeit versetzt, ist, in letzter Instanz, oder im Geheimen unsers Innern, der Wille^ welcher seinen Diener, den Intellekt, an- treibt, nach Maassgabe seiner Kräfte, Gedanken an Gedanken zu reihen, das Aehnliche, das Gleichzeitige zurückzurufen. Gründe und Folgen zu erkennen: denn im Interesse des Willens liegt, dass überhaupt gedacht werde, damit man möglichst orientirt sei, für alle vor- kommenden Fälle. Daher ist die Gestalt des Satzes vom Grunde, welche die Gedankenassociation be- herrscht und thätig erhält, im letzten Grunde, das Ge- setz der Motivation; weil Das, was das Sensorium lenkt und es bestimmt, in dieser oder jener Richtung, der Analogie, oder sonstigen Gedankenassociation, nachzugehen, der Wille des denkenden Subjekts ist. Wie nun also hier die Gesetze des Ideennexus doch nur auf der Basis des Willens bestehen ; so besteht der Kausalnexus der Körper in der realen Welt eigentlich auch nur auf der Basis des in den Erscheinungen die- ser sich äussernden Willens; weshalb die Erklärung aus Ursachen nie eine absolute und erschöpfende ist, sondern zurückweist auf Naturkräfte als ihre Bedin- gung, deren Wesen eben der Wille als Ding an sich ist; — wobei ich freilich das folgende Buch anticipirt habe. Weil nun aber die äussern (sinnlichen) Anlässe der Gegenwart unserer Vorstellungen eben so wohl wie die innern (der Gedankenassociation), und beide un- abhängig von einander, beständig auf das Bewusstseyn einwirken; so entstehen hieraus die häufigen Unter- brechungen unsers Gedankenlaufs, welche eine ge- wisse Zerstückelung imd Verwirrung unsers Denkens herbeiführen, die zu den nicht zu beseitigenden Un- voll kommenheiten desselben gehört, welche wir jetzt in einem eigenen Kapitel betrachten wollen. .67 KAPITEL i5. VON DEN WESENTLICHEN UN VOLLKOMMEN- HEITEN DES INTELLEKTS. I NSER Selbstbewusstseyn hat nicht den Raum^ V-y' sondern allein die Zeit zur P'orm: deshalb {jeht unser Denken nicht, wie unser Anschauen, nach drei Dimensionen vor sich, sondern bloss nach einer, also auf einer Linie, ohne Breite und Tiefe. Hieraus ent- springt die grösste der wesentlichen Unvollkommen- heiten unsers Intellekts. Wir können nämlich Alles nur successive erkennen und nur Eines zur Zeit uns bewusst werden, ja, auch dieses Einen nur unter der Bedingung, dass wir derweilen alles Andere vergessen, also uns desselben gar nicht bewusst sind, mithin es so lange aufhört für uns dazuseyn. In dieser Eigen- schaft ist unser Intellekt einem Teleskop mit einem sehr engen Gesichtsfelde zu vergleichen; weil eben unser Bewusstseyn kein stehendes, sondern ein flies- sendes ist. Der Intellekt apprehendirt nämlich nur successiv und muss, um das Eine zu ergreifen, das Andere fahren lassen, nichts als die Spuren von ihm zurückbehaltend, welche immer schwächer werden. Der Gedanke, der mich jetzt lebhaft beschäftigt, muss mir. nach einer kurzen W^eile ganz entfallen seyn: tritt nun noch eine wohldurchschlafene Nacht dazwi- schen; so kann es kommen, dass ich ihn nie wieder- finde; es sei denn, dass er an mein persönliches Inter- esse, d. h. an meinen Willen geknüpft wäre, als wel- cher stets das P'eld behauptet. Auf dieser Un Vollkommenheit des Intellekts beruht das Rhapsodische und oft Fragmentarische unsers Ge- dankenlaujs, welches ich bereits am Schlüsse des vori- gen Kapitels berührt habe, und aus diesem entsteht die un\erme\d\iche Zerstreuung unsers Denkens. Theils nämlich dringen äussere Sinneseindrücke störend und unterbrechend auf dasselbe ein, ihm jeden Augen- blick das Fremdartigste aufzwingend, theils zieht am i68 Bande der Association ein Gedanke den atidern herbei und wird nun selbst von ihm verdrängt; theils end- hch ist auch der Intellekt selbst nicht ein Mal föhig sich sehr lange und anhaltend auf emen Gedanken zu heften, sondern wie das Auge, wenn es lange auf einen Gegenstand hinstarrt, ihn bald nicht mehr deut- lich sieht, indem die Umrisse in einander lliessen, sich verwirren und endlich Alles dunkel wird; so wird auch, durch langes fortgesetztes Grübeln über eine Sa- che, allmälig das Denken verworren, stumpft sich ab und endigt in völliger Dumpfheit. Daher müssen wir jede Meditation oder Deliberation, welche glücklicher- weise ungestört geblieben, aber doch nicht zu Ende geführt worden, auch wenn sie die wichtigste und uns angelegenste Sache betrifft, nach einer gewissen Zeit, deren Maass individuell ist, vor der Hand auf- geben und ihren uns so interessanten Gegenstand aus dem Bewusstseyn entlassen, um uns, so schwer die Sorge darüber auch auf uns lastet, jetzt mit unbedeu- tenden und gleichgültigen Dingen zu beschäftigen. Während dieser Zeit nun ist jener wichtige Gegen- stand für uns nicht mehr vorhanden: er ist jetzt, wie die Wärme im kalten Wasser, latent. Wenn wir ihn nun, zur andern Zeit, wieder aufnehmen; so kommen wir an ihn wie an eine neue Sache, in der wir uns von Neuem, wiewohl schneller, orientiren, und auch der angenehme, oder widrige Eindruck derselben auf un- sern Willen tritt von Neuem ein. Inzwischen kommen wir selbst nicht ganz unverändert zurück. Denn mit der physischen Mischung der Säfte und Spannung der Nerven, welche, nach Stunden, Tagen und Jah- reszeiten, stets wechselt, ändert sich auch unsere Stim- mung und Ansicht: zudem haben die in der Zwischen- zeit dagewesenen fremdartigen Vorstellungen einen Nachklang zurückgelassen, dessen Ton auf die folgen- den Einfluss hat. Daher erscheint uns die selbe Sache zu verschiedenen Zeiten, Morgens, Abends, Nachmit- tags, oder am andern Tage, oft sehr verschieden: ent- gegengesetzte Ansichten derselben drängen sich jetzt auf und vermehren unsein Zweifel. Darum spricht man vom Beschlafen einer Angelegenheit und fordert 169 zu grossen Entschlüssen lange Ueberlegungszeit. Wenn nun gleich diese Beschaffenheit unsers Intellekts, als aus der Schwäche desselben entspringend, ihre offen- baren Nachtheile hat; so gewahrt sie andererseits den Vortheil, dass wir, nach der Zerstreuung und der phy- sischen Ümstiinrnung, als komparativ Andere, frisch und fremd zu unserer Angelegenheit zurückkehren und so sie mehrmals in stark verändertem Lichte er- blicken können. — Aus diesem allen ist ersichtlich, dass das menschliche Bewusstseyn und Denken, seiner Natur nach, nothwendig fragmentarisch ist, weshalb die theoretischen oder praktischen Ergebnisse, welche durch die Zusammensetzung solcher PVagmente er- langt werden, meistens mangelhaft ausfallen. Dabei gleicht unser denkendes Bewusstseyn einer Laterna magica, in deren Fokus nur Ein Bild zur Zeit er- scheinen kann und jedes, auch wenn es das Edelste darstellt, doch bald verschwinden muss, um dem He- terogensten, ja Gemeinsten Platz zu machen. — In praktischen Angelegenheiten werden die wichtigsten Pläne und Beschlüsse im Allgemeinen festgestellt: diesen aber ordnen andere, als Mittel zum Zweck, sich unter, diesen wieder andere und so bis zum Ein- zelnen, in concreto Auszuführenden herab. Nun aber kommen sie nicht in der Reihe ihrer Dignität zur Aus- führung, sondern während die Pläne im Grossen und Allgemeinen uns beschäftigen, müssen wir mit den kleinsten Einzelheiten und der Sorge des Augenblickes kämpfen. Dadurch wird unser Bewusstseyn noch de- sultorischer. Ueberhaupt machen theoretische Geistes- beschäftigungen zu praktischen Angelegenheiten und diese wieder zu jenen unfähig. In Folge des dargestellten unvermeidlich Zerstreu- ten und Fragmentarischen alles unsers Denkens, und des dadurch herbeigeführten Gemisches der hetero- gensten Vorstellungen, welches auch dem edelsten menschlichen Geiste anhängt, haben wir eigentlich nur eine halbe Besinnung und tappen mit dieser im Labvrinth unsers Lebenswandels und im Dunkel un- serer Forschimgen umher: helle Augenblicke erleuch- ten dabei wie Blitze unsern Weg. Aber was lässt sich I •yo überhaupt von Köpfen erwarten, unter denen selbst der weiseste allnächtlich der Tummelplatz der aben- teuerlichsten und unsinnijjsten Traume ist und von diesen kommend seine Meditationen wieder aufnehmen soll? Offenbar ist ein so grossen Beschränkungen un- terliegendes Bewusstseyn zur Ergründung des Räth- sels der Welt wenig geeignet, und ein solches Bestreben müsste Wesen höherer Art, deren Intellekt nicht die Zeit zur Form, und deren Denken daher wahre Ganz- heit und Einheit hätte, seltsam und erbärmlich er- scheinen. Ja, es ist sogar zu bewundern, dass wir durch das so höchst heterogene Gemisch der Vorstellungs- und Denkfragmente jeder Art, welche sich beständig in unserm Kopfe durchkreuzen, nicht völlig verworren werden, sondern uns stets noch wieder darin zurecht- zufinden und Alles aneinanderzupassen vermögen. Offenbar muss doch ein einfacher Faden daseyn, auf dem sich Alles aneinanderreiht: was ist aber dieser? - — Das Gedächtniss allein reicht dazu nicht aus; da es wesentliche Beschränkungen hat, von denen ich bald reden werde, und überdies höchst unvollkommen und treulos ist. Das logische Ich, oder gar die trans- scendentale synthetische Einheit dei^ Apperceptian, — sind Ausdrücke und Erläuterungen, welche nicht leicht dienen werden, die Sache fasslich zu machen, vielmehr wird Manchem dabei einfallen : „Zwar euer Bart ist kraus, doch hebt ihr nicht die Riegel." Kants Satz: „das Ich denke muss alle unsere Vorstel- lungen begleiten", ist unzureichend : denn das Ich ist eine unbekannte Grösse, d. h. sich selber ein Geheim- niss. — Das, was dem Bewusstseyn Einheit und Zu- sammenhang giebt, indem es, durchgehend durch des- sen sämmtliche Vorstellungen, seine Unterlage, sein bleibender Träger ist, kann nicht selbst durch das Be- wusstseyn bedingt, mithin keine Vorstellung seyn: vielmehr muss es das Prius des Bewusstseyns und die Wurzel des Baumes seyn, davon jenes die Frucht ist. Dieses, sage ich, ist der Wille: er allein ist unwandel- bar und schlechthin identisch, und hat, zu seinen Zwecken, das Bewusstseyn hervorgebracht. Daher ist 171 auch er es, welcher ihm Einheit giebt und alle Vor- stellungen und Gedanken desselben zusammenhält, gleichsam als durchgehender Grundbass sie begleitend. Ohne ihn hätte der Intellekt nicht mehr Einheit des Bewusstseyns, als ein Spiegel, in welchem sich successiv bald Dieses bald Jenes darstellt, oder doch hö( hstens nur soviel wie ein Konvexspiegel, dessen Strahlen in einen imaginären Punkt hinter seiner Oberfläche zu- sammenlaufen. Nun aber ist der M'^ille allein das Be- harrende und Unveränderliche im Bewusstseyn. Er ist es, welcher alle Gedanken und Vorstellungen, als Mittel zu seinen Zwecken, zusammenhält, sie mit der Farbe seines Charakters, seiner Stimmung und seines Interesses tingirt, die Aufmerksamkeit beherrscht und den Faden der Motive, deren Einfluss auch Gedächt- niss und Ideenassociation zuletzt in Thätigkeit setzt, in der Hand hält: von ihm ist im Grunde die Rede, so oft „Ich" in einem Unheil vorkommt. Er also ist der wahi'e, letzte Einheitspunkt des Bewusstseyns und das Band aller Funktionen und Akte desselben: er ge- hört aber nicht selbst zum Intellekt, sondern ist nur dessen Wurzel, Ursprung und Beherrscher. Aus der Form der Zeit und der einfachen Dimension der Vorstellungsreihe, vermöge welcher der Intellekt, um Eines aufzufassen, alles Andere fallen lassen muss, folgt, wie seine Zerstreuung, auch seine f^ergesslich- keit. Das Meiste von Dem, was er fallen gelassen, nimmt er nie wieder auf, zumal da die Wiederauf- nahme an den Satz vom Grunde gebunden ist, also eines Anlasses bedarf, den die Gedankenassociatiou und Motivation erst zu liefern hat; welcher Anlass jedoch um so entfernter und geringer seyn darf, je mehr unsere Empfindlichkeit dafür durch das Interesse des Gegenstandes erhöht ist. Nun aber ist das Ge- dächtniss, wie ich schon in der Abhandlung über den Satz vom Grunde gezeigt habe, kein Behältniss, son- dern eine blosse Uebungsfähigkeit im Hervorbringen beliebiger Vorstellungen, die daher stets durch Wie- derholung in Uebung erhalten werden müssen ; da sie sonst sich allmälig verlieren. Demzufolge ist das Wissen auch des gelehrtesten Kopfes doch nur virtualiter vor- I ^1 banden, als eine im Hervorbringen gewisser Vorstel- lungen erlangte Uebung: actualiter hingegen ist aucb er auf eine einzige Vorstellung beschränkt und nur dieser einen sich zur Zeit bewusst. Hieraus entsteht ein seltsamer Kontrast zwischen dem, was er potentiä und dem, was er actu weiss, d. h. zwischen seinem Wissen und seinem jedesmaligen Denken: Ersteres ist eine unübersehbare, stets etwas chaotis(;he Masse, Letz- teres ein einziger deutlicher Gedanke. Das Verhältniss gleicht dem, zwischen den zahllosen Sternendes Him- mels und dem engen Gesichtsfelde des Teleskops: es tritt auffallend hervor, wann er, auf einen Anlass, ir- gend eine Einzelheit aus seinem Wissen zur deutlichen Erinnerung bringen will, wo Zeit und Mühe erfordert wird, es aus jenem Chaos hervorzusuchen. Die Schnel- ligkeit hierin ist eine besondere Gabe, aber sehr von Tag und Stunde abhängig: daher versagt bisweilen das Gedächtniss seinen Dienst, selbst in Dingen, die es zur andern Zeit leicht zur Hand hat. Diese Betrach- tung fordert uns auf, in unsern Studien mehr nach Erlangung richtiger Einsicht, als nach Vermehrung der Gelehrsamkeit zu streben, und zu beherzigen, dass die Qualität des Wissens wichtiger ist, als die Quantität desselben. Diese ertheilt den Büchern bloss Dicke, jene Gründlichkeit und zugleich Stil: denn sie ist eine intensive (jrösse, während die andere eine bloss extensive ist, Sie besteht in der Deutlichkeit und Vollständigkeit der Begriffe, nebst der Reinheit und Richtigkeit der ihnen zum Grunde liegenden an- schaulichen Erkenntnisse; daher das ganze Wissen, in allen seinen Theilen von ihr durchdrungen wird und demgemäss vverthvoll, oder gering ist. Mit kleiner Quantität, aber guter Qualität desselben leistet man mehr, als mit sehr grosser Quantität, bei schlechter Qualität. — Die vollkommenste und genügendeste Erkenntniss ist die anschauende: aber sie ist auf das ganz Einzelne, das Individuelle beschränkt. Die Zusammenfassung des Vielen und Verschiedenen in eine Vorstellung ist nur möglich durch den Begriffe d.h. durch das Weg- lassen der Unterschiede, mithin ist dieser eine sehr ,73 unvollkommene Art des Vorstellens. Freilich kann auch das Einzelne nnmittelhar als ein Allgemeines auf{jet"asst werden, wenn es nämlich zur (Platonischen) Idee erhohen wird: hei diesem Vor{jang aher, den ich im dritten Buch analysiert hahe, tritt auch schon der Intellekt aus den Schranken der Individualität und mithin der Zeit heraus: auch ist es nur eine Aus- nahme. Diese innern und wesentlichen Unvollkommenhei- ten des Intellekts werden noch erhöht durch eine ihm gewissermaassen äusserliche,aber unausbleibliche Stö- rung, nämlich durch den Einiluss, welchen auf alle seine Operationen der IVille ausübt, sobald er beim Resultat derselben irgend beteiligt ist. Jede Leiden- schaft, ja, jede Neigung oder Abneigung, tingirt die Objekte der Erkenntniss mit ihrer Farbe. Am alltäg- lichsten ist die Verfälschung, welche Wunsch und Hoffnung an der Erkenntniss ausüben, indem sie uns das kaum Mögliche als wahrscheinlich und beinahe gewiss vorspiegeln und zur Auffassung des Entgegen- stehenden uns fast unfähig machen : auf ähnliche Wei- se wirkt die Furcht; auf analoge jede vorgefasste Mei- nung, jede Parteilichkeit und, wie gesagt, jedes In- teresse, jede Regung und jeder Hang des Willens. Zu allen diesen Llnvollkommenheiten des Intellekts kommt endlich noch die, dass er, mit dem Gehirn, altert, d. h. wie alle physiologischen Funktionen, in den spätem Jahren seine Energie verliert; wodurch dann alle seine Unvollkommenheiten sehr zunehmen. Die hier dargelegte mangelhafte Beschaffenheit des Intellekts wird uns indessen nicht wundern, wenn wir auf seinen Ursprung und seine Bestimmung zurück- sehen, wie ich solche im zweiten Buche nachgewiesen habe. Zum Dienst eines individuellen Willens hat ihn die INatur hervorgebracht: daher ist er allein bestimmt, die Dinge zu erkennen, sofern sie die Motive eines sol- chen Willens abgeben; nicht aber, sie zu ergründen, oder ihr Wesen an sich aufzufassen. Der menschliche Intellekt ist nur eine höhere Steigerung des thierischen: und wie dieser ganz auf die Gegenwart beschränkt ist, so trägt auch der unserige starke Spuren dieser Be- 174 schränkung. Daher ist unser Gedächtniss und Rück- erinnerung etwas sehr Unvollkommenes: wie wenig von dem, was wir gethan, erlebt, gelernt, gelesen ha- hen, können wir uns zurückrufen! und selbst dies Wenige meistens nur mühsam und unvollständig. Aus demselben Grunde wird es uns so sehr schwer, uns vom Eindrucke der Gegenwart frei zu erhalten. — Bewusst- losigkeit ist der ursprüngliche und natürliche Zustand aller Dinge, mithin auch die Basis, aus welcher, in einzelnen Arten der Wesen, das Bewusstsevn, als die höchste Efflorescenz derselben, hervorgeht, weshalb auch dann jene immer vorwaltet. Demgemäss sind die meisten Wiesen ohne Bewusstseyn: sie wirken dennoch nach den Gesetzen ihrer Natur, d. h. ihres Willens. Die Pflanzen haben höchstens ein ganz schwaches Ana- logon von Bewusstseyn, die untersten Tliiere bloss eine Dänjmerung desselben. Aber auch nachdem es sich, durch die ganze Thierreihe, bis zum Menschen und seiner Vernunft gesteigert hat, bleibt die Bewusstlo- sigkeit der Pflanze, von der es ausging, noch immer die Grundlage, und ist zu spüren in der Nothwendig- keit des Schlafes, wie eben auch in allen hier darge- legten wesentlichen und grossen Unvollkommenhei- ten jedes durch physiologische Funktionen hervorge- brachten Intellekts: von einem andern aber haben wir keinen Begriff. Die hier nachgewiesenen wesentlichen Unvollkom- menheiten des Intellekts werden nun aber, im ein- zelnen Falle, stets noch durch unwesentliche erhöht. Nie ist der Intellekt, in jedei' Hinsicht, was er mög- licherweise seyn könnte: die ihm möglichen Voll- kommenheiten stehen einander so entgegen, dass sie sich ausschliessen. Daher kann Keiner Plato und Ari- stoteles, oder Shakespeare und Neuton, oder Kant und (joehte zugleich seyn. Die ünvollkommenheiten des Intellekts hingegen vertragen sich sehr wohl zu- sammen; weshalb er, in der Wirklichkeit, meistens tief unter dem bleibt, was er seyn könnte. Seine Funk- tionen hängen von so gar vielen Bedingungen ab, welche wir, in der Erscheinung, in der sie uns allein gegeben sind, nur als anatomische und physiologische ■ 75 erfassen können, dass ein auch nur in einer Richtung entschieden exceUirender Intellekt zu den seltensten Naturerscheinungen gehört; daher eben die Produk- tionen eines solchen Jahrtausende hindurch aufbe- wahrt werden, ja, jede Reliquie eines so begünstigten Individuums zürn köstlichsten Kleinod wird. Von einem solchen Intellekt bis zu dem, der sich dem Blödsinn nähert, sind der Abstufimgen unzählige. Diesen ge- mäss fällt nun zunächst dei' geistige Gesichtskreis eines Jeden sehr verschieden aus, nämlich von dem der blossen Auffassung der Gegenwart, die selbst das Thier hat, zu dem, der doch auch die nächste Stunde, zu dem, der den Tag umfasst, selbst noch den mor- genden, die Woche, das Jahr, das Leben, die Jahr- hunderte, Jahrtausende, bis zu dem eines Bewusst- seyns, welches fast beständig den, wenn auch undeut- lich dämmernden Horizont der Unendlichkeit gegen- wärtig hat, dessen Gedanken daher einen diesem angemessenen Charakter annehmen. — Ferner zeigt jener Unterschied der Intelligenzen sich in der Schnel- ligkeit ihres Denkens, auf welche sehr viel ankommt, unddiesoverschiedenundallmäligabgestuftseynmag, wie die der Punkte des Radius einer sich drehenden Scheibe. Die Ferne der Folgen und Gründe, zu der das Denken eines Jeden reichen kann, scheint mit der Schnelligkeit des Denkens in einem gewissen Verhält- niss zu stehen, indem die grösste Spannung der Denk- kraft überhaupt nur eine ganz kurze Zeit hindurch anhalten könne, und doch nur, während sie dauert, ein Gedanke in seiner vollkommenen Einheit sich durchdenken liesse; weshalb es dann darauf ankommt, wie weit der Intellekt ihn in solcher kurzen Zeit verfolgen, also wie viel Weges er in ihr zurücklegen kann. Andererseits mag, bei Manchem, die Schnellig- keit durch das längere Anhalten jener Zeit des voll- kommen einheitlichen Denkens ersetzt werden. Wahr- scheinlich macht das langsame und anhaltende Den- ken den mathematischen Kopf, die Schnelle des Den- kens das Genie: dieses ist ein Flug, jenes ein sicheres Gehen auf festem Roden, Scluitt vor Schritt. Dass man jedoch mit diesem letzteren auch in den Wissen- .76 Schäften, sobald es nicht mehr auf blosse Grössen, sondern auf das Verstehen des Wesens der Erscheinun- gen ankommt, nicht ausreicht, beweist z. B. Neutons Farbenlehre, und später BiotsGetasel über Farbenringe, welches jedoch mit der ganzen atomistischen Betrach- tungsweise des Lichts bei den Franzosen, mit ihren molecules de lumiere und überhaupt mit ihrer fixen Idee, Alles in der Natur auf bloss mechanische Wir- kungen zurückführen zu wollen, zusammenhangt. — Endlich zeigt der in Rede stehende grosse individuelle Unterschied der Intelligenzen sich vorzüglich im Grade der Klarheit des Verständnisses und demnach in der Deutlichkeit des gesammten Denkens. Dem Einen ist schon Das Verstehen, was dem Andern erst einiger- maassen Merken ist; Jener ist schon fertig und am Ziel, wo Dieser erst am Anfang ist; Jenem ist schon Das die Lösung, was diesem erst das Problem. Dies beruht auf der Qualität des Denkens und Wissens, welche bereits oben erwähnt wurde. Wie in Zimmern der Grad der Helle verschieden ist, so in den Köpfen, Diese Qualität des ganzen Denkens spürt man, sobald man nur wenige Seiten eines Schriftstellers gelesen hat. Denn da hat man sogleich mit seinem Verstände und in seinem Sinn zu verstehen gehabt: daher, ehe man noch weiss, was er Alles gedacht hat, man schon sieht, ivie er denkt, nämlich welches die formelle Be- schaffenheit, die Textur seines Denkens sei, die sich in Allem, worüber er denkt, gleich bleibt, und deren Ausdruck der Gedankengang und der Stil ist. An die- sem empfindet man sogleich den Schritt und Tritt, die Gelenkigkeit und Leichtigkeit, wohl gar die Be- flügelung seines Geistes, oder, umgekehrt, dessen Schwerfälligkeil, Steifheit, Lahmheit und bleierne Beschaffenheit. Denn wie die Sprache der Abdruck des Geistes eines Volkes, so ist der Stil der unmittel- bare Abdruck des Geistes eines Schriftstellers, die Physiognomie desselben. Man werfe das Buch weg, bei dem man merkt, dass man in eine dunklere Region geräth, als die eigene ist; es sei denn, dass man bloss Thatsachen, nicht Gedanken aus ihm zu empfangen habe. Ausserdem aber wird nur der Schriftsteller uns I 2 Schopenhauer II I 7 7 Gewinn bringen, dessen Verstehen schärfer und deut- licher ist, als das eigene, der unser Denken beschleu- nigt, nicht es hemmt, wie der stumpfe Kopf, der den Krötengang seines Denkens mitzumachen uns nöthigen will ; also jener, mit dessen Kopfe einstweilen zu den- ken, uns fühlbare Erleichterung und Förderung ge- währt, bei dem wir uns getragen fühlen, wohin wir allein nicht gelangen konnten. Goethe sagte mir ein Mal, dass wenn er eine Seite im Kant lese, ihm zu Muthe würde, als träte er in ein helles Zimmer. Die schlechten Köpfe sind es nicht bloss dadurch, dass sie schief sind und mithin falsch urtheilen ; sondern zu- nächst durch die ündcutlichkeit ihres gesammten Den- kens, als welches dem Sehen durch ein schlechtes Fernrohr, in welchem alle Umrisse undeutlich und wie verwischt erscheinen und die verschiedenen Ge- genstände in einander laufen, zu vergleichen ist. Die Forderung der Deutlichkeit der Begriffe, vor welcher der schwache Verstand solcher Köpfe zurückbebt, machen diese daher selbst nicht an ihn; sondern sie behelfen sich mit einem Helldunkel, in welchem sich zu beruhigen sie gern nach Worten greifen, zumal nach solchen, die unbestimmte, sehr abstrakte, unge- wöhnliche und schwer zu erklärende Begriffe be- zeichnen, wie z. B. Unendliches und Endliches, Sinn- liches und Uebersinnliches, die Idee des Seyns, Ver- nunft-Ideen, das Absolute, die Idee des Guten, das Göttliche, die sittliche Freiheit, Selbsterzeugungskraft, die absolute Idee, Subjekt-Objekt u. s. w. Mit der- gleichen werfen sie getrost um sich, meynen wirklich, das drücke Gedanken aus, und muthen Jedem zu, sich damit zufrieden zu stellen: denn der höchste ihnen absehbare Gipfel der Weisheit ist eben, für jede mög- liche Frage dergleichen fertige Worte in Bereitschaft zu haben. Dies unsägliche Genügen an Worten ist für die schlechten Köpfe durchaus charakteristisch: es beruht eben auf ihrer Unfähigkeit zu deutlichen Be- griffen, sobald diese über die trivialsten und einfach- sten Verhältnisse hinausgehen sollen, mithin auf der Schwäche und Trägheit ihres Intellekts, ja, auf dem geheimen Bewusstseyn dieser, welches bei Gelehrten ,78 verbunden ist mit der früh erkannten, harten Noth- wendigkeit, sich für denkende Wesen auszugeben, welcher Anforderung in allen Fällen zu begegnen, sie einen solchen Vorrath fertiger Worte geeignet halten. Wirklich belustigend muss es seyn, einen Philosophie- Professor dieses Schlages auf dem Katheder zu sehen, der bona fide einen dergleichen gedankenleeren Wort- kram vorträgt, ganz ehrlich, im Wahn, dies seien eben Gedanken, und vor ihm die Studenten, welche eben so bona fide, d. h. im selben Wahn, andächtig zuhören und nachschreiben ; während doch im Grunde weder der Eine noch die Andern über die Worte hinausgehen, vielmehr diese, nebst dem hörbaren Kratzen der Federn, das einzige Reale bei der Sache sind. Dieses eigenthümliche Genügen an Worten trägt mehr als irgend etwas bei zur Perpetuirung der Irr- thümer. Denn gestützt auf die von seinen Vorgängern überkommenen Worte und Phrasen geht jeder ge- trost an Dunkelheiten, oder Problemen vorbei: wo- durch diese sich unbeachtet, Jahrhunderte hindurch, von Buch zu Buch fortpflanzen und der denkende Kopf, zumal in der Jugend, in Zweifel geräth, ob etwan nur er unfähig sei, Das zu verstehen, oder ob hier wirklich nichts Verständliches vorliege; desglei- chen, ob für die Andern das Problem, um welches sie mit so komischer Ernsthaftigkeit alle denselben Fusspfad herumschleichen, keines sei, oder ob sie es nur nicht sehen wollen. Viele Wahrheiten bleiben bloss deshalb unentdeckt, weil Keiner Muth hat, das Problem ins Auge zu fassen und darauf los zu gehen. — Im Gegentheil hievon bewirkt die den eminenten Köpfen eigenthümliche Deutlichkeit des Denkens und Klarheit der Begriffe, dass sogar bekannte Wahrhei- ten, von ihnen vorgetragen, neues Licht, oder wenig- stens neuen Reiz gewinnen: hört oder liest man sie; so ist es, als hätte man ein schlechtes Fernrohr gegen ein gutes vertauscht. Man lese z. B, nur in Eulers Briefen an eine Prinzessin seine Darstellung der Grund- wahrheiten der Mechanik und Optik, Hierauf beruht Diderots, im Neveu de Rameau beigebrachte Bemer- kung, dass nur die vollendeten Meister fähig sind, die 13* '79 Elemente einer Wissenschaft eigentlich gut vorzutra- gen; eben weil nur sie die Sachen wirklich verstehen und niemals ihnen Worte die Stelle der Gedanken vertreten. Aber man soll wissen, dass die schlechten Köpfe die Regel, die guten die Ausnahme, die eminenten höchst selten, das Genie ein portentum ist. Wie könn- te sonst ein aus ungefähr acht hundert Millionen In- dividuen bestehendes Menschengeschlecht, nach sechs Jahrtausenden, noch so Vieles zu entdecken, zu er- finden, zu erdenken und zu sagen übrig gelassen ha- ben? Auf Erhaltung des Individuums allein ist der Intellekt berechnet und in der Regel selbst hiezu nur nothdürftig ausreichend. Aber weislich ist die Natur mit Ertheilung eines grössern Maasses sehr karg ge- wesen : denn der beschränkte Kopf kann die wenigen und einfachen Verhältnisse, welche im Bereich seiner engen Wirkungssphäre liegen, mit viel grösserer Leich- tigkeit übersehen und die Hebel derselben handhaben, als der eminente, der eine ungleich grössere und rei- chere Sphäre überblickt und mit langen Hebeln agirt, es könnte. So sieht das Insekt auf seinen Stängeln und Blättchen Alles mit minutiösester Genauigkeit und bes- ser, als wir; wird aber nicht den Menschen gewahr, der drei Schritte davon steht. Hierauf beruht die Schlauheit der Dummen und das Paradoxon: II y a un mvstere dans Tesprit des gens qui n'en ont pas. Für das praktische Leben ist das Genie so brauch- bar, wie ein Stern-Teleskop im Theater. — Sonach ist, in Hinsicht auf den Intellekt, die Natur höchst aristokratisch. Die Unterschiede, die sie hier einge- setzt hat, sind grösser als die, welche Geburt, Rang, Reichthum, oder Kastenunterschied in irgend einem Lande feststellen, aber wie in andern Aristokratien, so auch in der ihrigen, kommen viele tausend Ple- bejer auf einen Edeln, viele Millionen auf einen Für- sten, und ist der grosse Haufen blosser Pöbel, mob, rabble, la Canaille. Dabei ist nun freilich zwischen der Rangliste der Natur und der der Konvention ein schrei- ender Kontrast, dessen Ausgleichung nur in einem gol- denen Zeitalter zu hoffen stände. Inzwischen haben iHo die auf der einen, und die auf der andern Rangliste sehr hoch Stehenden das Gemeinsame, dass sie mei- stens in vornehmer Isolation leben, aufweiche Byron hindeutet, wenn er sagt: To feel me in the solitude of kings, Without the power that makes them bear a crown*). (Proph. of Dante. C. i .") Denn der Intellekt ist ein differenzirendes, mithin trennendes Princip: seine verschiedenen Abstufungen geben, noch viel mehr als die der blossen Bildung, Jedem andere Begriffe, in Folge deren gewissermaassen Jeder in einer andern Welt lebt, in welcher er nur dem Gleichgestellten unmittelbar begegnet, den Ueb- rigen aber bloss aus der Ferne zurufen und sich ihnen verständlich zu machen suchen kann. Grosse unter- schiede im Grade und dabei in der Ausbildung des Verstandes öfPnen zwischen Mensch und Mensch eine weite Kluft, über welche nur die Herzensgüte setzen kann, als welche imGegentheil das unificirende Princip ist, welches jeden Andern mit dem eigenen Selbst iden- tificirt. Jedoch bleibt die Verbindung eine moralische: sie kann keine intellektuelle werden. Sogar bei ziemlich gleichem Grade der Bildung gleicht die Konversation zwischen einem grossen Geiste und einem gewöhn- lichen Kopfe der gemeinschaftlichen Reise eines Man- nes, der auf einem muthigen Rosse sitzt, mit einem Fussgänger. Beiden wird sie bald höchst lästig und auf die Länge unmöglich. Auf eine kurze Strecke kann zwar der Reiter absitzen, um mit dem Andern zu ge- hen; wiewohl auch dann ihm die Ungeduld seines Pferdes viel zu schaffen machen wird. — Das Publikum aber könnte durch nichts so sehr gefördert werden, als durch die Erkenntniss jener m- tellehtuellen Aristokratie der Natur. Vermöge einer solchen würde es begreifen, dass zwar, wo es sich um Thatsachen handelt, also etwan aus Experimenten, Reisen, Codices, Geschichtsbüchern und Chroniken *) Die Einsamkeit der Könige zu fühlen. Jedoch der Macht entbehren, welche sie Die Krone tragen iässt. [8[ referirt werden soll, der normale Kopf ausreicht; hin- gegen wo es sich bloss um Gedanken handelt, zumal um solche, /u welchen der Stoff, die Data, Jedem vor- liegen, wo es also eigentlich lUir darauf ankommt, den Andern vorziidenketi, entschiedene Ueberlegenheit, an- geborene Eminenz, welche nur die Natur und höchst selten verleiht, unerlasslich erforderlich ist, und Keiner Gehör verdient, der nicht sogleich Proben derselben ablegt. Könnte dem Publiko die selbsteigene Einsicht hierin verliehen werden; so würde es nicht mehr die ihm zu seiner Bildung kärjflich zugemessene Zeit ver- geuden an den Produktionen gewöhnlicher Köpfe, also an den zahllosen Stümpereien in Poesie und Phi- losophie, wie sie jeder Tag ausl^rütet; es würde nicht mehr, im kindischen Wahn, dass Bücher gleich Eiern, frisch genossen werden müssen, stets nach dem Neue- sten greifen; sondern würde sich an die Leistungen der wenigen Auserlesenen und Berufenen aller Zeiten und Völker halten, würde suchen sie kennen und ver- stehen zu lernen, und könnte so allmälig zu achter Bildung gelangen. Dann würden auch bald jene Tau- sende unberufener Produktionen ausbleiben, die wie Unkraut dem guten Weizen das Aufkommen er- schweren. KAPITKL 16*). l EBER DEN PRAKTISCHEN GEBRAUCH DER VERNUNFT UND DEN STOICISMUS. IM siebenten Kapitel habe ich gezeigt, dass im Theo- retischen das Ausgehen von Begriffen nur zu mittel- mässigen Leistungen hinreicht, die vortrefflichen hin- gegen das vSchöpfen aus der Anschauung selbst, als (1er Urquelle aller Erkenntniss, erfordern. Im Prak- tischen verhalt es sich nun aber umgekehrt: hier ist *) Dieses Kapitel bezieht sicli auf §. 16. des eisten Batides. [S. K..') (1. A.] 182 das Bestimmtwerden durch das Anschauliche die Weise des Thiers, des Menschen aber unwürdig, als welcher Begriffe hat, sein Handeln zu leiten, imd dadurch cniancipirt ist von der Macht der anschaulich vorlie- genden Gegenwart, welcher das Thier unbedingt hin- gegeben ist. In dem Maasse, wie der Mensch dieses Vorrecht geltend macht, ist sein Handeln vernünftig zu nennen, und nur in diesem. Sinne kann von prak- tischer Vernunft die Rede seyn, nicht im Kantischen, dessen UnStatthaftigkeit ich in der Preisschrift über das Fundament der Moral ausführlich dargethan habe. Es ist aber nicht leicht, sich durch Begr-iße allein bestimmen zu lassen: auch auf das stärkste Gemüth dringt die vorliegende nächste Aussenwelt, mit ihrer anschaulichen Realität, gewaltsam ein. Aber eben in der Besiegung dieses Eindrucks, in der Vernichtung seines Gaukelspiels, zeigt der Menschengeist seine Würde und Grösse. So, wenn die Reizungen zu Lust und Genuss ihn ungerührt lassen, oder das Drohen und Wüthen ergrimmter Feinde ihn nicht erschüttert, das Flehen irrender Freunde seinen Entschluss nicht wanken macht, die Truggestalten mit denen verab- redete Intriguen ihn umstellen, ihn unbewegt lassen, der Hohn der Thoren und des Pöbels ihn nicht aus der Fassung bringt, noch irre macht an seinem eigenen Werth: dann scheint er unter dem Einfluss einer ihm allein sichtbaren Geisterwelt (und das ist die der Be- griffe) zu stehen, vor welcher jene Allen offen dalie- gende, anschauliche Gegenwart wie ein Phantom zer- fliesst. — Was hingegen der Aussenwelt und sicht- baren Realität ihre grosse Gewalt über das Gemüth ertheilt, ist die Nähe und Unmittelbarkeit derselben. Wie die Magnetnadel, welche durch die vereinte Wir- kung weitvertheilter, die ganze Erde umfassender Na- turkräfte in ihrer Richtung erhalten wird, dennoch durch ein kleines Stückchen Eisen, wenn es ihr nur recht nahe kommt, perturbirt und in heftige Schwan- kungen versetzt werden kann; so kann bisweilen selbst ein starker Geist durch geringfügige Begebenheiten und Menschen, wenn sie nur in grosser Nähe auf ihn einwirken, aus der Fassung gebracht und perturbirt i83 werden, und den überleglesten Entschluss kann ein unbedeutendes, aber unmittelbar gegenwärtiges Ge- genmotiv in momentanes Wanken versetzen. Denn der relative EinHuss der Motive steht unter einem Ge- setz, welches dem, nach welchem die Gewichte auf den Waagebalken wirken, gerade entgegengesetzt ist, und in Folge dessen ein sehr kleines, aber sehr nahe liegendes Motiv ein an sich viel stärkeres, jedoch aus der Ferne wirkendes, überwiegen kann. Die Beschaf- fenheit des Gemüthes aber, vermöge deren es diesem Gesetze gemäss sich bestimmen lässt und nicht, kraft der wirklich praktischen Vernunft, sich ihm entzieht, ist es, was die Alten durch animi impotentia bezeich- neten, welches eigentlich ratio regendae voluntatis im- potens bedeutet. ieAer AJfekt (animi perturbatio) ent- steht eben dadurch, dass eine auf unsern Willen wir- kende Vorstellung uns so übermässig nahe tritt, dass sie uns alles Uebrige verdeckt, und wir nichts mehr als sie sehen können, wodurch wir, iür den Augen- blick, unfähig werden, das Anderweitige zu berück- sichtigen. Ein gutes Mittel dagegen wäre, dass man sich dahin brächte, die Gegenwart unter der Einbil- dung anzusehen, sie sei Vergangenheit, mithin seiner Apperception den Briefstil der Römer angewöhnte. Vermögen wir doch sehr wohl, umgekehrt, das längst Vergangene so lebhaft als gegenwärtig anzusehen, dass alte, längst schlafende Affekte dadurch wieder zu vollem Toben erwachen. — Imgleichen Würde Niemand sich über einen Unfall, eine Widerwärtig- keit, enti'üsten und aus der Fassung gerathen, wenn die Vernunft ihm stets gegenwärtig erhielte, was ei- gentlich der Mensch ist: das grossen und kleinen Un- fällen, ohne Zahl, täglich und stündlich Preis gegebene, hülfsbedürftigste Wesen, ro osiXo-atov ^a>ov, welches daher in beständiger Sorge und Furcht zu leben hat. Ilav £0X1 avbpmTTO? ouix'f opa (homo totus est calamitas) sagt schon Herodot. Die Anwendung der Vernunft auf das Praktische leistet zunächst dies, dass sie das Einseitige und Zer- stückelte der bloss anschauenden Erkenntniss wieder zusammensetzt und die Gegensätze, welche diese dar- i84 bietet, als Korrektionen zu einander gebrauclit, wo- durch das objektiv richtige Resultat gewonnen wird. Z. B. fassen wir die schlechte Handlung eines Men- schen ins Auge, so werden wir ihn verdammen; hin- gegen, bloss die Noth, die ihn dazu bewogen, betrach- tend, ihn bemitleiden: die Vernunft, mittelst ihrer Begriffe, erwägt Beides luid führt zu dem Resultat, dass er durch angemessene Strafe gebändigt, einge- schränkt, gelenkt werden müsse. Ich erinnere hier nochmals an Seneka's Ausspruch: Si vis tibi omnia subjicere, te subjice rationi. Weil nun aber, wie im vierten Buche dargethan wird, das Leiden positiver, der Genuss negativer Natur ist; so wird Der, welcher die abstrakte oder Vernunft-Ei- kenntniss zur Richtschnur seines Thuns nimmt und demnach dessen Folgen und die Zukunft allezeit be- denkt, das Sustine et abstine sehr häufig zu üben haben, indem er, um die möglichste Schmerzlosigkeit des Lebens zu erlangen, die lebhaften Freuden und Ge- nüsse meistens zum Opfer bringt eingedenk des Aristo- telischen 6 (ppovt[xo<; To aXuTCOv oicuxei, ou to t^ou (quod dolore vacat, non quod suave est, persequitur vir prii- dens). Daher borgt bei ihm stets die Zukunft von der Gegenwart; statt dass beim leichtsinnigen Thoren die Gegenwart von der Zukunft borgt, welche, dadurch verarmt, nachher bankrott wird. Bei Jenem muss frei- lich die Vernunft meistens die Rolle eines grämlichen Mentors spielen und unablässig auf Entsagungen an- tragen, ohne dafür etwas Anderes versprechen zu kön- nen, als eine ziemlich schmerzlose Existenz. Dies be- ruht darauf, dass die Vernunft, mittelst ihrer Begriffe, das Ganze des Lebens überblickt, dessen Ergebniss, im berechenbar glücklichsten Fall, kein anderes seyn kann, als das besagte. Dieses Streben nach einer schmerzlosen Existenz, so weit sie, durch Anwendung und Befolgung ver- nünftiger Ueberlegung und erlangter Erkenntniss der wahren Beschaffenheit des Lebens, möglich seyn möch- te, hat, als es mit strenger Konsequenz und bis zum äussersten Extrem durchgeführt wurde, den Kynismus erzeugt, aus welchem nachher der Stoicismus hervor- i85 {jion^j; wie ich Dies zu festerer Be{',ründun{j dei- unser erstes Hnch besehliessenden Darstellun{j, hier mit We- ni{jem ausführen will. Alle Moralsy.steine des Alterthuins, das Platonische allein ausjjenomnien, waren Anleitunjjen zu einem glücks;Ui[;en Lehen: demnach hat, hei ihnen, die Tu- pfend ihren Zweck durchaus nicht jenseit des Todes, sondern in dieser Welt. Denn sie ist ihnen ehen nur der rechte We(; zum wahrhaft glücklichen Lehen; deshalh erwählt sie der Weise. Daher ehen stammen die, besonders von Cicero luis aufbehaltenen, weit- läufigen Dehatten und scharfen, stets erneuernden Un- tersuchungen, oh auch wirklich die Tugend, ganz allein und für sich, zum glücklichen Lehen hinreichend sei; oder ob es dazu noch irgend eines Aeusserlichen be- dürfe; ob der Tugendhafte und Weise auch auf der Folter und dem Rade, oder im Stier des Phalaris, glücklich sei; oder ob es so weit doch nicht gehe. Denn freilich wäre dies der Probirstein einer Ethik dieser Art: beglücken müsste ihre Ausübung immittelbar und unbedingt. Vermag sie das nicht; so leistet sie nicht, was sie soll, und ist zu verwerfen. So richtig, wie dem christlichen Standpunkt gemäss ist es mit- hin, dass Augustinus seiner Darlegung der Moral- systeme der Alten (De civ. Dei, Lib. XIX, c. i) die Erklärung voranschickt: Exponenda sunt nobis ar- gumenta mortalium, quibus sibi ipsi beatitudinem fa- cere in hujus vilae infelicitate moliti sunt; ut ab eorum rebus vanis spes noslra quid differat clarescat. De Hni- bus bonorum et malorum multa inter se philosophi disputarunt; fpxam (juaestionem maxima intentione versautes, invenire conati sunt, quid efficiat hominem beatum: illud enim est finis bonorum. Ich will den angegebenen eudämonistischen Zweck der antiken Ethik durch einige ausdrückliche Aussprüche der Al- ten ausser Zweifel setzen. Aristoteles sagt in der Eth. magna, I, t\: 'H £uoat[j.ovia sv xcp so Ct[]v eoxi, xo oe eu CXiV ev T({> xaia xac, otpSTa? C^fjv. (Felicitas in bene viven- do posita est: verum bene vivere est in eo positum, ut secundum virtutem vivamus), womit zu vergleichen Eth. Nicom., 1, .'>. - — Cic. Tusc, V, i : Nam, quum t8(i ea causa impulerit eos, qui priini se ad pliilosophiae Stildia contulerunt, ut, Omnibus rebus posthabitis, to- tos se in optimo vitae statu exquirendo collocarent; profecto spe beate vivendi tantani in eo studio curam operamque posuerunt. — Nach Plutarch (De repugn. stoic, c. i8) hat Chrysippos gesagt: To xaxa xaxiav Ciflv TU) xaxooaiuovcüs C^flv tauTOv saxi. (Vitiose vivere ideni est, quod vivere infeUciter.) — Ibid. c. 26: 'H cppovrj- oic ou)( £~£pov cOTt -TjC £u5ai[jL0vtas xotO' saoTo, oKk' eo- oai[i.ovia. (Prudentia nihil difFert a feiicitate, estque ipsa adeo fehcitas.) — Stob. Ed., Lib. II, c. 7: Ts>.o; he cpaaiv sivai ~o euoaijxoveiv, ou svexa icavTa TtpaiTSTat. (Finem esse dicunt leHcitatem, cujus causa fiunt omnia.) — EuoaiijLOViav auvcovojAStv xtp tsXsi Xs^ouai. Fineni bo- norum et felicitatem synonyma esse dicunt.) — Arrian. diss. Epict., I, f: 'H apsr/] rauTTjv e^si ttjv siraYYsXiav- suoaiijLOviav TronTjcai. (Virtus proHtetur, se felicitatem praestare.) — Sen. ep. 90: Ceterum (sapientia) ad bea- tum statum tendit, illo ducit, illo vias aperit. — Id. ep. 108. Illud admoneo, auditionem philosophorum, lectionemque, ad proposituui beatae vitae trahendum. Diesen Zweck des gkickhchsten Lebens also setzte sich ebenfalls die Ethik der Kyiiiher; wie der Kaiser Julian ausdrücklich bezeugt: Orat. VI: Tt]«; Kuvix7]i; 8s tpiXooQcpia? axo~o<; [i£v ea~i xai teXo?, töoTrep ot) xat iraoTji; cpiXooocpias, TO euoaifjLOveiv to 8s £u8aijj,ovsiv ev tü> C^jv xaTa cpuoiv, aXXa [xt] Tipo? Ta? tcov ttoXXoiv oo^a;. (Gynicae philosophiae, ut etiam omnis pliilosophiae, scopus et finis est feliciter vivere: felicitas vitae autem in eo posita est, ut secundum naturam vivatur, nee vero secundum opiniones inultitudinis.) Nur aber schlugen die Kyiiiker zu diesem Ziel einen ganz besondern Weg ein, einen dem gewöhnlichen gerade entgegengesetz- ten: den der möglichst weitgetriebenen Entbehrung. Sie gingen nämlich von der Einsicht aus, dass die Be- wegungen, in welche den Willen die ihn reizenden und anregenden Objekte versetzen, und das mühe- volle, meistens vereitelte Streben diese zu erlangen, oder, wenn sie erlangt sind, die Furcht sie zu ver- lieren, endlich gar der Verlust selbst, viel grössere Schmerzen erzeugen, als die Entbehrung aller jener 187 Objekte irgend vermag. Darum wählten sie, um zum schmerzlosesten Leben zu gelangen, den Weg der grösstmöglichsten Entbehrung, und flohen alle Ge- nüsse, als Fallstricke, durch die man nachmals dem Schmerz überliefert würde. Danach aber konnten sie dem Glück und seinen Launen kühn Trotz bieten. Dies ist der Geist des Kynismus., deutlich spricht ihn Seneka aus, im achten Kapitel De tranquillitate ani- mi: cogitandum est, quanto levior dolor sit, non ha- bere, (juam perdere: et intelligemus, paupertati eo minorem tormentorum, ([uo minorem damnorum esse materiam. Sodann: Tolerabilius est, faciliusque, non acquirere, quam amittere. — — - — Diogenes effecit, ne quid sibi eripi posset, — — — qui se fortuitis Omnibus exuit. — — — Videtur mihi dixisse: age tuum negotium, fortuna: nihil apud Diogenem jam tuum est. Zu diesem letztern Satz ist die Parallelstelle die Anführung des Stohäos (Ecl. II, 7): Aio^evt]? £<p7] vojxi^etv öpav ttjv Tu)(TjV svoptuoav aoxov xai Xs^oucav TouTov 0' ou ouva[i.at ßaXeeiv xuva XuoorjTrjpa. (Diogenes credere se dixit, videre Fortunam, ipsum intuentem, ac dicentem: ast hunc non potui tetigisse canem ra- biosum). Den selben Geist des Kynismus bezeugt auch die Grabschrift des Diogenes, bei Suidas, voce Odtaxo?, und bei Diogenes Laertius, VI, 2: Frjpaoxsi [xev yakxoc, utto j^povou' aXXa ao^j odti Kuoo? ö Tzac, aiojv, Aio^Evs?, xa&eXsi* Mouvo? ETTSi ßioxr^; aoxapxea oo^av £0£i;a? OvtjTok;, xai C«>^C oijxov eXacppoxatTjV. (Aera quidcm absumit tcmpus, scd tempore numquain Inteiitiira tua est {jloria, Diogenes: Quandoquidem ad vitam niiseris mortalibus aequam Monstrata est facilis., te duce, et ampla via.) Der Grundgedanke des Kynismus ist demnach, dass das Leben in seiner einfachsten und nacktesten Ge- stalt, mit den ihm von der Natur beigegebenen Be- schwerden, das ertraglichste, mithin zu erwählen sei; weil jede Hülfe, Bequemlichkeit, Ergölzlichkeit und Genuss, dadurch man es angenehmer machen 188 möchte, nur neue und grössere Plagen herbeizöge, als die demselben ursprünglich eigenen. Daher ist als der Kernausdruck seiner Lehre der Satz anzusehen: Aio- Ysvrji; eßocf TroX^axi? Xsytov, tov tcov avdpcoTCtov ßiov paBtov liTzo TCOV decüv 8eooo&ai, airoxsxpucpOai os aurov Ctttouvtcuv jxeXnrrjxxa xai [jLupa xat xa irapaiuXirjota. (Diogenes clama- bat saepius,hominum vitam facilem a diis dari, verum occultari illam quaerentibus mellita cibaria, unguenta, et his similia. — Diog. Laert., VI, 2.) Ferner auch: Aeov, avn xcov a)(p7]OTcüV ttovcov, too? xata cpuoiv sXojxsvou^, C'ißv £u8at[xov(o?" irapa xtjv avoiav xaxooatjxovouai. TOV auTov j^apaxTTjpa tou ßtou Xsytov Sis^otYStv, ovTrsp xat, 'HpaxXr^?, [jL7]0£v eX£u&7]pta<;7Tpoxpivu)v (Quum igitur, re- pudiatis inutilibus laboribus, naturales insequi, ac vi- vere beate debeamus,per summam dementiam infelices sumus. eandem vitae formam, quam Hercu- les, se vivere affirmans, nihil libertati praeferens. — Ibid.) Demnach hatten die alten, ächten Kyniker, Antis- thenes, Diogenes, Krates und ihre Jünger, ein für alle Mal jedem Besitz,allen Bequemlichkeiten und Genüssen entsagt, um der Mühe und Sorge, der Abhängigkeit und den Schmerzen, die unvermeidlich damit ver- knüpft sind und nicht dadurch aufgewogen werden, für immer zu entgehen. Durch nothdürftige Befriedi- gung der dringendesten Bedürfnisse und Entbehrung alles Ueberflüssigen gedachten sie leichtesten Kaufes davonzukommen. Sonach begnügten sie sich mit Dem, was in Athen und Korinth so ziemlich umsonst zu haben war, wie Lupinen, Wasser, ein schlechtes Tri- bonion, Schnappsack und Knittel, bettelten gelegent- lich, so weit es hiezu nöthig war, arbeiteten aber nicht. Sie nahmen jedoch durchaus nichts an, was über obige Bedürfnisse hinausging. Unabhängigkeit, im weitesten Sinn, war ihre Absicht. Ihre Zeit brachten sie zu mit Ruhen, Umhergehen, Reden mit allen Menschen, viel Spotten, Lachen und Scherzen: ihr Charakter war Sorglosigkeit und grosse Heiterkeit. Da sie nun, bei dieser Lebensweise, kein eigenes Trachten, keine Ab- sichten und Zwecke zu verfolgen hatten, also über das menschliche Treiben selbst hinausgehoben waren, da- bei auch stets voller Müsse genossen, eigneten sie, als 189 Männer von erjjrobter Oeistesstarke, sich tretf lieh, die Berather und Erinahner der Uehrigen zu werden. Da- her ^HQty/pulcjus (Florid., IV) : Crates, ut lar faniiHaris apud homines suae aetatis cuhus est. INulIa domus ei unquam clausa erat : nee erat patrislämilias tarn abseon- ditumseeretuni,<juineotenipestiveCrates interveniret, litiurn oniniuui et jurgiorum inter propinquos discep- tator et arbiter. Auch hierin also, wie in so vielem An- dern, zeigen sie viele Aehnliehkeit mit den Bettelmön- ehen der neuen Zeit, d. h. mit den besseren und achten unter diesen, deren Ideal man sich an dem Kapuziner Christoph, in Mnnzonis berühmtem Roman, vergegen- wärtijjen mag. Jedoch liegt diese xVehnlichkeit nur in den Wirkungen, nicht in der Ursache. Sie treffen im Resultat zusammen; aber der Grundgedanke Beider ist ganz verschieden : bei den Mönchen ist er, wie bei den ihnen verwandten Saniassis, ein über das Leben hinausgestecktes Ziel; bei den Kynikern aber nur die Ueberzeugung, dass es leichter sei, seine Wünsche und Bedürfnisse auf" das Minimum herabzusetzen, als in ihrer Befriedigung das Maximum zu erreichen, welches sogar unmöglich ist, da mit der Befriedigung die Wün- sche und Bedürfnisse ins Unendliche wachsen; daher sie, um das Ziel aller antiken Ethik, möglichste Glück- säligkeit in diesem Leben, zu erreichen, den Weg der Entsagung einschlugen, als den kürzesten und leich- testen öOsv xai Tov Kuviajiov stprjxaaiv auviojxov ei:' apeTTjv öoov (unde et Cynismum dixere compendiosam ad vir- tutem viam. Diog. Laert., VI, 9). — Die Grundver- schiedenheit des Geistes des Kynismus von dem der Askese tritt augenfällig hervor an der Demuth, als welche der Askese wesentlich, dem Kynismus aber so fremd ist, dass er, im Gegentheil, den Stolz und die Verachtimg aller Uebrigen im Schilde führt: Sapiens utio minor est Jove, dives, Liber, lionoratus, pulcher, rex denique regum. Hör. Hingegen trifft, dem Geiste der Sache nach, die Le- bensansicht der Kyniker mit der des /. J. Rousseau, wie er sie im Discours sur Torigine de Tinegalite darlegt, 190 zusammen ; da auch er uns zum rohen Naturzustande zurückführen möchte und das Herabsetzen unserer Bedürfnisse auf ihr Minimum als den sichersten Weg zur Glücksähgkeit betrachtet. — Uebrigens waren die Kyniker ausschhessHch praktische Philosophen: wenigstens ist mir keine Nachricht von ihrer theore- tischen Philosophie bekannt. Aus ihnen gingen nun die Stoiker dadurch hervor, dass sie das Praktische in ein Theoretisches verwan- delten. Sie meinten, das wirkliche Entbehren alles ir- gend Entbehrlichen sei nicht erfordert, sondern es reiche hin, dass man Besitz inid Genuss beständig als entbehrlich und als in der Hand des Zufalls stehend betrachte: da würde denn die wirkliche Entbehrung, wenn sie etwan eintrete, weder unerwartet seyn, noch schwer fallen. Man könne immerhin Alles haben und geniessen; nur müsse man die Ueberzeugung von der Werthlosigkeit und Entbehrlichkeit solcher Güter ei- nerseits, und von ihrer Unsicherheit und Hinfälligkeit andererseits stets gegenwärtig erhalten, mithin sie alle ganz gering schätzen, und allezeit bereit seyn, sie auf- zugeben. Ja, wer, um nicht durch jene Dinge bewegt zu werden, sie wirklich entbehren müsse, zeige dadurch an, dass er, in seinem Herzen, sie für wahre Güter halte, die man, um nicht danach lüstern zu werden, ganz aus seinem Gesichtskreis entfernen müsse. Der Weise hingegen erkenne, dass sie gar keine Güter seien, vielmehr ganz gleichgültige Dinge, aöiacpopa, allenfalls irporjYixsva. Daher wird er sie, wenn sie sich darbieten, annehmen, ist jedoch stets bereit, sie mit grösster Gleichgültigkeit wieder fahren zu lassen, wenn der Zufall, dem sie augehören, sie zurückfordert; weil sie Tcüv oux £cp' Tjjxiv sind. In diesem Sinne sagt Epiktef, Kap. 7, der Weise werde, gleich Einem, der vom Schifte ans Land gestiegen u. s. w., sich auch ein Weibchen, oder Knäbchen gefallen lassen, dabei jedoch stets bereit seyn, sobald der Schifler ruft, sie wieder gehen zu lassen. — So vervollkommneten die Stoiker die Theorie des Gleichmuths und der Unabhängigkeit, auf Kosten der Praxis, indem sie Alles auf einen mentalen Process zurückführten und durch Argumente, wie sie das erste Kapitel des Epiktet darbietet, sich alle Bequemlich- keiten des Lebens heransophisticirten. Sie hatten aber dabei ausser Acht gelassen, dass alles Gewohnte zum Bedürfniss wird und daher nur mit Schmerz entbehrt werden kann, dass der Wille nicht mit sich spielen lässt, nicht {jeniessen kann, ohne die Genüsse zu lieben ; dass ein Hund nicht {jleich{jiiltig bleibt, indem man ihm ein Stück Braten durchs Maul zieht, und ein Weiser, wenn er hunj^rig^ ist, auch nicht; und dass es zwischen Bejjehren und Entsaj^^en kein Mittleres {jiebt. Sie aber {jlaubten sich dadurch mit ihren Grund- sätzen abzufinden, dass sie, an einer luxuriösen Römi- schen Tafel sitzend, kein Gericht ungekostet Hessen, jedoch dabei versicherten, das waren sammt und son- ders blosse 7tpoTf)Y}J.£va, keine ayaOa; oder. Deutsch zu reden, dass sie assen, tranken und sich einen (juten Tag machten, dabei aber dem lieben Gott keinen Dank dafür wussten, vielmehr fastidiöse Gesichter schnitten und nur immer brav versicherten, sie machten sich den Teufel etwas aus der ganzen Fresserei. Dies war <las Auskunftsmittel der Stoiker: sie waren demnach blosse Maulhelden, und zu den Kyiiikern verhalten sie sich ungefähr, wie wohlgemästete Benediktiner und Augustiner zu Franziskanern und Kapuzinern. Je mehr sie nun die Praxis vernachlässigten, desto feiner spitzten sie die Theorie zu. Der am Schlüsse unsers ersten Bu- ches gegebenen Auseinandersetzung derselben will ich hier noch einige einzelne Belege und Ergänzungen bei- fügen. Wenn wir in den uns hinterbliebenen Schriften der Stoiker, die alle unsystematisch abgefasst sind, nach dem letzten Grunde jenes unsunablässigzugemutheten, unerschütterlichen Gleichmuthes forschen; so finden wir keinen andern, als die Erkenntniss der gänzlichen Unabhängigkeit des Weltlaufs von unserm Willen und folglich der Unvermeidlichkeit der uns treffenden Uebel. Haben wir nach einer richtigen Einsicht hierin unsere Ansprüche regnlirt; so ist Trauern, Jubeln, Fürchten vmd Hoffen eine Thorheit, deren wir nicht mehr fähig sind. Dabei wird, besonders in den Kom- mentarien des Arrians, die Subreption begangen, dass 19a Alles was oux ecp' :^|j.tv ist (d. h. nicht von uns abhängt), sofort auch ou Trpoc ri[ia<; wäre (d. h. uns nichts an- gienge). Doch bleibt wahr, dass alle Güter des Lebens in der Macht des Zufalls stehen, mithin sobald er, diese Macht übend, sie uns entreisst, wir unglücklich sind, wenn wir unser Glück darin gesetzt haben. Die- sem unwürdigen Schicksal soll uns der richtige Ge- brauch der Vernunft entziehen, vermöge dessen wir allejeneGüterniealsdie unserigen betrachten, sondern nur als auf unbestimmte Zeit uns geliehen: nur so können wir sie eigentlich nie verlieren. Daher sagt Seneka (Ep. 98): Si, quid humanarum reruni varietas possit, cogitaverit, ante quam senserit, und Diogenes Laertius (VII, i. 87): loov 8s sotito 7.0.x apsxTjv Ctjv tw xax' £[x7reipiav tcdv cpuaet oufxßaivovxcüv ^ip. (Secundum virtutem vivere idem est, quod secundum experientiam eorum, quae secundum naturam accidunt, vivere.) Hieher gehört besonders die Stelle in Annans Epik- tetäischen Abhandlungen, B. III, Kap. 24, 84 — 89; und speciell, als Beleg des §. 16 des ersten Bandes*) in dieser Hinsicht von mir Gesagten, die Stelle: Touxo ■yap ecxi xo aixiov xoi<; avöpu)7roic Tcavxcov xcdv xaxcuv, xo xa? 7rpoX7](|i£i<; xa? xotva«; [jltj ouvao&ai ecpap[j,oC£iv xoi? SKt, }iepou<;, ibid. IV, 1.42. (Haec enim causa est hominibus omnium malorum, quod anticipationes generales rebus singularibus accommodare non possunt.) Desgleichen die Stelle im Antoninus (IV, 29): Et ^svo? xoajjiou 6 [jlt] fva)piCo)v xa £v auxcp ovxa, ou)( tjxxov ^£vo? xai 6 fxr] yv^pi^tov xa YtYvojjLsva d. h. : „Wenn Der ein Fremdling in der W^elt ist, welcher nicht weiss, was es darin giebt; so ist es nicht weniger Der, welcher nicht weiss, wie es darin hergeht." Auch Seneka's elftes Kapitel De tran- quillitate animi ist ein vollkommener Beleg dieser Ansicht. Die Meinung der Stoiker geht im Ganzen da- hin, dass wenn der Mensch dem Gaukelspiel des Glückes eine Weile zugesehen hat und nun seine Vernunft ge- braucht, er sowohl den schnellen Wechsel der Würfel, als die innere Werthlosigkeit der Rechenpfennige er- kennen und daher fortan unbewegt bleiben müsse, üeberhaupt lässt die Stoische Ansicht sich auch so *) S. io5 d. A. 1 3 Schopenhauer II ^9 ausdrücken: Unser Leiden entspringt allemal aus dem Missverhältniss zwischen unseren Wünschen und dem Weltlauf. Daher muss Eines dieser Beiden {geändert und dem Andern angepasst werden. Da nun der Lauf der Dinge nicht in unserer Macht steht (oux ecp' ifjfxiv); so müssen wir unser Wollen und Wünschen dem Lauf der Dinge gemäss einrichten: denn der Wille allein ist ecp' rjfjLiv. Dieses Anpassen des Wollens zum Laufe der Äussenwelt, also zur Natur der Dinge, wird sehr oft unter dem vieldeutigen xaia cpuaiv C,j^f verstanden. Man sehe Arriani Diss., II, 17, 21, 22. Ferner bezeich- net diese Ansicht Seneka (Ep. 119), indem er sagt: Nihil interest, utrum non desideres, an habeas. Summa rei in utroque est eadem : non torqueberis. Auch Cicero (Tusc, IV, 26), durch die W^orte: Solum habere velle, summa dementia est. Desgleichen Arrian (IV, i, 17 5): Oo "fap sxTrXvjpcüoet ttuv £Triöu[jLou|jL£vajv sXeuOspia Trapa- oxsuaCsTast, aXXa avaoxeuiQ ttj? sm^ujxia?. (Non enim explendis desideriis libertas comparatur, sed tollenda cupiditate.) Als Belege dessen, was ich am angeführten Orte über das 6 1x0X070 ufjisvwrji; ^v der Stoiker gesagt habe, kann man die in der Historia philosophiae Graeco- Romanae von Ritter und PreUer^ §. 898, zusammen- gestellten Anführungen betrachten; desgleichen den Ausspruch des Seneka (Ep. 3i und nochmals Ep. 74): Perfecta virtus est aequalitas et tenor vitae per omnia consonans sibi. Den Geist der Stoa überhaupt bezeich- net deutlich diese Stelle des Seneka (Ep. 92): Quid est beata vita? Securitas et perpetua tranquillitas. Hanc dabit animi magnitudo, dabit constantia bene judicati tenax. Ein zusammenhängendes Studium der Stoiker wird Jeden überzeugen,dass derZweck ihrer Ethik, eben wieder des Kynistniis, aus welchem sie entsprungen, durchaus kein anderer ist,als ein möglichst schmerzloses und dadurch möglichst glückliches Leben; woraus folgt,dassdieStoische Moral nur eine besondere Art des Eudf/nwnismus ist. Sie hat nicht, wie die Indische, die Christliche, selbst die Platonische Ethik, eine meta- physische Tendenz, einen transscendenten Zweck, sondern einen völlig immanenten, in diesem Leben «94 erreichbaren: die Unerschütterlichkeit (arapa^ia) und ungetrübte Glücksähgkeit des Weisen, den nichts an- fechten kann. Doch ist nicht zu leugnen, dass die späteren Stoiker, namentlich Arrian, bisweilen diesen Zweck aus den Augen verlieren und eine wirklich asketische Tendenz verrathen, welches dem damals schon sich verbreitenden Christlichen und überhaupt orientalischen Geiste zuzuschreiben ist. — Wenn wir das Ziel des Stoicismus, jene atapa^ia, in der Nähe und ernstlich betrachten; so finden wir in ihr eine blosse Abhärtung und Unempfindlichkeit gegen die Streiche des Schicksals, dadurch erlangt, dass man die Kürze des Lebens, die Leerheit der Genüsse, den ünbestand des Glücks sich stets gegenwärtig erhält, auch einge- sehen hat, dass zwischen Glück und Unglück der Unterschied sehr viel kleiner ist, als unsere Anticipa- tion Beider ihn uns vorzuspiegeln pflegt. Dies ist aber noch kein glücklicher Zustand, sondern nur das ge- lassene Ertragen der Leiden, die man als unvermeid- lich vorhergesehen hat. Doch liegt Geistesgrösse und Würde darin, dass man schweigend und gelassen das Unvermeidliche trägt, in melancholischer Ruhe, sich gleich bleibend, während Andere vom Jubel zur Ver- zweiflung und von dieser zu jenem übergehen. — Man kann demnach den Stoicismus auch auffassen als eine geistige Diätetik, welcher gemäss, wie man den Leib gegen Einflüsse des Windes und Wetters, gegen Un- gemach und Anstrengung abhärtet, man auch sein Gemüth abzuhärten hat gegen Unglück, Gefahr, Ver- lust, Ungerechtigkeit, Tücke, Verrath, Hochmuth und Narrheit der Menschen. Ich bemerke noch, dass die xaOrjxovTa der Stoiker, welche Cicero officia übersetzt, ungefähr bedeuten Obliegenheiten, oder Das, was zu tlum der Sa( he an- gemessen ist. Englisch incumbencies, Iialiäuisch quel che tocca a me di fare, o di lasciare, also überhaupt was einem vernünftigen Menschen zu thun zukommt. Man sehe Diog. Laert., Vü, i. 109. — Endlich den Pantheismus der Stoiker, wie er ganz und gar nicht zu so manchen Kapuzinaden Arrians passt, spricht auf das deutlichste Seneka aus: Quid est Dens? Mens i3' iq5 universi. Quid est Deus? Quod vides totum, et quod non vides totum. Sic demum inajjnitudo sua illi red- ditur, (|ua nihil niajus excogitari j)Ote.st: si solus est oiTinia, opus suiun et extra et intra tenet. (Quaest. natur. I, praefatio, 12.) KAPITEL I 7 •). ÜEBER DAS METAPHYSISCHE BEDUERFNISS DES MENSCHEN. DEN Menschen ausgenommen, wundert sich kein Wesen über sein eigenes Dasein ; sondern ihnen Al- len versteht dasselbe sich so sehr von selbst, dass sie es nicht bemerken. Aus der Ruhe des Blickes der Thiere spricht noch die Weisheit der Natur; weil in ihnen der Wille und der Intellekt noch nicht weit genug auseinandergetreten sind, um bei ihrem Wiederbe- gegnen sich über einander verwundern zu können. So hängt hier die ganze Erscheinung noch fest am Stamme der Natur, dem sie entsprossen, und ist der unbewussten Allwissenheit der grossen Mutter theil- haft. — Erst nachdem das innere Wesen der Natur (der W^ille zum Leben in seiner Objektivation) sich durch die beiden Reiche der bewusstlosen Wesen und dann durch die lange und breite Reihe der Thiere, rüstig und wohlgemuth, gesteigert hat, gelangt es endlich, beim Eintritt der Vernunft, also im Menschen, zum ersten Male zur Besinnung: dann wundert es sich über seine eigenen Werke und fragt sich, was es selbst sei. Seine Verwunderung ist aber um so ernstlicher, als es hier zum ersten Male mit Bewusstseyn dem Tode gegenübersteht, und neben der Endlichkeit alles Da- seyns auch die Vergeblichkeit alles Strebens sich ihm mehr oder minder aufdringt. Mit dieser Besinnung und dieser Verwunderung entsteht daher das dem ') Dieses Kapitel steht in Beziehung zu §. i 5 des ersten liandes. (S. 86 (1. A.) 196 Menschen allein eigene Bedürfniss einer Metaphysik : er ist sonach ein animal metaphysicum. Im Anfang seines Bewusstseyns freilich nimmt auch er sich als Etwas, das sich von selbst versteht. Aber dies währt nicht lange ; sondern sehr früh, zugleich mit der ersten Reflexion, tritt schon diejenige Verwunderung ein, welche dereinst Mutter der Metaphysik werden soll. — Diesem gemäss sagt auch jiristoteles im Eingang seiner Metaphysik: Aia 'fap xo Oau[jLaC£iv ot av&pcoTroi xai vuv xcti xo xpoixov t] p^avxo cpiXoaocpstv. (Propter admirationem enim et nunc et primo inceperunt homines philoso- phari.) Auch besteht die eigentliche philosophische Anlage zunächst darin, dass man über das Gewöhn- liche und Alltägliche sich zu verwimdern fähig ist, wodurch man eben veranlasst wird, das Allgemeine der Erscheinung zu seinem Problem zu machen; während die Forscher in den Realwissenschaften sich nur über ausgesuchte und seltene Erscheinungen ver- wundern, und ihr Problem bloss ist, diese auf be- kanntere zurückzuführen. Je niedriger ein Mensch in intellektueller Hinsicht steht, desto weniger Räihsel- haftes hat für ihn das Daseyn selbst: ihm scheint viel- mehr sich Alles, wie es ist, und dass es sei, von selbst zu verstehen. Dies beruht darauf, dass sein Intellekt seiner ursprünglichen Bestimmung, als Medium der Motive dem Willen dienstbar zu seyn, noch ganz treu geblieben und deshalb mit der Welt und Natur, als integrirender Theil derselben, eng verbunden, folg- lich weit entfernt davon ist, sich vom Ganzen der Dinge gleichsam ablösend, demselben gegenüber zu treten und so einstweilen als für sich bestehend, die Welt rein objektiv aufzufassen. Hingegen ist die hier- aus entspringende philosophische Verwunderung im Einzelnen durch höhere Entwickelung der Intelligenz bedingt, überhaupt jedoch nicht durch diese allein; sondern ohne Zweifel ist es das Wissen um den Tod, und neben diesem die Betrachtung des Leidens und der Noth des Lebens, was den stärksten Anstoss zum philosophischen Besinnen und zu metaphysischen Auslegungen der Welt giebt. Wenn unser Leben end- los und schmerzlos wäre, würde es vielleicht doch 197 Keinem einfallen zu frajjen, warum die Welt dasei und gerade diese Beschaffenheit habe; sondern eben auch sich Alles von selbst verstehen. Dem entsprechend finden wir, dass das Interesse, welches philosophische, oder auch religiöse Systeme einflössen, seinen aller- stärksten Anhaltspunkt durchaus an dem Dogma ir- gend einer Fortdauer nach dem Tode hat: und wenn gleich die letzteren das Daseyn ihrer Götter zur Haupt- sache zu machen und dieses am eifrigsten zu verthei- digen scheinen, so ist dies im Grunde doch nur, weil sie an dasselbe ihr Unsterblickkeitsdogma geknüpft haben und es für unzertrennlich von ihw. hallen: nur um dieses ist es ihnen eigentlich zu thun. Denn wenn man ihnen dasselbe anderweitig sicher stellen könnte; so würde der lebhafte Eifer für ihre Götter alsbald erkalten, und er würde fast gänzlicher Gleichgültig keit Platz machen, wenn, umgekehrt, die völlige Un- möglichkeit einer Unsterblichkeit ihnen bewiesen wäre; denn das Interesse am Daseyn der Götter ver- schwände mit der Hoffnung einer nähern Bekannt- schaft mit ihnen, bis auf den Rest, der sich an ihren möglichen Einflussauf die Vorfälle des gegenwärtigen Lebens knüpfen möchte. Könnte man aber gar die Fortdauer nach dem Tode, etwan weil sie Ursprüng- lichkeit des Wesens voraussetzte, als unverträglich mit dem Daseyn von Göttern nachweisen; so würden sie diese bald ihrer eigenen Unsterblichkeit zum Opfer bringen und für den Atheismus eifern. Auf demselben Grunde beruht es, dass die eigentlich materialistischea Systeme, wie auch die absolut skeptischen, niemals einen allgemeinen, oder dauernden Einfluss haben erlangen können. Tempel und Kirchen, Pagoden und Moscheen, in allen Landen, aus allen Zeiten, in Pracht und Grösse, zeugen vom metaphysischen Bedürfniss des Menschen, welches, stark und unvertilgbar, dem physischen auf dem Fusse folgt. Freilich könnte wer satirisch gelaunt ist hinzufügen, dass dasselbe ein bescheidener Bursche sei, der mit geringer Kost vorlieb nehme. An plumpen F'abeln und abgeschmackten Mährchen lässt er sich bisweilen genügen ; wenn nur früh genug eingeprägt, 198 sind sie ihm hinlängliche Auslegungen seines Daseyns und Stützen seiner Moralität. Man betrachte z. B. den Koran: dieses schlechte Buch war hinreichend, eine Weltreligion zu begründen, das metaphysische Be- dürfniss zahlloser Millionen Menschen seit 1 200 Jah- ren zu befriedigen, die Grundlage ihrer Moral und einer bedeutenden Verachtung des Todes zu werden, wie auch, sie zu blutigen Kriegen und den ausgedehn- testen Eroberungen zu bejjeisteru. Wir finden in ihm die traurigste und ärmlichste Gestalt des Theismus Viel mag durch die Uebersetzungen verloren gehen; aber ich habe keinen einzigen werthvollen Gedanken darin entdecken können. Dergleichen beweist, dass mit dem metaphysischen Bedürfniss die metaphysische Fähigkeit nicht Hand in Hand geht. Doch will es scheinen, dass in den frühen Zeiten der gegenwärtigen Erdoberfläche diesem anders gewesen sei und dass Die, welche der Entstehung des Menschengeschlechts und dem Urquell der organischen Natur bedeutend näher standen, als wir, auch noch theils grössere Energie der intuitiven Erkenntnisskräfte, theils eine richtigere Stimmung des Geistes hatten, wodurch sie einer rei- neren, unmittelbaren Auffassung des Wesens der Na- tur fähig und dadurch im Stande waren, dem meta- physischen Bedürfniss auf eine würdigere Weise zu genügen: so entstanden in den Urvätern der Brah- manen, den Rischis, die fast übermenschlichen Kon- ceptionen, welche später in den Upanischaden der Veden niedergelegt wurden. Niemals hingegen hat es an Leuten gefehlt, welche auf jenes metaphysische Bedürfniss des Menschen ihren Unterhalt zu gründen und dasselbe möglichst auszu- beuten bemüht waren; daher es unter allen Völkern Monopolisten und General pächter desselben giebt: die Priester. Ihr Gewerbe musste ihnen jedoch überall dadurch gesichert werden, dass sie das Recht erhiel- ten, ihre metaphysischen Dogmen den Menschen sehr früh beizubringen, ehe noch die Urtlieilskraft aus ihrem Morgenschlummer erwacht ist, also in der ersten Kind- heit: denn da haftet jedes wohl eingeprägte Dogma, sei es auch noch so unsinnig, auf immer. Hätten sie zu warten, bis die Uitheilskraft reif ist; so würden ihre Privilegien nicht bestehen können. Eine zweite, wiewohl nicht zahlreiche Klasse von Leuten, welche ihren Unterhalt aus dem metaphy- sischen Bedürtniss der Menschen zieht, machen die aus, welche von der Philosophie leben: bei den Grie- chen hiessen sie Sophisten, bei den Neueren Professoren der Philosophie. Aristoteles zählt (Metaph., II, 2) den Ai'istipp unbedenklich den Sophisten bei: den Grund dazu Hnden wir bei Diogenes Laertius (II, 65), dass nämlich er der Erste unter den Sokratikern gewesen, der sich seine Philosophie bezahlen liess; weshalb auch Soki^ates ihm sein Geschenk zurücksandte. Auch bei den Neueren sind die, welche von der Philosophie leben, nicht nur, in der Regel und mit den seltensten Ausnahmen, ganz Andere, als die, welchey«/' die Phi- losophie leben; sondern sogar sind sie sehr oft die Widersacher, die heimlichen und vinversöhnlichen Feinde dieser: denn jede ächte und bedeutende phi- losophische Leistung wird auf die ihrigen zu viel Schatten werfen und überdies den Absichten und Be- schränkungen der Gilde sich nicht fügen; weshalb sie allezeit bemüht sind, eine solche nicht aufkommen zu lassen, wozu dann, nach Maassgabe der jedesmaligen Zeiten und Umstände, bald Verhehlen, Zudecken, Verschweigen, Ignoriren, Sekretiren, bald Verneinen, Verkleinern, Tadeln, Lästern, Verdrehen, bald Denun- ziren und Verfolgen die üblichen Mittel sind. Daher hat denn auch schon mancher grosse Kopf, unerkannt, ungeehrt, unbelohnt, sich keuchend durchs Leben schleppen müssen, bis endlich nach seinem Tode die Welt über ihn enttäuscht wurde, und über sie. In- zwischen hatten sie ihren Zweck erreicht, hatten ge- golten, dadurch dass sie ihn nicht gelten Hessen, und hatten mit Weib und Kind vo7i der Philosophie gelebt, während Jener ßh- diese lebte. Ist er aber todt; da kehrt die Sache sich um : die neue Generation jener stets Vorhandenen wird nun der Erbe seiner Leistun- gen, schneidet sie nach ihrem Maassstab sich zurecht und lebt jetzt von ihm. Dass jedoch Kant zugleich von und für die Philosophie leben konnte, beruhte auf 200 dem seltenen Umstände, dass, zum ersten Male wieder, seit dem Divo Antonino und Divo Juliane, ein Philo- sojih auf dem Throne sass: nur unter solchen Auspi- cien konnte die Kritik der reinen Vernunft das Licht erblicken. Kaum war der König todt, so sehen wir auch schon Kanten, weil er zur Gilde gehörte, von Furcht ergriffen, sein Meisterwerk in der zweiten Aus- gabe modifiziren, kastriren und verderben, dennoch aber bald in Gefahr kommen, seine Stelle zu verlieren; so dass ihn Campe in Braunschweig einlud, zu ihmzu kommen, um als das Oberhaupt seiner Familie bei ihm zu leben [Ring, Ansichten aus Kants Leben, S. 68). Mit der Universitatsphilosophieist esinderRegel blosse Spiegelfechterei : der wirkliche Zweck derselben ist, den Studenten, im tiefsten Grunde ihres Denkens, diejenige Geistesrichtung zu geben, welche das die Professuren besetzende Ministerium seinen Absichten angemessen hält. Daran mag dieses, im staatsmänni- schen Sinn, auch ganz Recht haben: nur folgt daraus, dass solche Kathederphilosophie ein nervis alienis mo- bile lignum ist und nicht für ernstliche, sondern nur für Spassphilosophie gelten kann. Auch bleibt es je- denfalls billig, dass eine solche Beaufsichtigung, oder Leitung, sich bloss auf die Kathederphilosophie er- strecke, nicht aber auf die wirkliche, welche es ernst- lich meint. Denn, wenn irgend etwas auf der Welt wünschenswerth ist, so wünschenswerth, dass selbst der rohe und dumpfe Haufen, in seinen besonneneren Augenblicken, es höher schätzen würde, als Silber und Gold; so ist es, dass ein Lichtstrahl fiele auf das Dunkel unsers Daseyns und irgend ein Aufschluss uns würde über diese räthselhafte Existenz, an der nichts klar ist, als ihr Elend und ihre Nichtigkeit. Dies aber wird, gesetzt, es sei an sich erreichbar, durch aufge- drungene und aufgezwungene Lösungen des Problems unmöglich gemacht. Jetzt aber wollen wir die verschiedenen Weisen der Befriedigung, welche diesem so starken metaphysi- schen Bedürfnisse wird, einer allgemeinen Betrachtung unterwerfen. Lnter Metaphysik verstehe ich jede angebliche Er- 20I kenntniss, welche über die Möglichkeit der Erfahrung, also über die Natur, oder die gegebene Erscheinung der Dinge hinausjjeht, um Ausschluss zu ertheilen über Das, wodurch jene, in einem oder dem andern Sinne, bedingt wäre; oder, populär zu reden, über Das, was hinter der Natur steckt, und sie möglich macht. — Nun aber setzt die grosse ursprüngliche Verschieden- heit der Verstandeskräfte, wozu noch die der viele Müsse erfordernden Ausbildung derselben kommt, einen so grossen Unterschied zwischen Menschen, dass, sobald ein Volk sich aus dem Zustande der Rohheit herausgearbeitet hat, nicht wohl eine Metaphysik für Alle ausreichen kann; daher wir bei den civilisirten Völkern durchgängig zwei verschiedene Arten der- selben antreffen, welche sich dadurch unterscheiden, dass die eine ihre Beglaubigung in sich, die andere sie ausser sich hat. Da die metaphysischen Systeme der ersten Art, zur Rekognition ihrer Beglaubigung, Nach- denken, Bildung, Müsse und Urtheil erfordern ; so kön- nen sie nureineräusserst geringen Anzahl von Menschen zugänglich seyn, auch nur bei bedeutender Civilisa- tion entstehen und sich erhalten. Für die grosse An- zahl der Menschen hingegen, als welche nicht zu den- ken, sondern nur zu glauben befähigt und nicht für Gründe, sondern nur für Autorität emplänglich ist, sind ausschliesslich die Systeme der zweiten Art: diese können deshalb als Volksmetaphysik bezeichnet wer- den, nach Analogie der Volkspoesie, auch der Volks- weisheit, worunter man die Sprichwörter versteht. Jene Systeme sind indessen unter dem Namen der Re- ligionen bekannt und finden sich bei allen Völkern, mit Ausnahme der allerrohesten. Ihre Beglaubigung ist, wie gesagt, äusserlich und heisst als solche Offen- barung, welche dokumentirt wird durch Zeichen und Wunder. Ihre Argumente sind hauptsächlich Drohun- gen mit ewigen, auch wohl mit zeitlichen Uebeln, ge- richtet gegen die Ungläubigen, ja schon gegen die blos- sen Zweifler: als ultima ratio theologorum finden wir, bei manchen Völkern, den Scheiterhaufen, oder dem Aehnliches. Suchen Sie eine andere Beglaubigvmg, oder gebrauchen sie andere Argumente; so machen sie schon 202 einen Uebergang in die Systeme der ersten Art und können zu einem Mittelschlag beider ausarten; wel- ches mehr Gefahr als Vortheil bringt. Denn ihnen giebt die sicherste Bürgschaft für den fortdauernden Besitz der Köpfe ihr unschätzbares Vorrecht, den Kin- dern beigebracht zu werden, als wodurch ihre Dog- men zu einer Art von zweitem angeborenen Intellekt einwachsen, gleich dem Zweige auf dem gephopften Baum ; während hingegen die Systeme der ersten Art sich immer nur an Erwachsene wenden, bei diesen aber allemal schon ein System der zweiten Art im Be- sitz der Ueberzeugung vorfinden. — Beide Arten der Metaphysik, deren Unterschied sich kurz durch Ueber- zeugungslehre und Glaubenslehre bezeichnen lässt, haben Dies gemein, dass jedes einzelne System dersel- ben in einem feindlichen Verhältniss zu allen übrigen seiner Art steht. Zwischen denen der ersten Art wird der Krieg nur mit Wort und Schrift, zwischen denen der zweiten auch mit Feuer und Schwert geführt; manche von diesen haben ihre Verbreitung zum Theil dieser letztern Art der Polemik zu danken, und alle haben nach und nach die Erde unter sich getheilt, und zwar mit so entschiedener Herrschaft, dass die Völker sich mehr nach ihnen, als nach der Nationa- lität, oder der Regierung unterscheiden und sondern. Nur sie sind, jede in ihrem Bezirke, herrschend, die der ersten Art hingegen höchstens tolerirt, und auch dies nur, weil man, wegen der geringen Anzahl ihrer Anhänger, sie meistens der Bekämpfung durch Feuer und Schwert nicht werth hält; wiewohl, wo es nöthig schien, auch diese mit Erfolg gegen sie angewendet worden sind: zudem finden sie sich bloss sporadisch. Meistens hat man sie jedoch nur in einem Zustande der Zähmung und Unterjochung geduldet, indem das im Lande herrschende System der zweiten Art ihnen vor- schrieb, ihre Lehren seinen eigenen, mehr oder weni- ger eng, anzupassen. Bisweilen hat es sie nicht nur unterjocht, sondern sogar dienstbar gemacht und als Vorspann gebraucht; welches jedoch ein gefährliches Experiment ist; da jene Systeme der ersten Art, weil ihnen die Gewalt genommen ist, sich durch List hel- 2o3 fen zu dürfen {iflauben und eine geheime Tücke nie ganz ablejfen, die sich dann bisweilen iinvermuthet hervorthut und schwer zu heilenden Schaden stiftet. Denn überdies wird ihre Geföhrhchkeit dadurch er- höht, dass sarnthche Ilealwissenschaften, sogar die un- schuldigsten nicht ausgenommen, ihre heimhchenAlH- irten gegen die Systeme der zweiten Art sind, und, ohne selbst mit diesen in offenem Kriege zu stehen, plötzlich und unerwartet grossen Schaden auf dem Gebiete derselben anrichten. Zudem ist der durch die erwähnteDienstbarmachungbezweckteVersuch,einem System, welches ursprünglich seine Beglaubigung aus- serhalb hat, dazu noch eine von innen geben zu wol- len, seiner Natur nach, misslich: denn, wäre es einer solchen Beglaubigung fähig; so hätte es keiner äussern bedurft. Und überhaupt ist es stets ein Wagestück, einem fertigen Gebäude ein neues Fundament unter- schieben zu wollen. Wie sollte überdies eine Religion noch des Suffragiums einer Philosophie bedürfen! Sie hat ja Alles auf ihrer Seite: Offenbarung, Urkunden, Wunder, Prophezeiungen, Schutz der Regierung, den höchsten Rang, wie er der Wahrheit gebührt, Bei- stimmung und Verehrung Aller, tausend Tempel, in denen sie verkündigt und geübt wird, geschworene Priesterschaaren, und, was mehr als Alles ist, das un- schätzbare Vorrecht, ihre Lehren dem zarten Kindes- alter einprägen zu dürfen, wodurch sie fast zu ange- borenen Ideen werden. Um bei solchem Reich thum an Mitteln noch die Beistimmung armsäliger Philo- sophen zu verlangen, müsste sie habsüchtiger, oder, um den Widerspruch derselben zu besorgen, fiircht- samer seyn, als mit einem guten Gewissen vereinbar scheint. An den oben aufgestellten Unterschied zwischen Metaphysik der ersten und der zweiten Art knüpft sich noch folgender. Ein System der ersten Art, also eine Philosophie, macht den Anspruch und hat da- her die Verpflichtung, in Allem, was sie sagt, sensu stricto et proprio wahr zu seyn: denn sie wendet sich an das Denken und die Ueberzeugung. Eine Religion hingegen, für die Unzähligen bestimmt, welche, der 2o4 Prüfung und des Denkens unfähig, die tiefsten und schwierigsten Wahrheiten sensu proprio niinmerinelir fassen würden, hat auch nur die Verpflichtung sensu allegorico wahr zu seyn. Nackt kann die Wahrheit vor dem Volke nicht erscheinen. Ein Symptom dieser allegorischen Natur der Religionen sind die vielleicht in jeder anzutreffenden Mysteinen, nämlich gewisse Dogmen, die sich nicht ein Mal deutlich denken las- sen, geschweige wörtlich wahr seyn können. Ja, viel- leicht liesse sich hehaupten, dass einige völlige Wider- sinnigkeiten, einige wirkliche Absurditäten, ein wesent- liches Ingredienz einer vollkommenen Religion seien : denn diese sind eben der Stämpel ihrer allegorischen Natur und die allein passende Art, dem gemeinen Sinn und rohen Verstände fühlbar zu machen, was ihm unbegreifHch wäre, nämlich dass die Religion im Grunde von einer ganz andern, von einer Ordnung der Dinge an sich handelt, vor welcher die Gesetze dieser Erscheinungswelt, denen gemäss sie sprechen muss, verschwinden, und dass daher nicht bloss die widersinnigen Dogmen, sondern auch die begreif- lichen, eigentlich nur Allegorien und Akkommoda- tionen zur menschlichen Fassungskraft sind. In die- sem Geiste scheint mir Augustinus und selbst Luther die Mysterien des Christenthums festgehalten zuhaben, im Gegensatz des Pelagianismus, der Alles zur platten Verständlichkeit herabziehen möchte. Von diesem Ge- sichtspunkte aus wird auch begreiflich, wieTertuUian, ohne zu spotten, sagen konnte: Prorsus credibile est, quia ineptum est: certum est, quia impossibile. (De carne Christi, c. 5.) — Diese ihre allegorische Na- tur entzieht auch die Religionen den der Philosophie obliegenden Beweisen und überhaupt der Prüfung; statt deren sie Glauben verlangen, d. h. eine frei- willige Annahme, dass es sich so verhalte. Da sodann der (jlaube das Handeln leitet, und die Allegorie alle- mal so gestellt ist, dass sie, in Hinsicht auf das Prak- tische, eben dahin führt, wohin die Wahrheit sensu proprio auch führen würde; so verheisst die Religion Denen, welche glauben, mit Recht die ewige Sälig- keit. Wir sehen also, dass die Religionen die Stelle der 2o5 Metaphysik überhaupt, deren Bedürfniss der Mensch als unabweisbar fühlt, in der Hauptsache und für die grosse Menjje, welche nicht dem Denken obliegen kann, recht gut ausfüllen, theils nämlich zum prakti- schen Behuf, als Leitstern ihres Handelns, als öffent- liche Standarte der Rechtlichkeit und Tugend, wie Kant es vortrefflich ausdrückt; theils als unentbehr- licher Trost in den schweren Leiden des Lebens, als wo sie die Stelle einer objektiv wahren Metaphysik vollkommen vertreten, indem sie, so gut wie diese nur irgend könnte, den Menschen über sich selbst und das zeitliche Daseyn hinausheben: hierin zeigt sich glänzend der grosse Werth derselben, ja, ihre Ünent- behrlichkeit. Denn cpiXooocpov TtX^do? aouvatov eivai (vulgus philosophum esse impossibile est) sagt schon Plato und mit Recht (De Rep., VI, p. 89, Bip.). Der einzige Stein des Anstosses hingegen ist dieser, dass die Rehgionen ihre allegorische Natur nie einge- stehen dürfen, sondern sich als sensu proprio wahr zu behaupten haben. Dadurch thun sie einen Eingriff in das Gebiet der eigentlichen Metaphysik, und rufen den Antagonismus dieser hervor, der daher zu allen Zeiten, in denen sie nicht an die Kette gelegt worden, sich äussert. — Auf dem Verkennen der allegorischen Natur jeder Religion beruht auch der in unsern Tagen so anhaltend geführte Streit zwischen Supernatura- listen und Rationalisten. Beide nämlich wollen das Christenthum sensu proprio wahr haben: in diesem Sinne wollen die ersteren es ohne Abzug, gleichsam mit Haut und Haar, behaupten; wobei sie, den Kennt- nissen und der allgemeinen Bildung des Zeitalters gegenüber, einen schweren Stand haben. Die anderen hingegen suchen alles eigenthümlich Christliche hin- auszuexegesiren ; wonach sie etwas übrig behalten, das weder sensu proprio noch sensu allegorico wahr ist, vielmehr eine blosse Platitüde, beinahe nur Jiiden- thum, oder höchstens seichter Pelagianismus, und, was das Schlimmste, niederträchtiger 0[)timismus, der dem eigentlichen Christenthum durchaus fremd ist. Ueber- dies versetzt der Versuch, eine Religion aus der Ver- nunft zu begründen, sie in die andere Klasse der Me- 206 taphysik, in die, welche ihre Beglaubigung in sich selbst hat, also auf einen fremden Boden, auf den der philo- sophischen Systeme, und sonach in den Kampf, den diese, auf ihrer eigenen Arena, gegen einander führen, folglich unter das Gewehrfeuer des Skepticismus und das schwere Geschütz der Kritik der reinen Vernunft: sich aber dahin zu begeben, wäre für sie offenbare Vermessenheit. Beiden Arten der Metaphysik wäre es am zuträg- lichsten, dass jede von der andern rein gesondert bliebe und sich auf ihrem eigenen Gebiete hielte, um da- selbst ihr Wesen vollkommen entwickeln zu können. Statt dessen ist man schon das ganze Christliche Zeitalter hindurch bemüht, vielmehr eine Fusion bei- der zu bewerkstelligen, indem man die Dogmen und Begriffe der einen in die andere überträgt, wodurch man beide verdirbt. Am unverholensten ist dies in unsern Tagen geschehen in jenem seltsamen Zwitter oderKentauren, der sogenannten Beligionsphilosophie, welche, als eine Art Gnosis, bemüht ist, die gegebene Religion zu deuten und das sensu allegorico Wahre dur(;h ein sensu proprio Wahres auszulegen. Allein dazu müsste man die Wahrheit sensu proprio schon kennen und besitzen: alsdann aber wäre jene Deutung überflüssig. Denn bloss aus der Religion die Meta physik, d. i. die Wahrheit sensu proprio, durch Aus- legung und Umdeutung erst finden zu wollen, wäre ein missliches und gefährliches Unternehmen, zu wel- chem man sich nur dann entschliessen könnte, wenn es ausgemacht wäre, dass die Wahrheit, gleich dem Eisen und andern unedlen Metallen, nur im vererzten, nicht im gediegenen Zustande vorkommen könne, da- her man sie nur durch Reduktion aus der Vererzung gewinnen könnte. — Religionen sind dem Volke nothwendig, und sind ihm eine unschätzbare Wohlihat. Wenn sie jedoch den Fortschritten der Menschheit in der Erkenntniss der Wahrheit sich entge{;enstellen wollen; so müssen sie mit möglichster Schonung bei Seite geschoben werden. Und zu verlangen, dass sogar ein grosser Geist — ein Shakespeare, ein Goethe — die Dogmen irgend einer 207 Religion impliclter, bona fide et sensu proprio zu seiner üeberzeugung mache, ist wie verlangen, dass ein Riese den Schuh eines Zwerges anziehe. Religionen können, als auf die Fassungskraft der grossen Menge berechnet, nur eine mittelbare, nicht eine unmittelbare Wahrheit haben: diese von ihnen verlangen, ist, wie wenn man die im Buchdrucker- rahmen aufgesetzten Lettern lesen wollte, statt ihres Abdrucks. Der Werth einer Religion wird demnach abhängen von dem grössern oder geringern Gehalt an Wahrheit, den sie, unter dem Schleier der Alle- gorie, in sich trägt, sodann von der grössern oder ge- ringern Deutlichkeit, mit welcher derselbe durch die- sen Schleier sichtbar wird, also von der Durchsichtig- keit des letztern. Fast scheint es, dass, wie die ältesten Sprachen die vollkommensten sind, so auch die älte- sten Religionen. Wollte ich die Resultate meiner Phi- losophie zum Maassstabe der Wahrheit nehmen, so müsste ich dem Buddhaismus den Vorzug vor den anderen zugestehen. Jeden Falls muss es mich freuen, meine Lehre in so grosser üebereinstimmung mit einer Religion zu sehen," welche die Majorität auf Erden für sich hat; da sie viel mehr Bekenner zählt, als ir- gend eine andere. Diese Üebereinstimmung muss mir aber um so erfreulicher seyn, als ich, bei meinem Phi- losophiren, gewiss nicht unter ihrem Einfluss gestan- den habe. Denn bis i8i8, da mein Werk erschien, waren über den Buddhaismus nur sehr wenige, höchst unvollkommene und dürftige Berichte in Europa zu finden, welche sich fast gänzlich auf einige Aufsätze in den früheren Bänden der Asiatic researches be- schränkten und hauptsächlich den Buddhaismus der Birmanen betrafen. Erst seitdem ist nach und nach eine vollständigere Kunde von dieser Religion zu uns gelangt, hauptsächlich durch die gründlichen und lehrreichen Abhandlungen des verdienstvollen Peters- burger Akademikers /. /. Schmidt, in den Denkschrif- ten seiner Akademie, und sodann allmälig durch meh- rere Englische und Französische Gelehrte, so dass ich habe ein ziemlich zahlreiches Verzeichniss der besten Schriften über diese (rlaubenslehre liefern können, 208 in meiner Schriit ,, lieber den Willen in der Natur", unter der Rubrik Sinologie. — Leider ist uns Csoina Körösi, dieser beharrliche Ungar, der, um die Sprache und die heiligen Schriften des Buddhaismus zu studi- ren, viele Jahre in Tibet und besonders in den Buddha- istischen Klöstern zugebracht hat, gerade dann durch den Tod entrissen, als er anfing, den Ertrag seiner PW- schungen für uns auszuarbeiten. Ich kann inzwischen die Freude nicht verleugnen, mit welcher ich in sei- nen vorläufigen Berichten manche unmittelbar aus dem Äa/i<7 KW?" selbst referirte Stellen lese, z.B. foljfende Unterredung des sterbenden Buddha mit dem ihm huldigenden Brahma: There is a description of their conversation on the subject of creation, — by whom was the world made. Shakya asks several questions of Brahma, — whether was it he, who made or pro- duced such and such things, and endowed or blessed them with such and such virtues or properties, — whether was it he who caused the several revolutions in the destruction and regeneration of the world. He denies that he had ever done anythiug to that effect. At last he himself asks Shakya how the world was made, — by whom? Here are attributed all changes in the world to the moral works of the animal beings, and it is stated that in the world all is illusion, there is no reality in the things; all is empty. Biahma being instructed in his doctrine, becomes his foUower. (Asia- tic researches, Vol. 20, p. 434.)*) *) „Es iindct sich eine Besclireibung ihrer Unterredung, deren Gegenstand die Schöpfung ist, — durch wen die Welt her- vorgebracht sei? Buddha riclitet mehrere Fragen an Brahma: ob er es gewesen, der dies oder jenes Ding gemacht, oder her- vorgebracht, und es mit dieser oder jener Eigenschaft begabt habe? ob er es gewesen, der die verschiedenen Umwälzungen zur Zerstörung und Wiederherstelhing der Welt verursaciit habe? — Brahma leugnet, dass er jemals irgend etwas der- gleichen gethan habe. — EndHch fragt er selbst den Buddha, wie die Welt hervorgebracht sei, — durch wen? Nun wer- den alle Veränderungen der Welt den moralischen IFerken ani- malischer Wesen zugeschrieben, und wird gesagt, dass Alles in der Welt blosse Illusion sei, keine Bealität in den Dingen, 14 Schopenhauer II 2^9 Den Fundanicnlalunterschied aller Relifjionen kann ich nicht, wie durchgängi{j geschieht, darin setzen, ob sie monotheistisch, polytheistisch, pantheistisch, oder atheistisch sind; sondern nur darin, oh sie opti- mistisch oder pessimistisch sind, d. h. ob sie das Da- seyn dieser Welt als durch sich selbst gerech ferti{ft darstellen, mithin es loben und preisen, oder aber es betrachten als etwas, das nur als Folge unserer Schuld begriffen werden kann und daher eigentlich nicht seyn sollte, indem sie erkennen, dass Schmerz und Tod nicht liegen können in der ewigen, Ursprung-^ liehen, unabänderlichen Ordnung der Dinge, in Dem, was in jedem Betracht seyn sollte. Die Kiait, vermöge welcher das Christenthum zunächst das Judenthum und dann das Griechische und Römische Heidenthum überwinden konnte, liegt ganz allein in seinem Pessi- mismus, in dem Eingeständniss, dass unser Zustand ein höchst elender und zugleich sündlicher ist, wäh- rend Judenthum und Heidenthum optimistisch waren. Jene von Jedem tief und schmerzlich gefühlte Wahr- heit schlug durch und hatte das ßedürfniss der Er- lösung in ihrem Gefolge. — Ich wende mich zur allgemeinen Betrachtung der andern Art der Metaphysik, also derjenigen, welche ihre Beglaubigung in sich selbst hat und Philosophie genannt wird. Ich erinnere an den oben erörterten Ursprung derselben aus einer Ferwuuderun<j über die Welt und unser eigenes Daseyn, indem diese sich dem Intellekt als ein Räthsel aufdringen, dessen Lösung sodann die Menschheit ohne Unterlass beschäftigt. Hier nun will ich zuvörderst darauf" aufmerksam machen, dass Diesem nicht so seyn könnte, wenn die Welt im Spinozischen, in unsern Tagen unter mo- dernen Formen und Darstellungen als Pantheismus so oft wieder vorgebrachten Sinn, eine ^^absolute Suh- stauz'"'', mithin ein schlechthin uothwendiqes JVesen wäre. Denn dies besagt, dass sie mit einer so grossen Noth- wendigkeit existire, dass neben derselben jede andere, Alles leer. Der also in Htiddha's Lehre unten iclitete liralinia wird sein Anhänger." 2 I O unserni Verstände als solche fassliche NothAvendigkeit wie ein Zufall aussehen niüsste: sie wäre nämlich als- dann Etwas, das nicht nur alles wirkliche, sondern auch alles irgend mögliche Daseyn dergestalt in sich hegritfe, dass, wie Spinoza ehen auch angieht, die Mög- lichkeit und die Wirklichkeit desselhen ganz und gar Eins wären, dessen Nichtseyn daher auch die Unmög- lichkeit selbst wäre, also Etwas, dessen Nichtseyn, oder Andersseyn, völlig undenkbar seyn müsste, wel- ches mithin sich so wenig wegdenken liesse, wie z. B. der Raum oder die Zeit. Indem ferner li^/V- seihst Theile, Modi, Attribute oder Accidenzien einer solchen abso- luten Substanz wären, welche das Einzige wäre, was, in irgend einem Sinne, jemals und irgendwo daseyn könnte; so müsste unser und ihr Daseyn, nebst der Beschaffenheit desselben, weit entfernt, sich uns als auffallend problematisch, ja, als das unergründ- liche, vins stets beunruhigende Räthsel darzustellen, sich, im Gegentheil, noch viel mehr von selbst ver- stehen, als dass a Mal a vier ist. Denn wir müssten gar nicht anders irgend zu denken fähig seyn, als dass die Welt sei, und so sei, wie sie ist: mithin müssten wir ihres Daseyns als solchen, d. h. als eines Problems zum Nachdenken, so wenig uns bewusst werden, als wir die unglaublich schnelle Bewegung unsers Pla- neten empfinden. Diesem Allen ist nun aber ganz und gar nicht so. Nur dem gedankenlosen Thiere scheint sich die Welt und das Daseyn von selbst zu verstehen: dem Men- schen hingegen ist sie ein Problem, dessen sogar der Roheste und Beschränkteste, in einzelnen helleren Augenblicken, lebhaft inne wird, das aber Jedem um so deutlicher und anhaltender ins Bewusstseyn tritt, je heller und besonnener dieses ist und je mehr Stoff zum Denken er durch Bildung sich angeeignet hat, welches Alles endlich in den zum Philosophiren geeigneten Köpfen sich zu Piatons öaup-aCetv, fiaXa cpiXoaocpixov Tia^oc, (mirari, valde philosophicus affec- tus) steigert, nämlich zu derjenigen Verwunderung, die das Problem, welches die edlere Menschheit jeder Zeit und jedes Landes unablässig beschäftigt und ihr i4' 2 11 keine Ruhe lässt, in seiner ganzen Grösse erfasst. In der Tat ist die Unruhe, welche die nie ablaufende Uhr der Metaphysik in Bewegun{> erhäh, das Bewusst- seyn, dass das Nichsseyn dieser Welt eben so möglich sei, wie ihr Daseyn. Daher also ist die Spinozistische Ansic:ht dei'selben als eines absolut noth wendigen Wesens, d. h. als Etwas, das schlechterdings und in jedem Sinn sevn sollte und müsste, eine falsche. Geht doch selbst der einfache Theismus, in seinem kosmo- logischen Beweise, stillschweigend davon aus, dass er vom Daseyn der Welt auf ihr vorheriges Nichtseyn schliesst : er nimmt sie mithin vorweg als ein Zufälliges. Ja, was mehr ist, wir fassen sehr bald die Welt auf als Etwas, dessen Nichtsevn nicht nur denkbar, sondern sogar ihrem Daseyn vorzuziehen wäre; daher unsere Verwunderung über sie leicht übergeht in ein Brüten über jene Fatalität, welche dennoch ihr Dasevn her- vorrufen konnte, und vermöge deren eine so uner- messlicbe Kraft, wie zur Hervorbringung und Er- haltung einer solchen Welt erfordert ist, so sehr gegen ihren eignen Vortheil geleitet werden konnte. Das philosophische Erstaunen ist demnach im Grunde ein bestürztes und betrübtes: die Philosophie hebt, wie die Ouvertüre zum Don Juan, mit einem Mollakkord an. Hieraus ergiebt sich, dass sie weder Spinozismus, noch Optimismus seyn darf. — Die so eben ausge- sprochene nähere Beschaffenheit des Erstaunens, wel- ches zum Philosophiren treibt, entspringt offenbar aus dem Anblick des Uebels xiud des Bösen in der Welt, welche, selbst wenn sie im gerechtesten Verhältniss zu einander ständen, ja, auch noch vom Guten weit überwogen würden, dennoch etwas sind, was ganz und gar und überhaupt nicht seyn sollte. Weil nun aber nichts aus ISichts entstehen kann; so müssen auch jene ihren Keim im Ursprünge, oder im Kern der Welt selbst haben. Dies anzunehmen wird uns schwer, wenn w ir auf die Grösse, Ordnung und Vollendung der physischen Welt sehen, indem wir meynen, dass was die Macht hatte, eine solche hervorzubringen, auch wohl hätte das Uebel und das Böse müssen ver- meiden können. Am allerschwersten wird jene An- :> I •.> nähme (deren aufrichtigster Ausdruck Ormuzd und Ahrinian ist) begreiflicherweise dem Theismus. Daher wurde, um zuvörderst das Böse zu beseitigen, die Freiheit des Willens erfunden : diese ist jedoch nur eine versteckte Art, Etwas aus Nichts zu machen; in- dem sie ein Operari annimmt, dass aus keinem Esse hervorgienge (siehe „Die beiden Grundprobleme der Ethik", S. 58 fg. [2. Aufl. S. r)7 fg.]). Sodann das Uebel suchte man dadurch los zu werden, dass man es der Materie, oder auch einer unvermeidlichen Nothwen- digkeit zur Last legte; wobei man ungern den Teufel zur Seite liegen Hess, der eigentlich das rechte Ex- pediens ad hoc ist. Zum üebel gehört auch der Tod: das Böse aber ist bloss das Von-sich-auf-einen-Andern- schieben des jedesmaligen Uebels. Also, wie oben ge- sagt, das Böse, das Uebel und der Tod sind es, welche das philosophische Erstaunen qualifiziren und er- höhen : nicht bloss, dass die Welt vorhanden, sondern noch mehr, dass sie eine so trübsalige sei, ist das punctum pruriens der Metaphysik, das Problem, welches die Menschheit in eine Unruhe versetzt, die sich weder durch Skepticismus noch durch Kriticis- mus beschwichtigen lässt. Mit der Erklärung der Erscheinungen in der Welt finden wir auch die PliYsik (im weitesten Sinne des Worts) beschäftigt. Aber in der Natur ihrer Erklärun- gen selbst liegt schon, dass sie nicht genügen können. Die Physik vermag nicht auf eigenen Füssen zu stehen, sondern bedarf einer Metaphysik, sich darauf zu stüt- zen; so vornehm sie auch gegen diese thun mag. Denn sie erklärt die Erscheinungen durch ein noch Unbe- kannteres, als diese selbst sind: durch Naturgesetze, beruhend auf Naturkräften, zu welchen auch die Lebenskraft gehört. Allerdings muss der ganze gegen- wärtige Zustand aller Dinge auf der Welt, oder in der Natur, noth wendig aus rein physischen Ursachen erklärbar seyn. Allein eben so nothwendig müsste eine solche F>klärung, gesetzt man gelänge wirklich so weit, sie geben zu können, — stets mit zwei wesent- lichen UnvoUkommenheiten behaftet seyn (gleichsam mit zwei faulen Flecken, oder wie Achill mit der ver- :2i3 wundbaren Ferse, oder der Teufel mit dem Pferde^ fuss), vermöge welcher alles so Erklärte, doch wieder eigentlich unerklärt bliebe. Erstlich nämlich mit dieser, dass der Anfang der Alles erklärenden Kette von Ursachen und NVirkungen, d. h. zusammenhängen- den Verändei'ungen, schlechterdings nie zu erreichen ist, sondern, eben wie die Gränzen der Welt in Raum und Zeit, unaufhörlich und ins Unendliche zurück- weicht; und zweitens mit dieser, dass sämmtliche wirkende Ursachen, aus denen man Alles erklärt, stets auf einem völlig Unerklärbaren beruhen, näm- lich auf den ursprünglichen Qualitäten der Dinge und den in diesen sich hervorthuenden Natur- hräften^ vermöge welcher jene auf bestimmte Art wirken, z. B. Schwere, Härte, Stosskraft, Elastici- tät, Wärme, Elektricität, chemische Kräfte u.s.w., und welche nun in jeder gegebenen Erklärung stehen bleiben, wie eine gar nicht wegzubringende unbekannte Grösse in einer sonst vollkommen aufgelösten algebraischen Gleichung; wonach es dann keine noch so gering geschätzte Thonscherbe giebt, die nicht aus lauter vmerklärlichen Quali- täten zusannnengesetzt wäre. Also diese zwei un- ausweichbaren Mängel in jeder rein physikalischen, d. h. kausalen Erklärung, zeigen an, dass eine solche nur relativ sevn kann, und dass die ganze Methode und Art derselben nicht die einzige, nicht die letzte, also nicht die genügende, d. h. nicht diejenige seyn kann, welche zur befriedigenden Lösung des schweren Räthsels der Dinge und zum wahren Verständniss der Welt und des Dasevns jemals zu führen vermag; son- dern dass die physische Erklärung, überhaupt und als solche, noch einer metaphysischen bedarf, welche den Schlüssel zu allen ihren Voraussetzungen lieferte, eben deshalb aber auch einen ganz andern Weg einschlagen müsste. Der erste Schritt hiezu ist, dass man den Un- terschied beider, mitbin den zwischen Physik und Metaphysik, zum deutlichen Bewusstsevn bringt und festhält. Er beruht im Allgemeinen auf der Kantischen Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich. Eben weil Kant das Letztere für schlechthin un- ■ii4 erkennbar erklärte, gab es, ihm zufolge, gar keine Metaphysik, sondern bloss immanente Erkenntniss, d.h. blosse Physik, welche stets nur von Erscheinun- gen reden kann, und daneben eine Kritik der nach Metaphysik strebenden Vernunft. Hier aber will ich, um den rechten Anknüpfungspunkt meiner Philoso- phie an die Kantische nachzuweisen, das zweite Buch anticipirend, hervorheben, dass Kant, in seiner schönen Erklärung des Zusammenbestehens der Freiheit mit der Nothwendigkeit (Kritik der reinen Vernunft, erste Auflage, S. 532 — 554, U"<i Kritik der praktischen Vernunft, S. 224 bis 23 1 der Rosenkranzischen Aus- gabe) darthut, wie eine und dieselbe Handlung einer- seits aus dem Charakter des Menschen, dem Einfluss, den er im Lebenslauf erlitten, und den jetzt ihm vor- liegenden Motiven, als noth wendig eintretend, voll- kommen erklärbar sei, dabei aber andererseits doch als das Werk seines freien Willens angesehen werden müsse: und in gleichem Sinne sagt er, §53 der Pro- legomena : „Zwar wird aller Verknüpfung der Ursache und Wirkung in der Sinnenwelt Naturnothwendig- keit anhangen, dagegen doch derjenigen Ursache, die selbst keine Erscheinung ist (obzwar ihr zum Grunde liegt), Freiheit zugestanden, Natur also und Freiheit eben demselben Dinge, aber in verschiedener Be- ziehung, ein Mal als Erscheinung, das andere Mal als einem Dinge an sich selbst, ohne Widerspruch bei- gelegt werden können." Was nun also Kant von der Erscheinung des Menschen und seines Thuns lehrt, das dehnt meine Lehre ai\( alle Erscheinungen in der Natur aus, indem sie ihnen den Willen als Ding an sich zum Grunde legt. Dies Verfahren rechtfertigt sich zunächst schon dadurch, dass nicht angenommen werden darf, der Mensch sei von den übrigen Wesen und Dingen in der Natur spezifisch, toto genere und von Grund aus verschieden, vielmehr nur dem Grade nach. — Von dieser anticipirenden Abschweifung kehre ich zurück zu unserer Betrachtung der Unzu- länglichkeit der Physik, die letzte Erklärung der Dinge abzugeben. — Ich sage also : physisch ist freilich Al- les, aber auch nichts erklärbar. Wie für die Bewegung 2 i 5 der gestossenen Kug^el, miiss auch zuletzt für das Den- ken des Gehirns eine physische Erklärung an sich möglich seyn, die dieses eben so hegreiflich machte, als jene es ist. Aher ehen jene, die wir so vollkommen zu verstehen wähnen, ist uns im Grunde so dunkel wie Letzteres: denn was das innere Wesen der Ex- pansion im Raum, der Undurchdringlichkeit, Beweg- hchkeit, der Härte, Elasticität und Schwere sei, — hleiht, nach allen physikalischen Erklärungen, ein Mysterium, so gut wie das Denken. Weil aber hei diesem das Unerklärbare am unmittelbarsten hervor- tritt, machte man hier sogleich einen Sprung aus der Physik in die Metaphysik und hypostasierte eine Sub- stanz ganz anderer Art, als alles Körperliche, — - ver- setzte ins Gehirn eine Seele. Wäre man jedoch nicht so stumpf gewesen, nur durch die auffallendeste Er- scheinung frappirt werden zu können; so hätte man die Verdauung durch eine Seele im Magen, die Vege- tation durch eine Seele in der Pflanze, die Wahlver- wandtschaft durch eine Seele in den Reagenzien, ja, das Phallen eines Steines durch eine Seele in diesen» erklären müssen. Denn die Qualität jedes unorgani- schen Körpers ist eben so geheinmissvoll, wie das Leben im Lebendigen: auf gleiche Weise stösst daher überall die physische Erklärungauf ein Metaphysisches, durch welches sie vernichtet wird, d. h. aufhört Er- klärung zu seyn. Nimmt man es streng, so liesse sich behaupten, dass alle Naturwissenschaft im Grunde nichts weiter leistet, als was auch die Botanik: näm- lich das Gleichartige zusammenzubringen, zu klassi- fiziren. — Eine Physik, welche behauptete, dass ihre Erklärungen der Dinge, — im Einzelnen ausUrsachen und im Allgemeinen aus Kräften, wirklich ausreich- ten und also das Wesen der Welt erscliöpften, wäre der eigentliche Naturalismus. Von Leukippos, Demo- kritos imd Epikuros an, his herab zum Systeme de la nature. dann zu Delamark, Cahanis und zu dem in diesen letzten Jahren wieder aufgewärmten Materialis- mus können wir den fortgesetzten Versuch verfolgen, eine Physik ohne Metaphysik aufzustellen, d. h. eine Lehre, welche die Erscheinung zum Dinge an sich 216 machte. Aber alle ihre Erklärungen suchenden Erklii- rern selbst und Andern zu verber{Ten,dasssie die Haupt- sache, ohne Weiteres, voraussetzen. Sie bemühen sich zu zeifjen, dass alle Phänomene, auch die geistigen, physisch sind: mit Recht! nur sehen sie nicht ein, dass alles Physische andererseits zugleich ein Meta- physisches ist. Dies ist aber auch, ohne Kant, schwer einzusehen; da es die Unterscheidung der Erscheinung vom Ding an sich voraussetzt. Dennoch hat sich, selbst ohne diese, Aj'istoteles, so sehr er auch zur Empirie geneigt und von Platonischer Hvperphysik entfernt war, von jener beschränkten Ansicht frei gehalten: er sagt: Ei [xev ouv jat] eon Ti? srspa ouaia Tiapa ta; cpuoei oovsoTTjxuiac, tj cpooixTj av £ITj irpcoTT] eTrioTrj[j.7]" et <5£ EOTi xic, ouota axtvTiToc, auTT] Tcpoiepa xai (piXooocpia TrpcjTT), X7.1 xa^oXou ouTo)?, Ott irpcoTTj • xai 7:spt tou ovto? T[j ov, rauTTj? av eitj ftewprjoai. (Si igitur non estaliquaalia substantia, praeter eas, quae natura consistunt, phy- sica profecto prima scientia esset: <{uodsi autem est aliqua substantia immobilis, haec prior et philosophia prima, et universalis sie, quod prima; et de ente, prout ens est, speculari hujus est.) Metaph., V. i . Eine solche absolute Physik ^ wie oben beschrieben, welche für keine Metaphysih Raum liesse, würde die Natura na- turata zur Natura naturans machen: sie wäre die auf den Thron der Metaphysik gesetzte Physik, würde jedoch, auf dieser hohen Stelle, sich fast so ausnehmen, wie Holbergs theatralischer Kannengiesser, den man zum Burgemeister gemacht. Sogar hinter dem an sich abgeschmackten, auch meistens boshaften Vorwurf des Atheismus liegt, als seine innere Bedeutung und ihm Kraft ertheilende Wahrheit, de« dunkle Begriff einer solchen absoluten Physik ohne Metaphysik. Al- lerdings müsste eine solche für die Ethik zerstörend seyn, und wie man fälschlich den Theismus für un- zertrennlich von der Moralität gehalten hat, so gilt Dies in Wahrheit nur von einer Metaphysih überhaupt, d. h. von der Erkenntniss, dass die Ordnung der Na- tur nicht die einzige und absolute Ordnung der Dinge sei. Daher kann man als das nothwendige Credo aller Gerechten und Guten dieses aufstellen: „ich glaube 2 I 7 an eine Metaphysik". In dieser Hinsicht ist es wichtif^ und nothwendig, dass man sich von der Unhaltbarkeit einer absoluten Physik überzeuf^e; um so melir, da diese, der ei{jenthche jSaluralismus, eine Ansicht ist, die sich dem Menschen von selbst und stets von Neuem aufdringet und nur durch tiefere Spekulation ver- nichtet werden kann, als deren Surrogat, in dieser Hinsicht, allerlei Systeme und Glaubenslehren, inso- fern und so lange sie gelten, freilich auch dienen. Dass aber eine grundfalsche Ansicht sich dem Men- schen von selbst aufdringt und erst künstlich entfernt werden muss, ist daraus erklärlich, dass der Intellekt ursprünglich nicht bestimmt ist, uns über das Wesen der Dinge zu belehren, sondern nur ihre Relationen, in Bezug auf unsern Willen, uns zu zeigen: er ist, wie wir im zweiten Buche finden werden, das blosse Me- dium der Motive. Dass nun in diesem die Welt sich auf eine Weise schematisirt, welche eine ganz andere, als die schlechthin wahre Ordnung der Dinge darstellt, weil sie uns eben nicht den Kern, sondern nur die äussere Schaale derselben zeigt, geschieht accidenta- liter und kann dem Intellekt nicht zum Vorwurf ge- reichen ; um so weniger, als er doch wieder in sich selbst die Mittel findet, jenen Irrtum zu rektificiren, indem er zur Unterscheidung zwischen Erscheinung und Wesen an sich der Dinge gelangt, welche Unter- scheidung im Grunde zu allen Zeiten dawar, nur mei- stens sehr unvollkommen zum Bewusstseyn {gebracht und daher ungenügend ausgesprochen wurde, sogar oft in seltsamer Verkleidung auftrat. Schon die Christ- lichen Mvstiker z. B. erklären den Intellekt, indem sie ihn das Licht der Natur nennen, für unzulänglich, das wahre Wesen der Dinge zu erfassen. Er ist gleich- sam eine blosse Flächenkraft, wie die Elektricität, und dringt nicht in das Innere der Wesen. Die Unzulänglichkeit des reinen Naturalisnuis tritt, wie gesagt, zuvörderst, auf dem empirischen Wege selbst, dadurch hervor, dass jede physikalische Er- klärung das Einzelne aus seiner Ursache erklärt, die Kette dieser Ursachen aber, wie wir a priori, mithin völlig gewiss wissen, ins Unendliche rückwärts läuft, •218 so dass schlechthin keine jemals die erste seyn konnte. Sodann aber wird die Wirksamkeit jeder Ursache zu- rückgeführt auf ein Naturgesetz, und dieses endlich auf eine Naturkraft, welche nun als das schlechthin Unerklärliche stehen bleibt. Dieses Unerklärliche aber, auf welches alle Erscheinungen jener so klar gegebe- nen und so natürlich erklärbaren Welt, von der höch- sten bis zur niedrigsten, zurückgeführt werden, ver- rät eben, dass die ganze Art solcher Erklärung nur eine bedingte, gleichsam niu' ex concessis ist, und kei- neswegs die eigentliche und genügende; daher ich oben sagte, dass physisch Alles und nichts erklärbar sei. Jenes schlechthin Unerklärliche, welches alle Er- scheinungen durchzieht, bei den höchsten, z. B. bei der Zeugung, am auffallendsten, jedoch auch bei den niedrigsten, z. B. den mechanischen, eben so wohl vorhanden ist, giebt Anweisung auf eine der physi- schen Ordnung der Dinge zum Grunde liegende ganz anderartige, welche eben Das ist, was Kant die Ord- imng der Dinge an sich nennt und was den Zielpunkt der Metaphvsik ausmacht. — Zweitens aber erhellt die Unzulänglichkeit des reinen Naturalismus aus je- ner philosophischen Grundwahrheit, welche wir in der ersten Hälfte dieses Buches ausführlich betrachtet haben und die eben auch das Thema der Kritik der reinen Vernunft ist: dass nämlich alles Objekt, sowohl seinem objektiven Daseyn überhaupt, als der Art und Weise (dem Formellen) dieses Daseyns nach, durch das erkennende Subjekt durchweg bedingt, mithin blosse Erscheinung, nicht Ding an sich ist; wie Dies ^. 7 des ersten Bandes*) auseinandergesetzt und da- selbst dargethan worden, dass nichts täppischer seyn kann, als dass man, nach Weise aller Materialisten, das Objektive unbesehens als schlechthin gegeben nimmt, um aus ihm Alles abzuleiten, ohne irgend das Subjektive zu berücksichtigen, mittelst dessen, ja in welchem, allein doch jenes dasteht. Proben dieses Verfahrens liefert zu allernächst unser heutiger Mode- Materialismus, der eben dadurch eine rechte Barbier- gesellen- und Apotheker-Lehrlings-Philosophie ge- ') S. 3 1 (\. A. 2 I() worden ist. Ihm, in seiner Unschuld, ist die unbe- denkhch als absohit real genommene Materie das Ding an sich, und Stosskralt die einzige Fähigkeit eines Din- ges an sich, indem alle anderen Qualitäten nur Er- scheinungen derselben seyn können. Mit dem iNaturalisnms, oder der rein physikalischen Betrachtungsart, wird man demnach nie ausreichen: sie gleicht einem Rechnungse.vempel, welches nimmer- mehr aufgeht. End- und anfangslose Kausalreihen, unerfoi'schliche Grundkrafte, unendlicher Raum, an- fangslose Zeit, endlose Theilbarkeit der Materie, und dieses Alles noch bedingt durch ein erkennendes Ge- hirn, in welchem allein es dasteht, so gut wie der Traum, und ohne welches es verschwindet, — ma- chen das Labyrinth aus, in welchem sie uns unauf- hörlich herumführt. Die Höhe, zu welcher in unsern Zeiten die Naturwissenschaften gestiegen sind, stellt in dieser Beziehung alle früheren Jahrhundeite in tie- fen Schatten, und ist ein Gipfel, den die Menschheit zum ersten Mal erreicht. Allein, wie grosse Fort- schritte auch die Physik (im weiten Sinn der Alten verstanden) je machen möge; so wird damit noch nicht der kleinste Schritt zur Metophysik geschehen seyn; so wenig, wie eine Fläche, durch noch so weit fortgesetzte Ausdehnung, je Kubikinhalt gewinnt. Denn solche Fortschritte werden immer nurdieKennt- niss der Erscheinung vervollständigen; während die Metaphysik über die Erscheinung selbst hinausstrebt, zum Erscheinenden. Und wenn sogar die gänzlich vollendete Erfohrung hinzukäme; so würde dadurch in der Hauptsache nichts gebessert seyn. Ja, wenn selbst Einer alle Planeten sämmtl icher Fixsterne durchwanderte; so hätte er damit noch keinen Schritt in der Metaphysik gethan. Vielmehr werden die gröss- ten Fortschritte der Physik das Bedürfniss einer Me- taphysik immer fühlbarer machen; weil eben die be- richtigte, erweiterte und gründlichere Kenntniss der Natur einerseits die bis dahin geltenden metaphy- sischen Annahmen immer untergräbt und endlich umstösst, andererseits aber das Problem der Meta- physik selbst deutlicher, richtiger und vollständiger 2'-iO vorlegt, dasselbe von allem bloss Physischen i-einer absondert, und eben auch das vollständiger und ge- nauer erkannte Wesen der einzelnen Dinge dringen- der die Erklärung des Ganzen und Allgemeinen for- dert, vv'elches, je richtiger, gründlicher und vollstän- diger empirisch erkannt, nur desto räthselhafter sich darstellt. Dies Alles wird freilich der einzelne, simple Naturforscher, in einem abgesonderten Zweige der Phy- sik, nicht sofort deutlich inne: vielmehr schläft er behag- lich bei seiner erwählten Magd im Hause desOdysseus, sich aller Gedanken an die Penelopeia entschlagend (siehe Kap. i 2 am Ende). Daher sehen wir heut zu Tage die Schaale der Natur auf das genaueste durch- forscht, die Intestina der Intestinalvvürmer und das Ungeziefer des Ungeziefers haarklein gekannt: kommt aber Einer, wie z. B, ich, und redet vom Kern der Na- tur, so hören sie nicht hin, denken eben es gehöre nicht zur Sache und klauben an ihren Schaalen wei- ter. Jene überaus mikroskopischen und mikrologischen Naturforscher findet man sich versucht, die Topf- gucker der Natur zu nennen. Die Leute aber, welche vermeynen, Tiegel und Retorte seien die wahre und einzige Quelle aller Weisheit, sind in ihrer i\rt eben so verkehrt, wie es weiland ihre Antipoden, die Scho- lastiker waren. Wie nämlich diese, ganz und gar in ihre abstrakten Begriffe verstrickt, mit diesen sich herumschlugen, nichts ausser ihnen kennend, noch untersuchend; so sind Jene ganz in ihre Empirie ver- strickt, lassen nichts gelten, als was ihre Augen sehen, und vermeynen damit bis auf den letzten Grund der Dinge zu reichen, nicht ahndend, dass zwischen der Erscheinung und dem darin sichManifestireuden, dem Dinge an sich, eine tiefe Kluft, ein radikaler Unter- schied ist, welcher nur durch die Erkenntniss und genaue Gränzbestimmung des subjektiven Ele- ments der Erscheinunjj aufgeklärt wird, und durch die Einsicht, dass die letzten und wichtigsten Auf- schlüsse über das Wesen der Dinge allein aus dem Selbstbewusstseyn geschöpft werden können; — ohne welches Alles man nicht einen Schritt über das den Sinnen unmittelbar Gegebene hinauskann, also nicht 22 I weiter jjelangt, als bis zum Problem. — Jedoch sei auch andererseits bemerkt, dass die möglichst voll- ständige Naturerkenntniss die berichtigte Dai-lequrKf des Problems der Metaphysik ist: daher soll Keiner sich an diese wagen, ohne zuvor eine, wenn auch nur allgemeine, doch gründliche, klare und zusammen- hängende Kenntniss aller Zweige der Naturwissen- schaft sich erworben zu haben. Denn das Problem muss der Lösung vorhergehen. Dann aber muss der Blick des Forschers sich nach innen wenden: denn die intellektuellen und ethischen Phänomene sind wichtiger, als die physischen, in demselben Maasse, wie z. B. der animalische Magnetismus eine ungleich wichtigere Erscheinung, als der mineralische ist. Die letzten Grundgeheimnisse trägt der Mensch in seinem Innern, und dieses ist ihm am unmittelbarsten zu- gänglich; daher er nur hier den Schlüssel zum Räth- sel der Welt zu finden und das Wesen aller Dinge an Einem Faden zu erfassen hoffen darf. Das eigenste Gebiet der Metaphysik liegt also allerdings in Dem, was man Geistesphilosophie genannt hat. „Du führst die Reihen der Lebendigen Vor mir vorbei, und lehrst mich meine Brüder Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen : Dann führst Du mich zur sichern Höhle, zei{;si Mich dann mir selbst, und meiner ei{;nen Brust Geheime tiefe Wunder öffnen sich.'-' Was nun endlich die Quelle, oder das Fundament der metaphysischen Erkenntniss betrifft; so habe ich schon weiter oben mich gegen die, auch von Kant wiederholte, Voraussetzung erklärt, dass es in blossen Begriffen liegen müsse. Begriffe können in keiner Er- kenntniss das Erste seyn: denn sie sind allemal aus irgend einer Anschauung abgezogen. Was aber zu jener Annahme verleitet hat, ist wahrscheinlich das Beispiel der Mathematik gewesen. Diese kann, wie besonders in der Algebra, Trigonometrie, Analysis geschieht, die Anschauung ganz verlassend, mit blossen abstrakten, ja nur durch Zeichen statt der Worte re- präsentirten Begriffen operiren, und doch zu einem li 2 2 völlig sichern und dabei so fern liegenden Resultate gelangen, dass man, auf dem festen Boden der An- schauung verharrend, es nicht hätte erreichen können. Allein die Möglichkeit hievon beruht, wie Kant ge- nugsam gezeigt hat, darauf, dass die Begriffe der Ma- thematik aus den allersichersten und bestimmtesten Anschauungen, nämlich aus den a priori und doch intuitiv erkannten Grössenverhältnissen, abgezogen sind und daher durch diese stets wieder realisirt und kontrolirt werden können, entweder arithmetisch, mittelst Vollziehung der durch jene Zeichen bloss an- gedeuteten Rechnungen, oder geometrisch, mittelst der von Kant so genannten Konstruktion der Begriffe. Dieses Vorzugs hingegen entbehren die Begriffe, aus welchen man vermeint hatte, die Metaphysik aufbauen zu können, wie z. B. Wesen, Seyn, Substanz, Voll- kommenheit, Nothwendigkeit, Realität, Endliches, unendliches, Absolutes, Grund, u. s. w. Denn ur- sprünglich, wie vom Himmel gefallen, oder auch an- geboren, sind dergleichen Begriffe keineswegs; sondern auch sie sind, wie alle Begriffe, aus Anschauungen abgezogen, und, da sie nicht, wie die mathematischen, das bloss P^ormale der Anschauung, sondern mehr ent- halten ; so liegen ihnen empirische Anschauungen zum Grunde: also lässtsich aus ihnen nichts schöpfen, was nicht auch die empirische Anschauung enthielte, d. h. was Sache der Erfahrung wäre und was man, da jene Begriffe sehr weite Abstraktionen sind, viel sicherer und aus erster Hand von dieser empfienge. Denn aus Begriffen lässt sich nie mehr schöpfen, als die An- schauungen enthalten, aus denen sie abgezogen sind. Verlangt man reine Begriffe, d. h. solche, die keinen empirischen Ursprung haben; so lassen sich bloss die aufweisen, welche Raum und Zeit, d. h. den blossen formalen Theil der Anschauung betreffen, folglich allein die mathematischen, und höchstens noch der Begriff der Kausalität, welcher zwar nicht aus der Er- fahrung entsprungen ist, aber doch nur mittelst der- selben (zuerst in der Sinnesanschauung) ins Bewusst- seyn tritt; daher zwar die Erfahrung nur durch ihn möglich, aber auch er nur in ihrem Gebiete gültig ist; 223 weshalb eben Kant bezeigt hat, dass derselbe bloss dient, der Jilrfahninp, Zusammenhang zu ertheilen, nicht aber sie zu überflieffen, dass er also bloss phy- sische Anvvendun^j {gestattet, nicht metaphysische. Apodiktische Gewissheit kann einer Erkenntniss frei- lich nur ihr Ursprnujj a priori {ifeben: eben dieser aber beschränkt sie auf das bloss For/nellr der Erfahrung überhaupt, indem er anzeigt, dass sie durch die sub- jektive Beschaffenheit des Intellekts bedingt sei. Der- gleichen Erkenntniss also, weit entfernt uns über die Erfahrung hinauszuführen, giebt bloss einen T/ieil dieser selbst, nämlich den forinellen, ihr durchweg eigenen und daher allgemeinen, mithin blosse Form ohne Gehalt. Da nun die Metaphysik am allerwenig- sten hierauf beschränkt seyn kann; so muss auch sie einpirische Erkenntnissquellen haben: mithin ist jener vorgefasste Begriff einer rein a priori zu findenden Metaphysik nothwendig eitel. Es ist wirklich einepe- titio principii Kants, welche er §. i der Prolegomena am deutlichsten ausspricht, dass Metaphysik ihre Grundbegriffe und Grundsätze nicht aus der Erfah- rung schöpfen dürfe. Dabei wird nändich zum voraus angenommen, dass nur Das, was wir toi- aller Er- fahrung wissen, weiter reichen könne, als mögliche Erfahrung. Hierauf gestützt kommt dann Kant und beweist, dass alle solche Erkenntniss nichts weiter sei, als die Form des Intellekts zum Behuf der Erfahrung, folglich über diese nicht hinausleiten könne; woraus er dann die Unmöglichkeit aller Metaphysik richtig folgert. Aber erscheint es nicht vielmehr geradezu verkehrt, dass man, um die Erfahrung, d. h. die uns allein vorliegende Welt, zu enträthseln, ganz von ihr wegsehen, ihren Inhalt ignoriren und bloss die a priori uns bewussten, leeren Formen zu seinem Stoff nelimen und gebrauchen solle? Ist es nicht vielmehr der Sache angemessen, dass die Wissenschaft von der Erfahrung überhaupt und als solcher, eben auch aus der Erfah- rung schöpfe? Ihr Problem selbst ist ihr ja empirisch {jegeben; warum sollte nicht auch die Lösung die Er- fahrung zu Hülfe nehmen? Ist es nicht widersinnig, dass wer von der Natur der Dinge redet, die Dinge .24 selbst nicht ansehen, sondern nur an gewisse abstrakte Begriffe sich halten solhe. Die Aufgabe der Metaphysik ist zwar nicht die Beobachtung einzelner Erfahrungen, aber doch die richtige Erklärung der Erfahrung im Ganzen. !hr Fundament muss daher allerdings empi- rischer Art seyn. Ja sogar die Apriorität eines Theils der menschlichen Erkenntniss wird von ihr als eine gegebene That9,ache aufgefasst, aus der sie auf den subjektiven Ursprung desselben schliesst. Eben nur sofern das Bewusstseyn seiner Apriorität ihn begleitet, heisst er, bei Kant, traiisscendental zum Unterschiede von transscendeni, welcbes bedeutet „alle Möglichkeit der Erfahrung überfliegend", und seinen Gegensatz hat an immanent, d. h. in den Schranken jener Mög- lichkeit bleibend. Ich rufe gern die ursprüngliche Be- deutung dieser von Kant eingeführten Ausdrücke zu- rück, mit welciien, eben wie auch mit dem der Kate- cjorie u. a. m., heut zu Tage die Affen der Philosophie ihr Spiel treiben. — Ueberdies nun ist die Erkennt- nissquelle der Metaphysik mc\\t (\\e äussere Erfahrung allein, sondern eben sowohl die innere; ja, ihr Eigen- thümlichstes, Avodurch ihr der entscheidende Schritt, der die grosse Frage allein lösen kann, möglich wird, besteht, wie ich im „Willen in der Natur", unter der Rubrik „Phvsische Astronomie" ausführlich und gründlich dargethan habe, darin, dass sie, an der rech- ten Stelle, die äusses'e Erfabrung mit der innern in Verbindung setzt und diese zum Schlüssel jener macht. Der hier erörterte, ledlicher Weise nicht abzuleug- nende Ursprung der Metaphysik aus empirischen Er- kenntnissrpiellen benim'jit ihr freilich die Art apo- diktischer Gewisslieit, welche allein durch Erkenntniss a priori möglich ist: diese bleibt das Eigenthum der Logik und Mathematik, welche Wissenschaften aber auch eigentlich nur Das lehren, was Jeder schon von selbst, nur nicht deutlich weiss: höchstens lassen noch die allerersten Elemente der Naturlehre sich aus der Erkenntniss a priori ableiten. Durch dieses Eingeständ- niss giebt die Metaphysik nur einen alten Anspruch auf, welcher, dem oben Gesagten zufolge, auf Miss- verständniss beruhte und gegen welchen die grosse Ver- i5 Scliopenliauer !i '2 2 D schiedenheit und Wandclharkeit der metaphysischen Systeme, wie auch der sie stets begleitende Skepticis- mus jederzeit gezeujjt hat. Gegen ihre MögUchkeit überhaupt kann jedoch diese Wandelbarkeit nicht gel- tend gemacht werden; da dieselbe eben so sehr alle Zweige der Naturwissenschaft, Chemie, Physik, Geo- logie, Zoologie u. s. f. trifft, und sogar die Geschichte nicht damit verschont geblieben ist. Wann aber ein Mal ein, soweit die Schranken des menschlichen In- tellekts es zulassen, richtiges System der Metaphysik gefunden seyn wird; so wird ihm die Unw^andelbar- keit einer a priori erkannten Wissenschaft doch zu- kommen: weil sein Fundament nur die Er^ fahrung überhaupt seyn kann, nicht aber die einzelnen und be- sondern Erfahrungen, durch welche hingegen die Na- turwissenschaften stets inodifizirt werden und der Ge- schichte immer neuer Stoff zuwächst. Denn die Er- fahrung im Ganzen und Allgemeinen wird nie ihren Charakter gegen einen neuen vertauschen. Die nächste Frage ist: wie kann eine aus der Er- fahrung geschöpfte Wissenschaft über diese hinaus- führen und so den Namen Metaphysik verdienen? — Sie kann es nicht etwan so, wie aus drei Proportional- zahlen die vierte, oder aus zwei Seiten und dem Win- kel das Dreieck gefunden wird. Dies war der Weg der vorkantischen Dogmatik, welche eben, nach ge- wissen uns a priori bevvussten Gesetzen, vom Gege- benen auf das Nichtgegebene, von der Folge auf den Grund, also von der Erfahrung auf das in keiner Er- fahrung möglicherweise zu Gebende schliessen wollte. Die Unmöglichkeit einer Meta[)hysik auf diesem Wege that Kant dar, indem er zeigte, dass jene Gesetze, wenn auch nicht aus der Erfahrung {jeschöpft, doch nur für dieselbe Gültigkeit hätten. Er lehrt daher mit Recht, dass wir auf solche Art die Möglichkeit aller Erfah- rung nicht überfliegen können. Allein es giebt noch andere W^ege zur Metaphysik. Das Ganze der Erfah- rung gleicht einer Geheimschrift, und die Philosophie der Entzifferun{j dersell)en, deren Richtigkeit sich durch den überall hervortretenden Zusammenhang bewährt. Wenn dieses Ganze nur tief genug gefasst 226 und an die äussere die innere Erfahrung geknüpft wird ; so muss es aus sich selbst gedeutet^ ausgelegt werden können. Nachdem Kant uns unwiderleghch gezeigt hat, dass die Erfahrung überhaupt aus zwei Elemen- ten, nämhch den Erkermtnissformen und dem Wesen an sich der Dinge, erwächst, und dass sogar beide sich darin gegen einander abgränzen lassen; nämhch als das a priori uns Bewusste und das a posteriori Hinzu- gekommene; so lässt sich wenigstens im Allgemeinen angeben, was in der gegebenen Erfahrung, welche zu- nächst h\oi^%e. Erscheinung ist, der durch den Intellekt bedingten i^or//j dieser Erscheinungangehört, und was, nach dessen Abziehung, dem Dinge an sich übrig bleibt, und wenn gleich Keiner, durch die Hülle der An- schauungsformen hindurch, das Ding an sich erkennen kann; so trägt andererseits doch Jeder dieses in sich, ja, ist es selbst: daher muss es ihm im Selbstbewusst- seyn, wenn auch noch bedingterweise, doch irgendwie zugänglich seyn. Die Brücke also, auf welcher die Metaphysik über die Erfahrung hinausgelangt, ist nichts Anderers, als eben jene Zerlegung der Erfah- rung in Erscheinung und Ding an sich, worin ich Kants grosstes Verdienst gesetzt habe. Denn sie enthält die Nachweisung eines von der Erscheinung verschiedenen Kernes derselben. Dieser kann zwar nie von der Er- scheinung ganz losgerissen und, als ein ens extrainun- danum, für sich betrachtet werden, sondern er wird immer nur in seinen Verhältnissen und Beziehungen zur Erscheinung selbst erkannt. Allein die Deutung und Auslegung dieser, in Bezug auf jenen ihren in- nern Kern, kann uns Aufschlüsse über sie ertheilen, welche sonst nicht ins Bewusstseyn kommen. In die- sem Sinne also geht die Metaphysik über die Erschei- nung, d. i. die Natur, hinaus, zu dem in oder hinter ihr Verborgenen (to fxeta to cpuoixov), es. jedoch immer nur als das in ihr Erscheinende, nicht aber unabhängig von aller Erscheinung betrachtend: sie bleibt daher immanent und wird nicht transscendent. Denn sie reisst sich von der Erfahrung nie ganz los, sondern bleibt die blosse Deutung und Auslegung derselben, da sie vom Dinge an sich nie anders, als in seiner Be- i5* 227 ziehun;; zur Ersclieiniin{^ redet. Weiiifjstens ist dies der Sinn, in welclienii ich, mit durchjjanjji^jer Ijerück- siclitijjinig der von Kant nachgewiesenen Schranken der nienschhchen Erkenntniss, das Problem der Me- taphysik zu lösen versucht habe: daher lasse ich seine Prole{|oniena zu jeder Metaj)hysik auch für die mei- nijje {jeltcn unrt bestehen. Diese geht demnach nie eigentlich über die Erlährung hinaus, sondern eröffnet nur das wahre Verständniss der in ihr vorliegenden Welt. vSie ist weder, nach der auch von Kant wieder- holten IJefinition der Metaphysik, eine Wissenschaft aus blossen Begriffen, noch ist sie ein System von Fol- gerungen aus Sätzen a priori, deren Cntauglichkeit zum metaphysischen Zweck Kant dargethan hat. Son- dern sie ist ein Wissen, geschöpft aus der Anschauung der äussern, wirklichen W^elt und dem Autschbiss, welchen über diese die intimste Thatsache des Selbst- hewusstsevns liefen, niedergelegt in deutliche Begriffe. Sie ist demnach Erfahrungswissenschaft: aber nicht einzelne Erfahiungen, sondern das Ganze und Allge- meine aller Erfahrung ist ihr Gegenstand und ihre Quelle. Ich lasse ganz und gar 7vV7n/.s Lehre bestehen, dass die Welt der Erfahrung blosse Erscheinung sei und dass die Erkenntnisse a priori bloss in Bezug auf diese gellen: ich aber füge hinzu, dass sie gerade als Erscheinung, die Manifestation Desjenigen ist, was er- scheint, und nenne es mit ihm das Ding an sich. Die- ses muss daher sein Wiesen und seinen Chaiakter in der Erfahrungswelt ausdrücken, mithin solcher aus ihm lierauszudeuten seyn, und zwar aus dem Stoff, nicht aus der blossen Forui der Erfahrvmg. Denmach ist die Philosophie nichts Anderes, als das richtige, universelle Verständniss der Erfahrung selbst, die wahre Auslegung ihres Sinnes und Gehaltes. Dieser ist das Metaphysische, d. h. in die Erscheinung bloss Gekleidete und in ihre Formen Verhüllte, ist Das, was sich zu ihr verhidt, wie der Gedanke zu den Worten. Eine solche Entzifferung der Welt in Beziehung auf das in ihr I^rscheinende muss ihre Bewährung aus sich selbst erhalten, durch die Uebereinstimnumg, in welche sie die so verschiedenartigen Erscheinungen 228 der Welt zu einander setzt, und welche man ohne sie nicht wahrnininit. — Wenn man eine Schrift findet, deren Alphabet unbekannt ist; so versucht man die Auslej]ung so lange, bis man auf eine x'^nnahme der Bedeutung der Buchstaben geräth, unter welcher sie verständlicheWorte und zusam menhängende Perioden bilden. Dann aber bleibt kein Zweifel an der Richtig- keit der Entzifferung; weil es nicht möglich ist, dass die Uebereinstimnumg und der Zusammenhang, in welchen diese Auslegung alle Zeichen jener Schrift setzt, bloss zufällig wäre und man, bei einem ganz an- dern Werthe der Buchstaben, ebenfalls Worte und Perioden in dieser Zusammenstellung derselben er- kennen könnte. Auf ähnliche Art muss die Entziffe- rung der Welt sich aus sich selbst vollkommen bewäh- ren. Sie muss ein gleichmässiges Licht über alle Erscheinungen der Welt verbreiten und auch die he- terogensten in Cebereinstimmung bringen, so dass auch zwischen den kontrastirendesten der Widerspruch ge- löst wird. Diese Bewährung aus sich selbst ist das Kennzeichen ihrer Aechtheit. Denn jede falsche Ent- zifferung wird, wenn sie auch zu einigen Erscheinun- gen passt, den übrigen desto greller widei-sprechen. So z. B. widerspricht der Leibnitzische Optimismus dem augenfölligen Elend des Daseyns; die Lehre des Spinoza, dass die Welt die allein mögliche und absolut nothwendige Substanz sei, ist unvereinbar mit unse- rer Verwunderung über ihr Seyn und Wesen; der Wolfischen Lehre, dass der Mensch von einem ihm fremden Willen seine Existentia und Essentia habe, widerstreitet unsere moralische Verantwortlichkeit für die aus diesen, im Konflikt mit den Motiven, steng noih wendig hervorgehenden Handlungen ; der oft wie- derholten Lehre von einer fortschreitenden Entvvicke lung der Menschheit zu isnmer höherer Vollkommen- heit, oder überhaupt von irgend einem Werden mit- telst des Weltprocesses, stellt sich die Einsicht a priori entgegen, dass bis zu jedem gegebenen Zeitpunkt bereits eine unendliche Zeit abgelaufen ist, folglich Alles, was mit der Zeit kommen sollte, schon dasevn müsste; und so liesse sich ein unabsehbares Register 229 der Widersprüche dogmatischer Annahmen mit der gegebenen Wirkhchkeit der Dinge /.usamnienstellen. Hingegen miiss ich in Abrede stellen, dass auf dasselbe irgend eine Lehre meiner Philosophie redlicherweise einzutragen seyn würde; eben weil jede derselben in Gegenwart der angeschauten Wirklichkeit durchdacht worden und keine ihre Wurzel alleiu in abstrakten Begriffen hat. Da es dabei dennoch ein Grundgedanke ist, der an alle Erscheinungen der Welt, als ihr Schlüssel, gelegt wird, so bewährt sich derselbe als das richti(;e Alphabet, unter dessen Anwendung alle Worte und Perioden Sinn und Bedeutung haben. Das gefundene Wort eines Räthsels erweist sich als das rechte dadurch, dass alle Aussagen desselben zu ihm passen. So lässt meine Lehre Uebereinstiminung und Zusammenhang in dem kontrastirenden Gewirre der Erscheinungen dieser Welt erblicken und löst die unzähligen Widersprüche, welche dasselbe, von jedem andern Standpunkt aus gesehen, darbietet: sie gleicht daher in sofern einem Rechenexempel, welches auf- geht; wiewohl keineswegs in dem Sinne, dass sie kein Problem zu lösen übrig, keine mögliche Frage unbe- antwortet Hesse. Dergleichen zu beliaupten, wäre eine vermessene Ableuguung der Schranken menschlicher Erkenntniss überhaupt. Welche Fackel wir auch an- zünden und welchen Raum sie auch erleuchten mag; stets wird unser Horizont von tiefer Nacht umgränzt bleiben. Denn die letzte Lösung des Räthsels der Welt müsste noth wendig bloss von den Dingen an sich, nicht mehr von den Erscheinungen reden. Aber gerade auf diese allein sind alle unsere Erkenntniss- formen angelegt: daher müssen wir uns Alles durch ein Nebeneinander, Nacheinander und Kausalitäts- verhältnisse fasslich machen. Aber diese Formen haben bloss in Beziehung auf die Erscheinung Sinn und Be- deutung: die Din{fe an sich selbst und ihre möglichen Verhältnisse lassen sich durch jene Formen nicht er- fassen. Daher muss die wirkliche, positive Lösung des Räthsels der Welt etwas seyn, das der menschliche Intellekt zu fassen und zu denken völlig imfahig ist; so dass y.enn ein Wesen höherer Art käme imd sich 23o alle Mühe gäbe, es uns beizubringen, wir von seinen Eröffnungen durchaus nichts würden verstehen können. Diejenigen sonach, welche vorgeben, die letzten, d. i. die ersten, Gründe der Dinge, also ein Urwesen, Absolutuin, oder wie sonst man es nennen will, nebst dem Process, den Gründen, Motiven, oder sonst was, in Folge welcher die Welt daraus hervor geht, oder quillt, oder fällt, oder prodncirt, ins Daseyn gesetzt, „entlassen" und hinauskomplimentirt wird, zu erkennen, — treiben Possen, sind Windbeutel, wo nicht gar Scharlatane. Als einen grossen Vorzug meiner Philosophie sehe ich es an, dass alle ihre Wahrheiten unabhängig von einander, durch die Betrachtung der idealen Welt ge- funden sind, die Einheit und Zusammenstimmung derselben aber, um die ich unbesorgt gewesen war, sich immer nachher von selbst eingefunden hat. Dar- um auch ist sie reich und hat breite Wurzeln auf dem Boden der anschaulichen Wirklichkeit, aus welchem alle Nahrung abstrakter Wahrheiten quillt: und dar- um wieder ist sie nicht langweilig; welche Eigenschaft man sonst, nach den philosophischen Schriften der letzten funfzig Jahre zu urtheilen, für eine der Philo- sophie wesentliche halten könnte. Wenn hingegen alle Lehren einer Philosophie bloss eine aas der andern und zuletzt wohl gar aus einem ersten Satze abgeleitet sind; so muss sie arm und mager, mithin auch lang- weilig ausfallen; da aus keinem Satze mehr folgen kann, als was er eigentlich schon selbst besagt: zudem hängt dann alles von der Richtigkeit eines Satzes ab, und durch einen einzigen Fehler in der Ableitung wäre die Wahrheit des Ganzen gefährdet. Noch we- niger Gewährleistung geben die Systeme, welche von einer intellektualen Anschauung, d. i. eine Art Ekstase oder Hellsehn, ausgehen : jede so gewonnene Erkennt- niss muss als subjektiv, individuell und folglich proI>Ie- matisch, abgewiesen werden. Selbst wenn sie wirklich vorhanden wäre, würde sie nicht mittheilbar seyn : denn nur die normale Gehirnerkenntniss ist mittheilbar: wenn sie eine abstrakte ist, durch Begriffe und Worte; wenn eine bloss anschauliche, durch Kunstwerke. 23t Wenn man, wie so oft (jeschieht, der Metaphysik vorwirft, im Laufe so vieler Jahrhunderte, so {»erinf^e Fortschritte {gemacht zu hahen; so sollte man auch herücksichti{"en, dass keine andereWissenschaft, gleich ihr, unter fortwahrendem Drucke erwachsen, keine von aussen so gehemmt und gehindert worden ist, wie sie allezeit durch die Religion jedes Landes, als welche, üherall im Besitz des Monopols metaphysischer Erkenntnisse, sie nehen sich ansieht wie ein wildes Kraut, wie einen unherechtigten Arheiter, wie eine Zigeunerhorde, und sie in der Regel nur unter der Bedingung tolerirt, dass sie sich bequeme ihr zu dienen und nachzufolgen. Wo ist denn je wahre Gedanken- freiheit gewesen ? Gejirahlt hat man genug damit: aber sobald sie weiter gehen wollte, als etwan in unter- geordneten Dogn)en von der Landesreligion abzu- weichen, er{;riff die Verkündiger der Toleranz ein heiliger Schauder über die Vermessenheit, und es hiess: keinen Schritt weiter! — Welche Fortschritte der Metaphysik waren unter solchem Drucke möglich? Ja, nicht einmal auf die Mittlieilumj der Gedanken, sondern auf das Denken selbst erstreckt sich jener Zwang, den die privilegirte Metaphysik ausübt, da- durch, dass ihre Dogmen dem zarten, bildsamen ver- trauensvollen und gedankenlosen Kindesalter, unter studirtem, feierlich ernsten Mienenspiel so fest einge- prägt werden, dass sie, von dem an, mit dem Gehirn verwachsen und fast die Natur angeborener Gedanken annehmen, wofür manche Philosophen sie daher ge- halten haben, noch mehrere aber sie zu halten vor- geben. Nichts kann jedoch der Auffassiu)g auch nur des Problems der Metaphysik so fest entgegenstehen, wie eine ihm vorhergängige, aufgedrungene und dem Geiste früh eingeimpfte Lösung desselben: denn der nothwendige Ausgangspunkt zu allem ächten Philo- so[)hiren ist die tiefe Empfindung des Sokratischen : „Dies Eine weiss ich, dass ich nichts weiss." Die Alten standen auch in dieser Rücksicht im Vortheil gegen uns; da ihre Landesreligionen zwar die Mittheilung des Gedachten etwas beschränkten, aber die Freiheit des Denkens selbst nicht beeinträchtigten, weil sie 23 :> nicht föimlich und feierlich den Kindern eingeprägt, wie auch überhaupt nicht so ernsthaft genommen wiu'den. Daher sind die Aken noch unsere Lehrer in der Metaphysik. Bei jenem Vorwurf der geringen Fortschritte der Metaphysik und ihres, trotz so anhaltendem Bemühen, noch immer nicht erreichten Zieles, soll man ferner erwägen, dass sie unterweilen immerfort den un- schätzbaren Dienst geleistet hat, den unendlichen Ansprüchen der privilegirten Metaphysik Gränzen zu setzen und dabei zugleich doch dem, gerade durch diese als unausbleibliche Reaktion hervorgerufenen, eigent- lichen Naturalismus und Materialismus entgegenzu- arbeiten. Man bedenke, wohin es mit den Anmaas- sungen der Priesterschaft jeder Religion kommen würde, wenn der Glaube an ihre Lehren so fest und blind vv'äre, wie jene eigentlich wünscht. Man sehe dabei zurück auf alle Kriege, Unruhen, Rebellionen und Revolutionen in Europa vom achten bis zum ach- zehnten Jahrhundert: wie wenige wird man finden, die nicht zum Kern, oder zum Vorwand, irgend eine Glaubensstreitigkeit, also metaphysische Probleme, gehabt haben, welche der Anlass wurden, die Völker auf einander zu hetzen. Ist doch jenes ganze Jahr- tausend ein fortwährendes Morden, bald auf dem Schlachtfeld, bald auf dem Schaffbtt, bald auf den Gassen, — in metapliysischen Angelegenheiten! Ich wollte, ich hätte ein authentisches Verzeichniss aller Verbrechen, die wirkl ich das Christenthum verhindert, und aller guten Handlungen, die es wirklich erzeugt hat, um sie auf die andere Waagschaale legen zu können. Was endlich die Verpflichtungen der Metaphysik betrifft so hat sie nur eine einzige: denn es ist eine, die keine andere neben sich duldet: die Verpflichtung wahr zu seyn. Wollte man neben dieser ihr noch andere auferlegen, wie etwandie, spiritualistisch, opti- mistisch, monotheistisch, ja auch nur die, moralisch zu seyn; so kann man nicht zum voraus wissen, ob diese nicht der Erfüllung jener ersten entgegenstände, ohne welche alle ihre sonstigen Leistungen offenbar 9.33 werthlos seyn müssten. Eine gegebene Philosopie hat demnach keinen andern Maassstah ihrer Schätzung, als den der Wahrheit. - Uebri{!fen,s ist die Phih)sophie wesentHch fVellweisheü; ihr Problem ist die Welt: mit dieser allein hat sie es zu thun und lässt die Götter in Ruhe, erwartet aber dafür, auch von ihnen in Ruhe oelassen zu werden. 234 ERGÄNZUNGEN ZUM ZWEITEN BUCH. „Ihr folget falscher Spur, Denkt nicht, wir scherzen! Ist nicht der Kern der Natur Menschen im Herzen?" Goethe. ZUM ZWEITEN BUCH. VV\A\ VVVVVVVVVVVVVVVVVVVVVVVVVVVM/V vvvia IM^VV vvvvv^^ KAPITEL 18*). VON DER ERKENNBARKEIT DES DINGES AN SICH. ZU diesem Buche, welches den eigenthümHchslen • und wichtigsten Schritt nieinei Philosophie, näin lieh den von Ka7it als unmöglich aufgegehenen Ueher- gang von der Erscheinung zum Dinge an sich, enthält, habe ich die wesentlichste Ergänzung schon i836 ver- öffentlicht, unter dem Titel ,,Ueher den Willen in der Natur" (Zweite Auflage i854)- Man würde sehr irren, wenn man die fremden Aussprüche, an welche ich dort meine Erläuterungen geknüpft habe, für den ei- gentlichen Stoff und Gegenstand jener dem Umfang nach kleinen, dem Inhalt nach wichtigen Schrift bal- ten wollte: vielmehr sind diese bloss der Anlass, von welchem ausgehend ich daselbst jene Grundwahrheit meiner Lehre mit so grosser Deutlichkeit, wie sonst nirjjends, erörtert und bis zur empirischen Naturer- kenntniss herabgeführt habe. Und zwar ist dies am erschöpfendesten und stringentesten unter der Rubrik „Physische Astronomie" geschehen; so dass ich nicht hoffen darf, jemals einen richtigeren und genaueren Ausdruck jenes Kernes meiner Lehre zu linden, als der daselbst niedergelegte ist. Wer meine Philosophie ') Dieses Kapitel steht in Beziehung zu §. 1 8 des ersten Bandes. [S. 124 d. A.] 289 gründlich kennen und ernstlicli prüfen will, hat daher vor Allem die J)e.sa{}te Uui)rik zu herücksichtigen. Ueherhaupt also würde Alles in jener kleinen Schrift Gesagte den Hauptinhalt gegenwärtiger Ergänzungen ausmachen, wenn es nicht, als ihnen vorangegangen, ausgeschlossen hlelhen müsste; wogegen ich es nun aher hier als hekannt voraussetze, indem sonst gerade das Beste fehlen würde. Zunächst will ich jetzt, von einem allgemeinen Standpunkt aus, über den Sinn, in welchem von einer Erkenntniss des Dinges an sich die Rede seyn kann und über die nothwendige Beschränkung desselben einige Betrachtun^jen vorausschicken. Was ist Erhenyüniss? — Sie ist zunächst und we- sentlich Torstellunci. — Was ist Voi^stellung? — Ein sehr komplicirteryL>/?^ys/o/o^?W?e7" Vorgang im Gehirne eines Thieres, dessen Resultat das Bewusstseyn eines Bildes ebendaselbst ist. — Offenbar kann die Bezieh- ung eines solchen Bildes auf etwas von dem Thiere, in dessen Gehirn es dasteht, gänzlich Verschiedenes nur eine sehr mittelbare seyn. — Dies ist vielleicht die einfachste und fasslichste Art, die tiefe Kluft zwischen dem Idealen und Realen aufzudecken. Diese nämlich gehört zu den Dingen, deren man, wie der Bewegung der Erde, nicht unmittelbar inne wird: da- rum hatten die Alten sie, wie eben auch diese, nicht bemerkt. Ilinjjegen, von Cai^tesius zuerst, ein Mal nachgewiesen, hat sie seitdem den Philosophen keine Ruhe gegönnt. Nachdem aber zuletzt Äo/j^ die völlige Diversität des Idealen und Realen am allergründlich- sten dargethan, war es ein so kecker, wie absurder, jedoch auf die Urtheilskraft des philosophischen Pub- likums in Deutschland ganz richtig berechneter und daher von {flänzondem Erfolg gekrönterVersuch, durch, auf angebliche intellektuale Anschauung sich beru- fende, Machtsprüche, die absolute Identität Beider be- haupten zu wollen. — In Wahrheit hingegen ist ein subjektives und ein objektives Daseyn, ein Seyn für sich und ein Seyn für Andere, ein Bewusstseyn des eigenen Selbst und ein Bewusstseyn von andern Dingen, uns unmittelbar gegeben, und Beide sind es auf so grundverschiedene Welse, dass keine andere Verschie- denheit dieser gleich kommt. Von sich weiss Jeder unmittelbar, von allem Andern nur sehr mittelbar. Dies ist die Thatsache und das Problem. Hingegen ob, durch fernere Vorgänge im Innern eines Gehirns, aus den darin entstandenen anschau- lichen Vorstellungen oder Bildern x\llgemeinbegriffe (Universalia) abstrahirt werden, zum Behuf fernerer Kombinationen, wodurch das Erkennen ein vernünf- tiges wird und nunmehr Denken heisst, — dies ist hier nicht mehr das Wesentliche, sondern von unterge- ordneter Bedeutung. Denn alle solche Begriffe ent- lehnen ihren Inhalt allein aus der anschaulichen Vor- stellung, welche daher Uverkenntniss ist und also bei Untersuchung des Verhältnisses zwischen dem Idealen und dem Realen allein in Betracht kommt. Demnach zeugt es von gänzlicher Unkenntniss des Problems, oder ist wenigstens sehr ungeschickt, jenes Verhält- niss bezeichnen zu wollen als das zwischen Seyn und Denken. Das Denken hat zunächst bloss zum Anschaucii ein Verhältniss, das Anschauen aber hat eines zum Seyn an sich des Angeschauten, und dieses Letztere ist das grosse Problem, welches uns hier beschäftigt. Das empirische Seyn hingegen, wie es vorliegt, ist nichts Anderes, als eben nur das Gegebenseyn in der An- schauung: dieser ihr Verhältniss zum Denken ist aber kein Räthsel ; da die Begriffe, also der unmittelbare Stoff des Denkens, offenbar aus der Anschauung ab- strohif't Hind; woran kein vernünftiger Mensch zweifeln kann. Beiläufig gesagt, kann man, wie wichtig die Wahl der Ausdrücke in der Philosophie sei, daran sehen, dass jener oben gerügte, ungeschickte Ausdruck und das aus ihm entstandene Missverständniss die Grundlage der ganzen Hegeischen Afterphilosophie geworden ist, welche das Deutsche Publikum fünf- undzwanzig Jahre hindurch beschäftigt hat. Wollte man nun aber sagen: „die Anschauung ist schon die Erkenntniss des Dinges an sich: denn sie ist die Wirkung des ausser uns Vorhandenen, und wie dies ivirkt, so ist es: sein Wirken ist eben sein Seyn"; so steht dem entgegen: i) dass das Gesetz der 16 Schopenhauer II 2i[l Kausalität, wie geniijjsam bewiesen, subjekliven Ur- sprunjjs ist, so {jut wie die Sinneseinpfindung, von der die Anschauung ausgeht: '?.) dass ebenfalls Zeit und Raum, in denen das Objekt sich darstellt, subjektiven Ursprungs sind: 3) dass wenn das Seyn des Objekts eben in seinem Wirken besteht, dies besagt, dass es bloss in den Veränderungen, die es in Andern hervor- bringt, besteht, mithin selbst und an sich gar nichts ist. - — Bloss von der Materie ist es wahr, wie ich im Text gesagt und in der Abhandlung über den Satz vom Grunde, am Schlüsse des §.21, ausgeführt habe, dass ihr Seyn in ihrem Wirken besteht, dass sie durch und durch nur Kausalität, also die objektiv ange- schaute Kausalität selbst ist: daher ist sie aber eben auch nichts an sich ri uXr) to aXrjf^tvov tj^eoooc, materia mendacium verax), sondern ist, als Ingrediens des an- geschauten Objekts, ein blosses Abstraktum, welches für sich allein in keiner Erfahrung gegeben werden kann. Weiter unten wird sie, in einem eigenen Kapitel, ausführlich betrachtet werden. — Das angeschaute Objekt aber muss etwas ati sich selbst seyn und nicht bloss etwas für Andere: denn sonst wäre es schlechthin nur Vorstellung, und wir hätten einen absoluten Idea- lismus, der am Ende theoretischer Egoismus würde, bei welchem alle Realität wegfällt und die Welt zum blossen subjektiven Phantasma wird. W^enn wir in- zwischen, ohne weiter zu fragen, bei der JVelt als f'or- stellung ganz und gar stehen bleiben; so ist es freilich einerlei, ob ich die Objekte für Vorstellungen in mei- nem Kopfe, oder für in Zeit und Raum sich darstel- lende Erscheinungen erkläre : weil eben Zeit und Raum selbst nur in meinem Kopfe sind. In diesem Sinne Hesse sich alsdann eine Identität des Idealen und Realen immerhin behaupten: jedoch wäre, nachdem A<//<f da- gewesen, nichts Neues damit gesagt. Ueberdies aber wäre dadurch das Wesen der Dinge und der erschei- nenden Welt offenbar nicht erschöpft; sondern man stände damit noch immer erst auf der idealen Seite. Die ?-eale Seite muss etwas von der ff^elt als Vorstellung toto genere Verschiedenes seyn, nämlich Das, was die Dinge an sich selbst sind: und diese gänzliche Diver- :>42 sität des Idealen und Realen ist es, welche Kant am gründlichsten nachgewiesen hat. Locke nämlich hatte den Sinnen die Erkenntniss der Dinge, wie sie an sich sind, abgesprochen: Kant aber sprach sie auch dem anschauenden Verstände ab, unter welchem Namen ich hier Das, was er die reine Sinnlichkeit nennt, und das die empirische Anschau- ung vermittelnde Gesetz der Kausalität, sofern es a priori gegeben ist, zusammenfasse. Nicht nur haben Beide Recht, sondern auch ganz unmittelbar lässt sich einsehen, dass ein Widerspruch in der Behauptung liegt, ein Ding werde erkannt nach dem, was es an und für sich, d. h ausser der Erkenntniss, sei. Denn jedes Erkennen ist, wie gesagt, wesentlich ein Vor- stellen : aber mein Vorstellen, eben weil es meines ist, kann niemals identisch seyn mit dem W^esen an sich des Dinges ausser mir. Das An- imd Fürsichseyn jedes Dinges muss noth wendig ein subjektives seyn: in der Vorstellung eines Andern hingegen steht es eben so noth wendig als ein objetives da; ein Unterschied, der nie ganz ausgeglichen werden kann. Denn durch denselben ist die ganze Art seines Daseyns von Grund aus verändert: als objektives setzt es ein fremdes Sub- jekt, als dessen Vorstellung es existirt, voiaus, und ist zudem, wie Kant nachgewiesen hat, in Formen ein- gegangen, die seinem eigenen W^esen fremd sind, weil sie eben jenem fremden Subjekt, dessen Erkennen erst durch dieselben möglich wird, angehören. Wenn ich, in diese Betrachtung vertieft, etwan leblose Körper von leicht übersehbarer Grösse und regelmässiger fass- licher Form anschaue und nun versuche, dies räum- liche Daseyn, in seinen drei Dimensionen, als das Seyn an sich, folglich als das den Dingen subjektive Daseyn derselben aufzufassen ; so wird mir die Unmöglichkeit der Sache geradezu fühlbar, indem ich jene objektiven Formen nimmermehr als das den Dingen subjektive Seyn denken kann, vielmehr mir unmittelbar bewusst werde, dass was ich da vorstelle, ein in meinem Gehirn zu Stande gebrachtes und nur für mich als erkennendes Subjekt existirendes Bild ist, welches nicht das letzte, mithin subjektive Seyn an sich und für sich auch nur ,(r 243 dieser leblosen Körper ausmachen kann. Andererseits aber darf ich nicht annehmen, dass auch nur diese leblosen Körper ganz allein in meiner Vorstellung existirten; sondern muss ihnen, da sie unergründliche Eigenschaften und vermöge dieser Wirksamkeit haben, ein Seyn an sich, irgend einer Art, zugestehen. Aber eben dieser Unergründlichkeit der Eigenschaften, wie sie zwar einerseits auf ein von unserm Erkennen unabhängig Vorhandenes deutet, giebt andererseits den empirischen Beleg dazu, dass unser Erkennen, weil es nur im Voystellen mittelst subjektiver Formen besteht, stets blosse Erscheinungen, nicht das Wesen an sich der Dinge liefert. Hieraus nämlich ist es zu erklären, dass in iVUem, was w ir erkennen, uns ein ge- wisses Etwas, als ganz unergründlich, verborgen bleibt, und wir gestehen müssen, dass wir selbst die gemein- sten und einfachsten Erscheinungen nicht von Grund aus verstehen können. Denn nicht etwan bloss die höchsten Produktionen der Natur, die lebenden Wesen, oder die komplicirten Phänomene der unorganischen Welt bleiben uns unergründlich ; sondern selbst jeder Bergkrystall, jeder Schwefelkies, ist vermöge seiner krystallographischen, optischen, chemischen, elektri- schen Eigenschaften, für die eindringende Betrachtung und Untersuchung, ein Abgrund von Unbegreiflich- keiten und Geheimnissen. Dem könnte nicht so seyn, wenn wir die Dinge erkennten, wie sie an sich selbst sind: denn da müssten wenigstens die einfacheren Er- scheinungen, zu deren Eigenschaften nicht Unkennt- niss uns den Weg versperrt, von Grund aus uns ver- ständlich seyn und ihr ganzes Seyn und Wesen in die Erkenntniss übergehen können. Es liegt also nicht am Mangelhaften unserer Bekanntschaft mit den Din- gen, sondern am Wesen des Erkennens selbst. Denn wenn schon unsere Anschauung, mithin die ganze empirische Auffassung der sich uns darstellenden Dinge, wesentlich und hauptsächlich durch unser Er- kenntnissvermögen bestimmt und durch dessen F'ormen und Funktionen bedingt ist; so kann es nicht anders ausfallen, als dass die Dinge auf eine von ihrem selbst- eigenen Wesen ganz verschiedene Weise sich dar- stellen und daher wie in einer Maskeerscbeinen, welche das darunter Versteckte immer nur voraussetzen, aber nie erkennen lässt; weshalb es dann als unergründ- liches Geheimniss durchblinkt, und nie die Natur ir- gend eines Dinges ganz und ohne Rückhalt in die Er- kenntniss übergehen kann, noch viel weniger aber irgend ein Reales sich a priori konstruiren lässt, wie ein Mathematisches. Also ist die empirische Uner- forschlichkeit aller Naturwesen ein Beleg a posteriori der Idealität und blossen Erscheinungswirklichkeit ihres empirischen Daseyns. Diesem allen zufolge wird man auf dem Wege der objektiven Erkenntniss, mithin von der Vorstelluyig ausgehend, nie über die Vorstellung, d. i. die Er- scheinung, hinausgelangen, wird also bei der Aussen- seite der Dinge stehen bleiben, nie aber in ihr Inneres dringen und erforschen können, was sie an sich selbst, d. h. für sich selbst, seyn mögen. So weit stimme ich mit Kant überein. Nun aber habe ich, als Gegenge- wicht dieser W^ahrheit, jene andere hervorgehoben, dass wir nicht bloss das erkennende Subjekt sind, sondern andererseits auch selbst zu den zu erkennen- den Wesen gehören, selbst das Ding an sich sind; dass mithin zu jenem selbst-eigenen und inneren Wesen der Dinge, bis zu welchem wir von Aussen nicht dringen können, uns ein Weg von Innen offen steht, gleichsam ein unterirdischer Gang, eine geheime Ver- bindung, die uns, wie durch Verrath, mit Einem Male in die Festung versetzt, welche durch Angriff von aussen zu nehmen unmöglich war. — Das Ding an sich kann, eben als solches, nur ganz unmittelbar ins Bewusstseyn kommen, nämlich dadurch, dass es selbst sich seiner bewusst wird: es objektiv erkennen wollen, heissl etwas Widersprechendes verlangen. Alles Ob- jektive ist Vorstellung, mithin, Erscheinung, ja blosses Gehirnphänomen . Kants Hauptresultat lässt sich Wesentlichen so resu- miren: „Alle Begriffe, denen nicht eine Anschauung in Raum und Zeit (sinnliche Anschauung) zum Grunde liegt, d. h. also die nicht aus einer solchen Anschau- ung geschöpft worden, sind schlechterdings leer, d. h. geben keine Erkenntniss. Da nun aber die Anschau- ung nur Eischeinioigen, nicht Dinge an sich, Hefern kann, so haben wir auch von Dingen an sich gar keine Erkenntniss". — Ich gebediesvon Allem zu, nur nicht von der Erkenntniss, die Jeder von seinem eige- nen Wollen hat: diese ist weder eine Anschauung (denn alle Anschauung ist räumlich) noch ist sie leer; vielmehr ist sie realer, als irgend eine andere. Auch ist sie nicht a priori, wie die bloss formale, sondern ganz und gar a posteriori; daher eben wir sie auch nicht, im einzelnen Eall, anticipiren können, sondern hiebei oft des Irrthums über uns selbst überführt werden. — In der Tat ist unser Wollen die einzige Gelegenheit, die wir haben, irgend einen sich äusser- lich darstellenden Vorgang zugleich aus seinem Innern zu verstehen, mithin das einzige uns umnittelbar Be- kannte und nicht, wie alles üebrige, bloss in der Vorstellung Gegebene. Hier also liegt das Datum, welches allein tauglich ist, der Schlüssel zu allem Andern zu werden, oder, wie ich gesagt habe, die einzige, enge Pforte zur Wahrheit. Demzufolge müssen wir die Natur verstehen lernen aus uns seilest, nicht umgekehrt uns selbst aus der Natur. Das uns unmittel- l)ar Bekannte muss uns die Auslegung zu dem nur mittelbar Bekannten geben; nicht umgekehrt. Ver- steht man etwan das Fortrollen einer Ku{;el auf er- haltenen Stoss gründlicher, als seine eigene Bewe- gung auf ein wahrgenommenes Motiv? Mancher mag es wähnen: aber ich sage: es ist umgekehrt. Wir werden jedoch zu der Einsicht gelangen, dass in den beiden so eben erwähnten Vorgängen das Wesentliche identisch ist, wiewohl so identisch, wie der tiefste noch hörbare Ton der Harmonie mit dem zehn Oktaven höher liegenden gleichnamigen der selbe ist. Inzwischen ist wohl zu beachten, und ich habe es im- mer festgehalten, dass auch die innere Wahrnehmung, welche wir von unserm eigenen Willen haben, noch keineswegs eine erschöpfende imd adäquate Erkennt- nis» des Dinges an sich liefert. Dies würde der Fall seyn, wenn sie eine ganz unmittelbare wäre: weil sie :>46 nun aber dadurch vermittelt ist, dass der Wille, mit und mittelst der Korporisation, sich auch einen In- tellekt (zunx Behuf seiner Beziehungen zur Aussen- welt) schafft und durch diesen nunmehr im Selbst- bewusstseyn (dem nothwendigen Widerspiel der Aussenwelt) sich als Willen erkennt; so ist diese Er- kenntniss des Dinges an sich nicht vollkonmmen ad- äquat. Zunächst ist sie an die F'orm der Vorstellung gebunden, ist Wahrnehmung und zerfällt, als solche, in Subjekt und Objekt. Denn auch im Selbstbevvusst- seyn ist das Ich nicht schlechthin einfach, sondern besteht aus einem Erkennenden, Intellekt, und einem Erkannten, Wille: jener wird nicht erkannt, und dieser ist nicht erkennend, wenn gleich Beide in das Bewusstseyn Eines Ich zusananenlliessen. Aber eben deshalb ist dieses Ich sich nicht durch und durch intim, gleichsam durchleuchtet, sondern ist opak und bleibt daher sich selber ein Räthsel. Also auch in der innern Erkenntniss findet noch ein Unterschied Statt zwischen dem Seyn an sich ihres Objekts und der Wahrneh- mung desselben im erkennenden Subjekt. Jedoch ist die innere Erkenntniss von zwei Formen frei, welche der äussern anhängen, nämlich von der des Raums und von der alle Sinnesanschauung vermittelnden Form der Kausalität. Hingegen bleibt noch die Form der Zeit, wie auch die des Erkanntwerdens und Er- kennens überhaupt. Demnach hat in dieser innern Erkenntniss das Ding an sich seine Schleier zwar grossen Theils abgeworfen, tritt aber doch noch nicht ganz nackt auf. In Folge der ihm noch anhängenden Form der Zeit erkennt Jeder seinen Willen nur in dessen successiven einzelnen Akten, nicht aber im Ganzen, an und für sich: daher eben Keiner seinen Charakter a priori kennt, sondern ihn erst erfahrungs- mässig und stets unvollkommen kennen lernt. Aber dennoch ist die Wahrnehmung, in der wir die Re- gungen und Akte des eigenen Willens erkennen, bei Weitem unmittelbarer, als jede andere: sie ist der Punkt, wo das Ding an sich am unmittelbarsten in die Erscheinung tritt, und in grösster Nähe vom er- kennenden Subjekt beleuchtet wird; daher eben der 247 also intim erkannte Vorgangder Ausleger jedesanderen zu werden einzig und allein geeignet ist. Denn bei jedem Hervortreten eines Willensaktes aus der dunklen Tiefe unsers Innern in das erkennende Bewusstseyn geschieht ein unmittelbarer Uebergang des ausser der Zeit liegenden Dinges an sich in die Erscheinung. Demnach ist zwar der Willensakt nur die nächste und deutlichste Erscheinung des Dinges an sich; doch folgt hieraus, dass wenn alle übrigen Erscheinungen eben so unmittelbar und innerlich von uns erkannt werden könnten, wir sie für eben das ansprechen müssten, was der Wille in uns ist. In diesem Sinne also lehre ich, dass das innere Wesen eines jeden Dinges ff'^ille ist, und nenne den Willen das Ding an sich. Hiedurch wird Kants Lehre von der üneikenn- barkeit des Dinges an sich dahin modifizirt, dass das- selbe nur nicht schlechthin und von Grund aus er- kennbar sei, dass jedoch die bei Weitem unmittelbarste seiner Erscheinungen, welche durch diese Unmittel- barkeitsich von allen übrigen totogenere unterscheidet, es für uns vertritt, und wir sonach die ganze Welt der Erscheinungen zurückzuführen haben auf die- jenige, in welcher das Ding an sich in der allerleich- testen Verhüllung sich darstellt und nur noch insofern Erscheinung bleibt, als mein Intellekt, der allein das der Erkenntniss Fähige ist, von mir als dem Wol- lenden noch immer unterschieden bleibt und auch die Erkenntnissform der Zeit, selbst bei der inne?n Per- ception, nicht ablegt. Demzufolge lässt, auch nach diesem letzten und äussersten Schritt, sich noch die Frage aufwerfen, was denn jener Wille, der sich in der Welt und als die Welt darstellt, zuletzt schlechthin an sich selbst sei? d. h. was er sei, ganz abgesehen davon, dass er sich als /Fi7/e darstellt, oder überhaupt erscheitit, d. h. über- haupt erkannt, wird. — Diese Frage ist me zu beant- worten: weil, wie gesagt, das Erkanntwerden selbst schon dem Ansichseyn widerspricht und jedes Erkannte schon als solches nur Erscheinung ist. Aber die Mög- lichkeit dieser Frage zeigt an, dass das Ding an sich, welches wir am unmittelbarsten im Willen erkennen, ^48 ganz ausserhalb aller möglichen Erscheinung, Bestim- mungen, Eigenschaften, Daseynsweisen haben mag, welche für uns schlechthin unerkennbar und unfass- lieh sind, und welche eben dann als das Wesen des Dinges an sich übrig bleiben, wann sich dieses, wie im vierten Buche dargelegt wird, als Wille frei auf- gehoben hat, daher ganz aus der Erscheinung heraus- getreten und für unsere Erkennlniss, d. h. hinsichtlich der Welt der Erscheinungen, ins leere Nichts überge- gangen ist. W^äre der Wille das Ding an sich schlecht- hin und absolut; so wäre auch dieses Nichts ein abso- lutes; statt dass es sich eben dort uns ausdrücklich nur als ein relatives ergiebt. Indem ich nun daran gehe, die, sowohl in unserm zweiten Buche, als auch in der Schrift „Ueber den Willen in der Natur" gelieferte Begründung der Lehre, dass in siimmtlichen Erscheinungen dieser Welt sich, auf verschiedenen Stufen, eben Das objektivirt, was in der unmittelbarsten Erkenntniss sich als Wille kund giebt, noch durch einige dahin gehörige Betrachtungen zu ergänzen, will ich damit anfangen, eine Reihe psychologischer Thatsachen vorzuführen, welche dar- thun, dass zunächst in unserm eigenen Bewusstseyn der Wille stets als das Primäre und Fundamentale auftritt und durchaus den Vorrang behauptet vor dem Intellekt, welcher sich dagegen durchweg als das Se- kundäre, Untergeordnete und Bedingte erweist. Diese Nach Weisung ist um so nöthiger, als alle mir vorher- gegangenen Philosophen, vom ersten bis zum letzten, das eigentliche Wesen, oder den Kern des Menschen in das erkennende Bewusstseyn setzen, und demnach das Ich, oder bei Vielen dessen transscendente Hypo- stase, genannt Seele, als zunächst und wesentlicn ei- hennend, ja denkend, und erst in Folge hievon, sekun- därer und abgeleiteter Weise, als wollend aufgefasst und dargestellt habend. Dieser uralte und ausnahms- lose Grundirrthum, dieses enorme irptu-ov (l^eoSo? und fundamentale uoxspov Trpoxepov ist, vor allen Dingen, zu beseitigen und dagegen die naturgemässe Beschaf- fenheit der Sache zum völlig deutlichen Bewusstseyn zu bringen. Da aber Dieses, nach Jahrtausenden des 2 49 Philosophirens, liier /um ersten Male geschieht, wird einige Ausrührlichkeit dabei an ihrer »Stelle seyn. Das aui'fallende Phänomen, dass in diesem grundwesent- liohen Punkte alle Philosophen geirrt, ja, die Wahr- heit auf den Kopf gestellt haben, möchte, zumal bei denen der Christlichen Jahrhimderte, zum Theil dar- aus zu erklären seyn, dass sie sammtlich die Absicht batten, den Menschen als vom Thiere möglichst weit verschieden darzustellen, dabei jedoch dunkel fühlten, dass die Verschiedenheit Beider im Intellekt liegt, nicht im Willen; woraus ihnen unbewusst die Neigung hervorging, den Intellekt zum Wesentlichen und zur Hauptsache zu machen, ja, das Wollen als eine blosse Funktion des Intellekts darzustellen. Daher ist auch der Begriff einer Seele nicht nur, wie durch die Kritik der reinen Vernunft feststeht, als transscendente Hypostase, unstatthaft; sondern er wird zur Quelle unheilbarer Irrthümer, dadurch, dass er, in seiner „einfachen Sub- stanz", eine untheilbare Einheit der Erkenntniss und des Willens vorweg feststellt, deren Trennung gerade der Weg zur Wahrheit ist. Jener Begriff darf daher in der Philosophie nicht mehr vorkommen, sondern ist den Deutschen Medicinern und Physiologen zu überlassen, welche, nachdem sie Skalpel und Spatel weggelegt haben, mit ihren bei der Konfirmation überkommenen Begriffen zu philosophiren unterneh- men. Sie mögen allenfalls ihr Glück damit in England versuchen. Die französischen Physiologen und Zooto- men haben sich (bis vor Kurzem) von jenem VorAvurf durchaus frei gehalten. Die nächste, allen jenen Philosophen sehr unbeque- me Folge ihres gemeinschaftlichen Grundirrthums ist diese: da im Tode das erkennende Bewusstseyn augen- fällig untergeht; so müssen sie entweder den Tod als Vernichtung des Menschen gelten lassen, wogegen unser Inneres sich auflehnt; oder sie müssen zu der Annahme einer Fortdauer des erkennenden Bevvusst- seyns greifen, zu welcher ein starker Glaube gehört, da jedem seine eigene Erfahrun(; die durchgängige und gänzliche Abhängigkeit des erkennenden Bewusst- seyns vom Gehirn sattsam bewiesen hat, und man :>. f) o eben so leicht eine V^erdaoung ohne Magen glauben kann wie ein erkennendes Bewusstseyn ohne Gehirn. Avis diesem Dilemma führt allein meine Philosophie, als welche zuerst das eigentliche Wesen des Menschen nicht in das Bewusstsevn, sondern in den Willen setzt, der nicht wesentlich mit Bewusstseyn verbunden ist, sondern sich zum Bewusstseyn, d. h. zur Erkenntniss, verhält wie Substanz zu Accidenz, wie ein Beleuchtetes zum Licht, wie die Saite zum Resonanzboden, und der von Innen in das Bewusstseyn fällt, wie die Körper- welt von Aussen. Nunmehr können wir die ünzer- störbarkeit dieses unsers eigentlichen Kernes und wahren Wesens fassen, trotz dem offenbaren Unter- gehen des Bevvusstseyns im Tode und dem entsprechen- den Nichtvorhandenseyn desselben vor der Geburt. Denn der Intellekt ist so vergänglich, wie das Gehirn, dessen Produkt, oder vielmehr Aktion er ist. Das Gehirn aber ist, wie der gesammte Organismus, Pro- dukt, oder Erscheinung, kurz Sekundäres, des Willens, welcher allein das Unvergängliche ist. KAPITEL 19*). VOM PRIMAT DES WILLENS IM SELBST- BEWUSSTSEYN. DER Wille, als das Ding an sich, macht das innere wahre und unzerstörbare Wesen des Menschen aus: an sich selbst ist er jedoch bewusstlos. Denn das Bewusstseyn ist bedingt durch den Intellekt, und dieser ist ein blosses Accidenz unsers Wesens: denn er ist eine Funktion des Gehirns, welches, nebst den ihm anhängenden Nerven und Rückenmark, eine blosse Frucht, ein Produkt, ja, in sofern ein Parasit des übrigen Organismus ist, als es nicht direkt eingreift in dessen ') Dieses Kapitel steht in Beziehung zu 5- '9 des ersten Bandes. [S. 129 d. A.] inneres Getriebe, sondern dem Zweck der Selbster- hakun{jblossdadurcli dient, dass es die Verhältnissedes- selben zur Aussenwelt refjulirt. DerOrganisiniis selbst hingegen ist die Sichtbarkeit, Objektität, des indivi- duellen Willens, das Bild desselben, wie es sich dar- stellt in eben jenem Gehirn (welches wir im ersten Buch, als die Bedingung der objektiven Welt über- haupt, kennen gelernt haben), daher eben auch ver- mittelt durch dessen Erkenntnissformen, Raum, Zeit und Kausalität, folglich sich darstellend als ein Aus- gedehntes, successiv Agireudes und Materielles, d. h. Wirkendes. Sowohl direkt empfunden als mittelst der Sinne angeschaut werden die Glieder nur im Gehirn. — Diesem zufolge kann man sagen: der Intellekt ist das sekundäre Phänomen, der Oiganismus das primäre, nämlich die unmittelbare Erscheinung des Willens; — derWille ist metaphvsisch, der Intellekt physisch; — der Intellekt ist, wie seine Objekte, blosse Erscheinung; Ding an sich ist allein derWille: — sodann in einem mehr und mehr hildliclwn Sinne, mithin gleichniss- weise: der Wille ist die Substanz des Menschen, der Intellekt das Accidenz: — der Wille ist die Materie, der Intellekt die Form: — der Wille ist die Wärme, der Intellekt das Licht. Diese Thesis wollen wir nun zunächst durch fol- gende, dem innern Leben des Menschen angehörende Thatsachen dokumentieren und zugleich erläutern; bei welcher Gelegenheit für die Kenntniss des innern Menschen vielleicht mehr abfallen wird, als in vielen systematischen Psychologien zu finden ist. i) Nicht nur das Bewusstseyn von anderen Dingen, d. i. die Wahrnehmung der Aussenwelt, sondern auch das Selbstbetvusstsevn enthält, wie schon oben erwähnt, ein Erkennendes und ein Erkanntes: sonst wäre es kein Betuusstseyn. Demi BetvusstseYn besteht im Er- kennen: aber dazu gehört ein Erkennendes und ein Erkanntes; daher auch das Selbstbewusstseyn nicht Statt haben könnte, wenn nicht auch in ihm dem Er- kennenden gegenüber ein davon Verschiedenes Er- kanntes wäre. Wie nändich kein Objekt ohne Subjekt sevn kann, so auch kein Subjekt ohne Objekt, d. h. ■i5i kein Erkennendes ohne ein von ihm Verschiedenes, welches erkannt wird. Daher ist ein Bewusstseyn, wel- ches durch und durch reine Intelligenz wäre, un- möglich. Die Intelligenz gleicht der Sonne, welche den Raum nicht erleuchtet, wenn nicht ein Gegenstand da ist, von dem ihre Strahlen zurückgeworfen werden. Das Erkennende selbst kann, eben als solches, nicht erkannt werden: sonst wäre es das Erkannte eines an- dern Erkennenden. Als das Erkannte im Selbstbe- wusstseyn finden wir nun aber ausschliesslich den Willen. Denn nicht nur das Wollen und Beschliessen im engsten Sinne, sondern auch alles Streben, Wün- schen, Fliehen, Hoffen, Fürchten, Lieben, Hassen, kurz Alles, was das eigene Wohl vind Wehe, Lust und Unlust, unmittelbar ausmacht, ist offenbar nur Affektion des Willens, ist Regung, Modifikation des WoUens und Nichtwollens, ist eben Das, was, wenn es nach aussen wirkt, sich als eigentlicher Willensakt darstellt*). Nun aber ist in aller Erkenntniss das Er- kannte das Erste und Wesentliche, nicht das Erken- nende; sofern Jenes der TrpcoTOxuTro? dieses der extutio? ist. Daher muss auch im Selbstbewusstseyn das Er- kannte, mithin der Wille, das Erste und Ursprüng- liche seyn; das Erkennende hingegen nur das Sekun- däre, das Hinzugekommene, der Spiegel. Sie verhalten sich ungefähr wie der selbstleuchtende Körper zum reflektirenden ; oder auch wie die vibrirende Saite zum Resonanzboden, wo dann der also entstehende Ton das Bewusstseyn wäre. — Als ein solches Sinn- bild des Bewusstseyns können wir auch die Pflanze betrachten. Diese hat bekanntlich zwei Pole, Wurzel und Krone: jene ins Finstere, Feuchte, Kalte, diese ins *) Merkwürdig ist es, dass scfion ^«^urfmi« dieses erkannt hat. Nämlich im vierzelinten Buche De civ. Dei, c. 6. redet er von den afFectionibus animi, welche er, im vorhergehenden Buche, unter vier Kategorien, cupiditas, timor, laetitia, tristitia, ge- bracht hat, und sagt; voluntas est quippe in omnibus, imo omnes nihil aliud, quam voluntates sunt: nam quid est cupi- ditas et laetitia, nisi voluntas in eorum consensionem, quae volumus? et quid est metus atque tristitia, nisi voluntas in dissensionem ab bis, quae nolumus? cet. 253 Helle, Trockene, Warme strebend, sodann, als den Indifferenzpunkt beider Pole, da wo sie auseinander- treten, hart am Boden, den Wurzelstock (rhi/oma, !e collet). Die Wurzel ist das Wesentliche, Ursprüng- liche, Perennirende, dessen Absterben das der Krone nach sich zieht, ist also das Primäre; die Krone hin- j'jegen ist das Ostensible, aber Entsprossene und, ohne dass die Wurzel stirbt. Vergehende, also das Sekun- däre. Die Wurzel stellt den Willen, die Krone den Intellekt vor, und der Indifferenzpunkt Beider, der Wurzelstock wäre das Ich, welches als gemeinschaft- licher Endpunkt, Beiden angehört. Dieses Ich ist das pro tempore identische Subjekt des Erkennens und Wollens, dessen Identität ich schon in meiner aller- ersten Abhandlung (Ueber den Satz vom Grunde) und in meinem ersten philosophischen Erstaunen, das Wun- der -/ax' £;o)(7]v genannt habe. Es ist der zeitliche An- fangs- und Anknüpfungspunkt der gesammten Er- scheinung, d. h. derObjektivation des Willens: es be- dingt zwar die Erscheinung, aber ist auch durch sie bedingt. — Das hier aufgestellte Gleichniss lässt sich sogar bis auf die individuelle Beschaffenheit der Men- schen durchführen. Wie nämlich eine grosse Krone nur einer grossen Wurzel zu entspriessen pflegt; so finden die grössten intellektuellen Fähigkeiten sich nur bei heftigem, leidenschaftlichem Willen. Ein Ge- nie von phlegmatischem Charakter und schwachen Leidenschaften würde den Saftpflanzen, die bei an- sehnlicher, aus dicken Blättern bestehender Krone, sehr kleine Wurzeln haben, gleichen ; wird jedoch nicht gefunden werden. Dass Heftigkeit des Willens und Leidenschaftlichkeit des Charakters eine Beding- ungder erhöhten Intelligenz ist, stellt sich phvsiologisch dadurch dar, dass die Thätigkeit des Gehirns bedingt ist durch die Bewegung, welche die grossen, nach der basis cerebri laufenden Arterien ihm mit jedem Puls- schlage mittheilen; daher ein energischer Herzschlag, ja sogar, nach Bichat, ein kurzer Hals, ein Erforder- niss grosser Gehirnthäti{jkeit ist. Wohl aber findet sich das Gegentheil des Obigen: heftige Begierden, leiden- schaftlicher, ungestümer Charakter, bei schwachem 254 Intellekt, d. h. bei kleinem und übel konformirteni Gehirn, in dicker Schaale; eine so häußpe, als widrige Erscheinung; man könnte sie allenfalls den Runkel- rüben vergleichen. 