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NATURWISSENSCHAFTLICHE
MONOGRAPHIEN UND LEHRBÜCHER
HERAUSGEGEBEN VON
DEN HERAUSGEBERN DER „NATURWISSENSCHAFTEN"
ARNOLD BERLINER UND AUGUST PÜTTER
ERSTER BAND
ALLGEMEINE ERKENNTNISLEHRE
VON
MORITZ SCHLICK
BERLIN
VERLAG VON JULIUS SPRINGER
1918
ALLGEMEINE
ERKENNTNISLEHRE
VON
MORITZ SCHLICK
/■
BERLIN
VERLAG VON JULIUS SPRINGER
1918
Alle Rechte, insbesondere das der
Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten.
Copyright 1918 by Julius Springer in Berlin.
MEINEM LIEBEN VATER
zu SEINEM SIEBZIGSTEN GEBURTSTAG
AM 3. JUNI 1916
Vorrede.
Daß ein philosophisches Buch in einer den Naturwissenschaften
gewidmeten Serie und als deren erster Band erscheint, mag noch manchen
befremden. Zwar ist wohl heute gewiß die Ansicht herrschend geworden,
daß Philosophie und Naturwissenschaft sich aufs beste miteinander ver-
tragen können, aber wenn der Erkenntnislehre gerade an dieser Stelle
ein Platz angewiesen wird, so setzt das nicht bloß eine Verträglichkeit
beider Forschungsgebiete voraus, sondern es liegt daiin die entschiedene
Behauptung einer natürlichen Zusammengehörigkeit. Die Erscheinungs-
weise des Buches ist also nur gerechtfertigt, wenn wirklich eine solche
Zusammengehörigkeit, eine gegenseitige Abhängigkeit und Durchdringung
besteht.
Ohne den folgenden Untersuchungen selber vorzugreifen, darf der
Standpunkt des Verfassers in dieser Frage nach der Stellung der Er-
kenntnistheorie zu den übrigen Wissenschaften doch schon hier klar-
gelegt werden; es ist sogar gut, auf diese Weise ein deutliches Licht auf
die in dem Buche befolgte Methode von vornLeiein zu werfen.
Nach meiner Ansicht nämlich, die ich auch sonst schon geäußert
habe und zu wiederholen nicht müde werde, ist die Philosophie nicht
eine selbständige Wissenschaft, die den Einzeldisziplinen nebenzuordnen
oder überzuordnen wäre, sondern das Philosophische steckt i n allen
Wissenschaften als deren wahre Seele, kraft deren sie überhaupt erst
Wissenschaften sind. Jedes besondere Wissen, jedes spezielle Erkennen
setzt allgemeinste Prinzipien voraus, in die es schließlich einmündet und
ohne die es kein Erkennen wäre. Philosophie ist nichts anderes als das
System dieser Prinzipien, welches das System aller Erkenntnisse ver-
ästelnd durchsetzt und ihm dadurch Halt gibt; sie ist daher in allen
Wissenschaften beheimatet, und ich bin überzeugt, daß man zur Philosophie
nicht anders gelangen kann, als indem man sie in ihrer Heimat aufsucht.
Wohnt demnach Philosophie in der Tiefe aller Wissenschaften,
so offenbart sie sich doch nicht in allen gleich bereitwillig. Die obersten
Prinzipien müssen sich vielmehr am leichtesten in denjenigen Disziplinen
finden lassen, die selbst schon eine möglichst hohe Stufe der Allgemein-
heit erklommen haben. Da ist es nun die Natur Wissenschaft, be-
sonders die exakte, deren Sätze unbestritten die universalste Geltung
VIII . Vorrede.
für die Welt des Wirklichen besitzen; nur aus ihren Schächten kann
der Philosoph die Schätze heben, die er sucht. Während z. B. die Historie
es mit den Geschicken einer einzigen Spezies von Lebewesen auf einem
einzigen Planeten zu tun hat, oder die Philologie wiederum nur die Ge-
setze einer ganz besonderen Betätigung dieser Spezies erforscht, ist die
Geltung der durch naturwissenschaftliche Methoden gefundenen Gesetze
nicht auf irgendeinen individuellen Bezirk des Wirklichen beschränkt,
sondern sie erstreckt sich im Prinzip auf das gesamte Universum in be-
liebige räumliche und zeitliche Fernen. Eine allgemeine Erkenntnislehre
kann daher nur ausgehen vom Naturerkennen.
Dabei ist also das Naturerkennen nicht etwa eine besondere Art
von Erkenntnis; das Erkennen ist überall eines, die allgemeinsten
Prinzipien sind stets dieselben, auch in den Geisteswissenschaften, nur
erscheinen sie in diesen auf viel speziellere, kompliziertere Dinge an-
gewandt und sind deshalb viel schwerer sichtbar, wenn auch genau so
wirksam — man denke zum Beispiel, wie viel leichter das Walten der
Kausalität sich etwa bei einem physikalischen Vorgang verfolgen läßt,
als bei einem historischen Geschehen.
So ungefähr stellt sich das Verhältnis des einzelwissenschaftlichen
Denkens zum philosophischen dar, und es wird deutHch, daß der Er-
kenntnistheoretiker sich mit aller Energie auf das Naturerkennen hin-
gewiesen sieht. Umgekehrt wird auch der Naturforscher von allen seinen
größten Fragen mit Macht zur Erkenntnislehre gedrängt, weil seineWissen-
schaft in ihnen wegen ihrer hohen Allgemeinheit das Gebiet des rein
Philosophischen fortwährend streift; er muß den Schritt in dieses Gebiet
hinüber tun, sonst kann er den Sinn seines eigenen Tuns nicht restlos
verstehen. Der wirklich große Forscher ist immer auch Philosoph. Diese
enge Wechselbeziehung der Ziele gestattet und erheischt auch äußerlich
eine enge Verbindung der Erkenntnislehre mit den Naturwissenschaften.
Es wäre gut, wenn sie in den Akademien und Universitäten deutlicher
in Erscheinung träte, als es bisher (bei der üblichen Gegenüberstellung
der philosophisch-historischen und der mathematisch-naturwissenschaft-
lichen Disziplinen) der Fall ist. Einstweilen findet sie einen bescheidenen
Ausdruck in der Publikationsart dieser Schrift.
Aus diesen Gründen habe ich dem Vorschlage des Verlegers, das
Buch in die Serie der ,, Naturwissenschaften" aufzunehmen, freudig zu-
gestimmt.
Ich habe mich durchweg einer möglichst einfachen, langsam auf-
bauenden Darstellungsweise beflissen, so daß ein philosophisches Spezial-
Studium zum Verständnis der folgenden Betrachtungen nicht voraus- "
gesetzt wird. Die wenigen Stellen, an denen ein kritisches Eingehen auf
speziellere philosophische Lehren nötig war, um für den Blick des engeren
Fachgenossen die eigene Position möglichst allseitig zu charakteiisieren —
diese wenigen leicht kenntlichen Stellen kann der nur für das große Ganze
interessierte Leser ohne Nachteil überspringen.
Vorrede, IX
Als eine Allgemeine Erkenntnislehre wurde der Inhalt der
folgenden Blätter bezeichnet, weil die Untersuchung ganz auf die obersten,
letzten Prinzipien gerichtet ist. Treibt man die philosophische Neugierde
nicht bis zu jenen allgemeinsten Sätzen, sondern macht gleichsam in
der vorletzten Schicht Halt, so befindet man sich, wenn man von der
Naturwissenschaft ausging, in der Theorie der Naturerkenntnis, d. h. in
der Naturphilosophie. Ebenso würde man auf dem Wege von
der Geschichtswissenschaft zur allgemeinen- Erkenntnislehre eine Theorie
der historischen Erkenntnis, d. h. Geschichtsphilosophie, durchschreiten
können, oder man würde der Mathematik eine Philosophie der Mathematik
vorgelagert finden und so weiter. In dieser Schicht der speziellen Er-
kenntnislehren können wir im folgenden nicht verweilen, obwohl, wie ich
gestehen muß, die Begründung unserer Ergebnisse dadurch an einigen
Stellen lückenhaft erscheint. Aber ein Eingehen auf die umfangreichen
Spezialuntersuchungen jener Gebiete verbot sich schon aus äußeren
Gründen durchaus; so muß denn die abschließende Vervollständigung
des Begründungszusammenhanges einer Bearbeitung der Sonderprobleme
vorbehalten bleiben, die ich später vorzulegen hoffe.
Seit dem Datum der Widmung, an welchem das Manuskript im
wesentlichen abgeschlossen war, sind nun fast zwei Jahre vergangen.
Die ungünstigen Zeitverhältnisse rissen den Verfasser aus seinem Arbeits-
felde heraus und haben die endgültige Fertigstellung des Textes und die
Arbeiten der Druckerei außerordentlich verzögert. Für die ^großzügige
Art, mit welcher der Verleger und die Herausgeber trotz der widrigen
Umstände das Erscheinen des Buches betrieben haben, gebührt ihnen
der herzlichste Dank des Verfassers.
Inhalt.
Seite '
I. Das Wesen der Erkenntnis i
1. Der Sinn der Erkenntnislehre i
2. Das Erkennen im täglichen Leben 4
3. Das Erkennen in der Wissenschaft 8
4. Das Erkennen durch Vorstellungen 13
5. Das Erkennen durch Begriffe 17
6. Grenzen des Definierens 26
7. Die implizite Definition 30
8. Das Wesen des Urteils 37
9. Urteilen und Erkennen 45
10. Was ist Wahrheit? 55
^11. Was Erkenntnis nicht ist 66
12. Vom Wert der Erkenntnis 77
II. Denkprobleme 84
13. Der Zusammenhang der Erkenntnisse 84
14. Die analytische Natur des strengen Schließens 89
15. Skeptische Betrachtung der Analyse 99
16. Die Einheit des Bewußtseins lo";
17. Das Verhältnis des Psychologischen zum Logischen 117 '.
18. Von der Evidenz 129 ]
- 19. Die sogenannte innere Wahrnehmung T32
20. Die Verifikation 141
III. Wlrkllchkeltsprobleme 150
A. Die Setzung des Wirklichen 150
21. Fragestellungen 150
22. Naive und philosophische Standpunkte in der Wirkhchkeitsfrage . 154
23. Die Zeitlichkeit des Wirklichen 164
24. Kritik der Immanenzgedanken 169
25. Fortsetzung der Kritik der Immanenzgedanken 184
B. Die Erkenntnis des Wirklichen 199
26. Wesen und „Erscheinung" 199
27. Die Möglichkeit der Subjektivität des Raumes und der Zeit . . . 208
28. Die Subjektivität der Sinnesqualitäten und des Raumes 213
29. Die Subjektivität der Zeit 230
30. Quantitative und qualitative Erkenntnis 233
31. Physisches und Psychisches 248
32. Weiteres zum psychophysischen Problem 256
■ 33. Einwände gegen den Parallehsmus 266
^ 34. Monismus, Duahsmus, Pluralismus 276
C. Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenn mis 283
35. Denken und Sein • 284
36. Erkennen und Sein 290
37. Gibt es eine reine Anschauung? 297
38. Gibt es reine Denkformen? 304
- 39. Von den Kategorien 312
40. Von der induktiven Erkenntnis 327
Register der Autorennamen 345
Erster Teil.
Das Wesen der Erkenntnis.
I. Der Sinn der Erkenntnislehre.
"Es gab eine Zeit, in der Philosophen sich darüber wunderten, daß
der Mensch imstande sei, seine Glieder zu bewegen, obgleich er doch die
Vorgänge nicht kenne, welche sich in seinen Nerven und Muskeln ab-
spielen müssen, damit die gewünschte Bewegung der Gliedmaßen zustande
kommt. Sie wagten sogar den Schluß, der Mensch vermöge wirklich
nicht, von selber seinen Körper zu rühren; sie meinten vielmehr, jedes-
mal, wenn er irgendeine Bewegung ausführen wolle, müsse eine höhere
Macht ihm zu Hilfe kommen und es für ihn tun.
Drohender noch als für die körperlichen Tätigkeiten ist die Gefahr
eines solchen Schlusses für die wundersame Tätigkeit des Menschen, die
wir Erkenntnis nennen. Denn wie der Prozeß des Erkennens sich eigent-
lich abspielt, wie es zugeht, daß unser Verstand die Natur beherrschen
und fernste Vorgänge in der Welt begreifen und voraussagen kann, das
ist gewiß zunächst ebenso dunkel wie das Wesen der Vorgänge, durch
die es geschieht, daß unsere Hand einen Stein erfaßt und bewegt, wenn
wir es wollen. Und zu allen Zeiten zog denn auch der Skeptizismus den
Schluß, daß wir eine Erkenntnis, deren Möglichkeit wir nicht durch-
schauen, eben deshalb auch gar nicht wirklich besitzen : Wahn und Schein
sei es, wenn wir die Wahrheit irgend zu erfassen glauben, in Wirklichkeit
wüßten wir überhaupt nichts.
Aber wie der Mensch fortfuhr zu handeln und sich zu rühren, ob
ihm nun die Gelehrten das Wie und Wodurch erklären konnten oder
nicht, so gehen auch die Wissenschaften ihren Gang, unbekümmert darum,
was der Philosoph über die Möglichkeit und die Erklärung der Erkenntnis
denken mag. Denn unzweifelhaft besitzen wir Wissenschaften, und
Wissenschaften sind Gefüge von Erkenntnissen; wie also kann man sie
hinwegleugnen .?• Der Skeptiker kann sich höchstens weigern, die Er-
gebnisse der Wissenschaften Erkenntnisse zu nennen, aber damit hat er
sie nicht aufgehoben, sondern nur ausgedrückt, daß sie ihm nicht den
Forderungen zu entsprechen scheinen, die er an Erkenntnisse stellen zu
Schlick, Erkenntnislehre. I
Das Wesen der Erkenntnis.
müssen glaubt. Sie mögen in der Tat die Erwartungen nicht erfüllen,
die der Philosoph anfangs von ihnen hegt — das läßt den Forscher un-
bekümmert, der auf dem Gebiete seiner Einzelwissenschaft weiterarbeitet,
für ihn bleiben sie Erkenntnisse, erreichte Ziele seiner Wissenschaft. Er
steckt Ziele und erreicht sie, stellt sich Aufgaben und löst sie; diese
Lösungen sind eben Erkenntnisse, Fakta, die der Philosoph vorfindet,
so gut wie er die menschlichen Körperbewegungen vorfindet.
Um seine Glieder zu bewegen, hat niemand nötig, die physiologischen
Prozesse zu kennen, ohne welche die Bewegung nicht erfolgen kann:
ebensowenig bedarf es einer Erforschung des eigentlichen Erkennens,
um in der Wissenschaft Erkenntnis zu gewinnen. Mit anderen Worten:
wie zum Handeln keine Physiologie erforderlich ist, so bestehen die Er-
kenntnisse der Wissenschaft im Prinzip unabhängig von der Erkenntnis-
lehre. Das Interesse, welches die Physiologie an jenen Nerven- und Muskel-
prozessen hat, ist ein rein theoretisches, und das gleiche gilt von dem
Interesse, das die Erkenntnistheorie an dem Prozeß des wissenschaftlichen
Fortschrittes nimmt. Wie physiologisches Wissen nicht die Fähigkeit zu
Körperbewegungen schafft, sondern sie nur erklären und ihre Möglichkeit
begreiflich machen will, so kann auch die Lehre vom Erkennen niemals
einen Machtspruch fällen, durch den sie eine Erkenntnis in der Wissen-
schaft etwa ermöglichte oder leugnete, sondern ihre Aufgabe ist nur, sie
ihrerseits aufzuklären und zu deuten.
Dies schließt natürlich nicht aus, daß ihre Ergebnisse dem einzel-
wissenschaftlichen Betriebe unter Umständen doch zugute kommen, wie
ja auch physiologische Kenntnis der Nerven und Muskeln in gewissen
Fällen von praktischer Bedeutung werden kann für die Bewegungsfähig-
keit der Gliedmaßen, dort nämlich, wo diese etwa durch pathologische
Veränderungen beeinträchtigt wurde und wo es gilt, sie wieder herzu-
stellen. Der Verlauf des Erkennens in den Wissenschaften geht ja auch
nicht immer normal vonstatten, auch in ihm können gleichsam patho-
logische Erscheinungen auftreten — sie heißen Widersprüche und Para-
doxa — , zu deren Beseitigung die Dienste der Erkenntnistheorie in An-
spruch genommen werden. Aber ihre primäre Aufgabe besteht nicht in
solchen Hilfeleistungen, sie ist unabhängig von den nächsten Aufgaben
der einzelwisscnschaftlichen Disziplinen und insofern von diesen wohl
abtrennbar.
Hier muß nun eine wichtige Bemerkung gemacht werden, damit
unser erläuternder Vergleich des Erkennens mit den physiologischen
Innervationsvorgängen nicht zu einem fundamentalen Mißverständnis An-
laß gebe, dessen Motive im Laufe der Untersuchung immer wieder wirk-
sam werden und falsche Auffassungen erzeugen könnten, wenn es nicht
gleich zu Anfang zurückgewiesen wird. Man könnte nämlich glauben, die
Erkenntnislehre habe es mit der Erforschung der psychologischen Prozesse
zu tun, in denen das wissenschaftliche Denken sich abspielt, ähnlich wie
die Physiologie jene Innervationsvorgänge zu analysieren sucht. So ver-
Der Sinn der Erkenntnislehre.
standen aber ist die Analogie keineswegs richtig. Denn jene Erforschung
wäre natürlich eine rein psychologische Aufgabe, deren Lösung für den
Erkenntnistheoretiker bis zu einem gewissen Grade wichtig sein mag, die
aber nie sein eigentliches Ziel bilden kann — schon deshalb nicht, weil
ihm ja das psychologische Erkennen selbst wieder zum Problem wird.
Sein Ziel ist also weiter gesteckt und liegt in einer ganz anderen Richtung.
Er fragt nach den allgemeinen Gründen, durch welche gültiges Erkennen
überhaupt möglich wird, und diese Frage ist offenbar prinzipiell ver-
schieden von derjenigen nach der Natur der psychischen Prozesse, in denen
irgendwelche Erkenntnisse sich in diesem oder jenem Individuum zeit-
Hch entwickeln. — Erst im Laufe der Untersuchungen wird der hier be-
rührte prinzipielle Unterschied der Betrachtungsweisen sich zu voller
Klarheit erheben; an dieser Stelle kam es nur darauf an, einen nahe-
liegenden Irrtum vorläufig abzuwehren und die Lehre vom Erkennen der
einzelwissenschaftlichen Forschung — auch der psychologischen — als
etwas Selbständiges und im Prinzip Unabhängiges gegenüberzustellen.
Man kann alle Einzelwissenschaften sehr wohl betreiben, ohne ihnen
erkenntnistheoretische Grundlagen zu geben; verstehen aber kann
man sie in ihrer letzten Tiefe niemals ohne solche. Dies letzte Verständnis
ist ein eigentlich philosophisches Bedürfnis, und die Erkenntnislehre ist
Philosophie.
