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Full text of "Allgemeine Erkenntnislehre"
■-r^v"^^ :f^ M^if^ i^. ^ *:fi ^- -Vr' ;. ^^ r ^*^u ■^ ^*v f ^ ;-^ ^ y> NATURWISSENSCHAFTLICHE MONOGRAPHIEN UND LEHRBÜCHER HERAUSGEGEBEN VON DEN HERAUSGEBERN DER „NATURWISSENSCHAFTEN" ARNOLD BERLINER UND AUGUST PÜTTER ERSTER BAND ALLGEMEINE ERKENNTNISLEHRE VON MORITZ SCHLICK BERLIN VERLAG VON JULIUS SPRINGER 1918 ALLGEMEINE ERKENNTNISLEHRE VON MORITZ SCHLICK /■ BERLIN VERLAG VON JULIUS SPRINGER 1918 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Copyright 1918 by Julius Springer in Berlin. MEINEM LIEBEN VATER zu SEINEM SIEBZIGSTEN GEBURTSTAG AM 3. JUNI 1916 Vorrede. Daß ein philosophisches Buch in einer den Naturwissenschaften gewidmeten Serie und als deren erster Band erscheint, mag noch manchen befremden. Zwar ist wohl heute gewiß die Ansicht herrschend geworden, daß Philosophie und Naturwissenschaft sich aufs beste miteinander ver- tragen können, aber wenn der Erkenntnislehre gerade an dieser Stelle ein Platz angewiesen wird, so setzt das nicht bloß eine Verträglichkeit beider Forschungsgebiete voraus, sondern es liegt daiin die entschiedene Behauptung einer natürlichen Zusammengehörigkeit. Die Erscheinungs- weise des Buches ist also nur gerechtfertigt, wenn wirklich eine solche Zusammengehörigkeit, eine gegenseitige Abhängigkeit und Durchdringung besteht. Ohne den folgenden Untersuchungen selber vorzugreifen, darf der Standpunkt des Verfassers in dieser Frage nach der Stellung der Er- kenntnistheorie zu den übrigen Wissenschaften doch schon hier klar- gelegt werden; es ist sogar gut, auf diese Weise ein deutliches Licht auf die in dem Buche befolgte Methode von vornLeiein zu werfen. Nach meiner Ansicht nämlich, die ich auch sonst schon geäußert habe und zu wiederholen nicht müde werde, ist die Philosophie nicht eine selbständige Wissenschaft, die den Einzeldisziplinen nebenzuordnen oder überzuordnen wäre, sondern das Philosophische steckt i n allen Wissenschaften als deren wahre Seele, kraft deren sie überhaupt erst Wissenschaften sind. Jedes besondere Wissen, jedes spezielle Erkennen setzt allgemeinste Prinzipien voraus, in die es schließlich einmündet und ohne die es kein Erkennen wäre. Philosophie ist nichts anderes als das System dieser Prinzipien, welches das System aller Erkenntnisse ver- ästelnd durchsetzt und ihm dadurch Halt gibt; sie ist daher in allen Wissenschaften beheimatet, und ich bin überzeugt, daß man zur Philosophie nicht anders gelangen kann, als indem man sie in ihrer Heimat aufsucht. Wohnt demnach Philosophie in der Tiefe aller Wissenschaften, so offenbart sie sich doch nicht in allen gleich bereitwillig. Die obersten Prinzipien müssen sich vielmehr am leichtesten in denjenigen Disziplinen finden lassen, die selbst schon eine möglichst hohe Stufe der Allgemein- heit erklommen haben. Da ist es nun die Natur Wissenschaft, be- sonders die exakte, deren Sätze unbestritten die universalste Geltung VIII . Vorrede. für die Welt des Wirklichen besitzen; nur aus ihren Schächten kann der Philosoph die Schätze heben, die er sucht. Während z. B. die Historie es mit den Geschicken einer einzigen Spezies von Lebewesen auf einem einzigen Planeten zu tun hat, oder die Philologie wiederum nur die Ge- setze einer ganz besonderen Betätigung dieser Spezies erforscht, ist die Geltung der durch naturwissenschaftliche Methoden gefundenen Gesetze nicht auf irgendeinen individuellen Bezirk des Wirklichen beschränkt, sondern sie erstreckt sich im Prinzip auf das gesamte Universum in be- liebige räumliche und zeitliche Fernen. Eine allgemeine Erkenntnislehre kann daher nur ausgehen vom Naturerkennen. Dabei ist also das Naturerkennen nicht etwa eine besondere Art von Erkenntnis; das Erkennen ist überall eines, die allgemeinsten Prinzipien sind stets dieselben, auch in den Geisteswissenschaften, nur erscheinen sie in diesen auf viel speziellere, kompliziertere Dinge an- gewandt und sind deshalb viel schwerer sichtbar, wenn auch genau so wirksam — man denke zum Beispiel, wie viel leichter das Walten der Kausalität sich etwa bei einem physikalischen Vorgang verfolgen läßt, als bei einem historischen Geschehen. So ungefähr stellt sich das Verhältnis des einzelwissenschaftlichen Denkens zum philosophischen dar, und es wird deutHch, daß der Er- kenntnistheoretiker sich mit aller Energie auf das Naturerkennen hin- gewiesen sieht. Umgekehrt wird auch der Naturforscher von allen seinen größten Fragen mit Macht zur Erkenntnislehre gedrängt, weil seineWissen- schaft in ihnen wegen ihrer hohen Allgemeinheit das Gebiet des rein Philosophischen fortwährend streift; er muß den Schritt in dieses Gebiet hinüber tun, sonst kann er den Sinn seines eigenen Tuns nicht restlos verstehen. Der wirklich große Forscher ist immer auch Philosoph. Diese enge Wechselbeziehung der Ziele gestattet und erheischt auch äußerlich eine enge Verbindung der Erkenntnislehre mit den Naturwissenschaften. Es wäre gut, wenn sie in den Akademien und Universitäten deutlicher in Erscheinung träte, als es bisher (bei der üblichen Gegenüberstellung der philosophisch-historischen und der mathematisch-naturwissenschaft- lichen Disziplinen) der Fall ist. Einstweilen findet sie einen bescheidenen Ausdruck in der Publikationsart dieser Schrift. Aus diesen Gründen habe ich dem Vorschlage des Verlegers, das Buch in die Serie der ,, Naturwissenschaften" aufzunehmen, freudig zu- gestimmt. Ich habe mich durchweg einer möglichst einfachen, langsam auf- bauenden Darstellungsweise beflissen, so daß ein philosophisches Spezial- Studium zum Verständnis der folgenden Betrachtungen nicht voraus- " gesetzt wird. Die wenigen Stellen, an denen ein kritisches Eingehen auf speziellere philosophische Lehren nötig war, um für den Blick des engeren Fachgenossen die eigene Position möglichst allseitig zu charakteiisieren — diese wenigen leicht kenntlichen Stellen kann der nur für das große Ganze interessierte Leser ohne Nachteil überspringen. Vorrede, IX Als eine Allgemeine Erkenntnislehre wurde der Inhalt der folgenden Blätter bezeichnet, weil die Untersuchung ganz auf die obersten, letzten Prinzipien gerichtet ist. Treibt man die philosophische Neugierde nicht bis zu jenen allgemeinsten Sätzen, sondern macht gleichsam in der vorletzten Schicht Halt, so befindet man sich, wenn man von der Naturwissenschaft ausging, in der Theorie der Naturerkenntnis, d. h. in der Naturphilosophie. Ebenso würde man auf dem Wege von der Geschichtswissenschaft zur allgemeinen- Erkenntnislehre eine Theorie der historischen Erkenntnis, d. h. Geschichtsphilosophie, durchschreiten können, oder man würde der Mathematik eine Philosophie der Mathematik vorgelagert finden und so weiter. In dieser Schicht der speziellen Er- kenntnislehren können wir im folgenden nicht verweilen, obwohl, wie ich gestehen muß, die Begründung unserer Ergebnisse dadurch an einigen Stellen lückenhaft erscheint. Aber ein Eingehen auf die umfangreichen Spezialuntersuchungen jener Gebiete verbot sich schon aus äußeren Gründen durchaus; so muß denn die abschließende Vervollständigung des Begründungszusammenhanges einer Bearbeitung der Sonderprobleme vorbehalten bleiben, die ich später vorzulegen hoffe. Seit dem Datum der Widmung, an welchem das Manuskript im wesentlichen abgeschlossen war, sind nun fast zwei Jahre vergangen. Die ungünstigen Zeitverhältnisse rissen den Verfasser aus seinem Arbeits- felde heraus und haben die endgültige Fertigstellung des Textes und die Arbeiten der Druckerei außerordentlich verzögert. Für die ^großzügige Art, mit welcher der Verleger und die Herausgeber trotz der widrigen Umstände das Erscheinen des Buches betrieben haben, gebührt ihnen der herzlichste Dank des Verfassers. Inhalt. Seite ' I. Das Wesen der Erkenntnis i 1. Der Sinn der Erkenntnislehre i 2. Das Erkennen im täglichen Leben 4 3. Das Erkennen in der Wissenschaft 8 4. Das Erkennen durch Vorstellungen 13 5. Das Erkennen durch Begriffe 17 6. Grenzen des Definierens 26 7. Die implizite Definition 30 8. Das Wesen des Urteils 37 9. Urteilen und Erkennen 45 10. Was ist Wahrheit? 55 ^11. Was Erkenntnis nicht ist 66 12. Vom Wert der Erkenntnis 77 II. Denkprobleme 84 13. Der Zusammenhang der Erkenntnisse 84 14. Die analytische Natur des strengen Schließens 89 15. Skeptische Betrachtung der Analyse 99 16. Die Einheit des Bewußtseins lo"; 17. Das Verhältnis des Psychologischen zum Logischen 117 '. 18. Von der Evidenz 129 ] - 19. Die sogenannte innere Wahrnehmung T32 20. Die Verifikation 141 III. Wlrkllchkeltsprobleme 150 A. Die Setzung des Wirklichen 150 21. Fragestellungen 150 22. Naive und philosophische Standpunkte in der Wirkhchkeitsfrage . 154 23. Die Zeitlichkeit des Wirklichen 164 24. Kritik der Immanenzgedanken 169 25. Fortsetzung der Kritik der Immanenzgedanken 184 B. Die Erkenntnis des Wirklichen 199 26. Wesen und „Erscheinung" 199 27. Die Möglichkeit der Subjektivität des Raumes und der Zeit . . . 208 28. Die Subjektivität der Sinnesqualitäten und des Raumes 213 29. Die Subjektivität der Zeit 230 30. Quantitative und qualitative Erkenntnis 233 31. Physisches und Psychisches 248 32. Weiteres zum psychophysischen Problem 256 ■ 33. Einwände gegen den Parallehsmus 266 ^ 34. Monismus, Duahsmus, Pluralismus 276 C. Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenn mis 283 35. Denken und Sein • 284 36. Erkennen und Sein 290 37. Gibt es eine reine Anschauung? 297 38. Gibt es reine Denkformen? 304 - 39. Von den Kategorien 312 40. Von der induktiven Erkenntnis 327 Register der Autorennamen 345 Erster Teil. Das Wesen der Erkenntnis. I. Der Sinn der Erkenntnislehre. "Es gab eine Zeit, in der Philosophen sich darüber wunderten, daß der Mensch imstande sei, seine Glieder zu bewegen, obgleich er doch die Vorgänge nicht kenne, welche sich in seinen Nerven und Muskeln ab- spielen müssen, damit die gewünschte Bewegung der Gliedmaßen zustande kommt. Sie wagten sogar den Schluß, der Mensch vermöge wirklich nicht, von selber seinen Körper zu rühren; sie meinten vielmehr, jedes- mal, wenn er irgendeine Bewegung ausführen wolle, müsse eine höhere Macht ihm zu Hilfe kommen und es für ihn tun. Drohender noch als für die körperlichen Tätigkeiten ist die Gefahr eines solchen Schlusses für die wundersame Tätigkeit des Menschen, die wir Erkenntnis nennen. Denn wie der Prozeß des Erkennens sich eigent- lich abspielt, wie es zugeht, daß unser Verstand die Natur beherrschen und fernste Vorgänge in der Welt begreifen und voraussagen kann, das ist gewiß zunächst ebenso dunkel wie das Wesen der Vorgänge, durch die es geschieht, daß unsere Hand einen Stein erfaßt und bewegt, wenn wir es wollen. Und zu allen Zeiten zog denn auch der Skeptizismus den Schluß, daß wir eine Erkenntnis, deren Möglichkeit wir nicht durch- schauen, eben deshalb auch gar nicht wirklich besitzen : Wahn und Schein sei es, wenn wir die Wahrheit irgend zu erfassen glauben, in Wirklichkeit wüßten wir überhaupt nichts. Aber wie der Mensch fortfuhr zu handeln und sich zu rühren, ob ihm nun die Gelehrten das Wie und Wodurch erklären konnten oder nicht, so gehen auch die Wissenschaften ihren Gang, unbekümmert darum, was der Philosoph über die Möglichkeit und die Erklärung der Erkenntnis denken mag. Denn unzweifelhaft besitzen wir Wissenschaften, und Wissenschaften sind Gefüge von Erkenntnissen; wie also kann man sie hinwegleugnen .?• Der Skeptiker kann sich höchstens weigern, die Er- gebnisse der Wissenschaften Erkenntnisse zu nennen, aber damit hat er sie nicht aufgehoben, sondern nur ausgedrückt, daß sie ihm nicht den Forderungen zu entsprechen scheinen, die er an Erkenntnisse stellen zu Schlick, Erkenntnislehre. I Das Wesen der Erkenntnis. müssen glaubt. Sie mögen in der Tat die Erwartungen nicht erfüllen, die der Philosoph anfangs von ihnen hegt — das läßt den Forscher un- bekümmert, der auf dem Gebiete seiner Einzelwissenschaft weiterarbeitet, für ihn bleiben sie Erkenntnisse, erreichte Ziele seiner Wissenschaft. Er steckt Ziele und erreicht sie, stellt sich Aufgaben und löst sie; diese Lösungen sind eben Erkenntnisse, Fakta, die der Philosoph vorfindet, so gut wie er die menschlichen Körperbewegungen vorfindet. Um seine Glieder zu bewegen, hat niemand nötig, die physiologischen Prozesse zu kennen, ohne welche die Bewegung nicht erfolgen kann: ebensowenig bedarf es einer Erforschung des eigentlichen Erkennens, um in der Wissenschaft Erkenntnis zu gewinnen. Mit anderen Worten: wie zum Handeln keine Physiologie erforderlich ist, so bestehen die Er- kenntnisse der Wissenschaft im Prinzip unabhängig von der Erkenntnis- lehre. Das Interesse, welches die Physiologie an jenen Nerven- und Muskel- prozessen hat, ist ein rein theoretisches, und das gleiche gilt von dem Interesse, das die Erkenntnistheorie an dem Prozeß des wissenschaftlichen Fortschrittes nimmt. Wie physiologisches Wissen nicht die Fähigkeit zu Körperbewegungen schafft, sondern sie nur erklären und ihre Möglichkeit begreiflich machen will, so kann auch die Lehre vom Erkennen niemals einen Machtspruch fällen, durch den sie eine Erkenntnis in der Wissen- schaft etwa ermöglichte oder leugnete, sondern ihre Aufgabe ist nur, sie ihrerseits aufzuklären und zu deuten. Dies schließt natürlich nicht aus, daß ihre Ergebnisse dem einzel- wissenschaftlichen Betriebe unter Umständen doch zugute kommen, wie ja auch physiologische Kenntnis der Nerven und Muskeln in gewissen Fällen von praktischer Bedeutung werden kann für die Bewegungsfähig- keit der Gliedmaßen, dort nämlich, wo diese etwa durch pathologische Veränderungen beeinträchtigt wurde und wo es gilt, sie wieder herzu- stellen. Der Verlauf des Erkennens in den Wissenschaften geht ja auch nicht immer normal vonstatten, auch in ihm können gleichsam patho- logische Erscheinungen auftreten — sie heißen Widersprüche und Para- doxa — , zu deren Beseitigung die Dienste der Erkenntnistheorie in An- spruch genommen werden. Aber ihre primäre Aufgabe besteht nicht in solchen Hilfeleistungen, sie ist unabhängig von den nächsten Aufgaben der einzelwisscnschaftlichen Disziplinen und insofern von diesen wohl abtrennbar. Hier muß nun eine wichtige Bemerkung gemacht werden, damit unser erläuternder Vergleich des Erkennens mit den physiologischen Innervationsvorgängen nicht zu einem fundamentalen Mißverständnis An- laß gebe, dessen Motive im Laufe der Untersuchung immer wieder wirk- sam werden und falsche Auffassungen erzeugen könnten, wenn es nicht gleich zu Anfang zurückgewiesen wird. Man könnte nämlich glauben, die Erkenntnislehre habe es mit der Erforschung der psychologischen Prozesse zu tun, in denen das wissenschaftliche Denken sich abspielt, ähnlich wie die Physiologie jene Innervationsvorgänge zu analysieren sucht. So ver- Der Sinn der Erkenntnislehre. standen aber ist die Analogie keineswegs richtig. Denn jene Erforschung wäre natürlich eine rein psychologische Aufgabe, deren Lösung für den Erkenntnistheoretiker bis zu einem gewissen Grade wichtig sein mag, die aber nie sein eigentliches Ziel bilden kann — schon deshalb nicht, weil ihm ja das psychologische Erkennen selbst wieder zum Problem wird. Sein Ziel ist also weiter gesteckt und liegt in einer ganz anderen Richtung. Er fragt nach den allgemeinen Gründen, durch welche gültiges Erkennen überhaupt möglich wird, und diese Frage ist offenbar prinzipiell ver- schieden von derjenigen nach der Natur der psychischen Prozesse, in denen irgendwelche Erkenntnisse sich in diesem oder jenem Individuum zeit- Hch entwickeln. — Erst im Laufe der Untersuchungen wird der hier be- rührte prinzipielle Unterschied der Betrachtungsweisen sich zu voller Klarheit erheben; an dieser Stelle kam es nur darauf an, einen nahe- liegenden Irrtum vorläufig abzuwehren und die Lehre vom Erkennen der einzelwissenschaftlichen Forschung — auch der psychologischen — als etwas Selbständiges und im Prinzip Unabhängiges gegenüberzustellen. Man kann alle Einzelwissenschaften sehr wohl betreiben, ohne ihnen erkenntnistheoretische Grundlagen zu geben; verstehen aber kann man sie in ihrer letzten Tiefe niemals ohne solche. Dies letzte Verständnis ist ein eigentlich philosophisches Bedürfnis, und die Erkenntnislehre ist Philosophie. Der Wege zur Philosophie sind unendlich viele. Zu ihr gelangt man in der Tat, wie besonders Helmholtz hervorhob, von jeder wissenschaft- lichen Frage aus, wenn man sie nur genügend weit verfolgt. Wenn man nämlich in einer Spezialwissenschaft irgendeine Erkenntnis, also die Gründe für irgendeine Erscheinung gewonnen hat, und wenn nun der for- schende Geist noch weiter fragt nach den Gründen dieser Gründe, also nach den allgemeineren Wahrheiten, aus denen jene Erkenntnis abgeleitet werden kann, so gelangt er bald an einen Punkt, wo er mit den Mitteln seiner Einzelwissenschaft nicht mehr weiter kommt, sondern von einer allgemeineren, umfassenderen Disziplin Aufklärung erhoffen muß. Es bilden nämlich die Wissenschaften gleichsam ein ineinandergeschachteltes System, in welchem die allgemeinere immer die speziellere umschließt und begründet. So behandelt die Chemie nur einen begrenzten Teil der Naturerscheinungen, die Physik aber umfaßt sie alle; an sie also muß sich der Chemiker wenden, wenn er seine fundamentalsten Gesetzmäßig- keiten, etwa die des periodischen Systems der Elemente, der Valenz usw. zu begründen unternimmt. Und das letzte, allgemeinste Gebiet, in welches alle immer weiter vordringenden Erklärungsprozesse schließlich münden müssen, ist das Reich der Philosophie, der Erkenntnislehre. Denn die letzten Grundbegriffe der allgemeinsten Wissenschaften — man denke etwa an den Begriff des Bewußtseins in der Psychologie, an den des Axioms und der Zahl in der Mathematik, an Raum und Zeit in der Physik, oder was es sonst für welche sein mögen — gestatten zuletzt nur noch eine philosophische, eine erkenntnistheoretische Aufklärung. Das Wesen der Erkenntnis. Sie lassen sie nicht nur zu, sondern sie erheischen sie auch für jeden, der dem philosophischen Trieb, aus dem ja auch alle einzelnen Wissen- schaften in letzter Linie hervorgehen, nicht ein willkürliches Halt ge- bieten will. 2. Das Erkennen im täglichen Leben. Ehe eine Wissenschaft ihre Arbeit beginnen kann, muß sie sich einen deutlichen Begriff von dem Gegenstande machen, den sie untersuchen will. Man muß an *die Spitze der Betrachtungen irgendeine Definition des Objektes stellen, dem die Forschungen gewidmet sein sollen, denn es muß ja zunächst einmal klar sein, womit man es eigentlich zu tun hat, auf welche Fragen man Antwort erwartet. Wir müssen uns also zu aller- erst fragen: Was ist denn eigentlich Erkennen .f" So selbstverständlich, so einleuchtend es scheint, daß mit dieser Frage der Anfang gemacht werden muß, um so merkwürdiger ist es, wie selten sie an der richtigen Stelle und mit der richtigen Sorgfalt behandelt worden ist, wie wenige Denker darauf eine klare, sichere und vor allem zutreffende Antwort gegeben haben. Das liegt natürlich daran, daß der Sinn des Wortes Erkenntnis den meisten zu selbstverständlich erscheint, daß es somit an einem Motiv für eine nähere gewissenhafte Erklärung mangelt, ja, daß ihnen gar nicht der Gedanke kommt, eine scharfe und genaue Definition möchte notwendig sein. Es gibt ja genug Begriffe, die jedem so geläufig sind und in solcher Weise verwandt werden, daß eine besondere Definition ganz überflüssig wäre. Wenn ich sage: ich erkenne etwas, so kann es in der Tat leicht scheinen, als bedeute dieser Ausdruck etwas ebenso Allbekanntes, als wenn ich sage: ich höre etwas, oder: ich sehe etwas. Das ist ja nun in vielen Fällen auch ganz richtig. Jeder weiß, was gemeint ist, wenn der Arzt uns erzählt, er habe als Ursache einer Krankheit gewisse Bakterien erkannt, oder wenn der Chemiker behauptet, er erkenne ein Gas als Helium, und niemand fühlt das Bedürfnis einer Erläuterung. Es können aber Umstände eintreten, in denen eine nähere Erklärung und festere Begriffsbestimmung des Wortes Erkennen durchaus nötig ist, wo viele gänzlich in die Irre gehen würden, die da glauben, über den Sinn des Wortes völlig im Klaren zu sein. Wir werden in der Tat bald sehen, daß derjenige Erkenntnisbegriff, den wohl die meisten Denker still- schweigend vorauszusetzen pflegten, kein zuverlässiger Wegweiser in der Philosophie ist. Wie zwar für die Bedürfnisse des täglichen Lebens jeder einen genügend scharfen Sinn mit den Worten Sehen und Hören ver- bindet, wie aber für die wissenschaftliche Untersuchung der Gesichts- und Gehörswahrnehmungen dieser Sinn noch außerordentlich präzisiert werden muß, so hat auch die Lehre vom Erkennen sich erst einmal genau darüber klar zu werden, welcher ganz bestimmte Prozeß mit diesem Worte eigentlich bezeichnet werden soll. Das Erkennen im täglichen Leben. Man könnte nun glauben, eine vollständige, einwandfreie Begriffs- bestimmung der Erkenntnis werde sich erst im weiteren Verlaufe der Untersuchungen oder gar erst am Ende derselben geben lassen, sie sei nämlich die vornehmste Aufgabe der Erkenntnistheorie selber — aber das wäre eine falsche Bedenklichkeit, die uns die Grenze unseres Forschungs- gebietes, und mithin die rechte Eingangspforte dazu verhüllen würde. Es kann nämlich, wie bereits im vorigen Paragraphen angedeutet, kein Zweifel sein, daß wir in den Wissenschaften Erkenntnis und Erkenntnis^ fortschritt wirklich besitzen. Dies setzt aber voraus, daß die Wissenschaft schon über ein untrügliches Kriterium verfügt, das ihr zu entscheiden gestattet, wo ein wirkliches Erkennen vorliegt und worin es besteht. Eine Definition dieses Begriffes muß also in den Wissenschaften implicite schon vollständig erhalten sein; wir brauchen sie nur aus der Forschung zu entnehmen, aus irgendwelchen unzweifelhaften Erkenntnisfortschritten abzulesen und können dann an sie als festen Ausgangspunkt alle unsere Überlegungen anknüpfen. Es ist von außerordentlicher Wichtigkeit, sich eines solchen Stütz- punktes zu versichern, mit dem man sich im Laufe der Untersuchung jederzeit in feste Verbindung setzen kann, um sich darüber zu orientieren, wo man sich eigentlich befindet und wo man hinaus will. Denn so allein vermeidet man eine Reihe von Scheinproblemen, die oft das philosophi- sche Denken verwirrten, zu deren Lösung es aber nur einer Reflexion auf. das Wesen des Erkennens selbst bedurft hätte. Man verlangte blind- lings nach Erkenntnis, ohne zu wissen, was eigentlich damit gefordert war. Man fragte etwa: Kann der Mensch das Unendliche erkennen.? oder: Vermögen wir zu erkennen, wie die Wirkung aus der Ursache hervor- geht.? oder man behauptete: das Wesen der Kraft ist unerkennbar, oder: alles physikalische Geschehen kann nur dann als erkannt gelten, wenn es auf Druck und Stoß bewegter Massen zurückgeführt ist — solche Sätze und Fragen sind nur so häufig ausgesprochen worden, weil das Wort Erkennen gedankenlos verwendet wurde. Hierher gehört auch die große Frage, die in der Geschichte der Philosophie so viel bedeutet: Vermögen wir die Dinge zu erkennen, wie sie an sich selbst sind, unabhängig davon, wie sie unserer menschlichen Auffassung erscheinen.? Gibt man sich Rechenschaft darüber, was in dergleichen Problemen das Wort Erkennen allein bedeuten kann, so hören sie auf, welche zu sein, denn es zeigt sich alsbald, daß entweder die Fragestellung verfehlt war, oder daß der Weg offen daliegt, auf dem die Frage eine präzise, wenn auch vielleicht un- erwartete oder unerhoffte Antwort finden kann. — Ehe wir aus der Betrachtung des wissenschaftlichen Denkens ab- zuleiten suchen, was unter Erkennen dort verstanden werden muß, ist es nützlich, das Wort einmal im Sprachgebrauch des täglichen Lebens zu verfolgen, denn aus diesem stammt es ja (wie übrigens auch die ge- lehrtesten Worte, nur daß diese im Alltagsleben der Griechen und Lateiner ihre Quelle haben). Das Wesen der Erkenntnis. Wir nehmen also einen einfachen Fall, in dem das Wort in unbefangener Weise angewendet wird. Ich gehe auf der Straße nach Hause; da ge- wahre ich in der Ferne ein bewegliches braunes Etwas. An seiner Be- wegung, Größe und anderen kleinen Merkmalen erkenne ich, daß es ein Tier ist. Die Entfernung verringert sich, und.es kommt schließlich ein Augenblick, in dem ich mit Sicherheit erkenne: ich habe einen Hund vor mir. Er kommt immer näher, und bald erkenne ich, daß es nicht bloß irgendein Hund ist, ein fremder, nie vorher gesehener, sondern ein wohlbekannter, nämlich mein eigener, Tyras, oder wie er sonst heißen mag. Dreimal tritt in diesem Bericht das Wort Erkennen auf. Das erste Mal wurde nur erkannt, daß jenes Objekt ein Tier sei, also nicht etwa irgend ein lebloser Gegenstand. Was bedeutet diese Aussage.? Sie bedeutet offenbar, daß der sich bewegende Gegenstand mir nicht etwas völlig Un- bekanntes ist, das mir im Kreise meiner Erfahrungen noch nie vor- gekommen wäre, sondern daß er einer Klasse von Objekten angehört, die ich sehr häufig zu erblicken Gelegenheit habe, und die ich bereits als Kind mit dem Namen „Tier" bezeichnen lernte. Ich habe in jenem braunen Etwas die Merkmale (vor allem das der selbständigen Bewegung) wiedererkannt, die ein Gegenstand haben muß, um als Tier be- zeichnet zu werden. Unter Vorbehalt der Verbesserung des psychologisch anfechtbaren Ausdrucks kann ich sagen: ich habe in der Wahrnehmung jenes braunen Etwas die Vorstellung wiedergefunden, die dem Namen ,,Tier" entspricht; das Objekt ist damit zu etwas Bekanntem geworden und ich kann es bei seinem rechten Namen nennen. Wenn ich nun beim Näherkommen sage: ich erkenne jetzt das Tier als Hund — was soll damit gemeint sein.I* Es soll offenbar heißen (wieder- um in vorläufiger, später zu präzisierender Ausdrucksweise), daß der Anblick des fraglichen Objektes nicht bloß mit der Vorstellung überein- stimmt, die ich von einem Tiere überhaupt habe, sondern mit der Vor- stellung, die ich von einer ganz bestimmten Klasse der Tiere habe, näm- lich derjenigen, die man im Deutschen als Hunde bezeichnet. Ich habe das Tier erkannt, heißt abermals: ich vermag es mit seinem rechten Namen zu bezeichnen, nämlich als Hund, und dieser Name heißt deshalb der rechte, weil er eben allgemein gebraucht wird für die Klasse der Tiere, welcher dieses Tier tatsächlich angehört. Es liegt also auch hier ein Wiederfinden von etwas Bekanntem vor. •Nicht anders steht es mit der dritten Stufe dieses Erkenntnisaktes. Ich erkenne den Hund als den meinen, heißt auch hier: ich erkenne ihn wieder; ich bestimme nämlich das Tier, das ich vor mir sehe, als identisch mit dem Hunde, den ich täglich um mich zu haben gewöhnt bin. Und dies wird natürlich wieder dadurch möglich, daß ich eine mehr oder minder genaue Erinnerungsvorstellung von dem Aussehen meines Hundes besitze, und daß diese Vorstellung die gleiche ist, die der Anblick /Ics auf mich zukommenden Tieres mir liefert: die Gestalt, die Farbe, Das Erkennen im täglichen Leben. die Größe, vielleicht auch der Ton des Bellens, alles stimmt mit dem Bilde überein, das die Erinnerung mir von meinem Hunde gibt. Vorher waren die Namen, mit denen ich das Objekt richtig bezeichnen konnte, nur Klassennamen, nämlich Tier und Hund. Jetzt aber nenne ich es mit einem Namen, der nur einem einzigen Individuum in der ganzen Welt zukommt: ich sage, das ist ,,mein Hund Tyras", und dadurch ist das Tier als Individuum eindeutig bestimmt. Allen drei Stufen dieses Erkennens ist gemeinsam, daß dabei ein Objekt wiedererkannt wird, daß in etwas Neuem etwas Altes wieder- gefunden und mit ihm identifiziert wird, so daß es nun mit einem ver- trauten Namen bezeichnet werden kann. Und der Prozeß ist abgeschlossen, wenn der Name gefunden ist, welcher dem erkannten Gegenstand ganz allein zukommt, und keinem andern. Eine Sache erkennen heißt im ge- wöhnlichen Leben in der Tat weiter nichts als ihr den rechten Namen geben. Dies alles ist simpel und selbstverständlich; es erscheint fast töricht, darüber so viele Worte zu machen. Aber oft erwächst der Philosophie großer Nutzen gerade aus der sorgfältigen Betrachtung des Alltäghchen und Unscheinbaren. Was man bei den einfachsten Verhältnissen findet, wiederholt sich nicht selten bei den kompliziertesten Problemen, aber in solcher Verschlingung und Verkleidung, daß man es nie entdecken würde, hätte man es sich nicht schon bei alltäglichen Erfahrungen klar vor Augen gestellt. Übrigens ist selbst ein so schHchter Vorgang wie das Erkennen eines Hundes vom psychologischen Gesichtspunkt aus keineswegs ein ganz ein- facher durchsichtiger Prozeß. Es ist sogar rätselhaft, wie es zugeht, daß eine Vorstellung als eine bereits bekannte angesprochen werden kann; woher weiß man denn, daß dasselbe Wahrnehmungsbild früher schon einmal im Bewußtsein war.? Und tatsächlich war ja auch niemals ganz genau dasselbe da, sondern höchstens ein ähnliches. Die Psychologen haben denn auch viel darüber gestritten, wie man sich den Vorgang des Wiedererkennens zu denken habe, und die Akten über diesen Punkt sind nicht geschlossen. Mit dieser psychologischen Frage haben wir hier aber gar nichts zu tun, und wir können sie gänzlich beiseite lassen. Hier lernen wir an einem deutlichen Beispiele den Unterschied der erkenntnis- theoretischen und der psychologischen Betrachtungsweise kennen, von dem im vorigen Paragraphen die Rede war: den Erkenntnistheoretiker interessiert hier gar nicht, nach welchen psychologischen Gesetzmäßig- keiten der Wiedererkennungsvorgang verläuft und mögUch ist, sondern für ihn kommt jetzt nur die Tatsache in Betracht, daß unter gewissen Umständen ein Wiederkennen überhaupt eintritt, und diese Tatsache steht natürhch fest, ganz unabhängig davon, wie die Frage nach dem psychi- schen Vorgang entschieden werden mag, durch den es zustande kommt. Das Wesen der Erkenntnis. 3. Das Erkennen in der Wissenschaft. Eine tiefere und erhabenere Bedeutung als im täglichen Gebrauche scheint dem Worte Erkennen in der wissenschaftlichen Forschung eigen zu sein; es wird hier gleichsam mit ganz anderer Betonung ausgesprochen. Dennoch wird sich sogleich zeigen, daß es in der Wissenschaft keineswegs einen neuen, ganz besonderen Sinn bekommt, sondern daß das Wesent- liche beim Erkennen hier wie dort ganz dasselbe ist. Nur der erhabenere Gegenstand und Zweck des Erkenntnisprozesses in der Forschung und Philosophie verleihen ihm hier eine höhere Dignität. Um den Gegensatz gegen das vorher betrachtete Beispiel möglichst groß zu machen, wollen wir nun eines aus einer ganz strengen Wissenschaft ins Auge fassen, aus der exaktesten Naturwissenschaft, der Physik. Zahl- los in der Geschichte dieser Disziplin sind die Fälle, wo nach dem ein- mütigen Urteil aller Berufenen das Erkennen einen großen Schritt vor- wärts machte, und die Betrachtung eines jeden solchen Falles muß uns Antwort geben können auf die Frage nach dem Wesen der Erkenntnis. So fragt die Optik nach dem Wesen des Lichtes, und wie jedermann weiß, ist es ihr gelungen, das Problem richtig zu lösen; es ist ihr geglückt, die Natur der Lichterscheinungen zu erkennen, oder zu erklären, oder zu begreifen — denn alle diese Worte bedeuten ein und dasselbe. Als was hat man denn das Licht erkannt.? Bereits im 17. Jahrhundert stellte HuYGHENS die Undulationstheorie des Lichtes auf, nach welcher es be- steht in der wellenförmigen Fortpflanzung eines Zustandes, und später, etwa seit den Experimenten Fresnels und Youngs, wurde diese Theorie zur Gewißheit erhoben, d. h. die Versuche stellten unzweifelhaft fest, daß die Eigenschaften und Gesetze der Lichtausbreitung identisch sind mit den Eigenschaften und Gesetzen der Fortpflanzung von Wellen unter gewissen Umständen. Beide lassen sich durch dieselben mathematischen Formeln darstellen, kurz, in den Verhältnissen der Lichterscheinungen wurden dieselben Verhältnisse wiedererkannt, die allgemein bei der Ausbreitung von Wellen auftreten und von dort her vertraut waren. Gerade so erklärte ich in dem vorigen Beispiele ein Tier für einen Hund, weil ich an ihm diejenigen Merkmale wiedererkannte, die mir als Merkmale der Hunderasse vertraut waren. — Man kannte aber damals keine anderen Wellen als die, welche in der mechanischen Bewegung eines Mediums bestehen, wie etwa Wasserwellen, Luftwellen oder sonstige Schwingungen elastischer Stoffe; deshalb nahm man ohne weiteres an, daß es sich beim Lichte ebenfalls um solche mechanische Schwingungen handele, um Wellen also, die dadurch entstehen, daß die Teilchen eines Mediums Bewegungen um eine Gleichgewichtslage ausführen. Als aber später, besonders durch die Forschungen von Heinrich Hertz, die elektromagnetischen Wellen bekannt wurden und ihre Gesetzmäßigkeiten in strenger mathema- tischer Form dargestellt waren, da bemerkte man, daß die Gesetze der elektrischen Wellen gleichfalls wiedergefunden werden konnten in Das Erkennen in der Wissenschaft. den Gesetzen der Lichterscheinungen, und zwar in viel vollkommenerem Maße als die der mechanischen Schwingungen, d. h. auch solche Eigen- tümlichkeiten des Lichtes, die durch die mechanische Theorie nicht er- klärt waren, ließen sich jetzt wiedererkennen und dadurch begreifen. So wurde, um nur eine dieser zahlreichen Eigentümlichkeiten anzuführen, beim Lichte dieselbe Ausbreitungsgeschwindigkeit wiedergefunden, die auch elektrische Wellen besitzen, während keine elastischen Wellen bekannt waren, deren Geschwindigkeit diesen Wert hätte. Auf Grund solcher Wiedererkennungsakte durfte man sagen: das Licht ist eine elektro- magnetische Erscheinung, und damit hat man es beim rechten Namen genannt. Hier liegt also eine Erkenntnis in zwei Stufen vor: zuerst wurde das Licht als eine Schwingungserscheinung, als Wellenfortpflanzung erklärt, und darauf wurden durch einen zweiten Akt des Wiederfindens diese Schwingungen und Wellen als elektrische bestimmt. Ganz analog lagen aber die Dinge im Beispiel des Hundes: zuerst konnte er nur mit einem allgemeineren Namen als Tier benannt werden, dann aber wurde er nach weitergehender Wiedererkennung seiner Eigenschaften als Hund be- zeichnet. Hätten wir irgend ein anderes Beispiel aus einer beUebigen anderen Wissenschaft betrachtet, so wären wir doch zu dem gleichen Ergebnis gelangt; überall enthüllt sich der Kern des Erkenntnisprozesses als ein Wiederfinden. Wenn man z. B. feststellt, daß Aristoteles die Schrift über den Staat der Athener verfaßt hat — dies wäre also eine h i s t o - r i s c h e Erkenntnis — , so identifiziert man den Urheber dieser Schrift mit dem anderweitig wohlbekannten Philosophen, erkennt also diesen in jenem wieder. Und den nämhchen Sachverhalt entdeckt man in allen erdenkhchen Beispielen. Doch wir können hitr auf die Durchführung weiterer derartiger Analysen verzichten. Das Resultat der Analysen ist immer, daß Erkennen in der Wissenschaft, wie schon im täghchen Leben, ein Wiederfinden des einen im andern bedeutet. Aus diesem einfachen Satze können wir bereits gewichtige Schlüsse ziehen über Ziel und Methode der wissenschaftlichen Erkenntnis. Zunächst sei bemerkt, daß zum Erkennen nur die Zurückführung zweier vorher getrennter Erscheinungen aufeinander gefordert wird; es ist also nicht nötig (wie man häufig meint), daß das Erklärende länger bekannt sein müsse als das Erklärte, daß also der Mensch nur dort Er- kenntnis errungen habe, wo gleichsam das Gewohnte im Ungewohnten wiedergefunden worden sei. Das läßt sich leicht an Beispielen aus dem Betriebe der Forschung zeigen. Wenn es etwa der modernen Physik ge- lingt, mechanische Gesetzmäßigkeiten auf elektromagnetische zurückzu- führen, so bedeutet das genau ebensogut eine Erklärung, einen Erkenntnis- fortschritt, als wenn das früher so oft versuchte umgekehrte Verfahren, nämhch die mechanische Erklärung der Elektrizität, gelungen wäre, ob- Das Wesen der Erkenntnis. gleich die mechanischen Gesetze sehr viel länger bekannt und dem mensch- lichen Geist sehr viel vertrauter sind als die elektrischen. Häufig findet man auch die Formulierung, Erkennen sei „Zurück- führung des Unbekannten auf Bekanntes". Dies ist aber eine verkehrte Ausdrucksweise. Das zu Erklärende muß uns immer bekannt sein — denn wie könnten wir es erklären wollen, wenn wir nichts von ihm wüßten.? Man begeht hier eine Verwechslung von Kennen und Erkennen, die, wie wir später sehen werden, an manchen Stellen die schlimmsten Folgen für die Philosophie haben kann (siehe auch unten § ii). Aber selbst wenn man diesen Irrtum korrigiert und in jener Formel das ,, Unerkannte" für das ,, Unbekannte" einsetzt, so wird sie dadurch noch nicht richtig. Denn das erklärende Moment, auf welches man das Unerkannte reduziert, braucht nicht notwendig ein vorher Bekanntes zu sein; es kommt auch vor, daß es ein Neues, erst zum Zwecke dieser besonderen Erkenntnis Angenommenes ist. Diesen Fall haben wir überall dort, wo zur Erklärung eines Tatbestandes ein neuer Begriff, eine neue Hypothese aufgestellt wird, die sich dann freilich erst noch anderweitig bewähren muß, ehe die Erklärung als geglückt betrachtet werden kann. Aber wo eine neue, glücklich ersonnene Hypothese (man denke etwa an den Begriff des Elektrons) zum ersten Male irgendwelche Tatbestände verständlich macht, da besteht die Erkenntnis in der Zurückführung des Bekannten auf ein vorher Unbekanntes, also jener Formel gerade entgegengesetzt. Das er- klärende Moment, welches die Erkenntnis ermöglicht, braucht natürhch seinerseits nicht selbst ein Erkanntes zu sein; es kann auch ein Letztes sein, das für uns noch nicht auf andere Momente reduzierbar ist. Um richtig zu sein, muß die erwähnte Formel also auf jeden Fall zu dem weniger bestimmten Satze verallgemeinert werden : Erkenntnis ist Zurück- führung des einen auf das andere. Daß das Wesen des Erkennens restlos in einer derartigen Zurück- führung aufgeht, ist von manchen Philosophen eingesehen und zugegeben worden. Aber es fehlt an solchen, die mit dieser Einsicht Ernst gemacht und die letzten Konsequenzen aus ihr gezogen hätten. Bei allen großen prinzipiellen Fragen muß man schließlich auf die Natur des Erkenntnis- vorganges zurückgehen. Man sollte allen jfliilosophischen Problemen und der philosophischen Seite aller Probleme mit derselben Waffe auf den Leib rücken. Wir müssen stets erstens fragen: Auf welche Momente kann denn das zu Erkennende möglicherweise zurückgeführt werden.'' und zweitens: Auf welchem Wege muß diese Reduktion geschehen.? Die Einzelwissenschaften stellen sich diese Fragen bei der Lösung ihrer Spezialaufgaben ganz von selbst, und an ihnen kann man die Methode leicht studieren. Es gibt dort Fälle, in denen der Weg der Reduktion vorgezeichnet ist; die Aufgabe besteht dann darin, die erklärenden Momente zu finden — und oft gehört nicht geringe Tapferkeit daz^, den Dingen, denen man auf diesem Wege begegnet, fest ins Auge zu sehen. Auf diese Weise ist man in der Physik z. B. zur modernen Quantenhypothese und Das Erkennen in der Wissenschaft. zur Relativitätstheorie gelangt. In anderen Fällen sind die erklärenden Momente vorhanden, und dann ist der Weg des Erklärens zu suchen. Dies ist der gewöhnliche Fall. Ihn haben wir z. B. vor uns, wenn wir alle Bewegungen im Planetensystem durch das Newtonsche Gesetz zu er- klären trachten, oder die meteorologischen Erscheinungen auf thermo- dynamische, oder die biologischen auf physikalische und chemische Ge- setzmäßigkeiten zu reduzieren streben. Freilich täuscht man sich hier oft darüber, welche Momente als erklärende Prinzipien herangezogen werden müssen, und dann wird man durch Irrlichter abseits geführt. Als Beispiel erinnere ich an die eben schon erwähnte früher herrschende Meinung, alle physikalischen Erscheinungen müßten sich als mechanische, als Be- wegungsvorgänge, erkennen lassen. Es gibt aber auch Fälle, in denen beides noch fehlt, Weg und Prin- zipien der Erklärung, Ziel und Kompaß. Da ist es dann wohl das beste, das Problem (das dann überhaupt noch kein wohl formuliertes sein kann) ruhen zu lassen, bis man auch auf anderen Wegen noch zu ihm geführt wird und dadurch Fingerzeige zur Lösung erhält. Eine Vorstellung vom letzten Ziel alles Erkennens können wir schon an diesem frühen Punkte der Untersuchung uns verschaffen. Wir brauchen nur darauf zu achten, daß alles Begreifen dadurch von Stufe zu Stufe weiterschreitet, daß zuerst das eine im andern wieder- gefunden wird, dann in jenem wieder ein anderes und so fort. Aber bis wohin geht das so weiter, und was ist der Erfolg des ganzen Prozesses? Soviel ist klar: auf die geschilderte Weise wird die Zahl der Erscheinungen, die durch ein und dasselbe Prinzip erklärt werden, immer größer, und demnach die Zahl der zur Erklärung der Gesamtheit der Erscheinungen nötigen Prinzipien immer kleiner. Denn da eins immer auf das andere reduziert wird, so nimmt die Menge des noch nicht Reduzierten, d. h. des erklärenden noch nicht Erklärten, ständig ab. Es kann daher die Anzahl der verwendeten Erklärungsprinzipien geradezu als ein Maß der erreichten Höhe der Erkenntnis dienen; die höchste Erkenntnis wird nämlich offenbar diejenige sein, die mit einem Minimum erklärender nicht weiter erklärungsfähiger Prinzipien auskommt. Dies Minimum möglichst klein zu machen, ist also die letzte Aufgabe des Erkennens. Wie weit diese Verminderung der letzten Prinzipien getrieben werden kann, dar- über etwas Bestimmteres sagen zu wollen, wäre voreilig. Aber das ist sicher: nur eines Lächelns würdig sind die Bemühungen jener Philosophen, die da vorgaben, sie vermöchten bereits die Gesamtheit des Seienden, den ganzen Reichtum der Welt, aus einem einzigen Prinzip ab- zuleiten. Höchste Bewunderung jedoch muß man dem Ergebnis zollen, das die zusammenarbeitenden Einzelwissenschaften in der Verminderung der Prinzipien heute schon erreicht haben; sie haben sie in wundervollem Ansturm in der neueren Zeit förmlich dezimiert. Besonders läßt sich wiederum an der Physik der Fortschritt dieser Wissenschaft daran er- kennen und messen, daß die Zahl der fundamentalen Gesetzmäßigkeiten, Das Wesen der Erkenntnis. die in ihr zur Erklärung der übrigen dienen, sich in wenigen Jahrzehnten ganz außerordenthch verringert hat. Während früher die Gebiete der Mechanik, der Optik, der Wärme und der Elektrizität getrennt neben- einander standen, jedes mit seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten, kennt der moderne Physiker im Prinzip nur noch die Mechanik und die Elektro- dynamik als besonderte Teile seiner Disziplin, auf die alle übrigen bereits reduziert sind; und auch diese beiden lassen ihrerseits schon an manchen Punkten die Möglichkeit einer gegenseitigen Reduktion und Vereinigung nicht ausgeschlossen erscheinen. Wir sehen ferner, worin die eigentliche Schwierigkeit aller Erklärung und Gewinnung letzter Erkenntnisse besteht: ein Minimum von Er- klärungsprinzipien zu verwenden und doch mit Hilfe dieser geringen An- zahl jede einzelne Erscheinung in der Welt ganz vollständig zu bestimmen. Das heißt, es soll das Individuelle nur mit Hilfe der allgemeinsten Namen und doch eindeutig bezeichnet werden. Gewiß eine Forderung, die auf den ersten Bhck fast widerspruchsvoll erscheint. In unserem Beispiel vom Hunde war die eindeutige Bezeichnung zwar erreicht, aber durch einen individuellen Namen (etwa ,,mein Hund Tyras"), und deshalb war es keine wissenschaftliche Erkenntnis. Umgekehrt ist auch das Entgegengesetzte immer sehr leicht, nämlich die Bezeichnung eines Individuellen durch einen gültigen allgemeinen Namen, der es aber nicht völlig eindeutig bestimmt. Auch hier liegt dann keine wissenschaft- liche Erkenntnis vor, sondern nur der Schein einer solchen. Denn es lassen sich ohne Schwierigkeit allgemeine Begriffe so auffinden oder konstruieren, daß sie in allen Erscheinungen der Welt wiedergefunden werden können. Wenn z. B. Thales in allen Dingen dieselbe Substanz, das Wasser, wieder- zuerkennen glaubte, so hatte er damit keine echte Erkenntnis gewonnen, denn dieser Gedanke konnte ihm nicht dazu helfen, etwa die individuellen Unterschiede eines Stückes Marmor und eines Stückes Holz eindeutig und vollständig durch allgemeine Namen zu bestimmen. Und nicht wesent- lich anders liegt der Fall, wenn in der neueren Metaphysik z. B. der Satz aufgestellt wurde: alles, was existiert, ist Geist. Trotz tieferer Be- gründung und feinster Dialektik stehen solche modernen Formulierungen prinzipiell doch auf einer Linie mit derjenigen des Thales (vgl. unten § 34). Dem Ungebildeten kommt jener Unterschied zwischen Wissen und Erkenntnis kaum zum Bewußtsein; ihn beruhigt es schon sehr, wenn nur jedem Ding oder jeder Erscheinung irgendein Name beigegeben wird. Wie klug dünkt sich nicht ein Gärtner, der von allen seinen Pflanzen den lateinischen Namen weiß, wie oft hört man nicht mit Kenntnis von Namen, Ausdrücken und Zahlen prunken, die sich für Erkenntnis aus- geben möchte! ^) ') Vgl. hierzu Lotze's Bemerkungen in seinem Mikrokosmos. 5. Aufl. Bd. II. S. 249!.; ferner Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob. 2. Aufl. S. 318. Das Erkennen durch Vorstellungen. 13 Wir werden später sehen, daß in der Tat nur eine einzige Methode wirklich imstande ist, wissenschaftliche Erkenntnis im strengsten, voll- gültigen Sinne zu vermitteln, also den beiden besprochenen Be- dingungen Genüge zu tun: vollständige Bestimmung des Individuellen, und sie zu leisten durch Zurückführung auf das Allgemeinste; es ist die Methode der mathematischen Wissenschaften. Bis dahin ist aber noch ein weiter Weg zurückzulegen. Hier kam es nur darauf an, flüchtig einige Ausbhcke zu zeigen, die sich auf dem gewonnenen Standpunkte bereits öffnen. Ehe wir diese Ausblicke erweitern, wollen wir uns erst die Mittel schaffen zur schärferen Unterscheidung alles dessen, was sie uns zeigen werden. Wir kehren zu diesem Zwecke zur Analyse des Erkenntnisprozesses zurück, um die bisher nur unvollständig formulierten Ergebnisse zu präzi- sieren und zu ergänzen. 4. Das Erkennen durch Vorstellungen. Alles Erkennen ist ein Wiedererkennen oder Wiederfinden. Und alles Wiederfinden ist ein Gleichsetzen eines Neuen mit einem Alten, ein Identi- fizieren dessen, was erkannt wird, mit dem, als was es erkannt wird. Über diesen Akt der Identifikation müssen wir jetzt völlige Klarheit schaffen, um unsere Einsicht in das Wesen des Erkennens zu vertiefen. Identifikation setzt Vergleichung voraus. Was wird nun beim Er- kenntnisprozeß miteinander verglichen.^ Die Frage ist leicht genug zu beantworten bei den Erkennungs- vorgängen des täglichen Lebens: dort sind es im allgemeinen Vor- stellungen, die verglichen werden. Blicken wir auf unser früheres Beispiel zurück, so sahen wir schon, daß ich ein wahrgenommenes Tier dadurch als einen Hund erkenne, daß die Wahrnehmungsvorstellung, die ich von dem Tiere habe, in gewisser Weise übereinstimmt mit der Er- innerungsvorstellung, die ich von Hunden im allgemeinen habe, also mit einer der Vorstellungen, die in meinem Geiste auftauchen, wenn ich die Worte Spitz, Bulldogge, Neufundländer od. dgl. vernehme. Psychologisch mag sich der Vorgang so abspielen, daß bei Gelegenheit der Wahrneh- mung die zum Vergleich dienende Erinnerungsvorstellung durch Assoziation hervorgerufen wird, es mögen hier Verschmelzungen stattfinden, es mag eine besondere ,,Bekanntheitsqualität" auftreten — mit allem diesem haben wir es nicht zu tun. Aber hinter diesen psychologischen Fragen liegt doch eine erkenntnistheoretische verborgen, deren Verfolgung uns sogleich ein gutes Stück auf unserm Wege weiter bringen wird. Bei der Vergleichung der Vorstellungen, wie sie zum Erkennen er- fordert wird, erhebt sich nämlich eine große Schwierigkeit. Zur Auf- findung und Feststellung der Gleichheit ist doch, so scheint es, erforder- lich, daß die Vorstellungen absolut scharf umrissene und bestimmte Ge- bilde seien. Denn wenn sie etwa verschwommen und undeutlich sind, i^ Das Wesen der Erkenntnis. wie soll es da möglich sein, Gleichheit mit Sicherheit festzustellen? was könnte uns Gewißheit verschaffen, daß kleinere Verschiedenheiten oder selbst beträchtliche Abweichungen nicht übersehen sind? Nun sind aber, wie wir alle aus der Erfahrung wissen, sämtliche Erinnerungsvorstellungen in der Tat außerordentlich flüchtige und unscharfe, nebelgleich zerfließende Gebilde. Wenn ich etwa ein oft gesehenes Objekt, z. B. ein jenseits der Straße stehendes Haus, mir im Geiste vergegenwärtige, so glaube ich vielleicht, das mit großer Präzision tun zu können, aber sowie ich mich nach irgendwelchen Einzelheiten frage, nach der Zahl der Fenster, nach der Form des Daches od. dgl., so bin ich nicht imstande, über solche Details meiner Erinnerungsvorstellung genaue Angaben mit Sicherheit zu machen. Keine Bilder stehen wohl deutlicher vor unserm geistigen Auge als die Gesichter der nächsten Angehörigen, die wir täglich anschauen, und doch stellt sich bei näherer Betrachtung heraus, daß auch dergleichen Vorstellungen überaus geringe Klarheit und Bestimmtheit besitzen. Jede Person bietet ja total verschiedene Gesichtsbilder dar, je nach der Seite, von welcher man sie betrachtet, je nach der Haltung, die sie gerade ein- nimmt, je nach der Stimmung, in der sie sich befindet, je nach der Klei- dung, die sie trägt. Von diesen unendlich vielen Ansichten der Person sind nun in der Erinnerungsvorstellung immer nur ganz wenige Besonder- heiten herausgehoben, und auch diese nur undeutlich. Man kann sich davon leicht überzeugen, wenn man eine Versuchsperson nach der Farbe der Augen, nach der Nasenform oder der Lage des Scheitels usw. ihrer nächsten Angehörigen oder Freunde befragt. Also unsere Vorstellungen sind unzweifelhaft ganz verschwommene und unscharfe Gebilde. Ein Erkennen, das auf dem Vergleichen und der Konstatierung der Gleichheit derartiger Gebilde beruht, müßte doch, so sollte man meinen, ein höchst unsicherer und fragwürdiger Prozeß sein. Dabei sind die Vorstellungen des Gesichtssinnes — nur solche hatten wir eben als Beispiele herangezogen — im allgemeinen noch die alier- deutlichsten. Dennoch lehrt die Erfahrung, daß das Wiedererkennen und Erkennen im täglichen Leben mit einer Genauigkeit und Sicherheit stattfindet, die für gewöhnliche Bedürfnisse unter allen Umständen ausreicht. Diese Tat- sache mag psychologisch vor allem darauf beruhen, daß wahrscheinlich die ins Bewußtsein tretende Wahrnehmungsvorstellung eines Gegenstandes die Erinnerungsvorstellung desselben Gegenstandes mit viel größerer Schärfe ins Gedächtnis ruft, als ohne solchen äußeren Anlaß möglich ist, und dann mit ihr verschmilzt — doch diese Frage ist, wie bemerkt, nur von psychologischem Interesse. Von erkenntnistheoretischer Bedeu- tung ist aber die Tatsache, daß ein Erkennen im alltäglichen Leben auf diese Weise zustande kommt und praktisch ausreichende Sicherheit besitzt. In der Tat wird es jeder für ausgeschlossen halten, daß ich etwa einen fremden Hund infolge einer Täuschung, eines fälschlichen Wiedererkcnnens für meinen eigenen ansehen könnte, oder daß ich bei Das Erkennen durch Vorstellungen. 15 hinreichend naher Betrachtung meinen eigenen Vater nicht erkennen würde, vorausgesetzt natürHch, daß der Hund oder der der Vater in- zwischen nicht — etwa durch den Einfluß des Alters — solche Verände- rungen durchgemacht haben, daß wirklich die Wahrnehmungsvorstellung von der Erinnerungsvorstellung gänzlich verschieden ist; aber in diesem Falle wäre ja auch das zu erkennende Objekt in Wahrheit gar nicht das- selbe geblieben, sondern ein anderes geworden. Theoretisch freilich — und daran müssen wir gerade vom philosophi- schen Standpunkt aus festhalten — bleibt immer die Möglichkeit, daß entweder mein Gedächtnis nicht zuverlässig war und die Erinnerungs- vorstellungen ganz und gar entstellt hat (bei Geisteskranken kommt ja dergleichen wirklich vor), oder auch, daß ein erinnertes und ein wahr- genommenes Objekt sich so sehr gleichen, daß die scheinbare Erkenntnis in Wirklichkeit ein Irrtum war. Prinzipiell wäre es ja doch möglich, daß etwa ein fremder Hund dem meinigen ,,aufs Haar" gliche und durch die genaueste Betrachtung nicht von ihm unterschieden werden könnte. Während es sich aber hier nur um theoretische Möglichkeiten handelt, die für das Leben ohne Bedeutung sind (die Komödie der Irrungen konnte sich nur im Geiste Shakespeares, nicht in Wirklichkeit abspielen), steht es schon ganz anders in solchen Fällen, wo bei dem Prozeß des Erkennens nicht individuelle Vorstellungen ins Spiel kommen, wie in den betrachteten Beispielen, sondern sogenannte ,, Allgemeinvorstellungen". Mit diesem Worte bezeichnet man Vorstellungen, die in unserem Denken nicht einen ein- zelnen, individuellen Gegenstand vertreten, sondern gleich eine ganze Klasse von Objekten. Also z. B. die Vorstellung, die dem Worte ,,Hund" entspricht. Was für ein Gesichtsbild z. B. steigt in meinem Geiste auf, wenn ich dieses Wort höre, wenn ich also an Hunde ganz im allgemeinen denke.? Da finden ziemlich bunte psychische Prozesse statt. Meistens wird es so sein, daß ein undeutliches Bild eines zu einer bestimmten Rasse gehörigen Hundes, also etwa eines Bernardiners, sich in meinem Bewußt- sein bildet, und daß dabei zugleich der Nebengedanke auftritt, daß nicht nur dieser, sondern zugleich auch alle übrigen Arten von Hunden in Be- tracht gezogen werden sollen; und dieser Nebengedanke wiederum wird sich vielleicht so in meinem Bewußtsein bemerkbar machen, daß zugleich, leise angedeutet, auch die Gesichtsvorstellungen von anderen Hundearten, Doggen, Terrier usw. verschwommen und für einen kurzen Augenblick auftauchen. Soviel steht jedenfalls fest: ganz unmöglich kann ich mir eine anschauliche Vorstellung bilden von einem Hunde, der weder ein Bernardiner, noch ein Neufundländer, noch ein Dackel, noch sonst irgend ein bestimmter Hund ist, der weder braun noch weiß, weder groß noch klein, kurz, ein Tier, das weiter nichts wäre als eben ein Hund im all- gemeinen. Es ist unmöglich, sich ein Dreieck im allgemeinen vorzustellen, ein Dreieck also, das weder rechtwinklig noch spitzwinklig, weder gleich- schenklig noch ungleichseitig ist, ein Dreieck, dem die allgemeinen Eigen- schaften, die jedes Dreieck hat, sämtlich zukommen, und nur diese, i6 Das Wesen der Erkenntnis. nicht aber irgendwelche speziellen Eigenschaften. Sowie man sich ein Dreieck vorstellt, ist es schon ein spezielles, denn seine Seiten und Winkel müssen in der Vorstellung doch irgendeine Größe haben. Es gibt also überhaupt keine Allgemeinvorstellungen, solange man nicht die Bedeutung des Wortes Vorstellung verschiebt, solange man darunter eben jene Gebilde versteht, die uns in der Sinneswahrnehmung oder der Erinnerung anschaulich gegeben werden. Dieser Satz ist zuerst mit aller Schärfe von Berkeley ausgeprochen und seitdem zu einem bleibenden Besitz der Philosophie geworden. Wenn wir in. unserem Denken mit Allgemeinbegriffen wie ,, Mensch" oder , .Metall" oder ,, Pflanze" operieren, so geschieht das, wie schon oben angedeutet, meist in der Weise, daß ein schwaches individuelles Bild eines Exemplars der gemeinten Gattung vor unser geistiges Auge tritt, und daß damit zugleich das Bewußtsein sich verknüpft, diese Individual- vorstellung solle nur als Repräsentant der ganzen Gattung gelten. So der psychologische Tatbestand. Aus ihm ergeben sich, wie man ohne weiteres sieht, beträchtliche er- kenntnistheoretische Schwierigkeiten. Wenn schon bei den Individual- vorstellungen die Identifikation und damit das Wiedererkennen wegen der Undeutlichkeit aller Vorstellungen theoretisch niemals als vollkommen sicher gelten konnte — wie steht es da erst mit Erkenntnissen, durch die ein Individuum als zu einer bestimmten Klasse gehörig bestimmt wird.-* Dazu wäre ja, wie wir sahen, erfordert, daß die Wahrnehmungs- vorstellung, durch die das Individuum uns gegeben ist, verglichen wird mit der Vorstellung der ganzen Klasse und beide dann identisch ge- funden würden. Nun kann ich aber von einer ganzen Gattung überhaupt keine Vorstellung haben, sondern sie kann höchstens durch eine indivi- duelle Erinnerungsvorstellung repräsentiert werden — wie ist da noch ein Vergleichen und Gleichfinden möglich.'' Die Erfahrung lehrt auch hier, daß es tatsächlich möglich ist und zwar mit einem Grade der Sicherheit, der für die Fälle des täglichen Lebens fast immer ausreicht, aber doch auch schon hier manchmal zu Irrtümern führt. Im allgemeinen werde ich einen Hund ganz richtig als Hund er- kennen, indem das Wahrnehmungsbild in genügendem Grade überein- stimmt mit irgendwelchen Vorstellungen von Tieren, die ich irgend einmal gesehen habe und als Hunde bezeichnen lernte. Es werden jedoch auch zweifelhafte Fälle vorkommen können. Manche Hunde z. B. sehen Wölfen so ähnlich, daß es bei gegebenen äußeren Umständen ganz wohl zu einer Verwechslung kommen könnte. In anderen Fällen wird die sichere Identi- fikation dem ungeübten Beobachter völlig unmöglich sein, so, wenn er von gewissen Lebewesen sagen soll, ob sie Pflanzen oder Tiere seien. Diese Betrachtungen zeigen einerseits, daß für die Erkenntnisprozesse des täglichen Lebens (und auch großer Teile der Wissenschaft) die Identi- fikation und das Wiedererkennen bloßer Vorstellungen im allgemeinen völlig genügt; andererseits aber geht aus ihnen unwiderleglich hervor, daß Das Erkennen durch Begriffe. 17 ein wissenschaftlich absolut brauchbarer, d. h. strenger, exakter Begriff des Erkennens sich auf diese Weise überhaupt nicht begründen läßt. Die Art der Erkenntnis, die für die Bedürfnisse des vorwissenschaftlichen Denkens und des praktischen Lebens ausreicht, kann keine legitime Ver- wendung finden für die Wissenschaft, welche überall möglichste Strenge und höchste Gewißheit fordert. Wie verfährt nun aber die Wissenschaft, um zu einer Art von Er- kenntnis zu gelangen, die ihren Anforderungen an Strenge und Sicherheit entspricht .i* Sie versucht, an die Stelle der Vorstellungen, die ihrer Natur nach stets verschwommen und exakter Identifikation nicht fähig sind, etwas anderes, scharf Bestimmtes zu setzen, das fest umgrenzt ist und stets mit absoluter Sicherheit identifiziert werden kann. Dies andere, das an die Stelle der Vorstellungen treten soll, sind die Begriffe. 5. Das Erkennen durch Begriffe. Was ist ein Begriff.? Ein Begriff soll sich von einer anschaulichen Vorstellung jedenfalls dadurch unterscheiden, daß er vollkommen be- stimmt ist und nichts Schwankendes sich an ihm findet. Man könnte daher versucht sein, einfach zu sagen — und in der Tat sagen viele Logiker so — : ein Begriff ist eine Vorstellung mit fest bestimmtem Inhalt. Es gibt aber, wie wir sahen, derartige Gebilde in der psychologischen Wirk- lichkeit überhaupt nicht, weil eben alle Vorstellungen in irgendeinem Grade unscharf sind. Man könnte sie sich zwar wenigstens als mög- lich denken, aber nur so lange, als es sich um individuelle handelt; bei Allgemeinvorstellungen (und ihrer bedürfte man ja gerade zum Erkennen) geht auch das nicht an, denn sie sind als reale psychische Wesenheiten überhaupt unmöglich, wie wir uns soeben klar machten. Begriffe sind also nicht Vorstellungen, sind nicht reale psychische Gebilde irgendwelcher Art; es sind Fiktionen, welche wir uns an Stelle der Vorstellungen mit fest bestimmtem Inhalt denken. Wir schalten mit Begriffen so, als ob es Vorstellungen mit völlig genau umrissenen Eigen- schaften wären, die sich stets mit absoluter Sicherheit wiedererkennen lassen. Diese Eigenschaften heißen die Merkmale des Begriffes, und sie werden durch besondere Bestimmungen festgelegt, die dann in ihrer Gesamtheit die Definition des Begriffes ausmachen. Durch die Definition sucht man also das zu erreichen, was man in der Wirklichkeit der Vorstellungen niemals vorfindet, aber zum wissen- schaftlichen Erkennen notwendig gebraucht, nämlich absolute Konstanz und Bestimmtheit. Nicht mehr mit verschwommenen Vorstellungen wird der zu erkennende Gegenstand verglichen, sondern es wird untersucht, ob ihm gewisse, durch Definition fixierte Eigenschaften zukommen, und dadurch wird es möglich, ihn zu erkennen, d. h. mit dem rechten Namen zu bezeichnen. Denn die Definition gibt eben den gemeinsamen Namen Schlick, ErkeantQislehre. 2 Das Wesen der Erkenntnis. an, mit dem alle Objekte genannt werden sollen, welche die in der Defini- tion aufgeführten Merkmale besitzen. Oder, in der herkömmlichen Sprache der Logik ausgedrückt: jede Definition ist eine Nominaldefinition. Der Begriff spielt also die Rolle eines Zeichens für alle die- jenigen Gegenstände, unter deren Eigenschaften sich sämtliche Merkmale des Begriffs finden. Es braucht wohl kaum besonders hervorgehoben zu werden, daß die Worte ,, Gegenstand" und ,, Eigenschaft" hier im allerweitesten Sinne zu verstehen sind. Gegenstand kann schlechthin alles sein, an das man nur denken und das man nur bezeichnen kann, also nicht bloß ,, Dinge", sondern ebensowohl etwa Vorgänge, Beziehungen, beliebige Fiktionen, also auch Begriffe usw., und ganz Analoges gilt von dem Ausdruck ,, Eigen- schaft": er soll alles bedeuten, was einen Gegenstand irgendwie charak- terisiert und zu seiner Bestimmung dienen kann, mag es nun etwas Greif- bares, eine Relation, etwas Eingebildetes oder sonst etwas sein. Der Begriff seinerseits muß nun, da er etwas Unwirkliches, eine bloße Fiktion ist ^), in allen Denkakten durch irgendetwas psychisch Reales vertreten, bezeichnet werden, denn das aktuelle Denken ist ja ein realer psychischer Vorgang. Als solch ein Zeichen dient uns, wie bereits hervor- gehoben, beim wortlosen Denken häufig eine anschauliche Vorstellung, in der wenigstens einige Merkmale des Begriffs annähernd realisiert sind; beim Sprechen wird der Begriff durch Worte, durch Namen bezeichnet, und diese wiederum können zum Zwecke der Mitteilung und Fixierung durch Schriftzeichen repräsentiert werden. Die Worte der Sprache werden oft nicht als Zeichen für Begriffe, sondern auch zur Bezeichnung anschau- licherVorstellungen verwendet, besonders im vorwissenschaftlichenSprechen. In der wissenschaftlichen Sprache aber sollten alle Worte soviel als mög- lich echte Begriffe bezeichnen, so daß einige Logiker in der Gegenwart den Begriff sogar umgekehrt als ,, Wortbedeutung" definieren wollen. Daß ein Begriff im aktuellen Denken durch anschauliche Vorstel- lungen vertreten wird, schadet trotz der Unscharfe aller derartigen Gebilde nichts, so lange man sich nur bewußt bleibt, daß es sich eben um eine Vertretung handelt und sich davor hütet, alle Eigenschaften der Vor- stellung für Merkmale des Begriffs zu halten. Man kann das in anschau- lichen Vorstellungen verlaufende Denken ein bildliches nennen, und in diesem Sinne ist dann wohl all unser Denken in mehr oder weniger hohem Grade bildlich. Dies braucht aber die Richtigkeit der Ergebnisse unserer Gedanken nicht zu hindern, wenn wir nur dessen eingedenk bleiben, daß die anschaulichen Bilder bloß Vertreterrollen spielen, und wenn wir stets genau wissen, was sie vertreten. In Wirklichkeit ist das aber nicht immer leicht, und so ist tatsächlich die Stellvertretung der Begriffe durch Vorstellungen wohl die ergiebigste Quelle von Irrtümern im Denken *) Besonders scharf wird dies betont in der Fiktionenlehre, die Vaihinger unter «lern Titel einer ,, Philosophie des Als Ob" entwickelt hat. Das Erkennen durch Begriffe. 19 aller Philosophen gewesen. Der Gedanke fliegt vorwärts, ohne die Trag- fähigkeit seiner Flügel zu prüfen, ohne nachzusehen, ob die Vorstellungen, die ihn tragen, ihre begriffliche Funktion auch richtig erfüllen. Das muß aber durch stetes Zurückgehen auf die Definitionen festgestellt werden. Nicht selten fehlen sogar brauchbare Definitionen ganz, und der Philosoph wagt den Flug mit Vorstellungen, die durch kein festes begriffliches Ge- rüst gehalten werden. Verirrung und frühzeitiger Sturz sind die Folge. Es soll hier nicht unerwähnt bleiben, daß man gegenwärtig immer nachdrücklicher betont und auch durch experimentelle Untersuchungen zu erhärten sucht, daß keineswegs alles Denken nur anschaulicher, bildlicher Natur sei. Das ist zweifellos richtig; man darf aber natürlich nicht etwa glauben, daß dieses unanschauliche Denken ein Denken in reinen Begriffen wäre, ein Denken, in v/elchem sich Begriffe realiter aufweisen ließen, wie Vor- stellungen im anschaulichen Denken. Jene unanschaulichen Gedanken bestehen vielmehr in gewissen realen, von der Psychologie näher zu unter- suchenden Bewußtseinsvorgängen (vorzugsweise ,,Akte" genannt), und als solche tragen sie den Charakter des Unscharfen und Flüchtigen, während Begriffe das schlechthin Bestimmte und Scharfe sein sollen. Die ,,Akte" können immer nur, wie die Vorstellungen im bildhchen Denken, Repräsen- tanten von Begriffen sein, nicht aber diese selbst. Welche psychischen Zustände oder Prozesse beim wirklichen Denken die Begriffe vertreten, ob anschauliche Vorstellungen oder etwas anderes, das ist eine rein psycho- logische Frage, die uns hier nicht interessiert. Daß die einen Begriff repräsentierenden Bilder nicht seine ,, Bedeutung" ausmachen, wie man hervorgehoben hat ^), ist natürlich richtig; der Begriff ist ja nicht der Repräsentant jener Bilder, sondern umgekehrt: er wird durch sie ver- treten. So sind also Begriffe nichts Wirkliches. Sie sind weder reale Gebilde imBewußtsein des Denkenden, noch gar (wie es die Meinung des ,,ReaHsmus" im Mittelalter war) irgendetwas Wirkliches an den realen Objekten, die durch sie bezeichnet werden. Es gibt streng genommen überhaupt keine Begriffe, wohl aber gibt es eine begriffliche Funktion, und diese kann je nach den Umständen durch Vorstellungen oder sonstige psychische Akte, oder auch durch Namen oder Schriftzeichen ausgeübt werden. Im Bewußtsein des Denkenden vollzieht sich das Denken eines Begriffes durch ein besonderes Erlebnis, das zu derjenigen Klasse von Bewußt- seinsinhalten gehört, die man in der neueren Psychologie vorwiegend als ,,intentionale" bezeichnet. Darunter sind solche Erlebnisse zu ver- stehen, die nicht bloß einfach im Bewußtsein da sind, sondern zugleich einen Bezug auf irgendetwas außerhalb ihrer selbst einschließen. (Vgl. auch unten S. 119 f.) Wenn ich mich z. B. eines gestern gehörten Liedes entsinne, so ist nicht nur die Vorstellung von Tönen in meinem Bewußt- sein, sondern ich weiß auch, daß es die Vorstellung gestern vernommener *) E. HussERL, Logische Untersuchungen II, S, 61 ff. Das Wesen der Erkenntnis. Töne ist, und dieses Wissen, dieses Meinen der Töne, dieses GerichteN sein, diese „Intention" auf den Gegenstand der Vorstellung, ist etwas von dieser letzteren ganz Verschiedenes, eben ein seelischer Akt, eine psychische Funktion. Sie ist nicht nur etwas anderes als eine anschauUche Vorstellung, sondern nach C. Stumpf nicht einmal notwendig an solche gebunden ^). Die Einsicht in die grundlegende Bedeutung dieser Funk- tionen für das Verständnis des geistigen Lebens ist eine wichtige Er- rungenschaft der modernen Forschung, die besonders dem eben erwähnten Psychologen zu danken ist, welcher in der Untersuchung der Funktionen geradezu d i e Aufgabe der Psychologie erblickt. Auch die Schule 0. Külpe's und E. HussERL haben große Verdienste um die Würdigung der ,,Akte", Zu diesen Funktionen gehört nun auch das Denken eines Begriffes, das Gerichtetsein auf ihn. Die begriffliche Funktion ist also etwas Wirk- liches, nicht aber der Begriff selber. Doch diese Bemerkungen nur nebenbei zur psychologischen Klärung. Die erkenntnistheoretische Bea^utung der begrifflichen Funktion besteht eben im Bezeichnen. Bezeichnen aber bedeutet hier weiter nichts als Zuordnen. Wenn man von irgendwelchen Gegenständen sagt: sie fallen unter den und den Begriff, so heißt das nur: man hat ihnen diesen Begriff zugeordnet^). Hierauf sei besonders hingewiesen gegenüber neueren Bemühungen, die Vieldeutigkeit der Termini Zeichen und Bezeichnen logisch und er- kenntnistheoretisch auszuwerten. Es ist in der Tat zu unterscheiden zwischen Bezeichnung als bloßer ,, Anzeige", und Ausdruck, Stellvertretung, Bedeutung, Sinn, und vielleicht noch manchem anderen, und es mögen all diesen verschiedenen Bedeutungen verschiedene ,,Akte'', verschiedene Bewußtseinsweisen entsprechen^): gemeinsam ist aber allen diesen Fällen doch dies, daß es sich um eine Zuordnung handelt, und nur das ist für die Erkenntnislehre wesentlich. Jene Unterschiede sind, was man auch sagen möge, zunächst nur psychologischer Natur; ihre erkenntnis- theoretischc Irrelevanz wird dadurch bewiesen, daß allein das Moment der Zuordnung, das von jenen Unterschieden gar nicht berührt wird, für die Lösung der Frage nach dem Wesen des Erkennens in Betracht kommt, wie sich bald zeigen wird. Es ist ein großer Irrtum, wenn man glaubt, es sei zur Lösung aller erkenntnistheoretischen Probleme erstes Erfordernis, alle verschiedenen Bewußtseinsweisen und ,,Akte" voneinander zu unter- scheiden. Wäre das nötig, so könnten wir keine derartige Frage beant- worten, denn die Zahl der Bewußtseinsweisen ist schlechthin unendlich und unerschöpflich, ist doch streng genommen kein einziges Erlebnis *) C. Stumpf, Erscheinungen und psychische Funktionen. Abhandl. d. Berl. Akad. d. Wissensch. von 1906. *) Dieselbe Ansicht über das Wesen des Begriffes vertritt K(jlpe in seinem Buche „Die Realisierung" (Bd. I, S. 226): ,, Begriffe sind für die objektive Wissenschaft ,, fixierte Zuordnungen zwischen Zeichen und bezeichneten Gegenständen". ^) HussERL, a. a. 0. S. 23 — 61. Das Erkennen durch Begriffe. irgendeinem andern genau gleich. Die gegenwärtig so viel gepriesene und geübte Methode der ,, phänomenologischen Analyse", welche eben jene Unterscheidungen zur Aufgabe hat, führt deshalb um so mehr ins Ufer- lose, je strenger sie durchgeführt wird, ohne doch wirkliche Erkenntnisse zu vermitteln. Sie bereitet solche nur vor. Denn sie führt nirgends das eine auf das andere zurück, sondern sucht im Gegenteil alles mög- lichst voneinander zu trennen, auseinander zu halten. Doch sei dies nur nebenbei bemerkt. Wir kehren zu unseren Er- örterungen über das Wesen des Begriffs zurück. Man hat sich oft dagegen gesträubt, den Begriffen jede Existenz abzusprechen, wie wir das oben taten, indem uns das Reden vom Begriff gleichsam nur als abkürzende Sprechweise galt, weil es nur begriffliche Funktionen wirklich gibt. Aber es bestehen doch ganze Wissen- schaften, die nichts als Begriffe und deren Verhältnisse zum Gegenstande haben, wie Mathematik und reine Logik, und es scheint daher, als könne man das Sein der Begriffe nicht leugnen, ohne zu so absurden Behaup- tungen zu kommen wie einst Oken, der so hübsch sagte: ,,Die Mathematik ist auf das Nichts begründet, und entspringt mithin aus dem Nichts". Deshalb zieht man es meist vor, zu sagen: es gibt Begriffe, ihnen kommt ebensowohl ein Sein zu, wie etwa sinnlichen Objekten, aber nicht ein reales, wie diesen, sondern ein ideales Sein. Die Begriffe des Drei- eckes, der Zahl Fünf, des Syllogismus usw. haben gewiß, so schließt man, nirgendwo reale Existenz; da man aber doch vielerlei gültige Aussagen von ihnen machen kann, so sind sie auch nicht nichts, man muß ihnen also eine Art von Sein zuschreiben, das man eben als ideales bezeichnet zum Unterschiede vom wirklichen Sein. Gegen diese Ausdrucksweise läßt sich ohne Zweifel gar nichts ein- wenden, solange sie nur eine rein terminologische Bedeutung behält. Aber gar zu leicht führt diese Rede von den idealen Gegenständen zu un- klaren und irrigen Anschauungen, die in die Richtung der platonischen Metaphysik weisen, an die sie sich in der sprachlichen Formulierung an- lehnen. Man gelangt unvermerkt dazu, der Welt des Wirklichen eine von ihr unabhängige Welt des idealen Seins gegenüberzustellen, das Reich der Ideen, das Reich der Werte und Wahrheiten, des Geltenden, eben die unzeitliche Welt der Begriffe. Sie erscheint als eine starre, an sich selber existierende Welt, in der Begriffe und Wahrheiten unveränder- lich thronen, und die auch da sein würde, wenn es gar kein Reich des realen Seins gäbe; denn, so sagt man, es wäre z. B. 2 mal 2 auch dann gleich 4, wenn überhaupt nichts Wirkliches existierte. Und dann erhebt sich die Frage nach dem Verhältnis der beiden Reiche zueinander, nach den Beziehungen des Idealen zum Realen, mit zahlreichen Scheinproblemen, welche die philosophische Spekulation belasten. Man stellt sich vor, daß die idealen Gegenstände durch reale Prozesse irgendwie erfaßt oder er- griffen würden, Begriffe durch Vorstellungen, Wahrheiten durch Urteils- akte usw., und man hat für den Akt des Erfassens den besonderen Namen Das Wesen der Erkenntnis. Ideation erfunden. So wird das aufzuklärende Verhältnis in Wahrheit immer unklarer, zumal man den letzten Schritt zur völligen Hypostasie- rung der Begriffe und den Übergang zur echten platonischen Ideenlehre nicht gern vollziehen möchte. (Vgl. unten II, § 17.) Allen diesen Wirrnissen entgeht man, wenn man sich von vornherein klar macht, daß das ideale ,,Sein", von dem hier die Rede ist, mit dem Sein der Wirklichkeit in keiner Weise verglichen oder ihm gegenüber- gestellt werden kann; es ist ihm nicht verwandt, vermag zu ihm in "kein irgenwie geartetes reales Verhältnis zu treten. Es hat vor allem keinen Sinn, dem Reiche der Ideen Unabhängigkeit von der Welt des Wirk- lichen zuzuschreiben, als hätten Wahrheiten und Begriffe irgendwelchen Bestand unabhängig von allen urteilenden und begreifenden Wesen. Ihre Natur besteht ja darin, Zeichen zu sein, sie setzen also unter allen Um- ständen jemand voraus, der zu bezeichnen wünscht, Zuordnungen voll- ziehen will. Nur im. beziehenden Bewußtsein hat die begriffliche Funk- tion ihren Ort, und es ist daher sinnlos, den Begriffen eine Existenz un- abhängig von der Existenz bewußter Wesen zuzuschreiben. Ebenso falsch ist es natürlich, sie für einen Teil oder eine Seite bestimmter Bewußtseins- vorgänge zu halten, denn damit würde man sie als psychische Realitäten ansehen, und sie sind eben nichts Reales. Auch nachdem der mittelalterliche Begriffsrealismus längst über- wunden ist, werden doch immer noch viele Irrtümer begangen dadurch, daß man sich das Verhältnis zwischen einem Begriff und den Gegen- ständen, die unter ihn fallen, nicht als ein bloßes Bezeichnen vorstellt, sondern anders, vor allem inniger. Ein solches Mißverständnis liegt z. B. vor, wenn man die Lehre von der Abstraktion so darstellt, als könne ein Begriff gleichsam aus den Dingen entstehen, nämlich dadurch, daß man von ihren individuellen Eigenschaften abstrahiere. Wäre dies der Fall, so müßte man ja umgekehrt aus einem Begriff durch Hinzufügung ganz bestimmter Merkmale ein wirkliches Ding machen können. Das ist natürlich Nonsens. Durch das Hinzukommen noch so vieler besonderer Merkmale kann aus einem Begriff höchstens der Begriff eines individuellen Dinges werden, niemals aber dieses selbst. Aber in der mittelalterlichen Scholastik spielte in der Tat die Frage nach dem sog. principium individuationis eine große Rolle, d. h. die Frage nach dem Prinzip, durch welches aus einem allgemeinen Begriff ein individueller Gegenstand würde, und es entstand die sonderbare Lehre von der ,,haecceitas" als demjenigen Merkmal, durch dessen Anfügung das All- gemeine in eine individuelle Wirklichkeit übergeführt werde. Ebensowenig wie ein greifbares Ding kann natürlich aus einem Be- griff durch das Hinzukommen irgendwelcher Merkmale eine Vorstel- lung werden, denn auch eine Vorstellung ist ja etwas Reales, ein Ge- bilde von psychischer Wirklichkeit. Wie also reale Dinge oder Vorstel- lungen nicht aufgebaut werden können aus bloßen Begriffen, also aus Das Erkennen durch Begriffe. 23 bloßen Fiktionen, so können Begriffe auch nicht aus Dingen und Vor- stellungen durch Weglassung bestimmter Eigenschaften entstehen. Man kann im allgemeinen überhaupt nicht eine Eigenschaft von einem Dinge fortdenken und die übrigen ungeändert bestehen lassen. Ich kann z. B. nicht den Begriff der mathematischen Kugel bilden, indem ich mir eine wirkUche Kugel vorstelle und dann von allen ihre physischen Eigen- schaften, wie Farbe usw. abstrahiere; denn ich kann mir wohl eine Kugel einer beliebigen Farbe, niemals aber eine Kugel" von gar keiner Farbe visuell vorstellen. Nicht dadurch also gelangt man zu den Begriffen, daß man gewisse Merkmale der Dinge oder Vorstellungen fortließe (denn es ist, wie das Beispiel eben lehrte, unmöglich, sie einfach ohne Ersatz fortzulassen), sondern dadurch, daß man die Merkmale voneinander unter- scheidet und einzeln bezeichnet. Die Unterscheidung aber wird, wie bereits Hume ^) eingesehen hat, dadurch ermöglicht, daß die einzelnen Merkmale unabhängig voneinander veränderlich sind: so vermag ich bei der Kugel Gestalt und Farbe als besondere Merkmale voneinander zu trennen, weil ich mir einerseits behebig gestaltete Körper in der gleichen Farbe, andererseits beliebig gefärbte Körper in der gleichen Ge= stalt vorstellen kann. Diese kurzen Ausführungen mögen genügen, um vorläufig einige Klar- heit über das Wesen des Begriffs zu schaffen und vor allem vor jeder wie auch immer gearteten Verdinglichung der Begriffe zu warnen. Sie sind nichts als Fiktionen, die eine exakte Bezeichnung der Gegenstände zu Erkenntniszwecken ermöglichen sollen, wie etwa das den Erdball um- spannende fingierte Gradnetz die eindeutige Bezeichnung eines Ortes seiner Oberfläche gestattet. Von dem Verhältnis dieser Fiktionen zur Bewußt- seinswirklichkeit haben wir später noch zu reden (unten, Teil II, § 17). Anmerkung. Eindringlich und geistvoll sind in der Gegenwart irrige Theorien der Begriffsbildung und Abstraktion zurückgewiesen worden durch E. Cassirer ^), und er geht so weit, daß er die überlieferte Lehre vom Wesen des Begriffs ihrem Kerne nach für hinfällig erklärt und eine neue Ansicht an ihre Stelle setzen will, die nicht ausgeht von dem Ver- hältnis Gegenstand-Eigenschaft, sondern vom mathematischen Funktions- begriff. In Wahrheit treffen aber Cassirer's Einwände nur die unhalt- bare Anschauung, daß der Begriff als gemeinsamer Bestandteil einer Reihe gleichartiger oder ähnlicher Einzeldinge oder Einzelvorstel- lungen aufzufassen sei ^). Davon kann natürlich keine Rede sein. Der Begriff bezeichnet nur das Gleichartige der Einzelgegenstände. Hält man sich dies vor Augen, so erkennt man auch, daß die von Cassirer in seinem Buche beschriebene Aufgabe und Leistung des wissenschaft- lichen Begriffes gar nicht im Gegensatz steht zu den traditionellen Lehren, ') Hume, Treatise on human nature. Book I. part I. sectiou VII, gegen Ende. ') E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Berlin 1910. I. Kapitel. *) a. a. O. S. 6 u. 11. 24 Das Wesen der Erkenntnis. sondern sich durchaus mit ihnen vereinen läßt. Der Funktionsbegriff widerstreitet nicht dem „Substanzbegriff", sondern ordnet sich, genau betrachtet, vollkommen in sein Schema ein. In der Tat ist eine mathe- mathische Funktion unter allen Umständen aufzufassen als ein Gegen- stand mit bestimmten Eigenschaften (diese Worte im oben erläuterten weiten Sinne genommen), und daß die Definition sich in die Gestalt einer mathematischen Formel kleidet, ändert nichts am Wesen der Sache. Unhaltbar ist vor allem Cassirer's gegen die herkömmhche Logik gerichtete Behauptung, bei dem Funktionsbegriff sei im Gegensatz zum Gattungsbegriff die alte Regel nicht mehr richtig, daß dem reicheren Inhalt der geringere Umfang entspreche; vielmehr erweise sich nun der allgemeinere Begriff zugleich als der inhaltsreichere i) : ,,wer ihn besitzt, der vermag aus ihm alle mathematischen Verhältnisse, die an dem be- sonderen Problem auftreten, abzuleiten . . . ." und Cassirer erläutert das an dem Verhältnis des Begriffes des Kegelschnittes zu seinen be- sonderen Formen (Ellipse, Parabel, Hyperbel). Aber die aristo tehsche Logik muß, und darf es mit vollem Rechte, z. B. den Begriff der EUipse, der ja gegenüber dem Begriff „Kegelschnitt" der engere ist, als den inhalts reicheren betrachten, denn er entsteht aus diesem zweifellos durch Hinzufügung eines weiteren besonderen Merkmals; der Begriffs- inhalt ,, Kurve zweiter Ordnung" muß durch das neue Merkmal ,,mit so und so bestimmten Koeffizienten" bereichert werden. Die Regeln der alten Logik bleiben also in vollem Umfange bestehen. In der gewöhn- lichen Schreibweise enthält die Gleichung der allgemeinen Kurve zweiter Ordnung mehr Koeffizienten als etwa die des Kreises,' es wäre aber ein grobes Mißverständnis, wollte man sie deswegen für inhaltsreicher im, Sinne der Logik halten. Denn jene Koeffizienten sind keineswegs Merk- male im logischen Sinne, sondern stehen nur als Vertreter von Zahlen da, sie geben nur (was Cassirer sonst auch einsieht) die Stellen an, wo be- stimmende Merkmale einzutreten haben. Daß nun solche Stellenangaben Platz finden können, ist ja methodisch von höchster Wichtigkeit, niemals aber läßt sich auf diesen Umstand die Idee eines dem Gattungsbegriff widerstreitenden Funktionsbegriffs gründen. Im Prinzip ist dergleichen auch außerhalb der Mathematik genau so gut möglich. Statt ,, Pferd" kann ich sagen ,, Pferd von beliebigem Geschlecht, beliebiger Größe, be- liebiger Farbe etc." und habe damit angedeutet, was für Merkmale bei Spezialisierung des allgemeinen Begriffs hinzukommen können. Gewonnen ' ist aber damit natürlich gar nichts. Auch ohne daß es besonders bezeichnet wird, ist selbstverständlich, daß Stellen zur Ausfüllung durch Merk- male da sind; aber bei Begriffen von empirischen Gegenständen ist es meist völlig zwecklos, sie ausdrücklich anzugeben. Es sind nämlich stets unendlich viele, und die Naturgesetzlichkeit, welche die einzelnen Merkmale untereinander verbindet, ist fast nie völlig bekannt; eine Ver- a. a. 0. S. 25. Das Erkennen durch Begriffe. 25 Wertung solcher Begriffe in einem streng exakten System von Erkenntnissen ist somit ohnehin unmöglich. Aber die Mathematik hat es mit einfachsten Begriffen von selbstgeschaffener Gesetzmäßigkeit zu tun, und da wird dann die Methode der Stellenbezeichnung möglich und praktisch. Sowie sie aber zu komplizierten Gebilden mit zahlreicheren oder gar unendlich vielen Ausfüllungsmöghchkeiten übergeht, gibt auch sie jene Methode auf und läßt die Möglichkeiten unbezeichnet. Für eine beliebige Kurve in der Ebene z. B. gibt sie uns nur das Symbol f (x, y) = o. Will Cassirer auch diesen Begriff für Inhalts reicher erklären als die Gleichung irgendeiner spezielleren Kurve.!* Man tut gut, sich beim Anblick dieses Ausdruckes klar zu machen, in welchem Sinne Cassirer's Worte ,,wer ihn besitzt, der vermag aus ihm alle mathematischen Verhältnisse, die an dem besonderen Problem auftreten, abzuleiten" wahr sind, und in welchem nicht. So finden wir auch hier die zuweilen auftauchende Meinung nicht bestätigt, als verfüge die Mathematik über ganz besondere, die gemeine aristotelische Logik überragende Denkmittel. In Wahrheit ruht jene ganz auf dieser, sie hat keine eigentümliche Logik für sich, sondern nur eine eigentümhche, ihren besonderen Zwecken vortrefflich angepaßte Zeichen- sprache. Irgend eine Zauberkraft, irgend ein Sinn, den man nicht letzten Endes auch in der Wortsprache ausdrücken könnte, wohnt ihr nicht inne. Bei genauerem Zuschauen bemerkt man — was Cassirer selbst übersehen zu haben scheint — , daß seine interessanten Untersuchungen es überhaupt gar nicht zu tun haben mit dem Wesen und der Bildung des Begriffs im Sinne der alten Logik; sie beziehen sich vielmehr auf die Rolle, die der Begriff beim Erkennen spielt, und auf die Motive, die zu seiner Bildung führen. So wird der logische mit dem erkenntnis-, theoretischen Gesichtspunkt verwechselt. Nun leugnet freilich der logi- sche Ideahsmus, welchen Cassirer vertritt, den Unterschied dieser beiden Gesichtspunkte. Aber die Betrachtung der Resultate, zu denen man auf diesem Wege gelangt, läßt gerade den Irrtum einer solchen An- schauung recht hervortreten und zeigt, wie sehr man der alten formalen Logik unrecht tut, wenn man ihr erkenntnistheoretische Lehren unter- schiebt. Ihre formale Richtigkeit • bleibt nach wie vor unangetastet. Cassirer will (im Anschluß an ein Beispiel Lotze's) die tradionelle Logik dadurch ad absurdum führen, daß er erklärt, durch Anwendung ihrer Vorschriften gelange man z. B. dazu, Kirschen und Fleisch unter die Merkmalgruppe rötlicher, saftiger, eßbarer Körper unterzuordnen — dies sei aber kein gültiger logischer Begriff, sondern eine nichtssagende Wortverbindung, ,,die für die Erfassung der besonderen Fälle nichts be- deutet und leistet" ^). Nehmen wir einmal an, dies letzte treffe tatsäch- Hch zu (obwohl nicht einzusehen ist, warum der so gewonnene Begriff nicht doch einmal nützlich werden könnte, etwa bei einer Untersuchung •) a. a. 0. S. 8. 26 Das Wesen der Erkenntnis. über das visuelle Unterscheidungsvermögen von Tieren), ist es deswegen kein gültiger logischer Begriff? Er h a t einen Sinn, und das allein ent: scheidet für seine Gültigkeit in der formalen Logik. Die Frage, ob er für das Erkennen je irgend eine Rolle spielen kann, liegt ganz außerhalb ihrer Sphäre. Und wenn Cassirer dann fortfährt: ,, Somit zeigt es sich, daß die allgemeine formale Vorschrift für sich allein nicht genügt, daß vielmehr überall zu ihrer Ergänzung stillschweigend auf ein anderes ge- dankliches Kriterium zurückgegriffen wird", so läßt sich daraus auch nicht der leiseste Einwand gegen die formale Logik herleiten. Denn wo hätte sie je den Anspruch erhoben, uns Vorschriften darüber zu machen, was für Begriffe wir bilden sollen.? Sie will uns nur lehren, wie wir sie bilden können oder müssen, wenn wir ihrer zu irgendeinem Zwecke, aus irgendeinem Grunde bedürfen. Diese Gründe und Zwecke liefert sie selbst nicht, und damit auch kein Kriterium, wie wir zu nützlichen Be- griffen gelangen. Mag die Logik auch im Geiste ihres Schöpfers noch so eng mit dessen metaphysischen Anschauungen verknüpft gewesen sein: einmal geschaffen, ist sie gänzlich unabhängig von jeder Metaphysik, un- abhängig auch von jeder materialen Theorie der Erkenntnis. Die Funk- tionsbegriffe der Mathematik haben eine eigentümhche erkenntnistheore- tische Bedeutung, weil sie eben eine besondere Rolle spielen; sie stehen aber nicht im Widerspruch zu den allgemeinen Gattungsbegriffen, sondern sind spezielle Fälle davon und unterstehen ihren Gesetzen, 6. Grenzen des Definierens. Ist nun durch die beschriebenen Schritte das erwünschte Ziel der absoluten Sicherheit und Genauigkeit des Erkennens erreicht.? Unbestreit- bar ist viel gewonnen. Durch die definierten Begriffe erhebt sich das wissenschaftliche Erkennen weit über das alltägliche. Die Erkenntnis wird immer in praktisch zweifelsfreier Weise möglich, sobald man über passend definierte Begriffe verfügt. Betrachten wir ein Beispiel. Wenn man mir ein Stück Metall in die Hand gibt, so werde ich nicht erkennen können, ob es etwa reines Silber ist oder nicht, solange ich auf die Wahrnehmungen angewiesen bin, die ich durch bloßes Ansehen oder Betasten des Stückes gewinne. Denn die Erinnerungsvorstellungen, die ich vom Silber habe, sind nicht scharf genug, um sich deutlich von den Vorstellungen ähnlicher Metalle, etwa des Zinns oder gewisser Legierungen, zu unterscheiden. Ganz anders jedoch, wenn ich den wissenschaftlichen Begriff des Silbers zu Hilfe nehme. Dann ist es definiert als ein Stoff vom spezifischem Gewicht 10,5, vom Atomgewicht 108, von bestimmter elektrischer Leitfähigkeit usw., und ich brauche nur nachzusehen, ob das mir vorliegende Metall diese Eigenschaften besitzt, um mit aller wünschens- werten Genauigkeit zu entscheiden, ob ich Silber vor mir habe oder eine andere Substanz. Von dem Vorhandensein oder Fehlen der geforderten Merkmale überzeuge ich mich (und es gibt keinen anderen Weg) durch Grenzen des Definierens. 27 gewisse Versuche — Wägen, chemische Reaktionen u. dgl. — , deren Er- gebnisse durch Beobachtung festgestellt werden. Nun bedarf es aber zu jeder sinnlichen Beobachtung (Skalenablesung usw.) in letzter Linie stets der Wiedererkennung eines Wahrnehmungs- bildes und diese ist immer, wie wir uns klar gemacht haben, mit einer prinzipiellen Unsicherheit behaftet. Die Zeigerstellung eines beliebigen Instrumentes, z. B. läßt sich niemals mit absoluter Genauigkeit angeben, jede Ablesung enthält einen mehr oder minder großen Fehler. Wir stehen also vor genau der gleichen Schwierigkeit wie zu Anfang. Ein Wiedererkennen anschaulicher Gebilde, ein Vergleichen von Wahr- nehmungs- und Erinnerungsvorstellungen bleibt auch hier erforderlich, nur daß es nicht Vorstellungen des zu erkennenden Gegenstandes selbst, sondern seiner Eigenschaften sind. Die Merkmale, in die eine Definition einen beliebigen Begriff auflöst, müssen in letzter Linie immer an- schaulicher Natur sein, ihr Vorhandensein an einem gegebenen Gegen- stande kann immer nur durch die Anschauung festgestellt werden, aus dem einfachen Grunde, weil alles Gegebene uns schheßhch durch die Anschauung gegeben ist. Eine Ausnahme bilden nur die unanschaulichen Bewußtseinserlebnisse oder ,,Akte"; daß aber diese an Unscharfe und Un- sicherheit den Anschauungen nicht nachstehen, wurde schon oben hervor- gehoben. So ist also die Schwierigkeit, zu deren Beseitigung die Begriffe ein- geführt wurden, in Wirklichkeit nicht fortgeschafft, sondern nur zurück- geschoben. Dennoch ist dadurch ein großer Nutzen für die Erkenntnis erreicht. Der Vorteil liegt nämhch darin, daß es nunmehr möglich ist, durch geeignete Definitionen jene Schwierigkeit an die günstigsten Stellen zu verlegen, wo dann jeder Irrtum mit einer Sicherheit ausgeschlossen werden kann, die für alle Zwecke der Einzelwissenschaften ausreicht. Enthält z. B. der Begriff des Fisches die Merkmale, daß es ein Eier legendes und durch Kiemen atmendes Tier ist, so kann man niemals in den Fehler verfallen, einen Wal für einen Fisch zu halten, denn daß der Wal lebendige Junge zur Welt bringt und Lungen besitzt, das sind Merk- male, über deren Vorhandensein genaue Beobachtung und Untersuchung unmöglich täuschen können. Auch die Merkmale des Begriffes ,, Silber" auf den wir eben exemplifizierten, sind so gewählt, daß für alle prakti- schen wie wissenschaftlichen Zwecke die Wiedererkennung mit hinreichender Genauigkeit garantiert werden kann, obgleich sie in letzter Linie nur mit Hilfe sinnlicher Vorstellungen zustande kommt. Und ähnliches gilt in allen anderen Fällen. Mögen jedoch die Anforderungen der Praxis und aller Wissenschaften auf diese Weise in noch so weitreichendem Maße befriedigt sein: die An- forderungen der Erkenntnistheorie sind nicht befriedigt. Für sie besteht jene Schwierigkeit im Prinzip fort, wie weit sie sich auch hinausschieben lasse. Sie muß vielmehr fragen, ob die Schwierigkeit sich ganz beseitigen läßt. Nur wenn das der Fall ist, scheint es absolut sichere Erkenntnis 28 Das Wesen der Erkenntnis. geben zu können. Auf diese Frage also konzentriert sich das Interesse der Erkenntnislehre. Leicht genug, so scheint es, läßt sich die Antwort durch eine kurze Überlegung finden. Die Definition eines Begriffes besteht in der Angabe seiner Merkmale; diese aber müssen zu ihrer genauen Bestimmung wiederum definiert, d. h. in weitere Merkmale aufgelöst werden, und so fort. Müßte und könnte nun die Reihe der Subdefinitionen ohne Aufhören fortgesetzt werden, so würde durch diesen Regressus in infinitum natürlich alles Definieren überhaupt illusorisch gemacht. In der Tat kommt man aber sehr bald auf Merkmale, die sich schlechterdings nicht mehr definieren lassen; die Bedeutung der diese letzten Merkmale bezeichnenden Worte kann nur demonstriert werden durch die Anschauung, durch unmittel- bares Erleben. Was ,,blau" ist oder was ,,Lust" ist, kann man nicht durch Definition kennen lernen, sondern nur bei Gelegenheit des Anschauens von etwas Blauem oder des Erlebens von Lust. Damit scheint aber unsere Frage endgültig, und zwar verneinend beantwortet zu sein: das schließ- liche Zurückgehen auf das unmittelbar Gegebene, auf Anschauung und Erlebnis, ist unvermeidhch, und da allem Derartigen prinzipiell stets eine gewisse Unscharfe anhaftet, so erscheint die Gewinnung absolut exakter Begriffe überhaupt unmöglich. Müssen wir also nicht dem Skeptizismus recht geben, der jede unanfechtbar sichere Erkenntnis leugnet .'' Hier muß eine wichtige Bemerkung eingeschaltet werden. Wenn wir von der Undeutlichkeit anschaulicher Gebilde reden, so ist das nidht so zu verstehen, als seien psychische Erlebnisse nicht etwas vollkommen bis ins kleinste Bestimmtes; als reale Vorgänge sind sie vielmehr in jeder Hinsicht durchaus bestimmt — jedes Wirkliche ist in eindeutig bestimmter Weise genau so wie es ist und nichts anderes — ; die Unscharfe, von der wir hier reden, ist aber doch immer vorhanden. Wohl sind diese Vorgänge stets völlig bestimmt, aber in jedem Augenblick anders; sie sind flüchtig und veränderhch, schon die Erinnerung des nächsten Momentes ist nicht imstande, den vorhergehenden vollkommen genau zu reproduzieren. Zwei nahezu gleiche Farben, zwei fast gleich hohe Töne können nicht vonein- ander unterschieden werden; es ist nie mit Sicherheit zu sagen, ob zwei nahezu parallele Kanten einen Winkel miteinander bilden oder nicht: kurz — wenn auch Anschauungen als reale Gebilde nicht eigenthch als an sich unbestimmt bezeichnet werden dürfen, so geben sie doch zu Un- bestimmtheit und Unsicherheit Anlaß, sowie man Urteile über sie fällen will, denn dazu ist ein Vergleichen, ein Imgedächtnisbehalten erforderlich, dem ihre Flüchtigkeit widerstrebt. Abkürzend werden wir diese Tat- sache auch fernerhin so ausdrücken, daß allem Anschauen oder sonstigem Erleben die völlige Schärfe und Exaktheit mangelt. Bis in die neueste Zeit hinein hat sich die Logik im allgemeinen bei der geschilderten Sachlage beruhigt. Sie hat erklärt, daß jene letzten Begriffe, bei denen alles Definieren Halt machen muß, einer Definition Grenzen des Definierens. 29 nicht bloß nicht fähig, sondern auch gar nicht bedürftig wären ; die Sucht, alles definieren zu wollen, erschien als überflüssige Spitzfindig- keit, welche den Bau der Wissenschaft stört, statt ihn zu fördern. Der Inhalt der einfachsten Begriffe wird in der Anschauung aufgezeigt (z. B. die Hohe des Tones „a" durch Erklingenlassen einer Stimmgabel), und eine solche Aufzeigung leistet ungefähr das, was Aristoteles als Leistung der sog. Realdefinition vorschwebte, nämlich die Angabe des ,, Wesens" des durch den Begriff bezeichneten Gegenstandes. Man hat diese Auf- zeigung auch wohl als ,, konkrete" oder als ,, psychologische" Definition bezeichnet, im Gegensatz zur eigentlichen, logischen Definition, von der jene natürlich toto genere verschieden ist. Die Erklärung nun, daß für die einfachsten Begriffe eine Definition entbehrlich sei, kann zweierlei heißen. Erstens kann es bedeuten, daß die Anschauung doch imstande sei, gewissen Begriffen einen vollkommen klaren und bestimmten Inhalt zu geben; in diesem Falle müßte unsere Behauptung von der Unscharfe aller Anschauung (im oben erläuterten Sinne) widerlegt und berichtigt werden. Zweitens aber kann es bedeuten, daß wir einer absolut exakten, prinzipiell vollkommenen Erkenntnis nirgends bedürfen. Damit wäre voraus- gesetzt, daß dem Menschen auf allen Gebieten nur approximatives oder wahrscheinliches Erkennen erreichbar sei und daß daher das Verlangen nach absoluter Sicherheit keinen Sinn habe. Was zunächst die zweite Alternative angeht, so ist sie in vollem Umfange nur von ganz wenigen Philosophen vertreten worden. Als histo- risches Beispiel wäre hier etwa eine Lehre wie die des Sophisten Gorgias zu nennen; doch auch die radikale empiristische Theorie, wie sie etwa von John Stuart Mill ausgebildet wurde, mündet, streng folgerecht durch- geführt, in die gleiche Ansicht. Nach ihr dürfte für keine Erkenntnis absolute Gewißheit in Anspruch genommen werden, also auch nicht für die sogenannten reinen Begriffswahrheiten, wie z. B. die Sätze der Arith- metik, denn auch zur Einsicht in solche Erkenntnisse wie etwa die, daß 3 mal 4 gleich 12 ist, gelangen wir schließlich nur durch reale psychische Prozesse, die an jener Unscharfe alles Gegebenen teilhaben. Das erkenntnis- theoretische Problem, zu welchem man beim Durchdenken dieses Stand- punktes gelangt, werden wir erst später zu behandeln haben; dann wird sich von selbst ergeben, welche Stellung wir gegenüber der zweiten der beiden Alternativen einnehmen müssen, die hier zur Erwägung stehen. Für jetzt wenden wir uns nun der ersten zu. Wenn es sich darum handelt, die Sicherheit und Strenge von Er- kenntnissen zu retten, obgleich sie durch flüchtige, unscharfe Erlebnisse zustande kommen, so kann man das nur auf dem Wege, daß man an- nimmt, die Erlebnisse seien doch nicht in jeder Hinsicht in irgendeinem Grade undeutlich, es sei vielmehr an ihnen etwas vollkommen Konstantes, scharf Bestimmtes, das unter Umständen rein zutage trete. Da aber an der Flüchtigkeit des jeweils Gegebenen nicht zu zweifeln ist, so kann 30 Das Wesen der Erkenntnis. jenes Konstante nur das Gesetz sein, welches es beherrscht und ihm seine Form gibt. Hier öffnen sich MögHchkeiten, mit denen man hoffen könnte, aus dem herakHtischen Fkisse der Erlebnisse ein festes Ufer zu gewinnen. Es scheint freilich, als müsse immer ein prinzipieller Zweifel zurückbleiben: Gesetzt nämlich, unsere anschaulichen Vorstellungen werden irgendwie von absolut strengen Regeln beherrscht (und das ist sicherlich der Fall), so fragt es sich immer noch, was wir denn von ihnen wissen. Besteht unser Wissen nicht seinerseits in letzter Linie aus flüchtigen Erlebnissen.'' Dann würde sich die Frage von neuem erheben, und so ginge es ohne Abschluß fort. Hier ist noch nicht der Ort, zu entscheiden, wie weit dieser Zweifel recht hat, ob man also wirklich der absoluten Strenge nicht mehr ver- sichert ist, sobald man auf die anschauliche Bedeutung der Begriffe zurück- geht. — Wie die Entscheidung auch fallen möge, die Erkenntnistheorie muß für einen ungünstigen Ausgang gerüstet sein; es ist also von höchster Wichtigkeit für sie, zu untersuchen, ob man wirklich den Inhalt aller Begriffe in letzter Linie nur im Anschaulichen finden kann, oder ob nicht unter Umständen von der Bedeutung eines Begriffes auch ohne Zurück- führung auf anschauliche Vorstellungen sinnvoll die Rede sein darf. Die Bestimmtheit solcher Begriffe könnte dann sichergestellt sein, unabhängig davon, welcher Grad von Schärfe unseren Anschauungen eigentümlich ist, das ewig Fließende unserer Erlebnisse brauchte uns nicht mehr zu schrecken, unbekümmert darum könnte es doch ein streng exaktes Denken geben. In welchem Sinne Derartiges in der Tat behauptet werden darf, soll im nächsten Paragraphen gezeigt werden. 7. Die implizite Definition. Obwohl die Logik der soeben aufgeworfenen Frage von Anbeginn ins Auge sehen konnte, ist der Anstoß zu ihrer endgültigen Erledigung doch nicht von ihr selber ausgegangen, sondern von der Einzelforschung, deren Bedürfnissen sich die Logik, hier wie in den meisten Fällen, erst nachträglich anpaßte. Unter den Einzelwissenschaften konnte natur- gemäß auch nur diejenige bis zur strengen Formulierung unserer Frage vordringen, in deren Charakter es liegt, daß jedem ihrer Schritte absolute Sicherheit gewährleistet werden soll: die Mathematik. Für die übrigen Wissenschaften, die nicht bloß wegen unzulänglicher Definitionen, sondern schon aus anderen Gründen solche hohen Ansprüche an Strenge nicht er- heben konnten, fehlte jeder Anlaß zu einer so prinzipiellen Fragestellung. Trotzdem ist die Bedeutung der nun zu besprechenden Untersuchungen keineswegs auf die Mathematik beschränkt, sie gelten vielmehr im Prinzip für alle wissenschaftlichen Begriffe ganz ebenso wie für die mathemati- schen; die letzteren legen wir aber zweckmäßig der Betrachtung als Para- digma zugrunde. Die implizite Definition. 31 Als die Mathematiker zu der Einsicht gelangt waren, daß die elemen- tarsten geometrischen Begriffe, wie etwa der des Punktes oder der Ge- raden, nicht eigentlich definierbar sind, d. h. in noch einfachere Begriffe auflösbar, beruhigten sie sich zuerst dabei, weil die Bedeutung dieser Begriffe in der Anschauung mit so großer Deutlichkeit gegeben war, daß es schien , als könne die Gültigkeit der geometrischen Axiome aus ihr ohne weiteres mit vollkommener Sicherheit abgelesen werden. Der neueren Mathematik aber genügte der Hinweis auf die Anschauung nicht. Sie wandte sich den Prinzipienfragen zu, sie suchte außer nach neuen geometrischen Sätzen auch nach den Gründen der Gültigkeit aller geometrischen Wahrheiten. Die mathematische Beweisführung, d. h. die Ableitung neuer Sätze aus schon bekannten, gewann immer mehr an Strenge, indem man jede Berufung auf die Anschauung zu vermeiden strebte; nicht aus ihr, sondern aus ausdrücklich formulierten Sätzen wollte man alle Schlußfolgerungen rein logisch ableiten. Wendungen, wie ,,Aus Betrachtung der Figur folgt . . ." oder ,,Aus der Zeichnung sieht man ..." waren fortan verpönt, vor allem aber sollten im geometrischen Beweise nicht stillschweigend, Eigenschaften benutzt werden, deren Vorhandensein nur durch die Anschauung der verwendeten Figur festgestellt war; es galt vielmehr, ihr Bestehen aus den Voraussetzungen und Axiomen auf logischem Wege abzuleiten, oder, wenn das sich als unmöghch erwies, als neues Axiom besonders auszusprechen. Da schien es nun unerträghch, daß die letzten Prinzipien, die allen Beweisen zugrunde liegenden und deshalb selbst nicht beweisbaren Axiome der Geometrie, den Grund ihrer Gültigkeit doch wiederum allein der Anschauung verdanken sollten, derselben Anschauung, die man aus der Beweisführung auszuschalten trachtete, weil ihre Zuverlässigkeit verdächtig war, wie besonders die Entwicklung der Ansichten über das Parallelen- axiom lehrte. Wenn die Bedeutung der mathematischen Grundbegriffe, also etwa der Sinn der Worte „Punkt", ,, Gerade", ,, Ebene", nur durch Anschauung aufgewiesen werden kann, so lassen sich auch die von ihnen geltenden Axiome nur aus der Anschauung ablesen; und die Legitimität einer solchen Begründung steht eben in Frage. Um solche Unsicherheit zu vermeiden, beschritten nun die Mathe- matiker einen Weg, der für die Erkenntnistheorie von höchster Bedeu- tung ist. Nachdem manche Vorarbeit geleistet war ^), hat David Hilbert es unternommen ^), die Geometrie auf einem Fundamente aufzubauen, dessen absolute Sicherheit nirgends durch Berufung auf die Anschauung gefährdet wird. Ob Hilbert nun im einzelnen diese Aufgabe vollkommen gelöst hat, oder ob seine Lösung noch vervollständigt und verbessert werden muß, das interessiert uns hier gar nicht. Hier kommt es allein auf das Prinzip an, nicht auf die Durchführung und Ausgestaltung. *) Hier wären besonders die „Vorlesungen über neuere Geometrie" von M. Pasch zu erwähnen. '') D. Hilbert, Grundlagen der Geometrie. 4. Aufl. 1913. 32 Das Wesen der Erkenntnis. Und dies Prinzip ist von überraschender Einfachheit. Die Aufgabe war: die im gewöhnlichen Sinne undefinierbaren Grundbegriffe auf solche Weise einzuführen, daß die Gültigkeit der von ihnen handelnden Axiorne streng verbürgt wird. Und sie wird nach Hilbert einfach so gelöst, daß man festsetzt: die Grundbegriffe sollen eben dadurch definiert sein, daß sie den Axiomen genügen. Das ist die sog. Definition durch Axiome, oder Definition durch Postulate, oder die implizite Definition. Es ist nun wichtig, sich ganz klar darüber zu werden, was diese Art des Definierens bedeutet und leistet und wodurch sie sich von der ge- wöhnlichen unterscheidet. Alles Definieren in der Wissenschaft überhaupt hat den Zweck, Begriffe zu schaffen als scharf bestimmte Zeichen, mit denen sich die Erkenntnisarbeit völlig sicher verrichten läßt. Die Defini- tion baut den Begriff aus allen den Merkmalen auf, die zu eben dieser Arbeit gebraucht werden. Die wissenschaftliche Denk arbeit aber — alsbald werden wir ihr Wesen noch näher zu betrachten haben — besteht im Schließen, das heißt im Ableiten neuer Urteile aus alten. Von Urteilen, von Aussagen allein kann das Schließen seinen Anfang nehmen; zur Verwertung des Begriffs beim Denkgeschäfte wird also von seinen Eigenschaften keine andere gebraucht als die, daß gewisse Urteile von ihm gelten (z. B. von den Grundbegriffen der Geometrie die Axiome). Für die strenge, Schluß an Schluß reihende Wissenschaft ist folglich der Begriff in der Tat gar nichts weiter als dasjenige, wovon gewisse Urteile ausgesagt werden können. Dadurch ist er mithin auch zu definieren. Indem die neuere Mathematik die geometrischen Grundbegriffe wirk- Hch nur auf diese Art definieren will, schafft sie keineswegs etwas ganz Neues und Besonderes, sondern sie deckt bloß die Rolle auf, welche jene Begriffe in der mathematischen Deduktion in Wahrheit spielen und immer gespielt haben. Für diese Deduktion, d. h. für das Folgen der mathemati- schen Wahrheiten auseinander, ist also die anschauliche Bedeutung der Grundbegriffe ganz belanglos; es ist daher für die Gültigkeit und den Zusammenhang der mathematischen Sätze schlechthin gleichgültig, ob wir z. B. unter dem Worte ,, Ebene" gerade dasjenige anschauliche Ge- bilde verstehen, das jedermann beim Hören des Wortes sich vorstellt, oder irgend ein anderes: nur darauf kommt es an, daß das Wort ein gewisses Etwas bedeutet, von welchem bestimmte Aussagen (die Axiome) gelten. Und von den übrigen in diesen Axiomen noch vorkommenden Begriffen gilt wohlgemerkt genau das gleiche: auch sie sind allein dadurch definiert, daß sie zu den andern in jenen bestimmten Beziehungen stehen. So beginnt denn die HiLBERT'sche Geometrie mit einem System von Sätzen, in denen eine Reihe von Worten auftritt, wie ,, Punkt", ,, Gerade", ,, Ebene", ,, zwischen", ,, außerhalb" usw., und diese sollen zunächst gar keinen Sinn und Inhalt haben, sie erhalten Sinn erst durch das Axiomen- system, und nur soviel Inhalt, als dieses ihnen verleihen kann: ihr ganzes Wesen besteht darin, Träger der durch jenes festgelegten Beziehungen Die implizite Definition. 33 zu sein. Darin liegt keine Schwierigkeit, weil ja Begriffe überhaupt nichts Reales sind; das Wesen eines WirkHchen, Anschaulichen könnte freilich nicht wohl darin erschöpft gedacht werden, daß es zu anderem in gewissen Relationen steht, sondern die Träger der Relationen müßten wohl auch als mit irgend einer Eigennatur ausgestattet vorgestellt werden .... von Begriffen gilt dergleichen keineswegs. Dennoch fällt es erfahrungsgemäß dem Anfänger schwer, den Ge- danken von Begriffen zu fassen, die durch ein System von Postulaten definiert und jedes eigentlichen ,, Inhaltes" bar sind; unwillkürlich meint man immer, ein Begriff müsse doch einen für sich vorstellbaren Sinn haben; und noch schwerer ist es, von dem anschaulichen Sinn der zwischen ihnen bestehenden Beziehungen abzusehen (also z. B. in einem Satze wie: ,,Der Punkt C liegt zwischen A und B auf der Geraden a" mit den Worten „zwischen" und ,, liegt" nur den Sinn zu verbinden, daß sie irgendwelche bestimmte Beziehungen gewisser Gegenstände A, B, C zueinander bedeuten sollen, nicht aber gerade d i e zu bezeichnen brauchen, die wir gewöhn- lich mit jenen Worten verbinden). Der dieser Gedanken Ungewohnte wird daher gut tun, sich in diese überaus wichtigen Ideen mit Hilfe von Beispielen einzuleben. Solche Beispiele liefert in reinster Form naturgemäß die Mathematik. Sie macht häufig davon Gebrauch, daß man die Beziehungen der geometri- schen Begriffe zueinander für sich betrachten kann, ganz unabhängig von ihren anschaulichen Bedeutungen. Wenn wir z. B. die Schar der unend- hch vielen Kugelflächen ins Auge fassen, die durch einen bestimmten Punkt des Raumes hindurchgehen, diesen Punkt selbst aber aus dem Raum hinweggenommen denken, so erhalten wir, wie sich leicht nach- weisen läßt, lauter für dieses Kugelgebüsch gültige Sätze, wenn wir ein- fach die Sätze der gewöhnlichen Euklidischen Geometrie nehmen und überall, wo das Wort „Ebene" in diesen Sätzen auftritt, darunter eine jener Kugelflächen verstehen, unter dem Worte ,, Punkt" wiederum einen Punkt, unter dem Worte ,, Gerade" aber größte Kreise auf den Kugel- flächen, in analoger Weise das Wort ,, parallel" umdeuten usw. Es be- stehen mithin in jenem Gebüsch zwischen den Kugeln, größten Kreisen usw. ganz genau dieselben Relationen wie zwischen Ebenen, Geraden usw. im gewöhnhchen Räume (aus welchem kein Punkt ausgeschlossen gedacht ist); das anschauliche Bild ist aber in beiden Fällen für uns natürlich ein total anderes. Wir haben also ein Beispiel von Gebilden, die ein anderes anschauliches Aussehen haben als die Geraden und Ebenen der gewöhn- lichen Geometrie, aber doch in denselben Beziehungen zueinander stehen, denselben Axiomen gehorchen. Es ist dem Mathematiker ein Leichtes, beliebig viele andere Gebilde zu ersinnen, die ganz dasselbe leisten. Ein anderes Beispiel: Die Sätze der sog. Riemannschen Geometrie der Ebene sind vollkommen identisch mit denen der Eukhdischen sphäri- schen Geometrie, wenn unter den Geraden der ersteren größte Kreise der letzteren verstanden werden usw. Ferner: die Sätze der projektiven Schlick Erkenntnislehre. a 34 Das Wesen der Erkenntnis. Geometrie bleiben richtig, wenn man darin die Worte Punkt und Gerade miteinander vertauscht, und wie verschieden sind die anschaulichen Ge- bilde, die wir mit jenen Worten gewöhnlich bezeichnen! Diese Beispiele ließen sich leicht beliebig vermehren. Auch die theore- tische Physik bietet ihrer genug: es ist ja bekannt, daß wesensverschiedene Erscheinungen doch denselben formalen Gesetzen gehorchen; eine und dieselbe Gleichung stellt die eine oder die andere Naturerscheinung dar, je nachdem man den in ihr auftretenden Größen die eine oder die andere physikalische Bedeutung gibt. Ein einfachster, jedem geläufiger Fall, in welchem die Beziehungen der Begriffe zueinander gänzlich losgelöst erscheinen von ihrem anschaulichen Gehalt, liegt vor in den Formeln, deren man sich zur Verdeutlichung der Aristotelischen Schlußfiguren zu bedienen pflegt. Wenn aus den beiden Sätzen ,,M ist P" und ,,S ist M" gefolgert wird ,,S ist P", so gilt diese Relation vollkommen unabhängig davon, welche Bedeutung die Symbole S, M und P haben. Auf diese kommt es überhaupt nicht an, sondern nur darauf, daß die Begriffe in den durch die Vordersätze angegebenen Beziehungen stehen: S kann ebensogut etwa einen Menschen wie eine Schiffsschraube oder einen Logarithmus bezeichnen. Man sieht leicht, daß mit jeder Einführung mehrdeutiger Symbole ein Anfang zu der Trennung des Inhaltes von der bloßen logischen Form gemacht ist, die bei konsequenter Verfolgung schließlich zur Begriffsbestimmung durch implizite Definitionen führt. Wir sehen also: der streng deduktive Aufbau einer wissenschaftlichen Theorie, wie er etwa in der Mathematik uns vorliegt, hat mit dem an- schaulichen Bilde, das wir uns von den Grundbegriffen machen, gar nichts zu tun. Für ihn kommt allein dasjenige in Betracht, was durch die im- pliziten Definitionen festgelegt wird, nämlich die in den Axiomen aus- gesprochenen Beziehungen der Grundbegriffe zueinander. Für die Mathe- matik als festes Gefüge zusammenhängender Sätze haben die anschau- lichen Vorstellungen, die wir mit den Namen Ebene, Punkt usw. ver- knüpfen, nur die Bedeutung von illustrierenden Beispielen, die durch ganz andere Beispiele ersetzt werden können, wie wir eben an bestimmten Fällen uns klar machten. Was in den besprochenen Fällen an die Stelle der gewöhnlichen Bedeutung der Grundbegriffe trat, waren freilich immer noch räumliche Gebilde, die uns aus der gewöhnlichen Geometrie bekannt waren; prinzipiell steht aber nichts im Wege, uns darunter auch ganz andere, unräumliche Gegenstände zu denken, etwa Gefühle oder Töne. Oder auch ganz unanschauliche Dinge: bedeutet doch z. B. in der analyti- schen Geometrie das Wort ,, Punkt" streng genommen nichts anderes als den Inbegriff dreier Zahlen. Denn daß diesen Zahlen die anschau- liche Bedeutung von räumlichen Koordinaten beigelegt werden kann, ist für ihre Beziehungen zueinander und für die Rechnung mit ihnen ganz gleichgültig. Die Geometrie als fester Bau streng exakter Wahrheiten ist also nicht eigentlich Wissenschaft vom Räume, sondern die räumlichen Ge- Die implizite Definition. 35 bilde spielen nur die Rolle von anschaulichen Beispielen, in welchem die in den geometrischen Sätzen in abstracto aufgestellten Beziehungen ver- wirklicht sind. Ob nun umgekehrt die Geometrie, sofern sie Wissenschaft vom Räume sein will, als ein festgefügter Bau von absolut strengen Wahr- heiten angesehen werden darf — diese Frage aus der Theorie der mathe- matischen Erkenntnis soll hier nicht entschieden werden, denn wir haben es vorläufig nur mit den allgemeinen Problemen zu tun. Daß aber die Bejahung der Frage keineswegs selbstverständlich ist, wie man das sonst wohl glaubte, geht aus allem Gesagten schon genugsam hervor, denn gerade der Zweifel an der absoluten Strenge der Aussagen über anschau- liche räumliche Gebilde war es ja, der dazu führte, die Begriffe nicht mehr durch Beziehung auf die Anschauung, sondern durch ein System von Ppstulaten zu definieren. Die Bedeutung und Leistung dieser impliziten Definition und ihr Unterschied von der gewöhnlichen Art des Definierens dürften jetzt wohl klarer geworden sein. Bei letzterer endet der Definitionsprozeß damit, daß die letzten indefiniblen Begriffe irgendwie in der Anschauung auf- gezeigt werden (konkrete Definition, vgl. S. 29), man weist also dabei immer auf etwas Wirkliches, individuell Existierendes hin, man erläutert etwa den Begriff des Punktes durch Demonstration eines Sandkörnchens, den der Geraden durch eine gespannte Schnur, den der Gerechtigkeit durch Hinweis auf bestimmte Gefühle, die der zu Belehrende in der Wirk- lichkeit seines Bewußtseins vorfindet — kurz, durch die konkrete Defini- tion wird der Zusammenhang der Begriffe mit der Wirklichkeit hergestellt, sie zeigt in der anschaulichen oder erlebten Wirklichkeit dasjenige auf, was nun durch den Begriff bezeichnet werden soll. Die implizite Defini- tion dagegen steht nirgends in Gemeinschaft oder Verbindung mit der Wirklichkeit, sie lehnt sie absichthch und prinzipiell ab, sie verharrt im Reich der Begriffe. Ein mit Hilfe impliziter Definition geschaffenes Ge- füge von Wahrheiten ruht nirgends auf dem Grunde der Wirklichkeit, sondern schwebt gleichsam frei, wie das Sonnensystem die Gewähr seiner Stabilität in sich selber tragend. Keiner der darin auftretenden Begriffe bezeichnet in der Theorie ein Wirkliches, sondern sie bezeichnen sich gegenseitig in der Weise, daß die Bedeutung des einen Begriffes in einer ■ bestimmten Konstellation einer Anzahl der übrigen besteht. So bedeutet also das Aufbauen jeder strengen deduktiven Wissen- schaft ein bloßes Spiel mit Symbolen. In einer so abstrakten Wissen- schaft wie z. B. der Zahlentheorie ist es wohl die Lust an diesem Begriffs- spiele selber, um deren willen der Mensch das Gebäude aufführt; in der Geometrie dagegen, und noch viel mehr in allen Wirkhchkeitswissenschaften, ist es vor allem das Interesse an gewissen anschaulichen oder wirklichen Gegenständen, welches für uns den Anlaß zur Knüpfung des Begriffs- netzes abgibt. Nicht so sehr an den abstrakten Zusammenhängen selbst haftet hier das Interesse, als vielmehr an den anschaulichen Beispielen, die den begrifflichen Beziehungen parallel gehen. Im allgemeinen be- 3* 36 Das Wesen der Erkenntnis. schäftigen wir uns mit dem Abstrakten nur, um es auf das Anschauliche anzuwenden. Aber — und dies ist der Punkt, zu dem unsere Betrachtung hier immer wieder zurückkehrt — im Augenblick der Übertragung der begrifflichen Relation auf anschauliche Beispiele ist die exakte Strenge nicht mehr verbürgt. Wenn irgendwelche wii'klichen Gegenstände uns gegeben sind, wie können wir jemals mit absoluter Sicherheit wissen, daß sie in genau denjenigen Beziehungen zueinander stehen, die in den Postu- laten festgelegt sind, durch die wir unsere Begriffe definieren können.? Kant glaubte, eine unmittelbare Evidenz versichere uns dessen, daß wir in der Geometrie und der reinen Naturwissenschaft apodiktisch ge- wisse Urteile über anschauliche und wirkliche Objekte zu fällen vermögen. Für ihn handelte es sich nur darum, diese Tatsache zu erklären, nicht darum, ihr Bestehen zu erweisen. Wir aber, die in jenem Glauben schwan- kend geworden sind, befinden uns in einer ganz anderen Lage. Wir haben nur das Recht zu sagen: die KANT'sche Erklärung wäre wohl geeignet, eine vorhandene apodiktische Wirklichkeitserkenntnis verständlich zu machen; daß sie aber vorhanden ist, dürfen wir — wenigstens an diesem Punkte der Untersuchung — nicht behaupten, und es ist hier auch nicht abzusehen, wie der Beweis für ihr Bestehen erbracht werden sollte. Eben deshalb ist es von um so größerer Wichtigkeit, daß wir in der impliziten Definition ein Mittel gefunden haben, welches vollkommene Bestimmtheit von Begriffen und damit strenge Exaktheit des Denkens ermöglicht. Allerdings bedurfte es dazu einer radikalen Trennung des Begriffes von der Anschauung, des Denkens von der Wirklichkeit. Wir beziehen beide Sphären wohl aufeinander, aber sie scheinen gar nicht miteinander verbunden, die Brücken zwischen ihnen sind abgebrochen. Mag dieser Kaufpreis auch sehr hoch erscheinen, er muß vorläufig gezahlt werden. Wir dürfen ja nicht mit der vorgefaßten Absicht ans Werk gehen, die Strenge und Gültigkeit unserer Wirklichkeitserkenntnis unter allen Umständen zu retten, sondern unsere Aufgabe ist allein das Erkennen der Erkenntnis. Und auf dem Wege dazu sind wir ein beachtens- wertes Stück vorwärts gekommen durch die Einsicht in die Möglichkeit einer vollständigen Scheidung beider Reiche. Je deutlicher und ent- schlossener wir diese Scheidung hier vollziehen, um so klarer werden wir die Beziehungen überschauen, in die sie im Erkenntnisakt zueinander treten. Anhangsweise und zur Vermeidung von Mißverständnissen sei noch hervorgehoben, daß nicht etwa jede beliebige Gruppe von Postulaten sich auffassen läßt als implizite Definition einer Reihe von Begriffen, sondern die definierenden Axiome müssen bestimmten Bedingungen genügen: sie dürfen keinen Widerspruch enthalten. Wenn die aufgestellten Postulate nicht miteinander verträglich sind, so gibt es eben keine Be- griffe, die sie sämtlich erfüllen. Wenn es also gilt, eine deduktive Theorie auf gewissen Axiomen aufzubauen, so muß deren Widerspruchslosigkeit Das Wesen des Urteils. 37 ausdrücklich nachgewiesen werden. Dies ist manchmal eine schwierige Aufgabe, die aber eine interne Angelegenheit der betreffenden Theorie bildet und die bei diesen prinzipiellen Erörterungen über die implizite Definition als gelöst vorausgesetzt werden darf. 8. Das Wesen des Urteils. Die Betrachtungen des vorigen Paragraphen lehren uns, daß man über das Wesen des Begriffs erst zur vollen Wahrheit gelangen kann, wenn 9as Wesen des Urteils erforscht ist. Denn indem die implizite Definition die Begriffe dadurch bestimmt, daß gewisse Axiome — die doch Urteile sind — von ihnen gelten, führt sie die Begriffe auf Urteile zurück. Und auch jede andere Form von Definition besteht ja aus Ur- teilen. Andererseits treten in jedem Urteil Begriffe auf; es scheint daher selber sich aus solchen aufzubauen und sie vorauszusetzen. So sind Be- griff und Urteil zueinander korrelativ, sie bedingen sich gegenseitig, keins kann ohne das andere sein. Begriffe sind zweifellos nur um der Urteile willen da. Denn wenn der Mensch Gegenstände durch Begriffe und Begriffe durch Worte bezeichnet, so tut er das allein zu dem Zweck, um über sie zu denken und von ihnen zu reden, d. h. Urteile über sie zu fällen. Oder würde man z. B. den Be- griff der Planeten gebildet und sie mit diesem Namen belegt haben, wenn niemand je die Absicht gehabt hätte, seine Gedanken mit diesen Himmels- körpern zu beschäftigen und von ihnen zu sprechen, irgendwelche Aus- sagen von ihnen zu machen.-* * Was also ist ein Urteil.? Das Wesen des psychologischen Vorganges, welcher den Urteilsakt ausmacht, interessiert uns hierbei gar nicht, ebensowenig wie wir uns um die Natur der psychischen Prozesse kümmerten, welche die Begriffe in der BewußtseinswirkUchkeit vertreten. Übrigens läßt sich das Wesen des Urteilens als psychischer Akt gar nicht adäquat beschreiben; wie jedes andere psychische Phänomen kann man diesen Akt nur kennen lernen, indem man ihn bei Gelegenheit des eigenen Urteilens erlebt. Alle Be- stimmungen des Urteilsaktes können nur als bildliche Umschreibungen gelten; so, wenn man ihn für eine ,, Verknüpfung" oder ,, Trennung" von Vorstellungen erklärt, oder für eine ,,Ineinssetzung" von solchen (SiG- wart), oder für eine ,, Auseinanderlegung" einer Vorstellung in mehrere (Wundt). Man kann nämlich Vorstellungen ,, verbunden" oder ,, aus- einandergelegt" denken, ohne damit ein Urteil zu fällen, wie schon Leibniz gegen Locke bemerkte, welch letzterer das Urteil als ein ,,joining or separating of ideas" beschrieb. Besonders nachdrücklich er- klärte John Stuart Mill, eine bloße Verbindung von Vorstellungen mache keineswegs ein Urteil ^us, sondern es müsse dazu noch etwas hinzu- kommen; aber die Frage, worin dieses Etwas bestehe, sei ,,one of the 38 Das Wesen der Erkenntnis. most intricate of metaphysical problems" ^). Wenn manche Philosophen meinen, das Wesen des Urteilens bestehe in einer Stellungnahme des Ur- teilenden, die entweder bejahend und anerkennend oder (bei negativen Urteilen) verneinend und verwerfend sei, so ist auch damit das Besondere des Urteilsprozesses gegenüber dem bloßen Vorstellen gewiß nicht aus- reichend beschrieben. Daß aber beides ganz verschiedene psychische Grund- phänomene sind, wird immer allgemeiner anerkannt. Aber wie es sich damit auch verhalten mag: wir fragen hier nicht nach dem psychologischen Wesen des Urteilens, sondern nach der erkenntnis- theoretischen Bedeutung des Urteils. Und diese dürfen wir leich* zu er- mitteln hoffen, wenn wir uns an das erinnern, was wir über die Natur des Begriffes schon erkundet haben. Das Wesen der Begriffe war darin erschöpft, daß sie Zeichen sind, die wir im Denken den Gegenständen zuordnen, über die wir denken. So liegt die Vermutung nahe, daß auch das Urteil nichts anderes sei als ein Zeichen. Aber was bezeichnet es} Im vorigen Paragraphen wurde gezeigt, daß die Resultate, die ja Urteile sind, Bez iehun g en zwischen Begriffen festlegen. Da nun Begriffe Zeichen für die Gegenstände sind, so sind Urteile vermuthch Zeichen für die Beziehungen zwischen Gegen- ständen. Es ist jetzt zu untersuchen, ob diese Bestimmung allgemein gültig ist, und welcher näheren Erläuterung oder Modifikation sie bedarf. Nur die Betrachtung eines Beispiels kann uns darüber Aufschluß geben. Fassen wir als schlichtes Beispiel etwa das Urteil ins Auge: ,,Der Schnee ist kalt". Die Worte ,, Schnee" und „kalt" (Subjekt und Prädikat) dieses Satzes bezeichnen Begriffe, deren Bedeutung uns aus der Anschauung wohl bekannt ist. Offenbar wird durch das Urteil tatsächlich eine Be- ziehung zwischen dem Schnee und der Kälte bezeichnet, nämlich eine Zusammengehörigkeit, die uns als das Verhältnis Ding-Eigenschaft ver- traut ist. Nehmen wir zum Zwecke einer tiefer dringenden Analyse einmal an, das Urteil werde von einem Kinde gefällt, das mit dem Schnee bis dahin nur durch die Gesichtswahrnehmung bekannt geworden ist; der Begriff des Schnees wird ihm also dann etwa durch die Merkmale des Weißen, des Flockigen, vom Himmel Herabrieselnden konstituiert. Bei der ersten Berührung mit der Hand findet es jetzt, das dies Weiße, Flockige zugleich etwas Kaltes ist; die von den tastenden Fingern erfahrene Emp- findung ist dem Kinde wohlbekannt: -es hat sie mit dem Namen ,,kalt" bezeichnen gelernt und legt nun durch das Urteil dem Schnee diesen Namen bei. Wir haben es also hier nach dem im § 3 Gesagten mit einer Erkenntnis zu tun: auf Grund eines Wiedererkennungsaktes wird der Gegenstand ,, Schnee" mit dem richtigen Namen ,,kalt" belegt. Gehen wir auf den Inhalt des Subjektbegriffes zurück, welcher in diesem Falle etwas Weißes, in Flocken vom Himmel Fallendes bedeutet, so sehen wir: unser Urteil bezeichnet den Umstand, daß mit eben diesen Merkmalen J- Stuart Mill, Logic. Book I. chapl. V. § i. Das Wesen des Urteils. 39 des Weißen und Flockigen auch dasjenige der Kälte verbunden ist; wo die einen auftreten, findet sich auch das andere. Ob das nun bloß von diesem, gerade berührten Schnee gilt, oder ganz allgemein, darüber ist natürlich noch gar nichts gesagt. Wir sehen, in dem betrachteten Falle bezeichnet das Urteil ein Zu- sammenbestehen der Merkmale (und zwar ein räumliches und zeitliches, denn die Kälte wird an demselben Orte angetroffen, wo sich der Schnee befindet, und zur selben Zeit). Wir müssen hiernach unsere frühere Be- stimmung etwas modifizieren: nicht bloß eine Beziehung zwischen Gegen- ständen bezeichnet das Urteil, sondern das Bestehen der Beziehung, d. h. die Tatsache, daß die Beziehung zwischen ihnen statthat. Daß beides nicht dasselbe ist, leuchtet wohl ein. Denn es bedarf zur Bezeich- nung einer Beziehung als solcher keines Urteils, sondern dazu genügt ein Begriff. Als wir den Begriff als Zeichen für Gegenstände erklärten, hatten wir ausdrücklich das Wort Gegenstand in der weitesten Bedeutung ge- nommen, so daß es auch Beziehungen umfaßt. ,, Gleichzeitigkeit" und ,, Verschiedenheit" sind z. B. Begriffe von Beziehungen; daß aber irgend- welche Gegenstände tatsächhch gleichzeitig oder verschieden sind, dies kann nur durch ein Urteil ausgedrückt werden. Wiederum J. Stuart MiLL hat hierauf mit besonderer Klarheit aufmerksam gemacht, u. a. in folgendem Satze, in welchem der Begriff der Ordnung zwischen Empfin- dungen oder Vorstellungen das vertritt, was wir hier als Beziehungen zwischen Gegenständen bezeichnet haben: ,,. . . it is necessary to distinguish between the mere Suggestion to the mind of a certain order among sen- sations or ideas — — and the indication that this order is an actual fact . . ." 1). Urteile sind also Zeichen für Tatsachen. So oft wir ein Urteil fällen, wollen wir damit einen Tatbestand bezeichnen; und zwar entweder einen realen oder einen begrifflichen, denn nicht nur die Verhältnisse wirk- licher Gegenstände, sondern auch das Dasein von Relationen zwischen Begriffen ist als ein Tatbestand aufzufassen. Es ist eine Tatsache, daß der Schnee kalt ist, es ist aber auch eine Tatsache, daß 2x2 und 4 einander gleich sind. Es ist vielleicht paradox, daß wir zur Bezeichnung des in der Welt Vorhandenen mit den Begriffen allein nicht ausreichen, sondern noch einer anderen Art von Zeichen bedürfen. Aber es ist tatsächlich so: wenn Begriffe Gegenstände bedeuten sollen, so brauchen wir zur Bezeichnung des Bestehens von Relationen zwischen diesen Gegenständen neue Zeichen, die nicht Begriffe sind. Ich mag allerdings die Gegenstände und die zwischen ihnen obwaltende Beziehung in einen Begriff zusammen- zufassen, ich kann den Begriff der Kälte des Schnees bilden, oder den der Gleichheit von 2x2 und 4, aber das ist ganz etwas anderes als wenn J. Stuart Mill in einer Anmerkung zu: James Mill, Analysis of the pheno- mena of the human mind. 2. ed. I. p. 162, note 48. 40 Das Wesen der Erkenntnis. ich die Urteile fälle: ,,Der Schnee ist kalt" oder „2 X 2 = 4". Nur diese Urteile, nicht jene Begriffe bezeichnen einen Tatbestand. Der Umstand, daß ein Urteil immer einen Tatbestand, ein tatsäch- liches Bestehen, ein ,,Sein" des in ihm Ausgesagten voraussetzt, läßt verstehen, wie die Lehre aufgestellt werden konnte ^), der Sinn jedes Urteils bestehe im Grunde darin, eine Existenz, ein Sein zu behaupten; der Existentialsatz (also etwa Aussagen wie: ,,Gott ist", ,,es gibt lenkbare Luftschiffe") sei die Urform des Urteils, auf welche alle anderen Formen sich zurückführen ließen. Der Satz ,, irgendein Mensch ist krank" habe z. B. den Sinn ,,ein kranker Mensch ist" oder ,,es gibt einen kranken Menschen"; der Satz ,,alle Menschen sind sterblich" bedeute ,,ein un- sterblicher Mensch ist nicht" ^). Der Satz ,,das Licht ist eine elektrische Schwingungserscheinung" müßte danach eigentlich lauten: ,,es gibt kein Licht, das nicht eine elektrische Schwingungserscheinung wäre". Wie man hieraus sieht, wären die allgemein bejahenden Urteile nach dieser Lehre in Wahrheit negative Existentialsätze. Aber diese Konsequenz, die sich schwerlich von dem Anschein einer gekünstelten Konstruktion befreien läßt, ist nicht einmal die bedenklichste Folge der fraglichen Theorie; vielmehr ergäbe sich ferner aus ihr — und ihre Anhänger folgern es auch — daß ein Urteil keineswegs immer das Bestehen einer Beziehung zwischen Gegenständen bezeichnen müßte, sondern daß seine Materie ebensogut von einem einzigen einfachen Gegenstande gebildet werden könnte; der Sinn des Urteils bestände schlechthin in dem ,, Anerkennen" dieses Gegen- standes, von irgendwelchen Beziehungen brauchte dabei gar nicht die Rede zu sein. Bei verneinenden Urteilen tritt nach dieser Ansicht an die Stelle des Anerkennens ein ,, Verwerfen". Die Lehre enthält insofern einen richtigen Kern, als ja das Ausgesagte immer etwas ,, Existierendes" ist, das entweder realiter besteht (wie die Tatsache, daß der Schnee kalt ist), oder begrifflich (wie die Tatsache, daß 2x2 = 4 ist). Aber wenn man deshalb sagt, der Sinn des Urteils bestehe darin, eine Existenz zu behaupten, einen Gegenstand anzuer- kennen, so ist das eine sehr unglückliche Formulierung des wahren Sach- verhaltes. Lassen wir das ,, Anerkennen" oder ,, Verwerfen" ganz beiseite, weil dadurch offenbar nur der psychologische Akt des Urteilens, nicht seine erkenntnistheoretische Bedeutung charakterisiert werden kann, so ist nur noch die Behauptung zu prüfen, daß ein Urteil nicht notwendig eine Beziehung zwischen mehreren Gliedern aussage, sondern auch ein- gliedrig sein könne — in welchem Falle es sich vom Begriff nur dadurch unterscheide, daß es den Gegenstand des Begriffs als existierend setzt, was man sich etwa an dem Urteil ,,Gott ist" klar machen möge. Diese Behauptung wird leicht entkräftet durch eine Analyse des wahren Sinnes der Existentialsätze. Ihre Bedeutung offenbart sich uns ') Von Fr. Brentano und seiner Schule. Vgl. Brentano's Psychologie. 2. Buch. 7. Kapitel. «) 1. c. S. 283. Das Wesen des Urteils. 