2) Um nun aber das Bewusstseyn nicht bloss bild- lich zu beschreiben, sondern gründlich zu erkennen, haben wir zuvörderst aufzusuchen, was in jedem Be- wusstseyn sich auf gleiche Weise vorfindet und daher, als das (yemeinsame und Konstante, auch das Wesent- liche seyn wird. Sodann werden wir betrachten, was ein Bewusstseyn von dem andern unterscheidet, wel- ches demnach das Hinzugekommene und Sekundäre seyn wird. Das Bewusstseyn ist uns schlechterdings nur als Eigenschaft animalischer Wesen bekannt: folglich dürfen, ja können wir es nicht anders, denn als ani- malischem Bewusstseyn denken; so dass dieser Ausdruck schon tautologisch ist. — Was nun also in jedem thierischen Bewusstseyn, auch dem unvollkommensten und schwächsten, sich stets vorfindet, ja ihm zum Grunde liegt, ist das unmittelbare Innewerden eines Ferlaiigens und der wechselnden Befriedigung und Nichtbefriedigung desselben, in sehr verschiedenen Graden. Dies wissen wir gewissermassen a priori. Denn so wundersam verschieden auch die zahllosen Arten der Thiere seyn mögen, so fremd uns auch eine neue, noch nie gesehene Gestalt derselben entgegentritt; so nehmen wir doch vorweg das Innerste ihres Wesens, mit Sicherheit, als wohlbekannt, ja uns völlig vertraut an. Wir wissen nämlich, dass das Thier ivill, sogar auch ivas es will, nämlich Daseyn, Wohlseyn, Leben und Fortpflanzung: und indem wir hierin Identität mit vms völlig sicher voraussetzen, nehmen wir keinen Anstand, alle Willensaffektionen, die wir an uns selbst kennen, auch ihm unverändert beizulegen, und spre- chen, ohne Zaudern, von seiner Begierde, Abscheu, Furcht, Zorn, Hass, Liebe, Freude, Trauer, Sehnsucht u. s. f. Sobald hingegen Phänomene der blossen Er- kenntniss zur Sprache kommen, gerathen wir in Un- gewissheit. Dass das Thier begreife, denke, urtheile, wisse, wagen wir nicht zu sagen: nur Vorstellungen 255 überhaupt lejjen wir ihm siclier bei; weil ohne solche sein JVille nicht in jene obigen Bewegungen gerathen könnte. Aber hinsichtlich der bestimmten Erkennt- nissweise der Thiere und der genauen Gränzen der- selben in einer gegebenen Species, haben wir nur unbestimmte Begriffe und machen Konjekturen; daher auch unsere Verständigung mit ihnen oft schwierig ist imd nur in Folge von Erfahrung und Uebung künstlich zu Stande kommt. Hier also liegen Un- terschiede des Bewusstseyns. Hingegen ein Verlangen, Begehren, Wollen, oder Verabscheuen, Fliehen, Nicht- wollen, ist jedem Bewusstseyn eigen: der Mensch hat es mit dem Polypen gemein. Dieses ist demnach das Wesentliche und die Basis jedes Bewusstseyns. Die Verschiedenheit der Aeusserungen desselben, in den verschiedenen Geschlechtern thierischer Wesen, be- ruhtauf der verschiedenen Ausdehnung ihrer Erkennt- nisssphären, als worin die Motive jener Aeusserungen liegen. Alle Handlungen und Gebehrden der Thiere, welche Bewegungen des Willens ausdrücken, verstehen wir unmittelbar aus unserm eigenen Wesen; daher wir, so weit, auf mannigfaltige Weise mit ihnen sym- pathisiren. Hingegen die Kluft zwischen uns und ihnen entsteht einzig und allein durch die Verschiedenheit des Intellekts. Eine vielleicht nicht viel geringere, als zwischen einem sehr klugen Thiere und einem sehr beschränkten Menschen ist, liegt zwischen einem Dummkopf und einem Genie; daher auch hier die andererseits aus der Gleichheit der Neigungen und Affekte entspringende und Beide wieder assimilirende Aehnlichkeit zwischen ihnen bisweilen überraschend hervortritt und Erstaunen erregt — Diese Betrach- tung macht deutlich, dass der JVUle in allen thierischen Wesen das Primäre und Substantiale ist, der Intellekt hingegen ein Sekundäres, Hinzugekommenes, ja, ein blosses Werkzeug zum Dienste des P3rsteren, welches, nach den Erfordernissen dieses Dienstes, mehr oder weniger vollkommen und komplicirt ist. Wie, den Zwecken des Willens einer Thiergattung gemäss, sie mit Huf, Klaue, Hand, Flügeln, Geweih oder Gebiss versehen auftritt, so auch mit einem mehr oder we- 256 niger entwickelten Gehirn, dessen Funktion die zu ihrem Bestand erforderliche Intelligenz ist. Je kom- plicirter nämlich, in deraufsteigendenKeihederThiere, die Organisation wird, desto vielfacher werden auch ihre Bedürfnisse, und desto mannigfaltiger und speciel- 1er bestimmt die Objekte, welche zur Befriedigung derselben taugen, desto verschlungener und entfernter mithin die Wege, zu diesen zu gelangen, welche jetzt alle erkannt und gefunden werden müssen: in dem- selben Maasse müssen daher auch die Vorstellungen des Thieres vielseitiger, genauer, bestimmter und zu- sammenhängender, wie auch seine Aufmerksamkeit gespannter, anhaltender und erregbarer werden, folg- lich sein Intellekt entwickelter und vollkommener seyn. Demgemäss sehen wir das Organ der Intelligenz, also das Cerebralsystem, sammt den Sinneswerkzeu- gen, mit der Steigerung der Bedürfnisse und der Komplikation des Organismus gleichen Schritt halten, und die Zunahme des vorstellenden Theiles des Be- wusstseyns (im Gegensatz des luollenden) sich körper- lich darstellen im immer grösser werdenden Verhält- niss des Gehirns überhaupt zum übrigen Nervensystem, und sodann des grossen Gehirns zum kleinen; da {nach FlourenzJ Ersteres die Werkstätte der Vorstel- lungen; Letzteres der Lenker und Ordner der Be- wegungen ist. Der letzte Schritt, den die Natur in dieser Hinsicht gethan hat, ist nun aber unverhält- nissmässig gross. Denn im Menschen erreicht nicht nur die bis hierher allein vorhandene anschauende Vorstellungskraft den höchsten Grad der Vollkommen- heit; sondern die abstrakte Vorstellung, das Denken, d. i. die Vernunft^ und mit ihr die Besonnenheit, kommt hinzu. Durch diese bedeutende Steigerung des Intelleks, also des sekundären Theiles des Bewusst- seyns, erhält derselbe über den primären jetzt in sofern ein Uebergewicht, als er fortan der vorwaltend thätige wird. Während nämlich beim Thiere das unmittel- bare Innewerden seines befriedigten oder unbefriedig- ten Begehrens bei Weitem das Hauptsächliche seines Bewusstseyns ausmacht, und zwar um so mehr, je tiefer das Thier steht, so dass die untersten 'i'hiere iy Schopenhauer II 2 5'y nur durch die Zugabe einer dumpfen Vorstellung sich von den Pflanzen unterscheiden; so tritt beim Men- schen das Gegentheil ein. So heftig, selbst heftiger als die irgend eines Thieres, seine Begehrungen, als welche zu Leidenschaften anwachsen, auch sind ; so bleibt dennoch sein Bewusstseyn fortwahrend und vorwal- tend mit Vorstellungen und Gedanken beschäftigt und erfüllt. Ohne Zweifel hat hauptsächlich dieses den Anlass gegeben zu jenem Grundirrthum aller Philo- sophen, vermöge dessen sie als das Wesentliche und Primäre der sogenannten Seele, d. h. des innern oder geistigen Lebens des Menschen, das Denken setzen, es allemal voranstellend, das Wollen aber, als ein blosses Ergebniss desselben, erst sekundär hinzukom- men und nachfolgen lassen. Wenn aber das Wollen bloss aus dem Erkennen hervorgienge; wie könnten denn die Thiere, sogar die unteren, bei so äusserst geringer Erkenntniss, einen oft so unbezwinglich hef- tigen Willen zeigen? Weil demnach jener Grundirr- thum der Philosophen gleichsam das Accidenz zur Substanz macht, führt er sie auf Abwege, aus denen nachher kein Herauslenken mehr ist. — Jenes beim Menschen nun also eintretende relative üeberwiegen des erkennenden Bewusstsevns über das hegehi^ende, mithin des sekundären Theiles über den primären^ kann in einzelnen, abnorm begünstigten Individuen so weit gehen, dass, in den Zeitpunkten der höchsten Steigerung, der sekundäre oder erkennende Theil des Bewusstseyns sich vom wollenden ganz ablöst und für sich selbst in freie, d. h. vom Willen nicht ange- regte, also ihm nicht mehr dienendeThätigkeit geräth, wodurch er rein objektiv und zum klaren Spiegel der Welt wird, woraus dann die Konceptionen des Genies hervorgehen, welche der Gegenstand unseres dritten Buches sind. 3) Wenn wir die Stufenreihe der Thiere abwärts durchlaufen, sehen wir den Intellekt immer schwächer und unvollkommener werden: aber keineswegs be- merken wir eine entsprechende Degradation des Wil- lens. Vielmehr behält dieser überall sein identisches Wesen und zeigt sich als grosse Anhänglichkeit an> 258 Leben, Sorge für Individuum und Gattung, Egoismus und Rücksichtslosigkeit gegen alle Andern, nebst den hieraus entspringenden Affekten. Selbst im kleinsten Insekt ist der Wille vollkommen und ganz vorhanden: es will was es will, so entschieden und vollkommen wie der Mensch. Der Unterschied liegt bloss in dem was es will, d. h. in den Motiven, welche aber Sache des Intellekts sind. Dieser freilich, als Sekundäres und an körperliche Organe Gebundenes, hat unzählige Grade der Vollkommenheit und ist überhaupt wesent- lich beschränkt und unvollkommen. Hingegen der Wille, als Ursprüngliches und Ding an sich, kann nie unvollkommen seyn; sondernjeder Willensakt ist ganz was er seyn kann. Vermöge der Einfachheit, die dem Willen als dem Ding an sich, dem Metaphysischen in der Erscheinung, zukommt, lässt sein Wesen keine Grade zu, sondern ist stets ganz es selbst: bloss seine Erregung hat Grade, von der schwächsten Neigung bis zur Leidenschaft, und eben auch seine Erregbar- keit, also seine Heftigkeit, vom phlegmatischen bis zum cholerischen Temperament. Der Intellekt hin- gegen hat nicht bloss Grade der Erregung, von der Schläfrigkeit bis zur Laune und Begeisterung, sondern auch Grade seines Wesens selbst, der Vollkommenheit desselben, welche demnach stufenweise steigt, vom niedrigsten, nur dumpf wahrnehmenden Thiere bis zum Menschen, und da wieder vom Dummkopf bis zum Genie. Der Wille allein ist überall ganz er selbst. Denn seine Funktion ist von der grössten Einfachheit : sie besteht im Wollen und Nichtwollen, welches mit der grössten Leichtigkeit, ohne Anstrengung von Stat- ten geht und keiner Üebung bedarf; während hingegen das Erkennen mannigfaltige Funktionen hat und nie ganz ohne Anstrengung vor sich geht, als welcher es zum Fixiren der Aufmerksamkeit und zum Deutlich- machen des Objekts, weiter aufwärts noch gar zum Denken und üeberlegen, bedarf; daher es auch grosser Vervollkommnung durch Uebung und Bildung fähig ist. Hält der Intellekt dem Willen ein einfaches An- schauliches vor; so spricht dieser sofort sein Genehm oder Nichtgenehm darüber aus: und eben so, wenn der Intellekt mühsam gegrübelt und abgewogen hat, um aus zahlreichen Datis, mittelst schwieriger Kom- binationen, endlich das Resultat herauszubringen, wel- ches dem Interesse des Willens am meisten gemäss scheint; da hat dieser unterdessen müssig geruht und tritt, nach erlangtem Resultat, herein, wie der Sultan in den Diwan, um wieder nur sein eintöniges Genehm oder Nichtgenehm auszusprechen, welches zwar dem Grade nach verschieden ausfallen kann, dem Wesen nach stets das selbe bleibt. Diese grundverschiedene Natur des Willens und des Intellekts, die jenem wesentliche Einfachheit und Ursprünglichkeit, im Gegensatz der komplicirten und sekundären Beschaffenheit dieses, wird uns noch deut- licher, wenn wir ihr sonderbares Wechselspiel in un- serm Innern beobachten und nun im Einzelnen zu- sehen, wie die Bilder und Gedanken, welche im In- tellekt aufsteigen, den Willen in Bewegung setzen, und wie ganz gesondert und verschieden die Rollen Beider sind. Dies können wir nun zwar schon wahr- nehmen bei wirklichen Begebenheiten, die den Willeis lebhaft erregen, während sie zunächst und an sich selbst bloss Gegenstände des Intellekts sind. Allein theils ist es hiebei nicht so augenfällig, dass auch diese Wirklichkeit als solche zunächst nur im Intellekt vor- handen ist; theils geht der Wechsel dabei meistens nicht so rasch vor sich, wie es nöthig ist, wenn die Sache leicht übersehbar und dadurch recht fasslich werden soll. Beides ist hingegen der Fall, wenn es blosse Gedanken und Phantasien sind, die wir auf den Willen einwirken lassen. Wenn wir z. B., mit uns selbst allein, unsere persönlichen Angelegenheiten überdenken und nun etwan das Drohende einer wirk- lich vorhandenen Gefahr und die Möglichkeit eines unglücklichen Ausganges uns lebhaft vergegenwärti- gen; so presst alsbald Angst das Herz zusammen und das Blut stockt in den Adern. Geht dann aber der Intellekt zur Möglichkeit des entgegengesetzten Aus- {fanges über und lässt die Phantasie das lang gehoffte, dadurch erreichte Glück ausmalen: so gerathen als- bald alle Pulse in freudige Bewegung und das Herz 260 liihlt sich federleicht; bis der Intellekt aus seinem Traum erwacht. Darauf nun führe etwan irgend ein Anlass die Erinnerung an eine längst ein Mal erlittene Beleidigung oder Beeinträchtigung herbei: sogleich durchstürmt Zorn und Groll die eben noch ruhige Brust. Dann aber steige, zufallig angeregt, das Bild einer längst verlorenen Geliebten auf, an welches sich der ganze Roman, mit seinen Zauberscenen, knüpft; da wird alsbald jener Zorn der tiefen Sehnsucht und Wehmuth Platz machen. Endlich falle uns noch irgend ein ehemaliger beschämender Vorfall ein : wir schrum- pfen zusammen, möchten versinken, die Schaamröthe steigt auf, und wir suchen oft durch irgend eine laute Aeusserung uns gewaltsam davon abzulenken und zu zerstreuen, gleichsam die bösen Geister verscheu- chend. — Man sieht, der Intellekt spielt auf und der Wille muss dazu tanzen: ja, jener lässt ihn die Rolle eines Kindes spielen, welches von seiner Wärterin, durch Vorschwatzen und Erzählen abwechselnd er- freulicher und trauriger Dinge, beliebig in die ver- schiedensten Stimmungen versetzt wird. Dies beruht darauf, dass der Wille an sich erkenntnisslos, der ihm zugesellte Verstand aber willenlos ist. Daher verhält sich jener wie ein Körper, welcher bewegt wird, dieser wie die ihn in Bewegung setzenden Ursachen: denn er ist das Medium der Motive. Bei dem Allen jedoch wird das Primat des Willens wieder deutlich, wenn dieser dem Intellekt, dessen Spiel er, wie gezeigt, so- bald er ihn walten lässt, wird, ein Mal seine Ober- herrschaft in letzter Instanz fühlbar macht, indem er ihm gewisse Vorstellungen verbietet, gewisse Gedan- kenreihen gar nicht aufkommen lässt, weil er weiss, d. h. von eben demselben Intellekt erfährt, dass sie ihn in irgend eine der oben dargestellten Bewegungen versetzen würden: er zügelt jetzt den Intellekt und zwingt ihn sich auf andere Dinge zu richten. So schwer dies oft seyn mag, muss es doch gelingen, sobald es dem Willen Ernst damit ist: denn das Widerstreben dabei geht nicht von dem Intellekt aus, als welcher stets gleichgültig bleibt; sondern vom Willen selbst, der zu einer Vorstellung, die er in einer Hinsicht ver- abscheuet, in anderer Hinsicht eine Neigung hat, Sie ist ihm nämhch an sich interessant, eben weil sie ihn bewegt; aber zugleich sagt ihm die abstrakte Erkennt- niss, dass sie ihn zwecklos in qualvolle, oder unwür- dige Erschütterung versetzen wird : dieser letztern Er- kenntniss gemäss entscheidet er sich jetzt und zwingt den Intellekt zum Gehorsam. Man nennt dies ,,Herr über sich seyn": offenbar ist hier der Herr der Wille, der Diener der Intellekt; da jener in letzter Instanz stets das Regiment behalt, mithin den eigentlichen Kern, das Wesen an sich des Menschen ausmacht. In dieser Hinsicht würde der Titel 'Hyeul&vixov dem Willen gebühren: jedoch scheint derselbe wiederum dem /n- tellekt zuzukommen, sofern dieser der Leiter und Füh- rer ist, wie der Lohnbediente, der vor dem Fremden hergeht. In Wahrheit aber ist das treffendeste Gleich- niss für das Verbal tniss Beider der starke Blinde, der den sehenden Gelähmten auf den Schultern trägt. Das hier dargelegteVerhältniss des Willens zum In- tellekt ist ferner auch darin zu erkennen, dass der In- tellekt den Beschlüssen des Willens ursprünglich ganz fremd ist. Er liefert ihm die Motive; aber wie sie ge- wirkt haben, erfahrt er erst hinterher, völlig a posteri- ori ; wie wer ein chemisches Experiment macht, die Rea- genzien heranbringt und dann den Erfolg abwartet. Ja, der Intellekt bleibt von den eigentlichen Entschei- dungen und geheimen Beschlüssen des eigenen Wil- lens so sehr ausgeschlossen, dass er sie bisweilen, wie die eines fremden, nur durch Belauschen und Leber- raschen erfahren kann, und ihn auf der That seiner Aeusserungen ertappen muss,um nur hinter seine wah- ren Absichten zu kommen. Z. B. ich habe einen Plan entworfen, dem aber bei mir selbst noch ein Skrupel entgegensteht, und dessen Ausführbarkeit andererseits, ihrer Möglichkeit nach, völlig ungewiss ist, indem sie von äussern, noch unentschiedenen Umständen ab-r hängt; daher es vor der Hand jedenfalls unnöthig wäre, darüber einen Entschluss zu fassen; weshalb ich die Sache für jetzt auf sich beruhen lasse. Da weiss ich nun oft nicht, wie fest ich schon mit jenem Plan im Geheimen verbrüdert bin, und wie sehr ich, trotz dem 262 Skrupel, seine Ausführung wünsche: d. h. mein In- tellekt weiss es nicht. Aber jetzt komme nur eine der Ausführbarkeit günstige Nachricht: sogleich steigt in meinem Innern eine jubelnde, unaufhaltsame Freudig- keit, auf, die sich über mein ganzes Wesen verbreitet und es in dauernden Besitz nimmt, zu meinem eigenen Erstaunen. Denn jetzt erst erfährt mein Intellekt, wie fest bereits mein Wille jenen Plan ergriffen hatte und wie gänzlich dieser ihm gemäss war, während der In- tellekt ihn noch für ganz problematisch und jenem Skrupel schwerlich gewachsen gehalten hatte. — Oder, in einem andern Fall, ich bin mit grossem Eifer eine gegenseitige Verbindlichkeit eingegangen, die ich mei- nen Wünschen sehr angemessen glaubte. Wie nun, beim Fortgang der Sache, die Nachtheile und Beschwer- den fühlbar werden, werfe ich auf mich den Verdacht, dass ich, was ich so eifrig betrieben wohl gar bereue: jedoch reinige ich mich davon, indem ich mir die Ver- sicherung gebe, dass ich, auch ungebunden, auf dem selben VV^ege fortfahren würde. Jetzt aber löst sich unerwartet die Verbindlichkeit von der andern Seite auf und mit Erstaunen nehme ich wahr, dass dies zu meiner grossen Freude und Erleichterung geschieht. — Oft wissen wir nicht was wir wünschen, oder was wir fürchten. Wir können Jahre lang einen Wunsch hegen, ohne ihn uns einzugestehen, oder auch nur zum klaren Bevvusstseyn kommen zu lassen; weil der In- tellekt nichts davon erfahren soll; indem die gute Mei- nung, welche wir von uns selbst haben, dabei zu lei- den hätte: wird er aber erfüllt, so erfahren wir an unserer Freude, nicht ohne Beschämung, dass wir Dies gewünscht haben: z. B. den Tod eines nahen Anver- wandten, den wir beerben. Und was wir eigentlich fürchten, wissen wir bisweilen nicht; weil uns der Muth fehlt, es uns zum klaren Bewusstseyn zu brin- gen. — Sogar sind wir oft über das eigentliche Motiv, aus dem wir etwas thun oder unterlassen, ganz im Irrthum, — bis etwan endlich ein Zufall uns das Ge- heimniss aufdeckt und wir erkennen, dass was wir für das Motiv gehalten, es nicht war, sondern ein anderes, welches wir uns nicht hatten eingestehen wollen, weil 263 es der guten Meinung, die wir von uns selbst hegen, keineswegs entspricht. Z. B. wir unterlassen etwas, aus rein moralischen Gründen, wie wir glauben; er- fahren jedoch hinterher, dass bloss die Furcht uns ab- hielt, indem wir es thun, sobald alle Gefahr beseitigt ist. In einzelnen Fällen kann es hiemit so weit gehen, dass ein Mensch das eigentliche Motiv seiner Hand- lung nicht ein Mal muthmaasst, ja, durch ein solches bewogen zu werden sich nicht für fähig hält: dennoch ist es das eigentliche Motiv seiner Handlung. — Bei- läufig haben wir an allem Diesen eine Bestätigung und Erläuterung der Regel des Larochefoucauld : Tamour- propre est plus habile que le plus habile homme du monde; ja, sogar einen Kommentar zum Delphischen Yvo>&i oauTov und dessen Schwierigkeit. — Wenn nun hingegen, wie alle Philosophen wähnten, der Intellekt unser eigentliches Wesen ausmachte und die Willens- beschlüsse ein blosses Ergebniss der Erkenntniss wä- ren; so müsste für unsern moralischen Werth gerade nur das Motiv, aus welchem wir zu handeln ivähnen, entscheidend seyn; auf analoge Art, wie die Absicht, nicht der Erfolg, hierin entscheidend ist. Eigentlich aber wäre alsdann der unterschied zwischen gewähn- tem und wirklichem Motiv unmöglich — Alle hier dargestellten Fälle also, dazu jeder Aufmerksame Ana- loga an sich selbst beobachten kann, lassen uns sehen, wie der Intellekt dem Willen so fremd ist, dass er von diesem bisweilen sogar mystifizirt wird: denn er lie- fert ihm zwar die Motive, aber in die geheime Werk- stätte seiner Beschlüsse dringt er nicht. Er ist zwar ein Vertrauter des Willens, jedoch ein Vertrauter, der nicht Alles erfährt. Eine Bestätigung hievon giebt auch noch die Thatsache, welche fast Jeder an sich zu beob- achten ein Mal Gelegenheit haben wird, dass bis- weilen der Intellekt dem Willen nicht recht traut. Nämlich wenn wir irgend einen grossen und kühnen Entschluss gefasst ha ben, — der als solcher doch eigent- lich nur ein vom Willen dem Intellekt gegebenes Ver- sprechen ist; — so bleibt oft in imserm Innern ein leiser, nicht eingestandener Zweifel, ob es auch ganz ernstlich damit gemeint sei, ob wir auch bei der Aus- führung nicht wanken oder zurückweichen, sondern Festigkeit und Beharrlichkeit genug haben werden, es zu vollbringen. Es bedarf daher der That, um uns selbst von der Aufrichtigkeit des Entschlusses zu über- zeugen. — Alle diese Thalsachen bezeugen die gänzliche Ver- schiedenheit des Willens vom Intellekt, das Primat des Ersteren und die untergeordnete Stellung des Letz- teren. 4) Tier Intellekt ermüdet; der Wille ist unermüdlich. — Nach anhaltender Kopfarbeit fühlt man die Er- müdung des Gehirnes, wie die des Armes, nach an- haltender Körperarbeit. Alles Erkennen ist mit An- strengung verknüpft: /^o//en hingegen ist unser selbst- eigenes Wesen, dessen Aeusserungen ohne alle Mühe und völlig von selbst vor sich gehen. Daher, wenn unser Wille stark aufgeregt ist, wie in allen Affekten, also im Zorn, Furcht, Begierde, Betrübniss u. s. w., und man fordert uns jetzt zum Erkennen, etwan in der Absicht der Berichtigung der Motive jener Affekte, auf; so bezeugt die Gewalt, die wir uns dazu anthuu müssen, den Uebergang aus der ursprünglichen, natür- lichen und selbsteigenen, in die abgeleitete, mittelbare und erzwungene Thätigkeit. — Denn der Wille allein ist aoTO|xa-o<; und daher axa^iaxoc, xai aYrjpaTo? 7][xata Travia (lassitudinis et senii expers in sempiternum). Er allein ist unaufgefordert, daher oft zu früh und zu sehr, thätig, und kennt kein Ermüden. Säuglinge, die kaum die erste schwache Spur von Intelligenz zeigen, sind schon voller Eigenwillen: durch unbändiges, zweckloses Toben und Schreien zeigen sie den Willens- drang, von dem sie strotzen, während ihr Wollen noch kein Objekt hat, d. h. sie wollen, ohne zu wissen was sie wollen. Hieher gehört auch was Cabanis bemerkt: Toutes ces passions, qui se succedent d'une mani<>re si rapide, et se peignent avec tant de naivete, sur le visage mobile des enfans.Tandis que les faibles muscles de leurs bras et de leurs jambes savent encore a peine former quelques mouvemens indecis, les muscles de la face expriment deja par des mouvemens distincts presque toute la suite des affections generales propres 265 a la naturehumaiue: etTobservateur attentif reconnait tacilement dans ce tableau les traits caracteristiques de rii Olli ine futur. (Ra])ports du physique et moral, Vol. I, p. 1 23.) — Der Intellekt hin^jegen entwickelt sich langsam, der Vollendung des Gehirns und der Reife des ganzen Orgaiiismus folgend, welche seine Bedingungen sind; eben weil er nur eine somatische Funktion ist. Weil das Gehirn schon mit dem sieben- ten Jahre seine volle Grösse erlangt hat, werden die Kinder von dem an, so auffallend intelligent, wiss- begierig und vernünftig. Danach aber kommt die Pubertät : sie erteilt dem Gehirn gewisserniaassen einen Widerhalt, oder einen Resonanzboden, und hebt mit Einem Male den Intellekt um eine grosse Stufe, gleich- sam um eine Oktave, entsprechend ihrem Herabsetzen der Stimme um eine solche. Aber zugleich wider- streben jetzt die auftietenden thierischen Begierden und Leidenschaften der Vernünftigkeit, welche vor- her herrschte, und Dies nimmt zu. Von der Unermüd- lichkeit des Willens zeugt ferner der Fehler, welcher, mehr oder weniger, wohl allen Menschen von Natur eigen ist und nur durch Bildung bezwungen wird: die Voj^eiligkeit. Sie besteht darin, dass der Wille vor der Zeit an sein Geschäft eilt. Dieses nämlich ist das rein Aktive und Exekutive, welches erst eintreten soll, nachdem das Explorative und Deliberative, also das Erkennende, sein Geschäft völlig und ganz beendigt hat. Aber selten wird diese Zeit wirklich abgewartet. Kaum sind über die vorliegenden Umstände, oder die eingetretene Begebenheit, oder die mitgetheilte fremde Meinung, einige wenige Data von der Erkenntniss obenhin aufgefasst und flüchtig zusammengerafft; so tritt schon aus der Tiefe des Gemüths der stets bereite und nie müde Wille unaufgefordert hervor und zeigt sich als Schreck, Furcht, Hoffnung, Freude, Begierde, Neid, Betrübniss, Eifer, Zorn, Wuth, und treibt zu raschen Worten oder Thaten, auf welche meistens Reue folgt, nachdem die Zeit gelehrt hat, dass das Hegemonikon, der Intellekt, mit seinem Geschäft des Auffassens der Umstände, Ueberlegens ihres Zusam- menhanges und Beschliessens des Rathsamen, nicht 2G6 hat auch nur halb zu Ende kommen können, weil der Wille es nicht abwartete, sondern lange vor seiner Zeit vorsprang mit „jetzt ist die Reihe an mir!" und sofort die Aktive ergriff, ohne dass der Intellekt Wider- stand leistete, als welcher ein blosser Sklave und Leib- eigener des Willens, nicht aber, wie dieser, auxojjLaxo?, noch aus eigener Kraft und eigenem Drange thätig ist; daher er vom Willen leicht bei Seite geschoben und durch einen Wink desselben zur Ruhe gebracht wird; während er seinerseits, mit der äussersten An- strengung, kaum vermag, den Willen auch nur zu einer kurzen Pause zu bringen, um zum Wort zu kommen. Dieserhalb sind die Leute so selten und werden fast nur unter Spaniern, Türken und allen- falls Engländern gefunden, welche, auch unter den provocirendsten Umständen, den Kopf oben behalten, die Auffassung und Untersuchung der Sachlage imper- turbirt fortsetzen und, wo Andre schon ausser sich wären, con mucho sosiego, eine fernere Frage thun; welches etwas ganz anderes ist, als die auf Phlegma und Stumpfheit beruhende Gelassenheit vieler Deut- schen und Holländer. Eine unübertreffliche Veran- schaulichung der belobten Eigenschaft pflegte Ij^land zu geben, als Hetmann der Kosaken, im Benjowski, wann die Verschworenen ihn in ihr Zelt gelokt haben und nun ihm eine Büchse vor den Kopf halten, mit dem Bedeuten, sie würde abgedrückt, sobald er einen Schrei thäte: IJfland blies in dieMündung der Büchse, um zu erproben, ob sie auch geladen sei. — Von zehn Dingen, die uns ärgern, würden neun es nicht ver- mögen, wenn wir sie recht gründlich, aus ihren Ur- sachen, verständen und daher ihre Nothwendigkeit und wahre Beschaffenheit erkennten: dies aber wür- den wir viel öfter, wenn wir sie früher zum Gegen- stand der Ueberlegung, als des Eifers und Verdrusses machten. — Denn was, für ein unbändiges Boss, Zü- gel und Gebiss ist, dass ist für den Willen im Men- schen der Intellekt: an diesem Zügel muss er gelenkt werden, mittelst Belehrung, Ermahnung, Bildung u. s. w.; da er an sich selbst ein so wilder, ungestümer Drang ist, wie die Kraft, die im herabstürzenden 26- Wasserfall erscheint, — ja, wie w'iv wissen, im tief- sten Grunde, identisch mit dieser. Im höchsten Zorn, im Rausch, in der Verzweiflung, hat er das Gebiss zwischen die Zähne genommen, ist dur(;h gegangen und folgt seiner ursprünglichen Natur. In der Mania sine delirio hat er Zaum und Gebiss ganz verloren, und zeigt nun am deutlichsten sein ursprüngliches Wesen und dass der Intellekt so verschieden von ihm ist, wie der Zaum vom Pferde: auch kann man ihn, in diesem Zustande, der Uhr vergleichen, welche nach Wegnahme einer gewissen Schraube, unaufhaltsam abschnurrt. Also auch diese Betrachtung zeigt uns den Willen als das Ursprüngliche und daher Metaphysische, den Intellekt hingegen als ein Sekundäres und Physisches. Denn als solches ist dieser, wie alles Physische, der Vis inertiae unterworfen, mithin erst thätig, wenn er getrieben wird von einem Andern, vom Willen, der ihn beherrscht, lenkt, zur Anstrengung aufmuntert, kurz, ihm die Thätigkeit verleiht, die ihm ursprüng- lich nicht einwohnt. Daher ruht er willig, sobald es ihm gestattet wird, bezeugt sich oft ti-äge und unauf- gelegt zur Thätigkeit: durch fortgesetzte Anstrengung ermüdet er bis zur gänzlichen Abstumpfung, wird er- schöpft, wie die Volta'sche Säule durch wiederholte Schläge. Darum erfordert jede anhaltende Geistesar- beit Pausen und Ruhe: sonst erfolgt Stumpfheit und Unfähigkeit; freilich zunächst nur einstweilige. Wird aber diese Ruhe dem Intellekt anhaltend versagt, wird er übermässig und unausgesetzt angespannt; so ist die Folge eine bleibende Abstumpfung desselben, welche im Alter übergehen kann in gänzliche Unfähigkeit, in Kindischwerden, in Blödsinn und Wahnsinn. Nicht dem Alter an und für sich, sondern der lange fortge- setzten tyrannischen Ueberanstrengung des Intellekts, oder Gehirns, ist es zuzuschreiben, wenn diese Uebei in den letzten Jahren des Lebens sich einfinden. Dar- aus ist es zu erklären, dass Swift wahnsinnig, Kant kindisch wurde, Walter Scott, auch fVordsworth, Sou- they und viele minorum gentium stumpf und unfähig. Goethe ist bis an sein Ende klar, geisteskräftig und 268 geistesthätig geblieben; weil er, der stets Welt- und Hofmann war, niemals seine geistigen Beschäftigungen mit Selbstzwang getrieben hat. Das Selbe gilt von Wieland und dem einundneunzigjährigen Knebel^ wie auch von Voltaire. Dieses Alles nun aber beweist, wie sehr sekundär, physisch und ein blosses Werkzeug der Intellekt ist. Eben deshalb auch bedarf er, auf fast ein Drittel seiner Lebenszeit, der gänzlichen Suspension seiner Thätigkeit, im Schlafe, d. h, der Ruhe des Ge- hirns, dessen blosse Funktion er ist, welches ihm da- her ebenso vorhergängig ist, wie der Magen der Ver- dauung, oder die Körper ihrem Stoss, und mit welchem er, im x\lter, verwelkt und versiegt. — Der Wille hin- gegen, als das Ding an sich, ist nie träge, absolut un- ermüdlich, seine Thätigkeit ist seine Essenz, er hört nie auf zu wollen, und wann er, während des tiefen Schlafs, vom Intellekt verlassen ist und daher nicht, auf Motive, nach aussen wirken kann, ist er als Lebens- kraft thätig, besorgt desto ungestörter die innere Oekonomie des Organismus und bringt auch, als vis naturae medicatrix, die eingeschlichenen Unregel- mässigkeiten desselben wieder in Ordnung. Denn er ist nicht, wie der Intellekt, eine Funktion des Leibes; sondern der Leib ist seine Funktion: daher ist er diesem ordine rerum vorgängig, als dessen metaphysisches Substrat, als das Ansich der Erscheinung desselben. Seine Unermüdlichkeit theilt er, auf die Dauer des Lebens, dem Heizen mit, diesem prinmm mobile des Organismus, welches deshalb sein Symbol und Syno- nym geworden ist. Auch schwindet er nicht, im Alter, sondern will noch immer, was er gewollt hat, ja wird fester und unbiegsamer, als er in der Jugend gewesen, unversöhnlicher, eigensinniger, unlenksamer, weil der Intellekt unempfänglicher geworden : daher dann nur durch Benutzung der Schwäche dieses ihm allenfalls beizukommen ist. Auch die durchgängige iSchwäche und Unvollkom- menheit des Intellekts, wie sie in der Urtheilslosigkeit, Beschränktheit, Verkehrtheit, Thorheit der allermei- sten Menschen zu Tage liegt, wäre ganz unerklärlich, wenn der Intellekt nicht ein Sekundäres, Hinzuge- 269 kommenes, bloss Instrumentales, sondern das unmit- telbare vmd ursprüngliche Wesen der sogenannten Seele, oder überbaupt des inneren Menschen wäre; wie alle bisherigen Philosophen es angenommen haben. Denn wie sollte das ursprüngliche Wesen, in seiner unmittelbaren und eigenthümlichen Funktion, so häufig irren und fehlen? — Das wirklich Ursprüng- liche im menschlichen Bewusstseyn, das Wollen, geht eben auch allemal vollkommen von Statten: jedes Wesen will unablässig, tüchtig und entschieden. Das Unmoralische im Willen als eine Unvollkommenheit desselben anzusehen, wäre ein grundfalscher Gesichts- punkt: vielmehr hat die Moralität eine Quelle, welche eigentlich schon über die Natur hinaus liegt, daher sie mit den Aussagen derselben in W^iderspruch steht. Darum eben tritt sie dem natürlichen Willen,als welcher an sich schlechthin egoistisch ist, geradezu entgegen, ja, die Fortsetzung ihres Weges führt zur Aufhebung desselben. Hierüber verweise ich auf unser viertes Buch und auf meine Preisschrift „Ueber das Funda- ment der Moral". 5) Dass der Wille das Reale und Essentiale im Menschen, der Intellekt aber nur das Sekundäre, Be- dingte, Hervorgebrachte sei, wird auch daran ersicht- lich, dass dieser seine Funktion nur solange ganz rein und richtig vollziehen kann, als derWille schweigt und pausirt; hingegen durch jede merkliche Erregung desselben die Funktion des Intellekts gestört, und durch seine Einmischung ihr Resultat verfälscht wird : nicht aber wird auch umgekehrt der Intellekt auf ähnliche Weise dem Willen hinderlich. So kann der Mond nicht wirken, wann die Sonne am Himmel steht; doch hindert jener diese nicht. Ein grosser -Sc/i/ecA- benimmt uns oft die Besinnung dermaassen, dass wir versteinern, oder aber das Ver- kehrteste thun, z. B. bei ausgebrochenem Feuer gerade in die Flammen laufen. Der Zorn lässt uns nicht mehr wissen was wir thun, noch weniger was wir sagen. Der Eifer, deshalb blind genannt, macht uns unfähig die fremden Argumente zu erwägen, oder selbst unsere eigenen hervorzusuchen und geordnet aufzustellen. 270 Die F?'eude macht unüberlegt, rücksichtslos und ver- wegen: fast ebenso wirkt die Begierde. Die Furcht ver-^ hindert uns die noch vorhandenen, oft nahe liegenden Rettungsniittel zu sehen und zu ergreifen. Deshalb sind zum Bestehen plötzlicher Gefahren, wie auch zum Streit mit Gegnern und Feinden, Kaltblütigkeit und Geistesgegenwart die wesentlichste Befähigung. Jene besteht im Schweigen des Willens, damit der Intellekt agiren könne; diese in der ungestörten Thä- tigkeit des Intellekts, unter dem Andrang der auf den Willen wirkenden Begebenheiten: daher eben ist jene ihre Bedingung, und Beide sind nahe verwandt, sind selten, und stets nur komparativ vorhanden, Sie sind aber von unschätzbarem Vortheil, weil sie den Ge- brauch des Intellekts, gerade zu den Zeiten, wo man seiner am meisten bedarf, gestatten und dadurch ent- schiedene Ueberlegenheit verleihen. Wer sie nicht hat, erkennt erst nach verschwundener Gelegenheit was zu thun, oder zu sagen gewesen. Sehr treffend sagt man von Dem, der in Affekt geräth, d. h. dessen Wille so stark aufgeregt ist, dass er die Reinheit der Funktion des Intellekts aufhebt, er sei entrüstet: denn die rich- tige Erkenntniss der Umstände und Verhältnisse ist unsere Wehr und Waffe im Kampf mit den Dingen und den Menschen. In diesem Sinne sagt Balthazar Gracian: es la passion enemiga declarada de la cor- dura (die Leidenschaft ist der erklärte Feind der Klug- heit). — W^äre nun der Intellekt nicht etwas vom Willen völlig Verschiedenes, sondern, wie man es bisher ansah, Erkennen und Wollen in der Wurzel Eins und gleich ursprüngliche Funktionen eines schlechthin einfachen Wesens; so müsste mit der Aufregung und Steigerung des Willens, darin der Affekt besteht, auch der Intellekt mit gesteigert wer- den : allein er wird, wie wir gesehen haben, vielmehr dadurch gehindert und deprimirt, weshalb die Alten den Affekt animi perturbatio nannten. Wirklich gleicht der Intellekt der Spiegelfläche des Wassers, dieses selbst aber dem Willen, dessen Erschütterung daher die Reinheit jenes Spiegels und die Deutlichkeit seiner Bilder sogleich aufhebt. Der Organismus ist der Wille 271 selbst, ist verkörperter, d. h. objektiv im Gebirn an- gescbauter fVille: deshalb werden durch die freudigen und überhaupt die rüstigen Affekte manche seiner Funktionen, wie Respiration, Blutumlauf, Gallenab- sonderung, Muskelkraft, erhöht und beschleunigt. Der Intellekt hingegen ist die blosse Funktion des Gehirns, welches vom Organismus nur parasitisch genährt und getragen wird: deshalb miiss jede Per- turbation des Willens, und mit ihm des Organismus, die für sich bestehende und keine andern Bedürfnisse, als nur die der Ruhe und Nahrung kennende Funktion des Gehirnes stören oder lähmen. Dieser störende Einfluss der Thätigkeit des Willens auf den Intellekt ist aber nicht allein in den durch die Affekle herbeigeführten Perturbationen nachzu- weisen, sondern ebenfalls in manchen andern, allmä- ligeren und daher anhaltenderen Verfälschungen des Denkens durch unsere Neigungen. Die Hoffnung lässt uns was wir wünschen, die Furcht was wir besorgen, als wahrscheinlich und nahe erblicken und beide ver- grössern ihren Gegenstand. Pinto (nach Aelian, V. H., 1 3, 28) hat sehr schön die Hoßfnung den Traum des Wachenden genannt. Ihr Wesen liegt darin, dass der Wille seinen Diener, den Intellekt, wann dieser nicht vermag das Gewünschte herbeizuschaffen, nöthigt, es ihm wenigstens vorziunalen, überhaupt die Rolle des Trösters zu übernehmen, seinen Herrn, wie die Amme das Kind, mit Mährchen zu beschwichtigen und diese aufzustutzen, dass sie Schein gewinnen; wobei nun der Intellekt seiner eigenen Natur, die auf Wahrheit gerichtet ist, Gewalt anthun muss, indem er sich zwingt, Dinge, die weder wahr noch wahrscheinlich, oft kaum möglich sind, seinen eigenen Gesetzen zu- wider, für wahr zu halten, um nur den unruhigen und unbändigen Willen auf eine Weile zu beschwich- tigen, zu beruhigen und einzuschläfern. Hier sieht man deutlich, wer Herr und wer Diener ist. — W^ohl Manche mögen die Beobachtung gemacht haben, dass wenn eine für sie wichtige Angelegenheit mehrere Entwickelungen zulässt, und sie nun diese alle, in ein, ihrer Meinung nach, vollständiges disjunktives ürtheil 111 fi^ebracht haben, dennoch der AusganjO ein ganz anderer und ihnen völhg unerwarteter wird: aber vielleicht werden sie nicht darauf geachtet haben, dass dieser dann fast immer der für sie ungünstigste war. Dies ist daraus zu erklären, dass, während ihr Intellekt die Möglichkeiten vollständig zu überschauen vermeinte, die schlimmste von allen ihm ganz unsichtbar blieb; weil der Wille sie gleichsam mit der Hand verdeckt hielt, d. h. den Intellekt so bemeisterte, dass er auf den allerschlimmsten Fall zu blicken gar nicht fähig war, obwohl dieser, da er wirklich wurde, auch wohl der wahrscheinlichste gewesen. Jedoch in entschieden melancholischen, oder aber durch diese nämliche Er- fahrung gewitzigten Gemüthern kehrt sich der Her- gang wohl auch um, indem hier die Besorgniss die Rolle spielt, welche dort die Hoffnung. Der erste Schein einer Gefahr versetzt sie in grundlose Angst. Fängt der Intellekt an, die Sachen zu untersuchen; so wird er als inkompetent, ja als trügerischer Sophist abgewiesen, weil dem Herzen zu glauben sei, dessen Zagen jetzt geradezu als Argument für die Realität und Grösse der Gefahr geltend gemacht wird. So darf dann der Intellekt die guten Gegengründe gar nicht suchen, welche er, sich selber überlassen, bald er- kennen würde; sondern wird genöthigt, sogleich den unglücklichsten Ausgang ihnen vorzustellen, wenn auch er selbst ihn kaum als möglich denken kann: Such as we know is false, yet dread in sooth, Because the worst is ever nearest truht*). (Byron, Lara. C. i .) Liebe und Hass verfälschen unser Urtheil gänzlich : an unsern Feinden sehen wir nichts, als Fehler, an unsern Lieblingen lauter Vorzüge, und selbst ihre Feh- ler scheinen uns liebenswürdig. Eine ähnliche geheime Macht übt unser Vortheil, welcher Art er auch sei, über unser Urtheil aus: was ihm gemäss ist, erscheint uns alsbald billig, gerecht, vernünftig; was ihm zuwider *) Etwas, das wir als falsch erkennen, dennoch ernstlich furch- ten; weil das Schlimmste stets der Wahrheit am nächsten liegt. i8 Schopenhauer II 2*^3 läuft, stellt sich uns, im vollen fernst, als unjjerecht und abscheulich, oder zweckwidrif;^ und absurd dar. Daher so viele Vorurtheile des Standes, des Gewerbes, der Nation, der Sekte, der Relijjion. Eine gefasste Hypothese {jieht uns Luchsaugen für alles sie Bestä- tigende, und macht uns blind für alles ihr Wider- vSpreehende. Was unserer Partei, unserm Plane, unserm Wunsche, unserer Hoffnung entgegensteht, können wir oft {jar nicht fassen und begreifen, während es allen Andern klar vorliegt: das jenen Günstige hin- gegen springt uns von ferne in die Augen. Was dem Herzen widerstrebt, lässt der Kopf nicht ein. Manche Irrthümer halten wir unser Leben hindurch fest, und hüten uns, jemals ihren Grund zu prüfen, bloss aus einer uns selber unbewussten Furcht, die Entdeckung machen zu können, dass wir so lange und so oft das Falsche geglaubt und behauptet haben. — So wird denn täglich unser Intellekt durch die Gaukeleien der Neigung bethört und bestochen. Sehr schön hat dies Bako von Veriilani ausgedrückt in den W^orten: In- tellectus Imninir, sicci non est; sed recipit infusionem a voluntate et affectibus: id quod generat ad quod vult scientias: quod enim mavult homo, id potius credit. Innumeris modis, iisque interdum imperceptibilibus, affectus intellectum imbuit et inficit (Org. nov., I, i4). Offenbar ist es auch Dieses, was allen neuen Grund- ansichten in den Wissenschaften und allen Wider- legungen sanktionirter Frrthümer entgegensteht: denn nicht leicht wird Einer die Richtigkeit Dessen ein- sehen, was ihn unglaublicher Gedankenlosigkeit über- führt. Hieraus allein ist es erklärlich, dass die so klaren und einfachen Wahrheiten der Goethe'schen Farben- lehre von den Physikern noch immer geleugnet wer- den; wodurch denn selbst Goethe hat erfahren müssen, einen wieviel schwereren Stand man hat, wenn man den Menschen Belehrung, als wenn man ihnen Un- terhaltung verheisst; daher es viel glücklicher ist, zum Poeten, als zum Philosophen geboren zu seyn. Je hart- näckiger nun aberandererseits ein Irrthum festgehalten wurde, desto beschämender wird nachher die Ueber- führung. Bei einem umgestossenen Svstem wie bei 274 einer geschlagenen Armee, ist der Klügste, wer zuerst davonläuft. Von jener geheimen und unmittelbaren Gewalt, welche der Wille über den Intellekt ausübt, ist ein kleinliches und lächerliches, aber frappantes Beispiel dieses, dass wir, bei Rechnungen, uns viel öfter zu unserm Vorteil als zu unserm Nachtheil verrechnen, und zwar ohne die mindeste unredliche Absicht, bloss durch den unbewussten Hang, unser Debet zu ver- kleinern und unser Credit zu vergrössern. Hieher gehört endlich noch die Thatbache, dass, bei einem zu ertheilenden Rath, die geringste Absicht des Berathers meistens seine auch noch so grosse Einsicht überwiegt; daher wir nicht annehmen dürfen, dass er aus dieser spreche, wo wir jene vermuthen. Wie wenig, selbst von sonst redlichen Leuten, vollkommene Aufrichtigkeit zu erwarten steht, sobald ihr Interesse irgendwie dabei im Spiel ist, können wir eben daran ermessen, dass wir so oft uns selbst belügen, wo Hoff- nung uns besticht, oder Furcht bethört, oder Argwohn uns quält, oder Eitelkeit uns schmeichelt, oder eine Hypothese uns verblendet, oder ein nahe liegender kleiner Zweck dem grösseren, aber entfernteren Ab- bruch thut: denn daran sehen wir den unmittelbaren und unbewussten nachtheiligen Einfluss des Willens auf die Erkenntniss. Demnach darf es uns nicht wun- dern, wenn, bei Fragen um Rath, der Wille des Be- fragten unmittelbar die Antwort diktirt, ehe die Frage auch nur bis zum Forum seines Urtheils durchdringen konnte. Nur mit Einem Worte will ich hier auf Dasjenige deuten, was im folgenden Buche ausführlich erörtert wird, dass nämlich die vollkommenste Erkenntniss, also die rein objektive, d. h. die geniale Auffassung der Welt, bedingt ist durch ein so tiefes Schweigen des Willens, dass, so lange sie anhält, sogar die Indi- vidualität aus dem Bewusstseyn verschwindet und der Mensch als reines Subjekt des Erkennens, welches das Korrelat der Idee ist, übrig bleibt. Der durch alle jene Phänomene belegte, störende Einfluss des Willens auf den Intellekt, und dagegen i8' 275 die Zartheit und Hinfallifjkeit dieses, verinö{j^e deren er unfahifj wird, richtiff zu operiren, sobald der Wille irgendwie in Bewefjung geriith, giebt uns also einen abermali{;en Beweis davon, dass der Wille das Radi- kale unsers Wesens sei und mit ursprünglicher Ge- walt wirke, während der Intellekt, als ein Hinzuge- kommenes und vielfach Bedingtes, nur sekundär und bedingterweise wirken kann. Eine der dargelegten Störung und Trübung der Erkenntniss durch den Willen entsprechende, un- mittelbare Störung dieses durch jene giebt es nicht: ja, wir können uns von einer solchen nicht wohl einen Begriff machen. Dass falsch aufgefasste Motive den Willen irre leiten, wird Niemand dahin auslegen wollen; da dies ein Fehler des Intellekts in seiner eige- nen Funktion ist, der rein auf seinem Gebiete be- gangen wird, und der Einfluss desselben auf den Willen ein völlig mittelbarer ist. Scheinbarer wäre es, die Unschlüssig keit dahin zu ziehen, als bei welcher, durch den Widerstreit der Motive, die der Intellekt dem Willen vorhält, dieser in Stillstand geräth, also ge- hemmt ist. Allein bei näherer Betrachtung wird es sehr deutlich, dass die Ursache dieser Hemmung nicht in der Thätigkeit des Intellekts als solcher liegt, son- dern ganz allein in den durch dieselbe vermittelten äusseren Gegenständen, als welche dieses Mal zu dem hier betheiligten Willen gerade in dem Verhältniss stehen, dass sie ihn nach verschiedenen Richtungen mit ziemlich gleicher »Stärke ziehen: diese eigentliche Ursache wirkt bloss durch den Intellekt, als das Me- dium der Motive, hindurch; wiewohl freilich nur unter der Voraussetzung, dass er scharf genug sei, die Gegenstände und ihre vielfachen Beziehunjjen genau aufzufassen. Unentschlossenheit, als Charakterzug, ist eben sosehr durch Eigenschaften des W^illens, als des Intellekts bedingt. Aeusserst beschränkten Köpfen ist sie freilich nicht eigen; weil ihr schwacher Verstand sie theils nicht so vielfache Eigenschaften und Ver- hältnisse an den Dingen entdecken lässt, theils auch der Anstrengung des Nachdenkens und Grübelns über jene und demnächst über die muthmaasslichen Folgen 276 jedes Schrittes so wenig gewachsen ist, dass sie lieber nach dem ersten Eindrucke, oder nach irgend einer einfachen Verhaltungsregel, sich sofort entschliessen. Das Umgekehrte hievon findet Statt bei Leuten von be- deutendem Verstände: sobald daher bei diesen eine zarte Vorsorge für das eigene W^ohl, d. h. ein sehr empfindlicher Egoismus, der durchaus nicht zu kurz kommen und stets geborgen seyn will, hinzukommt; so führt dies eine gewisse Aengstlichkeit bei jedem Schritt und dadurch die Unentschlossenheit herbei. Diese Eigenschaft deutet also durchaus nicht auf Mangel an Verstand, wohl aber an Muth. Sehr emi- nente Köpfe jedoch übersehen die Verhältnisse und deren wahrscheinliche Entwickelungen mit solcher Schnelligkeit und Sicherheit, dass sie, wenn nur noch von einigem Muth unterstützt, dadurch diejenige rasche Entschlossenheit und Festigkeit erlangen, wel- che sie befähigt, eine bedeutende Rolle in den Welt- händeln zu spielen, falls Zeit und Umstände hiezu Gelegenheit bieten. Die einzige entschiedene, unmittelbare Hemmung und Störung, die der Wille vom Intellekt als solchem erleiden kann, möchte wohl die ganz exceptionelle seyn, welche die Folge einer abnorm überwiegenden Entwickelung des Intellekts, also derjenigen hohen Be- gabung ist, die man als Genie bezeichnet. Eine solche nämlich ist der Energie des Charakters und folglich derThatkraft entschieden hinderlich. Daher eben sind es nicht die eigentlich grossen Geister, welche die historischen Charaktere abgeben, indem sie, die Masse der Menschheit zu lenken und zu beherrschen fähig, die Welthändel durchkämpften; sondern hiezu taugen Leute von viel geringerer Kapacität des Geistes, aber grosser Festigkeit, Entschiedenheit und Beharrlichkeit des Willens, wie sie bei sehr hoher Intelligenz gar nicht bestehen kann; bei welcher demnach wirklich der Fall eintritt, dass der Intellekt den Willen direkt hemmt. 6) Im Gegensatz der dargelegten Hindernisse und Hemmungen, welche der Intellekt vom Willen er- leidet, will ich jetzt an einigen Beispielen zeigen, wie, 277 auch uni{jekehrt, die Funktionen des Intellekts durch den Antrieb und Sporn des Willens bisweilen befördert und erhöht werden; damit wir auch hieran die pri- märe Natur des Einen vmd die sekundäre ddi Andern erkennen, und sichtbar werde, dass der Intellekt zum Willen im Verhältnisse eines Werkzeuges steht. Ein stark wirkendes Motiv, wie der sehnsüchtige Wunsch, die dringende Noth, steigert bisweilen den Intellekt zu einem Grade, dessen wir ihn vorher nie fähig geglaubt hatten. Schwierige Umstände, welche uns die Noth wendigkeit gewisser Leistungen auflegen, entwickeln ganz neue Talente in uns, deren Keime uns verborgen geblieben waren und zu denen wir uns keine Fähigkeit zutrauten. — Der Verstand des stum- pfesten Menschen wird scharf, wann es sehr ange- legene Objekte seines Wollens gilt: er merkt, beachtet und unterscheidet jetzt mit grosser Feinheit auch die kleinsten Umstände, welche auf sein Wünschen oder Fürchten Bezug haben. Dies trägt viel bei zu der oft mit Ueberraschung bemerkten Schlauheit der Dum- men. Eben deshalb sagt Jesaias mit Recht vexatio dat intellectum, welches daher auch sprichwörtlich ge- braucht wird: ihm verwandt ist das deutsche Sprich- wort „die Noth ist die Mutter der Künste", — wobei jedoch die schönen Künste auszunehmen sind; weil der Kern jedes ihrer Wei'ke, nämlich die Konception, aus einer völlig willenlosen und nur dadurch rein ob- jektiven Anschauung hervorgehen muss, wenn sie acht seyn sollen. — Selbst der Verstand der Thiere wird durch die Noth bedeutend gesteigert, so dass sie in schwierigen Fällen Dinge leisten, über die wir er- staunen: z. B. fast alle berechnen, dass es sicherer ist, nicht zu fliehen, wann sie sich ungesehen glauben: daher Hegt der Hase still in der Furche des Feldes und lässt den Jäger dicht an sich vorbeigehen ; Insek- ten, wenn sie nicht entrinnen können, stellen sich todt u. s. f. Genauer kann man diesen Einfluss kennen lernen durch die specielle Selbstbildungsgeschichte des Wolfes, unter dem Sporn der grossen Schwierig- keit seiner Stellung im civilisirten Europa: sie ist zu finden im zweiten Briefe des vortrefflichen Buches 278 von Leroy, Lettres sur rintellij^fence et la perfectibilite des aniniaux. Gleich darauf folgt, im dritten Briefe, die hohe Schule des Fuchses, welcher, in gleich schwieriger Lage, viel geringere Körperkräfte hat, die bei ihm durch grösseren Verstand ersetzt sind, der aber doch erst durch den beständigen Kampf mit der Noth einerseits und der Gefahr andererseits, also unter dem Sporn des Willens, den hohen Grad von Schlauheit erreicht, welcher ihn, besonders im Alter, auszeichnet. Bei allen diesen Steigerungen des Intellekts spielt der Wille die Rolle des Reiters, der durch den Sporn das Pferd über das natürliche Maass seiner Kräfte hinaus treibt. Eben so wird auch das Gedächtniss durch den Drang des Willens gesteigert. Selbst wenn es sonst schwach ist, bewahrt es vollkommen, was für die herrschende Leidenschaft Werth hat. Der Verliebte vergisst keine ihm günstige Gelegenheit, der Ehrgeizige keinen Um- stand, der zu seinen Plänen passt, der Geizige nie den erlittenen Verlust, der Stolze nie die erlittene Ehren- kränkung, der Eitele behält jedes Wort des Lobes und auch die kleinste ihm widerfahrene Auszeichnung. Auch dies erstreckt sich auf die Thiere : das Pferd bleibt vor dem Wirtshause stehen, in welchem es längst ein Mal gefüttert worden : Hunde haben ein treffliches Gedächtniss für alle Gelegenheiten, Zeiten und Orte, die gute Bissen abgeworfen haben; und Füchse für die verschiedenen Verstecke, in denen sie einen Raub niedergelegt haben. Zu feineren Bemerkungen in dieser Hinsicht giebt die Selbstbeobachtung Gelegenheit. Bisweilen ist mir, durch eine Störung, ganz entfallen, worüber ich soeben nachdachte, oder sogar, welche Nachricht es gewesen, die mir soeben zu Ohren gekommen war. Hatte nun die Sache irgendwie ein auch noch so ent- ferntes, persönliches Interesse; so ist von der Einwir- kung, die sie dadurch auf den Willen hatte, der Nach- klang geblieben : ich bin mir nämlich noch genau be- wusst, wie weit sie mich angenehm, oder unangenehm afFizirte, und auch aufweiche specielle Weise dies ge- schah, nämlich ob sie, wenn auch in schwachem Grade, mich krankte, oder än{^.sti(jte, oder erbitterte, oder be- trübte, oder al)cr die diesen entjjegengesetzten AfFektio- nen hervorrief. Also bloss die Beziehung der Sache auf meinen Willen hat sich, nachdem sie selbst mir ent- schwunden ist, im Gedächtniss erhalten, und oft wird diese nun wieder der Leitfaden, um auf die Sache selbst zurückzukommen. Auf analoge Art wirkt bis- weilen auf uns der Anblick eines Menschen, indem Avir uns nur im Allgemeinen erinnern, mit ihm zu thun gehabt zu haben, ohne jedoch zu wissen, wo, wann und was es gewesen, noch wer er sei ; hingegen ruft sein Anblick noch ziemlich genau die Empfindung zurück, welche ehemals seine Angelegenheit in uns erregt hat, nämlich ob sie unangenehm oder angenehm, auch in welchem Grad und in welcher Art sie es ge- wesen: also bloss den Anklang des Willens hat das Gedächtniss aufbewahrt, nicht aber Das, was ihn her- vorrief. Man könnte Das, was diesem Hergange zum Grunde liegt, das Gedächtniss des Herzens nennen: dasselbe ist viel intimer, als das des Kopfes. Im Grunde jedoch geht es mit dem Zusanunenhange Beider so weit, dass, wenn man der Sache tief nachdenkt, man zu dem Ergebniss gelangen wird, dass das Gedächt- niss überhaupt der Unterlage eines Willens bedarf, als eines Anknüpfungspunktes, oder vielmehr eines Fadens, auf welchen sich die Erinnerungen reihen, und der sie fest zusammenhält, oder dass der Wille gleichsam der Grund ist, auf welchem die einzelnen Erinnerungen kleben, und ohne den sie nicht haften könnten; und dass daher an einer reinen Intelligenz, d. h. au einem bloss erkennenden und ganz willen- losen Wesen, sich ein Gedächtniss nicht wohl denken lässt. Demnach ist die oben dargelegte Steigerung des Gedächtnisses durch den Sporn der herrschenden Leidenschaft nur der höhere Grad Dessen, was bei allem Behalten und Erinnern Statt findet; indem dessen Basis und Bedingung stets der W^ille ist — Also auch an allem Diesen wird sichtbar, wie sehr viel innerlicher uns der Wille ist, als der Intellekt. Dies zu bestätigen können auch noch folgende Thatsachen dienen. 280 Der Intellekt gehorcht oft dem Willen : z. B. wenn wir uns auf etwas besinnen wollen, und dies nach einiger Anstrengung gelingt: — eben so, wenn wir jetzt etwas genau und bedächtig überlegen wollen, u. dgl. m. Bisweilen wieder versagt der Intellekt dem Willen den Gehorsam, z. B. wenn wir vergebens uns auf etwas zu flxiren streben, oder wenn wir vom Ge- dächtniss etwas ihm Anvertrautes vergeblich zurück- fordern: den Zorn des Willens gegen den Intellekt, bei solchen Anlässen, macht sein Verhältniss zu diesem und die Verschiedenheit Beider sehr kenntlich. Sogar bringt der durch diesen Zorn gequälte Intellekt das von ihm Verlangte bisweilen nach Stunden, oder gar am folgenden Morgen, ganz unerwartet und zur Un- zeit, diensteifrij; nach. — Hingegen gehorcht eigent- lich nie der Wille dem Intellekt; sondern dieser ist bloss der Ministerrath jenes Souverains: er legt ihm al- lerlei vor, wonach dieser erwählt, was seinem Wesen gemäss ist, wiewohl sich dabei mit Nothwendigkeit bestimmend ; weil dies Wesen unveränderlich fest steht und die Motive jetzt vorliegen. Darum eben ist keine Ethik möglich, die den Willen selbst modelte und besserte. Denn jede Lehre wirkt bloss auf die fr/iennf- niss: diese aber bestimmt nie den W^illen selbst, d. h. den Gymnd-Charakter des Wollens, sondern bloss des- sen Anwendung auf die vorliegenden Umstände. Eine berichtigte Erkenntniss kann das Handeln nur in so weit modifiziren, als sie die dem Willen zugänglichen Objekte seiner Wahl genauer nachweist und richtiger beurtheilen lässt; wodurch er nunmehr sein Verhält- niss zu den Dingen richtiger ermisst, deutlicher sieht, was er will, und demzufolge dem Irrthum bei der Wahl weniger unterworfen ist. Aber über das Wollen selbst, über die Hauptrichtung, oder die Grundmaxime desselben hat der Intellekt keine Macht. Zu glauben, dass die Erkenntniss wirklich und von Grund aus den Willen bestimme, ist wie glauben, dass die Laterne, die Einer bei Nacht trägt, das primum mobile seiner Schritte sei. — Wer, durch Erfahrung oder fremde Ermahnung belehrt, einen Grundfehler seines Charak- ters erkennt und beklagt, fasst wohl den festen und 2ÖI redlichen Vorsatz, sich zu bessern und ihn abzulegen: trotz Dem aber erhält, bei nächster Gelejjenheit, der Fehler freien Lauf. Neue Reue, neuer Vorsatz, neues Vergehen. Wann dies einige Male so durchgemacht ist, wird er inne, dass er sich nicht bessern kann, dass der Fehler in seiner Natur und Persönlichkeit liegt, ja mit dieser Eins ist. Jetzt wird er seine Natur und Persönlichkeit missbilligen und verdammen, ein schmerzliches Gefühl haben, welches bis zur Gewis- senspein steigen kann: aber jene zu ändern vermag er nicht. Hier sehen wir Das, was verdammt, und Das, was verdammt wird, deutlich auseinandertreten: wir sehen Jenes, als ein bloss theoretisches Vermögen, den zu lobenden und daher wünschenswerthen Lebens- wandel vorzeichnen und aufstellen ; das Andere aber, als ein Reales und unabänderlich Vorhandenes, Jenem zum Trotz, einen ganz andern Gang gehen; und dann wieder das Erste mit ohnmächtigen Klagen über die Beschaffenheit des Andern zurückbleiben, mit welchem es sich durch eben diese Betrübniss wieder identifizirt. Wille und Intellekt treten hier sehr deutlich ausein- ander. Dabei zeigt sich der Wille als das Stärkere, Un- bezwingbare, Unveränderliche, Primitive, und zugleich auch als das Wesentliche, darauf es ankommt; indem der Intellekt die Fehler desselben bejanmiert und keinen Trost findet an der Richtigkeit der Erkenntniss, als seiner eigenen Funktion. Dieser zeigt sich also als ganz sekundär, nämlich theils als Zuschauer fremder Thaten, die er mit ohnmächtigem Lobe imd Tadel begleitet, und theils als von aussen bestimmbar, in- dem er, durch die Erfahrung belehrt, seine Vorschrif- ten abfasst und ändert. Specielle Erläuterungen dieses Gegenstandes findet man in den Parergis, Bd. 2, §. 1 18. — Demgemäss wird auch, bei der Vergleichung un- serer Denkungsart in verschiedenen Lebensaltern, sich uns ein sonderbares Gemisch von Beharrlichkeit und Veränderlichkeit darbieten. Einerseits ist die morali- sche Tendenz des Mannes und Greises noch die selbe, welche die des Knaben war: andererseits ist ihm Vie- les so entfremdet, dass er sich nicht mehr kennt und sich wundert, wie er einst Dieses und Jenes thuu oder 282 sagen gekonnt. Inder ersten Lebenshälfte lacht meistens das Heute über das Gestern, ja sieht wohl gar ver- ächtlich darauf hinab; in der zweiten hingegen mehr und mehr mit Neid darauf zurück. Bei näherer Unter- suchung aber wii'd man finden, dass das Veränderliche der Intellekt war, mit seinen Funktionen der Einsicht und Erkenntniss, als welche, täglich neuen Stoff von aussen sich aneignend, ein stets verändertes Gedanken- system darstellen; während zudem auch er selbst, mit dem Aufblühen und Welken des Organismus, steigt und sinkt. iVls das Unabänderliche im Bewusstseyn hingegen weist sich gerade die Basis desselben aus, der Wille, also die Neigungen, Leidenschaften, Affekte, der Charakter; wobei jedoch die Modifikationen in Rechnung zu bringen sind, welche von den körper- lichen Fähigkeiten zum Genüsse und hiedurch vom Alter abhängen. So z. B. wird die Gier nach sinnlichem Genuss im Knabenalter als Naschhaftigkeit auftreten, im Jünglings- und Mannesalter als Hang zur Wollust, und im Greisenalter wieder als Naschhaftigkeit. 7) Wenn der allgemeinen Annahme gemäss, der Wille aus der Erkenntniss hervorginge, als ihr Resul- tat oder Produkt; so müsste, wo viel W^ille ist, auch viel Erkenntniss, Einsicht, Verstand seyn. Dem ist aber ganz und gar nicht so: vielmehr finden wir, in vielen Menschen, einen starken, d. h. entschiedenen, entschlossenen, beharrlichen, unbiegsamen, eigensin- nigen und heftigen Willen, verbunden mit einem sehr schwachen und unfähigen Verstände; wodurch eben wer mit ihnen zu thun hat zur Verzweiflung gebracht wird, indem ihr Wille allen Gründen und Vorstel- lungen unzugänglich bleibt und ibm nicht beizukom- men ist; so dass er gleichsam in einem Sack steckt, von wo aus er blindlings will. Die Thiere haben, bei oft heftigem, oft starrsinnigem Willen, noch viel weniger Verstand; die Pflanzen endlich blossen Willen ohne alle Erkenntniss. Entspränge das Wollen bloss aus der Erkenntniss; so müsste unser Zorn seinem jedesmaligen Anlass, oder wenigstens unserm Verständniss desselben, genau angemessen seyn; indem auch er nichts weiter, als 283 das Resultat der {gegenwärtigen Erkenntniss wäre. So fällt es aber sehr selten aus: vielmehr geht der Zorn meistens weit über den Anlass hinaus. Unser Wüthen und Rasen, der furor brevis, oft bei geringen Anlässen und ohne Irrlhum hinsichtlich derselben, gleicht dem Toben eines bösen Dämons, welcher, eingesperrt, nur auf die Gelegenheit wartete, losbrechen zu dürfen, und nun jubelt, sie gefunden zu haben. Dem könnte nicht so seyn, wenn der Grund unsers Wesens ein Erkennendes und das Wollen ein blosses Resultat der Erkenntniss wäre: denn wie käme in das Resultat, was nicht in den Elementen desselben lag? Kann doch die Konklusion nicht mehr enthalten, als die Prämissen. Der Wille zeigt sich also auch hier als ein von der Erkenntniss ganz verschiedenes Wesen, welches sich ihrer nur zur Kommunikation mit der Aussenwelt bedient, dann aber den Gesetzen seiner eigenen Natur folgt, ohne von jener mehr als den Anlass zu nehmen. Der Intellekt, als blosses Werkzeug des Willens, ist von ihm so verschieden, wie der Hammer vom Schmid. So lange, bei einer Unterredung, der Intellekt allein thätig ist, bleibt solche kalt. Es ist fast als wäre der Mensch selbst nicht dabei. Auch kann er dann sich eigentlich nicht kompromittiren, sondern höchstens blamiren. Erst wann der Wille ins Spiel kommt, ist der Mensch wirklich dabei: jetzt wird er warm, ja, es geht oft heiss her. Immer ist es der Wille, dem man die Lebenswärme zuschreibt: hingegen sagt man der kalte Verstand, oder eine Sache kalt unter- suchen, d. h. ohne Einfluss des Willens denken. — Versucht man das Verhältniss umzukehren und den Willen als Werkzeug des Intellekts zu betrachten; so ist es, als machte man den Schmid zumW^erkzeug des Hammers. Nichts ist verdriesslicher, als wenn man, mit Grün- den und Auseinandersetzungen gegen einen Menschen streitend, sich alle Mühe giebt, ihn zu überzeugen, in der Meinung, es bloss mit seinem Ferstande zu thun zu haben, — und nun endlich entdeckt, dass er nicht verstehen will; dass man also es mit seinem Willen zu thun hatte, welcher sich der Wahrheit verschliesst 284 und muthwillig Missverständnisse, Schikanen und Sophismen ins Feld stellt, sich hinter seinem Ver- stände und dessen vorgeblichem Nichteinsehen ver- schanzend. Da ist ihm freilich so nicht beizukommen: denn Gründe und Beweise^ 9^9^^^ ^^" Willen angewandt, sind wie die Stösse eines Hohlspiegelphantoms gegen einen festen Körper. Daher auch der so oft wieder- holte Ausspruch: Stat pro ratione voluntas. — Belege zu dem Gesagten liefert das gemeine Leben zur Ge- nüge. Aber auch auf dem Wege der Wissenschaf- ten sind sie leider zu finden. Die Anerkennung der wichtigsten Wahrheiten, der seltensten Leistun- gen, wird man vergeblich von Denen erwarten, die ein Interesse haben, sie nicht gelten zu lassen, wel- ches nun entweder daraus entspringt, dass solche Dem widersprechen, was sie selbst täglich lehren, oder daraus, dass sie es nicht benutzen und nachlehren dürfen, oder, wenn auch dies Alles nicht, schon weil allezeit die Losung der Mediokren seyn wird: Si quel- qu'un excelle parmi nous, qu'il aille exceller ailleurs; wie Helvetius den Ausspruch der Epheser, in Cicero \s fünftem Tuskulanischen Buche (c. 36), allerliebst wie- dergegeben hat; oder, wie ein Spruch des Abyssiuiers Fit Araii es giebt : „Der Demant ist unter den Quarzen verfehmt". Wer also von dieser stets zahlreichen Schaar eine gerechte Würdigung seiner Leistungen erwartet, wird sich sehr getäuscht finden und vielleicht ihr Betragen eine Weile gar nicht begreifen können; bis auch er endlich dahinterkommt, dass, während er sich an die Erkenntniss wendete, er es mit dem Willen zu thun hatte, also ganz in dem oben beschrie- benen Fall sich befindet, ja, eigentlich Dem gleicht, der seine Sache vor einem Gerichte führt, dessen Beisitzer sämmtlich bestochen sind. In einzelnen Fällen jedoch wird er davon, dass ihr Wille^ nicht ihre Einsicht, ihm entgegenstand, sogar den vollgül- tigsten Beweis erhalten; wenn nämlich Einer und der Andere von ihnen sich zum Plagiat entschliesst. Da wird er mit Erstaunen sehen, wie feine Kenner sie sind, welchen richtigen Takt sie für fremdes Verdienst ha- ben und wie trejffend sie das Beste herauszufinden 285 wissen; den Sperlinjjen gleich, welche die reifsten Kirschen nicht verfehlen. — Das Widerspiel des hier dargestellten siegreichen Widerstrebens des Willens gegen die Erkenn tniss tritt ein, wenn man, bei der Darlegung seiner Grün- de und Beweise, den Willen der Angeredeten für sich hat: da ist Alles gleich überzeugt, da sind alle Argu- mente schlagend und die Sache ist sofort klar, wie der Tag. Das wissen die Volksredner. — Im einen, wie im andern Fall, zeigt sich der Wille als das Ur- kräfiige, gegen welches der Intellekt nichts vermag. 8) Jetzt aber wollen wir dieindividuellen Eigenschaf- ten, also Vorzüge und Fehler, einerseits des Willens und Charakters, andererseits des Intellekts, in Betrachtung nehmen, um auch an ihrem Verhältniss zu einander und an ihrem relativen Werth die gänzliche Ver- schiedenheit beider Grundvermögen deutlich zu ma- chen. Geschichte und Erfahrung lehren, dass Beide völlig unabhängig von einander auftreten. Dass die grösste Trefflichkeit des Kopfes mit einer gleichen des Charakters nicht leicht im Verein gefunden wird, erklärt sich genugsam aus der unaussprechlich gros- sen Seltenheit Beider; während ihre Gegen theile durch- gängig an der Tagesordnung sind: daher man diese auch täglich im Verein antrifft. Inzwischen schliesst man nie von einem vorzüglichen Kopf auf einen gu- ten Willen, noch von diesem auf jenen, noch vom Gegentheil auf das Gegentheil : sondern jeder Unbe- fangene nimmt sie als völlig gesonderte Eigenschaften, deren Vorhandenseyn jedes für sich, durch Erfahrung auszumachen ist. Grosse Beschränktheit des Kopfes kann mit grosser Güte des Herzens zusammenbestehen, und ich glaube nicht, dass Balthazar Gracian (Discre- to, p. 4oö) Recht hat zu sagen: No ay simple, que no sea malicioso (Es giebt keinen Tropf, der nicht bos- haft wäre), obwohl er das spanische Sprichwort: Nun- ca la necedad anduvo sin malicia (Nie geht die Dumm- heit ohne die Bosheit), für sich hat. Jedoch mag es seyn, dass manche Dumme, aus dem selben Grunde wie manche Bucklichte, boshaft werden, nämlich aus Erbitterung über die von der Natur erlittene Zurück- 286 Setzung und indem sie gelegentlich was ihnen an Ver- Stande abgeht durch Heimtücke zu ersetzen vermei- nen, darin einen kurzen Triumph suchend. Hieraus wird beiläufig auch begreiflich, warum einem sehr überlegenen Kopfe gegenüber, fast Jeder leicht bos- haft wird. Andererseits wieder stehen die Dummen sehr oft im Ruf besonderer Herzensgüte, der sich je- doch so selten bestätigt, dass ich mich habe wundern müssen, wie sie ihn erlangten, bis ich den Schlüssel dazu in Folgendem gefunden zu haben mir schmei- cheln durfte. Jeder wählt, durch einen geheimen Zug bewogen, zu seinem nähern Umgange am liebsten Jemanden, dem er an Verstände ein wenig überlegen ist: denn nur bei diesem fühlt er sich behaglich, weil, nach Hohbes, omnis animi voluptas, omnisque alacri- tas in eo sita est, quod quis habeat, quibuscum con- ferens se, possit magnifice sentire de se ipso (de Cive, I, 5.) Aus dem selben Grunde flieht Jeder Den, der ihm überlegen ist; weshalb Lichtenberg ganz richtig bemerkt: „Gewissen Menschen ist ein Mann von Kopf ein fataleres Geschöpf, als der deklarirteste Schurke": dem entsprechend sagst Helvetius: Les gens mediocres ont un instinct sür et prompt, pour connaitre et fuir les gens d'esprit; und Dr. Johnson versichert uns, dass there is nothing by which a man exasperates most people more, than by displaying a superior ability of brilliancy in conversation. They seem pleased at the time; but their envy makes them curse him at their hearts*) (Boswell; aet anno 74). Um diese so allgemein und sorgfältig verhehlte Wahr- heit noch schonungsloser an das Licht zu ziehen, füge ich Mercks, des berühmten Jugendfreundes Goethe\s, Ausdruck derselben hinzu, aus seiner Erzählung Lin- dor: „Er besass Talente, die ihm die Natur gegeben und die er sich durch Kenntnisse erworben hatte, und diese brachten zuwege, dass er in den meisten Gesell- ) Durch nichts erbittert Einer die meisten Menschen mehr, als dadurch, dass er seine üeberlegenheit in der Konversation zu {glänzen an den Tag legt. Für den Augenblick scheinen sie Wohlgefallen daran zu haben: aber in ihrem Herzen verflu chen sie ihn, aus Neid. 28 7 Schäften die werthen Anwesenden weit hinter sich Hess. Wenn das PubUkuin, in dem Moment von Au- genweide an einem ausserordenthchen Menschen, diese Vorzüge auch hinunterschhickt, ohne sie gerade so- gleich arg auszulegen; so bleibt doch ein gewisser Eindruck von dieser Erscheinung zurück, der, wenn er oft wiederholt wird, für Denjenigen, der daran Schuld ist, bei ernsthaften Gelegenheiten künftig un- angenehme Folgen haben kann. Ohne dass sich es Jeder mit Bewusstseyn hinters Ohr schreibt, dass er dies Mal beleidigt war, so stellt er sich doch bei einer Beförderung dieses Menschen, nicht ungern stummer Weise in den Wejj."- — Dieserhalbalso isolirt grosse gei- stige Ueberlegenheit mehr, als alles Andere, und macht, wenigstens im Stillen, verhasst. Das Gegentheil nun ist es, was die Dummen so allgemein beliebt macht; zumal da mancher nur bei ihnen finden kann, was er nach dem oben erwähnten Gesetze seiner Natur, suchen muss. Diesen wahren Grund einer solchen Zuneigung wird jedoch Keiner sich selber, geschwei- ge Andern gestehen, und wird daher, als plausibeln Vorwand für dieselbe, seinem Auserwählten eine be- sondere Herzensgüte andichten, die, wie gesagt, höchst selten und nur zufällig ein Mal neben der geistigen Beschränktheit wirklich vorhanden ist. — - Der Un- verstand ist demnach keineswegs der Güte des Cha- rakters günstig oder verwandt. Aber andererseits lässt sich nicht behaupten, dass der grosse Verstand dies sei: vielmehr ist ohne einen solchen noch kein Bösewicht im Grossen gewesen. Ja sogar die höchste intellektuelle Eminenz kann zusammenbestehen mit der ärgsten moralischen Verworfenheit. Ein Beispiel hievon gab Bako v. Feridam: undankbar, herrsch- süchtig, boshaft und niederträchtig, gieng er endlich so weit, dass er, als Lord Grosskanzler und höchster Richter des Reichs, sich bei Civilprocessen oft beste- chen Hess: angeklagt vor seinen Pairs bekannte er sich schuldig, wurde von ihnen ausjjestossen aus dem Hause der Lords und zu vierzigtausend Pfund Strafe, nebst Einsperrung in den Tower verurlheilt. (Siehe die Recension der neuen Ausgabe der Werke Bako's 288 in der Edinburgh Review, August iSSy.) Deshalb nennt ihn auch Pope the wisest, brightest, mea- nest of mankind*). Essay on man, IV, 282. Ein ähn- liches Beispiel Hefert der Historiker Guicciardini, von welchem Rosini, in den, seinem Geschichtsroman Luisa Strozzi beigegebenen, aus guten, gleichzeitigen Quellen geschöpften Notizie storiche sagt: Da coloro, che pongono l'ingegno e il sapere al di sopra di tutte le umane qualitä, questo uomo sarä riguardato come fra i piii grandi del suo secolo: ma da quelli, che re- putano la virtvi dovere andare innanzi a tutto, non potra esecrarsi abbastanza la sua memoria. Esso fu il piü crudele fra i cittadini a perseguitare, uccidere e confinare etc**). Wenn nun von einem Menschen gesagt wird: „er hat ein gutes Herz, wiewohl einen schlechten Kopf"; von einem andern aber: „er hat einen sehr guten Kopf, jedoch ein schlechtes Herz"; so fühlt Jeder, dass beim Ersteren das Lob den Tadel weit überwiegt; beim Andern umgekehrt. Dem entsprechend sehen wir, wenn Jemand eine schlechte Handlung begangen hat, seine Freunde und ihn selbst bemüht, die Schuld vom Willen auf den Intellekt zu wälzen und Fehler des Herzens für Fehler des Kopfes auszugeben ; schlech- te Streiche werden sie Fe}-irrungen nennen, werden sagen, es sei blosser Unverstand gewesen, Unüberlegt- heit, Leichtsinn, Thorheit; ja, sie werden zur Noth Paroxysmus, momentane Geistesstörung und, wenn es ein schweres Verbrechen betrifft, sogar Wahnsinn vorschützen, um nur den fVillen von der Schuld zu befreien. Und eben so wir selbst, wenn wir einen Un- fall oder Schaden verursacht haben, werden, vor An- dern und vor uns selbst, sehr gern unsere stultitia *) Den weisesten,glänzentlesten, niederträchtigsten derMenschen. '*) Von Denen, welche Geist und Gelehrsamkeit über alle an- dern menschlichen Eigenschaften stellen, wird dieser Mann den grossesten seines Jahrhunderts beigezählt werden : aber von Denen, welche die Tugend allem Andern vorgehen lassen, wird sein Andenken nie genug verflucht werden können. Er war der grausamste unter den Bürgern, im Verfolgen, Tödten und Verbannen. 19 Schopenhauer II 289 anklagen, um nur dem Vorwurf der malitia auszu- weichen. Dem entsprechend ist, bei gleich ungerech- tem Unheil des Richters, der Unterschied, ob er ge- irrt habe, oder bestochen gewesen sei, so himmelweit. Alles Dieses bezeugt genugsam, dass der Wille allein das Wirkliche und das Wesentliche, der Kern des Menschen ist, der Intellekt aber bloss sein Werkzeug, welches immerhin fehlerhaft seyn mag, ohne dass er dabei betheiligt wäre. Die Anklage des Unverstandes ist, vor dem moralischen Richterstuhle, ganz und gar keine; vielmehr giebt sie hier sogar Privilegien. Und eben so vor den weltlichen Gerichten ist es, um einen Verbrecher von aller Strafe zu befreien, überall hin- reichend, dass man die Schuld von seinem Willen auf seinen Intellekt wälze, indem man entweder unver- meidlichen Irrthum, oder Geistesstörung nachweist: denn da hat es nicht mehr auf sich, als wenn Hand oder Fuss wider Willen ausgeglitten wären. Dies habe ich ausführlich erörtert in dem meiner Preis- schrift über die Freiheit des Willens beigegebenen Anhang „über die intellektuale Freiheit", wohin ich, um mich nicht zu wiederholen, hier verweise. Ueberall berufen sich Die, welche irgend eine Lei- stung zu Tage fördern, im Fall solche ungenügend ausfällt, auf ihren guten Willen, an dem es nicht ge- fehlt habe. Hiedurch glauben sie das Wesentliche, das, wofür sie eigentlich verantwortlich sind, und ihr eigentliches Selbst sicher zu stellen : das Unzurei- reichende der Fähigkeiten hingegen sehen sie an als den Mangel an einem tauglichen Werkzeug. Ist Einer dumm, so entschuldigt man ihn damit, dass er nicht dafür kann: aber wollte man Den, der schlecht ist, eben damit entschuldigen ; so würde man ausgelacht werden. Und doch ist das Eine, wie das Andere angeboren. Dies beweist, dass der Wille der eigentliche Mensch ist, der Intellekt bloss sein Werk- zeug. Immer also ist es nur unser fVollen was als von uns abhängig, d. h. als Aeusscrung unsers eigentli- chen W^esens betrachtet wird und wofür man uns daher verantwortlich macht. Dieserhalb eben ist es 290 absurd und ungerecht, wenn man uns für unsern Glauben, also für unsere Erkenntniss, zur Rede stel- len will: denn wir sind genötbigt diese, obschon sie in uns waltet, anzusehen als etwas, das so wenig in unserer Gewalt steht, wie die Vorgänge der Aussen- welt. Auch hieran also wird deutUch, dass der Wille allein das Innere und Eigene des Menschen ist, der Intellekt hingegen, mit seinen, gesetzmässig wie die Aussenwelt vor sich gehenden Operationen, zu jenem sich als ein Aeusseres, ein blosses Werkzeug verhält. Hohe Geistesgaben hat man allezeit angesehen als ein Geschenk der Natur, oder der Götter: ebendeshalb hat man sie Gaben, Begabung, ingenii dotes, gifts (a man highly gifted) genannt, sie betrachtend als etwas vom Menschen selbst Verschiedenes, ihm durch Be- günstigung Zugefallenes. Nie hingegen hat man es mit den moralischen Vorzügen, obwohl auch sie an- geboren sind, eben so genommen: vielmehr hat man diese stets angesehen als etwas vom Menschen selbst Ausgehendes, ihm wesentlich Angehöriges, ja, sein eigenes Selbst Ausmachendes. Hieraus nun folgt aber- mals, dass der Wille das eigentliche Wesen des Men- schen ist. der Intellekt hingegen sekundär, ein Werk- zeug, eine Ausstattung. Diesem entsprechend verheissen alle Religionen für die Vorzüge des Willens, oder Herzens, einen Lohn jenseit des Lebens, in der Ewigkeit ; keine aber für die Vorzüge des Kopfes, des Verstandes. Die Tugend erwartet ihren Lohn in jener Welt; die Klugheit hofft ihn dieser; das Genie weder in dieser, noch in jener; es ist sein eigener Lohn. Demnach ist der Wille der ewige Theil, der Intellekt der zeitliche. Verbindung, Gemeinschaft, Umgang zwischen Men- schen gründet sich, in der Regel, auf Verhältnisse, die den Willen, selten auf solche, die den Intellekt betreffen: die erstere Art der Gemeinschaft kann man die tnateriale, die andere die formale nennen. Jener Art sind die Bande der Familie und Verwandtschaft, ferner alle auf irgend einem gemeinschaftlichen Zwecke, oder Interesse, wie das des Gewerbes, Stan- des, der Korporation, Partei, Faktion usw. beruhenden 19* 291 Verbindungen. Bei diesen nämlich kommt es bloss auf die Gesinnung, die Absicht an; wobei die grösste Verschiedenheit der intellektuellen Fähigkeiten und ihrer Ausbildung bestehen kann. Daher kann Jeder mit Jedem nicht nur in Frieden und Einigkeit leben, sondern auch zum gemeinsamen Wohl Beider mit ihm zusammen wirken und ihm verbündet seyn. Auch die Ehe ist ein Bund der Herzen, nicht der Köpfe, Anders aber verhält es sich mit der bloss ybr- wa/eHGemeinschaft, als welche nurGedankenaustausch bezweckt: diese verlangt eine gewisse Gleichheit der intellektuellen Fähigkeiten und der Bildung. Grosse Unterschiede hierin setzen zwischen Mensch und Mensch eine unübersteigbare Kluft: eine solche liegt z. B. zwischen einem grossen Geist und einem Dumm- kopf, zwischen einem Gelehrten und einem Bauern, zwischen einem Hofmann und einem Matrosen. Der- gleichen heterogene Wesen haben daher Mühe, sich zu verständigen, so lange es auf die Mittheilung von Gedanken, Vorstellungen und Ansichten ankommt. Nichtsdestoweniger kann enge materiale Freundschaft zwischen ihnen Statt finden, und sie können treue Verbündete, Verschworene und Verpflichtete seyn. Denn in Allem, was allein den fVillen betrifft, wohin Freundschaft, Feindschaft, Bedlichkeit, Treue, Falsch- heit und Verrath gehört, sind sie völlig homogen, aus demselben Teig geformt, und weder Geist noch Bildung machen darin einen Unterschied: ja, oft be- schämt hier der Bohe den Gelehrten, der Matrose den Hofmann. Denn bei den verschiedensten Graden der Bildung bestehen die selben Tugenden und La- ster, Aifekte und Leidenschaften, und, wenn auch in ihren Aeusserungen etwas modificirt, erkennen sie sich doch, selbst in den heterogensten Individuen sehr bald gegenseitig, wonach die gleichgesinnten zusam- mentreten, die entgegengesetzten sich anfeinden. Glänzende Eigenschaften des Geistes erwerben Be- wunderung, aber nicht Zuneigung: diese bleibt den moralischen, den Eigenschaften des Charakters, vor- behalten. Zu seinem Freunde wird wohl Jeder lieber den Bedlichen, den Gutmüthigen, ja selbst den Ge- fälligen, Nachgiebigen und leicht Beistimmenden wäh- len, als den bloss Geistreichen. Vor diesem wird so- par durch unbedeutende, zufällige äussere Eigenschaf- ten, welche gerade der Neigung eines Andern ent- sprechen. Mancher den Vorzug gewinnen. Nur wer selbst viel Geist hat, w-ird den Geistreichen zu seiner Gesellschaft wünschen; seine Freundschaft hingegen wird sich nach den moralischen Eigenschaften rich- ten: denn auf diesen beruht seine eigentliche Hoch- schätzung eines Menschen, in welcher ein einziger guter Charakterzug grosse Mängel des Verstandes be- deckt und auslischt. Die erkannte Güte eines Charak- ters macht uns geduldig und nachgiebig gegen Schwä- chen des Verstandes, wie auch gegen die Stumpfheit und das kindische Wesen des Alters. Ein entschieden edler Charakter, bei gänzlichem Mangel intellektuel- ler Vorzüge und Bildung, steht da, wie Einer, dem nichts abgeht; hingegen wird der grösste Geist, wenn mit starken moralischen Fehlern behaftet, noch im- mer tadelhaft erscheinen. — Denn wie Fackeln und Feuerwerk vor der Sonne blass und unscheinbar wer- den, so wird Geist, ja Genie, und ebenfalls die Schön- heit, überstrahlt und verdunkelt von der Güte des Herzens. Wo diese in hohem Grade hervortritt, kann sie den Mangel jener Eigenschaften so sehr ersetzen, dass man solche vermisst zu haben sich schämt. So- gar der beschränkteste Verstand, wie auch die gro- teske Hässlichkeit, werden, sobald die ungemeine Güte des Herzens sich in ihrer Begleitung kund gethan, gleichsam verklärt, umstrahlt von einer Schönheit höherer Art, indem jetzt aus ihnen eine Weisheit spricht, vor der jede andere verstummen muss. Denn die Güte des Herzens ist eine transscendente Eigen- schaft, gehört einer über dieses Leben hinausreichen- den Ordnung der Dinge an und ist mit jeder andern Vollkommenheit inkommensurabel. Wo sie in hohem Grade vorhanden ist, macht sie das Herz so gross, dass es die Welt umfasst, so dass jetzt Alles in ihm, nichts mehr ausserhalb liegt; da sie ja alle Wesen mit dem eigenen identificirt. Alsdann verleiht sie auch gegen Andere jene gränzenlose Nachsicht, die 293 sonst Jeder nur sich selber widerfahren lässt. Ein sol- cher Mensch ist nicht fähig, sich zu erzürnen: sofjar wenn etwan seine eigenen, intellektuellen oder kör- perlichen Fehler den boshaften Spott und Hohn An- derer hervorgerufen haben, wirft er, in seinem Her- zen, nur sich selber vor, zu solchen Aeusserungen der Anlass gewesen zu seyn, und fährt daher, ohne sich Zwang anzuthun, fort, Jene auf das liebreichste zu behandeln, zuversichtlich hoffend, dass sie von ihrem Irrthum hinsichtlich seiner zurückkommen und auch in ihm sich selber wiedererkennen werden. — Was ist dagegen Witz und Genie? was Bako von Verulam;' Auf das selbe Ergebniss, welches wir hier aus der Betrachtung vmserer Schätzung Anderer er- halten haben, führt auch die der Schätzung des eige- nen Selbst. Wie ist doch die in moralischer Hinsicht eintretende Selbstzufriedenheit so grundverschieden von der in intellektualer Hinsicht! Die erstere entsteht, indem wir, beim Rückblik auf unsern Wandel, sehen, dass wir mit schweren Opfern Treue und Redlichkeit geübt, dass wir Manchem geholfen, Manchem ver- ziehen haben, besser gegen Andere gewesen sind, als diese gegen uns, so dass wir mit König Lear sa- gen dürfen: ,,Ich bin ein Mann, gegen den mehr ge- sündigt worden, als er gesündigt hat"; und vollends wenn vielleicht gar irgend eine edle That in unserer Rückerinnerung glänzt! Ein tiefer Ernst wird die stille Freude begleiten, die eine solche Musterung uns giebt: und wenn wir dabei Andere gegen uns zurückstehen sehen; so wird uns dies in keinen Jubel versetzen, vielmehr werden wir es bedauern und werden aufrichtig wünschen, sie wären alle wie wir. — Wie ganz anders wirkt hingegen die Erkenntniss unserer intellektuellen üeberlegenheit! Ibr Grund- bass ist ganz eigentlich der oben angeführte Aus- spruch des Ilobbes: Omnis animi voluptas, omnisque alacritas in eo sita est, quod quis habeat, quibuscum conferens se, possit magnifice sentire de se ipso, üeber- müthige, triumphirende Eitelkeit, stolzes, höhnisches Herabsehen auf Andere, wonnevoller Kitzel des Be- wusstseyns entschiedener und bedeutender Ueberle- -i94 f^enheit, dem Stolz auf körperliche Vorzüge verwandt, — das ist hier das Ergebniss. — Dieser Gegensatz zwischen beiden Arten der Selbstzufriedenheit zeigt an, dass die eine unser wahres inneres und ewiges Wesen, die andere einen mehr äusserlichen, nur zeit- lichen, ja fast nur körperlichen Vorzug betrifft. Ist doch in der That der Intellekt die blosse Funktion des Gehirns, der Wille hingegen Das, dessen Funk- tion der ganze Mensch, seinem Seyn und Wesen nach, ist. Erwägen wir, nach Aussen blickend, dass 6 ßto? ßpaj(u?, r[ o£ TSXV7) [xaxpa (vita brevis, ars longa), und betiachten, wie die grössten und schönsten Geister, oft wann sie kaum den Gipfel ihrer Leistungsfähig- keit erreicht haben, imgleichen grosse Gelehrte, wann sie eben erst zu einer gründlichen Einsicht ihrer Wis- senschaft gelangt sind, vom Tode hinweggerafft wer- den; so bestätigt uns auch Dieses, dass der Sinn und Zweck des Lebens kein intellektualer, sondern ein moralischer ist. Der durchgreifende Unterschied zwischen den gei- stigen und den moralischen Eigenschaften giebt sich endlich auch dadurch zu erkennen, dass der Intellekt höchst bedeutende V^eränderungen durch die Zeit er- leidet, während der Wille und Charakter von dieser unberührt bleibt. — Das Neugeborene hat noch gar keinen Gebrauch seines Verstandes, erlangt ihn je- doch, innerhalb der ersten zwei Monate, bis zur An- schauung und Apprehension der Dinge in der Aussen- welt; welchen Vorgang ich in der Abhandlung „Ueber das Sehn und die Farben", S. lO der zweiten Auflage, näher dargelegt habe. Diesem ersten und wichtigsten Schritte folgt viel langsamer, nämlich meistens erst im dritten Jahre, die Ausbildung der Vernunft, bis zur Sprache und dadurch zum Denken. Dennoch bleibt die frühe Kindheit unwiderruflich der Albernheit und Dummheit preisgegeben: zunächst weil dem Gehirn noch die physische Vollendung fehlt, welche es sowohl seiner Grösse als seiner Textur nach, erst im siebenten Jahre erreicht. Sodann aber ist zu seiner energischen Thätigkeit noch der Antago- 295 nismus des Genitalsystenis erforderlich; daher jene erst mit der Pubertät anfangt. Durch dieselbe aber hat alsdann der Intellekt erst die blosse Fähigkeit zu sei- ner psychischen Ausbildung erlangt: diese selbst kann allein durch Uebung, Erfahrung und Belehrung ge- wonnen werden. Sobald daher der Geist sich der kindischen Albernheit entwunden hat, geräth er in die Schlingen zahlloser Irrthümer, Vorurtheile, Chi- mären, mitunter von der absurdesten und krassesten Art, die er eigensinnig festhält, bis die Erfahrung sie ihm nach und nach entwindet, manche auch un- vermerkt abhanden kommen : dieses Alles geschieht erst im Laufe vieler Jahre; so dass man ihm zwar die Mündigkeit bald nach dem zwanzigsten Jahre zuge- steht, die vollkommene Reife jedoch erst ins vierzig- ste Jahr, das Schwaben alter, versetzt bat. Allein wäh- rend diese psychische, auf Hülfe von aussen beruhende Ausbildung noch im Wachsen ist, fängt die innere physische Energie des Gehirns bereits an wieder zu sinken. Diese nämlich hat, vermöge ihrer Abhängig- keit vom Blutandrang und der Einwirkung des Puls- schlages auf das Gehirn, und dadurch wieder vom Uebergewicht des arteriellen Systems über das ve- nöse, wie auch von der frischen Zartheit der Gehirn- fasern, zudem auch durch die Energie des Genital- systems ihren eigentlichen Kulminationspunkt um das dreissigste Jahr: schon nach dem fünfunddreis- sigsten wird eine leise Abnahme derselben merklich, die durch das allmälig herankommende Uebergewicht des venösen Systems über das arterielle, wie auch durch die immer fester und spröder werdende Kon- sistenz der Gehirn fasern, mehr und mehr eintritt und viel merklicher sein würde, wenn nicht andererseits die psychische Vervollkommung, durch Uebung, Er- fahrung, Zuwachs der Kenntnisse und erlangte Fer- tigkeit im Handhaben derselben, ihr entgegenwirkte; welcher Antagonismus glücklicherweise bis ins späte Alter fortdauert, indem mehr und mehr das Gehirn einem ausgespielten Instrumente zu vergleichen ist. Aber dennoch schreitet die Abnahme der ursprüng- lichen, ganz auf organischen Bedingungen beruhenden 2q6 Energie des Intellekts zwar langsam, aber unaufhalt- sam weiter: das Vermögen ursprünglicher Koncep- tion, die Phantasie, die Bildsamkeit, das Gedächtniss, werden merklich schwächer, und so geht es Schritt vor Schritt abwärts, bis hinab in das geschwätzige, gedächtnisslose, halb bewusstlose, endlich ganz kin- dische Alter. Der Wille hingegen wird von allem diesem Wer- den, Wechsel und Wandel nicht mitgetrotfen, sondern ist, vom Anfang bis zum Ende, unveränderlich der selbe. Das Wollen braucht nicht, wie das Erkennen, erlernt zu werden, sondern geht sogleich vollkommen von Statten. Das Neugeborene bewegt sich ungestüm, tobt und schreit: es will auf das heftigste; obschon es noch nicht weiss, was es will. Denn das Medium der Motive, der Intellekt, ist noch ganz unentwickelt; der Wille ist über die Aussenwelt, wo seine Gegenstände liegen, im Dunkeln, und tobt jetzt wie ein Gefangener gegen die Wände und Gitter seines Kerkers. Doch all- mälig wird es Licht: alsbald geben die Grundzüge des allgemeinen menschlichen Wollens und zugleich die hier vorhandene individuelle Modifikation derselben sich kund. Der schon hervortretende Charakter zeigt sich zwar erst in schwachen und schwankenden Zü- gen, wegen der mangelhaften Dienstleistung des In- tellekts, der ihm die Motive vorzuhalten hat; aber für den aufmerksamen Beobachter kündigt er bald seine vollständige Gegenwart an, und in Kurzem wird sie unverkennbar. Die Charakterzüge treten hervor, wel- che auf das ganze Leben bleibend sind: Die Haupt- richtungen des Willens, die leicht erregbaren Affekte, die vorherrschende Leidenschaft, sprechen sich aus. Da- her verhalten die Vorfalle in der Schule sich zu denen des künftigen Lebenslaufes meistens wie das stumme Vorspiel, welches dem im Hamlet bei Hofe aufzufüh- renden Drama vorhergeht und dessen Inhalt panto- mimisch verkündet, zu diesem selbst. Keineswegs aber lassen sich eben so aus den im Knaben sich zeigenden intellektuellen Fähigkeiten die künftigen prognosti- ciren : vielmehr werden die ingenia praecocia,die Wun- derkinder, in der Regel Flachköpfe; das Genie hin- 297 (jegen ist in der Kindheit oft von langsamen Begriffen lind fasst schwer, eben weil es tief fasst. Diesem ent- spricht es, dass Jeder lachend und ohne Rückhalt die Albernheiten und Dummheiten seiner Kindheit erzählt, z, B. Goethe, wie er alles Kochgeschirr zum Fenster hinausgeworfen (Dichtung und Wahrheit, Bd. i, S. 7): denn man weiss, dass alles Dieses nur das Veränder- liche betrifft. Hingegen die schlechten Züge, die bos- haften und hinterlistigen Streiche seiner Jugend wird ein kluger Mann nicht zum Besten geben: denn er fühlt, dass sie auch von seinem gegenwärtigen Cha- rakter noch Zeugniss ablegen. Man hat mir erzählt, dass der Kranioskop und Menschenforscher Gall, wann er mit einem ihm noch unbekannten Mann in Ver- bindung zu treten hatte, diesen auf seine Jugendjahre und Jugendstreiche zu sprechen brachte, um, wo mög- lich, daraus die Züge seines Charakters ihm abzulau- schen ; weil dieser auch jetzt noch derselbe seyn musste. Eben hierauf beruht es, dass, während wir auf die Thorheiten und den Unverstand unserer Jugendjahre gleichgültig, ja mit lächelndem Wohlgefallen zurück- sehen, die schlechten Charakterzüge eben jener Zeit, die damals begangenen Bosheiten und Frevel, selbst im späten Alter als unauslöschliche Vorwürfe dastehen und unser Gewissen beängstigen. — Wie nun also der Charakter sich fertig einstellt, so bleibt er auch bis ins späte Alter unverändert. Der Angriff des Alters, welcher die intellektuellen Kräfte allmälig verzehrt, lässt die moralischen Eigenschaften unberührt. Die Güte des Herzens macht den Greis noch verehrt und geliebt, wann sein Kopf schon die Schwächen zeigt, die ihn dem Kindesalter wieder zu nähern anfangen. Sanftmuth, Geduld, Redlichkeit, Wahrhaftigkeit, ün- eigennützigkeit, Menschenfreundlichkeit u. s. w. er- halten sich durch das ganze Leben und gehen nicht durch Altersschwäche verloren: in jedem hellen Au- genblick des abgelebten Greises treten sie unvermin- dert hervor, wie die Sonne aus Winter wölken. Und andererseits bleibt Bosheit, Tücke, Habsucht, Hart- herzigkeit, F'alschheit, Egoismus und Schlechtigkeit jeder Art auch bis ins späteste Alter unvermindert. 398 Wir würden Dem nicht glauben, sondern ihn aus- lachen, der uns sagte: „In früheren Jahren war ich ein boshafter Schurke, jetzt aber bin ich ein redhcher und edelmüthiger Mann." Recht schön hat daher Walter Scott in Nigels fortunes am alten Wucherer gezeigt, wie brennender Geiz, Egoismus und Ungerechtigkeit noch in voller Blüthe stehen, gleich den Giftpflanzen im Herbst, und sich noch heftig äussern, nachdem der Intellekt schon kindisch geworden. Die einzigen Veränderungen, welche in unsern Neigungen vor- gehen, sind solche, welche unmittelbare Folgen der Abnahme unserer Körperkräfte und damit der Fähig- keiten zum Geniessen sind: so wird die Wollust der Völlerei Platz machen, die Prachtliebe dem Geiz, und die Eitelkeit der Ehrsucht; eben wie der Mann, wel- cher, ehe er noch einen Bart hatte, einen falschen an- klebte, späterhin seinen grau gewordenen Bart braun färben wird. Während also alle organischen Kräfte, die Muskelstärke, die Sinne, das Gedächtniss, Witz, Verstand, Genie, sich abnutzen und im Alter stumpf werden, bleibt der Wille allein unversehrt und un- verändert: der Drang und die Richtung des Wollens bleibt die selbe. Ja, in manchen Stücken zeigt sich im Alter der Wille noch entschiedener: so, in der An- hänglichkeit am Leben, welche bekanntlich zunimmt ; sodann in der Festigkeit und Beharrlichkeit bei Dem, was er ein Mal ergriffen hat, im Eigensinn; welches daraus erklärlich ist, dass die Empfänglichkeit des In- tellekts für andere Eindrücke und dadurch die Be- weglichkeit des Willens durch hinzuströmende Mo- tive abgenommen hat: daher die Unversöhnlichkeit des Zorns und Hasses alter Leute: The young man's wrath is like light stravv on fire; But like red-hot steel is the old man's ire. (Old Ballad.) ') Aus allen diesen Betrachtungen wird es dem tiefem Blicke unverkennbar, dass, während der Intellekt eine lange Reihe allmäliger Ent Wickelungen zu durchlau- fen hat, dann aber, wie alles Physische, dem Verfall *) Dem Strohfeu'r gleich, ist Jünglings Zorn nicht schlimm : Rothglüh'ndem Eisen gleicht des Alten Grimra. entgegengeht, der fVille hieran keinen Theil nimmt, als nur sofern er Anfangs mit der Unvollkommenheit seines Werkzeuges, des Intellekts, und zuletzt wieder mit dessen Ahgenutztheit zu kämpfen hat, selbst aber als ein Fertiges auftritt und unverändert bleibt, den Gesetzen der Zeit und des Werdens und Vergehus in ihr nicht unterworfen. Hiedurch also giebt er sich als das Metaphysische, nicht selbst der Erscheinungswelt Angehörige, zu erkennen. 9) Die allgemein gebrauchten und durchgängig sehr wohl verstandenen x\usdrücke Herz und Kopfsiud aus einem richtigen Gefühl des hier in Rede stehenden fundamentalen Unterschiedes entsprungen; daher sie auch treifend und bezeichnend sind und in allen Spra- chen sich wiederfinden. Nee cor nee caput habet, sagt Seneka vom Kaiser Klaudiiis. (Ludus de morte Claudii Caesaris, c. 8.) Mit vollem Recht ist das Herz, dieses primum mobile des thierischen Lebens, zum Symbol, ja zum Svnonym des fFille?is, als des Urkerns unserer Erscheinung, gewählt worden und bezeichnet diesen, im Gegensatz des Intellekts^ der mit dem Kopf gerade- zu identisch ist. Alles, was, im weitesten Sinne, Sache des Willens ist, wie Wunsch, Leidenschalt, Freude, Schmerz, Güte, Rosheit, auch was man unter „Ge- müth" zu verstehen pflegt, und was Homer durch cpiX.ov T^Top ausdrückt, wird dem Herzeti beigelegt. Dem- nach sagt man : er hat ein schlechtes Herz; — er hängt sein Herz an diese Sache; — es geht ihm vom Her- zen; ■ — CS war ihm ein Stich ins Herz; — es bricht ihm das Herz; — sein Herz blutet; — das Herz hüpft vor Freude; — wer kann dem Menschen ins Herz sehen? — es ist herzzerreissend, herzzermalmend, herzbrechend, herzerhebend, herzrührend; — er ist herzensgut, — hartherzig, — herzlos, herzhaft, feig- herzig u. a. m. Ganz s[)eciell aber heissen Liebeshän- del Herzensangelegenheiten, affaires de coeur, weil <ler Geschlechtstrieb der Brennpunkt des Willens ist und die Auswahl in Bezug auf denselben die Haupt- angelegenheit des natürlichen menschlichen W^ollens ausmacht, wovon ich den Grund in einem ausführ- lichen Kapitel ziun vierten Buche nachweisen werde. 3oo Byron, im „Don Juan", C. 1 1 , v. 34, satyrisirt darüber, dass den Damen die Liebe, statt Sache des Herzens, Sache des Kopfes sei. — Hingegen bezeichnet der Kopf Alles, was Sache der Erkenntniss ist. Daher: ein Mann von Kopf, ein kluger Kopf, feiner Kopf, schlechter Kopf, den Kopf verlieren, den Kopf oben behalten u. s. w. Herz und Kopf bezeichnet den ganzen Men- schen. Aber der Kopf ist stets das Zweite, das Abge- leitete: denn er ist nicht das Zentrum, sondern die höchste Efflorescenz des Leibes. Wann ein Held stirbt, balsamirt man sein Herz ein, nicht sein Gehirn: hin- gegen bewahrt man gern den Schädel der Dichter, Künstler und Philosophen. So wurde in der Academia di S. Luca zu Rom Raphaels Schädel aufbewahrt, ist jedoch kürzlich als unächt nachgewiesen worden: in Stockholm wurde 1820 der Schädel des Cartesius in Auktion verkauft*). Ein gewisses Gefühl des wahren Verhältnisses zwischen Willen, Intellekt, Leben, ist auch in der Lateinischen Sprache ausgedrückt. Der Intellekt ist mens, vou?; der W^ille hingegen ist animus; welches von anima kommt, und dieses von avstjLcuv. Anima ist das Leben selbst, der Athem, '^^y[r\ : animus aber ist das belebende Princip und zugleich der Wille, das Subjekt der Neigungen, Absichten, Leidenschaften und Affekte: daher auch est mihi animus, — fert ani- mus, — für „ich habe Lust", auch animi causa u. a. m., es ist das Griechische öuao?, also Gemiith, nicht aber Kopf. Animi perturbatio ist der Affekt, mentis per- turbatio würde Verrücktheit bedeuten. Das Prädikat immortalis wird dem animus beigelegt, nicht der mens. Alles dies ist die aus der grossen Mehrzahl der Stellen hervorgehende Regel; wenn gleich, bei so nahe verwandten Begriffen, es nicht fehlen kann, dass die Worte bisweilen verwechselt werden. Unter tj;ü)(7j scheinen die Griechen zunächst und ursprüng- lich die Lebenskraft verstanden zu haben, das bele- bende Princip; wobei sogleich die Ahndung aufstieg, dass es ein Metaphysisches seyn müsse, folglich vom Tode nicht mitgetrofifen würde. Dies beweisen, unter ') Times vom 18. Oktober i845; nach dem Athenaeiim. 3oi Anderm, die von Stobäos aufbewahrten Untersu- chungen des Verhältnisses zwischen vou? und 4"^y7]. (Ed., Lib. I, c. 5i,§. 7,8.) lo) Worauf beruht die Identität der Person? — Nicht auf der Materie des Leibes: sie ist nach weni- gen Jahren eine andere. Nicht auf der Form dessel- ben: sie ändert sich im Ganzen und in allen Theilen; bis auf den Ausdruck des Blickes, an welchem man da- her auch nach vielen Jahren einen Mensch noch erkennt ; welches beweist, dass trotz allen Veränderungen, die an ihm die Zeit hervorbringt, doch etwas in ihm da- von völlig unberührt bleibt: es ist eben Dieses, woran wir, auch nach dem längsten Zwischenräume, ihn wiedererkennen und den Ehemaligen unversehrt wie- derfinden; eben so auch uns selbst: denn wenn man auch noch so alt wird: so fühlt man doch im Innern sich ganz und gar als den selben, der man war, als man jung, ja, als man noch ein Kind war. Dieses, was unverändert stets ganz das Selbe bleibt und nicht mitaltert, ist eben der Kern unsers Wesens, welcher nicht in der Zeit liegt. — Man nimmt an, die Identi- tät der Person beruhe auf der des Bewusstseyns. Ver- steht man aber unter dieser bloss die zusammenhän- gende Erinnerung des Lebenslaufs; so ist sie nicht ausreichend. Wir wissen von unserm Lebenslauf al- lenfalls etwas mehr, als von einem ehemals gelesenen Roman ; dennoch nur das Allerwenigste. Die Haupt- begebenheiten, die interessanten Scenen haben sich eingeprägt: im Uebrigen sind tausend Vorgänge ver- gessen, gegen einen, der behalten worden. Je älter wir werden, desto spurloser geht Alles vorüber. Hohes Alter, Krankheit, Gehirnverletzung, Wahnsinn, kön- nen das Gedächtniss ganz rauben. Aber die Identität der Person ist damit nicht verloren gegangen. Sie be- ruht auf dem identischen Witten und dem unverän- derlichen Charakter desselben. Er eben auch ist es, der den Ausdruck des Blicks unveränderlich macht. Im Herzen steckt der Mensch, nicht im Kopf. Zwar sind wir, in Folge unserer Relation mit der Aussen- welt, gewohnt, als unser eigentliches Selbst das Sub- jekt des Erkennens, das erkennende Ich, zu betrach- 3o2 ten, welches am Abend ermattet, im Schlafe ver- schwindet, am Morgen mit erneuerten Kräften heller strahlt. Dieses ist jedoch die blosse Gehirnfunktion und nicht unser eigenstes Selbst. Unser wahres Selbst, der Kern unsers Wesens, ist Das, was hinter jenem steckt und eigentlich nichts Anderes kennt, als wollen und nichtwollen, zufrieden und unzufrieden seyn, mit allen Modifikationen der Sache, die man Gefühle, Affekte und Leidenschaften nennt. Dies ist Das, was jenes Andere hervorbringt; nicht mitschläft, wann jenes schläft, und ebenso, wann dasselbe im Tode untergeht, unversehrt bleibt. — Alles hingegen, was der Erkeimtniss angehört, ist der Vergessenheit aus- gesetzt: selbst die Handlungen von moralischer Be- deutsamkeit sind uns, nach Jahren, bisweilen nicht vollkommen erinnerlich, und wir wissen nicht mehr genau und ins Einzelne, wie wir in einem kritischen Fall gehandelt haben. Aber der Clmrakter selbst, von dem die Thaten bloss Zeugniss ablegen, kann von uns nicht vergessen werden : er ist jetzt noch ganz derselbe, wie damals. Der Wille selbst, allein und für sich, beharrt; denn er allein ist unveränderlich, un- zerstörbar, nicht alternd, nicht physisch, sondern metaphysisch, nicht zur Erscheinung gehörig, son- dern das Erscheinende selbst. Wie auf ihm auch die Identität des Bewusstseyns, so weit sie geht, beruht, habe ich oben, Kapitel i5, nachgewiesen, brauche mich also hier nicht weiter damit aufzuhalten. il) Arifitoteles sagt beiläufig, im Buch über die Vergleichung des Wünschenswerthen : „gut leben ist besser als leben" (ßeXxiov tou C^ßv xo eu C^jv, Top. HI, 2). Hieraus Hesse sich, mittelst zweimaliger Kontraposi- tion, folgern: nicht leben ist besser als schlecht leben. Dies ist dem Intellekt auch einleuchtend: dennoch leben die Allermeisten sehr schlecht, lieber als gar nicht. Diese Anhänglichkeit an das Leben kann also nicht im Objekt derselben ihren Grund haben, da das Leben, wie im vierten Buche gezeigt worden, eigent- lich ein stetes Leiden, oder wenigstens, wie weiter unten, Kapitel 28 dargethan wird, ein Geschäft ist, welches die Kosten nicht deckt : also kann jene An- io:> hjinglichkeit nur im Subjekt derselben {je{^riindet seyn, Sie ist aber nicht im Intellekt begründet, ist keine Folge der Ueberlegung, und überhaupt keine Sache der Wahl; sondern dies Lebenwollen ist etwas, das sich von selbst versteht; es ist ein prius des Intellekts selbst. Wir selbst sind der Wille zum Leben : daher müssen wir leben, gut oder schlecht. Nur daraus, dass diese Anhänglichkeit an ein Leben, welches ih- rer so wenig werth ist, ganz a priori und nicht a pos- teriori ist, erklilrt sich die allem Lebenden einwoh- nende, überschwängliche Todesfurcht, welche Roche- foucauld mit seltener Freimüthigkeit und Naivetät, in seiner letzten Reflexion, ausgesprochen hat, und auf der auch die Wirksamkeit aller Trauerspiele und Heldenthaten zuletzt beruht, als welche wegfallen würde, wenn wir das Leben nur nach seinem objekti- ven Werthe schätzten. Auf diesen unaussprechlichen horror mortis gründet sich auch der Lieblingssatz aller gewöhnlichen Köpfe, dass wer sich das Leben nimmt, verrückt seyn müsse, nicht weniger jedoch das mit einer gewissen Bewunderung verknüpfte Er- staunen, welches diese Handlung, selbst in denkenden Köpfen, jedes Mal hervorruft, weil dieselbe der Na- tur alles Lebenden so sehr entgegenläuft, dass wir Den, welcher sie zu vollbringen vermochte, in ge- wissem Sinne bewundern müssen, ja sogar eine ge- wisse Beruhigung darin finden, dass, auf die schlimm- sten Fälle, dieser Ausweg wirklich offen steht, als woran wir zweifeln könnten, wenn es nicht die Er- fahrung bestätigte. Denn der Selbstmord geht von einem Beschlüsse des Intellekts aus: unser Leben- wollen aber ist ein prius des Intellekts. — Auch die- se Betrachtung also, welche Kapitel r»,8 ausführlich zur Sprache kommt, bestätigt das Primat des Willens im Selbstbewusstseyn. 1 a) Hingegen beweist nichts deutlicher die sekun- däre, abhängi{je, bedingte Natur des Intellekts, als seine periodische Intermittenz. Im tiefen Schlaf hört Alles Erkennen und Vorstellen gänzlich auf. Allein der Kern unsers W^esens, das Metaphvsische desselben, welches die organischen Funktionen als ihr primum .So4 mobile nothwendiff voraussetzen, darf nie pausiren, wenn nicht das Leben aufhören soll, und ist auch, als ein Metaphysisches, mithin Unkörperliches, keiner Ruhe bedürftig. Daher haben die Philosophen, wel- che als diesen metaphysischen Kern eine Seele, d. h. ein ursprünglich und wesentlich erkennendes Wesen aufstellten, sich zu der Behauptung genöthigt gesehen, dass diese Seele in ihrem Vorstellen und Erkennen ganz unermüdlich sei, solches mithin auch im tiefsten Schlafe fortsetze; nur dass uns, nach dem Erwachen, keine Erinnerung davon bliebe. Das Falsche dieser Behauptung einzusehen wurde aber leicht, sobald man, in Folge der Lehre Kants, jene iSeele bei Seite gesetzt hatte. Denn Schlaf und Erwachen zeigen dem unbefangenen Sinn auf das deutlichste, dass das Er- kennen eine sekundäre und durch den Organismus bedingte Funktion ist, so gut wie irgend eine andere. Unermüdlich ist allein das Herz; weil sein Schlag und der Blutumlauf nicht unmittelbar durch Nerven bedingt, sondern eben die ursprüngliche Aeusserung des Willens sind. Auch alle andern, bloss durch Gangliennerven, die nur eine sehr mittelbare und entfernte Verbindung mit dem Gehirn haben, gelenk- te, physiologische Funktionen werden im Schlafe fortgesetzt, wiewohl die Sekretionen langsamer ge- schehen: Selbst der Herzschlag wird, wegen seiner Abhängigkeit von der Respiration, als welche durch das Cerebralsystem (medulla oblongata) bedingt ist, mit dieser ein wenig langsamer. Der Magen ist vielleicht im Schlaf am thätigsten, welches seinem speciellen, gegenseitige Störungen veranlassenden Consensus mit dem jetzt feiernden Gehirn zuzuschreiben ist. Das Ge- hirn allein, und mit ihm das Erkennen, pausirt im tiefen Schlafe ganz. Denn es ist bloss dass Ministeri- um des Aeussern, wie das Gangliensystem das Mini- sterium des Innern ist. Das Gehirn, mit seiner Funk- tion des Erkennens, ist nichts weiter, als eine vom Willen, zu seinen draussen liegenden Zwecken auf- gestellte Vedette, welche oben, auf der Warte des Kopfes, durch die Fenster der Sinne umherschaut, aufpasst, von wo Unheil drohe und wo Nutzen abzu- 20 Schopenliauer II JOi) sehen sei, und nach deren Bericht der Wille sich entscheidet. Diese Fedette ist dabei, wie jeder im aktiven Dienst Begriffene, in einem Zustande der Spannung und Anstrengung, daher sie es gern sieht, wenn sie, nach verrichteter Wacht, wieder eingezo- gen wird; wie jede Wache gern wieder vom Posten abzieht. Dies Abziehn ist das Einschlafen, welches daher so süss und angenehm ist und zu welchem wir so willtahrig sind: hingegen ist das Aufgerütteltwer- den unwillkommen, weil es die Fedette plötzlich wie- der auf den Posten ruft: man fühlt dabei ordentlich die nach der wohlthätigen Systole wieder eintretende beschwerliche Diastole, das Wiederauseinanderfahren des Intellekts vom Willen. Einer sogenannten Seele, die ursprünglich und von Hause aus ein ei-kennendes Wesen wäre, müsste, im Gegentheil, beim Erwachen zu Muthe seyn, wie dem Fisch, der wieder ins Was- ser kommt. Im Schlafe, wo bloss das vegetative Leben fortgesetzt wird, wirkt der Wille allein nach seiner ursprünglichen und wesentlichen Natur, ungestört von aussen, ohne Abzug seiner Kraft durch die Thä- tigkeit des Gehirns und Anstrengung des Erkennens, welches die schwerste organische Funktion, für den Organismus aber bloss Mittel, nicht Zweck ist: daher ist im Schlafe die ganze Kraft des Willens auf Er- haltung und, wo es nöthig ist, Ausbesserung des Or- ganismus gerichtet; weshalb alle Heilung, alle wohl- thätigen Krisen, im Schlaf erfolgen; indem die vis naturae medicatrix erst dann freies Spiel hat, wann sie von der Last der Erkenntnissfunktion befreit ist. Der Embryo, welcher gar erst den Leib noch zu bil- den hat, schläft daher fortwährend und das Neuge- borene den grössten Theil seiner Zeit. In diesem Sin- ne erklärt auch Bwdach (Physiologie, Bd. 3, S. 4^4) ganz richtig den Schlaf für den ursprünglichen Zustand. In Hinsicht auf das Gehirn selbst erkläre ich mir die Nothwendigkeit des Schlafes näher durch eine Hypothese, welche zuerst aufgestellt zu seyn scheint in Neumanns Buch „Von den Krankheiten des Men- schen", 1834, Bd. 4, §• 2>6. Es ist diese, dass die Nu- trition des Gehirns, also die Erneuerung seiner Sub- 3 06 stanz aus dem Blute, während des Wachens nicht vor sich gehen kann; indem die so höchst eminente, or- ganische Funktion des Erkennens und Denkens von der so niedrigen und materiellen der Nutrition gestört oder aufgehoben werden würde. Hieraus erklärt sich, dass der Schlaf nicht ein rein negativerZustand, blosses Pausiren der Gehirnthätigkeit, ist, sondern zugleich einen positiven Charakter zeigt. Dieser gibt sich schon dadurch kund, dass zwischen Schlaf und Wachen kein blosser Unterschied des Grades, sondern eine feste Gränze ist, welche, sobald der Schlaf eintritt, sich durch Traumbilder ankündigt, die unsern dicht vor- hergegangenen Gedanken völlig heterogen sind. Ein fernerer Beleg desselben ist, dass wann wir beängsti- gende Träume haben, wir vergeblich bemüht sind, zu schreien, oder Angriffe abzuwehren, oder den Schlaf abzuschütteln ; so dass es ist, als ob das Bindeglied zwischen dem Gehirn und den motorischen Nerven, oder zwischen dem grossen und kleinen Gehirn (als dem Regulator der Bewegungen) ausgehoben wäre: denn das Gehirn bleibt in seiner Isolation, und der Schlaf hält uns wie mit ehernen Klauen fest. Endlich ist der positive Charakter des Schlafes daran ersicht- lich, dass ein gewisser Grad von Kraft zum Schlafen erfordert ist; weshalb zu grosse Ermüdung, wie auch natürliche Schwäche, uns verhindern ihn zu erfassen, capere somnum. Dies ist daraus zu erklären, dass der Nutritions process eingeleitetet werden muss, wenn Schlaf eintreten soll : das Gehirn muss gleichsam an- beissen. Auch das vermehrte Zuströmen des Blutes ins Gehirn, während des Schlafes, ist aus dem Nutritions- process erklärlich, wie auch die, weil sie dieses beför- dert, instinktmässig angenommene Lage der über den Kopf zusammengelegten Arme; desgleichen, warum Kinder, so lange das Gehirn noch wächst, sehr vielen Schlafes bedürfen, im Greisenalter hingegen, wo eine gewisse Atrophie des Gehirns, wie allerTheile, eintritt, der Schlaf karg wird; endlich sogar, warum über- mässiger Schlaf eine gewisse Dumpfheit des Bewusst- seyns bewirkt, nämlich in Folge einer einstweiligen Hypertrophie des Gehirns, welche, bei habituellem 20* 307 Uebermaass des Schlafes, auch zu einer dauernden werden und Blödsinn erzeugen kann : aviTj xai iroXu? üirvoi; (noxae est etiam multus somnus). Od. i5, 394. — Das Bedürfniss des Schlafes steht demgemäss in geradem Verhältniss zur Intensität des Gehirnlebens, also zur Klarheit des Bewusstseyns. Solche Thiere, deren Gehirnleben schwach und dumpf ist, schlafen wenig und leicht, z. B. Reptilien und Fische: wobei ich erinnere, dass der Winterschlaf fast nur dem Na- men nach ein Schlaf ist, nämlich nicht eine Inaktion des Gehirns allein, sondern des ganzen Organismus, also eine Art Scheintod. Thiere von bedeutender In- telligenz schlafen tief und lange. Auch Menschen be- dürfen um so mehr Schlaf, je entwickelter, der Quan- tität und Qualität nach, und je thätiger ihr Gehirn ist. Montaigne erzählt von sich, dass er stets ein Langschlä- fer gewesen, einen grossen Theil seines Lebens ver- schlafen habe und noch im höhern Alter acht bis neun Stunden in Einem Zuge schlafe (Liv. III, eh. i3). Auch von Cartesins wird uns berichtet, dass er viel geschlafen habe (Bailler, Vie de Descartes, 1693, p. 288). Kant hatte sich zum Schlaf sieben Stunden aus- gesetzt: aber damit auszukommen wurde ihm so schwer, dass er seinem Bedienten befohlen hatte, ihn wider Willen und ohne auf seine Gegenreden zu hö- ren, zur bestimmten Zeit zum Aufstehen zu zwingen (Jachmann, Immanuel Kant, S. 162). Denn je voll- kommener wach Einer ist, d. h. je klärer und aufge- weckter sein Bewusstseyn, desto grösser ist für ihn die Nothwendigkeit des Schlafes, also desto tiefer und länger schläft er. Vieles Denken, oder angestrengte Kopfarbeit wird demnach das Bedürfniss des Schlafes vermehren. Dass auch fortgesetzte Muskelanstrengung schläfrig macht, ist daraus zu erklären, dass bei dieser das Gehirn fortdauernd, mittelst der meduUa oblon- gata, des Rückenmarks und der motorischen Nerven, den Muskeln den Reiz ertheilt, der auf ihre Irritabili- tät wirkt, dasselbe also dadurch seine Kraft erschöpft: die Ermüdung, welche wir in Armen und Beinen spüren, hat denmach ihren eigenen Sitz im Gehirn; eben wie der Schmerz, den eben diese Theile fühlen, 3o8 eigentlich im Gehirn empfunden wird: denn es ver- hält sich mit den motorischen, wie mit den sensibeln, Nerven. Die Muskeln, welche nicht vom Gehirn aktuirt werden, z. B. die des Herzens, ermüden eben deshalb nicht. Aus dem selben Grunde ist es erklärlich, dass man sowohl während, als nach grosser Muskelanstren- gung nicht scharf denken kann. Dass man im Som- mer viel weniger Energie des Geistes hat, als im Win- ter, ist zum Theil daraus erklärlich, dass man im Som- mer weniger schläft: denn je tiefer man geschlafen hat, desto vollkommener wach, desto „aufgeweckter" ist man nachher. Dies darf uns jedoch nicht verleiten, den Schlaf über die Gebühr zu verlängern ; weil er alsdann an Intension, d. h. Tiefe und Festigkeit, ver- liert, was er an Extension gewinnt ; wodurch er zum blossen Zeitverlust wird. Das meintauch Goethe, wenn er (im zweiten Theil des „ Faust") vom Morgenschlum- mer sagt: „Schlaf ist Schaale: wirf sie fort." — Ueber- haupt also bestäti{jt das Phänomen des Schlafes ganz vorzüglich, dass Bewusstseyn, Wahrnehmen, Erken- nen, Denken, nichts Ursprüngliches in uns ist, son- dern ein bedingter, sekundärer Zustand. Es ist ein Aufwand der Natur, und zwar ihr höchster, den sie daher, je höher er getrieben worden, desto weniger ohne Unterbrechung fortführen kann. Es ist das Pro- dukt, die Efflorescenz des cerebralen Nervensystems, welches selbst, wie ein Parasit, vom übrigen Organis- mus genährt wird. Dies hängt auch mit Dem zusam- men, was in unserm dritten Buche gezeigt wird, dass das Erkennen um so reiner und vollkommener ist, je mehr es sich vom Willen losgemacht und gesondert hat, wodurch die rein objektive, die ästhetische Auf- fassung eintritt; eben wie ein Extrakt um so reiner ist, je mehr er sich von dem, woraus er abgezogen worden, gesondert und von allem Bodensatz geläutert hat. Den Gegensatz zeigt der Wille, dessen unmittel- barste Aeusserung das ganze organische Leben und zu- nächst das unermüdliche Herz ist. Diese letzte Betrachtung ist schon dem Thema des folgenden Kapitels verwandt, zu dem sie daher den Uebergang macht: ihr gehört jedoch noch folgende 3o9 Bemerkung an. Im magnetischen Somnambulismus verdoppelt sich das Bewusstseyn : zwei, jede in sich selbst zusammenhängende, von einander aber völlig geschiedene Erkenntnissreihen entstehen; das wachen- de Bewusstseyn weiss nichts vom somnambulen. Aber der Wille behält in beiden denselben Charakter und bleibt durchaus identisch : er äussert in beiden die sel- ben Neigungen und Abneigungen. Denn die Funktion lässt sich verdoppeln, nicht das Wesen an sich. KAPITEL 20*). OBJEKTIVATION DES WILLENS IM THIERISCHEN ORGANISMUS. ICH verstehe unter Ohjektivation das Sichdarstellen in der realen Körperwelt. Inzwischen ist diese selbst, wie im ersten Buch und dessen Ergänzungen ausführ- lich dargethan, durchaus bedingt durch das erken- nende Subjekt, also den Intellekt, mithin ausserhalb seiner Erkenntniss, schlechterdings als solche undenk- bar: denn sie ist zunächst nur anschauliche Vorstel- lung und als solche Gehirnphänomen. Nach ihrer Aufhebung würde das Ding an sich übrig bleiben. Dass dieses der Wille sei, ist das Thema des zweiten Buchs, und wird daselbst zuvörderst am menschlichen und thierischen Organismus nachgewiesen. Die Erkenntniss der Aussenwelt kann auch bezeich- net werden als das Bewusstseyn anderer Dinge, im Ge- gensatz des Selbstbewusstseyns. Nachdem wir nun in diesem letztern den Willen als das eigentliche Objekt oder den Stoff desselben gefunden haben, werden wir jetzt, in derselben Absicht, das Bewusstseyn von an- dern Dingen, also die objektive Erkenntniss, in Be- *) Dieses Kapitel liezielit sich auf §.20 des ersten Bandes. [S. i33 d. A.] 3 IG tracht nehmen. Hier ist nun meine Thesis diese: tvas im Selbstbetviisstseyn, also subjektiv, der Intellekt ist, das stellt im Bewusstseyn anderer Dinge, also objektiv, sich als das Gehirn dar: und was im Selbstbewusstseyn, also subjektiv, der Wille ist, das stellt im Bewusstseyn anderer Dinge, also objektiv, sich als der gesammte Or- ganismus dar. Zu den für diesen Satz, sowohl in unserm zweiten Buche, als in den beiden ersten Kapiteln der Abhand- lung „Ueber den Willen in der Natur", gelieferten Beweisen füge ich die folgenden Ergänzungen und Erläutervmgen. Zur Begründung des ersten Theiles jener Thesis ist das Meiste schon im vorhergehenden Kapitel bei- gebracht, indem an der Nothwendigkeit des Schlafes, an den Veränderungen durch das Alter, und an den Unterschieden der anatomischen Konformation nach- gewiesen wurde, dass der Intellekt, als sekundärer Natui, durchgängig abhängt von einem einzelnen Or- gan, dem Gehirn, dessen Funktion er ist, wie das Grei- fen Funktion der Hand; dass er mithin physisch ist, wie die Verdauung, nicht metaphysisch, wie der Wille. Wie gute Verdauung einen gesunden, starken Magen, wie Athletenkraft muskulöse, sehnige Arme erfordert; so erfordert ausserordentliche Intelligenz ein unge- wöhnlich entwickeltes, schön gebautes, durch feine Textur ausgezeichnetes und durch energischen Puls- schlag belebtes Gehirn. Hingegen ist die Beschaffen- heit des Willens von keinem Organ abhängig und aus keinem zu prognosticiren. Der grösste Irrthum in Gulls Schädellehre ist, dass er auch für moralische Eigen- schaften Organe des Gehirns aufstellt. — Kopfver- letzungen mit Verlust von Gehirnsubstanz wirken, in der Regel, sehr nachtheilig auf den Intellekt: sie ha- ben gänzlichen oder theilweisen Blödsinn zur Folge, oder Vergessenheit der Sprache, auf immer oder auf eine Zeit, bisweilen jedoch von mehreren gewussten Sprachen nur einer, bisweilen wieder bloss der Eigen- namen, imgleichen den Verlust anderer besessener Kenntnisse u. dgl. m. Hingegen lesen wir nie, dass nach einem Unglücksfall solcher Art der Charakter 3li eine Veränderung erlitten hätte, dass der Mensch et- wan moralisch schlechter oder besser geworden wäre, oder gewisse Neigungen oder Leidenschaften verloren, oder auch neue angenommen hätte; niemals. Denn der Wille hat seinen Sitz nicht im Gehirn, und über- dies ist er, als das Metaphysische, das prius des Ge- hirns, wie des ganzen Leibes, daher nicht durch Ver- letzungen des Gehirns veränderlich. — Nach einem von Spallanzani gemachten und von Voltaire wieder- holten Versuch*) bleibt eine Schnecke, der man den Kopf abgeschnitten, am Leben, und nach einigen Wochen wächst ihr ein neuer Kopf, nebst Fühlhör- nern : mit diesem stellt sich Bewusstseyn und Vorstel- lung wieder ein ; während bis dahin das Thier, durch ungeregelte Bewegungen, blossen blinden Willen zu erkennen gab. Auch hier also finden wir den Willen als die Substanz, welche beharrt, den Intellekt hin- gegen bedingt durch sein Organ, als das wechselnde Accidenz. Er lässt sich bezeichnen als der Regulator des Willens. Vielleicht ist es Tiedemann, welcher zuerst das cere- brale Nervensystem mit einem Parasiten verglichen hat (Tiedemann und Treviranus Journal für Physio- logie, Bd. I, S. 62). Der Vergleich ist treffend, sofern das Gehirn, nebst ihm anhängenden Rückenmark und Nerven, dem Organismus gleichsam eingepflanzt ist und von ihm genährt wird, ohne selbst seinerseits zur Erhaltung der Oekonomie desselben direkt etwas bei- zutragen ; daher das Leben auch ohne Gehirn bestehen kann, wie bei den hirnlosen Missgeburten, auch bei Schildkröten, die nach abgeschnittenem Kopfe noch drei Wochen leben; nur muss dabei die medulla ob- longata, als Organ der Respiration, verschont seyn. So- gar eine Henne, der Floiaens das ganze grosse Gehirn weggeschnitten hatte, lebte noch zehn Monate und ge- dieh. Selbst beim Menschen führt die Zerstörung des Gehirns nicht direkt, sondern erst durch Vermittlung ') Spallanzani, Risultati di esperienze sopra la riproduzione della testa nelle lumache terrestri; in den JMemorie di mati- matica e fisica della Societä Italiana, Tom. I, p. r>8 i . — Voltaire, Les colimacons du reverend pere lescarbotier. 3l2 der Lunge und dann des Herzens den Tod herbei (Bichat, Sur la vie et la niort, part. II, art. 1 1, §. i). Dagegen besorgt das Gehirn die Lenkung der Ver- hältnisse zur Aussen weit: dies allein ist sein Amt, und hiedurch trägt es seine Schuld an den es ernährenden Organismus ab; da dessen Existenz durch die äussern Verhältnisse bedingt ist. Demgemäss bedarf es, unter allen Theilen allein, des Schlafes: weil nämlich seine Thätigkeit von seiner Erhaltung völlig gesondert ist, jene bloss Kräfte und Substanz verzehrt, diese vom übrigen Organismus, als seiner Amme, geleistet wird: indem also seine Thätigkeit zu seinem Bestände nichts beiträgt, wird sie erschöpft, und erst wann sie pausirt, im Schlaf, geht seine Ernährung ungehindert von Statten. Der zweite Theil unserer obigen Thesis wird einer ausführlicheren Erörterung bedürfen, selbst nach Al- lem, was ich bereits in den angeführten Schriften dar- über gesagt habe. — Schon oben, Kapitel i8, habe ich nachgewiesen, dass das Ding an sich, welches je- der, also auch unserer eigenen Erscheinung zum Grun- de liegen muss, im Selbstbewusstseyn die eine seiner Erscheinungsformen, den Raum, abstreift, und allein die andere, die Zeit, beibehält; weshalb es hier sich unmittelbarer als irgendwo kund giebt, und wir es, nach dieser seiner unverhülltesten Erscheinung, als Willen ansprechen. Nun aber kann, in der blossen Zeit allein, sich keine beharrende Substanz, dergleichen die Ma- terie ist, darstellen; weil eine solche, wie §. 4 des er- sten Bandes dargethan, nur durch die innige Vereini- gung des Raumes mit der Zeit möglich wird. Daher wird, im Selbstbewusstseyn, der Wille nicht als das bleibende Substrat seiner Regungen wahrgenommen, mithin nicht als beharrende Substanz angeschaut; son- dern bloss seine einzelnen Akte, Bewegungen und Zu- stände, dergleichen die EntSchliessungen, Wünsche und Affekte sind, werden, successiv und während der Zeit ihrer Dauer, unmittelbar, jedoch nicht anschau- lich, erkannt. Die Erkenntniss des Willens im Selbst- bewusstseyn ist demnach keine Anschauung desselben, sondern ein ganz unmittelbares Innewerden, seiner 3i3 successiven Re{jun{;en. Hinge{jen für die nach aussen (jerichtete, durch die Sinne vermittehe und im Ver- stände vollzogene Erkenntniss, die neben der Zeit auch den Baivn zur Form hat, welche Beide sie, durch die Verstandesfunktion der Kausalität, aufs Innigste ver- knüpft, wodurch sie eben zur Anschauumj wird, stellt sich Dasselbe, was in der innern unmittelbaren Wahr- nehmung als Wille gefasst wurde, anschaulich dar, als organischer Leib, dessen einzelne Bewegungen die Akte, dessen Theile und Formen die bleibenden Bestrebun- gen, den Grundcharakter des individuell gegebenen Willens veranschaulichen, ja, dessen Schmerz und Wohlbehagen ganz unmittelbare Affektionen dieses Willens selbst sind. Zunächst werden wir dieser Identität des Leibes mit dem Willen inne in den einzelnen Aktionen Beider; da in diesen was im Selbstbewusstseyn als unmittel- barer, wirklicher Willensakt erkannt wird, zugleich und ungetrennt sich äusserlich als Bewegungdes Leibes darstellt, und Jeder seine, durch momentan eintre- tende Motive eben so momentan eintretenden Willens- beschlüsse alsbald in eben so vielen Aktionen seines Leibes so treu abgebildet erblickt, wie diese selbst in seinem Schatten; woraus dem Unbefangenen auf die einfachste Weise die Einsicht entspringt, dass sein Leib bloss die äusserliche Erscheinung seines Willens ist, d. h, die Art und Weise wie, in seinem anschauenden Intellekt, sein Wille sich darstellt; oder sein Wille selbst, unter der Form der Vorstellung. Nur w'enn wir dieser ursprünglichen und einfachen Belehrung uns gewaltsam entziehen, können wir, auf eine kurze Weile, den Hergang unserer eigenen Leibesaktion als ein Wunder anstaunen, welches dann darauf beruht, dass zwischen dem W^illensakt und der Leibesaktion wirklich keine Kausalverbindung ist: denn sie sind eben unmittelbar identisch, und ihre scheinbare Ver- schiedenheit entsteht allein daraus, dass hier das Eine und Selbe in zwei verschiedenen Erkenntnissweisen, der inneren und der äusseren, wahrgenommen wird. — Das wirkliche Wollen ist nämlich vom Thun unzer- trennlich, und ein Willensakt im engsten Sinn ist nur 3.4 der, welchen die That dazu stämpelt. Hingegen blosse Willensbeschlüsse sind, bis zur Ausführung, nur Vor- sätze und daher Sache des Intellekts allein: sie haben als solche ihre Stelle bloss im Gehirn und sind nichts weiter, als abgeschlossene Berechnungen der relativen Stärke der verschiedenen, sich entgegenstehenden Mo- tive, haben daher zwar grosse Wahrscheinlichkeit, aber nie Unfehlbarkeit. Sie können nämlich sich als falsch ausweisen, nicht nur mittelst Aenderung der Umstände, sondern auch dadurch, dass die Abschätz- ung der respektiven Wirkung der Motive auf den eigentlichen Willen irrig war, welches sich alsdann zeigt, indem die That dem Vorsatz untreu wird: daher eben ist vor der Ausführung kein Entschluss gewiss. Also ist allein im wirklichen Handeln der Wille selbst thätig, mithin in der Muskelaktion, folglich in der L'ritabilität: also objektivirt sich in dieser der eigent- liche Wille. Das grosse Gehirn ist der Ort der Motive, woselbst, durch diese, der Wille zur Willkür wird, d. h. eben durch Motive näher bestimmt wird. Diese Motive sind Vorstellungen, welche auf Anlass äusserer Reize der Sinnesoi'gane, mittelst der Funktionen des Gehirns entstehen und auch zu Begriffen, dann zu Beschlüssen verarbeitet werden. Wann es zum wirk- lichen Willensakt kommt, wirken diese Motive, deren Werkstätte das grosse Gehirn ist, unter Vermittelung des kleinen Gehirns, auf das Rückenmark und die von diesem ausgehenden motorischen Nerven, welche dann auf die Muskeln wirken, jedoch bloss als Reize der Irritabilität derselben; da auch galvanische, chemische und selbst mechanische Reize die selbe Kontraktion, die der motorische Nerv hervorruft, bewirken können. Also was im Gehirn Motiv war, wirkt, wenn es durch die Nervenleitung zum Muskel gelangt, als blosser Reiz. Die Sensibilität an sich ist völlig unvermögend einen Muskel zu kontrahiren: dies kann nur dieser selbst, und seine Fähigkeit hiezu heisst Irritabilität d. h. Reizbarkeit: sie ist ausschliessliche Eigenschaft des Muskels; wie Sensibilität ausschliessliche Eigen- schaft des Nerven ist. Dieser giebt zwar dem Muskel den Anlass zu seiner Kontraktion; aber keineswegs 3i5 ist er es, welcher, irgendwie meclianisch, den Muskel zusammenzöge: sondern dies geschieht ganz allein vermöge der Irritahilität, welche des Muskels selbst- eigene Kraft ist. Diese ist, von aussen aufgefasst eine Qualitas occulta; und nur das Selbstbewusstseyn re- velirt sie als den Willen. In der hier kurz dargelegten Kausalkette, von der Einwirkung des aussen liegenden Motivs bis zur Kontraktion des Muskels, tritt nicht etwan der Wille als letztes Glied derselben mit ein; sondern er ist das metaphysische Substrat der Irrita- bilität des Muskels: er spielt also hier genau dieselbe Rolle, welche, in einer physikalischen oder chemi- schen Kausalkette, diedabei dem Vorgange zum Grunde liegenden geheimnissvollen Naturkräftespielen, welche als solche nicht selbst als Glieder in der Kausalkette begriffen sind, sondern allen Gliedern derselben die Fähigkeit zu wirken verleihen; wie ich dies in §. 26 des ersten Bandes ausführlich dargelegt habe. Daher würden wir eine dergleichen geheimnissvolle Natur- kraft eben auch der Kontraktion des Muskels unter- legen; wenn diese uns nicht durch eine ganz ander- weitige Erkenntnissquelle, das Selbstbewusstseyn, auf- geschlossen wäre, als Wille. Dieserhalb erscheint, wie oben gesagt, unsere eigene Muskelbewegung, wenn wir vom Willen ausgehen, uns als ein Wunder; weil zwar von dem aussen liegenden Motiv bis zur Muskel- aktion eine strenge Kausalkette fortgeht, der Wille selbst aber nicht als Glied in ihr begriffen ist, sondern als das metaphysische Substrat der Möglichkeit einer Aktuirung des Muskels durch Gehirn und Nerv, auch der gegenwärtigen Muskelaktion zum Grunde liegt: daher diese eigentlich nicht seine Wirkung, sondern seine Erscheinung ist. Als solche tritt sie ein in der, vom Willen an sich selbst ganz verschiedenen, Welt der Vorstellung, deren F'orm das Kausalitätsgesetz ist; wo- durch sie, wenn man vom /f'7//en ausgeht, für die auf- merksame Reflexion, das Ansehn eines Wunders er- hält, für die tiefere Forschung aber die unmittelbarste Beglaubigung der grossen Wahrheit liefert, dass was in der Erscheinung als Körper und ihr Wirken auf- tritt, an sich fi^ille ist. — Wenn mm etwan der mo- .3 16 torische Nerv, der zu meiner Hand leitet, durchschnit- ten ist; so kann mein Wille sie nicht mehr bewegen. Dies liegt aber nicht daran, dass die Hand aufgehört hätte, wie jeder Theil meines Leibes, die Objektität, die blosse Sichtbarkeit, meines Willens zu seyn, oder mit andern Worten, dass dieirritabilität verschwunden wäre; sondern daran, dass die Einwirkung des Motivs, in Folge deren allein ich meine Hand bewegen kann, nicht zu ihr gelangen und als Reiz auf ihre Muskeln wirken kann, da die Leitung vom Gehirn zu ihr un- terbrochen ist. Also ist eigentlich mein Wille, in diesem Theil, nur der Einwirkung des Motivs entzogen. In der Irritabilität objektivirt sich der Wille unmittelbar, nicht in der Sensibilität. Um über diesen wichtigen Punkt allen Missver- ständnissen, besonders solchen, die von der rein em- pirisch betriebenen Physiologie ausgehen, vorzubeu- gen, will ich den ganzen Hergang etwas gründlicher auseinandersetzen. — Meine Lehre besagt, dass der ganze Leib der Wille selbst ist, sich darstellend in der Anschauung des Gehirns, folglich eingegangen in des- sen Erkenntnissformen. Hieraus folgt, dass der Wille im ganzen Leibe überall gleichmässig gegenwärtig sei; wie dies auch nachweislich der Fall ist; da die organischen Funktionen nicht weniger als die anima- lischen sein Werk sind. Wie nun aber ist es hiemit zu vereinigen, dass die %villk'ürlichen Aktionen, diese unleugbarsten Aeusserungen des Willens, doch offen- bar vom Gehirn ausgehen, sodann erst, durch das Mark, in die Nervenstämme gelangen, welche endlich die Glieder in Bewegung setzen, und deren Lähmung, oder Durchschneidung, daher die Möglichkeit der willkürlichen Bewegung aufhebt? Danach sollte man denken, dass der Wille, eben wie der Intellekt seinen Sitz allein im Gehirn habe und eben wie dieser, eine blosse Funktion des Gehirns sei. Diesem ist jedoch nicht so; sondern der ganze Leib ist und bleibt die Darstellung des Willens in der An- schauung, also der, vermöge der Gehirnfunktionen, objektiv angeschaute Wille selbst. Jener Hergang, bei den Willensakten, beruht aber darauf, dass der Wille, 3.7 welcher, nach meiner Tjehre, in jeder Erscheinnnjj der Natur, auch der ve{jetabili.scheu und unorgani- schen, sich äussert, im menschhchen inid thierischen Leibe als ein beivusster fVille auftritt. Ein Bewiisstseyn aber ist wesenthch ein einheitHches imd erfordert da- her stets einen centralen Einheitspunkt. Die Nothwen- digkeit des Bewusstseyns wird, wie ich oft auseinan- dergesetzt habe, dadurch herbeigeführt, dass, in Folge der gesteigerten Komplikation und dadurch der man- nigfaltigeren Bedürfnisse eines Organismus, die Akte seines Willens durch Motive gelenkt werden müssen, nicht mehr, wie auf den tieferen Stufen, durch blosse Reize. Zu diesem Behuf musste er hier mit einem er- kennenden Bewusstseyn, also mit einem Intellekt, als dem Medio und Ort der Motive, versehen auftreten. Dieser Intellekt, wenn selbst objektiv angeschaut, stellt sich dar als das Gehirn, nebst Dependenzien, also Rük- kenmark und Nerven. Er nun ist es, in welchem, auf Anlass äusserer Eindrücke, die Vorstellungen ent- stehen, welche zu Motiven für den Willen werden. Im vei'niinftigen Intellekt aber erfahren siehiezu über- dies noch eine weitere Verarbeitung durch Reflexion und Ueberlegung. Ein solcher Intellekt nun also muss zuvörderst alle Eindrücke, nebst deren Verarbeitung durch seine Funktionen, sei es zu blosser Anschauung, oder zu Begriffen, in ej/j^/iPunkt vereinigen, der gleich- sam der Brennpunkt aller seiner Strahlen wird, da- mit jene Einheit des Bewusstseyns entstehe, welche das theoretische Ich ist, der Träger des ganzen Bewusst- seyns, in welchem selbst es mit dem wollenden Ich, dessen blosse Erkenntnissfunktion es ist, als identisch sich darstellt. Jener Einheitspunkt des Bewusstseyns, oder das theoretische Ich, ist eben Kants synthetische Einheit der Apperception, auf welche alle Vorstel- lungen sich wie auf eine Perlenschnur reihen und ver- möge deren das ,,Ich denke", als Faden der Perlen- schnur, „alle unsere Vorstellungen muss begleiten können". — Dieser Sammelplatz der Motive also, wo- selbst ihr Eintritt in den einheitlichen Fokus des Be- wusstseyns Statt hat, ist das Gehirn. Hier werden sie im vermmftlosen Bewusstsevn bloss angeschauet, im 3i8 vernünftigen durch Begriffe verdeutlicht, also noch allererst in abstracto gedacht und verglichen; worauf der Wille sich, seinem individuellen und unwandel- baren Charakter gemäss, entscheidet, und so der Ent- 5cA/u55 hervorgeht, welcher nunmehr, mittelst desCe- rebellums, des Marks und der Nervenstämme, die äusseren Glieder in Bewegung setzt. Denn, wenn gleich auch in diesen der Wille ganz unmittelbar gegenwärtig ist, indem sie seine blosse Erscheinung sind ; so bedurfte er, wo er nach Motiven^ oder gar nach üeberlegung, sich zu bewegen hat, eines solchen Apparats, zur x\uffassung und Verarbeitung der Vor- stellungen zu solchen Motiven, in deren Gemässheit seine Akte hier als Entschlüsse auftreten; — eben wie die Ernährung des Bluts, durch den Chylus, eines Magens und der Gedärme bedarf, in welchen dieser bereitet wird und dann als solcher ihm zufliesst durch den ductus thoracicus, welcher hier die Rolle spielt, die dort das Rückenmark hat. — Am einfachsten und allgemeinsten lässt die Sache sich so fassen: der Wille ist in allen Muskelfasern des ganzen Leibes als h'ri- tabilität unmittelbar gegenwärtig, als ein fortwäh- rendes Streben zur Thätigkeit überhaupt. Soll nun aber dieses Streben sich realisiren, also sich als Be- wegung äussern; so muss diese Bewegung, eben als solche, irgend eine Richtung haben: diese Richtung aber muss durch irgend etwas bestimmt werden : d. h. sie bedarf eines Lenkers: dieser nun ist das Nerven- system. Denn der blossen Irritabilität, wie sie in der Muskelfaser liegt und an sich purer Wille ist, sind alle Richtungen gleichgültig: also bestimmt sie sich nach keiner, sondern verhält sich wie ein Körper, der nach allen Richtungen gleichmässig gezogen wird; er ruht. Indem die Nerventhätigkeit als Motiv (bei Reflexbewegungen als Reiz) hinzutritt, erhält die stre- bende Kraft, d. i, die Irritabilität, eine bestimmte Richtung und liefert jetzt die Bewegungen. — Die- jenigen äusseren Willensakte jedoch, welche keiner Motive, also auch nicht der Verarbeitung blosser Rei^ ze zu Vorstellungen im Gehirn, daraus eben Motive werden, bedürfen, sondern unmittelbar auf Reize, 3i9 meistens innere, erfolgen, sind die Reflexbewegungen, ausgehend vom blossen Rückenmark, wie z. R. die Spasmen und Krämpfe, in denen der Wille ohne Theilnahme des Gehirns wirkt. — Auf analoge Weise betreibt der Wille das organische Leben, ebenfalls auf Nervenreiz, welcher nicht vom Gehirn ausgeht. Nämlich der Wille erscheint in jedem Muskel als Irritabilität und ist folglich für sich im Stande, diesen zu kontrahiren; jedoch nur überhaupt \ damit eine bestimmte Kontraktion, in einem gegebenen Augen- blick, erfolge, bedarf es, wie überall, einer Ursache, die hier ein Reiz seyn muss. Diesen giebt überall der Nerv, welcher in den Muskel geht. Hängt dieser Nerv mit dem Gehirn zusammen; so ist die Kontraktion ein bewusster Willensakt, d. h. geschieht auf Motive, welche, in Folge äusserer Einwirkung, im Gehirn, als Vorstellungen entstanden sind. Hängt der Nerv nicht mit dem Gehirn zusammen, sondern mit dem sym- pathicus maximus; so ist die Kontraktion unwillkür- lich und unbewusst, nämlich ein dem organischen Leben dienender Akt, und der Nervenreiz dazu wird veranlasst durch innere Einwirkung, z. R. durch den Drvick der eingenommenen Nahrung auf den Magen, oder des Chymus auf die Gedärme, oder des einströ- menden Rlutes auf die W^ände des Herzens: er ist denmach Magenverdauung, oder motus peristalticus, oder Herzschlag u. s. w. Gehen wir nun aber, in diesem Hergang, noch einen Schritt weiter zurück; so finden wir, dass die Muskeln das Produkt und Verdichtungswerk des Rlu- tes, ja gewissermaassen nur festgewordenes, gleichsam geronnenes oder krystallisirtes Rlut sind; indem sie den Faserstoff (Fibrine, Cruor) und den Färbestoff desselben fast unverändert in sich aufgenommen ha- ben (Rurdach, Physiologie, Rd. 5, S. 686). Die Kraft aber, welche aus dem Rlute den Muskel bildete, darf nicht als verschieden angenommen werden von der, die nachher, als Irritabilität, auf Nervenreiz, weichen das Gehirn liefert, denselben bewegt; wo sie alsdann dem Selbstbewusstseyn sich als Dasjenige kund giebt, was wir Willen nennen. Zudem beweist den nahen Zu- 330 samnienhan{5; zwischen dem Blut und der Irritabilität auch dieses, dass wo, wegen ünvollkommenheit des klei- nen Blutumlaufs, ein Theil des Blutes unoxydirt zum Herzen zurückkehrt, die Irritabilität sogleich unge- mein schwach ist; wie bei den Batrachiern. Auch ist die Bewegung des Blutes, eben wie die des Muskels, eine selbstständige und ursprüngliche, sie bedarf nicht ein Mal, wie die Irritabilität, des Nerveneinflusses, und ist selbst vom Herzen unabhängig; wie dies am deutlichsten der Rücklauf des Blutes durch die Venen zum Herzen kund giebt, da bei diesem nicht, wie beim Arterienlauf, eine vis a tergo es propellirt, und auch alle sonstigen mechanischen Erklärungen, wie etwan durch eine Saugekraft der rechten Herzkammer, durchaus zu kurz kommen, (Siehe Burdachs Physio- logie, Bd. 4, §• 763, und Rösch „Ueber die Bedeu- tung des Bluts", S. 1 1 fg.) Merkwürdig ist es zu sehen, wie die Franzosen, welche nichts, als mechanische Kräfte kennen, mit unzureichenden Gründen auf bei- den Seiten, gegen einander streiten, und Bichat den Rücklauf des Blutes durch die Venen dem Druck der Wände der Kapillargefässe, Magendie, dagegen dem noch immer fortwirkenden Impuls des Herzens zuschreibt (Precis de physiologie par Magendie, Vol. 2, p. 389). Dass die Bewegung des Blutes auch vom Nervensystem, wenigstens vom cerebralen, unabhän- gig ist, bezeugen die F'ötus, welche (nach Müllers Physiologie) ohne Gehirn und Rückenmark, doch Blutumlauf haben. Und auch F/ow/ens sagt : Le mou- vement du coeur, pris en soi, et abstraction faite de tout ce qui n'est pas essentiellement lui, comme sa duree, son energie, ne depend ni immediatement, ni coinstantanement, du Systeme nerveu.v central, et consequemment c'est dans tout autre point de ce Sy- steme que dans les centres nerveux eux-memes, qu'il faut chercher le principe primitif et immediat de ce mouvement (Annales des sciences naturelles p. Au- douin et Brongniard, 1828, Vol. i3). — Auch Cuvier sagt: La circulation survit ä la destruction de tout Tencephale et de toute la moelle epiniaire (Mem. de l'acad. d. sc, 1823, Vol. 6; Hist. d. Tacad. p. Cuvier, 2 I Schopenhauer II j 2 I p. cxxx). Cor primuin vivens et ultimum moriens, sagt Haller. Der Herzschlag hört im Tode zuletzt auf. — Die Gefässe selbst hat das Blut gemacht; da es im Ei früher als sie erscheint, sie sind nur seine freiwil- lig eingeschlagenen, dann gebahnten, endlich allmä- lig kondensirten und umschlossenen Wege; wie dies schon Kaspar JVoljff gelehrt hat : „Theorie der Gene- ration", §. 3o — 35. Auch die von der des Blutes un- zertrennliche Bewegung des Herzens ist, wenn gleich durch das Bedürfniss Blut in die Lunge zu senden veranlasst, doch eine ursprüngliche, sofern sie vom Nervensystem und der Sensibilität unabhängig ist: wie Burdach dies ausführlich darthut. „Im Herzen", sagt er, „erscheint, mit dem Maximum von Irritabi- lität, ein Minimum von Sensibilität" (1. c, §. 769). Das Herz gehört sowohl dem Muskel- als dem Blut- oder Gefäss-System an; woran abermals ersichtlich ist, dass Beide nahe verwandt, ja ein Ganzes sind. Da nun das metaphysische Substrat der Kraft, die den Muskel bewegt, also der Irritabilität, der Wille ist; so muss dasselbe es auch von der seyn, welche der Be- wegung und den Bildungen des Blutes zum Grunde liegt, als durch welche der Muskel hervorgebracht worden. Der Lauf der Arterien bestimmt zudem die Gestalt und Grösse aller Glieder: folglich ist die ganze Gestalt des Leibes durch den Lauf des Blutes bestimmt. Ueberhaupt also hat das Blut, wie es alle Theile des Leibes ernährt, auch schon, als Urflüssigkeit des Or- ganismus, dieselben ursprünglich aus sich erzeugt und gebildet; und die Ernährung der Theile, welche eingeständlich die Hauptfimktion des Blutes ausmacht, ist nur die Fortsetzung jener urprünglichen Erzeu- gung derselben. Diese Wahrheit findet man gründlich und vortretlflich auseinandergesetzt in der oben er- wähnten Schrift von Bosch: „Ueber die Bedeutung des Blutes", 1889. Er zeigt, dass das Blut das ur- sprünglich Belebte und die Quelle sowohl des Da- seyns, als der Erhaltung aller Theile ist; dass aus ihm sich alle Organe ausgeschieden haben, und zu- gleich mit ihnen zur Lenkung ihrer Fvmktionen das Nervensystem, welches theils als plastisches, dem Le- 822 ben der einzelnen Theile im Innein, theils als ce7e- brales, der Relation zur Aussenwelt ordnend und lei- tend vorsteht. „Das Blut", sagt er S. 26, „war Fleisch und JNerv zugleich und in demselben Augenblick, da der Muskel sich von ihm löste, blieb der Nerv, eben so getrennt, dem Fleische gegenüberstehen." Hiebei versteht es sich von selbst, dass das Blut, ehe jene festen Theile von ihm ausgeschieden sind, auch eine etwas andere Beschaffenheit hat als nachdem: es ist alsdann, wie Rösch es bezeichnet, die chaotische, be- lebte, schleimige Urflüssigkeit, gleichsam eine orga- nische Emulsion, in welcher alle nachherigen Theile implicite enthalten sind: auch die rothe Farbe hat es nicht gleich Anfangs. Dies beseitigt den Einwurf, den man daraus nehmen könnte, dass Gehirn und Rückenmark sich zu bilden anfangen, ehe die Cirku- lation des Blutes sichtbar ist und das Herz entsteht. In diesem Sinne sagt auch Schultz (System der Cirku- lation S. 297): „Wir glauben nicht, dass die Ansicht Baiimgärtnei^s, nach welcher sich das Nervensystem früher, als das Blut bildet, sich wird durchführen lassen; da Baumgärtner die Entstehung des Blutes nur von der Bildung der Bläschen an rechnet, wäh- rend schon viel früher, im Embryo und in der Thier- reihe Blut in Form von reinem Plasma erscheint." — Nimmt doch das Blut der wirbellosen Thiere nie die rothe Farbe an ; weshalb wir dennoch nicht, wie Ari- stoteles, es ihnen absprechen. — Es verdient wohl, angemerkt zu werden, dass, nach dem Berichte Justi- nus Kerner's (Geschichte zweier Somnambulen, S. 78) eine im höchsten Grade hellsehende Somnambule sagt : „Ich bin so tief in mir, als je ein Mensch in sich ge- führt werden kann : die Kraft meines irdischen Lebens scheint mir im Blute ihren Ursprung zu haben, wo- durch sie sich, durch das Auslaufen in die Adern, vermittelst der Nerven, dem ganzen Körper, das Edel- ste desselben aber, über sich, dem Gehirn mittheilt." Aus diesem Allen geht hervor, dass der Wille sich am unmittelbarsten im Blute objektivirt, als welches den Organismus ursprünglich schafft und formt, ihn durch Wachsthum vollendet und nachher ihn fort- 21* 323 während erhält, sowohl durch regelmässige Erneue- rung aller, als durch ausserordentliche Herstellung etwan verletzter Theile. Das erste Produkt des Blutes sind seine eigenen Gefässe und dann die Muskeln, in deren Irritabilität der Wille sich dem Selbsthewusst- seyn kund gieht, hiemit aber auch das Herz, als wel- ches zugleich Geläss und Muskel, und deshalb das wahre Centrum und primum mobile des ganzen Le- bens ist. Zum individuellen Leben und Bestehen in der Aussenwelt bedarf nun aber der Wille zweier Hülfssysteme: nämlich eines zur Lenkung und Ord- nung seiner innern und äussern Thätigkeit, und eines andern zur steten Erneuerung der Masse des Bluts ; also eines Lenkers und eines Erhalters. Daher schafft er sich das Nerven- und das Eingeweide-System: also, zu den functiones vitales, welche die ursprünglichsten und wesentlichsten sind, gesellen sich subsidiarisch die functiones animales und die functiones naturales. Im Nei'vcnsystem objektivirt der Wille sich demnach nur mittelbar und sekundär; sofern nämlich dieses als ein blosses Hülfsorgan auftritt, als eine Veranstal- tung, mittelst welcher die theils inneren, theils äusse- ren Veranlassungen, auf welcher der Wille sich, sei- nen Zwecken gemäss, zu äussern hat, zu seiner Kunde gelangen: die innere?! empfängt das plastische Nerven- system, also der sympathische Nerv, dieses cerebrum abdominale, als blosse Reize, und der Wille reagirt darauf an Ort und Stelle, ohne Bewusstseyn des Ge- hirns; die äusseren empfängt das Gehirn, als Motive, und der Wille reagirt durch bewusste, nach aussen gerichtete Handlungen. Mithin macht das ganze Ner- vensystem gleichsam die Fühlhörner des Willens aus, die er nach innen und aussen streckt. Die Gehirn- und Rückenmarks-Nerven zerfallen, an ihren Wur- zeln, in sensibele und motorische. Die sensibeln emp- fangen die Kunde von aussen, welche nun sich im Heerde des Gehirns sammelt und daselbst verarbeitet wird, woraus Vorstellungen, zunächst als Motive, entstehen. Die motorischen Nerven aber hinterbrin- gen, wie Kouriere, das Resultat der Gehirnfunktion dem Muskel, auf welchen dasselbe als Reiz wirkt und 324 dessen Irritabilität die unmittelbare Erscheinung des Willens ist. Vermutlilich zerfallen die plastischen Nerven ebenfalls in sensibele und motorische, wiewohl auf einer untergeordneten Skala. — Die Rolle, welche im Organismus die Ganglien spielen, haben wir als eine diminutive Gehirnrolle zu denken, wodurch die eine zur Erläuterung der andern wird. Die Ganglien liegen überall, wo die organischen Funktionen des vegetativen Systems einer Aufsicht bedürfen. Es ist als ob daselbst der Wille, um seine Zwecke durch- zusetzen, nicht mit seinem direkten und einfachen Wirken ausreichen konnte, sondern einer Leitung und deshalb einer Kontrole desselben bedurfte; wie wenn man, bei einer Verrichtung, nicht mit seiner blossen Besinnung ausreicht, sondern was man thut allemal notiren muss. Hiezu reichen, für das Innere des Organismus, blosse Nervenknoten aus; eben weil alles im eigenen Bereich desselben vorgeht. Hingegen für das x\eussere bedurfte es einer sehr komplicirten Veranstaltung derselben Art: diese ist das Gehirn mit seinen Fühlföden, welche es in die Aussenwelt streckt, den Sinnesnerven. Aber selbst in den mit die- sem grossen Nervencentro kommunizirenden Orga- nen braucht, in sehr einfachen Fällen, die Angelegen- heit nicht vor die oberste Behörde gebracht zu wer- den; sondern eine untergeordnete reicht aus, das Nö- thige zu verfügen; eine solche ist das Rückenmark, in den von Marshall Hall entdeckten Reflexbewegun- gen, wie das Niesen, Gähnen, Erbrechen, die zweite Hälfte des Schlingens u. a. m. Der Wille selbst ist im ganzen Organismus gegenwärtig, da dieser seine blosse Sichtbarkeit ist: das Nervensystem ist überall bloss da, um eine Direktion seines Thuns möglich zu machen, durch eine Kontrole desselben, gleichsam dem Willen als Spiegel zu dienen, damit er sehe was er thue; wie wir beim Rasiren uns eines Spiegels bedienen. Da- durch entstehen kleine Sensoria im Innern, für speci- elle und deshalb einfache Verrichtungen, die Gang- lien: das Hauptsensorium aber, das Gehirn, ist der grosse und künstliche Apparat für die komplicirten lind vielseitigen, auf die unaufhörlich und unregel- 325 massig wechselnde Aussenwelt bezüglichen Verrich- tungen. Wo im Organismus Nervenfäden in ein Gang- lion zusammenlaufen, da ist gevvissermaassen ein eigenes Thier vorhanden und abgeschlossen, welches mittelst des Ganglions, eine Art von schwacher Er- kenntniss hat, deren Sphäre jedoch beschränkt ist auf die Theile, aus denen diese Nerven unmittelbar kommen. Was nun aber diese Theile auf solche quasi Erkenntniss aktuirt, ist oÜ'euhav fFille, ja, wir vermö- gen gar nicht es anders auch nur zu denken. Hier- aufberuht die vita propria jedes Tlieils, wie auch, bei Insekten, als welche, statt des Rückenmarks, einen doppelten Nervenstrang mit Ganglien in regehnässi- gen Entfernungen haben, die Fähigkeit jedes Theils, nach Trennung vom Kopf und übrigen Rumpf, noch tagelang zu leben ; endlich auch die, in letzter Instanz, nicht vom Gehirn aus motivirten Handlungen, d. i. Instinkt und Kunsttrieb. Marshall Hall, dessen Ent- deckung der Reflexbewegungen ich oben erwähnte, hat in derselben uns eigentlich die Theorie der innvill- kürlichen Bewegungen geliefert. Diese sind theils nor- male oder physiologische: dahin gehören die Ver- schliessung der Ein- und Ausgänge des Leibes, also der sphincteres vesicae et ani (ausgehend von Rücken- marksnerven), der Augenlider im Schlaf (vom fünften Nervenpaare aus), des Larynx (vom N. vagus aus), wenn Speisen an ihm vorübergehen, oder Kohlensäure eindringen will, sodann das Schlucken, vom Pharynx an, das Gähnen, Niesen, die Respiration, im Schlafe ganz, im Wachen zum Theil, endlich die Erektion, Ejakulation, wie auch die Konception u. a. m.: theils sind sie abnormale und pathologische: dahin gehören das Stottein, der Schluchzen, das Erbrechen, wie auch die Krämpfe und Konvulsionen aller Art, zumal in der Epilepsie, im Tetanus, in der Hydrophobie und sonst, endhch die durch galvanischen oder anderen Reiz hervorgerufenen, ohne Gefühl und Bewusstseyn geschehenden Zuckungen paralysirter, d. h. ausser Verbindung mit dem Gehirn gesetzter Glieder, eben so die Zuckungen enthaupteter Thiere, endlich alle Bewegungen und Aktionen hirnlos geborener Kinder. 326 Alle Krämpfe sind eine Rebellion der Nerven der Glie- der gegen die Souveränität des Gehirns: hingegen sind die normalen Reflexbewegungen die legitime Autokratie untergeordneter Beamten. Diese sämmtli- chen Bewegungen also sind unwillkürlich, weil sie nicht vom Gehirn ausgehen und daher nicht auf Mo- tive geschehen, sondern auf blosse Reize. Die sie ver- anlassenden Reize gelangen bloss zum Rückenmark, oder zur meduUa oblongata, und von da aus geschieht immittelbar die Reaktion, welche die Bewegung be- wirkt. Das selbe Verhältniss, welches das Gehirn zu Motiv und Handlung hat, hat das Rückenmark zu jenen unwillkürlichen Bewegungen, und wasdersen- tient and voluntary nerv für jenes, ist für dieses der incident and motor nerv. Dass dennoch, in den Einen wie in den Andern, das eigenthch Bewegende der Wille ist, fällt um so deutlicher in die Augen, als die unwillkürlich bewegten Muskeln grossentheils die selben sind, welche, unter andern Umständen, vom Gehirn aus bewegt werden, in den willkürlichen Ak- tionen, wo ihr primum mobile uns durch das Selbst- bewusstseyn als JVilleininn bekannt ist. Marshall Halls vortreffliches Buch on the diseases of the nervous System ist überaus geeignet, den Unterschied zwischen Willkür und Wille deutlich zu machen und die Wahr- heit meiner Grundlehre zu bestätigen. Erinnern wir uns jetzt, zur Veranschaulichung alles hier Gesagten, an diejenige Entstehung eines Organis- mus, welche unserer Beobachtung am zugänglichsten ist. Wer macht das Hühnchen im Ei? etwaneine von aussen kommende und durch die Schaale dringende Macht und Kunst? O nein! das Hühnchen macht sich selbst, und eben die Kraft, welche dieses über allen Aus- druck koraplicirte, wohlberechnete und zweckmässige Werk ausführt und vollendet, durchbricht, sobald es fertig ist, die Schaale, und vollzieht nunmehr, unter der Benennung Wille, die äusseren Handlungen des Hühnchens. Beides zugleich konnte sie nicht leisten; vorher mit Ausarbeitung des Organismus beschäftigt, hatte sie keine Besorgung nach aussen. Nachdem nun aber jener vollendet ist, tritt diese ein, unter Leitung 327 des Gehirns und seiner Fühlfäden, der Sinne, als eines zu diesem Zweck vorhin hereiteten Werkzeuges, des- sen Dienst erst anfängt, wann es im Selbsthewusst- seyn als Intellekt aufwacht, der die Laterne der Schritte des Willens, sein VjYejiovixov, und zugleich der Träger der objektiven Aussenwelt ist, so beschränkt auch der Horizont dieser im Bewusstseyn eines Huhnes seyn mag. Was aber jetzt das Huhn, vinter Vermitte- lung dieses Organs, in der Aussenwelt zu leisten ver- mag, ist, als durch ein Sekundäres vermittelt, unend- lich geringfügiger, als was es in seiner Ursprünglich- keit leistete, da es sich selbst machte. Wir haben oben das cerebrale Nervensystem als ein Hülfsörgan des Willens kennen gelernt, in wel- chem dieser sich Aoher sekundär objektivirt. Wie also das Cerebralsystem, ob{jleich nicht direkt eingreifend in den Kreis der Lebensfunktionen des Organismus, sondern nur dessen Relationen nach aussen lenkend, dennoch den Organismus zur Basis hat und zum Lohn seiner Dienste von ihm genährt wird, wie also das cerebrale oder animale Leben als Produkt des orga- nischen Lebens anzusehen ist; so gehört das Gehirn und dessen Funktion, das Erkennen, also der Intellekt, mittelbar und sekundär zur Erscheinung des Willens: auch in ihm objektivirt sich der Wille und zwar als W^ille zur Wahrnehmung der Aussenwelt, also als ein Erkennenu'oUen. So gross und fundamental daher auch der Unterschied des Wollens vom Erkennen in uns ist; so bleibt dennoch das letzte Substrat Beider das selbe, nämlich der Mille, als das Wesen an sich der ganzen Erscheinung : das Erkennen aber, der Intellekt, welcher im Selbstbewusstseyn sich durchaus als das Sekundäre darstellt, ist nicht nur als sein Accidenz, sondern auch als sein Werk anzusehen und also durch einen Umweg, doch wieder auf ihn zurückzuführen Wie der Intellekt phvsiologisch sich ergiebt als die Funktion eines Organs des Leibes; so ist er metaphysisch anzusehen als ein Werk des Willens, dessen Objekti- vation, oder Si< htbarkeit, der ganze Leib ist. Aisoder Wille zu erkennen, objektiv angeschaut, ist das Gehirn ; wie derWille zu </^Ae?j, objektiv angeschaut, der Fussist; 328 der Wille zu greifen, die Hand ; der Wille zu verdauen der Magen ; zu zeugen, die Genitalien u. s. f. Diese ganze Objektivation ist freilich zuletzt nur für das Gehirn da, als seine Anschauung: in dieser stellt sich der Wille als organischer Leib dar. Aber sofern das Ge- hirn erkennt, wird es selbst nicht erkannt; sondern ist das Erkennende, das Subjekt aller Erkenntniss. Sofern es aber in der objektiven Anschauung, d. h. im Be- wusstseyn anderer Dinge, also sekundär, erkannt wii-d, gehört es, als Organ des Leibes, zur Objektivation des Willens. Denn der ganze Process ist die Selhsterkennt- niss des ffillens, geht von diesem aus und läuft auf ihn zurück, und macht Das aus, was Kant die Erschei- nung, im Gegensatz des Dinges an sich benannt hat. Was daher erkannt, was f^orstelhmg wii'd, ist der Wille: und diese Vorstellung ist, was wir den Leib nennen, der als ein räumlich Ausgedehntes und sich in der Zeit Bewegendes nur mittelst der Funktionen des Gehirns, also nur in diesem, existirt. Was hinge- gen erkennt, was jene Vorstellung hat, ist das Gehirn, welches jedoch sich selbst nicht erkennt, sondern nur als Intellekt, d. h. als Erkennendes, also nur subjektiv sich seiner bewusst wird. Was von Innen gesehen das Erkenntnissvermögen ist, das ist, von Aussen gesehen, das Gehirn. Dieses Gehirn ist ein Theil eben jenes Leibes, weil es selbst zur Objektivation des ffillens gehört, nämlich das Erkennenwollen desselben, seine Richtimg auf die Aussenwelt, in ihm objektivirt ist. Demnach ist allerdings das Gehirn, mithin der Intel- lekt, unmittelbar durch den Leib bedingt, und dieser ■wiederum durch das Gehirn, -^ jedoch nur mittel- bar, nämlich als Räumliches und Körperliches, in der Welt der Anschauung, nicht aber an sich selbst, d. h. als Wille. Das Ganze also ist zuletzt der Wille, der sich selber Vorstellung wird, und ist jene Einheit, die wir durch Ich ausdrücken. Das Gehirn selbst ist, so- fern es vorgestellt ivii-d, — also im Bewusstseyn ande- rer Dinge, mithin sekundär, — selbst nur Vorstellung. An sich aber und sofern es vorstellt, ist es der Wille, weil dieser das reale Substrat der ganzen Erscheinung ist: sein Erkennenwollen objektivirt sich als Gehirn 329 und dessen Funktionen. — Als ein zwar unvollkom- menes, aber doch einigermaassen das Wesen der menschlichen Erscheinung, wie wir es hier betrachten, veranschaulichendes Gleichniss kann man allenfalls die Volta sehe Säule ansehen : die Metalle, nebst Flüssig- keit, wären der Leib ; die chemische Aktion, als Ba- sis des ganzen Wirkens, wäre der Wille, und die dar- aus hervorgehende elektrische Spannung, welche Schlag und Funken hervorruft, der Intellekt. Aber omne simile Claudicat. In der Pathologie hat sich in neuester Zeit endlich die physiatj'ische Ansicht geltend gemacht, welcher zufolge die Krankheiten selbst ein Heilprocess der Na- tur sind, den sie einleitet, um eine irgendwie im Or- ganismus eingerissene Unordnung durch Ueberwin- dung der Ursachen derselben zu beseitigen, wobei sie, im entscheidenden Kampf, der Krisis, entweder den Sieg davonträgt und ihren Zweck erreicht, oder aber unterliegt. Ihre ganze Rationalität gewinnt diese An- sicht erst von unserm Standpunkt aus, w elcher in der Lebenskraft, die hier als vis naturae medicatrix aul^ tritt, den Willen erkennen lässt, der im gesunden Zu- stand allen organischen Funktionen zum Grunde liegt, jetzt aber, bei eingetretenen, sein ganzes Werk be- drohenden Unordnungen, sich mit diktatorischer Ge- walt bekleidet, um durch ganz ausserordentliche Maass- regeln und völlig abnorme Operationen (die Krank- heit) die rebellischen Potenzen zu dämpfen und Alles ins Gleis zurückzuführen. Dass hingegen, w ie Brandis, in den Stellen seines Buches „Ueber die Anwendung der Kälte", die ich im ersten Abschnitt meiner Ab- handlung „Ueber den Willen in der Natur" ange- führt habe, sich wiederholt ausdrückt, der Wille selbst krank sei, ist ein grobes Missverständniss. Wenn ich dieses erwäge und zugleich bemerke, dass Brandis in seinem frühern Buch „Ueber die Lebenskraft", von 1795, keine Ahndung davon verräth, dass diese Kraft an sich der Wille sei, vielmehr daselbst S. i3 sagt: „Unmöglich kann die Lebenskraft das Wesen seyn, welches wir nur durch unser Bewusstseyn kennen, da die meisten Bewegungen ohne unser Bewusstseyn vor- :s3o gehen. Die Behauptung, dass dieses Wesen, dessen einziger uns bekannter Charakter Bewusstseyn ist, auch ohne Bewusstseyn auf den Körper wirke, ist wenigstens ganz willkürhch und unbewiesen"; und S. i4: ,?Gegen die Meinung, dass alle lebendige Be- wegung Wirkung der Seele sei, sind, wie ich glaube, Haller \s Einwürfe unwiderleglich"; — wenn ich ferner bedenke, dass er sein Buch „lieber die Anwendung der Kälte", worin der Wille mit einem Male so ent- schieden als Lebenskraft auftritt, im siebzigsten Jahre geschrieben hat, einem Alter, in welchem wohl noch Niemand originelle Grundgedanken zuerst gefasst hat: — wenn ich dabei noch berücksichtige, dass er sich gerade meiner Ausdrücke ,, Wille und Vorstellung", nicht aber der sonst viel gebräuchlicheren ,,Begeh- rungs- und Erkenntniss-Vermögen" bedient: — bin ich, meiner frühern Voraussetzung entgegen, jetzt der Ueberzeugung, dass er seinen Grundgedanken von mir entlehnt und, mit der heut zu Tage in der ge- lehrten Welt üblichen Redlichkeit, davon geschwie- gen hat. Das Nähere hierüber findet man in der zwei- ten Auflage der Schrift ,, lieber den Willen in der Natur", S. 1 4. Die Thesis, welche uns in gegenwärtigem Kapitel beschäftigt, zu bestätigen und zu erläutern, ist nichts geeigneter, als Bichats mit Recht berühmtes Buch Sur la vie et la mort. Seine und meine Betrachtungen un- terstützen sich wechselseitig, indem die seinigen der physiologische Kommentar der meinigen, und diese der philosophische Kommentar der seinigen sind und man uns beiderseits zusammengelesen am besten verstehen wird. Vornehmlich ist hier von der ersten Hälfte seines Werkes, betitelt Recherches physiologiques sur la vie, die Rede. Seinen Auseinandersetzungen legte er den Gegensatz von organischem und animalischem Leben zum Grunde, welcher dem meinigen von Willen und Intellekt entspricht. Wer auf den Sinn, nicht auf die Worte sieht, wird sich nicht dadurch irre machen lassen, dass er den Willen dem animalischen Leben zuschreibt; da er darunter, wie gewöhnlich, bloss die bewusste Willkür versteht, welche allerdings vom 33i Gehirn aiisgeht,\vosie jedoch, wieoben {gezeigt worden, noch kein wirkliches Wollen, sondern die blosse Ueber- le{jun{j lind Bereohnnn{j der Motive ist, deren Kon- klusion, oder Facit, zuletzt als Willensakt hervortritt. Alles was ich dem ei{jentlichen fVillen zuschreibe, legt er dem ot^ganischen Leben bei, imd Alles was ich als Intellekt fasse, ist bei ihm das animale Leben : dieses hat bei ihm seinen Sitz allein im Gehirn nebst An- hängen; jenes hingegen im ganzen übrigen Organis- mus. Der durchgangige Gegensatz, in welchem er Beide gegen einander nachweist, entspricht dem, wel- cher bei mir zwischen Willen und Intellekt voi'liegt. Er geht dabei, als Anatom und Physiolog, vom Ob- jektiven, d. h. vom Bewusstseyn anderer Dinge, aus; ich als Philosoph, vom Subjektiven, dem Selbstbe- wusstsevn: und da ist es nun eine Freude zu sehen, wie wir, gleich den zwei Stimmen im Duetto in Har- monie mit einander fortschreiten, obgleich Jeder etwas Anderes vernehmen lasst. Daher lese, wer mich ver- stehen will, ihn; und wer ihn gründlicher verstehen will, als er sich selbst verstand, lese mich. Da zeigt uns Bichat, im Artikel 4» dass das orgonische Leben früher anfangt und später erlischt als das animale^ folglich, da dieses auch im Schlafe feiert, beinahe eine doppelt so lange Dauer hat; dann im Artikel 8 und 9, dass das organische Leben Alles sogleich luid von selbst vollkommen leistet, das animale hingegen einer langen Uebung und Erziehung bedarf. Aber am in- teressantesten ist er im sechsten Artikel, wo er dar- thut, dass das animale Leben gänzlich auf die intellek- tuellen Operationen beschränkt ist, daher kalt und antheilslos vor sich geht, während die Affekte und Leidenschaften ihren Sitz im organischen Leben haben, wenn gleich die Anlässe dazu im animalen, d. h. cere- bralen Leben liegen: hier hat er zehn köstliche Seiten, die ich ganz abschreiben möchte. S. no sagt er: II est Sans doute etonnant, que les passions n'avent jamais leur terme ni leur origine dans les divers organes de la* vie animale; qu'au contraire les pariies servant aux fonctions internes, soient constamment affectces par elles, et mcme les determinent suivant Tetat oü elles 332 se trouvent. Tel est cependant ce que la stricte Ob- servation nous prouve. Je dis d'abord que Teffet de toute espece de passion, constaminent etranger a la vie animale, est de faire naitre un changement, une alteration quelconque dans la vie organique. Dann führt er aus, wie der Zorn auf Blutumlauf und Herz- schlag wirkt, dann wie die Freude, und endlich wie die Furcht; hierauf, wie die Lunge, der Magen, die Gedärme, Leber, Drüsen und Pankreas von eben jenen und den verwandten Gemüthsbewegungen affizirt wer- den, und wie der Gram die Nutrition vermindert; so- dann aber, wie das animale, d. h. das Gehirnleben, von dem Allen unl>erührt bleibt und ruhig seinen Gang fortgeht. Er beruft sich auch darauf, dass wir, um intellektuelle Operationen zu bezeichnen, die Hand zum Kopfe führen, diese hingegen an das Herz, den Magen, die Gedärme legen, wenn wir unsere Liebe, Freude, Trauer oder Hass ausdrücken wollen, und bemerkt, dass es ein schlechter Schauspieler seyn müsste, der, wenn er von seinem Grai« redete, den Kopf, und wenn von seiner Geistesanstrengung, das Herz berührte; wie auch dass, während die Gelehrten die sogenannte Seele im Kopfe wohnen Hessen, das Volk den wohlgefühlten Unterschied zwischen Intel- lekt und Willensaffektionen allemal durch richtige Ausdrücke bezeichne, indem es z. ß. von einem tüch- tigen, gescheuten, feinen Kopfe rede, hingegen sage: ein gutes Herz, ein gefühlvolles Herz; so auch ,,der Zorn kocht in meinen Adern, bewegt mir die Galle, — vor Freude hüpfen mir die Eingeweide, die Eifer- sucht vergiftet mein Blut" u. s. w. Les chants sont le langage des passions, de la vie organique, comme la parole ordinaire est celui de Tentendement, de la vie animale: la declamation tient le milieu, eile anime la langue froide du cerveau, par la langue expressive des organes interieurs, du coeur, du foie, de l'estomac etc. — Sein Resultat ist: La vie organique est le terme oü aboutissent, et le centre d'oü partent les passions. Nichts ist mehr als dieses vortreffliche und gründliche Buch geeignet, zu bestätigen und deutlich zu machen, dass der Leib nur der verkörperte 333 (d. h. mittelst der Gehirnfunktionen, also Zeit, Raum und Kausalität, angeschaute) Wille selbst ist, woraus folgt, dass der Wille das Primäre und Ursprüngliche, der Intellekt hingegen, als blosse Gehirn funktion, das Sekundäre und Abgeleitete ist. Aber das Bewunde- rungswürdigste und für mich Erfreulichste im Ge- dankengange Bichats ist, dass dieser grosse Anatom, auf dem Wege seiner rein physiologischen Betrach- tungen, sogar dahin gelangt, die Unveränderlichkeit des 7noralhchen Charakters daraus zu erklären, dass nur das animale Leben, also die Funktion des Gehirns, dem Einfluss der Erziehung, Uebung, Bildung und Gewohnheit unterworfen ist, der tnoraliache Charakter aber dem von aussen nicht modifikabeln organischen Leben, d. h. dem aller übrigen Theile, angehört. Ich kann mich nicht entbrechen, die Stelle herzusetzen: sie steht Artikel 9, §. 