Der Wege zur Philosophie sind unendlich viele. Zu ihr gelangt man
in der Tat, wie besonders Helmholtz hervorhob, von jeder wissenschaft-
lichen Frage aus, wenn man sie nur genügend weit verfolgt. Wenn man
nämlich in einer Spezialwissenschaft irgendeine Erkenntnis, also die
Gründe für irgendeine Erscheinung gewonnen hat, und wenn nun der for-
schende Geist noch weiter fragt nach den Gründen dieser Gründe, also
nach den allgemeineren Wahrheiten, aus denen jene Erkenntnis abgeleitet
werden kann, so gelangt er bald an einen Punkt, wo er mit den Mitteln
seiner Einzelwissenschaft nicht mehr weiter kommt, sondern von einer
allgemeineren, umfassenderen Disziplin Aufklärung erhoffen muß. Es
bilden nämlich die Wissenschaften gleichsam ein ineinandergeschachteltes
System, in welchem die allgemeinere immer die speziellere umschließt
und begründet. So behandelt die Chemie nur einen begrenzten Teil der
Naturerscheinungen, die Physik aber umfaßt sie alle; an sie also muß
sich der Chemiker wenden, wenn er seine fundamentalsten Gesetzmäßig-
keiten, etwa die des periodischen Systems der Elemente, der Valenz usw.
zu begründen unternimmt. Und das letzte, allgemeinste Gebiet, in welches
alle immer weiter vordringenden Erklärungsprozesse schließlich münden
müssen, ist das Reich der Philosophie, der Erkenntnislehre. Denn die
letzten Grundbegriffe der allgemeinsten Wissenschaften — man denke
etwa an den Begriff des Bewußtseins in der Psychologie, an den des Axioms
und der Zahl in der Mathematik, an Raum und Zeit in der Physik, oder
was es sonst für welche sein mögen — gestatten zuletzt nur noch eine
philosophische, eine erkenntnistheoretische Aufklärung.
Das Wesen der Erkenntnis.
Sie lassen sie nicht nur zu, sondern sie erheischen sie auch für jeden,
der dem philosophischen Trieb, aus dem ja auch alle einzelnen Wissen-
schaften in letzter Linie hervorgehen, nicht ein willkürliches Halt ge-
bieten will.
2. Das Erkennen im täglichen Leben.
Ehe eine Wissenschaft ihre Arbeit beginnen kann, muß sie sich einen
deutlichen Begriff von dem Gegenstande machen, den sie untersuchen
will. Man muß an *die Spitze der Betrachtungen irgendeine Definition des
Objektes stellen, dem die Forschungen gewidmet sein sollen, denn es
muß ja zunächst einmal klar sein, womit man es eigentlich zu tun hat,
auf welche Fragen man Antwort erwartet. Wir müssen uns also zu aller-
erst fragen: Was ist denn eigentlich Erkennen .f"
So selbstverständlich, so einleuchtend es scheint, daß mit dieser
Frage der Anfang gemacht werden muß, um so merkwürdiger ist es, wie
selten sie an der richtigen Stelle und mit der richtigen Sorgfalt behandelt
worden ist, wie wenige Denker darauf eine klare, sichere und vor allem
zutreffende Antwort gegeben haben. Das liegt natürlich daran, daß der
Sinn des Wortes Erkenntnis den meisten zu selbstverständlich erscheint,
daß es somit an einem Motiv für eine nähere gewissenhafte Erklärung
mangelt, ja, daß ihnen gar nicht der Gedanke kommt, eine scharfe und
genaue Definition möchte notwendig sein. Es gibt ja genug Begriffe, die
jedem so geläufig sind und in solcher Weise verwandt werden, daß eine
besondere Definition ganz überflüssig wäre. Wenn ich sage: ich erkenne
etwas, so kann es in der Tat leicht scheinen, als bedeute dieser Ausdruck
etwas ebenso Allbekanntes, als wenn ich sage: ich höre etwas, oder: ich
sehe etwas. Das ist ja nun in vielen Fällen auch ganz richtig. Jeder
weiß, was gemeint ist, wenn der Arzt uns erzählt, er habe als Ursache
einer Krankheit gewisse Bakterien erkannt, oder wenn der Chemiker
behauptet, er erkenne ein Gas als Helium, und niemand fühlt das
Bedürfnis einer Erläuterung.
Es können aber Umstände eintreten, in denen eine nähere Erklärung
und festere Begriffsbestimmung des Wortes Erkennen durchaus nötig ist,
wo viele gänzlich in die Irre gehen würden, die da glauben, über den
Sinn des Wortes völlig im Klaren zu sein. Wir werden in der Tat bald
sehen, daß derjenige Erkenntnisbegriff, den wohl die meisten Denker still-
schweigend vorauszusetzen pflegten, kein zuverlässiger Wegweiser in der
Philosophie ist. Wie zwar für die Bedürfnisse des täglichen Lebens jeder
einen genügend scharfen Sinn mit den Worten Sehen und Hören ver-
bindet, wie aber für die wissenschaftliche Untersuchung der Gesichts-
und Gehörswahrnehmungen dieser Sinn noch außerordentlich präzisiert
werden muß, so hat auch die Lehre vom Erkennen sich erst einmal genau
darüber klar zu werden, welcher ganz bestimmte Prozeß mit diesem Worte
eigentlich bezeichnet werden soll.
Das Erkennen im täglichen Leben.
Man könnte nun glauben, eine vollständige, einwandfreie Begriffs-
bestimmung der Erkenntnis werde sich erst im weiteren Verlaufe der
Untersuchungen oder gar erst am Ende derselben geben lassen, sie sei
nämlich die vornehmste Aufgabe der Erkenntnistheorie selber — aber
das wäre eine falsche Bedenklichkeit, die uns die Grenze unseres Forschungs-
gebietes, und mithin die rechte Eingangspforte dazu verhüllen würde.
Es kann nämlich, wie bereits im vorigen Paragraphen angedeutet, kein
Zweifel sein, daß wir in den Wissenschaften Erkenntnis und Erkenntnis^
fortschritt wirklich besitzen. Dies setzt aber voraus, daß die Wissenschaft
schon über ein untrügliches Kriterium verfügt, das ihr zu entscheiden
gestattet, wo ein wirkliches Erkennen vorliegt und worin es besteht.
Eine Definition dieses Begriffes muß also in den Wissenschaften implicite
schon vollständig erhalten sein; wir brauchen sie nur aus der Forschung
zu entnehmen, aus irgendwelchen unzweifelhaften Erkenntnisfortschritten
abzulesen und können dann an sie als festen Ausgangspunkt alle unsere
Überlegungen anknüpfen.
Es ist von außerordentlicher Wichtigkeit, sich eines solchen Stütz-
punktes zu versichern, mit dem man sich im Laufe der Untersuchung
jederzeit in feste Verbindung setzen kann, um sich darüber zu orientieren,
wo man sich eigentlich befindet und wo man hinaus will. Denn so allein
vermeidet man eine Reihe von Scheinproblemen, die oft das philosophi-
sche Denken verwirrten, zu deren Lösung es aber nur einer Reflexion auf.
das Wesen des Erkennens selbst bedurft hätte. Man verlangte blind-
lings nach Erkenntnis, ohne zu wissen, was eigentlich damit gefordert
war. Man fragte etwa: Kann der Mensch das Unendliche erkennen.?
oder: Vermögen wir zu erkennen, wie die Wirkung aus der Ursache hervor-
geht.? oder man behauptete: das Wesen der Kraft ist unerkennbar, oder:
alles physikalische Geschehen kann nur dann als erkannt gelten, wenn
es auf Druck und Stoß bewegter Massen zurückgeführt ist — solche Sätze
und Fragen sind nur so häufig ausgesprochen worden, weil das Wort
Erkennen gedankenlos verwendet wurde. Hierher gehört auch die große
Frage, die in der Geschichte der Philosophie so viel bedeutet: Vermögen
wir die Dinge zu erkennen, wie sie an sich selbst sind, unabhängig davon,
wie sie unserer menschlichen Auffassung erscheinen.? Gibt man sich
Rechenschaft darüber, was in dergleichen Problemen das Wort Erkennen
allein bedeuten kann, so hören sie auf, welche zu sein, denn es zeigt sich
alsbald, daß entweder die Fragestellung verfehlt war, oder daß der Weg
offen daliegt, auf dem die Frage eine präzise, wenn auch vielleicht un-
erwartete oder unerhoffte Antwort finden kann. —
Ehe wir aus der Betrachtung des wissenschaftlichen Denkens ab-
zuleiten suchen, was unter Erkennen dort verstanden werden muß, ist
es nützlich, das Wort einmal im Sprachgebrauch des täglichen Lebens
zu verfolgen, denn aus diesem stammt es ja (wie übrigens auch die ge-
lehrtesten Worte, nur daß diese im Alltagsleben der Griechen und Lateiner
ihre Quelle haben).
Das Wesen der Erkenntnis.
Wir nehmen also einen einfachen Fall, in dem das Wort in unbefangener
Weise angewendet wird. Ich gehe auf der Straße nach Hause; da ge-
wahre ich in der Ferne ein bewegliches braunes Etwas. An seiner Be-
wegung, Größe und anderen kleinen Merkmalen erkenne ich, daß es
ein Tier ist. Die Entfernung verringert sich, und.es kommt schließlich
ein Augenblick, in dem ich mit Sicherheit erkenne: ich habe einen
Hund vor mir. Er kommt immer näher, und bald erkenne ich, daß
es nicht bloß irgendein Hund ist, ein fremder, nie vorher gesehener,
sondern ein wohlbekannter, nämlich mein eigener, Tyras, oder wie er
sonst heißen mag.
Dreimal tritt in diesem Bericht das Wort Erkennen auf. Das erste
Mal wurde nur erkannt, daß jenes Objekt ein Tier sei, also nicht etwa
irgend ein lebloser Gegenstand. Was bedeutet diese Aussage.? Sie bedeutet
offenbar, daß der sich bewegende Gegenstand mir nicht etwas völlig Un-
bekanntes ist, das mir im Kreise meiner Erfahrungen noch nie vor-
gekommen wäre, sondern daß er einer Klasse von Objekten angehört,
die ich sehr häufig zu erblicken Gelegenheit habe, und die ich bereits
als Kind mit dem Namen „Tier" bezeichnen lernte. Ich habe in jenem
braunen Etwas die Merkmale (vor allem das der selbständigen Bewegung)
wiedererkannt, die ein Gegenstand haben muß, um als Tier be-
zeichnet zu werden. Unter Vorbehalt der Verbesserung des psychologisch
anfechtbaren Ausdrucks kann ich sagen: ich habe in der Wahrnehmung
jenes braunen Etwas die Vorstellung wiedergefunden, die dem Namen
,,Tier" entspricht; das Objekt ist damit zu etwas Bekanntem geworden
und ich kann es bei seinem rechten Namen nennen.
Wenn ich nun beim Näherkommen sage: ich erkenne jetzt das Tier
als Hund — was soll damit gemeint sein.I* Es soll offenbar heißen (wieder-
um in vorläufiger, später zu präzisierender Ausdrucksweise), daß der
Anblick des fraglichen Objektes nicht bloß mit der Vorstellung überein-
stimmt, die ich von einem Tiere überhaupt habe, sondern mit der Vor-
stellung, die ich von einer ganz bestimmten Klasse der Tiere habe, näm-
lich derjenigen, die man im Deutschen als Hunde bezeichnet. Ich habe
das Tier erkannt, heißt abermals: ich vermag es mit seinem rechten
Namen zu bezeichnen, nämlich als Hund, und dieser Name heißt deshalb
der rechte, weil er eben allgemein gebraucht wird für die Klasse der
Tiere, welcher dieses Tier tatsächlich angehört. Es liegt also auch hier
ein Wiederfinden von etwas Bekanntem vor.
•Nicht anders steht es mit der dritten Stufe dieses Erkenntnisaktes.
Ich erkenne den Hund als den meinen, heißt auch hier: ich erkenne
ihn wieder; ich bestimme nämlich das Tier, das ich vor mir sehe, als
identisch mit dem Hunde, den ich täglich um mich zu haben gewöhnt
bin. Und dies wird natürlich wieder dadurch möglich, daß ich eine mehr
oder minder genaue Erinnerungsvorstellung von dem Aussehen meines
Hundes besitze, und daß diese Vorstellung die gleiche ist, die der Anblick
/Ics auf mich zukommenden Tieres mir liefert: die Gestalt, die Farbe,
Das Erkennen im täglichen Leben.
die Größe, vielleicht auch der Ton des Bellens, alles stimmt mit dem
Bilde überein, das die Erinnerung mir von meinem Hunde gibt. Vorher
waren die Namen, mit denen ich das Objekt richtig bezeichnen konnte,
nur Klassennamen, nämlich Tier und Hund. Jetzt aber nenne ich es mit
einem Namen, der nur einem einzigen Individuum in der ganzen Welt
zukommt: ich sage, das ist ,,mein Hund Tyras", und dadurch ist das
Tier als Individuum eindeutig bestimmt.
Allen drei Stufen dieses Erkennens ist gemeinsam, daß dabei ein
Objekt wiedererkannt wird, daß in etwas Neuem etwas Altes wieder-
gefunden und mit ihm identifiziert wird, so daß es nun mit einem ver-
trauten Namen bezeichnet werden kann. Und der Prozeß ist abgeschlossen,
wenn der Name gefunden ist, welcher dem erkannten Gegenstand ganz
allein zukommt, und keinem andern. Eine Sache erkennen heißt im ge-
wöhnlichen Leben in der Tat weiter nichts als ihr den rechten Namen
geben.
Dies alles ist simpel und selbstverständlich; es erscheint fast töricht,
darüber so viele Worte zu machen. Aber oft erwächst der Philosophie
großer Nutzen gerade aus der sorgfältigen Betrachtung des Alltäghchen
und Unscheinbaren. Was man bei den einfachsten Verhältnissen findet,
wiederholt sich nicht selten bei den kompliziertesten Problemen, aber in
solcher Verschlingung und Verkleidung, daß man es nie entdecken würde,
hätte man es sich nicht schon bei alltäglichen Erfahrungen klar vor Augen
gestellt.
Übrigens ist selbst ein so schHchter Vorgang wie das Erkennen eines
Hundes vom psychologischen Gesichtspunkt aus keineswegs ein ganz ein-
facher durchsichtiger Prozeß. Es ist sogar rätselhaft, wie es zugeht, daß
eine Vorstellung als eine bereits bekannte angesprochen werden kann;
woher weiß man denn, daß dasselbe Wahrnehmungsbild früher schon
einmal im Bewußtsein war.? Und tatsächlich war ja auch niemals ganz
genau dasselbe da, sondern höchstens ein ähnliches. Die Psychologen
haben denn auch viel darüber gestritten, wie man sich den Vorgang des
Wiedererkennens zu denken habe, und die Akten über diesen Punkt
sind nicht geschlossen. Mit dieser psychologischen Frage haben wir hier
aber gar nichts zu tun, und wir können sie gänzlich beiseite lassen. Hier
lernen wir an einem deutlichen Beispiele den Unterschied der erkenntnis-
theoretischen und der psychologischen Betrachtungsweise kennen, von
dem im vorigen Paragraphen die Rede war: den Erkenntnistheoretiker
interessiert hier gar nicht, nach welchen psychologischen Gesetzmäßig-
keiten der Wiedererkennungsvorgang verläuft und mögUch ist, sondern
für ihn kommt jetzt nur die Tatsache in Betracht, daß unter gewissen
Umständen ein Wiederkennen überhaupt eintritt, und diese Tatsache steht
natürhch fest, ganz unabhängig davon, wie die Frage nach dem psychi-
schen Vorgang entschieden werden mag, durch den es zustande kommt.
Das Wesen der Erkenntnis.
3. Das Erkennen in der Wissenschaft.
Eine tiefere und erhabenere Bedeutung als im täglichen Gebrauche
scheint dem Worte Erkennen in der wissenschaftlichen Forschung eigen
zu sein; es wird hier gleichsam mit ganz anderer Betonung ausgesprochen.
Dennoch wird sich sogleich zeigen, daß es in der Wissenschaft keineswegs
einen neuen, ganz besonderen Sinn bekommt, sondern daß das Wesent-
liche beim Erkennen hier wie dort ganz dasselbe ist. Nur der erhabenere
Gegenstand und Zweck des Erkenntnisprozesses in der Forschung und
Philosophie verleihen ihm hier eine höhere Dignität.
Um den Gegensatz gegen das vorher betrachtete Beispiel möglichst
groß zu machen, wollen wir nun eines aus einer ganz strengen Wissenschaft
ins Auge fassen, aus der exaktesten Naturwissenschaft, der Physik. Zahl-
los in der Geschichte dieser Disziplin sind die Fälle, wo nach dem ein-
mütigen Urteil aller Berufenen das Erkennen einen großen Schritt vor-
wärts machte, und die Betrachtung eines jeden solchen Falles muß uns
Antwort geben können auf die Frage nach dem Wesen der Erkenntnis.
So fragt die Optik nach dem Wesen des Lichtes, und wie jedermann
weiß, ist es ihr gelungen, das Problem richtig zu lösen; es ist ihr geglückt,
die Natur der Lichterscheinungen zu erkennen, oder zu erklären, oder
zu begreifen — denn alle diese Worte bedeuten ein und dasselbe. Als
was hat man denn das Licht erkannt.? Bereits im 17. Jahrhundert stellte
HuYGHENS die Undulationstheorie des Lichtes auf, nach welcher es be-
steht in der wellenförmigen Fortpflanzung eines Zustandes, und später,
etwa seit den Experimenten Fresnels und Youngs, wurde diese Theorie
zur Gewißheit erhoben, d. h. die Versuche stellten unzweifelhaft fest,
daß die Eigenschaften und Gesetze der Lichtausbreitung identisch sind
mit den Eigenschaften und Gesetzen der Fortpflanzung von Wellen unter
gewissen Umständen. Beide lassen sich durch dieselben mathematischen
Formeln darstellen, kurz, in den Verhältnissen der Lichterscheinungen
wurden dieselben Verhältnisse wiedererkannt, die allgemein bei der
Ausbreitung von Wellen auftreten und von dort her vertraut waren.
Gerade so erklärte ich in dem vorigen Beispiele ein Tier für einen Hund,
weil ich an ihm diejenigen Merkmale wiedererkannte, die mir als Merkmale
der Hunderasse vertraut waren. — Man kannte aber damals keine anderen
Wellen als die, welche in der mechanischen Bewegung eines Mediums
bestehen, wie etwa Wasserwellen, Luftwellen oder sonstige Schwingungen
elastischer Stoffe; deshalb nahm man ohne weiteres an, daß es sich beim
Lichte ebenfalls um solche mechanische Schwingungen handele, um Wellen
also, die dadurch entstehen, daß die Teilchen eines Mediums Bewegungen
um eine Gleichgewichtslage ausführen. Als aber später, besonders durch
die Forschungen von Heinrich Hertz, die elektromagnetischen Wellen
bekannt wurden und ihre Gesetzmäßigkeiten in strenger mathema-
tischer Form dargestellt waren, da bemerkte man, daß die Gesetze
der elektrischen Wellen gleichfalls wiedergefunden werden konnten in
Das Erkennen in der Wissenschaft.
den Gesetzen der Lichterscheinungen, und zwar in viel vollkommenerem
Maße als die der mechanischen Schwingungen, d. h. auch solche Eigen-
tümlichkeiten des Lichtes, die durch die mechanische Theorie nicht er-
klärt waren, ließen sich jetzt wiedererkennen und dadurch begreifen. So
wurde, um nur eine dieser zahlreichen Eigentümlichkeiten anzuführen,
beim Lichte dieselbe Ausbreitungsgeschwindigkeit wiedergefunden, die auch
elektrische Wellen besitzen, während keine elastischen Wellen bekannt
waren, deren Geschwindigkeit diesen Wert hätte. Auf Grund solcher
Wiedererkennungsakte durfte man sagen: das Licht ist eine elektro-
magnetische Erscheinung, und damit hat man es beim rechten Namen
genannt.