41 am besten, wenn wir zunächst eine Begriffswahrheit ins Auge fassen, d. h. ein Urteil, welches eine rein begriffliche Tatsache bezeichnet. Be- hauptet ein solches Urteil die Existenz eines Begriffes, so bedeutet das weiter nichts als: der Begriff enthält keinen Widerspruch. Der Mathe- matiker z. B. hat die ,, Existenz" eines Objektes seiner Wissenschaft be- wiesen, sobald er gezeigt hat, daß es widerspruchslos definiert ist. Dem mathematischen Begriff kommt kein anderes ,,Sein" zu als dies; darüber darf nicht der geringste Zweifel bestehen. Dasselbe gilt für alle reinen Begriffe, und es ergibt sich auch aus den Betrachtungen des vorigen Paragraphen. ,, Reine" Begriffe nämlich sind nur solche, die durch im- plizite Definitionen bestimmt sind, und diese unterhegen keiner anderen Bedingung als der Widerspruchslosigkeit. Widerspruch aber ist selbst- verständlich nichts anderes als eine Beziehung zwischen Urteilen; er be- steht ja darin, daß zwei entgegengesetzte Behauptungen über denselben Gegenstand vorliegen. Die ,, Existenz" eines Begriffes bedeutet mithin das Bestehen einer gewissen Beziehung zwischen den ihn definierenden Postulaten. Wo es sich um reale Gegenstände der Erfahrungswelt (oder auch einer transzendenten Welt) handelt, scheint das Existenzurteil auf den ersten Blick in der Tat etwas Besonderes zu sein und einen eingliedrigen Charakter zu besitzen. Wenn ich z. B. von einem Bewußtseinsinhalt, den ich erlebe, aussage: er ist, so scheint damit zunächst in keiner Weise eine Beziehung zwischen mehreren Gegenständen behauptet zu sein. Aber gerade hier zeigt die nähere Betrachtung deutlich das Fehler- hafte der besprochenen Urteilslehre. Sie vernachlässigt den Unter- schied zwischen den beiden Bedeutungen des Wortes ,,ist", welches ja entweder eine bloße Kopula sein oder auch die Existenz ausdrücken kann. Im letzteren Falle können wir es ersetzen durch ,,ist wirklich"; ,,Gott existiert" bedeutet soviel wie ,,Gott ist etwas Wirkliches"; und hier spielt das ,,ist" wieder die Rolle der Kopula, wie gewöhnhch, das Urteil ist genau so zweighedrig wie jedes andere. Wie man in dem Satze „der Schnee ist kalt" den Schnee unter den Begriff sumfang des Kalten subsumiert, so will derjenige, der den Satz ,,Gott ist" ausspricht, seinem Gotte das Prädikat der Wirklichkeit zusprechen. Logisch ist also der eine Fall wie der andere. Sachlich freihch — aber darum handelt es sich hier ja noch nicht — kommt dem Existentialurteil eine ausgezeichnete Stellung zu: während sonst jede Tatsache nichts anderes ist als ein Bestehen von Beziehungen, dürfen wir von der Tatsache des bloßen Seins, z. B. eines Bewußt- seinsinhaltes, nicht ohne weiteres behaupten, daß sie sich vollständig in ein Bestehen von Relationen auflösen ließe (s. unten Teil III, § 22), sondern es ist darin noch mehr enthalten. Dessenungeachtet hat jede Existenzaussage für uns doch immer zugleich und wesentlich den Sinn einer Behauptung von Beziehungen und läßt sich allein durch die Fest- stellung von bestimmten Beziehungen prüfen, nämhch von Relationen zu 42 Das Wesen der Erkenntnis. Erlebnissen, Bewußtseinsinhalten. Denn der Begriff eines „wirklichen" Gegenstandes ist in letzter Linie stets allein definierbar durch Hinweise auf etwas anschaulich Gegebenes, durch ,, konkrete" Definition (vgl. unten Teil III, § 23). Diese kurzen Bemerkungen über die Existentialurteile müssen hier genügen, um darzutun, daß auch sie immer das Bestehen einer Beziehung zwischen mehreren Gliedern behaupten ^). Die genauere Betrachtung der Art dieser Beziehung und der Bedeutung der ,, Wirklichkeit" selber muß späteren Teilen unserer Untersuchung vorbehalten bleiben. Nur dies sei noch bemerkt: wer die Behauptung der Eingliedrigkeit mancher Urteile durch den Hinweis auf die sogenannten ,, Impersonalien" stützen will (d. h. Sätze wie: es schneit, es donnert usw.), der verwechselt sprachliche Verhältnisse mit logischen. Denn daß diese kurzen Sätze trotz ihrer einfachen Form stets einen mehrgliedrigen Tatbestand be- zeichnen, liegt auf der Hand (,,es schneit" z. B. bedeutet: ,,es fallen Flocken herab"), und der Sprache steht es natürlich frei, auch die kom- pliziertesten Beziehungen abgekürzt durch e i n Wort auszudrücken. Jedes Urteil also ist ein Zeichen für eine Tatsache, und eine Tatsache umfaßt immer mindestens zwei Gegenstände und eine zwischen ihnen obwaltende Beziehung. Sind es mehr Gegenstände und Beziehungen, so läßt sich der Gesamtsachverhalt stets in einfache, zwischen zwei Gegen- ständen bestehende Relationen auflösen. Was wir im Leben oder in der Wissenschaft einen Tatbestand nennen, ist immer etwas Komplexes, aus dem sich mehrere Momente herausheben lassen. Damit man einem Urteile ansehen könne, welchem Tatbestand es zugeordnet ist, müssen in ihm besondere Zeichen für die in dem Tat- bestande unterschiedenen Glieder und für die Beziehungen zwischen ihnen enthalten sein. Es müssen also in ihm mindestens zwei Begriffe als Ver- treter der beiden Beziehungsglieder auftreten, und außerdem noch ein drittes Zeichen zur Andeutung der Beziehung zwischen beiden. Man darf natürlich nicht glauben, daß diese drei Teile des Urteils stets einfach ihre Repräsentanten in den drei Satzteilen Subjekt, Prädikat und Kopula fänden; eine so einfache Zuordnung braucht nicht stattzufinden; in der Tat liegen die Verhältnisse im allgemeinen verwickelter. Uns soll aber vorläufig die Frage nicht beschäftigen, mit Hilfe welcher Mittel im ein- zelnen die verschiedenen Momente eines Tatbestandes im Urteil bezeichnet werden; die Hauptsache ist hier, daß eben ein Urteil als ganzes immer einer Tatsache als ganzes zugeordnet ist. Auch das ist an dieser Stelle nicht zu untersuchen, welche Verschiedenheiten der Urteile den Verschieden- heiten der Beziehungen entsprechen, und ob vielleicht alle Arten der Relationen auf eine einzige zurückgeführt wer4en können. Denn insofern die Beantwortung dieser Fragen eine Prüfung der formalen Eigenschaften ') Man vergleiche etwa noch die klaren Ausführungen bei Sigwart, Logik I' S. 93 ff. und Jonas Cohn, Voraussetzungen und Ziele des Erkennens. S. 78 f. Das Wesen des Urteils. 43 der Urteile verlangt, kann die Erkenntnistheorie sie der reinen Logik überlassen; sofern sie aber eine Erforschung und Klassifikation der Rela- tionen voraussetzt, kann sie erst an einer späteren Stelle in Angriff ge- nommen werden, wenn wir uns nämlich der Betrachtung der Gegenstände selber zuwenden. Hier haben wir es noch nicht mit der Beurteilung der Gegenstände, sondern nur mit der Beurteilung der Urteile zu tun. Übrigens werden die hier gegebenen Bestimmungen über die Natur des Urteils im folgenden gelegentlich noch manche Ergänzung finden. Urteile und Begriffe stehen in einem eigentümlichen Wechselverhältnis zueinander. Begriffe werden durch Urteile verknüpft — denn jede Aus- sage bezeichnet ja die Verbindung zweier Begriffe — , aber es werden auch die Urteile durch die Begriffe miteinander verknüpft: dadurch näm- lich, daß ein und derselbe Begriff in einer Mehrzahl von Urteilen auf- tritt, setzt er eine Beziehung zwischen ihnen. Es muß aber jeder Begriff in mehreren verschiedenen Urteilen vorkommen, wenn er überhaupt Sinn und Bedeutung haben soll. Gesetzt nämlich, er fände sich nur in einer einzigen Aussage vor, so könnte das nur seine Definition sein, da er ja sonst noch durch andere Urteile definiert sein müßte, und solche soll es doch nach der Voraussetzung nicht geben. Es wäre aber vollkommen sinnlos, durch Definition einen Begriff zu bilden, der sonst im Denken überhaupt keine Rolle spielt; man hat keine Veranlassung, einen der- artigen Begriff zu schaffen, und tatsächlich tut das auch niemand. ^Gegen- stände, von denen man nichts aussagen kann, über die man also gar nichts weiß, bezeichnet man auch nicht. So bildet denn jeder Begriff gleichsam einen Punkt, in welchem eine Reihe von Urteilen zusammenstoßen (nämlich alle die, in denen er vorkommt) ; er ist wie ein Gelenk, das sie alle zusammenhält. Die Systeme unserer Wissenschaften bilden ein Netz, in welchem die Begriffe die Knoten und die Urteile die sie verbindenden Fäden darstellen. Tatsächlich geht im wirklichen Denken der Sinn der Begriffe ganz darin auf, Beziehungs- zentren von Urteilen zu sein. Nur als Verknüpfungspunkte von Urteilen und in den Urteilen führen sie ein Leben im lebendigen Denken; mit Recht sagt deshalb A. Riehl von ihnen, sie seien ,, Ergebnisse von Ur- teilen, die sie im Bewußtsein vertreten, potentielle Urteile, Fertigkeiten, bestimmte zusammengesetzte Urteile zu reproduzieren". Die Definitionen eines Begriffes sind diejenigen Urteile, die ihn so- zusagen mit den ihm am nächsten liegenden Begriffen in Verbindung setzen; er kann als kurzer Ausdruck für das Bestehen dieser Verbindungen aufgefaßt werden, was wiederum Riehl so ausdrückt: ,, Begriff und Defini- tion unterscheiden sich überhaupt nur, wie Potentielles vom Aktuellen sich unterscheidet" ^). Eben deshalb muß man aber (nunmehr im Gegen- satz zu Riehl ^)) die Definitionen durchaus zu den echten Urteilen rechnen. ') Beiträge zur Logik*. S, 13. 1912. 2) Ebenda. S. 14. 44 Das Wesen der Erkenntnis. In einem völlig in sich geschlossenen, deduktiv zusammenhängenden System einer Wissenschaft lassen sie sich von diesen nur unter prak- tischen, psychologischen Gesichtspunkten, nicht in rein logisch-erkenntnis- theoretischer Hinsicht unterscheiden. Das zeigt sich zunächst sehr deutlich bei den festen und strengen Urteilszusammenhängen, wie sie unter den Wissenschaften vor allem die Mathematik darbietet. Wir können dort unter gewissen Voraussetzungen beliebige Lehrsätze auswählen, sie als Definitionen der mathematischen Begriffe betrachten und aus ihnen diejenigen Urteile als Folgerungen ableiten, die sonst gewöhnlich zur De- finition jener Begriffe dienen. Der Unterschied zwischen Definition und Lehrsatz ist in einem solchen System reiner Begriffe also ein relativer. Welche Eigenschaften eines Begriffs ich am besten zu seiner Definition benutze, hängt nur von Zweckmäßigkeitsgründen ab. So betrachtete man früher in der Mathematik immer als Axiome diejenigen Sätze, die besonders evident erschienen; jetzt scheut man sich im Prinzip nicht, jene zum Teil aus weniger einleuchtenden Sätzen abzuleiten und nun die letzteren als Axiome anzusehen (also als Definitionen der Grundbegriffe), wenn dadurch eine Vereinfachung im Aufbau und in der Geschlossenheit des Systems erzielt werden kann ^). Bei der Übertragung dieser Erwägungen auf die Realwissenschaften ist zu bedenken, daß diese niemals streng in sich abgeschlossen sind; vielmehr werden uns von den realen Gegenständen im Laufe der Forschung immer neue Eigenschaften bekannt, so daß die Begriffe dieser Gegen- stände mit der Zeit immer reicheren Inhalt gewinnen, während die Worte, mit denen wir sie benennen, immer die gleichen bleiben. Das Wort steht eben für den wirklichen Gegenstand in der ganzen Fülle seiner Eigenschaften und Beziehungen, der Begriff steht immer nur für das, was die Definition ihm zuteilt. Deshalb sind Definitionen und echte Er- kenntnisurteile für unser Denken in den Realwissenschaften zwar streng voneinander geschieden, aber ein und derselbe sprachliche Satz kann je nach dem Stande der Forschung das eine oder das andere, Definition oder Erkenntnis, sein. Für die sprachliche Formulierung — und nur in solcher sind ja Urteile schließlich zu fixieren — ist es also auch in den Wirklich- keitswissenschaften wahr, daß der Unterschied zwischen beiden Urteils- arten relativ ist. Zuerst ist der Begriff eines Gegenstandes immer durch diejenigen Eigenschaften odör Beziehungen definiert, durch die der Gegen- stand anfänglich entdeckt wurde; be"in> weiteren Fortgang der Wissen- schaft geschieht es nicht selten, daß man einen Begriff desselben Gegenstandes später auf ganz andere Weise bestimmt, so daß die Urteile, in denen das Bestehen jener zuerst gefundenen Eigenschaften behauptet wird, nun als abgeleitete erscheinen. Man denke etwa an das Wort und den Betriff der Elektrizität. Auf der frühesten Stufe definiert durch die ') Vgl. z. B. CouTURAT, Die philosophischen Prinzipien der Mathematik. S. 7 und 8. 1908. Urteilen und Erkennen. 45 vom geriebenen Bernstein auf kleine Körperchen ausgeübte Wirkung, geschieht jetzt auf der höchsten Erkenntnisstufe der theoretischen Physik die Bestimmung des zu jenem Worte gehörenden Begriffs am zweck- mäßigsten durch diejenigen Beziehungen, die in den sogenannten Maxwell- schen Gleichungen ausgesprochen sind, und aus denen jene zuerst ent- deckten Phänomene als spezielle Folgen sich deduzieren lassen. Jedes Urteil setzt einen Begriff zu andern Begriffen in Beziehung, bezeichnet die Tatsache des Bestehens dieser Beziehung. Ist der erste Begriff schon anderweitig bekannt und definiert, so hat man eben ein gewöhnliches Urteil vor sich; ist das nicht der Fall, so muß man ihn durch jenes Urteil geschaffen denken, und dieses wird dadurch zur Definition, die den Begriff aus seinen Merkmalen aufbaut. So scheint es wohl klar zu sein, daß es zweckmäßig ist, auch den Definitionen den Rang von Urteilen zuzugestehen. Im Prinzip nehmen sie keine Sonderstellung ein, und damit wird das Bild vereinheitlicht, das wir uns von dem großen Strukturzusammenhange der Urteile und Begriffe machen müssen, in welchem alle Wissenschaft besteht. Dieser Zusammenhang macht das Wesentliche der Erkenntnis aus, Ihre Möglichkeit beruht darauf, daß die Begriffe durch Urteile miteinander verbunden sind. Nur in Ur- teilen ist Erkenntnis. 9. Urteilen und Erkennen. Damit kehren wir zur Analyse des Erkenntnisprozesses zurück. Denn die zum Erkennen erforderlichen Mittel, Begriff und Urteil, sind soweit untersucht, daß wir nunmehr tiefer in das Wesen der Erkenntnis selber eindringen können. Einen Gegenstand erkennen heißt: einen andern in ihm wiederfinden oder auffinden. Wenn wir sagen: in ihm, so kann dieses ,,in", das ja zunächst eine räumliche Beziehung bedeutet, hier nur einen bildlichen Sinn haben. Damit dieser Sinn richtig verstanden werde, ist nun das Verhältnis zwischen denjenigen beiden Begriffen näher zu untersuchen, von denen der eine das Erkannte bezeichnet, und der andere das, als was es erkannt wurde. Sagt jemand: ,,ich erkenne A als B" oder in anderer, gleichbedeu- tender Formulierung: ,,ich erkenne, daß A B ist" — z. B.: ich er- kenne, daß das Licht ein Schwingungsvorgang ist — , so heißt das: die Begriffe A und B bezeichnen einen und denselben Gegenstand — die- selbe Erscheinung darf ebensowohl durch den Begriff Licht wie durch den Begriff Schwingungsvorgang bezeichnet werden. Wir müssen also zusehen, unter welchen Umständen es eintritt, daß zwei Begriffe dem- selben Gegenstande zugeordnet sind. Lassen wir den bedeutungslosen Fall beiseite, daß die beiden Begriffe in jeder Hinsicht identisch sind, gleichen Ursprung, gleiche Definition und gleichen Namen haben und daher nur zur Aufstellung nichtssagender 46 Das Wesen der Erkenntnis. Tautologien Anlaß geben würden, wie „Licht ist Licht", ,, Schwingungen sind Schwingungen", — sehen wir von diesem Fall ab, so besteht erstens die Möglichkeit, daß die zwei Begriffe anfänglich infolge einer willkür- lichen Festsetzung zu Zeichen desselben Gegenstandes wurden. Dieser Fall lag z. B. vor, als man zuerst den Satz aussprach: die Ursache dafür, daß zwei Stoffe sich heftig miteinander verbinden, ist ihre starke chemi- sche Affinität, — oder als zum ersten Male das Urteil aufgestellt wurde: die Ursache der anziehenden Wirkung des Bernsteins ist die Elektrizität. Diese Urteile enthielten keine Erkenntnis, sie waren bloße Definitionen. Denn der Sinn des ersten Satzes war ja nur der, daß die Begriffe ,, Ursache der heftigen Reaktion" und ,, starke chemische Verwandtschaft" ein und dasselbe bezeichnen sollten; der Begriff der chemischen Affinität war durch gar nichts anderes definiert, war nicht durch irgendwelche anderen Äußerungen schon sonst bekannt. Analoges gilt vom Beispiel des Bern- steins, und derselbe Fall liegt überall dort vor, wo man irgendeine Tat- sache oder Erscheinung durch eine ,,qualitas occulta" erklären wollte. Man bezeichnete einfach dasselbe auf zwei verschiedene Weisen, nämlich einmal als eine besondere ,,qualitas", und zweitens als ,, Ursache" eines besonders beobachteten Verhaltens, und gab damit statt einer Erkenntnis bloß eine Definition, eine Erklärung eines neu eingeführten Wortes. Eine wirkliche Erkenntnis liegt dagegen überall dort vor, wo zwei Begriffe nicht bloß vermöge ihrer Definition denselben Gegenstand be- zeichnen, sondern kraft heterogener Zusammenhänge. Sind zwei Begriffe auf ganz verschiedene Weise definiert und findet man dann, daß unter den Gegenständen, die der eine vermöge seiner Definition bezeichnet, auch solche sind, die unter den zweiten Begriff fallen, dann ist der eine durch den andern erkannt. Und zwar geschieht jenes Finden entweder durch Beobachtung und Erfahrung — und dann ist dadurch eine Er- kenntnis realer Zusammenhänge gewonnen — , oder es ergibt sich als Resultat einer Begriffsanalyse — und dann ist damit die Aufdeckung von vorher nicht bemerkten begrifflichen Zusammenhängen ge- leistet. Die Lösung einer beliebigen mathematischen Aufgabe ist ein Bei- spiel für eine Erkenntnis der letzteren Art. Erkenntnis bedeutet Aufdeckung einer Beziehung zwischen Gegen- ständen; indem wir eine Erkenntnis aussprechen, bezeichnen wir also eine Beziehung, und indem wir eine Beziehung bezeichnen, fällen wir ein Urteil. Jedes Urteil, das nicht eine offene Tautologie oder eine Definition ist, enthält eine Erkenntnis (sofern es nicht etwa falsch ist; was dies bedeutet, steht im nächsten Paragraphen zur Untersuchung). Wir hatten oben (S. 44) darauf hinweisen müssen, daß der Unterschied zwischen Definitionen und andern Urteilen nur ein relativer ist. Daraus folgt jetzt, daß eine Erkenntnis in der sprachlichen Formulierung etwas Relatives ist in bezug auf die Definitionen. Dies möchte auf den ersten Blick paradox erscheinen, aber es verhält sich wirklich so, denn ob ein Urteil eine Erkenntnis enthält oder nicht, hängt ja doch davon ab, was wir schon vor- Urteilen und Erkennen. 47 her gewußt haben. Wenn uns ein Gegenstand, den wir mit dem Worte A bezeichnen, bisher immer nur durch die Eigenschaften a lind b bekannt ge- worden ist, und wir stellen dann an ihm die Eigenschaften c und d fest, so enthält das Urteil ,,A hat die Eigenschaften c und d" eine Erkenntnis. Dasselbe Urteil trägt aber bloß den Charakter einer Definition, wenn uns A schon immer durch die Eigenschaften c und d gegeben war, während wir von seinen sonstigen Attributen nichts wußten. Dabei ist aber wohl zu beachten, daß das Wort A zunächst in beidenFällen einen verschie- denen Begriff bedeutet, von dem sich erst nachträglich herausstellt, daß er einen und denselben Gegenstand bezeichnet. Es wäre z. B. denk- bar, daß ein Kind in dunkler Nacht durch den Tastsinn die Bekanntschaft des Schnees gemacht hätte. Dann würde ihm die Eigenschaft der Kälte mit zur Definition des Begriffes Schnee gehören; dagegen würde nunmehr bei Tagesanbruch das Urteil: ,,Der Schnee ist weiß" eine Erkenntnis enthalten. Wenn eine Wissenschaft sich zu einem wohlgerundeten, annähernd geschlossenen Gefüge entwickelt hat, so bestimmt bei ihrer systematischen Darstellung nicht mehr die zufällige Reihenfolge der menschlichen Er- fahrungen, was als Definition und was als Erkenntnis zu betrachten sei, sondern man wird als Definitionen diejenigen Urteile ansehen, welche einen Begriff in solche Merkmale auflösen, daß man aus denselben Merkmalen möglichst viele — vielleicht sogar alle — Begriffe der be- treffenden Wissenschaft in möglichst einfacher Weise aufbauen kann. Dies Verfahren wird offenbar den letzten Zwecken der Erkenntnis am besten gerecht, denn auf solche Weise lassen sich am leichtesten die Be- griffe aller Gegenstände der Welt auf möglichst wenige Elementar- begriffe zurückführen. Nach diesen notwendigen Zwischenbemerkungen kehren wir nun zu unserer Aufgabe zurück, das gegenseitige Verhältnis der Gegenstände genauer zu bestimmen, die im Erkenntnisakte miteinander vereinigt werden. Wir haben uns längst davon überzeugt und soeben wieder daran erinnert, daß jede Erkenntnis eine gewisse Identifikation bedeutet. Der erkannte Gegenstand wird mit demjenigen identifiziert, als welcher er erkannt ist. Zum Beispiel der Verfasser der Schrift über den athenischen Staat mit dem Aristoteles, das Licht mit gewissen Schwingüngsvorgängen bestimmter Art, der Schnee mit etwas Kaltem, und so fort. Der Identifi- zierung von Gegenständen, die in der Erkenntnis stattfindet, entspricht eine gewisse Identifizierung der Begriffe, die im Urteil vollzogen wird. Man versteht deshalb, wie viele Denker zu der Theorie gelangen konnten, das Wesen des Urteils bestehe überhaupt in einer Identitätssetzung (LoTZE, RiEHL, MÜNSTERBERG u. a.). Aus ganz richtigen Gedanken ging diese Theorie hervor, und nur wo sie unrichtig formuliert oder miß- verstanden wird, kann sie den Einwänden der Gegner nicht standhalten. Diese Einwände laufen darauf hinaus, daß alle Urteile zu bloßen Tauto- logien degradiert würden, wenn sie wirklich vollkommene Identitäten be- ^8 Das Wesen der Erkenntnis. haupteten. „Niemand ist außerhalb der formalen Logik so dumm, daß er leere Identitäten aussagte" ^). Man muß also genau darüber klar sein, wodurch sich die in einer wirklichen Erkenntnis vollzogene Identifikation unterscheidet von einer bloßen Tautologie. Damit ein Kind das Urteil fällen kann ,,der Schnee ist kalt", müssen zwei besondere Erkenntnisakte vorher in seinem Bewußtsein stattgefunden haben. Einerseits ist ihm ein gewisser Gesichtseindruck gegeben, und nachdem er verarbeitet, apperzipiert ist, entsteht zuerst das Urteil (das freilich nicht ausgesprochen wird): ,,dies ist etwas Weißes, Flockiges", und das geht sofort über in: ,,dies ist Schnee", wo das Wort Schnee ein- fach an die Stelle der Worte Weißes, Flockiges getreten ist und genau dasselbe bedeutet wie diese. Andererseits ist dem Kinde eine gewisse Hautempfindung gegeben, und diese wird in einem zweiten Apperzeptions- akte als eine Empfindung wiedererkannt, welcher der Name ,,kalt" zu- kommt. Diese Erkenntnis lautet also in expliziter Formulierung: ,,dies ist kalt". Bezeichnet nun das Subjekt dieser beiden Urteile, das ,,dies", beide Male denselben Gegenstand.? Zunächst offenbar nicht. Das erste Mal ist es ja die Gesichtsempfindung, das zweite Mal die Hautempfindung. Das erste Urteil sagt nicht von dem Kalten aus, daß es weiß sei, sondern von dem Weißen; und das zweite Urteil sagt nicht von dem Weißen die Kälte aus (der Hautsinn kennt ja keine Weißempfindung), sondern von dem Kalten. Das ,,dies" ist mithin beide Male etwas Verschiedenes. Man versteht jetzt, wie Lotze^) zu der Behauptung kam, das Urteil ,,S ist P" sei eigentlich unmöglich und löse sich in die Urteile auf ,,S ist S" und „P ist P". Aber Lotze geht ohne Zweifel viel zu weit. Schon die Urteile ,,dies ist weiß" und ,,dies ist kalt" sind keine vollkommenen Identitäten und Tautologien; sie setzen nicht einfach gewisse Bewußtseinsinhalte identisch mit den Bedeutungen der Worte kalt oder weiß, sondern sie ordnen sie in die Klasse derjenigen Gegenstände ein, die mit jenen Worten bezeichnet werden. Der durch das Subjekt bezeichnete Gegenstand wird nur mit einem der unendlich vielen unter den Prädikatsbegriff fallenden Gegen- stände identifiziert, mit anderen Worten: es findet eine Subsumtion oder Einordnung statt. Die Einsicht, daß in jedem Urteil sich etwas Analoges vollzieht, hat zur Aufstellung der Subsumtionstheorie der Urteile geführt. Auch sie beruht, gleich der Identitätstheorie, auf einem durch- aus richtigen Gedanken, der z. B. in der Formulierung von B. Erdmann 3) klar zum Ausdruck kommt: ,,Das Urteil ist die .... durch Inhalts- gleichheit der materialen Bestandteile bedingte .... Einordnung eines Gegenstandes in den Inhalt eines andern". Ehe wir uns jedoch der Betrachtung des Umfangsverhältnisses der beiden Erkenntnisglieder zuwenden, haben wir die eben aufgeworfene *) J. CoHN, Voraussetzungen und Ziele des Erkennens. S. 87. ») Logik. § 54. *) Logik I». S. 359. Urteilen und Erkennen. 49 Frage zu beantworten: Wie steht es denn mit der Identifikation der Gegen- stände, die in den beiden Sätzen „dies ist Schnee" und ,,dies ist kalt" durch das Demonstrativpronomen bezeichnet sind? Der Bewußtseins- inhalt, der als weiß bezeichnet war, ist doch gewiß nicht identisch mit dem, welcher kalt genannt wurde. Eine Identität kann offenbar nur dann statuiert werden, wenn man jene Bewußtseinsinhalte auf einen von ihnen unterschiedenen Gegenstand bezogen denkt, wenn man jene Adjektiva auffaßt als Benennungen von Eigenschaften eines Gegenstandes, und zwar eben eines und desselben Gegenstandes. Es scheint also, als könne der Sinn des Urteils nur gerechtfertigt und verstanden werden, wenn man die Relation Ding-Eigenschaft oder Substanz-Attribut zugrunde legt. Das sind nun aber metaphysische Begriffe, die manche Schwierigkeit in sich bergen. Man denke nur an Herbart's Formulierung des Dingproblems. Weiß und kalt, würde er sagen, sind doch nicht dasselbe; wie also kann das Weiße zugleich das Kalte sein? Deshalb hat Lotze recht, wenn er meint ^), daß bei Fragen, wie sie hier zur Untersuchung stehen, die Be- rufung auf metaphysische Verhältnisse nicht gestattet sei und nichts nütze. Jedoch es bedarf ihrer auch nicht. Im vorigen Paragraphen (S. 38 f.) haben wir bereits das Urteil zergliedert, das wir hier als Paradigma be- nutzen, und wir brauchen nur auf diese Analyse zurückzugreifen, um seine wahre Bedeutung festzustellen. Wir sahen dort, daß unser Urteil nur einen gewissen Zusammenhang zwischen dem Weißen, Flockigen und dem Kalten behauptet, und zwar das Vorkommen dieser Qualitäten an dem- selben Orte und zu derselben Zeit. Die Identität, die wirklich im Urteil statuiert wird, ergibt sich also vorläufig als Identität eines Raum- und Zeitpunktes. Man wende nicht ein, daß es sich in unserem Beispiele um eine Identi- fizierung zweier Raumpunkte handele, deren Zulässigkeit ebenso zweifel- haft sei wie die Anwendbarkeit der Ding-Kategorie, weil nämhch der eine Punkt (der Ort des ,, Weißen") dem Gesichtsraume angehöre, der andere dagegen (der Ort des ,, Kalten") dem Tastraume, und beide seien für das erlebende Bewußtsein zunächst ganz verschiedene Sphären. Das ist gewiß richtig, aber der von allen sinnlichen Quahtäten entblößte Raum, von dem bei der Ortsbestimmung die Rede ist, ist nicht etwas dem Bewußt- sein unmittelbar Gegebenes, also weder Tast- noch Sehraum, sondern ein Begriff, der schon eine Verschmelzung jener verschiedenen Sphären voraus- setzt. Das kann an dieser Stelle nicht näher ausgeführt und begründet werden, es ist aber auch nicht nötig; denn hier kam es nur auf den Hin- weis an, daß keine unerlaubten metaphysischen Voraussetzungen in unsere Bestimmungen eingehen, sondern daß der Begriff eines identischen Raum- punktes zu einer Bildung nur alltägliche psychische Prozesse voraussetzt. Eine ganz ähnliche Zergliederung, wie wir sie eben für unser ein- faches Beispiel durchgeführt haben, läßt sich nun mit jedem beliebigen ') a. a. 0. § 53. Schlick, Erkenntnislehre. 50 Das Wesen der Erkenntnis. Urteil vornehmen, das eine Erkenntnis von Gegenständen der Sinnenwelt enthält. In der Tat: alles in der Außenwelt ist an einem bestimmten Orte und zu einer bestimmten Zeit, und das eine im andern wiederfinden heißt in letzter Linie stets: beiden denselben Ort zur selben Zeit anweisen. Wenn der Physiker sagt: das Wesen des Lichtes besteht in elektrischen Wellen, so bedeutet das: überall, wo ein Lichtstrahl, ist, findet in ganz bestimmter Weise eine Ausbreitung von elektrischen Wellen statt. Es ist wohl unnötig, noch weitere Beispiele aus dem Gebiete der Naturwissen- schaften anzuführen. Ebenso deutlich wie bei diesen tritt die Richtigkeit des Gesagten aber auch an historischen Erkenntnissen hervor. Ist doch prinzipiell genommen die letzte Aufgabe der Geschichte eigentlich die, alles Geschehen in Raum und Zeit so genau wie möglich zu lokalisieren. Wie man sich leicht überzeugt, besteht die bei den meisten historischen Urteilen vollzogene Identifizierung darin, daß der Täter einer bestimmten historischen Tat und eine bestimmte historische Person einander gleich- gesetzt werden. Durch die Persönlichkeiten der Träger des historischen Geschehens hängen die geschichtlichen Ereignisse hauptsächlich zusammen; sie müssen bisher noch zum großen Teil in der Geschichte den gesetz- mäßigen Zusammenhang vertreten, dessen Statuierung allein das eigentlich Wissenschaftliche in jeder Wissenschaft ausmacht. Wie steht es aber nun mit den Erkenntnissen, die sich nicht auf das Reich der sinnlichen Erfahrung beziehen.'' Zu diesen gehören zunächst psychologische Erkenntnisse, in denen es sich um unräumliche Größen handelt. Bei ihnen ist in den Akt des Wiederfindens eine Identifizierung des Zeitpunktes gleichfalls mit eingeschlossen; an die Stelle der räum- lichen Identifikation treten jedoch gewisse Angaben, durch welche die Identität des individuellen Bewußtseins bestimmt wird, dem die zur Unter- suchung stehenden psychischen Phänomene angehören. (Diese Angaben werden ihrerseits im allgemeinen raumzeitlicher Natur sein, doch sind sie für uns hier ohne Interesse). Fälle ich z. B. das Urteil: der Wille ist ein so und so bestimmter Gefühls- und Vorstellungsverlauf, so heißt das nur: jedes Mal, wenn ein Individuum etwas will, spielt sich in dem Be- wußtsein dieses Individuums jener so und so bestimmte Verlauf von Vor- stellungen und Gefühlen ab. Außer den psychologischen gibt es noch eine Klasse von Erkennt- nissen, die sich nicht auf die sinnliche Außenwelt beziehen; das sind die rein begrifflichen. Wegen der Zeitlosigkeit der Begriffe kann bei ihnen von vornherein von der Identifikation eines Zeitpunktes nicht die Rede sein; in diesem Falle liegen aber die Dinge gerade am allereinfachsten. Entweder nämlich werden hier wirklich die Begriffe selber völlig mit- einander identifiziert, indem der eine im andern wiedergefunden wird (so bedeutet das Urteil ,,2X2 ist gleich 4" tatsächlich, daß die durch die beiden Zeichen 2X2 und 4 bezeichneten Gegenstände gar nicht von- einander verschieden sind, daß ich ausnahmslos und überall, wo der eine Urteilen und Erkennen. 51 der beiden Begriffe auftritt, an seine Stelle den andern setzen kann) oder das Wiederfinden des einen Begriffes im andern bedeutet einfach eine Subsumtion, so daß der Umfang des einen den Umfang des andern ganz in sich enthält — also eine Teilidentifikation (dies ist beispielsweise der Fall bei dem Urteil 2 ist gleich "1/4, denn das Zeichen 1/4^ bedeutet außer dem Begriff 2 auch noch den Begriff — 2). Begriffswahrheiten der ersteren Art sind versteckte Tautologien, deren Aufdeckung freilich oft eine sehr schwierige und reizvolle Aufgabe bildet. Bei begrifflichen Erkenntnissen ist also das Verhältnis der im Urteil auftretenden Begriffe das denkbar klarste: es besteht in einer vollständigen oder einer Teil- Identifikation und gibt uns zunächst keine Probleme auf. Es genügt hier, diesen Um- stand hervorgehoben zu haben; der strenge Nachweis der Richtigkeit des Gesagten kann erst an einem anderen Orte geführt werden. Soweit es vorderhand für uns nötig, ist nun die Frage beantwortet, kraft welcher Zusammenhänge es in letzter Linie geschieht, daß zwei Begriffe denselben Gegenstand bezeichnen: bei Begriffswahrheiten sind es letztlich völlige oder teilweise Identitäten der Begriffe selber, bei Real- wahrheiten ist es zunächst die Identität von Raum- und Zeitbestimmungen des durch die Begriffe Bezeichneten. Ob sich unter dieser Identität noch eine tiefere verbirgt, für welche jene nur ein Anzeichen ist, wird sich noch herausstellen. Es ist aber wichtig sich klar zu machen, wie auch aus einer bloß räumlich-zeitlichen Identität doch für uns bereits eine solche des Gegen- standes werden kann. Was stets am selben Ort und zur selben Zeit sich zusammen vor- findet, das dürfen wir zwar nicht einfach identisch setzen, wohl aber haben wir das Recht, es zu einer Einheit zusammenzufassen, diese als einen Gegenstand zu betrachten, mit einem Begriff und Namen zu be- legen und dann die zusammengefaßten Elemente als Attribute oder Eigen- schaften oder Zustände usw. jenes Gegenstandes zu bezeichnen. Im Prinzip steht es uns nämlich selbstverständlich frei, ganz beliebige, auch zeitlich und räumlich beliebig auseinander liegende Elemente gedanklich dadurch zusammenzufassen, daß wir festsetzen, es solle ihrer Gesamtheit e i n Begriff zugeordnet werden — aber eine solche Vereinigung hat im all- gemeinen keinen Sinn und Zweck, sondern nur dort, wo ein besonderes Motiv dazu vorliegt, ohne welches dem neu gebildeten Begriffe jede Ver- wendungsmöglichkeit fehlen würde. Und das stärkste Motiv liegt nun immer in der beständigen raumzeitHchen Koinzidenz. Raum und Zeit sind in der sinnlichen Wirklichkeit die großen Einiger und Entzweier. Alle unseren Bestimmungen, durch die wir einen Gegenstand als Indi- viduum von anderen Individuen abgrenzen und unterscheiden, bestehen schließlich in Zeit- und Ortsangaben. Wo nun mehrere unterscheidbare Elemente a, b, c immer zusammen auftreten, etwa in der Weise, daß a niemals beobachtet wird, ohne daß b und c sich zugleich am selben Ort befinden, während man vielleicht b und c auch oft ohne a antrifft, da wird 4* 52 Das Wesen der Erkenntnis. man, weil a in keinem Falle isoliert von b und c in Erscheinung tritt, ihre Gesamtheit abc ohne weiteres als eine Einheit, als einen Gegenstand auf- fassen, denn die raumzeitlichen Bestimmungen, durch die wir in letzter Linie Individuen allein voneinander zu unterscheiden pflegen, sind ja für alle drei Elemente dieselben und es scheint folglich für uns nur e i n Individuum da zu sein, a wird uns als das Wesentliche des Gegenstandes erscheinen, b und c dagegen als Eigenschaften, die er mit anderen Dingen deb, fbc usw. gemeinsam hat. Die hier angedeutete Analyse ist wohl zu unterscheiden von der positivistischen Auflösung des Körpers in einen Komplex von ,, Elementen" (E. Mach). Erstens nämlich braucht der Gegenstand, von dem hier die Rede ist, natürlich kein Körper zu sein, sondern es kann darunter ebenso- gut ein Vorgang, Zustand usw. verstanden werden; zweitens haben wir das Wort Element in einem viel weiteren Sinne gebraucht (nämlich fast in demselben wie das Wort Gegenstand selber), und drittens ist hier noch nicht behauptet, daß ein körperlicher Gegenstand gar nichts anderes s e i als ein Komplex der Elemente, die wir an ihm unterscheiden. Es bleibt vielmehr vorläufig die Frage ganz offen, wie das Verhältnis eines Gegenstandes zu seinen Eigenschaften (oder wie man sie sonst nennen möge) zu denken sei. Hier sollte nur auf das unzweifelhafte Recht hin- gewiesen werden, das immer gemeinsam Auftretende zusammenfassend durch einen Begriff zu bezeichnen, und auf das Motiv, das uns dazu führt. So sehen wir denn, wie es kommen kann, daß wir den kalten Gegen- stand und den weißen als einen und denselben Schnee bezeichnen; aber es bleibt doch richtig, daß bei strengerer Analyse die Identität des Gegen- standes zu verschwinden scheint und sich die Identität eines Raum- und Zeitpunktes auflöst. Es gibt aber zum Glück Erkenntnisse — und bei näherer Betrachtung sind alle wissenschaftlichen von solcher Art — , bei denen nicht nur die raumzeitliche Koinzidenz, sondern außerdem noch wirklich eine völlige Identität von Gegenständen ohne weiteres mit Recht konstatiert werden darf. Das ist aber dort der Fall, wo wenigstens der eine der beiden Gegen- stände uns nicht direkt durch Wahrnehmung oder Erlebnis gegeben, sondern nur durch Beziehungen zu Wahrgenommenem oder Ge- gebenem definiert ist. Wir brauchen zur Erläuterung nur auf ein oft angezogenes Beispiel zurückzugehen: In dem Urteil ,,Ein Lichtstrahl ist ein Strahl elektrischer Wellen" bezeichnet das Wort ,, Lichtstrahl" nicht etwa (wie man meinen könnte) etwas in der Erfahrung unmittelbar Ge- gebenes, denn niemand kann einen Lichtstrahl selber sehen oder hören, sondern er wird allein dadurch bemerkt, daß die ihm in den Weg gestellten Körper (z. B. ,, Sonnenstäubchen") erhellt werden, und daß ein von ihm getroffenes Auge eine Lichtempfindung hat, und nur durch seine Be- ziehung zu solchen Erhellungen ist er überhaupt definiert, er wird nämlich als deren Ursache aufgefaßt. Das Wort Ursache ist für uns hier nur ein Urteilen und Erkennen. 53 Name für eine bestimmte Beziehung; welches die Natur dieser Beziehung sein mag, ist für unsere allgemeinen Betrachtungen an dieser Stelle ganz unwesentlich. Nun ist klar, daß nicht das geringste Hindernis besteht, die beiden Gegenstände ,,Ursache der Erleuchtung" und,, elektrische Welle", ein- ander völlig identisch zu setzen, denn natürlich kann derselbe Gegenstand, der zu einem Dinge eine bestimmte Relation hat, zu andern Dingen in ganz anderen Relationen stehen, oder überhaupt beliebige sonstige Eigen- schaften haben oder auf beliebige andere Weise definiert sein. Derselbe Punkt B kann rechts von A und doch links von C liegen. Nur flüchtig sei hier die Frage gestreift, ob ein und derselbe Gegen- stand zu verschiedenen Gegenständen in derselben Relation stehen könne. In gewissem Sinne ist sie natürlich zu bejahen; die Rela- tion ,, größer als" kann sowohl zwischen a und b wie zwischen a und c bestehen. In anderem Sinne dagegen ist sie zu verneinen, denn sobald man die zwischen den Dingen bestehende Relation ganz genau an- geben und streng bestimmen will, wird man zu der Einsicht geführt, daß ein bestimmter Gegenstand zu einem bestimmten andern in einer be- stimmten Beziehung steht, die ihn nur mit diesem und keinem anderen Gegenstande verbindet. Es kann zwar a größer als b und a größer als c sein; wenn aber aum denselben Betrag größer als c und b ist, dann müssen b und c der Größe nach dasselbe sein. Müller kann sowohl zu Max wie zu Fritz in der Relation der Vaterschaft stehen; aber der physische Zeugungsprozeß, der erst den genauen Zusammenhang be- gründet, welcher abkürzend durch das Wort Vaterschaft bezeichnet wird, ist natürlich in beiden Fällen ein individuell verschiedener. Gleiche Be- ziehungen zu verschiedenen Dingen kann ein Ding nur solange haben, als die Beziehungen nicht ins letzte spezialisiert, d. h. individuell be- stimmt sind. Gehen wir nun zu der Anwendung über, um deren willen diese kurze Abschweifung hier gemacht wurde, so sehen wir: ungenau gesprochen darf man sagen, der Schnee sei sowohl die Ursache der Kälteempfindung als auch der Weißempfindung; aber im strengen Sinne kann die Ursach- Relation in beiden Fällen nicht dieselbe sein. In der Tat lehren uns Physik und Physiologie, daß die Ursachen der Empfindung des Weißen einer- seits und des Kalten andererseits in verschiedenen Naturprozessen zu suchen sind. Sie dürfen also nicht identisch gesetzt werden, und es be- stätigt sich, daß in dem Urteil ,,der Schnee ist weiß" eine Identität von Gegenständen noch nicht in demselben Sinne gesetzt wird wie in dem wissenschaftlichen Urteil ,,das Licht besteht in elektrischen Wellen". In diesem letzteren Urteil war der eine der Begriffe durch eine Ur- sachenbeziehung definiert. Es mag schon jetzt hervorgehoben werden, daß das nicht bloß zufällig in diesem Beispiele stattfindet, sondern daß wir hier den typischen Fall einer wissenschaftlichen Erklärung vor uns haben. Wenn ich etwa sage: ,,die Wärme ist eine Molekularbewegung", so ist der Gegenstand ,, Wärme" nur als Ursache einer Temperaturempfindung 54 Das Wesen der Erkenntnis. oder einer Thermonneteranzeige gedacht; daß beispielsweise die Begriffe der Elektrizität und der chemischen Affinität zuerst auf demselben Wege gebildet wurden, hatten wir schon oben (S. 46) festgestellt. Und ähnliches gilt allgemein. Überall in der Forschung läßt sich das zu Erforschende durch Ursachbeziehungen darstellen, und meist ist es am ungezwungensten auf diese Weise gegeben. So rechtfertigt sich die Meinung vieler Denker, jede wissenschaftliche Erklärung müsse eine Kausalerklärung sein. Ob nun diese Art der Formulierung erkenntnistheoretisch die vollkommenste ist, oder ob vielleicht bei eingehender Analyse es empfehlenswert er- scheinen wird, den Kausalbegriff überhaupt durch andere Begriffe zu er- setzen, auf die er vielleicht zurückgeführt werden kann — das sind Fragen, die hier noch nicht zur Untersuchung stehen. In allen angeführten Beispielen wissenschaftlicher Erkenntnis sind die im Urteil vollzogenen Gleichsetzungen Teilidentifikationen im früher (S. 51) erläuterten Sinne, also Subsumtionen. Daß es nicht vollständige Identifikationen sind, erkennt man daran, daß die Urteile nicht umkehr- bar sind. Nicht jede Bewegung der Moleküle ist ja Wärme, nicht jede elektrische Welle ist Licht; sondern das gilt nur von bestimmten Arten der Molekularbewegung, nur von elektrischen Wellen ganz bestimmter Beschaffenheit, und durch Angabe spezieller Merkmale kann dies genau festgelegt werden. Fügen wir nun die besonderen Merkmale wirklich hinzu, indem wir unsere Urteile spezialisieren und etwa sagen: das Licht der D-Linien des Spektrums besteht in elektrischen Wellen, die ungefähr 509 Billionen Schwingungen pro Sekunde ausführen, so besteht jetzt völlige Identität der Gegenstände der beiden hier vereinten Begriffe. Beide bezeichnen ein und denselben Gegenstand auf verschiedene Weise: der Subjektsbegriff ,, Natriumlicht" bedeutet die Ursache einer gewissen gelben Erhellung und der Prädikatsbegriff bezeichnet dasselbe mit Hilfe einer Kreuzung der beiden Begriffe ,, elektrische Schwingungen" und ,,die Frequenz 509 Billionen besitzend". Und hier können wir nun Subjekt und Prädikat ohne Fehler vertauschen. S ist P und P ist S. Durch Kreuzung zweier allgemeinerer Begriffe läßt sich ein speziellerer Gegen- stand vollkommen bestimmen und bezeichnen. Haben wir zwei solche Begriffe P' und P" gefunden, daß sie ein Gebiet P gemeinsam haben, welches genau mit S identisch ist, so ist S vollständig erkannt, und die Erkenntnisstufe ist um so höher, je allgemeiner die Begriffe P' und P" sind. Wir können also bei einem wissenschaftlichen Urteil ,,S ist P" zwei Fälle unterscheiden: entweder es bedeutet unmittelbar eine Subsumtion des S unter P (z. B. Licht ist ein Schwingungsvorgang), oder es bedeutet eine völlige Identifikation von S und P (z. B. Na-Licht besteht in elektro- magnetischen Schwingungen von der Frequenz 509 . 10^^), dann aber ist P seinerseits immer dadurch bestimmt, daß es unter sich kreuzende Be- Was ist Wahrheit? 55 griffe P' und P" subsumiert wird — die ihrerseits natürlich durch Kreuzung noch allgemeinerer Begriffe entstanden sein können (auch dies ist am eben erwähnten Beispiel leicht zu verfolgen). Immer aber machen die Subsumtions- und Kreuzungsbeziehungen das Wesentlichste des Urteils- inhaltes aus. So sehen wir denn, wie die große Aufgabe der Erkenntnis (vgl. S. 12) individuelle oder besondere Gegenstände mit Hilfe allgemeiner Begriffe zu bezeichnen, sich löst: Durch Kreuzung der allgemeinen Begriffe wird in ihrer Mitte ein Bezirk abgegrenzt, in welchem nichts anderes Platz hat, als allein der Gegenstand, der da erkannt wird. Wie man wenigstens aus einem unserer Beispiele entnehmen kann, geschieht dabei die immer engere und genauere Einzirkelung der begriff- lichen Stelle, an die das Erkannte gehört, in den strengen Wissenschaften mit Hilfe von quantitativen Bestimmungen; nichts ist zur genauen Ab- schneidung und Umgrenzung der Begriffsfelder so geeignet wie die Zahlen. Aber nicht hierin allein wurzelt die unermeßliche Bedeutung des Zahlbegriffs für unsere exakte Erkenntnis, sondern der letzte Grund dafür liegt noch tiefer, wie im Laufe der Untersuchungen sich noch zeigen wird. Überschauen wir nun mit kurzem Blicke, wie sich das Verhältnis des Urteilens zum Erkennen uns dargestellt hat. Jedes Urteil dient zur Bezeichnung eines Tatbestandes. Ordnet es diesem Tatbestande ein neues Zeichen zu (d. h. tritt in ihm ein Begriff auf, der erst zum Behuf der Bezeichnung dieser Tatsache.erfunden wurde), so stellt es eine Definition dar. Verwendet es aber lauter bei anderen Gelegenheiten schon gebrauchte Begriffe, so ist es eben dadurch eine Erkenntnis. Denn einen Gegenstand durch Begriffe zu bezeichnen, welche bereits anderen Gegenständen zugeordnet sind, geht nur dann an, wenn vorher diese in jenem wiedergefunden wurden, und gerade dies machte ja das Wesen des Erkennens aus. Der dem Erkannten zugeordnete Begriff steht zu den Begriffen, durch die es erkannt wird, in gewissen Subsumtionsbeziehungen, und das Bestehen dieser Beziehungen ist eben die Tatsache, zu deren Bezeichnung das Urteil dient. 10. Was ist Wahrheit? Zu welchem Zwecke ordnen wir eigentlich den Gegenständen Begriffe zu? Auf diese Frage wurde eine Antwort bereits gegeben, und sie lautete: um über sie urteilen zu können. Warum aber urteilen wir.? mit anderen Worten: warum ordnen wir den Tatsachen Urteile als Zeichen zu.? Um hierauf zu antworten, brauchen wir uns nur klar zu machen, wozu wohl überhaupt alles Bezeichnen dient. Jedes Zeichen hat die Aufgabe, Repräsentant des Bezeichneten zu sein, das heißt, dessen Stelle in irgendeiner Hinsicht zu vertreten. Überall wo es unmöglich oder unbequem ist, mit den Gegenständen selbst zu 56 Das Wesen der Erkenntnis. operieren, die uns beschäftigen, da setzen wir Zeichen an ihre Stelle, die sich leichter und nach Belieben handhaben lassen. Wenn ich einer Biblio- thek ein Buch entnehmen will, so kann ich nach dem gewünschten Bande Ausschau halten, indem ich an den Büchergestellen entlang gehe; aber das wäre in den meisten Fällen ein umständliches und zeitraubendes Ver- fahren, und ich ziehe es daher vor, den Katalog zu befragen, und der ist nichts anderes als eine geordnete Sammlung von Zeichen, deren jedes einem Bande der Bibliothek entspricht. In dieser Zeichensammlung finde ich mich infolge ihres kleineren Umfanges und der bequemeren Anord- nung (etwa alphabetische Reihenfolge der Autorennamen) leichter zurecht als in der Bibliothek selbst. Nach einem ähnlichen Prinzip handeln wir überall, wo wir Gegenstände numerieren, mag es sich nun um die Kenn- zeichnung von Kleidungsstücken in einer Theatergarderobe handeln oder um die Unterscheidung zweier gleichnamiger Souveräne, die zu verschie- denen Zeiten über dasselbe Reich regiert haben. Alles Schreiben, Rechnen, Reden ist gleich dem Numerieren ein Arbeiten mit Symbolen, und ebenso auch alles Denken. Im Denken beherrschen wir die Welt, das heißt: wir beherrschen die Gedanken und Urteile, welche uns als Zeichen für alle Gegenstände und Tatsachen der Welt dienen. Und alle diese Zuordnungen, die wir in allen Lebenslagen unaufhör- lich vollziehen, müssen eine große Bedingung erfüllen, damit sie ihren Zweck erreichen, die Symbole zu gültigen Repräsentanten des Bezeich- neten zu machen: Man muß genau wissen, welcher Gegenstand zu einem bestimmten Zeichen gehört und umgekehrt; das heißt, die Zuordnung muß eindeutig sein. Mit anderen Worten: es darf ein und dasselbe Zeichen niemals verschiedene Gegenstände bedeuten. (Das Umgekehrte ist nicht unbedingt nötig; es schadet nichts, wenn denselben Gegenständen mehrere verschiedene Zeichen zugeordnet sind, aber nur unter der Voraus- setzung, daß man genau wisse, daß diese Zeichen dieselbe Bedeutung haben, daß man sich also stets dessen bewußt ist, daß sie sich beliebig miteinander vertauschen und durcheinander ersetzen lassen). Das gilt nun auch für die Zuordnung der Urteile zu Tatsachen. Uhd ein Urteil, das einen Tatbestand eindeutig bezeichnet, heißt wahr. Die Frage nach dem Wesen der Wahrheit hat zu aller Zeit — am meisten gerade in kurz vergangenen Jahren — das philosophische Denken bewegt. Sie hat damit das Schicksal so manchen Problems geteilt, dessen Lösung nur deshalb nicht von jedermann sofort gesehen und anerkannt wurde, weil man sie in zu großer Tiefe suchte. Die hier gegebene Wesens- bestimmung der Wahrheit ist schlicht und unscheinbar, aber es wird sich zeigen, daß sie wirklich imstande ist, Rechenschaft zu geben von allen Eigenschaften, die der Wahrheit in Wissenschaft und Leben zugeschrieben werden, von den simpelsten bis zu den erhabensten, die sie zu einem der höchsten Güter der Menschen machen. Der Wahrheitsbegriff wurde früher fast immer definiert als eine Übereinstimmung des Denkens mit seinen Objekten — oder, wie wir Was ist Wahrheit? 57 besser sagen, der Urteile mit dem Beurteilten (denn nicht dem aktuellen Denken, den psychologischen Akten des Urteilens schreiben wir Wahr- heit zu, sondern den Urteilen als idealen Gebilden). Und ohne Zweifel gab diese Definition einem richtigen Gedanken Ausdruck. Aber welchem Gedanken.? Daß die wahren Urteile zu den Tatbeständen in irgendeinem Sinne passen, ihnen irgendwie angemessen sind, mit ihnen ,, übereinstimmen", während falsche Urteile in bezug auf die Tatbestände etwas Unpassendes, Unangemessenes, Unstimmiges sind, ist gewiß; aber das Wort ,, Über- einstimmen" bezeichnet die Frage nur, ohne sie zu beantworten. Im ge- wöhnlichen Sprachgebrauch heißt Übereinstimmung nichts anderes als Gleichheit. Zwei Töne, Farben, zwei Maße, zwei Meinungen stimmen überein, wenn sie gleich sind. In diesem Sinne darf das Wort hier natür- lich nicht genommen werden, denn das Urteil ist etwas ganz anderes als das Beurteilte, dem es zugeordnet ist, es ist ihm nicht gleich, und das könnte nur bestritten werden vom Standpunkte abenteuerlicher meta- physischer Systeme, welche überhaupt Denken = Sein setzen, und über die wir kein Wort zu verlieren brauchen. Wenn Übereinstimmung hier nicht Gleichheit bedeutet, so könnte vielleicht Ähnlichkeit gemeint sein. Sind unsere Urteile den Tatsachen in irgendeinem Sinne ähnlich.? Ähnlichkeit müßte hier soviel heißen wie teilweise Gleichheit, es müßten sich also an den Urteilen gewisse Momente finden lassen, die auch in den Tatsachen selbst aufzuweisen sind. Bei reinen Begriffswahrheiten, wo das Beurteilte gleich den Urteilen selber aus bloß idealen Gebilden besteht, möchte allerdings unter Umständen auf beiden Seiten Gleiches gefunden werden, aber das kann nicht das Wesentliche für die Wahrheit sein, denn auch Sätze über reale Dinge machen doch auf Wahrheit Anspruch — hier wird ja das Wesen der Wahr- heit erst zum Problem — bei ihnen aber wird man vergeblich nach solchen gleichen Momenten suchen. Denn die im Urteil auftretenden Begriffe sind den wirklichen Gegenständen gewiß nicht gleichartig, die sie bezeichnen, und auch die Beziehungen zwischen den Begriffen sind nicht gleich den Beziehungen der Dinge, denn in die letzteren gehen immer zeitliche, meist auch räumliche Momente ein, und begriffliche Relationen sind un- räumlich und unzeitlich. In dem Urteil ,,der Stuhl steht rechts vom Tisch" wird doch nicht der Begriff des Stuhles rechts vom Begriff des Tisches gestellt. So zerschmilzt der Begriff der Übereinstimmung vor den Strahlen der Analyse, insofern er Gleichheit oder Ähnlichkeit bedeuten soll, und was von ihm übrig bleibt, ist allein die eindeutige Zuordnung. In ihr be- steht das Verhältnis der wahren Urteile zur Wirklichkeit, und alle jene naiven Theorien, nach denen unsere Urteile und Begriffe die Wirklichkeit irgendwie ,, abbilden" könnten, sind gründlich zerstört. Es bleibt dem Worte Übereinstimmung hier kein anderer Sinn als der der eindeutigen Zuordnung. Man muß sich durchaus des Gedankens entschlagen, als 58 Das Wesen der Erkenntnis. könne ein Urteil im Verhältnis zu einem Tatbestand mehr sein als ein Zeichen, als könne es inniger mit ihm zusammenhängen denn durch bloße Zuordnung, als sei es imstande, ihn irgendwie adäquat zu beschreiben oder auszudrücken oder abzubilden. Nichts dergleichen ist der Fall. Das Urteil bildet das Wesen des Beurteilten so wenig ab wie die Note den Ton, oder wie der Namen eines Menschen seine Persönlichkeit. Eindeutigkeit ist die einzige wesentliche Tugend einer Zuordnung, und da Wahrheit die einzige Tugend der Urteile ist, so muß die Wahrheit in der Eindeutigkeit der Bezeichnung bestehen, zu welcher das Urteil dienen soll. Wenn diese Bestimmung richtig ist, so kann ein falsches Urteil nichts anderes sein, als ein solches, das eine Mehrdeutigkeit der Zuordnung ver- schuldet. Dies läßt sich in der Tat sehr leicht bestätigen. Nehmen wir etwa, um an unser altes Beispiel anzuschließen, das falsche Urteil: ,,Ein Lichtstrahl besteht in einem Strome schnell bewegter Körperchen" (dieser Satz entspricht bekanntlich der NEWXON'schen Emissionstheorie des Lichtes), so werden wir bei Prüfung aller Tatsachen, die die physikalische Forschung uns kennen gelehrt hat, bald gewahr, daß dieses Urteil keine eindeutige Bezeichnung der Tatbestände ermöglicht. Wir würden nämlich finden, daß hierbei zwei verschiedenen Tatsachenklassen dieselben Urteile zugeordnet wären, daß also eine Zweideutigkeit vorläge. Es wären ja einerseits die Tatsachen, bei denen es sich wirklich um bewegte Korpuskeln handelt, wie etwa Kathodenstrahlen, andererseits die Tatsachen der Licht- fortpflanzung durch dieselben Symbole bezeichnet. Überdies würden zugleich auch zwei identischen Tatsachenreihen, nämlich der Lichtfort- pflanzung einerseits, der Wellenausbreitung andererseits, verschiedene Zeichen zugeordnet sein. Die Eindeutigkeit wäre verloren, und der Nach- weis davon ist der Nachweis der Falschheit jenes Urteils. Mit der Frage des Nachweises, d. h. des Kriteriums der Wahrheit werden wir uns erst in einem späteren Kapitel zu beschäftigen haben; wie können aber doch schon hier die Richtigkeit des Gesagten deutlich einsehen. In der Wissen- schaft wird die Prüfung fast immer so geführt, daß wir aus unseren Ur- teilen neue ableiten, welche zukünftige Ereignisse bezeichnen (also Voraussagungen); und wenn nun statt der erwarteten Tatbestände in Wirklichkeit andere eintreten, solche also, die durch andere als unsere abgeleiteten Urteile bezeichnet werden müssen, so sind Widerspruch und Mehrdeutigkeit da, und wir nennen die Urteile, von denen wir ausgingen, falsch. Ließen wir unsere Voraussage, die ja ein Zeichen für den erwarteten, in der Vorstellung antezipierten Tatbestand ist, auch als Zeichen für den wirklich eingetretenen zu, so würde dasselbe Urteil zwei verschiedene Ereignisse bedeuten, und wenn wir es später einmal aus- sprechen hören, würden wir nicht wissen, welches Ereignis gemeint ist. Der Grund, warum wir das Falsche, Unwahre hassen, liegt in solchen unerträglichen Vieldeutigkeiten. Alle Verwirrung, die durch eine falsche Aussage entsteht, alles Übel der Lüge entspringt aus den Verwechslungen, Was ist Wahrheit? 59 welche die Folge der Mehrdeutigkeit sind. Wer sich die Verhältnisse einmal in aller Klarheit vergegenwärtigt, wird einsehen, daß die Unter- scheidung von wahren und falschen Urteilen in der Tat nur den Sinn hat, allem sprachlichen und gedanklichen Ausdruck die Eindeutigkeit zu wahren; sie ist die notwendige Vorbedingung alles Verständnisses und ohne sie wird jede Bezeichnung und jeder Ausdruck zwecklos und eitel. Um auszudrücken, daß ein gegebenes Urteil ,,S ist P" falsch ist, d. h. eine Tatsache nicht eindeutig bezeichnet, bedienen wir uns der Ver- n e i n u n g und sagen ,,S ist nicht P". Das negative Urteil hat demnach zunächst immer nur den Sinn, das entsprechende positive Urteil zurück- zuweisen, es zu brandmarken als ein ungeeignetes, vieldeutiges Zeichen für den beurteilten Tatbestand. Wollen wir dies gelehrt ausdrücken, so können wir sagen: die Kategorie der Negation ist auf die Kategorie der Vielheit zurückgeführt. Da das verneinende Urteil nur die Bedeutung hat, eine bejahende Aussage zurückzuweisen, da es mithin voraussetzt, daß man die Absicht gehabt habe oder in Versuchung gewesen sei, jenes falsche bejahende Urteil zu fällen, oder daß es sogar wirklich von jemand gefällt worden ist, so ist das Vorkommen negativer Urteile offenbar abhängig von dem Vor- kommen falscher Urteile. Und da falsche Aussagen natürlich ihren Grund nur in der psychologischen Unvollkommenheit unseres Geistes haben, so ist das Auftreten der Verneinung allein durch unsere mangelhafte Kon- stitution bedingt. Es muß also möglich sein, Logik und Wissenschaft zu treiben, ohne überhaupt verneinende Urteile in Betracht zu ziehen, ja, in der reinen Logik als einer idealen Wissenschaft, die sich um die prak- tischen Bedingungen des Denkens und seine psychologischen UnvoU- kommenheiten nicht kümmert, brauchten sie streng genommen überhaupt keinen Platz zu finden. In der Tat haben negative Urteile nur praktischen, psychologischen, nicht theoretischen, logischen Wert. Die Gebäude unserer Wissenschaften bestehen ausschließlich aus positiven Aussagen. In den Fällen, in denen der Begriff der Verneinung zur Bezeichnung gewisser Tatbestände unentbehrlich zu sein scheint, kann er vollständig durch den Begriff der Verch ied en hei t ersetzt werden. Die Urteile ,,A ist nicht B" und ,,A ist von B verschieden" bedeuten ein und dasselbe. Hier liegen interessante Beziehungen vor, die z. B. für die logische Grundlegung der Arithmetik von Wichtigkeit werden. Doch hier ist es nicht nötig, darauf einzugehen. Das verneinende Urteil ,,S ist nicht P" bezeichnet also den Tat- bestand, daß der bejahende Satz ,,S ist P" falsch ist. Man kann das ausdrücken, indem man sagt: Wenn das Urteil ,,S ist nicht P" wahr ist, dann ist das Urteil ,,S ist P" falsch, und umgekehrt. In diesem Ausspruch haben wir aber die berühmten Sätze vom Wider- spruch und vom ausgeschlossenen Dritten vor uns. Wie wir 6o Das Wesen der Erkenntnis, sehen, ergeben sie sich unmittelbar aus dem Wesen der Verneinung und können als deren Definition aufgefaßt werden. Die Mehrzahl der Logiker ist wohl heute zu der Einsicht gekommen, daß die Sätze vom Widerspruch und vom ausgeschlossenen Dritten nur diesen harmlosen Sinn haben, daß durch sie nur das Wesen der Verneinung bestimmt wird, daß sie also nicht etwa eine Wahrheit von metaphysischer Bedeutung enthalten oder etwa eine Schranke unseres menschlichen Denkens dar- stellen, die vielleicht für Wesen von anderer geistiger Konstitution nicht zu bestehen brauche ^). Die Grenzen der Bedeutung und Anwendung der beiden Sätze sind dieselben wie diejenigen der Negation. Noch sind einige wichtige Punkte aufzuklären, noch einige allbekannte Eigenschaften der Wahrheit mit unseren Bestimmungen in Einklang zu bringen. Eine erste Frage wäre: Wenn Wahrheit Eindeutigkeit der Bezeich- nung ist, warum können dann nur Urteile, nicht auch Begriffe wahr sein, da die letzteren doch ebenfalls Zeichen sind.!* Der Unterschied besteht darin, daß das Urteil nicht bloß ein Zeichen ist, sondern daß in ihm zugleich immer eine Bezeichnung tatsächlich aus- geführt, eine Zuordnung wirklich vollzogen gedacht wird. Wenn ich das Wort „Wasser" ausspreche und mir die Vorstellung Wasser zur Ver- tretung des Begriffs vergegenwärtige, so kann dabei nichts Wahres oder Falsches, nichts Eindeutiges oder Mehrdeutiges sein. Wenn ich aber beim Aussprechen des Wortes auf eine farblose Flüssigkeit zeige, so wird meine Handlung sofort einem Urteil, äquivalent; ich deute damit an, daß ich eine Zuordnung vollziehen will, und die kann nun in der Tat richtig oder falsch sein. Spreche ich das Urteil aus: diese Flüssigkeit ist Wasser, so hat es genau dieselbe Bedeutung wie jenes Wort verbunden mit jener Geste. Ich ordne eben das Urteil der Tatsache zu, daß die Flüssigkeit die Eigenschaften des Wassers besitzt, und es ist falsch, wenn sich heraus- stellen sollte, daß sie statt des Verhaltens des Wassers etwa dasjenige zeigt, durch das uns der Begriff des Alkohols definiert ist. Es ist nicht nur das Urteil als Ganzes einer Tatsache als Ganzes zugeordnet, sondern, wie sich aus der Konstitution des Urteils ergibt, damit zugleich auch Be- griffe den Gegenständen; und die Eindeutigkeit der ersteren Zuordnung wird bedingt durch die Eindeutigkeit der letzteren. Damit kommen wir auf eine außerordentlich wichtige Frage, deren Klärung uns erst volles Verständnis für das Wesen der Wahrheit geben kann, die Frage nämlich: wodurch denn eigentlich ein bestimmtes Urteil ») Vgl. unten § 35. Was ist Wahrheit? 6i gerade zum Zeichen einer bestimmten Tatsache wird; mit anderen Worten: woran erkenne ich, welche Tatsache ein gegebenes Urteil bezeichnet? Wenn es gilt, einem System von Gegenständen ein System von Zeichen zuzuordnen, so ist klar, daß man auf alle Fälle damit anfangen muß, be- stimmte Symbole für bestimmte Dinge willkürlich festzusetzen. Die Be- zeichnung der Zahlen durch Ziffern, der Laute durch Buchstaben sind solche Konventionen. Sie werden von verschiedenen Völkern in ver- schiedener Weise vorgenommen. Die Bezeichnung der Nationen durch Flaggen ist ein anderes Beispiel für diese Art der Zuordnung. Deuten kann diese Symbole nur, wer von jenen Konventionen Kenntnis erhalten hat; er muß einfach auswendig lernen, welches Zeichen zu einer bestimmten Tatsache oder einem bestimmten Gegenstande gehört. Das Erlernen einer Sprache ist nichts als die Aneignung eines solchen Zeichensystems. Das Auswendiglernen kann unter Umständen durch physische Akte vermieden und ersetzt werden; so merkt sich der Hotelhausknecht nicht einzeln, welches Stiefelpaar einem bestimmten Gaste zugehört, sondern er schreibt die Zimmernummer auf die Sohlen, das heißt, er bringt an den Stiefeln ein sichtbares Symbol an, welches mit dem an der entsprechenden Zimmer- tür befindlichen Symbol eine Ähnlichkeit besitzt, die durch sinnliche Wahrnehmung jederzeit festgestellt werden kann. Die meisten Gegen- stände der Erkenntnis sind nun aber nicht von der Art, daß sich Nummern an ihnen anheften lassen, und so muß ihre Bezeichnung auf andere Weise geschehen. Es wäre nun aber nicht angebracht, alle Dinge der Welt in der Weise zu bezeichnen, daß wir lauter einzelne Zeichen dafür erfinden und die Bedeutung eines jeden auswendig lernen. Prinzipiell wäre es zwar leicht möglich, auf diese Weise eine eindeutige Bezeichnung durchzuführen; und da Wahrheit bloß in dieser Eindeutigkeit der Zuordnung besteht, so wäre es im Prinzip ein Kinderspiel, zu vollkommener Wahrheit zu ge- langen. Die Wissenschaften hätten eine gar leichte Aufgabe, wenn Wahr- heit einfach mit Erkenntnis identisch wäre. Aber das ist nun ganz und gar nicht der Fall. Erkenntnis ist mehr, viel mehr als bloße Wahrheit. Letztere verlangt nur Eindeutigkeit der Zuordnung und es ist ihr gleich- gültig, welche Zeichen dazu benützt werden; Erkenntnis dagegen bedeutet eindeutige Zuordnung mit Hilfe ganz bestimmter Symbole, nämlich solcher, die bereits anderswo Verwendung fanden. Wenn ein Physiker eine neue Art von Strahlen entdeckte und ihnen den Namen Y-Strahlen gäbe, so würde das Urteil: ,,die von dem Physiker entdeckten Strahlen sind die Y-Strahlen" natürlich wahr sein, aber einen Fortschritt der Erkenntnis würde es nicht bedeuten, weil zur Bezeichnung des neuen Gegenstandes einfach ein neues Wort verwendet wurde. Wenn ich sage: Abracadabra ist Abracadabra, so ist auch dies Urteil immer wahr, was auch Abracadabra bedeuten möge, denn die in ihm vollzogene Zuordnung eines Symboles zu sich selber ist von Natur eindeutig, aber eine Erkenntnis ist es gewiß nicht. Würde also jeder Tatsache, jedem Gegenstande der Welt sein be- 62 Das Wesen der Erkenntnis. sonderes Zeichen zugeordnet, so hätten wir lauter isolierte Wahrheiten, die wir einzeln lernen müßten (was freilich praktisch wegen ihrer un- zähligen Menge unmöglich wäre), und es würde für uns kein Mittel geben, aus den einen die andern abzuleiten, ebensowenig, wie wir aus dem Aus- sehen der deutschen und der englischen Flagge Schlüsse ziehen können auf dasjenige der italienischen. Unsere Wahrheiten wären gleichsam lauter diskrete Punkte, sie bildeten kein zusammenhängendes System; und nur in einem solchen ist Erkenntnis möglich, denn ein Widerfinden des einen im anderen setzt einen durchgehenden Zusammenhang voraus. Also nicht von dieser Art ist unsere Bezeichnung der Tatbestände durch Urteile, sofern sie Erkenntnis enthalten. Wir brauchen nicht be- sonders zu lernen, welche Tatsache durch ein bestimmtes Urteil bezeichnet wird, sondern wir können es dem Urteil selbst ansehen. Das Erkenntnis- urteil ist eine neue Kombination von lauter alten Begriffen. Die letzteren kommen in zahllosen anderen Urteilen vor, von denen uns einige (z. B. ihre Definitionen) schon vorher bekannt sein rnußten; sie bilden die Verbindungsglieder, durch die das Neue in das große System der be- kannten Urteile eingeordnet wird, welches den Bestand unserer Erfah- rungen und unserer Wissenschaften bildet. Kraft des Urteilszusammen- hanges kommt also der neuen Wahrheit ein ganz bestimmter Platz im Kreise der Wahrheiten zu: die ihr entsprechende Tatsache erhält dadurch den Platz zugewiesen, den sie kraft des Tatsachenzusammenhanges im Reiche der Wirklichkeit einnimmt. Und eben dadurch, daß das Urteil diesen Platz uns anzeigt, wird die Tatsache oder der Gegenstand e r - k a n n t. So ist es der Strukturzusammenhang des Systems unserer Urteile, welcher die eindeutige Zuordnung bewirkt und ihre Wahrheit bedingt; und allein der Ort, den ein Satz in unserem Urteilssystem ein- nimmt, belehrt uns darüber, welche Tatsache er bezeichnet. Nur die ersten Begriffe und Urteile, auf welche die Erkenntnis die übrigen zurückführt, beruhen auf Konvention und müssen als willkürliche Zeichen gelernt werden. Die Sprache bezeichnet natürlich nicht nur die Fundamentalbegriffe, sondern auch die komplizierteren (d. h. diejenigen, die durch Kreuzung der elementaren entstehen) durch besondere Worte, die dem Gedächtnis eingeprägt werden müssen. (Allerdings müßte eine bis zum Ideal der Vollkommenheit entwickelte Sprachphilosophie »nd Sprachwissenschaft im Prinzip auch die Auffindung der Worte leisten können, die von bestimmten Völ- kern zur Bezeichnung bestimmter Begriffe verwendet werden, denn die Gründe, die zur Annahme bestimmter Konventionen führen, sind ja selbst wieder erkennbare, bezeichenbare Tatsachen.) Die Sprache ihrer- seits verfährt ähnlich wie das Erkennen: sie bildet neue Worte nicht durch neue Laute, sondern durch neue Kombinationen einer verhältnismäßig geringen Anzahl von fundamentalen Sprachlauten. Diejenige Sprache ist am weitesten entwickelt, die den ganzen Reichtum der Gedanken durch ein Minimum verschiedener Formea, und doch kurz, auszudrücken ver- Was ist Wahrheit? 63 steht. Ein wahrer „Humanismus" wird die gehaltvolle Kürze mancher modernen Sprache für die Zwecke der Philosophie geeigneter finden als die gewundene Redseligkeit des Griechischen. Die Sucht, neue Worte für ihre Begriffe zu erfinden, kennzeichnet die kleineren Geister unter den Philosophen; einem Hume genügte die simpelste Terminologie als Kleid grundlegender Gedanken. (Nietzsche's geniale Wortbildungen dienen nicht begrifflichen, sondern allein poetischen Zwecken; von ihnen ist hier nicht die Rede.) Alle unsere Urteile lassen sich |nun in verschiedene Klassen ordnen. Es sind nämlich entweder 1. Definitionen d. h. Urteile, welche eine Zuordnung durch will- kürliche Festsetzung vollziehen oder 2. Bezeichnungen von Erfahrungstatsachen d. h. Urteile, welche eine Zuordnung auf Grund von Wiedererkennungsakten vollziehen, oder 3. Hypothesen, d. h. aus bekannten Begriffen gebildete Urteile, die man versuchsweise zur Bezeichnung von Tatsachen einführt, in der Hoffnung, dadurch eine eindeutige Zuordnung zu denselben zu gewinnen. Wenn es 4. Urteile gibt, die sich von den Hypothesen dadurch unterscheiden, daß bei ihnen an Stelle der Hoffnung eine berechtigte Überzeugung auftritt, von welcher wir zugleich die Gewähr hätten, daß sie uns niemals täuschen kann, so würden diese Urteile nicht mehr Hypothesen, sondern Axiome heißen müssen. (Die ,, impliziten Definitionen" würde man dann passend nicht „Definitionen durch Axiome" nennen, da die dabei benutzten Ur- teile nicht Axiome im eben erläuterten Sinne sind, sondern eben als Definitionen betrachtet werden müssen.) Ob es diese vierte Klasse von Urteilen wirklich gibt, muß die weitere Untersuchung zeigen. Sie sind, wie der kundige Leser längst bemerkt haben wird, mit den ,, syntheti- schen Urteilen a priori" Kant's identisch. In den Fundamentalurteilen dieser vier oder drei Klassen haben wir nun die Stützpunkte, auf denen unser System aller wissenschaftlichen Wahrheiten ruht. Von ihnen ausgehend errichten wif es Schritt für Schritt, indem wir die einzelnen Bausteine durch syllogistisches Verfahren ge- winnen, welches bekanntlich darin besteht, daß man durch Kombination zweier Urteile unter Elimination eines Begriffes (des sog. Mittelbegriffes) ein drittes herstellt. An jenen Ausgangspunkten nun deckt sich das Netz der Urteile mit dem System der Tatsachen von vornherein, denn wir haben es ja so konstruiert, daß dies der Fall ist. Verfuhren wir aber richtig bei unserem Aufbau, so entspricht nicht nur den Ausgangspunkten, sondern auch den Maschen unseres Urteilsnetzes, die wir auf deduktivem, d. h. syllogistischem Wege erzeugt haben, je eine Tatsache der Wirklichkeit; jedes Glied unseres Urteilssystems ist einem wirklichen Tatbestande ein* deutig zugeordnet. 64 Das Wesen der Erkenntnis. Die einzelnen Wissenschaften unterscheiden sich ihrem ganzen Cha- rakter nach nun sehr wesenthch durch die Art und Weise, wie sie die durchgehende Eindeutigkeit der Zuordnung erreichen. Die DiszipHnen von mehr beschreibender Methode, deren markantestes Beispiel die historischen Wissenschaften sind, vermögen die durchgehende Deckung der beiden Systeme nur dadurch zu erreichen, daß sie fast nur solche Urteile aufnehmen, die der zweiten der oben aufgeführten Klassen angehören und darüber keine hohen Konstruktionen mehr ausführen. Sie kleben gleichsam an den gegebenen Tatsachen und können sich nicht in freiem Bau der Gedanken darüber erheben, ohne sofort die Eindeutigkeit aufs Spiel zu setzen. In ihnen muß man wirklich auswendig lernen, welche Begriffe und Urteile den einzelnen Tatsachen zugeordnet sind; aus Napo- leons Geburtstag läßt sich sein Todestag nicht ableiten, sondern man muß beides gedächtnismäßig lernen; niemand kann die Reihenfolge der römi- schen Kaiser und ihre Regierungszeiten aus ferner liegenden historischen Daten deduzieren. Es fehlt den historischen Urteilen in hohem Maße an Zusammenhang, an gemeinsamen Elementen, die bei Schlüssen als Mittelbegriffe dienen können (die Persönlichkeiten, die Handelnden in der Geschichte, können diese Rolle nicht spielen, weil sie von Augenblick zu Augenblick andere sind, von immer wechselnden Gedanken, Wünschen und Gefühlen erfüllt, deren gesetzmäßigen Verlauf wir nicht verfolgen können), und um diesen Mangel auszugleichen, ist eine ungeheure Mannig- faltigkeit von unabhängigen Einzelurteilen nötig, nur so bleibt die ein- deutige Bezeichnung möglich. Diese Disziplinen sind sehr reich an Material, ganz arm dagegen an Erkenntnissen. Historische Begebenheiten werden nie so vollkommen begriffen, daß sie restlos aus den Umständen ab- geleitet werden könnten. Deshalb kann der Historiker auch nicht die Zukunft voraussagen. Ganz anders die Methode der exakten Wissenschaften. Sie erreichen die Eindeutigkeit der Zuordnung des Urteilssystems zu den Tatsachen nicht dadurch, daß sie die Zahl ihrer Fundamentalurteile möglichst groß machen, sondern sie streben sie im Gegenteil soviel wie möglich zu ver- kleinern, sie überlassen es dem unfehlbaren logischen Zusammenhang, die beiden Systeme zu eindeutiger Übereinstimmung zu bringen. Der Astronom, der den Ort eines Kometen an nur drei verschiedenen Zeitpunkten be- obachtet hat, kann seinen Ort zu beliebigen Zeiten voraussagen; der Physiker kann mit Hilfe der wenigen Grundgleichungen, die den Namen Maxwell's tragen, dem gesamten Gebiet der elektrischen und magne- tischen Erscheinungen passende Urteile zuordnen, oder mit Hilfe von ganz wenigen Bewegungsgesetzen der Gesamtheit aller mechanischen Vorgänge. Er braucht nicht für jeden einzelnen ein besonderes Gesetz aufzustellen und zu lernen. So gleichen die exakten Wissenschaften nicht einem Maul- wurfsbau, der sich durch das Erdreich der Tatsachen windet, sondern einem Eiffelturm, der nur an wenigen Punkten gestützt frei und leicht in die luftige Höhe allgemeinster Begriffe sich erhebt, von der aus man Was ist Wahrheit? 65 die Einzeltatsachen nur um so vollkommener beherrscht. Je weniger fundamentale Urteile einer Wissenschaft zugrunde liegen, desto geringer ist die Zahl der Elementarbegriffe, die sie zur Bezeichnung der Welt ge- braucht, desto höher mithin die Erkenntnisstufe, zu der sie uns emporhebt. So schaffen denn alle Wissenschaften, indem die einen mehr, die anderen weniger Erkenntnis uns dabei vermitteln, an dem großen Netz der Urteile, in dem das System der Tatsachen eingefangen werden soll. Die erste und höchste Bedingung aber, ohne welche die ganze Arbeit keinen Sinn hätte, ist die, daß jedes Glied des Urteilsgefüges einem Gliede des Tatsachengefüges eindeutig zugeordnet ist, und wenn es diese Be- dingung erfüllt, so heißt es wahr. Anmerkung. Gedanken, die mit der hier entwickelten Wahrheits- theorie ^) verwandt sind, wurden in der Gegenwart mehrfach geäußert. Ein paar Worte darüber mögen hier Platz finden. Die Einsicht, daß der Gegenstand aller Urteile ein ,, Tatbestand" sei, ist besonders deutlich ausgesprochen worden von J. K. Kreibig ^), der sich wiederum an Meinung ^) anschließt. Nach Kreibig ist aber *) das Urteil ,,ein Satz, durch den ein bestimmter Tatbestand als objektiv vor- handen ausgedrückt wird". Diese Definition kann von unserm Stand- punkt aus nicht als genügend betrachtet werden; sie entbehrt der höchst wesentlichen Bestimmung, daß es sich um ein bloßes Zuordnen handelt, statt dessen tritt der erläuterungsbedürftige Terminus ,, ausdrücken" auf. Aus diesem Grunde scheint mir auch die Wahrheitsdefinition Kreibig's die Beziehung zwischen den Urteilen und den beurteilten Sachen nicht scharf und prägnant zu bezeichnen. Er definiert^): ,, Wahrheit ist das Merkmal eines Urteils, das denjenigen Tatbestand behauptet, der im Be- reich der beurteilten Gegenstände vorhanden ist." Diese Formulierung bedürfte durchaus der näheren Bestimmung und Interpretation, um er- kennen zu lassen, ob sie mit der hier vorgetragenen Theorie vereinbar ist. Um so mehr freut es mich, daß Kreibig seine Ausführungen im Sinne dieser Theorie verstanden wissen möchte, denn er meint *), daß sie mit dem in seinem Buche entwickelten Wahrheitsbegriff in allem Wesentlichen übereinstimme. ^) Ich habe sie zuerst dargestellt in einer Abhandlung über das Wesen der Wahrheit. Vierteljahrschrift f. wiss. Phil. 1910. Bd. 34. *) Die intellektuellen Funktionen. Wien und Leipzig 1909. S. 131. Im Interesse der Frage nach der gegenseitigen Unabhängigkeit sei bemerkt, daß ich erst 1911 mit Kreibig's Buch bekannt wurde. *) Über Annahmen. Leipzig 1902. *) a. a. 0. S. 133. ") a. a. 0. S. 142. •) In einer Besprechung meiner oben angeführten Arbeit. Zeitschr. f. Psych. 1912. Bd. 61. S. 281. Schlick Erkenatnistehre, <; 66 Das Wesen der Erkenntnis. Der große Vorzug der hier vertretenen Ansicht scheint mir darin zu liegen, daß sie sich nur auf die Beziehung der reinen Zuordnung stützt, d. i. die einfachste und allgemeinste aller Relationen. Um den so erreichten Vorteil recht gewahr zu werden, vergleiche man sie mit einer Wahrheits- theorie, die ganz auf den eigentümlichen Verschiedenheiten der Relations- arten aufgebaut ist, etwa mit der geistreichen Ansicht von B. Ru.ssell ^). Hier muß die Durchführung des Vergleichs unterbleiben, da unsere Unter- suchungen mit keinerlei vermeidlichen kritischen Betrachtungen belastet werden sollen. II. Was Erkenntnis nicht ist. Wer die Bestimmungen überblickt, die wir bis jetzt über das Wesen der Erkenntnis machen konnten, wird vielleicht von einem Gefühl der Enttäuschung beschlichen. Erkenntnis nichts weiter als ein bloßes Be- zeichnen.?' Bleibt damit der menschliche Geist den Dingen und Vorgängen und Beziehungen, die er erkennen will, nicht ewig fremd und fern? Kann er sich den Gegenständen dieser Welt, der er. doch selbst als ein Glied angehört, nicht inniger vermählen.'' Wir antworten: er kann es wohl; aber sofern er es tut, verhält er sich nicht erkennend. Das Wesen des Erkennens fordert schlechthin, daß derjenige, der es ausüben will, sich in eine Ferne und eine Höhe über die Dinge begebe, von der aus er ihre Beziehungen zu allen anderen Dingen überblicken kann. Wer sich ihnen nähert, teilnimmt an ihrem Weben und Wirken, der steht im Leben, nicht im Erkennen; ihm zeigen die Dinge das Antlitz ihres Wertes, nicht ihres Wesens. Aber ist nicht das Erkennen auch eine Lebensfunktion.^ Gewiß, doch es nimmt allen übrigen Lebensfunktionen gegenüber eine so be- sondere Stelle ein (im nächsten Paragraphen müssen wir sie besprechen), daß es nötig ist, immer wieder vor einer Verkennung der wahren Natur der Erkenntnis, vor einer Verwechslung mit anderen Funktionen zu warnen. Deshalb erscheint es geboten, die bisherigen Ergebnisse nach zwei Seiten hin noch besonders zu stützen. Nämlich erstens: negativ zu zeigen, daß unter keinen Umständen dem Erkenntnisbegriff eine andere Bedeutung beigelegt werden darf als die in den vorhergehenden Unter- suchungen festgelegte, daß also keine andere Funktion des menschlichen Geistes die Aufgaben zu erfüllen vermag, die dem Erkennen gesetzt sind; zweitens aber positiv den Nachweis zu führen, daß alle Hoffnungen, die der Mensch auf das Erkennen zu setzen berechtigt ist, wirklich erfüllt werden durch den Vollzug des geschilderten Prozesses: das Wiederfinden des einen im anderen, das Bezeichnen durch Urteile und Begriffe. Wohl scheint es wunderbar, daß einem so schlichten und anspruchslosen Ver- fahren jene gewaltige Macht innewohnen soll, die, wie wir alle wissen, der Erkenntnis eignet; wohl ist es erstaunlich, daß wir in den Ergebnissen ') The Problems of philosophy. Chapt. XII. Was Erkenntnis nicht ist. 67 so nüchterner Prozesse eine der herrHchsten Blüten menschlicher Kultur vor uns haben, deren Duft den Menschen in jenen Rausch des Erkennens versetzt, der nicht von den schlechtesten unter uns allem anderen Glücke vorgezogen wurde, indem sie ihr Leben der Erkenntnis weihten und doch ist es so. Alle Versuche, den Rang des Erkennens irgend einem andren Prozesse zu verleihen als der bloßen Funktion des Vergleichens, Wiederfindens und Zuordnens, schlagen zuletzt an den entscheidenden Punkten kläglich fehl, wenn es ihnen manchmal auch gelingen mag, einige Zeit durch verführerischen Schein zu blenden ^). Das denkbar innigste Verhältnis zwischen zwei Gegenständen ist die gänzliche Identität beider, so daß sie also in Wirklichkeit gar nicht zwei, sondern nur einer sind. So hat es denn nicht an Denkern gefehlt, die sich mit keinem geringeren Erkenntnisbegriff zufrieden gaben als dem des völligen Einswerdens des Erkennenden mit dem Erkannten; es waren die Mystiker des Mittelalters, nach denen besonders die Erkenntnis Gottes in dieser Weise stattfinden sollte. Wenn dergleichen Gedanken in der Folge von der wissenschaftlichen Philosophie verlassen wurden, so lag der Grund dafür darin, daß man überzeugt war, ein Einswerden des erkennenden Bewußtseins mit den Objekten finde nicht statt und sei nicht möglich; man hätte aber jene Lehre in erster Linie verwerfen sollen aus der Über- zeugung heraus, daß ein Einswerden, selbst wenn es möglich wäre, doch auf keinen Fall eine Erkenntnis sein würde. Die Verfehlung dieses wichtigen Punktes ist eine Quelle bedeutsamer Irrtümer in der Philosophie geworden. Ich komme sogleich darauf zurück. Wenn nun auch ein Verschmelzen, eine völlige Identität mit den Dingen nicht möglich ist, so scheint es doch einen Prozeß zu geben, der eine ausnehmend innige Beziehung zwischen Subjekt und Objekt her- stellt; durch ihn scheint das Erkannte gleichsam in das erkennende Bewußtsein einzurücken: das ist die Anschauung. Wenn ich eine rote Fläche anschaue, so ist das Rot ein Teil meines Bewußtseinsinhaltes, ich erlebe es, und allein in diesem Erlebnis der unmittelbaren Anschauung, niemals durch Begriffe, kann ich erkennen, was Rot ist. Das Hören eines Tones ist ein anschauliches Erlebnis; was ein eingestrichenes a ist, kann ich nur erkennen, wenn man mir diesen Ton wirklich zu Gehör bringt. Was Lust und Schmerz, was warm und kalt ist, nur die Anschauung lehrt es mich hat man also nicht volles Recht, zu sagen: Anschauung ist Erkenntnis .> In der Tat ist die Mehrzahl der Philosophen davon überzeugt, daß Anschauung uns unmittelbar Erkenntnis liefere; ja, in den stärksten philosophischen Strömungen der Gegenwart herrscht die Meinung, daß allein die Anschauung, die Intuition, wahre Erkenntnis sei, daß die mit Begriffen arbeitende Methode der Wissenschaft nur ein Surrogat geben könne, nicht echte Erkenntnis des Wesens der Dinge. ^) Zu den folgenden Ausführungen vergleiche meinen Aufsatz ,,Gibt es intuitive Erkenntnis?" Vierteljahrsschr. f. wiss. Phil. 1913. Bd. 37. 5* 68 Das Wesen der Erkenntnis. Wir prüfen zuerst die Lehre der Vertreter dieser letzten, radikalen Ansicht. Sie stellen begriffliche und intuitive Erkenntnis in Gegensatz zueinander, gestehen die erstere vor allem der exakten Naturwissenschaft zu und nehmen die letztere für die Pliilosophie in Anspruch. „Philo- sophieren besteht darin, sich durch eine Aufbietung der Intuition in das Objekt selbst zu versetzen" ^). Sie forden uns auf einzusehen, ,,daß mit der im rechten Sinne philosophischen Intuition .... ein endloses Arbeits- feld sich auftut und eine Wissenschaft, die ohne alle symbolisierenden und mathematisierenden Methoden, ohne den Apparat der Schlüsse und Beweise, doch eine Fülle strengster und für alle weitere Philosophie entscheidender Erkenntnisse gewinnt" 2). Solche Lehren stehen im schärfsten Gegensatz zu allen Ergebnissen unserer vorhergehenden Betrachtungen. Sie bezeichnen als Erkennen eine Tätigkeit des Geistes, die ganz und gar verschieden ist von jenem Vergleichen, Wiederfinden und Bezeichnen, das sich uns als das wahre Wesen der Erkenntnis offenbart hat. Nun möchte man vielleicht sagen, es handle sich bloß um eine Frage der Terminologie: es stehe doch frei, auch die Intuition oder Anschauung mit dem Namen Erkenntnis zu be- legen; man unterscheide dann eben zwei Arten des Erkennens, das be- griffliche, diskursive und das anschauliche, intuitive. Aber die Propheten der Intuition leiten das Recht, auch ihr den Namen Erkenntnis zu geben, davon ab, daß sie meinen, die unmittelbare Anschauung leiste gerade das in vollkommener Weise, was auch die symbolisierende Erkenntnis mit dem unzureichenden Mittel des Begriffes zu leisten trachte. Hierin irren sie jedoch sehr. Anschauung und begriffliche Erkenntnis streben keineswegs nach dem gleichen Ziel, sie gehen vielmehr nach ent- gegengesetzten Richtungen auseinander. Zum Erkennen gehören stets zwei Glieder: etwas, das erkannt wird, und dasjenige, als was es erkannt wird. Bei der Anschauung hingegen setzen wir nicht zwei Gegen- stände zueinander in Beziehung, sondern stehen nur einem einzigen, eben angeschauten, gegenüber. Es handelt sich also um einen wesentlich ver- schiedenen Prozeß; die Intuition hat mit der Erkenntnis gar keine Ähn- lichkeit. Wenn ich mich einem anschaulichen Bewußtseinsinhalt völlig hingebe, etwa einem Rot, das ich gerade vor mir sehe, oder wenn ich mich beim Handeln gänzlich in ein Tätigkeitsgefühl versenke, dann erlebe ich durch Intuition das Rot und die Tätigkeit — habe ich aber damit wirk- lich das Wesen des Rot oder der Tätigkeit erkannt.? Ganz und gar nicht. Hätte ich die Wellenlänge des roten Lichtes gemessen, seine Intensität festgestellt usw., kurz, es in den allgemeinen Zusammenhang meines physikalischen Wissens eingeordnet, oder hätte ich das Tätigkeitsgefühl psychologisch analysiert und darin etwa Spannungsempfindungen, Lust- gefühle usw. aufgedeckt: dann erst dürfte ich behaupten, das Wesen ^) Henri Bergson, Einführung in die Metaphysik. Jena 1909. S. 26. *) E. HussERL, Philosophie als strenge Wissenschaft. Logos I. S. 341. Was Erkenntnis nicht ist. 69 des roten Lichtes oder des Tätigkeitsgefühls bis zu einem gewissen Grade erkannt zu haben. Solange ein Gegenstand mit nichts verglichen, in kein Begriffssystem in irgendeiner Weise eingefügt ist, solange ist er nicht erkannt. Durch die Anschauung werden uns Gegenstände nur gegeben, nicht begriffen. Intuition ist bloßes Erleben, Erkennen aber ist etwas ganz anderes, ist mehr. Intuitive Erkenntnis ist eine contradictio in adiecto. Gäbe es eine Intuition, durch die wir uns in die Dinge oder die Dinge in uns, hineinversetzen könnten, so wäre sie doch niemals Erkenntnis. Der kulturlose Mensch und das Tier schauen die Umwelt wahrscheinlich auf eine viel vollkommenere Art als wir, sie gehen in ihr viel mehr auf, leben viel intensiver in ihr, weil ihre Sinne schärfer und wachsamer sind; dennoch erkennen sie die Natur nicht etwa besser als wir, sondern gar nicht. Durch Erleben, durch Schauung begreifen und erklären wir nichts. Wir erlangen dadurch wohl ein Wissen um die Dinge, aber niemals ein Verständnis der Dinge. Das letztere allein wollen wir, wenn wir Er- kenntnis wollen, in aller Wissenschaft, und auch in aller Philosophie. Und damit ist der große Fehler aufgedeckt, den die. Intuitionsphilo- sophen begehen: sie verwechseln Kennen mit Erkennen. Kennen lernen wir alle Dinge durch Intuition, denn alles, was uns von der Welt gegeben ist, ist uns in der Anschauung gegeben; aber wir erkennen die Dinge allein durch das Denken, denn das Ordnen und Zuordnen, das dazu nötig ist, macht eben das aus, was man als Denken bezeichnet. Die Wissenschaft macht uns mit den Gegenständen nicht bekannt, sie lehrt uns nur, die bekannten verstehen, begreifen und das heißt eben Erkennen. Kennen und Erkennen sind so grundverschiedene Begriffe, daß selbst die Umgangssprache dafür verschiedene Worte hat; und doch werden sio von der Mehrzahl der Philosophen hoffnungslos miteinander verwechselt. Der rühmlichen Ausnahmen sind nicht allzu viele ^). Der Irrtum ist zahlreichen Metaphysikern verhängnisvoll geworden. Es lohnt sich wohl, das an einigen besonders deutlichen Beispielen zu zeigen. Wenn wir auch im allgemeinen durch Anschauung die Dinge nicht in uns oder uns in die Dinge hineinversetzen können, so gilt das doch nicht von unserem eigenen Ich. Zu ihm stehen wir tatsächlich in dem Ver- hältnis, welches die Mystiker für die Erkenntnis sich ersehnten: dem der völligen Identität. Es ist uns im strengen Sinne vollständig bekannt. Wer nun den Unterschied zwischen Kennen und Erkennen vergißt, der muß glauben, daß wir das Wesen des Ich auch schlechthin vollkommen erkannt hätten. Und das ist in der Tat eine weitverbreitete These. Zahl- reiche metaphysische Denker würden den Satz unterschreiben, der in ^) Als solche möchte ich anführen A. Riehl, der dem Begreifen das unmittel- bare Wissen gegenüberstellt (Der philos. Kritizismus, II, i, S. 221), und B. Russell, welcher sehr richtig unterscheidet zwischen knowledge of things (Kennen) und know- ledge of truths (Erkennen). (The problems of philosophy, p. 69). Ferner v. Aster, Prinzipien der Erkenntnislehre. 1913. S. 6 f. 70 Das Wesen der Erkenntnis. unserer Zeit so formuliert worden ist*): „Sofern das Ich sich selbst im Selbst- bewußtsein erfaßt, erkennt es ein Wirkliches, wie es an sich selber ist . , ." Der Satz ist falsch, so oft er auch in irgend einer Form ausgesprochen wird. Denn die psychischen Gegebenheiten, deren wir im Bewußtsein inne werden, sind damit nicht im geringsten erkannt, sondern bloß einfach gesetzt, gegeben: das Bewußtsein erlebt sie, sie haben teil an ihm, sie werden im Erlebnis dem Bewußtsein bekannt, nicht von ihm erkannt. Erkannt im echten Sinne des Wortes können sie höchstens werden durch eine wissenschaftliche, d. h. klassifizierende begriffsbildende Psychologie; wenn die Bewußtseinsinhalte durch bloße Intuition restlos erkannt würden, so müßte ja überhaupt alle Psychologie entbehrlich sein. In dem soeben zitierten Satze wurde das Erkennen als ein ,, Erfassen" bezeichnet. Das ist nun eine Redewendung, die nur wenige Denker zu vermeiden wußten, wenn sie das Wesen der Erkenntnis zu bestimmen unternahmen. Immer wieder liest man, das Erkennen sei ein ,, geistiges Erfassen". Aber natürlich ist dies keine Definition des Erkenntnisprozesses, sondern nur eine Vergleichung desselben mit dem physischen Akt des Anfassens, Betastens, Begreifens, und zwar ist der Vergleich nicht sonder- lich glücklich, denn wenn ich einen Gegenstand mit der Hand ergreife, so bedeutet das nur die Herstellung einer Beziehung zwischen jenem Objekte und mir selber; beim Erkennen jedoch ist das Wesentliche gerade die Schaffung einer Beziehung zwischen mehreren Gegenständen durch den Erkennenden. Die Rede vom Erkennen als einem Erfassen ist also im allgemeinen ein irreführendes Bild; nur dann hat es Berechtigung, wenn es so verstanden wird, daß es sich dabei um ein Einfangen, ein Ein- schließen des erkannten Objekts durch Begriffe handelt, durch das ihm ein Platz in ihrer Mitte eindeutig zugewiesen wird. An keinem Punkte der Geschichte der Philosophie läßt sich der in dem Unbegriff der intuitiven Erkenntnis verborgene Irrtum nebst seinen Folgen wohl so deutlich aufweisen wie in der Lehre des Descartes. Sein Satz, daß wir die Existenz des eigenen Ich (oder, um ihn in modernerem Sinne zu korrigieren: der eigenen Bewußtseinsinhalte) intuitiv einsehen, und daß diese Einsicht eine Erkenntnis ist, und zwar von fundamentaler Bedeutung, scheint eine ganz unwiderlegliche Wahrheit zu sein. Und sie scheint gesichert zu sein durch das bloße Erleben der Bewußtseinsinhalte, ohne daß irgendeine begriffliche Verarbeitung, irgendein Vergleichen und W^iederfinden zuvor stattfinden müßte. Was hätten wir also hier vor uns, wenn nicht eine echte intuitive Erkenntnis? Wir antworten, daß natürlich eine Intuition hier vorliegt, aber trotz allem keine Erkenntnis. Allerdings drückt das Urteil ,,cogito, ergo sum" (nach Anbringung aller erforderlichen Korrektionen) eine unumstößliche Wahrheit aus, näm- Paulsen, im Bande ,, Systematische Philosophie" der „Kultur der Gegen- wart", 1907. S. 397- Was Erkenntnis nicht ist. 71 lieh eben die Tatsache der-Existenz der Bewußtseinsinhalte. Wir sahen aber längst, daß nicht jede Wahrheit eine Erkenntnis zu sein braucht; Wahrheit ist der weitere, Erkenntnis der engere Begriff. Wahrheit ist Eindeutigkeit der Bezeichnung, und die kann nicht nur durch Erkenntnis, sondern auch durch Definition erreicht werden. Und so liegt es hier. Der Satz des Descartes ist eine versteckte Definition, er ist eine un- eigentliche Definition des Begriffes Existenz, nämlich das, was wir früher als ,, konkrete Definition" bezeichnet hatten. Wir haben einfach die Festsetzung vor uns, das Erlebnis, das Sein der Bewußtseinsinhalte durch die Worte zu bezeichnen: ,,ego sum" oder ,,die Bewußtseinsinhalte existieren". Wenn uns aus sonstigen Anwendungen der Begriff des Daseins, der Existenz bereits bekannt wäre, und wenn wir nun bei genauerer Be- trachtung unserer Bewußtseinsvorgänge fänden, daß sie alle Merkmale dieses Begriffes aufweisen, und wenn wir erst auf Grund dieses Wieder- findens den Satz aussprechen könnten: ,,Die Bewußtseinsinhalte sind" — , dann und nur dann wäre der Satz des Descartes eine Erkenntnis, aber dann stellte er ja auch keine intuitive Erkenntnis mehr dar, sondern würde sich vollkommen demjenigen Erkenntnisbegriff unterordnen, den wir bis hier entwickelt haben. Aber natürlich war so nicht die Meinung des großen Metaphysikers, und es wäre töricht, seinen Satz so zu inter- pretieren; er soll vielmehr nur auf die unumstößliche Tatsache des Gegebenseins der Bewußtseinsinhalte hinweisen, er soll das Fundament alles weiteren Philosophierens sein, es soll ihm weiter gar kein Wissen vorausgehen. In der Tat ist das Erleben der Bewußtseinszustände (wir kommen im dritten Teile des Buches darauf zurück) die ursprüngliche und einzige Quelle des Existenzbegriffes, also nicht ein Kasus, auf den der bereits fertige Begriff nachträglich angewandt werden könnte. Das ,,Ich bin" ist schlechthin Tatsache, nicht Erkenntnis^). Durch die Verfehlung dieses wichtigen Punktes werden bei Descartes die bekannten weiteren Irrwege unvermeidlich. Da er nämlich seinen Grundsatz für eine Erkenntnis ansah, so durfte und mußte er nach einem Kriterium fragen, das ihm ihre Gültigkeit verbürgte. Er glaubte ein solches in der Evidenz zu entdecken (oder, wie er es nannte, in der Klarheit und Deutlichkeit der Einsicht); die Garantie für die Untrüglich- keit der Evidenz aber vermochte er nur in der Wahrhaftigkeit Gottes zu finden, und so bewegte er sich haltlos im Kreise, denn die Existenz dessen, der ihm für die Zuverlässigkeit der Evidenz garantiert, ist ihm allein durch eben diese Evidenz verbürgt. In einen ähnlichen Zirkel muß jeder verfallen, der den CARTEsiANischen Satz für eine Erkenntnis hält. Er kann nur als Definition, als Bezeichnung einer fundamentalen Tatsache aufgefaßt werden. Das ego sum, das Sein der Bewußtseinsinhalte, bedarf keiner Begründung, weil es keine Er- kenntnis ist, sondern eine Tatsache; und Tatsachen bestehen schlechthin, ^) Dieselbe Wahrheit liegt der etwas umständlichen Bemerkung zugrunde, die Kant über den DESCARTEs'schen Satz macht: Kr. d. r, V. Kehrbach S. 696. 72 Das Wesen der Erkenntnis. sie haben zu ihrer Sicherung keine Evidenz pötig, sie sind weder gewiß noch ungewiß, sondern sind schlechthin, es hat gar keinen Sinn, nach einer Garantie ihres Bestehens zu suchen. Der CARTESiANische Irrtum wurde in neuerer Zeit zum Prinzip einer Philosophie erhoben in der Evidenz-Psychologie, wie sie von Brentano begründet wurde. Nach der Meinung dieses Denkers ^) ist jeder psychi- sche Akt von einer darauf gerichteten Erkenntnis begleitet. Er sagt*): ,,\Vir denken, wir begehren etwas, und erkennen, daß wir dieses tun. Erkenntnis aber hat man nur im Urteile." Folglich, so schließt er, ist in allen psychischen Akten ein Urteil enthalten! Wir lesen ferner^): ,,Mit jedem psychischen Akte ist daher ein doppeltes inneres Bewußtsein ver- bunden, eine darauf bezügliche Vorstellung, und ein darauf bezügliches Urteil, die sogenannte innere Wahrnehmung, welche eine unmittelbare evidente Erkenntnis des Aktes ist." Nach Brentano zählt jede Wahr- nehmung zu den Urteilen*): ,,ist sie ja doch eine Erkenntnis oder doch ein, wenn auch irrtümliches, Führwahrnehmen". Von einer Psychologie ,,vom empirischen Standpunkte" sollte man doch erwarten, daß in jedem psychischen Akt ein Urteil als erfahrenes, erlebtes Moment aufgewiesen werde, bevor sein Vorhandensein darin behauptet wird; statt dessen wird geschlossen: weil Wahrnehmung Erkenntnis ist, so muß sie ein Urteil enthalten. Der richtige Schluß aber lautet offenbar: weil Wahr- nehmung erfahrungsgemäß kein Urteil enthält, so ist sie auch keine Er- kenntnis ^). Die Verwechslung von Erkennen und Kennen an den zitierten Stellen ist nur allzu deutlich. Die reine, unverarbeitete Wahrnehmung (Empfindung) ist ein bloßes Kennen; es ist ganz falsch, von einer ,, Wahrnehmungserkenntnis" zu sprechen, wenn man sie im Auge hat; die Empfindung gibt uns keinerlei Erkenntnis, sondern nur eine Kenntnis der Dinge. Nun kommen aber isolierte reine Wahrnehmungen bekanntlich im entwickelten Bewußtsein so gut wie gar nicht vor, sondern es schließt sich an die Empfindung assoziativ ein sog. Apperzeptionsprozeß an, d. h. die Empfindung oder der Empfindungskomplex verschmilzt mit verwandten Vorstellungen als- bald zu einem Gesamtgebilde, das sich im Bewußtsein als etwas schon früher Bekanntes darstellt. So werden etwa die Schwarz-Weiß-Empfin- dungen beim Blick auf das vor mir liegende Papier ohne weiteres zur Wahr- nehmung von Schriftzeichen. Hier haben wir natürlich eine Erkenntnis, *) Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt. S. 185. ^^ «) Ebenda. S. 181. ») Ebenda. S. 188. *) Ebenda. S. 277. «) Entgegengesetzt schließt L. Nelson (Die Unmöglichkeit der Erkenntnis- theorie. Abhandl. d. pRiEs'schen Schule 1912. Bd. III. S. 598), da die Wahrnehmung eine Erkenntnis sei, aber kein Urteil, so brauche nicht jede Erkenntnis ein Urteil zu sein. Damit steht auch er ganz auf dem Boden des Irrtums der „unmittelbaren Er- kenntnis", den wir hier zu widerlegen suchen. Er sagt (a. a. 0. S. 599): Die Wahr- nehmung „ist eine unmittelbare Erkenntnis". Was Erkenntnis nicht ist. 73 wenn auch primitivster Art, vor uns, denn es bleibt ja nicht bei dem bloßen Sinneseindruck, sondern er wird sogleich in den Kreis früherer Erfahrungen eingeordnet, als der und der wiedereHcannt. Wenn man also den Ausdruck ,, Wahrnehmung" auf den apperzipierten Sinneseindruck beschränkt, dann allerdings, aber nur dann, darf man von einer Wahr- nehmungserkenntnis sprechen. Will man diese Erkenntnis, solange sie noch nicht in (vorgestellte oder gesprochene) Worte gefaßt ist, von der sprachlich formulierten dadurch unterscheiden, daß man die erstere als ,, intuitive" bezeichnet ^), so läßt sich dagegen natürlich nichts einwenden; es bedarf keiner Erwähnung, daß dieser Begriff der intuitiven Erkenntnis mit dem oben behandelten und zurückgewiesenen (wie wir ihn bei Bergson und HussERL fanden) nicht das geringste zu tun hat. Kant hat die Wahrheit, daß das reine Anschauen ohne apperzeptive oder begriffliche Verarbeitung keine Erkenntnis ist, nicht in ihrer vollen Tragweite eingesehen und sie daher in seinem berühmten Satze ,, An- schauungen ohne Begriffe sind blind" nur unvollkommen zum Ausdruck gebracht; beginnt er doch die Untersuchungen der Kritik der reinen Vernunft mit den Worten: ,,Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis auf Gegenstände beziehen mag, so ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselben unmittelbar bezieht, und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung." Hier zeigt sich deutlich, daß Kant den innigen Konnex, den die Anschauung zwischen Objekt und Schauendem herstellt, doch für ein wesentliches Moment des Erkennens ansah. Dies hinderte ihn auch, das Problem der Erkenntnis der Dinge an sich als ein bloßes Scheinproblem zu entlarven. Er glaubte nämlich, eine solche Erkenntnis müßte eine Anschauung von der Art sein, ,,daß sie Dinge vorstellte, so wie sie an sich selbst sind", und er er- klärt sie für unmöglich, weil die Dinge ,, nicht in meine Vorstellungskraft hinüberwandern können". Wir wissen aber jetzt: selbst wenn dies mög- lich wäre, wenn also die Dinge eins würden mit unserem Bewußtsein, dann würden wir die Dinge wohl erleben, aber das wäre etwas ganz anderes als Erkenntnis der Dinge. ,, Erkenntnis der Dinge an sich" ist so lange einfach eine contradictio in adiecto, als man unter Erkennen irgend ein Anschauen oder anschauliches Vorstellen versteht, denn es würde ja der Widersinn gefordert, Dinge vorzustellen, wie sie unabhängig von allem Vorstellen sind. Die Frage nach der Möglichkeit solcher Er- kenntnis darf also gar nicht gestellt werden. Wie steht es aber mit dieser selben Frage, nachdem wir uns über das wahre Wesen der Erkenntnis klar geworden sind.? Nun, hätte man immer gewußt und es sich vor Augen gehalten, daß Erkenntnis durch ein bloßes Zuordnen von Zeichen zu Gegenständen entsteht, so wäre ^) Das tut z. B. Benno Erdmann in seiner schönen Abhandlung ,, Erkennen und Verstehen". Sitzungsberichte der kgl. preuß. Akad. d. Wiss. LIII. S. 1251. Dort gebraucht er auch den Ausdruck ,, wahrnehmende Erkenntnis" stets nur in der oben erläuterten einzig zulässigen Bedeutung. 74 Das Wesen der Erkenntnis. man niemals darauf verfallen, zu fragen, ob ein Erkennen der Dinge mög- lich sei, so wie sie an sich selbst sind. Zu diesem Problem konnte nur. die Meinung führen. Erkennen sei eine Art anschaulichen Vorstellens, welches die Dinge im Bewußtsein abbilde; denn nur unter dieser Voraus- setzung konnte man fragen, ob die Bilder wohl dieselbe Beschaffenheit aufwiesen wie die Dinge selbst. Wer das Erkennen für ein anschauliches Vorstellen hielt, durch welches wir die Dinge ,, erfassen" oder ,,in unsern Geist aufnehmen", oder wie die Ausdrücke sonst lauten mögen, der mußte immer von neuem Ursache finden, über das Unzulängliche und Vergebliche des Erkenntnisprozesses zu klagen, denn ein so beschaffener Erkenntnisprozeß konnte seine Objekte doch nicht wohl ins Bewußtsein überführen, ohne sie mehr oder weniger gründlich zu verändern, und mußte somit seinen letzten Zweck stets verfehlen, nämlich die Dinge unverändert, eben wie sie ,,an sich" sind, zu erschauen. Der wahre Erkenntnisbegriff, wie er uns jetzt aufgegangen ist, hat nichts Unbefriedigendes mehr. Nach ihm besteht das Erkennen in einem Akte, durch den in der Tat die Dinge gar nicht berührt oder verändert werden, nämlich im bloßen Bezeichnen. Eine Abbildung kann niemals ihre Aufgabe vollkommen erfüllen, sie müßte denn ein zweites Exemplar des Originals, eine Verdoppelung sein; ein Zeichen aber kann restlos das von ihm Verlangte leisten, es wird nämhch bloß Eindeutigkeit der Zu- ordnung von ihm verlangt. Abgebildet kann ein Gegenstand niemals werden wie er an sich ist, denn jedes Bild muß von einem Standpunkte aus und durch ein abbildendes Organ aufgenommen werden, kann also nur eine subjektive und gleichsam perspektivische Ansicht des Gegen- standes bieten; bezeichnen dagegen läßt sich jeder Gegenstand selber, wie er ist. Die verwendeten Zeichen und die Methoden der Zuordnung tragen zwar subjektiven Charakter, der ihnen vom Erkennenden auf- gedrückt wird , die vollzogene Zuordnung aber zeigt keine Spuren mehr davon, sie ist ihrem Wesen nach unabhängig von Standpunkt und Organ. Deshalb können wir getrost sagen: in Wahrheit gibt uns jedes Erkennen eine Erkenntnis von Gegenständen, wie sie an sich selbst sind. Denn was das Bezeichnete auch immer sein mag, ob Erscheinung oder Ding an sich (was diese Unterscheidung bedeutet und ob sie überhaupt gerechtfertigt ist, wird ja später zu untersuchen sein): es ist doch eben selbst, wie es ist, dasjenige, was da bezeichnet wird. Nehmen wir einmal an, unserer Kenntnis seien nur ,, Erscheinungen" zugänglich, hinter denen un b e kannte Dinge an sich ständen, so wären diese Dinge doch zugleich mit den Erscheinungen von uns erkannt, denn da unsere Begriffe den Erscheinungen zugeordnet sind, diese aber als den Dingen an sich zu- geordnet angenommen waren, so bezeichnen ja unsere Begriffe auch die letzteren, weil ein Zeichen des Zeichens doch auch ein Zeichen für das Bezeichnete selbst ist. Was Erkenntnis nicht ist. 75 Noch auf einen Punkt möge hier hingewiesen sein, der uns vielleicht die Vorzüge des errungenen Erkenntnisbegriffes verdeutlichen und uns zeigen kann, wie leicht eine Frage sich auflöst, die oft Anlaß zu ärgerlichen Schwierigkeiten bot. Das ist die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis- theorie. Es ist bekannt, mit welchen Einwänden man ihre Möglichkeit bestritten hat. Wenn das Erkennen sich selbst erkennen, wenn es über seine eigene Gültigkeit entscheiden soll, so wird es damit zum Wächter über sich selbst gesetzt, und man darf mit H. Sidgwick fragen: quis custodiet custodem? Und Hegel spottete: das Unternehmen, das Er- kennen zu untersuchen, ehe man es anwende und ihm vertraue, heiße schwimmen lernen wollen, ehe man ins Wasser geht. Herbart hielt den Einwand für zwingend, und Lotze wußte keinen andern Ausweg, als die Erkenntnistheorie auf die Metaphysik zu gründen. Wie sollte wohl der Erkenntnisprozeß auf sich selbst anwendbar sein.-* Das Fühlen läßt sich doch nicht fühlen, das Hören kann man nicht hören, das Sehen nicht sehen. In der Tat, wäre das Erkennen diesen Anschauungsvorgängen analog, so wäre es um seine Theorie schlecht bestellt. Es ist aber nichts dergleichen, sondern eben ein Zuordnungsprozeß. Und der ist ohne jede Schwierigkeit auf sich selbst anwendbar: das Bezeichnen selbst kann durch Zuordnungsakte bezeichnet werden. Auch der berühmte Beweis der Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie von L. Nelson wird widerlegt durch die Einsicht in die Natur des Erkennens. In Nelson's Beweis kommt nämlich folgende Argumentation vor: Gesetzt, das Kriterium der objek- tiven Gültigkeit der Erkenntnis sei nicht selbst eine Erkenntnis. ,,E3 müßte dann, um zur Auflösung des Problems dienen zu können, b e - k a n n t sein, d. h. es müßte selbst Gegenstand der Erkenntnis werden können. Ob aber diese Erkenntnis, deren Gegenstand das frag- liche Kriterium ist, eine gültige ist, müßte entschieden sein, damit das Kriterium anwendbar ist" ^). Aber damit etwas b e kannt sei, braucht es eben nicht Gegenstand einer E r kenntnis geworden zu sein, und damit zerreißt die Schlußkette. Solche Betrachtungen können uns lehren, wie falsch es wäre, ent- täuscht zu sein über den Nachweis, daß der Erkenntnisakt nicht eine innige Vermählung von Subjekt und Objekt bedeutet, nicht ein Erfassen, Eindringen, Anschauen, sondern ein bloßes, freilich nach ganz besonderen Gesetzen verfahrendes Bezeichnen des Objektes. Dieser Nachweis be- deutet keinen Verzicht, keine Degradierung des Erkennens; man muß nicht glauben, die bloß vergleichende, ordnende und bezeichnende Tätigkeit sei nur ein Notbehelf für eine vollkommenere Art des Erkennens, die uns nun einmal versagt, anders organisierten Wesen aber vielleicht möglich sei. Von alledem kann keine Rede sein. Denn jenes Wiederfinden, Ordnen und Bezeichnen, als welches das Erkennen sich uns offenbart hat, leistet alles das in vollkommener Weise, was wir ^) Abhandlungen der FaiEs'schen Schule II. S. 444. 76 Das Wesen der Erkenntnis. in Leben und Wissenschaft vom Erkennen verlangen, und kein anderer Prozeß, keine ,, intellektuelle Anschauung", kein Einswerden mit den Dingen, könnte es leisten. Es ist sonderbar, daß man zuweilen noch heute glaubt, eine Erkenntnis, ja eine Wissenschaft könne zustande kommen durch eine bloße Intuition, welche allem Vergleichen und Ordnen vorher- geht, nachdem doch schon vor so vielen Jahren die hier verfochtene Wahrheit auf die präziseste Weise formuliert wurde in dem Satze, mit dem ein hervorragender Logiker ^) sein Hauptwerk begann: ,, Science arises from the discovery of Identity amidst Diversity". In der Theorie der Naturwissenschaften ist zum Glück der hier ent- wickelte Erkenntnisbegriff gegenwärtig fast allgemein zur Herrschaft ge- langt, nachdem Gustav Kirchhoff ihn mit größter Klarheit in seiner be- rühmten Definition der Mechanik aufgestellt hatte. Er erklärte bekannt- lich, ihre Aufgabe bestehe allein darin '), ,,die in der Natur vor sich gehen- den Bewegungen vollständig und auf die ein fachste Weise zu beschreiben". Unter dem ,, Beschreiben" ist natürlich nichts anderes zu verstehen als das, was wir ein Zuordnen von Zeichen genannt haben. Die Worte ,,auf die einfachste Weise" bedeuten, daß bei dieser Zuord- nung nur ein Minimum von Elementarbegriffen verwendet werden darf ^) ; und das , .vollständig" heißt, daß durch die Zuordnung eine schlechthin eindeutige Bezeichnung jeder Einzelheit erreicht werden muß. Wenn viele der auf diesem Grunde weiterbauenden Erkenntnistheoretiker behaupten, Kirchhoff habe festgestellt, daß die Aufgabe der Wissenschaft nicht ein Erklären, sondern ein Beschreiben sei, so ist dies offenbar nicht richtig. Sein Verdienst besteht vielmehr gerade in der Entdeckung, daß das Er- klären oder Erkennen in der Wissenschaft nichts weiter ist als eine be- sondere Art des Beschreibens. Allerdings hat er selbst den Irrtum mit veranlaßt, indem er seine Bestimmung als eine Einschränkung*) der Aufgabe der Mechanik anzusehen schien. Er stellt ^) das Beschreiben in Gegensatz zum Auffinden von Ursachen. Es wird aber später noch zu untersuchen sein, ob sich der Begriff der Ursachen nicht doch so wenden läßt, daß er als legitimes Mittel bei der Bezeichnung der Naturgegen- stände zugelassen werden darf. In derselben erkenntnistheoretischen Schule finden wir noch eine andere schiefe Auffassung vom Wesen der Erkenntnis, von der zu reden sich im nächsten Paragraphen Gelegenheit finden wird. Noch einmal aber sei es gesagt: die Aufdeckung der wahren Natur des Erkennens als einer Art des Beschreibens oder Bezeichnens kann ^) Stanley Jevons, The principles of science. *) Vorlesungen über Mechanik (4. Aufl. 1897). S. i. ') Auch AvENARius hat unter ,, einfachster" Beschreibung wohl diejenige ver- standen, die mit möglichst wenigen Begriffen auskommt. Vgl. F. Raab, Die Philo- sophie des AvENARius, 1912. S. 146. *) Ebenda. Vorrede S. V. ') Ebenda. Vom Wert der Erkenntnis. 77 niemals den Sinn einer Entwertung, einer Herabsetzung der Erkenntnis haben, denn nicht das macht ja den Wert des Erkenntnisprozesses aus, worin er besteht, sondern vielmehr das, was er vermag. Wieviel das aber ist, zeigen uns die Wissenschaften, besonders die der Natur, und ihre Anwendungen. Und wieviel es noch werden mag, können wir kaum ahnen. 12. Vom Wert der Erkenntnis. Es ist an der Zeit, daß wir uns einmal die Frage vorlegen, warum denn eigentlich der Mensch nach Erkenntnis sucht. Zu welchem Zwecke widmen wir unser Leben dem sonderbaren Geschäfte, unaufhörlich das Gleiche im Verschiedenen aufzusuchen? Aus welchem Grunde bemühen wir uns, die reiche Mannigfaltigkeit des Universums nur durch solche Begriffe zu bezeichnen, die aus einem Minimum von Elementarbegriffen aufgebaut sind.!* Die letzte Antwort auf diese Frage ist zweifellos: Weil uns diese Zurückführung des einen auf das andere Lust bereitet; und es ist nur eine andere Formulierung derselben Antwort, wenn wir sagen: uns wohnt ein Erkenntnis trieb inne, der nach Befriedigung verlangt. Aber die Absicht unserer Frage zielt offenbar weiter. Wir möchten den Grund erfahren, warum eine solche Beschäftigung für uns lustvoll sein kann; wir möchten wissen, wie es kommt, daß im Menschen ein Trieb sich ent- wickeln konnte, der das bloße Erkennen zum Ziele hat, das doch von allen anderen Lebenszwecken scheinbar so weit entfernt ist. Die Aufklärung dieses Rätsels, die uns den Platz des Erkennens unter den übrigen menschlichen Betätigungen zeigen wird, kann vielleicht auch auf das Wesen der Erkenntnis neues Licht werfen. Der Gedankengang, der uns zur Lösung der Frage führen soll, muß notwendig auf biologischem Gebiete liegen. Denn allein von den Lebens- bedingungen und von der Organisation des Menschen hängt es ab, was ihm Lust bringt und welche Triebe sich in ihm entwickeln. Alle biologischen Entwicklungstheorien stimmen darin überein, daß bei der Evolution der Lebewesen in ihnen der Drang nach solchen Tätig- keiten sich verstärken muß, die die Erhaltung des Lebens der Individuen und der Gattung begünstigen, während Neigungen, die auf lebens- und gattungsfeindliche Tätigkeiten gerichtet sind, verkümmern und vergehen müssen. Daß der Erkenntnistrieb sich diesem Prinzip unterordnen läßt, kann keinem Zweifel unterliegen. Das Denken ist ursprünglich nur ein Werkzeug zur Selbstbehauptung des einzelnen und der Gattung, wie das Essen und Trinken, das Kämpfen und Liebeswerben. Wir müssen annehmen, daß jedes Tier, das Bewußtsein besitzt, auch zu Akten des Wiedererkennens befähigt ist. Es muß die Beute als Beute, den Feind als Feind auffassen, sonst kann es sein Verhalten der Umwelt nicht anpassen und muß zugrunde gehen. Hier liegt also sicherlich wenigstens die primitivste Art des Erkennens vor, das wahrnehmende. Wir haben 78 Das Wesen der Erkenntnis. es uns als einen Apperzeptionsprozeß vorzustellen, an den sich assoziativ die Angriffs- und Abwehrbewegungen des Tieres anschließen. Je kom- plizierter nun die Bedürfnisse und Lebensbedingungen eines Wesens sind, um so verwickelter müssen die Assoziationsprozesse werden, und es ist kein Zweifel, daß diese zunehmende Komplikation nichts anderes ist als die Entwicklung dessen, was wir Verstand oder Denkvermögen nennen. Denn so sehr sich auch schließlich die echten Urteilsakte von bloß assozia- tiven Vorstellungsverbindungen in ihrer erkenntnistheoretischen B e - deutung unterscheiden: als psychologische Prozesse wachsen die Ur- teilsvorgänge (die Denkakte im engeren Sinne) aus denen des Apper- zipierens und Assoziierens hervor, es besteht eine nahe Verwandtschaft zwischen ihnen '). Der Apparat des Urteilens und Schließens ermöglicht eine sehr viel weiter gehende Anpassung an die Umgebung als die automatische Asso- ziation je erreichen kann, die nur auf typische Fälle eingestellt ist. Das Tier stürzt sich auch dort auf seine Nahrung, wo es der Erhaltung seines Lebens gar nicht förderlich ist, wenn z. B. die Beute als Lockspeise in einer Falle angebracht war; der Mensch aber vermag Hinterhalt und Ge- fahr auch in der Verkleidung zu erkennen, er kann Fallen stellen und nicht nur die wilden Tiere, sondern jetzt sogar die unsichtbar kleinen Lebewesen überlisten, die das Leben seines Körpers von innen bedrohen. Um sich in der Natur zu behaupten, muß er sie beherrschen, und das ist nur möglich, wenn er überall in ihr Bekanntes wiederfindet. Denn könnte es dies nicht, vermöchte er das Neue und Ungewohnte nicht in Bekanntes aufzulösen, so stände er der Natur oft genug ratlos gegenüber, er würde falsch handeln, seine Zwecke nicht erreichen, weil er die Folgen seines eigenen Handelns und andere Ereignisse nicht richtig voraussähe. Da das Erkennen eines Gegenstandes darin besteht, daß man in ihm andere Gegenstände wiederfindet, so setzt uns die Erkenntnis (wenn nicht sonst praktische Hindernisse entgegenstehen) in den Stand, den Gegenstand durch Kombination jener anderen Gegenstände wirklich schöpferisch zu bilden, oder seine Bildung aus dem beobachteten Zusammentreten jener Momente vorauszusagen und Maßnahmen zu seiner Abwehr oder Nutz- barmachung zu treffen. Alles weiter ausschauende Handeln ist mithin ohne Erkenntnis nicht möglich. Daß alle Erkenntnis zunächst ganz allein dem Handeln diente, ist eine oft betonte, unzweifelhafte Wahrheit. Von den geometrischen Er- kenntnissen z. B. ist ja allgemein bekannt, und schon der Name lehrt es, daß sie anfänglich nur zu Zwecken der Landmeßkunst gesucht wurden; die ersten astronomischen Beobachtungen galten der Wahrsagerei, die ersten chemischen Untersuchungen hatten nur die Goldmacherei zum Ziel . . . und ähnliches gilt von allen anderen Disziplinen auch. Ja, auch ^) Das zeigt sehr hübsch J. Schultz: Die drei Welten der Erkenntnistheorie, Göttingen 1907. S. 32 f. und 76 f. Vom Wert der Erkenntnis. 79 heute noch stehen Wissenschaft und Praxis, das heißt, reine Erkenntnis und lebendiges Handeln, im allerinnigsten Verhältnis zueinander. Die Praxis gibt der reinen Forschung unaufhörlich neue Antriebe und stellt sie vor neue Probleme, und man kann sagen, daß auch in unseren Tagen noch neue Wissenschaften direkt aus den Bedürfnissen des Lebens ent- stehen. Aber ungleich größer noch ist die W^irkung in umgekehrter Rich- tung: die reine Wissenschaft zeigt dem Kampf um Erhaltung und Er- höhung des Daseins eine erstaunliche Fülle neuer Wege. Gerade solche Erkenntnisse, die nicht aus praktischen Forderungen entsprangen, sind für die Zwecke des Lebens von höchstem Nutzen geworden. Die gesamte moderne Kultur wird von Entdeckungen gespeist, bei deren Gewinnung niemand ihre Verwendbarkeit voraussehen konnte; Volta und Faraday dachten an keine Elektrotechnik; die grundlegenden Untersuchungen von Pasteur drehten sich um die theoretische Frage nach der Möglichkeit der Urzeugung, nicht um hygienische oder therapeutische Zwecke, für die sie von so ungeheurer Wichtigkeit werden sollten. Bei der Entdeckung des Radiums wußte niemand von der möglichen Anwendung seiner Strahlen zur Krebsbehandlung .... doch es ist nicht nötig, weitere Beispiele für so offenkundige Wahrheiten zu häufen. Dieser innige Zusammenhang zwischen Erkenntnis und praktischem Nutzen hat nun viele Denker zu der Meinung geführt, der Wert des Er- kennens bestehe, jetzt wie einst, überhaupt bloß in diesem Nutzen. Wissen- schaft, sagen sie, diene allein der praktischen Voraussicht, der Herrschaft über die Natur; nur hierin finde sie ihren Sinn und Wert. Die Forderung, Erkenntnis um ihrer selbst willen zu suchen, ganz ohne Rücksicht auf ihre Anwendung im Leben, fließe aus mißverstandenem Idealismus und bedeute in Wahrheit eine Entwertung der Wissenschaft ^). Sie geben zu, daß es besser sei, wenn der Forscher bei der Verfolgung seiner Erkenntnis- ziele gar nicht an die Praxis denke und nicht etwa mit der Absicht ans Werk gehe, bloß nützliche, verwendbare Wahrheiten zu finden; er solle vielmehr die Wahrheit erforschen, als ob sie selbst das Endziel wäre. Wie nämlich die Erfahrung lehrt, werden immer nur auf diesem Wege die großen Erkenntnisse gewonnen, die sich nachher so fruchtbar erweisen, und man würde sie niemals erlangt haben, wenn man von vornherein nur den Nutzen für den Menschen im Auge gehabt hätte. Es sei also zwar für die Menschheit nützlich, Wahrheit und reine Erkenntnis als letzten Zweck der Wissenschaft zu fingieren, in Wirklichkeit bilde aber doch nur der Nutzen das wahre Ziel des Erkennens, und nur er verleihe dem Wahr- heitsstreben die Daseinsberechtigung. Streben nach Erkenntnis ,,um ihrer selbst willen" sei ein bloßes Spiel, eine unwürdige Zeitverschwendung. Diese Ansicht übersieht einige Punkte, die für das Verständnis der menschlichen Geistesentwicklung gerade die wichtigsten sind. So gewiß der Verstand anfänglich nur ein Instrument der Lebenserhaltung war, so Vgl. z. B. Ostwald, Grundriß der Naturphilosophie. S. 22, 8o Das Wesen der Erkenntnis. sicher ist seine Tätigkeit heute nicht mehr bloß das, sondern selbst eine Quelle der Lust. Es ist ein allgemeiner, auch sonst wirksamer Natur- prozeß, der diesen Wandel hervorbringt: der Prozeß der Umwandlung der Mittel in Zwecke. Tätigkeiten nämlich, welche notwendige Mittel zur Erreichung bestimmter Zwecke bilden, deren Ausübung aber zunächst nicht unmittelbar mit Lust verknüpft ist, werden uns durch Gewöhnung allmählich so geläufig und vertraut, daß sie einen integrierenden Bestand- teil des Lebens ausmachen: schließlich geben wir uns ihnen auch ,,um ihrer selbst willen" hin, ohne einen Zweck damit zu verbinden oder zu erreichen; ihre Ausübung selbst bereitet uns Lust, sie sind aus Mitteln zu Zwecken geworden. Waren sie einst nur als Mittel wertvoll, so sind sie es jetzt an sich selber. Es gibt kaum eine Tätigkeit, deren Rolle im Leben nicht eine solche Umbildung erleiden könnte. Und wir haben alle Ursache, uns darüber zu freuen. Das Sprechen, zunächst ein Werkzeug der Mitteilung, wird zum Gesang; des Gehen, ursprünglich ein Mittel der Fortbewegung, wird zum Tanz; das Sehen wird zum Schauen, das Hören zum Lauschen, die Arbeit zum Spiel. Die spielenden Tätigkeiten aber sind die höchsten, sie allein befriedigen unmittelbar, während alles auf Zwecke gerichtetes und nur als Mittel dienendes Handeln — die Arbeit — ihren Wert erst aus dem Erfolg empfängt. Dieser Prozeß ^) der Umbildung von Mitteln zu Zwecken macht das Leben immer reicher, er läßt neue Triebe in uns entstehen und damit neue Möglichkeiten der Lust — Befriedigung von Trieben ist ja nur ein anderer Name der Lust. Er ist der Schöpfer des Schönheitstriebes, aus dem dann die Kunst entspringt, die bildende für das Schauen, die Musik für das Lauschen. Er ist auch der Schöpfer des Erkenntnistriebes, der die Wissenschaft erzeugt und das Gebäude der Wahrheit zur eigenen Freude aufführt, nicht mehr bloß als Wohnstätte der materiellen Kultur. Daß diese es nun dennoch meist wohnlich findet, kümmert ihn nicht. In schönen Worten ist derselbe Prozeß auch von Vaihinger beschrieben worden, der von der durch die Erkenntnis geschaffenen Vorstellungswelt sagt *) : ,,Die Wissenschaft macht diese Konstruktionen weiterhin zum Selbst- zweck und ist, wo sie dies tut, wo sie nicht mehr bloß der Ausbildung des Instrumentes dient, streng genommen ein Luxus, eine Leidenschaft. Alles Edle im Menschen hat aber einen ähnlichen Ursprung." Wer also leugnen wollte, daß die Erkenntnis der letzte Zweck des wissenschaft- lichen Strebens sei, der müßte auch die Kunst verdammen, und wenn wir ihm folgten, so würden wir das Leben jedes Inhaltes, jedes Reichtums berauben. Das Leben an sich ist ja überhaupt nicht wertvoll, sondern wird es nur durch seinen Inhalt, seine Lustfülle. Die Erkenntnis ist neben der Kunst und tausend anderen Dingen ein solcher Inhalt, ein Füllhorn *) Seine Bedeutung habe ich zu würdigen versucht in dem populären Buche „Lebensweisheit". München 1908. Vgl. auch Wundt's „Prinzip der Heterogonie der Zwecke". 2) Die Philosophie des Als Ob. 2. Aufl. S. 95- Vom Wert der Erkenntnis. der Lust; sie ist ein Instrument nicht nur zur Erhaltung, sondern auch zur Erfüllung des Lebens. Mögen auch die meisten Erkenntnisakte irgend- einen Nutzen, irgendetwas außer ihnen selbst zum Zweck haben: reine Wissenschaft ist nur dort, wo sie selber Zweck sind — alles andere Er- kennen ist Lebensklugkeit oder Technik. So gewiß wir das Leben um seiner Inhalte willen leben, so gewiß ist es nicht die volle Wahrheit, was der Satz Spencer's behauptet: ,, Science is for Life, not Life for Science". Eine nicht tief genug dringende biologische Betrachtung des Er- kenntnistriebes hat oft zu unklaren Ansichten über den Sinn der Wissen- schaft geführt, auch dort, wo man als deren Zweck keineswegs bloß die Selbstbehauptung des Lebens gelten ließ. Ich denke hier an das ,, Prinzip der Ökonomie des Denkens", das seinen Namen von E. Mach erhalten hat, dem Sinne nach sich aber ebenso bei Avenarius und anderen findet und bei vielen Vertretern der positivistischen Philosophie in der Gegen- wart eine große Rolle spielt. Die Urheber des Ökonomieprinzips wollen wohl nicht behaupten, daß alles Denken überhaupt nur den praktisch ökonomischen Zwecken des Lebens diene, und daß folglich auch die Wissen- schaft nur Mittel zu diesem Zwecke sei. Freilich sind besonders Mach's Äußerungen über die wahre Natur des Prinzips so unbestimmt, daß der scharfe Tadel, den es gelegentlich, z. B. durch Planck^), erfahren hat, nicht unberechtigt erscheint. Aber im allgemeinen wird es als ein Prinzip beschrieben, welches den psychologischen Vorgang des Denkens so regelt, daß sein Ziel mit möglichst geringer Anstrengung, auf möglichst unbeschwer- lichem Wege erreicht wird. Und die Aufgabe der Wissenschaft sei eben die Auffindung der kürzesten und leichtesten Wege, auf denen das Denken eine Zusammenfassung aller Erfahrungen in möglichst einfachen Formeln leisten könne, so daß ihm dabei alle überflüssige Arbeit erspart bleibe. Das so verstandene Ökonomieprinzip ist ganz gewiß nicht der richtige Ausdruck des Wesens der Wissenschaft. Ihm liegt ein richtiger Kern zugrunde, und dem Leser der vorhergehenden Kapitel kann es nicht zweifelhaft sein, worin er zu suchen ist: Das Erkennen besteht ja darin, die Dinge der Welt durch ein Minimum von Begriffen vollständig und eindeutig zu bezeichnen; mit einer möglichst geringen Anzahl von Grund- begriffen auszukommen — darin besteht die Ökonomie der Wissen- schaft. Zur Erreichung dieses Ziels aber ist dem Forscher keine Mühe zu groß, er muß dazu auf den mühsamsten Pfaden wandeln — es kann gar keine Rede davon sein, daß die Erkenntnis darauf zielte, unsere Denk- prozesse leichter und bequemer zu machen, uns geistige Arbeit zu er- sparen; sie fordert sie vielmehr in höchster Intensität. Die wahre Öko- nomie des Denkens (das Prinzip des Minimums der Begriffe) ist ein logisches Prinzip, es bezieht sich auf die Verhältnisse der Begriffe ^) M. Planck, Zur MACH'schen Theorie der ^phyt.ikalischen Erkenntnis. Viertel- jahrsschr. f. wiss. Phil. 1910. Bd. 34. S. 499 ff. Schlick, Erkenn taislöbre, 6 82 Das Wesen der Erkenntnis. zueinander; das AvENARius-MACH'sche Prinzip aber ist ein biologisch- psychologisches, es redet von unseren Vorstellungs- und Willensprozessen. Dieses ist ein Prinzip der Bequemlichkeit, der Faulheit — jenes aber ein Prinzip der Einheitlichkeit. Das Verfahren der Wissenschaft, obwohl, wie wir wissen, aus biolo- gischen Nötigungen ursprünglich hervorgegangen, bringt keineswegs Er- sparnis, sondern vielmehr reichliche Ausstreuung von Denkenergie mit sich. Es bedeutet durchaus keine Erleichterung für unser Denken, wenn es gezwungen wird, zur Bezeichnung aller Tatsachen der Welt nur ein Minimum von Begriffen zu verwenden, sondern es wird ihm außerordent- lich sauer. Gewiß ist die Zurückführung des einen auf das andere bis zu einem bestimmten Grade für das Leben nötig oder erleichternd, wie wir gesehen haben; über diesen Grad hinaus aber wird es zu einem schwierigen Spiel, das Geduld und Liebe erfordert, und dem bis jetzt doch nur eine Minderheit der Menschen Geschmack abgewinnt, denn in Wirklichkeit ist ja die Zahl derer noch nicht groß, die von einem starken Erkenntnistrieb beseelt sind. Der menschliche Geist arbeitet müheloser und findet sich in der Welt leichter zurecht mit einem verhältnismäßig reichen Schatz von Vorstellungen, auch wenn diese, durch Begriffe ersetzt, auf logischem Wege miteinander verbunden, auseinander abgeleitet und so vereinfacht werden könnten. Um mit vielen Vorstellungen zu arbeiten, bedarf es nur des Gedächtnisses, um aber dasselbe mit wenigen Elementarvorstellungen zu leisten, bedarf es des Scharfsinns, und wir wissen doch alle: mag auch das Gedächtnis unserer Mitmenschen sie oft im Stich lassen — viel lieber trauen wir doch ihm als ihrer Fähigkeit zur logischen Überlegung. Alle Praxis des Anlernens und Einübens zeigt das im täglichen Leben auf Schritt und Tritt. Welche Wissenschaften gelten doch der breiten Masse als die schwierigsten? Bekanntlich die mathematischen, obwohl doch in ihnen die logische Ökonomie am weitesten gediehen ist, da alle ihre Be- griffe aus ganz wenigen fundamentalen aufgebaut sind. In der Mathematik- stunde sind die meisten Schüler besser befähigt, die Formeln einzeln aus- wendig zu lernen, als sie auseinander abzuleiten. Kurz: Erleichterung des Denkvorgangs geschieht immer durch Übung, Gewöhnung, Assoziation, und das ist gerade das Gegenteil der logischen Verknüpfung, welche das Verfahren der Wissenschaft ausmacht. Man sieht, wie leicht infolge laxer Denk- und Ausdrucksweise ganz Entgegengesetztes miteinander verwechselt werden kann. Der Satz Mach's: ,,Die Wissenschaft kann daher selbst als eine Minimumaufgabe angesehen werden, welche darin besteht, möglichst vollständig die Tatsachen mit dem geringsten Gedankenaufwand darzustellen"^) ist richtig, wenn der ,, geringste Gedankenaufwand" logisch gedeutet wird als Minimum der Begriffe; aber er ist falsch, wenn derselbe Terminus psychologisch ver- standen wird als möglichste Kürze und Leichtigkeit der Vorstellungs ') E. Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung. 3. Aufl. 1907. S. 480. Vom Wert der Erkenntnis. 83 prozesse. Beides ist nicht dasselbe, sondern schließt sich bis zu einem gewissen Grade gegenseitig aus. Erkenntnis, sofern sie Wissenschaft ist, dient also nicht irgendwelchen anderen Lebensfunktionen. Sie ist nicht auf praktische Beherrschung der Natur gerichtet, obwohl sie hinterher oft auch dazu nützlich sein mag — sondern sie ist eine selbständige Funktion, deren Ausübung uns u n - mittelbar Freude bereitet, ein eigener, mit keinem andern vergleich- barer Weg zur Lust. Und in dieser Lust, mit der der Erkenntnistrieb das Leben des Forschenden füllt, besteht ihr Wert. Man hat zuweilen die Herrlichkeit der Erkenntnis noch zu erhöhen gemeint, indem man behauptete, sie sei ,,an sich" wertvoll, ganz unab- hängig davon, ob sie uns Lust bereite oder nicht, und würde selbst dann erstrebt werden müssen, wenn sie uns gar keine Freude machte. Wahrheit sei ein ,, absoluter" Wert. Eine Kritik dieser Lehre würde die Grenzen unserer Aufgabe hier überschreiten; ich will deshalb nur ohne Begründung meine feste Über- zeugung aussprechen, "daß die Behauptung von Werten an sich, die mit Lust und Unlust nichts zu tun hätten, mir eine der schlimmsten Irrlehren aller Philosophie zu sein scheint, weil sie in gewissen tiefst eingewurzelten Vorurteilen ihren Ursprung hat. Sie erhebt den Begriff des Wertes in luftige metaphysische Regionen und glaubt ihn dadurch zu erhöhen, während sie ihn in Wahrheit verflüchtigt und zu einem bloßen Worte macht. Wie das Gute, trotz allen Ethikern, nicht deshalb gut ist, weil es einen ,,Wert an sich" hat, sondern weil es Freude macht, so besteht auch der Wert der Erkenntnis ganz einfach darin, daß sie uns erfreut. 6* Zweiter Teil. Denkprobleme. 13. Der Zusammenhang der Erkenntnisse. Wissenschaft ist nicht eine bloße Ansammlung, sondern ein Z u - sammenhang von Wahrheiten. Das folgt aus dem Begriffe der Erkenntnis. Denn wenn man zwei Glieder so aufeinander zurückführt, daß ein dritter in beiden wieder- gefunden wird, so wird eben dadurch ein Zusammenhang zwischen ihnen geschaffen. Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, was mit dem zunächst ja bildlichen Ausdruck „Zusammenhang" hier gemeint ist. Zwei Urteile heißen einfach dann zusammenhängend, wenn in beiden ein und derselbe Begriff auftritt. Jedes der beiden Urteile bezeichnet eine Tatsache, beide zusammen also einen komplexen Tatbestand. Dieser letztere läßt sich nun häufig durch ein neues Urteil bezeichnen, in dem der den beiden ersten Urteilen gemeinsame Begriff nicht mehr vorkommt. Wir sagen dann, der neue Satz sei aus den beiden andern abgeleitet worden, und wir nennen ihn den Schlußsatz, während jene Vordersätze oder Prä- missen heißen. Die drei Urteile in ihrer Gesamtheit machen bekanntlich das Gebilde aus, das seit Aristoteles als Syllogismus bezeichnet wird. Es gibt keinen anderen Zusammenhang der Urteile unter sich als den Syllogismus. Das heißt, nur init seiner Hilfe ist es möglich, aus ge- gebenen Sätzen einen neuen Satz abzuleiten, so daß dieser stets wahr ist, wenn die Prämissen wahr sind. Die Schullogik hat bekanntlich neunzehn verschiedene Modi des Syllogismus aufgestellt, die sich auf vier ,, Figuren" verteilen, und sie betrachtet diese neunzehn gültigen Modi gleichsam als eine Auswahl aus 64 möglichen, von denen aber 45 ungültig sind, nämlich keinen Schluß erlauben, obwohl beide Prämissen einen gemeinsamen Begriff aufweisen. Die ^chullogik hat von ihrem Standpunkt aus mit diesen Bestimmungen ganz recht; für uns aber vereinfacht sich die Sachlage noch bedeutend, da wir für unsere Zwecke nur die wissenschaftlich vollgültigen Urteile in Betracht zu ziehen brauchen. Der Zusammenhang der Erkenntnisse. 85 In diesem Teile der Untersuchungen beschäftigen wir uns nämlich nur mit den Problemen, die erwachsen aus der Betrachtung des Zusammen- hangs der Urteile unter sich; es handelt sich also allein um die Be- ziehung von Zeichen zueinander, zunächst ohne Rücksicht auf das Be- zeichnete. Nur das gegenseitige Verhältnis der Wahrheiten zueinander interessiert uns hier, nicht ihre Bedeutung, nicht ihre ursprüngliche Her- kunft; wir nehmen also ein wissenschaftliches System in der Vollendung, nicht in der Entstehung an und betrachten nicht den stets mehr oder minder zufälligen Weg, auf welchem die Menschen zur Aufstellung der einzelnen Urteile gelangt sind, sondern die Abhängigkeiten, die im fertigen System der Wahrheiten zwischen ihnen bestehen. Halten wir dies mit unserer früheren Einsicht zusammen, daß den verneinenden Ur- teilen nur eine sekundäre Bedeutung zuzumessen ist ^), da sie ihr Dasein der Unvollkommenheit unseres Denkens verdanken und folglich in den vollendeten Teilen einer Wissenschaft keinen Platz finden, so ergibt sich, daß wir negative Urteile hier außer acht lassen können, und diejenigen Modi des Syllogismus, in denen solche Urteile auftreten, scheiden von unserer Betrachtung aus. Bei der praktischen Erkenntnisgewinnung spielen sie natürlich zum Teil eine Rolle, weil der Mensch nur durch Irrtum zur Wahrheit gelangt, im Reiche der gewonnenen Wahrheiten aber bedürfen wir ihrer nicht mehr. Es sind zwölf an der Zahl, und so bleiben für uns zunächst noch sieben Modi übrig. Ähnliches jedoch wie von den negativen Urteilen gilt auch von den partikulären, d. h. Urteilen der Form ,,Einige S sind P". So wichtig sie in der Praxis werden mögen, wissenschaftlich haben sie nur gleichsam eine vorläufige Bedeutung, und daher in einem strengen System keinen Platz. Diese Urteile subsumieren nämlich nur einen Teil der Gegenstände eines bestimmten Begriffes unter einem andern Begriff, und zwar so, daß sie unbestimmt lassen, welcher Teil der Gegenstände gemeint ist. In Wirklichkeit läßt sich aber ein partikuläres Urteil nur aufstellen, wenn wir tatsächlich solche S kennen, die P sind. Stets, auch in der Praxis, liegt die Quelle der Wahrheit eines partikulären Urteils in dem Wissen um ganz bestimmte S und muß sich bis zu diesen zurückverfolgen lassen. Es ist also nur eine unvollkommene Abkürzung für das Urteil ,,Si und S2 und S3 etc. sind P". Überall, wo die S nicht einzeln angebbar sind (wo man sie etwa vergessen hat oder fremden Aussagen vertraut), ist auch das Urteil nicht gewiß. Um seine Gültigkeit darzutun, muß man stets auf die einzelnen Gegenstände zurückgehen, die den Subjektbegriff ,, einige S" ausmachen, und damit ersetzt man eben das partikuläre Urteil durch ein allgemeines. An die Stelle etwa des Urteils ,, einige Metalle sind leichter als Wasser" tritt das andere: ,, Kalium, Natrium und Lithium sind leichter als Wasser"; und nur das letztere ist wissenschaftlich voll- wertig. _ • ^) Siehe oben S. 39. 