2. Teile est donc la grande dif- ference des deux vies de Fanimal (cerebrales oder ani- males, und organisches Leben) par rapport ä Tinega- lite de perfection des divers systemes de fonctions, dont chacune resulte; savoir, que dans Tune la predo- minance ou Tinferiorite d'un Systeme, relativement aux autres, tient presque toujours ä Tactivite ou ä rinertie plus grandes de ce Systeme, ä Thabitude d'agir ou de ne pas agir; que dans l'autre, au contraire, cette predominance ou cette inferiorite sont immediatement liees h la texture des organes, et jamais ä leur educa- tion. Voilä pourquoi le temperament physique et le caractere moral ne sont point susceptibles de changer par l'education, qui modifie si prodigieusement les actes de la vie animale; car, comme nous Tavons vu, tous deux appartienyient a la vie organique. Le ca- ractere est, si je puis m'exprimer ainsi, la physionomie des passions: le temperament est celle des fonctions internes: or les unes et les autres etant toujours les memes, ayant une direction que Thabitude et Texer- cise ne derangent jamais, il est manifeste que le tem- perament et le caractere doivent etre aussi soustraits ä Tempire de Teducation. Elle peut moderer Tinfluence du second, perfectionner assez le jugement et la re- flexion, pour rendre leur empire superieurausien, for- ifier la vie animale, afiii qu'elle resiste aux impulsions de Torganique. Mais vouloir par eile denaturer le ca- ractere, adoucir ou exalter les passions dont il est expression habituelle, agrandir ou resserrer leur sphere, c'est une entreprise analogue a celle d\m me- decin qui essaierait d'elever ou d'abaisser de quelques degres, et pour toute la vie, la Force de contraction ordinaire au coeur dans Tetat de sante, de precipiter ou de ralentir habituellement le mouvement naturel aux arteres, et qui est necessaire ä leur action etc. Nous observerions ä ce medecin, que la circulation, la respiration etc. ne sont point sous le domaine de la volonte (Willkür), qu'elles ne peuvent etre modifiees par rhomme, sans passer ä Tetat maladif etc. Faisons la meme Observation ä ceux qui croient qu'on change le caractere, et par-lä meine les passions, puisquecelles- ci sont im produit de V action de tous les organes inter- nes, ou qu'elles y ont au moins specialement leur siege. Der mit meiner Philosophie vertraute Leser mag sich denken, wie gross meine Freude gewesen ist, als ich in den auf einem ganz andern Felde gewonnenen lieber^ Zeugungen des der Welt so früh entrissenen, ausser- ordentlichen Mannes gleichsam die Rechnungsprobe zu den meinigen entdeckte. Einen speciellen Beleg zu der Wahrheit, dass der Organismus die blosse Sichtbarkeit des Willens ist, giebt uns auch noch die Thatsache, dass wenn Hun- de, Katzen, Haushähne, auch wohl noch andere Thiere, im heftigsten Zorn beissen, die Wunde tödtlich werden, ja, wenn von einem Hunde kommend, Hydrophobie im Menschen, den sie traf, hervorbringen kann, ohne dass der Hund toll sei, oder es nachher werde. Denn der äusserste Zorn ist eben nur der entschiedenste und heftigste Wille zur Vernichtung seines Gegen- standes: dies erscheint nun eben darin, dass alsdann augenblicklich der Speichel eine verderbliche, gewis- sermaassen magisch wirkende Kraft annimmt, und zeugt davon, dass Wille und Organismus in Wahrheit Eins sind. Eben Dies geht auch aus der Thatsache her- vor, dass heftiger Aerger der Muttermilch schleunig eine so verderbliche Beschaffenheit geben kann, dass 335 der Sau{jlin(} alsbald unter Zuckungen stirbt. {Most, lieber synipathetiscbe Mittel, S. i6.) ANMERKUNG ZU DEM UEBER BICHAT GESAGTEN. Bichat hat, wie oben dargelegt, einen tiefen Blick in die menschliche Natur gethan und in Folge des- selben eine überaus bewunderungswürdige Auseinan- dersetzung gegeben, welche zu dem Tiefgedachtesten der ganzen Französischen Litteratur gehört. Dagegen tritt jetzt, sechzig Jahre später, plötzlich Herr Flou- rens polemisirend auf, in seiner Schrift „De la vie et de rintelligence", und entblödet sich nicht, Alles, was Bichat über diesen wichtigen und ihm ganz eigen- thüm liehen Gegenstand zu Tage gefördert hat, ohne Umstände für falsch zu erklären. Und was stellt er gegen ihn ins Feld? Gegengründe? Nein Gegenbe- hauptungen*) und Auktoritäten, und zwar so unstatt- hafte, wie wunderliche: nämlich Kartesius — und Gall! — Herr Flourens ist nämlich seines Glaubens ein Kartesianer, und ihm ist, noch im Jahre i858, Descartes „le pbilosophe par excellence". — Nun ist allerdings Kartesius ein grosser Mann, jedoch nur als Bahnbrecher: an seinen sämmtlichen Dogmen hinge- gen ist kein wahres Wort; und sich heut zu Tage auf diese als Auktorität zu berufen, ist geradezu lächer- lich. Denn im 19. Jahrhundert ist ein Kartesianer in der Philosophie eben Das, was ein Ptolemäianer in der Astronomie, oder ein Stahlianer in der Chemie seyn würde. Für Herrn Flourens nun aber sind die Dogmen des Kartesius Glaubensartikel. Kartesius hat gelehrt: les volontes sont des pensees: also ist es so; *) „Tout ce qui est relatif ä rentendement appartient ä la vie animale", dit Bichat, et jusque-la point de doiite; „tout ce qiii est relatif aus passions appartient ä la vie organiquc", — et ceci est absolument faux. — So?! — decrevit Florentiu» magnus. 336 wenngleich Jeder in seinem Innern fühlt, dass Wollen und Denken verschieden sind, wie weiss vind schwarz; daher ich oben im neunzehnten Kapitel Dieses habe ausführlich, gründlich und stets am Leitfaden der Erfahrung darthun und verdeutlichen können. Vor Allem aber giebt es, nach Kartesius, dem Orakel des Herrn Flourens, zwei grundverschiedene Substanzen, Leib und Seele : folglich sagt Herr Flourens, als recht- gläubiger Kartesianer: Le premier point est de sepa- rer, meme par les mots, ce qui est du corps de ce qui est de Tarne (I, 72). Er belehrt uns ferner, dass diese ame reside uniquement et exclusivement dans lecer- veau (II, iSy); von wo aus sie, nach einer Stelle des Kartesius, die spiritus animales als Kouriere nach den Muskeln sendet, selbst jedoch nur vom Gehirn affizirt werden kann, daher die Leidenschaften ihren Sitz (siege) im Herzen, als welches von ihnen alterirt wird, haben, jedoch ihre Stelle (place) im Gehirn. So, so spricht wirklich das Orakel des Herrn Flourens, wel- cher davon so sehr erbaut ist, dass er es sogar zwei Mal (I, 33, und II, i35) nachbetet, zu unfehlbarer Besie- gung des unwissenden Bichat, als welcher weder Seele, noch Leib, sondern bloss ein animales und ein organisches Leben kennt, und den er dann hier her- ablassend belehrt, dass man gründlich unterscheiden müsse die Theile, wo die Leidenschaften ihren Sitz haben (siegent), von denen, welche sie ajfiziren. Da- nach wirken also die Leidenschaften an einei^ Stelle, während sie an einer andern sind. Körperliche Dinge pflegen nur wo sie sind zu wirken: aber mit so einer immateriellen Seele mag es ein anderes Bewandtniss haben. Was mag überhaupt er und sein Orakel sich bei dieser Unterscheidung von place und siege, von sieger und affecter wohl so eigentlich gedacht haben? — Der Grund irrthum des Herrn Flourens und seines Kartesius entspringt eigentlich daraus, dass sie die Motive, oder Anlässe der Leidenschaften, welche, als Vorstellungen, allerdings im Intellekt, d. i. dem Ge- hirn, liegen, verwechseln mit den Leidenschaften selbst, die, als Willensbewegungen, im gangen Leibe, welcher (wie wir wissen) der angeschaute Wille selbst 22 Schopenhauer II JJ'7 ist, liegen. — Herr Floiirens zweite Auktorität ist, wie (jesajjt, Gall. Ich freilich hahe am Anfan{» dieses zwanzi{|sten Kapitels (und zwar bereits in der frühern Auflage) gesagt: „Der grösste Irrthum in Galls Schä- dellehre ist, dass er auch für moralische Eigenschaf- ten Organe des Gehirns aufstellt." Aber was ich tadle und verwerfe, ist gerade was Herr Flourens lobt und bewundert: denn er trägt ja das les volontes sont des pensees des Kartesius im Herzen. Demjjemäss sagt er, S. i44- Le premier Service que Gall a rendu ä la Physiologie (?) a ete de rammener le moral ä Tintellec- tuel, et de faire voir que les facultas morales et les facultes intellectuelles sont des facultes du meme or- dre, et de les placer toutes, autant les unes que les autres, uniquement et exclusivement dans le cerveau. Gewissermaassen meine ganze Philosophie, besonders aber das neunzehnte Kapitel dieses Bandes besteht in der Widerlegung dieses Grundirrthums, Herr Flou- rens hingegen wird nicht müde, eben diesen als eine grosse Wahrheit und den Gall als ihren Entdecker zu preisen: z. B. S. i47- Si Jen etais ä classer les Ser- vices que nous a rendu Gall, je dirais que le premier a ete de rammener les qualites morales au cerveau, — S. i53: Le cerveau seul est Torgane de Fäme, et de Väme dans toute la plenitude deses fonctions (man sieht, die Kartesianische einfa( he ^See/e steckt, als Kern der Sache, noch immer dahinter); il est le siege de toutes les facultes morales, comme de toutes les facul- tes intellectuelles. Gall a rammene le moral a Vintellectuel^ il a rammene les qualites morales au meme siege, au meme organe, qne les facultes intel- lectuelles. — O wie müssen Bichat und ich uns schä- men vor solcher Weisheit! — Aber, ernstlich zu re den, was kann niederschlagender, oder vielmehr em- pörender seyn, als das Richtige und Tiefgedachte ver- worfen und da{jegen das Falsche und Verkehrte prä- konisirt zu sehen; zu erleben, dass tief verborgene, schwer und spät errungene, wichlijje Wahrheiten wieder herabgerissen und der alte, platte, spät besiegte Irrthum abermals an ihre Stelle gesetzt werden soll; ja, fürchten zu müssen, dass durch solches Verfahren 338 die so schweren Fortschritte des menschlichen Wis- sens wieder rückgängig gemacht werden ! Aber be- ruhigen wir uns : denn magna est vis veritatis et prae- valebit. — Herr Flourens ist unstreitig ein Mann von vielem Verdienst, hat sich jedoch dasselbe hauptsäch- lich auf dem experi mentalen Wege erworben. Nun aber sind gerade die wichtigsten Wahrheiten nicht durch Experimente herauszubringen, sondern allein durch Nachdenken und Penetration. So hat denn auch Bichat durch sein Nachdenken und durch seinen Tiefblick hier eine Wahrheit zu Tage gefördert, wel- che zu denen gehört, die den experimentalen Bemü- hungen des Herrn Flourens unerreichbar bleiben, selbst wenn er, als ächter und konsequenter Kartesi- aner, noch hundert Thiere mehr zu Tode martert. Er hätte aber hievon bei Zeiten etwas merken und denken sollen: „Hüte dich, Bock, denn es brennt." Nun aber die Vermessenheit und Süffisance, wie nur die mit falschem Dünkel verbundene Oberflächlich- keit sie verleiht, mit der jedoch Herr Flourens einen Denker, wie Bichat, durch blosse Gegenbehauptun- gen, Alte-Weiber-Üeberzeugungen und futile Auk- tori täten zu widerlegen, sogar ihn zurechtzuweisen, zu meistern, ja, fast zu verspotten unternimmt, hat ihren Ursprung im Akademienvvesen und dessen Fau- teuils, auf welchen thronend und sich gegenseitig als illustre confrere begrüssend die Herren gar nicht um- hin können, sich den Besten, die je gewesen, gleich zu setzen, sich für Orakel zu halten und demgemäss zu dekretiren, was falsch und was wahr seyn soll. Dies bewegt und berechtigt mich, ein Mal gerade heraus zu sagen, dass die wirklich überlegenen und privilegirten Geister, welche dann und wann ein Mal zur Erleuchtung der übrigen geboren werden, und zu welchen allerdings auch Bichat gehört, es ,,voa Gottes Gnaden" sind und demnach zu den Akademien (in welchen sie meistens nur den einundvierzigsten Fauteuil eingenommen haben) und zu deren illustres confreres sich verhalten wie geborene Fürsten zu den zahlreichen und aus der Menge gewählten Repräsen- tanten des Volkes. Daher sollte eine geheime Scheu 22* 339 (a secret awe) die Herren Akademiker warnen, ehe sie sich an einem solchen rieben, — es wäre denn, sie hätten die triftigsten Gründe aufzuweisen, nicht aber blosse Gegenbehauptungen und Berufungen auf pla- cita des Kartesius, als welches heut zu Tage durchaus lächerlich ist. KAPITEL 2 I . RÜCKBLICK UND ALLGEMEINERE BETRACHTUNG. WÄRE nicht, wie die beiden vorhergehenden Kapitel darthun, der Intellekt sekundärer Na- tur; so würde nicht Alles, was ohne denselben, d. h. ohne Dazwischenkunft der Vorstellung, zu Stande kommt, wie z. B. die Zeugung, die Entwickelung und Erhaltung des Organismus, die Heilung der Wunden, der Ersatz oder die vikarirende Ergänzung verstümmelter Theile, die heilbringende Krisis in Krankheiten, die Werke thierischer Kunsttriebe und das Schaffen des Instinkts überhaupt, so unendlich besser und vollkommener ausfallen, als Das, was mit Hülfe des Intellekts geschieht, nämlich alle bewussten und beabsichtigten Leistungen und Werke der Men- schen, als welche, gegen jene andern gehalten, blosse Stümperei sind. Ueberhaupt bedeutet iYa^wr das ohne Vermittelung des Intellekts Wirkende, Treibende, Schaffende. Dass nun eben dieses identisch sei mit Dem, was wir in uns als Willen finden, ist das allge- meine Thema dieses zweiten Buchs, wie auch der Ab- handlung „Ueber den Willen in der Natur". Die Mög- lichkeit dieser Grunderkenntniss beruht darauf, dass dasselbe in uns unmittelbar vom Intellekt, der hier als Selbstbewusstseyn auftritt, beleuchtet wird; sonst wir es eben so wenig in uns, als ausser uns näher ken- nen lernen würden und ewig vor unerforsch heben Naturkräften stehen bleiben müssten. Die Beihülfe 340 des Intellekts haben wir wejjzudenken, wenn wir das Wesen des Willens an sich selbst erfassen und dadurch, so weit es möglich ist, ins Innere der Natur dringen wollen. Dieserhalb ist, beiläufig gesagt, mein direkter Anti- pode unter den Philosophen Anaxmjoras ; da er zum Ersten und Ursprünglichen, wovon Alles ausgeht, einen vou?, eine Intelligenz, ein Vorstellendes, beliebig annahm, und als der Erste gilt, der eine solche An- sicht aufgestellt hat. Derselben gemäss wäre die Welt früher in der blossen Vorstellung, als an sich selbst vorhanden gewesen ; während bei mir der erkenntniss- lose Wille es ist, der die Realität der Dinge begründet, deren Entwickelung schon sehr weit gediehen seyn muss, ehe es endlich, im animalen Bewusstseyn, zur Vorstellung und Intelligenz kommt; so dass bei mir das Denken als das Allerletzte auftritt. Inzwischen hat, nach dem Zeugniss des Aristoteles (Metaph., I, 4)» Anaxagoras selbst mit seinem voo? nicht viel anzufan- gen gewusst, sondern ihn nur aufgestellt und dann eben stehen lassen, wie einen gemalten Heiligen am Eingang, ohne zu seinen Ent Wickelungen der Natur sich desselben zu bedienen, es sei denn in Nothfällen, wann er sich ein Mal nicht anders zu helfen wusste. — Alle Physikotheologie ist eine Ausführung des, der (Anfang dieses Kapitels ausgesprochenen) Wahrheit entgegenstehenden, Irrthums, dass nämlich die voll- kommenste Art der Entstehung der Dinge die durch Vermittellung eines Intellekts sei. Daher eben schiebt dieselbe aller tiefern Ergründung der Natur einen Riegel vor. Seit Sokrates' Zeit und bis auf die unserige finden wir als einen Hauptgegenstand des unaufhörlichen Disputirens der Philosophen jenes ens rationis, ge- nannt Seele. Wir sehen die Meisten die Unsterblich- keit, welches sagen will, die metaphysische Wesen- heit, derselben behaupten. Andere jedoch, gestützt auf Tatsachen, welche die gänzliche Abhängigkeit des Intellekts von körperlichen Organen unwidersprech- lich darthun, den Widerspruch dagegen unermüdet aufrecht erhalten. Jene Seele wurde von Allen und 341 vor Allem als schlechthin einfach genommen: denn gerade hieraus wurde Ihr metaphysisches Wesen, ih- re Immaterialität und Unsterblichkeit bewiesen; ob- gleich diese gar nicht ein Mal nothwendig daraus folgt; denn, wenn wir auch die Zerstörung eines ge- formten Körpers uns nur durch Zerlegung in seine Theile denken können ; so folgt daraus nicht, dass die Zerstörung eines einfachen Wesens, von dem wir ohnehin keinen Begriff haben, nicht auf irgend eine andere Art, etwan durch allmäliges Schwinden, möglich sei. Ich hingegen gehe davon aus, dass ich die vorausgesetzte Einfachheit unsers subjektiv bewuss- ten Wesens, oder des Ichs, aufhebe, indem ich nach- weise, dass die Aeusserungen, aus welchen man die- selbe folgerte, zwei sehr verschiedene Quellen haben, und dass allerdings der Intellekt physisch bedingt, die Funktion eines materiellen Organs, daher von diesem abhängig, und ohne dasselbe so unmöglich sei, wie das Greifen ohne die Hand, dass er demnach zur blossen Erscheinung gehöre und also das Schicksal dieser theile, — dass hingegen der Wille an kein spe- cielles Organ gebunden, sondern überall gegenwärtig, überall das eigentlich Bewegende und Bildende, mit- hin das Bedingende des ganzen Organismus sei, dass er in der That das metaphysische Substrat der ge- sammten Erscheinung ausmache, folglich nicht, wie der Intellekt, ein Posterius, sondern das Prius dersel- ben, und diese von ihm, nicht er von ihr, abhängig sei. Der Leib aber wird sogar zu einer blossen Vor- stellung herabgesetzt, indem er nur die Art ist, wie in der Anschauung des Intellekts, oder Gehirns, der fFillesich darstellt. Der Wille hingegen, welcher in allen früheren, sonst noch so verschiedenen Systemen als ei- nes der letzten Ergebnisse auftritt, ist bei mir das Aller- erste. Der/nfe//eÄ^ wird, als blosse Funktion desGehirns, vom Untergang des Leibes mitgetroffen ; hingegen kei- neswegs der Wille. Aus dieser Heterogeneität Beider, nebst der sekundären Natur des Intellekts, wird es be- greiflich, dass der Mensch, in der Tiefe seines Selbstbe- wusstseyns, sich ewig luid unzerstörbar fühlt, den- noch aber keine Erinnerung, weder a parte ante noch 342 a parte post, über seine Lebensdauer hinaus haben kann. Ich will hier nicht der Erörterung der wahren t!ny.erstörbarkeit unsers Wesens, als welche ihre Stelle im vierten Buche hat, vorgreifen, sondern habe nur die Stelle, an welche sie sich knüpft bezeichnen wollen. Dass nun aber, in einem allerdings einseitigen, je- doch von unserm Standpunkt aus wahren Ausdrucke, der Leib eine blosse Vorstellung genannt wird, be- ruht darauf, dass ein Daseyn im Raum, als ein aus- gedehntes, und in der Zeit, als ein sich änderndes, in Beiden aber durch Kausalnexus näher bestimmtes, nur möglich ist in der Forstellung, als auf deren For- men jene Bestimmungen sämmtlich beruhen, also in einem Gehirn, in welchem demnach ein solches Da- seyn als ein objektives, d. h. ein fremdes, auftritt. Daher kann selbst unser eigener Leib diese Art von Daseyn nur in einem Gehirn haben. Denn die Er- kenntniss, welche ich von meinem Leibe als einem Ausgedehnten, Raumerfüllenden und Beweglichen habe, ist bloss mittelbar: sie ist ein Bild in meinem Gehirn, welches mittelst Sinne und Verstand zu Stan- de kommt. Unmittelbar gegeben ist mir der Leib allein in der Muskelaktion und im Schmerz oder Beha- gen, welche Beide zunächst und unmittelbar dem Willen angehören. — Das Zusammenbringen aber dieser beiden verschiedenen Erkenntnissweisen mei- nes eigenen Leibes vermittelt nachher die fernere Ein- sicht, dass alle andern Dinge, welche ebenfalls das beschriebene objektive Daseyn, welches zunächst nur in meinem Gehirn ist, haben, deshalb nicht ausser demselben gar nicht vorhanden seien, sondern eben- falls an sich zuletzt eben Das seyn müssen, was sich dem Selbstbewusstseyn als Wille kund giebt. 343 KAPITEL 2 2*). OBJEKTIVE AISSICHT DES IlSTELLEKTS. ES giebt zwei von Grund aus verschiedene Be trachtungsweisen des Intellekts, welche auf der Verschiedenheit des Standpunkts beruhen und, so sehr sie auch, in Folge dieser, einander entgegenge- setzt sind, dennoch in Uebereinstinunung gebracht werden müssen. — Die eine ist die subjektive, welche, von innen ausgehend und das Bewusstseyn als das Ge- gebene nehmend, uns darlegt, durch welchen Mecha- nismus in demselben die Welt sich darstellt, und wie aus den Materialien, welche Sinne und Verstand lie- fern, sie sich darin aufbaut. Als den Urheber dieser Betrachtungsweise haben wir Locke anzusehen: Kant brachte sie zu ungleich höherer Vollendung, und ebenfalls ist unser erstes Buch, nebst den Ergänzun- gen dazu, ihr gewidmet. Die dieser entgegengesetzte Betrachtungsweise des Intellekts ist die objektive, welche von aussen anhebt, nicht das eigene Bewusstseyn, sondern die in der äussern Erfahrung gegebenen, sich ihrer selbst und der Welt bewussten Wesen zu ihrem Gegenstande nimmt, und nun untersucht, welches Verhältniss der Intellekt derselben zu ihren übrigen Eigenschaften hat, wodurch er möglich, wodurch er nothwendig geworden, und was er ihnen leistet. Der Standpunkt dieser Betrachtungsweise ist der empirische: sie nimmt die Welt und die darin vorhandenen thierischen We- sen als schlechthin gegeben, indem sie von ihnen ausgeht. Sie ist demnach zunächst zoologisch, ana- tomisch, physiologisch, und wird erst durch die Ver- bindung mit jener erstem und von dem dadurch ge- wonnenen höhern Standpunkt aus philosophisch. Die bis jetzt allein gegebene Grundlage zu ihr verdanken wir den Zootomen und Physiologen, zumeist den Französischen. Besonders ist hier Cabanis zu nennen, *) Dieses Kapitel bezieht sich auf die letztere Hälfte des §.27 des ersten Bandes. [S. 172 d. A.] dessen vortreffliches Werk, Des rapports du physique au moral, auf dem physiologischen Wege, für diese Betrachtungsweise bahnbrechend gewesen ist. Gleich- zeitig wirkte der berühmte Bic/iat, dessen Them je- doch ein viel umfassenderes war. Selbst Galt ist hier zu nennen; wenn gleich sein Hauptzweck verfehlt wurde. Unwissenheit und Vorurtheil haben gegen diese Betrachtungsweise die Anklage des Materiaiis- mus erhoben; weil dieselbe, sich rein an die Erfah- rung halten, die immaterielle Substanz, Seele, nicht kennt. Die neuesten Fortschritte in der Physiologie des Nervensystems, durch Charles Bell, Magendie^ Marshall Hall u. a., haben den Stoff dieser Betrach- tungsweise ebenfalls bereichert und berichtigt. Eine Philosophie, welche, wie die Kantische, diesen Ge- sichtspunkt für den Intellekt gänzlich ignorirt, ist ein- seitig und eben dadurch unzureichend. Sie lässt zwi- schen unserm philosophischen und unserm physiolo- gischen Wissen eine unübersehbare Kluft, bei der wir nimmermehr Befriedigung finden können. Obwohl schon Das, was ich in den beiden vorher- gegangenen Kapiteln über das Leben und die Thätig- keit des Gehirns gesagt habe, dieser Betrachtungs- weise angehört, imgleichen, in der Abhandlung über den Willen in der Natur, alle unter der Rubrik „Pflan- zenphysiologie" gegebenen Erörterungen und auch ein Theil der unter der Rubrik „Vergleichende Ana- tomie" befindlichen ihr gewidmet sind, wird die hier folgende Darlegung ihrer Resultate im Allgemeinen keineswegs überflüssig seyn. Des grellen Kontrastes zwischen den beiden im Obigen einander entgegengestellten Betrachtungs- weisen des Intellekts wird man am lebhaftesten inne werden, wenn man, die Sache auf die Spitze stellend, sich vergegenwärtigt, dass was die eine als besonnenes Denken und lebendiges Anschauen unmittelbar auf- nimmt und zu ihrem Stoffe macht, für die andere nichts weiter ist, als die physiologische Funktion eines Eingeweides, des Gehirns; ja, dass man berechtigt ist, zu behaupten, die ganze objektive Welt, so gränzen- los im Raum, so unendlich in der Zeit, so unergründ- lieh in der Vollkommenheit, sei eigentlich nur eine gewisse Bewegung oder Affekiion der Breimasse im Hirnschädel. Da fragt man erstaunt: was ist dieses Gehirn, dessen Funktion ein solches Phänomen aller Phänomene hervorbringt ? Was ist die Materie, die zu einer solchen Breimasse raffinirt und potenzirt wer- den kann, dass die Reizung einiger ihrer Partikeln zum bedingenden Träger des Daseyns einer objekti- ven Welt wird? Die Scheu vor solchen Fragen trieb zur Hypostase der einfachen Substanz einer immate- riellen Seele, die im Gehirn bloss wohnte. Wir sagen unerschrocken: auch diese Breimasse ist, wie jeder vegetabilische oder animahsche Theil, ein organi- sches Gebilde, gleich allen ihren geringeren Anver- wandten, in der schlechtem Behausung der Köpfe unserer unvernünftigen Brüder, bis zum geringsten, kaum noch apprehendirenden, herab; jedoch ist jene organische Breimasse das letzte Produkt der Natur, welches alle übrigen schon voraussetzt. An sich selbst aber und ausserhalb der Vorstellung ist auch das Ge- hirn, wie alles Andere, M'^ille. Denn Fw-ein-Anderes- daseyn ist vorgestellt werden^ ansichseyn ist wollen : hier- auf eben beruht es, dass wir auf dem rein objektiven Wege nie zum Innern der Dinge gelangen; sondern, wenn wir von aussen und empirisch ihr Inneres zu finden versuchen, dieses Innere, unter unsern Hän- den, stets wieder zu einem Aeussern wird, — das Mark des Baumes, so gut wie seine Rinde, das Herz des Thieres, so gut wie sein F'ell, die Keimhaut und der Dotter des Eies, so gut w ie seine Schaale. Hinge- gen auf dem subjektiven Wege ist das Innere uns je- den Augenblick zugänglich: da finden wir es als den Willen zunäcbst in uns selbst, und müssen, am Leit- faden der Analogie mit unserm eigenen Wesen, die übrigen enträthseln können, indem wir zu der Ein- sicht gelangen, dass ein Seyn an sich, unabhängig vom Erkanntwerden, d. h. Sichdarstellen in einem Intellekt, nur als ein Wollen denkbar ist. Gehen wir nun, in der objektiven Auffassung des Intellekts, so weit wir irgend können, zurück; so werden wir finden, dass die iNothwendigkeit oder das 346 Bedürfniss der Erkenntyiiss überhaupt entsteht aus der Vielheit und dem getrennten Daseyn der Wesen, also aus der Individuation. Denn denkt man sich, es sei nur em einziges Wesen vorhanden; so bedarf ein sol- ches keiner Erkenntniss; weil nichts da ist, was von ihm selbst verschieden wäre, und dessen Daseyn es daher erst mittelbar, durch Erkenntniss, d. h. Bild und Begriff in sich aufzunehmen hätte. Es wäre eben selbst schon Alles in Allem, mithin bliebe ihm nichts zu erkennen, d. h. nichts Fremdes, das als Gegenstand, Objekt, aufgefasst werden könnte, übrig. Bei der Viel- heit der Wesen hingegen befindet jedes Individuum sich in einem Zustande der Isolation von allen übri- gen, und daraus entsteht die Noth wendigkeit der Er- kenntniss. Das Nervensystem, mittelst dessen das thie- rische Individuum zunächst sich seiner selbst bewusst wird, ist dui'ch seine Haut begränzt; jedoch, im Ge- hirn bis zum Intellekt gesteigert, überschreitet es diese Gränze, mittelst seiner Erkenntnissform der Kausalität, und so entsteht ihm die Anschauung als ein Bewusstseyn anderer Dinge, als ein Bild von We- sen in Raum und Zeit, die sich verändern, gemäss der Kausalität. — In diesem Sinne wäre es richtiger zu sagen: „nur das Verschiedene wird vom Verschiede- nen erkannt", als wie Empedokles sagte, „nur das Gleiche vom Gleichen", welches ein gar schwanken- der und vieldeutiger Satz war; obgleich sich auch wohl Gesichtspunkte fassen lassen, von welchen aus er wahr ist; wie, beiläufig gesagt, schon der des Hel- vetiiis, wenn er so schön wie treffend bemerkt: II n'y a que Fesprit qui sente Tesprit: c'est une corde qui ne fremit qu ä Tunison ; — welches zusammentrifft mit dem Xenophanischen aocpov etvai Bei xov STiqvcDoo- }X£vov Tov oo(pov (sapicutcm esse oportet cum, qui sa- pientem agniturus sit), und ein grosses Herzeleid ist. — Nun aber wieder von der andern Seite wissen wir; dass, umgekehrt, die Vielheit des Gleichartigen erst möglich wird dui'ch Zeit und Raum, also durch die Formen unserer Erkenntniss. Der Raum entsteht erst, indem das erkennende Subjekt nach aussen sieht : er ist die Art und Weise, wie das Subjekt etwas als von sich verschieden auffasst. Soeben aber sahen wir die Erkcnntniss überhaupt durch Vielheit und Ver- schiedenheit bedingt. Also die Erkenntniss und die Vielheit, oder Individuation, stehen und lallen mit einander, indem sie sich gegenseitig bedingen. — Hieraus ist zu schliessen, dass jenseit der Erscheinung, im Wiesen an sich aller Dinge, welchem Zeit und Raum, und deshalb auch die Vielheit, fremd seyn muss, auch keine Erkenntniss vorhanden sein kann. Ein „Erkennen der Dinge an sich", im strengsten Sinne des Worts, wäre demnach schon darum un- möglich, weil wo das Wesen an sich der Dinge an- fängt, das Erkennen wegfällt, und alle Erkenntniss schon grundwesentlich bloss auf Erscheinungen geht. Denn sie entspringt aus einer Beschränkung, durch welche sie nöthig gemacht wird, um die Schranken zu erweitern. Für die objektive Betrachtung ist das Gehirn die Efflorescenz des Organismus; daher erst wo dieser seine höchste Vollkommenheit und Komplikation er- langt hat, es in seiner grössten Entwickelung auftritt. Den Organismus aber haben wir im vorhergehenden Kapitel als die Objektivation des W^illens kennen ge- lernt: zu dieser muss daher auch das Gehirn, als sein Theil gehören. Ferner habe ich daraus, dass der Orga- nismus nur die Sichtbarkeit des Willens, also an sich dieser selbst ist, abgeleitet, dass jede Affektion des Organismus zugleich und unmittelbar den Willen affi- zirt, d, h. angenehm oder schmerzlich empfunden wird. Jedoch tritt, durch die Steigerung der Sensibi- lität, bei höherer Entwickelung des Nervensystems, die Möglichkeit ein, dass in den edleren, d. h. den objektiven Sinnesorganen (Gesicht, Gehör) die ihnen angemessenen, höchst zarten AfFektionen empfunden werden, ohne an sich selbst und unmittelbar den Wil- len zu afhziren, d.h. ohne schmerzlich oder angenehm zu sein, dass sie mithin als an sich gleichgültige, bloss wahrgenommene Empfindungen ins Be wusstseyn treten . Im Gehirn erreicht nun aber diese Steigerung der Sen- sibilität einen so hohen Grad, dass auf empfangene Sinneseindrücke sogar eine Reaktion entsteht, welche 348 nicht unmittelbar vom Willen ausgeht, sondern zu- nächst eine Spontaneität der Verstandesfunktion ist, als welche von der unmittelbar wahrgenommenen Sinnesempfindung den Uebergang zu deren Ursache macht, wodurch, indem dabei das Gehirn zugleich die Form des Raumes hervorbringt, die Anschauungeines äussern Objektes entsteht. Man kann daher den Punkt, wo von der Empfindung auf der Retina, welche noch eine blosse Affektion des Leibes und insofern des Wil- lens ist, der Verstand den Uebergang macht zur Ur- sache jener Empfindung, die er mittelst seiner Form des Raumes als ein Aeusseres und von der eigenen Person Verschiedenes projiciert — als die Gränze be- trachten zwischen der Welt als Wille und der Welt als Vorstellung, oder auch als die Geburtsstätte die- ser letzteren. Beim Menschen geht nun aber die, in letzter Instanz freilich doch vom Willen verliehene, Spontaneität der Gehirnthätigkeit noch weiter, als zur blossen Anschauung und unmittelbaren Auffassung der Kausalverhältnisse; nämlich bis zum Bilden abstrak- ter Begriffe aus jenen Anschauungen, und zum Ope- riren mit diesen, d. h. zum Denken, als worin seine Vernunft besteht. Die Gedanken sind daher von den Affektionen des Leibes, welche, weil dieser die Objek- tivation des Willens ist, selbst in den Sinnesorganen, durch Steigerung, sogleich in Schmerz übergehen können, am entferntesten. Vorstellung und Gedanke können, dem Gesagten zufolge, auch als die Efflores- cenz des Willens angesehen werden, sofern sie aus der höchsten Vollendung und Steigerung des Organismus entspringen, dieser aber, an sich selbst und ausserhalb der Vorstellung, der Wille ist. Allerdings setzt, in mei- ner Erklärung, das Daseyn des Leibes die Welt der Vorstellung voraus, sofern auch er, als Körper oder reales Objekt, nur in ihr ist, und andererseits setzt die Vorstellung selbst eben so sehr den Leib voraus; da sie nur durch die Funktion eines Organs desselben entsteht. Das der ganzen Erscheinung zum Grunde Liegende, das allein an sich selbst Seiende und Ur- sprüngliche darin, ist ausschliesslich der Wille: denn er ist es, welcher eben durch diesen Process die Form 349 der Vorstellung annimmt, d. h. in das sekundäre Da- seyn einer gegenständlichen Welt, oder die Erkenn- barkeit, eingeht. — Die Philosophen vor Kant, wenige ausgenommen, haben die Erklärung des Hergangs unsers Erkennens von der verkehrten Seite angegrif- fen. Sie gingen nämlich dabei aus von einer sogenann- ten Seele, einem Wesen, dessen innere Natur und ei- genthümlicheFunktion im Denken bestände,und zwar ganz eigentlich im abstrakten Denken, mit blos- sen Begriffen, die ihr um so vollkommener angehör- ten, als sie von aller Anschaulichkeit ferner lagen. (Hier bitte ich, die Anmerkung am Ende des §. 6 mei- ner Preisschrift über das Fundament der Moral nach- zusehen.) Diese Seele sei unbegreiflicher Weise in den Leib geraten, woselbst sie in ihrem reinen Denken nur Störungen erleide, schon durch die Sinneseindrücke und Anschauungen, noch mehr durch die Gelüste, welche diese erregen, endlich durch die Affekte, ja Leidenschaften, zu welchen wieder diese sich ent- wickeln; während das selbsteigene und ursprüngliche Element dieser Seele lauteres, abstraktes Denken sei, welchem überlassen sie nur Universalia, angeborene Begriffe und aeternas veritates zu ihren Gegenständen habe und alles Anschauliche tief imter sich liegen lasse. Daher stammt denn auch die Verachtung, mit welcher noch jetzt von den Philosophieprofessoren die „Sinnlichkeit" und das „Sinnliche" erwähnt, ja, zur Hauptquelle der Immoralität gemacht werden; wäh- rend gerade die Sinne, da sie im Verein mit den aprio- rischen Funktionen des Intellekts, die Anschauung hervorbringen, die lautere und unschuldige Quelle aller unserer Erkenntnisse sind, von welcher alles Denken seinen Gehalt erst erborgt. Man könnte wahr- lich glauben, jene Herren dächten bei der Sinnlich- keit stets nur an den vorgeblic hcn sechsten Sinn der Franzosen. — Besagtermaassen also machte man, beim Process des Erkennens, das allerletzte Produkt des- selben, das abstrakte Denken, zum Ersten und Ur- sprünglichen, griff denuiach, wie gesagt, die Sache am verkehrten Ende an. — Wie nun, meiner Dar- stellung zufolge, der Intellekt aus dem Organismus 35o und dadurch aus dem Willen entspringt, mithin ohne diesen nicht seyn könnte; so fände er ohne ihn auch keinen Stoff und Beschäftigung: weil alles Erkenn- hare eben nur die Objektivation des Willens ist. Aber nicht nur die Anschauung der Aussenwelt, oder das Bewusstseyn anderer Dinge, ist durch das Gehirn und seine Funktionen bedingt, sondern auch das Selbstbewusstseyn. Der Wille an sich selbst ist be- wusstlos und bleibt es im grössten Theile seiner Er- scheinungen. Die sekundäre Welt der V^orstellung muss hinzutreten, damit er sich seiner bewusst wer- de; wie das Licht erst durch die es zurückwerfenden Körper sichtbar wird imd ausserdem sich wirkungslos in die Finsternis verliert. Indem der Wille, zum Zweck der Auffassung seiner Beziehungen zur Aussenwelt, im thierischen Individuo, ein Gehirn hervorbringt, entsteht erst in diesem das Bewusstseyn des eigenen Selbst, mittelst des Subjekts des Erkennens, welches die Dinge als daseiend, das Ich als wollend auffasst. Nämlich die im Gehirn aufs Höchste gesteigerte, je- doch in die verschiedenen Theile desselben ausgebrei- tete Sensibilität muss zuvörderst alle Strahlen ihrer Thätigkeit zusammenbringen, sie gleichsam in einen Brennpunkt koncentriren, der jedoch nicht, wie bei Hohlspiegeln, nach aus'^en, sondern, wie bei Konvex- spiegeln, nach innen fällt: mit diesem Punkte nun beschreibt sie zunächst die Linie der Zeit, auf der da- her Alles, was sie vorstellt, sich darstellen muss und welche die erste nnd wesentlichste Form alles Erken- nens, oder die Form des innern Sinnes ist. Dieser Brennpunkt der gesammten Gehirnthätigkeit ist Das, was Kant die synthetische Einheit der Apperception nannte: erst mittelst desselben wird der Wille sich seiner selbst bewusst, indem dieser Fokus der Gehirn- thätigkeit, oder das Erkennende, sich mit seiner eige- nen Basis, daraus er entsprungen, dem Wollenden, als identisch auffasst und so das Ich entsteht. Dieser Fokus der Gehirnthätigkeit bleibt dennoch zunächst ein blosses Subjekt des Erkennens und als solches fä- hig, der kalte und antheilslose Zuschauer, der blosse Lenker und Berather des Willens zu seyn, wie auch, 35i ohne Rücksicht auf diesen und sein Wohl oder Weh, die Aussenwelt rein objektiv autzufassen. Aber sobald er sich nach innen richtet, erkennt er als die Basis seiner eigenen Erscheinung; den Willen, und fliesst daher mit diesem in das ßevvusstseyn eines Ich zu- sammen. Jener Brennpunkt der Gehirnthätigkeit (oder das Subjekt der Erkenntniss) ist, als imlhtnlbarer Punkt, zwar einfach, deshalb aber doch keine Sub- stanz (Seele), sondern ein blosser Zustand. Das, dessen Zustand er selbst ist, kann nur indirekt, gleichsam durch Reflex, von ihm erkannt werden: aber das Auf- hören des Zustandes darf nicht angesehen werden als die Vernichtung dessen, von dem es ein Zustand ist. Dieses et^kennende und bewusste Ich verhält sich zum Willen, welcher die Basis der Erscheinung desselben ist, wie das Bild im Fokus des Hohlspiegels zu diesem selbst, und hat, wie jenes, nur eine bedingte, ja eigent- lich bloss scheinbare Realität. Weit entfernt, das schlechthin Erste zu seyn (wie z. B. Fichte lehrte), ist es im Grunde tertiär, indem es den Organismus vor- aussetzt, dieser aber den Willen. — Ich gebe zu, dass alles hier Gesagte doch eigentlich nur Bild und Gleich- niss, auch zum Theil hypothetisch sei : allein wir ste- hen bei einem Punkte, bis zu welchem kaum die Ge- danken, geschweige die Beweise reichen. Ich bitte da- her, es mit dem zu vergleichen, was ich im zwan- zigten Kapitel über diesen Gegenstand ausführlich beigebracht habe. Obgleich nun das Wesen an sich jedes Daseienden in seinem Willen besteht, und die Erkenntniss, nebst dem Bewusstseyn, nur als ein Sekundäres, auf den höheren Stufen der Erscheinung hinzukommt; so fin- den wir doch, dass der Unterschied, den die Anwesen- heit und der verschiedene Grad des Bewusstseyns und Intellekts zwischen Wesen und Wesen setzt, überaus gross und folgenreich ist. Das subjektive Daseyn der Pflanze müssen wir uns denken als ein schwaches Analogon, einen blossen Schatten von Behagen und Unbehagen: und selbst in diesem äusserst schwachen Grade weiss die Pflanze allein von sich, nicht von ir- gend etwas ausser ibr. Hingegen schon das ihr am 352 oächsten stehende, unterste Thier ist durch gesteigerte und genauer specificirte Bedürfnisse veranlasst, die Sphäre seines Daseyns über die Gränze seines Leibes hinaus zu erweitern. Dies geschieht durch die Erkennt- niss: es hat eine dumpfe Wahrnehmung seiner näch- sten Umgebung, aus welcher ihm Motive für sein Thun, zum Zweck seiner Erhaltung, erwachsen. Hie- durch tritt sonach das Medium der Motive ein: und dieses ist — die in Zeit und Raum objektiv dastehende Welt, die Welt als Vorstellung ; so schwach, dumpf und kaum dämmernd auch dieses erste und niedrigste Exemplar derselben seyn mag. Aber deutlicher und immer deutlicher, immer weiter und immer tiefer, prägt sie sich aus, in dem Maasse, wie in der aufstei- genden Reihe thierischer Organisationen das Gehirn immer vollkommener producirt wird. Diese Steigerung der Gehirnentwickelung, also des Intellekts und der Klarheit der Vorstellung, auf jeder dieser immer hö- heren Stufen, wird aber herbeigeführt durch das sich immer mehr erhöhende und komplicirende Bedür^fniss dieser Erscheinungen des Willens. Dieses rnuss immer erst den Anlass dazu geben: denn ohne Noth bringt die Natur (d. h. der in ihr sich objektivirende Wille) nichts, am wenigsten die schwierigste ihrer Produk- tionen, ein vollkommeneres Gehirn hervor; in Folge ihrer lexparsiinoniae: natura nihil agit frustra et nihil facit supervacaneum. Jedes Thier hat sie ausgestattet mit den Organen, die zu seiner Erhaltung, den Waf- fen, die zu seinem Kampfe nothwendig sind; wie ich dies in der Schrift „Vom Willen in der Natur" unter der Rubrik „Vergleichende Anatomie" ausführlich dargestellt habe: nach dem nämlichen Maassstabe daher ertheilte sie jedem das wichtigste der nach aus- sen gerichteten Organe, das Gehirn, mit seiner Funk- tion, dem Intellekt. Je komplicirter nämlich, durch höhere Entwickelung, seine Organisation wurde, desto mannigfaltiger und specieller bestimmt wurden auch seine Bedürfnisse, folglich desto schwieriger und von der Gelegenheit abhän{figer die Herbeischaffung des sie Befriedigenden. Da bedurfte es also eines weitern Gesichtskreises, einer genauem Auffassung, einer rich- 1 3 Schopenhauer II o 5 J tigern Unterscheidung der Dinge in der Aussenwelt, in allen ihren Umständen und Beziehungen. Demge- mass sehen wir die Vorstellungskräfte und ihre Or- gane, Gehirn, Nerven und Sinneswerkzeuge, immer vollkommener hervortreten, je höher wir in der Stu- fenleiter der Thiere aufwärts gehen: und in dem Maasse, wie das Cerebral system sich entwickelt, stellt sich die Aussenwelt immer deutlicher, vielseitiger, vollkommener, im Bewusstseyn dar. Die Auffassung derselben erfordert jetzt immer mehr Aufmerksam- keit, und zuletzt in dem Grade, dass bisweilen ihre Beziehung auf den Willen momentan aus den Augen verloren werden muss, damit sie desto reiner und richtiger vor sich gehe. Ganz entschieden tritt dies erst beim Menschen ein: bei ihm allein findet eine reine Sondey^ng des Ej^kennens vom Wollen Statt. Dies ist ein wichtiger Punkt, den ich hier bloss berühre, um seine Stelle zu bezeichnen und weiter unten ihn wie- der aufnehmen zu können. — Aber auch diesen letz- ten Schritt in der Ausdehnung und Vervollkommnung des Gehirns, und damit in der Erhöhung der Erkennt- nisskräfte, thut die Natur, wie alle übrigen, bloss in Folge der erhöhten Bedürfnisse^ also zum Dienste des Willens. Was dieser im Menschen bezweckt und er- reicht, ist zwar im Wesentlichen das Selbe und nicht mehr, als was auch im Thiere sein Ziel ist : Ernährung und Fortpflanzung. Aber durch die Organisation des Menschen wurden die Erfordernisse zur Erreichung jenes Ziels so sehr vermehrt, gesteigert und specificirt, dass, zur Erreichung des Zwecks, eine ungleich be- trächtlichere Erhöhung des Intellekts, als die bisheri- gen Stufen darboten, nothwenig, oder wenigstens das leichteste Mittel war. Da nun aber der Intellekt, sei- nem Wesen zufolge, ein Werkzeug von höchst viel- seitigem Gebrauch und auf die verschiedenartigsten Zwecke gleich anwendbar ist; so konnte die Natur, ihrem Geist der Sparsamkeit getreu, alle Forderungen der so mannigfach gewordenen Bedürfnisse nunmehr ganz allein durch ihn decken: daher stellte sie den Menschen ohne Bekleidung, ohne natürliche Schutz- wehr, oder Angriffswaffe, ja mit verhältnissmässig geringer Muskelkraft, bei grosser Gebrechlichkeit und geringer Ausdauer gegen widrige Einflüsse und Man- gel hin, im Verlass auf jenes eine grosse Werkzeug, zu welchem sie nur noch die Hände, von der nächsten Stufe unterihm, dem Affen, beizubehalten hatte. Durch den also hier auftretenden überwiegenden Intellekt ist aber nicht nur die Auffassung der Motive, die Mannigfaltigkeit derselben und überhaupt der Hori- zont der Zwecke unendlich vermehrt, sondern auch die Deutlichkeit, mit welcher der Wille sich seiner selbst bewusst wird, aufs höchste gesteigert, in Folge der eingetretenen Klarheit des ganzen Bewusstseyns, welche, durch die Fähigkeit des abstrakten Erkennens unterstützt, jetzt bis zur vollkommenen Besonnenheit geht. Dadurch aber, wie auch durch die als Träger eines so erhöhten Intellekts noth wendig vorausge- setzte Vehemenz des Willens, ist eine Erhöhung aller Affekte eingetreten, ja die Möglichkeit der Leiden- schaften^ welche das Thier eigentlich nicht kennt. Denn die Heftigkeit des Willens hält mit der Erhö- hung der Intelligenz gleichen Schritt, eben weil diese eigentlich immer aus den gesteigerten Bedürfnissen und dringendem Forderungen des Willens entspringt: zudem aber unterstützen beide sich wechselseitig. Die Heftigkeit des Charakters nämlich hängt zusammen mit grösserer Energie des Herzschlags und Blutum- laufs, welche physisch die Thäti^okeit des Gehirns er- höht. Andererseits wieder erhöht die Klarheit der In- telligenz, mittelst der lebhafteren Auffassung der äussern Umstände, die durch diese hervorgerufenen Affekte. Daher z. B. lassen junge Kälber sich ruhig auf einen Wagen packen und fortschleppen: junge Löwen aber, wenn nur von der Mutter getrennt, blei- ben fortwährend unruhig und brüllen unablässig, vom Morgen bis zum Abend ; Kinder, in einer solchen La- ge, würden sich fast zu Tode schreien und quälen. Die Lebhaftigkeit vmd Heftigkeit des Affen steht mit seiner schon sehr entwickelten Intelligenz in genauer Verbindung. Auf eben diesem Wechselverhältniss be- ruht es, dass der Mensch überhaupt viel grösserer Leiden fähig ist, als das Thier; aber auch grösserer .3* 355 Freudigkeit, in den befriedif^^ten und frohen Affekten. Eben so macht der erhöhte Intellekt ihm die Lange- weile fühlbarer, als demThier, wird aber auch, wenn er individuell sehr vollkommen ist, zu einer uner- schöpflichen Quelle der Kur/Aveil. Im Ganzen also verhält sich die Erscheinung des Willens im Men- schen zu der im Thier der obern Geschlechter wie ein angeschlagener Ton zu seiner zwei bis drei Oktaven tiefer gegegriffenen Quinte. Aber auch zwischen den verschiedenen Thierarten sind die Unterschiede des Intellekts und dadurch des Bevvusstseyns gross und endlos abgestuft. Das blosse Analogon von Bewusst- seyn, welches wir noch der Pflanze zuschreiben müs- sen, wird sich zu dem noch viel dumpferen subjek- tiven Wesen eines unorganischen Körpers ungefähr verhalten wie das Bewusstseyn des untersten Thieres zu jenem quasi Bewusstseyn der Pflanze. Man kann sich die zahllosen Abstufungen im Grade des Bevvusst- seyns veranschaulichen unter dem Bilde der verschie- denenGeschwindigkeit, welchedievomCentroungleich entfernten Punkte einer drehenden Scheibe haben. Aber das richtigste, ja, wie unser drittes Buch lehrt, das natürliche Bild jener Abstufung liefert die Tonleiter, in ihrem ganzen Umfang, vom tiefsten noch hörbaren bis zum höchsten Ton. Nun aber ist es der Grad des Bevvusstseyns, welcher den Grad des Daseyns eines Wesens bestimmt. Denn alles unmittelbare Daseyn ist ein subjektives: das objektive Daseyn ist im Be- wusstseyn eines Andern vorhanden, also nur für die- ses, mithin ganz mittelbar. Durch den Grad des Be- wusstseyns sind die Wesen so verschieden, wie sie durch den Willen gleich sind, sofern dieser das Ge- meinsame in ihnen allen ist. Was wir aber jetzt zwischen Pflanze und Thier, und dann zwisihen den verschiedenen Thiergeschlech- tern betrachtet haben, findet auch noch zwischen Mensch und Mensch Statt. Auch hier nämlich be- gründet das Sekundäre, der Intellekt, mittelst der von ihm abhängigen Klarheit des Bewusstseyns und Deut- lichkeit des Erkennens, einen fundamentalen und un- absehbar grossen Unterschied in der ganzen W^eise 356 desDaseyns, und dadurch im Grade desselben. Je höher gesteigert das Bewusstseyn ist, desto deutlicher und zusammenhängender die Gedanken, desto klärer die Anschauungen, desto inniger die Empfindungen. Da- durch gewinnt Alles mehr Tiefe: die Rührung, die Wehmuth, die Freude und der Schmerz. Die gewöhn- lichen Flachköpfe sind nicht ein Mal rechter Freude fähig: sie leben in Dumpfheit dahin. Während dem Einen sein Bewusstseyn nur das eigene Daseyn, nebst den Motiven, welche zum Zweck der Erhaltung und Erheiterung desselben apprehendirt werden müssen, in einer dürftigen Auffassung der Aussenwelt ver- gegenwärtigt, ist es dem Andern eine camera obscura, in welcher sich der Makrokosmos darstellt: „Er fühlet, dass er eine kleine Welt In seinem Gehirne brütend hält, Dass die fangt an zu wirken und zu leben, Dass er sie gerne möchte von sich geben." Die Verschiedenheit der ganzen Art des Daseyns, wel- che die Extreme der Gradation der intellektuellen Fähigkeiten zwischen Mensch und Mensch feststellen, ist so gross, dass die zwischen König und Tagelöhner dagegen gering erscheint. Und auch hier ist, wie bei den Thiergeschlechtern, ein Zusammenhang zwischen der Vehemenz des Willens und der Steigerung des Intellekts nachweisbar. Genie ist durch ein leiden- schaftliches Temperament bedingt, und ein phleg- matisches Genie ist undenkbar: es scheint, dass ein überaus heftiger, also gewaltig verlangender Wille daseyn musste, wenn die Natur einen abnorm erhöhten Intellekt, als jenem angemessen, dazugeben sollte; während die bloss physische Rechenschaft hierüber auf die grössere Energie, mit der die Arterien des Kopfes das Gehirn bewegen und die Turgescenz des- selben vermehren, hinweist. Freilich aber ist die Quan- tität, Qualität und Form des Gehirns selbst die andere und ungleich seltenere Bedingung des Genies. Ande- rerseits sind die Phlegmatici in der Regel von sehr mittelmässigen Geisleskräften : und eben so stehen die nördlichen, kaltblütigen und phlegmatischen Völker, im Allgemeinen, den südlichen, lebhaften und leiden- schaftlichen an Geist merklich nach; ob{}leich, wie Bako*) überaus treffend bemerkt hat, wenn ein Mal ein Nordländer von der Natur hochbegabt wird, dies alsdann einen Grad erreichen kann, bis zu welchem kein Südländer je gelangt. Demnach ist es so verkehrt als gewöhnlich, zum Maassstab der Vergleichung der Geisteskräfte verschiedener Nationen die grossen Gei- ster derselben zu nehmen: denn das heisst, die Regel durch die Ausnahmen begründen wollen. Vielmehr ist es die grosse Pluralität jeder Nation, die man zu betrachten hat: denn eine Schwalbe macht keinen Sommer. — Noch ist hier zu bemerken, dass eben die Leidenschaftlichkeit, welche Bedingung des Genies ist, mit seiner lebhaften Auffassung der Dinge ver- bimden, im praktischen Leben, wo der Wille ins Spiel kommt, znmal bei plötzlichen Ereignissen, eine so grosse Aufregung der Affekte herbeiführt, dass sie den Intellekt stört und verwirrt; während der Phlegma- tikus auch dann noch den vollen Gebrauch seiner, wenngleich viel geringern, Geisteskräfte behält und damit alsdann viel mehr leistet, als das grösste Genie vermag. Sonach begünstigtem leidenschaftliches Tem- perament die ursprüngliche Beschaffenheit des Intel- lekts, ein j)hlegmatisches aber dessen Gebrauch. Des- halb ist das eigentliche Genie durchaus nur zu theore- tischen Leistungen, als zu welchen es seine Zeit wählen und abwarten kann; welches gerade die seyn wird, woder Wille gänzlich ruht und keine Welle den reinen Spiegel der Weltauffassung trübt; hingegen ist zum praktischen Leben das Genie ungeschickt und un- brauchbar, daher auch meistens unglücklich. In diesem Sinn ist Goethe s Tasso gedichtet. Wie nun das eigent- liche Genie auf der absoluten Stärke des Intellekts be- ruht, welche durch eine ihr entsprechende, übermäs- sige Heftigkeit des Gemüths erkauft werden muss; so beruht hingegen die grosse Ueberlegenheit im prak- tischen Leben, welche Feldherren und Staatsmänner macht, auf der relativen Stärke des Intellekts, nämlich auf dem höchsten Grad desselben, der ohne eine zu *) Uc augm. scient., L, VI, c. 3. 358 I grosse Erregbarkeit der Affekte, nebst zu grosser Hef- tigkeit des Charakters erreicht werden kann und daher auch im Sturm noch Stand hält. Viel Festigkeit des Willens und Unerschütterlichkeit des Gemüths, bei einem tüchtigen und feinen Verstände, reicht hier aus; und was darüber hinausgeht, wirkt schädlich: denn die zu grosse Entwickelung der Intelligenz steht der Festigkeit des Charakters und Entschlossenheit des Willens geradezu im Wege. Deshalb ist auch diese Art der Eminenz nicht so abnorm und ist hundert Mal weniger selten, als jene andere: demgemäss sehen wir grosse Feldherrn und grosse Minister zu allen Zeiten, sobald nur die äussern Umstände ihrer Wirk- samkeit günstig sind, auftreten. Grosse Dichter und Philosophen hingegen lassen Jahrhunderte auf sich warten: doch kann die Menschheit auch an diesem seltenen Erscheinen derselben sich genügen lassen; da ihre Werke bleiben und nicht bloss für die Gegen- wart da sind, wie die Leistungen jener Anderen. — Dem oben erwähnten Gesetze der Sparsamkeit der Natur ist es auch völlig gemäss, dass sie die geistige Eminenz überhaupt höchst Wenigen, und das Genie nur als die seltenste aller Ausnahmen ertheilt, den grossen Haufen des Menschengeschlechts aber mit nicht mehr Geisteskräften ausstattet, als die Erhaltung des Einzelnen und der Gattung erfordert. Denn die grossen und, durch ihre Befriedigung selbst, sich beständig vermehrenden Bedürfnisse des Menschengeschlechts machen es nothwendig, dass der bei weitem grösste Theil desselben sein Leben mit grob körperlichen und ganz mechanischen Arbeiten zubiingt: wozu sollte nun diesem ein lebhafter Geist, eine glühende Phan- tasie, ein subtiler Verstand, ein tief eindringender Scharfsinn nutzen? Dergleichen würde die Leute nur untauglich und unglücklich machen. Daher also ist die Natur mit dem kostbarsten aller ihrer Erzeugnisse am wenigsten verschwenderisch umgegangen. Von diesem Gesichtspunkt aus sollte man auch, um nicht unbillig zu urtheilen, seine Erwartungen von den gei- stigen Leistungen der Menschen überhaupt feststellen und z. B. auch Gelehrte, da in der Regel bloss äussere 359 Veranlassunfi^en sie zu solchen gemacht haben, zu- nächst betrachten als Männer, welche die Natur ei- gentlich zum Ackerbau bestimmt hatte: ja, selbst Phi- losophieprofessoren sollte man nach diesem Maassstabe abschätzen und wird dann ihre Leistungen allen bil- ligen Erwartungen entsprechend finden. — Beachtens- werth ist es, dass im Süden, wo die Noth des Lebens weniger schwer auf dem Menschengeschlechte lastet und mehr Müsse gestattet, auch die geistigen Fähig- keiten, selbst der Menge, sogleich regsamer und feiner werden. — Physiologisch merkwürdig ist, dass das Uebergewicht der Masse des Gehirns über die des Rückenmarks und der Nerven, welches nach Sömme- rmg\s scharfsinniger Entdeckung, den wahren näch- sten Maassstab für den Grad der Intelligenz, sowohl in den Thiergeschlechtern, als in den menschlichen Individuen, abgiebt, zugleich die unmittelbare Beweg- lichkeit, die Agilität der Glieder vermehrt; weil, durch die grosse Ungleichheit des Verhältnisses, die Abhän- gigkeit aller motorischen Nerven vom Gehirn ent- schiedener wird; wozu wohl noch kommt, dass an der qualitativen Vollkommenheit des grossen Gehirns auch die des kleinen, dieses nächsten Lenkers der Be- wegungen Theil nimmt; durch Beides also alle will- kürlichen Bewegungen grössere Leichtigkeit, Schnelle und Behändigkeit gewinnen, und durch die Koncen- tration des Ausgangspunktes aller Aktivität Das ent- steht, was Lichtenberg an Garrick lobt: ,,dass er all- gegenwärtig in den Muskeln seines Körpers schien". Daher deutet Schwerfälligkeit im Gange des Körpers auf Schwerfälligkeit im Gange der Gedanken und wird, so gut wie Schlaffheit der Gesichtszüge und Stumpf- heit des Blicks, als ein Zeichen von Geistlosigkeit be- trachtet, sowohl an Individuen, wie an Nationen. Ein anderes Symptom des angeregten physiologischen Sach- verhältnisses ist der Umstand, dass viele Leute, sobald ihr Gespräch mit ihrem Begleiter anfängt einigen Zu- sammenhang zu gewinnen, sogleich stillstehen müssen ; weil nämlich ihr Gehirn, sobald es ein Paar Gedanken an einander zu haken hat, nicht mehr so viel Kraft übrig behält, wie erforderlich ist, um durch die mo- 36o I torischen Nerven die Beine in Bewegung zu erhalten: so knapp ist bei ihnen Alles zugeschnitten. Aus dieser ganzen objektiven Betrachtung des In- tellekts und seines Ursprungs geht hervor, dass der- selbe zur Auffassung der Zwecke, auf deren Errei- chung das individuelle Leben und die Fortpflanzung desselben beruht, bestimmt ist, keineswegs aber das vom Erkennenden unabhängig vorhandene Wesen an sich der Dinge und der Welt wiederzugeben. Was der Pflanze die Empfänglichkeit für das Licht ist, in Folge derer sie ihr Wachsthum der Richtung dessel- ben entgegen lenkt, das Selbe ist, der Art nach, die Erkenntniss des Thieres, ja, auch des Menschen, wenn gleich, dem Grade nach, in dem Maasse gesteigert, wie die Bedürfnisse jedes dieser Wesen es heischen. Bei ihnen allen bleibt die Wahrnehmung ein blosses Innewerden ihrer Relation zu andern Dingen, und ist keineswegs bestimmt, das eigentliche, schlechthin reale Wesen dieser im Bewusstseyn des Erkennenden noch ein Mal darzustellen. Vielmehr ist der Intellekt, als aus dem Willen stammend, auch nur zum Dien- ste dieses, also zur Auffassung der Motive, bestimmt: darauf ist er eingerichtet, mithin von durchaus prak- tischer Tendenz. Dies gilt auch insofern, als wir die metaphysische Bedeutung des Lebens als eine ethische begreifen : denn auch in diesem Sinne finden wir den Menschen nur zum Behufe seines Handelns erken- nend. Ein solches, ausschliesslich zu praktischen Zwecken vorhandenes Erkenntnissvermögen wird, sei- ner Natur nach, stets nur die Relationen der Dinge zu einander auffassen, nicht aber das eigene Wesen derselben, wie es an sich selbst ist. Nun aber den Komplex dieser Relationen für das schlechthin und an sich selbst vorhandene Wesen der Welt, und die Art und Weise, wie sie sich, nach den im Gehirn präformirten Gesetzen, nothwendig darstellen, für die ewigen Gesetze des Daseyns aller Dinge zu halten, und nun danach ontoloj^ie, Kosmologie und Theolo- gie zu konstruiren, — dies war eigentlich der uralte Grund-Irrthum, dem Kants Lehre ein Ende gemacht hat. Hier also kommt unsere objektive und daher 36l grossentheils physiologische Betrachtung des Intellekts seiner transscendentalen entgegen, ja, tritt, in gewissem Sinne, sogar als eine Einsicht a priori in dieselhe auf, indem sie, von einem ausserhalb derselben genomme- nen Standpunkt, uns genetisch und daher als noth- xvendig erkennen lässt, was jene, von Thatsachen des Bewusstseyns ausgehend, auch nur thatsächlich dar- legt. Denn in Folge unserer objektiven Betrachtung des Intellekts ist die Welt als Vorstellung, wie sie, in Raum und Zeit ausgebreitet, dasteht und nach der strengen Regel der Kausalität sich gesetzmässig fortbewegt, zunächst nur ein physiologisches Phäno- men, eine Funktion des Gehirns, welche dieses, zwar auf Anlass gewisser äusserer Reize, aber doch seinen eigenen Gesetzen gemäss vollzieht. Demnach versteht es sich zum voraus, dass was in dieser Funktion selbst, mithin durch sie und für sie vorgeht, keineswegs für die Beschaffenheit unabhängig von ihr vorhandener und ganz von ihr verschiedener /)»2^e an sich gehalten werden darf, sondern zunächst bloss die Art und Weise dieser Funktion selbst darstellt, als welche im- mer nur eine sehr untergeordnete Modifikation durch das von ihr völlig unabhängig Vorhandene, welches als Reiz sie in Bewegung setzt, erhalten kann. Wie demnach Locke Alles, was mittelst der Empfindung in die Wahrnehmung kommt, den Sinnesorganen vindicirte, um es den Dingen an sich abzusprechen; so hat Kant, in gleicher Absicht und auf demselben Wege weitergehend. Alles was die eigentliche ^n- schauung möglich macht, nämlich Raum, Zeit und Kausalität, als Gehirnfunktion nachgewiesen; wenn gleich er dieses physiologischen Ausdrucks sich ent- halten hat, zu welchem jedoch unsere jetzige, von der entgegengesetzten, realen Seite kommende Be- trachtungsweise uns nothwendig hinführt. Kayit kam, auf seinem analytischen Wege, zu dem Resultat, dass was wir erkennen blosse Erscheinungen seien. W^as dieser räthselhafte Ausdruck eigentlich besage, wird aus unserer objektiven und genetischen Betrachtung des Intellekts klar: es sind die Motive, für die Zwek- ke eines individuellen Willens, wie sie in dem, zu 36?. diesem Behuf von ihm hervorgehrachten Intellekt (welcher seihst, objektiv, als Gehirn erscheint) sich darstellen, und welche, so weit man ihre Verkettung verfolgen mag, aufgefasst, in ihrem Zusammenhange die in Zeit und Raum sich objektiv ausbreitende Welt liefern, welche ich die Welt als Vorstellung nenne. Auch verschwindet, von unserm Gesichtspunkt aus, das Anstössige, welches in der Kantischen Lehre dar- aus entsteht, dass, indem der Intellekt, statt der Din- ge, wie sie an sich sind, blosse Erscheinungen erkennt, ja, in Folge derselben zu Paralogismen und unge- gründeten Hypostasen verleitet wird, mittelst „So- phistikationen, nicht der Menschen, sondern der Ver- nunft selbst, von denen selbst der Weiseste sich nicht losmachen, und vielleicht zwar nach vieler Bemühung den Irrthum verhüten, den Schein aber, der ihn un- aufhörlich zwackt und äfft, niemals los werden kann", — es das Ansehen gewinnt, als sei unser Intellekt absichtlich bestimmt, uns zu Irrthümern zu verleiten. Denn die hier gegebene objektive Ansicht des Intellekts, welche eine Genesis desselben enthält, macht begreif- lich, dass er, ausschliesslich zu praktischen Zwecken bestimmt, das blosse Medium der Motive ist, mithin durch richtige Darstellung dieser seine Bestimmung erfüllt, und dass, wenn wir aus dem Komplex und der Gesetzmässigkeit der hiebei sich uns objektiv dar- stellenden Erscheinungen das Wesen der Dinge an sich selbst zu konstruiren unternehmen, dieses auf eigene Gefehr und Verantwortlichkeit geschieht. Wir haben nämlich erkannt, dass die ursprünglich er- kenntnisslose und im Finstern treibende innere Kraft der Natur, welche, wenn sie sich bis zum Selbstbe- wusstseyn emporgearbeitet hat, sich diesem als Wille entschleiert, diese Stufe nur mittelst Produktion eines animalischen Gehirns und der Erkenntniss, als Funk- tion desselben, erreicht, wonach in diesem Gehirn das Phänomen der anschaulichen Welt entsteht. Nun aber dieses blosse Gehirnphänomen, mit der seinen Funktionen unwandelbar anhängenden Gesetzmässig keit für das, unabhängig von ihm, vor ihm und nach ihm vorhandene, objektive Wesen an sich selbst der 363 Welt und der Dinge in ihr zu erklären, ist offenbar ein Sprung, zu welchem nichts uns berechtigt. Aus diesem mundus phäenomenon, aus dieser, unter so vielfachen Bedingungen entstehenden Anschauung sind nun aber alle unsere Begriffe geschöpft, haben allen Gehalt nur von ihr, oder doch nur in Beziehung auf sie. Daher sind sie, wie Kant sagt, nur von im- manentem, nicht von transscendeniem Gebrauch: d. h. diese unsere Begriffe, dieses erste Material des Denkens, folglich noch mehr die durch ihre Zusam- mensetzung entstehenden Urtheile, sind der Aufgabe, das Wesen der Dinge an sich und den wahren Zu- sammenhang der Welt und des Daseyns zu denken, unangemessen ; ja, dieses Unternehmen ist dem, den stereometrischen Gehalt eines Körpers in Quadratzollen auszudrücken, analog. Denn unser Intellekt, virsprüng- lich nur bestimmt, einem individuellen Willen seine kleinlichen Zwecke vorzuhalten, fasstdemgemäss blosse Relationen der Dinge auf und dringt nicht in ihr Inne- res, in ihr eigenes Wesen: er ist demnach eine blosse Flächenkraft, haftet an der Oberfläche der Dinge und fasst blosse species transitivas, nicht das wahre Wesen derselben. Hieraus eben entspringt es, dass wir kein einziges Ding, auch nicht das einfachste und geringste, durch und durch verstehen und begreifen können; sondern an jedem etwas uns völlig Unerklär- liches übrig bleibt. — Eben weil der Intellekt ein Pro- dukt derMatur und daher nur auf ihre Zwecke berech- net ist, haben die Christlichen Mystiker ihn recht artig das ,, Licht der Natur'' benannt und in seine Schran- ken zurückgewiesen: denn die Natur ist das Objekt, zu welchem allein er das Subjekt ist. Jenem Ausdruck liegt eigentlich schon der Gedanke zum Grunde, aus dem die Kritik der reinen Vernunft entsprungen ist. Dass wir auf dem unmittelbaren Wege, d. h. durch die unkritische, direkte Anwendung des Intellekts und seiner Data, die Welt nicht begreifen können, sondern beim Nachdenken über sie uns immer tiefer in unauflösliche Rathsel verstricken, rührt eben da- her, dass der Intellekt, also die Erkenntniss selbst, schon ein sekundäres, ein blosses Produkt ist, herbei- 364 I I geführt durch dieEntwickelung des Wesens der Welt, die ihm folghch bis dahin vorhergängig war, und er zuletzt eintrat, als ein Durchbruch aus Licht aus der dunkeln Tiefe des erkenntnisslosen Strebens, dessen Wesen sich in dem zugleich dadurch entstehenden Selbstbevvusstseyn als ^«7/e darstellt. Das der Erkennt- niss als ihre Bedingung Vorhergängige, wodurch sie allererst möglich wurde, also ihre eigene Basis, kann nicht unmittelbar von ihr gefasst werden; wie das Auge nicht sich selbst sehen kann. Vielmehr sind die auf der Oberfläche der Dinge sich darstellenden Ver- hältnisse zwischen Wesen und Wesen allein ihre Sache, und sind es nur mittelst des Apparats des In- tellekts, nämlich seiner Eormen, Raum, Zeit, Kausa- lität. Eben weil die Welt ohne Hülfe der Erkenntniss sich gemacht hat, geht ihr ganzes Wesen nicht in die Erkenntniss ein, sondern diese setzt das Daseyn der Welt schon voraus; weshalb der Ursprung desselben nicht in ihrem Bereiche liegt. Sie ist demnach beschränkt auf die Verhältnisse zwischen dem Vor- handenen, und damit für den individuellen Willen, 'ZU dessen Dienst allein sie entstand, ausreichend. Denn der Intellekt ist, wie gezeigt worden, durch die Natur bedingt, Hegt in ihr, gehört zu ihr, und kann daher nicht sich ihr als ein ganz Fremdes gegen- überstellen, um so ihr ganzes Wesen schlechthin ob- jektiv und von Grund aus in sich aufzunehmen. Er kann, wenn das Glück gut ist. Alles in der Natur verstehen, aber nicht die Natur selbst, wenigstens nicht unmittelbar. So entmutigend für die Metaphysik diese aus der Beschaflenheit und dem Ursprung des Intellekts her- vorgehende wesentliche Beschränkung desselben auch seyn mag; so hat eben diese doch auch eine andere, sehr tröstliche Seite. Sie benimmt nämlich den un- mittelbaren Aussagen der Natur ihre unbedingte Gül- tigkeit, in deren Behauptung der eigentliche Natura- lismus besteht. Wenn daher auch die Natur uns jedes Lebende als aus dem Nichts hervorgehend und, nach einem ephemeren Daseyn, auf immer dahin zurück- kehrend darstellt, und sie sich daran zu vergnügen 365 scheint, unaufhörlich von Neuem hervorzubringen, um unaufhörlich zerstören zu können, hingegen nichts Bestehendes zu Tage zu fördern vermag; wenn wir demnach als das einzig Bleibende die Materie aner- kennen müssen, welche, unentstanden und unvergäng- lich. Alles aus ihrem Schoosse gebiert, weshalb ihr Name aus mater rerum entstanden scheint, und neben ihr, als dem Vater der Dinge, die Form^ welche, eben so flüchtig, wie jene beharrlich, eigentlich jeden Au- genblick wechselt und sich nur erhalten kann, so lange sie sich der Materie parasitisch anklammert (bald die- sem, bald jenem Theil derselben), aber wenn sie die- sen Anhalt ein Mal ganz verliert, untergeht, wie die Paläotherien und Ichthyosauren bezeugen; so müssen wir dies zwar als die unmittelbare und unverfälschte Aussage der Natur anerkennen; aber, wegen des oben auseinandergesetzten Ursprungs und daraus sich er- gebender Beschaffenheit des Intellekts^ können wir die- ser Aussage keine unbedingte Wahrheit zugestehen, viel- mehr nur eine durchweg bedingte^ welche Kant tref- fend als eine solche bezeichnet hat, indem er sie die Erscheinung im Gegensatz des Dinges an sich nannte. — Wenn es, trotz dieser wesentlichen Beschränkung des Intellekts, möglich wird, auf einem Umwege, näm- lich mittelst der weit verfolgten Reflexion und durch künstliche Verknüpfung der nach aussen gerichteten, objektiven Erkenntniss mit den Datis des Selbsbe- wusstseyns, zu einem gewissen Verständniss der Welt und des Wesens der Dinge zu gelangen ; so wird die- ses doch nur ein sehr limitirtes, ganz mittelbares und relatives, nämlich eine parabolische Uebersetzung in die Formen der Erkenntniss, also ein quadam prodire tenus seyn, welches stets noch viele Probleme unge- löst übrig lassen muss. — Hingegen war der Grund- fehler des alten, durch Katit zerstörten Dogmatismus, in allen seinen Formen, dieser, dass er schlechthin von der Erken?ittiiss, d. i. der fVelt als Forstellung, ausgieng, um aus deren Gesetzen das Seyende über- haupt abzuleiten und aufzubauen, wobei er jene Welt der Vorstellung, nebst ihren Gesetzen, als etwas schlechthin Vorhandenes und absolut Reales nahm; 366 während das ganze Daseyn derselben von Grund aus relativ und ein blosses Resultat oder Phänomen des ihr zum Grunde liegenden Wesens an sich ist, — oder, mit andern Worten, dass er eine ontologie konstru- irte, wo er bloss zu einer Dianoiologie Stoff hatte. Kant deckte das subjektiv Bedingte und deshalb schlechterdings Immanente, d. h. zum transscenden- ten Gebrauch Untaugliche, der Erkenntniss, aus der eigenen Gesetzmässigkeit dieser selbst, auf: weshalb er seine Lehre sehr treffend Kritik der Veimunft nann- te. Er führte dies theils dadurch aus, dass er den be- trächtlichen und durchgängigen apriorischen Theil aller Erkenntniss nachwies, welcher, als durchaus subjektiv, alle Objektivität verkümmert; theils da- durch, dass er angeblich darthat, dass die Grundsätze der als rein objektiv genommenen Erkenntniss, wenn bis ans Ende verfolgt, auf Widersprüche leiteten. Nur aber hatte er voreilig angenommen, dass ausser der objektiven Erkenntniss, d. h. ausser der Welt als Vor- stellung^ uns nichts gegeben sei, als etwan noch das Gewissen, aus welchem er das Wenige, was noch von Metaphysik übrig blieb, konstruirte, nämlich die Mo- raltheologie, welcher er jedoch auch schlechterdings nur praktische, durchaus nicht theoretische Gültig- keit zugestand. — Er hatte übersehen, dass, wenn gleich allerdings die objektive Erkenntniss, oder die Welt als Vorstellung, nichts, als Erscheinungen, nebst deren phänomenalen Zusammenhang und Regressus liefert; dennoch unser selbsteigenes Wesen nothwen- dig auch der Welt der Dinge an sich angehört, indem es in dieser wurzeln muss: hieraus aber müssen, wenn auch die Wurzel nicht gerade zu Tage gezogen wer- den kann, doch einige Data zu erfassen seyn, zur Auf- klärung des Zusammenhangs der Welt der Erschei- nungen mit dem Wesen an sich der Dinge. Hier also liegt der Weg, auf welchem ich über Kant und die von ihm gezogene Gränze hinausgegangen bin, jedoch stets auf dem Boden der Reflexion, mithin der Red- lichkeit, mich haltend, daher ohne das windbeutelnde Vorgeben intellektualer Anschauung, oder absoluten Denkens, welches die Periode der Pseudophilosophie 367 zwischen Kant und mir charakterisirt. Kant gieng, bei seiner Nachweisung des Unzulänglichen der vernünf- tigen Erkenntniss zur Ergründung des Wesens der Welt, von der Erkenntniss, als einer Thatsache, die unser Bewusstseyn liefert, aus, verfuhr also, in diesem Sinne, a posteriori. Ich aber habe in diesem Kapitel, wie auch in der Schrift ,,Ueber den Willen in der Na- tur", nachzuweisen gesucht, was die Erkenntniss ihrem Weseniind U7'sprung nach sei, nämlich ein Sekundäres, zu individuellen Zwecken Bestimmtes: woraus folgt, dass sie zur Ergründung des Wesens der Welt unzu- länglich seyn muss; bin also, insofern, zum selben Ziel a priori gelangt. Man erkennt aber nichts ganz und vollkommen, als bis man darum herumgekom- men und nun von der andern Seite zum Ausgangs- punkt zurückgelangt ist. Daher muss man, auch bei der hier in Betracht genommenen, wichtigen Grunder- kenntniss, nicht bloss, wie Kant gethan, vom Intellekt zur Erkenntniss der Welt gehen, sondern auch, wie ich hier unternommen habe, von der als vorhanden ge- nommenen Welt zum Intellekt. Dann wird diese, im weitern Sinn, physiologische Betrachtung die Ergän- zung jener ideologischen, wie die Franzosen sagen, richtiger transscendentalen. Im Obigen habe leb, um den Faden der Darstellung nicht zu unterbrechen, die Erörterung eines Punktes, den ich berührte, hinausgeschoben: es war dieser, dass in dem Maasse als, in der aufsteigenden Thier- reihe, der Intellekt sich immer mehr entwickelt und vollkommener auftritt, das Erkentien sich immer deut- lichei' votn Wollen sondei't und dadurch reiner wird. Das Wesentliche hierüber findet man in meiner Schrift „Ueber den Willen in der Natur", unter der Rubrik Pflanzenphysiologie (S. 68 — 72 der zweiten Auflage), wohin ich, um mich nicht zu wiederholen, verweise und hier bloss einige Bemerkungen daran knüpfe. In- dem die Pflanze weder Irritabilität noch Sensibilität besitzt, sondern in ihr der Wille sich allein als Pla- sticität oder Reproduktionskraft objektivirt, so hat sie weder Muskel noch Nerv. Auf der niedrigsten Stufe des Thierreichs, in den Zoophyten, namentlich den 368 Polypen, können wir die Sonderung dieser beiden Bestandtheile noch nicht deutlich erkennen, setzen jedoch ihr Vorhandenseyn, wenn gleich in einem Zu- stande der Verschmelzung, voraus; weil wir Bewe- gungen wahrnehmen, die nicht, gleich denen der Pflanze, auf blosse Reize, sondern auf Motive, d. h. in Folge einer gewissen Wahrnehmung, vor sich ge- hen; daher eben wir diese Wesen als Thiere anspre- chen. In dem Maasse nun, als, in der aufsteigenden Thierreihe, das Nerven- und das Muskelsystem sich immer deutlicher von einander sondern, bis das erstere, in den Wirbelthieren und am vollkommensten im Menschen, sich in ein organisches und ein cerebrales Nervensystem scheidet und dieses wieder sich zu dem überaus zusammengesetzten Apparat von grossem und kleinem (Tchirn, verlängertem und Rücken-Mark, Cerebral- und Spinal-Nerven, sensibeln und motori- schen Nervenbündeln steigert, davon allein das grosse Gehirn, nebst den ihm anhängenden sensibeln Nerven und den hinteren Spinalnervenbündeln zur Aufnahme der Motive aus der Aussenwelt, alle übrigen Theile hingegen nur zur Transmission derselben an die Mus- keln, in denen der Wille sich direkt äussert, bestimmt sind; in demselben Maasse .wnr/eri sich im Bewusstseyn immer deutlicher das Motiv von dem Willensaht, den es hervorruft, also die Voi'stelhaig vom Willen: Adi- durch nun nimmt die Objektivität des Bewusstseyns beständig zu, indem die Vorstellungen sich immer deutlicher und reiner darin darstellen. Beide6bnrfe77/?^- gen sind aber eigentlich nur eine und die selbe, die wir hier von zwei Seiten betrachtet haben, nämlich von der objektiven und von der subjektiven, oder erst im Bewusstseyn anderer Dinge, und dann im Selbst- hewusstseyn. Auf dem Grade dieser Sonderung be- ruht, im tiefsten Grunde, der Unterschied und die Stufenfolge der intellektuellen Fähigkeiten, sowohl zwischen verschiedenen Thierarten, als auch zwischen menschlichen Individuen: er giebt also das Maass für <lie intellektuelle Vollkommenheit dieser Wesen. Denn die Klarheit des Bewusstseyns der Aussenwelt, die Ob- jektivität der Anschauung, hängt von ihm ab. In der 2 4 Schopenhauer II -^^9 oben angeführten Stelle habe ich gezeigt, dass das Thier die Dinge nur so weit wahrninnnt, als sie Mo- tive für seinen Willen sind, und dass selbst die intelli- gentesten Thiere diese Granze kaum überschreiten; weil ihr Intellekt noch zu fest am Willen haftet, aus dem er entsprossen ist. Hingegen fasst selbst der Stumpfeste Mensch die Dinge schon einigermaassen objektiv auf, indem er in ihnen nicht bloss erkennt, was sie in Bezug auf ihn, sondern auch Einiges von Dem, was sie in Bezug auf sich selbst und auf andere Dinge sind. Jedoch bei den Wenigsten erreicht dies den Grad, das sie im Stande wären, irgend eine Sache rein objektiv zu prüfen und zu beurtheilen: sondern „das muss ich thun, das muss ich sagen, das muss ich glauben" ist das Ziel, welchem, bei jedem Anlass, ihr Denken in gerader Linie zueilt und woselbst ihr Ver- stand alsbald die willkommene Rast findet. Denn dem schwachen Kopf ist das Denken so unerträglich, wie dem schwachen Arm das Heben einer Last: daher beide eilen niederzusetzen. Die Objektivität der Er- kenntniss, und zunächst der anschauenden, hat un- zählige Grade, die auf der Energie des Intellekts und seiner Sonderung vom Willen beruhen und deren höchster das Genie ist, als in welchem die Auffassung der Aussenwelt so rein und objektiv wird, dass ihm in den einzelnen Dingen sogar mehr als diese selbst, nämlich das Wesen ihrer ganzen Galtung, d. i. die Platonische Idee derselben, sich unmittelbar auf- schliesst; welches dadurch bedingt ist, dass hierbei der Wille gänzlich aus dem Bewusstseyn schwindet. Hier ist der Punkt, wo sich die gegenwärtige, von physiologischen Grundlagen ausgehende Betrachtung an den Gegenstand unseres dritten Buches, also an die Metaphysik des Schönen anknüpft, woselbst die eigentlich ästhetische Auffassung, die im höhern Gra- de nur dem Genie eigenthündich ist, als der Zustand des reinen, d. h. völlig willenlosen und eben dadurch vollkommen objektiven Erkennens ausführlich be- trachtet wird. Dem Gesagten zufolge ist die Steigerung der Intelligenz, vom dumpfesten thierischen Bewusst- seyn bis zu dem des Menschen, eine fortschreitende 370 Ablösung des Intellekts vorn Willen, welche vollkom- men, wiewohl nur ausnahmsweise, im Genie eintritt: daher kann man dieses als den höchsten Grad der Objektivität des Erkennens definiren. Die so selten voi'handene Bedingung zu demselben ist ein entschie- den grösseres Maass von Intelligenz, als zum Dienste des ihre Grundlage ausmachenden Willens erfordert ist: dieser demnach frei werdende Ueberschuss ist es erst, der recht eigentlich die Welt gewahr wird, d. h. sie vollkommen objektiv auffasst und nun danach bildet, dichtet, denkt. KAPITEL 2 3*). LIEBER DIE OBJEKTIVATION DES WILLENS IN DER ERKENNTNISSLOSEN NATUR. DASS dei" Wille, welchen wir in unserm Innern finden, nicht, wie die bisherige Philosophie an- nahm, allererst aus der Erkenntniss hervorgeht, ja, eine blosse Modifikation dieser, also ein Sekundäres, Abgeleitetes und, wie die Erkenntniss selbst, durch das Gehirn Bedingtes sei; sondern dass er das Prius derselben, der Kern unseres Wesens und jene Urkraft selbst sei, welche den thierischen Leib schafft und erhält, indem sie die unbewussten, so gut wie die be- wussten Funktionen desselben vollzieht; — dies ist der erste Schritt in der Grunderkenntniss meiner Metaphysik. So paradox es auch jetzt noch Vielen er- scheint, dass der Wille an sich selbst ein Erkenntniss- loses sei; so haben doch schon sogar die Scholastiker es irgendwie erkannt und eingesehen; da der in ihrer Philosophie durchaus bewanderte Jul. Cäs. Vaninus (jenes bekannte Opfer des Fanatismus und der Pfaf- fenwuth), in seinem Amphitheatro, p. i8l, sagt: Vo- luntas potentia coeca est, ex scholasticorum opinione. ') Dieses Kapitel bezieht sich auf §.2 3 des ersten Bandes. fS. 141 d. A.] 24* 371 — Dass nun ferner jener selbe Wille es sei, welcher auch in der Pflanze die Gemme ansetzt, um Blatt oder Bhnne aus ihr zu entwickeln, ja, dass die regel- mässige Form des Krystalls nur die zurückgelassene Spur seines momentanen Strebens sei, dass er über- haupt als das wahre und einzige au-ojxaxov, im eigent- lichen Sinne des Worts, auch allen Kräften der un- organischen Natur zum Grunde liege, in allen ihren mannigfaltigen Erscheinungen spiele, wirke, ihren Gesetzen die Macht verleihe, und selbst in der rohe- sten Masse sich noch als Schwere zu erkennen gebe; — diese Einsicht ist der zweite Schritt in jener Grund- erkenntniss, und schon durch eine fernere Reflexion vermittelt. Das gröbste aller Missverständnisse aber wäre es, zu meynen, dass es sich hiebei nur um ein f'Voi^t handle, eine unbekannte Grösse damit zu be- zeichnen : vielmehr ist es die realste aller Realerkennt- nisse, welche hier zur Sprache gebracht wird. Denn es ist die Zurückführung jenes unserer unmittelbaren Erkenntniss ganz Unzugänglichen, daher uns im We- sentlichen Fremden und Unbekannten, welches wir mit dem Worte Naturkraft bezeichnen, auf das uns am genauesten und intimsten Bekannte, welches jedoch nur in unser tn eigenen Wesen uns unmittelbar zu- gänglich ist; daher es von diesem aus auf die andern Erscheinungen übertragen werden muss. Es ist die Einsicht, dass das Innere und Ursprüngliche in allen, wenn gleich noch so verschiedenartigen Veränderun- gen und Bewegungen der Körper, dem Wesen nach, identisch ist; dass wir jedoch nur eine Gelegenheit haben, es näher und unmittelbar kennen zu lernen, nämlich in den Bewegungen unsers eigenen Leibes; in Folge welcher Erkenntniss wir es fVille nennen müssen. Es ist die Einsicht, dass was in der Natur wirkt und treibt und in immer voUkommneren Er- scheinungen sich darstellt, nachdem es sich so hoch emporgearbeitet hat, dass das Licht der Erkenntniss unmittelbar darauf fallt, d. h. nachdem es bis zum Zustande des Selbstbewusstseyns gelangt ist, — nun- mehr dasteht als jener fVille, der das uns am genaue- sten Bekannte und deshalb durch nichts Anderes fer- 3-72 ner zu Erklärende ist, welches vielmehr zu Allem An- deren die Erklärung giebt. Er ist demnach das Ding an sich, so weit dieses von der Erkenntniss irgend er- reicht werden kann. Folglich ist er Das, was in jedem Dinge auf der Welt, in irgend einer Weise, sich äussern muss : denn er ist das Wesen der Welt und der Kern aller Erscheinungen. Da meine Abhandlung „Ueber den Willen in der Natur" dem Gegenstande dieses Kapitels ganz eigent- lich gewidmet ist und auch die Zeugnisse unbefange- ner Empiriker für diesen Hauptpunkt meiner Lehre beibringt; so habe ich hier nur noch einige Ergänzun- gen zu dem dort Gesagten hinzuzufügen, welche da- her etwas fragmentarisch sich aneinander reihen. Zuvörderst also, in Hinsicht auf das Pflanzenleben, mache ich auf die merkwürdigen zwei ersten Kapitel der Abhandlung des Aristoteles über die Pflanzen auf- merksam. Das Interessanteste darin sind, wie so oft im Aristoteles, die von ihm angeführten Meinungen der früheren tiefsinnigeren Philosophen. Da sehen wir, das Anaxagoras und Empedokles ganz richtig ge- lehrt haben, die Pflanzen hätten die Bewegung ihres Wachsthums vermöge der ihnen einwohnenden Be- gierde (smöufjLia) ; ja, dass sie ihnen auch Freude und Schmerz, nüthin Empfindung, beilegten; P/aton aber die Begierde allein ihnen zuerkannte, und zwar wegen ihres starken Nahrungstriebes (vergl.Plato im Timäos, 8. 4o3,Bip.). .</?7sfofe/e5 hingegen, seiner gewöhnlichen Methode getreu, gleitet auf der Oberfläche der Dinge hin, hält sich an vereinzelte Merkmale und durch gangbare Ausdrücke fixirte Begriffe, behauptet, dass ohne Empfindung keine Begierde seyn könne, jene, aber hätten doch die Pflanzen nicht, ist indessen, wie sein konfuses Gerede bezeugt, in bedeutender Ver- legenheit, bis denn auch hier, „wo die Begrifl-e fehlen, ein Wort zur rechten Zeit sich einstellt", nämlich xo ^psTTTUGV, das Ernährungs vermögen: dies hätten die Pflanzen, also einen Theil der sogenannten Seele, nach seiner beliebten Eintheilung in anima vegetativa, sen- sitiva, et intellectiva. Das ist aber eben eine scholasti- sche Quidditas und besagt: plantae nutriuntur, quia 3-73 habent facultatem nutritivam; ist mithin ein schlech- ter Ersatz für die tiefere Forschung seiner von ihm kritisirten Vorgän^^er. Auch sehen wir, im zweiten Kapitel, dass Empedohles sogar die Sexualität der Pflan- zen erkannt hatte; welches Aristoteles dann ebenfalls bekrittelt, und seinen Mangel an eigentlicher Sach- kenntniss hinter allgemeinen Principien verbirgt, wie dieses, dass die Pflanzen nicht beide Geschlechter im Verein haben könnten, da sie sonst vollkommener, als die Thiere sein würden. — Durch ein ganz ana- loges Verfahren hat er das richtige astronomische Weltsystem der Pythagoreer verdrängt und durch seine absurden Grundprincipien, die er besonders in den Büchern de coelo darlegt, das System des Ptole- mäos veranlasst, wodurch die Menschheit einer bereits gefundenen Wahrheit, von höchster Wichtigkeit, wie- der auf fast aooo Jahre verlustig ward. xVber den Ausspruch eines vortrefflichen Biologen unsrer Zeit, der genau mit meiner Lehre überein- stimmt, kann ich mich nicht entbrechen herzusetzen. G. R. Trevinvms ist es, der in seinem Werke „lieber die Erscheinungen und Gesetze des organischen Le- bens", i832, Bd. 2, Abth. i, S. 49? Folgendes sagt: „Es lässt sich aber eine Form des Lebens denken, wobei die Wirkung des Aeusseren auf das Innere blosse Gefühle von Lust und Unlust, und in deren Folge Begehi-ungeu veranlasst. Eine solche ist das Pflanzenleben. In den höheren Formen des thierischen Lebens wird das Aeussere als etwas Objektives emp- funden." Treviranus spricht hier aus reiner und un- befangener Naturauffassung, und ist sich der meta- physischen Wichtigkeit seines Ausspruchs so wenig bewusst, wie der contradictio in adjecto, die im Be- griff" eines „als Objektives Empfundenen" liegt, wel- ches er sogar noch weitläuftig ausführt. Er w^iss nicht, dass alle Empfindung wesentlich subjektiv, alles Ob- jektive aber Anschauung, mithin Produkt des Ver- standes ist. Dies thut jedoch dem Wahren und Wich- tigen seines Ausspruchs keinen Abbruch. In der That ist die Wahrheit, dass Wille auch ohne Erkenntniss bestehen könne, am Pflanzenleben äugen- 37/, scheinlich, man möchte sagen handgreifHch erkenn- bar. Denn hier sehen wir ein entschiedenes Streben, durch Bedürfnisse bestimmt, mannigfahig modifizirt und der Verschiedenheit der Umstände sich anpassend, — dennoch offenbar ohne Erkenntniss. — Und eben weil die Pflanze erkenntnisslos ist, trägt sie ihre Ge- schlechtstheile prunkend zur Schau, in gänzlicher Unschuld: sie weiss nichts davon. Sobald hingegen, in der Wesenreihe, die Erkenntniss eintritt, verlegen die Geschlechtstheile sich an eine verborgene Stelle. Der Mensch aber, bei welchem dies wieder weniger der Fall ist, verhüllt sie absichtlich: er schämt sich ihrer. — Zunächst nun also ist die Lebenskraft identisch mit dem Willen: allein auch alle andern Naturkräfte sind es; obgleich dies weniger augenfällig ist. Wenn wir daher die Anerkennung einer Begierde, d. h. eines Willens, als Basis des Pflanzenlebens ^ zu allen Zeiten, mit mehr oder weniger Deutlichkeit des Be- griffs, ausgesprochen finden; so ist hingegen die Zu- rückführung der Kräfte der unorganischen Natur auf die selbe Grundlage in dem Maasse seltener, als die Entfernung dieser von unserm eigenen Wesen grösser ist. — In der That ist die Gränze zwischen dem Orga- nischen und dem Unorganischen die am schärfsten gezogene in der ganzen Natur und vielleicht die ein- zige, welche keine Übergänge zulässt; sodass das na- tura non facit saltus hier eine Ausnahme zu erleiden scheint. Wenn auch manche Krystallisationen eine der vegetabilischen ähnelnde äussere Gestalt zeigen; so bleibt doch selbst zwischen der geringsten Flechte, dem niedrigsten Schimmel, und allem Unorganischen ein grundwesentlicher Unterschied. Im unorganischen Körper ist das Wesentliche und Bleibende, also Das, worauf seine Identität und Integrität beruht, der Stoff, die Materie; das Unwesentliche und Wandelbare hin- gegen ist die Form. Beim organischen Körper verhält es sich gerade umgekehrt: denn eben im beständigen Wechsel des Stoßsj unter dem Beharren der Form, besteht sein Leben, d. h. sein Daseyn als eines Orga- nischen. Sein Wesen und seine Identität liegt also allein in der Fortn. Daher hat der unorganische Kör- per seinen Bestand durch Ruhe und Abgeschlossenheit von äussern Eintlüssen: hiebei allein erhält sich sein Daseyn, und, wenn dieser Zustand vollkommen ist, «st ein solcher Körper von endloser Dauer. Der orga- nische hingejjen hat seinen Bestand gerade durch die fortwährende Beivegung und stetes Empfangen äusse- rer Einflüsse: sobald diese wegfallen und die Bewe- gung in ihm stockt, ist er todt und hört damit auf organisch zu seyn, wenn auch die Spur des dagewe- senen Organismus noch eine Weile beharrt. — Dem- nach ist auch das in unsern Tagen so beliebte Gerede vom Leben des Unorganischen, ja sogar des Erdkör- pers, und dass dieser, wie auch das Planetensystem, ein Organismus sei, durchaus unstatthaft. Nur dem Organischen gebührt das Prädikat Leben. Jeder Or- ganismus aber ist durch vmd durch organisch, ist es in allen seinen Theilen und nirgend sind diese, selbst nicht in ihren kleinsten Partikeln, aus Unorganischem aggregativ zusammengesetzt. Wäre also die Erde ein Organismus; so müssten alle Berge und Felsen und das ganze Innere ihrer Masse organisch seyn und dem- nach eigentlich gar nichts Unorganisches existiren, mithin der ganze Begriff desselben wegfallen. Hingegen dass die Erscheinung eines Willens so wenig an das Leben und die Organisation, als an die Erkenntniss gebunden sei, mithin auch das Unorga- nische einen Willen habe, dessen Aeusserungen alle seine nicht weiter erklärlichen Grundeigenschaften sind, dies ist ein wesentlicher Punkt meiner Lehre; wenn gleich die Spur eines solchen Gedankens bei den mir vorhergegangenen Schriftstellern viel seltener zu finden ist, als die vom Willen in den Pflanzen, wo er doch auch schon erkenntnisslos ist. Im Anschiessen des Krystalls sehen wir gleichsam noch einen Ansatz, einen Versuch zum Leben, zu welchem es jedoch nicht kommt, weil die Flüssigkeit, aus der er, gleich einem Lebendigen, im Augenblick jener Bewegung besteht, nicht, wie stets bei diesem, in einer Haut eingeschlossen ist, und er demnach we- der Ge fasse hat, in denen jene Bewegunjj; sich fort- 376 setzen könnte, noch irgend etwas ihn von der Aussen- welt absondert. Daher ergreift die Erstarrung alsbald jene augenblickliche Bewegung, von der nur die Spur als Krystall bleibt. — Auen den „fVahivey^ivandtschaften^^ von GoefAe liegt, wie schon der Titel andeutet, wenn gleich ihm unbe- wusst, der Gedanke zum Grunde, dass der Wille, der die Basis unsers eigenen Wesens ausmacht, derselbe ist, welcher sich schon in den niedrigsten, unorgani- schen Erscheinungen kund giebt, weshalb die Gesetz- mässigkeit beider Erscheinungen vollkommene Ana- logie zeigt. Die Mechanik und Astronomie zeigen uns eigentlich, wie dieser Wille sich benimmt, so weit als er, auf der niedrigsten Stufe seiner Erscheinung, bloss als Schwere, Starrheit und Trägheit auftritt. Die Hydraulik zeigt uns das Selbe da, wo die Starrheit wegfällt, und nun der flüssige Stoff seiner vorherrschenden Leidenschaft, der Schwere, ungezügelt hingegeben ist. Die Hydrau- lik kann, in ihrem Sinne, als eine Charakterschilde- rung des Wassers aufgefasst werden, indem sie uns die Willensäusserungen angiebt, zu welchen dasselbe durch die Schwere bewogen wird : diese sind, da bei allen nichtindividuellen Wesen kein partikularer Cha- rakter neben dem generellen besteht, den äusseren Einflüssen stets genau angemessen, lassen sich also, durch Erfahrung dem Wasser abgemerkt, leicht auf feste Grundzüge, die man Gesetze nennt, zurückfüh- ren, welche genau angeben, wie das Wasser, vermöge seiner Schwere, bei unbedingter Verschiebbarkeit sei- ner Theile und Mangel der Elasticität, unter allen verschiedenen Umständen sich benehmen wird. Wie es durch die Schwere zur Buhe gebracht wird, lehrt die Hydrostatik, wie zur Bewegung, die Hydrodyna- mik, die hiebei auch Hindernisse, welche die Adhä- sion dem Willen des Wassers entgegensetzt, zu berück- sichtigen hat : Beide zusammen machen die Hydraulik aus. — Eben so lehrt uns die Chemie, wie sich der Wille benimmt, wann die inneren Qualitäten der Stoffe, durch den herbeigeführten Zustand der Flüs- sigkeit, freies Spiel erhalten, und nun jenes wundei- 377 bare Suchen und Fliehen, sich Trennen und Vereinen, Fahrenlassen des Einen, um das Andere zu ergreifen, wovon jeder Niederschlag zeugt, auftritt, welches Alles man als //rtA/verwandtschaft (einen ganz dem bewussten Willen entlehnten Ausdruck) bezeichnet. — Aber die Anotomie und Physiologie lässt uns sehen, wie sich der Wille benimmt, um das Phänomen des Lebens zu Stande zu bringen und eine Weile zu un- terhalten. — Der Poet endlich zeigt uns, wie sich der Wille unter dem Einfluss der Motive und der Rette- xion benimmt. Er stellt ihn daher meistens in der vollkommensten seiner Erscheinungen dar, in ver- nünftigen Wesen, deren Charakter individuell ist, und deren Handeln und Leiden gegen einander er uns als Drama, Epos, Roman u. s, w. vorführt. Je regelrech- rechter, je streng naturgesetzmässiger die Darstellung seiner Charaktere dabei ausfällt, desto grösser ist sein Ruhm; daher steht Shakespeare obenan. — Der hier gefasste Gesichtspunkt entspricht im Grunde dem Geist, in welchem Goethe die Naturwissenschaften trieb und liebte; wiewohl er sich der Sache nicht in absti'acto bewusst war. Mehr noch, als dies aus seinen Schriften hervorgeht, ist es mir aus seinen persönlichen Aeusserungen bewusst. Wenn wir den Willen da, wo ihn Niemand leugnet, also in den erkennenden Wesen betrachten; so fin- den wir überall, als seine Grundbestrebung, d\e Selbst- erhaltung eines jeden Wesens: omnis natura vult esse conservatrix sui. Alle Äusserungen dieser Grundbe- strebung aber lassen sich stets zurückführen auf ein Suchen, oder Verfolgen, und ein Meiden, oder Fliehen, je nach dem Anlass. Nun lässt eben Dieses sich noch nachweisen sogar auf der allerniedrigsten Stufe der Natur, also der Objektivation des Willens, da näm- lich, wo die Körper nur noch als Körper üherhaupt wirken, also Gegenstände der Mechanik sind, und bloss nach den Äusserimgen der Undurchdringlichkeit, Kohäsion, Starrheit, Elasticität und Schwere in Be- tracht kommen. Auch hier noch zeigt sich das .SucAe/t als Gravitation, das Fliehen aber als Empfangen von Bewegung, und die Beiveglichkeit der Körper durch 3-8 Druck oder Stoss, welche die Basis der Mechanik aus- macht, ist im Grunde eine Äusserung des auch ihnen einwohnenden Strebens URch Selbste?-haltung. Dieselbe nämlich ist, da sie als Körper undurchdringlich sind, das einzige Mittel, ihre Kohäsion, also ihren jedes- maligen Bestand, zu retten. Der gestossene oder ge- drückte Körper würde von dem stossenden oder drük- kenden zermalmt werden, wenn er nicht, um seine Kohäsion zu retten, der Gewalt desselben sich durch die Flucht entzöge, und wo diese ihm benommen ist, geschieht es wirklich. Ja, man kann die elastischen Körper als die muthigeren betrachten, welcheden Feind zurückzutreiben suchen, oder wenigstens ihm die wei- tere Verfolgung benehmen. So sehen wir denn in dem einzigen Geheimniss, welches (neben der Schwere) die so klare Mechanik übrig lässt, nämlich in der Mit- theilbarkeit derBewegung, eine Aeusseruug der Grund- bestrebung des Willens in allen seinen Erscheinun- gen, also des Triebes zur Selbsterhaltung, der als das Wesentliche sich auch noch auf der untersten Stufe erkennen lässt. In der unorganischen Natur objektivirt der Wille sich zunächst in den allgemeinen Kräften, und erst mittelst dieser in den durch Ursachen hervorgerufe- nen Phänomenen der einzelnen Dinge. Das Verhält- niss zwischen Ursache, Naturkraft und Willen als Ding an sich habe ich §. 26 des ersten Bandes hin- länglich auseinandergesetzt. Man sieht daraus, dass die Metaphysik den Gang der Physik nie unterbricht, sondern nur den Faden da aufnimmt, wo diese ihn liegen lässt, nämlich bei den ursprünglichen Kräften, an welchen alle Kausalerklärung ihre Gräuze hat. Hier erst hebt die metaphysische Erklärung aus dem Willen als Dinge an sich an. Bei jedem physischen Phänomen, jeder Veränderung materieller Dinge, ist zunächst ihre Ursache nachzuweisen, die eine eben solche einzelne, dicht zuvor eingetretene /^<?r«n(fe?*un^ ist; dann aber die ursprüngliche Naturkiaft^ vermöge welcher diese Ursache zu wirken fähig war; und al- lererst als das Wesen an sich dieser Kraft, im Gegen- satz ihrer Erscheinung, ist der Wille zu erkennen. 379 Dennoch {jiebt dieser sich eben so unmittelbar im Fal- len eines Steines kund, wie im Thun des Menschen: der Unterschied ist nur, dass seine einzelne Aeusserunfj hier durch ein Motiv, dort durch eine mechanisch wirkende Ursache, z. B. die Wegnahme seiner Stütze, hervorgerufen wird, jedoch in beiden Fällen mit glei- cher Noth wendigkeit, und dass sie dort auf einem in- dividuellen Charakter, hier auf einer allgemeinen Na- turkraft beruht. Diese Identität des Grund wesentlichen wird sogar sinnenfällig, wenn wir etwan einen aus dem Gleichgewicht gebrachten Körper, der ver- möge seiner besonderen Gestalt lange hin und he- rollt, bis er den Schwerpunkt wiederfindet, aufmerk- sam betrachten, wo dann ein gewisser Anschein des Lebens sich uns aufdringt und w ir unmittelbar füh- len, dass etwas der Grundlage des Lebens Analoges auch hier wirksam ist. Dieses ist freilich die allgemeine Naturkiaft, welche aber, an sich mit dem Willen iden- tisch,hier gleichsam die Seele eines sehr kurzen Quasi- Lebens wird. Also giebt das in den beiden Extremen der Erscheinung des Willens Identische sich hier so- gar der unmittelbaren Anschauung noch leise kund, indem diese ein Gefühl in uns erregt, dass auch hier ein ganz Ursprüngliches, wie wir es nur aus den Ak- ten unsers eigenen Willens kennen, unmittelbar zur Erscheinung gelangt. Auf eine ganz andere und grossartige Weise kann man zu einer intuitiven Erkenntniss vom Daseyn und Wirken des Willens in der unorganischen Natur ge- langen, wenn man sich in das Problem der drei Kör- per hineinstudirt und also den Lauf des Mondes um die Erde etwas {jenauer und specieller kennen lernt. Durch die verschiedenen Kombinationen, welche der beständige Wechsel der Stellung dieser drei Weltkör- per gegen einander herbcifülut, wird der Gang des Mondes bald beschleunigt, bald verlangsamt, und tritt er der Erde bald näher, bald ferner: dieses nun aber wieder anders im Perihelio, als im Aphelio der Erde; welches Alles zusammen in seinen Lauf eine solche Unregelmässigkeit bringt, dass derselbe ein wirklich kapriciöses Ansehen erhält, indem sogar das dritte .-»öo Kepplerische Gesetz nicht mehr umwandelbar gültig bleibt, sondern er in gleichen Zeiten ungleiche Flä- chen umschreibt. Die Betrachtung dieses Laufes ist ein kleines und abgeschlossenes Kapitel der himmli- schen Mechanik, welche von der irdischen sich durch die Abwesenheit alles Stosses und Druckes, also der uns so fasslich scheinenden vis a tergo, und sogar des wirklich vollbrachten Falles, auf erhabene Weise un- terscheidet, indem sie neben der vis inertiae keine andere bewegende und lenkende Kraft kennt, als bloss die Gravitation, diese aus dem eigenen Innern der Körper hervortretende Sehnsucht derselben nach Ver- einigung. Wenn man nun, an diesem gegebenen Fall, sich ihr Wirken bis ins Einzelne veranschaulicht; so erkennt man deutlich und unmittelbar in der hier be- wegenden Kraft eben Das, was im Selbstbewusstseyn uns als Wille gegeben ist. Denn die Aenderungen im Laufe der Erde und des Mondes, je nachdem eines derselben, durch seine Stellung, dem Einfluss der Son- ne bald mehr, bald weniger ausgesetzt ist, hat augen- fällige Analogie mit dem Einfluss neu eintretender Motive auf unsern Willen und mit den Modifikatio- nen unsers Handelns danach. Ein erläuterndes Beispiel anderer Art ist folgendes. Liehuj (Chemie in Anwendung auf Agrikultur, 8. 5oi) sagt: ,, Bringen wir feuchtes Kupfer in Luft, welche Kohlensäure enthält, so wird, durch den Kontakt mit dieser Säure, die Verwandtschaft des Metalls zum Sauerstoff der Luft in dem Grade gesteigert, dass sich beide mit einander verbinden; seine Oberfläche be- deckt sich mit grünem, kohlensaurem Kupferoxyd. — Nun aber nehmen zwei Körper, welche die Fähigkeit haben, sich zu verbinden, in dem Moment, da sie sich berühren, entgegengesetzte Elektricitätszustände an. Daher wird, wenn wir das Kupfer mit Eisen berühren, durch Erregung eines besonderen Elektricitätszustan- des, die Fähigkeit des Kupfers, eine Verbindung mit dem Sauerstoff einzugehen, vernichtet: es bleibt auch unter den obigen Bedingungen blank." — Die Sache ist bekannt und von technischem Nutzen. Ich führe sie an, um zu sagen, dass hier der Wille des Kupfers, .38 I durch den elektrischen Gegensatz zum Eisen in An- spruch genommen und heschäftigt, die für seine che- mische Verwandtschaft zum Oxygen und Kohlensäure sich darhietende Gelegenheit unbenutzt lasst. Er ver- hält sich demnach gerade so, wie der Wille in einem Menschen, der eine Handlung, zu der er sonst sich be- wogen fühlen würde, unterlässt, um eine andere, zu der ein stärkeres Motiv ihn auffordert, zu vollziehen. Im ersten Bande habe ich gezeigt, dass die Natur- kräfte ausserhalb der Kette von Ursachen und Wir- kungen liegen, indem sie die durchgängige Bedingung, die metaphysische Grundlage derselben ausmachen und sich daher als ewig und allgegenwärtig, d. h. von Zeit und Raum unabhängig, bewähren. Sogar in der unbestrittenen Wahrheit, dass das Wesentliche einer Uisache, als solcher, darin bestehe, dass sie die selbe Wirkung, wie jetzt, auch zu jeder künftigen Zeit her- vorbringen wird, ist schon enthalten, dass in der Ur- sache etwas liegt, das vom Laufe der Zeit unabhängig, d. h. ausser aller Zeit ist: dies ist die in ihr sich äus- sernde Naturkraft. Man kann selbst, indem man die Machtlosigkeit der Zeit, den Naturkräften gegenüber, ins Auge fasst, von der blossen Idealität dieser Form unserer Anschauung gewissermaassen sich empirisch und faktisch überzeugen. W^enn z. B. ein Planet, durch irgend eine äussere Ursache, in eine rotirende Bewe- gung versetzt ist; so wird diese, wenn keine neu hin- zukommende Ursache sie aufhebt, endlos dauern. Dem könnte nicht so seyn, wenn die Zeit etwas an sich selbst wäre und ein objektives, reales Daseyn hät- te: denn da müsste sie auch etwas wirken. W^ir sehen also hier einerseits die Naturkräfte, welche in jener Rotation sich äussern und sie, wenn einmal angefan- gen, endlos fortsetzen, ohne selbst zu ermüden, oder zu ersterben, sich als ewig oder zeitlos, mithin als schlechthin real und an sich selbst existirend bewäh- ren; und andererseits die Zeit, als etwas, das nur in der Art und W^eise, wie wir jene Erscheinung appre- hendiren, besteht, da es auf diese selbst keine Macht und keinen Einfluss ausübt: denn was nicht wirkty das ist auch nicht. 382 Wir haben einen natürlichen Hang, jede Naturer- scheinung wo möghch mechanisch zu erklären; ohne Zweifel weil die Mechanik die wenigsten ursprüng- lich und daher unerklärlichen Kräfte zur Hülfe nimmt, hingegen viel a priori Erkennbares und daher auf den Formen unsers eigenen Intellekts Beruhendes enthält, welches, eben als solches, den höchsten Grad von Verständlichkeit und Klarheit mit sich führt. In- dessen hat Kant^ in den Metaphysischen Anfangsgrün- den der Naturwissenschaft, die mechanische Wirk- samkeit selbst auf eine dynamische zurückgeführt. Hin- gegen ist die Anwendung mechanischer Erklärungs- hypothesen, über das nachweisbar Mechanische, wohin z, B. noch die Akustik gehört, hinaus, durchaus unbe- rechtigt, und nimmermehr werde ich glauben, dass jemals auch nur die einfachste chemische Verbindung, oder auch die Verschiedenheit der drei Aggregations- zustäude sich wird mechanisch erklären lassen, viel weniger die Eigenschaften des Lichts, der Wärme und der Elektricität. Diese werden stets nur eine dynamische Erklärung zulassen, d. h. eine solche, welche die Erscheinung aus ursprünglichen Kräften erklärt, die von denen des Stosses, Druckes, der Schwere u. s. w. gänzlich verschieden und daher höherer Art, d, h. deutlichere Objektivationen jenes Willens sind, der in allen Dingen zur Sichtbarkeit gelangt. Ich halte dafür, dass das Licht weder eine Emanation, noch eine Vibration ist: beide Ansichten sind ^«ver- wandt, welche die Durchsichtigkeit durch Poren er- klärt, und deren offenbare Falschheit beweist, dass das Licht keinen mechanischen Gesetzen unterworfen ist. Um hievon die unmittelbarste üeberzeugung zu erhalten, braucht man nur den Wirkungen eines Sturmwindes zuzusehen, der Alles beugt, umwirft und zerstreut, während dessen aber ein Lichtstrahl, aus einer Wolkenlücke herabschiessend, so ganz un- erschüttert und mehr als felsenfest dasteht, dass er recht unmittelbar zu erkennen giebt, er gehöre einer andern, als der mechanischen Ordnung der Dinge an: unbeweghch steht er da, wie ein Gespenst. Aber nun gar die von den Franzosen ausgegangenen Kon- 383- struktionen des Lichts aus Molekülen und Atomen sind eine empörende Absurdität. Als einen schreien- den Ausdruck derselben, wie überhaupt der ganzen Atomistik, kann man einen im AprilheFt der Annales de chimie et pbysique von i835 P)efind lieben Aufsatz über Licht und Warme, von dem sonst so scharfsin- nigen yhiipcre, betrachten. Da besteht Festes, Flüssi- ges und Elastisches aus den selben Atomen, und aus deren Aggregation allein entspringen alle unterschie- de: ja, es Avird gesagt, dass zwar der Raum ins Un- endhche theilbar sei, aber nicht die Materie; weil, wenn die Theilung bis zu den Atomen gelangt sei, die fernere Theilung in die Zwischenräume der Ato- me fallen müsse! Da sind dann Licht und Wärme Vibrationen der Atome, der Schall hingegen eine Vi- bration der aus den Atomen zusammengesetzten Mo- lekülen. — In Wahrheit aber sind die Atome eine fixe Idee der französischen Gelehrten, daher diese eben von ihnen reden, als hätten sie sie gesehen. x\us- serdem müsste man sich wundern, dass eine so em- pirisch gesinnte Nation, eine solche matter of fect nation, wie die Franzosen, so fest an einer völlig transscendenten, alle Möglichkeit der Erfahrung über- fliegenden Hypothese halten und darauf getrost ins weite Blaue hineinbauen kann. Dies ist nun eben eine Folge des zurückgebliebenen Zustandes der von ihnen so sehr vermiedenen Metaphysik, welche durch den, bei allem guten Willen, seichten und mit Urtheils- kraft sehr dürftig begabten Herrn Cousin schlecht vertreten wird. Sie sind, durch den frühern Einfluss Condillacs, im Grunde immer noch Lockianer. Daher ist ihnen das Ding an sich eigentlich die Materie^ aus deren Grundeigenschaften ,wie Undurchdringlichkeit, Gestalt, Härte und sonstige primary qualities, Alles in der Welt zuletzt erklärbar seyn muss: das lassen sie sich nicht ausreden, und ihre stillschweigen- de Voraussetzung ist, dass die Materie nur durch me- chanische Kräfte bewegt werden kann. In Deutsch- land hat Knuts Lehre den Absurditäten der Atomistik und der durchweg mechanischen Physik auf die Dauer vorgebeugt; wenn gleich im gegenwärtigen Augen- 384 blick diese Ansichten auch hier grassiien; welches eine Fol{>e der durch Hegel herbeigeführten Seichtig- keit, Rohheit und Unwissenheit ist. — Inzwischen ist nicht zu leugnen, dass nicht nur die offenbar poröse Beschaffenheit der Naturkörper, sondern auch zwei specielle Lehren der neuern Physik dem Atomeniui- wesen scheinbar Vorschub gethan haben: nämlich Haujs Krystallographie, welche jeden Krystall auf seine Kerngestalt zurückführt, die ein Letztes, aber doch nur relativ Untheil bares ist; sodann Berzelius' Lehre von den chemischen Atomen, welche jedoch blosse Ausdrücke der Verbindungsverhältnisse, also nur arithmetische Grössen und imGrunde nicht mehr, als Rechenpfennige sind. - — Hingegen Kants, freilich nur zu dialektischem Behuf aufgestellte, die Atome vertheidigende Thesis der zweiten Antinomie, ist, wie ich in der Kritik seiner Philosophie nachgewiesen habe, ein blosses Sophisma, und keineswegs leitet un- ser Verstand selbst uns nothwendig auf die Annahme von Atomen hin. Denn so wenig ich genöthigt bin, die, vor meinen Augen vorgehende, langsame, aber stetige und gleichförmige Beiuegimg eines Körpers mir zu denken als bestehend aus unzähligen, absolut schnellen, aber abgesetzten und durch eben so viele absolut kurze Zeitpunkte der Ruhe unterbrochene Bewegungen, viel mehr recht wohl weiss, dass der geworfene Stein langsamer fliegt, als die geschossene Kugel, dennoch aber unterwegs keinen Augenblick ruht; eben so wenig bin ich genöthigt, mir dieMaasse eines Körpers als aus Atomen und deren Zwischen- räumen, d. h. dem absolut Dichten und dem absolut Leeren bestehend zu denken : sondern ich fasse, ohne Schwierigkeit, jene beiden Erscheinungen als stetige Continua auf, deren eines dieZeit, das andere den Baum, gleichmässig erfüllt. Wie aber dabei dennoch eine Be- wegung schnellej^ als die andere seyn, d. h. in gleicher Zeit mehr Raum durchlaufen kann; so kann auch ein Körper specifisch schwerer als der andere seyn, d. h. in gleichem Räume mehr Materie enthalten : der Un- terschied beruht nämlich in beiden Fällen auf der Intensität der wirkenden Kraft; da Kant (nach Priest- 3 5 Schopenhauer II 385 ley^s Vor^jang) ganz richtig die Materie in Kräfte auf- gelöst hat. — Aber sogar wenn man die hier auf- gestelhe Analogie nicht gelten lassen, sondern darauf bestehen wollte, dass die Verschiedenheit des speci- fischen Gewichts ihren Grund stets nur in der Poro- sität haben könne; so würde diese Annahme noch immer nicht auf Atome, sondern bloss auf eine völ- lig dichte und in den verschiedenen Körpern ungleich vertheilte Materie leiten, die daher da, wo keine Po- ren mehr sie durchsetzten, zwar schlechterdings nicht weiter koinprhnabel wäre, aber dennoch stets, wie der Raum, den sie füllt, ins UnendUche theilbar bliebe; weil darin, dass sie ohne Poren wäre, gar nicht liegt, dass keine mögliche Kraft die Kontinuität ihrer räum- lichen Theile aufzuheben vermöchte. Denn, zu sagen, dass dies überall nur durch Erweiterung bereits vor- handener Zwischenräume möglich sei, ist eine ganz willkürliche Behauptung. Die Annahme der Atome beruht eben auf den bei- den angeregten Phänomenen, nämlich auf der Ver- schiedenheit des specifischen Gewichts der Körper und auf der ihrer Kompressibilität, als welche beide durch die Annahme der Atome bequem erklärt wer- den. Dann aber müssten auch beide stets in gleichem Maasse vorhanden seyn; — was keineswsgs der Fall ist. Denn z. B. Wasser hat ein viel geringeres specifi- sches Gewicht, als alle eigentlichen Metalle, müsste also weniger Atome und grössere Inierstizien dersel- ben haben und folglich sehr kompressibel seyn: allein es ist beinahe ganz inkompressibel. Die Vertheidigung der Atome liesse sich dadurch führen, dass man von der Porosität ausgienge und etwan sagte: alle Körper haben Poren, also auch alle Theile eines Körpers; gienge es nun hiemit ins Un- endliche fort, so würde von einem Körper zuletzt nichts, als Poren übrig bleiben. — Die Widerlegung wäre, dass das übrig Bleibende zwar als ohne Poren und insofern als absolut dicht anzunehmen sei; je- doch darum noch nicht als aus absolut imtheilbaren Partikeln, Atomen, bestehend: demnach wäre es wohl absolut inkompressibel, aber nicht absolut untheilbar; 386 man müsste denn die Theilung eines Körpers als al- lein durch Eindringen in seine Poren möglich be- haupten wollen; was aber ganz unerwiesen ist. Nimmt man es jedoch an, so hat man zwar Atome, d. h. ab- solut untheilbare Körper, also Körper von so starker Kohäsion ihrer räumlichen Theile,dass keine mögliche Gewalt sie trennen kann: solche Körper aber kann man alsdann so gut gross, wie klein annehmen, und ein Atom könnte so gross seyn, wie ein Ochs; wenn es nur jedem möglichen Angriffe widerstände. Denkt man sich zwei höchst verschiedenartige Kör- per durch Kompression, wie mittelst Hämmern, oder durch Pulverisation, aller Poren gänzlich entledigt; — würde dann ihr specifisches Gewicht das selbe seyn? — Dies wäre das Kriterium der Dynamik. KAPITEL 24.' VON DER MATERIE. BEREITS in den Ergänzungen zum ersten Ruche ist, im vierten Kapitel, bei Retrachtung des uns a priori bewussten Theiles unserer Erkenntniss, die Materie zur Sprache gekommen. Jedoch konnte sie daselbst nur von einem einseitigen Standpunkte aus betrachtet werden, weil wir dort bloss ihre Reziehung zu den Formen des Intellekts, nicht aber die zum Dinge an sich im Auge hatten, mithin wir sie nur von der subjektiven Seite, d. h. sofern sie unsere Vor- stellung ist, nicht aber auch von der objektiven Seite, d. h. nach dem was sie an sich seyn mag, untersuch- ten. In ersterer Hinsicht war unser Ergebniss, dass sie die objektiv, jedoch ohne nähere Restimmung auf- gefasste Wirksamkeit überhaupt sei; daher sie, auf der dort beigegebenen Tafel unserer Erkenntnisse a pri- ori, die Stelle der Kausalität einnimmt. Denn das Ma- terielle ist das Wirkende (Wirkliche) überhaupt und 25* 387 abgesehen von der specifischen Ai't seines Wirkens. Daher eben auch ist die Materie, bloss als solche, nicht Gegenstand der Amchanumj^ sondern allein des Den- kens, mithin eigentlich eine Abstraktion: in der An- schauung hingegen konunt sie nur in Verbindung mit der Form und Qualität vor, als Körper, d. h. als eine ganz bestimmte Art des Wirkens. Bloss dadurch, dass wir von dieser nähern Bestimmung abstrahiren, denken wir die Materie als solche, d. h. gesondert von der Form und Qualität: folglich denken wir un- ter dieser das Wirken schlechthin und überhaupt, also die JVirksamkeit in abstracto. Das näher bestimmte Wirken fassen wir alsdann als das Accidenz der Ma- terie auf: aber erst mittelst dieses wird dieselbe an- schaulich, d. ii. stellt sich als Körper und Gegenstand der Erfahrung dar. Die reine Materie hingegen, wel- che allein, wie ich in der Kritik der Kantischen Phi- losophie dargethan habe, den wirklichen und berech- tigten Inhalt des Begriffes der Substanz ausmacht, ist die Kausalität selbst, objektiv, mithin als im Raum und daher als diesen erfüllend, gedacht. Demgemäss besteht das ganze Wesen der Materie im Wirken: nur durch dieses erfüllt sie den Raum und beharrt in der Zeit: sie ist durch und durch lauter Kausalität. Mit- hin wo gewirkt wird, ist Materie, und das Materielle ist das Wirkende überhaupt. — Nun aber ist die Kausalität selbst die Form unsers Verstandes: denn sie ist, so gut wie Raum und Zeit, uns a priori be- wusst. Also gehört auch die Materie, insofern und bis hieher, dem formellen Theil unserer Erkenntniss an, und ist demnach die mit Raum und Zeit verbundene, daher objektivirte, d. h. als das Raum Erfüllende auf- gefesste, Verstandesform der Kausalität selbst. (Die nähere Auseinandersetzung dieser Lehre findet man in der zweiten Auflage der Abhandlung über den Satz vom Grunde, S. 77.) Insofern aber ist die Mate- rie eigentlich auch nicht Gegenstand, sondern Bedin- gung der Erfahrung; wie der reine Verstand selbst, des- sen F'unktion sie so weit ist. Daher giebt es von der blos- sen Materie auch nur einen Begriff, keine Anschauung : sie geht in alle äussere Erfahrung, als nothwendigerBe- 388 standtheil derselben, ein, kann jedoch in keiner gegeben werden ; sondern wird nur gedacht, und zwar als das absolut Träge, Unthätige, Formlose, Eigenschaftslose, welches jedoch der Träger aller Formen, Eigenschaf- ten und Wirkungen ist. Demzufolge ist die Materie das durch die Formen unsers Intellekts, in welchem die Welt als Vorstellung sich darstellt, nothwendig her- beigeführte, bleibende Substrat aller vorübergehenden Erscheinungen, also aller Aeusserungen der Natur- kräfte und aller lebenden Wesen. Als solches und als aus den Formen des Intellekts entsprungen verhält sie sich gegen jene Erscheinungen selbst durchaus m- diß'erent, d. h. sie ist eben so bereit, der Träger dieser, wie jener Naturkraft zu seyn, sobald nur, am Leitfa- den der Kausalität, die Bedingungen dazu eingetreten sind; während sie selbst, eben weil ihre Existenz eigentlich nur formal, d. h, im Intellekt gegründet ist, unter allem jenem Wechsel als das schlechthin Beharrende, also das zeitlich Anfangs- und End-lose gedacht werden muss. Hierauf beruht es, dass wir den Gedanken nicht aufgeben können, dass aus Jedem Jedes werden kann, z. B. aus Blei Gold; indem hiezu bloss erfordert wäre, dass man die Zwischenzustände herausfände und herbeiführte, welche die an sich in- differente Materie auf jenem Wege zu durchwandern hätte. Denn a priori ist nimmermehr einzusehen, war- um die selbe Materie, welche jetzt Träger der Quali- tät Blei ist, nicht einst Träger der Qualität Gold wer- den könnte. — Von den eigentlichen Anschauungen a priori unterscheidet die Materie, als welche bloss ein a priori Gedachtes ist, sich zwar dadurch, dass wir sie auch ganz wegdenken können; Raum und Zeit hingegen nimmermehr: allein dies bedeutet bloss, dass wir Raum vmd Zeit auch ohne die Materie vor- stellen können. Denn die einmal in sie hineingesetzte und demnach als vorhanden gedachte Materie können wir schlechterdings nicht mehr wegdenken, d. h. sie als verschwunden und vernichtet, sondern immer nur als in einen andern Raum versetzt uns vorstellen: in sofern also ist sie mit unserm Erkenntnissvermögen eben so unzertrennlich verknüpft, wie Raum und 389 Zeit selbst. Jedoch der Unterschied, dass sie dabei zu- erst behebig als vorhanden gesetzt seyn muss, deu- tet schon an, dass sie nicht so gänzhch und in jeder Hinsicht dem forvialeii Theil unserer Erkenntniss angehört, wie Raum und Zeit, sondern zugleich ein nur a posteriori gegebenes Element enthält. Sie ist in der That der Anknüpfungspunkt des empirischen, Theils unserer Erkenntniss an den reinen und aprio- rischen, mithin der eigenthümliche Grundstein der Erfahrungswelt. Allererst da, wo alle Aussagen a priori aufhören, mithin in dem ganz empirischen Theil unserer Erkennt- niss der Körper, also in der Form, Qualität und be- stimmten Wirkungsart derselben, offenbart sich jener fVille, den wir als das Wesen an sich der Dinge be- reits erkannt und festgestellt haben. Allein diese For- men und Qualitäten erscheinen stets nur als Eigen- schaften und Aeusserungen eben jener Mateine, deren Daseyn und Wesen auf den subjektiven Formen un- sers Intellekts beruht: d. h. sie werden nur an ihr, daher mittelst ihrer sichtbar. Denn, was immer sich uns darstellt ist stets nur eine auf speciell bestimmte Weise wirkende Materie. Aus den inneren und nicht weiter erklärbaren Eigenschaften einer solchen geht alle bestimmte Wirkungsart gegebener Körper her- vor; und doch wird die Materie selbst nie wahrge- nommen, sondern eben nur jene Wirkungen und die diesen zum Grunde liegenden bestimmten Eigenschaf- ten, nach deren Absonderung die Materie, als das dann noch übrig Bleibende, von uns uothwendig hin- zugedacht wird : denn sie ist, laut der oben gegebenen Auseinandersetzung, die objektivirte Ursächlichkeit selbst. — Demzufolge ist die Materie Dasjenige, wodurch der Wille, der das innere Wesen der Dinge ausmacht, in die Wahrnehmbarkeit tritt, anschaulich, sichtbar wird. In diesem Sinne ist also die Materie die blosse Sichtbarkeit des Willens, oder das Band der Welt als Wille mit der Welt als Vorstellung. Dieser gehört sie an, sofern sie das Produkt der Funktionen des Intel- lekts ist, jener, sofern das in allen materiellen Wesen, d. i. Erscheinungen, sich Manifestirende der Wille ist. 390 Daher ist jedes Objekt als Ding an sich Wille, und als Erscheinung Materie. Könnten wir eine gegebene Materie von von allen ihr a priori zukommenden Eigenschaften, d. h. von allen Formen unserer An- schauung und Apprehension entkleiden; so würden wir das Ding an sich übrig behalten, nämlich Dasje- nige, was, mittelst jener Formen, als das rein Empi- rische an der Materie auftritt, welche selbst aber als- dann nicht mehr als ein Ausgedehntes mid Wirken- des erscheinen würde: d. h. wir würden keine Materie mehr von uns haben, sondern den Willen. Eben die- ses Ding an sich, oder der Wille, tritt, indem es zur Erscheinung wird, d. h. in die Formen unsers Intel- lekts eingeht, als die Materie auf, d. h. als der selbst unsichtbare, aber nothwendig vorausgesetzte Träger nur durch ihn sichtbarer Eigenschaften: in diesem Sinn ist also die Materie die Sichtbarkeit des Willens. Demnach hatten auch Plotinos und Joi^danus B?unus, nicht nur in ihrem, sondern auch in unserm Sinne Recht, wenn sie, wie bereits Kap. 4 erwähnt wurde, den paradoxen Ausspruch thaten, die Materie selbst sei nicht ausgedehnt, sie sei folglich unkörperlich. Denn die Ausdehnung verleiht der Materie der Raum, welcher unsere Anschauungsform ist, und die Körper- lichkeit besteht im Wiiken, welches auf der Kausali- tät, mithin der Form unsers Verstandes, beruht. Hin- gegen alle bestimmte Eigenschaft, also alles Empirische an der Materie, selbst schon die Schwere, beruht auf Dem, was nur mittelst der Materie sichtbar wird, auf dem Dinge an sich, dem Willen. Die Schwere ist je- doch die allerniedrigste Stufe der Objektivation des Willens; daher sie sich an jeder Materie, ohne Aus- nahme, zeigt, also von der Materie überhaupt unzer- trennlich ist. Doch gehört sie, eben weil sie schon Willensmanifestation ist, der Eikenntniss a posteriori, nicht der a priori an. Daher können wir eine Materie ohne Schwere uns noch allenfalls vorstellen, nicht aber eine ohne Ausdehnung, Repulsionskraft und Be- harrlichkeit; weil sie alsdann ohne ündurchdring- lichkeit, mithin ohne Raumerfüllung, d. h. ohne fVirk- samheit wäre : allein eben im ff^'irken, d. h. in der Kau- 3qi salität überhaupt, besteht das Wesen der Materie als solcher: und die Kausalität beruht auf der Form a priori unsers Verstandes, kann daher nicht wegge- dacht werden. Die Materie ist demzufolge der Wille selbst, aber nicht mehr an sich, sondern sofern er angeschaut wird, d. h. die Form der objektiven Vorstellung annimmt: also was objektiv Materie ist, ist subjektiv Wille. Dem ganz entsprechend ist, wie oben nachgewiesen, unser Leib nur die Sichtbarkeit, Objektität, unsers W^illens, und eben so ist jeder Körper die Objektität des Wil- lens auf irgend einer ihrer Stufen. Sobald der Wille sich der objektiven Erkenntniss darstellt, geht er ein in die Anschauungsformen des Intellekts, in Zeit, Raum und Kausalität: alsbald aber steht er, vermöge dieser, als ein materielles Objekt da. Wir können Form ohne Materie vorstellen; aber nicht umgekehrt: weil die Materie, von der Form entblösst, der Wille selbst wäre, dieser aber nur durch Eingehen in die Anschau- ungsweise unsers Intellekts, und daher nur mittelst Annahme der Form objektiv wird. Der Raum ist die Anschauungslorm der Mateiie, weil er der Stoff der blossen Form ist, die Materie aber nur in der Form erscheinen kann. Indem der Wille objektiv wird, d. h. in die Vorstel- lung übergeht, ist die Materie das allgemeine Sub- strat dieser Objektivation, oder vielmehr die Objek- tivation selbst in abstracto genommen, d. h. abgese- hen von aller Form. Die Materie ist demnach die Sichtbarkeit des Willens überhaupt, während der Charakter seiner bestimmten Erscheinungen an der Form und Qualität seinen Ausdruck hat. Was daher in der Erscheinung, d. h. für die Vorstellung, Mate- rie ist, das ist an sich selbst Wille. Daher gilt von ihr unter den Bedingungen der Erfahrung und Anschauung, was vom Willen an sich selbst gilt, und sie giebt alle seine Beziehungen und Eigenschaften im zeitlichen Bilde wieder. Demnach ist sie der Stoj^ der anschau- lichen Welt, wie der Wille das Wesen an sich aller Dinge ist. Die Gestalten sind unzählig, die Materie ist Eine; eben wie der Wille Einer ist in allen seinen 3()2 Objektivationen. Wie dieser sich nie als Allgemeines, d. b. als Wille schlechthin, sondei'n stets als Beson- deres, d. h. unter speciellen Bestimmungen und gege- benem Chaiakter, objektivirt; so erscheint die Mate- tie nie als solche, sondern stets in Verbindung mit irgend einer Form und Qualität. In der Erscheinung oder Objektivation des Willens repräsentirt sie seine Ganzheit, ihn selbst, der in Allen Einer ist, wie sie in allen Körpern Eine. Wie der Wille der innerste Kern aller erscheinenden Wesen ist; so ist sie die Sub- stanz, welche nachAufhebung aller Accidenzien übrig bleibt. Wie der Wille das schlechthin Unzerstörbare in allem Daseienden ist; so ist die Materie das in der Zeit Unvergängliche, welches unter allen Veränderun- gen beharrt. — Dass die Materie für sich, also ge- trennt von der Form, nicht angeschaut oder vorge- stellt werden kann, beruht darauf, dass sie an sich selbst und als das rein Substantielle der Körper eigent- lich der Wille selbst ist ; dieser aber nicht an sich selbst, sondern nur unter sämmtlichen Bedingungen der Vor- stellung und daher nur als Erscheinung objektiv wahr- genommen, oder angeschaut werden kann: unter die- sen Bedingungen aber stellt er sich sofort als Körper dar, d. h. als die in Form vmd Qualität gehüllte Ma- terie. Die Form aber ist durch den Baum, und die Qualität, oder Wirksamkeit, durch die Kausalität be- dingt: beide also beruhen auf den Funktionen des Intellekts. Die Materie ohne sie wäre eben das Ding an sich, d. i. der Wille selbst. Nur daher konnten, wie gesagt, Plotinos und Jordanus Bruyius^ auf ganz objektivem Wege, zu dem Ausspruch gebracht wer- den, dass die Materie an und für sich ohne Ausdeh- nung, folglich ohne Bäumlichkeit, folglich ohne Kör- perlichkeit sei. Weil also die Materie die Sichtbarkeit des Willens, jede Kraft aber an sich selbst Wille ist, kann keine Kraft ohne materielles Substrat auftreten, und umge- kehrt kein Körper ohne ihm inwohnende Kräfte seyn, die eben seine Qualität ausmachen. Dadurch ist er die Vereinigung von Materie und Form, welche Stoff heisst. Kraft und Stoff sind unzertrennlich, weil sie im Grunde Eines sind; da, wie /la«^ dar{;etlian hat, die Materie selbst uns nur als der Verein zweier Kräfte, der Expansions- und Attraktions-Kraft, gegeben ist. Zwischen Kraft und Stoff besteht also kein Gegensatz : vielmehr sind sie geradezu Eines. Durch den Gang unserer Betrachtung auf diesen Gesichtspunkt geführt und zu dieser metaphysischen Ansicht der Materie gelangt, werden wir ohne Wi- derstreben eingestehen, dass der zeitliche Urspi'ung der Formen, der Gestalten, oder Species, nicht füglich irgend wo anders gesucht werden kann, als in der Materie. Aus dieser müssen sie einst hervorgebrochen seyn ; eben weil solche die blosse Sichtbarkeit des Wil- lens ist, welcher das Wesen an sich aller Erscheinun- gen ausmacht. Indem er zur Erscheinung wird, d, h. dem Intellekt sich objektiv darstellt, nimmt die Ma- terie, als seine Sichtbarkeit, mittelst der Funktionen des Intellekts, die Fo7-tn an. Daher sagten die Schola- stiker: inateria appetit formam. Dass der Ursprung aller Gestalten der Lebendigen ein solcher war, ist nicht zu bezweifeln : es lässt sich nicht ein Mal anders denken. Ob aber noch jetzt, da die Wege zur Perpe- tuirung der Gestalten offen stehen und von der Natur mit gränzenloser Sorgfalt und Eifer gesichert und ei- halten werden, die generatio aequivoca Statt finde, ist allein durch die Erfahrung zu entscheiden; zumal da das natura nihil facit frustra, mit Hinweisung auf die Wege der regelmässigen Fortpflanzung, als Argu- ment dagegen geltend gemacht werden könnte. Doch halte ich die generatio aequivoca auf sehr niedrigen Stufen, der neuesten Einwendungen dagegen unge- achtet, für höchst wahrscheinlich, und zwar zunächst bei Entozoen und Epizoen, besonders solchen, welche in Folge specieller Kachexien der thierischen Orga- nismen auftreten; weil nämlich die Bedingungen zum Leben derselben nur ausnahmsweise Statt finden, ihre Gestalt sich also nicht auf dem regelmässigen Wege fortpflanzen kann und deshalb, bei eintretender Ge- legenheit, stets von Neuem zu entstehen hat. Sobald daher, in Folge gewisser chronischer Krankheiten, oder Kachexien, die Lebensbedingungen der Epizoen 394 eingetreten sind, entstehen, nach Maassgabe dersel- ben, pediculus capitis, oder pubis, oder corporis, ganz von selbst und ohne Ei; so komplicirt auch der Bau dieser Insekten seyn mag: denn die Fäulnisseines le- benden thierischen Körpers giebt Stoff zu höheren Produktionen, als die des Heues im Wasser, welche bloss Infusionsthieie liefert. Oder will man lieber, dass auch die Eier der Epizoen stets hoffnungsvoll in der Luft schweben ? — (Schrecklich zu denken !) Vielmehr erinnere man sich der auch jetzt noch vorkommenden Phtheiriasis. — Ein analoger Fall tritt ein, wann, durch besondere Umstände, die Lebensbedingungen eines Species, welche dem Or^e bis dahin fremd war, sich einfinden. So sah August St. Hilaire in Brasilien, nach dem Abbrennen eines Urwaldes, sobald die Asche nur eben kalt geworden, eine Menge Pflanzen aus ihr hervorwachsen, deren Art weit und breit nicht zu finden war; und ganz neuerlich berichtete der Admi- ral Petit-Tliouars, vor der Academie des sciences, dass auf den neu sich bildenden Korallen-Inseln in Poly- nesien allmählig ein Boden sich absetzt, der bald trocken, bald im Wasser liegt, und dessen die Vege- tation sich alsbald bemächtigt, Bäume hervorbringend, welche diesen Inseln ganz ausschliesslich eigen sind (Comptes rendus, 17. Jan, 1869, p. i47)- — Ueber- all wo Fäulniss entsteht, zeigen sich Schimmel, Pilze und, im Flüssigen, Infusorien. Die jetzt beliebte An- nahme, dass Sporen und Eier zu den zahllosen Species aller jener Gattungen überall in der Luft schweben und lange Jahre hindurch auf eine günstige Gelegen- heit warten, ist paradoxer, als die der generatio aequi- voca. Fäulniss ist die Zersetzung eines organischen Körpers, zuerst in seine näheren chemischen Bestand- theile: weil nun diese in allen lebenden Wesen mehr oder weniger gleichartig sind; so kann, in solchem Augenblick, der allgegenwärtige Wille zum Leben sich ihrer bemächtigen, um jetzt, nach Maassgabe der Umstände, neue Wesen daraus zu erzeugen, welche alsbald, sich zweckmässig gestaltend, d. h. sein jedes- maliges Wollen objektivirend, aus ihnen so gerinnen, wie das Hühnchen aus der Flüssigkeit des Eies. Wo 3q5 Dies nun aber nicht geschieht; da werden die faulen- den Stoffe in ihre entfernteren Bestandtheile zersetzt, welches die chemischen Grundstoffe sind, und gehen nunmehr über in den grossen Kreislauf der Natur. Der seit lO- — 15 Jahren geführte Krieg gegen die ge- neratioaequivoca, mit seinem voreiligen Siegesgeschrei, war das Vorspiel zum Ableugnen der Lebenskraft, und diesem verwandt. Man lasse sich nur ja nicht durch Machtsprüche und mit dreister Stirn gegebene Ver- sicherungen, dass die Sachen entschieden, abgemacht und allgemein anerkannt wären, übertölpeln. Viel- mehr geht die ganze mechanische und atomistisehe Naturansicht ihrem Bankrott entgegen, und die Ver- theidiger derselben haben zu lernen, dass hinter der Natur etwas mehr steckt, als Stoss und Gegenstoss. Die Realität der generatio aequivoca und die Nichtig- keit der abenteuerlichen Annahme, dass in der At- mosphäre überall und jederzeit Billionen Keime aller möglichen Schimmelpilze und Eier aller möglichen Infusorien herumschweben, bis ein Mal Eines und das Andei'c zufällig das ihm gemässe Medium findet, hat ganz neuerlich (1869) /*o?/c/ief vor der französi- schen Akademie, zum grossen Verdruss der übrigen Mitglieder derselben, gründlich und siegreich darge- than. Unsere Verwunderung bei dem Gedanken des Ur- sprungs der Formen aus der Materie gleicht im Grun- de der des Wilden, der zum ersten Mal einen Spiegel erbli<kt und über sein eigenes Bild, das ihm daraus entgegentritt, erstaunt. Denn unser eigenes Wesen ist der fVille, dessen blosse Sichtbarkeit die Materie ist, welche jedoch nie anders als mit dem Sichtbaren, d. h. unter der Hülle der Form und Qualität, auftritt, daher nie unmittelbar wahrgenommen, sondern stets nur hinzugedacht wird, als das in allen Dingen, un- ter aller Verschiedenheit der Qualität und Form, Identische, welches gerade das eigentlich Substan- tielle in ihnen allen ist. Eben deshalb ist sie mehr ein metaphysisches, als ein bloss physisches Erklärungs- princip der Dinge, und alle Wesen aus ihr entsprin- gen lassen, heisst wirklich sie aus einem sehrGeheim- 396 nissvollen erklären; wofür es nur Der nicht erkennt, welcher Angreifen mit Begreifen verwechselt. In Wahrheit ist zwar keineswegs die letzte und erschöp- fende Erklärung der Dinge, wohl aber der zeitliche Ursprung, wie der unorganischen Formen, so auch der organischen Wesen allerdings in der Materie zu suchen. — Jedoch scheint es, dass die Urerzeugung organischer Formen, die Hervorbringung der Gattun- gen selbst, der Natur fast so schwer fällt auszuführen, wie uns zu begreifen: dahin nämlich deutet die durch- weg so ganz übermässige Vorsorge derselben für die Erhaltung der ein Mal vorhandenen Gattungen. Auf der gegenwärtigen Oberfläche dieses Planeten hat dennoch der Wille zum Leben die Skala seiner Ob- jektivation drei Mal, ganz unabhängig von einander, in verschiedener Modulation, aber auch in sehr ver- schiedener Vollkommenheit und Vollständigkeit an- gespielt. Nämlich die alte Welt, Amerika und Austra- lien haben bekanntlich Jedes seine eigenthümliche, selbstständige und von der der beiden Andern gänz- lich verschiedene Thierreihe. Die Species sind auf jedem dieser grossen Kontinente durchweg andere, haben aber doch, weil alle drei dem selben Planeten angehören, eine durchgängige und parallel laufende Analogie mit einander ; daher die genera grösstentheils die selben sind. Diese Analogie lässt in Australien sich nur sehr unvollständig verfolgen; weil dessen Fauna an Säugethieren sehr arm ist und weder reis- sende Thiere, noch Affen hat: hingegen zwischen der alten Welt und Amerika ist sie augenfällig und zwar so, dass Amerika an Säugethieren stets das schlech- tere Analogon aufweist, dagegen aber an Vögeln und Reptilien das bessere. So hat es zwar den Kondor, die Aras, die Kolibrite und die grössten Batrachier und Ophidier voraus; aber z, B. statt des Elephanten nur den Tapir, statt des Löwen den Kuguar, statt des Tigers den Jaguar, statt des Kameeis das Lama, und statt der eigentlichen Affen nur Meerkatzen. Schon aus diesem letzteren Mangel lässt sich schliessen, dass die Natur es in Amerika nicht bis zum Menschen hat bringen können; da sogar von der nächsten Stufe unter diesem, dem Tschimpanse und dem Orangutan oder Pon^jo, der Schritt bis zuin Menschen noch ein unmässig grosser war. Dem entsprechend finden wir die drei, sowohl aus physiologischen, als linguisti- schen Gründen nicht zu bezweifelnden, gleich ur- sprünglichen Menschenrassen, die kaukasische, mon- golische und äthiopische, allein in der alten Welt zu Hause, Amerika hingegen von einem gemischten, oder klimatisch modifizirten, mongolischen Stamme be- völkert, der von Asien hinübergekommen seyn muss. Auf der der jetzigen Erdoberfläche zunächst vorher- gegangenen war es stellenweise bereits zu Affen, je- doch nicht bis zum Menschen gekommen. Von diesem Standpunkt unserer Betrachtung aus, welcher uns die Materie als die unmittelbare Sicht- barkeit des in allen Dingen erscheinenden Willens erkennen, ja sogar für die bloss physische, dem Leit- faden der Zeit und Kausalität nachgehende Forschung, sie als den Ursprung der Dinge gelten lässt, wird man leicht auf die Frage geführt, ob man nicht selbst in der Philosophie, eben so gut von der objektiven, wie von der subjektiven Seite ausgehen und demnach als die fundamentale Wahrheit den Satz aufstellen könnte: „es giebt überhaupt nichts als die Materie und die ihr inwohnenden Kräfte." — Bei diesen hier so leicht hingeworfenen „invvohnenden Kräften" ist aber sogleich zu erinnern, dass ihre Voraussetzung jede Erklärung auf ein völlig unbegreifliches Wun- der zurückführt und dann bei diesem stehen, oder vielmehr von ihm anheben lässt: denn ein solches ist wahrlich jede, den verschiedenartigen Wirkungen eines unorganischen Körpers zum Grunde liegende, be- stimmte und unerklärliche Naturkraft nicht minder, als die in jedem organischen sich äussernde Lebens- kraft; — wie ich dies Kap. 17 ausführlich auseinan- dergesetzt und daran dargethan habe, dass niemals die Phvsik auf den Thron der Metaphysik gesetzt werden kann, eben weil sie die erwähnte und noch viele andere V^oraussetzungen ganz unberührt stehen lässt: wodurch sie auf den Anspruch, eine letzte Erklä- rung der Dinge abzugeben, von vorne herein verzieh- 398 tet. Ferner habe ich hier an die, gegen das Ende des ersten Kapitels gegebene, Nach Weisung der Unzulässig- keit des Materialismus zu erinnern, sofern er, wie dort gesagt wurde, die Philosophie des bei seiner Rechnung sich selbst vergessenden Subjekts ist. Diese sämmtlichen Wahrheiten aber beruhen darauf, dass alles Objektive^ alles Aeussere, da es stets nur ein Wahrgenommenes, Erkanntes ist, auch immer nur ein Mittelbares und Sekundäres bleibt, daher schlech- terdings nie der letzte Erklärungsgrund der Dinge, oder der Ausgangspunkt der Philosophie werden kann. Diese nämlich verlangt nothwendig das schlechthin Unmittelbare zu ihrem Ausgangspunkt: ein solches aber ist offenbar nur das dem Selbstbewusstseyn Ge- gebene, das Innere, das Subjektive. Daher eben ist es ein so eminentes Verdienst des Cartesius, dass er zu- erst die Philosophie vom Selbstbewusstseyn hat aus- gehen lassen. Auf diesem Wege sind seitdem die äch- ten Philosophen, vorzüglich Locke, Berkeley und Kant, jeder auf seine Weise, immer weiter gegangen, und in Folge ihrer Untersuchungen wuxde ich darauf ge- leitet, im Selbstbewusstseyn, statt eines, zwei völlig verschiedene Data der unmittelbaren Erkenntniss ge- wahr zu werden und zu benutzen, die Vorstellung und den Willen, durch deren kombinirte Anwendung man in der Philosophie in dem Maasse weiter gelangt, als man bei einer algebraischen Aufgabe mehr leisten kann, wenn man zwei, als wenn man nur eine be- kannte Grösse gegeben erhält. Das unausweichbar Falsche des Materialismus be- steht, dem Gesagten zufolge, zunächst darin, dass er von einer petitio principii ausgeht, welche näher be- trachtet, sich sogar als ein Trpcuxov (|ieuoo<; ausweist, nämlich von der Annahme, dass die Materie ein schlechthin und unbedingt Gegebenes, nämlich un- abhängig von derErkenntnissdesSubjekts Vorhandenes, also eigentlich ein Ding an sich sei. Er legt der Materie (und damitauchihrenVoraussetzungen,Zeit und Raum) eine absolute, d. h. vom wahrnehmenden Subjekt unab- hängige Existenz bei : dies ist sein Grundfehler. Nächst- dem muss er, wenn er redlich zu Werke gehen will, die den gegebenen Materien, d.h. den vStoffen, inhäriren- den Qualitäten, sauiint den in diesen sich äussernden Naturkräften, und endlich auch die Lebenskraft, als unergründliche qualitates occultas der Materie, un- erklärt dastehen lassen und von ihnen ausgehen; wie dies Physik und Physiologie wirklich thun, weil sie eben keine Ansprüche darauf machen, die letzte Er- klärung der Dinge zu seyn. Aber gerade um dies zu vermeiden, verfährt der Materialismus, wenigstens wie er bisher aufgetreten, nicht redlich: er leugnet nämlich alle jene ursprünglichen Kräfte weg, indem er sie alle, und am Ende auch die Lebenskraft, vor- geblich und scheinbar zurückführt auf die bloss me- chanische Wirksamkeit der Materie, also auf Aeusse- rungen der Undurchdringlichkeit, Form, Kohäsion, Stosskraft, Trägheit, Schwere u. s. w., welche Eigen- schaften freilich das wenigste Unerklärliche an sich haben, eben weil sie zum Theil auf dem a priori Ge- wissen, mithin auf den Formen unsers eigenen Intel- lekts beruhen, welche das Princip aller Verständlich- keit sind. Den Intellekt aber, als Bedingung alles Ob- jekts, mithin der gesammten Erscheinung, ignorirt der Materialisnms gänzlich. Sein Vorhaben ist nun, alles Qualitative auf ein bloss Quantitatives zurück- zuführen, indem er jenes zur blossen Form^ im Ge- gensatz der eigentlichen Materie zählt: dieser lässt er von den eigentlich empirischen Qualitäten allein die Schwere, weil sie an sich schon ein Quantitatives, näm- lich als das alleinige Maass der Quantität der Materie auftritt.DieserWeg führt ihn nothwendigaufdie Fiktion der Atome, welche nun das Material werden, daraus er die so geheimnissvollen Aeusserungen aller ur- sprünglichen Kräfte aufzubauen gedenkt. Dabei hat er es aber eigentlich gar nicht mehr mit der empi- risch gegebenen, sondern mit einer Materie zu thun, die in rerum natura nicht anzutreffen, vielmehr ein blosses Abstraktum jener wirklichen Materie ist, näm- lich mit einer solchen, die schlechthin keine andern, als jene tnechanischen Eigenschaften hätte, welche mit Ausnahme der Schwere, sich so ziemlich a priori konstruiren lassen, eben weil sie auf den Formen des 4oo Raums, der Zeit und der Kausalität, mithin auf un- serm Intellekt, beruhen: auf diesen ärmlichen Stoff also sieht er sich bei Aufrichtung seines Luftgebäudes reducirt. Hiebei wird er unausweichbar zum Atoniistnus; wie es ihm schon in seiner Kindheit, beim Leukippos und Demokritos, begegnet ist, und ihm jetzt, da er vor Alter zum zweiten Male kindisch geworden, abermals begegnet: bei den F'ranzosen, weil sie die Kantische Philosophie nie gekannt, und bei den Deutschen, weil sie solche vergessen haben. Und zwar treibt er es, in dieser seiner zweiten Kindheit, noch bunter, als in der ersten: nicht bloss A\e Jesten Körper sollen aus Atomen bestehen, sondern auch die ßussigen, das Wasser, sogar die Luft, die Gase, ja, das Licht, als welches die ondulation eines völlig hypothetischen und durchaus unbewiesenen, aus Atomen bestehen- den Aethers seyn soll, deren verschiedene Schnelligkeit die Farben verursache; — eine Hypothese, welche, eben wie weiland die siebenfarbige Neutonische, von einer ganz arbiträr angenommenen und dann gewalt- sam durchgeführten Analogie mit der Musik ausgeht. Man mtiss wahrlich unerhört leichtgläubig seyn, um sich einreden zu lassen, dass die von der endlosen Mannigfaltigkeit farbiger Flächen, in dieser bunten Welt, ausgehenden, zahllos verschiedenen Aether- Tremulanten, immerfort und jeder in einem andern Tempo, nach allen Richtungen durcheinander laufen und überall sich kreuzen könnten, ohne je einander zu stören, vielmehr durch solchen Tumult und Wirr- warr den tiefruhigen Anblick beleuchteter Natur und Kunst lierA'orbrächten. Credat Judaeus Apella! Aller- dings ist die Natur des Lichtes uns ein Geheimniss: aber es ist besser, dies einzugestehen, als durch schlechte Theorien der künftigen Erkenntniss den Weg zu verrennen. Dass das Licht etwas ganz Ande- res sei, als eine bloss mechanische Bewegung, TJndu- lation oder Vibration und Tremulant, ja, dass es stoffartig sei, beweisen schon seine chemischen Wir- kungen, von welchen eine schöne Reihe kürzlich der Acad. des sciences vorgelegt worden ist von Chevreul^ 26 Schopenhauer II l\0\ indem er das das Sonnenlicht auf verschiedene {ge- färbte Stoffe wirken hess; wobei das Schönste ist, dass eine weisse, dem Sonnenhcht ausgesetzt gewesene Papierrolle die selben Wirkungen hervorbringt, ja, dies auch noch nach 6 Monaten thut, wenn sie wäh- rend dieser Zeit in einer fest verschlossenen Blech- röhre verwahrt gewesen ist: hat da etwan der Tre- mulant 6 Monate pausirt und fällt jetzt a tempo wie- der ein ? (Comptes rendus vom 20. Dec. i858.) — Die- se ganze Aether-Atomen-Tremulanten-Hypothese ist nicht nur ein Hirngespinst, sondern thut es an täp- pischer Plumpheit den ärgsten Demokritischen gleich, ist aber unverschämt genug, sich heut zu Tage als ausgemachte Sache zu geriren, wodurch sie erlangt hat, dass sie von tausend pinselhaften Skribenten al- ler Fächer, denen jede Kenntniss von solchen Dingen abgeht, rechtgläubisch nachgebetet und wie ein Evan- gelium geglaubt wird. — Die Atomenlehre überhaupt geht aber noch weiter: bald nämlich heisst es Spar- tam, quam nactus es, orna ! Da werden dann sämmt- lichen Atomen verschiedene immerwährende Bewe- gungen, drehende vibrirende u. s. w., je nachdem ihr Amt ist, angedichtet: imgleichen hat jedes Atom seine Atmosphäre aus Aether, oder sonst was, und was der- gleichen Träumereien mehr sind. — Die Träume- reien der Schellingischen Naturphilosophie und ihrer Anhänger waren doch meistens geistreich, schwung- haft, oder wenigstens witzig: diese hingegen sind plump, platt, ärmlich und täppisch, die Ausgeburt von Köpfen, welche erstlich keine andere Realität zu denken vermögen, als eine gefabelte eigenschaftslose Materie, die dabei ein absolutes Objekt, d. h. ein Ob- jekt ohne Subjekt wäre, und zweitens keine andere Thätigkeit, als Bewegung und Stoss; diese zwei allein sind ihnen fasslich, und dass auf sie alles zurücklaufe, ist ihre Voraussetzung a priori: denn sie sind ihr Ditig an sich. Dieses Ziel ist zu erreichen, wird die Ijchens- kraft auf chemische Kräfte (welche insidiös und un- berechtigt Molekularkräfte genannt werden) und alle Processe der unorganischen Natur auf Mechanismus, d. h. Stoss und Gegenstoss zurückgeführt. Und so wäre 4o2 denn am Ende die ganze Welt, mit allen Dingen darin, bloss ein mechanisches Kunststück, gleich den durch Hebel, Räder und Sand getriebenen Spielzeugen, welche ein Bergwerk, oder ländlichen Betrieb dar- stellen. — Die Quelle des Uebels ist, dass durch die viele Handarbeit des Experimentirens die Kopfarbeit des Denkens aus der Uebung gekommen ist. Die Tie- gel und Volia'schen Säulen sollen dessen Funktionen übernehmen : daher auch der profunde Abscheu gegen alle Philosophie. — Man könnte nun aber die Sache auch so wenden, dass man sagte, der Materialismus, wie er bisher auf- getreten, wäre bloss dadurch misslungen, dass er die Materie^ aus der er die Welt zu konstruiren ge- dachte, nicht genugsam gekannt und daher, statt ihrer, es mit einem eigenschaftslosen Wechselbalg derselben zu thun gehabt hätte: wenn er hingegen, statt des- sen, die wirkliche und empirisch gegebene Materie (d. h. den Stoff, oder vielmehr die Stoffe) genommen hätte, ausgestattet, wie sie ist, mit allen physikali- schen, chemischen, elektrischen und auch mit den aus ihr selbst das Leben spontan hervortreibenden Eigenschaften, also die wahre mater rerum, aus deren dunkelm Schoosse alle Erscheinungen und Gestalten sich hervorwinden, um einst in ihn zurückzufallen; so hätte aus dieser, d. b. aus der vollständig gefass- ten und erschöpfend gekannten Materie, sich schon eine Welt konstruiren lassen, deren der Materialis- mus sich nicht zu schämen brauchte. Ganz recht: nur hätte das Kunststück dann darin bestanden, dass man die Quaesita in die Data verlegte, indem man angeb- lich die blosse Materie, wirklich aber alle die geheim- nissvollen Kräfte der Natur, welche an derselben haf- ten, oder richtiger, mittelst ihrer uns sichtbar wer- den, als das Gegebene nähme und zum Ausgangs- punkt der Ableitungen machte; — ungefähr wie wenn man unter dem Namen der Schüssel das Darauflie- gende versteht. Denn wirklich ist die Materie, für unsere Erkenntniss, bloss das Vehikel der Qualitäten und Naturkräfte, welche als ihre Accidenzien auftre- ten : und eben weil ich diese auf den Willen zurück- 3G 4o; geführt habe, nenne ich die Materie die blosse Sicht- barheit den Willens. Von diesen sämmtlichen QuaHtä- ten aber entblösst, bleibt die Materie 7Airück als das Eigenschaftslose, das caput mortuum der Natur, dar- aus sich ehrlicherweise nichts machen lässt. Lässt man ihr hingegen erwähntermaassen alle jene Eigenschaf- ten; so hat man eine versteckte petitio principii be- gangen, indem man die Quaesita sich als Data zum voraus geben Hess. Was nun aber damit zu Stande kommt, wird kein eigentlicher Mateinalismus mehr seyn, sondern blosser Natnralistyius, d. h. eine absolute Physik, welche, wie im schon erwähnten Kap. 1 7 ge- zeigt worden, nie die Stelle der Metaphysik einneh- men und ausfüllen kann, eben weil sie erst nach so vielen Voraussetzungen anhebt, also gar nicht ein Mal unternimmt, die Dinge von Grund aus zu erklä- ren. Der blosse Naturalismus ist daher wesentlich auf lauter Qualitates occultae basirt, über welche man nie anders hinauskann, als dadurch, dass man, wie ich ge- than, die subjektive Erkenntnissqiielle zu Hülfe nimmt, was dann freilich auf den weiten und mühevollen Umweg der Metaphysik führt, indem es die vollstän- dige Analyse des Selbstbewusstseyns und des in ihm gegebenen Intellekts und Willens voraussetzt. — In- zwischen ist das Ausgehen vom Objektiven, welchem die so deutliche und fassliche äMS.se?'e Anschanvng zum Grunde liegt, ein dem Menschen so natürlicher und sich von selbst darbietender Weg, dass Aer Naturalis- mus und in Folge dieses, weil er als nicht erschöpfend, nicht genügen kann, der Materialismus, Systeme sind, auf welche die spekulirende Vernunft nothwendig, ja, zu allererst gerathen muss: daher wir gleich am Anfang der Geschichte der Philosophie den Naturalis- mus, in den Systemen der Jonischen Philosophen, und darauf den Materialismus, in der Lehre des Leu- kippos und Demokritos, auftreten, ja, auch später von Zeit zu Zeit sich immer wieder erneuern sehen. 4o4 l KAPITEL 2 5. TRANSSCENDENTE BETRACHTUNGEN ÜBER DEN WILLEN ALS DING AN SICH. SCHON die bloss empirische Betrachtung der Na- tur erkennt, von der einfachsten und nothwen- digsten Aeusserung irgend einer allgemeinen Natur- kraft an, bis zum Leben und Bewusstseyn des Men- schen hinauf, einen stetigen Uebergang, durch all- mälige Abstufungen und ohne andere, als relative, ja meistens schwankende Gränzen. Das diese Ansicht verfolgende und dabei etwas tiefer eindringende Nach- denken Avird bald zu der Ueberzeugung geführt, dass in allen jenen Erscheinungen das innere Wesen, das sich Manifestirende, das Erscheinende, Eines und das Selbe sei, welches immer deutlicher hervortrete; und dass demnach was sich in Millionen Gestalten von endloser Verschiedenheit darstellt und so das bunteste und barockeste Schauspiel ohne Anfang und Ende aufiührt, dieses Eine Wesen sei, welches hinter allen jenen Masken steckt, so dicht verlarvt, dass es sich selbst nicht wiedererkennt, und daher oft sich selbst unsanft behandelt. Daher ist die grosse Lehre vom £V xai Ttav, im Orient wie im Occident, früh aufgetre- ten und hat sich, allem Widerspruche zum Trotz, be- hauptet, oder doch stets erneuert. Wir nun aber sind jetzt schon tiefer in das Geheimniss eingeweiht, indem wir durch das Bisherige zu der Einsicht geleitet worden sind, dass, wo jenem, allen Erscheinungen zum Grun- de liegenden Wesen, in irgend einer einzelnen dersel- ben, ein erkennendes ^etfr/,wfseyn beigegeben ist, wel- ches in seiner Richtung nach innen zum Selbsthe- wusstseyn wird, diesem sich dasselbe darstellt als jenes so Vertraute und so Geheimnissvolle, welches das Wort M^ille bezeichnet. Demzufolge haben wir jenes vmiverselle Grundwesen aller Erscheinungen, nach der Manifestation, in welcher es sich am unverschlei- ertesten zu erkennen giebt, den Willen benannt, mit welchem Worte wir demnach nichts weniger, als ein 4o5 UDbekanntes x, sondern im Gegentheil Dasjenige be- zeichnen, was uns, wenigstens von einer Seite, unend- lich bekannter und vertrauter ist, als alles Uebrige. Erinnern wir uns jetzt an eine Wahrheit, deren austührlichsten und gründlichsten Beweis man in meiner Preisschrift über die Freiheit des Willens fin- det, an diese nämlich, dass, kraft der ausnahmslosen Gültigkeit des Gesetzes der Kausalität, das Thun oder Wirken aller Wesen dieser Welt, durch die dasselbe jedesmal hervorrufenden Ursachen, stets streng neces- sitirt eintritt; in welcher Hinsicht es keinen Unter- schied macht, ob es Ursachen im engsten Sinne des Worts, oder aber Reize, oder endlich Motive sind, welche eine solche Aktion hervorgerufen haben ; in- dem diese Unterschiede sich allein auf den Grad der Empfänglichkeit der verschiedenartigen Wesen be- ziehen. Hierüber darf man sich keine Illusion machen: das Gesetz der Kausalität kennt keine Ausnahme; son- dern Alles, von der Bewegung eines Sonnenstäubchens an, bis zum wohlüberlegten Thun des Menschen, ist ihm mit gleicher Strenge unterworfen. Daher konnte nie, im ganzen Verlauf der Welt, weder ein Sonnen- stäubchen in seinem Fluge eine andere Linie beschrei- ben, als die es beschrieben hat, noch ein Mensch ir- gend anders handeln, als er gehandelt bat: und keine Wahrheit ist gewisser als die, dass Alles was geschieht, sei es klein oder gross, völlig notinvendig geschieht. Demzufolge ist, in jedem gegebenen Zeitpunkt, der gesammte Zustand aller Dinge fest und genau be- stimmt, durch den ihm soeben vorhergegangenen; und so den Zeltstrom aufwärts, ins Unendliche hin- auf, und so ihn abwärts, ins Unendliche herab. Folg- lich gleicht der Lauf der Welt dem einer Uhr, nach- dem sie zusammengesetzt und aufgezogen worden: also ist sie, von diesem unabstreitbaren Gesichtspunkt aus, eine blosse Maschine, deren Zweck man nicht absieht. Auch wenn man, ganz unbefugter Weise, ja, im Grunde, aller Denkbarkeit, mit ihrer Gesetzlich- keit, zum Trotz, einen ersten Anfang annehmen woll- te; so wäre dadurch im Wesentlichen nichts geän- dert. Denn der willkürlich gesetzte erste Zustand der 4o6 Dinge, bei ihrem Ursprung, hätte den ihm zunächst folgenden, im Grossen und bis auf das Kleinste herab, unwiderruflich bestimmt und festgestellt, dieser wie- der den folgenden, und so fort, per secula seculorum; da die Kette der Kausalität, mit ihrer ausnahmslosen Strenge, — dieses eherne Band der Nothwendigkeit imd des Schicksals, — jede Erscheinung unwiderruf- lich und vmabänderlich, so wie sie ist, herbeiführt. Der Unterschied liefe bloss darauf zurück, dass wir, bei der einen Annahme, ein ein Mal aufgezoge- nes ührv/erk, bei der andern aber ein perpetuum mo- bile vor uns hätten, hingegen die Nothwendigkeit des Verlaufs bliebe die selbe. Dass das Thun des Men- schen dabei keine Ausnahme machen kann, habe ich in der angezogenen Preisschrift unwiderleglich be- wiesen, indem ich zeigte, wie es aus zwei Faktoren, seinem Charakter und den eintretenden Motiven, je- desmal streng nothwendig hervorgeht: jener ist an- geboren und unveränderlich, diese werden, am Faden der Kausalität, durch den streng bestimmten Welt- lauf nothwendig herbeigeführt. Demnach also erscheint, von einem Gesichtspunkt aus, welchem wir uns, weil er durch die objektiv und a priori gültigen Weltgesetze festgestellt ist, schlech- terdings nicht entziehen können, die Welt, mit Allem was darin ist, als ein zweckloses und darum unbe- greifliches Spiel einer ewigen Nothwendigkeit, einer unergründlichen und unerbittlichen ^/va-fx/j. Das An- stössige, ja Empörende dieser unausweich baren und unwiderleglichen Weltansicht kann nun aber durch keine andere Annahme gründlich gehoben werden, als durch die, dass jedes Wesen auf der Welt, wie es einerseits Erscheinung und durch die Gesetze der Erscheinung nothwendig bestimmt ist, andererseits an sich selbst Wille sei, und zwar schlechthin freier Wille^ da alle Nothwendigkeit allein durch die For- men entsteht, welche gänzlich der Erscheinung an- gehören, nämlich durch den Satz vom Grunde in sei- nen verschiedenen Gestalten: einem solchen Willen muss dann aber auch Aseität zukommen, da er, als freier, d. h. als Ding an sich und deshalb dem Satz 407 vom Grunde nicht unterworfener, in seinem Seyn und Wesen so weni{>, wie in seinem Thun und Wirken, von einem Andern abhängen kann. Durch diese An- nahme allein wird so viel Freiheit gesetzt, als nöthig ist, der unabweisbaren strengen Nothwendigkeit, die den Verlauf der Welt beherrscht, das Gleichge- wicht zu halten. Demnach hat man eigentlich nur die Wahl, in der Welt entweder eine blosse, noth- wendig ablaufende Maschine zu sehen, oder als das Wesen an sich derselben einen freien Willen zu er- kennen, dessen Aeusserung nicht unmittelbar das Wirken, sondern zunächst das Daseyn und fVesen der Dinge ist. Diese Freiheit ist daher eine transscenden- tale, und besteht mit der empirischen Nothwendig- keit so zusammen, wie die transscendentale Idealität der Erscheinungen mit ihrer empirischen Realität. Dass allein unter Annahme derselben die That eines Menschen, trotz der Nothwendigkeit, mit der sie aus seinem Chaiakter und den Motiven hervorgeht, doch seine eigene ist, habe ich in der Preisschrift über die Willensfreiheit dargethan: eben damit aber ist seinem Wesen Jseität beigelegt. Das selbe Verhältniss nun gilt von allen Dingen der Welt. — Die strengste, red- lich, mit starrer Konsequenz durchgeführte Nothwen- digkeit und die vollkommenste, bis zur Allmacht ge- steigerte Freiheit mussten zugleich und zusammen in die Philosophie eintieten: ohne die Wahrheit zu ver- letzen konnte dies aber nur dadurch geschehen, dass die ganze Nothwendigkeit in das Wirken und Thnn (Operari), die ganze Freiheit hingegen in das Seyn und f Fesen (Esse) verlegt wurde. Dadurch löst sich ein Räthsel, welches nur deshalb so alt ist wie die Welt, weil man bisher es immer gerade umgekehrt gehalten hat und schlechterdings die Freiheit im Ope- rari, die Nothwendigkeit im Esse suchte. Ich hinge- gen sage: jedes Wesen, ohne Ausnahme, wirkt mit strenger Nothwendigkeit, dasselbe aber existirt und ist was es ist, vermöge seiner Freiheit. Bei mir ist also nicht mehr und nicht weniger Freiheit und Nothwen- digkeit anzutreffen, als in irgend einem früheren Sy- stem; obwohl bald das Eine, bald das Andere schei- 4o8 nen muss, je nachdem man daran, dass den bisher aus reiner Nothwendißkeit erklärten Naturvorjjängen Wille untergelegt wird, oder daran, dass der Motiva- tion die selbe strenge Nothwendigkeit, wie der mecha- nischen Kausalität, zuerkannt wird, Anstoss nimmt. Bloss ihre Stellen haben beide vertauscht: die Freiheit ist in das Esse versetzt und die Nothwendigkeit auf das Operari beschränkt worden. Kurzum, der Detertninismus steht fest: an ihm zu rütteln haben nun schon anderthalb Jahrtausende vergeblich sich bemüht, dazu getrieben durch gewisse Grillen, welche man wohl kennt, jedoch noch nicht so ganz bei ihrem Namen nennen darf. In Folge sei- ner aber wird die Welt zu einem Spiel mit Puppen, an Drähten (Motiven) gezogen; ohne dass auch nur abzusehen wäre, zu wessen Belustigung: hat das Stück einen Plan, so ist ein Fatum, hat es keinen, so ist die blinde Nothwendigkeit der Direktor. — x\us dieser Absurdität giebt es keine andere Rettung, als die Er- kenntniss, dass schon das Seyn und Wesen aller Dinge die Erscheinung eines wirklich freien Willens ist, der sich eben darin selbst erkennt: denn ihr Thini vnd Wirken ist vor der Nothwendigkeit nicht zu retten. Um die Freiheit vor dem Schicksal oder dem Zufall zu bergen, musste sie aus der Aktion in die Existenz versetzt werden. — Wie nun demnach die Nothwendigkeit nur der Er- scheinung, nicht aber dem Ding an sich, d. h. dem wahren Wesen der Welt zukommt; so auch die Viel- heit. Dies ist §. aS des ersten Bandes genügend darge- than. Bloss einige, diese Wahrheit bestätigende und er- läuternde Betrachtungen habe ich hier hinzuzufügen. Jeder erkennt nur ein Wesen ganz unmittelbar: seinen eigenen Willen im Selbstbewusstseyn. Alles Andere erkennt er bloss mittelbar, und beurtheilt es dann nach der Analogie mit jenem, die er, je nach- dem der Grad seines Nachdenkens ist, weiter durch- führt. Selbst Dieses entspringt im tiefsten Grunde dar- aus, dass es eigentlich auch nur ein Wesen giebt: die aus den Formen der äussern, objektiven Auffassung herrührende Illusion der Vielheit (Maja) konnte nicht 4 «9 bis in das innere, einfache Bewusstseyn dringen : da- her dieses immer nur Ein Wesen vorfindet. Betrachten wir die nie genug bewunderte Vollen- dung in den Werken der Natur, welche, selbst in den letzten und kleinsten Organismen, z. B. den Befruch- tungstheilen der PHanzen, oder dem innern Bau der Insekten, mit so unendlicher Sorgfalt, so unermüd- licher Arbeit durchgeführt ist, als ob das vorliegende Werk der Natur ihr einziges gewesen wäre, auf wel- ches sie daher alle ihre Kunst und Macht verwenden gekonnt; finden wir dasselbe dennoch unendlich oft wiederholt, in jedem einzelnen der zahllosen Indivi- <luen jeglicher Art, und nicht etwan weniger sorg- fältig vollendet in dem, dessen Wohnplatz der ein- samste, vernachlässigste Fleck ist, zu welchem bis da- hin noch kein Auge gedrungen war; verfolgen wir nun die Zusammensetzung der Theile jedes Organis- mus, so weit wir können, und stossen doch nie auf ein ganz Einfaches und daher Letztes, geschweige auf ein Unorganisches; verlieren wir uns endlich in die Berechnung der Zweckmässigkeit aller jener Thei- le desselben zum Bestände des Ganzen, vermöge deren jedes Lebende, an und für sich selbst, ein Vollkom- menes ist; erwägen wir dabei, dass jedes dieser Mei- sterwerke, selbst von kurzer Dauer, schon unzählige Male von Neuem hervorgebracht wurde, und den- noch jedes Exemplar seiner Art, jedes Insekt, jede Blume, jedes Blatt, noch eben so sorgfältig ausgearbei- tet erscheint, wie das erste dieser Art es gewesen ist, die Natur also keineswegs ermüdet und zu pfuschen anfängt, sondern, mit gleich geduldiger Meisterhand, das letzte wie das erste vollendet: dann werden wir zuvörderst inne, dass alle menschliche Kunst nicht bloss dem Grade, sondern der Art nach vom Schaffen derNatur völlig verschieden ist; nächstdem aber, dass die wirkende ürkraft, die natura naturans, in jedem ihrer zahllosen Werke, im kleinsten, wie im grössten, im letzten, wie im ersten, ganz und ungetheilt unmit- telbar gegenwärtig ist: woraus folgt, dass sie, als solche und an sich von Raum und Zeit nicht weiss. Beden- ken wir nun ferner, dass die Hervorbringung jener 4 I o Hyberbeln aller Kunstgebilde dennoch der JNatur so fanz und {jar nichts kostet, dass sie, mit unbegreif- licher Verschwendung, Millionen Organismen schaflt, die nie zur Reife gelangen, und jedes Lebende tausend- fältigen Zufällen ohne Schonung Preis giebt, anderer- seits aber auch, wenn durch Zufall begünstigt, oder durch menschliche Absicht angeleitet, bereitwillig Millionen Exemplare einer Art liefert, wo sie bisher nur eins gab, folglich Millionen ihr nichts mehr kosten als Eines; so leitet auch Dieses uns auf die Einsicht hin, dass die Vielheit der Dinge ihre Wurzel in der Erkenntnissweise des Subjekts hat, dem Dinge an sich aber, d. h. der innern sich darin kund gebenden Ur- kraft, fremd ist; dass mithin Raum und Zeit, auf wel- chen die Möglichkeit aller Vielheit beruht, blosse Formen unserer Anschauung sind; ja, dass sogar jene ganz unbegreifliche Künstlichkeit der Struktur, zu welcher sich die rücksichtsloseste Verschwendung der Werke, worauf sie verwendet worden, gesellt, im Grunde auch nur aus der Art, wie wir die Dinge auf- fassen, entspringt; indem nämlich das einfache und untheilbare, ursprüngliche Streben des Willens, als Ding an sich, wann dasselbe, in unserer cerebralen Erkenntniss, sich als Objekt darstellt, erscheinen muss als eine künstliche Verkettung gesonderter Theile, zu Mitteln und Zwecken von einander, in überschwäng- licher Vollkommenheit durchgeführt. Die hier angedeutete, jenseit der Erscheinung lie- gende Einheit jenes Willens^ in welchem wir das We- sen an sich der Erscheinungswelt erkannt haben, ist eine metaphysische, mithin die Erkenntniss derselben transscendent, d. h. nicht auf den Funktionen unsers Intellekts beruhend und daher mit diesen nicht eigent- lich zu erfassen. Daher kommt es, dass sie einen Ab- grund der Betrachtung eröffnet, dessen Tiefe keine ganz klare und in durchgängigem Zusammenhang stehende Einsicht mehr gestattet, sondern nur ein- zelne Blicke vergönnt, welche dieselbe in diesem und jenem Verhältniss der Dinge, bald im Subjektiven, bald im Objektiven, erkennen lassen, wodurch jedoch wieder neue Probleme angeregt werden, welche alle 4ii zu lösen ich mich nicht anheischig mache, vielmehr auch hier mich auf das est quadam prodire tenushe- rufe, mehr darauf bedacht, nichts Falsches oder will- kürlich Ersonnenes aufzustellen, als von Allem durch- gängige Rechenschaft zu geben; — auf die Gefahr hin, hier nur eine fragmentarische Darstellung zu liefern. Wenn man die so scharfsinnige, zuerst von Kant und später von Laplace aufgestellte Theorie der Ent- stehung des Planetensystems, an deren Richtigkeit zu zweifeln kaum möglich ist, sich vergegenwärtigt und sie deutlich durchdenkt; so sieht man die niedrigsten, rohesten, blindesten, an die starreste Gesetzlichkeit gebundenen Naturkräfte, mittelst ihres Konflikts an einer und derselben gegebenen Materie und der durch diesen herbeigeführten, accidentellen Folgen, das Grundgerüst der Welt, also des künftigen zweckmäs- sig eingerichteten Wohnplatzes zahlloser lebender We- sen, zu Stande bringen, als ein System der Ordnung und Harmonie, über welches wir um so mehr erstau- nen, je deutlicher und genauer wir es verstehen ler- nen. So z. B. wenn wir einsehen, dass jeder Planet, bei seiner gegenwärtigen Geschwindigkeit, gerade nur da, wo er wirklich seinen Ort hat, sich behaupten kann, indem er, der Sonne näher gerückt, hineinfal- len, weiter von ihr gestellt, hinwegfliegen müsste; wie auch umgekehrt, wenn wir seinen Ort als gege- ben nehmen, er nur bei seiner gegenwärtigen und keiner andern Geschwindigkeit daselbst bleiben kann, indem er, schneller laufend, davonfliegen, langsamer gehend, in die Sonne fallen müsste; dass also nur ein bestimmter Ort zu jeder bestimmten Velocität eines Planeten passte; und wir nun dieses Problem dadurch gelöst sehen, dass die selbe physische, nothwendig und blind wirkende Ursache, welche ihm seinen Ort an- wies, zugleich und eben dadurch ihm genau die die- sem Ort allein angemessene Geschwindigkeit ertheilte, in Folge des Naturgesetzes, dass ein kreisender Kör- per, in dem Verhältniss, wie sein Kreis kleiner wird, seine Geschwindigkeit vermehrt; und vollends, wenn wir endlich verstehen, wie dem ganzen System ein endloser Bestand gesichert ist, dadurch, dass alle die 4 I 2 unvermeidlich eintretenden, gegenseitigen Störungen des Laufes der Planeten mit der Zeit sich wieder aus- gleichen müssen ; wie denn gerade die Irrationalität der Umlaufszeiten Jupiters und Saturns zu einander ver- hindert, dass ihre gegenseitigen Perturbationen sich nicht auf einer Stelle wiederholen, als wodurch sie gefährlich werden würden, und herbeiführt, dass sie, immer an einer andern Stelle und selten eintretend, sich selbst wieder aufheben müssen, den Dissonanzen in der Musik zu vergleichen, die sich wieder in Har- monie auflösen. Wir erkennen mittelst solcher Be- trachtungen eine Zweckmässigkeit und Vollkommen- heit, wie die freieste Willkür, geleitet vom durch- dringendesten Verstände und der schärfsten Berech- nung, sie nur irgend hätte zu Stande bringen können. Und doch können wir, am Leitfaden jener so wohl durchdachten und so genau berechneten Laplace'schen Kosmogonie, uns der Einsicht nicht entziehen, dass völlig blinde Naturkräfte, nach unwandelbaren Na- turgesetzen wirkend, durch ihren Konflikt und in ihrem absichtslosen Spiel gegen einander, nichts An- deres hervorbringen konnten, als eben dieses Grund- gerüst der Welt, welches dem Werk einer hyperbo- lisch gesteigerten Kombination gleich kommt. Statt nun, nach Weise des Anaxagoras, das uns bloss aus der animalischen Natur bekannte und auf ihre Zwecke allein berechnete Hülfsmittel einer Intelligenz herbei zu ziehen, welche von aussen hinzukommend, die ein Mal vorhandenen und gegebenen Naturkräfte und deren Gesetze schlau benutzt hätte, um ihre, diesen eigentlich fremden Zwecke durchzusetzen, — erken- nen wir, in jenen untersten Naturkräften selbst, schon jenen selben und Einen Willen, welcher eben an ihnen seine erste Aeusserung hat und, bereits in dieser sei- nem Ziel entgegenstrebend, durch ihre ursprünglichen Gesetze selbst, auf seinen Endzweck hinarbeitet, wel- chem daher Alles, was nach blinden Naturgesetzen geschieht, nothwendig dienen und entsprechen muss; wie dieses denn auch nicht anders ausfallen kann, so- fern alles Materielle nichts Anderes ist, als eben die Erscheinung, die Sichtbarkeit, die Objektität, des Wil- 4i3 lens zum Leben, welcher Einer ist. Also schon die untersten Naturkräfte selbst sind von jenem selben Willen beseelt, der sich nachher in den mit Intelli- genz aus(jeslatteten, individuellen Wesen, über sein eigenes Werk verwundert, wie der Nachtwandler am Morgen über Das, was er im Schlafe vollbracht hat; oder richtiger, der über seine eigene Gestalt, die er im Spiegel erblickt, erstaunt. Diese hier nachgewie- sene Einheit des Zufalligen mit dem Absichtlichen, des Nothwendigen mit dem Freien, vermöge deren die blindesten, aber auf allgemeinen Naturgesetzen beruhenden Zufälle gleichsam die Tasten sind, auf denen der Weltgeist seine sinnvollen Melodien abspielt, ist, wie gesagt, ein Abgrund der Betrachtung, in wel- chen auch die Philosophie kein volles Licht, sondern nur einen Schimmer werfen kann. Nunmehr aber wende ich mich zu einer subjektiveiiy hieher gehöri{fen Betrachtung, welcher ich jedoch noch weniger Deutlichkeit, als der eben dargelegten objektiven, zu geben vermag; indem ich sie nur durch Bild und Gleichniss werde ausdrücken können. — Warum ist unser Bewusstseyn heller und deutlicher, je weiter es nach Aussen gelangt, wie denn seine grösste Klarheit in der sinnlichen Anschauung liegt, welche schon zur Hälfte den Dingen ausser uns an- gehört, — wird hingegen dunkler nach Innen zu, und führt, in sein Innerstes verfolgt, in eine Finster- niss, in der alle Erkenntniss aufhört? — Weil, sage ich, Bewusstseyn Individualität voraussetzt, diese aber schon der blossen Erscheinung angehört, indem sie als Vielheit des Gleichartigen, durch die Formen der Erscheinung Zeit und Raum, bedingt ist. Unser In- neres hingegen hat seine Wurzel in Dem, was nicht mehr Erscheinung, sondern Ding an sich ist, wohin daher die Formen der Erscheinung nicht reichen, wodurch dann die Hauj)tbedingungen der Individu- alität mangeln und mit dieser das deutliche Bewusst- seyn wegfällt. In diesem Wurzelpunkt des Daseyns nämlich hört die Verschiedenheit der Wesen so auf, wie die der Radien einer Kugel im Mittelpunkt: und wie an dieser die Oberfläche dadurch entsteht, dass 4.4 die Radien enden und abbrechen ; so ist das Bewusst- seyn nur da mö{;lich, wo das Wesen an sich in die Erscheinung ausläuft; durch deren Formen die ge- schiedene Individuahtät möghch wird, auf der das Bewusstseyn beruht, welches eben deshalb auf Er- scheinungen beschränkt ist. Daher liegt alles Deut- liche und recht Begreifliche unsers Bewusstseyns stets nur nach Aussen auf dieser Oberfläche der Kugel. Sobald wir hingegen uns von dieser ganz zurückzie- hen, verlässt uns dass Bewusstseyn, — im Schlaf, im Tode, gewissermaassen auch im magnetischen oder magischen Wirken : denn diese alle führen durch das Centrum. Eben aber weil das deutliche Bewusstseyn, als durch die Oberfläche der Kugel bedingt, nicht nach dem Centro hingerichtet ist, erkennt es die andern Individuen wohl als gleichartig, nicht aber als iden- tisch, was sie an sich doch sind. Unsterblichkeit des Individui liesse sich dem Fortfliegen eines Punktes der Oberfläche in der Tangente vergleichen; Unsterb- lichkeit, vermöge der Ewigkeit des Wesens an sich der ganzen Erscheinung aber, der Rückkehr jenes Punktes, auf dem Radius, zum Centro, dessen blosse Ausdehnung die Oberfläche ist. Der Wille als Ding an sich ist ganz und ungetheilt in jedem Wesen, wie das Centrum ein integrirender Theil eines jeden Ra- dius ist: während das peripherische Ende dieses Ra- dius mit der Oberfläche, welche die Zeit und ihren Inhalt vorstellt, im schnellsten Umschwünge ist, bleibt das andere Ende, am Centro, als wo die Ewigkeit liegt, in tiefster Ruhe, weil das Centrum der Punkt ist, dessen steigende Hälfte von der sinkenden nicht ver- schieden ist. Daher heisst es auch im Bhagavad Gita: Haud distributum animantibus, et quasi distributum tamen insidens, animantiumque sustentaculum id cog- noscendum, edax et rursus genitale (lect. i3, i6. vers. Schlegel). — Freilich gerathen wir hier in eine my- stische Bildersprache: aber sie ist die einzige, in der sich über dieses völlig transscendente Thema noch ir- gend etwas sagen lässt. So mag denn auch noch die- ses Gleichniss mit hingehen, dass man sich das Men- schengeschlecht bildlich als ein animal compositum 4i5 vorstellen kann, eine Lebensform, von welcher viele Polypen, besonders die schwimmenden, wieVeretilluin, Fiiniculina und andere Beispiele darbieten. Wie bei diesen der Kopftheil jedes einzelne Thier isolirt, der untere Theil hin^jegen, mit dem gemeinschaftlichen Magen, sie alle zur Einheit eines Lebensprocesses ver- bindet; so isolirt das Gehirn mit seinem Bewusstseyn die menschlichen Individuen: hingegen der unbe- wusste Theil, das vegetative Leben, mit seinem Gang- liensystem, darin im Schlaf das Gehirnbewusstseyn, gleich einem Lotus, der sich nächtlich in die Fluth versenkt, untergeht, ist ein gemeinsames Leben Aller, mittelst dessen sie sogar ausnahmsweise kommunizi- ren können, welches z. B. Statt hat, wann Träume sich unmittelbar mittheilen, die Gedanken des Mag- netiseurs in die »Somnambule übergehen, endlich auch in der vom absichtlichen Wollen ausgehenden mag- netischen, oder überhaupt magischen Einwirkung. Eine solche nämlich, wenn sie Statt findet, ist von jeder andern, durch den inHuxus physicus geschehen- den, toto genere verschieden, indem sie eine eigent- liche actio in distans ist, welche der zwar vom Ein- zelnen ausgehende Wille dennoch in seiner metaphy- sischen Eigenschaft, als das allgegenwärtige Substrat der ganzen Natur, vollbringt. Auch könnte man sa- gen, dass, wie von seiner ursprünglichen Schöpfer- kraft., welche in den vorhandenen Gestalten der Na- tur bereits ihr Werk gethan hat und darin erloschen ist, dennoch bisweilen und ausnahmsweise ein schwa- cher Ueberrest in der generatio aequivoca hervortritt; eben so, von seiner ursprünglichen Allmacht, welche in der Darstellung und Erhaltung der Organismen ihr Werk vollbringt und darin aufgeht, doch noch gleichsam ein Ueberschuss, in solchem magischen Wirken, ausnahmsweise thätig werden kann. Im „Willen in der Natur" habe ich von dieser magischen Eigenschaft des Willens ausführlich geredet, und ver- lasse hier gern Betrachtungen, welche sich auf unge- wisse Thatsachen, die man dennoch nicht ganz igno- riren oder ableugnen darf, zu berufen haben. 