Hier liegt also eine Erkenntnis in zwei Stufen vor: zuerst wurde das
Licht als eine Schwingungserscheinung, als Wellenfortpflanzung erklärt,
und darauf wurden durch einen zweiten Akt des Wiederfindens diese
Schwingungen und Wellen als elektrische bestimmt. Ganz analog lagen
aber die Dinge im Beispiel des Hundes: zuerst konnte er nur mit einem
allgemeineren Namen als Tier benannt werden, dann aber wurde er nach
weitergehender Wiedererkennung seiner Eigenschaften als Hund be-
zeichnet.
Hätten wir irgend ein anderes Beispiel aus einer beUebigen anderen
Wissenschaft betrachtet, so wären wir doch zu dem gleichen Ergebnis
gelangt; überall enthüllt sich der Kern des Erkenntnisprozesses als ein
Wiederfinden. Wenn man z. B. feststellt, daß Aristoteles die Schrift
über den Staat der Athener verfaßt hat — dies wäre also eine h i s t o -
r i s c h e Erkenntnis — , so identifiziert man den Urheber dieser Schrift
mit dem anderweitig wohlbekannten Philosophen, erkennt also diesen in
jenem wieder. Und den nämhchen Sachverhalt entdeckt man in allen
erdenkhchen Beispielen. Doch wir können hitr auf die Durchführung
weiterer derartiger Analysen verzichten. Das Resultat der Analysen ist
immer, daß Erkennen in der Wissenschaft, wie schon im täghchen Leben,
ein Wiederfinden des einen im andern bedeutet.
Aus diesem einfachen Satze können wir bereits gewichtige Schlüsse
ziehen über Ziel und Methode der wissenschaftlichen Erkenntnis.
Zunächst sei bemerkt, daß zum Erkennen nur die Zurückführung
zweier vorher getrennter Erscheinungen aufeinander gefordert wird; es
ist also nicht nötig (wie man häufig meint), daß das Erklärende länger
bekannt sein müsse als das Erklärte, daß also der Mensch nur dort Er-
kenntnis errungen habe, wo gleichsam das Gewohnte im Ungewohnten
wiedergefunden worden sei. Das läßt sich leicht an Beispielen aus dem
Betriebe der Forschung zeigen. Wenn es etwa der modernen Physik ge-
lingt, mechanische Gesetzmäßigkeiten auf elektromagnetische zurückzu-
führen, so bedeutet das genau ebensogut eine Erklärung, einen Erkenntnis-
fortschritt, als wenn das früher so oft versuchte umgekehrte Verfahren,
nämhch die mechanische Erklärung der Elektrizität, gelungen wäre, ob-
Das Wesen der Erkenntnis.
gleich die mechanischen Gesetze sehr viel länger bekannt und dem mensch-
lichen Geist sehr viel vertrauter sind als die elektrischen.
Häufig findet man auch die Formulierung, Erkennen sei „Zurück-
führung des Unbekannten auf Bekanntes". Dies ist aber eine verkehrte
Ausdrucksweise. Das zu Erklärende muß uns immer bekannt sein — denn
wie könnten wir es erklären wollen, wenn wir nichts von ihm wüßten.?
Man begeht hier eine Verwechslung von Kennen und Erkennen, die, wie
wir später sehen werden, an manchen Stellen die schlimmsten Folgen für
die Philosophie haben kann (siehe auch unten § ii). Aber selbst wenn
man diesen Irrtum korrigiert und in jener Formel das ,, Unerkannte" für
das ,, Unbekannte" einsetzt, so wird sie dadurch noch nicht richtig. Denn
das erklärende Moment, auf welches man das Unerkannte reduziert,
braucht nicht notwendig ein vorher Bekanntes zu sein; es kommt auch
vor, daß es ein Neues, erst zum Zwecke dieser besonderen Erkenntnis
Angenommenes ist. Diesen Fall haben wir überall dort, wo zur Erklärung
eines Tatbestandes ein neuer Begriff, eine neue Hypothese aufgestellt
wird, die sich dann freilich erst noch anderweitig bewähren muß, ehe die
Erklärung als geglückt betrachtet werden kann. Aber wo eine neue,
glücklich ersonnene Hypothese (man denke etwa an den Begriff des
Elektrons) zum ersten Male irgendwelche Tatbestände verständlich macht,
da besteht die Erkenntnis in der Zurückführung des Bekannten auf ein
vorher Unbekanntes, also jener Formel gerade entgegengesetzt. Das er-
klärende Moment, welches die Erkenntnis ermöglicht, braucht natürhch
seinerseits nicht selbst ein Erkanntes zu sein; es kann auch ein Letztes
sein, das für uns noch nicht auf andere Momente reduzierbar ist. Um
richtig zu sein, muß die erwähnte Formel also auf jeden Fall zu dem
weniger bestimmten Satze verallgemeinert werden : Erkenntnis ist Zurück-
führung des einen auf das andere.
Daß das Wesen des Erkennens restlos in einer derartigen Zurück-
führung aufgeht, ist von manchen Philosophen eingesehen und zugegeben
worden. Aber es fehlt an solchen, die mit dieser Einsicht Ernst gemacht
und die letzten Konsequenzen aus ihr gezogen hätten. Bei allen großen
prinzipiellen Fragen muß man schließlich auf die Natur des Erkenntnis-
vorganges zurückgehen. Man sollte allen jfliilosophischen Problemen und
der philosophischen Seite aller Probleme mit derselben Waffe auf den
Leib rücken. Wir müssen stets erstens fragen: Auf welche Momente kann
denn das zu Erkennende möglicherweise zurückgeführt werden.'' und
zweitens: Auf welchem Wege muß diese Reduktion geschehen.?
Die Einzelwissenschaften stellen sich diese Fragen bei der Lösung
ihrer Spezialaufgaben ganz von selbst, und an ihnen kann man die Methode
leicht studieren. Es gibt dort Fälle, in denen der Weg der Reduktion
vorgezeichnet ist; die Aufgabe besteht dann darin, die erklärenden Momente
zu finden — und oft gehört nicht geringe Tapferkeit daz^, den Dingen,
denen man auf diesem Wege begegnet, fest ins Auge zu sehen. Auf diese
Weise ist man in der Physik z. B. zur modernen Quantenhypothese und
Das Erkennen in der Wissenschaft.
zur Relativitätstheorie gelangt. In anderen Fällen sind die erklärenden
Momente vorhanden, und dann ist der Weg des Erklärens zu suchen.
Dies ist der gewöhnliche Fall. Ihn haben wir z. B. vor uns, wenn wir alle
Bewegungen im Planetensystem durch das Newtonsche Gesetz zu er-
klären trachten, oder die meteorologischen Erscheinungen auf thermo-
dynamische, oder die biologischen auf physikalische und chemische Ge-
setzmäßigkeiten zu reduzieren streben. Freilich täuscht man sich hier oft
darüber, welche Momente als erklärende Prinzipien herangezogen werden
müssen, und dann wird man durch Irrlichter abseits geführt. Als Beispiel
erinnere ich an die eben schon erwähnte früher herrschende Meinung,
alle physikalischen Erscheinungen müßten sich als mechanische, als Be-
wegungsvorgänge, erkennen lassen.
Es gibt aber auch Fälle, in denen beides noch fehlt, Weg und Prin-
zipien der Erklärung, Ziel und Kompaß. Da ist es dann wohl das beste,
das Problem (das dann überhaupt noch kein wohl formuliertes sein kann)
ruhen zu lassen, bis man auch auf anderen Wegen noch zu ihm geführt
wird und dadurch Fingerzeige zur Lösung erhält.
Eine Vorstellung vom letzten Ziel alles Erkennens können wir
schon an diesem frühen Punkte der Untersuchung uns verschaffen.
Wir brauchen nur darauf zu achten, daß alles Begreifen dadurch
von Stufe zu Stufe weiterschreitet, daß zuerst das eine im andern wieder-
gefunden wird, dann in jenem wieder ein anderes und so fort. Aber bis
wohin geht das so weiter, und was ist der Erfolg des ganzen Prozesses?
Soviel ist klar: auf die geschilderte Weise wird die Zahl der Erscheinungen,
die durch ein und dasselbe Prinzip erklärt werden, immer größer, und
demnach die Zahl der zur Erklärung der Gesamtheit der Erscheinungen
nötigen Prinzipien immer kleiner. Denn da eins immer auf das andere
reduziert wird, so nimmt die Menge des noch nicht Reduzierten, d. h.
des erklärenden noch nicht Erklärten, ständig ab. Es kann daher die
Anzahl der verwendeten Erklärungsprinzipien geradezu als ein Maß der
erreichten Höhe der Erkenntnis dienen; die höchste Erkenntnis wird
nämlich offenbar diejenige sein, die mit einem Minimum erklärender nicht
weiter erklärungsfähiger Prinzipien auskommt. Dies Minimum möglichst
klein zu machen, ist also die letzte Aufgabe des Erkennens. Wie weit
diese Verminderung der letzten Prinzipien getrieben werden kann, dar-
über etwas Bestimmteres sagen zu wollen, wäre voreilig. Aber das ist
sicher: nur eines Lächelns würdig sind die Bemühungen jener Philosophen,
die da vorgaben, sie vermöchten bereits die Gesamtheit des Seienden,
den ganzen Reichtum der Welt, aus einem einzigen Prinzip ab-
zuleiten. Höchste Bewunderung jedoch muß man dem Ergebnis zollen,
das die zusammenarbeitenden Einzelwissenschaften in der Verminderung
der Prinzipien heute schon erreicht haben; sie haben sie in wundervollem
Ansturm in der neueren Zeit förmlich dezimiert. Besonders läßt sich
wiederum an der Physik der Fortschritt dieser Wissenschaft daran er-
kennen und messen, daß die Zahl der fundamentalen Gesetzmäßigkeiten,
Das Wesen der Erkenntnis.
die in ihr zur Erklärung der übrigen dienen, sich in wenigen Jahrzehnten
ganz außerordenthch verringert hat. Während früher die Gebiete der
Mechanik, der Optik, der Wärme und der Elektrizität getrennt neben-
einander standen, jedes mit seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten, kennt der
moderne Physiker im Prinzip nur noch die Mechanik und die Elektro-
dynamik als besonderte Teile seiner Disziplin, auf die alle übrigen bereits
reduziert sind; und auch diese beiden lassen ihrerseits schon an manchen
Punkten die Möglichkeit einer gegenseitigen Reduktion und Vereinigung
nicht ausgeschlossen erscheinen.
Wir sehen ferner, worin die eigentliche Schwierigkeit aller Erklärung
und Gewinnung letzter Erkenntnisse besteht: ein Minimum von Er-
klärungsprinzipien zu verwenden und doch mit Hilfe dieser geringen An-
zahl jede einzelne Erscheinung in der Welt ganz vollständig zu bestimmen.
Das heißt, es soll das Individuelle nur mit Hilfe der allgemeinsten Namen
und doch eindeutig bezeichnet werden. Gewiß eine Forderung, die auf
den ersten Bhck fast widerspruchsvoll erscheint.
In unserem Beispiel vom Hunde war die eindeutige Bezeichnung zwar
erreicht, aber durch einen individuellen Namen (etwa ,,mein Hund Tyras"),
und deshalb war es keine wissenschaftliche Erkenntnis. Umgekehrt ist
auch das Entgegengesetzte immer sehr leicht, nämlich die Bezeichnung
eines Individuellen durch einen gültigen allgemeinen Namen, der es aber
nicht völlig eindeutig bestimmt. Auch hier liegt dann keine wissenschaft-
liche Erkenntnis vor, sondern nur der Schein einer solchen. Denn es lassen
sich ohne Schwierigkeit allgemeine Begriffe so auffinden oder konstruieren,
daß sie in allen Erscheinungen der Welt wiedergefunden werden können.
Wenn z. B. Thales in allen Dingen dieselbe Substanz, das Wasser, wieder-
zuerkennen glaubte, so hatte er damit keine echte Erkenntnis gewonnen,
denn dieser Gedanke konnte ihm nicht dazu helfen, etwa die individuellen
Unterschiede eines Stückes Marmor und eines Stückes Holz eindeutig und
vollständig durch allgemeine Namen zu bestimmen. Und nicht wesent-
lich anders liegt der Fall, wenn in der neueren Metaphysik z. B. der Satz
aufgestellt wurde: alles, was existiert, ist Geist. Trotz tieferer Be-
gründung und feinster Dialektik stehen solche modernen Formulierungen
prinzipiell doch auf einer Linie mit derjenigen des Thales (vgl. unten
§ 34).
Dem Ungebildeten kommt jener Unterschied zwischen Wissen und
Erkenntnis kaum zum Bewußtsein; ihn beruhigt es schon sehr, wenn nur
jedem Ding oder jeder Erscheinung irgendein Name beigegeben wird.
Wie klug dünkt sich nicht ein Gärtner, der von allen seinen Pflanzen
den lateinischen Namen weiß, wie oft hört man nicht mit Kenntnis von
Namen, Ausdrücken und Zahlen prunken, die sich für Erkenntnis aus-
geben möchte! ^)
') Vgl. hierzu Lotze's Bemerkungen in seinem Mikrokosmos. 5. Aufl. Bd. II.
S. 249!.; ferner Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob. 2. Aufl. S. 318.
Das Erkennen durch Vorstellungen. 13
Wir werden später sehen, daß in der Tat nur eine einzige Methode
wirklich imstande ist, wissenschaftliche Erkenntnis im strengsten, voll-
gültigen Sinne zu vermitteln, also den beiden besprochenen Be-
dingungen Genüge zu tun: vollständige Bestimmung des Individuellen,
und sie zu leisten durch Zurückführung auf das Allgemeinste; es ist die
Methode der mathematischen Wissenschaften. Bis dahin ist aber noch
ein weiter Weg zurückzulegen. Hier kam es nur darauf an, flüchtig einige
Ausbhcke zu zeigen, die sich auf dem gewonnenen Standpunkte bereits
öffnen. Ehe wir diese Ausblicke erweitern, wollen wir uns erst die Mittel
schaffen zur schärferen Unterscheidung alles dessen, was sie uns zeigen
werden.
Wir kehren zu diesem Zwecke zur Analyse des Erkenntnisprozesses
zurück, um die bisher nur unvollständig formulierten Ergebnisse zu präzi-
sieren und zu ergänzen.
4. Das Erkennen durch Vorstellungen.
Alles Erkennen ist ein Wiedererkennen oder Wiederfinden. Und alles
Wiederfinden ist ein Gleichsetzen eines Neuen mit einem Alten, ein Identi-
fizieren dessen, was erkannt wird, mit dem, als was es erkannt wird.
Über diesen Akt der Identifikation müssen wir jetzt völlige Klarheit
schaffen, um unsere Einsicht in das Wesen des Erkennens zu vertiefen.
Identifikation setzt Vergleichung voraus. Was wird nun beim Er-
kenntnisprozeß miteinander verglichen.^
Die Frage ist leicht genug zu beantworten bei den Erkennungs-
vorgängen des täglichen Lebens: dort sind es im allgemeinen Vor-
stellungen, die verglichen werden. Blicken wir auf unser früheres
Beispiel zurück, so sahen wir schon, daß ich ein wahrgenommenes Tier
dadurch als einen Hund erkenne, daß die Wahrnehmungsvorstellung, die
ich von dem Tiere habe, in gewisser Weise übereinstimmt mit der Er-
innerungsvorstellung, die ich von Hunden im allgemeinen habe, also mit
einer der Vorstellungen, die in meinem Geiste auftauchen, wenn ich die
Worte Spitz, Bulldogge, Neufundländer od. dgl. vernehme. Psychologisch
mag sich der Vorgang so abspielen, daß bei Gelegenheit der Wahrneh-
mung die zum Vergleich dienende Erinnerungsvorstellung durch Assoziation
hervorgerufen wird, es mögen hier Verschmelzungen stattfinden, es mag
eine besondere ,,Bekanntheitsqualität" auftreten — mit allem diesem
haben wir es nicht zu tun. Aber hinter diesen psychologischen Fragen
liegt doch eine erkenntnistheoretische verborgen, deren Verfolgung uns
sogleich ein gutes Stück auf unserm Wege weiter bringen wird.
Bei der Vergleichung der Vorstellungen, wie sie zum Erkennen er-
fordert wird, erhebt sich nämlich eine große Schwierigkeit. Zur Auf-
findung und Feststellung der Gleichheit ist doch, so scheint es, erforder-
lich, daß die Vorstellungen absolut scharf umrissene und bestimmte Ge-
bilde seien. Denn wenn sie etwa verschwommen und undeutlich sind,
i^ Das Wesen der Erkenntnis.
wie soll es da möglich sein, Gleichheit mit Sicherheit festzustellen? was
könnte uns Gewißheit verschaffen, daß kleinere Verschiedenheiten oder
selbst beträchtliche Abweichungen nicht übersehen sind? Nun sind aber,
wie wir alle aus der Erfahrung wissen, sämtliche Erinnerungsvorstellungen
in der Tat außerordentlich flüchtige und unscharfe, nebelgleich zerfließende
Gebilde. Wenn ich etwa ein oft gesehenes Objekt, z. B. ein jenseits der
Straße stehendes Haus, mir im Geiste vergegenwärtige, so glaube ich
vielleicht, das mit großer Präzision tun zu können, aber sowie ich mich
nach irgendwelchen Einzelheiten frage, nach der Zahl der Fenster, nach
der Form des Daches od. dgl., so bin ich nicht imstande, über solche
Details meiner Erinnerungsvorstellung genaue Angaben mit Sicherheit zu
machen. Keine Bilder stehen wohl deutlicher vor unserm geistigen Auge
als die Gesichter der nächsten Angehörigen, die wir täglich anschauen,
und doch stellt sich bei näherer Betrachtung heraus, daß auch dergleichen
Vorstellungen überaus geringe Klarheit und Bestimmtheit besitzen. Jede
Person bietet ja total verschiedene Gesichtsbilder dar, je nach der Seite,
von welcher man sie betrachtet, je nach der Haltung, die sie gerade ein-
nimmt, je nach der Stimmung, in der sie sich befindet, je nach der Klei-
dung, die sie trägt. Von diesen unendlich vielen Ansichten der Person
sind nun in der Erinnerungsvorstellung immer nur ganz wenige Besonder-
heiten herausgehoben, und auch diese nur undeutlich. Man kann sich
davon leicht überzeugen, wenn man eine Versuchsperson nach der Farbe
der Augen, nach der Nasenform oder der Lage des Scheitels usw. ihrer
nächsten Angehörigen oder Freunde befragt.
Also unsere Vorstellungen sind unzweifelhaft ganz verschwommene
und unscharfe Gebilde. Ein Erkennen, das auf dem Vergleichen und der
Konstatierung der Gleichheit derartiger Gebilde beruht, müßte doch, so
sollte man meinen, ein höchst unsicherer und fragwürdiger Prozeß sein.