86 Denkprobleme. Für unseren Zweck scheiden also auch die partikulären Urteile aus. Und da in sechs von unseren übrig gebliebenen sieben Modis solche Urteile vorkommen, so bleibt nur eine einzige Art des Syllogismus, welcher allein das wichtige Amt zufällt, den gegenseitigen Zusammenhang strenger Wahrheiten herzustellen, und auf die daher unsere Betrachtung sich be- schränkt: es ist der Modus ,, Barbara", welcher die Formel hat: Alle M sind P Alle S sind M Alle S sind P Man kann es als das Wesen dieses Schlußmodus bezeichnen, daß er die Subsumtion eines speziellen Falles unter einen allgemeinen Satz vollzieht. Die Wahrheit nämlich, die der Obersatz von allen M aus- spricht, wird durch unseren Syllogismus auf diejenigen besonderen M an- gewendet, welche S sind. Das Prinzip, nach welchem der Schluß erfolgt, ist das sog. dictum de omni; es besagt, daß ein Merkmal, das al le M besitzen, auch jedem einzelnen M zukommt. Schon J. Stuart Mill hat ganz richtig erkannt (Logic, book II, chap. 2, § 2), daß dieses Dictum weiter nichts ist, als eine Definition des Begriffes ,,omnis" (oder des Begriffes der Klasse). Daß die Verknüpfung aller Wahrheiten im System einer strengen Wissenschaft sich wirklich durch diese Schlußform darstellen läßt, lehrt jede Untersuchung derartiger Zusammenhänge. Zur Feststellung dieses Sachverhaltes bedarf es einer Untersuchung überhaupt nur deshalb, weil die wissenschaftlichen Deduktionen fast nie in der reinen syllogistischen Form, sondern verkürzt dargestellt werden; vor allem werden die Unter- sätze meist nicht besonders ausgesprochen, da sie aus dem Sinn heraus sich ohne weiteres ergänzen lassen und das geübte Denken über sie hinweg- zueilen pflegt. Als Beispiel eines strengen Zusammenhanges wissenschaft- licher Wahrheiten kommt natürlich in erster Linie wieder die Mathematik in Betracht. In ihr werden die einzelnen Sätze durch jene Prozesse mit- einander verknüpft, welche Beweisen und Rechnen heißen. Sie sind nichts anderes als ein Aneinanderreihen von Syllogismen im Modus Barbara. Alles Beweisen geht im Prinzip nach demselben Schema vor sich, und zwar hat es, an einem Beispiel erläutert, folgende Form: Jedes rechtwinklige Dreieck ist mit den und den Eigenschaften begabt ; Die Figur ABC ist ein rechtwinkliges Dreieck; ABC ist mit den und den Eigenschaften begabt. Der Obersatz gibt also eine allgemeine (ihrerseits aus noch allgemei- neren Sätzen bewiesene) Regel an, unter die der Syllogismus das besondere Subjekt des Untersatzes subsumiert. Die Richtigkeit des letzteren aber beruht entweder unmittelbar auf Definition (geometrisch gesprochen: auf Konstruktion), oder wiederum auf einem Beweis, der den Satz mittelbar auf die fundamentalen Definitionen (Axiome) der Geometrie zurückführt. Der Zusammenhang der Erkenntnisse. 87 Von solcher Art sind Hie geometrischen Beweisführungen. Mit Recht wendet sich Sigwart ^) dagegen, daß man als Typus des mathemati- schen Schließens so einfältige Syllogismen betrachte, wie etwa den: Das Parallelogramm ist ein Viereck, das Quadrat ist ein Parallelogramm; also ist das Quadrat ein Viereck. Mit Unrecht aber folgert er weiter *), die Obersätze der geometrischen Schlüsse könnten im allgemeinen nicht als Subsumtionsurteile aufgefaßt werden, und sie hätten nur scheinbar die Form des Modus Barbara. Er meint nämlich, die Geometrie habe es nicht bloß mit dem Unterordnungsverhältnis von Begriffen zu tun, sondern ,,gehe überall über die bloß begrifflichen Urteile hinaus", sie leite ihre Sätze ab ,,mit Hilfe irgendwoher hinzugenommener gesetzmäßiger Be- ziehungen" (dies ,, irgendwo" müßte offenbar die Anschauung sein), welche nicht in der Definition liegen. Hiergegen brauchen wir nur an frühere Ausführungen zu erinnern (oben Teil I, § 7). Wir sahen dort, daß im modernen strengen System der Geometrie eben nur diejenigen Beziehungen benutzt werden, die doch in der Definition liegen. Die Definition ihrer Grundbegriffe geschieht ja gerade durch jene Beziehungen. Und deshalb lassen sich die Gesetze von Relationen als Subordinationsverhältnisse von Begriffen darstellen und umgekehrt. Noch in älteren Anschauungen über das Wesen des mathematischen Denkens befangen, übersah Sigwart dies, indem er hervorhob, der geometrische Schluß laufe nicht fort an den Subsumtionsverhältnissen der Begriffe, sondern an Relationsverhält- nissen beides ist aber rein logisch-mathematisch ein und dasselbe, weil der strenge, reine Begriff eben nur ein Knotenpunkt von Bezie- hungen ist. Ganz Analoges wie für die Geometrie gilt auch, sogar noch offen- kundiger, für Arithmetik und Algebra. ,, Rechnen" ist nichts als ein Schließen auf Grund allgemeiner Lehrsätze ^). Es besteht im Prinzip darin, daß die obersten Prinzipien, welche die Axiome oder Definitionen der Arithmetik bilden und für alle Zahlen gültig sind, auf immer andere und andere besondere Zahlen angewendet werden (denn jeder arithmeti- sche Ausdruck ist schließlich nichts anderes als ein komplizierteres Zeichen für eine Zahl); und die so erhaltenen Sätze werden dann wieder auf be- liebige Zahlausdrücke angewandt usw. Das logische Schema des Rechnens (das in der Praxis natürlich nie in vollständiger Form dargestellt wird) würde demnach etwa so aussehen: Alle Zahlen sind diesem Satz unter- worfen; a, b . . . . sind Zahlen; a, b . . . sind diesem Satz unterworfen. Ein konkreteres Beispiel: Wir erhalten den Wert von (a + b + c)^, in- dem wir diesen Ausdruck als denjenigen Spezialfall des Ausdruckes (x + c)* betrachten, in welchem die Zahl x die besondere Form a -f b hat. Alles Rechnen ist ein Substituieren; Sustituieren aber heißt Sub- ^) Logik P. S. 482. Tübingen 1904. *) Ebenda. S. 483. *) Vgl. z. B. 0. Holder, Die Arithmetik in strenger Begründung (Programm- abhandlung der Philosophischen Fakultät zu Leipzig 1914). S. 7. 88 Denkprobleme. sumieren. Die beim Rechnen füreinander substituierten Glieder sind meist vollständig gleich, d. h. nur verschiedene Zeichen für ein und denselben Begriff; diese Substitution ist dann eine Subsumtion, in der beide Be- griffe denselben Umfang haben. Hier tritt also ganz klar zutage, daß der Zusammenhang der strengsten Erkenntnisse durch den Modus Barbara wiedergegeben werden kann. Da nun rein logisch genommen die strengen Schlüsse beliebiger anderer Wissen- schaften von den mathematischen sich nicht unterscheiden — denn es handelt sich ja bei der Betrachtung des Schließens nur um das Verhältnis der Begriffe zueinander, unbekümmert um etwaige anschauliche Gegen- stände, die durch sie bezeichnet werden — , so gilt von allen Wahrheiten, die exakt logisch zusammenhängen (sich auseinander ableiten lassen), daß ihre gegenseitige Verknüpfung sich durch Syllogismen und zwar im Modus Barbara darstellen lassen muß. Dies ist nun ein Resultat, das sich keiner allgemeinen Anerkennung bei den Denkern der Gegenwart erfreut. Man hat oft bestritten, daß der Syllogismus, und noch dazu in einer speziellen Form, das gesamte Gebiet alles strengen Schließens wirklich ganz allein beherrsche. Man hat sogar gemeint, die von Aristoteles geschaffene Syllogistik hänge mit der Meta- physik ihres Schöpfers so eng zusammen, daß sie eigentlich nur inner- halb ihrer ihr natürliches Anwendungsgebiet finde; die Logik der neueren Wissenschaft aber lasse sich ganz und gar nicht in solch enges Schema pressen, ihre Schlüsse, obwohl nicht minder streng, bewegten sich in freieren Bahnen als der Syllogismus, der nur eines, und vielleicht nicht das vollkommenste, unter anderen Werkzeugen des Schließens sei ^). Die Argumente, die von den Vertretern dieser Ansicht geltend ge- macht werden, brauchen wir hier nicht im einzelnen zu betrachten; die Prinzipien zu ihrer Widerlegung sind in unseren früheren Ausführungen vollständig enthalten. Um auf die moderne Wissenschaft anwendbar zu sein, bedarf nicht die aristotelische Schlußlehre einer Änderung oder Er- weiterung, sondern nur die Lehre vom Begriff bedarf einer Vertiefung, die sie ja auch in der Gegenwart erfahren hat und deren Darstellung ein Teil der vorhergehenden Erörterungen gewidmet war. Auch werden wir im nächsten Paragraphen auf einige hier hineinspielende Einzelheiten kurz eingehen müssen. Nur soviel sei hervorgehoben: alle Gründe, mit denen die Herrschaft des Syllogismus angegriffen wird, beweisen in Wirklich- keit nur, daß das lebendige Denken der Menschen sich nicht in regulären Syllogismen bewegt — und das ist eine unbestreitbare psychologische Tatsache — , sie beweisen aber nicht, daß die Darstellung eines absolut strengen Zusammenhanges von Wahrheiten, sofern sie eben schlechthin exakt und lückenlos sein soll, nicht immer erfolgen könne in syllogisti- scher Form. Und nur dies muß hier behauptet werden. Daß z. B. die tatsächliche Auffindung geometrischer Wahrheiten durchaus nicht not- ^) Siehe etwa A. Riehl, «Beilräge zur Logik. 1912. 2, Aufl. Abschnitt IV. Die analytische Natur des strengen Schließens. 89 wendig dem Schema Barbara folgen muß, ist wohl selbstverständlich; man kann sich ja dazu z. B. auch negativer Urteile bedienen (etwa beim so- genannten indirekten Beweis), aber unberührt bleibt davon der innere Zusammenhang, der die einzelnen Sätze ihrem Wesen nach miteinander verbindet, und um den sich die Untersuchung dreht. 14. Die analytische Natur des strengen Schließens. Je wichtiger und umfassender die Rolle ist, welche die syllogistische Form bei allem strengen Schließen spielt, desto empfindlicher wird das reine Denken von jeder Kritik getroffen, die etwa den eigentlichen Sinn und Nutzen dieser Art des Schließens angreift. Vielleicht liegt hierin das Motiv für manche der zuletzt erwähnten Bestrebungen, welche die exakten Schlüsse der Wissenschaften nicht unter der Botmäßigkeit des Syllogismus sehen möchten. Denn wohlbekannt ist ja das harte Urteil, das die Philo- sophie von jeher über den Wert dieses Schlußverfahrens für die mensch- liche Erkenntnis gefällt hat. In der Tat: genau dieselben Erwägungen, die uns soeben die Nutz- losigkeit der sog. partikulären Urteile für einen streng systematischen Zusammenhang erwiesen und uns den Modus Barbara als einziges Ver- knüpfungsprinzip aufzeigten, welches die absolut sichere Verkettung von Wahrheiten untereinander verbürgt — dieselben Erwägungen lehren uns zugleich, daß der Schlußsatz eines jeden Syllogismus niemals eine Er- kenntnis enthält, die nicht schon im Obersatz oder vielleicht sogar in beiden Prämissen des Schlusses als gültig vorausgesetzt wäre. Wie das partikuläre Urteil nur gefällt werden kann auf Grund gewisser allgemeiner Urteile, für die es nur eine unbestimmte Abkürzung bildet, so setzt der Obersatz eines Syllogismus zu seiner Gültigkeit notwendig bereits die Wahrheit des Urteils voraus, welches dann als Konklusion auftritt. Kurz: das Ganze ist ein Zirkelschluß. Betrachten wir nämlich den Schluß: Alle M sind P, alle S sind M; folglich: alle S sind P, so sind wir ja der Richtigkeit des Obersatzes nur dann gewiß, wenn wir uns überzeugt haben, daß wirklich sämtliche M ohne Ausnahme P sind; zu diesen M gehören aber laut Untersatz auch alle S, von ihnen müssen wir also bereits wissen, daß sie P sind, ehe wir die Gültigkeit des Obersatzes be- haupten dürfen. Damit wir also den Obersatz aufstellen können, muß uns schon bekannt sein, daß alle S sich durch den Begriff P bezeichnen lassen; der Schlußsatz, der nun eben S durch P bezeichnet, liefert mithin gar keine neue Bezeichnungsweise, also in bezug auf den Obersatz gar keine Erkenntnis. Damit ist gezeigt, daß der Syllogismus zwar immer die einzelnen Wahrheiten eines vollendeten Systems von Erkenntnissen miteinander verbindet, daß er aber nicht etwa ein Mittel ist, durch das neue Er- kenntnisse geschaffen werden könnten. Ihm fällt im Reiche des Erkennens nur eine verbindende und ordnende, keine schöpferische Funktion zu. 90 Denkprobleme. Das war nun bereits den antiken Skeptikern bekannt, und wir brauchten bei diesem Punkte kaum zu verweilen, wenn nicht manchmal auch in der Gegenwart dem exakten Schlußverfahren eine höhere Leistung zu- geschrieben würde als es zu vollbringen vermag. Die sichere Einsicht in seine wahre Leistungsfähigkeit ist aber für den weiteren Gang der Unter- suchungen wichtig genug, um eine strenge Prüfung der Prinzipien nötig zu machen, deren sich die Verteidigung des Syllogismus gegen die skepti- schen Einwände bedient. Manche Philosophen ^) führen die Verteidigung in der Weise, daß sie die große Bedeutung und Unentbehrlichkeit des Schlußverfahrens für die Praxis dartun. Sie haben durchaus recht; sofern aber ihre Argumente sich nur auf die praktische Brauchbarkeit des Schlusses beziehen, ohne Rücksicht auf die absolute Strenge seiner Gültigkeit, so kommen sie für unsere Frage gar nicht in Betracht, denn wenn wir die Frage aufwarfen, ob der Syllogismus neue Erkenntnis schaffen könne, so wollten wir natür- lich wissen, ob ihm die Bürgschaft für die Gültigkeit derselben innewohne, um die Frage nach der letzteren handelt es sich ja überhaupt bei jeder erkenntnistheoretischen Problemstellung. Wirklich fällt dem Syllogismus im Leben und in der Erfahrungswissenschaft meist nicht die Aufgabe zu, aus absolut gültigen Wahrheiten neue, völlig sichere abzuleiten; seine nützlichsten Anwendungen findet er vielmehr dort, wo die Wahrheit wenigstens der einen Prämisse noch gar nicht feststeht. Diese Prämisse ist dann gewöhnlich eine ,, Hypothese", während die Konklusion in einem an der Erfahrung prüfbaren Urteil besteht. Wird dieses Urteil dann wirk- lich durch die Erfahrung bestätigt, so darf darin eine Verifikation jener Hypothese erblickt werden, denn es ist ein Anzeichen dafür, daß in dem untersuchten Falle wenigstens der durch die Hypothese versuchten Zu- ordnung in der Tat Eindeutigkeit zukommt. Als es sich zum Beispiel darum handelte, die Wellennatur der Röntgenstrahlen zu erweisen, bildete man folgenden Syllogismus, in welchem der Untersatz von der zu veri- fizierenden Hypothese gebildet wird: Bei der Fortpflanzung von Wellen treten unter bestimmten Um- ständen Beugungen und Interferenzen auf; Röntgenstrahlen sind Fortpflanzung von Wellen; Bei Röntgenstrahlen treten unter bestimmten Umständen Beugungen und Interferenzen auf. Wir haben hier das Schema des Schlusses vor uns, nach dem überhaupt alle experimentellen Wissenschaften unaufhörlich verfahren. Hier dient also der Syllogismus durchaus nicht dazu, aus gültigen Sätzen eine neue Wahrheit abzuleiten, sondern er spielt nur die Rolle eines Leitfadens zur Aufsuchung von Erfahrungsinstanzen, die die Gültigkeit jenes Satzes erst stützen sollen. ') Siehe z. B. Wundt, Logik I«. S. 322. Die analytische Natur des strengen Schließens. 91 Anders liegt der Sachverhalt in dem berühmten Schulbeispiel, in welchem der Satz ,,Alle Menschen sind sterblich" auf ein noch lebendes Individuum angewandt wird. Hier ist der Schlußsatz wirklich das Ziel, um dessen willen wir den Syllogismus vollziehen — und das geschieht im Leben unzählige Male, wo immer wir mit dem Tode menschlicher Wesen rechnen und uns darauf vorbereiten. Aber die geringste Überlegung zeigt alsbald, daß in diesem Falle die Erkenntnis der Sterblichkeit eines noch Lebenden in keiner Weise durch den Syllogismus selber erst gewonnen wird, sondern dessen Obersatz setzt zweifellos die Gültigkeit des Schluß- satzes wiederum schon voraus (das pflegte man sich ja gerade an diesem Beispiel mit Vorliebe klar zu machen) ; vielmehr liegt der wahre Erkenntnis- fortschritt allein in dem Übergang von dem Satze ,,alle bisher gestorbenen Menschen sind sterblich" zu dem Satze ,,alle Menschen sind sterblich", und dieser Übergang ist ja bereits vor Aufstellung des Obersatzes voll- zogen; unser Schluß benutzt nur die vorher schon vom einzelnen zum allgemeinen geschlagene Brücke, um in entgegengesetzter Richtung dar- über zurückzuschreiten. Die Frage nach der Rechtmäßigkeit jenes Über- ganges von vielen zu allen Fällen bildet bekanntlich das Problem der Induktion. Dies Problem aber hat es nicht mit bloßen Verhältnissen von Begriffen zu tun, sondern es betrifft die Wirklichkeiten selber, die durch jene bezeichnet werden. Aus analogen Gründen ergibt sich auch, daß es vergeblich ist, wenn man den Erkenntniswert des Syllogismus dadurch zu retten sucht, daß man erklärt, er könne doch in d e n Fällen wirklich neue Erkenntnis be- gründen, wo der Sinn des allgemeinen Obersatzes nicht die Behauptung der Allgemeinheit der Zahl der Einzelfälle sei, sondern vielmehr die Behauptung der Notwendigkeit, in jedem Einzelfall mit dem Subjekt das Prädikat zu verknüpfen ^). Lautet z. B. in einem Syllogismus der Obersatz: ,, Jedes Ereignis hat eine Ursache", so möchte dieser Satz nicht bloß als Tatsache konstatieren, daß in jedem Fall, wo ein Ereignis statt- findet, auch eine Ursache dafür vorhanden ist, sondern er will behaupten, daß zu jedem Ereignis mit Notwendigkeit eine Ursache gehört. Gesetzt selbst, dies wäre richtig, so muß doch zweierlei dazu be- merkt werden. Erstens wird hier vorausgesetzt, daß wir Sätze der angegebenen Art kennen, deren Gültigkeit für uns absolut feststeht. Wir müßten also in unserem Bewußtsein unabhängig von der Erfahrung irgendwie eine sichere Garantie der Wahrheit solcher allgemeinen Sätze besitzen — die Erfahrung nämlich kann ja eine Bürgschaft dafür niemals geben, weil sie immer nur lehrt, was ist, niemals aber, was sein m u ß ^). Es wird mithin vorausgesetzt, daß es Wahrheiten gibt, die zu der vierten der in Teil I, § 10 unterschiedenen Gruppen von Grundsätzen gehören (siehe oben S. 63). Die Existenz derartiger verbürgt allgemeingültiger Wahr- ^) So SiGWART, Logik I^. S. 479, *) Kant, Prolegomena. § 14. 92 Denkprobleme. halten kann aber, wie schon gelegentlich angedeutet, nicht als über jeden Zweifel erhaben gelten, und wir schieben die Entscheidung darüber vor- läufig noch auf. Zweitens aber: Gesetzt selbst, es gäbe sichere Wahrheiten der gedachten Art, so zeigt doch die nähere Besinnung, daß auch in diesem Falle der Erkenntnisfortschritt nicht eigentlich dem Syllogismus zu danken wäre, sondern allein jenem Vermögen unseres Geistes, das uns die Bürgschaft für die Gültigkeit des Obersatzes gibt, der ja fertig in den Syllogismus eingeht. Dieses Vermögen würde gerade das leisten müssen, was im vorher besprochenen Falle die Induktion zu leisten hatte (doch müßte es sie insofern übertreffen, als es Gewißheit liefert, während die Induk- tion, wie allgemein anerkannt, nur Wahrscheinlichkeit gibt). Es bleibt stets die Tatsache unumstößlich bestehen, daß der Schlußsatz des Syllo- gismus niemals irgendwie hinausführt aus dem Umkreis der vom Ober- satz umschlossenen Wahrheiten. Der Obersatz sagt uns immer mehr (im Grenzfalle ebensoviel) als der Schlußsatz; was nämlich der letztere von irgendeinem besonderen Falle behauptet, das sagt jener als all- gemeine Wahrheit aus. Durch den Vollzug eines Syllogismus kann uns wohl deutlich werden, was alles in dem Obersatz liegt, nie aber können wir dadurch zu einer Erkenntnis gelangen, die nicht im Obersatz liegt und über ihn hinaus- geht. In der Tat, wenn wir etwa den Satz, daß jedes Ereignis eine Ur- sache habe, auf einen besonderen Vorgang anwenden und also behaupten, daß auch dieser ursächlich bedingt sei, so scheint uns diese Erkenntnis gar nicht neu und überraschend, obwohl jenes Ereignis vielleicht ganz neuartig und unvorhergesehen war, sondern wir ordnen das neue ohne Triumph und ohne Verwunderung in den Kausalsatz ein. In anderen Fällen kann es freilich eintreten, daß uns die Schluß- sätze syllogistischer Verfahrungsweisen, etwa die Resultate einer Rech- nung, doch in Erstaunen setzen und uns als unerwartete Erkenntnisse gegenübertreten — aber dadurch wird nur bewiesen, daß das Endergebnis in den Obersätzen psychologisch nicht mitgedacht war, das heißt aber nicht, daß es nicht logisch in ihm enthalten gewesen wäre, und nur auf das letztere kommt es hier ja an. Wir fragen nicht danach, was dieser oder jener weiß oder sich denkt, sondern ganz allein danach, wie die Urteile im Reich der Wahrheiten auseinander folgen und miteinander zu- sammenhängen. Auf wenigen Gebieten ist die Verschiedenheit des logisch-erkenntnis- theoretischen und des psychologischen Gesichtspunktes so oft außer acht gelassen worden wie bei der Frage nach dem Wert des deduktiven Schließens. Seinen psychologischen Wert in Frage zu stellen, wird niemandem ein- fallen. Selbstverständlich können wir auf syllogistischem Wege zu Wahr- heiten gelangen, die uns vorher unbekannt waren; aber daß wir uns ihrer nicht explizite bewußt gewesen, hindert nicht, daß sie nicht doch in den Prämissen logisch enthalten sind. Die Wahrheit, daß 113 eine Primzah Die analytische Natur des strengen Schließens. 93 ist, mag für den Schüler etwas Neues, nie vorher Gewußtes sein, dennoch läßt sie sich zweifellos aus den Definitionen der Begriffe ,, Primzahl" und ,,113" rein syllogistisch ableiten und ist logisch mit ihnen zugleich gegeben. Es handelt sich hier eben nur um die idealen Beziehungen zwischen Ur- teilen, nicht um die Verknüpfungen der Urteilsakte, die sie im Bewußt- sein vertreten und die natürlich reale Vorgänge sind. Der Unterschied beider Gesichtspunkte in dieser Frage wird noch deutlicher hervortreten, wenn wir uns nun der Betrachtung des wichtigsten Argumentes zuwenden, das zugunsten des Wertes deduktiver Schlüsse geltend gemacht wurde. Mehrere Denker (Bradley, Riehl, Störring) weisen nämlich auf eine Klasse von Schlüssen hin, welche folgende Form haben: a ist größer als b, b ist größer als c, folglich: a ist größer als c; oder: A ist rechts von B, C ist links von B, folglich: A ist rechts von C; und dergleichen. Hier, sagt z. B. einer jener Denker, enthält der Schluß- satz eine Wahrheit, die ,,in keiner der beiden Behauptungen der Prämissen gegeben" ist. ,,Es ist eine neue Bestimmung, die sich durchs Denken ergibt" ^). Denn wenn nur feststand, daß a größer als b, so ist damit über c scheinbar noch gar nichts gesagt, und in der zweiten Prämisse kommt wiederum a gar nicht vor; die Konklusion, die etwas über das Verhältnis von a zu c aussagt, ist mithin offenbar etwas völlig Neues. Es stellt sich aber heraus, daß diese Meinung bei näherer Analyse der betrachteten Schlußart nicht aufrecht erhalten werden kann. Die logische Struktur dieser Schlüsse ist nämlich komplizierter als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Man hat gemeint, diese Schlüsse seien gar keine Syllogismen, es fehle ihnen der Mittelbegriff, denn etwa die Begriffe ,, rechts von B" und ,, links von B", die Prädikate der Prämissen unseres obigen Beispiels, sind ja doch verschiedene Begriffe; es liege hier eine einfachere Schlußform als die syllogistische vor ^). Diese Klasse von Schlüssen aber verdankt offenbar ihren besonderen Charakter der eigen- tümlichen Natur der in ihnen auftretenden Ordnungsbegriffe wie ,, größer", ,, kleiner", ,, rechts von" usw., und jedes Urteil über das Wesen der Schlüsse muß uns so lange als verfrüht gelten, als es die Besonderheiten jener Rela- tionen nicht berücksichtigt. Im wirklichen Denken werden diese Relationen ja nun durch anschau- liche Bilder — meist wohl räumlicher Art — repräsentiert. Von den Tat- beständen beider Prämissen machen wir uns anschauliche Vorstellungen, wir vereinigen sie zu einer Gesamtvorstellung und lesen sodann aus ihr den Schlußsatz ab 3). Diese anschaulichen Vorgänge verlaufen nun sehr leicht und glatt und täuschen dadurch eine Einfachheit des Schlusses vor, die er logisch gar nicht besitzt. In dem psychologischen Appell an die An- schauung kann nicht der logische Grund seiner Gültigkeit gefunden werden. ^) Störring, Einführung in die Erkenntnistheorie. Leipzig 1909. S. 78. *) Riehl, Beiträge zur Logik^. S. 53. *) Die psychologischen Prozesse dabei beschreibt treffend Störring, Experimen- telle Untersuchungen über einfache Schlußprozesse. Arch. f. d. gcs. Psych. XI. S. 13. 94 Denkprobleme. In Wahrheit sind die fraglichen Schlüsse aber nichts anderes als ab- gekürzte Formulierungen regelrechter Syllogismen zusammengesetzter Natur. Der Schlußsatz folgt nämlich bei ihnen gar nicht unmittelbar und ohne weiteres aus den Prämissen, sondern erst unter Zuhilfenahme be- sonderer Prinzipien, die nicht für sich ausgesprochen werden, wohl aber in anschaulicher Verkleidung in die Vorstellungsprozesse eingehen und dabei unbeachtet bleiben. Diese Prinzipien werden aber geliefert von den Definitionen jener im Schlüsse benutzten Ordnungsbegriffe. Zur Erläuterung brauchen wir nur das Paradigma mit der Relation ,, größer als" zu betrachten, denn die verwandten Schlüsse lassen sich auf dies Schema reduzieren (,,A rechts von B" heißt z. B., der Abstand, den A von einer bestimmten Mittellinie hat, ist größer als der Ab- stand von B in bezug auf dieselbe Linie). Die Relationen größer und kleiner bestehen aber mit logischer Strenge nur zwischen Zahlen; sie lassen sich nur dort streng anwenden, wo meßbare Gegenstände mitein- ander verglichen werden und beziehen sich nicht auf die Gegenstände selbst, sondern auf ihre Maßzahlen. Jupiter ist größer als Mars heißt: die Zahl, welche die Länge des Jupiterdurchmessers in einer bestimmten Einheit mißt, ist größer als die entsprechende Zahl für den Mars, a, b, c in unserem früheren Beispiele müssen also Zahlen sein ^), sie müssen mithin allen denjenigen Bedingungen genügen, durch welche die Zahlen definiert sind, und dort liegen die Obersätze, die den Schluß ermöglichen. In der Tat enthält der Satz ,,a ist größer als b" viel mehr, als auf den ersten Blick der Fall zu sein scheint. Vermöge der Eigenschaften, welche den Zahlen und der Relation ,, größer als" zukommen, sagt er nämlich zugleich, daß a auch größer ist als sämtliche Zahlen, die kleiner als b sind. Die zweite Prämisse ,,b größer als c" (die gemäß der Defini- tion der Begriffe ,, größer" und , .kleiner" identisch ist mit dem Urteil ,,c kleiner als b") hebt nun aus diesen unendlich, vielen Zahlen die eine c heraus. Die Konklusion sagt uns also auch hier nichts Neues, sondern weniger als die erste Prämisse *). Wirklich ist also das Urteil ,,a größer *) Es ist höchst wichtig, zu bemerken, daß der Schluß wirklich nur von Zahlen immer streng gilt. Werden Gegenstände verglichen die im Prinzip nicht zahlmäßig meßbar sind, z. B. Empfindungen, so berechtigen die Prämissen nicht zu einem Schlüsse. Ich darf nicht schließen: weil Empfindung a stärker als Empfindung b, und b stärker als Empfindung c, so auch a stärker als c. Daß letzteres meist zutrifft, lehrt allein die Erfahrung, nicht der Schluß. Sind z. B. a und c nahezu gleiche Emp- findungen, so kann es eintreten, daß für uns die Urteile a = b und c = b beide richtig sind, während a und c deutlich als verschieden empfunden werden. Da straft also die Erfahrung den Schluß a = c Lügen. *) E. Dürr, der übrigens diese Klasse von Schlüssen in einer der obigen ganz analogen Weise behandelte (Erkenntnistheorie. Leipzig 1910. S. 68 ff.) ist dieser Er- kenntnis nahe gekommen, erreichte sie aber nicht, da er übersah, daß jene Schlüsse strengen Sinn nur für Zahlbegriffe haben. Er sagt (a. a. 0. S. 69): ,,In dem Be- griff von B liegt nicht, daß C rechts davon seinen Ort hat". Freihch nicht, wohl aber hegt im Begriff einer bestimmten Zahl (die erfahrungsgemäß den Ort von B an- gibt), daß sie größer ist als eine gewisse andere Zahl (von der die Erfahrung lehrte, daß es diejenige ist, die den Ort des Gegenstandes C bestimmt). Die analytische Natur des strengen Schließens. 95 als c" nur eine Teilwahrheit, die durch den Satz ,,a ist größer als b" mit umfaßt wird. Es ist Sache der Philosophie der Mathematik, diesen Sachverhalt aus den Axiomen der Arithmetik syllogistisch herzuleiten. Hier sei nur bemerkt, daß in den Axiomsystemen der Arithmetik nicht selten die ,, Beziehung größer als" einfach direkt definiert wird durch die Eigen- schaft cfer ,, Monotonie" oder ,,Transitivität". Man versteht aber unter einer transitiven Relation R eine solche, welche die Bedingung erfüllt, daß wenn aRb und bRc besteht, dann auch aRc gilt '). Man sieht, wie unter Benutzung dieser Definition als Obersatz unsere Schlüsse mit Leichtig- keit in die syllogistische Form übergeführt werden können. Natürlich kann man die Relation ,, größer" auch durch andere Eigenschaften defi- nieren; dann läßt sich die Transitivität eben aus diesen syllogistisch ab- leiten. In der Praxis des Denkens fallen dergleichen logische Erwägungen natürlich ganz fort, wir lesen alles einfach aus der Anschauung ab; und das ist kein Wunder, denn alle unsere Definitionen sind eben so aufgestellt, daß sie dem anschaulichen Vorstellen parallel laufen, weil sie doch schließ- lich immer der Bezeichnung des Anschaulichen durch Begriffe dienen sollen. Hier jedoch, wo wir um der absoluten Strenge willen das Wesen der Be- griffe nur in den Beziehungen erblicken dürfen, in denen sie zueinander stehen, betrachten wir die Begriffe unabhängig von ihren Zwecken, un- abhängig von den Anschauungen, ■ — und da wird dann die besprochene Schlußart, die in der Anschauung unmittelbar einleuchtet, zu einem regelrechten syllogistischen Gebilde, zu einem Schluß aus umfassenden allgemeinen Sätzen. Da diese Sätze bloß die Definitionen der in den ,, Prämissen" auftretenden Begriffe sind, so sind sie in Wahrheit die Ober- sätze, aus denen geschlossen wird, und sie können nicht (wie Riehl 2) meint) aufgefaßt werden als Prinzipien, nach denen der Schluß erfolgt. Das Prinzip, nach welchem geschlossen wird, ist bei allen Schlüssen ein und dasselbe, nämlich die Substitution, und es gibt kein anderes. Eine strenge Folge hiervon ist es, daß in jedem Schlüsse die Kon- klusion bereits in einer Prämisse enthalten ist und daher keine neue Er- kenntnis bedeutet. Der Tatbestand, den der Schlußsatz bezeichnet, ist vollständig enthalten in dem Tatbestand, dem der Obersatz zugeordnet ist, und der Untersatz hebt aus ihm nur hervor, was für die Konklusion in Betracht kommt, lenkt unsere Aufmerksamkeit auf das vielleicht vorher nicht Beachtete und verleiht so dem Schlüsse seinen psychologischen Wert. Dieses Ergebnis mußte hier in etwas umständlicher Weise gegen philosophische Angriffe sichergestellt werden, aber nach allem, was wir ^) Dies die Schreibweise von B. Russell, The principles of mathematics. Cam- bridge 1903. *) Beiträge zur Logik^. S. 53. 96 Dcnkprobleme. über die wahre Natur der Urteile und Begriffe wissen, kommt es uns nicht überraschend, sondern erscheint ganz natürlich. Wie sollte auch aus dem Kombinieren von Urteilen irgendetwas hervorgehen, das in ihnen nicht von vornherein enthalten war? Begriffe und Urteile sind ja nicht, wie wirkliche Dinge, plastische Gebilde, die sich entfalten und entwickeln und neues aus sich hervorbringen können, sondern es sind starre Zeichen, Fiktionen, die niemals andere Eigenschaften haben als die ihnen durch Definition beigelegt wurden. Wir mögen Begriffe und Urteile verketten und zusammenfügen wie wir wollen: wir. gelangen dadurch vielleicht zu neuen Begriffsbildungen ^), niemals aber zu neuer Erkenntnis. Das reine Denken also, das heißt, alles Schließen, das bloß auf den gegenseitigen Verhältnissen der Begriffe zueinander beruht und keine Rücksicht nimmt auf anschauliche Wirklichkeiten, dieses reine Denken kann niemals eine Quelle eigentlicher Erkenntnis sein. Seine Leistung besteht allein darin, das in den Obersätzen Enthaltene auseinander zu legen, das von ihnen vereint Umfaßte aufzulösen. Darum sagen wir: alles strenge, alles deduktive Schließen ist analytischer Natur. Wo immer die Wissenschaft rein deduktiv verfährt, tut sie nichts anderes als daß sie analytisch das entwickelt, was in ihren allgemeinen Sätzen enthalten ist. Der Ursprung dieser allgemeinen Sätze ist in den verschiedenen Disziplinen verschieden. In den reinen Begriffswissen- schaften, wie der Arithmetik, haben sie alle definitorischen Charakter, in den Realwissenschaften aber müssen unter ihnen auch Erfahrungssätze sein. Zur Deduktion, zum strengen Schließen selber, braucht man natür- lich keine Erfahrung mehr, denn zur Gewinnung des Schlußsatzes sind ja nur die Vordersätze erforderlich, er steckt in ihnen und braucht durch die Analyse nur hervorgeholt zu werden. Die Analyse ist also ihrer Natur nach immer a priori, das heißt, sie steht in logischer Unabhängigkeit von der Erfahrung. Dem deduktiven, syllogistischen Schließen steht gegenüber das i n - d u k t i v e. Es verfährt nicht zergliedernd, analytisch, sondern auf- bauend, synthetisch. Aber es ist kein strenges Schließen, es hat keine apodiktische Gültigkeit. Über sein Verhältnis zur Erfahrung kann hier noch nichts ausgemacht werden, denn die Untersuchung der Induktion ist, wie schon bemerkt (siehe oben S. 91), keine bloße Denkfrage, sondern gehört zu den Wirklichkeitsproblemen. Bei dieser Gelegenheit seien für mehrfach schon benutzte Begriffe einige weitere Bezeichnungen eingeführt und erörtert, die in der philo- sophischen Terminologie gebräuchlich sind, die wir aber bisher vermieden haben, um gewisse Vorurteile fern zu halten, die sich mit so oft verwen- deten Namen verbinden könnten und die unparteiische Auffassung des Anfangs unserer Untersuchungen vielleicht gestört hätten. ^) Z. B. bedeutet die Erschließung „neuer" Gebiete in der reinen Mathematik nur die Bildung neuer Begriffskombinationen. Die analytische Natur des strengen Schließens. 97 Wie analytische Schlüsse, so gibt es auch analytische Urteile. Dar- unter sind solche zu verstehen, die einem Subjekt ein Prädikat beilegen, das in dem Begriff des Subjekts bereits enthalten ist. Es ist in ihm ent- halten, kann nur heißen: es gehört zu seiner Definition. Der Tatbestand, den ein analytisches Urteil bezeichnet, ist also stets in einer Definition gegeben. Der Grund für die Wahrheit eines analytischen Urteils liegt daher immer allein im Begriff des Subjekts, in seiner Definition, nicht in irgendwelchen Erfahrungen Analytische Urteile sind also stets a priori. Hat man etwa (dies ist das klassische Beispiel Kant's) den Be- griff des Körpers so definiert, daß die räumliche Ausdehnung zu seinen Merkmalen gehört, so ist das Urteil ,,alle Körper sind ausgedehnt" ana- lytisch. Es ist auch eo ipso a priori, gründet sich auf keine Erfahrung, denn keine Erfahrung kann mir Körper zeigen, die nicht ausgedehnt wären; wo ich nämlich in der Erfahrung etwas Unausgedehntes antreffe, darf ich es eben nicht als Körper bezeichnen, weil ich sonst der Defini- tion des Körpers widersprechen würde. Deshalb kann man auch mit Kant sagen, analytische Urteile beruhen auf dem Satze des Wider- spruches, sie leiten sich mit Hilfe dieses Satzes aus den Definitionen ab. Den Gegensatz zu den analytischen bilden die synthetischen Urteile. Ein Urteil ist synthetisch, wenn es von einem Gegenstande ein Prädikat aussagt, das nicht schon im Begriffe dieses Gegenstandes defini- tionsgemäß enthalten ist. Es geht über den Begriff hinaus, es ist ein Er- weiterungsurteil, während die analytischen Urteile nur Erläuterungs- urteile sind. Hiernach ist (um wieder Kant's Beispiel anzuführen) der Satz ,,alle Körper sind schwer" synthetisch, denn das Merkmal der Schwere, der gegenseitigen Anziehung, gehört nicht zu dem Begriff des Körpers, wie er gewöhnlich verwendet wird. Hätte man aber die Eigenschaft der Schwere in die Definition des ,, Körpers" mitaufgenommen (dann würde also ein gewichtloses Naturobjekt, wenn die Erfahrung uns dergleichen zeigen sollte, kein Körper sein), so hätten wir natürlich ein analytisches Urteil vor uns. Man könnte hiernach versucht sein zu denken, der Unterschied zwischen analytischen und synthetischen Urteilen sei fließend und hin- fällig, weil ja ein und dasselbe Urteil sowohl synthetisch wie analytisch sei, je nachdem, was man in dem Subjektsbegriff mitdenke. Aber diese Meinung übersieht, daß in den beiden Fällen das Urteil in Wahrheit gar nicht dasselbe ist. War in dem Satze ,,alle Körper sind schwer" der Begriff des Körpers einmal so definiert, daß die Schwere zu seinen Merk- malen gehört, das andere Mal aber nicht, so enthält der Satz wohl beide Male dieselben Worte, bezeichnet aber zwei verschiedene Urteile, denn der Subjektsbegriff ist ja in beiden verschieden, weil das Wort Körper in jedem eine andere Bedeutung hat. Schon oben (S. 44) wurde aus- geführt, daß ein und derselbe sprachliche Satz sowohl eine Definition wie eine Erkenntnis ausdrücken kann. Das hängt eben davon ab, welche Begriffe man sich bei den Worten denkt. Die Einteilung der Urteile in ana- Schlick, E rkenntnislehre. 7 98 Denkprobleme. lytische und synthetische ist also eine vöUig scharfe und objektiv gültig und hängt nicht etwa vom subjektiven Standpunkt und der Auffassungs weise des Urteilenden ab. Das ist so einleuchtend, daß ich es gar nicht erwähnt hätte, wenn nicht auch in der Literatur gewisse Mißverständnisse dieses Punktes zu finden wären '), die sich dadurch erklären, daß man nicht streng genug daran festhielt, Wesen und Inhalt eines Begriffes ganz allein durch die in ihn aufgenommenen Merkmale bestimmt zu sehen. Hier sei, obwohl es eigentlich selbstverständlich ist, wegen der Wichtig- keit der Sache doch noch besonders betont, daß die Definitionen zu den analytischen Urteilen zu rechnen sind, denn sie geben uns ja nur die Merkmale an, die zu einem Begriff gehören. Mit einem gewissen Recht kann man natürlich sagen, daß die Definition eine Synthese vollziehe, weil sie verschiedene Merkmale zu einem Begriff zusammensetzt; aber dadurch wird sie nicht zu einem synthetischen Urteil, denn sie fügt zu dem Begriff kein außerhalb seiner liegendes Merkmal hinzu. Das syntheti- sche Urteil, so können wir sagen, bezeichnet die Vereinigung von Gegen- ständen zu einem Tatbestand, die Definition dagegen die Vereinigung von Merkmalen zu einem Begriff. Fast alle Urteile, die im täglichen Leben den Inhalt unseres Sprechens und Denkens bilden, sind synthetisch. Wenn ich sage: ,, Antwerpen wurde von den Deutschen erobert" oder ,, heute gibt es Fisch zum Mittagessen oder ,,mein Freund lebt in Berlin" oder ,,der Schmelzpunkt des Bleis ist niedriger als der des Eisens", so sind alles dies offenkundig syntheti- sche Sätze. Zwar möchte über die Definitionen mancher in diesen Urteilen auftretenden Begriffe, wie etwa ,, Antwerpen" oder ,,Blei", schwerlich Einigkeit herrschen, aber es geht doch aus dem ganzen Zusammenhang, in dem wir dergleichen Sätze aussprechen, unzweideutig hervor, daß ihre Prädikate eben n i c h t zu den Merkmalen ihrer Subjektsbegriffe gehören, und das allein genügt ja zur Entscheidung über den Charakter der Urteile. Zugleich sehen wir, daß die hier als Beispiele benutzten Urteile sämt- lich Erfahrungstatsachen bezeichnen; der Grund ihrer Gültigkeit liegt in der Erfahrung, sie sind aposterior i. Außer den analytischen Urteilen, die co ipso stets apriorisch sind, und den synthetischen Urteilen a posteriori ist nun noch eine dritte Klasse von Urteilen denkbar, nämlich synthetische Urteile a priori. Ein solches Urteil, wenn es dergleichen gibt, würde behaupten, daß einem Gegen- *) So bei Dürr (Erkenntnistheorie S. 8i), weicher die besprochene Unterschei- dung verwirft, ,,weil ein und dasselbe Urteil oft in der doppelten Weise vollzogen werden kann, daß der Subjektsbegriff bereits mit oder daß er ohne den Prädikats- begriff gedacht wird". Wer aber im Subjektsbegriff den Prädikatsbegriff bereits mit- denkt, der denkt eben einen andern Subjektsbegriff, als wenn er ihn nicht mitdächte. Der Begriff ist in beiden Fällen verschieden, auch wenn der durch ihn bezeichnete Gegenstand derselbe sein soUte. Auch Th. Ziehen (Erkenntnistheorie S. 408 ff., 559 ff. 1913) sucht die logische Unterscheidung psychologisch aufzufassen. Skeptische Betrachtung der Analyse. 99 Stande ein im Begriffe dieses Gegenstandes nicht enthaltenes Prädikat stets zukomme, ohne doch den Grund zu dieser Behauptung der Erfah- rung zu entnehmen. Oder, anders ausgedrückt: der Tatbestand, den ein solches Urteil bezeichnet, ist die Zusammengehörigkeit bestimmter — nicht etwa schon durch Definition vereinter — Gegenstände (z. B. eines Ereignisses und seiner Ursache), aber was uns dieser Zusammen- gehörigkeit als einer Tatsache versichert, ist nicht die Erfahrung. Auf den ersten Blick scheint es unmöglich zu sein, daß synthetische Urteile sollten a priori gefällt werden können, denn was in aller Welt sollte uns über die Zusammengehörigkeit von Gegenständen belehren können, außer der Erfahrung, da uns doch die Gegenstände selber, die hier in Betracht kommen, allein durch die anschauliche Erfahrung gegeben sind.-* Die Auflösung dieser Frage bildet bekanntlich das große Problem Kant's. Die tatsächliche Existenz der fraglichen Urteile sah er als fest- stehend an und bemühte sich nur um die Erklärung ihrer Möglichkeit. Wir aber müssen, wie schon früher angedeutet, noch einmal die Annahme nachprüfen, ob es wirklich synthetische Urteile gibt, die a priori gültig sind. Da allein die apriorischen Urteile strenge, allgemeingültige Erkenntnis liefern (denn die aposteriorischen gelten ja immer nur für die einzelnen Erfahrungstatsachen, die sie bezeichnen), und da die analytischen uns nur über Begriffsverhältnisse, nicht über Wirklichkeiten belehren, so ist die Frage nach der Existenz der synthetischen Urteile a priori gleich- bedeutend mit der, ob es eine apodiktische Erkenntnis wirklicher Gegen- stände gibt. Nur die Betrachtung der analytischen Urteile ist ein reines Denkproblem, weil sie sich bloß auf die Beziehungen der Begriffe zu- einander gründen; die Untersuchung der synthetischen Urteile dagegen, _ die ja auf den gegenseitigen Beziehungen realer Objekte beruhen ^), ge- hört zu den Wirklichkeitsproblemen und muß einem späteren Teil unserer Arbeit vorbehalten bleiben. Mit Sicherheit hat sich uns aber bis jetzt ergeben, daß wir durch strenges Schließen jedenfalls keine wirklich neuen Erkenntnisse gewinnen. Es dient nur dazu, bereits gewonnene Erkenntnisse zu analysieren, das heißt, sie auf die von ihnen umfaßten speziellen Fälle anzuwenden. 15. Skeptische Betrachtung der Analyse. Die Ergebnisse des analytischen Urteilens und Schließens haben apodiktische Geltung. Die Konklusion des Syllogismus ist aus den Prä- missen abgeleitet, das analytische Urteil aus der Definition des Subjekt- begriffes. Und sofern diese Ableitung nach den einfachen Regeln der formalen Logik geschieht, ist das Ergebnis absolut richtig, das heißt, es ^) Kant drückt das so aus: ,,Im analytischen Urteil geht das Prädikat eigent- lich auf den Begriff, im synthetischen auf das Objekt des Begriffs, weil das Prädikat im Begriffe nicht enthalten ist." Denkprobleme. Stimmt mit den Voraussetzungen überein, aus denen es gefolgert wurde. Es muß richtig sein aus dem einfachen Grunde, weil es gar nichts anderes sagt, als eben diese Voraussetzungen; es sagt dasselbe, was schon in jenen enthalten war. Deshalb sind die analytischen Urteile und Schlüsse als solche kein erkenntnistheoretisches Problem. Die Leistungen der Analyse scheinen jenem kleinen Reiche des absolut Gewissen anzugehören, das für jeden Zweifel schlechthin unangreifbar ist und das die festen Stützpunkte ent- hält, deren jede Philosophie bedarf, um nicht haltlos im Leeren zu schweben. Aber ein zum äußersten entschlossener Skeptizismus vermag selbst an dem analytischen Verfahren noch Punkte zu entdecken, die er mit Aussicht auf Erfolg angreifen kann. Er würde sagen: Mag es mit den Verhältnissen der Urteile und Begriffe stehen wie es will, — das sind Fik- tionen, ideale Gebilde, nicht Wirklichkeiten, die im Bewußtsein aufweisbar sind. Reale Prozesse des Bewußtseins sind aber letzten Endes das einzige, was uns bekannt und gegeben ist. Alle begrifflichen Verhältnisse sind uns nur in ihrer Repräsentation durch Bewußtseinsvorgänge zugänglich; mögen jene noch so bestimmt und sicher sein: was nützt uns das, wenn die realen Prozesse es nicht sind, die ihnen parallel gehen sollen und die wir allein kennen.!* So ist zwar nicht die Deduktion selber dem Angriff des Zweifels preisgeben, wohl aber die Abfolge der psychischen Prozesse, als welche jede Deduktion sich im Denken darstellt, und praktisch kommt das natürlich auf dasselbe heraus. Wir sind ja eben wirkliche Wesen, nicht Begriffe. Es gibt in unserem Bewußtsein keine vollkommen scharfen Prozesse, ebensowenig wie es etwa in der Natur einen vollkommen kugelförmigen Körper gibt, und im Prinzip kann bezweifelt werden, ob solche ver- schwommenen Prozesse zu absolut genauen Resultaten führen. Können wir die in der Deduktion stattfindende Analyse völlig einwandfrei voll- ziehen? Der Idiot und das ungeübte Kind sind nicht imstande, einen logischen Satz auf seine Richtigkeit zu prüfen oder das einfachste Rechen- exempel zu lösen. Nun bestehen aber zwischen dem erwachsenen Menschen, dem Kinde und dem Idioten keine scharfen Unterschiede, sondern nur allmähliche Übergänge; selbst der Intelligenteste ist schließlich schon bei kürzeren Deduktionen dem Irrtum unterworfen, kein noch so glänzender Mathematiker kann dafür bürgen, daß er sich bei einer Addition nicht einmal verrechnet. Wohl muß mit Notwendigkeit von einem Begriffe alles das gelten, was ihm vermöge seiner Definition zukommt, aber sind wir sicher, daß wir diese Definition auch nur eine kurze Zeit lang im Gedächtnis behalten können, daß nicht infolge irgendeines teuflischen Tricks unseres Bewußtseins während der kurzen Zeit, die wir ja zu jeder Analyse nötig haben, unvermerkt ein etwas verschiedener Begriff sich einschleicht an Stelle desjenigen, den wir analysieren wollten? Skeptische Betrachtung der Analyse. loi Wir wissen, daß dergleichen vorkommt. Wissen wir aber auch mit absoluter Gewißheit, daß es Fälle gibt, in denen solche Vertauschung oder Änderung schlechthin ausgeschlossen« ist.? Es scheint keine Gewähr dafür zu geben, die nicht selbst in irgendeinem, wenn auch noch so ge- ringem Grade unsicher wäre. Wir sagten, ein analytisch gewonnenes Resultat sei apodiktisch richtig, weil ja sein Inhalt ganz derselbe ist wie der Inhalt der Voraussetzungen, aus denen es deduziert wurde — aber es genügt ja nicht, daß der Inhalt derselbe ist, sondern wir müssen ihn auch als denselben wiedererkennen, und Wiedererkennungsakte sind eben prinzipiell nicht über jeden Zweifel erhaben, weil sie ein Behalten und Vergleichen von Voi Stellungen erfordern, die im Bewußtsein stets schwan- kend und unscharf begrenzt sind. In der Praxis versichern wir uns gegen alle Fehler, die durch mangel- haftes Funktionieren des psychischen Apparates entstehen könnten, durch Verifikations prozesse. Nach der Lösung eines Rechenexempels z. B. machen wir eine Probe, oder wir wiederholen die Rechnung noch einmal, oder wir lassen sie von jemand anders wiederholen, und wenn das Resultat mit dem zuerst erhaltenen übereinstimmt, geben wir uns zufrieden und halten es für richtig. Wir nehmen dabei mit Recht an, daß gerade wegen der Ungleichmäßigkeit der psychischen Prozesse bei jeder Prüfung oder Wiederholung nicht immer genau derselbe Irrtum be- gangen wird und betrachten daher das Fehlen von Abweichungen als Bestätigung der Richtigkeit. Das ist ja alles höchst wahrscheinlich — aber woher sollen wir die Gewißheit nehmen, daß es sich so verhält? So können wir an aller Gewißheit zweifeln. Aber wenn wir es auch können, so ist damit noch nicht gesagt, daß wir es auch wirklich tun. Wir wissen sogar, daß niemand solche Zweifel ernstlich hegt, und auch der Philosoph, der ihnen gelegentlich Ausdruck verleiht, schenkt ihnen doch im innersten Herzen keinen Glauben. Es ist aber für uns ganz gleichgültig, ob jemand derlei Zweifel in Wahrheit hegt oder nicht . . . wichtig ist allein, daß die Möglichkeit zum Zweifeln vorliegt; wir müssen sie anerkennen und mit ihr rechnen. Und nicht irgendeine müßige Neugierde treibt uns, solchen Zweifeln nachzuspüren, nicht ein Gefallen an paradoxen und extremen Positionen, nicht um des Zweifels willen zweifeln wir, sondern weil wir hoffen dürfen dadurch Blicke in die Tiefe des menschlichen Bewußtseins zu tun, die uns zur Lösung der großen Erkenntnisfragen verhelfen können. So hat Descartes sich den metho- dischen Zweifel zunutze gemacht, und so ähnlich ist Hume verfahren, als er sich gelegentlich in Betrachtungen ^) erging, die den soeben an- gestellten ähneln. Wenn wir mit solchen Gedanken auf dem höchsten unübersteigbaren Gipfel der Skepsis stehen, so überkommt uns wohl ein Schauder, eine intellektuelle Angst, wir werden von einem Schwindel ergriffen, denn wir ^) Treatise of human nature, book I, part IV, section I. Denkprobleme. blicken in einen Abgrund, der bodenlos erscheint. Hier ist ein Punkt, an dem die Wege der Erkenntnistheorie, der Psychologie und — wie ich getrost hinzufügen will — der Metaphysik zusammentreffen und plötz- lich abbrechen. Es kann uns keine Befriedigung geben, in diesen Ab- grund des Zweifels und der Unsicherheit geschaut zu haben und an seinem Rande wieder Kehrt zu machen, um uns unbewegt in das Land des ge- sunden Menschenverstandes zurückzuwenden; wir können uns nicht be- ruhigen bei dem Gedanken, daß solche Zweifel unfruchtbar sind, und daß die Wissenschaften trotz ihrer ein fest gegründetes Dasein haben. Wir wollen nicht in das Licht der Wissenschaft wieder hinaufsteigen, bevor wir nicht die letzten Tiefen des erkennenden Bewußtseins durchmessen haben, denn die Theorie der Erkenntnis ist nicht in der günstigen Lage der Einzelwissenschaften, die die Prüfung ihrer Grundlagen einer all- gemeineren Disziplin überlassen können; sie hat es eben mit den letzten Voraussetzungen aller Gewißheit zu tun. Den universalen Zweifel kann man nur zu überwinden hoffen, wenn man der Schwierigkeit ohne alle Verhüllung ruhig ins Auge sieht. Die meisten Philosophen zerhauen den hinderlichen gordischen Knoten mit dem Schwerte der ,, Evidenz". Sie sagen etwa folgendes: habe ich eine Wahrheit richtig erkannt, habe ich z. B. herausgerechnet, daß 2 . 3 ~= 6 ist, so wird mir die Richtigkeit eines jeden Schrittes der Rech- nung, wenn ich ihn genau ansehe, durch eine unmittelbar erlebte Evi- denz garantiert; ich weiß, mit Descartes zu reden, clare et distincte, daß ich keinen Fehler gemacht habe, und das gilt trotz der relativen Unscharfe, die allen psychischen Prozessen anhaftet. Dieser Evidenz muß ich vertrauen, oder überhaupt aufhören zu denken. Diese Wendung, die dem Problem von zahlreichen Denkern gegeben wird, kann, scheint mir, nicht befriedigen. Denn so, wie hier von Evidenz die Rede ist, stellt sie nichts dar als ein Wort für die Forderung, an diesem Punkte mit dem Zweifel Halt zu machen. Durch dies Wort werden Bedenken niedergeschlagen, nicht versöhnt. Eben infolge der Mangel- haftigkeit unserer Denkprozesse kommt es vor, daß wir ein Urteil mit Evidenz zu fällen glauben, das sich nachher als falsch herausstellt, und in solchen Fällen offenbart sich die Ohnmacht der Evidenzlehre; sie kann vor den Angriffen eines energischen Skeptizismus nicht schützen. Wir kommen auf die Lehre noch zurück. Statt die Unbequemlichkeiten des Zweifels einfach durch ein Wort zu beseitigen, wollen wir lieber versuchen, sämtliche Voraussetzungen ans Licht zu stellen, die bei jedem analytiscljen Verfahren stillschweigend gemacht werden müssen. Denken wir uns irgendeine längere Deduktion, etwa einen mathematischen Beweis. Eine solche kommt immer in der Weise zustande, daß ein eben gezogener Schluß als Prämisse des folgenden dient, und so fort. Der ganze Beweis kann nicht in einem Augenblick vollzogen werden, denn der menschliche Geist vermag nicht so viele Syllogismen auf einmal zu überschauen, das verbietet die Enge des Bewußt- Skeptische Betrachtung der Analyse. 103 seins. Es gehört Zeit zu dem ganzen Prozeß, und die in der Mitte der Deduktion erhaltenen Resultate müssen von einem Schritt zum andern im Gedächtnis behalten werden. Hier wird also unser Erinnerungsver- mögen in Anspruch genommen, und das ist eine psychologische Fähig- keit, über deren Untreue oft genug Klage «geführt wird. Wie wenig man sich darauf verlassen mag, erkennen wir daran, daß man bei dergleichen Deduktionen fast immer sich des Hilfsmittels der Fixierung durch die Schrift bedient; meist vermögen wir sie sogar ohne dieses überhaupt nicht durchzuführen, denn bekanntlich können im Durchschnitt nur ganz leichte Aufgaben im Kopf gerechnet werden. Man darf aber natürlich nicht glauben, daß die Möglichkeit der Fixierung durch die Schrift auch nur das Geringste dazu beitragen könnte, unsere prinzipiellen Zweifel zu zerstören. Denn mag immerhin das Papier das ihm Anvertraute besser bewahren als das menschhche Gedächtnis: un- möglich können wir unter die letzten Voraussetzungen der Erkenntnis- theorie d i e aufnehmen, daß den Schriftzügen der Manuskripte und Bücher eine sehr große Beständigkeit innewohnt — denn das hängt ja von grob physischen Bedingungen ab und wie es mit unserer Erkenntnis physischer Objekte steht, würde die Theorie ja erst zu untersuchen haben. Außerdem müßten wir dann auch voraussetzen, daß sowohl beim Niederschreiben wie beim Entziffern der Schriftzüge jeder Fehler und Irrtum unmöglich gemacht werden könnte — wiederum eine fragwürdige Sache, denn beim Lesen kommen unsere sensorischen, beim Schreiben noch dazu unsere motorischen Fähigkeiten ins Spiel, und über die Zu- verlässigkeit dieser physiologischen Funktionen dürfen wir natürlich eben- falls keine Voraussetzungen machen, wenn es sich um die Bekämpfung so radikaler Zweifel handelt. Wir haben keine Gewähr dafür, daß wir uns nicht immer auf ganz bestimmte Weise verschreiben und verlesen und keine dafür, daß mit den Schriftzeichen nicht durch einen geheimnis- vollen Einfluß irgendeine Veränderung vor sich geht, wenn wir das Buch zuklappen oder auch nur die Augen für einen Moment abwenden. Danach können wir jedenfalls ganz absehen von der Unterstützung, die das Ge- dächtnis durch die Schrift erfährt; im Prinzip ist dadurch nichts geholfen. Es ist also eine notwendige Voraussetzung aller Deduktion und auch schließlich jedes einfachen analytischen Urteils, daß unser Bewußtsein im- stande ist, die für den Herleitungsprozeß nötigen Vorstellungen wenigstens solange mit völliger Sicherheit festzuhalten, wie "dieser Prozeß selbst dauert. Diese Fähigkeit des Bewußtseins heißt bekanntlich G e - d ä c h t n i s. Hierauf hat der Urheber des methodischen Zweifels selbst, Descartes, bereits aufmerksam gemacht. Er will, wie wir wissen, seine Philosophie auf fundamentale Wahrheiten gründen, die intuitiv schlechthin ge- wiß sind. Aber sie sind nicht das einzige völlig Gewisse, sondern ^) *) Descartes, Regles pour la direction de l'esprit, in den Erläuterungen zur dritten Regel. I04 Denkprobleme. ,,. , . il est un grand nombie de choses qui, sans etre Evidentes par elles- mßmes, portent ccpendant le caract^re de la certitude, pourvu qu'elles soient deduites de principes vrais et incontest^s par un m o u v e ment continuel et non interrompu de la pens6e, avec une in- tuition distincte de chaque chose . . ." und so, fährt er dann fort, ,,la d6duction .... cmprunte en quelque sorte toute sa certitude de la memoire . ." Es ist merkwürdig, daß Descartes keinen Anstoß nahm an dem, was er hier feststellt; er vertraut dem Gedächtnis ohne weiteres und sieht kein Problem in der Tatsache, daß es bei der Gewin- nung sicheren Wissens mithelfen muß. Er bemerkt nur noch gelegent- lich, daß man durch häufige Wiederholung der Schlußkette den Einfluß des Gedächtnisses auf ein Minimum reduzieren könne. Auch die kurzen Bemerkungen, die Locke ^) über unser Problem gemacht hat, sind ganz unzulänglich. Modernere Erörterungen der Sache scheinen mir die Frage nicht wesentlich gefördert zu haben, mögen sie nun mit Meinong ^) annehmen, daß den auf das Gedächtnis gegründeten Urteilen eben eine besondere Art unmittelbarer Evidenz zukomme, die freilich nur eine ,, Vermutungs- evidenz" sei, oder mögen sie mit Volkelt behaupten, es sei kein Unterschied zwischen der Erinnerungsgewißheit und der Cogitosumgewiß- heit des Bewußtseins. Der letztere sagt^): ,,Die Gewißheit, diesen oder jenen Bewußtseinsinhalt e r 1 ebt zu h a b en, ist genau von der gleichen Unmittelbarkeit und Unbezweifelbarkeit, genau von der gleichen Selbst- verständlichkeit für mich wie die Gewißheit, einen bestimmten Bewußt- seinsinhalt jetztebenzu erlebe n." Hier liegt jene cartesianische Täuschung vor, auf die wir schon einmal hinweisen mußten *) : das Sein des gegenwärtigen Bewußtseinsinhaltes wird uns nicht durch eine Evidenz gewiß, es ist eine Tatsache. Die Termini gewiß und ungewiß auf eine Tatsache anzuwenden, hat keinen Sinn; sie ist ein- fach. Daß ich glaube, bestimmte Erlebnisse gehabt zu haben, ist ebenfalls schlechthin Tatsache, aber ob diese Erlebnisse Tatsachen waren, das ist die Frage, und dessen kann ich, wie es scheint, immer nur un- gewiß sein. Der Schwierigkeit gerade ins Antlitz geschaut hat Störring. Er sucht sich in der Weise zu helfen, daß er auf den großen Unterschied der ver- schiedenen Grade von Erinnerungssicherheit hinweist und hervorhebt, daß wir es in den fraglichen Fällen mit dem allerhöchsten Grade solcher Sicherheit zu tun haben. Objektiv lasse sich dieser höchste Grad daran erkennen, daß das Erinnerte an j e d e m Punkte, an dem wir mit einer Prüfung einsetzen, sich verifiziert, daß also mit anderen Wortfen jede ') Essay, book IV, chap. I, § 9. ') A. Meinong, Zur erkenntnistheoretischen Würdigung des Gedächtnisses. Viertel- jahrsschr. f. Wissenschaft!. Phil. 1886. 10. S. 30 ') J- Volkelt, Die Quellen der menschlichen Gewißheit. München 1906. S. 16. *) Oben S. 70 f. Die Einheit des Bewußtseins. 105 Probe stimmt; und so schließt er^): „Wir müssen also das Prinzip der Verifikation, so sehr wir uns dagegen sträuben, es als letztes Prinzip der Sicherheit anzuerkennen, sogar für komplexes deduktives Denken stark in Anspruch nehmen". Hierin liegt das offene Zugeständnis, daß wir über das rein praktische Kriterium der Verifikation als letzten Notbehelf doch nicht hinauskommen, denn die Frage, warum dieses Kriterium nicht täuschen könne, erfährt keine theoretische Beantwortung. Auch E. Becher hebt die Schwierigkeit rückhaltlos hervor und stellt fest^), daß das Erinnerungsvertrauen schließlich unbeweisbar sei und, gleich manchen andern Voraussetzungen des Erkennens, rein auf Glauben beruhe, ,,auf dem natürlichen Glauben des gesunden Menschen- verstandes." So hat sich unzweifelhaft ergeben, daß die Zuverlässigkeit der Er- innerung, wenigstens für gewisse kleine Zeiträume, eine notwendige Vor- aussetzung darstellt, ohne die unser Bewußtsein, selbst bei bloß analyti- tischem Denkverfahren, auch nicht den kürzesten Schritt mit Sicherheit vorwärts tun kann. Eine andere notwendige Voraussetzung, noch allgemeiner, noch selbst- verständlicher, werden wir alsbald kennen lernen. Vorläufig knüpfen wir an das bis jetzt gewonnene Ergebnis an. 16. Die Einheit des Bewußtseins. Gibt es trotz allem einen Ausweg aus den beschriebenen Zweifeln? Haben wir vielleicht doch eine Bürgschaft dafür, daß die als notwendig erkannte Voraussetzung wirklich erfüllt ist.? Vergebens würden wir hoffen, dies durch irgendeinen ,, Beweis" sicherstellen zu können; alles Beweisen würde ja nur dem radikalen Zweifel neue Angriffspunkte bieten. Nein, nur die Verweisung auf etwas dem Zweifel von vornherein Enthobenes, d. h. auf eine Tatsache, könnte uns helfen. Gibt es eine solche Tat- sache, so war die Skepsis, die uns auf ihre Spur führte, nicht fruchtlos, sondern sie rückt gewisse letzte Bewußtseinsdaten in helles Licht, deren unermeßhche Bedeutung sonst vielleicht nicht richtig erkannt und aus- genutzt worden wäre. Es scheint nun wirklich eine Tatsache zu geben, auf die wir uns hier stützen können. Sie ist ursprünglicher als aller Zweifel, ursprüngUcher als alles Denken, allen psychischen Prozessen zugrunde liegend, schlecht- hin gegeben, eine im Bewußtsein immer erfüllte Voraussetzung. Es ist die schlichte Tatsache, die man als Einheit des Bewußtseins bezeichnet. Was darunter zu verstehen ist, läßt sich nicht durch eine Defini- tion oder Beschreibung sagen, sondern wir können nur durch ge- eignete Umschreibungen hindeuten auf die Tatsache, die jeder an ^) Störring, Einführung in die Erkenntnistheorie. S. 97 f. *) E. Becher, Naturphilosophie. S. 108 (Kultur der Gegenwart. Teil III, Abt, 7 Bd. 1. 1914). io6 Dcnkprobleme. seinem Bewußtsein vorfindet. Man pflegt zu sagen — und das ist eine bildliche Ausdrucksweise — alles was ich vorstelle oder fühle oder empfinde, ist „in" meinem Bewußtsein. Das ,,in" hat nur bildliche Be deutung, denn gewiß ist ja das Bewußtsein kein Gefäß, auch nicht wohl einem Gefäß vergleichbar, das sich selber gleich bliebe und dessen Leere durch immer wechselnde ,, Inhalte" ausgefüllt werden könnte. Sondern was wir mit dem Namen Bewußtsein oder auch wohl mit dem Namen Seele belegen, das ist die Gesamtheit der zu einem einheit- lichen Ganzen vereinigten jeweiligen ,, Inhalte" oder seelischen Vorgänge. Ich fasse die zusammen bestehenden und aufeinander folgenden Vor- stellungen oder Gefühle oder Akte auf als zusammengehörig, als gemein- sam ei'n Ganzes, ein ,,Ich" bildend. Dabei ist dieses Ich, dieses Bewußt- sein nicht bloß die Summe der Einzelvorstellungen, nicht ein bloßes Bündel, eine Sammlung von Perzeptionen, wie noch Hume meinte ^) ; ihr bloßes Zusammen genügt nicht, sie zu Bestandteilen oder Zuständen eines und desselben Bewußtseins zu machen, sondern es muß noch etwas hinzukommen, und dies, was da noch hinzukommt, ist eben die Ein- heit des Bewußtseins. Dieses Hinzukommende näher zu beschreiben, ist, wie gesagt, un- möglich, aber sein Vorhandensein ist schlechthin Tatsache. Wir können diese Tatsache nur dadurch deutlicher hervortreten lassen, daß wir uns einmal ausmalen, wie denn ein Bündel psychischer Daten beschaffen ist in Fällen, wo diese Einheit fehlt. Wenn ich an einem bestimmten Zeitpunkt ein Gefühl oder eine Empfindung habe, und jemand anders hat zu gleicher Zeit''') ebenfalls ein Gefühl oder eine Empfindung — nehmen wir etwa an, ich drücke jemandem die Hand, so haben wir beide zugleich an unseren Händen be- stimmte Tastempfindungen — , dann liegt natürlich auch ein Zusammen, eine Summe psychischer Daten vor, aber es mangelt ihnen jene nicht näher zu beschreibende sondern nur erlebbare Verknüpfung, und diesen Mangel drücken wir aus durch das Urteil, daß diese psychischen Vor- gänge nicht einem, sondern verschiedenen Bewußtseinen angehören. Und die Kontinuität eines Bewußtseins besteht nicht in einer bloßen un- unterbrochenen Aufeinanderfolge von Erlebnissen, sondern sie müssen noch durch eine ganz besondere Art des Zusammenhanges vereint sein, damit sie als Erlebnisse eines und desselben Bewußtseins gelten können; denn wiederum brauchen wir uns die ohne Pause aufeinanderfolgenden Emp- findungen nur auf verschiedene Individuen verteilt zu denken, um die Richtigkeit dieser Bemerkung einzusehen '), *) Treatise of human nature, book I, part IV, section VI. *) Wir sehen dabei von der Frage ab, ob es möglich ist, einen ,, gleichen" Zeit- punkt für verschiedene Bewußtseine überhaupt zu definieren. ') Ich freue mich, darauf hinweisen zu können, daß diese Ausführungen, sowie einige der folgenden Entwicklungen zu demselben Problem, trotz unabhängiger Kon- zeption, sich berühren mit Gedanken von H. Cornelius in dessen Einleitung in die Philosophie* 191 1. § 23. Die Einheit des Bewußtseins. ' 107 Die eigentümliche Bewandtnis, die es überhaupt mit der Kontinuität des Bewußtseins hat, kann man sich vielleicht am besten auf folgende Weise vergegenwärtigen: Es tauche für eine kurze Zeit eine isolierte Empfindung auf — ich sage absichtlich nicht: „in einem Bewußtsein" — , sie tauche auf und verschwinde wieder, ohne eine Spur zu hinterlassen. Darauf entstehe eine neue Empfindung (dieselbe oder eine andere; ob es aber dieselbe oder eine andere ist, kann gar nicht entschieden werden, wenn wir beide so vollkommen isoliert annehmen), und so folge eine Emp- findung auf die andere, entweder mit zeitlichen Zwischenräumen, oder auch unmittelbar sich anschließend, immer aber so, daß jedes neue Element so auftritt, als wenn die vorigen gar nicht dagewesen wären. Und nun fragen wir: hat es einen Sinn, von diesen rein im Verhältnis der bloßen Aufeinanderfolge stehenden Elementen zu sagen, sie gehörten einem und demselben Bewußtsein an} Es fehlt offenbar jeder Anhalts- punkt, jedes Recht, dergleichen zu behaupten, denn jene Elemente haben ja gar nichts miteinander gemeinsam, es mangelt jede reale Verbindung oder Beziehung zwischen ihnen. Wir würden vielmehr von so vielen Bewußtseinen reden als wir Elemente unterscheiden; mit dem Eintreten eines neuen Elementes fängt auch ein neues Bewußtsein an, das mit den vorhergehenden und den nachfolgenden nichts zu tun hat. Es fehlt ihnen eben jener Tatbestand, welcher die Einheit eines Bewußtseins aus- macht. Wir können noch einen Schritt weiter gehen. Wir nahmen bisher an, daß jedes der einzelnen Empfindungs- oder Gefühlselemente eine gewisse Dauer habe, und daß während dieser Dauer von einem kontinuier- lichen Bewußtsein gesprochen werden könne. Wir können uns aber jede dauernde Empfindung zerlegt denken in Empfindungen von kürzerer Dauer, die einander unmittelbar sukzedieren, und diese wieder in kürzere, usw. Von diesen Teilen gilt nun, was vorher von den Dauerempfindungen galt: wenn gar keine Beziehung zwischen ihnen besteht als die bloße zeitliche Aufeinanderfolge, wenn jeder Teil so für sich ist, als wenn seine vorhergehenden und seine folgenden Nachbarn nicht vorhanden wären, dann hat man wiederum kein Recht, von ihnen die Zugehörigkeit zu einem Bewußtsein zu behaupten, sondern der Anfang und das Ende jedes solchen Zeitteilchens der Empfindung bedeutet das Auftauchen und Erlöschen eines neuen Bewußtseins. Es muß also auch bei dem kürzesten und flüchtigsten Bewußtseinselement, damit es überhaupt als Element eines Bewußtseins angesprochen werden kann, eine ganz eigene Verknüpfung oder Verschmelzung seiner Momentanteilchen bestehen; die bloße kon- tinuierliche Aufeinanderfolge derselben schließt sie noch nicht zu der Einheit zusammen, ohne welche sie nicht als Elemente desselben Bewußt- seins gelten können. Das gilt nun alles auch, wenn man sich die zeitliche Teilung immer weiter fortgesetzt denkt und die Dauer jedes einzelnen Teilchens immer kleiner wird, es gilt schließlich auch, wenn sie unter jede angebbare Grenze io8 Denkprobleme. sinkt. Mit anderen Worten: denken wir uns die aufeinander folgenden Momentanteile eines Bewußtseinsinhaltes jeden selbständig für sich, so denken wir damit gar nicht den Inhalt eines Bewußtseins, sondern wir denken vielmehr in jedem Augenblick ein Bewußtsein entstehend und verlöschend, das mit den vorhergehenden und nachfolgenden Bewußt- seinsmomenten nichts gemein hat, mit ihnen nicht zu einer Einheit ver- schmilzt. Aber was denken wir doch da.'' Ein Bewußtsein, das in dem Augenblick, in dem es entsteht, auch schon wieder erlischt, ein Bewußt- sein ohne Dauer? Das ist jedenfalls etwas von dem, was wir sonst Be- wußtsein nennen, völlig Verschiedenes, wir dürfen nicht wohl denselben Namen dafür gebrauchen. Aber was wir hier denken, unterscheidet sich vom Bewußtsein eben nur durch den Mangel der ,, Einheit", durch das Fehlen jener eigentümlichen Kontinuität, welche als realer Zusammen- hang etwas ganz anderes ist, als das Kontinuum im mathematischen Sinne. Wir sehen also: Wo die Einheit des Bewußtseins fehlt, da fehlt auch der Tatbestand des Bewußtseins selber. Mit anderen Worten: wo über- haupt Bewußtsein ist, da ist auch Einheit des Bewußtseins ^). Und wo Einheit des Bewußtseins ist, da sind seine einzelnen Momente nicht für sich, sondern gleichsam füreinander da, d. h. sie können nicht für sich unabhängig von ihren Nachbarn betrachtet werden; aus dem Zusammenhang mit ihnen hinausgerissen würden sie nicht mehr sie selbst sein, sondern dieser Zusammenhang gehört zu ihrem Wesen. Alle Ver- suche, diesen durchaus eigentümlichen Einheitszusammenhang erkennen zu wollen, d. h. in ihm etwa auch sonst bekannte andere Zusammen- hänge wiederzufinden, scheitern unter allen Umständen. Selbst Hume täuschte sich hierüber sehr, indem er glaubte, die Einheit des Ich auf die Kausal relation zurückführen zu können *) (daneben auch auf die Ähnlichkeitsrelation, doch davon können wir hier absehen). Wenn wir uns ein menschliches Bewußtsein vorstellen, meint er, so stellen wir uns in Wahrheit ein System verschiedener Empfindungen oder verschiedener Gegebenheiten (existences) vor, die durch die Beziehung von Ursache und Wirkung miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig hervorbringen, zerstören, beeinflussen und modifizieren. Nach unseren Darlegungen kann es nicht zweifelhaft sein, daß hiermit das Wesen des Bewußtseinszusa'mmen- hanges keineswegs ausreichend bezeichnet ist; es fehlt vielmehr gerade das Wichtigste. Denn alle die Zusammenhänge, die Hume hier beschreibt, könnten ebensogut zwischen den Elementen verschiedener Be- wußtseine stattfinden. Die Naturgesetzlichkeit könnte so sein (ja ist sogar in gewissem Sinne und bis zu einem gewissen Grade wirklich so), daß die Bewußtseinszustände eines Individuums mit denen eines anderen oder auch mehrerer Individuen unmittelbar kausal verknüpft wären, also ^) Auch WuNDT macht die Bemerkung, daß ein momentanes Bewußtsein als ein ,, unbewußtes" zu bezeichnen wäre. Siehe System der Philosophie IP 1907. S. 147 *) Treatisc of human nature, bock I, part IV, section VI. Die Einheit des Bewußtseins. 109 ;n bestimmter Weise aufeinander folgten, sich gegenseitig hervorbrächten, beeinflußten und zerstörten: deswegen würden die verschiedenen Bewußt- seine keineswegs in eins verschmelzen, sondern die einzelnen Individuen würden jedes das seine für sich haben. Also nicht die kontinuierliche zeitliche Sukzession, nicht die kausale Verkettung der einzelnen Elemente bewirkt ihre Zugehörigkeit zu einem und demselben Bewußtsein, sondern eben ein ganz spezifischer Zusammenhang, den wir als eine letzte Tat- sache hinnehmen müssen. Dieser unbeschreibliche Zusammenhang — und das ist für uns das Wichtige — enthält schon das in sich, was wir als Gedächtnis be- zeichnen. Denn jenes Hinüberziehen eines jeden momentanen Bewußt- seinsinhaltes in den nächsten Moment, das sie zur Einheit zusammen- schließt, kommt eben dem Bewahren und Festhalten gleich, welches als unmittelbares Erinnern die Leistung des Gedächtnisses bildet. Es ist in der Tat eine oft gemachte und fast selbstverständliche Bemerkung, daß die Erinnerung es ist, die selbst weit auseinander liegende Erlebnisse eines Individuums so miteinander verbindet, daß sie zu demselben kon- tinuierlichen Bewußtsein gerechnet werden und die Einheit der Persön- lichkeit begründen. Und psychopathologische Erfahrungen zeigen uns oft zitierte Beispiele ^), in denen diese Auffassung sich unzweideutig bestätigt. Es kommt nämlich vor, daß ein und dasselbe physische Individuum der Sitz (man gestatte in der Kürze diesen Ausdruck) zweier oder mehrerer Persönlichkeiten ist, die voneinander völlig verschieden sind und ab- wechselnd gleichsam denselben Körper bewohnen. Es kann ein patho- logisch veranlagter Mensch in einem Stadium einen unsympathischen Charakter haben, ungebildet, ungeschickt und melancholisch sein, in einem anderen Stadium dagegen gutartig, lustig, gebildet und mit vielen Fertig- keiten begabt sein; und solange der Mensch sich in dem einen Stadium befindet, ist die Erinnerung an die Zustände des anderen Stadiums absolut ausgelöscht, so daß die beiden Persönlichkeiten, die abwechselnd das Wesen eines solchen Menschen ausmachen, gar nichts voneinander wissen. Hier hat man es also tatsächlich nicht mit einem, sondern mit mehreren Bewußtseinen zu tun, die eben dadurch vollkommen voneinander ge- trennt sind, daß das Band der Erinnerung zwischen ihnen zerschnitten ist. T a i n e zieht hier in einem schönen Vergleich *) das Verhältnis des Bewußtseins einer Raupe zu demjenigen des Schmetterlings heran. Der Zusammenhang, der die Einheit eines Bewußtseins ausmacht, darf also als ein Erinnerungszusammenhang bezeichnet werden. Wenn wir eine paradoxe Ausdrucksweise nicht scheuen, können wir auch sagen, jener Zusammenhang komme so zustande, daß wir vermöge des Gedächt- nisses zeitlich benachbarte Bewußtseinselemente nicht bloß als aufeinander folgend, sondern außerdem auch als gleichzeitig erleben. Darin scheint ^) Siehe etwa Ribot, Les maladies de la personnalit^^ 1901. ") Taink, De rintelligence II*, appendice HO Denkprobleme. nur solange ein Widerspruch zu liegen, als wir nicht bedenken, daß es eine Abstraktion ist, wenn man die ,, Gegenwart" streng einem Zeit- punkt gleichsetzt; der realen Gegenwart des Bewufjtseins muß zweifel- los eine Dauer zugeschrieben werden ^). Noch einmal sei hervorgehoben, daß alle diese Auseinandersetzungen keine eigentlichen Erklärungen darstellen und nicht Erkenntnis sind, sondern nur Umschreibungen, die auf das Besondere der Tatsache der Einheit des Bewußtseins aufmerksam machen sollen. Die Tatsache selbst erlebt jeder in sich. Das Ergebni , das wir nun formulieren, ist daher auch nicht etwa als Schluß aus den vorhergehenden Erwägungen aufzufassen; es ist vielmehr nur eine kurz resümierende Bezeichnung des- selben Tatbestandes: Wo Bewußtsein ist, da ist auch Einheit des Bewußtseins, und wo Einheit des Bewußtseins ist, da ist auch Gedächtnis. Mit dem radikalen Aufhören jeder Erinnerungsfähigkeit müßte das Bewußtjein selbst auf- hören, weil der Zusammenhang gelöst würde, in dem es besteht. So sehen wir denn: die bloße Tatsache des Bewußtseins allein leistet uns schon Gewähr dafür, daß jene fundamentale Bedingung alles Denkens, das sichere Festhalten einer Vorstellung, die Fähigkeit des Gedächtnisses, bis zu einem gewissen Grade erfüllt ist, weil sie eine Bedingung des Bewußt- seins selbst ist. Trotz des bunten Wechsels der Vorstellungen, trotz des unerschöpflichen Flusses seiner immer neuen Inhalte hat das Bewußtsein, solange es überhaupt da ist, etwas Unwandelbares: eben seine Einheit; und so durfte Kant von einem ,, reinen ursprünglichen unwandelbaren Bewußt- sein" reden, für welches er den Namen ,, transzendentale Apperzeption" ein- führte. Kant ist es auch, der die einzigartige Bedeutung der Einheit des Bewußtseins für die allerletzten Erkenntnisfragen in ihrer ganzen Tiefe erkannt und sogar übertrieben hat. Er bezeichnete diese Tatsache in seiner umständlichen Weise als die ,, ursprünglich-synthetische Einheit der Apper- zeption", und der Satz, daß alle anschauliche Mannigfaltigkeit unter den Bedingungen dieser Einheit stehe, war ihm ,,das oberste Prinzip alles Verstandesgebrauchs" und mußte ihm zur Begründung .der wichtigsten Punkte seiner Erkenntnistheorie dienen. Ob Kant auch mit den Folge- rungen, zu denen er diesen Satz verwandte, überall auf dem rechten Wege war, wird später noch gelegentlich zu erörtern sein; die Tatsache der Bewußtseinseinheit selber aber, der Kant einen so wichtigen Platz in der Erkenntnislehre anwies, wird, wie ich glaube, in Zukunft noch viel mehr in den beherrschenden Mittelpunkt aller Philosophie rücken müssen 2). ') Vgl. auch Cornelius, Einleitung in die Philosophie*. S. 231. F. Schumann, Zeitschr. f. Psych. Bd. 17. S. 127 ff. W. James, Psychologie (deutsch von M. Dürr). S. 280 f. *) Anmerkung während der Korrektur. Inzwischen ist ein Buch erschienen, das mit diesem Gedanken Ernst zu machen sucht: die „Transzendentale Systematik" von H. Cornelius. München 1916. Ich habe das Werk in der Vierteljahrschrift für wissenschaftliche Philosophie rezensiert. Gewissen Übereinstimmungen mit Anschau- ungen von Cornelius habe ich bereits oben S. 106 sowie unten § 19 Ausdruck gegeben. Die Einheit des Bewußtseins. Also die Tatsache des Bewußtseins selbst bürgt bis zu einem gewissen Grade dafür (wieder in Kant's Worten:), „daß das, was wir denken, eben dasselbe sei, was wir einen Augenblick zuvor dachten". Aber eben nur bis zu einem gewissen Grade. Jener ,, Augenblick" hat nur die Dauer einer ,, Gegenwart", und wenn das sichere Festhalten von Vorstellungen nicht für erheblich längere Zeiträume gewährleistet werden kann, so scheint uns wenig geholfen zu sein. Zur Wahrung der Kontinuität des Bewußt- seins braucht es sich nicht über so lange Zeiten zu erstrecken, wie sie zum Vollzug irgendeiner Deduktion erforderlich sind, und so ist dem radikalen Skeptizismus hier scheinbar immer noch nicht aller Halt geraubt. Aber durch die folgenden beiden Hinweise kann er doch in seiner Position wankend gemacht werden. Erstens nämlich ist es dem Menschen möglich, durch besondere Vor- bereitungen, durch häufige Wiederholung, durch Übung, durch eine ge- wisse Einstellung der Aufmerksamkeit, oder wie die psychologischen Mittel sonst heißen mögen, den Gegenwartsaugenblick mit scharf gegliedertem Inhalt zu erfüllen, mehrere oder kompliziertere Vorstellungen in ihm zu fixieren, und so kommt es, daß auch relativ komplexe Vorstellungen, die zur Illustration verwickelter und sch>vieriger Begriffsverhältnisse dienen, auf einmal fest im Bewußtsein stehen, so fest, wie es etwa zur Gewinnung eines Schlusses, zur Ausführung einer Deduktion erforderlich ist. Natürlich gibt es nie eine Garantie dafür, daß eine bestimmte Analyse von einem bestimmten Menschen auf diese Weise mit aller Sicherheit vollzogen werde — aber das kann ja auch nie verlangt werden. Es handelt sich vielmehr nur um die Frage, ob es überhaupt möglich ist, ob es über- haupt vorkommt, daß Deduktionen mit absoluter Sicherheit geführt werden, oder ob alles Schließen als solches nie vor der Drohung des äußersten Zweifels geschützt ist. Wir erleben es als Tatsache, daß die Richtigkeit dieser oder jener Analyse in der geschilderten Weise verbürgt ist, aber es gibt keine Bürgschaft dafür, daß wir oder ein anderer nun bei irgendeiner bestimmten Analyse jene Tatsache erleben müßten. Wir erleben sie eben in gewissen Fällen, ja wir können sogar empirisch im- gefähr die Umstände angeben, unter denen wir sie zu erleben pflegen — aber damit müssen wir es uns genug sein lassen. Und die unumschränkte Macht der Skepsis ist ja damit auch gebrochen. Zweitens aber darf man noch einen Schritt weiter gehen. Weri.n nämlich die Einheit des Bewußtseins uns die Garantie gibt für eine aus- reichende Konstanz der Vorstellungen während der Dauer einer Gegen- wart, so kann sie unter bestimmten Umständen (es sind solche, die psycho- logisch etwa als Zustände der gespanntesten ,, Aufmerksamkeit" charak- terisiert werden) auch eine über längere Zeiträume erstreckte Sicherheit darauf erbauen, indem sie (nur metaphorisch läßt es sich beschreiben) das Bewußtsein dieser Konstanz von Augenblick zu Augenblick hinüber- *^''ägt, gleichsam über die aufeinanderfolgenden Gegenwartsdifferentiale integriert, so daß wir am Ende der kurzen Analyse unmittelbar erleben, 112 Denkprobleme. wie sich ihr Schluß mit dem Anfang schlechthin ununterbrochen ver- knüpft. Die aufmerksame Selbstbeobachtung lehrt freilich, daß hier doch nur äußerst kurzdauernde Bewußtseinsprozesse in Betracht kommen; sowie die Deduktion ein wenig komplizierter ist, nehmen wir doch immer so- gleich zur Wiederholung, zur Verifikation unsere Zuflucht, um die Richtig- keit sicherzustellen. Und dann gilt natürlich auch hier wieder: Sicherheit ist zweifellos — vor allem Zweifel — vorhanden, wo die soeben beschriebenen Be- wußtseinstatsachen erlebt werden, aber daß wir sie unter gegebenen Umständen bei irgendeinem gegebenen Problem erleben müßten, dafür gibt es keine Garantie, eine solche ist in der Tatsache der Bewußtseins- einheit nicht enthalten. Das Bewußtsein des Tieres, des Idioten scheitert an einfachsten Analysen, die der normale Mensch mit Leichtigkeit sicher vollzieht; und den Fähigkeiten des Durchschnittsmenschen sind wiederum sichere Einsichten verschlossen, die etwa ein Newton oder ein Gauss klar in einer Vorstellung umfaßte. Hier stoßen wir offenbar auf gewisse Wurzeln der intellektuellen Be- gabung überhaupt. Man geht gewiß nicht fehl, wenn man die Unterschiede der Intelligenz verschiedener Bewußtseine unter anderem erblickt in ihrer verschiedenen Fähigkeit, ihre Inhalte gleichsam zu einer mehr oder weniger kompakten Einheit zusammenzufassen. Der Geist des scharfsinnigen Denkers schließt komplizierte Bewußtseinsinhalte energisch zu einer ruhigen Einheit zusammen, dem Unbegabten aber zerfließt alles vor seinem geistigen Blick, die Vorstellungen flackern unstet hin und her und wir sagen dann, ihm mangele die Fähigkeit zur Konzentration der Aufmerksamkeit. Seinem Bewußtsein kommt zwar ebensowohl Einheit zu wie dem Gescheidtesten, aber sie ist keine kompakte, sondern gleicht einer Menge von Fetzen, die nur durch dünnere Fäden zusammenhängen. Und wenn der Mensch das Vermögen des ,, Denkens" vor anderen Tieren voraushat, so dürfen wir den Grund dafür zweifellos mit in dem loseren Zusammenhange der Daten des tierischen Bewußtseins suchen. Je niederer ein Tier organisiert ist, um so mehr lebt es vermutlich von Augenblick zu Augenblick, seine Erlebnisse folgen sich zusammenhängend, aber ohne in so innige Beziehungen zueinander zu treten wie beim Menschen, bei dem die Mannigfaltigkeit der buntesten Bewußtseinsdaten zu einer geschlossenen Einheit zusammen- tritt, desto umfassender, je mehr wahre ,, Persönlichkeit" der Mensch be- sitzt, ja fast die ganze Dauer seines Daseins umgreifend. Es ist fast schwer, solche Gedanken hier nicht noch weiter auszu- spinnen und mit ihnen auf metaphysisches Gebiet hinüberzuwandeln. Ohnehin treten schon in der Gegenwart hier und dort Versuche hervor, die Tatsache der Bewußtseinseinheit als Brücke ins Metaphysische zu be nutzen ^). Uns liegt es ob, an dieser Stelle umzuwenden und zu den Fragen ^) Siehe z. B. H. Driesch, Philosophie des Organischen. II. S. 380 f. Ihm ist „die Einheit der subjektiven Erfahrungen überhaupt und das Gedächtnis im besondern' eines der „drei Fenster", durch die wir in das Absolute blicken. Die Einheit des Bewußtseins. 113 zurückzukehren, durch die unsere Aufmerksamkeit auf die Tatsache der Bewußtseinseinheit hingelenkt worden war. Wir besitzen also im allgemeinen die Fähigkeit, unsere Vorstellungen eine gewisse minimale Zeit hindurch so fest zu halten, wie es für den sicheren Vollzug des analytischen Schließens erforderlich ist. Die Einheit unseres Bewußtseins bürgt uns dafür. — Aber noch eine andere, fundanientalere Bedingung muß erfüllt sein, die sogar für jene Fähigkeit die Voraus- setzung bildet: wir müssen nämlich mit dem Vermögen ausgestattet sein, Gleichheit und Verschiedenheit von Vorstellungen zu konstatieren. Denn besäßen wir dies nicht, wie sollten wir wissen, ob unsere Gedanken sich gleich bleiben oder wechseln, wie sollten wir die verschiedenen Vorstel- lungen auseinander halten.'' Und ohne das wäre doch kein Schließen möglich. Es ist eine so fundamentale Voraussetzung, daß sie immer nur ge- macht, aber wohl nie ausgesprochen wurde, bis auf Locke, der ihre Be- deutung richtig einsah, indem er sagte ^), es könne ohne sie gar kein Wissen, kein Folgern, überhaupt keine bestimmten Gedanken geben. Wie steht es nun mit dieser Bedingung.'' Gibt uns das Bewußtsein mit seiner Einheit vielleicht eine Bürgschaft dafür, daß auch sie immer erfüllt ist.-* Um diese Frage zu entscheiden, bedarf es wiederum gar nicht irgendwelcher Schlüsse, sondern wir brauchen nur die Aufmerksamkeit auf gewisse Tatsachen zu lenken, die mit dem Bewußtsein zugleich jeder- zeit gegeben sind. Locke bezeichnet es ^) als die erste Fähigkeit des Geistes, seine Ideen wahrzunehmen und, sofern er dies tut, von jeder zu wissen, was sie ist, und dadurch auch ihre Verschiedenheit wahrzunehmen, welche macht, daß die eine nicht die andere ist. Diese Ausdrucksweise ist aber höchst unglücklich und irreführend, sie wird jedoch jetzt noch gebraucht und führt jetzt noch sehr in die Irre, denn sie stellt Geist und Ideen einander gegenüber, als wäre jener ein Behälter, in den die Ideen ein- treten, um von ihm aufgenommen, ,, wahrgenommen" und miteinander verglichen zu werden. Da könnte es dann wohl passieren, daß etwa ver- schiedene Ideen ins Bewußtsein gelangten, von ihm aber für gleich an- gesehen würden, oder es könnte umgekehrt gleiche Ideen für verschieden halten. Und damit ein richtiges Denken überhaupt möglich sei, müßte dann die Fähigkeit, sich hierbei nicht zu täuschen, dem Bewußtsein als ein besonderes Vermögen zugeschrieben werden, und es entstünde die Frage, ob denn dies Vermögen immer vorhanden sei, und bis zu welchem Grade wir uns darauf verlassen können. So steht es aber natürlich nicht. Das Bewußtsein verhält sich nicht zu den Ideen wie der Magen zu den Speisen, die er aufzunehmen und zu ') Essay concerning human understanding, book 4, chapter i, § 4. *) An der soeben angeführten Stelle. Schlick Erkenntnislehre. ö 114 Denkprobleme. verdauen hat, vielni^hr konstituieren die Ideen erst das Bewußtsein, sie brauchen nicht erst durch einen besonderen Akt wahrgenommen zu werden, sondern ihr bloßes Dasein als Bewußtseinsdaten ist mit ihrem Wahr- genommenwerden identisch, für sie ist esse und percipi dasselbe. Wir be- dürfen mithin nicht der Annahme einer ausdrücklichen Fähigkeit des Wahrnehmens der Bewußtseinsinhalte und folglich auch keiner besonderen Garatitie gegen Täuschungen bei solchem Wahrnehmen. Es ist nichts in meinem Bewußtsein, dessen ich mir nicht bewußt wäre: beide Ausdrücke sagen ja dasselbe mit verschiedenen Worten. Bewußtseinsdaten werden nicht als verschieden wahrgenommen, sondern sind schlechthin verschieden. (Vgl. auch unten § i8.) Nun wird man aber sagen, ich könnte wohl verschiedener Vorstel- lungen und doch nicht der Verschiedenheit der Vorstellungen mir bewußt sein; beides ist nicht dasselbe; aber gerade das Bewußtwerden der Ver- schiedenheit ist offenbar zu allem Denken und Schließen erforderlich. Von neuem also könnte zweifelhaft werden, ob die notwendigste Bedingung des Denkens in unserem Geiste je mit Sicherheit erfüllt ist. Aber auch dieser Zweifel zerschellt wiederum an der Tatsache der Einheit des Bewußtseins. Sie zeigt uns, daß Verschiedenheit der Erlebnisse und Erlebnis der Verschiedenheit, obgleich sie nicht ein und dasselbe sind, doch im Geiste so zusammengehören, daß das eine nicht ohne das andere sein kann. Gesetzt nämlich, es beständen zu gleicher Zeit zwei verschiedene Be- wußtseinsinhalte — etwa ein Ton und ein Geruch, oder eine grüne und eine rote Farbe im Gesichtsfelde — , und wir nehmen an, es mangele das Vermögen, die Verschiedenheit zu konstatieren, das heißt, sie werde nicht als Tatsache erlebt, es fehle also dem erlebenden Individuum jedes Datum, das es durch die Urteile bezeichnen könnte: ,, diese Erscheinungen sind verschieden" oder ,, diese Erscheinungen sind gleich". Dann würden jene beiden Erlebnisse gänzlich unbezogen und unverglichen nebeneinander stehen, jedes wäre völlig für sich, als wenn das andere gar nicht da wäre, die beiden wüßten sozusagen gar nichts voneinander, niemand vermöchte zu sagen, ob sie gleich oder verschieden seien .... kurz, es wäre genau so, als ob sie beide verschiedenen Bewußtseinen angehörten; nichts schlösse sie zusammen, sie bildeten keine Einheit mehr, und wir hätten keinen Grund und kein Recht, sie alsTlnhalte eines und desselben Bewußt- seins zu erklären. Wenn v e r schiedene Inhalte einem Bewußtsein an- gehören, so werden sie eben dadurch auch unter schieden. Wir können auch sagen: Unterscheiden geschieht dadurch, das Verschiedenes auf- einander bezogen wird; die Einheit des Bewußtseins aber ist eine Art des Aufeinanderbezogenseins, wenn also Verschiedenes in der Einheit des- selben Bewußtseins vereinigt ist, so bedeutet das: es wird unterschieden. Und Analoges gilt für das Gleichsetzen des Gleichen. — Es handelt sich hier wieder nur um einen Hinweis auf einen Tatbestand, der eben in der Tatsache der Einheit des Bewußtseins erlebt wird. Der Ausdruck in Die Einheit des Bewußtseins. 115 Worten, der diesen Hinweis vollziehen soll, wird immer unvollkommen und unbefriedigend erscheinen müssen. Wie man sieht, ist der Tatbestand, der hier in Frage kommt, ganz analog dem früher besprochenen: betrachteten wir vorhin die Einheit des Bewußtseins, sofern sie das Hintereinander der Inhalte umschließt, so faßten wir jetzt das Nebeneinander ins Auge, das in ihr zusammengehalten wird. Aber beide Tatsachen treten vereint auf: wir unterscheiden nicht bloß etwa gleichzeitige Vorstellungen, sondern auch solche, die sich un- mittelbar folgen, sich gegenseitig ablösen. Hierauf beruht das Bewußt- sein des Wechsels. Es ist ein Faktum, daß unser Geist unaufhörlich einen Wechsel, oder, was dasselbe ist, überhaupt ein Geschehen erlebt, denn Geschehen ist Wechsel. Beim Erlebnis des Geschehens wird die Verschiedenheit des folgenden vom vorhergehenden Zustande unmittelbar bewußt, und wiederum ist es nicht nötig, in der Seele eine besondere Fähigkeit zur Wahrnehmung des Wechsels anzunehmen, die sie etwa eines guten Tages verlieren und ohne die sie weiter existieren könnte. Sondern abermals liegt hier eine Eigenschaft vor, die untrennbar zum Wesen des Bewußtseins selbst gehört. Nach unseren früheren Erörte- rungen brauchen wir bei der Heraushebung dieser Tatsache aus der Ein- heit des Bewußtseins wohl nicht weiter zu verweilen. Es sei nur zur Bestätigung und Erläuterung hervorgehoben, daß man gerade an diesem Punkte sogar noch weiter gehen kann und weiter ge- gangen ist. Nicht nur nämlich wird jeder Wechsel, wenn ein solcher in unserem Geiste stattfindet, eo ipso als besondere Tatsache des Bewußt- seins erlebt, sondern man kann vielleicht sogar sagen, der Wechsel selber sei eine conditio sine qua non des Bewußtseins. Dann würde also nicht nur keine Veränderung im Geiste stattfinden ohne Bewußtsein davon, es würde auch umgekehrt kein Bewußtsein existieren, wo keine Veränderung ist. Eine Empfindung oder ein Gefühl, das während der ganzen Dauer unseres Daseins unaufhörlich ohne Wechsel im Bewußtsein wäre, scheint eine Unmöglichkeit zu sein. Bereits Hobbes behauptete, daß eine un- begrenzt verlängerte Empfindung überhaupt aufhören würde, empfunden zu werden, also gar nicht mehr im Bewußtsein existieren würde: ,,Sentire semper idem et non sentire ad idem recidunt." So empfinden wir schon die schlechte Luft eines geschlossenen Zimmers nicht, bis wir ins Freie treten, obgleich da immer noch die Möglichkeit besteht, unsere Empfin- dungen mit den Erinnerungsvorstellungen besserer Gerüche zu vergleichen. Eine solche Möglichkeit des Kontrastes aber würde gänzlich fehlen, wenn wir annähmen, ein bestimmter Inhalt sei ohne Aufhören immer in unserem Bewußtsein, wir könnten uns sein Nichtsein gar nicht vorstellen, könnten mithin sein Vorhandensein nicht mit der Vorstellung seines Fehlens ver- gleichen und von ihr unterscheiden: er bliebe unbemerkt, er wäre gar kein Bewußtseinsinhalt. So scheint jedes Bewußtseinsdatum etwas Rela- tives zu sein: es hat nur Dasein im Gegensatz und in Beziehung zu andern 8* ii6 Denkprobleme. — eine für eine etwaige Metaphysik des Bewußtseins höchst wichtige Bemerkung, auf deren fundamentale Bedeutung vor andern A. Bain hin- wies, der dafür die Bezeichnung ,,law of relativity" einführte. Auch J. Stuart Mill erkannte dies Gesetz als zweifellos richtig an ^). Wir können es wohl auch so ausdrücken, daß ein unveränderliches beharrendes Sein niemals Bewußtseinsinhalt ist. Ein Bewußtsein, in dem nichts geschieht, wäre ein Bewußtsein ohne Erlebnis, also gar kein Bewußtsein. Bewußt- sein setzt Wechsel voraus, Übergang des einen ins andere; das Bewußt- sein (der Geist, die Seele) ist ein Vorgang, ein Prozeß. Die moderne Psychologie ist mit diesen Anschauungen in voller Über- einstimmung, denn sie hat sich wohl durchweg die ,, Aktualitätstheorie'* der Seele zu eigen gemacht. Besonders Wundt erwarb sich in diesem Punkte das größte Verdienst, indem er immer wieder betonte, daß die seelischen Inhalte sich nicht verhielten wie Dinge oder Substanzen, sondern daß sie Vorgänge, Geschehnisse seien. Nur nebenbei sei noch die Bemerkung angeschlossen, daß analoge Hinweise, wie die hier gegebenen, auch das Auftreten der Z e i t v o r • Stellung im Bewußtsein verständlich machen können. Wiederum ist es die Einheit der seelischen Erlebnisse, die mit der Aufeinanderfolge der Bewußtseinszustände das Bewußtsein der Aufeinanderfolge verknüpft; denn wir sahen ja, daß das Bewußtsein mehr ist als ein bloßes Nach- einander von Erlebnissen: es ist die Einheit der Erlebnisse, und die Einheit der nacheinander stattfindenden macht das Zeitbewußtsein mög- lich. Dies scheint mir der richtige Kern der Zeitlehre von Riehl zu sein, die er vor Jahrzehnten schon in den Worten zusammenfaßte 2): ,, Durch die Einheit der Apperzeption in der Folge der Empfindungen entsteht die Zeitvorstellung." Abschließend können wir es als Ergebnis unserer Betrachtung der Tatsache der Bewußtseinseinheit hinstellen, daß sie in der Tat die Be- denken beseitigt, welche die Flüchtigkeit aller unserer Vorstellungen erwecken kann. Sie lehrt uns, daß die vorhandene Flüchtigkeit unseren Geist nicht hindert, die einfachen Akte des analytischen Schließens zu vollziehen. Damit ist der radikalen Skepsis der Zutritt zu den letzten psychologischen Fundamenten alles Denkens gewehrt, wo sie sonst großen Schaden hätte anrichten können. Noch einmal sei es wieder- holt: es handelte sich bei dieser Skepsis nicht um einen Zweifel an der Richtigkeit der logischen Regeln der Analyse, wie sie etwa in der Syllogistik niedergelegt sind (ein solcher Zweifel wäre ein bloßes Mißverständnis), sondern es war ein Mißtrauen gegen unsere psychischen Fähigkeiten: wegen der Flüchtigkeit aller Bewußtseinsvorgänge wurde in Frage gestellt, ob mit ihrer Hilfe jene strengen logischen Verhältnisse überhaupt im Prinzip ohne Irrtum sich darstellen lassen. Das Problem drehte sich also um das Verhältnis der psychischen Vorgänge zu den logischen Gebilden. ^) J. Stuart Mill, Logic, book I, chap. V, § 5, note. *) A. Riehl, Der philosophische Kritizismus. II, i. 1879. S. 122 Das Verhältnis des Psychologischen zum Logischen. 117 Außer der Flüchtigkeit, der zeitlichen Unbeständigkeit der psychi- schen Gebilde kann aber noch ihre Unscharfe zu Bedenken Anlaß geben, die undeutliche Abgrenzung der Vorstellungen voneinander. Ihrer Be- trachtung müssen wir noch einige Bemühungen widmen, damit wir nicht bloß von der menschlichen Fähigkeit zur fehlerlosen Analyse überzeugt sind, sondern auch einsehen, in welcher Weise denn nun die bunten psychi- schen Vorgänge zu brauchbaren Repräsentanten der logischen Gebilde werden, in welcher Weise das Unvollkommene die Funktion des Voll- kommenen ohne Mangel erfüllt. 17. Das Verhältnis des Psychologischen zum Logischen. Die Weiterführung der zuletzt angestellten Betrachtungen zwingt uns, noch einmal auf eine Schwierigkeit einzugehen, welche das Denken einer Reihe von Philosophen der Gegenwart in eigentümliche Bahnen gedrängt hat. Die Einsicht, daß Begriffe und sonstige logische Gebilde keine psychi- schen Realitäten sind, führte dazu, ihnen eine besondere Art des ,, Seins" zuzuschreiben und, gleich Platon, das Reich des realen und das Reich des idealen Seins als zwei ganz verschiedene und getrennte Sphären ein- ander gegenüberzustellen. Nun müssen aber doch beim Denkakte die beiden Reiche irgendwie in Verbindung, in Verkehr miteinander treten; und die Schwierigkeit besteht eben darin, anzugeben, wie dergleichen mögUch ist. Die bildliche, naive platonische Lösung, wonach die Ideen von unserem Geiste einfach ,, geschaut" werden, befriedigt uns heute nicht. Daß Vorstellungen nicht dasselbe sind, wie Begriffe, psychische Tätig- keiten nicht dasselbe wie logische Verhältnisse, ist eine alte Wahrheit, nur wurde sie in ihrer ganzen Schärfe erst neuerdings wieder heraus- gearbeitet, und zwar durch die Fehde gegen den sogenannten ,, Psycho- logismus", von dem es schien, als betrachte er alle logischen Größen, wie Begriffe und Urteile, als psychologische Gebilde. Es schien so, sage ich, denn vielleicht war dem Psychologismus mehr eine laxe Ausdrucks- weise, ein Beiseiteschieben gewisser Fragen vorzuwerfen als eine völlige Verkennung des wahren Sachverhaltes. Daß z. B. die Vorstellung, die in meinem Bewußtsein ist, wenn ich an eine Ellipse denke, nicht selbst diese Ellipse, nicht selbst eUiptisch ist, das haben die Psychologisten kaum be- stritten. Sie müssen doch wohl eine Ahnung davon gehabt haben, daß Begriffe nicht Realitäten des Bewußtseins sind, sondern unwirklich, bloße Fik- tionen, denn sie vertraten meist die Ansicht, daß Begriffe Abs traktions - gebilde sind ; daß aber solche nicht als wirkliche Vorstellungen Dasein besitzen, muß jedem klar sein: eine Linie etwa, ein Strich ohne Breite, ist ja, wie gerade die Psychologisten wissen, nicht wirklich vorstellbar. ,, Begriffe und Urteile sind Denkgebilde, das Denken ist ein psychischer Vorgang — folglich ist Logik die Lehre vom Denken, und alles Logische gehört in den Bereich der Psychologie . ..." so etwa mag man oft gedacht 1 1 8 Denkprobleme. und geäußert haben, und das war eine Gedankenlosigkeit, veranlaßt durch den Doppclsinn des Wortes ,, Denkgebilde", welches sowohl den Begriff wie die ihn bezeichnenden Vorstellungen bedeuten kann, oder, wie man seit K. TwARDOWsKi ^) sagt, sowohl den Inhalt wie den Gegen- stand der Vorstellung (unter dem Inhalt ist der Bewußtseinsprozeß zu verstehen, der die Vorstellung ausmacht, unter dem Gegenstande aber das durch sie bezeichnete Objekt, mag es nun ein Wirkliches oder ein Begriff sein). Jedoch diese psychologistische Gedankenlosigkeit scheint mir nicht so gefährlich für die Grundlagen der Philosophie wie die ausdrückliche und durchdachte Lehre, daß die logischen Gebilde eine Sphäre füc sich ausmachen, ein Reich der Ideen, welches von der realen Welt unab- hängig ,, existiert". Diese Lehre ist gar nicht falsch, wenn man die Worte ,, existieren" und ,, unabhängig" richtig auffaßt; aber es ist keiner der platonisierenden Philosophen — auch unter denen nicht, die das Wort existieren auf Begriffe nicht angewendet wissen möchten ^) — , den diese Lehre nicht zu Anschauungen geführt hätte, die ein Verständnis des wahren Verhältnisses beider Reiche zueinander ganz unmöglich machen, ebenso unmöglich, als wenn die Ideen, wie im platonischen Mythos, als wirkliche Wesen in einem TÖTiog 'bnfQovQaviog thronten, ewig fern von unserer Welt, und allen unseren Sinnen unerreichbar. Konnte schon Platon das Problem nicht lösen — man erinnere sich seines vergeblichen Bemühens, über die Art ins Klare zu kommen, wie die realen Dinge an den Ideen ,, teilhaben" — , so vermochten seine modernen Nachfolger in diesem Punkte keinen Schritt über ihn hinaus zu tun. Wie verhalten sich die Vorstellungen zu den Begriffen, wie die psychischen Urteilsakte zu den logischen Sätzen? Auf diese Frage erhalten wir immer wieder — nach unseren Betrachtungen oben im § 1 1 fast mit Abscheu — die Antwort, daß diese in jenen ,, erfaßt" werden. Dieser Ausdruck ist völlig nichts- sagend, und vergeblich versucht man ihn schmackhafter zu machen, indem man den ,.Akt der Erfassung" der idealen Gebilde durch reale psychische Akte mit dem Namen ,,Ideation" oder ähnlichen bezeichnet. Viel schlimmer aber als diese Ausdrucksweisen, die keine Lösung geben, ist es, wenn man hier statt von einem Erfassen, von einem Erleben redet, denn das bedeutet eine falsche Lösung des Problems. Erlebnisse sind Realitäten. Sofern man das Wort in dem üblichen Sinne gebraucht, in dem wir es hier allein verwandt haben, heißt ,, etwas wird erlebt" gar nichts anderes als: ,, etwas ist Bewußtseinsinhalt". Das Erleben ist nicht ein Akt, eine Tätigkeit des Bewußtseins, die sich irgendwie auf Objekte richtete und sie dadurch sich zu eigen machte, zum Bewußtsein brächte, wie wir durch einen Akt des Greifens mit der Hand eine Münze packen *) TwARDowsKi, Zur Lehre vom Inhalt und Gegensland der Vorstellungen. Wien 1894. *) Zu diesen gehört z. B. B. Russell, der von ihnen nicht sagen will: they cxist. londern: they subsist or have being. The problems of philosophy. p. 156. Das Verhältnis des Psychologischen zum Logischen. iig und uns aneignen — , sondern wenn ich sage: „ich erlebe dies", so ist das schlechterdings nur ein spiachlich anderer Ausdruck für das Urteil: „dies ist Datum meines Bewußtseins". Man kann also nicht das Erlebnis vom Erleben und vom Erlebten unterscheiden, sondern dies alles ist ein und dasselbe. Eine Blauempfindung z. B. ist ein schlechthin einfach Seiendes, es läßt sich nicht das Empfinden des Blau und das empfundene Blau daran auseinander halten. Das ist eine der fundarnentalen Tatsachen der deskriptiven Psychologie, über die man kein Wort mehr verlieren sollte, und die sogar von mehr spekulativ verfahrenden Psychologen anerkannt wird ^). In diesem Sinne werden aber die Begriffe nicht erlebt; sie sind ja nichts Reales, werden niemals als Bestandstückc eines Erlebnisses vorgefunden. (Siehe auch unten § 19.) Das sehen nun die platonisierenden Idealisten im Grunde auch ein, und sie helfen sich, wie Philosophen sich in ähnlichen Fällen nicht selten geholfen haben: ist ein Satz, der ihnen am Herzen liegt, in dem gebräuch- lichen Sinn der Worte nicht richtig, so konstruieren sie eben einen neuen Sinn der Worte, und dann ist es natürlich immer möglich, den alten Satz aufrecht zu erhalten; er bedeutet jetzt aber etwas ganz anderes. Da nun in unserem Falle hier die Begriffe zum realen Bewußtsein, zum Erlebnis, irgendwie in Beziehung treten müssen, so sagt man einfach: wenn die Begriffe nicht in dem eben bezeichneten Sinn erlebt werden, nun, so gibt es noch einen anderen Sinn des Wortes Erleben, und in d i e s e m werden sie erlebt. ,,Aber vom Erfassen, Erleben und Bewußtwerden ist hier, in Beziehung auf dieses ideelle Sein, in ganz anderem Sinne die Rede, als in Beziehung auf das empirische, d. i. das individuell vereirizelte Sein" ''). Was nun dies Erleben des Ideellen (das ja nicht zu dem Erleben in dem uns allein bekannten Sinne des Wortes gehört) eigentlich für ein Erleben ist, kann man folgerichtig nicht weiter fragen; es ist eben ein letztes, es wird einfach — erlebt. Höchstens kann man es durch neue Namen be- zeichnen, und dazu ist man auch gern bereit: wir erleben jene Idee ,,in einem Akte auf Anschauung gegründeter Ideation" '). Damit aber nun die offenbar unentbehrliche Beziehung zu den eigentlichen Erlebnissen, d. h. den realen Bewußtseinsdaten, nicht verloren gehe, weist man hin auf eine besondere Klasse der letzteren, ,,in" oder ,,an" der (oder wie der bildliche Ausdruck sonst lauten mag) das ,, Erfassen" der Idee stattfindet. Diese Klasse gehört zur Gattung der ,,intentionalen" Er- lebnisse. Der Ausdruck ,,intentionar', der aus der Scholastik seinen Weg über Brentano in das Denken der Gegenwart gefunden hat *), bezeichnet solche Bewußtseinsinhalte, die sich ,,auf einen Gegenstand richten" (vgl. ^) Siehe z B. Natorp, Allgemeine Psychologie I. Tübingen 1912. 3. Kapitel. § 3, § 4. *) HussERL, Logische Untersuchungen I. S. 128. Ebenda. S. 129. *) Siehe vornehmhch Husserl's Logische Untersuchungen IL L Teil. V. Unter- such. Kap. I und 2. I20 Denkprobleme. oben S. 19 f.). Beim Wahrnehmen wird etwas wahrgenommen, beim Vorstellen etwas vorgestellt, im Urteilen wird etwas beurteilt; wir können nicht lieben, ohne daß die Liebe auf einen geliebten Gegenstand geht, nicht denken, ohne daß ein Gegenstand da ist, an den wir denken. Die Gegenstände, auf welche unsere Bewußtseinsakte sich richten, werden nicht in unserem Sinne des Wortes erlebt — der wahrgenommene, der beurteilte, der geliebte Gegenstand sind ja nicht real im Bewußtsein gegenwärtig — , wohl aber wird jenes Gerichtetsein auf den Gegenstand, die ,, Intention", unmittelbar erlebt. Und so ist es nun auch mit den Begriffen. Denke ich an ein Dreieck, so ist zwar nicht dieses selbst, wohl aber die Intention darauf in meinem Bewußtsein. Diese Lehre enthält, wie wir wissen, tatsächlich Richtiges. Wenn wir oben (S. 19) bemerkten, es gebe eigentlich keine Begriffe, sondern nur be- griffliche Funktionen, so ist damit im Grunde dasselbe behauptet, als wenn man sagt, daß nicht die Begriffe, sondern die Intention darauf erlebt wird, oder, wie man es auch formuliert, daß die 'Begriffe nicht reale, sondern intentionale Inhalte des Bewußtseins sind. Nur ist zur Lösung unseres Problems damit nicht das Geringste geleistet, man hat ihm nur wieder einen neuen Namen gegeben. Wir müssen nämlich weiter fragen: Ist nicht das intentionale Erlebnis als reale psychische Größe von den idealen- Gebilden ebenso weit und unüberbrückbar getrennt, wie etwa die Vor- stellungen von den Begriffen.? Woher weiß ich denn, worauf meine Akte sich richten? bin ich mit ihnen nicht wieder mitten in der Psychologie, ohne Aussicht, in das Gebiet der Begriffe und der Logik hinüber zu ge- langen, wo allein die Strenge und Schärfe herrscht, um deren Möglichkeit wir besorgt waren.? Man antwortet uns: Mitnichten! Wenn wir es richtig anfangen, sind wir mit ihnen weder in der Logik noch in der Psychologie, sondern in einer neuen Wissenschaft, grundlegender a\ß beide: der Phänomenologie. Die Phänomenologie, meint man, macht es möglich, unmittelbar das W e s e n der intentionalen Gegenstände zu erschauen. Wir können z. B. einen Ton hören: das ist ein psychologischer Vorgang (der Ton ist als realer Bewußtseinsinhalt vorhanden); andererseits können wir aber zugleich dabei das Wesen ,,Ton" erschauen, wir erhalten Kenntnis davon, was ein Ton überhaupt ist: das ist phänomenologische Wesensschauung. Ganz einfach: ,,Wie das Gegebene der individuellen Anschauung ein individueller Gegenstand ist, so ist das Gegebene der Wesensanschauung ein reines Wesen" ^). Wie also eine bestimmte Wahrnehmung uns in der empiri- schen Anschauung gegeben ist, so gibt es nach dieser Lehre eine Wesens- anschauung, die uns das Wesen, die Idee, das Eidos, den Begriff ver- mittelt. Selbst wenn wir einmal ganz davon absehen, daß die oben als un- möglich erkannte Unterscheidung von Anschauen und Angeschautem hier ^) HussERL, Ideen zu einer reinen Phänomenologie etc. 1. Buch. S. 10 f. 1913. Das Verhältnis des Psychologischen zum Logischen. 121 fortwährend sorglos gemacht wird, so brauchen wir nach allem früher Gesagten (vgl. auch Teil I, § 11) kein Wort mehr darüber zu verlieren, daß durch diese Behauptungen unser Problem gar nicht berührt, son- dern umgangen wird. Es wird die Existenz einer besonderen Anschauung behauptet, die kein psychischer realer Akt sein soll; und vermag jemand ein solches nicht in den Bereich der Psychologie fallendes ,, Erlebnis" nicht aufzufinden, so wird ihm bedeutet, er habe die Lehre eben nicht verstanden, er sei noch nicht zu der richtigen Erfahrungs- und Denk- einstellung vorgedrungen, das erfordere nämlich ,, eigene und mühselige Studien" ^). Um aber zu jener Einstellung zu gelangen, muß nun freilich auch der Phänomenologe von der Bewußtseinsrealität ausgehen. Er versichert uns jedoch, daß die empirische oder individuelle Anschauung in Wesens- schauung (Ideation) ,, umgewandelt" werden kann *), daß jede individuelle Anschauung ,,die Wendung in Wesensschauung nehmen" kann *). Das Wesen Ton ist ein aus dem individuellen, realen Ton „herauszuschauendes Moment" '). Aber w i e gelangt der Schauende vom psychischen Phänomen zum reinen Wesen, von der psychologischen Beschreibung zur phänomeno- logischen Analyse? Ei, durch die ,,eidetische Reduktion". Was ist nun dieses Neue? Wie verfahre ich, um diese wunderbare Reduktion auszu- führen? Nun, einfach so, daß ich alles Wirkliche ,, einklammere", die ganze Welt in ihrem Dasein, mich selbst und mein Bewußtsein einge- schlossen, ,, ausschalte" und den Blick nur auf ihr ,, Wesen" richte *). Also: um von der psychologischen Wirklichkeit loszukommen, sagt man uns, brauchen wir sie bloß einzuklammern oder auszuschalten, dann bleibt das Eidos übrig, dann wird aus der deskriptiven Analyse die Wesens- schauung. ,,Je nach Ausschaltung oder Einschaltung der psychologischen Apperzeption gewinnen . . . dieselben Analysen bald rein phänomenologi- sche, bald psychologische Bedeutung" '^). Können wir uns mit einer solchen Lehre zufrieden geben, oder be- deutet sie nur eine Ausschaltung und Einklammerung, nicht eine Lösung des Problems? Sie wird in immer anderen Wendungen vorgetragen und mit großem Gepränge als Grundlage einer neuen Wissenschaf t eingeführt. Aber bei Licht besehen ist sie weiter nichts als eine strenge Durchführung der allbekannten Unterscheidung zwischen Existenz und Essenz, zwischen Dasein und Wesen. Wir können über das Wesen, das Sosein von Gegenständen Urteile fällen und aus ihnen ganze Wissenschaften aufbauen, ohne irgendwelche Urteile über reales Dasein, über Tatsachen hineinzumengen .... wer dürfte das leugnen? Aber unser Problem ist dadurch seiner Lösung nicht ^) Ebenda. S. 3. *) Ebenda. S. 10. *) Ebenda. S. 9 *) Vgl. besonders § 31 und § 32 des zitierten Werkes. *) HussERL, Logische Untersuchungen II*. Teil I. S. 369 Anmerkung. 122 Denkprobleme. irgendwie näher gebracht, ja es wird dadurch noch nicht einmal berührt. Vielmehr wird gerade das, was wir in Frage stellen, immer schon als er- ledigt vorausgesetzt. Wir fragen gerade, wie uns überhaupt nichtreale Gegenstände, Begriffe oder Urteile, ,, gegeben" sein können, da wir eben nur die realen Bewußtseinsinhalte als das Gegebene kennen i). Die logi- schen Gebilde sind nichts Wirkliches, nicht als Teile oder Seiten der psychischen Prozesse mit diesen gegeben, sondern sie werden von uns fingiert. Aber alle unsere Aussagen über sie sind reale Urteilsakte, all unser Wissen von ihnen m u ß in den realen psychischen Prozessen irgend- wie enthalten sein, sonst bliebe es uns unbekannt, es wäre ja nicht bewußt. Die Bürgschaft für die Richtigkeit unserer logischen Analysen muß in realen Bewußtseinstatsachen liegen, oder wir haben überhaupt keine Bürgschaft. Nun entsprechen aber unsere psychischen Gebilde den vollkommenen Begriffen, die sie darstellen sollen, nur unvollkommen. Dort Ungenauig- keit, hier absolute Schärfe. Wie kann dieses uns durch jenes zur Kenntnis kommen.^ Der Idealist redet hier von einem ,, Erfassen" des einen durch das andere und umgeht so das Problem. Er denkt die erfassenden Prozesse immer schon durch das Erfaßte bestimmt. Dieses wird als ein Vorhandenes betrachtet, nach dem die realen Denkvorgänge sich richten können, die logischen Verhältnisse erscheinen als eine bestehende Norm, die ihnen regelnd gegenübertritt. In Wahrheit aber liegen die Dinge umgekehrt. Es geht durchaus nicht an, die repräsentativen Prozesse zu bestimmen *) Man kann den Ausdruck ,,das Gegebene" auch in ganz anderem Sinne ver- wenden. Das tut z. B. Paul F. Linke in seiner Schrift ,,Die phänomenale Sphäre und das reale Bewußtsein" Halle 1912. Er versteht nämlich darunter die ,,intentionalen Gegenstände", also z. B. das, was uns in einer Wahrnehmung als Wahrgenommenes, in einer Erinnerung als Erinnertes gegeben ist, also den Gegenstand der Vorstellungen, unbekümmert darum, ob diesem Wahrgenommenen oder Erinnerten in Wirklichkeit oder auch nur vermeintlich reale Gegenstände entsprechen. So verstanden ist (a. a. 0. S. 5) ,,kein Gegebenes als solches eo ipso real . . .", es ist nicht wirklich ,,im Sinne eines reellen Bestandstückes unseres Bewußtseins". — Demgegenüber bezeichnen wir hier als Gegebenes gerade Bewußtseinswirklichkeiten, und nur diese, also Erlebnisse, reale Vorkommnisse. Wir befinden uns damit wohl am besten in Übereinstimmung mit dem Sprachgebrauch, der freilich nicht besonders glücklich ist, denn das Wort ,, geben" impliziert einen Gebenden und einen Empfänger und ruft damit leicht schäd- liche Nebengedanken hervor. Doch sie können ferngehalten werden durch eine be-, sondere Warnung, die hiermit ausgesprochen sei. — Linke bezeichnet übrigens das Reich des ,, Gegebenen" (in seinem Sinne) als die ,, phänomenale Sphäre" und stellt ihr die Sphäre der Wirklichkeit gegenüber: ,,das sind zwei ganz und gar getrennte Schichten: es besteht kein Wesenszusammenhang zwischen beiden . . ." (a. a. 0. S. 29 f.). Das Problem ihres gegenseitigen Verhältnisses, das uns hier beschäftigt, löst er nicht; er sagt nur, die phänomenale Sphäre schwebe deshalb nicht in der Luft, den Gegebenheiten entsprächen als reale Korrelate jwychische Prozesse. Daß es erstere ohne letztere nicht geben könne, wüßten wir erfahrungsgemäß (S. 28 f.). Im gleichen Sinne wie Linke verwendet R. Herbertz das Wort ,, gegeben" (Prolegomena zu einer realistischen Logik, S. 174), der freilich zudem in höchst origineller Wendung alles ,, Gegebene", alle intentionalen Gegenstände ("also z. B. auch mathematische Objekte, Zentauren, Nymphen) für wirklich erklärt. Das Verhältnis des Psychologischen zum Logischen. 123 durch die idealen Gegenstände, auf die sie gerichtet sind, sondern Reali- täten können nur durch Realitäten bestimmt Verden. Die Bewußtseins- prozesse, in denen wir logische Analysen vollziehen, müssen ganz aus ihrer immanenten psychologischen Gesetzmäßigkeit heraus verstanden werden, ohne Rücksicht auf das, was sie bedeuten. Wie sie trotzdem ihre Funktion des Bedeutens völlig exakt erfüllen können, ist gerade unser Problem. Natürlich kommen Fälle, in denen auch der Phänomenologe unserer Frage nicht ausweichen kann ^). Er hilft sich aber in solchen Lagen durch den Hinweis auf die Evidenz*). Sie lehre uns, daß von den Begriffen und Urteilen eben gerade genau das gilt, was wir in unseren psychischen Denkakten von ihnen aussagen. Machen wir demgegenüber darauf auf- merksam, daß damit doch wieder alles auf den unsicheren Grund eines subjektiven psychischen Datums gebaut werde, welches der begrifflichen Schärfe entbehre und täuschen könne, so sucht man sich zu retten durch die Unterscheidung zwischen realer und idealer Evidenz ^). Nur auf die letztere komme es in Wahrheit an. Aber damit ist doch alles wieder ver- dorben; denn woher wissen wir von einer idealen Evidenz oder Evidenz- möglichkeit.'' Ihr Dasein muß sich in unserem Bewustsein auf irgend eine Weise realiter kundgeben, durch ein Evidenzgefühl oder sonst ein Moment von psychischer Realität. Damit werden alle früheren Einwände wieder wach, und alles bleibt beim alten: das Problem folgt nach, so oft man ihm auch durch einen Seitensprung auszuweichen sucht. Wir wollen ihm ruhig ins Auge sehen, indem wir von vornherein an- erkennen und festhalten, daß nichts wirklich ,,da ist" als die realen Be- wußtseinsvorgänge, daß die Begriffe erst durch sie fingiert werden. Und wir fragen: Wie ist es möglich, daß die realen psychologischen Beziehungen genau dasselbe leisten wie die reffi logischen Relationen, ohne doch das- selbe zu sein, ohne doch die gleiche Schärfe zu besitzen.? Die Antwort darauf können v/ir uns an einem Bilde klar machen, durch welches man zuweilen den Gegensatz und Unterschied zwischen psychischem Prozeß und logischem Gebilde illustriert, das aber ebenso- gut dazu dienen kann, uns das wahre \'crhältnis beider zueinander zu offenbaren. Wir stellen uns eine Denkmaschine vor, wie sie Jevons konzipiert hat, oder, um Näherliegendes und Praktisches ins Auge zu fassen, eine Rechenmaschine *). Eine solche stellt, sleich dem mensch- lichen Gehirn, einen physischen Apparat dar, dessen Funktion natürlich ganz und gar durch physikalische Gesetze bestimmt wird. Keineswegs etwa durch die Rechenregeln der Arithmetik; von diesen weiß der tote Mechanismus nichts, das Einmaleins ist der Maschine nicht als Bestand- teil eingesetzt. Trotzdem werden durch die Maschinerie die Rechenregeln ^) Ansätze dazu z. B. bei Husserl, Log. Untersuch. I. S. 150. ^) Ebenda. I. 143. II. 108 und an vielen anderen Stellen. 3) Ebenda. I, §§ 50, 51. *) Auf sie exemplifiziert Husserl, Log. Unters. I. S- öS. 124 Denkprobleme. richtig zum Ausdruck gebracht, und zwar mit absoluter Genauigkeit, nicht nur angenähert. Lasse ich mir z. B. durch den Apparat den Wert des Produktes 13 x 14 angeben, so liefert er das Resultat 182, und nicht etwa 182,000001 oder ähnliches. Es wird ohne Zauberei ein schlechthin genaues Ergebnis erzielt, obwohl völlige Exaktheit in jedem Sinne durch keine natürliche Maschinerie zu realisieren ist. Und das letztere liegt selbstverständlich nicht daran, daß etwa die Naturgesetze, die den Lauf der Maschine regeln, irgendwie inexakt oder nur annähernd gültig wären, sondern es hat seinen Grund in der im strengsten Sinne unend- lichen Verschlungenheit alles Geschehens, die da macht, daß kein Vor- gang genau dem andern gleicht, daß z. B. die Bewegung eines Rädchens unserer Maschine nicht bloß von unserer Handhabung der Hebel ab- hängt, sondern ebensowohl, wenn auch in unwahrnehmbarem Maße, z. B. vom Stande des Mondes. Die allen physischen Konstruktionen an- haftende Ungenauigkeit äußert sich bei der Maschine (wenn sie nicht total in Unordnung geraten ist) nicht durch ein falsches Resultat, durch das Erscheinen falscher Ziffern, sondern nur etwa darin, daß die Ziffern nicht ganz genau in einer Reihe stehen, daß der Abstand zwischen ihnen variiert, daß Stäubchen von der schwarzen Farbe sich ablösen, aus der die Schriftzeichen bestehen, und dergleichen mehr. Physisch betrachtet, entbehrt also in der Tat der Rechenprozeß der Maschine der Genauigkeit, das Ergebnis wird aber davon nicht betroffen, weil es für dieses nicht ankommt auf Kleinigkeiten der Stellung und des Aussehens der Ziffern, sondern allein darauf, daß gerade diese und keine anderen ins Gesichts- feld treten. Man wird vielleicht sagen, durch dieses Beispiel sei uns nicht viel geholfen, das aufzuklärende Verhältnis werde davon nicht berührt, denn daß die Angabe der Maschine trotz der leichten Verschiedenheiten doch das gleiche Resultat bedeute, sei nur der Funktion des beobachtenden Intellekts zuzuschreiben, er verleihe erst dem Zahlenbilde die Bedeutung und deute leicht verschiedene Bilder gleich, er lege erst nach dem Vor- bilde der angeschauten Begriffe die Exaktheit hinein, und so vermöge er die Zufälligkeiten der individuellen Erscheinung zu übersehen und von ihnen zu abstrahieren. Aber wenn es natürlich auch richtig ist, daß die Deutung erst im Geiste des verstehenden Betrachters stattfindet, so ist doch für uns ent- scheidend, daß die notwendige und hinreichende Grundlage für diese Deutung bereits in dem physischen Gebilde vorhanden ist, so daß unter den gegebenen Umständen die Deutung vollkommen bestimmt und jede andere ausgeschlossen war. Wir brauchen uns jetzt nur darüber klar zu werden, durch welche Mittel dies in einwandfreier Weise erreicht ist, und unser Problem ist gelöst. Es verhält sich aber damit so: Die Reihe der ganzen Zahlen ist ihrem Wesen nach (d. h. gemäß ihrer Definition) diskontinuierlich, oder viel- mehr diskret. Zwei ganze Zahlen sind niemals unendlich wenig von- Das Verhältnis des Psychologischen zum Logischen. 125 einander verschieden, sondern immer um eine Einheit oder ein ganzes Vielfaches davon; alle Naturprozesse aber verlaufen kontinuierlich, der Zustand eines physischen Systems kann in einen anderen endlich ver- schiedenen Zustand nicht unvermittelt übergeführt werden, sondern immer nur durch unendlich viele dazwischen liegende Zustände hindurch, deren jeder sich von seinem Nachbarn beliebig wenig unterscheidet. Dies hat schon Leibniz in seiner ,,loi de continuite" ausgesprochen. Zur Abmessung kontinuierlicher Größen sind physische Vorgänge daher unmittelbar ge- eignet; z. B- wird die Länge einer Zeitstrecke direkt durch den Zeiger- stand einer Uhr angegeben, und zwar immer nur mit einer gewissen An- näherung, weil von einer schlechthin exakten Festlegung der Zeiger- stellung nicht die Rede sein kann. Die Rechenmaschine aber mißt nicht ein Kontinuum, sie zählt diskrete Einheiten ab. Es sind zwar kontinuier- liche physische Prozesse, Bewegungen von Rädern und Hebeln, durch welche die Ziffernkombinationen ineinander übergeführt werden, z. B. 181 in 182, — aber Anfangs- und Endzustand liegen diskret auseinander. Wenn auch jeder von ihnen den beschriebenen kleinen Variationen aus- gesetzt ist und mit den unmittelbaren Nachbarzuständen verwechselt werden könnte, so sind doch beide voneinander so getrennt, daß sie mit unfehlbarer Sicherheit unterschieden werden. Hier von Unfehlbarkeit zu reden, ist keine Übertreibung Es ist eine einfache Tatsache, daß wir überhaupt imstande sind, Verschiedenheiten festzustellen (siehe oben); es gibt mithin auch eine Grenze der Verschieden- heit, jenseits deren eine Verwechslung schlechthin ausgeschlossen ist. Wenn wir auch diese Grenze in keinem Falle angeben können, so existiert sie doch, und es gibt Fälle, in denen wir unfehlbar behaupten können, jenseits der Grenze zu sein. Die Entfernung meiner Wohnung von der Universität (sie mag etwa einen Kilometer betragen) kann ich mit absoluter Genauigkeit nicht angeben, mit völliger Sicherheit aber darf ich z. ß. aussagen, daß sie mehr als zehn Zentimeter beträgt. Die Länge des Sekundenpendels (etwa ein Meter) läßt sich nicht absolut exakt bestimmen, ja es hat nicht einmal einen Sinn, nach ihrem schlechthin genauen Werte zu fragen; dennoch können wir mit völliger Sicherheit sagen, daß sie nicht hundert Meter und daß sie nicht ein Millimeter beträgt. Praktisch liegt die Grenze der Unterscheidungsmöglichkeit noch viel günstiger, es genügen geringe Unterschiede, um ihre Überschreitung zu sichern. Man bedenke, wie wenig manche Buchstaben, etwa h und k, oder manche Ziffern, ■^ie i und 7, voneinander verschieden sind; dennoch fürchten wir kaum je Verwechslungen, und bestände irgendeine Gefahr dazu, so steht nichts im Wege, den Ziffernbildern noch eine beliebig größere Ver- schiedenheit in Form und Farbe zu erteilen und so noch weiter über jene Grenze hinauszuschreiten. Aber auch die kompliziertesten Gestalten sind immer durch Zwischen- formen kontinuierlich ineinander überzuführen, es ist also mit Hilfe des Kontinuierlichen möglich, beliebige Diskontinuitäten gleichsam nachzu- 126 Denkprobleme. ahmen. Das ist so gewiß möglich, als es in der Natur zählbare Dinge gibt. Denn Zählbarkcit setzt Diskretion voraus, in der Natur aber ist streng genommen alles kontinu-ierlich. Obgleich ich an keinem mathema- tischen Punkte mit Bestimmtheit sagen kann: Hier ist die Grenze der Erde, oder: Hier ist die Oberfläche des Mondes, so sind doch Erde und Mond in voller begrifflicher Strenge voneinander zu scheiden. Aber auch auf engstem Räume kann eine Diskretion physischer Gebilde erreicht werden, wofür eben die Rechenmaschine ein Beispiel war. Ein anderes bietet etwa das Roulettespiel, bei welchem die herumlaufende Kugel not- wendig jedesmal auf einer bestimmten Nummer zur Ruhe kommen muß. Es ist niemals ein Zweifel möglich, auf welche Zahl sie gefallen ist. Sie kann natürlich in jedem Felde eine unendliche Menge nahe benachbarter Lagen einnehmen, aber sie liegt doch immer in einem bestimmten, durch kleine Wände von den Nachbarfeldern getrennten Feld, und zu diesem gehört eben nur die eine bestimmte ganze Zahl. Sobald man einmal eingesehen hat, wie durch kontinuierliche Prozesse die Funktion des Diskontinuierlichen erfüllt werden kann, ist unser Problem auch schon gelöst, denn das hier allein in Betracht kommende Moment, welches die Begriffe von den Vorstellungen, die logischen Ge- bilde von den psychischen Vorgängen unterscheidet, ist gar nichts anderes als der Unterschied des Diskreten vom Kontinuierlichen. Die Schärfe der Begriffe besteht in ihrer Diskretion von anderen Begriffen, die Ver- schwommenheit alles Realen besteht in seiner Kontinuität, die keine absolut scharfen Grenzen duldet. Der Satz, daß kontinuierliche Gebilde die Funktion diskreter über- nehmen können, hat nur deshalb etwas Paradoxes, weil er für das erste Empfinden den Anschauungen zu widersprechen scheint, die wir der An- wendung von Wahrscheinlichkeitsberechnungen auf unsere Naturbeobach- tungen zugrunde zu legen gewohnt sind. Denn diese Anwendung beruht zum Teil auf einer in gewissem Sinne uneingeschränkten Durchführung des Kontinuitätsgedankens. Die Fehlergesetze geben mir auf Grund der Beobachtungen z. B. eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Länge des Sekundenpendels zwischen 99 und lOO cm liegt; aber auch, wenn ich frage: wie groß ist die Wahrscheinlichkeit eines so großen Irrtums bei allen Beobachtungen, daß ihr wahrer Wert über 50 m beträgt? so würde ich bei rein mechanischer Anwendung der Fehlerregeln zwar einen ganz ungeheuer kleinen Bruch für jene Wahrscheinlichkeit erhalten, aber doch nicht streng den Wert Null. Und doch ist es physisch sicher schlechthin unmöglich, daß man sich bei der Messung in solchem Grade geirrt haben sollte, ebenso wie es unmöglich ist, daß die Entfernung der Universität von meinem Hause in Wirklichkeit nicht mehr als 10 cm betragen sollte. Die Voraussetzungen, unter denen die Wahrscheinlichkeitsberechnungen gelten, können eben bei so großen Fehlern nicht mehr als erfüllt betrachtet werden; in diesem weitesten Sinne reicht die Kontinuität nicht be- iebig weit. Aber das wahre Verständnis dieses Faktums wird sehr er- Das Verhältnis des Psychologischen zum Logischen. 127 Schwert dadurch, daß es prinzipiell unmöglich ist, einen Punkt anzugeben, bis zu welchem jene Voraussetzungen erfüllt sind; so erweckt die An- wendung der Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen auf die Natur leicht die Meinung, als gebe es für uns überhaupt in keinem strengen Sinne Diskre- tion und damit absolute Bestimmtheit (denn Diskretion bedeutet für uns absolut bestimmte Unterscheidung der Gebilde). Aber das ist, wie wir sehen, nicht richtig. Diskretion in unserem Sinne ist innerhalb der Kon- tinuität möglich. Die Grenzen aller Unterscheidung sind zwar niemals schlechthin genau bestimmt, aber daraus folgt nicht, daß die Unterschei- dung selbst nicht völlig exakt vollzogen werden könnte. Das Problem des Verhältnisses der psychischen Prozesse zu den logischen Beziehungen stellt sich uns also dar als ein Spezialfall der Frage nach der Erzeugung diskreter, d. h. zählbarer Gebilde durch kontinuier- liche. Mit dem Nachweis, daß letzteres möglich, ist auch unser Problem gelöst. Auf die Bedeutung dieser Möglichkeit haben tiefdenkende Mathe- matiker bereits hingewiesen; so heißt es z. B. bei Poincare^): ,,In der Analysis situs genügen ungenaue Erfahrungen, um ein strenges Theorem zu begründen. Denn wenn man z. B. sieht, daß der Raum nicht zwei oder weniger als zwei Dimensionen haben kann, und nicht vier oder mehr als vier, so ist man sicher, daß er genau drei hat, weil er nicht zweiein- halb oder dreieinhalb haben kann". Selbst für die gröbsten Beispiele bleibt das wahr: wir können sagen, es ist g e n a u richtig, daß der Mensch zwei Ohren hat oder zwei Beine, denn es wäre nicht ungenau, sondern unsinnig, einem Menschen etwa 2,002 Ohren zuzuschreiben. Es gibt Ge- legenheiten, durch ungenaue Erfahrungen exakte Wahrheiten zu be- gründen: dieser Satz birgt die Lösung unseres Rätsels vollständig in sich. Unser Gehirn ist einer Rechenmaschine vergleichbar oder einer jEVONs'schen Denkmaschine. Die kontinuierlichen Prozesse in ihm führen zu gewissen Endphasen, wie bei jenen Apparaten die Ziffern oder BucÜr-i^- Stäben herausspringen. Parallel gehend treten im kontinuierlichen Be- wußtseinsstrome diskrete Phasen auf, die, obwohl durch allmähliche Über- gänge verbunden, doch nicht untrennbar ineinander laufen. Sie werden eben als verschieden erlebt, und weiter ist nichts nötig, um eine exakte Logik im Denken möglich zu machen. Es ist leicht zu übersehen, daß .die Bedingung zur Begründung der ganzen Logik gegeben ist, sobald nur überhaupt erst einmal die Möglichkeit besteht, diskrete Gebilde zu kon- struieren; die Möglichkeit exakter Begriffsbildung hängt allein hieran, sie erfordert nichts weiter als strenge Unterscheidung. Denn wenn wir auf früher Gesagtes zurückblicken (Teil I, § 7), so wissen wir, daß es für die logischen Verhältnisse der Begriffe gar nicht ankommt auf den anschau- lichen Inhalt, den sie bezeichnen, sondern allein darauf, daß sie über- haupt bestimmt Unterscheidbares bedeuten; logisch sind die Begriffe nur durch ihre Abgrenzung, ihre Unterscheidung von anderen Begriffen ^ Der Wert der Wissenschaft. 2. Aufl. 1910. S. 50. 128 Denkprobleme. Bestimmt, nicht durch die anschaulichen Gegenstände, denen sie zugeordnet sind. Die Relationen der diskreten, zählbaren Größen sind tatsächlich von derselben Schärfe und Strenge, wie die Verhältnisse der Begriffe, obwohl sie Realitäten sind. In unserem Bewußtsein finden wir allein die ersteren vor, die letzteren sind nirgends, es sind Fiktionen, und man darf mit Recht sagen, daß sie gar nicht ,, existieren". Wir sprechen nur so, als ob es sie gäbe, um der Einfachheit des Ausdruckes willen; das ,, ideale" Sein ist eben ein fiktives. Wenn die idealistischen Logiker immer darauf hinweisen, daß alle psychologischen Gesetze vage seien und daraus folgern, daß absolute Strenge nur in der Sphäre des Idealen zu finden sei, nicht auch in der psychischen Wirklichkeit, so begehen sie eine petitio principii, denn der ,, Psychologist", der den unscharfen, kontinuierlichen Charakter der psychi sehen Vorgänge im allgemeinen zugeben muß, kann ja behaupten, daß trotzdem auch solche von völliger Exaktheit vorkommen, die dann eben die Träger des Logischen sind. Zweitens ist es auch ganz gewiß nicht richtig, die psychischen Gesetzmäßigkeiten einfach alle für vage zu erklären, denn so wahr das Kausalgesetz allgemein gültig ist, spielt alles Geschehen in Natur und Geist sich nach Gesetzen ab, die ebensowenig Ausnahmen erleiden wie die Regeln der formalen Logik. Nicht die Ge- setze sind inexakt, sondern unsere Kenntnis von ihnen ist unvollkommen: das ist ein gewaltiger Unterschied. Nun haben wir uns aber soeben über- zeugt, daß wir trotz der mangelhaften Kenntnis der Gesetze, die das psychische Geschehen im einzelnen beherrschen, doch über ein genaues Wissen bestimmter Regelmäßigkeiten daran verfügen, gleichwie ich etwa von dem Ring an meinem Finger, ohne je seine Gestalt absolut exakt angeben zu können, dennoch mit schlechthin unfehlbarer Sicherheit aus- sagen darf, daß er drei Dimensionen hat und als Ganzes ein räumliches Gebilde darstellt, welches der Mathematiker als ,, zweifach zusammen- hängend" bezeichnet. Anschauliche Vorstellungen können die Aufgabe der Begriffe restlos erfüllen, sobald sie mit absoluter Sicherheit voneinander unterschieden werden, denn wir haben oben {Teil I, § 5) ausführlich erörtert, daß die Begriffe überhaupt nur zu dem Zwecke der scharfen Unterscheidung er- funden wurden. Unsere letzten Betrachtungen haben nun den Nachweis erbracht, daß jene Unterscheidung psychischer Größen tatsächlich ge- währleistet ist durch das Moment der Diskretion, das in die Kontinuität der anschaulichen Prozesse eingeht. Damit ist nun wohl das Problem der Realisierung der logischen Beziehungen durch psychische Prozesse be- friedigend geklärt. Das Logische ist nicht eine selbständige Sphäre unab- hängiger idealer Wesenheiten, die durch die psychischen Tätigkeiten ,, erfaßt" oder ,, geschaut" würden, sondern es ist eine Fiktion, zu deren Bildung jenes Moment der Diskretion das vollkommene Muster und die notwendige und hinreichende reale Grundlage bietet. Von der Evidenz. 