416 KAPITEL 2 6'). ZUR TELEOLOGIE. DTE durchgängige, auf den Bestand jedes Wesens sich beziehende Zweckmässigkeit der organischen Natur, nebst der Angemessenheit dieser zur unorga- nischen, kann bei keinem philosophischen System ungezwungener in den Zusammenhang desselben tre- ten, als bei dem, welches dem Daseyn jedes Natur- wesens einen JVillen zu Grunde legt, der demnach sein Wesen und Streben nicht bloss erst in den Ak- tionen, sondern auch schon in der Gestalt des erschei- nenden Organismus ausspricht. Auf die Rechenschaft, welche unser Gedankengang über diesen Gegenstand an die Hand giebt, habe ich im vorhergegangenen Kapitel nur hingedeutet, nachdem ich dieselbe schon in der unten bezeichneten Stelle des ersten Bandes, besonders deutlich und ausführlich aber im „Willen in der Natur" unter der Rubrik: „Vergleichende Ana- tomie" dargelegt hatte. Daran schliessen sich jetzt noch die folgenden Erörterungen. Die staunende Bewunderung, welche uns bei der Betrachtung der unendlichen Zweckmässigkeit in dem Bau der organischen Wesen zu ergreifen pflegt, be- ruht im Grunde auf der zwar natürlichen, aber den- noch falschen Voraussetzung, dass jene Uehereinstim- niung der Theile zu einander, zum Ganzen des Or- ganismus und zu seinen Zwecken in der Aussenwelt, wie wir dieselbe mittelst der Erkenntniss, also auf dem Wege der Forstellung auffassen und beurtheilen, auch auf demselben Wege hineingekommen sei ; dass also, wie sie für den Intellekt existirt, sie auch durch den Intellekt zu Stande gekommen wäre. Wir freilich können etwas Regelmässiges und Gesetzmässiges, der- gleichen z. B. jeder Krystall ist, nur zu Stande brin- gen unter Leitung des Gesetzes und der Regel, und eben so etwas Zweckmässiges nur unter Leitung *) Dieses, wie auch das folgende Kapitel bezieht sich auf §. 38 des ersten Bandes. [S. 188 d. A.] 27 Schopenhauer II 4' 7 des Zvveckbegriffs : aber keineswegs sind \vir berech- tigt, diese unsere Beschrankung auf die Natur zu übertragen, als vvelclie selbst ein Prius alles Intellekts ist und deren Wirken von dem unserigen, wie im vorigen Kapitel gesagt wurde, sich der ganzen Art nach unterscheidet. Sie bringt das so zweckmässig und so überlegt Scheinende zu Stande, ohne Ileber- legung und ohne Zweckbegriff, weil ohne Vorstellung, als welche ganz sekundären Ursprungs ist. Betrachten wir zunächst das bloss Regelmässige, noch nicht Zweckmässige. Die sechs gleichen und in gleichen Winkeln auseinandergehenden Radien einer Schnee- flocke sind von keiner Erkenntnis vorgemessen; son- dern es ist das einfache Streben des ursprünglichen Willens, welches sich für die Erkenntniss, wann sie hinzutritt, so darstellt. Wie nun hier der Wille die regelmässige Figur zu Stande bringt ohne Mathema- tik, so auch die organische und höchst zweckmässig organisirte ohne Physiologie. Die regelmässige Form im Räume ist nur da für die Anschauung, deren An- schauungsform der Raum ist; so ist die Zweckmässig- keit des Organismus bloss da für die erkennende Ver- nunft, deren Ueberlegung an die Begriffe von Zweck und Mittel gebunden ist. Wenn eine unmittelbare Einsicht in das Wirken der Natur für uns möglich würde; so müssten wir erkennen, dass das oben er- wähnte teleologische Erstaunen demjenigen analog ist, welches jener, von Kaiü bei Erklärung des Lä- cherlichen erwähnte, Wilde empfand, als er aus einer eben geöffneten Bierflasche den Schaum unaufhalt- sam hervorsprudeln sah und dabei äusserte, nicht über das Herauskonunen wundere er sich, sondern darüber, wie man es nur habe hineinbringen können: denn auch wir setzen voraus, die Zweckmässigkeit der Naturprodukte sei auf eben dem Wege hineinge- kommen, auf welchem sie für uns herauskommt. Daher kann unser teleologisches Erstaunen gleich- falls dem verglichen werden, welches die ersten Werke der Buchdruckerkunst bei Denen erregten, welche sie unter der Voraussetzung, dass sie Werke der Feder seien, betrachteten und demnach zur Er- 4is klärung derselben die Annahme der Hülfe eines Teu- fels ergriffen. — Denn, es sei hier nochmals gesagt, unser Intellekt ist es, welcher, indem er den an sich metaphysischen und untheilbaren Willensakt, der sich in der Erscheinung eines Thieres darstellt, mittelst seiner eigenen Formen, Raum, Zeit und Kausalität, als Objekt auffasst, die Vielheit und Verschiedenheit der Theile und ihrer Funktionen erst hervorbringt und dann über die aus der ursprünglichen Einheit hervorgehende vollkommene Uebereinstimmung und Konspiration derselben in Erstaunen geräth; wobei er also, in gewissem Sinn, sein eigenes Werk be- wundert. Wenn wir uns der Betrachtung des so unaussprech- lich und endlos künstlichen Baues irgend eines Thie- res, wäre es auch nur das gemeinste Insekt, hingeben, uns in Bewunderung desselben versenkend, jetzt aber uns einfällt, dass die Natur eben diesen, so überaus künstlichen und so höchst komplicirten Organismus täglich zu Tausenden der Zerstörung, durch Zufall, thierische Gier und menschlichen Muthvvillen rück- sichtslos Preis giebt; so setzt diese rasende Verschwen- dung uns in Erstaunen. Allein dasselbe beruht auf einer Amphibolie der Begriffe, indem wir dabei das menschliche Kunstwerk im Sinne haben, welches unter Vermittelung des Intellekts und durch Ueber- wältigung eines fremden, widerstrebenden Stoffes zu Stande gebracht wird, folglich allerdings viel Mühe kostet. Der Natur hingegen kosten ihre Werke, so künstlich sie auch sind, gar keine Mühe; weil hier der Wille zum W^erke schon selbst das Werk ist; in- dem, wie schon gesagt, der Organismus bloss die im Gehirn zu Stande kommende Sichtbarkeit des hier vorhandenen Willens ist. Der ausgesprochenen Beschaffenheit organischer W'esen zufolge ist die Teleologie, als Voraussetzung der Zweckmässigkeit jedes Theils, ein vollkommen sicherer Leitfaden bei Betrachtung der gesammten organischen Natur; hingegen in metaphysischer Ab- sicht, zur Erklärung der Natur über die Möglichkeit der Erfahrung hinaus, darf sie nur sekundär und sub- 27* 419 sidiarisch zur Bestätig^mg anderweitig begründeter Erklärungsprincipien geltend gemacht werden: denn hier gehört sie zu den Problemen, davon Rechen- schaft zu geben ist. — Demnach, wenn an einem Thiere ein Theil gefunden wird, von dem man kei- nen Zweck absieht; so darf man nie die Vermuthung wagen, die Natur habe ihn zwecklos, etwan spielend und aus blosser Laune hervorgebracht. Allenfalls zwar Hesse sich so etwas als möglich denken, unter der Anaxagorischen Voraussetzung, dass die Natur mittelst eines ordnenden Verstandes, der als solcher einer fremden Willkür diente, ihre Einrichtung er- halten hätte; nicht aber unter der, dass das Wesen an sich (d. h. ausser unserer Vorstellung) eines jeden Organismus ganz allein sein eigener Wille sei: denn da ist das Daseyn jedes Theiles dadurch bedingt, dass es dem hier zum Grunde liegenden Willen zu irgend etwas diene, irgend eine Bestrebung desselben aus- drücke und verwirkliche, folglich zur Erhaltung die- ses Organismus irgendwie beitrage. Denn ausser dem in i/mi erscheinenden Willen und den Bedingungen der Aussenwelt, unter welchen dieser zu leben freiwillig unternommen hat, auf den Konflikt mit welchen da- her schon seine ganze Gestalt und Einrichtung ab- zielt, kann nichts auf ihn Einfluss gehabt und seine Form und Theile bestimmt haben, also keine Will- kür, keine Grille. Deshalb muss Alles an ihm zweck- mässig seyn : daher sind die Eiidursachen (causae fi- nales) der Leitfaden zum Verständniss der organi- schen Natur, wie die wirkenden Ursachen (causae ef- flcientes) zu dem der unorganischen. Hierauf beruht es, dass, wenn wir, in der Anatomie oder Zoologie, den Zweck eines vorhandenen Theiles nicht finden können, unser Verstand daran einen Anstoss nimmt, der dem ähnlich ist, welchen in der Physik eine Wir- kung, deren Ursache verborgen bleibt, geben muss: und wie diese, so setzen wir auch jenen als nothwen- dig voraus, fahren daher fort, ihn zu suchen, so oft dies auch schon vergeblich geschehen seyn mag. Dies ist z, B. der Fall mit der Milz, über deren Zweck man nicht aufhört, Hypothesen zu ersinnen, bis ein- 420 mal eine sich als richtig bewährt haben wird. Eben so steht es mit den grossen, spiralförmigen Zähnen des Babirussa, mit den hornförmigen Auswüchsen einiger Rauben und mehr dergleichen. Auch negative Falle werden von uns nach derselben Regel beur- teilt, z. B. dass in einer im Ganzen so gleichförmigen Ordnung, wie die der Saurier, ein so wichtiger Theil, wie die Urinblase, bei vielen Species vorhanden ist, während er den andern fehlt; imgleichen, dass die Delphine und einige ihnen verwandte Cetaceen ganz ohne Geruchsnerven sind, während die übrigen Ce- taceen und sogar die Fische solche haben: ein dies bestimmender Grund muss daseyn. Einzelne wirkliche Ausnahmen zu diesem durch- gängigen Gesetze der Zweckmässigkeit in der organi- schen Natur hat man allerdings und mit grossem Er- staunen aufgefunden: jedoch findet bei ihnen, weil sich anderweitig Rechenschaft darüber geben lässt, dass exceptio firmat regulam Anwendung. Dahin nämlich gehört, dass die Kaulquappen der Kröte Pipa Schwänze und Kiemen haben, obschon sie nicht, wie alle andern Kaulquappen, schwimmend, sondern auf dem Rücken der Mutter ihre Metamorphose abwarten; — dass das männliche Kanguru einen Ansatz zu dem Knochen hat, welcher beim weiblichen den Beutel trägt; — dass auch die männlichen Säugethiere Zit- zen haben; — dass Mus typhlus, eine Ratte, Augen hat, wiewohl winzig kleine, ohne eine Oeffnung für dieselben in der äussern Haut, welche also, mit Haa- ren bedeckt, darüber geht, und dass der Maulwurf der A peninnen, wie auch zwei Fische, Murena cae- ( ilia und Gastrobranchus caecus, sich im selben Falle befinden ; desgleichen der Proteus anguinus. Diese seltenen und überraschenden Ausnahmen von der sonst so festen Regel der Natur, diese Widersprüche, darin sie mit sich selbst geräth, müssen wir uns er- klären aus dem innern Zusammenhange, welchen ihre verschiedenartigen Erscheinungen, vermöge der Einheit des in ihnen Erscheinenden, unter einander haben, und in Folge dessen sie bei der Einen etwas andeuten muss, bloss weil eine Andere, mit derselben /[2 i zusammenhängende, es wirklich hat. Demnach hat das männhche Thier das Rudiment eines Organs, welches hei dem weihlichen wirklich vorhanden ist. Wie nun hier die Differenz der Geschlechter den Ty- pus der Species nicht aufhehen kann; so behauptet sich auch der Typus einer ganzen Ordnung, z. B. der Batrachier, seihst da, wo in einer einzelnen Species (Pij)a) eine seiner Bestimmungen üherflüssig wird. Noch weniger vermag die Natur eine Bestimmung, die zum Typus einer ganzen Grundahtheihing ( Verte- brata) gehört, (Augen), wenn sie in einer einzelnen Species (Mus typhlus) als überflüssig wegfallen soll, ganz spurlos verschwinden zu lassen; sondern sie muss auch hier wenigstens rudimentarisch andeuten, was sie bei allen übrigen ausführt. Sogar ist von hier aus in gewissem Grade abzuse- hen, worauf jene, besonders von R. Owen in seiner Osteologie comparee so ausführlich dargelegte Ho- mologie im Skelett, zunächst der Mammalien und im weitern Sinn aller Wirbelthiere, beruht, vermöge welcher z. B. alle Säugethiere sieben Halswirbel ha- ben, jeder Knochen der menschlichen Hand und Arm sein Analogon in der Schwimmflosse des Walllisches findet, der Schädel des Vogels im Ei gerade so viel Knochen hat, wie der des menschlichen Fötus usw. Dies alles nämlich deutet auf ein von der Teleologie unabhängiges Princip, welches jedoch das Fundament ist, auf welchem sie baut, oder der zum Voraus ge- gebene Stoff zu ihren Werken, und eben Das, was GeoftVoy Saint-Hilairealsdas „anatomische Element" dargelegt hat. Es ist die unitede plan, der Ur-Grund- Typus der obern Thiervvelt, gleichsam die willkür- lich gewählte Tonart, aus welcher die Natur hier spielt. Den Unterschied zwischen der wirkenden Ursache (causa efficiens) und der Endursache (causa finalis) hat schon Aristoteles (De part, anim., I, i) richtig be- zeichnet in den Worten: Z^oo Tpo-oi tr^; a'.tia?, to oo evexa xai to e; avayxTjs, zoit osi Xe^ovra? xoYj^avsiv aa/aora (xev ajxcpoiv. (Duo sunt causae modi: alter cujus gratia, et alter e necessitate; ac potissimum utrumque eruere 422 oportet.) Die ivirkende Ursache ist die, wodurch etwas ist, die Endursache die, weshalb es ist: die zu erklä- rende Erscheinung^ hat, in der Zeit, jene hinter sich, diese vor sich. Bloss hei den willkürlichen Handlungen thierischer Wesen fallen beide unmittelbar zusammen, indem hier die Endursache, der Zweck, als Motiv aut- tritt: ein solches aber ist stets die wahre und eigent- liche Ursache der Handlung, ist ganz und gar die sie bewirkende Ursache, die ihr vorhergängige Verände- rung, welche dieselbe hervorruft, vermöge derer sie nothivendig eintritt und ohne die sie nicht geschehen könnte, wie ich dies in der Preisschrift über die Frei- heit bewiesen habe. Denn, was man auch zwischen den Willensakt und die Körperbewegung physiolo- gisch einschieben möchte, immer bleibt hier einge- ständlich der JVille das Bewegende, und was ihn be- wegt, ist das von aussen kommende Motiv, also die causa finalis; welche folglich hier als causa efficiens auftritt. Ueberdies wissen wir aus dem Vorhergegan- genen, dass im Grunde die Körperbewegung mit dem Willensakt Eins ist, als seine blosse Erscheinung in der cerebralen Anschauung. Dies Zusammenfallen der causa finalis mit der wirkenden Ursache, in der einzigen uns intim bekannten Erscheinung, welche deshalb durchgängig unser Urphänomen bleibt, ist wohl festzuhalten: denn es führt uns gerade darauf hin, dass wenigstens in der organischen Natur deren Kenntnis durchaus die Endursachen zum Leitfaden hat, ein Wille das Gestaltende ist. In der That können wir eine Endursache uns nicht anders deutlich den- ken, denn als einen beabsichtigten Zweck, d. i. ein Motiv. Ja, wenn wir die Endursachen in der Natur genau betrachten, so müssen wir, um ihr transscen- dentes Wesen auszudrücken, einen Widerspruch nicht scheuen, und kühn heraussagen: die Endursa- che ist ein Motiv, welches auf ein Wesen wirkt, von welchem es nicht erkannt wird. Denn allerdings sind die Termitennester das Motiv, welches den zahnlosen Kiefer des Ameisenbären, nebst der langen, faden- förmigen und klebrigen Zunge hervorgerufen hat: die harte Eierschaale, welche das Vögelein gefangen 423 hält, ist allerdings das Motiv zu der hornartigen Spit- ze, mit welcher sein Schnabel versehen ist, um jene damit zu durchbrechen, wonach es sie als ferner nutzlos abwirft. Und eben so sind die Gesetze der Reflexion und Refraktion des Lichts das Motiv zu dem so überkünstlich komplicirten optischen Werk- zeug, dem menschlichen Auge, als welches die Durch- sichtigkeit seiner Hornhaut, die verschiedene Dichtig- keit seiner drei Feuchtigkeiten, die Gestalt seiner Linse, die Schwärze seiner Chorioidea, die Sensibili- tät seiner Retina, die Verengerungsfähigkeit seiner Pupille und seine Muskulatur genau nach jenen Ge- setzen berechnet hat. Aber jene Motive wirkten schon, ehe sie wahrgenommen wurden: es ist nicht anders, so widersprechend es auch klingt. Denn hier ist der Uebergang des Physischen ins Metaphysische. Dieses aber haben wir im fVillen erkannt: daher müssen wir einsehen, dass der selbe Wille, welcher den Elephan- tenrüssel nach einem Gegenstande ausstreckt, es auch ist, der ihn hervorgetrieben und gestaltet hat, die Ge- genstände anticipirend. — Hiemit ist es übereinstimmend, dass wir, bei der Untersuchung der oi-ganischen Natur, ganz und gar auf die Endui^sachen verwiesen sind, überall diese su- chen und Alles aus ihnen erklären; die tuirkenden Ur- sachen hingegen hier nur noch eine ganz untergeord- nete Stelle, als blosse Werkzeuge jener einnehmen und, eben wie bei der eingestand lieh von äussern Mo- tiven bewirkten willkürlichen Bewegungen der Glie- der, mehr vorausgesetzt, als nachgewiesen werden. Bei Erklärung der physiologischen Funktionen sehen wir uns noch allenfalls nach ihnen, wiewohl meistens vergeblich, um; bei der Erklärung der Entstehung der Theile aber schon gar nicht mehr, sondern begnügen uns mit den Endursachen allein: höchstens haben wir hier noch so einen allgemeinen Grundsatz, etwan wie dass je grösser der Theil ausfallen soll, desto stär- ker auch die ihm Blut zuführende Arterie sein muss; aber von den eigentlich wirkenden Ursachen, welche z. B. das Auge, das Ohr, das Gehirn zu Stande brin- gen, wissen wir gar nichts. Ja, selbst bei der Erklä- rung der blossen Funktionen ist die Endursache bei Weitem wichtiger und mehr zur Sache, als die wir- kende: daher wenn jene allein bekannt ist, wir in der Hauptsache belehrt und befriedigt sind, hingegen die wirkende allein uns wenig hilft. Z. B. wenn wir die wirkende Ursache des Blutumlaufs wirklich kennten, wie wir sie eigentlich nicht kennen, sondern noch su- chen; so würde dies uns wenig fördern, ohne die JE'n</- ursache, dass nämlich das Blut in die Lunge gehen muss, zur Oxydation, und wieder zurückfliessen, zur Ernährung: durch diese hingegen, auch ohne jene, ist uns ein grosses Licht aufgesteckt, üebrigens bin ich, wie oben gesagt, der Meinung, dass der Blutum- lauf gar keine eigentlich wirkende Ursach hat, son- dern der Wille hier so unmittelbar, wie in der Mus- kularbewegung, wo ihn, mittelst der Nervenleitung, Motive bestimmen, thätig ist, so dass auch hier die Bewegung unmittelbar durch die Endursache hervor- gerufen werde, also durch das Bedürfniss der Oxyda- tion in der Lunge, welches hier auf das Blut gewis- sermaassen als Motiv wirkt, jedoch so, dass die Ver- mittelung der Erkenntniss dabei wegfällt, weil Alles im Innern des Organismus vorgeht. — Die sogenann- te Metamorphose der Pflanzen, ein von Kaspar fVolf leicht hingeworfener Gedanke, den, unter dieser hy- pei'bolischen Benennung, Goethe als eigenes Erzeug- niss pomphaft und in schwierigem Vortrage darstellt, gehört zu den Erklärungen des Organischen aus der wirkenden Ursache; wiewohl er im Grunde bloss be- sagt, dass die Natur nicht bei jedem Erzeugnisse von A'orne anfängt und aus nichts schafft, sondern, gleich- sam im selben Stile fortschreibend, an das Vorhan- dene anknüpft, die früheren Gestaltungen benutzt, entwickelt und höher potenzirt, ihr Werk weiter zu führen; wie sie es ebenso in der Steigerung derThier- reihe gehalten hat, ganz nach der Regel: natura non facit saltus, et quod commodissimum in omnibus suis operationibus sequitur (Arist. de incessu animalium, c. 2 et 8). Ja, die Blüthe dadurch erklären, dass man in allen ihren Theilen die Form des Blattes nachweist, kommt mir fast vor, wie die Struktur eines Hauses dadurch erklären, dass man zeigt, alle seine Theile, Stockwerke, Erker und Dachkaininern, seien nur aus Backsteinen zusammengesetzt und blosse Wiederho- lung der Ureinheit des Backsteins. Und nicht viel besser, jedoch viel problematischer, scheint mir die Erklärung des Schädels aus Wirbelbeinen; wie- wohl es eben auch hier sich von selbst versteht, dass das Futteral des Gehirns dem Futteral des Rückenmarks, dessen Fortsetzung und Ende-Knauf es ist, nicht absolut heterogen und ganz disparat, vielmehr in derselben Art fortgeführt seyn wird. Diese ganze Betrachtungsart gehört der oben erwähn- ten Homologie R. Owen's an. — Dagegen scheint mir folgende, von einem Italiäner, dessen Name mir entfallen ist, herrührende Erklärung des W^esens der Blume aus ihrer Endursache einen viel befriedigen- deren Aufschluss zu geben. Der Zweck der Corolla ist: i) Schutz des Pistills und der stamina; 2) werden mittelst ihrer die verfeinerten Säfte bereitet, welche im poUen imd germen koncentrirt sind; 3) sondert sich avis den Drüsen ihres Bodens das ätherische Oel ab, welches, als meistens wohlriechender Dunst, Anthe- ren und Pistill umgebend, sie vor dem Einfluss der feuchten Luft einigermaassen schützt. — Zu den Vor- zügen der Endursachen gehört auch, dass jede wir- kende Ursache zuletzt immer auf einem Unerforsch- lichen, nämlich einer Naturkraft, d. i. einer qualitas occulta, beruht, daher sie nur eine relative Erklärung geben kann; während die Endursache, in ihrem Be- reich, eine genügende und vollständige Erklärung liefert. Ganz zufrieden gestellt sind wir freilich erst dann, wann wir beide, die wirkende Ursache, vom Aristoteles auch t^ aiTia e? ava^xr)? genannt, und die Endursache, rj X'^P''' "^^^ ßeXxiovo;, zugleich und doch gesondert erkennen, als wo uns ihr Zusammentreffen, die wundersame Konspiration derselben, überrascht, vermöge welcher das Beste als ein ganz Nothwendi- ges eintritt, und das Nothwendige wieder, als ob es bloss das Beste und nicht noth wendig wäre: denn da entsteht in uns die Ahndung, dass beide Ursachen, so verschieden auch ihr Ursprung sei, doch in der 426 Wurzel, dem Wesen der Dinge an sich, zusammen- hängen. Eine solche zwiefache Erkenntniss ist jedoch selten erreichbar: in der organischen Natur, weil die wirkende Ursache uns selten bekannt ist; in der un- organischen, weil die. Endursache problematisch bleibt. Inzwischen will ich dieselbe durch ein Paar Beispiele, so gut ich sie im Bereich meiner physiologischen Kenntnisse finde, erläutern, welchen die Physiologen deutlichere und schlagendere substituiren mögen. Die Laus des Negers ist schwarz. Endursache: zu ihrer Sicherheit. Bewirkende Ursache: weil das schwarze rete Malpighi des Negers ihre Nahrung ist. — Die so höchst mannigfaltige und brennend lebhafte Färbung des Gefieders tropischer Vögel erklärt man, wiewohl nur sehr im Allgemeinen, aus der starken Einwir- kung des Lichtes zwischen den Wendekreisen, — als ihrer wirkenden Ursache. Als Endursache würde ich angeben, dass jene Glanzgefieder die Prachtuniformen sind, an denen die Individuen der dort so zahllosen, oft dem selben genus angehörigen Species sich unter einander erkennen ; so dass jedes Männchen sein Weib- chen findet. Das Selbe gilt von den Schmetterlingen der verschiedenen Zonen und Breitengrade. — Man hat beobachtet, dass schwindsüchtige Frauen im letz- ten Stadio ihrer Krankheit leicht schwanger werden, dass während der Schwangerschaft die Krankheit stille steht, nach der Niederkunft aber verstärkt wie- der eintritt und nun meistens den Tod herbeiführt: desgleichen, dass schwindsüchtige Männer, in ihrer letzten Lebenszeit, meistens noch ein Kind zeugen. Die Endursache ist hier, dass die auf die Erhaltung der Species überall so ängstlich bedachte Natur den heranrückenden Ausfall eines im kräftigen Alter ste- henden Individuums geschwinde noch durch ein neues ersetzen will; die xvirkende Ursache hingegen ist der in der letzten Periode der Schwindsucht eintretende imgewöhnlich gereizte Zustand des Nervensystems. Aus der selbenUrsache ist das analoge Phänomen zu er- klären, dass (nach Oken, ,,Die Zeugung", S. 65) die mit Arsenik vergiftete Fliege, aus einem unerklärten Trie- be, sich noch begattet und in der Begattung stirbt. — 4-7 Die Endursache der Pubes, bei beiden Geschlechtern, nnd des Mons Veneris, beim weiblichen, ist, dass auch bei sehr majjern Subjekten, während der Kopulation, die Ossa pubis nicht fühlbar werden sollen, als wel- ches Abscheu erregen könnte: die wirkende Ursache hingegen ist darin zu suchen, dass überall, wo die Schleimhaut in die äussere Haut übergeht, Haare in der Nähe wachsen; nächstdem auch darin, dass Kopf und Genitalien gewissermaassen entgegengesetzte Pole von einander sind, daher mancherlei Beziehungen und Analogien mit einander haben, zu welchen auch das Behaartseyn gehört. — Die selbe wirkende Ursache gilt auch vom Barte der Männer: die Endursache des- selben vermuthe ich darin, dass das Pathognomische, also die, jede innere Bewegung des Gemüths verra- thende schnelle Aenderung der Gesichtszüge, haupt- sächlich am Munde und dessen Umgebung sichtbar wird: um daher diese, als eine bei Unterhandlungen, oder bei plötzlichen Vorfällen, oft gefährliche, dem Späherblick des Gegenparts zu entziehen, gab die Na- tur (welche weiss, dass homo homini lupus) dem Manne den Bart. Hingegen konnte desselben das Weib entrathen ; da ihr die Verstellung und Selbstbemeiste- rung (contenance) angeboren ist. — Es müssen sich, wie gesagt, viel treffendere Beispiele auffinden lassen, um daran nachzuweisen, wie das völlig blinde Wir- ken der Natur mit dem anscheinend absichtsvollen, oder wie Kant es nennt, der Mechanismus der Natur mit ihrer Technik, im Resultat zusammentrifft; wel- ches darauf hinweist, dass Beide ihren gemeinschaft- lichen Ursprung jenseit dieser Differenz haben, im W^illen als Ding an sich. Für die Verdeutlichung die- ses Gesichtspunkts würde man viel leisten, wenn man z. B. die wirkende Ursache finden könnte, welche das Treibholz den baumlosen Polarländern zuführt; oder auch die, welche das Festland unsers Planeten haupt- sächlich auf die nördliche Hälfte desselben zusam- mengedrängt hat; während als Endursache hievon zu betrachten ist, dass der Winter jener Hälfte, weil er in das den Lauf der Erde beschleunigende Perihelium trifft, um acht Tage kürzer ausfällt und hiedurch 428 wieder auch gelinder ist. Jedoch wird, bei Betrach- tung der unorganischen Natur, die Endursache alle- mal zweideutig, und lässt uns, zumal wann die wir- kende gefunden ist, im Zweifel, ob sie nicht eine bloss subjektive Ansicht, ein durch unsern Gesichtspunkt bedingter Schein sei. Hierin aber ist sie manchen Kunstwerken, z. B. den groben Musivarbeiten, den Theaterdekorationen und dem aus groben Felsenmas- sen zusammengesetzten Gott Appeunin zu Pratolino bei Florenz zu vergleichen, welche alle nur in die Ferne wirksam sind, in der Nähe aber verschwinden, indem an ihrer Stelle jetzt die wirkende Ursache des Scheines sichtbar wird: aber die Gestalten sind den- noch wirklich vorhanden und keine blosse Einbildung. Dem also analog verhalten sich die Endursachen in der unorganischen Natur, wenn die xvirkenden hervor- treten. Ja, wer einen weiten Ueberblick hat, würde es vielleicht hingehen lassen, wenn man hinzusetzte, dasses mit den Omnibus ein ähnliches Bewandtniss hat. Wenn übrigens jemand die äussere Zweckmässig- keit, welche, wie gesagt, stets zweideutig bleibt, zu physikotheologischen Demonsti-ationen missbrauchen will, wie dies noch heut zu Tage, hoffentlich jedoch nur von Engländern, geschieht; so giebt es in dieser Gattung Beispiele in contrarium, also Ateleologien ge- nug, ihm das Goncept zu verrücken. Eine der stärk- sten bietet uns die tjntrinkbarkeit des Meervvassers, in Folge welcher der Mensch der Gefahr zu verdur- sten nirgends mehr ausgesetzt ist, als gerade in der Mitte der grossen Wassermassen seines Planeten, „Wo- zu braucht denn das Meer salzig zu sein?" frage man seinen Engländer. Dass in der unorganischen Natur die Endursachen gänzlich zurücktreten, so dass eine aus ihnen allein gegebene Erklärung hier nicht mehr gültig ist, viel- mehr die wirkenden Ursachen schlechterdings ver- langt werden, beruht darauf, dass der auch in der unorganischen Natur sich objektivirende Wille hier nicht mehr in Individuen, die ein Ganzes für sich aus- machen, erscheint, sondern in Naturkräften und de- ren Wirken, wodurch Zweck und Mittel zu weit aus- einander gerathen, als dass ihre Beziehunjf klar seyn und man eine Willensausserung darin erkennen könn- te. Dies tritt sogar, in gewissem Grade, schon bei der organischen Natur ein, nämlich da, wo die Zweck- massigkeit eine äussere ist, d. h. der Zweck im einen, das Mittel im andern Individuo liegt. Dennoch bleibt sie auch hier noch unzweifelhaft, solange beide der selben Species angehören, ja, sie wird dann um so auffallender. Hieher ist zunächst die gegenseitig auf einander berechnete Organisation der Genitalien bei- der Geschlechter zu zählen, sodann auch manches der Begattung Entgegenkommende, z. B. bei der Lampy- ris noctiluca (Glühwurm) der Umstand, dass bloss das Männchen, welches nicht leuchtet, geil (igelt ist, um das Weibchen aufsuchen zu können, das unge- flügelte Weibchen hingegen, da sie nur Abends her- vorkommen, das phosphorische Licht besitzt, um vom Männchen gefunden werden zu können. Jedoch sind bei der Lampyris Italica beide Geschlechter leuch- tend, welches zum Naturluxus des Südens gehört. Aber ein auffallendes, weil ganz specielles Beispiel der hier in Rede stehenden Art der Zweckmässigkeit giebt die von Geoffroy St. Hilaire, in seinen letzten Jahren, gemachte schöne Entdeckung der nähern Be- schaffenheit des Saugapparats der Cetaceen. Da näm- lich alles Saugen die Thätigkeit der Respiration er- fordert, kann es nur im rcspirabeln Medio selbst, nicht aber unter dem W^asser vor sich gehen, woselbst jedoch das saugende Junge des Wallfisches an den Zitzen der Mutter hängt: diesem nun zu begegnen, ist der ganze Mammilarapparat der Cetaceen so mo- difizirt, dass er ein Injektionsorgan geworden ist und, dem Jungen ins Maul gelegt, ihm, ohne dass es zu saugen braucht, die Milch einspritzt. Wo hingegen das Individuum, welches einem andern wesentliche Hülfe leistet, ganz verschiedener Art, sogar einem an- dern Naturreich angehörig ist, werden wir diese äus- sere Zweckmässigkeit, ebenso wie bei der unorgani- schen Natur, bezweifeln; es sei denn, dass augenfällig die Erhaltung der Gattungen auf ihr beruhe. Dies aber ist der Fall bei vielen Pflanzen, deren Befruch- 430 tung nur mittelst der Insekten vor sich geht, als wel- che nämlich entweder den Pollen ans Stigma tragen, oder die Stamina zum Pistill beugen: die gemeine Berberitze, viele Iris-Arten und Aristolochia Clema- titis können sich ohne Hülfe der Insekten gar nicht befruchten. (Ch\ Cour. Sprengel, Entdecktes Geheim- niss u. s. w., 1793. — Wildenow, Grundriss der Kräu- terkunde, 353.) Sehr viele Diöcisten, Monöcisten und Polygamisten, z. B. Gurken und Melonen, sind im selben Fall. Die gegenseitige Unterstützung, welche die Pflanzen- und die Insekten-Welt von einander erhalten, findet man vortrefflich dargestellt in Bur- daclis grosser Physiologie, Bd. i, §. 263. Sehr schön setzt er hinzu: ,,Dies ist keine mechanische Aushülfe, kein Nothbehelf, gleichsam als ob die Natur gestern die Pflanzen gebildet und dabei einen Fehler began- gen hätte, den sie heute durch das Insekt zu verbes- sern suchte; es ist vielmehr eine tiefer liegende Sym- pathie der Pflanzenwelt mit der Thierwelt. Es soll die Identität Beider sich offenbaren: Beide, Kinder einer Mutter, sollen mit einander und durch einander bestehen." — Und weiterhin: „Aber auch mit der unorganischen Welt steht das Organische in einer sol- chen Sympathie" u. s. w. — Einen Beleg zu diesem Consensus naturae giebt auch die im zweiten Band derintroduction into Entomology by Kirby and Spence mitgetheilte Beobachtung, dass die Insekteneier, wel- che an die Zweige der ihrer Larve zur Nahrung die- nenden Bäume angeklebt überwintern, genau zu der Zeit auskriechen, wo der Zweig ausschlägt, also z. B. die Aphis der Birke einen Monat früher als die der Esche: desgleichen, dass die Insekten der perenniren- den Pflanzen auf diesen als Eier überwintern ; die der bloss jährigen aber, da sie dies nicht können, im Pup- penzustand. — Drei grosse Männer haben die Teleologie, oder die Erklärung aus Endursachen, gänzlich verworfen, — und viele kleine Männer haben ihnen nachgebetet. Jene sind: Lukt^etius, Bako von Feritlam und Spinoza. Allein bei allen dreien erkennt man deutlich genug die Quelle dieser Abneigung: dass sie nämlich die 43 i Teleolo(jie für unzertrennlich von der spekulativen Theologie hielten, vor dieser aber eine so grosse Scheu (welche Bako zwar klüglich zu verbergen sucht) heg- ten, dass sie ihr schon von Weitem aus dem Wege gehen wollten. In jenem Vorurtheil Knden wir auch noch den Leibniz ganz und gar befangen, indem er es, als etwas sich von selbst Verstehendes, mit cha- rakteristischen Naivetät ausspricht, in seiner Lettre ä M. INicaise (Spinozae op. ed. Paulus, Vol. 2,p. 672): les causes finales, ou ce qui est la meme c/iose, la con- sideration de la sagesse divine dans Tordre des choses. (Den Teufel auch, meme chose!) Auf dem selben Standpunkt finden wir sogar noch die heutigen Eng- länder, die Bridgewater-treatise-Männer, den Lord Brougham u. s. w., ja, sogar noch R. Owen, in seiner Osteologie comparee, denkt gerade so wie Leibniz; welches ich bereits im ersten Bande gerügt habe. Die- sen Allen ist Teleologie sofort auch Theologie, und bei jeder in der Natur erkannten Zweckmässigkeit brechen sie, statt zu denken und die Natur verstehen zu lernen, sofort in ein kindisches Geschrei design! design ! aus, stimmen dann den Refrain ihrer Rocken- philosophie an, und verstopfen ihre Ohren gegen alle Vernunftgründe, wie sie ihnen doch schon der grosse Hume*) entgegengehalten hat. An diesem ganzen Eng- lischen Elend ist hauptsächlich die, jetzt, nach 70 Jah- ren, den Englischen Gelehrten wirklich zur Schande gereichende Unkenntniss der Kantischen Philosophie Schuld, und diese wieder beruht, wenigstens grössten Theils, auf dem heillosen Einfluss jener abscheulichen ') Hier sei es beiläufig bemerkt, dass, nach der Deutschen Lit- teratur seit Kant zu urtheilen, man glauben müsste, Hximes ganze Weisheit hätte in seinem handgreiflich falschen Skepti- cismus gegen das Kausalitätsgesetz bestanden, als wovon über- all ganz allein geredet wird. Um Huive kennen zu lernen, muss man seine Natural history of religion und dieDialogues on natural religion lesen: da sieht man ihn in seiner Grösse, und dies, nebst dem essav 30, on national character, sind die Schriften, wegen welcher er, — ich wüsste zu seinem Ruhme nichts Besseres zu sagen — bis auf den heutigen Tag der Eng- lischen Pfaffenschaft über Alles vcrhasst ist. Englischen Pfaffenschaft, welcher Verdummung in jeder Art eine Herzensangelegenheit ist, damit sie nur ferner die übrigens so intelligente Englische Nation in der degradirendesten Bigotterie befangen halten könne: daher tritt sie, vom niederträchtigsten Obsku- rantismus beseelt, dem Volksunterricht, der Natur- forschung, ja, der Förderung alles menschlichen Wis- sens überhaupt, aus allen Kräften entgegen, und so- wohl mittelst ihrer Konnexionen, als mittelst ihres skandalösen, unverantwortlichen und das Elend des Volks steigernden Mammons, erstreckt ihr Einfluss sich auch auf Universitätsgelehrte und Schriftsteller, die demnach (z. B. Th. Brown, on cause and effect) sich zu Reticenzen und Verdrehungen jeder Art be- quemen, um nur nicht jenem „kalten Aberglauben" (wie Pückler sehr treffend ihre Religion bezeichnet), oder den gangbaren Argumenten für denselben, auch nur von Ferne in den Weg zu treten. — Den dreien in Rede stehenden grossen Männern hingegen, da sie lange vor dem Tagesanbruch der Kantischen Philosophie lebten, ist jene Scheu vor der Teleologie, ihres Ursprungs wegen, zu verzeihen; hielt doch sogar Voltaire den physiko-theologischen Be- weis für unwiderleglich. Um indessen auf dieselben etwas näher einzugehen ; so ist zuvörderst die Polemik des Lukretius (IV, 8a4 — 858) gegen die Teleologie so krass und plump, dass sie sich selbst widerlegt und vom Gegentheil überzeugt. — Was aber Bakon be- trifft (De augm. scient., KI, 4), so macht er erstlich, hinsichtlich des Gebrauchs der Endursachen, keinen Unterschied zwischen organischer und unorganischer Natur (worauf es doch gerade hauptsächlich an- kommt), indem er, in seinen Beispielen derselben. Beide durch einander wirft. Dann bannt er die End- ursachen aus der Physik in die Metaphysik: diese aber ist ihm, wie noch heut zu Tage Vielen, identisch mit der spekulativen Theologie. Von dieser also hält er die Endursachen für unzertrennlich, und geht hierin so weit, dass er den Aristoteles tadelt, weil die- ser (was ich sogleich speciell loben werde) von den Endursachen starken Gebrauch gemacht habe, ohne 28 Schopenhauer II l\56 sie doch je an die spekulative Theologie zu knüpfen. — Spinoza endlich (Eth. I, prop. 36, appendix) legt aufs Deutlichste an den Tag, dass er die Teleologie mit der Physikotheologie, gegen welche er sich mit Bitterkeit auslässt, identifizirt, so sehr, dass er das na- turam nihil frustra agere, erklärt: hoc est, quod in usum homiuum non sit; desgleichen: omnia natura- lia tanquam ad suum utile media considerant, et cre- dunt aliquem alium esse, qui illa media paraverit; wie auch: hinc statuerunt, Deos omnia in usum ho- minum fecisse et dirigere. Darauf nun stützt er seine Behauptung: naturam finem nulluni sibi praefixum habere et omnes causas finales nihil, nisi humana es- se figmenta. Ihm war es bloss darum zu thun, dem Theismus den Weg zu verrennen: als die Stärkeste Waffe desselben aber hatte er ganz richtig den physiko- theologischen Beweis erkannt. Diesen nun aber wirk- lich zu widerlegen war Kanten, und dem Stoffe dessel- ben die richtige Auslegung zu geben mir vorbehalten ; wodurch ich dem est enim verum index sui et falsi ge- nügt habe. Spinoza nun aber wusste sich nicht anders zu helfen, als durch den desperaten Streich, die Teleolo- gie selbst, also die Zweckmässigkeit in den Werken der Natur zu leugnen, eine Behauptung, deren Mon- ströses Jedem, der die organische Natur nur irgend genauer kennen gelernt hat, in die Augen springt. Dieser beschränkte Gesichtspunkt des Spinoza, zu- sammen mit seiner völligen Unkenntniss der Natur, bezeugt genugsam seine gänzliche Inkompetenz in dieser Sache und die Albernheit Derer, die, auf seine Autorität hin, glauben, von den Endursachen schnöde urtheilen zu müssen. — Sehr vorteilhaft sticht gegen diese Philosophen der neuern Zeit Aristoteles ab, der gerade hier sich von der glänzenden Seite zeigt. Er geht unbefangen an die Natur, weiss von keiner Physikotheologie, so etwas ist ihm nie in den Sinn gekommen, und nie hat er die Welt darauf angesehen, ob sie wohl ein Mach- werk wäre: er ist in seinem Herzen rein von dem Allen; wie er denn auch (De generat. anim., III, ii) Hypothesen über den Ursprung der Thiere und Men- sehen aufstellt, ohne dabei auf den physikotheologi- schen Gedankengang zu gerathen. Immer sagt er ii cpuoi? Tzoiei (natura facit), nie tj cpuoi? TrsTcotyjTai (natura Facta est). Aber nachdem er die Natur treu und fleis- sig studirt hat, findet er, dass sie überall zweckmäs- sig verfährt und sagt: fxatTjv opwjxsv ouosv iroiouoav nrjv cpuoiv (naturam nihil frustra facere cernimus); de respir., c. 10 — und in den Büchern de partibus ani- malium, welche eine vergleichende Anatomie sind: Ou8e TrepiepYov ouosv, outs |jLat7jv t) cpuoii; ttoiei. — 'H cpuoi? svexa tou ttoisi Travta. — Ilaviaj^ou Be Xsyofisv tooe Touoe evexa, oirou av cpaivTjxat tsXo? ti, T:po<; 6 ^ xiv^ok; Trepatvei" maxz sivai cpavspov, oti saxe Ti xotourov, 6 ot] xai xaXoufjisv cpuaiv. — E'iiet xo otofia op^avov' svsxa xivo? ^^P sxaoxov xtuv [xopituv, ojxoicdc xs xat xo öXov. (Nihil super- vacaneum, nihil frustra natura facit. — Natura rei alicujus gratia facit omnia. — Rem autem hanc esse illius gratia asserere ubique solemus, quoties finem intelligimus altiquem, in quem motus terminetur: • juocirca ejusmodi aliquid esse constat, quod Natu- ram vocamus. — Est enim corpus instrumentum: nam membrum unumquodque rei alicujus gratia est, tum vero totum ipsum.) Ausführlicher S. 645 und 633 der Berliner Quart-Ausgabe — wie auch De in- cessu animalium c. 2: 'H cpuan; ouosv rzoizi jxaxTjv, a)X aei, £x xcov ev8ej(0[i£va)V xt[j ouoia, Tiepi sxaoxov ^evo? Co>öu, xo apioxov. (Natura nihil frustra facit, sed semper ex iis, quae cuique animalium generis essentiae contin- gunt, id quod Optimum est.) Ausdrücklich aber emp- fiehlt er die Teleologie am Schlüsse der Bücher de generatione animalium, und tadelt den Deniokritos, dass er sie verleugnet habe, was Bakon, in seiner Be- fangenheit, an diesem gerade lobt. Besonders aber Physica, II, 8, p. 198, redet Aristoteles ex professo von den Endursachen und stellt sie als das wahre Princip der Naturbetrachtung auf. In der That muss jeder gute und regelrechte Kopf, bei Betrachtung der organischen Natur, auf Teleologie gerathen, jedoch keineswegs, wenn ihn nicht vorgefasste Meinungen bestimmen, weder auf Physikotheologie, noch auf die von Spinoza getadelte Anthropoteleologie. — Den 28* 435 Aristoteles überhaupt anlangend, will ich hier noch darauf aufmerksam machen, dass seine Lehren, so- weit sie die unorganische Natur betreffen, höchst feh- lerhaft und unbrauchbar sind, indem er in den Grund- be{jriffen der Mechanik und Physik den gröbsten Trrthümern huldigt, was um so unverzeihlicher ist, als schon vor ihm die Pythagoreer und Empedokles auf dem richtigen Wege gewesen waren und viel Besseres gelehrt hatten: hatte doch sogar, wie wir aus des Aristoteles zweitem Buche de coelo (c. I, p. 284) ersehen, Empedokles schon den Begriff einer der Schwere entgegenwirkenden, durch den Umschwung entstehenden Tangentialkraft gefasst, welche Aristo- teles wieder verwirft. Ganz entgegengesetzt nun aber verhält sich Aristoteles zur Betrachtung der organi- schen Natur: hier ist sein Feld, hier setzen seine rei- chen Kenntnisse, seine scharfe Beobachtung, ja mit- unter tiefe Einsicht, in Erstaunen. So, um nur ein Beispiel anzuführen, hatte er schon den Antagonismus erkannt, in welchem, bei den Wiederkäuern, die Hörner mit den Zähnen des Oberkiefers stehen, ver- möge dessen daher diese fehlen, wo jene sich finden, und umgekehrt (De partib. anim., III, 2). — Daher denn auch seine richtige Würdigung der Endur- sachen. KAPITEL 27. VOM INSTINKT UND KUNvSTTRIEB. ES ist als hätte die Natur zu ihrem Wirken nach lEndursachen und der dadurch herbeigeführten bewundrungswürdigen Zweckmässigkeit ihrer orga- nischen Produktionen, dem Forscher einen erläutern- den Kommentar an die Hand geben wollen, in den Kunsitriebcn der l'hiere. Denn diese zeigen aufs Deut- lichste, dass Wesen mit der {jrössten Entschiedenheit und Bestimmtheit auf einen Zweck hinarbeiten kön- 436 nen, den sie nicht erkennen, ja, von dem sie keine Vorstellung^ haben. Ein solcher nämlich ist das Vo- gelnest, die Spinnenwebe, die Ameisenlöwengrube, der so künstliche Bienenstock, der wundervolle Ter- mitenbau u. s. w., wenigstens für diejenigen thieri- schen Individuen, welche dergleichen zum ersten Mal ausführen; da weder die Gestalt des zu vollen- denden Werks, noch der Nutzen desselben ihnen be- kannt seyn kann. Gerade so aber wirkt auch die or- ganisirende Natur; weshalb ich, im vorigen Kapitel, von der Endursache die paradoxe Erklärung gab, dass sie ein Motiv sei, welches wirkt, ohne erkannt zu werden. Und wie im Wirken aus dem Kunsttriebe das dai'in Thätige augenscheinlich und eingeständ- lich der Wille ist; so ist er es wahrlich auch im Wir- ken der organisirenden Natur. Man könnte sagen: der Wille thierischer Wesen wird auf zwei verschiedene Weisen in Bewegung ge- setzt: entweder durch Motivation, oder durch Instinkt; also von Aussen, oder von Innen ; durch einen äus- sern Anlass, oder durch einen innern Trieb: jener ist erklärlich, weil er aussen vorliegt, dieser unerklär- lich, weil bloss innerlich. Allein, näher betrachtet, ist der Gegensatz zwischen Beiden nicht so scharf, ja, er läuft im Grunde auf einen Unterschied des Grades zurück. Das Motiv nämlich wirkt ebenfalls nur unter Voraussetzung eines innern Triebes, d. h. einer be- stimmten Beschaffenheit des Willens, welche man den Charakter desselben nennt: diesem giebt das je- desmalige Motiv nur eine entschiedene Richtung, — individualisirt ihn für den konkreten Fall. Eben so der Instinkt, obwohl ein entschiedener Trieb des Willens, wirkt nicht, wie eine Springfeder, durchaus nur von innen; sondern auch er wartet auf einen da- zu nothwendig erforderten äussern Umstand, welcher wenigstens den Zeitpunkt seiner Aeusserung be- stimmt: dergleichen ist für den Zugvogel die Jahres- zeit; für den sein Nest bauenden Vogel die gesche- hene Befruchtung und das ihm vorkommende Mate- rial zum Nest; für die Biene ist es, zu Anfang des Baues, der Korb, oder der hohle Baum, und zu den 437 folgenden Verriclitungen viele einzeln eintretende Umstände; für die Spinne ist es ein wohlgeeigneter Winkel ; für die Raupe das passende Blatt ; für das eier- legende Insekt der meistens sehr speciell bestimmte, oft seltsame Ort, wo die auskriechenden Larven so- gleich ihre Nahrung finden werden, u. s. f. Hieraus folgt, dass bei den Werken der Kunsttriebe zunächst der Instinkt, untergeordnet jedoch auch der Intellekt dieser Thiere tätig ist: der Instinkt nämlich giebt das Allgemeine, die Regel; der Intellekt das Besondere, die Anwendung, indem er dem Detail der Ausführung vorsteht, bei welchem daher die Arbeit dieser Thiere offenbar sich den jedesmaligen Umständen anpasst. Nach diesem Allen ist der Unterschied des Instinkts vom blossen Charakter so fest zu stellen, dass jener ein Charakter ist, der nur durch ein ganz speciell be- stimmtes Motiv in Bewegung gesetzt wird, weshalb die daraus hervorgehende Handlung allemal ganz gleichartig ausfällt; während der Charakter, wie ihn jede Thierspecies und jedes menschliche Individuum hat, zwar ebenfalls eine bleibende und unveränder- liche Willensbeschaffenheit ist, welche jedoch durch sehr verschiedene Motive in Bewegung gesetzt wer- den kann und sich diesen anpasst, weshalb die daraus hervorgehende Handlung, ihrer materiellen Beschaf- fenheit nach, sehr verschieden ausfallen kann, jedoch allemal den Stämpel desselben Charakters tragen, daher diesen ausdrücken und an den Tag legen wird, für dessen Erkenntniss mithin die materielle Beschaf- fenheit der Handlung, in der er hervortritt, im W^e- sentlichen gleichgültig ist: man könnte demnach den Instinkt erklären als einen über alle Maassen einseiti- gen und streng determinirten Charakter. Aus dieser Darstellung folgt, dass das Bestimmtwerden durch blosse Motivation schon eine gewisse Weite der Er- kenntnissphäre, mithin einen vollkommenei" entvvik- kelten Intellekt voraussetzt; daher es den oberen Thieren, ganz vorzüglich aber dem Menschen, eigen ist; während das Bestimmtwerden durch Instinkt nur so viel Intellekt erfordert, wie nöthig ist, das ganz speciell bestimmte eine Motiv, welches allein und aus- 438 schliesslich Anlass zur Aeusserung des Instinkts v\ird, wahrzunehmen; weshalb es bei einer äusserst be- schränkten Erkenntnissphäre und daher eben, in der Regel und im höchsten Grade, nur bei den Thieren der untern Klassen, namentlich den Insekten, Statt findet. Da demnach die Handlungen dieser Thiere nur einer äusserst einfachen und geringen Motivation von Aussen bedürfen, ist das Medium dieser, also der Intellekt oder das Gehirn, bei ihnen auch nur schwach entwickelt, und ihre äussern Handlungen stehen gros- sentheils unter der selben Leitung mit den innern, auf blosse Reize vor sich gehenden, physiologischen Funktionen, also dem Gangliensystem. Dieses ist da- her bei ihnen überwiegend entwickelt: ihr Haupt- Nervenstamm läuft, in Gestalt zweier Stränge, die bei jedem Gliede des Leibes ein Ganglion, welches dem Gehirn an Grösse oft nur wenig nachsteht, bilden, unter dem Bauche hin, und ist, nach Cuvie7\ ein Ana- logon nicht sowohl des Rückenmarks, als des gros- sen sympathischen Nerven. Diesem Allen gemäss ste- hen Instinkt und Leitung durch blosse Motivation in einem gewissen Antagonismus, in Folge dessen jener sein Maximum bei den Insekten, diese ihres beim Menschen hat und zwischen beiden die Aktuirung der übrigen Thiere liegt, mannigfaltig abgestuft, je nachdem bei jedem das Cerebral- oder das Ganglien- system überwiegend entwickelt ist. Eben weil das in- stinktive Thun und die Kunstverrichtungen der In- sekten hauptsächlich vom Gangliensystem aus gelei- tet werden, geräth man, wenn man dieselben als al- lein vom Gehirn ausgehend betrachtet und dem ge- mäss erklären will, auf Ungereimtheiten, indem man alsdann einen falschen Schlüssel anlegt. Der selbe Umstand giebt aber ihrem Thun eine bedeutsame Aehnlichkeit mit dem der Somnambulen, als welches ja ebenfalls daraus erklärt wird, dass, statt des Ge- hirns, der sympathische Nerv die Leitung auch der äussern Aktionen übernommen hat: die Insekten sind demnach gewissermaassen natürliche Somnambulen. Dinge, denen man geradezu nicht beikommen kann, muss man sich durch eine Analogie fasslich machen: 439 die soeben berührte wird dies in hohem Grade lei- sten, wenn wir dabei zu Hülfe nehmen, dass in Kie- sers Telliirismus (Bd. 2, S. aSo) ein Fall erwähnt wird, „wo der Befehl des Magnetiseurs an die Som- nambule, im wachenden Zustande eine bestimmte Handhmg vorzunehmen, von ihr, als sie erwacht war, ausgeführt waid, ohne dass sie sich des Befehls klar erinnerte". Ihr war also, als müsste sie jene Hand- lung verrichten, ohne dass sie recht wusste warum. Gewiss hat dies die grösste Aehnlichkeit mit Dem, was bei den Kunsttrieben in den Insekten vorgeht: der jungen Spinne ist, als müsste sie ihr Netz weben, obgleich sie den Zweck desselben nicht kennt, noch versteht. Auch werden wir dabei an das Dämonion des Sokrates erinnert, vermöge dessen er das Gefühl hatte, dass er eine ihm zugemuthete, oder nahe ge- legte Handlung unterlassen müsse, ohne dass er wuss- te warum : — denn sein prophetischer Traum dar- über war vergessen. Diesem analoge, ganz wohl kon- statirte Fälle haben wir aus unsern Tagen; daher ich dieselben nur kurz in Erinnerung bringe. Einer hatte seinen Platz auf einem Schiffe ackordirt: als aber die- ses absegeln sollte, wollte er, ohne sich eines Grun- des bewusst zu seyn, schlechterdings nicht an Bord : es gieng unter. Ein Anderer geht, mit Gefährten, nach einem Pulverthurm: in dessen Nähe angelangt will er durchaus nicht weiter, sondern kehrt, von Angst ergriffen, schleunig um, ohne zu wissen warum: der Thurm flog auf. Ein Dritter, auf dem Ocean, fühlt sich eines Abends, ohne allen Grund, bewogen, sich nicht auszuziehen, sondern legt sich in Kleidern und Stiefeln, sogar mit der Brille, auf das Bett: in der Nacht geräth das Schiff in Brand, und er ist unter den Wenigen, die sich im Boote retten. Alles Dieses beruht auf der dumpfen Nachwirkung vergessener fatidiker Träume und giebt uns den Schlüssel zu ei- nem analogischen Verständniss des Instinkts und der Kunsttriebe. Andererseits werfen, wie gesagt, die Kunsttriebe der Insekten viel Licht zurück auf das Wirken des erkenntnisslosen Willens im innern Getriebe des Or- ganismus und bei der Bildung desselben. Denn ganz ungezwungen kann man im Ameisenhaufen odei' im Bienenstock das Abbild eines auseinandergelegten und an das Licht der Erkenntniss gezogenen Orga- nismus erblicken. In diesem Sinne sagt i5Mrd'ac/j( Phy- siologie, Bd 2, S. 22): „Die Bildung und Geburt der Eier kommt der Königin, die Einsaat und Sorge für die Ausbildung den Arbeiterinnen zu: in jener ist der Eierstock, in diesen der Uterus gleichsam zum Indi- viduum geworden." Wie im thierischen Organismus, so in der Insektengesellschaft ist die vita propria je- des Theiles dem Leben des Ganzen untergeordnet, und die Sorge für das Ganze geht der für die eigene Existenz vor; ja, diese wird nur bedingt gewollt, je- nes unbedingt: daher werden sogar die Einzelnen dem Ganzen gelegentlich geopfert; wie wir ein Glied ab- nehmen lassen, um den jjanzen Leib zu retten. So z. ß., wenn dem Zuge der Ameisen der Weg durch Wasser ges|)errt ist, werfen sich die vordersten kühn hinein, bis ihre Leichen sit:h zu einem Damm für die nachfolgenden gehäuft haben. Die Drohnen, wann unnütz j;eworden, werden erstochen. Zwei Königin- nen im Stocke werden umringt und müssen mit ein- ander kämpfen, bis eine von ihnen das Leben lässt. Die Ameisen mutter, nachdem das Befruchtungsge- schäft vorüber ist, beisst sich selbst die Flügel ab, die bei ihrem nunmehrigen Verpflegungsgeschäft einer neu zu gründenden Familie, unter der Erde, nur hin- derlich seyn würden. (Kirby and Spence, Vol. i.) Wie die Leber nichts weiter will, als Galle absondern zum Dienste der Verdauung, ja, bloss dieses Zweckes halber selbst daseyn will, und eben so jeder andere Theil; so will auch die Arbeitsbiene weiter nichts als Honig sammeln. Wachs absondern und Zellen bauen, für die Brut der Königin; die Drohne weiter nichts, als befruchten; die Königin nichts, als Eier legen: alle Theile also arbeiten bloss für den Bestand des Ganzen, als welches allein der unbedingte Zweck ist; gerade wie die Theile des Organismus. Der Unter- schied ist bloss, dass im Organismus der Wille völlig blind wirkt, in seiner Ursprünglichkeit; in der Insek- 44 1 ten gesell scbaft hingegen die Sache schon am Lichte der Erkeuntniss vor sich geht, welcher jedoch nur in den Zulülligkeitcn des Details eine entschiedene Mit- wirkung und selbst einige Wahl überlassen ist, als wo sie aushilft luid das Auszuführende den Umstän- den anpasst. Den Zweck im Ganzen aber wollen die Insekten, ohne ihn zu erkennen; eben wie die nach Endursachen wirkende organische Natur: auch ist nicht die Wahl der Mittel im Ganzen, sondern bloss die nähere Anordnung derselben im Einzelnen, ihrer Erkeuntniss überlassen. Daher aber eben ist ihr Han- dein keineswegs maschinenmässig; was am deutlich- sten sichtbar wird, wenn man ihrem Treiben Hin- dernisse in den Weg legt. Z B. die Raupe spinnt sich in Blätter, ohne Kenntniss des Zwecks; aber zerstört man das Gespinnst, so flickt sie es geschickt aus. Die Bienen passen ihren Bau schon Anfangs den vorge- fundenen Umständen an, und eingetretenen Unfällen, wie absichtlichen Zerstörungen, helfen sie auf das für den hesondern Fall Zweckmässigste ab. (Kirby and Spence, Introd. to entomol. — Huber, Des abeilles.) Dergleichen erregt unsere Bewunderung; weil die Wahrnehmung der Umstände und das Anpassen an dieselben offenbar Sache der Erkeuntniss ist; während wir die künstlichste Vorsorge für das kommende Ge- schlecht und die ferne Zukunft ihnen ein für alle Mal zutrauen, wohl wissend, dass sie hierin nicht von der Erkeuntniss geleitet werden: denn eine von die- ser ausgehende Vorsorge der Art verlangt eine bis zur Vernunft gesteigerte Gehirnthätigkeit. Hingegen dem Modifiziren und Anordnen des Einzelnen, ge- mäss den vorliegenden oder eintretenden Umständen, ist selbst der Intellekt der untern Thiere gewachsen; weil er, vom Instinkt geleitet, nur die Lücken, wel- che dieser lässt, auszufüllen hat. So sehen wir die Ameisen ihre Larven wegschleppen, sobald der Ort zu feucht, und wieder, sobald er zu dürre wird: den Zweck kennen sie nicht, sind also darin nicht von der Erkeuntniss geleitet; aber die Wahl des Zeitpunk- tes, wo der Ort nicht mehr den Larven dienlich ist, wie auch die eines andern Orts, wohin sie dieselben 442 jetzt bririjOfen, bleibt ihrer Erkenntniss überlassen, — Hier will ich noch eine Thatsache erwähnen, die mir Jemand mündlich aus eigener Erfahrung mitgetheilt hat; wiewohl ich seitdem finde, dass Burdach sie nach Gleditsch anführt. Jener hatte, um den Todtengrä- ber (Necrophorus vespillo) zu prüfen, einen auf der Erde liegenden todten Frosch an einen Faden ge- bunden, welcher am obern Ende einer schräg im Bo- den steckenden Ruthe befestigt war: nachdem nun einige Todtengräber, ihrer Sitte gemäss, den Frosch untergraben hatten, konnte dieser nicht, wie sie er- warteten, in den Boden sinken: nach vielem verlege- nen Hin- und Herlaufen untergruben sie auch die Ruthe. — Dieser dem Instinkt geleisteten Nachhülfe und jenem Ausbessern der Werke des Kunsttriebes finden wir, im Organismus, die Heilkraft der Natur analog, als welche nicht nur Wunden vernarbt, selbst Knochen- und Nerven-Masse dabei ersetzend, son- dern auch, wenn, durch Verlust eines Ader- oder Nerven-Zweiges eine Verbindung unterbrochen ist, eine neue eröffnet, mittelst Vergrösserung anderer Adern oder Nerven, ja vielleicht gar durch Hervor- treibung neuer Zweige; welche ferner für einen er- krankten Theil, oder Funktion, eine andere vikariren lässt; beim Verlust eines Auges das andeie schärft, und beim Verlust eines Sinnes alle übrigen; welche sogar eine an sich tödtliche Darmwunde bisweilen durch Anwachsen des Mesenterii oder Peritonaei schliesst; kurz, auf das Sinnreichste jedem Schaden und jeder Störung zu begegnen sucht. Ist hingegen der Schaden durchaus unheilbar, so eilt sie den Tod zu beschleunigen, und zwar um so mehr, je höherer Art, also je empfindlicher der Organismus ist. Sogar dies hat sein Analogon im Instinkt der Insekten: die Wespen nämlich, welche, den ganzen Sommer hin- durch, ihre Larven, mit grosser Mühe und Arbeit, vom Ertrag ihrer Räubereien aufgefüttert haben, nun aber, im Oktober, die letzte Generation dersel- ben dem Hungertode entgegengehen sehen, erstechen diese. (Kirby and Spence, Vol. I, p. 374) Ja, noch seltsamere und speciellere Analogien lassen sich auf- 443 finden, z. B. diese: wenn die weibliche Hummel (apis terrestris, bombylius) Eier le{}t, erjjreift die Arbeits- humuiel ein Dran^j, die Eier zu verschlingen, welcher sechs bis acht Stunden anhält und befriedigt wird, wenn nicht die Mutter sie abwehrt und die Eier sorg- sam bewacht. Nach dieser Zeit aber zeigen die Ar- beitshumtneln durchaus keine Lust, die Eier, selbst wenn ihnen dargeboten, zu fressen; vielmehr werden sie jetzt die eifrigen I^fleger und Ernährer der aus- kriechenden Larven. Dies lässt sich ungezwungen aus- legen als ein Analogen der Kinderkrankheiten, na- mentlich des Zahnens, als bei welchem gerade die künftigen Ernährer des Organismus einen Angriff auf denselben thun, der so häufig ihm das Leben kostet. — Die Betrachtung aller dieser Analogien zwischen dem organischen Leben und dem Instinkt, nebst Kunsttrieb der unteren Thiere, dient, die Ueber- zeugung, dass dem Einen wie dem Andern der JFille zum Grunde liegt, immer mehr zu befestigen, indem sie die untergeordnete, bald mehr, bald weniger be- schränkte, bald ganz wegfallende Rolle der Erkennt- niss, beim Wirken desselben, auch hier nachweist. Aber noch in einer andern Rücksicht erläutern die Instinkte und die thierische Organisation sich wech- selseitig: nämlich durch die in Beiden hervortretende Anticipation des Zukünftigen. Mittelst der Instinkte und Kunsttriebe sorgen die Thiere für die Befriedigung solcher Bedürfnisse, die sie noch nicht fühlen, ja, nicht nur der eigenen, sondern sojjar der ihrer künftigen Brut: sie arbeiten also auf einen ihnen noch unbe- kannten Zweck hin: dies geht, wie ich im „Willen in der Natur", S. 45 (zweite Aufiage) am Beispiel des Bom- bex erläutert habe, so weit, dass sie die Feinde ihrer künftigen Eier schon zum voraus verfolgen und tödten. Eben so nun sehen wir in der ganzen Korporisation eines Thieres seine künftigen Bedürfnisse, seine einsti- gen Zwecke, durch die organischen Werkzeuge zu ihrer Erreichung und Befriedigung anticipirt; woraus denn jene vollkommene Angemessenheit des Baues je- des Thieres zu seiner Lebensweise, jene Ausrüstung desselben mit den ihm nöthigen Waffen zum Angritt' 44 i seiner Beute und zur Abwehr seiner Feinde, und jene Berechnung seiner ganzen Gestalt auf das Element und die Umgebung, in welcher er als Verfolger auf- zutreten hat, hervorgeht, welche ich in der Schrift über den Willen in der Natur, unter der Rubrik „Ver- gleichende Anatomie", ausführlich geschildert habe. — Alle diese sowohl im Instinkt, als in der Organi- sation der Thiere hervortretenden Anticipationen könn- ten wir unter den Begriff einer Erkenntniss a priori bringen, wenn denselben überhaupt eine Ei^kenntniss zum Grunde läge. Allein dies ist, wie gezeigt, nicht der Fall : ihr Ursprung liegt tiefer, als das Gebiet der Erkenntniss, nämlich imWillen als demDinge an sich, der als solcher auch von den Formen der Erkenntniss frei bleibt; daher in Hinsicht auf ihn die Zeit keine Bedeutung hat, mithin das Zukünftige ihm so nahe liegt, wie das Gegenwärtige. KAPITEL 28*). CHARAKTERISTIK DES V^ILLENS ZUM LEBEN. UNSER zweites Buch schliesst mit der Frage nach dem Ziel und Zweck jenes Willens, dersich als das Wesen an sich aller Dinge der Welt ergeben hatte. Die dort im Allgemeinen gegebene Beantwortung der- selben zu ergänzen, dienen die folgenden Betrachtun- gen, indem sie den Charakter jenes Willens überhaupt darlegen. Eine solche Charakteristik ist darum möglich, weil wir als das innere Wesen der Welt etwas durchaus Wirkliches und empirisch Gegebenes erkannt haben. Hingegen schon die Benennung „W^eltseele", wodurch Manche jenes innere Wesen bezeichnet haben, giebt statt desselben ein blosses ens rationis : denn „Seele" *) Dieses Kapitel bezieht sich auf §. ap des ersten Bandes [S. 198 d. A.] 44i besagt eine individuelle Einheit des Bewusstseyns, die offenbar jenem Wesen nicht zukommt, und überhaupt ist der Begriff „Seele", weil er Erkennen und Wollen in unzertrennlicher Verbindung und dabei doch un- abhängig vom animaliscben Organismus hypostasirt, nicht zu rechtfertigen, also nicht zu gebrauchen. Das Wort sollte nie anders als in tropischer Bedeutung angewendet werden : denn es ist keineswegs so unver- fänglich, wie ^oyri oder anima, als welche Athem be- deuten. — Noch viel unpassender jedoch ist die Ausdrucks- weise der sogenannten Pantheisten, deren ganze Phi- losophie hauptsächlich darin besteht, dass sie das in- nere, ihnen unbekannte Wiesen der Welt „Gott" be- titeln; womit sie sogar viel geleistet zu haben meynen. Danach wäre denn die Welt eine Theophanie. Man sehe sie doch nur ein Mal darauf an, diese Welt be- ständig bedürftiger Wiesen, die bloss dadurch, dass sie einander auffressen, eine Zeitlang bestehen, ihr Da- seyn unter Angst und Noth durchbringen und oft ent- setzliche Quaalen erdulden, bis sie endlich dem Tode in die Arme stürzen: wer dies deutlich ins Augefasst, wird dem Aristoteles Recht geben, wenn er sagt: r^ «puai? oai[xovia, akV ou Osta soti (natura daemonia est, non divina); de divinat., c. 2, p. 4^3; ja, er wird ge- stehen müssen, dass einen Gott, der sich hätte beige- hen lassen, sich in eine solche Welt zu verwandeln, doch wahrlich der Teufel geplagt haben müsste. — Ich weiss es wohl, die vorgeblichen Philosophen dieses Jahrhunderts thun es dem Spinoza nach und halten sich hiedurch gerechtfertigt. Allein Spinoza hatte be- sondere Gründe, seine alleinige Substanz so zu benen- nen, um nämlich wenigstens das Wort, wenn auch nicht die Sache, zu retten. Giordano Brunos und Va- nini's Scheiterhaufen waren noch in frischem Anden- ken : auch Diese nämlich waren jenem (rott geopfert worden, für dessen Ehre, ohne allen Vergleich, mehr Menschenopfer geblutet haben, als auf den Altären aller heidnischen Götter beider Hemisphären zusam- mengenommen. Wenn daher Spinoza die Welt Gott benennt; so ist es gerade nur so, wie wenn Rousseau, 446 im Contrat social, stets und durchgängig mit den» Wort le souverain das Volk bezeichnet: auch könnte man es damit vergleichen, dass einst ein Fürst, welcher beabsichtigte, in seinem Lande den Adel abzuschaffen, auf den Gedanken kam, um Keinem das Seine zu neh- men, alle seine Unterthanen zu adeln. Jene Weisen un- serer Tage haben freilich für die in Rede stehende Benennung noch einen andern Grund, der aber um nichts triftiger ist. Sie alle nämlich gehen, bei ihrem Philosophiren, nicht von der Welt oder unserm Be- wusstseyn von dieser aus, sondern von Gott, als einem Gegebenen und Bekannten : er ist nicht ihr quaesitum, sondern ihr datum. Wären sie Knaben, so würde ich ihnen darthun, dass dies eine petitio principii ist: je- doch sie wissen es, so gut wie ich. Allein nachdem Kant bewiesen hat, dass der Weg des frühern, red- lich verfahrenden Dogmatismus, von der Welt zu einem Gott, doch nicht dahin führe; — da mevnen nun diese Herren, sie hätten einen feinen Ausweg ge- funden und machten es pfiffig. Der Leser späterer Zeit verzeihe, dass ich ihn von Leuten unterhalte, die er nicht kennt. Jeder Blick auf die Welt, welche zu erklären die Aufgabe des Philosophen ist, bestätigt und bezeugt, dass Wille zum Leben^ weit entfernt eine beliebige Hypostase, oder gar ein leeres Wort zu seyn, der allein wahre Ausdruck ihres innersten Wesens ist. Alles drängt und treibt zum Daseyn, wo möglich zum o?- ganischen, d. i. zum Leben, und danach zur möglich- sten Steigerung desselben : an der thierischen Natur wird es dann augenscheinlich, dass IVille zum Leben der Grundton ihres Wesens, die einzige unwandel- bare und unbedingte Eigenschaft desselben ist. Man betrachte diesen universellen Lebensdrang, man sehe die unendliche Bereitwilligkeit, Leichtigkeit und Uep- pigkeit, mit welcher der Wille zum Leben, unter Millionen Formen, überall und jeden Augenblick, mittelst Befruchtungen und Keimen, ja, wo diese man- geln, mittelst generatio aequivoca, sich ungestüm ins Daseyn drängt, jede Gelegenheit ergreifend, jeden lebensfähigen Stoff begierig an sich reissend: und 447 tiann wieder werfe man einen Blick auf den entsetz- lichen Allarm und wilden Aufruhr desselben, wann er in irgend einer einzelnen Erscheinung aus dem Da- seyn weichen soll; zumal wo dieses bei deutlichem Bewusstseyn eintritt. Da ist es nicht anders, als ob in dieser einzigen Erscheinung die ganze Welt auf immer vernichtet werden sollte, und das ganze We- sen eines so bedrohten Lebenden verwandelt sich so- fort in das verzweifelteste Sträuben und Wehren gegen den Tod. Man sehe z. B. die unglaubliche Angsteines Menschen in Lebensgefahr, die schnelle und so ernst- liche Theilnahme jedes Zeugen derselben und den gränzenlosen Jubel nach der Rettung. Man sehe das starre Entsetzen, mit welchem ein Todesurtheil ver- nommen wird, das tiefe Grausen, mit welchem wir die Anstalten zu dessen Vollziehung erblicken, und das herzzerreissende Mitleid, welches uns bei dieser selbst ergreift. Da sollte man glauben, dass es sich um etwas ganz Anderes handelte, als bloss um einige Jahre weniger einer leeren, traurigen, durch Plagen jeder Art verbitterten und stets ungewissen Existenz; vielmehr müsste man denken, dass Wunder was dar- an gelegen sei, ob Einer etliche Jahre früher dahin gelangt, wo er, nach einer ephemeren Existenz, Billi- onen Jahre zu seyn hat. — An solchen Erscheinun- gen also wird sichtbar, dass ich mit Recht als das nicht weiter Erklärliche, sondern jederErklärung zum Grunde zu Legende, den Willen zum Lehen gesetzt habe, und dass dieser, weit entfernt, wie das Absolu- tum, das Unendliche, die Idee und ähnliche Aus- drücke mehr, ein leerer Wortschall zu seyn, das Al- lerrealste ist, was wir kennen, ja, der Kern der Rea- lität selbst. Wenn wir nun aber, von dieser aus unserm Innern {jeschöpften Interpretation einstweilen abstrahirend, uns der Natur fremd gegenüber stellen, um sie ob- jektiv zu erfassen; so finden wir, dass sie, von der Stufe des organischen Lebens an, nur eine Absicht hat: die der Erhaltung aller Gattungen. Auf diese ar- beitet sie hin, durch die unermessliche Ueberzahl von Keimen, durch die dringende Heftigkeit des Ge- 448 schlechtstriebes, durch dessen Bereitwilligkeit sich al- len Umständen und Gelegenheiten anzupassen, bis zur Bastarderzeugung, und durch die instinktive Mut- terliebe, deren Stärke so gross ist, dass sie, in vielen Thierarten, die Selbstliebe überwiegt, so dass die Mut- ter ihr Leben opfert, um das des Jungen zu retten. Das Individuum hingegen hat für die Natur nur einen indirekten Werth, nämlich nur sofern es das Mittel ist, die Gattung zu erhalten. Ausserdem ist ihr sein Daseyn gleichgültig, ja, sie selbst führt es dem Un- tergang entgegen, sobald es aufhört zu jenem Zwecke tauglich zu seyn. Wozu das Individuum da sei, wäre also deutlich: aber wozu die Gattung selbst? dies ist eine Frage, auf welche die bloss objektiv betrachtete Natur die Antwort schuldig bleibt. Denn vergeblich sucht man, bei ihrem Anblick, von diesem rastlosen Treiben, diesem ungestümen Drängen ins Daseyn, dieser ängstlichen Sorgfalt für die Erhaltung der Gat- tungen, einen Zweck zu entdecken. Die Kräfte und die Zeit der Individuen gehen auf in der Anstrengung für ihren und ihrer Jungen Unterhalt, und reichen nur knapp, bisweilen selbst gar nicht dazu aus. Wenn aber auch hier und da ein Mal ein Ueberschuss von Kraft und dadurch von Wohlbehagen — bei der einen vernünftigen Gattung, auch wohl von Erkenntniss — bleibt, so ist dies viel zu unbedeutend, um für den Zweck jenes ganzen Treibens der Natur gelten zu können. — Die ganze Sache so rein objektiv und so- gar fremd ins Auge gefasst, sieht es gerade aus, als ob der Natur bloss daran gelegen wäre, dass von allen ihren (Platonischen) Ideen, d, i. permanenten Formen, keine verloren gehen möge; danach hätte sie in der glücklichen Erfindung und Aneinanderfügung dieser Ideen (zu der die drei vorhergegangenen Thierbevöl- kerungen der Erdoberfläche die Vorübung gewesen) sich selber so gänzlich genug gethan, dass jetzt ihre einzige Besorgniss wäre, es könne irgend einer dieser schönen Einfälle verloren gehen, d. i. irgend eine je- ner Formen könne aus der Zeit und Kausalreihe ver- schwinden. Denn die Individuen sind flüchtig, wie das Wasser im Bach, die Ideen hingegen beharrend, 29 Schopenhauer II 449 wie dessen Strudel: nur das Versiegen des Wassers würde auch sie vernichten. — Bei dieser räthselhaf- ten Ansicht müssten wir stehen bleiben, wenn die Natur uns allein von aussen, also bloss objektiv gege- ben wäre, und wir sie, wie sie von der Erkenntniss aufgefasst wird, auch als aus der Erkenntniss, d. i. im Gebiete der Vorstellung, entsprungen annehmen und demnach, bei ihrer Enträthselung, auf diesen» Gebiete uns halten müssten. Allein es verhält sich an- ders, und allerdings ist uns ein Blick ins Innere der Natur gestattet; sofern nämlich dieses nichts Anderes, als unser eigenes Inneres ist, woselbst gerade die Na- tur, auf der höchsten Stufe, zu welcher ihr Treiben sich hinaufarbeiten konnte, angekommen, nun vom Lichte der Erkenntniss, im Selbstbewusstseyn, unmit- telbar getroifen wird. Hier zeigt sich uns der Wille, als ein von der Vorstellung, in der die Natur, zu allen ihren Ideen entfaltet, dastand, toto genere Verschie- denes, und giebt uns jetzt, mit Einem Schlage, den Aufschluss, der auf dem bloss objektiven Wege der Vorstellung nie zu finden war. Das Subjektive also giebt hier den Schlüssel zur Auslegung des Objektiven. Um den oben, zur Charakteristik dieses Subjekti- ven, oder des Willens, dargelegten, überschwänglich starken Hang aller Thiere und Menschen, das Leben zu erhalten und möglichst lange fortzusetzen, als ein Ursprüngliches und Unbedingtes zu erkennen, ist noch erfordert, dass wir uns deutlich machen, dass derselbe keineswegs das Resultat irgend einer objek- tiven Erkenntniss vom Werthe des Lebens, sondern von aller Erkenntniss unabhängig sei; oder, mit an- dern Worten, dass jene Wesen nicht als von vorne gezogen, sondern als von hinten getrieben sich dar- stellen. Wenn man, in dieser Absicht, zuvörderst die unab- sehbare Reihe der Thiere mustert, die endlose Man- nigfaltigkeit ihrer Gestalten betrachtet, wie sie, nach Element und Lebensweise, stets anders modificirt sich darstellen, dabei zugleich die unerreichbare und in jedem Individuo gleich vollkommen ausgeführte Künstlichkeit des Baues und Getriebes derselben er- 45o wägt, und endlich den unglaublichen Aufwand von Kraft, Gewandtheit, Klugheit und Thätigkeit, den je- des Thier, sein Leben hindurch, unaufhörlich zu ma- chen hat, in Betrachtung nimmt; wenn man, näher darauf eingehend, z. B. die rastlose Emsigkeit kleiner, armsäliger Ameisen, die wundervolle und künstliche Arbeitsamkeit der Bienen sich vor Augen stellt, oder zusieht, wie einzelner Todtengräber (Necrophorus Vespillo) einen Maulwurfvon vierzig Mal seiner eigenen Grösse in zwei Tagen begräbt, um seine Eier hinein- zulegen und der künftigen Brut Nahrung zu sichern {Gleditsch, Physik. Bot. Oekon., Abhandl. III, 220), hiebei sich vergegenwärtigend, wie überhaupt das Le- ben der meisten Insekten nichts als eine rastlose Ar- beit ist, um Nahrung und Aufenthalt für die aus ihren Eiern künftig erstehende Brut vorzubereiten, welche dann, nachdem sie die Nahrung verzehrt und sich verpuppt hat, ins Leben tritt, bloss um dieselbe Ar- beit von vorne wieder anzufangen; dann auch, wie, dem ähnlich, das Leben der Vögel grösstentheils hin- geht mit ihrer weiten und mühsamen Wanderung, dann mit dem Bau des Nestes und Zuschleppen der Nahrung für die Brut, welche selbst, im folgenden Jahre, die nämliche Rolle zu spielen hat, und so Alles stets für die Zukunft arbeitet, welche nachher Bank- rott macht; — da kann man nicht umhin, sich umzu- sehen nach dem Lohn für alle diese Kunst und Mühe, nach dem Zweck, welchen vor Augen habend dieThiere so rastlos streben, kurzum zu fragen: Was kommt dabei heraus? Was wird erreicht durch das thierische Daseyn, welches so unübersehbare Anstalten erfor- dert? — Und da ist nun nichts aufzuweisen, als die Befriedigung des Hungers und des Begattungstriebes, und allenfalls noch ein wenig augenblickliches Be- hagen, wie es jedem thierischen Individuo, zwischen seiner endlosen Noth und Anstrengung, dann und wann zu Theil wird. Wenn man Beides, die unbe- schreibliche Künstlichkeit der Anstalten, den unsäg- lichen Reichthum der Mittel, und die Dürftigkeit des dadurch Bezweckten und Erlangten neben einander hält; so dringt sich die Einsicht auf, dass das Leben 119* 4^1 ein Geschäft ist, dessen Ertrag bei Weitem nicht die Kosten deckt. Am augenfaUigsten wird Dies an man- chen Thieren von besonders einlacher Lebensweise. Man betrachte z. B. den Maulwurf, diesen unermüd- hchen Arbeiter. Mit seinen übermässigen Schaufel- pfoten angestrengt zu graben, — ist die Beschäftigung seines ganzen Lebens: bleibende Nacht umgiebt ihn: seine embryonischen Augen hat er bloss, um das Licht zu fliehen. Er allein ist ein wahres animal nocturnum; nicht Katzen, Eulen und Fledermäuse, die bei Nacht sehen. Was aber nun erlangt er durch diesen mühe- vollen und freudenleeren Lebenslauf? Futter und Be- gattung: also nur die Mittel, die selbe traurige Bahn fortzusetzen und wieder anzufangen im neuen Indi- viduo. An solchen Beispielen wird es deutlich, dass zwischen den Mühen und Plaf'en des Lebens und dem Ertrag oder Gewinn desselben kein Verhältniss ist. Dem Leben der sehenden Thiere giebt das Bewusst- seyn der anschaulichen Welt, obwohl es bei ihnen durchaus subjektiv und auf die Einwirkung der Mo- tive beschränkt ist, doch einen Schein von objektivem Werth des Daseyns. Aber der blinde Maulwurf, mit seiner so vollkommenen Organisation und seiner rast- losen Thätigkeit, auf den Wechsel von Insektenlar- ven und Hungern beschränkt, macht die Unangemes- senheit der Mittel zum Zweck augenscheinlich. — In dieser Hinsicht ist auch die Betrachtung der sich sel- ber überlassenen Thierwelt, in menschenleeren Län- dern, besonders belehrend. Ein schönes Bild einer solchen und der Leiden, welche ihr, ohne Zuthun des Menschen, die Natur selbst bereitet, giebt Hum- boldt in seinen „Ansichten der Natur", zweite Auf- lage, S. 3o fg.: auch unterlässt er nicht, S. 44? ^uf das analoge Leiden des mit sich selbst allezeit und überall entzweiten Menschengeschlechts einen Blick zu werfen. Jedoch wird am einfachen, leicht überseh- baren Leben der Thiere die Nichtigkeit und Vergeb- lichkeit des Strebens der ganzen Erscheinung leichter fasslich. Die Mannigfaltigkeit der Organisationen, die Künstlichkeit der Mittel, wodurch jede ihrem Ele- ment und ihrem Raube angepasst ist, kontrastirt hier 452 deutlich mit dem Mangel irgend eines haltbaren End- zweckes; statt dessen sich nur augenblickliches Be- hagen, flüchtiger, durch Mangel bedingter Genuss, vieles und langes Leiden, beständiger Kampf, bellum omnium. Jedes ein Jäger und Jedes gejagt, Gedränge, Mangel, Noth und Angst, Geschrei und Geheul dar- stellt: und das geht so fort, in secula seculorum, oder bis ein Mal wieder die Rinde des Planeten bricht. Junghxihn erzählt, dass er auf Java ein unabsehbares Feld ganz mit Gerippen bedeckt erblickt und für ein Schlachtfeld gehalten habe: es waren jedoch lauter Gerippe grosser, fünf Fuss langer, drei Fuss breiter und eben so hoher Schildkröten, welche, um ihre Eier zu legen, vom Meere aus, dieses Weges gehen und dann von wilden Hunden (Canis rutilans) angepackt werden, die, mit vereinten Kräften sie auf den Rücken legen, ihnen den untern Harnisch, also die kleinen Schilder des Bauches, aufreissen und so sie lebendig verzehren. Oft aber fällt alsdann über die Hunde ein Tiger her. Dieser ganze Jammer nun wiederholt sich tausend und aber tausend Mal, Jahr aus, Jahr ein. Dazu werden also diese Schildkröten geboren. Für welche Verschuldung müssen sie diese Qual leiden? Wozu die ganze Gräuelscene? Darauf ist die alleinige Antwort: so objektivirt sich der ff^illezum Leben. Man betrachte ihn wohl und fasse ihn auf, in allen seinen Objektivationen: dann wird man zum Verständniss seines Wesens und der Welt gelangen; nicht aber wenn man allgemeine Begriffe konstruirt und daraus Kartenhäuser baut. Die Auffassung des grossen Schau- spiels der Objektivation des Willens zum Lehen und die Charakteristik seines Wesens erfordert freilich et- was genauere Betrachtung und grösserer Ausführlich- keit, als die Abfertigung der Welt dadurch, dass man ihr den Titel Gott belegt, oder, mit einer Niaiserie, wie sie nur das Deutsche Vaterland darbietet und zu geniessen weiss, erklärt, es sei die „Idee in ihrem An- dersseyn", — woran die Pinsel meiner Zeit zwanzig Jahre hindurch ihr unsägliches Genügen gefunden haben. Freilich: nach dem Pantheismus oder Spino- zismus, dessen blosse Travestien jene Systeme unseres Jahrhunderts sind, haspelt das Alles sich wirklich ohne Ende, die Ewigkeit hindurch so fort. Denn da ist die Welt ein Gott, ens perfectissimum : d. h. es kann nichts Besseres geben, noch gedacht werden. Also bedarf es keiner Erlösung daraus; folglich giebt es keine. Wozu aber die ganze Tragikomödie da sei, ist nicht entfernt abzusehen; da sie keine Zuschauer hat und die Akteurs selbst unendliche Plage ausstehen, bei wenigem und bloss negativem Genuss. Nehmen wir jetzt noch die Betrachtung des Men- schengeschlechts hinzu; so wird die Sache zwar kom- plicirter und erhält einen gewissen ernsten Anstrich : doch bleibt der Grundcharakter unverändert. Auch hier stellt das Leben sich keineswegs dar als ein Ge- schenk zum Geniessen, sondern als eine Aufgabe, ein Pensum zum Abarbeiten, und dem entsprechend sehen wir, im Grossen wie im Kleinen, allgemeine Noth, rast- loses Mühen, beständiges Drängen, endlosen Kampf, erzwungene Thätigkeit, mit äusserster Anstrengung aller Leibes- und Geisteskräfte. Viele Millionen, zu Völkern vereinigt, streben nach dem Gemeinwohl, je- der Einzelne seines eigenen wegen; aber viele Tau- sende fallen als Opfer für dasselbe. Bald unsinniger Wahn, bald grübelnde Politik, hetzt sie zu Kriegen auf einander: dann muss Seh weiss und Blut des gros- sen Haufens fliessen, die Einfälle Einzelner durchzu- setzen, oder ihre Fehler abzubüssen. Im Frieden ist Industrie und Handel thätig, Erfindungen thun Wun- der, Meere weiden durchschifft, Leckereien aus allen Enden der Welt zusammengeholt, die Wellen ver- schlingen Tausende. Alles treibt, die Einen sinnend, die Andern handelnd, der Tumult ist unbeschreib- lich. — Aber der letzte Zweck von dem Allen, was ist er? Ephemere und geplagte Individuen eine kurze »Spanne Zeit hindurch zu erhalten, im glücklichsten Fall mit erträglicher Noth und komparativer Schmerz- losigkeit, der aber auch sogleich die Langeweile auf- passt; sodann die Fortpflanzung dieses Geschlechts und seines Treibens. — Bei diesem offenbaren Miss- verhältniss zwischen der Mühe und dem Lohn, er- scheint uns, von diesem Gesichtspunkt aus, der Wille zum Leben, objektiv genommen, als ein Thor, oder subjektiv, als ein Wahn, von welchem alles Lebende ergriffen, mit äusserster Anstrengung seiner Kräfte, auf etwas hinarbeitet, das keinen Werth hat. Allein bei genauerer Betrachtung werden wir auch hier fin- den, dass er vielmehr ein blinder Drang, ein völlig grundloser, unmotivirter Trieb ist. Das Gesetz der Motivation nämlich erstreckt sich, wie §. 29 des ersten Bandes ausgeführt worden, nur auf die einzelnen Handlungen, nicht auf das Wollen im Ganzen und überhaupt. Hierauf beruht es, dass wenn wir das Menschengeschlecht und sein Treiben im Gan- zen und Allgemeinen auffassen, dasselbe sich uns nicht, wie wenn wir die einzelnen Handlungen im Auge haben, darstellt als ein Spiel von Puppen, die nach Art der gewöhnlichen, durch äussere Fäden gezogen werden; sondern von diesem Gesichtspunkt aus, als Puppen, welche ein inneres Uhrwerk in Bewegung setzt. Denn, wenn man, wie im Obigen geschehen, das so rastlose, ernstliche und mühevolle Treiben der Menschen vergleicht mit dem, was ihnen dafür wird, ja auch nur jemals werden kann, so stellt das darge- legte Missverhältniss sich heraus, indem man erkennt, dass das zu Erlangende, als bewegende Kraft genom- men, zur Erklärung jener Bewegung und jenes rast- losen Treibens durchaus unzulänglich ist. Was näm- lich ist denn ein kurzer Aufschub des Todes, eine kleine Erleichterung der Noth, Zurückschiebung des Schmerzes, momentane Stillung des Wunsches, — bei so häufigem Siege jener Allen und gewissem des To- des? Was könnten dergleichen Vortheile vermögen, genommen als wirkliche Bewegungsursachen eines, durch stete Erneuerung, zahllosen Menschenge- schlechts, welches unablässig sich rührt, treibt, drängt, quält, zappelt und die gesammte tragikomische Welt- geschichte aufführt, ja, was mehr als Alles sagt, aus- harrt in einer solchen Spottexistenz, so lange als Je- dem nur möglich? — Offenbar ist das Alles nicht zu erklären, wenn wir die bewegenden Ursachen ausser- halb der Figuren suchen und das Menschengeschlecht uns denken als in Folge einer vernünftigen Ueber- legung, oder etwas dieser Analoges (als ziehende Fä- den), strebend nach jenen ihm dargebotenen Gütern, deren Erlangung ein angemessener Lohn wäre für sein rastloses Mühen und Plagen. Die Sache so ge- nommen würde vielmehr Jeder längst gesagt haben le jeu ne vaut pas la chandelle und hinaus gegangen seyn. Aber, im Gegentheil, Jeder bewacht und be- schützt sein Leben, gleichwie ein ihm bei schwerer Verantwortlichkeit anvertrautes theures Pfand, unter endloser Sorge und häufiger Noth, darunter eben das Leben hingeht. Das Wofür und Warum, den Lohn dafür sieht er freilich nicht; sondern er hat den W^erth jenes Pfandes unbesehens, auf Treu und Glauben, an- genommen, und weiss nicht worin er besteht. Daher habe ich gesagt, dass jene Puppen nicht von aussen gezogen werden, sondern jede das Uhrwerk in sich trägt, vermöge dessen ihre Bewegungen erfolgen. Die- ses ist der Wille zum Leben, sich bezeigend als ein un- ermüdliches Triebwerk, ein unvernünftiger Trieb, der seinen zureichenden Grund nicht in der Aussen- welt hat. Er hält die Einzelnen festauf diesem Schau- platz und ist das primum mobile ihrer Bewegungen; während die äusseren (jcgenstände, die Motive, bloss die Richtung derselben im Einzelnen bestimmen: sonst wäre die Ursache der Wirkung gar nicht angemessen. Denn, wie jede Aeusserung einer Naturkraft eine Ur- sache hat, die Naturkraft selbst aber keine; so hat je- der einzelne Willensakt ein Motiv, der Wille über- haupt aber keines: ja, im Grunde ist dies Beides Eins und das Selbe. Ueberall ist der Wille, als das Meta- physische, der Gränzstein jeder Betrachtung, über den sie nirgends hinauskann. Aus der dargelegten Ur- sprünglichkeit und Unbedingtheit des Willens ist es erklärlich, dass der Mensch ein Daseyn voll Noth, Pla- ge, Schmerz, Angst und dann wieder voll Langer- weile, welches, rein objektiv betrachtet und erwogen, von ihm verabscheut werden müsste, über Alles liebt und dessen Ende, welches jedoch das einzig Gewisse für ihn ist, über alles fürchtet*). — Demgemäss se- ') Aufjustinido civil. Dei,L. XI. c. 27 verdient, als ein interessan- ter Kommentar zu dem hier Gesagten, verglichen zu werden. /i56 hen wir oft eine Jammergestalt, vom Alter, Mangel und Krankheit verunstaltet und gekrümmt, aus Herzens- grunde unsere Hülfe anrufen, zur Verlängerung eines Daseyns, dessen Ende als durchaus wünschenswerth er- scheinen müsste,\venn ein objektivesUrtheil hier das Be- stimmende wäre. Statt dessen also ist es der blinde Wil- le, auftretend als Lebenstrieb, Lebenslust, Lebens- muth : es ist das Selbe, was die Pflanze wachsen macht. Diesen Lebensmuth kann man vergleichen mit einem Seile, welches über dem Puppenspiel der Menschen- welt ausgespannt wäre und woran die Puppen mittelst unsichtbarer Fäden hiengen, während sie bloss schein- bar von dem Boden unter ihnen (dem objektiven Werthe des Lebens) getragen würden. Wird jedoch dieses Seil einmal schwach, so senkt sich die Puppe; reisst es, so muss sie fallen, denn der Boden unter ihr trug sie nur scheinbar: d. h. das Schwach werden je- ner Lebenslust zeigt sich als Hypochondrie, spieen, Melancholie; ihr gänzliches Versiegen als Hang zum Selbstmord, der alsdann bei dem geringfügigsten, ja, einem bloss eingebildeten Anlass eintritt, indem jetzt der Mensch gleichsam Händel mit sich selbst sucht, um sich todtzuschiessen, wie Mancher es, zu gleichem Zweck, mit einem Andern macht: — sogar wird, zur Noth, ohne allen hesondein Anlass zum Selbstmord gegriffen. (Belege hiezu findet man in Esquirol, Des maladies mentales, i838.) Und wie mit dem Aushar- ren im Leben, so ist es auch mit dem Treiben und der Bewegung desselben. Diese ist nicht etwas irgend frei Erwähltes: sondern, während eigentlich Jeder gern ruhen möchte, sind Noth und Langeweile die Peitschen, welche die Bewegung der Kreisel unter- halten. Daher trägt das Ganze und jedes Einzelne das Gepräge eines erzwungenen Zustandes, und Jeder, in- dem er, innerlich träge, sich nach Ruhe sehnt, doch aber vorwärts muss, gleich seinem Planeten, der nur darum nicht auf die Sonne fällt, weil eine ihn vor- wärts treibende Kraft ihn nicht dazu kommen lässt. So ist denn Alles in fortdauernder Spannung und ab- genöthigter Bewegung, und das Treiben der Welt geht, einen Ausdruck des Aristoteles (de coelo, II, i3) zu gebrauchen, ou cpuosi oKka ßia (motu, non naturali, sed violento) vor sich. Die Menschen werden nur scheinbar von vorne gezogen, eigentHch aber von hin- ten geschoben: nicht das Leben lockt sie an, sondern die Noth drängt sie vorwärts. Das Gesetz der Moti- vation ist, wie alle Kausalität, blosse Form der Er- scheinung. — Beiläufig gesagt, liegt hier der Ursprung des Komischen, des Burlesken, Grotesken, der fratzen- haften Seite des Lebens: denn wider Willen vorwärts getrieben geberdet Jeder sich wie er eben kann, und das so entstehende Gedränge nimmt sich oft possir- lich aus; so ernsthaft auch die Plage ist, welche darin steckt. An allen diesen Betrachtungen also wird uns deut- lich, dass der Wille zum Leben nicht eine Folge der Erkenntniss des Lebens, nicht irgendwie eine conclu- sio ex praemissis und überhaupt nichts Sekundäres ist: vielmehr ist er das Erste und Unbedingte, die Prä- misse aller Prämissen und eben deshalb Das, wovon die Philosophie auszugehen hat; indem der Wille zum Leben sich nicht in Folge der Welt einfindet, sondern die Welt in Folge des Willens zum Leben. Ich brauche wohl kaum darauf aufmerksam zu machen, dass die Betrachtungen, mit welchen wir hier das zweite Buch beschliessen, schon stark hindeuten auf das ernste Thema des vierten Buches, ja geradezu darin übergehen würden, wenn meine Architektonik nicht nöthig machte, dass erst, als eine zweite Betrach- tung der Welt als Vorstellung, unser drittes Buch, mit seinem heitern Inhalt, dazwischenträte, dessen Schluss jedoch wieder eben dahin deutet. 458 i ERGÄNZUNGEN ZUM DRITTEN BUCH Et is similis spectatori est, quod ab omni separatus spectaculum videt. Oupnekhat, Vol. I, p. 3o4. ZUM DRITTEN BUCH. ViVVVVU\\Vt«VVVVMVMl«VVMWVVVVVVVVVV\'\VVVVVVkVVVVl(WVaVlVVVVil/VV^^ MIVW KAPITEL 29*). VON DER ERKENNTNISS DER IDEEN. DER Intellekt, welcher bis hieher nur in seinem ursprünglichen und natürlichen Zustande der Dienstbarkeit unter dem Willen betrachtet worden war, tritt im dritten Ruche auf in seiner Refreiung von jener Dienstbarkeit; wobei jedoch sogleich zu be- merken ist, dass es sich hier nicht um eine dauernde Freilassung, sondern bloss um eine kurze Feierstun- de, eine ausnahmsweise, ja eigentlich nur momenta- ne Losmachung vom Dienste des Willens handelt. — Da dieser Gegenstand im ersten Rande ausführlich genug behandelt ist, habe ich hier nur wenige ergän- zende Retrachtungen nachzuholen. Wie also daselbst, §. 33, ausgeführt worden, er- kennt der im Dienste des Willens, also in seiner na- türlichen Funktion thätige Intellekt eigentlich blosse Beziehungen der Dinge: zunächst nämlich ihre Re- ziehungen auf den Willen, dem er angehört, selbst, wodurch sie zu Motiven desselben werden; dann aber auch, eben zum Rehuf der Vollständigkeit dieser Er- kenntniss, die Reziehungen der Dinge zu einander. Diese letztere Erkenntniss tritt in einiger Ausdehnung und Redeutsamkeit erst beim menschlichen Intellekt ') Dieses Kapitel bezieht sich auf §§. 3o — Sa des ersten Ban- des. [S. 2o5 d. A.] 463 ein; beim thierischen hinjjegen, selbst wo er schon beträchtlich entwickelt ist, nur innerhalb sehr enger Gränzen. Offenbar geschieht die Auffassung der Be- ziehungen, welche die Dinge zu einandei- haben, nur noch mittelbar im Dienste des Willens. Sie macht da- her den Uebergang zu dem von diesem ganz unab- hängigen, rein objektiven Erkennen: sie ist die wis- senschaftliche, dieses die künstlerische. Wenn niim- lich von einem Objekte viele und mannigfaltige Be- ziehungen unmittelbar aufgefasst werden; so tritt aus diesen, immer deutlicher, das selbsteigene Wesen des- selben hervor und baut sich so aus lauter Relationen allmälig auf; wiewohl es selbst von diesen ganz ver- schieden ist. Bei dieser Auffassungsweise wird zu- gleich die Dienstbarkeit des Intellekts unter dem Willen immer mittelbarer und geringer. Hat der In- tellekt Kraft genug, das Uebergevvicht zu erlangen und die Beziehungen der Dinge auf den Willen ganz fahren zu lassen, um statt ihrer das durch alle Rela- tionen hindurch sich aussprechende, rein objektive Wesen einer Erscheinung aufzufassen; so verlässt er, mit dem Dienste des Willens zugleich, auch die Auf- fassung blosser Relationen iind damit eigentlich auch die des einzelnen Dinges als eines solchen. Er schwebt alsdann frei, keinem Willen mehr angehörig: im ein- zelnen Dinge erkennt er bloss das Wesentliche und daher die ganze Gattung desselben, folglich hat er zu seinem Objekte jetzt die Ideen, in meinem, mit dem ursprünglichen,Platonischen, übereinstimmenden Sin- ne dieses so gröblich missbrauchten Wortes; also die beharrenden, unwandelbaren, von der zeitlichen Exi- stenz der Einzelwesen unabhängigen Gestalten, die species rerum, als welche eigentlich das rein Objek- tive der Erscheinungen ausmachen. Eine so aufge- fasste Idee ist nun zwar noch nicht das Wesen des Dinges an sich selbst, eben weil sie aus der Erkennt- niss blosser Relationen hervorgegangen ist; jedoch ist sie, als das Resultat der Summe aller Relationen, der eigentliche Charakter des Dinges, und dadurch der vollständige Ausdruck des sich der Anschauung als Objekt darstellenden Wesens, aufgefasst nicht in Be- 464 ziehung auf einen individuellen Willen, sondern wie es aus sich selbst sich ausspricht, wodurch es eben seine sämintlichen Relationen bestimmt, welche allein bis dahin erkannt wurden. Die Idee ist der Wurzel- punkt aller dieser Relationen und dadurch die voll- ständige und vollkommene Erscheinung , oder, wie ich es im Texte ausgedrückt habe, die adäquate Objekti- tät des Willens auf dieser Stufe seiner Erscheinung. Sogar Form und Farbe, welche, in der anschauenden Auffassung der Idee, das Unmittelbare sind, gehören im Grunde nicht dieser an, sondern sind nur das Me- dium ihres Ausdrucks, da ihr, genau genommen, der Raum so fremd ist, wie die Zeit. In diesem Sinne sagte schon der Neuplatoniker Olympiodoros in sei- nem Kommentar zu Piatons Alkibiades (Kreuzers Aus- gabe des Proklos und Olympiodoros, Bd. 2, S. 82): To ei8o<; [xstaSsScuxs jjlsv xt]<^ [xopcpT]? ttq uyTI* ot|J-£p£? 6s ov [jisTsXaßev e% axixr^c, tou oiao-axou: d. h. die Idee, an sich unausgedehnt, ertheilte zwar der Materie die Gestalt, nahm aber erst von ihr die Ausdehnung an. — Also, wie gesagt, die Ideen offenbaren noch nicht das Wesen an sich, sondern nur den objektiven Cha- rakter der Dinge, also immer nur noch die Erschei- nung: und selbst diesen Charakter würden wir nicht verstehen, wenn uns nicht das innere Wesen der Dinge, wenigstens undeutlich und im Gefühl, ander- weitig bekannt wäre. Dieses Wesen selbst nämlich kann nicht aus den Ideen und überhaupt nicht durch irgend eine bloss objektive Erkenntniss verstanden werden; daher es ewig ein Geheimniss bleiben wür- de, wenn wir nicht von einer ganz andern Seite den Zugang dazu hätten. Nur sofern jedes Erkennende zugleich Individuum, und dadurch Theil der Natur ist, steht ihm der Zugang zum Innern der Natur of- fen, in seinem eigenen Selbstbewusstseyn, als wo das- selbe sich am unmittelbarsten und alsdann, wie wir gefunden haben, als Wille kund giebt. Was nun, als bloss objektives Bild, blosse Gestalt, betrachtet und dadurch aus der Zeit, wie aus allen Relationen, herausgehoben, die Platonische Idee ist, das ist, empirisch genommen und in der Zeit, die 3o Schopenhauer II 4^^ Species, oder ^/rf; diese ist also das empirische Kor- relat der Idee. Die Idee ist eigentlich ewig, die Art aber von unendlicher Dauer; wenn gleich die Er- scheinung derselben auf einem Planeten erlöschen kann. Auch die Benennungen Beider gehen ineinan- der über: losa, eioo?, species, Art. Die Idee ist species,^ aber nicht genus: darum sind die species das Werk der Natur, die genera das Werk des Menschen: sie sind nämlich blosse Begriffe. Es giebt species natura- les, aber genera logica allein. Von Artefakten giebt es keine Ideen, sondern blosse Begriffe, also genera lo- gica, und deren Unterarten sind species logicae. Zu dem in dieser Hinsicht, Bd. i, §. ^], Gesagten, will ich noch hinzufügen, dass auch Aristoteles (Metaph., I, 9 &> XIII, 5) aussagt, die Platoniker hätten von Artefakten keine Ideen gelten lassen, otov ouia, xat SaxTuXto?, lüV ou cpaoiv eivai. siot] (ut doums et annulus, quorum ideas dari negant). Womit zu vergleichen der Scholiast, S. 502, 63 der Berliner Quart- Ausga- be. — Ferner sagt yh'istoteles, Metaph., XI, 3 : aXX' SMiep (supple £107] eoxi.) em xcov cpuosi (eaii)' Bio 07] ot> xaxco? 6 IlXaTcüv e<p7], 6n eiSr] soTt oizooa (puosi (si qui- dem ideae sunt, in iis sunt, quae natura fiunt: propter quod non male Plato dixit, quod species eorum sunt, quae natura sunt) : wozu der Scholiast S. 8oo bemerkt: xai Touto apeoxei xai. auToi? toi? xa? iSea? dejxevoi«;" tcov ^ap uTzo Ttyyr^q '(i^o^iz^jisi^ tosac eivai oux eXs^ov, aXXa Ttov UTTO <puo£(ü<; (hoc etiam ipsis ideas statuentibus pla- cet; non enim arte factorum ideas dari ajebant, sed natura procreatorum). Uebrigens ist die Lehre von den Ideen ursprünglich vom Py t ha goras ausgegangen; wenn wir nämlich der Angabe Plutarchs im Buche de placitis philosophorum, L. I, c. 3, nicht misstrau- en wollen. Das Individuum wurzelt in der Gattung, und die Zeit in der Ewigkeit: und wie jegliches Individuum dies nur dadurch ist, dass es das Wesen seiner Gat- tung an sich hat; so hat es auch nur dadurch zeitli- che Dauer, dass es zugleich in der Ewigkeit ist. Dem Leben der Gattung ist im folgenden Buche ein eige- nes Kapitel gewidmet. 466 Den Unterschied zwischen der Idee und dem Be- griff habe ich §. 49 des ersten Bandes genugsam her- vorgehoben. Ihre Aehnlichkeit hingegen beruht auf F'olgendem. Die ursprüngliche und wesenthche Ein- heit einer Idee wird, durch die sinnhch und cerebral bedingte Anschauung des erkennenden Individuums, in die Vielheit der einzelnen Dinge zersplittert. Dann aber wird, durch die Reflexion der Vernunft, jene Einheit wieder hergestellt, jedoch nur in abstracto, als Begriff, universale, welcher zwar an Umfang der Idee gleichkommt, jedoch eine ganz andere Fotvn an- genommen, dadurch aber die Anschaulichkeit, und mit ihr die durchgängige Bestimmtheit, eingebüsst hat. In diesem Sinne (jedoch in keinem andern) könn- te man, in der Sprache de;r Scholastiker, die Ideen als universalia ante rem, die Begriffe als universalia post rem bezeichnen: zwischen Beiden stehen die einzel- nen Dinge, deren Erkenntniss auch das Thier hat. — Gewiss ist der Realismus der Scholastiker entstanden aus der Verwechselung der Platonischen Ideen, als welchen, da sie zugleich die Gattungen sind, aller- dings ein objektives, reales Seyn beigelegt wei'den kann, mit den blossen Begriffen, welchen nun die Re- alisten ein solches beilegen wollten und dadurch die siegreiche Opposition des Nominalismus hervorriefen. KAPITEL 3o*). VOM REINEN SUBJEKT DES ERKENNENS. ZUR Auffassung einer Idee, zum Eintritt derselben in unser Bewusstseyn, kommt es nur mittelst einer Veränderung in uns, die man auch als einen Akt der Selbsverläugnung betrachten könnte; sofern sie darin besteht, dass die Erkenntniss sich ein Mal vom *) Dieses Kapitel bezieht sich auf §§. 33, 34 des ersten Bandes [S. a 1 3 d. A.] 3o' 46? eigenen Willen gänzlich abwendet, also das ihr an- vertraute theure Pfand jetzt gänzlich aus den Augen lässt und die Dinge so betrachtet, als ob sie den Wil- len nie etwas angehen könnten. Denn hiedurch allein wird die Erkenntniss zum reinen Spiegel des objek- tiven Wesens der Dinge. Jedem ächten Kunstwerk muss eine so bedingte Erkenntniss, als sein Ursprung, zum Grunde liegen. Die zu derselben erforderte Ver- änderung im Subjekte kann, eben weil sie in der Eli- mination alles Wollens besteht, nicht vom Willen aus- gehen, also kein Akt der Willkür seyn, d. h. nicht in unserm Belieben stehen. Vielmehr entspringt sie al- lein aus einem temporären Ueberwiegen des Intellekts über den Willen, oder, physiologisch betrachtet, aus einer starken Erregung der anschauenden Gehirnthä- tigkeit, ohne alle Erregung der Neigungen oder Af- fekte. Um dies etwas genauer zu erläutern, erinnere ich daran, dass unser Bewusstseyn zwei Seiten hat; theils nämlich ist es Bewusstseyn vom eigenen Selbst, welches der Wille ist ; theils Bewusstseyn von andern Dingen, und als solches zunächst anschauende Erkennt- niss der Aussenwelt, Auffassung der Objekte. Je mehr nun die eine Seite des gesammten Bewusstseyns her- vortritt, desto mehr weicht die andere zurück. Dem- nach wird das Bewusstseyn anderei- Dinge, also die anschauende Erkenntniss, um so vollkommener, d. h. um so objektiver, je weniger wir uns dabei des eige- nen Selbst bewusst sind. Hier findet wirklich ein An- tagonismus Statt. Je mehr wir des Objekts uns be- wusst sind, desto weniger des Subjekts: je mehr hin- gegen dieses das Bewusstseyn einnimmt, desto schwä- cher und unvollkommener ist unsere Anschauung der Aussenwelt. Der zurreinen Objektivität der Anschau- ung erforderte Zustand hat theils bleibende Bedin- gungen in der Vollkommenheit des Gehirns und der seiner Thätigkeit günstigen physiologischen Beschaf- fenheit überhaupt, theils vorübergehende, sofern der- selbe begünstigt wird durch Alles, was die Spannung und Empfänglichkeit des cerebralen Nervensystems, jedoch ohne Erregung irgend einer Leidenschaft, er- höht. Man denke hiebei nicht an geistige Getränke, 468 oder Opium : vielmehr «jehört dahin eine ruhig durch- schlafene Nacht, ein kaltes Bad und Alles was, durch Beruhigungen des Blutumlaufs und der Leidenschaft- lichkeit, der Gehirnthätigkeit ein unerzwun genes Uebergewicht verschafft. Diese naturgemässen Be- förderungsmittel der cerebralen Nerventhätigkeit sind es vorzüglich, welche, freilich um so besser, je ent- wickelter und energischer überhaupt das Gehirn ist, bewirken, das immer mehr das Objekt sich vom Sub- jekt ablöst, und endlich jenen Zustand der reinen Objektivität der Anschauung herbeiführen, welcher von selbst den Willen aus dem Bewusstseyn eliminirt und in welchem alle Dinge mit erhöhter Klarheit und Deutlichkeit vor uns stehen; so dass wir beinah bloss r>on ihnen wissen, und fast gar nicht fo» «ns; also un- ser ganzes Bewusstseyn fast nichts weiter ist, als das Medium, dadurch das angeschaute Objekt in die Welt als Vorstellung eintritt. Zum reinen willenlosen Er- kennen kommt es also, indem das Bewusstseyn ande- rer Dinge sich so hoch potenzirt, dass das Bewusst- seyn vom eigenen Selbst verschwindet. Denn nur dann fasst man die Welt rein objektiv auf, wann man nicht mehr weiss, dass man dazu gehört; und alle Dinge stellen sich um so schöner dar, je mehr man sich bloss ihrer und je weniger man sich seiner selbst bewusst ist. — Da nun alles Leiden aus dem Willen, der das eigentliche Selbst ausmacht, hervorgeht; so ist, mit dem Zurücktreten dieser Seite des Bewusstseyns, zu- gleich alle Möglichkeit des Leidens aufgehoben, w^o- durch der Zustand der reinen Objektivität der An- schauung ein durchaus beglückender wird; daher ich in ihm den einen der zwei Bestandtheile des ästheti- schen Genusses nachgewiesen habe. Sobald hingegen das Bewusstseyn des eigenen Selbst, also die Subjek- tivität, d. i. der Wille, wieder das Uebergewicht er- hält, tritt auch ein demselben angemessener Grad von Unbehagen oder Unruhe ein : von Unbehagen sofern die Leiblichkeit (der Organismus, welcher an sich der Wille ist) wieder fühlbar wird; von Unruhe, sofern der Wille, auf geistigem Wege, durch Wünsche, Af- fekte, Leidenschaften, Sorgen, das Bewusstseyn wie- 469 der erfüllt. Denn überall ist der Wille, als das Prin- (ip der Subjektivität, der Ge{;ensatz, ja, Antagonist der Erkenntniss. Die grösste Koncentration der Sub- jektivität besteht im eigentlichen fVilletisakt , in wel- chem \\\v daher das deutlichste Bewusstseyn unsers Selbst haben. Alle andern Erregungen des Willens sind nur Vorbereitungen zu ihm: er selbst ist für die Subjektivität Das, was für den elektrischen Apparat das Ueberspringen des Funkens ist. — Jede leibliche Empfindung ist schon an sich Erregung des Willens und zwar öfterer der noluntas, als der voluntas. Die Er- regung desselben auf geistigem Wege ist die, welche mittelst der Motive geschieht: hier wird also durch die Objektivität selbst die Subjektivität erweckt und ins Spiel gesetzt. Dies tritt ein, sobald irgendein Ob- jekt nicht mehr rein objektiv, also antheilslos, aufge- fasst wird, sondern,mittelbar oder unmittelbar, Wunsch oder Abneigung erregt, sei es auch nur mittelst einer Erinnerung: denn alsdann wirkt es schon als Motiv, im weitesten Sinne dieses Worts. Ich bemerke hiebei, dass das abstrakte Denken und das Lesen, welche an Worte geknüpft sind, zwar im weitern Sinne auch zum Bewusstseyn anderer Dinge, also zur objektiven Beschäftigung des Geistes, gehö- ren; jedoch nur mittelbar, nämlich mittelst der Be- griffe: diese selbst aber sind das künstliche Produkt der Vernunft und schon daher ein Werk der Absicht- lichkeit. Auch ist bei aller abstrakten Geistesbeschäf- tigung der Wille der Lenker, als welcher ihr, seinen Absichten gemäss, die Richtung ertheilt und auch die Aufmerksamkeit zusammenhält; daher dieselbe auch stets mit einiger Anstrengung verknüpft ist: diese aber setzt Thätigkeit des Willens voraus. Bei dieser Art der Geistesthätigkeit hat also nicht die vollkommene Objektivität des Bewusstseyns Statt, wie sie, als Be- dingung, die ästhetische Auffassung, d. i. die Erkennt- niss der Ideen begleitet. Dem Obigen zufolge ist die reine Objektivität der Anschauung, vermöge welcher nicht mehr das ein- zelne Ding als solches, sondern die Idee seiner Gat- tung erkannt Avird, dadurch bedingt, dass man nicht 470 mehr seiner selbst, sondern allein der angeschauten Gegenstände sich bewusst ist, das eigene Bewusstseyn also bloss als der Träger der objektiven Existenz jener Gegenstände übrig geblieben ist. Was diesen Zustand erschwert und daher selten macht, ist, dass darin gleichsam das Accidenz (der Intellekt) die Substanz (den Willen) bemeistert und aufhebt, wenn gleich nur auf eine kurze Weile. Hier liegt auch die Analo- gie und sogar Verwandtschaft desselben mit der am Ende des folgenden Buches dargestellten Verneinung des Willens. — Obgleich nämlich die Erkenntniss, wie im vorigen Buche nachgewiesen, aus dem Willen entsprossen ist und in der Erscheinung desselben, dem Organismus, wurzelt; so wird sie doch gerade durch ihn verunreinigt, wie die Flamme durch ihr Brenn- material und seinen Rauch. Hierauf beruht es, dass wir das rein objektive Wesen der Dinge, die in ihnen hervortretenden Ideen nur daim auffassen können, ^vann W\r kein Interesse an ihnen selbst haben, in- dem sie in keiner Beziehung zu unserm W^illen ste- hen. Hieraus nun wieder entspringt es, dass die Ideen der Wesen uns leichter aus dem Kunstwerk, als aus der Wirklichkeit ansprechen. Denn was wir nur im Bilde, oder in der Dichtung erblicken, steht ausser aller Möglichkeit irgend einer Beziehung zu unserm Willen; da es schon an sich selbst bloss für die Er- kenntniss da ist und sich unmittelbar allein an diese wendet. Hingegen setzt das Auffassen der Ideen aus der WirhlicJikeit gewissermaassen ein Abstrahiren vom eigenen Willen, ein Erheben über sein Interesse, vor- aus, welches eine besondere Schwungkraft des Intel- lekts erfordert. Diese ist im höhern Grade und auf einige Dauer nur dem Genie eigen, als welches eben darin besteht, dass ein grösseres Maass von Erkennt- nisskraft da ist, als der Dienst eines individuellen Wil- lens erfordert, welcher Ueberschuss frei wird und nun ohne Bezug auf den Willen die Welt auffasst. Dass also das Kunstwerk die Auffassung der Ideen, in wel- cher der ästhetische Genuss besteht, so sehr erleich- tert, beruht nicht bloss darauf, dass die Kunst, durch Hervorhebung des Wesentlichen und Aussonderung 47' des Unwesentlichen, die Dinge deutlicher und charak- teristisclier darstellt, sondern eben so sehr darauf, dass das zur rein objektiven Auffassung des Wesens der Dinge erforderte gänzliche Schweigen des Wil- lens am sichersten dadurch erreicht wird, dass das angeschaute Objekt selbst gar nicht im Gebiete der Dinge liegt, welche einer Beziehung zum Willen fä- hig sind, indem es kein Wirkliches, sondern ein blos- ses Bild ist. Dies nun gilt nicht allein von den Wer- ken der bildenden Kunst, sondern ebenso von der Poesie: auch ihre Wirkung ist bedingt durch die an- theilslose, willenslose und dadurch rein objektive Auf- fassung. Diese ist es gerade, welche einen angeschau- ten Gegenstand inalerisch, einen Vorgang des wirkli- chen Lebens poetisch erscheinen lässt; indem nur sie über die Gegenstände der W^irklichkeit jenen zaube- rischen Schimmer verbreitet, welchen man bei sinn- lich angeschauten Objekten das Malerische, bei den nur in der Phantasie geschauten das Poetische nennt. Wenn die Dichter den heitern Morgen, den schönen Abend, die stille Mondnacht u. dgl. m. besingen; so ist, ihnen unbewusst, der eigentliche Gegenstand ihrer Verherrlichung das reine Subjekt des Erkennens, welches durch jene Naturschönheiten hervorgerufen wird, und bei dessen Auftreten der Wille aus dem Bewusstseyn verschwindet, wodurch diejenige Ruhe des Herzens eintritt, welche ausserdem auf der Welt nicht zu erlangen ist. W^ie könnte sonst z. B. der Vers Nox erat, et coelo fulgebat luna sereno, Inter minora sidera, so wohlthuend, ja, bezaubernd auf uns wirken? — Ferner daraus, dass auch die Neuheit und das völlige Fremdseyn der Gegenstände einer solchen antheils- losen, rein objektiven Auffassung derselben günstig ist, erklärt es sich, dass der Fremde, oder bloss Durch- reisende, die Wirkung des Malerischen, oder Poeti- schen, von Gegenständen erhält, welche dieselben auf den Einheimischen nicht hervorzubringen vermögen: so z. B. macht auf Jenen der Anblick einer ganz frem- den Stadt oft einen sonderbar angenehmen Eindruck, 472 den er keineswegs im Bewohner derselben hervor- bringt; denn er entspringt daraus, dass Jener ausser aller Beziehung zu dieser Stadt und ihren Bewohnern stehend, sie rein objektiv anschaut. Hierauf beruht zum Theil der Genuss des Beisens. Auch scheint hier der Grund zu liegen, warum man die Wirkung er- zählender oder dramatischer Werke dadurch zu be- fördern sucht, dass man die Scene in ferne Zeiten und Länder verlegt: in Deutschland nach Italien und Spanien; in Italien nach Deutschland, Polen und so- gar Holland. — Ist nun die völlig objektive, von allem Wollen gereinigte, intuitive Auffassung Bedingung des Genusses ästhetischer Gegenstände; so ist sie um so mehr die der Hervorhringung derselben. Jedes gute Gemälde, jedes ächte Gedicht, trägt das Gepräge der beschriebenen Gemüthsverfassung. Denn nur was aus der Anschauung, und zwar der rein objektiven, ent- sprungen, oder unmittelbar durch sie angeregt ist, enthält den lebendigen Keim, aus welchem ächte und originelle Leistungen erwachsen können : nicht nur in den bildenden Künsten, sondern auch in der Poesie, ja, in der Philosophie. Das punctum saliens jeden schönen Werkes, jedes grossen oder tiefen Gedankens, ist eine ganz objektive Anschauung. Eine solche aber ist durchaus durch das völlige Schweigen des Willens bedingt, welches den Menschen als reines Subjekt des Erkennens übrig lässt. Die Anlage zum Vorwalten dieses Zustandes ist eben das Genie. Mit dem Verschwinden des Willens aus dem Be- wusstseyn ist eigentlich auch die Individualität, und mit dieser ihr Leiden und ihre Noth, aufgehoben. Da- her habe ich das dann übrig bleibende reine Subjekt des Erkennens beschrieben als das ewige Weltauge, welches, wenn auch mit sehr verschiedenen Graden der Klarheit, aus allen lebenden Wesen sieht, unberührt vom Entstehen und Vergehen derselben, und so, als identisch mit sich, als stets Eines und das Selbe, der Träger der Welt der beharrenden Ideen, d. i. der adäquaten Objektität des Willens, ist; während das individuelle und durch die aus dem Willen entsprin- gende Individualität in seinem Erkennen getrübte Subjekt nur einzelne Dinge zun» Objekt hat und wie diese selbst vergänglich ist, — In dein hier bezeich- neten Sinne kann man Jedem ein zwiefaches Daseyn beilegen. Als Wille, und daher als Individuum, ist er nur Eines und dieses Eine ausschliesslich, welches ihm vollauf zu thun und zu leiden giebt. Als rein ob- jektiv Vorstellendes ist er das reine Subjekt der Er- kenntniss, in dessen Bewusstseyn allein die objektive Welt ihr Daseyn hat: als solches ist er alle Dinge, ho- fern er sie anschaut, und in ihm ist ihr Daseyn ohne Last und Beschwerde. Es ist niimlich sein Daseyn, so- fern es in seine?' Vorstellung existiert: aber da ist es ohne Wille, Sofern es hingegen Wille ist, ist es nicht in ihm, Wohl ist Jedem in dem Zustande, wo er alle Dinge ist; wehe da, wo er ausschliesslich Eines ist. — Jeder Zustand, jeder Mensch, jede Scene des Le- bens, braucht nur rein objektiv aufgefasst und zum Gegenstand einer Schildennig, sei es mit dem Pinsel oder mit Worten, gemacht zu werden, um interes- sant, allerliebst, beneidenswerth zu erscheinen: — aber steckt man darin, ist man es selbst, — da (heisst es oft) mag es der Teufel aushalten. Daher sagt Goethe: Was im Leben uns verdriesst, Man im Bilde pern gcniesst. In meinen Jünglingsjahren hatte ich eine Periode, wo ich beständig bemüht war, mich und mein Tbun von aussen zu sehen und mir zu schildern; — wahrschein- lich um es mir geniessbar zu machen. Da die hier durchgeführte Betrachtung von mir nie ziH' Sprache gekommen ist, will ich einige psycho- logische Erläuterungen derselben hinzufügen. Bei der unmittelbaren Anschauung der Welt und des Lebens betrachten wir, in der Regel, die Dinge bloss in ihren Relationen, folglich ihrem relativen, nicht ihrem absoluten Wesen und Daseyn nach. Wir werden z. B. Häuser, Schiffe, Maschinen und dgl, ansehen mit dem Gedanken an ihren Zweck und an ihre Angemessenheit zu demselben; Menschen mit dem Gedanken an ihre Beziehung zu uns, wenn sie eine solche haben; nächstdem aber mit dem an ihre 4:1 Bezielmny zu einander, sei es in ihrem gegenwärtigen Thun und Treiben, oder ihrem Stande und Gewerbe nach, etwan ihre Tüchtigkeil dazu beurtheilend u.s.w. Wir können eine solche Betrachtung der Relationen mehr oder weniger weit verfolgen, bis zu den ent- ferntesten Gliedern ihrer Verkettung: die Betrachtung wird dadurch an Genauigkeit und Ausdehnung ge- winnen; aber ihrer Qualität und Art nach bleibt sie die selbe. Es ist die Betrachtung der Dinge in ihren Relationen, ja, mittelst dieser, also nach dem Satz vom Grunde. Dieser Betrachtungsweise ist Jeder meistens und in der Regel hingegeben: ich glaube sogar, dass die meisten Menschen gar keiner anderen fähig sind. — Geschieht es nun aber ausnahmsweise, dass wir eine momentane Ei'höhung der Intensität unserer in- tuitiven Intelligenz erfahren ; so sehen wir sogleich die Dinge mit ganz andern Augen, indem wir sie jetzt nicht mehr ihren Relationen nach, sondern nach Dem, was sie an und für sich selbst sind, auffassen und nun plötzlich, ausser ihrem relativen, auch ihr absolutes Daseyn wahrnehmen. Alsbald vertritt jedes Einzelne seine Gattung: demnach fassen wir jetzt das All- gemeine der Wesen auf. Was wir nun dergestalt er- kennen, sind die Ideen der Dinge: aus diesen aber spricht jetzt eine höhere Weisheit, als die, welche von blossen Relationen weiss. Auch wir selbst sind dabei aus den Relationen herausgetreten und dadurch das reine Subjekt des Erkennens geworden. — Was nun aber diesen Zustand ausnahmsweise herbeiführt, müs- sen innere physiologische Vorgänge seyn, welche die Thätigkeit des Gehirns reinigen und erhöhen, in dem Grade, dass eine solche plötzliche Springlluth der- selben entsteht. Von aussen ist derselbe dadurch be- dingt, dass wir der zu betrachtenden Scene völlig fremd und von ihr abgesondert bleiben, und schlechterdings nicht thätig darin verflochten sind. Um einzusehen, dass eine rein objektive und daher richtige Auffassung der Dinge nur dann möglich ist, wann wir dieselben ohne allen persönlichen Antheil, also unter völligem Schweigen des Willens betrachten, vergegenwärtige man sich, wie sehr jeder Affekt, oder Leidenschaft, die Erkenntniss trübt und verfälscht, ja, jede Neigung oder Abneigung, nicht etwan bloss das Urtheil, nein, schon die ursprüngliche Anschau- ung der Dinge entstellt, färbt, verzerrt. Man erinnere sich, wie, wann wir durch einen glücklichen Erfolg erfreut sind, die ganze Welt sofort eine heitere Farbe und eine lachende Gestalt annimmt; hingegen düster und trübe aussieht, wann Kummer uns drückt; so- dann, wie selbst ein lebloses Ding, welches jedoch das Werkzeug zu irgend einem von uns verabscheuten Vorgang werden soll, eine scheussliche Physiognomie zu haben scheint, z. B. das Schaffot, die Festung, auf welche wir gebracht werden, der Instrumentenkasten des Chirurgus, der Reisewagen der Geliebten u. s. w., ja, Zahlen, Buchstaben, Siegel, können uns furchtbar angrinzen und wie schreckliche Ungeheuer auf uns wirken. Hingegen sehen die Werkzeuge zur Erfüllung unserer Wünsche sogleich angenehm und lieblich aus, z. B. die bucklichte Alte mit dem Liebesbrief, der Jude mit den Louisd'ors, die Strickleiter zum ent- rinnen u. s. w. Wie nun hier, bei entschiedenem Ab- scheu oder Liebe, die Verfälschung der Vorstellung durch den Willen unverkennbar ist; so ist sie in min- derem Grade vorhanden bei jedem Gegenstande, der nur irgend eine entfernte Beziehung auf unsern Wil- len, d. h. auf unsere Neigung oder Abneigung, hat. Nur wann der Wille, mit seinen Interessen, das Be- wusstseyn geiäumt hat und der Intellekt frei seinen eigenen Gesetzen folgt, und als reines Subjekt die ob- jektive Welt abspiegelt, dabei aber doch, obwohl von keinem Wollen angespornt, aus eigenem Triebe in höchster Spannung und Thätigkeit ist, treten Farbe und Gestalt der Dinge in ihrer wahren und vollen Bedeutung hervor: aus einer solchen Auffassung allein also können ächte Kunstwerke hervorgehen, deren bleibender Werth und stets erneuerter Beifall eben daraus entspringt, dass sie allein das rein Objektive darstellen, als welches den verschiedenen subjektiven und daher entstellten Anschauungen, als das ihnen allen Gemeinsame und allein fest Stehende, zum Grunde liegt und durchschimmert als das gemein- same Thema aller jener subjektiven Variationen. Denn gewiss stellt die vor nnsern Augen ausgebreitete Natur sich in den verschiedenen Köpfen sehr ver- schieden dar: und wie Jeder sie sieht, so allein kann er sie wiedergeben, sei es durch den Pinsel, oder den Meissel, oder Worte, oder Gebehrden auf der Bühne. Nur Objektivität befähigt zum Künstler: sie ist aber allein dadurch möglich, dass der Intellekt, von seiner Wurzel, dem Willen, abgelöst, frei schwebend, und doch höchst energisch thätig sei. Dem Jüngling, dessen anschauender Intellekt noch mit frischer Energie wirkt, stellt sich wohl oft die Natur mit vollkommener Objektivität und daher in voller Schönheit dar. Aber den Genuss eines solchen Anblicks stört bisweilen die betrübende Reflexion, dass die gegenwärtigen, sich so schön darstellenden Gegenstände nicht auch in einer persönlichen Be- ziehung zu ihm stehen, vermöge deren sie ihn inter- essiren und freuen könnten: er erwartet nämlich sein Leben in Gestalt eines interessanten Romans. „Hinter jenem vorspringenden Felsen müsste die wohlberittene Schaar der Freunde meiner harren, — an jenem Wasserfall die Geliebte ruhen, — dieses schön beleuchtete Gebäude ihre Wohnung und jenes umrankte Fenster das ihrige seyn : — aber diese schöne Welt ist öde für mich!" u. s. w. Dergleichen melan- cholische Jünglingsschwärmereien verlangen eigent- lich etwas sich geradezu Widersprechendes. Denn die Schönheit, mit der jene Gegenstände sich darstellen, beruht gerade auf der reinen Objektivität, d. i. Inte- ressenlosigkeit, ihrer Anschauung, und würde daher durch die Beziehung auf den eigenen Willen, welche der Jüngling schmerzlich vermisst, sofort aufgehoben, mithin der ganze Zauber, der ihm jetzt einen, wenn auch mit einer schmerzlichen Beimischung versetzten Genuss gewährt, gar nicht vorhanden sevn. — Das Selbe gilt übrigens von jedem Alter und in jedem Verhältniss: die Schönheit landschaftlicher Gegen- stände, welche uns jetzt entzückt, würde, wenn wir in persönlichen Beziehungen zu ihnen ständen, deren wir uns stets bewusst bleiben, verschwunden seyn, 477 Alles ist nur so lan{|e scliöii, als es uns nicht angeht. (Hier ist nicht die Rede von verliebter Leidenschaft, sondern von ästhetischem Genuss.) Das Leben ist nie schön, sondern nur die Bilder des Lebens sind es, nämlich im verklärenden Spiejjel der Kunst oder der Poesie; zumal in der Ju{jend, als wo wir es noch nicht kennen. Mancher Jüngling würde grosse Beruhigung erhalten, wenn man ihm zu dieser Einsicht verhelfen könnte. Warum wirkt der Anblick des Vollmondes so wohlthätig, beruhigend und erhebend? Weil der Mond ein Gegenstand der Anschauung, aber nie des Wollens ist: „Die Sterne, die be^jehrt man nicht, Man freut sich ihrer Pracht." — G. Ferner ist er erhaben, d. h. stimmt uns erhaben, weil er, ohne alle Beziehung auf uns, dem irdischen Trei- ben ewig fremd, dahinzieht, und Alles sieht, aber an nichts Antheil nimmt. Bei seinem Anblick schwindet daher der Wille, mit seiner steten Noth, aus dem Be- wusstseyn, und lässt es als ein rein erkennendes zu- rück. Vielleicht mischt sich auch noch ein Gefühl bei, dass wir diesen Anblick mit Millionen theilen, deren individuelle Verschiedenheit darin erlischt, so dass sie in diesem Anschauen Eines sind; welches ebenfalls den Eindruck des Erhabenen erhöht. Dieser wird endlich auch dadurch befördert, dass der Mond leuchtet, ohne zu wärmen; worin gewiss der Grund liegt, dass man ihn keusch genannt und mit der Diana identifizirt hat. — In Folge dieses ganzen wohlthä- tigen Eindruckes auf unser Gemütli wird der Mond allmälig der Freund unsers Busens, was hingegen die Sonne nie wird, welcher, wie einem überschwäng- lichen Wohlthäter, wir gar nicht ins Gesicht zu sehen vermögen. Als Zusatz zu dem, §. 38 des ersten Bandes, über den ästhethischen Genuss, welchen das Licht, die Spie- gelung und die Farben gewähren. Gesagten, finde hier noch folgende Bemerkung Raum Die ganz un- mittelbare, gedankenlose, aber auch namenlose Freu- 478 de, welche der durch metallischen Glanz, noch mehr durch Transparenz verstärkte Eindruck der Farhen in uns erregt, wie z. B. hei farbigen Fenstern, noch mehr mittelst der Wolken und ihres Reflexes, beim Sonnenuntergänge, — beruht zuletzt darauf, dass hier auf die leichteste Weise, nämlich auf eine bei- nahe physisch nothwendige, unser ganzer Antheil für das Erkennen gewonnen wird, ohne irgend eine Erregung unsers Willens; wodurch wir in den Zu- stand des reinen Erkennens treten, wenn gleich das- selbe hier, in der Hauptsache, in einem blossen Em- pfinden der Aftektion der Retina besteht, welches je- doch, als an sich von Schmerz oder Wollust völlig frei, ohne alle direkte Erregung des Willens ist, also dem reinen Erkennen an^ehöit. KAPITEL 3 1 *). VOM GENIE. DIE überwiegende Fähigkeit zu der in den beiden vorhergegangenen Kapiteln geschilderten Er- kenntnissweise, aus welcher alle ächten Werke der Künste, der Poesie und selbst der Philosophie ent- springen, ist es eigentlich, die man mit dem Namen des Genies bezeichnet. Da dieselbe demnach zu ihrem Gegenstande die Platonischen Ideen hat, diese aber nicht in abstracto, sondern nur anschaulich aufgefasst werden; so muss das Wesen des Genies in der Voll- kommenheit und Energie der anschauenden Erkennt- nis?, liegen. Dem entsprechend hören wir als Werke des Genies am entschiedensten solche bezeichnen, welche unmittelbar von der Anschauung ausgehen und an die Anschauung sich wenden, also die der bildenden Künste, und nächstdem die der Poesie, welche ihre Anschauungen durch die Phantasie ver- *) Dieses Kapitel bezieht sich auf §. 36 des ersten Bandes. [S. 3 23 d.A.] 479 niittelt. — Auch macht sich schon hier die Verschie- denheit des Genies vorn blossen Talent bemerkbar, als welches ein Vorzug ist, der mehr in der grössern Gewandtheit und Schärfe der diskursiven, als der in- tuitiven Erkenntniss liegt. Der damit Begabte denkt rascher und richtiger als die Uebrigen; das Genie hingegen schaut eine andere Welt an, als sie Alle, wiewohl nur indem es in die auch ihnen vorliegende tiefer hineinschaut, weil sie in seinem Kopfe sich ob- jektiver, mithin reiner und deutlicher darstellt. Der Intellekt ist, seiner Bestimmung nach, bloss das Medium der Motive : demzufolge fasst er ursprüng- lich an den Dingen nichts weiter auf, als ihre Bezie- hungen zum Willen, die direkten, die indirekten, die möglichen. Bei den Thieren, wo es fast ganz bei den direkten bleibt, ist eben darum die Sache am augen- fälligsten : was auf ihren Willen keinen Bezug hat, ist für sie nicht da. Deshalb sehen wir bisweilen mit Verwunderung, dass selbst kluge Thiere etwas an sich Auffallendes gar nicht bemerken, z. B. über augen- fällige Veränderungen an unserer Person oder Umge- bung kein Befremden äussern. Beim Normalmenschen kommen nun zwar die indirekten, ja die möglichen Beziehungen zum Willen hinzu, deren Summe den Inbegriff der nützlichen Kenntnisse ausmacht; aber in den Beziehungen bleibt auch hier die Erkenntniss stecken. Daher eben kommt es im normalen Kopfe nicht zu einem ganz rein objektiven Bilde der Dinge; weil seine Anschauungskraft, sobald sie nicht vom Willen angespornt und in Bewegung gesetzt wird, sofort ermattet und unthätig wird, indem sie nicht Energie genug hat, um aus eigener Elasticität und ziveck/os die Welt rein objektiv aufzufassen. Wo hin- gegen dies geschieht, wo die vorstellende Kraft des Gehirns einen solchen Ueberschuss hat, dass ein rei- nes, deutliches, objektives Bild der Aussenwelt sich zwecklos darstellt, als welches für die Absichten des Willens unnütz, in den höheren Graden sogar störend ist, und selbst ihnen S( hädlich werden kann; — da ist schon, wenigstens die Anlage zu jener Abnormität vorhanden, die der Name des Genies bezeichnet, wel- 48o eher andeutet, dass hier ein dem Willen, d. i. dem ei{jentlichen Ich, Fremdes, {gleichsam ein von Aus- sen hinzukommender Genius, thätig zu werden scheint. Aber ohne Bild zu reden: das Genie besteht darin, dass die erkennende Fähigkeit bedeutend stär- kere Entwickelung erhalten hat, als der Dienst des Willens, zu welchem allein sie ursprünglich entstan- den ist, erfordert. Daher könnte, der Strenge nach, die Physiologie einen solchen Ueberschuss der Ge- hirn thätigkeit und mit ihr des Gehirns selbst, gewisser- maassen den monstris per excessum beizählen, welche sie bekanntlich den monstris per defectum und denen per situm mutatum nebenordnet. Das Genie besteht also in einem abnormen Uebermaass des Intellekts, welches seine Benutzung nur dadurch finden kann, dass es auf das Allgemeine des Daseyns verwendet wird; wodurch es alsdann dem Dienste des ganzen Menschengeschlechts obliegt, wie der normale Intel- lekt dem des Einzelnen. Um die Sache recht fasslich zu machen, könnte man sagen: wenn der Normal- mensch aus 2/3 Wille und ^/ß Intellekt besteht; so hat hingegen das Genie 2^3 Intellekt und 1/3 Wille. Dies Hesse sich dann noch durch ein chemisches Gleichniss erläutern: die Basis und die Säure eines Mittelsalzes unterscheiden sich dadurch, dass in jeder von Beiden das Radikal zum Oxygen das umgekehrte Verhältniss, von dem im andern, hat. Die Basis näm- lich, oder das Alkali, ist dies dadurch, dass in ihr das Radikal überwiegend ist gegen das Oxygen, und die Säure ist dies dadurch, dass in ihr das Oxygen das Ueherwiegende ist. Eben so nun verhalten sich, in Hinsicht auf Willen und Intellekt, Normalmensch und Genie. Daraus entspringt zwischen ihnen ein durchgreifender Unterschied, der schon in ihrem ganzen Wesen, Thun und Treiben sichtbar ist, recht eigentlich aber in ihren Leistungen an den Tag tritt. Noch könnte man als Unterschied hinzufügen, dass, während jener totale Gegensatz zwischen den chemi- schen Stoffen die stärkste Wahlverwandtschaft und Anziehung zu einander begründet, beim Menschen- geschlecht eher das Gegentheil sich einzufinden pflegt. 3i Schopenhauer II 4"* Die zunächst liegende Aeusserung, welche ein sol- cher Ueberschuss der Erkenntnisskraft hervorruft, zeigt sich meistentheils in der ursprünglichsten und grundwesentlichsten, d. i. der anschauenden Erkennt- niss, und veranlasst die Wiederholung derselben in einem Bilde: so entsteht der Maler und der Bildhauer. Bei diesen ist demnach der Weg zwischen der geni- alen Auffassung und der künstlerischen Produktion der kürzeste: daher ist die Form, in welcher hier das Genie und seine Thätigkeit sich darstellt, die einfach- ste und seine Beschreibung am leichtesten. Dennoch ist eben hier die Quelle nachgewiesen, aus welcher alle ächten Produktionen, in jeder Kunst, auch in der Poesie, ja in der Philosophie, ihren Ursprung neh- men; wiewohl dabei der Hergang nicht so einfach ist. Man erinnere sich hier des im ersten Buche erhal- tenen Ergebnisses, dass alle Anschauung intellektual ist und nicht bloss sensual. Wenn man nun die hier gegebene Auseinandersetzung dazu bringt und zu- gleich auch billig berücksichtigt, dass die Philosophie des vorigen Jahrhunderts das anschauende Erkennt- nissvermögen mit dem Namen der ,, untern Seelen- kräfte" bezeichnete; so wird man, dass Adelung, wel- cher die Sprache seiner Zeit reden musste, das Genie in „eine merkliche Stärke der untern Seelenkräfte" setzte, doch nicht so grundabsurd, noch des bittern Hohnes würdig finden, womit Jean Paul, in seiner Vorschule der Aesthetik, es anführt. So grosse Vor- züge das eben erwähnte Werk dieses bewundrungs- würdigen Mannes auch hat; so muss ich doch bemer- ken, dass überall, wo eine theoretische Erörterung und überhaupt Belehnmg der Zweck ist, die bestän- dig witzelnde und in lauter Gleichnissen einherschrei- tende Darstellung nicht die angemessene seyn kann. Die Anschauung nun aber ist es, welcher zunächst das eigentliche und wahre Wesen der Dinge, wenn auch noch bedingter Weise, sich aufschliesst und of- fenbart. Alle Begriffe, alles Gedachte, sind ja nur Abs- traktionen, mithin Theilvorstellungen aus jener, und blossdurch Wegdenken entstanden. Alle tiefe Erkennt- niss, sogar die eigentliche Weisheit, wurzelt in der an- 482 schädlichen Auffassung der Dinge; wie wir dies in den Ergänzungen zum ersten Buch ausführlich betrachtet haben. Eine anschauliche Auffassung ist allemal der Zeugungsprocess gewesen, in welchem jedes ächte Kunstwerk, jeder unsterbliche Gedanke, den Lebens- funken erhielt. Alles Urdenken geschieht in Bildern. Aus Begriffen hingegen entspringen die Werke des blossen Talents, die bloss vernünftigen Gedanken, die Nachahmungen und überhaupt alles auf das ge- genwärtige Bedürfniss und die Zeitgenossenschaft al- lein Berechnete. Wäre nun aber unsere Anschauung stets an die reale Gegenwart der Dinge gebunden ; so würde ihr Stoff gänzlich unter der Herrschaft des Zufalls stehen, welcher die Dinge selten zur rechten Zeit herbei- bringt, selten zweckmässig ordnet und meistens sie in sehr mangelhaften Exemplaren uns vorführt. Deshalb bedarf es der Phantasie, um alle bedeutungsvollen Bilder des Lebens zu vervollständigen, zu ordnen, auszumalen, festzuhalten imd beliebig zu wiederho- len, je nachdem es die Zwecke einer tief eindringen- den Erkenntniss und des bedeutungsvollen Werkes, dadurch sie mitgetheilt werden soll, erfordern. Hier- auf beruht der hohe Werth der Phantasie, als Avelche ein dem Genie unentbehrliches Werkzeug ist. Denn nur vermöge derselben kann dieses, je nach den Er- fordernissen des Zusammenhanges seines Bildens, Dichtens, oder Denkens, jeden Gegenstand oder Vor- gang sich in einem lebhaften Bilde vergegenwärtigen und so stets frische Nahrung aus der Urquelle aller Erkenntniss, dem Anschaulichen, schöpfen. Der Phan- tasiebegabte vermag gleichsam Geister zu citiren, die ihm, zur rechten Zeit, die Wahrheiten offenbaren, welche die nackte Wirklichkeit der Dinge nur schwach, nur selten und dann meistens zur Unzeit darlegt. Zu ihm verhält sich daher der Phantasielose, wie zum freibeweglichen, ja geflügelten Thiere die an ihren Felsen gekittete Muschel, welche abwarten muss, was der Zufall ihr zuführt. Denn ein solcher kennt keine andere, als die wirkliche Sinnesanschau- ung: bis sie kommt nagt er an Begriffen und Abstrak- 3.- 483 tionen, welche doch nur Schaalen und Hülsen, nicht der Kern der Erkenntniss sind. Er wird nie etwas Grosses leisten ; es wäre denn im Rechnen und der Mathematik. — Die Werke der bildenden Künste und der Poesie, imgleichen die Leistungen der Mi- mik, können auch angesehen werden als Mittel, De- nen, die keine Phantasie haben, diesen Mangel mög- lichst zu ersetzen, Denen aber, die damit begabt sind, den Gebrauch derselben zu erleichtern. Obgleich demnach die eigenthümliche und wesent- liche Erkenntnissweise des Genies die anschauende ist; so machen den eigentlichen Gegenstand derselben doch keineswegs die einzelnen Dinge aus, sondern die in diesen sich aussprechenden Platonischen Ideen, wie deren Auffassung im 29, Kapitel analvsirt wor- den. Im Einzelnen stets das Allgemeine zu sehen, ist gerade der Grundzug des Genies; während der Nor- malmensch im Einzelnen auch nur das Einzelne als solches erkennt, da es nur als solches der Wirklich- keit angehört, welche allein für ihn Interesse, d. h. Beziehungen zu seinem Willen hat. Der Grad, in wel- chem Jeder im einzelnen Dinge nur dieses, oder aber schon ein mehr oder minder Allgemeines, bis zum Allgemeinsten der Gattung hinauf, nicht etwan denkt, sondern geradezu erblickt, ist der Maassstab seiner Annäherung zum Genie. Diesem entsprechend ist auch nur das Wesen der Dinge überhaupt, das Allge- meine in ihnen, das Ganze, der eigentliche Gegen- stand des Genies: die Untersuchung der einzelnen Phänomene ist das Feld der Talente, in den Realwis- senschaften, deren Gegenstand eigentlich immer nur die Beziehungen der Dinge zu einander sind. Was im vorhergegangenen Kapitel ausführlich ge- zeigt worden, dass nämlich die Auffassimg der Ideen dadurch bedingt ist, dass das Erkennende das 7 eine Subjekt der Erkenntniss sei, d. h. dass der Wille gänz- lich aus dem Bewusstseyn verschwinde, bleibt uns hier ge{jenwärtig. — Die Freude, welche wir an man- chen, die Landschaft uns vor Augen bringenden Lie- dern Goethe's, oder an den Naturschilderungen Jean Paulis haben, beruht darauf, dass wir dadurch der 484 Objektivität jener Geister, d. h. der Reinheit theil- haft werden, mit welcher in ihnen die Welt als Vor- stellung sich von der Welt als Wille gesondert und gleichsam ganz davon abgelöst hatte. — Daraus, dass die Erkenntnissweise des Genies wesentlich die von allem Wollen und seinen Beziehungen gereinigte ist. Folgt auch, dass die Werke desselben nicht aus Ab- sicht oder Willkür hervorgehen, sondern es dabei geleitet ist von einer instinktartigen Nothwendigkeit. — Was man das Regewerden des Genius, die Stunde der Weihe, den Augenblick der Begeisterung nennt, ist nichts Anderes, als das Freiwerden des Intellekts, wann dieser, seines Dienstes unter dem Willen einst- weilen enthoben, jetzt nicht in Unthätigkeii oder Ab- spannung versinkt, sondern, auf eine kurze Weile, ganz allein, aus freien Stücken, thätig ist. Dann ist er von der grössten Reinheit und wird zum klaren Spiegel der Welt: denn, von seinem Ursprung, dem Willen, völlig abgetrennt, ist er jetzt die in einem Bewusstseyn koncentrirte Welt als Vorstellung selbst. In solchen Augenblicken wird gleichsam die Seele unsterblicher Werke erzeugt. Hingegen ist bei allem absichtlichen Nachdenken der Intellekt nicht frei, da ja der Wille ihn leitet und sein Thema ihm vorschreibt. Der Stämpel der Gewöhnlichkeit, der Ausdruck von Vulgarität, welcher den allermeisten Gesichtern aufgedrückt ist, besteht eigentlich darin, dass die strenge Unterordnung ihres Erkennens unter ihr Wollen, die feste Kette, welche beide zusammen- schliesst, und die daraus folgende Unmöglichkeit, die Dinge anders als in Beziehung auf den Willen und seine Zwecke aufzufassen, darin sichtbar ist. Hinge- gen liegt der Ausdruck des Genies, welcher die au- genfällige Familienähnlichkeit aller Hochbegabten ausmacht, darin, dass man das Losgesprochenseyn, die Manumission des Intellekts vom Dienste des Wil- lens, das Vorherrschen des Erkennens über das Wol- len, deutlich darauf liest: und weil alle Pein aus dem Wollen hervorgeht, das Erkennen hingegen an und für sich schmerzlos und heiter ist ; so giebt dies ihren hohen Stirnen und ihrem klaren, schauenden Blick, als wel- 485 che dem Dienste des Willens und seiner Noth nicht iinterthan sind, jenen Anstrich grosser, gleichsam überirdischer Heiterkeit, welcher zu Zeiten durch- hricht und sehr wohl mit der Melancholie der übri- gen Gesichtszüge, besonders des Mundes, zusammen- bestehi, in dieser Beziehung aber treffend bezeichnet werden kann durch das Motto des Jordanus Brunns: In tristitia hilaris, in hilaritate tristis. Der Wille, welcher die Wurzel des Intellekts ist, widersetzt sich jeder auf irgend etwas Anderes als seine Zwecke gerichteten Thätigkeit desselben. Daher ist der Intellekt einer rein objektiven und tiefen Auf- fassung der Aussenwelt nur dann fähig, wann er sich von dieser seiner Wurzel wenigstens einstweilen ab- gelöst hat. So lange er derselben noch verbunden bleibt, ist er aus eigenen Mitteln gar keiner Thätig- keit fähig, sondern schläft in Dumpfheit, so oft der Wille (das Interesse) ihn nicht weckt und in Bewe- gung setzt. Geschieht dies jedoch, so ist er zwar sehr tauglich, dem Interesse des W^illens gemäss, die Re- lationen der Dinge zu erkennen, wie dies der kluge Kopf thut, der immer auch ein aufgeweckter, d. h. vom Wollen lebhaft erregter Kopf seyn muss; aber er ist eben deshalb nicht fähig, das rein objektive Wesen der Dinge zu erfassen. Denn das Wollen und die Zwecke machen ihn so einseitig, dass er an den Dingen nur das sieht, was sich darauf bezieht, das Lebrige aber theils verschwindet, theils verfälscht ins Bewusstseyn tritt. So wird z. B. ein in Angst und Eile Reisender den Rhein mit seinen Ufern nur als einen Querstrich, die Brücke darüber nur als einen diesen schneidenden Strich sehen. Im Kopfe des von seinen Zwecken erfüllten Menschen sieht die Welt aus, wie eine schöne Gegend auf einem Schlachtfeld- plan aussieht. Freilich sind dies Extreme, der Deut- lichkeit wegen genommen: allein auch jede nur ge- ringe Erregimg des Willens wird eine geringe, je- doch stets jenen analo{je Verfälschung der Erkennt- niss zur Folge haben. In ihrer wahren Farbe und Ge- stalt, in ihrer ganzen und richtigen Bedeutimg kann die W^elt erst dann hervortreten, wann der Intellekt, 486 des Wollens ledi{j[, frei über den Objekten schwebt und ohne vom Willen angetrieben zu seyn, dennoch energisch thätig ist. Allerdings ist dies der Natur und Bestimmung des Intellekts entgegen, also gewisser- maassen widernatürlich, daher eben überaus selten: aber gerade hierin liegt das Wesen des Genies, als bei welchem allein jener Zustand in hohem Grade und anhaltend Statt findet, während er bei den Uebrigen nur annäherungs- und ausnahmsweise eintritt. — In dem hier dargelegten Sinne nehme ich es, wenn Jean Paul („Vorschule der Aesthetik", §. 1 2) das Wesen des Genies in die Besonnenheit setzt. Nämlich der Nor- malmensch ist in den Strudel und Tumult des Lebens, dem er durch seinen Willen angehört, eingesenkt: sein Intellekt ist erfüllt von den Dingen und den Vorgängen des Lebens: aber diese Dinge und das Leben selbst, in objektiver Bedeutung, wird er gar nicht gewahr; wie der Kaufmann auf der Amster- dammer Börse vollkommen vernimmt was sein Nach- bar sagt, aber das dem Rauschen des Meeres ähn- liche GesunuTie der ganzen Börse, darüber der ent- fernte Beobachter erstaunt, gar nicht hört. Dem Ge- nie hingegen, dessen Intellekt vom Willen, also von der Person, abgelöst ist, bedeckt das diese Betreffende nicht die Welt und die Dinge selbst; sondern es wird ihrer deutlich inne, es nimmt sie, an und für sich selbst, in objektiver Anschauung, wahr: in diesem Sinne ist es besonnen. Diese Besonnenheit ist es, welche den Maler befähigt, die Natur, die er vor Augen hat, treu auf der Lein- wand wiederzugeben, und den Dichter, die anschau- liche Gegenwart, mittelst abstrakter Begriffe, genau wieder hervorzurufen, indem er sie ausspricht und so zum deutlichen Bewusstseyn bringt; imgleichen Alles, was die Uebrigen bloss fühlen, in Worten auszudrük- ken. — Das Thier lebt ohne alle Besonnenheit. Be- wusstseyn hat es, d. h. es erkennt sich und sein Wohl und Wehe, dazu auch die Gegenstände, welche solche veranlassen. Aber seine Erkenniniss bleibt stets sub- jektiv, wird nie objektiv: alles darin Vorkommende scheint sich ihm von selbst zu verstehen und kann 487 ihm daher nie weder zum Vorwurf (Objekt der Dar- stellung), noch zum Problem (Objekt der Meditation) werden. Sein Bewusstseyn ist also ganz immanent. Zwar nicht von gleicher, aber doch von verwandter Beschaffenheit ist das Bewusstseyn des gemeinen Men- schenschlages, indem auch seine Wahrnehmung der Dinge und der Welt überwiegend subjektiv und vor- herrschend immanent bleibt. Es nimmt die Dinge in der Welt wahr, aber nicht die Welt; sein eigenes Thun und Leiden, aber nicht sich. Wie nun, in un- endlichen Abstufungen, die Deutlichkeit des Bewusst- seyns sich steigert, tritt mehr und mehr die Beson- nenheit ein, und dadurch kommt es allmälig dahin, dass bisweilen, wenn auch selten und dann wieder in höchst verschiedenen Graden der Deutlichkeit, es wie ein Blitz durch den Kopf fährt, mit „was ist das Al- les?" oder auch mit „ti'?e ist es eigentlich beschaffen?"' Die erstere Frage wird, wenn sie grosse Deutlichkeit und anhaltende Gegenwart erlangt, den Philosophen, und die andere, ebenso, den Künstler oder Dichter machen. Dieserhalb also hat der hohe Beruf dieser Beiden seine Wurzel in der Besonnenheit, die zunächst aus der Deutlichkeit entspringt, mit welcher sie der Welt und ihrer selbst inne werden und dadurch zur Besinnung darüberkommen. Der ganze Hergang aber entspringt daraus, dass der Intellekt, durch sein Ueber- gewicht, sich vom Willen, dem er ursprünglich dienst- bar ist, zu Zeiten losmacht. Die hier dargelegten Betrachtungen über das Genie schliessen sich ergänzend an die im 21. Kapitel ent- haltene Darstellung des in der ganzen Reihe der We- sen wahrnehmbaren, immer weitem Anseinandertretens des Willens und des Intellekts. Dieses eben erreicht im Genie seinen höchsten Grad, als wo es bis zur völli- gen Ablösung des Intelleks von seiner Wurzel, dem Willen, geht, so dass der Intellekt hier völlig frei wird, wodurch allererst die Welt als Forstellung zur vollkommenen Objektivation gelangt. — Jetzt noch einige die Individualität des Genies be- treffende Bemerkungen. — Schon Aristoteles hat, nach Cicero (Tusc, I, 33) bemerkt, omnes ingeniosos me- 488 lancholicos esse; welches sich, oline Zweifel, auf die Stelle in des Aristoteles Prohlemata, 3o, i, bezieht. Auch Goethe sagt: Meine Dichtergluth war sehr gering, So lang ich dem Guten entgegenging: Dagegen brannte sie lichterloh. Wann ich vor drohendem Uebel floh. — Zart Gedicht, wie Regenbogen, Wird nur auf dunkeln Grund gezogen : Darum beliagt dem Dichtergenie Das Element der Melancholie. Dies ist daraus zu erklären, dass, da der Wille seine ursprüngliche Herrschaft über den Intellekt stets wie- der geltend macht, dieser, unter ungünstigen persön- lichen Verhältnissen, sich leichter derselben entzieht; weil er von widerwärtigen Umständen sich gern ab- wendet, gewissermaassen um sich zu zerstreuen, und nun mit desto grösserer Energie sich auf die fremde Aussenwelt richtet, also leichter rein objektiv wird. Günstige persönliche Verhältnisse wirken umgekehrt. Im Ganzen und Allgemeinen jedoch beruht die dem Genie beigegebene Melancholie darauf, dass der Wil- le zum Leben, von je hellerem Intellekt er sich be- leuchtet findet, desto deutlicher das Elend seines Zu- standes wahrnimmt. — Die so häufig bemerkte trübe Stimmung hochbegabter Geister hat ihr Sinnbild am Montblanc^ dessen Gipfel meistens bewölkt ist : aber wann bisweilen, zumal früh Morgens, der Wolken- schleier reisst und nun der Berg vom Sonnenlichte roth, aus seiner Himmelshöhe über den Wolken, auf Chamouni herabsieht; dann ist es ein Anblick, bei welchem Jedem das Herz im tiefsten Grunde aufgeht. So zeigt auch das meistens melancholische Genie zwi- schendurch die schon oben geschilderte, nur ihm mögliche, aus der vollkommensten Objektivität des Geistes entspringende, eigenthümliche Heiterkeit, die wie ein Lichtglanz auf seiner hohen Stirne schwebt : in tristitia hilaris, in hilaritate tristis. — Alle Pfuscher sind es, im letzten Grunde, dadurch, dass ihr Intellekt, dem Willen noch zu fest verbun- 489 den, nur unter dessen Anspornung in Thäti{fkeit ge- rätb, und daher eben ganz in dessen Dienste bleibt. Sie sind demzufolge keiner andern, als persönlicber Zwecke fabig. Diesen gemäss scbaffen sie scbleebte GemiUde, geistlose Gedicbte, seicbte, absurde, sehr oft aucb unredlicbe Philosopbeme, wann es nämlich gilt, durch fromme Unredlichkeit, sich hoben Vorge- setzten zu empfehlen. All ihr Thun und Denken ist also persönlich. Daher gelingt es ihnen höchstens, sich das Aeussere, Zufällige und Beliebige fremder, achter Werke als Manier anzueignen, wo sie dann, statt des Kerns, die Schaale fassen, jedoch vermeinen. Alles erreicht, ja, jene übertroffen zu haben. Wird dennoch dass Misslingen offenbar; so hofft Mancher, es durch seinen guten Willen am Ende doch zu er- reichen. Aber gerade dieser gute Wille macht es un- möglich; weil derselbe doch nur auf persönliche Zwecke hinausläuft: bei solchen aber kann es weder mit Kunst, noch Poesie, noch Philosophie je Ernst werden. Auf jene passt daher ganz eigentlich die Re- densart: sie stehen sich selbst im Lichte. Ihnen ahndet es nicht, dass allein der von der Herrschaft des Wil- lens und allen seinen Projekten losgerissene und da- durch frei thätige Intellekt, weil nur er den wahren Ernst verleiht, zu ächten Produktionen befähigt: und das ist gut für sie; sonst sprängen sie ins Wasser. — Der gute Wille ist in der Moral Alles; aber in der Kunst ist er nichts: da gilt, wie schon das Wort an- deutet, allein das Können. — Alles kommt zuletzt darauf an, wo der eigentliche Ernst des Menschen liegt. Bei fast Allen Hegt er ausschliesslich im eige- nen Wohl und dem der Ihrigen; daher sie dies und nichts Anderes zu fördern im Stande sind: weil eben kein Vorsatz, keine willkürliche und absichtliche An- strengung, den wahren, tiefen, eigentlichen Ernst ver- leiht, oder ersetzt, oder richtiger verlegt. Denn er bleibt stets da, wo die Natur ihn hingelegt hat: ohne ihn aber kann Alles nur halb betrieben werden. Da- her sorgen, aus dem selben Grunde, geniale Indivi- duen oft schlecht für ihre eigene Wohlfahrt. Wie ein bleiernes x\nhängsel einen Körper immer wieder in 4qo die Lage zurückbringt, die sein durch dasselbe deter- minirter Sehwerpunkt erfordert; so zieht der wahre Ernst des Menschen die Kraft und Aufmerksamkeit seines Intellekts immer dahin zurück, u'O er liegt: al- les Andere treibt der Mensch ohne wahren Ernst. Da- her sind allein die höchst seltenen, abnormen Men- schen, deren wahrer Ernst nicht im Persönlichen und Praktischen, sondern im Objektiven und Theoretischen liegt, im Stande, das Wesentliche der Dinge und der Welt, also diehöchsten Wahrheiten, aufzufassen und in irgendeiner Art und Weise wiederzugeben. Denn ein solcher ausserhalb des Individui, in das Objektive fallen- der Ernst desselben ist etwas der menschlichen Natur Fremdes, etwa Unnatürliches, eigentlich Uebernatür- liches: jedoch allein durch ihn ist ein Mensch gr^oss, und demgemäss wird alsdann sein Schaffen einem von ihm verschiedenen Genius zugeschrieben, der ihn in Besitz nehme. Einem solchen Menschen ist sein Bil- den, Dichten oder Denken Zweck, den Uebrigen ist es Mittel. Diese suchen dabei ihre Sache, und wissen, in der Regel, sie wohl zu fördern, da sie sich den Zeit- genossen anschmiegen, bereit, den Bedürfnissen und Launen derselben zu dienen : daher leben sie meistens in glücklichen Umständen; Jener oft in sehr elenden. Denn sein persönliches W^ohl opfert er dem objekti- ven Zweck: er kann eben nicht anders; weil dort sein Ernst liegt. Sie halten es umgekehrt: darum sind sie klein; er aber ist gross. Demgemäss ist sein Werk für alle Zeiten, aber die Anerkennung desselben fängt meistens erst bei der Nachwelt an : sie leben und ster- ben mit ihrer Zeit. Gross überhaupt ist nur Der, wel- cher bei seinem Wirken, dieses sei nun ein prakti- sches oder ein theoretisches, nicht seine Sache sucht; sondern allein einen objektiven Zweck verfolgt: er ist es aber selbst dann noch, wann, im Praktischen, dieser Zweck ein miss verstandener, und sogar wenn er, in Folge davon, ein Verbrechen seyn sollte. Dass er nicht sich und seine Sache sucht, dies macht ihn, unter allen Umständen, gross. Klein hingegen ist alles auf persön- liche Zwecke gerichtete Treiben; weil der dadurch in Thätigkeit Versetzte sich nur in seiner eigenen, 49' verschwindend kleinen Person erkennt und findet. Hin- gegen wer gross ist, erkennt sich in Allem und daher im Ganzen: er lebt nicht, wie Jener, allein im Mikro- kosmos, sondern noch mehr im Makrokosmos. Darum eben ist das Ganze ihm angelegen, und er sucht es zu erfassen, um es darzustellen, oder um es zu erklären, oder um praktisch darauf zu wirken. Denn ihm ist es nicht fremd; er fühlt, dass es ihn angeht. Wegen die- ser Ausdehnung seiner Sphäre nennt man ihn gross. Demnach gebührt nur dem wahren Helden, in irgend einem Sinn, und dem Genie jenes erhabene Prädikat: es besagt, dass sie, der menschlichen Natur entgegen, i nicht ihre eigene Sache gesucht, nicht für sich, son- 1 dern für Alle gelebt haben. - — Wie nun offenbar die Allermeisten stets klein seyn müssen und niemals gross seyn können; so ist doch das Umgekehrte nicht mög- lich, dass nämlich Einer durchaus, d. h. stets und je- den Augenblick, gross sei: Denn aus Gemeinem ist der Mensch gemacht, Und die Gewohnheit nennt er seine Amme. Jeder grosse Mann nämlich muss dennoch oft nur das Individuum seyn, nur sich im Auge haben, und das heisst klein seyn. Hierauf beruht die sehr richtige Bemerkung, dass kein Held es vor seinem Kammer- diener bleibt; nicht aber darauf, dass der Kammer- diener den Helden nicht zu schätzen verstehe; —wel- ches Goethe, in den „Wahlverwandtschaften" (ßd. 2, Kap. 5), als Einfall der Ottilie auftischt. — Das Genie ist sein eigener Lohn: denn das Beste was Einer ist, muss er nothwendig für sich selbst seyn. „Wer mit einem Talente, zu einem Talente ge- boren ist, findet in demselben sein schönstes Daseyu", sagt Goethe. Wenn wir zu einem grossen Mann der Vorzeit hinaufblicken, denken wir nicht: „Wie glück- lich ist er, von uns Allen noch jetzt bewundert zu werden"; sondern: „Wie glücklich muss er gewesen seyn im unmittelbaren Genuss eines Geistes, an des- sen zurückgelassenen Spuren Jahrhunderte sich er- quicken." Nicht im Ruhme, sondern in Dem, wodurch man ihn erlangt, liegt dei' Werth, und in der Zeu- gung unsterblicher Kinder der Genuss. Daher sind Die, welche die Nichtigkeit des Nachruhms daraus zu beweisen suchen, dass wer ihn erlangt, nichts davon erfahrt, dem Klügling zu vergleichen, der einem Man- ne, welcher auf einen Haufen Austerschaalen im Hofe seines Nachbarn neidische Blicke würfe, sehr weise die gänzliche Unbrauchbarkeit derselben demonstri- ren wollte. Der gegebenen Darstellung des Wesens des Genies zufolge ist dasselbe in sofern naturwidrig, als es darin besteht, dass der Intellekt, dessen eigentliche Bestim- mung der Dienst des Willens ist, sich von diesem Dienste emancipirt, um auf eigene Hand thätig zu seyn. Demnach ist das Genie ein seiner Bestimmung untreu gewordener Intellekt. Hierauf beruhen die dem- selben hei^egehenen Nacht heile, zu deren Betrachtung wir jetzt den Weg uns dadurch bahnen, dass wir das Genie mit dem weniger entschiedenen üeberwiegen des Intellekts vergleichen. Der Intellekt des Normalmenschen, streng an den Dienst seines Willens gebunden, mithin eigentlich bloss mit der Aufnahme der Motive beschäftigt, lässt sich ansehen als der Komplex von Drahtfäden, womit jede dieser Puppen auf dem Welttheater in Bewegung gesetzt wird. Hieraus entspringt der trockene, gesetzte Ernst der meisten Leute, der nur noch von dem der Thiere übertroffen wird, als welche niemals lachen. Dagegen könnte man das Genie, mit seinem entfessel- ten Intellekt, einem unter den grossen Drahtpuppen des berühmten Mailändischen Puppentheaters mit- spielenden, lebendigen Menschen vergleichen, der un- ter ihnen der Einzige wäre, welcher Alles wahrnähme und daher gern sich von der Bühne auf eine Weile losmachte, um aus den Logen das Schauspiel zu ge- niessen : — das ist die geniale Besonnenheit. — Aber selbst der überaus verständige und vernünftige Mann, den man beinahe weise nennen könnte, ist vom Genie gar sehr und zwar dadurch verschieden, dass sein Intel- lekt eine p-aA:fiWje Richtung behält,aufdie Wahl der allerbesten Zwecke und Mittel bedacht ist, daher im 493 Dienste des Willens bleibt und demnach recht eigent- lich naiurgemäss beschäftigt ist. Der feste, praktische Lebensernst, welchen die Römer als gravitas bezeich- neten, setztvoraus,dass der Intellekt nicht den Dienst des Willens verlasse, um hinauszusch weiten zu Dem, was diesen nicht angeht: darum lasst er nicht jenes Auseinandertreten des Intellekts und des Willens zu, welches Bedingung des Genies ist. Der kluge, ja der eminente Kopf, der zu grossen Leistungen im Prak- tischen Geeignete, ist es gerade dadurch, dass die Ob- jekte seinen Willen lebhaft erregen und zum rastlosen Nachforschen ihrer Verhältnisse und Beziehungen an- spornen. Auch sein Intellekt ist also mit dem Willen fest verwachsen. Vor dem genialen Kopf hingegen schwebt, in seiner objektiven Auffassung, die Erschei- nung der Welt als ein ihm Fremdes, ein Gegenstand der Kontemplation, der sein Wollen aus dem Bewusst- seyn verdrängt. Um diesen Punkt dreht sich der Un- terschied zwischen der Befähigung zu Thaten und der zu Werken. Die letztere verlangt Objektivität und Tiefe der Erkenntniss, welche gänzliche Sonderung des Intellekts vom Willen zur Voraussetzung hat: die erstere hingegen verlangt Anwendung der Erkennt- niss, Geistesgegenwart und Entschlossenheit, welche erfordert, dass der Intellekt unausgesetzt den Dienst des Willens besorge. Wo das Band zwischen Intellekt und Wille gelöst ist, wird der von seiner natürlichen Bestimmung abgewichene Intellekt den Dienst des Willens vernachlässigen: er wird z. B. selbst in der Noth des Augenblicks noch seine Emancipation gel- tend machen und etvvan die Umgebung, von welcher dem Individuo gegenwärtige Gefahr droht, ihrem malerischen Eindruck nach aufzufassen nicht umhin können. Der Intellekt des vernünftigen und verstän- digen Mannes hingegen ist stets auf seinem Posten, ist auf die Umstände und deren Erfordernisse gerich- tet: ein solcher wird daher in allen Fällen das der Sache Angemessene beschliessen und ausführen, folg- lich keineswe{js in jene Excentricitäten, persönliche Fehltritte, ja, Thorheiten verfallen, denen das Genie darum ausgesetzt ist, dass sein Intellekt nicht aus- 494 schliesslich der Führer und Wächter seines Willens bleiht, sondern, bald mehr bald weniger, vom rein Objektiven in Anspruch genommen wird. Den Ge- gensatz, in welchem die beiden hier abstrakt darge- stellten, gänzlich verschiedenen Arten der Befähigung zu einander stehen, hat Goethe uns im Widerspiel des Tasso und Antonio veranschaulicht. Die oft bemerkte Verwandtschaft des Genies mit dem Wahnsinn be- ruht eben hauptsächlich auf jener, dem Genie wesent- lichen, dennoch aber naturwidrigen Sonderung des Intellekts vom Willen. Diese aber selbst ist keines- wegs Dem zuzuschreiben, dass das Genie von geringe- rer Intensität des Willens begleitet sei ; da es vielmehr durch einen heftigen und leidenschaftlichen Charak- ter bedingt ist: sondern sie ist daraus zu erklären, dass der praktisch Ausgezeichnete, der Mann der Tha- ten, bloss das ganze und volle Maass des für einen energischen Willen erforderten Intellekts hat, wäh- rend den meisten Menschen sogar dieses abgeht; das Genie aber in einem völlig abnormen, wirklichen Uebermaass von Intellekt besteht, dergleichen zum Dienste keines Willens erfordert ist. Dieserhalb eben sind die Männer der ächten Werke tausend Mal sel- tener, als die Männer der Thaten. Jenes abnorme Uebermaass des Intellekts eben ist es, vermöge dessen dieser das entschiedene Uebergewicht erhält,"sich vom Willen losmacht und nun, seines Ursprungs verges- send, aus eigener Kraft und Elasticität frei thätig ist; woraus die Schöpfungen des Genies hervorgehen. Eben dieses nun ferner, dass das Genie im Wirken des freien, d. h. vom Dienste des Willens emancipir- ten Intellekts besteht, hat zur Folge, dass die Produk- tionen desselben keinen nützlichen Zwecken dienen. Es werde musicirt, oder philosophirt, gemalt, oder gedichtet; — ein Werk des Genies ist kein Ding zum Nutzen. Unnütz zu seyn, gehört zum Charaker der Werke des Genies: es ist ihr Adelsbrief. Alle übrigen Menschenwerke sind da zur Erhaltung, oder Erleich- terung unserer Existenz; bloss die hier in Rede ste- henden nicht: sie allein sind ihrer selbst wegen da, und sind, in diesem Sinn, als die Blüthe, oder der 49S reine Ertrag des Daseyns anzusehen. Deshalb geht beim Genuss derselben uns das Herz auf: denn wir tauchen dabei aus dem schweren Erdenäther der Be- dürftigkeit auf. — Diesem analog sehen wir, auch aus- serdem, das Schöne selten mit dem Nützlichen ver- eint. Die hohen und schönen Bäume tragen kein Obst: die Obstbäume sind kleine, hässliche Krüppel. Die gefüllte Gartenrose ist nicht fruchtbar, sondern die kleine, wilde, fast geruchlose ist es. Die schönsten Ge- bäude sind nicht die nützlichen: ein Tempel ist kein Wohnhaus. Ein Mensch von hohen, seltenen Geistes- gaben, genöthigt einem bloss nützlichen Geschäft, dem der Gewöhnlichste gewachsen wäre,obzuliegen, gleicht einer köstlichen, mit schönster Malerei geschmückten Vase, die als Kochtopf verbraucht wird; und die nütz- lichen Leute mit den Leuten von Genie vergleichen, ist wie Bausteine mit Diamanten vergleichen. Der bloss praktische Mensch also gebraucht seinen Intellekt zu Dem, wozu ihn die Natur bestimmte, nämlich zum Auffassen der Beziehungen der Dinge, theils zu einander, theils zum Willen des erkennenden Individuums. Das Genie hingegen gebraucht ihn, der Bestimmung desselben entgegen, zum Auffassen des objektiven Wesens der Dinge. Sein Kopf gehört daher nicht ihm, sondern der Welt an, zu deren Erleuch- tung in irgend einem Sinne er beitragen wird. Hieraus müssen dem damit begünstigten Individuo vielfältige Nachtheile erwachsen. Denn sein Intellekt wird über- haupt die Fehler zeigen, die bei jedem Werkzeug, welches zu Dem, wozu es nicht gemacht ist, gebraucht wird, nicht auszubleiben pflegen. Zunächst wird er gleichsam der Diener zweier Herren seyn, indem er, bei jeder Gelegenheit, sich von dem seiner Bestim- mung entsprechenden Dienste losmacht, um seinen eigenen Zwecken nachzugehen, wodurch er den Wil- len oft sehr zur Unzeit im Stich lässt und hienach das so begabte Individuum für das Leben mehr oder we- niger unbrauchbar wird, ja, in seinem Betragen bis- weilen an den Wahnsinn erinnert. Sodann wird es, vermöge seiner gesteigerten Erkenntnisskraft, in den Dingen mehr das Allgemeine, als das Einzelne sehen; 496 während der Dienst des Willens hauptsächlich die Erkenntniss des Einzelnen erfordert. Aber wann nun wieder gelegentlich jene ganze, abnorm erhöhte Er- kenntnisskraft sich plötzlich, mit aller ihrer Energie, auf die Angelegenheiten und Miseren des Willens richtet; so wird sie diese leicht zu lebhaft auffassen, Alles in zu grellen Farben, zu hellem Lichte, und ins Ungeheure vergrössert erblicken, wodurch das Indi- viduum auf lauter Extreme verfällt. Dies noch näher zu erklären, diene Folgendes. Alle grosse theoretische Leistungen, worin es auch sei, werden dadurch zu Stande gebracht, dass ihr Urheber alle Kräfte seines Geistes auf Einen Punkt richtet, in welchen er sie zu- sammenschiessen lässt und koncentrirt, so stark, fest und ausschliesslich, dass die ganze übrige Welt ihm jetzt verschwindet und sein Gegenstand ihm alle Re- alität ausfüllt. Eben diese grosse und gewaltsame Kon- centration, die zu den Privilegien des Genies gehört, tritt nun für dasselbe bisweilen auch bei den Gegen- ständen der W^irklichkeit und den Angelegenheiten des täglichen Lebens ein, welche alsdann, unter einen solchen Fokus gebracht, eine so monströse Vergrös- serung erhalten, dass sie sich darstellen wie der im Sonnenmikroskop die Statur des Elephanten anneh- mende Floh. Hieraus entsteht es, dass hochbegabte Individuen bisweilen über Kleinigkeiten in heftige Affekte der verschiedensten Art gerathen, die den An- dern unbegreiflich sind, als welche sie in Trauer, Freude, Sorge, Furcht, Zorn u. s. w. versetzt sehen, durch Dinge, bei welchen ein Alltagsmensch ganz gelassen bliebe. Darum also fehlt dem Genie die Nüchternheit, als welche gerade darin besteht, dass man in den Dingen nichts weiter sieht, als was ihnen, besonders in Hinsicht auf unsere möglichen Zwecke, wirklich zukommt: daher kann kein nüchterner Mensch ein Genie seyn. Zu den angegebenen Nach- theilen gesellt sich nun noch die übergrosse Sensi- bilität, welche ein abnorm erhöhtes Nerven- und Cerebral -Leben mit sich bringt, und zwar im Verein mit der dasGenie ebenfalls bedingenden Heftigkeit und Leidenschaftlichkeit des WoUens, die sich physisch 3 2 Schopenhauer II 497 als Energie des Herzschlages darstellt. Aus allem Diesen entspringt sehr leicht jene Ueberspanntheit der Stim- mung, jene Heftigkeit der Affekte, jener schnelle Wechsel der Laime, unter vorherrschender Melan- cholie, die Goethe uns im Tasso vor Augen gebracht hat. Welche Vernünftigkeit, ruhige Fassung, abge- schlossene Uebersicht, völlige Sicherheit und Gleich- mässigkeit des Betragens zeigt doch der wohlausge- stattete Normalmensch, im Vergleich mit der bald träumerischen Versunkenheit, bald leidenschaftlichen Aufregung des Genialen, dessen innere Qual der Mutterschooss unsterblicher Werke ist. — Zu diesem Allen kommt noch, dass das Genie wesentlich einsam lebt. Es ist zu selten, als dass es leicht auf seines Gleichen treffen könnte, und zu verschieden von den Uebrigen, um ihr Geselle zu seyn. Bei ihnen ist das Wollen, bei ihm das Erkennen das Vorwaltende: da- her sind ihre Freuden nicht seine, seine nicht ihre. Sie sind bloss moralische Wesen und haben bloss per- sönliche Verhältnisse: er ist zugleich ein reiner In- tellekt, der als solcher der ganzen Menschheit ange- hört. Der Gedankengang des von seinem mütterlichen Boden, dem Willen, abgelösten und nur periodisch zu ihm zurückkehrenden Intellekts wird sich von dem des normalen, auf seinem Stamme haftenden, bald durchweg unterscheiden. Daher, und wegen der Un- gleichheit des Schritts, ist Jener nicht zum gemein- schaftlichen Denken, d. h. zur Konversation mit den Andern geeignet: sie werden an ihm und seiner drük- kenden Ueberlegenheit so wenig Freude haben, wie er an ihnen. Sie werden daher sich behaglicher mit ihres Gleichen fühlen, und er wird die Unterhaltung mit seines Gleichen, obschon sie in der Regel nur durch ihre nachgelassenen Werke möglich ist, vor- ziehen. Sehr richtig sagt daher Cham fort: II y a peu de vices qui empcchent un homme d'avoir beaucoup d'amis, autant que peuvent le faire de trop grandes qualitcs. Das glücklichste Loos, was dem Genie wer- den kann, ist Entbindung vom Thun und Lassen, als welches nicht sein Element ist, und freie Müsse zu seinem Schaffen. — Aus^diesem Allen ergiebt sich, 498 dass wenn gleich das Genie den damit Begabten in den Stunden, wo er, ihm hingegeben, ungehindert im Genuss desselben schwelgt, hoch beglücken mag; das- selbe dennoch keineswegs geeignet ist, ihm einen glücklichen Lebenslauf zu bereiten, vielmehr das Gegentheil. Dies bestätigt auch die in den Biographien niedergelegte Erfahrung. Dazu kommt noch ein Miss- verhältniss nach aussen, indem das Genie, in seinem Treiben und Leisten selbst, meistens mit seiner Zeit im Widerspruch und Kampfe steht. Die blossen Ta- lentmänner kommen stets zu rechter Zeit: denn, wie sie vom Geiste ihrer Zeit angeregt und vom Bedürf- niss derselben hervorgerufen werden, so sind sie auch gerade nur fähig diesem zu genügen. Sie greifen da- her ein in den fortschreitenden Bildungsgang ihrer Zeitgenossen, oder in die schrittweise Förderung einer speciellen Wissenschaft: dafür wird ihnen Lohn und Beifall. Der nächsten Generation jedoch sind ihre Werke nicht mehr geniessbar: sie müssen durch an- dere ersetzt werden, die dann auch nicht ausbleiben. Das Genie hingegen trifft in seine Zeit, wie ein Komet in die Planetenbahnen, deren wohlgeregelter und übersehbarer Ordnung sein völlig excentrischer Lauf fremd ist. Demnach kann es nicht eingreifen in den vorgefundenen, regelmässigen Bildungsgang der Zeit, sondern wirft seine Werke weit hinaus in die vor- liegende Bahn (wie der sich dem Tode weihende Im- perator seinen Speer unter die Feinde), auf welcher die Zeit solche erst einzuholen hat. Sein Verhältniss zu den während dessen kuhninirenden Talentmännern könnte es in den W^orten des Evangelisten aus- drücken: '0 xatpo? 