Dabei sind die Vorstellungen des Gesichtssinnes — nur solche hatten
wir eben als Beispiele herangezogen — im allgemeinen noch die alier-
deutlichsten.
Dennoch lehrt die Erfahrung, daß das Wiedererkennen und Erkennen
im täglichen Leben mit einer Genauigkeit und Sicherheit stattfindet, die
für gewöhnliche Bedürfnisse unter allen Umständen ausreicht. Diese Tat-
sache mag psychologisch vor allem darauf beruhen, daß wahrscheinlich
die ins Bewußtsein tretende Wahrnehmungsvorstellung eines Gegenstandes
die Erinnerungsvorstellung desselben Gegenstandes mit viel größerer
Schärfe ins Gedächtnis ruft, als ohne solchen äußeren Anlaß möglich ist,
und dann mit ihr verschmilzt — doch diese Frage ist, wie bemerkt,
nur von psychologischem Interesse. Von erkenntnistheoretischer Bedeu-
tung ist aber die Tatsache, daß ein Erkennen im alltäglichen Leben
auf diese Weise zustande kommt und praktisch ausreichende Sicherheit
besitzt. In der Tat wird es jeder für ausgeschlossen halten, daß ich
etwa einen fremden Hund infolge einer Täuschung, eines fälschlichen
Wiedererkcnnens für meinen eigenen ansehen könnte, oder daß ich bei
Das Erkennen durch Vorstellungen. 15
hinreichend naher Betrachtung meinen eigenen Vater nicht erkennen
würde, vorausgesetzt natürHch, daß der Hund oder der der Vater in-
zwischen nicht — etwa durch den Einfluß des Alters — solche Verände-
rungen durchgemacht haben, daß wirklich die Wahrnehmungsvorstellung
von der Erinnerungsvorstellung gänzlich verschieden ist; aber in diesem
Falle wäre ja auch das zu erkennende Objekt in Wahrheit gar nicht das-
selbe geblieben, sondern ein anderes geworden.
Theoretisch freilich — und daran müssen wir gerade vom philosophi-
schen Standpunkt aus festhalten — bleibt immer die Möglichkeit, daß
entweder mein Gedächtnis nicht zuverlässig war und die Erinnerungs-
vorstellungen ganz und gar entstellt hat (bei Geisteskranken kommt ja
dergleichen wirklich vor), oder auch, daß ein erinnertes und ein wahr-
genommenes Objekt sich so sehr gleichen, daß die scheinbare Erkenntnis
in Wirklichkeit ein Irrtum war. Prinzipiell wäre es ja doch möglich, daß
etwa ein fremder Hund dem meinigen ,,aufs Haar" gliche und durch die
genaueste Betrachtung nicht von ihm unterschieden werden könnte.
Während es sich aber hier nur um theoretische Möglichkeiten handelt,
die für das Leben ohne Bedeutung sind (die Komödie der Irrungen konnte
sich nur im Geiste Shakespeares, nicht in Wirklichkeit abspielen), steht
es schon ganz anders in solchen Fällen, wo bei dem Prozeß des Erkennens
nicht individuelle Vorstellungen ins Spiel kommen, wie in den betrachteten
Beispielen, sondern sogenannte ,, Allgemeinvorstellungen". Mit diesem Worte
bezeichnet man Vorstellungen, die in unserem Denken nicht einen ein-
zelnen, individuellen Gegenstand vertreten, sondern gleich eine ganze
Klasse von Objekten. Also z. B. die Vorstellung, die dem Worte ,,Hund"
entspricht. Was für ein Gesichtsbild z. B. steigt in meinem Geiste auf,
wenn ich dieses Wort höre, wenn ich also an Hunde ganz im allgemeinen
denke.? Da finden ziemlich bunte psychische Prozesse statt. Meistens
wird es so sein, daß ein undeutliches Bild eines zu einer bestimmten Rasse
gehörigen Hundes, also etwa eines Bernardiners, sich in meinem Bewußt-
sein bildet, und daß dabei zugleich der Nebengedanke auftritt, daß nicht
nur dieser, sondern zugleich auch alle übrigen Arten von Hunden in Be-
tracht gezogen werden sollen; und dieser Nebengedanke wiederum wird
sich vielleicht so in meinem Bewußtsein bemerkbar machen, daß zugleich,
leise angedeutet, auch die Gesichtsvorstellungen von anderen Hundearten,
Doggen, Terrier usw. verschwommen und für einen kurzen Augenblick
auftauchen. Soviel steht jedenfalls fest: ganz unmöglich kann ich mir
eine anschauliche Vorstellung bilden von einem Hunde, der weder ein
Bernardiner, noch ein Neufundländer, noch ein Dackel, noch sonst irgend
ein bestimmter Hund ist, der weder braun noch weiß, weder groß noch
klein, kurz, ein Tier, das weiter nichts wäre als eben ein Hund im all-
gemeinen. Es ist unmöglich, sich ein Dreieck im allgemeinen vorzustellen,
ein Dreieck also, das weder rechtwinklig noch spitzwinklig, weder gleich-
schenklig noch ungleichseitig ist, ein Dreieck, dem die allgemeinen Eigen-
schaften, die jedes Dreieck hat, sämtlich zukommen, und nur diese,
i6 Das Wesen der Erkenntnis.
nicht aber irgendwelche speziellen Eigenschaften. Sowie man sich ein
Dreieck vorstellt, ist es schon ein spezielles, denn seine Seiten und Winkel
müssen in der Vorstellung doch irgendeine Größe haben.
Es gibt also überhaupt keine Allgemeinvorstellungen, solange man
nicht die Bedeutung des Wortes Vorstellung verschiebt, solange man
darunter eben jene Gebilde versteht, die uns in der Sinneswahrnehmung
oder der Erinnerung anschaulich gegeben werden. Dieser Satz ist zuerst
mit aller Schärfe von Berkeley ausgeprochen und seitdem zu einem
bleibenden Besitz der Philosophie geworden.
Wenn wir in. unserem Denken mit Allgemeinbegriffen wie ,, Mensch"
oder , .Metall" oder ,, Pflanze" operieren, so geschieht das, wie schon oben
angedeutet, meist in der Weise, daß ein schwaches individuelles Bild
eines Exemplars der gemeinten Gattung vor unser geistiges Auge tritt,
und daß damit zugleich das Bewußtsein sich verknüpft, diese Individual-
vorstellung solle nur als Repräsentant der ganzen Gattung gelten. So
der psychologische Tatbestand.
Aus ihm ergeben sich, wie man ohne weiteres sieht, beträchtliche er-
kenntnistheoretische Schwierigkeiten. Wenn schon bei den Individual-
vorstellungen die Identifikation und damit das Wiedererkennen wegen
der Undeutlichkeit aller Vorstellungen theoretisch niemals als vollkommen
sicher gelten konnte — wie steht es da erst mit Erkenntnissen, durch
die ein Individuum als zu einer bestimmten Klasse gehörig bestimmt
wird.-* Dazu wäre ja, wie wir sahen, erfordert, daß die Wahrnehmungs-
vorstellung, durch die das Individuum uns gegeben ist, verglichen wird
mit der Vorstellung der ganzen Klasse und beide dann identisch ge-
funden würden. Nun kann ich aber von einer ganzen Gattung überhaupt
keine Vorstellung haben, sondern sie kann höchstens durch eine indivi-
duelle Erinnerungsvorstellung repräsentiert werden — wie ist da
noch ein Vergleichen und Gleichfinden möglich.''
Die Erfahrung lehrt auch hier, daß es tatsächlich möglich ist und
zwar mit einem Grade der Sicherheit, der für die Fälle des täglichen Lebens
fast immer ausreicht, aber doch auch schon hier manchmal zu Irrtümern
führt. Im allgemeinen werde ich einen Hund ganz richtig als Hund er-
kennen, indem das Wahrnehmungsbild in genügendem Grade überein-
stimmt mit irgendwelchen Vorstellungen von Tieren, die ich irgend einmal
gesehen habe und als Hunde bezeichnen lernte. Es werden jedoch auch
zweifelhafte Fälle vorkommen können. Manche Hunde z. B. sehen Wölfen
so ähnlich, daß es bei gegebenen äußeren Umständen ganz wohl zu einer
Verwechslung kommen könnte. In anderen Fällen wird die sichere Identi-
fikation dem ungeübten Beobachter völlig unmöglich sein, so, wenn er
von gewissen Lebewesen sagen soll, ob sie Pflanzen oder Tiere seien.
Diese Betrachtungen zeigen einerseits, daß für die Erkenntnisprozesse
des täglichen Lebens (und auch großer Teile der Wissenschaft) die Identi-
fikation und das Wiedererkennen bloßer Vorstellungen im allgemeinen
völlig genügt; andererseits aber geht aus ihnen unwiderleglich hervor, daß
Das Erkennen durch Begriffe. 17
ein wissenschaftlich absolut brauchbarer, d. h. strenger, exakter Begriff
des Erkennens sich auf diese Weise überhaupt nicht begründen läßt.
Die Art der Erkenntnis, die für die Bedürfnisse des vorwissenschaftlichen
Denkens und des praktischen Lebens ausreicht, kann keine legitime Ver-
wendung finden für die Wissenschaft, welche überall möglichste Strenge
und höchste Gewißheit fordert.
Wie verfährt nun aber die Wissenschaft, um zu einer Art von Er-
kenntnis zu gelangen, die ihren Anforderungen an Strenge und Sicherheit
entspricht .i*
Sie versucht, an die Stelle der Vorstellungen, die ihrer Natur nach
stets verschwommen und exakter Identifikation nicht fähig sind, etwas
anderes, scharf Bestimmtes zu setzen, das fest umgrenzt ist und stets mit
absoluter Sicherheit identifiziert werden kann. Dies andere, das an die
Stelle der Vorstellungen treten soll, sind die Begriffe.
5. Das Erkennen durch Begriffe.
Was ist ein Begriff.? Ein Begriff soll sich von einer anschaulichen
Vorstellung jedenfalls dadurch unterscheiden, daß er vollkommen be-
stimmt ist und nichts Schwankendes sich an ihm findet. Man könnte
daher versucht sein, einfach zu sagen — und in der Tat sagen viele Logiker
so — : ein Begriff ist eine Vorstellung mit fest bestimmtem Inhalt. Es
gibt aber, wie wir sahen, derartige Gebilde in der psychologischen Wirk-
lichkeit überhaupt nicht, weil eben alle Vorstellungen in irgendeinem
Grade unscharf sind. Man könnte sie sich zwar wenigstens als mög-
lich denken, aber nur so lange, als es sich um individuelle
handelt; bei Allgemeinvorstellungen (und ihrer bedürfte man ja gerade
zum Erkennen) geht auch das nicht an, denn sie sind als reale psychische
Wesenheiten überhaupt unmöglich, wie wir uns soeben klar machten.
Begriffe sind also nicht Vorstellungen, sind nicht reale psychische
Gebilde irgendwelcher Art; es sind Fiktionen, welche wir uns an Stelle
der Vorstellungen mit fest bestimmtem Inhalt denken. Wir schalten mit
Begriffen so, als ob es Vorstellungen mit völlig genau umrissenen Eigen-
schaften wären, die sich stets mit absoluter Sicherheit wiedererkennen
lassen. Diese Eigenschaften heißen die Merkmale des Begriffes, und
sie werden durch besondere Bestimmungen festgelegt, die dann in ihrer
Gesamtheit die Definition des Begriffes ausmachen.
Durch die Definition sucht man also das zu erreichen, was man in
der Wirklichkeit der Vorstellungen niemals vorfindet, aber zum wissen-
schaftlichen Erkennen notwendig gebraucht, nämlich absolute Konstanz
und Bestimmtheit. Nicht mehr mit verschwommenen Vorstellungen wird
der zu erkennende Gegenstand verglichen, sondern es wird untersucht,
ob ihm gewisse, durch Definition fixierte Eigenschaften zukommen, und
dadurch wird es möglich, ihn zu erkennen, d. h. mit dem rechten Namen
zu bezeichnen. Denn die Definition gibt eben den gemeinsamen Namen
Schlick, ErkeantQislehre. 2
Das Wesen der Erkenntnis.
an, mit dem alle Objekte genannt werden sollen, welche die in der Defini-
tion aufgeführten Merkmale besitzen. Oder, in der herkömmlichen Sprache
der Logik ausgedrückt: jede Definition ist eine Nominaldefinition.
Der Begriff spielt also die Rolle eines Zeichens für alle die-
jenigen Gegenstände, unter deren Eigenschaften sich sämtliche Merkmale
des Begriffs finden.
Es braucht wohl kaum besonders hervorgehoben zu werden, daß die
Worte ,, Gegenstand" und ,, Eigenschaft" hier im allerweitesten Sinne zu
verstehen sind. Gegenstand kann schlechthin alles sein, an das man nur
denken und das man nur bezeichnen kann, also nicht bloß ,, Dinge",
sondern ebensowohl etwa Vorgänge, Beziehungen, beliebige Fiktionen,
also auch Begriffe usw., und ganz Analoges gilt von dem Ausdruck ,, Eigen-
schaft": er soll alles bedeuten, was einen Gegenstand irgendwie charak-
terisiert und zu seiner Bestimmung dienen kann, mag es nun etwas Greif-
bares, eine Relation, etwas Eingebildetes oder sonst etwas sein.
Der Begriff seinerseits muß nun, da er etwas Unwirkliches, eine
bloße Fiktion ist ^), in allen Denkakten durch irgendetwas psychisch Reales
vertreten, bezeichnet werden, denn das aktuelle Denken ist ja ein realer
psychischer Vorgang. Als solch ein Zeichen dient uns, wie bereits hervor-
gehoben, beim wortlosen Denken häufig eine anschauliche Vorstellung,
in der wenigstens einige Merkmale des Begriffs annähernd realisiert sind;
beim Sprechen wird der Begriff durch Worte, durch Namen bezeichnet,
und diese wiederum können zum Zwecke der Mitteilung und Fixierung
durch Schriftzeichen repräsentiert werden. Die Worte der Sprache werden
oft nicht als Zeichen für Begriffe, sondern auch zur Bezeichnung anschau-
licherVorstellungen verwendet, besonders im vorwissenschaftlichenSprechen.
In der wissenschaftlichen Sprache aber sollten alle Worte soviel als mög-
lich echte Begriffe bezeichnen, so daß einige Logiker in der Gegenwart
den Begriff sogar umgekehrt als ,, Wortbedeutung" definieren wollen.
Daß ein Begriff im aktuellen Denken durch anschauliche Vorstel-
lungen vertreten wird, schadet trotz der Unscharfe aller derartigen Gebilde
nichts, so lange man sich nur bewußt bleibt, daß es sich eben um eine
Vertretung handelt und sich davor hütet, alle Eigenschaften der Vor-
stellung für Merkmale des Begriffs zu halten. Man kann das in anschau-
lichen Vorstellungen verlaufende Denken ein bildliches nennen, und in
diesem Sinne ist dann wohl all unser Denken in mehr oder weniger hohem
Grade bildlich. Dies braucht aber die Richtigkeit der Ergebnisse unserer
Gedanken nicht zu hindern, wenn wir nur dessen eingedenk bleiben, daß
die anschaulichen Bilder bloß Vertreterrollen spielen, und wenn wir stets
genau wissen, was sie vertreten. In Wirklichkeit ist das aber nicht
immer leicht, und so ist tatsächlich die Stellvertretung der Begriffe durch
Vorstellungen wohl die ergiebigste Quelle von Irrtümern im Denken
*) Besonders scharf wird dies betont in der Fiktionenlehre, die Vaihinger unter
«lern Titel einer ,, Philosophie des Als Ob" entwickelt hat.
Das Erkennen durch Begriffe. 19
aller Philosophen gewesen. Der Gedanke fliegt vorwärts, ohne die Trag-
fähigkeit seiner Flügel zu prüfen, ohne nachzusehen, ob die Vorstellungen,
die ihn tragen, ihre begriffliche Funktion auch richtig erfüllen. Das muß
aber durch stetes Zurückgehen auf die Definitionen festgestellt werden.
Nicht selten fehlen sogar brauchbare Definitionen ganz, und der Philosoph
wagt den Flug mit Vorstellungen, die durch kein festes begriffliches Ge-
rüst gehalten werden. Verirrung und frühzeitiger Sturz sind die Folge.
Es soll hier nicht unerwähnt bleiben, daß man gegenwärtig immer
nachdrücklicher betont und auch durch experimentelle Untersuchungen zu
erhärten sucht, daß keineswegs alles Denken nur anschaulicher, bildlicher
Natur sei. Das ist zweifellos richtig; man darf aber natürlich nicht etwa
glauben, daß dieses unanschauliche Denken ein Denken in reinen Begriffen
wäre, ein Denken, in v/elchem sich Begriffe realiter aufweisen ließen, wie Vor-
stellungen im anschaulichen Denken. Jene unanschaulichen Gedanken
bestehen vielmehr in gewissen realen, von der Psychologie näher zu unter-
suchenden Bewußtseinsvorgängen (vorzugsweise ,,Akte" genannt), und als
solche tragen sie den Charakter des Unscharfen und Flüchtigen, während
Begriffe das schlechthin Bestimmte und Scharfe sein sollen. Die ,,Akte"
können immer nur, wie die Vorstellungen im bildhchen Denken, Repräsen-
tanten von Begriffen sein, nicht aber diese selbst. Welche psychischen
Zustände oder Prozesse beim wirklichen Denken die Begriffe vertreten,
ob anschauliche Vorstellungen oder etwas anderes, das ist eine rein psycho-
logische Frage, die uns hier nicht interessiert. Daß die einen Begriff
repräsentierenden Bilder nicht seine ,, Bedeutung" ausmachen, wie man
hervorgehoben hat ^), ist natürlich richtig; der Begriff ist ja nicht der
Repräsentant jener Bilder, sondern umgekehrt: er wird durch sie ver-
treten.
So sind also Begriffe nichts Wirkliches. Sie sind weder reale Gebilde
imBewußtsein des Denkenden, noch gar (wie es die Meinung des ,,ReaHsmus"
im Mittelalter war) irgendetwas Wirkliches an den realen Objekten, die
durch sie bezeichnet werden. Es gibt streng genommen überhaupt keine
Begriffe, wohl aber gibt es eine begriffliche Funktion, und diese
kann je nach den Umständen durch Vorstellungen oder sonstige psychische
Akte, oder auch durch Namen oder Schriftzeichen ausgeübt werden.
Im Bewußtsein des Denkenden vollzieht sich das Denken eines Begriffes
durch ein besonderes Erlebnis, das zu derjenigen Klasse von Bewußt-
seinsinhalten gehört, die man in der neueren Psychologie vorwiegend
als ,,intentionale" bezeichnet. Darunter sind solche Erlebnisse zu ver-
stehen, die nicht bloß einfach im Bewußtsein da sind, sondern zugleich
einen Bezug auf irgendetwas außerhalb ihrer selbst einschließen. (Vgl.
auch unten S. 119 f.) Wenn ich mich z. B. eines gestern gehörten Liedes
entsinne, so ist nicht nur die Vorstellung von Tönen in meinem Bewußt-
sein, sondern ich weiß auch, daß es die Vorstellung gestern vernommener
*) E. HussERL, Logische Untersuchungen II, S, 61 ff.
Das Wesen der Erkenntnis.