129 18. Von der Evidenz. Durch die nunmehr abgeschlossenen Betrachtungen haben wir uns Klarheit errungen über die Probleme des reinen Denkens, indem wir die Frage beantworteten, durch welche Besonderheiten der psychischen Pro- zesse uns untrügliche Einsicht zuteil wird in die Wahrheit derjenigen Urteile, die auf einer Analyse von Begriffen beruhen. Und mehrfach haben wir dabei verbreitete Vorurteile niederringen müssen, die dem Verständnis des wahren Sachverhaltes hindernd im Wege stehen. Zurückschauend und zusammenfassend wollen wir das gefundene Ergebnis noch einmal in helleres Licht setzen, indem wir jene fundamentalen Irrtümer gänzlich' fortzuräumen suchen, welche immer und immer wieder ihren Schatten auf die behandelten Probleme werfen und die Anschauungen älterer und neuerer Philosophen über das Wesen des Bewußtseins verdunkelt haben. Die Frage nach der Gewißheit des analytischen Denkens wird, wie schon erwähnt (oben S. 102), von den meisten Denkern durch einen ein- fachen Hinweis auf die Evidenz erledigt. Daß der Satz des Wider- spruches richtig ist und mit ihm alle Analysis, die ja auf ihn sich gründet, das sei schlechthin ,, evident". Die Evidenz wird als ein unentrinnbar letztes angesehen: alle Wahrheit müsse schließlich in ihr einen Halt finden, oder überhaupt in nichts zusammenfallen. Wir haben die Anrufung der Evidenz als höchste Instanz und letzte Zuflucht wiederholt als verkehrt und untunlich abgelehnt. Die Anhänger der Evidenzlehre aber werden meinen, wir seien in einer argen Selbst- täuschung befangen, wenn wir den verurteilten Begriff als letzte Siche- rung glauben entbehren zu können. Denn wie ich mich auch ausdrücken mag: setze ich nicht der Sache nach doch immer voraus, daß meine Be- hauptungen und Beweise als wahr einleuchten.'' Wenn ich auf Tat- sachen hindeute, setze ich dann nicht wenigstens voraus, es leuchte ein, daß es wirklich Tatsachen sind? Und wird nicht der Hinweis auf dieses Einleuchten stets der Endpunkt sein, zu dem man notwendig gelangt, wenn die Frage nach dem Grunde unserer Überzeugung immer wieder gestellt wird.? Die Antwort auf solche Vorhaltungen wurde eigentlich schon in den vorhergehenden Ausführungen gegeben, bei der Besprechung eines Grund- irrtums des Descartes (oben S. 70 f.). Die Grundlagen alles Wissens sina nämlich weder gewiß noch ungewiß, sondern sie s i n d einfach, Sie leuchten nicht ein und brauchen nicht einzuleuchten, sondern sie sind selbständig, selbstgenugsam da. Gewiß geschieht die Feststellung der Wahrheit durch irgendwelche Bewußtseinsdaten, die man schließlich als Evidenz bezeichnen mag, un- möglich aber läßt sich die Lehre aufrecht erhalten, daß es ein spezifisches unreduzierbares Evidenzerlebnis gebe, dessen Vorhandensein das aus- reichende Kriterium und untrügliche Kennzeichen der Wahrheit aus- mache. Dies wird erwiesen durch die Erfahrungstatsache, daß ein Evidenz- S Chi ick, Erkenntnislehre. Q 130 Denkprobleme. erlebnis sich auch bei notorisch falschen Urteilen einstellt. Jede falsche mit aufrichtigem Eifer verfochtene Behauptung ist eigentlich ein Beispiel dafür. Man denke etwa an die Systeme großer Metaphysiker, wie Des- CARTES und Spinoza, die zum großen Teil aus falschen Urteilen be- stehen, ihren Urhebern aber doch als die sichersten aller Wahrheiten galten. Die Verteidiger der Evidenzlehre behaupten natürlich, daß in diesem Falle nicht die richtige, die echte Evidenz erlebt wurde, es handele sich vielmehr um eine Gewißheit,, ohne Evidenz" ^). Diese Behauptung aber verwickelt sich in einen unaufhebbaren Widerspruch. Entweder nämlich, die echte Evidenz wird von der unechten (der Gewißheit ohne Evidenz) als wesensverschieden erlebt, dann werden beide also gar nicht miteinander verwechselt; Evidenztäuschungen kommen dann gar nicht vor, und damit wäre der Tatbestand geleugnet, zu dessen Erklärung die ganze Lehre er- funden ward. Oder aber es besteht kein unmittelbarer Unterschied zwischen den beiden Erlebnissen. Dann ist damit gesagt, daß es nur auf indirektem Wege, also durch nachträgliche Untersuchung möglich ist zu entscheiden, ob Gewißheit mit Evidenz oder Gewißheit ohne Evidenz vorgelegen hat. Damit ist dann aber zugestanden, daß das echte Kriterium der W^ahrheit überhaupt gar nicht in dem Evidenzerlebnis zu suchen ist, sondern daß andere Kriterien die allein entscheidenden sind, diejenigen nämlich, welche bei jener nachträglichen Untersuchung befragt werden mußten. Evidenz- erlebnisse können das nicht wieder sein, denn es ist klar, daß man sich sonst in einen Zirkel verstrickt. Damit aber ist die Behauptung Von der Evidenz als letztem Kriterium aufgehoben. Es führen somit beide Alter- nativen zum Widerspruch mit den Voraussetzungen der Lehre, und es ergibt sich, daß die begriffliche Unterscheidung zwischen evidenter und evidenzloser Gewißheit nur eine künstliche Konstruktion war, ersonnen, um die Behauptung aufrecht erhalten zu können, daß jede Wahrheit durch ein spezifisches untrügliches Evidenzerlebnis sich uns ankündige. Auf keinem Gebiete sind so verkehrte Anschauungen über das Wesen der Evidenz zutage getreten, wie bei der Frage nach der Gültigkeit der , .Axiome". Sie werden in der philosophischen Literatur oft als ,, un- mittelbar evident" bezeichnet, als Urteile, welche die Bürgschaft ihrer Wahrheit ,,in sich selbst" tragen. Wenn es aber überhaupt erlaubt ist, von derartigen Urteilen zu reden, so gehören die sogenannten Axiome sicherlich nicht dazu. Man könnte vielleicht elementare Wahrnehmungs- urteile dazu rechnen, wie ,,dies ist blau", ,,dies Gefühl ist lustvoU" — bedenkt man aber, daß man sich von der Wahrheit eines Urteils doch nur überzeugen kann, wenn man sich die Bedeutung der darin auftretenden Begriffe restlos vergegenwärtigt hat, so wird man es schwer finden, den Axiomen ,, unmittelbare" Evidenz zuzuschreiben. Denn die Begriffe, von denen die Axiome handeln, sind gerade die fundamentalsten, sie stehen *) Vgl. z. B. Höfler, Grundlehren der Logik. 4. Aufl. 1907. S. 82. Von der Evidenz. 131 in den größten Höhen der Abstraktion. Man denke an den Satz des Widerspruchs, an den Kausalsatz. Wie außerordentlich beziehungsreich sind die Begriffe, die in diesen Sätzen verknüpft, oder genauer gesprochen, erst durch sie bestimmt werden. In Beziehungen besteht ja das Wesen der Begriffe, und es bedarf um so komplizierterer Prozesse zu ihrer Ver- gegenwärtigung, je abstrakter sie sind, je weiter sie vom Anschaulichen sich entfernen. Was für mannigfach verschlungene Verhältnisse müssen überblickt werden, um z. B. den Begriff der Ursache zu denken! Wie kühn ist also die Behauptung, der Kausalsatz sei ,, unmittelbar evident"! Um manchen Schwierigkeiten der Lehre von der Evidenz zu ent- gehen, hat man sie, wie wir schon im Vorübergehen erwähnten, der Sphäre des Psychologischen, also Subjektiven, zu entrücken und ihr Objektivität zu verleihen gesucht, indem man erklärte, die Evidenz sei gar nicht ein bloßes Gefühl, ein subjektives Erlebnis, durch das sich die Wahrheit eines Satzes dem Urteilenden direkt ankündige; sie sei vielmehr eine Eigen- schaft des Urteils als eines idealen Gebildes selber, die nun in den realen Denkakten entweder erfaßt oder nicht erfaßt würde. Im letzteren Falle käme eben eine Täuschung zustande. Man sieht sofort, daß mit solchen Behauptungen die Theorie sich immer mehr von ihrem Anfang entfernt und ihre ursprüngliche Aufgabe gar nicht mehr erfüllen kann. Ihr Sinn ist dann in dürren Worten der, daß einem Urteil außer seiner Wahrheit auch noch ein besonderes Kenn- zeichen der Wahrheit zukommt. Für manche fällt dann überhaupt beides zusammen, die Evidenz ist dann nicht mehr bloß Kriterium, sondern Wesen der Wahrheit; andere unterscheiden beides, berauben aber damit ihr Evidenzgebilde jeder Funktion und jeder Bedeutung, denn was soll uns die Feststellung der Evidenz, wenn wir die Wahrheit eines Urteils direkt am Vorhandensein ihrer wesentlichen Merkmale konstatieren können.? Und die skeptischen Einwände, die wir soeben gegen ein spezifisches Evidenzgefühl geltend machten, bleiben prinzipiell bestehen, nur richten sie sich nunmehr nicht mehr gegen jene Evidenz als Urteils- eigenschaft selbst, sondern gegen ihre Beziehung zu den subjektiven Erlebnissen, die uns doch von ihrem Vorhandensein Kunde geben müssen. In allen Fällen aber wird der fundamentale Fehler gemacht, daß die Wahrheit und das Kennzeichen der Wahrheit gedacht werden als etwas am einzelnen Urteil selber Haftendes, ohne Rücksicht auf andere Urteile und auf Wirklichkeiten. Nun aber ist ganz gewiß — es bildete einen wichtigsten Punkt unserer Untersuchung des Wahrheitsbegriffes (siehe oben I, § 10), würde aber durch jede unbefangene Besinnung ohne weiteres anerkannt werden, — daß Wahrheit nicht eine immanente Eigenschaft des Urteils ist, sondern daß ihr Wesen ganz allein besteht in den Be- ziehungen des Urteils zu etwas außer ihm (nämlich bei Begriffs- ■ Sätzen in Beziehungen zu anderen Urteilen, bei Realbehauptungen außer- dem noch in Beziehungen zur Wirklichkeit, und immer in solchen, daß eine eindeutige Zuordnung erreicht wird). 9* 132 Denkprobleme. Die Erlebnisse also, durch welche die Wahrheit konstatiert wird, können niemals lediglich mit dem ,, evidenten" Urteil selbst zusammen- hängen, sondern müssen sich anschließen an eine Betrachtung seiner Be- ziehungen zu etwas anderem, seines Platzes innerhalb eines Zusammen- hanges (siehe oben S. 62). Bei solcher Konstatierung treten nun be- stimmte Bewußtseinsdaten auf, die man natürlich auch fernerhin als Evidenzgcfühle bezeichnen mag; nur muß man über ihr Wesen klar sein und darf ihre erkenntnistheoretische Bedeutung nicht falsch einschätzen. Welches aber ihre wahre Natur ist, wird sich uns alsbald noch näher herausstellen (unten § 20). 19. Die sogenannte innere Wahrnehmung. So finden wir die Evidenzlehre voller Unstimmigkeiten und Wider- sprüche. Und wir kennen bereits das nQd>TOV ipevdog aller dieser Wirrungen: wer die Worte ,, Evidenz" und ,, Einleuchten" gebraucht, spricht und denkt so, als stünde das Bewußtsein den Wahrheiten und den eigenen Bewußtseinstatsachen schauend gegenüber (so sagt z. B. Stumpf^): ,, Unmittelbar gegeben nennen wir, was als Tatsache unmittelbar ein- leuchtet"), und dann bedarf es freilich eines besonderen Kriteriums dafür, daß auch richtig geschaut wird. Dies soll dann eben die Evidenz sein. Natürlich konnte man sich nicht verhehlen, daß die eigenen Denkprozesse für das Bewußtsein doch keine fremden Tatsachen sind, sondern zu ihm selber gehören; dennoch fuhr man fort, sie vom Subjekt oder Ich ge- schieden zu denken, um sie dann sofort wieder innig mit ihm zu verbinden durch einen Akt, der ganz analog dem Akte sein soll, durch welches man sich eine Gemeinschaft des Bewußtseins mit Dingen außer ihm hergestellt denkt: dem Akte der Wahrnehmung. Auf diese Weise gelangte man zu dem Begriff der ,, inneren Wahrnehmung". Durch sie soll das Ich seinef" eigenen Zustände inne werden, wie es durch die äußere Wahrnehmung der Außendinge inne wird. Da dies durch Vermittlung der Sinnesorgane ge- schieht, so sprach man in Weiterführung der Analogie gar von einem ,, inneren Sinn", und es ist bekannt, daß dieser Begriff in der KANx'schen Philosophie eine nicht unwesentliche Rolle spielt. Dennoch ist der Begriff der inneren Wahrnehmung neben dem Begriff der ,, Erscheinung" (und in der Tat eng mit ihm zusammenhängend — im Teil III sprechen wir davon — ) einer der unglücklichsten, den das philosophische und das psychologische Denken je geprägt hat. Viel unnützes Kopfzerbrechen und zahlreiche Scheinprobleme bösartiger Natur hat diese Begriffsmißbildung verschuldet. Es ist nützlich, einen kurzen Blick auf den Kampfplatz der Mei- nungen zu werfen; wir werden um so größere Freude an einem Stand- ^) Erscheinungen und psychische Funktionen. Abhandlungen der Kgl. Preuß, Akad. d. Wiss. 1906. S. 6. Die sogenannte innere Wahrnehmung. 133 punkt haben, der uns von vornherein jenseits der verwirrenden Schwierig- keiten stellt. Der eifrigste Streiter für die Evidenz und die innere Wahrnehmung, Brentano, erklärt die letztere für schlechthin evident ^) im Gegensatz zur äußeren, die ja bekanntlich trügerisch sein kann. Der ersteren wohne das Wahrgenommene unmittelbar inne, der letzteren sind ihre Gegen- stände nur mittelbar mit Hilfe der Sinnesorgane gegeben. Nun hat man aber mit Recht darauf hingewiesen, daß äußere Wahrnehmungen den Namen Sinnestäuschungen eigentlich nicht mit Fug führen, sondern ihren Grund in falschen Deutungen, Beurteilungen der Sinnesdaten haben. Diese selbst sind weder richtig noch falsch, nur wir irren uns bei ihrer Interpretation. Mit Rücksicht darauf, daß bei der inneren Wahrnehmung doch auch eine Interpretation hinzukomme, hat man dann geschlossen, daß an dieser Stelle doch kein wesentlicher Unterschied der beiden Arten zu konstatieren sei. Und die einen, welche die Interpretation mit in den Wahrnehmungsakt einbeziehen, behaupten daher, die innere Wahrnehmung sei ebenso trügerisch wie die äußere; die andern dagegen, welche die eigentliche Wahrnehmung von den anschließenden Akten der Inter- pretation und Assimilation sondern, verfechten ganz konsequent die An- sicht, die äußere Wahrnehmung als solche sei ebenso evident und un- trüglich wie die innere. Durch solche Erwägungen hat z. B. Husserl die Unhaltbarkeit der Auffassung Brentano's richtig erkannt; aber er wagt sich nicht so weit, das ganze Problem als falsch gestellt abzulehnen, sondern sucht es durch Einführung einer neuen Unterscheidung aufzulösen und bleibt damit ganz in den alten Bahnen. Er findet nämlich 2) ,,das Wesen der erkenntnistheoretischen Differenz, die man zwischen der inneren und äußeren Wahrnehmung gemacht hat", in dem Gegensatz zwischen ,, adäquater" und ,, inadäquater" Wahrnehmung. ,,Im ersten Falle ist der empfundene Inhalt zugleich Gegenstand der Wahrnehmung. Der Inhalt bedeutet nichts anderes, es sei denn sich selbst. Im zweiten Falle treten Inhalt und Gegenstand auseinander. Der Inhalt repräsentiert, was in ihm selbst nicht oder nicht ganz liegt, was ihm aber ganz oder teil- weise analog ist". Ich meine, daß es im ersten Falle gar keinen Sinn hat, überhaupt von einer Wahrnehmung zu reden. Der Inhalt i s t ein- fach .da, und damit ist alles erledigt. Der Begriff der adäquaten Wahr- nehmung scheint mir mindestens ebenso gefährlich und unglücklich wie derjenige der inneren Wahrnehmung; er hat nur Sinn und Platz in philo- sophischen Systemen (und findet sich in der Tat nur in solchen), die den Begriff der intuitiven Erkenntnis verkünden und die reine Wahrnehmung zur Erkenntnis stempeln wollen. Alles aber, was in diesen Gedanken- kreis gehört, ist bereits so ausführlich besprochen (siehe oben I, § ii), daß es hier keines weiteren Wortes mehr darüber bedarf. ^) Psychologie. S. 184. 2) Logische Untersuchungen. II. S. 711. 134 Denkprobleme. Es ist interessant zu sehen, wie die Verteidiger der inneren Wahr- nehmung durch die skeptischen Versuche, sie mit der äußeren auf eine Stufe zu stellen, beunruhigt werden und den festen Halt wieder zu ge- winnen trachten, um dessen willen die ganze Lehre überhaupt aufgestellt wurde. Sie machen große Anstrengungen zur Rettung der Evidenz der inneren Wahrnehmung, denn sonst verliert die ganze Theorie ihre Berech- tigung. Besonders Hugo Bergmann ^) hat sich bemüht, diese Aufgabe zu lösen. In seiner scharfsinnigen Verteidigung bekämpft er unter anderem auch in speziellerer Form (in Bemerkungen, die sich gegen H. Cornelius und G. Uphues richten) die Ansicht, zu der unsere Untersuchung ge- führt hat, daß nämlich die Frage nach der Evidenz der inneren Wahr- nehmung falsch gestellt ist, weil es eine solche Wahrnehmung gar nicht gibt. Es ist hier nicht nötig, auf die Widerlegung seiner Argumente aus- drücklich einzugehen, sie ergibt sich von selbst aus der Begründung unseres eigenen Standpunktes; ja, von die-sem Standpunkt aus gesehen, verwandeln sich Bergmann's Argumente für die Evidenz der inneren Wahrnehmung geradezu in solche gegen die Existenz derselben ^). Sie legen uns, ihrem wahren Kerne nach, nur die schlecht- hinige Tatsächlichkeit des Gegebenen dar, und so können wir aus schein- baren Einwänden lehrreiche Bestätigungen entnehmen. Sehr hartnäckig wehrt sich gegen unsere These von der Unmöglich- keit der Unterscheidung zwischen einem Bewußtseinsinhalt und seinem Wahrgenommenwerden die experimentelle Psychologie, indem sie auf die wohlbekannte immer von neuem erfahrene Unsicherheit der sogenannten Selbstbeobachtung hinweist. Comte hat bekanntlich ganz konsequent ihre Möglichkeit überhaupt geleugnet, aber dazu will man sich nicht mehr verstehen. Külpe sagt folgendes über unser Problem'): ,,.... selbst für die unmittelbar gegenwärtigen Erlebnisse darf die Einheit des Bewußt- seins mit seinem Gegenstande nicht uneingeschränkt behauptet werden. Tatsachen, wie die eben merkliche Empfindung und der eben merkliche Unterschied von Empfindungen z. B. weisen darauf hin, daß es Empfin- dungen und Empfindungsunterschiede gibt, die wir nicht merken, von denen wir nichts wissen". Seit Leibniz in seiner Lehre von den ,,petites perceptions" solche Denkwege einschlug, haben Betrachtungen, wie diese, an Bedeutung eher gewonnen als verloren. Sie spielen eine große Rolle bei dem Problem des unbewußt Psychischen, welches aber in Wahrheit gar kein Problem, sondern nur eine Frage der Terminologie, höchstens der Methode ist. *) Untersuchungen zum Problem der Evidenz der inneren Wahrnehmung. Halle 1908. *) Das gleiche gilt von Brentano's eigenen Ausführungen in seiner Psychologie. Er unterscheidet von der inneren Wahrnehmung (unserem bloßen ,, Gegebensein") die innere Beobachtung und erklärt letztere mit Recht für nichtexistierend. Auch in der Ablehnung des Unbewußten verfährt er konsequent. ') Die Philosophie der Gegenwart in Deutschland. 3. Aufl. S. 112. Die sogenannte innere Wahrnehmung. 135 Besonders lehrreich sind die Ausführungen von Stumpf, der für die Existenz unbemerkter und unmerklicher i) Bewußtseinsinhalte eintritt. Er bespricht das Beispiel eines Dreiklanges, der einmal als einfache Qualität gehört, ein anderes Mal aber bei größerer Aufmerksamkeit mehr oder weniger deutlich in seine Bestandteile auseinander gelegt wird. Waren diese Bestandteile im ersten Fall etwa nicht da.? Stumpf erscheint eine solche Annahme unmöglich und er hält den Schluß für zwingend, daß die einzelnen Töne (als psychische Qualitäten natürlich) allemal in dem Akkord wirklich vorhanden sind, aber nur unter besonderen Umständen bemerkt (bewußt) werden. Er verteidigt sich gegen den Einwand, daß seine Ansicht eine unerlaubte ,,Verdinglichung" der psychischen Inhalte mit sich bringe, durch folgende Worte ^): ,,Aber wäre es auch wirklich eine bloße Annahme, warum sollte sie unerlaubt sein.'' Man hat es neuer- dings auch dem Chemiker als Fehlschluß der Verdinglichung angerechnet, daß er in die Kohlensäure die beiden Stoffe hineinverlege, die er nachher daraus gewinnt aber einer verkehrten Denkweise braucht sich der Chemiker nicht beschuldigen zu lassen." Jedoch gerade in diesem Fall erscheint der Vergleich des Psychologen mit dem Chemiker wohl nicht zutreffend. Denn die Kohlensäure ist nicht etwas unmittelbar Gegebenes, sondern ein irgendwie hinter oder außer den gegebenen Empfindungen angenommenes Substrat, welches das Ge- gebene verständlich machen soll .... oder, wenn man will, ein Begriff, der gewisse Zusammenhänge des Gegebenen bezeichnet. Und das gleiche gilt vom Sauerstoff und Kohlenstoff. Alle drei können und müssen ge- danklich so bestimmt, ihre Merkmale müssen so definiert werden, daß sie nach den Regeln der Wissenschaft am besten ihre Aufgabe erfüllen, zu deren Lösung die Begriffe des Sauerstoffes, des Kohlenstoffes und der Kohlensäure überhaupt aufgestellt wurden. Ganz anders mit den Bewußt- seinsdaten. Ein gehörter Akkord ist nicht ein transzendentes Ding, über dessen Eigenschaften und Bestandteile je nach den Erfordernissen der Erklärung diese oder jene Annahmen gemacht werden können, er ist nicht ein Begriff, den wir so oder so definieren können, sondern er ist undefinierbar, etwas schlechthin Seiendes, in seinen Bestimmungen unserer Willkür und unseren Bedürfnissen gänzlich Entzogenes, an ihm kann nicht gedeutelt werden, ich kann keine Hypothese über seine Zusammen- setzung machen: denn alles dies kann ich nur bei Gegenständen, die nicht unmittelbar gegeben sind. Das Gegebene ist das schlechthin Wirkliche, welches allen unseren Annahmen voraus geht. Annahmen sind nur zu- lässig über das Unbekannte. Es hat überhaupt keinen Sinn, Annahmen zu machen über die Beschaffenheit des schlechthin Bekannten; es ist kein Platz für sie da. Wenn beim Hören eines Akkordes das eine Mal ein ein- heitlicher Klang empfunden wird, das andere Mal mehrere Töne in ihm gehört werden, so ist der erlebte Dreiklang, dies unmittelbar gegebene *) Erscheinungen und psychische Funktionen. S. 34. *) a. a, O. S. 20. 136 Denkprobleme. Gebilde, in beiden Fällen eben ein anderes; die Erlebnisse, die das erste Mal da sind, sind verschieden von denen, die das zweite Mal da sind. Man kann nun diese Verschiedenheit des Gesamterlebnisses, welche schlechthin Tatsache ist und sich nicht hinweginterpretieren und als Schein erklären läßt, zwar so deuten, daß man sagt, die Empfindungen selber seien in beiden Fällen die gleichen, es fehlten aber in dem einen Falle gewisse psychische Akte, die in dem andern hinzuträten und dann mit den Empfindungen zu einem andersartigen Erlebnis verschmölzen. Diese Auffassung ist aber nicht notwendig, nicht die einzig mögliche, man kann ebensogut auch die Empfindungen selber in beiden Fällen als verschieden annehmen. Daß der Klang als physikalischer Vorgang beide Male derselbe ist, will natürlich gar nichts besagen, denn derselbe Reiz löst ja im allgemeinen ganz verschiedene Empfindungen aus je nach dem Zustande, in dem er das Subjekt antrifft. Im Zustande gespannter Aufmerksamkeit können die Empfindungen nebst ihren physiologischen Korrelaten sehr wohl andere sein als sonst. Die Hypothese, welche die Verschiedenheit beider Fälle auf das Hinzutreten eines besonderen psychi- schen Aktes zurückführen will, erscheint mir ganz unannehmbar, wenn man diesen Akt mit Stumpf als ein bloßes Bemerken auffaßt. 'Be- merktsein ist identisch mit bewußtsein und kann nicht wohl als eine be- sondere Funktion des Bewußtseins betrachtet werden, sondern es ist selbst Bewußtsein, es kann niemals zur Erklärung des Unterschiedes zweier Zustände des Bewußtseins dienen ^). Das Streben, in verschiedenen psychischen Gebilden dieselben Ele- mente unverändert wiederzufinden, das eine Mal unbemerkt, das andere Mal bewußt, ist wohl noch ein Überrest atomistischer Denkweise in der Psychologie, in welche selbst Denker verfallen, die sie sonst ausdrücklich verurteilen. Wir können nur sagen: der als Einheit gehörte Dreiklang ist etwas anderes als der analysierte; sobald wir behaupten, der erstere sei aus denselben Empfindungen zusammengesetzt wie der letztere, sind wir in den psychologischen Atomismus verfallen, welcher fn der Tat eine ,, unerlaubte Verdinglichung" begeht, indem er verschiedene Bewußt- seinsgebilde ansieht als mosaikartig aus unveränderten Elementen zu- sammengesetzt. Diese Betrachtungsweise ist streng genommen nie erlaubt. Der Strom des Bewußtseins ist ein wahres heraklitisches Fließen, jeder Bewußtseins- zustand ist eine Einheit und nicht im echten Sinne analysierbar wie eine chemische Verbindung, deren einzelne Komponenten auch unabhängig voneinander Bestand haben. Man hat dies wohl öfters bemerkt, selten aber so eindringlich hervorgehoben und durchgeführt wie Cornelius, mit ^) Vgl. zu der Frage die trefflichen Ausführungen von K. Koffka, Probleme der experimentellen Psychologie in Heft i und 2 des Jahrgangs 191 7 der Zeitschrift „Die Naturwissenschaften". Die sogenannte innere Wahrnehmung. 137 dessen Ansichten über die in diesem Paragraphen besprochenen Dinge ich mich im ganzen überhaupt in vorzüglicher Übereinstimmung befinde. Nicht genug beherzigt werden kann die Wahrheit, die er in den Sätzen ausspricht^): „Wirklich läßt sich an irgend einem gegebenen Bewußt- seinsinhalte nichts analysieren, ohne daß an die Stelle dieses Bewußt- seinsinhaltes etwa Neues träte : sobald wir durch unsere Analyse eine Erkenntnis gewinnen, welche uns nicht eo ipso bereits in dem gegebenen Bewußtseinsinhalte gegenwärtig war, hat unsere Analyse diesen Inhalt durch etwas anderes, davon Verschiedenes ersetzt". Wir finden unsere Auffassung noch bestätigt, wenn wir beachten, wie Stumpf dem auf der Unzerlegbarkeit einheitlicher psychischer Ge- bilde fußenden Einwand zu begegnen sucht, um so die Berechtigung seiner Unterscheidung zwischen den Empfindungen und ihrem Bemerkt- werden noch sicherer zu stellen. Er weist auf ein Analogon hin 2): ,, Farbe und Ausdehnung bilden untereinander gleichfalls ein Ganzes, in welchem sie nur durch Abstraktion auseinander gehalten werden können. Wollte nun einer schließen: ,also kann Ausdehnung nicht ohne Farbe vorkommen', so wäre dies gleichwohl ein Fehlschluß. Tatsächlich zeigt uns der Berührungssinn, daß Ausdehnung ohne Farbe, wenn auch nicht ohne ein qualitatives Element überhaupt, vorkommt. Und daß diese Ausdehnung etwa eine Ausdehnung in ganz anderem Sinne wäre, läßt sich durch nichts beweisen". Nun werden wir aber später (vgl. unten Teil III, § 28) zwingende Gründe dafür kennen lernen, daß tatsächlich das Wort ,, Ausdehnung" etwas ganz Verschiedenes bedeutet, wenn es auf die Daten verschiedener Sinne angewandt wird. Es wäre nicht praktisch, diese Gründe hier vor- wegzunehmen; sie machen es aber unmöglich, die Ausdehnung z. B. einer Farbe und diejenige eines Tasteindruckes als identische psychische Data zu betrachten. Im Hinblick auf dies Resultat ergibt sich denn, daß die Betrachtungen Stumpf's die Möglichkeit der Unterscheidung zwischen der Empfindung und ihrem Bemerktwerden nicht beweisen. Natürlich ist damit nichts gesagt gegen die Statuierung der psychischen Funk- tionen als einer besonderen Klasse der Erlebnisse überhaupt: diese er- kennen wir in ihrer fundamentalen Bedeutung durchaus an (vgl. oben S. 20); es muß nur geleugnet werden, daß es unter diesen Funktionen eine gebe, die in dem Bemerken der Bewußtseinsinhalte besteht. Es gibt eben keine innere Wahrnehmung. Wenn man die Empfindung von ihrem Bemerktwerden so unter- scheidet, daß sie auch dasein können, ohne daß ein Bewußtsein von ihnen weiß, so sind das, was man hier als Empfindungen bezeichnet, eben trans- zendente Gegenstände, die dem Bewußtsein gegenüberstehen, es vielleicht affizieren, ganz analog wie man sich die äußere Wahrnehmung denken ^) Cornelius, Einleitung in .die Philosophie. 3. Aufl. 1911. S. 313 f. ") Stumpf, Erscheinungen und psychische Funktionen. S. 13. 138 Denkprobleme. kann als eine Affektion des Bewußtseins durch Dinge an sich. Das sind unausweichliche Konsequenzen der besprochenen Lehre, die natürlich als eine metaphysische charakterisiert werden muß. Wer sie annimmt, redet von Empfindungen in demselben Sinne, wie man von einem Ding an sich reden kann, welches der Wahrnehmung eines Tisches zugrunde liegt. Sie sind unbewußt in demselben Sinne, in welchem physische Dinge un- bewußt sind. Damit ist man denn bei dem Begriff des unbewußten Psychi- schen angelangt. Unsere letzten Darlegungen zeigten, daß der Weg, der zu diesem Begriffe führte, unbeschreitbar ist. Aber gibt es vielleicht andere Wege zu ihm.'' Es läßt sich zeigen, daß es nur durch eine unzweckmäßige Ter- minologie möglich ist, mit dieser Wortkombination einen annehmbaren Sinn zu verbinden. Wir haben bisher immer, und werden es weiter tun, die Worte ,, psychisch", ,, bewußt", ,, unmittelbar gegeben", völlig gleich- bedeutend verwandt, und für uns wäre es daher ein Widerspruch, von einem u n bewußt Psychischen zu reden. Dies darf man nur, wenn man unsere Terminologie aufgibt und ,, bewußt" und ,, psychisch" nicht gleich- setzt; dann aber dürfte es unüberwindliche Schwierigkeiten bereiten, den Begriff des Psychischen überhaupt eindeutig abzugrenzen. Denn ver- gebens sucht man nach einem Merkmal, welches dann noch für das Psychische allein charakteristisch wäre. Meist glaubt man , als ein solches Merkmal die ,,Unräumlichkeit" benutzen zu können und definiert demgegenüber das Physisphe als das Räumliche; wir werden aber sehen (§ 31), daß dies unmöglich ist. Auch andere Versuche, den Begriff des Psychischen auf Unbewußtes auszudehnen, lassen sich nicht durchführen. Später kommen wir noch darauf zurück, wenn wir uns mit der Definition des Physischen und mit den Scheinproblemen seines Verhältnisses zum Psychischen zu beschäftigen haben. Wir kehren zu der ,, inneren Wahrnehmung" zurück. Es soll nicht vergessen werden, daß man von einer solchen auch in einem etwas anderen Sinne gesprochen hat, welcher nicht so leicht anzufechten ist. Die an irgendein Gegebenes sich anschließenden Apperzeptionsprozesse, durch welche, wie man sich auszudrücken pflegt, jenes Erlebnis verarbeitet wird, sind nämlich gelegentlich auch als innere Wahrnehmung des Erlebnisses bezeichnet worden. So ungefähr stellt z. B. Dürr die Sache dar ^). Er definiert zwar zunächst die innere Wahrnehmung als ,,das unmittelbare Erfassen von Bewußtseinsvorgängen", und das können wir natürlich gar nicht billigen, aber er betont dann ausdrücklich, daß die innere Wahr- nehmung eines Gegebenen aus Prozessen bestehe, die zeitlich auf jenes folgen. Sie sei ,, etwas, was durch das Erlebnis nur angeregt wird" ^). Nennt man Derartiges innere Wahrnehmung, so richtet sich gegen sie unsere Polemik nicht, man gerät damit nicht notwendig in Schwierig- *) Erkenntnistheorie, 1910, besonders S. 33. ») Ebenda. S. 34- Die sogenannte innere Wahrnehmung. 139 keiten, denn gegen den richtig verstandenen Apperzeptionsbegriff läßt sich ja nichts einwenden. Dennoch erscheint es mir schlecht angebracht, diesem Prozeß den Namen der inneren Wahrnehmung zu verleihen, denn erstens haben wir ja bereits den Terminus Apperzeption dafür, und zweitens legt der Gebrauch des Ausdruckes Wahrnehmung die verkehrte atomistische Vorstellung nahe, als sei das ,, wahrgenommene" Erlebnis in dem apperzeptiven noch unverändert enthalten, nur etwa von neuen Vor- stellungsmassen umgeben und werde von diesen gleichsam beschaut. In Wirklichkeit ist aber doch das Apperzeptionserlebnis etwas Neues gegenüber dem ursprünglich Gegebenen (dem Perzeptionserlebnis) ; dieses läßt sich nicht aus jenem herausanalysieren und von dem Rest abtrennen*). Ganz unbefriedigend scheint mir aber die Wendung zu sein, welche KÜLPE der Apperzeptionslehre gibt, wenn er sagt 2): ,, Einen psychischen Vorgang erleben, wahrnehmen, ein Bewußtsein von ihm haben und ihn apperzipieren sind hiernach gleichbedeutende Ausdrücke". Damit wird der Unterschied zwischen perzipierten und apperzipierten Bewußt- seinsdaten, welcher den ursprünglichen Sinn der Lehre bildete, überhaupt aufgehoben, denn ein bloß perzipierter Inhalt wäre dann noch gar nicht bewußt, nur Unbewußtes -würde apperzipiert und eben dadurch ins Be- wußtsein erhoben. Hier haben wir also ganz den Standpunkt vor uns, zu dessen Erschütterung wir alle diese Betrachtungen einschieben mußten: jenseits des Bewußtseins (denn sie sind ja noch unbewußt) existieren psychische Elemente, und erst durch einen besonderen Prozeß, durch das Erleben, das Wahrnehmen, das Apperzipieren, ergreift das Bewußt- sein von ihnen Besitz. Dies soll sogar in geringerem und höherem Grade geschehen können. Külpe unterscheidet nämlich fünf verschiedene Be> wußtseinsstufen und hält ihre Existenz für experimentell bewiesen ^). Es ist aber wohl zu beachten, daß dies Ergebnis keineswegs direkt aus dem Versuch abgelesen werden kann, sondern eine Deutung des Experimentes darstellt: eine Reihe verschiedener Erlebnisse wird interpretiert als ein und derselbe Inhalt in verschiedenen Bewußtseinsweisen. Es liegt aber auf der Hand, daß man auch sagen kann — und nach unseren Darlegungen *) Einen ähnlichen Weg, sinnvoll von innerer Wahrnehmung zu sprechen, öffnet sich auch R. Herbertz. Er sagt (Prolegomena zu einer realistischen Logik, S. 190): ,,Die Bewußtseinsvorgänge sind uns, indem wir sie erleben und dadurch, daß wir sie erleben, keineswegs zugleich auch unmittelbar gegeben. Erst in besonderen Akten psychischen Erfassens .... müssen wir uns ihr Dasein reflexiv zum Bewußtsein bringen. Erst als Gegenstände der Selbstwahrnehmung sind sie uns dann ,gegeben' ". In diesen Sätzen wird das Wort ,, gegeben" in einem ganz anderen Sinne gebraucht als wir es hier getan haben (vgl. oben S. 122 Anm.), und deshalb ist der Sinn, in dem Herbertz von Selbstwahrnehmung spricht, nicht identisch mit dem, den wir verwerfen mußten. Die innere Wahrnehmung kann vielmehr in den zitierten Sätzen, wie bei Dürr, hIs Apperzeption verstanden werden, und dann hat sie mit unserm vorliegenden Problem nichts zu tun. 2) Die Philosophie der Gegenwart. 3. Aufl. S. 113. ^) Die Realisierung. 1912. Bd. I. S. 56 f. 140 Denkprobleme. allein sagen darf: es waren eben differente Inhalte da. Denn Er- lebnis und Inhalt des Erlebnisses sind ein und dasselbe. Gerade dieser Art von Fragen steht überhaupt das psychologische Experiment machtlos gegenüber, weil ihre Lösung bei der Interpretation jedes Versuchs immer schon vorausgesetzt werden muß. Betrachten wir als Beispiel den (von KÜLPE mit Vorliebe zitierten) Fall, daß eine Versuchsperson nach Vor- legung einer gezeichneten Figur wohl die Gestalt, nicht aber die Farbe derselben anzugeben vermag. Nun muß aber jede Gesichtswahrnehmung doch irgendeine Qualität haben, sie muß etwa schwarz, grau oder farbig sein, und so will man denn schließen, daß die Versuchsperson wohl eine Farbenempfindung gehabt habe, aber nicht im Bewußtsein. Dieser Schluß ist aber schon aus dem Grunde hinfällig, weil das Referat über ein Erlebnis immer erst diesem nachfolgt. Muß während des Erlebnisses eine Farbenempfindung vorhanden gewesen sein, die während des Referates nicht mehr da ist, und an die auch keine Erinnerung existiert, nun, so liegt eben der Tatbestand vor, den man als Vergessen bezeichnet, und es kann aus Versuchen der erwähnten Art weiter gar nichts geschlossen werden, als daß Bewußtseinsdaten unter den geschilderten Umständen so flüchtig sein können, daß sie keine Erinnerungsdispositionen zurück- lassen und auf der Stelle wieder vergessen werden. Die Wurzeln der Denkweisen, die wir hier bekämpfen, liegen sehr tief. Ruhen doch selbst die Ausdrucksformen unserer Sprache auf der falschen Voraussetzung, daß zu jedem Erleben, zu jedem Bewußtsein die Dreieinigkeit Ich, Akt, Gegenstand gehört, wie das Wahrnehmen die Dreiheit Wahrnehmendes, Wahrnehmen und Wahrgenommenes voraus- setzt. Daß auch der Ausdruck ,, Gegebenes", den wir hier immer ver- wendeten, an dem gleichen Mangel leidet, wurde schon warnend erwähnt. Noch weniger empfehlenswert dürfte es sein, statt von einem Gegebenen gar von einem ,, Gehabten" zu sprechen ^); dieses Wort erinnert fast noch deutlicher an den Gegensatz von Subjekt und Objekt. Das Cogito des Descartes enthält, wie früh bemerkt wurde, den Fallstrick einer Unter- scheidung zwischen einem substantivischen Ich und seiner Tätigkeit, über den auch Descartes gestolpert ist, indem er hinzufügte: ergo sum, denn dieses sum bedeutet für ihn, wie sich bald zeigt, die Existenz eines sub- stantiellen Ich. Lichtenberg's wahre Bemerkung, Descartes hätte statt ,,ich denke" nur sagen dürfen: ,,es denkt", ist nicht nur ein geistreicher Einfall, sondern sollte eigentlich zum obersten Prinzip der Psychologie gemacht werden. Wir reden in dieser Wissenschaft immer so (und die Sprache gestattet es kaum anders), als wäre das Bewußtsein eine Schau- bühne, in welche die einzelnen psychischen Elemente eintreten, nachdem sie sich vielleicht gar irgendwo hinter den Kulissen aufgehalten haben um dann vom Ich (vermöge seiner ,, Spontaneität", wie Kant verschlim- mernd hinzufügte) verknüpft oder getrennt zu werden, oder wie die Aus- ^) Wie dies z. B. Driksch gern tut. Die Logik als Aufgabe. 1913, passim. Die Verifikation. 141 drücke sonst lauten mögen. • Als bildliche Sprechweise kann man solche Worte gelten lassen, aber was sie beschreiben, ist nichts als der stetige rastlose Wechsel der Qualitäten, den man den Strom des Bewußtseins nennt ^). Jedes seiner Stadien ist ein neues und enthält keines der vorher- gegangenen realiter in sich, mag es auch als Reproduktion oder Apper- zeption eines früheren Erlebnisses bezeichnet werden. Der Bewußtseins- strom ist ein schlechthin seiender Prozeß, das Ich ist sein einheitlicher Zusammenhang, nicht eine Person, die ihn beschaut und lenkt. Und das ausdrückliche Ichbewußtsein darf nicht aufgefaßt werden als ein den Ablauf der Bewußtseinsprozesse ständig begleitendes Moment, sondern ist nur e i n Inhalt unter anderen, der zuweilen unter besonderen Umständen in ihm auftritt. Es ist eines der unschätzbaren Verdienste des Altmeisters der modernen Psychologie, Wundt, den wahren Sachverhalt unbeirrt immer von neuem hervorgehoben zu haben. Er kämpfte stets gegen die ,, falsche Unterscheidung des Bewußtseins von den Vorgängen, die seinen Inhalt bilden sollen" *) und hat diesen Standpunkt mit energischer Konse- quenz festgehalten. Manche Unklarheit und Unzulänglichkeit wäre ver- mieden, wenn man seine Argumente nicht so unbekümmert beiseite ge- schoben hätte. 20. Die Verifikation. Da wir das Vorhandensein eines spezifischen Erlebnisses der ,, Evidenz" verneinten, das uns die Wahrheit eines wahren Satzes untrüglich anzeigt, taucht natürlich die Frage auf, an welchen Bewußtseinsdaten sich denn nun eigentlich die Wahrheit erkennen läßt. Welches ist das Kriterium, das uns ihrer versichert? Auf diese Frage haben wir bisher eine Antwort nicht unmittelbar gegeben, wir sind aber im vollständigen Besitz der Daten, die zu ihrer Lösung erfordert werden. Denn da wir über das Wesen der Wahrheit Bescheid wissen und ihre Eigenschaften kennen, so vermögen wir auch anzugeben, wie sich die Wahrheit der Urteile für uns bemerkbar machen muß. Wahrheit kann nur da sein, wo die Merkmale des Begriffes der Wahrheit entweder selbst unmittelbar vorgefunden werden, oder solche Daten, die eine notwendige Folge des Vorhandenseins dieser Merkmale sind. Nun ist aber die Wahr- heit durch ein einziges, höchst einfaches Merkmal definiert: es ist die Eindeutigkeit der Zuordnung der Urteile zu den Tatsachen. Ein Kriterium der Wahrheit ist daher jedes Anzeichen, welches festzustellen gestattet, ob eine solche Eindeutigkeit besteht oder nicht. Für das Stattfinden der Eindeutigkeit gibt es aber wiederum zunächst nur ein unmittelbares Kennzeichen: daß sich nämlich nur eine einzige Tatsache finden läßt, die dem untersuchten Urteil zugeordnet ist, nach den feststehenden Regeln der Bezeichnung. ^) Der Ausdruck stammt von William James. *) Wundt, System der Philosophie. Bd. II. 3. Aufl. S. 138. 142 Denkprobleme. Die Wissenschaften haben längst besondere Methoden entwickelt, um die Eindeutigkeit der Bezeichnung von Tatsachen durch Urteile zu kon- trollieren; es sind die Methoden der Verifikation. Sie spielen in den Realwissenschaften eine gewaltige Rolle, denn diese Disziplinen bauen sich in der Weise auf, daß sie ihre Urteile zuerst als Hypothesen auf- stellen und dann durch Verifikationen erproben, ob durch sie eine ein- deutige Bezeichnung erreicht wird. Ist dies der Fall, so gilt die Hypothese als ein wahrer Satz. Wir haben es in diesem Abschnitt allein mit Sätzen über Begriffe zu tun, denn nur die von ihnen handelnden Fragen können ganz zu den Denkproblemen gerechnet werden. Wir wollen aber die Frage der Veri- fikation der Urteile über Wirklichkeiten gleich hier erledigen, weil dazu gar keine Voraussetzungen über die Natur des Wirklichen nötig sind, die uns erst im folgenden Abschnitt beschäftigen soll, und weil es umständ- lich sein würde, die Frage später noch einmal abzuhandeln. Jedes Urteil hat nur Sinn im Zusammenhang mit anderen Urteilen, denn damit ein Satz Bedeutung habe, müssen ja außer ihm selbst mindestens noch die Definitionen der Begriffe gegeben sein, die in ihm auftreten. Bei Urteilen über Realitäten führen nun die Definitionen in letzter Linie immer irgendwie auf anschaulich Gegebenes zurück, und zwar in den Natur- wie in den Geisteswissenschaften meist auf sinnlich Wahrgenom- menes. Es läßt sich deshalb jede Realbehauptung durch eine Kette von Urteilen so mit unmittelbar gegebenen Daten in Verbindung setzen, daß sie an ihnen geprüft werden kann. Es kann nämlich so eingerichtet werden, daß das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein bestimmter Daten das Kriterium für die Wahrheit oder Falschheit des Urteils abgibt. Und das geschieht in folgender Weise. Nehmen wir an, es sei eine beliebige Realbehauptung U zu veri- fizieren. Man kann dann aus U ein neues Urteil Ui ableiten, indem man ein anderes Urteil U' hinzufügt, welches so gewählt ist, daß U und U' zusammen als Prämissen eines Syllogismus dienen, dessen Konklusion dann eben Uj ist. Dieses U' kann nun erstens wiederum eine Realbehaup- tung sein, oder zweitens eine Definition, oder drittens ein rein begrifflicher Satz, von dem wir einstweilen annehmen, daß seine Wahrheit bereits absolut feststeht. Aus Ui kann nun mit Hilfe eines neu hinzugefügten Urteils U" ein weiteres, U2, abgeleitet werden, wobei für den 'Charakter von U" dieselben drei Möglichkeiten bestehen wie für U'. Aus Uj und einem neuen Urteil U'" ergibt sich ein Uj, und so kann es fortgehen, bis man schließlich zu einem Urteil U^ gelangt, welches ungefähr die Form hat: ,,Zu der und der Zeit, an dem und dem Orte wird unter den und den Umständen das und das beobachtet oder erlebt". Man begibt sich zur bestimmten Zeit an den bestimmten Ort, realisiert die bestimmten Um- stände und beschreibt, d. h. bezeichnet die dabei gemachten Beobach- tungen oder Erlebnisse durch ein Urteil W (Wahrnehmungsurteil), indem man das Beobachtete oder Erlebte auf Grund von Wiedererkennungs- Die Verifikation. 143 akten unter die zugehörigen Begriffe bringt und mit den dafür gebräuch- lichen Worten benennt. Ist nun W mit U^ identisch, so bedeutet dies die Verifikation von U„ und damit auch vom ursprüngUchen U. Man findet nämhch, obwohl man Urteil und Tatsache auf zwei völlig verschiedenen Wegen einander zugeordnet hat, daß doch ein und dasselbe Urteil beide Male eine und dieselbe Tatsache bezeichnet; die Zuordnung ist also eindeutig, das Urteil wahr. Da nun das letzte Glied der Urteils- kette zu eindeutiger Bezeichnung führte, so erblickt man darin ein An- zeichen dafür, daß auch die übrigen Glieder und mithin der Anfang und Ausgangspunkt U die Bedingung der Wahrheit erfüllen und läßt den ganzen Prozeß auch als eine Verifikation des letzteren Urteils gelten. Streng genommen ist dieser Schluß freilich nur dann einwandsfrei, wenn die Wahrheit jener hinzugefügten Urteile U', U" . . . . bereits für sich feststeht. Dies wiederum ist von vornherein nur der Fall, wenn äie U' Definitionen oder Begriffssätze sind, denn diese gewährleisten ja durch ihre Entstehung selbst schon die Eindeutigkeit. Sind es dagegen Real- behauptungen, deren Wahrheit nicht über allen Zweifel erhaben ist, so beweist die Eindeutigkeit, wenn man am Ende des Verifikationsprozesses richtig zu ihr geführt wird (also die Wahrheit von UJ, streng genommen noch nicht die Wahrheit von U, denn durch Zufall kann es bekanntlich eintreten, daß ein Schlußsatz richtig ist, obgleich unter den Prämissen, aus denen er gewonnen wurde, sich eine oder mehrere falsche befinden.- Da aber eine rein zufällige Bestätigung im allgemeinen sehr unwahrschein- lich wäre, so verliert die Verifikation doch nicht ihren Wert. Sie bietet zwar keinen absolut strengen Beweis für die Wahrheit von U, sondern macht sie nur wahrscheinlich; dafür bedeutet sie aber zugleich eine Veri- fikation für die sämtlichen Hilfssätze U', U" . . . ., denn auch die Wahr- heit dieser Urteile macht sie wahrscheinlicher, und zwar aus denselben Gründen, die für U gelten, denn jene stehen ja prinzipiell zu U^ in ganz demselben Verhältnis wie U. Jeder einzelne von diesen Hilfssätzen wird in der Praxis oder der Wissenschaft meist noch durch zahlreiche andere Urteilsketten verifiziert; so stützen sich die einzelnen Ergebnisse gegen- seitig, und die Eindeutigkeit der Zuordnung wird für jedes Glied des ganzen Systems immer mehr sichergestellt. An jedem beliebigen Beispiel aus den Wissenschaften läßt sich das Gesagte veranschaulichen. Nehmen wir an, der Historiker ^) wolle sich überzeugen, ob es wahr ist, daß irgendein bestimmtes Ereignis sich in der überlieferten Weise abgespielt hat. Da werden ihm zunächst irgendwelche Angaben eines Geschichtswerkes, sodann vielleicht gedruckte oder ge- schriebene Berichte oder dokumentarische Aufzeichnungen über das Ge- schehnis vorliegen, und diese müssen von Zeugen stammen, die auf mehr oder weniger direktem Wege, oft durch viele Mittelpersonen hindurch, ^) An einer anderen Stelle (Vierteljahrsschr. f. wiss. Phil. XXXIV. S. 437 f.) hatte ich zur Illustration ein Beispiel aus den Naturwissenschaften gewählt. 144 Denkprobleme. von der Begebenheit Kenntnis erlangten. Der Forscher kann nun viel- leicht aus den vorliegenden Daten den Schluß ziehen, daß unter den Aufzeichnungen eines bestimmten Mannes, dessen die Quellen Erwäh- nung tun, oder in der Chronik einer bestimmten Stadt, wahrscheinlich eine Bemerkung über den fraglichen Vorgang zu finden sei, und er wird versuchsweise den Satz (UJ aufstellen: ,,In dem und dem Archiv befindet sich eine Urkunde mit den und den Angaben über jenes Ereignis". Wird nun in dem Archiv eine solche Urkunde wirklich entdeckt, so kann genau das gleiche Urteil (als W) auf Grund der anschaulichen Wahrnehmung dieses Schriftstückes aufgestellt werden: dem gleichen Tatbestand ent- spricht beide Male dasselbe Urteil, und alle Urteile der ganzen Schkiß- kette gelten damit als verifiziert. Diese Urteilsreihe ist in Wirklichkeit unübersehbar lang, kaum in aller Vollständigkeit auszusprechen und hinzuschreiben. Eine gewaltige Anzahl von Hilfssätzen U', U" ... ist in ihr enthalten, und die meisten von ihnen werden niemals explicite erwähnt, weil man ihre Wahrheit nicht bezweifelt, weil sie im Leben und Denken zu jeder Stunde von uns vorausgesetzt und ebensooft bestätigt werden. Zu ihnen gehören z. B. die Annahmen — um nur näher liegende zu nennen — , daß nicht sämt- liche Zeugen durch Halluzinationen getäuscht wurden, daß Pergament und Papier die Schriftzüge unverändert erhalten und nicht etwa mit der Zeit in andere mit anderem Sinne verwandeln, und dergleichen mehr. Sätze difeer Art gehen ausnahmslos in jeden Verifikationsprozeß ein. Und weil sie sich in jedem Falle bestätigen, hegen wir einen so unerschütter- lichen Glauben an ihre Wahrheit. Die Erkenntnistheorie des Pragmatismus, der vor einiger Zeit nicht unbeträchtliches Aufsehen in der philosophischen Welt erregte, rückte diese Verifikationsprozesse in das Zentrum der Betrachtungen und be- hauptete, daß in ihnen überhaupt das ganze Wesen der Wahrheit be- stehe. Daß dieser Satz gänzlich unrichtig ist, wissen wir aus den Betrach- tungen des ersten Teiles. Aber die Pragmatisten (Peirce, James, Dewey in Amerika, F. C. S. Schiller in England u. a.) erwarben sich doch dadurch ein echtes Verdienst, daß sie ausdrücklich darauf hinwiesen, daß es (zunächst für Realbehauptungen) überhaupt keinen anderen Weg zur Konstatierung der Wahrheit gibt, außer der Verifikation. Dies ist in der Tat von großer Wichtigkeit. Wir fügen noch das gleichfalls wichtige Ergebnis hinzu, daß die Verifikation immer hinausläuft auf die Feststellung der Identität zweier Urteile. In dem Augenblick, wo sich herausstellt, daß wir bei der Bezeichnung einer wahrgenommenen Tatsache zu demselben Urteil gelangen, das wir schon vorher auf logischem Wege für diese Tatsache abgeleitet hatten, sind wir von der Wahrheit des er- probten Satzes überzeugt; und es gibt keinen anderen Weg zu solcher Überzeugung, weil eben das Wesen der Eindeutigkeit es mit sich bringt, daß sie schließlich immer auf die geschilderte Weise zum Ausdruck kommt. Die Verifikation. 145 Aber wie steht es nun mit rein begrifflichen, d. h. analytischen Sätzen? Sämtliche Betrachtungen, die wir hier als ,, Denkprobleme" ab gehandelt haben, beschäftigen sich mit dieser Art von Urteilen. Wir wissen, daß sie a priori gültig sind, weil sie ja nur aussagen, was in den Begriffen bereits definitionsgemäß enthalten ist und daher keiner Be- stätigung durch die Erfahrung bedürfen, um als wahr erkannt zu werden. Eine Verifikation von der Art, wie wir sie eben für die Wirklichkeitssätze beschrieben haben, scheint also für die Begriffssätze nicht erforderlich zu sein, ihre Wahrheit bedarf dergleichen nicht zu ihrer Offenbarung. Wir wissen auch schon, daß die Flüchtigkeit und Kontinuität der psychischen Prozesse kein Hindernis für uns bildet, analytische Urteile und Schlüsse richtig zu vollziehen und zu erkennen, daß sie richtig vollzogen sind. Wir haben uns aber noch nicht im einzelnen vergegenwärtigt, durch welche Bewußtseinsakte dies geschieht, und müssen es nun nachholen, um die durch Ablehnung der Evidenztheorie leer gewordene Stelle auszufüllen. Es liegt, wie wir sahen, im Wesen der Analyse oder Deduktion, daß der Inhalt des Schlußsatzes bereits vollständig in den Prämissen ent- halten ist. Er sagt nur scheinbar etwas Neues; Zeichenkombinationen, die scheinbar verschieden sind, stellen sich als gleichbedeutend heraus, sobald man auf die in den Prämissen vollzogenen Setzungen zurückgeht. Ist daher der Schluß richtig gezogen, so muß sich die Eindeutigkeit der Zuordnung der Begriffe zueinander dadurch offenbaren, daß man zu einer reinen Identität gelangt, wenn man die Substitutionen ausführt, die kraft der in den Prämissen niedergelegten Begriffsbeziehungen erlaubt sind oder erfordert werden. Dies also ist das logische Fundament des Weges, auf welchem die Richtigkeit der Analyse, d. h. die Wahrheit des Schlußsatzes konstatiert wird. Am deutlichsten läßt sich das aufweisen an den durchsichtigsten Methoden der Analysis, die wir überhaupt be- sitzen: denen der Mathematik, besonders der Algebra. Um die Richtig- keit einer beliebigen Relation festzustellen, sagen wir z. B. der Gleichung e'* — cos X + i sin x, setzt man auf beiden Seiten für die Rechnungs Symbole ihre Bedeutungen ein, in unserem Beispiel also die Reihen, durch welche die Funktionen definiert sind, und man erhält sofort eine Identität. Und ebenso kann in jedem anderen Falle die Richtigkeit eines Resultates verifiziert werden. Aber auch jeder andere deduktiv abgeleitete Satz läßt sich in analoger Weise prüfen. Nehmen wir etwa das Schulbeispiel von der Sterblichkeit des Caius, so können wir den Schlußsatz gemäß den Anweisungen der Prämissen in eine reine Identität verwandeln. Denn wenn wir in ihm für Caius substituieren ,,ein Mensch." (nach dem Unter- satz), und für ,,ein Mensch" (nach dem Obersatz) ,,ein Sterbliches", so geht er über in die Tautologie ,,ein Sterbliches ist sterblich"; die Ein- deutigkeit dokumentiert sich in dieser Identität. Die Aufweisung einer Identität dient uns also auch hier, wie bei den Realbehauptungen, als Kriterium der Wahrheit. Sie geschieht im Bewußt- sein natürlich durch mehr oder weniger anschauhche Vorgänge, durch Schlick Erkenntnislehie. XO 146 Denkprobleme. welche die diskontinuierlichen Begriffsverhältnisse gleichsam nachgeahmt werden — ein Vorgang, von dessen Möglichkeit wir uns durch die Ent- wicklungen des § 17 überzeugt haben. Um die Wahrheit irgend eines all- gemeinen Satzes einzusehen, muß ich ihn zunächst ,, verstehen", ich muß mir die Bedeutung der Worte klar machen und mir seinen Sinn, vergegen- wärtigen. Wir können dies ausdrücken, indem wir sagen, ein allgemeiner Satz wird dadurch zum Verständnis gebracht, daß wir ihn geschwind auf ein anschauliches Beispiel anwenden. Und ebenso geschieht die Einsicht in seine Wahrheit, die eben in irgendeinem Identitätserlebnis abschließt, durch welches gewisse Vorstellungen oder Akte sich als ein und dieselben dokumentieren. Die gleichen logischen Verhältnisse können auf die ver- schiedenste Art repräsentiert werden; einen und denselben geometrischen Satz kann ich mir an unendlich vielen Figuren klar machen, die Gültig- keit eines Schlußmodus mit Hilfe der verschiedensten Beispiele illustrieren, Ganz unabhängig von der Natur der illustrierenden Bilder muß aber (vorausgesetzt natürlich, daß die ,, Bilder" den logischen Beziehungen wirklich parallel gehen) am Schluß das Identitätserlebnis auftreten. Und dieses Erlebnis ist es nun ohne Zweifel, welches man gemeinhin als ,,Evidenzgeführ' anzusprechen pflegt. Was für Urteile man auch be- trachten möge: wo immer eine Wahrheit uns evident erscheint, wo immer wir gleichsam zu uns sprechen: ,,es stimmt", ,,so und nicht anders", da findet stets ein solches Identitätserlebnis statt. Und andererseits kündigt sich alles Falsche durch ein Ungleichheitserlebnis an. Wie sollte es auch anders sein, da doch die Wahrheit das schlechthin Konstante, ewig Un- abänderliche, Eindeutige ist, während das Falsche, das Vieldeutige, immer in Unstimmigkeiten, Differenzen und Abweichungen sich zeigt. Natürlich ist das Auftreten dieses ,, Evidenzgefühls", wie wir nun- mehr in Übereinstimmung mit früher Gesagtem sehen, kein untrügliches Kriterium der Wahrheit. Denn es kann wirklich Identität der entschei- denden Bewußtseinsdaten vorhanden sein, ohne daß das Urteil, bei dessen Durchdenken sie auftreten, richtig zu sein braucht. Dies kann nämlich dann eintreten, wenn die Korrespondenz zwischen den Begriffen oder Urteilen und ihren anschaulichen Repräsentationen mangelhaft ist, d. h. wenn in der Kontinuität der Bewußtseinsprozesse jenes Moment dar Diskretion nicht hervortritt, welches wir oben (§ 17) als die notwendige Bedingung alles exakten Denkens erkannt haben. Dann kann es ge- schehen, daß durch solch ein Abgleiten ein und dasselbe Bewußtseins- datum zum Repräsentanten verschiedener Begriffe wird, und damit ent- steht ein Identitätserlebnis am unrechten Orte. Die quaternio terminorum ist ein Beispiel für einen solchen Fall. Der Fehler kann entdeckt M^erden durch ein nochmaliges Durchdenken der Analyse, denn da die Bewegung der Bewußtseinsvorgänge von zufälligen Umständen beeinflußt wurde, so ist es wahrscheinlich, daß sie ein zweites Mal nicht in derselben Weise erfolgt (besonders, wenn sie gar durch ein anderes Individuum vollzogen wird), und daß sich so die Diskrepanz enthüllt. Die Verifikation. 147 Es gibt freilich keine psychologische Vorschrift, wie solche Diskre- panzen in jedem Falle zu vermeiden seien, um das Evidenzgefühl immer nur am richtigen Orte auftreten zu lassen, keine Garantie dafür, daß einem bestimmten Bewußtsein die Richtigkeit einer bestimmten Deduk- tion jederzeit zur Evidenz gebracht werden könnte. Aber das wäre auch zuviel verlangt. Es hängt von Bedingungen ab, die wir nicht auf Wunsch restlos erfüllen können. Zur Begründung unanfechtbarer Erkenntnis ge- nügt es, daß unter Umständen diese Bedingungen wirklich erfüllt sind; daß dies aber der Fall ist, steht als Tatsache über allem Zweifel fest. Von Realbehauptungen und von Begriffswahrheiten gilt also gleicher- maßen, daß ihre Wahrheit durch ein Identitätserlebnis festgestellt wird, welches den Abschluß eines Verifikationsprozesses bildet. Es ist aber von der allerhöchsten Bedeutung, neben dieser Übereinstimmung nicht den Unterschied aus dem Auge zu verlieren, der diese beiden Klassen von Urteilen durch einen Abgrund voneinander trennt, den keine Logik und Erkenntnistheorie überbrücken kann. Wenn es gilt, eine durch irgendwelche Schlüsse gewonnene Real- behauptung zu verifizieren — also etwa ein Urteil über den Charakter einer historischen Persönlichkeit oder über die Eigenschaften einer chemi- schen Verbindung — , so ist die Verifikation etwas ganz Neues gegenüber den Denkprozessen, die zur Aufstellung des Urteils führten. Sie ist eine Handlung, durch die der Mensch zur umgebenden Welt Stellung nimmt, und von der er ein bestimmtes Resultat erwartet. Von der Wirklichkeit und ihren Gesetzen hängt es ab, ob dies Resultat erzielt wird oder nicht. Kann er je mit Bestimmtheit wissen, daß ein Urteil über Wirklichkeiten sich bestätigen muß.? Es scheint zunächst, als vermöge er das in der Tat, wenn er nur die Gesetze des Wirklichen kennt. Aber nehmen wir an, er habe alle Gesetzmäßigkeiten der Natur vollkommen studiert — woher weiß er, daß sie in Zukunft denselben Gesetzen folgen und auch dann noch sein Urteil verifizieren wird.'' Die Erfahrung lehrt ihn darüber nichts, denn sie zeigt nur, was ist, nicht aber, was sein wird. Ein Satz ist aber natürlich nur dann wahr, wenn er sich immer und ausnahmslos bestätigt. Aus einer beschränkten Anzahl von Verifikationen kann man, wie schon bemerkt, streng genommen nicht auf absolute Wahrheit, sondern nur auf Wahrscheinlichkeit schließen, weil ja durch Zufall auch bei falschen Urteilen die Prüfung der Eindeutigkeit im Einzelfalle scheinbar ein günstiges Ergebnis haben kann. Aus noch so vielen Bestätigungen läßt sich logisch nicht folgern, daß ein Urteil sich in aller Zukunft verifizieren muß. Um absolut sicher zu sein, daß ein Satz sich immer bestätigen wird, daß er schlechthin wahr, allgemeingültig ist, müßten wir der Wirklichkeit b e - fehlen können, uns bei allen Proben eine Wahrnehmung zu liefern, die mit der erwarteten übereinstimmt. Mit anderen Worten: Um a priori gültige Urteile über die Natur aufzustellen, müßte unser Bewußtsein der IQ* 148 Denkprobleme. Natur ihre Gesetze vorschreiben; sie müßte in einem gewissen Sinne als ein Werk unseres Bewußtseins angesehen werden können. Man weiß, daß Kant in der Tat glaubte, das sei möglich und verhalte sich so; die obersten Gesetze der Natur seien zugleich die Gesetze der Erkenntnis der Natur. Auf diese Weise suchte er schlechthin gültige allgemeine Naturerkenntnisse für uns zu retten und zu sichern, und so die große Frage in bejahendem Sinne zu entscheiden, ob eine absolut sichere Erkenntnis der wirklichen Welt überhaupt möglich ist. Im nächsten Teile müssen wir unsererseits vor dieses Problem hintreten, das wir schon mehrmals in der Ferne .sich erheben sahen. Für die Begriffssätze, die analytischen Urteile, gibt es ein derartiges Problem nicht. Bei ihnen ist der Prozeß der Verifikation nicht etwas Neues gegenüber dem Herleitungsprozeß, nicht von ihm unabhängig (wie der Mathematiker sagen würde), sondern er ruht logisch und psychologisch auf genau denselben Daten wie dieser, geht in keiner Weise über ihn hinaus in eine fremde Wirklichkeit. Die Analogie, die zwischen beiden Urteilsarten hinsichtlich der Einsicht in ihre Wahrheit besteht, geht also nicht etwa so weit (wie man zunächst denken könnte und wirklich gedacht hat), daß bei Begriffswahrheiten die Gesetze des Bewußtseinsverlaufs eine ähnliche Rolle spielten wie die Naturgesetze für die Realbehauptungen. Man könnte nämlich versucht sein, folgendermaßen zu argumentieren: wenn ich jetzt auch die Richtigkeit einer Deduktion einsehe, so ist damit die Wahrheit des Schlußsatzes doch nicht schlechthin gewiß, sondern nur wahrscheinlich gemacht; denn was bürgt mir dafür, daß ich auch in Zu- kunft stets dieselbe Einsicht haben werde.? Könnte sich nicht die Gesetz- mäßigkeit meines Bewußtseins ändern, so daß mir künftig wahr erscheinen wird, was jetzt falsch ist, oder umgekehrt.? Diese Argumentation verkennt die dem analytischen Verfahren zu- grunde liegenden Tatbestände. Ein Bewußtsein, welches fähig ist, be- stimmte Definitionen aufzustellen, ist auch fähig, die daraus folgenden analytischen Sätze immer in derselben Weise einzusehen. Denn beides ist im Prinzip derselbe Prozeß; das Urteil geht ja in keiner Weise über das hinaus, was in seine Begriffe schon hineingelegt, in ihnen schon ge- dacht ist. Die Frage, ob ein Urteil wahr sei, hat nur Sinn für ein Bewußt- sein, das die Definitionen der darin vorkommenden Begriffe vollziehen und verstehen kann. Für ein solches ist sie aber eben damit auch schon beantwortet. Ich kann freilich geisteskrank werden, die Gesetzmäßigkeit meiner Bewußtseinsvorgänge kann sich so ändern, daß ich unfähig werde, die Wahrheit z. B. des Einmaleins zu begreifen. Gewiß, aber dann bin ich eben gar nicht mehr imstande, den Sinn der einzelnen Zahlworte überhaupt richtig zu verstehen, dann kann ich einen sinnvollen Satz über die Zahlen gar nicht denken, und die Frage nach der Richtigkeit eines solchen Satzes wird für mich gegenstandslos, ich kann sie gar nicht auf- werfen. Ein Bewußtsein, das einen analytischen Satz überhaupt ver- stehen kann, hat eben damit eo ipso die Fähigkeit, seine Wahrheit ein- Die Verifikation. 149 zusehen, zu verifizieren, denn beides geschieht durch dieselben Prozesse. Und das gilt ganz unabhängig davon, welcher Art die Gesetzmäßigkeit des denkenden Bewußtseins im übrigen sein mag. Sie fällt in dem Er- gebnis wieder heraus, wird gleichsam eliminiert. Wenn ich in ein anderes Wesen mit anderen Sinnen und völlig verschiedener Psyche ver- wandelt würde, das aber in seiner Art eine entsprechend hohe Intelligenz besitzt, so würden die Bewußtseinsvorgänge und ihre Gesetze, durch die ich etwa den Satz 2x2=4 denke, mit meinen jetzigen nicht die ge- ringste Ähnlichkeit haben, und doch würde ich auf jenem gänzlich diffe- renten Wege die Wahrheit des Satzes einsehen können. Sonst nämlich könnte ich ihn gar nicht verstehen, was gegen die Voraussetzung wäre ^). Dies heißt nun aber, bei analytischen Urteilen ist mir ihre absolute Wahrheit verbürgt; ich habe die Gewißheit, daß sie sich stets verifizieren müssen. (Stets: das bedeutet, so oft ich die Urteile überhaupt denke. Wenn ich sie nicht denke oder nicht denken kann, so wird die Frage sinn- los.) Mit vollem Recht bezeichnet daher Leibniz die Begriffswahrheiten als verites eternelles. Bei den Realbehauptungen dagegen, den verites de fait, ist es sehr wohl möglich, daß ich sie verstehen und denken kann, sie auch in einer Reihe von Fällen bestätigt gefunden habe, daß sie sich aber in der Zu- kunft doch nicht verifizieren, also nicht wahr sind. Denn was bei ihnen zum Verifikationsprozeß erfordert wird, ist nicht schon mit dem Ver- stäifdnis des Urteils selbst gegeben, sondern ich muß darüber hinaus die Wirklichkeit der Welt befragen. Die analytischen Urteile, die Begriffssätze, sind damit für uns er- ledigt. Sie sind kein Problem und geben zu keinem Problem mehr Anlaß. Aber das Problem der synthetischen Urteile, welches alle Wirklich- keitsprobleme in sich birgt, harrt unserer noch in seiner ganzen Größe. ^) Hiernach vermag ich meine frühere Behandlung der Frage (Das Wesen der Wahrheit nach der modernen Logik, II, 5, 6. Viertel] ahrsschr. f. wiss. Phil. Bd. 34) nicht mehr als befriedigend anzuerkennen. Dritter Teil. Wirklichkeitsprobleme. A. Die Setzung des Wirklichen. ai. Fragestellungen. Erkennen — so lautete das Ergebnis des ersten Teiles unserer Unter- suchungen — heißt, die Tatsachen durch Urteile bezeichnen, aber so, daß dazu eine möglichst geringe Anzahl von Begriffen benutzt wird und dennoch eine eindeutige Zuordnung erreicht wird. Bisher haben wir das Reich der Tatsachen, der bezeichneten Gegen- stände, ganz außer acht gelassen und uns nur beschäftigt mit jenen ZeJfchen und den Regeln ihrer Verknüpfung. Und dabei fanden wir, daß alles strenge Schließen eben nur in einer solchen Verknüpfung der Zeichen be- steht; es substituiert die einen für die anderen und vollzieht damit den Prozeß der Analyse, dessen Gesetze die formale Logik entwickelt. Wir erörterten ferner das Verhältnis der Zeichen, der Urteile und Begriffe, zu den psychischen Vorgängen, durch die sie im Bewußtsein dargestellt werden. Aber auch damit verließen wir nicht das Gebiet der Denkprobleme. Nunmehr schreiten wir über dies Gebiet hinaus: wir gehen von der Betrachtung der Form, in welcher Erkenntnis sich uns darstellt, zu dem Inhalt über, der in ihr dargestellt wird, wir wenden uns von den Zeichen ab und den bezeichneten Gegenständen zu. Und damit treten wir einer ganz anderen Klasse von Fragen gegenüber, Fragen, die wir als Wirklich- keitsprobleme bezeichnen wollen. Eine solche Frage ist in jedem einzelnen synthetischen Urteil ver- steckt. Das analytische Urteil hat seinen Rechtsgrund nur in den ein für allemal festgesetzten Regeln der Bezeichnung, in den Definitionen. Im synthetischen Urteil aber werden Begriffe miteinander verbunden, die durch keine Definition in Beziehung gesetzt waren. Wenn ich das synthe- tische Urteil ausspreche: ,, Antwerpen wurde 1914 von den Deutschen er- obert", so hat es seinen Rechtsgrund nicht in einer von vornherein be- stehenden Verknüpfung der Begriffe — denn vergebens hätte man sich" Fragestellungen. 151 bemüht, aus den Merkmalen des Begriffes Antwerpen abzuleiten, daß es dereinst von den Deutschen genommen würde — , nicht auf einer Ver- knüpfung der Begriffe, sondern auf einer tatsächlichen Beziehung wirk- licher Gegenstände ruht die Gültigkeit dieses Urteils. Wie aber wissen wir von den Tatsachen der Wirklichkeit.? Sind sie uns etwa unmittelbar gegeben, erschließen wir sie, oder auf welchem Wege sonst gelangen sie zu unserer Kenntnis.? Diese Fragen wiederholen sich bei jeder Tatsache, die wir beurteilen, und sie müssen beantwortet sein, ehe wir wissen können, ob unsere Urteile wahr sind. Denn bevor wir von einer eindeutigen Bezeichnung der Gegen- stände sprechen können, müssen die Gegenstände doch überhaupt d a sein. Die Fragen gipfeln aber alle in der einen: welches sind denn nun eigentlich diese Gegenstände, jene ,, Dinge" oder ,, Tatsachen", denen wir im Erkennen unsere Zeichen zuordnen.? Was ist das Bezeichnete.? welches ist die Wirklichkeit? Bei so fundamentalen Fragen kommt alles auf die Problemstellung an. Man kann nicht vorsichtig genug dabei verfahren. Ehe man nach der Auflösung forscht, tut man gut, sich klar zu machen, ob die Problem- stellung überhaupt eine Lösung zuläßt, und wie sie möglicherweise be- schaffen sein kann. Was für eine Antwort also kann ich überhaupt er- warten auf die Frage: was ist das Wirkliche.? Wie die Antwort auch lauten möge: sie muß ein Urteil sein. Ein Urteil aber, dies wissen wir längst, ist ein Zeichen für eine Tatsache, und nichts weiter. Ein Gegenstand wird unter einen Begriff subsumiert, dieser wird ihm zugeordnet, und das geschieht eben im Urteil, welches damit den ganzen Sachverhalt bezeichnet. Ein weiteres kann es niemals leisten. Wie man es auch anstellen möge, durch wie viele Urteile man auch die verwendeten Begriffe zu erläutern und zu klären versuche: immer gibt uns unser Erkennen, das ja im Urteilen besteht, nichts als Zeichen, nie- mals das Bezeichnete. Dieses bleibt ewig jenseits. Und wer vom Er- kennen fordert, daß es uns das Wirkliche realiter näher bringen solle, der stellt damit nicht etwa eine zu hohe, sondern eine unsinnige Forderung. Wir sahen ja seit langem ein (I, § ii): im Erkennen können u n d w o 1 1 e n wir das Erkannte gar nicht gegenwärtig haben, nicht eins mit ihm werden, nicht es unmittelbar schauen, sondern nur Zeichen zu- ordnen und ordnen. Daß die Erkenntnis eben dies leistet und nichts anderes, ist nicht ihre Schwäche, sondern ihr Wesen. Wir sehen also: wer etwa mit unserer Frage den Sinn verbinden wollte: was ist das Bezeichnete unabhängig vom Bezeichnen.? der wäre in hoffnungsloses Mißverständnis versunken. Er hätte ein sinnloses Problem gestellt, denn jede Frage erheischt als Antwort ein Urteil, ist also ein Wunsch nach einer Bezeichnung, und daher wäre jene Formulierung ebenso gescheit, als wenn einer fragen wollte: wie hört sich ein Ton an, wenn niemand. ihn hört? 152 Die Setzung des Wirklichen. Das Wirkliche kann uns demnach nimmermehr durch Erkenntnisse irgendwelcher Art gegeben werden. Es ist vor aller Erkenntnis da. Es ist das Bezeichnete, das vor allem Bezeichnen ist. Und dieser Satz selbst und alle Urteile, die man sonst darüber fällen mag, können es immer nur bezeichnen, nicht geben, nicht bestimmen, nicht schaffen. Das ist eine einfache Einsicht, die rein analytisch aus dem Erkenntnisbegriff folgt. Sie ist aber oft verfehlt worden und dadurch wurde die neueste Philo- sophie auf manchen sonderbaren Irrpfad gebracht. Wir werden darauf zurückkommen. Einstweilen aber halten wir fest: Kenntnis des Wesens der Wirk- lichkeit wird nicht erreicht durch das E r kennen der Wirklichkeit. Sie muß diesem, wo sie überhaupt möglich ist, voraufgehen, weil das zu Be- zeichnende früher ist als das Bezeichnen. So ist uns das gesamte Reich der eigenen Bewußtseinsdaten schlechthin bekannt, es ist einfach da, vor allem Fragen, vor aller Erkenntnis, die daran nichts ändern, -nichts wegnehmen und nichts hinzusetzen kann. Diese unmittelbar gegebenen Daten sind die einzige uns bekannte Wirklichkeit; aber ganz falsch wäre es daraus zu folgern, daß sie deswegen auch das einzig Wirkliche oder auch nur das einzig e r kannte, erkennbare, bezeichenbare Wirkliche sein müßten. Man hat aber diesen Schluß oft gezogen. Auch darauf kommen wir zurück. Für jetzt wenden wir uns wieder unserer Frage zu: Welche Gegen- stände sind wirklich.? Die Frage muß wohl verstanden werden. Es kann nicht so sein, daß wir aus einer Mannigfaltigkeit gegebener Dinge nun die ,, wirklichen" auszusuchen hätten, um sie von den anderen als den unwirklichen zu trennen, denn nichtwirkliche sind uns eben überhaupt nicht gegeben, weil sie ja gar nicht da sind. Sondern es verhält sich offenbar so: im Laufe des Forschens" werden wir dazu geführt, durch Kombination von Begriffen, die Gegebenes bezeichnen, neue Begriffe zu bilden, die nicht etwas unmittelbar Bekanntes bezeichnen. Und nun ist die Frage, ob diesen etwas ,, Wirkliches" zugeordnet ist, das heißt: ob mit den Merkmalen jener Begriffe auch das Prädikat ,, wirklich'.' ver- knüpft ist. Die Entscheidung darüber muß, wie wir sehen werden, aus dem Zusammenhang der Begriffe mit solchen von ,, Gegebenem" getroffen werden, nach denselben Methoden, die in anderen Fällen Anwendung finden, wo es sich darum handelt, ob einem Gegenstande eine bestimmte Eigenschaft zukommt oder nicht. Daß z. B. Äther den Siedepunkt 39" besitzt, stellen wir durch eine ganz analoge Methodik fest wie die Tat- sache, daß Elektronen wirklich sind, das Phlogiston oder das pythagoreische Zentralfeuer dagegen unwirklich. , Jedenfalls ergibt sich, daß die Frage nach der Wirklichkeit eines Gegenstandes tatsächlich wie jede andere sinnvolle Frage durch den Voll- zug bestimmter Zuordnungen, Bezeichnungen beantwortet werden kann und daher selbst sinnvoll ist. Will man diesen Sinn noch näher bestimmen, so scheint es, daß alles auf die Definition des Wirklichkeitsbegriffes an- Fragestellungen. 153 kommt. Kann aber eine solche überhaupt gegeben werden? gehört der Begriff nicht vielmehr zu denen, deren Gegenstand sich nur in der An- schauung, im Erleben aufweisen läßt.? So scheint es sich in der Tat zu verhalten. Denn wie sollte man wohl das Wirkliche auf etwas anderes, das heißt doch also auf Nichtwirkliches, zurückführen können.? Anzugeben, wodurch sich eigentlich das Seiende vom Nichtseienden unterscheidet — das scheint ein verzweifeltes Beginnen zu sein. In der Tat werden wir den Verdacht bestätigt finden, daß eine Analyse des Wirklichkeitsbegriffes zu den unerfüllbaren Forderungen gehört. Dies schließt aber nicht aus, daß ein Kennzeichen existiert und auffindbar ist, welches allem Wirk- lichen in gleicher Weise zukommt und es charakterisiert, so daß es stets als Kriterium für die , .Wirklichkeit" eines Gegenstandes dienen kann. Welche ungeheure Bedeutung einem solchen Kriterium für die Zwecke des praktischen Lebens zukommt, leuchtet ein, denn das Leben will nur auf Wirklichkeiten Rücksicht nehmen, nicht auf Fiktionen. Dort ist man um derartige Kriterien im rrinzip auch nie verlegen und bedarf keinerlei Hilfe von der Philosophie. Diese aber muß zusehen, ob jene Kriterien auch für die wissenschaftliche Erkenntnis Wert behalten und streng gültig bleiben; sie muß sie alsdann für ihre eigenen Zwecke auf eine gemeinsame Formel bringen. Gelingt ihr dies, so hat sie damit einen Schlüssel zur Lösung der fundamentalsten Wirklichkeitsprobleme gefunden. Denn es ist kaum ein Punkt in der Philosophie mit größerem Eifer behandelt worden, keiner hat für den Charakter eines philosophischen Systems und für die Weltanschauung höhere Bedeutung als die Frage, wieweit das Reich der Wirklichkeit sich erstreckt, was alles als real zu gelten habe. (Die Worte wirklich und real gebrauchen wir hier jeder- zeit als völlig gleichbedeutend.) Hier stößt man auf das große Problem der Transzendenz, das heißt auf die Frage, ob und in welchem Umfange es Realitäten gibt außerhalb oder jenseits des schlechthin Gegebenen, ob also auch solchen Gegenständen, die nicht unmittelbar Gegebenes sind, das Zeichen ,, wirklich" zugeordnet werden darf oder muß. Diese Probleme sind mit einem Schlage gelöst, sobald man ein Kriterium der Wirklichkeit gefunden hat und anzuwenden weiß; und ich glaube, daß eine Einigung über diesen Punkt viel leichter zu erzielen ist als man glauben sollte, wenn man den heftigen Streit der Systeme über das Trans- zendenzproblem ansieht. Die nächsten Paragraphen müssen sich also vor allem mit der Auf- suchung eines charakteristischen Merkmales alles Wirklichen beschäftigen und aus dem Resultat dieses Suchens die weiteren Konsequenzen ent- wickeln; sie werden somit die Frage behandeln, welche Külpe ^) in der Form ausgesprochen hat: ,,Wie ist eine Setzung von Realem möglich.?" Danach wird dann eine andere Gruppe, von Wirklichkeitsproblemen in Angriff zu nehmen sein, die sich einordnen lassen in die KÜLPE'sche Frage- ^) Die Realisierung. 1912. Bd. I. S. 4. 154 Die Setzung des Wirklichen. Stellung^): ,,Wie ist die Bestimmung von Realem möglich?" Da handelt es sich also darum, 7ai prüfen, was für Begriffe dem als wirklich Erkannten allgemein oder im einzelnen Falle noch weiter zugeordnet werden müssen, ob es z. B. als physisch oder psychisch, als Einheit oder Vielheit, als räumlich oder unräumlich, als geordnet oder chaotisch be- zeichnet werden muß — oder wie die technischen Termini sonst lauten mögen. Die Methode der Untersuchung wird überall darin bestehen, daß wir uns den möglichen und tatsächlichen Sinn jener Worte mit größter Sorgfalt feststellen und dann alle Probleme mit den Waffen angreifen, die wir uns im ersten Teile der Betrachtungen geschmiedet haben. 22. Naive und philosophische Standpunkte in der Wirklichkeitsfrage. Der Begriff der Wirklichkeit ist kein wissenschaftlicher Begriff. Er ist nicht erst durch besondere Forschungsarbeit geschaffen, wie etwa der Begriff der Energie oder des Integrals, er gehört nicht spezifischen Wissenschaften an, ja, so sonderbar es klingen mag, diesen ist an seiner Bestimmung gar nichts gelegen. Zwar erhält natürlich der Theoretiker den Anstoß zu seinen Untersuchungen immer durch die Wirklichkeit, aber für das eigentlich wissenschaftliche Interesse, welches sich an dem Spiel der Zurückführung der Begriffe aufeinander erfreut, ist es im Grunde belanglos, ob diese Begriffe Wirklichkeiten bezeichnen oder nicht; in beiden Fällen kann der Erkenntnisprozeß gleich energisch verlaufen. Der Mathematiker zeigt in der Beschäftigung mit seinen idealen Gebilden nicht geringeren Eifer als der Historiker oder Nationalökonom, deren Interesse ganz am Wirklichen haftet. Aber auch sie konstruieren ideale Fälle und bewegen sich bei der Untersuchung ihrer allgemeinen Prin- zipien in vereinfachenden Abstraktionen. Alle Wissenschaft ist letzten Endes Theorie, und alle Theorie hat unwirkliche Abstraktionen zum Gegenstand. Mit der konkreten Wirklichkeitsfülle hat es nur das Leben zu tun. Der Begriff der Wirklichkeit ist ein schlechthin praktischer; das Handeln ist es, das sich unaufhörlich und ausschließlich mit Realitäten beschäftigt und selber Realitäten hervorbringt. Es ist längst erkannt worden, daß der W^irklichkeitsbegriff ganz allein hier seine Wurzeln hat; vor allen DiLTHEY hat großen Nachdruck auf diese Tatsache gelegt *), und be- sonders Frischeisen-Köhler hat gewichtige Konsequenzen daraus ge- zogen 3). Damit ist ein höchst bedeutsamer Punkt bezeichnet, wenn man 1) Ebenda. S. 5. ^) DiLTHEY, Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht. Sitzungsber. d. kgl. Akad. d. Wissen- schaften zu Berlin. XXXIV. 1890. S. 977. ^) In dem Werke „Wissenschaft und Wirklichkeit" 1912 Naive und philosophische Standpunkte in der Wirklichkeitsfrage. 155 auch den theoretischen Gebrauch, den die erwähnten Denker davon machen, nicht als berechtigt anerkennen mag. Nicht die EinzeldiszipHnen, nur die Philosophie macht den Begriff der Wirklichkeit zum Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses, weil sie sich eben um die Klärung der allgemeinsten Grundlagen be- müht, die auf allen anderen Gebieten ungeprüft hingenommen oder beiseite gelassen werden. Sie kann sich aber — dies geht aus dem eben Gesagten hervor — zur ersten Orientierung über den Begriff nicht an irgendwelche Einzelwissenschaften wenden, sondern muß aus dem Leben und Handeln Aufklärung zu schöpfen suchen. Sie muß ermitteln, was es für den naiven Menschen bedeutet, wenn er einem Gegenstande ,, Wirklichkeit" zuschreibt, und dann muß überlegt werden, ob auch sie für ihre wissenschaftlichen Zwecke mit dem Worte eben dasselbe meinen kann, oder ob sie seine Bedeutung ändern muß, um die Präzision der Gedanken zu bewahren. Für das naive Individuum bilden den Inbegriff des Wirklichen oh«e Frage die Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung. Dieser Satz soll aber — das ist wohl zu beachten — nicht etwa eine Aussage des naiven Menschen wiedergeben, nicht seine eigene Formulierung der Antwort auf die Wirklichkeitsfrage, sondern er bedeutet die nachträgliche wissen- schaftliche Formulierung der natürlichen Ansicht des Naiven. Er be- sitzt nämlich zunächst gar nicht den Begriff der Wahrnehmung, dieser ist erst ein Produkt besonderer Reflexion, er entsteht durch verglei- chende Beobachtung der Abhängigkeit der Erlebnisse von den Sinnes- organen. Diese führt sehr bald zu einer Unterscheidung der Wahrneh- mungsvorstellung vom wahrgenommenen Objekt; ursprünglich aber fällt auf dem naiven Standpunkt beides schlechthin zusammen. Der Mensch sagt nicht: ,,Ich habe die Wahrnehmung eines Tisches" und schließt dann erst auf das V«ihandensein des Tisches, sondern er sagt: ,,Ich sehe den Tisch"; ohne daß er irgend einen Schluß zöge, ist ihm das Objekt unmittelbar das Gegebene, und er unterscheidet es nicht von der Vorstellung des Objekts. Beides ist für ihn ein und dasselbe. Wundt gebraucht für diese Einheit den Namen ,, Vorstellungsobjekt" ^). In diesem Stadium hat der Mensch überhaupt gar keine Veranlassung, den Begriff des Wirklichen zu bilden. Sie tritt erst ein bei ganz besonderen Erfahrungen, so bei Träumen, bei den sogenannten Sinnestäuschungen, bei falschen Aussagen eines anderen, die es zu prüfen gilt. Hier entsteht die Vorstellung des Scheines, des Unwirklichen, und damit ein Motiv zur Bildung des Wirklichkeitsbegriffes, denn vorher gab es nichts, wogegen er abgegrenzt werden konnte. Begriffsbildung setzt ja, wie wir wissen, Unterscheidung voraus. Sobald aber diese Abgrenzung nötig wird, benutzt der Mensch als Kriterium der Wirklichkeit dasjenige, was wir als Wahrnehmung be- zeichnen, mag er selbst nun den Begriff der Wahrnehmung schon besitzen ^) System der Philosophie. 3. Aufl. I. S. 79. 156 Die Setzung des Wirklichen. oder nicht. Glaubt jemand nicht an die Wirklichkeit irgendeines Gegen- standes, so gibt es zunächst nur ein Mittel, ihn von dessen Existenz ^u überzeugen: wir müssen ihn hinführen oder den Gegenstand zu ihm bringen, damit er ihn sehe oder betaste oder vielleicht höre; dann zweifelt er nicht länger. Glaubt einer im Traum in fernen Gegenden zu wandern, so kann ihn nach dem Erwachen der in der Hütte neben ihm wachende Gefährte belehren, daß jene Wanderung Schein war, denn das Zeugnis der Sinne sagte ihm, daß der Körper dessen, der da fern zu weilen glaubte, die ganze Zeit ruhig dalag. Es entsteht die Scheidung von Vorstellung und Gegen- stand. Die Traumvorstellungen waren wirklich, ihr Gegenstand, die Wan- derung, war unwirklich, sie existierte nicht. Bald aber zeigt sich, daß es auch Fälle gibt, in welchen ein Gegen- stand für wirklich erklärt wird, ohne doch sinnlich wahrgenommen zu sein. Der Naturmensch, der seinen Genossen zerfleischt im Walde findet, ist überzeugt, daß ein Raubtier existiert, welches ihn so zugerichtet hat, auch wenn kein menschliches Auge das Tier je zu Gesicht bekommt. Es genügt also als Kriterium der Realität, wenn statt des Gegenstandes selbst die Wirkungen wahrgenommen werden, die von ihm ausgehen. So verknüpft sich mit dem Begriff der Wirklichkeit derjenige der Ursächlichkeit, der Kausalität. Wie deutlich er dabei zum Bewußtsein kommt, ist eine Frage, die wir an dieser Stelle ganz unerörtert lassen können. Die Aufgabe, zu gegebenen Wirkungen die Ursachen zu finden, wird vom Leben unauf- hörlich gestellt und in allen gewöhnlichen Lagen mit ausreichender Wahr- scheinlichkeit von der Erfahrung schnell und leicht beantwortet; ja, Er- fahrung i s t gar nichts anderes als die Herstellung solcher Verknüpfungen. Damit ist für die Zwecke des Lebens vollständig gesorgt. Die Wahr- nehmung des Gegenstandes in erster, die Wahrnehmung seiner Wirkungen in zweiter Linie geben in allen Fällen ein hini^ichendes Kriterium des Wirklichen. Indem aber nun nicht mehr dieses selbst, sondern nur seine ,, Wirkungen" gegeben zu sein brauchen, wird es doch bereits in so großer Unabhängigkeit vom Wahrnehmenden gedacht, daß das naive Indivi- duum die Frage, ob denn Gegenstände auch wirklich sein können, ohne daß jemand sie oder ihre Wirkungen wahrnimmt, ohne Zögern bejaht. Natürlich werden zunächst die Dinge außerhalb der Wahrnehmung genau so fortexistierend gedacht, wie sie innerhalb der Wahrnehmung gegeben waren, das heißt, mit allen sogenannten primären und sekundären Quali- täten behaftet, räumlicher und zeitlicher Ausdehnung, Farben, Gerüchen usw. Die Dinge denken heißt ja auf vorwissenschaftlichem Stand- punkte gar nichts anderes als sie anschaulich vorstellen, sie müssen daher mit den anschaulichen Qualitäten ausgestattet gedacht werden. Damit ist die natürliche Weltansicht auf dem Standpunkt angelangt, den man gewöhnlich als ,, naiven Realismus" bezeichnet. Es ist beachtenswert, daß die wirklichen Gegenstände auf diesem Standpunkt durchaus als ,, Dinge an sich" aufgefaßt werden. Das naive Individuum wird stets behaupten — wenn man es zur Stellungnahme in Naive und philosophische Standpunkte in der Wirklichkeitsfrage. 157 dieser Frage drängt — , daß das Sein eines Steines, eines Himmelskörpers gar keine Abhängigkeitsbeziehungen zu anderen Dingen oder zu Wahrneh- mungen voraussetzt, daß sie eben ,,an sich" existieren. In der Tat ist der Begriff des Dinges an sich durchaus eine populäre Konzeption, er ist keineswegs erst durch irgendein besonderes philosophisches System ge- schaffen worden, wie man zuweilen meint. Vielmehr haben Kant und vor ihm Locke ihn einfach dem vorwissenschaftlichen Denken entlehnt. Beachtet man, wie Kant diese Konzeption in seine Philosophie einführt: ohne Definition, ohne besonderen Hinweis als auf einen spezifischen Grund- begriff seiner Theorie, so kann kein Zweifel darüber sein, daß er den Begriff — mit Recht — als einen geläufigen und wohlbekannten einfach voraussetzte. Kann nun die Philosophie die Wirklichkeitskriterien des geschilderten Standpunktes der natürlichen Weltansicht unverändert beibehalten.-* Die erste Bestimmung des Naiven, daß das schlechthin Gegebene als wirklich gilt, muß natürlich einfach übernommen werden, denn hier liegt ja ohne Frage die Quelle des Wirklichkeitsbegriffes überhaupt. Das ist wohl von allen Denkern anerkannt, von einigen ausdrücklich hervor- gehoben worden, so z. B. von Beneke ^). Der Satz: ,,Die Bewußt- seinsdaten sind wirklich" ist nichts als die ursprünglichste, wenngleich vorläufige Definition des Wirklichen, der Existenz (siehe oben S. 71). Vorläufig, weil man bald doch noch anderes als das unmittelbar Gegebene in den Umkreis des Wirklichkeitsbegriffes aufnimmt. Nur darin wird die philosophische Bestimmung die naive zwar nicht überschreiten, aber präzisieren, daß alle unmittelbaren Daten in gleicher Weise Anspruch auf Realität besitzen, die in der Wahrnehmung gegebenen Dinge also nicht mehr als die ,, subjektiven" Daten, wie etwa Gefühle oder Phantasie- vorstellungen. Die Wirklichkeit der letzteren wird natürlich auch von der naiven Ansicht nicht geleugnet, wohl aber nicht selten vernachlässigt und selbst übersehen gegenüber der Realität des sinnlich Wahrgenommenen, vor allem des ,, Körperlichen". Wie nun das unmittelbar erlebte Wirkliche weiter zu bezeichnen sei, ob man etwa sagen müsse: der Baum selbst ist mir gegeben, oder: nur die Wahrnehmungsvorstellung, die ,, Erscheinung" des Dinges ,,Baum" ist das Gegebene — das ist eine Frage, die an dieser Stelle für uns ganz neben- sächlich ist. Den zweiten Schritt des naiven Denkens aber, durch welchen nicht nur das Gegebene selbst, sondern auch Ursachen des Gegebenen als wirk- lich angenommen werden, obwohl sie nicht gegeben, sondern nur auf Grund der Kausalvorstellung gesetzt sind, diesen Schritt wird die Philo- sophie mit größter Vorsicht betrachten. Erstens nämlich tritt uns ja hier die Kausalidee entgegen, und sie müßte doch erst geklärt sein, ehe sie in die Bestimmung des Wirklichkeitsbegriffs aufgenommen werden kann. ^) System der Metaphysik (1840). S. 76, 83, 90. 158 Die Setzung des Wirklichen. Zweitens aber: wie diese Klärung auch ausfallen möge, es erscheint von vornherein ausgemacht, daß ein Zurückführen des Wirklichkeitsbegriffs auf die Kausalität erkenntnistheoretisch nicht befriedigen wird, denn diese ist offenbar ein komplizierterer Begriff als jener und setzt ihn als den ursprünglicheren immer schon voraus, da ja die Kausalbeziehung jedenfalls ausschließlich eine Beziehung zwischen Wirkl ichkei ten ist. Wenn aber auch die Philosophie der natürlichen Anschauung mit dem besprochenen Schritte folgen wollte, so würde sie dadurch doch noch nicht völlig mit ihr einig sein, denn wir sahen ja eben, daß im vorwissen- schaftlichen Denken selbst schon eine Wirklichkeit an sich statuiert wird, die weder selbst noch in ihren Wirkungen jemals zur Erfahrung gelangt und für die daher die früheren Kriterien nicht mehr in Betracht kommen. Sie werden also doch nicht mehr als wesentlich für das Wirkliche be- trachtet, sie sind fallen gelassen, und zwar zunächst ohne Ersatz. So gut also auch die geschilderte vorphilosophische Ansicht psycho- logisch begründet und erklärt ist, so wenig ist damit ihre erkenntnistheore- tische Rechtfertigung gegeben. Die Mehrzahl der Denker ist denn auch nicht bei ihr stehen geblieben, sondern hat neue Standpunkte gesucht, auf denen sie bessere und einheitlichere Kriterien zu finden meinte. In zwei Richtungen ist die naive Anschauung verlassen worden. Man kann erstens über sie hinaus schreiten, indem man die populäre Meinung nach irgendeiner Seite hin zu vervollkommnen und zu ergänzen sucht, um zu wissenschaftlich brauchbaren Kriterien zu gelangen; und man kann zweitens die Schritte verwerfen, welche das naive Denken selbständig unternahm, und zu seinem Ausgangspunkt zurückkehren, um ihn in seiner ganzen Reinheit festzuhalten. Durch das letztere Streben ist derjenige Stand- punkt gekennzeichnet, welcher unter dem Namen des ,, idealistischen Positivismus" oder der ,, Immanenzphilosophie", weniger zweckmäßig auch als ,,Konszientialismus" bekannt ist. Die meisten Philosophen schlagen aber den zuerst genannten Weg ein und gelangen dadurch zu verschiedenen Systemen, die gewöhnlich als ,, realistische" bezeichnet werden. Wir wollen einen kurzen Blick auf einige Gedankenbildungen dieser letzteren Kategorie werfen, um dann später die Wirklichkeitskriterien der immanenten Philo- sophie besonders zu prüfen. Ein sehr naheliegender Weg, den das Denken oft fast automatisch eingeschlagen hat, ist folgender. Wenn, wie wir sahen, in der Praxis des Lebens das Prädikat der Wirklichkeit zunächst dem unmittelbar Erlebten beigelegt wird, dann aber auch demjenigen, was man als Ursache des Erlebten annimmt, und man wirft die Frage auf, ob diese beiden Kriterien sich nicht vielleicht aufeinander zurückführen lassen, so ist klar, daß das zweite dem ersten nicht untergeordnet werden kann, sondern ihm gegen- über etwas Neues bedeutet. Das Umgekehrte aber ist wohl denkbar: das erste Kriterium könnte auf das zweite reduziert werden und brauchte dann nicht mehr als selbständiges aufgeführt zu werden, nämlich dann, wenn alles Gegebene selbst auch wieder Ursache von anderem Gegebenen wäre. Naive und philosophische Standpunkte in der WirkUchkeitsfrage. 159 % Dann würde ja die Bestimmung des Realen als der „Ursache des Gegebenen" sowohl auf das erlebte wie auf das nicht erlebte Wirkliche passen. In der Tat ist die Behauptung wohl möglich, daß alles Erlebte Ursache oder Mitursache von anderem Erlebten sei; jedes Bewußtseinsdatum wird die späteren psychischen Prozesse irgendwie beeinflussen, denn im Prinzip kann man wohl sagen, daß niemals ein Erlebnis gänzlich ,, spurlos" aus dem Bewußtsein verschwindet, ohne irgendwelche Dispositionen hinter- lassen zu haben. Sehen wir einstweilen davon ab, ob mit dieser Bestimmung des Wirk- lichen viel erreicht ist und fragen wir uns, ob man auf dem eingeschlagenen Pfade der Bewegung des populären Denkens noch weiter folgen kann, welches geneigt ist, auch solchen Gegenständen Wirklichkeit zuzusprechen, die, soviel man weiß, überhaupt keine Erlebnisse bewirken, weil sie von niemand wahrgenommen werden. Man hat dies in der Tat versucht, indem man den Begriff der Ursache oder des Wirkens als Sprungbrett zum weiteren Schwünge in das Reich des Transzendenten hinein benutzte und nunmehr sagte: Was das gemeine Denken fallen läßt, das können auch wir aus unserer philosophischen Bestimmung fallen lassen, und wir behalten immer noch genug übrig. Sagten wir nämlich vorher, wirklich nennen wir alles, was Ursache von Erlebnissen ist, so können wir jetzt die Beziehung zunt Erleben aufgeben, aber noch die Bestimmung auf- recht erhalten, daß alles Wirkliche Ursache ist. Was sich in keiner Weise bemerkbar macht, sich nicht irgendwie äußert, das ist in der Tat nicht da, nicht wirklich; ob aber die Äußerungen eines Dinges von uns erlebt werden oder nicht, das ist zufällig. Wir treffen also das Wesent- liche im Gegensatz zum Zufälligen, wenn wir formulieren: wirklich ist, was wirkt. Schon die Sprache scheint zu dieser Auffassung zu drängen und zu beweisen, daß man mit ihr den Sinn der populären Anschauung richtig getroffen hat; ist doch im Deutschen das Wort wirklich vom Verbum wirken abgeleitet. Bei Aristoteles fällt der Begriff der ivegyeia mit dem- jenigen der Wirklichkeit zusammen. Auch Leibniz erklärt: ,,quod non agit, non existit". Als bekanntester Vertreter der besprochenen Auf- fassung ist wohl Schopenhauer zu nennen. Er sagt ^) von der Materie: ,,ihr Sein nämlich ist ihr Wirken: kein anderes Sein derselben ist auch nur zu denken möglich". Und an einer anderen Stelle *): Die Materie ist die ,, objektiv aufgefaßte Kausalität selbst". Die Wirklichkeit der Dinge erklärt er für ihre Materialität, also ist sie die ,, Wirksamkeit der Dinge überhaupt". In der Gegenwart finden wir dieselbe Bestimmung bei zahl- reichen Denkern; so meint z. B. B. Erdmann ^): ,, Wirklich sind die Gegenstände, die wir als wirksam erschließen". Und zweifellos ist die ^) Die Welt als Wille und Vorstellung. I. § 4. ^) Ebenda. II. i. Buch. Kap. 4. Ähnlich in der Abhandlung über den Satz vom Grunde gegen Ende des § 21. ») Logik. I. 2. Aufl. S. 138. i6o Die Setzung des Wirklichen. Gleichsetzung des Wirklichen mit dem Wirksamen de facto vollkommen richtig. Dennoch erfüllt sie nicht endgültig unseren Zweck. Wenn auch Sein ohne Wirken in der Welt nicht vorkommt, so kann es doch un- abhängig von ihm gedacht, begrifflich von ihm getrennt werden. Und gerade die naive Ansicht vollzieht diese Trennung durchaus ^), nicht fremd ist ihr der Gedanke, daß etwas wirklich sein könne, ohne doch die ge- ringsten Wirkungen zurückzulassen (z. B. der letzte Gedanke eines Sterbenden). Wenn man die durchgängige Verknüpfung von Realität und Kausalität anerkennt, so könnte man freilich das Wirken als Kriterium des Seins benutzen, falls man nur wüßte, woran denn die Wirksamkeit oder Wirkungsfähigkeit eines Gegenstandes sich erkennen läßt. Man sieht, daß die Frage auf diese Weise nicht beantwortet, sondern nur zurück- geschoben ist, und zwar auf ein komplizierteres, schlechter überschaubares Gebiet. Denn das Wirken ist, wie bereits hervorgehoben, der speziellere Begriff, sein Kriterium setzt dasjenige der Realität bereits voraus; letzteres ist allgemeiner, weil das Sein sich ganz wohl ohne Wirken wenigstens denken läßt (z. B. als spurlos verschwindend). Ein unerträglicher Nach- teil der Bestimmung der Realität als des Wirkenden schlechthin liegt ferner darin, daß sie jede Verbindung mit dem unmittelbar Gegebenen gänzlich auflöst, von welchem der Begriff doch seinen Ursprung nahm, und an welches sie später doch wieder Anschluß suchen muß, um über- haupt Anwendung zu finden. Trotzdem hat sich die Spekulation gelegentlich noch weiter vom Ausgangspunkt entfernt und die Vorstellung der Wirklichkeit noch weiter verflüchtigt, indem sie annahm, es sei nicht gerade nötig, das Wesen in Kausalbeziehungen zu suchen; diese Bestimmung lasse vielmehr noch eine Verallgemeinerung zu : das Sein könne nämlich ausreichend charakterisiert werden durch das Bestehen von Beziehungen überhaupt. Bekanntlich hat LoTZE das Wirkliche in dieser Weise als ein allseitiges Inbeziehungstehen aufgefaßt. Man tut ihm aber unrecht, wenn man sagt, er habe das Sein definiert als ein Inbeziehungenstehen. Wohl klagte er, daß die gemein- hin über das Wirkliche gemachten Aussagen nur Kennzeichen des Seins angäben, nicht aber dieses selbst definierten ^), er gesteht aber dann zu *), daß es undefinierbar und nur zu erleben sei, ,,was Sein im Sinne der Wirk- lichkeit und im Gegensatz zum Nichtsein bedeute". In der Tat ist gerade die allseitige Bezogenheit keineswegs charakteristisch für das wirkliche Sein, denn wir wissen ja, und Lotze wußte es ebenso gut: von den reinen Begriffen, denen doch kein wirkliches Sein zukommt, kann man dennoch Beziehungen zueinander aussagen, ja man kann weiter gar nichts von ihnen aussagen, ihr Wesen geht sicherlich darin auf, daß sie in be- stimmten Beziehungen zueinander stehen. Zahlen sind keine wirklichen *) Hierauf weist nachdrücklich hin E. Becher, Naturphilosophie S. 62 (Kuhur der Gegenwart 1914). *) Metaphysik. § i. 3) Metaphysik. § 5, § 8. Naive und philosophische Standpunkte in der WirkUchkeitsfrage. i6i Dinge, aber niemand leugnet, daß Beziehungen zwischen ihnen statthaben; eine ganze Wissenschaft, die Arithmetik, hat gar keine andere Aufgabe, als die unendliche Mannigfaltigkeit dieser Beziehungen zu untersuchen. Nein, Lotze definiert nicht das wirkliche Sein durch Beziehungen, sondern er kommt nur zu dem Resultat (das er — nach obigem allerdings fälsch- lich — zugleich mit der Überzeugung der natürlichen Weltansicht identi- fizierte), daß die Wirklichkeit des Seins in der Wirklichkeit von Beziehungen völlig aufgehe ^). Wie sich aber wirkliche Beziehungen von bloß idealen unterscheiden, daß kann auch nach ihm keine Definition angeben, es muß vorausgesetzt, unmittelbar erlebt werden. Schließlich muß übrigens auch Lotze die wirklichen Beziehungen de facto doch wiederum als kausale denken, und so ist sein Standpunkt sachlich nicht wesentach von dem verschieden, auf welchem das Wirkliche einfach als Wirkendes bezeichnet wurde. Zur Lösung der Aufgabe, um welche wir hier bemüht sind, hat Lotze eigentlich mehr geleistet durch seine gelungene Polemik gegen Herbart, der das Sein als ,, absolute Position" bestimmte — eine Formel, über deren Bedeutungslosigkeit wir hier kein Wort zu verlieren brauchen. Es sei nun ein Blick geworfen auf einige andere Bestimmungsversuche des Realen, die sich in der entgegengesetzten Richtung bewegen. Sie bleiben in der Nähe der Quelle, aus welcher der Wirklichkeitsbegriff fließt, sie suchen nämlich Anschluß zu behalten an das schlechthin Ge- gebene, das unmittelbare Erleben, vor allem an die Wahrnehmung. Wenn die natürliche Weltanschauung nicht bloß das in der Wahr- nehmung Gegebene, sondern daneben noch anderes als äußere Wirklich- keit annimmt, so wird doch dieses andere dabei ganz so vorgestellt, als ob es in einer Wahrnehmung gegeben wäre und tatsächlich in einer solchen auftreten würde, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt wären. Mit anderen Worten, die Dinge werden als Bedingungen möglicher Wahr- nehmungen gedacht. Diese einfache Überlegung ist bekanntlich vor allem von John Stuart Mili, in eine philosophische Formel gekleidet worden. Er erklärt die wirklichen Gegenstände für ,, permanente Möglichkeiten der Empfindungen". In seiner Logik*) sagt er z. B. : ,,The existence of a phenomenon is but another word for its being perceived, or for the in- ferred possibility of perceiving it". Da er hinter den Phänomenen kein Ding an sich annimmt, so bedeutet dieser Satz eine Bezeichnung der WirkHchkeit überhaupt. Daß die Dinge in der Tat Möglichkeiten von Empfindungen für uns bedeuten , wird man allgemein zugestehen , wobei unentschieden bleiben kann, ob sie daneben nicht noch etwas anderes sind. Aber mag die Theorie den Begriff der Wirklichkeit eindeutig bezeichnen oder nicht — unsere Frage löst sie nicht auf. Denn die Zurückführung des Wirklichen auf das MögHche wird jederzeit als ein Hysteronpro- ^) Metaphysik, besonders § lo. *) Book III. chap. 24. § i. S ch lic k , Erkenntoislehre. II i62 Die Setzung des Wirklichen. teron gelten müssen. Wie erläuterungsbedürftig ist nicht der Begriff der Möglichkeit in der Philosophie! Man wird ihn immer durch Bezug auf Wirklichkeit erklären müssen; das Mögliche ist ja etwas, das unter ge- wissen Bedingungen zum Wirklichen wird, dessen Sein also von der , .Wirk- lichkeit" gewisser Umstände abhängt. Es gibt mithin einen Zirkel, wenn man nun das Wirkliche seinerseits wieder durch das Mögliche bestimmen wollte. Um vollends die Theorie von den Möglichkeiten der Empfindungen irgendwie nutzbar zu machen, müßten wir die Bedingungen vollständig angeben können, unter denen denn nun Empfindungen wirklich auf- treten; dazu sind wir aber nicht imstande — hier liegt vielmehr gerade das Problem versteckt, und so sehen wir leicht, daß die Formulierung Mill's uns unserem Ziele nicht im geringsten näher bringt. Wenn übrigens MiLL an einer anderen Stelle seiner Logik ^) bemerkt: ,,to exist, is to excite, or be capable of exciting, any states of consciousness", so setzt er damit, nicht ganz konsequent, das Kriterium für die Reahtät der Gegenstände in ihre Wirkungen, denn das Wort excite bedeutet ja eine Verursachung. Die im Begriff der Möglichkeit liegenden Schwierig- keiten sind bei der letzten Formulierung in dem Worte ,, capable" ver- borgen. Mill's Anschauungen entfernen sich in ungewisser Richtung vom unmittelbar Gegebenen, und wir können sie deshalb nicht als reinen Positivismus bezeichnen; diesem ist der Standpunkt der Immanenz eigen- tümlich. Der Zweck aber, nach dem die besprochenen philosophischen Be- mühungen zielen, nämlich die wissenschaftliche Formulierung des dem Leben entnommenen Wirklichkeitsbegriffes, ist bereits viel vollkommener erreicht durch den älteren einfacheren Satz Kant's: ,,Was mit den materialen Bedingungen der Erfahrung (der Empfindung) zusammen- hängt, ist wirklich". Dementsprechend erklärt er den Begriff der Mög- lichkeit durch die ,, formalen Bedingungen" ^). Die Möglichkeit wird also von ihm sozusagen bloß indirekt, die Wirklichkeit aber unmittelbar zurück- geführt auf Beziehungen zum Anschaulichen (denn dies bedeutet das Wort material), das heißt, zum schlechthin Gegebenen. Man erkennt die systematische Überlegenheit im Vergleich zu Mill. Freilich liegt in dem Wort ,, zusammenhängt" noch eine unerträgliche Unbestimmtheit, die auch nicht behoben wird durch die näheren Erklärungen, welche Kant an- geschlossen hat^): ,,Das Postulat, die Wirklichkeit der Dinge zu erkennen, fordert Wahrnehmung, mithin Empfindung, deren man sich bewußt ist, zwar nicht eben unmittelbar von dem Gegenstande selbst, dessen Dasein erkannt werden soll, aber doch Zusammenhang des- selben mit irgendeiner wirklichen Wahrnehmung, nach den Analogien der Erfahrung, welche alle reale Verknüpfung in einer Erfahrung überhaupt ^) Book I. chap. 5. § 5, note. •) Kritik der reinen Vernunft. Kehrbach S. 202. ») Ebenda. S. 206 f. i Naive und philosophische Standpunkte in der Wirklichkeitsfrage. 163 darlegen". Hier wird also jener Zusammenhang näher erläutert als nach den „Analogien der Erfahrung" bestimmbar, d. h. nach den Grundsätzen der Substanzbeharrlichkeit, der Kausalität und der Wechselwirkung. Wir sehen uns also wiederum auf komplizierte synthetische Bestimmungen verwiesen, die vollkommen richtig sein mögen, und aus denen vielleicht das von uns gesuchte Kriterium sich finden läßt, die aber doch keine Antwort auf unsere Hauptfrage geben, weil sie eben dieses Kriterium nicht explizite herausstellen. Sie sagen zunächst nichts darüber, woran man denn nun das Bestehen jener Relationen erkennt, von denen in den Analogien der Erfahrung die Rede ist. Unmittelbar erlebt wird es doch nicht, wenn es aber erschlossen wird, so entsteht die Frage, auf welche Weise und auf Grund welcher Prinzipien ein solcher Schluß stattfinden kann. Indirekt ist nun freilich Kant die Antwort nicht schuldig ge- blieben; man kann sie aus seiner Lehre vom ,, Schematismus" entnehmen. Wir haben aber hier keine Veranlassung, auf diese etwas dunkle und in ihrer Gesamtheit anfechtbare Lehre einzugehen, denn es wird sich im nächsten Paragraphen ganz von selbst zeigen, was wir von jener Lehre für unseren Zweck verwenden können und billigen müssen. An die allgemeine KANX'sche Formulierung haben sich auch moderne Denker angeschlossen. So sagt z. B. Riehl ^) : ,, ,, Wirklich sein" und ,,in den Zusammenhang der Wahrnehmungen gehören" bedeutet ein und dasselbe". Diese Fassungen haben den großen Vorzug, daß in ihnen als fundamen- taler Punkt die Notwendigkeit gebührend hervorgekehrt wird, die Be- stimmung des Realen irgendwie an das unmittelbar Gegebene anzu- schließen (nämlich an die Empfindung). Damit ist zugleich die Unmög- lichkeit einer rein logischen Definition des Wirklichkeitsbegriffs richtig zum Ausdruck gebracht. Denn wo zur Inhaltsbestimmung eines Begriffs ein Zurückgehen auf schlechthin Gegebenes nötig wird, da bedeutet dies ja immer ein Hinüberdeuten über die Grenze des Definierens (vgl. oben Teil I, § 6), welche das Reich der Begriffe von dem der Wirklichkeit un- überschreitbar scheidet. Es muß nun versucht werden, die besprochenen Formulierungen zu ergänzen und zu präzisieren durch Einführung eines charakteristischen Merkmals, welches in jedem Falle eine Entscheidung darüber gestattet, ob "^in Gegenstand mit Empfindungen (oder sonstigen Erlebnissen) in jenem ganz besonderen Zusammenhang steht, welcher seine Wirklichkeit verbürgt. Ist es dann gelungen, den Wirklichkeitsbegriff des Lebens in strenge Form zu bringen, so wird sich leicht erkennen lassen, ob die Philo- sophie bei ihm stehen bleiben kann oder ob sie über ihn hinwegschreiten oder von ihm zum Ausgangspunkt zurückkehren muß — mit anderen Worten: ob die verschiedenen realistischen oder die streng idealistische, immanente Ansicht sich der strengen Kritik gegenüber siegreich be- haupten werden. ^) Beiträge zur Logik. 1912. 2. Aufl. S. 25. II' 164 Die Setzung des Wirklichen. 23. Die Zeitlichkeit des Wirklichen. Seit frühen Zeiten (schon im System Piatons finden wir den Ge- danken präformiert, wenn nicht ausgesprochen) sind das wesenlose Reich der Begriffe und die Welt der Wirklichkeit einander gegenübergestellt worden als das zeitlose und das zeitliche Sein. Damit ist eine Bestimmung von so allgemeiner und tiefgehender Bedeutung gemacht, daß es nicht möglich und nicht nötig ist, etwas daran zu ändern und zu bessern. Niemand bestreitet, daß alles Wirkliche für uns in der Zeit ist, und daß die Begriffe zeitlos sind. Hier können wir uns einfach auf den Consensus omnium stützen und die nächsten Schritte tun, ohne irgend- einen Widerspruch befürchten zu müssen. Es ist an diesem Punkte keine ausdrückliche Rechtfertigung und Begründung, sondern nur Erläuterung und Verdeutlichung erforderlich. Die Zeitlichkeit alles Wirklichen ist in der Tat ein Merkmal, welches die Rolle des gesuchten Kriteriums voll und ganz übernehmen kann. Alles was da wirklich existiert, ist für uns zu einer bestimmten Zeit. Ereignisse oder Dinge — alles ist an einem gewissen Zeitpunkte oder während einer gewissen Zeitdauer. Das gilt, was man auch sonst vom ,, Wesen" der Zeit denken möge; es gilt unabhängig davon, wie die Be- stimmung eines Zeitpunktes vor sich geht, oder ob man ihr relative oder absolute Bedeutung zuschreibt, ihr subjektive oder objektive Gültigkeit beilegt. Für den naiven Menschen wie für alle Wissenschaften ist jedes Wirkliche in der Zeit; für uns muß es daher auch stets an diesem Merkmal erkennbar sein. Und wenn ein Philosoph die Existenz unzeitlicher Reali- täten behauptet, wie etwa Kant von den Dingen an sich tut, so ändert dies doch auch innerhalb seiner Lehre nichts daran, daß für unser Er- kennen das Wirkliche nie anders als in der Zeitform sich offenbart. Einem großen Umkreis des Realen kommt noch eine andere Be- stimmung zu, an der nichts Unwirkliches teil hat: das ist die räumliche Ordnung. Alle wirklichen Dinge und Vorgänge der ,,Auß en weit" (dies selbst ist ja ein räumlicher Ausdruck) sind dadurch charakterisiert, daß ihnen ein ganz bestimmter Ort zugeschrieben werden muß. Bekanntlich gilt dies aber nicht für alle Realitäten; manche Bewußtseinsdaten, de*en die volle Wirklichkeit alles unmittelbar Gegebenen zukommt, sind schlecht- hin unräumlich. Wenn ich Freude fühle oder Trauer, Zorn oder Mitleid, so sind diese Affekte nicht irgendwo im Raum, nicht an einem bestimmten Orte gegeben (vor allem natürlich nicht etwa ,,im Kopfe"), es hat keinen Sinn, irgendwelche räumlichen Prädikate von ihnen auszusagen. Dieser Umstand, daß zwar die gesamte Wirklichkeit zeitlich bestimmt ist, aber nur teilweise räumlich, ist die Quelle einer Reihe philosophischer Fragen; er liefert z. B. auch zum psychophysischen Problem einen Beitrag. Davon wird später die Rede sein. Vorläufig lehrt uns jener Umstand, daß wir als hinreichendes Realitätskriterium sowohl die Zeitlichkeit wie Die Zeitlichkeit des Wirklichen. 165 die Räumlichkeit anzusehen haben, daß aber nur die erstere ein not- wendiges Kriterium alles Wirklichen ist. Bloße Begriffe sind niemals an einem Orte, nirgends zu einer be- stimmten Zeit. Die Zahl 7, der Begriff des Widerspruchs, der Begriff der Kausalität, sind an keinem Orte der Welt aufzufinden, zu keiner Zeit anzutreffen, auch nicht, wie wir ja oft betonten, im Geiste dessen, der die Begriffe denkt. Dort existieren nur reale psychische Vorgänge, welche die Funktion der fingierten Begriffe übernehmen. Das gilt natürlich nicht bloß von Allgemeinbegriffen, sondern ebensowohl von individuellen: der Schlacht bei Pharsalus kommt ein bestimmter Ort und eine bestimmte Zeit zu; der Begriff der Schlacht bei Pharsalus ist nirgendwo und nirgend- wann. Das gleiche gilt auch für solche unwirklichen Gegenstände, die man gewöhnlich nicht als Begriffe bezeichnet: Dinge oder Vorgänge, die man für wirklich hält, von denen sich aber dann herausstellt, daß sie gar nicht existieren. Betrachten wir ein Beispiel. Ich denke etwa an eine Reise, die ich im nächsten Jahr unternehmen will. Diese ist dann etwas Un- wirkliches, zum mindesten jetzt, und wenn wir annehmen, daß sie durch widrige äußere Umstände gänzlich verhindert wird, so ist es überhaupt unmöglich, ihr irgendwie das Prädikat der Realität beizulegen. Wodurch muß sich nun die gedachte Reise von einer wirklichen unterscheiden? Ganz gewiß nicht durch irgendwelche inhaltlichen Merkmale. Denn auf der wirklichen Reise kann mir schlechterdings nichts passieren, was ich mir nicht auch ebensogut im Gedanken vorstellen könnte. Das kleinste Vorkommnis, den geringfügigsten Nebenumstand, der sich auf einer Reise nur immer ereignen kann, vermag ich mir bis in alle Einzelheiten in der Vorstellung auszumalen. Jeder Inhalt einer Wahrnehmungsvorstellung kann auch Inhalt einer Erinnerungs- oder Phantasievorstellung sein. Die Einsicht, daß das Wirkliche sich von allem Unwirklichen nicht durch irgendein inhaltliches Moment unterscheide, hat Kant in den so oft zitierten Satz gebracht: ,, Hundert wirkliche Taler enthalten nicht das mindeste mehr als hundert mögliche". Der Ruhm aber, dieser Wahrheit zuerst Ausdruck verliehen zu haben, gebührt Hume, denn er sagt (Treatise of human nature, book I, part II, section 6): ,,The idea of existence , when conjoined with the idea of any object, makes no addition to it". Ob also ein Begriff etwas Wirkliches bezeichnet oder nicht, kann nicht an irgendeinem Merkmal dieses Begriffes erkannt werden, sondern nur durch ein ganz neues Prädikat, durch irgendeine besondere Beziehung zu etwas anderem. Wenn jemand angeben soll, welchen Unterschied es macht, ob ich an eine wirkliche oder an eine eingebildete Reise denke, so wird er viel- leicht zuerst darauf hinweisen, daß im letzteren Falle meine Gedanken sehr unbestimmt sind; ich kann die Reise so oder so denken, sie ist ein Produkt meiner Phantasie, nichts zwingt mich, sie gerade mit ganz be- stimmten, genau festgelegten Einzelheiten in der Vorstellung auszustatten. i66 Die Setzung des Wirklichen. Denke ich dagegen an eine wirkliche Reise, so muß auch der kleinste Umstand dabei ganz bis ins Detail bestimmt sein, denn wenn ich mir nur die geringfügigste Abweichung und willkürliche Änderung erlaube, so denke ich eben nicht mehr an einen Vorgang der wirklichen Reise, sondern substituiere dafür etwas Eingebildetes. Diese Ausführung trifft etwas Richtiges, aber sie ist noch zu ver- vollständigen und zu präzisieren; denn die ganz besondere Art der Be- stimmtheit, welche das Reale vor der Willkürlichkeit des Eingebildeten voraus hat, muß gefunden werden. Und sie besteht nun eben in nichts anderem als in der festen räumlichen und zeitlichen Ordnung, die jedenr Datum der wirklichen Reise seinen ganz bestimmten Platz an- weist, jeden Vorgang der realen Welt in einen eindeutigen Zusammen- hang mit allen anderen Vorgängen und Teilen der Welt bringt. Jedem Wirklichkeitselement kommt ein und nur ein Platz in der Zeit zu, der völlig fest bestimmt ist, sobald nur eine Maßeinheit und ein Bezugs- system der Zeit gewählt sind. Feste räumliche Bestimmung ist zwar den meisten Realitäten außerdem eigentümlich, da das aber nicht für alle zutrifft, z. B. nicht für die Gefühlserlebnisse auf der betrachteten Reise, so ist allein die eindeutige Zeitbestimmung als notwendiges Kennzeichen der Wirklichkeit anzusehen. Nun wird man vielleicht einwenden, restlos vollkommene zeitliche Bestimmung könne auch einer bloß imaginären Reise ganz wohl zukommen. Die äußeren Umstände könnten z. B. so liegen, daß die zukünftige Reise notwendig an einem ganz genau festgelegten Zeitpunkt angetreten werden muß, an dem und dem Tage, um die und die Minute, ja Sekunde; und alles könnte so geplant und geordnet sein, daß jede einzelne Phase durch den Zwang der Verhältnisse sich nur in genau vorherzusehender Weise abspielen kann. Dann würde ich im Gedanken an die zukünftigen Er- eignisse dieser Reise mir die einzelnen Vorgänge zu ganz bestimmten Zeit- punkten vorzustellen gezwungen sein, es bliebe gar kein Spielraum für meine Willkür — aber würde sie dadurch schon zu einer wirklichen.-* Gerade die Erwägung eines solchen Falles bestätigt die Richtigkeit unseres Ergebnisses. Gesetzt nämlich, die natürlichen Zusammenhänge machten es tatsächlich absolut notwendig, daß die Vorgänge der Reise sich nur auf eine ganz bestimmte, vorher übersehbare Art und zu vorher genau bekannten Zeiten ereignen könnten, nun, so hieße dies eben gar nichts anderes, als daß sie sich mit Sicherheit so ereignen müssen und unmöglich ausbleiben oder anders ausfallen könnten, daß also die Reise überhaupt gar nichts bloß Eingebildetes ist, sondern zukünftige Wirk- lichkeit besitzt. Sobald die Naturumstände den Zeitpunkt eines Er- eignisses mit Notwendigkeit bestimmen, so heißt das eben: das -Ereignis tritt wirklich ein. Weder im betrachteten Beispiele der Reise noch streng genommen in irgend einem anderen Falle werden freilich alle Umstände jemals so vollkommen übersehbar sein, daß irgendein vorausgeschautes Zukünftiges in seinem ganzen Verlauf mit Sicherheit an einer völlig be- . Die Zeitlichkeit des Wirklichen. 167 stimmten Zeitstelle eingeordnet werden müßte; immer wird es möglich bleiben, daß unerwartete Geschehnisse den vorausgesetzten Gang der Dinge durchkreuzen, so daß kein sicheres Urteil möglich ist, ob das zu- nächst nur Eingebildete auch wirklich werden wird — stets aber äußert sich das darin, daß für mein Vorstellen kein absoluter Zwang besteht, .dem Vorgestellten einen Zeitpunkt eindeutig zuzuweisen, es bleibt eine Unsicherheit und Willkür bestehen. Ein gleiches gilt auch vom Sein vergangener Wirklichkeiten. Niemals wird sich mit schlechthin voll- kommener Gewißheit ermitteln lassen, ob das vorgestellte Gewesene auch in der Weise wirklich war, wie es vorgestellt wird; je genauer wir es aber räumlich und zeitlich lokalisieren können, desto sicherer sind wir, die Wirklichkeit getroffen haben. So können wir nunmehr den Satz festhalten, daß alles, was in Leben und Wissenschaft als wirklich anerkannt wird, charakterisiert ist durch seine Zeitlichkeit, durch seinen festen Platz in der allgemeinen zeitlichen Ordnung der realen Dinge und Vorgänge. Kant hat diese Wahrheit (in dem Schematismuskapitel der Kritik der reinen Vernunft) in die Worte gefaßt: ,,Das Schema der Wirklichkeit ist das Dasein in einer bestimmten Zeit". Das gefundene Kennzeichen stellt, wie es nach den vorhergehenden Ausführungen sein muß, kein inhaltliches Merkmal dar, sondern es ist gleichsam ein Äußeres, das jedes Wirkliche mit allem anderen verwebt. Erfüllt nun aber das gewonnene Resultat auch die andere Bedingung, die wir als unerläßlich für das Wirklichkeitskriterium erkannt haben.-* Diese andere Bedingung verlangte eine Verknüpfung alles Realen mit dem unmittelbar Gegebenen, weil in ihm der Begriff der Wirklichkeit wurzelt und sich überall wieder bis zur Wurzel zurückverfolgen lassen muß. Auf den ersten Blick scheint nun aber unser Kriterium dieser Forderung nicht zu genügen. Denn Zeitbestimmungen sind nicht unmittelbar ge- geben, nicht bloß Sache des einfachen Erlebens; sie scheinen vielmehr nichts vorauszusetzen als ein wohldefiniertes objektives Maß und ein ebensolches Bezugssystem, Begriffe also, die außerhalb des direkt Ge- gebenen liegen. Aber der Anschluß an dies letztere wird sofort erreicht und als notwendig erkannt, wenn wir uns klar machen, auf welche Weise denn eine Zeitbestimmung nur vorgenommen, ein Zeitpunkt nur definiert werden kann. Die Festlegung eines Zeitpunktes geschieht stets durch Angabe eines Abstandes von einem andern Zeitpunkt. Ich sage etwa: Kant wurde 13 Jahre nach Hume geboren. Frage ich weiter danach, wann Hume geboren wurde, so kann ich wieder nur durch die Beziehung auf einen anderen Zeitpunkt antworten; ich entgegne z. B. : 171 1 Jahre nach Christi Geburt. Jedoch was nützt mir das, wenn ich nicht weiß, wann dieses letztere Ereignis stattfand.? Aber auf welchen Zeitpunkt ich mich auch beziehen möge — immer bleibt die Angabe gleichsam im Leeren schweben und verlangt nach Antwort auf ein neues Wann: alle i68 Die Setzung des Wirklichen. Zeitbestimmungen müßten haltlos und sinnlos bleiben, wenn es nicht einen Punkt gäbe, bei dem die Frage ,,wann"? keiner Antwort mehr bedarf. Einen solchen gibt es aber: es ist der Moment der Gegenwart. Ich kann nicht mehr fragen: Wann ist der gegenwärtige Augenblick? denn dieses Wann wird unmittelbar erlebt. Zeitbestimmung hat nur Sinn und Zweck für Ereignisse, die in meinem Bewußtsein nicht direkt gegen- wärtig sind. Der Sinn eines jeden Wann ist in letzter Linie immer die Frage nach dem Abstand von dem Zeitpunkt, der für mich Gegenwart ist; er kann nicht weiter bestimmt werden, sondern dient als fester Be- ziehungspunkt für alle Festlegungen, als der einzige, den es gibt. Durch ihn ist die Relativität des Zeit b e g i n n s für mich überwunden. (Die psychologische und die physikalische Relativität der Zeit d a u e r hat natürlich damit nichts zu tun, sie bleibt bestehen in dem von den Einzel- wissenschaften gelehrten Maße.) Wir sehen also: wenn wir das Kriterium der Wirklichkeit eines Gegenstandes in sein Dasein zu einer bestimmten Zeit setzen, so kommt dadurch der Zusammenhang alles Wirklichen mit dem schlechthin Gegebenen mit aller Kraft und Deutlichkeit zum Aus- druck. Dasein zu einer bestimmten Zeit bedeutet eben, zum Gegebenen, zum erlebten Jetzt in einer bestimmten Beziehung stehen. Unzweifelhaft ist also die Orientierung in der Zeit dasjenige Kenn- zeichen, welches sich überall aufweisen läßt, wo wir von realer Existenz reden, wo wir Gegenständen jene ,, Wirklichkeit" zuschreiben, die sich nicht definieren läßt, deren Sinn aber doch von jedermann als ein völlig bestimmter überall vorausgesetzt wird und nach dem alles Handeln und Forschen sich richtet. Mag im einzelnen dieses oder jenes Kennzeichen zur Konstatierung der Realität verhelfen, allen ist gemeinsam, daß dadurch dem Wirklichen eine bestimmte Stelle in der Zeit (meist auch ein be- stimmter Ort im Raum) angewiesen wird; auf dieses laufen alle Methoden der ,, Realisierung" schließlich hinaus. Indem nun dieses Resultat erreicht und aus dem Denken und den Verfahrungsweisen der Praxis das Kriterium herausgearbeitet ist, durch das der Umkreis alles dessen abgegrenzt werden kann, was da als ,, wirk- lich" gilt, so ist damit für die Behandlung des Wirklichkeitsproblems durch die Philosophie eine feste Basis geschaffen, die sie nicht ohne weiteres verlassen darf. Denn es versteht sich von selbst, daß der Philosoph — was immer seine Zwecke sein mögen — nicht das Recht hat, dem Worte ,, Wirklichkeit" von vornherein einen neuen Sinn zu geben, ver- schieden von dem, welchen das vorphilosophische Denken geschaffen hat und benutzt. Denn von dort aus werden der Philosophie ihre Probleme gestellt, und Probleme lassen sich nicht lösen durch bloße neue Defini- tionen. Die philosophischen Lehren, mit denen das hier gefundene Realitätskriterium nicht im Einklang ist, geben in der Tat meist zu ver- stehen, daß sie nicht etwa einen neuen Wirklichkeitsbegriff aufstellen wollen, sondern daß eben gerade dasjenige, was jeder wahrhaft meint. Kritik der Immanenz- Gedanken. 169 wenn er von Wirklichem spricht, durch unser Kennzeichen nicht richtig getroffen werde und auf andere Weise zu bestimmen sei. Es kann, wie ich glaube, gezeigt werden, daß diese Standpunkte im Unrecht sind. Sie verfahren durchweg dogmatisch, das heißt, sie machen sich von vornherein ihren besonderen Wirklichkeitsbegriff zurecht, um dadurch bestimmten Problemen auszuweichen, deren sie sonst nicht Herr werden können, und sie suchen dann hinterher diesen Sinn des Begriffes als den einzig natürlichen, selbstverständlichen, oder gar einzig möglichen hinzustellen. Diese philosophischen Systeme, die da behaupten, daß der Begriff des zeitlich Bestimmten mit dem des Wirklichen sich nicht decke, zerfallen naturgemäß in zwei Gruppen: die einen erklären ihn für zu eng, die anderen halten ihn für zu weit. Die ersteren müssen damit in der Philo- sophie die Entdeckerin eines neuen Reiches der Wirklichkeit sehen, das jenseits desjenigen der Wissenschaft und des Lebens steht, die anderen müssen dem unbefangenen Standpunkte des naiven Menschen und For- schers vorwerfen, daß sie bloße Einbildungen für ,, wirklich" halten, bloße Begriffe hypostasieren und reinen Hypothesen (bloßen ,, Hilfsmitteln der Beschreibung") reale Bedeutung beimessen. Beides ist oft genug ge- schehen, und beide Richtungen spielen in dem philosophischen Denken aller Zeiten eine Rolle. Die Widerlegung der ersten der beiden Gedankenrichtungen war eine historisch wichtige Aufgabe der Philosophie, die in der Gegen- wart im wesentlichen als gelöst und abgeschlossen betrachtet werden kann, etwa seit der Zeit des KANx'schen Kampfes gegen die alte Meta- physik. Die Prüfung der zweiten Ansicht aber hat noch in der Gegen- wart, und gerade in der Gegenwart, große Bedeutung. Einer solchen Prüfung sollen die nächsten Seiten gewidmet sein, und erst an sie wollen wir die Entwicklung der positiven Konsequenzen anschließen, die sich aus den bisher gewonnenen Einsichten ergeben. Diese Einsichten selbst werden sich dabei noch mehr befestigen. Unsere Stellungnahme zu jener anderen Richtung, die dem Begriff des Wirklichen einen ungebührlich weiten Kreis zuweisen möchte, wird sich dann ganz von selbst ergeben, ohne daß es nötig wäre, eine besondere Untersuchung darauf zu richten. 24. Kritik der Immanenz-Gedanken. Wir behaupten also: Wirklich ist alles, was zu einer bestimmten Zeit seiend gedacht werden muß. Der Kundige ermißt mit einem Blick die außerordentliche Tragweite dieses Satzes. Er weiß, wie ungeheuer weit uns der Satz über die Welt des unmittelbar Gegebenen hinausführt. Sobald für irgend einen Gegen- stand sich ergibt, daß die Regeln der einzelwissenschaftlichen Forschung dazu zwingen, ihm einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit zu- zuerkennen, so ist seine reale Existenz auch im philosophischen Sinn damit 170 Die Setzung des Wirklichen. gesichert; er ist mehr als eine bloße Hilfsannahme oder Arbeitshypothese. Wenn man z. B. von den Atomen nach strengen Forschungsregeln ihr Wo und Wann eindeutig und bestimmt angeben kann, so existieren sie eben, unbekümmert darum, ob sie jemals unmittelbar zur Wahrnehmung gelangen oder nicht; unbekümmert auch darum, was man sonst etwa über ihr ,, Wesen" aussagen kann, d. h. unter welche Begriffe sie sich außerdem noch subsumieren lassen. Über Raum und Zeit selbst setzt unser- Kriterium zunächst gar nichts voraus (außer daß sie irgendwie die Möglichkeit einer Orts- und Zeitpunktbestimmung im besprochenen Sinne begründen); es ist aber klar, daß ihnen die Realität im Sinne unseres Kriteriums selbst nicht zugesprochen werden kann, denn die Zeit ist nicht zu einer bestimmten Zeit, der Raum nicht an einem bestimmten Orte. Auch hierin ist der Anschluß an das naive und das wissenschaftliche Denken aufs beste ge- wahrt, denn niemand betrachtet die reine Zeit oder den bloßen Raum als etwas Wirkliches in demselben Sinne wie die Feder in meiner Hand oder die Freude in meinem Herzen. Solche Gegenstände nun, deren Wirklichkeit behauptet wird, ohne daß sie schlechthin gegeben wären (in unserm oft festgelegten Sinne), nennt man Dinge an sich. Wenigstens ist dies die Bedeutung, in der wir den Terminus fortan gebrauchen wollen. Diese Definition scheint mir das Problem, das sich an den Begriff knüpft, am reinsten hervor- treten zu lassen. Der Leser möge während des folgenden keinen Augen- blick vergessen, daß der Ausdruck ,,Ding an sich" nur in der hier fest- gelegten Weise zu verstehen ist. Man kann den Terminus ja noch in manchem anderen Sinne nehmen. Man kann z. B. mit Mach (Analyse der Empfindungen S. 5) glauben, es müsse damit ein Etwas gemeint sein, das da übrig bleibe, wenn man von einem Dinge alle seine Eigenschaften weggenommen denkt. Damit haben wir hier nichts zu schaffen. Wenn wir für das Ding an sich eintreten, so soll damit nur gesagt sein, daß man von realen Gegenständen sprechen dürfe, ohne damit zu meinen, sie seien einem Subjekt als Objekte in unserem Sinne ,, gegeben"; es soll also nicht ein verborgener unbekannter ,, Träger" von Eigenschaften postuliert werden, nicht ein ,, Absolutes" in irgendeinem metaphysischen Sinne. Wie es sich mit dem Ding an sich in diesen Beziehungen verhalte, darüber wollen wir vorläufig gar kein Urteil fällen. Deshalb treffen auch die Gründe, durch die man das Ding an sich neuerdings so oft von vornherein in Verruf gebracht hat, für den hier formulierten Begriff desselben gar nicht zu. Wird also der Begriff in dieser Weise festgelegt, so folgt nach den soeben gemachten Bemerkungen aus unserem Kriterium allerdings die Existenz von Dingen an sich, denn es müssen eben auch viele Gegen- stände zeitlich bestimmt gedacht werden, die nicht zum unmittelbar Gegebenen gehören. (Wollte man freilich hieraus den Schluß ziehen, daß die Zeithchkeit im KANi'schen Sinne eine Eigenschaft der Dinge an sich Kritik der Immanenz-Gedanken. 171 sein müsse, so wäre das ganz ungerechtfertigt; doch davon später.) Gegen die transzendenten Dinge (auch so kann man sie bezeichnen, da sie sich ja außerhalb des Reichs der Gegebenheit befinden) wird nun in der neueren Zeit, wie man weiß, von allen Seiten Sturm gelaufen, be- sonders von vielen Positivisten und Neukantianern. Die Dinge an sich in Schutz zu nehmen, gilt fast als eine Rückständigkeit, die nur mit einem nachsichtigen Lächeln bedacht werden kann. Das soll uns aber nicht hindern, der Frage mit vollkommener .Ruhe auf den Grund zu gehen. Diejenigen Philosophen, welche das Ding an sich ablehnen, wollen wir als Vertreter des Immanenzgedankens bezeichnen, insofern sie alle mehr oder minder streng die Forderung stellen, man müsse in der Sphäre des Gegebenen oder Vorgefundenen bleiben und die Trans- zendenz verbieten. Die einzelnen Schulen dieser Richtung weichen weit voneinander ab, mehr aber noch in ihrer Terminologie als in ihren sach- lichen Behauptungen. Einige haben ihre Gedanken selbst als Immanenz- philosophie bezeichnet (Schuppe, Schubert-Soldern u. andere). Sofern man betont, daß alle unmittelbaren Daten Bewußtseins Charakter tragen, kann man (mit Külpe) auch von einem ,,Konszientialismus" reden. Viele Gegner der Dinge an sich würden aber damit gar nicht ein- verstanden sein, z. B. Avenarius; bei ihm kommt der Begriff und das Wort Bewußtsein eigentlich überhaupt nicht vor, und die Bezeichnung ,, Bewußtseinsinhalt" für alles Vorgefundene würde er als ganz unzweck- mäßig ablehnen. Dagegen wollen die Neukantianer der Marburger Schule (Cohen, Natorp und viele andere) ihrerseits mit dem ,, Gegebenen" überhaupt nichts zu tun haben; bei ihnen ist die Sphäre der ,, trans- zendentalen Logik" das Reich, in dem sie verharren und das sie mit dem Reich des wirklichen Seins identifizieren wollen, von dem die fiktiven Dinge an sich ausgeschlossen sind. Mit ihrem Standpunkt brauchen wir uns jedoch an dieser Stelle noch nicht auseinanderzusetzen (vgl. unten § 38). Mit wenigen Worten dürfen wir die Lehre jener Denker abtun, welche den Immanenzstandpunkt in der Weise auffassen und in der Weise als den einzig möglichen dartun wollen, daß sie den Gedanken eines Gegen- standes, welcher nicht Inhalt eines Bewußtseins wäre, für widersprechend und damit das Ding an sich für unmöglich erklären. In den oft zitierten Worten Schuppe's ^): ,,Der Gedanke, der sich auf ein Ding richtet, macht dieses Ding zu einem gedachten; folglich ist der Gedanke eines nicht ge- dachten Dinges ein undenkbarer Gedanke". Dasselbe Argument findet sich bekanntlich schon bei Berkelfa' und einer Reihe anderer Denker. In der modernen erkenntnistheoretischen Literatur ist mehrfach zwingend gezeigt worden, daß dieser Schluß auf einer Äquivokation be- ruht, auf einem Doppelsinn des Wortes ,, Denken", und daher ungültig ^) W. Schuppe, Erkenntnistheoretische Logik. S. 69. 172 Die Setzung des Wirklichen. ist. Der Ausdruck „gedachtes Ding" kann nämlich erstens einen Gegen- stand bedeuten, der durch das Denken geschaffen, d. h. eine Vorstellung innerhalb meines Bewußtseins ist; er kann aber zweitens auch einen Gegenstand bedeuten, der im Denken nur gemeint ist, d. h. der durch eine Vorstellung meines Bewußtseins bezeichnet, dem ein Gedanke meines Bewußtseins zugeordnet wird. Wenn wir von einem Ding an sich reden, so ist es natürlich im zweiten Sinne ,, gedacht"; daraus folgt aber auf keine Weise, daß es auch gedacht im ersten Sinne wäre. Jener Schluß verwechselt aber beides ^). Auf Grund der früheren Betrachtungen lösen sich diese Scheinargumente für uns ganz besonders leicht auf, denn wir haben uns ausdrücklich klar gemacht: Denken in dem Sinne, welcher für die Erkenntnis in Betracht kommt, bedeutet nichts als ein Bezeichnen der Gegenstände. Daß aber ein Gegenstand nicht erst dadurch erzeugt wird, daß wir ihn bezeichnen, sondern davon ganz unabhängig ist, und also auch existieren kann, ohne daß wir ihm ein Zeichen, eine Vorstellung zuordnen, das liegt im Begriffe des Bezeichnens selbst, und niemals hätte man auf jenen Fehlschluß verfallen können, wenn man die beiden Bedeu- tungen des Wortes Denken durch verschiedene Termini auseinander gehalten hätte. Von vornherein ist also der Begriff des Dinges an sich gewiß nicht widerspruchsvoll. Es gibt aber noch andere Motive, die der Annahme transzendenten Seins entgegenstehen und viele Philosophen veranlassen, den Begriff der Wirklichkeit auf das Reich des Gegebenen (oder des ,, Vorgefundenen" oder der ,, Bewußtseinsinhalte" oder wie man es sonst nennen mag) einzuschränken. Diese Motive müssen nun geprüft werden. Sie sind, wie bei jeder ernsten wissenschaftlichen Annahme, darin zu suchen, daß man glaubt, die entgegengesetzte Ansicht führe schließlich zu Widersprüchen, oder sie stelle wenigstens eine völlig überflüssige, durch nichts geforderte, un- zweckmäßige Hypothese dar. Es wird also behauptet: die Setzung von Wirklichkeiten jenseits des Gegebenen führe bei näherer Prüfung ent- weder zu unauflösbaren Problemen, oder wenn etwa dies nicht, so trage sie doch nichts bei zur Lösung der sich auch sonst ergebenden Probleme. Am radikalsten ist natürlich die erste Behauptung, und sie muß deshalb zuerst ins Auge gefaßt werden. Ist es wahr, daß unlösbare Probleme, d. h. unaufhebbare Widersprüche mit den Forderungen und Regeln der Einzelwissenschaften entstehen, wenn man als wirklich nicht nur das einfach Gegebene betrachtet, sondern alles, wofür sich aus eben jenen Forderungen und Regeln der Wissenschaften eine bestimmte räumliche und zeitliche Orientierung ergibt.?* Ist es wahr, daß jene Widersprüche sich nur vermeiden lassen, wenn man den Begriff des Wirklichen ein- *) Vgl. z. B. die trefflichen Ausführungen von W. Freytag, Der Realismus und das Transzendenzproblem. VII. Abschnitt. 1902; ferner G. Störring, Einführung in die Erkenntnistheorie. S. 130. 