6 efjio? outtco Trapsoiiv' 6 oe xaipo? 6 üjxsTepo? TcavTOTs saxtv s-oi[xo<; (Job. 7, 6). — Das Talent vermag zu leisten was die Leistungsfähig- keit, jedoch nicht die Apprehensionsfähigkeit der üebrigen überschreitet: daher findet es sogleich seine Schätzer. Hingegen geht die Leistung des Genies nicht nur über Leistungs-, sondern auch über die Apprehen- sionsfähigkeit der Andern hinaus: daher werden diese seiner nicht unmittelbar inne. Das Talent gleicht dem Schützen, der ein Ziel trifft, welches die üebrigen 32' 499 nicht erreichen können; das Genie dem, der eines trifft, bis zu welchem sie nicht ein Mal zu sehen ver- mögen: daher sie nur mittelbar, also spät, Kunde da- von erhalten, und sogar diese nur auf Treu und Glauben annehmen. Demgemäss sagt Goethe im Lehr- brief: „Die Nachahmung ist uns angeboren; der Nach- zuahmende wird nicht leicht erkannt. Selten wird das Treffliche gefunden, seltner geschätzt." Und Chamfort sagt: II en est de la valeur des hommes comme de Celle des diamans, qui, ä une certaine me- sure de grosseur, de purete, de perfection, ont un prix fixe et marque, mais qui, par-delä cette mesure, res- tant Sans prix, et ne trouvent point d'acheteurs. Auch schon Bako von Verulam hat es ausgesprochen: Infi- marum virtutum, apud vulgus, laus est, mediarum admiratio, supremarum sensus nullus (De augm. sc, L. VI, c. 3). Ja, möchte vielleicht Einer entgegnen, apud vulgus! — Dem muss ich jedoch zu Hülfe kom- men mit Machiavetlis Versicherung: Nel mondo non e se non volgo*): wie denn auch Thilo (über den Ruhm) bemerkt, dass zum grossen Haufen gewöhn- lich Einer mehr gehört, als Jeder glaubt. — Eine Folge dieser späten Anerkennung der Werke des Ge- nies ist, dass sie selten von ihren Zeitgenossen und demnach in der Frische des Kolorits, welche die Gleichzeitigkeit und Gegenwart verleiht, genossen werden, sondern, gleich den Feigen und Datteln, viel mehr im trockenen, als im frischen Zustande. — Wenn wir nun endlich noch das Genie von der so- matischen Seite betrachten; so finden wir es durch mehrere anatomische und physiologische Eigenschaf- ten bedingt, welche einzeln selten vollkommen vor- handen, noch seltener vollständig beisammen, den- noch alle unerlässlich erfordert sind ; so dass daraus erklärlich wird, warum das Genie nur als eine völlig vereinzelte, fast portentose Ausnahme vorkommt. Die Grundbedingung ist ein abnormes Ueberwiegen der Sensibilität über die Irritabilität und Reproduktions- kraft, und zwar, was die Sache erschwert, auf einem männlichen Körper. (Weiber können bedeutendes Ta- ') Es giebt nichts Anderes auf der Weh, als Vulgus. 5oo lent, aber kein Genie haben: denn sie bleiben stets subjektiv.) Inigleichen muss das Cerebralsystem vom Gangliensystem durch vollkommene Isolation rein ge- schieden seyn, so dass es mit diesem im vollkomme- nem Gegensatz stehe, wodurch das Gehirn sein Para- sitenleben auf dem Organismus recht entschieden, ab- gesondert, kräftig und unabhängig führt. Freilich wird es dadurch leicht feindlich auf den übrigen Or- ganismus wirken und, durch sein erhöhtes Leben und rastlose Thätigkeit, ihn frühzeitig aufreiben, wenn nicht auch er selbst von energischer Lebenskraft und wohl konstituirt ist: auch dieses Letztere also gehört zu den Bedingungen. Ja, sogar ein guter Magen gehört dazu, wegen des speciellen und engen Konsensus die- ses Theiles mit dem Gehirn. Hauptsächlich aber muss das Gehirn von ungewöhnlicher Entwickelung und Grösse, besonders breit und hoch seyn : hingegen wird die Tiefendimension zurückstehen, und das grosse Gehirn im Verhältniss gegen das kleine abnorm über- wiegen. Auf die Gestalt desselben im Ganzen und in den Theilen kommt ohne Zweifel sehr viel an: allein dies genau zu bestimmen, reichen unsere Kenntnisse noch nicht aus; obwohl wir die edle, hohe Intelligenz verkündende Form eines Schädels leicht erkennen. Die Textur der Gehirnmasse muss von der äussersten Feinheit und Vollendung seyn und aus der reinsten, ausgeschiedensten, zartesten und erregbarsten Nerven- substanz bestehen: gewiss hat auch das quantitative Verhältniss der weissen zur grauen Substanz entschie- denen Einfluss, den wir aber ebenfalls noch nicht an- zugeben vermögen. Inswischen besagt der Obduktions- bericht der Leiche Byron s*), dass bei ihm die weisse Substanz in ungewöhnlich starkem Verhältniss zur grauen stand; desgleichen, dass sein Gehirn 6 Pfund gewogen hat. Cuviers Gehirn hat 5 Pfund gewogen: das normale Gewicht ist 3 Pfund. - — Im Gegensatz des überwiegenden Gehirns müssen Rückenmark und Nerven ungewöhnlich dünn seyn. Ein schön gewölb- ter, hoher und breiter Schädel, von dünner Knochen- masse, muss das Gehirn schützen, ohne es irgend ein- *) In Medwin's Conversations of L. Byron, p. 333. 5oi zuengen. Diese ganze Beschaffenheit des Gehirns und Nervensystems ist das Erhtheil von der Mutter; wor- auf wir im folgenden Buche zurückkommen werden. Dieselbe ist aber, um das Phänomen des Genies her- vorzubringen, durchaus unzureichend, wenn nicht, als Erbtheil vom Vater, ein lebhaftes, leidenschaft- liches Temperament hinzukommt, sich somatisch dar- stellend als ungewöhnliche Energie des Herzens und folglich des Blutumlaufs, zumal nach dem Kopfe hin. Denn hiedurch wird zunächst jene dem Gehirn eigene Turgescenz vermehrt, vermöge deren es gegen seine Wände drückt; daher es aus jeder durch Verletzung entstandenen Oeffnung in diesen hervorquillt; zwei- tens erhält durch die gehörige Kraft des Herzens das Gehirn diejenige innere, von seiner beständigen He- bung und Senkung bei jedem Athemzuge noch ver- schiedene Bewegung, welche in einer Erschütterung seiner ganzen Masse bei jedem Pulsschlage der vier Cerebral-Arterien besteht und deren Energie seiner hier vermehrten Quantität entsprechen muss, wie denn diese Bewegung überhaupt eine unerlässliche Bedingung seiner Thätigkeit ist. Dieser ist eben da- her auch eine kleine Statur und besonders ein kurzer Hals günstig, weil, auf dem kürzern Wege, das Blut mit mehr Energie zum Gehirn gelangt: deshalb sind die grossen Geister selten von grossem Körper. Jedoch ist jene Kürze des Weges nicht unerlässlich: z. B. Goethe war von mehr als mittlerer Höhe. Wenn nun aber die ganze den Blutumlauf betreffende und daher vom Vater kommende Bedingung fehlt; so wird die von der Mutter stammende günstige Beschaffenheit des Gehirns höchstens ein Talent, einen feinen Ver- stand, den das alsdann eintretende Phlegma unter- stützt, hervorbringen: aber ein phlegmatisches Genie ist unmöglich. Aus dieser vom Vater kommenden Bedingung des Genies erklären sich viele der oben geschilderten Temperamentsfehler desselben. Ist hin- gegen diese Bedingung ohne die erstere, also bei ge- wöhnlich oder gar schlecht konstituirtem Gehirn vor- handen; so giebt sie Lebhaftigkeit ohne Geist, Hitze ohne Licht, liefert Tollköpfe, Menschen von uner- !^0 2 träglicher Unruhe und Petulanz. Dass von zwei Brü- dern nur der eine Genie hat, und dann meistens der altere, wie es z. B. Kants Fall war, ist zunächst daraus erklärUcii, dass nur bei seiner Zeugung der Vater im Alter der Kraft und Leidenschaftlichkeit war; wie- wohl auch die andere, von der Mutter stammende Bedingung durch ungünstige Umstände verkümmert werden kann. Noch habe ich hier eine besondere Bemerkung hin- zuzufügen über den kindlichen Charakter des Genies, d. h. über eine gewisse Aehnlichkeit, welche zwischen dem Genie und dem Kindesalter Statt findet. — In der Kindheit nämlich ist, wie beim Genie, das Cere- bral- und Nervensystem entschieden überwiegend: denn seine Entwickelung eilt der des übrigen Orga- nismus weit voraus; so dass bereits mit dem sieben- ten Jahre das Gehirn seine volle Ausdehnung und Masse erlangt hat. Schon Bichat sagt daher: Dans Tenfance le Systeme nerveux, compare au musculaire, €st proportionnellement plus considerable que dans tous les äges suivans, tandis que, par la suite, la plus- part des autres systemes predominent sur celui-ci. on sait que, pour bien voir les nerfs, on choisit toujovu'S les enfans (De la vie et de la mort, Art. 8, §. 6). Am spätesten hingegen fängt die Entwickelung des Geni- talsystems an, und erst beim Eintritt des Mannesalters sind Irritabilität, Reproduktion und Genitalfunktion in voller Kraft, wo sie dann, in der Regel, das Ueber- gewicht über die Gehirnfunktion haben. Hieraus ist es erklärlich, dass die Kinder, im Allgemeinen, so klug, vernünftig, wissbegierig und gelehrig, ja, im Ganzen, zu aller theoretischen Beschäftigung aufge- legter und tauglicher, als die Erwachsenen, sind: sie haben nämlich in Folge jenes Entwickelungsganges mehr Intellekt als Willen, d. h. als Neigung, Begierde, Leidenschaft. Denn Intellekt und Gehirn sind Eins, und eben so ist das Genitalsystem Eins mit der hef- tigsten aller Begierden : daher ich dasselbe den Brenn- punkt des Willens genannt habe. Eben weil die heil- lose Thätigkeit dieses Systems noch schlummert, wäh- rend die des Gehirns schon volle Regsamkeit hat, ist 5o3 die Kindheit die Zeit der Unschuld und des Glückes, das Paradies des Lebens, das verlorene Eden, auf wel- ches wir, unsei'n ganzen übrigen Lebensweg hindurch, sehnsüchtig zurückblicken. Die Basis jenes Glückes aber ist, dass in der Kindheit unser ganzes Daseyn viel mehr im Erkennen, als im Wollen liegt; welcher Zustand zudem noch von aussen durch die Neuheit aller Gegenstände unterstützt wird. Daher liegt die Welt, im Morgenglanze des Lebens, so frisch, so zau- berisch schimmernd, so anziehend vor uns. Die klei- nen Begierden, schwankenden Neigungen und gering- fügigen Sorgen der Kindheit sind gegen jenes Vor- walten der erkennenden Thätigkeit nur ein schwa- ches Gegengewicht. Der unschuldige und klare Blick der Kinder, an dem wir uns erquicken, und der bis- weilen, in einzelnen, den erhabenen, kontemplativen Ausdruck, mit welchem Raphael seine Engelsköpfe verherrlicht hat, erreicht, ist aus dem Gesagten er- klärlich. Demnach entwickeln die Geisteskräfte sich viel früher, als die Bedürfnisse, welchen zu die- nen sie bestimmt sind : und hierin verfährt die Natur, wie überall, sehr zweckmässig. Denn in dieser Zeit der voi'waltenden Intelligenz sammelt der Mensch einen grossen Vorrath von Erkenntnissen, für künf- tige, ihm zur Zeit noch fremde Bedürfnisse. Daher ist sein Intellekt jetzt unablässig thätig, fasst begierig alle Erscheinungen auf, brütet darüber und speichert sie sorgfältig auf, für die kommende Zeit, — der Biene gleich, die sehr viel mehr Honig sammelt, als sie ver- zehren kann, im Vorgefühl künftiger Bedürfnisse. Gewiss ist was der Mensch bis zum Eintritt der Pu- bertät an Einsicht und Kenntniss erwirbt, im Ganzen genommen, mehr, als Alles was er nachher lernt, würde er auch noch so gelehrt: denn es ist die Grund- lage aller menschlichen Erkenntnisse. — Bis zur sel- ben Zeit waltet im kindlichen Leibe die Plasticität vor, deren Kräfte späterhin, nachdem sie ihr Werk vollendet hat, durch eine Metastase, sich auf das Ge- nerationssystem werfen, wodurch mit der Pubertät der Geschlechtstrieb eintritt und jetzt allmälig der Wille das Uebergewicht erhält. Dann folgt auf die 5o4 vorwaltend theoretische, lernbegierige Kindheit das unruhige, bald stürmische, bald schwermüthige Jüng- lingsalter, welches nachher in das heftige und ernste Mannesalter übergeht. Gerade weil im Kinde jener unheilschwangere Trieb fehlt, ist das Wollen dessel- ben so gemässigt und dem Erkennen untergeordnet, woraus jener Charakter von Unschuld, Intelligenz und Vernünftigkeit entsteht, welcher dem Kindesalter eigenthümlich ist. — Worauf nun die Aehnlichkeit des Kindesalters mit dem Genie beruhe, brauche ich kaum noch auszusprechen: im Ueberschuss der Er- kenntnisskräfte über die Bedürfnisse des Willens, und im daraus entspringenden Vorwalten der bloss er- kennenden Thätigkeit. Wirklich ist jedes Kind ge- wissermaassen ein Genie, und jedes Genie gewisser- maassen ein Kind. Die Verwandtschaft Beider zeigt sich zunächst in der Naivetät und erhabenen Einfalt, welche ein Grundzug des ächten Genies ist: sie tritt auch ausserdem in manchen Zügen an den Tag; so dass eine gewisse Kindlichkeit allerdings zum Charak- ter des Genies gehört. In Riemei^s Mittheilungen über Goethe wird (Bd. I, S. 184) erwähnt, dass Herder und Andere Goethen tadelnd nachsagten, er sei ewig ein grosses Kind : gewiss haben sie es mit Recht gesagt, nur nicht mit Recht getadelt. Auch von Mozart hat es ge- heissen, er sei zeitlebens ein Kind geblieben. (Nissens Biographie Mozarts: S. 2 und 629.) Schlichtegrolls Ne- krolog (von i79i,Bd.II,S. 109) sagt von ihm: ,, Er wur- de früh in seiner Kunst ein Mann ; in allen übrigen Ver- hältnissen aber blieb er beständig ein Kind." Jedes Genie ist schon darum ein grosses Kind, weil es in die Welt hineinschaut als in ein Fremdes, ein Schauspiel, da- her mit rein objektivem Interesse. Demgemäss hat es, so wenig wie das Kind, jene trockene Ernsthaftigkeit der Gewöhnlichen, als welche, keines anderen als des subjektiven Interesses fähig, in den Dingen immer bloss Motive für ihr Thun sehen. Wer nicht zeitle- bens gewissermaassen ein grosses Kind bleibt, sondern ein ernsthafter, nüchterner, durchweg gesetzter und vernünftiger Mann wird, kann ein sehr nützlicher und tüchtiger Bürger dieser Welt sein ; nur nimmer- 5o5 mehr ein Genie. In der That ist das Genie es dadurch, dass jenes, dem Kindesaher natürhche, Ueberwiegen des sensibeln Systems und der erkennenden Thätig- keit sich hei ihm, abnormer Weise, das ganze Leben hindurch erhäh,also hier ein perennirendes wird. Eine Spur davon zieht sicli freihch auch bei manchen ge- vvöhnhchen Menschen noch bis ins JünghngsaUer hin- über; daher z. B. an manchen Studenten noch ein rein geistiges Streben und eine geniale Excentricität imverkennbar ist. Allein die Natur kehrt in ihr Gleis zurück: sie verpuppen sich und erstehen, iui Mannes- alter, als eingefleischte Philister, über die man er- schrickt, wann man sie in spätem Jahren wieder an- trifft. — Auf dem ganzen hier dargelegten Hergang beruht auch Goethes schöne Bemerkung: ,, Kinder halten nicht was sie versprechen; junge Leute sehr selten, und wenn sie Wort halten, hält es ihnen die Welt nicht". (Wahlverwandtschaften, Th. I, Kap, lO.) Die Welt nämlich, welche die Kronen, die sie für das Verdienst hoch emporhielt, nachher Denen aufsetzt, welche Werkzeuge ihrer niedrigen Absichten werden, oder aber sie zu betrügen verstehen. — Dem Gesag- ten gemäss giebt es, wie eine blosse Jugendschönheit, die fast Jeder Ein Mal besitzt (beaute du diable), auch eine blosse Jugend-Intellektualität, ein gewisses geistiges, zum Auffassen, Verstehen, Lernen geneigtes und geeignetes Wesen, welches Jeder in der Kindheit, Einige noch in der Jugend haben, das aber danach sich verliert, eben wie jene Schönheit. Nur bei höchst Wenigen, den Auserwählten, dauert das Eine, wie das Andere, das ganze Leben hindurch fort; so dass selbst im höhern Alter noch eine Spur davon sicht- bar bleibt: dies sind die wahrhaft schönen, und die wahrhaft genialen Menschen. Das hier in Erwägung genommene Ueberwiegen des cerebralen Nervensystems und der [ntelligenz in der Kindheit, nebst dem Zurücktreten derselben im reifen Alter, erhält eine wichtige Erläuterung und Bestätigung dadurch, dass bei dem Thiergeschlechte, welches dem Menschen am nächsten steht, den Affen, das selbe Verhältniss in auffallendem Grade Statt fin- 5 06 det. Es ist allmalig gewiss geworden, dass der so höchst intelligente Orang-Utan ein junger Pongo ist, welcher, wann herangewachsen, die grosse Menschen- ähnlichkeit des Antlitzes und zugleich die erstaun- liche Intelligenz verliert, indem der untere, thierische Theil des Gesichts sich vergrössert, die Stirn dadurch zurücktritt, grosse cristae, zur Muskelanlage, den Schädel thierisch gestalten, die Thätigkeit des Ner- vensystems sinkt und an ihrer Stelle eine ausserordent- liche Muskelkraft sich entwickelt, welche, als zu sei- ner Erhaltung ausreichend, die grosse Intelligenz jetzt überflüssig macht. Besonders wichtig ist, was in die- ser Hinsicht Finedrich Cuvier gesagt und Flourens er- läutert hat in einer Recension der Histoire naturelle des Erstem, welche sich im Septemberheft des Jour- nal des Savans von 1889 befindet und auch, mit eini- gen Zusätzen, besonders abgedruckt ist unter dem Titel : Resume analytique des observations de Fr. Cu- vier sur Finstinct et rintelligence des animaux, p. Flourens. 1841. Daselbst, S. 5o, heisst es: „L'intelli- ^oence de Torang-outang, cette intelligence si develop- pee, et developpeede si bonneheure, decroitavecTäge. L'orang-outang, lorsqu'il est jeune, nous etonne parsa pcnctration,par sa ruse, par son adresse ; Torang-outang, devenu adulte, n'est plus qu'un animal grossier, bru- tal, intraitable. Et il en est de tous les singes comme de Torang-outang. Dans tous, Tintelligence decroit ä mesure que les Forces s'accroissent. L'animal qui a le plus d'intelligence, n'a toute cette intelligence que dans le jeune äge." — Ferner S. 87 : „Les singes de tous les genres olfrent ce rapport inverse de Tage et de rintelligence. Ainsi, par exemple, TEntelle (espece de guenon du sousgenre des Semno-pitheques et Tun des singes veneres dans la religion des Brames) a, dans le jeune äge, le front large, le museau peu saillant, le cräne eleve, arrondi, etc. Avec Tage le front dispa- rait, recule, le museau proemine; et le moral ne chan- {je pas moins que le physique: Tapathie, la violence, le besoin de solitude, remplacent la penetration, la docilite, la confiance. ,,Ces differences sont si grandes", dit Mr. Fred. Cuvier, „que dans Thabitude oü nous 607 sommes de jiiger des actions des animaux par les no- tres, nous prendrions le jeune animal pour un indi- vidu de läge, oü toutes les qualites niorales de Tes- p^ce sont acqiiises, et TEntelle adulte pour im indi- vidu qui n'aurait encore que ses Forces physiques. Mais la natvire n'en ajjit pas ainsi avec ces animaux, qui ne doivent pas sortir de la sphere etroite, qui leur est fixee, et a qui il suffit en quelque sorte de pouvoir veiller ä leur conservation. Pour cela rintelligence etait necessaire, quandla Force n'existait pas, et quand celle-ci est acquise, toute autre puissance perd de son . utilite." — Und S. 1 18 : ,,La conservation des especes I ne repose pas moins sur les qualites intellectuelles des animaux, que sur leurs qualites organiques." Dieses Letztere bestätigt meinen Satz, dass der Intellekt, so | gut wie Klauen und Zahne, nichts Anderes, als ein ■ Werkzeug zum Dienste des Willens ist. KAPITEL 32*). UEBER DEN WAHNSINN. DIE eigentliche Gesundheit des Geistes besteht in der vollkommenen Rückerinnerung. Freilich ist diese nicht so zu verstehen, dass unser Gedachtniss Alles auFbewahrte.Denn unser zurückgelegterLebens- weg schruinpFt in der Zeit zusammen, wie der des zurücksehenden Wanderers im Raum : bisweilen wird es uns schwer, die einzelnen Jahre zu unterscheiden; die Tage sind meistens unkenntlich geworden. Eigent- lich aber sollen nur die ganz gleichen und un- zählige Mal wiederkehrenden Vorgänge, deren Bil- der gleichsam einander decken, in der Erinnerung so zusammenlauFen, dass sie individuell imkenntlich werden: hingegen muss jeder irgend eigenthümliche, ') Dieses Kapitel bezieht sich auf die zweite Hälfte des §.36 des ersten Bandes. [S. 3 23 d. A.] .5o8 J oder bedeutsame Vorgang in der Erinnerung wieder aufzufinden seyn; wenn der Intellekt normal, krähig und ganz gesund ist. — Als den zerrissenen Faden dieser, wenn auch in stets abnehmender Fülle und Deutlichkeit, doch gleichmässig fortlaufenden Erin- nerung habe ich im Texte den Wahnsinn dargestellt. Zur Bestätigung hievon diene folgende Betrachtung. Das Gedächtniss eines Gesunden gewährt über ei- nen Vorgang, dessen Zeuge er gewesen, eine Gewiss- heit, welche als eben so fest und sicher angesehen wird, wie seine gegenwärtige Wahrnehmung einer Sache; daher derselbe, wenn von ihm beschworen, vor Gericht dadurch festgestellt wird. Hingegen wird der blosse Verdacht des Wahnsinns die Aussage eines Zeugen sofort entkräften. Hier also liegt das Kriteri- um zwischen Geistesgesundheit und Verrücktheit. So- bald ich zweifle, ob ein Vorgang, dessen ich mich er- innere, auch wirklich Statt gefunden, werfe ich auf mich selbst den Verdacht des Wahnsinns; es sei denn, ich wäre ungewiss, ob es nicht ein blosser Traum ge- wesen. Zweifelt ein Anderer an der Wirklichkeit ei- nes von mir als Augenzeugen erzählten Vorgangs, ohne meiner Redlichkeit zu misstrauen; so hält er mich für verrückt. Wer durch häufig wiederholtes Erzählen eines ursprünglich von ihm erlogenen Vor- ganges endlich dahin kommt, ihn selbst zu glauben, ist, in diesem Einen Punkt, eigentlich schon verrückt. Man kann einem Verrückten witzige Einfälle, einzel- ne gescheute Gedanken, selbst richtige ürtheile zu- trauen : aber seinem Zeugniss über vergangene Bege- benheiten wird man keine Gültigkeit beilegen. In der Lalitavistara, bekanntlich der Lebensgeschichte des Buddha Schakya-Muni, wird erzählt, dass, im Augen- blicke seiner Geburt, auf der ganzen Welt alle Kran- ke gesund, alle Blinde sehend, alle Taube hörend wurden und alle Wahnsinnigen „ihr Gedächtniss wie- dererhielten". Letzteres wird sogar an zwei Stellen «rwähnt*). •) Rgya Tcher Rol Pa, Hist. de Bouddha Chakya Mouni, trad. du Tibetain p. Foucaux, 1848, p. 91 et 99. Sog Meine eigene, vieljährige Erfahrung hat mich auf die Venniuhung gefülirt, dass Wahnsinn verhäkniss- mässig am häutigsten hei Schauspielern eintritt. Wel- chen Misshrauch treihen aber auch diese Leute mit ihrem Gedachtniss! Täglich haben sie eine neue Rol- le einzulernen, oder eine alte aufzuirischen : diese Rol- len sind aber sämmtlich ohne Zusammenhang, ja, im Widerspruch und Kontrast mit einander, und jeden Abend ist der Schauspieler bemüht, sich selbst ganz zu vergessen, um ein völlig Anderer zu seyn. Der- gleichen bahnt geiadezu den Weg zum W^ahnsinn. Die im Texte gegebene Darstellung der Entstehung des Wahnsinns Avird fasslicher werden, wenn man sich erinnert, wie ungern wir an Dinge denken, wel- che unser Interesse, unsern Stolz, oder unsere W^ün- sche stark verletzen, wie schwer wir uns entschlies- sen. Dergleichen dem eigenen Intellekt zu genauer und ernster Untersuchung vorzulegen, wie leicht wir dagegen unbewusst davon wieder abspringen, oder abschleichen, wie hingegen angenehme Angelegen- heiten ganz von selbst uns in den Sinn kommen und, wenn verscheucht, uns stets wieder beschleichen, da- her wir ihnen stundenlang nachhängen. In jenem W^iderstreben des Willens, das ihm Widrige in die Releuchtung des Intellekts kommen zu lassen, liegt die Stelle, an welcher der Wahnsinn auf den Geist einbrechen kann. Jeder widrige neue Vorfall näm- lich muss vom Intellekt assimilirt werden, d. h. im System der sich auf unsern Willen und sein Interesse beziehenden Wahrheiten eine Stelle erhalten, was immer Befriedigenderes er auch zu verdrängen ha- ben mag. Sobald dies geschehen ist, schmerzt er schon viel weniger: aber diese Operation selbst ist oft sehr schmerzlich, geht auch meistens nur lan{jsam und mit Widerstreben von Statten. Inzwischen kann nur so- fern sie jedesmal richtig vollzogen worden, die Ge- sundheit des Geistes bestehen. Erreicht hingegen, in einem einzelnen Fall, das W^iderstreben und Sträu- ben des W^illens wider die Aufnahme einer Erkennt- niss den Grad, dass jene Operation nicht rein durch- geführt wird; werden demnach dem Intellekt gewis- 5 I o se Vorfalle oder Umstände völlig unterschlagen, weil der Wille ihren Anblick nicht ertragen kann; wird alsdann, des nothwendigen Zusammenhangs wegen, die dadurch entstandene Lücke beliebig ausgefüllt; — so ist der Wahnsinn da. Denn der Intellekt hat seine Natur aufgegeben, dem Willen zu gefallen: der Mensch bildet sich jetzt ein, was nicht ist. Jedoch wird der so entstandene Wahnsinn jetzt der Lethe unerträglicher Leiden : er war das letzte Hülfsniittel der geängstigten Natur, d. i. des Willens. Beiläufig sei hier ein beachtungswerther Beleg mei- ner Ansicht erwähnt. Korlo Gozzi, im Mostro tur- chino, Akt i, Szene 2, führt uns eine Person vor, wel- che einen Vergessenheit herbeiführenden Zaubertrank getrunken hat, diese stellt sich ganz wie eine Wahn- sinnige dar. Der obigen Darstellung zufolge kann man also den Ursprung des W^ahnsinns ansehen als ein gewaltsa- mes „Sich aus dem Sinn schlagen" irgend einer Sa- che, welches jedoch nur möglich ist mittelst des „Sich in den Kopf setzen" irgend einer andern. Seltener ist der' umgekehrte Hergang, dass nämlich das „Sich in den Kopf setzen" das Erste und das ,,Sich aus dem Sinn schlagen" das Zweite ist. Er findet jedoch Statt in den Fällen, wo Einer den Anlass, über welchen er verrückt geworden, beständig gegenwärtig behält und nicht davon los kommen kann : so z. B. bei manchem verliebten Wahnsinn, Erotomanie, wo dem Anlass fortwährend nachgehangen wird; auch bei dem aus Schreck über einen plötzlichen, entsetzlichen Vorfall entstandenen W^ahnsinn. Solche Kranke halten den gefassten Gedanken gleichsam krampfhaft fest, so dass kein anderer, am wenigsten ein ihm entgegen- stehender, aufkommen kann. Bei beiden Hergängen bleibt aber das Wesentliche des Wahnsinns das Sel- be, nämlich die Unmöglichkeit einer gleichförmig zu- sammenhängenden Bückerinnerung, wie solche die Basis unserer gesunden, vernünftigen Besonnenheit ist. — Vielleicht könnte der hier dargestellte Gegen- satz der Entstehungsweise, wenn mit Unheil ange- 5ii wandt, einen scharfen und tiefen Eintheilungsgrund des eigentlichen Irrwahns abgeben. Uebrigens habe ich nur den psychischen Ursprung des Wahnsinns in Betracht genommen, also den durch äussere, objektive Anlässe herbeigeführten. Oefter je- doch beruht er auf rein somatischen Ursachen, auf Missbildungen, oder partiellen Desorganisationen des Gehirns, oder seiner Hüllen, auch auf dem Einfluss, welchen andere krankhaft aflizirte Theile auf das Gehirn ausüben. Hauptsächlich bei letzterer Art des Wahnsinns mögen falsche Sinnesanschauungen, Hal- lucinationen, vorkommen. Jedoch werden beiderlei Ursachen des Wahnsinns meistens von einander par- ticipiren, zumal die psychische von der somatischen. Es ist damit wie mit dem Selbstmorde: selten mag dieser durch den äussern Anlass allein herbeigeführt seyn, sondern ein gewisses körperliches Missbehagen liegt ihm zum Grunde, und je nach dem Grade, den dieses erreicht, ist ein grösserer oder kleinerer Anlass von aussen erforderlich; nur beim höchsten Grade desselben gar keiner. Daher ist kein Unglück so gross, dass es Jeden zum Selbstmord bewöge, und keines so klein, dass nicht schon ein ihm gleicbes dahin geführt hätte. Ich habe die psychische Entstehung des Wahn- sinns dargelegt, wie sie bei dem, wenigstens allem Anschein nach. Gesunden durch ein grosses Unglück herbeigeführt wird. Bei dem somatisch bereits stark dazu Disponirten wird eine sehr geringe Widerwär- tigkeit dazu hinreichend seyn: so z. B. erinnere ich mich eines Menschen im Irrenhause, welcher Soldat gewesen und wahnsinnig geworden war, weil sein Offizier ihn mit Er angeredet hatte. Bei entschiedener körperlicher Anlage, bedarf es, sobald diese zur Reife gekommen, gar keines Anlasses. Der aus bloss psy- chischen Ursachen entsprungene Wahnsinn kann vielleicht, durch die ihn erzeugende, gewaltsame Verkehrung des Gedankenlauls, auch eine Art Läh- mung oder sonstige Depravation irgend welcher Ge- hirntheile herbeiführen, welche, wenn nicht bald ge- hoben, bleibend wird; daher Wahnsinn nur im An- fang, nicht aber nach längerer Zeit heilbar ist. 5 I 2 Dass es eine mania sine delirio, Raserei ohne Ver- rücktheit, gebe, hatte Pinel gelehrt, Esijuirol bestrit- ten, und seitdem ist viel dafür und dawider gesagt worden. Die fVage ist nur empirisch zu entscheiden. Wenn aber ein solcher Zustand wirklich vorkommt; so ist er daraus zu erklären, dass hier der Wille sich der Herrschaft und Leitung des Intellekts, und mithin der Motive, periodisch ganz entzieht, wo- durch er dann als blinde, ungestüme, zerstörende Naturkraft auftritt, und demnach sich äussert als die Sucht, Alles, was ihm in den Weg kommt, zu ver- nichten. Der so losgelassene Wille gleicht dann dem Strome, der den Damm durchbrochen, dem Rosse, das den Reiter abgeworfen hat, der Uhr, aus welcher die hemmenden Schrauben herausgenommen sind. Jedoch wird bloss die Vernunft, also die reßektive Er- kenntniss, von jener Suspension getroffen, nicht auch die intuitive \ da sonst der Wille ohne alle Leitung, folglich der Mensch unbeweglich bliebe. Vielmehr nimmt der Rasende die Objekte wahr, da er auf sie losbricht; bat auch Rewusstseyn seines gegenwärtigen Thuns und nachher Erinnerung desselben. Aber er ist ohne alle Reflexion, also ohne alle Leitung durch Vernunft, folglich jeder Ueberlegung und Rücksicht auf das Abwesende, das Vergangene und Zukünftige ganz unfähig. Wann der Anfall vorüber ist und die Vernunft die Herrschaft wiedererlangt hat, ist ihre Funktion regelrecht, da ihre eigene Thätigkeit hier nicht verrückt und verdorben ist, sondern nur der Wille das Mittel gefunden hat, sich ihr auf eine Weile ganz zu entziehen. 33 Schopenhauer II 5l3 KAPITEL 33 *). VEREINZELTE BEMERKUNGEN ÜBER NATUR- SCHÖNHEIT. DEN Anblick einer schönen Landschaft so überaus erfreulich zumachen, trä{i;t unter Anderniauch die durch{jängige Wahrheit und Konsequenz der Natur bei. Diese befol^jt hier freilich nicht den logischen Leitfaden, im Zusammenhange der Erkenntnissgrün- de, der Vordersätze und Nachsätze, Prämissen und Konklusionen; aber doch den ihm analogen des Kan- salitätsgesetzes, im sichtlichen Zusammenhange der Ursachen und Wirkungen. Jede Modifikation, auch die leiseste, welche ein Gegenstand durch seine Stel- lung, Verkürzung, Verdeckung, Entfernung, Beleuch- tung, Linear- und Luft-Perspektive u. s. \v. erhält, wird durch seine Wirkung auf das Auge unfehlbar angegeben und genau in Rechnung gebracht : das In- dische Sprichwort „Jedes Reiskörnchen wirft seinen Schatten" findet hier Bewährung. Daher zeigt sich hier Alles so durchgängig folgerecht, genau regel- recht, zusammenhängend und skrupulös richtig: hier giebt es keine Winkelzüge. Wenn wir nun den An- blick einer schönen x\ussicht bloss als Gehirnphäno- men in Betracht nehmen ; so ist er das einzige stets ganz regelrechte, tadellose und vollkommene, unter den komplicirten Gehirnphänomenen; da alle übri- gen, zumal unsere eigenen Gedankenoperationen, im Formalen oder Materialen, mit Mängeln oder Un- richtigkeiten, mehr oder weniger, behaftet sind. Aus diesem Vorzug des Anblicks der schönen Natur ist zunächst das Harmonische und durchaus Befriedi- gende seines Eindrucks zu erklären, dann aber auch die günstige Wirkung, welche derselbe auf unser ge- sammtes Denken hat, als welches dadurch, in seinem formalen Theil, richtiger gestimmt und gewisser- maassen geläutert wird, indem jenes allein ganz ta- *) Dieses Kapitel steht in Beziehung zu §.38 des ersten Ban- des. [S. 23; d. A.] 5 I 4 dellose Gehirnphänomen das Gehirn überhaupt in eine völli{j normale Aktion versetzt und nun das Den- ken im Konsequenten, Zusammenhangenden, Regel- rechten und Harmonischen aller seiner Processe, jene Methode der Natur zu befolgen sucht, nachdem es durch sie in den rechten Schwung gebracht worden. Eine schöne Aussicht ist daher ein Kathartikon des Geistes, wie die Musik, nach Aristoteles, des Gemü- thes, und in ihrer Gegenwart wird man am richtig- sten denken. — Dass der sich plötzlich vor uns aufthuende Anblick der Gebirge uns so leicht in eine ernste, auch wohl erhabene Stimmung versetzt, mag zum Theil darauf beruhen, dass die Form der Berge und der daraus entstehende ümriss des Gebirges die einzige stets blei- bende Linie der Landschaft ist, da die Berge allein dem Verfall trotzen, der alles Uebrige schnell hin- wegrafft, zumal unsere eigene, ephemere Person. Nicht, dass beim Anblick des Gebirgs alles Dieses in unser deutliches Bewusstseyn träte, sondern ein dun- kles Gefühl davon wird der Grund bass unserer Stim- mung. — Ich möchte wissen, warum, während für die menschliche Gestalt und Antlitz die Beleuchtung von oben durchaus die vortheilhafteste und die von un- ten die ungünstigste ist, hinsichtlich der landschaft- lichen Natur gerade das Umgekehrte gilt. — Wie ästhetisch ist doch die Natur! Jedes ganz un- angebaute und verwilderte, d. h. ihr selber frei über- lassene Fleckchen, sei es auch klein, wenn nur die Tatze des Menschen davon bleibt, dekorirt sie als- bald auf die geschmackvollste Weise, bekleidet es mit Pflanzen, Blumen und Gesträuchen, deren ungezwun- genes Wesen, natürliche Gi'azie und anmuthige Grup- pirung davon zeugt, dass sie nicht unter der Zucht- ruthe des grossen Egoisten aufgewachsen sind, son- dern hier die Natur frei gewaltet hat. Jedes vernach- lässigte Plätzchen wird alsbald schön. Hierauf be- ruht das Princip der Englischen Gärten, welches ist, die Kunst möglichst zu verbergen, damit es aussehe, als habe hier die Natur frei gewaltet. Denn nur dann 33* 5i5 ist sie vollkommen schön, d. h. zeigt in grösster Deut- lichkeit die Objektivation des noch erkenntnisslosen Willens zum Leben, der sich hier in grösster Naive- tät entfaltet, weil die Gestalten nicht, wie in der Thierwelt, bestimmt sind durch ausserhalb liegende Zwecke, sondern allein unmittelbar durch Boden, Klima und ein geheimnissvolles Drittes, vermöge des- sen so viele Pflanzen, die ursprünglich dem selben Boden und Klima entsprossen sind, doch so verschie- dene Gestalten und Charaktere zeigen. Der mächtige Unterschied zwischen den Englischen, richtiger Chinesischen Gärten und den jetzt immer seltener werdenden, jedoch noch in einigen Pracht- exemplaren vorhandenen, altfranzösischen, beruht im letzten Grunde darauf, dass jene im objektiven, diese im subjektiven Sinne angelegt sind. In jenen nämlich wird der Wille der Natur, wie er sich in Baum, Staude, Berg und Gewässer objektivirt, zu möglichst reinem Ausdruck dieser seiner Ideen, also seines eige- nen Wesens, gebracht. In den Französischen Gärten hingegen spiegelt sich nur der Wille des Besitzers, welcher die Natur unterjocht hat, so dass sie, statt ihrer Ideen, die ihm entsprechenden, ihr aufgezwun- genen Formen, als Abzeichen ihrer Sklaverei, trägt: geschorene Hecken, in allerhand Gestalten geschnit- tene Bäume, gerade Alleen, Bogengänge u. s. w. KAPITEL 34*). UEBER DAS INNERE WESEN^DER KUNST. NICHT bloss die Philosophie, sondern auch die schönen Künste arbeiten im Grundedarauf hin, das Problem des Daseyns zu lösen. Denn in jedem Geiste, der sich ein Mal der rein objektiven Betrachtung der *) Dieses Kapitel steht in Beziehung zu §. 49 des ersten Ban- des. [S. 283 d. A.] 5i6 Welt hingiebt, ist, wie versteckt und unbewusst' es auch seyn mag, ein Streben rege geworden, das wahre Wesen der Dinge, des Lebens, des Daseyns, zu er- fassen. Denn Dieses allein hat Interesse für den Intel- lekt als solchen, d. h. für das von den Zwecken des Willens frei gewordene, also reine Subjekt des Er- kennens; wie für das als blosses Individuum erken- nende Subjekt die Zwecke des Willens allein Interesse haben. — Dieserhalb ist das Ergebniss jeder rein ob- jektiven, also auch jeder künstlerischen Auffassung der Dinge ein Ausdruck mehr vom Wesen des Lebens und Daseyns, eine Antwort mehr auf die Frage: ,,Was ist das Leben?" — Diese Frage beantwortet jedes ächte und gelungene Kunstwerk, auf seine Weise, völlig richtig. Allein die Künste reden sämmtlich nur die naive und kindliche Sprache der Anschauung, nicht die abstrakte und ernste der Reflexion: ihre Antwort ist daher ein flüchtiges Bild; nicht eine blei- bende allgemeine Erkenntniss. Also für die Anschau- ung beantwortet jedes Kunstwerk jene Frage, jedes Gemälde, jede Statue, jedes Gedicht, jede Scene auf der Bühne: auch die Musik beantwortet sie; und zwar tiefer als alle anderen, indem sie, in einer ganz unmittelbar verständlichen Sprache, die jedoch in die der Vernunft nicht übersetzbar ist, das innerste We- sen alles Lebens und Daseyns ausspricht. Die übrigen Künste also halten sämmtlich dem Frager ein an- schauliches Bild vor und sagen: „Siehe hier, das ist das Leben!" — Ihre Antwort, so richtig sie auch seyn mag, wird jedoch immer nur eine einstweilige, nicht eine gänzliche und finale Befriedigung gewäh- ren. Denn sie geben iminer nur ein Fragment, ein Beispiel statt der Regel, nicht das Ganze, als welches nur in der Allgemeinheit des Begriffes gegeben wer- den kann. Für diesen daher, also für die Reflexion und in abstracto, eine eben deshalb bleibende und auf immer genügende Beantwortung jener Frage zu geben, — ist die Aufgabe der Philosophie. Inzwischen sehen wir hier, worauf die Verwandtschaft der Philo- sophie mit den schönen Künsten beruht, und können daraus abnehmen, inwiefern auch die Fähigkeit zu 5 17 Beiden, wiewohl in ihrer Richtung und im Sekun- dären sehr verschieden, doch in der Wurzel die selbe ist. Jedes Kunstwerk ist demgemäss eigentlich bemüht, uns das Leben und die Dinge so zu zei{jeii, wie sie in Wahrheit sind, aber, durch den Nebel objektiver und subjektiver Zufälligkeiten hindurch, nicht von Jedem unmittelbar erfasst werden können. Diesen Nebel nimmt die Kunst hinweg. Die W^erke der Dichter, Bildner und darstellenden Künstler überhaupt enthalten anerkanntermaassen einen Schatz tiefer Weisheit: eben weil aus ihnen die Weisheit der Natur der Dinge selbst redet, deren Aus- sagen sie bloss durch Verdeutlichung und reinere Wiederholung verdolmetschen. Deshalb muss aber freilich auch Jeder, der das Gedicht liest, oder das Kunstwerk betrachtet, aus eigenen Mitteln beitragen, jene Weisheit zu Tage zu fördern: folglich fasst er nur so viel davon, als seine Fähigkeit und seine Bil- dung zulässt; wie ins tiefe Meer jeder Scbiffer sein Senkblei so tief hinablässt, als dessen Länge reicbt. Vor ein Bild hat Jeder sich hinzustellen, wie vor einen Fürsten, abwartend, ob und was es zu ihm sprechen werde; und, wie jenen, auch dieses nicht selbst anzureden: denn da würde er nur sich selbst vernehmen. — Dem allen zufolge ist in den Werken der darstellenden Künste zwar alle Weisheit enthal- ten, jedoch nur virtualiter oder implicite: hingegen dieselbe actualiter und explicite zu liefern ist die Philosophie bemüht, welche in diesem Sinne sich zu jenen verhält, wie der Wein zu den Trauben. Was sie zu liefern verspricht, wäre gleichsam ein schon realisirter und baarer Gewinn, ein fester und blei- bender Besitz; während der aus den Leistungen und Werken der Kunst hervorgehende nur ein stets neu zu erzeugender ist. Dafür aber macht sie nicht bloss an Den, der ihre Werke schaffen, sondern auch an Den, der sie geniessen soll, abschreckende, schwer zu erfüllende Anforderungen. Daher bleibt ihr Publikum klein, während das der Künste gross ist. — Die oben zum Genuss eines Kunstwerkes verlangte 5iS Mitwirkung des Beschauers beruht zum Theil darauf, dass jedes Kunstwerk nur durch das Medium der Phantasie wirken kann, daher es diese anregen muss und sie nie aus dem Spiel gelassen werden und un- thatig bleiben darf. Dies ist eine Bedingung der ästhe- tischen Wirkung und daher ein Grundgesetz aller schönen Künste. Aus demselben aber folgt, dass, durch das Kunstwerk, nicht Alles geradezu den Sin- nen gegeben werden darf, vielmehr nur so viel, als erfordert ist, die Phantasie auf den rechten Weg zu leiten: ihr muss immer noch etwas und zwar das Letzte zu thun übrig bleiben. Muss doch sogar der Schriftsteller stets dem Leser noch etwas zu denken übrig lassen; da Voltaire sehr richtig gesagt hat: Le secret d'etre ennuyeux, c'est de tout dire. In der Kunst aber ist überdies das Allerbeste zu geistig, um geradezu den Sinnen gegeben zu werden: es muss in der Phantasie des Beschauers geboren, wiewohl durch das Kunstwerk erzeugt werden. Hierauf beruht es, dass die Skizzen grosser Meister oft mehr wirken, als ihre ausgemalten Bilder; wozu freilich noch der an- dere Vortheil beiträgt, dass sie, aus einem Guss, im Augenblick der Konception vollendet sind; während das ausgeführte Gemälde, da die Begeisterung doch nicht bis zu seiner Vollendung anhalten kann, nur unter fortgesetzter Bemühung, mittelst kluger üeber- legung und beharrlicher Absichtlichkeit zu Stande kommt. — Aus dem in Rede stehenden ästhetischen Grundgesetze wird ferner auch erklärlich, warum Wachsfiguren^ obgleich gerade in ihnen die Nach- ahmung der Natur den höchsten Grad erreichen kann, nie eine ästhetische Wirkung hervorbringen und daher nicht eigentliche Werke der schönen Kunst sind. Denn sie lassen der Phantasie nichts zu thun übrig. Die Skulptur nämlich giebt die blosse Form, ohne die Farbe ; die Malerei giebt die Farbe, aber den blossen Schein der Form : Beide also wenden sich an die Phantasie des Beschauers. Die Wachsfigur hin- gegen giebt Alles, Form und Farbe zugleich; woraus der Schein der Wirklichkeit entsteht und die Phan- tasie aus dem Spiele bleibt. — Dagegen wendet die 5i9 Poesie sich sogar allein an die Phantasie, welche sie mittelst blosser Worte in Thätigkeit versetzt. ■ — Ein willkürliches Spielen mit den Mitteln der Kunst, ohne eigentliche Kenntniss des Zweckes, ist, in jeder, der Grundcharakter der Pfuscherei. Ein sol- ches zeigt sich in den nichts tragenden Stützen, den zwecklosen Voluten, Bauschungen und Vorsprüngen schlechter Architektur, in den nichtssagenden Läufen und Figuren, nebst dem zwecklosen Lenu schlechter Musik, im Klingklang der Reime sinnarmer Gedichte, u. s. w. — In Folge der vorhergegangenen Kapitel und meiner ganzen Ansicht von der Kunst, ist ihr Zweck die Er- leichterung der Erkenntniss der Ideen der Welt (im Platonischen Sinn, dem einzigen, den ich für das Wort Idee anerkenne). Die Ideen aber sind wesent- lich ein Anschauliches und daher, in seinen nähern Bestimmungen, Unerschöpfliches. Die Mittheilung eines solchen kann daher nur auf dem Wege der An- schauung geschehen, welches der der Kunst ist. Wer also von der Auffassung einer Idee erfüllt ist, ist ge- rechtfertigt, wenn er die Kunst zum Medium seiner Mittheilung wählt. — Der blosse Begriß" hingegen ist ein vollkommen Bestimmbares, daher zu Erschöp- fendes, deutlich Gedachtes, welches sich, seinem gan- zen Inhalt nach, durch Worte, kalt und nüchtern mittheilen lässt. Ein Solches nun aber durch ein Kunstwerk mittheilen zu w^ollen, ist ein sehr unnützer Umweg, ja, gehört zu dem eben gerügten Spielen mit den Mitteln der Kunst, ohne Kenntniss des Zwecks. Daher ist ein Kunstwerk, dessen Konception aus blossen deutlichen Begriffen hervorgegangen, alleinal ein unächtes. Wenn wir nun, bei Betrachtung eines Werkes der bildenden Kunst, oder beim Lesen einer Dichtung, oder beim Anhören einer Musik (die etwas Bestimmtes zu schildern bezweckt), durch alle die reichen Kunstmiltel hindurch, den deutlichen, be- gränzten, kalten, nüchternen Begriff durchschimmern und am Ende hervortreten sehen, welcher der Kern dieses Werkes war, dessen ganze Konception mithin nur im deutlichen Denken desselben bestanden hat 52ü und demnach durch die Mittheilung desselben von Grund aus erschöpft ist; so empfinden wir Ekel und Unwillen : denn wir sehen uns getäuscht und um un- sere Theilnahme und Aufmerksamkeit betrogen. Ganz befriedigt durch den Eindruck eines Kunstwerks sind wir nur dann, wann er etwas hinterlässt, das wir, bei allem Nachdenken darüber, nicht bis zur Deutlichkeit eines Begriffs herabziehen können. Das Merkmal jenes hybriden Ursprungs aus blossen Begriffen ist, dass der Urheber eines Kunstwerks, ehe er an die Aus- führung gieng, mit deutlichen Worten angeben konnte, was er darzustellen beabsichtigte: denn da wäre durch diese Worte selbst sein ganzer Zweck zu erreichen gewesen. Daher ist es ein so unwürdiges, wie albernes Unternehmen, wenn man, wie heut zu Tage öfter versucht worden, eine Dichtung Shake- speare's, oder Goethe's, zurückführen will auf eine abstrakte Wahrheit, deren Mittheilung ihr Zweck gewesen wäre. Denken soll freilich der Künstler, bei der Anordnung seines Werkes: aber nur das Ge- dachte, was geschaut wurde ehe es gedacht war, hat nachmals, bei der Mittheilung, anregende Kraft und wird dadurch unvergänglich. — Hier wollen wir nun die Bemerkung nicht unterdrücken, dass allerdings die Werke aus einem Guss, wie die bereits erwähnte Skizze der Maler, welche in der Begeisterung der ersten Konception vollendet, und wie unbevvusst hin- gezeichnet wird, desgleichen die Melodie, welche ohne alle Reflexion und völlig wie durch Eingebung kommt, endlich auch das eigentlich lyrische Gedicht, das blosse Lied, in welches die tief gefühlte Stim- mung der Gegenwart und der Eindruck der Umge- bung sich mit Worten, deren Silbenmaasse und Reime von selbst eintreffen, wie unwillkürlich ergiesst, — dass, sage ich, diese Alle den grossen Vorzug haben, das lautere Werk der Begeisterung des Augenblicks, der Inspiration, der freien Regung des Genius zu seyn, ohne alle Einmischung der Absichtlichkeit und Re- flexion; daher sie eben durch und durch erfreulich und geniessbar sind, ohne Schaale und Kern, und ihre Wirkung viel unfehlbarer ist, als die der grössten 52 I Kunstwerke, von lan{jsamer und überlegter Ausfüh- rung. An allen diesen nämlich, also an den grossen historischen Gemälden, an den langen Epopöen, den grossen Opern u. s. w. hat die Reflexion, die Absicht und durchdachte Wahl bedeutenden Anthcil: Ver- stand, Technik und Routine müssen hier die Lücken ausfüllen, welche die geniale Konception und Be- geisterung gelassen hat, und allerlei nothwendiges Nebenwerk muss, als Cäment der eigentlich allein ächten Glanzpartien, diese durchziehen. Hieraus ist es erklärlich, dass alle solche Werke, die vollkom- mensten Meisterstücke der allergrössten Meister (wie z. B. Hamlet, Faust, die Oper Don Juan) allein aus- genommen, einiges Schaales und Langweiliges un- vermeidlich beigemischt erhalten, welches ihren Genuss in etwas verkünmiert. Belege hiezu sind die Messiade, die Gerusalemme liberata, sogar Paradise lost und die Aeneide: macht doch schon Horaz die kühne Bemerkung: Quandoque dormitat bonus Ho- merus. Dass aber Dies sich so verhält ist eine Folge der Beschränkung menschlicher Kräfte überhaupt. — Die Mutter der nützlichen Künste ist die Noth; die der schönen der Ueberfluss. Zum Vater haben jene den Verstand, diese das Genie, welches selbst eine Art Ueberfluss ist, nämlich der der Erkenntniss- kraft über das zum Dienste des Willens erforderliche Maass. KAPITEL 35*). ZUR AESTHETIK DER ARCHITEKTUR. IN Gemässheit der im Texte gegebenen Ableitung des rein Aesthetischen der Baukunst aus den unter- sten Stufen der Objektivation des Willens, oder der Natur, deren Ideen sie zu deutlicher Anschaulichkeit *) Dieses Kapitel bezieht sich auf §.43 des ersten Bandes. [S. 2 58 d. A.] .52 2 I bringen will, ist das einzige und beständige Thema derselben Stütze und Last, und ihr Grundgesetz, dass keine Last ohne genügende Stütze, und keine Stütze ohne angemessene Last, mithin das Verhältniss die- ser Beiden gerade das passende sei. Die reinste Aus- führung dieses Themas ist Säule und Gebälk: daher ist die Säulenordnung gleichsam der Generalbass der ganzen Architektur geworden. In Säule und Gebälk nämlich sind Stütze und Last vollkommen gesondert., wodurch die gegenseitige Wirkung Beider und ihr Verhältniss zu einander augenfällig wird. Denn frei- lich enthält selbst jede schlichte Mauer schon Stütze und Last: allein hier sind Beide noch in einander verschmolzen. Alles ist hier Stütze und Alles Last: daher keine ästhetische Wirkung. Diese tritt erst durch die Sonderung ein und fällt dem Grade dersel- ben gemäss aus. Denn zwischen der Säulenreihe und der schlichten Mauer sind viele Zwischenstufen. Schon auf der bloss zu Fenstern und Thüren durch- brochenen Mauer eines Hauses sucht man jene Son- derung wenigstens anzudeuten, durch flach hervor- tretende Pilaster (Anten) mit Kapitellen, welche man dem Gesimse unterschiebt, ja im Nothfall, sie durch blosse Malerei darstellt, um doch irgendwie das Ge- bälk und eine Säulenordnung zu bezeichnen. Wirk- liche Pfeiler, auch Konsolen und Stützen mancherlei Art, realisiren schon mehr jene von der Baukunst durchgängig angestrebte reine Sonderung der Stütze und Last. In Hinsicht auf dieselbe steht der Säule mit dem Gebälke zunächst, aber als eigenthümliche, nicht diesen nachahmende Konstruktion, das Gewöl- be mit dem Pfeiler. Die ästhetische Wirkung Jener freilich erreichen Diese bei Weitem nicht; weil hier Stütze und Last noch nicht rein gesondert, sondern in einander übergehend verschmolzen sind. Im Gewölbe selbst ist jeder Stein zugleich Last und Stütze, und sogar die Pfeiler werden, zumal im Kreuzgewölbe, vom Druck entgegengesetzter Bögen, wenigstens für den Augenschein, in ihrer Lage erhalten; wie denn auch, eben dieses Seitendruckes wegen, nicht nur Ge- wölbe, sondern selbst blosse Bögen nicht auf Säulen 2>:) ruhen sollen, sondern den massiveren, viereckigen Pfeiler verlangen. In der Säulenreihe aJlein ist die Sonderung vollständig, indem hier das Gebälk als reine Last, die Säule als reine Stütze auftritt. Dem- nach ist das Verhältnis der Kolonade zur schlichten Mauer dem zu vergleichen, welches zwischen einer in regelmässigen Intervallen aufsteigenden Tonleiter und einem aus der selben Tiefe bis zur selben Höhe allmählig und ohne Abstufungen hinaufgehenden Tone wäre, der ein blosses Geheul abgeben würde. Denn im Einen wie im Andern ist der Stoff der selbe, und nur aus der reinen Sondei-ung geht der mächtige Unterschied hervor. Der Last angemessen ist übrigens die Stütze nicht dann, wann sie solche zu tragen nur eben ausreicht; sondern wann sie dies so bequem und reichlich ver- mag, dass wir, beim ersten Anblick, darüber vollkom- men beruhigt sind. Jedoch darf auch dieser Ueber- schuss der Stütze einen gewissen Grad nicht über- steigen ; da wir sonst Stütze ohne Last erblicken, wel- ches dem ästhetischen Zweck entgegen ist. Zur Be- stimmung jenes Grades haben die Alten, als Regula- tiv, die Linie des Gleichgewichts ersonnea^ welche man erhält, indem man die Verjüngung, welche die Dicke der Säule von unten nach oben hat, fortsetzt, bis sie in einem spitzen Winkel ausläuft, wodurch die Säule zum Kegel wird: jetzt wird jeder beliebige Queer-Durchschnitt den untern Theil so stark lassen, dass er den abgeschnittenen oberen zu tragen hin- reicht. Gewöhnlich aber wird mit zwanzigfacher Festigkeit gebaut, d. h. man legt jeder Stütze nur 1/20 dessen auf, was sie höchstens tragen könnte. — Ein lukulentes Beispiel von Last ohne Stütze bieten die, an den Ecken mancher, im geschmackvollen Stil der „Jetztzeit" erbauten Häuser hinausgeschobenen Erker dem Auge dar. Man sieht nicht was sie trägt: sie scheinen zu schweben und beunruhigen das Ge- müth. Dass in Italien sogar die einfachsten und schmuck- losesten Gebäude einen ästhetischen Eindruck ma- chen, in Deutschland aber nicht, beruht hauptsäch- lieh darauf, dass dort die Dächer sehr flach sind. Ein hohes Dach ist nämlich weder Stütze noch Last: denn seine beiden Hälften unterstützen sich gegenseitig, das Ganze aber hat kein seiner Ausdehnung entspre- chendes Gewicht. Daher bietet es dem Auge eine aus- gebreitete Masse dar, die dem ästhetischen Zwecke völlig fremd, bloss dem nützlichen dient, mithin je- nen stört, dessen Thema immer nur Stütze und Last ist. Die Form der Säule hat ihren Grund allein darin, dass sie die einfachste und zweckmässigste Stütze lie- fert. In der gewundenen Säule tritt die Zweckwidrig- keit wie absichtlich trotzend und daher unverschämt auf: deswegen bricht der gute Geschmack beim er- sten Anblick, den Stab über sie. Der viereckige Pfei- ler hat, da die Diagonale die Seiten übeitrifft, unglei- che Dimensionen der Dicke, die durch keinen Zweck motivirt, sondern durch die zufällig leichtere Aus- führbarkeit veranlasst sind: darum eben gefällt er uns so sehr viel weniger, als die Säule. Schon der sechs- oder achteckige Pfeiler ist gefälliger; weil er sich der runden Säule mehr nähert: denn die Form dieser allein ist ausschliesslich durch den Zweck be- stimmt. Dies ist sie nun aber auch in allen ihren üb- rigen Proportionen: zunächst im Verhältniss ihrer Dicke zur Höhe, innerhalb der Gränzen, welche die Verschiedenheit der drei Säulenordnungen zulässt. Sodann beruht ihre Verjüngung, vom ersten Drittel ihrer Höhe an, wie auch eine geringe Anschwellung an eben dieser Stelle (entasis Vitr.), darauf, dass der Druck der Last dort am stärksten ist: man glaubte bisher, dass diese Anschwellung nur der Jonischen und Korinthischen Säule eigen sei; allein neuere Mes- sungen haben sie auch an der Dorischen, sogar in Pä- stum, nachgewiesen. Also Alles an der Säule, ihre durchweg bestimmte Form, das Verhältniss ihrer Höhe zur Dicke, Beider zu den Zwischenräumen der Säulen, und das der ganzen Reihe zum Gebälk und der darauf ruhenden Last, ist das genau berechnete Resultat aus dem Verhältniss der nothwendigen Stütze zur gegebenen Last. Weil diese gleichförmig verteilt 525 ist; so müssen es auch die Stützen seyn: deshalb sind Säulengruppen geschmacklos. Hingegen rückt, in den besten Dorischen Tempeln, die Ecksäule etwas näher an die nächste; weil das Zusammentreffen der Ge- bälke an der Ecke die Last vermehrt: hiedurch aber spricht sich deutlich das Princip der Architektur aus, dass die konstruktionellen Verhältnisse, d. h. die zwischen Stütze und Last, die wesentlichen sind, wel- chen die der Symmetrie, als untergeordnet, sogleich weichen müssen. Je nach der Schwere der ganzen Last überhaupt wird man die Dorische, oder die zwei leichteren Säulenordnungen wählen, da die erstere, nicht nur durch die grössere Dicke, sondern auch durch die ihr wesentliche, nähere Stellung der Säu- len, auf schwere Lasten berechnet ist, zu welchem Zwecke auch die beinahe rohe Einfachheit ihres Ka- pitells passt. Die Kapitelle überhaupt haben den Zweck, sichtbar zu machen, dass die Säulen das Ge- bälk tragen und nicht wie Zapfen hineingesteckt sind: zugleich vergrössern sie, mittelst ihres Abakus, die tragende Fläche. Weil nun also aus dem wohl verstandenen und konsequent durchgeführten Begriff der reichlich angemessenen Stütze zu einer gegebe- nen Last alle Gesetze der Säulenordnung, mithin auch die Form und Proportion der Säule, in allen ihren Theilen und Dimensionen, bis ins einzelne herab, folgt, also insofern a priori bestimmt ist; so erhellt die Verkehrtheit des so oft wiederholten Gedankens, dass Baumstämme oder gar (was leider selbst Vitru- vius, IV, I, vorträgt) die menschliche Gestalt das Vorbild der Säule gewesen sei. Dann wäre die Form derselben für die Architektur eine rein zufällige, von Aussen aufgenommene: eine solche aber könnte uns nicht, sobald wir sie in ihrem gehörigen Ebenmaass erblicken, so harmonisch und befriedigend anspre- chen; noch könnte andererseits jedes, selbst geringe Missverhältniss derselben vom feinen und geübten Sinne sogleich unangenehm und störend, wie ein Misston in der Musik, empfunden werden. Dies ist vielmehr nur dadurch möglich, dass, nach gegebenem Zweck und Mittel, alles Uebrige im Wesentlichen a 526 priori bestimmt ist, wie in der Musik, nach gegebe- ner Melodie und Grundton, im Wesentlichen die ganze Harmonie. Und wie die Musik, so ist auch die Architektur überhaupt keine nachahmende Kunst; — obwohl Beide oft fälschlich dafür gehalten worden sind. Das ästhetische Wohlgefallen beruht, wie im Text ausführlich dargethan, überall auf der Auffassung einer (Platonischen) Idee. Für die Architektur, allein als schöne Kunst betrachtet, sind die Ideen der un- tersten Naturstufen, also Schwere, Starrheit, Kohä- sion, das eigentliche Thema; nicht aber, wie man bisher annahm, bloss die regelmässige Form, Propor- tion und Symmetrie, als welche ein rein Geometri- sches, Eigenschaften des Raumes, nicht Ideen sind, und daher nicht das Thema einer schönen Kunst seyn können. Auch in der Architektur also sind sie nur sekundären Ursprungs und haben eine untergeord- nete Bedeutung, welche ich sogleich hervorheben werde. Wären sie es allein, welche darzulegen die Architektur, als schöne Kunst, zur Aufgabe hätte; so müsste das Modell die gleiche Wirkung thun, wie das ausgeführte Werk. Dies aber ist ganz und gar nicht der Fall: vielmehr müssen die Werke der Ar- chitektur, um ästhetisch zu wirken, durchaus eine beträchtliche Grösse haben; ja, sie können nie zu gross, aber leicht zu klein seyn. Sogar steht, ceteris paribus, die ästhetische Wirkung im geraden Ver- hältniss der Grösse der Gebäude; weil nur grosse Massen die Wirksamkeit der Schwerkraft in hohem Grade augenfällig und eindringlich machen. Hiedurch bestätigt sich abermals meine Ansicht, dass das Stre- ben und der Antagonismus jener Grundkräfte der Natur den eigentlichen ästhetischen Stoff der Bau- kunst ausmacht, welcher, seiner Natur nach, grosse Massen verlangt, um sichtbar, ja fühlbar zu werden. — Die Formen in der Architektur werden, wie oben an der Säule gezeigt worden, zunächst durch den un- mittelbaren, konstruktioneilen Zweck jedes Theiles bestimmt. Soweit nun aber derselbe irgend etwas unbestimmt lässt, tritt, da die Architektur ihr Daseyn 527 zunächst in unserer räumlichen Anschauung hat, und demnach an unser Vermö{jen a priori zu dieser sich wendet, das Gesetz der vollkommensten Anschaulich- keit, mithin auch der leichtesten Fasslichkeit, ein. Diese aber entsteht allemal durch die {^rösste Regel- mässigkeit der P^ormen und Rationalität ihrer Ver- hältnisse. Demgemäss wählt die schöne Architektur lauter regelmässige Figuren, aus geraden Linien, oder gesetzmässigen Kurven, imgleichen die aus solchen hervorgehenden Körper, wie Würfel, Parellelopipeden. Cylinder, Kugeln, Pyramiden und Kegel ; als Oeffnun- gen aber bisweilen Cirkel, oder Ellipsen, in der Re- gel jedoch Quadrate und noch öfter Rektangel, letz- tere von durchaus rationalem und ganz leicht fass- lichem Verhältniss ihrer Seiten (nicht etwan wie 6:7, sondern wie i : a, 2:3), endlich auch Blenden oder Nischen, von regelmässiger und fasslicher Proportion. Aus dem selben Grunde wird sie den Gebäuden selbst und ihren grossen Abtheilungen gern ein rationales und leicht fassliches Verhältniss der Höhe zur Breite geben, z.B. die Höhe einer Fassade die Hälfte der Breite seyn lassen, und dieSäulensostellen,dassje 3 oder 4 der- selben mit ihren Zwischenräumen eine Linie ausmes- sen, welche der Höhe gleich ist, also ein Quadrat bil- den. Das selbePrincip der Anschaulichkeit und leichten Fasslichkeit verlangt auch leichte üebersehbarkeit: die- se führt die Symmetrie herbei, welche überdies nöthig ist, um das Werk als ein Ganzes abzustecken und des- sen wesentliche Begränzung von der zufälligen zu un- terscheiden, wie man denn z. B. bisweilen nur an ih- rem Leitfaden erkennt, ob man drei neben einander stehende Gebäude oder nur eines vor sich hat. Nur mittelst der Symmetrie also kündigt sich das archi- tektonische Werk sogleich als individuelle Einheit und als Entwickelung eines Hauptgedankens an. Wenn nun gleich, wie oben beiläufig gezeigt wor- den, die Baukunst keineswegs die Formen der Natur, wie Baumstämme, oder gar menschliche Gestalten, nachzuahmen hat; so soll sie doch im Geiste der Na- tur schaffen, namentlich indem sie das Gesetz natura nihil agit frustra, nihilque supervacaneum, et quod 528 commodissimuin in ornnibus suis operationibus se- quitur, auch zu dem ihrigen macht, demnach alles, selbst nur scheinbar, Zwecklose vermeidet und ihre jedesmalige Absicht, sei diese nun eine rein architek- tonische, d. h. konstruktionelle, oder aber eine die Zwecke der Nützlichkeit betreffende, stets auf dem kürzesten und natürlichsten Wege erreicht und so dieselbe, durch das Werk selbst, offen darlegt. Da- durch erlangt sie eine gewisse Grazie, der analog, welche bei lebenden Wesen in der Leichtigkeit und der Angemessenheit jeder Bewegung und Stellung zur Absicht derselben besteht. Demgemäss sehen wir, im guten antiken Baustil, jeglichen Theil, sei es nun Pfeiler, Säule, Bogen, Gebälk, oder Thüre, Fenster, Treppe, Balkon, seinen Zweck auf die gradeste und einfachste Weise erreichen, ihn dabei unverhohlen und naiv an den Tag legend; eben wie die organische Natur es in ihren Werken auch thut. Der geschmack- lose Baustil hingegen sucht bei Allem unnütze Um- wege und gefällt sich in Willkürlichkeiten, geräth da- durch auf zwecklos gebrochene, heraus und herein- rückende Gebälke, gruppirte Säulen, zerstückelte Kornischen an Thürbögen und Giebeln, sinnlose Vo- luten, Schnörkel u. dergl.: er spielt, wie oben als Charakter der Pfuscherei angegeben, mit den Mitteln der Kunst, ohne die Zwecke derselben zu verstehen, wie Kinder mit dem Geräthe der Erwachsenen spie- len. Dieser Art ist schon jede Unterbrechung einer ge- raden Linie, jede Aenderung im Schwünge einer Kurve, ohne augenfälligen Zweck. Jene naive Ein- falt hingegen in der Darlegung und dem Erreichen des Zweckes, die dem Geiste entspricht, in welchem die Natur schafft und bildet, ist es eben auch, welche den antiken Tongefässen eine solche Schönheit und Grazie der Form verleiht, dass wir stets von Neuem darüber erstaunen; weil sie so edel absticht gegen unsere modernen Gefässe im Originalgeschmack, als welche den Stämpel der Gemeinheit tragen, sie mö- gen nun aus Porzellan, oder grobem Töpferthon ge- formt seyn. Beim Anblick der Gefässe und Geräthe der Alten fühlen wir, dass wenn die Natur derglei- 34 Schopenhauer II 629 chen Dinge hätte schafFen wollen, sie es in diesen Formen gethan haben würde. — Da wir also die Schönheit der Baukunst hauptsächlich aus der un- verhohlenen Darlegung der Zwecke und dem Errei- chen derselben auf dem kürzesten und natürlichsten Wege hervorgehen sehen ; sogeräth hier meine Theorie in geraden Widerspruch mit der Kantischen, als wel- che das Wesen alles Schönen in eine anscheinende Zweckmässigkeit ohne Zweck setzt. Das hier dargelegte alleinige Thema der Architek- tur, Stütze und Last, ist so sehr einfach, dass eben deshalb diese Kunst, soweit sie schöne Kunst ist (nicht aber sofern sie dem Nutzen dient), schon seit der be- sten Griechischen Zeit, im Wesentlichen vollendet und abgeschlossen, wenigstens keiner bedeutenden Bereicherung mehr fähig ist. Hingegen kann der mo- derne Architekt sich von den Regeln und Vorbildern der Alten nicht merklich entfernen, ohne eben schon auf dem Wege der Verschlechterung zu seyn. Ihm bleibt daher nichts übrig, als die von den Alten über- lieferte Kunst anzuwenden und ihre Regeln, so weit es möglich ist, unter den Beschränkungen, welche das Bedürfniss, das Klima, das Zeitalter, und sein Land ihm unabweisbar auflegen, durchzusetzen. Denn in dieser Kunst, wie auch in der Skulptur, fällt das Streben nach dem Ideal mit der Nachahmung der Alten zusammen. Ich brauche wohl kaum zu erinnern, dass ich, bei allen diesen architektonischen Betrachtungen, allein den antiken Baustil und nicht den sogenannten Go- thischen, welcher, Saracenischen Ursprungs, durch die Gothen in Spanien dem übrigen Europa zuge- führt worden ist, im Auge gehabt habe. Vielleicht ist auch diesem eine gewisse Schönheit, in seiner Art, nicht ganz abzusprechen : wenn er jedoch unter- nimmt, sich jenem als ebenbürtig gegenüberzustel- len; so ist dies eine barbarische Vermessenheit, wel- che man durchaus nicht gelten lassen darf. Wie wohlthätig wirkt doch auf unsern Geist, nach dem Anschauen solcher Gothischer Herrlichkeiten, der Anblick eines regelrechten, im antiken Stil aufge- 530 führten Gebäudes! Wir fühlen sogleich, dass dies das allein Rechte und Wahre ist. Könnte man einen al- ten Griechen vor unsere berühmtesten Gothischen Ka- thedralen führen ; was würde er wohl dazu sagen ? — Bapßapoi! — Unser Wohlgefallen an Gothischen Werken beruht ganz gewiss grössten Theils auf Ge- dankenassociationen und historischen Erinnerungen, also auf einem der Kunst fremden Gefühl. Alles was ich vom eigentlich ästhetischen Zweck, vom Sinn und Thema der Baukunst gesagt habe, verliert bei diesen Werken seine Gültigkeit. Denn das frei lie- gende Gebälk ist verschwunden und mit ihm die Säule: Stütze und Last, geordnet und vertheilt, um den Kampf zwischen Starrheit und Schwere zu ver- anschaulichen, sind hier nicht mehr das Thema. Auch ist jene durchgängige, reine Rationalität, vermöge welcher alles strengeRechenschaft zulässt,ja, sie dem denkenden Beschauer schon von selbst entgegen- bringt, und welche zum Charakter des antiken Bau- stils gehört, hier nicht mehr zu finden: wir werden bald inne, dass hier, statt ihrer, eine von fremdarti- gen Begriffen geleitete Willkür gewaltet hat; daher Vieles uns unerklärt bleibt. Denn nur der antike Baustil ist in rein objektivem Sinne gedacht, der go- thische mehr in subjektivem. — Wollen wir jedoch, wie wir als den eigentlichen, ästhetischen Grundgedan- ken der antiken Baukunst die Entfaltung des Kampfes zwischen Starrheit und Schwere erkannt haben, auch in der Gothischen einen analogen Grundgedankea auffinden; so müsste es dieser seyn, dass hier die gänzliche Ueberwältigung und Besiegung der Schwere durch die Starrheit dargestellt werden soll. Denn demgemäss ist hier die Horizontallinie, welche die der Last ist, fast ganz verschwunden, und das Wir- ken der Schwere tritt nur noch indirekt, nämlich in Bogen und Gewölbe verlarvt, auf, während die Ver- tikallinie, welche die der Stütze ist, allein herrscht, und in unmässig hohen Strebepfeilern, Türmen, Türmchen und Spitzen ohne Zahl, welche unbelastet in die Höhe gehen, das siegreiche Wirken der Starr- heit versinnlicht. Während in der antiken Baukunst 34* 53 1 das Streben und Drängen von oben nach unten eben so wohl vertreten und dargelegt ist, wie das von un- ten nach oben; so herrscht hier das letztere entschie- den vor: wodurch auch jene oft bemerkte Analogie mit dem Krystall entsteht, da dessen Anschiessen ebenfalls mit Ueberwältigung der Schwere geschieht. Wenn wir nun diesen Sinn und Grundgedanken der Gothischen Baukunst unterlegen und diese dadurch als gleichberechtigten Gegensatz der antiken aufstel- len wollten; so wäre dagegen zu erinnern, dass der Kampf zwischen Starrheit und Schwere, welchen die antike Baukunst so offen und naiv darlegt, ein wirk- licher und wahrer, in der Natur gegründeter ist; die gänzliche Ueberwindung der Schwere durch die Starrheit hingegen ein blosser Schein bleibt, eine Fiktion, durch Täuschung beglaubigt. — Wie aus dem hier angegebenen Grundgedanken und den oben bemerkten Eigenthümlichkeiten der Gothischen Bau- kunst der mysteriöse und hyperphysische Charakter, welcher derselben zuerkannt wird, hervorgeht, wird Jeder sich leicht deutlich machen können. Haupt- sächlich entsteht er, wie schon erwähnt, dadurch, dass hier das Willkürliche an die Stelle des rein Ra- tionellen, sich als durchgängige Angemessenheit des Mittels zum Zweck Kundgebenden, getreten ist. Das viele eigentlich Zwecklose und doch so sorgfältig Vollendete erregt die Voraussetzung unbekannter, unerforsch lieber, geheimer Zwecke, d. i. das mysteri- öse Ansehen. Hingegen ist die glänzende Seite der Gothischen Kirchen die innere: weil hier die Wir- kung des von schlanken, krystallinisch aufstrebenden Pfeilern getragen, hoch hinaufgehobenen und, bei verschwundener Last, ewige Sicherheit verheissenden Kreuzgewölbes auf das Gemüth eindringt, die mei- sten der erwähnten Uebelstände aber draussen liegen. An antiken Gebäuden ist die Aussenseite die vortheil- haftere; weil man dort Stütze und Last besser über- sieht, im Innern hingegen die flache Decke stets et- was Niederdrückendes und Prosaisches behält. An den Tempeln der Alten war auch meistentheils, bei vie- len und grossen Aussenwerken, das eigentliche Innere 532 klein. Einen erhabeneren Anstrich erhielt es durch das Kugelgewölbe einerKuppel, wie im Pantheon, von wel- cher daher auch die Italiäner, in diesem Stil bauend, den ausgedehntesten Gebrauch gemacht haben. Dazu stimmt, dass die Alten als südliche Völker, mehr im Freien lebten, als die nordischen Nationen, welche die Gothische Baukunst vorgezogen haben. — Wer nun aber schlechterdings die gothische Baukunst als eine wesentliche und berechtigte gelten lassen will, mag, wenn er zugleich Analogien liebt, sie den ne- gativen Pol der Architektur, oder auch die Moll-Ton- art derselben benennen. — Im Interesse des guten Geschmacks muss ich wünschen, dass grosse Geld- mittel dem objektiv, d. h. wirklich Guten und Rech- ten, dem an sich Schönen, zugewendet werden, nicht aber Dem, dessen Werth bloss auf Ideenassociationen beruht. Wenn ich nun sehe, wie dieses ungläubige Zeitalter die vom gläubigen Mittelalter unvollendet gelassenen Gothischen Kirchen so emsig ausbaut, kommt es mir vor, als wolle man das dahingeschie- dene Christenthum einbalsamiren. KAPITEL 36'). VEREINZELTE BEMERKUNGEN ZUR AESTHE- TIK DER BILDENDEN KUENSTE. IN der Skulptur sind Schönheit und Grazie die Haupt- sache: in der Malerei aber erhalten Ausdruck, Lei- denschaft, Charakter das Uebergewicht; daher von der Forderung der Schönheit eben so viel nachgelas- sen werden muss. Denn eine durchgängige Schönheit aller Gestalten, wie die Skulptur sie fordert, würde dem Charakteristischen Abbruch thun, auch durch die Monotonie ermüden. Demnach darf die Malerei ') Dieses Kapitel bezieht sich auf §§. 44 — ^o ^^s ersten Ban- des. [S. 264—293 d. A.J 533 auch hiissliche Gesichter und abgezehrte Gestalten darstellen: die Skulptur hingegen verlangt Schönheit, wenn auch nicht stets vollkommene, durchaus aber Kraft und Fülle der Gestalten. Folglich ist ein mage- rer Christus am Kreuz, ein von Alter und Krankheit abgezehrter, sterbender heiliger Hieronymus, wie das Meisterstück Domenichino's, ein für die Malerei pas- sender Gegenstand: hingegen der durch Fasten auf Haut und Knochen reducirte Johannes der Täufer, in Marmor, von Donatello, auf der Gallerie zu Florenz, wirkt, trotz der meisterhaften Ausführung, wider- lich. — Von diesem Gesichtspunkt aus scheint die Skulptur der Bejahung, die Malerei der Verneinung des Willens zum Leben angemessen, und hieraus Hesse sich erklären, warum die Skulptur die Kunst der Al- ten, die Malerei die der christlichen Zeiten gewesen ist. — Bei der §. 45 des ersten Bandes gegebenen Auseinan- dersetzung, dass das Herausfinden, Erkennen und Fest- stellen des Typus der menschlichen Schönheit auf einer gewissen Anticipation derselben beruht und da- her zum Theil a priori begründet ist, finde ich noch hervorzuheben, dass diese Anticipation dennoch der Erfahrung bedarf, um durch sie angeregt zu werden ; analog dem Instinkt der Thiere, welcher, obwohl das Handeln a priori leitend, dennoch in den Einzelheiten desselben der Bestinunung durch Motive bedarf. Die Erfahrung und Wirklichkeit nämlich hält dem In- tellekt des Künstlers menschliche Gestalten vor, wel- che, im' einen oder andern Theil, der Natur mehr oder minder gelungen sind, ihn gleichsam um sein TJrtheil darüber befragend, und ruft so, nach Sokra- lischer Methode, aus jener dunkeln Anticipation die deutliche und bestimmte Erkenntniss des Ideals her- vor. Dieserhalb leistete es den Griechischen Bildhau- ern allerdings grossen Vorschub, dass Klima und Sitte des Landes ihnen den ganzen Tag Gelegenheit gaben, lialb nackteGestalten,und in den Gvnmasien auch ganz nackte zu sehen. Dabei forderte jedes Glied ihren plastischen Sinn auf zur Beurtheilung und zur Verglei- chung desselben mit dem Ideal, welches unentwickelt 534 in ihrem Bewusstseyn lag. So übten sie beständig ihr Urtheil an allen Formen und Gliedern, bis zu den feinsten Nuancen derselben herab ; wodurch denn all- mälig ihre ursprünglich nur dumpfe Anticipation des Ideals menschlicher Schönheit zu solcher Deutlichkeit des Bewusstseyns erhoben werden konnte, dass sie fähig wurden, dasselbe im Kunstwerk zu objektiviren. — Auf ganz analoge Weise ist dem Dichter, zur Dar- stellung der Charaktere, eigene Erfahrung nützlich und nöthig. Denn obgleich er nicht nach der Erfah- rung und empirischen Notizen arbeitet, sondern nach dem klaren Bewusstseyn des Wesens der Menschheit, wie er solches in seinem eigenen Innern findet; so dient doch diesem Bewusstseyn die Erfahrung zum Schema, giebt ihm Anregung und Uebung. Sonach erhält seine Erkenntniss der menschlichen Natur und ihrer Verschiedenheiten, obwohl sie in der Hauptsa- che a priori und anticipirend verfährt, doch erst durch die Erfahrung Leben, Bestimmtheit und Umfang. — Dem so bewundrungswürdigen Schönheitssinn der Griechen aber, welcher sie allein, unter allen Völkern der Erde, befähigte, den wahren Normaltypus der menschlichen Gestalt herauszufinden und demnach die Musterbilder der Schönheit und Grazie für alle Zeiten zur Nachachmung aufzustellen, können wir, auf unser voriges Buch und Kapitel 44 i"^ folgenden ims stützend, noch tiefer auf den Grund gehen, und sagen: Das Selbe, was, wenn es vom Willen unzer- trennt bleibt, Geschlechtstrieb mit fein sichtender Auswahl, d. i. Geschlechtsliebe (die bei den Griechen bekanntlich grossen Verirrungen unterworfen war), giebt; eben Dieses wird, wenn es, durch das Vorhan- denseyn eines abnorm überwiegenden Intellekts, sich vom Willen ablöst und doch thätig bleibt, zum ob- jektiven Schönheitssinn für menschliche Gestalt, wel- cher nun zunächst sich zeigt als urtheilender Kunst- sinn, sich aber steigern kann, bis zur Auffindung und Darstellung der Norm aller Theile und Proportionen; wie dies der Fall war im Phidias, Praxiteles, Skopas u. s. w. — Alsdann geht in Erfüllung, was Goethe den Künstler sagen lässt: 535 Dass ich mit Göttersinn Und Menschenhand Vermöge zu bilden, Was bei meinem Weib' Ich animaUsch kann und muss. Und auch hier abermals analojj, wird im Dichter eben Das, was, wenn es vom Willen unzertrennt bliebe, blosse Weltklugheit gäbe, wenn es, durch das abnorme Ueberwiegen des Intellekts, sich vom Willen sondert, zur Fähigkeit objektiver, dramatischer Darstellung. — Die moderne Skulptur ist, was immer sie auch lei- sten mag, doch der modernen lateinischen Poesie ana- log und, wie diese, ein Kind der Nachahmung, aus Reminiscenzen entsprungen. Lässt sie sich beigehen, originell seyn zu wollen; so geräth sie alsbald auf Ab- wege, namentlich auf den schlimmen, nach der vor- gefundenen Natur, statt nach den Proportionen der Alten zu formen. Catiova, Thorwaldsen u. a. m. sind dem Johannes Secimdus und Owenus zu vergleichen. Mit der Architektur verhält es sich eben so : allein da ist es in der Kunst selbst gegründet, deren rein ästheti- scher Theil von geringem Umfange ist und von den Alten bereits erschöpft wurde; daher der moderne Baumeister nur in der weisen Anwendung desselben sich hervorthun kann; und soll er wissen, dass er stets so weit vom guten Geschmack sich entfernt, als er vom Stil und Vorbild der Griechen abgeht. — Die Kunst des Malers, bloss betrachtet sofern sie den Schein der Wirklichkeit hervorzubringen be- zweckt, ist im letzten Grunde darauf zurückzuführen, dass er Das, was beim Sehen die blosse Empfindimg ist, also die Affekiion der Retina, d. i. die allein un- mittelbar gegebene Wirhvng, rein zu sondern versteht von ihrer Ursache, d. i. den Objekten der Aussen weit, deren Anschauung im Verstände allererst daraus ent- steht; wodurch er, wenn die Technik hinzukommt, im Stande ist, die selbe Wirkung im Auge durch eine ganz andere Ursache, nämlich aufgetragene Farben- flecke, hervorzubringen, woraus dann im Verstände des Betrachters, durch die unausbleibliche Zurück- 536 Führung auf die gewöhnliche Ursache, die nämliche Anschauung wieder entsteht. — Wenn man betrachtet, wie in jedem Menschenge- sicht etwas so ganz Ursprüngliches, so durchaus Ori- ginelles liegt und dasselbe eine Ganzheit zeigt, welche nur einer aus lauter noth wendigen Theilen bestehen- den Einheit zukommen kann, vermöge welcher wir ein bekanntes Individuum, aus so vielen Tausenden, selbst nach langen Jahren wiedererkennen, obgleich die möglichen Verschiedenheiten menschlicher Ge- sichtszüge, zumal einer Rasse, innerhalb äusserst enger Grenzen liegen; so muss man bezweifeln, dass etwas von so wesentlicher Einheit und so grosser Ursprüng- lichkeit je aus einer andern Quelle hervorgehen kön- ne, als aus den geheimnissvollen Tiefen des Innern der Natur: daraus aber würde folgen, dass kein Künst- ler fähig seyn könne, die ursprüngliche Eigenthüm- lichkeit eines Menschengesichtes wirklich zu ersinnen, noch auch nur, sie aus Reminiscenzen naturgemäss zusammenzusetzen. Was er demnach in dieser Art zu Stande brächte, würde immer nur eine halbwahre, ja vielleicht eine unmögliche Zusammensetzung seyn: denn wie sollte er eine wirkliche physiognomische Einheit zusammensetzen, da ihm doch das Princip dieser Einheit eigentlich unbekannt ist? Danach muss man bei jedem von einem Künstler bloss ersonnenen Gesicht zweifeln, ob es in der That ein mögliches sei, und ob nicht die Natur, als Meister aller Meister, es für eine Pfuscherei erklären würde, indem sie völlige Widersprüche darin nachwiese. Dies würde allerdings zu dem Grundsatz führen, dass auf historischen Bil- dern immer nur Porträtte figuriren dürften, welche dann freilich mit der grössten Sorgfalt auszuwählen und in etwas zu idealisiren wären. Bekanntlich haben grosse Künstler immer gern nach lebenden Modellen gemalt und viele Porträtte angebracht. — Obgleich, wie im Text ausgeführt, der eigentliche Zweck der Malerei, wie der Kunst überhaupt, ist, uns die Auffassung der (Platonischen) Ideen der Wesen dieser W^elt zu erleichtern, wobei wir zugleich in den Zustand des reinen, d. i. willenlosen, Erkennens ver- 53 7 setzt werden ; so kommt ihr ausserdem noch eine da- von unabhängifje und für sich gehende Schönheit zu, welche hervorgebracht wird durch die blosse Har- monie der Farben, das Wohlgefällige der Gruppirung, die günstige Vertheilunjj des Lichts und Schattens und den Ton des ganzen Bildes. Diese ihr beigegebene, untergeordnete Art der Schönheit befördert den Zu- stand des reinen Erkennens und ist in der Malerei Das, was in der Poesie die Diktion, das Metrum und der Reim ist: Beide nämlich sind nicht das Wesent- liche, aber das zuerst und unmittelbar Wirkende. — Zu meinem, im ersten Bande §. 5o, über die Un- statthaftigkeit der Allegorie in der Malerei abgegebe- nen Urtheil bringe ich noch einige Belege bei. Im Pa- last Borghese, zu Rom, befindet sich folgendes Bild von Michael Angelo Caravaggio: Jesus, als Kind von etwan zehn Jahren, tritt einer Schlange auf den Kopf, aber ganz ohne Furcht und mit grösster Gelassenheit, und eben so gleichgültig bleibt dabei seine ihn beglei- tende Mutter: daneben steht die heilige Elisabeth, feierlich und tragisch zum Himmel blickend. Was möchte wohl bei dieser kyriologischen Hieroglyphe ein Mensch denken, der nie etwas vernommen hätte vom Samen des Weibes, welcher der Schlange den Kopf zertreten soll? — Zu Florenz, im Bibliotheksaal des Palastes Riccardi, finden wir auf dem von Luca Giordano gemalten Plafond folgende Allegorie, wel- che besagen soll, dass die Wissenschaft den Verstand aus den Banden der Unwissenheit befreit: der Ver- stand ist ein starker Mann, von Stricken umwunden, die eben abfallen: eine Nymphe hält ihm einen Spie- gel vor, eine andere reicht ihm einen abgelösten gros- sen Flügel: darüber sitzt die Wissenschaft auf einer Kugel und, mit einer Kugel in der Hand, neben ihr die nackte Wahrheit. — Zu Ludwigsburg bei Stutt- gart zeigt uns ein Bild die Zeit, als Saturn, mit einer Scheere dem Amor die Flügel beschneidend: wenn das besagen soll, dass wann wir altern, der Unbestand in der Liebe sich schon giebt; so wird es hiemit wohl seine Richtigkeit haben. — Meine Lösung des Problems, warum der Laohoon .S38 nicht schreit, zu bekräftigen, diene noch Folgendes. Von der verfehlten Wirkung der Darstellung des Schreiens durch die Werke der bildenden, wesentlich stummen Künste, kann man sich faktisch überzeugen an einem auf der Kunstakademie zu Bologna befind- lichen Bethlehemitischen Kindermord von Guido Reni, auf welchem dieser grosse Künstler den Missgriff be- gangen hat, sechs schreiende Mundaufreisser zu ma- len. — Wer es noch deutlicher haben will, denke sich eine pantomimische Darstellung auf der Bühne, und in irgend einer Scene derselben einen dringenden Anlass zum Schreien einer der Personen: wollte nun der diese darstellende Tänzer das Geschrei dadurch ausdrücken, dass er eine Weile mit weit aufgesperr- tem Munde dastände; so würde das laute Gelächter des ganzen Hauses die Abgeschmacktheit der Sache bezeugen. — Da nun demnach aus Gründen, welche nicht im darzustellenden Gegenstande, sondern im Wesen der darstellenden Kunst liegen, das Schreien des Laokoon unterbleiben musste; so entstand hier- aus dem Künstler die Aufgabe, eben dieses Nicht- Schreien zu motiviren, um es uns plausibel zu ma- chen, dass ein Mensch in solcher Lage nicht schreie. Diese Aufgabe hat er dadurch gelöst, dass er den Schlangenbiss nicht als schon erfolgt, auch nicht als noch drohend, sondern als gerade jetzt und zwar in die Seite geschehend darstellte: denn dadurch wird der Unterleib eingezogen, das Schreien daher unmög- lich gemacht. Diesen nächsten, eigentlich aber nur sekundären und untergeordneten Grund der Sache hat Goethe richtig herausgefunden und ihn dargelegt am Ende des elften Buches seiner Selbstbiographie, wie auch im Aufsatz über den Laokoon im ersten Heft der Propyläen; aber der entferntere, primäre, jenen bedingende Grund ist der von mir dargelegte. Ich kann die Bemerkung nicht unterdrücken, dass ich hier zu Goethen wieder im selben Verhältniss stehe, wie hinsichtlich der Theorie der Farbe. — In der Sammlung des Herzogs von Aremberg zu Brüssel be- findet sich ein antiker Kopf des Laokoon, welcher später aufgefunden worden. Der Kopf in der weltbe- 539' rühmten Gruppe ist aber kein resiaurirter, wie auch aus Goethes specieller Tafel aller Restaurationen die- ser Gruppe, welche sich am Ende des ersten Bandes der Propyläen befindet, hervorgeht und zudem da- durch bestätigt wird, dass der spater gefundene Kopf dem der Gruppe höchst ähnlich ist. Wir müssen also annehmen, dass noch eine andere antike Repetition der Gruppe existirt hat, welcher der Arembergische Kopf angehörte. Derselbe übertrifft, meiner Meinung nach, sowohl an Schönheit als an Ausdruck den der Gruppe: den Mund hat er bedeutend weiter offen, als dieser, jedoch nicht bis zum eigentlichen Schreien. A KAPITEL 37*\ ZUR ÄSTHETIK DER DICHTKUNST. LS die einfachste und richtigste Definition der -Poesie möchte ich diese aufstellen, dass sie die Kunst ist, durch Worte die Einbildungskraft ins Spiel zu versetzen. Wie sie dies zu Wege bringt, habe ich im ersten Bande, §. 5i, angegeben. Eine specielle Be- stätigung des dort Gesagten giebt folgende Stelle aus einem seitdem veröffentlichten Briefe M^ielands an Mei'k: „Ich habe drittehalb Tage über eine einzige Stro- phe zugebracht, wo im Grunde die Sache auf einem einzigen W^orte, das ich brauchte und nicht finden konnte, beruhte. Ich drehte und wandte das Ding und mein Gehirn nach allen Seiten; weil ich natürlicher- weise, wo es um ein Gemälde zu thun ist, gern die nämliche bestimmte Vision, welche vor meiner Stirn schwebte, auch vor die Stirn meiner Leser bringen möchte, und dazu oft, ut nosti, von einem einzigen Zuge, oder Drucker, oder Reflex, Alles abhängt." (Briefe an Merk, herausgegeben von Wagner, i835, ') Dieses Kapitel hc/.iclit sich auf |;;. 5 i des ersten IJaiules. [S. 293 d. A.] S. 193.) — Dadurch, dass die Phantasie des Lesers der Stoff ist, in welchem die Dichtkunst ihre Bilder darstellt, hat diese den Vortheil, dass die nähere Aus- führung und die feineren Züge in der Phantasie eines Jeden so ausfallen, wie es seiner Individualität, seiner Erkenntnisssphäre und seiner Laune gerade am ange- messensten ist und ihn daher am lebhaftesten anregt; statt dass die bildenden Künste sich nicht so anbe- quemen können, sondern hier ein Bild, eine Gestalt Allen genügen soll: diese aber wird doch immer, in Etwas, das Gepräge der Individualität des Künstlers, oder seines Modells, tragen, als einen subjektiven, oder zufälligen, nicht wii-ksamen Zusatz; wenn gleich um so weniger, je objektiver, d. h. genialer der Künstler ist. Schon hieraus ist es zum Theil erklärlich, dass die Werke der Dichtkunst eine viel stärkere, tiefere und allgemeinere Wirkung ausüben, als Bilder und Sta- tuen: diese nämlich lassen das Volk meistens ganz kalt, und überhaupt sind die bildenden die am schwäch- sten wirkenden Künste. Hiezu gibt einen sonderbaren Beleg das so häufige Auffinden und Entdecken von Bildern grosser Meister in Privathäusern und allerlei Lokalitäten, wo sie, viele Menschenalter hindurch, nicht etwan vergraben und versteckt, sondern bloss unbeachtet, also wirkungslos, gehangen haben. Zu meiner Zeit in Florenz (iSaS) wurde sogar eine Ra- phaersche Madonna entdeckt, welche eine lange Reihe von Jahren hindurch im Bedientenzimmer eines Pala- stes (im Quartiere di S.Spirito) an der Wand gehangen hatte: und Dies geschieht unter Italiänern, dieser vor allen übrigen mit Schönheitssinn begabten Nation. Es beweist, wie wenig direkte und unvermittelte Wir- kung die Werke der bildenden Künste haben, und dass ihre Schätzung weit mehr, als die aller andern, der Bildung und Kenntniss bedarf. Wie unfehlbar macht hingegen eine schöne, das Herz treffende Melodie ihre Reise um das Erdenrund, und wandert eine vortreff- liche Dichtung von Volk zu Volk. Dass die Grossen und Reichen gerade den bildenden Künsten die kräf- tigste Unterstützung widmen und nur auf iVtre Werke beträchtliche Summen verwenden, ja, heut zu Tage .'54 I eine Idololatrie, im ei{5;entlichen Sinne, für ein Bild von einem berühmten, alten Meister den Werth eines gros- sen Landgutes hingiebt, Dies beruht hauptsächlich auf der Seltenheit der Meisterstücke, deren Besitz daher dem Stolze zusagt, sodann aber auch darauf, dass der Genuss derselben gar wenig Zeit und An- strengung erfordert und jeden Augenblick, auf einen Augenblick, bereit ist; während Poesie und selbst Musik ungleich beschwerlichere Bedingungen stellen. Dem entsprechend lassen die bildenden Künste sich auch entbehren: ganze Völker, z. B. die Mohamme- danischen, sind ohne sie: aber ohne Musik und Poesie ist keines. Die Absicht nun aber, in welcher der Dichter un- sere Phantasie in Bewegung setzt, ist, uns die Ideen zu offenbaren, d. h. an einem Beispiel zu zeigen, was das Leben, was die Welt sei. Dazu ist die erste Be- dingung, dass er es selbst erkannt habe: je nachdem dies tief oder flach geschehen ist, wird seine Dichtung ausfallen. Demgemäss giebt es unzählige Abstufungen, wie der Tiefe und Klarheit in der Auffassung der Na- tur der Dinge, so der Dichter. Jeder von diesen muss inzwischen sich für vortrefflich halten, sofern er rich- tig dargestellt hat was er erkannte, und sein Bild seinem Original entspricht: er muss sich dem besten gleich stellen, weil er in dessen Bilde auch nicht mehr erkennt, als in seinem eigenen, nämlich so viel, wie in der Natur selbst; da sein Blick nun ein Mal nicht tiefer eindringt. Der beste selbst aber erkennt sich als solchen daran, dass er sieht wie flach der Blick der andern war, wie Vieles noch dahinter lag, das sie nicht wiedergeben konnten, weil sie es nicht sahen, und wie viel weiter sein Blick und sein Bild reicht. Verstände er die Flachen so wenig, wie sie ihn; da müsste er verzweifeln: denn gerade weil schon ein ausserordentlicher Mann dazu gehört, um ihm Ge- rechtigkeit widerfahren zu lassen, die schlechten Poe- ten ihn aber so wenig hochschätzen können, wie er sie, hat auch er lange an seinem eigenen Beifall zu zehren, ehe der der Welt nachkommt. — Inzwischen wird ihm auch jener verkümmert, indem n)an ihm 5412 zumuthet, er solle fein bescheiden seyn. Es ist aber so unmöglich, dass wer Verdienste hat und weiss was sie kosten, selbst blind dagegen sei, wie dass ein Mann von sechs Fuss Höhe nicht merke, dass er die Andern überragt. Ist von der Basis des Thurms bis zur Spitze 3oo Fuss; so ist zuverlässig eben so viel von der Spitze bis zur Basis. Horaz, Lucrez, Ovid und fast alle Al- ten haben stolz von sich geredet, desgleichen Dante, Shakespeare, Bako von Verulam und Viele mehr. Dass Einer ein grosser Geist seyn könne, ohne etwas davon zu merken, ist eine Absurdität, welche nur die trost- lose Unfähigkeit sich einreden kann, damit sie das Gefühl der eigenen Nichtigkeit auch für Bescheiden- heit halten könne. Ein Engländer hat witzig und rich- tig bemerkt, dass merit und modesty nichts Gemein- sames hätten, als den Anfangsbuchstaben. Die be- scheidenen Celebritäten habe ich stets in Verdacht, dass sie wohl Recht haben könnten ; und Corneille sagt geradezu : La faussc humilite ne met plus en credit: Je s^ais ce que je vaux, et crois ee qu'on m'en dit. Endlic:h hat Goethe es unimiwunden gesagt: „Nur die Lumpe sind bescheiden." Aber noch unfehlbarer wäre die Behauptung gewesen, dass Die, welche so eifrig von Andern Bescheidenheit fordern, auf Bescheiden- heit dringen, unablässig rufen: „Nur bescheiden! um Gotteswillen, nur bescheiden!" zuverlässig Lumpe sind, d. h. völlig verdienstlose Wichte, Fabrikwaare der Natur, ordentliche Mitglieder des Packs der Mensch- heit. Denn wer selbst Verdienste hat, lässt auch Ver- dienste gelten, — versteht sich ächte und wirkliche. Aber Der, dem selbst alle Vorzüge und Verdienste mangeln, wünscht, dass es gar keine gäbe: ihr Anblick an Andern spannt ihn auf die Folter; der blasse, grüne, gelbe Neid verzehrt sein Inneres: er möchte alle per- sönlich Bevorzugten vernichten und ausrotten: muss er sie aber leider leben lassen, so soll es nur unter der Bedingung seyn, dass sie ihre Vorzüge verstecken, völlig verleugnen, ja abschwören. Dies also ist die Wurzel der so häufigen Lobreden auf die Bescheiden- helt. Und wenn solche Präkonen derselben Gelegen- heit haben, das Verdienst im Entstehen zu ersticken, oder wenigstens zu verhindern, dass es sich zeige, dass es bekannt werde, — wer wird zweifeln, dass sie es thun? Denn dies ist die Praxis zu ihrer Theorie. — Wenn nun gleich der Dichter wie jeder Künstler, uns immer nur das Einzelne, Individuelle, vorführt; so ist was er erkannte und uns dadurch erkennen las- sen will, doch die (Platonische) Idee, die ganze Gat- tung: daher wird in seinen Bildern gleichsam der Ty- pus der menschlichen Charaktere und Situationen aus- geprägt seyn. Der erzählende, auch der dramatische Dichter nimmt aus dem Leben das ganz Einzelne her- aus und schildert es genau in seiner Individualität, offenbart aber hiedurch das ganze menschliche Da- seyn; indem er zwar scheinbar es mit dem Einzelnen, in Wahrheit aber mit Dem, was überall und zu allen Zeiten ist, zu thun hat. Hieraus entspringt es, dass Sentenzen, besonders der dramatischen Dichter, selbst ohne generelle Aussprüche zu seyn, im wirklichen Leben häufige Anwendung finden. — Zur Philosophie verhält sich die Poesie, wie die Erfahrung sich zur empirischen Wissenschaft verhält. Die Erfahrung nämlich macht uns mit der Erscheinung im Einzel- nen und beispielsweise bekannt: die Wissenschaft um- fasst das Ganze derselben, mittelst allgemeiner Be- griffe. So will die Poesie uns mit den (Platonischen) Ideen der Wesen mittelst des Einzelnen und beispiels- weise bekannt machen: die Philosophie will das darin sich aussprechende innere Wesen der Dinge im Gan- zen und Allgemeinen erkennen lehren. — Man sieht schon hieran, dass die Poesie mehr den Charakter der Jugend, die Philosophieden des Alters trägt. Inder That blüht die Dichtergabe eigentlich nur in der Jugend: auch die Empfänglichkeit für Poesie ist in der Jugend oft leidenschaftlich: der Jüngling hat Freude an Ver- sen als solchen und nimmt oft mit geringer Ware vor- lieb. Mit den Jahren nimmt diese Neigung allmäligab, und im Alter zieht man die Prosa vor. Durch jene poetische Tendenz der Jugend wird dann leicht der Sinn für die Wirklichkeit verdorben. Denn von die- Kf, 44 ser unterscheidet die Poesie sich dadurch, dass iu ihr das Leben interessant und doch schmerzlos an uns vorüherfliesst; dasselbe hingegen in der Wirklichkeit, so lange es schmerzlos ist, uninteressant ist, sobald es aber interessant wird, nicht ohne Schmerzen bleibt. Der früher in die Poesie als in die Wirklichkeit ein- geweihte Jüngling verlangt nun von dieser, was nur je- ne leisten kann: dies ist eine Hauptquelle des Unbeha- gens, welches die vorzüglichsten Jünglinge drückt. — Metrum und Reim sind eine Fessel, aber auch eine Hülle, die der Poet um sich wirft, und unter welcher es ihm vergönnt ist zu reden, wie er sonst nicht dürfte: und das ist es, was uns freut. — Er ist nämlich für Alles was er sagt nur halb verantwortlich : Metrum und Reim müssen es zur andern Hälfte vertreten. — Das Metrum, oder Zeitmaass, hat, als blosser Rhyth- mus, sein Wesen allein in der Zeit, welche eine reine Anschauung a priori ist, gehört also, mit Kant zu re- den, bloss der reinen Sinnlichkeit an; hingegen ist der Reim Sache der Empfindung im Gehörorgan, also der empirischen Sinnlichkeit. Daher ist der Rhythmus ein viel edleres und würdigeres Hülfsmittel, als der Reim, den die Alten demnach verschmähten, und der in den unvollkommenen, durch Korruption der früheren und in barbarischen Zeiten entstandenen Sprachen sei- nen Ursprung fand. Die Armsäligkeit französischer Poesie beruht hauptsächlich darauf, dass diese, ohne Metrum auf den Reim allein beschränkt ist, und wird dadurch vermehrt, dass sie, um ihren Mangel an Mit- teln zu verbergen, durch eine Menge pedantischer Satzungen ihre Reimerei erschwert hat, wie z. R. dass nur gleich geschriebene Silben reimen, als war' es für's Auge, nicht für's Ohr; dass der Hiatus verpönt ist, eine Menge Worte nicht vorkommen dürfen u. dgl. m., welchem Allen die neuere französische Dich- terschule ein Ende zu machen sucht. — In keiner Sprache jedoch macht, Avenigstens für mich, der Reim einen so wohlgefälligen und mächtigen Eindruck, wie in der lateinischen: die mittelalterlichen gereimten la- teinischen Gedichte haben einen eigentümlichen Zau- ber. Man muss es daraus erklären, dass die lateinische 35 Schopenhauer 11 545 Sprache ohne allen Vergleich vollkommener, schöner und edler ist, als irgend eine der neueren, und nun in dem, eben diesen an{jehörigen, von ihr selbst aber ursprünglich verschmähten Platz und Flitter so an- muthig einhergeht. Der ernsthaften Erwägung könnte es fast als eia Hochverrath gegen die Vernunft erscheinen, wenn einem Gedanken, oder seinem richtigen und reinen Ausdruck, auch nur die leiseste Gewalt geschieht, in der kindischen Absicht, dass nach einigen Silben der gleiche Wortklang wieder vernommen werde, oder auch, damit diese Silben selbst ein gewisses Hopsasa darstellen. Ohne solche Gewalt aber kommen gar we- nige Verse zu Stande: denn ihr ist es zuzuschreiben,, dass, in fremden Spachen, Verse viel schwerer zu ver- stehen sind als Prosa. Könnten wir in die geheime Werkstätte der Poeten sehen, so würden wir zehn Mal öfter finden, dass der Gedanke zum Reim, als dass der Reim zum Gedanken gesucht wird: und selbst im letztern Fall geht es nicht leicht ohne Nachgiebig- keit von Seiten des Gedankens ab. — Diesen Betrach- tungen bietet jedoch die Verskunst Trotz, und hat dabei alle Zeiten und Völker auf ihrer Seite: so gross ist die Macht, welche Metrum und Reim auf das Ge- müth ausüben, und so wirksam das ihnen eigene, ge- heimnissvolle lenocinium. Ich möchte dieses daraus er- klären, dass ein glücklich gereimter Vers, durch seine unbeschreibliche emphatische Wirkung, die Empfin- dung erregt, als ob der darin ausgedrückte Gedanke schon in der Sprache prädestinirt, ja präformirt gele- gen und der Dichter ihn nur herauszufinden gehabt hätte. Selbst triviale Einfälle erhalten durch Rhyth- mus und Reim einen Anstrich von Bedeutsamkeit, figuriren in diesem Schmuck, wie unter den Mädchen Alltagsgesichter durch den Putz die Augen fesseln. Ja, selbst schiefe und falsche Gedanken gewinnen durch die Versifikation einen Schein von Wahrheit. Andererseits wieder schrumpfen sogar berühmte Stel- len aus berühmten Dichtern zusammen und werden unscheinbar, wenn getreu in Prosa wiedergegeben. Ist nur das Wahre schön und ist der liebste Schmuck d4o der Wahrheit die Nacktheit; so wird ein Gedanke, der in Prosa gross und schön auftritt, mehr wahren Werth haben, als einer, der in Versen so wirkt. — Dass nun so geringfügig, ja, kindisch scheinende Mit- tel, wie Metrum und Reim, eine so mächtige Wirkung ausüben, ist sehr auffallend und wohl der Untersu- chung werth: ich erkläre es mir auf folgende Weise. Das dem Gehör unmittelbar Gegebene, also der blosse Wortklang, erhält durch Rhythmus und Reim eine gewisse Vollkommenheit und Bedeutsamkeit an sich selbst, indem er dadurch zu einer Art Musik wird: daher scheint er jetzt seiner selbst wegen dazuseyn und nicht mehr als blosses Mittel, blosses Zeichen eines Bezeichneten, nämlich des Sinnes der Worte. Durch seinen Klangdas Ohr zu ergötzen, scheint seine ganze Bestimmung, mit dieser daher Alles erreicht und alle Ansprüche befriedigt zu seyn. Dass er nun aber zugleich noch einen Sinn enthält, einen Gedan- ken ausdrückt, stellt sich jetzt dar als eine unerwar- tete Zugabe, gleich den Worten zur Musik; als ein unerwartetes Geschenk, das uns angenehm überrascht und daher, indem wir gar keine Forderungen der Art machten, sehr leicht zufrieden stellt: wenn nun aber gar dieser Gedanke ein solcher ist, der an sich selbst, also auch in Prosa gesagt, bedeutend wäre; dann sind wir entzückt. Mir ist aus früher Kindheit erinnerlich, dass ich mich eine Zeit lang am Wohlklang der Verse ergötzt hatte, ehe ich die Entdeckung machte, dass sie auch durchweg Sinn und Gedanken enthielten. Demgemäss giebt es, wohl in allen Sprachen, auch eine blosse Klingklangspoesie, mit fast gänzlicher Er- mangelung des Sinnes. Der Sinologe Davis, im Vor- bericht zu seiner Uebersetzung des Laou-sang-urh, oder an heir in old age (London 1817) bemerkt, dass die Chinesischen Dramen zum Theil aus Versen bestehen, welche gesungen werden, und setzt hinzu: ,,der Sinn derselben ist oft dunkel, und der Aussage der Chine- sen selbst zufolge, ist der Zweck dieser Verse vorzüg- lich, dem Ohre zu schmeicheln, wobei der Sinn ver- nachlässigt, auch wohl der Harmonie ganz zum Opfer gebracht ist". Wem fallen hiebei nicht die oft so 35' 547 schwer zu enträthselnden Chöre mancher Griecliischer Trauerspiele ein? Das Zeichen, woran man am unmittelbarsten den achten Dichter, sowohl höherer als niederer Gattung, erkennt, ist die Ungezwungenheit seiner Reime: sie haben sich, wie durch göttliche Schickung, von selbst eingefunden: seine Gedanken kommen ihm schon in Keimen. Der heimliche Prosaiker hingegen sucht zum Gedanken den Reim; der Pfuscher zum Reim den Gedanken. Sehr oft kann man aus einem gereimten Versepaar herausfinden, welcher von beiden den Gedanken, und welcher den Reim zum Vater hat. Die Kunst besteht darin, das Letztere zu verbergen, damit nicht dergleichen Verse beinahe als blosse aus- gefüllte bouts-rimes auftreten. Meinem Gefühl zufolge (Beweise Hnden hier nicht Statt) ist der Reim, seiner Natur nach, bloss binär: seine Wirksamkeit beschränkt sich auf die einmalige Wiederkehr des selben Lauts und wird durch öftere Wiederholung nicht verstärkt. Sobald demnach eine Endsilbe die ihr gleichklingende vernommen hat, ist ihre W^irkung erschöpft: die dritte Wiederkehr des Tons wirkt bloss als em abermaliger Reim, der zu- fällig auf den selben Klang trifft, aber ohne Erhö- hung der Wirkung: er reihet sich dem vorhandenen Reime an, ohne jedoch sich mit ihm zu einem stärkern Eindruck zu verbinden. Denn der erste Ton schallt nicht durch den zweiten bis zum dritten herüber: die- ser ist also ein ästhetischer Pleonasmus, eine doppelte Courage, die nichts hilft. Am wenigsten verdienen daher dergleichen Reimanhäufungen die schweren Opfer, die sie in Ottavarimen, Terzerimen und So- netten kosten, und welche die Ursache der Seelen- marter sind, unter der man bisweilen solche Produk- tionen liest: denn poetischer Genuss unter Kopfbre- chen ist unmöglich. Dassder grosse dichterische Geist auch jene Formen und ihre Schwierigkeiten bisweilen überwinden und sich mit Leichtigkeit und Grazie darin bewegen kann, gereicht ihnen selbst nicht zur Empfehlung: denn an sich sind sie so unwirksam wie beschwerlich. Und selbst hei guten Dichtern, wann 548 sie dieser Formen sich bedienen, sieht man häufig den Kampf zwischen dem Reim und dem Gedanken, in welchem bald der eine, bald der andere den Sieg erringt, also entweder der Gedanke des Reimes we- gen verkümmert, oder aber dieser mit einem schwa- chen ä peu pres abgefunden wird. Da dem so ist, halte ich es nicht für einen Beweis von Unwissenheit, son- dern von gutem Geschmack, dass Shakespeare, in sei- nen Sonetten, jedem der Quadernarien andere Reime gegeben hat. Jedenfalls ist ihre akustische Wirkung dadurch nicht im Mindesten verringert, und kommt der Gedanke viel mehr zu seinem Rechte, als er ge- konnt hätte, wenn er in die herkömmlichen Spani- schen Stiefel hätte eingeschnürt werden müssen. Es ist ein Nachtheil für die Poesie einer Sprache, wenn sie viele Worte hat, die in der Prosa nicht ge- bräuchlich sind, und andererseits gewisse Worte der Prosa nicht gebrauchen darf. Ersteres ist wohl am meisten im Lateinischen und Italienischen, Letzteres im Französischen der Fall, wo es kürzlich sehr tref- fend la begeulerie de la langue francaise genannt wurde: Beides ist weniger im Englischen und am we- nigsten im Deutschen zu finden. Solche der Poesie ausschliesslich angehörige Worte bleiben nämlich unserm Herzen fremd, sprechen nicht unmittelber zu uns, lassen uns daher kalt. Sie sind eine poetische Konventionssprache und gleichsam bloss gemalte Empfindungen statt wirklicher: sie schliessen die In- nigkeit aus. — Der in unsern Tagen so oft besprochene Unter- schied zwischen klassische?- und romantischer Poesie scheint mir im Grunde darauf zu beruhen, dass jene keine anderen, als die rein menschlichen, wirklichen und natürlichen Motive kennt; diese hingegen auch erkünstelte, konventionelle und imaginäre Motive als wirksam geltend macht: dahin gehören die aus dein Christlichen Mythos stammenden, sodann die des rit- terlichen, überspannten und phantastischen Ehren- princips, ferner die der abgeschmackten und lächer- lichen christlichgermanischen Weiberverehrung, end- lich die der faselnden und mondsüchtigen hyperphy- 549 sischen Verliebtheit. Zu welcher fratzenhaften"! Ver- zerrung menschlicher Verhältnisse und menschlicher Natur diese Motive aber führen, kann man sogar an den besten Dichtern der romantischen Gattung erse- hen, z. B. an Calderon. Von den Autos gar nicht zu re- den, berufe ich mich nur auf Stücke wie No siempre el peor es cierto (Nicht immer ist das Schlimmste gewiss) und El postrero duelo en Espana (Das letzte Duell in Spanien) und ähnliche Komödien en capa y espada: zu jenen Elementen gesellt sich hier noch die oft hervortretende scholastische Spitzfindigkeit in der Konversation, welche damals zur Geistesbil- dung der höheren Stände gehörte. Wie steht doch dagegen die Poesie der Alten, welche stets der Natur treu bleibt, entschieden im Vortheil, und ergiebt sich, dass die klassische Poesie eine unbedingte, die roman- tische nur eine bedingte Wahrheit und Richtigkeit hat; analog der Griechischen und der Gothischen Baukunst. Andererseits ist jedoch hier zu bemerken, dass alle dramatischen, oder erzählenden Dichtungen, welche den Schauplatz nach dem alten Griechenland oder Rom versetzen, dadurch in Nachtheil geratheu, dass unsere Kenntniss des Altei'thums, besonders was das Detail des Lebens betrifft, unzureichend, frag- mentarisch und nicht aus der Anschauung geschöpft ist. Dies nämlich nöthigt den Dichter Vieles zu um- gehen und sich mit Allgemeinheiten zu behelfen, wo- durch er ins Abstrakte geräth und sein Werk jene An- schaulichkeit und Individualisation einbüsst, welche der Poesie durchaus wesentlich ist. Dies ist es, was allen solchen Werken den eigenthümlichen Anstrich von Leerheit und Langweiligkeit giebt. Bloss Sliake- speare's Darstellungen der Art sind frei davon, weil er, ohne Zaudern, unter den Namen von Griechen und Römern, Engländer seines Zeitalters dargestellt hat. — Manchen Meisterstücken der lyrischen Poesie, na- mentlich einigen Oden des Horaz (man sehe z. B. die zweite des dritten Buchs) und mehreren Liedern Goethe's (z. B. Schäfers Klagelied), ist vorgeworfen worden, dass sie des rechten Zusammenhanges ent- O.'IO behrten und voller Gedankensprünge wären. Allein hier ist der logische Zusammenhang absichtlich ver- nachlässigt, um ersetzt zu werden durch die Einheit der darin ausgedrückten Grundempfindung und Stim- mung, als welche gerade dadurch mehr hervortritt, indem sie wie eine Schnur durch die gesonderten Per- len geht und den schnellen Wechsel der Gegenstände <ler Betrachtung so vermittelt, wie in der Musik den Uebergang aus einer Tonart in die andere der Septi- menackord, durch welchen der in ihm fortklingende Grundton zur Dominante der neuen Tonart wird. Am deutlichsten, nämlich bis zur Uebertreibung, fin- det man die hier bezeichnete Eigenschaft in der Can- zone des Petrarka, welche anhebt: Mai non vo' piü cantar, com' io soleva. — Wie demnach in der lyrischen Poesie das subjek- tive Element vorherrscht, so ist dagegen im Drama das objektive allein und ausschliesslich vorhanden. Zwischen Beiden hat die epische Poesie, in allen ihren Formen und Modifikationen, von der erzählenden Ro- manze bis zum eigentlichen Epos, eine breite Mitte inne. Denn obwohl sie in der Hauptsache objektiv ist; so enthält sie doch ein bald mehr bald minder hervortretendes subjektives Element, welches am Ton, an der Form des Vortrags, wie auch an einge- streuten Reflexionen seinen Ausdruck findet. Wir ver- lieren nicht den Dichter so ganz aus den Augen, wie beim Drama. Der Zweck des Dramas überhaupt ist, uns an einem Beispiel zu zeigen, was das Wesen und Daseyn des Menschen sei. Dabei kann nun die traurige, oder die heitere Seite derselben uns zugewendet werden, oder auch deren Uebergänge. Aber schon der Ausdruck „Wesen und Daseyn des Menschen" enthält den Keim zu der Kontroverse, ob das Wesen, d. i. die Charak- tere, oder das Daseyn, d. i. das Schicksal, die Bege- benheit, die Handlung, die Hauptsache sei, Uebrigens sind Beide so fest mit einander verwachsen, dass wohl ihr Begriff, aber nicht ihre Darstellung sich trennen lässt. Denn nur die Umstände, Schicksale, Begeben- heiten bringen die Charaktere zur Aeusserung ihres 55i Wesens, und nur aus den Charakteren entsteht die Handhmg, aus der die Bejjebenheiten hervorgehen. Allerdings kann, in der Darstellung, das Eine oder das x\ndere mehr hervorgehoben seyn , in welcher Hinsicht das Charakterstück und das Intriguenstück die beiden Extreme bilden. Der dem Drama mit dem Epos gemeinschaftliche Zweck, an bedeutenden Charakteren in bedeutenden Situationen, die durch beide herbeigeführten ausser- ordentlichen Handlungen darzustellen, wird vom Dichter am vollkommensten erreicht werden, wenn er uns zuerst die Charaktere im Zustande der Ruhe vorführt, in welchem bloss die allgemeine Färbung derselben sichtbar wird, dann aber ein Motiv eintre- ten lässt, welches eine Handlung herbeiführt, aus der ein neues und stärkeres Motiv entsteht, welches wieder eine bedeutendere Handlung hervorruft, die wiederum neue und immer stärkere Motive gebiert, wodurch dann, in der der Form angemessenen Frist, an die Stelle der ursprünglichen Ruhe die leiden- schaftliche Aufregung tritt, in der nun die bedeutsa- men Handlungen geschehen, an welchen die in den Charakteren vorhin schlummernden Eigenschaften, nebst dem Laufe der Welt, in hellem Lichte hervor- treten. — Grosse Dichter verwandeln sich ganz in jede der darzustellenden Personen und sprechen aus jeder der- selben, wie Bauchredner; jetzt aus dem Helden, und gleich darauf aus dem jungen unschuldigen Mäd- chen, mit gleicher Wahrheit und Natürlichkeit: so Shakespeaie und Goethe. Dichter zweiten Ranges ver- wandeln die darstellende Hauptperson in sich: in Byron; wobei dann die Nebenpersonen oft ohne Le- ben bleiben, wie in den Werken der Mediokren auch die Hauptperson. — Unser Gefallen am Tiaiierspi'el gehört nicht dem Gefühl des Schönen, sondern dem des Erhabenen an ; ja, es ist der höchste Grad dieses Gefühls. Denn, wie wir beim Anblick des Erhabenen in der Natur uns vom Interesse des Willens abwenden, um uns rein an- schauend zu verlialten ; so wenden wir bei der tragi- 552 sehen Katastrophe uns vom Willen zum Leben selbst ab. Im Trauerspiel nämlich wird die schreckliche Seite des Lebens uns vorgeführt, der Jammer der Menschheit, die Herrschaft des Zufalls und des Irr- thums, der Fall des Gerechten, der Triumpf der Bö- sen : also die unserm Willen geradezu widerstrebende Beschaffenheit der Welt wird uns vor Augen ge- bracht. Bei diesem iVnblick fühlen wir uns aufgefor- dert, unsern Willen vom Leben abzuwenden, es nicht mehr zu wollen und zu lieben. Gerade dadurch aber werden wir inne, dass alsdann noch etwas Anderes an uns übrig bleibt, was wir durchaus nicht positiv erkennen können, sondern bloss negativ, als Das, was nicht das Leben will. Wie der Septimenackord den Grundackord, wie die rotbe Farbe die grüne fordert und sogar im Auge hervorbringt ; so fordert jedes Trauerspiel ein ganz anderartiges Daseyn, eine andere Welt, deren Erkenntniss uns immer nur indirekt, wie eben hier durch solche Forderung, gegeben wer- den kann. Im Augenblick der tragischen Katastrophe wird uns, deutlicher als jemals, die Ueberzeugung, dass das Leben ein schwerer Traum sei, aus dem wir zu erwachen haben. Insofern ist die Wirkung des Trauerspiels analog der des dynamisch Erhabenen, indem es, wie dieses, uns über den Willen und sein Interesse hinaushebt und uns so umstimmt, dass wir am Anblick des ihm geradezu Widerstrebenden Ge- fallen finden. Was allem Tragischen, in welcher Ge- stalt es auch auftrete, den eigenthümlichen Schwung zur Erhebung giebt, ist das Aufgehen der Erkennt- niss, dass die Welt, das Leben, kein wahres Genügen gewähren könne, mithin unserer Anhänglichkeit nicht werth sei: darin besteht der tragische Geist: er leitet demnach zur Resignation hin. Ich räume ein, dass im Trauerspiel der Alten die- ser Geist der Resignation selten direkt hervortritt und ausgesprochen wird. Oedipus Koloneus stirbt zwar resignirt und willig; doch tröstet ihn die Rache an seinem Vaterland. Iphigenia Aulika ist sehr willig zu sterben ; doch ist es der Gedanke an Griechenlands Wohl, der sie tröstet und die Veränderung ihrer Ge- 553 sinnung hervorbringt, vermöge welcher sie den Tod, dem sie erst auf alle Weise entfliehen wollte, willig übernimmt. Kassandra, im Agamemnon des grossen Aeschylos, stirbt willig, apxsixto j3to?; aber auch sie tröstet der Gedanke an Rache. Herkules, in den Trachinerinnen, giebt der Nothwendigkeit nach, stirbt gelassen, aber nicht resignirt. Eben so der Hippoly- tos des Euripides, bei dem es uns auffällt, dass die ihn zu trösten erscheinendeArtemis ihniTempel und Nach- ruhm verheisst, aber durchaus nicht auf ein über das Leben hinausgehendes Daseyn hindeutet, und ihn im Sterben verlässt, wie alle Götter von dem Sterbenden weichen: — im Christenthum treten sie zu ihm her- an; und eben so im Brahmanismus und Buddhais- mus, wenn auch bei letzterem die Götter eigentlich exotisch sind. Hippolytos also, wie fast alle tragischen Helden der Alten, zeigt Ergebung in das unabwend- bare Schicksal und den unbiegsamen Willen der Göt- ter, aber kein Aufgeben des Willens zum Leben selbst. W^ie der Stoische Gleichmuth von der Christlichen Resignation sich von Grund aus dadurch unterschei- det, dass er nur gelassenes Ertragen und gefasstes Erwarten der unabänderlich nothwendigen Uebel lehrt, das Christenthum aber Entsagung, Aufgeben des Wollens; eben so zeigen die tragischen Helden der Alten standhaftes Unterwerfen unter die unaus- weichbaren Schläge des Schicksals, das Christliche Trauerspiel dagegen Aufgeben des ganzen Willens zum Leben, freudiges Verlassen der Welt, im Bewusst- seyn ihrer Werthlosigkeit und Nichtigkeit. — Aber ich bin auch ganz der Meinung, dass das Trauerspiel der Neuern höher steht, als das der Alten. Shake- speare ist viel grösser als Sophokles: gegen Goethe s Iphigenia könnte man die des Euripides beinahe roh und gemein finden. Die Bakchantinnen des Euripides sind ein empörendes Machwerk zu Gunsten der heid- nischen Pfaffen. Manche antike Stücke haben gar keine tragische Tendenz; wie die Alkeste und Iphigenia Taurika des Euripides: einige haben widerwärtige, oder gar ekelhafte Motive; so die Antigone und Phi- loktet. Fast alle zeigen das Menschengeschlecht unter 55/} I der entsetzlichen Herrschaft des Zufalls und Irrthums, aber nicht die dadurch veranlasste und davon erlö- sende Resignation. Alles, weil die Alten noch nicht zum Gipfel und Ziel des Trauerspiels, ja, der Lebens- ansicht überhaupt, gelangt waren. Wenn demnach die Alten den Geist der Resigna- tion, das Abwenden des Willens vom Leben, an ihren tragischen Helden selbst, als deren Gesinnung, wenig darstellen; so bleibt es dennoch die eigenthümliche Tendenz und Wirkung des Trauerspiels, jenen Geist im Zuschauer zu erwecken und jene Gesinnung, wenn auch nur vorübergehend, hervorzurufen. Die Schreck- nisse auf der Bühne halten ihm die Bitterkeit und Werthlosigkeit des Lebens, also die Nichtigkeit alles seines Strebens entgegen : die Wirkung dieses Ein- drucks muss seyn, dass er, wenn auch nur im dun- keln Gefühl, inne wird, es sei besser, sein Herz vom Leben loszureissen, sein Wollen davon abzuwenden, die Welt und das Leben nicht zu lieben; wodurch dann eben, in seinem tiefsten Innern, das Bewusst- seyn angeregt wird, dass für ein anderartiges Wollen es auch eine andere Art des Daseyns geben müsse. — Denn wäre dies nicht, wäre nicht dieses Erheben über alle Zwecke und Güter des Lebens, dieses Ab- wenden von ihm und seinen Lockungen, und das hierin schon liegende Hinwenden nach einem ander- artigen, wiewohl uns völlig unfassbaren Daseyn die Tendenz des Trauerspiels; wie wäre es dann über- haupt möglich, dass die Darstellung der schrecklichen Seite des Lebens, im grellsten Lichte uns vor Augen gebracht, wohlthätig auf uns wirken und ein hoher Genuss für uns seyn könnte? Furcht und Mitleid, in deren Erregung Aristoteles den letzten Zweck des Trauerspiels setzt, gehören doch wahrhaftig nicht an sich selbst zu den angenehmen Empfindungen: sie können daher nicht Zweck, sondern nur Mittel seyn. — Also Aufforderung zur Abwendung des W^illens vom Leben bleibt die wahre Tendenz des Trauer- spiels, der letzte Zweck der absichtlichen Darstellung der Leiden der Menschheit, und ist es mithin auch da, wo diese resignirte Erhebung des Geistes nicht am 555 Helden selbst {gezeigt, sondern bloss im Zuschauer an- geregt wird, durch den Anblick grossen, unverschul- deten, ja, selbst verschuldeten Leidens. — Wie die Alten, so begnügen auch Man(;he der Neuern sich damit, durch die objektive Darstellung menschlichen Unglücks im Grossen den Zuschauer in die beschrie- bene Stimmung zai versetzen; während Andere diese durch das Leiden bewirkte ümkehrung der Gesinnung am Helden selbst darstellen: Jene geben gleichsam nur die Prämissen, und überlassen die Konklusion dem Zuschauer; während diese die Konklusion, oder die Moral der Fabel, mitgeben, als Umkehrung der Gesinnung des Helden, auch wohl als Betrachtung im Munde des Chors, wie z. B. Schiller in der Braut von Messina : ,,Das Leben ist der Güter höchstes nicht." Hier sei es erwähnt, dass selten die acht tragische Wirkung der Katastrophe, also die durch sie herbei- geführte Resignation und Geisteserhebung der Hel- den, so rein motivirt und deutlich ausgesprochen her- vortritt, wie in der Oper Noi-ma, wo sie eintritt in dem Duett Qual cor tradisti, quäl cor perdesti, in welchem die Umwendung des W^illens durch die plötzlich ein- tretende Ruhe der Musik deutlich bezeichnet wird. Ueberhaupt ist dieses Stück, — ganz abgesehen von seiner vortrefflichen Musik, wie auch andererseits von der Diktion, welche nur die eines Operntextes seyn darf, — und allein seinen Motiven imd seiner innern Oekonomie nach betrachtet, ein höchst vollkomme- nes Trauerspiel, ein wahres Muster tragischer Anlage der Motive, tragischer Fortschreitung der Handlung und tragischer Entwickelung, zusammt der über die Welt erhebenden Wirkung dieser auf die Gesinnung der Helden, welche dann auch auf den Zuschauer übergeht: ja, die hier erreichte Wirkung ist um so unverfänglicher und für das wahre Wesen des Trau- erspiels bezeichnender, als keine Christen, noch Christ- liche Gesinnungen darin vorkommen. — Die den Neuern so oft vorgeworfene Vernachlässi- gung der Einheit der Zeit und des Orts wird nur dann fehlerhaft, wann sie so weit geht, dass sie die Ein- heit der Handlung aufhebt; wo dann nur noch die 556 Einheit der Hauptperson übrig bleibt, wie z. B. in „Heinrich VIH." von Shakespeare. Die Einheit der Handhing braucht aber auch nicht so weit zu gehen, dass immerfort von der selben Sache geredet wird, wie in den Französischen Trauerspielen, welche sie überhaupt so strenge einhalten, dass der dramatische Verlauf einer geometrischen Linie ohne Breite gleicht: da heisst es stets „Nur vorwärts! Pensez ä votre af- faire!" und die Sache wird ganz geschäftsmässig ex- pedirt und depeschirt, ohne dass man sich mit Allo- trien, die nicht zu ihr gehören, aufhalte, oder rechts, oder links umsehe. Das Shakespearesche Trauerspiel hingegen gleicht einer Linie, die auch Breite hat: es lasst sich Zeit, exspatiatur: es kommen Reden, sogar ganze Scenen voi", welche die Handlung nicht fördern, sogar sie nicht eigentlich angehen, durch welche wir jedoch die handelnden Personen, oder ihre Umstände näher kennen lernen, wonach wir dann auch die Handlung gründlicher verstehen. Diese bleibt zwar die Hauptsache, jedoch nicht so ausschliesslich, dass wir darüber vergässen, dass, in letzter Instanz, es auf die Darstellung des menschlichen Wesens und Da- seyns überhaupt abgesehen ist. — Der dramatische, oder epische Dichter soll wissen, dass er das Schicksal ist, und daher unerbittlich seyn, wie dieses; — imgleichen, dass er der Spiegel des Menschengeschlechts ist, und daher sehr viele schlech- te, mitunter ruchlose Charaktere auftreten lassen, wie auch viele Thoren, verschrobene Köpfe und Narren, dann aber hin und wieder einen Vernünftigen, einen Klugen, einen Redlichen, einen Guten und nur als seltenste Ausnahme einen Edelmüthigen. Im ganzen Homer ist, meines Bedünkens, kein eigentlich edel- müthiger Charakter dargestellt, wiewohl manche gute und redliche : im ganzen Shakespeare mögen allenfalls ein Paar edle, doch keineswegs überschwänglich edle Charaktere zu finden seyn, etwan die Kordelia, der Koriolan, schwerlich mehr; hingegen wimmelt es darin von der oben bezeichneten Gattung. Aber Iß- lands und Kotzehues Stücke haben viel edelmüthige Charaktere; während Goldoni es gehalten hat, wie 55 7 ich oben anempfahl, wodurch er zeifjt, dass er höber steht. Hingegen Lessings Minna von liarnhelni labo- rirt stark an zu vielen» und allseitigem Edelmuth: aber gar so viel Edelmuth, wie der einzige Marquis Posa darbietet, ist in Goethes sämmtlichen Wer- ken zusammengenommen nicht aulzutreiben: wohl aber giebt es ein kleines Deutsches Stück „Pflicht um Pflicht" (ein Titel wie aus der Kritik der prak- tischen Vernunft genommen), welches nur drei Per- sonen hat, jedoch alle drei von überschwänglichein Edelmuth. — Die Griechen nahmen zu Helden des Trauerspiels durchgängig königliche Personen ; die Neuern mei- stentheils auch. Gewiss nicht, weil der Rang dem Handelnden oder Leidenden mehr Würde giebt ; und da es bloss darauf ankommt, menschliche Leiden- schaften ins Spiel zu setzen; so ist der relative W^erth der Objekte, wodurch dies geschieht, gleich- gültig, und Bauernhöfe leisten so viel, wie Königrei- che. Auch ist das bürgerliche Trauerspiel keineswegs unbedingt zn verwerfen. Personen von grosser Macht und Ansehn sind jedoch deswegen zum Trauerspiel die geeignetesten, weil das Unglück, an welchem wir das Schicksal des Menschenlebens erkennen sollen, eine hinreichende Grösse haben muss, um dem Zuschauer, wer er auch sei, als furchtbar zu erscheinen. Nun aber sind die Umstände, welche eine Bürgerfamilie in Noth und Verzweiflung versetzen, in den Augen der Grossen oder Reichen meistens sehr geringfügig und durch menschliche Hülfe, ja bisweilen durch eine Kleinigkeit, zu beseitigen : solche Zuschauer kön- nen daher von ihnen nicht tragisch erschüttert wer- den. Hingegen sind die Unglücksfälle der Grossen und Mächtigen unbedingt furchtbar, auch keiner Ab- hülfe von aussen zugänglich; da Könige durch ihre eigene Macht sich helfen müssen, oder untergehen. Dazu kommt, dass von der Höhe der Fall am tiefsten ist. Den bürgerlichen Personen fehlt es demnach an F'allhöhe. — Wenn nun als die Tendenz und letzte Absicht des Trauerspiels sich uns ergeben hat ein Hinwenden zur .558 Resignation, zur Verneinung des Willens zum Leben; so werden wir in seinem Gegensatz, dem Lustspiel, die Aufforderung zur fortgesetzten Bejahung des Wil- lens leicht erkennen. Zwar muss auch das Lustspiel, wie unausweichbar jede Darstellung des Menschen- lebens, Leiden und Widerwärtigkeiten vor die Augen bringen: allein es zeigt sie uns vor als vorübergehend, sich in Ereude auflösend, überhaupt mit Gelingen, Siegen und Hoffen gemischt, welche am Ende doch überwiegen; und dabei hebt es den unerschöpflichen Stoff' zum Lachen hervor, von dem das Leben, ja,, dessen Widerwärtigkeiten selbst, erfüllt sind, und der uns, unter allen Umständen, bei guter Laune erhal- ten sollte. Es besagt also, im Resultat, dass das Leben im Ganzen recht gut und besonders durchweg kurz- weilig sei. Freilich aber muss es sich beeilen, im Zeit- punkt der Freude den Vorhang fallen zu lassen, da- mit wir nicht sehen, was nachkommt; während das Trauerspiel, in der Regel, so schliesst, dass nichts nachkommen kann. Und überdies, wenn wir jene bur- leske Seite des Lebens ein Mal etwas ernst ins Auge fassen, wie sie sich zeigt in den naiven Aeusserungen und Gebehrden, welche die kleinliche Verlegenheit,, die persönliche Furcht, der augenblickliche Zorn, der heimliche Neid und die vielen ähnlichen Affekte den vom Typus der Schönheit beträchtlich abweichenden Gestalten der sich hier spiegelnden Wirklichkeit auf- drücken; — so kann auch von dieser Seite, also auf eine unerwartete Art, dem nachdenklichen Betrach- ter die Ueberzeugung werden, dass das Daseyn und Treiben solcher Wesen nicht selbst Zweck seyn kann, dass sie, im Gegentheil, nur auf einem Irrwege zum Daseyn gelangen konnten, und dass was sich so dar- stellt etwas ist, das eigentlich besser nicht wäre. 559. KAPITEL 38'). ÜEBf:R GESCHICHTE. rCH habe in der unten bemerkten Stelle des ersten Bandes ausführlich {=;ezeigt, dass und warum für die Erkenntniss des Wesens der Menschheit mehr von der Dichtunjj, als von der Geschichte geleistet wird: insofern wäre mehr eigentliche Belehrung von jener, als von dieser zu erwarten. Dies hat auch jiri- stoteles eingesehen, da er sagt: xai cpiXosocpcu-epov xat aTrouoaioxepov toitjok; taiopiai; eaxtv (et res magis phi- losophica, et melior poesis est, quam historia**). (De poet., c. 9.) Um jedoch über den Werth der Geschich- te kein Missverständniss zu veranlassen, will ich mei- ne Gedanken darüber hier aussprechen. In jeder Art und Gattung von Dingen sind die Thatsachen unzählig, der einzelnen Wesen unendlich viele, die Mannigfaltigkeit ihrer Verschiedenheiten unerreichbar. Bei einem Blicke daraufschwindelt dem wissbegierigen Geiste: er sieht sich, wie weit er auch forsche, zur Unwissenheit verdammt. — Aber da kommt die Wissenschaft: sie sondert das unzählbar Viele aus, sammelt es unter Artbegriffe, und diese wieder unter Gattungsbegriffe, wodurch sie den Weg zu einer Erkenntniss des Allgemeinen und des Beson- dern eröffnet, welche auch das unzählbare Einzelne befasst, indem sie von Allem gilt, ohne dass man Jeg- liches für sich zu betrachten habe. Dadurch verspricht sie dem forschenden Geiste Beruhigung. Dann stellen alle Wissenschaften sich neben einander und über die reale Welt der einzelnen Dinge, als welche sie unter sich vertheilt haben. Ueber ihnen allen aber schwebt *) Dieses Kapitel bezieht sich ai]F§. 5i des ersten Bandes. [S. 393 d. A.] **) Beiläufig sei hier bemerkt, dass aus diesem Gegensatz von Troirjoii; und lOTOpia der Ursprung und damit der eigentliche Sinn des ersteren Wortes ungemein deutlich hervortritt: es bedeutet nämlich das Gemachte, Ersonnene, im Gegensatz des Erfragten. 56o die Philosophie, als das alljjemeiiiste und deshalb wichtijjste Wissen, welches die Aufschlüsse verheisst, zu denen die andern nur vorbereiten. — Hloss die Geschichte darf eijjentiich nicht in jene Reihe treten; da sie sich nicht des selben Vortheils wie die andern rühmen kann: denn ihr fehlt der Grundcharakter der Wissenschaft, die Subordination des Gewussten, statt deren sie blosse Koordination desselben aufzu- weisen hat. Daher giebt es kein System der Geschich- te, wie doch jeder andern Wissenschaft. Sie ist dem- nach zwar ein Wissen, jedoch keine Wissenschaft, Denn nirgends erkennt sie das Einzelne mittelst des Allgemeinen, sondern muss das Einzelne unmittel- bar fassen und so gleichsam auf dem Boden der Er- fahrung fortkriechen; während die wirklichen Wis- senschaften darüber schweben, indem sie umfassende Begriffe gewonnen haben, mittelst deren sie das Ein- zelne beherrschen und, wenigstens innerhalb gewis- ser Gränzen, die Möglichkeit der Dinge ihres Berei- ches absehen, so dass sie auch über das etwan noch Hinzukommende beruhigt seyn können. Die Wissen- schaften, da sie Systeme von Begriffen sind, reden stets von Gattungen; die Geschichte von Individuen. Sie wäre demnach eine Wissenschaft von Individuen ; welches einen Widerspruch besagt. Auch folgt aus Ersterem, dass die Wissenschaften sämmtlich von Dem reden, was immer ist; die Geschichte hingegen von Dem, was nur ein Mal und dann nicht mehr ist. Da ferner die Geschichte es mit dem schlechthin Ein- zelnen und Individuellen zu thun hat, welches, seiner Natur nach, unerschöpflich ist; so weiss sie Alles nur unvollkommen und halb. Dabei muss sie zugleich noch von jedem neuen Tage, in seiner Alltäglichkeit, sich Das lehren lassen, was sie noch gar nicht wusste. — Wollte man hiegegen einwenden, dass auch in der Geschichte Unterordnung des Besondern unter das Allgemeine Statt finde, indem die Zeitperioden, die Regierungen und sonstige Haupt- und Staatsverände- rungen, kurz. Alles was auf den Geschichtstabellen Platz findet, das Allgemeine seien, dem das Specielle sich unterordnet; so würde dies auf einer falschen 36 Schopenhauer II 5 6 I Fassung des Begriffes vom Allgemeinen beruhen. Denn das hier angeführte Allgemeine in der Geschichte ist bloss ein subjektives, d. h. ein solches, dessen Allge- meinheit allein aus der Unzulänglichkeit der indivi- duellen Kenntniss von den Dingen entspringt, nicht aber ein objektives, d. h. ein Begriff, in welchem die Dinge wirklich schon mitgedacht wären. Selbst das Allgemeinste in der Geschichte ist an sich selbst doch nur ein Einzelnes und Individuelles, nämlich ein lan- ger Zeitabschnitt, oder eine Hauptbegebenheit: zu diesem verhält sich daher das Besondere, wie der Theil zum Ganzen, nicht aber wie der Fall zur Re- gel; wie dies hingegen in allen eigentlichen Wissen- schaften Statt hat, weil sie Begriffe, nicht blosse That- sachen überliefern. Daher eben kann man in diesen durch richtige Kenntniss des Allgemeinen das vor- kommende Besondere sicher bestimmen. Kenne ich z. B. die Gesetze des Triangels überhaupt; so kann ich danach auch angeben, was dem mir vorgelegten Triangel zukommen muss: und was von allen Säuge- thieren gilt, z, B. dass sie doppelte Herzkammern, gerade sieben Halswirbel, Lunge, Zwergfell, Urin- blase, fünf Sinne u. s. w. haben, das kann ich auch von der soeben gefangenen fremden Fledermaus, vor ihrer Sektion, aussagen. Aber nicht so in der Ge- schichte, als wo das Allgemeine kein objektives der Begriffe, sondern bloss ein subjektives meiner Kennt- niss ist, welche nur insofern, als sie oberflächlich ist, allgemein genannt werden kann: daher mag ich im- merhin vom dreissigjährigen Kriege im Allgemeinen wissen, dass er ein im 17. Jahrhundert geführter Re- ligionskrieg gewesen; aber diese allgemeine Kennt- niss befähigt mich nicht, irgend etwas Näheres über seinen Verlauf anzugeben. — Der selbe Gegensatz bewährt sich auch darin, dass in den wirklichen Wis- senschaften das Besondere und Einzelne das Gewis- seste ist, da es auf unmittelbarer Wahrnehmung be- ruht: hingegen sind die allgemeinen Wahrheiten erst aus ihm abstrahirt; daher in diesen eher etwas irrig angenommen seyn kann. In der Geschichte aber ist umgekehrt das Allgemeinste das Gewisseste, z. B. die 562 Zeitperioden, die Succession der Könige, die Revolu- tionen, Kriege und Friedensschlüsse: hingegen das Be- sondere der Begebenheiten und ihres Zusammenhangs ist ungewisser, und wird es immer mehr, je weiter man ins Einzelne gerät. Daher ist die Geschichte zwar um so interessanter, je specieller sie ist, aber auch um so unzuverlässiger, und nähert sich alsdann in je- der Hinsicht dem Romane. — Was es übrigens mit dem gerühmten Pragmatismus der Geschichte auf sich habe, wird Der am besten ermessen können, welcher sich erinnert, dass er bisweilen die Begeben- heiten seines eigenen Lebens, ihrem wahren Zusam- menhange nach, erst zwanzig Jahre hinterher ver- standen hat, obwohl die Data dazu ihm vollständig vorlagen : so schwierig ist die Kombination des Wir- kens der Motive, unter den beständigen Eingriffen des Zufalls und dem Verhehlen der Absichten. — Sofern nun die Geschichte eigentlich immer nur das Einzelne, die individuelle Thatsache, zum Gegenstan- de hat und dieses als das ausschliesslich Reale ansieht, ist sie das gerade Gegentheil und Widerspiel der Phi- losophie, als welche die Dinge vom allgemeinsten Ge- sichtspunkt aus betrachtet und ausdrücklich das All- gemeine zum Gegenstand hat, welches in allem Ein- zelnen identisch bleibt; daher sie in diesem stets nur Jenes sieht und den Wechsel an der Erscheinung des- selben als unwesentlich erkennt: (pdoxaöoXou yap 6 cpiXoaocpo? (generalium amator philosophus). Während die Geschichte uns lehrt, dass zu jeder Zeit etwas An- deres gewesen, ist die Philosophie bemüht, uns zu der Einsicht zu verhelfen, dass zu allen Zeiten ganz das Selbe war, ist und seyn wird. In Wahrheit ist das Wesen des Menschenlebens, wie der Natur überall, in jeder Gegenwart ganz vorhanden, und bedarf da- her, um erschöpfend erkannt zu werden, nur der Tiefe der Auffassung. Die Geschichte aber hofft die Tiefe durch die Länge und Breite zu ersetzen: ihr ist jede Gegenwart nur ein Bruchstück, welches ergänzt werden muss durch die Vergangenheit, deren Länge aber unendlich ist und an die sich wieder eine un- endliche Zukunft schliesst. Hierauf beruht das Wi- 36* 563 derspiel zwischen den philosophischen und liistori- schen Köpfen: jene wollen ergründen; diese wollen zu Ende zählen. Die Geschichte zeigt auf jeder Seite nur das Selbe, unter verschiedenen Formen: wer aber solches nicht in einer oder wenigen erkennt, wird auch durch das Durchlaufen aller Formen schwer- lich zur Erkenntniss davon gelangen. Die Kapitel der Völkergeschichte sind im Grunde nur durch die Na- men und Jahreszahlen verschieden: der eigentlich we- sentliche Inhalt ist überall derselbe. Sofern nun also der Stoff der Kunst die Idee, der Stoff der Wissenschaft der Begriff ist, sehen wir Bei- de mit Dem beschäftigt, was immer da ist und stets auf gleiche Weise, nicht aber jetzt ist und jetzt nicht, jetzt so und jetzt anders: daher eben haben Beide es mitDem zuthun, wasP/a^oausschliesslich als den Ge- genstand wirklichen Wissens aufstellt. Der Stoff der Geschichte hingegen ist das Einzelne in seiner Einzel- heit und Zufälligkeit, was Ein Mal ist und dann aui immer nicht mehr ist, die vorübergehenden Verflech- tungen einer wie Wolken im Winde beweglichen Menschenwelt, welche oft durch den geringfügigsten Zufall ganz umgestaltet werden. Von diesem Stand- punkt aus erscheint uns der Stoff der Geschichte kaum noch als ein der ernsten und mühsamen Betrachtung des Menschen geistes würdiger Gegenstand, des Men- schengeistes, der, gerade weil er so vergänglich ist, das Unvergängliche zu seiner Betrachtung wählen sollte. Was endlich das, besonders durch die überall so geistesverderbliche und verdummende Hegeische Afterphilosophie aufgekommene Bestreben, die Welt- geschichte als ein planmässiges Ganzes zu fassen, oder, wie sie es nennen, „sie organisch zu konstruiren", betrifft; so liegt demselben eigentlich ein roher und platter Realismus zum Grunde, der die Erscheimmg für das Wesen an sich der Welt hält vmd vermeint, auf sie, auf ihre (ycstalten und Vorgänge käme es an; wobei er noch im Stillen von gewissen mythologischen Grundansichten unterstützt wird, die er stillschwei- gend voraussetzt: sonst liesse sich fragen, für welchen 564 Zuschauer denn eine dergleichen Komödie ei{>entlich aufgeführt würde? — Denn, da nur das Individuum, nicht aber das Menschengeschlecht wirkliche, un- mittelbare Einheit des Bewusstseyns hat; so ist die Einheit des Lebenslaufes dieses eine blosse Fiktion. Zudem, wie in der Natur nur die Species real, die ge- nera blosse Abstraktionen sind, so sind im Menschen- geschlecht nur die Individuen und ihr Lebenslauf real, die Völker und ihr Leben blosse Abstraktionen. Endlich laufen die Konstruktionsgeschichten, von plattem Optimismus geleitet, zuletzt immer auf einen behaglichen, nahrhaften, fetten Staat, mit wohlgere- gelter Konstitution, guter Justiz und Polizei, Technik und Industrie und höchstens auf intellektuelle Ver- vollkommnung hinaus; weil diese in der That die allein mögliche ist, da das Moralische im Wesent- lichen unverändert bleibt. Das Moralische aber ist es, worauf, nach dem Zeugniss unsers innersten Bewusst- seyns, Alles ankommt: und dieses liegt allein im In- dividuo, als die Bichtung seines Willens. In Wahr- heit hat nur der Lebenslauf jedes Einzelnen Einheit, Zusammenhang und wahre Bedeutsamkeit: er ist als eine Belehrung anzusehen, und der Sinn derselben ist ein moialischer. Nur die innern Vorgänge, sofern sie den Willen betreffen, haben wahre Realität und sind wirkliche Begebenheiten; weil der Wille allein das Ding an sich ist. In jedem Mikrokosmos liegt der ganze Makrokosmos, und dieser enthält nichts mehr als jener. Die Vielheit ist Erscheinung, und die äussern Vorgänge sind blosse Konfigurationen der Erscheinungswelt, haben daher unmittelbar weder Realität noch Bedeutung, sondern erst mittelbar, durch ihre Beziehung auf den Willen der Einzelnen. Das Bestreben sie unmittelbar deuten und auslegen zu wollen, gleicht sonach dem, in den Gebilden der Wolken Gruppen von Menschen und Thieren zu se- hen. — W^as die Geschichte erzählt, ist in der That nur der lange, schwere und verworrene Traum der Menschheit. Die Hegelianer, welche die Philosophie der Ge- schichte sogar als den Hauptzweck aller Philosophie 565 ansehen, sind auf Plato zu verweisen, der unermüd- lich wiederholt, dass der Gegenstand der Philosophie das Unveränderliche und immerdar Bleibende sei, nicht aber Das, was bald so, bald anders ist. Alle Die, welche solche Konstruktionen des Weltverlaufs, oder, wie sie es nennen, der Geschichte, aufstellen, haben die Hauptwahrheit aller Philosophie nicht begriffen, dass nämlich zu aller Zeit das Selbe ist, alles Werden und Entstehen nur scheinbar, die Ideen allein blei- bend, die Zeit ideal. Dies will der Plato, Dies will der Kant. Man soll demnach zu verstehen suchen, was da ist, wirklich ist, heute und immerdar, — d. h. die Ideen (in Plato's Sinn) erkennen. DieThoren hin- gegen meynen, es solle erst etwas werden und kom- men. Daher räumen sie der Geschichte eine Haupt- stelle in ihrer Philosophie ein und konstruiren die- selbe nach einem vorausgesetzten Weltplane, wel- chem gemäss Alles zum Besten gelenkt wird, welches dann finaliter eintreten soll und eine grosse Herrlich- keit seyn wird. Demnach nehmen sie die Welt als vollkommen real und setzen den Zweck derselben in das armsälige Erdenglück, welches, selbst wenn noch so sehr von Menschen gepflegt und vom Schicksal begünstigt, doch ein hohles, täuschendes, hinfälliges und trauriges Ding ist, aus welchem weder Konsti- tutionen und Gesetzgebungen, noch Dampfmaschinen und Telegraphen jemals etwas wesentlich Besseres machen können. Besagte Geschichts-Philosophen und -Verherrlicher sind demnach einfältige Realisten, da- zu Optimisten und Eudämonisten, mithin platte Ge- sellen und eingefleischte Philister, zudem auch eigent- lich schlechte Christen; da der wahre Geist und Kern des Christenthums, eben so wie des Brahmanismus und Buddhaismus, die Erkenn tniss der Nichtigkeit des Erdenglücks, die völlige Verachtung desselben und Hinwendung zu einem ganz anderartigen, ja, entgegengesetzten Daseyn ist: Dies, sage ich, ist der Geist und Zweck des Christenthums, der wahre ,, Hu- mor der Sache"; nicht aber ist es, wie sie meynen, der Monotheismus; daher eben der atheistische Buddhaismus dem Christenthum viel näher verwandt 566 ist, als das optimistische Judenthum und seine Vari- etät, der Islam. Eine wirkliche Philosophie der Geschichte soll also nicht, wie Jene alle thun, Das betrachten, was (in Plato's Sprache zu reden) immer wird und nie ist^ und Dieses für das eigentliche Wesen der Dinge hal- ten ; sondern sie soll Das, was immer ist und nie wird, noch vergeht, im Auge behalten. Sie besteht also nicht darin, dass man die zeitlichen Zwecke der Menschen zu ewigen und absoluten erhebt, und nun ihren Portschritt dazu, durch alle Verwickelungen, künstlich und imaginär konstruirt; sondern in der Einsicht, dass die Geschichte nicht nur in der Aus- führung, sondern schon in ihrem Wesen lügenhaft ist, indem sie, von lauter Individuen und einzelnen Vorgängen redend, vorgiebt, alle Mal etwas Anderes zu erzählen; während sie, vom Anfang bis zum Ende, stets nur das Selbe wiederholt, unter andern Namen und in anderm Gewände. Die wahre Philosophie der Geschichte besteht nämlich in der Einsicht, dass man, bei allen diesen endlosen Veränderungen und ihrem Wirrwarr, doch stets nur das selbe, gleiche und un- wandelbare Wesen vor sich hat, welches heute das Selbe treibt, wie gestern und immerdar: sie soll also das Identische in allen Vorgängen, der alten wie der neuen Zeit, des Orients wie des Occidents, erkennen, und, trotz aller Verschiedenheit der speciellen Um- stände, der Kostümes und der Sitten, überall die selbe Menschheit erblicken. Dies Identische und unter allem Wechsel Beharrende besteht in den Grund- eigenschaften des menschlichen Herzens und Kopfes, — vielen schlechten, wenigen guten. Die Devise der Geschichte überhaupt müsste lauten: Eadem, sed aliter. Hat Einer den Herodot gelesen, so hat er, in philosophischer Absicht, schon genug Geschichte stu- dirt. Denn da steht schon Alles, was die folgende Weltgeschichte ausmacht: das Treiben, Thun, Leiden und Schicksal des Menschengeschlechts, wie es aus den besagten Eigenschaften und dem physischen Erdenloose hervorgeht. — Wenn wir im Bisherigen erkannt haben, dass die 567 Geschichte, als Mittel zur Erkenntniss des Wesens der Menschheit hetrachtet, der Dichtkunst nachsteht; sodann, dass sie nicht im eigenthchen Sinne eine Wissenschaft ist; endhch, dass das Bestreben, sie als ein Ganzes mit Anfanjj, Mittel und Ende, nebst sinn- vollem Zusammenhang, zu konstruiren, ein eitles, auf Missverstand beruhendes ist; so würde es schei- nen, als wollten wir ihr allen Werth absprechen, wenn wir nicht nachwiesen, worin der ihrige besteht. Wirklich aber bleibt ihr, nach dieser Besiegung von der Kunst und Abweisung von der Wissenschaft, ein von beiden verschiedenes, ganz eigenthündiches Ge- biet, auf welchem sie höchst ehrenvoll dasteht. fVas die Vernunft dem Individuo, das ist die Ge- schichte dem menschlichen Geschlechte. Vermöge der Vernunft nämlich ist der Mensch nicht, wie das Thier, auf die enge, anschauliche Gegenwart beschränkt; sondern erkennt auch die ungleich ausgedehntere Vergangenheit, mit der sie verknüpft und aus der sie hervorgegangen ist: hiedurch aber erst hat er ein eigentliches Verständniss der Gegenwart selbst, und kann sogar auf die Zukunft Schlüsse machen. Hin- gegen das Thier, dessen reflexionslose Erkenntniss auf die Anschauung und deshalb auf die Gegenwart beschränkt ist, wandelt, auch wenn gezähmt, unkun- dig, dumpf, einfältig, hülflos und abhängig zwischen den Menschen umher. — Dem nun analog ist ein Volk, das seine eigene Geschichte nicht kennt, auf die Gegenwart der jetzt lebenden Generation beschränkt: daher versteht es sich selbst und seine eigene Gegen- wart nicht; weil es sie nicht auf eine Vergangenheit zu beziehen und aus dieser zu erklären vermag; noch weniger kann es die Zukunft anticipiren. Erst durch die Geschichte wird ein Volk sich seiner selbst voll- ständig bewusst. Demnach ist die Geschichte als das vernünftige Selbstbewusstseyn des menschlichen Ge- schlechts anzusehen, und ist diesem Das, was dem Einzelnen das durch die Vernunft bedingte, besonnene und zusammenhängende Bewusstseyn ist, durch des- sen Ermangelung das Thier in der engen anschau- lichen Gegenwart befangen bleibt. Daher ist jede 568 Lücke in der Geschichte wie eine Lücke im erinnern- den Selbstbewusstseyn eines Menschen ; und vor einem Denkmal des üralterthums, welches seine eigene Kunde überlebt hat, wie z, ß. die Pyramiden, Tempel und Paläste in Yukatan, stehen wir so besinnungslos und einfältig, wie das Thier vor der menschlichen Handlung, in die es dienend verflochten ist, oder wie ein Mensch vor seiner eigenen alten Zifferschrift, de- ren Schlüssel er vergessen hat, ja, wie ein Nacht- wandler, der was er im Schlafe gemacht hat, am Morgen vorfindet. In diesem Sinne also ist die Ge- schichte anzusehen als die Vernunft, oder das beson- nene Bewusstseyn des menschlichen Geschlechts, und vertritt die Stelle eines dem ganzen Geschlechte un- mittelbar gemeinsamen Selbstbewusstseyns, so dass erst vermöge ihrer dasselbe wirklich zu einem Gan- zen, zu einer Menschheit, wird. Dies ist der wahre Werth der Geschichte; und dem gemäss beruht das so allgemeine und überwiegende Interesse an ihr hauptsächlich darauf, dass sie eine persönliche Ange- legenheit des Menschengeschlechts ist. — Was nun für die Vernunft der Individuen, als unumgängliche Bedingung des Gebrauchs derselben, die Sprache ist, das ist für die hier nachgewiesene Vernunft des ganzen Geschlechts die Schrift: denn erst mit dieser fängt ihre wirkliche Existenz an ; wie die der individuellen Vernunft erst mit der Sprache. Die Schrift nämlich dient, das durch den Tod unaufhörlich unterbrochene und demnach zerstückelte Bewusstseyn des Menschen- geschlechts wieder zur Einheit herzustellen; so dass der Gedanke, welcher im Ahnherrn aufgestiegen, vom Urenkel zu Ende gedacht wird: dem Zerfallen des menschlichen Geschlechts und seines Bewusst- seyns in eine Unzahl ephemerer Individuen hilft sie ab, und bietet so der unaufhaltsam eilenden Zeit, an deren Hand die Vergessenheit geht. Trotz. Als ein Versuch, dieses zu leisten, sind, wie die geschriebenen, so auch A\e steinet nen Denkmale zu betrachten, welche zum Theil älter sind, als jene. Denn wer wird glau- ben, dass Diejenigen, welche, mit unermesslichen Kosten, die Menschenkräfte vieler Tausende, viele 569 Jahre hindurch, in Bewegung setzten, um Pyramiden, Monolithen, Felsengräber, Obelisken, Tempel und Paläste aufzuführen, die schon Jahrtausende dastehen, dabei nur sich selbst, die kurze Spanne ihres Lebens, welche nicht ausreichte das Ende des Baues zu sehen, oder auch den ostensibeln Zweck, welchen vorzu- schützen die Rohheit der Menge heischte, im Auge gehabt haben sollten? — Offenbar war ihr wirklicher Zweck, zu den spätesten Nachkommen zu reden, in Beziehung zu diesen zu treten und so das Bewusstseyn der Menschheit zur Einheit herzustellen. Die Bauten der Hindu, Aegypter, selbst Griechen und Römer, waren auf mehrere Jahrtausende berechnet, weil de- ren Gesichtskreis, durch höhere Bildung, ein weiterer war; während die Bauten des Mittelalters und neu- erer Zeit höchstens einige Jahrhunderte vor Augen gehabt haben; welches jedoch auch daran liegt, dass man sich mehr auf die Schrift verliess, nachdem ihr Gebrauch allgemeiner geworden, und noch mehr, seitdem aus ihrem Schooss die Buchdruckerkunst ge- boren worden. Doch sieht man auch den Gebäuden der spätem Zeit den Drang an, zur Nachkommen- schaft zu reden: daher ist es schändlich, wenn man sie zerstört, oder sie verunstaltet, um sie niedrigen, nützlichen Zwecken dienen zu lassen. Die geschrie- benen Denkmale haben weniger von den Elementen, aber mehr von der Barbarei zu fürchten, als die stei- nernen: sie leisten viel mehr. Die Ae{j^pter wollten, indem sie letztere mit Hieroglyphen bedeckten, beide Arten vereinigen; ja, sie fügten Malereien hinzu, auf den Fall, dass die Hieroglyphen nicht mehr verstan- den werden sollten. :)'^o KAPITEL 39*). ZUR METAPHYSIK DER MUSIK. AUS meiner, in der unten angeführten Stelle des ersten Bandes gegebenen und dem Leser hier gegenwärtigen Darlegung der eigentlichen Bedeutung dieser wunderbaren Kunst hatte sich ergeben, dass zwischen ihren Leistungen und der Welt als Vor- stellung, d. i. der Natur, zwar keine Aehnlichkeit, aber ein deutlicher Parallelismus Statt finden müsse, welcher sodann auch nachgewiesen wurde. Einige beachtenswerthe nähere Bestimmungen desselben habe ich noch hinzuzufügen. — Die vier Stimmen aller Harmonie, also Bass, Tenor, Alt und Sopran, oder Grundton, Terz, Quinte und Oktave, entsprechen den vier Abstufungen in der Reihe der Wesen, also dem Mineralreich, Pflanzenreich, Thierreich und dem Menschen. Dies erhält noch eine auffallende Bestä- tigung an der musikalischen Grundregel, dass der Bass in viel weiterem Abstände unter den drei obern Stimmen bleiben soll, als diese zwischen einander haben ; so dass er sich denselben nie mehr, als höch- stens bis auf eine Oktave nähern darf, meistens aber noch weiter darunter bleibt, wonach dann der regel- rechte Dreiklang seine Stelle in der dritten Oktave vom Grundton hat. Dem entsprechend ist die Wirkung der iveiten Harmonie, wo der Bass fern bleibt, viel mächtiger und schöner, als die der engen, wo er nä- her heraufgerückt ist, und die nur wegen des be- schränkten Umfangs der Instrumente eingeführt wird. Diese ganze Regel aber ist keineswegs willkürlich, sondern hat ihre Wurzel in dem natürlichen Ursprung des Tonsvstems; sofern nämlich die nächsten, mittelst der Nebenschwingungen mittönenden, harmonischen Stufen die Oktave und deren Quinte sind. In dieser Regel nun erkennen wir das musikalische Analogen der Grundbeschaffenheit der Natur, vermöge welcher ') Dieses Kapitel bezieht sich auf § Sa des ersten Bandes. [S. 3o8 d. A.] 571 die organischen Wesen unter einander viel näher verwandt sind, als mit der leblosen, unorganischen Masse des Mineralreichs, zwischen welcher und ihnen die entschiedenste Gränze und die weiteste Kluft in der ganzen Natur Statt findet. — Dass die hohe Stimme, welche die Melodie singt, doch zugleich inte- grirender Theil der Harmonie ist und darin selbst mit dem tiefsten Grundbass zusammenhängt, lässt sich betrachten als das Analogon davon, dass die seihe Materie, welche in einem menschlichen Organismus Träger der Idee des Menschen ist, dabei doch zugleich auch die Ideen der Schwere und der chemischen Eigen- schaften, also der niedrigsten Stufen der Objektivation des Willens, darstellen und tragen muss. Weil die Musik nicht, gleich allen andern Künsten, die Ideen, oder Stufen der Objektivation des Willens, sondern unmittelbar den Willen selbst darstellt; so ist hieraus auch erklärlich, dass sie auf den Willen, d. i. die Gefühle, Leidenschaften und x\ffekte des Hörers, unmittelbar einwirkt, so dass sie dieselben schnell er- höht, oder auch umstimmt. So gewiss die Musik, weit entfernt eine blosse Nach- hülfe der Poesie zu seyn, eine selbstständige Kunst, ja die mächtigste unter allen ist und daher ihre Zwecke ganz aus eigenen Mitteln erreicht; so gewiss bedarf sie nicht der Worte des Gesanges, oder der Handlung einer Oper. Die Musik als solche kennt allein die Töne, nicht aber die Ursachen, welche diese hervorbringen. Demnach ist für sie auch die vox humana ursprüng- lich und wesentlich nichts Anderes, als ein modificir- ter Ton, eben wie der eines Instruments, und hat, wie jeder andere, die eigenthümlichen Vortheile und Nachtheile, welche eine Folge des ihn hervor- bringenden Instruments sind. Dass nun, in diesem Fall, eben dieses Instrument anderweitig, als Werk- zeug der Sprache, zur Mitteilung von Begriffen dient, ist ein zufälliger Umstand, den die Musik zwar neben- bei benutzen kann, um eine Verbindung mit der Poe- sieeinzugehen; jedoch nie darf sie ihn zur Hauptsache machen und gänzlich nur auf den Ausdruck der mei- stens, ja (wie Diderot im „Neflfen Rameau's" zu ver- 5^2 stehen giebt) sogar wesentlich faden Verse bedacht seyn. Die Worte sind und bleiben für die Musik eine fremde Zugabe, von untergeordnetem Werthe, da die Wirkung der Töne ungleich mächtiger, unfehlbarer und schneller ist, als die der Worte: diese müssen da- her, wenn sie der Musik einverleibt werden, doch nur eine völlig untergeordnete Stelle einnehmen und sich ganz nach jener fügen. Umgekehrt aber gestaltet sich das Verhältniss in Hinsicht auf die gegebene Poesie, also das Lied, oder den Operntext, welchem eine Mu- sik hinzugefügt wird. Denn alsbald zeigt an diesen die Tonkunst ihre Macht und höhere Befähigung, in- dem sie jetzt über die in den Worten aus{^edrückte Empfindung, oder die in der Oper dargestellte Hand- lung,dietieisten, letzten, geheimsten Autschlüsse giebt, das eigentliche und wahre Wesen derselben ausspricht und uns die inneiste Seele der Vorgänge und Bege- benheiten kennen lehrt, deren blosse Hülle und Leib die Bühne darbietet. Hinsichtlich dieses Lebergevvichts der Musik, wie auch sofern sie zum Text und zur Handlung im Verhältniss des Allgemeinen zum Ein- zelnen, der Regel zum Beispiele steht, möchte es viel- leicht passender scheinen, dass der Text zur Musik gedichtet würde, als dass man die Musik zum Texte komponirt. Inzwischen leiten, bei der üblichen Me- thode, die Worte und Handlungen des Textes den Komponisten auf die ihnen zum Grunde liegenden Affektionen des Willens, und rufen in ihm selbst die auszudrückenden Empfindungen hervor, wirken mit- hin als Anregungsmittel seiner musikalischen Phan- tasie. — Dass übrigens die Zugabe der Dichtung zur Musik uns so willkommen ist, und ein Gesang mit verständlichen Worten uns so innig erfreut, beruht darauf, dass dabei unsere unmittelbarste und unsere mittelbarste Erkenntnissweise zugleich und im Verein angeregt werden: die unmittelbarste nämlich ist die, für welche die Musik die Regungen des Willens selbst ausdrückt, die mittelbarste aber die der durch Worte bezeichneten Begriffe. Bei der S[)rache der Empfin- dungen mag die Vernunft nicbt gern ganz müssig sitzen. Die Musik vermag zwar aus eigenen Mitteln jede Bewegung des Willens, jede Empfindung, aus- zudrücken; aber durch die Zugabe der Worte erhal- ten wir nun überdies auch noch die Gegenstände die- ser, die Motive, welche jene veranlassen. — Die Mu- sik einer Oper, wie die Partitur sie darstellt, hat eine völlig unabhängige, gesonderte, gleichsam abstrakte Existenz für sich, welcher die Hergänge und Perso- nen des Stücks fremd sind, und die ihre eigenen, un- wandelbaren Regeln befolgt; daher sie auch ohne den Text vollkommen wirksam ist. Diese Musik aber, da sie mit Rücksicht auf das Drama komponirt w'urde, ist gleichsam die Seele desselben, indem sie, in ihrer Verbindung mit den Vorgängen, Personen und Wor- ten, zum Ausdruck der innern Bedeutung und der auf dieser beruhenden, letzten und geheimen Notwen- digkeit aller jener Vorgänge wird. Auf einem undeut- lichen Gefühl hievon beruht eigentlich der Genuss des Zuschauers, wenn er kein blosser Gaffer ist. Da- bei jedoch zeigt, in der Oper, die Musik ihre hetero- gene Natur und höhere Wesenheit durch ihre gänz- liche Indifferenz gegen alles Materielle der Vorgänge; in Folge welcher sie den Sturm der Leidenschaften und das Pathos der Empfindungen überall auf gleiche Weise ausdrückt und mit dem selben Pomp ihre Töne begleitet, n\ag Agamen)non und Achill, oder der Zwist einer Bürgerlamilie, das Materielle des Stückes Hefern. Denn für sie sind bloss die Leidenschaften, die Wil- lensbewegungen vorhanden, und sie sieht, wie Gott, nur die Herzen. Sie assimilirt sich nie dem Stoffe: da- her auch wenn sie sogar die lächerlichsten und aus- schweifendesten Possen der komischen Oper beglei- tet, sie doch in ihrer Avesentlichen Schönheit, Reinheit und Erhabenheit bleibt, und ihre Verschmelzung mit jenen Vorgängen nicht vermag, sie von ihrer Höhe, der alles Lächerliche eigentlich fremd ist, herabzu- ziehen. So schwebt über dem Possenspiel und den endlosen Miseren des Menschenlebens die tiefe und ernste Bedeutung unsers Daseyns, und verlässt sol- ches keinen Augenblick. Werfen wir jetzt einen Blick auf die blosse Instru- mentalmusik; so zeigt uns eine Beethoven'sche Sym- phonie die grösste Verwirrung, welcher doch die voll- kommenste Ordnung zum Grunde liegt, den heftig- sten Kampf, der sich im nächsten Augenblick zur schönsten Eintracht gestaltet: es ist rerum concordia discors, ein treues und vollkommenes Abbild des We- sens der Welt, welche dahin rollt, im unübersehbaren Gewirre zahlloser Gestalten und durch stete Zerstörung sich selbst erhält. Zugleich nun aber sprechen aus dieser Symphonie alle menschlichen Leidenschaften und Affekte: die Freude, die Trauer, die Liebe, der Hass, der Schrecken, die Hoffnung u. s. w. in zahllo- sen Nuancen, jedoch alle gleichsam nur in abstracto und ohne alle Besonderung: es ist ihre blosse Form, ohne den Stoff, wie eine blosse Geisterwelt, ohne Ma- terie. Allerdings haben wir den Hang, sie, beim Zu- hören, zu realisieren, sie, in der Phantasie, mit Fleisch und Bein zu bekleiden und allerhand Scenen des Le- bens und der Natur darin zu sehen. Jedoch befördert Dies, im Ganzen genommen, nicht ihr Verständniss, noch ihren Genuss, giebt ihr vielmehr einen fremd- artigen, willkürlichen Zusatz; daher ist es besser, sie in ihrer Unmittelbarkeit und rein aufzufassen. Nachdem ich nun im Bisherigen, wie auch im Texte, die Musik allein von der metaphysischen Sei- te, also hinsichtlich der innern Bedeutung ihrer Lei- stungen betrachtet habe, ist es angemessen, auch die Mittel, durch welche sie, auf unseren Geist wirkend, dieselben zu Stande bringt, einer allgemeinen Betrach- tung zu unterwerfen, mithin die Verbindung jener metaphysischen Seite der Musik mit der genugsam untersuchten und bekannten physischen nachzuwei- sen. — ich gehe von der allgemein bekannten und durch neuereEin würfe keineswegs erschüttertenTheo- rie aus, dass alle Harmonie der Töne auf der Koinci- denz der Vibrationen beruht, welche, wann zwei Tö- ne zugleich erklingen, etwan bei jeder zweiten, oder bei jeder dritten, oder bei jeder vierten Vibration eintrifft, wonach sie dann Oktav, Quint, oder Quart von einander sind u. s. w. So lange nämlich die Vi- brationen zweier Töne ein rationales und in kleinen Zahlen ausdrückbares Verhältniss zu einander haben, lassen sie sicli durch ilire oft wiederkehrende Koinci- denz in unserer Apprehension zusammenfassen: die Töne verschmelzen miteinander und stehen dadurch im Einklang. Ist hingegen jenes Verhältniss ein ir- rationales, oder ein nur in grössern Zahlen ausdrück- bares; so tritt keine fassliche Koincidenz der Vibra- tionen ein, sondern obstrepunt sibi perpetuo, wodurch sie der Zusammenfassung in unserer x\ppreheusion "widerstreben und demnach eine Dissonanz heissen. Dieser Theorie nun zufolge ist die Musik ein Mittel, rationale und irrationale Zahlenverhältnisse, nicht etwan, wie die Arithmetik, durch Hülfe des Begriffs fasslich zu machen, sondern dieselben zu einer ganz unmittelbaren und simultanen sinnlichen Erkennt- niss zu bringen. Die Verbindung der metaphysischen Bedeutung der Musik mit dieser ihrer physischen und arithmetischen Grundlage beruht nun darauf, dass das unserer ^y^pr/ien^JOMWiderstrebende, dass Irratio- nale, oder die Dissonanz, zum natürlichen Bilde des unserm Willen Widerstrebenden wird; und umge- kehrt wird die Konsonanz, oder das llationale, indem sie unserer Auffassung sich leicht fügt, zum Bilde der Befriedigung des Willens. Da nun ferner jenes Ratio- nale und Irrationale in den Zahlenverhältnissen der Vibrationen unzählige Grade, Nuancen, Folgen und Abwechselungen zulässt; so wird, mittelst seiner, die Musik der Stoff, in welchem alle Bewegungen des menschlichen Herzens, d. i. des Willens, deren We- sentliches immer auf Befriedigung und Unzufrieden- heit, wiewohl in unzähligen Graden, hinausläuft, sich in allen ihren feinsten Schattirungen und Modifika- tionen getreu abbilden und wiedergeben lassen, wel- ches mittelst Erfindung der Melodie geschieht. Wir sehen also hier die Willensbewegungen auf das Ge- biet der blossen Vorstellung hinübergespielt, als wel- che der ausschliessliche Schauplatz der Leistungen aller schönen Künste ist; da diese durchaus verlan- gen, dass der fVille selbst aus dem Spiel bleibe und wir durchweg uns als rein Erkennende verhaken. Da- her dürfen die Affektionen des Willens seihst, also wirklicher Schmerz und wirkliches Behagen, nicht 376 erre^^t werden, sondern nur ihre Substitute, das denn Intellekt An^jemessene, als Bild der Befriedigunfj des Willens, und das jenem mehr oder weniger Wider- strebende, alsßi/rf des grössern oder geringern Schmer- zes. Nur so verursacht die Musik uns nie wirkliches Leiden, sondern bleibt auch in ihren schmerzlichsten Ackorden noch erfreulich, und wir vernehmen gern in ihrer Sprache die geheime Geschichte unsers Wil- lens und aller seiner Regungen und Strebungen, mit ihren mannigfaltigen Verzögerungen, Hemmnissen und Quaalen, selbst noch in den wehmüthigsten Me- lodien. Wo hingegen, in der Wirklichkeit und ihren Schrecken, unser fVille selbst das so Erregte und Ge- quälte ist; da haben wir es nicht mit Tönen und ihren Zahlenverhältnissen zu thun, sondern sind viel- mehr jetzt selbst die gespannte, gekniffene und zit- ternde Saite. Well nun ferner, in Folge der zum Grunde geleg- ten physikalischen Theorie, das eigentlich Musika- lische der Töne in der Proportion der Schnelligkeit ihrer Vibrationen, nicht aber in ihrer relativen Stärke liegt; so folgt das musikalische Gehör, bei der Har- monie, stets vorzugsweise dem höchsten Ton, nicht dem stärksten : daher sticht, auch bei der stärksten Orchesterbegleitung, der Sopran hervor und erhält dadurch ein natürliches Recht auf den Vortrapf der Melodie, welches zugleich unterstützt wird durch seine, auf der selben Schnelligkeit der Vibrationen beruhende, grosse Beweglichkeit, wie sie sich in den figurirten Sätzen zeigt, und wodurch der Sopran der geeignete Repräsentant der erhöhten, für den leisesten Eindruck empfänglichen und durch ihn bestimmba- ren Sensibilität, folglich des auf der obersten Stufe der Wesenleiter stehenden, aufs höchste gesteigerten Bewusstseyns wird. Seinen Gegensatz bildet, aus den umgekehrten Ursachen, der seh wer bewegliche, nur in grossen Stufen, Terzen, Quarten und Quinten, stei- gende und fallende und dabei in jedem seiner Schritte durch feste Regeln geleitete Bass, welcher daher der natürliche Repräsentant des gefühllosen, für seine Eindrücke unempfänglichen und nur nach allgemei- 37 Schopenhauer II ^77 neu Gesetzen bestimmbaren, unorjjanischen Natur- reiches ist. Er darf sogar nie imi einen Ton, z. B. von Quart aut (^uint steigen; da dies in den obern Stim- men die fehlerhafte (Quinten- und Oktaven-Folge her- beiftihrt: daher kann er, ursprünglich und in seiner eigenen Natur, nie die Melodie vortragen. Wird sie ihm dennoch zugetheilt; so geschieht es mittels des Kontrapunkts, d. h. er ist ein versetzter Bass, nämlich eine der obern Stimmen ist herabgesetzt und als Bass verkleidet: eigentlich bedarf er dann noch eines zwei- ten Grundbasses zu seiner Begleitung. Diese Wider- natürlichkeit einer im Basse liegenden Melodie lührt herbei, dass Bassarien, mit voller Begleitung, uns nie den reinen, ungetrübten Genuss gewahren, wie die Sopranarie, als welche, im Zusammenhang der Har- monie, allein naturgemäss ist. Beiläufig gesagt, könnte ein solcher melodischer, durch Versetzung erzwun- gener Bass, im Sinn unserer Metaphvsik der Musik, einem Marmorblocke verglichen werden, dem man die menschliche Gestalt aufgezwungen hat: dem stei- nernen Gast im ,,Don Juan" ist er eben dadurch wundervoll angemessen. Jetzt aber wollen wir noch der Genesis der Melodie etwas näher auf den Grund gehen, welches durch Zerlegung derselben in ihre Bestandtheile zu bewerk- stelligen ist und uns jedenfalls das Vergnügen ge- währen wird, welches dadurch entsteht, dass man sich Dinge, die in concreto Jedem bewusst sind, ein Mal auch zum abstrakten und deutlichen Bewusst- seyn bringt, wodurch sie den Schein der Neuheit ge- winnen. Die Melodie besteht aus zwei Elementen, einem rhythmischen und einem harmonischen : jenes kann man auch als das quantitative, dieses als das qualita- tive bezeichnen, da das erstere die Dauer, das letztere die Höhe und Tiefe der Töne betrifft. In der Noten- schrift hängt das erstere den senkrechten, das letztere den horizontalen Linien an. Beiden liegen rein arith- metische Verhältnisse, also die der Zeit, zum Grun- de : dem einen die relative Dauer der Töne, dem an- dern die relative Schnelligkeit ihrer Vibrationen. Das 578 rhythmische Element ist das wesentlichste; da es, für sich allein und ohne das andere eine Art Melodie darzustellen vermag, wie z. B. auf der Trommel ge- schieht: die vollkommene Melodie verlangt jedoch beide. Sie besteht nämlich in einer abwechselnden Entziveiung und Versöhnung derselben; wie ich so- gleich zeigen werde, aber zuvor, da von dem harmo- nischen Elemente schon im Bisherigen die Rede ge- wesen, das rhythmische etwas näher betrachten will. Der Rhythmus ist in der Zeit was im Räume die Symmetrie ist, nämlich Theilung in gleiche und ein- ander entsprechende Theile, und zwar zunächst in grössere, welche wieder in kleinere, jenen unterge- ordnete, zerfallen. In der von mir aufgestellten Reihe der Künste bilden Architektur und Musik die bei- den äussersten Enden. Auch sind sie, ihrem innern Wesen, ihrer Kraft, dem Umfang ihrer Sphäre und ihrer Bedeutung nach, die heterogensten, ja, wahre Antipoden : sogar auf die Form ihrer Erscheinung er- streckt sich dieser Gegensatz, indem die Architek- tur allein im Raum ist, ohne irgend eine Bezie- hung auf die Zeit, die Musik allein in der Zeit, ohne irgend eine Beziehung auf den Raum*). Hier- aus nun entspringt ihre einzige Analogie, dass nämlich, wie in der Architektur die Symmetrie das Ordnende und Zusammenhaltende ist, so in der Mu- sik der Rhythmus, wodurch auch hier sich bewährt, dass les extremes se touchent. Wie die letzten Be- standtheile eines Gebäudes die ganz gleichen Steine, so sind die eines Tonstückes die ganz gleichen Takte: diese werden jedoch noch durch Auf- und Nieder- schlag, oder überhaupt durch den Zahlenbruch, wel- cher die Taktart bezeichnet, in gleiche Theile ge- *) Es wäre ein falscher Einwurf, dass auch Skulptur und Ma- lerei bloss im Raum seien : denn ihre Werke hängen zwar nicht unmittelbar, aber doch mittelbar mit der Zeit zusam- men, indem sie Leben, Bewegung, Handlung darstellen. Eben so falsch wäre es zu sagen, dass auch die Poesie, als Rede, allein der Zeit angehöre: dies gilt, eben so, nur unmittelbar von den Worten : ihr Stoff ist alles Daseiende, also das Räum- liche. 