Töne ist, und dieses Wissen, dieses Meinen der Töne, dieses GerichteN
sein, diese „Intention" auf den Gegenstand der Vorstellung, ist etwas
von dieser letzteren ganz Verschiedenes, eben ein seelischer Akt, eine
psychische Funktion. Sie ist nicht nur etwas anderes als eine anschauUche
Vorstellung, sondern nach C. Stumpf nicht einmal notwendig an solche
gebunden ^). Die Einsicht in die grundlegende Bedeutung dieser Funk-
tionen für das Verständnis des geistigen Lebens ist eine wichtige Er-
rungenschaft der modernen Forschung, die besonders dem eben erwähnten
Psychologen zu danken ist, welcher in der Untersuchung der Funktionen
geradezu d i e Aufgabe der Psychologie erblickt. Auch die Schule 0. Külpe's
und E. HussERL haben große Verdienste um die Würdigung der ,,Akte",
Zu diesen Funktionen gehört nun auch das Denken eines Begriffes, das
Gerichtetsein auf ihn. Die begriffliche Funktion ist also etwas Wirk-
liches, nicht aber der Begriff selber.
Doch diese Bemerkungen nur nebenbei zur psychologischen Klärung.
Die erkenntnistheoretische Bea^utung der begrifflichen Funktion besteht
eben im Bezeichnen. Bezeichnen aber bedeutet hier weiter nichts
als Zuordnen. Wenn man von irgendwelchen Gegenständen sagt:
sie fallen unter den und den Begriff, so heißt das nur: man hat ihnen
diesen Begriff zugeordnet^).
Hierauf sei besonders hingewiesen gegenüber neueren Bemühungen,
die Vieldeutigkeit der Termini Zeichen und Bezeichnen logisch und er-
kenntnistheoretisch auszuwerten. Es ist in der Tat zu unterscheiden
zwischen Bezeichnung als bloßer ,, Anzeige", und Ausdruck, Stellvertretung,
Bedeutung, Sinn, und vielleicht noch manchem anderen, und es mögen
all diesen verschiedenen Bedeutungen verschiedene ,,Akte'', verschiedene
Bewußtseinsweisen entsprechen^): gemeinsam ist aber allen diesen Fällen
doch dies, daß es sich um eine Zuordnung handelt, und nur das ist
für die Erkenntnislehre wesentlich. Jene Unterschiede sind, was man
auch sagen möge, zunächst nur psychologischer Natur; ihre erkenntnis-
theoretischc Irrelevanz wird dadurch bewiesen, daß allein das Moment
der Zuordnung, das von jenen Unterschieden gar nicht berührt wird, für
die Lösung der Frage nach dem Wesen des Erkennens in Betracht kommt,
wie sich bald zeigen wird. Es ist ein großer Irrtum, wenn man glaubt,
es sei zur Lösung aller erkenntnistheoretischen Probleme erstes Erfordernis,
alle verschiedenen Bewußtseinsweisen und ,,Akte" voneinander zu unter-
scheiden. Wäre das nötig, so könnten wir keine derartige Frage beant-
worten, denn die Zahl der Bewußtseinsweisen ist schlechthin unendlich
und unerschöpflich, ist doch streng genommen kein einziges Erlebnis
*) C. Stumpf, Erscheinungen und psychische Funktionen. Abhandl. d. Berl.
Akad. d. Wissensch. von 1906.
*) Dieselbe Ansicht über das Wesen des Begriffes vertritt K(jlpe in seinem Buche
„Die Realisierung" (Bd. I, S. 226): ,, Begriffe sind für die objektive Wissenschaft
,, fixierte Zuordnungen zwischen Zeichen und bezeichneten Gegenständen".
^) HussERL, a. a. 0. S. 23 — 61.
Das Erkennen durch Begriffe.
irgendeinem andern genau gleich. Die gegenwärtig so viel gepriesene und
geübte Methode der ,, phänomenologischen Analyse", welche eben jene
Unterscheidungen zur Aufgabe hat, führt deshalb um so mehr ins Ufer-
lose, je strenger sie durchgeführt wird, ohne doch wirkliche Erkenntnisse
zu vermitteln. Sie bereitet solche nur vor. Denn sie führt nirgends
das eine auf das andere zurück, sondern sucht im Gegenteil alles mög-
lichst voneinander zu trennen, auseinander zu halten.
Doch sei dies nur nebenbei bemerkt. Wir kehren zu unseren Er-
örterungen über das Wesen des Begriffs zurück.
Man hat sich oft dagegen gesträubt, den Begriffen jede Existenz
abzusprechen, wie wir das oben taten, indem uns das Reden vom Begriff
gleichsam nur als abkürzende Sprechweise galt, weil es nur begriffliche
Funktionen wirklich gibt. Aber es bestehen doch ganze Wissen-
schaften, die nichts als Begriffe und deren Verhältnisse zum Gegenstande
haben, wie Mathematik und reine Logik, und es scheint daher, als könne
man das Sein der Begriffe nicht leugnen, ohne zu so absurden Behaup-
tungen zu kommen wie einst Oken, der so hübsch sagte: ,,Die Mathematik
ist auf das Nichts begründet, und entspringt mithin aus dem Nichts".
Deshalb zieht man es meist vor, zu sagen: es gibt Begriffe, ihnen kommt
ebensowohl ein Sein zu, wie etwa sinnlichen Objekten, aber nicht ein
reales, wie diesen, sondern ein ideales Sein. Die Begriffe des Drei-
eckes, der Zahl Fünf, des Syllogismus usw. haben gewiß, so schließt man,
nirgendwo reale Existenz; da man aber doch vielerlei gültige Aussagen
von ihnen machen kann, so sind sie auch nicht nichts, man muß ihnen
also eine Art von Sein zuschreiben, das man eben als ideales bezeichnet
zum Unterschiede vom wirklichen Sein.
Gegen diese Ausdrucksweise läßt sich ohne Zweifel gar nichts ein-
wenden, solange sie nur eine rein terminologische Bedeutung behält. Aber
gar zu leicht führt diese Rede von den idealen Gegenständen zu un-
klaren und irrigen Anschauungen, die in die Richtung der platonischen
Metaphysik weisen, an die sie sich in der sprachlichen Formulierung an-
lehnen. Man gelangt unvermerkt dazu, der Welt des Wirklichen eine
von ihr unabhängige Welt des idealen Seins gegenüberzustellen,
das Reich der Ideen, das Reich der Werte und Wahrheiten, des Geltenden,
eben die unzeitliche Welt der Begriffe. Sie erscheint als eine starre, an
sich selber existierende Welt, in der Begriffe und Wahrheiten unveränder-
lich thronen, und die auch da sein würde, wenn es gar kein Reich des
realen Seins gäbe; denn, so sagt man, es wäre z. B. 2 mal 2 auch dann
gleich 4, wenn überhaupt nichts Wirkliches existierte. Und dann erhebt
sich die Frage nach dem Verhältnis der beiden Reiche zueinander, nach
den Beziehungen des Idealen zum Realen, mit zahlreichen Scheinproblemen,
welche die philosophische Spekulation belasten. Man stellt sich vor, daß
die idealen Gegenstände durch reale Prozesse irgendwie erfaßt oder er-
griffen würden, Begriffe durch Vorstellungen, Wahrheiten durch Urteils-
akte usw., und man hat für den Akt des Erfassens den besonderen Namen
Das Wesen der Erkenntnis.
Ideation erfunden. So wird das aufzuklärende Verhältnis in Wahrheit
immer unklarer, zumal man den letzten Schritt zur völligen Hypostasie-
rung der Begriffe und den Übergang zur echten platonischen Ideenlehre
nicht gern vollziehen möchte. (Vgl. unten II, § 17.)
Allen diesen Wirrnissen entgeht man, wenn man sich von vornherein
klar macht, daß das ideale ,,Sein", von dem hier die Rede ist, mit dem
Sein der Wirklichkeit in keiner Weise verglichen oder ihm gegenüber-
gestellt werden kann; es ist ihm nicht verwandt, vermag zu ihm in "kein
irgenwie geartetes reales Verhältnis zu treten. Es hat vor allem keinen
Sinn, dem Reiche der Ideen Unabhängigkeit von der Welt des Wirk-
lichen zuzuschreiben, als hätten Wahrheiten und Begriffe irgendwelchen
Bestand unabhängig von allen urteilenden und begreifenden Wesen. Ihre
Natur besteht ja darin, Zeichen zu sein, sie setzen also unter allen Um-
ständen jemand voraus, der zu bezeichnen wünscht, Zuordnungen voll-
ziehen will. Nur im. beziehenden Bewußtsein hat die begriffliche Funk-
tion ihren Ort, und es ist daher sinnlos, den Begriffen eine Existenz un-
abhängig von der Existenz bewußter Wesen zuzuschreiben. Ebenso falsch
ist es natürlich, sie für einen Teil oder eine Seite bestimmter Bewußtseins-
vorgänge zu halten, denn damit würde man sie als psychische Realitäten
ansehen, und sie sind eben nichts Reales.
Auch nachdem der mittelalterliche Begriffsrealismus längst über-
wunden ist, werden doch immer noch viele Irrtümer begangen dadurch,
daß man sich das Verhältnis zwischen einem Begriff und den Gegen-
ständen, die unter ihn fallen, nicht als ein bloßes Bezeichnen vorstellt,
sondern anders, vor allem inniger. Ein solches Mißverständnis liegt z. B.
vor, wenn man die Lehre von der Abstraktion so darstellt, als
könne ein Begriff gleichsam aus den Dingen entstehen, nämlich
dadurch, daß man von ihren individuellen Eigenschaften abstrahiere.
Wäre dies der Fall, so müßte man ja umgekehrt aus einem Begriff durch
Hinzufügung ganz bestimmter Merkmale ein wirkliches Ding machen
können. Das ist natürlich Nonsens. Durch das Hinzukommen noch so
vieler besonderer Merkmale kann aus einem Begriff höchstens der Begriff
eines individuellen Dinges werden, niemals aber dieses selbst. Aber in
der mittelalterlichen Scholastik spielte in der Tat die Frage nach dem
sog. principium individuationis eine große Rolle, d. h. die Frage nach
dem Prinzip, durch welches aus einem allgemeinen Begriff ein individueller
Gegenstand würde, und es entstand die sonderbare Lehre von der
,,haecceitas" als demjenigen Merkmal, durch dessen Anfügung das All-
gemeine in eine individuelle Wirklichkeit übergeführt werde.
Ebensowenig wie ein greifbares Ding kann natürlich aus einem Be-
griff durch das Hinzukommen irgendwelcher Merkmale eine Vorstel-
lung werden, denn auch eine Vorstellung ist ja etwas Reales, ein Ge-
bilde von psychischer Wirklichkeit. Wie also reale Dinge oder Vorstel-
lungen nicht aufgebaut werden können aus bloßen Begriffen, also aus
Das Erkennen durch Begriffe. 23
bloßen Fiktionen, so können Begriffe auch nicht aus Dingen und Vor-
stellungen durch Weglassung bestimmter Eigenschaften entstehen.
Man kann im allgemeinen überhaupt nicht eine Eigenschaft von einem
Dinge fortdenken und die übrigen ungeändert bestehen lassen. Ich kann
z. B. nicht den Begriff der mathematischen Kugel bilden, indem ich mir
eine wirkUche Kugel vorstelle und dann von allen ihre physischen Eigen-
schaften, wie Farbe usw. abstrahiere; denn ich kann mir wohl eine Kugel
einer beliebigen Farbe, niemals aber eine Kugel" von gar keiner Farbe
visuell vorstellen. Nicht dadurch also gelangt man zu den Begriffen, daß
man gewisse Merkmale der Dinge oder Vorstellungen fortließe (denn
es ist, wie das Beispiel eben lehrte, unmöglich, sie einfach ohne Ersatz
fortzulassen), sondern dadurch, daß man die Merkmale voneinander unter-
scheidet und einzeln bezeichnet. Die Unterscheidung aber wird, wie
bereits Hume ^) eingesehen hat, dadurch ermöglicht, daß die einzelnen
Merkmale unabhängig voneinander veränderlich sind: so vermag
ich bei der Kugel Gestalt und Farbe als besondere Merkmale voneinander
zu trennen, weil ich mir einerseits behebig gestaltete Körper in der
gleichen Farbe, andererseits beliebig gefärbte Körper in der gleichen Ge=
stalt vorstellen kann.
Diese kurzen Ausführungen mögen genügen, um vorläufig einige Klar-
heit über das Wesen des Begriffs zu schaffen und vor allem vor jeder
wie auch immer gearteten Verdinglichung der Begriffe zu warnen. Sie
sind nichts als Fiktionen, die eine exakte Bezeichnung der Gegenstände
zu Erkenntniszwecken ermöglichen sollen, wie etwa das den Erdball um-
spannende fingierte Gradnetz die eindeutige Bezeichnung eines Ortes seiner
Oberfläche gestattet. Von dem Verhältnis dieser Fiktionen zur Bewußt-
seinswirklichkeit haben wir später noch zu reden (unten, Teil II, § 17).
Anmerkung. Eindringlich und geistvoll sind in der Gegenwart irrige
Theorien der Begriffsbildung und Abstraktion zurückgewiesen worden
durch E. Cassirer ^), und er geht so weit, daß er die überlieferte Lehre
vom Wesen des Begriffs ihrem Kerne nach für hinfällig erklärt und eine
neue Ansicht an ihre Stelle setzen will, die nicht ausgeht von dem Ver-
hältnis Gegenstand-Eigenschaft, sondern vom mathematischen Funktions-
begriff. In Wahrheit treffen aber Cassirer's Einwände nur die unhalt-
bare Anschauung, daß der Begriff als gemeinsamer Bestandteil
einer Reihe gleichartiger oder ähnlicher Einzeldinge oder Einzelvorstel-
lungen aufzufassen sei ^). Davon kann natürlich keine Rede sein. Der
Begriff bezeichnet nur das Gleichartige der Einzelgegenstände. Hält
man sich dies vor Augen, so erkennt man auch, daß die von Cassirer
in seinem Buche beschriebene Aufgabe und Leistung des wissenschaft-
lichen Begriffes gar nicht im Gegensatz steht zu den traditionellen Lehren,
') Hume, Treatise on human nature. Book I. part I. sectiou VII, gegen Ende.
') E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Berlin 1910. I. Kapitel.
*) a. a. O. S. 6 u. 11.
24 Das Wesen der Erkenntnis.
sondern sich durchaus mit ihnen vereinen läßt. Der Funktionsbegriff
widerstreitet nicht dem „Substanzbegriff", sondern ordnet sich, genau
betrachtet, vollkommen in sein Schema ein. In der Tat ist eine mathe-
mathische Funktion unter allen Umständen aufzufassen als ein Gegen-
stand mit bestimmten Eigenschaften (diese Worte im oben erläuterten
weiten Sinne genommen), und daß die Definition sich in die Gestalt einer
mathematischen Formel kleidet, ändert nichts am Wesen der Sache.
Unhaltbar ist vor allem Cassirer's gegen die herkömmhche Logik
gerichtete Behauptung, bei dem Funktionsbegriff sei im Gegensatz zum
Gattungsbegriff die alte Regel nicht mehr richtig, daß dem reicheren
Inhalt der geringere Umfang entspreche; vielmehr erweise sich nun der
allgemeinere Begriff zugleich als der inhaltsreichere i) : ,,wer ihn besitzt,
der vermag aus ihm alle mathematischen Verhältnisse, die an dem be-
sonderen Problem auftreten, abzuleiten . . . ." und Cassirer erläutert
das an dem Verhältnis des Begriffes des Kegelschnittes zu seinen be-
sonderen Formen (Ellipse, Parabel, Hyperbel). Aber die aristo tehsche
Logik muß, und darf es mit vollem Rechte, z. B. den Begriff der EUipse,
der ja gegenüber dem Begriff „Kegelschnitt" der engere ist, als den
inhalts reicheren betrachten, denn er entsteht aus diesem zweifellos
durch Hinzufügung eines weiteren besonderen Merkmals; der Begriffs-
inhalt ,, Kurve zweiter Ordnung" muß durch das neue Merkmal ,,mit
so und so bestimmten Koeffizienten" bereichert werden. Die Regeln der
alten Logik bleiben also in vollem Umfange bestehen. In der gewöhn-
lichen Schreibweise enthält die Gleichung der allgemeinen Kurve zweiter
Ordnung mehr Koeffizienten als etwa die des Kreises,' es wäre aber ein
grobes Mißverständnis, wollte man sie deswegen für inhaltsreicher im,
Sinne der Logik halten. Denn jene Koeffizienten sind keineswegs Merk-
male im logischen Sinne, sondern stehen nur als Vertreter von Zahlen da,
sie geben nur (was Cassirer sonst auch einsieht) die Stellen an, wo be-
stimmende Merkmale einzutreten haben. Daß nun solche Stellenangaben
Platz finden können, ist ja methodisch von höchster Wichtigkeit, niemals
aber läßt sich auf diesen Umstand die Idee eines dem Gattungsbegriff
widerstreitenden Funktionsbegriffs gründen. Im Prinzip ist dergleichen
auch außerhalb der Mathematik genau so gut möglich. Statt ,, Pferd"
kann ich sagen ,, Pferd von beliebigem Geschlecht, beliebiger Größe, be-
liebiger Farbe etc." und habe damit angedeutet, was für Merkmale bei
Spezialisierung des allgemeinen Begriffs hinzukommen können. Gewonnen
' ist aber damit natürlich gar nichts. Auch ohne daß es besonders bezeichnet
wird, ist selbstverständlich, daß Stellen zur Ausfüllung durch Merk-
male da sind; aber bei Begriffen von empirischen Gegenständen ist es
meist völlig zwecklos, sie ausdrücklich anzugeben. Es sind nämlich
stets unendlich viele, und die Naturgesetzlichkeit, welche die einzelnen
Merkmale untereinander verbindet, ist fast nie völlig bekannt; eine Ver-
a. a. 0. S. 25.
Das Erkennen durch Begriffe. 25
Wertung solcher Begriffe in einem streng exakten System von Erkenntnissen
ist somit ohnehin unmöglich. Aber die Mathematik hat es mit einfachsten
Begriffen von selbstgeschaffener Gesetzmäßigkeit zu tun, und da wird
dann die Methode der Stellenbezeichnung möglich und praktisch. Sowie
sie aber zu komplizierten Gebilden mit zahlreicheren oder gar unendlich
vielen Ausfüllungsmöghchkeiten übergeht, gibt auch sie jene Methode
auf und läßt die Möglichkeiten unbezeichnet. Für eine beliebige Kurve
in der Ebene z. B. gibt sie uns nur das Symbol f (x, y) = o. Will Cassirer
auch diesen Begriff für Inhalts reicher erklären als die Gleichung
irgendeiner spezielleren Kurve.!* Man tut gut, sich beim Anblick dieses
Ausdruckes klar zu machen, in welchem Sinne Cassirer's Worte ,,wer
ihn besitzt, der vermag aus ihm alle mathematischen Verhältnisse, die
an dem besonderen Problem auftreten, abzuleiten" wahr sind, und in
welchem nicht.
So finden wir auch hier die zuweilen auftauchende Meinung nicht
bestätigt, als verfüge die Mathematik über ganz besondere, die gemeine
aristotelische Logik überragende Denkmittel. In Wahrheit ruht jene ganz
auf dieser, sie hat keine eigentümliche Logik für sich, sondern nur eine
eigentümhche, ihren besonderen Zwecken vortrefflich angepaßte Zeichen-
sprache. Irgend eine Zauberkraft, irgend ein Sinn, den man nicht letzten
Endes auch in der Wortsprache ausdrücken könnte, wohnt ihr nicht inne.