1909 Kritik der Immanenz-Gedanken, 173 schränkt durch Zurückgehen auf seinen ersten Ursprung, nämlich das un- mittelbar Erlebte? Ganz zweifellos wird durch das Zurückziehen auf den Immanenz- standpunkt eine Reihe von philosophischen Kämpfen verhütet und un- nötig gemacht. Jeder ernste Denker hat wohl gelegentlich die Versuchung gespürt, die quälenden Probleme dadurch loszuwerden, daß er sich auf diesen Standpunkt stellt. Wie Herbart meinte, daß jeder tüchtige An- fänger in der Philosophie Skeptiker sein müsse, so kann man vielleicht hinzufügen, auch durch das Stadium der Immanenzphilosophie müsse der gewissenhafte Denker sich hindurcharbeiten. Der Standpunkt macht es möglich, Probleme überhaupt zu verhindern, Denkkonflikte gar nicht erst entstehen zu lassen, und das scheint eine viel bessere Methode zu sein, als die voll ausgebrochenen nachträglich zu heilen. Und dies prophylak- tische Verfahren scheint immer anwendbar zu sein, denn es ist ja klar: was ursprünglich von der Welt gegeben, was vor aller denkenden Beurtei- lung da ist, das muß widerspruchsfrei sein. Tatsachen widersprechen sich nicht, unser Denken muß schuld sein an allen Konflikten, es muß sie durch irgendwelche Fehltritte herbeigeführt haben. Richtige Gedanken über vorliegende Tatsachen können nie zu Widersprüchen führen; alles schlecht- hin Vorhandene ist positiv und erst durch den Akt der Verneinung wird Widerspruch möglich (siehe oben S. 59 f.). So kommt man zu dem posi- tivistischen Wunsche, überhaupt bei dem schlechthin Tatsächlichen stehen zu bleiben, Denkzutaten ängstlich zu vermeiden und es einfach bewenden zu lassen bei der bloßen Beschreibung des Vorhandenen durch Urteile, ohne Hypothesen hinzuzufügen. Es versteht sich aber leider von selbst, daß die pedantisch strenge Durchführung dieses Programms einen Verzicht auf Erkenntnis über- haupt bedeuten würde. Erkennen setzt eben Denken voraus, und dazu bedarf es der Begriffe, und sie können nur gewonnen werden durch eine Bearbeitung des Tatsachenmaterials, welche sofort die Möglichkeit von Fehlern und Widersprüchen schafft. Die wissenschaftliche Beschreibung, welche Erklärung ist, besteht ja darin, daß mit Hilfe von Wiedererkennungs- akten die Tatsachen aufeinander bezogen und durcheinander gedeutet werden ^). So hebt sich also dieser extreme Standpunkt bei strenger Durch- führung von selbst auf; man kann aber doch hoffen, seine Vorteile auch dann noch zu genießen, wenn man ein Minimum von Denkzutaten ge- stattet. Es ist nun eben die Behauptung des Immanenzgedankens, daß zu diesem Minimum die Annahme der Dinge an sich nicht gehört. Deswegen will er von dem Kriterium der zeiträumlichen Bestimmung sich abwenden und zurückkehren zu dem ursprünglichsten Standpunkt, der auch in der Weltanschauung des naiven Individuums bereits verlassen ist. ^) Daß jedes Urteil als solches über das Gegebene transzendiert, zeigt sehr gut W. Freytag, Der Realismus und das Transzendenzproblem. 1902. S. 123 ff. 174 Die Setzung des Wir klichen. Es werden nur die elementarsten Voraussetzungen von solcher Einfachheit zugelassen, daß -sie tatsächlich allen Ausgangspunkten gemeinsam sind und von niemand in Zweifel gezogen werden. Avenarius erwähnt z. B. als eine solche Voraussetzung die „empiriokritische Grundannahme der prinzipiellen menschlichen Gleichheit" (Der menschliche Weltbegriff, § 14). Ebenso treten bei Mach einfache Analogieschlüsse auf, nach welchen wir z. B. unseren Nebenmenschen Gefühle und Vorstellungen ähnlich unseren eigenen zuschreiben dürfen, obwohl sie uns nie gegeben sind. Diese Annahmen, gegen die ja ganz gewiß nichts einzuwenden ist, kann man getrost zulassen, ohne daß dadurch allein jene gefürchteten Probleme entstehen, vor denen man die Flucht ergreift. Welches sind denn nun diese Probleme.'* Es ist eigentlich gar nicht eine Mehrheit von Problemen, sondern im Grunde nur ein einziges, oder wenigstens gipfeln in diesem einen alle anderen und werden mit ihm zugleich gelöst: es ist das Problem, welches seit Descartes im Mittelpunkte der gesamten neueren Metaphysik steht: die Frage nach dem Verhältnis des Psychischen zum Physischen. Die Zurückverfolgung der verschiedenen Gedankengänge zeigt leicht, daß es wirklich dieses Problem ist, vor dem man sich auf die Festung der Immanenz flüchtet, um nicht in den metaphysischen Positionen des DEscARTEs'schen Dualismus, des GEULiNx'schen Occasionalismus oder der LEiBNiz'schen Monadologie und prästabilierten Harmonie den Sturmangriffen der Kritik ausgesetzt zu sein. Selbst wenn einer der hervorragendsten Vertreter der zu besprechenden Ansicht nicht ausdrücklich erklärt hätte, daß es sich so verhält ^), so kann man es doch dem Immanenzgedanken in allen seinen Formen leicht ansehen, daß er aus dem Wunsche hervorgeht, dem psycho- physischen Problem zu entfliehen. Es ist nun wahr, und wird auch wohl allgemein zugestanden, daß bei der Rückkehr auf den unmittelbarsten, der philosophischen Reflexion vor- hergehenden Standpunkt das Problem vom Verhältnis des Seelischen zum Körperlichen in der Tat verschwindet, denn diese Unterscheidung wird zweifellos erst durch eine begriffliche Bearbeitung hineingetragen in den Ablauf der Erlebnisse, in welchem die Welt ursprünglich für uns besteht. Es ist nur nötig, die gedankliche Abstraktion, welche die Trennung des Physischen vom Psychischen vollzieht und beiden seine Grenzen anweist, hinterher von allen Fehlern zu reinigen und ihren wahren Sinn festzustellen. Es gibt keinen anderen Weg, des Problems Herr zu werden. Auch Kant löst es, indem er zeigt, daß die ganze Schwierigkeit eine ,, selbstgemachte" sei *) und aus einer ,, erschlichenen" dualistischen Vorstellung entspringe '). Zwei so verschieden gerichtete Denker wie Kant und Avenarius sind (wie wir noch näher zeigen werden — unten § 32 — ) im Prinzip zu der gleichen Auflösung — oder vielmehr Aufhebung — des Problems gelangt: ^) Mach, Analyse der Empfindungen. 5. Aufl. S. 24, Anm. *) Kritik der reinen Vernunft. Kehrbach S. 326. 3) Ebenda. S. 329. Kritik der Immanenz- Gedaxiken. 175 das ist gewiß höchst bemerkenswert und ein schönes Anzeichen dafür, daß hier wirklich die Wahrheit gefunden und eine hemmende Schwierig- keit endgültig ihrer Schrecken beraubt ist. Hätte Kant mit seiner Philosophie recht, so würde sein System be- weisen, daß die Bewältigung des psychophysischen Problems sich mit der Annahme von Dingen an sich ohne Widerspruch vereinigen läßt, denn bei ihm finden wir ja beides. Es würde dann also das wichtigste Motiv für den Standpunkt der Immanenz fortfallen; seine Vertreter könnten uns nicht mehr sagen: ,,Seht, ihr müßt auf unsere Seite treten, wenn ihr das Verhältnis des Körperlichen zum Seelischen restlos in Klarheit er- schauen wollt!" Aber es ist gewiß kein ausreichendes Argument, sich hier einfach auf Kant zu berufen, denn gerade ihm ist oft genug der Vorwurf gemacht worden, das Ding an sich sei die Quelle unlösbarer Widersprüche in seinem System. Es muß also besonders und ausdrücklich geprüft werden, ob die Behauptung des Immanenzgedankens zu Recht besteht, daß jede Transzendenz über irgendwie Gegebenes hinaus unauf- hebbare Widersprüche in die Welterklärung hineinbringe. Wir bestreiten diese Behauptung und müssen also nachweisen, daß die Annahme transzendenter Größen, d. h. die Existenz nicht unmittelbar gegebener Größen zu keinerlei Unverträglichkeiten führt. Dies geschieht am besten auf indirektem Wege, indem wir zeigen, daß gerade die imma- nenten Systeme an Widersprüchen kranken, deren Grund in der Unmög- lichkeit liegt, die Leugnung der Dinge an sich mit der Rechtmäßigkeit der empirischen Forschungsmethoden und ihrer sichersten Grundsätze zu vereinen. Wir drehen also den Spieß um und zeihen den Immanenzstandpunkt des Widerspruchs, indem wir behaupten, daß unter seinen Voraussetzungen die Anwendung der Prinzipien der wissenschaftlichen Einzelforschung (auf welche gerade von dieser Seite so großes Gewicht gelegt wird) ihren guten Sinn verhert und innerhalb seines Gedankenkreises nur dadurch gerecht- fertigt erscheinen kann, daß versteckte Annahmen eingeführt werden, welche in Wahrheit der Setzung des Dinges an sich gleich kommen. In der reinsten Form finden wir die zu besprechende Ansicht bei AvENARius und bei Mach. Im Anschluß an diese Denker sei daher hier das Wesentliche des Immanenzstandpunktes dargestellt und kritisch beleuchtet. In der Heraushebung der Grundsätze wollen wir dabei der Darstellung Mach's folgen, die den Vorzug großer Anschaulichkeit hat; wo es aber auf die genaue logische Analyse der entscheidenden Punkte ankommt, müssen wir uns an die Formulierungen von Avenarius halten, welche in ihrer peinlichen Exaktheit diejenigen von Mach bei weitem übertreffen. Die Lehre der Immanenzphilosophie ist also nun folgende. Streifen wir alle ungerechtfertigten und überflüssigen Denkzutaten ab, so erkennen wir, daß die Welt ein Zusammenhang von Farben, Tönen, Gerüchen, 176 Die Setzung des Wirklichen. Geschmäcken, Drucken usw. ist. Diese ,, Elemente" (so bezeichnen sie Mach und Avknarius, während z. B. Th. Ziehen von ,,Gignomenen" redet) sind immer in irgendwelchen Verknüpfungen untereinander gegeben; sie können niemals ganz aus ihnen losgelöst werden, und es hat keinen Sinn, zu fragen, wie sie etwa ,,an sich" beschaffen sind, abgesehen von allem Zusammenhang mit anderen Elementen. Jene Verknüpfungen sind immer wechselnd, aber es treten in ihnen doch relativ beständige Zu- sammenhänge hervor, die sich von dem mehr Veränderlichen abheben, in besonderen Vorstellungen zusammengefaßt werden und eigene Namen er- halten. Was wir z. B. Körper nennen, sind relativ konstant verknüpfte Komplexe von Farben, Drucken usw. „Als relativ beständig zeigt sich ferner der an einen besonderen Körper (den Leib) gebundene Komplex von Erinnerungen, Stimmungen, Gefühlen, welcher als Ich bezeichnet wird" (Analyse d. Empfind. S. 2); ,, nicht die Körper erzeugen Empfin- dungen, sondern Elementenkomplexe (Empfindungskomplexe) bilden die Körper". Ebensogut wie in meinem Ich können die Elemente auch in anderen Ichen zusammengeballt sein: ,,Ganz unwillkürlich führt das Ver- hältnis zu dem Bilde einer zähen Masse, welche an mancher Stelle (dem Ich) fester zusammenhängt" (a. a. O. S. 14). Die Wissenschaft hat nun die Aufgabe, die Abhängigkeit der Elemente voneinander auf die ein- fachste, möglichst ökonomische Art zu beschreiben. Untersuche ich die Abhängigkeit von Elementen untereinander, die den Komplexen ,, Körper" angehören, so treibe ich Physik, untersuche ich aber die Abhängigkeit irgendwelcher Elemente von solchen, die dem (natürlich niemals scharf abgegrenzten) Komplex ,,Ich" angehören, so treibe ich Psychologie. ,, Nicht der Stoff, sondern die Untersuchungsrichtung ist in beiden Gebieten ver- schieden" (S. 14). ,,In der sinnlichen Sphäre meines Bewußtseins ist jedes Objekt zugleich physisch und psychisch" (S. 36). Die Elemente sind an den Orten, wo sie räumlich lokalisiert wahrgenommen, erlebt werden, nicht etwa im Gehirn, von wo sie erst in den Raum hinausprojiziert würden. Es ist ein großzügiges Weltbild von erstaunlicher Einfachheit, das uns hier entworfen wird, scheinbar notwendig widerspruchslos, denn es ist ja alles ausgemerzt, das nicht der über allen Zweifel erhabenen Region des schlechthin Gegebenen angehörte. Alle Bedürfnisse der Wissenschaft, scheint es, werden in ihm vollkommen befriedigt, denn man muß sich nur klar machen, „. . . . daß nur die Ermittlung von Funktional- beziehungen für uns Wert hat, daß es lediglich die Abhängigkeiten der Erlebnisse voneinander sind, die wir zu kennen wünschen" (S. 28). Die letztere Behauptung enthält natürlich etwas Richtiges, denn alle Wahrheit — und um Wahrheit allein ist es ja der Wissenschaft zu tun — offenbart sich uns nur in bestimmten Erlebnissen der Verifikation (siehe oben II, § 20). In dieser Weltansicht hat das Ding an sich keinen Platz, und der Immanenzphilosoph ist froh, dieses, wie es ihm scheint, überflüssige und Kritik der Immanenz- Gedanken. 177 wertlose Phantasiegebilde los zu sein; im übrigen aber kann man sagen — und mit diesen Worten läßt ein scharfsinniger Kritiker ^) Mach's dessen Philosophie Gerechtigkeit widerfahren: „Nichts Wertvolles fehlt diesem Weltbild, nicht das fremde Ich, nicht die ,,Welt", d. i. eine un- endliche Mannigfaltigkeit von Elementen, nicht Ordnung und Gesetz- mäßigkeit in dieser Welt, nicht die Realität dieser Welt, nicht ihre Entwicklung . . . ." Der Standpunkt für den Aufbau dieses Weltbildes ist so günstig ge- wählt, daß der Immanenzphilosoph gleich, weit entfernt bleibt von den Gefahren des Dualismus und Materialismus, wie vom subjektiven Idealismus mit seiner steten Gefahr, die Verbindung mit der Außenwelt ganz zu verlieren und in den Abgrund des Solipsismus hinabzugleiten. Um die beschriebene Ansicht prüfen zu können, muß man sich ganz in sie ein- leben, und wer sie ohne solche Vorbereitung angreift, wird meist sein Ziel verfehlen (vgl. die treffende Abwehr unzureichender gegen Mach gerichteter Argumente, in der soeben zitierten Arbeit von V. Stern). Die Einfühlung in ein philosophisches System besteht nun aber darin, daß man sich bei jeder einzelnen Frage und Aussage des Lebens und der Wissenschaft genau vergegenwärtigt, welchen eigentlichen Sinn jene Frage oder Aussage innerhalb des Systems annimmt. Macht man sich die Immanenzgedanken in dieser Weise zu eigen, so bemerkt man bald, daß sich gewisse Schwierigkeiten ergeben bei der Deutung aller derjenigen Sätze, in denen von Körpern oder Vorgängen die Rede ist, deren Elemente niemanden gegeben sind; ja auch dort schon, wo die Elemente des Gegen- standes mehreren Individuen auf einmal gegeben sind. Wir betrachten zunächst den ersten Fall. Daß wir in alltäglichen wie wissenschaftlichen Urteilen immerfort von körperlichen Gegenständen reden, die keinem Bewußtsein gegeben sind, ist fraglos. Ich spreche von den Manuskripten, die sich jetzt in meinem Schreibtisch befinden, ohne daß sie mir oder irgend jemand anders in diesem Augenblick erlebt wären; durch den Tisch hindurch kann ich sie ja nicht wahrnehmen. Freilich waren die Elemente, deren Komplexe sie nach Mach sind, mir oft genug gegeben, und ich kann sie mir jeder- zeit wieder zur Gegebenheit bringen, ich brauche dazu nur die Schublade aufzuziehen und meinen Augachsen eine bestimmte Richtung zu geben, oder meine Hände bestimmte Tastbewegungen ausführen zu lassen. Und ähnliches gilt von allen Gegenständen des täglichen Lebens. Das naive Individuum interessiert sich nur für Dinge, die von ihm selbst oder seines- gleichen wahrgenommen werden, wurden oder noch werden können. Die Wissenschaft aber geht darüber hinaus zu Dingen, von denen es nach ihren ) Victor Stern, Die logischen Mängel der MAcn'schen Antinaetaphysik und die realistische Ergänzung seines Positivismus. Viertel jahrschr. f. wiss. Phil. 38. (1914)- s. 391. Schlick, Erkenn tnislehre. 12 178 Die Setzung des Wirklichen. eigenen Prinzipien ausgeschlossen ist, daß sie je einem Menschen gegeben würden. Sie fällt Urteile über das Innere der Sonne, über Elektronen, über magnetische Feldstärken (für die wir ja kein Sinnesorgan besitzen) usw welcher Sinn kommt diesen Aussagen zu? Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Jene nicht ge- gebenen Gegenstände werden entweder als wirklich bezeichnet oder nicht. Wer die zweite Möglichkeit annimmt, erklärt damit die Begriffe von jenen Gegenständen für bloße Hilfsbegriffe ohne unmittelbare reale Bedeutung. Auf diese Position werden wir sogleich zu sprechen kommen. Vorher aber wollen wir die erste Möglichkeit ins Auge fassen, die in der Tat meist bevorzugt wird, obgleich dadurch eigentlich ja schon die deutlichste Verletzung des Grundprinzips aller Immanenzgedanken be- gangen ist. Der Immanenzphilosoph sucht aber die natürliche Weltansicht soviel wie nur irgend möglich beizubehalten, ja nach Avenarius ist gerade er es, der diese Weltansicht in ihrer völligen Reinheit bewahrt und herausstellt; und da muß er sich eben eine gewisse Transzendenz gestatten. Wir haben ja auch festgestellt, daß wohl alle Weltanschauungen sich dar- über einigen können, gewisse nächstliegende Analogieschlüsse unbedenk- lich zuzulassen, auch wenn eine Transzendenz mit ihnen verbunden ist. Durch die Annahme einer realen Vergangenheit, ja mit jedem Urteil transzendieren wir doch bereits über das schlechthin Gegebene; und wenn der Immanenzphilosoph sein Grundprinzip so verallgemeinert fassen kann, daß auch die Setzung gewisser nicht gegebener Gegenstände als real nur diese unschuldige, und keine andersartige und weitergehende Trans- zendenz erfordert, so wird er sie sich gestatten dürfen, ohne sich eines Verstoßes gegen seine Grundtendenz schuldig zu fühlen. Doch weiter. Nach der jetzt zu besprechenden Ansicht existieren reale Gegen- stände auch, ohne irgendwie direkt wahrgenommen zu werden. Vai- HiNGER, der diesen Standpunkt als ,, kritischen Positivismus" bezeichnet, sagt z. B. ^): ,,. . . wirklich heißen wir auch solche Wahrnehmungs- komplexe, welche nicht bloß etwa einmal in die Wahrnehmung treten, sondern stets wahrnehmungsfähig sind". Da die realen Gegenstände nichts sind als Komplexe von Elementen, so müssen demnach auch Elemente Wirklichkeit besitzen, welche nicht ,, gegeben" sind. Hier erhebt sich aber eine gewaltige Schwierigkeit. Bei kurzer Überlegung wird man gewahr, daß ein Körper überhaupt gar nicht aus dem Zusammenhange ganz bestimmter Elemente bestehen kann Wir sahen ja, daß ihm nur relative Konstanz zugeschrieben werden darf. In der Tat, wenn ich die Blätter aus meinem Schreibtisch nehme und sie betrachte, so sind es je nach Art und Standpunkt der Be- trachtung gänzlich verschiedene Elemente, deren Miteinander das Wesen der Papierblätter ausmacht: bei direktem Aufblick andere als bei seit- ^) Die Philosophie des Als Ob. 2. Aufl. S. Kritik der Immanenz- Gedanken. 179 lieh am, bei künstlicher Beleuchtung andere als bei Tage; jeder kleine Schatten, jede Bewegung ändert die Elemente erheblich; niemals wird es voi kommen, daß mir ein und derselbe Körper auch nur zweimal als genau derselbe Elementenkomplex gegeben ist welcher jener unendlich vielen Elementenkomplexe existiert denn nun eigentlich, wenn niemand das Papier wahrnimmt? Natürlich nicht etwa ihre Gesamtheit, denn die ist unendlich mannigfach und enthält einander widersprechende Elemente, und während mir der Körper gegeben ist, besteht er doch in einem bestimmten Zeitpunkt immer nur aus einem ganz bestimmten Komplexe. Der nicht gegebene Körper kann aber auch nicht aus irgend- einem derjenigen Komplexe bestehen, die ihn bilden, wenn er ge- geben ist, denn es fehlt der zureichende Grund, warum eher der eine als der andere von diesen Komplexen den Vorzug haben sollte. Keine von beiden Annahmen also ist haltbar, und eine dritte willkürlich zu wählen hat der Immanenzphilosoph auf seinem Standpunkt vollends kein Recht. Er kann gegenüber dieser Frage nur eine Haltung einnehmen: er muß sie als falsch gestellt zurückweisen und muß sagen, daß wir mit unserer Frage die Körperelemente in unerlaubter Weise loslösen aus den Ver- bindungen, in welchen sie sonst immer vorgefunden werden. Sie treten doch stets nur auf in Verknüpfung mit Elementen von ,,Ich"-Komplexen; ein Körper ist mir nur ,, gegeben", wenn zwischen seinen Elementen und denen meiner Sinnesorgane bestimmte Beziehungen bestehen. Es ist gänz- hch sinnlos, sie aus diesen Beziehungen loslösen zu wollen. Populär aus- gedrückt: es ist ein Widerspruch, zu fragen: ,,Wie sieht ein Ding aus, wenn niemand es sieht.?" Die Frage also: Welche Elemente bilden einen realen Gegenstand, während er nicht wahrgenommen wird.? muß als sinnlos von vornherein abgelehnt werden. Dieser unvermeidliche Schritt, der von Mach und AvENARius natürlich auch vollzogen wird, bedingt aber eine nicht un- wesentliche Modifikation der Mach 'sehen Formulierung (bei Avenarius findet sie sich daher auch nicht), der Körper bestehe in den zu einem Komplex vereinigten Elementen selbst. • Ehe wir aber auf diese notwendige Modifikation eingehen, wollen wir zur Sicherheit noch einen Versuch mancher Philosophen betrachten, jene Formulierung aufrecht zu erhalten. ,,Alle Schwierigkeiten", sagt nämlich J. Petzoldt ^) ,,die Elementenverbände der optischen und taktilen Qualitäten auch unabhängig von ihrer Wahrnehmung noch existierend zu denken, rühren nur daher, daß man sich so schwer von der Vorstellung eines absoluten Seins losmacht und sich nicht genügend in den Gedanken der relativen Existenz versenkt". Daß seine Ansicht sich nicht in Wider- sprüche verwickele, sucht er dann durch folgende Ausführungen dar- zutun ^): ,,In dem bloßen Weiterbestehenlassen der Dinge auch nach ihrer ^) Das Weltproblem, i. Aufl. S. 141. ■'') Ebenda. S. 143. i8o Die Setzung des Wirklichen. Wahrnehmung — von den ihnen beizulegenden Qualitäten abgesehen — liegt kein Widerspruch: sie füllen ja ihren besonderen Raum aus und stören meine gegenwärtigen Wahrnehmungen nicht im geringsten. Der Widerspruch könnte also nur in den Qualitäten liegen, mit denen ich sie fortexistierend denke, und allerdings würde er sich sofort geltend machen, wenn ich eine absolute, für jeden gleiche Fortexistenz dächte. Denke ich aber die Dinge genau wie schon bei der Wahrnehmung durch verschieden- artige Individuen auch bei der Fortexistenz für jede Individualität anders, anders für den Farbenblinden, anders für den Tauben, anders für den völlig Blinden, anders für eine etwaige, von der menschlichen überhaupt abweichend organisierte Intelligenz, wo soll da nur ein Widerspruch, etwas Undenkbares liegen.?" Leistet diese Argumentation wirklich die versprochene Beseitigung des Widerspruchs.? Wir müssen es leider verneinen. Petzoldt sagt und zeigt nur, daß keine Ungereimtheit darin liegt, ein Ding für verschiedene Individuen verschieden zu denken, und er hätte doch zeigen müssen, daß ein und dasselbe Ding für verschiedene Wesen Entgegengesetztes sein könne, rot und nichtrot, hart und nichthart, und zwar unab- hängig von seinem Wahrgenommenwerden, denn darum handelt es sich ja gerade. Beides fiele nur zusammen, wenn Sein und Gedachtwerden (Vorgestelltwerden) dasselbe wären; und nicht nur wir leugnen das Recht, diese Identifikation zu vollziehen, sondern der Autor versichert uns ja selber, daß hier von einem Dasein unabhängig vom Beobachter die Rede ist. Er bestätigt noch einmal (a. a. O. S. 145), daß ,, Dasein . . . nicht bloß im Wahrgenommenwerden" besteht. Er erklärt in bezug auf die Urzeit der Erde, die keines Menschen Auge sah ,,die Vorstellung jener entlegenen Periode durchaus von uns abhängig. Keineswegs aber wird jene Zeit damit zur bloßen Vorstellung von uns. In ihrer Existenz ist sie vielmehr von uns völlig unabhängig". Ist also Existenz nicht mit Wahrgenommenwerden und nicht mit Vorgestelltwerden identisch, fallen esse und percipi auseinander, so bleibt der Widerspruch unaufgelöst, der darin besteht, d^iS Wesen eines und desselben Gegenstandes G gleich- zeitig in unendlich vielen Elementenkomplexen K^, K,, K, .... zu suchen, die sich mir und allen nur denkbaren Individuen unter allen nur denkbaren Bedingungen darbieten würden, und die mithin alle zugleich und alle in gleicher Weise real sein sollen, während niemand den Gegen- stand wahrnimmt. Man wird vielleicht sagen, es könnten doch ohne Widerspruch alle die Urteile G = Ki, G = K2 usw. zugleich als wahr an- genommen werden. Das ist nur dann richtig, wenn nicht jedes dieser Urteile eine völlige Identität aussprechen soll: gerade dies aber ist hier tatsächlich der Fall. Jedes der K soll ja das Wesen des G vollständig angeben, G soll nichts neben oder außer oder hinter K sein, sondern ganz in K aufgehen, das macht ja eben bei Pktzoldt den Begriff der relativen Existenz aus. Nun lehrt aber die Logik, daß alle jene Urteile nur dann Identitäten sind, wenn alle K ein und dasselbe bedeuten; und das ist Kritik der Immanenz-Gedanken. i8i gegen die Voraussetzung. Bedeuten sie aber nicht dasselbe, so sind die Urteile keine Identitäten, G ist nicht identisch mit K, sondern dann sind die K eben Eigenschaften oder Beziehungen oder wie man es sonst auf- fassen mag, und damit sind wir beim Begriff des Dinges angelangt, welches nicht mehr bloß Elementenkomplex ist: G ist nicht mehr eins der K, es liegt höchstens den K zugrunde. Die K sind alle verschieden; woher das Recht, sie alle als ein und dasselbe G zu bezeichnen.'' Auf dem dargestellten Standpunkt existiert dieses Recht schlechterdings nicht. Kurz, die Formulierung, ein nicht gegebener realer Gegenstand sei nichts als ein Elemcntenkomplex, muß, wie gesagt, modifiziert werden. Wenn ich Beleuchtung und Stellung wechsle, also die Beziehung eines Körpers zu mir und zur Umgebung ändere, oder wenn nicht ich, sondern ein FarbenbHnder ihn ansieht, so sind es neue Elemente, die zu einem neuen Komplex zusammentreten, und doch rede ich noch von demselben Körper. Der eine Gegenstand wird unter anderen Be- dingungen von anderen Elementen gebildet. Daraus folgt, daß ich auf die Frage: welche Elemente bilden den Körper.? immer noch die Gesamt- heit der Bedingungen angeben muß, damit die Frage einen Sinn erhält. Was ist aber dann das Konstante, das mich berechtigt, die Abwandlungs- reihe der Elementenverbände unter dem Begriff des einen Körpers zu- sammenzufassen } Nun, offenbar die Gesetzmäßigkeit ihres Zusammenhanges. Diese Gesetzmäßigkeit, dieser Inbegriff von Beziehungen macht also — zu dieser Folgerung sieht die besprochene Lehre sich gedrängt — das wahre Wesen des Körpers aus. Auf unser Beispiel angewandt: wenn ich die Existenz der Papierblätter in meinem Schreibtisch behaupte, so sage ich damit nicht das Vorhandensein bestimmter Elemente ,,an sich" aus, sondern meine Erklärung bedeutet, daß sich unter ganz bestimmten Be- dingungen an bestimmten Orten bestimmte Elemente einstellen werden. Wenn ich den Schubkasten aufziehe, wenn ich meinen Kopf in die und die Lage bringe, wenn die Beleuchtung so und so beschaffen ist, dann tritt an der und der Stelle das Element ,,weiß" auf, daneben das Element ,,grau" (wo das Papier mehr beschattet ist); wenn ich meine Hand ausstrecke, so treten bestimmte andere Elemente (Tastempfindungen) hinzu, usw. Die Behauptung der Existenz eines nicht wahrgenommenen Dinges bedeutet also hiernach nicht, daß gewisse Elemente jetzt tatsächlich da sind, sondern nur, daß sie auftreten würden, sobald bestimmte Be- dingungen erfüllt wären. Hier haben wir aber genau denselben Gedanken vor uns, welcher die Theorie der permanenten Empfindungsmöglichkeiten von MiLL ausmacht; zu ihr führt der entwickelte Standpunkt mit un- ausweichlicher Konsequenz. Er ist daher auch genau den gleichen Ein- wänden ausgesetzt wie jene. i82 Die Setzung des Wirklichen. Man kann diesen Einwänden nicht dadurch entgehen, daß man das Wort „Möglichkeit" vermeidet und statt dessen von „Funktional- beziehungen" redet. Mach sagt an einer Stelle (Analyse d. Empfind. S. 296): „Dagegen muß ich bemerken, daß für mich die Welt keine bloße Summe von Empfindungen ist. Vielmehr spreche ich ausdrücklich von Funktionalbeziehungen der Elemente. Damit sind aber die MiLL'schen ,, Möglichkeiten" nicht nur überflüssig geworden, sondern durch etwas weit Solideres, den mathematischen Funktions- begriff, ersetzt". Logisch betrachtet ist nun allerdings der mathematische Funktions- begriff solide genug, aber gerade vom Gesichtspunkte der Realitätsfrage doch wiederum etwas recht Schemenhaftes, denn er ist ja eben nichts Wirkliches, sondern ein Begriff. Darüber müssen wir uns klar sein: Wenn es heißt, ein Körper besteht in gewissen Abhängigkeiten, in gewissen Funktionalbeziehungen der Elemente voneinander, so bedeutet dies, falls man fortfährt, von ihm als etwas Wirklichem zu reden, daß man bloße Begriffe, nämlich reine Funktionalbeziehungen, in das Reich der Realität erhebt und hypostasiert. Dies Verfahren ist aber natürlich unter allen Umständen unzulässig. Halten wir uns doch vor Augen, was es mit dem mathematischen Funktionsbegriff und seiner Anwendung auf die Wirklichkeit auf sich hati Wenn wir ein Stück Papier hin und her wenden oder es zusammenrollen, so wechseln die Elemente des Komplexes ,, Papierblatt" (und auch die- jenigen meiner das Blatt haltenden Hand usw.) dabei in ganz bestimmter Weise. Mit der Änderung der einen gehen Änderungen der anderen einher, in der Dunkelheit verschwinden die optischen Elemente ganz und es bleiben nur die hap tischen bestehen; diese Abhängigkeit könnten wir uns durch ein Gesetz mit Hilfe mathematischer Funktionen dergestalt denken — tatsächlich darstellen können wir sie freilich in Wahrheit niemals, aus prinzipiellen Gründen, auf die wir später zurückkommen — ; dies Gesetz ist dann eben eine begriffliche Schöpfung, eine Abstraktion. Wirklich sind nur die Elemente und ihre Änderungen. Dies gilt von jedem Gesetz, jeder allgemeinen Abhängigkeitsbeziehung. Das NEWTON'sche Gravi- tationsgesetz kann nimmermehr als etwas wirklich Seiendes bezeichnet werden, nur als etwas ,, Geltendes" in der Ausdrucksweise Lotze's, es ist nicht irgendwo oder irgendwann; wirklich ist allein das Verhalten der Körper, das wir durch die NEWTON'schen Formeln nur beschreiben. Es ist ferner zu beachten; Solange das Papier wahrgenommen wird, könnte man wohl sagen, sein Wesen- besteht in dem Zusammenhang der Elemente weiß, glatt, viereckig usw., denn solange die Elemente selbst da sind, ist ja auch ihr Zusammenhang etwas Reales; während der Wahr- nehmungspausen aber, in welchen kein Auge das Papier erschaut, keine Hand es ertastet, ist das gewiß nicht mehr erlaubt, denn jene Elemente existieren ja jetzt gar nicht mehr. Nun wird man sicherlich nicht die Absicht haben, etwas Wirkliches definieren zu wollen als eine Beziehung Kritik der Immanenz- Gedanken. 183 zwischen unwirklichen Größen; es bleibt also nur übrig, den Körper (das Papier) in diesem Falle aufzufassen als eine Funktionalbeziehung zwischen den gerade jetzt tatsächlich gegebenen Elementen, also z. B. meinen Händen, die ja in der Tat. wenn sie gewisse Manipulationen vornehmen, das Papier zum Vorschein bringen werden. Eine derartige Auffassung könnte man durch den Hinweis zu legitimieren suchen, daß doch alle Elemente mit allen anderen irgendwie zusammenhängen; aber ökonomisch und mit dem natürlichen naiven Wirklichkeitsbegriff vereinbar wäre sie selbst dann nicht, wenn es anginge, das Wesen der Realität überhaupt in Funkti^nal- beziehungen zu suchen. Das geht aber nun durchaus nicht an. Der abstrakt logische Kon- ditionalsatz, daß bestimmte Elemente auftreten, wenn gewisse Be- dingungen erfüllt sind (vielleicht werden sie aber nie erfüllt), dieser Satz kann unmöglich als der ganze Inhalt der Existentialbehauptung eines Körpers verstanden werden; dann würde ja die Gültigkeit abstrakter Sätze mit dem Sein realer Dinge identifiziert: das läge ganz gewiß nicht im Sinne der Immanenzphilosophie und widerspräche ihrer Grundidee. Wir hätten eine neue Metaphysik, die Begriffe zu Wirklichkeiten macht wie nur irgendeines der alten verpönten Systeme. Wer da sagt, ein Ding der Außenwelt ist ein gesetzmäßiger Zu- sammenhang von Elementen, der auch besteht, wenn die Elemente selbst nicht gegeben sind ^), und dann glaubt, den Dingen damit die- selbe Realität zugesprochen zu haben, wie sie etwa ein Sinnesdatum besitzt, der hat das Gesetz dadurch verdinglicht, und seine Begriffsbildung ist identisch mit dem Begriff der Kraft, wie er in einer nunmehr überwundenen Phase der Naturwissenschaft herrschend war. Die Gesetzlichkeit des Zusammenhanges ist ihm tatsächhch zu einer Macht geworden, welche gewisse Elemente einfach erzeugt, sobald gewisse Bedingungen vorhanden sind. ,,Das Gesetz als objektive Macht anerkannt, nennen wir Kraft" schrieb Helmholtz im Jahre 1881 (in den Anmerkungen zu seiner Schrift über die Erhaltung der Kraft). Was im Begriff der permanenten Möglichkeiten der Empfindungen oder in dem ,, objektiv existierenden Gesetz" gedacht wird, ist ganz genau dasselbe, was man sonst unter dem Begriff der Kraft zu denken pflegte — wenn man sich auch nicht entschließen will, es so zu nennen. Dam^t ist der beschriebene Standpunkt zum Dynamismus geworden; die Welt der Außendinge ist für beide ein System von Kräften. Sie be- zeichnen es zwar mit verschiedenen Worten, aber darauf kann es doch nicht ankommen; sachlich besteht kein Unterschied zwischen beiden Positionen. Der Immanenzstandpunkt ist auf diese Weise jedenfalls ver- lassen. Und eben dies mußte hier gezeigt werdea Der Fehler besteht eben darin, daß hier unternommen wird, die Wirk- lichkeit eines Körpers zu definieren; alle solche Versuche müssen zu ) z. B. H. Cornelius, Einleitung in die Philosophie^. S. 271. 184 Die Setzung des Wir klichen. Ungereimtheiten führen, sie laufen auf die MiLL'sche Erklärung des Wirk- lichen durch das Mögliche hinaus (s. oben S. 161). Der Begriff des Realen kann nicht auf unwirkliche Begriffe zurückgeführt, er muß dem Erleben entnommen werden. Begriffe und Realitäten sind nun einmal unvergleich- bar verschieden und können nicht ineinander übergeführt werden. Nur die Anerkennung dieser Unterscheidung macht logisches Denken möglich, und jede Verwischung des Unterschiedes führt zu den großen Fehlern der historischen metaphysischen Systeme. Es ist aber einer der charak- teristischen Züge des immanenten Positivismus, daß er reale und rein begriffliche Verhältnisse miteinander vermengt. Mach sagt (Analyse S. 296): „Für den Naturforscher {}) ist die Kluft zwischen der anschau- lichen Vorstellung und dem begrifflichen Denken nicht so groß und nicht unüberbrückbar". Gewiß kann dieser Satz auch in einem Sinne verstanden werden, in welchem er vollständig richtig ist (vgl. oben Teil II, den Schluß des § 17), aber er ist falsch in jedem Sinne, in dem er dazu verführen kann, die Wirklichkeit aus mathematischen Funktionsbegriffen zu konstruieren. 25. Fortsetzung der Kritik der Immanenz-Gedanken. Der Weg, den wir bis hierher mit Mach und Petzoldt verfolgt haben, ist also versperrt; wir müssen zurück. Überschauen wir ihn noch einmal kurz. Die Frage, ob auch nichtwahrgenommene Körper ,, wirklich" sind, mußte verneint werden, wenn man unter ,, Körper" nichts versteht als den Komplex der Elemente, der uns gegeben ist bei sinnlicher Wahrnehmung des Körpers. Wir versuchten deshalb mit Mach und Cornelius, nicht den Komplex der Elemente selbst, sondern das abstrakte Gesetz ihres Zusammenhanges als Wesea des wirklichen Körpers anzusehen; und auch das haben wir dann als ein logisch unzulässiges und dem Sinn der ganzen Aufgabe widerstreitendes Unterfangen erkannt. Es bleibt also nur der Rückzug auf die zweite der oben (S. 178) er- wähnten Möglichkeiten, und der Positivist muß Ernst machen mit dem Festhalten des Ausgangspunktes: nur das tatsächlich Gegebene als real zu bezeichnen. „Wirklich" ist von einem Körper jeweilig nur, was von ihm unmittelbar gegeben ist, alles Übrige ist bloßer Begriff, reines Gedankensymbol. Eine andere Position ist mit dem gewählten Ausgangs- punkt nicht vereinbar, erst jetzt steht man auf dem Immanenzstandpunkt in seiner ganzen Reinheit. Man hatte doch immer schon die Abhängigkeit der ,, Elemente" von dem Komplex des „Ich" betont: dann muß man sie auch genau so bestehen lassen, wie die Erfahrung sie zeigt. Die Erfahrung lehrt aber, daß z. B. die optischen Elemente eines Körpers verschwinden, wenn ich die Augen schließe. Freilich behaupte ich auf Grund der Aus- sagen der Mitmenschen, die den Körper noch sehen, daß er fortfahre zu existieren; wenn aber nun auch diese die Augen zumachen oder sich ab- wenden oder fortgehen, so sind jene Elemente von niemandem mehr er- Fortsetzung der Kritik der Immanenz- Gedanken. 185 lebt, sie sind für kein Subjekt mehr da und existieren nach dieser Anschau- ung mithin überhaupt nicht mehr. Der Körper ist nicht mehr, denn die Elemente nebst ihren Änderungen, die ihn bildeten, sind nicht mehr vor- handen. Wenn ich dennoch fortfahre, von ihm als etwas Existierendem zu reden, so handelt es sich bloß um ein Gedankensymbol für die Voraus- sage, daß die Elemente wieder auftreten werden, sobald ich bestimmte Bedingungen realisiere. Mit der Erklärung, daß allem nicht Wahrgenommenen die Realität abzusprechen sei, einerlei, ob es ,, wahrnehmbar" ist oder nicht, würde auch eine Inkonsequenz beseitigt, die in den Schriften Mach's und anderer oft peinlich empfunden werden muß. Einerseits nämlich sprach man ge- wissen Körpern Wirklichkeit zu, weil sie Wahrnehmbarkeit besäßen, auch wenn tatsächlich die Verhältnisse so lagen, daß wir sie niemals wahr- nehmen können (wie etwa die Rückseite des Mondes oder Stoffe tief im Innern der Erde); andererseits erklärte man die von Chemie und Physik geschaffenen Begriffe des Atoms, Elektrons usw. von vornherein für bloße Denkhilfsmittel, nicht für Bezeichnungen realer Größen, weil sie nicht wahrnehmbar seien. Tatsächlich ist es aber unmöglich, einen prinzipiellen Unterschied zwischen beiden Fällen zu konstruieren. Denn ,, wahrnehmbar" ist ein relativer Begriff. Wenn wir einem Gegenstand dies Prädikat bei- legen, so meinen wir damit, daß er unter irgendwelchen Bedingungen zur Gegebenheit gebracht werden kann. Für diese Bedingungen bestehen aber schlechthin unbegrenzte Möglichkeiten, die dem Begriffe jegliche Be- stimmtheit rauben. Zu ihnen gehört einmal eine gewisse raumzeitliche Relation zu den wahrnehmenden Sinnesorganen, und ferner eine bestimmte Beschaffenheit der letzteren. Aber welche Beschaffenheit.? Der eine nimmt mit seinen Sinnen noch wahr, was der andere mit den seinigen sich nicht zur Gegebenheit zu bringen vermag; der Hund mit seinem feineren Riech- organ lebt in einer viel reicheren Welt der Geruchsqualitäten als der Mensch. Gerade vom positivistischen Standpunkt aus wäre es ganz will- kürlich, nur menschhche Individuen zum Maßstabe der Wahrnehmbar- keit zu machen; es könnten ja Wesen existieren gleich den von Maxwell fingierten Dämonen, denen ein Atom als ein gegebener Elementenkomplex sich darstellt vermöge ihrer Organisation, die mit der unsrigen gar keine ÄhnHchkeit mehr hat. Kurz, wie sich die Wirklichkiet überhaupt nicht durch Möglichkeit definieren läßt, so auch, nicht durch die Möglichkeit der Wahrnehmung. Auf diese Weise ist es durchaus unmöglich, eine Grenze zu bestimmen, die das Reich des Wirkhchen umschließt und vom Irrealen trennt. Um konsequent zu sein, darf der Positivismus nur das Wahrgenommene, nicht auch das Wahrnehmbare für wirkhch erklären, alles nicht Gegebene steht für ihn auf der gleichen Stufe, es ist nicht real; das Innere der Erde und die Rückseite des Mondes sind in demselben Sinne bloße Hilfsbegriffe des Denkens wie die Atome und Elektronen. An dieser Stelle ist keine prinzipielle Scheidung möglich. Auch wir können auf dem Standpunkte, auf den wir uns gedrängt i86 Die Setzung des Wirklichen. sehen, keine Unterscheidung zwischen beiden Arten von Denkgegenständen machen, nur behaupten wir nicht ihre Irrealität, sondern wir erklären. sie im Gegenteil für vollwirklich und damit leugnen wir zugleich jeden Realitäts- ^^ unterschied zwischen den wahrgenommenen Gegenständen und den durch strenge Methoden erschlossenen; beiden sprechen wir gleicherweise Wirk- lichkeit zu. Die Gegenstände, die wir durch unsere naturwissenschaftlichen 'Begriffe (Körper, Atom, elektrisches Feld etc.) bezeichnen, sind nicht identisch mit den Elementenkomplexen, aber sie sind ebenso real wie diese und bleiben es auch, wenn überhaupt kerne Elemente gegeben sind. Die Eigenschaften und Beziehungen dieser Gegenstände werden niemals unmittelbar gegeben, sondern stets erschlossen, und das gilt nun in genau demselben Sinne und Grade von allen physischen Gegen- ständen, vom Elektron des Physikers so gut wie von dem Brot auf unserem Tisch. Auf Grund unserer Erlebnisse beim Beschauen und Betasten des Brotes nehmen wir die Existenz eines relativ beharrlichen Objektes an, dem wir den Begriff ,,Brot" zuordnen; und auf Grund der Erlebnisse, die wir bei gewissen Experimentaluntersuchungen haben, wie etwa den- jenigen von Perrin oder Svedberg, nehmen wir das Dasein von Objekten an, die wir durch den Begriff ,,Atom" bezeichnen. Zwischen beiden Fällen besteht nicht der geringste Unterschied, und die oft gehörte Behauptung, die Existenz der Moleküle könne so lange nicht als bewiesen gelten, als wir sie nicht sehen können, ist ganz unberechtigt. Denn das Sehen eines Gegenstandes beweist mir seine Existenz nur insofern, als ich sie aus den gegebenen Gesichts- empfindungen erschließen kann, und dazu sind eine Reihe von Prä- missen nötig über Beschaffenheit des Sinnesorganes, über die Art der Prozesse, durch die es erregt wird, und anderes mehr. Wenn ich nun den Gegenstand nicht ,, direkt" wahrnehme, sondern nur seine ,, Wirkungen" beobachte, so wird die Schlußkette um ein Glied verlängert, aber im Prinzip wird nicht das Geringste geändert, die Dignität des Beweises bleibt dieselbe. Der Schluß kann unsicherer werden durch die Einfügung eines neuen Gliedes, braucht es aber nicht, und es wird nicht der Fall sein, wenn die neue Prämisse von jener höchsten Gewiß- heit ist, die sich auf empirischem Boden überhaupt erreichen läßt. Ein Objekt wahrnehmen, heißt schließhch immer: Wirkungen erleben, die von ihm ausgehen. Ob es sich um etwas nähere oder fernere Wirkungen handelt, kann keinen prinzipiellen Unterschied begründen. Es ist daher 2. B. ebensogut eine Wahrnehmung eines Heliumatoms, ob ich es nun ,, direkt sehe", oder ob ich seine Bahn (wie C. T. R. Wilson es tat) in unterkühltem Wasserdampf verfolge, oder (wie Regener) die Lichtpünkt- chen beobachte, die es beim Anprall an einen Sidotblendeschirm erzeugt ^). ^) Mit prinzipiell dem gleichen Argument wird die Unhaltbarkeit der hier von uns verworfenen Unterscheidung sehr schön dargetan von B. Bavink, Allgemeine Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaft. (Leipzig 1914.) S. ig ff., 149 f- Fortsetzung der Kritik der Immanenz- Gedanken. 187 Doch von dieser Abschweifung zu unserem eigenen, später genauer zu begründenden Standpunkt kehren wir nun zurück zur Kritik der streng positivistischen Immanenzlehre, nach welcher alle Objekte, sofern sie etwas anderes sein sollen als bloße Elementenkomplexe, nicht Wirklichkeiten sind, sondern reine Hilfsbegriffe, das Brot nicht anders als das Molekül. Diese Lehre, die unmittelbares Gegebensein und Realität in aller Strenge identisch setzt, ist von bedeutenden Philosophen formulieit und öfter noch zum Gegenstande kritischer Erörterungen gemacht worden. Kein Wunder, daß die Argumente dafür und dagegen sich in typischen Bahnen bewegen, so daß kaum Aussicht besteht, sie noch durch unerhörte neue zu vermehren, die man nur auszusprechen brauchte, um sie sofort allgemein anerkannt zu sehen. Esse = percipi ist die typische Formel für diesen Standpunkt. Der Philosoph, der sich auf ihn stellt, will natürlich nicht nur das als real bezeichnen, was er selbst als gegeben vorfindet (denn sonst wäre er Solipsist, und keines der historischen philosophischen Systeme hat den Solipsismus ernstlich vertreten), sondern er will nur sagen, daß nichts wirklich sei, sofern es nicht überhaupt irgendeinem Subjekte gegeben ist. Oder, wie Avenarius es ausdrückt, alles Exi- stierende wird als Glied einer ,,Prinzipialkoordination" vorgefunden; denn so nennt er die ,, Zusammengehörigkeit und Unzertrennhchkeit der Ich- Erfahrung und der Umgebungserfahrung in jeder Erfahrung, welche sich verwirklicht" (Der menschliche Weltbegriff, § 148). Was man gewöhnhch Subjekt nennt, heißt bei ihm ,, Zentralglied" der Prinzipialkoordination, das Objekt nennt er ,,Gegenghed" derselben. Doch legt er besonderes Gewicht auf die Feststellung, daß nicht etwa das Zentralglied das Gegen- glied vorfindet, sondern daß beide ein Vorgefundenes sind, ,,im selben Sinne zu jeder Erfahrung gehören". So läßt sich die in Frage stehende Ansicht auch durch die bekannte (ScHOPENHAUER'sche) Formel charak- terisieren: Kein Objekt ohne Subjekt. Das Ding an sich wäre nun ein Gegenstand, welcher nicht Glied einer Prinzipialkoordination ist, ein Objekt, dem es an einem Subjekte fehlt, cui obiectum est (vgl. E. Laas, Idealismus und Positivismus I, S. 183), und so etwas ^ibt es nicht. Wir brauchen nur kurz auf die Konsequenzen hinzuweisen, zu denen das Ausstreichen alles nicht Gegebenen aus der Welt der Realität führt. Sie sind in neuerer Zeit öfters entwickelt worden, und ich halte es für erwiesen, daß sie tatsächlich den Prinzipien der wissenschafüichen For- schung unversöhnhch widersprechen. Zu diesen Prinzipien nämlich gehört in erster Linie das Kausal- gesetz. Es fordert einen lückenlosen Zusammenhang alles Realen in der Weise, daß die wirklichen Vorgänge nach festen empirischen Regeln auf- einander folgen. Beschränkt man sich aber auf die gegebenen Größen, so lassen sich für ihre kontinuierhche Sukzession solche festen Regeln erfahrungsgemäß nicht aufstellen. Um den Zusammenhang zu schließen, auf dem alle Wissenschaft beruht, müssen die Kausalreihen durch nicht gegebene Größen ergänzt werden. Wenn ich unvermutet i88 Die Setzung des Wirklichen. eine Uhr schlagen höre, die in einem fernen Zimmer so aufgehängt ist, daß sie unmittelbar vorher weder mir noch irgend einem anderen Sub- jekte akustisch, optisch oder sonstwie gegeben war, so ist es unmöglich, für die plötzhch eintretenden lauten Töne eine zureichende Ursache zu finden in dem gesamten Reiche alles dessen, was in den vorhergehenden Augenblicken irgendwelchen Prinzipialkoordinationen angehörte. Kausal- verbindungen bestehen lediglich zwischen Realitäten, nicht zwischen bloßen Begriffen — beides vermischen hieße ja das Verhältnis von Ursache und Wirkung mit demjenigen von Giund und Folge verwechseln — es bleibt daher nur übrig, entweder die Existenz der transzendenten Wirklichkeit anzuerkennen oder die allgemeine gesetzmäßige Kausalverknüpfung zu leugnen. (Siehe auch z. B. Freytag, Der Realismus und das Transzendenz- problem, S. 1 1 ; Störring, Einführung in die Erkenntnistheorie S. 144, 148; ferner die oben — S. 177 — zitierte Abhandlung von V. Stern; sogar Petzoldt, der deswegen, wie wir sahen, die ,, Elemente" unabhängig vom percipi existieren lassen will. Er sagt (Weltproblem, i. Aufl. S. 145): ,,Die Wahrnehmung zeigt mit, daß das Lichterspiel in den Blättern und Stämmen der Bäume da drüben von Sonne und Wolken abhängig ist. Trete ich vom Fenster zuiück, so nehme ich Sonne und Wolken nicht mehr wahr, das Lichterspiel aber setzt sich fort. Wie könnte ich nun die For- derung der Gesetzmäßigkeit dieses Vorganges mit der Intermittenz im Dasein — nicht bloß im Wahigenommenwerden — der Wolken und der Sonne vereinen.-'"). Der Immanenzphilosoph will sich für die zweite Alternative natürlich nicht gern entscheiden, und so widerspricht er sich, da er auch die erste nicht annehmen möchte. Er pflegt auf die vorgebrachten Einwände zu antworten, seine Welt sei genau so gesetzmäßig wie die des ReaHsten, der sogenannte Kausal- zusammenhang des Geschehens laufe schHeßlich doch immer auf eine Funktionalbeziehung der Elemente hinaus; diese letztere sei das einzige Konstatierbare, und die Einschaltung von ,, Dingen an sich" als Zwischen- glieder nütze nicht das Geringste. Diese Wendung bedeutet aber ein Bei- seiteschieben, nicht eine Auflösung der eigentlichen Schwierigkeit. Schon dadurch, daß z. B. Mach statt von kausaler immer von funktionaler Abhängigkeit reden möchte, wird das Problem unabsichtlich verhüllt, da der Ausdruck ,, Funktionalbeziehung" gleich gut auf Zusammenhänge des rein -Begrifflichen wie des Realen zu passen scheint, so daß es gleichgültig wäre, ob die ergänzten Wesenheiten zum einen oder zum anderen gehören. Die Frage dreht sich aber eben ausschließlich um Beziehungen zwischen Wirklichem, und diese heißen von altersher kausale — mag man über die Begriffe von Ursache und Wirkung im übrigen denken wie man will — , durch die Ausdehnung des Terminus Funktion auf dergleichen Beziehungen können keine Probleme gelöst werden. Der Kernpunkt aber ist dieser: Wenig gedient ist uns mit der Ver- sicherung, es hänge alles von allem in eindeutiger Weise ab, und das Kausalprinzip bleibe daher unter allen Umständen gewahrt. Man könnte Fortsetzung der Kritik der Immanenz- Gedanken. 189 sich eine Welt beliebiger chaotischer Ereignisse denken und von ihr das- selbe behaupten — empirische Bedeutung und prüfbaren Sinn hat die Behauptung kausaler Verknüpfung nur, sofern sich die einzelnen Regeln tatsächlich angeben lassen, nach denen die Vorgänge in der Welt auf- einander folgen. Alle derartigen strengen Regeln, d. h. alle Naturgesetze, die wir kennen, sagen tatsächlich Abhängigkeiten zwischen Größen aus, die ergänzt, nicht gegeben sind. Ja, es steht so, daß wir überhaupt in keinem einzigen Falle Beziehungen der Elemente zueinander wirklich genau anzugeben vermögen, denn die in den exakten Formeln des Natur- forschers aufgetretenen Größen bezeichnen niemals unmittelbar Gegebenes oder Änderungen von solchem, sondern immer nur ergänzte Gegenstände, die mit jenen auf ziemlich komplizierte Weise zusammenhängen. Und im allerhöchsten Maße gilt das gerade von den fundamentalsten Gesetzen des Physikers; man denke an die MAxwELL'schen Gleichungen. Das hat seinen Grund in der später zu begründenden Wahrheit, daß die ,, Elemente" im Prinzip keiner quantitativen Bestimmung zugänglich sind. Über diese bedeutsamen Tatsache!! aber geht man meist schnell hinweg. ,,Daß der Naturforscher", sagt Mach (Analyse der Empfin- dungen^, S- 4) ,, nicht die direkten Beziehungen dieser Elemente, sondern Relationen von Relationen derselben leichter verfolgt, braucht uns hier nicht zu stören". In Wahrheit stört es denjenigen sehr, der ein zusammen- hängendes, logisch abgerundetes Bild des Weltgeschehens sich machen will. Ihm erscheint es unbefriedigend, daß die wahrhaft einfachen Beziehungen der Naturgesetze nicht zwischen den Realitäten bestehen sollen, den Empfindungen, sondern nur zwischen lauter Begriffen, wie Elektronen, Schwingungszahlen usw., welche reine Denksymbole des Naturforschers sein sollen und deshalb nur in logischen, nicht in kausalen Beziehungen zueinandei stehen können. Der geschilderte Standpunkt ist mit dem Kausalprinzip unvereinbar; von ihm aus ist es nicht möglich, die Naturgesetze ails Gesetze der Ver- änderungen des Wirklichen aufzufassen, sie werden also ihres ursprüng- lichen Sinnes beraubt. Ein absolut vernichtender Schlag ist damit aller- dings nicht geführt, denn ein Vertreter der kritisierten Ansicht könnte sagen: nun gut, dann ist eben der Gedanke aufzugeben, daß alles Wirk- liche nach bestimmten Regeln eindeutig in einen lückenlosen Kausal- zusammenhang eingeordnet werden kann — es wird ja auf diesem Stand- punkt von vornherein keine Rede davon sein, den Kausalsatz als apriori- sches Prinzip und jene Einordnung als etwas schlechthin Notwendiges an- zusehen — , aber man sieht doch, wieviel hier auf dem Spiele steht: soviel, daß tatsächlich keiner der Immanenzphilosophen bereit ist, diesen auf seinem Standpunkt in Wahrheit unvermeidlichen Schritt wirklich zu voll- ziehen. Es wäre in der Tat ein blinder und völlig nutzloser Dogmatismus, der bloß um den Satz ,,esse = percipi" aufrecht zu erhalten, die funda- mentalsten Voraussetzungen alles Forschens über den Haufen würfe, ohne irgendein anderes Motiv als die Furcht vor den Dingen an sich. Sobald igo Die Setzung des Wirklichen. sich diese Furcht als unbegründet herausstellt, ist der ganzen Position jede Stütze entzogen. Man hält, wie schon bemerkt, den Begriff des Dinges an sich entweder für widerspruchsvoll oder für überflüssig. Daß er das letztere nicht ist, hat sich uns eben herausgestellt, denn wir sahen, daß er gebildet weiden mußte, um die Eindeutigkeit der Kausalbeziehungen in der Natur zu wahren; die Grundlosigkeit der ersteren Anklage aber ist bereits oben bei Besprechung des Argumentes von Berkeley und Schuppe erwiesen worden (S. 171). Man begegnet diesem selben Argument in verschiedenen Fassungen bei anderen Denkern wieder; nie ist ein prinzipiell anderes vor- gebracht worden, und es ist der Sachlage nach wohl auch kein anderer Beweisversuch dafür möglich, daß jedes Ding Objekt für ein Subjekt sein müsse. Der Scheinbeweis beruht auf einer gewöhnlichen Äquivokation und quaternio terminorum. Trotzdem finden wir bei dem scharfsinnigen AvENARius einige Ausführungen, die kaum anders verstanden werden können denn als eine Wiederholung jenes alten Argumentes, nur ist der Irrtum hier besonders geschickt verhüllt, nämlich schon in die unaus- gesprochenen Voraussetzungen aufgenommen. Er sagt (Der menschliche Weltbegriff" S. 131), wir seien nicht berechtigt zu der Frage, ,,ob der Umgebungsbestandteil an und für sich (im spezial-erkenntnistheore- tischen Sinn) durch andere oder gar keine sinnlichen Qualitäten charak- terisiert gedacht werden könnte und dürfte; sofern wenigstens untei dem Ausdruck ,,U m g e b u n g s b e s t a n d t e i 1" (,, Ob- jekt", ,,Ding'") ,,an und für sich" das Gegenglied nach Wegdenkung des oder jeden Zentralgliedes zu verstehen ist. Eine solche Frage ist unberechtigt, weil, so- wie ich einen Umgebungsbestandteil denke, derselbe eben dadurch schon Gegenglied ist, zu welchem ich das Zentralglied bin; mich selbst kann ich aber nicht wegdenken. Einen ,,Umgebungsbestand- teil" (ein ,, Objekt", ein ,,Ding") ,,an und für sich" denken, heißt mit- hin etwas zu denken versuchen, was gar nicht gedacht, aber auch nicht erschlossen werden kann; und: einen ,,Umgebungsbestandteir' (ein ,, Objekt", ein ,,Ding") ,,an und für sich" beschaffenheitlich positiv oder auch nur negativ bestimmen wollen, heißt etwas Undenkbares durch Denkbarkeiten zu bestimmen versuchen". Man hat diese Formulierung der gewöhnlichen (ScHUPPE'schen) über- legen gefunden, weil sich Avenarius nicht wie jenes Argument gegen den ,, Gedanken eines nicht gedachten Dinges wende, sondern gegen den Ge- danken eines undenkbaren Dinges. Was Avenarius hier als wider- spruchsvolle Transzendenz verurteile, sei ,,das Denken von etwas, das in- sofern es ein Nichtgedachtes ist, auch kein Denkbares sei, d. h. für das keine Bedingungen denkbar sind, unter denen es ein Gedachtes sein würde" (F. Raab, Die Philosophie von Richard Avenarius, 1912, Anm. 330, S. 157)- Das mag richtig sein, es gilt aber wiederum nur, wenn unter Denken „an- schaulich vorstellen" verstanden wird. In der Tat ist ein Ding an sich, Fortsetzung der Kritik der Immanenz- Gedanken. 191 d. h. ein Objekt, welches nicht GHed einer Prinzipialkoordination ist, als solches nicht anschaulich vorstellbar; weiter aber hat Avenariüs nichts bewiesen, er hat die Denkbarkeit des Dinges an sich nicht widerlegt, wenn Denken soviel heißt wie: eindeutig durch Symbole bezeichnen. Ein Umgebungsbestandteil bedeutet nämlich bei Avenariüs definitions- gemäß immer ein Vorgefundenes oder Vorfindbares, d. h. m unserer Sprache ein Gegebenes, d. i. anschaulich Vorgestelltes oder Vor- stellbares, und dieses ist allerdings seinem Wesen nach stets Glied einer Prinzipialkoordination, nie ,, Objekt an sich". Deshalb hat Avenariüs auch gewissenhaft hinzugefügt: ,, sofern wenigstens unter dem Ausdruck ,, Umgebungsbestandteil an und für sich" das Gegenglied nach Weg- d e n k u n g jeden Zentralgliedes zu verstehen ist". Aber man gelangt eben zu dem Begriff eines Dinges an sich nicht durch bloßes Weg denken des Zentralghedes, sondern vielmehr durch Hinzu denken eines nicht Gegebenen zum Gegebenen. So beweisen denn die Ausführungen des scharfsinnigen Denkers nur, was uns von vornherein klar sein mußte, daß die Avenariüs' sehen Umgebungsbestandteile keine Dinge an sich sind. Auch Mach ist, wie schon bemerkt, der Meinung, man gelange zum Begriff des Dinges an sich durch Weg denken der Merkmale (Analyse d. Empfind.^ S. 5): ,,Das dunkle Bild des Beständigen, welches sich nicht wirklich ändert, wenn ein oder der andere Bestandteil ausfällt, scheint etwas für sich zu sein. Weil man jeden Bestandteil einzeln weg- nehmen kann, ohne daß dies Bild aufhört, die Gesamtheit zu repräsen- t i e r e n und wiedererkannt zu werden, meint man, man könnte alle wegnehmen und es bliebe noch etwas übrig. So entsteht auf natürHche Weise der anfangs imponierende, später aber als ungeheuerlich erkannte philosophische Gedanke eines (von seiner ,, Erscheinung" verschiedenen unerkennbaren) Dinges an sich." — Wir sehen immer wieder, daß der Positivist sich mit seiner Kritik gegen einen Begriff des Dinges an sich wendet, der auf eine ganz besondere Weise gebildet ist, hinterher aber glaubt, den Gedanken eines solchen Dinges überhaupt wider- legt zu haben. Jene Kritik ist innerhalb ihrer Grenzen sehr wertvoll, aber die ihr zugeschriebene weitreichende Bedeutung hat sie nicht; und wir, die wir den Begriff des Dinges an sich auf unsere Weise festgelegt haben (siehe oben S. 170), werden überhaupt nicht von ihr berührt. Unsere bisherige Untersuchung der Immanenzgedanken hat haupt- sächHch die Widersprüche aufgedeckt, zu welchen diese Gedanken allemal dann führen, wenn es sich um die Bestimmung von Gegenständen handelt, deren Elemente keinem wahrnehmenden Subjekte gegeben sind. Der Immanenzphilosoph verwickelt sich aber auch in Schwierigkeiten, wenn er sich darüber klar zu werden versucht, was es bedeutet, wenn ver- schiedene Individuen Aussagen über einen und denselben realen 192 Die Setzung des Wirklichen. Gegenstand machen. Diese Schwierigkeiten müssen jetzt betrachtet werden. Das vorliegende Problem ist einfach dies: Zwei verschiedene Sub- jekte sagen aus, daß sie einen und denselben Umgebungsbestandteil wahr- nehmen, etwa die Lampe dort an der Decke; welchen Sinn hat diese Doppelaussage auf dem Standpunkt der Immanenz.!* Die Verfechter dieses Standpunktes meinen, es handele sich hier einfach darum, daß zwei Prinzipialkoordinationen ein Gegenglied gemeinsam sei. Und sie legen hierauf ganz besonderes Gewicht in der klaren Erkenntnis, daß hier eine der folgenreichsten Weltanschauungsfragen berührt wird, und sie trium- phieren, diese Frage auf die einfachst mögliche Weise beantwortet zu haben. Es ist also nicht ein Ding an sich da, das auf geheimnisvolle Weise in verschiedenen Seelen diese oder jene psychischen Vorgänge, genannt Empfindungen, ,, bewirkt", sondern es ist ein und dasselbe Objekt, das mehreren Subjekten zugleich unmittelbar gegeben ist. Die Elemente sind ja nicht im Gehirn, im Kopf, werden nicht von dort in den Raum hinaus- projiziert, sondern sie sind eben dort, wo wir sie erleben, sie können der Erfahrung des einen sowohl wie des andern Individuums gleichzeitig an- gehören, mit dem ihnen zukommenden Orte. So sagt Mach (Analyse^ S. 294), auf seinem Standpunkt mache er nicht ,, einen wesentlichen Unterschied zwischen meinen Empfindungen und den Empfindungen eines andern. Dieselben Elemente hängen in vielen Verknüpfungs- punkten, den Ich, zusammen". (An einer anderen Stelle, S. 22, meint er freilich, wie mir scheint, in Widerspruch damit: ,,Ist von den Empfindungen eines anderen Menschen die Rede, so haben, diese in meinem optischen oder überhaupt physischen Raum natürlich gar nichts zu schaffen; sie sind hinzugedacht, und ich denke sie kausal (oder besser funktional) an das beobachtete, oder vorgestellte Menschenhirn gebunden"). Und AvENARius sagt von der Anschauung, zu der er sich durchgerungen hat: Die natürliche . . . allen empirischen Einzelwissenschaften zugrunde liegende Ansicht, daß ein und derselbe Bestandteil meiner Um- gebung auch Bestandteil der Umgebung eines anderen Menschen sein könne, wäre als solche eine haltbare" (Der menschhche Weltbegriff, § 161). Wäre sie wirklich haltbar, so besäße das hier gebotene Weltbild in der Tat eine verführerische Einfachheit und wunderbare Geschlossenheit; die Wechselbeziehung der Ich zueinander und zur Außenwelt schiene auf die klarste Formel gebracht und aller Schwierigkeiten entledigt. Leider aber erheben sich solche, und zwar von ganz unüberwindlicher Natur, sobald man versucht, die Position im einzelnen durchzuführen. Physik und Physiologie nämlich lehren uns übereinstimmend die Unzulässigkeit der Annahme, daß zwei Menschen, die zu gleicher Zeit die Lampe dort an der Decke betrachten, genau die gleichen Erlebnisse haben. Da sie sich ja nicht beide zugleich am selben Ort befinden können, müssen sie die Lampe von etwas verschiedenen Seiten sehen, auch wird ihre Entfernung Fortsetzung der Kritik der Immanenz-Gedanken. 193 von den Augen der beiden Individuen nicht genau die gleiche sein. Es ist also zweifellos ein verschiedener Komplex von Elementen, den die beiden als „Lampe" bezeichnen. Es möchte nun freilich, könnte man sagen, für das Weltbild der Immanenzlehre nicht not- wendig sein, daß zu verschiedenen Zentralgliedern genau dieselben Ele- mentenkomplexe als Gegenglieder gehören, es würde genügen, wenn nur überhaupt innerhalb des Komplexes das eine oder das andere Ele- ment in beiden Prinzipialkoordinationen identisch dasselbe wäre, die übrigen Elemente könnten in beiden Komplexen mehr oder weniger verschieden, aber nach ähnlichen Gesetzmäßigkeiten angeghedert sein. Die Brücke zwischen den Erlebnissen verschiedener Individuen wäre damit geschlagen, beide würden zwanglos als Bewohner derselben Welt gelten können und im übrigen blieben die Vorteile dieser Weltanschauung gewahrt. Leider wird erstens selbst diese bescheidene Forderung niemals mit aller Strenge erfüllt sein können. Keine Form, keine Farbe wird von beiden Beobachtern genau gleich gesehen. Die Sehschärfe, die Farbenempfind- lichkeit ihrer Augen, die Helligkeit wird für beide niemals absolut die gleiche sein. Wie die beiden Beobachter die Lampe wahrnehmen, hängt ja, wie auch Av'ENARIus immer wieder betont, von der Organi- sation ihres ganzen Körpers ab, besonders des Nervensystems, und so ähnlich sie sich auch sein mögen, es wird stets unerlaubt sein, zwei Natur- gebilde schlechthin einander gleich anzunehmen. Wir müssen also sagen: in dem Komplex, welchen veischiedene Individuen als einen und den- selben Gegenstand bezeichnen, werden sich niemals Elemente finden, die für beide nach Qualität, Intensität usw. absolut gleich wären. Zweitens aber: wären sie auch vollkommen gleich, so wäre doch nichts geholfen, denn sie sind doch nicht identisch, nicht ,, dasselbe". Wollte einer noch zweifeln, so braucht er sich nur zu denken, daß einer der beiden Beobachter die Augen schließt: für ihn ist dann die Lampe weg. Für den andern ist sie noch da; es kann aber identisch derselbe Gegenstand nicht zugleich dasein und nicht dasein. Und nun stellen wir wieder dieselbe Frage, die wir oben im Anschluß an einen Gedankengang von Petzoldt schon stellen mußten (S. 180): Wie darf ein Umgebungsbestandteil, über den zwei oder mehr Menschen Aussagen machen, überhaupt als einer, als derselbe bezeichnet werden.? Wir stellten soeben, im Gegensatz zu Mach und Avenarius fest, daß ein und dasselbe Element nimmermehr zu mehreren Ich zugleich gehören, in mehreren Prinzipialkoordinationen auftreten kann. Mögen die Erlebnisse der verschiedenen Ich einander noch so ähnhch sein (was freilich prinzipiell nie feststellbar wäre): das nützt uns hier gar nichts; sobald nicht absolute Identität da ist, sind sie eben nicht dieselben Elemente. Folghch ist ein Element, das zur Erlebniswelt des Menschen A gehört, etwas anderes als ein Element der Welt eines zweiten Menschen B. Nun gut, möchte der Immanenzphilosoph vielleicht sagen, warum machst du davon soviel Aufhebens! Dieser Gedanke ist dann eben fallen Schlick, Erkenntnislehre. I3 194 Die Setzung des Wirklichen. zu lassen: mögen auch dieselben Umgebungsbestandteile niemals von ver- schiedenen Individuen erfahren werden, so besteht doch eben die gesetz- mäßige Beziehung zwischen ihnen, ihre gegenseitige Abhängigkeit, und das ist alles, was wir wollen und brauchen. Würden wir die Konstitution der beiden Beobachter bis in die letzte Einzelheit kennen, so könnten wir im Prinzip auch angeben, was für Elemente ihnen unter den bestimmten Umständen gegeben sind. Also lassen sich alle Fragen beantworten, die gestellt werden können, alle sinnvollen Ziele sind auf diesem Wege er- reichbar! Auf den ersten Blick scheint es freilich gleichgültig zu sein, ob ver- schiedene Individuen nun identisch dieselben Elemente erleben oder nur gleiche oder ähnliche. Bei näherer Betrachtung aber wird das gesamte Weltbild dadurch von Grund aus geändert. Denn sehen wir uns einmal an, was der Immanenzphilosoph behaupten muß, wenn er auf diesem Stand- punkt angelangt ist! Kein Element, kein Umgebungsbestandteil findet sich in mehreren Prinzipialkoordinationen, deren Zentralglieder verschie- dene Subjekte sind; das heißt: die Wirklichkeit, die einem Individuum gegeben ist, ist niemals auch einem anderen Individuum gegeben. Mit anderen W^orten: jedes Wesen hat seine eigene Welt für sich, in die schlecht- hin nichts aus den Welten der anderen Wesen hineinragt, sie sind durch eine unüberbrückbare Kluft voneinander getrennt. Wohl besteht zwischen diesen Welten eine Koordination in der Weise, daß die Ereignisse der einen parallel gehen mit denen der andern und zusammen harmonieren würden, falls man sie miteinander vergliche (was ja allerdings unmöglich ist, da kein Wesen in die Welt des andern übertreten kann), aber von einer allen Individuen gemeinsamen realen Welt kann keine Rede mehr sein. Das Weltbild, das sich auf diese Weise ergibt, ist aus der Geschichte der Philosophie wohlbekannt: dem logischen Gehalt nach ist es voll- kommen identisch mit der LEiBNiz'schen Lehre von den Monaden und der prästabilierten Harmonie. Jedes Ich mit seiner gesamten Umwelt in dieser Anschauung ist tatsächlich eine Monade; es gilt der LEiBNiz'sche Satz ,,die Monaden haben keine Fenster", denn es findet ja keine Gemein- samkeit, kein Austausch von Realitäten zwischen ihnen statt. Mag im übrigen die Terminologie und das Nähere der metaphischen Bestimmungen, womit Leibniz seine Monaden ausstattet, auf dieses Weltbild nicht über- tragbar sein — der Kern bleibt derselbe ^). Wir haben so viele Welten, als Zentralglieder da sind, und das gegenseitige Entsprechen dei Welten der verschiedenen Individuen, das zu übereinstimmenden und miteinander verträglichen Aussagen führt, ist schlechterdings nichts anderes als eine prästabilierte Harmonie in voller Reinheit. Nun ist ja der Nachweis, daß der beschriebene Standpunkt mit der Monadenlehre zusammenfällt, nicht ohne weiteres dem Nachweis ') Wie ich nachträglich sehe, findet sich die Erkenntnis, daß die konsequente Immanenzlehre zur Monadologie führt, auch ausgesprochen von Viktor Kraft in seinem beachtenswerten Buche „Weltbegriff und Erkenntnisbeeriff". 1912. S. 165. Fortsetzung der Kritik der Immanenz-Gedanken. 195 seiner Unhaltbarkeit gleichzuachten — ein derartiges metaphysisches System ist vielleicht gar nicht widerlegbar — ; aber wir sehen nun doch, d a ß es eben ein metaphysisches System ist, zu dem wir hiei geführt werden, und wir sehen, was wir von der Behauptung der Immanenzphilosophie zu halten haben, sie vertrete die einzig natür- liche und metaphysikfreie Weltansicht. Echter Erkenntniswert wohnt diesem Weltbilde nicht inne. Dieser Nachweis genügt hier für uns; und niemand würde seine Schwere besser fühlen als gerade die Vertreter des' Immanenzpositivismus, wenn sie sich von seiner Richtigkeit überzeugen ließen. Das erkennt man daran, wie z. B. Petzoldt sich über den Ge- danken der prästabilierten Harmonie bei Spinoza und Leibniz äußert. Er sagt von ihm (Weltproblem^ S. 94): ,,Das ist aber nichts als die aus- drückhche Feststellung des fortwährend stattfindenden Wunders und damit die Erklärung der Verzichtleistung und Ohnmacht der Wissenschaft." Wie will man den Konsequenzen entfliehen, zu denen wir so gelangt sind? Die Anhänger von Mach und Avenarius könnten hier höchstens auf einen schon besprochenen Gedanken zurückkommen, indem sie sagen: Die Welten der verschiedenen Subjekte fallen doch nicht so ganz unheil- bar auseinander; denn wenn mehrere von ihnen ,, denselben" Gegenstand betrachten, so ist in ihren Wahrnehmungen doch immer etwas Identisches, nur darf es nicht gesucht werden in irgendeinem einzelnen Elemente oder einem Komplex von solchen, sondern es ist einfach die Gesetz- mäßigkeit ihres gegenseitigen Zusammenhanges. Gewiß sind diese Regelmäßigkeiten für verschiedene Individuen die gleichen — zwar nicht diejenigen zwischen den Elementen selber, aber doch die Relationen zwischen den Relationen derselben, denn das sind ja die Naturgesetze, und wenn ich überhaupt an fremde Iche glaube, werde ich auch annehmen müssen, daß sie dieselbe Naturgesetzlichkeit feststellen wie ich. Aber damit ist dennoch nichts geholfen, wir bleiben auf diese Weise immer bei der prästabilierten Harmonie. Die Behauptung, daß alle Subjekte die gleiche Naturgesetzmäßigkeit beobachten, ist ja lediglich ein anderer Ausdruck für das gegenseitige Entsprechen der Weltbilder der Monaden, für ihre Harmonie untereinander und nicht mehr. Nur wenn sie mehr wäre, wenn die gemeinsame Gesetzlichkeit ein reales Gebilde wäre anstatt eines bloßen Abstraktums, könnte sie die Rolle eines Mittel- gliedes zwischen den einzelnen Welten spielen und als wirkhche Ver- bindung zwischen ihnen gelten. Wollte man aber etwa erklären, jene reinen Beziehungspunkte, jene Relationen von Relationen seien eben als solche das Reale, so würde man damit das Wirkliche in bloße Begriffe auflösen und eine Position einnehmen, die wir längst als unhaltbar er- kannt haben. So ist denn der Immanenzphilosophie die letzte möghche Zuflucht genommen. Unvermeidlich fällt ihr das Universum in so viele Welten auseinander, als Zentralgheder vorhanden sind, und es besteht zwischen ihnen ein pluraler ParalleHsmus, welcher nur eine rätselhafte Korrespondenz, 13* 196 Die Setzung des Wirklichen. keine reale Verknüpfung bedeutet. Um die Welt als den einheitlichen wirklichen Zusammenhang kausaler Beziehungen darzustellen, der sie ohne Zweifel ist, müssen reale Verbindungsglieder angenommen werden, kraft deren an die Stelle des logischen Entsprechens ein Realkonnex tritt. Und dazu bedarf es nur des nächstliegenden, allernatürlichsten Schrittes: wir fassen jene Beziehungspunkte der Relationen von Relationen der Elemente, d. h. jene Begriffe, ohne die wir den gesetzmäßigen Wechsel der Wahrnehmungen nicht beschreiben können, nicht auf als bloße Hilfsbegriffe, wie der Immanenzgedanke es forderte, sondern wir sehen in ihnen Zeichen für Realitäten, genau ebensogut wie in den Begriffen, welche Gegebenes bezeichnen. Und wir kennen das Kriterium dafür, welchen Begriffen ein realer Gegenstand entspricht im Gegensatz zu den bloßen Fiktionen: es sind diejenigen, welchen bei ihrer Ableitung aus dem Gegebenen durch die empirischen Regeln em Zeitzeichen angeheftet wurde. So kehren wir von den Lehren der Immanenzphilosophie, welche Wirkliches und Gegebenes identisch setzen wollte, zurück zu dem Wirk- lichkeitskriterium, das wir oben dem Gedankenkreise des Lebens und der Wissenschaft entnommen hatten. Mit diesen beiden stehen wir nun auf dem einzig natürlichen Standpunkte, den man nur so lange verlassen kann, als man glaubt, Widersprüche im Begriff des Dinges an sich zu entdecken, d. b. im Begriffe des Nichtgegebenen, keiner Prinzipialkoordina- tion Angehörenden. Sowie man einmal erkannt hat, daß Dinge an sich in diesem Sinne nicht unmöglich sind, überzeugt man sich auch leicht, daß sie nicht überflüssig sind, und mit ihrer Anerkennung gibt man den streng positivistischen Standpunkt auf. Die Transzendenz, die damit vollzogen wird, ist im Prinzip nicht mehr Transzendenz als diejenige, welche jener Positivismus selbst zu- läßt, indem er z. B. auch die Vergangenheit mit zum Reiche des Wirklichen rechnet, obwohl sie doch nicht gegeben ist und nie mehr zur Gegebenheit gebracht werden kann. Er läßt sie zu, weil er keinen Grund hat, sie zu leugnen, und weil er sie braucht, um die Gegenwart verständ- lich zu machen. Nun gut, es sind genau dieselben Gründe, die uns zur Anerkennung bewußtseinstranszendenter Realitäten veranlassen: wir haben keinen Grund, sie zu leugnen, und wir bedürfen ihrer, um die Bewußt- seinswelt verständlich zu machen. Wie der Immanenzphilosoph sich nicht damit begnügt, die gesamte Vergangenheit für einen bloßen Hilfsbegriff zu erklären — was er doch ganz gut könnte — , sondern ihr Realität zu- erkennt, so nehmen auch wir volle Wirklichkeit für alle zeitlich lokali- sierten Gegenstände in Anspruch, und es fehlt uns jeder Grund, sie für reine Hilfsbegriffe zu erklären, die nichts Reales bezeichnen. *^ Indirekt bestätigt sich die Richtigkeit unseres Resultates gerade immer dort, wo die konsequenten Positivisten versuchen, die Umgebungsbestand- teile verschiedener Zentralglieder miteinander zur Deckung zu bringen: da lugt nämlich aus ihren Darlegungen überall der schlecht verhüllte Be- griff des Dinges an sich hervor. Bei Besprechung der Formulierungen von Fortsetzung der Kritik der Immanenz-Gedanken. 197 Petzoldt hatten wir hierauf schon oben (S. 180) beiläufig hingewiesen. Wir sahen dort, daß dieser Autor keinen Widerspruch darin findet, daß ein und derselbe Gegenstand G für ein Individuum der Elementen- komplex Kl sei, für ein anderes aber ein anderer Komplex Kj (daß z. B. derselbe Zinnober für den Normalsichtigen rot, für den Farbenbhnden schwarz sei). Er läßt also die drei Beziehungen G = Kj, G = K,, Kl 4= K2 zusammen bestehen. Sind aber die beiden ersten Gleichungen schlechthin Identitäten, wie es nach der Behauptung des relativistischen Positivismus ausdrücklich der Fall sein soll, so widersprechen sich die drei Relationen, weil sie von denselben Größen Identität und Verschieden- heit aussagen. Sind dagegen die beiden ersten Gleichungen nicht reine Identitäten, dann enthalten sie den Begriff des Dinges an sich, nämHch den Begriff des identischen Gegenstandes G, der den verschiedenen Elementenkomplexen Ki und K2 ,, entspricht" oder , .zugrunde Hegt", oder wie der Ausdruck sonst lauten möge (später wird dies Verhältnis ja näher zu erläutern sein). Wer also jene drei Relationen zusammen bestehen läßt, gibt damit zugleich das Ding an sich zu. Ganz dieselbe versteckte Anerkennung finden wir bei Avenarius. Wir lesen bei ihm (Weltbegriff § 162): ,,Wenn aber im allgemeinen die Annahme zulässig ist, daß in jenen beiden Prinzipialkoordinationen das Gegenglied R der Zahl nach eines sei, so ist darum freilich noch nicht sofort die weitergehende Annahme zulässig, daß das Gegenglied R ,,in beiden der Beschaffenheit nach dasselbe sei" ,,In dem Maße als zu den gemeinsamen Bedingungen eigentümliche hinzu- tretende anzunehmen sind, wird auch anzunehmen sein, daß die Be- schaffenheit des einen R in der einen Prinzipialkoordination anders als in der ,, andern" Prinzipialkoordination bestimmt ist". Diese Unterscheidung zwischen dem einen realen R und seinen Beschaffen- heiten, die in differenten Beziehungen verschieden sein können, ist nichts anderes als die Statuierung des Dinges an sich, und zwar nicht einmal in seiner vorteilhaftesten, einwandsfreien Form. Ein Gegenstand ist nur dann kein Ding an sich, sondern Objekt für ein Subjekt, Gegenglied für ein Zentralglied, wenn er gar nichts anderes ist als der Komplex der Be- schaffenheiten, die er in der betreffenden Prinzipialkoordination aufweist. Sind die Beschaffenheiten in einer anderen Prinzipialkoordination anders, nun, so ist es eben nicht derselbe Gegenstand, der in ihr vorgefunden wird. Redet man vom Standpunkte verschiedener Zentralgheder aus dennoch von einem und demselben Gegenstand, so redet man eben von einem Dinge, welches Beschaffenheiten besitzt, die ihm unabhängig von den Zentralgliedern, also ,,für sich" zukommen. Avenarius tut es und erkennt damit das Ding an sich in dem Sinne an, in dem auch wir es billigen und fordern müssen. Täte er es nicht, so wäre, wie gerade aus den zitierten Stellen schön her\^orgeht, der Zusammenhang zwischen den Welten der einzelnen Subjekte zerrissen. Um diesen Zusammenhang zu wahren und ihn auch innerhalb der Erfahrungswelt des einzelnen Subjektes nicht zu igS Die Setzung des Wirklichen. zerstören, ist eben die Anerkennung von nicht gegebenen Realitäten not- wendig. Ohne sie kann der Sinn der empirischen Naturgesetze nicht auf- recht erhalten werden, und es ist nicht richtig, was Mach sagt (Anal. d. Empfind.^ S. 28): ,,daß diese Beziehung auf unbekannte, nicht ge- gebene Urvariable (Dinge an sich) eine rein fiktive und müßige ist". Dieses ,, unbekannt", welches Mach hier betont, ist es, was so vielen Philosophen die Dinge an sich zu einem Greuel macht. Sie wollen in ihrem Weltbilde keine Größen dulden, die nicht bekannt, d. h. nicht ge- geben sind oder es werden können, und darum suchen sie an dem Dogma von der Identität des Wirklichen mit dem Gegebenen festzuhalten. Der Grund dieses Verhaltens aber liegt darin, daß sie sich noch nicht ganz los machen können von jenem alten Erkenntnisbegriff, zu dessen Über- windung sonst gerade das positivistische Denken am meisten beigetragen hat. Sie verwechseln an diesem einen Punkte immer noch Erkennen mit Kennen, d. i. mit reinem Erleben, bloßem Gegebensein; sie suchen an dieser Stelle immer noch Antwort auf die Frage, was denn das Reale eigentlich ,,ist", und diese Antwort könnte uns nur ein unmittelbares Kennen, Erleben verschaffen. Was die ,, Elemente" bei Mach und AvENARius ,,sind", wissen wir unmittelbar; Farben, Töne, Gerüche sind uns schlechthin gegeben, kein Urteil, keine Definition, sondern das Er- leben gibt uns über ihr ,,W^esen" Aufschluß .... aber erkannt sind die Elemente und ihr Wesen damit nicht (siehe oben I § ii). Die richtige Einsicht in diesen Sachverhalt finden wir auch bei Vertretern des Posi- tivismus gelegentlich mit aller Deutlichkeit ausgesprochen. So sagt Vai- HiNGER (Die Philosophie des Als Ob*, S. 94): ,,Das Sein ist nur w i s s - b a r in der Form von unabänderlichen Sukzessionen und Koexistenzen: begreifbar ist es nicht, weil begreifen heißt: etwas auf ein anderes zurückführen, was doch beim Sein selbst nicht mehr der Fall sein kann". In dieser Weise können wir also die Dinge an sich freilich niemals kennen lernen, wißbar sind sie nicht (sie sind ja definitionsgemäß nie gegeben), aber wenn wir das unbefriedigend finden, so haben wir unser Ziel aus den Augen verloren. Wollten wir denn die Welt kennen lernen.^ W^oUten wir sie nicht vielmehr erkennen.? Das letztere allein ist die Aufgabe der Philosophie und der Wissenschaft. Daß uns ein Teil der Welt unmittelbar gegeben ist, ein anderer, größerer dagegen nicht, ist gleichsam als zufällige Tatsache hinzu- nehmen, als Erkennende haben wir gar kein Interesse daran, sondern nur als m der Welt Lebende. Gerade dem Erkennenden ist nicht damit gedient, wenn er bei dei Frage, was denn eigentlich ein Gegen- stand ist, auf das reine Erleben verwiesen wird; für ihn bedeutet die Frage ganz allein: durch welche allgemeinen Begriffe läßt der Gegenstand sich bezeichnen.? Darauf aber kann er bei den Dingen an sich um so eher antworten, als er doch überhaupt nur durch eben diese Begriffe zu ihnen geführt wird. Die Einzelwissenschaften liefern uns gerade die Begriffe von realen Gegenständen, die nicht gegeben Wesen und „Erscheinung". 19g sind und die wir deshalb als ,,an sich" existierende bezeichneten. Durch jene Begriffe erkennen wir also wahrhaftig, was die Dinge an sich sind, und die Verleumdung dieser Dinge wegen ihrer Unerkennbarkeit ist in Wahrheit nur eine Klage über ihre Unkennbarkeit, Nichterlebbarkeit, also ihre Unanschaulichkeit — kurz, es ist ein Rückfall in den mystischen Erkenntnisbegriff. Das Schauen der Dinge ist nicht Erkennen und auch nicht Vorbedingung des Erkennens. Die Gegenstände der Erkenntnis müssen widerspruchslos denkbar sein, d. h. sich durch Begriffe ein- deutig bezeichnen lassen, aber sie brauchen nicht anschaulich vorstellbar zu sein. Daß das letztere von positivistisch gerichteten Denkern noch so oft gefordert wird, ist ein sonderbares Vorurteil, das in pragmatischen Denkweisen seinen Grund haben mag. Der Umstand, daß psychologisch jeder Gedanke mit anschaulichen Bewußtseinsvorgängen verknüpft ist und ganz ohne solche nicht stattfinden kann, führt leicht zu einer Ver- wechslung des begrifflichen Denkens und des anschaulichen Vorstellens im erkenntnistheoretischen Sinne. In diesem Sinne ist aber das erste ein Zuordnen von Begriffen, das zweite ein reales Gegebensein psychischer Größen. Wir müssen uns die Verhältnisse von Begriffen zueinander wohl irgendwie anschaulich repräsentieren, um sie überblicken zu können, aber das kann auf beliebig viele Weisen geschehen, und auf welche Art es ge- schieht, ist erkenntnistheoretisch gleichgültig. Der erfolgreiche Forscher hat meist einen starken Trieb zum Anschaulichen, eine Menge deuthchster Bilder schweben ihm als Illustration der durchdachten Begriffsbeziehungen vor; ihm hegt es nahe, sie für das WesentHche der Erkenntnis zu halten und allein das anschaulich Vorstellbare als ihr Objekt anzuerkennen. In Wahrheit sind aber die sinnlichen Vorstellungen etwas mehr oder weniger Zufälliges und Nebensächliches bei der erkenntnistheoretischen Frage- stellung, nur bei der psychologischen Betrachtungsweise bilden sie das WesentHche. Die Unvorstellbarkeit nicht gegebener Realitäten ist also kein Ein- wand gegen ihre Existenz oder gegen ihre Erkennbarkeit. B. Die Erkenntnis des Wirklichen. 26. Wesen und „Erscheinung". Als Ergebnis unserer letzten Betrachtungen gewannen wir die Ein- sicht, daß der Umkreis des Wirklichen nicht mit dem Umkreis des ,, Ge- gebenen" identifiziert werden darf, sondern sicherlich weit darüber hinaus- reicht. Unsere Kritik der Versuche, die auf eine solche Identifikation hinzielten, hatte also keineswegs nur negativen Charakter; denn jedes Die Erkenntnis des Wirklichen. Argument, das sich gegen ?ie richtete, war zugleich ein Beweis für die Existenz nicht gegebener, d. h. bewußtseinstranszendenter Reahtäten. Damit ist — wir heben es noch einmal hervor — die früher aufgeworfene Frage beantwortet, ob die Philosophie irgendeinen Anlaß habe, das Wirk- lichkeitskriterium aufzugeben oder zu ändern, das sich aus den Verfahrungs- weisen des Lebens und der Wissenschaft abstrahieren läßt, nämlich das Kriterium der Zeitlichkeit. Es hat sich herausgestellt, daß ein derartiger Anlaß nirgends vorliegt, sondern daß es nur dogmatische Voraussetzungen waren, die manchem Philosophen eine Einengung des Wirklichen auf das Gegebene wünschbar erscheinen ließen. Diese Voraussetzungen haben sich als grundlos erwiesen, das Kriterium der Zeitlichkeit wurde dadurch wieder in seine Rechte eingesetzt, und damit kann unser erstes Wirklich- keitsproblem im Prinzip als aufgelöst gelten, nämlich die Frage nach der Setzung der Realität. Die Anwendung des allgemeinen Prinzips auf den Einzelfall bleibt natürlich Sache der Spezialforschung. Sie hat mit ihren empirischen Hilfsmitteln jeweils darüber zu befinden, ob das Realitätskriterium tatsächlich erfüllt ist, d. h. ob die vorliegenden Daten eine eindeutige zeithche (bei naturwissenschaftlichen Objekten eine raum- zeitliche) Einordnung des zu prüfenden Gegenstandes nicht nur ermög- lichen, sondern auch erfordern. Ist die Entscheidung auf diese Weise einmal gefallen, so muß die Philosophie sie einfach hinnehmen, die Frage ist auch für sie erledigt. Wir treten nun vor das zweite Wirklichkeitsproblem, welches funda- mentalste philosophische Fragen umschließt: die Fragen nach der Be- stimmung, nach der Erkenntnis des Realen. Auch hier ist es nötig, das Feld für den positiven Anbau frei zu machen durch die Ausrottung gewisser Lehrmeinungen, welche zwischen dem ge- gebenen und dem nicht gegebenen Realen eine Grenze aufrichten wollen, die es in der Folge unmöglich macht, sich über ihr gegenseitiges Ver- hältnis klar zu werden. Obwohl der Begriff der WirkHchkeit letzthch aus dem Erleben stammt, weil das gegebene Reale das einzige ist, das wir kennen, so wird doch bereits bei seiner bewußten Bildung sein Gültigkeitsbereich auf ein Sein jenseits des Ellebens ausgedehnt; von der Philosophie aber wurde als- bald — wie das bei solchen Entwicklungen zu gehen pflegt — diejenige Sphäre des Begriffs als die vorzüglichste und wesentliche proklamiert, welche von seiner Quelle am weitesten entfernt liegt. Das heißt also in in unserm Falle: das Wirkliche jenseits des Bewußtseins wird für eine Realität höherer Ordnung erklärt, für ein echteres Sein, dem gegenüber die Welt des Bewußtseins nur ein Schatten und flüchtiger Abglanz ist. Platon war es bekanntlich, der diese sonderbare Anschauung auf die Spitze getrieben und in der glanzvollsten Weise entwickelt hat. Die übersinnhche Welt der Ideen ist bei ihm in jedem Sinne die höhere, auch in der Rangordnung des Wertes, welche Platon als erster, oder im Anschluß an die Mcgariker, mit der logischen Rangordnung der begriff- Wesen und „Erscheinung". 201 liehen Allgemeinheit verwechselte: wodurch er die Weltanschauungs- fragen für über zwei Jahrtausende verwirrte, weil damit allem „Idealis- mus" ein vornehmeres Ansehen gegeben wurde. Auf dem gleichen sonder- baren Grunde baut sich aber z. B. auch die Auffassung des Materialismus auf, welcher in seiner Bewunderung der kernhaften Realität der physi- kalischen Objekte einfach vergißt, daß es auch eine Welt der Bewußt- seinswirklichkeit gibt, oder doch glaubt, sie als eine quantite negligeable behandeln zu dürfen. So weit ist freilich keine erkenntnistheoretisch orientierte Philosophie gegangen, aber die Neigung zu einer Art von Herab- setzung der Erlebniswirklichkeit zugunsten des Transzendenten findet man auch in solchen Systemen, die bewußt von der ursprünglichsten Realität des unmittelbar Gegebenen ausgehen und sich bemühen, ihr volles Recht widerfahren zu lassen. So vor allem bei K.ant. Jene eben charakterisierte Neigung bricht ja in seiner praktischen Philosophie mit Gewalt hervor, aber auch in seiner Erkenntnistheorie tritt das Sein des Nichtgegebenen — der Dinge an sich — dem Sein des Gegebenen in ausgezeichneter Weise gegenüber. Das letztere heißt bei ihm bekanntlich Erscheinung. Damit ist der Unterschied der Dinge und der Erscheinungen in die Philosophie eingeführt, und seit Kant spielt er bei Gegnern und bei Anhängern seiner Lehre eine gleich große Rolle. Die Dinge an sich sind bei Kant unerkennbar, und auf die Frage: was erkennen wir denn.'' antwortet er: nur Erscheinungen! Sofern hier' mit Unerkennbarkeit das gemeint ist, was wir als Unkennbarkeit be- zeichnen würden, hat Kant natürlich recht, aber er meint damit nicht nur dies, sondern mehr; er möchte nämlich auch die Erkennbarkeit der Dinge an sich in unserem Sinne leugnen, indem er behauptet, sie ließen sich nicht durch unsere allgemeinen Begriffe bezeichnen, nicht unter die ,, Kategorien" unseres Verstandes bringen. Wir müssen später auf diesen Gedanken Kant's und seine besondere Begründung noch einmal zurückkommen; hier interessiert uns vorläufig nur, daß seine positive Bestimmung der transzendenten Dinge sich in der Annahme erschöpft, daß sie eben da sind. Für ihre Existenz aber tritt Kant — mögen es einige seiner Interpreten auch in Abrede stellen — mit aller wünschenswerten Deutlichkeit ein (dies würde selbst wahr sein, wenn es durch keine andere Stelle in Kant's Schriften bezeugt wäre als die An- merkung 2 zu § 13 der Prolegomena). Damit stellte er sich als erster auf den Standpunkt, welcher heute allgemein als ,,PhänomenaHsmus" bezeichnet wird: die transzendente Realität wird in ihrer Existenz an- erkannt, ihre Erkennbarkeit aber geleugnet. Wissen und Erkenntnis haben wir also nach der Lehre des Phäno- menalismus nicht vom Wesen der Dinge an sich, sondern nur von ihren Erscheinungen. Denn die Phänomene sind eben doch Erscheinungen der Dinge. Natürlich sind die Erscheinungen für Kant auch etwas Reales; immer wieder hat er ja betont, daß Erscheinung nicht zu ver- Die Erkenntnis des Wirklichen. wechseln sei mit Schein. Die sinnliche Körperwelt hat auch bei Kant diejenige volle Realität und Objektivität, mit der sie jedermann in Leben und Naturwissenschaft gegenübertritt, aber Kant unterscheidet doch ihre Realität als eine empirische von dem Sein der Dinge an sich. Realität ist ja nach Kant eine Kategorie und darf als solche nur von Erschei- nungen, nicht von transzendenten Dingen ausgesagt werden. (Daß Kant auch eine Existenz gelten läßt, die nicht noch Kategorie ist, kann man aus einer Anmerkung zu den Paralogismen der reinen Vernunft lernen, die er in der 2. Auflage der Kr. d. r. V. macht. Ausgabe Kehrbach, S. 696 f.) So kann es denn nicht ausbleiben, daß die Wirklichkeit der Dinge an sich als etwas Echteres, Kernhafteres gewertet wird; die Welt der Naturdinge ist „nur" Erscheinung. Der Begriff des Phänomens setzt etwas voraus, das da erscheint, mithin selbst nicht Phänomen ist, sondern — man kann es kaum anders ausdrücken — eben m e h r als Erscheinung: so entsteht immer wieder der Gedanke, als komme den Dingen an sich eine ,, höhere" Realität zu. Da für Kant alle Daten des Bewußtseins phänomenalen Charakter tragen, so deutet jedes von ihnen auf ein Sein hin, das da in ihm erscheint, und dadurch wird die Annahme nicht gegebener Realitäten auch dort gefordert, wo sonstige Gründe (Regeln der empirischen Forschung) zu einer solchen Annahme nicht hinführen. Auch unsere eigenen Gefühle und sonstigen subjektiven Erlebnisse nämlich werden dann als Erschei- nungen aufgefaßt, denen ein unbekanntes Wesen zugrunde liegt. Das ist die KANT'sche Lehre vom Innern Sinn, die durch keinerlei Tatsachen gestützt wird, sondern allein aus der Trennung von Wesen und Erscheinung sich ergibt. Gerade an dieser Lehre vom innern Sinn können wir uns am besten die Richtigkeit der Behauptung deutlich machen, die wir nunmehr auf- stellen wollen: daß nämlich das Begriffspaar Ding- Erscheinung überhaupt höchst unzweckmäßig gebildet ist und daß der Erscheinungsbegriff aus der Philosophie ganz verschwinden sollte. Denn was soll es heißen, zu sagen, die seelischen Realitäten würden gar nicht so erlebt wie sie sind, sondern wir lernten nur ihre Erscheinungen kennen? Gerade diese Be- wußtseinswirklichkeit, der unser Begriff des Seins überhaupt entstammt, würde damit für ein Sein zweiter Ordnung erklärt, denn es soll ja nicht in sich selbst genugsam existierend, nicht reines Wesen, sondern nur Er- scheinung emes andern sein! Das bedeutet dem Begriff des Seins den Boden entziehen, auf dem er gewachsen ist. Wir haben uns schon früher gegen alle Bemühungen wenden müssen, dem Psychischen ein besonderes Wesen zu konstruieren und es zu unterscheiden vom schlechthin Gegebenen, Erlebten (siehe oben Teil II, § 19); die Gründe, die dort gegen die innere Wahrnehmung und den inneren Sinn vorgebracht wurden, machen zu- gleich die Duahtät von Wesen und Erscheinung innerhalb der psychischen Wirklichkeit unmöglich. Aber auch die Auffassung, welche gewisse Bewußtseinsdaten, be- Wesen und „Erscheinung". 203 sonders die Wahrnehmungen physischer Körper, als Erscheinungen trans- zendenter Dinge bezeichnet, ist zu verwerfen. Denn auch wenn sie nicht dazu führt, den Dingen an sich eine höhere, echtere Existenz zuzuschreiben als ihren Erscheinungen im Bewußtsein, verleitet sie immer noch dazu, doch eben zwei verschiedene Arten der Reahtät einander gegenüberzu- stellen, deren gegenseitiges Verhältnis dann Anlaß gibt zu ebenso unlös- baren wie unnötigen Problemen. Was für ein Verhältnis nämlich soll damit gekennzeichnet sein, daß man sagt, ein bestimmter Bewußtseins- inhalt, z. B. eine Wahrnehmungsvorstellung, sei die Erscheinung eines Dinges.? Soll es heißen, daß sie ein Teil des Dinges ist, der ins Bewußt- sein hineinragt oder hineinströmt? Davon kann natürlich keine Rede sein, denn wenn irgendetwas von den Dingen ins Bewußtsein gelangte (wie die antiken Wahrnehmungstheorien es annahmen), so wären sie eben nicht transzendent. Oder soll die Erscheinung eine Abschattung, eine Nachahmung, ein Bild des erscheinenden Gegenstandes sein.? Nicht nötig zu sagen, daß niemand mehr eine solche Anschauung vertreten möchte, am wenigstens der Phänomenalist. Nur als bildliche Sprechweise kann man derlei Ausdrücke gelten lassen. Das fragliche Verhältnis läßt sich überhaupt nur durch Bilder ver- deutlichen, die der empirischen Welt entnommen sind. In ihr ist in der Tat, wie der Gegensatz von Schein und Sein, so auch der von Wesen und Erscheinung sinnvoll verwendbar. Man kann z. B. die geometrisch be- stimmte Gestalt eines physischen Körpers zu seinem Wesen rechnen, die verschiedenen perspektivischen Ansichten zu seiner Erscheinung. Ist die Beziehung zwischen Ding und Phänomen etwa von gleicher Art.? Offen- bar nicht, denn nach Kant ist ja der ganze Körper selbst nur Erschei- nung. Aber irgendwie muß das Dasein der Phänomene doch durch das Dasein der Dinge bedingt sein. In der Tat bestimmt Kant die Erschei- nungen als die ,, Vorstellungen, die sie (die Dinge) in uns wirken, indem sie unsere Sinne affizieren" (Proleg. § 13, Anm. 2). Die Erscheinungen wären dann also die Wirkungen, welche die Dinge an sich auf das Bewußt- sein ausüben. An dieser Stelle hat man bekanntlich von jehei mil scharfer Kritik gegen die KANT'sche Lehre eingesetzt, weil der Begriff der Ursache, der nach seiner Meinung nur für Erscheinungen Gültigkeit hat, hier auf die Dinge an sich angewendet würde. Hat man damit recht, so wird das Verhältnis der Dinge zu den Phänomenen zu etwas Einzigartigem, Un- erklärlichem, das man einfach hinzunehmen hat und nicht weiter ver- deuthchen kann. Wie dem aber auch sein möge — jedenfalls nimmt Kant, und mit ihm jeder Phänomenalismus, irgendeine Korrespondenz, eine Zuordnung zwischen beiden Gliedern an, für welche die Kausal- beziehung immer noch das beste Bild im Reiche der Erfahrungswirklich- keit ist. In der Tat reden wir im täglichen Leben von der Wirkung häufig als von einer Erscheinung der Ursache: das Fieber ist eine Erschei- nung der Krankheit, das Steigen des Thermometers eine Erscheinung der Wärme, der Blitz eine Erscheinung der Gewitterelektrizität usw. Aber 204 Die Erkenntnis des Wirklichen. wie der Ursachenbegriff vieldeutig ist, weil schließlich jeder Vorgang von unzähligen Bedingungen abhängt, so fehlt auch dem so gefaßten Erschei- nungsbegriff der feste Bezug. Ist z. B. eine Wahrnehmungsvorstellung unriiittelbar die Erscheinung des wahrgenommenen Körpers.? Kann ich sie nicht vielmehr auch auffassen als eine Erscheinung der Nervenprozesse bei der Reizung der Sinnesorgane, oder gar als Erscheinung der Gehirn- vorgänge, von denen man annimmt, daß sie meiner Wahrnehmungs- vorstellung parallel laufen? Wir sehen, wie unbestimmt der Erscheinungsbegriff ist und zu welchen Schwierigkeiten ei führt, wenn man versucht, ihn irgendwie von der Er- fahrung ausgehend zu erreichen. Man kann in der Tat nur zu ihm ge- langen, wenn man die verschiedene Realität der Bewußtseinswelt und der transzendenten Welt bereits voraussetzt; er ist gar nichts anderes als der Ausdruck für die Trennung dieser beiden Welten. Manche Philosophen sagen in noch deutlicheren Worten, daß sie hier wirkhch einen Unterschied der Reahtät vorliegend erachten: Külpe z. B. verwendet den Terminus ,, wirklich" nur für das unmittelbar Gegebene und bezieht das Wort ,,real" nur auf die bewußtseinstranszendente Welt. Doch besteht nach ihm zwischen den wirklichen und den realen Objekten eine ,,nahe Beziehung". (Die Realisierung, S. 13, 14; 1912). Gewiß sind diese Unterscheidungen zunächst rein terminologischer Natur und als solche jenseits von wahr und falsch. Es steht frei, allein das unmittelbar Gegebene als wirklich zu bezeichnen und davon das transzendente Sein als ein reales zu unterscheiden. Aber von terminologischen Festsetzungen muß man fordern, daß sie zweckmäßig seien, und sie sind es nur dann, wenn sie der sachlichen Grundlage, auf der sie ruhen, gehörig angepaßt sind. Und diese Forderung scheint mir im vorliegenden Falle schlecht erfüllt zu sein, denn die Tatsache, daß es gegebenes und nicht gegebenes Wirkliches gibt, kann wohl dazu berechtigen, zwei Klassen des Wirklichen zu unterscheiden, nicht aber dazu, zwei verschiedene Arten oder Stufen von Realität anzunehmen. Die KüLPE'sche Terminologie läßt auch die Setzung eines unbewußten Psychischen natürhcher erscheinen, als sachlich gerechtfertigt wäre, denn sie gestattet es z. B. von Empfindungen zu reden, die real sind, aber nicht zugleich auch wirklich. Rein formal genommen wäre es ebenfalls erlaubt, mit Kant alles gegebene Wirkliche Erscheinung zu nennen und alles nicht Gegebene einem Reich der Dinge an sich zuzuweisen; aber diese Bezeichnungsart krankt an dem gleichen Fehler, daß sie verschiedene Stufen oder Grade der Realität impliziert. Denn das Wort Erscheinung deutet stets hin auf etwas außer- halb Liegendes, das da erscheint, und ohne welches die Erscheinung nicht da sein könnte. Dagegen kann das Ding an sich sehr wohl vorhanden sein, ohne zu erscheinen. Dieses ist also jener gegenüber etwas Selb- ständigeres, Unabhängigeres; es besteht zwischen beiden Gliedern eine einseitige Abhängigkeit, welche die Erscheinungen jener Selbständigkeit beraubt, die zu dem Begriffe des wesenhaft Realen unabtrennbar gehört. Wesen und „Erscheinung". 205 Es gibt keine Tatsache, die zu einer derartigen Gegenüberstellung zweier irreduzibler Realitäten zwänge oder berechtigte, von denen die eine ganz auf sich selbst beruht, während die andere von ihr abhängig ist. Wir gelangen vielmehr zu einem sehr viel einfacheren und daher be- friedigenderen Weltbilde, wenn wir allen realen Objekten ohne Unter- schied die gleiche Wirklichkeit zuschreiben, so daß sie alle im gleichen Sinne selbständig sind, aber auch alle im gleichen Sinne voneinander abhängen. Das heißt, die Geschehnisse in meinem Bewußtsein werden nicht nur durch die transzendente W^elt bedingt, sondern jene haben auch umgekehrt auf diese Einfluß, und die W'echselbeziehungen zwi- schen den beiden Reichen sind von genau derselben Art wie diejenigen, welche zwischen den Vorgängen innerhalb eines der beiden Reiche be- stehen. Wenigstens hegt kein Grund vor, andersartige Abhängigkeiten vorauszusetzen, und wir halten daher an ihrer prinzipiellen Gleichheit fest, solange die Tatsachen uns nicht zwingen, diese einfache Annahme aufzugeben. Wir versuchen also, mit der Hypothese auszukommen — oder, wenn man will, das Postulat durchzuführen — , daß die Abhängigkeit der schlecht- hin gegebenen Elemente voneinander im Prinzip durch dieselbe Gesetz- mäßigkeit beherrscht wird wie irgendwelche Vorgänge in der transzendenten Welt und wie die Beziehungen zwischen dieser und den Inhalten meines Bewußtseins. Im folgenden werden sich noch manche Anhaltspunkte dafür ergeben, daß diese Ansicht nicht undurchführbar ist. Das gehört jedenfalls auch zu den positiven Ergebnissen unserer Be- trachtung der positivistischen Immanenzgedanken: wir können von ihnen lernen, die unmittelbaren Daten des Bewußtseins als selbständiges Sein, als vollgehaltiges W'esen anzuerkennen. In Übereinstimmung mit ihnen lehnen wir den KANx'schen Erscheinungsbegriff ab: unsere Erlebnisse, unsere Wahrnehmungen, Vorstellungen und Gefühle, sind nicht etwas Sekundäres, nicht nur Erscheinungen, sondern in dem gleichen Sinne selbständig real wie irgendwelche transzendenten ,, Dinge". Es gibt nur eine Wirklichkeit, und sie ist immer Wesen und läßt sich nicht in Wesen und Erscheinung auseinander legen. Es gibt sicher viele Arten wirklicher Gegenstände, wohl gar unendlich viele, aber es gibt nur eine Art der Wirklichkeit, und sie kommt ihnen allen in gleicher Weise zu. Allein mit dieser Formulierung bleiben wir dem ursprünglichen Sinn des Wirklichkeitsbegriffes getreu. Seine Quelle war das unmittelbar Ge- gebene, dieses ist schlechthin real, und unsere ganze Fragestellung der vorigen Paragraphen richtete sich darauf, ob wir dieselbe Realität außerdem noch anderen Gegenständen zuschreiben müssen. Wer von der Wirklichkeit der letzteren als einer andersartigen und neuen redet, nimmt dem ganzen Problem den Sinn und erfindet frei einen Realitätsbegriff, der jeder erfahrungstatsächhchen Grundlage entbehrt und mit dem unsrigen nichts zu schaffen hat. 2o6 Die Erkenntnis des Wirklichen. Der Phänomenalismus ^), welcher ja dem Begriff der „Erscheinung" seinen Namen verdankt und behauptet, daß wir nur diese und nicht das Wesen der Dinge erkennen, ist überhaupt gänzlich unhaltbar; es kann mit aller Strenge bewiesen werden, daß seine Position in sich selbst wider- spruchsvoll ist. Wir haben wiederholt betont, daß die Dinge an sich freilich als un- erkennbar angesehen werden müßten, wenn man mit Kant glaubte, daß zur Erkenntnis eines Gegenstandes seine unmittelbare Anschauung not- wendig erfordert werde, und jedesmal haben wir dargetan, daß man dies eben nicht glauben dürfe, weil das Erkennen so nicht definiert werden kann, sondern prinzipiell mit Anschauen nichts zu tun hat. Durch die nähere Betrachtung des Phänomenalismus wird das noch bestätigt. Denn • es zeigt sich bald, daß die Behauptung, wir könnten von den Dingen an sich gar nichts weiter aussagen als ihre Existenz, sich nicht aufrecht er- halten läßt. Da nämlich die transzendenten Objekte die Gründe der Phänomene sind, so muß allen Unterschieden in der Erscheinung auch ein Unterschied in den Objekten korrespondieren'). Denn wäre dies nicht der Fall, so hinge die Beschaffenheit der Erscheinung schließlich ganz allein vom Subjekt ab, und wir kämen zu einer rein idealistischen Welt- ansicht, wie sie Fichte entwickelt hat, der damit dem KANT-'schen System die einzig konsequente Ausgestaltung zu geben glaubte. Nach Fichte's Lehre bringt das Ich die Erscheinungen schöpferisch aus sich hervor und bedarf dazu nicht der Mithilfe transzendenter Objekte. Zu solchen Konsequenzen wird man unweigerlich geführt, wenn man nicht — entgegen der phänomenalistischen Voraussetzung — annimmt, daß sich auf Grund der Beziehungen zwischen den Erscheinungen etwas Posi- tives über die Beziehungen dei transzendenten Dinge zueinander aussagen läßt. Und solche Aussagen bedeuten eben doch Erkenntnis der Dinge, sie enthalten doch m e h r als die bloße Behauptung ihrer Existenz. Dafür z. B., daß ich das Fenster links von mir wahrnehme, die Tür aber rechts, muß ein Grund irgendwie in den Dingen liegen, deren Erscheinungen Fenster und Tür sind. Läge nämlich der Grund dafür lediglich im Sub- jekte, so müßten beide Gegenstände notwendig ganz und gar etwas Subjektives sein, denn sonst könnte der Grund dafür, daß die Tür rechts vom Fenster, nicht etwa umgekehrt, lokalisiert wird, doch wieder nur im Objektiven, Transzendenten gefunden werden, und dort soll er gemäß der Voraussetzung nicht liegen. Die Annahme transzendenter Objekte wäre ohne Sinn und Zweck, wir wären mitten im subjektiven IdeaUsmus, und der Phänomenahsmus ist aufgehoben. Mag also z. B. der R a u m nur ein Bestimmungstück, eine Form der ^) Das Wort wird nicht immer im gleichen Sinn gebraucht. Kleinpeter z. B. bezeichnet in seiner Schrift „Der Phänomenaiismus" mit diesem Ausdruck die philo- sophischen Richtungen, die wir soeben in den Paragraphen 24 und 25 bekämpft haben. *) Das wird auch von modernen Kritizisten vielfach anerkannt. Vgl. z. B. R. HöNiGSWALD, Beiträge zur Erkenntnistheorie und Methodenlehre (1906). S. 115 f. Wesen und „Erscheinung". 207 Erscheinungen sein, nicht der Dinge an sich, so entspricht deswegen doch der räumlichen Ordnung der Sinneswelt keineswegs nichts im Reiche der Dinge an sich, sondern auch irgendeine bestimmte Ordnung, nur daß sie eben keine räumhche ist. Darüber war sich Kant auch vollständig klar — was zuweilen immer noch übersehen wird. Riehl sagt ganz richtig (Der philosophische Kritizismus P S. 476, 1908): ,,Es folgt aus Kant's Lehre, auch wenn es Kant nicht ausdrücklich selbst erklärt hätte, daß zu jeder besonderen empirischen Bestimmung des Raumes und der Zeit im Objekte, das erscheint, ein Grund sein muß". Und Kant selber äußert sich (an einer von Riehl a. a. O. zitierten Stelle): ,,Das räume ich gänzlich ein, daß Raum und Zeit zugleich subjektive und objektive Gründe haben". Wie freilich Kant diese Einsicht mit seiner Lehre vereinigen wollte, daß die Kategorien der Vielheit und der Relation auf Dinge an sich nicht anwendbar seien, ist schwer einzusehen. Mit einem Wort: es muß angenommen werden, daß jedem Bestim- mungsstück der ,, Erscheinungen" irgendetwas an den Dingen an sich korrespondiert, eindeutig zugeordnet ist. Und dies genügt vollkommen, um die Welt an sich nicht nur zu erkennen, sondern auch in demselben Grade und Umfang zu erkennen wie die Sinnenwelt, weil zur Erkenntnis nichts anderes, erfordert wird als die MögUchkeit der eindeutigen Zuord- nung. Ja wir müssen sogar erklären und haben es früher schon aus- gesprochen (oben S. 74), daß überhaupt jede Erkenntnis der Sinnen- dinge zugleich eine solche der transzendenten Wirklichkeit ist; denn unsere Begriffe sind Zeichen für die einen sowohl wie für die andere. Wenn wir unter dem ,, Wesen" der Dinge überhaupt etwas Erkenn- bares verstehen, so liefert uns die empirische Wissenschaft durchaus Er- kenntnis des Wesens der Objekte. In der Physik z. B. erschließen uns die Gleichungen Maxwell's das ,, Wesen" der Elektrizität, die Gleichungen Einstein 's das Wesen der Gravitation, denn mit ihrer Hilfe können wir eben im Prinzip alle Fragen beantworten, die sich in bezug auf diese Naturgegenstände stellen lassen. Gibt man dies zu, so sind wir nach dem eben Gesagten damit zugleich im Besitze der Erkenntnis des Wesens der Dinge an sich. Und nur der kann es nicht zugeben, der unter dem Wesen eines Realen nichts anderes verstehen will als ein schlechthin Gegebenes, eine unmittelbar erlebte Qualität; dieses aber ist (wir brauchen nur wieder auf frühere Ausführungen, Teil I, § 11 zu verweisen) überhaupt nicht erkennbar, sondern nur kennbar, wißbar. Noch von einer anderen Seite her können wir die Unmöglichkeit der phänomenalistischen Position einsehen. Da nämlich das Kennzeichen alles Wirklichen darin besteht, daß es zeitlich eingeordnet vorgestellt werden muß, so besagt die Behauptung des Phänomenalismus: es gibt Dinge, von denen wir wissen, daß sie zu einer bestimmten Zeit da sind, sonst aber weiter nichts. Die Möglichkeit eines gerade in dieser Weise beschränkten Wissens ist nun aber durch die Natur des Erkennens schlechthin aus- geschlossen. Denn die empirischen Regeln, die zur zeitlichen Einordnung 2o8 Die Erkenntnis des Wirklichen. eines Ereignisses oder Dinges führen, setzen zu ihrer Anwendung bereits mannigfache Kenntnis der Beziehungen des Ereignisses zu andern voraus. Die zeitliche Festlegung eines Gegenstandes geschieht, wie früher aus- geführt (oben S. i68), in letzter Linie immer durch seine Orientierung zum Augenblick der Gegenwart; und alle dazu nötigen Daten sind ebenso viele Gründe der Erkenntnis des Gegenstandes. Zeitliche Bestimmung ist also gar nicht möglich ohne anderweitige Erkenntnis des Objektes. Die Anhaltspunkte für die zeitliche Orientierung sind stets zugleich auch An- haltspunkte für die Einordnung in andere Zusammenhänge und damit Erkenntnisse. Die bloße Zeitreihe ist leer und ohne jeden Anhalt. Es müssen, damit man einem Gegenstande zeitliche Bestimmtheit zuschreiben könne, irgendwelche Hinweise dafür vorhanden sein, daß gerade diesem Gegenstande bestimmte Zeitzeichen zuzuordnen sind; die Momente, die diese Hinweise liefern, können aber von ihm als Beziehungen oder Be- schaffenheiten ausgesagt werden. Wie dürften wir z. B. behaupten, daß einmal eine Eiszeit dagewesen sein müsse, wenn wir nicht zugleich eine Menge positiver Aussagen über ihr Wesen machen könnten.?" Ohne dies wüßten wir ja gar nicht, was überhaupt unter einer Eiszeit zu verstehen ist! Existenz können wir von einem Objekte erst aussagen, wenn wir wissen, was für ein Objekt das ist, wenn uns also sein Wesen wenigstens in irgendeiner Hinsicht bekannt ist. Wo wir über das Sosein, die Essenz nichts wissen, können wir auch Dasein, Existenz, nicht aussagen. Beides ist nicht trennbar. Das gilt auch von den Dingen an sich, die etwa den ,, Phänomenen" der Eiszeit ,, zugrunde liegen", denn allein durch die un- umgängliche Bestimmung, daß sie eben den Phänomenen eindeutig korre- spondieren, sind sie wegen des Beziehungsreichtums der letzteren in ein Netz von Zuordnungen verstrickt, und dadurch sind sie dann auch schon erkannt. Fassen wir zusammen : Es gibt nur eine Wirklichkeit, und alles, was in ihren Bereich fällt, ist unserer Erkenntnis prinzipiell auf gleiche Weise zugänglich, dem Dasein wie dem Wesen nach. Nur ein kleiner Teil dieser Wirklichkeit ist uns jeweils gegeben, alles Übrige ist uns nicht ge- geben, aber die dadurch bedingte Trennung des Subjektiven und Objek- tiven ist zufälliger Art, nicht prinzipieller Natur, wie es diejenige zwischen Wesen und Erscheinung sein sollte, die wir als undurchführbar erkannt haben *). 27. Die Möglichkeit der Subjektivität des Raumes und der Zeit. Da die Zeitlichkeit das Kriterium der Reaütät ist, und da der transzendenten Welt Realität zugesprochen werden muß, so scheint daraus unmittelbar zu folgen, daß auch die Dinge dieses transzendenten Reiches ^) Vgl. zu den Ausführungen dieses Paragraphen meinen demnächst in den „Kantstudien" erscheinenden Vortrag über das Thema „Erscheinung und Wesen". Die Möglichkeit der Subjektivität des Raumes und der Zeit. 209 zeitlich sind in demselben Sinne wie die gegebene Bewußtseinswelt. Ähn- liches scheint auch von der Räumlichkeit gelten zu müssen, weil doch bei den Naturobjekten Zeit- und Raumbestimmungen immer Hand in Hand gehen, und so ergibt sich scheinbar unvermeidlich der Schluß, daß das Reich der transzendenten Objekte in der Zeit und im allgemeinen auch im Raum ausgebreitet ist, daß mithin die seit Kant so weithin an- erkannte Lehre von der Subjektivität des Raumes und der Zeit mit unseren Resultaten unvereinbar sei, denn beides sind ja nach dieser Lehre bloße Formen unserer Anschauung, die den Dingen an sich selber nicht zu- kommen. Aber dieser Schluß wäre voreilig; unsere Ergebnisse liefern für ihn keine hinreichenden Prämissen. Um einzusehen, wie unsere Ergebnisse sich zur KANx'schen Raum- und Zeitlehre stellen, ob aus ihnen etwas für ihre Richtigkeit oder Falsch- heit folgt, muß man sich zunächst über den Sinn jener Lehre ganz im klaren sein, und dazu ist es nötig, eine Unterscheidung mit aller Schärfe festzuhalten, die wir im ersten Teil unserer Untersuchungen herauszu- arbeiten uns bemühten, indem wir eine feste unüberschreitbare Grenze zogen zwischen dem Anschaulichen einerseits und den Begriffen anderer- seits. Es sind nämhch wohl auseinander zu halten das subjektive Erlebnis der zeithchen Sukzession und die objektive Zeitbestimmung. Das erstere ist ein unmittelbar Gegebenes, Anschauliches, die letztere ist eine rein begriffUche Ordnung. Das undefinierbare, unbeschreibliche Erlebnis des Nacheinander und der Dauer, dieses qualitative, wechselvolle Moment, gibt keine objektive Bestimmung der Abstände in der Reihenfolge von Ereignissen. Es bildet den Gegenstand der psychologischen Untersuchungen des ,, Zeitbewußtseins" und kann für uns ein Mittel der Zeitschätzung, niemals aber der Zeitmessung sein. Die letztere geschieht vielmehr be- kanntlich immer in der Art, daß wir bestimmte einfache periodische Vor- gänge auswählen (Durchgang eines Sternes durch den Meridian, Koinzidenz eines Uhrzeigers mit einer bestimmten Stelle des Zifferblattes usw.), sie als feste Beziehungspunkte im kontinuierhchen Ablauf unserer Erlebnisse benutzen und durch Zahlen bezeichnen. Auf diese Weise ordnen wir allen Ereignissen eine eindimensionale Mannigfaltigkeit zu, ein rein begriffliches Gebilde, in welchem, nachdem Anfangspunkt und Bezugssystem gewählt sind, jedem Vorgang eine zahlenmäßig (durch Datum, Stunde, Sekunde usw.) bestimmte Stelle korrespondiert. Und diese kontinuierliche Reihe kann und muß nun auch über die gegebene Wirklichkeit hinaus erstreckt und zur Ordnung der nicht gegebenen in der gleichen Weise verwendet werden. Das war ja gerade der Grund, weshalb diese Art der Ordnung als Kriterium der Wirkhchkeit überhaupt dienen konnte. Im Reiche des Bewußtseins entspricht jedem Abstand zweier Zahlen jener eindimensionalen Mannigfaltigkeit ein Unterschied jenes quaUtativen Momentes des Zeit- bewußtseins (etwa eines unbeschreibbaren Erlebnisses des „gleich", „bald", Schlick, Erkenntnislehre. I4 2IO Die Erkenntnis des Wirklichen. ,,vor langer Zeit" u. dgl.), aber in bezug auf die transzendente Wirklich- keit wird ein solches Moment, da sie ja überhaupt nicht gegeben ist, natür- lich nicht erlebt. Und nun besagt die Lehre von der Subjektivität der Zeit, daß eben dieses Moment der Zeitlichkeit der transzendenten Welt auch tatsäch- lich gar nicht zukommt. Denn die Zeitlichkeit, die Kant den Dingen an sich abspricht, ist eben der anschauliche Inhalt des Erlebnisses der Dauer und des Früher und Später, der sich nicht beschreiben, sondern nur benennen und durch ein eindimensionales Kontinuum bezeichnen läßt. Man sieht, diese Lehre widerspricht unseren Resultaten keineswegs, denn unser Wirklichkeitskriterium ist gar nicht das anschauhch zeitliche Wesen, sondern vielmehr die Einordnung in jene kontinuierliche Reihe, welcher in der Bewustseinswirklichkeit die anschauhche Dauer zugeordnet ist, der aber in der transzendenten Wirklichkeit nicht notwendig irgend- etwas Ähnliches zu entsprechen braucht. Schon innerhalb der anschau- lichen Gegebenheit können wir uns ja ganz verschiedenartige Reihen von Elementen vorstellen, die alle ein eindimensionales Kontinuum bilden, und denen folglich die Reihe aller Zahlen gerade so gut eindeutig zugeordnet werden kann wie der anschaulichen ,,Zeit": z. B. eine Linie im Räume, oder die Skala der Tonhöhen, der Intensitäten einer Empfindung, viel- leicht sogar die Skala der Lustgefühle u. a. m. Gegenüber diesen Bei- spielen anderer eindimensionaler Ordnungen im Reiche des Gegebenen ist natürlich die Zeitfolge etwas ganz Einzigartiges von viel universalerer Be- deutung, das in der gesetzmäßigen Abhängigkeit der Erlebnisse eine ganz andere Rolle spielt. Ebenso könnte dem Begriffssystem, welches wir zeit- liche Ordnung nennen, in der unanschaulichen, nicht gegebenen WirkHch- keit irgendeine Ordnung entsprechen, die nichts von dem anschaulichen Wesen der Zeit besitzt, das wir im Erlebnis der Dauer kennen lernen; aber diese transzendente Ordnung spielt im Reich der Dinge an sich die- selbe Rolle, hat für sie dieselbe universale Bedeutung wie die Zeit für die Bewußtseinswirklichkeit, denn nur so ist es möglich, daß beide durch ein und dasselbe Begriffssystem (die eindimensionale Zahlenreihe) be- zeichnet werden. Für unsere Erkenntnis ist es damit überhaupt identisch dieselbe Ordnung; wo sie zugleich unserer Kenntnis gegeben ist, be- zeichnen wir sie als die zeitliche; sie auch dort so zu nennen, wo sie nicht in unser Ei leben fällt, haben wir von vornherein kein Recht, weil Zeit zunächst ein Name für etwas Undefinierbares, nur unmittelbar zu Erlebendes ist. Die Regeln aber, nach denen diese Einordnung erfolgt, sind dieselben für die gegebene wie für die nicht gegebene Wirklichkeit. Ob ich dem Symbol t, das in den mathematisch formulierten Naturgesetzen gewöhnlich die Zeit bezeichnet, eine anschauliche Bedeutung beilege oder mich dessen enthalte, ist für die Erkenntnis und Formulierung der Gesetze ganz gleichgültig. Alles dies gilt nun mutatis mutandis auch vom Räume. Auch hier ist zu scheiden zwischen dem Räumlichen als der anschaulich voistellbaren Die Möglichkeit der Subjektivität des Raumes und der Zeit. 211 Ausdehnung und als dem System einer Ordnung der Naturgegenstända, die mit Hilfe reiner Begriffe vollzogen werden kann und in ganz analoger Weise ausgeführt wird wie die Einordnung in die Zeitreihe, nur daß es sich jetzt nicht mehr um ein Kontinuum von einer Dimension handelt, sondern um ein solches von drei Dimensionen. Es war ja — dies hatten wir bei anderer Gelegenheit bereits festzustellen (oben Teil I, § 7) — ^"''«^ der erkenntnistheoretisch wichtigsten Errungenschaften der modernen Mathematik, daß sie in der Geometrie den prinzipiellen Unterschied statuierte zwischen dem System reiner Urteile und Begriffe, in welchem es nur ankommt auf deren logische Beziehungen untereinander, und dem System anschaulich räumlicher Gebilde und ihrer Verhältnisse, denen jene Begriffe und Urteile zugeordnet sind. Das erstere System korrespondiert zwar dem letzteren in allen Stücken, ist aber von ihm insofern völlig un- abhängig, als es keineswegs aufgefaßt zu werden braucht als eine Be- schreibung der zwischen den anschauHchen geometrischen Gebilden ob- waltenden Gesetze. Dies wurde, wie wir sahen, dadurch bewiesen, daß ein und dieselben geometrischen Sätze sich auf die verschiedenste Art mit anschaulichem Inhalt erfüllen ließen; denn daraus folgt mit allei» Strenge, daß keiner dieser Inhalte wesentlich zu jenen Sätzen ge- hört, so daß sie nur ihn und keinen anderen bedeuten könnten. Für uns freihch, die wir die Begriffe von vornherein als bloße Zeichen für die Gegenstände erkannten, war dieses Ergebnis sehr natürlich, denn die Be- deutung, die einem Zeichen zukommt, wohnt ihm niemals als etwas Wesentliches inne, sondern wird ihm immer erst durch den Akt der Be- zeichnung erteilt. Am deutlichsten macht man sich die gegenseitige Unabhängigkeit der begrifflichen räumlichen Ordnung und ihres anschaulichen Korrelates, wenn man sich das Verfahren der analytischen Geometrie vergegenwärtigt. Sie bestimmt jeden Raumpunkt durch drei Zahlen (Koordinaten); und wie jedem Ereignis seine Stelle in der Zeitreihe dadurch angewiesen wird, daß man ihm eine Zahl zuordnet, so geschieht die räumliche Einordnung jedes kleinsten physischen Objektes (Punktes) durch Angabe eines Zahlen- tripels; jeder anschauUchen räumlichen Beziehung ordnet die analytische Geometrie auf diese Art eine rein begriffliche Zahlbeziehung zu; für sie ist das System der räumlichen Ordnung weiter gar nichts als der Inbegriff aller mögHchen Zahlentripel, die aus den (positiven und negativen) Zahlen gebildet werden können. Diese bilden in ihrer Gesamtheit ein dreidimen- sionales Kontinuum, das an sich mit anschaulichen Raumvorstellungen nicht das Geringste zu tun hat. Ein verstandesbegabtes Lebewesen ohne räumliche Sinne könnte auf dem Wege der Rechnung alle ,, geometrischen" Beziehungen restlos ermitteln, ohne jemals die geringste anschauliche Vor- stellung davon zu haben, was der Raum oder ein räumliches Gebilde ist. Ihm brauchten alle mathematischen Objekte nur in der Form von Glei- chungen gegeben zu sein, und es könnte in derselben Form alle von ihnen geltenden Sätze aussprechen. Mit dem Worte „Ebene" z. B. würde 14* 212 Die Erkenntnis des Wirklichen. sich ihm kein anderer Begriff verbinden als der einer hnearen Gleichung zwischen drei Größen. Hieraus folgt nun, genau wie im Falle der Zeit: wenn wir einen Gegen- stand in das geschilderte dieidimensionale Bezugssystem einordnen, so ist damit noch nicht gesagt, daß ihm anschauliche Räumlichkeit zugeschrieben werden muß, sondern die Frage, ob dies geschehen kann oder nicht, bleibt vollständig offen. Es könnte also sein, daß Räumlichkeit, wie Kant es wollte, nur unseren sinnlichen Vorstellungen zukommt, die ja zur gegebenen Wirklichkeit gehören, daß sie aber keine Eigenschaft der transzendenten, d. h. der nicht gegebenen Wirklichkeit ist. Dennoch läßt sich die Ordnung der einen wie der anderen (wenn auch — anders als bei der Zeit — mit Ausnahmen) durch dasselbe dreifache Zahlensystem ausdrücken, und insofern ist es ein und dieselbe Ordnung. Sie darf aber als eine räumliche zunächst nur dort bezeichnet werden, wo sie in die erlebte Wirklichkeit fällt; man hat kein Recht, den Dingen an sich ein Dasein im Räume zuzuschreiben, weil dieses Wort eben etwas Anschauliches bedeutet, die transzendente Welt uns jedoch nicht anschau- lich bekannt ist. Vielleicht wird die Gültigkeit dieser Entwicklungen noch deutlicher, wenn wir sie auch auf negativem Wege uns klar machen. Gesetzt nämlich, man wollte die hier durchgeführte Unterscheidung zwischen anschaulicher Beziehung und begrifflicher Ordnung nicht machen, sondern glauben, daß die erstere stets mit der letzteren gegeben sei und ihren wesentlichen Inhalt bilde, so müßte man notwendig schließen, daß die transzendente Welt in der Tat im Räume sei. Denn daß dieser Welt überhaupt eine Ordnung zuzuschreiben ist, wenn man sich nicht dem subjektiven Idealismus in die Arme werfen will, hatten wir oben (S. 206) längst eingesehen; und wenn nun diese Ordnung, die, wie wir sehen, begrifflich mit der räumlichen genau übereinstimmen muß, diese Forderung nur dann erfüllen kann, wenn ihr auch das Merkmal der Räumlichkeit selbst zukommt, dann müssen eben die Dinge an sich selbst auch im Räume angeordnet sein. Ein Philosoph, der jene Unterscheidung nicht macht und also am Räume die Sonderung zwischen dem begrifflichen Ordnungstypus und dem anschaulich Vorstellbaren nicht vollzieht, ist E. v. Hartmann, und ganz konsequent gelangt er denn auch zu der Behauptung der transzendenten Realität des Raumes. Nachdem er nämlich (gleich uns) die Einsicht ge- wonnen hat, daß die transzendente Ordnung der Dinge auf dasselbe be- griffliche System bezogen werden muß wie die räumliche Ordnung der Erfahrungsgegenstände, glaubt er, es sei dadurch zugleich ,,der logisch zwingende Beweis für die Räumlichkeit des transzendenten Beziehungs- systems geführt" (Das Grundproblem der Erkenntnistheorie S. Iio). Hartmann sagt, es handle sich hiei um ,, quantitative, dreidimensionale, stetige, in ihren GrundmSßen vertauschbare Beziehungssysteme" (ebenda S. 109), und meint nun, unter diese Definition könne nur ein einziger Gegenstand fallen: eben der Raum unserer Anschauung. Wir wissen nach Die Subjektivität der Sinnesqualitäten und des Raumes. 213 dem Gesagten, daß dies völlig unrichtig ist; wir fanden ja z. B. in dem Inbegriff aller Zahlentripel eine Mannigfaltigkeit, die gleichfalls unter den angeführten Begriff fällt, ohne doch das Merkmal der Räumlichkeit an sich zu tragen, denn was zwänge uns, eine Zahl etwa aufzufassen als einen anschaulich vorstellbaren Koordinatenabstand? Es ließen sich leicht vom Standpunkt des Mathematikers noch weitere Einwände näher aus- führen, aber das Gesagte ist zur Widerlegung hinreichend. Wir können von unserem im Ersten Teil gewonnenen Standpunkte aus noch die allgemeine entscheidende Bemerkung hinzufügen, daß es über- haupt prinzipiell unmöglich ist, den Raum rein begrifflich (d. h. durch implizite Definition, vgl. § 7) zu definieren. Einem Wesen, das keine sinn- lich-räumliche Erfahrung besäße, könnte durch Begriffe ebensowenig klar gemacht werden, was Raum ist, wie man einem Blindgeborenen durch bloße Definition eine Vorstellung vom Gelb oder Rot zu geben vermöchte. Man kann wohl Begriffe von Mannigfaltigkeiten so definieren, daß der anschauliche Raum unter sie fällt; weil aber sein anschaulicher Charakter durch die Definition nicht mitgetroffen werden kann, werden stets noch beliebig viele andere Gegenstände denkbar sein, bei denen nur der an- schauliche Charakter durch einen anderen ersetzt ist, und die auch unter den Begriff fallen. Mit anderen Worten: daraus, daß ein Gegenstand unter eine bestimmte formale Definition fällt, kann man niemals einen Schluß auf sein anschauliches Wesen ziehen. Wenn also die transzendente Ordnung der Dinge auch demselben Mannigfaltigkeitstypus angehört wie die räumliche Ordnung unserer Wahrnehmungsvorstellungen, so folgt dar- aus nicht, daß Räumlichkeit im anschaulichen Sinne auch ihr zugesprochen werden muß. Diese Räumlichkeit aber w^ir es, die Kant ihr absprach. Es folgt also aus unseren Resultaten nicht, daß die KANx'sche Raum- lehre falsch wäre. Ihre Richtigkeit ist damit natürlich noch nicht behauptet. Wir haben nur festgestellt, daß die Lehre von der Subjektivität der Zeit und des Raumes mit unseren bisher gewonnenen Wahrheiten verträglich sein würde; jetzt wenden wir uns der viel wichtigeren Frage zu, ob sie selbst Wahrheit ist. Die zu diesem Zwecke anzustellenden Untersuchungen werden ihrer- seits dazu beitragen, den Sinn und die Richtigkeit der soeben durch- geführten Überlegungen noch deutlicher zu machen. 28. Die Subjektivität der Sinnesqualitäten und des Raumes. Um herauszufinden, welche Eigenschaften wir den Dingen an sich zu- schreiben dürfen und welche nicht, haben wir auf die Überlegungen zurück- zugreifen, die uns zur Annahme ihrer Existenz führten, denn die Gründe dafür müssen nach den Ausführungen des § 26 auch die Gründe für irgendwelche Bestimmtheiten der Dinge schon enthalten. Die Kritik der Immanenzgedanken zeigte uns, daß wir die trans- zendenten Dinge als reale Vermittler annehmen mußten zwischen den 214 I^iß Erkenntnis des Wirklichen. Erlebnissen, die des lückenlosen Zusammenhanges ermangeln — sowohl derjenigen, die demselben individuellen Bewußtsein angehören, als auch besonders solcher, die auf verschiedene Individuen verteilt sind. Die transzendenten Realitäten bilden die identischen Gegenstände, auf welche Worte und Begriffe der miteinander verkehrenden Menschen sich be- ziehen. Wir haben uns längst überzeugt, daß die Rolle solcher identischen Gegenstände nicht übernommen werden kann von den Elementenkom- plexen, d. h. von den Verbänden der Sinnesqualitäten, weil diese für ver- schiedene Individuen eben niemals dieselben sind (S. 193 ff.). Das war eine durch Physiologie und Physik festgestellte Tatsache, und durch sie wird es schlechthin unmöglich gemacht, die Sinnesqualitäten (rot, warm, laut usw.) als Eigenschaften der Dinge an sich anzusehen. In unserer Terminologie: die Begriffe, mit denen wir die Sinnesqualitäten bezeichnen, können wir nicht auch zur Bezeichnung der transzendenten Gegenstände benutzen. Der ,, naive Realismus", der eben dies unbesehen tut und jene Qualitäten den Objekten an sich beilegt, führt zu Widersprüchen, denn er muß von einem und demselben Dinge Bestimmungen aussagen, die miteinander unverträglich sind; er muß z. B. denselben Körper für rot und nichtrot, für kalt und nichtkalt erklären. So wird er als unhaltbar erkannt und muß der Einsicht in die ,, Subjektivität" der Sinnesqualitäten Platz machen. Die sinnlichen Qualitäten sind Bewußtseinselemente, nicht Elemente der transzendenten, nicht gegebenen Wirklichkeit; sie gehören dem Subjekt an, nicht den Objekten. Bekanntlich stammt diese Einsicht bereits aus dem Altertum. Demo- KRiT besaß sie in voller Klarjieit; sie ging dann aber der Philosophie verloren während der langen Zeit, in welcher der naive Realismus des Aristoteles herrschte, und sie mußte erst in neuerer Zeit (Galilei, Boyle, Locke) zu frischem Leben erweckt werden. In beachtenswerter Weis? ist sie dann erst in allerneuester Zeit wieder bestritten worden, vor allem durch die Gedanken, welche wir in den §§ 24 und 25 dargestellt und be- kämpft haben; diese stellen ja in der Tat, wie ihre Vertreter auch nicht selten mit Vorliebe betonten, eine Erneuerung des naiven Realismus dar. Mit ihnen haben wir uns zur Genüge auseinandergesetzt. Auf anderen Wegen haben u. a. H. Schwarz und H. Bergson ^) sich gegen die Subjektivität der Sinnesqualitäten gewandt; die Lehre dürfte aber durch die angeführten positiven Gründe so völlig sichergestellt sein, daß es unnötig ist, auf die Argumente dieser Gruppe einzugehen. (Man findet sie temperamentvoll kritisiert bei J. Schultz, Die drei Welten der Erkenntnistheorie, S. 41 bis 51, 1907. Historisch behandelt die Frage Frischeisen-Köhler in der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 30, S. 271 ff.) Es ist nötig hervorzuheben, daß die Lehre, welche den transzendenten Objekten die Sinnes qualitäten abspricht, damit nicht etwa behauptet, ^) Herrmann Schwarz, Das Wahrnchmungsproblem 1892. Die Umwälzung der VVahrnehmungshypothesen 1895. Bergson, Matiere et memoire. Die Subjektivität der Sinnesqualitäten und des Raumes. 215 daß diesen Objekten überhaupt keine Qualitäten zukommen könnten. Man hat dergleichen öfters gemeint, da man unter Mißverstehen prin- zipieller Resultate der Naturwissenschaften glaubte, sie führten zu einem rein quantitativen, qualitätslosen Weltbilde. Davon ist jedoch keine Rede. Später werden wir die Frage näher besprechen müssen. Die Subjektivität der Sinnesqualitäten ist über allem Zweifel erhaben. Dieselben Betrachtungen, welche die Existenz der Dinge an sich beweisen, lehren zugleich, daß ihnen Begriffe, wie rot, warm, süß, die da Bewußt- seinselemente bezeichnen, nicht zugeordnet werden dürfen: zur wider- spruchslosen, eindeutigen Bezeichnung der Objekte sind sie unbrauchbar. Ganz anders scheint es auf den ersten Blick zu stehen mit den räum- üchen und zeitlichen Ordnungsbegriffen; sie erscheinen eminent geeignet zur Bezeichnung der Objekte. Das zeigt besonders das Verfahren der exakten Naturwissenschaften, denn die Begriffe, welche sie den Gegen- ständen zuordnen an Stelle der dazu unbrauchbaren sinnlichen Qualitäten, sind fast durchgehends Raum- und Zeitgrößen. Tonqualitäten z. B. werden repräsentiert durch Schwingungszahlen von Luftteilchen, Farbentöne durch die Frequenz elektromagnetischer Wellen, Wärmequalitäten durch die kinetische Energie von Molekülen: kurz, für die Sinnesqualitäten treten meßbare, räumlich lokalisierte Veränderungen auf, meist sogar Bewegungen. Der Begriff der Veränderung aber enthält denjenigen der Zeit, der Begriff der Bewegung dazu noch den des Raumes. Die der sinnlichen Qualitäten entkleideten transsubjektiven Objekte behalten also nicht nur raumzeit- liche Eigenschaften, sondern es scheint sogar, als ob auf diese alle übrigen soviel wie möglich reduziert werden müßten, es scheinen mithin die un- entbehrlichsten zu sein, durch welche die realen Gegenstände xar' i^nxT^v bestimmt werden. Aber die Überlegungen des vorigen Paragraphen haben uns gelehrt, daß damit für unsere Frage noch gar nichts entschieden ist. Denn es könnte sein, daß diese räumlich-zeithchen Bestimmtheiten weiter nichts bedeuten als eine Einordnung in die oben beschriebenen Begriffssysteme, daß sie aber nicht besagen wollen, die anschauliche Ausgedehntheit, welche z. B. der Wahrnehmungsvorstellung eines Körpers zukommt, sei auch in ganz gleicher Weise, nur numerisch verschieden, eine Eigenschaft des transzendenten Gegenstandes. Daß eben dies letztere tatsächlich der Fall sei, mußte so lange angenommen werden, als man die ganze Unterschei- dung überhaupt noch nicht zu machen gelernt hatte; da konnte man unter Raum- und Zeitbestimmung nur verstehen eine Beilegung räum- licher und zeitlicher Qualitäten, wie sie aus der sinnlichen Anschauung bekannt sind. BekanntHch wurden sie ja auch von Boyle und Locke als ,, primäre Qualitäten" vor den sinnhchen als den ,, sekundären" aus- gezeichnet, weil sie den realen Objekten außerhalb des Bewußtseins selber angehören sollten. 2l6 Die Erkenntnis des Wirklichen Es gilt also zwischen Locke und Kant zu entscheiden. Wir wollen das Problem zunächst für den Raum allein in Angriff nehmen und also fragen: Kommt das spezifisch Räumliche am Raum, also der anschauliche Inhalt, wodurch jenes dreidimensionale Kontinuum erst zum Raum wird, auch den transzendenten Gegenständen zu? Mit anderen Worten: Be- finden sich jene Objekte in dem Wahrnehmungsraume unseres Anschauens? Existieren die anschaulich-räumlichen Verhältnisse auch unabhängig von ihrem Angeschautwerden? Die Antwort auf diese Frage ist leichter zu finden und zu begründen, als man im ersten Augenblick glauben möchte. Sie lautet: Nein! Die Ordnung der Dinge an sich ist von der anschaulich-räumlichen Ordnung unserer Empfindungen nicht bloß numerisch, sondern wesentlich ver- schieden; die transzendenten Gegenstände können nicht im Anschauungs- raume lokalisiert werden. Denn die objektive Ordnung der Dinge ist nur eine, der Wahrnehmungsräume aber gibt es mehrere, viele, und keiner von ihnen hat unmittelbar Eigenschaften, die ihn zum alleinigen Träger jener Ordnung stempelten. Wir werden diese Tatsache und ihre Bedeutung leicht einsehen, wenn wir einen flüchtigen Blick werfen auf die psychologischen Eigentümlich- keiten der Raumvorstellung. Die räumliche Anschauung ist Sache unserer Sinneswahrnehmung. Mag man in der Frage nach dem Ursprung der Raumvorstellung mehr nativistischen oder mehr empiristischen Ansichten zuneigen, mag man also die räumliche Ordnung der Empfindungen für etwas ihnen von vornherein Anhaftendes oder für etwas durch Assoziationsprozesse erst zu ihnen sich Gesellendes halten, so bleibt doch sicher, daß die Räumlichkeit eben eine spezifische, anschauliche Art der Ordnung von Empfindungen ist. Nun haben wir aber verschiedene Klassen von Empfindungen, da wir ja mehrere verschiedenartige Sinnesorgane besitzen; und innerhalb jeder von diesen gibt es eine mehr oder weniger ausgeprägte räumliche Ordnung. Diese ist aber für jedes Sinnesgebiet eine spezifische, die in ihrem an- schaulichen Wesen keine Ähnlichkeit mit derjenigen der übrigen Gebiete hat. Es gibt also z. B. einen Gesichtsraum, einen Tastraum, einen Raum der Bewegungsempfindungen. Und sie zeigen untereinander keine an- schauliche Gemeinsamkeit. Wenn ich die Gestalt meines Bleistiftes visuell erschaue, so ist das Erlebnis, das ich dabei habe, unvergleichbar ver- schieden von dem Erlebnis, wenn ich ,, dieselbe" Gestalt ertaste. Es gibt keine Qualität, die beiden gemeinsam und als die eigentlich räumhche aus beiden auszusondern wäre. Das wird durch die Erfahrungen an operierten Blindgeborenen be- stätigt; für sie sind die räumlichen Qualitäten des Gesichtsinnes etwas schlechthin Neues gegenüber denen des Tast- und Muskelsinnes, sie finden in den ersteren nichts vor, was ihnen aus den letzteren schon bekannt wäre. Die Patienten, die sich im haptischen und kinästhetischen Räume Die Subjektivität der Sinnesqualitäten und des Raumes. 