37* 579 theilt, die man allenfalls den Dimensionen des Steines vergleichen mag. Aus mehreren Takten besteht die musikalische Periode, welche ebenfalls zwei gleiche Hälften hat, eine steigende, anstrebende, meistens zur Dominante gehende und eine sinkende, beruhigende, den Grundton wiederfindende. Zwei, auch wohl meh- rere Perioden machen einen Theil aus, der meistens durch das Wiederholungszeichen gleichfalls symme- trisch verdoppelt wird: aus zwei Theilen wird ein kleineres Musikstück, oder aber nur ein Satz eines grössern; wie denn ein Koncert oder Sonate aus dreien, eine Symphonie aus vier, eine Messe aus fünf Sätzen zu bestehen pflegt. Wir sehen also das Ton- stück, durch die symmetrische Eintheilung und aber- malige Theilung bis zu den Takten und deren Brü- chen herab, bei durchgängiger Unter-, Ueber- und Nebenordnung seiner Glieder, gerade so zu einem Ganzen verbunden und abgeschlossen werden, wie das Bauwerk durch seine Symmetrie: nur dass bei diesem ausschliesslich im Räume ist, was bei je- nem ausschliesslich in der Zeit. Das blosse Gefühl dieser Analogie hat das in den letzten 3o Jahren oft wiederholte kecke Witzwort hervorgerufen, dass Ar- chitektur gefrorene Musik sei. Der Ursprung desselben ist auf Goethe zurückzuführen, da er, nach Ecker- manns Gesprächen, Bd. II, S. 88 gesagt hat: ,,Ich habe unter meinen Papieren ein Blatt gefunden, wo ich die Baukunst eine erstarrte Musik nenne: und wirklich hat es etwas: die Stimmung, die von der Baukunst ausgeht, kommt dem Effekt der Musik nahe." Wahrscheinlich hat er viel früher jenes Witz- wort in der Konversation fallen lassen, wo es denn bekanntlich nie an Leuten gefehlt hat, die was er so fallen Hess auflasen, um nachher damit geschmückt einher zu gehen. Was übrigens Goethe auch gesagt haben mag, so erstreckt die hier von mir auf ihren alleinigen Grund, nämlich auf die Analogie des Rhyth- mus mit der Symmetrie, zurückgeführte Analogie der Musik mit der Baukunst sich demgemäss allein auf die äussere Form, keineswegs aber auf das innere Wesen beider Künste, als welches himmelweit ver- 58o schieden ist: es wäre sogar lächerlich, die beschränk- teste und schwächste aller Künste mit der ausgedehn- testen und wirksamsten im Wesentlichen gleichstel- len zu wollen. Als Amplifikation der nach gewiesenen Analogie könnte man noch hinzusetzen, dass, wann die Musik, gleichsam in einem Anfall von Unabhängig- keitsdrang, die Gelegenheit einer F'ermate ergreift, um sich, vom Zwang des Rhythmus losgerissen, in der freien Phantasie einer figurirten Kadenz zu erge- hen, ein solches vorn Rhythmus entblösstes Tonstück der von der Symmetrie entblössten Ruine analog sei, welche man demnach, in der kühnen Sprache jenes Witzwortes, eine gefrorene Kadenz nennen mag. Nach dieser Erörterung des Rhythmus habe ich jetzt darzuthun, wie in der stets erneuerten Entzwei- ung und Versöhnung des rhythmischen Elements der Melodie mit dem harmonischen das Wesen derselben besteht. Ihr harmonisches Element nämlich hat den Grundton zur Voraussetzung, wie das rhythmische die Taktart, und besteht in einem Abirren von dem- selben, durch alle Töne der Skala, bis es, auf kürze- rem oder längerem Umwege, eine harmonische Stufe, meistens die Dominante oder Unterdominante, er- reicht, die ihm eine unvollkommene Beruhigung ge- währt : dann aber folgt, auf gleich langem Wege, seine Rückkehr zum Grundton, mit welchem die voll- kommene Beruhigung eintritt. Beides muss nun aber so geschehen, dass das Erreichen der besagten Stufe, wie auch das Wiederfinden des Grundtons, mit ge- wissen bevorzugten Zeitpunkten des Rhythmus zu- sammentreffe, da es sonst nicht wirkt. Also, wie die har- monischeTonfolge gewisse? wie verlangt, vorzüglichdie Tonika, nächst ihr die Dominante u. s. w.; so fordert seinerseits der Rhythmus gewisse Zeitpunkte, gewisse abgezählte Takte und gewisse Theile dieser Takte, welche man die schweren, oder guten Zeiten, oder die accentuii'ten Takttheile nennt, im Gegensatz der leich- ten, oder schlechten Zeiten, oder unaccentuirten Takt- theile. Nun besteht die Entziveiung jener beiden Grund- elemente darin, dass indem die Forderung des einen befriedigt wird, die des andern es nicht ist, die Ver- 58i söhnunjj aber darin, dass beide zu^^fleich und auf ein Mal befriedi{jt werden. Nämlich jenes Herumirren der Tonfolge, bis zum Erreichen einer mehr oder minder harmonischen Stufe, muss diese erst nach einer bestimmten Anzahl Takte, sodann aber auf einem {juten Zeittheil des Taktes antreffen, wodurch dieselbe zu einem gewissen Ruhepunkte für sie wird ; und ebenso muss die Rückkehr zur Tonika diese nach einer gleichen Anzahl Takte und ebenfalls auf einem guten Zeittheil wiederfinden, wodurch dann die völ- lige Befriedigimg eintritt. So lange dieses geforderte Zusammentreffen der Befriedigungen beider Elemente nicht erreicht wird, mag einerseits der Rhythmus sei- nen regelrechten Gang gehen, und andererseits die geforderten Noten oft genvig vorkommen ; sie werden dennoch ganz ohne jene Wirkung bleiben,durch wel- che die Melodie entsteht: dies zu erläutern diene das folgende höchst einfache Beispiel: ^^ Hier trifft die harmonische Tonfolge gleich am Schluss des ersten Takts auf die Tonika: allein sie er- hält dadurch keine Befriedigiing; weil der Rhythmus im schlechtesten Takttheile begriffen ist. Gleich dar- auf, im zweiten Takt, hat der Rhythnms das gute Takttheil; aber die Tonfolge ist auf die Septime ge- kommen. Hier sind also die beiden Elemente der Melodie ganz entzweit., und wir fühlen uns beunruhigt. In der zweiten Hälfte der Periode trifft Alles umge- kehrt, und sie werden, in» letzten Ton, versölmt. Die- ser Vorgang ist in jeder Melodie, wiewohl meistens in viel grösserer Ausdehnung, nachzuweisen. Die da- bei nun Statt findende beständige Entzweiung und Versöhnung ihrer beiden Elemente ist, metaphysisch betrachtet, das Abbild der Entstehung neuer Wün- sche und sodann ihrer Befriedigung. Eben dadurch schmeichelt die Musik sich so in unser Herz, dass sie 582 ihm stets die vollkommene Befriedigung seiner Wünsche vorspiegelt. Näher betrachtet, sehen wir in diesem Hergang der Melodie eine gewissermassen innere Be- dingung (die harmonische) mit einer äussern (der rhythmischen) wie durch einen Zwya// zusammentref- fen, — welchen freilich der Komponist herbeiführt und der insofern dem Reim in der Poesie zu verglei- chen ist: dies aber eben ist das Abbild des Zusam- mentreffens unserer Wünsche mit den von ihnen un- abhängigen, günstigen, äusseren umständen, also das Bild des Glücks. — - Noch verdient hiebei die Wir- kung des Vorhalts beachtet zu werden. Er ist eine Dissonanz, welche die mit Gewissheit erwartete, finale Konsonanz verzögert; wodurch das Verlangen nach ihr verstärkt wird und ihr Eintritt desto mehr befrie- digt : offenbar ein Analogon der durch Verzögerung erhöhten Befriedigung des Willens. Die vollkommene Kadenz erfordert den vorhergehenden Septimenackord auf der Dominante; weil nur auf das dringendeste Verlangen die am tiefsten gefühlte Befriedigung und gänzliche Beruhigung folgen kann. Durchgängig also besteht die Musik in einem steten Wechsel von mehr oder minder beunruhigenden, d. i. Verlangen erre- genden Ackorden, mit mehr oder minder beruhigen- den und befriedigenden; eben wie das Leben des Herzens (der Wille) ein steter Wechsel von grösserer oder geringerer Beunruhigung, durch Wunsch oder Furcht, mit eben so verschieden gemessener Beruhi- gung ist. Demgemäss besteht die harmonische Fort- schreitung in der kunstgerechten Abwechselung der Dissonanz und Konsonanz. Eine Folge bloss konso- nanter Ackorde würde übersättigend, ermüdend und leer seyn, wie der languor, den die Befriedigung aller Wünsche herbeiführt. Daher müssen Dissonanzen, obwohl sie beunruhigend und fast peinlich wirken, eingeführt werden, aber nur um, mit gehöriger Vor- bereitung, wieder in Konsonanzen aufgelöst zu wer- den. Ja, es giebt eigentlich in der ganzen Musik nur zwei Grundackorde: den dissonanten Septimenackord und den harmonischen Dreiklang, als auf welche alle vorkommenden Ackorde zurückzuführen sind. Dies 583 ist eben Dem entsprechend, dass es für den Willen im Grunde nur Unzufriedenheit und Befriedigung giebt, unter wie vielerlei Gestalten sie auch sich darstellen mögen. Und wie es zwei allgemeine Grundstimmun- gen des (yemüths giebt, Heiterkeit oder wenigstens Rüstigkeit, und ßetrübniss oder doch Beklenunung; so hat die Musik zwei allgemeine Tonarten Dur und Moll, welche jenen entsprechen, und sie muss stets sich in einer von beiden befinden. Es ist aber in der That höchst wunderbar, dass es ein weder physisch schmerzliches, noch auch konventionelles, dennoch sogleich ansprechendes und unverkennbares Zeichen des Schmerzes giebt; das Moll. Daran lässt sich er- messen, wie tief die Musik im Wesen der Dinge und des Menschen gegründet ist. — Bei nordischen Völ- kern, deren Leben schweren Bediogungen unterliegt, namentlich bei den Russen, herrscht das Moll vor, sogar in der Kirchenmusik. — Allegro in Moll ist in der Französischen Musik sehr häufig und charakteri- sirt sie: es ist, wie wenn Einer tanzt, während ihn der Schuh drückt. Ich füge noch ein Paar Nebenbetrachtungen hin- zu. — Unter dem Wechsel der Tonika, und mit ihr des Werthes aller Stufen, in Folge dessen der selbe Ton als Sekunde, Terz, Quart u. s. w. figurirt, sind die Töne der Skala den Schauspielern analog, welche bald diese, bald jene Rolle übernehmen müssen, wäh- rend ihre Person die selbe bleibt. Dass diese jener oft nicht genau angemessen ist, kann man der (am Schluss des §. 52 des ersten Bandes erwähnten) un- vermeidlichen Unreinheit jedes harmonischen vSystems vergleichen, welche die gleichschwebende Tempe- ratur heibeigeführt hat. — Vielleicht könnte Einer und der Andere daran An- stoss nehmen, dass die Musik, welche ja oft so geist- erhebend auf uns wirkt, dass uns dünkt, sie rede von anderen und besseren Welten, als die unsere ist, nach gegenwärtiger Metaphysik derselben, doch eigentlich nur dem Willen zum Leben schmeichelt, indem sie sein Wesen darstellt, sein Gelingen ihm vormalt und am Schluss seine Befriedigung und Genügen aus- 584 drückt. Solche Bedenken zu beruhigen mag folgende Veda-Stelle dienen : Etanand sroup, quod forma gaudii est Tov pra7Ji Jtma ex hoc dicunt, quod quocunque loco gaudium est,particula e gaudio ejus est. (Oupnek- hat, Vol. I, p. 4o5, et iterum Vol. II, p. 21 5.) 585 ERGÄNZUNGEN ZUM VIERTEN BUCH Tous les hommes desirenl uniquement de se delivrer de la mort: ils ne savent pas se delivrer de la vie. Lao-tseu-Tao-te-king ^ ed Stan. Julien, p. 18 4« ZUM VIERTEN BUCH. vvivvvu%\\vvvvivi\vvvvivvvu\v\'vvvvvvvvia\A^vvvvvv\vvvvvvvvvvvvvvv\vi\vvvva\vvvvvu^^ KAPITEL 4o. VORWORT. DIE Ergänzungen zu diesem vierten Buche wür- den sehr beträchtlich ausfallen, wenn nicht zwei ihrer vorzüglich bedürftige Hauptgegenstände, näm- lich die Freiheit des Willens und das Fundament der Moral, auf Anlass der Preisfragen zweier Skandina- vischer Akademien, ausführliche, monographische Be- arbeitungen von mir erhallen hätten, welche unter dem Titel „Die beiden Grundprobleme der Ethik" im Jahre 184 1 dem Publiko vorgelegt sind. Demzufolge aber setze ich die Bekanntschaft mit der eben genann- ten Schrift bei meinen Lesern eben so unbedingt vor- aus, wie ich bei den Ergänzungen zum zweiten Buche die mit der Schrift „üeber den Willen in der Natur" vorausgesetzt habe. Ueberhaupt mache ich die An- forderung, dass wer sich mit meiner Philosophie be- kannt machen will, jede Zeile von mir lese. Denn ich bin kein Vielschreiber, kein Kompendienfabrikant, kein Honorarverdiener, Keiner, der mit seinen Schrif- ten nach dem Beifall eines Ministers zielt, mit Einem Worte, Keiner, dessen Feder unter dem Einfluss per- sönlicher Zwecke steht: ich strebe nichts an, als die Wahrheit, und schreibe, wie die Alten schrieben, in der alleinigen Absicht, meine Gedanken der Aufbe- wahrung zu übergeben, damit sie einst Denen zu Gute 591 kommen, die ihnen nachzudenken und sie zu schätzen verstehen. Eben daher habe ich nur Weniges, dieses aber mit Bedacht und in tveiten Zwischenräumen ge- schrieben, auch demgemäss die, in philosophischen Schriften, wegen des Zusammenhanges, bisweilen un- vermeidlichen Wiederholungen, von denen kein ein- ziger Philosoph frei ist, avif das möglich geringste Maass beschränkt, so dass das Allermeiste nur an Einer Steile zu finden ist. Deshalb also darf, wer von mir lernen und mich verstehen will, nichts, das ich ge- schrieben habe, ungelesen lassen. Beurtheilen jedoch und kritisiren kann man mich ohne Dieses, wie die Erfahrung gezeigt hat; wozu ich denn auch ferner viel Vergnügen wünsche. Inzwischen w ird der, durch die besagte Elimination zweier Hauptgegenstände, in diesem vierten Ergän- zungsbuche, erübrigte Raum uns willkommen seyn. Denn da diejenigen Aufschlüsse, welche dem Men- schen vor Allem am Herzen liegen und daher in jedem System, als letzte Ergebnisse, den Gipfel seiner Pyra- mide bilden, sich auch in ineinem letzten Buche zu- sammendrängen; so wird man jeder festeren Begrün- dung, oder genaueren Ausführung derselben gern einen weiteren Raum gönnen, üeberdies hat hier nun noch, als zur Lehre von der „Bejahung des Willens zum Leben" gehörend, eine Erörterung zur Sprache gebracht werden können, welche in unserm vierten Buche selbst unberührt geblieben ist, wie sie denn auch von allen mir vorhergegangenen Philosophen gänzlich vernachlässigt worden: es ist die innere Be- deutung und das Wesen an sich der mitunter bis zur heftigsten Leidenschaft anwachsenden Geschlechts- liebe; ein Gegenstand, dessen Aufnahme in den ethi- schen Theil der Philosophie nicht paradox seyn wür- de, wenn man dessen Wichtigkeit erkannt hätte. — 592 KAPITEL 4i *). UEBER DEN TOD UND SEIN VERHAELTNISS ZUR UNZERSTOERBARKEIT UNSERS WESENS AN SICH. DER Tod ist der eigentliche inspirirende Genius oder der Musaget der Philosophie, weshalb So- krates diese auch {^avatou [jlsXstt] deHnirt hat. Schwer- lich sogar würde, auch ohne den Tod, philosophirt werden. Daher wird es ganz in der Ordnung seyn, dass eine specielle Betrachtung desselben hier an der Spitze des letzten, ernstesten und wichtigsten unserer Bücher ihre Stelle erhalte. Das Thier lebt ohne eigentliche Kenntniss des To- des: daher geniesst das thierische Individuum unmit- telbar die ganze Unvergänglichkeit der Gattung, in- dem es sich seiner nur als endlos bewusst ist. Beim Menschen fand sich, mit der Vernunft, nothvvendig die erschreckende (iewissheit des Todes ein. Wie aber durchgängig in der Natur jedem Uebel ein Heilmittel, oder wenigstens ein Ersatz beigegeben ist; so verhilft die selbe Reflexion, welche die Erkerintniss des Todes herbeiführte, auch zu metaphysischen Ansichten, die darüber trösten, und deren das Thier weder bedürftig noch fähig ist. Hauptsächlich auf diesen Zweck sind alle Religionen und philosophischen Systeme gerich- tet, sind also zunächst das von der reflektirenden Ver- nunft aus eigenen Mitteln hervorgebrachte Gegengift der Gevvissheit des Todes. Der Grad jedoch, in wel- chem sie diesen Zweck erreichen, ist sehr verschieden, und allerdinjfs wird eine Religion oder Philosophie viel mehr, als die andere, den Menschen befähigen, ruhigen Blickes dem Tod ins Angesicht zu sehen. Brahmanisnuis und Buddhaismus, die den Menschen lehren, sich als das Urwesen selbst, das Brahm, zu be- trachten, welchem alles Entstehen und Vergehen we- *) Dieses Kapitel bezieht sich auf §. 54 des ersten Bandes. [S. 329 d. A.] 38 Schopenhauer II ^9" sentlicli fremd ist, werden darin viel mehr leisten, als solche, welche ihn aus nichts gemacht seyn und seine, von einem Andern empfangene Existenz wirk- lich mit der Gehurt anfangen lassen. Dem entspre- chend finden wir in Indien eine Zuversicht und eine Verachtung des Todes, von der man in Europa kei- nen Begriff' hat. Es ist in der That eine bedenkliche Sache, dem Menschen in dieser wichtigen Hinsicht schwache und unhaltbare Begriffe durch frühes Ein- prägen aufzuwingen, und ihn dadurch zur Aufnahme der richtigeren und standhaltenden auf immer un- fähig zu machen. Z. B. ihn lehren, dass er erst kürz- lich aus Nichts geworden, folglich eine Ewigkeit hin- durch Nichts gewesen sei und dennoch für die Zukunft unvergänglich seyn solle, ist gerade so, wie ihn leh- ren, dass er, obwohl durch und durch das Werk eines Andern, dennoch für sein Thun und Lassen in alle Ewigkeit verantwortlich seyn solle. Wenn nämlich dann, bei gereiftem Geiste und eingetretenem Nach- denken, das Unhaltbare solcher Lehren sich ihm auf- dringt; so hat er nichts Besseres an ihre Stelle zu setzen, ja, ist nicht mehr fähig es zu verstehen, und geht dadurch des Trostes verlustig, den auch ihm die Natur, zum Ersatz für die Gewissheit des Todes, be- stimmt hatte. In Folge solcher Entwickelung sehen wir eben jetzt in England, unter verdorbenen Fabrik- arbeitern, die Socialisten, und in Deutschland, unter verdorbenen Studenten, die Junghegelianer zur abso- lut physischen Ansicht herabsinken, welche zu dem Resultate führt: edite, bibite, post mortem nulla vo- luptas, und insofern als Besiialismus bezeichnet wer- den kann. Nach Allem inzwischen, was über den Tod gelehrt worden, ist nicht zu leugnen, dass, wenigstens in Europa, die Meinung der Menschen, ja oft sogar des selben Individuums, gar häufig von Neuem hin und her schwankt zwischen der Auffassung des Todes als absoluter Vernichtung und der Annahme, dass wir gleichsam mit Haut und Haar unsterblich seien. Bei- des ist gleich falsch: allein wir haben nicht sowohl eine richtige Mitte zu treflen, als vielmehr den höhe- 594 ren Gesichtspunkt zu gewinnen, von welchem aus sol- che Ansichten von selbst wegfallen. Ich will, bei diesen Betrachtungen, zuvörderst vom ganz empirischen Standpunkt ausgehen. — Da liegt uns zunächst die unleugbare Thatsache vor, dass, dem natürlichen Bewusstseyn gemäss, der Mensch nicht bloss für seine Person den Tod mehr als alles Andere fürchtet, sondern auch über den der Seinigen heftig weint, und zwar offenbar nicht egoistisch über seinen eigenen Verlust, sondern aus Mitleid, über das grosse Unglück, das Jene betroffen; daher er auch Den, welcher in solchem Falle nicht weint und keine Be- trübniss zeigt, als hartherzig und lieblos tadelt. Die- sem geht parallel, dass die Rachsucht, in ihren höch- sten Graden, den Tod des Gegners sucht, als das grösste Üebel, das sich verhängen lässt. — Meinun- gen wechseln nach Zeit und Ort: aber die Stimme der Natur bleibt sich stets und überall gleich, ist da- her vor Allem zu beachten. Sie scheint nun hier deut- lich auszusagen, dass der Tod ein grosses Uebel sei. In der Sprache der Natur bedeutet Tod Vernichtung. Und dass es mit dem Tode Ernst sei, liesse sich schon daraus abnehmen, dass es mit dem Leben, wie Je- der weiss, kein Spaass ist. Wir müssen wohl nichts Besseres, als diese Beiden, werth seyn. In derThat ist die Todesfurcht von aller Erkennt- niss unabhängig: denn das Thier hat sie, obwohl es den Tod nicht kennt. Alles, was geboren wird, bringt sie schon mit auf die Welt. Diese Todesfurcht a priori ist aber eben nur die Kehrseite des Willens zum Leben, welcher wir Alle ja sind. Daher ist jedem Thiere, wie die Sorge für seine Erhaltung, so die Furcht vor sei- ner Zerstörung angeboren: diese also, und nicht das blosse Vermeiden des Schmerzes ist es, was sich in der ängstlichen Behutsamkeit zeigt, mit der das Thier sich und noch mehr seine Brut vor Jedem, der ge- fährlich werden könnte, sicher zu stellen sucht. War- um flieht das Thier, zittert und sucht sich zu verber- gen? Weil es lauter Wille zum Leben, als solcher aber dem Tode verfallen ist und Zeit gewinnen möch- te. Eben so ist, von Natur, der Mensch. Das grösste 38' Sgf) der Uebel, das Schlimmste was überall {gedroht wer- den kann, ist der Tod, die grösste An{;st Todesangst. Nichts reisst uns so unwiderstehlich zur lebhaftesten Theilnahme hin, wie fremde Lebens{jefahr: nichts ist entsetzlicher, als eine Hinrichtim{j. Die hierin her- vortretende gränzenlose Anhänglichkeit an das Leben kann nun aber nicht aus der Erkenntniss und Ueber- legung entsprungen seyn : vor dieser erscheint sie viel- mehr thöricht; da es um den objektiven Werth des Lebens sehr misslich steht, und wenigstens zweifel- haft bleibt, ob dasselbe dem Nichtseyn vorzuziehen sei, ja, wenn Erfahrung und Ueberlegung zum Worte kommen, das Nichtseyn wohl gewinnen muss. Klopfte man an die Gräber und fragte dieTodten,ob sie wie- der aufstehen wollten; sie würden mit den Köpfen schütteln. Dahin geht auch des Sok7^ates Meinung, in Plato's Apologie, und selbst der heitere und liebens- würdige P^oltaii'e ]aar\n nicht undiin zu sagen: on aime la vie; mais le neant ne laisse pas d'avoir du hon: imd wieder: je ne sais pas ce que c'est que la vie eternelle, mais celle-ci est une mauvaise plaisanterie. Ueberdies muss ja das Leben jedenfalls bald enden; so dass die wenigen Jahre, die man vielleicht noch dazuseyn hat, gänzlich verschwinden vor der endlo- sen Zeit, da man nicht mehr sevn wird. Demnach er- scheint es, vor der Reflexion, sogar lächerlich, um diese Spanne Zeit so sehr besorgt zu seyn, so sehr zu zittern, wenn eigenes oder fremdes Leben in Gefahr geräth, und Trauerspiele zu dichten, deren Schreck- liches seinen Nerven bloss in der Todesfurcht hat. Jene mächtige Anhänglichkeit an das Leben ist mit- hin eine unvernünftige imd blinde: sie ist nur daraus erklärlich, dass unser ganzes Wesen an sich selbst schon Wille zum Leben ist, dem dieses daher als das höchste Gut gelten muss, so verbittert, kurz und un- gewiss es auch immer seyn mag; und dass jener Wille, an sich und ursprünglich, erkenntnisslos und blind ist. Die Erkenntniss hingegen, weit entfernt der Ur- sprung jener Anhänglichkeit an das Leben zu seyn, wirkt ihr sogar entgegen, indem sie die Werthlosig- keit desselben aufdeckt und hiedurch die Todesfurcht 596 bekämpft. — Wann sie nun siegt und demnach der Mensch dem Tode muthig und gelassen entgegen- gehl; so wird dies als gross und edel geehrt: wir fei- ern also dann den Triumph der Erkenntniss über den blinden Willen zum Leben, der doch der Kern unsers eigenen Wesens ist. Imgleichen verachten wir Den, in welchem die Erkenntniss in jenem Kampfe unter- liegt, der daher dem Leben unbedingt anhängt, ge- gen den herannahenden Tod sich aufs Aeusserste sträubt und ihn verzweifelnd empfängt:*) und doch spricht sich in ihm nur das ursprüngliche Wesen unsers Selbst und der Natur aus. Wie könnte, lässt sich hier beiläufig fragen, die gränzenlose Liebe zum Leben und das Bestreben, es auf alle Weise, so lange als möglich, zu erhalten, niedrig, verächtlich, des- gleichen von den Anhängern jeder Religion als dieser unwürdig betrachtet werden, wenn dasselbe das mit Dank zu erkennende Geschenk gütiger Götter wäre? Und wie könnte sodann die Geringschätzung dessel- ben gross und edel erscheinen? — Uns bestätigt sich inzwischen durch diese Betrachtungen: i) dass der Wille zum Leben das innerste Wesen des Menschen ist; 2) dass er an sich erkenntnisslos, blind ist; 3) dass die Erkenntniss ein ihm ursprünglich fremdes, hin- zugekommenes Princip ist; 4) dass sie mit ihm streitet und unser Urtheil dem Siege der Erkenntniss über den Willen Beifall giebt. Wenn was uns den Tod so schrecklich erscheinen lässt der Gedanke des Nichtseyns wäre; so müssten wir mit gleichem Schauder der Zeit gedenken, da wir noch nicht waren. Denn es ist unumstösslich gewiss, dass das Nichtseyn nach dem Tode nicht verschieden seyn kann von dem vor der Geburt, folglich auch nicht beklagenswerther. Eine ganze Unendlichkeit ist abgelaufen, als wir noch nicht waren : aber das betrübt uns keineswegs. Hingegen, dass nach dem momenta- nen hitermezzo eines ephemeren Daseyns eine zweite *) In gladiatoiiis pugnis tiniidos et suppiices, et, ut vivere liceat, obseciantes etiam odisse solemus; fortes et animosos, ot se acriter ipsos moiti ofFerentes servaic cupimus. Cic. pro Milone, c 34- IJnendliclikeit folfjen sollte, in der wir nicht mehr seyn werden, finden wir hart, ja unerträjjlicli. Sollte nun dieser Durst nach Daseyn etwan dadurch entstanden seyn, dass wir es jetzt gekostet und so gar allerliebst gefunden hätten? Wie schon oben kurz erörtert: ge- wiss nicht; viel eher hätte die gemachte Erfahrung eine unendliche Sehnsucht nach dem verlorenen Pa- radiese des Nichtseyns erwecken können. Auch wird der Hoflnung der Seelen-Unsterldichkeit allemal die einer ,, bessern Welt" angehängt, — ein Zeichen, das-< die gegenwärtige nicht viel taugt. — Dieses allen un- geachtet ist die Frage nach unserm Zustande nach dem Tode gewiss zehntausend Mal öfter, in Büchern und mündlich, erörtert worden, als die nach unserm Zustande vor der Geburt. Theoretisch ist dennoch die eine ein eben so nahe liegendes und berechtigtes Pro- blem, wie die andere: auch würde wer die eine be- antwortet hätte mit der andern wohl gleichfalls im Klaren seyn. Schöne Deklamationen haben wir dar- über, wie anstössig es wäre, zu denken, dass der Geist des Menschen, der die Welt umfasst und so viele höchst vortreffliche Gedanken hat, mit ins Grab gesenkt würde: aber darüber, dass dieser Geist eine ganze Un- endlichkeit habe verstreichen lassen, ehe er mit die- sen seinen Eigenschaften entstanden sei, und die Welt eben so lange sich ohne ihn habe behelfen müssen, hört man nichts. Dennoch bietet der vom Willen un- bestochenen Erkenntniss keine Frage sich natürlicher dar, als diese: eine unendliche Zeit ist vor meiner Geburt abgelaufen; was war ich alle jene Zeit hin- durch? — Metaphysisch liesse sich vielleicht antwor- ten: „Ich war immer Ich: nämlich Alle, die jene Zeit hindurch Ich sagten, die waren eben Ich." Allein hie- von sehen wir auf unserm, vor der Hand noch ganz empirischen Staudpunkt ab luid nehmen an, ich wäre gar nicht gewesen. Dann aber kann ich mich über die unendliche Zeit nach meinem Tode, da ich nicht seyn werde, trösten mit der unendlichen Zeit, da ich schon nicht gewesen bin, als einem wohl gewohnten und wahrlich sehr bequemen Zustande. Denn die Un- endlichkeit a parte post ohne mich kann so wenig 598 schrecklich seyn, als die Unendlichkeit a parte ante ohne mich; indem heide durch nichts sich unter- scheiden, als durch die Dazwischenkunft eines ephe- meren Lebenstraums. Auch lassen alle Beweise für die Fortdauer nach dem Tode sich eben so gut in par- tem ante wenden, wo sie dann das Daseyn vor dem Leben demonstriren, in dessen Annahme Hindu und Buddhais ten sich daher sehr konsequent beweisen, Kants Idealität der Zeit allein löst alle diese Räthsel: doch davon ist jetzt noch nicht die Rede. Soviel aber geht aus dem Gesagten hervor, dass über die Zeit, da man nicht mehr seyn wird, zu trauern, eben so absurd ist, als es seyn würde über die, da man noch nicht gewesen: denn es ist gleichgültig, ob die Zeit, welche unser Daseyn nicht füllt, zu der, welche es füllt, sich als Zukunft oder Vergangenheit verhalte. Aber auch ganz abgesehen von diesen Zeitbetrach- tungen, ist es an und für sich absurd, das Nichtseyn für ein Uebel zu halten; da jedes üebel, wie jedes Gut, das Daseyn zur Voraussetzung hat, ja sogar das Bewusstseyn; dieses aber mit dem Leben aufhört, wie eben auch im Schlaf und in der Ohnmacht; daher uns die Abwesenheit desselben, als gar keine Uebel enthaltend, wohl bekannt und veitraut, ihr Eintritt aber jedenfalls Sache eines Augenblicks ist. Von die- sem Gesichtspunkte aus betrachtete Epikiir den Tod und sagte daher ganz richtig 6 Oava-oc {XTjoev irpo«; T^jj-a? (der Tod geht uns nichts an); mit der Erläute- rung, dass wann wir sind, der Tod nicht ist, und wann der Tod ist, wir nicht sind (Diog. Laert., X, 27). Verloren zu haben was nicht vermisst werden kann, ist offenbar kein Uebel: also darf das Nicht- seynwerden uns so wenig anfechten, wie das Nicht- gewesenseyn. Vom Standpunkt der Erkenntniss aus erscheint demnach durchaus kein Grund den Tod zu fürchten: im Erkennen aber besteht das Bewusstseyn; daher für dieses der Tod kein Uebel ist. Auch ist es wirklich nicht dieser erkennende Theil unsers Ichs, welcher den Tod fürchtet; sondern ganz allein vom blinden Willen geht die fuga mortis, von der alles Lebende erfüllt ist, aus. Diesem aber ist sie, wie schon oben erwähnt, wesentlich, eben weil er Wille zum Leben ist, dessen ganzes Wesen im Drange nach Le- ben und Daseyn besteht, und dem die Erkenntniss nicht ursprünglich, sondern erst in Kolge seiner Ob- jektivation in animalischen Individuen beiwohnt. W^enn er nun, mittelst ihrer, den Tod, als das Ende der Erscheinung, mit der er sich identihcirt hat und also auf sie sich beschrankt sieht, ansichtig wird, sträubt sich sein ganzes Wesen mit aller Gewalt da- gegen. Ob nun er vom Tode wirklich etwas zu fürch- ten habe, werden wir weiter unten untersuchen und uns dabei der hier, mit gehöriger Unterscheidung des wollenden vom erkennenden Theil unsers Wesens, nachgewiesenen eigentlichen Quelle der Todesfurcht erinnern. Derselben entsprechend ist auch, was uns den Tod so furchtbar macht, nicht sowohl das Ende des Le- bens, da dieses Keinem als des Regrettirens sonderlich werth erscheinen kann; als vielmehr die Zerstörung des Organismus: eigentlich, weil dieser der als Leib sich darstellende Wille selbst ist. Diese Zerstörung fühlen wir aber wirklich nur in den Uebeln der Krankheit, oder des Alters: hingegen der Tod selbst besteht, für das Subjekt, bloss in dem Augenblick, da das Bewusstseyn schwindet, indem die Thätigkeit des Gehirns stockt. Die hierauf folgende Verbreitung der Stockung auf alle übrigen Theile des Organis- mus ist eigentlich schon eine Begebenheit nach dem Tode. Der Tod, in subjektiver Hinsicht, betrifft also allein das Bewusstseyn. Was nun das Schwinden die- ses sei, kann Jeder einigermaassen aus dem Einschla- fen beurtheilen: noch besser aber kennt es, wer je eine wahre Ohnmacht gehabt hat, als bei welcher der üebergang nicht so allmälig, noch durch Träu- me vermittelt ist, sondern zuerst die Sehkraft, noch bei vollem Bewusstseyn, schwindet, und dann un- mittelbar die tiefste Bewusstlosigkeit eintritt: die Empfindung dabei, so weit sie geht, ist nichts weni- ger als unangenehm, und ohne Zweifel ist, wie der Schlaf der Bruder, so die Ohnmacht der Zwillings- bruder des Todes. Auch der gewaltsame Tod kann 600 nicht schmerzlich seyii; da selbst schwere Verwun- dungen in der Regel gar nicht gefühlt, sondern erst eine Weile nachher, oft nur an ihren äusserlichen Zeichen bemerkt werden: sind sie schnell tödtlich; so wird das Bewusstseyn vor dieser Entdeckung schwinden: tödten sie später; so ist es wie bei an- dern Krankheiten. Auch alle Die, welche im Wasser, oder durch Kohlendampf, oder durch Hängen das Bewusstseyn verloren haben, sagen bekanntlich aus, dass es ohne Pein geschehen sei. Und nun endlich gar der eigentlich natiu^gemässe Tod, der durch das Alter, die Euthanasie, ist ein alhnäliges Verschwin- den und Verseil weben aus dem Daseyn, auf unmerk- liche Weise. Nach und nach erlöschen im Alter die Leidenschaften und Begierden, mit der Empfänglich- keit für ihre Gegenstände; die Affekte finden keine Anregung mehr: denn die vorstellende Kraft wird immer schwächer, ihre Bilder matter, die Eindrücke haften nicht mehr, gehen spurlos vorüber, die Tage rollen immer schneller, die Vorfälle verlieren ihre Be- deutsamkeit, Alles verblasst. Der Hochbetagte wankt umher, oder ruht in einem Winkel, nur noch ein Schatten, ein Gespenst seines ehemaligen Wesens. Was bleibt da dem Tode noch zu zerstören? Eines Tages ist dann ein Schlummer der letzte, und seine Träume sind — — - — Es sind die, nach welchen schon Hamlet fragt, in dem berühmten Monolog. Ich glaube, wir träumen sie eben jetzt. Hieher gehört noch die Bemerkung, dass die Un- terhaltung des Leben sprocesses, wenn sie gleich eine metaphysische Grundlage hat, nicht ohne Wider- stand, folglich nicht ohne Anstrengung vor sich geht. Diese ist es, welcher der Organismus jeden Abend unterliegt, weshalb er dann die Gehirnfunktion ein- stellt und einige Sekretionen, die Respiration, den Puls und die Wärmeentvvickelung vermindert. Dar- aus ist zu schliessen, dass das gänzliche Aufhören des Lebensprocesses für die treibende Kraft desselben eine wundersame Erleichterung seyn muss; vielleicht hat diese Antheil an dem Ausdruck süsser Zufrieden- heit auf dem Gesichte der meisten Todten. Ueber- 60 I liaupt ma(j der Augenblick des Sterbens dem des Er- wachens aus einem schweren, alligedrückten Traume ähnhch seyn. Bis hieher hat sich uns ergeben, dass der Tod, so sehr er auch gefürchtet wird, doch eigentlich kein Uebel seyn könne. Oft aber erscheint er sogar als ein Gut, ein Erwünschtes, als Freund Hain. Alles, was auf unüberwindliche Hindernisse seines Daseyns, oder seiner Bestrebungen gestossen ist, was an un- heilbaren Krankheiten, oder an untröstlichem Grame leidet, — - hat zur letzten, meistens sich ihm von selbst öffnenden Zuflucht die Rückkehr in den Schooss der Natur, aus welcliem es, wie alles Andere auch, auf eine kurze Zeit heranfgetaucht war, verlockt durch die Hoffnung auf günstigere Bedingungen des Daseyns, als ihm geworden, und von wo aus ihm der selbe Weg stets offen bleibt. Jene Rückkehr ist die cessio bonorum des Lebenden. Jedoch wird sie auch hier erst nach einem j)hysischen, oder moralischen Kampfe angetreten: so sehr striiubt Jedes sich, dahin zurück- zugehen, von wo es so leicht und bereitwillig her- vorkam, zu einem Daseyn, welches so viele Leiden und so wenige Freuden zu bieten hat. — Die Hindu geben dem Todesgotte Yama zwei Gesichter: ein sehr furchtbares und schreckliches, und ein sehr freudiges und gütiges. Dies erklärt sich zum Theil schon durch die eben angestellte Betrachtung. Auf dem empirischen Standpunkt, auf welchem wir noch immer stehen, ist auch die folgende Betrach- tung eine sich von selbst darbietende, die daher ver- dient, durch Verdeutlichung genau bestimmt und dadurch in ihre Gränzen zurückgewiesen zu werden. Der Anblick eines Leichnams zeigt mir, dass Sensibi- lität, Irritabilität, Blutumlauf, Reproduktion u. s. w. hier aufgehört haben. Ich schliesse daraus mit Sicher- heit, dass Dasjenige, welches diese bisher aktuirte, jedoch ein mir stets Unbekanntes war, sie jetzt nicht mehr aktuirt, also von ihnen gewichen ist. — Wollte ich nun aber hinzusetzen, dies müsse eben Das gewe- sen seyn, was ich nur als Bewusstseyn, mithin als In- telligenz, gekannt liabe (Seele); so wäre dies nicht 602 bloss unlterethtigt, sondern offenbar falsch geschlos- sen. Denn stets hat das Bewusstsevn sich mir nicht als Ursaclie, sondern als Produkt und Resultat des organischen Lebens gezeigt, indem es in Folge des- selben stieg und sank, nämlich in den verschiedenen Lebensaltern, in Gesundheit und Krankheit, in Schlaf", Ohnmacht, Erwachen u. s. w., also stets als Wirkung, nie als Ursache des organischen Lebens auftrat, stets sich zeigte als etwas, das entsteht und vergeht, und wieder entsteht, so lange liiezu die Bedingungen nocli da sind, aber ausserdem nicht. Ja, ich kann auch ge- sehen haben, dass die völHge Zerrüttung des Bewusst- seyns, der Wahnsinn, weit entfernt, die übrigen Kräfte mit sich herabzuziehen nnd zu deprimiren, oder gar das Leben zu gefährten, jene, namentlich die Irritabilität oder Muskelkraft, sehr erhöht, und dieses eher verlängert als verkürzt, wenn nicht andere Ursachen konkurriren. — Sodann: Individualität kannte ich als Eigenschaft jedes Organischen, und daher, wenn dieses ein selbstbewusstes ist, auch des Bewusstseyns. Jetzt zu schliessen, dass dieselbe jenem entwichenen, Leben ertheilenden, mir völlig unbe- kannten Princip inhärire, dazu ist kein Anlass vor- handen; um so weniger, als ich sehe, dass überall in der Natur jede einzelne Erscheinung das Werk einer allgemeinen, in tausend gleichen Erscheinungen thä- tigen Kraft ist. — Aber eben so wenig Anlass ist an- dererseits zu schliessen, dass, weil hier das organische Leben aufgehört hat, deshalb auch jene dasselbe bis- her aktuirende Kraft zu Nichts geworden sei ; — so wenig, als vom stillstehenden Spinnrade auf den Tod der Spinnerin zu schliessen ist. Wenn ein Pendel, durch Wiederfinden seines Schwerpunkts, endlich zur Ruhe kommt, und also das individuelle Schein- leben desselben aufgehört hat ; so wird Keiner wäh- nen, jetzt sei die Schw ere vernichtet ; sondern Jeder begreift, dass sie in zahllosen Erscheinungen nach wie vor thätig ist. Allerdings liesse sich gegen dieses Gleichniss einwenden, dass hier auch in diesem Pen- del die Schwere nicht aufgehört hat thätig zu seyn, sondern nur ihre Thätigkeit augenfällig zu äussern: 6o3 wer daraut besteht, ina^j sich statt dessen einen elek- trischen Körper denken, in welchem, nach seiner Ent- ladung, die Elektricitüt wirklich aufgehört hat thätig zu seyn. Ich habe daran nur zeigen wollen, dass wir selbst den untersten Natinkrüften eine Aeternität und übiquität unmittelbar zuerkennen, an welcher uns die Vergänglichkeit ihrer flüchtigen Erscheinungen keinen Augenblick irre macht. Um so weniger also darf es uns in den Sinn kommen, das Aufhören des Lebens für die Vernichtung des belebenden Princips, mithin den Tod für den gänzlichen Untergang des Menschen zu halten. Weil der kräftige Arm, der, vor dreitausend Jahren, den Bogen des Odysseus spannte, nicht mehr ist, wird kein nachdenkender und wohl- geregelter Verstand die Kraft, Avelche in demselben so energisch wirkte, für gänzlich vernichtet halten, aber daher, bei fernerem Nachdenken, auch nicht anneh- men, dass die Kraft, welche heute den Bogen spannt, erst mit diesem Arm zu existiren angefangen habe. Viel näher liegt der Gedanke, dass die Kraft, welche früher ein nunmehr entwichenes Leben aktuirte, die selbe sei, welche in dem jetzt blühenden thätig ist: ja, dieser ist fast unabweisbar. Gewiss aber wissen wir, dass wie im zweiten Buche dargethan wurde, nur Das vergänglich ist, was in der Kausalkette be- griffen ist: dies aber sind bloss die Zustände und For- men. Unberührt hingegen von dem durch Ursachen herbeigeführten Wechsel dieser bleibt einerseits die Materie und andererseits die Naturkräfte: denn Bei- de sind die Voraussetzung aller jener Veränderungen. Das uns belebende Princip aber müssen wir zunächst wenigstens als eine Naturkraft denken, bis etwan eine tiefere Forschung uns hat erkennen lassen, was es an sich selbst sei. Also schon als Naturkraft genommen, bleibt die Lebenskraft ganz unberührt von dem Wechsel der Formen und Zustände, welche das Band der Ursachen und Wirkungen herbei und hin\ve{;- führt, und welche allein dem Entstehen und Verge- hen, wie es in der Erfahiiing vorliegt, unterworfen sind. Soweit also Hesse sich schon die Unvergänglich- keit unsers eigentlichen Wesens sicher beweisen. Aber 6o4 freilich wird dies den Ansprüchen, welche man an Beweise iinsers Forthestehens nach dem Tode zu machen gewohnt ist, nicht genügen, noch den Trost gewähren, den man von solchen erwartet. Indessen ist es immer etwas, und wer den Tod als eine abso- lute Vernichtung fürchtet, darf die völlige Gewissheit, dass das innerste Princip seines Lebens von demselben unberührt bleibt, nicht verschmähen. — Ja, es liesse sich das Paradoxon aufstellen, dass auch jenes Zweite, welches, eben wie die Naturkräfte, von dem am Leit- faden der Kausalität fortlaufenden Wechsel der Zu- stände unberührt bleibt, also die Materie, durch sei- ne absolute BeharrHchkeit uns eine ünzerstörbarkeit zusichert, vermöge welcher, wer keine andere zu fas- sen fähig wäre, sich doch schon einer gewissen Un- vergänglichkeit getrösten könnte. „Wie?" wird man sagen, ,,das Beharren des blossen Staubes, der rohen Materie, sollte als eine Fortdauer unsers Wesens an- gesehen werden?" — Oho! kennt ihr denn diesen Staub? Wisst ihr, was er ist und was er verma;j? Lernt ihn kennen, ehe ihr ihn verachtet. Diese Materie, die jetzt als Staub und Asche daliegt, wird bald, im Wasser aufgelöst, als Krystall anschliessen, wird als Metall glänzen, wii'd dann elektrische Funken sprü- hen, wird mittelst ihrer galvanischen Spannung eine Kraft äussern, welche, die festesten Verbindungen zersetzend, Erden zu Metallen reducirt: ja, sie wird von selbst sich zu Pflanze und Thier gestalten und aus ihrem geheimnissvollen Schooss jenes Leben ent- wickeln, vor dessen Verlust ihr in eurer Beschränkt- heit so ängstlich besorgt seid. Ist nun, als eine solche Materie fortzudauern, so ganz und gar nichts? Ja, ich behaupte im Ernst, dass selbst diese Beharrlich- keit der Materie von der Unzerstörbarkeit unsers wahren Wesens Zeugniss ablegt, wenn auch nur wie im Bilde und Gleichniss, oder vielmehr nur wie im Schattenriss. Dies einzusehen, dürfen wir uns nur an die Kapitel 24 gegebene Erörterung der Materie er- innern, aus der sich ergab, dass die lautere, formlose Materie, — diese für sich allein nie wahrgenomme- ne, aber als stets bleibend vorausgesetzte Basis der 6o5 Erfahrun{js\\elt, — der unmittelbare Wiedersoliein, die Sichtbarkeit überhaupt, des Dinge-^ an sich, also des Willens, ist; daher von ihr, unter den liedinjjun- (jungen der Erfahrung, das gilt, ^vas dem Willen an sich schlechthin zukommt und sie seine wahre Ewig- keit unter dem Bilde der zeitlichen Unvergänjjlich- keit wiedergibt. Weil, wie schon gesagt, die Natur nicht lügt, so kann keine aus einer rein objektiven Auffassung derselben entsprungene und in folgerech- tem Denken durchgeführte Ansicht ganz und gar falsch seyn, sondern sie ist, im schlimmsten Fall, niu' sehr einseitig und unvollständig. Eine solche aber ist unstreitig auch der konsequente Materialismus, etwan der des Epihuros, eben so gut, wie der ihm entgegen- gesetzte absolute Idealismus, etwan der des Bej-keler, und überhaupt jede aus einem richtigen appercu her- vorgegangene und redlicli ausgeführte philosophische Grundansicht. Nur sind sie alle höchst einseitige Auf- fassungen und daher, trotz ihrer Gegensätze, zugleich wahr, nämlich jede von einem bestimmten Stand- punkt aus: sobald man aber sich über diesen erhebt, erscheinen sie nur noch als relativ und bedingt wahr. Der höchste Standpunkt allein, von welchem aus man sie alle übersieht und in ihrer bloss relativen Wahrheit, über diese hinaus aber in ihrer Falschheit erkennt, kann der der absoluten ^V^ahrheit, so weit eine solche überhaupt erreichbar ist, seyn. Dem ent- sprechend sehen wir, wie soeben nachgewiesen wur- de, selbst in der eigentlich sehr rohen und daher sehr alten Grundansicht des Material isnuis die Unzerstör- barkeit unsers wahren Wesens an sich noch wie durch einen blossen Schatten derselben repräsentirt, näm- lich durch die Unvergänglichkeit der INIaterie; wie, in dem schon höher stehenden Naturalisnms einer absoluten Physik, durch die Ubiquität und Aeterni- tät der Naturkräfte, welchen die Lebenskraft doch wenigstens beizuzählen ist. Also selbst diese rohen Grundansichten enthalten die Aussage, dass das le- bende Wesen durdi den Tod keine absolute Vernich- tung erleidet, sondern in und mit dem Ganzen der Natur fortbesteht. — 606 Die Betrachtungen, welche uns his hieher geführt haben und an welche die ferneren Erörterungen sich knüpften, waren ausgegangen von der auffallenden Todesfurcht, welche alle lebenden Wesen erfüllt. Jetzt aber wollen wir den Standpunkt wechseln und ein Mal betrachten, wie, im Gegensatz der Einzelwe- sen, das Ganze der Natur sich hinsichtlich des Todes verhält; wobei wir jedoch immer noch auf dem em- pirischen Grund und Boden stehen bleiben. Wir freilich kennen kein höheres Würfelspiel, als das um Tod imd Leben ; jeder Entscheidung über diese sehen wir mit der äussersten Spannung, Theil- nahme und Furcht entgegen: denn es gilt, in unsern Augen, Alles in Allem. — Hingegen die Natur, wel- che doch nie lügt, sondern aufrichtig und offen ist, spricht über dieses Thema ganz anders, nämlich so, wie Krischna im Bhagavad-Gita. Ihre Aussage ist : an Tod oder Leben des Individuums ist gar nichts gelegen. Dieses nändich drückt sie dadurch aus, dass sie das Leben jedes Thieres, und auch des Menschen, den unbedeutendesten Zufällen Preis giebt, ohne zu seiner Rettung einzutreten. — Betrachtet das Insekt auf eurem Wege: eine kleine, unbewusste Wendung eures Fusstrittes ist über sein licben oder Tod ent- scheidend. Seht die Waldschnecke, ohne alle Mittel zur Flucht, zur Wehr, zur Täuschung, zum Verber- gen, eine bereite Beute für Jeden. Seht den Fisch sorglos im noch offenen Netze spielen ; den Frosch durch seine Trägheit von der Flucht, die ihn retten könnte, abgehalten; den Vogel, der den über ihm schwebenden Falken nicht gewahr wird; die Schaa- fe, welche der Wolf aus dem Busch ins Auge fasst und mustert. Diese Alle gehen, mit wenig Vorsicht ausge- rüstet, arglos unter den Gefahren umher, die jeden Augenl>lick ihr Daseyn bedrohen. Indem nun also die Natur ihre so unaussprechlich künstlichen Orga- nismen nicht nur der Raublust des Stärkeren, son- dern auch dem blindesten Zufall und der Laune jedes Narren und dem Muthwillen jedes Kindes, ohne Rückhalt Preis giebt, spricht sie aus, dass die Vernichtung dieser Individuen ihr gleichgültig sei, Goy ilir nicht .schade, [i;ar nichts zu hedeuten habe, und dass, in jenen Fallen, die Wirkung so wenig auf sich habe, wie die Ursache. Sie sagt dies sehr deuthch aus, und sie lügt nie: nur kommentirt sie ihre Aussprüche nicht; vielmehr redet sie im lakoni- schen Stil der Orakel. Wenn nun die Allmutter so sorglos ihre Kinder tausend drohenden Gefahren, ohne Obhut, entgegensendet: so kann es nur seyn, weil sie weiss, dass wenn sie fallen, sie in ihren Schooss zurückfallen, wo sie geborgen sind, daher ihr Fall nur ein Scherz ist. Sie halt es mit dem Men- schen nicht anders, als mit den Thieren. Ihre Aus- sage also erstreckt sich auch auf diesen: Leben odei Tod des Individuums sind ihr gleichgültig. Demzu- folge sollten sie es, in gewissem Sinne, auch uns seyn: denn wir selbst sind ja die Natur. Gewiss würden wir, wenn wir nur tief genug sähen, der Natur bei- stimmen und Tod oder Leben als so gleichgültig an- sehen, wie sie. Inzwischen müssen wir, mittelst der Reflexion, jene Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit der Natur gegen das Leben der Individuen dahin ausle- gen, dass die Zerstörung einer solchen Erscheinung das wahre und eigentliche Wesen derselben im Min- desten nicht anficht. Erwägen wir nun ferner, dass nicht nur, wie so- eben in Betrachtung genommen, Leben und Tod von den geringfügigsten Zufällen abhängig sind, sondern dass das Daseyn der organischen Wesen überhaupt ein ephemeres ist, Thier und Pflanze heute entsteht und morgen vergeht; und Geburt und Tod in schnel- lem Wechsel folgen, während dem so sehr viel tiefer stehenden Unorganischen eine ungleich längere Dauer gesichert ist, eine unendlich lange aber nur der ab- solut formlosen Materie, welcher wir dieselbe sogar a priori zuerkennen; — da muss, denke ich, schon der bloss empirischen, aber objektiven und unbefan- genen Auffassung einer solchen Ordnung der Dinge von selbst der Gedanke folgen, dass dieselbe nur ein oberflächliches Phänomen sei, dass ein solches be- ständiges Entstehen vmd Vergehen keineswegs an die Wurzel der Dinge greifen, sondern nur ein relatives, 608 ja nur scheinbares seyn könne, von welchem das ei- gentHche, sich ja ohnehin überall unserm Blick ent- ziehende und durchweg geheiinnissvolle, innere We- sen jedes Dinges nicht niitgetroffen werde, vielmehr dabei ungestört fortbestehe; wenn wir gleich die Weise, wie das zugeht, weder wahrnehmen, noch be- greifen können, und sie daher nur im Allgemeinen, als eine Art von tour de passe-passe, der dabei vor- gienge, uns denken müssen. Denn, dass, während das Unvollkommenste, das Niedrigste, das Unorganische, unangefochten fortdauert, gerade die vollkommen- sten Wesen, die lebenden, mit ihren unendlich kom- plicirten und unbegreiflich kunstvollen Organisatio- nen, stets von Grund aus neu entstehen und nach einer Spanne Zeit absolut zu nichts werden sollten, um abermals neuen, aus dem Nichts ins Daseyn tre- tenden, ihres Gleichen, Platz zu machen, — Dies ist etwas so augenscheinlich Absurdes, dass es nimmer- mehr die wahre Ordnung der Dinge seyn kann, viel- mehr bloss eine Hülle, welche diese verbirgt, richti- ger, ein durch die Beschaffenheit unsers Intellekts bedingtes Phänomen. Ja, das ganze Seyn und Nicht- seyn selbst dieser Einzelwesen, in Beziehung auf wel- ches Tod und Leben Gegensätze sind, kann nur ein relatives seyn: die Sprache der Natur, in weK^her es uns als ein absolutes gejjeben wird, kann also nicht der wahre und letzte Ausdruck der Beschaffenheit der Dinge und der Ordnung der Welt seyn, sondern wahrlich nur ein patois dn pays, d. h. ein bloss rela- tiv Wahres, ein Sogenanntes, ein cum grano salis zu Verstehendes, oder eigentlich zu reden, ein durch un- sern Intellekt Bedingtes. — Ich sage, eine unmittel- bare, intuitive Ueberzeugung der Art, wie ich sie hier mit Woi'ten zu umschreiben gesucht habe, wird sich Jedem aufdringen: d. h. freilich nur Jedem, dessen Geist nicht von der ganz gemeinen Gattung ist, als welche, schlechterdings nur das Einzelne, ganz und gar als solches, zu erkermen fähig, streng auf Er- kenntniss der Individuen beschränkt ist, nach Art des thierischen Intellekts. Wer hingegen, durch eine nur etwas höher potenzirte Fähigkeit, auch bloss anfängt, 39 Schopenhauer II ^^9 in den Einzelwesen ihr Allgemeines, ihre Ideen, zu erblicken, der wird auch jener Ueberzeugung in ge- wissem Grade theilhaft werden, und zwar als einer unmittelbaren und darum gewissen. In der That sind es auch nur die kleinen, beschränkten Köpfe, welche ganz ernstlich den Tod als ihre Vernichtung fürch- ten: aber vollends von den entschieden Bevorzugten bleiben solche Schrecken gänzlich fern. Plato grün- dete mit Recht die ganze Philosophie auf die Er- kenntniss der Ideenlehre, d. h. auf das Erblicken des Allgemeinen im Einzelnen. Ueberaus lebhaft aber muss die hier beschriebene, unmittelbar aus der Auf- fassung der Natur hervorgehende Ueberzeugung in jenen erhabenen und kaum als blosse Menschen denk- baren Urhebern des Upanischads der Veden gewesen seyn, da dieselbe aus unzähligen ihrer Aussprüche so sehr eindringlich zu uns redet, dass wir diese unmit- telbare Erleuchtung ihres Geistes Dem zuschreiben müssen, dass diese Weisen, als dem Ursprünge un- sers Geschlechtes, der Zeit nach, näher stehend, das Wesen der Dinge klarer und tiefer auffassten, als das schon abgeschwächte Geschlecht, otoi vuv ßpotoi eioiv, es vermag. Allerdings aber ist ihrer Auffassungauch die in ganz anderm Grade, als in unserm Norden, belebte Natur Indiens entgegengekommen. — Inzwischen lei- tet auch die durchgeführte Reflexion, wie Kants gros- ser Geist sie verfolgte, auf anderm W^ege, eben da- hin, indem sie uns belehrt, dass unser Intellekt, in welchem jene so rasch wechselnde Erscheinungswelt sich darstellt, nicht das wahre letzte Wesen der Din- ge, sondern bloss die Erscheinung desselben auffasst, und zwar, wie ich hinzusetze, weil er ursprünglich nur bestimmt ist, unserm Willen die Motive vorzu- schieben, d. h. ihm beim Verfolgen seiner kleinlichen Zwecke dienstbar zu seyn. Setzen wir inzwischen unsere objektive und unbe- fangene Betrachtung der Natur noch weiter fort. — Wenn ich ein Thier, sei es ein Hund, ein Vogel, ein Frosch, ja sei es auch nur ein Insekt, tödte; so ist es eigentlich doch undenkbar, dass dieses V^esen, oder vielmehr die Urkraft, vermöge welcher eine so be- 6io wunderungswürdige Erscheinung, noch den Augen- blick vorher, sich in ihrer vollen Energie und Le- benslust darstellte, durch meinen boshaften oder leichtsinnigen Akt zu Nichts geworden seyn sollte. — Und wieder andererseits, die Millionen Thiere jeg- licher Art, welche jeden Augenblick, in unendlicher Mannigfaltigkeit, voll Kraft und Strebsamkeit ins Daseyn treten, können nimmermehr vor dem Akt ihrer Zeugung gar nichts gewesen und von nichts zu einem absoluten Anfang gelangt seyn. — Sehe ich nun auf diese Weise Eines sich meinem Blicke ent- ziehen, ohne dass ich je erfahre, wohin es gehe: und ein Anderes hervortreten, ohne dass ich je erfahre, woher es komme ; haben dazu noch Beide die selbe Gestalt, das selbe Wesen, den selben Charakter, nur allein nicht die selbe Materie, welche jedoch sie auch während ihres Daseyns fortwährend abwerfen und erneuern; — so liegt doch wahrlich die Annahme, dass Das, was verschwindet, und Das, was an seine Stelle tritt. Eines und dasselbe Wesen sei, welches nur eine kleine Veränderung, eine Erneuerung der Form seines Daseyns, erfahren hat, und dass mithin was der Schlaf für das Individuum ist, der Tod für die Gattung sei; — - diese Annahme, sage ich, liegt so nahe, dass es unmöglich ist, nicht auf sie zu gerathen, wenn nicht der Kopf, in früher Jugend, durch Ein- prägung falscher Grundansichten verschroben, ihr, mit abergläubischer Furcht, schon von Weitem aus dem Wege eilt. Die entgegengesetzte Annahme aber, dass die Geburt eines Thieres eine Entstehung aus Nichts, und dem entsprechend sein Tod seine abso- lute Vernichtung sei, und Dies noch mit der Zugabe, dass der Mensch, eben so aus Nichts geworden, den- noch eine individuelle, endlose Fortdauer und zwar mit Bewusstseyn habe, während der Hund, der Affe, der Elephant durch den Tod vernichtet würden, — ist denn doch wohl etwas, wogegen der gesunde Sinn sich empören und es für absurd erklären muss. — Wenn, wie zur Genüge wiederholt wird, die Ver- gleichung der Resultate eines Systems mit den Aus- sprüchen des gesunden Menschenverstandes ein Pro- 39* 611 birstein seiner Wahrheit seyn soll; so wünsche ich, dass die Anhän{j;er jener von Carteslus bis auf die vorkantischen Eklektiker herabgeerbten, ja wohl auch jetzt noch bei einer grossen Anzahl der Gebil- deten in Europa herrschenden Grundansicht, ein Mal hier diesen Probirstein anlegen mögen. Durchgängig und überall ist das ächte Symbol der Natur der Kreis, weil er das Schema der Wiederkehr ist: diese ist in der That die allgemeinste Form in der Natur, welche sie in Allem durchführt, vom Laufe der Gestirne an, bis zum Tod und der Entstehung organischer Wesen, imd wodurch allein in dem rast- losen Strom der Zeit und ihres Inhalts doch ein be- stehendes Daseyn, d. i. eine Natur, möglich wird. Wenn man im Herbst die kleine Welt der Insekten betrachtet und nun sieht, wie das eine sich sein Bett bereitet, um zu schlafen, den langen, erstarrenden Winterschlaf; das andere sich einspinnt, um als Puppe zu überwintern und einst, im Frühling, verjünjjt und vervollkommnet zu erwachen; endlich die meisten, als welche ihre Ruhe in den Armen des Todes zu halten gedenken, bloss ihrem Ei sorgfältig die geeig- nete Lagerstätte anpassen, um einst aus diesem er- neuet hervorzugehen; — so ist dies die grosse ün- sterblichkeitslehre der Natur, welche vms beibringen möchte, dass zwischen Schlaf und Tod kein radikaler Unterschied ist, sondern der Eine so wenig wie der Andere das Daseyn gefährdet. Die Sorgfalt, mit der das Insekt eine Zelle, oder Grube, oder Nest bereitet, sein Ei hineinlegt, nebst Futter für die im kommen- den Frühling daraus hervorgehende Larve, und dann ruhig stirbt, — gleicht ganz der Sorgfalt, mit der ein Mensch am Abend sein Kleid und sein F'rühstück für den kommenden Mor{jen bereit legt und dann ruhig schlafen geht, und könnte im Grunde gar nicht Statt haben, wenn nicht, an sich und seinem wahren We- sen nach, das im Herhste sterbende Insekt mit dem im Frühling auskriechenden eben so wohl identisch wäre, wie der sich schlafen legende Mensch mit dem aufstehenden. Wenn wir nun, nach diesen Betrachtungen, zu uns 6l 2 selbst und unserm Geschlechte zurückkehren und dann den Blick vorwärts, weit hinaus in die Zukunft weifen, die künfti^^en Generationen, mit den Milli- onen ihrer Individuen, in der fremden Gestalt ihrer Sitten und Trachten uns zu vergejjenwärtigen suchen, dann aber mit der Frage dazwischen fahren: Woher werden diese xAlle kommen? Wo sind sie jetzt? — Wo ist der reiche Schooss des weltenschwangeren Nichts, der sie noch birgt, die kommenden Geschlechter? — Wäre darauf nicht die lächelnde und wahre Antwort: Wo anders sollen sie seyn, als dort, wo allein das Re- ale stets war und seyn wird, in der Gegenwart und ihrem Inhalt, also bei Dir, dem bethörten Frager, der, in diesem Verkennen seines eigenen Wesens, dem Blatte am Baume gleicht, welches im Herbste welkend und im Begriff abzufallen, jammert über seinen Untergang und sich nicht trösten lassen will durch den Hinblick auf das frische Grün, welches im Frühling den Baum bekleiden wird, sondern klagend spricht: „Das bin ja Ich nicht! Das sind ganz andere Blätter!" — O thörichtes Blatt! Wohin willst du? Und woher sollen andere kommen ? Wo ist das Nichts, dessen Schlund du fürchtest? — Erkenne doch dein eigenes Wesen, gerade Das, was vom Durst nach Daseyn so erfüllt ist, erkenne es wieder in der innern, geheimen, treibenden Kraft des Baumes, welche, stets eine und dieselbe in allen Generationen von Blättern, unberührt bleibt vom Entstehen und Vergehen. Und nun oirj irsp (fuXXoDV '[ever], Tonrjoe xai avopojv. (Qualis foliorum generatio, talis et hominum.) Ob die Fliege, die jetzt lan mich summt, am Abend einschläft und morgen wieder summt; oder ob sie am Abend stirbt, und im Frühjahr, aus ihrem Ei ent- standen, eine andere Fliege summt; das ist an sich die selbe Sache: daher aber ist die Erkenntniss, die solches als zwei grundverschiedene Dinge darstellt, keine unbedingte, sondern eine relative, eine Erkennt- niss der Erscheinung, nicht des Dinges an sich. Die Fliege ist am Morgen wieder da; sie ist auch im Früh- 6i3 Jahr wieder da. Was unterscheidet für sie den Winter von der Nacht? — In Bvtdachs Physiolojjie, Bd. i, §. 275, lesen wir: ,,Bis Morjjens 10 Uhr ist noch keine Cercaria ephemera (ein Infusionsthier) zu sehen (in der Infusion): und um 12 wimmelt das ganze Wasser davon. Abends sterben sie, und am andern Morgen entstehen wieder neue. So beobachtete es Nitzsch sechs Tage hinter einander." So weilt Alles nur einen Augenblick und eilt dem Tode zu. Die Pflanze und das Insekt sterben am Ende des Sommers, das Thier, der Mensch, nach wenig Jahren: der Tod mäht tmermüdlich. Desungeachtet aber, ja, als ob dem ganz und gar nicht so wäre, ist jederzeit Alles da und an Ort und Stelle, eben als wenn Alles unvergänglich wäre. Jederzeit grünt und blüht die Pflanze, schwirrt das Insekt, steht Thier und Mensch in unverwüstlicher Jugend da, und die schon tausend Mal genossenen Kirschen haben wir jeden Sommer wieder vor uns. Auch die Völker stehen da, als unsterbliche Individuen; wenn sie gleich bisweilen die Namen wechseln; sogar ist ihr Thun, Treiben und Leiden allezeit das selbe; wenn gleich die Geschichte stets etwas Anderes zu erzählen vorgiebt: denn diese ist wie das Kaleidoskop, welches bei jeder Wendung eine neue Konfiguration zeigt, während wir eigent- lich immer das Selbe vor Augen haben. Was also dringt sich unwiderstehlicher auf, als der Gedanke, dass jenes Entstehen und Vergehen nicht das eigent- liche Wesen der Dinge treff«, sondern dieses davon unberührt hleibe, also unvergänglich sei, daher denn Alles und Jedes, was daseyn will, wirklich fortw ährend und ohne Ende da ist. Demgemäss sind in jedem ge- gebenen Zeitpunkt alle Thiergeschlechter, von der Mücke bis zum Elephanten, vollzählig beisammen. Sie haben sich bereits viel Tausend Mal erneuert und sind dabei die selben geblieben. Sie wissen nicht von Andern ihres Gleichen, die vor ihnen gelebt, oder nach ihnen leben werden: die Gattung ist es, die alle- zeit lebt, und, im Bewusstsevn der Unvergänglichkeit derselben und ihrer Identität mit ihr, sind die Indi- viduen da und wohlgemuth. Der Wille zum Leben 6l4 erscheint sich in endloser Gegenwart; weil diese die Form des Lebens der Gattung ist, welche daher nicht altert, sondern immer jung bleibt. Der Tod ist für sie, Avas der Schlaf für das Individuum, oder was für das Auge das Winken ist, an dessen Abwesenheit die Indischen Götter erkannt werden, wenn sie in Men- schengestalt erscheinen. Wie durch den Eintritt der Nacht die Welt verschwindet, dabei jedoch keinen Augenblick zu seyn aufhört; eben so scheinbar ver- geht Mensch und Thier durch den Tod, und eben so ungestört besteht dabei ihr wahres Wesen fort. Nun denke man sich jenen Wechsel von Tod und Geburt in unendlich schnellen Vibrationen, und man hat die beharrliche Objektivation des Willens, die bleibenden Ideen der Wesen vor sich, fest stehend, wie der Re- genbogen auf dem Wasserfall. Dies ist die zeitliche Unsterblichkeit. In Folge derselben ist, trotz Jahr- tausenden des Todes und der Verwesung, noch nichts verloren gegangen, kein Atom der Materie, noch we- niger etwas von dem innern Wesen, welches als die Natur sich darstellt. Demnach können wir jeden Augenblick wohlgemuth ausrufen: „Trotz Zeit, Tod und Verwesung, sind wir noch Alle beisammen!" Etwan Der wäre auszunehmen, der zu diesem Spiele ein Mal aus Herzensgrunde gesagt hätte: „Ich mag nicht mehr." Aber davon zu reden ist hier noch nicht der Ort. Wohl aber ist darauf aufmerksam zu machen, dass die Wehen der Geburt und die Bitterkeit des Todes die beiden konstanten Bedingungen sind, unter denen der Wille zum Leben sich in seiner Objektivation erhält, d. h. unser Wesen an sich, unberührt vom Laufe der Zeit und dem Hinsterben der Geschlechter, in immerwährender Gegenwart da ist und die Frucht der Bejahung des Willens zum Leben geniesst. Dies ist dem analog, dass wir nur unter der Bedingung, all- nächtlich zu schlafen, am Tage wach seyn kön- nen ; sogar ist Letzteres der Kommentar, den die Na- tur zum Verständniss jenes schwierigen Passus liefert. Denn das Substrat, oder die Ausfüllung, 7rX7;pa>[xa, oder der Stoff der Gegenwart ist durch alle Zeit eigen t- 6l5 lieh der selbe. Die Unmöglichkeit, diese Identität un- mittelbar zu erkennen, ist eben die Zeit, eine Form und Schranke unsers Intellekts. Dass, vermöge der- selben, z. B. das Zukünftige noch nicht ist, beruht auf einer Täuschung, welcher wir inne werden, wann es gekommen ist. Dass die wesentliche Form unsers Intellekts eine solche Täuschung herbeiführt, erklärt und rechtfertigt sich daraus, dass der Intellekt kei- neswegs zum Auffassen des Wesens der Dinge, son- dern bloss zu dem der Motive, also zum Dienst einer individuellen xmd zeitlichen Willenserscheinung, aus den Händen der Natur hervorgegangen ist. Wenn man die uns hier beschäftigenden Betrach- tungen zusammenfasst, wird man auch den wahren Sinn der paradoxen Lehre der Eleaten verstehen, dass es gar kein Entstehen und Vergehen gebe, sondern das Ganze unbeweglich feststehe: IlapfxeviOTj^xai MsXio- aoc avi[]0&uv "(svsoiv y.ai cpdopav, oia xo vofjLiCstv ro Tiav axivr^Tov. (Parmenides et Mellissus ortum et iuteritum tollebant, quoniam nihil moveri putabant. Stob. Eck, I, 21.) Inigleichen erhält hier auch die schöne Stelle des Empedoklefi Licht, welche Plutarch uns aufbehal- ten hat, im Buche Adversus Coloten, c. 12: NT,:rtoi' ou yap o<ptv BoXi^ocppove? sioi [xepijxvai, Ol orj YivöoBai irapo? oox eov eXTriCduot, H Tt •/aia&vT^axctv xai £;oXXuoOai a-avnr;. Oüx av avTjp ToiauTa oocpo? cppeoi fjiavTsuoaiTO, 'ß? ocppa [x£v T£ ßiu)oi (-0 07j ^lOTOv xaXeouoi), Tocppa jjLSv ouv stoiv, xai ooiv Trapa oetva xai so&Xa npiv T£ -a^sv -£ jBpoToi, xai £7:£i Xud£v, ouo£v ap' EIOIV. (Stulta. et prolixas non admittentia curas Pectora: qui spcraiit, cxistere posse, quod ante Non fnit, aut iillam rem pcssum protinus ire; — Non animo priulens liomo (juod pracscntiat ulius, Dum vivnnt (nanique hoc vitai nomine signant), Sunt, et Fortuna tum conflictantiir utraque: Ante orluni nihil est homo, nee post funera quidquam.) Nicht weniger verdient hier erwähnt zu werden die so höchst merkwürdige und an ihrem Ort über- 616 raschende Stelle in DideroCs Jacques le fataliste: uii chäleau immense, au frontispice duquel on lisait: „Je n'appartiens ä personne, et j'appartiens ä tout le mon- de: vous y etiez avant que d'y entrer, vous y serez en- core, quand vous en sortirez." In dem Sinne freilich, in welchem der Mensch hei der Zeugung aus Nichts entsteht, wird er durch den Tod zu JNichts. Dieses Nichts aher so ganz eigent- lich kennen zu lernen, wäre sehr interessant; da nur mittehnässiger Scharfsinn erfordert ist, einzusehen, dass dieses empirische Nichts keineswegs ein absolu- tes ist, d. h. ein solches, welches in jedem Sinne nichts wäre. Auf diese Einsicht leitet schon die empirische Bemerkung hin, dass alle Eigenschaften der Eltern sich im Erzeugten wiederfinden, also den Tod über- standen haben. Hievon werde ich jedoch in einem eigenen Kapitel reden. Es giebt keinen grösserenKontrast,als den zwischen der unaufhaltsamen Flucht der Zeit, die ihren ganzen Inhalt mit sich fortreisst, und der starren Unbeweg- lichkeit des wirklich Vorhandenen, welches zu allen Zeiten das eine und selbe ist. Und fasst man, von die- sem Gesichtspunkte aus, die unmittelbaren Vorgänge des Lebens recht objektiv ins x\uge; so wird Einem das Nunc stans im Mittelpunkte des Rades der Zeit klar und sichtbar. — Einem unvergleichlich länger lebenden Auge, welches mit einem Blick das Men- schengeschlecht, in seiner ganzen Dauer, umfasste, würde der stete Wechsel von Geburt und Tod sich nur darstellen wie eine anhaltende Vibration, und demnach ihm gar nicht einfallen, darin ein stets neues Werden aus Nichts zu Nichts zu sehen; sondern ihm würde, gleichwie unserm Blick der schnell gedrehte Funke als bleibender Kreis, die schnell vibrirende Feder als beharrendes Dreieck, die schwingende Saite als Spindel erscheint, die Gattung als das Seiende und Bleibende erscheinen, Tod und Geburt als Vibrationen. Von der Unzerstörbarkeit vmsers wahren Wesens durch den Tod werden wir so lange falsche Begriffe haben, als wir uns nicht entschliessen, sie zuvörderst an den Thieren zu studieren, sondern eine aparte 6l 7 Art derselben, unter dem prahlerischen Namen der Unsterblichkeit, uns allein anmaassen. Diese Anmaas- sung aber und die Beschränktheit der Ansicht, aus der sie hervor^jeht, ist es ganz allein, weswegen die meisten Menschen sich so hartnäckig dagegen sträu- ben, die am Tage liegende Wahrheit anzuerkennen, dass wir, dem Wesentlichen nach und in der Haupt- sache, das Selbe sind wie die Thiere; ja, dass sie vor jeder Andeutung unserer Verwandtschaft mit diesen zurückbeben. Diese Verleugnung der Wahrheit aber ist es, welche mehr als alles Andere ihnen den Weg versperrt zur wirklichen Erkenntniss der Unzerstör- barkeit unsers Wesens. Denn wenn man etwas auf einem falschem Wege sucht; so hat man eben des- halb den rechten verlassen und wird auf jenem am Ende nie etwas Anderes erreichen, als späte Enttäu- schung. Also frisch weg, nicht nach vorgefassten Gril- len, sondern an der Hand der Natur, die Wahrheit verfolgt! Zuvorderst lerne man beim Anblick jedes jungen Thieres das nie alternde Daseyn der Gattung erkennen, welche, als einen Abglanz ihrer ewigen Jugend, jedem neuen Individuo eine zeitliche schenkt, und es auftreten lässt, so neu, so frisch, als wäre die Welt von heute. Man frage sich ehrlich, ob die Schwalbe des heurigen Frühlings eine ganz und gar andere, als die des ersten sei, imd ob wirklich zwi- schen beiden das Wunder der Schöpfung aus Nichts sich Millionen Mal erneuert habe, um eben so oft absoluter Vernichtung in die Hände zu arbeiten. — Ich weiss wohl, dass, wenn ich Einen ernsthaft ver- sicherte, die Katze, welche eben jetzt auf dem Hofe spielt, sei noch die selbe, welche dort vor dreihun- dert Jahren die nämlichen Sprünge und Schliche ge- macht hat, er mich für toll halten würde: aber ich weiss auch, dass es sehr viel toller ist, zu glauben, die heutige Katze sei durch und durch und von Grund aus eine ganz andere, als jene vor dreihundert Jahren. — Man braucht sich nur treu und ernst in den An- blick eines dieser obern Wirbelthiere zu vertiefen, um deutlich inne zu werden, dass dieses unergründliche Wesen, wie es da ist, im Ganzen genommen, unmög- 6i8 lieh zu Nichts werden kann: und doch kennt man andererseits seine Vergänglichkeit. Dies beruht dar- auf, dass in diesem Thiere die Ewigkeit seiner Idee (Gattung) in der EndHchkeit des Individui ausgeprägt ist. Denn in gewissem Sinne ist es allerdings wahr, dasS wir im Individuo stets ein anderes Wesen vor uns haben, nändich in dem Sinne, der auf dem Satz vom Grunde beruht, unter welchem auch Zeit und Raum begriffen sind, welche das principium indivi- duationis ausmachen. In einem andern Sinne aber ist es nicht wahr, nämlich in dem, in welchem die Rea- lität allein den bleibenden Formen der Dinge, den Ideen zukommt, und welcher dem Plato so klar ein- geleuchtet hatte, dass derselbe sein Grundgedanke, das Centrum seiner Philosophie, und die Auffassung desselben sein Kriterium der Befähigung zum Philo- sophiren überhaupt wurde. Wie die zerstäubenden Tropfen des tobenden Was- serfalls mit Blitzesschnelle wechseln, während der Regenbogen, dessen Träger sie sind, in unbeweglicher Ruhe feststeht, ganz unberührt von jenem rastlosen Wechsel; so Weibt jede Idee, d. i. jede Gattung leben- der Wesen, ganz unberührt vom fortwährenden Wechsel ihrer Individuen. Die Idee aber, oder die Gattung, ist es, darin der Wille zum Leben eigent- lich jwurzelt und sich manifestirt: daher auch ist an ihrem Bestand allein ihm wahrhaft gelegen. Z. B. die Löwen, welche geboren werden und sterben, sind wie die Tropfen des Wasserfalls; aber die leonitas, die Idee, oder Gestalt, des Löwen, gleicht dem uner- schütterten Regenbogen darauf. Darum also legte Plato den Ideeti allein, d. i. den species, den Gattun- gen, ein eigentliches Seyn bei, den Individuen nur ein rastloses Entstehen und Vergehen. Aus dem tief- innersten Bewusstseyn seiner Unvergänglichkeit ent- springt eigentlich auch die Sicherheit und Gemüths- ruhe, mit der jedes thierische und auch das mensch- liche Individuum unbesorgt dahin wandelt zwischen einem Heer von Zufällen, die es jeden Augenblick vernichten können, und überdies dem Tod gerade entgegen: aus seinen iVugen blickt inzwischen die 619 Ruhe der Gattung, als welche jener Unter(i[an(j nicht anficht und nicht angeht. Auch dem Menschen könn- ten diese Ruhe die unsichern und wechselnden Dog- men nicht verleihen. Aber, wie gesagt, der Anblick jedes Thieres lehrt, dass dem Kern des Lebens, dem Willen, in seiner Manifestation der Tod nicht hin- derlich ist. Welch ein unergründliches Mysterium liegt doch in jedem Thiere! Seht das nächste, seht euern Hund an: wie wohlgemuth und ruhig er da- steht! Viele Tausende von Hunden haben sterben müssen, ehe es an diesen kam, zu leben. Aber der Untergang jener Tausende hat die Idee des Hundes nicht angefochten: sie ist durch alles jenes Sterben nicht im Mindesten getrübt worden. Daher steht der Hund so frisch und urkräftig da, als wäre dieser Tag sein erster und könne keiner sein letzter seyn, und aus seinen Augen leuchtet das unzerstörbare Princip in ihm, der Archaeus. Was ist denn nun jene Jahr- tausende hindurch gestorben? — Nicht der Hund, er steht unversehrt vor uns; bloss sein Schatten, sein Abbild in unserer an die Zeit gebundenen Erkennt- nissweise. Wiekann man doch nur glauben,dass Das ver- gehe, was immer und immer da ist und alle Zeit aus- füllt? — Freilich wohl ist die Sache empirisch er- klärlich: nämlich in dem Maasse, wie der Tod die Individuen vernichtete, brachte die Zeugung neue hervor. Aber diese empirische Erklärung ist bloss scheinbar eine solche: sie setzt ein Räthsel an die Stel- le des andern. Der metaphysische Verstand der Sache ist, wenn auch nicht so wohlfeil zu haben, doch der allein wahre und genügende. Kant, in seinem subjektiven Verfahren, brachte die grosse, w iewohl negative Wahrheit zu Tage, dass dem Ding an sich die Zeit nicht zukommen könne; weil sie in unserer Auffassung präformirt liege. Nun ist der Tod das zeitliche Ende der zeitlichen Erschei- nung: aber sobald wir die Zeit wegnehmen, giebt es gar kein Ende mehr und hat dies Wort alle Bedeu- tung verloren. Ich aber, hier auf dem objektiven W^e- ge, bin jetzt bemüht, das Positive der Sache nachzu- weisen, dass nändich das Ding an sich von der Zeit 620 und Dem, was nur durch sie möjjlich ist, dem Ent- stehen und Vergehen, unherührt bleibt, und dass die Ers(;heinungen in der Zeit sogar jenes rastlos flüch- tige, dem Nichts zunächst stehende Daseyn nicht ha- ben könnten, wenn nicht in ihnen ein Kern aus der Ewigkeit wäre. Die Ewigkeit ist heilich ein Begriff, dem keine Anschauung zum Grunde liegt: er ist auch deshalb bloss negativen Inhalts, besagt nämlich ein zeitloses Daseyn. Die Zeit ist dennoch ein blosses Bild der Ewigkeit, 6 y^povoz eixcov xoo atcuvoc, wie es Ploti- nus hat: und ebenso ist unser zeitliches Daseyn das blosse Bild unsers Wesens an sich. Dieses muss in der Ewigkeit liegen, eben weil die Zeit nur die Form un- sers Erkennens ist; vermöge dieser allein aber erken- nen wir unser und aller Dinge Wesen als vergäng- lich, endlich und der Vernichtung anheimgefallen. Im zweiten Buche habe ich ausgeführt, dass die adäquate Objektität des Willens als Dinges an sich, auf jeder ihrer Stufen die (Platonische) Idee ist; des- .gleicben im dritten Buche, dass die Ideen der Wesen das reine Subjekt des Erkennens zum Korrelat haben, folglich die Erkenntniss derselben nur ausnahmsweise, luiter besondern Begünstigungen und vorübergehend eintritt. Für die individuelle Erkenntniss hingegen, also in der Zeit, stellt die Idee sich dar unter der Form der Species, welches die durch Eingehen in die Zeit auseinandergezogene Idee ist. Daher ist also die Species die unmittelbarste Objektivation des Dinges an sich, d. i. des Willens zum Leben. Das innerste Wesen jedes Thieres, und auch des Menschen, liegt demgemäss in der Species: in dieser also wurzelt der sich so mächtig regende Wille zum Leben, nicht eigentlich im Individuo. Hingegen liegt in diesem allein das unmittelbare Bewusstseyn: deshalb wähnt es sich von der Gattung verschieden, und darum fürch- tet es den Tod. Der Wille zum Leben manifestirt sich in Beziehung auf das Individuum als Hunger und Todesfurcht; in Beziehung auf die Species als Ge- schlechtstrieb und leidenschaftliche Sorge für die Brut. In Uebereinstimmung hiemit finden wir die Natur, als welche von jenem Wahn des Individuums 62 1 frei ist, so sorf^sain für die Erhalliinf} der Gattunfj, wie {;l(^iclijjülti{j {}<'{f<^" <'<-" Unterjjanj; der Indivi- duen: diese sind ihr stets nur Mittel, jene ist ihr Zweck, Daher tritt ein {jreMer Kontrast hervor zwischen ihrem Geiz hei Ausstattun{j der Individuen und ilirer Ver- schvvcndun{j, wo es die (Jattun{; {jilt. Hier niiinUch werden ol't von einem Individuo jahrlich hundert Tausend Ktrinie und <larüher {jewoniKMi, z. H. von Bäumen, l''ischen, Kiehs(!n, Termiten u. a. m. Dort hin{je{»en ist Jedem an Kräften und Oqjanen nur kna|)[) so viel {je{;ehen, dass es bei unaus{»esetzter An- stren{}un{j sein Lehen fristen kann; weshalh (iinTliier, wenn es verstünunclt oder {jeschwa<:ht wird, in derRc- 5j(dverhun{jernnmss.Und vvoeineff(!le{jentlicheKrs|)ai- nissmöjflich war,dadiu"ch dass ein 'l'heil zur Noth ent- hehrt wiM'den konnte, ist er, sell)st ausser der Ord- nung,, zurückhehalien w(M"den; daher fehlen z. B. vie- len Raupen di<; Au(;('u: die armen 'J'iere ta[){)en im Finstern von Blatt zu Blatt, welclu^s heim Man{;el der Kiihlhörnei- dadurch j;cschieht, dass sie; sich mit drei Viertel ihres Leibes in der Luft hin und her bewe- {jen, bis sie einen Gegenstand treflen; wobei sie oft ihr dicht danel)en anzutreffendes Futter verfehlen. Allein dies geschieht in Folge der lex parsimoniae naturae, zu <ler(Mj Ausdruck natiua nihil f'acit super- vacaneum man noch fügen kann et nihil largitur. — Die selbe Richtung der Natur zei{;t sich auch darin, dass je tauglicher das Individuum, vermöge seines Alters, zui- l'\trlpflanzuii{; ist, desto kräftiger in ihm die vis naturae mcdicatrix sich äussert, seine Wun- den daher leicht heilen und es von Krankheiten leicht genest. Dieses nimmt ab mit der Zeugungsfahigkeit, und sinkt tief, nachdem sie erloschen ist: denn jetzt ist, in den Augen der Natur, das Individmun werth- los geworden. Werfen wir jetzt noch einen Blick auf die Stufen- leiter der Wesen, mit sammtder sie begleitenden Gra- dation des Bewusstseyns, vom Polypen bis zum Men- schen; so sehen wir diese wundervolle; l'yiamide zwar durch den steten 'J'od der Individuen in unaus(jesetzter Oscillation erhalten, jedoch, mittelst des Bandes der 622 Zeuf;iin{;, in den (Jattunffcn, die llnen<lli<.likeit der Zeit hindurch beharren. Wahrend nun also, wieohen ausjjeführt worden, das Objektive, die (Jattun{;, sich als unzerstörbar darstellt, scheint das Subjektive, als welches bloss im Selbstbewusstseyn dieser Wesen be- steht, von der kürz(!sten Dauer zu seyn und unabliis- si{j zerstört zu werden, um eben so oft, au('unbe{;reir- liclic Weise, wieder aus d(;m iNichts hcrvorzujjehen. Wahrlich aber muss man sehr kiu-zsichti{j seyn, inn sich durch diesen Schein tausch(!n zu lassen und nicht zu beifreilen, dass, wenn {gleich die T'orm der zeitli- chen Fortdauer nui* dem Objektiven zukommt, das 8ubj(!ktive, d. i. d<!r IVille, welcher in i\v.\u Allen lebt und erscheint, und mit ihm das Subjekt des Erkennens, in welchem dasselbe sich darstellt, — nicht minder unzerstörbar seyn nuiss; indem di<^ F^ortdauer d<!s ()bjektiv(!n, odcü* Aeusseru, doch nur die Erscheinun{{ d(!r Unzerstörbarkeit desSubjektivtiu, oder Innern, seyn kann; da Jenes nichts besitzen kann, was es nicht von Diesem zu Lehn empCanjjen hatte; nicht aber wesentlich und ursprünjflicb ein ()l)j(^kti- ves, eine h^rscheinunj}, und sodatui s(;kun(liu' und acci- dentell (mu Subjj^ktives, cÄu Dinjf an sich, (un Si^lbst- bewusstes seyn kann. Denn oflenbar setzt .Ien(!s als Erscheinim(j ein Erscheinendes, als Seyn für Anderes ein Seyn iiir sich, luid als ()bj<;kt ein Subjekt voraus; nicht aber umjjekebrt: weil id)erall die Wurzel der Din{je in dem, was sie Iiir sich selbst sind, also im Subjektiven lie{jen nuiss, nicht im Objcsktiven, d. b. in Dem, was sie erst Iiir Andere, in einem fremden ßewusstseyn sind. Demgcmäss landen wir, im (jrsten Buch, dass der ricbtijje Aus{jan{;sj)unkt für die l'hilo- sophie wesentlich und nothwendifj der sid)jektive, d. i. der idealistis(;b(! ist; wie auch, dass der ent{je- {{en{jesetzte, v()m()bjektivcnausj;elu!r4de,zumIVIal(!ria- iismus führt. — im (^nuuJeaber sind wir mit derWelt viel mehr Eins, als wir {jewöhnlich dcnk(;n: ihr inn(!- res Wesen ist unser Wille; ihr iMscbeinun/j ist unseie Vorstellun{j. Wer dieses Einsseyn sich zum deutlichen Bewusstseyn brin{;cn hönnt(!, (U'.in würde der Unter- schied zwischen der Fortdauer der Aussenwelt, nacb- 623 dem er gestorben, und seiner eigenen Fortdauer nach dem Tode verschwinden: Beides würde si(;h ihm als Eines und Dasselbe darstellen, ja, er würde über den Wahn lachen, der sie trennen konnte. Denn das Ver- ständniss der ünzerstörbarkeit unsers Wesens fällt mit dem der Identität des Makrokosmos und Mikro- kosmos zusammen. Einstweilen kann man das hier Gesagte sich durch ein eigenthümliches, mittelst der Phantasie vorzunehmendes Experiment, welches ein metaphysisches genannt werden könnte, erläutern. Man versuche nämlich, sich die keinen Falls gar ferne Zeit, da man gestorben seyn wird, lebhaft zu verge- genwärtigen. Da denkt man sich weg und lässt die Welt fortbestehen; aber bald wird man, zu eigener Verwunderung, entdecken, dass man dabei doch noch dawar. Denn man hat vermeint, die Welt ohne sich vorzustellen: allein im Bewusstseyn ist das Ich das Unmittelbare, durch welches die Welt erst vermit- telt, für welches allein sie vorhanden ist. Dieses Cen- trum alles Daseyns, diesen Kern aller Realität soll man aufheben und dabei dennoch die Welt fortl)estehen lassen : es ist ein Gedanke, der sich wohl in abstracto denken, aber nicht realisiren lässt. Das Bemühen, die- ses zu leisten, der Versuch, das Sekundäre ohne das Primäre, das Bedingte ohne die Bedingung, das Ge- tragene ohne den Träger zu denken, misslingt jedes Mal, ungefähr so, wie der, sich einen gleichseitigen rechtwinklichten Triangel, oder ein Vergehen oder Entstehen von Materie und ähnliche Unmöglichkei- ten mehr zu denken. Statt des Beabsichtigten dringt sich uns dabei das Gefühl auf, dass die Welt nicht weniger in uns ist, als wir in ihr, und dass die Quelle aller Realität in unserm Innern liegt. Das Resultat ist eigentlich dieses: die Zeit, da ich nicht seyn werde, wird objektiv konunen: aber subjektiv kann sie nie kommen. — Es liesse daher sich sogar fragen, wie weit denn Jeder, in seinem Herzen, wirklich an eine Sache glaube, die er sich eigentlich gar nicht denken kann; oder ob nicht vielleicht gar, da sich zu jenem bloss intellektuellen, aber mehr oder jninder deutlich von Jedem schon gemachten Experiment, noch das 624 tiefinnere Bewusstseyn der Unzerstörbarkeit unsers Wesens an sich gesellt, der ei}>ene Tod uns im Grun- de die fabelhafteste Sache von der Welt sei. Die tiefe Ueberzeugunfj von unserer Unvertilgbar- keit durch den Tod, welche, wie auch die unausbleib- lichen Gewissenssorgen bei Annäherung desselben be- zeugen, Jeder im Grunde seines Herzens trägt, hängt durchaus an dem Bewusstseyn unserer Ursprünglich- keit und Ewigkeit; daher Spinoza sie so ausdrückt: sentimus, experimurque, nos aeternos esse. Denn als unvergänglich kann ein vernünftiger Mensch sich nur denken, sofern er sich als anfangslos, als ewig, eigent- lich als zeitlos denkt. Wer hingegen sich für aus Nichts geworden hält, muss auch denken, dass er wie- der zu Nichts wird: denn dass eine Unendlichkeit ver- strichen wäre, ehe er war, dann aber eine zweite an- gefangen habe, welche hindurch er nie aufhören wird zu seyn, ist ein monströser Gedanke. Wirklich ist der sohdeste Grund für unsere Unvergänglichkeit der alte Satz: Ex nihilo nihil fit, et in nihilum nihil po- test reverti. Ganz treffend sagt daher Theophrastus Pa- ?^acelsns (Werke, Strasburg i6o3, Bd. 2, S. 6): „Die Seel in mir ist aus Etwas geworden ; darum sie nicht zu Nichts kommt: denn aus Etwas kommt sie." Er giebt den wahren Grund an. Wer aber die Geburt des Menschen für dessen absoluten Anfang hält, dem muss der Tod das absolute Ende desselben seyn. Denn beide sind was sie sind in gleichem Sinne: folglich kann Jeder sich nur ivi sofern als unsterblich denken, als er sich auch als iingehoren denkt, und in gleichem Sinn. Was die Gebuit ist, das ist, dem Wesen und der Bedeutung nach, auch der Tod; es ist die selbe Linie in zwei Richtungen beschrieben. Ist jene eine wirkliche Entstehung aus Nichts; so ist auch dieser eine wirkliche Vernichtung. In Wahrheit aber lässt sich nur mittelst der Ewigkeil unsers eigentlichen Wesens eine Unvergänglichkeit desselben denken, welche mithin keine zeitliche ist. Die Annahme, dass der Mensch aus Nichts geschaffen sei, führt nothwen- dig zu der, dass der Tod sein absolutes Ende sei. Hier- in ist also das A. T. völlig konsequent: denn zu einer 40 Schopenhauer II 02 D Schöpfung ausNichts passt keineUnsterblichkeitslehre. Das neutestamentliche Christenthum hat eine solche, weil es Indischen Geistes und daher, mehr als wahr- scheinlich, auch Indischer Herkunft ist, wenn gleich nur unter Aegyptischer Vermittelung. Allein zu dem Jüdischen Stamm, auf welchen jene Indische Weis- heit im gelobten Land gepfropft werden musste, passt solche wie die Freiheit des Willens zum Geschafi^'en- seyn desselben, oder wie Ilumano capiti cerviccm pictor equinam Jüngere si velit. Es ist immer schlimm, wenn man nicht von Grund aus originell seyn und aus ganzem Holze schneiden darf. — Hingegen haben Brahmanismus und Bud- dhaismus ganz konsequent zur Fortdauer nach dem Tode ein Daseyn vor der Geburt, dessen Verschuldung abzubüssen dieses Leben da ist. Wie deutlich sie auch der nothwendigen Konsequenz hierin sich bewusst sind, zeigt folgende Stelle aus Coleb7'ookes Geschichte der Indischen Philosophie in den Transact. of the Asiatic London Society, Vol. i, p, 677: Against the System of the Bhagavatas, which is but partially here- tical, the objection upon which the chief stress is laid by Vyasa is, that the soul would not be eternal, if it were a production, and consequently had a beginning*). Ferner in Upham's Doctrine of Buddhism, S. 1 10, heisst es: The lot in hell of impious persons call'd Deitty is the most severe : these are they, who discre- diting the evidence of Buddha, adhere to tbeheretical doctrine, that all living belngs had their beginning in the mother's womb, and will have their end in death**). ') „Gegen das System der Bhagavatas, welches nur zumTheil ketzerisch ist, ist dieEinwendung, auf welche Vyasa das grösste Gewicht legt, diese, dass die Seele nicht ewig seyn würde, wenn sie hervorgchraclit wäre und folglich einen Anfang hätte." **) „In der Hölle ist das härteste Loos das jener Irreligiösen, dieDeittv genannt werden: dies sind solche, welche, dasZeug- niss Buddhas verwerfend, der ketzerischen Lehre anhängen, dass alle lehenden Wesen ihren Anfang im Mutterleibe nehmen und ihr Ende im Tode erreichen." 626 Wer sein Daseyn bloss als ein zufälliges auffasst, muss allerdings fürchten, es durch den Tod zu ver- lieren. Hingegen wer auch nur im Allgemeinen ein- sieht, dass dasselbe auf irgend einer ursprünglichen Nothwendigkeit beruhe, wird nichtglauben, dassdiese, die etwas so wundervolles herbeigefiUirt hat, auf eine solche Spanne Zeit beschränkt sei, sondern dass sie in jeder wirke. Als ein noth wendiges aber wird sein Daseyn erkennen, wer erwägt, dass bis jetzt, da er existirt, be- reits eine unendliche Zeit, also auch eine Unendlichkeit von Veränderungen abgelaufen ist, er aber dieser un- geachtet doch da ist: die ganze Möglichkeit aller Zu- stände hat sich also bereits erschöpft, ohne sein Da- seyn aufheben zu können. Könnte er jemals nicht seyn ; so wäre er schon jetzt nicht. Denn die Unendlichkeit der bereits abgelaufenen Zeit, mit der darin erschöpften Möglichkeit ihrer Vorgänge, verbürgt, dass was exi- stirt nothwendig existirt. Mithin hat Jeder sich als ein nothwendiges Wesen zu begreifen, d. h. als ein solches, aus dessen wahrer und erschöpfender Definition, wenn man sie nur hätte, das Daseyn desselben folgen würde. In diesem Gedankengange liegt wirklich der allein immanente, d. h. sich im Bereich erfahrungsmässiger Data haltende Beweis der Unvergänglichkeit unsers eigentlichen Wesens. Diesem nämlich muss die Exi- stenz inhäriren, weil sie sich als von allen durch die Kausalkette möglicherweise herbeiführbaren Zustän- den unabhängig erweist: denn diese haben bereits das Ihrige gethan, und dennoch ist unser Daseyn davon so unerschüttert geblieben, wie der Lichtstrahl vom Sturmwind, den er durchschneidet. Könnte die Zeit, aus eigenen Kräften, uns einem glücksäligen Zustande entgegenführen; so wären wir schon lange da: denn eine unendliche Zeit liegt hinter uns. Aber ebenfalls: könnte sie uns dem Untergange entgegenführen; so wären wir schon längst nicht mehr. Daraus, dass wir jetzt da sind, folgt, wohlerwogen, dass wir jederzeit daseyn müssen. Denn wir sind selbst das Wesen, wel- ches die Zeit, um ihre Leere auszufüllen, in sich auf- genommen hat: deshalb füllt es eben die ganze Zeit, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft auf gleiche 4o* 627 Weise, und es ist uns so unmöglich, aus dem Daseyn, wie aus dem Raum hinauszufallen. — Genau hetrachtet ist es undenkbar, dass Das, was ein Mal in aller Kraft der Wirklichkeit da ist, jemals zu nichts werden und dann eine unendliche Zeit hindurch nicht seyn sollte. Hieraus ist die Lehre der Christen von der Wieder- bringimg aller Dinge, die der Hindu von der sich stets erneuernden Schöpfung der Welt durch Brahma, nebst ähnlichen Dogmen Griechischer Philosophen hervor- gegangen. — Das grosse Geheimniss unsers Seyns und Nichtseyns, welches aufzuklären diese und alle damit verwandten Dogmen erdacht wurden, beruht zuletzt darauf, dass das Selbe, was objektiv eine unendliche Zeitreihe ausmacht, subjektiv ein Punkt, eine untheil- bare, allezeit gegenwärtige Gegenwart ist: aber wer fasst es? Am deutlichsten hat es Kant dargelegt, in seiner unsterblichen Lehre von der Idealität der Zeit und der alleinigen Realität des Dinges an sich. Denn aus dieser ergiebt sich, dass das eigentlich Wesentliche der Dinge, des Menschen, der Welt, bleibend und be- harrend im Nunc sians liegt, fest und unbeweglich; und dass der Wechsel der Erscheinungen und Begeben- heiten eine blosse Folge unserer Auffassung desselben mittelst unserer Anschauungsform der Zeit ist. Dem- nach, statt zu den Menschen zu sagen : „ihr seid durch die Geburt entstanden, aber unsterblich"; sollte man ihnen sagen: ,,ihr seid nicht Nichts", und sie dieses verstehen lehren, im Sinne des dem Hermes Trisme- gistos beigelegten Ausspruchs: To Yap 6v dsi datat. (Ouod enini est, erit semper. Stob. Ecl., I, 43, 6.) Wenn es jedoch hiemit nicht gelingt, sondern das beängstigte Herz sein altes Klagelied anstimmt: „Ich sehe alle Wesen durch die (jeburt aus dem Nichts entstehen und diesem nach kurzer Frist wieder anheimfallen; auch mein Dasevn, jetzt in der Gegenwart, wird bald in ferner Vergangenheit liegen, und ich werde Nichts seyn!" — so ist die richtige Antwort: „Bist du nicht da? Hast du sie nicht inne, die kostbare Gegenwart, nach der ihr Kinder der Zeit alle so gierig trachtet, jetzt inne, wirklich inne? Und verstehst du, wie du zu ihr gelangt bist? Kennst du die Wege, die dich zu 628 ihr {geführt haben, dass du einsehen könntest, sie würden dir durch den Tod versperrt? Ein Daseyn deines Selbst, nach der Zerstörung deines Leibes, ist dir seiner Möyhchk ei t nach unbegreiflich: aber kann es dii- unbegreifHcher seyn, als dir dein jetziges Da- seyn ist, und wie du dazu gelangtest? Warum solltest du zweifeln, dass die geheimen Wege, die dir zu dieser Gegenwart offen standen, dir nicht auch zu jeder künf- tigen offen stehen werden?" Wenn also Betrachtungen dieser Art allei'dings ge- eignet sind, die Ueberzeugung zu erwecken, dass in uns etwas ist, das der Tod nicht zerstören kann; so geschieht es doch nur mittelst Erhebung auf einen Standpunkt, von welchem aus die Geburt nicht der Anfang unsers Daseyns ist. Hieraus aber folgt, dass was als durch den Tod unzerstörbar dargethan wird, nicht eigentlich das Individuum ist, welches überdies durch die Zeugung entstanden und die Eigenschaften des Vaters und der Mutter an sich tragend, als eine blosse Differenz der Species sich darstellt, als solche aber nur endlich seyn kann. Wie, Dem entsprechend, das Individuum keine Erinnerung seines Daseyns vor seiner Geburt hat, so kann es von seinem jetzigen keine nach dem Tode haben. In das Beumsstseyn aber setzt Jeder sein Ich: dieses erscheint ihm daher als an die Indi- vidualitat gebunden, mit welcher ohnehin alles Das untergeht, was ihm, als Diesem, eigenthümlich ist und ihn von den Andern unterscheidet. Seine Fort- dauer ohne die Individualität wird ihm daher vom Fortbestehen der übrigen Wesen ununterscheidbar, und er sieht sein Ich versinken. Wer nun aber so sein Daseyn an die Identität des Bexvusstseyns knüpft und daher für dieses eine endlose Fortdauer nach dem Tode verlangt, sollte bedenken, dass er eine solche jedenfalls nur um den Preis einer eben so endlosen Vergangen- heit vor der Geburt erlangen kann. Denn da er von einem Daseyn vor der Geburt keine Erinnerung hat, sein Bewusstseyn also mit der Geburt anfängt, miiss ihm diese für ein Hervorgehen seines Daseyns aus dem Nichts gelten. Dann aber erkauft er die unendliche Zeit seines Daseyns nach dem Tode für eine eben so 629 lange vor der Geburt: wobei die Rechnung, ohne Profit für ihn, aufgeht. Ist hingegen das Daseyn, wel- ches der Tod unberührt lässt, ein anderes, als das des individuellen Bewusstseyns; so muss es, eben so wie vom Tode, auch von der Geburt unabhängig seyn, und demnach in Beziehung auf dasselbe es gleich wahr seyn zu sagen: „ich werde stets seyn" und „ich bin stets gewesen"; welches dann doch zwei Unendlich- keiten für eine giebt. — Eigentlich aber liegt im Worte Ich das grösste Aequivokum, wie ohne Weiteres Der einsehen wird, dem der Inhalt unsers zweiten Buches und die dort durchgeführte Sonderung des wollenden vom erkennenden Theil unsers Wesens gegenwärtig ist. Je nachdem ich dieses Wort verstehe, kann ich sagen : ,,Der Tod ist mein gänzliches Ende"; oder aber auch: ,,Ein so unendlich kleiner Theil der Welt ich bin; ein eben so kleiner Theil meines wahren Wesens ist diese meine persönliche Erscheinung." Aber das Ich ist der finstere Punkt im Bewusstseyn, wie auf der Netzhaut gerade der Eintrittspunkt des Sehenerven blind ist, wie das Gehirn selbst völlig unempfindlich, der Sonnenkörper finster ist und das Auge Alles sieht, nur sich selbst nicht. Unser Erkenntnissvermögen ist ganz nach Aussen gerichtet. Dem entsprechend, dass es das Produkt einer zum Zwecke der blossen Selbst- erhaltung, also des Nahrungsuchens und Beutefangens entstandenen Gehirnfunktion ist. Daher weiss Jeder von sich nur als von diesem Individuo, wie es in der äus- seren Anschauung sich darstellt. Könnte er hingegen zum Bewusstseyn bringen was er noch überdies und ausserdem ist; so würde er seine Individualität willig fahren lassen, die Tenacität seiner Anhänglichkeit an dieselbe belächeln und sagen: „Was kümmert der Ver- lust dieser Individualität mich, der ich die Möglich- keit zahlloser Individualitäten in mir trage?" Er würde einsehen, dass, wenn ihm gleich eine Fortdauer seiner Individualität nicht bevorsteht, es doch ganz so gut ist, als hätte er eine solche; weil er einen vollkomme- nen Ersatz für sie in sich trägt. — Ueberdies liesse sich nun aber noch in Erwägimg bringen, dass die Individualität der meisten Menschen eine so elende 63o und nichtswürdige ist, dass sie wahrlieh nichts daran verheren, und dass was an ihnen noch einigen Werth haben mag, das allgemein Menschliche ist: diesem aber kann man die Un Vergänglichkeit versprechen. Ja, schon die starre ünveränderlichkeit und wesentliche Beschränkung jeder Individualität, als solcher, müsste, bei einer endlosen Fortdauer derselben, endlich, durch ihre Monotonie, einen so grossen Ueberdruss erzeugen, dass man, um ihrer nur entledigt zu seyn, lieber zu Nichts würde. Unsterblichkeit der Individualität ver- langen, heisst eigentlich einen Irrthum ins Unendliche perpetuiren wollen. Denn im Grunde ist doch jede Individualität nur ein specieller Irrthum, Fehltritt, etwas das besser nicht wäre, ja, wovon uns zurück- zubringen der eigentliche Zweck des Lebens ist. Dies findet seine Bestätigung auch darin, dass die aller- meisten, ja, eigentlich alle Menschen so beschaffen sind, dass sie nicht glücklich seyn könnten, in welche Welt auch immer sie versetzt werden möchten. In dem Maasse nämlich, als eine solche Noth und Be- schwerde ausschlösse, würden sie der Langenweile anheimfallen, und in dem Maasse, als dieser vorgebeugt wäre, würden sie in Noth, Plage und Leiden gerathen. Zu einem glücksäligen Zustande des Menschen wäre also keineswegs hinreichend, dass man ihn in eine „bessere Welt" versetzte, sondern auch noch erfordert, dass mit ibm selbst eine Grundveränderung vorgienge, also dass er nicht mehr wäre was er ist, und dagegen würde was er nicht ist. Dazu aber muss er zuvörderst aufhören zu seyn was er ist : dieses Erforderniss erfüllt vorläufig der Tod, dessen moralische Noth wendigkeit sich von diesem Gesichtspunkt aus schon absehen lässt. In eine andere Welt versetzt werden, und sein ganzes Wesen verändern, — ist im Grunde Eins und dasselbe. Hierauf beruht auch zuletzt jene Abhängigkeit des Objektiven vom Subjektiven, welche der Idealismus unsers ersten Buches darlegt : demnach liegt hier der Anknüpfungspunkt der Transscendentalphilosophie an die Ethik. Wenn man dies berücksichtigt, wird man das Erwachen aus dem Traume des Lebens nur dadurch möglich finden, dass mit demselben auch sein 63l ganzes Grundgewebe zerrinnt; dies aber ist sein Organ selbst, der Intellekt, sanimt seinen Formen, als mit welchem der Traum sich ins Unendliche fortspinnen würde; so fest ist er mit jenem verwachsen. Das, was ihn eigentlich träutntc, ist doch noch davon verschieden und bleibt allein übrig. Hingegen ist die Besorgniss, es möchte mit dem Tode Alles aus seyn. Dem zu ver- gleichen, dass Einer im Traume dächte, es gäbe bloss Träume, ohne einen Träumenden. — Nachdem nun aber durch den Tod ein individuelles Bewusstseyn ein Mal geendigt hat; wäre es da auch nur wünschens- werth, dass es wieder angefacht würde, um ins End- lose fortzubestehen? Sein Inhalt ist, dem grössten Theile nach, ja meistens durchweg, nichts als ein Strom kleinlicher, irdischer, armsäliger Gedanken und end- loser Sorgen ; lasst diese doch endlich beruhigt wer- den! — Mit richtigem Sinne setzten daher die Alten auf ihre Grabsteine: securitati perpetuae; — oderbonae quieti. Wollte man aber gar hier, w ie so oft geschehen, Fortdauer des individuellen Bewusstseyns verlangen, um eine jenseitige Belohnung oder Bestrafung daran zu knüpfen; so würde es hiemit im Grunde nur auf die Vereinbarkeit der Tugend mit dem Egoismus ab- gesehen seyn. Diese Beiden aber werden sich nie um- armen: sie sind von Grund aus Entgegengesetzte. Wohlbegründet hingegen ist die unmittelbare Ueber- zeugung, welche der Anblick edler Handlungen her- vorruft, dass der Geist der Liebe, der Diesen seiner Feinde schonen, Jenen des zuvor nie Gesehenen sicli mit Lebensgefahr annehmen heisst, nimmermehr ver- fliegen und zu Nichts werden kann. — Die gründlichste Antwort auf die Frage nach der Fortdauer des Individuums nach dem Tode liegt in Kants grosser Lehre von der Idealität der Zeit, als welche gerade hier sich besonders folgenreich imd fruchtbar erweist, indem sie, durch eine völlig theoretische aber wohlerwiesene Einsicht, Dogmen, die auf dem einen wie auf dem andern Wege zum Absurden führen, ersetzt und so die excitirendeste aller metaphysischen Fragen mit einem Male beseitigt. Anfangen, Enden und F'ortdauern sind Begriffe, welche ihre Bedeutung 632 einzig und allein von der Zeit entlehnen und folglich nur unter Voraussetzung dieser gelten. Allein die Zeit hat kein absolutes Daseyn, ist nicht die Art und Weise des Seyns an sich der Dinge, sondern bloss die Form unserer Erkenntniss von unserni und aller Dinge Da- seyn und Wesen, welche eben dadurch sehr unvoll- kommen und auf blosse Erscheinungen beschränkt ist. In Hinsicht aul diese allein also finden die Begrifl^ von Aulhören und Fortdauern Anwendimg, nicht in Hinsicht auf das in ihnen sich Darstellende, das Wesen an sich der Dinge, auf welches angewandt jene Be- griffe daher keinen Sinn mehr haben. Dies zeigt sich denn auch daran, dass eine Beantwortung der von jenen Zeit-Begriflen ausgehenden Frage unmöglich wird und jede Behauptung einer solchen, sei sie auf der einen oder der andern Seite, schlagenden Einwür- fen unterliegt. Man könnte zwar behaupten, dass unser Wesen an sich nach dem Tode fortdauere, weil es falsch sei, dass es untergienge; aber eben so gut, dass es untergienge, weil es falsch sei, dass es fortdauere: im Grunde ist das Eine so wahr wie das Andere. Hier liesse sich demnach allerdings so etwas, wie eine An- tinomie aufstellen. Allein sie würde auf lauter Nega- tionen beruhen. Man spräche darin dem Subjekt des Unheils zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Prä- dikate ab; aber nur weil die ganze Kategorie derselben auf jenes nicht anwendbar wäre. Wenn man nun aber jene beiden Prädikate nicht zusammen, sondern ein- zeln ihm abspricht, gewinnt es den Schein, als wäre das kontradiktorische Gegentheil des jedesmal abge- sprochenen Prädikats dadurch von ihm bewiesen. Dies beruht aber darauf, dass hier inkommensurable Grössen verglichen werden, insofern das Problem uns auf einen Schauplatz versetzt, welcher die Zeit auf- hebt, dennoch aber nach Zeitbestimmvmgen fragt, welche folglich dem Subjekt beizulegen und ihm ab- zusprechen gleich falsch ist: dies eben heisst: das Prob- lem ist transscendent. In diesem Sinne bleibt der Tod ein Mysterium. Hingegen kann man, eben jenen Unterschied zwi- schen Erscheinung und Ding an sich festhaltend, die Behauptung aufstellen, dass der Mensch zwar als Erscheinunjj vergänglich sei, das Wesen an sich des- selben jedoch hievon nicht niitgetroffen werde, das- selbe also, obwohl man, wegen der diesem anhängen- den Elimination der Zeit-Begriffe, ihm keine Fort- dauer beilegen könne, doch unzerstörbar sei. Demnach würden wir hier auf den Begriff einer ünzerstörbar- keit, die jedoch keine Fortdauer wäre, geleitet. Dieser Begriff nun ist ein solcher, der, auf dem Wege der Abstraktion gewonnen, sich auch allenfalls in ab- stracto denken lässt, jedoch durch keine Anschauung belegt, mithin nicht eigentlich deutlich werden kann. Andererseits jedoch ist hier festzuhalten, dass wir nicht, mit Kant, die Erkennbarkeit des Dinges an sich schlechthin aufgegeben haben, sondern wissen, dass dasselbe im Willen zu suchen sei. Zwar haben wir eine absolute und erschöpfende Erkenntniss des Dinges an sich nie behauptet, vielmehr sehr wohl eingesehen, dass, Etwas nach dem, was es schlechthin an und für sich sei, zu erkennen, unmöglich ist. Denn sobald ich erkenne, habe ich eine Vorstellung; diese aber kann, eben weil sie meine Vorstellung ist, nicht mit dem Erkannten identisch seyn, sondern glebt es, indem sie es aus einem Seyn für sich zu einem Seyn für Andere macht, in einer ganz andern Form wieder, ist also stets noch als Erscheinung desselben zu betrachten. Für ein ej-kennendes Bewusstseyn, wie immer solches auch beschaffen seyn möge, kann es daher stets nur Erscheinungen geben Dies wird selbst dadurch nicht ganz beseitigt, dass mein eigenes Wesen das Erkannte ist: denn sofern es in mein erkennendes Bewusstseyn fallt, ist es schon ein Beflex meines Wesens, ein von diesem selbst Verschiedenes, also schon in gewissem Grad Erscheinung. Sofern ich also ein Erkennendes bin, habe ich selbst an meinem eigenen Wesen eigent- lich nur eine Erscheinung: sofern ich hingegen dieses Wesen selbst unmittelbar bin, bin ich nicht erken- nend. Denn dass die Erkenntniss nur eine sekundäre Eigenschaft unsers Wesens und dur( h die animalische Natur desselben herbeigeführt sei, ist im zweiten Buch genugsam bewiesen. Streng genommen erken- 634 nen Avir also auch unsern Willen immer nur noch als Erscheinung und nicht nach Dem, was er schlecht- hin an und für sich seyn mag. Allein eben in jenem zweiten Buch, wie auch in der Schrift vom Willen in der Natur, ist ausführlich dargethan und nach- gewiesen, dass, wenn wir, um in das Innere der Dinge zu dringen, das nur mittelbar und von Aussen Gege- bene verlassend, die einzige Erscheinung, in deren Wesen uns eine unmittelbare Einsicht von Innen zu- gänglich ist, festhalten, wir in dieser als das Letzte und den Kern der Realität ganz entschieden den Wil- len finden, in welchem wir daher das Ding an sich insofern erkennen, als es hier nicht mehr den Raum, aber doch noch die Zeit zur Form hat, mithin eigent- lich nur in seiner unmittelbarsten Manifestation und daher mit dem Vorbehalt, dass diese Erkenntniss des- selben noch keine erschöpfende und ganz adäquate sei. In diesem Sinne also halten wir auch hier den Begriff des Willens als des Dinges an sich fest. Auf den Menschen, als Erscheinung in der Zeit, ist der Begriff des Aufhörens allerdings anwendbar und die empirische Erkenntniss legt unvei'hohlen den Tod als das Ende dieses zeitlichen Daseyns dar. Das Ende der Person ist eben so real, wie es ihr Anfang war, und in eben dem Sinne, wie wir vor der Geburt nicht waren, werden wir nach dem Tode nicht mehr seyn. Jedoch kann durch den Tod nicht mehr auf- gehoben werden, als durch die Geburt gesetzt war; also nicht Das, wodurch die Geburt allererst möglich geworden. In diesem Sinne ist natus et denatus ein schöner Ausdruck. Nun aber liefert die gesammte empirische Erkenntniss blosse Erscheinungen; nur diese daher werden von den zeitlichen Hergängen des Entstehens und Vergehens getroffen, nicht aber das Erscheinende, das Wesen an sich. Für dieses existiert der durch das Gehirn bedingte Gegensatz von Ent- stehen und Vergehen gar nicht, sondern hat hier Sinn und Bedeutung verloren. Dasselbe bleibt also unangefochten vom zeitlichen Ende einer zeitlichen Erscheinung und behält stets dasjenige Daseyn, auf welches die Begriffe von Anfang, Ende und Fortdauer 635 nicht anwendbar sind. Dasselbe aber ist, so weit wir es verfol{jen können, in jedem erscheinenden Wesen der Wille desselben: so auch im Menschen. Das Be- wusstsein hinge{jen besteht im Erkennen: dieses aber gehört, wie {;enugsam nachgewiesen, als Thätigkeit des Gehirns, mithin als Funktion des Organismus, der blossen Erscheinung an, endigt daher mit dieser: der Wille allein, dessen Werk oder vielmehr Abbild der Leib war, ist das Unzerstörbare. Die strenge Un- terscheidung des Willens von der Erkenntniss, nebst dem Primat des erstem, welche den Grundcharakter meiner Philosophie ausmacht, ist daher der alleinige Schlüssel zu dem sich auf mannigfaltige Weise kund gebenden und in jedem, sogar dem ganz rohen Be- wusstseyn stets von Neuem aufsteigenden Wider- spruch, dass der Tod unser Ende ist, und wir den- noch ewig und unzerstörbar sein müssen, also dem sentimus, experimurque nos aeternos esse des Spinoza. Alle Philosophen haben darin geirrt, dass sie das Metaphysische, das Unzerstörbare, das Ewige im Menschen in den Intelleht setzten : es liegt ausschliess- lich im fVillen, der von jenem gänzlich verschieden und allein ursprünglich ist. Der Intellekt ist, wie im zweiten Buche auf das Gründlichste dargeihan wor- den, ein sekundäres Phänomen und durch das Gehirn bedingt, daher mit diesen) anfangend und endend. Der Wille allein ist das Bedingende, der Kern der ganzen Erschein unjj, von den F'ormen dieser, zu wel- chen die Zeit gehört, somit frei, also auch unzerstör- bar. Mit dem Tode geht demnach zwar das Bewusstseyn verloren, nicht aber Das, was das Bewusstsevn hervor- brachte und erhielt: das Leben erlischt, nicht aber mit ihm das Princip des Lebens, welches in ihm sich manifestirte. Daher also sagt Jedem ein sicheres Gefühl, dass in ihm etwas schlechthin Unvergäng- liches und Unzerstörbares sei. Sogar das Frische und Lebhafte der Erinnerungen aus der fernsten Zeit, aus der ersten Kindheit, zeugt davon, dass irgend etwas in uns nicht mit der Zeit sich fortbewegt, nicht altert, sondern unverändert beharrt. Aber was dieses Unver- gängliche sei, konnte man sich nicht deutlich machen. 636 Es ist nicht das Bewusstseyn, so wenig wie der Leib, auf welchem offenbar das ßewusstseyn beruht. Es ist viehiiehr Das, worauf der Leib, mit sammt dem ße- wusstseyn beruht. Dieses aber ist eben Das, was, in- dem es ins Bewusstseyn fällt, sich als JVille darstellt. Ueber diese unmittelbarste Erscheinung desselben hinaus können wir freilich nicht, weil wir nicht über das Bewusstseyn hinaus können: daher bleibt die Frage, was denn Jenes seyn möge, sofern es nicht ins Bewusstseyn fällt, d. h. was es schlechthin an sich selbst sei, unbeantwortbar. In der Erscheinung und mittelst deren Formen, Zeit und Raum, als principium individuationis, stellt es sich so dar, dass das menschliche Individuum untergeht, hingegen das Menschengeschlecht immer- fort bleibt und lebt. Allein im Wesen an sich der Dinge, als welches von diesen Formen frei ist, fällt auch der ganze Unterschied zwischen dem Individuo und dem Geschlechte weg, und sind Beide unmittel- bar Eins. Der ganze Wille zum Leben ist im Indi- viduo, wie er im Geschlechte ist, und daher ist die Fortdauer der Gattung bloss das Bild dej" Unzerstör- barkeit des Individui. Da nun also das so unendlich wichtige Verständ- niss der Unzerstörbarkeit unsers wahren Wesens durch den Tod gänzlich auf dem Unterschiede zwischen Erscheinung und Ding an sich beruht, will ich eben diesen jetzt dadurch in das hellste Licht stellen, dass ich ihn am Gegentheil des Todes, also an der Ent- stehung der animalischen Wesen, d. i. der Zeugung, erläutere. Denn dieser mit dem Tode gleich geheim- nissvolle Vorgang stellt uns den fundamentalen Gegen- satz zwischen Erscheinung und Wesen an sich der Dinge, d. i. zwischen der Welt als Vorstellung und der Welt als Wille, wie auch die gänzliche Hetero- geneität der Gesetze Beider, am unmittelbarsten vor Augen. Der Zeugungsakt nämlich stellt sich uns auf zweifache Weise dar: erstlich für das Selbstbewusst- seyn, dessen alleiniger Gegenstand, wie ich oft nach- gewiesen habe, der W^ille mit allen seinen Affektionen ist; und sodann für das Bewusstseyn anderer Dinge, 637 (1. i. der Welt der Vorstellung, oder der empirischen Realität der T3inge. Von der Willensseite nun, also innerlich, subjektiv, für das Selbstbewusstseyn, stellt jener Akt sich dar als die unmittelbarste und voll- kommenste Befriedigung des Willens, d. i. als Wollust. Von der Vorstellungsseite hingegen, also äusserlich, objektiv, für das Bevvusstseyn von andern Dingen, ist eben dieser Akt der Einschlag zum allerkünstlichsten Gewebe, die Grundlage des unaussprechlich kompli- cirten animalischen Organisnms, der dann nur noch der Entwickelung bedarf, um unsern erstaunten Augen sichtbar zu werden. Dieser Organismus, dessen ins Unendliche gehende Komplikation und Vollen- dung nur Der kennt, welcher Anatomie studirt hat, ist, von der Vorstellungsseite aus, nicht anders zu begreifen und zu denken, als ein mit der planvollsten Kombination ausgedachtes und mit überschwänglicher Kunst und Genauigkeit ausgeführtes System, als das mühsäligste Werk der tiefsten Ueberlegung: — nun aber von der Willensseite kennen wir, durch das Selbstbewusstseyn, seine Hervorbringung als das Werk eines Aktes, der das gerade Gegentheil aller Ueber- legung ist, eines ungestümen Jilinden Dranges, einer überschwän glich wollüstigen Empfindung. Dieser Gegensatz ist genau verwandt mit dem oben nach- gewiesenen unendlichen Kontrast zwischen der abso- luten Leichtigkeit, mit der die Natur ihre Werke hervorbringt, nebst der dieser entsprechenden grän- zenlosen Sorglosigkeit, mit welcher sie solche der Vernichtung Preis gibt, — und der unberechenbar künstlichen und durchdachten Konstruktion eben dieser Werke, nach welcher zu urtheilen sie unend- lich schwer zu machen und daher über ihre Erhal- tung mit aller ersinnlichen Sorgfalt zu wachen sevn müsste; wahrend wir das Gegentheil vorxVugen haben. — Haben wir nun, durch diese, freilich sehr imge- wöhnliche Betrachtung die beiden heterogenen Seiten der Welt aufs schroffeste an einander gebracht und sie gleichsam mit einer Faust umspannt; so müssen wir sie jelzt festhalten, um uns von der ganzlichen Ungültigkeit der Gesetze der Erscheinung, oder Welt 638 als Vorstellung, für die des Willens, oder der Dinge an sich, zu überzeugen: dann wird es uns fasslicher werden, dass, während auf der Seite der Vorstellung, d. i. in der Erscheinungswelt, sich uns bald ein Ent- stehen aus Nichts, bald eine gänzliche Vernichtung des Entstandenen darstellt, von jener andern Seite aus, oder an sich, ein Wesen vorliegt, auf welches angewandt die Begriffe von Entstehen und Vergehen gar keinen Sinn haben. Denn wir haben soeben, in- dem wir auf den Wurzelpunkt zurückgiengen, wo, mittelst des Selbstbewusstseyns, die Erscheinung und das Wiesen an sich zusammenstossen, es gleichsam mit Händen gegriffen, dass Beide schlechthin inkom- mensurabel sind, und die ganze Weise des Seyns des Einen, nebst allen Grundgesetzen dieses Seyns, im Andern nichts und weniger als nichts bedeutet. — ich glaube, dass diese letzte Betrachtung nur von Wenigen recht verstanden werden, und dass sie Allen, die sie nicht verstehen, missfällig und selbst anstössig seyn wird: jedoch werde ich deshalb nie etwas weg- lassen, was dienen kann, meinen Grundgedanken zu erläutern. — Am Anfange dieses Kapitels habe ich auseinander- gesetzt, dass die grosse Anhänglichkeit an das Leben, oder vielmehr die Furcht vor dem Tode, keineswegs aus der Erkennbiiss entspringt, in welchem Fall sie das Resultat des erkannten Werthes des Lebens seyn würde; sondern dass jene Todesfurcht ihre Wurzel unmittelbar im Willen hat, aus dessen ursprünglichem Wesen, in welchem er ohne alle Erkenntnis«, und daher blinder Wille zum Leben ist, sie hervorgeht. Wie wir in das Leben hineingelockt werden durch den ganz illusorischen Trieb zur Wollust; so werden wir darin festgehalten durch die gewiss eben so illu- sorische Furcht vor dem Tode. Beides entspringt unmittelbar aus dem Willen, der an sich erkenntniss- los ist. Wäre, umgekehrt, der Mensch ein bloss er- kennendes Wesen ; so müsste der Tod ihm nicht nur gleichgültig, sondern sogar willkommen seyn. Jetzt lehrt die Betrachtung, zu der wir hier gelangt sind, dass was vom Tode getroffen wird, bloss das ei^kennende 639 Bewusstseyn ist, hinfjejjen der JVille, sofern er das Ding an sich ist, welches jeder individuellen Erschei- nung zum Grunde liegt, von allein auf Zeitbestim- mungen Beruhenden frei, also auch unvergänglich ist. Sein Streben nach Daseyn imd Manifestation, woraus die Welt hervorgeht, wird stets erfüllt: denn diese begleitet ihn wie den Körper sein Schatten, indem sie bloss die Sichtbarkeit seines Wesens ist. Dass er in uns dennoch den Tod fürchtet, kommt daher, dass hier die Erkenntniss ihm sein Wesen bloss in der individuellen Erscheinung vorhält, woraus ihm die Täuschung entsteht, dass er mit dieser untergehe, ctwan wie mein Bild im Spiegel, wenn man diesen zerschlägt, mit vernichtet zu werden scheint: Dieses also, als seinem ursprünglichen Wesen, welches blin- der Drang nach Dasevn ist, zuwider, erfüllt ihn mit Abscheu. Hieraus nun folgt, dass Dasjenige in uns, was allein den Tod zu fürchten fähig ist und ihn auch allein fürchtet, der Wille, von ihm nicht getroffen wird; und dass hingegen was von ihm getroffen wird und wirklich untergeht. Das ist, was seiner Natiu' nach keiner Furcht, wie überhaupt keines Wollens oder Affektes, fähig, daher gegen Seyn und Nichtseyn gleichgültig ist, nämlich das blosse Subjekt der Er- kenntniss, der Intellekt, dessen Daseyn in seiner Be- ziehung zur Welt der Vorstellung, d. h. der objektiven Welt besteht, deren Korrelat er ist und mit deren Daseyn das seinige im Grunde Eins ist. Wenngleich also nicht das individuelle Bewusstsein den Tod über- lebt; so überlebt ihn doch Das, was allein sich gegen ihn sträidjt: der Wille. Hieraus erklärt sich auch der Widerspiuch, dass die Philosophen, vom Standpunkt der Erkenntniss aus, allezeit mit treffenden Gründen bewiesen haben, der Tod sei kein Uebel; die Todes- furcht jedoch dem Allen unzugänglich bleibt: weil sie eben nicht in der Erkenntniss, sondern allein im Willen wurzelt. Eben daher, dass nur der Wille, nie ht aber der Intellekt das Unzerstörbare ist, kommt es auch, dass alle Religionen und Philosophien allein den Tugen- den des Willens, oder Herzens, einen Lohn in der Ewig- keit zuerkennen,nicht denen des 1 ntel lekts, oder Kopfes , 64o Zur Erläuterung dieser Betrachtung diene noch Folgendes. Der Wille, welcher unser Wesen an sich ausmacht, ist einfacher Natur: er will bloss und er- kennt nicht. Das Subjekt des Erkennens hingegen ist eine sekundäre, ans der Objektivation des Willens hervorgehende Erscheinung: es ist der Einheitspunkt der Sensibilität des Nervensystems, gleichsam der P'okus, in welchem die Strahlen der Thätigkeit aller Theile des Gehirns zusammenlaufen. Mit diesem muss es daher untergehen. Im Selbstbewusstseyn steht es, als das allein Erkennende, dem Willen als sein Zu- schauer gegenüber und erkennt, obgleich aus ihm entsprossen, ihn doch als ein von sich Verschiedenes, ein Fremdes, deshalb auch nur empirisch, in der Zeit, stückweise, in seinen successiven Erregungen und Akten, erfährt auch seine EntSchliessungen erst a posteriori und oft sehr mittelbar. Hieraus erklärt sich, dass unser eigenes Wesen uns, d. h. eben unserm Intellekt, ein Räthsel ist, und dass das Individuum sich als neu entstanden und vergänglich erblickt; obschon sein Wesen an sich ein zeitloses, also ewiges ist. Wie nun der Wille nicht erkaint, so ist umgekehrt der Intellekt, oder das Subjekt der Erkenntniss, einzig und allein erkennend, ohne irgend zu wollen. Dies ist selbst physisch daran nachweisbar, dass, wie schon im zweiten Buch erwähnt, nach Bichat, die verschie- denen Affekte alle Theile des Organismus unmittelbar erschüttern und ihre Funktionen stören, mit Aus- nahme des Gehirns, als welches höchstens mittelbar, d. h. in Folge eben jener Störungen, davon affizirt werden kann (De la vie et de la mort, art. 6, §. 2). Daraus aber folgt, dass das Subjekt des Erkennens, für sich und als solches, an nichts Antheil oder Interesse nehmen kann, sondern ihm das Seyn oder Nichtseyn jedes Dinges, ja sogar seiner selbst, gleich- gültig ist. Warum nun sollte dieses antheilslose Wesen unsterblich sein? Es endet mit der zeitlichen Erschei- nung des Willens, d. i. dem Individuo, wie es mit diesem entstanden war. Es ist die Laterne, welche ausgelöscht wird, nachdem sie ihren Dienst geleistet hat. Der Intellekt, wie die in ihm allein vorhandene 4i Schopenhauer II 04 l anscliauliche Welt, ist blosse Erscheinun{}: aber die Endlichkeit Beider ficht nicht Das an, davon sie die Erscheinung; sind. Der Intellekt ist Funktion des cerebralen Nervensystems : aber dieses, wie der übri^je Leib, ist die Objektität des JVillens. Daher beruht der Intellekt auf dem somatischen Leben des Orjjanismus: dieser selbst aber beruht auf dem Willen. Der organi- sche Leib kann also, in gewissem Sinne, angesehen werden als Mittelglied zwischen dem Willen und dem Intellekt; wiewohl er eigentlich nur der in der An- schauung des Intellekts sich räumlich darstellende Wille selbst ist. Tod und Geburt sind die stete Auf- frischung des Bewusstseyns des an sich end- und anfangslosen Willens, der allein gleichsam die Sub- stanz des Daseyns ist (jede solche Auffrischung aber bringt eine neue Möglichkeit der Verneinung des Willens zum Leben). Das Bewusstseyn ist das Leben des Subjekts des Erkennens, oder des Gehirns, und der Tod dessen Ende. Daher ist das Bewusstseyn end- lich, stets neu, jedesmal von vorne anfangend. Der Wille allein beharrt; aber auch ihm allein ist am Be- harren gelegen: denn er ist der Wille zum Leben. Dem erkennenden Subjekt für sich ist an nichts ge- legen. Im Ich sind jedoch Beide verbunden. — In jedem animalischen Wesen hat der W^ille einen In- tellekt errungen, welcher das Licht ist, bei dem er hier seine Zwecke verfolgt. Beiläufig gesagt, mag die Todesfurcht zum Theil auch darauf beruhen, dass der individuelle W^ille so ungern sich von seinem, durch den Naturlauf ihm zugefallenen Intellekt trennt, von seinem Führer und Wächter, ohne den er sich hülflos und blind weiss. Zu dieser Auseinandersetzung stimmt endlich auch noch jene tägliche moralische Erfahrung, die uns belehrt, dass der Wille allein real ist, hingegen die Objekte desselben als durch die Erkenntniss bedingt, nur Erscheinungen, nur Schaum und Dunst sind, gleich dem Weine, welchen Mephistopheles in Auer- bachs Keller kredenzt: nämlich nach jedem sinnlichen Genuss sagen auch wir: „Mir däuchte doch als tränk' ich Wein.'' 642 Die Schrecken des Todes beruhen grossentheils auf dem falschen Schein, dass Jetzt das Ich verschwinde, und die Welt bleibe. Vielmehr aber ist das Gegen- theil wahr: die Welt verschwindet; hingegen der innerste Kern des Ich, der Träger und Hervorbringer jenes Subjekts, in dessen Vorstellung allein die Welt ihr Daseyn hatte, beharrt. Mit dem Gehirn geht der fntellekt, und mit diesem die objektive Welt, seine blosse Vorstellung, unter. Dass in andern Gehirnen, nach wie vor, eine ähnliche Welt lebt und schwebt, ist in Beziehung auf den untergehenden Intellekt gleichgültig. — Wenn daher nicht im Willen die eigentliche Realität läge und nicht das moralisclie Daseyn das sich über den Tod hinaus erstreckende Aväre; so würde, da der Intellekt und mit ihm seine Welt erlischt, das Wesen der Dinge überhaupt nichts weiter seyn, als eine endlose Folge kurzer und trüber Träume, ohne Zusammenhang unter einander: denn das Beharren der erkenntnisslosen Natur besteht bloss in der Zeilvorstellung der erkennenden. Also ein, ohne Ziel tmd Zweck, meistens sehr trübe und schwere Träu- me träumender Weltgeist wäre dann Alles inAllem. Wann nun ein Individuum Todesangst empfindet; so hat man eigentlich das seltsame, ja, zu belächelnde Schauspiel, dass der Herr der Welten, welcher Alles mit seinem Wesen erfüllt, und durch welchen allein Alles was ist sein Daseyn hat, verzagt und unterzu- gehen befürchtet, zu versinken in den Abgrund des ewigen Nichts; — während, in Wahrheit, Alles von ihm voll ist und es keinen Ort giebt, wo er nicht wäre, kein Wesen in welchem er nicht lebte; da das Daseyn nicht ihn trägt, sondern er das Daseyn. Den- noch ist er es, der im Todesangst leidenden Individuo verzagt, indem er der, durch das principium indivi- duationis hervorgebrachten Täuschung unterliegt, dass seine Existenz auf die des jetzt sterbenden We- sens beschränkt sei: diese Täuschung gehört zu dem schweren Traum, in welchen er als Wille zum Leben verfallen ist. Aber man könnte zu dem Sterbenden sagen: ,,Du hörst auf, etwas zu seyn, welches du besser gethan hättest, nie zu werden." 4r 643 Solange keine Verneinung jenes Willens eingetre- ten, ist was der Tod von uns übrig lässt der Keim und Kern eines ganz andern Daseyns, in welchem ein neues Individuum sich wiederfindet, so frisch und ursprünglich, dass es über sich selbst verwundert brütet. Daher der schwärmerische und träumerische Hang edler Jünglinge, zur Zeit wo dieses frische Be- wusstsevn sich eben ganz entfaltet hat. Was für das Individuum der Schlaf, das ist für den Willen als Ding an sich der Tod. Er würde es nicht aushalten, eine Unendlichkeit hindurch das selbe Treiben und Leiden, ohne wahren Gewinn, fortzusetzen, wenn ihm Erinnerung und Individualität bliebe. Er wirft sie ab, dies ist der Lethe, und tritt, durch diesen Todesschlaf erfrischt und mit einem andern Intellekt ausgestattet, als ein neues Wesen wieder auf: ,,zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag!" — Als sich bejahender Wille zum Leben hat der Mensch die Wurzel seines Dasevns in der Gattung. Demnach ist sodann der Tod das Verlieren einer In- dividualität und Empfangen einer andern, folglich ein Verändern der Individualität unter der ausschliess- lichen Leitung seines eigenen Willens. Denn in die- sem allein liegt die ewige Kraft, welche sein Daseyn mit seinem Ich hervorbringen konnte, jedoch, seiner Beschaffenheit wegen, es nicht darin zu erhalten ver- mag. Denn der Tod ist das dementi, welches das We- sen (essentia) eines Jeden in seinem Anspruch auf Daseyn (existentia) erhält, das Hervortreten eines Wi- derspruchs, der in jedem individuellen Daseyn liegt: denn Alles was entsteht, Ist werth dass es zu Grunde geht. Jedoch steht der selben Kraft, also dem Willen, eine unendliche Zahl eben solcher Existenzen, mit ihrem Ich, zu Gebote, welche aber wieder eben so nichtig und vergänglich seyn werden. Da nun jedes Ich sein gesondertes Bewusstseyn hat; so ist, in Hinsicht auf ein solches, jene unendliche Zahl derselben von einem einzigen nicht verschieden. — Von diesem Ge- sichtspunkt aus erscheint es mir nicht zufällig, dass 644 aevum, aicov, zugleich die einzelne Lebensdauer und die endlose Zeit bedeutet: es lässt sich nämlich von hier aus, wiewohl undeutlich, absehen, dass, an sich und im letzten Grunde, Beide das Selbe sind; wonach eigentlich kein Unterschied wäre, ob ich nur meine Lebensdauer hindurch, oder eine unendliche Zeit existirte. Allerdings aber können wir die Vorstellung von allem Obigen nicht ganz ohne Zeitbegriffe durch- führen: diese sollten jedoch, wo es sich vom Dinge an sich handelt, ausgeschlossen bleiben. Allein es ge- hört zu den unabänderlichen Gränzen unsers Intel- lekts, dass er diese erste und unmittelbarste Form aller seiner Vorstellungen nie ganz abstreifen kann, um nun ohne sie zu operiren. Daher gerathen wir hier freilich auf eine Art Metern psychose; wiewohl mit dem bedeutenden Unterschiede, dass solche nicht die ganze ^uj(7j, nämlich nicht das erkennende Wesen betrifft, sondern den Willen allein; wodurch so viele Ungereimtheiten wegfallen, welche die Metempsy- chosenlehre begleiten; sodann mit dem Bewusstseyn, dass die Form der Zeit hier nur als unvermeidliche Ackommodation zu der Beschränkung unsers Intel- lekts eintritt. Nehmen wir nun gar die, Kapitel 43 zu erörternde Thatsache zur Hülfe, dass der Charakter, d. i. der Wille, vom Vater erblich ist, der Intellekt hingegen von der Mutter; so tritt es gar wohl in den Zusammenhang unserer Ansicht, dass der Wille des Menschen, an sich individuell, im Tode sich von dem, bei der Zeugung von der Mutter erhaltenen Intellekt trennte und nun seiner jetzt modifizirten Beschaffen- heit gemäss, am Leitfaden des mit dieser harmoni- renden durchweg nothwendigen Weltlaufs, durch eine neue Zeugung, einen neuen Intellekt empflenge, mit welchem er ein neues Wesen würde, welches keine Erinnerung eines frühern Daseyns hätte, da der Intellekt, welcher allein die Fähigkeit der Erinnerung hat, der sterbliche Theil, oder die Form ist, der Wille aber der ewige, die Substanz: demgemäss ist zur Be- zeichnung dieser Lehre das Wort Palingenesie rich- tiger,als Metempsychose. Diese steten Wiedergeburten 645 machten dann die Succession der Lebenstraunie eines an sich unzerstörl^aren Willens aus, bis er, durch so viele und versehiedenartige, successive Erkenntniss, in stets neuer Form, belehrt und {{gebessert, sich selbst aufhöbe. Mit dieser Ansicht stimmt auch die eigentliche, so zu sagen esoterische Lehre des Buddhaismus, \vie wir sie durch die neuesten Forschungen kennen gelernt haben, überein, indem sie nicht Metempsychose, son- dern eine eigenthümliche, auf moralischer Basis ru- hende Palingenesie lehrt, welche sie mit grossem Tiefsinn ausführt und darlegt; wie Dies zu ersehen ist aus der, in Spence Hardy\s Manual of Buddhism, p. 394 — 96, gegebenen, höchst lesens- und beach- tungswerthen Darstellung der Sache (womit zu ver- gleichen p. 429, iio und 44^ desselben Buches), de- ren Bestätigungen man findet in Taylors Prabodh Chandro Dava, London 1812, p. 35; desgleichen in Sangermano's Burmese emplre, p. 6; wie auch in den Asiat, researches. Vol. 6, p. 179, und Vol. 9, p. 256. Auch das sehr brauchbare Deutsche Kompendium des Buddhaismus von Koppen giebt das Richtige über diesen Punkt. Für den grossen Haufen der Buddha- isten jedoch ist diese Lehre zu subtil; daher demselben, als fassliches Surrogat, eben Metempsychose gepredigt wird. Uebrigens darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass sogar empirische Gründe für eine Palingenesie dieser Art sprechen. Thatsächlich ist eine Verbindung vorhanden zwischen der Geburt der neu auftretenden Wesen und dem Tode der abgelebten: sie zeigt sich nämlich an der grossen Fruchtbarkeit des Menschen- geschlechts, welche als Folge verheeiender Seuchen entsteht. Als im 14. Jahrhundert der schwarze Tod die alte Welt grösstenteils entvölkert hatte, trat eine ganz ungewöhnliche Fruchtbarkeit unter dem Men- schengeschlechte ein, und Zwillingsgeburten waren sehr häufig: höchst seltsam war dabei der Umstand, dass keines der in dieser Zeit geborenen Kinder seine vollständigen Zähne bekam ; also die sich anstrengende Natur im Einzelnen geizte. Dies erzählt F. Schnuf?e?; Chronik der Seuchen, 182:"). Auch Casper, „Ueber die wahrscheinliche Lebensdauer des Menschen", i835, bestätigt den Grundsatz, dass den entschiedensten Einfluss auf Lebensdauer und SterbHchkeit, in einer gegebenen Bevölkerung, die Zahl der Zeugungen in derselben habe, als welche mit der Sterblichkeit stets gleichen Schritt halte; so dass die Sterbefälle und die Geburten allemal und allerorten sich in gleichem Verhältniss vermehren und vermindern, welches er durch aufgehäufte Belege aus vielen Ländern und ihren verschiedenen Provinzen ausser Zweifel setzt. Und doch kann unmöglich ein yVi^^/scAe?- Kausalnexus seyn zwischen meinem frühern Tode und der Frucht- barkeit eines fremden Ehebettes, oder umgekehrt. Hier also tritt unleugbar und auf eine stupende Weise das Metaphysische als unmittelbarer Erklärungsgrund des Physischen auf. ■ — Jedes neugeborene Wesen zwar tritt frisch und freudig in das neue Daseyn und geniesst es als ein geschenktes: aber es giebt und kann nichts Geschenktes geben. Sein frisches Daseyn ist bezahlt durch das Alter und den Tod eines abgelebten, welches untergegangen ist, aber den unzerstörbaren Keim enthielt, aus dem dieses neue entstanden ist: sie sind ein Wesen. Die Brücke zwischen Beiden nachzuweisen, wäre freilich die Lösung eines grossen Räthsels. Die hier ausgesprochene grosse Wahrheit ist auch nie ganz verkannt worden, wenn sie gleich nicht auf ihren genauen und richtigen Sinn zurückgeführt werden konnte, als welches allein durch die Lehre vom Primat und metaphysischen Wesen des Willens, und der sekundären, bloss organischen Natur des In- tellekts möglich wird. Wir finden nämlich die Lehre von der Metempsychose, aus den urältesten und edel- sten Zeiten des Menschengeschlechts stammend, stets auf der Erde verbreitet, als den Glauben der grossen Majorität des Menschengeschlechts, ja, eigentlich als Lehre aller Religionen, mit Ausnahme der jüdischen und der zwei von dieser ausgegangenen ; am subtilsten jedoch und der Wahrheit am nächsten kommend, wie schon erwähnt, im Buddhaismus. Während dem- 647 gemäss die Christen sich trösten mit dem Wieder- sehen in einer andern Welt, in welcher man sich in vollständiger Person wiederfindet und sogleich er- kennt, ist in jenen übrigen Religionen das Wiedersehen schon jetzt im Gange, jedoch incognito: nämlich im Kreislauf der Geburten und kraft der Metempsychose, oder Palingenesie, werden die Personen, welche jetzt in naher Verbindung oder Berührung mit uns stehen, auch bei der nächsten Geburt zugleich mit uns ge- boren, und haben die selben, oder doch analoge Ver- hältnisse und Gesinnungen zu uns, wie jetzt, diese mögen nun freundlicher, oder feindlicher Art seyn. (Man sehe z. B. Spence Hardy's Manual of Buddhism, p. 162.) Das Wiedererkennen beschränkt sich dabei freilich auf eine dunkle Ahndung, eine nicht zum deutlichen Bewusstseyn zu bringende und auf eine unendliciie Ferne hindeutende Erinnerung; — mit Ausnahme jedoch des Buddha selbst, der das Vorrecht hat, seine und der Andern frühere Geburten deutlich zu erkennen; — wie Dies in den Jatakas beschrieben ist. Aber, in der That, wenn man, in begünstigten Augenblicken, das Thun und Treiben der Menschen, in der Realität, rein objektiv ins Auge fasst; so drängt sich Einem die intuitive Ueberzeugung auf, dass es nicht nur, den (Platonischen) Ideen nach, stets das selbe ist und bleibt, sondern auch, dass die gegen- wärtige Generation, ihrem eigentlichen Kern nach, geradezu, und substantiell identisch ist mit jeder vor ihr dagewesenen. Es fragt sich nur, worin dieser Kern besteht: die Antwort, welche meine Lehre darauf giebt, ist bekannt. Die erwähnte intuitive Ueber- zeugung kann man sich denken als dadurch entste- hend, dass die Vervielfältigungsgläser, Zeit und Raum, momentan eine Intermittenz ihrer Wirksamkeit er- litten. — Hinsichtlich der Allgemeinheit des Glaubens an Metempsychose sagt Obry in seinem vortrefflichen Buche: Du iSirvana Indien, p. i3 mit Recht: Cette vieille crovance a fait le tour du monde, et etait telle- ment repandue dans la haute antiquite, qu'un docte Anglican Tavait jugee sans pere, sans mere, et saus gencalogie (Ths. Burnet, dans Beausobre, Hist. du 648 Manicheisme, II, p. Spi). Schon in den Veden, wie in allen heiligen Büchern Indiens gelehrt, ist bekannt- lich die Metempsychose der Kern des Brahmanismus und Buddhaismus, herrscht demnach noch jetzt im ganzen nicht islamisirten Asien, also bei mehr als der Hälfte des ganzen Menschengeschlechts, als die festeste Ueberzeugung und mit unglaublich starkem prak- tischen Einfluss. Ebenfalls war sie der Glaube der Aegypter (Herod., II, 123), von welchen Orpheus, Pythagoras und Plato sie mit Begeisterung entgegen- nahmen: besonders aber hielten die Pvthagoreer sie fest. Dass sie auch in den Mysterien der Griechen ge- lehrt wurde, geht unleugbar hervor aus Plato's neun- tem Buch von den Gesetzen (p. 38 et 42» ed. Bip.). Nemesius (De nat. hom., c. 2) sagt sogar: Koivt] fxsv ouv 7ravTc<; 'EXXtjVS«;, ot ttjv <j>t>5(r|V af^avatov a-ocprjvajxevoi, tt^v Ix£-£vo<u[jLata)aiv ooYfjLaTiCQUoi. (Communiter igitur om- nes Graeci, qui animam immortalem statuerunt, eam de uno corpore in aliud transferri censuerunt.) Auch die Edda, namentlich in der Voluspa, lehrt Metem- psychose. iNicht weniger war sie die Grundlage der Religion der Druiden (Caes. de hello Gall., VI. — A. Pictet, Le mystere des Bardes de Tile de Bretagne, i856). Sogar eine Mohammedanische Sekte in Hin- dostan, die Bohrahs, von denen Colebrooke in den Asiat, res., Vol. 7, p. 336 sqq. ausführlich berichtet, glaubt an die Metempsychose und enthält demzufolge sich aller Fleischspeise, Selbst bei Amerikanischen und Negervölkern, ja sogar bei den Australiern Hnden sich Spuren davon, wie hervorgeht aus einer in der Englischen Zeitung, theThimes, vom 29. Januar 1841, gegebenen genauen Beschreibung der wegen Brand- stiftung und Mord erfolgten Hinrichtung zweier Australischer Wilden. Daselbst nämlich heisst es : ,,Der jüngere von ihnen gieng seinem Schicksal mit ver- stocktem und entschlossenem Sinn, welcher, wie sich zeigte, auf Rache gerichtet war, entgegen: denn aus dem einzigen verständlichen Ausdruck, dessen er sich bediente, gieng hervor, dass er wieder auferstehen würde als ,ein weisser Kerl', und dies verlieh ihm die Entschlossenheit." Auch in einem Buche von Umje- 649 untter, „Der Welttheil Australien", i853, wird erzahlt, dass die Papuas in Neuholland die Weissen für ihre eigenen, auf die Welt zurückgekehrten Anverwandten hielten. Diesem Allen zufolge stellt iler Glaube an Metern psy< hose sich dar als die natürliche Ueber- zeugung des Menschen, sobald er, unbefangen, irgend nachdenkt. Er ^väre demnach wirklich Das, was Kant falschlich von seinen drei vorgeblichen Ideen der Ver- nunft behauptet, nämlich ein der menschlichen Ver- nunft natürliches, aus ihren eigenen Formen hervor- gehendes Philosophem; und wo er sich nicht findet, wäre er durch positive, anderweitige Religionslehren erst verdrängt. Auch habe ich bemerkt, dass er Jedem, der zum ersten Mal davon hört, sogleich einleuchtet. Man sehe nur, wie ernstlich sogar Lessing ihm das Wort redet in den letzten sie])en Paragraphen seiner ,,Erziehung des Menschengeschlechts'''. Auch Lichten- berg sagt, in seiner Selbstcharakteristik: „hh kann den Gedanken nicht los werden, dass ich gestorben war, ehe ich geboren wurde." Sogar der so übermässig empirische Hume sagt in seiner skeptischen Abhand- lung über die Unsterblichkeit, p. 23: The metempsy- chosis is therefore the only svstem of this kind that philosophy can hearken to*). Was diesem, über das ganze Menschengeschlecht verbreiteten und den Wei- sen, wie dem Volke einleuchtenden Glauben entgegen- steht, ist das Judenthum, nebst den aus diesem ent- sprossenen zwei Religionen, sofern sie eine Schöpfung des Menschen aus Nichts lehren, an welche er dann *) „Die Metenipsychose ist daher das einzige Svstem dieser Art, auf weldies die Philosophie hören kann." — Diese posthume Ahhandhing findet sich in den Essays on sincide and the im- niortalitv of the soul, bv the late Dav. Hume, Basil -, 799, sold by James Decker. Durch diesen Hascler rs'achdrurk nämlich sind jene beiden Werke eines der grössten Denker mul Schrift- steller Ivnglands vom Untergänge gerettet worden, nachdem sie in ihrem Vaterlande, in Folge der daselbst lierrschenden sttipiden und ülieraus verächtlichen Bigotterie, durch den Kinfliiss einer mächtigen imd frechen Pfaffenschaft unter- drückt worden waren, zur bleibenden Schande Englands. Es sind ganz leidenschaftslose, kalt vernünftige Untersuchungen der beiden genannten Gegenstände. (iSo den Glauben an eine endlose Fortdauer a parte post zu knüpfen die harte Aufgabe hat. Ihnen freilich ist es, mit Feuer und Schwert, {gelungen, aus Europa und einem Theile Asiens jenen tröstlichen Urglauben der Menschheit zu verdrängen: es steht noch dahin auf wie lange. Wie schwer es jedoch gehalten hat. bezeugt die älteste Kirchengeschichte: die meisten Ketzer, z. B. Simonisten, Basilidianer, Valentinianer, Marcioniten, Gnostiker und Manichäer waren eben jenem Urglauben zugethan. Die Juden selbst sind zum Theil hineingerathen, wie Tertullian und Justi- nus (in seinen Dialogen) berichten. Im Talmud wird erzählt, dass Abels Seele in den Leib des Seth und dann in den des Moses gewandert sei. Sogar die Bibel- stelle, Matth. i6, i3 — 15, erhält einen vernünftigen Sinn nur dann, wann man sie als unter der Voraus- setzung des Dogmas der Metempsychose gesprochen versteht. Lukas freilich, der sie (9, 18 — 20) auch hat, fügt hinzu 611 TrpocpTjr; -ic, rcov apyanov avea-r^, schiebt also den Juden die Voraussetzung unter, dass so ein alter Prophet noch mit Haut und Haar wieder auf- erstehen könne, welches, da sie doch wissen, dass er schon 6 bis 700 Jahr im Grabe liegt, folglich längst zerstoben ist, eine handgreifliche Absurdität wäre. Im Christenthum ist übrigens an die Stelle der Seelen- wanderung und der Abbüssung aller in einem frühern Leben begangenen vSünden durch dieselbe die Lehre von der Erbsünde getreten, d. h. von der Busse für die Sünde eines andern Individuums. Beide nämlich identifizieren, und zwar mit moralischer Tendenz, den vorhandenen Menschen mit einem früher dage- wesenen: die Seelenwanderung unmittelbar, die Erb- sünde mittelbar. — Der Tod ist die grosse Zurechtweisung, welche der Wille zum Leben, und näher der diesem wesentliche Egoismus, durch den Lauf der Natur erhält; und er kann aufgefasst werden als eine Strafe für unser Da- seyn. Er ist die schmerzliche Lösung des Knotens, den die Zeugung mit Wollust geschürzt hatte, und die von aussen eindringende, gewaltsame Zerstöiung des Grundirrthums unsers Wesens: die grosse Ent- 65 I täuschimg. Wir sind im Grunde etwas, das nicht seyn sollte: darum hören wir auf zu seyn. Der Egoismus besteht eigentlich darin, dass der Mensch alle Realität auf seine eigene Person beschränkt, indem er in dieser allein zu existiren wähnt, nicht in den andern. Der Tod belehrt ihn eines Bessern, indem er diese Person aufhebt, so dass das Wesen des Menschen, welches sein Wille ist, fortan nur in andern Individuen leben wird, sein Intellekt aber, als welcher selbst nur der Erscheinung, d. i. der Welt als Vorstellung, ange- hörte und bloss die Form der Aussenwelt war, eben auch im Vorstellungseyn, d. h. im objektiven Seyn der Dinge als solchem, also ebenfalls nur im Daseyn der bisherigen Aussenwelt, fortbesteht. Sein ganzes Ich lebt also von jetzt an nur in Dem, was er bisher als Nicht-Ich angesehen hatte: denn der Unterschied zwischen Aeusserem und Innerem hört auf. Wir er- innern uns hier, dass der bessere Mensch der ist, wel- cher zwischen sich und den Andern den wenigsten Unterschied macht, sie nicht als absolut Nicht-Ich betrachtet, während dem Schlechten dieser Unter- schied gross, ja absolut ist; — wie ich dies in der Preisschrift über das Fundament der Moral ausgeführt habe. Diesem Unterschiede gemäss fällt, dem Obigen zufolge, der Grad aus, in welchem der Tod als die Vernichtung des Menschen angesehen werden kann. ■ — Gehen wir aber davon aus, dass der Unterschied von Ausser mir und in mir, als ein räumlicher, nur in der Erscheinung, nicht im Dinge an sich gegründet, also kein absolut realer ist; so werden wir in dem Verlieren der eigenen Individualität nur den Verlust einer Erscheinung sehen, also nur scheinbaren Ver- lust. So viel Realität jener Unterschied auch im em- pirischen Bewusstsevn hat; so sind doch vom meta- physischen Standpunkt aus, die Sätze: „ich gehe unter, aber die Welt dauert fort", und „die Welt geht un- ter, aber ich dauere fort", im Grund nicht eigentlich verschieden. Ueber dies Alles nun aber ist der Tod die grosse Gelegenheit, nicht mehr Ich zu seyn: wohl Dem, der sie benutzt. Während des Lebens ist der Wille des 652 Menschen ohne Freiheit: auf der Basis seines unver- änderlichen Charakters geht sein Handeln, an der Kette der Motive, mit Noth wendigkeit vor sich. Nun trägt aber Jeder in seiner Erinnerung gar Vieles, das er gethan, und worüber er nicht mit sich selbst zu- frieden ist. Lebte er nun immerfort; so würde er, ver- möge der UnVeränderlichkeit des Charakters, auch immerfort auf die selbe Weise handeln. Demnach muss er aufhören zu seyn was er ist, um aus dem Keim seines Wesens als ein neues und anderes her- vorgehen zu können. Daher löst der Tod jene Bande: der Wille wird wieder frei: denn im Esse, nicht im Operari liegt die Freiheit: Finditur nodus cordis, dis- solvuntur omnes dubitationes, ejusque opera evanes- cunt, ist ein sehr berühmter Ausspruch des Veda, den alle Vedantiker häufig wiederholen*). Das Sterben ist der Augenblick jener Befreiung von der Einseitigkeit einer Individualität, welche nicht den innersten Kern unsers Wesens ausmacht, vielmehr als eine Art Ver- irrung desselben zu denken ist: die wahre, ursprüng- liche Freiheit tritt wieder ein, in diesem Augenblick, welcher, im angegebenen Sinn, als eine restitutio in integrum betrachtet werden kann. Der Friede und die Beruhigung auf dem Gesichte der meisten Todten scheint daher zu stammen. Ruhig und sanft ist, in der Regel, der Tod jedes guten Menschen: aber wil- lig sterben, gern sterben, freudig sterben, ist das Vor- recht des Resignirten, Dessen, der den Willen zum Leben aufgiebt und verneint. Denn nur er will wirk- lich und nicht bloss scheiiihar sterben, folglich braucht und verlangt er keine Fortdauer seiner Person. Das Daseyn, welches wir kennen, giebt er willig auf: was ihm statt dessen wird, ist in unsern Augen nichts; weil unser Daseyn, auf jenes bezogen, nichts ist. Der Buddhaistische Glaube nennt jenes Niy^wana, d. h. Erloschen**). « *) Sancara, s. de tbeologumenis Vedanticorum, ed. F. H. H. Windischmann, p. 87. — Oupnekhat, Vol. I, p. 887, et p. 78. — Golebrooke's Miscellaneous essays. Vol. I, p. 363. *') Die Etymologie des Wortes Nirwana wird verschieden an- 653 KAi'inx 42. LEBEN DER GATTUNG. IM vorhergehenden Kapitel wurde in Erinnerung ge- hracht, dass die (Platonischen) Ideen der verschie- denen Stuten der Wesen, welche die adäquate Objek- tivation des Willens zum Leben sind, in der an die Form der Zeit gebundenen Erkenntniss des Individu- ums sich als die Gattungen, d. h. als die durch das Band der Zeugung verbundenen, successiven und gleichartigen Individuen darstellen, und dass daher die Gattung die in der Zeit auseinandergezojjene Idee (sioo;, species) ist. Demzufolge liegt das Wesen an sich jedes Lebenden zunächst in seiner Gattung: die- se hat jedoch ihr Daseyn wieder nur in den Individu- en. Obgleich nun der Wille nur im Individuo zum fjegeben. Nacli Colebroohe (Transact. of the llov. Asiat, soc. Vol. I, p. 566) koiniiit es von /Fa, weiten^ wie der Wind, mit vorgesetzter iNegation iViV, bedeutet also Windstille, aber als Adjektiv „erloschen". — Auch Obry, du Nirvana Indien, sagt p. 3 : Nirvanam en sanscrit signifie ä la lettre extmction, teile que Celle d'un feu. — JNach dem Asiatic Journal, Vol. 24, p. 735, heisst es eigentlich Nerawana, von nera, ohne, und wana, Leben, und die Bedeutung wiire annihilatio. — Im Eastern Monachism, by Spence Hardy, wird, S. 296, Nirwana abgeleitet von IFana^ sündliche Wünsclie, mit der Negation nir. — J. .1. .Schmidt, in seiner Uebersetzung der Geschichte der Ostmon- golen, S. 307, sagt, das .Sanskritwort Nirwana werde im Mon- golischen übersetzt durch eine Phrase, welche bedeutet: „vom Jammer abgeschieden", — ,,dem Jammer entwichen". — Nach des selben Gelehrten Vorlesungen in der Petersburger Akademie ist Nirwana das Gegentheil von Sansara^ welches die Welt der steten Wiedergeburten, des Gelüstes und Verlangens, der .Siimentäuschung und wandelbaren Formen, des Geboren- werdens, Alterns, Erkrankens und Sterbens ist. — In der Burmesischen Sprache wird das Wort Nirwana, nach Analogie der übrigen Sanskritworte, umgestaltet in Nieban und wird übersetzt durch „vollständige Verschwindung". Siehe .Sanger- mano's Description of the Burmese cmpire, transl. by Tandy, Rome i833, ^. 27. In der ersten Auflage von 18 19 schrieb auch ich Nieban, wir wir damals den Buddhaismus nur aus dürftigen Nachrichten von den Birmanen kannten. 654 Selbstbewusstseyn gelangt, sich also unmittelbar nur als das [ndividuum erkennt; so tritt das in der Tiefe liegende Bewusstseyn, dass eigentlich die Gattung es ist, in der sein Wesen sich objektivirt, doch darin hervor, dass dem Individuo die Angelegenheiten der Gattung als solcher, also die Geschlechtsverhältnisse, die Zeugung und Ernährung der Brut, ungleich wich- tiger und angelegener sind, als alles Andere. Daher also bei den Thieren die Brunst (von deren Vehe- menz man eine vortrell liehe Schilderung findet in Burdach \s Physiologie, Bd. i, §§. 247, 267), und beim Menschen die sorgfältige und kapriziöse Auswahl des andern Individuums zur Befriedigung des Geschlechts- triebes, welche sich bis zur leidenschaftlichen Liebe steigern kann, deren näherer Untersuchung ich ein eigenes Kapitel widmen werde: eben daher endlich die überscliAvängliche Liebe der Eltern zu ihrer Brut. In den Ergänzungen zum zweiten Buch wurde der Wille der Wurzel, der Intellekt der Krone des Bau- mes verglichen: so ist es innerlich, oder psychologisch. Aeusserhcli aber, oder physiologisch, sind die Geni- talien die Wurzel, der Kopf die Krone. Das Ernäh- rende sind zwar nicht die Genitalien, sondern die Zotten der Gedäi-me: dennoch sind nicht diese, son- dern jene die Wurzel: weil durch sie das Individuum mit der Gattung zusammenhängt, in welcher es wur- zelt. Denn es ist physisch ein Erzeugniss der Gattung, metaphysisch ein mehr oder minder unvollkommenes Bild der Idee, welche, in der Form der Zeit, sich als Gattung darstellt. In Uebereinstimmung mit dem hier ausgesprochenen Verhältniss ist die grösste Vitalität, wie auch die Dekrepität, des Gehirns und der Geni- talien gleichzeitig und steht in Verbindung. Der Ge- schlechtstrieb ist anzusehen als der innere Zug des Baumes (der Gattung), auf welchem das Leben des Individuums sprosst, wie ein Blatt, das vom Baume genährt wird und ihn zu nähren beiträgt: daher ist jener Trieb so stark und aus der Tiefe unserer Natur. Ein Individuum kastriren, heisst es vom Baum der Gattung, auf welchem es sprosst, abschneiden und so gesondert verdorren lassen : daher die Degradation 655 seiner Geistes- und Leibeskräfte. — Dass auf den Dienst der Gattun^j, d. i. die Befruchtun(j, bei jedem thierischen Individuo, augenblickliche Erschöpfung und Abspannung aller Kräfte, bei den meisten In- sekten sogar baldiger Tod erfolgt, weshalb Celsus sagte seminis emissio est partis animae jactura; dass beim Menschen das Erlöschen der Zeugungskraft an- zeigt, das Individuum gehe nunmehr dem Tode ent- gegen; dass übertriebener Gebrauch jener Kraft in jedem Alter das Leben verkürzt, Enthaltsamkeit hin- gegen alle Kräfte, besonders aber die Muskelkraft, erhöht, weshalb sie zur Vorbereitung der Griechi- schen Athleten gehörte; dass dieselbe Enthaltsam- keit das Leben des Insekts sogar bis zum folgenden Frühling verlängert; — alles Dieses deutet darauf hin, dass das lieben des Individuums im Grunde nur ein von der Gattung erborgtes und dass alle Lebens- kraft gleichsam durch Abdämmung gehemmte Gat- tungskraft ist. Dieses aber ist daraus zu erklären, dass das metaphysische Substrat des Lebens sich un- mittelbar in der Gattung und erst mittelst dieser im Individuo offenbart. Demgemäss wird in Indien der Lingam mit der Joni als das Symbol der Gattung und ihrer Unsterblichkeit verehrt und, als das Gegenge- wicht des Todes, gerade der diesem vorstehenden Gottheit, dem Schiwa, als Attribut beigegeben. Aber ohne Mythos und Symbol bezeugt die Hef- tigkeit des Geschlechtstriebes, der rege Eifer und der tiefe Ernst, mit welchem jedes Thier, und eben so der Mensch, die Angelegenheiten desselben betreibt, dass durch die ihm dienende Funktion das Thier Dem angehört, worin eigentlich und hauptsächlich sein wahres Wesen liegt, nämlich der Gattung; wäh- rend alle andern Funktionen und Organe unmittel- bar nur dem Individuo dienen, dessen Daseyn im Grunde nur ein sekundäres ist. In der Heftigkeit je- nes Triebes, welcher die Koncentration des ganzen thierischen Wesens ist, drückt ferner sich das Be- wusstseyn aus, dass das Individuum nicht fortdauere und daher Alles an die Erhaltung der Gattung zu setzen habe, als in welcher sein wahres Daseyn liegt. 656 Vergeg^en\värtigen wir, zur Erläuterung des Gesag- ten, uns jetzt ein Thier in seiner Brunst und im Akte der Zeugung. Wir sehen einen an ihm sonst nie ge- kannten Ernst und Eifer. Was geht dabei in ihm vor? — Weiss es, dass es sterben muss und dass durch sein gegenwärtiges Geschäft ein neues, jedoch ihm völHg ähnhches Individuum entstehen wird, um an seine Stelle zu treten? — - Von dem Allen weiss es nichts, da es nicht denkt. Aber es sorgt für die Fort- dauer seiner Gattung in der Zeit, so eifrig, als ob es jenes Alles wüsste. Denn es ist sich bewusst, dass es leben und daseyn will, und den höchsten Grad dieses Wollens drückt es aus durch den Akt der Zeugung: dies ist Alles, was dabei in seinem Bewusstseyn vor- geht. Auch ist dies völlig hinreichend zum Bestände der Wesen; eben weil der Wille das Radikale ist, die Erkenntnissdas Adventitium.Dieserhalb eben braucht der Wille nicht durchweg von der Erkenntniss ge- leitet zu werden; sondern sobald er in seiner Ur- sprünglichkeit sich entschieden hat, wird schon von selbst dieses Wollen sich in der Welt der Vorstellun- gen objektiviren. Wenn nun solchermaassen jene be- stimmte Thiergestalt, die wir uns gedacht haben, es ist, die das Leben und Daseyn will; so will sie nicht Leben und Daseyn überhaupt, sondern sie will es in eben dieser (restalt. Darum ist es der Anblick seiner Gestalt im Weibchen seiner Art, der den Willen des Thieres zur Zeugung anreizt. Dieses sein Wollen, an- geschaut von xVussen und unter der Form der Zeit, stellt sich dar als solche Thiergestalt eine endlose Zeit hindurch erhalten durch die immer wiederholte Er- setzung eines Individuums durch ein anderes, also diuch das Wechselspiel des Todes und der Zeugung, welche, so betrachtet, nur noch als der Pulsschlag je- ner durch alle Zeit beharrenden Gestalt (losa, sioo^, species) erscheinen. Man kann sie der Attraktions- und Repulsionskraft, durch deren Antagonismus die Materie besteht, vergleichen. — Das hier am Thiere Nachgewiesene gilt auch vom Menschen ; denn wenn gleich bei diesem der Zeugungsakt von der vollstän- digen Erkenntniss seiner Endursache begleitet ist ; so 42 Schopenliauer II OD'J ist er doch nicht von ihr geleitet, sondern geht un- mittelbar aus dem Willen zum Leben hervor, als des- sen Koncentration. Er ist sonach den instinktiven Handlungen beizuzählen. Denn so wenig bei der Zeugung das Thier durch die Erkenntniss des Zwek- kes geleitet ist, so Avenig ist es dieses bei den Kunst- trieben: auch in diesen äussert sich der Wille, in der Hauptsache, ohne dieVermittelung der Erkenntniss, als welcher, hier wie dort, nur das Detail anheimgestellt ist. Die Zeugung ist gewissermaassen der bewunde- rungswürdigste der Kunsttriebe und sein Werk das erstaunlichste. Aus diesen Betrachtungen erklärt es sich, warum die Begierde des Geschlechts einen von jeder andern sehr verschiedenen Charakter trägt: sie ist nicht nur die Stärkeste, sondern sogar specihsch von mächtige- rer Art als alle andern. Sie wird überall stillschwei- gend vorausgesetzt, als nothwendig und unausbleib- lich, und ist nicht, wie andere W^ünsche, Sache des Geschmacks und der Laime. Denn sie ist aer Wunsch, welcher selbst das Wesen des Menschen ausmacht. Im Konflikt mit ihr ist kein Motiv so stark, dass es des Sieges gewiss wäre. Sie ist so sehr die Hauptsa- che, dass für die Entbehrung ihrer Befriedigung kei- ne andern Genüsse entschädigen: auch übernimmt Thier und Mensch ihretwegen jede Gefahr, jeden Kampf. Ein gar naiver Ausdruck dieser natürlichen Sinnesart ist die bekannte Ueberschrift der mit dem Phallus verzierten Thüre der fornix zu Pompeji: Heic habitat felicitas: diese war für den Hineingehenden naiv, für den Herauskonnnenden ironisch, und an sich selbst humoristisch. — Mit Ernst und Würde hingegen ist die überschwän gliche Macht des Zeu- gungstriebes ausgedrückt in der Inschrift, welche (nach Theo von Smyrna, de musica, c. 4?) Osiris auf einer Säule, die er den ewigen Göttern setzte, ange- bracht hatte: „Dem Geiste, dem Himmel, der Sonne, dem Monde, der Erde, der Nacht, dem Tage, und dem Vater alles Dessen, was ist und was seyn wird, dem Eros"; — ebenfalls in der schönen Apostrophe, mit welcher Liihretius sein Werk eröffnet: 658 Aedeaduni genetiix, hominum divomque voluptas, Alma Venus oet. Dem Allen entspricht die wichtige Rolle, welche das Geschlechtsverhältniss in der Menschen weit spielt, als wo es eigentlich der unsichtbare Mittelpunkt al- les Thuns und Treibens ist und trotz allen ihm über- geworfenen Schleiern überall hervorguckt. Es ist die Ursache des Krieges und der Zweck des Friedens, die Grundlage des Ernstes und das Ziel des Scherzes, die unerschöpfliche Quelle des Witzes, der Schlüssel zu allen Anspielungen und der Sinn aller geheimen Winke, aller unausgesprochenen Anträge und aller verstohlenen Blicke, das tägliche Dichten und Trach- ten der Jungen und oft auch der Alten, der stündli- che Gedanke des ünkeuschen und die gegen seinen Willen stets wiederkehrende Träumerei des Keuschen, der allezeit bereite Stoff zum Scherz, eben nur weil ihm der tiefste Ernst zum Grunde liegt. Das aber ist das Pikante und der Spaass der Welt, dass die Haupt- angelegenheit aller Menschen heimlich betrieben und ostensibel möglichst ignorirt wird. In der That aber sieht man dieselbe jeden Augenblick sich als den eigentlichen und erblichen Herrn der Welt, aus eige- ner Machtvollkommenheit, auf den angestammten Thron setzen und von dort herab mit höhnenden Blicken der Anstalten lachen, die man getroffen hat, sie zu bändigen, einzukerkern, wenigstens einzuschrän- ken und wo möglich ganz verdeckt zu halten, oder doch so zu bemeistern, dass sie nur als eine ganz un- tergeordnete Nebenangelegenheit des Lebens zum Vor- schein komme. — Dies Alles aber stimmt damit über- ein, dass der Geschlechtstrieb der Kern des Willens zum Leben, mithin die Koncentration alles Wollens ist; daher eben ich im Texte die Genitalien den Brenn- punkt des Willens genannt habe. Ja, man kann sagen, der Mensch sei konkreter Geschlechtstrieb; da seine Entstehung ein Kopulationsakt und der Wunsch seiner Wünsche ein Kopulationsakt ist, und dieser Trieb allein seine ganze Erscheinung perpetuirt und zusammenhält. Der Wille zum Leben äussert sich 42 659 z%var zunächst als Streben zur Erhaltung des Indivi- duums; jedoch ist dies nur die Stufe zum Streben nach Erhaltung der Gattung, welches letztere in dem Grade heftiger seyn muss, als das Leben der Gattung, an Dauer, Ausdehnung und Werth, das des Indivi- duums übertrifft. Daher ist der Geschlechtstrieb die vollkommenste Aeusserung des Willens zum Leben, sein am deutlichsten ausgedrückter Typus: und hie- mit ist sowohl das Entstehen der Individuen aus ihm, als sein Primat über alle andern Wünsche des natür- lichen Menschen in vollkommener üebereinstimmung. Hieher gehört noch eine physiologische Bemerkung, welche auf meine im zweiten Buche dargelegte Grund- lehre Licht zurückwirft. Wie nämlich der Geschlechts- trieb die häufigste der Begierden, der Wunsch der Wünsche, die Koncentration alles unsers Wollens ist, und demnach die dem individuellen, mithin auf ein bestimmtes Individuum gerichteten Wunsche eines Jeden genau entsprechende Befriedigung desselben der Gipfel und die Krone seines Glückes, nämlich das letzte Ziel seiner natürlichen Bestrebungen ist, mit deren Erreichung ihm Alles erreicht und mit deren Verfehlung ihm Alles verfehlt scheint; — so finden wir, als physiologisches Korrelat hievon, im objekti- virten Willen, also im menschlichen Organismus, das Sperma als die Sekretion der Sekretionen, die Quint- essenz aller Säfte, das letzte Resultat aller organischen Funktionen, und haben hieran einen abermaligen Be- leg dazu, dass der Leib nur dieObjektität des Willens, d. h. der Wille selbst unter der Form der Vorstel- lung ist. An die Erzeugung knüpft sich die Erhaltung der Brut und an den Geschlechtstrieb die Elternliebe; in welchen also sich das Gattungsleben fortsetzt. Dem- gemäss hat die Liebe des Thieres zu seiner Brut, gleich dem Geschlechtstriebe, eine Stärke, welche die der bloss auf das eigene Individuum gerichteten Bestre- bungen weit übertrifft. Dies zeigt sich darin, dass selbst die sanftesten Thiere bereit sind, für ihre Brut auch den ungleichsten Kampf, auf Tod und Leben, zu über- nehmen und, bei fast allen Thiergattungen, die Mut- 660 ter für die Beschützung der Jungen jeder Gefahr, ja in manchen Fällen sogar dem gewissen Tode entge- gengeht. Beim Menschen wird diese instinktive El- ternliebe durch die Vernunft, d. h. die Ueberlegung, geleitet und vermittelt, bisweilen aber auch gehemmt, welches, bei schlechten Charakteren, bis zur völligen Verleugnung derselben gehen kann: daher können wir ihre Wirkungen am reinsten bei den Thieren be- obachten. An sich selbst ist sie jedoch im Menschen nicht weniger stark: auch hier sehen wir sie, in ein- zelnen Fällen, die Selbstliebe gänzlich überwinden und sogar bis zur Aufopferung des eigenen Lebens gehen. So z. B. berichten noch soeben die Zeitungen aus Frankreich, dass zu Chahars, im Departement du Lot, ein Vater sich das Leben genommen hat, damit sein Sohn, den das Loos zum Kriegsdienst getrotten hatte, der älteste einer Witwe und als solcher davon befreit seyn sollte. (Galignani's Messenger vom 22. Juni 1843.) Bei den Thieren jedoch, da sie keiner UeberlegungfähigsindjZeigt die instinktive Mutterliebe (das Männchen ist sich seiner Vaterschaft meistens nicht bewusst) sich unvermittelt und unverfälscht, daher mit voller Deutlichkeit und in ihrer ganzen Stärke. Im Grunde ist sie der Ausdruck des Bewusst- seyns im Thiere, dass sein wahres Wesen unmittel- barer in der Gattung, als im Individuo liegt, daher es nöthigenfalls sein Leben opfert, damit, in den Jun- gen, die Gattung erhalten werde. Also wird hier, wie auch im Geschlechtstriebe, der Wille zum Leben ge- wissermaassen transszendent, indem sein Bewusstseyn sich über das Individuum, welchem es inhärirt, hin- aus, auf die Gattung erstreckt. Um diese zweite Aeus- serung des Gattungslebens nicht bloss abstrakt aus- zusprechen, sondern sie dem Leser in ihrer Grösse und Wirklichkeit zu vergegenwärtigen, will ich von der überschwänglichen Stärke der instinktiven Mut- lerliebe einige Beispiele anführen. Die Seeotter, wenn verfolgt, ergreift ihr Junges und taucht damit unter: wann sie, um zu athmen, wieder auftaucht, deckt sie dasselbe mit ihrem Leibe und empfängt, während es sich rettet, die Pfeile des Jä- 661 gers. — Einen jungen Wallfisch erlegt man bloss, um die Mutter herbeizulocken, welche zu ihm eilt und ihn selten verlässt, so lange er noch lebt, wenn sie auch von mehreren Harpunen getroffen wird. (Sco- reby's Tagebuch einer Reise auf den Wallfischfang; aus dem Englischen von Kries, S. 196) — An der Drei-Königs-Insel, bei ISeuseeland, leben kolossale Phoken, See-Elephanten genannt (Phoca proboscidea). In geordneter Schaar um die Insel schwimmend näh- ren sie sich von Fischen, haben jedoch unter dem Wasser gewisse, uns unbekannte, grausame Feinde, von denen sie oft schwer verwundet w erden : daher verlangt ihr gemeinsames Schwimmen eine eigene Taktik. Die Weibchen werfen auf dem Ufer: während sie dann säugen, welches sieben bis acht Wochen dau- ert, schliessen alle Männchen einen Kreis um sie, um zu vei'hindern, dass sie nicht, vom Hunger getrieben, in die See gehen, und wenn dies versucht wird, weh- ren sie es durch Beissea. So hungern sie alle mit ein- ander sieben bis acht Wochen hindurch und werden sämmtlich sehr mager, bloss damit die Jungen nicht in See gehen, bevor sie im Stande sind, wohl zu schwim- men und die gehörige Taktik, welche ihnen dann durch Stossen und Beissen beigebracht wird, zu be- obachten. (Freycinet, Voy. aux terres australes, 1826.) Hier zeigt sich auch, wie die Elternliebe, gleich jeder starken Bestrebung des Willens (siehe Kap. 19, 6), die Intelligenz steigert. — Wilde Enten, Grasmücken und viele andere Vögel fliegen, wann der Jäger sich dem Neste nähert, mit lautem Geschrei ihm vor die Füsse und flattern hin und her, als wären ihre Flügel gelähmt, um die Aufmerksamkeit von der Brut ab auf sich zu lenken. — Die Lerche sucht den Himd von ihrem Neste abzulocken, indem sie sich selbst preis- giebt. Eben so locken weibliche Hirsche und Rehe an, sie selbst zu jagen, damit ihre Jungen nicht ange- griffen werden. — - Schwalben sind in brennende Häu- ser geflogen, um ihre Jungen zu retten, oder mit ihnen unterzugehen. In Delft't liess sich, bei einer heftigen Feuersbrunst, ein Storch im Neste verbrennen, um seine zarten Jungen, die noch nicht fliegen konnten, 662 nicht zu verlassen. (Hadr. Jiinius, Descriptio HoUan- diae.) Auerhahn und Waldschnepfe lassen sich brü- tend auf dem Neste fangen. Muscicapa tyrannus ver- theidigt ihr Nest mit besonderem Muthe und setzt sich selbst gegen Adler zur Wehr. — Eine Ameise hat man quer durchgeschnitten, und sah die vordere Hälfte noch ihre Puppen in Sicherheit bringen. — Eine Hündin, der man die Jungen aus dem Leibe ge- schnitten hatte, kroch sterbend zu ihnen hin, liebkoste sie und lieng erst dann heftig zu winseln an, als man sie ihr nahm. (Bwdach, Physiologie als Erfahrungs- wissenschaft, Bd. 2 und 3.) KAPITEL 43. ERBLICHKEIT DER EIGENSCHAFTEN. DASS, bei der Zeugung, die von den Eltern zu- sammengebrachten Keime nicht nur die Eigen- thümlichkeiten der Gattung, sondern auch die der Individuen fortpflanzen, lehrt, hinsichtlich der leib- lichen (objektiven, äussern) Eigenschaften, die alltäg- lichste Erfahrung, auch ist es von jeher anerkannt worden : Naturae sequilur seiiiina (juisque suae. Catull. Ob dies nun ebenfalls von den geistigen (subjektiven, innern) Eigenschaften gelte, sodass auch diese sich von den Eltern auf die Kinder vererbten, ist eine schon öfter aufgeworfene und fast allgemein bejahte Frage. Schwieriger aber ist das Problem, ob sich hiebei son- dern lasse, was dem Vater und was der Mutter ange- hört, welches also das geistige Erbtheil sei, das wir von jedem der Eltein überkommen. Beleuchten wir nun dieses Problem mit unserer Grunderkenntniss, dass der fFille das Wesen an sich, der Kern, das Ra- dikale im Menschen; der Intellekt hingegen das Sekun- 663 däre, das Adventitium, das Acridenz jener Substanz sei, so werden wir, vor Befragung der Erfahrung, es wenigstens als wahrsclieinlich annehmen, dass, bei der Zeugung, der Vater, als sexus potior und zeugendes Princip, die Basis, das Radikale des neuen Lebens, also den Willen verleihe, die Mutter aber, als sexus sequior und bloss empfangendes Princip, das Sekundäre, den Intellekt., dass also der Mensch sein Moralisches, sei- nen Charakter, seine Neigungen, sein Herz, vom Vater erbe, hingegen den Grad, die Beschaffenheit und Rich- tung seiner Intelligenz von der Mutter. Diese Annah- me nun findet wirklich ihre Bestätigung in der Er- fahrung; nur dass diese hier nicht durch ein physi- kalisches Experiment auf dem Tisch entschieden wer- den kann, sondern theils aus vieljähriger, sorgfälti{;er und feiner Beobachtung und theils aus der Geschiclite hervorgeht. Die eigene Erfahrung hat den Vorzug völliger Ge- wissheit und grösster Special ität, wodurch der Nach- theil, der ihr daraus erwächst, dass ihre Sphäre be- schränkt und ihre Beispiele nicht allbekannt sind, überwogen wird. An sie zunächst weise ich daher einen Jeden. Zuvörderst betrachte er sich selbst, ge- stehe sich seine Neigungen und Leidenschaften, seine Charakterfehler und Schwächen, seine Laster, wie auch seine Vorzüge und Tugenden, wenn er deren hat, ein: dann aber denke er zurück an seinen Vater, und es wird nicht fehlen, dass er jene sämmthchen Charakterzüge auch an ihm gewahr werde. Hingegen wird er die Mutter oft von einem ganz verschiedenen Charakter finden, und eine moralische Lebereinstim- nmng mit dieser wird höchst selten, nämlich nur durch den besondern Zufall der Gleichheit des Charakters beider Eltern, Statt finden. Er stelle diese Prüfung an z. B. in Hinsicht auf Jähzornigkeit, oder Gedidd, Geiz, oder Verschwendung, Neigung zur Wollust, oder zur Völlerei, oder zum Spiel, Hartherzigkeit, oder Güte, Redlichkeit, oder Falschheit, Stolz, oder Leutselig- keit, Muth, oder Feigheit, Friedfertigkeit, oder Zank- sucht, Versöhnlichkeit, oder Groll U.S. f. Danach stelle er die selbe Untersuchung an, an allen Denen, deren 664 Charakter und deren Eltern ihm genau bekannt ge- worden sind. Wenn er aufmerksam, mit richtigem Urtheil und aufrichtig verfährt, wird die Bestätigung iHisers Satzes nicht ausbleiben. So z. B. wird er den, manchen Menschen eigenen, speciellen Hang zum Lü- gen in zwei Brüdern gleichmässig vorhanden finden; weil sie ihn vom Vater geerbt haben: dieserlialb ist auch die Komödie „Der Lügner und sein Sohn" psy- chologisch richtig. - — Inzwischen sind hier zwei un- vermeidliche Beschränkungen zu berücksichtigen, welche nur offenbare Ungerechtigkeit als Ausflüchte deuten könnte. Nämlich erstlich; pater semper incer- tns. Nur eine entschiedene körperliche Aehnlichkeit mit dem Vater beseitigt diese Beschränkung; hinge- gen ist eine oberflächliche hiezu nicht hinreichend: denn es giebt eine Nachwirkung früherer Befruchtung, vermöge welcher bisweilen die Kinder zweiter Ehe noch eine leichte Aehnlichkeit mit dem ersten Gatten haben, und die im Ehebruch erzeugten mit dem legi- timen Vater. Noch deutlicher ist solche Nachwirkung bei Thieren beobachtet worden. Die zweite Beschrän- kung ist, dass im Sohn zwar der moralische Charak- ter des Vaters auftritt, jedoch unter der Modifikation, die er durch einen andern, oft sehr verschiedenen In- tellekt (dem Erbtheil von der Mutter) erhalten hat, wodurch eine Korrektion der Beobachtung nöthig wird. Diese Modifikation kann, nach Maassgabe jenes l nterschiedes, bedeutend oder gering sevn, jedoch nie so gross, dass nicht auch unter ihr die Grundzüge des väterlichen Charakters noch immer kenntlich genug aufträten; etwan wie ein Mensch, der sich durch eine ganz fremdartige Kleidung, Perrücke und Bart ent- stellt hätte. Ist z. B., vermöge des Erbtheils von der Mutter, ein Mensch mit überwiegender Vernunft, al- so der Fähigkeit zum Nachdenken, ziir Lebei'legxing, ausgestattet; so werden durch diese seine vom Vater ererbten Leidenschaften theils gezügelt, theils ver- steckt werden, imd demnach nur zu methodischer und planmässiger, oder heimlicher Aeusserung ge- Jangen, woraus dann eine von der des Vaters, welcher etwan nur einen ganz beschränkten Kopf hatte, sehr 66.5 \ erschiedene Erscheinunj; hervorgehen wird : und eben so kann der uni{jekehrte Fall eintreten. — Die Nei- gungen und Leidenschaften der Mutter hingegen fin- den sich in den Kindern durchaus nicht wieder, oft sogar ihr Gegentheil. Die historischen Beispiele haben vor denen des Pri- vatlebens den Vorzug, allgemein bekannt zu seyn; wogegen sie freilich durch die Unsicherheit und häu- fige Verfälschung aller Ueberlieferung, zudem auch dadurch beeinträchtigt werden, dass sie in der Regel nur das öftentliche, nicht das Privatleben und dem- nach nur die Staatshandlungen, nicht die feineren Aeusserungen des Charakters enthalten. Inzwischen will ich die in Rede stehende Wahrheit durch einige historische Beispiele belegen, zu denen Die, welche aus der Geschichte ein Hauptstudium gemacht haben, ohne Zweifel noch eine viel grössere Anzahl eben so treffender werden hinzufügen können. Bekanntlich brachte P. Deciiis Mus, mit heroischem Edelmuth, sein Leben dem Vaterlande zum Opfer, indem er, sich und die Feinde feierlich den unter- irdischen Göttern weihend, mit verhülltem Haupte, in das Heer der Lateiner sprengte. Ungefähr vierzig Jahre später that sein Sohn, gleiches Namens, genau das Selbe, im Kriege gegen die Gallier (Liv., VHI, 6; X, 28.) Also ein rechter Beleg zu dem Horazischen: fortes creantur fortibus et bonis: — dessen Kehrseite Shakespeare liefert: Cowards father cowards, aiid base things siie base*). Cymb., IF, 2. Die ältere römische Geschichte führt uns ganze Fami- lien vor, deren Glieder, in zahlreicher Succession, sich durch hingebende Vaterlandsliebe und Tapferkeit aus- zeichnen : so die gens Fabia und die gens Fabricia. — Wiederum Jlexandev der Grosse war herrsch- und eroberungssüchtig, wie sein Vater Philipp. — Sehr beachtenswerth ist der Stammbaum des Nero, wel- chen Suetonius (c. 4 et 5), in moralischer Absicht, der ') Memmen zeugen Memmen, und Niederträchtiges Niedeiw trächtiges. 666 Schilderung dieses Ungeheuers voransetzt. Es ist die gens Claudia, die er beschreibt, welche sechs Jahr- hunderte hindurch in Rom geblüht und lauter thätige, aber übermüthige und grausame Männer hervorge- bracht hat, Ihr ist Tiberius, Caligula und endlich Nero entsprossen. Schon in seinem Grossvater und noch stärker im Vater zeigen sich alle die entsetzlichen Eigenschaften, welche ihre völlige Entwickelung erst im Nero erhalten konnten, theils weil sein hoher Stand- platz ihnen freiem Spielraum gestattete, theils weil er noch dazu die unvernünftige Mänade Agrippina zur Mutter hatte, welche ihm keinen Intellekt ver- leihen konnte, seine Leidenschaften zu zügeln. Ganz in unserm Sinn erzählt daher Suetonius, dass bei sei- ner Geburt praesagio fuit etiam Domitii, patris, vox, inter gratulationes amicorum, negantis, quidquam ex se et Agrippina, nisi detestabile et malo publico nasci potuisse. — Hingegen war Kimon der Sohn des Mil- tiades, und Hannihal des Hamilkars, und die Scipioneu bilden eine ganze Familie von Helden und edlen Ver- theidiger des Vaterlandes. — Aber des Papstes Alex- anders VI. Sohn war sein scheussliches Ebenbild Cäsar Borgia. Der Sohn des berüchtigten Herzogs von Alba ist ein eben so grausamer und böser Mensch ge- wesen, wie sein Vater. — Der tückische, ungerechte, zumal durch die grausame Folterung und Hinrich- tung der Tempelherren bekannte Philipp IF. von Frankreich hatte zur Tochter Isabella, Gemahlin Edu- ards II. von England, welche gegen diesen feindlich auftrat, ihn gefangen nahm und, nachdem er die Ab- dankungsakte unterschrieben hatte, ihn im Gefäng- niss, da der Versuch ihn durch Misshandlungen zu tödten erfolglos blieb, auf eine Weise umbringen Hess, die zu schauderhaft ist, als dass ich sie wieder erzäh- len möchte. — - Der blutdürstige Tyrann und defensor fidei Heinrich VIIL von England hatte zur Tochter erster Ehe die durch Bigotterie und Grausamkeit gleich ausgezeichnete Königin Maria, welche durch ihre zahlreichen Ketzerverbrennungen sich die Bezeich- nung bloody Mary erworben hat. Seine Tochter zwei- ter Ehe, Elisabeth, hatte von ihrer Mutter, Anna Bul- 667 len, einen ausgezeiclnietcn Verstand überkonimen, welcher die Bigotterie niclit zuliess und den väterli- chen Charakter in ihr zügelte, jedoch nicht aufhob; so dass er immer noch gelegentlich durchschimmerte und in dem grausamen Verfahren gegen die Maria von Schottland deutlich hervortrat. — Van Geuns*) erzählt, nach Markus Donatus, von einem Schotti- schen Mädchen, deren Vater, als sie erst ein Jahr alt gewesen, als Strassenräuber und Menschenfresser ver- brannt worden war: obwohl sie unter ganz andern Leuten aufwuchs, entwickelte sich, bei zunehmendem Alter, in ihr die selbe Gier nach Menschenfleisch, und bei deren Befriedigung ertappt, wurde sie lebendig begraben. — Im „Freimüthigen", vom i3. Juli i8s>i, lesen wir die Nachricht, dass im Departement de l'Aube die Polizei ein Mädchen verfolgt habe, weil sie zwei Kinder, die sie ins Findelhaus bringen sollte, gemordet hatte, um das wenige, den Kindern beigeleg- te Geld zu behalten. Endlich fand die Polizei das Mäd- chen, auf dem Wege nach Paris, bei Romillv ersäuft, und als ihr Mörder ergab sich ihr eigener Vater. — Endlich seien hier noch ein Paar Fälle aus der neue- ren Zeit erwähnt, welche demgemäss nur die Zeitun- gen zu Gewährsmännern liaben. Im Oktober l836 wurde in Ungarn ein Graf Delecznai zum Tode ver- urtheilt, weil er einen Beamten gemordet und seine eigenen Verwandten schwer verwundet hatte: sein älterer Bruder war früher als Vatermörder hingerich- tet worden und sein Vater ebenfalls ein Mörder ge- wesen. (Frankfurter Postzeitung, den 26. Okt. i836.) Ein Jahr später hat der jüngste Bruder jenes Grafen auf eben der Strasse, wo dieser den Beamten ermor- det hatte, auf den Fiskalagenten seiner Güter ein Pistol abgeschossen, jedoch ihn verfehlt. (Frankfurter Jour- nal, den 16. Sept. 1887.) In der Frankfurter Postzei- tung vom 19. Nov. 1857 meldet ein Schreiben aus Paris die Verurtheilung eines sehr gefährlichen Stras- senräubers Leniaüe und seiner Gesellen zum Tode, imd fügt hinzu: „Der verbrecherische Hang erscheint ') Disputatio de corponim habitudiiie, aiiiniac, hiijiisfjne viri- uni indice. Hardcrov. 