Bei genauerem Zuschauen bemerkt man — was Cassirer selbst
übersehen zu haben scheint — , daß seine interessanten Untersuchungen
es überhaupt gar nicht zu tun haben mit dem Wesen und der Bildung
des Begriffs im Sinne der alten Logik; sie beziehen sich vielmehr auf die
Rolle, die der Begriff beim Erkennen spielt, und auf die Motive,
die zu seiner Bildung führen. So wird der logische mit dem erkenntnis-,
theoretischen Gesichtspunkt verwechselt. Nun leugnet freilich der logi-
sche Ideahsmus, welchen Cassirer vertritt, den Unterschied dieser
beiden Gesichtspunkte. Aber die Betrachtung der Resultate, zu denen
man auf diesem Wege gelangt, läßt gerade den Irrtum einer solchen An-
schauung recht hervortreten und zeigt, wie sehr man der alten formalen
Logik unrecht tut, wenn man ihr erkenntnistheoretische Lehren unter-
schiebt. Ihre formale Richtigkeit • bleibt nach wie vor unangetastet.
Cassirer will (im Anschluß an ein Beispiel Lotze's) die tradionelle
Logik dadurch ad absurdum führen, daß er erklärt, durch Anwendung
ihrer Vorschriften gelange man z. B. dazu, Kirschen und Fleisch unter
die Merkmalgruppe rötlicher, saftiger, eßbarer Körper unterzuordnen —
dies sei aber kein gültiger logischer Begriff, sondern eine nichtssagende
Wortverbindung, ,,die für die Erfassung der besonderen Fälle nichts be-
deutet und leistet" ^). Nehmen wir einmal an, dies letzte treffe tatsäch-
Hch zu (obwohl nicht einzusehen ist, warum der so gewonnene Begriff
nicht doch einmal nützlich werden könnte, etwa bei einer Untersuchung
•) a. a. 0. S. 8.
26 Das Wesen der Erkenntnis.
über das visuelle Unterscheidungsvermögen von Tieren), ist es deswegen
kein gültiger logischer Begriff? Er h a t einen Sinn, und das allein ent:
scheidet für seine Gültigkeit in der formalen Logik. Die Frage, ob er
für das Erkennen je irgend eine Rolle spielen kann, liegt ganz außerhalb
ihrer Sphäre. Und wenn Cassirer dann fortfährt: ,, Somit zeigt es sich,
daß die allgemeine formale Vorschrift für sich allein nicht genügt, daß
vielmehr überall zu ihrer Ergänzung stillschweigend auf ein anderes ge-
dankliches Kriterium zurückgegriffen wird", so läßt sich daraus auch
nicht der leiseste Einwand gegen die formale Logik herleiten. Denn wo
hätte sie je den Anspruch erhoben, uns Vorschriften darüber zu machen,
was für Begriffe wir bilden sollen.? Sie will uns nur lehren, wie wir sie
bilden können oder müssen, wenn wir ihrer zu irgendeinem Zwecke, aus
irgendeinem Grunde bedürfen. Diese Gründe und Zwecke liefert sie selbst
nicht, und damit auch kein Kriterium, wie wir zu nützlichen Be-
griffen gelangen. Mag die Logik auch im Geiste ihres Schöpfers noch so
eng mit dessen metaphysischen Anschauungen verknüpft gewesen sein:
einmal geschaffen, ist sie gänzlich unabhängig von jeder Metaphysik, un-
abhängig auch von jeder materialen Theorie der Erkenntnis. Die Funk-
tionsbegriffe der Mathematik haben eine eigentümhche erkenntnistheore-
tische Bedeutung, weil sie eben eine besondere Rolle spielen; sie stehen
aber nicht im Widerspruch zu den allgemeinen Gattungsbegriffen, sondern
sind spezielle Fälle davon und unterstehen ihren Gesetzen,
6. Grenzen des Definierens.
Ist nun durch die beschriebenen Schritte das erwünschte Ziel der
absoluten Sicherheit und Genauigkeit des Erkennens erreicht.? Unbestreit-
bar ist viel gewonnen. Durch die definierten Begriffe erhebt sich das
wissenschaftliche Erkennen weit über das alltägliche. Die Erkenntnis
wird immer in praktisch zweifelsfreier Weise möglich, sobald man über
passend definierte Begriffe verfügt. Betrachten wir ein Beispiel.
Wenn man mir ein Stück Metall in die Hand gibt, so werde ich nicht
erkennen können, ob es etwa reines Silber ist oder nicht, solange ich auf
die Wahrnehmungen angewiesen bin, die ich durch bloßes Ansehen oder
Betasten des Stückes gewinne. Denn die Erinnerungsvorstellungen, die
ich vom Silber habe, sind nicht scharf genug, um sich deutlich von den
Vorstellungen ähnlicher Metalle, etwa des Zinns oder gewisser Legierungen,
zu unterscheiden. Ganz anders jedoch, wenn ich den wissenschaftlichen
Begriff des Silbers zu Hilfe nehme. Dann ist es definiert als ein Stoff
vom spezifischem Gewicht 10,5, vom Atomgewicht 108, von bestimmter
elektrischer Leitfähigkeit usw., und ich brauche nur nachzusehen, ob das
mir vorliegende Metall diese Eigenschaften besitzt, um mit aller wünschens-
werten Genauigkeit zu entscheiden, ob ich Silber vor mir habe oder eine
andere Substanz. Von dem Vorhandensein oder Fehlen der geforderten
Merkmale überzeuge ich mich (und es gibt keinen anderen Weg) durch
Grenzen des Definierens.
27
gewisse Versuche — Wägen, chemische Reaktionen u. dgl. — , deren Er-
gebnisse durch Beobachtung festgestellt werden.
Nun bedarf es aber zu jeder sinnlichen Beobachtung (Skalenablesung
usw.) in letzter Linie stets der Wiedererkennung eines Wahrnehmungs-
bildes und diese ist immer, wie wir uns klar gemacht haben, mit einer
prinzipiellen Unsicherheit behaftet. Die Zeigerstellung eines beliebigen
Instrumentes, z. B. läßt sich niemals mit absoluter Genauigkeit angeben,
jede Ablesung enthält einen mehr oder minder großen Fehler.
Wir stehen also vor genau der gleichen Schwierigkeit wie zu Anfang.
Ein Wiedererkennen anschaulicher Gebilde, ein Vergleichen von Wahr-
nehmungs- und Erinnerungsvorstellungen bleibt auch hier erforderlich,
nur daß es nicht Vorstellungen des zu erkennenden Gegenstandes selbst,
sondern seiner Eigenschaften sind. Die Merkmale, in die eine Definition
einen beliebigen Begriff auflöst, müssen in letzter Linie immer an-
schaulicher Natur sein, ihr Vorhandensein an einem gegebenen Gegen-
stande kann immer nur durch die Anschauung festgestellt werden, aus
dem einfachen Grunde, weil alles Gegebene uns schheßhch durch die
Anschauung gegeben ist. Eine Ausnahme bilden nur die unanschaulichen
Bewußtseinserlebnisse oder ,,Akte"; daß aber diese an Unscharfe und Un-
sicherheit den Anschauungen nicht nachstehen, wurde schon oben hervor-
gehoben.
So ist also die Schwierigkeit, zu deren Beseitigung die Begriffe ein-
geführt wurden, in Wirklichkeit nicht fortgeschafft, sondern nur zurück-
geschoben. Dennoch ist dadurch ein großer Nutzen für die Erkenntnis
erreicht. Der Vorteil liegt nämhch darin, daß es nunmehr möglich ist,
durch geeignete Definitionen jene Schwierigkeit an die günstigsten Stellen
zu verlegen, wo dann jeder Irrtum mit einer Sicherheit ausgeschlossen
werden kann, die für alle Zwecke der Einzelwissenschaften ausreicht.
Enthält z. B. der Begriff des Fisches die Merkmale, daß es ein Eier
legendes und durch Kiemen atmendes Tier ist, so kann man niemals in
den Fehler verfallen, einen Wal für einen Fisch zu halten, denn daß der
Wal lebendige Junge zur Welt bringt und Lungen besitzt, das sind Merk-
male, über deren Vorhandensein genaue Beobachtung und Untersuchung
unmöglich täuschen können. Auch die Merkmale des Begriffes ,, Silber"
auf den wir eben exemplifizierten, sind so gewählt, daß für alle prakti-
schen wie wissenschaftlichen Zwecke die Wiedererkennung mit hinreichender
Genauigkeit garantiert werden kann, obgleich sie in letzter Linie nur mit
Hilfe sinnlicher Vorstellungen zustande kommt. Und ähnliches gilt in
allen anderen Fällen.
Mögen jedoch die Anforderungen der Praxis und aller Wissenschaften
auf diese Weise in noch so weitreichendem Maße befriedigt sein: die An-
forderungen der Erkenntnistheorie sind nicht befriedigt. Für sie besteht
jene Schwierigkeit im Prinzip fort, wie weit sie sich auch hinausschieben
lasse. Sie muß vielmehr fragen, ob die Schwierigkeit sich ganz beseitigen
läßt. Nur wenn das der Fall ist, scheint es absolut sichere Erkenntnis
28 Das Wesen der Erkenntnis.
geben zu können. Auf diese Frage also konzentriert sich das Interesse
der Erkenntnislehre.
Leicht genug, so scheint es, läßt sich die Antwort durch eine kurze
Überlegung finden. Die Definition eines Begriffes besteht in der Angabe
seiner Merkmale; diese aber müssen zu ihrer genauen Bestimmung wiederum
definiert, d. h. in weitere Merkmale aufgelöst werden, und so fort. Müßte
und könnte nun die Reihe der Subdefinitionen ohne Aufhören fortgesetzt
werden, so würde durch diesen Regressus in infinitum natürlich alles
Definieren überhaupt illusorisch gemacht. In der Tat kommt man aber
sehr bald auf Merkmale, die sich schlechterdings nicht mehr definieren
lassen; die Bedeutung der diese letzten Merkmale bezeichnenden Worte
kann nur demonstriert werden durch die Anschauung, durch unmittel-
bares Erleben. Was ,,blau" ist oder was ,,Lust" ist, kann man nicht durch
Definition kennen lernen, sondern nur bei Gelegenheit des Anschauens
von etwas Blauem oder des Erlebens von Lust. Damit scheint aber unsere
Frage endgültig, und zwar verneinend beantwortet zu sein: das schließ-
liche Zurückgehen auf das unmittelbar Gegebene, auf Anschauung und
Erlebnis, ist unvermeidhch, und da allem Derartigen prinzipiell stets eine
gewisse Unscharfe anhaftet, so erscheint die Gewinnung absolut
exakter Begriffe überhaupt unmöglich. Müssen wir also nicht dem
Skeptizismus recht geben, der jede unanfechtbar sichere Erkenntnis
leugnet .''
Hier muß eine wichtige Bemerkung eingeschaltet werden. Wenn wir
von der Undeutlichkeit anschaulicher Gebilde reden, so ist das nidht so
zu verstehen, als seien psychische Erlebnisse nicht etwas vollkommen bis
ins kleinste Bestimmtes; als reale Vorgänge sind sie vielmehr in jeder
Hinsicht durchaus bestimmt — jedes Wirkliche ist in eindeutig bestimmter
Weise genau so wie es ist und nichts anderes — ; die Unscharfe, von der
wir hier reden, ist aber doch immer vorhanden. Wohl sind diese Vorgänge
stets völlig bestimmt, aber in jedem Augenblick anders; sie sind flüchtig
und veränderhch, schon die Erinnerung des nächsten Momentes ist nicht
imstande, den vorhergehenden vollkommen genau zu reproduzieren. Zwei
nahezu gleiche Farben, zwei fast gleich hohe Töne können nicht vonein-
ander unterschieden werden; es ist nie mit Sicherheit zu sagen, ob zwei
nahezu parallele Kanten einen Winkel miteinander bilden oder nicht:
kurz — wenn auch Anschauungen als reale Gebilde nicht eigenthch als
an sich unbestimmt bezeichnet werden dürfen, so geben sie doch zu Un-
bestimmtheit und Unsicherheit Anlaß, sowie man Urteile über sie fällen
will, denn dazu ist ein Vergleichen, ein Imgedächtnisbehalten erforderlich,
dem ihre Flüchtigkeit widerstrebt. Abkürzend werden wir diese Tat-
sache auch fernerhin so ausdrücken, daß allem Anschauen oder sonstigem
Erleben die völlige Schärfe und Exaktheit mangelt.
Bis in die neueste Zeit hinein hat sich die Logik im allgemeinen bei
der geschilderten Sachlage beruhigt. Sie hat erklärt, daß jene letzten
Begriffe, bei denen alles Definieren Halt machen muß, einer Definition
Grenzen des Definierens. 29
nicht bloß nicht fähig, sondern auch gar nicht bedürftig wären ;
die Sucht, alles definieren zu wollen, erschien als überflüssige Spitzfindig-
keit, welche den Bau der Wissenschaft stört, statt ihn zu fördern. Der
Inhalt der einfachsten Begriffe wird in der Anschauung aufgezeigt (z. B.
die Hohe des Tones „a" durch Erklingenlassen einer Stimmgabel), und
eine solche Aufzeigung leistet ungefähr das, was Aristoteles als Leistung
der sog. Realdefinition vorschwebte, nämlich die Angabe des ,, Wesens"
des durch den Begriff bezeichneten Gegenstandes. Man hat diese Auf-
zeigung auch wohl als ,, konkrete" oder als ,, psychologische" Definition
bezeichnet, im Gegensatz zur eigentlichen, logischen Definition, von der
jene natürlich toto genere verschieden ist.
Die Erklärung nun, daß für die einfachsten Begriffe eine Definition
entbehrlich sei, kann zweierlei heißen.
Erstens kann es bedeuten, daß die Anschauung doch imstande sei,
gewissen Begriffen einen vollkommen klaren und bestimmten Inhalt zu
geben; in diesem Falle müßte unsere Behauptung von der Unscharfe aller
Anschauung (im oben erläuterten Sinne) widerlegt und berichtigt werden.
Zweitens aber kann es bedeuten, daß wir einer absolut exakten,
prinzipiell vollkommenen Erkenntnis nirgends bedürfen. Damit wäre voraus-
gesetzt, daß dem Menschen auf allen Gebieten nur approximatives oder
wahrscheinliches Erkennen erreichbar sei und daß daher das Verlangen
nach absoluter Sicherheit keinen Sinn habe.
Was zunächst die zweite Alternative angeht, so ist sie in vollem
Umfange nur von ganz wenigen Philosophen vertreten worden. Als histo-
risches Beispiel wäre hier etwa eine Lehre wie die des Sophisten Gorgias zu
nennen; doch auch die radikale empiristische Theorie, wie sie etwa von
John Stuart Mill ausgebildet wurde, mündet, streng folgerecht durch-
geführt, in die gleiche Ansicht. Nach ihr dürfte für keine Erkenntnis
absolute Gewißheit in Anspruch genommen werden, also auch nicht für
die sogenannten reinen Begriffswahrheiten, wie z. B. die Sätze der Arith-
metik, denn auch zur Einsicht in solche Erkenntnisse wie etwa die, daß
3 mal 4 gleich 12 ist, gelangen wir schließlich nur durch reale psychische
Prozesse, die an jener Unscharfe alles Gegebenen teilhaben. Das erkenntnis-
theoretische Problem, zu welchem man beim Durchdenken dieses Stand-
punktes gelangt, werden wir erst später zu behandeln haben; dann wird
sich von selbst ergeben, welche Stellung wir gegenüber der zweiten der
beiden Alternativen einnehmen müssen, die hier zur Erwägung stehen.
Für jetzt wenden wir uns nun der ersten zu.
Wenn es sich darum handelt, die Sicherheit und Strenge von Er-
kenntnissen zu retten, obgleich sie durch flüchtige, unscharfe Erlebnisse
zustande kommen, so kann man das nur auf dem Wege, daß man an-
nimmt, die Erlebnisse seien doch nicht in jeder Hinsicht in irgendeinem
Grade undeutlich, es sei vielmehr an ihnen etwas vollkommen Konstantes,
scharf Bestimmtes, das unter Umständen rein zutage trete. Da aber an
der Flüchtigkeit des jeweils Gegebenen nicht zu zweifeln ist, so kann
30 Das Wesen der Erkenntnis.
jenes Konstante nur das Gesetz sein, welches es beherrscht und ihm
seine Form gibt.
Hier öffnen sich MögHchkeiten, mit denen man hoffen könnte, aus
dem herakHtischen Fkisse der Erlebnisse ein festes Ufer zu gewinnen.
Es scheint freilich, als müsse immer ein prinzipieller Zweifel zurückbleiben:
Gesetzt nämlich, unsere anschaulichen Vorstellungen werden irgendwie
von absolut strengen Regeln beherrscht (und das ist sicherlich der Fall),
so fragt es sich immer noch, was wir denn von ihnen wissen. Besteht
unser Wissen nicht seinerseits in letzter Linie aus flüchtigen Erlebnissen.''
Dann würde sich die Frage von neuem erheben, und so ginge es ohne
Abschluß fort.
Hier ist noch nicht der Ort, zu entscheiden, wie weit dieser Zweifel
recht hat, ob man also wirklich der absoluten Strenge nicht mehr ver-
sichert ist, sobald man auf die anschauliche Bedeutung der Begriffe zurück-
geht. — Wie die Entscheidung auch fallen möge, die Erkenntnistheorie
muß für einen ungünstigen Ausgang gerüstet sein; es ist also von höchster
Wichtigkeit für sie, zu untersuchen, ob man wirklich den Inhalt aller
Begriffe in letzter Linie nur im Anschaulichen finden kann, oder ob nicht
unter Umständen von der Bedeutung eines Begriffes auch ohne Zurück-
führung auf anschauliche Vorstellungen sinnvoll die Rede sein darf. Die
Bestimmtheit solcher Begriffe könnte dann sichergestellt sein, unabhängig
davon, welcher Grad von Schärfe unseren Anschauungen eigentümlich ist,
das ewig Fließende unserer Erlebnisse brauchte uns nicht mehr zu schrecken,
unbekümmert darum könnte es doch ein streng exaktes Denken geben.
In welchem Sinne Derartiges in der Tat behauptet werden darf, soll
im nächsten Paragraphen gezeigt werden.
7. Die implizite Definition.
Obwohl die Logik der soeben aufgeworfenen Frage von Anbeginn
ins Auge sehen konnte, ist der Anstoß zu ihrer endgültigen Erledigung
doch nicht von ihr selber ausgegangen, sondern von der Einzelforschung,
deren Bedürfnissen sich die Logik, hier wie in den meisten Fällen, erst
nachträglich anpaßte. Unter den Einzelwissenschaften konnte natur-
gemäß auch nur diejenige bis zur strengen Formulierung unserer Frage
vordringen, in deren Charakter es liegt, daß jedem ihrer Schritte absolute
Sicherheit gewährleistet werden soll: die Mathematik. Für die übrigen
Wissenschaften, die nicht bloß wegen unzulänglicher Definitionen, sondern
schon aus anderen Gründen solche hohen Ansprüche an Strenge nicht er-
heben konnten, fehlte jeder Anlaß zu einer so prinzipiellen Fragestellung.