2^7 orientieren können, wissen damit noch nicht das Geringste über die optische Orientierung im Gesichtsraume. So ergibt sich mit aller Strenge der Schluß, den Riehl (Der philosophische Kritizismus II, S. 139), so formuliert: ,,daß sämtliche Grundbestandteile der Raumkonstruktion: Bewegung, Gestalt, Größe, Richtung, für die beiden Sinne verschieden sind, daß somit zwischen den aus ihnen abgeleiteten beiderseitigen Vor- stellungen keine andere Verbindung besteht als diejenige, welche die Erfahrung stiftet". In der Tat geschieht die Verknüpfung zwischen den verschie- denen Sinnesgebieten allein dadurch, daß bestimmten räumlichen Daten z. B. des Gesichtssinnes in der Erfahrung unter gewissen Umständen stets bestimmte Daten der übrigen Sinne korrespondieren. Wenn ich etwa die Tischlampe in bestimmter Entfernung vor mir sehe, stellen sich nach Ablauf bestimmter Bewegungsempfindungen in meinem Arm (Ausstrecken der Hand) gewisse T a s t empfindungen in den Fingern ein (Berühren der Lampe); wenn ich visuell einen bleistiftförmigen Körper wahrnehme, so kann ich mir durch geeignete Maßnahmen immer auch die gleichen Tastempfindungen verschaffen, die ich beim Betasten eines Bleistiftes erlebe. Auf diese Weise sind die räumlichen Erfahrungen der verschiedenen Sinnesgebiete einander eindeutig zugeordnet, und deshalb lassen sich alle in einem und demselben Ordnungssystem unterbringen, welches eben dadurch auch zugleich zum Ordnungstypus der transzen- denten Dinge wird. Man hat zwar auch die früher von Locke aufgestellte Ansicht noch verteidigt, ,,daß Gesichts- und Tastsinn sozusagen denselben Raumsinn als gemeinsamen Bestandteil enthalten." Wir fanden diese Meinung bei Stumpf, nach welchem ein und dieselbe räumliche Aus- dehnung auf mehreren Sinnesgebieten erlebt werden kann (siehe oben S. 137), und auch Mach tritt dafür ein (Analyse der Empfindungen* S. III, Anm. 2). Beide Autoren beziehen sich zur Bestätigung auf den Fall Saünderson. ,,Wie hätte", ruft Mach aus, ,,der blinde Saunderson, wenn Locke unrecht hätte, eine für Sehende verständliche Geometrie schreiben können!" Aber hier wird eben der Unterschied außer acht ge- lassen, der zwischen dem anschaulichen Sinn des Wortes ,, Ausdehnung" und dem rein begrifflichen Sinn besteht, welch letzterer durch ein System abstrakter Beziehungen bestimmt wird, deren Festlegung die Aufgabe der Geometrie ist. Gerade die Geometrie, und folghch das Lehrbuch von Saünderson, hat nichts zu schaffen mit dem anschaulich Gegebenen, was bei den Empfindungen ,, Ausdehnung" genannt wird, denn die Sätze der Geometrie sind gerade davon gänzlich unabhängig (wie oben § 7 dar- gelegt). Nur dadurch beziehen sich die Empfindungen auf einen und den- selben Raum, daß die Erfahrung Assoziationen zwischen ihnen schafft, durch die sie in eine und dieselbe Ordnung gebracht werden. So sagt denn auch Mach unmittelbar vor der zitierten Stelle ganz richtig: ,,Alle Raumempfindungssysteme, mögen sie noch so verschieden sein, sind durch Die Erkenntnis des Wirklichen. ein gemeinsames assoziatives Band, die Bewegungen, zu deren Leitung sie dienen, verknüpft." Wenn wir jetzt die Frage wieder stellen, ob wohl die räumhch an- schaulichen Qualitäten den transzendenten Gegenständen zukommen, so hat diese Frage durch die eben angestellten Betrachtungen schon eine große Ähnlichkeit gewonnen mit dem Problem, ob die sinnlichen Quali- täten wohl von den Dingen an sich ausgesagt werden können oder nicht. Wie dort der Umstand, daß viele verschiedene Qualitäten den gleichen Anspruch darauf hatten, dem Dinge zugeschrieben zu werden, ein An- zeichen dafür war, daß ihm keine von allen zukomme (oben S. 214), so haben wir auch hier viele verschiedene Erlebnisse von Qualitäten der Räumlichkeit, von denen wir nicht wissen, welche wir auf die objektive Ordnung der Dinge übertragen sollen. Alle hätten ein gleiches Recht dazu, und das deutet darauf hin, daß in Wahrheit keine gewählt werden darf, weil jeder zureichende Grund fehlt, eine vor den übrigen auszu- zeichnen. Nicht nur in verschiedenen Sinnesgebieten entsprechen der gleichen objektiven ,,Raum"ordnung differente Wahrnehmungen, sondern auch innerhalb eines und desselben Gebietes. Die nämliche Körpergestalt z. B. bietet dem Auge je nach Lage und Entfernung einen gänzlich ver- schiedenen Anblick, und auch dem Tastsinn liefert sie wesentlich ver- schiedene Daten, je nach den Hautstellen, die sie berührt. Locke fand das Hauptargument für die transzendente Realität des Raumes darin, daß die verschiedenen Sinne uns doch die gleichen Aussagen über die räumlichen Eigenschaften der Dinge liefern; wir sehen jetzt, daß dies für die anschauliche Räumlichkeit gar nicht zutrifft, daß vielmehr jene Aus- sagen in diesem Punkte gar keine ÄhnHchkeit miteinander haben. Damit fällt also der LocKE'sche Beweisgrund für unser Problem in sich zu- sammen. Dennoch möchte man vielleicht auf verschiedenen Wegen versuchen, die transzendente Realität des Raumes im anschaulichen Sinne aufrecht zu erhalten. Erstens könnte man etwa bestreiten wollen, daß wirklich jedem Sinn sein besonderer Raum zuerteilt werden müsse. Es sei gar nicht richtig, daß es einen Gesichts-, einen Tastraum usw. gebe, sondern was wir als Raum bezeichnen, sei immer schon ein Verschmclzungsprodukt aus den Daten der differenten Sinnesgebiete einerseits und den verschiedenen Daten innerhalb desselben Sinnesgebietes andererseits. ,,Die" Raumvorstellung sei eben dieses anschauliche Verschmelzungsprodukt und als solches nur eine; ihre qualitativen Eigenschaften wären es, die von den Dingen an sich ausgesagt werden müßten und nunmehr auch könnten, weil der Widerstreit der verschiedenen Qualitäten hier fortfalle und jede zu ihrem Rechte komme. Aber dieser Gedanke führt zu psychologischen Unmöglichkeiten. Es gibt einfach kein psychisches Verschmelzungsprodukt disparater Sinnes- gebiete, es gibt keine Vorstellung, die weder optisch noch haptisch noch kin- Die Subjektivität der Sinnesqualitäten und des Raumes. 219 ästhetisch und doch etwas von diesem allem wäre. Räumliche Gesichtsvor- stellungen sind mit den entsprechenden Tast- und Bewegungsvorstellungen eng assoziiert (sie bilden mit ihnen die von Herbart und Wundt so genannten „Komplikationen"), aber sie verschmelzen nicht zu einer Ein- heit miteinander, ebensowenig wie etwa eine Wortvorstellung besteht aus miteinander verschmolzenen Vorstellungen des Klanges, des Schriftbildes, der Sprech- und Schreibbewegungen, sondern jede von diesen ist für sich allein eine selbständige Wortvorstellung, nur durch feste Assoziationen mit den übrigen verbunden. Sodann aber ist zur Ausbildung der Raum- anschauung ein assoziatives Zusammentreffen von Vorstellungen aller dis- paraten Gebiete überhaupt nicht erforderHch, denn sonst könnte z. B. der Blinde keine Raumanschauung haben, da ihm die optischen Elemente dazu doch ganz fehlen. Aber die haptisch-kinästhetischen Vorstellungen, die er besitzt, liefern ihm eben eine in ihrer Art vollständige Raum- anschauung — ebenso ergeben die optischen Elemente für sich allein eine Raumanschauung, die in ihrer freilich ganz anderen Art gleichfalls voll- ständig ist. Es gibt also kein einheitliches einzigartiges psychisches Ge- bilde, welches alle Räumlichkeit allein darstellte, sondern das Räumliche ist uns in mehreren voneinander toto genere verschiedenen anschaulichen Weisen gegeben; es ist ein anderes für andere Sinnesorgane und Begleit- umstände. Eben dies spricht für seine Subjektivität. Eine zweite Möglichkeit, räumlich Anschauliches für objektiv real zu erklären, würde gegeben sein, wenn man einen Sinn auswählen und seine Daten auf die transzendente Welt übertragen könnte und die Subjektivität der übrigen dann zugestände. Das dürfte man natürlich nicht ohne Gründe tun, und an solchen fehlt es, wie gesagt. Aber selbst wenn sich irgend- welche Anhaltspunkte zur Bevorzugung eines Sinnes vor den übrigen fänden, so treten nunmehr innerhalb seines Gebietes die verschiedenen Qualitäten der Raumanschauung in einen solchen Widerstreit und zeigen eine derartige Relativität, Bedingtheit durch die Umstände, daß es un- möglich wird, irgendeine von ihnen als objektives Bestimmungsstück der Dinge aufzufassen ^). Betrachten wir, um uns davon zu überzeugen, etwa die Struktur des Gesichtsraumes, und zwar zunächst eines einzigen, um seinen Mittel- punkt drehbaren, sonst aber ruhenden Auges. Sind uns in diesem Räume alle die Eigenschaften anschaulich gegeben, mit der wir die objektive Ordnung der Dinge begrifflich ausstatten.'' Ist mit anderen Worten unser optischer Raum zugleich der physikalische? Man weiß, daß dies ganz und gar nicht der Fall ist. Wir bezeichnen zwei Strecken unter Umständen als objektiv gleich, obwohl sie anschaulich vollständig verschieden sind . . , wenn nämlich die eine etwa sich in größerer Entfernung befindet als die andere. Für den optischen Raum laufen bekanntlich alle geraden Linien, ^) Zahlreiche Gründe für die Subjektivität des Raumes werden eindringlich entwickelt von F. Erhardt, Metaphysik I, 5. I — III. Siehe auch E. Becher, Philo- sophische Voraussetzungen der exakten Naturwissenschaften S. 44 ff. Die Erkenntnis des Wirklichen. gehörig verlängert, in sich zurück (z. B. die Linie des Horizontes), und alle Geraden schneiden sich aus Gründen der Perspektive in einem Punkte des Gesichtsfeldes. Wende ich den Blick zur Decke des Zimmers, so ist für das Auge jeder ihrer Winkel größer als ein rechter, die Winkelsumme des Rechtecks also größer als vier Rechte. Ebenso ist, wenn ich die Zeich- nung eines beliebigen ebenen Dreieckes ansehe, seine Winkelsumme wegen der perspektivischen Verzeichnung stets größer als zwei Rechte, um so mehr, je größer das Dreieck. Kurz: der beschriebene optische Raum ist keineswegs der Euklidische, in den wir die physikalischen Gegenstände gewöhnlich einordnen, sondern ein ,, sphärischer", in ihm gilt die sog. RiEMANN'sche Geometrie, nicht die gewöhnliche Euklidische. Daß sich die Erfahrungen des optischen Raumes, obgleich er ein sphärischer ist, dennoch ohne Widerspruch mit der Annahme vereinigen lassen, daß den physikalischen Objekten Euklidische Maßeigenschaften zukommen, er- klärt sich durch die Möghchkeit, den sphärischen Raum Punkt für Punkt dem Euklidischen zuzuordnen, so daß dasselbe begriffliche Ordnungs- system der Beschreibung des einen so gut wie des anderen zugrunde ge- legt werden kann. In Wahrheit wird die Struktur des Gesichtsraumes noch komplizierter, weil wir mit zwei Augen sehen, die wir noch dazu mit Kopf und Körper frei herumführen können, wodurch eine noch größere Variabilität in die anschaulichen Raumgrößen hineinkommt. Der physi- kalisch-objektive Raum ist also ganz und gar nicht mit dem Gesichts- raum identisch; er läßt sich als eine begriffliche Konstruktion auffassen, die auf dem letzteren unter Aufopferung der Anschaulichkeit aufgebaut werden kann. Vielleicht, könnte man nun meinen, ist der objektive Raum mit dem Tastraum identisch? Aber schon die oberflächlichste Betrachtung seiner Eigentümlichkeiten lehrt, daß davon keine Rede sein kann. Er ist ein amorphes, noch viel verschwommeneres Gebilde als der Gesichtsraum, seine Gesetzmäßigkeit unüberschaubar kompliziert. Da der Tastsinn über die ganze Haut verbreitet ist, so kann er ein und dasselbe physikalisch- räumliche Datum (z. B. den Abstand zweier Zirkelspitzen) durch eine schier endlose Menge qualitativ verschiedener Eindrücke repräsentieren, je nachdem an welcher Körperstelle die Empfindungen stattfinden. Für den Tastsinn können sich auch z. B. zwei Linien schneiden, die objektiv überall gleichen Abstand haben (zwei Zirkelspitzen, auf der Haut äqui- distant entlang geführt, ergeben an manchen Stellen zwei Eindrücke, an anderen nur einen). Wir sehen: das Kontinuum der Tastempfindungen ist etwas ganz anderes als der physische Raum, wenn sie sich auch natür- lich wiederum eindeutig einander zuordnen lassen. Tastqualitäten sind nicht Eigenschaften der Objekte. Selbst die Dreidimensionalität, die wir der Ordnung der letzteren zuschreiben, dürfte aus den Daten des Tast- raums kaum ableitbar sein. Von den üb.igen Sinnesdaten kommen lediglich noch dieBewegungs- empfindungen (damit meinen wir hier stets die Muskel- und Gelenkempfin- Die Subjektivität der Sinnesqualitäten und des Raumes. 221 düngen) in Betracht als wesentlich mitbeteiligt an der Ausbildung der Raumanschauung. Ihnen müssen wir in diesem Zusammenhange einige Worte widmen, weil von Heymans (im Anschluß an einige Bemerkungen Riehl's) die Hypothese aufgestellt worden ist, daß wir in dieser Klasse von Empfindungen die alleinige Quelle der Raumvorstellung zu suchen haben, und daß sie uns in der Tat genau den physikalischen euklidischen Raum liefern, in welchen die Naturwissenschaft alle Objekte einordne ^). Ich glaube, daß diese Hypothese durchaus unhaltbar ist aus folgenden Gründen. Einmal ist es wohl gewiß nicht richtig, daß die Gesichtsemp- findungen, wie Heymans annimmt, für sich allein überhaupt noch keine Raumanschauung begründen. Zweifellos führen optische Wahrnehmungen für sich, unabhängig von allen Bewegungsempfindungen der tastenden Gliedmaßen, der Augenmuskeln usw. zu der beschriebenen Riemann- schen Raumordnung. Selbst wenn man von jeder nativistischen Theorie absähe, können und müssen die Gründe für die Gesichtsraumanschauung doch ausschließlich innerhalb des Gebietes der Gesichtsempfindungen selber gefunden werden. Die von Heymans angeführten Tatsachen be- weisen meines Erachtens nur, daß zur richtigen räumhchen Ordnung optischer Eindrücke eine Reihe von Erfahrungen und Assoziationen nötig sind, nicht aber, daß diese Verknüpfungsprozesse nicht ganz innerhalb der optischen Sphäre stattfinden könnten. Sodann aber, und das ist für sich allein entscheidend, sind die Prämissen nicht aufrecht zu erhalten, aus denen Heymans die Iden- tität des physischen euklidischen Raumes mit dem der Bewegungs- empfindungen zu deduzieren sucht. Erstens nämlich werden über die Struktur der Bewegungsempfindungen Voraussetzungen gemacht, deren Richtigkeit durch die psychologische Beobachtung nicht bestätigt ist. Auf die unzweifelhaft vorhandenen Differenzen der in dieses Sinnes- gebiet gehörenden Daten wird keine Rücksicht genommen, nämlich darauf, daß sie für jeden Muskel und jedes Gelenk ganz andere sind; und es wird die nicht unmittelbar verifizierte Annahme eingeführt, daß es nur drei qualitativ verschiedene Paare von Bewegungsempfin- dungen gibt (Richtungsgefühle, wie Riehl sie nennt), entsprechend den Begriffspaaren vorn-hinten, links-rechts, oben-unten. Es ist klar, daß diese Hypothese zur Erklärung der Dreidimensionalität des Raumes ge- macht wird, im übrigen aber der Beobachtungsgrundlage entbehrt. — Zweitens ist nun aber auch die weitere Behandlung der ,, Richtungsgefühle" in der RiEHL-HEYMANS'schen Hypothese den schwersten Bedenken aus- gesetzt. Heymans sagt (a. a. 0. S. 206): ,,Wir nennen die nicht näher zu bestimmenden Daten, nach welchen der Bhndgeborene zwischen ver- schiedenen Richtungen unterscheidet, die Qualität, die anderen, welche er bei der Messung des Weges in Anschlag bringt, die Quan- tität des Bewegungsgefühles". Natürlich kann man diese Terminologie G. Heymans, Die Gesetze und Elemente des wissenschaftlichen Denkens* (1905). § 56. Die Erkenntnis des Wirklichen. einführen, muß sich aber dabei im klaren sein, daß das, was hier als Quan- tität bezeichnet ist, doch eben als Qualität erlebt wird, wie ja auch aus dem angeführten Satze selbst hervorgeht. Die Bewegungsempfindungen, wie alle psychischen Größen, lassen sich nun aber nicht unmittelbar wie Quantitäten im mathematischen Sinne behandeln, d. h. als extensive Größen, die teilbar und so zu einer neuen Empfindung zusammensetzbar wären, daß die Komponenten in ihr unverändert erhalten blieben (vgl. z. B. meine Ausführungen in § 5 des Aufsatzes ,,Die Grenze der natur- wissenschaftlichen und philosophischen Begriffsbildung", Vierteljahrschr. f. wissenschaftl. Philosophie Bd. 34, 1910); um sie der Beschreibung durch quantitative Methoden zugänglich zu machen, muß dem System der qualitativ verschiedenen Elemente ein Zahlensystem zugeordnet werden, und auf welche Weise das geschieht, ist völlig willkürlich, ebenso wie etwa die Temperaturskala, die wir den Wärmeempfindungen zuordnen, ganz beliebig gewählt werden kann. Heymans wählt nun das Zahlensystem so, daß die Maßzahlen der hypothetischen Bewegungsgefühle sich genau so verhalten, als wenn es gewöhnliche kartesische Koordinaten wären. Hey- mans scheint ganz zu übersehen, daß beliebige andere Zuordnungen den Tatsachen in ebenso vollkommener Weise gerecht werden würden. Er führt den Nachweis, daß in seinem System die Axiome der Geometrie gelten, aber das ist gar nicht verwunderlich, denn die Maßverhältnisse wurden eben so gewählt, daß dies der Fall ist. Die Rechnungen jenes Nachweises entwickeln nur, was in den hinzugefügten Voraussetzungen enthalten ist; mit den Bewegungsempfindungen haben sie gar nichts zu tun und sie lehren nichts über die Struktur der auf ihnen beruhenden Raumanschauung. Wir kommen also zu der Einsicht, daß der kinästhetische Raum ebensowenig wie der Tast- und der Sehraum mit dem physikalisch-objek- tiven Raum identisch ist. Er stellt ein anschauliches Kontinuum dar, dessen Struktur uns Anlaß geben kann zur begrifflichen Konstruktion der objektiven Ordnung der Dinge; seine Daten entsprechen natürlich dieser Ordnung eindeutig, aber darin haben sie vor denen der beiden anderen besprochenen Sinne nichts voraus. Ich glaubte diese Betrachtung der HEYMANs'schen Hypothese hier einfügen zu sollen, weil wir uns an ihr aufs neue den Unterschied deutlich machen können zwischen einer rein begriffhchen Ordnung und einem ihr zugeordneten anschaulichen Gebilde. Schlüsse, die allein aus der ersteren gezogen sind, dürfen nicht verwechselt werden mit Aussagen über das letztere. — Übrigens bin ich mit dem verdienten Philosophen vöUig einer Meinung in bezug auf die Frage nach der objektiven Bedeutung der Raum- anschauung; auch er tritt mit Kant für ihre Subjektivität ein, indem er sich darauf stützt, daß die Raumvorstellung eben nur eine dem Be- wegungssinne anhaftende Eigentümlichkeit sei. Was sich übrigens in Wahrheit über die erkenntnistheoretischen Beziehungen der Bewegungs- empfindungen zum Raumbegriff sagen läßt, ist in unübertrefflicher Weise Die Subjektivität der Sinnesqualitäten und des Raumes. entwickelt worden von H. Poin'CARE („La relativit^ de l'espace". Science et möthode, livre II, chap. I). Fassen wir die gewonnenen Ergebnisse zusammen, so müssen wir sagen — und es wird nun nicht mehr paradox khngen — , daß der physi- kalische Raum, also die räumlichen Eigenschaften der physischen Körper, überhaupt nicht anschaulich vorfftellbar sind. Das heißt: die räumhchen Eigenschaften der Vorstellungsinhalte sind nicht identisch mit denen der physischen Objekte. Die Wahrnehmung, welchem Sinne sie auch angehöre, vermag immer nur den Grund zu liefern, auf dem das be- griffliche Gebäude jenes Raumes errichtet wird. Denken wir uns z. B. einen körperlichen Würfel auf verschiedene Weise der Wahrnehmung dargeboten: visuell, indem wir ihn von einem bestimmten Standpunkt aus beschauen, kinästhetisch, indem wir etwa die Hand oder sonst einen Körperteil an seinen Kanten entlang führen, taktil, indem wir ihn mit irgendwelchen Hautstellen in enge Berührung bringen. Alles dies kann auf beliebig viele verschiedene W^eisen geschehen, und das ergibt unendlich viele anschauliche Daten; ihnen gegenüber ist die objektive Würfelgestalt gleichsam ein Schema, das sie alle auf eine Formel bringt. Dieses Schema enthält von den anschauhchen Daten keines mehr, denn sie hängen samt und sonders von der relativen Position des Würfels zu den peripheren Sinnesorganen ab. Alle diese Abhängig- keiten, denen für die optischen Anschauungen durch die Regeln der Per- spektive Rechnung getragen werden kann, und für die kinästhetischen und taktilen durch analoge, freilich sehr viel schwerer zu formulierende Regeln, sind in jenem Schema vollständig eliminiert. Aus ihm ist die Subjektivität der Raumanschauungen damit ausgemerzt, und es bleibt allein jene objektive Ordnung, die nichts Anschauliches mehr enthält und daher auch nicht mehr als räumhche bezeichnet werden sollte. (Mit den Subjektivitäten, von denen hier die Rede war, ist aus jenem Ordnungs- schema nicht zugleich auch jegliche Relativität ausgeschaltet; es ist als ,, objektives" nicht notwendig zugleich ein schlechthin ,, absolutes". Es können in ihm Relativitäten bestehen bleiben, die auf dem Verhältnis der physischen Körper zueinander beruhen, z. B. der Meßapparate und der gemessenen Körper und Vorgänge. Die hieraus entspringenden Pro- bleme gehören für uns nicht mehr zur allgemeinen Erkenntnistheorie; sie sind in der Naturphilosophie zu behandeln. Dort kann dann auch das Raumproblem erst in seiner Gesamtheit untersucht werden; hier hatten wir es nur mit der Teilfrage zu tun, ob die W'elt der Dinge an sich räumlich ist oder nicht. Für die naturphilosophische Erörterung der Raum- und Zeitfragen darf ich vorläufig auf zwei Abhandlungen verweisen, die ich dem Gegenstande gewidmet habe: ,,Die philosophische Bedeutung des Relativitätsprinzips", Zeitschr. f. Phil. u. phil. Kritik Bd. 159, 191 5; ,,Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik". Berlin 1917.) 224 Die Erkenntnis des Wirklichen. Nach allen diesen Erwägungen befinden wir uns gegenüber der Frage nach der transzendenten Realität des Raumes nunmehr in genau der- selben Lage wie in der Frage nach der transzendenten Existenz der Sinnes- qualitäten. In dem einen wie in dem anderen Falle verwehren uns die gleichen Argumente die Annahme, daß das anschaulich Gegebene nicht nur im Bewußtsein existiere, sondern genau ebenso noch einmal in dem Reiche der Dinge an sich. Es steht für uns fest, daß diese Dinge existieren und sich durch Begriffe bezeichnen lassen, daß aber zu diesen Begriffen nicht diejenigen von Sinnesqualitäten gehören. Sie sind zu der für alle Erkenntnis erforderlichen eindeutigen Bezeichnung untauglich, sie hängen vom Zustande des wahrnehmenden Subjektes ab und verheren ohne ein solches überhaupt alle Bedeutung. Ein transzendentes Ding kann nicht ,,gelb" oder ,,warm" sein. Und ebensowenig und aus denselben Gründen kann es räumlich sein. Denn für die anschauliche Räumlichkeit bestehen ebenso weitgehende Abhängigkeiten und die größten Differenzen für die verschiedenen Sinnesorgane und Individuen. Ja, die Variabilität des an- schaulich Räumlichen an der Wahrnehmungsvorstellung eines Gegen- standes ist noch viel stärker und ausgesprochener als die ihrer sinnlichen Qualitäten, denn die ersteren erfahren eine Modifikation z. B. schon bei geringfügigen Lageänderungen, von denen die Qualitäten nicht merkhch berührt werden: die scheinbare Gestalt der Körper ändert sich mit den äußeren Umständen der Wahrnehmung viel leichter als etwa ihre Farbe. Es ist nun sehr bemerkenswert, aber leicht erklärlich, daß man auf die Subjektivität der Sinnesqualitäten viel früher aufmerksam wurde als auf die der Räumlichkeit, obgleich die letztere noch geringere 'Konstanz aufweist als die ersteren. Nämhch gerade wegen des grenzenlosen Flusses der räumlichen Daten mußte man sich von vornherein, schon im Kindes- alter und vor jeder wissenschaftlichen Ideenbildung, gewöhnen, mit jenem objektiven Ordnungsschema zu arbeiten statt mit den anschaulichen Daten während bei den sinnlichen Qualitäten ein gleiches für die Bedürfnisse des täglichen Lebens nicht möglich und nicht erforderlich war. Was man in den Lehrbüchern der Psychologie meist als die Entstehung der Raum ansc hauung bezeichnet, ist in Wahrheit die Entwicklung der Fähigkeit, jene begriffliche Ordnung auszubilden und richtig anzuwenden. Jede Einzelheit des Ordnungsschemas wird dabei natürlich, wie das bei jedem Begriff sein muß, durch eine anschauliche Vorstellung repräsen- tiert. Weil in dieser Weise schon vom* Beginn der räumlichen Erfah- rung an die anschauliche Räumlichkeit und die begriffliche Ordnung immer füreinander eintraten, wurde zwischen beiden überhaupt nicht unterschieden, und so kam es, daß dem Räumlichen ein fester und ob- jektiver Charakter zugeschrieben wurde, der von Rechts wegen nur dem abstrakten Oidnungsschema gebührte. Sobald man aber diese wichtige und notwendige Unterscheidung einmal mit Strenge getroffen hat, muß man den Gedanken höchst absurd finden, jenes qualitative Moment der Räumlichkeit, das etwa den Gesichts- Die Subjektivität der Sinnesqualitäten und des Raumes. 225 oder den Bewegungsempfindungen anhaftet, existiere auch in den Objekten an sich, wenn niemand sie wahrnimmt. Der Vorstellungsinhalt ,, Aus- dehnung" ist ein anderer für jedes Sinnesorgan und für jede Lage; er kann, ebenso wie die Sinnesqualitäten, nur angesehen werden als eine Eigenschaft der subjektiven Vorstellungen, nicht der objektiven Dinge. Nichts anderes als dies will die Lehre von der Subjektivität des Raumes besagen, das muß man sich vor Augen halten. Die anschauHche Räumlichkeit oder Ausdehnung wird von den Dingen an sich verneint, die Einordnung in die mehrdimensionale Mannigfaltigkeit dagegen, durch die wir die räumlichen Verhältnisse mathematisch darstellen, darf und muß von ihnen bejaht werden. Dieses Resultat läßt sich auch so aus- drücken, daß man mit Störring sagt (Einführung in die Erkenntnis- theorie, S. 223): ,,. . . als transzendent real ist . . . der Raum anzu- setzen, sofern er mathematisch-analytisch bestimmbar ist". Wenn man will, kann man natürlich auch die transzendente Ordnung mit dem Ter- minus ,, räumlich" belegen, oder auch ,,das Räumliche" als das Anschau- liche unterscheiden von ,,dem Räume" als einer begrifflichen Konstruk- tion. Wer den Raum für definierbar hält, wird diese letztere Position einnehmen müssen (dies scheint Wundt zu tun, Logik P, S. 493 ff., dessen Definition allerdings den Mathematiker gar nicht befriedigen kann), nur muß er sich darüber klar sein, daß er dann mit dem Worte ,,Raum" z. B. auch die Mannigfaltigkeit aller Zahlentripel bezeichnet. Dergleichen ist wohl angängig, denn es ist schließlich eine rein terminologische An- gelegenheit, aber der ursprüngliche Sinn des Wortes scheint mir damit doch in unzweckmäßiger Weise verschoben zu sein. Nur Unklarheit über diese Sachlage konnte Anlaß geben zu dem unfruchtbaren Streite, ob der Raum eigentlich Anschauung oder Begriff sei. Wir bleiben wohl am besten dabei, nur die Ordnung des sinnlich-anschaulichen als räumlich und als Raum zu bezeichnen; wo uns diese Worte doch gelegentlich zur Benennung der Ordnung der transzendenten Dinge dienen müssen, soll stets ein näher charakterisierendes Adjektiv hinzugefügt werden, so daß dann von einem transzendenten oder auch objektiven Raum zu reden wäre. Ähnlich nennt Becher, mit dem ich sachlich übereinstimme, die Beziehungen der transzendenten Welt ,,im übertra- genen Sinne räumlich" (Naturphilosophie. S. 178.) Auch die früher von manchen Metaphysikern (z. B. Leibniz, Herbart, Lotze) ange- wandte Bezeichnung ,,intelligibler Raum" würde ganz gut passen. Die Anschaulichkeit und folglich Undefinierbarkeit dessen, was man ursprünglich unter Raum versteht, wird besonders deutlich von Ziehen (Erkenntnistheorie S. 63 ff.) hervorgehoben, der für Räumlichkeit auch den Ausdruck „Lokalität" verwendet. Kant suchte, wie man weiß, durch eine besondere Beweisführung vom Räume darzutun (in der ,, meta- physischen Erörterung dieses Begriffes"), daß er nicht Begriff sei, sondern reine Anschauung. Seine Argumente sind aber für uns bedeutungslos, weil sie auf Voraussetzungen ruhen, die uns fremd sind. Unser Begriff Schlick Erkenntnislehre. ic 226 Die Erkenntnis des Wirklichen. des Anschaulichen deckt sich z. B. gar nicht mit dem, was Kaxt als reine Anschauung bezeichnet. Auch die Gründe, die Kant für die Subjektivität des Raumes an- führt, können wir uns nicht zunutze machen, obwohl wir ja von der Wahr- heit dessen überzeugt sind, was Kant durch sie beweisen will. Sie zer- fallen bekanntlich in zwei Gruppen. Erstens folgerte Kant aus der Apriorität unseres geometrischen Wissens, daß der Raum eine subjektive Anschauungsform sein müsse, denn nur so konnte er sich die Möglichkeit gültiger apodiktischer Aussagen über die Eigenschaften des Raumes er- klären, die, wie er glaubte, den Inhalt der geometrischen Sätze bilden. Es wird sich bald zeigen, daß wir die KANT'sche Ansicht vom Wesen der geometrischen Wahrheiten nicht teilen können, und damit fällt dann die Beweisführung für uns dahin. — Zweitens findet Kant die Gründe für die Subjektivität des Raumes (und der Zeit) in der sogenannten Antinomie der reinen Vernunft. Er meint, die Vernunft verwickle sich bei der Be- trachtung des Weltganzen notwendig in Widersprüche, die dadurch ent- ständen, daß wir Raum und Zeit fälschlich als Bestimmungen der Dinge an sich ansähen. Nun sind jene Widersprüche — außer denen der ,, psycho- logischen Paralogismen" — keineswegs so unvermeidhch, wie es Kant schien; und wären sie es, so müßte immer noch bestritten werden (wie LoTZE das in seiner Metaphysik §§ 105, 106 tat), daß der von ihm an- gegebene Ausweg tatsächlich die Schwierigkeiten überwindet. Auf das Richtige in Kant's Gedanken kommen wir später zurück (unten III, § 32). Mit all diesen berühmten Argumenten der KANT'schen Philosophie können wir also nichts anfangen, so gern wir auch ihr Gewicht auf unserer Seite hätten. Freilich bedürfen wir ihrer auch nicht, denn die voran- gehenden auf psychologischen Einsichten beruhenden Entwicklungen sind, wie ich glaube, für sich allein völlig entscheidend. Ich möchte ihnen jetzt nur noch eine Betrachtung ganz allgemeiner Natur ergänzend hinzufügen. Man muß sich nämlich genau vergegenwärtigen, was es heißt, wenn irgendeinem Bewußtseinsinhalt, mag es eine Sinnesqualität sein oder eine Räumlichkeit, transzendente Realität zugeschrieben werden soll. Es kann nur heißen, daß ein Etwas in der Welt der Dinge an sich existiert, welches einem Etwas in der Bewußtseinswelt in allem vollständig gleicht. Es wärt also ein Gegenstand in zwei oder mehreren Exemplaren da, von denen das eine im Bewußtsein, das andere in der transzendenten Welt sich befände. Ist eine solche Voraussetzung sinnvoll.'' Es gibt nur zwei Möglich- keiten, unter denen sie es ist. Erstens läge in ihr gar nichts Widerspruchsvolles oder Wunder- bares, wenn Bewußtsein und Inhalt des Bewußtseins sich ohne weiteres voneinander trennen ließen. Dann wäre es die natürlichste Sache von der Welt, wenn irgendein Gegenstand das eine Mal als Inhalt des Bewußt- Die Subjektivität der Sinnesqualitäten und des Raumes. 227 seins, das andere Mal von ihm getrennt, also außerhalb desselben, existierte. Sollte dieser Gedanke zu verwerfen sein, so bliebe noch zweitens die Möglichkeit, daß der Gegenstand, wo immer er auf- tritt, stets Inhalt eines Bewußtseins ist. Die zweite Möglichkeit nehmen wir, wie es sich von selbst versteht, überall dort verwirklicht an, wo wir aus empirischen Gründen sowieso das Vorhandensein eines Bewußtseins vorauszusetzen haben. Wenn ein Mitmensch gleich mir zum wolkenlosen Himmel aufblickt, so nehme ich natürlich an, daß auch in seinem Bewußtsein der Inhalt ,,blau", wenn auch nicht in absolut gleicher, so doch in höchst ähnlicher Weise sich vorfindet. In einem Konzertsaal ist jede Tonempfindung in ebenso vielen einander ähnlichen Exemplaren vorhanden, als sich Zuhörer in dem Saal befinden. Darüber ist kein Wort zu verlieren, obgleich die Existenz ahn- hoher Empfindungen in anderen Bewußtseinen sich aus naheliegenden Gründen niemals streng beweisen läßt. Ja, auch im tierischen Bewußt- sein werden wir nicht zögern, Inhalte vorauszusetzen, die den unsrigen ähnhch oder doch wenigstens sehr wohl vergleichbar sind. Also hierum kann es sich nicht handeln, sondern nur um die Frage: Kann irgendein Datum, das innerhalb meines Bewußtseins vorgefunden wird, auch außer- halb desselben vorkommen, ohne doch Inhalt eines anderen indivi- duellen Bewußtseins zu sein.? Es ist bekannt, daß diese Frage von vielen Philosophen bejaht wird, vornehmhch von den Anhängern des ,, objektiven Idealismus". Die funda- mentale Behauptung alles Idealismus lautet: ,, jedes Sein ist Bewußtsein", und so muß er die erste der soeben unterschiedenen beiden Möglichkeiten von vornherein ablehnen und alles Reale als Bewußtseinsinhalt charakteri- sieren, mag es nun einem individuellen Bewußtsein angehören, mag es den Inhalten eines solchen gleichen oder nicht. So wird für den Idealisten die transsubjektive Außenwelt zum Inhalt eines ,, überindividuellen" oder ,, überempirischen" Bewußtseins, eines ,, Bewußtseins überhaupt", einer ,, Weltseele", oder wie man es nennen mag. Und für ihn besteht daher zunächst die Möghchkeit, daß Qualitäten, wie ,,warm", ,,blau", ,, aus- gedehnt" auch außerhalb der individuellen Bewußtseine existieren. Für ihn hat also die Frage, ob die Sinnesqualitäten und der Raum transzendente Reahtät besitzen, ihren guten Sinn; freilich wird er sie auch auf seinem Standpunkte verneinen müssen, denn die hier für ihre Subjektivität ent- wickelten Argumente behalten ihre volle Kraft. Auch für ihn also müssen die transzendenten Quahtäten, obwohl sie ihrer Natur nach Inhalte eines allumfassenden Bewußtseins sind, doch von unseren sinnlichen Erlebnissen recht wesentHch verschieden sein. Aber wir haben natüdich gar keine Veranlassung, uns auf den ideali- stischen Standpunkt zu stellen. Ein Bewußtsein dürfen wir vielmehr in der transzendenten Welt nur dort voraussetzen, wo empirische Gründe uns dazu zwingen, d. h. wo die Beobachtung uns lebendige, womöglich mit einem Nervensystem ausgestattete Organismen zeigt (siehe unten § 34). 228 Die Erkenntnis des Wirklichen. Der Idealist wird nämlich zu seiner Konstruktion des überempirischen Bewußtseins nicht durch irgendwelche besonderen Erfahrungen veranlaßt, sondern nur durch seinen fundamentalen Satz von der Identität des Seins mit dem Bewußtsein. Durch die Betrachtungen des § 25 ist dieser Satz aber widerlegt, und die geschilderte idealistische Ansicht kommt sonach hier für uns gar nicht mehr in Frage. Damit fällt die eine Möglichkeit fort, der Frage nach der transsubjek- tiven Realität von Bewußtseinsqualitäten überhaupt einen Sinn zu geben, und es bleibt nur noch die andere zu untersuchen, die wir vorhin an erster ' Stelle aufgezählt hatten: kann die Behauptung der objektiven Wirklich- keit gegebener Qualitäten den Sinn haben, daß diese Qualitäten, also z. B. ein Blau, ein Kalt, außerhalb jedes Bewußtseins, mithin ,,an sich" existieren, und dabei doch einem Bewußtseinsinhalt Blau oder Kalt wesens- gleich sind.? Wir haben diese Frage eigentHch schon früher beantwortet, als wir uns klar machten (Teil II, § 19), daß sich mit der Unterscheidung des Be- wußtseins von seinen Inhalten kein Sinn verbinden läßt. Das Wort Be- wußtsein in der Bedeutung, welche hier in Frage kommt, ist nur der all- gemeine Name für alles unmittelbar Gegebene. Es bezeichnet also nicht eine Bestimmung, die gleichsam von außen zu dem Gegebenen hinzu- kommt und ihm auch fehlen könnte; ein Etwas, dem sie fehlt, ist mithin dem Gegebenen, Bewußten nicht mehr wesensgleich, sondern etwas anderes. Wenn wir von einem psychischen Inhalt das Bewußtsein fortnehmen, so ist er eben selbst fort. Schwinden des Bewußtseins heißt Schwinden seiner Inhalte. Wir können uns kein Grün vorstellen, das nicht ein gesehenes, d. h. bewußtes Grün wäre, kein Erlebnis, das aufhörte, erlebt zu werden und doch fortführe zu sein. Wollte man sagen, dergleichen könnte doch sein, ohne daß wir es uns vorzustellen vermögen, so vergäße man den Sinn der Frage, denn hier handelt es sich gerade um die Existenz von Gegenständen, die genau s o existieren sollen, w i e wir sie uns vor- stellen. Sobald man sagt, sie seien außerhalb des Bewußtseins in irgend- einer unvorstellbaren Gestalt da, hat man die Frage bereits verneint. Man kann freilich die Theorie aufstellen, und hat es bekanntlich getan, daß z. B. alle Vorstellungen in unserem Geiste dadurch entstehen und vergehen, daß irgendetwas ,,über die Schwelle des Bewußtseins tritt" oder unter dieselbe sinkt, das auch außerhalb des Bewußtseins (als Un- bewußtes) existieren kann . . . aber diese auf- und absteigenden Größen wären dann doch außerhalb des Bewußtseins wesentlich anders als inner- halb, sie wären als Unbewußtes eben nicht mehr die anschaulichen Vor- stellungen, sondern unbekannte hypothetische Gebilde; und die Schwellen- theorie würde diese Wesensverschiedenheit nicht forterklären und auf- heben, sondern nur auf ihre Art darstellen, und zwar durch Metaphern, denen ein eigentlich erklärender Wert nicht innewohnt. Jeder Versuch also, die besprochene Möglichkeit zu denken, stößt auf den Widerspruch des vorgestellten Unvorstellbaren, des unanschaubaren Die Subjektivität der Sinnesqualitäten und des Raumes. 229 Anschaulichen. Die Frage, ob irgendeine bewußte Qualität auch außer- halb des Bewußtseins und dennoch wesensgleich existiere, ist damit ver- neint; die Möglichkeiten, die sie voraussetzen würde, sind als sinnlos er- kannt. Alles AnschauHche, die Sinnesquahtäten, die RäumHchkeit, und was sonst noch dazu gehört, ist eo ipso subjektiv. Es beruht auf einer sinnlosen Fragestellung, wenn man nach seiner Objektivität forscht. Das jenseits des Bewußtseins Befindliche kann nicht in ihm noch einmal un- verändert wiederholt werden. Der Begriff einer ,, adäquaten Erkenntnis", wie er manchen Philosophen vorschwebte, würde übrigens gerade eine solche Wiederholung verlangen, ein ,, Hinüberwandern" der transzendenten Gegenstände ins Bewußtsein (vgl. oben S. 72i)- Man wird bemerkt haben, daß die soeben angestellten Betrachtungen Ähnhchkeit haben mit dem idealistischen Argumente gegen die Trans- zendenz, das wir im § 24 zurückweisen mußten. Sie können in der Tat aufgefaßt werden als der brauchbare Kern, der in jenem Argument ent- halten ist. Es hätten sich wohl kaum so viele scharfsinnige Denker von ihm bezaubern lassen, wenn nicht wirklich eine handgreifliche Wahrheit in ihm steckte. Der Beweis, durch den der Idealist dartun wollte, daß ein Sein außerhalb des Bewußtseins überhaupt nicht möglich wäre, mußte natürlich mißglücken, aber was er in der Tat beweist, ist die Un- möglichkeit eines extramentalen Seins vorstellbarer Gegenstände. Wir entsinnen uns (S. 171 f.), daß die idealistische Argumentation an dem Fehler scheiterte, daß sie Vorstellen und Denken miteinander verwechselte und daher das Unvorstellbare für undenkbar, für unmöglich erklärte. Korrigieren wir diesen Fehler, indem wir Vorstellen (= anschaulich aus- malen) und Denken (= Bezeichnen durch Begriffe) sorgfältig auseinander halten, so werden die Gedanken Berkeley's und seiner Nachfolger dadurch nicht vollständig nichtssagend, wenn sie auch nicht die von ihren Urhebern ihnen zugeschriebene Wahrheit enthalten. Sie drücken dann vielmehr immer noch die andere Wahrheit aus, daß die transzendenten Dinge nicht vorstellbar sind, daß nichts in ihrem Wesen einem Vorstellungsinhalt völlig gleicht, daß mithin alle Bewußtseinsdaten subjektiv sind. Keins von ihnen kann eine einfache Kopie einer transzendenten Größe sein. Die letzteren sind, wie wir es früher ausdrückten, erkennbar aber nicht kennbar. Es ist lehrreich, eine der bekannten FormuHerungen des idealistischen Argumentes unter diesem Gesichtspunkte zu betrachten. Nehmen wir z. B. den Beweis von Julius Bergmann (System des objektiven Idealismus S. 91): ,,Alle Inhalte des Wahrnehmens sind untrennbar von ihrem Wahr- genommenwerden, das Wahrgenommenwerden gehört so zur Natur jeder wahrgenommenen und folglich jeder wahrnehmbaren Bestimmtheit, daß nichts von ihr übrig bleibt, wenn sie aufhört, wahrgenommen zu werden; nun sind alle Bestimmtheiten, die wir im Begiiff des Körpers denken, wahrnehmbar; folghch gehört es zur Natur der Körperwelt, Objekt für ein wahrnehmendes Subjekt zu sein." Durch einfache Zusätze kann man 230 Die Erkenntnis des Wirklichen. das Richtige herausstellen, das in diesen Worten enthalten ist. Gegen die Existenz transzendenter Dinge beweisen sie nichts, denn diese brauchen nimmermehr als wahrnehmbar gedacht werden, d. h. anschaulich vorstell- bar zu sein, für sie gilt der Untersatz nicht; aber die Vorstellungen von ,, Körpern", durch die wir uns die Dinge anschaulich repräsentieren, also die sinnlichen Qualitäten nebst der Ausdehnung, sie gehören in der Tat, auf Grund des Obersatzes, ihrer Natur nach zum Subjekt. Alles Vor- stellbare kann als solches nur Bewußtseinsinhalt sein es ist subjektiv. 29. Die Subjektivität der Zeit. \on all den Gründen, welche die Subjektivität der RäumHchkeit über allen Zweifel erheben,, behält für die anschauliche Zeitlichkeit der zuletzt dargelegte seine volle Kraft. Denn — im vorigen Paragraphen haben wir es schon erörtert — das spezifische Moment der Zeitlichkeit, durch welches sich die Zeit von jedem andern eindimensionalen Kontinuum unterscheidet, ist eben etwas rein Anschauliches, nicht begriffhch Definier- bares, im Erlebnis des Bewußtseins ist es unmittelbar gegeben. Damit ist nach dem Gesagten seine Subjektivität sicher gestellt. Die übrigen beim Räume ins Feld geführten Gründe kommen im allgemeinen bei der Zeit nicht in Betracht. Die Zeitlichkeit unterscheidet sich von der Räumlichkeit sehr wesentlich dadurch, daß sie nicht wie die letztere nur ein Inbegriff gewisser Eigenschaften ist, die für die Daten der einzelnen Sinne ganz verschieden sind, aber sich alle auf eine und dieselbe objektive Ordnung beziehen lassen, sondern bei der Zeit handelt CS sich zweifellos um eine einzige Eigenschaft, die allen Erlebnissen anhaftet. Deshalb ist es auch höchst irreführend, wenn man, wie Mach das tut (Analyse der Empfindungen XII), von einer Zeitempfindung spricht, denn von einer Empfindung kann man nur in bezug auf ein be- stimmtes Sinnesorgan reden. Sehr richtig sagt Hume (Treatise of human nature, book I, part II, section III): ,,Five notes played on a flute give US the impression and idea of time, though time be not a sixth Impression which presents itself to the hearing or any other of the senses. Nor is it a sixth impression which the mind by reflection finds in itself." Sachlich scheinen mir übrigens auch Mach's Ausführungen insofern zutreffend zu sein, als auch aus ihnen klar wird, daß Zeitlichkeit zu dem unmittelbar anschaulichen Erleben gehört; nur bezeichnet er unzweckmäßigerweise das letztere durchgehends als Empfinden. Wenn ich einen Ton höre, so be- steht die Wahrnehmung nicht aus der Wahrnehmung des Tones plus der Empfindung der Dauer, sondern die Dauer ist mit der Tonwahrnehmung ebenso unabtrennbar verknüpft wie die Höhe und die Intensität des Tones. Und natürlich nicht nur den Empfindungen, sondern, wie gesagt, allen Erlebnissen haftet die Dauer als eine Eigenschaft an; nicht irgend ein Sinnesorgan empfindet Zeit, sondern das ganze Ich erlebt sie. Das wird uns nicht wundernehmen, wenn wir uns an die eigentümliche Rolle Die Subjektivität der Zeit. 231 erinnern, welche die Zeitlichkeit für die Einheit des Bewußtseins spielte, in der man das Wesentliche des individuellen Ich überhaupt erblicken muß (vgl. oben Teil II, § 16). Der Erinnerungszusammenhang, der die Einheit des Bewußtseins konstituiert, ist eben ein zeitlicher; jene eigen- tümhche Verknüpfung, die im Bewußtsein Vergangenheit und Zukunft durch die Gegenwart verkettet, scheint die Zeitlichkeit und die Einheit des Bewußtseins gleichermaßen zu begründen. Ob sich über diese letzten Zusammenhänge je etwas Näheres wird sagen lassen, muß dahingestellt bleiben; hier kann der Hinweis auf das besondere Verhältnis der Bewußt- seinseinheit zur Zeit nur wiederum dazu dienen, den Satz ,, außerhalb des Bewußtseins gibt es keine Zeitlichkeit" noch natürlicher und weniger paradox erscheinen zu lassen. Die angedeuteten Unterschiede zwischen der räumlichen und der zeit- lichen Anschauung haben manche Denker dazu geführt, der Zeit die trans- zendente Bedeutung zuzugestehen, die sie dem Räume absprachen. So bekanntlich Lotze (wenigstens auf dem Standpunkt, den er in seiner ,, Metaphysik" einnimmt); ihm hat sich in der Gegenwart unter BiUigung seiner Argumente Störring angeschlossen (Einführung in die Erkenntnis- theorie S. 250 f.). Was Lotze's Gründe wirklich beweisen, ist aber nur die Existenz eines transzendenten Korrelates der zeitlichen Ordnung; die Annahme einer solchen versteht sich jedoch für uns von selbst aus denselben Gründen, welche die Setzung einer extramentalen Ordnung er- forderten, die der Räumhchkeit entspricht. Wenn übrigens auch das Erleben der Zeit nicht auf verschiedenen Sinnesgebieten verschieden - ist, wie dasjenige des Raumes, so gibt es dennoch innerhalb seiner eine VariabiHtät, die einer objektiven Bedeutung der Zeitanschauung widersprechen würde. Vorgänge, denen ,, objektiv" gleiche Dauer zugeschrieben wird, können sich doch mit verschiedenen Zeitlichkeitserlebnissen verbinden; eine Stunde schleicht träge dahin oder saust im Fluge vorbei, je nachdem, ob sie mit langweiligem oder mit interessantem Inhalt erfüllt ist. Im Prinzip besteht keine Grenze für die Variabihtät der Geschwindigkeit, welche ein Bewußtsein vermöge seiner verschiedenen Zeitanschauung dem Ablauf der Vorgänge subjektiv zu- schreibt. In besonders lebendiger Weise hat der Naturforscher K. E. v. Baer (Welche Auffassung der lebenden Natur ist die richtige.? 1862) die Ver- schiedenheit der Weltbilder ausgemalt, die sich für ein Wesen ergeben, je nachdem sich bei ihm eine große Mannigfaltigkeit von Erlebnissen auf einen für uns kurzen Zeitraum zusammendrängen, oder umgekehrt ein erlebnisarmes Dasein eine ,, lange" Zeitdauer in Anspruch nimmt. Diese Ausführungen sind oft von philosophischer Seite zitiert worden (z. B. Liebmann, Heymans, Störring). Drängte sich etwa unser ganzes Leben, ohne doch subjektiv kürzer zu erscheinen, auf eine halbe Stunde zusammen, so würden die Pflanzen für uns so unveränderhch sein wie jetzt die Berge, der Lauf der Jahreszeiten wäre unseren fernsten geologi- schen Epochen vergleichbar; und wer den Untergang der Sonne erlebte, 232 Die Erkenntnis des Wirklichen. dem würden nur die Geschichtsbücher längst vergangener Zeiten ver- künden, daß sie einst auch aufging. Wenn also ein und dieselbe objektive Zeit auf so viele ganz ver- schiedene Weisen erlebt werden kann — welche soll dann als transzendent real gelten: unsere Zeitanschauung oder etwa die eines Vogels, dessen Pulsschlag soviel schneller ist als der menschliche, oder die einer Eintags- fliege, oder die eines Wesens, ,,vor dem tausend Jahre sind wie ein Tag".? Keine ist vor der andern ausgezeichnet und es wird ganz unmöglich, irgend- einem anschauHchen Zeiterlebnis eine andere als subjektive Bedeutung zu- zuschreiben. Ein objektiver Verlauf der Vorgänge dürfte weder schnell noch langsam sein; diese relativen Begriffe müßten für ihn ihren Sinn verlieren. Deshalb kann er überhaupt nicht zeitlich im anschaulichen Sinne sein, sondern die transzendente Ordnung, in welcher er besteht, ist unvorstellbar. Denn das darf man nie aus dem Auge verlieren: wenn die Zeitlich- keit der transzendenten Welt abgesprochen wird, so ist ihre Zeitlosigkeit nicht so zu verstehen, als ob die Begriffe, durch die wir alle Erfahrungen zeitUch einordnen, nicht auch anwendbar wären auf jene Welt; sondern es bedeutet nur, daß sie in ihrer transzendenten Anwendung nicht den anschaulichen Inhalt haben, den bei ihrem immanenten Gebrauch eben die ZeitUchkeit bildet. Auch von Gegenständen jenseits des Bewußtseins kann z. B. ausgesagt werden, daß sie ,, nacheinander" sind, aber damit wird ihnen nicht jenes spezifisch anschauliche Moment beigelegt, welches die Ordnung der Zeitpunkte z. B. unterscheidet von der Ordnung der Raumpunkte auf einer Linie, die doch auch ,, nacheinander" folgen, aber eben in einem anderen Sinne, der auch nur erlebt werden, nicht begrifflich abgegrenzt werden kann. Das transzendente Korrelat des zeithchen wie des räumlichen Nacheinander ist eben gleicherweise eine unanschauliche Ordnung, die wir aber mit Hilfe unserer Zahlbegriffe erschöpfend erkennen können. Wenn es noch einer Bestätigung dafür bedürfte, daß die ZeitHchkeit vor der Räumlichkeit hinsichtlich ihrer objektiven Geltung nichts voraus hat, so können wir ein Anzeichen dafür erblicken in neueren Ergebnissen der exakten Naturwissenschaft. In der sogenannten Relativitätstheorie ist es nämlich der modernen Physik gelungen, die gesamte räumlich-zeit- Hche Ordnung der Welt mathematisch durch ein vierdimensionales Bezugs- system darzustellen, in welchem rein formal betrachtet die zeitliche Ord- nung der räumlichen gegenüber keine ausgezeichnete Rolle mehr spielt. Man kann den Gleichungen aller Naturgesetze eine solche Form geben, daß die ^eitgrößen in genau derselben Form in sie eingehen wie die Raum- koordinaten. Abgesehen von einem imaginären Faktor tritt die Zeit in jenen Gleichungen in völlig der gleichen Weise auf wie eine Raumstrecke; sie stellt daher, mit diesem Faktor multipliziert, einfach eine vierte, von den drei übrigen Raumkoordinaten nicht unterscheidbare Koordinate dar. Das ist ein Anzeichen dafür, daß die transzendente Ordnung, welche der Quantitative und qualitative Erkenntnis. 233 Zeit entspricht, in allen Stücken vollkommen analog ist derjenigen, die der räumlichen zugrunde liegt. Diese durch die Relativitätstheorie aufgedeckten Verhältnisse sind vorzüglich geeignet, den Blick zu weiten und dadurch manches Vorurteil aus dem Wege zu räumen, das der Einsicht in die Subjektivität von Raum und Zeit hinderlich sein möchte. Im übrigen sind ihr aber unmittelbar neue Argumente (deren es ja auch nicht bedarf) für diese Lehre nicht zu entnehmen. Denn die neuen Ideen, welche die physikalische Theorie ent- wickelt hat, beziehen sich allein auf die Messung der Zeit, sie haben es nur mit solchen Eigenschaften der zeitlichen Ordnung zu tun, über die uns die unmittelbare Zeitanschauung ^) überhaupt nichts lehrt. Mit einer kurzen terminologischen Bemerkung möchte ich diese Be- trachtungen abschließen. Man redet häufig von der Idealität der Zeit und des Raumes und meint damit dasselbe, was wir hier als Subjek- tivität bezeichnet haben. Der Sprachgebrauch geht auf Kant zurück. Viele Autoren folgen ihm und bezeichnen überhaupt die Wirklichkeit alles dessen, was nur zum Bewußtsein gehört, als ideales Sein. Diese Ausdrucksweise haben wir absichtlich vermieden. Von jeher ist nämlich das Wort ideal im Sinne eines Gegensatzes zu real gebraucht worden, und in der Tat wird denn auch von jenen Autoren das transzendente Sein ausdrücklich als das realfe dem idealen Sein der Bewußtseinsinhalte gegen- über gestellt (vgl. z. B. B. Erdmann, Logik P, S. 138). Damit sind dann terminologisch zwei verschiedene Arten von Wirklichkeit eingeführt. Die Gründe, warum wir uns dieser Bezeichnungsweise nicht anschließen können, sind bereits früher (§ 26) auseinandergesetzt worden. Es wird der Anschein erweckt, als solle dem idealen Sein, den gegebenen Bewußt- seinsinhalten, eine niedere Stufe der Wirklichkeit zugeschrieben werden gegenüber der transzendenten Realität. Selbst wenn dieser Gedanke den Benutzern jener Terminologie ganz fern liegt, kann er doch zur Quelle von Mißverständnissen werden. Die Ordnung der transzendenten Dinge ist um nichts realer als die Ordnung der Bewußtseinsinhalte, welche Raum und Zeit heißt; deswegen vermeiden wir es, die letztere als ideal zu bezeichnen. 30. Quantitative und qualitative Erkenntnis. Die Ordnung unserer Bewußtseinsinhalte in Raum und Zeit ist zu- gleich das Mittel, durch welches wir die transzendente Ordnung der Dinge jenseits des Bewußtseins bestimmen lernen; und diese Einordnung ist der wichtigste Schritt zu ihrer Erkenntnis. Wir müssen uns genau Rechen- schaft darüber geben, auf welche Weise dieser Schritt vollzogen wird. ^) Wie ich. an anderer Stelle zeigte (Zeitschr. f. Phil. Bd. 159. S. 143). 234 ^^^ Erkenntnis des Wirklichen. Die Hauptpunkte, die dabei in Betracht kommen, haben wir schon früher dargelegt, nämhch im ersten Teil, § 9. Dort sahen wir, daß die Identitätssetzung, in welcher jede Erkenntnis besteht, für die äußeren Dinge eine Lokahsation an demselben Raum- und Zeitpunkt bedeutet. Alles in der Außenwelt (so sagten wir S. 50) ist an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit; und das eine im anderen wiederfinden heißt in letzter Linie stets: beidem denselben Ort zur selben Zeit anweisen. Wir müssen jetzt diese Bestimmung dahin präzisieren, daß unter den Ausdrücken Raum und Zeit hier die tranezendente Ordnung der Dinge zu verstehen ist. Damals konnten wir auf den Unterschied gegenüber der anschaulichen Bedeutung dieser Worte noch nicht aufmerksam machen, aber wir deuteten doch kurz an (S. 49), daß die Ortsbestimmung der objektiven Gegenstände sich nicht auf den Gesichts- oder Tast- oder sonst einen anschaulichen Raum beziehe, sondern auf ein durch Begriffe zu denkendes Korrelat. Es gilt nun, sich darüber klar zu werden, wie man von der anschau- lichen räumhch-zeitlichen Ordnung zur Konstruktion der transzendenten gelangt. Es geschieht immer nach derselben Methode, die wir als die Methode der Koinzidenzen bezeichnen können. Sie ist er- kenntnistheoretisch von der allerhöchsten W^ichtigkeit. Wenn ich meinen Bleistift von verschiedenen Seiten betrachte, so ist (vgl. oben § 24) kein einziger der Elementenkomplexe, die ich dabei erlebe, selber der Bleistift, sondern dieser ist ein von rhnen allen verschiedener Gegenstand, durchaus ein ,,Ding an sich" im KANx'schen Sinne. Alle jene Komplexe, von Beleuchtung, Entfernung usw. abhängig, repräsen- tieren mir nur den Gegenstand, d. h. sie sind ihm zugeordnet. Die Einzel- heiten ihrer Beziehung zu ihm können Physik und Physiologie erst be- stimmen, wenn über die Eigenschaften des Gegenstandes Näheres ermittelt ist, d. h. wenn es gelungen ist, ihn durch Bezeichnung mittels allgemeiner Begriffe in der früher (s. S. 55) beschriebenen Art einzuzirkeln. Die wichtigste Rolle spielen dabei, wie gesagt, diejenigen Ordnungsbegriffe, welche ihm seinen Platz in dem transzendenten Schema anweisen. Berühre ich die Bleistiftspitze, während ich sie anblicke, mit dem Finger, so tritt in meinem Gesichts- und in meinem Tastraume zu gleicher Zeit eine Singularität auf: am Finger stellt sich plötzlich eine Tastempfin- dung ein und die Gesichtswahrnehmungen des Fingers und des Stiftes haben plötzlich ein räumhches Datum — den Berührungspunkt — ge- meinsam. Diese beiden Erlebnisse, die ja ganz disparat sind, werden nun einem und demselben ,, Punkte" des transzendenten Raumes zugeordnet: es ist der Berührungspunkt der beiden Dinge ,, Finger" und ,, Bleistift". Beide Erlebnisse gehören verschiedenen Sinnesgebieten an und haben gar keine Ähnlichkeit miteinander, aber es ist ihnen gemeinsam, daß sie Singularitäten, Ünstetigkeiten in dem in ihrer Umgebung sonst stetigen Felde der Wahrnehmungen darstellen. Dadurch werden sie aus ihm Quantitative und qualitative Erkenntnis. 235 hervorgehoben, ausgezeichnet. So können sie aufeinander bezogen und demselben objektiven Punkte zugeordnet werden. Ein klares Beispiel für diesen Prozeß, durch den die transzendente Ordnung erkannt wird, finden wir in den in der philosophischen Literatur oft zitierten Berichten über die Erfahrungen operierter Blindgeborener (DuFAUR, Archives des sciences physiques et naturelles, Tome 58, p. 232). Danach lernte ein solcher ein rundes Stück Papier von einem recht- eckigen visuell dadurch unterscheiden, daß das letztere singulare Punkte, Unstetigkeiten aufwies ("nämlich die vier Ecken), das erstere nicht. Er kannte Kreis und Rechteck bis dahin nur aus Tasterlebnissen, und diese waren beim Kreis stetig, beim Rechteck enthielten sie vier Singularitäten. Vermöge dieser Gemeinsamkeit wurden die neuen Gesichtswahrnehmungen richtig auf die vertrauten Tastwahrnehmungen bezogen und daher zu- treffend gedeutet. Nicht nur die Empfindungen verschiedener Sinnesgebiete, sondern auch verschiedener Individuen dienen in gleicher Weise zur Bestimmung des transzendenten Ordnungsschemas. Wenn ich ein größeres Auditorium auf einen Punkt einer an der Tafel gezeichneten Figur aufmerksam machen will, so lege ich meine Fingerspitze an die betreffende Stelle; und obgleich dabei jeder Zuhörer eine mehr oder weniger verschiedene Gesichtswahr- nehmung hat, ist ihnen allen doch ein Zusammenfallen der Fingerspitze mit dem Tafelpunkte gemeinsam. Diese beiden Objekte, vorher verschieden lokalisiert, erhalten durch meine Geste dasselbe Lokalzeichen. Darin spricht sich die Eindeutigkeit der Zuordnung aus, ohne welche es die transzendente Ordnung des objektiven Raumes nicht gäbe. Zwei Wahrnehmungsgegen- stände, die im Gesichts- oder Tastraum sich berühren (ein Lokalzeichen gemeinsam haben), müssen transzendenten Dingen entsprechen, die in dem objektiven Ordnungsschema einen ,, Punkt" gemeinsam haben, denn sonst würden einem und demselben Orte eines Wahrnehmungsraumes, zwei Orte des transzendenten Raumes zugeordnet sein, was der Eindeutig- keit widerspräche. Die gesamte Einordnung der Dinge geschieht nun einzig dadurch, daß man derartige Koinzidenzen herstellt. Man bringt (meist optisch) zwei Punkte zur Deckung miteinander und schafft dadurch Singularitäten, indem man die Orte zweier sonst getrennter Elemente zusammenfallen läßt. Auf diese Weise wird ein System von ausgezeichneten Stellen, dis- kreten Orten in dem transzendenten Raum-Zeit-Schema definiert, die be- liebig vermehrt und in Gedanken zu einer kontinuierhchen Mannigfaltig- keit ergänzt werden können, welche dann eine restlos vollständige Ein- ordnung aller räumlichen Gegenstände gestattet. Natürlich ist diese Einordnung relativ, da sie sich ja auf das gegen- seitige Verhältnis der Körper gründet (das transzendente Raum-Zeit- Schema ist also nicht etwas ,, Absolutes", unabhängig von den Dingen Existierendes); dadurch wird aber ihrer Objektivität kein Abbruch getan, denn sie kann jederzeit für jeden Beobachter vollkommen eindeutig kon- 236 Die Erkenntnis des Wirklichen. struiert werden, sobald das zugrunde gelegte Bezugssystem angegeben wird. Jede Orts- und Zeitbestimmung geschieht durch Messung, und alles Messen, vom primitivsten bis zum entwickeltsten, beruht auf Beob- achtungen raumzeitlicher Koinzidenzen, wie sie soeben geschildert wurden. Bei den genauen wissenschaftlichen Bestimmungen läßt sich das am leichtesten verfolgen. Jede exakte Messung besteht in letzter Linie immer und ausschließlich in der Vergleichung zweier Körper miteinander, nämlich im Anlegen eines Maßstabes an ein zu messendes Objekt, wodurch gewisse Marken des ersteren (z. B. Skalenstriche) mit bestimmten Punkten des letzteren zur Koinzidenz gebracht werden. Alle Meßinstrumente, welcher Konstruktion sie auch sein mögen, wenden dies Verfahren an. Das Meter- maß des Schneiders, das an das Tuch hintereinander angelegt wird, beruht ebensowohl auf diesem Prinzip wie etwa das Thermometer des Physikers, in welchem das Ende der Quecksilbersäule einen bestimmten Skalenstrich erreicht. Bei den meisten Instrumenten ist es ein Zeiger, dessen Zu- sammenfallen mit einer bestimmten Stelle oder Ziffer beobachtet wird. So auch bei der Uhr; und es ist wohl zu beachten und für die Theorie von Raum und Zeit sehr wichtig, daß auch die Zeit selber nicht anders gemessen wird als durch die Beobachtung räumlicher Koinzidenzen. (Ein anderer Umstand, der naturphilosophisch von der größten Be- deutung ist, soll hier nur angedeutet, nicht näher verfolgt werden: Das Vergleichen zweier Körper wird zur wahrhaften Messung erst unter der Voraussetzung, daß es einen Sinn hat, von dem Abstand zweier Punkte eines Körpers, z. B. der Länge eines Stabes, als von einer Größe zu reden, die ihm unabhängig von seinem Orte und seiner Lage zugeschrieben werden kann, denn nur so wird es möglich, verschiedene Strecken durch Anlegung eines Maßstabes miteinander zu vergleichen, die Teile einer Skala einander gleich zu machen und anzugeben, wie oft eine bestimmte Strecke (die Maßeinheit) in einer anderen enthalten ist. Veränderte sich nämlich der Maßstab bei seinem Transport von Ort zu Ort in unbekannter Weise, so hätte es keinen angebbaren Sinn mehr, von gleichen Abständen an verschiedenen Orten zu sprechen.) Da alles exakte Messen auf Feststellung von Koinzidenzen der ge- schilderten Art hinausläuft, so sind ganz unmittelbar nur Strecken meßbar, und diese keineswegs alle, denn oft ist es praktisch unmöglich, sich der zu messenden Entfernung mit einem Maßstabe zu nahen; der Abstand des Mondes von der Erde z. B. kann nur indirekt ermittelt werden. Seine Größe läßt sich aber mit Hilfe rein mathematischer Relationen aus direkt gemessenen Größen ableiten. Die Theorie der geometrischen Er- kenntnis zeigt (auf den Beweis können wir hier nicht eingehen), daß dies auf rein analytischem Wege geschieht; es bedarf dazu neben den (soeben angedeuteten) zu jeder Messung erforderiichen Voraussetzungen keiner prinzipiell neuen Annahmen. Die indirekte Messung räumhcher Größen schließt also kein neues Problem ein; es ist im Prinzip — mithin Quantitative und qualitative Erkenntnis. 237 für unsere erkenntnistheoretischen Betrachtungen — ganz dasselbe, ob ich z. B. die Länge des Erdmeridians unmittelbar feststellen kann durch Anlegen einer Meßkette, oder ob ich sie nur indirekt durch ein Netz trigono- metrischer Dreiecke ermittele. Aber auch außerhalb der exakten Wissenschaften läßt sich jede be- liebige raumzeitliche Einordnung prinzipiell auf dieselben Grundlagen zurückführen. Denn jede Ortsangabe im Leben geschieht durch Daten, die auf ungefähren Koinzidenzen beruhen und solche wiederum ermög- lichen; und das gleiche gilt von allen Zeitbestimmungen im Leben des einzelnen wie in der Geschichte: begnügt man sich da auch mit ungefähren Angaben nach Jahren, Monaten, Tagen usw., so sind doch auch dies alles Begriffe, die in letzter Linie nur durch den Lauf der Gestirne und ihr Zusammenfallen mit gewissen Orten (Meridian, Frühlingspunkt usw.) fest- gelegt sind. Was ist nun durch die Einfügung der Dinge in die transzendente Ordnung erreicht.'' Ein ganz gewaltiger Erkenntnisfortschritt. Erkennen heißt Wieder- finden des einen im anderen. In den bunten, vielgestaltigen Verhältnissen der Erlebnisse verschiedener Individuen (und eines Individuums unter verschiedenen Umständen) ist durch die beschriebenen Methoden eine und dieselbe gemeinsame Ordnung aufgefunden, in der Fülle und dem Gewirr der subjektiven Daten ist die eine objektive Welt entdeckt. Es sind identisch dieselben Gegenstände jener Welt, die in den verschiedensten Beziehungen zu den Elementen der Bewußtseinswelt wiedergefunden werden. Denn die Begriffe der transzendenten Gegenstände sind definiert durch Beziehungen, durch Zuordnung zu Gegebenem. Es ist derselbe Bleistift, der sich in Berührung mit meiner rechten Hand befindet, in be- stimmter Entfernung von meiner linken, in gewissen Abständen von meinen beiden Augen usw. Wir haben früher gesehen (Teil I, § 9), daß in jedem Urteil eine Iden- titätssetzung stattfindet, weil es nämlich dasjenige, was da erkannt wird, identisch setzt mit demjenigen, als was es erkannt wird; und wir fanden dort, daß eine wirklich vollständige Identifizierung, ohne welche eine Er- kenntnis eben überhaupt nicht vorhegt, bei realen Gegenständen haupt- sächhch da möglich wird, wo einer der in eins gesetzten Gegenstände, oder beide, als Ghed einer Beziehung definiert ist. Bei der Ordnuug der objektiven Welt haben wir es nun mit diesem Fall zu tun; zu allen anderen Gegenständen in ihr steht ein durch jene Ordnung bestimmtes Objekt in verschiedenen raumzeitlichen Beziehungen, und es tritt in allen diesen Relationen als ein und dasselbe auf, es wird in jeder von ihnen als eins ihrer Gheder wiedergefunden. So wird die Einfügung in das transzendente Ordnungsschema zu einem Wiederfinden der identischen Gegenstände in den mannigfaltigsten Relationen; und das würde einen ungeheuren Erkenntnisfortschritt auch dann bedeuten, wenn jene Rela- 238 Die Erkenntnis des Wirklichen. tionen qualitativ ganz und gar voneinander verschieden wären und in keiner Weise aufeinander zurückgeführt werden könnten. In Wahrheit aber sind jene objektiven Relationen qualitativ völlig gleichartig; alle ihre Unterschiede werden als rein quantitative aufgedeckt und damit aufeinander zurückführbar. W'ir wollen uns genauer klar machen, was das heißt, und welche un- geheure Bedeutung diesem Faktum für unsere Erkenntnis zugemessen werden muß. Jede 'Beziehung der fraglichen Art wird bestimmt durch die Angabe einer Anzahl von Größen (die Lage eines Punktes z. B. durch drei Raum- koordinaten und die Zeit), und zwar vermöge der geschilderten Meß- methoden in letzter Linie durch die Angabe der Länge von Strecken. Die Länge einer Strecke aber ist die Zahl der in ihr enthaltenen Einheiten. Strecken sind extensive Größen, sie sind teilbar, sie bauen sich auf aus lauter gleichen Teilen; ein und dieselbe Längen- einheit wird in allen Längen wiedergefunden, nur in verschiedener Anzahl. So werden sie quantitativ aufeinander zurückgeführt und es gibt keine vollkommenere Art der Erkenntnis. Denn das Wiederfinden des einen Gegenstandes im anderen findet am vollkom- mensten da statt, wo der letztere eine bloße Summe von lauter gleichen Elxemplaren des ersteren ist. Das gehört eben zum Begriff der Summe, daß die Summanden vollständig und unverändert in sie eingehen, daß also der Summand innerhalb der Summe identisch dasselbe bleibt wie außerhalb ihrer. Jede Zahl kann als Summe von Einsen aufgefaßt werden, und so drückt jede Zahl in ihrer Anwendung auf die Wirklichkeit bereits eine Erkenntnis aus, die Erkenntnis nämlich, daß die Einheit in der gemessenen Größe so oft wiedergefunden wurde, wie es eben die Zahl angibt. Das Wesen der quantitativen Erkenntnis besteht also darin, daß sie den erkannten Gegenstand in eine Summe von Einheiten auflöst, welche unverändert und unter sich völlig gleich in ihm wiedergefunden und gezählt werden können. Auf diese Weise werden zunächst alle räumlichen Größen (Strecken, Winkel, Volumina usw.) und sodann (durch Vermittlung des Geschwindig- keitsbegriffs) die Zeitstrecken der Herrschaft der Zahl unterworfen. Alle Relationen der objektiven raumzeitlichen Ordnung werden auf eine bloße Zählung von Einheiten und damit aufeinander zurückgeführt. Von den a n s c h a u 1 i c h e n Raum-Zeit-Verhältnissen gilt dies natürlich nicht; für die Anschauung sind die verschiedenen Lage- und Zeitrelationen im allgemeinen durchaus qualitativ verschieden; eine horizontale und eine vertikale Strecke, eine rechts gelegene und eine links gelegene z. B. sind anschaulich meist keineswegs von gleicher Qualität. Die Zahlbegriffe und damit die quantitative Erkenntnis beziehen sich vielmehr durchaus auf die transzendente Ordnung. Es ist von höchster Wichtigkeit, dies zu bemerken: die objektive Welt ist der Gegenstand der quantita- tiven Erkenntnis. Alle Zahlen der Naturwissenschaft bezeichnen direkt Quantitative und quali tative Erkenntnis. 239 nicht etwa Beziehungen zwischen unmittelbar gegebenen Elementen, sondern zwischen transzendenten Größen, deren objektiver ,,Ort" durch Zuordnung zu Koinzidenzerlebnissen definiert ist. Mit Hilfe dieser Methode kann jeder dieser „Orte" oder ,, Punkte" des objektiven Ordnungssystems (jeder ,, Weltpunkt" in der Sprache der modernen Physik) durch vier Zahlenangaben bezeichnet werden, und jenes System in seiner Gesamtheit läßt sich auffassen als der Inbegriff aller Zahlenquadrupel. Diese vier Zahlen brauchen natürlich nicht selbst Strecken zu bedeuten, nur muß ihr Wert in letzter Linie durch Streckenmessung festgestellt werden. Durch die Methode der Koinzidenzen werden Strecken in Einheiten zerlegt, und die Zählung der Einheiten macht dann aus, was wir Messung nennen. So hält die Zahl und damit der Begriff der Quantität seinen Einzug in unsere Erkenntnis. Wenn es solchergestalt möglich ist, die Welt der Dinge durch ein Zahlensystem zu beherrschen, so verdanken wir das durchaus unseren räumlichen Erfahrungen, denn in ihnen findet ja das Erlebnis der Koinzidenzen statt. Wir haben früher gesehen (Teil II, § 17), daß im stetigen Fluß der Bewußtseinsprozesse ein exaktes Denken nur zustande kommt durch Auf- findung des Diskreten im Kontinuierlichen; jetzt bemerken wir, daß das gleiche noch einmal im engeren Sinne gilt für jede exakte Erkenntnis der Dinge, denn das Prinzip der Koinzidenzen beruht ja gleichfalls auf dem Herausheben des Diskreten, unstetigen aus dem kontinuierlichen Wahr- nehmungsverlauf. So ist für die raumzeithche Ordnung der Dinge die Erkenntnis auf die vollkommenste, nämlich quantitative Weise im Prinzip erreicht. Aber nun kommt die Frage: W a s ist es denn nun, das in dieser raumzeithchen Ordnung steht? Das heißt: durch welche Begriffe lassen sich die in jenem Ordnungsschema untergebrachten Gegenstände außerdem noch bezeichnen.? Zunächst: Auf welchem Wege gelangen wir überhaupt zu einer solchen Bezeichnung? Es gibt nur eine Möglichkeit: Wir müssen die Bezie- hungen benutzen, durch die jene Gegenstände uns definiert sind. Denn sie sind uns ja nicht bekannt, nicht gegeben, sondern wir gelangen zu ihrer Setzung als WirkHchkeiten (wie oben, Teil III A ausgeführt) erst durch die Statuierung von Beziehungen, von gewissen Zuordnungen zum Gegebenen. Der Bleistift hat nicht nur einen bestimmten Platz im optischen oder haptischen Anschauungsraum, sondern im ersteren auch eine bestimmte Farbe. Ist es möglich, diese Farbe selbst als dasjenige aufzufassen, das in dem transzendenten Ordnungssystem an dem ,,Orte" des objektiven Gegenstandes ,, Bleistift" lokahsiert werden muß? Wir haben gesehen, daß das nicht möglich ist. Die Farben als Sinnesqualitäten sind subjektiv, sie gehören in den Anschauungsraum des Gesichtes, nicht in den objek- tiven Raum der Dinge. Also unter den Begriff ,,gelb" kann der objektiv existierende Bleistift nicht subsumiert werden. Man braucht aber doch 240 Die Erkenntnis des Wirklichen. irgendeinen Begriff, um eine eindeutige Bezeichnung ausführen zu können; und da bietet sich zunächst nur die MögHchkeit, an dem Orte der Bleistift- oberfläche eine unbekannte Qualität anzunehmen (die dann als seine „Eigenschaft" zu bezeichnen wäre), welcher ich das Gelb meines Bewußt- seinsinhaltes zuordne, so wie ich dem visuell anschaulichen Platz des Gelb einen bestimmten transzendenten Ort entsprechen lasse. Und nun muß ich dieser selben Qualität auch die Farben zuordnen, welche alle anderen Individuen an ihren ,, Bleistiftwahrnehmungen" erleben. Ob diese Farberlebnisse den meinen gleich sind oder nicht, ist irrelevant und über- haupt auf ewig unentscheidbar. Nur darauf kommt es an, daß die Zu- ordnungen eindeutig zu bewerkstelhgen sind; und das ist immer möglich, wenn man berücksichtigt, daß jedes der wahrnehmenden Individuen zu dem Bleistift in anderen Beziehungen steht als die übrigen, so daß alle Differenzen in ihren Aussagen durch die Verschiedenheit jener Beziehungen (bedingt durch ihren Standort und die Beschaffenheit ihrer nervösen Organe) erklärt werden können. Folgendes läßt sich schon ganz allgemein feststellen. Wenn ich einen zweiten Bleistift von genau gleicher Fabrikation daneben halte, der also für mich dieselbe Farbe hat wie der erste, so fällen alle anderen Beschauer ebenfalls das Urteil: ,,die Farben der beiden sind gleich". Ferner wird ein Individuum, das die fragliche Farbe einmal mit dem Namen ,,gelb" bezeichnete, sie unter genau den gleichen Umständen immer wieder mit demselben Namen benennen; bei völHger Dunkelheit werden alle Beob- achter aussagen, daß der Bleistift ihnen überhaupt durch kein Farberlebnis gegeben ist usw. Neben diesen Übereinstimmungen, die, wie oben (S. 224) erwähnt, sogar viel weiter reichen als bei der Beurteilung der anschau- lichen Raumverhältnisse, finden sich unter andern Umständen auch Ab- weichungen (bei Farbenblindheit, beim Blicken durch gefärbtes Glas u. dgl.); immer aber ist jene unbekannte Qualität des Dinges definiert durch die Beziehung zu den entsprechenden Farberlebnissen: es ist die eine, identisch selbe Qualität, die zu jenen differenten psychischen Ele- menten in verschiedenen Relationen steht. Damit wäre also eine Erkenntnis bestimmter Stufe sehr wohl erreicht; das Vorhandensein 'jener Quahtät wäre als die Bedingung dafür erkannt, daß unter gewissen Umständen im Bewußtsein der Beobachter eine gewisse Gelbempfindung auftritt. Man wird dies ausdrücken können, indem man sagt, daß die Gelbempfindungen der verschiedenen Individuen alle die- selbe Ursache, oder vielmehr Mitursache haben, nämlich im Be- stehen der beschriebenen Qualität. Denn es gibt nicht den geringsten Grund, warum man auf einen Zusammenhang der geschilderten Art nicht den geläufigen Begriff einer ursächhchen Beziehung, einer Kausalreiation, anwenden sollte. Darüber wird an anderer Stelle (unten § 40) noch einiges zu sagen sein; hier kommt es nur auf die Einsicht an, daß in der Beziehung der Farbwahrnehmungen verschiedener Individuen auf ein und dieselbe extramentale Realität wirklich eine Erkenntnis gewonnen ist. Quantitative und qualitative Erkenntnis. 241 Es ist eine rein qualitative Erkenntnis, die wir unter der obigen Voraus- setzung als eine Ursachenerkenntnis einfachster Art kennzeichnen können. Auf dieser Erkenntnisstufe müßte nun jeder der unendlich vielen Farbnuancen, die ich an den anschaulichen Gegenständen des Gesichts- sinnes wahrnehmen kann (gleiche Wahrnehmungsumstände vorausgesetzt), eine besondere Qualität am transzendenten Gegenstande entsprechen. Jede wäre etwas für sich, stände unerkannt neben den übrigen und wäre nicht auf sie zurückführbar. Es ist klar, daß die Wissenschaft bestrebt sein mußte, aus diesem höchst unbefriedigenden Stadium herauszukommen, und wir wissen, daß ihr dies heute glänzend gelungen ist: die Physik führt an die Stelle jener unbekannten Qualitäten Schwingungszustände ein und ordnet den ver- schiedenen subjektiven Farben verschiedene Frequenzen der objektiven Schwingungen zu. Diese Frequenzen stehen sich nun nicht mehr un- reduzierbar einander gegenüber, sondern als zeitliche Größen sind sie der quantitativen Erkenntnis zugänglich, sie sind durch Abzählen von Ein- heiten meßbar und dadurch nach den obigen Ausführungen restlos durch- einander erkennbar. Die Feststellung der Frequenzen (bzw. der Wellen- länge) geschieht natürlich wiederum mit Hilfe der Methode der Ko- inzidenzen, z. B. durch Messung des Abstandes von Interferenzstreifen, Bestimmung des Ortes einer Spektrallinie auf einer Skala usw. Man darf aber nicht glauben, daß die W^issenschaft durch diese Resul- tate nun alle Qualitäten überhaupt eliminiert hätte. Das ist durchaus nicht der Fall. Denn jene Lichtschwingungen, welche den Farben ent- sprechen, sind ja bekanntlich elektromagnetischer Natur, d. h. sie be- stehen in periodischen Änderungen jener Qualitäten, welche die Physik als elektrische und magnetische Feldstärke bezeichnet, diese selbst aber behalten ihren qualitativen Charakter bei, wenn sie auch zugleich extensive Größen sind, also teilbar, als Summe von Einheiten aufzufassen und damit dem Zahlbegriff unterworfen. Wir wollen uns dies Fortschreiten der Erkenntnis von der qualita- tiven zur quantitativen Stufe noch an einem anderen Beispiel klar machen, das lehrreicher ist, weil es sich noch enger an den tatsächlichen Gang und Stand der Forschung anschließt. Wenn ein Körper meine Haut berührt, so habe ich eine Wärme- empfindung, deren Qualität davon abhängt, an welcher Stelle die Be- rührung stattfindet und was für ein Körper sich vorher mit der Haut- stelle in Kontakt befand. Dieselbe Wassermasse scheint der eingetauchten Hand kühl oder warm, je nachdem sie vorher mit wärmerem oder kälterem Wasser in Berührung war. Den verschiedenen Wärmeempfindungen, die ich unter verschiedenen Umständen beim Betasten des Körpers habe, läßt nun der Physiker die eine identische Qualität des Körpers ent- sprechen, die er als , .Temperatur" bezeichnet. Unter sonst gleichen Um- SchUck, Erkenntiuslehre. 10 242 Die Erkenntnis des Wirklichen. ständen liegt einer heftigen Wärmeempfindung eine andere Temperatur zugrunde als einer lauen, und der Unterschied zwischen beiden Tempera- turen ist zunächst als ein qualitativer zu fassen; der Physiker benutzt jedoch einen Kunstgriff, um die Temperatur der mathematischen Behand- lung zu unterwerfen: er ordnet nämlich den verschiedenen Temperaturen Zahlen zu und bedient sich dabei der annähernden Korrespondenz, die zwischen der Qualität der Wärmeempfindung und dem Volumen gewisser Körper besteht (z. B. des Quecksilbers im Thermometerrohr). Dies Volumen ist nun eine extensive Größe und durch die Methode der Koinzidenzen meß- bar; von der Temperatur selbst gilt das aber auf dieser Erkenntnisstufe noch nicht, die Temperaturen sind nicht in addierbare Stücke zerlegt, nicht aufeinander zurückgeführt; es hat keinen Sinn zu sagen, die Tem- peratur von 20° sei gleich zweimal derjenigen von 10°, sondern nur durch eine völlig willkürliche Festsetzung sind die Zahlen 10 und 20 gewissen Temperaturen zugeordnet, durch die Annahme einer beliebigen thermo- metrischen Substanz und Skala. Es ist nur die Einsicht benutzt, daß sich die Temperaturen in einer eindimensionalen Reihe ordnen lassen. So könnte man z. B. auch den reinen Spektralfarben oder den Tonhöhen nach einer beliebigen Übereinkunft Zahlen zuordnen, ohne von der Schwingungsnatur der ihnen entsprechenden physischen Gebilde etwas zu wissen. Durch diese Art der Ordnung wäre natürlich ihr Wesen in keiner Weise erkannt. Temperaturmessung ist also in diesem Stadium — es ist das Stadium der sogenannten reinen Thermodynamik — etwas prinzipiell anderes als etwa Messung von Lichtwellenlängen: sie ist nicht mit Wesens- erkenntnis der gemessenen Größe verknüpft. Ganz anders dagegen auf der nächsthöheren Erkenntnisstufe, zu welcher die sogenannte mechanische Theorie der Wärme sich erhebt: sie identifiziert die Temperatur mit. der mittleren kinetischen Energie der Molekularbewegung; und diese ist nun eine extensive Größe. Definitions- gemäß baut sie sich derart aus Raum- und Zeitgrößen (nämlich aus Ge- schwindigkeiten) auf, daß sie stets aufgefaßt werden kann als additiv aus Teilen zusammengesetzt. Nun sind Temperaturunterschiede für den Phy- siker nichts Qualitatives mehr, die Temperatur ist überhaupt als be- sondere Qualität aus der physikalischen Weltanschauung fortgeschafft, sie ist restlos zurückgeführt auf die mechanischen Begriffe der Masse, des Raumes und der Zeit und damit im strengen Sinne meßbar geworden, ihrem Wesen nach restlos erkannt. Aus der Betrachtung dieser Verhältnisse ergibt sich mit Klarheit: Qualitäten sind nur dann vollständig erkannt, d. h. durch Kombinationen bereits vorhandener Begriffe vollkommen und eindeutig zu bezeichnen (vgl. oben S. 13), wenn es gelingt, sie quantitativ auf andere zurückzu- führen. Und dadurch werden sie in ihrer Eigenschaft als besondere Quali- täten aus dem Weltbilde gänzlich eliminiert. Möglichkeit der quantitativen Bestimmung ist also nicht nur eine willkommene, zur strengeren Fassung nötige Beigabe zur Erkenntnis, Quantitative und qualitative Erkenntnis. 243 sondern sie ist die unumgängliche Bedingung der restlosen Erkenntnis überhaupt. Nur die quantitative, also letzten Endes additive Zurück- führun^ von Grössen aufeinander gestattet, die einen in den andern unverändert vollständig wiederzufinden, nämlich als Teile im ganzen, als Summanden in der Summe. Der Eliminationsprozeß der Qualitäten ist der Kern aller Erkenntnis- fortschritte der erklärenden Wissenschaften. Die ältesten naturphilo- sophischen Annahmen über die Quahtäten des objektiven Seins leiten sich naturgemäß unmittelbar von den Sinnesdaten ab; der Einteilung in die ,,vier Elemente" liegen z. B. deutlich die Empfindungen des Haut- sinnes (und Muskelsinnes) zugrunde: das Wasser ist das Feuchte, das Feuer das Warme, die Erde das Harte, Schwere, die Luft das Leichte, Nachgiebige. Die in den Lehrbüchern noch heute übhche Einteilung der Physik in Mechanik, Akustik, Optik, Wärmelehre beruht durchaus auf den Unterschieden der Sinnesgebiete: die Mechanik entspricht dem Tast- und Muskelsinn, die Akustik dem Ohre, die Optik dem Auge und die Wärmelehre dem Temperatursinn. In der Theorie sind diese Scheidungen natürlich längst aufgegeben. Im Laufe der Zeit sind zunächst die sinn- lichen und darauf die an ihre Stelle gerückten objektiven Quahtäten immer mehr eliminiert worden, bis zuletzt nur noch eine ganz geringe Anzahl nicht weiter reduzierter Quahtäten (z. B. die oben erwähnten elektrischen und magnetischen Feldstärken) übrig blieb. Aus ihnen baut die Physik die ganze objektive Welt auf, und alle in ihrem Weltbild vorkommenden Größen werden als räumliche oder zeitliche Kombinationen jener funda- mentalen Qualitäten dargestellt. Diese letzteren werden zweckmäßig mit dem Namen ,, Intensitäten" bezeichnet. Es versteht sich von selbst, daß die Wissenschaft in ihrem Weltbild nicht etwa ohne jede Qualität auskommen und die Natur als ein Spiel reiner Quantitäten betrachten kann. Die Redeweise vom qualitätslosen Atom u. dgl. entbehrt des Sinnes, denn Quantität ist eine Abstraktion, die voraussetzt, daß irgendetwas da ist, dessen Quantität sie ist. Es kann nichts sein, ohne irgendwie zu sein; Sein und Qualitätsein ist dasselbe. (Dies hat besonders E. Becher mit Nachdruck betont; er sagt z. B. — Philosophische Voraussetzungen der exakten Naturwissenschaften S. 87 — : , .Alles, was ist, ist Quahtät . . ."). Auch die objektive Raum- Zeitmannigfaltigkeit ist natürlich unbeschadet ihres extensiven Charakters als etwas Qualitatives aufzufassen, denn sie muß sich doch irgendwie von anderen vierdimensionalen Mannigfaltigkeiten unterscheiden, die quanti- tativ genau gleich bestimmt sind. Nachdem übrigens einmal die gegenseitige Abhängigkeit der einzelnen Größen endgültig aufgedeckt ist, besteht eine gewisse Willkür, welche Intensitäten man als die fundamentalen bezeichnen, d. h. als diejenigen benutzen will, auf welche alle anderen reduziert werden. Denn wegen i6* 244 ^^^ Erkenntnis des Wirklichen. der durchgehenden wechselseitigen Beziehungen kann ich stets die bisher als fundamental angenommenen Qualitäten durch einige der übrigen aus- drücken und nun diese letzteren als diejenigen wählen, auf welche alle anderen zurückzuführen sind. So brauche ich — um ein Beispiel heraus- zugreifen — im Aufbau der gewöhnlichen Newtonschen Mechanik als Grundbegriffe nicht die. üblichen der Masse, der Zeit und der Strecke anzunehmen, sondern ich kann statt ihrer ebensogut etwa das Volumen, die Geschwindigkeit und die Energie zugrunde legen und alle übrigen in der Mechanik auftretenden Größen auf sie reduzieren. Es ist nur eine praktische Frage der Zweckmäßigkeit, für welche Möglichkeit man sich entscheidet. Es wäre also eine unzulässige metaphysische Interpretation des wissen- schaftlichen Weltbildes, wenn wir sagen wollten, daß in der Außenwelt überhaupt keine anderen Qualitäten objektiv existierten als jene letzten ,, Intensitäten", deren quantitative Abwandlungen die Bausteine des Uni- versums der Physik bilden. Denn das physikalische Weltbild ist ein System von Begriffen, das nicht mit der Wirklichkeit selber verwechselt werden darf: wir können die Realitäten der Welt eindeutig bezeichnen durch zusammengesetzte Begriffe, die durch Kombinationen einiger weniger elementarer Bestandteile entstanden sind. Aber jene Realitäten selber werden stets auch als ,, einfache" aufgefaßt werden können. Das sieht man am leichtesten, wenn man sich die soeben erörterte Willkür in bezug auf die Wahl der letzten Bausteine des Weltbildes vor Augen hält. Man wird also das ,, Universum an sich" als eine Mannigfaltigkeit unendUch vieler verschiedener Qualitäten beschreiben müssen, die auf solche Weise mi^ einander verwoben und voneinander abhängig sind, daß sie sich durch die quantitativen Begriffssysteme der Naturwissenschaften bezeichnen lassen. Durch dieses wird die Gesetzmäßigkeit ihres Entstehens und Ver- gehens wiedergegeben (wobei die Worte Werden und Vergehen im über- tragenen Sinne zu nehmen sind, denn es handelt sich ja nicht um Ände- rungen in der anschaulichen Zeit, sondern um Stellungen in der objek- tiven Ordnung). Jeder von den Außenweltsqualitäten kann man einen Begriff zuordnen, der aus einer Kombination von Begriffen anderer Quali- täten gebildet ist: darin drückt sich eben die Gesetzmäßigkeit des all- seitigen Zusammenhanges aus, denn erst durch sie wird eine derartige Zuordnung möglich. Jene Gesetzmäßigkeit auffinden heißt die Außenwelt erkennen, denn mit ihr wird das allgemeinste im einzelnen wiedergefunden und dieses dadurch erkannt. Die Objekte der Außenwelt, die Dinge an sich, werden auf diese Weise als gesetzmäßige Zusammenhänge von Qualitäten bestimmt. (Die Betrachtung der Einzelheiten dieses Erkenntnisprozesses muß natur- philosophischen Untersuchungen vorbehalten bleiben, die ich an anderer Stelle mitzuteilen gedenke). Ein Atom, ein Elektron ist also aufzu- fassen als ein Verband von Qualitäten, die durch bestimmte Gesetze mit einander verknüpft sind — nicht als ein substantielles Ding, welches Quantitative und qualitative Erkenntnis. 245 seine Qualitäten als Eigenschaften trüge und von ihnen, eben als ihr Träger, unterschieden werden könnte. Die Kritik, die Hume gegen diesen Substanzbegriff richtete, besteht noch immer völlig zu Recht. Wenn man, wie der MACH'sche Positivismus es tat (vgl. oben S. 170 u. 171), mit dem Ausdruck ,,Ding an sich" nichts anderes bezeichnen wollte als die Substanz in diesem Sinne, so wäre der Kampf gegen das Ding an sich sehr berechtigt und sehr nötig. Die Idee eines von den Eigenschaften unabhängigen und sie nur tragenden Kernes ist in der Tat verfehlt, denn der Kern selbst wäre dann ja etwas Eigenschaftsloses. Wir brauchen uns mit dieser Idee nicht weiter zu befassen, denn wir sind bei unserer Analyse überhaupt nicht auf sie gestoßen und können den Prozeß der Naturerkenntnis ohne sie verständlich machen. Dadurch ist ihre Entbehrlichkeit bewiesen. An einer anderen Stelle (Zeitschr. f. Phil. u. phil. Kritik Bd. 159, S. 172 ff.) habe ich darauf aufmerksam gemacht, daß die Naturwissenschaft in be- sonderen Fällen sich auch durch empirische, experimentelle Tatsachen ge- zwungen sieht, den alten Substanzbegriff zu verlassen. Alle Erkenntnis geht also in letzter Linie auf Beziehungen, Abhängigkeiten, nicht auf Dinge, Substanzen. Die Frage nach dem wahren Wesen dieser oder jener Qualität beant- wortet sich durch ihre Einordnung in das quantitative Begriffssystem, also durch Zurückführung auf die zugrunde gelegten fundamentalen Intensitäten. Und diese Antwort, sobald sie einmal vollständig gefunden ist, hat definitiven Charakter. Wer da meint, daß hiermit das ,, eigent- liche Wesen" der Qualitäten noch nicht ausreichend bestimmt sei, sondern etwa noch verlangt, sie so kennen zu lernen, wie uns die bewußten Quali- täten Lust, Schmerz, warm, gelb usw. bekannt sind, der ist wieder dem Irrtum verfallen, welcher Erleben mit Erkennen verwechselt und den wir schon so oft als verwirrend erkannt haben (vgl. § 11, Teil I). Was Er- kenntnis überhaupt leisten kann, wird in bezug auf die Qualitäten des Universums durch die Naturwissenschaften in der geschilderten Weise restlos geleistet: sie werden vollkommen erkannt. Bekannt werden sie uns freilich nie; unser Erkenntnistrieb hat aber auch gar keinen Anlaß es zu wünschen, denn ihm wäre damit nichts geholfen. Gerade umgekehrt steht es mit den Qualitäten, welche den Inhalt unseres Bewußtseins bilden. Sie sind uns absolut bekannt, wie aber ist es mit ihrer Erkenntnis bestellt.^ Im Vergleich mit der Erkenntnis der Außenweltsqualitäten offenbar schlecht genug; denn die Psychologie, welche die Erforschung der subjektiven, bekannten Qualitäten zum Gegen- stande hat, kann sich in bezug auf Umfang und Erkenntniswert ihrer Resultate mit den Naturwissenschaften nicht wohl messen. Und es ist klar, daß zwischen beiden sogar ein prinzipieller Unterschied be- steht. In der Tat: die introspektive Psychologie kann niemals über das Stadium der qualitativen Erkenntnis hinausgelangen, für sie ist die un- 246 Die Erkenntnis des Wirklichen. endliche Mannigfaltigkeit der psychischen Qualitäten schlechthin un- rcduzierbar, jede ist den andern gegenüber etwas Neues und weist keine extensiven Eigenschaften auf. Jede Empfindung z. B. ist ihrer Natur nach einfach und unzerlegbar; das Verhältnis zwischen einer intensiveren und einer schwächeren Gelbempfindung ist nicht so, daß die erstere aus der schwächeren plus einer zweiten schwächeren bestände, sondern sie wird ihr gegenüber als etwas qualitativ anderes von gleicher Einfachheit und Unteilbarkeit erlebt. Unanfechtbar ist die in dem berühmten Kant- schen Worte enthaltene Wahrheit, daß ,, Mathematik auf die Phänomene des inneren Sinnes und ihre Gesetze nicht anwendbar ist". Alle durch die introspektive Methode zu gewinnenden psychischen Gesetzmäßigkeiten (man denke etwa an die Gesetze der Assoziationen, der Aufmerksamkeit, der Willensakte) sagen höchstens aus, daß das Vor- handensein bestimmter Daten die Bedingung für das Auftreten gewisser anderer Daten ist; sie geben also (vgl. oben S. 240) gar wohl eine Kausal- erkenntnis, aber die kausal verbundenen Glieder selbst werden dabei auf keine Weise erkannt, wie das bei quantitativer Kausalerkenntnis der Fall wäre, sie bleiben vielmehr jedes für sich in seiner Besonderheit bestehen. Wir würden unendlich viele Begriffe gebrauchen, um die Mannigfaltigkeit der Erlebnisse vollkommen zu beschreiben, denn da sie irreduzibel sind, hätten wir für jedes einen eigenen Begriff nötig. Gibt es keinen Ausweg, um auch in der Psychologie die Stufe der quantitativen Erkenntnis zu erklimmen, auf der es, wie wir sahen, allein möglich wird, das Ziel der Erkenntnis vollständig zu erreichen.? Wir haben soeben das Verfahren kennen gelernt, mit Hilfe dessen die Naturwissenschaft Qualitäten durch quantitative Begriffsbildung meistert; es wäre also zu fragen, ob dieses Verfahren auch auf die sub- jektiven Qualitäten des Bewußtseins anwendbar ist. Damit es anwendbar sei, ist nach den vorhergehenden Betrachtungen erforderlich, daß es räumliche Änderungen gibt, die in völlig bestimmter eindeutiger Weise mit den Qualitäten zusammenhängen; denn dann kann die Aufgabe auf die Methode der raumzeitlichen Koinzidenzen zurückgeführt werden und es wird eine Messung möglich. Das Verfahren der Koinzidenzen aber besteht wesentlich in physikalischer Beobachtung; beim introspektiven \'erfahren gibt es dergleichen nicht. Daraus folgt sofort, daß die Psycho- logie auf introspektivem Wege das Erkenntnisideal nie erreichen kann. Sie muß also versuchen, für ihre Zwecke die physische Beobachtung zu verwerten. Ist das nun möglich.'' gibt es räumliche Änderungen, die von den Bewußtseinsqualitäten in ähnlicher Weise abhängen, wie etwa in der Optik der Abstand der Interferenzstreifen von der Farbe, in der Elektrizitätslehre der Ausschlag der Magnetnadel von der magnetischen Feldstärke.'' Nun, man weiß, daß in der Tat zwischen den subjektiven Qualitäten und der objektiv erschlossenen Welt eine genau bestimmte eindeutige Zuordnung anzunehmen ist. Daß zwischen den als ,, Sinnesempfindungen" Quantitative und qualitative Erkenntnis. 247 bezeichneten subjektiven Qualitäten und der Außenwelt ein derartiges Verhältnis stattfindet, versteht sich von selbst, denn dieses war es ja gerade, was überhaupt erst zur Setzung und Erkenntnis objektiver Reali- täten führte. Daß aber auch zu den übrigen Erlebnissen eindeutig mit ihnen zusammenhängende ,, physische" Vorgänge sich finden lassen oder wenigstens angenommen werden müssen, das lehrt eine weitreichende Erfahrung. Es gibt keine Bewußtseinsqualität, die nicht durch Einwirkungen auf den Körper beeinflußt werden könnte; vermögen wir doch das gesamte Bewußt- sein sogar durch eine einfache physische Manipulation (wie z. B. das Einatmen eines Gases) zum Verschwinden zu bringen. Mit Willenserleb- nissen hängen unsere Handlungen zusammen, mit körperlicher Erschöpfung Halluzinationen, mit Magenstörungen Gemütsdepressionen usw. Zur Er- forschung derartiger Zusammenhänge muß die Seelenlehre die reine Methode der Introspektion verlassen und zur physiologischen Psychologie werden. Sie allein kann zu einer prinzipiell vollständigen Erkenntnis des Psychischen gelangen. Mit ihrer Hilfe wird es dann mög- lich, den gegebenen, subjektiven Qualitäten ihrerseits Begriffe zuzuordnen, ganz wie den erschlossenen objektiven QuaHtäten, und damit; sind jene erkennbar geworden, wie diese. Es hat sich längst herausgestellt, daß derjenige Teil der objektiven Welt, der mit sämtlichen subjektiven Qualitäten eines Ich am unmittel- barsten zusammenhängt, eben der ist, welcher durch den Begriff des Gehirns, spezieller der Großhirnrinde, des Individuums bezeichnet wird. Die zahlenmäßigen Begriffe, welche man in dem exakten Weltbild der wissenschaftlichen Erkenntnis für die subjektiven Qualitäten substituieren muß, sind daher keine anderen als irgendwelche bestimmten Gehirnprozesse. Zu ihnen führt die Analyse der wechselseitigen Abhängigkeiten unter allen Umständen. Wenn wir auch unabsehbar weit davon entfernt sind, genau zu wissen, welche Prozesse da im einzelnen in Frage kommen, so ist doch wenigstens der Weg gewiesen: es müssen zerebrale Prozesse für die sub- jektiven QuaHtäten substituiert werden; nur so besteht Hoffnung, sie restlos zu erkennen. Der Weg zur Erkenntnis aller Qualitäten, mögen sie objektiv oder subjektiv sein, ist immer der gleiche: es wird das Zeichensystem der natur- wissenschaftlichen Begriffe für sie eingeführt, und sie werden dadurch aus dem Weltbilde der exakten Wissenschaft eliminiert; das heißt natürlich nicht: aus der Welt geschafft. Sie sind ja im Gegenteil das allein Reale, und jenes Weltbild ist nur ein aus begrifflichen Zeichen kon- struiertes Gebäude. Endgültige Erkenntnis von Qualitäten, so können wir zusammen- fassend sagen, ist nur durch die quantitative Methode möglich. Das Be- wußtseinsleben ist also nur insofern vollkommen erkennbar, als es gelingt, die introspektive Psychologie in eine physiologische, naturwissenschaft- liche, in letzter Linie in eine Physik der Gehirnvorgänge, überzuführen. 248 Die Erkenntnis des Wirklichen. Man könnte vielleicht glauben, eine Messung und damit eine quanti- tative Beherrschung psychischer Größen könnte auch auf eine mehr mittelbare Weise ohne eine genaue Erforschung der nervösen Prozesse schon stattfinden. Die FECHNER'sche Psychophysik nämlich scheint doch wenigstens Empfindungen zahlenmäßig zu bemeistern, indem sie Reiz- stärken mißt; und dazu bedarf sie keines Einblickes in die Natur der zentralen Nervenprozesse. Aber gesetzt selbst, die psychophysische Methode Fechner's ließe sich von allen ihren UnvoUkommenheiten befreien und wäre auch auf andere Gebilde als Empfindungen anwendbar (was wiederum praktisch aus- geschlossen erscheint), so wäre damit eine Erkenntnis des Psychischen im höchsten Sinne doch keineswegs gewonnen. Es wäre wohl eine Zu- ordnung von Zahlen zu seelischen Größen nach einer willkürlichen Skala erzielt, aber sie wären nicht auf etwas anderes zurückgeführt und blieben untereinander völlig unverbunden, von einer Wesenerkenntnis könnte man nicht sprechen. Man hat ganz denselben Fall wie im oben betrachteten physikalischen Beispiel: das Wesen der ,, Temperatur" bheb so lange un- erkannt, als ihre Messung nur durch Zuordnung von Zahlen auf Grund einer willkürlichen Skala erfolgen konnte; die mechanische Theorie der Wärme aber, welche an Stelle der Temperatur die lebendige Kraft der Moleküle einführte, gab damit zugleich ein natürliches Prinzip der quanti- tativen Beherrschung, das jede Willkür ausschaltete. Erst wenn die quan- titativen Beziehungen nicht bloß eine willkürliche Festsetzung wider- spiegeln, sondern gleichsam aus der Natur der Sache folgen und eingesehen werden, stellen sie eine Erkenntnis des Wesens dar ^). Wie hier die Temperatur auf mechanische, so müßten die Bewußtseinsdaten, um wahr- haft erkannt zu werden, allgemein durch natürliche Prinzipien auf physi- kalische Bestimmungen zurückgeführt werden; und wie das bei der Tem- peratur, der objektiven Wärmequalität, nur möglich ist durch Hypothesen über die molekulare Struktur der Materie, so bedarf es zur Erkenntnis der subjektiven psychischen Qualitäten eindringender physiologischer Hypothesen über die Natur der Gehirnvorngänge. Der gegenwärtige Stand der Forschung erlaubt aber leider noch nicht die Aufstellung derartiger genügend spezieller Hypothesen, wie sie zur Erreichung dieses letzten Zieles der Psychologie erforderlich wären. 31. Physisches und Psychisches. Die zuletzt angestellten Erwägungen führen in den Gedankenkreis jenes großen Problems, das in der neueren Philosophie, etwa seit Des- ') Über den Unterschied zwischen der Messung im echten naturwissenschaft- lichen Sinne und im Sinne'einer bloßen Zuordnung von Zahlen nach einem künstlichen Prinzip vgl. die Abhandlung von J. v. Kries: „Über die Messung intensiver Größen und das sog. psychophysische Gesetz". V'ierteljahrsschr. f. wiss. Phil. 1882. Bd. 6. S. 257, und meinen Aufsatz ,,Die Grenze der naturwissenschaftlichen und philosophi- sclicn Bcgriflsbildung" i) 5, ebenda, 1910, Bd. 34, S. 132, bei dessen Abfassung mir die v. KKiEs'sche Arbeit noch nicht bekannt war. Physisches und Psychisches. 249 CARTES, im Mittelpunkt aller Metaphysik steht: es ist die Frage nach dem Verhältnis des Geistigen zum Körperlichen, der „Seele" zum Leibe. Sie gehört, wie ich glaube, zu den Problemen, die einer falschen Frage- stellung ihr Dasein verdanken. In der Tat: auf dem Standpunkt, den wir durch die vorhergehenden Betrachtungen gewonnen haben, entrollt sich vor uns ein Weltbild ohne dunkle Schlupfwinkel, in denen sich die eigen- tümlichen Schwierigkeiten verbergen könnten, die unter dem Namen des psychophysischen Problems gefürchtet sind. Es ist auf jenem Standpunkt schon gelöst, ehe es noch gestellt werden kann. Dies wollen wir nun nach- weisen. Um aber zu vollkommener Beruhigung über die Frage zu ge- langen, müssen wir dann auch die Quelle des Irrtums aufdecken, durch den die Leib- Seele-Frage zu einem quälenden Problem werden konnte. Den Begriff des Psychischen hatten wir längst fest umgrenzt (siehe z. B. S. 138): er bezeichnete das ,, schlechthin Gegebene", welches mit ,, Bewußtseinsinhalt" identisch war; und der Sinn dieser Ausdrücke be- darf jetzt wohl keiner näheren Erläuterung mehr. Zu einer Definition des Physischen dagegen lag bisher keine Notwendigkeit und kein Bedürfnis vor. Wir müssen sie nunmehr nachholen, und es wird sich zeigen, daß tatsächlich nichts nötig ist als eine deutliche Vergegenwärtigung der im Begriff des Körperlichen vereinigten Merkmale, um zu völliger Klarheit über das vermeintliche Problem zu gelangen. Das Universum stellte sich uns dar als eine unendliche Mannigfaltig- keit von Qualitäten. Diejenigen von ihnen, die dem Zusammenhang eines Bewußtseins angehören, bezeichneten wir als subjektiv; sie sind das Ge- gebene und Bekannte. Ihnen stehen die objektiven als nicht gegeben und nicht bekannt gegenüber. Die ersteren sind natürlich das, was wir psychisch nennen, wir haben diesen Namen auch schon für sie ge- braucht. Sollen wir nun die zweiten, die objektiven, als die physischen bezeichnen.? Es wäre gewiß das nächstliegende, aber wir dürften es nur dann, wenn der so bestimmte Begriff auch gerade genau das bedeutete, was man in der üblichen Sprechw^eise mit dem Ausdruck ,, physisch" treffen will. Das ist nun aber bei näherem Zusehen nicht der Fall. Zwar pflegt man unter ,, physisch" alles zu verstehen (mag es im übrigen als Ding, Eigenschaft, Vorgang oder was sonst gelten), was nicht der Innenwelt eines bewußten Wesens zuzurechnen ist, also weder dem Zusammenhang des eigenen Ich noch demjenigen eines fremden Bewußt- seins angehört: es scheinen mithin unsere objektiven Qualitäten unter diesen Begriff des Physischen zu fallen, wenigstens wenn wir von der Lehre jener Denker absehen, die mit einem ,, unbewußten Psychischen" glauben rechnen zu müssen. Aber nun denkt jedermann im Leben wie in den Wissenschaften unter dem Begriff des Physischen noch andere Merkmale mit, welche gerade als die wesentlichen gelten, die aber hier, nicht zu genügender Klarheit gebracht, ganz am unrechten Orte stehen, und denen man die Schuld an der Entstehung des ,, psychophysischen 250 Die Erkenntnis des Wirklichen. Problems" überhaupt aufbürden muß: es sind die Merkmale der Räum- lichkeit. Das Körperliche und das Ausgedehnte sind nicht nur fast stets als untrennbar zusammengehörig, sondern oft genug als schlechthin identisch betrachtet worden; so bekanntlich bei Descartes. Räumliche Ausdehnung gehörte immer zur Definition des physischen Körpers; Kant benutzte daher geradezu den Satz: ,,alle Körper sind ausgedehnt" als Beispiel eines analytischen Urteils. Räumlichkeit ist das wesentliche Merkmal alles Physischen im gebräuchlichen Sinne. Dieser übliche Sinn weiß nichts von dem Unterschiede, auf den wir das allergrößte Gewicht legen mußten: das ist der Unterschied zwischen dem Räumlichen als anschaulichem Datum und dem ,,Raum" als Ordnungsschema der objektiven Welt (oben § l"]). Das letztere hatten wir in Ermangelung eines besseren Aus- drucks als d?n objektiven oder transzendenten Raum bezeichnet (S. 225), zugleich aber betont, daß damit eine übertragene Bedeutung des Wortes ,,Raum" eingeführt wird, die nicht sorgfältig genug von der ursprüng- lichen getrennt werden kann, wanach ,,Raum" durchaus etwas Anschau- liches bedeutet. Es war aber das wichtige Ergebnis früher (§ 28) an- gestellter Betrachtungen, daß eben diese anschauliche Räumlichkeit der extramentalen Welt, den objektiven Qualitäten, nicht zukommt. Wollten wir also die letzteren als physisch bezeichnen, so würden physische Objekte in diesem Sinne keineswegs die anschaulichen, wahrnehmbaren und vor- stellbaren Körper sein, die man gemeinhin unter dem Terminus verstehen will. Wir müssen deshalb diesen Terminus zur Bezeichnung der extra- mentalen Qualitäten vermeiden, wie wir uns ja auch vor den Worten Raum und Zeit in der Anwendung auf die transzendente Ordnung der Dinge hüten wollten. Wir wissen, daß vorstellbare Ausdehnung ganz allein eine Eigenschaft gerade der subjektiven Qualitäten ist; Räumlichkeit in diesem Sinne besitzt also nicht das physische, objektive, sondern im Gegenteil das psychische, subjektive Sein. In jenem populären Begriff des Körperlichen sollen also Merkmale vereint sein, die sich realiter nicht miteinander vertragen: es soll sowohl Ding an sich (d. h. kein Bewußt- seinsinhalt) als auch mit der anschaulichen, wahrnehmbaren Eigenschaft der Ausdehnung behaftet sein. Da beides unvereinbar ist, so muß dieser Begriff des Physischen (Körperlichen, Materiellen) zu Widersprüchen An- laß geben: es sind eben die Widersprüche, welche das psychophysische Problem ausmachen. Alle großen philosophischen Probleme nämlich beruhen auf stören- den, quälenden Widersprüchen, und sie stellen sich äußerhch in gewissen Begriffsgegensätzen dar, deren Versöhnung eben Lösung der philosophi- schen Aufgabe bedeutet. Solche gegensätzlichen Begriffspaare sind z. B. Freiheit-Notwendigkeit, Egoismus-Altruismus, Wesen-Erscheinung (vgl. § 26), und zu ihnen gehört nun auch unser Begriffspaar physisch-psychisch, Physisches und Psychisches.^ 251 oder Leib-Seele, Materie- Geist, oder durch welche Schlagworte man es sonst noch wiedergeben mag. So haben wir den überkommenen Begriff des Physischen als unvoll- ziehbar, als falsch gebildet erkannt. Sollen wir nun, wie wir eigentlich müßten, den Gebrauch des Wortes überhaupt ablehnen und erklären: Es gibt überhaupt keine physischen Körper.? Das wäre natürlich nicht recht, denn es muß sich offenbar irgendwie ein Gebiet zur legitimen An- wendung des Wortes finden lassen, da es sonst nicht die eminente prak- tische und methodische Bedeutung hätte gewinnen können, die es tat- sächlich entfaltet hat. Der Gegenstand der ,, Physik" muß auf irgendeine Weise anzugeben und zu umgrenzen sein. Bis jetzt haben wir wenigstens negativ festgestellt, daß wir diesen Zweck verfehlen würden, wenn wir den Terminus ,, physisch" einfach zur Bezeichnung aller nichtpsychi- schen Qualitäten zulassen wollten. Die Ergebnisse früherer Betrach- tungen liefern uns aber die Mittel, die Aufgabe auch positiv zu lösen. Vorerst aber ist es wichtig, den Nachweis zu führen, daß es für uns ein Leib-Seele-Problem überhaupt nicht mehr geben kann, daß wir einen widerspruchsvollen Gegensatz zwischen Körper und Geist nicht zu fürchten brauchen, wenn wir auf dem Standpunkt verharren, zu dem die Unter- suchungen der vorhergehenden Kapitel uns hinaufgeführt haben. Die Welt ist ein buntes Gefüge zusammenhängender Qualitäten; ein Teil von ihnen ist meinem (oder irgendeinem anderen) Bewußtsein ge- geben, und diese nenne ich subjektiv oder psychisch; ein anderer Teil ist keinem Bewußtsein unmittelbar gegeben und diesen bezeichne ich als objektiv — jedoch nicht etwa als physisch. Mit allem Nachdruck mußten wir das Mißverständnis zurückweisen, als könnte man den beiden eine verschiedene Art oder einen verschiedenen Grad von Wirklichkeit zu- schreiben, die einen etwa als bloße ,, Erscheinungen" der andern charak- terisieren. Sie sind vielmehr alle sozusagen als gleichwertig zu betrachten, die einen gehören so gut in den durchgehenden Zusammenhang des Uni- versums wie die anderen; wir können nicht sagen, daß zwischen den Rollen, die sie in der Welt spielen, ein prinzipieller Unterschied bestände. In jenem Zusammenhang ist allgemein gesprochen alles von allem ab- hängig, jedes Geschehnis darin ist eine Funktion aller übrigen Geschehnisse und es kommt dabei gar nicht darauf an, ob es sich um objektive oder subjektive Qualitäten handelt. Ob ich jetzt rot sehe oder Freude erlebe, das wird ebensowohl von eigenen früheren Erlebnissen, also von psychi- schen Qualitäten, abhängen, wie auch von dem Vorhandensein irgend- welcher extramentaler Qualitäten, die sogar durch die im vorigen Para- graphen beschriebenen Methoden meiner Erkenntnis zugänglich sind. Und umgekehrt werden auch die letzteren vom Wechsel der ersteren abhängen, sie sind z. B. sicherlich Funktionen meiner ,,Willens"erlebnisse, denn die objektiven Ereignisse werden doch zweifellos durch mein Handeln be- 252 Die Erkenntnis des Wirklichen. einfkißt: wenn ich z. B. die Empfindungen des Losdrückens eines Revolvers habe und den Knall höre, so geschieht damit sicherlich auch etwas in der cxtramentalen Welt. Ohne Frage besteht eine durchgehende Abhängig- keit, eine ,, Wechselwirkung" zwischen den Qualitäten des Universums, also z. B. auch zwischen denen, die meinem Bewußtsein angehören, und jenen cxtramentalen, welche durch den physisclicn Begriff ,,mein Leib" bezeichnet werden. Das ist alles ganz natürlich und fügt sich ohne Schwierigkeit und Zwang in das gewonnene Weltbild ein, es ist kein Problem dabei, es fehlt jedes Motiv, das zu irgendeiner anderen Annahme drängte, etwa zur Stellung der Frage, ob nicht vielleicht statt eines allseitigen durchgehenden Zusammenhanges des Wirklichen eine ,,prästabilierte Harmonie" zwischen Bewußtsein und ,, Außenwelt" bestehe . . . nur von einer ganz falschen Position aus kann man zu einer derartigen Fragestellung gelangen. Es könnte somit scheinen, als müßten wir in der Leib-Seele-.Frage die Partei derjenigen Denker ergreifen, die eine psychophysische Wechsel- wirkung lehren. Aber dem ist in Wahrheit nicht so. Denn wir müssen uns erinnern, daß die, welche das Leib-Seele-Problem stellen und zu lösen suchen, unter ,, physisch" etwas anderes verstehen als unsere extra- mentalen Qualitäten; sie legen ja die übliche Vorstellung des anschau- lichen räumlich ausgedehnten Körpers zugrunde. Daß aber dieser Körper- begriff in sich widerspruchsvoll ist, haben wir soeben festgestellt. Wir müssen nun zusehen, wie sich das ohne Widerspruch ausdrücken läßt, was im hergebrachten Begriffe des Physischen wahrhaft gemeint sein soll. Damit wird dann zugleich endlich für uns festgelegt, welche Bedeutung wir mit dem W^orte ,, physisch" künftighin zu verbinden haben. Zu diesem Zwecke brauchen wir nur auf die Entwicklungen des vorigen Paragraphen zurückzuschauen, welche uns zeigten, wie die Natur- wissenschaft zum Aufbau ihres rein quantitativen Weltbildes gelangt. In diesem Weltbild entstand durch Ausmerzung der ,, sekundären Quali- täten" derjenige Begriff der physischen Materie, des qualitätslosen, aber ausgedehnten Stoffes, der seit Demokrit bis zu Descartes und über Kant hinaus die naturphilosophische Spekulation beherrscht. Wir haben eingesehen, daß jenes ganze Weltbild nur ein System von Zeichen ist, das wir den Qualitäten und Qualitätskomplexen zuordnen, deren Gesamt- heit und Zusammenhang das Universum bildet. Der physische Körper in seiner quantitativen Bestimmtheit ist also ein bloßer Begriff, nichts Wirkliches; das Wirkliche ist immer ein Gefüge von Qualitäten. Die Begriffe vertreten in unserem Denken die extramentale Wirklichkeit, dürfen aber nicht mit ihr selber verwechselt werden. Das erkenntnistheoretisch noch nicht abgeklärte Denken verwechselt aber nicht nur leicht den Begriff mit dem realen Gegenstande, den er bezeichnet, sondern auch mit den anschaulichen Vorstellungen, welche in unserem Bewußtsein den Begriff repräsentieren. Wenn wir den wissen- schaftlichen Begriff eines bestimmten Körpers denken, so geschieht dies Physisches und Psychisches. 253 durch Vorstellungen, z. B. Gesichtsbilder, die das anschauliche Merkmal der Ausdehnung tragen. Der strenge Begriff des Körpers dagegen ent- hält davon nichts, sondern nur gewisse Zahlen, welche die ,, Abmessungen", die ,, Gestalt" des Körpers angeben, und das bedeutet nicht — wie aus- führlich dargelegt — ein objektives Vorhandensein räumlich-anschaulicher Eigenschaften an dem wirklichen Gegenstande (diese kommen ja nur den Wahrnehmungen und Vorstellungen, nicht etwa Extramentalem zu), son- dern es bedeutet jene unanschauliche, unverstellbare Ordnung, in welcher die objektiven Qualitäten der Welt untereinander stehen. ,, Physisch" bedeutet mithin nicht eine besondere Art des Wirklichen, sondern eine besondere Art der Bezeichnung des Wirklichen, nämlich die zur Wirklichkeitserkenntnis notwendige naturwissenschaftliche Be- griffsbildung. ,, Physisch" darf nicht mißverstanden werden als eine Eigen- schaft, die einem Teil des Wirklichen zukäme, einem andern nicht: es ist vielmehr ein Wort für eine Gattung begriffhcher Konstruktion, so wie etwa ,, geographisch" oder ,, mathematisch" nicht irgendwelche Besonder- heiten an realen Dingen bezeichnen, sondern immer nur eine Weise, sie durch Begriffe darzustellen. Die Physik ist das System exakter Begriffe, welches unsere Erkenntnis allem Wirklichen zuordnet. Allem Wirk- lichen, denn im Prinzip ist die g e s a m t e W e 1 1 der Bezeichnung durch jenes Begriffssystem zugänglich. Natur ist alles, alles Wirkliche ist natür- lich. Geist, Bewußtseinsleben, ist kein Gegensatz zur Natur, sondern ein Ausschnitt aus der Gesamtheit des Natürlichen. Daß wir mit dieser Auffassung das Richtige treffen, zeigt sich nach- träglich klar bei einer kritischen Betrachtung anderer Versuche, für das Physische- eine einwandfreie Definition zu finden. Moderne Denker, die sich mit der Frage beschäftigten, bemühen sich zumeist, den Unterschied des Körperlichen und Seelischen in einen Unter- schied der Betrachtungsweisen aufzulösen. Zwei so verschieden gerichtete Philosophen wie Mach und Wundt stimmen darin überein, daß Physik und Psychologie es schließlich mit denselben Gegenständen zu tun hätten, die sie nur auf verschiedene Art bearbeiteten. Achten wir, meint Mach, auf die Abhängigkeit eines ,, Elementes" von denjenigen Elementen, die meinen Körper bilden, so ist es ein psychisches Objekt, eine Empfindung; untersuchen wir es dagegen in seiner Abhängigkeit von anderen ,, Elemen- ten", so treiben wir Physik, und es ist ein physikahsches Objekt. ,, Nicht der Stoff, sondern die Unters uchungs rieh tung ist in beiden Gebieten verschieden" (Analyse der Empfindungen^, S. 14). Nun haben wir uns aber in den letzten und in früheren Paragraphen (§ 24, 25) über- zeugt, daß das Wesen der physischen Forschung mit dieser Bestimmung nicht richtig getroffen wird. Die unmittelbar gegebenen Elemente gehen niemals selber in die physikalischen Theorien ein, sie werden unter allen Umständen eliminiert, und erst das, was ihnen substituiert wird, heißt 254 Die Erkenntnis des Wirklichen. physisch. Das sind aber die Größenbegriffe, welche an die Stelle der gegebenen Qualitäten treten. Diese selbst bleiben an sich und in jeder Betrachtungsweise psychisch. Das Gelb dieser Sonnenblume, der Wohl- klang jenes Glockentones sind seelische Größen und gehören niemals in den Kreis der physischen Objekte; die physikalischen Gesetzmäßigkeiten handeln nicht von ihnen, sondern von Schwingungszahlen, Amplituden und dergleichen Größen, und diese bauen sich nimmermehr aus subjek- tiven Qualitäten auf. WuNDT bezeichnet den Standpunkt der Naturwissenschaft als den- jenigen der mittelbaren Erfahrung im Gegensatz zu dem der Psychologie als demjenigen der unmittelbaren Erfahrung, und er hebt hervor, ,,daß die Ausdrücke äußere und innere Erfahrung nicht verschiedene Gegen- stände, sondern verschiedene Gesichtspunkte andeuten, die wir bei der Auffassung und wissenschaftlichen Bearbeitung der an sich einheitlichen Erfahrung anwenden" (Grundriß der Psychologie'^ S. 3). Aber auch der Begriff der mittelbaren Erfahrung eignet sich nicht zur Definition des Physischen. Wundt sagt, sie komme zustande ,, mittels der Abstraktion von dem in jeder wirklichen Erfahrung enthaltenen subjektiven Faktor"; die Naturwissenschaft betrachte also ,,die Objekte der Erfahrung in ihrer von dem Subjekt unabhängig gedachten Beschaffenheit" es würde also wohl das Physische mit dem Objektiven zusammenfallen, und damit wäre eine Bestimmung getroffen, die wir bereits als unzweck- mäßig ablehnen mußten, und die bei näherem Zusehen doch wieder erst sinnvoll wird unter der Voraussetzung, daß nicht bloß die Betrachtungs- weisen, sondern auch die Gegenstände verschieden sind. Da erschien es schon aussichtsvoller, bei der Definition des Physi- schen gerade Gewicht darauf zu legen, daß es im Gegensatz zum Seelischen nicht ein unmittelbar erlebtes Wirkliches ist, sondern daß wir zu seiner Setzung nur durch Vermittelung des Psychischen gelangen, und die Aus- drücke unmittelbare und mittelbare Erfahrung in diesem Sinne zu ver- stehen. Aber da ist zu bedenken, daß dann auch psychische Qualitäten Gegenstände der mittelbaren Erfahrung sein können, nämlich diejenigen, die einem fremden Bewußtsein angehören, denn zu ihrer Setzung gelangen wir bekanntlich erst durch Analogieschlüsse. Die eigentliche Meinung war jedoch offenbar, physisch sei jenes Wirkliche, das prinzipiell überhaupt nur der mittelbaren Erfahrung zugänglich ist. Dahin zielt wohl der Definitionsversuch Münsterberg's, welcher sagt (Prinzipien der Psychologie I, S. 72, 1900), es bedeute ,, psychisch, was nur einem Subjekt erfahrbar ist, physisch, was mehreren Subjekten gemeinsam er- fahrbar gemacht werden kann". Ihm schheßt sich A. Messer an (Einfüh- rung in die Erkenntnistheorie 1909, S. 121). Diese Bestimmung könnte nur dann als einwandfreie Definition gelten, wenn das Wort ,, erfahrbar" hier beide Male dasselbe bedeutete, wenn es einerlei Erfahrung wäre, durch welche die beiden Reiche uns gegeben wären. Aber dies trifft ja nicht zu, denn eine seelische Qualität ist eben schlechthin, unmittelbar, gegeben, und Physisches und Psychisches. 255 immer nur dem einen Subjekt, welches sie erlebt; bei einem physischen Gegenstande dagegen ist erfahrbar nicht gleich erlebbar, seine Be- ziehung zu uns ist eine mittelbare, und in einer solchen Beziehung kann er zu vielen Subjekten zugleich stehen. Das gilt aber wiederum ebenso gut von dem psychischen Leben anderer Individuen: von ihm können gleichfalls beliebig viele Subjekte mittelbare Erfahrung besitzen. Freilich ist das eine ganz verschiedene Art von Erfahrung, aber auf diese Ver- schiedenheit kommt es gerade an, und so lange sie nicht durch die Defini- tion erfaßt wird, ist eben die Abgrenzung des Körperlichen vom Seelischen nicht gelungen. Die MÜNSXERBERc'sche Formulierung bringt uns mithin keinen Schritt weiter. Auch dadurch wird nichts erreicht, daß man zwei Arten der Er- fahrung als ,, innere" und ,, äußere" unterscheidet, es wäre vielmehr höchst irreführend aus denselben Gründen, die wir früher (Teil II, § 19) gegen die ,, innere Wahrnehmung" geltend gemacht haben. Wenn man ferner, wie es immer geschieht, zur ,, äußeren" Erfahrung die Sinneswahrnehmung »■echnet, so würden die sinnlichen QuaHtäten damit selber ins Reich des Physischen gezogen, und das haben wir eben schon als unzulässig erkannt. Denken wir uns nun diese verschiedenen Definitionsversuche des Körperlichen korrigiert, indem wir an die Stelle der beiden Arten von Erfahrung oder Wahrnehmung, durch welche man Physisches und Psychi- sches voneinander abgrenzen möchte, den einwandfreien Gegensatz des gegebenen und des nicht gegebenen Wirklichen setzen, so gelingt es trotz- dem nicht, auf diesem Wege zu einer brauchbaren Begriffsbestimmung des Physischen zu gelangen. Denn dem stehen eben die Gründe entgegen, welche uns verhinderten, die nicht gegebenen realen Qualitäten einfach als physische zu bezeichnen: diese transzendenten Qualitäten ermangeln, wie gezeigt, aller der Eigenschaften, die für den naturwissenschaftlichen wie für den populären Begriff des Physischen gerade die wesentlichen sind. So sonderbar es also auch zunächst klingt: mit der gebräuchlichen Verwendungsart des Terrflinus ,,das Physische" bleiben wir am besten im Einklang, wenn wir darunter nicht etwas Wirkliches verstehen, sondern bloße Begriffe. Nur sie können rein quantitativ bestimmt, ohne ,, sekundäre Quahtäten" sein, wie das Physische es in der Naturwissenschaft ist. Das Wirkliche dagegen ist immer reine Qualität. Zwischen dem Reich des Wirklichen und dem der Begriffe findet nun natürhch keine „Wechselwirkung" statt. Das Psychische besitzt Reahtät, das Physische ist bloßes Zeichen. Die Zuordnung, die zwischen beiden etwa besteht, kann mithin nur als eine ,,parallehstische" aufgefaßt werden. Daß eine solche Zuordnung tatsächlich stattfindet, geht aus den Er- wägungen des letzten Paragraphen hervor. Denn dort überzeugten wir uns, daß die einzige Möglichkeit der vollständigen Erkenntnis des Psychi- schen darin besteht, die quantitativen Begriffe der Naturwissenschaften 256 Die Erkenntnis des Wirklichen. also das Physische, zur Bezeichnung der psychischen Quahtäten zu ver- wenden, und daß die Erfahrung den Weg deuthch weist, auf dem dies zu geschehen hat: bestimmte ,,Gehirnprozessc" sind es, die als physische Zeichen für die psychischen Vorgänge in Betracht kommen. Welche be- sonderen Gehirnvorgänge ganz bestimmten Erlebnissen zugeordnet werden müssen, vermögen wir freilich bei dem gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse nicht zu sagen, dazu steht die Erforschung der Gehirnfunk- tionen noch zu sehr in den Anfängen. Die Möglichkeit der durchgehenden Zuordnung aber muß behauptet werden, dieses Postulat muß erfüllt sein, wenn das Psychisclie überhaupt erkannt, d. h. durch aufeinander reduzierbare Begriffe bezeichnet werden soll. Keineswegs alle zerebralen Prozesse ' dürfen wir als Zeichen von Bewußtsein betrachten, denn bei einem schlafenden oder ohnmächtigen Gehirn fehlt, soviel wir wissen, das Seelenleben. Aber nicht einmal d a s ist uns bekannt, wodurch diejenigen physischen Vorgänge, denen psychische Daten, d. h. subjektive, in einem Bewußtseinszusammenhang stehende Qualitäten entsprechen, sich von solchen physischen Prozessen unterscheiden, welche Zeichen für objek- tive, d. h. zu keinem Bewußtsein gehörende Qualitäten sind. Ein paar Worte darüber werden noch in den nächsten Paragraphen zu sagen sein. So führen uns rein erkenntnistheoretische Gründe zwingend auf den Standpunkt des psychophysischen Parallelismus. Über den Charakter dieses Parallelismus aber wollen wir uns ganz klar sein: er ist nicht metaphysisch, bedeutet nicht ein Parallelgehen zweier Arten des Seins (wie etwa bei Geulixcx), noch zweier Attribute einer einzigen Substanz (wie bei Spinoza), noch zweier Erscheinungsarten eines und desselben ,, Wesens" (wie bei Kant), sondern es ist ein erkenntnistheoretischer Parallelismus zwischen den realen psychischen Vorgängen einerseits und einem Begriffssystem andererseits. Denn die ,, physische Welt" i s t eben das System der quantitativen Begriffe der Naturwissenschaft. 32. Weiteres zum psychophysischen Problem. Um zu endgültiger Beruhigung über, die Leib-Seele-Frage zu gelangen, ist es nötig klar zu durchschauen, auf welche Weise der mißglückte Begriff des Physischen die Widersprüche des großen Problems verschuldete: eine auch philosophiegeschichtlich lehrreiche Betrachtung. Den Grundfehler, welcher den Anlaß zur Leib-Seele-Frage mit all ihren Fallstricken gab, haben wir erkannt: er lag darin, daß das Physische als etwas Wirkliches betrachtet wurde, das anschaulich räumliche Aus- dehnung besitzt. Verhältnismäßig spät ist diese Quelle des Übels auf- gedeckt worden; man glaubte in früheren Zeiten den Grund aller Schwierig- keiten der Frage genügend bezeichnet zu haben, wenn man auf die funda- mentale Ungleichartigkeit des Geistigen und Körperlichen hinwies. Daß so verschiedene Dinge wie Leibliches und Seelisches aufeinander wirken könnten, erklärte man für ganz unverständlich, und damit hatte Weiteres zum psychophysischen Problem. 257 man zwei Reiche des Wirklichen, zwischen denen man keine Brücke zu schlagen wußte, von denen man aber auch nicht annehmen mochte, daß sie als zwei schlechthin getrennte Welten nebeneinander bestehen, die gar nichts miteinander zu tun haben. Gesetzt jedoch, das Physische und das Psychische wären tatsächhch zwei verschiedene Bereiche des WirkHchen, so mögen sie noch so ungleich- artig sein: niemals könnte darin ein ernsthches Hindernis für das Bestehen einer Kausalrelation zwischen ihnen gefunden werden. Denn wir kennen kein Gesetz, wonach Dinge, die aufeinander wirken sollen, gleichartig sein müßten; die Erfahrung zeigt vielmehr überall, daß das AUerverschiedenste in Abhängigkeit voneinander, also in Wechselwirkung steht; und wenn sie es sonst auch nicht zeigte, so liegt doch im Begriff der Wechselwirkung nichts, was seine Anwendung auf gleichartige Dinge beschränkte. Warum sollte wohl die Wirkung von der Ursache nicht beliebig verschieden sein können? Nein, es müßte zu der bloßen Verschiedenheit noch irgendetwas hinzukommen, es müßten noch andere, ganz besondere Gründe ins Feld geführt werden, wenn man die Möglichkeit einer Wechselwirkung ver- neinen wollte. Und hier dämmerte nun in der Tat die Einsicht, daß das Räum- liche irgendwie an der Entstehung des Problems schuld sei, aber der wahre Zusammenhang wurde vorerst noch nicht richtig erfaßt. Nachdem Descartes den Unterschied des Physischen und Psychischen als Gegen- satz zwischen Denken und Ausdehnung bestimmt hatte, äußert sich auch Kant noch folgendermaßen (Kritik der reinen Vernunft, 2. Ausg. Kehr- bach S. 699): ,,Die Schwierigkeit . . . besteht, wie bekannt, in der vor- ausgesetzten Ungleichartigkeit des Gegenstandes des inneren Sinnes (der Seele) mit den Gegenständen äußerer Sinne, da jenem nur die Zeit, diesen auch der Raum zur formalen Bedingung ihrer Anschauung anhängt." Der wahre Grund des Problems ist hiermit noch keineswegs aufgedeckt (was Kant nicht hinderte, dann doch den richtigen Weg zu seiner Lösung zu beschreiten); warum näm4ich sollten Räumliches und Unräumliches nicht aufeinander wirken können.? Dafür wird kein Grund angegeben, und moderne Denker (z. B. C. Stumpf, O. Külpe, E. Becher, H. Driesch u. a.) haben mehrfach betont, daß dergleichen durch kein bekanntes Gesetz ausgeschlossen und durchaus als möglich zu betrachten sei. Es hätte also noch besonderer Nachforschungen bedurft, um die Quelle der psycho- physischen Widersprüche ans Licht zu bringen, die tatsächhch in dem räumlichen Verhältnis der beiden Reiche zueinander verborgen hegt. Für uns liegt der Irrtum dieser Formulierungen von vornherein auf der Hand. Es war falsch, das Seelische schlechthin als unräumlich zu be- zeichnen. Wir wissen ja längst, daß im Gegenteil alle unsere Raumvor- stellungen ganz und gar aus den räumlichen, örtlichen Bestimmtheiten der Empfindungen geschöpft sind, daß nur diesen letzteren psychi- schen Größen Ausdehnung im anschaulichen Sinne zukommt, und gerade nicht den physischen Dingen. Solange dies verborgen bleibt und noch Schlick , Erkenntnislehre. 17 258 Die Erkenntnis des Wirklichen. dazu nicht zwischen der anschaulichen RäumHchkeit und der objektiven Ordnung der Dinge unterschieden wird, gerät man alsbald in Wider- sprüche, weil dann Physisches und Psychisches sich gleichsam gegenseitig den Besitz des Raumes streitig machen; sie erheben Ansprüche auf ihn, die nicht zugleich erfüllbar sind. Die Welt des Physischen nämlich, wie unsere Vorstellungskraft sie ausmaJt, ist dann nicht bloß räumlich, sondern sie umfaßt auch alles Räumliche; sie erfüllt als einzige den ganzen Raum und duldet darin nichts anderes neben sich. Die Empfindungsqualitäten haben in diesem Weltbild keine Stelle, denn die ,, sekundären Qualitäten" werden ja aus ihm, wie wir sahen, mit Notwendigkeit und mit Recht eliminiert. Sie kommen in den Gesetzen nicht vor, welche die Abhängigkeiten in der physischen Welt regeln. Alles, was in jener Welt geschieht, wird allein durch physische Grüßen bestimmt. Dieses Prinzip, vermöge dessen das physische Universum den ge- samten Raum für sich beansprucht, wird gewöhnlich als das ,, Prinzip der geschlossenen Naturkausalität" bezeichnet. Es wird von der Naturwissen- schaft nicht aus Übermut oder Herrschsucht aufgestellt, sondern seine Gültigkeit beruht darauf, daß sie aus ihrer abschließenden Begriffsbildung die Sinnesqualitäten verbannen muß und daß es sich mithin als unmög- lich erweist, irgendeiner Größe aus dem Reich des unmittelbar Gegebenen einen Platz in ihrem Weltbild zu gönnen. Konnte man sich als Naturforscher einstweilen bei dieser Sachlage beruhigen, so muß man als Psychologe und Philosoph die Frage aufwerfen: Was sind denn nun z. B. die sinnlichen Qualitäten, wenn sie nicht in die objektive Welt gehören, nicht Eigenschaften der körperlichen Dinge sind.-* Man gibt die Antwort: Es sind Zustände des Bewußtseins. Diese Antwort kann man gelten lassen, aber sobald man weiter fragt: Wo sind denn nun diese Bewußtseinszustände.? entstehen sofort die großen Widersprüche, die das psychophysische Problem ausmachen. Am bequemsten, scheint es, entflieht man der Frage ganz und gar, indem man sie als falsch gestellt ablehnt: die Seele sei unräumlich, ein Ort dürfe dem Bewußtsein nicht zugeschrieben werden. Und eben dies ist zweifellos der Grund, warum die Lehre von der Unräumlichkeit des Seelischen aufgestellt wurde. Leider aber ist der Ausweg nicht gangbar, wie wir wissen. Gewiß ist manches Psychische unörtlich; Trauer, Zorn, Freude sind nicht irgend w o: aber das gilt zum mindesten nicht von den Empfindungen; indem sie da sind, sind sie zumeist an einem bestimmten Ort und in einer bestimmten Ausdehnung da. Aber welchen Ort haben die sinnlichen Qualitäten, z. B. das Weiß dieses Papieres, das ich vor mir sehe.? Die Naturwissenschaft lehrt nachdrücklich, daß es nicht am Orte des physikalischen Objektes ,, Papier" ist; sie findet dort nur Körper- liches, Materie, Elektronen, oder wie es heißen mag, in bestimmten physi- kalischen Zuständen. Wir haben uns früher klar gemacht (S. 214), daß es zu Widersprüchen führt, wenn man das Weiß ebendorthin Weiteres zum psychophysischen Problem. 