1789. 5. g. 668 als erblich in seiner und seiner Genossen Familie, in- dem mehrere ihres Geschlechts auf dem Schaffet ge- storben sind". — Die Annalen der Kriminalistik wer- den gewiss manche ähnliche Stammbäume aufzuwei- sen haben. — Vorzüglich erblich ist der Hang zum Selbstmord. Sehen wir nun aber andererseits den vortrefflichen Mark Aurel den schlechten Kommodus zum Sohne haben; so macht uns Dies nicht irre; da wir wissen, dass die Diva Faustina eine uxor infamis war. Im Ge- gentheil, wir merken uns diesen Fall, um bei analo- gen einen analogen Grund zu vermuthen; z. B. dass Domitian der vollständige Bruder des Titus gewesen sei, glaube ich nimmermehr, sondern dass auch Ves- pasian ein betrogener Ehemann gewesen. — Was nun den zweiten Theil des aufgestellten Grund- satzes, also die Erblichkeit des Intellekts von der Mut- ter, betrifft; so geniesst dieser einer viel allgemeine- ren Anerkennung als der erste, als welchem an sich selbst das libei'um arbitrium indifferentiae, seiner ge- sonderten Auffassung aber die Einfachheit und Un- theilbarkeit der Seele entgegensteht. Schon der alte und populäre Ausdruck „Mutterwitz" bezeugt die frühe Anerkennung dieser zweiten Wahrheit, welche auf der an kleinen, wie an grossen intellektuellen Vor- zügen gemachten Erfahrung beruht, dass sie die Be- gabung Derjenigen sind, deren Mütter sich verhält- nissmässig durch ihre Intelligenz auszeichneten. Dass hingegen die intellektuellen Eigenschaften des Vaters nicht auf den Sohn übergehen, beweisen sowohl die Väter als die Söhne der durch die eminentesten Fähig- keiten ausgezeichneten Männer, indem sie, in der Re- gel, ganz gewöhnliche Köpfe und ohne eine Spur der väterlichen Geistesgaben sind. Wenn nun aber gegen diese vielfach bestätigte Erfahrung ein Mal eine ver- einzelte Ausnahme auftritt, wie z. B. Pitt und sein Vater Lord Chathani eine darbieten; so sind wir be- fugt, ja genöthigt, sie dem Zufall zuzuschreiben, ob- gleich derselbe, wegen der ungemeinen Seltenheit grosser Talente, gewiss zu den ausserordentlichsten 669 gehört. Hier gilt jedoch die Regel: es ist unwahr- scheinlich, dass das Unwahrscheinliche nie geschehe. Zudem sind grosse Staatsmanner ('wie schon Kap. 22 erwähnt) es ehen so sehr durch die Eigenschaften ihres Charakters, also durch das väterliche Erbtheil, wie durch die Vorzüge ihres Koples. Hingegen von Künstlern, Dichtern und Philosophen, deren Leistun- gen allein es sind, die man dem eigentlichen Genie zuschreibt, ist mir kein jenem analoger Fall bekannt. Zwar war Raphaels Vater ein Maler, aber kein grosser; Mozarts Vater, wie auch sein Sohn, waren Musiker, jedoch nicht grosse. Wohl aber müssen wir es be- wundern, dass das Schicksal, welches jenen beiden grössten Männern ihrer Fächer nur eine sehr kurze Lebensdauer bestimmt hatte, gleichsam zur Kompen- sation, dafür sorgte, dass sie, ohne den bei andern Ge- nies meistens eintretenden Zeitverlust in der Jugend zu erleiden, schon von Kindheit auf, durch väterliches Beispiel und Unterweisung, die nöthige x\nleilung in der Kunst, zu welcher sie ausschliesslich bestimmt waren, erhielten, indem es sie schon in ihrer Werk- stätte geboren werden liess. Diese geheime und räthsel- hafte Macht, welche das individuelle Leben zu len- ken scheint, ist mir der Gegenstand besonderer Be- trachtungen gewesen, welche ich in dem Aufsatze „Ueber die scheinbare Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen" (Parerga, Bd. i) mitgeteilt habe. — Noch ist hier zu bemerken, dass es gewisse wissen- schaftliche Beschäftigungen giebt, welche zwar gute, angeborene Fähigkeiten voraussetzen, jedoch nicht die eigentlich seltenen und überschwänglichen, wäh- rend eifriges Bestreben, Fleiss, Geduld, frühzeitige Unterweisung, anhaltendes Studium tmd vielfache Uebung die Haupterfordernisse sind. Hieraus, und nicht aus der Erblichkeit des Intellekts vom Vater, ist es erklärlich, dass, da überall gern der Sohn den vom Vater gebahnten Weg betritt und fast alle Ge- werbe in gewissen Familien erblich sind, auch in eini- gen Wissenschaften, welche vor Allem Fleiss und Be- harrlichkeit erfordern, einzelne Familien eine Succes- sion von verdienten Männern aufzuweisen haben: 670 dahin gehören die Scahger, die Bernouillys, die Cas- sinis, die Herschel. Für die wirkhche Erbhchkeit des Intellekts von der Mutter würde die Zahl der Belege viel grösser seyn, als sie vorliegt, wenn nicht der Charakter und die Be- stimmung des weiblichen Geschlechts es mit sich brächte, dass die Frauen von ihren Geisteslähigkeiten selten öffentliche Proben ablegen, daher solche nicht geschichtlich werden und zur Kunde der Nachwelt ge- langen. Ueberdies können, wegen der durchweg schwä- cheren Beschaffenheit des weiblichen Geschlechts, diese Fähigkeiten selbst nie bei ihnen den Grad er- reichen, bis zu welchem sie, unter günstigen Umstän- den, nachmals im Sohne gehen: in Hinsicht auf sie selbst aber haben wir ihre Leistungen in eben diesem Verhältniss höher anzuschlagen. Demgemäss nun bie- ten sich mir vor der Hand nur folgende Beispiele als Belege unserer Wahrheit dar. Joseph II. war Sohn der Maria Theresia. — Cai-danus sagt im dritten Ka- pitel De vita propria : mater mea fuit memoria et in- genio pollens. — /. /. Bousseau sagt, im ersten Buche der Confessions: la beaute de ma mere, son esprit, ses talents, — eile en avait de trop brillans pour son etat u. s. w., und bringt dann ein allerliebstes Cou- plet von ihr bei. — D'Alenihert war der uneheliche Sohn der Claudine v. Tencin, einer Frau von überle- genem Geiste und Verfasserin mehrerer Bomane und ähnlicher Schriften, welche zu ihrer Zeit grossen Bei- fall fanden und auch noch geniessbar seyn sollen. (Siehe ihre Biographie in den „Blättern für litterarische Un- terhaltung", März 1 845, Nr. 7 1 — ^78.) - — Dass Büßons Mutter eine ausgezeichnete Frau gewesen ist, bezeugt folgende Stelle aus dem Voyage ä Montbar, par Herault de Sechelles, welche Flourens beibringt, in seiner Histoire des travaux de Buffon, S. a88: Buffon avait ce principe qu'en general les enfants tenaient de leur mere leurs qualites intellectuelles et morales: et lors- qu'il Favait developpe dans la conversation, il en fai- sait sur-le-champ Fapplication ä lui-meme, en faisant un eloge pompeux de sa mere, qui avait en effet, beau- coup d'esprit, des connaissances etendues, et une tete 67 I tres bien oqjanisc'C. Dass er die moralisclien Eigen- schaften niitnennt, ist ein Irrthuni,den entweder der Berichterstatter hegeht, oder der darauf beruht, dass seine INIntter zufäHig den selben Cliarakter hatte, wie er und sein Vater. Das Gegentheil hievon bieten uns unzähhge Fälle dar, wo Mutter und Sohn den ent- gegengesetzten Charakter haben: daher konnten, im Orest und Hamlet, die grössten Dramatiker Mutter und Sohn in feindlichem Widerstreit darstellen, wo- bei der Sohn als moralischer Stellvertreter und Rächer des Vaters auftritt. Hingegen würde der umgekehrte Fall, dass der Sohn als moralischer Stellvertreter und Rächer der Mutter gegen seinen Vater aufträte, em- pörend und zugleich fast lächerlich sevn. Dies beruht darauf, dass zwischen Vater und Sohn wirkliche Iden- tität des Wesens, welches der Wille ist, besteht, zwi- schen Mutter und Sohn aber blosse Identität des Intel- lekts, und selbst diese noch bedingter Weise. Zwischen Mutter und Sohn kann der grösste moralische Gegen- satz bestehen, zwischen Vater und Sohn nur ein in- tellektueller. Auch von diesem Gesichtspunkt aus soll man die Nothwendigkeit des Salischen Gesetzes er- kennen: das Weib kann den Stamm nicht fortführen - — - Hwne, in seiner kurzen Selbstbiographie, sagt: Our mother was a woman of singular merit*). Ueber Kants Mutter heisst es in der neuesten Biographie von F. W. Schubert: „Nach dem eigenen Urtheil ihres Sohnes war sie eine Frau von grossem natürlichen Verstände. F'ür die damalige Zeit, bei der so seltenen Gelegenheit zur Ausbildung der Mädchen, war sie vorzugsweise gut unterrichtet und sorgte auch später- hin durch sich selbst für ihre weitere Ausbildung fort. Auf Spaziergängen machte sie ihren Sohn auf allerlei Erscheinungen der ISatur aufmerksam und versuchte sie durch die Macht Gottes zu erklären." — Welche ungemein verständige, geistreiche und über- legene Frau Goethe s Mutter gewesen, ist jetzt allbe- kannt. Wie viel ist nicht in der Litteratur von ihr geredet worden! von seinem Vater aber gar nicht: er selbst schildert ihn als einen Manu von untergeord- *) Unsere Mutter war eine Frau von ausgezeichneten Vorzügen. 672 neten Fähigkeiten. — Schillers Mutter war für Poesie empfänglich und machte selbst Verse, von denen ein Bruchstück zu finden ist in seiner Biographie von Schivab. — Bürger, dieses ächte Dichtergenie, dem vielleicht die erste Stelle nach Goethen unter den Deutschen Dichtern gebürt, da, gegen seine Balladen gehalten, die Schillerschen kalt und gemacht erschei- nen, hat über seine Eltern einen für uns bedeutsamen Bericht erstattet, welchen sein Freund und Arzt Alt- hof, in seiner 1798 erschienenen Biographie, mit die- sen Worten wiedergiebt: „Bürgers Vater war zwar mit mancherlei Kenntnissen, nach der damaligen Studierart, versehen, und dabei ein guter, ehrlicher Mann : aber er liebte eine ruhige Bequemlichkeit und seine Pfeife Tabak so sehr, dass er, wie mein Freund zu sagen pflegte, immer erst einen Anlauf nehmen musste, wenn er ein Mal ein Viertelstündchen auf den Unterricht seines Sohnes verwenden sollte. Seine Gat- tin war eine Frau von den ausserordentlichsten Gei- stesanlagen, die aber so wenig angebaut waren, dass sie kaum leserlich schreiben gelernt hatte. Bürger meinte, seine Mutter würde, bei gehöriger Kultur, die Berühmteste ihres Geschlechts geworden seyn; ob er gleich mehrmals eine starke Missbilligung ver- schiedener Züge ihres moralischen Charakters äusser- te. Indessen glaubte er, von seiner Mutter einige An- lagen des Geistes, von seinem Vater aber eine Ueber- einstimmungmit dessen moralischem Charakter geerbt zu haben." — Walter Scotts Mutter war eine Dich- terin und stand mit den schönen Geistern ihrer Zeit in Verbindung, wie uns der Nekrolog W. Scotts im Englischen Globe, vom 24. Sept. 1 882, berichtet. Dass Gedichte von ihr 1 789 im Druck erschienen sind, fin- de ich in einem „Mutterwitz" überschriebenen Auf- satz, in den von Blockhaus herausgegebenen „Blättern für litterarische Unterhaltung", vom 4- Okt. 1841, welcher eine lange Liste geistreicher Mütter berühm- ter Männer liefert, aus der ich nur zwei entnehmen will: „^aAo'5 Mutter war eine ausgezeichnete Sprach- kennerin, schrieb und übersetzte mehrere Werke und bewies in jedem Gelehrsamkeit, Scharfsinn und Ge- 43 Schopenhauer II 673 schmack. — Boerhaves Mutter zeichnete sich durch medicinische Kenntnisse aus." — Andererseits hat uns für die Erbhchkeit der Geistesschwäche von den Müt- tern einen starken Beleg Haller aufbewahrt, indem er anführt: E duabus patriciis sororibus, ob divitias jnaritos nactis, quum tarnen fatuis essent proximae, novimus in nobihssimas gentes nunc a seculo retro ejus morbi ma nasse seminia, ut etiam in quarta gene- ratione, quintave, omniiun posterorum ahqui fatui supersint, (Elementa physiol., hb. XXIX, §. 8.) — Auch nach Esquirol vererbt der Wahnsinn sich häu- figer von der Mutter, als vom Vater. Wenn er jedoch von diesem sich vererbt, schreibe ich es den Gemüths- anlagen zu, deren Wirkung ihn veranlasst. Aus unserm Grundsatz scheint zu folgen, dass Söhne der selben Mutter gleiche Geisteskräfte haben und, wenn Einer hochbegabt wäre, auch der andere es seyn müsste. Mitunter ist es so: Beispiele sind die Can^acci, Joseph und Michael Haydn., Bernhard und Andreas Rombei'g, Georg und Friedrich Cuvie?-: ich würde auch hinzusetzen, die Gebrüder Schlegel; wenn nicht der jüngere, Friedrich, durch den in seinem letzten Le- bensviertel, im Verein mit Adam Müller getriebenen, schimpflichen Obskurantismus, sich der Ehre, neben seinem vortrefflichen, untadelhaften und so höchst ausgezeichneten Bruder, August Wilhelm, genannt zu werden, unwürdig gemacht hätte. Denn Obskuran- tismus ist eine Sünde, vielleicht nicht gegen den hei- ligen, doch gegen den menschlichen Geist, die man daher nie verzeihen, sondern Dem, der sich ihrer schuldig gemacht, Dies, unversöhnlich, stets und über- all nachtragen und bei jeder Gelegenheit ihm Ver- achtung bezeugen soll, so lange er lebt, ja, noch nach dem Tode. — Aber eben so oft trifft die obige Folge- rung nicht zu ; wie denn z. B. Kants Bruder ein ganz gewöhnlicher Mann war. Um dies zu erklären, erin- nere ich an das im 3i. Kapitel über die physiologi- schen Bedingungen des Genies Gesagte. Nicht nur ein ausserordentlich entwickeltes, durchaus zweckmässig gebildetes Gehirn (der Antheil der Mutter) ist erfor- dert, sondern auch ein sehr energischer Herzschlag, 674 es zu aniniiren, d. h. subjektiv ein leidenschaftlicher Wille, ein lebhaftes Temperament: dies ist das Erb- theil vom Vater. Allein eben Dieses steht nur in des- sen kräftigsten Jahren auf seiner Höhe, und noch schneller altert die Mutter. Demgemäss werden die hochbegabten Söhne, in der Regel, die ältesten, bei voller Kraft beider Eltern gezeugten seyn: so war auch Kants Bruder elf Jahre jünger als er. Sogar von zwei ausgezeichneten Brüdern wird, in der Regel, der ältere der vorzüglichere seyn. Aber nicht nur das Al- ter, sondern jede vorübergehende Ebbe der Lebens- kraft, oder sonstige Gesundheitsstörung, in den Eltern, zur Zeit der Zeugung, vermag den Antheil des Einen oder des Andern zu verkümmern und die eben daher so überaus seltene Erscheinung eines eminenten Ta- lents zu hintertreiben. — Beiläufig gesagt, ist das Wegfallen aller soeben berührten Unterschiede bei Zwillingen die Ursache der Quasi -Identität ihres Wesens. Wenn einzelne Fälle sich finden sollten, wo ein hochbegabter Sohn keine geistig ausgezeichnete Mut- ter gehabt hätte; so liesse Dies sich daraus erklären, dass diese Mutter selbst einen phlegmatischen Vater gehabt hätte, weshalb ihr ungewöhnlich entwickel- tes Gehirn nicht durch die entsprechende Energie des Blutumlaufs gehörig excitirt gewesen wäre; — ein Erforderniss, welches ich oben, Kapitel 3i, erörtert habe. Nichtsdestoweniger hätte ihr höchst vollkom- menes Nerven- und Cerebralsystem sich auf den Sohn vererbt, bei welchem nun aber ein lebhafter und lei- denschaftlicher Vater, von energischem Herzschlag, hinzugekommen wäre, wodurch dann erst hier die andere somatische Bedingung grosser Geisteskraft ein- getreten sei. Vielleicht ist dies Byrons Fall gewesen; da wir die geistigen Vorzüge seiner Mutter nirgends erwähnt finden. — Die selbe Erklärung ist auch auf den Fall anzuwenden, dass die durch Geistesgaben ausgezeichnete Mutter eines genialen Sohnes selbst keine geistreiche Mutter gehabt hätte; indem der Va- ter dieser ein Phlegma tikus gewesen. Das Disharmonische, Ungleiche, Schwankende im 43* 675 Charakter der meisten Menschen möchte vielleicht daraus abzuleiten seyn, dass das Individuum keinen einfachen Ursprung hat, sondern den Willen vom Vater, den Intellekt von der Mutter üijerkommt. Je heterogener, unangemessener zu einander beide Eltern "waren, desto grösser wird jene Disharmonie, jener innere Zwiespalt seyn. Während Einige durch ihr Herz, Andere durch ihren Kopf excellii'en, giebt es noch Andere, deren Vorzug bloss in einer gewissen Harmonie und Einheit des ganzen Wesens liegt, wel- che daraus entsteht, dass bei ihnen Herz und Kopf einander so überaus angemessen sind, dass sie sich wechselseitig unterstützen und hervorheben ,• welches vermuthen lässt, dass ihre Eltern eine besondere An- gemessenheit und Uebereinstimmung zu einander hatten. Das Physiologische der dargelegten Theorie be- treffend, will ich nur anführen, dass Burdach^ wel- cher irrig annimmt, die selbe psychische Eigenschaft könne bald vom Vater, bald von der Mutter vererbt werden, dennoch (Physiologie als Erfahrungs Wissen- schaft, Bd. I, §. 3o6) hinzusetzt: „Im Ganzen genom- men, hat das Männliche mehr Einfluss auf Bestim- mung des irritabeln Lebens, das Weibliche hingegen mehr auf die Sensibilität." — Auch geholt hieher, was Linne sagt, im wSvstema naturae, Tom. I, p, 8: Mater prolifera promit, ante generationem, vivum compendium medulläre novi animalis suique similli- mi, carinam Malpighianam dictum, tanquam plumu- lam vegetabilium : hoc ex genitura Co?- adsociat ra- mificandum in corpus. Punctum enim saliens ovi in- cubantis avis ostendit primum cor micans, cerebrum- que cum medulla: corculum hoc, cessans a frigore, excitatur calido halitu, premitque bulla aerea, sensim dilatata, liquores, secundum canales fluxiles. Punctum vitalitatis itaque in viventibus est tanquam a prima creatione continuata medullaris vitae ramiticatio, cum Ovum sit genmia medullaris maM's a primordio viva, licet non sua ante proprium cor paternvm. Wenn wir nun die hier gewonnene Ueberzeugung von der Erblichkeit des Charakters vom Vater und 676 1 des Intellekts von der Mutter in Verbindung setzen mit unserer frühern Betrachtung des weiten Abstandes, den die Natur, in moralischer, wie in intellektueller Hin- sicht, zwischen Mensch und Mensch gesetzt hat, wie auch mit unserer Erkenntniss der völligen Unverän- derlichkeit sowohl des Charakters, als derGeistesfähig- keiten ; so werden wir zu der Ansicht hingeleitet, dass eine wirkliche und gründliche Veredelung des Men- schengeschlechts, nicht sowohl von Aussen als von Innen, also nicht sowohl durch Lehre und Bil- dung, als vielmehr auf dem Wege der Generation zu erlangen sein möchte. Schon Plato hat so etwas im Sinne gehabt, als er, im fünften Buche seiner Repu- blik, den wunderlichen Plan zur Vermehrung und Veredelung seiner Kriegerkaste darlegte. Könnte man alle Schurken kastriren und alle dummen Gänse ins Kloster stecken, den Leuten von edelem Charakter ein ganzes Harem beigeben, und allen Mädchen von Geist und Verstand Männer, und zwar ganze Männer ver- schaffen; so würde bald eine Generation erstehen, die ein mehr als Perikleisches Zeitalter darstellte. — - Ohne jedoch auf solche Utopische Pläne einzugehen, liesse sich in Erwägung nehmen, dass wenn, wie es, irre ich mich nicht, bei einigen alten Völkern wirklich ge- wesen ist, nach der Todesstrafe die Kastration als die schwerste Strafe bestände, ganze Stammbäume von Schurken der Welt erlassen seyn würden ; um so ge- wisser, als bekanntlich die meisten Verbrechen schon in dem Alter zwischen zwanzig und dreissig Jahren be- gangen werden. Imgleichen liesse sich überlegen, ob es nicht, in Betracht der Folgen, erspriesslicher seyn wür- de, die bei gewissen Gelegenheiten auszutheilenden öf- fentlichen Aussteuern nicht, wie jetzt üblich, den an- (;eblich tugendhaftesten, sondern den verständigsten und geistreichsten Mädchen zuzuerkennen ; zumal da über die Tugend das Urtheil gar schwierig ist: denn nur Gott, sagt man, sieht die Herzen; die Gelegenhei- ten, einen edlen Charakter an den Tag zu legen, sind selten und dem Zufall anheimgestellt; zudem hat die Tugend manches Mädchens eine kräftige Stütze an der Hässlichkeit desselben: hingegen über den Verstand 677 können Die, >velche selbst damit begabt sind, nacli einiger Prüfung, mit vieler Sicherbeiturtheilen. — Eine andere praktische Anwendung ist folgende. In vielen Ländern, auch im südlichen Deutschland, herrscht die schlimme Sitte, dass Weiber Lasten, und oft sehr beträchtliche, auf dem Kopfe tragen. Dies muss nach- theilig auf das Gehirn wirken; wodurch dasselbe, beim weiblichen Geschlechte im Volke, sich allmälig deteriorirt, und da von ihm das männliche das seinige empfangt, das ganze Volk immer dümmer wird; wel- ches bei vielen gar nicht nöthig ist. Durch Abstellung dieser Sitte würde man demnach das Quantum der Intelligenz im Ganzen des Volkes vermehren; welches zuverlässig die grösste Vermehrung desNationalreich- thums wäre. Wenn wir aber jetzt, dergleichen praktische An- wendungen Andern überlassend, auf unsern eigen- thümlichen, also den ethisch-metaphysischen Stand- punkt zurückkehren; so wird sich uns, indem wir den Inhalt des /^i. Kapitels mit dem des gegen- wärtigen verbinden, folgendes Ergebniss darstellen, welches, bei aller seiner Transscendenz, doch eine un- mittelbare, empirische Stütze hat. — Es ist der selbe Charakter, also der selbe individuell bestimmte Wille, welcher in allen Descendenten eines Stammes, vom Ahnherrn bis zum gegenwärtigen Stammhalter, lebt. Allein in jedem derselben ist ihm ein anderer Intellekt, also ein anderer Grad vmd eine andere Weise der Erkenntniss beigegeben. Dadurch nun stellt sich ihm, in jedem derselben, das Lehen von einer andern Seite und in einem verschiedenen Lichte dar: er erhält eine neue Grundansicht davon, eine neue Belehrung. Zwar kann, da der Intellekt mit dem Individuo er- lischt, jener Wille nicht die Einsicht des einen Le- benslaufes durch die des andern unmittell)ar ergän- zen. Allein in der Folge jeder neuen Grundansicht des Lebens, wie nur eine erneuete Persönlichkeit sie ihm verleihen kann, erhält sein Wollen selbst eine andere Richtung, erfahrt also eine Modifikation da- durch, und was die Hauptsache ist, er hat, auf die- selbe, von Neuem das Leben zu bejahen, oder zu ver- (i78 neinen. Solchermaassen wiid die, aus der Nothwen- digkeit zweier Geschlechter zur Zeugung entsprin- gende Naturanstalt der immer wechselnden Verbin- dung eines Willens mit einem Intellekt zur Basis einer Heilsordnung. Denn vermöge derselben kehrt das Leben dem Willen (dessen Abbild und Spiegel es ist) unaufhörlich neue Seiten zu, dreht sich gleichsam ohne Unterlass vor seinem Blicke herum, lässt andere und immer andere Anschauungsweisen sich an ihm versuchen, damit er, auf jede derselben, sich zur Be- jahung oder Verneinung entscheide, welche beide ihm beständig offen stehen ; nur dass, wenn Ein Mal die Verneinung ergriffen wird, das ganze Phäno- men für ihn, mit dem Tode, aufhört. Weil nun hienach dem selben Willen gerade die beständige Er- neuerung und völlige Veränderung des Intellekts, als eine neue Weltansicht verleihend, den Weg des Heils offen hält, der Intellekt aber von der Mutter kommt; so möchte hier der tiefe Grund liegen, aus welchem alle Völker (mit sehr wenigen, ja schwankenden Aus- nahmen) die Geschwisterehe verabscheuen und ver- bieten, ja sogar eine Geschlechtsliebe zwischen Ge- schwistern gar nicht entsteht, es sei denn in höchst seltenen, auf einer naturwidrigen Perversität der Triebe, wo nicht auf der Unächtheit des Einen von ihnen, beruhenden Ausnahmen. Denn aus einer Ge- schwisterehe könnte nichts Anderes hervorgehen, als stets nur der selbe Wille mit dem selben Intellekt, wie beide schon vereint in beiden Eltern existiren, also die hoffnungslose Wiederholung der schon vor- handenen Erscheinung. Wenn wir aber nun, im Einzelnen und in der Nähe, die unglaublich grosse und doch so augenfällige Verschiedenheit der Charaktere ins Auge fassen, den Einen so gut und menschenfreundlich, den Andern so boshaft, ja, grausam vorfinden, wieder Einen ge- recht, redlich und aufrichtig, einen Andern voller Falsch, als einen Schleicher, Betrüger, Verräther, in- korrigibeln Schurken erblicken ; da eröffnet sich uns ein Abgrund der Betrachtung, indem wir, über den Ursprung einer solchen Verschiedenheit nachsinnend, vergeblich brüten. Hindu und Buddhaisten lösen das Problem dadurch, dass sie sagen: „es ist die Folge der Thaten des vorhergegangenen Lebenslaufes". Diese Lösung ist zwar die älteste, auch die fasslichste und von den Weisesten der Menschheit ausgegangen : sie schiebt jedoch nur die Frage weiter zurück. Eine be- friedigendere wird dennoch schwerlich gefunden wer- den. Vom Standpunkt meiner ganzen Lehre aus bleibt mir zu sagen übrig, dass hier, wo der Wille als Ding an sich zur Sprache kommt, der Satz vom Grunde, als blosse Form der Erscheinung, keine Anwendung mehr findet, mit ihm aber alles Warum und Woher wegfällt. Die absolute Freiheit besteht eben darin, dass Etwas dem Satz vom Grunde, als dem Prinzip aller Nothwendigkeit, gar nicht unterworfen ist: eine solche kommt daher nur dem Dinge an sich zu, dieses ist aber gerade der Wille. Er ist demnach in seiner Erscheinung, mithin im Operari, der Notwen- digkeit unterworfen: im Esse aber, wo er sich als Ding an sich entschieden hat, ist er frei. Sobald wir daher, wie hier geschieht, an dieses kommen, hört alle Erklärung mittelst Gründen und Folgen auf, und uns bleibt nichts übrig, als zu sagen : hier äussert sich die wahre Freiheit des Willens, die ihm zukommt, sofern er das Ding an sich ist, welches aber eben als solches grundlos ist, d. h. kein Warum kennt. Eben dadurch aber hört für uns hier alles Verständniss auf; weil all unser Verstehn auf dem Satz vom Grunde be- ruht, indem es in der blossen Anwendung desselben besteht. 680 KAPITEL 44. METAPHYSIK DER GESCHLECHTSLIEBE. Ihr Weisen, hoch und tief gelahrt, Die ihr's ersinnt und wisst. Wie, wo und wann sich Alles paart? Warum sich's liebt und küsst? Ihr hohen Weisen sagt mir's an ! Ergrübelt, was mir da, Ergrübelt mir, wo, wie und wann. Warum mir so geschah ? Bürger, DIESES Kapitel ist das letzte von vieren, deren mannigfaltige, gegenseitige Beziehungen zu ein- ander, vermöge welcher sie gewissermaassen ein unter- geordnetes Ganzes bilden, der aufmerksame Leser er- kennen wird, ohne dass ich nöthig hätte, durch Be- rufungen und Zurückweisungen meinen Vortrag zu unterbrechen. Die Dichter ist man gewohnt hauptsächlich mit der Schilderung der Geschlechtsliebe beschäftigt zu se- hen. Diese ist in der Regel das Hauptthema aller dra- matischen Werke, der tragischen, wie der komischen, der romantischen wie der klassischen, der Indischen, wie der Europäischen : nicht weniger ist sie der Stoff des bei Weitem grössten Theils der lyrischen Poesie, und ebenfalls der epischen; zumal wenn wir dieser die hohen Stösse von Romanen beizählen wollen, welche, in allen civilisirten Ländern Europas, jedes Jahr so regelmässig wie die Früchte des Bodens er- zeugt, schon seit Jahrhunderten. Alle diese Werke sind, ihrem Hauptinhalte nach, nichts Anderes, als vielseitige, kurze oder ausführliche Beschreibungen der in Rede stehenden Leidenschaft. Auch haben die gelungensten Schilderungen derselben, wie z. ß. Ro- meo und Julie, die neue Heloise, der Werther, un- sterblichen Ruhm erlangt. Wenn dennoch Rochefou- cauld meint, es sei mit der leidenschaftlichen Liebe wie mit den Gespenstern, Alle redeten davon, aber 681 Keiner hätte sie gesehen ; und ebenfalls Lichte nbenj in seinem Aufsatze ,,Ueber die Macht der Liebe" die Wirklichkeit und rsaturgeniässheit jener Leidenschaft bestreitet und ableugnet; so ist dies ein grosser Irr- thum. Denn es ist unmöglich, dass ein der menschli- chen Natur Fremdes und ihr Widersprechendes, also eine bloss aus der Luft gegriffene Fratze, zu allen Zeiten vom Dichtergenie unermüdlich dargestellt und von der Menschheit mit unveränderter Theilnahme aufgenommen werden könne; da ohne Wahrheit kein Kunstschönes seyn kann: Rien n'est bean que le vrai ; le vrai seul est ainiable. Boil. Allerdings aber bestätigt es auch die Erfahrung, wenn gleich nicht die alltägliche, dass Das, was in der Re- gel nur als eine lebhafte, jedoch noch bezwingbare Neigung vorkommt, unter gewissen Umständen an- wachsen kann zu einer Leidenschaft, die an Heftig- keit jede andere übertrifft, und dann alle Rücksich- ten beseitigt, alle Hindernisse mit unglaublicher Kraft und Ausdauer überwindet, so dass für ihre Befriedi- gung unbedenklich das Leben gewagt, ja, wenn sol- che schlechterdings versagt bleibt, in den Kauf ge- geben wird. Die \Verther und Jacopo Ortis existiren nicht bloss im Romane; sondern jedes Jahr hat deren in Europa wenigstens ein halbes Dutzend aufzuwei- sen: sed ignotis perierunt mortibus illi: denn ihre Leiden finden keinen andern Chronisten, als den Schreiber amtlicher Protokolle, oder den Berichter- statter der Zeitungen. Doch werden die Leser der polizeigerichtlichen Aufnahmen in Englischen und Französichen Tagesblättern die Richtigkeit meiner Angabe bezeugen. Noch grösser aber ist die Zahl Derer, welche die selbe Leidenschaft ins Irrenhaus bringt. Endlich hat jedes Jahr auch einen und den andern Fall von gemeinschaftlichem Selbstmordeines liebenden, aber durch äussere Umstände verhinder- ten Paares aufzuweisen; wobei mir inzwischen uner- klärlich bleibt, wie Die, welche, gegenseitiger Liebe gewiss, im Genüsse dieser die höchste Säligkeit zu 682 finden erwarten, nicht lieber durch die äussersten Schritte sich allen Verhältnissen entziehen und jedes Ungejnach erdulden, als dass sie mit dem Leben ein Gl ück aufgeben, über welches hinaus ihnen kein grösse- res denkbar ist. — Was aber die niedern Grade und die blossen Anflüge jener Leidenschaft anlangt, so hat Jeder sie täglich vor Augen und, so lange er nicht alt ist, meistens auch im Herzen. Also kann man, nach dem hier in Erinnerung Ge- brachten, weder an der Realität, noch an der Wich- tigkeit der Sache zweifeln, und sollte daher, statt sich zu wundern, dass auch ein Philosoph dieses bestän- dige Thema aller Dichter ein Mal zu dem seinigen macht, sich darüber wundern, dass eine Sache, welche im Menschenleben durchweg eine so bedeutende Rolle spielt, von den Philosophen bisher so gut wie gar nicht in Betrachtung genommen ist und als ein vinbearbeiteter Stoff vorliegt. W^er sich noch am mei- sten damit abgegeben hat, ist Plato, besonders im ,, Gastmahl" und im „Phädrus": was er jedoch dar- über vorbringt, hält sich im Gebiete der Mythen, Fa- beln und Scherze, betrifft auch grösstentheils nur die Griechische Knabenliebe. Das Wenige, was Rousseau im Discours sur rinegalilc (S. 96, ed. ßip.) über un- ser Thema sagt, ist falsch und ungenügend. Kants Erörterung des Gegenstandes, im dritten Abschnitt der Abhandlung „Ueber das Gefühl des Schönen und Erhabenen" (S. 4^5 fg. der Rosenkranzischen Aus- gabe), ist sehr oberflächlich und ohne Sachkenntniss, daher zum Theil auch unrichtig. Endlich Platners Behandlung der Sache in seiner Anthropologie, §^V i347 fg., wird Jeder platt und seicht finden. Hinge- gen verdient Spinoza's Definition, wegen ihrer über- schwänglichen Naivetät, zur Aufheiterung angeführt zu werden: Amor est titillatio, cpncomitante idea causae externae (Eth., IV, prop. 44? dem.). Vorgän- ger habe ich demnach weder zu benutzen, noch zu widerlegen: die Sache hat sich mir objektiv aufge- drungen und ist von selbst in den Zusammenhang meiner Weltbetrachtung getreten. — Den wenigten Beifall habe ich übrigens von Denen zu hoffen, wel- 683 che gerade selbst von dieser Leidenschaft beherrscht sind, lind demnach in den subHmsien und ätherische- sten Bildern ihre überschwänglichen Gefühle auszu- drücken suchen: ihnen wird meine Ansicht zu phy- sisch, zu materiell erscheinen; so metaphysisch, ja transscendent, sie auch im Grunde ist. Mögen sie vor- läufig erwägen, dass der Gegenstand, welcher sie heute zu Madrigalen und Sonetten begeistert, wenn er 18 Jahre früher geboren wäre, ihnen kaum einen Blick abgewonnen hätte. Denn alle Verliebtheit, wie ätherisch sie sich auch geberden mag, wurzelt allein im Geschlechtstriebe, ja, ist durchaus nur ein näher bestimmter, speciali- sirter, wohl gar im strengsten Sinn individualisirter Geschlechtstrieb. Wenn man nun, dieses lest haltend, die wichtige Rolle betrachtet, welche die Geschlechts- liebe in allen ihren Abstufungen und Nuancen, nicht bloss in Schauspielen und Romanen, sondern auch in der wirklichen Welt spielt, wo sie, nächst der Liebe zum Leben, sich als die stärkste und thätigste aller Triebfedern erweist, die Hälfte der Kräfte und Ge- danken des jüngeren Theiles der Menschheit fort- während in Anspruch nimmt, das letzte Ziel fast je- des menschlichen Bestrebens ist, auf die wichtigsten Angelegenheiten nachtheiligen Einfluss erlangt, die ernsthaftesten Beschäftigungen zu jeder Stunde unter- bricht, bisweilen selbst die grössten Köpfe auf eine Weile in Verwirrung setzt, sich nicht schevit, zwi- schen die Verhandlungen der Staatsmänner und die Forschungen der Gelehrten, störend, mit ihrem Plunder einzutreten, ihre Liebesbriefchen und Haar- löckchen sogar in ministerielle Portefeuilles und phi- losophische Manuscripte einzuschieben versteht, nicht minder täglich die verworrensten und schlimmsten Händel anzettelt, die werthvollsten Verhältnisse auf- löst, die festesten Bande zerreisst, bisweilen Leben, oder Gesundheit, bisweilen Reichthum, Ran{f und Glück zu ihrem Opfer nimmt, ja, den sonst Redlichen gewissenlos, den bisher Treuen zum Verräthermacht, demnach im Ganzen auftritt als ein feindsäliger Dä- mon, der Alles zu verkehren, zu verwirren und um- 684 zuwerfen bemüht ist ; — da wird man veranlasst aus- zurufen : Wozu der Lerm ? Wozu das Drängen, Toben, die Angst und die INoth? Es handelt sich ja bloss dar- um, dass j«der Hans seine Grethe*) finde: weshalb sollte eine solche Kleinigkeit eine so wichtige Rolle spielen und unaufhörlich Störung und Verwirrung in das wohlgeregelte Menschenleben bringen ? — Aber dem ernsten Forscher enthüllt allmälig der Geist der Wahrheit die Antwort : Es ist keine Kleinigkeit, war- um es sich hier handelt; vielmehr ist die Wichtigkeit der Sache dem Ernst und Eifer des Treibens voll- kommen angemessen. Der Endzweck aller Liebes- händel, sie mögen auf dem Sockus, oder dem Kothurn gespielt werden, ist wirklich wichtiger, als alle andern Zwecke im Menschenleben, und daher des tiefen Ernstes, womit Jeder ihn verfolgt, völlig werth. Das nämlich, was dadurch entschieden wird, ist nichts Geringeres, als die Ztisammeiisetzimg der nächsten Ge- neration. Die dramatis personae, welche auftreten werden, wann wir abgetreten sind, werden hier, ihrem Daseyn und ihrer Beschaffenheit nach, be- stimmt, durch diese so frivolen Liebeshändel. Wie das Seyn, die Existentia, jener künftigen Personen durch unsern Geschlechtstrieb überhaupt, so ist das Wesen, die Essentia derselben durch die individuelle Auswahl bei seiner Befriedigung, d. i. die Geschlechtsliebe, durchweg bedingt, und wird dadurch, in jeder Rück- sicht, unwiderruflich festgestellt. Dies ist der Schlüs- sel des Problems : wir werden ihn, bei der Anwen- dung, genauer kennen lernen, wann wir die Grade der Verliebtheit, von der flüchtigsten Neigung bis zxiv heftigsten Leidenschaft, durchgehen, wobei wir erkennen werden, dass die Verschiedenheit derselben aus dem Grunde der Individualisation der Wahl ent- springt. Die sämmtlichen Liebeshändel der gegenwärtigen Generation zusammengenommen sind demnach des ganzen Menschengeschlechts ernstliche meditatio com- *) Ich habe mich hier nicht eigentlich ausdrücken dürfen : dei' geneigte Leser hat daher die Phrase in eine Aristophanische Sprache zu übersetzen. 685 positionis generationis futurae, e qua iterum pendent innumerae generationes. Diese hohe Wichtigkeit der Angelegenheit, als in welcher es sich nicht, wie in allen ührigen, um individuelles Wohl und Wehe, sondern um das Daseyn und die specielle Beschaffen- heit des Menschengeschlechts in künftigen Zeiten handelt und daher der Wille des Einzelnen in er- höhter Potenz, als Wille der Gattung, auftritt, diese ist es, worauf das Pathetische und Erhabene der Lie- besangelegenheiten, das Transscendente ihrer Ent- zückungen und Schmerzen beruht, welches in zahl- losen Beispielen darzustellen die Dichter seit Jahr- tausenden nicht müde werden; weil kein Thema es an Interesse diesem gleich thun kann, als welches, in- dem es das Wohl und Wehe der Gattung betrifft, zu allen übrigen, die nur das Wohl der Einzelnen be- treffen, sich verhält wie Körper zu Fläche. Daher eben ist es so schwer, einem Drama ohne Liebeshän- del Interesse zu ertheilen und wird andererseits, selbst durch den täglichen Gebrauch, dies Thema niemals abgenutzt. Was im individuellen Bewusstseyn sich kund giebt als Geschlechtstrieb überhaupt und ohne die Rich- tung auf ein bestimmtes Individuum des andern Ge- schlechts, das ist an sich selbst und ausser der Er- scheinung der Wille zum Leben schlechthin. Was aber im Bewusstseyn erscheint als auf ein bestimm- tes Individuum gerichteter Geschlechtstrieb, das ist an sich selbst der W^ille, als ein genau bestimmtes Individuum zu leben. In diesem Falle nun weiss der Geschlechtstrieb, obwohl an sich ein subjektives Be- dürfniss, sehr geschickt die Maske einer objektiven Bewundervmg anzunehmen und so das Bewusstseyn zu täuschen: denn die Natur bedarf dieses Stratagems zu ihren Zwecken. Dass es aber, so objektiv und von erhabenem Anstrich jene Bewunderung auch erschei- nen mag, bei jedem Verliebtseyn doch allein abgese- hen ist auf die Erzeugung eines Individuums von be- stimmter Beschaffenheit, wird zunächst dadurch be- stätigt, dass nicht etwan die Gegenliebe, sondern der Besitz, d. h. der physische Genuss, das Wesentliche 686 ist. Die Gewissheit jener kann daher über den Man- gel dieses keineswegs trösten : vielmehr hat in solcher Lage schon Mancher sich erschossen. Hingegen neh- men stark Verliebte, wenn sie keine Gegenliebe er- langen können, mit dem Besitz, d, i. dem physischen Genuss, vorlieb. Dies belegen alle gezwungenen Hei- rathen, imgleichen die so oft, ihrer Abneigung zum Trotz, mit grossen Geschenken, oder sonstigen Op- fern, erkaufte Gunst eines Weibes, ja auch die Fälle der Nothzucht. Dass dieses bestimmte Kind erzeugt werde, ist der wahre, wenngleich den Theilnehmern unbewusste Zweck des ganzen Liebesromans: die Art und Weise, wie er erreicht wird, ist Nebensache. — Wie laut auch hier die hohen und empfindsamen, zumal aber die verliebten Seelen aufschreien mögen, über den derben Realismus meiner Ansicht; so sind sie doch im Irrthum. Denn, ist nicht die genaue Be- stimmung der Individualitäten der nächsten Genera- tion ein viel höherer und würdigerer Zweck, als jene ihre überschwänglichen Gefühle und übersinnlichen Seifenblasen? Ja, kann es unter irdischen Zwecken, einen wichtigeren und grösseren geben? Er allein entspricht der Tiefe, mit welcher die leidenschaftliche Liebe gefühlt wird, dem Ernst, mit welchem sie auf- tritt, und der Wichtigkeit, die sie sogar den Kleinig- keiten ihres Bereiches und ihres Anlasses beilegt. Nur sofern man diesen Zweck als den wahren unterlegt, erscheinen dieWeitläuftigkeiten, die endlosen Bemü- hungen und Plagen zur Erlangung des geliebten Ge- genstandes, der Sache angemessen. Denn die künftige Generation, in ihrer ganzen individuellen Bestimmt- heit, ist es, die sich inittelst jenes Treibens und Mü- hens ins Daseyn drängt. Ja, sie selbst regt sich schon in der so umsichtigen, bestimmten und eigensinnigen Auswahl zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, die man Liebe nennt. Die wachsende Zuneigung zweier Liebenden ist eigentlich schon der Lebenswille des neuen Individuums, welches sie zeugen können und möchten; ja, schon im Zusammentreffen ihrer sehn- suchtsvollen Blicke entzündet sich sein neues Leben, und giebt sich kund als eine künftig harmonische, 687 wohl zusammengesetzte Individualität. Sie fühlen die Sehnsucht nach einer wirklichen Vereinijjung und Verschmelzung zu einem einzigen Wesen, um alsdann nur noch als dieses fortzulehen; und diese erhält ihre Erfüllung in dem von ihnen Erzeugten, als in wel- chem die sich vererbenden Eigenschaften Beider, zu Einem Wesen verschmolzen und vereinigt, fortleben. Umgekehrt, ist die gegenseitige, entschiedene und beharrliche Abneigung zwischen einem Mann und einem Mädchen die Anzeige, dass was sie zeugen könnten nur ein übel organisirtes, in sich disharmo- nisches, unglückliches Wesen seyn würde. Deshalb liegt ein tiefer Sinn darin, dass Galderon die entsetz- liche Semiramis zwar die Tochter der Luft benennt, sie jedoch als die Tochter der Nothzucht, aufweiche der Gattenmord folgte, einführt. Was nun aber zuletzt zwei Individuen verschiede- nen Geschlechts mit solcher Gewalt ausschliesslich zu einander zieht, ist der in der ganzen Gattung sich darstellende Wille zum Leben, der hier eine seinen Zwecken entsprechende Objektivation seines Wesens anticipirt in dem Individuo, welches jene Beiden zeugen können. Dieses nämlich wird vom Vater den Willen, oder Charakter, von der Mutter den Intellekt haben, die Korporisation von Beiden: jedoch wird meistes die Gestalt sich mehr nach dem Vater, die Grösse mehr nach der Mutter richten, — dem Ge- setze gemäss, welches in den ßastarderzeugungen der Thiere an den Tag tritt und hauptsächlich darauf beruht, dass die Grösse des Fötus sich nach der Grösse des Uterus richten muss. So unerklärlich die ganz besondere und ihm ausschliesslich eigenthüm- liche Individualität eines jeden Menschen ist; so ist es eben auch die ganz besondere und individuelle Leidenschaft zweier Liebenden; — - ja, im tiefsten Grunde ist Beides Eines und dasselbe: die Erstere ist explicite was die Letztere implicite war. Als die al- lererste Entstehung eines neuen Individuums und das wahre punctum saliens seines Lebens ist wirk- lich der Augenblick zu betrachten, da die Eltern an- fangen einander zu lieben, — to fancy each other 688 nennt es ein sehr treffender Englischer Ausdruck, — und, wie gesagt, im Begegnen und Heften ihrer sehn- süchtigen BHcke entsteht der erste Keim des neuen Wesens, der freilich, wie alle Keime, meistens zertre- ten wird. Dies neue Individuum ist gewissermassen eine neue (Platonische) Idee: wie nun alle Ideen mit der grössten Heftigkeit in die Erscheinung zu treten strehen, mit Gier die Materie hiezu ergreifend, welche das Gesetz der Kausalität unter sie alle aus- teilt; so strebt eben auch diese besondere Idee einer menschlichen Individualität mit der grössten Gier und Heftigkeit nach ihrer Realisation in der Erschei- nung. Diese Gier und Heftigkeit eben ist die Leiden- schaft der beiden künftigen Eltern zu einander. Sie hat unzählige Grade, deren beide Extreme man im- merhin als AcppooiTv -iravoYjij-o? und oupavia bezeichnen mag: — dem Wesen nach ist sie jedoch überall die selbe. Hingegen dem Grade nach wird sie um so mächtiger seyn, je individualisirter sie ist, d. h. je mehr das geliebte Individuum, vermöge aller seiner Theile und Eigenschaften, ausschliesslich geeignet ist, den Wunsch und das durch seine eigene Indivi- dualität festgestellte Bedürfniss des liebenden zu be- friedigen. Worauf es nun aber hiebei ankommt, wird uns im weiteren Verfolge deutlich werden. Zunächst und wesentlich ist die verliebte Neigung gerichtet auf Gesundheit, Kraft und wSchönheit, folglich auch auf Jugend; weil der Wille zuvörderst den Gattungs- charakter der Menschenspecies, als die Basis aller Individualität, darzustellen verlangt: die alltägliche Liebelei (Acppootxv TravoTjfjLO?) geht nicht viel weiter. Daran knüpfen sich sodann speciellere Anforderun- gen, die wir weiterhin im Einzelnen untersuchen werden, und mit denen, wo sie Befriedigung vor sich sehen, die Leidenschaft steigt. Die höchsten Grade dieser aber entspringen aus derjenigen Ange- messenheit beider Individualitäten zu einander, ver- möge welcher der Wille, d. i. der Charakter, des Va- ters und der Intellekt der Mutter, in ihrer Verbin- dung, gerade dasjenige Individuum vollenden, nach welchem der Wille zum Leben überhaupt, welcher 44 Schopenhauer II ^^9 in der ganzen Gattung sich darstellt, eine diese sei- ner Grösse angemessene, daher das Maass eines sterh- lichen Herzens übersteigende Sehnsucht empfindet, deren Motive eben so über den Bereich des indivi- duellen Intellekts hinausliegen. Dies ist also die Seele einer eigentlichen, grossen Leidenschaft. — Je voll- kommener nun die gegenseitige Angemessenheit zweier Individuen zu einander, in jeder der so man- nigfachen, weiterhin zu betrachtenden Rücksichten ist, desto stärker wird ihre gegenseitige Leidenschaft ausfallen. Da es nicht zwei ganz gleiche Individuen giebt, muss jedem bestimmten Mann ein bestimmtes Weib, — ■ stets in Hinsicht auf das zu Erzeugende, - — am vollkommensten entsprechen. So selten, wie der Zufall ihres Zusammentreffens, ist die eigentlich lei- denschaftliche Liebe. Weil inzwischen die Möglich- keit einer solchen in Jedem vorhanden ist, sind uns die Darstellungen derselben in den Dichterwerken verständlich. — ^ Eben weil die verliebte Leidenschaft sich eigentlich um das zu Erzeugende und dessen Eigenschaften dreht und hier ihr Kern liegt, kann zwischen zwei jungen und wohlgebildeten Leuten verschiedenen Geschlechts, vermöge der Ueberein- stimmung ihrer Gesinnung, ihres Charakters, ihrer Geistesrichtung, Freundschaft bestehen, ohne dass Geschlechtsliebe sich einmischte; ja sogar kann in dieser Hinsicht eine gewisse Abneigung zwischen ih- nen vorhanden seyn. Der Grund hievon ist darin zu suchen, dass ein von ihnen erzeugtes Kind körperlich oder geistig disharmonirende Eigenschaften haben, kurz, seine Existenz und Beschaffenheit den Zwecken des Willens zum Leben, wie er sich in der Gattung darstellt, nicht entsprechen würde. Im entgegenge- setzten Fall kann, bei Heterogeneität der Gesinnung, des Charakters und der Geistesrichtung, und bei der daraus hervorgehenden Abneigung, ja Feindsälig- keit, doch die Geschlechtsliebe aufkommen und be- stehen; wo sie dann über jenes Alles verblendet: verleitet sie hier zur Ehe, so wird es eine sehr un- glückliche. — Jetzt zur gründlicheren Untersuchung der Sache. 690 — Der Egoismus ist eine so tiet wurzelnde Eigen- schaft aller Individualität überhaupt, dass, um die Thätigkeit eines individuellen Wesens zu erregen, egoistische Zwecke die einzigen sind, auf welche man mit Sicherheit rechnen kann. Zwar hat die Gattung auf das Individuum ein früheres, näheres und grös- seres Recht, als die hinfällige Individualität selbst: jedoch kann, wann das Individuum für den Bestand und die Beschaffenheit der Gattung thätig seyn und sogar Opfer bringen soll, seinem Intellekt, als wel- cher bloss auf individuelle Zwecke berechnet ist, die Wichtigkeit der Angelegenheit nicht so fasslich ge- macht werden, dass sie derselben gemäss wirkte. Da- her kann, in solchem Fall, die Natur ihren Zweck nur dadurch erreichen, dass sie dem Individuo einen ge- wissen Wahn einpflanzt, vermöge dessen ihm als ein Gut für sich selbst erscheint, was in Wahrheit bloss eines für die Gattung ist, so dass dasselbe dieser dient, während es sich selber zu dienen wähnt; bei welchem Hergang eine blosse, gleich darauf verschwindende Chimäre ihm vorschwebt und als Motiv die Stelle einer Wirklichkeit vertritt. Dieser Wahn ist der In- stinkt. Derselbe ist, in den allermeisten Fällen, an- zusehen als der Sinn der Gattung., welcher das ihr Frommende dem Willen darstellt. Weil aber der Wille hier individuell geworden; so muss er derge- stalt getäuscht werden, dass er Das, was der Sinn der Gattung ihm vorhält, durch den Sinn des Individui wahrnimmt, also individuellen Zwecken nachzuge- hen wähnt, während er in Wahrheit bloss generelle (dies Wort hier im eigentlichsten Sinn genommen) verfolgt. Die äussere Erscheinung des Instinkts beob- achten wir am besten an den Thieren, als wo seine Rolle am bedeutendesten ist; aber den innern Her- gang dabei können wir, wie alles Innere, allein an uns selbst kennen lernen. Nun meint man zwar, der Mensch habe fast gar keinen Instinkt, allenfalls bloss den, dass das Neugeborene die Mutterbrust sucht und ergreift. Aber in der That haben wir ei- nen sehr bestimmten, deutlichen, ja komplicirten In- stinkt, nämlich den der so feinen, ernstlichen und 44' 69 1 eigensinnigen Auswahl des andern Individuums zur Gesclilechtsbefriedigung. Mit dieser Befriedigung au sich selbst, d. h. sofern sie ein auf dringendem Be- dürfniss des Individuums beruhender sinnlicher Ge- nuss ist, hat die Schönheit oder Hässlichkeit des an- dern hidividuums gar nichts zu schaffen. Die dennoch so eifrig verfolgte Rücksicht auf diese, nebst der dar- aus entspringenden sorgsamen Auswahl, bezieht sich also offenbar nicht auf den Wählenden selbst, ob- schon er es wähnt, sondern auf den wahren Zweck, auf das zu Erzeugende, als in welchem der Typus der Gattung möglichst rein und richtig erhalten wer- den soll. Nämlich durch tausend physische Zufälle und moralische Widerwärtigkeiten entstehen gar vielerlei Ausartungen der menschlichen Gestalt: den- noch wird der ächte Typus derselben, in allen sei- nen Theilen, immer wieder hergestellt; welches ge- schieht unter der Leitung des Schönheitssinnes, der durchgängig dem Geschlechtstriebe vorsteht, und ohne welchen dieser zum ekelhaften Bedürfniss her- absinkt. Demgemäss wird Jeder, erstlich, die schön- sten Individuen, d. h. solche, in welchen der Gat- tungscharakter am reinsten ausgeprägt ist, entschie- den vorziehen und heftig begehren; zweitens aber ^vird er am andern Individuo besonders die Vollkom- menheiten verlangen, welche ihm selbst abgehen, ja sogar die Unvollkommenheiten, w^elche das Gegen- theil seiner eigenen sind, schön finden ; daher suchen z. B. kleine Männer grosse Frauen, die Blonden lie- ben die Schwarzen u. s. w. — Das schwindelnde Ent- zücken, welches den Mann beim Anblick eines Wei- bes von ihm angemessener Schönheit ergreift und ihm die Vereinigung mit ihr als das höchste Gut vor- spiegelt, ist eben der Sinn der Gattung, welcher den deutlich ausgedrückten Stämpel derselben erkennend, sie mit diesem perpetuiren möchte. Auf diesem ent- schiedenen Hange zur Schönheit beruht die Erhal- tung des Typus der Gattung: daher wirkt derselbe mit so grosser Macht. Wir werden die Rücksichten, welche er befolgt, weiter unten speciell betrachten. Was also den Menschen hiebei leitet, ist wirklich ein 692 Instinkt, der auf das Beste der Gattung gerichtet ist, während der Mensch selbst bloss den erhöhten eige- nen Genuss zu suchen wähnt. — In der That haben wir hieran einen lehrreichen Aufschluss über das in- nere Wesen alles Instinkts, als welcher fast durch- gängig, wie hier, das Individuum für das Wohl der Gattung in Bewegung setzt. Denn offenbar ist die Sorgfalt, mit der ein Insekt eine bestimmte Blume, oder Frucht, oder Mist, oder Fleisch, oder, wie die Ichneumonien, eine fremde Insektenlarve aufsucht, um seine Eier nur dort zu legen, und um dieses zu erreichen weder Mühe noch Gefahr scheut, derjenigen sehr analog, mit welcher ein Mann zur Geschlechts- hefriedigung ein Weib von bestimmter, ihm indivi- duell zusagender Beschaffenheit sorgsam auswählt und so eifrig nach ihr strebt, dass er oft, um diesen Zweck zu erreichen, aller Vernunft zum Trotz, sein eigenes Lebensglück opfert, durch thörichte Heirath, durch Liebeshändel, die ihm Vermögen, Ehre und Le- ben kosten, selbst durch Verbrechen, wie Ehebruch, oderNothzucht; Alles nur, um dem überall souveränen Willen der Natur gemäss, der Gattung auf das Zweck- massigste zu dienen, wenn gleich auf Kosten des In- dividuums. Ueberall nämlich ist der Instinkt ein Wir- ken wie nach einem Zweckbegriff, und doch ganz ohne denselben. Die Natur pflanzt ihn da ein, wo das handelnde Individuum den Zweck zu versie- ben unfähig, oder ihn zu verfolgen unwillig seyn würde: daher ist er, in der Regel, nur den Thieren, und zwar vorzüglich den untersten, als welche den wenigsten Verstand haben, beigegeben, aber fast al- lein in dem hier betrachteten Fall auch dem Men- schen, als welcher den Zweck zwar verstehen könn- te, ihn aber nicht mit dem nöthigen Eifer, nämlich sogar auf Kosten seines individuellen Wohls, verfol- gen würde. Also nimmt hier, wie bei allem Instinkt, die Wahrheit die Gestalt des Wahnes an, um auf den Willen zu wirken. Ein wollüstiger Wahn ist es, der dem Manne vorgaukelt, er werde in den Armen ei- nes Weibes von der ihm zusagenden Schönheit einen grössern Genuss finden, als in denen eines jeden an- 693 dem; oder der g^ar, ausschliesslich auf ein einzigem Individuum {jerichtet, ihn fest überzeuget, dass dessen Besitz ihm ein überschwängliches Glück gewähren werde. Demnach wähnt er, für seinen eigenen Ge- nuss Mühe und Opfer zu verwenden, während es hloss für die Erhaltung des regelrechten Tvpus der Gattung geschieht, oder gar eine ganz bestimmte In- dividualität, die nur von diesen Eltern kommen kann, zum Daseyn gelangen soll. So völlig ist hier der Cha- rakter des Instinkts, also ein Handeln wie nach einem Zweckbegriff und doch ganz ohne denselben, vor- handen, dass der von jenem Wahn Getriebene den Zweck, welcher allein ihn leitet, die Zeugung, oft so- gar verabscheut und verhindern möchte: nämlich bei fast allen unehelichen Liebschaften. Dem darge- legten Charakter der Sache gemäss wird, nach dem endlich erlangten Genuss, jeder Verliebte eine wun- dersame Enttäuschung erfahren, und darüber erstau- nen, dass das so sehnsuchtsvoll Begehrte, nichts mehr leistet, als jede andere Geschlechtsbefriedigung; so dass er sich nicht sehr dadurch gefördert sieht. Jener Wunsch nämlich verhielt sich zu allen seinen übri- gen Wünschen, wie sich die Gattung verhält zum Individuo, also wie ein Unendliches zu einem Endli- chen. Die Befriedigung hingegen kommt eigentlich nur der Gattung zu Gute und fällt deshalb nicht in das Bevvusstsevn des Individuums, welches hier, vom Willen der Gattung beseelt, mit jeglicher Aufopfe- rung, einem Zwecke diente, der gar nicht sein eige- ner war. Daher also findet jeder Verliebte, nach end- licher Vollbringung des grossen Werkes, sich ange- führt: denn der Wahn ist verschwunden, mittelst dessen hier das Individuum der Betrogene der Gattung war. Demgemäss sagt Plato sehr treffend: t^oovtj airav- Toiv aXal^oveoTatov (voluptas omnium maxime vanilo- qua). Phileb. 819. Dies Alles aber wirft seinerseits wieder Licht zu- rück auf die Instinkte und Kunsttriebe der Thiere. Ohne Zweifel sind auch diese von einer Art Wahn, der ihnen den eigenen (^enuss vorgaukelt, befangen, während sie so emsig und mit Selbstverleugnung für die Gattung arbeiten, der Vogel sein Nest baut, das Insekt den allein passenden Ort für die Eier sucbt, oder gar Jagd auf Raub macht, der, ihm selber un- geniessbar, als Futter für die künftigen Larven ne- ben die Eier gelegt werden muss, die Biene, die Wes- pe, die Ameise ihrem künstlichen Bau und ihrer höchst komplicirten Oekonomie obliegen. Sie alle lei- tet sicherlich ein Wahn, welcher dem Dienste der Gattung die Maske eines egoistischen Zweckes vor- steckt. Um uns den innern oder subjektiven Vorgang, der den Aeusserungen des Instinkts zum Grunde liegt, fasslich zu machen, ist dies wahrscheinlich der ein- zige Weg. Aeusserlich aber, oder objektiv, stellt sich ims, bei den vom Instinkt stark beherrschten Thie- ren, namentlich den Insekten, ein Ueberwiegen des Ganglien- d. i. des subjektiven Nervensystems über das objektive oder Cerebral-System dar; woraus zu schliessen ist, dass sie nicht sowohl von der objekti- ven, richtigen Auffassung, als von subjektiven, Wunsch erregenden Vorstellungen, welche durch die Einwirkving des Gangliensystems auf das Gehirn ent- stehen, und demzufolge von einem gewissen Walin getrieben werden: und dies wird der physiologische Hergang bei allem Instinkt seyn. — Zur Erläuterung erwähne ich noch, als ein anderes, wiewohl schwäche- res Beispiel vom Instinkt im Menschen, den kapriziösen Appetit der Schwangeren: er scheint daraus zu ent- springen, dass die Ernährung des Embryo bisweilen eine besondere oder bestimmte Modifikation des ihm zufliessenden Blutes verlangt; worauf die solche be- wirkende Speisse sich sofort der Schwangeren als Ge- genstand heisser Sehnsucht darstellt, also auch hier ein Wahn entsteht. Demnach hat das Weib einen Instinkt mehr als der Mann: auch ist das Ganglien- system beim Weibe viel entwickelter. — Aus dem grossen Ueberge wicht des Gehirns beim Menschen er- klärt sich, dass erwenigereInstinktehat,alsdieThiere, und dass selbst diese wenigen leicht irre geleitet wer- den können. Nämlich der die Auswahl zur Ge- schlechtsbefriedigung instinktiv leitende Schönheits- sinn wird irre geführt, wenn er in Hang zur Pädera- 695 stie ausariet; Dem analog, wie die Schmeissfliege (Musca vomitoria), statt ihre Eier, ihrem Instinkt ge- mäss, in faulendes Fleisch zu legen, sie in die Blüthe des Arum dracunculus legt, verleitet durch den ka- daverosen Geruch dieser Pflanze. Das nun aller Geschlechtsliebe ein durc;haus auf das zu Erzeugende gerichteter Instinkt zum Grunde liegt, wird seine volle Gewissheit durch genauere Zer- gliederung desselben erhalten, der wir uns deshalb nicht entziehen können. — Zuvörderst gehört hieher, dass der Mann von Natur zur Unbeständigkeit in der Liebe, das Weib zur Beständigkeit geneigt ist. Die Liebe des Mannes sinkt merklich, von dem Augenblick an, wo sie Befriedigung erhalten hat: fast jedes andere Weib reizt ihn mehr als das, welches er schon besitzt: er sehnt sich nach Abwechselung. Die Liebe des Weibes hingegen steigt von eben jenem Augenblick an. Dies ist eine Folge des Zwecks der Natur, welche auf Er- haltung und daher auf möglichst starke Vermehrung der Gattung gerichtet ist. Der Mann nämlich kann, bequem, über hundert Kinder im Jahre zeugen, wenn ihm eben so viele Weiber zu Gebote stehen ; das Weib hingegen könnte, mit noch so vielen Männern, doch nur em Kind im Jahr (von Zwillingsgeburten abge- sehen) zur Welt bringen. Daher sieht er sich stets nach andern Weibern um ; sie hingegen hängt fest dem Einen an : denn die Natur treibt sie, instinktmässig und ohne Beflexion, sich den Ernährerund Beschützer der künftigen Brut zu erhalten. Demzufolge ist die eheliche Treue dem Manne künstlich, dem Weibe natürlich, und also Ehebruch des Weibes, wie objektiv, wegen der Folgen, so auch subjektiv, wegen der Na- turwidrigkeit, viel unverzeihlicher, als der des Mannes. Aber um gründlich zu seyn und die volle üeber- zeugung zu gewinnen, dass das Wohlgefallen am an- dern Geschlecht, so objektiv es uns dünken mag, doch bloss verlarvter Instinkt, d. i. Sinn der Gattung, welche ihren Typus zu erhalten strebt, ist, müssen wir sogar die bei diesem Wohlgefallen uns leitenden Bücksichten näher untersuchen und auf das Specielle derselben eingehen, so seltsam auch die hier zu erwähnenden 696 Specialitäten in einem philosophischen Werke fißu- riren mögen. Diese Rücksichten zerfallen in solche, welche unmittelbar den Typus der Gattung, d. i. die Schönheit, betreffen, in solche, welche auf psychische Eigenschaften gerichtet sind, und endlich in bloss re- lative, welche aus der erforderten Korrektion oder Neutralisation der Einseitigkeiten und Abnormitäten der beiden Individuen durch einander hervorgehen. Wir wollen sie einzeln durchgehen. Die oberste, unsere Wahl und Neigung leitende Rücksicht ist das Alter. Im Ganzen lassen wir es gelten von den Jahren der eintretenden bis zu denen der auf- hörenden Menstruation, geben jedoch der Periode vom achtzehnten bis achtundzwanzigsten Jahre entschieden den Vorzug. Ausserhalb jener Jahre hingegen kann kein Weib uns reizen: ein altes, d. h. nicht mehr menstruirtes Weib erregt unsern Abscheu. Jugend ohne Schönheit hat immer noch Reiz : Schönheit ohne Jugend keinen. — Offenbar ist die hiebei uns unbe- wusst leitende Absicht die Möglichkeit der Zeugung überhaupt: daher verliert jedes Individuum an Reiz für das andere Geschlecht in dem Maasse, als es sich von der zur Zeugung oder zur Empfängniss tauglich- sten Periode entfernt. — Die zweite Rücksicht ist die der Gesundheit: akute Krankheiten stören nur vor- übergehend, chronische, oder gar Kachexien, schrecken ab; — w^eil sie auf das Kind übergehen. — Die dritte Rücksicht ist das Skelett: weil es die Grundlage des Typus der Gattung ist. Nächst Alter und Krankheit stösst nichts uns so sehr ab, wie eine verwachsene Gestalt: sogar das schönste Gesicht kann nicht dafür entschädigen; vielmehr wird selbst das hässlichste, bei geradem Wüchse, unbedingt vorgezogen. Ferner empfinden wir jedes Missverhältniss des Skeletts am stärksten, z. B. eine verkürzte, gestauchte, kurzbeinige Figur u. dgl. m., auch hinkenden Gang, wo er nicht Folge eines äussern Zufalls ist. Hingegen kann ein auffallend schöner Wuchs alle Mängel ersetzen : er bezaubert uns. Hieher gehört auch der hohe Werth, den alle auf die Kleinheit der Füsse legen: er beruht darauf, dass diese ein wesentlicher Charakter der Gat- 697 tung sind, indem kein Thier Tarsus und Metatarsus zusamrnen(jenommen so klein hat, wie der Mensch, welches mit dem aufrechten Gange zusammenhangt: er ist ein Platigrade. Demgemäss sagt auch Jesus Sirach (26, 23 : nach der verbessertenUehersetzung von Kraus) : „Ein Weih, das gerade gebaut ist und schöne Füsse hat, ist wie die goldenen Säulen auf den silbernen Stühlen." Auch die Zähne sind uns wichtig; weil sie für die Ernährung wesentlich und ganz besonders erblich sind. — Die vierte Rücksicht ist eine gewisse Fülle des Fleisches, also ein Vorherrschen der vegeta- tiven Funktion, der Plasticität; weil diese dem Fötus reichliche Nahrun^j verspricht: daher stössi grosse Magerkeit uns auffallend ab. Ein voller weiblicher Busen übt einen ungemeinen Reiz auf das männliche Geschlecht aus: weil er, mit den Propagationsfunktio- nen des Weibes in direktem Zusammenhange stehend, dem Neugeborenen reichliche Nahrung verspricht. Hingegen erregen übermässig fette Weiber unsern Wi- derwillen: die Ursache ist, dass diese Beschaffenheit auf Atrophie des Uterus, also auf Unfruchtbarkeit deutet; welches nicht der Kopf, aber der Instinkt weiss. — Erst die letzte Rücksicht ist die auf die Schönheit des Gesichts. Auch hier kommen vor Allem die Knochentheile in Betracht; daher hauptsächlich auf eine schöne Nase gesehen wird, und eine kurze, aufgestülpte Nase Alles verdirbt. Ueber das Lebens- glück unzähliger Mädchen hat eine kleine Biegung der Nase, nach unten oder nach oben, entschieden, und mit Recht: denn es gilt den Typus der Gattung. Ein kleiner Mund, mittelst kleiner Maxillen, ist sehr wesentlich, als specifischer Charakter des Menschen- antlitzes, im Gegensatz der Thiermäuler. Ein zurück- liegendes, gleichsam weggeschnittenes Kinn ist be- sonders widerlich; weil mentum prominulum ein aus- schliesslicher Charakterzug unserer Species ist. Endlich kommt die Rücksicht auf schöne Augen und Stirn : sie hängt mit den psychischen Eigenschaften zusam- men, zumal mit den intellektuellen, welche von der Mutter erben. Die unbewussten Rücksichten, welche andererseits 698 die Neigung der Weiber befolgt, können wir natürlich nicht so genau angeben. Im Ganzen lässt sich Fol- gendes behaupten. Sie geben dem Alter von 3o bis 35 Jahren den Vorzug, namentlich auch vor dem der Jünglinge, die doch eigentlich die höchste menschliche Schönheit darbieten. Der Grund ist, dass sie nicht vom Geschmack, sondern vom Instinkt geleitet werden, welcher im besagten Alter die Akme der Zeugungs- kraft erkennt. Ueberhaupt sehen sie wenig auf Schön- heit, namentlich des Gesichts: es ist als ob sie diese dem Kinde zu geben allein auf sich nähmen. Haupt- sächlich gewinnt sie die Kraft und der damit zusam- menhängende Muth des Mannes: denn diese verspre- chen die Zeugung kräftiger Kinder und zugleich einen tapfern Beschützer derselben. Jeden körperlichen Fehler des Mannes, jede Abweichung vom Typus, kann, in Hinsicht auf das Kind, das Weib bei der Zeugung aufheben, dadurch dass sie selbst in den nämlichen Stücken untadelhaft ist, oder gar auf der entgegengesetzten Seiteexcedirt.Hievon ausgenommen sind allein die Eigenschaften des Mannes, welche sei- nem Geschlecht eigenthümlich sind und welche daher die Mutter dem Kinde nicht geben kann: dahin ge- hört der männliche Bau des Skeletts, breite Schultern, schmale Hüften, gerade Beine, Muskelkraft, Muth, Bart u. s. w. Daher kommt es, dass Weiber oft häss- liche Männer lieben, aber nie einen unmännlichen Mann: weil sie dessen Mängel nicht neutralisiren können. Die zweite Art der Rücksichten, welche der Ge- schlechtsliebe zum Grunde liegen, ist die aufdie psy- chischen Eigenschaften. Hier werden wir finden, dass das Weib durchgängig von den Eigenschaften des Herzens oder Charakters im Manne angezogen wird,- — als welche vom Vater erben. Vorzüglich ist es Festig- keit des Willens, Entschlossenheit und Muth, vielleicht auch Redlichkeit und Herzensgüte, wodurch das Weib gewonnen wird. Hingegen üben intellektuelle Vor- züge keine direkte und instinktmässige Gewalt über sie aus; eben weil sie nicht vom Vater erben. Unver- stand schadet bei Weibern nicht: eher noch könnte 699 überwiej^ende Geisteskraft, oder gar Genie, als eine Abnormität, ungünstig wirken. Daher sieht man oft einen hässlichen, dummen und rohen Menschen einen wohlgebildeten, geistreichen und liebenswürdigen Mann bei Weibern ausstechen. Auch werden Ehen aus Liebe bisweilen geschlossen zwischen geistig höchst heterogenen Wesen : z. B. er roh, kräftig und be- schränkt, sie zart empfindend, fein denkend, gebildet, ästhetisch u. s. w.; oder er gar genial und gelehrt, sie eine Gans : Sic visum Veneri; ciii placet itnparcs Fornias atque animos sub jiiga aenea Saevo niittere cum joco. Der Grund ist, dass hier ganz andere Rücksichten vorwalten, als die intellektuellen: — die des Instinkts. Bei der Ehe ist es nicht auf geistreiche Unterhaltung, sondern auf die Erzeugiing der Kinder abgesehen: sie ist ein Bund der Herzen, nicht der Köpfe. Es ist ein eitles und lächerliches Vorgeben, wenn Weiber be- haupten, in den Geist eines Mannes sich verliebt zu haben, oder es ist die Ueberspannung eines entarte- ten Wesens. — Männer hingegen werden in der in- stinktiven Liebe nicht durch die Chat-akter-Eigenschaf- ten des Weibes bestimmt; daher so viele Sokratesse ihre Xantippen gefunden haben, z. B. Shakespeare, Albrecht Dürer, Byron u. s. w. Wohl aber wirken hier die intellektuellen Eigenschaften ein; weil sie von der Mutter erben : jedoch w ird ihr Einfluss von dem der körperlichen Schönheit, als welche, Avesentlichere Punkte betreffend, unmittelbarer wirkt, leicht über- wogen. Inzwischen geschieht es, im Gefühl oder nach der Erfahrung jenes Einflusses, dass Mütter ihre Töch- ter schöne Künste, Sprachen u. dgl. erlernen lassen, um sie für Männer anziehend zu machen ; wobei sie dem Intellekt durch künstliche Mittel nachhelfen wollen, eben wie vorkommenden Falls den Hüften und Busen. — Wohl zu merken, dass hier überall die Rede allein ist von der ganz unmittelbaren, in- stinktartigen Anziehung, aus welcher allein die eigent- liche Verliebtheit erwächst. Dass ein verständiges und 700 gebildetes Weib Verstand und Geist an einem Manne schätzt, dassein Mann, aus vernünftiger Ueberlegung, den Charakter seiner Braut prüft und berücksichtigt, thut nichts zu der Sache, wovon es sich hier handelt : dergleichen begründet eine vernünftige Wahl bei der Ehe, aber nicht die leidenschaftliche Liebe, welche unser Thema ist. Bis hieher habe ich bloss die absoluten Rücksich- ten, d. h. solche, die für Jeden gelten, in Betracht genommen: ich komme jetzt zu den relativen, welche individuell sind; weil bei ihnen es darauf abgesehen ist, den bereits sich mangelhaft darstellenden Typus; der Gattung zu rektifiziren, die Abweichungen von demselben, welche die eigene Person des Wählenden schon an sich trägt, zu korrigiren und so zur reinen Darstellung des Typus zurückzuführen. Hier liebt daher Jeder, was ihm abgeht. Von der individuellen Beschaffenheit ausgehend und auf die individuelle Beschaffenheit gerichtet, ist die auf solchen relativen Rücksichten beruhende Wahl viel bestimmter, ent- schiedener und exklusiver, als die bloss von den ab- absoluten ausgehende; daher der Ursprung der eigent- lich leidenschaftlichen Liebe, in der Regel, in diesen relativen Rücksichten liegen wird, und nur der der gewöhnlichen, leichteren Neigung in den absoluten. Demgemäss pflegen es nicht gerade die regelmässi- gen, vollkommenen Schönheiten zu seyn, welche die grossen Leidenschaften entzünden. Damit eine solche wirklich leidenschaftliche Neigung entstehe, ist etwas erfordert, welches sich nur durch eine chemische Metapher ausdrücken lässt: beide Personen müssen einander neutralisiren, wie Säure und Alkali zu einem Mittelsalz. Die hiezu erforderlichen Bestimmungen sind im Wesentlichen folgende. Erstlich: alle Ge- schlechtlichkeit ist Einseitigkeit. Diese Einseitigkeit ist in Einem Individuo entschiedener ausgesprochen und in höherem Grade vorhanden, als im Andern : daher kann sie in jedem [ndividuo besser durch Eines als das Andere vom andern Geschlecht ergänzt und neutralisirt werden, indem es einer der seinigen indi- viduell entgegengesetzten Einseitigkeit bedarf, zur 701 Ergänzung des Typus der Menschheit im neu zu er- zeugenden Individuo, als auf dessen Beschaffenheit immer Alles hinausläuft. Die Physiologen wissen, dass Mannheit und Weihlichkeit unzählige Grade zulas- sen, durch welche jene bis zum widerlichen Gynan- der und Hypospadäus sinkt, diese bis zur anmuthigen Androgyne steigt: von beiden Seiten aus kann der vollkommene Hermaphroditismus erreicht werden, auf welchem Individuen stehen, welche, die gerade Mitte zwischen beiden Geschlechtern haltend, keinem beizuzählen, folglich zur Fortpflanzung untauglich sind. Zur in Rede stehenden Neutralisation zweier Individualitäten durch einander ist dem zu Folge er- fordert, dass der bestimmte Grad seiner Mannheit dem bestimmten Grad i'Arer Weiblichkeit genau ent- spreche; damit beide Einseitigkeiten einander gerade aufheben. Demnach wird der männlichste Mann das weiblichste Weib suchen und vice versa, und eben so jedes Individuum das ihm im Grade der Geschlecht- lichkeit entsprechende. Inwiefern nun hierin zwischen Zweien das erforderliche Verbal tniss Statt habe, wird instinktmässig von ihnen gefühlt, und liegt, nebst den andern relativen Rücksichten, den höhern Graden der Verliebtheit zum Grunde. Während daher die Lie- benden pathetisch von der Harmonie ihrer Seele re- den, ist meistens die hier nachgewiesene, das zu er- zeugende Wesen und seine Vollkommenheit betref- fende Zusammenstimmung der Kern der Sache, und an derselben auch offenbar viel mehr gelegen, als an der Harmonie ihrer Seelen, — welche oft, nicht lange nach der Hochzeit, sich in eine schreiende Dishar- monie auflöst. Hieran schliessen sich nun die ferneren relativen Rücksichten, welche darauf beruhen, dass Jedes seine Schwächen, Mängel und Abweichungen vom Typus durch das Andere aufzuheben trachtet, damit sie nicht im zu erzeugenden Kinde sich perpe- tuiren, oder gar zu völligen Abnormitäten anwach- sen. Je schwächer in Hinsicht auf Muskelkraft ein Mann ist, desto mehr wird er kräftige Weibersuchen : eben so das Weib ihrerseits. Da nun aber dem Weibe eine schwächere Muskelkraft naturgemäss und in •^02 der Regel ist ; so werden auch in der Regel die Wei- ber den kräftigeren Männern den Vorzug geben. — Ferner ist eine wichtige Rücksicht die Grösse. Kleine Männer haben einen entschiedenen Hang zu grossen Weibern, und vice versa: und zwar wird in einem kleinen Mann die Vorliebe für grosse Weiber um so leidenschaftlicher seyn, als er selbst von einem gros- sen Vater gezeugt und nur durch den Einfluss der Mut- ter klein geblieben ist; weil er vom Vater dasGefässsys- tem und die Energie desselben, die einen grossen Kör- per mit Blut zu versehen vermag, überkommen hat: waren hingegen sein Vater und Grossvater schon klein • so wird jener Hang sich weniger fühlbar machen. Der Abneigung eines grossen Weibes gegen grosse Männer liegt die Absicht der Natur zum Grunde, eine zu grosse Rasse zu vermeiden, wenn sie, mit den von diesem Weibe zu ertheilenden Kräften, zu schwach ausfallen würde, um lange zu leben. Wählt dennoch ein solches Weib einen grossen Gatten, etwan um sich in der Gesellschaft besser zu präsentiren; so wird, in der Regel, die Nachkommenschaft die Thorheit büs- sen. — Sehr entschieden ist ferner die Rücksicht auf die Komplexion. Blonde verlangen durchaus Schwar- ze oder Braune ; aber nur seilen diese jene. Der Grund hievon ist, dass blondes Haar und blaue Augen schon eine Spielart, fast eine Abnormität ausmachen: den weissen Mäusen, oder wenigstens den Schimmeln ana- log. In keinem andern Welttheil sind sie, selbst nicht in der Nähe der Pole, einheimisch, sondern allein in Europa, und offenbar von Skandinavien ausgegangen. Beiläufig sei hier meine Meinung ausgesprochen, dass dem Menschen die weisse Hautfarbe nicht natürlich ist, sondern er von Natur schwarze, oder braune Haut hat, wie unsere Stammväter die Hindu; dass folglich nie ein weisser Mensch ursprünglich aus dem Schoosse der Natur hervorgegangen ist, und es also keine weis- se Rasse giebt, so viel auch von ihr geredet wird, sondern jeder weisse Mensch ein abgeblichener ist. In den ihm fremden Norden gedrängt, wo er nur so besteht, wie die exotischen Pflanzen, und, wie diese, im Winter des Treibhauses bedarf, wurde der Mensch, 7o3 im Laufe der Jahrtausende, weiss. Die Zif^jeuner, ein ludischer, erst seit ungefähr vier Jahrhunderten ein- (jewanderter Stamm, zeigen den Uebergang von der Komplexion der Hindu zur unsrigen*). In der Ge- schlechtsliebe strebt daher die Natur zum dunkeln Haar und braunen Auge, als zum Urtypus, zurück: die weisse Hautfarbe aber ist zur zweiten Natur ge- worden ; wiewohl nicht so, dass die braune der Hindu uns abstiesse. — Endlich sucht auch in den einzelnen Körpertheilen Jedes das Korrektiv seiner Mängel und Abweichungen, und um so entschiedener, je wichti- ger der Theil ist. Daher haben stumpfnasige Indivi- duen ein unaussprechliches Wohlgefallen an Habichts- nasen, an Papageiengesichtern: eben so ist es rück- sichtlich aller übrigen Theile. Menschen von über- mässig schlankem, lang gestreckten Körper- und Glie- derbau können sogar einen über die Gebühr gedrun- genen und verkürzten schön finden. — Analog wal- ten die Rücksichten auf das Temperament : Jeder wird das entgegengesetzte vorziehen; jedoch nur in dem Maass als das seinige ein entschiedenes ist. — Wer selbst, in irgend einer Rücksicht, sehr vollkom- men ist, sucht und liebt zwar nicht die Unvollkom- menheit in eben dieser Rücksicht, söhnt sich aber leichter als Andere damit aus; weil er selbst die Kin- der vor grosser Unvollkommenheit in diesem Stücke sichert. Z. R. wer selbst sehr weiss ist, wird sich an einer gelblichen Gesichtsfarbe nicht stossen : w er aber diese hat, wird die blendende Weisse göttlich schön fin- den. — Der seltene Fall, dass ein Mann sich in ein ent- schieden hässliches Weib verliebt, tritt ein, wann, bei der oben erörterten genauen Harmonie des Gra- des der Geschlechtlichkeit, ihre sämmtlichen Abnor- mitäten gerade die entgegengesetzten, also das Kor- rektiv, der seinigen sind. Die Verliebtheit pflegt als- dann einen hohen Grad zu erreichen. Der tiefe Ernst, mit welchem wir jeden Körpertheil des Weibes prüfend betrachten, und sie ihrerseits das Selbe thut, die kritische Skrupulosität, mit der wir *) Das Ausführlichere hierüber findet man in Parerga, Bd. 2, §.92 der ersten Auflage. 704 ein Weib, das uns zu gefallen anfangt, mustern, der Eigensinn unserer Wahl, die gespannte Aufmerksam- keit, womit der Bräutigam die Braut beobachtet, seine Behutsamkeit, um in keinem Theile getäuscht zu werden, und der grosse Werth, den er auf jedes Mehr oder Weniger, in den wesentlichen Theilen, legt, - — Alles dieses ist der Wichtigkeit des Zweckes ganz an- gemessen. Denn das Neuzuerzeugende wird, ein gan- zes Leben hindurch, einen ähnlichen Theil zu tragen haben: ist z, B. das Weib nur ein wenig schief; so kann dies leicht ihrem Sohn einen Puckel aufladen, und so in allem Uebrigen. — Bewusstseyn von dem Allen ist freilich nicht vorhanden; vielmehr wähnt Jeder nur im Interesse seiner eigenen Wollust (die im Grunde gar nicht dabei betheiligt seyn kann) jene schwierige Wahl zu treffen: aber er trifft sie genau so, wie es, unter Voraussetzung seiner eigenen Kor- porisation, dem Interesse der Gattung gemäss ist, de- ren Typus möglichst rein zu erhalten die geheime Aufgabe ist. Das Individuum handelt hier, ohne es zu wissen, im Auftrage eines Höheren, der Gattung: daher die Wichtigkeit, welche es Dingen beilegt, die ihm, als solchem, gleichgültig seyn könnten, ja müss- ten. — Es liegt etwas ganz Eigenes in dem tiefen, unbewussten Ernst, mit welchem zwei junge Leute verschiedenen Geschlechts, die sich zum ersten Male sehen, einander betrachten; dem forschenden und durchdringenden Blick, den sie auf einander werfen ; der sorgfältigen Musterung, die alle Züge und Theile ihrer beiderseitigen Personen zu erleiden haben. Die- ses Forschen und Prüfen nämlich ist die Meditation des Genius der Gattung über das durch sie Beide mög- liche Individuum und die Kombination seiner Eigen- schaften. Nach dem Resultat derselben fällt der Grad ihres Wohlgefallens an einander und ihres Begehrens nach einander aus. Dieses kann, nachdem es schon einen bedeutenden Grad erreicht hatte, plötzlich wie- der erlöschen, durch die Entdeckung von Etwas, das vorhin unbemerkt geblieben war. — Dergestalt also meditirt in Allen, die zeugungsfähig sind, der Genius der Gattung das kommende Geschlecht. Die Beschaf- 45 Schopenhauer II "7 3 fenheit desselben ist das grosse Werk, womit Kupido, unablässig thätig, spekulirend und sinnend, beschäf- tigt ist. Gegen die Wichtigkeit seiner grossen Ange- legenheit, als welche die Gattung und alle kommen- den Geschlechter betrifft, sind die Angelegenheiten der Individuen, in ihrer ganzen ephemeren Gesammt- heit, sehr geringfügig: daher ist er stets bereit, diese rücksichtslos zu opfern. Denn er verhält sich zu ihnen "wie ein Unsterblicher zu Sterblichen, und seine Inter- essen zu den ihren wie unendliche zu endlichen. Im Bewusstseyn also, Angelegenheiten höherer Art, als alle solche, welche nur individuelles W^ohl und Wehe betreffen, zu verwalten, betreibt er dieselben, mit er- habener üngestörtheit, mitten im Getümmel des Krie- ges, oder im Gewühl des Geschäftslebens, oder zwi- schen dem Wüthen einer Pest, und geht ihnen nach bis in die Abgeschiedenheit des Klosters. Wir haben im Obigen gesehen, dass die Intensität der Verliebtheit mit ihrer Individualisirung wächst, indem wir nachwiesen, wie die körperliche Beschaf- fenheit zweier Individuen eine solche seyn kann, dass, zum Behuf möglichster Herstellung des Typus der Gattung, das eine die ganz specielle und vollkommene Ergänzung des andern ist, welches daher seiner aus- schliesslich begehrt. In diesem Fall tritt schon eine bedeutende Leidenschaft ein, welche eben dadurch, dass sie auf einen einzigen Gegenstand und nur auf diesen gerichtet ist, also gleichsam im speciellen Auf- trag der Gattimg auftritt, sogleich einen edleren imd erhabeneren Anstrich gewinnt. Aus dem entgegenge- setzten Grunde ist der blosse Geschlechtstrieb, weil er, ohne Individualisirung, auf alle gerichtet ist und die Gattung bloss der Quantität nach, mit wenig Rücksicht auf die Qualität, zu erhalten strebt, ge- mein. Nun aber kann die Individualisirung, und mit ihr die Intensität der Verliebtheit, einen so hohen Grad erreichen, dass, ohne ihre Befriedigung, alle Güter der Welt, ja, das Leben selbst seinen Werth verliert. Sie ist alsdann ein W^unsch, welcher zu einer Heftigkeit anwächst, wie durchaus kein anderer, da- her zu jedem Opfer bereit macht inid, im Fall die 706 Erfüllung unabänderlich versagt bleibt, zum Wahn- sinn, oder zum Selbstmord führen kann. Die einer solchen überschwänglichen Leidenschaft zum Grunde liegenden unbewussten Rücksichten müssen, ausser den oben nachgevviessenen, noch andere seyn, wel- che wir nicht so vor Augen haben. Wir müssen da- her annehmen, dass hier nicht nur die Korporisation, sondern auch der Wille des Mannes, und der Intellekt des Weibes eine specielle Angemessenheit zu einan- der haben, in Folge welcher von ihnen allein ein ganz bestimmtes Individuum erzeugt werden kann, dessen Existenz der Genius der Gattung hier beab- sichtigt, aus Gründen, die, als im Wesen des Dinges an sich liegend, uns unzugänglich sind. Oder eigent- licher zu reden : der Wille zum Leben verlangt hier, sich in einem genau bestimmten Individuo zu objek- tiviren, welches nur von diesem Vater mit dieser Mutler gezeugt werden kann. Dieses metaphysische Begehr des Willens an sich hat zunächst keine andere Wirkungssphäre in der Reihe der Wesen, als die Her- zen der künftigen Eltern, welche demnach von die- sem Drange ergriffen werden und nun ihrer selbst wegen zu wünschen wähnen, was bloss einen für jetzt noch rein metaphysischen, d. h. ausserhalb der Reihe wirklich vorhandener Dinge liegenden Zweck hat. Also der aus der Urquelle aller Wesen hervorgehende Drang des künftigen, hier erst möglich gewordenen Individuums, ins Daseyn zu treten, ist es, was sich in der Erscheinung darstellt als die hohe. Alles ausser sich gering achtende Leidenschaft der künftigen El- tern für einander, in der That als ein Wahn ohne Gleichen, vermöge dessen ein solcher Verliebter alle Güter der Welt hingeben würde, für den Beischlaf mit diesem Weibe, — der ihm doch in Wahrheit nicht mehr leistet, als jeder andere. Dass er dennoch bloss hierauf abgesehen sei, geht daraus hervor, dass auch diese hohe Leidenschaft, so gut wie jede andere, im Genuss erlischt, — zur grossen Verwunderung der Theilnehmer. Sie erlischt auch dann, wann, durch etwanige Unfruchtbarkeit des Weibes (welche, nach Hufeland, aus 19 zufälligen Konstitutionsfehlern ent- 45- 707 springen kann), der eigentliche metaphysische Zweck vereitelt wird; eben so, wie er es täglich wird in Mil- lionen zertretener Keime, in denen doch auch das selbe metaphysische Lebensprincip zuniDaseyn strebt; wobei kein anderer Trost ist, als dass dem Willen zum Leben eine Unendlichkeit von Raum, Zeit, Ma- terie und folglich unerschöpfliche Gelegenheit zur Wiederkehr offen steht. Dem Theophrastus Paracelsus, der dieses Thema nicht behandelt hat und dem mein ganzer Gedanken- gang fremd ist, muss doch ein Mal die hier dargelegte Einsicht, wenn auch nur flüchtig, vorgeschwebt ha- ben, indem er, in ganz anderem Kontext und in sei- ner desultorischen Manier, folgende merkwürdige Aeusserung hinschrieb: Hi sunt, qvios Deus copula- vit, ut eam, quae fuit Uriae et David; quamvis ex diametro (sie enim sibi humana mens persuadebat) cum justo et legitimo matrimonio pugnaret hoc. — — — sed propter Salomonen!, qui aliunde nasci non potuit, nisi ex Bathsebea, conjuncto David semi- ne, quamvis meretrice, conjunxit eos Deus (De vita longa, 1, 5). Die Sehnsucht der Liebe, der lixepo?, welchen in zahllosen Wendungen auszudrücken die Dichter aller Zeiten unablässig beschäftigt sind und den Gegen- stand nicht erschöpfen, ja, ihm nicht genug thun können, diese Sehnsucht, welche an den Besitz eines bestimmten Weibes die Vorstellung einer unend- lichen Säligkeil knüpft und einen unaussprech- lichen Schmerz an den Gedanken, dass er nicht zu erlangen sei, — diese Sehnsucht und dieser Schmerz der Liebe können nicht ihren Stoff entnehmen aus den Bedürfnissen eines ephemeren Individuums; son- dern sie sind der Seufzer des Geistes der Gattung, welcher hier ein unersetzliches Mittel zu seinen Zwek- ken zu gewinnen, oder zu verlieren sieht und daher tief aufstöhnt. Die Gattung allein hat unendliches Leben und ist daher unendlicher Wünsche, unend- licher Befriedigung und unendlicher Schmerzen fä- hig. Diese aber sind hier in der engen Brust einer Sterblichen eingekerkert: kein Wunder daher, wenn 708 eine solche bersten zu wollen scheint und keinen Ausdruck finden kann für die sie erfüllende Ahn- dung unendlicher Wonne oder unendlichen Wehes. Dies also giebt den Stoff zu aller erotischen Poesie erhabener Gattung, die sich demgemäss in transscen- dente, alles Irdische überfliegende Metaphern ver- steigt. Dies ist das Thema des Petrarca, der Stoff zu den St. Preuxs, Werthern und Jakopo Ortis, die aus- serdem nicht zu verstehen, noch zu erklären seyn würden. Denn auf etwanigen geistigen, überhaupt auf objektiven, realen Vorzügen der Geliebten kann jene unendliche Werthschätzung derselben nicht be- ruhen; schon weil sie dazu dem Liebenden oft nicht genau genug bekannt ist; wie dies Petrarka's Fall war. Der Geist der Gattung allein vermag mit Einem Blicke zu sehen, welchen Werth sie für ?7/n, zu seinen Zwecken hat. Auch entstehen die grossen Leiden- schaften in der Regel beim ersten Anblick: Who ever lov'd, that lov'd not at first siglit?') Shakespeare, As yoii iike it, III, 5. Merkwürdig ist in dieser Hinsicht eine Stelle in dem seit aSo Jahren berühmten Roman Guzmann de Al- farache, von Mateo Aleman: No es necessario, para que uno ame, que pase distancia de tiempo, que siga discurso, ni haga eleccion, sino que con aquella pri- inera y sola vista, concurran juntaniente cierta corre- spondencia 6 consonancia, ö lo que acti solemos vulgar- mente decir, una con frontadon de sangre, ä que por par- ticular influxo suelen mover las estrellas. (Damit Einer liebe, ist es nicht nöthig,dass viel Zeit verstreiche, dass er Ueberlegung anstelle und eine Wahl treffe; sondern nur, dass bei jenem ersten und alleinigen Anblick eine gewisse Angemessenheit und Uebereinstimmung gegenseitig zusammentreffe, oder Das, was wir hier im gemeinen Leben eine Sympathie des Blutes zu nennen pflegen, und wozu ein besonderer Einfluss der Gestirne anzutreiben pflegt.) P. II, L. III, c. 5. Dem- gemäss ist auch der Verlust der Geliebten, durch einen Nebenbuhler, oder durch den Tod, für den lei- *) Wer liebte je, der nicht beim ersten Anblick liebte? denschaftlicli Liebenden ein Schmerz, der jeden an- dern übersteigt; eben weil er transscendenter Art ist, indem er ihn nicht bloss als Individuum trifft; sondern ihn in seiner essen tia aeterna, im Leben der Gattung angreift, in deren speciellem Willen und Auftrage er hier berufen war. 13aher ist Eifersucht, so qiiaalvoU und so grimmig, und ist die Abtretung der Geliebten das grösste aller Opfer. — Ein Held schämt sich aller Klagen, nur nicht der Liebesklagen; weil in diesen nicht er, sondern die Gattung winselt. — In der „grossen Zenobia" des Calderon ist im zweiten Akt eine Scene zwischen der Zenobia und dem Decius, w^o dieser sagt: Cielos, luego tu nie quieres? Perdiera cien mil victorias, Volvieraine, etc. (Himmel! also Du liebst mich?! Dafür würde icli hunderttausend Siege aufgeben, MÜrde umkehren , u .s.w.) . Hier wird die Ehre, welche bisher jedes Interesse überwog, aus dem Felde geschlagen, sobald die Ge- schlechtsliebe, d. i. das Interesse der Gattung, ins Spiel kommt imd einen entschiedenen Vortheil vor sich sieht: denn dieses ist gegen jedes, auch noch so wichtige Interesse blosser Individuen unendlich über- wiegend. Ihm allein weichen daher Ehre, Pflicht und Treue, nachdem sie jeder andern Versuchung, nebst der Drohung des Todes, widerstanden haben. — Eben so finden wir im Privatleben, dass in keinem Punkte Gewissenhaftigkeit so selten ist, wie in diesem : sie wird hier bisweilen sogar von sonst redlichen und gerechten Leuten bei Seite gesetzt, und der Ehebruch rücksichtslos begangen, wann die leidenschaftliche Liebe, d. h. das Interesse der Gattung, sich ihrer be- mächtigt bat. Es scheint sogar, als ob sie dabei einer höheren Berechtigung sich bewusst zu seyn glaubten, als die Interessen der Individuen je verleihen kön- nen; eben weil sie im Interesse der Gattung bandeln. Merkwürdig ist in dieser Hinsicht Cliomfort<i Aeusse- rung: Quand nn homme et ime femme ont Tun pour Tautre une passiun vioiente, il me semble toujours 1 lo que, quelque soient les obstacles qui les separent, im main, des parens etc., les deux ainans sont Tun k Tautre, de par la Nature^ qu'ils s'appartiennent de droit divin, malfjre les lois et les Conventions humaines. Wer sich hierüber ereifern wollte, wäre auf die auffallende Nachsicht zu verweisen, welche der Heiland im Evan- gelio der Ehebrecherin widerfahren lässt, indem er zugleich die selbe Schuld bei allen Anwesenden voraussetzt. — Der grösste Theil des Dekanieron er- scheint, von diesem Gesichtspunkt aus, als blosser Spott und Hohn des Genius der Gattung über die von ihm mit Füssen getretenen Rechte und Interessen der Individuen. — Mit gleicher Leichtigkeit werden Standesunterschiede und alle ähnlichen Verhältnisse, wann sie der Verbindung leidenschaftlich Liebender entgegenstehen, beseitigt und für nichtig erklärt vom Genius der Gattung, der seine, endlosen Generationen angehörenden Zwecke verfolgend solche Menschen- satzungen und Bedenken wie Spreu wegbläst. Aus dem selben tief liegenden Grunde wird, wo es die Zwecke verliebter Leidenschaft gilt, jede Gefahr wil- lig übernommen, und selbst der sonst Zaghafte wird hier muthig. — Auch im Schauspiele und im Roman sehen wir, mit freudigem Antheil, die jungen Leute, welche ihre Liebeshändel, d. i. das Interesse der Gat- tung, verfechten, den Sieg davontragen über die Alten, welche nur auf das Wohl der Individuen bedacht sind. Denn das Streben der Liebenden scheint uns um so viel wichtiger, erhabener und deshalb gerech- ter, als jedes ihm etwan entgegenstehende, wie die Gattung bedeutender ist, als das Individuum. Dem- gemäss ist das Grund thema fast aller Komödien das Auftreten des Genius der Gattung mit seinen Zwecken, welche dem persönlichen Interesse der dargestellten Individuen zuwiderlaufen und daher das GUick der- selben zu untergraben drohen. In der Regel setzt er es durch, welches, als der poetischen Gerechtigkeit gemäss, den Zuschauer befriedigt; weil dieser fühlt, dass die Zwecke der Gattung denen der Individuen weit vorgehen. Daher verlässt er, am Schluss, die sieggekrönten Liebenden ganz getrost, indem er mit I I ihnen den Wahn theilt, sie hatten ihr ei{>enes Glück gegründet, welches sie viehnehr dem Wohl der Gat- tung zum Opfer gehracht hahen, dem Willen der vorsorglichen Alten entgegen. In einzelnen, abnormen Lustspielen hat man versucht, die Sache umzukehren und das Glück der Individuen, auf Kosten der Zwecke der Gattung, durchzusetzen: allein da empfindet der Zuschauer den Schmerz, den der Genius der Gattung erleidet, und wird durch die dadurch gesicherten Vortheile der Individuen nicht getröstet. Als Beispiele dieser Art fallen mir ein Paar sehr bekannte kleine Stücke bei: La reine de i6 ans, und Le mariage de raison. In Trauerspielen mit Liebeshändeln gehen meistens, indem die Zwecke der Gattung vereitelt werden, die Liebenden, welche deren Werkzeug waren, zugleich unter: z. B. in Romeo und Julia, Tankred, Don Karlos, Wallenstein, Braut von Mes- sina u. a. m. Das Verliebtseyn eines Menschen liefertoft komische, mitunter auch tragische Phänomene; Beides, weil er vom Geiste der Gattung in Besitz genommen, jetzt von diesem beherrscht wird und nicht mehr sich selber angehört: dadurch wird sein Handeln dem Individuo unangemessen. Was, bei den höheren Gra- den des Verliebtseyns, seinen Gedanken einen so poetischen und erhabenen Anstrich, sogar eine trans- scendente und hyperphysische Richtung giebt, ver- möge welcher er seinen eigentlichen, sehr physischen Zweck ganz aus den Augen zu verlieren scheint, ist im Grunde Dieses, dass er jetzt vom Geiste der Gat- tung, dessen Angelegenheiten unendlich wichtiger, als alle, blosse Individuen betreffende sind, beseelt ist, um, in dessen speciellem Auftrag, die ganze Existenz einer indefinit langen Nachkommenschaft, von dieser individuell und genau Ijestimmten Beschaffenheit, welche sie ganz allein von ihm als Vater und seiner Geliebten als Mutter erhalten kann, zu begründen, und die ausserdem, als eine solche, nie zum Daseyn gelangt, während die Objektivation des Willens zum Leben dieses Daseyn ausdrücklich erfordert. Das Ge- fühl, in Angelegenheiten von so transscendenter Wich- 712 tigkeit zu handeln, ist es, was den Verliebten so hoch über alles Irdische, ja über sich selbst emporhebt und seinen sehr physischen Wünschen eine so hyper- physische Einkleidung giebt, dass die Liebe eine poe- tische Episode sogar im Leben des prosaischesten Menschen wird; in welchem letzteren Fall die Sache bisweilen einen komischen Anstrich gewinnt. — Jener Auftrag des in der Gattung sich objektivirenden Wil- lens stellt, im Bewusstseyn des Verliebten, sich dar unter der Maske der Anticipation einer unendlichen Säligkeit, welche für ihn in der Vereinigung mit die- sem weiblichen Individuo zu finden wäre. In den höchsten Graden der Verliebtheit wird nun diese Chi- märe so strahlend, dass, wenn sie nicht erlangt wer- den kann, das Leben selbst allen Reiz verliert und nunmehr so freudenleer, schaal und ungeniessbar er- scheint, dass der Ekel davor sogar die Schrecken des Todes überwindet; daher es dann bisweilen freiwillig abgekürzt wird. Der Wille eines solchen Menschen ist in den Strudel des Willens der Gattung gerathen, oder dieser hat so sehr das Uebergewicht über den individuellen Willen erhalten, dass, wenn solcher in ersterer Eigenschaft nicht wirksam seyn kann, er verschmäht, es in letzterer zu seyn. Das Individuum ist hier ein zu schwaches Gefäss, als dass es die, auf ein bestimmtes Objekt koncentrirte, unendliche Sehn- sucht des Willens der Gattung ertragen könnte. In diesem Fall ist daher der Ausgang Selbstmord, bis- weilen doppelter Selbstmord beider Liebenden; es sei denn, dass die Natur, zur Rettung des Lebens, Wahn- sinn eintreten Hesse, welcher dann mit seinem Schleier das Bewusstseyn jenes hoffnungslosen Zustandes um- hüllt. — Kein Jahr geht hin, ohne durch mehrere Fälle aller dieser Arten die Realität des Dargestellten zu belegen. Aber nicht allein hat die unbefriedigte verliebte Leidenschaft bisweilen einen tragischen Ausgang, sondern auch die befriedigte führt öfter zum Unglück, als zum Glück. Denn ihre Anforderungen kollidiren oft so sehr mit der persönlichen Wohlfahrt des Be- theiligten, dass sie solche untergraben, indem sie mit 7l3 seinen übrigen Verhältnissen unvereinbar sind und den darauf gebauten Lebensplan zerstören. Ja, niclit allein mit den äusseren Verhältnissen ist die Liebe oft im Widerspruch, sondern sogai- mit der eigenen Individualität, indem sie sich auf Personen wirft, welche, abgesehen vom Geschlechtsverhältniss, dem Liebenden verhasst, verächtlich, ja zum Abscheu seyn würden. Aber so sehr viel mächtiger ist der Wille der Gattung als der des Individuums, dass der Lie- bende über alle jene ihm widerlichen Eigenschaften die x\ugen schliesst, Alles übersieht. Alles verkennt und sich mit dem Gegenstande seiner Leidenschaft auf immer verbindet: so gänzlich verblendet ihn jener Wahn, welcher, sobald der Wille der Gattung einfällt ist, verschwindet und eine verhasste Lebensgefährtinn übrig lässt. Nur hieraus ist es erklärlich, dass wir oft sehr vernünftige, ja ausgezeichnete Männer mit Dra- chen und Eheteufeln verbunden sehen, und nicht begreifen, wie sie eine solche Wahl haben treffen können. Diesei-halb stellten die Alten den Amor blind dar. Ja, ein Verliebter kann sogar die unerträglichen Temperaments- und Charakterfehler seiner Braut, welche ihm ein gequältes Leben verheissen, deutlich erkennen und bitter emplinden, und doch nicht ab- geschreckt werden : I ask not, I care not, If guilt's in tliy lieart; I know that I love thee, Wliatever thou art*). Denn im Grunde sucht er nicht seine Sache, sondern die eines Dritten, der erst entstehen soll; wiewohl ihn der Wahn umfängt, als wäre was er sucht seine Sache. Aber gerade dieses Nicht-ieme-Sache-suchen, welches überall der Stämpel der Grösse ist, giebt auch der leidenschaftlichen Liebe den iVnstrich des Erhabenen und macht sie zum würdigen Gegenstande der Dich- *) Ich l'ray' nicht, ich sorg' nicht, Oh Schuld in dir ist: Ich lieb' dich, das weiss ich, Was innner du bist. 7>4 tiing. — Endlich verträgt sich die Geschlechtsliehe sogar mit dem äussersten Hass gegen ihren Gegen- stand ; daher schon Plato sie der Liebe der Wölfe zu den Schaafen vergHchen hat. Dieser Fall tritt nämlich ein, wann ein leidenschaftlich Liebender, trotz allem Bemühen und Flehen, unter keiner Bedingung Er- hörung finden kann: I love and hate her*). Shakespeare^ Cvmb., III, 5. Der Hass gegen die Geliebte, welcher sich dann ent- zündet, geht bisweilen so weit, dass er sie ermordet und darauf sich selbst. Ein Paar Beispiele dieser Art pflegen sich jährlich zu ereignen: man wird sie in den Zeitungen finden. Ganz richtig ist daher der Goethe'sche Vers: Bei aller verschmähten Liehe, heim höIHschen Elemente! Ich wollt', ich wüsst' was ärf;ers, tlass ich fluchen könnte! Es ist wirklich keine Hyperbel, wenn ein Liebender die Kälte der Geliebten und die Freude ihrer Eitel- keit, die sich an seinem Leiden weidet, als Grausam- keit bezeichnet. Denn er steht unter dein Einfluss eines Triebes, der, dem Instinkt der Insekten ver- wandt, ihn zwingt, allen Gründen der Vernunft zum Trotz, seinen Zweck luibedingt zu verfolgen, und alles Andere hintanzusetzen, er kann nicht davon lassen. Nicht Einen, sondern schon manchen Petrarka hat es gegeben, der unerfüllten Liebesdrang, wie eine Fessel, wie einen Eisenblock am Fuss, sein Leben hindurch schleppen musste und in einsamen Wäldern seine Seufzer aushauchte: aber niu- dem einen Petrarka wohnte zugleich die Dichtergabe ein; so dass von ihm Goethe's schöner Vers gilt: Und wenn der Mensch in seiner Quaal verstummt, Gah mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide. In der That führt der Genius der Gattung durch- gängig Krieg mit den schützenden Genien der Indivi- duen, ist ihr Verfolger und Feind, stets bereit das persönliche Glück schonungslos zu zerstören, um seine *) Ich liehe und hasse sie. 7l5 Zwecke durchzusetzen; ja, das Wohl ganzer iSationen ist bisweilen das Opfer seiner Launen geworden: ein Beispiel dieser Art führt uns Shakespeare vor in Hein- rich VI., Th. 3, A. 3, Sc. 2 und 3. Dies Alles beruht darauf, dass die Gattung, als in welcher die Wurzel unsers Wesens liegt, ein näheres und früheres Recht auf uns hat, als das Individuum; daher ihre Ange- legenheiten vorgehen. Im Gefühl hievon haben die Alten den Genius der Gattung im Kupido personifi- zirt, einem, seines kindischen Ansehns ungeachtet, feindsäligen, grausamen und daher verschrienen Gott, einem kapriziösen, despotischen Dämon, aber dennoch Herrn der Götter und Menschen: OU 5' CO {)£(ÜV TUpaVVS x' avdptÜTTCDV, LpU)?! ('I\i, (leoiuin lioiiiimuiKjue tyraiin«*, Aiiiorl) Mörderisches Geschoss, Blindheit und Flügel sind seine Attribute. Die letzteren deuten auf den Unbe- stand: dieser tritt, in der Regel, erst mit der Ent- täuschung ein, welche die Folge der Befriedigung ist. Weil nämlich die Leidenschaft auf einem Wahn beruhte, der Das, was nur für die Gattung Werth hat, vorspiegelte als für das Individuum werthvoll, muss, nach erlangtem Zwecke der Gattung, die Täu- schung verschwinden. Der Geist der Gattung, w elcher das Individuum in Besitz genommen hatte, lässt es wieder frei. Von ihm verlassen fällt es zurück in seine ursprüngliche Beschränkung und Armuth, und sieht mit Verwunderung, dass nach so hohem, heroischen und unendlichen Streben, für seinen Genuss nichts abgefallen ist, als was jede Geschlechtsbefriedigung leistet: es findet sich, wider Erwarten, nicht glück- licher als zuvor. Es merkt, dass es der Betrogene des Willens der Gattung gewesen ist. Daher wird, in der Regel, ein beglückter Theseus seine Ariadne verlassen. Wäre Petrar/.as Leidenschaft befriedigt worden; so wäre von Dem an sein Gesang verstummt, wie der des Vogels, sobald die Eier gelegt sind. Hier sei es beiläufig bemerkt, dass, so sehr auch jneine Metaphysik der Liebe gerade den in dieser 716 Leidenschaft Verstrickten missfallen wird, dennoch, wenn ge(;en dieselbe Vernunftbetrachtungen über- haupt etwas vermöchten, die von mir aufgedeckte Grundwahrheit, vor allem Andern, zur üeberwälti- gung derselben befähigen müsste. Allein es wird wohl beim Ausspruch des alten Komikers bleiben : Quae res in se neque consilium, neque modum habet ullum, eam consilio regere non potes. Ehen aus Liebe werden im hiteresse der Gattung, nicht der Individuen geschlossen. Zwar wähnen die Betheiligten ihr eigenes Glück zu fördern: allein ihr wirklicher Zweck ist ein ihnen selbst fremder, indem er in der Hervorbringung eines nur durch sie möglichen Individuums liegt. Durch diesen Zweck zusammen- geführt sollen sie fortan suchen, so gut als möglich mit einander auszukommen. Aber sehr oft w^ird das durch jenen instinktiven Wahn, welcher das Wesen der leidenschaftlichen Liebe ist, zusammengebrachte Paar im tJebrigen von der heterogensten Beschaffen- heit seyn. Dies kommt an den Tag, wann der Wahn, wie er nothwendig muss, verschwindet. Demgemäss fallen die aus Liebe geschlossenen Ehen in der Regel unglücklich aus: denn durch sie wird für die kom- mende Generation auf Kosten der gegenwärtigen ge- sorgt. Quien se casa por amores, ha de vivir con dolores (Wer aus Liebe heirathet, hat unter Schmer- zen zu leben) sagt das Spanische Sprichwort. — Um- gekehrt verhält es sich mit den aus Konvenienz, meistens nach Wahl der Eltern, geschlossenen Ehen. Die hier waltenden Rücksichten, welcher Art sie auch seyn mögen, sind wenigstens reale, die nicht von selbst verschwinden können. Durch sie wird für das Glück der Vorhandenen, aber freilich zum Nach- theil der Kommenden, gesorgt; und jenes bleibt doch problematisch. Der Mann, welcher, bei seiner Ver- heirathung, auf Geld, statt auf Befriedigung seiner Neigung sieht, lebt mehr im Individuo, als in der Gat- tung; welches der Wahrheit gerade entgegengesetzt ist, daher es sich als naturwidrig darstellt und eine gewisse Verachtung erregt. Ein Mädchen, welches, dem Rath seiner Eltern entgegen, den Antrag eines / ' l reichen und nicht aken Mannes ausschlägt, um mit Hintansetzung aller Konvenienzrücksichten, allein nach seinem instinktivem Hange zu wählen, bringt sein individuelles Wohl dem der Gattung zum Opfer. Aber eben deswegen kann man ihm einen gewissen Beifall nicht versagen: denn es hat das Wichtigere vorgezogen und im Sinne der Natur (näher, der Gat- tung) gehandelt; während die Eltern im Sinne des individuellen Egoismus riethen. — Dem Allen zu- folge gewinnt es den Anschein, als müsste, bei Ab- schliessung einer Ehe, entweder das Individuum oder das Interesse der Gattung zu kurz kommen. Meistens steht es auch so: denn dass Konvenienz und leiden- schaftliche Liebe Hand in Hand giengen, ist der seltenste Glücksfall. Die physisch, moralisch, oder intellektuell elende Beschaffenheit der meisten Men- schen mag zum Theil ihren Grund darin haben, dass die Ehen gewöhnlich nicht aus reiner AVahl und Neigung, sondern aus allerlei äusseren Rücksichten und nach zufälligen Umständen geschlossen werden. Wird jedoch neben der Konvenienz auch die Neigung in gewissem Grade berücksichtigt; so ist dies gleich- sam eine Abfindung mit dem Genius der Gattung. Glückliche Ehen sind bekanntlich selten; eben weil es im Wesen der Ehe liegt, dass ihr Hauptzweck nicht die gegenwärtige, sondern die kommende Ge- neration ist. Indessen sei zum Tröste zarter und lie- bender Gemüther noch hinzugefügt, dass bisweilen der leidenschaftlichen Geschlechtsliebe sich ein Gefühl ganz andern Ursprungs zugesellt, nämlich wirkliche, auf Uebereinstimmung der Gesinnung gegründete Freundschaft, welche jedoch meistens erst dann her- vortritt, wann die eigentliche Geschlechtsliebe in der Befriedigung erloschen ist. Jene wird alsdann meistens daraus entspringen, dass die einander ergänzenden und entsprechenden physischen, moralischen und intellektuellen Eigenschaften beider Individuen, aus welchen, in Rücksicht auf das zu Erzeugende, die Geschlechtsliebe entstand, eben auch in Beziehung auf die Individuen selbst, als entgegengesetzte Tem- peramentseigenschaften und geistige Vorzüge sich zu -18 einander ergänzend verhalten und dadurch eine Har- monie der Gemüther begründen. Die ganze hier abgehandelte Metaphysik der Liebe steht mit meiner Metaphysik überhaupt in genauer Verbindung, und das Licht, welches sie auf diese zurückwirft, lässt sich in Folgendem resumiren. Es hat sich ergeben, dass die sorgfältige und durch unzählige Stufen bis zur leidenschaftlichen Liebe stei- gende Auswahl bei der Befriedigung des Geschlechts- triebes auf dem höchst ernsten Antheil beruht, wel- chen der Mensch an der speciellen persönlichen Be- schaffenheit des kommenden Geschlechtes nimmt. Dieser überaus merkwürdige Antheil nun bestätigt zwei in den vorhergegangenen Kapiteln dargethane Wahrheiten: i) Die ünzerstörbarkeit des Wesens an sich des Menschen, als welches in jenem kommenden Geschlechte fortlebt. Denn jener so lebhafte und eifrige, nicht aus Reflexion und Vorsatz, sondern aus dem innersten Zuge und Triebe unsers Wesens ent- springende Antheil könnte nicht so unvertilgbar vor- handen seyn und so grosse Macht über den Menschen ausüben, wenn dieser absolut vergänglich wäre und ein von ihm wirklich und durchaus verschiedenes Geschlecht bloss der Zeit nach auf ihn folgte. 2) Dass sein Wesen an sich mehr in der Gattung als im In- dividuo liegt. Denn jenes Interesse an der speciellen Beschaffenheit der Gattung, welches die Wurzel aller Liebeshändel, von der flüchtigsten INeigung bis zur ernstlichsten Leidenschaft ausmacht, ist Jedem eigent- lich die höchste Angelegenheit, nämlich die, deren Gelingen oder Misslingen ihn am empfindlichsten berührt; daher sie vorzugsweise die Herzensangelegen- heit genannt wird : auch wird diesem Interesse, wann es sich stark und entschieden ausgesprochen hat, jedes bloss die eigene Person betreffende nachgesetzt und nöthigenfalls aufgeopfert. Dadurch also bezeugt der Mensch, dass ihm die Gattung näher liegt, als das Individuum, und er unmittelbarer in Jener, als in Diesem lebt. — Warum demnach hängt der Verliebte mit gänzlicher Hingebung an den Augen seiner Aus- 7^9 erkorenen und ist bereit, ihr jedes Opfer zu bringen? — Weil sein unsterblicher Theil es ist, der nach ihr verlangt; nach allem Sonstigen immer nur der sterb- liche. — Jenes lebhafte oder gar inbrünstige, auf ein bestimmtes Weib gerichtete Verlangen ist sonach ein unmittelbares Unterpfand der Unzerstörbarkeit des Kerns unsers Wesens und seines Fortbestandes in der Gattung. Diesen Fortbestand nun aber für etwas Geringfügiges und Ungenügendes zu halten, ist ein Irrthum, der daraus entspringt, dass man unter dem Fortleben der Gattung sich nichts weiter denkt, als das künftige Dasevn uns ähnlicher, jedoch in keinem Betracht mit uns identischer Wesen, und dies wieder, weil man, von der nach Aussen gerichteten Erkennt- niss ausgehend, nur die äussere Gestalt der Gattung, wie wir diese anschaulich auffassen, und nicht ihr inneres Wesen in Betracht zieht. Dieses innere Wesen aber gerade ist es, was unserem eigenen Bew usstseyn, als dessen Kern, zum Grunde liegt, daher sogar un- mittelbarer, als dieses selbst ist und, als Ding an sich, frei vom principio individuationis, eigentlich das Selbe und Identische ist in allen hidividuen, sie mögen neben, oder nach einander daseyn. Dieses nun ist der Wille zum Leben, also gerade Das, was Leben und Fortdauer so dringend verlangt. Dies eben bleibt demnach vom Tode verschont und unangefochten. Aber auch: es kann es zu keinem bessern Zustande bringen, als sein gegenwärtiger ist: mithin ist ihm, mit dem Leben, das i)eständige Leiden und Sterben der Individuen gewiss. Von diesem es zu befreien, ist der Verneinung des Willens zum Leben vorbehalten, als durch welche der individuelle Wille sich vom Stamm der Gattung losreisst und jenes Daseyn in derselben aufgiebt. Für Das, was er sodann ist, fehlt es uns an Begriffen, ja, an allen Datis zu solchen. Wir können es nur bezeichnen als Dasjenige, welches die Freiheit hat, Wille zum Leben zu seyn, oder nicht. Für den letztern Fall bezeichnet der Buddhais- mus es mit dem Worte Nitioana, dessen Etymologie in der Anmerkung zum Schluss des 4i- Kapitels ge- geben worden. Es ist der Punkt, w elcher aller mensch- 720 liehen Erkenntniss, eben als solcher, auf immer un- zugänglich bleibt. — Wenn wir nun, vom Standpunkte dieser letzten Betrachtung aus, in das Gewühl des Lebens hinein- schauen, erblicken wir Alle mit der Noth und Plage desselben beschäftigt, alle Kräfte anstrengend, die endlosen Bedürfnisse zu befriedigen und das viel- gestaltete Leiden abzuwehren, ohne jedoch etwas An- deres dafür hoffen zu dürfen, als eben die Erhaltung dieses geplagten, individuellen Daseyns, eine kurze Spanne Zeit hindurch. Dazwischen aber, mitten in dem Getümmel, sehen wir die Blicke zweier Lieben- der sich sehnsüchtig begegnen: — jedoch warum so heimlich, furchtsam und verstohlen? — Weil diese Liebenden die Verräther sind, welche heimlich da- nach trachten, die ganze Noth und Plackerei zu per- petuiren, die sonst ein baldiges Ende erreichen würde, welches sie vereiteln wollen, wie ihres Gleichen es früher vereitelt haben. Diese Betrachtung greift nun schon in das folgende Kapitel hinüber. ANHANG ZUM VOBSTEHENDEN KAPITEL. OuTco«; avaiocu«; i^exiVYjoa? toos xo p^jJ.a' xat Tzoo xouto cpeu^soSat ooxsTc; necpeuya* x'dXTjftsi; yap layppov xpecpo). Soph. Auf Seite 6i8*) habe ich der Päderastie beiläufig er- wähnt und sie als einen irre geleiteten Instinkt be- zeichnet. Dies schien mir, als ich die zweite Auflage bearbeitete, genügend. Seitdem hat weiteres Nach- denken über diese Verirrung mich in derselben ein merkwürdiges Problem, jedoch auch dessen Lösung entdecken lassen. Diese setzt das vorstehende Kapitel voraus, wirft aber auch wieder Licht auf dasselbe zurück, gehört also zur Vervollständigung, wie zum Beleg der dort dargelegten Grundansicht. An sich selbst betrachtet nämlich stellt die Päde- *) [S. 695 d. A.] 46 Schopenhauer II "^2 1 rastie sich dar als eine nicht bloss widernatürliche, sondern auch im höchsten Grade widerwärtige und Abscheu erregende Monstrosität, eine Handlung, auf welche allein eine völlig perverse, verschrobene und entartete Menschennatur irgend ein Mal hätte gera- then können, und die sich höchstens in ganz verein- zelten Fällen wiederholt hätte. Wenden wir nun aber uns an die Erfahrung; so finden wir das Gegentheil hievon: wir sehen nämlich dieses Laster, trotz seiner Abscheulichkeit, zu allen Zeiten und in allen Ländern der Welt, völlig im Schwange und in häufiger Aus- übung, Allbekannt ist, dass dasselbe bei Griechen und Römern allgemein verbreitet war, und ohne Scheu und Schaam öffentlich eingestanden und getrieben wurde. Hievon zeugen alle alten Schriftsteller, mehr als zur Genüge. Zumal sind die Dichter sammt und sonders voll davon : nicht ein Mal der keusche Virgil ist auszunehmen (Ecl. 2). Sogar den Dichtern der Urzeit, dem Orpheus (den deshalb die Mänaden zer- rissen) und dem Thamyris, ja, den Göttern selbst, wird es angedichtet. Ebenfalls reden die Philosophen viel mehr von dieser, als von der Weiberliebe: be- sonders scheint Plato fast keine andere zu kennen, und eben so die Stoiker, welche sie als des Weisen würdig erwähnen (Stob. ecl. eth., L. II, c. 7). Sogar dem Sokrates rühmt Plato, im Symposion, es als eine beispiellose Heldentat nach, dass er den, sich ihm dazu anbietenden Alkibiades verschmäht habe. Auch Aristo- teles (Pol. II, 9) spricht von der Päderastie als etwas Gewöhnlichem, ohne sie zu tadeln, führt an, dass sie bei den Kelten in öffentlichen Ehren gestanden habe, und bei den Kretern die Gesetze sie begünstigt hätten, als Mittel gegen Uebervölkerung, erzählt (c. 10) die Männerliebschaft des Gesetzgebers Philolaos u. s. w. Cicero sagt sogar: Apud Graecos opprobrio fuit ado- lescentibus, si amatores non haberent. Für gelehrte Leser bedarf es hier überhaupt keiner Belege: sie er- innern sich deren zu Hunderten: denn bei den Alten ist Alles voll davon. Aber selbst bei den roheren Völ- kern, namentlich bei den Galliern, war das Laster sehr im Schwange. Wenden wir uns nach Asien, so 722 sehen wir alle Länder dieses Welttheils, und zwar von den frühesten Zeiten an, bis zur gegenwärtigen herab, von dem Laster erfüllt, und zwar ebenfalls ohne es sonderlich zu verhehlen : Hindu und Chinesen nicht weniger, als die Islamitischen Völker, deren Dichter wir ebenfalls viel mehr mit der Knaben-, als mit der Weiberliebe beschäftigt finden; wie denn z. B. im Gulistan des Sadi das Buch ,,von der Liebe" ausschliesslich von jener redet. Auch den Hebräern war dies Laster nicht unbekannt; da Altes und Neues Testa- ment desselben als strafbar erwähnen. Im Christli- chen Europa endlich hat Beligion, Gesetzgebung und öffentliche Meinung ihm mit aller Macht entgegen- arbeiten müssen : im Mittelalter stand überall Todes- strafe darauf, in Fi-ankreich noch im 1 6. Jahrhundert der Feuertod, und in England wurde noch während des ersten Drittels dieses Jahrhunderts die Todesstrafe dafür unnachlässlich vollzogen; jetzt ist es Deporta- tion auf Lebenszeit. So gewaltiger Maassregeln also bedurfte es, um dem Laster Einhalt zu thun; was denn zwar in bedeutendem Maasse gelungen ist, jedoch keineswegs bis zur Ausrottung desselben; sondern es schleicht, unter dem Schleier des tiefsten Geheim- nisses, allezeit und überall umher, in allen Ländern und unter allen Ständen, und kommt, oft wo man es am wenigsten erwartete, plötzlich zu Tage. Auch ist es in den früheren Jahrhunderten, trotz allen Todes- strafen, nicht anders damit gewesen: dies bezeugen die Erwähnungen desselben und Anspielungen darauf in den Schriften aus allen jenen Zeiten. — Wenn wir nun alles Dieses uns vergegenwärtigen und wohl erwä- gen ; so sehen wir die Päderastie zu allen Zeiten und in allen Ländern auf eineWeise auftreten, die gar weit ent- fernt ist von der, welche wir zuerst, als wir sie bloss an sich selbst betrachteten, also a priori, vorausgesetzt hatten. Nämlich die gänzliche Allgemeinheit und be- harrliche Unausrottbarkeit der Sache beweist, dass sie irgendwie aus der menschlichen Natur selbst hervor- geht; da sie nur aus diesem Grunde jederzeit vind über- all unausbleiblich auftreten kann als ein Beleg zu dem NaUiram expelles fiirca, tarnen usque recurret. 46* 723 Dieser Folgerung können wir daher uns schlechter- dings nicht entziehen, wenn wir redlich verfahren wollen. Ueber diesen Thatbestand aber hinwegzu- gehen und es beim Schelten und Schimpfen auf das Laster bewenden zu lassen, wäre freilich leicht, ist jedoch nicht meine Art mit den Problemen fertig zu werden; sondern meinem angeborenen Beruf, überall der Wahrheit nachzuforschen und den Dingen auf den Grund zu kommen, auch hier getreu, erkenne ich zunächst das sich darstellende und zu erklärende Phänomen, nebst der unvermeidlichen Folgerung daraus, an. Dass nun aber etwas so von Grund aus Naturwidriges, ja, der Natur gerade in ihrem wich- tigsten und angelegensten Zweck Entgegentretendes aus der Natur selbst hervorgehen sollte, ist ein so unerhörtes Paradoxon, dass dessen Erklärung sich als ein schweres Problen» darstellt, welches ich jedoch jetzt, durch Aufdeckung des ihm zu Grunde liegenden Naturgeheimnisses lösen werde. Zum Ausgangspunkt diene mir eine Stelle des Ari- stoteles in Polit., VII, i6. — Daselbst setzt er ausein- ander, erstlich: dass zu junge Leute schlechte, schwa- che, mangelhafte und klein bleibende Kinderzeugen; und weiterhin, dass das Selbe von den Erzeugnissen der zu alten gilt: za ■j'ap xtuv 7rps3|3uT£p«)v ex^ova, xa- Oairep Ta rtuv vscuTsptov, a^cekr^ -yt^veTai, xai toi? au)[iaai, xai xai<; otavoiati;,Ta os xcov '^z'(r^pav.o■z<Ji^ ao&svrj (nam, ut juniorum, ita et grandiorum natu foetus inchoatis at- que imperfectis corporibus mentibusque nascimtur: eorum vero, qui senio confecti sunt, suboles inhrma et imbecilla est). Was nun dieserhalb Aristoteles als Regel für den Einzelnen, das stellt Stobäos als Gesetz für die Gemeinschaft auf, am Schlüsse seiner Darle- gung der peripatetischen Philosophie (Ecl. eth., L. II, c. 7 in fine): Tzpo^ ttjv pcujjLTjV tcdv ocuixaiaiv y.ai ts- XsiOTTjTa OSIV }X7]Tc VSCDtSptOV a^ttV, JJ17]T£ 7:p£a|3üT£p(üV Tou? ^aaoui; TrotsioBai, axeXTj ^otp Y^vsodat, xai ajxcpoTS- pa? xa«; i^Xixiac, xai tsXsko? aaÖsvr, xa ex^ova (oportet, corporum roboris et perfectionis causa, nee juniores justo, nee seniores matrimoniojungi, quia circa titram- que aetatem proles Heret imbecillis et imperfecta), 724 Aristoteles schreibt daher vor, dass, wer 54 Jahre alt ist, keine Kinder mehr in die Welt setzen soll ; wie- wohl er den Beischlaf noch immer, seiner Gesundheit, oder sonst einer Ursache halber, ausüben mag. Wie Dies zu bewerkstelligen sei, sagt er nicht: seine Mei- nung geht aber offenbar dahin, dass die in solchem Alter erzeugten Kinder durch Abortus wegzuschaf- fen sind; da er diesen, wenige Zeilen vorher, anemp- fohlen hat. — Die Natur nun ihrerseits kann die der Vorschrift des Aristoteles zum Grunde liegende That- sache nicht leugnen, aber auch nicht aulTieben. Denn, ihrem Grundsatz natura non facit saltus zufolge, konnte sie die Saamenabsonderung des Mannes nicht plötzlich einstellen; sondern auch hier, wie bei jedem Absterben, musste eine allmälige Deterioration vor- hergehen. Die Zeugung während dieser nun aber würde schwache, stumpfe, sieche, elende und kurz- lebende Menschen in die Welt setzen. Ja, sie thut es nur zu oft: die in späterm Alter gezeugten Kinder sterben meistens früh weg, erreichen wenigstens nie das hohe Alter, sind, mehr oder weniger, hinfällig, kränklich, schwach, und die von ihnen Erzeugten sind von ähnlicher Beschaffenheit. Was hier von der Zeu- gung im deklinirenden Alter gesagt ist, gilt eben so von der im unreifen. Nun aber liegt der Natur nichts so sehr am Herzen, wie die Erhaltung der Species und ihres ächten Typus; wozu wohlbeschatfene, tüch- tige, kräftige Individuen das Mittel sind: nur solche will sie. Ja, sie betrachtet und bebandelt (wie im Ka- pitel 41 gezeigt worden) im Grunde die Individuen nur als Mittel ; als Zweck bloss die Species. Demnach sehen wir hier die Natur, in Folge ihrer eigenen Ge- setze und Zwecke, auf einen misslichen Punkt gera- then und wirklich in der Bedrängniss. Auf gewalt- same und von fremder Willkür abhängige Auskunfts- mittel, wie das von Aristoteles angedeutete, konnte sie, ihrem Wesen zufolge, unmöglich rechnen, und eben so wenig darauf, dass die Menschen, durch Er- fahrung belehrt, die Nachtheile zu früher und zu später Zeugung erkennen und demgeinäss ihre Ge- lüste zügeln würden, in Folge vernünftiger, kalter y25 Ueberlegung. Auf Beides also konnte, in [einer so ■wichtigen Sache, die Natur es nicht ankommen las- sen. Jetzt bHeb ihr nichts Anderes übrig, als von zwei Uebeln das kleinere zu wählen. Zu diesem Zweck nun aber musste sie ihr beliebtes Werkzeug, den In- stinkt, welcher, wie in vorstehendem Kapitel gezeigt, das so wichtige Geschäft der Zeugung überall leitet und dabei so seltsame Illusionen schafft, auch hier in ihr Interesse ziehen; welches nun aber hier nur da- durch geschehen konnte, dass sie ihn irre leitete (lui donna le change). Die Natur kennt nämlich nur das Physische, nicht das Moralische: sogar ist zwischen ihr und der Moral entschiedener Antagonismus. Er- haltung des Individui, besonders aber der Species, in möglichster Vollkommenheit, ist ihr alleiniger Zweck. Zwar ist nun auch physisch die Päderastie den dazu verführten Jünglingen nachtheilig; jedoch nicht in so hohem Grade, dass es nicht von zweien Uebeln das kleinere wäre, welches sie demnach wählt, um dem sehr viel grössern, der Depravation der Species, schon von Weitem auszuweichen und so das bleibende und zunehmende Unglück zu verhüten. Dieser Vorsicht der Natur zufolge stellt, ungefähr in dem von Aristoteles angegebenen Alter, in der Re- gel eine })äderastische Neigung sich leise und allmälig ein, wird immer deutlicher und entschiedener, in dem Maasse, wie die Fähigkeit, starke und gesunde Kinder zu zeugen, abnimmt. So veranstaltet es die Natur. VV^ohl zu merken jedoch, dass von diesem eintreten- den Hange bis zum Laster selbst noch ein sehr wei- ter Weg ist. Zwar wenn, wie im alten Griechenland und Rom, oder zu allen Zeiten in Asien, ihm kein Damm entgegengesetzt ist, kann er, vom Beispiel er- muthigt, leicht zum Laster führen, welches dann, in Folge hievon, grosse Verbreitung erhält. In Europa hingegen stehen demselben so überaus mächtige Mo- tive der Religion, der Moral, der Gesetze und der Ehre entgegen, dass fast Jeder schon vor dem blossen Ge- danken zurückbebt, und wir demgemäss aimehmen dürfen, dass unter etwan drei Hundert, welche jenen Hang spüren, höchstens Einer so schwach und hirn- 726 los seyn wird, ihm nachzugeben ; um so gewisser, als diesei" Hang erst in dem Alter eintritt, wo das Blut abgekühlt und der Geschlechtstrieb überhaupt ge- sunken ist, und er andererseits an der gereiften Ver- nunft, an der durch Erfahrung ei'langten Umsicht und der vielfach geübten Festigkeit so starke Gegner findet, dass nur eine von Haus aus schlechte Natur ihm untei'liegen wird. Inzwischen wird der Zweck, den die Natur dabei hat, dadurch erreicht, dass jene Neigung Gleichgül- tigkeit gegen die Weiber mit sich führt, welche mehr und mehr zunimmt, zur Abneigung wird und endlich bis zum Widerwillen anwächst. Hierin erreicht die Natur ihren eigentlichen Zweck um so sicherer, als, je mehr im Manne die Zeugungskraft abnimmt, desto entschiedener ihre widernatürliche Richtvmg wird. — Diesem entsprechend finden wir die Päderastie durchgängig als ein Laster alter Männer. Nur solche sind es, welche dann und wann, zum öffentlichen Skandal, darauf betrofTen werden. Dem eigentlich männlichen Alter ist sie fremd, ja, unbegreiflich. Wenn ein Mal eine Ausnahme hievon vorkommt; so glaube ich, dass es nur in Folge einer zufälligen und vorzeitigen Depravation der Zeugungskraft seyn kann, welche nur schlechte Zeugungen liefern könnte, de- nen vorzubeugen, die Natur sie ablenkt. Daher auch richten die in grossen Städten leider nicht seltenen Kinäden ihre Winke und Anträge stets an ältere Herren, niemals an die im Alter der Kraft stehenden, oder gar an junge Leute. Auch bei den Griechen, wo Beispiel und Gewohnheit hin und wieder eine Ausnahme von dieser Regel herbeigeführt haben mag, finden wir von den Schriftstellern, zumal den Philosophen, namentlich Plato und Aristoteles, in der Regel, den Liebhaber ausdrücklich als ältlich dargestellt. Insbesondere ist in dieser Hinsicht eine Stelle des Plutarch bemerkenswerth im Liber ama- torius, c. 5 : '0 T:aioiv.oz spco?, o^e y^^ovod?, xai Tiap' <upav t(p ßtcp, -^o^oc, xat axotio?, s^sXaovst. tov yv^jaiov spcuta xai TTpeoßuTspov. (Puerorum amor, qui, quum tarde in vita et intempestive, quasi spurius et occultus, exstitisset, 727 gerinanum et natu majorem amorem expellit.) Sogar unter den Göttern finden wir nur die ältlichen, den Zeus und den Herakles, mit männlichen GeHebten versehen, nicht den Mars, Apollo, Bacchus, Merkur. — Inzwischen kann im Orient der in F'oljje der Poly- gamie entstehende Mangel an Weibern hin und wie- der gezwungene Ausnahmen zu dieser Regel veran- lassen: eben so in noch neuen und daher weiberlosen Kolonien, wie Kalifornien u. s. w. — Dem entspre- chend nun ferner, dass das unreife Sperma, eben so wohl wie das durch Alter depravirte, nur schwache, schlechte und unglückliche Zeugungen liefern kann, ist, wie im Alter, so auch in der Jugend eine eroti- sche Neigung solcher Art zwischen Jünglingen oft vorhanden, führt aber wohl nur höchst selten zum wirklichen Laster, indem ihr, ausser den oben ge- nannten Motiven, die Unschuld, Reinheit, Gewissen- haftigkeit und Verschämtheit des jugendlichen Alters entgegensteht. Aus dieser Darstellung ergiebt sich, dass, während das in Betracht genommene Laster den Zwecken der Natur, und zwar im Allerwichtigsten und ihr Ange- legensten, gerade entgegenzuarbeiten scheint, es in Wahrheit eben diesen Zwecken, wiewohl nur mittel- bar, dienen muss, als Abwendungsmittel grösserer Uebel. Es ist nämlich ein Phänomen der absterben- den und dann wieder der unreifen Zeuguugskraft, welche der Species Gefahr drohen: und wiewohl sie alle Beide aus moralischen Gründen pausiren sollten; so war hierauf doch nicht zu rechnen; da überhauj)t die Natur das eigentlich Moralische bei ihrem Trei- ben nicht in Anschlag bringt. Demnach griff die, in Folge ihrer eigenen Gesetze, in die Enge getriebene Natur, mittelst Verkehrung des Instinkts, zu einem Nothbehelf, einem Stratagem, ja, man möchte sagen, sie bauete sich eine Eselsbrücke, um, wie oben dar- gelegt, von zweien Uebeln dem grössern zu entge- hen. Sie hat nämlich den wichtigen Zweck im Auge, imglücklichen Zeugungen vorzubeugen, welche all- mälig die ganze Species depraviren könnten, und da ist sie, wie wir gesehen haben, nicht skrupulös in der -28 Wahl der Mittel . Der Geist, in welchem sie hier verfahrt, ist der selbe, in welchem sie, wie oben, Kapitel 27, an- geführt, die Wespen antreibt, ihre Jungen zu erstechen : denn in beiden Fällen greift sie zum Schlimmen, um Schlimmerem zu entgehen : sie führt den Geschlechts- trieb irre, um seine verderblichsten Folgen zu vereiteln. Meine Absicht bei dieser Darstellung ist zunächst die Lösung des oben dargelegten auffallenden Pro- blems gewesen ; sodann aber auch die Bestätigung mei- ner, im vorstehenden Kapitel ausgeführten Lehre, dass bei aller Geschlechtsliebe der Instinkt die Zügel führt und Illusionen schafft, weil der Natur das Inter- esse der Gattung allen andern vorgeht, und dass Dies sogar bei der hier in Rede stehenden, widerwärtigen Verirrung und Ausartung des Geschlechtstriebes gültig bleibt; indem auch hier, als letzter Grund, die Zwecke der Gattung sich ergeben, wiewohl sie, in diesem Fall, bloss negativer Art sind, indem die Na- tur dabei prophylaktisch verfährt. Diese Betrachtung wirft daher auf meine gesammte Metaphysik der Ge- schlechtsiiebe Licht zurück. Ueberhaupt'aber ist durch diese Darstellung eine bisher verborgene Wahrheit zu Tage gebracht, welche bei aller ihrer Seltsamkeit, doch neues Licht auf das innere Wesen, den Geist und das Treiben der Natur wirft. Demgemäss hat es sich dabei nicht um moralische Verwarnung gegen das Laster, sondern um das Verständniss des Wesens der Sache gehandelt. Uebrigens ist der wahre, letzte, tief metaphvsische Grimd der Verwerflichkeit der Päderastie dieser, dass, während der Wille zum Le- ben sich darin bejaht, die Folge solcher Bejahung, welche den Weg zur Erlösung offen hält, also die Er- neuerung des Lebens, gänzlich abgeschnitten ist. — Endlich habe ich auch, durch Darlegung dieser para- doxen (jcdanken, den durch das immer weitere Bekanntwerden meiner von ihnen so sorgfältig ver- hehlten Philosophie jetzt sehr deconcertirten Philo- sophieprofessoren eine kleine Wohlthat zufliessen las- sen wollen, indem ich ihnen Gelegenheit eröffnete zu der Verläumdung, dass ich die Päderastie in Schutz genommen und anempfohlen hätte. KAPITEL 45*). VON DER BEJAHUNG DES WILLENS ZUM LEBEN. \^/ENN der Wille zum Leben sich bloss darstellte T T als Trieb zur Selbsterbaltung; so würde dies nur eine Bejahung der individuellen Erscheinung, auf die Spanne Zeit ihrer natürlichen Dauer sevn. Die Mühen und Sorgen eines solchen Lebens würden nicht gross, mithin das Daseyn leicht und heiter ausfallen. Weil hingegen der Wille das Leben schlechthin und auf alle Zeit will, stellt er sich zugleich dar als Ge- schlechtstrieb, der es auf eine endlose Reihe von Ge- nerationen abgesehen hat. Dieser Trieb hebt jene Sorglosigkeit, Heiterkeit und Unschuld, die ein bloss individuelles Daseyn begleiten würden, auf, indem er in das Bewusstseyn Unruhe und Melancholie, in den Lebenslauf Unfälle, Sorge und Noth bringt. — Wenn er hingegen, wie wir es an seltenen Ausnahmen se- hen, freiwillig unterdrückt wird; so ist dies die Wen- dung des Willens, als welcher umkehrt. Er geht als- dann im Individuo auf, und nicht über dasselbe hin- aus. Dies kann jedoch nur diu'ch eine schmerzliche Gewalt geschehen, die jenes sich selber anthut. Ist es aber geschehen; so wird dem Bewusstsevn jene Sorg- losigkeit und Heiterkeit des bloss individuellen Da- seyns w^iedergegeben, und zwar auf einer erhöhten Potenz. — Hingegen an die Befriedigung jenes hef- tigsten aller Triebe und Wünsche knüpft sich der Ursprung eines neuen Daseyns, also die Durchfüh- rung des Lebens, mit allen seinen Lasten, vSorgen, Nöthen und Schmerzen, von Neuem; zwar in einem andern Individuo : jedoch wenn Beide, wie sie in der Erscheinung verschieden sind, es auch schlechthin und an sich wären, wo bliebe dann die ewige Gerech- tigkeit? — Das Leben stellt sich dar als eine Aufgabe, ein Pensum zum Abarbeiten, und daher, in der Re- gel, als ein steter Kampf gegen die Noth. Demnach ') Dieses Kapitel bezieht sich auf ^. 60 des ersten Bandes. [S. 394 tl- A.J )0 sucht Jeder durch und davon zu kommen, so gut es gehen will: er thut das Leben ab, wie einen Frohndienst, welchen er schuldig war. Wer aber hat diese Schuld kontrahirt ? — Sein Erzeuger, im Genuss der Wollust. Also dafür, dass der Eine diese genossen hat, muss der Andere leben, leiden und sterben. In- zwischen wissen wir und sehen hier darauf zurück, dass die Verschiedenheit des Gleichartigen durch Raum und Zeit bedingt ist, welche ich in diesem Sinne das principium individuationis genannt habe. Sonst wäre die ewige Gerechtigkeit nicht zu retten. Eben darauf, dass der Erzeuger im Erzeugten sich selbst wiedererkennt, beruht die Vaterliebe, vermöge welcher der Vater bereit ist, für sein Kind mehr zu thun, zu leiden und zu wagen, als für sich selbst, und zugleich dies als seine Schuldigkeit erkennt. Das Leben eines Menschen, mit seiner endlosen Mühe, Noth und Leiden, ist anzusehen als die Erklä- rung und Paraphrase des Zeugungsaktes, d. i. der entschiedenen Bejahung des Willens zum Leben: zu derselben gehört auch noch, dass er der Natur einen Tod schuldig ist, und er denkt mit Beklemmung an diese Schuld. — Zeugt dies nicht davon, dass unser Daseyneine Verschuldung enthält? — Allerdings aber sind wir, gegen den periodisch zu entrichtenden Zoll, Geburt und Tod, immerwährend da, und geniessen successiv alle Leiden und Freuden des Lebens; sodass uns keine entgehen kann : dies eben ist die Frucht der Bejahung des Willens zum Leben. Dabei ist also die Furcht vor dem Tode, welche uns, trotz allen Plagen des Lebens, darin festhält, eigentlich illuso- risch : aber eben so illusorisch ist der Trieb, der uns hineingelockt hat. Diese Lockung selbst kann man objektiv anschauen in den sich sehnsüchtig begeg- nenden Blicken zweier Liebenden : sie sind der reinste Ausdruck des Willens zum Leben in seiner Bejahung. Wie ist er hier so sanft und zärtlich ! Wohlseyn will er, und ruhigen Genuss und sanfte Freude, für sich, für Andere, für Alle. Es ist das Thema des Anakreon. So lockt und schmeichelt er sich selbst ins Leben hin- ein. Ist er aber darin, dann zieht die Quaal das Ver- 73. brechen, und das Verbrechen die Quaal herbei : Gräuel und Verwüstung; füllen den Schauplatz. Es ist das Thema des Aeschylos. Der Akt nun aber, durch welchen der Wille sich bejaht und der Mensch entsteht, ist eine Handlunjj, deren Alle sich im Innersten schämen, die sie daher sorgfältig verbergen, ja, auf welcher betroffen sie er- schrecken, als wiiren sie bei einem Verbrechen ertappt worden. Es ist eine Handlung, deren man bei kalter üeberlegung meistens mit Widerwillen, in erhöhter Stimmung mit Abscheu gedenkt. Näher auf dieselbe in diesem Sinne eingehende Betrachtungen liefert Montaigne, im 5. Kapitel des dritten Buches unter der Randglosse: ce que c'est que l'amour. Eine eigen- thümhche Betrübniss und Reue folgt ihr auf dem Fusse, ist jedoch am fühlbarsten nach der erstmali- gen Vollziehung derselben, überhaupt aber um so deutlicher, je edler der Charakter ist. Selbst Plinius, der Heide, sagt daher: Homini tantum primi coitus poenitentia: augurium scilicet vitae, a poenitenda ori- gine (Hist. nat., X, 83). Und andererseits, was treiben und singen, in Goethes „Faust", Teufel und Hexen auf ihi'em Sabbath? Unzucht und Zoten. Was docirt ebendaselbst (in den vortrefflichen Paralipomenis zum Faust), vor der versammelten Menge, der leil)- haftige Satan? — Unzucht imd Zoten; nichts weiter. — Aber einzig und allein mittelst der fortwährenden Ausübung einer so beschatlenen Handlung besteht das Menschengeschlecht. — Hätte nun der Optimis- mus Recht, wäre unser Dasevn das dankbar zu er- kennende Geschenk höchster, von Weisheit geleiteter Güte, und demnach an sich selbst preiswürdig, rühm- lich und erfreulich; da müsste doch wahrlich der Akt, welcher es perpetuirt, eine ganz andere Phvsiognomie tragen. Ist hingegen dieses Daseyn eine Art Fehltritt, oder Irrweg; ist es das Werk eines ursprünglich blin- den Willens, dessen glücklichste Entwickelung die ist, dass er zu sich selbst komme, um sich selbst auf- zuheben: so muss der jenes Dasevn perpetuirende Akt gerade so aussehen, wie er aussieht. Hinsichtlich auf die erste Grundwahrheit meiner 732 Lehre verdient hier die Bemerkung eine Stelle, dass die oben berührte Schaam über das Zeugungsgeschält sich sogar aufdie demselben dienenden Theile erstreckt, obschon diese, gleich allen übrigen, angeboren sind. Dies ist abermals ein schlagender Beweis davon, dass nicht bloss die Handlungen, sondern schon der Leib des Menschen die Erscheinung, Objektivation seines Willens und als das Werk desselben zu betrachten ist. Denn einer wSache, die ohne seinen Willen dawäre, könnte er sich nicht schämen. Der Zeugungsakt verhält sich ferner zur Welt, wie das Wort zum Räthsel. Nämlich, die Welt ist weit im Räume und alt in der Zeit und von unerschöpflicher Mannichfaltigkeit der Gestalten. Jedoch ist dies Alles nur die Erscheinung des Willens zum Leben; und die Koncentration, der Brennpunkt dieses Willens, ist der Generationsakt. In diesem Akt also spricht das innere Wesen der Welt sich am deutlichsten aus. Es ist, in dieser Hinsicht, sogar beachtenswerth, dass er selbst auch schlechthin „der Wille" genannt wird, in der sehr bezeichnenden Redensart: „er verlangte von ihr, sie sollte ihm zu Willen seyn." Als der deutlichste Ausdruck des Willens also ist jener Akt der Kern, das Kompendium, die Quintessenz der Welt. Daher geht uns durch ihn ein Licht auf über ihr Wesen und Treiben: er ist das Wort zum Räthsel. Demgemäss ist er verstanden unter dem „Baum der Erkenntniss" : denn nach der Bekanntschaft mit ihm gehen Jedem über das Leben die Augen auf, wie es auch Byron sagt: The tree of knowledge has been pluck'd, — all's known') D. Juan, I, 128. Nicht weniger entspricht dieser Eigenschaft, dass er das gi'osse appTjTov, das öffentliche Geheimniss ist, welches nie und nirgends deutlich erwähnt werden darf, aber immer und überall sich, als die Hauptsache, von selbst versteht und daher den Gedanken Aller stets gegenwärtig ist, weshalb auch die leiseste An- *) Vom Baum der Erkenntniss ist gepflückt worden: — Alles ist bekannt. spielung darauf augenblicklich verstanden wird. Die Hauptrolle, die jener Akt und was ihm anhängt in der Welt spielt, indem überall Liebesintrjguen einer- seits betrieben und andererseits vorausgesetzt werden, ist der Wichtigkeit dieses punctum saliens des Welt- eies ganz angemessen. Das Belustigende liegt nur in der steten Verheimlichung der Hauptsache. Aber nun seht, wie der junge, unschuldige, mensch- liche Intellekt, wann ihm jenes grosse Geheimniss der Welt zuerst bekannt wird, erschrickt über die Enor- mität! Der Grund hievon ist, dass auf dem weiten Wege, den der ursprünglich erkenntnisslose Wille zu durchlaufen hatte, ehe er sich zum Intellekt, zumal zum menschlichen, vernünftigen, Intellekt steigerte, er sich selber so entfremdet wurde, dass er seinen Ursprung, jene poenitenda origo, nicht mehr kennt und nun vom Standpunkt des lauteren, daher un- schuldigen Erkennens aus, sich darüber entsetzt. Da nun also der Brennpunkt des Willens, d. h. die Koncentration und der höchste Ausdruck desselben, der Geschlechtstrieb und seine Befriedigung ist; so ist es sehr bezeichnend und in der symbolischen Sprache der Natur naiv ausgedrückt, dass der individualisirte Wille, also der Mensch und das Thier, seinen Eintritt in die Welt durch die Pforte der Geschlechtstheile macht. — Die Bejahung des Willens zum Leben, welche dem- nach ihr Centrum im Generationsakt hat, ist beim Thiere unausbleiblich. Denn allererst im Menschen kommt der Wille, welcher die natura naturans ist, zur Besinnung. Zur Besinnung kommen heisst: nicht bloss zur augenblicklichen Nothdurft des individuellen Willens, zu seinem Dienst in der dringenden Gegen- wart, erkennen; — wie dies im Thiere, nach Maass- gabe seiner Vollkommenheit und seiner Bedürfnisse, welche Hand in Hand gehen, der Fall ist; sondern eine grössere Breite der Erkenntniss erlangt haben, vermöge einer deutlichen Erinnerung des Vergange- nen, ungefähren Anticipation des Zukünftigen und eben dadurch allseitigen Uebersicht des individuellen Lebens, des eigenen, des fremden, ja des Daseyns 734 überhaupt. Wirklich ist das Leben jeder Thierspecies, die Jahrtausende ihrer Existenz hindurch, gewisser- maassen einem einzigen Augenbhcke gleich: denn es ist blosses Bewusstseyn der Gegemvart, ohne das der Vergangenheit und der Zukunft, mithin des Todes. In diesem Sinne ist es anzusehen als ein beharrender Augenblick, ein Nunc stans. — Hier sehen wir, bei- läufig, am deutlichsten, dass überhaupt die Form des Lebens, oder der Erscheinung des Willens mit Be- wusstseyn, zunächst und unmittelbar bloss die Gegen- wart ist : Vergangenheit und Zukunft kommen allein beim Menschen und zwar bloss im Begriff hinzu, wer- den in abstracto erkannt und allenfalls durch Bilder der Phantasie erläutert. — Nachdem also der Wille zum Leben, d. h. das innere Wesen der Natur, in rastlosem Streben nach vollkommener Objektivation und vollkommenem Genuss, die ganze Reihe der Thiere durchlaufen hat, — welches oft in den mehrfachen Absätzen successiver, stets von Neuem anhebender Thierreihen auf dem selben Planeten geschieht; — kommt er zuletzt in dem mit Vei^nunft ausgestatteten Wesen, im Menschen, zur Besinnung. Hier nun fängt die Sache an ihm bedenklich zu werden, die Frage dringt sich ihm auf, woher und wozu das Alles sei. und hauptsächlich, ob die Mühe und Noth seines Le- bens und Strebens wohl durch den Gewinn belohnt werde? le jeu vaut-il bien la chandelle? — Demnach ist hier der Punkt, wo er, beim Lichte deutlicher Er- kenntniss, sich zur Bejahung oder Verneinung des Willens zum Leben entscheidet ; wiewohl er sich Letz- tere, in der Regel, nur in einem mythischen Gewände zum Bewusstseyn bringen kann. — Wir haben dem- zufolge keinen Grund, anzunehmen, dass es irgendwo noch zu höher gesteigerten Objektivationen des Willens komme; da er hier schon an seinem Wendepunkte angelangt ist. 735 KAPITFX 46*). VON DER NICHTIGKEIT UND DEM LEIDEN DES LEBENS. AUS der Nacht der Bewusstlosigkeit zum Leben er- wacht findet derWille sich als Individuum, in einer end- und gränzenlosen Welt, unter zahllosen Indivi- duen, alle strebend, leidend, irrend; und wie durch einen bangen Traum eilt er zin-ück zur alten Bewusst- losigkeit. — Bis dahin jedoch sind seine Wünsche gränzenlos, seine Ansprüche unerschöpflich, und jeder befriedigte Wunsch gebiert einen neuen. Keine auf der Welt mögliche Befriedigung könnte hinreichen, sein Verlangen zu stillen, seinem Begehren ein end- liches Ziel zu setzen und den bodenlosen Abgrund seines Herzens auszufüllen. Daneben nun betrachte man, was dem Menschen, an Befriedigungen jeder Art, in der Regel, wird: es ist meistens nicht mehr, als die, mit unablässiger Mühe und steter Sorge, im Kampf mit der Noth, taglich errungene, kärgliche Erhaltung dieses Daseyns selbst, den Tod im Prospekt. — Alles im Leben giebt kund, dass das irdische Glück bestimmt ist, vereitelt oder als eine Illusion erkannt zu werden. Hiezu liegen tief im W^esen der Dinge die Anlagen. Demgemäss fällt das Leben der meisten Menschen trübsälig und kurz aus. Die komparativ Glücklichen sind es meistens nur scheinbar, oder aber sie sind, wie die Langlebenden, seltene Ausnahmen, zu denen eine Möglichkeit übrig bleiben musste, — als Lockvogel. Das Leben stellt sich dar als ein fort- gesetzter Betrug, im Kleinen, wie im Grossen. Hat es versprochen, so hält es nicht; es sei denn, um zu zeigen, wie wenig wünschenswerth das Gewünschte war: so täuscht uns also bald die Hoffnung, bald das Ge- hoffte. Hat es gegeben; so war es, um zu nehmen. *) Dieses Kapitel bezieht sicli auf §§. 56 — Sg des ersten Ban- des. [S. 372 — 394 d. A.] Auch ist damit zu vergleichen Ka- pitel I I und I 2 des zweiten Bandes der Parerga und Parali- pomena. 736 Der Zauber der Entfernung zeigt uns Paradiese, welche wie optische Täuschungen verschwinden, wann wir uns haben hinäflfen lassen. DasGhick Hegt demgemäss stets in der Zukunft, oder auch in der Vergangenheit, und die Gegenwart ist einer kleinen dunkeln Wolke zu verjjleichen, welche der Wind über die besonnte Fläche treibt: vor ihr und hinter ihr ist Alles hell, nur sie selbst wirft stets einen Schatten. Sie ist demnach allezeit ungenügend, die Zukunft aber ungewiss, die Vergangenheit unwiederbringlicb. Das Leben, mit seinen stündlichen, täglichen, wöchentlichen und jähr- licben, kleinen, grössern und grossen Widerwärtig- keiten, mit seinen getäuschten Hoffnungen und seinen alle Berechnung vereitelnden Unfällen, trägt so deut- lich das Gepräge von etwas, das uns verleidet werden soll, dass es schwer zu begreifen ist, wie man dies hat verkennen können und sich überreden lassen, es sei da, um dankbar genossen zu werden, und der Mensch, um glücklich zu seyn. Stellt doch vielmehr jene fort- währende Täuschung und Enttäuschung, wie auch die durchgängige Beschaffenheit des Lebens, sich dar, als darauf abgeselien und berechnet, die üeberzeugung zu erwecken, dass gar nichts unsers Strebens, Treibens und Ringens werth sei, dass alle Güter nichtig seien, die Welt an allen Enden bankrott, und das Leben ein Geschäft, das nicht die Kosten deckt; — auf dass unser Wille sich davon abwende. Die Art, wie diese Nichtigkeit aller Objekte des Willens sich dem im Individuo wurzelnden Intellekt kund giebt und fasslich macht, ist yAuiäcbst die Zeit. Sie ist die Form, mittelst derer jene Nichtigkeit der Dinge als Vergänglichkeit derselben erscheint; indem, vermöge dieser, alle unsere (^enüsse und Freuden unter unsern Händen zu Nichts werden und wir nach- her verwundert fragen, wo sie geblieben seien. Jene Nichtigkeit selbst ist daher das alleinige Objektive der Zeit, d. h. das ihr im Wesen an sich der Dinge Ent- sprechende, also Das, dessen Ausdruck sie ist. Deshalb eben ist die Zeit die a priori nothwendige Form aller unserer Anschauungen: in ihr muss sich Alles dar- stellen, auch wir selbst. Demzufolge gleicht nun zu- 47 Schopenhauer II 7 7 nächst unser Leben einer Zahlung, die man in lauter Kupferpfennigen zugezählt erhält und dann doch quit- tieren muss; es sind die Tage; die Quittung ist der Tod. Denn zuletzt verkündigt die Zeit den Ürtheils- spruch der Natur über den Werth aller in ihr er- scheinenden Wesen, indem sie sie vernichtet: Und das mit Recht : denn Alles was entsteht, Ist werth, dass es zu Grunde geht. Drum besser wär's, dass nichts entstünde. So sind denn Alter und Tod, zu denen jedes Leben nothwendig hineilt, das aus den Händen der Natur selbst erfolgende Verdammungsurtheil über den Willen zum Leben, welches aussagt, dass dieser Wille ein Streben ist, dass sich selbst vereiteln muss. „Was du gewollt hast", spricht es, ,, endigt so: wolle etwas Besseres." — Also die Belehrung, welche Jedem sein Leben giebt, besteht im Ganzen darin, dass die Gegen- stände seiner Wünsche beständig täuschen, wanken und fallen, sonach mehr Quaal als Freude bringen, bis endlich sogar der ganze Grund und Boden, auf dem sie sämmtlich stehen, einstürzt, indem sein Leben selbst vernichtet wird und er so die letzte Bekräftigung erhält, dass all sein Streben und Wollen eine Ver- kehrtheit, ein Irrweg war: Then old age and experience, hand in hand, Lcad him to death, and niake him understand, After a search so painfui and so long, That all his life he has been in thewrong*). Wir wollen aber noch auf das Specielle der Sache eingehen; da diese Ansichten es sind, in denen ich den meisten Widerspruch erfahren habe. — Zuvörderst habe ich die im Texte gegebene Nachweisung der Negativität aller Befriedigung, also alles Genusses und alles Glückes, im Gegensatz der Positivität des Schmer- zes noch durch Folgendes zu bekräftigen. *) Bis Alter und Erfahrung, Hand in Hand, Zum Tod' ihn führen und er hat erkannt, Dass, nach so langem, mühevollen Streben, Er Unrecht hatte, durch sein ganzes Leben. -738 Wir fühlen den Schmerz, aber nicht die Schmerz- losigkeit; wir fühlen die Sorge, aber nicht die Sorg- losigkeit; die Furcht, aber nicht die Sicherheit. Wir fühlen den Wunsch, wie wir Hunger und Durst fühlen ; sobald er aber erfüllt worden, ist es damit, wie mit dem genossenen Bissen, der in dem Augenblick, da er verschluckt wird, für unser Gefühl dazuseyn auf- hört. Genüsse und Freuden vermissen wir schmerzlich, sobald sie ausbleiben: aber Schmerzen, selbst wenn sie nach langer Anwesenheit ausbleiben, werden nicht unmittelbar vermisst, sondern höchstens wird absicht- lich, mittelst der Reflexion, ihrer gedacht. Denn nur Schmerz und Mangel können positiv empfunden wer- den und kündigen daher sich selbst an: das Wohlseyn hingegen ist bloss negativ. Daher eben werden wir der drei grössten Güter des Lebens, Gesundheit, Jugend und Freiheit, nicht als solcher inne, so lange wir sie besitzen ; sondern erst nachdem wir sie verloren haben : denn auch sie sind Negationen. Dass Tage unsers Le- bens glücklich waren, merken wir erst, nachdem sie unglücklichen Platz gemacht haben. — In dem Maasse, als die Genüsse zunehmen, nimmt die Empfänglich- keit für sie ab: das Gewohnte wird nicht mehr als Genuss empfunden. Eben dadurch aber nimmt die Empfänglichkeit für das Leiden zu: denn das Weg- fallen des Gewohnten wird schmerzlich gefühlt. Also wächst durch den Besitz das Maass des Nothwendigen, und dadurch die Fähigkeit Schmerz zu empfinden. — Die Stunden gehen desto schneller hin, je angenehmer; desto langsamer, je peinlicher sie zugebracht werden: weil der Schmerz, nicht der Genuss das Positive ist, dessen Gegenwart sich fühlbar macht. Eben so wer- den wir bei der Langenweile der Zeit inne, bei der Kurzweil nicht. Beides beweist, dass unser Daseyn dann am glücklichsten ist, wann wir es am wenigsten spüren : woraus folgt, dass es besser wäre, es nicht zu haben. Grosse, lebhafte Freude lässt sich schlechter- dings nur denken als Folge grosser vorhergegangener Noth: denn zu einem Zustande dauernder Zufrieden- heit kann nichts hinzukommen, als etwas Kurzweil, oder auch Befriedigung der Eitelkeit. Darum sind alle 47* 7^9 Dichter genöthigt, ihre Helden in ängstliche und pein- liche Lagen zu bringen, um sie daraus wieder befreien zu können : Drama und Epos schildern demnach durch- gängig nur kämpfende, leidende, gequälte Menschen, und jeder Roman ist ein Guckkasten, darin man die Spasmen und Konvulsionen des geängstigten mensch- lichen Herzens betrachtet. Diese ästhetisclie Nothwen- digkeit hat fValter Scott naiv dargelegt in der „Kon- klusion" zu seiner Novelle Old mortality. — Ganz in Ilebereinstimmung mit der von mir bewiesenen Wahr- heit sagt auch der von Natur und Glück so begünstigte Voltaire: le bonheur n'est qu'un reve, et la douleur est reelle; und setzt hinzu: il y a quatre-vingts ans que je Teprouve, Je n'y sais autre chose que me resig- ner, et me dire que les mouches sont nees pour etre mangees par les araignees, et les hommes pour etre devores par les chagrins. Ehe man so zuversichtlich ausspricht, dass das Le- ben ein wünschenswerthes, oder dankeuswerthes Gut sei, vergleiche man ein Mal gelassen die Summe der nur irgend möglichen Freuden, welche ein Mensch in seinem Leben geniessen kann, mit der Summe der nur irgend möglichen Leiden, die ihn in seinem Le- ben treffen können. Ich glaube, die Bilanz wird nicht schwer zu ziehen seyn. Im Grunde aber ist es ganz überflüssig, zu streiten, ob des Guten oder des Uebeln mehr auf der Welt sei: denn schon das blosse Daseyn des Uebels entscheidet die Sache ; da dasselbe nie durch das daneben oder danach vorhandene Gut getilgt, mithin auch nicht ausgeglichen werden kann: Mille piacer' non vagliono un tormento *). Pelr. Denn, dass Tausende in Glück und Wonne gelebt hätten, höbe ja nie die Angst und Todesmarter eines Einzigen auf: und eben so wenig macht mein gegen- wärtiges Wohlseyn meine frühern Leiden ungeschehen. W^enn daher des Uebeln auch hundert Mal weniger auf der Welt wäre, als der Fall ist; so wäre dennoch das blosse Daseyn desselben hinreichend, eine Wahr- ') Tausend Genüsse sind nicht eine Quaal werth. 74o heitzu begründen, welche sich auf verschiedene Weise, wiewohl immer nur etwas indirekt ausdrücken lässt, nämlich, dass wir über das Daseyn der Welt uns nicht zu freuen, vielmehr zu betrüben haben; — dass ihr Nichtseyn ihrem Daseyn vorzuziehen wäre; — dass sie etwas ist, das im Grunde nicht seyn sollte; u. s. f. Ueberaus schön ist Byrons Ausdruck der Sache: Our life is a false nature, — 'tis not in The harmony of things, this hard decree, This uneradicable taint of sin, This boundless Upas, this all-blasting tree Whose root is earth, wliose leaves and branches be The skies, which rain their plagues on men üke dew — Disease, death, bondage — all the woes \ve see — And worse, the woes we see not — which throb through The immedicable soul, with hearth-aches ever new*). Wenn die Welt und das Leben Selbstzweck seyn und demnach theoretisch keiner Rechtfertigung, prak- tisch keiner Entschädigung oder Gutmachung be- dürfen sollten, sondern dawären, etwan wie Spinoza und die heutigen Spinozisten es darstellen, als die einzige Manifestation eines Gottes, der animi causa, oder auch um sich zu spiegeln, eine solche Evolution mit sich selber vornähme, mithin ihr Daseyn weder durch Gründe gerechtfertigt, noch durch Folgen aus- gelöst zu werden brauchte; — dann müssten nicht etwan die Leiden und Plagen des Lebens durch die Genüsse und das Wohlseyn in demselben völlig aus- geglichen werden ; — da dies, wie gesagt, unmöglich ist, weil mein gegenwärtiger Schmerz durch künftige Freuden nie aufgehoben wird, indem diese ihre Zeit ') Unser Leben ist falscher Art: in der Harmonie der Dinge kann es nicht liegen, dieses harte Verhängniss, diese unaus- rottbare Seuche der Sünde, dieser gränzenlose Upas, dieser Alles vergiftende Baum, dessen Wurzel die Erde ist, dessen Blätter und Zweige die Wolken sind, welche ihre Plagen auf die Menschen herabregnen, wie Thau, — Krankheit, Tod, Knechtschaft, — all das Wehe, welches wir sehen, — und, was schlimmer, das Wehe, welches wir nicht sehen, — und welches die unheilbare Seele durchwallt, mit immer neuem Gram. 74. füllen, wie er seine; — sondern es müsste ganz und gar keine Leiden geben und auch der Tod niclit seyn, oder nichts Sclireckhches für uns haben. Nur so würde das Leben für sich selbst bezahlen. Weil nun aber unser Zustand vielmehr etwas ist, das besser nicht wäre; so trägt Alles, was uns unigiebt, die Spur hievon — gleich wie in der Hölle Alles nach Schwefel riecht, — indem Jegliches stets unvollkom- men und trüglich, jedes Angenehme mit Unangeneh- mem versetzt, jeder Genuss immer nur ein halber ist, jedes Vergnügen seine eigene »Störung, jede Erleich- terung neue Beschwerde herbeiführt, jedes Hülfsmittel unserer täglichen und stündlichen Noth uns alle Augen- blicke im Stich lässt und seinen Dienst versagt, die Stufe, auf welche wir treten, so oft unter uns blicht, ja, Unfälle, grosse und kleine, das Element unsers Lebens sind, und wir, mit Einem Wort, dem Phineus gleichen, dem die Harpyen alle Speisen besudelten und ungeniessbar machten. Zwei Mittel werden da- gegen versucht: eistlich die suXaßsia, d. i. Klugheit, Vorsicht, Schlauheit: sie lernt nicht aus und reicht nicht aus und wird zu Schanden. Zweitens, der Stoische Gleichmuth, welcher jeden Unfall entwaffnen will, durch Gefasstseyn auf alle und Verschmähen von Allem: praktisch wird er zur kynischen Entsagung, die lieber, ein für alle Mal, alle Hülfsmittel und Er- leichterungen von sich wirft : sie macht uns zu Hunden, wie den Diogenes in der Tonne. Die Wahrheit ist: wir sollen elend seyn, und sind's. Dabei ist die Haupt- quelle der ernstlichen Uebel, die den Menschen trellfen, der Mensch selbst: homo homini lupus. Wer dies Letztere recht ins Auge fasst, erblickt die Welt als eine Hölle, welche die des Dante dadurch übertrifft, dass Einer der Teufel des Andern seyn muss; wozu denn freilich Einer vor dem Andern geeignet ist, vor Allen wohl ein Erzteufel, in Gestalt eines Eroberers auftretend, der einige Hundert Tausend Menschen einander gegenüberstellt und ihnen zuruft: „Leiden und Sterben ist euere Bestinunung: jetzt schiesst mit Flinten und Kanonen auf einander los!" und sie thun es. — Ueberhaupt aber bezeichnen, in der Regel, Un- 742 gerechtigkeit, äusserste Unbilligkeit, Härte, ja Grau- samkeit, die Handlungsweise der Menschen gegen einander: eine entgegengesetzte tritt nur ausnahms- weise ein. Hierauf beruht die Nothwendigkeit des Staates und der Gesetzgebung und nicht auf euern F'lausen. Aber in allen Fällen, die nicht im Bereich der Gesetze liegen, zeigt sich sogleich die dem Men- schen eigene Rücksichtslosigkeit gegen seines Gleichen, welche aus seinem gränzenlosen Egoismus, mitunter auch aus Bosheit entspringt. Wie der Mensch mit dem Menschen verfährt, zeigt z. B. die Negersklaverei, deren Endzweck Zucker und Kaffee ist. Aber man braucht nicht so weit zu gehen: im Alter von fünf Jahren ein- treten in die Garnspinnerei, oder sonstige Fabrik, und von Dem an erst lo, dann 12, endlich i4 Stunden täglich darin sitzen und die selbe mechanische Arbeit verrichten, heisst das Vergnügen, Athem zu holen, theuer erkaufen. Dies aber ist das Schicksal von Mil- lionen, und viele andere Millionen haben ein analoges. Uns Andere inzwischen vermögen geringe Zufälle vollkommen unglücklich zu machen; vollkommen glücklich, nichts auf der Welt. Was man auch sagen mag, der glücklichste Augenblick des Glücklichen ist doch der seines Einschlafens, wie der unglücklichste des Unglücklichen der seines Erwachens. — Einen indirekten, aber sichern Beweis davon, dass die Men- schen sich unglücklich fühlen, folglich es sind, liefert, zum Ueberfluss, auch noch der Allen einwohnende, grimmige Neid, der, in allen Lebensverhältnissen, auf Anlass jedes Vorzugs, welcher Art er auch seyn mag, rege wird und sein Gift nicht zu halten vermag. Weil sie sich unglücklich fühlen, können die Menschen den Anblick eines vermeinten Glücklichen nicht er- tragen: wer sich momentan glücklich fühlt, möchte sogleich Alles um sich herum beglücken, und sagt: Que tout le monde ici soit heureux de ma joie. Wenn das Leben an sich selbst ein schätzbares Gut und dem Nichtseyn entschieden vorzuziehen wäre; so brauchte die Ausgangspforte nicht von so entsetz- lichen Wächtern, wie der Tod mit seinen Schrecken ist, besetzt zu seyn. Aber wer würde im Leben, wie es ist, ausharren, wenn der Tod minder schrecklich wäre? — Und wer könnte auch nur den Gedanken des Todes ertragen, wenn das Leben eine Freude wäre ! So aber hat jener immer noch das Gute, das Knde des Lebens zu seyn, und wir trösten uns über die Leiden des Lebens mit dem Tode, und über den Tod mit den Leiden des Lebens. Die Wahrheit ist, dass Beide unzertrennht:h zusammenjjehören, indem sie ein Irrsal ausmachen, von welchem zurückzukommen so schwer, wie wünschenswerth ist. Wenn die Welt nicht etwas wäre, das, praktisch ausgedrückt, nicht seyn sollte; so würde sie auch nicht theoretisch ein Problem seyn: vielmehr würde ihr Da- seyn entweder gar keiner Erklärung bedürfen, indem es sich so gänzlich von selbst verstände, dass eine Ver- wunderung darüber und Frage danach in keinem Kopfe aufsteigen könnte; oder der Zweck desselben würde sich unverkennbar darbieten. Statt dessen aber ist sie sogar ein unauflösliches Problem ; indem selbst die vollkommenste Philosophie stets noch ein unerklär- tes Element enthalten v\ ird, gleich einem unauflösli- chen Niederschlag, oder dem Rest, w eichen das irratio- nale Verhältniss zweier Grössen stets übrig lässt. Daher, wenn Einer wagt, die Frage aufzuwerfen, warum nicht lieber gar nichts sei, als diese Welt; so lässt die Welt sich nicht aus sich selbst rechtfertigen, kein Grund, keine Endursache ihres Daseyns in ihr selbst finden, nicht nachweisen, dass sie ihrer selbst wegen, d. h. zu ihrem eigenen Vortheil dasei. — Dies ist, meiner Lehre zufolge, freilich daraus erklärlich, dass das Princip ihres Dasevns ausdrücklich ein grundloses ist, nämlich blinder Wille ziun Leben, welcher, als Ding an sich, dem Satz vom Grunde, der bloss die Form der Erscheinungen ist und durch den allein jedes Warum berechtigt ist, nicht unterworfen seyn kann. Dies stimmt aber auch zur Beschaffenheit der W^elt: denn nur ein blinder, kein sehender Wille konnte sich selbst in die Lage versetzen, in der wir uns erblicken. Ein sehender Wille würde vielmehr bald den Ueber- schlag gemacht haben, dass das Geschäft die Kosten 744 nicht deckt, indem ein so gewaltiges Streben und Ringen, mit Anstrengung aller Kräfte, unter steter Sorge, Angst und Noth, und bei unvermeidlicher Zer- störung jedes individuellen Lebens, keine Entschädi- gung findet in dem so errungenen, ephemeren, unter unsern Händen zu nichts werdenden Daseyn selbst. Daher eben verlangt die Erklärung der Welt aus einem Anaxagorischen vou«;, d. h. aus einem von Er- kenntniss geleiteten Willen, zu ihrer Beschönigung, nothwendig den Optimismus, der alsdann, dem laut schreienden Zeugniss einer ganzen Welt voll Elend zum Trotz, aufgestellt und verfochten wird. Da wird denn das Leben für ein Geschenk ausgegeben, während am Tage liegt, dass Jeder, wenn er zum voraus das Geschenk hätte besehen und prüfen dürfen, sich dafih' bedankt haben würde; wie denn auch Lessing den Verstand seines Sohnes bewunderte, der, weil er durch- aus nicht in die W^elt hineingewollt hätte, mit der Geburtszange gewaltsam hinein gezogen werden musste, kaum aber darin, sich eilig wieder davonmachte. Da- gegen wird dann wohl gesagt, das Leben solle, von einem Ende zum andern, auch nur eine Lektion seyn, worauf aber Jeder antworten könnte: „so wollte ich eben deshalb, dass man mich in der Ruhe des allge- nugsamen Nichts gelassen hätte, als wo ich weder Lektionen, noch sonst etwas nöthig hatte." Würde nun aber gar noch hinzugefügt, er solle einst von jeder Stunde seines Lebens Rechenschaft ablegen; so wäre er vielmehr berechtigt, selbst erst Rechenschaft zu fordern darüber, dass man ihn, aus jener Ruhe weg, in eine so missliche, dunkele, geängstete und peinliche Lage versetzt hat. — Dahin also führen falsche Grund- ansichten. Denn das menschliche Daseyn, weit entfernt den Charakter eines Geschenks zu tragen, hat ganz und gar den einer kontrahirten Schuld. Die Einforderung derselben erscheint in Gestalt der, durch jenes Daseyn gesetzten, dringenden Bedürfnisse, quälenden Wünsche und endlosen Noth. Auf Abzahlung dieser Schuld wird, in der Regel, die ganze Lebenszeit verwendet: doch sind damit erst die Zinsen getilgt. Die Kapital- abzahlung geschieht durch den Tod. — Und wann w urde diese Schuld kontrahirt ? — Bei der Zeu(jung, — Wenn man demgemäss den Menschen ansieht als ein Wesen, dessen Daseyn eine Strafe und Busse ist; — so erblickt man ihn in einem schon richtifjeren Lichte. Der Mythos vom Sündenfall (obwohl wahrscheinlich, wie das ganze Judenthum, dem Zend-Avesta entlehnt: Bun-Dehesch, i5) ist das Einzige im A. T., dem ich eine metaphysische, wenngleich nur allegorische Wahr- heit zugestehen kann; ja, er ist es allein, was mich mit dem A. T. aussöhnt. Nichts Anderem nämlich sieht unser Daseyn so ähnlich, wie der Folge eines Fehltritts und eines strafbaren Gelüstens. Das neu- testamentliche Christenthum, dessen ethischer Geist der des Brahmanismus und Buddhaismus, daher dem übrigens optimistischen des Alten Testaments sehr fremd ist, hat auch, höchst weise, gleich an jenen Mythos angeknüpft: ja, ohne diesen hätte es im Ju- denthum gar keinen Anhaltspunkt gefunden. — Will man den Grad von Schuld, mit dem unser Daseyn selbst behaftet ist, ermessen; so blicke man auf das Leiden, welches mit demselben verknüpft ist. Jeder grosse Schmerz, sei er leiblich oder geistig, sagt aus, was wir verdienen: denn er könnte nicht an uns kommen, wenn wir ihn nicht verdienten. Dass auch das Christenthum unser Daseyn in diesem Lichte er- blickt, bezeugt eine Stelle aus Luthers Kommentar zu Galat., c. 3, die mir nur lateinisch vorliegt: Sinnus autem nos omnes corporibus et rebus subjecti Diabo- lo, et hospites sumus in mundo, cujus ipse princeps et Deus est. Ideo panis, quem edimus, potus, quem bibimus, vestes, quibus utimur, imo acr et totum quo vivimus in carne, sub ipsius imperio est. — Man hat geschrieen über das Melancholische und Trostlose meiner Philosophie: es Hegt jedoch bloss darin, dass ich, statt als Aequivalent der Sünden eine künftige Hölle zu fabeln, nachwies, dass wo die Schuld liegt, in der Welt, auch schon etwas Höllenartiges sei: wer aber dieses leugnen wollte, — kann es leicht ein Mal erfahren. Und dieser Welt, diesem Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen, welche nur dadurch beste- 746 hen, dass eines das andere verzehrt, wo daher jedes reissende Thier das lebendige Grab tausend anderer und seine Seibsterhaltung eine Kette von Martertoden ist, wo sodann mit der Eikenntniss die Fähigkeit Schmerz zu empfinden wächst, welche daher im Menschen ihren höchsten Grad erreicht und einen um so höhe- ren, je intelligenter er ist, — dieser Welt hat man das System des Optimismus anpassen und sie uns als die beste unter den möglichen andemonstriren wol- len. Die Absurdität ist schreiend. — Inzwischen heisst ein Optimist mich die Augen öffnen und hineinsehen in die Welt, wie sie so schön sei, im Sonnenschein, mit ihren Bergen, Thälern, Strömen, Pflanzen, Thie- ren u. s. f. — Aber ist denn die Welt ein Guckkasten ? Zu sehen sind diese Dinge freilich schön; aber sie zu seyn ist ganz etwas Anderes. Dann kommt ein Teleo- log und preist mir die weise Einrichtung an, vermöge welcher dafür gesorgt sei, dass die Planeten nicht mit den Köpfen gegeneinander rennen, Land und Meer nicht zum Brei gemischt, sondern hübsch aus- einandergehalten seien, auch nicht alles in beständi- gem Froste starre, noch von Hitze geröstet werde, imgleichen, in Folge der Schiefe der Ekliptik, kein ewiger Frühling sei, als in welchem nichts zur Reife gelangen könnte u. dgl. m. — Aber Dieses und alles Aehnliche sind ja blosse conditiones sine quibus non. Wenn es nämlich überhaupt eine Welt geben soll, wenn ihre Planeten wenigstens so lange, wie der Lichtstrahl eines entlegenen Fixsterns braucht, um zu ihnen zu gelangen, bestehen und nicht, wie Les- sings Sohn, gleich nach der Geburt wieder abfahren sollen; — da durfte sie freilich nicht so ungeschickt gezimmert seyn, dass schon ihr Grundgerüst den Ein- sturz di'ohte. Aber wenn man zu den Resultaten des gepriesenen Werkes fortschreitet, die Spieler betrach- tet, die auf der so dauerhaft gezimmerten Bühne agiren, und nun sieht, wie mit der Sensibilität der Schmerz sich einfindet und in dem Maasse, wie jene sich zur Intelligenz entwickelt, steigt, wie sodann, mit dieser gleichen Schritt haltend, Gier und Leiden immer stärker hervortreten und sich steigern, bis zu- letzt das Menschenleben keinen andern Stoff darbie- tet, als den zu Tra^'ödien und Komödien, — da wird, wer nicht heuchelt, schwerlich disponirt seyn, Halle- lujahs anzustimmen. Den eigentlichen, aber verheim- lichten Ursprung dieser letzteren hat übrigens, scho- nungslos, aber mit siegender Wahrheit, David Hume aufgedeckt, in seiner Natural history of religion, Sect. 6, 7, 8 and i3. Derselbe legt auch im zehnten und elften Buch seiner Dialogues on natural religion, un- verhohlen, mit sehr triftigen und dennoch ganz an- derartigen Arjjumenten als die meinigen, die trüb- sälige Beschaffenheit dieser Welt und die Unhaltbar- keit alles Optimismus dar ; Avobei er diesen zugleich in seinem Ursprung angreift. Beide Werke Hume's sind so lesensvverth, wie sie in Deutschland heut zu Tage unbekannt sind, wo man dagegen, patriotisch, am ekelhaften Gefasel einheimischer, sich spreizender Alltagsköpfe unglaubliches Genügen findet imd sie als grosse Männer ausschreit. Jene Dialogues aber hat Hamann übersetzt, Kant hat die Uebersetzung durch- gesehen und noch im späten Alter Hamanns Sohn zur Herausgabe derselben bewegen wollen, weil die von Platner ihm nicht genügte (siehe Kants Biogra- phie von F. W. Schubert, S. 8i und i65). — Aus jeder Seite von David Hume ist mehr zu lernen, als aus Hegels, Herbarts und Schleiermachers sämmtli- chen philosophischen Werken zusammengenommen. Der Begründer des systematischen Optimismus hin- gegen ist Leibnitz, dessen Verdienste um die Philoso- phie zu leugnen ich nicht gesonnen bin, wiewohl mich in die Monadologie, prästabil irte Harmonie und identitas indis(;ernibilium eigentlich hineinzudenken, mir nie hat gelingen wollen. Seine Nouveaux essays sur Fentendement aber sind bloss ein Excerpt, mit ausführlicher, auf Berichtigung abgesehener, jedoch schwacher Kritik des mit Recht weltberühmten Wer- kes Locke s, welchem er hier mit eben so wenig Glück sich entgegenstellt, wie, durch sein gegen das Gravi- tationssystem gerichtetes Tentamen de motuum coe- lestium causis, dem Neuton. Gegen diese Leibnitz- Wolfische Philosophie ist die Kritik der reinen Ver- 748 nunft ganz speciell gerichtet und hat zu ihr ein pole- misches, ja, vernichtendes Verhältniss; wie zu Locke und Hmne das der Fortsetzung und Weiterbildung. Dass heut zu Tage die Philosophieprofessoren allsei- tig bemüht sind, den Lcibnitz, mit seinen Flausen, wieder auf die Beine zu bringen, ja, zu verherrlichen, und andererseits Kanten möglichst gering zu schätzen und bei Seite zu schieben, hat seinen guten Grund im primum vivere: die Kritik der reinen Vernunft lässt nämlich nicht zu, dass man Jüdische Mythologie für Philosophie ausgebe, noch auch, dass man, ohne Umstände, von der „Seele" als einer gegebenen Re- alität, einer wohlbekannten und gut ackreditirten Person, rede, ohne Rechenschaft zu geben, wie man denn zu diesem Begriff gekommen sei und welche Berechtigung man habe, ihn wissenschaftlich zu ge- brauchen. Aber primum vivere, deinde philosophari ! Herunter mit dem Kant, vivat unser Leihnitz ! — Auf diesen also zurückzukommen, kann ich der Theodicee, dieser methodischen und breiten Entfaltung des Op- timismus, in solcher Eigenschaft, kein anderes Ver- dienst zugestehen, als dieses, dass sie später Anlass gegeben hat zum unsterblichen Candide des grossen Foltaire; wodurch freilich Leibuitzens so oft wieder- holte, lahme Exküse für die Uebel der Welt, dass nämlich das Schlechte bisweilen das Gute herbeiführt, einen ihm unerwarteten Beleg erhalten hat. Schon durch den Namen seines Helden deutete Voltaire an, dass es nur der Aufrichtigkeit bedarf, um das Gegen- theil des Optimismus zu erkennen. Wirklich macht auf diesem Schauplaz der Sünde, des Leidens und des Todes der Optimismus eine so seltsame Figur, dass man ihn für Ironie halten müsste, hätte man nicht an der von Hume, wie oben erwähnt, so ergötz- lich aufgedeckten geheimen Quelle desselben (näm- hch heuchelnde Schmeichelei, mit beleidigendem Vertrauen auf ihren Erfolg) eine hinreichende Erklä- rung seines Ursprungs. Sogar aber lässt sich den handgreiflich sophistischen Beweisen Leibnitzens, dass diese Welt die beste unter den möglichen sei, ernstlich und ehrlich der Beweis 749 entgegenstellen, dass sie die schlechteste unter den möglichen sei. Denn Möglich heisst nicht was Einer etwan sich vorphantasiren mag, sondern was wirklich existiren und hestehen kann. Nun ist diese Welt so eingerichtet, wie sie seyn musste, um mit genauer Noth bestehen zu können: wäre sie aber noch ein wenig schlechter, so könnte sie schon nicht mehr be- stehen. Folglich ist eine schlechtere, da sie nicht be- stehen könnte, gar nicht möglich, sie selbst also unter den möglichen die schlechteste. Denn nicht bloss wenn die Planeten mit den Köpfen gegen einander rennten, sondern auch wenn von den wirklich ein- tretenden Perturhationen ihres Laufes irgend eine, statt sich durch andere allmälig wieder auszugleichen, in der Zunahme beharrte, würde die Welt bald ihr Ende erreichen: die Astronomen wissen, von wie zu- fölligen Umständen, nämlich zumeist vom irrationalen Verhältniss der ümlaufszeiten zu einander, Dieses abhängt, und haben mühsam herausgerechnet, dass es immer noch gut abgehen wird, mithin die Welt so eben stehen und gehen kann. Wir wollen, wiewohl Neuton entgegengesetzter Meinung war, hoffen, dass sie sich nicht verrechnet haben, und mithin das in so einem Planetensystem verwirklichte mechanische perpetuum mobile nicht auch, wie die übrigen, zuletzt in Stillstand gerathen werde. — Unter der festen Rinde des Planeten nun wieder hausen die gewaltigen Naturkräfte, welche, sobald ein Zufall ihnen Spiel- raum gestattet, jene, n)it allem Lebenden darauf, zerstören müssen; wie dies auf dem unserigen wenig- stens schon drei Mal eingetreten ist und wahrschein- lich noch öfter eintreten wird. Ein Erdbeben von Lissabon, von Haity, eine Verschüttung vom Pom- peji sind nur kleine, schalkhafte Anspielungen auf die Möglichkeit. — Eine geringe, chemisch gar nicht ein Mal nachweisbare Alteration der Atmosphäre verur- sacht Cholera, gelbes Fieber, schwarzen Tod u. s. w., welche Millionen Menschen wegraffen: eine etwas grössere würde alles Leben auslöschen. Eine sehr massige Erhöhung der Wärme würde alle Flüsse und Quellen austrocknen. — Die Thiere haben an Or- 750 ganen und Kräften genau und knapp so viel erhalten, wie zur Herbeischaffung ihres Lebensunterhalts und Auffütterung der Brut, unter äusserster Anstrengung, ausreicht; daher ein Thier, wenn es ein Glied, oder auch nur den vollkommenen Gebrauch desselben, verliert, meistens umkommen muss. Selbst vom Men- schengeschlecht, so mächtige Werkzeuge es an Ver- stand und Vernunft auch hat, leben neun Zehntel in beständigem Kampfe mit dem Mangel, stets am Rande des Untergangs, sich mit Noth und Anstrengung über demselben balancirend. Also durchweg, wie zum Be- stände des Ganzen, so auch zu dem jedes Einzelwesens sind die Bedingungen knapp und kärglich gegeben, aber nichts darüber: daher geht das individuelle Le- ben in unaufhörlichem Kampfe um die Existenz selbst hin; während bei jedem Schritt ihm Untergang droht. Eben weil diese Drohung so oft vollzogen wird, musste, durch den unglaublich grossen Ueberschuss der Keime, dafür gesorgt seyn, dass der Untergang der Individuen nicht den der Geschlechter herbei- führe, als an welchen allein der Natur ernstlich ge- legen ist. — Die Welt ist folglich so schlecht, wie sie möglicherweise seyn kann, wenn sie überhaupt noch seyn soll. W. z. b. w. — Die Versteinerungen der den Planeten ehemals bewohnenden, ganz anderartigen Thiergeschlechter liefern uns, als Rechnungsprobe, die Dokumente von Welten, deren Bestand nicht mehr möglich war, die mithin noch etwas schlechter waren, als die schlechteste unter den möglichen. Der Optimismus ist im Grunde das unberechtigte Selbstlob des eigentlichen Urhebers der Welt, des Willens zum Leben, der sich wohlgefällig in seinem Werke spiegelt: und demgemäss ist er nicht nur eine falsche, sondern auch eine verderbliche Lehre. Denn er stellt uns das Leben als einen wünschenswerthen Zustand, und als Zweck desselben das Glück des Menschen dar. Davon ausgehend glaubt dann Jeder den gerechtesten Anspruch auf Glück und Genuss zu haben : werden nun diese, wie es zu geschehen pflegt, ihm nicht zu Theil; so glaubt er, ihm geschehe Un- recht, ja, er verfehle den Zweck seines Daseyns; — •75 I während es viel richtiger ist, Arbeit, Entbehrung, Noth und Leiden, gekrönt durch den Tod, als Zweck un- sers Lebens zu betrachten (wie dies Brahrnanismus und ßuddhaismus, und auch das ächte Christenthum thun); weil diese es sind, die zur Verneinung des Willens zum Leben leiten. Im Neuen Testamente ist die Welt dargestellt als ein Jammerthal, das Leben als ein Läuterungsprocess, und ein Marterinstrument ist das Svmbol des Ghristenthums. Daher beruhte, als Leibnitz, Shaftsbiiry, Bolingbroke und Pope mit dem Optimismus hervortraten, der Anstoss, den man all- gemein daran nahm, hauptsächlich darauf, dass der Optimismus mit dem Christenthum unvereinbar sei; wie dies Foltaire, in der Vorrede zu seinem vortreff- lichen Gedichte Le desastre de Lisbonne, welches ebenfalls ausdrücklich gegen den Optimismus gerichtet ist, berichtet und erläutert. Was diesen grossen Mann, den ich, den Schmähungen feiler Deutscher Tinten- klexer gegenüber, so gern lobe, entschieden höher als Rousseau stellt, indem es die grössere Tiefe seines Denkens bezeugt, sind drei Einsichten, zu denen er gelangt war: i) die von der überwiegenden Grösse des Uebels und vom Jammer des Daseyns, davon er tief durchdrungen ist; 2) die von der strengen Neces- sitation der Willensakte; 3) die von der Wahrheit des XocAe sehen Satzes, dass möglicherweise das Den- kende auch materiell seyn könne; während Rousseau alles Dieses durch Deklamationen bestreitet, in seiner Profession de foi du vicaire Savovard, einer flachen protestantischen Pastorenphilosophie; wie er denn auch, in eben diesem Geiste, gegen das soeben er- wähnte, schöne Gedicht Voltaires mit einem schiefen, seichten und logisch falschen Räsonnement, zu Gunsten des Optimismus, polemisirt, in seinem, bloss diesem Zweck gewidmeten, langen Briefe an Voltaire, vom 18. August 1756. Ja, der Grundzug und das irpcuTOV <{>suooi; der ganzen Philosophie Rousseau s ist Dieses, dass er an die Stelle der christlichen Lehre von der Erbsünde und der ursprünglichen Verderbtheit des Menschengeschlechts, eine ursprüngliche Güte und unbegrenzte Perfektibilität desselben setzt, welche 762 bloss durch die Civilisation und deren Folgen auf Abwege gerathen wäre, und nun darauf seinen Opti- mismus und Humanismus gründet. Wie gegen den Optimismus Voltaire, im Candide, den Krieg in seiner scherzhaften Manier führt, so hat es in seiner ernsten und tragischen Byron gethan, in seinem unsterblichen Meisterwerke Kam, weshalb er auch durch die Invektiven des Obskuranten Friedrich Schlegel verherrlicht worden ist. — Wollte ich nun schliesslich, zur Bekräftigung meiner Ansicht, die Aussprüche grosser Geister aller Zeiten, in diesem, dem Optimismus entgegengesetzten Sinne, hersetzen; so würde der Anführungen kein Ende seyn; da fast jeder derselben seine Erkenntniss des Jammers dieser Welt in stai'ken Worten ausgesprochen hat. Also nicht zur Bestätigung, sondern bloss zur Verzierung dieses Kapitels mögen am Schlüsse desselben einige Aus- sprüche dieser Art Platz finden. Zuvörderst sei hier erwähnt, dass die Griechen, so weit sie auch von der Christlichen und Hochasiatischen Weltansicht entfernt waren und entschieden auf dem Standpunkt der Bejahung des Willens standen, den- noch von dem Elend des Daseyns tief ergriffen waren. Dies bezeugt schon die Erfindung des Trauerspiels, welche ihnen angehört. Einen andern Beleg dazu giebt uns die, nachmals oft erwähnte, zuerst von Herodot (V, 4) erzählte Sitte der Thrakier, den Neugeborenen mit Wehklagen zu bewillkommnen, und alle Uebel, denen er jetzt entgegengehe, herzuzählen; dagegen den Todten mit Freude und Schmerz zu bestatten, weil er so vielen und grossen Leiden nunmehr ent- gangen sei; welches in einem schönen, von Plutarch (De audiend. poet. in fine) uns aufbehaltenen Verse, so lautet; Tov cpuvia &p7]V£iv, ei? ho ep^^eiat xaxa* Tov o' au davovta xai irovcov TcsTrau|j.evov Xaipovta? sucpir]|xouvTa? exueixireiv oojxcuv. (Lugere gcnitum, tanta qui intrarit mala; At morte si quis finiisset miserias, Hunc laude amicos atque iaetitia exsequi.) 