Trotzdem ist die Bedeutung der nun zu besprechenden Untersuchungen
keineswegs auf die Mathematik beschränkt, sie gelten vielmehr im Prinzip
für alle wissenschaftlichen Begriffe ganz ebenso wie für die mathemati-
schen; die letzteren legen wir aber zweckmäßig der Betrachtung als Para-
digma zugrunde.
Die implizite Definition. 31
Als die Mathematiker zu der Einsicht gelangt waren, daß die elemen-
tarsten geometrischen Begriffe, wie etwa der des Punktes oder der Ge-
raden, nicht eigentlich definierbar sind, d. h. in noch einfachere Begriffe
auflösbar, beruhigten sie sich zuerst dabei, weil die Bedeutung dieser
Begriffe in der Anschauung mit so großer Deutlichkeit gegeben war, daß
es schien , als könne die Gültigkeit der geometrischen Axiome aus
ihr ohne weiteres mit vollkommener Sicherheit abgelesen werden. Der
neueren Mathematik aber genügte der Hinweis auf die Anschauung nicht.
Sie wandte sich den Prinzipienfragen zu, sie suchte außer nach neuen
geometrischen Sätzen auch nach den Gründen der Gültigkeit aller
geometrischen Wahrheiten. Die mathematische Beweisführung, d. h. die
Ableitung neuer Sätze aus schon bekannten, gewann immer mehr an
Strenge, indem man jede Berufung auf die Anschauung zu vermeiden
strebte; nicht aus ihr, sondern aus ausdrücklich formulierten Sätzen
wollte man alle Schlußfolgerungen rein logisch ableiten. Wendungen, wie
,,Aus Betrachtung der Figur folgt . . ." oder ,,Aus der Zeichnung sieht
man ..." waren fortan verpönt, vor allem aber sollten im geometrischen
Beweise nicht stillschweigend, Eigenschaften benutzt werden,
deren Vorhandensein nur durch die Anschauung der verwendeten Figur
festgestellt war; es galt vielmehr, ihr Bestehen aus den Voraussetzungen
und Axiomen auf logischem Wege abzuleiten, oder, wenn das sich als
unmöghch erwies, als neues Axiom besonders auszusprechen.
Da schien es nun unerträghch, daß die letzten Prinzipien, die allen
Beweisen zugrunde liegenden und deshalb selbst nicht beweisbaren Axiome
der Geometrie, den Grund ihrer Gültigkeit doch wiederum allein der
Anschauung verdanken sollten, derselben Anschauung, die man aus der
Beweisführung auszuschalten trachtete, weil ihre Zuverlässigkeit verdächtig
war, wie besonders die Entwicklung der Ansichten über das Parallelen-
axiom lehrte. Wenn die Bedeutung der mathematischen Grundbegriffe,
also etwa der Sinn der Worte „Punkt", ,, Gerade", ,, Ebene", nur durch
Anschauung aufgewiesen werden kann, so lassen sich auch die von ihnen
geltenden Axiome nur aus der Anschauung ablesen; und die Legitimität
einer solchen Begründung steht eben in Frage.
Um solche Unsicherheit zu vermeiden, beschritten nun die Mathe-
matiker einen Weg, der für die Erkenntnistheorie von höchster Bedeu-
tung ist. Nachdem manche Vorarbeit geleistet war ^), hat David Hilbert
es unternommen ^), die Geometrie auf einem Fundamente aufzubauen,
dessen absolute Sicherheit nirgends durch Berufung auf die Anschauung
gefährdet wird. Ob Hilbert nun im einzelnen diese Aufgabe vollkommen
gelöst hat, oder ob seine Lösung noch vervollständigt und verbessert
werden muß, das interessiert uns hier gar nicht. Hier kommt es allein
auf das Prinzip an, nicht auf die Durchführung und Ausgestaltung.
*) Hier wären besonders die „Vorlesungen über neuere Geometrie" von M. Pasch
zu erwähnen.
'') D. Hilbert, Grundlagen der Geometrie. 4. Aufl. 1913.
32 Das Wesen der Erkenntnis.
Und dies Prinzip ist von überraschender Einfachheit. Die Aufgabe
war: die im gewöhnlichen Sinne undefinierbaren Grundbegriffe auf solche
Weise einzuführen, daß die Gültigkeit der von ihnen handelnden Axiorne
streng verbürgt wird. Und sie wird nach Hilbert einfach so gelöst, daß
man festsetzt: die Grundbegriffe sollen eben dadurch definiert sein,
daß sie den Axiomen genügen.
Das ist die sog. Definition durch Axiome, oder Definition durch
Postulate, oder die implizite Definition.
Es ist nun wichtig, sich ganz klar darüber zu werden, was diese Art
des Definierens bedeutet und leistet und wodurch sie sich von der ge-
wöhnlichen unterscheidet. Alles Definieren in der Wissenschaft überhaupt
hat den Zweck, Begriffe zu schaffen als scharf bestimmte Zeichen, mit
denen sich die Erkenntnisarbeit völlig sicher verrichten läßt. Die Defini-
tion baut den Begriff aus allen den Merkmalen auf, die zu eben dieser
Arbeit gebraucht werden. Die wissenschaftliche Denk arbeit aber —
alsbald werden wir ihr Wesen noch näher zu betrachten haben — besteht
im Schließen, das heißt im Ableiten neuer Urteile aus alten. Von
Urteilen, von Aussagen allein kann das Schließen seinen Anfang nehmen;
zur Verwertung des Begriffs beim Denkgeschäfte wird also von seinen
Eigenschaften keine andere gebraucht als die, daß gewisse Urteile von
ihm gelten (z. B. von den Grundbegriffen der Geometrie die Axiome).
Für die strenge, Schluß an Schluß reihende Wissenschaft ist folglich der
Begriff in der Tat gar nichts weiter als dasjenige, wovon gewisse Urteile
ausgesagt werden können. Dadurch ist er mithin auch zu definieren.
Indem die neuere Mathematik die geometrischen Grundbegriffe wirk-
Hch nur auf diese Art definieren will, schafft sie keineswegs etwas ganz
Neues und Besonderes, sondern sie deckt bloß die Rolle auf, welche jene
Begriffe in der mathematischen Deduktion in Wahrheit spielen und immer
gespielt haben. Für diese Deduktion, d. h. für das Folgen der mathemati-
schen Wahrheiten auseinander, ist also die anschauliche Bedeutung
der Grundbegriffe ganz belanglos; es ist daher für die Gültigkeit und den
Zusammenhang der mathematischen Sätze schlechthin gleichgültig, ob
wir z. B. unter dem Worte ,, Ebene" gerade dasjenige anschauliche Ge-
bilde verstehen, das jedermann beim Hören des Wortes sich vorstellt,
oder irgend ein anderes: nur darauf kommt es an, daß das Wort ein gewisses
Etwas bedeutet, von welchem bestimmte Aussagen (die Axiome) gelten.
Und von den übrigen in diesen Axiomen noch vorkommenden Begriffen
gilt wohlgemerkt genau das gleiche: auch sie sind allein dadurch definiert,
daß sie zu den andern in jenen bestimmten Beziehungen stehen.
So beginnt denn die HiLBERT'sche Geometrie mit einem System von
Sätzen, in denen eine Reihe von Worten auftritt, wie ,, Punkt", ,, Gerade",
,, Ebene", ,, zwischen", ,, außerhalb" usw., und diese sollen zunächst gar
keinen Sinn und Inhalt haben, sie erhalten Sinn erst durch das Axiomen-
system, und nur soviel Inhalt, als dieses ihnen verleihen kann: ihr ganzes
Wesen besteht darin, Träger der durch jenes festgelegten Beziehungen
Die implizite Definition. 33
zu sein. Darin liegt keine Schwierigkeit, weil ja Begriffe überhaupt nichts
Reales sind; das Wesen eines WirkHchen, Anschaulichen könnte freilich
nicht wohl darin erschöpft gedacht werden, daß es zu anderem in gewissen
Relationen steht, sondern die Träger der Relationen müßten wohl auch
als mit irgend einer Eigennatur ausgestattet vorgestellt werden .... von
Begriffen gilt dergleichen keineswegs.
Dennoch fällt es erfahrungsgemäß dem Anfänger schwer, den Ge-
danken von Begriffen zu fassen, die durch ein System von Postulaten
definiert und jedes eigentlichen ,, Inhaltes" bar sind; unwillkürlich meint
man immer, ein Begriff müsse doch einen für sich vorstellbaren Sinn haben;
und noch schwerer ist es, von dem anschaulichen Sinn der zwischen ihnen
bestehenden Beziehungen abzusehen (also z. B. in einem Satze wie: ,,Der
Punkt C liegt zwischen A und B auf der Geraden a" mit den Worten
„zwischen" und ,, liegt" nur den Sinn zu verbinden, daß sie irgendwelche
bestimmte Beziehungen gewisser Gegenstände A, B, C zueinander bedeuten
sollen, nicht aber gerade d i e zu bezeichnen brauchen, die wir gewöhn-
lich mit jenen Worten verbinden). Der dieser Gedanken Ungewohnte
wird daher gut tun, sich in diese überaus wichtigen Ideen mit Hilfe von
Beispielen einzuleben.
Solche Beispiele liefert in reinster Form naturgemäß die Mathematik.
Sie macht häufig davon Gebrauch, daß man die Beziehungen der geometri-
schen Begriffe zueinander für sich betrachten kann, ganz unabhängig von
ihren anschaulichen Bedeutungen. Wenn wir z. B. die Schar der unend-
hch vielen Kugelflächen ins Auge fassen, die durch einen bestimmten
Punkt des Raumes hindurchgehen, diesen Punkt selbst aber aus dem
Raum hinweggenommen denken, so erhalten wir, wie sich leicht nach-
weisen läßt, lauter für dieses Kugelgebüsch gültige Sätze, wenn wir ein-
fach die Sätze der gewöhnlichen Euklidischen Geometrie nehmen und
überall, wo das Wort „Ebene" in diesen Sätzen auftritt, darunter eine
jener Kugelflächen verstehen, unter dem Worte ,, Punkt" wiederum einen
Punkt, unter dem Worte ,, Gerade" aber größte Kreise auf den Kugel-
flächen, in analoger Weise das Wort ,, parallel" umdeuten usw. Es be-
stehen mithin in jenem Gebüsch zwischen den Kugeln, größten Kreisen usw.
ganz genau dieselben Relationen wie zwischen Ebenen, Geraden usw. im
gewöhnhchen Räume (aus welchem kein Punkt ausgeschlossen gedacht
ist); das anschauliche Bild ist aber in beiden Fällen für uns natürlich
ein total anderes. Wir haben also ein Beispiel von Gebilden, die ein anderes
anschauliches Aussehen haben als die Geraden und Ebenen der gewöhn-
lichen Geometrie, aber doch in denselben Beziehungen zueinander stehen,
denselben Axiomen gehorchen. Es ist dem Mathematiker ein Leichtes,
beliebig viele andere Gebilde zu ersinnen, die ganz dasselbe leisten.
Ein anderes Beispiel: Die Sätze der sog. Riemannschen Geometrie
der Ebene sind vollkommen identisch mit denen der Eukhdischen sphäri-
schen Geometrie, wenn unter den Geraden der ersteren größte Kreise
der letzteren verstanden werden usw. Ferner: die Sätze der projektiven
Schlick Erkenntnislehre. a
34 Das Wesen der Erkenntnis.
Geometrie bleiben richtig, wenn man darin die Worte Punkt und Gerade
miteinander vertauscht, und wie verschieden sind die anschaulichen Ge-
bilde, die wir mit jenen Worten gewöhnlich bezeichnen!
Diese Beispiele ließen sich leicht beliebig vermehren. Auch die theore-
tische Physik bietet ihrer genug: es ist ja bekannt, daß wesensverschiedene
Erscheinungen doch denselben formalen Gesetzen gehorchen; eine und
dieselbe Gleichung stellt die eine oder die andere Naturerscheinung dar,
je nachdem man den in ihr auftretenden Größen die eine oder die andere
physikalische Bedeutung gibt. Ein einfachster, jedem geläufiger Fall,
in welchem die Beziehungen der Begriffe zueinander gänzlich losgelöst
erscheinen von ihrem anschaulichen Gehalt, liegt vor in den Formeln,
deren man sich zur Verdeutlichung der Aristotelischen Schlußfiguren zu
bedienen pflegt. Wenn aus den beiden Sätzen ,,M ist P" und ,,S ist M"
gefolgert wird ,,S ist P", so gilt diese Relation vollkommen unabhängig
davon, welche Bedeutung die Symbole S, M und P haben. Auf diese
kommt es überhaupt nicht an, sondern nur darauf, daß die Begriffe in
den durch die Vordersätze angegebenen Beziehungen stehen: S kann
ebensogut etwa einen Menschen wie eine Schiffsschraube oder einen
Logarithmus bezeichnen. Man sieht leicht, daß mit jeder Einführung
mehrdeutiger Symbole ein Anfang zu der Trennung des Inhaltes von der
bloßen logischen Form gemacht ist, die bei konsequenter Verfolgung
schließlich zur Begriffsbestimmung durch implizite Definitionen führt.
Wir sehen also: der streng deduktive Aufbau einer wissenschaftlichen
Theorie, wie er etwa in der Mathematik uns vorliegt, hat mit dem an-
schaulichen Bilde, das wir uns von den Grundbegriffen machen, gar nichts
zu tun. Für ihn kommt allein dasjenige in Betracht, was durch die im-
pliziten Definitionen festgelegt wird, nämlich die in den Axiomen aus-
gesprochenen Beziehungen der Grundbegriffe zueinander. Für die Mathe-
matik als festes Gefüge zusammenhängender Sätze haben die anschau-
lichen Vorstellungen, die wir mit den Namen Ebene, Punkt usw. ver-
knüpfen, nur die Bedeutung von illustrierenden Beispielen, die durch ganz
andere Beispiele ersetzt werden können, wie wir eben an bestimmten
Fällen uns klar machten. Was in den besprochenen Fällen an die Stelle
der gewöhnlichen Bedeutung der Grundbegriffe trat, waren freilich immer
noch räumliche Gebilde, die uns aus der gewöhnlichen Geometrie bekannt
waren; prinzipiell steht aber nichts im Wege, uns darunter auch ganz
andere, unräumliche Gegenstände zu denken, etwa Gefühle oder Töne.
Oder auch ganz unanschauliche Dinge: bedeutet doch z. B. in der analyti-
schen Geometrie das Wort ,, Punkt" streng genommen nichts anderes als
den Inbegriff dreier Zahlen. Denn daß diesen Zahlen die anschau-
liche Bedeutung von räumlichen Koordinaten beigelegt werden kann,
ist für ihre Beziehungen zueinander und für die Rechnung mit ihnen
ganz gleichgültig.
Die Geometrie als fester Bau streng exakter Wahrheiten ist also
nicht eigentlich Wissenschaft vom Räume, sondern die räumlichen Ge-
Die implizite Definition. 35
bilde spielen nur die Rolle von anschaulichen Beispielen, in welchem die
in den geometrischen Sätzen in abstracto aufgestellten Beziehungen ver-
wirklicht sind. Ob nun umgekehrt die Geometrie, sofern sie Wissenschaft
vom Räume sein will, als ein festgefügter Bau von absolut strengen Wahr-
heiten angesehen werden darf — diese Frage aus der Theorie der mathe-
matischen Erkenntnis soll hier nicht entschieden werden, denn wir haben
es vorläufig nur mit den allgemeinen Problemen zu tun. Daß aber die
Bejahung der Frage keineswegs selbstverständlich ist, wie man das sonst
wohl glaubte, geht aus allem Gesagten schon genugsam hervor, denn
gerade der Zweifel an der absoluten Strenge der Aussagen über anschau-
liche räumliche Gebilde war es ja, der dazu führte, die Begriffe nicht mehr
durch Beziehung auf die Anschauung, sondern durch ein System von
Ppstulaten zu definieren.
Die Bedeutung und Leistung dieser impliziten Definition und ihr
Unterschied von der gewöhnlichen Art des Definierens dürften jetzt wohl
klarer geworden sein. Bei letzterer endet der Definitionsprozeß damit,
daß die letzten indefiniblen Begriffe irgendwie in der Anschauung auf-
gezeigt werden (konkrete Definition, vgl. S. 29), man weist also dabei
immer auf etwas Wirkliches, individuell Existierendes hin, man erläutert
etwa den Begriff des Punktes durch Demonstration eines Sandkörnchens,
den der Geraden durch eine gespannte Schnur, den der Gerechtigkeit
durch Hinweis auf bestimmte Gefühle, die der zu Belehrende in der Wirk-
lichkeit seines Bewußtseins vorfindet — kurz, durch die konkrete Defini-
tion wird der Zusammenhang der Begriffe mit der Wirklichkeit hergestellt,
sie zeigt in der anschaulichen oder erlebten Wirklichkeit dasjenige auf,
was nun durch den Begriff bezeichnet werden soll. Die implizite Defini-
tion dagegen steht nirgends in Gemeinschaft oder Verbindung mit der
Wirklichkeit, sie lehnt sie absichthch und prinzipiell ab, sie verharrt im
Reich der Begriffe. Ein mit Hilfe impliziter Definition geschaffenes Ge-
füge von Wahrheiten ruht nirgends auf dem Grunde der Wirklichkeit,
sondern schwebt gleichsam frei, wie das Sonnensystem die Gewähr seiner
Stabilität in sich selber tragend. Keiner der darin auftretenden Begriffe
bezeichnet in der Theorie ein Wirkliches, sondern sie bezeichnen sich
gegenseitig in der Weise, daß die Bedeutung des einen Begriffes in einer
■ bestimmten Konstellation einer Anzahl der übrigen besteht.
So bedeutet also das Aufbauen jeder strengen deduktiven Wissen-
schaft ein bloßes Spiel mit Symbolen. In einer so abstrakten Wissen-
schaft wie z. B. der Zahlentheorie ist es wohl die Lust an diesem Begriffs-
spiele selber, um deren willen der Mensch das Gebäude aufführt; in der
Geometrie dagegen, und noch viel mehr in allen Wirkhchkeitswissenschaften,
ist es vor allem das Interesse an gewissen anschaulichen oder wirklichen
Gegenständen, welches für uns den Anlaß zur Knüpfung des Begriffs-
netzes abgibt. Nicht so sehr an den abstrakten Zusammenhängen selbst
haftet hier das Interesse, als vielmehr an den anschaulichen Beispielen,
die den begrifflichen Beziehungen parallel gehen. Im allgemeinen be-
3*
36 Das Wesen der Erkenntnis.
schäftigen wir uns mit dem Abstrakten nur, um es auf das Anschauliche
anzuwenden. Aber — und dies ist der Punkt, zu dem unsere Betrachtung
hier immer wieder zurückkehrt — im Augenblick der Übertragung der
begrifflichen Relation auf anschauliche Beispiele ist die exakte Strenge
nicht mehr verbürgt. Wenn irgendwelche wii'klichen Gegenstände uns
gegeben sind, wie können wir jemals mit absoluter Sicherheit wissen, daß
sie in genau denjenigen Beziehungen zueinander stehen, die in den Postu-
laten festgelegt sind, durch die wir unsere Begriffe definieren können.?