259 verlegen wollte. Der einzige andere Ort, der noch in Frage kommen könnte, ist das Gehirn. Aber auch dort befinden sich die sinnlichen Quali- täten nicht, denn wenn einer mein Hirn untersuchen könnte, während ich das weiße Papier anschaue, so würde er dort nie das Weiß des Papiers irgendwie vorfinden, weil sich eben in dem physikalischen Objekt ,, Gehirn" nichts anderes vorfinden läßt als physikaUsche Hirnprozesse. Also weder an dieser noch an jener Stelle des physischen Raumes können die sinnlichen Qualitäten lokalisiert sein: den Ort, den sie be- anspruchen müssen, finden sie überall schon besetzt von physischen Dingen, welche ihre Anwesenheit ausschließen. Nicht etwa deshalb, weil ver- schiedene Quahtäten nicht auf einmal denselben Ort einnehmen könnten — das wäre eine durchaus dogmatische Annahme — , sondern weil die Aufnahme einer psychischen Qualität an den Ort eines physischen Dinges sich aus andern, früher geschilderten Gründen verbietet. Die Welt des Physikers ist ganz in sich vollendet, die Welt des Psychologen läßt sich in sie nicht einfügen. Beide kämpfen um den Besitz des Raumes. Der eine sagt: An dieser Stelle ist weiß! der andere: an derselben Stelle ist nicht weiß! Diese Lokalisationswidersprüche sind es, und nichts anderes, die das wahre psychophysische Problem bilden. Es handelt sich wirklich um Widersprüche, und es beruhte nur auf unklarer Formulierung, wenn man das Problem sehen wollte in der Schwierigkeit, sich vorzustellen, ,,wie denn aus einem Hirnprozeß eine Empfindung werde", oder wie ,, Räumliches auf Unräumliches wirken könne", oder wie denn die Empfindungsqualitäten ,,aus der Seele in den Raum hinausprojiziert würden". Diese Sachen mochte man als Unerklär- lichkeiten ansehen, d. h. als etwas nicht weiter Reduzierbares, einfach Hinzunehmendes; aber das Leib- Seele-Problem war stets etwas Größeres, schwerer Lastendes, man fühlte, daß man es bei ihm mit einer Unver- träglichkeit zu tun hatte, und nur dadurch konnte es zu der zentralen Stellung gelangen, die es in den neueren metaphysischen Systemen ein- nimmt. Für uns existieren jene Widersprüche freilich nicht, denn wir wissen, daß unter ,,Ort" etwas ganz verschiedenes zu verstehen ist, je nachdem wir das Wort auf das unmittelbar gegebene Psychische oder auf die objek- tive Welt beziehen; im ersteren Falle nämlich bedeutet es ein anschau- Hches Datum, im letzteren eine Stelle in einer unanschaulichen Ordnung: bei dieser Sachlage können für uns keinerlei Konflikte entstehen. Erst wenn man jene Unterscheidung zu machen gelernt hat, werden sie ver- meidlich. Allzuleicht und unmerklich gleitet nun aber das philosophische Nachdenken auf einen Standpunkt, auf welchem gerade dieser wichtige Unterschied aufgehoben erscheint, wodurch dann die Lokalisationswider- sprüche unaufhebbar, die psychophysische Frage unlöslich werden. Man gelangt nämlich sofort zu einem falschen Ansatz beim Versuch der Lokalisation des Psychischen, wenn man mit der Naturwissenschaft die räumlichen Bedingungen verfolgt, unter welchen alle Empfindung 17* 26o Die Erkenntnis des Wirklichen. zustande kommt. Da sieht man nämlich, daß eine Brücke physikalischer Vorgänge geschlagen ist zwischen dem körperlichen Gegenstande der Wahr- nehmung und dem Sinnesorgan, zwischen diesem und der Großhirnrinde. \'on der tönenden Saite gehen mechanische Schwingungen der Luft bis zu meinem Ohr, und von dort pflanzt sich durch den Nerv ein Reiz nach dem Hörzentrum des Gehirns fort. Dies führt dazu, die Hirnerregung als unmittelbare Bedingung des Erlebnisses ,, Empfindung" anzusehen, und dies wiederum v e r führt dazu, das Erlebnis in das Gehirn, also in das räumlich Innere des menschlichen Leibes hineinzuverlegen. Und wenn man auch vielleicht nicht ausdrücklich eine Lokalisation etwa der Sinnes- qualitäten selbst in der Hirnrinde behauptet, so pflegt man doch, ohne sich das Nähere klar zu machen, stets so weiter zu denken, als ob das Psychische irgendwie im Kopfe unserer Mitmenschen wohne: das Be- wußtsein, die Seele hat ihren Sitz i n dem Leibe. Damit ist der große Fehler gemacht, von dem besonders eindringlich AvENARius gewarnt hat und den er als die Introjektion bezeichnet. Ist sie einmal vollzogen, so hat man sich damit den Weg zur Lösung des psychophysischen Problems versperrt, man hat die sinnlichen Qualitäten an einem falschen Orte lokalisiert, und die oben geschilderten Wider- sprüche werden unaufhebbar. AvENARius hat diesen fundamentalen Irrtum am deutlichsten be- zeichnet und mit der größten Energie beseitigt. Nach ihm wird die Intro- jektion ausgeschaltet, indem die einfachste Selbstbesinnung zum Ausgangs- punkt des Nachdenkens zurückgeht. Die psychischen Qualitäten sind etwas unmittelbar Gegebenes, schlechthin Erlebtes; deswegen kann es nicht erst eines Nachdenkens bedürfen, um festzustellen, w o sie sich be- finden. Das Weiß des Papieres vor mir ist niemals in meinem Kopfe gewesen. Jeder Versuch, es irgendwo anders zu lokalisieren als eben dort draußen an der Stelle, wo ich es sehe, scheitert unter allen Umständen. Es i s t eben dort, es wird dort vorgefunden, das ist eine unmittelbar erlebte Tatsache, und an Bewußtseinstatsachen gibt es nichts zu deuteln. Die Behauptung, jenes Weiß würde eigentlich zuerst im Gehirn erlebt und dann ,,hinausprojiziert", wäre noch sinnloser als etwa die Behauptung, ein Zahnschmerz würde eigentlich als Kopfschmerz gefühlt und dann in den Zahn hineinprojiziert. Man sieht: bei Avenarius tragen in dem Streit um den Besitz des Raumes die sinnlichen Quahtäten den Sieg davon. Es sind die ,, Elemente", die wir bei ihm und Mach schon kennen gelernt haben (oben § 24), die in ihrer bunten Mannigfaltigkeit den Raum erfüllen und sich zu Körpern und ,, Ichkomplexen" zusammenballen. In ihrer Mitte nach einem Ort für das ,, Bewußtsein" zu suchen, hat offenbar keinen Sinn, da sie ja selbst sämtlich zum Bewußtsein gehören (wenn auch Avenarius dieses Wort möglichst vermeidet). Die lEntscheidung mußte so fallen, weil der An- spruch der sinnlichen Qualitäten auf den Raum der ursprünglichere, schlechthin gegebene, nicht hinwegzuleugnende ist, während die physikali- Weiteres zum psychophysischen Problem. 261 sehen Objekte, Atome usw. nicht Dinge von gleicher Unmittelbarkeit dar- stellen; sondern wir gelangen zu ihnen erst durch Schlüsse, durch ge- dankliche Konstruktionen, die sich möglicherweise so modifizieren lassen, daß ihre Ansprüche nicht mit den schlechthin anzuerkennenden der ,, Elemente" in Widerstreit geraten. Die ersteren Ansprüche sind freilich von der MACH-AvENARius'schen Philosophie nicht mit derselben Schärfe und Energie geprüft worden, mit der sie die Unaufhebbarkeit der letzteren festgestellt hat, und deshalb hat die Gesamtlage durch sie noch keine rest- lose Aufklärung erfahren, wie wir schon früher (§§ 24, 25) zu zeigen hatten. AvENARius konnte eine Verwechslung des anschaulichen Raumes mit der objektiven Ordnung der Dinge vermeiden, weil er das Dasein der letzteren überhaupt leugnete. Schon vor ihm aber hatte ein großer Denker sich von dem Fehler der Introjektion freizuhalten gewußt, ohne einen so radikalen Weg einzuschlagen: nämlich Kant. Das Verhältnis des Bewußtseins zum Räume wird bei näherem Zu- sehen von Kant ganz genau so bestimmt wie von Avenarius. Gerade wie dieser entscheidet er in dem Kampf um den Raum zugunsten der psychischen Quahtäten. Er tut es durch seine ja auch von uns als richtig erkannte Lehre von der Subjektivität (oder ,, Idealität") des Raumes. Sie besagt, daß der Raum — das heißt hier, wie wir wissen, die anschauliche Räumhchkeit — nicht etwas jenseits des Bewußtseins Existierendes ist, sondern etwas unseren Vorstellungen Anhaftendes. Alle räumlich be- stimmten Gegenstände sind nicht Dinge an sich, sondern Vorstellungen meines Bewußtseins, oder, wie Kant es leider nennt, ,, Erscheinungen". Also auch auf "dem Standpunkt Kant's ist es unsinnig, nach einem Ort der Seele im Räume zu suchen, das Psychische ist nicht im Kopfe des Menschen lokalisiert, sondern der Kopf ist selbst nur eine Vorstellung im Bewußtsein. Damit ist die Introjektion de facto überwunden. Die für sie charakteristische Unterscheidung zwischen dem wahrgenommenen an- schauHchen Körper außerhalb der Seele und der Wahrnehmungsvorstellung in derselben ist auch für Kant hinfällig. Für ihn wie für Avenarius ist beides ein und dasselbe. Bei dem Eifer, mit dem gemeinhin die Unterschiede der philosophi- schen Systeme betont werden, scheint es mir von hoher Wichtigkeit, das Übereinstimmende hervorzuheben, wo man ihm begegnet, zumal wenn es sich um zwei Standpunkte von so überragender historischer Bedeutung handelt, wie der Kritizismus und der AvENARius-MACH'sche Positivismus es sind. Die Tendenz und die Terminologie beider Systeme sind freilich so verschieden, daß sie von ihrer äußeren Einkleidung erst befreit werden müssen, ehe die vollkommene innere Übereinstimmung an dem besprochenen Punkte zutage tritt. Für Kant sind die Gegenstände der anschaulichen W^elt ,, Erschei- nungen", d. h. Vorstellungen, d. h. Bewußtseinsinhalte. Avenarius würde diese Bezeichnungen strikte abgelehnt haben. Er verwendet gleich uns den Begriff der ,, Erscheinung" nicht und braucht daher auch nicht 202 Die Erkenntnis des Wirklichen. den Begriff der Idealität des Raumes einzuführen. Ausdrücklich lehnt er den „idealistischen" Standpunkt, für welchen alles Gegebene von vorn- herein zum Subjekt gehört, als subjektiv aufgefaßt wird, als Ausgangs- punkt ab (vgl. z. B. Der menschliche Weltbegriff^ S. IX). Er vermeidet die Introjektion durch eine vorsichtige Beschreibung des Vorgefundenen; Kant dagegen überwindet sie durch nachträgliche Korrektur einer durch wissenschaftliches Denken bereits beeinflußten Weltansicht und gelangt daher zu etwas anderen Formulierungen. Im Grunde aber meinen beide Denker sicherlich nichts Verschiedenes, wenn der eine von Umgebungs- bestandteilen, der andere von Erscheinungen als Vorstellungen im Bewußt- sein redet. Die Rolle, die sie diese Dinge in ihrem Gesamtweltbild spielen lassen, ist bei beiden natürlich eine verschiedene, aber an sich bedeuten sie ein und dasselbe, und es liegt nur eine terminologische Differenz vor. Wenn wir das Weiß des Papieres als Bewußtseinsinhalt, als psychisch be- zeichnen, weil wir es doch eben bewußt haben, so würde Avenarius nichts dagegen einwenden können, sondern höchstens die Terminologie wegen der damit leicht sich verbindenden Nebengedanken für unzweck- mäßig erklären. Bei richtigem Gebrauch ist sie aber gar nicht unzweck- mäßig und hat das historische Recht für sich. Wir haben daher hier auch stets die Termini ,, unmittelbar gegeben", ,, psychisch" und ,, Bewußt- seinsinhalt" als völlig gleichbedeutend verwendet. So dürfen wir sagen: Kant nimmt den Raum in das Bewußtsein hinein, Avenarius dehnt das Bewußtsein über den Raum aus. Beides sind nur verschiedene Ausdrucksweisen für einen und den- selben Gedanken, daß nämlich die Sphäre des sinnlichen Bewußtseins mit dem anschaulichen Raum zusammenfällt. Das Verhältnis des Räumlichen zum Bewußtsein ist mithin bei beiden Philosophen identisch dasselbe. Avenarius sah die Welt mit ganz anderen Augen an als Kant und wurde wohl selbst nicht gewahr, daß er hier ein Stückchen den gleichen Weg wandelte wie Kant. Daß trotz der verschiedenen Anlage beide Denker denselben Weg gingen, wäre kaum erklärlich, wenn es nicht der Weg der Wahrheit wäre. Und das ist er in der Tat. Das Verhältnis von Raum und Bewußtsein kann nicht anders bestimmt werden als es geschieht durch die Einsicht in die Unhaltbarkeit der Introjektion, die in dieser Hinsicht identisch ist mit der Lehre von der Subjektivität des Raumes. Die Positivisten betonen gern den Gegensatz ihrer Anschauungen gegen Kant und pflegen dabei dann die bedeutsame Übereinstimmung nicht zu bemerken. Deshalb verdient es um so mehr hervorgehoben zu werden, daß man die richtige Einsicht in die Identität der KANT'schen Raumlehre mit der empiriokritischen Ausschaltung der Introjektion bei J. Petzoi.dt findet, der unter anderem von Kant sagt^): ,, Dagegen räumte er mit dem barbarischen Quidproquo auf, das mit den physiologischen Reizen ') Das Wcltprobleni vom positivistischen Standpunkte aus. S. 163 der i. Aufl. 1906. Weiteres zum psychophysischen Problem. 263 auch die psychologischen Empfindungen in das Gehirn hineingelangen läßt, die dann natürHch wieder hinausverlegt werden müssen." Die Aufhebung oder vielmehr Vermeidung der Introjektion ist die notwendige Bedingung zur Lösung der psychophysischen Frage; daß sie aber nicht etwa schon die hinreichende Bedingung zur Erreichung eines allseitig befriedigenden Standpunktes darstellt, ergab uns die frühere Kritik des AvENARius'schen Weltbildes. Auch die weitere Ausgestaltung des KANT'schen Systems zeigt, daß neue W^idersprüche in der Leib-Seele- Frage sich erheben können, auch nachdem man die Erkenntnis gewonnen hat, daß nicht das Bewußtsein irgendwo im Räume lokalisiert werden kann, sondern umgekehrt der Raum im Bewußtsein ist. Kant selbst meint freilich, daß seine Ansicht eine prinzipiell voll- ständige Klärung leiste. Er sagt nämlich in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft ^): ,,Denn alle Schwierigkeiten, welche die Verbindung der denkenden Natur mit der Materie betreffen, entspringen ohne Aus- nahme lediglich aus jener erschlichenen dualistischen Vorstellung: daß Materie, als solche, nicht Erscheinung, d. i. bloße Vorstellung des Gemüts . . ., sondern der Gegenstand an sich selbst sei, so wie er außer uns und un- abhängig von aller Sinnlichkeit existiert." Von einer Wechselwirkung der räumhchen Gegenstände auf das Bewußtsein kann bei Kant keine Rede mehr sein, denn wir brauchen nur zu bedenken, daß die Körper ,, nicht etwas außer uns, sondern bloß Vorstellungen in uns sind, mithin daß nicht die Bewegung der Materie in uns Vorstellungen wirke, sondern daß sie selbst bloße Vorstellung sei . . /' ^). Die Naturkörper, mein Leib, mein Nervensystem und Gehirn, sie alle wirken aufeinander, aber damit ist die Kausalkette geschlossen, sie wirken nicht noch auf mein Bewußtsein, denn sie sind alle nur ,, Erscheinungen", d. h. Modifikationen dieses Bewußt- seins selber. Die Empfindungsqualitäten werden also nicht durch Ein- wirkung der Körper im Bewußtsein erzeugt und dann erst von diesem wieder auf jene hinausprojiziert, sondern sie kommen tatsächlich von vornherein den Körpern zu, sie sind an eben den Orten, wo sie wahr- genommen, erlebt werden und gehören damit dem Bewußtsein an, denn alles Räumliche gehört als Vorstellung zum Bewußtsein. Bis hierher scheint alles in Ordnung und die gefürchteten Wider- sprüche des Problems scheinen vermieden zu sein: die ,, sekundären QuaH- täten" befinden sich in dem anschaulichen Räume des Bewußtseins, welches sie wahrnimmt; das Ding an sich aber, das nach Kant's Lehre dem wahr- genommenen Körper entspricht, ist unräumlich. Kant hat zweifellos angenommen, daß eine objektive Ordnung der Dinge an sich der subjek- tiven raum-zeitlichen Ordnung der ,, Erscheinungen" genau korrespon- ^) Ausgabe Kehrbach, S. 329. ^) Ausgabe Kehrbach, S. 326. 264 Die Erkenntnis des Wirklichen. diert ^), er macht also — und zwar als erster in der Geschichte der Philo- sophie — mit voller Deutlichkeit den Unterschied zwischen anschaulicher Räumlichkeit und transzendenter Ordnung. Aber er versäumt es, die an- schaulichen Räume der verschiedenen Sinne voneinander zu sondern, und spricht statt dessen immer nur von ,,dem" Räume, den er dann für eine Anschauungsform erklärt. Wenn wir jedoch von den Sinnesräumen zur Konstruktion des einen Raumes der physischen Körper übergehen, so ist dieser überhaupt nichts Anschauliches mehr, sondern nur ein Begriff, welcher eben die transzendente Ordnung des Wirklichen bezeichnet. Der KANx'sche Begriff des einen anschaulichen Raumes ist daher ein Un- ding, und es konnte nicht ausbleiben, daß die bis dahin glücklich ver- miedenen Widersprüche durch das Tor dieses Fehlbegriffes doch wieder in das System hineinschlüpfen. Eine einwandfreie Definition des Physi- schen wird ihm auf dieser Grundlage unmöglich. Er bezeichnet nämlich, wie aus der zuletzt angeführten Stelle hervorgeht, die Materie als Er- scheinung, also als bloße Vorstellung, weil sie räumliche Eigenschaften habe, und Räumlichkeit eben eine Eigenschaft der Anschauungen, Vor- stellungen ist. In Wahrheit aber ist ein physikaHsches Objekt, der Gegen- stand der Physik, etwas Unanschauliches; es ist ja aller sekundären Quali- täten und der Räumlichkeit entkleidet, diese sind für jeden Beschauer verschieden, wechseln mit der Blickrichtung, Stellung, Beleuchtung, der physische Körper dagegen ist der identische Gegenstand, der von all dem unabhängig ist und auf den jene verschiedenen Wahrnehmungen sich be- ziehen, er besitzt keine anschauliche Räumlichkeit. Er ist eben keine Vorstellung, sondern ein unanschaulicher Begriff. Indem nun bei Kant das Reich der physischen Objekte wiederum im anschaulichen Raum seine Stelle finden soll, treten die früheren Konflikte wieder auf, der Weg zur endgültigen Lösung des Problems wird verbaut, denn nun geraten die Sinniesqualitäten wieder in den Raum der Materie, der Körper, und wir wissen, daß die Ansprüche des Physischen und des Psychischen schlechter- dings miteinander unverträglich sind. Auch bei Kant finden wir also noch die widerspruchsvolle Definition des Physischen, welche das Leib- Seele-Problem hervortreibt. Physische Körper sind eben nicht Reahtäten im anschaulichen Raum. Von allen Seiten sehen wir uns so auf das erreichte Resultat zurück- geführt: Unter ,, physisch" darf nicht verstanden werden eine besondere Gattung des Wirklichen, sondern man muß darunter eine besondere Art der Be.?eichnungsweise des Wirklichen verstehen. Ist diese Bezeichnungsart aber auf alles Wirkliche anwendbar, dann 'auch auf das Psychische. Besteht daher überhaupt eine Zuordnung, wie sie für unsere Erkenntnis nötig ist, so stellt sie notwendig einen Paralle- lismus dar. Von einer Wechselwirkung zu reden hat unter diesen Um- ständen gar keinen Sinn. Ihre Unmöglichkeit ist auf unserem Stand- ') Siehe oben S. 207. Weiteres zum psychophysischen Problem. 265 punkte nicht etwa eine Hypothese oder eine empirische Tatsache, son- dern sie ist mit dem Begriff des Physischen unvereinbar. Wechsel- wirkung kann nur bestehen zwischen wirkhchen Gegenständen, nicht zwischen Wirkhchem und begriffhchen Zeichen. Alle durch erkenntnistheoretischen Tiefblick geläuterten Systeme haben daher früher gleichsam instinktiv den Gedanken der Wechselwirkung zurück- gewiesen, als ihnen die richtige Einsicht in den Grund ihrer Unmöglich- keit noch fehlte. Bei Spinoza und Leibniz ist der Parallelismus noch ein metaphysischer, ebenso bei Kant. Denn bei ihm sind die psychischen Gebilde auch nur eine Art von ,, Erscheinungen", nämhch des ,, inneren Sinnes"; aus der Konsequenz seines Systems heraus müssen wir annehmen, daß ein und dasselbe Ding an sich sowohl dem äußeren wie dem inneren Sinn, sowohl als Physisches wie als Psychisches ,, erscheinen" kann. Lehrreich ist es hier, die Stellung Mach's zur ParalleHsmusfrage zu betrachten. Wir wissen, daß ein ,, Element" ihm als physisch oder psychisch gilt, je nach dem Zusammenhange, in dem man es untersucht. Die gesetz- hche Abhängigkeit, vermöge deren ein Element einem ,, Körper" angehört, ist ganz verschieden von der, welche die Zugehörigkeit eines Elementes zu einem bestimmten ,,Ich" begründet. Zwischen diesen beiden Reihen von Abhängigkeiten würde dann eine genaue Entsprechung stattfinden: dem gesetzmäßigen Wechsel der Elemente, aus denen der Verlauf meiner Erlebnisse sich zusammensetzt, würde genau korrespondieren ein Wechsel bestimmter Elemente, aus denen mein ,, Gehirn" sich aufbaut für einen Betrachter, der dies Gehirn in allen Einzelheiten sinnlich wahrnehmen könnte. In diesem Sinne bezeichnet Mach (Analyse der Empfindungen* S. 51) das Prinzip des ,, vollständigen Parallelismus des Psychischen und Physischen" als ,,fast selbstverständlich". Von unserem Standpunkt aus erkennen wir aber, daß die Zuordnung, die hier besteht, gar nicht paralle- hstisch, sondern vielmehr kausaler Natur ist. Denn die Wahrnehmungen, die ein Beschauer bei der Untersuchung meiner Gehirnprozesse hat, sind reale psychische Größen, ebensowohl wie mein eigenes Innenleben, das ich währenddessen erlebe. Zwischen diesen beiden Reihen realer Vor- gänge besteht zweifellos diejenige Abhängigkeit, die man als kausale be- zeichnet; die Wahrnehmungen des gedachten Gehirnbeobachters sind durch meine eigenen Erlebnisse bedingt, sie sind Wirkungen derselben, genau so, wie die Schmerzempfindung an der Wange eines Geohrfeigten eine Wir- kung von Zorngefühlen im Gemüt des Angreifers ist. In beiden Fällen handelt es sich natürlich um indirekte Wirkungen, d. h. um solche, die durch dazwischen liegende reale Größen (objektive Qualitäten) vermittelt werden. Wir versagen es uns, die gewonnenen Anschauungen durch Vergleich mit anderen Formulierungen bekannter Denker noch näher zu erläutern und zu bewähren; es dürfte klar geworden sein, daß der hier eingeschlagene Weg zu einer prinzipiell einfachen, nach allen Seiten gesicherten Ansicht 266 Die Erkenntnis des Wirklichen. geführt hat ^). Nur nach einer Seite hin soll die Sicherung im nächsten Paragraphen noch ein wenig verstärkt werden. 33. EinAvände gegen den Parallelismus. / Die parallelistische Lehre ist bekanntlich in der gegenwärtigen Philo- sophie von vielen Seiten angefochten und durch den Einfluß bedeutender Forscher, die sich zur Wechselwirkungslehre bekannten, aus der herrschen- den Stellung verdrängt worden, die sie lange inne hatte. Nun wissen wir zwar, nachdem wir uns über den wahren Charakter des Begriffes vom Physischen geeinigt haben, daß dieser Begriff jede Wechselwirkung mit Sicherheit ausschließt; man kann aber natürlich versuchen, den Gedanken einer solchen aufrecht zu erhalten, wenn man unter ,, physisch" etwas anderes verstehen will. Das tun die Anhänger jenes Gedankens nun wohl in der Tat, freilich oft ohne sich selber über den zugrunde gelegten Begriff des Physischen klar auszusprechen. Schon aus diesem Grunde ist es nützlich, ihre Argumente zu prüfen, weil dadurch ihre Voraussetzungen besser ans Licht gebracht werden. Können wir dann noch nachweisen, daß diese Voraussetzungen unbewiesen sind, so sind zugleich die Angriffe gegen den Parallelismus abgeschlagen und dieser um so sicherer be- festigt. Von den Gründen, die man gegen ihn ins Feld führt, interessieren uns alle diejenigen nicht, welche gegen seine metaphysischen Formen ge- richtet sind, also etwa gegen die Lehre, daß Leib und Seele zwei verschiedene ,, Erscheinungsweisen" eines und desselben Dinges an sich wären, oder gegen die Meinung, daß es zwei voneinander gänzlich unabhängige Reiche des Wirkhchen seien, zwischen denen aber eine prästabilierte Harmonie bestehe. Unter den Argumenten der Anhänger der Wechselwirkung be- finden sich nun aber auch solche, die eine durchgehende Zuordnung quan- titativer Begriffe zu den psychischen Qualitäten direkt für unmöglich er- klären, also gerade das für ausgeschlossen halten, was wir für die exakte Erkenntnis der Bewußtseinsvorgänge als notwendig erkannt haben. Gegen die Reduktion der Psychologie auf Gehirnphysiologie — denn darauf läuft ja die Forderung unseres Parallelismus'hinaus — hat man nun geltend gemacht, daß keine physiologische Theorie vermöchte, auch nur von den elementarsten psychischen Gesetzmäßigkeiten befriedigend Rechenschaft zu geben. (Die schärfsten Argumente in dieser Richtung sind von E. Becher vorgebracht worden, besonders in seinem Buche ,, Gehirn und Seele" 191 1. Teilweise ähnliche Bedenken hat v. Kries geltend gemacht in seiner Schrift ,,Über die materiellen Grundlagen der Bewußtseinserscheinungen" 1901. Er hielt sie aber nicht für unüberwind- lich und hat selbst auf ihre Überwindung hingearbeitet.) ^) In einem Aufsatz ,, Idealität des Raumes, Introjcktion und psychophysisches Problem" (Vierteijahrsschr. f. wiss. Phil. 1916. Bd. 40) habe ich den wesenthchen Inhalt dieses Paragraphen bereits dargestellt. Einige der vorstehenden Ausführungen sind jenem Aufsatz wörtlich entnommen. Einwände gegen den Parallelisraus. 267 Alle physiologischen Hypothesen nehmen ihren Ausgang von der Sinneswahrnehmung als der wichtigsten Quelle des psychischen Lebens überhaupt. Bei einer Wahrnehmung werden nervöse Erregungen vom Sinnesorgan (z. B. von der Netzhaut des Auges) zum Zentralorgan (z. B. der Sehsphäre der Großhirnrinde) fortgeleitet und hinterlassen hier, nach- dem sie verklungen sind, irgendwelche Spuren, Residuen, Dispositionen, welche zur Erklärung der Gedächtnisbilder und der Assoziation heran- gezogen werden. Die verschiedenen Residuen sind nämlich durch ,, Asso- ziationsfasern" miteinander verbunden, und wenn eines von ihnen erregt wird, so strahlt unter gewissen Voraussetzungen die Erregung durch jene Fasern auf andere über, teilt sich ihnen mit, und diesem letzteren physischen Prozeß entspricht nun eben das Aufleben der Vorstellungen im Bewußtsein, die jenen Spuren im Gehirn korrespondieren. Sehe ich z. B. das Porträt eines Freundes vor mir, so sind gewisse Zellen meines optischen Zentrums in Tätigkeit. Es stellt sich eine Verbindung mit anderen Zentren her, z. B. mit dem akustischen, und weckt dort die Residuen, die dem Klangbild des Namens jenes Freundes entsprechen: Sein Name taucht in meinem Bewußtsein auf. Und selbst bei solch einem Vorgang von scheinbar größter Einfach- heit stößt man auf gewaltige Schwierigkeiten, wenn man sich davon ein genaues Bild machen will, das mit den Erfahrungstatsachen im Einklang bleibt. Nur auf einige von diesen sei aufmerksam gemacht. Schon die Natur und die LokaHsation der Residuen ist schwer vorstellbar. Wenn ich einen Freund aus der Ferne betrachte, so ist das Netzhautbild in meinem Auge klein, und von dort wird eine bestimmte Partie meines Gehirns erregt; sehe ich ihn aus größerer Nähe an, so treten größere und andere Partien dabei in Tätigkeit, denn von anderen Punkten der Netzhaut führen die Nervenleitungen auch zu anderen Ganglienzellen der Seh- sphäre; das Gedächtnisresiduum muß also in beiden Fällen ein anderes sein. Einen guten Freund habe ich aber nicht nur zu zwei verschiedenen Malen, sondern in tausenden von verschiedenen Stellungen und Ent- fernungen gesehen: es wird kein Fleckchen der Netzhaut geben, auf welches sein Bild nicht schon einmal projiziert gewesen wäre. An der Bildung des optischen Gedächtnisresiduums ist daher die gesamte Sehsphäre beteiligt und noch dazu jede Zelle auf tausenderlei verschiedene Weise, entsprechend der großen Zahl der Wahrnehmungen, bei denen sie tätig war. Man sieht daraus, daß von einer Lokalisation der Gedächtnisspur an irgendeiner eng umgrenzten Stelle der Sinnessphäre (oder gar in einer einzigen Zelle, wie man sich das vor Jahrzehnten noch dachte) nicht wohl die Rede sein kann. Und nun bedenke man — um bei optischen Gedächtnis- bildern zu bleiben — daß es wieder dieselben Zellen sind, die bei allen anderen Gesichtswahrnehmungen und folglich bei der Bildung aller anderen visuellen Residuen beteiligt sind: und es wird ohne weiteres klar, daß die skizzierte rohe physiologische Hypothese ganz und gar ungeeignet ist, eine Erkenntnis psychischer Gesetzmäßigkeiten zu vermitteln. Sie setzt Resi- 268 Die Erkenntnis des Wirklichen. duen voraus, die durch ,, ausgeschliffene" Bahnen miteinander verbunden, aber räumlich getrennt sind, sie kann aber nicht verständlich machen, wie eine solche Trennung zustande kommen soll, da doch vielmehr, wie unsere Betrachtung lehrte, die Residuen sich überlagern, vermischen und gegenseitig auslöschen müßten, weil sie einander den Platz in der ent- sprechenden Hirnsphäre streitig machen. Die Schwierigkeiten vergrößern sich noch, wenn man sich davon Rechenschaft zu geben sucht, wie die Residuen einzeln für sich erregbar sein sollen in einer ganz anderen Reihenfolge als sie gebildet wurden, und wenn man näher auf die Psychologie des Wahrnehmens und Vorstellens einzugehen sucht, z. B. auf die Rolle, welche die sogenannten Gestalt- qualitäten dabei spielen — ganz zu schweigen von der Deutung höherer psychischer Funktionen, wie Abstraktion, logisches Denken, Phantasie. Die physiologischen Hypothesen vermögen also in der üblichen For- muherung eine Erklärung des psychischen Geschehens tatsächlich nicht zu leisten. Und da bisher auch keine andere Formuherung gefunden wurde, die imstande wäre, die Aufgabe besser zu lösen, so haben einige Denker geschlossen, man müsse dort, wo die physiologische Theorie versage, eine psychistische an ihre Stelle setzen, d. h. man müsse zurückkehren zur Annahme eines Psychischen, einer Seele, als einer besonderen Art des Wirklichen, welche der Beschreibung durch die räumlich-quantitativen Begriffe der Naturwissenschaft widerstrebt und ihre eigene, eigentümliche Gesetzmäßigkeit hat: eben die, welche wir als ,, psychologische" aus der Erfahrung kennen. In dieser Auffassung bezeichnet der Gegensatz physisch-psychisch einen sachlichen realen Unterschied. ,, Physisch" wäre das Wirkliche, dessen Wesen eine Beschreibung durch die quantitativen Begriffe gestattet, ,, psychisch" hieße das Sein, bei welchem das nicht der Fall ist. Hier würden also die beiden Begriffe einen anderen Sinn bekommen. Die neue Definition könnte zusammenfallen mit der früher von uns gemachten Unterscheidung der objektiven und subjektiven Qualitäten (wir können sie auch als extramentale und mentale auseinander halten); ein solches Zusammenfallen findet aber nicht statt, wenn man die Annahme eines unbewußten psychischen Seins zuläßt (wie jene Denker es meist tun), denn die Zugehörigkeit zu einem Bewußtsein war das charakteristi- sche, notwendige Merkmal desjenigen Wirklichen, das wir als subjektiv oder psychisch oder mental bezeichneten. Für uns war alles Unbewußte als solches extramental, objektiv, und es darf daher nicht subjektiv, nicht psychisch heißen; mit der jetzt dargelegten Auffassung aber wäre es durchaus verträglich, ihrer Definition des Psychischen widerspräche es nicht. Auch der Gedanke einer Wechselwirkung zwischen Seelischem und Körperlichem würde unter Voraussetzung der neuen Begriffsbestimmung nicht nur sinnvoll sein, sondern sie muß sogar notwendig behauptet werden. Das tun denn auch die Vertreter der geschilderten Meinung, und darin verfahren sie durchaus konsequent. Man dürfte dann ohne Widerspruch Einwände gegen den Parallelismus. 269 von einer psycho-,, physischen" Wechselwirkung reden, aber es ist wohl zu bedenken, daß das Wort physisch hier doch eben etwas anderes bedeuten würde als in der populären Sprechweise. Denn es bezeichnet ja nicht das anschaulich Ausgedehnte, Körperliche, sondern eine Klasse von Dingen an sich, von transzendenten Qualitäten, und an dergleichen denkt niemand, der im Leben oder in der Naturwissenschaft von Physischem redet. Daß in der modernen Wechselwirkungslehre das Wort physisch nur in jener ganz bestimmten anderen Bedeutung verwandt werden kann, wenn anders man nicht an den Widersprüchen des Leib-Seele-Problems scheitern will — das muß bei der Beurteilung dieser Lehre im Auge behalten werden. Aus früheren Betrachtungen ist uns bereits klar, warum eine solche Wechselwirkungslehre, nach der es zwei verschiedene Arten realen Seins gibt, unbefriedigend bleiben muß. Die beiden Arten sollen sich ja dadurch unterscheiden, daß nur eine von ihnen der Herrschaft der Quantität, der Physik, unterworfen werden kann; wir fanden aber in der Anwendbarkeit der physikalischen Begriffsbildung ein Postulat, von dessen Erfüllung überhaupt die Möglichkeit der vollständigen Erkenntnis abhängt. Jene Lehre schließt also die Reduktion psychologischer Gesetze auf andere Naturgesetze aus und setzt damit dem Erkenntnisfortschritt von vorn- herein eine bestimmte nicht zu überschreitende Grenze. Sie hat ferner den Nachteil, daß sie keine zweckmäßige Arbeitshypo- these abgibt. Denn sie geht nicht aus von einer bestimmten Hypothese über die Natur der Seele, aus welcher die Tatsachen des psychischen Lebens sich eindeutig ableiten ließen, sondern begnügt sich mit der Kon- statierung, es mache eben die Eigenart des seehschen Wesens aus, daß seine Vorgänge gerade -so verlaufen, wie wir sie kennen und nicht anders. Man muß der Psyche alle erforderlichen Eigenschaften zuschreiben, ohne sich über ihren Zusammenhang genau Rechenschaft geben zu können: sie besitzt eben die Fähigkeit, Wahrnehmungen zu haben und zu ver- arbeiten, Residuen aufzubewahren, zu verknüpfen und in Vorstellungen wieder aufleben zu lassen, und es fehlt an jeder Hypothese, mittels der diese Mannigfaltigkeit vereinheitlicht werden könnte. Wollte und könnte man eine solche aufstellen — wer bürgt dafür, daß wir dann nicht ebenso großen oder größeren Schwierigkeiten begegnen als bei jener physiologi- schen Theorie.? Die ganze Wechselwirkungslehre steht und fällt mit dem Nachweis, daß die im Bewußtsein gegebenen Qualitäten sich von den nichtgegebenen ,, physischen" wirklich dadurch unterscheiden, daß es auf keine Weise möglich ist, ihnen ein System quantitativer Begriffe eindeutig zuzuordnen. Ist nun dieser Nachweis geführt.? ist bewiesen, daß es ein Sein gibt, das nicht unter die Definition des Physischen fällt, die jener Lehre implicite zugrunde liegt, oder besteht immer noch die Möglichkeit, das gesamte Sein ohne Ausnahme mit Hilfe physikalischer Begriffsbildung wissenschaft- lich darzustellen.? 270 Die Erkenntnis des Wirklichen. Sie besteht nach meiner Überzeugung in der Tat; allgemein und prinzipiell ist die Absurdität jeder physiologischen Theorie der Bewußt- seinserscheinungen durch die besprochenen Einwände nicht dargetan. Die Beteiligung des Gehirns am Zustandekommen seelischer Vorgänge muß natürlich auch die psychistische Hypothese anerkennen, denn sie ist ja eine Tatsache der Erfahrung: durch bestimmte Störungen im Gehirn werden bestimmte seelische Störungen bedingt. Die Psyche muß nach der Wechselwirkungslehre auf Teile des Gehirns wirken und umgekehrt, und die Angriffspunkte dieser Einwirkungen müssen irgendwo im letzteren lokalisiert sein; ihre Feststellung bleibt immer Sache der physiologischen Theorie. Es bedarf also einer solchen unter allen Umständen, und es wäre methodisch verkehrt, wollte man nicht mit ihr allein auszukommen ver- suchen und eine psychistische Hypothese für notwendig erklären, ehe nicht die Unmöglichkeit jeder physiologischen sicher bewiesen ist. Das ist aber nicht der Fall, denn die besprochenen Einwände zeigen nur die Unzuläng- lichkeit der bisher in dieser Richtung angestellten Versuche, sie vermögen nicht darzutun, daß eine physiologische, d. h. letzten Endes eine physi- kalische Erklärung im Prinzip ausgeschlossen ist. Es gibt keinen all- gemeinen Satz, auf den ein solcher Unmöglichkeitsbeweis gegründet werden könnte. Im Gegenteil, es erscheint durchaus denkbar, mit Hilfe eines ,, physischen" Systems Leistungen zu vollbringen, die den oben behandelten Bewußtseinsvorgängen durchaus analog sind. Man kann sich einen Kine- matographen oder ein Grammophon durch beUebig komplizierte Vorrich- tungen so vervollkommnet denken, daß die Reproduktion empfangener Eindrücke in einer Weise erfolgt, die der Gedächtnisleistung vergleichbar ist und hinter ihr nicht mehr zurücksteht als es der Bildsamkeit der leben- digen Materie entspricht im Vergleich mit der Starrheit des Materials, aus dem wir unsere physikalischen Apparate herzustellen pflegen. Es ist selbstverständlich kein Einwand, daß im Gehirn eine Struktur, die den erwähnten Instrumenten äußerlich ähnelte, nicht bekannt ist, denn es kommt nur auf das zugrunde Hegende Prinzip an, und dies kann hier wie dort in gleicher Weise wirksam sein: nämlich das Prinzip der Ver- wandlung eines zeitlichen Nacheinander in ein räumliches Nebeneinander — ein Grundsatz, den besonders R. Semon als notwendiges Fundament psychophysischer Theorien erkannte und als Prinzip der ,,chromogenen Lokahsation" bezeichnete (in den Büchern: ,,Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens" und ,,Die mnemischen Empfindungen"). Den Ausbau irgendeiner speziellen Hypothese zu ver- suchen, erscheint methodisch unangebracht, solange die positive Grund- lage in Gestalt einer genauen Kenntnis der Prozesse in den Ganglien- zellen des Zentralnervensystems noch fehlt. Für unsere erkenntnistheore- tische Betrachtungsweise handelt es sich nicht um die Richtigkeit irgend- einer besonderen Theorie, sondern um die M ö g 1 i c h k e i t einer Theorie überhaupt. Einwände gegen den Parallelismus. 271 Waren die bisherigen Einwände gegen den Parallelismus zurückzu- weisen, weil sie nicht bis zur Region der letzten Prinzipien vordrangen, so müssen wir um so größere Aufmerksamkeit zwei anderen Argumenten schenken, welche gerade von vornherein auf das Prinzipielle gehen. Beide verfahren so, daß sie die Mannigfaltigkeit der psychischen WirkHchkeit mit derjenigen des physischen Begriffssystems vergleichen und die zwei Gebiete inkommensurabel finden. Der erste Einwand betont die Einfachheit vieler seelischer Er- lebnisse und stellt ihr die Kompliziertheit der zugeordneten physischen Vorgänge gegenüber. Wenn ich einen einfachen Ton höre, so ist dies eine absolut einheitliche, unzerlegbare Empfindung, es lassen sich keine Teile daran unterscheiden, keine elementaren Erlebnisse darin aufweisen, aus denen der Ton etwa zusammengesetzt wäre; er ist ein letztes, unteilbares Element des Seelenlebens. Sein physiologisches Korrelat dagegen — in unserer Terminologie: der ihm zugeordnete naturwissenschaftliche Begriff — ist scheinbar etwas überaus Zusammengesetztes. Denn die physikaHschen Vorgänge und die Materie, an der sie sich abspielen, sind eben ungeheuer kompliziert. Von den zahllosen Zellen, aus denen das Gehirn sich aufbaut, treten bei Gelegenheit einer Empfindung sicherlich eine große Menge in Aktion; die lebendige Substanz einer jeden von ihnen enthält wohl viele Millionen Moleküle, jedes Eiweißmolekül Hunderte von Atomen, die ihrerseits in noch kleinere Teilchen — Elektronen — zer- fallen. Alle diese Teilchen sind zweifellos wirklich, d. h. der Begriff eines Atoms oder Elektrons bezeichnet einen Komplex realer Qualitäten. Und nun soll der Begriff eines Gehirnvorganges, an dem doch so viele solcher Komplexe von Qualitäten beteihgt sind, nur eine einzige Qualität bezeichnen, nämlich eben jenen einfachen Ton. Ist das nicht ein ganz unlöslicher Widerspruch .'' Der Einwand ist so prinzipieller Natur, daß es keine Rettung vor ihm zu geben scheint. Dennoch glaube ich, läßt sich ein Ausweg auf ganz natürliche Weise finden. Wir müssen uns nur vor Augen halten, was wir über die in Frage kommenden Vorgänge eigenthch wissen und welchen Spielraum wir für die physiologischen Hypothesen haben. Wir wissen wohl, daß zahllose Ganglienzellen, jede aus zahllosen Molekülen bestehend, bei einem Emp- findungsprozeß sich betätigen; wir wissen aber nicht, welcher Vor- gang nun der einfachen Empfindung als physisches Korrelat zuzuordnen ist. Sicherlich ist es nicht der gesamte Hirnprozeß, sondern nur irgendein Teil davon. Welcher Teil, können wir freilich nicht sagen, zumal uns jener Prozeß selber nicht genügend bekannt ist. Es kann also auch ein minimaler Teilvorgang, ein Prozeß von beUebiger Einfachheit sein; und wir dürften aus dem besprochenen Einwand höchstens die Lehre ziehen, daß es in der Tat ein ganz einfacher Prozeß sein muß; nur einen solchen, nicht einen durch größere Gehirnpartien ausgebreiteten Vorgang können wir als Zeichen für die einfache Qualität der Tonempfindung gebrauchen. Wir müssen annehmen, daß der komplizierte Gesamtprozeß im Gehirn 272 Die Erkenntnis des Wirklichen. nötig ist, um jenen einfachen gerade in der richtigen Weise und im richtigen Zusammenhang hervorzubringen, aber dieser selber kann so elementar und unzerlegbar sein wie man nur will. Hierdurch scheint mir der Einwand bereits völlig entkräftet zu sein; wir können aber noch schwereres Geschütz auffahren, das wir in einem früheren Paragraphen schon bereit gestellt haben, und dem prinzipiellen Argument ein ebenso prinzipielles entgegensetzen. Wir haben uns oben (§ 30) klar gemacht, daß das Wesen der naturwissenschaftlichen Er- kenntnis in der Zuordnung eines Begriffssystems besteht, mit dessen Hilfe die mannigfachen Qualitäten der Welt aufeinander zurückgeführt werden können; wir wiesen aber ausdrücklich darauf hin (S. 243 f.), daß prin- zipiell eine Willkür besteht in bezug auf die letzten Element«, die als Bausteine des Begriffssystems dienen, und daß die Begriffe ,, einfach" und ,, zusammengesetzt" dadurch völlig relativiert werden. Die eindeutige Be- zeichnung der Welt ist eben durch beliebig viele verschiedene Begriffs- systeme möglich, und was in dem einen als unzerlegbares Element auf- tritt, wird in dem andern durch eine verschlungene Kombination von Begriffen dargestellt. Die Zahl der einfachen psychischen Qualitäten nun ist unendlich, der einfachen Begriffe aber in unserem Erkenntnissystem sind ganz wenige, denn es liegt ja eben im Prinzip der Erkenntnis, sie zu einem Minimum zu machen; sind die elementaren Begriffe für gewisse Qualitäten (oder Kombinationen von solchen) schon vergeben, so müssen die übrigen daher notwendig durch zusammengesetzte Begriffe be- zeichnet werden, und es läßt sich daraus niemals ein Widerspruch her- leiten. Man hat gesagt (E. Becher, Zeitschrift für Philosophie und philo- sophische Kritik Bd. 161, S. 65 f.), Gehirnprozesse beständen doch in Umlagerungen der Atome und Elektronen, also in vorübergehenden Be- wegungen konstanter gleichbleibender Größen: es müßten folglich nach dem parallelistischen Grundsatz auch die psychischen Erlebnisse nichts anderes sein als vorübergehende Vorgänge an relativ dauernden Objekten. Denn die Vorgänge an den Gehirnteilchen seien überhaupt nicht realiter zu trennen von den Gehirnteilchen selber; Bewegung der Atome und bewegte Atome können nur in der Abstraktion voneinander geschieden werden, beides sind ja nicht verschiedene Dinge, sondern eine Einheit, sowie etwa ein Ton und die Intensität des Tones eine Einheit sind. Unmöglich, widersinnig sei also die Annahme, es entspreche eine Bewegung dem psychischen Sein, nicht aber das Bewegte; vielmehr müsse die ,, Bewegung der Teilchen" als begriffliches Zeichen für ein einheit- liches psychisches Ansich erklärt werden. Ist das Seelenleben diejenige Realität, welcher der Begriff des Hirngeschehens zugeordnet ist, dann ist es auch zugleich diejenige, welche durch den Begriff der Hirnsubstanz bezeichnet wird. Dies widerspreche aber nun ganz und gar der Erfahrung. Das Bewußtsein kann nicht das Ansich der Gehirnteilchen sein, denn wo das erstere fehlt (im Tod und Schlaf) bleiben die letzteren vorhanden. Einwände gegen den Parallelismus. 273 Das Bewußtseinsleben selbst genügt keineswegs den eben gefundenen An- sprüchen: Die psychischen Qualitäten werden nicht erlebt als vorüber- gehende Modifikationen an einem konstanten seelischen Sein, eine Emp- findung stellt sich im Bewußtsein nicht dar als ein wechselnder Zustand an etwas Bleibendem, sondern kommt und schwindet in relativer Selb- ständigkeit. Aber das dargelegte Argument vermag unserer Auffassung nichts an- zuhaben, denn es setzt einen Substanzbegriff voraus, der in unserer An- schauung keine Stelle hat, weil er von unserem Standpunkt aus als unrichtig gebildet erscheinen muß. Denn was ist Gehirnsubstanz, was ist ein mate- rielles Teilchen.'' Das Wirkliche, das wir durch diesen Begriff bezeichnen, ist — so stellten wir früher fest (S. 244 f.) — ein Zusammenhang, ein Ver- band wechselnder Qualitäten, nicht eine Summe von gleichbleibenden Qualitäten. Hält man sich dies vor Augen, so ist klar, daß man in keiner Weise berechtigt ist zu schließen: wenn ein Vorgang an einem Atom ein Zeichen für etwas Psychisches sein soll, dann muß auch das Atom selbst etwas Psychisches bezeichnen. Der Vorgang kann sehr wohl einer be- stimmten psychischen Qualität entsprechen, ohne daß die zahlreichen anderen Qualitäten, die damit zusammenhängen und mit ihr denselben Komplexen angehören, gleichfalls als psychisch angesprochen werden müßten. Man muß sich hier vor jeder engherzigen, an gewohnte Bilder sich anklammernden Auffassung hüten. Was erfordert wird, ist allein die eindeutige Zuordnung; im übrigen kann im physischen Zeichensystem getrennt sein, was in der psychischen Wirklichkeit zusammengehört; und umgekehrt: was in der Welt der QuaHtäten vereint ist, kann in der begriff- lichen Darstellung ganz und gar auseinandertreten. Die psychischen Ele- mente, aus denen ein Ichkomplex sich aufbaut, können zu ganz getrennten physischen Komplexen gehören; und die Elemente, die durch ein physi- sches Zeichen zu einem Komplex zusammengefaßt werden, brauchen keines- wegs untereinander in einem Bewußtseinszusammenhange zu stehen: wenn eines von ihnen psychisch ist, so brauchen es die andern deswegen nicht zu sein. Aber es hat keinen Zweck, über die vorliegenden Möglichkeiten zu spekulieren und irgendwelche Hypothesen näher auszumalen, da es doch an jedem Erfahrungsanhalt zu ihrer Beurteilung fehlt, solange wir über die in Frage kommenden Vorgänge nicht viel besser unterrichtet sind als es bei dem gegenwärtigen Stande der Forschung der Fall ist. Hier braucht und kann nicht mehr gezeigt werden, als daß die besprochenen Einwände die Unmöghchkeit physiologischer Theorien des Seelenlebens und damit des Parallelismus durchaus nicht beweisen; sie scheinen es nur so lange zu tun, als man vergißt, daß man es bei den physischen Begriffen mit Zeichen und nichts als Zeichen zu tun hat. Sowie man sich sorgsam vor jedem falschen Vergleich der Zeichen mit dem durch sie bezeichneten Wirklichen hütet, verschwinden die scheinbaren Schwierigkeiten, und die Beweiskraft der Gegenargumente zerrinnt in nichts. Schlick, Erkenn tnislehre. l8 274 Die Erkenntnis des Wirklichen. Ein sehr verführerischer und geistreicher Vergleich dieser Art, der gleich den eben behandelten Argumenten die Mannigfaltigkeit der psychischen Welt und der physischen Begriffe gegeneinander abwägt, ist vonH. Driesch angestellt und von ihm als absolut schlagender Beweis gegen den Paralle- lismus angesehen worden^). Während die zuletzt erledigten Argumente darauf fußten, daß die physikalischen Begriffe zu kompliziert seien, um den einfachen psychischen Erlebnissen zugeordnet werden zu können, weist Driesch gerade umgekehrt auf den bunten Reichtum des seelischen Geschehens hin, der sich durch die ärmliche Begriffswelt der physikali- schen Vorgänge niemals erschöpfen lasse. Die Naturwissenschaft, meint er, hat überhaupt nicht genug Begriffe zu ihrer Verfügung, um für alle psychischen Größen eine eindeutige Zuordnung zu leisten. Es gibt in der Physik nur eine ganz geringe Anzahl von Grundelementen, aus denen die gesamte Natur sich aufbaut (Driesch glaubt als solche positive und nega- tive Elektronen und ,, Ätheratome" anführen zu sollen); aus ihnen seien alle Stoffe zusammengesetzt, und alle Geschehnisse seien in letzter Linie nichts anderes als Bewegungen dieser drei Grunddinge, d. h. raumzeitliche Umlagerungen derselben. Auf der psychischen Seite dagegen haben wir nicht drei oder vier, sondern unendlich viele qualitativ verschiedene Grund- gebilde. Und man darf nicht glauben, daß diese unendliche Mannigfaltig- keit wett gemacht werden könnte durch die unendliche Mannigfaltig- keit raumzeitlicher Kombinationen auf der physischen Seite, denn diese würden gerade ausreichendes Begriffsmaterial liefern, um die Erlebnisse des anschaulichen Nebeneinander und Nacheinander zu bezeichnen; der objektiven Ordnung der Dinge entspricht ja die raumzeitliche Ordnung unserer Vorstellungen, sie kann daher nicht auch noch der qualitativen Beschaffenheit dieser Vorstellungen entsprechen. Mit unseren physikali- schen Begriffen stehen wir daher der unendlich reicheren Mannigfaltigkeit der psychischen Welt völlig ohnmächtig gegenüber. Dieses scheinbar so unangreifbare Argument ist dennoch nicht stich- haltig. Es beruht auf einem Vergleich zweier unendlicher Mengen unter- einander und der Kundige weiß, wie leicht dabei Trugschlüsse entstehen. Wer mit der Mengenlehre der Mathematik vertraut ist, wird niemals durch den dargelegten Beweis getäuscht werden. Wir woUerr absehen von den Einwänden, die sich gegen den halb mechanistischen Ausgangspunkt des Gedankenganges von Driesch machen ließen (es gehört nicht mehr zu den Anschauungen der modernen Physik, alles Geschehen als bloße Be- wegung, als Elektronen- und Ätherbewegung, aufzufassen), wir wollen vielmehr annehmen, daß die tatsächlichen Grundlagen, auf welche die neue Idee angewandt werden soll, im Prinzip wirklich vorhanden wären, und wollen fragen, ob sich dann die Polgerungen ergeben, die der bekannte Naturphilosoph ziehen zu müssen glaubte. Das ist nun in Wahrheit nicht der Fall. Wir sehen es ein, wenn wir erstens bedenken, daß die Mannigfaltigkeit unserer Erlebnisse des *) Driesch, Seele und Leib. Leipzig 1916. Einwände gegen den Parallelismus. 275 Neben- und Nacheinander bei genauer Betrachtung doch sehr viel enger begrenzt ist und weit zurückbleibt hinter derjenigen der verschiedenen möglichen räumlichen Anordnungen und Bewegungen der physischen Dinge. Wir überschätzen leicht unsere Vorstellungskraft in dieser Beziehung und vergessen die Tatsache der räumlichen Unterschiedsschwelle, welche jener Mannigfaltigkeit enge Grenzen setzt. So wenig wir uns z. B. lOOO Gegen- stände wirklich anschaulich vorstellen können, so leicht wird es uns, den Begriff nicht nur von lOOO, sondern ebensogut von I000^°°° Gegen- ständen zu bilden. Sehr kleine sowohl wie sehr große Raum- und Zeit- strecken oder Unterschiede sind nicht mehr anschaulich vorstellbar, ebenso-, wenig sehr schnelle oder langsame Bewegungen usf. Die Begriffsbildung aber geht in diesen Richtungen beliebig weit, ist also in dieser Hinsicht reicher als das unmittelbare Erlebnis der Ordnung von Vorstellungen und daher vielleicht wohl geeignet, Material auch für die Bezeichnung der Qualitäten der letzteren abzugeben. Wir wollen aber diesen Gedanken hier nicht weiter verfolgen, da noch ein anderes Gegenargument von mehr prinzipieller Natur angeführt werden muß, das für sich allein schon völlig entscheidend ist. Zweitens nämlich ist es unmöglich, auf dem von Driesch ein- geschlagenen Wege allgemeiner Überlegungen zu beweisen, daß die beiden verglichenen Mengen (psychische Qualitäten einerseits und physische Be- griffe andererseits) sich nicht einander zuordnen ließen oder — wie der Mathematiker sagen würde — nicht von gleicher Mächtigkeit sind. D.-üesch sucht den Beweis so zu führen, daß er zeigt, die eine Menge sei in der anderen enthalten (nämlich die des physischen Gebietes in derjenigen des psychischen, da die Gesamtheit des ersteren nicht der Gesamtheit des letzteren entspricht, sondern bloß einem Teile davon: den raum-zeitlichen Erlebnissen). Aber eben dies beweist bei unendlichen Mengen, wie jeder Mathematiker weiß, gar nichts. Wenn ich von einer Strecke ein Stückchen abgrenze, so ist die Teilstrecke in der ganzen vollständig enthalten, und doch kann ich, wie sich streng beweisen läßt, zwischen den Punkten des Stückes und denen der ganzen Linie eine eindeutige Zuordnung her- stellen, so daß jedem der unendlich vielen Punkte der Gesamtstrecke ein und nur ein Punkt des Teiles entspricht, und umgekehrt. Wollte man entgegnen, die Menge der physischen Gebilde verhielte sich zur Menge der psychischen Größen nicht wie eine kürzere Strecke zur längeren, sondern stelle ihr gegenüber gleichsam ein Gebilde von höherer Dimensionenzahl dar, so wäre auch damit nichts geholfen, denn die Mengenlehre zeigt, daß auch dies kein Hindernis einer eindeutigen Zuordnung bilden würde. Es gehört zu den Paradoxien des Unendlichen, ist aber gleichfalls streng beweisbar, daß ein Flächenstück, z. B.ein Quadrat sich auf einer Strecke ,, abbilden" läßt, obgleich die Linie, die ich mir ja innerhalb des Quadrates gezeichnet denken kann, nur einen unendlich kleinen Teil der Punkte des letzteren enthält, denn ich kann in ihm außer- dem noch unendlich viele andere Linien zeichnen, die mit der ersten keinen 18* 276 Die Erkenntnis des Wirklichen. Punkt gemeinsam haben. Jeder Punkt der Strecke kann einem Punkt der Fläche zugeordnet werden, obwohl es Gebilde verschiedener Dimen- sionenzahl sind. Die gegenseitige Entsprechung läßt sich also vollkommen eindeutig vollziehen (freilich kann sie dann nicht zugleich auch stetig sein; oder, wenn man die Abbildung stetig macht, läßt sie sich nicht zu- gleich auch eindeutig vollziehen. Aber auf Stetigkeit kommt es, worauf übrigens unsere Bemerkungen gegen den vorigen Einwand schon hin- deuten konnten, bei der Zuordnung gar nicht an; es ist nicht nötig, daß stetigen Übergängen der psychischen Qualitäten auch stetige Übergänge der zugeordneten physischen Gebilde entsprechen müßten oder umgekehrt). So scheitert denn, gleich allen anderen, auch dieser letzte geistvolle Ver- such, die Unmöglichkeit des Parallelismus zu erweisen. 34. Monismus, Dualismus, Pluralismus. Wir begrüßen das gewonnene Ergebnis im Interesse einer einheit- lichen, wahrhaft befriedigenden Weltanschauung. Denn das dualistische Weltbild der Wechselwirkungsfreunde bringt notwendig den Verzicht auf vollständige Erkenntnis der Welt mit sich. Für sie zerfällt ja das Uni- versum in zwei Reiche, und nur das eine von ihnen, das ,, physische", ist der exakten quantitativen Begriffsbildung zugänglich, das andere dagegen, die Welt des Psychischen, kann ihr nie Untertan gemacht werden; die Begriffe der verschiedenen seelischen Größen müssen unbegriffen neben- einander stehen bleiben, sie lassen sich nicht restlos auseinander ableiten, denn dazu ist allein, wie wir feststellen mußten, die quantitative, natur- wissenschaftliche Methode fähig. Alle Gründe für diese Zweiteilung, für die Sonderstellung der psychi- schen Qualitäten, haben wir als unhaltbar erkannt. Wir besitzen in dem System der quantitativen Begriffe ein wunder- sames und das einzige Mittel zur Erkenntnis der Welt, soweit sie uns nicht gegeben, nicht b e kannt ist, und wir haben nun gar keine Ver- anlassung mehr zu glauben, daß dies Mittel versagen müßte gegenüber der gegebenen Welt der bekannten Qualitäten. Wir glauben vielmehr an seine universelle Anwendungsmöglichkeit, solange nicht streng erwiesen ist, daß wir uns damit im Irrtum befinden. Noch nie hat es in der Wissen- schaft sich bewährt, solchen Glauben zu früh aufzugeben; nichts lähmt die Forschung so sehr wie die Verkündung eines Ignorabismus, und wir müssen uns davor hüten, es vorzeitig auszusprechen. Wir sind also von der Überzeugung durchdrungen, daß alle Quali- täten des Universums, daß alles Sein überhaupt insofern von einer und derselben Art ist, als es der Erkenntnis durch quantitative Begriffe zu- gänglich gemacht werden kann. In diesem Sinne bekennen wir uns zu einem Monismus. Es gibt nur eine Art des Wirklichen — das heißt für uns: wir brauchen im Prinzip nur e i n System von Begriffen zur Er- kenntnis aller Dinge des Universums, und es gibt nicht daneben noch eine Monismus, Dualismus, Pluralismus. 277 oder mehrere Klassen von erfahrbaren Dingen, für die jenes System nicht paßte. Dieser Monismus scheint mir so weitreichend und umfassend zu sein, wie es das Einheitsbedürfnis der Vernunft nur immer wünschen kann, zugleich aber auch die einzige Art von Monismus, die erkenntnistheoretisch abgeklärtem Denken erreichbar ist. Sie enthält in sich alle brauchbaren Momente, die etwa dem Materialismus des vorigen Jahrhunderts so großen Erfolg verschafften bei einem Publikum, das, von erkenntnistheoretischen Bedenken unbeschwert, seinen starken Drang nach Einheit und Geschlossen- heit des Weltbildes auf diese Weise befriedigt fühlte. Ja, auch der in jüngst verflossener Zeit erneuerte Materialismus, der sich mit dem allgemeineren Namen des Monismus zu schmücken liebte, fand aus den gleichen Gründen bei einem gleichen Publikum begeisterte Aufnahme. Was an diesen Welt- anschauungen so großen Reiz ausübte, war tatsächlich ein berechtigter Zug, der auch in einer durch strengste Kritik geläuterten Weltansicht in vollem Umfange erhalten bleiben darf und muß: es ist das Vertrauen in die unbegrenzte Anwendungsmöglichkeit der quantitativen Denkmittel, deren sich die Physik zur Erkenntnis ihrer Welt bedient. Daß dieses Ver- trauen in dem Satze ausgesprochen wurde: ,, alles Sein ist Materie", war freilich eine naive, unzureichende, philosophisch verfehlte Formulierung, zumal ein vöUig unkritischer Begriff der Materie zugrunde gelegt wurde, was denn auch zur Folge hatte, daß der Materiahsmus unfähig war, ein- fachste philosophische Probleme auch nur zu sehen, geschweige denn zu lösen. Er setzte übrigens eine Art von mechanistischer Welterklärung voraus, die inzwischen von dgr Naturwissenschaft selbst aufgegeben wurde. Dennoch wohnte ihm eine gesunde Tendenz inne, und es war nur Sache der Kritik, das Krankhafte von ihr zu entfernen und sie auf die rechte Bahn zu bringen. Es ist ein hohes Verdienst der neukantischen Richtungen, daß sie sich dieser Aufgabe besonders unterzogen, allen voran Friedrich Albert Lange in seiner trefflichen ,, Geschichte des Mate- rialismus". Auch die sogenannte Marburger neukantische Schule, von Cohen und Natorp geführt, ist wenigstens in diesem Punkte nicht vom rechten Wege abgewichen. Ich will einen Satz aus Natorp's ,, Allgemeiner Psychologie" anführen (1912), welcher die Übereinstimmung in den im vorigen Paragraphen besprochenen Punkten hervortreten läßt. Natorp schreibt (S. 12): ,,Aber was wird nun aus der Psychologie.? . . . Sofern es sich um die kausale Gesetzlichkeit des psychisch genannten Geschehens handelt, wird daraus nichts als besonnene, methodisch fort- schreitende, durch kein metaphysisches Vorurteil ferner beirrte, natur- wissenschaftliche, insbesondere sinnes- und gehirnphysiologische Unter- suchung." Nur in dem vorhin genauer umschriebenen Sinne darf die Anschauung, die wir uns erarbeitet haben, als eine monistische bezeichnet werden; der Monismus als metaphysische Ansicht dagegen kann in keiner der be- kannten Formen vor der Kritik bestehen. Nicht besser nämlich als um 278 Die Erkenntnis des Wirklichen. den Materialismus steht -es in dieser Hinsicht um sein Gegenspiel, den sogenannten Spiritualismus oder Psychomonismus. Behauptete jener: alles Existierende ist Materie, so glaubt dieser sagen zu dürfen: alles ist geistiger, psychischer Natur. Die Unhaltbarkcit eines solchen Standpunktes muß aus den Er- wägungen des vorhergehenden Paragraphen schon deutlich geworden sein. In früheren Teilen unserer Untersuchung mochte es freilich scheinen, als ob ihre Ergebnisse mit spiritualistischen Gedanken gut in Einklang ge- bracht werden könnten. Wenn wir immer wieder hervorhoben, daß kein prinzipieller Artunterschied zwischen den Qualitäten der Welt angenommen werden dürfe, daß vielmehr die Trennung zwischen gegebenen und nicht- gegebenen, subjektiven und objektiven Qualitäten mehr zufälliger, fakti- scher Natur sei — was liegt da näher als zu sagen: da die bekannten Qualitäten seelisch, geistig sind, und da sie den unbekannten nicht prin- zipiell ungleichartig sein sollen, nun gut, so sind sie eben auch psychisch! Dann wäre alles Sein der Welt an sich seelischer Natur. Im eigenen Be- wußtsein bietet sich die einzige Möglichkeit, Qualitäten kennen zu lernen, wie sie an sich sind, und da finde ich sie eben als psychische Größen vor. Da scheint es doch, als müßte ich schließen: wenn mir die anderen Quali- täten in der gleichen Weise bekannt werden könnten wie die des eigenen Bewußtseins, dann würde ich sie auch als seelische kennen lernen; ich darf annehmen, daß sie an sich gleichfalls etwas Psychisches sind, von der gleichen Art wie meine Empfindungen und Gefühle, vielleicht in anderen Tönen und Abstufungen, aber doch mit dem eigentümhchen Charakter des seelischen Seins begabt. Dieser Analogieschluß ist so überaus naheliegend, daß die Metaphysik, zu welcher er hinführt, immer zahlreiche Anhänger gehabt hat, und auch unter den hervorragenden Denkern unserer Zeit sind ihr Verteidiger er- standen. Es ist derselbe Schluß, durch den z. B. Schopenhauer den Willen als das wahre Wesen alles Existierenden erweisen wollte, weil er eben in allem unmittelbar Gegebenen ein Willenserlebnis als das charak- teristische Merkmal alles Psychischen zu finden glaubte. Die spiritualistische Weltanschauung leidet jedoch an gefährlichen Mängeln. Ihre eben wiedergegebene Begründung ist den schwersten Be- denken ausgesetzt. Sie treten sofort zutage, wenn man versucht, sich den Sinn der Behauptung ganz klar zu machen, daß alles Wirkliche psychi- schen Charakter trage. Wir haben mit dem Worte psychisch alles unmittelbar Gegebene, d. h. im Zusammenhang eines einheitlichen Bewußtseins Stehende be- zeichnet. Versteht der Satz des Spiritualismus das Wort in derselben Bedeutung.? Will er behaupten, daß es keine Qualität in der Welt gibt, die nicht irgendeinem Bewußtseinszusammenhang angehörte.'' Das will und kann er offenbar nicht, denn sonst wäre ja sein Standpunkt identisch mit dem Immanenzstandpunkt, welcher, wie man sich entsinnt, auf ganz anderen Grundlagen ruht (s. oben § 24, 25), denn er leugnet ein trans- Monismus, Dualismus, Pluralismus. 279 zendentes Sein überhaupt, während der Spiritualismus es im Gegenteil fordert und deuten will. Wir wissen zudem, daß nicht alles Wirkliche Bewußtseinsinhalt ist, Haben wir doch im vorigen Paragraphen noch Gründe kennen gelernt, die es verbieten, alles Sein, das durch naturwissen- schaftliche Begriffe bezeichnet wird, für psychisch zu halten. Das Seelen- leben eines Menschen z. B. konnte unmöglich das Ansich seines g e - samten Gehirns sein, sondern nur bestimmten begrenzten Teilvor- gängen in ihm zugrunde liegen. In der Tat richteten sich die oben (S. 272) besprochenene Argumente von E. Becher ausdrücklich nur gegen die spiritualistische Form der Parallelitätslehre. Einen Ausweg könnte sich der Psychomonismus nur schaffen durch die Setzung ad hoc angenommener Bewußtseine, die sonst durch die Er- fahrung nirgends gefordert werden. Da z. B. die Hirnvorgänge in einem ohnmächtigen Individuum nicht ein Bewußtsein des Individuums be- deuten können, so entstünde die Frage: zu wessen Bewußtsein sollen die durch jene Vorgänge bezeichneten Wirklichkeiten nun gehören.'' Hier kann die spiritualistische Metaphysik zwar den Begriff eines ,, überindividuellen" Bewußtseins zu Hilfe rufen und behaupten, die fraglichen Größen ge- hörten zum Bewußtsein eines höheren Wesens, z. B. Gottes; sie kann auch jeder lebenden Zelle oder irgendwelchen materiellen Teilchen eine eigene Seele zuschreiben und damit jene Größen in verschiedene unter- individuelle Bewußtseine verlegen aber damit stürzt sie sich offen- bar in einen uferlosen Strom von Hypothesen, die sich in keiner Weise rechtfertigen lassen. Der gewissenhafte Forscher darf vielmehr auf das Vorhandensein eines Bewußtseins nur dort schließen, wo er ganz be- stimmte charakteristische Anzeichen vorfindet — zu denen vor allen die- jenigen des Lebens gehören; auch diese allein reichen nicht einmal aus, wie das eben behandelte Beispiel erkennen läßt .... Die ganze spiritualistische Lehre beruht auf einem Analogieschluß. Will man einen solchen anwenden, so muß man aber auch wirklich der Analogie folgen: man darf das Vorhandensein eines fremden Bewußtseins nur behaupten, wo sich analoge Bedingungen vorfinden wie die, an welche unser eigenes erfahrungsgemäß geknüpft ist. Beobachten wir schon, daß unser Bewußtsein bei gewissen Störungen oder Verletzungen des Nerven- systems gänzlich schwindet, wie dürfen wir uns da für berechtigt halten, ein Seelenleben auch dort anzunehmen, wo überhaupt kein Nervensystem vorhanden ist — wie dürfen wir da einen Planeten oder einen Stein oder ein Elektron für ein bewußtes Wesen ansehen ! Man darf z. B. die Existenz auch der elementarsten Sinnesempfindung nicht voraussetzen, wo kein unseren Sinnesorganen analoges Organ vorhanden ist. Obwohl uns die poetische Kraft eines Fechner die Ähnlichkeiten zwischen den Gestalten und Vorgängen der organischen und der anorganischen Natur so ver- führerisch ausgemalt hat, daß sie tatsächlich fast als hinreichende Grund- lage kühner Schlüsse auf die Existenz von Atomseelen und Gestirnseelen erscheinen, so zerrinnt doch dieser Schein bei näherem Zusehen, und statt 28o Die Erkenntnis des Wirklichen. wirklicher Analogien sehen wir nur Metaphern und Bilder vor uns, mit denen wissenschaftlich nichts anzufangen ist. Sie erfreuen uns dichterisch, aber sie verhelfen uns nicht zu neuen Erkenntnissen. Der spiritualistische Glaube an die psychische Natur alles Seienden stellt sich also als unhaltbar heraus, wenn ,, psychisch" mit ,, bewußt" identifiziert wird. Hier bietet sich dem Psychomonisten der Ausweg, diese Identität aufzugeben und zu erklären: die Erkenntnis, daß nicht alles Wirkliche Bewußtseinsinhalt ist, widerlegt meine These nicht; überall, wo es nicht bewußt sein kann, ist es eben unbewußt, ohne deshalb aufzuhören, psychisch zu sein. Aber wer auf diesem Standpunkt steht, gerät in die größte Verlegen- heit, wenn er nun auf die Frage antworten soll: was ist denn hier der Sinn des Wortes ,, psychisch"? Was bedeutet es, wenn Du von irgend- welchen Qualitäten aussagst, sie seien seelischer Natur, wenn auch un- bewußt.'' Dem Spirituahsten, der vom unbewußt Psychischen in diesem Zusammenhange redet, schwebt offenbar der Gedanke vor, daß die so bezeichnete Wirklichkeit doch in irgendetwas der Bewußtseinswirklichkeit gleiche. Nun, für diesen Gedanken sind wir selber unablässig eingetreten, insofern wir immer wieder vor der Annahme einer prinzipiellen Verschieden- heit zwischen der Bewußtseinswelt und der transzendenten Welt warnten — ist es aber eine richtige Formulierung dieser Einsicht, wenn man sagt: auch das transzendente Sein ist psychisch.? Ich glaube nicht; denn das würde voraussetzen, daß man eine ganz besondere Eigenschaft der außerbewußten Wirklichkeiten angeben könnte, welche sie mit den psychi- schen Größen gemeinsam hätten und welche zugleich ein charakteristi- sches Merkmal der letzteren wäre. Dieses Gemeinsame würde den Sinn des Wortes ,, psychisch" ausmachen, und wenn man es nicht angeben könnte, so fehlte eben dem Worte der bestimmte Sinn. Nun ist es in der Tat un- möglich, eine qualitative Gleichheit oder Gemeinsamkeit des gegebenen bewußten Seins und des nicht gegebenen, außerbewußten irgendwie positiv zu bestimmen, aus dem Begriff des Bewußtseins ein spezifisches Merkmal abzusondern, das dem Außerbewußten in gleicher Weise zukäme. Denn wenn man sich das Bewußtsein von einem Bewußtseinsinhalt fortdenkt, so denkt man sich den ganzen Inhalt überhaupt fort und behält kein Merkmal übrig, und noch weniger eins, das für das geistige Sein charakte- ristisch wäre. Wendet man das Wort ,, psychisch" in der Weise des Psycho- monisten an, so weiß man nur, daß damit eine Eigenschaft bezeichnet sein soll, die allem Wirklichen ohne Ausnahme zukommt, kann diese Eigenschaft aber nicht näher angeben. Das ,, Wirkliche" und das ,, Psy- chische" werden Wechselbegriffe, und ich habe nichts gewonnen und drücke keine neue Erkenntnis aus, wenn ich das erstere durch das letztere ersetze. Das ist überhaupt die große Gefahr jedes metaphysischen Monismus, daß er leicht zu einem Spiel mit Worten wird, hinter dem nur scheinbar eine philosophische Wahrheit sich verbirgt. Wenn ich ausrufe: Alles Sein ist im Grunde eins! so klingt das bedeutungsvoll; wenn ich verkünde: Monismus, Dualismus, Pluralismus. 281 Die Welt, so vielgestaltig sie erscheinen mag, ist im Grunde nur eines Wesens, so erscheint das tief wie das ev xai näv der Alten; und doch sind solche allgemeinen Aussprüche für sich genommen gänzlich nichts- sagend, weil jeder Begriff bedeutungslos wird, wenn ich seinen Umfang zu sehr ausdehne, so daß er schlechthin alles bezeichnen kann. Ich sagte schon, daß der Zauber des Spiritualismus mehr poetischer als wissenschaftlicher Natur ist. Das liegt daran, daß tatsächlich nicht Erkenntnis, sondern Intuition (s. oben § ii) zu seiner Formulierung hin- führt. Denn der Vater des Gedankens von der psychischen Natur der außerbewußten Wirklichkeit ist letzten Endes der Wunsch, diese Wirk- Hchkeit so zu kennen, wie uns die bewußte Welt bekannt ist. Wenn irgendeine außerbewußte Qualität unserem Erleben zugänglich gemacht, d. h. uns unmittelbar gegeben werden könnte, dann — so denkt man sich etwa — würde unser Erlebnis ungefähr ebenso sein, als wenn eine Emp- findung oder ein Gefühl in unserem Bewußtsein auftauchte: also ist sie etwas Psychisches. Wir haben oft genug betont, daß dieser Wunsch gar nicht dem Willen zur Erkenntnis entspringt, sondern dem Willen zum Schauen, zum Erleben; er hat also mit Wissenschaft und Philosophie nichts zu tun. Zudem ist er natürlich unerfüllbar, weil in sich wider- spruchsvoll. Wissen wollen, wie das Außerbewußte im Bewußtsein erlebt werden würde, das heißt wieder soviel wie: fragen, wie eine Farbe aus- schaut, wenn niemand sie sieht, oder wie ein Ton sich anhört, dem niemand lauscht. Es hat keinen Sinn, etwas psychisch zu nennen, das nicht der Psyche irgendeines bewußten Wesens angehört. So sind die materialistische wie die spiritualistische Form der meta- phischen Alleinheitslehre gleichermaßen unhaltbar. Um so höhere Bedeu- tung gewinnt der erkenntnistheoretische Monismus, zu dem wir uns ge- führt sahen, und der seinen Ausdruck findet in dem Satz: ,,Was wirkhch ist, ist auch der Bezeichnung durch quantitative Begriffe ziagänglich." Diese Gleichartigkeit, die von allem Seienden behauptet wird, ist nicht ein leeres Wort, sondern sie hat eine bestimmte prüfbare Bedeutung und besagt eine wirkliche Erkenntnis. Belanglos ist sie dagegen für das Erlebnis. Für die Art und den Wert eines Erlebens ist es gleichgültig, durch welche Begriffe es für die Zwecke der Erkenntnis bezeichnet werden kann. Deshalb bietet dieser Monismus auch keinen Anlaß zu einem Streit um Wertfragen, wie er im Anschluß an den Materialismus so heiß ge- tobt hat. In einer Hinsicht freilich könnte der Dualismus auch jetzt noch un- überwunden scheinen. Die psychischen Qualitäten stehen in jenem eigen- tümhchen Zusammenhange, der uns als Zusammenhang des Bewußtseins schon öfters beschäftigte, und sie zeichnen sich eben dadurch vor allen übrigen aus, die nicht einem solchen Beziehungsverbande angehören. Be- deutet das nicht einen Dualismus der Zusammenhänge, des psychischen einerseits und des nichtpsychischen andererseits und kommt er im Grunde nicht auf dasselbe hinaus wie der Dualismus des Seins.? Gehört doch die 282 Die Erkenntnis des Wirklichen. Verflechtung in einem solchen Zusammenhang durchaus zum „Wesen" der psychischen Wirklichkeit; die einzelnen Qualitäten sind ja aus ihm schlechterdings nicht zu lösen, ohne daß sie zu existieren aufhören, sie haben außerhalb seiner kein Dasein (vgl. oben § i6). Nun ist gewiß jener Zusammenhang etwas ganz Besonderes. Da die physiologischen Korrelate psychischer Größen noch in keinem Falle restlos bekannt sind, so ist die Wissenschaft erst recht nicht im Besitz der quan- titativen Begriffe, durch welche ihr Zusammenhang im Bewußtsein zu bezeichnen ist; aber sobald jene Begriffe einmal gefunden sein werden, wird jene Einheit des Bewußtseins als nur einer von vielen anderen Zu- sammenhängen erkannt sein und auf sie zurückgeführt werden; das Be- wußtseinsproblem wird gelöst sein. Bis dahin dürfen wir uns aber vor Augen halten, daß die Bewußtseinseinheit für uns nur deshalb so einzig- artig ist, weil sie eben mit unserem Ich zusammenfällt, so daß der Unter- schied dieses Zusammenhanges allen übrigen gegenüber hinausläuft auf den Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Ich und Nicht- Ich. Bekannt ist uns nur der Zusammenhang des Ich, und wiederum wäre es sinnlos zu fragen, ob etwa ein Zusammenhang außerbewußter Quali- täten sich als gleichartig mit jenem herausstellen würde, -falls er uns bekannt wäre. Denn wäre er dies, könnten wir ihn unmittelbar erleben, so wäre er eben dadurch ein Bewußtseinszusammenhang, und nicht mehr ein solcher von außerbewußten Qualitäten. Das Verlangen, ihn kennen zu lernen, ist wieder ein Ausdruck des metaphysischen Bedürfnisses nach Intuition; es hat mit Erkenntnis nichts zu schaffen und würde nichts zu ihr helfen, wenn es gestillt wäre. Erkennen heißt nicht, die Außenwelt zur Innenwelt machen. Dieser Gegensatz zwischen Bewußtsein und Außenwelt ist gewiß un- verwischbar und unaufhebbar, aber seine Anerkennung bedeutet nicht die Aufrichtung eines Duahsmus der Verknüpfungsart des Bewußten und der- jenigen des Nichtbewußten, son(iern vielmehr nur die Auszeichnung und Heraushebung des Bewußtseinszusammenhanges aus der Menge der übrigen Zusammenhänge, die der Kosmos in seiner Fülle aufweist. Man darf also, wenn man will, höchstens von einem Pluralismus sprechen. In diesem Sinne muß aber jede verständige und aufrichtige Welt- anschauung pluralistisch sein, denn das Universum i s t eben bunt und mannigfaltig, ein Gewebe unendlich vieler Qualitäten, von denen keine der andern genau gleicht. Ein formelhafter metaphysischer Monismus gibt davon nicht Rechenschaft mit seinem Satze, daß alles Sein in Wahrheit eines ist; er bedarf notwendig irgendeines pluralistischen Prinzips zur Ergänzung. Es muß irgendwie Platz bleiben für die Wahrheit, daß es un- endlich viele Spielarten von Qualitäten gibt, denn die Welt ist nicht kalt und eintönig, sondern vielgestaltig und voll ewigen Wechsels. Und wenn so viele sich von dem grauen Weltbilde des Materialismus abwandten, so geschah es, weil sie darin das pluralistische Element vermißten, weil die Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis. 283 Welt der unendlichen qualitativen Mannigfaltigkeit beraubt schien, die in Wahrheit doch gerade ihre unbezweifelbarste Wirklichkeit ausmacht. Pluralismus und Monismus treffen beide in ihrer Weise die Wahrheit, nur dem Dualismus läßt sich keine gute Seite abgewinnen. Eine Zweiteilung der Welt in Physisches und Psychisches, in Wesen und Er- scheinung, in ein Reich der Natur und ein Reich des Geistes, oder wie die Gegensätze sonst noch lauten mögen, läßt sich nicht verteidigen, nicht durch wissenschaftliche Gründe rechtfertigen. Die Verschiedenheit des Seins ist nicht zweifach, sondern unendlichfach: das ist die pluralistische Wahrheit. Aber es besteht auch die monistische Wahrheit: in einem anderen Sinne ist alles einheitlich und gleichartig. Die bunte Wirklichkeit wird eben überall von denselben Gesetzen beherrscht, denn sonst ließe sie sich nicht überall durch dieselben Begriffe bezeichnen: sie wäre nicht erkennbar. Erkennen heißt ja das Auffinden des Einen im Anderen, des Gleichen im Verschiedenen. Soweit die Welt erkennbar ist, ist sie einheitlich. Ihre Einheit kann nur bewiesen werden durch die Tatsache ihrer Erkennbarkeit und hat keinen anderen Sinn. C Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis. Die Frage nach der Gültigkeit der Erkenntnis pflegt man als das eigentliche Problem derjenigen Wissenschaft zu bezeichnen, welcher dieses Buch gewidmet ist. Wie kommt es, daß wir die Frage, die danach am Anfang der ganzen Untersuchung hätte stehen müssen, erst in der Über- schrift des letzten Abschnittes deutlich zur Geltung kommen lassen.!* Besinnen wir uns nicht reichlich spät auf unser wahres Problem.'' waren alle vorhergehenden Entwicklungen etwa nur Vorarbeit dazu.-* In Wahrheit steht es so, daß diese Entwicklungen die Antwort auf jene Fragen bereits im wesentlichen enthalten. Von einer ,, gültigen" Erkenntnis zu sprechen, ist nämlich im Grunde ein Pleonasmus. Eine Erkenntnis, die nicht gälte, wäre eben keine, sondern ein Irrtum. Gelang es uns, das Wesen und die Zugänge der Erkenntnis zu erkunden, so wissen wir auch, was gültige, d. h. wahre Erkenntnis ist, und unter welchen Be- dingungen sie zustande kommt. Wir haben die Prozesse verfolgt, durch welche WirkHchkeitserkenntnis in der Wissenschaft gewonnen wird und dabei, so hoffen wir, selber welche gewonnen. Wie steht es mit der Sicherheit des Grundes, auf dem wir uns dabei bewegten? Führen jene Prozesse, regelrechten Ablauf vorausgesetzt, etwa stets zu unbedingter Wahrheit, oder dürfen auch die sichersten Wirklichkeitsurteile gar nur auf Wahrscheinlichkeit Anspruch erheben.? Wie groß ist dann diese Wahrscheinlichkeit und was bedeutet überhaupt dieser Begriff, mit dem wir es bisher noch nicht ausdrücklich zu tun hatten, 284 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis. und dessen Verhältnis zum Begriff der Wahrheit daher noch nicht unter- sucht ist? Gelten unsere Erkenntnisse absolut oder etwa nur für uns Menschen, weil sie doch Produkte menschlicher Denktätigkeit sind? Das sind Fragen, deren Antwort zum Teil mit den bisher angestellten Untersuchungen schon gegeben sein muß, weil, wie gesagt, jeder Satz über die Erkenntnis zugleich ein Satz über die Gültigkeit der Erkenntnis ist. Gültigkeit heißt Wahrheit, und aus unseren Bestimmungen über die Wahrheit muß sich ableiten lassen, was über die Gültigkeit zu sagen ist. Indem wir auf jene Bestimmungen zurückgreifen, wird es möglich sein, die Problemlösungen, die sich von unserem Standpunkt aus gewinnen lassen, leicht und auf dem kürzesten Wege zu erreichen. 35. Denken und Sein. Für eine Klasse von Urteilen dürfen wir die Gültigkeitsfrage als restlos erledigt ansehen: das sind die analytischen Urteile. Sie bildeten den eigentlichen Gegenstand des zweiten Teiles unserer Betrachtungen. Da ein analytisches Urteil von einem Gegenstande nur aussagt, was zur Definition des Gegenstandes gehört, so ordnet es dem Gegenstande eben dasjenige Zeichen zu, welches gerade durch Übereinkunft als Zeichen für ihn festgesetzt war, es leistet eine eindeutige Zuordnung gemäß der Defini- tion der Eindeutigkeit, ist also schlechthin wahr. Der Satz ,, analytische Urteile sind absolut gültig" ist selbst ein analytisches Urteil. Solche Urteile haben mit Wirklichkeitserkenntnis nichts zu schaffen und konnten denn auch in unserer Darstellung gänzlich von ihr getrennt und ihr vorweggenommen werden. Ihr Reich ist das des Denkens, nicht des Seins. Wenn diese Art von Urteilen aber auch-keine Wirklichkeits erkennt- nis enthält, so gelten sie deswegen doch von der Wirklichkeit, und das hat zu einem Mißverständnis, zu einem Scheinproblem Anlaß gegeben, mit dem die Philosophie sich zuweilen unnütz abgemüht hat. Sie gelangte zu einer verkehrten Fragestellung über das Verhältnis von ,, Denken" und ,,Sein". Um dieses Mißverständnis zu klären, müssen wir auch in diesem Zusammenhange noch einmal von analytischen Urteilen reden, obwohl sie für uns schon lange nichts Problematisches mehr haben, in keiner Hinsicht mehr fragwürdig sind. Daß analytische Urteile sehr wohl reale Dinge zum Gegenstande haben können und nicht etwa bloß etwas von Begriffen aussagen wollen, ist nicht zu bezweifeln. Der KANx'sche Satz, daß sie nur auf Begriffe gehen, die synthetischen dagegen auf die Objekte der Begriffe, meint etwas Richtiges, kann aber in dieser Formulierung mißverstanden werden. Wenn ich mit Kant in den Begriff des Körpers das Merkmal der Ausdehnung aufnehnie (was freilich nach § 32 ein nicht ungefährliches Beginnen wäre), so macht natürlich der Satz ,,die Körper sind ausgedehnt" Anspruch darauf, von allen wirklichen Körpern zu gelten, und ist tatsächlich auf Denken und Sein. 285 sie anwendbar, hat nicht nur einen Begriff zum Gegenstande, im Gegen- satz zum Beispiel zu einem rein logischen Urteil wie: ,,mit wachsendem Inhalt nimmt der Umfang eines Begriffes ab". Wir sehen also, daß es auch Sätze über Wirkliches gibt, denen absolute Gültigkeit zukommt, weil sie eben analytisch sind. Dieser Tatbestand hat die Skeptiker zu Bedenken, die Metaphysiker zu Spekulationen veranlaßt, die beide nicht berechtigt sind. Die Metaphysiker haben daraus auf eine Identität von Denken und Sein schheßen wollen, oder auf eine ganz besondere Rationalität des Seins, die es zwinge, sich den Denkgesetzen gemäß zu verhalten. Auch die wirklichen Dinge, so sagen sie, gehorchen den Grundsätzen der Iden- tität und des Widerspruchs (denn in diesen beiden Sätzen läßt sich be- kanntlich das Prinzip des analytischen Schließens formulieren), sind also der Logik, dem Denken, Untertan. Den Skeptikern dagegen, die dieser Argumentation aus dem Wege gehen wollen, erscheint gerade deshalb der Tatbestand selber verdächtig, und sie sind geneigt zu schließen, daß man jenen Urteilen zu Unrecht schlechthin unbedingte Gültigkeit zuschreibe; das Denken habe keine Macht über das Sein, und die Wirklichkeit brauche dem Prinzip des Wider- spruchs nicht zu gehorchen. Denn der Satz vom Widerspruch sei eben doch ein Denkgesetz, das Denken anderer Wesen könne ganz anderen Gesetzen gehorchen, der Anspruch der analytischen Urteile auf absolute Gültigkeit auch für die Dinge außerhalb des Denkens müsse daher irrtüm- lich sein. Wenn es auch undenkbar sei, daß einer der logischen Grund- sätze durch die Wirklichkeit Lügen gestraft würde, so verpflichtet dies doch die Wirklichkeit zu nichts, sie braucht sich unserem Denken nicht zu fügen. Undenkbarkeit sei eben noch lange nicht objektive Unmöglich- keit. Wie es nichteuklidische Geometrien gebe, so könne es auch nicht- aristotelische Logiken geben, in welchen der Satz vom Widerspruch keine Geltung hätte, und Wesen, deren Denken einer solchen Logik folgt, müßten die Ungültigkeit der analytischen Sätze mit demselben Recht behaupten, mit dem wir kraft unseres menschlichen Denkvermögens für ihre Gültig- keit eintreten. Eine Formulierung, wie sie dem Standpunkt des Metaphysikers ent- spricht, finden wir bei Spencer (in seinen Principles of Psychology): ,,When we perceive that the negation of the belief is inconceivable, we have all possible Warrant for asserting the invariability of its existence we have no other guarantee for the reality of consciousness, of sensations, of personal existence " Gegen diese Stelle richtet sich in skep- tischer Polemik Mill (Logic, book II, chap. VII, § 3), indem er geltend macht, daß inconceivability kein Kriterium der impossibility sei. Sicherlich wurde Mill's Einwand durch eine richtige Idee veranlaßt: er bekämpft hier in Spencer einen Vertreter der Evidenzlehre, gegen die auch wir uns oben (§ 18) schon zu wenden hatten; aber gerade die Vermengung des Evidenzproblems mit demjenigen der realen Gültigkeit 286 Die Gültigkeit der Wirkli chkeitserkenntnis. der analytischen Urteile hat die Verwirrung angerichtet. Weder der Meta- physiker noch der Skeptiker, weder Spencer noch Mill haben in dieser Sache recht, weil beide die rechte Fragestellung verfehlen. Wir entwirren den Knoten am besten an der Hand der Betrachtung eines Beispiels. Der Satz ,, facta infecta fieri non possunt", ,, Geschehenes kann nicht un- geschehen gemacht werden", ist in Wahrheit ein analytisches Urteil und folglich schlechthin gültig. Er behauptet von allem, was da geschehen ist, daß es nicht nichtgeschehen sei, und das ergibt sich allein aus dem Satze des Widerspruches. Hat es einen Sinn, wenn der Skeptiker die Richtig- keit des Satzes bezweifelt, oder wenn der Theologe sich die Frage vorlegt, ob nicht Gott, der doch allmächtig sei, das Gewesene zum Nicht- gewesenen machen könne.? Es hat keinen Sinn, denn die Fragestellung behandelt das Urteil facta infecta fieri non possunt fälschlich als eine Erkenntnis, als etwas Neues gegenüber dem Urteil ,, facta sunt" und fragt, ob das erste falsch sein könne, wenn das zweite wahr ist. Tatsächlich sagen aber beide Urteile genau dasselbe, sie sind dem Sinne nach identisch, nur in der Form verschieden. Durch bloße Analyse des Wortes ,, geschehen" kann das eine in das andere übergeführt werden. . . . Ich gewinne bei dem Übergang vom zweiten zum ersten nicht eine ontologische Wahrheit, nicht eine neue Wirklichkeitserkenntnis, sondern ich stelle nur die Bedeu- tung heraus, die dem Worte ,, geschehen" zukommt. Es ist genau, als ob ich fragen wollte: kann ein Schmerz, den ich fühle, zugleich auch kein Schmerz sein.'' kann ein Blau, das ich sehe, zugleich auch nicht blau sein.? In diesen Fällen wird die Sachlage leichter durchschaut, während sie im ersten Fall durch die kompliziertere Bedeutung des Begriffes ,, geschehen" verhüllt ist. Freilich darf ich das Blau auch als Nichtblau bezeichnen, aber dann hat das Wort Blau eben einen anderen Sinn als vorher, oder das Wöttchen ,, nicht" wird in einer von der.gewöhnUchen Negation ab- weichenden Bedeutung verwendet. Wer die Begriffe ,, geschehen" und ,, ungeschehen" auf ein und dasselbe Ereignis anwenden will, ändert gleich- falls nur den Sinn der Worte. (Wenn jedoch ein Theologe die Frage auf- wirft, ob Gott machen könne, daß es in der Welt genau so zugeht, als ob ein geschehenes Ereignis nicht stattgefunden hätte, so ist das etwas ganz anderes; die Frage ist sinnvoll, und die Antwort darauf wäre ein syntheti- sches Urteil.) Wenn jemand die beiden Urteile ,,das Ereignis A geschah" und ,,A geschah nicht" beide wahr nennen will, so kann er das schließlich auch, aber er versteht dann unter Wahrheit etwas anderes als Eindeutig- keit der Bezeichnung. Alle diese Urteile sagen nimmermehr etwas über das Verhalten der Wirklichkeit aus, sondern sie regeln nur unsere Bezeichnung des Wirk- lichen. Die Prinzipien der Identität, des Widerspruchs und des aus- geschlossenen Dritten sind Sätze, die sich auf die Zuordnung der Begriffe zur Wirklichkeit beziehen, deshalb gelten sie notwendig von der Wirk- lichkeit. Das Principium contradictionis bedeutet, wie schon früher hervor- gehoben (§ lO) nur die Regel für die Verwendung der Wörter ,, nicht", Denken und Sein. 287 ,,kein" usw. bei der Bezeichnung des Wirklichen (und natürlich auch nichtwirklicher Gegenstände), mit anderen Worten: es definiert die Nega- tion.. Was ihm widerspricht, heißt undenkbar, und das Undenkbare ist dann in der Tat schlechthin und absolut unmöglich. Aber darin liegt keinerlei Vergewaltigung der Wirklichkeit durch das Denken, denn die Unmöglichkeit bedeutet kein Verhalten des Seins, sondern bezieht sich auf seine Bezeichnung durch Begriffe und Urteile, betrifft also, wenn man es so ausdrücken will, das Verhältnis des Denkens zum Sein. Wer da sagt, was für das Denken unmöglich wäre, könne für die Wirklichkeit wohl möglich sein, der verwechselt Undenkbarkeit und Un- vorstellbarkeit, wie Spencer und Mill es taten, weil inconceivability in der Tat beides bedeutet. Das Vorstellen, der Ablauf anschaulicher psychischer Gebilde, ist ein realer Prozeß, Vorstellbarkeit und WirkHch- keit fallen nicht zusammen; Denken aber heißt Zuordnen von Begriffen zu wirklichen und anderen Gegenständen, Denkunmöglichkeit bedeutet eine Unmöglichkeit des Vollzugs gewisser Zuordnungen, welche von nichts anderem abhängt als von den festgesetzten Regeln der Zuordnung. Während die Gesetze des Vorstellens Tatsachen sind, die wir durch die Erfahrung kennen lernen, gelangen wir zu den Regeln des zuordnenden Denkens nicht durch Erfahrung, sondern durch Festsetzung. Die Unmöglichkeit, das Bewußtsein, die Empfindungen, die persön- liche Existenz für unwirklich zu erklären, die Spencer für so bedeutsam hielt, ist bloß dadurch bedingt, daß der Begriff der wirklichen Existenz überhaupt erst von diesen Gegenständen hergeleitet wurde. Er dient zu ihrer Bezeichnung nicht auf Grund irgendeiner Erkenntnis, sondern kraft seiner von uns für das Wort ,, wirklich" geschaffenen Bedeutung. Es ist der alte cartesianische Irrtum (siehe oben § 11), jene Existentialsätze als Erkenntnisse aufzufassen. In Wahrheit sind sie analytische Urteile ein- fachster Form, d. h. verkappte Definitionen. Ich denke, es ist klar geworden, warum analytische Urteile und mit ihnen die Sätze der reinen Logik mit unanfechtbarer Sicherheit von den wirklichen Dingen gelten müssen. Dieser Umstand ist nicht wunderbar und nicht philosophisch bedeutungsvoll. Fragestellungen, die ihn proble- matisch erscheinen lassen, sind abzulehnen. Ich halte es deshalb für irre- führend, von der Möglichkeit nichtaristotelischer Logiken zu sprechen, die sich zu unserer gewöhnlichen Logik des analytischen, deduktiven Schließens verhalten sollen wie die nichteuklidische Geometrie zur euklidischen. Nur scheinbar, nur in der wörtlichen FormuHerung würden sich solche neuen logischen Systeme von unserem aristotelischen unterscheiden. Wohl kann ich mir ein System logischer Axiome aufgestellt denken, in welchem bei- spielsweise die Prinzipien des Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten keine Stelle haben. In dieser neuen Logik würde es Urteile geben, die weder wahr noch falsch, und solche, die wahr und falsch zugleich sind; aber bei näherer Prüfung ihrer scheinbar so fremdartigen Sätze würde sich herausstellen, daß sie nur eine Bedeutungsverschiebung der bekannten 288 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis. logischen Termini bedeutet und leistet. Die Worte wahr, falsch, nicht, alle, keine usw. würden nicht mehr ihren alten Sinn haben. Man würde aber Wortkombinationen finden können, denen nunmehr dieselbe Be- deutung zukommt, welche vordem jene gebräuchlichen Termini besaßen. Führen wir die letzteren wieder ein, so sind wir zur alten Logik zurück- gelangt und erkennen die neue als die nur äußerlich in ein anderes Gewand gehüllte aristotelische wieder. Der Grund liegt darin, daß die Logik, wenn man von ihrer zufälligen Einkleidung in Worte, Vorstellungen und Denkakte, kurz, in das Psychologische absieht, weiter gar nichts ent- hält, als was zur eindeutigen Bezeichnung der Gegenstände gehört, oder, wenn man es so ausdrücken will, zur Bestimmung der Gegenstände. Da die verschiedenen logischen Systeme, so sehr sie scheinbar voneinander abweichen mögen, doch immer diesen selben Sinn haben und nichts anderes leisten können als Bestimmung und Zuordnung, so sind sie in Wahrheit miteinander identisch und unterscheiden sich nur durch die sprachliche oder psychologische Form. Ein moderner Autor, Edgar Zilsel, der die Idee nichtaristoteli- scher Logiken verfolgt, schreibt (S. 150 seines Buches ,,Das Anwen- dungsproblem", 1916): ,,Das Rationale ist die allerreinste, über allen Logiken stehende Form, das was ihnen allen gemeinsam ist, ihre Konse- quenz in sich, der Umstand, daß alle ihre Sätze sowohl in bezug auf Funda- ment als auch auf Ableitungsart durch Axiome bestimmt sind, d. h. das einzige Rationale ist die Bestimmtheit, die Präzision selbst". Ich kann mich mit diesen Ausführungen vollkommen einverstanden erklären, glaube aber im Gegensatz zu ihrem Verfasser, daß die Regeln unserer formalen Logik bereits das allen ,, Logiken" Gemeinsame rein darstellen, sobald man nur von den erwähnten äußeren Einkleidungen absieht, und daß sie gar nichts anderes angeben als die Regeln der ,, Bestimmung" überhaupt. Deshalb erscheint es mir nicht erlaubt, das Wort Logik im Pluralis zu gebrauchen, denn was die verschiedenen ,, Logiken" unter- schiede, wäre gar nichts Logisches, sondern nur etwas Psychologisches oder gar nur Sprachliches. Die skeptische Idee von der Möglichkeit verschiedener logischer Systeme kann uns also nicht hindern, dem Logischen, d. h. den Regeln der Analyse, schlechthin absolute Gültigkeit für die wirklichen Dinge zu- zuschreiben. Der gesamte Zweite Teil unserer Untersuchungen war dem Nachweis gewidmet, daß alles deduktive Denken analytischer Natur ist und auf uneingeschränkte Gültigkeit Anspruch machen darf. Von jeher hat es das Staunen des grübelnden Menschen erregt, daß unser Denken mit seinen verwickelten und umfangreichen Deduktionen in den Lauf der Natur einzudringen vermag, so daß unsere kühnen und weitreichenden Folge- rungen durch die Geschehnisse genau und überraschend bestätigt werden. Man denke etwa an die Vorhersagungen der Astronomie, die sich über Denken und Sein. ' 289 Jahrhunderte erstrecken und doch mit Sekundengenauigkeit eintreffen. Wenn irgendwo, so scheint es hier berechtigt, von einer prästabiHerten Harmonie des Denkens und Seins zu sprechen oder zu schheßen, daß unser Verstand der Natur Gesetze diktiere. Das Erstaunen über diesen Sachverhalt ist jedoch nur zum Teil gerechtfertigt. Man muß hier wohl unterscheiden. Wenn ich sage: die Deduktion besitze absolute Gültigkeit für die realen Dinge, weil sie ein analytisches Verfahren ist, so heißt das natürlich nur: wenn die Prämissen mit der Wirklichkeit übereinstimmen, so stimmt ganz sicherlich auch der Schluß, das Resultat der Analyse, restlos mit dem realen Verhalten der Dinge überein. Wie wir in den Besitz von Prämissen kommen, welche die Tatsachen der Außenwelt absolut eindeutig bezeichnen, das ist aller- dings höchst staunenswert und gibt Anlaß zu den Problemen, denen wir uns sogleich zuwenden müssen; ist es doch von vornherein zweifelhaft, ob wir dergleichen gültige Sätze überhaupt wirkHch besitzen. Aber wer an der Gültigkeit der Prämissen nicht zweifelt, der darf sich auch über das Zutreffen des Ergebnisses nicht wundern und mag die Deduktion, die zwischen beiden liegt, noch so lang und kompliziert sein. Denn das Resultat sagt eben nichts Neues und nichts anderes, als was die Prämissen bereits enthielten, nur in formaler Umgestaltung. Hält z. B. jemand es für ausgemacht, daß die uns bekannten Gesetze der Gravitation das Ver- halten der Himmelskörper richtig beschreiben, so muß es sich für ihn auch von selbst verstehen, daß unsere auf jene Gesetze gegründeten korrekten Rechnungen durch die Beobachtung bestätigt werden. Denn die speziellen Fälle, die der Beobachtung unterhegen, sind analytisch in den allgemeinen Gesetzen enthalten, diese sind nur ein abkürzender Aus- druck für die Gesamtheit jener. Daß diese Sachlage oft nicht richtig aufgefaßt wurde, daß das philo- sophische Thauma sich sozusagen auf den verkehrten Punkt richtete, hat seinen Grund darin, daß das Resultat einer Deduktion nicht mehr die Prämissen erkennen läßt, von denen sie ausging. Deduktionen entstehen durch Zusammensetzung von Urteilen, Urteile sind Zeichen für Tatsachen, für Beziehungen zwischen Gegenständen. Solche Beziehungszeichen haben die Eigentümlichkeit, daß bei ihrer Kombination ein Resultat entsteht, das immer einfacher ist als die Gesamtheit der zusammengesetzten Zeichen. Es ist also anders als bei den Begriffen, den Sach- oder Dingzeichen: aus deren Zusammensetzung gehen immer komphziertere Gebilde hervor, niemals so einfache wie die kombinierten Elemente für sich selbst: sehr viele Buchstaben können nie ein einfaches Wort ergeben, viele gleich- zeitige Empfindungen niemals eine ganz einfache Wahrnehmung. Kom- bination von Urteilen dagegen führt stets zu Vereinfachung, weil die ge- meinsamen Elemente herausfallen; Urteile sind ja nur dann kombinierbar, zur Deduktion verwendbar, wenn sie gemeinsame Mittelbegriffe enthalten, und diese werden durch den Prozeß des Schließens eliminiert. So kann man aus zahlreichen Prämissen einen Schlußsatz ableiten, verwickelte Schlick, Erkenntnislehre. I9 2go Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis. Rechenoperationen können zu einer einfachen Formel führen. An den algebraischen Verfahrungsweisen, die ja nur abkürzende Symbole für ge- wisse syllogistische Prozesse sind (vgl. oben S. 87), tritt das überhaupt am deutlichsten hervor. Die gesamte mathematische Analyse ist im Grunde nichts anderes als eine Zusammensetzung von Gleichungen, bei welcher gewisse gemeinsame Teile sich fortheben, so daß neue einfache Resultate sich ergeben, die implicite in den anfänglichen Prämissen voll- ständig enthalten sind. Aber eben nur implicite, und deshalb kann der Schein entstehen, als bedürfe es einer besonderen Brücke zwischen jenen und diesen, die vielleicht in den Gedanken vorhanden sein, in der Außen- welt aber fehlen könne, als brauchte mithin das deduktiv gewonnene Resultat möglicherweise nicht mit der Welt der wirklichen Tatsachen zusammenzutreffen. Wären aber in den Schlüssen, zu denen unser Denken gelangt, die einzelnen Urteile, durch deren Verknüpfung sie entstanden, noch so deut- lich erkennbar wie die Buchstaben in einem geschriebenen Wort, oder die einzelnen Töne in einer Melodie, so würden wir über den fraglichen Umstand ebensowenig erstaunen wie über die Tatsache, daß sich die Melodie durch eine geordnete Reihe von Noten repräsentieren läßt, deren jede einen einzelnen Ton der Melodie bedeutet. Die Problemstellung würde uns un- gefähr so gescheit vorkommen wie die Frage, ob eine Strecke von drei Tausendsteln Metern Länge in der Natur wirklich genau drei Millimeter lang sein müsse. Aber durch den Vollzug unseres Denkgeschäftes erhalten wir neue einfache Zeichen für neue Erfahrungsbeziehungen, und daß die Erfahrung uns dann wirklich diese neuen Beziehungen zeigt, daß z. B. eine vorhergesagte Sonnenfinsternis wirklich eintrifft, wenn die Tatsachen und Gesetze der Natur alle richtig in Rechnung gestellt sind, das ist nicht sonderbar, sondern ebenso selbstverständlich wie eben die Gültigkeit eines jeden analytischen Urteils. Voraussetzung dabei ist immer, daß die Prämissen der Deduktion wahr sind, und darüber, daß diese Voraussetzung tatsächHch so oft er- füllt ist, darf man sich, wie gesagt, mit Recht wundern. Wie ist es mög- lich, durch unsere Urteile die realen Tatsachen wirklich streng eindeutig zu bezeichnen.? Woher wissen wir z. B., daß die Gesetze der Himmels- mechanik, auf die unsere Voraussagung einer Sonnenfinsternis sich gründet, so allgemein gelten, daß sie den Lauf der Planeten nach hundert Jahren ebenso richtig darstellen wie heute.?' Mit anderen Worten: wie steht es um die Gültigkeit der synthetischen Urteile.? Denn synthetisch sind die Urteile, welche von der Wirklichkeit nicht bloß gelten, sondern auch eine Wirklichkeitserkenntnis aussprechen. Und weil sie synthetisch sind, versteht sich ihre Gültigkeit nicht von selbst. 36. Erkennen und Sein. Synthetisch nannten wir mit Kant solche Urteile, die von einem Gegenstande etwas aussagen, was noch nicht im Begriff des Gegenstandes Erkennen und Sein. 291 liegt. In ihnen ist die Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat nicht durch Definition gegeben, sondern durch Erkenntnis gestiftet. Wollen wir also die Frage nach der Gültigkeit solcher Urteile entscheiden, so können wir das nur auf Grund unserer Einsichten in das Wesen des Er- kenntnisaktes. Wir müssen zurückgreifen auf die Ergebnisse des Ersten Teiles; in ihm finden wir nicht nur das Material, das zur Lösung unserer Frage nötig ist, sondern das Problem selbst erhob dort schon mehrfach fragend sein Haupt, wir mußten aber die Antwort zurückschieben, so sehr uns auch die Frage schon damals beunruhigte. Wir empfanden sie als quälend, weil sich kein Weg zeigen wollte, zu zweifelsfrei exakter Wirk- lichkeitserkenntnis zu gelangen. Jetzt ist es an der Zeit, alle Möghch- keiten eines solchen Weges systematisch zu prüfen, denn es könnte sein, daß es doch einen Zugang gäbe zu dem gewiß aufs innigste zu erstrebenden Ziel absolut gültiger Realwahrheiten, und daß er nur auf dem bisher durchlaufenen Pfade unserer Untersuchung nicht sichtbar wurde. Wir schreiten also die Grenze zwischen Erkennen und Sein ab, um zu schauen, ob sich dort nirgends eine Pforte zu der ersehnten Strenge des Urteilens über Wirkliches auftun will. Vor allem müssen wir dabei diejenigen Stellen genau in Augenschein nehmen, an welchen hervor- ragende Denker eine solche Pforte glaubten öffnen zu können. Wirklich sind unsere Erlebnisse und was mit ihnen nach bestimmten Regeln zusammenhängt (oben, III A, haben wir diese Regeln aufgesucht). Erkennen der Wirklichkeit bedeutet, einen realen Gegenstand in einem andern wiederfinden und geht letzten Endes immer auf ein Wiedererkennen zurück, auf eine Identifizierung anschaulicher oder unanschaulicher Be- wußtseinsinhalte. Und dieser Akt des Vergleichens und Gleichfindens ist, ' so fanden wir, wegen der Flüchtigkeit aller Erlebnisse stets mit einer Unsicherheit behaftet, die für die Praxis der Wissenschaft und des Lebens ungefährhch und bedeutungslos sein mag, prinzipiell aber immer vor- handen ist und absoluter Unfehlbarkeit im Wege steht. Wir wissen nie absolut gewiß, ob wir nicht einem witkhchen Gegenstand einen Begriff fälschlich zuordnen, ob nicht seine Merkmale tatsächlich etwas von denen abweichen, die den gewählten Begriff konstituieren. Das einzige Mittel zur Erzeugung völlig exakter Begriffe fanden wir daher darin, sie vom Wirkhchen gänzlich loszulösen. Das geschah durch die implizite Definition, welche Begriffe nur durch Begriffe definiert, nicht durch anschauliche Gegebenheiten, nicht durch Bezug auf Wirkliches (vgl. oben § 7). Gibt es keine Möglichkeit, mit Sicherheit vom einen zum anderen zu gelangen, eine Brücke zu schlagen zwischen dem Reich der Wirklichkeit und dem Reich der strengen Begriffe.-* Gesetzt, es wäre eine sichere Verbindung gefunden, so hätten wir damit zunächst doch nur einen sehr bescheidenen Vorteil für die Wirk- lichkeitserkenntnis erreicht. Denn der Verlauf unserer Erlebnisse ist ein zeitlicher; und wenn ich jetzt einen wirklichen Gegenstand wahrnehme, so mag ich zwar vielleicht sicher sein, daß er unter den Begriff A fällt 19* 292 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis. und sich zudem durch den Begriff B bezeichnen läßt, so daß ich auf Grund meiner Wahrnehmung das synthetische Urteil A ist B aussprechen kaiin: aber dies Urteil hat dann zunächst nur Gültigkeit für den Moment der Beobachtung, es ist ein Augenblickssatz, mit dem ich weiter nichts an- fangen kann und der mich in den Zwecken, um deren willen ich Wirklich- keitsurteile fälle, gar nicht fördert. Denn wenn ich dem Gegenstande A ein anderes Mal begegne, woher weiß ich dann, daß er auch jetzt noch unter den Begriff B subsumiert werden darf.? Mit anderen Worten: woher nehme ich die Sicherheit, daß ich den Satz A ist B, nachdem ich ihn einmal gefunden habe, hinfort als gültige Prämisse künftiger Schlüsse voraussetzen kann.? Wie weiß ich, daß der Komet, dessen Wiederkehr für einen bestimmten Zeitpunkt ich vorausberechne, sich ohne Abweichung und Unterbrechung denselben Bewegungsgesetzen fügen wird, die seine Bahn bei allen bis- herigen Beobachtungen regelten.? Warum vertraust du, daß das Wasser eines Quells, das du auf heißer Wanderung in deinen Becher sprudeln läßt, deinen Durst löschen wird.? Könnte es dich nicht ebensogut ver- giften und doch alle übrigen Eigenschaften unverändert bewahren, die sonst allem Wasser eigentümlich sind.? Ist es mit absoluter Sicherheit aus- geschlossen, daß etwa dein Hund, der Tag für Tag treu zu deinen Füßen liegt und nicht duldet, daß ein Fremder dir zu nahe kommt, daß dieser selbe Hund plötzlich aufspringt und über dich herfällt, um dich zu zerreißen? An solchen Beispielen wird klar, daß wir in jedem Augenblick unseres Lebens zahllose Urteile als wahr voraussetzen müssen, um nur handeln zu können, ja, um überhaupt nur zu existieren. Sind sie wirklich über allen Zweifel erhaben.? Nun, sie sind in der Tat nicht schlechthin gewiß. Ein synthetisches Urteil, das irgendeinem wirklichen Dinge eine bestimmte Eigenschaft zu- schreibt, also einen realen Zusammenhang von Merkmalen behauptet, hat niemals den Charakter einer allgemeingültigen Wahrheit. Es ist heutzu- tage nicht nötig, einen ausführlichen Beweis für diesen Satz anzutreten, denn er wird nicht mehr ernstlich bestritten. So unstetig und krumm- linig die Entwicklung der Philosophie auch sein mag — der extreme Rationalismus kann in unseren Tagen doch für endgültig überwunden gelten, kein philosophisches System darf sich mehr anmaßen, es könne etwa über die Zahl der Planeten oder über besondere Eigenschaften eines chemischen Elementes mit apodiktischer Gewißheit, nämlich aus bloßer Vernunft, Auskunft geben. Zu einer solchen Verwechslung von Denken, Erkennen und Sein, durch die jener Rationalismus möglich wird, kann die Philosophie nimmermehr zurückkehren. Nur in einer Form ist die Behauptung apodiktischer Wirklichkeitserkenntnis noch diskutierbar, näm- lich in der von Kant gefundenen. Er suchte, wie bekannt, rationalistischen Gedanken einen bescheidenen Platz zu retten, indem er folgende Erwägung anstellte. Erkennen und Sein. 293 Wenn die Erkenntnis, so meinte er mit Recht, sich nach der Wirk- lichkeit richten soll, so kann sie unmöglich absolut gültig sein. Denn wenn ich irgendeinen Satz aufstelle, so kann künftige Erfahrung ihn stets Lügen strafen, weil meine Erkenntnis sich ja nur nach Erfahrungen richten kann, die ich tatsächlich gemacht habe, nicht aber nach entlegenen und künftigen, von denen ich bei der Aufstellung des Satzes noch nichts wußte. Meine Wahrheiten können vielmehr nur dann allgemeingültig sein, nur dann auch für noch nicht erlebte Wirklichkeiten gelten, wenn die Wirk- lichkeit sich irgendwie nach meiner Erkenntnis richtet. Ist dergleichen möglich, so wäre es sicherlich der einzige Weg zur Rettung streng' gültiger Wirkhchkeitserkenntnis (wie auch schon oben, S. 147 f., hervorgehoben), und deshalb brauchen wir überhaupt nur diesen einen Weg zu prüfen, um zur endgültigen Entscheidung unserer Frage zu gelangen. Kant sieht in jenem Weg nicht nur eine Möglichkeit, sondern be- trachtet ihn als tatsächlich vorhanden. Die Gesetze, denen die Objekte der Erfahrung gehorchen, sind nach seiner Meinung zugleich die Gesetze, nach denen die Erfahrung selber als Erkenntnisprozeß stattfindet; und so erkläre es sich, daß mit Sicherheit Wirklichkeitsurteile gefällt werden können, die durch alle künftige Erfahrung bestätigt werden müssen, also synthetische Urteile a priori. Denn dadurch, daß etwas mir in der Er- fahrung gegeben wird, ist es eben den Gesetzen der Erfahrung unterstellt. Hierbei bedeutet ,, Erfahrung" nichts anderes als auf Wahrnehmung ge- gründete Erkenntnis. In dieser Bedeutung hatte Kant das Wort ,,ex- perience" bei Hume vorgefunden, bei dem es auch nicht etwa den Sinn des bloßen Wahrnehmens hat. Das stimmt mit dem Gebrauch des Wortes in der Umgangssprache aufs beste überein, denn damit wir von einem Menschen sagen ,,er besitzt Erfahrung", genügt es nicht, daß er viel ge- sehen habe, sondern er muß das Wahrgenommene zu verwerten wissen. Ein Unterschied liegt nur darin, daß Kant unter Erkenntnis allein die exakte, absolut gültige Erkenntnis verstanden wissen will. Den dargestellten Grundgedanken hat Kant nun in zwiefacher Weise entwickelt. Mit seiner Hilfe hat er erstlich versucht, die Verschwommenheit und Unscharfe alles Anschaulichen zu überwinden, die der Strenge des Erkennens so gefährlich wird. Unser sinnliches Anschauen, so flüchtig es sein mag, steht unter strengen Gesetzen; und diese Gesetzlichkeit, die sich offenbart, wenn wir von allem Empfindungsmäßigen darin abstrahieren, wird von Kant als reine Anschauung bezeichnet. Nach Fortlassung des Empfindungsinhaltes bleiben aber die Formen des Anschauens übrig, nämlich Raum und Zeit. Das ist die Lehre von den apriorischen Anschau- ungsformen, welche nach Kant die reine Mathematik ermöglichen, d. h. die apodiktische Geltung der mathematischen Urteile erklärea sollen. Die Geometrie z. B. ist danach nichts anderes als die Wissenschaft von der räumlichen Anschauungsform, und ihre Sätze gelten deshalb absolut streng, weil wir räumliche Wahrnehmungen und Vorstellungen natürhch nicht im 294 ^^^ Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis. Bewußtsein haben können, ohne daß ihnen jene Form durch die Beschaffen- heit unseres Bewußtseins aufgeprägt wird. Zweitens will Kant dasselbe Prinzip auch für diejenigen syntheti- schen Urteile nutzbar machen, die sich weitergehend auf das Wirkliche in Raum und Zeit beziehen, nicht bloß auf die räumlichen und zeitlichen Formen. Auch unter diesen Urteilen sind nach seiner Meinung solche von apodiktischer Geltung, und ihre Möglichkeit wird erklärt durch eine Über- tragung jenes Grundgedankens vom Anschauen auf das Denken. Wie unser Anschauen an bestimmte Formen gebunden ist, so sollen nämlich unserem Bewußtsein auch gewisse Stammbegriffe (,, Kategorien") unver- äußerlich eigentümlich sein, auf die das Denken in allen seinen Funktionen angewiesen ist. Und die Urteile, in denen jene Begriffe sich entfalten, müssen notwendig von der Wirklichkeit gelten, weil unser Bewußtsein das Wirkliche eben nicht anders als in diesen Kategorien denken kann. Realität ist selbst eine Kategorie; wirklich ist für uns nur, was wir unter dieser Kategorie denken müssen. So richtet sich das Wirkliche — d. h. das, was wir als wirklich erfahren — nach unserem Denken; wir können von ihm gewisse allgemeine Sätze (Kant nennt sie Sätze der ,, reinen Naturwissenschaft") a priori aussprechen, deren objektive Gültigkeit auf die angedeutete Weise verständlich gemacht wird. Man hat den eben entwickelten Gedanken im Anschluß an eine Be- merkung von Kant selbst mit der Tat des Kopeknikus verglichen. Denn wie dieser entgegen dem Sinnenschein die Erde um die Sonne laufen ließ, so behauptet der kritische Philosoph entgegen der geläufigen Meinung, daß die Gegenstände sich nach der Erkenntnis richten, nicht aber um- gekehrt. Wir müssen beide Ausprägungen des Grundgedankens einzeln untersuchen, um Kant's Antwort auf die große Erkenntnisfrage beurteilen zu können; und das soll in den folgenden Paragraphen geschehen. Vorerst aber ist es notwendig, einige wesentliche Seiten dieses Lösungsversuches besonders zu beleuchten. Zunächst ist klar, daß die KANT'sche Lösung, wäre sie richtig, doch keinen großen Triumph des Rationalismus bedeuten würde. Denn die Erkenntnisse, die uns nach dieser Lehre noch a priori möglich sein sollen, sind für den Einzelfall in der Forschung und im Leben ohne konkrete, materiale Bedeutung. Es sind ganz allgemeine Sätze, welche nur die Form bestimmen, in der nach Kani' alle unsere Erfahrung auftreten muß. Zum Beispiel: Wir würden zwar mit apodiktischer Gewißheit von jedem einzelnen wirklichen Ereignis behaupten können, daß es eine Ursache habe, aber in keinem Falle vermögen wir a priori zu entscheiden, welches denn nun die Ursache ist, die zu jenem Ereignis gehört, und wären nie sicher, die richtige gefunden zu haben. Ferner: Wir wüßten zwar genau, daß allem Wechsel in der Natur etwas Beharrliches (eine ,, Substanz") zugrunde liegen muß, aber man darf nicht glauben, daß dadurch nun etwa die naturwissenschaftlichen Sätze von der Erhaltung der Energie oder der Erkennen und Sein. 295 Masse zum Range schlechthin gültiger Wahrheiten erhoben würden. Es könnte ganz wohl sein, daß spätere Erfahrungen den Satz von der Er- haltung der Energie oder der Masse als unrichtig erwiesen, ohne daß damit der Kantianismus widerlegt wäre; er würde vielmehr behaupten, daß die beobachteten Änderungen doch schließlich wieder als Modifika- tionen eines schlechthin Beharrlichen aufzufassen seien, und daß die Wissen- schaft eben dadurch weiter fortschreite, daß sie nach diesem BeharrHchen, Konstanten suche. So wäre die Anwendung der Substanzkategorie nicht verhindert, sondern nur verschoben. Wenn die Masse oder die Energie die Bedingung der Konstanz nicht erfüllen, so muß eben ein neues Sub- strat gefunden werden, welches der unabweislichen Denkforderung der Beharrlichkeit Genüge leistet. Und so fort. Man sieht, daß nach dieser Auffassung die allgemeinsten Gesetze der Natur identisch sind mit den Regeln der Erkenntnis der Natur. Sie geben nur ein leeres Gerüst ab, innerhalb dessen der Fortschritt der Einzelwissen- schaften sich abspielen muß und das durch ihn ausgefüllt wird. An diesem Fortschritt selbst sind sie nicht beteiligt. Die apriorische Erkenntnis spielt hier also eine ganz andere Rolle als in den rationalistischen Systemen eines Descartes oder Spinoza; sie gibt nur allgemeinste Formen, an welche die Erkenntnisfunktionen des Bewußtseins gebunden sind. Es ist verständlich, daß den Bewunderern der alten Metaphysik der Kantsche Kritizismus als eiij ,, alles zermalmender" erschien. Und nun gelten die synthetischen Sätze a priori nur für ,, Erschei- nungen", nur für die Welt der Vorstellungen, der die Form des Anschauens und Denkens aufgeprägt ist, die einzige uns bekannte Welt, während die Welt der Dinge an sich für uns unerkennbar ist; wir vermögen von ihr nichts zu wissen und anzugeben als ihre Grenze gegen die Erschei- nungen. Diese Teilung der Welt mußte Kant vornehmen, um wenigstens dem einen Teil eine allgemeingültige Erkenntnis zu retten. Ich glaube oben (§ 26) gezeigt zu haben, daß die Idee dieser Trennung durch einen verkehrten Erkenntnisbegriff verschuldet ist, und daß sie ein höchst ge- fährliches Hindernis auf dem Wege der Philosophie bildet, welches fort- geräumt werden muß, indem man dem Begriff der Erscheinung als un- zweckmäßig gebildet überhaupt aufhebt. Damit ist dem KANT'schen System eine wichtige Stütze entzogen und wir sind ihm gegenüber zu einer sehr skeptischen und vorsichtigen Haltung genötigt. Die Prüfung den Lehre von den synthetischen Urteilen a priori wird die Richtigkeit dieser Haltung im einzelnen bestätigen und die Stellung genauer bezeichnen, die wir gegenüber der von Kant geschaffenen Transzendentalphilosophie einnehmen müssen. Mehrmals schon war zu erwähnen, daß für Kant das tatsächliche Vor- handensein a priori gültiger Wirklichkeitserkenntnis feststand. Nach seiner Meinung wird es durch das bloße Faktum der exakten Wissenschaften zweifelsfrei bewiesen. Man hat oft bestritten, daß Kant diese Voraussetzung wirkhch gemacht habe, aber, wie ich glaube, mit Unrecht. Denn die Stellen, 296 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis. an denen er sich in dieser Weise ausspricht, sind so klar und zahlreich, die einer entgegengesetzten Auslegung fähigen Stellen aber so vereinzelt und mehrdeutig, daß es mir unmöglich ist, den modernen Kantianern in diesem Punkte beizustimmen, obgleich viele der scharfsinnigsten Kenner seiner Philosophie sich für jene Interpretation erklärt haben (besonders A. Riehl ist mit großer Energie für sie eingetreten). Man hat gesagt, Kant weise auf das faktische Gelten synthetischer Urteile a priori nur als Beispiel hin, benutze es jedoch nicht zu weiteren Schlüssen. Dem steht aber entgegen, daß Kant an den zahlreichen Stellen, an welchen er die Ver- suche einer empirischen Begründung der obersten Grundsätze ablehnt, das stets durch die Bemerkung tut, auf diese Weise könne die zweifellos bestehende Allgemeingültigkeit jener Sätze nicht erklärt werden. So sagt er gegen Locke und Hume (Kritik der r. Vernunft, Kehrbach S. in): ,,Die empirische Ableitung aber, worauf beide verfielen, läßt sich mit der Wirklichkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis a priori, die wir haben, nämlich der reinen Mathematik und allgemeinen Naturwissenschaft, nicht vereinigen und wird also durch das Faktum widerlegt." Man kann aber ein Faktum nur dann zu einer Widerlegung benutzen, wenn man an seinem Bestehen nicht zweifelt; hier wie in allen ähnlichen Beweisführungen setzt Kant also voraus, daß wir im Besitze gültiger Urteile a priori sind. Manche sagen, er habe die Geltung jener Urteile erst bewiesen, hätte er sie vorausgesetzt, so wäre das ein Zirkelschluß, den man ihm nicht zutrauen dürfe. Aber es kam ihm nur darauf an, ihre Möglichkeit zu beweisen; seine Fragestellung lautete: Hier sind synthetische Erkenntnisse, die von den Erfahrungsgegenständen a priori gültig sind — wie kann ich das erklären.'' wie muß das erkennende Bewußtsein beschaffen sein, um diesen Tatbestand verständlich zu machen.? Kant setzt also die Wissen- schaft als Faktum voraus und sein Ziel ist nur, daraus auf die Natur ihres Schöpfers, des menschlichen Verstandes, zu schließen. (Daß es sich für ihn nur um den menschlichen Verstand handelt, daß er nicht den Anspruch erhebt, die Beschaffenheit eines Verstandes überhaupt zu er- gründen, hat Kant mehrfach ausgesprochen — z. B. Kehrbach S. 61, 66, 663 f. Gegen die Ansicht mancher Kantianer ist es nötig, dies zu betonen.) Er stützt die ,, transzendentale Deduktion", welche die objektive Gültigkeit jener Urteile erklären soll, auf den Begriff der Erfahrung; dieser Begriff der empirischen Erkenntnis wird aber von ihm definitionsweise so gewandt, daß er implizite synthetische Urteile a priori einschließt: indem er voraus- setzt, daß wir Erfahrung tatsächhch besitzen, setzt er die Geltung jener Urteile voraus. Wir brauchen den Zusammenhang der KANT'schen Gedanken hier nicht weiter zu verfolgen; die dunkeln Ecken seines Systems werden sonst schon oft genug immer aufs neue durchforscht. Wir mußten bis hierher vordringen, damit die Voraussetzung klar werde, auf welcher sein Ver- such ruht, die Natur der Herrschaft allgemeingültigen Denkens zu unter- werfen, und damit wir uns nun ungestört der Prüfung dieser Voraussetzung Gibt es eine reine Anschauung ? 297 zuwenden können. Fällt sie, dann wissen wir jetzt, daß der KANx'sche Versuch mißglückt ist; dann ist es seinem imposanten Aufgebot von Scharf- sinn in der transzendentalen Ästhetik und Logik nicht gelungen, der apriorischen Erkenntnis ein letztes Plätzchen zu sichern, das zwar im Vergleich mit den Ansprüchen der alten Metaphysik nur ein recht be- schtidener, aber doch sehr vornehmer Ruhesitz sein sollte. 37. Gibt es eine reine Anschauung? Die Mathematik ist es, auf welche Kant und seine Anhänger in erster Linie hinweisen, wenn sie das Vorkommen synthetischer Urteile a priori behaupten. Über die mathematischen Urteile haben wir aber bereits durch Untersuchungen früherer Paragraphen weitgehende Klarheit gewonnen. Es konnte nicht bezweifelt werden, daß in ihnen streng gültige Wahrheit enthalten ist und daß sie also insofern a priori sind. Im § 7 hatte sich jedoch gezeigt, daß die absolute Exaktheit der Mathematik zunächst nur so weit für gesichert gelten darf, als sie eine Wissenschaft von bloßen Begriffen darstellt. Es ist möglich — so wurde am Beispiel der Geometrie ausgeführt — , von jedem anschaulichen Inhalt der mathe- matischen Begriffe abzusehen, indem man sie durch implizite Defini- tionen definiert; und die neuere Mathematik erkannte diese Art der Ein- führung und Bestimmung der Grundbegriffe nicht nur als möglich, sondern sah sich gezwungen, diesen Weg einzuschlagen, eben weil sie auf keine andere Weise vermochte, die Strenge ihrer Sätze zu sichern. Die geome- trischen Begriffe mußten ohne Rücksicht auf den anschaulichen Inhalt betrachtet werden, mit dem sie erfüllt werden können und gewöhnhch erfüllt gedacht werden. So angesehen, besteht aber die Mathematik aus reinen Begriffssätzen, sie gibt gar keine Wirklichkeitserkenntnis, und wir haben hier nichts mehr mit ihr zu schaffen. Alle ihre Wahrheiten folgen syllogistisch aus einem Axiomensystem, dies Axiomensystem hat nur die Bedeutung einer Defini- tion der Grundbegriffe, und jenes sind folglich lauter analytische Wahr- heiten, sie entwickeln nur die Beziehungen, die durch die Definitionen zwischen den Grundbegriffen festgelegt sind. In diesem Sinne wären hier- nach die geometrischen Urteile natürlich a priori, aber gar nicht syn- thetisch. Und nun erhebt sich die schon früher aufgeworfene, aber bis hierher zurückgestellte Frage, ob den mathematischen Sätzen eine über den Um- kreis des rein Begrifflichen hinausgehende Bedeutung zukommt, ob sie nämlich ihre apodiktische Geltung behalten, wenn man den Begriffen einen anschauHchen Inhalt unterlegt. Dann würde also der Sinn der Worte ,, Gerade", ,, Ebene" usw. nicht bloß durch imphzite Definitionen bestimmt gedacht, sondern es wären damit eben die räumlichen Gebilde gemeint, die wir mit jenen Worten zu bezeichnen pflegen. Die Frage lautet also: bleibt die Geometrie auch als Wissenschaft vom Räume eme apriori- sche Wissenschaft .-* 298 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis. Wäre sie zu bejahen, dann müßte allgemeingültig eingesehen werden, daß die räumlichen Gebilde untereinander gerade in denjenigen Beziehungen stehen, welche durch die impliziten Definitionen für die geometrischen Grundbegriffe festgelegt sind. Es wären gar keine Definitionen mehr, sondern synthetische Sätze, weil ja der Sinn der Worte sich geändert hat; es wären Axiome, die von anschaulichen Größen handelten, nicht «k^on Begriffen. Die einzelnen Lehrsätze der Geometrie würden natürlich nach wie vor rein analytisch aus den Axiomen folgen, ihre Geltung von den räumlichen Gebilden böte kein Problem mehr; wer sich darüber wundern wollte, würde sich die falsche Fragestellung zu schulden kommen lassen, -die im § 35 abgewehrt wurde. Es war Kant's Meinung, daß die Ableitung der geometrischen Lehrsätze aus den Axiomen mit Hilfe der Anschauung geschehe und ohne sie nicht vollzogen werden könne. Diese Ansicht ist zunächst zu korrigieren, denn wir lernten als ein Hauptergebnis der mo- dernen geometrischen Forschung kennen (§ 7), daß die Beweise in keinem Falle mehr der Anschauung bedürfen, sondern durch rein logische Deduktion geführt werden können. Aber alle diese Korrektur, wenn auch methodisch wichtig, läßt doch den Hauptpunkt unberührt: sowie nur die Axiome synthetische Urteile a priori sind, darf auch jeder beliebige Lehrsatz, trotz seiner analytischen Herleitung aus jenen, als synthetisch betrachtet werden, eben weil er dasselbe sagt, wie die Axiome, weil ihr Inhalt analytisch in ihm enthalten ist, weil er voraussetzt, daß die Gegenstände, von denen er handelt, genau die in den Axiomen festgelegten Eigenschaften besitzen. Nach Kant wären nun in der Tat die Aussagen, welche die Geometrie als Wissenschaft vom Räume macht, von apodiktischer Geltung, also a priori, und sie wären Wirklichkeitsurteile, weil der Raum, wenn auch natürlich nicht selbst ein reales Ding, doch eben die Form sein soll, in der die sinnliche Wirklichkeit uns stets gegeben ist. Er ist die Form unseres Anschauens, dessen Gesetzmäßigkeit als reine Anschauung wir durch die geometrische Wissenschaft erkennen. Es muß natürlich eine ganz bestimmte Gesetzmäßigkeit sein, die durch ein ganz bestimmtes geometrisches System, z. B. das Euklidische, ausdrückbar ist, denn nur wenn sie ein für allemal als gesetzliche Form des sinnlichen Bewußtseins festliegt, kann sie der Erfahrungswelt ihre Gestalt a priori vorschreiben. Viele Jahrhunderte lang ist man der Meinung gawesen, daß die Euklidische in der Tat die Geometrie des Raumes darstelle; Jahrhunderte lang ist man nicht auf den Gedanken gekommen, die Eigenschaften des Raumes möchten sich durch andere als die euklidischen Axiome be- schreiben lassen, und man hat sie gewiß auch für streng gültig gehalten. Das scheint für die Richtigkeit der KANi'schen Ansicht zu sprechen und zugleich dafür, daß die von ihm angenommene reine Anschauung euklidi- schen Charakter trägt. Dies ist auch tatsächlich die. gewöhnliche Meinung der heutigen Kantianer. Sie geben natürhch zu, daß andere Geometrien Gibt es eine reine Anschauung? 299 als die euklidische denkbar sind, sie glauben aber, daß allein die letztere anschaulich vorstellbar sei, die physischen Objekte müßten uns daher notwendig im euklidischen Raum erscheinen. Aber auch wenn jemand behauptete, die Gesetzlichkeit unserer Anschauung sei eine nichteuklidi- sche, könnte er doch im übrigen den KANT'schen Standpunkt vollkommen aufrecht erhalten. Allerdings ist eine solche Behauptung meines Wissens niemals aufgestellt worden. Wohl aber wurde die Meinung vertreten (von V. Henry, Das erkenntnistheoretische Raumproblem, Berlin 19 15), daß zwar irgendeine bestimmte Geometrie notwendig die allein für den Anschauungsraum gültige sein muß, daß wir aber niemals entscheiden können, welche es ist; das könne die Wissenschaft nur mit immer größerer Annäherung ermitteln, ohne jemals die Gültigkeit der Axiome mit apodiktischer Gewißheit feststellen zu können. Die synthetischen Ur- teile a priori der Geometrie trügen daher schließlich für uns nur problema- tischen Charakter. Das Unbefriedigende dieser Ansicht liegt auf der Hand; sie raubt der geometrischen Theorie fast jeden Halt. Ferner scheint aber zugunsten der Kantianer die unbezweifelbare Tat- sache zu sprechen, daß die sinnliche Erfahrung uns niemals zwingen kann, eine bestimmte Geometrie bei der Naturbeschreibung zugrunde zu legen. Die Erfahrung kann nie eine bestimmte Geometrie als die im empirischen Räume allein gültige erweisen — und zwar nicht etwa nur in dem Sinne, daß wegen der Undeutlichkeit aller Wahrnehmung kleine Abweichungen von der euklidischen Geometrie doch stets möglich blieben, sondern in dem Sinne, daß die Erfahrungstatsachen mit jeder beliebigen Geometrie ohne Ausnahme vollkommen in Einklang gebracht werden können, wenn man nur zugleich die Naturgesetze in einer passenden Formulierung ausspricht. Auf diese Tatsache der eigentümlichen Un- abhängigkeit der Geometrie von der Erfahrung hat besonders H. PoiN- CARE (vor allem in ,,La science et l'hypothese" und in ,,science et methode") aufmerksam gemacht; ich habe sie andernorts (Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik, Berlin 19 17) ausführlich dargestellt und darf daher hier auf eine Wiederholung der Begründung verzichten. Wenn demnach die Erfahrung von sich aus nicht eindeutig darüber ent- scheiden kann, welche Geometrie als für unseren Raum gültig angenommen werden muß, so scheint dies die KANT'sche Meinung zu begünstigen, daß der Charakter des Raumes eben unabhängig von der Erfahrung durch die Form der Anschauung bestimmt werde. Die empirische, sinnliche Anschauung ist nicht imstande, uns die Geltung der Axiome zu beweisen. Wir glauben zwar unmittelbar zu sehen, daß es durch einen Punkt außerhalb einer Geraden nur eine Parallele zu ihr gibt, aber wenn nun eine dritte Gerade gezogen würde, die mit der zweiten einen Winkel von einem Millionstel Grad bildete, so könnte mich die empirische Anschauung sicherlich nicht darüber belehren", ob die neue Gerade die erste wirklich niemals schneidet: aus dem einfachen Grunde, weil ein Winkel von der erwähnten Kleinheit überhaupt nicht 300 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis. anschaulich vorstellbar ist. Da nun aber von Euklids Zeiten bis heute die meisten Menschen dennoch die Richtigkeit des Euklidischen Parallelen- axioms unmittelbar einzusehen glauben, so scheint dies nur erklärlich zu sein, wenn unser Bewußtsein tatsächlich über eine „reine" Anschauung verfügt, welche die Sicherheit der sinnlichen Raumanschauung weit über- trifft und dann in der Tat die Bedeutung haben könnte, welche Kant ihr zuschreibt. Es genügt nicht, zur Widerlegung der KANx'schen Lehre darauf hin- zuweisen, daß heutzutage sehr viele Mathematiker das Parallelenaxiom — um bei diesem Beispiel zu bleiben — keineswegs vollkommen einleuchtend finden; die Heranziehung von dergleichen subjektiven Überzeugungen be- deutet in diesen Fragen gar nichts; es wäre ein Appell an den Glauben, der uns in die Unzulänglichkeiten der Evidenzlehre verstricken würde (vgl. § iS). Eher schon läßt sich auf einem anderen Wege die Existenz einer ,, reinen" Anschauung neben oder vielmehr i n der empirischen in Zweifel ziehen. Es kommt nämlich vor, daß gewisse vermeintliche Einsichten, die man der reinen Anschauung zuschreiben müßte, durch die mathema- tische Analyse überhaupt als falsch erwiesen werden. Und das ist natür- lich verhängnisvoll für die Lehre, denn eine notwendige Form des An- schauens kann nicht trügerisch sein: es handelt sich ja gerade darum, ihre Richtigkeit, ihre Geltung zu erklären. Solche Fälle scheinen mir in folgenden Beispielen vorzuliegen: Wer sich auf die Anschauung verläßt, muß sicherlich urteilen, daß man an eine vollkommen stetige Kurve stets eine Tangente ziehen kann. Aber das ist ein Irrtum, denn es gibt Kurven (Weierstrass hat zuerst die Gleichung einer solchen angegeben), die völlig stetig sind und doch in keinem Punkte eine Tangente besitzen (weil nämlich ihre Gleichung an keiner Stelle differenzierbar ist). Hier läßt uns also die Anschauung im Stich. — Sie scheint ferner zu lehren, daß zwei parallele Gerade nach zwei unendlich fernen Punkten hinzielen, die vom Betrachter aus gesehen in entgegengesetzten Richtungen liegen. Man findet diese Behauptung z. B. bei E. v. Hartmann ausdrücklich aufgestellt (Kategorienlehre, Ausgewählte Werke, Bd. X, 1896, S. 263. Er sagt dort von emer Parallelen zur Abszissenachse, sie habe ,, entweder gar keinen Punkt mit der Abszissenachse gemein, oder zwei zugleich auf den entgegen- gesetzten Seiten . . ."). Und doch trifft sie nicht das Richtige. Denn die Analyse lehrt, daß gerade in der Euklidischen Geometrie zwei Pa- rallelen sich nur in einem unendHch fernen Punkte schneiden. Dergleichen Beispiele sind, wie ich glaube, schon hinreichend, um die Unhaltbarkeit der Lehre von der reinen Anschauung in besonderen Fällen darzutun. Wir brauchen aber bei ihnen nicht zu verweilen und kein Gewicht darauf zu legen, denn wir müssen die KANT'sche Ansicht noch aus allgemeineren und ganz prinzipiellen Gründen ablehnen, die wir in früheren Kapiteln bereits fertig entwickelt vorfinden. Gibt es eine reine Anschauung? 301 Die Geltung der geometrischen Sätze kann nämlich einfach deshalb nicht auf eine reine Anschauung gegründet werden, weil der Raum der Geometrie überhaupt gar nicht anschaulich ist. Es gibt nicht nur einen anschaulichen Raum, sondern so viele, als wir räumliche Sinne besitzen, also einen optischen (eigentlich sogar deren zwei, weil der Mensch ein zweiäugiges Wesen ist), einen haptischen, einen Raum der Bewegungsempfindungen usf. Alle diese sind unter sich von Grund aus verschieden, der Raum des Geometers dagegen ist nur einer und er ist nicht identisch mit irgendeinem von jenen, sondern hat ganz andere Eigenschaften als sie (vgl. oben § 28). Er ist eine begriffliche Konstruktion und entsteht aus den räumlichen Daten der einzelnen Sinne mit Hilfe der früher geschilderten Methode der Koinzidenzen, welche die einzelnen Elemente der subjektiven Räume einander eindeutig zuordnet, was dann zur Bildung des Begriffes der ,, Punkte" des objektiven Raumes führt. Kant redet stets von ,,dem" Raum, erklärt ihn für anschaulich und stellt ihm nur die unbekannte Ordnung der Dinge an sich gegenüber. Wir kennen dagegen mehrere anschauliche Räume und stellen ihr die Ordnung der physischen Körper gegenüber, welche eben der geometrische Raum ist. Seine Unanschaulichkeit steht außer allem Zweifel (vgl. oben S. 223). In den anschaulichen Räumen gelten die euklidischen Axiome nicht. Wir sahen ja früher, daß z. B. der Gesichtsraum ein RiEMANN'scher Raum ist, und daß auch der Tast- und Muskelempfindungsraum sicherlich nicht von vornherein als eukHdisch gelten darf (oben S. 219 ff.). Damit ist die zu Anfang des Paragraphen gestellte Frage beantwortet, ob die Geometrie ihre Gültigkeit behält, wenn man ihren Begriffen einen an- schaulichen Sinn unterlegt. Sie ist nämlich verneint. Es kann also keine Rede davon sein, daß unserer Raumanschauung bestimmte geome- trische Axiome eigentümlich wären. Wir besitzen eben keine Anschauung des geometrischen Raumes. Er ist ein begriffliches Gebilde, welches wir so konstruieren, daß wir mit seiner Hilfe die Naturgesetze in möghchst einfacher Gestalt formu- lieren können. Dies allein ist entscheidend für die Wahl der geometrischen Axiome. Dabei ist zu beachten, daß diese Aufstellung und Auswahl der Axiome nicht erst im Stadium einer ausgebildeten Physik erfolgt, denn schon die Erfahrungen des täglichen Lebens sind ja reich mit naturgesetz- licher Erkenntnis durchsetzt; kann doch der bloße Begriff eines Körpers nicht ohne gewisse geometrische Begriffe zustande kommen. Der erwähnte Gesichtspunkt leitet den Menschen gleichsam unbewußt, so daß es erst besonderer scharfsinniger Untersuchungen (wie derjenigen Poixcare's) bedurfte, um zu erkennen, daß er uns leitet. Die Geometrie des täghchen Lebens war die euklidische und bis vor kurzem mußte es scheinen, als ob sie auch für alle Zwecke der Naturwissen- schaft zugrunde zu legen wäre. Die neueste Physik wurde aber auf einem ihrer schönsten und kühnsten Wege, durch die EiNSTEiM'sche Gravitations- 302 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis. theorie, zu dem Resultat geführt, daß es nicht möglich ist, mit euklidischen Maßbestimmungen auszukommen, wenn man die Natur mit höchster Ge- nauigkeit durch einfachste Gesetze beschreiben will. Man hat danach vielmehr an jedem Orte der Welt eine andere Geometrie zu benutzen, die von dem physikalischen Zustande (dem Gravitationspotential daselbst) abhängt. Nach den letzten Untersuchungen Einstein's ist es wahr- scheinlich, daß man den Weltraum im großen ganzen am besten als mit annähernd ,, sphärischen" Eigenschaften begabt (also als endlich, wenn auch natürlich als unbegrenzt) anzusehen hat. Es kann nicht genug betont werden: wir sind nicht gezwungen, den Raum gemäß einer derartigen Theorie aufzufassen. Wenn wir wollen und darauf bestehen, kann uns keine Erfahrung hindern, bei der euklidi- schen Geometrie zu beharren; aber wir gelangen dann eben nicht zu ein- fachen Formulierungen der Naturgesetze, das System der Physik wird in sich weniger befriedigend. Wer sich jedoch einmal in die eben erwähnte physikalische Theorie vertieft und ihre Geschlossenheit kennen gelernt hat, die das gesamte physische Weltbild in grandioser Weise vereinfacht, der zweifelt nicht, daß die Alleinherrschaft der euklidischen Geometrie in der Physik zu Ende ist. Die physikalische Naturbeschreibung ist nicht an eine bestimmte Geometrie gebunden und keine Anschauung schreibt uns vor, ihr die euklidischen Axiome als die allein richtigen zugrunde zu legen, ebensowenig natürlich irgendwelche nichteuklidischen. Wir wählen — ursprünglich unwillkürlich, neuerdings aber ganz bewußt — stets die- jenigen Axiome, die zu den einfachsten physikalischen Gesetzen führen; wir könnten aber "im Prinzip auch andere wählen, wenn wir dafür kom- pliziertere Formulierungen der Naturgesetze in den Kauf nehmen wollen; sie sind also prinzipiell in unser Belieben gestellt. Und das heißt nichts anderes, als daß sie Definitionen sind. So kommen wir zu dem Resultat, daß die Geometrie nicht nur als reine Begriffswissenschaft, sondern auch als Wissenschaft vom Räume, also in ihrer Anwendung auf die Natur, nicht ausgeht von synthetischen Sätzen a priori, sondern von impliziten Definitionen. Oder anders aus- gedrückt: Auch als Wissenschaft vom Räume ist sie reine Begriffswissen- schaft und hat gar nicht etwas Anschauliches zum Gegenstande, wie wir zuerst glauben mußten. Von der wirklichen anschaulichen Ausdehnung, von der Räumlichkeit, wie wir sie auf den verschiedenen Sinnesgebieten erleben, ist nur empirische Erkenntnis möglich; sie ist offenbar eine Auf- gabe der Psychologie. Das Resultat versteht sich fast von selbst, wenn wir uns frühere Er- gebnisse vor Augen halten. Alles Anschauliche ist etwas Reales, weil unmittelbar Gegebenes, der geometrische Raum aber hatte sich uns längst als ein bloßer Begriff herausgestellt. Gilt doch dasselbe sogar von den physischen Körpern, die ihn erfüllen. Das Räumlich-Physische ist eben ein bloßes Zeichensystem, das wir der Wirklichkeit zuordnen und welches wir so wählen, daß die Bezeichnung auf eine möglichst einfache, einheit- Gibt es eine reine Anschauung? 