48 Schopenhauer II "yj J Nicht historischer Verwandtschaft, sondern niora- hscher Identität der Sache ist es beizumessen, dass die Mexikaner dns Nenfjeborene mit den Worten he- vvillkonunneten: ,,Mein Kind, du liist zum Dulden {jehoren: also dulde, leide luid schweig." Und dem selben Gefühle folgend hat Swift (wie Walter Scott in dessen Leben berichtet) schon früh die Gewohn- lieit angenommen, seinen Geburtstajj nicht als einen Zeitpunkt der Freude, sondern der lielrübniss zu be- gehen, und an demselben die Bibelstelle zu lesen, in welcher Hiob den Tag bejammert und verflucht, an welchem es in seines V^aters Hause hiess: es sei ein Sohn geboren. Bekannt und zum Abschreiben zu lang ist die Stelle in der Apologie des Sokrates, wo Plato diesen wei- sesten der Sterblichen sagen lässt, dass der Tod, selbst wenn er uns auf immer das Bewusstseyn raubte, ein wundervoller Gewinn seyn würde, da ein tiefer, traum- loser Schlaf jedem Tage, auch des beglücktesten Le- bens, vorzuziehen sei. Ein Spruch des Herakleitos lautete: T«) ouv ßi{p ovo[xa |xev ßto?, ep^ov os Oavato?. (Vitac noincn qiiideni est vita, opus autem inors. Etymologicum magnum, voce ßio?; auch Eustath. ad Iliad., I, p. 3i.) Berühmt ist der schöne Vers des Theognis: Ap)(7]V ijLSv [AT] «puvai ETri)(^ovioiaiv apio-ov, Mr]o' sioiosiv auyai; o^£o<; tjsXiou' Ouvta o' OTTO)? cuxiara 7ru)^a? Aioao TrspTjoai, Kai xsio^ai uoXXtjV Yr,v eTratiTjoafievov. (Optima sors lioniini natuiii non esse, ncc unqiiain Adspcxissc (Hein, flamniiferumque jiihar. Altera jain {jcniuini dcinitti protinus Or(;o, Et pressiim nuilta inergcre corpus liunio.) Sophokles, im Oedipus zu Kolona, hat folgende Ab- kürzung desselben: Mt] cpuvat Tov otTravia vt- xcf Xo^oV TO S' STTSt cpaviQ, 75/, ßrjvat XEi&ev, 6^£V usp tjxsi, t:oXi) Ssuxepov, (ü? Ta5(i<Tra. (Niituin non esse sortes viiicit alias oirincs: proxiiiia autcin est, ubi (jiiis in lucein editus fiierit, codeui rediie, unde venit, (juain ocissime.) Euripides sagt: IIa«; 5' oSuvTjpoi; ßio? avöpcuxoiv, K' oux eoTi TTOvcuv avaTraooti;. (Oninis hominum vita est plena dolore, Nee datur laborum lemissio. Hippol. 189.) Und hat es doch schon Homer gesagt: Ou [JLSV ^ap XI TTOo eoTiv oiOjpo>T£pov avBpo? DavTcov, oaaa 6s yaiav stti Ttveei t£ xai spTiei. (iSion enim quidquani alicubi est calamitosius homine oninium, quotquot super teirani spirantque et moventur. II. XVII, 446.) Selbst Plinius sagt : Quapropter hoc primum quisque in remediis animi sui habeat, ex omnibus bonis, quae homini natura tiibuit, nulluni melius esse tempestiva niorte. (Hist. nat. 28, 2.) Shakespeare legt dem alten König Heinrich IV. die Worte in den Mund: O heaven! that one might read tlic book of fate. And see the revolution of tlie times, bovv chances mock. And changes fill the cup of alteration With divers liquors! O, if tbis were seen, The happiest youth, — vievving bis progress through, Wbat perils past, what Grosses to ensue, — Would sbut the book, and sid bim down and die'). *) O, könnte man im Scbicksalsbucbe lesen. Der Zeiten Umwälzung, des Zufalls Hohn Darin ersehn, und wie Veränderung Bald diesen Trank, bald jenen ims kredenzet, — (), wer es sab ! und wär's der frohste Jüngling, Der, seines Lebens Lauf durcbmusterend, Das Ueberstandene, das Drohende erblickte, — Er schlug' es zu, und setzt' sich hin, und stürbe. 48- 7^5 Endlich Byron: Count o'er the joys thine hours have seen, Count o'er thy days from aiifjuish free, And know, whatever thou hast been, 'Tis something better not to be*). Keiner jedoch hat diesen Gegenstand so gründhch und erschöpfend hehandelt, wie, in unsern Tagen, Leopardi. Er ist von demselhenganz erfüllt und durch- drungen: überall ist der Spott und Janimej- dieser Existenz sein Thema, auf jeder Seite seiner \V^erke stellt er ihn dar, jedoch in einer solchen Mannig- faltigkeit von Formen und Wendungen, mit solchem Reichthum an Bildern, dass er nie Ueberdruss er- weckt, vielmehr durchweg unterhaltend und erregend wirkt. KAPITEL 47"). ZUR ETHIK. HIER ist nun die grosse Lücke, welche in diesen Ergänzungen dadurch entsteht, dass ich die Mo- ral im engern Sinne bereits abgehandelt habe in den unter dem Titel: „Die Grundprobleme der Ethik" herausgegebenen zwei Preisschriften, die Bekannt- schaft mit welchen ich, wie gesagt, voraussetze, um unnütze Wiederholungen zu vermeiden. Daher bleibt mir hier nur eine kleine Nachlese vereinzelter Be- trachtungen, die dort, wo der Inhalt, der Hauptsache nach, von den Akademien vorgeschrieben war, nicht zur Sprache kommen konnten, und zwar am wenig- *) Ueberzähle die Freuden, welche deine Stunden gesehen haben; überzähle die Tage, die von Angst frei gewesen; und wisse, dass, was immer du gewesen seyn magst, es etwas Bes- seres ist, nicht zu seyn. '*) Dieses Kapitel bezieht sich auf §§.5.'), (5i, 67 des ersten Ran- des, [s. 344» 4"3, 4^2 d. A.J 756 sten die, welche einen höhern Standpunkt erfordern, als den allen gemeinsamen, auf welchem ich dort stehen zu bleiben genöthigt war. Demzufolge wird es den Leser nicht befremden, dieselben hier in einer sehr fragmentarischen Zusammenstellung zu finden. Diese nun wieder hat ihre Fortsetzung erhalten am achten und neunten Kapitel des zweiten Bandes der Parerga. — Dass moralische Untersuchungen ungleich wich- tiger sind, als physikalische, und überhaupt als alle andern, folgt daraus, dass sie fast unmittelbar das Ding an sich betreffen, nämlich diejenige Erscheinung desselben, an der es, vom Lichte der Erkenntniss un- mittelbar getroffen, sein Wesen offenbart als Wille. Physikalische Wahrheiten hingegen bleiben ganz auf dem Gebiete der Vorstellung, d. i. der Erscheinung, und zeigen bloss, wie die niedrigsten Erscheinungen des Willens sich in der Vorstellung gesetzmässig dar- stellen. — - Ferner bleibt die Betrachtung der Welt von der physisclien Seite, so weit und so glücklich man sie auch verfolgen mag, in ihren Besultaten für uns trostlos: auf der moralischen Seite allein ist Trost zu finden; indem hier die Tiefen unsers eigenen Innern sich der Betrachtung aufthun. Meine Philosophie ist aber die einzige, welche der Moral ihr volles und ganzes Recht angedeihen lässt: denn nur wenn das Wesen des Menschen sein eigener Wille., mithin er, im strengsten Sinne, sein eigenes Werk ist, sind seine Thaten wirklich ganz sein und ihm zuzurechnen. Sobald er hingegen einen andern Ursprung hat, oder das Werk eines von ihm ver- schiedenen Wesens ist, fallt alle seine Schuld zurück auf diesen Ursprung, oder Urheber, Denn operari sequitur esse. Die Kraft, welche das Phänomen der Welt her- vorbringt, mithin die Beschaffenheit derselben be- stimmt, in Verbindung zu setzen mit der Moralität der Gesinnung, und dadurch eine moralische Welt- ordnung als Grundlage der physischen nachzuweisen, — dies ist seit Sokrates das Problem der Philosophie gewesen. Der Theismus leistete es auf eine kindliche 757 Weise, welche der herangereiften Menschheit niclit genügen konnte. Daher stellte sich ihm der Pan- theismus, sobald er irgend es wagen durfte, entgegen, und wies nach, dass die Natur die Kraft, vermöge welcher sie hervortritt, in sich seihst trä{;t. Dabei musste nun aber die Ethik verloren {jehen. Spinoza versucht zwar, stellenweise, sie durch Sophismen zu retten, meistens aber giebt er sie geradezu auf und erklärt, mit einer Dreisti{jkeit, die Erstaunen und Unwillen hervorruft, den Unterschied zwischen Recht und Unrecht, und überhaupt zwischen Gutem und Bösem, für bloss konventionell, also an sich selbst nichtig (z. B, Eth., IV, prop. 37, schob 2). Ueberhaupt ist Spinoza, nachdem ihn, über hundert Jahre hin- durch, unverdiente Geringschätzung getroffen hatte, durch die Reaktion im Pendelschwung der Meinung, in diesem Jahrhundert wieder idjerschätzt worden. — Aller Pantheismus nämlich muss an den unab- weisbaren Forderungen der Ethik, und nächst dem am Uebel und dem Leiden der Welt, zuletzt scheitern. Ist die Welt eine Theophanie; so ist Alles, was der Mensch, ja, auch das Thier thut, gleich göttlich imd vortrefflich: nichts kann zu tadeln und nichts vor dem Andern zu loben seyn: also keine Ethik. Daher eben ist man in Folge des erneuerten Spinozismus imserer Tage, also des Pantheismus, in der Ethik so tief herabgesvmken und so platt geworden, dass man aus ihr eine blosse Anleitung zu einem gehörigen Staats- und Familienleben machte, als in welchem, also im methodischen, vollendeten, geniessenden und behaglichen Philisterthum, der letzte Zweck des menschlichen Daseyns bestehen sollte. Zu dergleichen Plattheiten hat der Pantheismus freilich erst dadurch geführt, dass man (das e quovis ligno lit Mercurius arg missbrauchend) einen gemeinen Kopf, Hegel, durch die allbekannten Mittel, zu einem grossen Philosophen falschmünzte und eine Schaar Anfangs subornirter, dann bloss bornirter Jünger desselben das grosso Wort erhielt. Dergleichen Attentate gegen den menschlichen Geist bleiben nicht vmgestraft: die Saat ist aufgegangen. Im gleichen Sinne wurde dann 758 behauptet, die Ethik solle nicht das Thun der Ein- zelnen, sondern das der Volksniassen zum Stoffe ha- ben, nur dieses sei ein Thema ihrer würdig. Nichts kann verkehrter seyn, als diese, auf dem plattesten Realismus beruhende Ansicht. Denn in jedem Ein- zelnen erscheint der ganze ungetheile Wille zum Le- ben, das Wesen an sich, und der Mikrokosmos ist dem Makrokosmos gleich. Die Massen haben nicht mehr Inhalt als jeder Einzelne. Nicht vom Thun und Erfolg, sondern vom Wollen handelt es sich in der Ethik, und das Wollen selbst geht stets nur im In- dividuo vor. Nicht das Schicksal der Völker, welches nur in der Erscheinung da ist, sondern das des Ein- zelnen entscheidet sich moralisch. Die Völker sind eigentlich blosse Abstraktionen: die Individuen allein existiren wirklich. — So also verhält sich der Pan- theismus zur Ethik. — Die Uebel aber und die Quaal der Welt stimmen schon nicht zum Theismus: daher dieser durch allerlei Ausreden, Theodiceen, sich zu helfen suchte, welche jedoch den Argumenten Hiime's und Voltaire' s unrettbar unterlagen. Der Pantheismus nun aber ist jenen schlimmen Seiten der Welt gegen- über vollends unhaltbar. Nur dann nämlich, wann man die Welt ganz von Aussen und allein von der physikalischen Seite betrachtet und nichts Anderes, als die sich immer wiederherstellende Ordnung und dadurch komparative Unvergänglichkeit des Ganzen im Auge behält, geht es allenfalls, doch immer nur sinnbildlich an, sie für einen Gott zu erklären. Tritt man aber ins Innere, nimmt also die subjektive und die moralische Seite hinzu, mit ihrem Uebergewicht von Noth, liciden und Quaal, von Zwiespalt, Bosheit, Verruchtheit und Verkehrtheit; da wird man bald mit Schrecken inne, dass man nichts weniger, als eine Theophanie vor sich hat. — Ich nun aber habe ge- zeigt und habe es zumal in der Schrift ,,Vom Willen in der Natur" bewiesen, dass die in der Natur trei- bende und wirkende Kraft identisch ist mit dem Willen in uns. Dadurch tritt nun wirklich die mora- lische \Ye\ioidmin^ in unmittelbaren Zusammenhang mit der das Phänomen der Welt hervorbringenden 7^9 Kraft. Denn der Beschaffenheit des Willens muss seine Erscheinung {jenau entsprechen: hierauf beruht die, §§. 6? (^^ des ersten Bandes, gegebene Darstellung der ewigen Gerechtüjkeit, und die Welt, obgleich aus eigener Kraft bestehend, erhält durchweg eine ino- i'alisclie Tendenz. Sonach ist jetzt allererst das seit Sokrates angerejjtc Problem wirklich gelöst und die Forderun(j der denkenden, auf das Moralische {;e- richlcten Vernunft befriedigt. — Nie jedoch habe ich mich vermessen, eine Philosophie aufzustellen, die keine Fragen mehr übrig liesse. In diesem Sinne ist Philosophie wirklich unmöglich: sie wäre Allwissen- heitslehre. Aber est quadam prodire tenus, si non da- tur ultra: es giebt eine Gränze, bis zu welcher das Nachdenken vordringen und so weit die Nacht un- sers Daseyns erhellen kann, wenngleich der Horizont stets dunkel bleibt. Diese Gränze erreicht meine Lehre im Willen zum Leben, der, auf seine eigene Erschei- nung, sich bejaht oder verneint. Darüber aber noch hinausgehen wollen ist, in meinen Augen, wie über die Atmosphäre hinausfliegen wollen. Wir müssen dabei stehen bleiben; wenn gleich aus gelösten Pro- blemen neue hervorgehen. Zudem ist aber darauf zu verweisen, dass die Gültigkeit des Satzes vom Grunde sich auf die Erscheinung beschränkt: dies war das "^rhema meiner ersten, schon i8i3 herausgegebenen Abhandlung über jenen Satz. — Jetzt gehe ich an die Ergänzimgen einzelner Be- trachtungen, und will damit anfanj^en, meine §. 67 des ersten Bandes gegebene Erklärung des IFeinens, dass es nändich aus dem Mitleid, dessen Gegenstand man selbst ist, entspringt, durch ein Paar klassischer Dichterstellen zu belegen. — Am Schlüsse des aihten Gesanges der Odyssee bricht Odysseus, der bei seinen vielen Leiden nie weinend dargestellt wird, in Thrä- nen aus, als er, noch ungekannt, beim Phäaken-König vom Sänger Demodokos sein früheres Helden leben und Thaten besingen hört, indem dieses Andenken an seine {jlänzende Lebenszeit in Kontrast tritt mit seinem gegenwiütigen Elend. Also nicht dieses selbst unmittelbar, sondern die objektive Betrachtung des- 760 selben, das Bild seiner Gp(jenwart, hervorgehoben durch die Vergangenheit, ruft seine Thränen hervor: er fühlt Mitleid mit sich selbst. — Die selbe Empfin- dung lässt Eufipides den unschuldig verdammten und sein eigenes Schicksal beweinenden Hippolytos aussprechen : Oeu* £1^' 7]v epiauTOV TrpoaßXsTrsiv evavTiov oTav^, (ü? eoaxpu!;', ola 'iraoj(0[jLev xaxa. (1084.) (Heu, si liceret mihi, nie ipsum extrinsecus speciale, quanto- pere deflercin mala, qiiae patior.) Endlich mag, als Beleg zu meiner Erklärung, hier noch eine Anekdote Platz finden, die ich der Eng- lischen Zeitung „Herald" vom 16. Juli 1 836 entnehme. Ein Klient, als er vor Gericht die Darlegung seines Falls durch seinen Advokaten angehört hatte, brach in einen Strom A'on Thranen aus und rief: „Nicht halb so viel glaubte ich gelitten zu haben, bis ich es heute hier angehört habe!" - — Wie, bei der Unveränderlichkeit des Charakters, d. h. des eigentlichen GrundwoUens des Menschen, eine wirklich moralische Reue dennoch möglich sei, habe ich zwar §. 55 des ersten Bandes dargelegt, will jedoch noch die folgende Erläuterung hinzufügen, der ich ein Paar Definitionen voranschicken muss. ■ — Neigung ist jede stärkere Empfänglichkeit des Willens für Motive einer gewissen Art. Leidenschaft ist eine so starke Neigung, dass die sie anregenden Motive eine Gewalt über den Willen ausüben, welche stär- ker ist, als die jedes möglichen, ihnen entgegenwir- kenden Motivs, wodurch ihre Herrschaft über den Willen eine absolute wird, dieser folglich gegen sie sich passiv, leidend verhält. Hiebei ist jedoch zu be- merken, dass Leidenschaften den Grad, wo sie der Defi- nition vollkommen entsprechen, selten erreichen, viel- mehr als blosse Approximationen zu demselben ihren Namen führen; daher es alsdann doch noch Gegen- motive giebt, die ihre Wirkung allenfalls zu hemmen vermögen, wenn sie nur deutlich ins Bewusstseyn tre- ten. Tiev Affekt ist eine eben so unwiderstehliche, je- doch nur vorübergehende Erregung des Willens, 761 durch ein Motiv, welche seine Gewalt nicht durch eine tief wurzelnde Nei{jung, sondern bloss dadurch erhält, dass es, plötzlich eintretend, die Gejjenwirkunjj aller andern Motive, für den Augenblick, ausschliesst, indem es in einer Vorstellung besteht, die, durch ihre übermässige Lebhaftigkeit, die andern völlig verdun- kelt, oder gleichsam durch ihre zu grosse Nähe sie ganz verdeckt, so dass sie nicht ins Bewnisstsevn tre- ten und auf den Willen wirken können, wodurch daher die Fähigkeit der Ueberlegung imd damit die intellektuelle Freiheit*) in gewissem Grade aufgehoben wird. Demnach verhält sich der Affekt zur Leiden- schaft wie die Fieberphantasie zum Wahnsinn. Eine moralische Reue ist nun dadurch bedingt, dass, vor der That, die Neigung zu dieser dem Intellekt nicht freien Spielraum liess, indem sie ibm nicht ge- stattete, die ihr entgegenstehenden Motive deutlich und vollständig ins Auge zu fassen, vielmehr ihn im- mer wieder auf die zu ihr auffordernden hinlenkte. Diese nun aber sind, nach vollbrachter That, durch diese selbst neutralisirt, mithin unwirksam geworden. Jetzt bringt die Wirklichkeit die entgegenstehenden Motive, als bereits eingetretene Folgen der That, vor den Intellekt, der nunmehr erkennt, dass sie die stär- kern gewesen wären, wenn er sie nur gehörig ins Auge gefasst und erwogen hätte. Der Mensch wird also inne, dass er gethan hat, was seinem Willen eigent- lich nicht gemäss war: diese Erkenntniss ist die Reue. Denn er hat nicht mit völliger intellektueller Frei- heit gehandelt, indem nicht alle Motive zur Wirksam- keit gelangten. Was die der That entgegenstehenden ausschloss, war, bei der übereilten, der Affekt, bei der überlegten, die Leidenschaft. Oft hat es auch daran gelegen, dass seine Vernunft ihm die (iegenmotive zwar in abstracto vorhielt, aber nicht von einer hin- länglich starken Phantasie unterstützt w urde, die ihm den vollen Gebalt und die wahre Bedeutung dersel- ben in Bildern vorgehalten hätte. Beispiele zu dem Gesagten sind die Fälle, wo Rachsucht, Eifersucht, *) Diese ist erörtert im An]ian{; zu meiner PreisseliriFt über die Freiheit des Willens. 762 Habsucht zum Morde riethen: nachdem er vollbracht ist, sind diese erloschen, und jetzt erheben Gerechtig- keit, Mitleid, Erinnerung früherer Freundschaft, ihre Stimme, und sagen Alles, was sie vorhin gesagt ha- ben würden, wenn man sie hätte zum Worte kom- men lassen. Da tritt die bittere Reue ein, welche spricht: „War' es nicht geschehen, es geschähe nim- mermehr." Eine unvergleichliche Darstellung dersel- ben liefert die berühmte, alte Schottische, auch von He?-der übersetzte Ballade: „Edward, Edward!" — Auf analoge Art kann die Vernachlässigung des eige- nen Wohls eine egoistische Reue herbeiführen: z. B. wann eine übrigens unrathsame Ehe geschlossen ist, in Folge verliebter Leidenschaft, welche jetzt eben dadurch erlischt, wonach nun erst die Gegenmotive des persönlichen Interesses, der verlorenen Unab- hängigkeit u. s. w. ins Bewusstseyn treten und so re- den, wie sie vorher geredet haben würden, wenn man sie hätte zum Worte kommen lassen. — Alle der- gleichen Handlungen entspringen demnach im Grun- de aus einer relativen Schwäche des Intellekts, sofern nämlich dieser sich vom Willen da übermeistern lässt, wo er, ohne sich von ihm stören zu lassen, seine Funk- tion des Vorhaltens der Motive hätte unerbittlich voll- ziehen sollen. Die Vehemenz des Willens ist dabei nur mittelbar die Ursache, sofern sie nämlich den In- tellekt hemmt und dadurch sich Reue bereitet. — Die der Leidenschaftlichkeit entgegengesetzte Vernünftig- keit Ae?, Charakters, aoucppooovir], besteht eigentlich dar- in, dass der Wille nie den Intellekt dei'maassen über- wältigt, dass er ihn verhindere, seine Fvmktion der deutlichen, vollständigen und klaren Darlegung der Motive, in abstracto für die Vernunft, in concreto für die Phantasie, richtig auszuüben. Dies kann nun so- wohl auf der Massigkeit und Gelindigkeit des Wil- lens, als auf der Stärke des Intellekts beruhen. Es ist nur erfordert, dass der letztere relativ^ für den vor- handenen Willen, stark genug sei, also Beide im an- gemessenen Verhältniss zu einander stehen. — Den, §. 62 des ersten Bandes, wie auch in der Preis- schrift über die Grundlage der Moral, §. 17, darge- 763 legten Grundzüfjen der Rechtslehre sind noch folgende Erläuterungen beizufügen. Die, welche, mit Spinoza, leugnen, dass es ausser dein Staat ein Recht {;ehe, verwechseln die Mittel, das Recht geltend zu machen, mit dem Rechte. Des Schutzes ist das Recht freilich nur im Staat versichert, aber es selbst ist von diesem unabhängig vorhanden. Denn durch Gewalt kann es bloss unterdrückt, nie aufgehoben werden. Demgemäss ist der Staat nichts weiter als eine Schutzanstalt, nothwendig geworden diuch die mannigfachen Angriffe, welchen der Mensch ausgesetzt ist und die er nicht einzeln, sondern nur im Verein mit Andern abzuwehren vermag. Sonach bezweckt der Staat: i) Zuvörderst Schutz nach Aussen, welcher nöthig werden kann sowohl gegen leblose Naturkräfte, oder auch wilde Thiere, als gegen Menschen, mithin gegen andere Völkerschaften; wiewohl dieser Fall der häu- figste und wichtigste ist: denn der schlimmste Feind des Menschen ist der Mensch: homo homini lupus. Indem, in Folge dieses Zwecks, die Völker den Grund- satz, stets nur defensiv, nie aggressiv gegen einander sich verhalten zu wollen, mit Worten, wenn auch nicht mit der Tliat, aufstellen, erkennen sie das Pöl- kerrecht. Dieses ist im Grunde nichts Anderes, als das Naturrecht, auf dem ihm allein gebliebenen Gebiet seiner praktischen W^irksamkeit, nämlich zwischen Volk und Volk, als wo es allein walten muss, weil sein stärkerer Sohn, das positive Recht, da es eines Richters und Vollstreckers bedarf, nicht sich geltend machen kann. Demfjemäss besteht dasselbe in einem {jewissen Grad von Moralität im Verkehr der Völker mit einander, dessen Aufrechthaltung Ehrensache der Menschheit ist. Der Richterstuhl der Processe auf Grund desselben ist die öffentliche Meinung. 2) Schutz nach Innen, also Schutz der Mitglieder eines Staates gegen einander, mithin Sicherung des Pjivatiechts, mittelst Aufrechthaltung eines rechtli- chen Zustandes, Avelcher darin besteht, dass die kon- centrirten Kräfte Aller jeden Einzelnen schützen, wor- aus ein Phänomen hervorgeht, als ob Alle rechtlich, 764 d. h. gerecht wären, also Keiner den Andern ver- letzen wollte. Aber, wie durchgängig in menschlichen Dingen die Beseitigung eines Uebels einem neuen den Weg zu eröffnen pflegt; so führt die Gewährung jenes zwie- fachen Schutzes das Bedürfniss eines dritten herbei, nämlich : 3) Schutz gegen den Beschützer, d. h. gegen den, oder Die, welchen die Gesellschaft die Handhabung des Schutzes übertragen hat, also Sicherstellung des öffentlichen Rechtes. Diese scheint am vollkommen- sten dadurch erreichbar, dass man die Dreieinigkeit der schützenden Macht, also die Legislative, die Ju- dikative imd die Exekutive von einander sondert und trennt, so dass jede von Andern und vmabhängig von den übrigen verwaltet wird. — Der grosse Werth, ja die Grundidee des Königthums scheint mir darin zu liegen, dass, weil Menschen Menschen bleiben. Einer so hoch gestellt, ihm so viel Macht, Reichthum, Si- cherheit und absolute Unverletzlichkeit gegeben wer- den muss, dass ihm für sich nichts zu wünschen, zu hoffen und zu fürchten bleibt; wodurch der ihm, wie Jedem, einwohnende Egoismus, gleichsam durch Neu- tralisation, vernichtet wird, und er nun, gleich als wäre er kein Mensch, befähigt ist, Gerechtigkeit zu üben und nicht mehr sein, sondern allein das öffent- liche Wohl im Auge zu haben. Dies ist der Ursprung des gleichsam übermenschlichen Wesens, welches überall die Königswürde begleitet und sie so him- melweit von der blossen Präsidentur unterscheidet. Daher muss sie auch erblich, nicht wählbar seyn: theils damit Keiner im König seines Gleichen sehen könne; theils damit dieser für seine Nachkommen nur dadurch sorgen kann, dass er für das Wohl des Staates sorgt, als welches mit dem seiner Familie ganz Eines ist. Wenn man dem Staat, ausser dem hier dargelegten Zweck des Schutzes, noch andere andichtet; so kann dies leicht den wahren in Gefahr setzen. Das Eigenthumsrecht entsteht, nach meiner Dar- stellung, allein durch die Bearbeitung der Dinge. 765 Diese schon oft ausgesprochene Wahrheit findet eine heachtenswerthe Bestäiigung darin, dass sie sogar in praktischer Hinsicht gehend gemacht wird, in einei' Aeusserung des Nordanierikanischen Kx-Priisidenten Quincy Adams^ wek^he zu finden ist in der Quarterly Review, v. 1840, Nr. i3o, wie auch, Französisch, in der IJibhothcVpie universelle de Geneve 1840, Ju- illet, No. 55. hh will sie hier Deutsch wiedergeben: „Einige Moralisten haben das Recht der Europäer, in den Landstrichen der Amerikanischen Urvölker sich niederzulassen, in Zweifel gezogen. Aber haben sie die Furage reiflich erwogen? In Bezug auf den grössten Theil des Landes, beruht das Eigenthums- recht der Indianer selbst auf einer zweifelhaften Grundlage. Allerdings würde das Naturrecht ihnen ihre angebauten Felder, ihre Wohngebäude, hinrei- chendes Land für ihren Unterhalt und Alles, was persönliche Arbeit einem Jeden noch ausserdem ver- schafft hätte, zusichern. Aber welches Recht hat der Jäger auf den weiten Wald, den er, seine Beute ver- folgend, zufällig durchlaufen hat?" u. s. f. — Eben so haben Die, welche in unsern Tagen sich veran- lasst sahen, den Kommunismus mit Gründen zu be- kämpfen (z. B. der Erzbiscbof von Paris, in einem Hirtenbriefe, im Juni i85i), stets das Argument vor- angestellt, dass das Eigenthum der Ertrag der Arbeit, gleichsam nur die verkörperte Arbeit sei. — Dies be- weist abermals, dass das Eigenthumsrecht allein durch die auf die Dinge verwendete Arbeit zu be- gründen ist, indem es nur in dieser Eigenschaft freie Anerkennung findet und sich moralisch geltend macht. Einen ganz anderartigen Beleg der selben Wahr- heit liefert die moralische Thatsache, dass, während das Gesetz die Wilddieberei eben so schwer, in man- chen Ländern sogar noch schwerer, als den Gelddieb- stahl bestraft, dennoch die bürgerliche Ehre, welche durch diesen unwiderbringlich verloren geht, durch jene eigentlich nicht verwirkt wird, sondern der ,, Wil- derer", sofern er nichts Anderes sich hat zu Schul- den kommen lassen, zwar mit einem Makel behaftet 766 ist, aber doch nicht, wie der Dieb, als unehrhch be- trachtet und von Allen gemieden wird. Denn die (jrundsätze der bürgerlichen Ehre beruhen auf dem moralischen und nicht auf dem bloss positiven Recht: das Wild aber ist kein Gegenstand der Bearbeitung, also auch nicht des moralisch gültigen Besitzes: das Recht darauf ist daher gänzlich ein positives und wird moralisch nicht anerkannt. Dem Strafrecht sollte, nach meiner Ansicht, das Princip zum Grunde liegen, dass eigentlich nicht der Mensch, sondern nur die That gestraft wird, damit sie nicht wiederkehre: der Verbrecher ist bloss der Stoff, an dem die That gestraft wird; damit dem Gesetze, welchem zu Folge die Strafe eintritt, die Kraft abzu- schrecken bleibe. Dies bedeutet der Ausdruck; „Er ist dem Gesetze verfallen." Nach Kants Darstellung, die auf ein jus talionis hinausläuft, ist es nicht die That, sondern der Mensch, welcher gestraft wird. — Auch das Pönitentiarsystem will nicht sowohl die That, als den Menschen strafen, damit er näm- lich sich bessere : dadurch setzt es den eigentlichen Zweck der Strafe, Abschreckung von der That, zu- rück, um den sehr problematischen der Besserung zu erreichen. Ueberall aber ist es eine missliche Sache, durch ein Mittel zwei verschiedene Zwecke erreichen zu wollen; wie viel mehr, wenn beide, in irgend ei- nem Sinne, entgegengesetzte sind. Erziehung ist eine Wohlthat, Strafe soll ein üebel seyn: das Pöniten- tiargefängniss soll Beides zugleich leisten. — So gross ferner auch der Antheil seyn mag, den Rohheit und Unwissenheit, im Verein mit der äussern Bedräng- niss an vielen Verbrechen haben; so darf man jene doch nicht als die Hauptursache derselben betrach- ten; indem Unzählige in derselben Rohheit und unter ganz ähnlichen Umständen lebend, keine Verbrechen begehen. Die Hauptsache fiillt also doch auf den per- sönlichen, moralischen Charakter zurück : dieser aber ist, wie ich in der Preisschrift über die Freiheit des Willens dargethan habe, schlechterdings unveränder- lich. Daher ist eigentliche moralische Besserung gar nicht möglich; sondern nur Abschreckung von der 767 Tliat. Daneben lässt sich Berichtigung der Erkennt- niss und Erweckung der Arheitshist allerdings errei- chen: es wird sich zeigen, wie weit dies wirken kann. Lleberdies erhellt aus dem von mir im Text aufge- stellten Zweck der Strafe, dass, wo möglich, das scheinbare Leiden derselben das wirkliche überstei- gen solle: die einsame Einsperrung leistet aber das Umgekehrte. Die grosse Pein derselben hat keine Zeugen und wird von Dem, der sie noch nicht erfah- ren hat, keineswegs anticipirt, schreckt also nicht ab. Sie bedroht den durch Mangel und Noth zum Ver- brechen Versuchten mit dem entgegengesetzten Pol des menschlichen Elends, mit der Langenweile: aber, wie Goethe richtig bemerkt: Wird uns eine rechte Quaal zu Theil, Dann wünschen wir uns Langeweil. Die Aussicht darauf wird ihn daher so wenig ab- schrecken, wie der Anblick der palastartigen Gefäng- nisse, welche von den ehrlichen Leuten für die Spitz- buben erbaut werden. Will man aber diese Pöniten- tiargefängnisse als Erziehungsanstalten betrachten; so ist zu bedauern, dass der Eintritt dazu nur durch Verbrechen erlangt wird; statt dass sie hätten diesen zuvorkommen sollen. — Dass, wie Beccaria gelehrt hat, die Strafe ein rich- tiges Verhältniss zum Verbrechen haben soll, beruht nicht darauf, dass sie eine Busse für dasselbe wäre ; sondern darauf, dass das Pfand dem Werthe Dessen, wofür es haftet, angemessen seyn muss. Daher ist Je- der berechtigt, als Garantie der Sicherheit seines Le- bens fremdes Leben zum Pfände zu fordern; nicht aber eben so für die Sicherheit seines Eigenthums, als für welches fremde Freiheit u. s. w. Pfand genug ist. Zur Sicherstellung des Lebens der Bürger ist da- her die Todesstrafe schlechterdings nothwendig. De- nen, welche sie aufheben möchten, ist zu antworten: „schafft erst den Mord aus der Welt: dann soll die Todesstrafe nachfolgen". Auch sollte sie den ent- schiedenen Mordversuch eben so wie den Mord selbst treffen: denn das (»esetz will die That strafen, nicht 768 den Erfolg rächen. Ueberhaupt giebt der zu verhü- tende Schaden den richtigen Maassstab für die anzu- drohende Strafe, nicht aber giebt ihn der inorahsche Unwerth der verbotenen Handhing. Daher kann das Gesetz, mit Recht, auf das F'allenlassen eines Bhimen- topfes vom Fenster Zuchthausstrafe, auf das Tabak- rauchen im Walde, während des Sommers, Karren- strafe setzen, dasselbe jedoch im Winter erlaubt seyn lassen. Aber, wie in Polen, auf das Schiessen eines Auerochsen den Tod zu setzen, ist zu viel, da die Erhaltung des Geschlechts der Auerochsen nicht mit Menschenleben erkauft werden darf. Neben der Grösse des zu verhütenden Schadens kommt, bei Be- stimmung des Maasses der Strafe, die Stärke der zur verbotenen Handlung antreibenden Motive in Be- tracht. Ein ganz anderer Maassstab würde für die Strafe gelten, wenn Busse, Vergeltung, jus talionis, der wahre Grund derselben wäre. Aber der Kriminal- kodex soll nichts Anderes seyn, als ein Verzeichniss von Gegen niotiven zu möglichen verbrecherischen Handlungen: daher muss jedes derselben die Motive zu diesen letzteren entschieden überwiegen, und zwar um so mehr, je grösser der Nachtheil ist, welcher aus der zu verhütenden Handlung entspringen wür- de, je stärker die Versuchung dazu und je schwieri- ger die Ueberführung desThäters; — stets unter der richtigen Voraussetzung, dass der Wille nicht frei, sondern durch Motive bestimmbar ist; — ausserdem ihm gar nicht beizukommen wäre. Soviel zur Rechts- lehre. — In meiner Preisschrift über die Freiheit des Wil- lens habe ich (S. 5o ff.) die Ursprünglichkeit und Un Veränderlichkeit des angeborenen Charakters, aus welchem der moralische Gehalt des Lebenswandels hervorgeht, nachgewiesen. Sie steht als Thatsache fest. Aber um die Probleme in ihrer Grösse zu erfassen, ist es nöthig, die Gegensätze bisweilen hart an einander zu stellen. An diesen also ver- gegenwärtige man sich, wie unglaublich gross der angeborene Unterschied zwischen Mensch und Mensch ausfällt, im Moralischen und im Intellektuellen. Hier 49 Schopenhauer II 7 9 Edelmuth und Weisheit; dort Bosheit und Dumm- heit. Dem Einen leuchtet die Güte des Herzens aus den Augen, oder auch der Stämpel des Genies thront auf seinem AntHtz. Der niedertrachtigen Physiogno- mie eines Andern ist das Gepräge morahscher Nichts- ^vürdigkeit und intellektueller Stumpfheit, von den Händen der Natur selbst, unverkennbar und unaus- löschlich aufgedrückt: er sieht darein, als müsste er sich seines Daseyns schämen. Diesem Aeussern aber entspricht wirklich das Innere. Unmöglich können wir annehmen, dass solche Unterschiede, die das ganze Wesen des Menschen umgestalten und durch nichts aufzuheben sind, welche ferner, im Konflikt mit den Umständen, seinen Lebenslauf bestimmen, ohne Schuld oder Verdienst der damit Behafteten vorhanden seyn könnten und das blosse Werk des Zufalls wären. Schon hieraus ist evident, dass der Mensch, in gewissem Sinne, sein eigenes Werk seyn muss. INun aber können wir andererseits den Ur- sprung jener Unterschiede empirisch nachweisen in der Beschaffenheit der Eltern ; und noch dazu ist das Zusammentreffen und die Verbindung dieser Eltern offenbar das Werk höchst zufälliger Umstände ge- wesen. — Durch solche Betrachtungen nun werden wir mächtig hingewiesen auf den Unterschied zwi- schen der Erscheinung und dem Wesen an sich der Dinge, als welcher allein die Lösung jenes Problems enthalten kann. Nur mittelst der Formen der Er- scheinung offenbart sich das Ding an sich: was daher aus diesem selbst hervorgeht, muss dennoch in jenen Formen, also auch am Bande der Ursächlichkeit auf- treten: demzufolge wird es hier sich uns darstellen als das Werk einer geheimen, uns unbegreiflichen Leitung der Dinge, deren blosses Werkzeug der äus- sere, erfahrungsmässige Zusammenhang wäre, in welchem inzwischen Alles was geschieht durch Ur- sachen herbeigeführt, also nothwendig und von aus- sen bestimmt eintritt, während der wahre Grund da- von im Innern des also erscheinenden Wesens liegt. Freilich können wir hier die Lösung des Problems nur ganz von Weitem absehen, und gerathen, indem 770 wir ihm nachdenken, in einen Abgrund von Gedan- ken, recht eigendich, wie Hamlet sagt, thougths bey- ond the reaches of our souls. Ueber diese geheime, ja selbst nur gleichnissweise zu denkende Leitung der Dinge habe ich meine Gedanken dargelegt in dem Aufsatz „über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen", im ersten Bande der Pa- rerga. — Im §. 1 4 meiner Preisschrift über die Grundlage der Moral findet man eine Darstellung des Egoismus, sei- nem Wesen nach, als deren Ergänzung folgender Versuch, seine Wurzel aufzudecken, zu betrachten ist. — Die Natur selbst widerspricht sich geradezu, je nachdem sie vom Einzelnen oder vom Allgemeinen aus, von Innen oder von Aussen, vom Centro oder von der Pei'ipherie aus redet. Ihr Gentrum nämlich hat sie in jedem Individuo: denn jedes ist der ganze Wille zum Leben. Daher, sei dasselbe auch nur ein Insekt, oder ein Wurm, die Natur selbst aus ihm also redet: „Ich allein bin Alles in Allem: an meiner Er- haltung ist Alles gelegen, das Uebrige mag zu Grun- de gehen, es ist eigentlich nichts." So redet die Natur vom besondern Standpunkte, also von dem des Selbst- bewusstseyns aus, und hierauf beruht der Egoismus jedes Lebenden. Hingegen vom allgemeinen Stand- punkt aus, — welches der des Bewusstsejns von an- dern Dingen, also der des objektiven Erkennens ist, das für den Augenblick absieht von dem Individuo, an dem die Erkenntniss haftet, — also von Aussen, von der Peripherie aus, redet die Natur so: „Das In- dividuum ist nichts und weniger als nichts. Millionen Individuen zerstöre ich tagtäglich, zum Spiel und Zeitvertreib: ich gebe ihr Geschick dem launigsten und muthwilligsten meiner Kinder preis, dem Zufall, der nach Belieben auf sie Jagd macht. Millionen neuer Individuen schaffe ich jeden Tag, ohne alle Verminderung meiner hervorbringenden Kraft; so wenig, wie die Kraft eines Spiegels erschöpft wird, durch die Zahl der Sonnenbilder, die er nach einan- der auf die Wand wirft. Das Individuum ist nichts." — Nur wer diesen offenbaren Widerspruch der Na- 49* 11' tur wirklich zu vereinen und auszu{j;leichen weiss, hat eine wahre Antwort auf die Frage nach der Ver- gänglichkeit oder Unverganghchkeit seines eigenen Seihst. Ich glauhe in den ersten vier Kapitehi dieses vierten Buches der Ergänzungen eine fiirderHche An- leitung zu solcher Erkenntniss gegehen zu hahen. Das Ohige lässt übrigens sich auch Folgenderinaassen erläu- tern. Jedes Individuum, indem es nach Innen blickt, er- kennt in seinem Wesen, welches sein Wille ist, das Ding an sich, daher das überall allein Reale. Demnach erfasst es sich als den Kern und Mittelpunkt der Welt, und hn- det sich unendlich wichtig. Blickt es hingegen nach Aussen; so ist es auf dem Gebiete der Vorstellung, der blossen Erscheinung, wo es sich sieht als ein Indivi- duum unter unendlich vielen Individuen, sonach als ein höchst Unbedeutendes, ja gänzlich Verschwinden- des. Folglich ist jedes, auch das unbedeutendeste In- dividuum, jedes Ich, von Innen gesehen, Alles in Al- lem; von Aussen gesehen hingegen, ist es nichts, oder doch so viel wie nichts. Hieraufalsoberuht der grosse Unterschied zwischen Dem, was nothwendig Jeder in seinen eigenen Augen, und Dem, was er in den Augen aller Andern ist, mithin der Egoismus, den Je- der Jedem vorwirft. — In Folge dieses Egoismus ist unser Aller Grund- irrthum dieser, dass wir einander gegenseitig INicht- Ich sind. Hingegen ist gerecht, edel, menschenlVeund- lich seyn, nichts Anderes, als meine Metaphysik in Handlungen übersetzen. — Sagen, dass Zeit und Kaum blosse Formen unserer Erkenntniss, nicht Be- stimnumgen der Dinge an sich sind, ist das Selbe, wie sagen, dass die Metempsychosenlehre, „Du wirst einst als Der, den du jetzt verletzest, wiedergeboren werden und die gleiche Verletzung erleiden", iden- tisch ist mit der oft erwähnten Brahmanenformel Tat twam asi, „Dies bist Du". — Aus der unmittelbaren und intuitiven Erkenntniss der metaphysischen Iden- tität aller Wesen geht, wie ich öfter, besonders §.22 der Preisschrift über die Grundl. der Moral, gezeigt habe, alle ächte Tugend hervor. Sie ist aber deswegen nicht die Folge einer besondern Ueberlegenheit des 772 Intellekts; vielmehr ist selbst der schwächste hinrei- chend, das principinmindividnationiszudun'hschaiien, als worauf es dabei ankommt. Demfjemäss kann man den vortrefflichsten Charakter sogar bei einem schwa- chen Verstände finden, und ist ferner die Erregung unsers Mitleids von keiner Anstrengung unsers In- tellekts begleitet. Es scheint vielmehr, dass die erfor- derte Durchschauung des principii individuationis in Jedem vorhanden seyn würde, wenn nicht sein Wille sich ihr widersetzte, als welcher, vermöge seines un- mittelbaren, geheimen und despotischen Einflusses auf den Intellekt, sie meistens nicht aufkommen lässt; so dass alle Schuld zuletzt doch auf den fVülen zurück- fällt; wie es auch der Sache angemessen ist. Die oben berührte Lehre von der Mete m psych ose entfernt sich bloss dadurch von der Wahrheit, dass sie in die Zukunft verlegt, was schon jetzt ist. Sie lässt nämlich mein inneres Wesen an sich selbst erst nach meinem Tode in Andern daseyn, während, der Wahr- heit nach, es schon jetzt auch in ihnen lebt, und der Tod bloss die Täuschung, vermöge deren ich dessen nicht inne werde, aufhebt; gleichwie das zahllose Heer der Sterne allezeit über unserm Flaupte leuchtet, aber uns erst sichtbar wird, wann die eine nahe Erden- sonne untergegangen ist. Von diesem Standpunkt aus erscheint meine individuelle Existenz, so sehr sie auch, jener Sonne gleich, mir Alles überstrahlt, im Grunde doch nur als ein Hinderniss, welches zwischen mir und der Erkenntniss des wahren ümfangs meines Wesens steht. Und weil jedes Individuum, in seiner Erkenntniss, diesem Hindernisse unterliegt; so ist es eben die Individuation, Avelche den Willen zum licben über sein eigenes Wesen im Irrthum erhält: sie ist die Maja des Brahmanismus. Der Tod ist eine Wider- legung dieses Irrthnms und hebt ihn auf. Ich glaube, wir werden im Augenblicke des Sterbens inne, dass eine blosse Täuschung unser Daseyn auf unsere Person beschränkt hatte. Sogar empirische Spuren hievon lassen sich nachweisen in manchen dem Tode, durch Aufhebung der Koncentration des Bewusstseyn im Gehirn, verwandten Zuständen, unter denen der mag- 773 netische Schlaf der hervorstechendeste ist, als in wel- chem, wenn er die höheren Grade erreicht, unser Daseyn, über unsere Person hinaus und in andern Wesen, sich durch mancherlei vSymptome kund {jiebt, am auffallendesten durch unmittelbare Theilnahme an den Gedanken eines andern Individuums, zuletzt sogar durch die Fähigkeit, das Abwesende, Entfernte, ja, das Zukünftige zu erkennen, also durch eine Art von Allgegenwart. Auf dieser metaphysischen Identität des Willens, als des Dinges an sich, bei der zahllosen Vielheit seiner Erscheinungen, beruhen überhaupt drei Phänomene, welche man unter den gemeinsamen Begriff der »9)'m- pathie bringen kann: i) das Mitleid., welches, wie ich dargethan habe, die Basis der Gerechtigkeit und Men- schenliebe, Caritas, ist: 2) die Geschlechtsliebe mit eigen- sinniger Auswahl, amor, welche das Leben der Gat- tung ist, das seinen Vorrang vor dem der Individuen geltend macht; 3) dieMflt<7/e, zu welcher auch der ani- malische Magnetismus und die sympathetischen Kuren gehören. Demnach ist Sympathie zu definiren: das empirische Hervortreten der metaphysischen Identität des Willens, durch die physische Vielheit seiner Er- scheinungen hindurch, wodurch sich ein Zusammen- hang kund giebt, der gänzlich verschieden ist von dem durch die Formen der Erscheinung vermittelten, den wir unter dem Satze vom Grunde begreifen. KAPITEL 48*) zun LEHRE VOIS DER VERNEINUNG DES WILLENS ZUM LEBEN. DER Mensch hat sein Daseyn und Wesen entweder »//■/seinem Willen, d. h. seiner Einwilli{jung, oder ohne diese: im letztern I'alle wäre eine solche, durch *) Dieses Kapitel bezieht sich auf §. 68 des ersten Kandes. [S. ^üü (I. A.] Auch ist damit zu vergleichen Kap. 14 des zweiten Bandes der Parerga. 774 vielfache und unausbleibliche Leiden verbitterte Exi- stenz eine schreiende Ungerechtigkeit. — Die Alten, namentlich die Stoiker, auch die Peripatetiker und Akademiker, bemühten sich vergeblich, zu beweisen, dass die Tugend hinreiche, das Leben glücklich zu machen: die Erfahrung schrie laut dagegen. Was dem Bemühen jener Philosophen, wenn gleich ihnen nicht deutlich bewusst, eigentlich zum Grunde lag, war die vorausgesetzte Gerechtigkeit der Sache: wer schuldlos war, sollte auch frei von Leiden, also glücklich seyn. Allein die ernstliche und tiefe Lösung des Problems liegt in der christlichen Lehre, dass die Werke nicht rechtfertigen; demnach ein Mensch, wenn er auch alle Gerechtigkeit und Menschenliebe, mithin das ayadov, honestum, ausgeübt hat, dennoch nicht, wie Cicero meint, culpa omni carens (Tusc. V, i) ist: son- dern el delito mayor del hombre es haber nacido (des Menschen grösste Schuld ist, dass er geboren ward), wie es, aus viel tieferer Erkenntniss, als jene Weisen, der durch das Christenthum erleuchtete Dichter Cal- deron ausgedrückt hat, Dass demnach der Mensch schon verschuldet auf die Welt kommt, kann nur Dem widersinnig erscheinen, der ihn für erst soeben aus Nichts geworden und für das Werk eines Andern hält. In Folge dieser Schuld also, die daher von seinem Willen ausgegangen seyn muss, bleibt der Mensch, mit Recht, auch wenn er alle jene Tugenden geübt hat, den physischen und geistigen Leiden preisgegeben, ist also nicht glücklich. Dies folgt aus der eivigen Ge- rechtigkeit^ von der ich §. 63 des ersten Bandes geredet habe. Dass aber, wie St. Paulus (Rom. 3, 21 ff.), Jlu- gustimis und Luther lehren, die Werke nicht recht- fertigen können, indem wir Alle wesentlich Sünder sind und bleiben, — beruht zuletzt darauf, dass, weil operari sequitur esse, wenn wir handelten, wie wir sollten, wir auch seyn müssten, was wir sollten. Dann aber bedürften wir keiner Erlösung aus unserm jetzigen Zustande, wie solche nicht nur das Christenthum, sondern auch Brahmanismus und Buddhaismus (unter dem auf Englisch durch tinal emancipation ausge- drückten Namen) als das höchste Ziel darstellen: d. h. 775 wir brauchten nicht etwas ganz Anderes, ja, Dem was wir sind Entge^^enjjesetzes, zu werden. Weil wir aber sind, was wir nicht seyn sollten, thun wir auch noth- wendig was wir nicht thun sollten. Darum also be- dürfen wir einer völlij^en llmgestaltun{> unsers Sinnes und Wesens, d. i. der Wiedergeburt, als deren Folge die Erlösung eintritt. Wenn auch die Schuld im Han- deln, im operari, liegt; so liegt do(h die Wurzel der Schuld in unserer essentia et existentia, da aus dieser das operari nothwendig hervorgeht, wie ich in der Preisschrift über die Freiheit des Willens dargethan habe. Demnach ist eigentlich unsere einzige wahre Sünde die Erbsünde. Diese nun lässt der Christliche Mythos zwar erst, nachdem der Mensch schon dawar, entstehen, imd dichtet ihm dazu, perimpossibile, einen freien Willen an: dies thut er aber eben als Mythos. Der innerste Kern und Geist des Christenthums ist mit dem des Brahmanismus und Buddhaismus der selbe: sämmtlich lehren sie eine schwere Verschuldung des Menschengeschlechts durch sein Daseyn selbst; nur dass das Christenthum hiebei nicht, wie jene äl- teren Glaubenslehren, direkt und unumwunden ver- fahrt, also nicht die Schuld geradezu durch das Daseyn selbst gesetzt seyn, sondern sie durch eine That des ersten Menschenpaares entstehen lässt. Dies war nur unter der Fiktion eines liberi arbitrii indifferentiae möglich, und nur wegen des Jüdischen Grunddogmas, dem jene Lehre hier eingepflanzt werden sollte, nöthig. Weil, der Wahrheit nach, eben das Entstehen des Menschen selbst die That seines freien Willens imd demnach mit dem Sündenfall Eins ist, vmd daher mit der essentia und existentia des Menschen die Erbsünde, von der alle andern Sünden die Folge sind, schon ein- trat, das Jüdische Grunddogma aber eine solche Dar- stelhuig nicht zuliess; so lehrte yiuguatinus, in seinen Büchern de libero arbitrio, dass der Mensch nur als Adam vor dem Sündenfalle schuldlos gewesen und einen freien Willen gehabt habe, von dem an aber in der Nothwendigkeit der Sünde verstrikt sei. — Das Gesetz, 6 vüixo?, im biblisc hen Sinn, fordert immer- fort, dass wir unser Thun ändern sollen, während 776 unser Wesen unverändert bliebe. Weil aber dies un- möjjlich ist; so sagt Pavfus, dass keiner vor dem Ge- setz gerechtfertigt sei : dieWiedergeburt in Jesu Christo allein, in Folge der Gnadenwirkung, vermöge welcher ein neuer Mensch entsteht und der alte aufgehoben wird (d. h. eine fundamentale Sinnesänderung), könne uns aus dem Zustande der Sündhaftigkeit in den der Freiheit und Erlösung versetzen. Dies ist der Christ- liche Mythos, in Hinsicht auf die Ethik. Aber freilich hat der Jüdische Theismus, auf den er gepfropft wurde, gar wundersame Zusätze erhalten müssen, um sich jenem Mythos anzufügen : dabei bot die Fabel vom Sündenfall die einzige Stelle dar für das Pfropfreis Alt-Indischen Stammes. Jener gewaltsam überwun- denen Schwierigkeit eben ist es zuzuschreiben, dass die Christlichen Mysterien ein so seltsames, dem ge- meinen Verstände widerstrebendes Ansehen erhalten haben, welches den Proselytismus erschwert, und wegen dessen, aus Unfähigkeit den tiefen Sinn der- selben zu fassen, der Pelagianismus, oder heutige Ra- tionalismus, sich gegen sie auflehnt und sie wegzu- exegesiren sucht, dadurch aber das Christenthum zum Judenthum zurückführt. Aber ohne Mythos zu reden: so lange unser Wille der selbe ist, kann unsere Welt keine andere seyn. Zwar wünschen Alle erlöst zu werden aus dem Zu- stande des Leidens und des Todes: sie möchten, wie man sagt, zur ewigen Säligkeit gelangen, ins Himmel- reich kommen; aber nur nicht auf eigenen Füssen; sondern hingetragen möchten sie werden, durch den Lauf der Natur. Allein das ist unmöglich. Daher wird sie zwar uns nie fallen und zu nichts werden lassen: aber sie kann uns nirgends hinbringen, als immer nur wieder in die Natur. Wie misslich es jedoch sei, als ein Theil der Natur zu existiren, erfährt Jeder an seinem eigenen Leben und Sterben. — Demnach ist aller- dings das Daseyn anzusehen als eine Verirrung, von welcher zurückzukommen Erlösung ist: auch trägt es durchweg diesen Charakter. In diesem Sinne wird es daher von den alten Samanäischen Religionen auf- gefasst, und auch, wiewohl mit einem Umschweif, 777 vom eigentlichen und ursprünglichen Christenthuin: sogar das .Tudenthum selbst enthält wenigstens im Sündenfall (dieser seiner redeeming feature) den Keim zu solcher Ansicht. Bloss das Griechische Heidenthum und der Islam sind ganz optimistisch; daher im Er- steren die entgegengesetzte Tendenz sich wenigstens im Trauerspiel Luft machen musste: im Jslam aber, der, wie die neueste, so auch die schlechteste aller Religionen ist, trat sie als Sußsmua auf, diese sehr schöne Erscheinung,welche durchaus Indischen Geistes und Ursprungs ist und jetzt schon über tausend Jahre fortbesteht. Als Zweck unsers Daseyns ist in derThat nichts Anderes anzugeben, als die Erkenntniss, dass wir besser nicht dawären. Dies aber ist die wichtigste aller Wahrheiten, die daher ausgesprochen werden muss; so sehr sie auch mit der heutigen Europäischen Denkweise im Kontrast steht: ist sie doch dagegen im ganzen nicht-islamisirten Asien die anerkannteste Grundwahrheit, heute so gut, wie vor dreitausend Jahren. Wenn wir nun den Willen zum Leben im Ganzen und objektiv betrachten ; so haben wir, dem Gesagten gemäss, ihn uns zu denken als in einem ^''a/in begrif- fen, von welchem zurückzukommen, also sein ganzes vorhandenes Streben zu verneinen, Das ist, was die Religionen als die Selbstverleugnung, abnegatio sui ipsius, bezeichnen: denn das eigentliche Selbst ist der Wille zum Leben. Die moralischen Tugenden, also Gerechtigkeit und Menschenliebe, da sie, wie ich ge- zeigt habe, wenn lauter, daraus entspringen, dass der Wille zum Leben, das principium individuationis durchschauend, sich selbst in allen seinen Erscheinun- gen wiedererkennt, sind demzufolge zuvörderst ein Anzeichen, ein Symptom, dass der erscheinende Wille in jenem Wahn nicht mehr ganz fest befangen ist, sondern die Enttäuschung schon eintritt; so, dass man gleichnissweise sagen könnte, er schlage bereits mit den Flügeln, um davon zu Hiegen. Umgekehrt, sind Ungerechtigkeit, Bosheit, Grausamkeit, Anzeichen des Gegentheils, also der tiefsten Befangenheit in jenem Wahn. Nächstdem aber sind jene moralischen Tu- 778 genden ein Beförderungsmittel der Selbstverleugnung und demnach der Verneinung des Willens zum Leben. Denn die wahre Rechtschaffenheit, die unverbrüch- liche Gerechtigkeit, diese erste und wichtigste Kardi- naltugend, ist eine so schwere Aufgabe, dass, wer sich unbedingt und aus Herzensgrunde zu ihr bekennt, Opfer zu bringen hat, die dem Leben bald die Süsse, welche das Genügen an ihm erfordert, benehmen und dadurch den Willen von demselben abwenden, also zur Resignation leiten. Sind doch eben was die Recht- schaffenheit ehrwürdig macht die Opfer, welche sie kostet: in Kleinigkeiten wird sie nicht bewundert. Ihr Wesen besteht eigentlich darin, dass der Gerech- te die Lasten und Leiden, welche das Leben mit sich bringt, nicht, durch List oder Gewalt, auf Andere wälzt, wie es der Ungerechte thut, sondern selbst trägt, was ihm beschieden ist ; wodurch er die volle Last des dem Menschenleben aufgelegten Uebels im- vermindert zu tragen kekommt. Dadurch wird die Gerechtigkeit ein Beförderungsmittel der Verneinung des W^illens zum Leben, indem Noth und Leiden, diese eigentliche Bestimmung des Menschenlebens, ihre Folge sind, diese aber zur Resignation hinleiten. Noch schneller führt allerdings die weiter gehende Tugend der Menschenliebe, Caritas, eben dahin: denn vermöge ihrer übernimmt man sogar die ursprüng- lich den Andern zugefallenen Leiden, eignet sich da- her von diesen einen grössern Theil an, als, nach dem Gange der Dinge, das eigene Individuum treffen würde. Wer von dieser Tugend beseelt ist, hat sein eigenes Wesen in jedem Andern wiedererkannt. Da- durch nun identificirt er sein eigenes Loos mit dem der Menschheit überhaupt: dieses nun aber ist ein har- tes Loos, das des Mühens, Leidens und Sterbens. Wer also, indem er jedem zufälligen Vortheil entsagt, für sich kein anderes, als das Loos der Menschheit über- haupt will, kann auch dieses nicht lange mehr wol- len: die Anhänglichkeit an das Leben und seine Ge- nüsse muss jetzt bald weichen und einer allgemeinen Entsagung Platz machen : mithin wird die Vernei- nung des Willens eintreten. Weil nun diesem gemäss 779 Aniintb, Entbehrungen und eigenes Leiden vielfacher Art schon durch die vollkominenste Ausübung der morahschen Tugenden herbeigeführt werden, wird von Vielen, und vielleicht mit Recht, die Askese im allerengsten Sinne, also das Aufgeben jedes Eigen- thums, das absichtliche Aufsuchen des Unangeneh- men und Widerwärtigen, die Selbstpeinigung, das Fasten, das härene Hemd und die Kasteiung, als über- flüssig verworfen. Die Gerechtigkeit selbst ist das härene Hemd, welches dem Eigener stete Beschwerde bereitet, und die Menschenliebe, die das Nöthige weg- giebt, das immerwährende Fasten*). Eben deshalb ist der Biiddhaismus frei von jeder strengen und über- triebenen Askese, welche im Brahmanismus eine so grosse Rolle spielt, also von der absichtlichen Selbst- peinigung. Er lässt es bei dem Cölibat, der freiwilli- gen Armuth, Demuth und Gehorsam der Mönche und Enthaltung von thierischer Nahrung, wie auch von aller Weltlichkeit, bewenden. Weil ferner das Ziel, zu welchem die moralischen Tugenden führen, das hier nachgewiesene ist; so sagt die Vedantaphilo- sophie**) mit Recht, dass, nachdem die wahre Er- kenntniss und in ihrem Gefolge die gänzliche Resig- nation, also die Wiedergeburt, eingetreten ist, als- dann die Moralität oder Immoralität des früheren Wandels gleichgültig wird, und gebraucht auch hier wieder den von den Brahmanen so oft angeführten Spruch: Finditur nodus cordis, dissolvuntur omnes *) Sofern man hingegen die Askese gelten iässt, wäre die in meiner Preisschrift über das Fundament der Moral gegebene Aufstellung der letzten Triebfedern des menschlichen Han- delns, nämlich i) eigenes Wohl, a) fremdes Wehe und 3) fremdes Wohl, noch <lnrch eine vierte zu ergänzen : eigenes Wehe: welches ich hier bloss im Interesse der systematischen Konsequenz beiläufig bemerke. Dort nändich musste, da die Preisfrage iiri Sinn der im protestantischen Europa gellenden philosophischen Kthik gestellt war, diese vierte Triebfeder stillsebweigend übergangen werden. *') Siehe F. H.H. Windischmann's Sancara, sive de theologu- menis Vedanticorum, p. ii6, i i 7 et i 3 i — 23: wie auch Oupnekhat, Vol. 1, p. 34o, 356, 36o. 780 dubitationes, ejusque opera evanescunt, viso supremo illo (Sancara, sJoca Sa). So anstössig nun diese An- sicht Manchen seyn mag, denen eine Belohnung im Himmel, oder Bestrafung in der Hölle, eine viel be- triedigendere Erklärung der ethischen Bedeutsamkeit des menschlichen Handelns ist, wie denn auch der gute fVindischmann jene Lehre, indem er sie darlegt, perhorrescirt, so wird doch, wer auf den Grund der Sachen zu gehen vermag, finden, dass dieselbe am Ende übereinstimmt init jener Christlichen, zumal von Luther urgirten, dass nicht die Werke, sondern nur der durch Gnadenwirkung eintretende Glaube sälig mache, und dass wir daher durch unser Thun nie gerechtfertigt werden können, sondern nur ver- möge der Verdienste des Mittlers Vergebung der Sün- den erlangen. Es ist sogar leicht abzusehen, dass, ohne solche Annahmen, das Christenthum endlose Strafen für Alle, und der Brahmanismus endlose Wie- dergeburten für Alle aufstellen müsste, es also in Bei- den zu keiner Erlösung käme. Die sündlichen Werke und ihre Folgen müssen, sei es nun durch fremde Begnadigung, oder durch Eintritt eigener besserer Erkenntniss, ein Mal getilgt und vernichtet werden; sonst hat die Welt kein Heil zu hoflen; nachher aber werden sie gleichgültig. Dies ist auch die fisiavoia xai acpeoi«; cx[xapTiu)v, deren Verkündigung der bereits auf- erstandene Christus seinen Aposteln, als die Summe ihrer Mission, schliesslich auflegt (Luc. 24, 47). Die moralischen Tugenden sind eben nicht der letzte Zweck, sondern nur eine Stufe zu demselben. Diese Stufe ist im Christlichen Mythos bezeichnet durch das Essen vom Baum der Erkenntniss des Guten vmd Bösen, mit welchem die moralische Verantwortlich- keit zugleich mit der Erbsünde eintritt. Diese selbst ist in Wahrheit die Bejahung des Willens zum Le- ben; die Verneinung desselben hingegen, in Folge aufgegangener besserer Erkenntniss, ist die Erlösung. Zwischen diesen Beiden also liegt das Moralische: es begleitet den Menschen als eine Leuchte auf seinem Wege von der Bejahung zur Verneinung des Willens, oder, mythisch, vom Eintritt der Erbsünde bis zur 781 Erlösung durch den Glauben an die Mittlersehaft des inkarnirten Gottes (Avatars); oder, nach der Veda- Lehre, durch alle Wiedergeburten, welche die Folge der jedesmaligen Werke sind, bis die rechte Erkennt- niss und mit ihr die Erlösung (Hual emancipation), Mokscha^ d. i. Wiedervereinigung mit dem ßra/un, eintritt. Die Buddhaisten aber bezeichnen, mit voller Redlichkeit, die Sache bloss negativ, durch Nirwana^ welches die Negation dieser Welt, oder des Sansata ist. Wenn Nirwana als das Nichts definirt wird; so will dies nur sagen, dass der Sansara kein einziges Element enthält, welches zur Definition, oder Kon- struktion des Nirwana dienen könnte. Eben dieser- halb nennen (WeJainas, welche nur dem Namen nach von den Buddhaisten verschieden sind, die vedagläu- bigen Brahmanen Sabdapramans, welcher Spottname bezeichnen soll, dass sie auf Hörensagen glauben, was sich nicht wissen, noch beweisen lässt (Asiat, resear- ches, Vol. 6, p. 474)- Wenn manche alte Philosophen, wie Orpheus, die Pythagoreer, Plato (z. B. in Phaedone, p. i5i, l83 sq. Bip., und siehe Clem. Alex, ström., III, p. 4oo sq.), ganz so wie der Apostel Paulus, die Gemeinschaft der Seele mit dem Leibe bejammern und von derselben befreit zu werden wünschen; so verstehen wir den eigentlichen und wahren Sinn dieser Klage, sofern wir, im zweiten Buch, erkannt haben, dass der Leib der Wille selbst ist, objektiv angeschaut, als räum- liche Erscheinung. In der Stunde des Todes entscheidet sich, ob der Mensch in den Schooss der Natur zurückfällt, oder aber dieser nicht mehr angehört, sondern : für diesen Gegensatz fehlt uns Bild, Begriff und Wort, eben weil diese sämmtlich aus der Objektivation des Willens genommen sind, daher dieser angehören, folglich das absolute Gegentheil desselben auf keine Weise ausdrücken können, welches demnach für uns als eine blosse Negation stehen bleibt. Inzwischen ist der Tod des Individiuums die jedesmalige und uner- müdlich wiederholte Anfrage der Natur an den Wil- len zum Leben. „Hast du genug? Willst du aus mir 782 hinaus?" Damit sie oft genug geschehe, ist das indi- viduelle Leben so kurz. In diesem Sinne gedacht sind die Ceremonien, Gebete und Ermahnungen der Brah- manen zur Zeit des Todes, wie man sie im Upanischad an mehreren Stellen aufbewahrt findet, und ebenso die Christliche Fürsorge für gehörige Benutzung der Sterbestunde, mittelst Ermahnung, Beichte, Kommu- nion und letzte Oelung : daher auch die Chrislichen Gebete um Bewahrung vor einem plötzlichen Ende. Dass heut zu Tage Viele gerade dieses sich wünschen, beweist eben nur, dass sie nicht mehr auf dem Christ- lichen Standpunkt stehen, welcher der der Vernei- nung des Willens zum Leben ist, sondern auf dem der Bejahung, welcher der heidnische ist. Der aber wird am wenigsten fürchten im Tode zu nichts zu werden, der erkannt hat, dass er schon jetzt nichts ist, und der mithin keinen Antheil mehr an seiner individuellen Erscheinung nimmt, indem in ihm die Erkenntniss den Willen gleichsam verbrannt und verzehrt hat, so dass kein W^ille, also keine Sucht nach individuellem Daseyn in ihm mehr übrig ist. Die Individualität inhärirt zwar zunächst dem In- tellekt, der, die Erscheinung abspiegelnd, der Er- scheinung angehört, welche das principium indivi- duationis zur Form hat. Aber sie inhärirt auch dem W^illen, sofern der Charakter individuell ist: dieser selbst jedoch wird in der Verneinung des Willens auf- gehoben. Die Individualität inhärirt also dem Willen nur in seiner Bejahung, nicht aber in seiner Vernei- nung. Schon die Heiligkeit, welche jeder rein mora- lischen Handlung anhängt, beruht darauf, dass eine solche, im letzten Grunde, aus der unmittelbaren Er- kenntniss der numerischen Identität des innern W^e- sens alles Lebenden entspringt*). Diese Identität ist aber eigentlich nur im Zustande der Verneinung des Willens (Nirwana) vorhanden, da seine Bejahung (Sansara) die Erscheinung desselben in der Vielheit zur Form hat. Bejahung des Willens zum Leben, Erscheinungswelt, Diversität aller Wesen, Individu- ') Vergl. die beiden Grundprobleme der Ethik, S. 274. 783 alität, Egoismus, Hass, Bosheit entsprin^jen aus einer Wurzel ; und eben so andererseits Welt des Dinges an sich, Identität aller Westen, Gerechtigkeit, Men- schenliebe, Verneinung des Willens zum Leben. Wenn nun, wie ich genugsam gezeigt habe, schon die mora- lischen Tugenden ans dem Innewerden jener Identi- tät aller Wesen entstehen, diese aber nicht in der Er- scheinung, sondern nur im Dinge an sich, in der Wurzel aller Wesen liegt; so ist die tugendhafte Handlung ein momentaner Durchgang durch den Punkt, zu welchem die bleibende Rückkehr die Ver- neinung des Willens zum Leben ist. Ein Folgesatz des Gesagten ist, dass wir keinen Grund haben anzunehmen, dass es noch vollkomme- nere Intelligenzen, als die menschliche gebe. Denn wir sehen, dass schon diese hinreicht, dem Willen diejenige Kenntniss zu verleihen, in Folge welcher er sich selbst verneint und aufhebt, womit die Indi- vidualität und folglich die Intelligenz, als welche bloss ein Werkzeug individueller, mithin animalischer Natur ist, wegfällt. Dies wird uns weniger anstössig erscheinen, wenn wir erwägen, dass wir sogar die möglichst vollkommenen Intelligenzen, welche wir hiezu versuchsweise annehmen mögen, uns doch nicht wohl eine endlose Zeit hindurch bestehend den- ken können, als welche nämlich viel zu arm ausfal- len würde, um jenen stets neue und ihrer würdige Objekte zu liefern. Weil nämlich das Wesen aller Dinge im Grunde Eines ist, so ist alle Erkennt- niss desselben nothwendig tautologisch : ist es nun ein Mal gefasst, wie es von jenen vollkommensten Intel- ligenzen bald gefasst seyn würde; was bliebe ihnen übrig, als blosse Wiederholung und deren Langeweile, eine endlose Zeit hindurch? Auch von dieser Seite also werden wir dahin gewiesen, dass der Zweck aller Intelligenz luu* Reaktion auf einen Willen seyn kann: weil aber alles W^ollen Irrsal ist; so bleibt aas letzte Werk der Intelligenz die Aufhebung des Wollens, dem sie bis dahin zu seinen Zwecken gedient hatte. Demnach kann selbst die vollkonunenste ujögliche Intelligenz nur eine Uebergangsstufe seyn zu Dem, 7«4 wohin gar keine Erkenntniss je reichen kann : ja, eine solche kann im Wesen der Dinge nur die Stelle des Augenblicks erlangter, vollkommener Einsicht ein- nehmen. In Uehereinstimmung mit allen diesen Betrachtun- gen und mit dem, im zweiten Buche nachgewiesenen, Ursprung der Erkenntniss aus dem Willen, den sie, indem sie ihm zu seinen Zwecken dienstbar ist, eben dadurch in seiner Bejahung abspiegelt, während das wahre Heil in seiner Verneinung liegt, sehen wir alle Religionen, auf ihrem Gipfelpunkte, in Mystik und Mysterien, d. h. in Dunkel und Verhüllung auslau- fen, welche eigentlich bloss einen für die Erkenntniss leeren Eleck, nämlich den Punkt andeuten, wo alle Erkenntniss nothwendig aufhört; daher derselbe für das Denken nur durch Negationen ausgedrückt wer- den kann, für die sinnliche Anschauung aber durch symbolische Zeichen, in den Tempeln durch Dunkel- heit und Schweigen bezeichnet wird, im Brahmanis- mus sogar durch die geforderte Einstellung alles Den- kens und Anschauens, zum Behuf der tiefsten Einkehr in den Grund des eigenen Selbst, unter mentaler Aussprechung des mysteriösen Oum. — Mystik, im weitesten Sinne, ist jede Anleitung zum unmittelba- ren Innewerden Dessen, wohin weder Anschauung noch Begriff", also überhaupt keine Erkenntniss reicht. Der Mystiker steht zum Philosophen dadurch im Ge- gensatz, dass er von Innen anhebt, dieser aber von Aussen. Der Mystiker nämlich geht aus von seiner innern, positiven, individuellen Erfahrung, in wel- cher er sich findet als das ewige, alleinige Wesen u. s. f. Aber mittheilbar ist hievon nichts, als eben Behaup- tungen, die man auf sein Wort zu glauben hat: folg- lich kann er nicht überzeugen. Der Philosoph hinge- gen geht aus von dem Allen Gemeinsamen, von der objektiven, Allen vorliegenden Erscheinung, und von den Thatsachen des Selbstbewusstseyns, wie sie sich in Jedem vorfinden. Seine Methode ist daher die Re- flexion über alles Dieses und die Kombination der darin gegebenen Data : deswegen kann er überzeugen. Er soll sich daher hüten, in die Weise der Mystiker 5o Schopenhauer II 7 85 zu gerathen und etwan, mittelst Behauptung intel- lektualer Anschauungen, oder vorgeblicher unmittel- barer Vernunftvernehmungen, j)Ositive Erkenntniss von Dem vorspiegeln /u wollen, was, aller Erkennt- niss ewig unzugänglich, höchstens durch eine Nega- tion bezeichnet werden kann. Die Philosophie hat ihren Werth und ihre Würde darin, dass sie alle nicht zu begründenden Annahmen verschmäht und in ihre Data nur Das aufnimmt, was sich in der anschaulich gegebenen Aussenvvelt, in den unsern Intellekt kon- stituirenden Formen zur Auffassung derselben und in dem Allen gemeinsamen Bewusstseyn des eigenen Selbst sicher nachweisen lässt. Dieserhalb muss sie Kosmologie bleiben und kann nicht Theologie wer- den. Ihr Thema muss sich auf die Welt beschränken: was diese sei, im tiefsten Innern sei, allseitig auszu- sprechen, ist Alles, was sie redlicherweise leisten kann. — Diesem nun entspricht es, dass meine Lehre, wann auf ihrem Gipfelj)unkte angelangt, einen negativen Charakter aimimmt, also mit einer Negation endigt. Sie kann hier nämlich nur von Dem reden, was ver- neint, aufgegeben wird: was dafür aber gewonnen, er- griffen wird, ist sie genöthigt (am Schlüsse des vierten Buches) als Nichts zu bezeichnen, und kann bloss den Trost hinzufügen, dass es nur ein relatives, kein ab- solutes Nichts sei. Denn, wenn etwas nichts ist von allen Dem, was wir kennen; so ist es allerdings für uns überhaupt nichts. Dennoch folgt hieraus noch nicht, dass es absolut nichts sei, dass es nämlich auch von jedem möglichen Standpunkt aus und in jedem möglichen Sinne nichts seyn müsse; sondern nur, dass wir auf eine völlig negative Erkenntniss desselben be- schränkt sind; welches sehr wohl an der Beschrän- kung unsers Standpunkts liegen kann. — Hier nun gerade ist es, wo der Mystiker positiv verfährt, und von wo an daher nichts, als Mystik übrig bleibt. Wer inzwischen zu der negativen Erkenntniss, bis zu wel- cher allein die Philosophie ihn leiten kann, diese Art von Ergänzung wünscht, der Hndet sie am schönsten und reichlichsten im Oiipiiehhat, sodann in den En- neaden des Plotinos, im Scotus Eriyena, stellenweise 786 im Jakob Böhm, besonders aber in dem wundervollen Werk der Guion, Les torrens, und im Angelus SUesius, endlich noch in den Gedichten der Suji, von denen Tholnk uns eine Sammlunjj in Lateinischer und eine andere in Deutscher Ueberseizunfj geliefert hat, auch noch in manchen andern Werken. Die Sufi sind die Gnostiker des Islams; daher auch Sadi sie mit einem Worte bezeichnet, welches durch „Einsichtsvolle" übersetzt wird. Der Theismus, auf die Kapacität der Menge berechnet, setzt den Urquell des Daseyns aus- ser uns, als ein Objekt: alle Mystik, und so auch der Sufismus, zieht ihn, auf den verschiedenen Stufen ihrer Weihe, allmälig wieder ein, in uns, als das Sub- jekt, und der Adept erkennt zuletzt, mit Verwunde- rung und Freude, dass er es selbst ist. Diesen, aller Mystik gemeinsamen Hergang Hnden wir von Meister Eckhard, dem Vater der Deutschen Mystik, nicht nur in Form einer Vorschrift, für den vollendeten Aske- ten ausgesprochen, „dass er Gott ausser sich selbst nicht suche" (Eckhards Werke, herausgegeben von Pfeiffer, Bd. i,S. 626); sondern auch höchst naiv da- durch dargestellt, dass Eckhards geistige Tochter, nachdem sie jene ümwandelung an sich erfahren, ihn aufsucht, um ihm jubelnd entgegenzurufen: „Herr, freuet Euch mit mir, ich bin Gott geworden !" (Eben- das. S. 465). Eben diesem Geiste gemäss äussert sich durchgängig auch die Mystik der Suß hauptsächlich als ein Schwelgen in dem Bewusstseyn, dass man selbst der Kern der Welt und die Quelle alles Daseyns ist, zu der Alles zurückkehrt. Zwar kommt dabei die Aufforderung zum Aufgeben alles Wolfens, als wo- durch allein die Befreiung von der individuellen Exi- stenz und ihren Leiden möglich ist, auch oft vor, je- doch untergeordnet und als etwas Leichtes gefordert. In der Mystik der Hindu hingegen tritt die letztere Seite viel stärker hervor, und in der Christlichen My- stik ist diese ganz vorherrschend, so dass jenes pan- theistische Bewusstseyn, welches aller Mystik wesent- lich ist, hier erst sekundär, in Folge des Aufgebens alles Wolfens, als Vereinigung mit Gott eintritt. Dieser Verschiedenheit der Auffassung entsprechend hat die 5o' 7^7 Mohammedanische Mystik einen selir heitern Cha- rakter, die Ghristhche einen düstern und schmerz- Hclien, die der Hindu, üher Beiden stehend, hält auch in dieser Hinsicht die Mitte. Qaietismus d. i. AutVeben alles Wollens, Askesis, d. i. absichtliche Ertödtung des Eigenwillens, und Mysticismus, d. i. Bewusstseyn der Identität seines eigenen Wesens mit dem alier Dinge, oder dem Kern der Welt, stehen in genauester Verbindung; so dass wer sich zu einem derselben bekennt allmälig auch zur Annahme der andern, selbst gegen seinen Vor- satz, geleitet wird. — Nichts kann überi-aschender seyn, als die Uebereinstimmung der jene Lehren vor- tragenden Schriftsteller unter einander, bei der aller- grössten Verschiedenheit ihrer Zeitalter, Länder und Religionen, begleitet von der felsenfesten Sicherheit und innigen Zuversicht, mit der sie den Bestand ihrer innern Erfahrung vortragen. Sie bilden nicht etwan eine Sekte, die ein theoretisch beliebtes und ein Mal ergriffenes Dogma festhält, vertheidigt und fortpflanzt; vielmehr wissen sie meistentheils nicht von einander; ja, die Indischen, Christlichen, Mohammedanischen Mystiker, Quietisten und Asketen sind sich in Allem heterogen, nur nicht im innern Sinn und Geiste ihrer Lehren. Ein höchst auffallendes Beispiel hievon lie- fert die Vergleichuug der Torrens der Guion mit der Lehre der Veden, namentlich mit der Stelle im Oup- nekhat, Bd. i, S. 63, welche den Inhalt jener Fran- zösischen Sclirift in grösster Kürze, aber genau und sogar mit den selben Bildei'n enthält, und dennoch der Frau von Guion, um 1680, unmöglich bekannt seyn konnte. In der „Deutschen Theologie" (alleinige unverstümmelte Ausgabe, Stuttgart i85i) wird Kapi- tel 2 und 3 gesagt, dass sowohl der Fall des Teufels, als der Adams, darin bestanden hätte, dass der Eine, wie der Andere, sich das Ich und Mich, das Mein und Mir beigelegt hätte; und S. 89 heisst es: „In der wah- ren Liebe bleibt weder Ich, noch Mich, Mein, Mir, Du, Dein, und desgleichen." Diesem nun entsprechend heisst es im ,,Kural", aus dem Tamulischen von Graul, S. 8: „Die nach Aussen gehende Leidenschaft des 788 Mein und die nach Innen gehende des Ich hören auP' (vgl. Vers 346). Und im Manual of Buddhisni by Spence Hardy, S. 208, spricht Buddha: „Meine Schüler ver- werfen den Gedanken, dies bin Ich, oder dies ist Mein." Ueberhaupt, wenn man von den Formen, welche die äusseren Umstände herbeiführen, absieht und den Sa- chen auf den Grund geht, wird man finden, dass Schakia Muni und Meister Eckhard das Selbe lehren; nur dass Jener seine Gedanken geradezu aussprechen durfte. Dieser hingegen genöthigt ist, sie in das Ge- wand des Christlichen Mythos zu kleiden und diesem seine Ausdrücke anzupassen. Er geht aber hiemit so weit, dass bei ihm der Christliche Mythos fast nur noch eine Bildersprache ist, beinahe wie den Neupia- tonikern der Hellenische: er nimmt ihn durchweg allegorisch. In derselben Hinsicht ist es beachtens- werth, dass der Uebertritt des heiligen Franciscus aus dem Wohlstande zum Bettlerleben ganz ähnlich ist dem noch grössern Schritte des Buddha Schakia Muni vom Prinzen zum Bettler, und dass dem entsprechend das Leben, wie auch die Stiftung des Franciscus eben nur eine Art Saniassithum war. Ja, es verdient er- wähnt zu werden, dass seine Verwandtschaft mit dem Indischen Geiste auch hervortritt in seiner grossen Liebe zu denThieren und häufigen Umgang mit ihnen, wo})ei er sie durchgängig seine Schwestern und Brü- der nennt; wie denn auch sein schöner CanticOj durch das Lob der Sonne, des Mondes, der Gestirne, des Windes, des Wassers, des Feuers, der Erde, seinen an- geborenen Indischen Geist bekundet*). Sogar werden die Christlichen Quietisten oft we- nig, oder keine Kunde von einander gehabt haben, z. 13. Molinos und die Guion von Taulern und der „Deutschen Theologie", oder Gichtel von jenen Er- steren. Ebenfalls hat der grosse Unterschied ihrer Bil- dung, indem Einige, wie Molinos, gelehrt, Andere, wie Gichtel und Viele mehr, ungelehrt waren, keinen wesentlichen Einfluss auf ihre Lehren. Um so mehr *) S. Bonavcnturae vita S. Francisci, c. 8. — K. Hase, Franz von Assisi, K&p. 10. — l cantici di S. Francesco, editi da Schlosser e Steinle. Francoforto s. M. 1842. 789 beweist ihre (grosse, innere Uebereinstinimvnig, l)ei der Festigkeit und Si<herheit ihrer Aussagen, dass sie aus Avirkhcher, innerer Erfahrung reden, einer Erfah- rung, die zwar nicht Jedem zugänglich ist, sondern nur wenigen Begünstigten zu Theil wird, daher sie den Namen Gnadenwirkung erhalten hat, an deren Wirklichkeit jedoch aus obigen Gründen nicht zu zweifeln ist. Um dies Alles zu verstehen, muss man sie aber selbst lesen und nicht mit Berichten aus zwei- ter Hand sich begnügen: denn Jeder muss seihst ver- nommen werden, ehe man über ihn urtheilt. Zur Be- kanntschaft mit dem Quietismus also empfehle ich besonders den Meister Eckhard, die Deutsche Theo- logie, den Tauler, die Guion, die Antoinette Bourig- non, den Engländer Bunyan, den Molinos*), den Gich- tel: imgleichen sind, als praktische Belege und Bei- spiele des tiefen Ernstes der Askese, das von üeuchlin herausgegebene Leben Pascals, nebst dessen Geschich- te von Port-royal, wie auch die Historie de Sainte Eli- sabeth par le comte de Montalembcrt und La vie de Rance par Chateaubriand sehr lesenswerth, womit je- doch alles Bedeutende in dieser Gattung keineswegs erschöpft seyn soll. Wer solche Schriften gelesen und ihren Geist mit dem der Askese und des Quietismus, wie er alle Werke des Brahmanismus und Buddhais- mus durch webt und aus jeder Seite spricht, verglichen hat, wird zugeben, dass jede Philosophie, welche kon- sequenterweise jene ganze Denkungsart verwerfen muss, was nur geschehen kann, indem sie die Reprä- sentanten derselben für Betrüger oder Verrückte er- klärt, schon dieserhalb nothwendig falsch seyn muss. In diesem Falle nun aber befinden sich alle Europäi- schen Systeme, mit Ausnahme des meinigen. Wahr- lich eine seltsame Verrücktheit müsste es seyn, die sich, unter den möglichst weit verschiedenen Um- ständen und Personen, mit solcher Uebereinstimmung ausspräche und dabei von den ältesten und zahlreich- ') Michaelis de Molinos manmluctiospiiitualis: hispanice löj.*), italice 1680, latine lOSj, yallice in lii)io non adeo rare, cni tituhis: Recneil de diverses pieces conccrnant le qnietisme, 011 Molinos et ses disciples. Amstd. 1688. sten Völkern der Erde, nämlich von etwan drei Vier- tel aller Bewohner Asiens, zu einer Hauptlehre ihrer Religion erhoben wäre. Das Thema des Quietismus und Asketismus aber dahingestellt seyn lassen darf keine Philosophie, wenn man ihr die Frage vorlegt; weil dasselbe mit dem aller Metaphysik und Ethik, dem Stoffe nach, identisch ist. Hier ist also ein Punkt, wo ich jede Philosophie, mit ihrem Optimismus, er- warte und verlange, dass sie sich darüber ausspreche. Und wenn, im Urtheil der Zeitgenossen, die paradoxe und beispiellose Uebereinstimmung meiner Philosophie mit dem Quietismus und Asketismus als ein offenba- rer Stein des Anstosses erscheint; so sehe ich hinge- gen gerade darin einen Beweis ihrer alleinigen Rich- tigkeit und Wahrheit, wie auch einen Erklärungs- grund des klugen fgnorirens und Sekretirens derselben auf den protestantischen Universitäten. Denn nicht allein die Religionen des Orients, sondern auch das wahre Christenthum hat durchaus jenen asketischen Grundcharakter, den meine Philosophie als Verneinung des Willens zum Leben verdeutlicht; wenn gleich der Protestantismus, zumal in seiner heu- tigen Gestalt, dies zu vertuschen sucht. Haben doch sogar die in neuester Zeit aufgetretenen offenen Fein- de des Ghristenthums ihm die Ijchren der Entsagung, Selbstverleugnung, vollkommenen Keuschheit und überhaupt Mortihkation des Willens, welche sie ganz richtig mit dem Namen der „antikosmischen Tendenz''^ bezeichnen, nachgewiesen und dass solche dem ur- sprünglichen und ächten Christenthum wesentlich eigen sind gründlich dargethan. Hierin haben sie un- leugbar Recht. Dass sie aber eben Dieses als einen offenbaren und am Tage liegenden Vorwurf gegen das Christenthum geltend machen, während gerade hierin seine tiefste Wahrheit, sein hoher Werth und sein erhabener Charakter liegt, dies zeugt von einer Verfinsterung des Geistes, die nur daraus erklärlich ist, dass jene Köpfe, wie leider heut zu Tage tausend andere in Deutschland, völlig verdorben und auf im- mer verschroben sind durch die miserable Hegelei, diese Schule der Plattheit, diesen Heerd des Unver- 79» Standes und der TJnwissenlieit, diese kopfverderbende Afterweisheit, welche man jetzt endlich als solche zu erkennen anfän^jt und die Verehrun{] derselben bald der Dänischen Akademie allein überlassen wird, in de- ren Augen ja jener plumpe Scharlatan ein sunimus philosophus ist, für den sie ins Feld tritt: Car ils suivront la creance et cstiide De l'if^norante et sötte muititude, Doiit le ])his lourd scra rccu pour juge. Rabelais. Allerdings ist im ächten und ursprünglichen Chri- stenthum, wie es sich, vom Kern des Neuen Testa- ments aus, in den Schriften der Kirchenväter entwik- kelte, die asketische Tendenz unverkennbar: sie ist der Gipfel, zu welchem Alles emporstrebt. Als die Hauptlehre derselben finden wir die Empfehlung des ächten und reinen Cölibats (diesen ersten und wich- tigsten Schritt in der Verneinung des Willens) schon im Neuen Testament ausgesprochen*). Auch Stransx, in seinem „Leben Jesu" (Bd. I,S. 6i8 der ersten Auf- lage), sagt hinsichtlich der, Matth. 19, ii fg. gege- benen, Empfehlung der Ehelosigkeit: „Man hat, tun Jesum nichts den jetzigen Vorstellungen Zuwiderlau- fendes sagen zu lassen, sich beeilt, den Gedanken ein- znsclui'ärzen., dass Jesus nur mit Rücksicht auf die Zeitumstände und lun die apostolische Thätigkeit un- gehindert zu lassen, die Ehelosigkeit anrühme: allein im Zusammenhange liegt davon noch weniger eine Andeutung, als in der verwandten Stelle i. Cor. 7, 26 fg.; sondern es ist auch hier wieder einer der Orte, wo asketische Grundsätze., wie sie unter den Essenern und wahrscheinlich auch weiter unter den Juden ver- breitet waren, auch bei Jesu durchscheinen." - — Diese asketische Richtung tritt später entschiedener auf, als Anfangs, wo das Christenthum, noch Anhänger su- chend, seine Forderungen nicht zu hoch spannen durfte: und mit dem Eintritt des dritten Jahrhunderts *) Matth. 19, I 1 ffj. — I.nc. 30, 35 — 37. — i .Cor. 7, i — 11 und 25 — 4"- — ('• rl«^'*'^- 4' 3- ■ — '• •^"''' ^1 ^- — ) Apokal. .4,4. wird sie nachdrücklich urgirt. Die Ehe gih, im eigent- hchen Christentluim, bloss als ein Kompromiss mit der sündlichen Natur des Menschen, als ein Zuge- ständniss, ein Erlaubtes für Die, welchen die Kraft das Höchste anzustreben mangelt, und als ein Ausweg, grösserem Verderben vorzubeugen: in diesem Sinne erhält sie die Sanktion der Kirche, damit das Band unauflösbar sei. Aber als die höhere Weihe des Chri- stenthums, durch welche mau in die Reihe der Aus- erwählten tritt, wird das Cölibat und die Virginität aufgestellt: durch diese allein erlangt man die Sieger- krone, welche sogar noch heut zu Tage durch den Kranz auf dem Sarge der Unverehelichten angedeutet wird, wie eben auch durch den, welchen die Braut am Tage der Verehelichung ablegt. Ein jedenfalls aus der Urzeit des Christenthums stammendes Zeugniss über diesen Punkt ist die von Clemens Alexandrinus (Strom., III, 6 et 9) aus dem Evangelio der Aegypter angeführte prägnante Ant- wort des Herrn: Ttq 2aXa)fxT(] 6 xupiocTruv&avofjLSvifj, [i-sXP^ Tcoxe Oavato; loj^oaei; |J.£XP^'? '^^f sirev, 6|xei?, at "yuvatxs?, TixT£T£(Salomae interroganti „quousquevigebitmors?" Dominus „quoadusque", inquit, „vos, mulieres, pari- tis".) TouT eoTt, ixexp^? ^^ ^^ £7ri0o[j,tat evs^youai (hoc est, quamdiu operabuntur cupiditates), setzt Clemens c. 9 hinzu, woran er sogleich die berühmte Stelle Rom. 5, 12 knüpft. Weiterhin c. i3, führt er die Worte des Kassianus an: nuvOavo|xev7ji; trj«; 2aX(up.Tji;, ttote 'c^dio- ÖTjosTat za Trepi tov Tjpexo, scpT] ö xupio?, 'Oxav ttjc ata- XuvTf]? £vou(xa 7raT7j07]T£, xat oxav YevvjTat, xa 5uo sv, xat To appsv [xeta tt]? ör]Xeta<; outs appev, ouxs ÖtjXu (Cum interrogaret Salome, quando cognoscentur ea, de qui- bus interrogabat, ait Dominus: „quando pudoris in- dumentum conculcaveritis,et quando duo facta fuerint unum, et masculum cum foemina nee masculum nee foemineum"), d. h. wann ihr den Schleier der Schaam- haftigkeit nicht mehr braucht, indem aller Geschlechts- unterschied weggefallen seyn wird. Am weitesten sind in diesem Punkte allerdings die Ketzer gegangen; schon im zweiten Jahrhundert die Tatianiten oder Enkratiten, die Gnostiker, die Mar- cioniten, die Montanisten, Valentinianer und Kassianer; jedoch nur indem sie, mit rücksichtsloser Konsequenz, der Wahrheit die Ehre {jaben, und demnach, dem Geiste des Christentums gemäss, völhj^e Enthaltsam- keit, e-j-xpaTEta, lehrten; wahrend die Kirche Alles, was ihrer weitsehenden Politik zuwiderlief, klüglich für Ketzerei erklärte. Von den Tatianiten berichtet Au- giistinm: Nuptiasdamnant,atqueomninopares eas for- nicationibus aliisque corruptionibus faciunt: nee re- cipiunt in suum numerum conjugio utentem, sive marem, sive foeminam. Non vescuntur carnibus, eas- que abominantur. (De haeresi ad quod vult Deum. haer. aS.) Allein auch die orthodoxen Väter betrach- ten die Ehe in dem oben bezei( hneten Lichte und predigen eifrig die gänzliche Enthaltsamkeit, die «Yveia. Athanasius giebt als Ursache der Ehe an: öti UTTOTriTrrovTe«; £0|X£V xio xou Trpouaiopo«; xaraoixTO " STreiST) 6 TrpoY]You[x£VO(; oxotto? tou ^eou TjV, ~o [xt] 8ia *{<i\ifJM Y£V£o{)ai ^fjaa? xai cp^opcx?" tj 0£ Trapaßaot? ttj? evtoXtj? tov Yaaov £i07]YaY£V oia xo avo[i7]oai tov Aoa[x. (Quia subja- cemus condemnationi propatoris nostri ; nam finis, a Deo praelatus, erat, nos non per nuptias et cor- ruptionem fieri : sed transgressio mandati nuptias intro- duxit, propter legis violationem Adae. — Exposit. in psalm. 5o.) Tertullian nennt die Ehe genus mali in- ferioris, ex indulgentia ortum (de pudicitia, c. 16) und sagt; Matrimonium et stuprum est commixtio carnis; scilicet cujus concupiscentiam dominus stupro adae- quavit. Ergo, inquis, jam et primas, id est unas nup- tias destruis? Nee immerito: quoniam et ipsae ex eo constant, quod est stuprum (de exhort. castit. c. 9). Ja, Augustinus selbst bekennt sich ganz und gar zu dieser Lehre und allen ihren Folgen, indem er sagt: Novi quosdam, qui murmurent: quid, si, inquiunt, omnes vilent ab omni concubitu abstinere, unde sub- sistet genus humanum? — Utinam omnes hoc vellent! dumtaxat in caritate, de corde puro, et conscientia bona, et fide non ficta: nuilto citius Dei civitas com- pleretur, ut acceleraretur terminus mundi (de bono conjugali c. 10). — Und abermals: Non vos ab hoc studio, quo mukös ad imitandum vos excitatis, frangat 794 querela vanorum, qui dicunt: quomodo subsistet genus humanuni, si omnes fuerint kontinentes? Qua- si propter aliud retardetur hoc secukim, nisi ut im- pleatur praedestinatus numerus ille sanctorum, quo citius impleto, profecto nee terminus secuh differetur (de bono viduitatis, c. 23.) Man sieht zugleich, dass er das Heil mit dem Ende der Welt identificirt. — Die übrigen diesen Punkt betreffenden Stellen aus den Werken Augustins findet man zusammengestellt in der Confessio Augustiniana e D. Au{;ustini operibus compilata a Hieronymo Torrense, 1610, unter den Rubriken de matrimonio, de coelibatu u. s. w., und kann sich dadurch überzeugen, dass im alten, ächten Christen thum die Ehe eine blosse Koncession war, welche überdies auch nur die Kinderzeugung zum Zweck haben sollte, dass hingegen die gänzliche Ent- haltsamkeit die jener weit vorzuziehende eigentliche Tugend war. Denen aber, welche nicht selbst auf die Quellen zurückgehen wollen, empfehle ich, zur Be- seitigung aller etwanigen Zweifel über die in Rede stehende Tendenz des Christenthums, zwei Schriften, Garove, Ueber das Cölibatgesetz, i832, und Lind, De coelibatu Christianorum per tria priora secula, Hav- niae 1889. Es sind jedoch keineswegs die eigenen An- sichten dieser Schriftsteller, auf die ich verweise, da solche der meinigen entgegengesetzt sind, sondern ganz allein die von ihnen sorgfältig gesammelten Be- richte und Anführungen, welche gerade darum, als ganz unverfänglich, volles Zutrauen verdienen, dass beide Schriftsteller Gegner des Gölibats sind, der Erstere ein rationalistischer Katholik, der Andere ein protestantischer Kandidat, welcher ganz und gar als ein solcher redet. In der zuerst genannten Schrift finden wir, Bd. F, S. 166, in jener Rücksicht fogendes Resultat ausgesprochen: „Der kirchlichen Ansicht „zufolge, — - wie bei den kanonischen Kirchenvätern, „in den Synodal- und den päpstlichen Belehrungen „und in unzähligen Schriften rechtgläubiger Katho- „liken zu lesen, — wird die immerwährende Keusch- „heit eine göttliche, himmlische, englische Tugend „genannt und die Erwerbung der göttlichen Gnaden- ,,luilfe dazu vom ernsten Bitten um dieselbe abhanjjijj „{;emacht. — Dass diese Aufjustinische Lehre sich bei „Canisius und im Tridentinum als immer gleicher „Kirchenjjlaube ausgesprochen findet, haben wir be- „reits nachgewiesen. Dass sie aber bis auf den heutigen „Tag als Glaubenslehre festgehalten worden, dafür „mag das Juniheft, i83i, der Zeitschrift ,Der Katho- „lik' hinreichendes Zeugniss ablegen : daselbst, 8. a63, „heisst es: ,,„IniKatliolicismus erscheint die Beobach- „„tung einer ewigen Keuschheit, um Gotteswillen, an „„sich als das höchste Verdienst des Menschen. Die „„Ansicht, dass die Beobachtung der beständigen „ „Keuschheit ah Selbstzweck den Menschen heilige und „„erhöhe, ist, wie hievon jeder unterrichtete Katholik „„dieUeberzeugunghat,indem Christenthum, seinem „„Geist und seiner ausdrücklichen Vorschrift nach, „„tief gegründet. Das Tridentinum hat allen mög- „„lichen Zweifel hierüber abgeschnitten." " „Es muss allerdings von jedem Unbefangenen zuge- „standen werden, nicht nur, dass die vom , Katholiken' „ausgesprochene Lehre wirklich katholisch ist, son- „dern auch, dass die vorgebrachten Erweisgründe für „eine katholische Vernunft durchaus imwiderleglich „seyn mögen, da sie so recht aus der kirchlichen „Grundansicht der Kirche vom Leben und seiner Be- „stimmung geschöpft sind." — Ferner heisst es da- selbst S. 270: „Wenn gleich sowohl Paulus das Ehe- „verbot als Irrlehre bezeichnet und der noch jüdischere „Verfasser des Hebräerbriefes gebietet, ,, „die Ehe solle „„in Ehren (jehalten werden bei Allen und das Ehe- „,,bett unbefleckt"" (Hebr. i3, 4); so ist darum doch „die Hauptrichtung dieser beiden Hagiographen nicht „zu verkennen. Die Jungfräulichkeit war Beiden das „Vollkommene, die Ehe nur ein Notlibedarf für die „Schwächeren, und nur alssolcher unverletzt zu halten. „Das höchste Streben dagegen war auf völlige, ma- „terielle Entselbstung gerichtet. Das Selbst soll sich „von Allem abwenden und enthalten, was nur ihm „und was ihm nw zeitlich zur Freude gereicht." — Endlich noch S. 288: ,,Wir stimmen dem Abte Zac- „caria bei, welcher den Cölibat (nicht das Cölibats- „gesetz) vor Allem aus der Lehre Christi und des „Apostels Paulus abjjeleitet wissen will." Was dieser eigentlich Christlichen Grundansicht ent- gegengestellt wird, ist überall und immer nur das Alte Testament mit seinem Ttavta xaXa Xiav. Dies erhellt besonders deutlich aus jenem wichtigen dritten Buch der Stromata des Kletnens, woselbst er, gegen die oben genannten enkratistischen Ketzer polemisirend, ihnen stets nur das Judenthum, mit seiner optimistischen Schöpfungsgeschichte, entgegenhält, mit welcher die neutestamentliche, weltverneinende Richtung aller- dings in Widerspruch steht. Allein die Verbindung des Neuen Testaments mit dem Alten ist im Grimde nur eine äusserliche, eine zufällige, ja erzwung^ene, und den einzigen Anknüpfungspunkt für die Christ- liche Lehre bot dieses, wie gesagt, nur in der Ge- schichte vom Sündenfall dar, welcher übrigens im Alten Testament isolirt dasteht und nicht weiter be- nutzt wird. Sind es doch, der evangelischen Darstel- lung zufolge, gerade die orthodoxen Anhänger des Alten Testaments, welche den Kreuzestod des Stifters herbeiführen, weil sie seine Lehren im Widerstreit mit den ihrigen finden. Im besagten dritten Buche der Stromata des Klemens tritt der Antagonismus zwi- schen Optimismus, nebst Theismus, einerseits, und Pessimismus, nebst asketischer Moral, andererseits, mit überraschender Deutlichkeit hervor. Dasselbe ist gegen die Gnostiker gerichtet, welche eben Pessimis- mus und Askese, namentlich SYxpaTSia (Enthaltsam- keit jeder Art, besonders aber von aller Geschlechts- befriedigung) lehrten; weshalb Klemens sie lebhaft tadelt. Dabei schiuunert aber zugleich durch, dass schon der Geist des Alten Testainents mit dem des Neuen Testaments in diesem Antagonismus steht. Denn, abgesehen vom Sündenfall, der im Alten Testa- ment wie ein hors d'oeuvre dasteht, ist der Geist des Alten Testaments dem des Neuen Testaments diame- tral entgegengesetzt : jener optimistisch, dieser pessi- mistisch. Diesen Widerspruch hebt Klemens selbst hervor, am Schlüsse des elften Kapitels (TrpooaTroTstvo- [xevov Tov IlauXov xtj) Ktiottu x. t. X.), obwohl er ihn nicht 797 gelten lassen will, sondern für scheinbar erklärt, — als ein guter Jude, der er ist. Ueberhaupt ist es inter- essant zu sehen, wie dem Klemens überall das Neue und das Alte Testament durcheinanderlaufen und er sie zu vereinbaren bemüht ist, jedoch meistens mit dem Alten Testament das Neue austreibt. Gleich am Eingang des dritten Kapitels wirft erden Markioniten vor, dass sie, nach dem Vorgang des Plato und Pytha- {joras, die Schöpfung schlecht befunden hätten, indem Markion lehre, es sei eine schlechte Natur, aus schlech- tem Stoff (cpuai? xaxTf), ex tö uXyj? xaxTj?); daher man diese Welt nicht bevölkern, sondern der Ehe sich ent- halten solle ([jLTj ßouXoijLSVoi xov xoo[x&v oojjlttXtjpouv, aiTE- yBobai ^ajACiu). Dies nimmt nun Klemens, dem über- haupt das Alte Testament viel mehr als das Neue zu- sagt und einleuchtet, ihnen höchst übel. Er sieht darin ihren schreienden Undank, Feindschaft und Empörung gegen Den, der die Welt gemacht hat, den gerechten Demiurgos, dessen Werk sie selbst seien und dennoch von seinen Schöpfungen Gebrauch zu machen ver- schmäheten, in gottloser Rebellion „die naturgemässe Gesinnung verlassend" (avTi':aaoo[j.evoi xo) tcoitjtto xoj ocpa>v, z-^vipaTeic, t^ Trpo? xov TreTionrjxoxa £X^P^' [iT] ßooXofievot J(p7]a^ai xoi? ür^ auxou xxioOsiotv, aoeßei deojxaj^tcf xu)V xaxa cpuoiv exoxavxe? XoYto(i,o>v). — Dabei will er, in seinem heiligen Eifer, den Markio- niten nicht einmal die Ehre der Originalität lassen, sondern gewaffnet mit seiner bekannten Gelehrsam- keit, hält er ihnen vor und belegt es mit den schönsten Anführungen, dass schon die alten Philosophen, dass Herakleitos und Empedokles, Pythagoras und Plato, Orpheus und Pindaros, Herodot und Euripides, und noch die Sibylle dazu, die jammervolle Beschaffenheit der Welt tief beklagt, also den Pessimismus gelehrt haben. In diesem gelehrten Enthusiasmus merkt er nun nicht, dass er gerade dadurch den Markioniten Wasser auf ihre Mühle fördert, indem er ja zeigt, dass „Alle die Weisesten aller der Zeiten" das Selbe, wie sie, gelehrt und gesungen haben; son- dern getrost und beherzt führt er die entschiedensten 798 und energischesten Aussprüche der Alten in jenem Sinne an. Ihn freihch machen sie nicht irre: mögen Weise das Daseyn als traurig bejammern, mögen Dich- ter sich in den erschütterndesten Klagen darüber er- giessen, mag Natur und Erfahrung noch so laut gegen den Opitimismus schreien, — dies Alles ficht unsern Kirchenvater nicht an : hält er doch seine Jüdische Of- fenbarung in der Hand, und bleibtgetrost.DerDemiur- gos hat die Welt gemacht : hieraus ist a priori gewiss, dass sie vortrefflich sei : und da mag sie aussehen wie sie will. — Eben so geht es sodann mit dem zweiten Punkt, der e^xpaisia, durcfi welclie, nach seiner An- sicht, die Marluoniten ihren Undank gegen den De- miurgos (a)(apioT£iv rcp OYjfxioopY«)) und die Wider- spanstigkeit, mit der sie seine Gaben von sich weisen, an den Tag legen {hC avTixa^iv tz^oc, tov OTrjjxioupYov, xrjv 5(prjOtv Tcov xoojj-ixcuv 7tapaixou[j.evoi). Da haben nun auch schon die Tragiker den Enkratiten (zum Nachtheil ihrer Originalität) vorgearbeitet und das Selbe gesagt: nämlich indem auch sie den endlosen Jammer des Daseyns beklagten, haben sie hinzugefügt, es sei hesser, keine Kinder in eine solche Welt zu setzen; — wel- ches er nun wieder mit den schönsten Stellen belegt und zugleich die Pythagoreer beschuldigt, aus diesem Grunde dem Gesclilechtsgenuss entsagt zu haben. Dies Alles aber schadet ihm nichts: er bleibt bei sei- nem Satz, dass alle Jene sich durch ihre Enthaltsam- keit versündigen an dem Demiurgos, indem sie ja lehren, dass man nicht heirathen, nicht Kinder zeugen, nicht neue Unglückliche in die Welt setzen, nicht dem Tode neues Futter vorwerfen soll (ot e^xpatetai; aoeßouai ei<; ~e ttjv xtioiv xai tov aYiov 07][j.toupYov, xov irav- Toxpaxopa fxovov t^eov, xai oioaoxooai, [xtj oeiv uapaoej^eo- Oat Ya[j.ov xai Traioouoüav, [xtjos avTetaa^eiv Ta> xoo(jlu> ouatuyTjoovTa? stspou?, [xirjoe eTrij^oprjyeiv {^avatoj xpocpTjv. c. 6). — Dem gelehrten Kirchenvater, indem er so die eyxpaxeia anklagt, scheint dabei nicht geahndet zu haben, dass gleich nach seiner Zeit die Ehelosig- keit des Christlichen Priesterstandes mehr und mehr eingeführt und endlich im 1 1 . Jahrhundert zum Ge- setz erhoben werden sollte, weil sie dem Geiste des 799 Neuen Testaments entspricht. Gerade diesen haben die Gnostiker lieFer aut"{;efasst und hesser verstanden, als unser Kirchenvater, der mehr Jude, als Christ ist. Die Auffassunjj der Gnostiker tritt sehr deutlich her- vor am Anfanj; des neunten Kapitels, wo aus dem Evangelio der Aegypter angeführt wird: auTo? eiTiev 6 ScDxr^p, „TjXOov xaxaXuoai la epya ttj? ihrjXeia?'" ibjXeiac jjLEv, TTj.; £7ci{)uixia?" £f*ya os, yevsaiv y.ai cp&opav (ajunt enim dixisse Servatorem: „veni ad dissolvendum opera fe- minae" : femiuae quidem, cupiditatis ; opera autem, ge- nerationem et interituui) ; — ganz hesonders aber am Schlüsse des dreizehnten und Anfang des vierzehnten Kapitels. Die Kirche freilich musste darauf bedacht seyn, eine Religion auf die Beine zu bringen, die doch auch gehen und stehen könne, in der Welt, wie sie ist, und unter den Menschen; daher sie diese Leute für Ketzer erklärte. — Am Schlüsse des siebenten Kapitels stellt unser Kirchenvater den Indischen Asketismus, als schlecht, dem Christlich-Jüdischen entgegen; — wo- bei der fundamentale Unterschied des Geistes beider Religionen deutlich hervortritt. Nämlich im Juden- thum und Christenthum läuft Alles zurück auf Ge- horsam, oder Ungehorsam, gegen Gottes Befehl, — UTiaxoT] xat ^rapaxoT]; wie es uns Geschöpfen angemessen ist, Tjjxiv, toi? TTS'JTXaojj.svoti; otzo tt]? tou nav-oxpatopo? ßou- XirjoEü)? (nobis, qui ab Oumipotentis voluntate eflfiicti su- mus) c. 14. — Dazu kommt, als zweite Pflicht, Xarpeusiv Oeto C«>vTi, dem Herrn dienen, seine Werke preisen und von Dank überströmen. — Da sieht es denn frei- lich im Brahmanismus und Buddhaismus ganz anders aus, indem in Letzterem alle Besserung, Bekehrung und zu hoHende Erlösung aus dieser Welt des Leidens, diesem Sansara, ausgeht, von der Erkenntniss der vier Grundwahrheiten : i) dolor, 2) doloris ortus, 3) doloris interitus, 4) octopartita via ad doloris sedationem. — Dhammapadam, ed. Fausböll, p. 35 et 347- Die Er- läuterung dieser vier Wahrheiten findet man in Bur- nouf, Introduct. ä Thist. du Buddhisme, p. 629, und in allen Darstellungen des Buddhaismus. In Wahrheit ist nicht das Judenthum, mit seinem Travxa xaXa Xiav, sondern Brahmanismus und Bud- 800 dhaismus sind, dem Geiste und der ethischen Ten- denz nach, dem Christenthum verwandt. Der Geist und die ethische Tendenz sind aber das Wesenthche einer Rehgion, nicht die Mythen, in welche sie solche kleidet. Ich gebe daher den Glauben nicht auf, dass die Lehren des Christenthums irgendwie aus jenen Urreligionen abzuleiten sind. Auf einige Spuren hie- von habe ich schon im zweiten Bande der Parerga, §. 179, hingewiesen. Ihnen ist hinzuzufügen, dass Epiphanias (Haeretic. XVIII) berichtet, die ersten Je- rusalemitischen Juden-Christen, welche sich Nazaräer nannten, hatten sich aller thierischen Nahrung ent- halten. Vermöge dieses Ursprungs (oder wenigstens dieser üebereinstimmung) gehört das Christenthum dem alten, wahren und erhabenen Glauben der Mensch- heit an, welcher im Gegensatz steht zu dem falschen, platten und verderblichen Optimismus, der sich im Griechischen Heidenthum, im Judenthum und im Islam darstellt. Die Zendreligion hält gewissermassen das Mittel, indem sie, dem Ormuzd gegenüber, am Ahriman ein pessimistisches Gegengewicht hat. Aus dieser Zendreligion ist, wie J. G. Rhode, in seinem Buche „Die heilige Sage des Zendvolks", gründlich nachgewiesen hat, die Jadenreligion hervorgegangen: aus Ormuzd ist Jehova und aus Ahriman Satan ge- worden, der jedoch im Judenthum nur noch eine sehr untergeordnete Rolle spielt, ja, fast ganz verschwindet, wodurch denn der Optimismus die Oberhand gewinnt und nur noch der Mythos vom Sündenfall, der eben- falls (als Fabel von Meschian und Meschiane) aus dem Zend-Avesta stammt, als pessimistisches Element übrig bleibt, jedoch in Vergessenheit geräth, bis er, wie auch der Satan, vom Christenthum wieder auf- genommen wird. Inzwischen stammt Ormuzd selbst aus dem Brahmanismus, wiewohl aus einer niedrigen Religion desselben : er ist nämlich kein Anderer, als Indra, jener untergeordnete, oft mit Menschen riva- lisirende Gott des Firmaments und der Atmosphäre; wie dies sehr richtig nachgewiesen hat der vortreff- liche /. /. Schmidt, in seiner Schrift „Ueber die Ver- wandtschaft der gnostisch-theosophischen Lehren mit 5i Schopenhauer II 00 I den Religionen des Orients". Dieser Indra-Ormuzd- Jehova mnsste nachnials in das Christenthum, da es in Judäa entstand, überjjehen, dessen kosmopolitischem Charakter zufol{je er jedoch seine Eifj^ennamen ablef[te, um in der Landessprache jeder l)ekehrten Nation durch das Appellativum der durch ihn verdrängten übermenscliHchen Individuen bezeichnet zu werden, als deos, Dens, welches vom Sanskrit Deva kommt (wovon auch devil, Teufel), oder bei den Gothisch- (jcrmanischen Völkern durch das von Odin oder Wo- dan, Guodau, Godan stammende Wort God, Gott. Eben so nahm er, in dem gleichfalls aus dem Juden- thum stammenden Islam, den in Arabien auch schon früher vorhandenen Namen Allah an. Diesem analog haben auch die Götter des Griechischen Olymps, als .sie, in vorhistorischer Zeit, nach Italien verpflanzt wurden, die Namen der vorher herrschenden Götter angenommen; daher Zeus bei den Römern Jupiter, Hera Juno, Hermes Merkur heisst u. s. f. In China er- wächst den Missionarien ihre erste Verlegenheit dar- aus, dass die Chinesische Sprache gar kein Appellativ der Art, wie auch kein Wort für Schaffen hat*); da die drei Religionen Chinas keine Götter kennen, we- der im Plural, noch im Singular. Wie dem übrigens auch seyn möge, dem eigent- lichen Christenthum ist jenes Travia xaXa Xiav des Al- ten Testaments wirklich fremd : ilenn von der Welt wird im Neuen Testament durchgängig geredet als von etwas, dem man nicht angehört, das man nicht liebt, ja dessen Beherrscher der Teufel ist**). Dies *) Vgl. ,,lJel)er den ^Villen in der Natur", zweite Auflage, S. 124. '*) Z. B. .loli. 12, 25 und 3i. — 14, 3o. — i5, 18. 19. — 16, 33. — Coloss. 2, 20. — Eph. 2, I — 3. — i. Job. 2. i5 — 17, und 4-, 4- ^- ^*^^ dieser Gelegenheit kann man sehen, wie gewisse protestantische Theologen in ihren Bemühungen, den Text des Neuen Testaments ihrer rationalistischen, optimi- stischen und unsäglich platten Weltansicht gemäss zu miss- deuten, so weit gehen, dass sie diesen Text in ihren Ueber- setzungen geradezu verfälschen. So hat denn H. A. Schott, in seiner dem Griesbachischen Texte 1 8o5 beigegebenen neuen 802 stimmt zu dem asketischen Geiste der Verläugnung des eigenen Selbst und der Ueberwindung der Welt, welcher, eben wie die gränzenlose Liebe des Nächsten, selbst des Feindes, der Grundzug ist, welchen das Ghristenthuni mit dem Brahmanismus und Buddhais- mus gemein bat, und der ihre Verwandtschaft beur- kundet. Bei keiner Sache hat man so sehr den Kern von der Schaale zu unterscheiden, wie beim Christen- thum. Eben weil ich diesen Kern hoch schätze, mache ich mit der Schaale bisweilen wenig Umstände: sie ist jedoch dicker, als man meistens denkt. Der Protestantismus hat, indem er die Askese und deren Centralpunkt, die Verdienstlichkeit des Cölibats, eliminirte, eigentlich schon den innersten Kern des Ghristenthums aufgegeben und ist insofern als ein Abfall von demselben anzusehen. Dies hat sich in un- sejn Tagen herausgestellt in dem allmäligen Ueber- gang desselben in den platten Rationalismus, diesen modernen Pelagianisnuis, der am Ende hinausläuft auf eine Lehre von einem liebenden Vater, der die Welt gemacht hat, damit es hübsch vergnügt darauf zugehe (was ihm dann freilich missrathen seyn müss- te), und der, wenn man nur in gewissen Stücken sich seinem Willen anbequemt, auch nachher für eine noch viel hübschere Welt sorgen wird (bei der nur zu beklagen ist, dass sie eine so fatale Entree hat). Das mag eine gute Religion für komfortable, vei- heirathete und aufgeklärte protestantische Pastoren seyn; aber das ist kein Ghristenthum. Das Christen- thum ist die Lehre von der tiefen Verschuldung des Menschengeschlechts durch sein Daseyn selbst und dem Drange des Herzens nach Erlösung daraus, wel- che jedoch nur durch die schwersten Opfer und durch die Verläugnung des eigenen Selbst, also durch eine gänzliche Umkehrung der menschlichen Natur er- langt werden kann. — Luther mochte, vom prakti- schen Standpunkte aus, d. h. in Beziehung auf die Version das Wort xoa[XO?, Joh. i5, i8. 19, mit Judaei über- setzt, I. Joh. 4) 4? '"'^ profani homines, und Coloss, 2, 20, axoiyfß.xa xou xoafiou mit elementa Judaica; während Luther überall das Wort ehrlich und richtig durch „Weh" wiedergiebt. 5.* 8o3 Kirchen{]räuel seiner Zeit, die er abstellen wollte, ganz Recht haben; nicht aber ebenso vom theoreti- sclien Stand[)unkte aus. Je erhabener eine Lehre ist, desto mehr steht sie, der im Ganzen niedrig und schlecht gesinnten Menschen natiu* gegenüber, dem Missbrauch offen: darum sind im Katholicismus der Missbränche so sehr viel mehr und grössere, als im Protestantismus. So z, B. ist das Mönchsthum, diese methodische und, zu gegenseitiger Ermnthigung, ge- meinsam betriebene Verneinung des Willens, eine An- stalt erhabener Art, die aber eben darum meistens ihrem Geiste untreu wird. Die empörenden Missbräu- che der Kirche riefen im redlichen Geiste Luthers eine hohe Indignation hervor. Aber in Folge dersel- ben kam er dahin, vom Christenthum selbst möglichst viel abdingen zu wollen, zu welchem Zweck er zu- nächst es auf die Worte der Bibel beschränkte, dann aber auch im wohlgemeinten Eifer zu weit ging, in- dem er, im asketischen Princip, das Herz desselben angriff. Denn nach dem Austreten des asketischen Princips trat nothwendig bald das optimistische an seine Stelle. Aber Optimismus ist, in den Religionen, wie in der Philosophie, ein Grundirrthum, der aller Wahrheit den Weg vertritt. Nach dem Allen scheint mir der Katholicismus ein schmählich missbrauchtes, der Protestantismus aber ein ausgeartetes Christen- thum zu seyn, das Christenthum überhaupt also das Schicksal gehabt zu haben, dem alles Edele, Erha- bene und Grosse anheimfallt, sobald es unter Men- schen bestehen soll. Dennoch aber hat, selbst im Schooss des Protestan- tismus, der wesentlich asketische und enkratistische Geist des Christenthums sich wieder Luft gemacht und ist daraus zu einem in solcher Grösse und Bestimmtheit vielleicht nie zuvor dagewesenen Phänomen hervorge- gangen, in der höchst merkwürdigen Sekte derShakers, in Nord-Amerika, gestiftet durch eine Engländerin Anna Lee, 1774- Diese Sektirer sind bereits auf 6000 an- gewachsen, welche, in 1 5 Gemeinden getheilt, mehrere Dörfer in den Staaten Neu-York und Kentucki inne haben, vorzüglich im Distrikt Neu-Libanon, bei Nas- «o4 sau-village. Der Grundzug ihrer religiösen Lebens- regel ist Ehelosigkeit und gänzliche Enthaltsamkeit von aller Geschlechtsbefriedigung. Diese Regel wird, wie selbst die sonst auf alle Weise sie verhöhnenden und verspottenden Englischen und Nordamerikani- schen Besucher einmüthig zugeben, streng und mit vollkommener Redlichkeit befolgt; obgleich Brüder und Schwestern bisweilen sogar das selbe Haus be- wohnen, am selben Tische essen, ja, in der Kirche beim Gottesdienste gemeinschaftlich tanzen. Denn wer jenes schwerste aller Opfer gebracht hat, darf tanzen vor dem Herrn: er ist der Sieger, er hat überwunden. Ihre Gesänge in der Kirche sind überhaupt heiter, ja, zum Theil lustige Lieder. So wird denn auch jener, auf die Predigt folgende Kirchen-Tanz vom Gesänge der Uebrigen begleitet; taktmässig und lebhaft aus- geführt schliesst er mit einer Gallopade, die bis zu Erschöpfimg fortgesetzt wird. Zwischen jedem Tanz ruft einer ihrer Lehrer laut aus: „Gedenket, dass ihr euch freuet vor dem Herrrn, euer Fleisch ertödtet zu haben; denn Dieses hier ist der alleinige Gebrauch, den wir von unsernwiderspänstigen Gliedern machen." An die Ehelosigkeit knüpfen sich von selbst die mei- sten übrigen Bestimmungen. Es giebt keine Familie, daher auch kein Privateigenthum, sondern Güterge- meinschaft. Alle sind gleich gekleidet, quäkerujässig und mit grosser Reinlichkeit. Sie sind industriell und fleissig: Müssiggang wird nicht geduldet. Auch haben sie die beneidenswerthe Vorschrift, alles unnöthige Geräusch zu vermeiden, wie Schreien, Thürenwerfen, Peitschenknallen, starkes Klopfen u.s. w. Ihre Lebens- regel sprach Einer von ihnen so aus: „Führet ein Le- ben der Unschuld und Reinheit, liebt euren Nächsten, wie euch selbst, lebt mit allen Menschen in Frieden und enthaltet euch des Krieges, Blutvergiessens und aller Gewaltthätigkeit gegen hindere, wie auch alles Trachtens nach weltlicher F^hre und Auszeichnung. Gebt Jedem das Seine, und beobachtet Heiligkeit: denn ohne diese kann Keiner den Herrn schauen. Thut Al- len Gutes, so weit Gelegenheit ist und eure Kräfte reichen." Sie überreden Niemanden zum Beitritt, son- 8o5 dem prüfen die sich Meldenden durch ein mehrjähri- ges Noviziat. Auch steht Jedem der Austritt frei: höchst selten wird Einer, wegen Vergehungen, aus- gestossen. Zugehrachte Kinder werden sorgfältig er- zogen, und erst wann sie erwachsen sind, thun sie freiwillig Profess. Es wird angeführt, dass hei den Kon- troversen ihrer Vorsteher mit anglikanischen Geist- lichen diese meistens den Kürzeren ziehen, da die Ar- gumente aus neutestamentlichen Bihelstellen bestehen. — Ausführlic:here Berichte über sie findet man vor- züglich in MaxwelTs Run through the United slates, 1 84 1 ; ferner auch in Benedicts History of all religions, i83o; desgleichen in den Times, Novr. 4. 1887; und in der deutschen Zeitschrift Columbus, Mai-Heft, i83i. — Eine ihnen sehr ähnliche Deutsche Sekte in Ame- rika, welche ebenfalls in strenger Ehelosigkeit und Enthaltsamkeit lebt, sind die Rappisten, über welche berichtet wird in F. Löher's „Geschichte und Zustände der Deutschen in Amerika", i853. — Auch in Russ- land sollen die Raskolnik eine ähnliche Sekte seyn. Die Gichtelianer leben ebenfalls in strenger Keusch- heit. — Aber schon bei den alten Juden finden wir ein Vorbild aller dieser Sekten, die Essener, über wel- che selbst Plinius berichtet (Hist. nat., V, i5), und die den Shakers sehr ähnlich waren, nicht allein im Cölibat, sondern auch in andern Stücken, sogar im Tanze beim Gottesdienst*), welches auf die Vermu- thung führt, dass die Stifterin dieser jene zum Vor- bild genommen habe. — Wie nimmt sich, solchen Thatsachen gegenüber, Luthers Behauptung aus: Llbi natura, queniadniodum a Deo nobis insita est, fertur ac rapitur, ßeri nuUo modo potest, ut extra matriino- nium caste vivatur. (Gatech. maj.) — ? Wenn gleich das Christenthum, im Wesentlichen, nur Das gelehrt hat, was ganz Asien damals schon lange und sogar besser wusste; so war dasselbe den- noch für Europa eine neue und grosse Offenbarung, in Folge welcher daher die Geistesrichtung der Euro- päischen Völker gänzlich umgestaltet w urde. Denn *) fiellermaim, Gcschicluliclie Nachrichten über Essäer und Therapeuten. i82i,S. 106. 806 es schloss ihnen die metaphysische Bedeutung des Daseyns auf und lehrte sie demnach hinwegsehen über das enge, armsähge und ephemere Erdenleben, und es nicht mehr als Selbstzweck, sondern als einen Zu- stand des Leidens, der Schuld, der Prüfung, des Kampfes und der Läuterung betrachten, aus welchem man, mittelst moralischer Verdienste, schwerer Ent- sagung und Verläugnung des eigenen Selbst, sich emporschwingen könne zu einem bessern, uns unbe- greiflichen Daseyn. Es lehrte nämlich die grosse Wahrheit der Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben, im Gewände der Allegorie, indem es sagte, dass durch Adams Sündenfall der Fluch Alle getroffen habe, die Sünde in die Welt gekommen, die Schuld auf Alle vererbt sei ; dass aber dagegen durch Jesu Opfertod Alle entsühnt seien, die Welt erlöst, die Schuld getilgt und die Gerechtigkeit versöhnt. Um aber die in diesem Mythos enthaltene Wahrheit selbst zu verstehen, muss man die Menschen nicht bloss in der Zeit, als von einander unabhängige Wesen betrachten, sondern die (Platonische) Idee des Men- schen auffassen, welche sich zur Menschenreihe ver- hält, wie die Ewigkeit an sich zu der zur Zeit aus- einandergezogenen Ewigkeit; daher eben die, in der Zeit, zur Menschenreihe ausgedehnte ewige Idee Mensch durch das sie verbindende Band der Zeugung auch wieder in der Zeit als ein Ganzes erscheint. Be- hält man nun die Idee des Menschen im Auge; so sieht man, dass Adams Sündenfall die endliche, thie- rische, sündige Natur des Menschen darstellt, welcher gemäss er eben ein der Endlichkeit, der Sünde, dem Leiden und dem Tode anheim gefallenes Wesen ist. Dagegen stellt Jesu Christi Wandel, Lehre und Tod die ewige, übernatürliche Seite, die Freiheit, die Er- lösung des Menschen dar. Jeder Mensch nun ist, als solcher und potentiä, sowohl Adam als Jesus, je nach- dem er sich auffasst und sein Wille ihn danach be- stimmt; in Folge wovon er sodann verdammt und dem Tode anheimgefallen, oder aber erlöst ist und das ewige Leben erlangt. — Diese Wahrheiten nun waren, im allegorischen, wie im eigentlichen Sinn, 807 völli{; neu, in Be7.n{j auf Griechen und Römer, als welche noch {gänzlich im Lehen auf{jieng;en und über dasselbe nicht ernstlich hinausblickten. Wer dies Letztere bezweifelt, sehe wie noch Cicero (pro Cluen- tio, c. 6i) und Sallust (Catil., c. 4?) vom Zustande nach dem Tode reden. Die Alten, obwohl in fast allem Andern weit vor^jerückt, waren in der Hauptsache Kinder gcbliei)en, und wurden darin sogar von den Druiden übertroften, die doch Metempsychose lehr- ten. Dass ein Paar Philosophen, wie Pythagoras und Plato, anders dachten, ändert hinsichtlich auf das Ganze nichts. Jene grosse, im Christenthum, wie im Brahmanis- mus und Buddhaismus enthaltene Grundwahrheit also, nämlich das Bedürfniss der Erlösung aus einem Daseyn, welches dem Leiden und dem Tode anheim- gefallen ist, und die Erreichbarkeit derselben durch Verneinung des Willens, also durch ein entschiedenes der Natur Entgegentreten, ist ohne allen Vergleich die wichtigste, die es geben kann, zugleich aber der natürlichen Richtung des Menschengeschlechts ganz entgegen und nach ihren wahren Gründen schwer zu fassen; wie denn alles bloss allgemein und abstrakt zu Denkende der grossen Mehrzahl der Menschen ganz unzugänglich ist. Daher bedurfte es für diese, lun jene grosse Wahrheit in den Bereich ihrer prak- tischen Anwendbarkeit zu bringen, überall eines mythischen Vehikels derselben, gleichsam eines Ge- fässes, ohne welches jene sich verheren und verflüch- tigen würde. Die Wahrheit musste daher überall das Gewand der Fabel borgen und zudem stets sich an das jedes Mal historisch Gegebene, bereits Bekannte und bereits Verehrte anzuschliessen bestrebt sevn. W^as, bei der niedrigen Gesiniumg, der intellektuellen Stumpfheit und überhaupt Brutalität des grossen Haufens aller Zeiten und Länder, ihm sensu proprio unzugänglich l)liebe, muss ihm, zum praktischen Behuf, sensu allegorico beigebracht werden, um sein Leitstern zu seyn. So sind denn die oben genannten Glaubenslehren anzusehen als die heiligen Gefässe, in welchen die seit mehreren Jahrtausenden, ja, vielleicht 808 seit dem Beginn des Menschengeschlechts erkannte und ausgesprochene grosse Wahrheit, die jedoch an sich selbst, in Bezug auf die Masse der Menschheit, stets eine Geheiuilehre bleibt, dieser nach Maassgabe ihrer Kräfte zugänglich gemacht, aufbewahrt und durch die Jahrhunderte weitergegeben wird. Weil jedoch Alles, was nicht durch und durch aus dem unzerstörbaren Stoff der lauteren Wahrheit besteht, dem Untergange ausgesetzt ist; so muss, so oft diesem ein solches Gefäss, durch die Berührung mit einer ihm heterogenen Zeit, entgegengeht, der heilige In- halt irgendwie, durch ein anderes, gerettet und der Menschheit erhalten werden. Die Philosophie aber hat die Aufgabe, jenen Inhalt, da er mit der lauteren W^ahrheit Eins ist, für die allezeit äusserst geringe Anzahl der zu denken Fähigen, rein, unvermischt, also bloss in abstrakten Begriffen, mithin ohne jedes Vehikel darzustellen. Dabei verhält sie sich zu den Religionen, wie eine gerade Linie zu mehreren neben ihr laufenden Kurven: denn sie spricht sensu proprio aus, erreicht mithin geradezu, was jene unter Ver- hüllungen zeigen vmd auf Umwegen erreichen. Wollte ich nun noch, mn das zuletzt Gesagte durch ein Beispiel zu erläutern und zugleich eine philoso- phische Mode meiner Zeit mitzumachen, etwan ver- suchen, das tiefste Mysterium des Christentums, also das der Trinität, in die Grundbegriffe meiner Philo- sophie aufzulösen; so könnte Dieses, unter den bei solchen Deutungen zugestandenen Licenzen, auf fol- gende Weise geschehen. Der heilige Geist ist die ent- schiedene Verneinung des W^illens zum Leben : der Mensch, in welchem solche sich in concreto darstellt, ist der Sohn. Er ist identisch mit dem das Leben bejahenden und dadurch das Phänomen dieser an- schaulichen Welt hervorbringenden Willen, d. i. dem Vater, sofern nämlich die Bejahung imd Verneinung entgegengesetzte Akte des selben Willens sind, dessen Fähigkeit zu Beidem die alleinige wahre Freiheit ist. — Inzwischen ist dies als ein blosser lusus ingenii anzusehen. Ehe ich dies Kapitel schliesse, will ich einige Be- 809 lejje zu Dem beibrinjjen, was ich §. 68 des ersten Bandes durch den Ausdruck AeuTspo? irXou? bezeich- net habe, nämhch die Herbeiführung der Verneinung des Willens durch das eigene, schwer gefühlte Leiden, also nicht bloss durch das Aneignen des fremden und die durch dieses vermittelte Erkenntniss der Nichtig- keit und Trübsäligkeit unsers Daseyns. Was bei einer Erhebung solcher Art und dem durch sie eingeleiteten Läuterungsprocess im Innern des Menschen vorgeht, kann man sich fasslich machen an Dem, was jeder erregbare Mensch beim Zuschauen eines Trauerspiels erfahrt, als womit es verwandter Natur ist. Nämlich etwan im dritten und vierten Akt wird ein Solcher durch den Anblick des mehr und mehr getrübten und bedrohten Glückes des Helden schmerzlich affi- zirt und beängstigt: wann hingegen dieses im fünften Akte gänzlich scheitert und zerschellt, da spürt er eine gewisse Erhebung seines Gemüthes, welche ihm ein Genügen unendlich höherer Art gewährt, als der Anblick des noch so sehr beglückten Helden je ver- mocht hätte. Dieses nun ist, in den schwachen Wasser- farben der Mitempfindung, wie sie eine wohlbewusste Täuschung erregen kann, das Selbe, was mit der Energie der Wirklichkeit in der Empfindung des eigenen Schicksals vorgeht, wann das schwere Un- glück es ist, was den Menschen endlich in den Hafen gänzlicher Resignation treibt. Auf diesem Vorgange beruhen alle den Menschen ganz umwandelnden Be- kehrungen, wie ich sie im Texte geschildert habe. Als eine der daselbst erzählten Bekehrungsgeschichte des Raimund Liillius auffallend ähnliche und über- dies durch ihren Erfolg denkwürdige mag die des Abbe Rance hier in wenigen Worten ihre Stelle finden. Seine Jugend war dem Vergnügen und der Lust ge- widmet: er lebte endlich in einem leidenschaftlichen Verhältniss mit einer Frau von Montbazon. Eines Abends, als er diese besuchte, fand er ihre Zimmer leer, in Unordnung und dunkel. Mit dem Fusse stiess er an etwas: es war ihr Kopf, den man vom Rumpfe getrennt hatte, weil der Leichnam der plötzlich Ge- storbenen sonst nicht in den bleiernen Sarg, der da- 8io neben stand, hätte gehen können. Nach Ueberstehung eines gränzenlosen Schmerzes wurde nunmehr, i663, Bance der Reformator des damals von der Strenge seiner Regeln gänzlich abgewichenen Ordens der Trappisten, in welchen er sofort trat, und der durch ihn zu jener furchtbaren Grösse der Entsagung zurück- geführt wurde, in welcher er noch gegenwärtig zu Latrappe besteht und, als die methodisch durch- geführte, durch die schwersten Entsagungen und eine unglaublich harte und peinliche Lebensweise beför- derte Verneinung des Willens, den Besucher mit hei- ligem Schauer erfüllt, nachdem ihn schon bei seinem Empfange die Demuth dieser ächten Mönche gerührt hat, die durch Fasten, Frieren, Nachtwachen, Beten imd Arbeiten abgezehrt, vor ihm, dem Weltkinde und Sünder, niederknieen, um seinen Segen zu er- bitten. In Frankreich hat von allen Mönchsorden dieser allein sich, nach allen Umwälzungen, vollkom- men erhalten ; welches dem tiefen Ernst, der bei ihm unverkennbar ist und alle Nebenabsichten ausschliesst, zuzuschreiben ist. Sogar vom Verfall der Religion ist er unberührt geblieben; well seine W^urzel eine tiefer in der menschlichen Natur liegende ist, als irgend eine positive Glaubenslehre. Dass die hier in Betrachtung genommene, von den Philosophen bisher gänzlich vernachlässigte, grosse und schnelle Umwälzung des innersten Wesens im Menschen am häufigsten da eintritt, wo er, bei vollem Bewusstseyn, einem gewaltsamen und gewissen Tode entgegengeht, also bei Hinrichtungen, habe ich im Texte erwähnt. Um aber diesen Vorgang viel deut- licher vor Augen zu bringen, halte ich es keineswegs der Würde der Philosophie unangemessen, die Aeusse- rungen einiger Verbrecher vor der Hinrichtung her- zusetzen; wenn ich mir auch den Spott, dass ich auf Galgenpredigten provocire, dadurch zuziehen sollte. Vielmehr glaube ich allerdings, dass der Galgen ein Ort ganz besonderer Offenbarungen und eine Warte ist, von welcher aus dem Menschen, der daselbst seine Besinnung behält, die Aussichten in die Ewigkeit sich oft weiter aufthun und deutlicher darstellen, als den 8ii meisten Philosophen über den Paragraphen ihrer rationalen Psychol<j{;ie und Theologie. — Folgende Galgenpredigt also hielt, am i5. April 1887, zu Glocester, ein gewisser Bartlett, der seine Schvvieger- nuUter gemordet hatte: „Engländer und Landsleute! Nur sehr wenige Worte habe ich zu sagen: aber ich bitte euch, Alle und Jeden, dass ihr diese wenigen Worte tief in eure Herzen dringen lasst, dass ihr sie im Andenken behaltet, nicht nur während ihr dem gegenwärtigen, traurigen Schauspiele zusehet, sondern sie nach Hause nehmt und sie euren Kindern und Freunden wiederholet. Hierum also flehe ich euch an, als ein Sterbender, als Einer, für den das Todes- werkzeug jetzt bereit steht. Und diese wenigen Worte sind: macht euch los von der Liebe zu dieser ster- benden Welt und ihren eitelen Freuden: denkt we- niger an sie und mehr an euren Gott. Das thut! Bekehret euch, bekehret euch! Denn, seid versichert, dass ohne eine tiefe und wahre Bekehrung, ohne ein Umkehren zu eurem hinunlischen Vater, ihr nicht die geringste Hofinung haben könnt, jemals jene Gelilde der Säligkeit und jenes Landes des Friedens zu erreichen, welchem ich jetzt mit schnellen Schritten entgegenzugehen, die feste Zuversicht habe." (Nach den Times, vom 18. April iSSy.) — Noch merkwür- diger ist eine letzte Aeusserung des bekannten Mör- ders Greenacre, welcher am i. Mai 1887 in London hingerichtet wurde. Die englische Zeitung The Post berichtet darüber Folgendes, welches auch in Gali- gnani's Messenger vom 6. Mai 1837 abgedruckt ist: ,,Am Morgen seiner Hinrichtung empfahl ihm ein Herr, er möge sein Vertrauen auf Gott stellen und um Vergebung durch die Vermittelung Jesu Christi beten. Greenacre erwiderte: um Vergebung durch die Vermittelung Christi bitten sei eine Sache der Meinung; er seines Theils {jjaube, dass, in den Augen des höclistcn W^escns, ein Mohammedaner einem Christen gleich gelte mid eben so viel Anspruch auf Säligkeit habe. Er habe, seit seiner Gefangen- schaft, seine Aufmerksamkeit auf theologische Gegen- stände gerichtet, und ihm sei die Ueberzeugung ge- 812 worden, dass der Galgen ein Pass (pass-port) zum Himmel ist." Gerade die hier an den Tag gelegte Gleichgültigkeit gegen positive Religionen giebt dieser Aeusserang grösseres Gewicht; indem sie beweist, dass derselben kein fanatischer Wahn, sondern eigene, unmittelbare Erkenntniss zimi Grunde liegt. — Noch folgender Zug sei erwähnt, welchen Galignani's Mes- senger vom i5. August 1887 aus der Limerick Chro- nicle giebt: ,, Letzten Montag wurde Maria Cooney wegen des empörenden Mordes der Frau Ander- son hingerichtet. So tief war diese Elende von der Grösse ihres Verbrechens durchdrungen, dass sie den Strick, der ihr an den Hals gelegt wurde, küsste, indem sie demüthig Gottes Gnade anrief." — End- lich noch dieses: die Times vom 29. April i84-^ geben mehrere Briefe, welche der als Mörder des Delarüe verurtheilte Hocker am Tage vor seiner Hinrichtung geschrieben hat. hi einem derselben sagt er: „Tch bin überzeugt, dass, wenn nicht das natürliche Herz ge- brochen (the natural heart be broken) und durch göttliche Gnade erneuert ist, so edel und liebenswür- dig dasselbe auch der Welt erscheinen mag, es doch nimmer der Ewigkeit gedenken kann, ohne inner- lichen Schauder." — Dies sind die oben erwähnten Aussichten in die Ewigkeit, die sich von jener Warte aus eröffnen, und ich habe um so weniger Anstand genommen, sie herzusetzen, als auch Shakespeare sagt: out of these convertites There is much matter to be heard and learn'd*). (As you like it, last scene.) Dass auch das Christenthum dem Leiden als sol- chem die hier dargestellte läuternde und heiligende Kraft beilegt und dagegen dem grossen Wohlseyn eine entgegengesetzte Wirkung zuschreibt, \\2it Strauss in seinem „Leben Jesu" nachgewiesen. (Bd. i, Abschn. 2, Kap. 6, §. 72 und 74) Er sagt nämlich, dass die Makarismen in der Bergpredigt einen andern Sinn bei Lukas (6, 21), als bei Matthäus (5, 3) hätten: denn nur Dieser füge zu jjiaxapioi ot 'kxio'^oi hinzu *) Von diesen Bekehrten ist gar Vieles zu hören und zu leinen. .Si3 T({> Trv£U|xaTi, und zu TreivcuvTe? den Zusatz xrjv Sixato- ouvTfjv: l)ei ihm allein also seien die FJnfälti{»en und Denuithigen u. s. w. gemeiiit, hin{je{jen bei Lukas die eigentlicli Annen; so dass hier der Gejjensatz der sei, zwischen jetzigem Leiden und kiinltigeni Wohl- er^jehn. Bei den Ebioniten sei ein Hauptsatz, dass wer in dieser Zeit sein Theil nehme, in der künftigen leer ausgehe, und umgekehrt. Auf die Makarismen folgen demgemäss bei Lukas eben so viele ouai, welche den TrXouotot?, eii.T:e7rX7]0[x£voi<; und -j-eXcooi zugerufen werden, im Ebionitischen Sinn. Im selben Sinn, sagt er S. 6o4, sei die Parabel (Luk. i6, 19) vom reichen Mann und dem Lazarus gegeben, als welche durch- aus kein Vergehen Jenes, noch Verdienst Dieses er- zählt, und zum Maassstab der künftigen Vergeltung nicht das in diesem Leben gethane Gute, oder verübte Böse, sondern das hier erlittene Uebel und genossene Gute nimmt, im Ebionitischen Sinne. ,,Eine ähnliche Werthschätzung der äussern Armuth", fährt Shaiiss fort, „schreiben auch die andern Synoptiker (Matth. 19, 16; Mark. 10, 17; Luk. 18, 18) Jesu zu, in der Erzählung vom reichen Jüngling und der Gnome vom Kameel und Nadelöhr." Wenn man den Sachen auf den Grund geht, wird man erkennen, dass sogar die berühmtesten Stellen der Bergpredigt eine indirekte Anweisung zur frei- willigen Armuth, und dadurch zur Verneinung des Willens zum Leben, enthalten. Denn die Vorschrift (Matth. 5, i'^f'^Oi allen an uns gemachten Forderun- gen unbedingt Folge zu leisten. Dem, der um die Tunika mit uns rechten will, auch noch das Pallium dazu zu geben, u. s. w., imgleichen (ebendaselbst 6, 25 — 34) die Vorschrift, uns aller Sorgen für die Zu- kunft, sogar für den morgenden Tag, zu entschlagen und so in den Tag hinein zu leben, sind Lebensregeln, deren Befolgung unfehlbar zur gänzlichen Arnuuh führt, und die demnach auf indirekte Weise eben Das besagen, was Buddha den Seinigen geradezu vor- schreibt und durch sein eigenes Beispiel bekräftigt hat: werfet Alles weg und werdet Bikscim, d. h. Bett- ler. Noch entschiedener tritt Dieses hervor in der Stelle 8l4 Matth. 10, 9 — 15, wo den Aposteln jedes Eigenthum, sogar Schuhe und Wanderstah, untersagt wird und sie auf das Bettehi angewiesen werden. Diese Vor- schriften sind nachmals die Grundlage der Beltel- orden des Heil. Franciscus geworden (ßonaventurae viia S. Francisci, c. 3). Darum also sage ich, dass der Geist der Christlichen Moral mit dem des Brahma- nismus und Buddhaismus identisch ist. — In Gemäss- heit der ganzen hier dargelegten Ansicht, sagt auch Meister Eckhard (Werke, 13d. I, S. 492): „Das schnell- ste Tliier, das euch trägt zur Vollkommenheit, das ist Leiden." KAPITEL 49. DIE HEILSORDNUNG. ES gieht nur einen angeborenen Irrthum, und es ist der, dass wir dasind, um glücklich zu seyn. Angeboren ist er uns, weil er mit unserm Daseyn selbst zusammenfällt, und unser ganzes Wesen eben nur eine Paraphrase, ja unser Leib sein Monogramm ist: sind wir doch eben nur Wille zum Leben; die successive Befriedigung alles unsers Wollens aber ist was man durch den Begriff des Glückes denkt. So lange wir in diesem angeborenen Irrthum ver- harren, auch wohl gar noch durch optimistische Dog- men in ihm bestärkt werden, erscheint uns die Welt voll Widersprüche. Denn bei jedem Schritt, im Gros- sen wie im Kleinen, müssen wir erfahren, dass die Welt und das Leben durchaus nicht darauf eingerich- tet sind, ein glückliches Daseyn zu enthalten. Während nun hiedurch der Gedankenlose sich eben bloss in der Wirklichkeit geplagt fühlt, kommt bei Dem, wel- cher denkt, zur Pein in der Realität noch die theore- tische Perplexität hinzu, warum eine Welt und ein Leben, welche doch ein Mal dazu dasind, dass man darin glücklich sei, ihrem Zwecke so schlecht ent- sprechen? Sie macht vor der Hand sich Luft in Stoss- seufzern, wie: „Ach, warum sind derThränen unterem 8i5 Mond so viel:'" ii. dei};l. in., in ihrem Gefolf^e aber kommen beunruhi^jende Skrupel {jejjen die Voraus- setzungen jener vor^jefassten optimistischen Do{^men. Innnerhin ma{; man dal)ei versuchen, die Schuld sei- ner individuellen Un{jlücksali{jkeit l)ald auf die Um- stände, bald auf andere Menschen, bald auf sein eigenes Missgeschick, oder auch Ungeschick, zu schie- ben, auch wohl erkennen, wie Diese sämmtlich dazu mitgewirkt haben; Dieses ändert doch nichts in dem Ergebniss, dass man den eigentlichen Zweck des Le- bens, der ja im Glücklichseyn bestehe, verfehlt habe; worüber dann die Betrachtung, zumal wann es mit dem Leben schon auf die Neige geht, oft sehr nieder- schlajjend ausfällt: daher tragen fast alle ältlichen Gesichter den Ausdruck Dessen, was man auf Eng- lisch disappointment nennt. Ueberdies aber hat uns bis dahin schon jeder Tag unsers Lebens gelehrt, dass die Freuden und Genüsse, auch wenn erlangt, an sich selbst trügerisch sind, nicht leisten, was sie verspre- chen, das Herz nicht zufrieden stellen und endlich ihr Besitz wenigstens durch die sie begleitenden, oder aus ihnen entspringenden Unannehmlichkeiten ver- gällt wird; während hingegen die Schmerzen und Leiden sich als sehr real erweisen und oft alle Er- wartung übertreffen. — So ist denn allerdings im Leben x\lles geeignet, uns von jenem ursprünglichen Irrthum zurückzubringen und uns zu überzeugen, dass der Zweck unsers Daseyns nicht der ist, glück- lich zu seyn. Ja, wenn näher und unbefangen betrach- tet, stellt das Leben sich vielmehr dar, wie ganz eigentlich darauf abgesehen, dass wir uns nicht glück- lich darin fühlen sollen, indem dasselbe, durch seine ganze Beschaffenheit, den Charakter trägt von etwas, daran uns der Geschmack benonnnen, das uns ver- leidet werden soll und davon wir, als von einem Irr- thum, zurückzukommen haben, damit unser Herz von der Sucht zu geniessen, ja, zu leben, geheilt und von der Welt abgewendet werde. In diesem Sinne wäre es demnach richtiger, den Zweck des Lebens in unser Wehe, als in unser Wohl zu setzen. Denn die Betrachtungen am Schlüsse des vorigen Kapitels ha- 8iG ben {jezeigt, dass, je mehr man leidet, desto eher der wahre Zweck des Lebens erreicht, und je (ylückhcher man lebt, desto weiter er hinausgeschoben wird. Die- sem entspricht sogar der Schluss des letzten Briefes des Seneka: bonum tunc habebis tuum, quum intelli- ges infelicissimos esse felices; welcher allerdings auf einen Einfluss des Christenthums zu deuten scheint. — Auch die eigentümliche Wirkung des Trauerspiels beruht im Grunde darauf, dass es jenen angeborenen Irrthum erschüttert, indem es die Vereitehuig des menschlichen Strebens und die Nichtigkeit dieses gan- zen Daseyns an einem grossen und frappanten Beispiel lebhaft veranschaulicht und hiedurch den tiefsten Sinn des Lebens aufschliesst ; weshalb es als die erha- benste Dichtungsart anerkannt ist. — Wer nun, auf dem einen oder dem andern Wege, von jenem uns a priori einwohnenden Irrthum, jenem TiptuTov «|^£uoo? unsers Daseyns, zurückgekonmien ist, wird bald x\lles in einem andern Lichte sehen und jetzt die Welt, wenn auch nicht mit seinem Wunsche, doch mit sei- ner Einsicht im Einklang finden. Die Unfälle, jeder Art und Grösse, wenn sie ihn auch schmerzen, wer- den ihn nicht mehr wundern; da er eingesehen hat, dass gerade Schmerz und Trübsal auf den wahren Zweck des Lebens, die Abwendung des Willens von demselben, hinarbeiten. Dies wird ihm sogar, bei Allem was geschehen mag, eine wundersame Gelas- senheit geben, der ähnlich, mit welcher ein Kranker, der eine lange und peinliche Kur gebraucht, den Schmerz derselben als ein Anzeichen ihrer W^irksam- keit erträgt. — Deutlich genug spricht aus dem gan- zen menschlichen Daseyn das Leiden als die wahre Bestimmung desselben. Das Leben ist tief darin ein- gesenkt und kann ihm nicht entgehen: unser Eintritt in dasselbe geschieht unter Thränen, sein Verlauf ist im Grunde immer tragisch, und noch mehr sein Aus- gang. Ein Anstrich von Absichtlichkeit hierin ist nicht zu verkennen. In der Regel fährt das Schicksal dem Menschen im Hauptzielpunkt seiner Wünsche und Bestrebungen auf eine radikale Weise durch den Sinn; wodurch alsdann sein Leben eine tragische Tendenz 52 Schopenhauer II o I "y erhält, vermö(je welcher es geeignet ist, ihn von der Sucht, deren Darstellung jede individuelle Existenz ist, zu befreien und ihn dahin zu führen, dass er vom Leben scheidet, ohne den Wunsch nach ihm und sei- nen Freuden zurückzubebalten. Das Leiden ist in der Tliat der Läuterungsprocess, durch welchen allein, in den meisten Fällen, der Mensch geheiligt, d. h. von dem Irrweg des Willens zum Leben zurückgeführt wird. Dem entsprechend wird in den Christlichen Erbauungsbüchern so oft die Heilsamkeit des Kreuzes und Leidens erörtert und ist überhaupt sehr passend, das Kreuz, ein W'erkzeug des Leidens, nicht des Thuns, das Symbol der Christlichen Religion. Ja, schon der noch jüdische, aber so philosophische Koheleth sagt mit Recht: ,,Es ist Trauern besser, denn Lachen: denn durch Trauern wird das Herz gebessert" (7, 4)- Unter der Bezeichnvmg des ösuTspo? ttXoui; habe ich das Leiden gewissermaassen als ein Surrogat der Tu- gend und Heiligkeit dargestellt: hier aber muss ich das kühne Wort aussprechen, dass wir. Alles wohl erwogen, für vinser Heil und Erlösung mehr zu hoffen haben von Dem, was wir leiden, als von Dem, was wir thun. Gerade in diesem Sinne sagt Lamartine^ in seiner Hymne ä la douleur, den Schmerz anredend, sehr schön: Tu me traites 8ans doiite en favoii des cieux. Gar tu n'epargnes pas Ics lainies ä «ncs yeux. Ell bien ! je les recois comme tu Ics envoics, Tes maux seront nies biens, et tcs soupirs mos joies, Je sens qu'il est en toi, sans avoir combattu, Unc vertu divine au Heu de ma i'ertu^ Que tu ncs pas la mort de l'äme, mais sa vie, (Jue ton blas, cn frappant, gucrit et vivifie. Hat also schon das Leiden eine solche heiligende Kraft, so wird diese in noch höherm Grade dem mehr als alles Leiden gefürchteten Tode zukommen. Dem entsprechend wird eine der Ehrfurcht, welche grosses Leiden uns abnöthigt, verwandte vor jedem Gestor- benen gefühlt, ja, jeder Todesfall stellt sich gewisser- maassen als eine Art Apotheose oder Heiligsprechung dar; daher wir den Leichnam auch des unbedeuten- desten Menschen nicht ohne Ehrfurcht betrachten, und sogar, so seksam an dieser Stelle die Bemerkung klingen mag, vor jeder Leiche die Wache ins Gewehr tritt. Das Sterben ist allerdings als der eigentliche Zweck des Lebens anzusehen: im Augenblick dessel- ben wird alles Das entschieden, was durch den ganzen Verlauf des Lebens nur vorbereitet und eingeleitet war. Der Tod ist das Ergebniss, das ßesumc des Le- bens, oder die zusammengezogene Summe, welche die gesammte Belehrung, die das Leben vereinzelt und stückweise gab, mit Einem Male ausspricht, nämlich diese, dass das ganze Streben, dessen Erscheinung das Leben ist, ein vergebliches, eitles, sich widersprechen- des war, von welchem zurückgekommen zu seyn eine Erlösung ist. Wie die gesammte, langsame Vegetation der Pflanze sich verhält zur Frucht, die mit Einem Schlage jetzt hundertfach leistet, was jene allmälig und stückweise; so verhält sich das Leben, mit seinen Hindernissen, getäuschten Hoffnungen, vereitelten Plä- nen und stetem Leiden, zum Tode, der Alles, Alles, was der Mensch gewollt hat, mit Einem Schlage zer- stört und so der Belehrung, die das Leben ihm gab, die Krone aufsetzt. — Der vollbrachte Lebenslauf, auf welchen man sterbend zurückblickt, hat auf den ganzen, in dieser untergehenden Individualität sich objektivirenden Willen eine Wirkung, welche der analog ist, die ein Motiv auf das Handeln des Men- schen ausübt: er giebt nämlich demselben eine neue Richtung, welche sonach das moralische und wesent- liche Resultat des Lebens ist. Eben weil ein plötzlicher Tod diesen Rückblick unmöglich macht, sieht die Kirche einen solchen als ein Unglück an, um dessen Abwendung gebetet wird. Weil sowohl dieser Rück- blick, wie auch die deutliche Vorhersicht des Todes, als durch Vernunft bedingt, nur im Menschen, nicht im Thiere, möglich ist, und deshalb auch nur er den Becher des Todes wirklich leert, ist die Menschheit die alleinige Stufe, auf welcher der Wille sich ver- neinen und vom Leben ganz abwenden kann. Dem Willen, der sich nicht verneint, verleiht jede Geburt 52* 819 einen neuen und verschiedenen [nlellekt, — bis er die wahre Beschaffenheit des Lebens erkannt hat und in Folge hievon es nicht mehr will. Bei dein naturgeniässen Verlauf kommt im Alter das Absterben des Leibes dem Absterben des Willens entgegen. Die Sucht nach Genüssen verschwindet leicht mit der Fähigkeit zu denselben. Der Anlass des heftigsten Wollens, der Brennpunkt des Willens, der Geschlechtstrieb, erlischt zuerst, wodurch der Mensch in einen Stand versetzt wird, der dem der Unschuld, die vor der Entwickelung des Genitalsystems da war, ähnlich ist. Die Illusionen, welche Chimären als höchst wünschenswertheGüter darstellten, verseil winden, und an ihre Stelle tritt die Erkenntniss der Nichtigkeit aller irdischen Güter. Die Selbstsucht wird durch die Liebe zu den Kindern verdrängt, wodurch der Mensch schon anfängt mehr im fremden Ich zu leben, als im eigenen, welches nun bald nicht mehr seyn wird. Dieser Verlauf ist wenigstens der wünschenswerthe: es ist die Euthanasie des Willens. In Hoffnung auf denselben ist dem Brahmanen verordnet, nach Zu- rücklegTmg der besten Lebensjahre, Eigenthum und Familie zu verlassen und ein Einsiedlerleben zu füh- ren. (Menü, B. 6.) Aber wenn, vimgekehrt, die Gier die Fähigkeit zum Geniessen überlebt, und man jetzt einzelne, im Leben verfehlte Genüsse bereuet, statt die Leerheit und Nichtigkeit aller einzusehen ; und wenn sodann an die Stelle der Gegenstände der Lüste, für welche der Sinn abgestorben ist, der abstrakte Repräsentant aller dieser Gegenstände, das Geld, tritt, welches nunmehr die selben heftigen Leidenschaften erregt, die ehemals von den Gegenständen wirklichen Genusses, verzeihlicher, erweckt wurden, und also jetzt, bei abgestorbenen Sinnen, ein lebloser aber un- zerstörbarer Gegenstand mit gleich unzerstörbarer Gier gewollt wird; oder auch wenn, auf gleiche Wei- se, das Daseyn in der fremden Meinung die Stelle des Daseyns und Wirkens in der wirklichen Welt vertre- ten soll und nun die gleichen Leidenschaften entzün- det; — dann hat sich, im Geiz, oder in der Ehrsucht, der Wille sublimirt und vergeistigt, dadurch aber sich 820 in die letzte Festung geworfen, in welcher nur noch der Tod ihn belagert. Der Zweck des Daseyns ist verfehlt. Alle diese Betrachtungen liefern eine nähere Er- klärung der im vorigen Kapitel durch den Ausdruck OEUiepoi; ttXou? bezeichneten Läuterung, Wendung des Willens und Erlösung, welche durch die Leiden des Lebens herbeigeführt wird und ohne Zweifel die häu- figste ist. Denn sie ist der Weg der Sünder, wie wir Alle sind. Der andere Weg, der, mittelst blosser Er- kenntniss und demnächst Aneignung der Leiden einer ganzen Welt, eben dahin führt, ist die schmale Strasse der Auserwählten, der Heiligen, mithin als eine sel- tene Ausnahme zu betrachten. Ohne jenen ersteren würde daher für die Meisten kein Heil zu hoffen seyn. Inzwischen sträuben wir uns, denselben zu betreten, und streben vielmehr, mit allen Kräften, uns ein si- cheres und angenehmes Daseyn zu beizeiten, wodurch wir unsern Willen immer fester an das Leben ketten, umgekehrt handeln die Asketen, welche ihr Leben absichtlich möglichst arm, hart und freudenleer ma- chen, weil sie ihr wahres und letztes Wohl im Auge haben. Aber für uns sorgt das Schicksal und der Lauf der Dinge besser, als wir selbst, indem es unsere An- stalten zu einem Schlaraffenleben, dessen Thörichtes schon an seiner Kürze, Bestandlosigkeit, Leerheit und Beschliessung durch den bittern Tod erkennbar ge- nug ist, allenthalben vereitelt, Dornen über Dornen auf unsern Pfad streuet und das heilsame Leiden, das Panakeion unsers Jammers, uns überall entgegen bringt. Wirklich ist, was unserin Leben seinen wun- derlichen und zweideutigen Charakter giebt Dieses, dass darin zwei einander diametral entgegengesetzte Grundzwecke sich beständig kreuzen: der des indivi- duellen Willens, gerichtet auf chimärisches Glück, in einem ephemeren, traumartigen, täuschenden Daseyn, wo hinsichtlich des Vergangenen Glück und Unglück gleichgültig sind, das Gegenwärtige aber jeden Augen- blick zum Vergangenen wird; und der des Schick- sals, sichtlich genug gerichtet auf Zerstörung unsers Glücks und dadurch auf Mortifikation unsers Willens 821 und Aufliebung des Wahnes, der uns in den Banden dieser Welt gefesselt hiilt. Die gangbare,besonders protestantische Ansicht, dass der Zweck desLebens ganz allein und unmittelbar in den moralischen Tugenden, also in der Ausübung der Ge- rechtigkeit und Menschenliebe liege, verräth ihre ünzu- länglichkeit schon dadurch, dass so erbärmlich wenig wirkliche und reine Moralitat unter den Menschen an- getroffen wird. Ich will gar nicht von hoher Tugend, Edelmuth, Grossmuth und Selbstaufopferung reden, als welchen man schwerlich anders, als in Schauspielen und Romanen begegnet seyn wird; sondern nur von jenen Tugenden, die Jedem zur Pflicht gemacht werden. Wer alt ist, denke zurück an alle Die, mit welchen er zu thun gehabt hat; wie viele auch nur wirklich und wahrhaft ehrliche Leute werden ihm wohl vorgekommen seyn ? Waren nicht bei Weitem die Meisten, trotz ihrem schaamlosen Auffahren beim leisesten Verdacht einer Unredlichkeit, oder nur Unwahrheit, gerade heraus ge- sagt das wirkliche Gegentheil? War nicht niederträch- tiger Eigennutz, gränzenlose Geldgier, w ohlversteckte Gaunerei, dazu giftiger Neid und teuflische Schaden- freude, so allgemein herrschend, dass die kleinste Aus- nahme davon mit Bewunderung aufgenommen wurde? Und die Menschenliebe, wie höchst selten erstreckt sie sich weiter, als bis zu einer Gabe des so sehr Entbehr- lichen, dass man es nie vermissen kann? Und in solchen, so überaus seltenen und schwachen Spuren von Morali- tat sollte der ganze Zweck des Daseyns liegen ? Setzt man ihn hingegen in die gänzliche Umkehrung dieses unsers Wesens (welches die eben besagten schlechten Früchte trägt),herbeigeführt durchdasLeiden; so gewinntdieSa- cheein Ansehen und tritt in Uebereinstimmung mitdem tbatsächlichVorliegenden. Das Leben stellt sich alsdann dar als ein Läuterungsprocess, dessen reinigende Lauge der Schmerz ist. Ist der Process vollbracht, so lässt er die ihm vorhergegangene Immoralität und Schlechtigkeit als Schlacke zurück, und es tritt ein, was der Veda sagt : finditur nodus cordis, dissolvuntur omnes dubitationes, ejusque opera evanescunt. 822 KAPITEL 5o. EPIPHILOSOPHIE. AM Schlüsse meiner Darstellung mögen einige Be- trachtungen über meine Philosophie selbst ihre Stelle finden. — Dieselbe maasst sich, wie schon ge- sagt, nicht an, das Daseyn der Welt aus seinen letz- ten Gründen zu erklaren : vielmehr bleibt sie bei dem Thatsäclilichen der äussern und innern Erfahrung, wie sie Jedem zugänglich sind, stehen, und weist den wahren und tiefsten Zusammenhang derselben nach, ohne jedoch eigentlich darüber hinauszugehen zu ir- gend ausserweltlichen Dingen und deren Verhältnis- sen zur Welt. Sie macht demnach keine Schlüsse auf das jenseit aller möglichen Erfahrung Vorhandene, sondern liefert bloss die Auslegung des in der Aus- senwelt und dem Selbstbewusstseyn Gegebenen, be- gnügt sich also damit, das W^esen der Welt, seinem innern Zusammenhange mit sich selbst nach, zu be- greifen. Sie ist folglich immanent^ im Kantischen Sin- ne des Wortes. Eben deshalb aber lässt sie noch viele Fragen übrig, nämlich warum das thatsächlich Nach- gewiesene so nicht anders sei, u. s. w. Allein alle sol- che Fragen, oder vielmehr die Antworten darauf, sind eigentlich transscendent, d. h. sie lassen sich mittelst der Formen und Funktionen unsers Intellekts nicht denken, gehen in diese nicht ein; er verhält sich da- her zu ihnen wie unsere Sinnlichkeit zu etwanigen Eigenschaften der Körper, für die wir keine Sinne haben. Man kann z. B., nach allen meinen Auseinan- dersetzungen, noch fragen, woraus denn dieser Wille, welcher fi-ei ist sich zu bejahen, wovon die Erschei- nung die Welt, oder zu verneinen, wovon wir die Er- scheinung nicht kennen, entsprungen sei? welches die jenseit aller Erfahrung liegende Fatalität sei, welche ihn in die höchst missliche Alternative, als eine Welt, in der Leiden und Tod herrscht, zu erscheinen, oder aber sein eigenstes Wesen zu verneinen, versetzt ha- be? oder auch, was ihn vermocht haben möge, die 823 unendlich vorzuziehende Rulie des säH{>en Nichts zu verlassen? Ein individueller Wille, niay man hinzu- fügen, kann zu seinem eijjenen Verderben allein durch Irrlhum bei der Wahl, also durch Schuld der Erkennt- niss, sich hinlenken : aber der Wille an sich, vor al- ler Erscheinung, folglich noch ohne Erkenntniss, wie konnte er irre gehen und in das Verderben seines jetzigen Zustandes gerathen? woher überhaupt der grosse Misston, der diese Welt durchdringt? Ferner kann man fragen, wie tief, im Wesen an sich der Welt, die Wurzeln der Individualitat gehen? worauf sich allenfalls noch antworten liesse: sie gehen so tief, wie die Bejahung des Willens zum Leben; wo die Verneinung eintritt, hören sie auf: denn mit der Be- jahung sind sie entsprungen. Aber man könnte wohl j;ar die Frage aufwerfen: ,,Was wäre ich, wenn ich nicht Wille zum Leben wäre?" und mehr derglei- chen. — Auf alle solche Fragen wäre zunächst zu antworten, dass der Ausdruck der allgemeinsten und durchgängigsten Form unsers Intellekts der Sritz vom Grunde ist, dass aber dieser eben deshalb nur auf die Erscheinung, nicht auf das Wesen an sich der Dinge Anwendung findet: auf ilun allein aber beruht alles Woher und Warum. In Folge der Kantischen Philo- sophie ist er nicht mehr eine aeterna veritas, sondern bloss die Form, d. i. Funktion, unsers Dialekts, der wesentlich ein cerebraler und ursprünglich ein blosses Werkzeug zum Dienste unsers Willens ist, welchen, nebst allen seinen Objektivationen, er daher voraus- setzt. An seine Formen aber ist imser gesammtes Er- kennen und Begreifen gebunden: demzufolge müssen wir Alles in der Zeit, mithin als ein Vorher oder Nach- her, sodann als Ursach und Wirkung, wie auch als oben, unten, Ganzes und Theile u. s. w. auffassen und können aus dieser Sphäre, worin alle Mö{;lichkeit un- sers Erkennens liegt, gar nicht heraus. Diese Formen nun aber sind den hier aufgeworfenen Problemen durchaus nicht angemessen, noch deren Lösung, ge- setzt sie wäre gegeben, zu fassen irgend geeignet und fähig. Darum stossen wir mit unserm Intellekt, die- sem blossen Willens- Werkzeug, überall an unauflös- 824 liehe Probleme, wie an die Mauer unsers Kerkers. — Ueberdies aber lässt sich wenigstens als wahrschein- lich annehmen, dass von allem jenen Nachgefragten nicht bloss fih' uns keine Erkenntniss möglich sei, son- dern überhaupt keine, also nie und nirgends; dass nämlich jene Verhaltnisse nicht bloss relativ, sondern absolut unerforschlich seien; dass nicht nur niemand sie wisse, sondern dass sie an sich selbst nicht wissbar seien, indem sie in die Form der Erkenntniss über- haupt nicht eingehen. (Dies entspricht Dem, was Sko- tus Erigena sagt, de mirabili divina ignorantia, qua Deus non intelligit quid ipse sit. Lib. II.) Denn die Erkennbarkeit überhaupt, mit ihrer wesentlichsten, daher stets nothwendigen Form von Subjekt und Ob- jekt, gehört bloss der Erscheinung an, nicht dem We- sen an sich der Dinge. Wo Erkenntniss, mithin Vor- stellung ist, da ist auch nur Erscheinung, und wir stehen daselbst schon auf dem Gebiete der Erschei- nung: ja, die Erkenntniss überhaupt ist uns nur als ein Gehirnphänomen bekannt, und wir sind nicht nur unberechtigt, sondern auch unfähig, sie anderweitig zu denken. Was die Welt als Welt sei, lässt sich ver- stehen : sie ist Erscheinung, und wir können unmit- telbar aus uns selbst, vermöge des wohlzerlegten Selbstbewusstseyns, das darin Erscheinende erkennen: dann aber lässt sich, mittelst dieses Schlüssels zum Wesen der Welt, die ganze Erscheinung, ihrem Zu- sammenhange nach, entziffern; wie ich glaube dies geleistet zu haben. Aber verlassen wir die Welt, um die oben bezeichneten Fragen zu beantworten; so ha- ben wir auch den ganzen Boden verlassen, auf dem allein nicht nur Verknüpfung nach Grund und Fol- ge, sondern selbst Erkenntniss überhaupt möglich ist: dann ist Alles instabilis tellus, innabilis unda. Das Wesen der Dinge vor oder jenseit der Welt und folg- lich jenseit des Willens, steht keinem Forschen offen ; weil die Erkenntniss überhaupt selbst nur Phänomen ist, daher nur m der Welt Statt findet, wie die Welt nur in ihr. Das innere Wesen an sich der Dinge ist kein erkennendes, kein Intellekt, sondern ein erkennt- nissloses: die Erkenntniss kommt erst als ein Accidenz, 825 ein Hülfsmittel der Erscheinung jenes Wesens, hinzu, kann daher es seihst nur nach Maassgahe ihrer eige- nen, auf ganz andere Zwecke (die des individuellen Willens) herechneten Beschaffenheit, mithin sehr un- vollkommen, in sich aufnehmen. Hieran liegt es, dass vom Daseyn, Wesen und Ursprung der Welt ein voll- ständiges, bis auf den letzten Grund gehendes und jeder Anforderung genügendes Verständniss unmög- lich ist. So viel von den Grunzen meiner und aller Philosophie. — Das £v xai 7:av, d. h. dass das innere Wesen in allen Dingen schlechthin Eines und dasselbe sei, hatte, nach- dem die Eleaten, Skotus Erigena, Jordan Bruno und Spinoza es ausführlich gelehrt und Schelling diese Lehre aufgefrischt hatte, meine Zeit bereits begriffen und eingesehen. Aber was dieses Eine sei und wie es dazu komme sich als das Viele darzustellen, ist ein Problem, dessen Lösung man zuerst bei mir findet. — Ebenfalls hatte man, seit den ältesten Zeiten, den Menschen als Mikrokosmos angesprochen. Ich habe den Satz umgekehrt und die W^elt als Makranthropos nachgewiesen; sofern Wille und Vorstellung ihr wie sein Wesen erschöpft. Offenbar aber ist es richtiger, die Welt aus dem Menschen verstehen zu lehren, als den Menschen aus der Welt: denn aus dem unmittel- bar Gegebenen, also dem Selbstbewusstseyn, hat man das mittelbar Gegebene, also das der äussern An- schauung, zu erklären; nicht umgekehrt. Mit den Pantheisten habe ich nun zwar jenes ev xai, Ttav gemein, aber nicht das Tiav Oso?; weil ich über die (im weitesten Sinne genommene) Erfahrung nicht hinausgehe und noch weniger mich mit den vorlie- genden Datis in Widerspruch setze. Skotus Eiigena er- klärt, im Sinne des Pantheismus ganz konsequent, jede Erscheinung für eine Theophanie: dann muss aber dieser Begriff auch auf die schrecklichen und scheusslichen Erscheinungen übertragen werden: sau- bere Theophauien! Was mich ferner von den Pan- theisten unterscheidet, ist hauptsächlich Folgendes. i) Dass ihr t>so; ein x, eine unbekannte Grösse ist, der Wille hingegen unter allem Möglichen das uns 826 am genauesten Bekannte, das allein unmittelbar Ge- gebene, daber zur Erklärung des Uebrigen ausschliess- licli Geeignete. Denn überall muss das Unbekannte aus dem Bekannteren erklärt werden; nicbt umge- kehrt. — 2) Dass ibr Oso? sich manifestirt animi causa, um seine Herrlichkeit zu entfalten, oder gar sich be- Avundern zu lassen. Abgesehen von der ihm hiebei untergelegten Eitelkeit, sind sie dadurch in den Fall gesetzt, die kolossalen Uebel der Welt hinwegsophi- sticiren zu müssen : aber die Welt bleibt in schreien- dem und entsetzlichem Widerspruch mit jener phan- tasirten Vortiefflicbkeit stehen. Bei mir hingegen kommt der JVille durch seine Objektivation, wie sie auch immer ausfalle, zur Selbsterkenntniss, wodurch seine Aufhebung, Wendung, Erlösung möglich wird. Auch hat demgemäss bei mir allein die Ethik ein sicheres Fundament und wird vollständig durchge- führt, in Uebereinstiinmung mit den erhabenen und tiefgedachten Religionen, also dem Brahmanismus, Buddhaismus und Christenthum, nicht bloss mit dem Judenthum und Islam. Auch die Metaphysik des Schönen wird erst in Folge meiner Grundwahrheiten vollständig aufgeklärt, und braucht nicht mehr sich hinter leere Worte zu flüchten. Bei mir allein werden die Uebel der Welt in ihrer ganzen Grösse redlich eingestanden : sie können dies, weil die Antwort auf die Frage nach ihrem Ursprung zusammenfallt mit der auf die nach dem Ursprung der Welt. Hingegen ist in allen andern Systemen, weil sie sämmtlich op- timistisch sind, die Frage nach dem Ursprung des Uebels die stets wieder hervorbrechende unheilbare Krankheit, mit welcher behaftet sie sich, unter Palli- ativen und Quacksalbereien, dahinschleppen. — 3) Dass ich von der Erfahrung und dem natürhchen. Jedem gegebenen Selbstbewusstseyn ausgehe und auf den Willen als das einzige Metaphysische hinleite, also den aufsteigenden, analytischen Gang nehme. Die Pantheisten hingegen gehen, umgekehrt, den herab- steigenden, den synthetischen: von ihrem dsos den sie, wenn auch bisweilen unter dem Namen substantia oder Absolutum, erbitten oder ertrotzen, gehen sie aus, 827 und dieses völlig Unbekannte soll dann alles Bekanntere erklären. — 4) Dass bei mir die Welt nicht die ganze Möglichkeit alles Seyns ausfüllt, sondern in dieser noch viel Kaum bleibt für Das, was wir nur negativ bezeichnen als die Verneinung des Willens zum Leben. Pantheismus hingegen ist wesentlich Optimismus: ist aher die Welt das Beste, so hat es hei ihr sein Bewen- den. — 5) Dass den Pantheisten die anschauliche Welt, also die Welt als Vorstellung, eben eine absichtliche Manifestation des ihr inwohnenden Gottes ist, welches keine eigentliche Erklärung ihres Hervortretens ent- hält, vielmehr selbst einer bedarf: bei mir hingegen findet die Welt als Vorstellung sich hloss per accidens ein, indem der Intellekt, mit seiner äussern Anschau- ung, zunächst nur das medium der Motive für die vollkommeneren Willenserscheinungen ist, welches sich allmälig zu jener Objektivität der Anschaulichkeit steigert, in welcher die Welt dasteht. In diesem Sinne wird von ihrer Entstehung, als anschaulichen Objekts, wirklich Rechenschaft gegeben, und zwar nicht, wie bei jenen, mittelst unhaltbarer Fiktionen. Da, in Folge der Kantischen Kritik aller spekula- tiven Theologie, die Philosophirenden in Deutschland sich fast alle auf den Spinoza zurückwarfen, so dass die ganze unter dem Namen der Nachkantischen Phi- losophie bekannte Reihe verfehlter Versuche bloss ge- schmacklos aufgeputzter, in allerlei unverständliche Reden gehüllter und noch sonst verzerrter »S^^moriVm«.«? ist; will ich, nachdem ich das Verhältniss meiner Lehre zum Pantheismus überhaupt dargelegt habe, noch das, in welchem sie zum Spinozismiis insbesondere steht, bezeichnen. Zu diesem also verhält sie sich wie das Neue Testament zum alten. Was nämlich das Alte Testament mit dem neuen gemein hat ist der selbe Gott-Schöpfer. Dem analog, ist bei mir, wie bei Spi- noza, die Welt aus ihrer innern Kraft und durch sich selbst da. Allein beim Spinoza ist seine substantia aeterna, das innere Wesen der Welt, welches er selbst Deus betitelt, auch seinem moralischen Charakter imd seinem Werthe nach, der Jehova, der Gott-Schöp- fer, der seiner Schöpfung Beifall klatscht und findet, 828 dass Alles vortrefflich gerathen sei, t.om-o. y.aka Xiav, Spinoza hat ihm weiter nichts, als die Persönlichkeit entzogen. Auch bei ihm also ist die Welt und Alles in ihr ganz vortrefflich und wie es seyn soll: daher hat der Mensch weiter nichts zu thun, als vivere, agere, suum Esse conservare, ex fundamento proprium utile quaerendi (Eth. IV, pr. 67): er soll ehen sich seines Lebens freuen, so lange es wiihrt; ganz nach Koheleth, 9, 7 — 10. Kurz, es ist Optimismus: daher ist die ethische Seite schwach, wie im Alten Testa- ment, ja sie ist sogar falsch und zum Theil empö- rend*). — Bei mir hingegen ist der Wille, oder das innere Wesen der Welt, keineswegs der Jehova, viel- mehr ist es gleichsam der gekreuzigte Heiland, oder aber der gekreuzigte Schacher, je nachdem es sich entscheidet: demzufolge stimmt lueine Ethik auch zur Christlichen durchweg und bis zu den höchsten Tendenzen dieser, wie nicht minder zu der des Brah- manismus und Biiddhaismus. Spinoza hingegen konnte den Juden nicht los werden; quo semel est imbuta recens servabit odorem. Ganz Jüdisch, und im Verein mit dem Pantheismus obendrein absurd und abscheu- lich zugleich, ist seine Verachtung der Thiere, welche auch er, als blosse Sachen zu unserm Gebrauch, für rechtlos erklärt: Eth. IV. appendix, c. 27. — Bei dem Allen bleibt Spinoza ein sehr grosser Mann. Aber um seinen Werth richtig zu schätzen, muss man sein Ver- hältniss zum Cartesius im Auge behalten. Dieser hatte die Natur in Geist und Materie, d. i. denkende und ausgedehnte Substanz, scharf gespalten, und eben so Gott und Welt im völligen Gegensatz zu einander auf- gestellt: auch Spinoza, so lange er Kartesianer war, lehrte das Alles, in seinen Cogitatis metaphysicis, c. 12, i. J. i665. Erst in seinen letzten Jahren sah er *) ünusquisque tantum juris habet, quantum potentiä valet. Tract. pol., c. 2,§. 8. — Fides alicui data tanidiu rata manet, quamdiu ejus, qui fidem dedit, non mutatur voluutas. Ibid. §. 12. — Uniuscujusque jus potentiä ejus definitur. Eth. IV, pr. 37 schol. I. — Besonders ist das 16. Kapitel des Tractatus theologico-politicus das rechte Kompendium der Immoralität Spinozischer Philosophie. 829 das Grundfalsche jenes zwiefachen Duahsmus ein : und demzufol{];e besteht seine eigene Philosophie haupt- sächlich in der indirekten Aufhebung jener zwei Gegensätze, welcher er jedoch, theils um seinen Lehrer nicht zu verletzen, theils um weniger anstössig zu seyn, mittelst einer streng dogmatischen Form, ein positives Ansehen gab, obgleich der Gehalt haupt- sächlich negativ ist. Diesen negativen Sinn allein hat auch seine Identifikation der Welt mit Gott. Denn die Welt Gott nennen heisst nicht sie erklären: sie bleibt ein Räthsel vmler diesem Namen, wie unter jenem. Aber jene beiden negativen Wahrheiten hatten Werth für ihre Zeit, wie für jede, in der es noch be- wusste, oder unbewusste Kartesianer giebt. Mit allen Philosophen vor Locke hat er den Fehler gemein, von Begriffen auszugehen, ohne vorher deren Ursprung untersucht zu haben, wie da sind Substanz, Ursach u. s. w., die dann bei solchem Verfahren eine viel zu weit ausgedehnte Geltung erhalten. — Die, welche, in neuester Zeit, sich zum aufgekommenen Neo-Spi- nozismus nicht bekennen wollten, wurden, wie z. B. Jacobi, hauptsächlich durch das Schreckbild des Fa- talismus davon zurückgescheucht. Unter diesem näm- lich ist jede Lehre zu verstehen, welche das Daseyn der Welt, nebst der kritischen Lage des Menschen- geschlechts in ihr, auf irgend eine absolute, d. h. nicht weiter erklärbare Nolhwendigkeit zurückführt. Jene hingegen glaubten, es sei Alles daran gelegen, die Welt aus dem freien Willensakt eines ausser ihr befindlichen Wesens abzuleiten; als ob zum voraus gewiss wäre, welches von Beiden richtiger, oder auch nur in Be- ziehung auf uns besser wäre. Besonders aber wird dabei das non datur tertium vorausgesetzt, und dem- gemäss hat jede bisherige Philosophie das Eine oder das Andere vertreten. Ich zuerst bin hievon abgegangen, indem ich das Tertium wirklich aufstellte: der Wil- lensakt, aus welchem die Welt entspringt, ist unser eigener. Er ist frei : denn der Satz vom Grunde, von dem allein alle Nothwendigkeit ihre Bedeutung hat, ist bloss die Form seiner Erscheinung. Eben darum ist diese, wenn ein Mal da, in ihrem Verlauf durchweg 83o nothwendig: in Folge hievon allein können wir aus ihr dieBescliaffenheit jenes Willensaktes erkennen und demfemäss eventualiter anders wollen. 83i Gedruckt für Georg Müller Verlag in München in Didot' selten Schriften von Mänicke und Jahn in Rudolstadt. Buchausstattung von Paul Renner. Ge- bunden von Ilübel und Denck in Leipzig. Zwei- hundert Exemplare wurden auf holländisch Büt- tenpapier abgezogen und in Ganzleder gebunden. DATE DUE n>' ' GAYLORD PRINTED IN U S A WELLESLEY COLLEGE LIBRARY 3 5002 03172 1124 B 3138 1912 V.2 Schopenhauer, Arthur 1788- 1860. Die Welt als Wille und Vorstellung
'A. Schopenhauer' 카테고리의 다른 글
Sämtliche Werke (0) | 2016.06.26 |
---|