303 liehe Weise, nämlich durch ein Minimum von Begriffen, erreicht wird. Der geometrische Raum ist ein begriffliches Hilfsmittel zur Bezeichnung der Ordnung des Wirklichen; es gibt keine reine Anschauung von ihm und es gibt keine synthetischen Sätze a priori über ihn. Nachdem wir über die Geltung der geometrischen Wahrheiten ins klare gekommen sind, ist es ein Leichtes, die Bedeutung der Arithmetik für unsere Frage zu ermessen. Finden wir vielleicht unter ihren Sätzen die synthetischen Urteile a priori, die wir in der Geometrie vergebHch suchten.'' Durch die Architektonik seines Systems verführt, hat Kant daran gedacht, daß die Zeitanschauung für die Arithmetik eine analoge Rolle spielen möchte, wie die Raumanschauung für die Geometrie, aber mit Recht hat er diesen Gedanken nicht weiter verfolgt, denn er ist natürlich ganz unhaltbar. Freihch bedürfen wir zum Zählen der Zeit, aber es wäre eine arge Verwechslung des psychologischen mit dem erkenntnistheoreti- schen Standpunkte, wenn man daraus irgendeine nähere Beziehung des Zahlbegriffes zur Zeit ableiten wollte. Alle psychischen Akte gehen in der Zeit vor sich; auf das in diesen Akten Gedachte läßt sich daraus nichts schließen. Auch mit der Raumanschauung hängt die Zahl nur psycho- logisch, nicht logisch zusammen, denn daß wir uns arithmetische Zu- sammenhänge durch räumliche Objekte illustrieren (Abzählen von Punkten an der Tafel, von Fingern der Hand), ist natürlich für die Geltung der Zahlsätze ganz unwesentlich. Kant's Lehre, daß die arithmetischen Sätze den Grund ihrer Gültig- keit in der Anschauung hätten, muß auf jeden Fall abgelehnt werden. Nein, wenn es in der Wissenschaft von den Zahlen synthetische Urteile a priori geben sollte, so können sie ihre Gültigkeit nicht einer Anschauungs- form, sondern höchstens irgendwelchen Denkformen verdanken. Wie es sich aber damit verhält, soll erst im nächsten Paragraphen untersucht werden. Gibt es aber vielleicht irgendwelche anderen Urteile, deren Grund in einer reinen Zeitanschauung gesucht werden müßte.? Die wenigen Grund- sätze, die Kant als synthetisch und a priori aus der Zeitanschauung fließend anführt (die Zeit hat nur eine Dimension; verschiedene Zeiten sind nicht zugleich, sondern nacheinander, sie sind nur Teile eben der- selben Zeit), sind inhaltsarm genug; und die 28 Sätze, welche wir nach Schopenhauer über die Zeit fällen können, stellen nur scheinbar eine Bereicherung dar. In Wahrheit lassen sich über die Zeitanschauung ganz ähnliche Bemerkungen machen und ganz gleiche Folgerungen ziehen wie in bezug auf die Raumanschauung. Auch bei der Zeit ist, wie wir wissen (vgl. § 29), zu unterscheiden zwischen dem anschaulichen Wesen, über welches auf Grund psychologischer Untersuchungen Erfahrungsurteile ge- fällt werden können, und der mathematischen oder objektiven' Zeit. Die 304 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis. letztere ist gleich dem Räume eine begriffliche Konstruktion, deren Ge-' staltung wiederum allein von dem Gesichtspunkte beherrscht wird, daß die Naturgesetze in möglichst einfacher, geschlossener Form erscheinen müssen. Auch dies ist in der neuesten Naturwissenschaft durch die Rela- tivitätstheorie bestätigt worden, welche zeigt, daß man nicht länger an der einen ,, gleichmäßig ablaufenden" Zeit Newton's festhalten darf, sondern verschiedene Zeitmaße benutzen muß, je nachdem Bewegungs- zustand des Systems, auf welches die Darstellung der Naturvorgänge be- zogen wird. Nur auf diese Weise gelingt es, die Erklärung durch ein Minimum von Begriffen zu leisten (vgl. hierüber die beiden oben S. 223 angeführten Schriften des Verfassers, besonders die erste derselben). Gleich der Geometrie ist also auch die ,, Wissenschaft von der Zeit", die der physikalischen Erkenntnis zugrunde zu liegen scheint, gar nicht eine Wissenschaft von etwas Anschaulichem, Wirklichem, sondern ein begriffliches Hilfsmittel; ihre Grundsätze sind Definitionen, nicht synthe- tische Urteile. Damit ist das Urteil über die KANT'sche Lehre von den Anschauungs- formen gesprochen; die an der Spitze des Paragraphen stehende Frage ist verneint: Vergeblich suchten wir nach einer reinen Anschauung, welche der empirischen als deren Form und Gesetzlichkeit zugrunde läge. Raum und Zeit sind nicht apriorische Anschauungsformen in dem Sinne, daß sie synthetische, schlechthin allgemeingültige Urteile möghch machen. Die räumlichen und zeitlichen Grundurteile der exakten Wissenschaften, an deren synthetischem und apriorischem Charakter Kant von vorn- herein nicht zweifelte, haben diesen Charakter in Wahrheit gar nicht. Und immer mehr wächst der fast schon am Beginn unserer Untersuchungen aufgestiegene Verdacht, daß der Mensch überhaupt nicht im Besitz von Urteilen dieser Art ist, daß also eine apodiktisch gültige Wirklichkeits- erkenntnis ihm überhaupt versagt ist. 38. Gibt es reine Denkformen? Wir kommen zur Prüfung der letzten Möglichkeit, an welche sich die Hoffnung auf apriorische Wirklichkeitserkenntnis noch klammern könnte: Vielleicht vermögen die Begriffe zu leisten, was die Anschauung nicht konnte; vielleicht hat Kant recht mit der Behauptung, daß unser Denken apodiktisch gültige Urteile über die Erfahrungswirklichkeit fällen kann, weil dieses Denken selbst am Aufbau der Erfahrungsgegenstände beteiligt sei, indem diese gar nicht Objekte für uns werden können, ohne durch die Kategorien geformt zu sein. Gibt es Kategorien in diesem Sinne.? Können Begriffe die Funktion erfüllen, die Kant den reinen Verstandesbegriffen zuschreibt.? Hat es einen Sinn, von Formen des Denkens zu sprechen.? Das läßt sich nur entscheiden, wenn wir, auf Früheres zurückgreifend, uns darafi erinnern, worin denn überhaupt das Wesen der Begriffe be- Gibt es reine Denkformen? 305 steht. Wir hatten sie erkannt als bloße Zeichen, die einen Sinn erst da- durch erhalten, daß sie Gegenständen zugeordnet werden. Wären also unter apriorischen Begriffen solche zu verstehen, die unabhängig von allen Erfahrungsgegenständen schon eine Bedeutung haben sollen, so sieht man sofort ein, daß dergleichen in sich widersprechend wäre. Die Behauptung, dem Verstand könnten Begriffe a priori innewohnen, erschiene so un- gereimt wie etwa die Meinung, bestimmte Dinge müßten notwendig mit einem bestimmten Wort der Sprache bezeichnet werden (eine Ansicht, die in den Anfängen der Sprachphilosophie bei den Griechen tatsächlich auftauchen konnte), oder sie wäre vielmehr noch sinnloser, denn ein Wort besitzt in seinem Lautbild wenigstens einen konkreten, anschaulichen Inhalt, während ein Begriff keinen eigenen Inhalt hat und daher überhaupt nichts ist, bevor er etwas bezeichnet. In der Tat hätte Kant von apriorischen Begriffen gar nicht sprechen dürfen; auch unter seinen Voraus- setzungen ist streng genommen der Begriff des a priori nur auf Urteile anwendbar, seine Ausdrucksweise darf nur als eine Breviloquenz aufgefaßt werden, mit der die in apriorischen Urteilen auftretenden Begriffe gemeint sind. Deshalb gelangt ja auch Kant bekanntlich zu seinen zwölf Kate- gorien durch eine Tabelle der zwölf möglichen Urteilsarten. Nun ist zu bedenken, daß wegen der Korrelativität von Begriff und Urteil, die sich uns in den Paragraphen 7 bis 10 aufs deutlichste heraus- gestellt hat, die logische Bedeutung und Funktion der Begriffe sich über- haupt darin erschöpft, Knotenpunkte von Urteilen zu sein. Urteile dienen zur Bezeichnung von Tatbeständen, Tatbestände enthalten stets eine Be- ziehung; man könnte glauben, daß sich dadurch die Möglichkeit öffnet, sinnvoll von reinen Denkformen zu reden, insofern nämlich jene realen ^Beziehungen durch die Urteilsformen des Verstandes antezipiert werden könnten. Wenn jedoch, wie wir uns überzeugten, Urteile bloße Zeichen sind, die den Tatsachen zugeordnet sind, sie aber in keiner Weise wieder- holen oder abbilden können, dann fällt jene Möglichkeit dahin. Denn die Form der Zeichen ist von der des Bezeichneten vollkommen unabhängig; es kommt nur auf die gegenseitige eindeutige Zuordnung an, und die kann zwischen den Tatsachen und dem Denken hergestellt werden, welche .,,Form" das Denken auch haben möge. Niemals kann dadurch, daß es eine bestimmte Form besitzt, eine eindeutige Zuordnung von vornherein, a priori, verbürgt werden, ebensowenig wie der Besitz einer bestimmten Losnummer einen" Gewinn in der Lotterie garantiert. Die Wahrheit im Urteil, wie der Gewinn im Spiel, entsteht erst durch das Zustandekommen von zwei Faktoren, die einander in ihrer inneren Struktur nicht bestimmen, sondern sich nur äußerlich gegenübertreten. Das folgt mit Notwendigkeit aus der Natur des Erkennens als eines Bezeichnens und des Denkens als eines Kombinierens von bloßen Zeichen. Wir sehen, das Denken mit seinen Urteilen und Begriffen, so wie wir es verstehen gelernt haben, besitzt keine Form, die es der Wirklichkeit aufzwingen könnte. Wenn man also mit Kant an eine solche Möglich- Schlick, Erkenn tnislehre. 20 3o6 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis. keit glaubt, an eine engere Beziehung zwischen Denken und Sein, vermöge deren das WirkUche erst durch das Denken für mich Objekt wird, das dann natürHch die Spuren des Denkens trägt — dann muß man offenbar unter ,, Begriff" etwas anderes, man muß darunter mehr verstehen als ein bloßes Zeichen; man muß meinen, daß unsere Urteile den Tatsachen nicht bloß zugeordnet sind, sondern sie in gewissem Sinne selbst erst erzeugen: nicht als ob die Wirklichkeit durch das Denken als Ursache hervorgebracht würde — das wäre ja ein absurder Gedanke — , sondern man glaubt, daß das Wirkliche durch das Denken erst zur , .Tatsache" für uns wird. So ungefähr ist es in der Tat die Meinung Kant's und seiner Schüler. Für Kant sind die Begriffe gleichsam Realitäten im Bewußtsein; er rechnet sie neben den Anschauungen zu den ,, Vorstellungen". Da können sie natürlich ganz andere Funktionen erfüllen, als bloße Zeichen ver- mögen; durch sie allein, meint Kant, ist es mögHch, ,, etwas als einen Gegenstand zu erkennen", während ohne ihre Voraussetzung ,, nichts als Objekt der Erfahrung möglich ist". Hier wird also ein ganz anderer Er- kenntnisbegriff zugrunde gelegt, als der, zu welchem die Untersuchungen unseres Ersten Teiles führten. Wodurch er sich von dem letzteren unter- scheidet, läßt sich gut aus den Worten A. Riehl's erkennen, durch die er Kant's Meinung erläutert (Der philosophische Kritizismus, 2. Aufl. Bd. I, S. 367): ,,Es gibt ein ursprüngliches Urteil, das nicht, wie das ab- geleitete, Objekte vergleicht, sondern die Vorstellung eines Objektes erst begründet." Nun bedeutet ein Objekt, ein Gegenstand immer einen Komplex von Beziehungen und diese Beziehungen sind nach Kant's Lehre nicht schlechthin gegeben, vorgefunden, sondern auf das Konto des Denkens, der Urteile und Begriffe, zu setzen. Nach kritizistischer Ansicht werden also die Relationen im Urteil erst gestiftet, während es, gemäß unserem Erkenntnisbegriff den ohnedies bestehenden Relationen nur zugeordnet wird. Wenn es unseren bisherigen Bemühungen gelungen ist, den bloß be- zeichnenden (semiotigchen) Charakter des Denkens und Erkennens über allen Zweifel zu erheben, so ist der kritizistische Erkenntnisbegriff damit schon abgetan; alle Möglichkeiten, die er birgt, und alle Folgen, die sich aus ihm ergeben, sind als hinfällig erkannt. Auf die früheren positiven- Ergebnisse gestützt, dürften wir daher die ganze Frage bereits als zu- ungunsten der KANT'schen Philosophie entschieden betrachten. Einige kritische Erwägungen sind aber doch noch nützlich, um dem Vorwurf zu begegnen, als hätten wir unseren Untersuchungen unbewußt und unbefangen von vornherein Voraussetzungen zugrunde gelegt, die gar nicht zutreffen. Es sei, könnte sonst der Kantianer sagen, eben unser Fehler gewesen, von ,, gegebenen" Tatsachen und Gegenständen auszugehen, welche dem Denken fertig vorlägen, während doch in Wahrheit Tatsachen und Gegen- stände uns niemals ohne jede Denkfunktion schon gegeben wären. Obgleich wir es also durch alles Vorausgehende für erwiesen halten, daß die Analyse der Wissenschaft und des wissenschaftlichen Verfahrens Gibt es reine Denkfirmen? 307 zu keinem anderen Erkenntnisbegriff führt, als zu dem hier entwickelten, wird es lehrreich sein, den Erkenntnisbegriff der KANT'schen Schule noch einmal nachzuprüfen. Wir werden dann vor allem auch einsehen, wie es zu seiner Aufstellung hat kommen können. Wichtiger noch als die Auf- deckung eines Irrtums ist ja die Aufdeckung der Gründe des Irrtums, weil erst dadurch volle intellektuelle Beruhigung erzielt wird. Nach dem Gesagten können wir das Problem in die Frage kleiden: Darf die Erkenntnistheorie wirkliche Tatsachen und Gegenstände als ge- geben annehmen, die, logisch gesprochen, vor allem Denken und Urteilen da sind, oder gibt es vielleicht dergleichen gar nicht, weil das, was als wirklich und als Tatsache zu gelten hat, gar nicht am Anfang steht, son- dern erst durch die Erkenntnis selber als deren letztes Ziel festgestellt werden kann.!" Kant selbst gab wenigstens das Gegebensein eines gewissen Stoffes vor aller gedanklichen Formung noch zu. Nach ihm ,, können uns aller- dings Gegenstände erscheinen, ohne daß sie sich notwendig auf Funk- tionen des Verstandes beziehen müssen und dieser also die Bedingungen derselben a priori enthielte" (Kritik der reinen Vernunft, Ausgabe Kehr- bach S. 107), ,,denn ohne Funktionen des Verstandes können allerdings Erscheinungen in der Anschauung gegeben werden" (ebenda). An einer anderen Stelle heißt es: ,, Allein von einem Stücke konnte ich im obigen Beweise doch nicht abstrahieren, nämlich davon, daß das Mannigfaltige für die Anschauung noch vor der Synthesis des Verstandes und unab- hängig von ihr gegeben sein müsse" (S. 668). Diese Synthesis, diese Ver- bindung durch das Urteil, ist etwas, das hinzukommt, aber nicht hinzu- kommen muß, da die Anschauung nicht zur Erkenntnis zu werden braucht. In unserer Zeit haben die Anhänger K Ni 's in der sehr einflußreichen ,, Marburger Schule" eine Richtung eingeschlagen, die dem reinen Denken einen noch viel fundamentaleren Anteil am Zustandekommen der Er- fahrung einräumen und den Gegensatz zwischen ihm und der reinen An- schauung aufheben möchte. Sie erblicken eine Inkonsequenz in der Kant- schen Annahme, daß das Denken einen von ihm unabhängigen Stoff in der Anschauung bereits vorfinde, und sie stellen ihr die prägnante Formel gegenüber: die Gegenstände und die Tatsachen seien der Erkenntnis nicht ,, gegeben", sondern ,, aufgegeben", ihre Erreichung sei eine un- endliche, von der Erkenntnis niemals abschließend zu lösende Aufgabe. Ich zitiere einige Stellen aus einem führenden Werke dieser Schule (Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften, von P. Natokp, Leipzig und Berlin 1910), welche die Motive und Grundgedanken der Richtung hervorleuchten lassen, so daß eine Würdigung bei ihnen an- setzen kann. ,,Es schwindet jede Hoffnung, absolute Tatsachen in wissen- ■90* 3o8 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis. schaftlicher Erkenntnis je zu erreichen; aber auch jedes Bedürfnis, solche erreichen zu müssen. Denn Wirklichkeit ist nie gegeben, sondern ist die ewige Aufgabe, die in wirklicher Erfahrung stets nur relativer Lösungen fähig ist" (S. 94). ,,Die ,, Tatsachen" geben in jedem Fall nur Antwort auf die Fragen, die von der Erkenntnis, ihrem eigentümlichen Begriffe gemäß, vorausgestellt sind . ." (ebenda). ,,Die Tatsache im absoluten Sinne ist aber erst das letzte, was die Erkenntnis zu erreichen hätte, in Wahrheit nie erreicht; ihr ewiges X. Dies letzte hat man zum ersten, dies X zur bekannten Größe, das ewig Gesuchte, nie Erreichbare, zum Gegebenen gemacht. Woher dieser befremdliche Fehlbegriff.?" (S. 96). Aus diesen Sätzen spricht der richtige Gedanke, daß es wegen des unendlichen Beziehungsreichtums aller Gegenstände völlig unmöglich ist, jemals etwas erschöpfend zu erkennen. Kein historischer Vorgang, kein Naturprozeß läßt sich jemals abschließend auf Begriffe bringen, so daß alle Fragen beantwortet wären, die man darüber stellen könnte. Jeder wirkliche Gegenstand enthält unendlich viele Einzelheiten, steht in unendlich vielen Beziehungen zu andern; zur absolut genauen Be- zeichnung bedürfte man mithin unendlich vieler oder unendlich kom- plizierter Begriffe. Wir können ein geschichtliches Ereignis zuerst in großen Zügen, dann immer genauer festlegen, bis auf die einzelnen Gesten und Gedanken der handelnden Persönlichkeiten: die restlose Bestim- mung des Ereignisses und seiner Ursachen und Folgen bleibt doch ein unerreichbares Ziel, dem man sich nur nähern kann. Wir vermögen die Bahn eines Planeten mit immer größerer Genauigkeit zu ermitteln, ihr ist im Prinzip keine Grenze gesetzt; so weit wir sie aber auch treiben mögen: stets läßt sie sich noch vergrößern, denn die Zahl der Umstände, von denen die Bahn abhängt, ist unendlich. Und dies gilt nicht bloß für den Einzelfall in Natur und Geschichte, sondern auch für das Prinzipielle: nachdem wir die Materie in Moleküle, die Moleküle in Atome, die Atome in Elektronen zerlegt haben, wird weiterhin die Frage nach einer Unter- scheidung der Teile innerhalb eines Elektrons auftauchen, und der in dieser Richtung fortschreitende Erkenntnisprozeß wird niemals als schlecht- hin beendet gelten dürfen; die Frage: wie ist denn nun die Materie kon- stituiert.? wird immer nur eine vorläufige Antwort erhalten können. Folgt nun hieraus, daß es falsch und unsinnig wäre, von Tatsachen zu reden, die vor jeder wissenschaftlichen Erkenntnis absolut feststehen und allem Denken und Forschen als unerschütterliches Fundament zu- grunde gelegt werden können und müssen.? Eine solche Folgerung ist ganz gewiß nicht berechtigt. Wohl ist Erkenntnis ihrem Wesen nach unendlicher Prozeß, aber was als unerreichbares Ziel an ihrem Ende steht, sind nicht die absoluten Tatsachen, sondern die absolute Erkenntnis der Tatsachen. Das Gebäude der Wissenschaft ist nie vollendet, aber es ist eben nicht die Wirklichkeit selbst, sondern ein Netz von Begriffen. Das Netz wird immer dichter gewebt, daß es sich der Wirklichkeit immer enger anschmiegt, doch nie wird es ihr ganz genau bis in die kleinsten Gibt es reine Denkformen ? . 30g Falten passen, und es bleibt ein Gewand, das die Wirklichkeit nur um- kleidet. Im Grunde steckt in der Ansicht der neukantischen Schule doch der Irrtum, daß die Hülle der Begriffe für die Wirklichkeit selbst gehalten wird. Sie glaubt in der wissenschaftlichen Erkenntnis die Welt selber zu finden, während sie in Wahrheit nur ein begriffliches Zeichensystem ist. Unzweifelhaft ist ein verborgenes, aber sehr starkes Motiv der ganzen Denkrichtung der Wunsch, in der Erkenntnis die Wirklichkeit selbst zu haben, zu ,, erfassen". Man empfindet den Gedanken als unbefriedigend, daß ein System der Wissenschaft dem Wirklichen nur zugeordnet sein soll, deshalb überredet man sich, daß dieses Gerüst von Begriffen selber zur Wirklichkeit gehört und an ihrem Aufbau beteiligt ist. Man fällt zurück in den Erkenntnisbegriff der Intuition, nach welchem zwischen dem Erkennen und dem erkannten Gegenstande durchaus ein innigeres Verhältnis bestehen soll als das der bloßen Zuordnung (vgl. oben § ii). In der Tat finden wir hier die für die Lehre von der intuitiven Erkenntnis charakteristische Meinung, daß bloßes Vorstellen schon Erkenntnis be- deute; denn Natorp sagt von den ,, Vorstellungen": ,, Jedenfalls sind es fertige Elemente von ,, gewissem Inhalt" also primitive Erkennt- nisse" (S. 41). Die Welt, welcher das Begriffssystem der Wissenschaft zugeordnet ist, ist uns freilich nicht ,, gegeben"; die Tatsachen und Gegen- stände, die wir durch die historischen und naturwissenschaftlichen Be- griffe bezeichnen, sind nicht erlebt, sie sind uns nicht bekannt, sondern nur mittelbar werden wir auf sie hingewiesen (vgl. oben § 30). Was uns von ihnen bekannt ist, ist eben das Begriffsnetz, mit dem wir die Wirk- lichkeit umkleiden, indem wir sie erkennen. Dieser Umstand gibt ein weiteres Motiv der neukantischen Denkweise ab: wie alle idealistischen Systeme verlangt auch sie von dem Wirklichen, daß es uns irgendwie bekannt sei, und deshalb wird das begriffliche Zeichensystem, durch das die extramentale Wirklichkeit unserm Geiste repräsentiert ist, für einen Bestandteil der realen Welt selber gehalten^). Für uns aber, die wir die Scheu vor einer nicht gegebenen, unbekannten Wirklichkeit verloren haben (§§ 24, 25), fällt jenes Motiv gänzlich dahin; wir scheiden streng 1) Dasselbe Motiv scheint mir auch in den Ausführungen des Neukantianers A. Görland in seiner Schrift „Die Hypothese" (Göttingen 1911) wirksam zu sein. Nach ihm stehen wir vor der Alternative, den Inhalt der Naturwissenschaft (der ja letzten Endes aus Hypothesen sich aufbaut — vgl. unten § 40 — ) entweder als Wirklichkeit oder als Fiktion betrachten zu müssen. Das letztere lehnt er ab mit den Worten: „. . . ich glaube, wir müssen die Hypothese in jedem Sinne vom Ver- dachte einer Fiktion, d. h. einer „Erdichtung", zu reinigen suchen; denn es erscheint mir unwürdig, von einem Wissenschaftler zu behaupten, er greife in seiner Arbeit in irgend einer Weise zu Fiktionen" (S. 38). Der Autor schließt daher, die Hypo- these sei ,,in ganz eminentem Sinne der Vorgang der Realisierung" (S. 43). Auf diese Weise soll die Realität durch das Denken geschaffen werden. Ihm erscheint es ,, geradezu unerträglich", z. B. den physikalischen Hilfsbegriff eines ,, unbiegsamen Stabes" eine Fiktion zu nennen (S. 38). Wer aber mit uns in den Begriffsbildungen der Wissenschaft nicht die Wirklichkeit selber sucht, sondern nur Zeichen für die- selbe in ihnen sieht, kann nichts Bedenkliches dabei finden, daß sie Fiktionen sind. 3IO Die Gültigkeit der Wirkl chkeitserkenntnib. das wissenschaftliche Weltbild von der Welt selber und widerstehen der Versuchung, jenes mit dieser zu verwechseln. Natürlich wird bestritten, daß es sich hier um eine Verwechslung handle; man glaubt vielmehr streng beweisen zu können, daß unter wirk- lichen Tatsachen überhaupt nichts anderes verstanden werden könne als Denkbestimmungen, daß sie also nicht als etwas von dem Denken Unabhängiges und ihm Gegenüberstehendes gedacht werden dürfen. „Nicht die Tatsache ... als ob sie erst unabhängig feststünde . . . gibt die bestimmte Verknüpfung der Denkbestimmungen, die ihren Inhalt aus- zudrücken versucht, sondern vielmehr diese Verknüpfung von Denk- bestimmungen gibt, ja i^s t die Tatsache, und nicht fester, als diese Ver- knüpfung der Denkbestimmungen, steht die Tatsache" (S. 95). Die für diese These zur Verfügung stehenden Beweise sind dieselben, die noch zur Begründung eines jeden idealistischen Systems herangezogen worden sind und unterliegen denselben Einwänden. ,, Denken heißt nichts anderes als: setzen, daß etwas sei, und was außerdem und vordem dieses Sein — sei, ist eine Frage, die überhaupt keinen angebbaren Sinn hat" (S. 48). Dies ist nicht gerade besonders glücklich formuliert (denn die hier voraus- gesetzte Definition des ,, Denkens" wird man ablehnen dürfen), aber wir können doch die aus diesem Passus hervorleuchtende Idee würdigen, denn wir mußten früher (oben S. 151) selbst feststellen, daß jede Antwort auf die Frage nach der Natur des Seins immer nur eine neue Bezeich- nung des Seienden darstellen kann, und daß keine Antwort — die ja doch immer ein Urteil sein müßte, jemals das Wesen des Bezeichneten selbst zu geben vermag, so daß es freilich sinnlos wäre, eine Antwort zu verlangen, die dies leistete. . . Und nun meint der logische Idealist, es gehe hieraus hervor, daß eben das Denken es sei, welches das Sein erst bestimme. In etwas anderer Wendung ist die gleiche Idee von H. Rickert formuliert worden, welcher sagt (in seinem Werke über den ,, Gegenstand der Erkenntnis"), daß man, um zu wissen, was sei, doch schon geurteilt haben müsse, daß es sei — denn woher sollte man es sonst wissen.? — und daß folglich das Denken unter allen Umständen das erste sei, es könne sich nicht nach dem Sein richten, sondern umgekehrt: was da sei, werde dadurch bestimmt, was ich urteilen müsse. Die tatsächliche Existenz eines Rot, das ich vor mir sehe, werde z. B. dadurch verbürgt, daß ich den Zwang empfinde: ich kann nicht anders urteilen als daß es ist. Die Urteilsnotwendigkeit, das ,, transzendentale Sollen" entscheidet über das Sein, denn dies wird ja erst durch die Notwendigkeit des Urteilens sicher- gestellt, ein anderer Grund des Seins läßt sich nicht angeben. Diese Schlußfolgerung ist fehlerhaft (vgl. die ausführliche Kritik des RiCKERT'schen Gedankenganges in meinem Aufsatz über das Wesen der Wahrheit in der Vierteljahrsschrift f. wiss. Philosophie, Bd. 34, S. 398 f.), weil sie auf einer Äquivokation des Wortes ,, Wissen" beruht. Dies Wort kann erstens ein Wissen um etwas bezeichnen, also ein bloßes Kennen, zweitens aber auch ein Wissen über etwas, ein Erkennen. Nur ein Wissen Gibt es reine Denkformen? 311 im letzteren Sinne setzt Urteilen, also Denken, voraus; im ersteren Sinne aber ist es ein absolutes Bewußtseinsdatum, eine schlechthinige Tatsache, die auf sich selber ruht. In den anschaulichen Erlebnissen, den unmittel- baren Daten des Bewußtseins, z. B. den reinen Empfindungen, finden wir die reinen Tatsachen, die unabhängig von jedem Denken sind, falls man nicht den Empfindungsprozeß selber einen Denkprozeß nennen will, womit dann jede Diskussion nutzlos sein würde. Wir wissen jetzt auch, worin das Argument fehlt, durch welches der logische Idealist schon die reine Wahrnehmung als einen Denkprozeß erweisen will: ,,Was unter- scheidet W^ahrnehmung von bloßer Denkbestimmung.? Schlechterdings nichts Inhaltliches; denn was wir auch immer als Inhalt gegebener Wahr- nehmung aussagen mögen, ist als Aussageinhalt notwendig Denkbestim- mung . . ." (NAtorp S. 95). Aber das in einem Urteil Ausgesagte ist eben in dem Urteil nicht ,, enthalten", als ergreife die Erkenntnis das Wirkliche und nehme es in sich auf, sondern es ist ihm nur zugeordnet; die Aussage für sich, unabhängig von dem, was sie bezeichnet, hat gar keinen Inhalt, sondern ist leerer Schall. Eine Rotempfindung ist einfach eine gegebene Tatsache; spreche ich aber das Urteil aus ,,dies ist rot", so setzt das natürlich schon einen Erkenntnisakt voraus, denn es muß ja die erlebte Farbe als zur Klasse der mit ,,rot" bezeichneten Nuancen gehörig wiedererkannt sein. Das Urteil kann also immer erst hinterher kommen, nachdem an die ursprünglichste Tatsache der Empfindung noch weitere Erlebnisse sich angeschlossen haben. Es geht daher durchaus nicht an, dem Denken schon bei der Ent- stehung der Empfindung einen Anteil zuzuschreiben. Die Empfindung wird von der neukantischen Schule als ein bloßes Etwas dargestellt, das vor dem Denken noch gar nichts Bestimmtes ist. ,, Denken heißt über- haupt Bestimmen" (Natorp S. 38). Diese Definition ist unbefriedigend genug, denn Bestimmen ist ein mehrdeutiges Wort (an einer anderen Stelle — S. 67 — wird gesagt, was man eher gelten lassen kann: ,, Denken heißt überhaupt Beziehen"); es läßt sich aus ihr auch keineswegs ab- leiten, daß es ohne Denken und vor ihm keine Bestimmtheit gäbe. Für uns stehen Tatsachen fest, auch ohne daß sie auf Begriffe gebracht sind; wer da meint, unter Bestimmung müsse Bestimmung durch Begriffe ver- standen werden, setzt das zu Beweisende voraus und verlegt das, was wir zur Beschreibung und Formulierung eines Tatbestandes gebrauchen, in den letzteren selbst hinein. Es läßt sich eben auf keine Weise dartun, daß es keine Bestimmtheit, keine Gegebenheit, keine Tatsache gibt, die nicht erst durch das Denken dazu geworden wäre; alle scheinbaren Beweise dieser These drehen sich im Kreise herum. Wir müssen also urteilen, daß es keine reinen Denkformen gibt, wenn man sie im Sinne des neukantischen logischen Idealismus versteht, in welchem Sinne sie Formen des Wirkhchen überhaupt wären. 312 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis. 39. Von den Kategorien. Wenn überhaupt von Denkformen geredet werden dürfte, so könnte ihre Funktion nach den letzten Ergebnissen nur darin bestehen, daß sie einem bereits vorliegenden, durch die Anschauung gegebenen, aber in gewissem Sinne noch formlosen Stoff eine Gestalt geben und dadurch in ihm die Beziehungen herstellen, welche seine Erkenntnis ermöglichen. Dies war, wie gesagt, die Meinung von Kant selbst. Den vorliegenden Stoff nannte er das ,, Mannigfaltige der Anschauung", und jene Beziehungen werden nach ihm durch den ,, Verstand" gestiftet, indem er jenes Mannig- faltige auf eine ,, synthetische Einheit" bringt, nämlich in der Einheit des Bewußtseins vereinigt. Zuweilen denkt er sich zwischen Anschauung und Verstand noch die ,, Einbildungskraft" eingeschoben: sie soll die Synthesis des Mannigfaltigen schaffen, aber noch keine Erkenntnis geben; letztere kommt dann erst durch den Verstand zustande, welcher der Syn- thesis durch die reinen Verstandesbegriffe die Einheit gibt. Auf die Lehre von der Einbildungskraft braucht hier nicht ein- gegangen zu werden; wir haben uns nur die Frage vorzulegen, ob es wahr ist, daß die Relationen, auf denen alles Erkennen beruht, nicht schon im anschaulich gegebenen Stoffe vorgefunden, sondern erst durch das Urteil, durch gewisse dem Bewußtsein eigentümUche Denkfunktionen ge- stiftet werden. Das ist also die Frage, ob es Kategorien im KANx'schen Sinne gibt. Um hier Klarheit zu gewinnen, ist eine erneute Beschäftigung mit dem Begriffe der ,, Beziehung" nötig, der bisher nur flüchtig gestreift wurde (§§ 8, 9).. Wir haben früher die Relationen als Gegenstände be- trachtet, die ebensogut durch Begriffe bezeichnet werden wie irgendwelche anderen Gegenstände (während ein Urteil die Funktion hat, das Be- stehen, das Vorhandensein einer Beziehung zu bezeichnen). War es ein Irrtum zu glauben, daß die Beziehung auch ohne den Begriff vor- handen und nicht vielmehr bloß in ihm enthalten sei.? Schon nach kurzer Überlegung werden wir Bedenken tragen, die Frage, ob die Relationen von unserem Bewußtsein erst geschaffen oder nur wahrgenommen werden, restlos in dem einen oder dem anderen Sinne zu entscheiden. Es wird vielmehr richtig sein, einen Unterschied zu machen zwischen verschiedenen Gattungen von Relationen. Wenn ich beim Schreiben den Daumen meiner rechten Hand hnks vom Zeigefinger sehe, so ist in der Wahrnehmung das räumliche Verhältnis der beiden Finger ebenso und in demselben Sinne gegeben und enthalten wie die Hautfarbe der Hand. Farbe und anschauhche Räumlichkeit sind beides qualitative Daten, die hinsichtlich ihrer sinnhchen Gegebenheiten auf einer Stufe stehen. Die Farbelemente haben z. B. nicht bloß Intensität, sondern auch räumliche Verhältnisse, ihnen untrennbar anhaftend. Sie werden gleich diesen perzipiert und apperzipiert, es entsteht das Erlebnis Von den Kategorien. 313 der sog. „Gestaltqualität", und darauf können wir ihnen Begriffe einfach zuordnen. Von räumlichen Beziehungen gilt also sicherlich, daß sie vor dem Denken da sind, gerade wie Empfindungsqualitäten. Urteile über räum- liche Verhältnisse bezeichnen etwas Vorgefundenes; der durch sie be- zeichnete Tatbestand enthält zum mindesten Momente, die nicht erst durch das Urteil entstehen, logisch von ihm unabhängig sind. Und ganz dasselbe muß über zeitliche Relationen gesagt werden. Das quahtative Erlebnis der Dauer, der Gleichzeitigkeit und des Nacheinander von Be- wußtseinselementen ist ein anschauliches Datum, das in demselben Sinne vorgefunden wird, wie die Elemente selber. Um als Nacheinander oder Gleichzeitigkeit beurteilt zu werden, muß das zeitliche Verhältnis apper- zipiert sein, das Urteil folgt also logisch und psychologisch immer erst hinterher. Die Zeitlichkeit aller Vorgänge ist etwas unmittelbar anschau- lich Gegebenes, das nachträglich durch Begriffe bezeichnet werden kann und als Erlebnisfundament allem Erkennen zeitlicher Verhältnisse zu- grunde liegt. Zwischen einem Vierviertel-Rhythmus und einem Sechs- achtel-Rhythmus besteht für das Erleben ein unmittelbarer Unterschied, der gleichfalls als ein Unterschied von ,, Gestaltqualitäten" aufzufassen ist. Gegenüber der Räumlichkeit hat die Zeitlichkeit das Besondere, daß sie nicht wie jene an bestimmte Sinnesgebiete gebunden ist, also nicht etwa z. B. eine andere für Tastempfindungen, als für Gesichtswahr- nehmungen oder für Gefühle. Sie ist vielmehr ein Moment, das sich an sämtlichen Erlebnissen in gleicher Weise findet, an den sinnlichen Wahrnehmungen so gut wie an irgendwelchen unanschaulichen Akten oder Gemütsbewegungen. Während man also von räumlichen Verhält- nissen noch sagen könnte, daß sie direkt ,, wahrgenommen" werden und die Sinnesorgane angeben kann, durch die es geschieht, ist für die zeit- lichen Relationen eine solche Redeweise nicht mehr erlaubt, zumal wir den Begriff der ,, inneren Wahrnehmung" früher (oben § 19) als unbrauch- bar verwerfen mußten. Es fehlt jedes Organ zu einer Zeitwahrnehmung, es bedarf dazu keines vermittelnden Aktes, sondern Zeitlichkeit ist eine allgemeine Eigenschaft aller Bewußtseinsinhalte, die einfach erlebt wird. Nun muß aber das Vorhandensein einer anderen Gattung von Rela- tionen anerkannt werden, die mit den Zeithchen darin übereinstimmen, daß man bei ihnen von einer Wahrnehmung durch irgend ein Sinnesorgan nicht reden kann (während etwa die Wahrnehmung von Farben oder Tönen an zpezifische Organe gebunden ist), die sich aber vor den räum- lichen und zeithchen Beziehungen weiterhin dadurch auszeichnen, daß sie nicht in demselben Sinne wie jene unmittelbar erlebt, geschaut zu sein scheinen. Wenn ich von dem Tapetenmuster in meinem Zimmer und dem Teppichmuster im Zimmer meines Freundes aussage, sie seien einander ähnlich, oder wenn ich von einer Farbe und einem Ton erkläre, sie seien verschieden, so sind damit auch Relationen ausgesprochen, aber es scheint, als gelte von ihnen in der Tat, daß sie nur durch das Urteil und 314 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis. im Urteil Bestand haben. Die Verschiedenheit zweier Empfindungen und die Ähnlichkeit zweier Muster sind offenbar nicht etwas in demselben Sinne real Vorhandenes, wie z. B. die einzelnen Farben in der Wahr- nehmung des Tapetenmusters selber, oder wie deren räumliches Neben- einander; die Ähnlichkeit zwischen Cäsar und Napoleon wird man nicht auffassen wollen als ein zwischen den beiden Feldherren über Raum und Zeit hinweg bestehendes reales Verhältnis. Solche Relationen scheinen vielmehr erst durch das urteilende Bewußtsein erzeugt zu werden. Dieser eigentümliche Tatbestand ist bereits in der antiken Psycho- logie des Platon erkannt worden; nach ihm werden die Relationen nicht durch Wahrnehmung der Sinne aufgefaßt, sondern durch die Seele selber gestaltet (vgl. hierzu Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, S. 434 ff.). Ob man sagen kann, daß der Gedanke bei Platon in einer Weise verwertet werde, die bereits an Kant gemahnt, möge hier dahin- gestellt bleiben. In der KANx'schen Kategorientafel kann man den Begriff der Ver- schiedenheit, von dem eben die Rede war, allenfalls unterbringen, da er dem Begriff der Negation, die von Kant zu den Kategorien gerechnet wird, äquivalent ist (siehe oben S. 59); die Ähnlichkeit dagegen (wie auch die Gleichheit) finden sich dort nicht. Andere Beziehungsbegriffe wiederum, die gewißlich zur zweiten Klasse der Relationen gehören, treten richtig in Kant's Tabelle auf. Wenn ich ein Haus einmal als ein eim'ges Objekt be- handle (z. B. in einem Mietsvertrage), ein anderes Mal aber als eine Kon- struktion aus einer Menge von Mauersteinen (z. B. auf einem Bauplan) an- sehe, so habe ich einem .und demselben Dinge zuerst den Begriff der Ein- heit, sodann den Begriff der Vielheit zugeordnet. Beides ist gleich berech- tigt, und welche Art der Bezeichnung ich wähle, hängt von meinen Gedanken ab; keine der beiden Auffassungen wird unmittelbar vorgefunden, durch die Natur des Gegenstandes gegeben. Hiernach kann man glauben, daß die Begriffe der Einheit und Vielheit von Kant mit Recht als Denkformen in seinem Sinne betrachtet würden. Und ein gleiches scheint von den- jenigen Begriffen zu gelten, die in Kant's Aufzählung zweifellos die beiden wichtigsten Kategorien darstellen, nämlich der Kausalität und der Sub- stantialität. Denn niemals nehme ich direkt wahr, daß ein Vorgang die Ursache eines anderen ist, sondern höchstens, daß er ihm regelmäßig vorauf- geht; ebenso ist das Verhältnis Substanz-Akzidens oder Ding- Eigenschaft nie etwas fertig Vorgefundenes, sondern es wird höchstens eine räumlich- zeitliche Koinzidenz von Merkmalen erlebt (siehe oben S. 39, 49); erst wenn diese auf bestimmte Art gedanklich zusammengefaßt werden, erhalten wir einen Komplex von ,, Eigenschaften", der sich durch den Begriff des Dinges oder der Substanz bezeichnen läßt. Und um aus einer bloßen Aufeinanderfolge von Vorgängen eine kausale Abhängigkeit zu machen, bedarf es gleichfalls einer gedanklichen Zutat, einer besonderen Ver- knüpfung, die erst, so scheint es, durch das Urteil geschaffen wird. Von den Kategorien. 315 Einstweilen sehen wir ab von der Erörterung der übrigen Kant- schen Kategorien, denn für unsere Prinzipienfrage ist es ja unwesentlich, ob man gerade zu der KANTschen Tabelle gelangt oder zu einer anderen; es fragt sich nur, ob es überhaupt Verstandesbegriffe in seinem Sinne gibt. Und wir fragen gleich: Spielen nun jene Relationen der zweiten Gattung wirklich die Rolle, welche Kant den Kategorien zuweist.? sind es Verbindungen, die wir durch unsere Urteile herstellen — herstellen müssen, wenn wir überhaupt urteilen wollen — , und durch die das Wirkliche erst für uns seine Gestalt bekommt, die dann mit Sicherheit und absoluter Geltung von ihr ausgesagt werden kann? Betrachten wir kurz den Grundgedanken des Beweises, den Kant für seine Ansicht führt. Jegliche ,, Verbindung", meint er, ist überhaupt gar nicht anders möglich als durch den Verstand; durch die Sinne könne wohl ein Mannig- faltiges gegeben werden, aber es bleibe notwendig unverbunden, bevor sich nicht das Denken seiner bemächtigt habe (Kritik der reinen Ver- nunft, 2. Aufl., § 15). Verbindung bedeutet nun Zusammenfassung (Syn- thesis) eines Mannigfaltigen zu einer Einheit. Sie wird dadurch mög- lich, daß die gegebenen anschaulichen Elemente einem und demselben Ich gegeben sind. Es ist die Einheit des Bewußtseins, welche sie vereinigt (Die , .synthetische Einheit der Apperzeption", ebenda § 16). Dasjenige aber, ,,in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist", heißt Objekt. Damit also etwas für mich Objekt werde, muß es unter den Gesetzen der Bewußtseinseinheit stehen. Erkenntnis besteht nun nach Kant ,,in der bestimmten Beziehung ge- gebener Vorstellungen auf ein Objekt"; die Bewußtseinseinheit macht mithin Erkenntnis des Objektes möglich, und ihr verdankt sie ihre Gültig- keit (ebenda § 17). ,, Diejenige Handlung des Verstandes aber, durch die das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter eine Apperzeption ge- bracht" (d. h. in der Einheit des Bewußtseins zusammengefaßt) wird, ,,ist die logische Funktion der Urteile". Diese Funktionen sind nun eben die Kategorien, ,,also steht auch das Mannigfaltige in einer gegebenen Anschauung notwendig unter Kategorien" (ebenda § 19, 20); die Voraus- setzung, unter welcher nach Kant synthetische Urteile a priori über die Wirklichkeit möglich sind, ist dann also erfüllt. Der Kern dieses Beweises ist die Berufung auf die Tatsache der Ein- heit des Bewußtseins. Nun haben wir früher selbst auf diese eigentümliche Tatsache hin- weisen und sie in Anspruch nehmen müssen, um die strenge Geltung be- stimmter Urteile zu gewährleisten: das waren aber die analytischen (vgl. oben § 16). Als diese Klasse von Urteilen durch die radikale Skepsis bedroht wurde, gelang es uns, den Angriff durch Hinweis auf die Einheit des Bewußtseins abzuwehren, indem wir das ganze Gewicht dieser Tat- sache wirken ließen. Können wir demselben Helfer auch die ungleich schwerere Aufgabe der absoluten Sicherung synthetischer WirkHchkeits- 3i6 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis. urteile zumuten? Das dürfte seine Kräfte, die bei jener Gelegenheit schon voll ausgenutzt werden mußten, doch wohl übersteigen. In der Tat beweist das Faktum der Bewußtseinseinheit für unsere Frage gar nichts, wenn die übrigen Annahmen nicht zutreffen, auf die Kant's Gedankengang sich sonst noch stützen mußte. Damit aber ist es schlecht bestellt. In der Behauptung, daß alle Vereinigung im Bewußtsein durch ganz bestimmte, dem Verstände eigentümliche logische Funktionen erfolge, ist schon versteckt gesetzt, daß wir im Besitze synthetischer Urteile a priori seien. Das zeigt sich dann auch in der Ableitung, die Kant später von den einzelnen Grundsätzen gibt, die er für synthetisch-apriorisch hält; doch darauf braucht hier nicht näher eingegangen zu werden. Kant machte eben jene Voraussetzung, wie wiederholt hervorgehoben, und seine ganze Deduktion sollte nur die Möglichkeit solcher Erkenntnisse ver- ständlich machen, d. h. aus der Tatsache der wissenschaftlichen Erfah- rung beweisen. Uns aber ist damit nicht gedient, und folglich nichts bewiesen. Ferner jedoch: wie steht es mit dem Ausgangspunkt des ganzen Arguments, mit der Behauptung, daß es keine andere Verbindung gebe als durch den Verstand.? oder, wie wir es ausdrücken würden: keine anderen Beziehungen als die durch das Denken geschaffenen.? Kant weiß als Grund nur anzuführen: ,,denn sie ist ein Aktus der Spontaneität der Vorstellungskraft" (Kr. d. r. V. § 15). -Mit einer solchen Begründung läßt sich natürhch nichts anfangen. Sie erscheint durchaus dogmatisch. Woher weiß man, daß es sich um einen spontanen Akt des Verstandes handelt.? Die Einführung des Gegensatzes Spontaneität und Rezeptivität — in moderner Ausdrucksweise: Aktivität und Passivität — ist an dieser Stelle ganz unzweckmäßig. Unmittelbar verständlichen Sinn hat er ursprüng- lich nur in praktischer Bedeutung, in der Anwendung auf die Willens- vorgänge des Lebens; er ist ungeeignet zur Wiedergabe der fundamentalen erkenntnistheoretischen Sachlage, mit der wir es hier zu tun haben (vgl. auch das Kapitel über Aktivität und Passivität in dem Werke ,, Welt- anschauungen und Welterkenntnis" von Berthold Kern, 191 i). Bei der Erörterung dieser grundlegenden Fragen ist die Welt des Gegebenen für den Erkenntnistheoretiker nicht anders als für den Psychologen ein konti- nuierlicher Strom, in welchem die Unterscheidung zwischen passiv Auf- genommenem und aktiv Hinzugetanem zunächst keinen Sinn hat. Sie wird erst auf einer ganz anderen Stufe der Betrachtung durch besondere Interpretation möglich. Nur wenn man mit Kant in Verstand und Sinnlichkeit ursprüngliche ,, Vermögen" sieht, kann man jenen Unter- schied für einen grundlegenden halten; bei dem heutigen Stande unserer psychologischen Einsichten kommt es aber natürlich nicht in Frage. Nachdem wir uns überzeugt haben, daß eine Berücksichtigung der KANT'schen Philosophie uns nicht zu einer Entscheidung verhilft, Von den Kategorien. 317 dürfen wir sie nun auf direktem Wege suchen, ohne durch kritizistische Bedenken gestört zu werden. In welchem Sinne noch eine MögHchkeit bestünde, den Verstand — d. h. das Denken, Urteilen — für das Auftreten der Relationen im Be- wußtseinsstrom verantwortlich zu machen, sollte unsere Betrachtung der beiden Arten von Beziehungen lehren. Die Beziehungen zweiter Art — Gleichheit, Ähnlichkeit usw. — sind, so fanden wir, nicht in ganz der- selben Weise etwas realiter Vorgefundenes wie das sinnhch Wahrgenommene nebst seinen zeitlich-räumlichen Verhältnissen; es mußte daher scheinen, als würden sie erst durch den Urteilsakt geschaffen und würden über- haupt in keinem Sinne ,, vorgefunden". Aber nähere Analyse zeigt, daß es sich so doch nicht verhält. Der zwischen den beiden Gattungen von Relationen konstatierte Unterschied ist nämlich am treffendsten so zu formulieren, daß die Be- ziehungen zweiter Art (die kategorienartigen) nicht als etwas ebenso objektiv Vorhandenes aufgefaßt werden wie die zeitlich-räumlichen. Man kann die (metaphysische) Frage aufwerfen, ob jenen Relationen eine Existenz außerhalb des Bewußtseins zukommt oder ob sie etwas rein Subjektives sind, aber darum handelt es sich hier gar nicht, sondern wir fragen nach einem Unterschied, der schon innerhalb der Sphäre des Sub- jektiven sich zeigen müßte. Beide Problemstellungen können leicht durch- einander gemengt werden und sind oft verwechselt worden, weil in der Tat die Relationen, wenn sie dieselbe Objektivität besäßen wie etwa physische Körper der Außenwelt, vermutlich auch zu ebenso unmittel- baren Wahrnehmungserlebnissen Anlaß geben würden wie jene. Mag es mit der Objektivität der Relationen stehen wie es will: auch wenn sie ihnen fehlte, können jene Beziehungsurteile sehr wohl einfach vorgefundene Tatsachen bezeichnen. Nur sind diese Tatsachen zunächst subjektiver Art, Bewußtseinszustände, meist wohl Resultate gewisser psychischer Prozesse (Vergleichungsakte), von denen es ungewiß bleiben kann, ob ihnen objektive Tatsachen irgendwie korrespondieren. Die Ähnlichkeit zwischen Cäsar und Napoleon ist etwas Unselbständigeres, Schattenhafteres als jene beiden Personen selber oder ihre zeitliche Auf- einanderfolge; die Verschiedenheit einer soeben vernommenen Melodie von einer Vorjahren gehörten ist nicht ebenso etwas jetzt objektiv Existierendes wie die gerade erklingenden Töne der Melodie selber: aber unzweifelhaft ist das Erlebnis, in welchem die Ähnlichkeit oder die Verschiedenheit konstatiert wird, real im Bewußtsein vorhanden. Das Auftreten des Ähn- lichkeitserlebnisses ist eine Tatsache, die genau so vorgefunden wird, wie irgendeine andere, und die nun durch ein Urteil bezeichnet werden kann. Das Urteil folgt also hinterher und es ist gar keine Rede davon, daß es jenem Erlebnis zeithch oder logisch voraufgehen müßte und dasselbe in sich enthielte. 3i8 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis. Freilich treten solche Relationserlebnisse immer nur im Anschluß an andere Bewußtseinsinhalte auf, nicht unvermittelt, unvorbereitet, wie etwa eine Tonempfindung; es sind eben, wie man sich neuerdings ausdrückt, ,, fundierte" Erlebnisse: eine Beziehung setzt ja Glieder voraus, zwischen denen sie besteht. Sind die Beziehungserlebnisse aber einmal da, so werden sie einfach vorgefunden, sie verdanken ihr Dasein nicht einem ,, Denken" in unserem Sinne. Das ist eine Wahrheit, der Stumpf (in seiner schon mehrfach zitierten Abhandlung über Erscheinungen und psychische Funk- tionen), wenn auch in einer von der unseren weit abweichenden Termino- logie, folgendermaßen Ausdruck gibt: ,,Die Verhältnisse zwischen Er- scheinungen sind uns in und mit je zwei Erscheinungen gegeben, nicht von uns hineingelegt, sondern darin oder daran wahrgenommen; sie ge- hören zum Material der intellektuellen Funktionen, sind nicht selbst Funktionen, noch Erzeugnisse von solchen." Die Betrachtung der Relationen nötigt uns also nicht, den bisher festgehaltenen Begriff des ,, Denkens" aufzugeben; wir können es auch fürder als ein bloßes Zuordnen von Urteilen zu Tatsachen auffassen, es ist nicht ein Schaffen der Tatsachen oder eine Formung eines ungeformten Stoffes. Die Beziehung, die jedes Urteil bezeichnet, ist jedesmal einfach im Bewußtsein gegeben, wenn auch meist als Resultat besonderer psychi- scher Prozesse. Die letzteren dürfen aber nicht in unserem Sinne als Denken bezeichnet werden, sondern sind eher von der Art der Assoziations- vorgänge. Wenn irgend zwei Bewußtseinsdaten gegeben sind, so können die Prozesse, die eine Relation zwischen ihnen stiften, entweder so oder so vor sich gehen oder auch ganz ausbleiben, je nach den zufälligen Bedingungen. Es sind eben Naturprozesse, deren Verlauf von einer großen Reihe empiri- scher Faktoren abhängt. Verhält es sich aber so, dann leuchtet ein, daß die verbindenden, verknüpfenden Bewußtseinsvorgänge nimmermehr die apriorische Geltung synthetischer Urteile begründen können. Denn es sind eben wechselnde Naturprozesse, die nicht notwendig zum Wesen des Bewußtseins gehören, nicht seine Einheit konstituieren. Damit sind sie der erkenntnistheoretischen Betrachtung entrückt, über ihre Zahl und Art gibt die psychologische Analyse Aufschluß. (Wir finden eine solche trefflich durchgeführt in dem Buche ,,Das Vergleichen und die Relations- erkenntnis" von Alfred Brunswig). Das Ergebnis wird bestätigt, wenn wir den Blick erneut auf die Be- ziehungsbegriffe richten, die in der kritizistischen Philosophie die Rolle von erkenntnisbegründenden Kategorien spielen sollen. Ob wir einen Komplex gegebener Gegenstände als Einheit, Vielheit oder Allheit auffassen (dies sind die drei ersten KANT'schen Kategorien), wird sicherlich allein durch zufällige psychologische Gründe bestimmt. Nachdem aber die Einheiten einmal festgelegt und damit die wirklichen Von den Kategorien. 319 Gegenstände zählbar gemacht wurden, sind sie dem Zahlbegriff unter- worfen und die Sätze über Zahlen — also die gesamte Arithmetik — müssen von ihnen gelten. Man könnte nun den Begriff der Vielheit als die Quelle jener Sätze ansehen. Wir wissen aber, daß sie rein analytische Urteile sind (ein strenger Beweis dieser These für die arithmetischen Wahr- heiten konnte freilich im Rahmen der allgemeinen Erkenntnislehre nicht geführt werden; er gehört in die Philosophie der Mathematik; nur sein Grundgedanke war hier darzulegen) die Geltung der arithmetischen Urteile bietet daher (nach den Ausführungen des § 35) überhaupt kein Problem, solange eben die Prämissen für die Wirklichkeit gelten. Diese kommen einfach durch Zählung der Einheiten des Wirklichen zustande, beruhen also nach dem eben Gesagten auf bestimmten durch empirische Zwecke und Umstände bedingten Festlegungen; ihre Gültigkeit ist die- jenige von Konventionen, also allein durch willkürliche Bestimmungen (z. B. Maßsystem usw.) begründet. Niemals entspringt aus ihnen neue Erkenntnis; Einheit, Vielheit, Allheit und die Zahlen überhaupt sind mit- hin keine ,, Kategorien" in dem fraglichen Sinne. Ähnliches gilt von den drei nächsten reinen Verstandesbegriffen der KANT'schen Tabelle: Realität, Negation und Limitation. Was die Realität betrifft, so tritt sie unter dem Namen ,, Dasein" noch einmal in der Tafel auf; man kann von diesem Begriff unschwer feststellen, daß es schon mit den Prämissen des KxNi'schen Systems schlecht vereinbar ist, ihn unter die Kategorien zu rechnen; für uns vollends kann nach den Aus- führungen des Abschnittes III A und des § 38 überhaupt keine Rede davon sein, die Realität oder das Dasein als eine Denkform zu charakteri- sieren, die a priori zu synthetischen Urteilen Anlaß gäbe. Ebenso steht es mit den beiden anderen, Negation und Begrenzung. Auch sie führen niemals zu synthetischen Sätzen, zu neuer Erkenntnis, und stehen zu Unrecht in dieser Kategorientafel. Die apriorischen Sätze, die nach Kant aus ihnen fließen sollen (die sogenannten ,,Antezipationen der Wahrnehmung") sind einesteils bloße Definitionen (z. B. des Begriffes der Intensität und ähnlicher), zum andern Teil ist sogar ihre Gültigkeit sehr zweifelhaften Charakters, denn die Trennung von Intensität und Quahtät der Empfindung, welche von Ka\t in den Antezipationen der Wahrnehmung durchweg vorausgesetzt wird, ist keinesfalls für alle Sinnes- gebiete reinlich durchführbar. Wir kommen zu den bedeutsamsten Kategorien, denen der Substantia- lität und Kausalität (denn die dritte im Bunde, die Wechselwirkung, bedarf daneben keiner gesonderten Behandlung mehr). Im alltäglichen wie im wissenschaftlichen Denken spielt zweifellos der Begriff der Substanz eine große Rolle. Wir sprechen von der Materie und ihren verschiedenen Zuständen, von der Energie und ihren wechselnden 320 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis. Formen, von den Körpern und ihren variabeln Eigenschaften, und jedesmal liegt der Gedanke eines Konstanten zugrunde, an welchem die Änderungen vor sich gehen, das aber selbst sich nicht mitändert. Der Satz, daß allem Wechsel ein beharrliches Konstantes innewohne, ist freilich ein syntheti- sches Urteil; nach Kant's Ansicht leitet es sich a priori aus der Anwendung der Substanz-Kategorie auf die Anschauungen ab. Ist das sein wahrer Ursprung? Wir sagten vorhin, daß niemals Substanzen wahrgenommen werden, sondern höchstens raumzeitliche Koinzidenzen von Qualitäten oder Merk- malen oder Eigenschaften, oder wie man es sonst nennen mag, und daß noch etwas hinzukommen müsse, bevor der Komplex zusammengehörender Daten durch den Substanzbegriff bezeichnet werden kann. Was nun zunächst unzweifelhaft hinzukommt, ist die assoziative Verknüpfung der einzelnen Merkmale in unserem Bewußtsein, vermöge welcher sie eben für unser Erleben fortan zusammengehören, so daß mit dem Gegebensein der einen die Erwartung des Gegebenwerdens der anderen sich verbindet. Wenn ich ein Stück Wachs vor mir sehe, d. h. wenn gewisse Gesichts- wahrnehmungen gelblicher Farbe vorliegen, so erwarte ich vermöge früher gebildeter Assoziationen, daß die Empfindungen sich bei Änderung der äußeren Umstände (der Stellung, Beleuchtung usw.) in bestimmter Weise ändern; strecke ich die Hand aus, so erwarte ich gewisse Tastempfindungen (Berührung von etwas Weichem); bringe ich das Stück ans Feuer, so er- warte ich gewisse andere Metamorphosen, indem nämlich an die Stelle des festen Körpers nun eine Flüssigkeit tritt: und meine Erwartungen werden jedesmal erfüllt. Ich kann aber alle diese Komplexe immer mit demselben Begriff und Namen ,, Wachs" bezeichnen, weil ihr raum-zeit- licher Zusammenhang kontinuierlich gewahrt bleibt. Damit ist nun alles gegeben, was den Gebrauch des Substanzbegriffes ermöglicht, so wie er im täglichen Leben Verwendung findet, und es braucht nichts weiter mehr hinzuzukommen, kein neuer Akt des Denkens oder des Verstandes, um die Vorstellung eines körperlichen Gegenstandes entstehen zu lassen. Der metaphysische Begriff der Substanz enthält freilich mehr, näm- lich den Gedanken eines von den veränderlichen Eigenschaften vers"chie- denen und ihnen zugrunde liegenden Trägers derselben. Aber gerade diesen Gedanken haben wir längst als verkehrt erkannt (vgl. oben S. 245); er bedeutet also ganz gewiß nicht eine Kategorie, welche Objekte kon- stituieren und Erkenntnis begründen könnte. ^ Der wissenschaftliche Begriff der Materie verfeinert und entwickelt die vulgäre metaphysische Substanzvorstellung insofern, als an die Stelle der assoziativen Verknüpfung von Eigenschaften ein gesetzmäßiger Zu- sammenhang von Qualitäten tritt (siehe oben S. 244 f.), aber auch er bietet keine Möglichkeit, den synthetischen Satz von der Beharrung der Sub- stanz apriorisch zu begründen. Kant spricht diesen Satz so aus (Kr. d. r. V. Ki-.HRB.\CH S. 176 f.): ,,Bei allen Veränderungen in der Welt bleibt die Substanz und nur die Akzidenzen wechseln", und er meint, daß zu Von den Kategorien. 321 allen Zeiten nicht bloß der Philosoph, sondern selbst der gemeine Verstand ihn vorausgesetzt haben und auch jederzeit als unzweifelhaft annehmen werden. Soweit dieser letztere Sachverhalt richtig ist, läßt er sich psycho- logisch erklären; er trifft aber wohl gar nicht allgemein zu. Es besteht auch für den gemeinen Verstand keine Nötigung, alles Geschehen in der Welt als Wechsel und Veränderung eines Konstanten aufzufassen; der Glaube an ein absolutes Entstehen und Vergehen hat auch bestanden und bleibt zulässig. Kant's Beweis, daß ein schlechthiniges Entstehen oder Verschwinden niemals Gegenstand einer möglichen Erfahrung sein könne, ist nicht zwingend. Im Gegenteil, in der modernen Wissenschaft hat die Substanzidee allen Boden verloren. Nachdem die Psychologie damit voraufgegangen ist, die Bewußtseinsdaten nicht mehr als Akzidenzen einer substantiellen Seele zu betrachten, sondern umgekehrt unter ,, Seele" nur den gesetz- mäßig zusammenhängenden Komplex der kommenden und gehenden psychischen Qualitäten zu verstehen, ist nun auch die Naturwissenschaft durch bestimmte Erfahrungen genötigt worden, ihre Substanz, also die Materie, lediglich als Zusammenhang gesetzmäßig wechselnder Qualitäten aufzufassen (vgl. den letzten Abschnitt meines Aufsatzes über die philo- sophische Bedeutung des Relativitätsprinzips in der Zeitschrift für Philo- sophie und philosophische Kritik, Bd. 159). Auch die Behauptung der Konstanz der Masse ist aus empirischen Gründen längst aufgegeben. Die ,, energetische" Naturauffassung, nach welcher die konstante Energie nun- mehr die Rolle der alten Substanz spielen soll, so daß alles Geschehen in der Welt nur als Wechsel der Energieformen aufzufassen wäre, ist nur als eine mögliche, nicht als die notwendige Art der Naturbeschreibung anzusehen und hat unter den Naturforschern keineswegs eine so große Anhängerschaft, wie es nach der Häufigkeit scheinen möchte, mit der diese Anschauung in der philosophischen und populären Literatur erörtert wurde. Zudem wird es kein besonnener Forscher für schlechthin unmöglich erklären wollen, daß künftige Erfahrungen selbst den Satz von der Er- haltung der Energie als nur angenähert gültig erweisen könnten. Das einzige, was die Wissenschaft als schlechthin unveränderhch fest- zuhalten sucht — und festhalten muß, weil sie sonst überhaupt keine Erkenntnis gewönne — sind die Gesetze. Das Wiederfinden des Gleichen im Verschiedenen, das alle wissenschaftliche Erkenntnis konstituiert, stellt sich in letzter Linie stets als ein Wiederfinden der gleichen Gesetze heraus. Die Unveränderlichkeit der Substanz hat sich in eine Konstanz der Gesetzmäßigkeit der Zusammenhänge aufgelöst. Es gibt also keine synthetischen Sätze a priori über die Substanz, und ihr Begriff ist keine Kategorie im Sinne der Transzendentalphilo- sophie. Wir sahen uns soeben auf den Gesetzesbegriff als letzten festen Grund zurückgeführt; dadurch konnte die Hoffnung entstehen, daß wir nun in Schlick, Erkenntnislehre. 21 322 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis. ihm cndHch die gesuchte „Kategorie" vor uns haben, und daß die Gesetz- mäßigkeit der Welt a priori von ihr behauptet werden könnte. Das wäre dann die Kategorie der Kausalität, denn darauf läuft der Gesetzes- gedanke offenbar hinaus. Die Behauptung des Kausalsatzes, daß jedes Ereignis eine Ursache habe, aus der es notwendig folgt, ist nämlich identisch mit der Behauptung einer durchgehenden Gesetzmäßigkeit alles Geschehens. Denn wenn ich sage, daß irgendein bestimmter Vorgang A einem andern B als Ursache voraufgegangen sein müsse, so setzt dies die Existenz einer Regel voraus, die da angibt, welches B denn nun zu einem bestimmten A gehört; gäbe es keine solche Regel, so wäre ja auch das B gar nicht be- stimmt. Die Regeln nennen wir aber Naturgesetze; der Kausalsatz be- deutet also nichts anderes, als daß alles Geschehen von Gesetzen be- herrscht wird. Ob diese Regeln individuell oder allgemein sind, macht dabei nichts aus. Beides ist prinzipiell möglich. Ich erwähne das besonders, weil man oft der Meinung begegnet, jedes Naturgesetz müsse allgemein sein, ^. h. Anwendungsmöglichkeit für beliebig viele Fälle des Universums besitzen. Es sind jedoch sehr wohl Naturgesetze denkbar, nach denen gleiche Ur- sachen, wenn sie an verschiedenen Orten oder zu verschiedenen Zeiten auftreten, ganz verschiedene Wirkungen hätten. Wenn ein Ereignis im Jahre ipoo eine bestimmte Wirkung hatte, so könnte ein scheinbar ganz gleiches Ereignis im Jahre 3900 eine ganz andere Wirkung haben. Oder, während auf der Erde Zink sich in Salzsäure löst, könnte es auf einem Planeten eines fernen Weltsystems, obwohl von irdischem Zink sonst un- unterscheidbar, in einer ebenfalls sonst ganz gleichen Salzsäure unlöslich sein. Gälten in der Welt derartige Naturgesetze (in diesem Falle dürfte man mit Recht von einer ,, individuellen Kausalität" sprechen), so würde es uns allerdings unmöglich sein, die Gesetze überhaupt aufzufinden (vgl. unten. § 40), aber daß sie tatsächlich nicht von solcher Art, sondern all- gemein sind, folgt nicht aus ihrem Begriffe, sondern nur die Erfahrung lehrt es. Kausalität ist also identisch mit dem Bestehen von Gesetzen überhaupt; erkennbar freilich wird das Bestehen der Kausalität erst dadurch, daß die Gesetze allgemeinen Charakter tragen. Verursachung, gleich der S.ubstantialität, ist nie Gegenstand der Wahrnehmung; erlebt wird nur die zeitliche Folge und die räumliche Nachbarschaft. Auf die Frage, was zu diesem zeitlichen Verhältnis noch hinzukomme, müssen wir mit Hume antworten: zunächst wiederum nur die Assoziation. Und es muß weiter zugegeben werden, daß auch gar nichts weiter nötig ist, um alles menschliche Handeln so zu gestalten, wie es für das Leben in der Welt erfordert wird. Es genügt für alle Zwecke der Wissen- schaft und des Lebens, wenn ich diejenige Aufeinanderfolge von Vorgängen, die in der Natur wirklich eintritt, immer schon vorher erwartet habe, und daß wir dies tatsächlich tun, dafür sorgt die Assoziation der Vorstellungen oder doch ein assoziationsähnlicher Prozeß. Es bedarf nicht des Ge- dankens, .daß die Vorgänge nicht bloß nacheinander, sondern auch durch- Von den Kategorien. 323 einander, auseinander erfolgen, daß über ihnen oder in ihnen ein realer Zwang besteht, welcher sie verknüpft und das eine mit Notwendigkeit aus dem andern hervortreibt. Für das tatsächliche Auftreten dieses Ge- dankens darf man nur nach psychologischen Erklärungen suchen. Für den modernen Forscher ist das Naturgesetz keine reale Macht, sondern nur die Regel der Aufeinanderfolge; es befiehlt nicht den Dingen, wie sie sich verhalten müssen, sondern , ist nur unser Ausdruck dafür, wie sie sich tatsächlich verhalten. Wir wissen nicht a priori, ob ein Zustand A, der bisher nie beobachtet wurde, ohne daß ein anderer Zustand B auf ihn folgte, nun auch bei er- neutem Auftreten in alle Zukunft B nach sich ziehen wird; aber wir er- warten es. Mit anderen Worten: wir glauben an den Kausalsatz, aber seine Geltung steht nicht a priori für unser Denken fest. Der KANT'sche Beweisversuch des Kausalgesetzes, nach welchem ohne dessen Geltung keine Erfahrung möglich wäre, enthält einen ganz richtigen Kern, aber — wir hatten es vorwegnehmend schon früher angedeutet — uns nützt er nichts, weil uns die Garantie dafür fehlt, daß wir ,, Erfahrung" in dem Sinne, wie sie hier vorausgesetzt werden muß, überhaupt besitzen. Wir dürfen hier im nächsten Paragraphen noch einmal anknüpfen. Nachdem wir auch in der Kausalität keine ,, Denkform" in dem ge- suchten Sinne finden konnten, wenden wir uns jetzt zu den drei letzten KANX'schen Kategorien: Dasein, Möglichkeit, Notwendigkeit. Die erste von ihnen ist durch frühere Betrachtungen für uns abgetan, es bleibt also nur noch eine Prüfung der Begriffe des Möglichen und des Notwendigen in Rücksicht auf unser Problem vorzunehmen. Nimmt man sie in dem Sinne, der ihnen durch ihren Ursprung aus dem täglichen Leben aufgeprägt wurde, so erkennt man alsbald, daß sie nur Zeichen sind für subjektive Zustände im Bewußtsein des Urteilenden. Das problematische und das apodiktische Urteil drücken in letzter Linie gewisse psychische Tatbestände aus, nicht also eine Beziehung zwischen den Gegenständen, von denen das Urteil auf den ersten Blick allein zu handeln scheint. Das problematische Urteil ,,S kann P sein" bezeichnet einen Zustand der Unsicherheit des Urteilenden, das apodiktische ,,S muß P sein" einen solchen der Gewißheit. Diese Gefühle des Schwankens oder der Sicherheit, des Nichtwissens oder des Wissens, werden im Bewußtsein vorgefunden und geben den Grund zur Anwendung jener Begriffe ab. Das Wort ,, Notwendigkeit" bedeutet ebenso wie sein Gegensatz, die ,, Freiheit", einen durchaus anthropomorphen Begriff und setzt die Er- fahrung des Zwanges voraus. Wir nennen das menschliche Handeln frei, wenn es in normaler Weise aus Motiven hervorgeht, ohne durch außer- halb der Natur des Handelnden liegende Hindernisse gehemmt zu werden. Im anderen Falle, wenn es etwa durch Kerkerwände, Ketten, Drohungen usw. bestimmt wird, heißt es erzwungen; und dies Gefühl des Nicht- 324 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis. anderskönnens ist die Quelle des Notwendigkeitsbegriffes. Das Wort Not- wendigkeit hat unmittelbaren Sinn in Wahrheit nur in der Anwendung auf das Handeln wollender Wesen (genau wie das Wort Zweck); im übrigen dürfte es in einer strengen Theorie überhaupt nicht vorkommen. Objektiv betrachtet findet ein Geschehen entweder statt, oder es findet nicht statt; die Hinzufügung des Wortes „notwendig" ist tatsächlich be- deutungslos. Es ist etwa so, als wenn man fragen wollte, ob der Mond sich leicht oder schwer um die Erde bewege: das sind unstatthafte Über- tragungen von Begriffen, die nur für das Gefühlsleben einen angebbaren Sinn besitzen. Ganz ähnlich steht es mit der ,, Möglichkeit". Wie sich das Dasein vom notwendigen Dasein überhaupt nicht unterscheidet, wie das Not- wendige nicht etwa einen höheren Wirklichkeitsgrad besitzt als das schlechthin Wirkliche, so fällt im strengsten Sinne genommen auch das Mögliche mit dem Wirklichen einfach zusammen. Was nicht wirklich ist, ist im Grunde auch nicht möglich, denn dadurch, daß die zu seinem Auf- treten nötigen Bedingungen in dem Bereich der Tatsachen nicht erfüllt sind, wird es eben tatsächlich unmöglich. Ein nicht wirkliches Ereignis können wir nur solange als möglich bezeichnen, als wir nicht wissen, ob die zu seinem Eintritt führenden Ursachen in der Natur vorhanden sind; sind sie da, so ist es wirklich, sind sie nicht da, so ist es nicht wirklich, für ein drittes ist kein Raum (wobei wir keinen Unterschied machen zwischen gegenwärtig Wirklichem einerseits und vergangenem und zu- künftigem andererseits; will man das letztere als das Mögliche bezeichnen, so steht dem nichts im Wege, aber das Wort hätte damit seine spezifische Bedeutung eingebüßt). Die Aussage ,,dies Ereignis ist möglich" ist also kein Urteil über das objektive Geschehen, es bezeichnet vielmehr nur den unsicheren Stand unserer Kenntnis der Verhältnisse, die das Ereignis be- dingen. Mit anderen Worten: das problematische Urteil ,,S kann P sein" ist äquivalent einem kategorischen Urteil ,,Q ist R", wo nun die Begriffe Q und R sich auf einen bestimmten psychischen Zustand des Urteilenden beziehen. Außer diesem ursprünglichen Sinn des Wortes Möglichkeit kann man nun freilich für besondere Zwecke noch einen anderen durch Definition festlegen; und das hat man getan, indem man darunter die ,, Vereinbar- keit mit den Naturgesetzen" versteht. Was in der Welt geschieht, wird ja nicht allein durch die in ihr herrschenden Gesetze, sondern zweitens auch durch die irgendwann in ihr tatsächlich vorhandenen Zustände be- stimmt (Kant nennt das erste die formalen, das zweite die materialen Bedingungen. Siehe oben S. 162. In der theoretischen Physik treten die ersten in Gestalt von Differentialgleichungen, die zweiten in Gestalt der Anfangs- und Grenzbedingungen auf). Da wir nun wegen der unendlichen Mannigfaltigkeit des faktisch Vorhandenen niemals dieses selber, sondern höchstens die es beherrschenden Gesetze mit einiger Vollkommenheit zu erkennen vermögen, so fühlen wir eine Sicherheit, daß ein bestimmtes Von den Kategorien. 325 Ereignis niemals eintreten wird, nur dann, wenn es den Naturgesetzen widerspricht. Ist es aber mit ihnen vereinbar, so wissen wir nie genau, ob nun auch die materialen Bedingungen seines Eintritts jemals erfüllt sein werden, ob es jemals wirklich wird. Wir wissen nur genau, daß die Gesetze ihm nicht entgegen sind. Es bleibt eine Unsicherheit, und so wird verständlich, wie man von dem ersten zu dem zweiten Begriff des Möglichen gelangt. Im zweiten Falle ist als Tatbestand, den das proble- matische Urteil (z. B. : ,,der Krieg kann hundert Jahre dauern") bezeichnet, nicht der subjektive Zustand der Unsicherheit anzusehen, sondern die objektive Tatsache, daß der Begriff des beurteilten Ereignisses den Be- griffen der Naturgesetze nicht zuwiderläuft. Dieser Tatsache können wir aber ein kategorisches Urteil zuordnen; auf ein solches läßt sich das problematische also auch in diesem Falle reduzieren. Ebenso ist das apodiktische Urteil ,,S muß P sein" entweder einfach identisch mit dem kategorischen ,,S ist P", oder es bezeichnet ein Gefühl psychischen Zwanges zum Urteilen, d. h. die subjektive Überzeugung von der Wahrheit des Urteils. Dieser Tatbestand kann natürlich auch einfach durch ein neues kategorisches Urteil ausgedrückt werden. Also auch Notwendigkeit und Möglichkeit sind keine Denkformen, sondern Zeichen für vorgefundene Tatbestände. Wir schließen damit die Umschau nach erkenntnisschaffenden Kate- gorien, die ja überhaupt nur zur Bekräftigung eines bereits gewonnenen Ergebnisses dienen sollte. Man hat versucht, ihre Zahl noch weiter zu bereichern und ihr manchen komplizierten Begriff hinzufügen wollen, aber wir brauchen auf solche Erweiterungen nicht einzugehen, nachdem wir die allgemeine Richtung, in der sie führen, als einen Irrpfad erkannt haben. Als Fazit nämlich hat sich doch gezeigt, daß die Beziehung, mit der wir es in jedem Urteil unzweifelhaft zu tun haben, in keinem Sinne erst durch das Urteil erzeugt wird, sondern daß sie, welcher Art sie auch sein möge, dem Denkakt logisch wie psychologisch immer schon vor- auf geht. Die Relationen sind also nicht Denkformen, sondern müssen als Formen des Gegebenen angesehen werden. Darin stimmen sie also mit der Räumlichkeit und Zeitlichkeit unserer Anschauungen überein. Auch Anhänger der KANx'schen Denkrichtung haben gelegentlich zu- gestanden, daß das Gegebene bereits geformt vorgefunden wird. So lesen wir (bei F. Münch, Erlebnis und Geltung, 1913, S. 51): ,,Bezüghch der anschaulichen Welt hat der Positivismus ganz recht, wenn er behauptet, daß auch in ihr schon Formen ,, vorgefunden" werden: Raum und Zeit, ferner Substanz im Sinne von relativ konstanter Koexistenz, Kausalität im Sinne von relativ konstanter Sukzedenz. Aber er irrt ganz gewaltig, wenn er meint, in diesen ,, Koordinationsformen" auch schon die Kate- gorien zu haben, wenn er diese beiden logisch streng zu scheidenden Be- 326 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis. griffe identifiziert". Damit stimmen wir überein, aber wir setzen hinzu, daß es eben auch gar keiner Kategorien bedarf; das Denken löst sich nicht in verschiedene logische, kategoriale Funktionen auf, sondern ,, Denken" bedeutet nach unserer Ansicht nur eine einzige Funktion: sie besteht im Zuordnen. Das Zuordnen zweier Gegenstände zueinander, das Beziehen des einen auf den andern ist in der Tat ein fundamentaler, auf nichts anderes zurückführbarer Akt des Bewußtseins, ein einfaches Letztes, das nur konstatiert werden kann, eine Grenze und Grundlage, zu der jeder Erkenntnistheoretiker schließlich vordringen muß. Das zeigt uns unter andern das Beispiel Dei)fkini'*s, des scharfsinnigen Erforschers des Zahlbegriffes: er sieht sich dabei auf die ,, Fähigkeit des Geistes geführt, Dinge auf Dinge zu beziehen, einem Ding ein Ding entsprechen zu lassen . . ., ohne welche Fähigkeit überhaupt kein Denken möglich ist" (Dedekind, Was sind und was sollen die Zahlen.? 3. Aufl. S. VIII). Im Denken gibt es im Grunde gar keine andere ,, Beziehung" als die Zuordnung; die übrigen Relationen, von denen in der Philosophie, in der Wissenschaft und im Leben die Rede ist, sind für das Denken nur Gegen- stände, sie gehören zum Material, das dem Denken gegeben ist, ebenso wie Dinge oder Eigenschaften oder Empfindungen. Deshalb müssen wir es auch für einen Fehler halten, daß in der Logik und der Erkenntnislehre verschiedene Arten von Urteilen auf- gestellt und koordiniert wurden. Sachlich, dem Wesen nach, ist jedes Urteil kategorisch, und wenn es äußerlich nicht in dem Gewand eines solchen auftritt, so läßt es sich stets durch rein sprachliche Umformungen in die Gestalt eines kategorischen überführen. Bei den problematischen und apodiktischen Urteilen hat sich dies bereits gezeigt, es gilt aber auch von den übrigen. Um dies an einem weiteren Beispiel zu erhärten: das hypothetische Urteil, ,,Wenn A ist, so ist B" wird naturgemäß und ohne Mühe in das kategorische umgewandelt ,,A ist der Grund (oder die Ursache) von B" oder ,,B ist die Folge (oder die Wirkung) von A". Da tritt dann deutlich hervor, daß die Relation nicht Urteilsform, sondern Gegenstand der Beurteilung ist. Dadurch, daß manche Aussageinhalte sich am bequemsten durch gewisse sprachliche Satzformen wiedergeben lassen, entsteht der Irrtum, als handle es sich gar nicht um verschiedene Denkinhalte, sondern um verschiedene Denkformen. In Wahrheit aber liegt das Besondere, das die einzelnen ,, Urteilsarten" voneinander unter- scheidet, nicht in den Urteilen selbst, sondern in den beurteilten Gegen- ständen. Es gibt nur eine Art von Urteil: das kategorische; und nur eine Art von Denkbeziehung: die Zuordnung oder Bezeichnung. So sehen wir denn: Von welcher Seile wir uns auch dem Problem nähern, immer gelangen wir zu demselben Resultat. Das Denken schafft Von der induktiven Erkenntnis. 327 niemals die Beziehungen der Wirklichkeit, es hat keine Form, die es ihr aufprägen könnte, und die Wirklichkeit läßt sich keine aufprägen, denn sie ist selbst schon geformt. Da auch keine reine Anschauung ihr strenge Gesetze vorschreibt (§ 37), so wissen wir nun: Die Wirklichkeit erhält Form und Gesetz nicht erst durch das Bewußtsein, sondern dieses ist nur ein Ausschnitt aus ihr. Nun bestand aber die letzte und einzige Möglich- keit strenger allgemeingültiger WirkHchkeitserkenntnis darin, daß das Be- wußtsein der Natur ihre Gesetze diktiert. Da diese Möglichkeit ent- schwunden ist, so sind wir jeder Hoffnung beraubt, im Erkennen des Wirklichen zu absoluter Sicherheit zu gelangen. Apodiktische Wahrheiten vom Wirklichen übersteigen die Kraft des menschlichen Erkenntnisver- mögens und sind ihm nicht zugänglich. Es gibt keine synthetischen Urteile a priori. 40. Von der induktiven Erkenntnis. Die Frage nach der Geltung der Wirklichkeitserkenntnis hat durch die voraufgehenden Untersuchungen eine vielleicht unerwünschte, aber nicht mehr unerwartete Lösung gefunden. Je mehr wir heimisch wurden in dem Ouellgebiet des menschlichen Erkennens, desto deutlicher wurde es, daß alle synthetischen Urteile nicht anders entspringen und gelten als a posteriori. Die Akte des Wiederfindens, auf die jene Urteile sich gründen, sind Einzelfälle der Erfahrung, und die Erkenntnisse gelten zunächst nur für die Einzelfälle. Zum Leben, zum Handeln und für die Wissenschaft brauchen wir aber allgemeine Sätze, allgemeine für die Wirklichkeit gültige Prämissen, aus denen wir Schlußsätze ableiten können, die auch für Fälle gelten, die in räumlicher und zeitlicher Ferne liegen. Es nützt mir nichts zu wissen, daß noch jedesmal, so oft ich Brot gegessen habe, es mich er- nährt hat und mir gut bekommen ist, wenn ich nicht weiß, daß auch das Brot, das ich morgen essen werde, dieselben Eigenschaften besitzen wird, und daß es auch andere ernähren wird, an die ich das Brot aus- teile. Daß ich dergleichen mit Recht voraussetzen darf, bezweifelt nie- mand. Unbedenklich machen wir jederzeit Aussagen über wirkliche Vor- gänge, die wir nicht kennen, weil sie in der Zukunft oder in der Ferne liegen, und unser Leben hängt in jedem Augenblick von der Gültigkeit solcher Aussagen ab. Es war aber gerade das Resultat unserer letzten Betrachtungen, daß wir ihre absolute Gültigkeit nicht behaupten dürfen. Hier liegt also ein Problem; und seine Lösung fordert die Beantwortung folgender Fragen: Erstens: Wie gelangen wir überhaupt dazu, Sätze von wahrgenom- menen Fällen zu übertragen auf nicht wahrgenommene; Urteile, die auf früher erlebte Ereignisse passen, auch anzuwenden auf noch nicht erlebte.? Zweitens: Welcher Art ist die Geltung, die wir für dergleichen Sätze beanspruchen, da wir doch ihre absolute Gültigkeit nicht be- haupten dürfen. -^ 328 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis. Und drittens: Mit welchem Recht machen wir diesen Anspruch? Die drei Fragen bilden das Problem der Induktion. Denn mit diesem Namen bezeichnet man ja die Ausdehnung eines Satzes von be- kannten auf unbekannte Instanzen, die Übertragung einer Wahrheit von wenigen Fällen auf viele, oder, wie man es gewöhnlich ausdrückt, den Schluß vom Besonderen aufs Allgemeine. Wir müssen uns darüber klar werden, zu welchen Antworten auf diese Frage man von dem gewonnenen Standpunkt aus gelangt; erst dann kann der Umkreis unserer Betrachtungen einigermaßen als geschlossen gelten. Wir greifen sie in der aufgezählten Reihenfolge an und beginnen also mit der Aufsuchung des Weges, auf welchem das Erkennen von parti- kularen zu universalen Sätzen gelangt. Welche Kräfte tragen unsere Erkenntnis der vergangenen und gegen- wärtigen Tatsachen zu den fernen und zukünftigen hinüber.? Daß es nicht die Kräfte des Denkens, der Vernunft sind, wissen wir aus schon durchgeführten Betrachtungen. Die Schlüsse des Verstandes sind ihrem Wesen nach analytisch, sie entwickeln nur besondere Wahrheiten aus den allgemeinen, in denen sie bereits enthalten sind. Mehr vermag das Denken nicht. Es ordnet nur und verknüpft gewonnene Erkenntnisse durch deduktives Schließen (§ 14), aber es schafft keine Erkenntnis (§§ 38, 39). Induktion jedoch gibt Erkenntnis im allerhöchsten Maße, der Inhalt aller unserer Wirklichkeitswissenschaften ist durch sie gewonnen. Ebenso wenig aber wie durch das Denken läßt sie sich ohne weiteres durch Er- fahrung erklären, denn sie dehnt ja gerade unsere Erkenntnis auf solche Fälle aus, von denen wir noch keine Erfahrung haben, nämlich auf zeit- lich und räumlich entfernte. Ich glaube, daß es auf die Frage nach der tatsächlichen Herkunft induktiv gewonnener Sätze nur eine Antwort gibt, daß die Philosophie sich längst in ihrem Besitz befindet, und daß es vor anderen Hlme ist, dem sie diesen Besitz verdankt. Wie aus der Formulierung der Frage hervorgeht, ist sie psychologischer Natur. In irgendwelchen tatsächlichen Eigentümlichkeiten unseres Seelen- lebens muß es begründet sein, daß wir für bestimmte Fälle errungene Erkenntnisse darüber hinaus auch auf andere Fälle anwenden. Wenn wir bei jeder Untersuchung eines Gegenstandes A in ihm den Gegenstand B wiedergefunden haben, so erwarten wir, daß nun überall, wo der Be- griff A Anwendung findet, auch B zur Bezeichnung desselben Gegenstandes verwendet werden darf und ohne weiteres zu einer eindeutigen Zuordnung führt. Ich habe z. B. oft beobachtet, daß Papier in Flammen aufgeht, wenn ich es ins Feuer werfe, und bin nun überzeugt, daß auch der Brief in meiner Hand sofort verbrennen wird, wenn ich ihn in den Kamin schleudere, obwohl ich diesen Brief und diese Holzscheite heute zum erstenmal erblicke. Das Urteil ,, Papier ist brennbar" halte ich (von be- Von der induktiven Erkenntnis. 329 sonderen Umständen abgesehen) für allgemeingültig. — Ich habe mein Fenster nie mit Eisblumen geschmückt gesehen, außer wenn draußen eine niedrige Temperatur herrschte; deshalb erwarte ich mit Bestimmtheit, heute beim Verlassen des Hauses ein intensives Kältegefühl zu verspüren, denn die Scheiben sind mit schönen Kristallen bedeckt. Den Satz, daß Eis nur in der Kälte existenzfähig ist, habe ich durch Induktion ge- wonnen. Wenn man sich fragt, welcher menschlichen Fähigkeit derlei Er- kenntnisse zu danken sind, so wird man keinen anderen psychologischen Grund finden können als die Gewöhnung. Und sie beruht ihrerseits ganz und gar auf Assoziations Vorgängen. Mit der Ideenkombination des Papiers und des Feuers hat sich die Vorstellung des Verbrennens fest verknüpft, mit dem Anblick der Eisblumen die Vorstellung der Kälte. Ich bin von Natur mit einem Assoziationsmechanismus ausgerüstet, der mich ohne weiteres das zweite Glied erwarten läßt, sobald das erste auf- getreten ist, vorausgesetzt, daß ich die Verbindung der beiden oft genug erlebt habe. Das ist eine biologisch zweckmäßige Einrichtung; der Mensch könnte nicht ohne sie leben, weil er nicht zu lebenerhaltendem Handeln fähig wäre. Man hat öfters eingewandt, daß der Glaube an die allgemeine Gültig- keit eines Satzes häufig schon aus einer einmaligen Beobachtung ent- springe, wobei doch zur Stiftung einer festen Assoziation und Ausbildung einer Gewöhnung die Gelegenheit fehle. Wenn ein Forscher die Eigen- schaften einer neu von ihm dargestellten chemischen Verbindung be- schreibt, so zweifelt er nicht, daß eine Verbindung, die auf die gleiche Weise wo und von wem auch immer erzeugt wird, genau dieselben Eigen- schaften besitzen wird, obwohl doch erst eine einzige Beobachtung vor- liegt, auf die er sein Urteil stützt. Es ist vollkommen richtig, daß in einem solchen Falle die Annahme der Allgemeingültigkeit nicht auf Assozia- tionen beruht, die sich bei Gelegenheit jenes Einzelfalles gebildet hätten. Aber letzten Endes geht sie doch auf assoziative Gewöhnung zurück. Sie beruht nämlich darauf, daß eine sehr große Zahl anderer Erkenntnisse vorausgegangen ist; man hat viele Erfahrungen gesammelt über das Ver- halten von chemischen Verbindungen, über die Faktoren, von denen es abzuhängen pflegt, und auf welche Punkte es nicht ankommt. Wären solche tausendfältigen Erfahrungen nicht vorhergegangen, so könnte man jenen Induktionsschluß tatsächlich nicht ziehen, man wüßte nicht, ob die Eigenschaften der Substanz nicht etwa von der Form des Gefäßes ab- hängen, in dem sie aufbewahrt wird, oder von dem Alter des Experimen- tators oder vom Stande der Planeten usw. Kurz: die Induktion ruht nicht auf der einmaligen Beobachtung allein, sondern hat eine große Menge anderer Erkenntnisse zur Voraussetzung, die in letzter Linie stets das Ergebnis einer Häufung gleichartiger Erlebnisse sind, also ein Produkt der Gewöhnung, der Assoziation. Durch sie ist ein gewaltiger Komplex von Erwartungen, von Regeln unserm Bewußtsein eingeprägt, der unser 330 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis. ganzes Leben und Denken durchwebt. Neue Einzelfälle werden in diesen Gewohnheitszusammenhang eingefügt, er braucht nicht jedesmal durch besondere assoziative Übungsprozesse neu begründet zu werden. Durch die fechte Beachtung dieser Umstände lassen sich überhaupt alle Einwände gegen die assoziative Grundlage jeder Induktion mühelos entkräften. In einer Welt, in der ähnliche Erlebnisse nicht gleichförmig immer wieder und wieder kehrten, in der also keine Gelegenheit zur Ge- wöhnung und Übung vorhanden wäre, würden auch induktive Erkenntnisse nicht zustande kommen. Der Erkenntnisvorgang hat sich ja entwickelt aus ursprünglich direkt biologisch nützlichen Prozessen (siehe oben § 12), er setzt eine Anpassung an die Umstände der Umgebung voraus, die nur stattfinden kann, wenn diese Umstände so konstant sind, daß sie Ge- wöhnung (des Individuums und der Gattung) ermöglichen. Ein anderer Grund für den naiven Glauben an die Allgemeingültig- keit synthetischer Sätze läßt sich zweifellos nicht finden. Dieser Glaube ist natürlich keine Einsicht; die würde eine Rechtfertigung des Glaubens voraussetzen, und ob und wie eine solche gegeben werden kann, das ist die schwierigere dritte Frage des Induktionsproblems, die uns alsbald beschäftigen soll. An der nun gefundenen Antwort auf die erste Induktionsfrage fällt sofort auf, daß sie uns auf genau die gleichen Prozesse verweist, die wir im vorigen Paragraphen als die subjektiven Wurzeln der Kausalitäts- vorstellung erkannten. Darin offenbart sich der Zusammenhang zwischen den Problemen der Kausalität und der Induktion. Sie sind in der Tat gar nicht unabhängig voneinander lösbar, sondern das eine geht im andern auf. Jener allgemeine Gewöhnungszusammenhang, von dem soeben die Rede war, und unter dessen Voraussetzung schon der Einzelfall unter Umständen zur Begründung eines induktiven Satzes ausreicht, ist gar nichts anderes, als der Kausalzusammenhang oder vielmehr dessen sub- jektives Spiegelbild. Der Kausalsatz ist (siehe oben S. 322) nur der zu- sammenfassende Ausdruck für das durchgängige Bestehen der einzelnen Regelmäßigkeiten. Er ist seinerseits aus der Gesamtheit der beobachteten Regeln induziert. Aber natürlich kann er sie nicht ersetzen, denn auch wenn er als gültig angenommen wird, bleibt es Sache der Induktion, fest- zustellen, welches denn nun die einzelnen in der Natur herrschenden Gesetze sind, welche Vorgänge also als Ursachen und Wirkungen zu- sammen gehören. Gegen den Kausalbegriff hat die moderne positivistische Kritik manches einzuwenden gehabt. Wir wollen die Gelegenheit ergreifen, zu diesen Bestrebungen Stellung zu nehmen, welche die Worte Ursache und Wirkung aus der wissenschaftlichen Sprache ausmerzen wollen, um sie durch den mathematischen Funktionsbegriff zu ersetzen. Es muß zugegeben werden, daß die Verwendung der Begriffe Ursache und Wirkung eigentlicli nur in populärer, ungenauer Sprechweise erlaubt Von der induktiven Erkenntnis. 331 ist: aber nicht deshalb, weil mit ihnen fetischistische Anschauungen ver- knüpft sein müßten (wie Mach gemeint hat), sondern einfach deswegen, weil man die Ursache irgendeines realen Vorganges doch niemals mit wirklicher Vollständigkeit angeben kann, so daß man es also mit einem niemals scharf abzugrenzenden Begriff zu tun hätte. Denn bei jedem Vorgang in der Welt müssen wegen der gegenseitigen Abhängigkeit alles Geschehens voneinander unendHch viele Bedingungen zusammenwirken, um seinen Verlauf bis ins einzelne gerade so zu gestalten, wie er sich tat- sächlich abspielt. Die vollständige Ursache jedes einzelnen Ereignisses ist also ein unendlich komplizierter Tatbestand. Es ist bezeichnend, daß in der exakten Formulierung der Naturgesetze in der Physik die Termini Ursache und Wirkung nie auftreten; sie haben gar keinen Platz menr in den quantitativen Formeln der Gesetze. Wenn also auch von Ursachen und Wirkungen in präziser wissen- schaftlicher Sprechweise nicht wohl geredet werden darf, so ist dies doch kein Grund, um nicht auch fürderhin den allgemeinen Zusammenhang alles wirklichen Geschehens als einen kausalen zu bezeichnen. Im Gegen- teil, es ist zweckmäßig, den im Gedanken der Verursachung liegenden brauchbaren Kern auf diese Weise zu erhalten. Unter Kausalität ist die Abhängigkeit realer Vorgänge voneinander zu verstehen; der mathe- matische Funktionsbegriff dagegen bedeutet streng genommen nur ideale Beziehungen zwischen Zahlen. In einer früher schon erwähnten Abhand- lung von V. Stern (siehe oben S. 177) wird der Unterschied zwischen beiden treffend dahin formuliert, daß wir es beim Funktionsbegriff (wie es sich nach unseren früheren Ausführungen "über das mathematische Denken von selbst versteht) mit rein analytischen Beziehungen zu tun haben, während Kausalität einen synthetischen Zusammenhang bedeutet. In der Tat, wenn ich etwa die Funktion y := x* hinschreibe, so ist y nur ein neues Zeichen für die mit sich selbst multiplizierte Zahl x; wir haben eine Identität vor uns. Nehme ich aber den mathematischen Ausdruck eines Naturgesetzes, etwa des CouLOMB'schen Gesetzes, welches mir die Größe der zwischen zwei Elektrizitätsmengen e^ und Cj in der Entfernung r wirkenden Kraft K angibt: K = -^t ^° ^^^ "^'^^ ^^^^ Identität nur inso- fern als ich die hier auftretenden Buchstaben als Zeichen für bestimmte Zahlen betrachte; sie sind aber zugleich auch Zeichen für gewisse reale Verhältnisse. Die linke Seite unserer Gleichung bedeutet eine Kraft, die rechte das Produkt zweier Elektrizitätsmengen, dividiert durch das Quadrat einer Strecke; und daß die Maßzahlen dieser Größen gleich sind, ist natür- lich kein analytischer Satz, sondern es bedeutet einen Zusammenhang, den ich durch Messung feststelle. Die kausalen Verhältnisse der Wirklichkeit werden erkannt, indem wir ihnen unsere begrifflichen funktionalen Beziehungen zuordnen, aber es wäre eine verwirrende Verwechslung des Bezeichneten mit den Zeichen, wenn man von den Relationen des Wirklichen selber als von funktionalen 332 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis. Beziehungen spräche. Es bleibt verwirrend, obwohl man mit jener Sprech- weise zunächst wohl nur die gute Absicht verband, mit dem Worte Kausa- htät zugleich den Gedanken auszumerzen, als sei darunter irgendein reales Mittelglied zu verstehen, eine besondere wirkliche Wesenheit, welche die Wirkung mit der Ursache verknüpfe. Dieser Gedanke braucht sich aber mit dem Ausdruck ,, Kausalzusammenhang" keineswegs zu ver- binden; wir verstehen darunter vielmehr nur die Tatsache, daß gewisse Vorgänge nur eintreten, wenn gewisse andere Vorgänge vorausgegangen sind. Denn wir sehen mit Hume ein, daß alles Suchen nach einem realen Agens neben oder hinter den Naturvorgängen, das die Wirkung aus der Ursache hervortriebe, einer falschen Fragestellung entquillt. Die Annahme eines solchen realen Bandes würde die Sache nicht verständlicher machen und keine neue Erkenntnis bedeuten oder ermöglichen, denn statt daß der Kausalkonnex dadurch auf etwas anderes zurückgeführt würde, wäre vielmehr nur ein neues unbekanntes Glied zwecklos eingeschoben. Da der Kausalsatz letzten Endes nur der Ausdruck des Bestehens allgemeiner Gesetze in der W^irkUchkeit ist, und da diese immer durch Induktion gefunden werden, so besteht zwischen Induktion und Kausahtät der Zusammenhang, daß jeder Vollzug der ersteren einen Spezialfall der letzteren bedeutet. Die Einsicht in den kausalen Charakter aller Induk- tion ist der modernen Logik durchaus geläufig (besonders deutlich findet man ihn z. B. betont von Heymans in seinem Buche: Die Gesetze und Elemente des wissenschaftlichen Denkens, 2. Aufl., S. 301). Der allgemeine Gewöhnungszusammenhang, von dem vorhin (S. 329) die Rede war, und der den Untergrund für die einzelnen Induktionen abgibt und ihre Isolierung und Selbständigkeit aufhebt, hat sich also als Kausalkonnex herausgestellt. Das durch ihn bedingte Ineinandergreifen aller Erfahrungen verhindert auch, daß bhndling alles, was irgendwie regelmäßig aufeinander folgt, als kausal verknüpft aufgefaßt werden müßte. Der oft und schon sehr früh gegen die empiristische Kausal- theorie gemachte Einwurf, daß z. B. die regelmäßige Aufeinanderfolge von Tag und Nacht doch nicht dazu führe, das eine für die Ursache des andern zh erklären, findet so ohne weiteres seine Erledigung. Es ergibt sich bald, daß die Begriffe Ursache und Wirkung nur auf Vorgänge, auf Prozesse, nicht etwa auf Dinge anwendbar sind. Wenn wir z. B. von einer chemischen Verbindung sagen, sie habe immer die gleichen Eigen- schaften (dies war unser Beispiel einer Induktion aus einer einmaligen Beobachtung), so heißt dies: an der Substanz vorgenommene Eingriffe ziehen immer dieselben Folgeprozesse als Wirkungen nach sich. Tag und Nacht aber sind keine Naturprozesse im wissenschaftlichen Sinne. — So bestätigt die Betrachtung von allen Seiten, daß identisch derselbe Prozeß, nämlich die Assoziation, den subjektiven Anlaß abgibt sowohl für die Bildung der Kausahtätsvorstellung wie auch für den Glauben an jeden allgemeingültigen Satz über Wirkliches. Von der induktiven Erkenntnis. 333 2. Die erste Frage des Induktionsproblems, wie wir tatsächlich zu all- gemeinen synthetischen Urteilen gelangen, darf durch diese Hinweise auf die psychologischen und biologischen Prozesse als beantwortet gelten, und wir wenden uns nun der zweiten, schwierigeren zu: Was für einen Gültig- keitscharakter tragen diese Urteile für uns, da ihre Geltung doch nicht eine schlechthin bestehende, unbezweifelbare ist? Wie kann man überhaupt von verschiedenen Arten der Geltung reden? Ein Urteil bezeichnet doch entweder eine Tatsache eindeutig oder nicht, ist also entweder gültig oder nicht. Es erscheint mithin sinnlos, ver- schiedene Arten oder Grade der Geltung zu unterscheiden. Man pflegt zu sagen, daß induktiv gewonnene Sätze nicht den Cha- rakter der Gewißheit tragen, sondern nur wahrscheinliche Geltung besitzen. Aber was soll dies bedeuten? Wenn ich sage: ,,A ist wahrscheinlich B" (z. B. : Die chemischen Kräfte sind wahrscheinlich elektrischer Natur), so will ich damit die beiden Begriffe A und B nicht endgültig demselben Gegensta-nde zuordnen, nicht den Gegenstand B als sicherlich stets in A auffindbar bezeichnen, sondern die Zuordnung von B zu dem wirklichen Gegenstande ist eine versuchs- weise, von der ich Eindeutigkeit erhoffe. Mit anderen Worten: der Satz A ist B stellt eine Hypothese dai. Alle unsere Wirklichkeitserkenntnisse sind also streng genommen Hypothesen. Keine wissenschaftliche Wahrheit, mag sie historischer Art sein oder der exaktesten Naturforschung angehöien, macht davon eine Ausnahme, keine ist im Prinzip vor der Gefahr sicher, irgendwann einmal widerlegt und ungültig zu werden. Wenn es auch zahllose Wahrheiten über die wirkliche Welt gibt, an denen kein Mensch zweifelt, der sie über- haupt kennt: vollkommen kann keine von ihnen den Charakter des Hypo- thetischen abstreifen. Doch das sind schließlich wohlvertraute Dinge. Die neuere Philosophie und Wissenschaft haben sich längst daran gewöhnt, für die Wirklichkeits- erkenntnis nur Wahrscheinlichkeit in Anspruch zu nehmen, und sie können sich damit wohl zufrieden geben in dem Bewußtsein, daß das tägliche Leben, bei dem es sich doch um Glück und Elend, um Dasein und Tod handelt, schon Urteile als sichere Grundlage nimmt, die einen sehr viel geringeren Grad der Wahrscheinlichkeit haben als er der Wissenschaft für ihre Urteile erreichbar ist. Wir unterscheiden nämlich, wie jeder weiß, in der Wahrscheinlichkeit höhere und niedere Grade; unser Urteilen kann mehr oder weniger hypo- thetisch sein. In subjektiver Hinsicht, als psychologisches Faktum, sind diese Tatbestände nicht schwer verständlich. Sie lassen sich wiederum im Anschluß an analoge Erwägungen des vorigen Paragraphen leicht deuten. Wenn wir irgendetwas mit großer Sicherheit behaupten, so ist 334 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis. unsere Bewußtseinslage dabei ganz anders als wenn wir nur eine vage Vermutung aussprechen; die größere oder geringere Wahrscheinlichkeit der Geltung eines Satzes wird von uns auf spezifische Weise erlebt. Mag nun dieser Bewußtseinszustand der Gewißheit oder des Schwankens als ein Gefühl oder sonstwie charakterisiert werden: jedenfalls ist er eine Realität, die jeder kennt und unzählige Male, bei jeder denkenden Stellung- nahme zur Wirklichkeit, in sich erfahren hat. Sie bestimmt und mißt für das urteilende Subjekt den Geltungswert eines Satzes, und wenn die Behauptung einer bestimmten Wahrscheinlichkeit für die Geltung eines Urteils eben nur den Sinn hätte, das Vorhandensein jenes subjektiven Zustandes der Sicherheit oder Ungewißheit zu konstatieren, so wäre unsere zweite Induktionsfrage jetzt erledigt. Aber das ist nicht der Fall; unzweifelhaft beanspruchen Wahrschein- lichkeitsaussagen über jenen subjektiven Sinn hinaus eine objektive Be- deutung. Wenn wir sagen: ,,A ist wahrscheinlich B", so geht der Sinn der Behauptung nicht darin auf, daß wir ein bestimmtes Gefühl in uns konstatieren wollen, sondern es soll damit zugleich etwas über das Ver- halten der objektiven Wirklichkeit selbst gesagt sein. Es wird nicht schlechthin ausgesagt, daß die Bezeichnung des Gegenstandes A durch den Begriff B zur Eindeutigkeit führe; es wird auch nicht behauptet, daß dies nicht der Fall sei; und es wir.d auch nicht etwa einfach ausgesagt, daß wir gar nichts darüber wüßten, ob dies oder jenes zutreffe; sondern es handelt sich scheinbar um ein Mittleres zwischen kontradiktorischen Gegensätzen, um ein Drittes neben Bejahung und Verneinung. — Kein Wunder, wenn dieser eigentümhche Tatbestand immer von neuem die Bemühungen der Logiker der Wahrscheinlichkeit herausfordert! Welchen objektiven Sinn hat es, einem Satze wahrscheinHche Geltung zuzuschreiben.-* Um dies zu ergründen, geht man gewöhnlich von einer Betrachtung des mathematischen Wahrscheinlichkeitsbegriffes aus; und in der Tat darf man so am ehesten Aufklärung erwarten, weil sich hier bereits eine strenge Formulierung findet. Es darf aber nicht vergessen werden, daß das philosophische Problem nicht in der mathematischen Definition des Wahrscheinlichkeitsbegriffes hegt, sondern ganz allein in seiner Anwendung auf die Wirklichkeit. Nur auf diese letztere richtet sich unser Interesse. Die Wahrscheinlichkeit, mit einem gewöhnlichen Würfel eine 6 zu werfen, beträgt bekanntlich Vg- Jede von den 6 Seiten des Würfels kann nämlich beim Wurf nach oben zu liegen kommen (die Zahl der ,, mög- lichen" Fälle beträgt 6), und nur eine einzige von diesen Seiten trägt die erwünschten 6 Punkte (die Zahl der ,, günstigen Fälle" beträgt i), und in der Mathematik ist die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses bekanntlich definiert als der Quotient aus der Zahl der günstigen und der Zahl der möglichen Fälle. Dabei wird vorausgesetzt, daß die Fälle alle ,, gleich- möglich" sind; was aber darunter zu verstehen ist und wie man es fest- Von der induktiven Erkenntnis. 335 stellt, darum kümmert sich die Wahrscheinlichkeitsrechnung selber nicht. Gerade dies aber ist für uns das einzig Wichtige. Wenn wir also fragen: Was bedeutet es zu sagen, die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses be- trage ^/e?, so genügt uns als Antwort nicht der Hinweis auf jenen Quotienten, sondern wir wollen allein wissen, auf welche Tatsachen der Wirklichkeit denn nun der Begriff Anwendung finden kann. Man hat früher wohl gelegentlich gemeint, die Wahrscheinlichkeits- zahl sei in unserem Falle weiter nichts als ein Maß für die Zuversicht, mit der ein Würfelspieler das Auffallen einer 6 erwarte; aber es ist klar, daß diese Interpretation verkehrt ist. Denn die Gewinnhoffnung eines Spielers hängt von seiner zufälligen Stimmung, von seiner Laune, seinen Gefühlen und Kenntnissen ab, ist also verschieden, während die objektive Wahrscheinhchkeit immer ^e bleibt. Jene Zahl kann also nicht ein Maß für seine tatsächliche, sondern höchstens für seine berechtigte Er- wartung sein. Es hängt ganz von objektiven Bedingungen ab, mit welchem Recht er ein bestimmtes Spielresultat erwartet; die Wahrscheinlichkeits- zahl hat fraglos durchaus eine objektive Bedeutung. Welches aber ist sie.? Nachdem man die Theorie der subjektiven Erwartung verlassen hat, sagt man gewöhnlich, der Sinn des Satzes in unserem Beispiele sei der, daß bei lange fortgesetztem Würfeln die Zahl des Auffallens einer 6 um so genauer Vg der Zahl der Gesamtwürfe betrage, je größer diese letztere Zahl ist. Aber der exakte Sinn des Satzes kann in dieser Formulierung nicht liegen, denn sie gilt selbst nicht genau, sondern nur mit einer ge- wissen Wahrscheinlichkeit, die sich ihrerseits zahlenmäßig angeben läßt. Daß nämlich die Zahl der Sechserwürfe unter n Würfen um so weniger von "/g abweicht, je größer n ist, darf nach der Wahrscheinlichkeits- rechnung für kein endliches n mit Sicherheit behauptet werden, sondern es ist eben nur wahrscheinlich. Man sagt, es gelte für ,, große" Zahlen; da aber ,,groß" ein relativer Begriff ist, so ist das keine strenge Aussage. Es kann z. B. zufällig eintreten, daß während der ersten 60 Würfe die 6 gerade lOmal auffällt, während der nächsten tausend aber immer seltener, so daß die durchschnittliche Häufigkeit ihres Auftretens sich von dem Bruch "/g entfernt, statt sich ihm zu nähern. Mag man n auch noch so groß nehmen: es besteht immer noch eine endliche Wahrscheinlichkeit dafür, daß unter den Würfen eine 6 überhaupt nicht vorkommt; sie ist nämlich gleich (^/g)". Man mag sich drehen und wenden wie man will: auf diese Weise ist es nicht möglich, den exakten Sinn ^nzugeben, den eine wahrscheinliche Aussage für die Wirklichkeit hat. Welche Formu- lierung man auch wählen möge: sie hat immer nur wahrscheinliche Gel- tung. Mit anderen Worten: der Begriff der Wahrscheinlichkeit läßt sich auf den der Wahrheit überhaupt nicht zurückführen, so lange man als Urteilsmaterie die unbekannten Tatbestände betrachtet, von denen in dem ,, wahrscheinlichen" Urteil explizite die Rede ist. Es ist eben nicht möglich, über das Unbekannte Aussagen zu machen, als ob es be- kannt wäre. 336 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis. Wie jedes Urteil muß sich aber auch das Wahrscheinlichkeitsurteil auf ein kategorisches zurückführen lassen, wenn es überhaupt Sinn haben soll. Dieses kategorische Urteil muß also auf einen anderen Tatbestand gehen als es äußerlich betrachtet den Anschein hat: eine Aussage über einen künftigen Würfelwurf ist in Wahrheit eigentlich gar nicht ein Urteil über diesen Wurf, sondern handelt von einem komplexeren Faktum, das aber natürlich zu jenem Wurf in irgendeiner Beziehung stehen muß. Wir haben dieselbe Sachlage vor uns, wie etwa beim Möglichkeitsurteil (siehe oben S. 322); und in der Tat ist ja Wahrscheinlichkeit ein besonderer Fall von Möglichkeit, wahrscheinliche Sätze sind problematische und unterscheiden sich von den reinen Möglichkeitsurteilen nur dadurch, daß für die Möglichkeit gleichsam ein bestimmter Grad, ein gewisses Maß angegeben wird. Bedeutet Möglichkeit in der objektiven Fassung des Begriffes soviel wie Vereinbarkeit mit den Naturgesetzen, den formalen Bedingungen der Wirklichkeit, wobei es außer Betracht bleibt, ob auch die materialen Bedingungen erfüllt sind, so wird die Aussage der Wahr- scheinhchkeit den Sinn haben, daß ein Teil der materialen Bedingungen tatsächlich erfüllt ist; und die Größe dieses Teiles in ihrem Verhältnis zur Gesamtheit der Bedingungen wird das Maß der Wahrscheinlichkeit sein. Über den anderen Teil der Bedingungen wird nich.ts gesagt. Es kommt in der Wirklichkeit vor, daß die Bedingungen sich quanti- tativ gegeneinander abwägen lassen, indem die Abwägung auf eine Ab- zahlung zurückgeführt werden kann, und eben dies sind die Fälle, auf welche die mathematische Wahrscheinlichkeitsbetrachtung anwendbar ist. Oder vorsichtiger ausgedrückt: wir können die Wahrscheinlichkeitsberech- nung nur anwenden, indem wir die Voraussetzung der Zählbarkeit machen. Wir brauchen nicht zu untersuchen, auf welche Weise es geschieht, daß hier der Zahlbegriff auf Bedingungskomplexe anwendbar wird, die doch in der Natur kontinuierhch sind; das ist eine Frage der Einzelforschung, die für unser prinzipielles Problem keine Bedeutung hat. Es ist von der höchsten Wichtigkeit, daß es sich bei der Wahrschein- lichkeitsrechnung wirkHch um die materialen Bedingungen handelt; sie allein machen das Reich des sogenannten ,, Zufalls" aus, der anerkannter- maßen das einzige Gebiet der Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen ist. In diesem Reich herrscht im Gegensatz zur universalen Gleichförmigkeit der formalen Bedingungen größtmöghcher Wechsel oder „Allverschiedenheit" (wie E. ZiLSEL es in seinem schon erwähnten Buche ,,Das Anwendungs- problem" ausdrückt. Diese Schrift scheint mir nicht bloß die hervor- ragendste moderne Behandlung des Induktionsproblems zu sein, sondern überhaupt eine der scharfsinnigsten Arbeiten der gegenwärtigen logi- schen Literatur). Auf die formalen Bedingungen, auf die durch- gehende Naturgesetzlichkeit, d. h. auf den Kausalsatz, findet die Wahr- scheinlichkeitsbetrachtung keine Anwendung, er muß dabei stets als er- füllt vorausgesetzt werden; die Theoretiker der Wahrscheinhchkeitsrech- nung sind sich darüber einig, daß das ganze Verfahren ohne jene Voraus- Von der induktiven Erkenntnis. 337 Setzung seinen Sinn verlieren würde. Denn wollten wir annehmen, daß der Fall des Würfels überhaupt keiner Gesetzmäßigkeit unterliegt, so käme das der Behauptung des absoluten Nichtwissens gleich, es Heßen sich überhaupt keine Bedingungen für den Fall des Würfels angeben, der Begriff der ,, gleichmöglichen Fälle" ließe sich nicht mehr festlegen usw. Daraus folgt, nebenbei bemerkt, daß die Geltung des Kausalsatzes selber niemals durch Wahrscheinlichkeitsrechnung begründet werden kann. Ihren Grundlagen nach ist diese Rechnungsart nur auf ganz be- sondere Tatbestände der Wirklichkeit anwendbar; bei den allerwenigsten induktiven Sätzen läßt sich die Wahrscheinlichkeit ihrer Geltung zahlen- mäßig angeben. Die genaue Geltung des Satzes von der Erhaltung der Energie ist wahrscheinlicher als diejenige des NEWxoN'schen Attraktions- gesetzes — aber um wieviel.? Dennoch darf man auch bei dergleichen Urteilen davon reden, daß die Bedingungen ihrer Wahrheit zum größeren oder geringeren Teil erfüllt seien und kann die Größe dieses Teiles, obwohl nicht exakt fixierbar, als ein Maß der Wahrscheinlichkeit betrachten. Und das genügt, um die schon gefundenen Prinzipien auf sie zu über- tragen. Ihr Geltungscharakter ist derselbe. Ein Urteil ,,A ist B", dem wir wahrscheinliche Geltung zuschreiben, bedeutet demnach durchaus nicht, daß die Zuordnung des Begriffes B zum Gegenstande A zu einer eindeutigen Bezeichnung desselben führt, sondern es ist ein Zeichen für die davon ganz verschiedene Tatsache, daß ein gewisser Teil der Bedingungen erfüllt ist, die erfüllt sein müssen, wenn die Bezeichnung des A durch B Eindeutigkeit besitzen soll. Und diese Aussage hat nun Anspruch auf kategorische Gültigkeit. Wenn ich auf Grund von Beobachtungen etwa dazu gelangt bin, den Satz ,,Die chemischen Kräfte sind elektrischer Natur" mit großer Wahrscheinlich- keit aufzustellen, so behaupte ich damit, daß die Bedingungen seiner Wahrheit in weitem Umfange erfüllt sind, daß mit anderen Worten die Tatsachen eines weiten Beobachtungskreises gerade derart sind, wie sie sein müßten, wenn die chemischen Kräfte mit elektrischen identisch wären. Diese Behauptung hat dann für mich nicht bloß wahrscheinliche Geltung, sondern kategorischen Charakter, sie ist nur ein Resüme der Beobachtungen. Stets aber wird vorausgesetzt, daß es überhaupt so etwas gibt wie Bedingungen und, Abhängigkeiten, daß alles in einem Kausalzusammen- hang steht. Was unter wahrscheinlicher Geltung zu verstehen ist, läßt sich also nur unter Voraussetzung der kategorischen Geltung des Kausal- satzes angeben. Wollte daher einer unsere Betrachtungen auf den Kausal- satz selber anwenden und etwa sagen: es ist nur wahrscheinlich, daß jedes Ereignis eine Ursache hat, so Ueße sich mit dieser Aussage kein objektiver Sinn mehr verbinden, sondern sie könnte schlechterdings keine andere Bedeutung haben, als daß sie die subjektive Unsicherheit bezeichnete, die der Sprechende darüber fühlt, ob wirklich in der Natur alles ursächlich bedingt sei oder nicht. Schlick, Erkenatnislehre. 22 338 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis. 3. Wenn man weiß, wie wir zur Aufstellung induktiver Sätze gelangen und welche Geltungsart wir für sie beanspruchen, so weiß man damit doch noch gar nichts darüber, ob dieser Anspruch auch berechtigt ist. Die dritte Induktionsfrage, die sich gerade auf diese quaestio juris richtet, fordert daher neue Betrachtungen von ganz anderem Gesichtspunkt aus. Eine angeborene Einrichtung unseres Bewußtseins bringt uns dazu, von jedem durch häufige Beobachtung erprobten allgemeinen Satze zu erwarten, daß er auch in künftigen Fällen sich bewahrheiten werde; wir kleiden diese Erwartung in das Urteil, die Geltung des Satzes sei ,, wahr- scheinlich" und meinen damit, daß die Bedingungen seiner Wahrheit zu einem mehr oder minder großen Teile erfüllt sind. Wenn wir fragen: Mit welchem Recht hegen wir jene Erwartung.-* so heißt das erstens: Woher weiß ich, welches die ganz bestimmten Bedingungen einer bestimmten wirklichen Tatsache sind.? und zweitens: Wie kann überhaupt ein Faktum notwendige und hinreichende Bedingung sein für ein anderes wirkhches Faktum? Das erste ist die Frage der Induktion im engeren Sinne, das zweite ist die Frage nach der Geltung des Kausalsatzes; denn wenn Tat- sachen der Wirklichkeit sich gegenseitig bedingen, so nennen wir das eben ein Kausalverhältnis. Man hat oft die Meinung vertreten, daß gar nichts weiter nötig sei, als der Kausalsatz, um die Geltung induktiv gewonnener Urteile zu be- gründen. Mit seiner Hilfe lasse sich nämlich jeder Induktionsschluß auf einen Syllogismus zurückführen in folgender Weise: Beobachtung lehrt, daß A das Antezedens von C war; da nun nach dem Kausalsatz das gleiche Antezedenz immer das gleiche Konsequens nach sich zieht, so folgt, daß C auch in Zukunft und an beliebigen Orten das Konsequens von A sein wird, und damit ist die Allgemeingültigkeit ihrer Verknüpfung ausgesprochen, der Übergang vom Bekannten auf das Unbekannte in logisch einwandfreier Form vollzogen. Dies wäre ganz richtig, wenn wirklich genau der gleiche Vorgang jemals als Antezedens wieder aufträte. Das ist aber streng genommen nie der Fall. Jede Ursache ist ja streng genommen unendlich kompliziert (s. oben S. 331). Es kommt in der Natur nicht vor, daß bei zwei Ereig- nissen bis ins kleinste genau die gleichen Umstände wiederkehrten, sondern es gibt dort nur Ähnhchkeiten, nie vollkommene Gleichheiten (und gäbe es sie, so könnten wir sie doch nicht mit Sicherheit feststellen). In der Form aber, daß auf ähnliche Ursachen ähnliche Wirkungen folgen, gilt der Kausalsatz durchaus nicht immer, denn bekannthch können kleinste Unterschiede der Ursachen gelegentlich größte Unterschiede in der Wir- kung zur Folge haben. Es gibt eben Umstände, auf die es ankommt, und solche, auf die es nicht ankommt Diese voneinander zu scheiden und zu ermitteln, welche Umstände denn nun die bedingenden, die Ur- sachen sind, das ist gerade die Aufgabe der Induktion, Das dabei anzu- Von der induktiven Erkenntnis. 339 wendende Verfahren ist z. B. (wenn auch nicht gerade auf die vollkommenste Weise) in den berühmten vier Induktionsmethoden von Mill formuHert worden; erst durch ein derartiges Verfahren wird das A bestimmt das iif* dem Untersatz des obigen Schlusses als Subjekt aufzutreten hat. Dieser Untersatz ,,A ist das Antezedens von C" bezeichnet also nicht etwa eine einfache Beobachtungstatsache. Und zu seiner logischen Ableitung aus den Beobachtungen vermag der strenge Kausalsatz nicht mitzuhelfen, weil er eben exakt nur für die Totalursachen gilt, während wir doch nie- mals sicher sein können, wirklich alle wesentlichen Umstände aufgefunden und im Begriffe A vereinigt zu haben. Denn die Zahl der möglicherweise für die Ursache in Betracht kommenden Umstände ist unendlich, weil prinzipiell gesprochen jeder Vorgang des Universums einen Beitrag dazu liefern könnte. Wir müssen also folgern: Selbst wenn es möglich wäre, uns der Geltung des Kausalsatzes irgendwie zu versichern, so wäre die Berech- tigung der einzelnen Induktionen damit noch keineswegs bewiesen; seine Gültigkeit ist keine hinreichende Bedingung des induktiven Verfahrens, wohl aber eine notwendige. Daß die Kausalität und mithin die Induktionsschlüsse sich nicht durch einen Vernunftbeweis begründen lassen, ist mit Hilfe" empiristischer Gedankengänge früh eingesehen worden. Man beruhigte sich jedoch dabei, indem man sagte, ihre Geltung und Zulässigkeit werde eben durch die Erfahrung verbürgt. Da zeigte aber Hume, daß gerade die Erfahrung unter keinen Umständen zu der Leistung imstande sei, die man ihr hier aufbürden wollte. Vergegenwärtigen wir uns, wie man sich die Berech- tigung des Glaubens an die Kausalität durch die Erfahrung bewiesen dachte! Wenn die Beobachtung oft gezeigt hat, daß A und B vereint auftreten, so erwarte ich, daß dies auch in Zukunft der Fall sein wird, ohne zunächst ein logisches Recht dazu zu besitzen. Nun lehrt mich aber erneute Beobachtung, daß tatsächhch auch in allen neuen Fällen A nicht auftritt, ohne sich mit B zu verknüpfen; meine Erwartung hat sich also bestätigt, die Wahrnehmung hat gezeigt, daß meine Zweifel an der Gültig- keit des Schlusses von früheren auf spätere Fälle überflüssig waren. Und dadurch, sagt man, ist die Berechtigung meiner Erwartung, der Glaube an den Kausalsatz überhaupt bewiesen. Hume hat aufs klarste dargetan, daß dieses Argument ein Zirkel- schluß ist. Wenn die Beobachtung einen induktiv gefundenen Satz be- stätigt, so beweist dies freilich, daß meine Erwartung berechtigt, daß der Schluß vom Früheren aufs Spätere richtig war, aber es beweist seine Gültigkeit eben doch nur für die tatsächhch bestätigten Fälle. Sowie ich frühere Erfüllungen meiner Erwartung als eine Gewähr dafür ansehe, daß sie sich auch in Zukunft bestätigen wird, setze ich schon den Satz voraus, den ich erweisen will. Die Beobachtung lehrt mich wohl die Zu- lässigkeit der Übertragung eines Satzes von früheren bekannten Fällen auf spätere, die inzwischen gleichfalls bekannt geworden sind, sie lehrt 34° Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis. aber nicht das Geringste über die Geltung der Fälle, die jetzt noch nicht zur Wahrnehmung gelangt sind, sie vermag keine Brücke von den ver- gangenen zu zukünftigen Beobachtungen zu schlagen, und gerade hierauf kommt es bei der Induktion an. Das ganze Argument hat die Frage nicht gelöst, sondern nur verschoben. Dies ist der Sinn der skeptischen Einwände Hume's, und sie zeigen mit völliger Strenge, daß die Erfahrung die Gültigkeit des Kausalsatzes nicht etwa nur nicht zwingend, sondern überhaupt nicht beweist. Erfah- rung heißt Verwertung von Wahrnehmungen, Erschließung des Kommenden und Vorangegangenen, und das ist nur mit Hilfe des Kausalsatzes mög- lich. Dieser wird also immer von der Erfahrung schon vorausgesetzt und kann nicht erst durch sie begründet werden. Also weder durch die Erfahrung noch durch die Vernunft ist ein Beweis zu führen. Die Bündigkeit der Hume 'sehen Einwürfe ist nicht zu bezweifeln; und so versuchte Kant, wie wir wissen, eine Deduktion weder aus der Vernunft, noch aus der Erfahrung, sondern aus der ,, Mög- lichkeit der Erfahrung". Wir haben diese Bemühungen in den beiden voiigen Paragraphen kritisiert und gänzlich unzulänglich gefunden. Wir sagten, daß sich bei ihm trotz alledem der Kern eines richtigen Gedankens finde; und die Begründungsversuche moderner Denker gehen denn auch in derselben Richtung, haben aber aus seinen Fehlschlägen gelernt. B. Erdmann (Über Inhalt und Geltung des Kausalgesetzes, Halle 1905) sucht nachzuweisen, daß menschliches Denken überhaupt nicht möglich wäre, wenn Kausalsatz und Induktion keine Gültigkeit besäßen; S. Becher (Erkenntnistheoretische Untersuchungen zu Stuart Mill's Theorie der Kausalität, Halle 1906) schränkt diese Behauptung auf das wissen- schaftliche Denken ein. Bei diesen und ähnhchen Begründungsversuchen (und andersartige kommen heute für die ernste erkenntnistheoretische Forschung kaum in Betracht) tritt die strenge Geltung des Kausalsatzes und die hypothetische induktiv gewonnener Wahrheiten als Postulat auf. Es wird bewiesen, daß es ohne jene Geltung überhaupt keinen Zweck hätte, die Wirklich- keit zum Gegenstande des Denkens zu machen, daß es sinnlos wäre, nach Erkenntnis zu streben und Wissenschaft zu treiben. Wer aber nach Kausa- lität und Induktion und dergleichen überhaupt fragt, der sucht eben Wirklichkeitserkenntnis, und so sagt man ihm: du mußt entweder ganz und gar aufgeben, über diese Dinge nachzudenken und mit uns zu dis- kutieren, oder du mußt die Gültigkeit jener Prinzipien anerkennen; ohne sie ist die Möglichkeit des Forschens und Fragens selber aufgehoben. Das trifft gewiß zu, und niemand wird sich anheischig machen dürfen, mehr als dies zu beweisen; aber wir wollen uns über die wahre Tragweite solcher Gedanken ganz klar werden und uns von dem eigen- tümlichen Charakter dieser Begründungsart Rechenschaft geben. Sie ist keine logische. Ein ,, Postulat" ist etwas durchaus Denkfremdes. Die Wissenschaft hat es sonst nur mit Tatsachen zu tun, niemals mit Forde- Von der induktiven Erkenntnis. 341 rungen oder Wünschen. Wenn wir also die Gültigkeit eines allgemeinen Prinzipes annehmen, ohne es im geringsten beweisen zu können, so handelt es sich dabei nicht um eine theoretische Forderung, sondern qm einen praktischen Akt. Theoretisch nützt es mir zur Begründung gar nichts zu wissen, daß ohne den Kausalsatz keine Erfahrung möglich wäre und kein Denken — mag es nun das alltägliche oder nur das wissenschaftliche sein. Warum soll es denn menschliches Denken geben.!* warum müßte Erkenntnis möglich sein.? Gewiß, bisher gab es dergleichen, aber daraus läßt sich ja eben gar nichts folgern! Der Erkenntnistrieb hat ursprünghch biologische Wurzeln (vgl. § 12), der Mensch ist selbst ein Stück der Wirklichkeit, und wenn er Wirklich- keitswissenschaft treibt, so wird er sich dabei auf die realen Verbindungen hingewiesen sehen, die ihn mit ihr verknüpfen. Und diese sind letzten Endes praktischer Natur, nur durch sein Gefühls- und Triebleben reagiert er auf die Einwirkungen der Außenwelt, und ohne das würde er sie auch nicht zu erkennen streben. Um des Lebens willen muß es Erfahrung geben, der Mensch braucht sie zum Dasein, und wenn nicht Wissenschaft, so doch Möglichkeit der Wissenschaft; um in ihr leben zu können, muß ihm die Welt erkennbar sein. Im Leben steht ja der Mensch zur Wirkhchkeit in einem viel engeren Verhältnis als in der Wissenschaft. Die philosophischen Fragen nach dem Dasein der Außenwelt, nach der Grenze zwischen Subjektivität und Objektivität usw. existieren für den Standpunkt des Lebens überhaupt nicht; was die Philosophie erst mit Mühe getrennt hat, um es hernach mit größerer Mühe wieder passend zusammenzufügen, das ist für das Leben ungeschiedene Einheit. Zwischen Ich und Außenwelt, zwischen Vergangenem und Zukünftigem besteht nicht die Kluft, welche die Philo- sophie entdeckt und dann zu überbrücken trachtet. Deshalb vollzieht das Leben auch spielend den Übergang zwischen subjektiver und objektiver Geltung und Wahrscheinhchkeit, an dem das logische Denken scheitert. Das Bewußtsein ist der Welt angepaßt, seine subjektiven Erwartungen werden durch objektive Vorgänge erzeugt und treffen wieder mit ihnen zusammen, eben weil sie angepaßt sind. Hiernach liegt die praktische Rechtfertigung des Kausalsatzes (eine theoretische ist ja nicht möglich) darin, daß unsere erste und dritte Induk- tionsfrage miteinander verschmelzen, so scharf sie theoretisch auch zu scheiden sind. Die Frage: wie komme ich zum Glauben an den Kausal- satz.? und die Frage: welches ist die Gewähr seiner Gültigkeit.? beantworten sich gemeinsam: der praktische Glaube an den Satz entsteht durch Asso- ziation, durch einen Instinkt, der das handelnde Leben in jedem Augen- blick durchdringt, beherrscht und erhält: die Resultate dieser funda- mentalen Lebensfunktion sind für das Leben gültig, es gibt keine andere Art des Geltens für das Handeln. Und der Betrieb der Wissenschaft ist ja auch ein Handeln. Weil die Welt nach dem Kausalprinzip aufgebaut ist, muß alles Leben in dieser Welt jenem Instinkte unterworfen sein. 342 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis. Die Bürgschaft ist eine absolute, denn der Glaube an die Ursächlich- keit alles Geschehens ist implizite in jeder bewußten Handlung enthalten, schlechthin ohne Ausnahme. Der Begriff des Handelns, ZwecksetzöTis, schließt den der ursächlichen Bestimmung aller wirklichen Vorgänge ein. Zweifel an der Gültigkeit des Kausalprinzips sind immer erst die Folge von Reflexionen (deren man ja auch bedarf, um überhaupt den Satz explizite aufzustellen), sie sind also theoretischer Natur. Es verhält sich damit wie mit der Frage der sogenannten Willensfreiheit. Auch sie ist lediglich ein theoretisches, philosophisches Problem (zu dem sich natür- lich auch der Nichtphilosoph durch geringes Nachdenken leicht geführt sieht); die Praxis des Lebens setzt unter allen Umständen durchgehende ursächliche Bestimmtheit jedes Tuns voraus, eine Tatsache, die freilich ihrerseits erst dem philosophischen Denken offenbar wird. Der Glaube an die Gültigkeit einer einzelnen induktiv gewonnenen Wahrheit dagegen ist auch praktisch genommen nicht absolut und un- entrinnbar; wohl aber gilt es wiederum von dem Glauben an ihre Wahr- scheinlichkeit: das heißt, unsere Verhaltungsweise gegenüber Erfah- rungssätzen ist ausnahmslos so, als ob von den Bedingungen der Wahr- heit dieser Sätze eine gewisse Anzahl erfüllt ist, deren Größe eben der Höhe der Wahrscheinlichkeit entspricht. Die absolute praktische Siche- rung der wahrscheinlichen Geltung allgemeiner Erfahrungsurteile ist nicht etwas Besonderes neben der exakten des Kausalsatzes, sondern beides fällt für das Leben wiederum völlig zusammen. Wir stellten zwar fest, daß zur theoretischen, logischen Begründung der Geltung von Induktionen der Kausalsatz nicht genügt, sondern daß dazu noch andere Voraussetzungen erfüllt sein müssen. Induktive Schlüsse lassen sich erst ziehen, wenn nicht nur im Universum jede Wirkung durch zureichende Ursachen bedingt ist, sondern auch die Ursachen sich herausfinden und voneinander scheiden lassen. Dazu aber ist erstens nötig, daß es in der Natur eine gewisse Gleichförmigkeit, eine Wiederkehr ähnlicher Umstände gibt (vgl. oben S. 329), daß jedoch hiervon abgesehen zweitens eine größtmögHche Bunt- heit der materialen Bedingungen herrscht (Allverschiedenheit, vgl. oben S. 336), und daß drittens wichtige und unwichtige Umstände voneinander getrennt werden können, daß also Ursachen sich isoHeren lassen (S. 338). Die vollständige Analyse dieser Bedingungen der Induktion und die Auf- suchung etwa noch fehlender ist eine Spezialaufgabe der Logik, deren Lösung hier nicht in Angriff zu nehmen ist (ihre bisher beste Bearbeitung findet man wohl in der mehrfach zitierten Schrift von Zilsel ,,Das An- wendungsproblem"). Daß die Struktur der Welt diese Voraussetzungen wirklich erfüllt, ist natürlich durchaus unbeweisbar; die vollständige praktische Gewähr dafür aber liegt ebenfalls in der Tatsache des handelnden Lebens. Ohne die Erfüllung jener Voraussetzungen gäbe es keinen Instinkt, keine Gewöhnung, die alles Handeln erst ermöglicht, keine Harmonie zwischen Welt und Handeln; und Gültigkeit für das Leben besitzt eben alles, was zu seinen eigenen Fundamenten gehört. Es wäre hier nur das Von der induktiven Erkenntnis. 343 für die praktische Geltung des Kausalsatzes Gesagte noch einmal zu wiederholen. Dieser selbst spielt ja seine Rolle im Leben stets nur im- plizite, in die Gestalt spezieller empirischer Sätze gekleidet, sie allein sind für das Leben von unmittelbarem Interesse, und aus ihnen ergibt sich erst durch induktive Verallgemeinerung, daß jedes Geschehen ursächlich bedingt ist. Psychologisch geht ja das Speziellere immer dem allgemeineren vorauf, während das logische Begründungsverhältnis umgekehrt ist. Die Überzeugung von der Gültigkeit der Erfahrungssätze ist keine absolute, weil die Gesamtursache einer Wirkung dem Bewußtsein niemals vollständig gegeben ist. Es reagiert nach Kenntnis der Partialursachen (ein Körper, der die äußeren sinnlichen Eigenschaften des Brotes auf- weist, wird ohne weiteres als eßbar und nahrhaft betrachtet), bleibt aber stets gewärtig, die Reaktion auf Grund neuer Umstände wieder umstellen zu müssen (das Brot kann vergiftet sein), deshalb haftet ihr eine mehr oder minder kleine Unsicherheit an. Darin spricht sich aus, daß die Geltung der empirischen Erkenntnisse nur eine wahrscheinliche ist: prak- tisch verbürgt ist das Vorhandensein eines Teiles der Umstände, welche die Bedingungen einer bestimmten Wirkung ausmachen; über den anderen Teil ist nichts bekannt. Zum Kausalsatz gelangt die Reflexion durch den Übergang von den partiellen zu den vollständigen Ursachen, von einem Teile der Bedingungen zu ihrer Gesamtheit. Ihre Kenntnis würde keinen Platz für Fehlreak- tionen mehr lassen und dadurch wird die praktische Bürgschaft der Wahr- scheinlichkeit in die der Wahrheit übergeführt. Der Standpunkt, auf den man durch solche Betrachtungen gelangt, ist im Grunde schon derjenige Hume's gewesen. Ich glaube nicht, daß es möglich ist, wesentlich über ihn hinauszuschreiten. Eine lohnendere Aufgabe als die Erneuerung der auf Überwindung dieses Standpunktes zielenden Versuche scheint es mir daher zu sein, die Gegensätze zwischen ihm und den widerstrebenden Ansichten möglichst zu versöhnen und sich darüber klar zu werden, daß die gewonnene Position nicht einen skepti- schen Verzicht von solcher Art bedeutet, daß unser theoretisches Be- dürfnis sich um keinen Preis damit zufrieden geben könnte. Es ist gewiß richtig, daß die vom Verstände geforderte theoretische Einsicht niemals ersetzt werden kann durch irgendein Postulat oder irgendeine praktische Bürgschaft; das Leben aber bedarf ledighch der letzteren und man muß sich davor hüten, seine praktischen Forderungen für logische, für Erkenntnispostulate zu halten. Hätten Erfahrungsurteile keine Gültigkeit, so würden Leben und Wissenschaft in Frage gestellt. Die Möglichkeit der Wissenschaft aber ist natürhch nicht selber wieder eine wissenschaftliche, sondern eine praktische Forderung. Erkenntnis be- steht in der eindeutigen Bezeichnung der Welt mit Hilfe eines Minimums von Begriffen und wird dadurch ermöglicht, daß die wirkHchen Dinge 344 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis. sich aufeinander zurückführen lassen, indem eins im andern wiedergefunden wird. Die Erkenntnis fordert, die Reduktion der Begriffe aufeinander soweit durchzuführen, wie es möglich ist; daß es aber durchgehends möglich sei, daß die Welt sich unserer Erkenntnis in allen Teilen, in Ver- gangenheit und Zukunft, gleich zugänglich erweise, ist ein Wunsch, dessen Erfüllung oder Nichterfüllung die theoretische Wissenschaft einfach zu registrieren hätte, während für das Leben Sein oder Nichtsein davon ab- hängt. Das Leben aber besteht. Was richtig war an dem KANx'schen Gedanken, die Geltung allgemeiner Sätze ließe sich aus der Möglichkeit der Erfahrung beweisen, bleibt erhalten, wenn man den Begriff der Er- fahrung genügend allgemein im Sinne des praktischen Handelns faßt und unter Beweisen nicht eine logische Deduktion, sondern eine lebendige Rechtfertigung versteht. Erkenntnis wäre nicht möglich, wenn es im Universum keine Gleich- heiten gäbe. Nur durch sie gelingt es, eins im andern wiederzufinden und die vielgestaltige Welt mit Hilfe ganz weniger Begriffe zu beschreiben. Wenn man fragt: Wie ist es möglich, die ganze Welt in ihrem unend- hchen Formenreichtum durch ein einfaches, durchsichtiges, aus einigen wenigen Elementen aufgebautes Begriffssystem zu bezeichnen und sozu- sagen auf eine Formel zu bringen.? so dürfen wir ohne Zögern antworten: weil die Welt selber ein einheitliches Ganzes ist, weil sich überall Gleiches im Verschiedenen in ihr findet. In diesem Sinne ist die Wirklichkeit ganz und gar rational, das heißt, sie ist objektiv so beschaffen, daß eine kleine Zahl von Begriffen ausreicht, sie eindeutig zu bezeichnen; es ist also nicht etwa erst unser Bewußtsein, das sie erkennbar macht. Indem wir die Zahl der begrifflichen Zeichen auf ein Minimum reduzieren, folgen wir dem eigensten Wesen und Gesetz des Wirkhchen; deshalb eben ist diese Reduktion Erkenntnis der Wirklichkeit. Die eigentliche Gewinnung der Wirklichkeitserkenntnis ist Aufgabe der Einzelwissenschaften. Die Erkenntnislehre hat nur die Prinzipien und Bedingungen ihrer Lösung zu betrachten. Das ist eine rein kritische Arbeit, die im Vergleich mit den Leistungen jener wenig dankbar er- scheinen mag. Aber ihre Kritik ist nicht zerstörend. Denn von dem, was die Wissenschaften einmal wirklich sich errungen haben, kann sie nichts vernichten oder umwerfen oder verändern, sondern sie will es nur richtig deuten, seinen tiefsten Sinn aufdecken. Solche Deutung aber ist die letzte, höchste wissenschaftliche Aufgabe und wird es bleiben. Autoren-Register. Aristoteles 9, 29, 47, 84, 88, 214. V. Aster 69. Avenarius 76, 81, 82, 171, 174 ff., 179, 187, 190 f., 193, 195, 197, 260 ff. Bain 116. V. Baer 231. Bavink 186. Becher, E. 105, 160, 219, 243, 257,266, 272, 279. Becher, S. 340. Beneke 157. Bergmann, H. 134. Bergmann, J. 229. Bergson 68, 73, 214. Berkeley 16, 171, 190, 229. Boyle 214 f. Bradley 93. Brentano 40, 72, 119, 133. Brunswig 318. Cassirer 23 ff., 314. Cohen 171, 277. Cohn 42, 48. Comle 134. Cornelius 106, iio, 134, 136 f., 183 f. Coulomb 331. Dedekind 326. Demokrit 214, 252. Descartes 70 f., loi ff., 129 f., 140, 174, 205, 248 ff., 232, 257, 295. Dewey 144. Dilthey 154. Driesch 112, 257, 274 f. Dufaur 235. Dürr 94, 98, 138. Einstein 207, 301 f. Erdmann 48, 73, 159, 233, 340. Erhardt 219. Faraday 79. Fechner 248, 279. Fichte 206. Fresnel 8. Frey tag 172 f., 188. Frischeisen- Köhler 154. 214. Gahlei 214. Geulincx 174, 256. Gorgias 29. Görland 309. V. Hartmann 212. 300. Hegel 75. Helmholtz 3, 183. Henry 299. Herbart 49, 75, 161, 173, 219, 225. Herbertz 122, 139. Hertz 8. Heymans 221 f., 231, 332. Hilbert 31 f. Höfler 130. Holder 87. Hönigswald 206. Hume 23, loi, 106, 108, 165, 167, 230. 245, 293, 296, 322, 328, 332, 339 f., 343. Husserl 19, 20, 68, 73, 119 ff., 123, 133. Huyghens 8. James iio, 141, 144. Jevons 76, 123, 127. Kant 36, 63, 71, 73, 91, 97, 99. HO f.. 132, 140, 148, 157, 162 ff., 167, 169 f. 174 f., 201 ff., 209 f., 212 f., 216, 222 225 f., 234, 246, 252, 256 f., 260 ff. 265, 284, 290, 292 ff., 303 ff., 312 314 ff., 318 ff., 323 ff-, 340. 344- Kern 316. Kirchhoff 76. 346 Autoren- Register. Klcinpeter 206. Koffka 136. Kopernikus 294. Kraft 194. Kreibig 65. V. Kries 248, 266. Külpe 20, 134, 139, 133, 171, 204. Laas 187. Lange 277. Leibniz 37, 125. 134, 149, 159. 174, 194 f., 225, 265. Lichtenberg 140. Liebmann 231. Linke 122. Locke 37, 104, 113, 157, 214 ff., 217 f., 296. Lotze 12, 25, 47 ff., 75, 106 f., 182, 225 f., 231. Mach 52, 81 f., 170, 174 ff., 179, 182, 184 f., 188 f., 191 ff., 195, 198, 217, 230, 245, 253, 260 f., 265, 331. Maxwell 45, 64, 185, 189, 207. Meinong 65, 104. Messer 254. Mill, James 39. Mill, J. Stuart 29, 37 ff., 86, 116, 161 f., 181 f., 184, 285 ff., 340. Münch 325. Münsterberg 47, 254 f. Natorp 119, 171, 277, 307 ff., 311. Nelson 72, 75. Newton 182, 304, 337. Nietzsche 63. Oken 21. Ostwald 79. Pasch 31. Pasteur 79. Paulsen 70. Peirce 144. Perrin 186. Petzoldt 179 f., 184, 188, 193, 195, 197, 262. Planck 81. Piaton 117 f., 164, 200, 314. Poincar6 127, 223, 299, 301. Raab 76, 190. Regener 186. Ribot 109. Rickert 310. Riehl 43, 47, 69, 217, 221, 296, 306. Riemann 33, 220, 301. Russell 66, 69, 95, 118 93, 93. "6, 163, 207, Saunderson 217. Schiller 144. Schopenhauer 159, 187, 278, 303. Schubert-Soldern 171 Schultz, J. 78, 214. Schumann iio. Schuppe 171, 190. Schwarz 214. Semon 270. Sidgwick 75. Sigwart 37, 42, 87, 91. Spencer 81, 285 ff. Spinoza 130, 195, 205, 256, 265, 293. Stern 177, 188, 331. Störring 93, 104 f., 172^ 188, 225, 231 Stumpf 7.0, 132, 135 ff., 217, 257, 318. Taine 109. Thaies 12. Twardowski ii8. Uphues 134. Vaihinger 12, 18, So, 178, 198. Volkelt 104. Volta 79. Weierstraß 300. , Wilson, C. T. R. 186. Wundt 37, 80, 90, 108, 116, 141, 155, 219, 225, 253 f. Young 8. Ziehen 98, 176, 225. Zilsel 288, 336, 342. Druck der Königl. Universitätsdrucktrei H. Stürtz, A. G., Würiburg. 0) u 0) O <ö ^ I ü H o 03 (0 '3 pu CO üniversity of Toronto Library DO NOT REMOVE THE CARD FROM THIS POCKET Aeme Library Card Pocket LOWE-MARTIN CO. LIMITED V, J*^ V?| V y./- ^. -. ,.^ r^^. 1 ^: / ^ ^f^.^^ ^ ^^9^ * -H<. <^ ^ir ■V/'4rs?v,I,.4^J^^
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