Kant glaubte, eine unmittelbare Evidenz versichere uns dessen, daß
wir in der Geometrie und der reinen Naturwissenschaft apodiktisch ge-
wisse Urteile über anschauliche und wirkliche Objekte zu fällen vermögen.
Für ihn handelte es sich nur darum, diese Tatsache zu erklären, nicht
darum, ihr Bestehen zu erweisen. Wir aber, die in jenem Glauben schwan-
kend geworden sind, befinden uns in einer ganz anderen Lage. Wir haben
nur das Recht zu sagen: die KANT'sche Erklärung wäre wohl geeignet,
eine vorhandene apodiktische Wirklichkeitserkenntnis verständlich
zu machen; daß sie aber vorhanden ist, dürfen wir — wenigstens an
diesem Punkte der Untersuchung — nicht behaupten, und es ist hier
auch nicht abzusehen, wie der Beweis für ihr Bestehen erbracht werden
sollte.
Eben deshalb ist es von um so größerer Wichtigkeit, daß wir in der
impliziten Definition ein Mittel gefunden haben, welches vollkommene
Bestimmtheit von Begriffen und damit strenge Exaktheit des Denkens
ermöglicht. Allerdings bedurfte es dazu einer radikalen Trennung des
Begriffes von der Anschauung, des Denkens von der Wirklichkeit. Wir
beziehen beide Sphären wohl aufeinander, aber sie scheinen gar nicht
miteinander verbunden, die Brücken zwischen ihnen sind abgebrochen.
Mag dieser Kaufpreis auch sehr hoch erscheinen, er muß vorläufig
gezahlt werden. Wir dürfen ja nicht mit der vorgefaßten Absicht ans
Werk gehen, die Strenge und Gültigkeit unserer Wirklichkeitserkenntnis
unter allen Umständen zu retten, sondern unsere Aufgabe ist allein das
Erkennen der Erkenntnis. Und auf dem Wege dazu sind wir ein beachtens-
wertes Stück vorwärts gekommen durch die Einsicht in die Möglichkeit
einer vollständigen Scheidung beider Reiche. Je deutlicher und ent-
schlossener wir diese Scheidung hier vollziehen, um so klarer werden wir
die Beziehungen überschauen, in die sie im Erkenntnisakt zueinander
treten.
Anhangsweise und zur Vermeidung von Mißverständnissen sei noch
hervorgehoben, daß nicht etwa jede beliebige Gruppe von Postulaten sich
auffassen läßt als implizite Definition einer Reihe von Begriffen, sondern
die definierenden Axiome müssen bestimmten Bedingungen genügen: sie
dürfen keinen Widerspruch enthalten. Wenn die aufgestellten
Postulate nicht miteinander verträglich sind, so gibt es eben keine Be-
griffe, die sie sämtlich erfüllen. Wenn es also gilt, eine deduktive Theorie
auf gewissen Axiomen aufzubauen, so muß deren Widerspruchslosigkeit
Das Wesen des Urteils. 37
ausdrücklich nachgewiesen werden. Dies ist manchmal eine schwierige
Aufgabe, die aber eine interne Angelegenheit der betreffenden Theorie
bildet und die bei diesen prinzipiellen Erörterungen über die implizite
Definition als gelöst vorausgesetzt werden darf.
8. Das Wesen des Urteils.
Die Betrachtungen des vorigen Paragraphen lehren uns, daß man
über das Wesen des Begriffs erst zur vollen Wahrheit gelangen kann,
wenn 9as Wesen des Urteils erforscht ist. Denn indem die implizite
Definition die Begriffe dadurch bestimmt, daß gewisse Axiome — die
doch Urteile sind — von ihnen gelten, führt sie die Begriffe auf Urteile
zurück. Und auch jede andere Form von Definition besteht ja aus Ur-
teilen. Andererseits treten in jedem Urteil Begriffe auf; es scheint daher
selber sich aus solchen aufzubauen und sie vorauszusetzen. So sind Be-
griff und Urteil zueinander korrelativ, sie bedingen sich gegenseitig, keins
kann ohne das andere sein.
Begriffe sind zweifellos nur um der Urteile willen da. Denn wenn der
Mensch Gegenstände durch Begriffe und Begriffe durch Worte bezeichnet,
so tut er das allein zu dem Zweck, um über sie zu denken und von ihnen
zu reden, d. h. Urteile über sie zu fällen. Oder würde man z. B. den Be-
griff der Planeten gebildet und sie mit diesem Namen belegt haben, wenn
niemand je die Absicht gehabt hätte, seine Gedanken mit diesen Himmels-
körpern zu beschäftigen und von ihnen zu sprechen, irgendwelche Aus-
sagen von ihnen zu machen.-*
* Was also ist ein Urteil.?
Das Wesen des psychologischen Vorganges, welcher den Urteilsakt
ausmacht, interessiert uns hierbei gar nicht, ebensowenig wie wir uns
um die Natur der psychischen Prozesse kümmerten, welche die Begriffe
in der BewußtseinswirkUchkeit vertreten. Übrigens läßt sich das Wesen
des Urteilens als psychischer Akt gar nicht adäquat beschreiben; wie jedes
andere psychische Phänomen kann man diesen Akt nur kennen lernen,
indem man ihn bei Gelegenheit des eigenen Urteilens erlebt. Alle Be-
stimmungen des Urteilsaktes können nur als bildliche Umschreibungen
gelten; so, wenn man ihn für eine ,, Verknüpfung" oder ,, Trennung" von
Vorstellungen erklärt, oder für eine ,,Ineinssetzung" von solchen (SiG-
wart), oder für eine ,, Auseinanderlegung" einer Vorstellung in mehrere
(Wundt). Man kann nämlich Vorstellungen ,, verbunden" oder ,, aus-
einandergelegt" denken, ohne damit ein Urteil zu fällen, wie schon
Leibniz gegen Locke bemerkte, welch letzterer das Urteil als ein
,,joining or separating of ideas" beschrieb. Besonders nachdrücklich er-
klärte John Stuart Mill, eine bloße Verbindung von Vorstellungen
mache keineswegs ein Urteil ^us, sondern es müsse dazu noch etwas hinzu-
kommen; aber die Frage, worin dieses Etwas bestehe, sei ,,one of the
38 Das Wesen der Erkenntnis.
most intricate of metaphysical problems" ^). Wenn manche Philosophen
meinen, das Wesen des Urteilens bestehe in einer Stellungnahme des Ur-
teilenden, die entweder bejahend und anerkennend oder (bei negativen
Urteilen) verneinend und verwerfend sei, so ist auch damit das Besondere
des Urteilsprozesses gegenüber dem bloßen Vorstellen gewiß nicht aus-
reichend beschrieben. Daß aber beides ganz verschiedene psychische Grund-
phänomene sind, wird immer allgemeiner anerkannt.
Aber wie es sich damit auch verhalten mag: wir fragen hier nicht
nach dem psychologischen Wesen des Urteilens, sondern nach der erkenntnis-
theoretischen Bedeutung des Urteils. Und diese dürfen wir leich* zu er-
mitteln hoffen, wenn wir uns an das erinnern, was wir über die Natur
des Begriffes schon erkundet haben.
Das Wesen der Begriffe war darin erschöpft, daß sie Zeichen sind,
die wir im Denken den Gegenständen zuordnen, über die wir denken.
So liegt die Vermutung nahe, daß auch das Urteil nichts anderes sei als
ein Zeichen. Aber was bezeichnet es} Im vorigen Paragraphen wurde
gezeigt, daß die Resultate, die ja Urteile sind, Bez iehun g en zwischen
Begriffen festlegen. Da nun Begriffe Zeichen für die Gegenstände sind,
so sind Urteile vermuthch Zeichen für die Beziehungen zwischen Gegen-
ständen. Es ist jetzt zu untersuchen, ob diese Bestimmung allgemein
gültig ist, und welcher näheren Erläuterung oder Modifikation sie bedarf.
Nur die Betrachtung eines Beispiels kann uns darüber Aufschluß geben.
Fassen wir als schlichtes Beispiel etwa das Urteil ins Auge: ,,Der
Schnee ist kalt". Die Worte ,, Schnee" und „kalt" (Subjekt und Prädikat)
dieses Satzes bezeichnen Begriffe, deren Bedeutung uns aus der Anschauung
wohl bekannt ist. Offenbar wird durch das Urteil tatsächlich eine Be-
ziehung zwischen dem Schnee und der Kälte bezeichnet, nämlich eine
Zusammengehörigkeit, die uns als das Verhältnis Ding-Eigenschaft ver-
traut ist. Nehmen wir zum Zwecke einer tiefer dringenden Analyse einmal
an, das Urteil werde von einem Kinde gefällt, das mit dem Schnee bis
dahin nur durch die Gesichtswahrnehmung bekannt geworden ist; der
Begriff des Schnees wird ihm also dann etwa durch die Merkmale des
Weißen, des Flockigen, vom Himmel Herabrieselnden konstituiert. Bei
der ersten Berührung mit der Hand findet es jetzt, das dies Weiße, Flockige
zugleich etwas Kaltes ist; die von den tastenden Fingern erfahrene Emp-
findung ist dem Kinde wohlbekannt: -es hat sie mit dem Namen ,,kalt"
bezeichnen gelernt und legt nun durch das Urteil dem Schnee diesen
Namen bei. Wir haben es also hier nach dem im § 3 Gesagten mit einer
Erkenntnis zu tun: auf Grund eines Wiedererkennungsaktes wird
der Gegenstand ,, Schnee" mit dem richtigen Namen ,,kalt" belegt. Gehen
wir auf den Inhalt des Subjektbegriffes zurück, welcher in diesem Falle
etwas Weißes, in Flocken vom Himmel Fallendes bedeutet, so sehen wir:
unser Urteil bezeichnet den Umstand, daß mit eben diesen Merkmalen
J- Stuart Mill, Logic. Book I. chapl. V. § i.
Das Wesen des Urteils. 39
des Weißen und Flockigen auch dasjenige der Kälte verbunden ist; wo
die einen auftreten, findet sich auch das andere. Ob das nun bloß von
diesem, gerade berührten Schnee gilt, oder ganz allgemein, darüber ist
natürlich noch gar nichts gesagt.
Wir sehen, in dem betrachteten Falle bezeichnet das Urteil ein Zu-
sammenbestehen der Merkmale (und zwar ein räumliches und zeitliches,
denn die Kälte wird an demselben Orte angetroffen, wo sich der Schnee
befindet, und zur selben Zeit). Wir müssen hiernach unsere frühere Be-
stimmung etwas modifizieren: nicht bloß eine Beziehung zwischen Gegen-
ständen bezeichnet das Urteil, sondern das Bestehen der Beziehung,
d. h. die Tatsache, daß die Beziehung zwischen ihnen statthat. Daß
beides nicht dasselbe ist, leuchtet wohl ein. Denn es bedarf zur Bezeich-
nung einer Beziehung als solcher keines Urteils, sondern dazu genügt ein
Begriff. Als wir den Begriff als Zeichen für Gegenstände erklärten, hatten
wir ausdrücklich das Wort Gegenstand in der weitesten Bedeutung ge-
nommen, so daß es auch Beziehungen umfaßt. ,, Gleichzeitigkeit" und
,, Verschiedenheit" sind z. B. Begriffe von Beziehungen; daß aber irgend-
welche Gegenstände tatsächhch gleichzeitig oder verschieden sind, dies
kann nur durch ein Urteil ausgedrückt werden. Wiederum J. Stuart
MiLL hat hierauf mit besonderer Klarheit aufmerksam gemacht, u. a. in
folgendem Satze, in welchem der Begriff der Ordnung zwischen Empfin-
dungen oder Vorstellungen das vertritt, was wir hier als Beziehungen
zwischen Gegenständen bezeichnet haben: ,,. . . it is necessary to distinguish
between the mere Suggestion to the mind of a certain order among sen-
sations or ideas — — and the indication that this order is an actual
fact . . ." 1).
Urteile sind also Zeichen für Tatsachen. So oft wir ein Urteil
fällen, wollen wir damit einen Tatbestand bezeichnen; und zwar entweder
einen realen oder einen begrifflichen, denn nicht nur die Verhältnisse wirk-
licher Gegenstände, sondern auch das Dasein von Relationen zwischen
Begriffen ist als ein Tatbestand aufzufassen. Es ist eine Tatsache, daß
der Schnee kalt ist, es ist aber auch eine Tatsache, daß 2x2 und 4 einander
gleich sind.
Es ist vielleicht paradox, daß wir zur Bezeichnung des in der Welt
Vorhandenen mit den Begriffen allein nicht ausreichen, sondern noch
einer anderen Art von Zeichen bedürfen. Aber es ist tatsächlich so: wenn
Begriffe Gegenstände bedeuten sollen, so brauchen wir zur Bezeichnung
des Bestehens von Relationen zwischen diesen Gegenständen neue Zeichen,
die nicht Begriffe sind. Ich mag allerdings die Gegenstände und die
zwischen ihnen obwaltende Beziehung in einen Begriff zusammen-
zufassen, ich kann den Begriff der Kälte des Schnees bilden, oder den
der Gleichheit von 2x2 und 4, aber das ist ganz etwas anderes als wenn
J. Stuart Mill in einer Anmerkung zu: James Mill, Analysis of the pheno-
mena of the human mind. 2. ed. I. p. 162, note 48.
40 Das Wesen der Erkenntnis.
ich die Urteile fälle: ,,Der Schnee ist kalt" oder „2 X 2 = 4". Nur diese
Urteile, nicht jene Begriffe bezeichnen einen Tatbestand.
Der Umstand, daß ein Urteil immer einen Tatbestand, ein tatsäch-
liches Bestehen, ein ,,Sein" des in ihm Ausgesagten voraussetzt, läßt
verstehen, wie die Lehre aufgestellt werden konnte ^), der Sinn jedes
Urteils bestehe im Grunde darin, eine Existenz, ein Sein zu behaupten;
der Existentialsatz (also etwa Aussagen wie: ,,Gott ist", ,,es gibt lenkbare
Luftschiffe") sei die Urform des Urteils, auf welche alle anderen Formen
sich zurückführen ließen. Der Satz ,, irgendein Mensch ist krank" habe
z. B. den Sinn ,,ein kranker Mensch ist" oder ,,es gibt einen kranken
Menschen"; der Satz ,,alle Menschen sind sterblich" bedeute ,,ein un-
sterblicher Mensch ist nicht" ^). Der Satz ,,das Licht ist eine elektrische
Schwingungserscheinung" müßte danach eigentlich lauten: ,,es gibt kein
Licht, das nicht eine elektrische Schwingungserscheinung wäre". Wie man
hieraus sieht, wären die allgemein bejahenden Urteile nach dieser Lehre
in Wahrheit negative Existentialsätze. Aber diese Konsequenz, die sich
schwerlich von dem Anschein einer gekünstelten Konstruktion befreien
läßt, ist nicht einmal die bedenklichste Folge der fraglichen Theorie;
vielmehr ergäbe sich ferner aus ihr — und ihre Anhänger folgern es auch —
daß ein Urteil keineswegs immer das Bestehen einer Beziehung zwischen
Gegenständen bezeichnen müßte, sondern daß seine Materie ebensogut
von einem einzigen einfachen Gegenstande gebildet werden könnte; der
Sinn des Urteils bestände schlechthin in dem ,, Anerkennen" dieses Gegen-
standes, von irgendwelchen Beziehungen brauchte dabei gar nicht die
Rede zu sein. Bei verneinenden Urteilen tritt nach dieser Ansicht an die
Stelle des Anerkennens ein ,, Verwerfen".
Die Lehre enthält insofern einen richtigen Kern, als ja das Ausgesagte
immer etwas ,, Existierendes" ist, das entweder realiter besteht (wie die
Tatsache, daß der Schnee kalt ist), oder begrifflich (wie die Tatsache,
daß 2x2 = 4 ist). Aber wenn man deshalb sagt, der Sinn des Urteils
bestehe darin, eine Existenz zu behaupten, einen Gegenstand anzuer-
kennen, so ist das eine sehr unglückliche Formulierung des wahren Sach-
verhaltes. Lassen wir das ,, Anerkennen" oder ,, Verwerfen" ganz beiseite,
weil dadurch offenbar nur der psychologische Akt des Urteilens, nicht
seine erkenntnistheoretische Bedeutung charakterisiert werden kann, so
ist nur noch die Behauptung zu prüfen, daß ein Urteil nicht notwendig
eine Beziehung zwischen mehreren Gliedern aussage, sondern auch ein-
gliedrig sein könne — in welchem Falle es sich vom Begriff nur dadurch
unterscheide, daß es den Gegenstand des Begriffs als existierend setzt,
was man sich etwa an dem Urteil ,,Gott ist" klar machen möge.
Diese Behauptung wird leicht entkräftet durch eine Analyse des
wahren Sinnes der Existentialsätze. Ihre Bedeutung offenbart sich uns
') Von Fr. Brentano und seiner Schule. Vgl. Brentano's Psychologie. 2. Buch.
7. Kapitel.
«) 1. c. S. 283.
Das Wesen des Urteils. 41
am besten, wenn wir zunächst eine Begriffswahrheit ins Auge fassen,
d. h. ein Urteil, welches eine rein begriffliche Tatsache bezeichnet. Be-
hauptet ein solches Urteil die Existenz eines Begriffes, so bedeutet das
weiter nichts als: der Begriff enthält keinen Widerspruch. Der Mathe-
matiker z. B. hat die ,, Existenz" eines Objektes seiner Wissenschaft be-
wiesen, sobald er gezeigt hat, daß es widerspruchslos definiert ist. Dem
mathematischen Begriff kommt kein anderes ,,Sein" zu als dies; darüber
darf nicht der geringste Zweifel bestehen. Dasselbe gilt für alle reinen
Begriffe, und es ergibt sich auch aus den Betrachtungen des vorigen
Paragraphen. ,, Reine" Begriffe nämlich sind nur solche, die durch im-
plizite Definitionen bestimmt sind, und diese unterhegen keiner anderen
Bedingung als der Widerspruchslosigkeit. Widerspruch aber ist selbst-
verständlich nichts anderes als eine Beziehung zwischen Urteilen; er be-
steht ja darin, daß zwei entgegengesetzte Behauptungen über denselben
Gegenstand vorliegen. Die ,, Existenz" eines Begriffes bedeutet mithin
das Bestehen einer gewissen Beziehung zwischen den ihn definierenden
Postulaten.
Wo es sich um reale Gegenstände der Erfahrungswelt (oder auch
einer transzendenten Welt) handelt, scheint das Existenzurteil auf den
ersten Blick in der Tat etwas Besonderes zu sein und einen eingliedrigen
Charakter zu besitzen. Wenn ich z. B. von einem Bewußtseinsinhalt,
den ich erlebe, aussage: er ist, so scheint damit zunächst in keiner
Weise eine Beziehung zwischen mehreren Gegenständen behauptet zu
sein. Aber gerade hier zeigt die nähere Betrachtung deutlich das Fehler-
hafte der besprochenen Urteilslehre. Sie vernachlässigt den Unter-
schied zwischen den beiden Bedeutungen des Wortes ,,ist", welches ja
entweder eine bloße Kopula sein oder auch die Existenz ausdrücken kann.
Im letzteren Falle können wir es ersetzen durch ,,ist wirklich";
,,Gott existiert" bedeutet soviel wie ,,Gott ist etwas Wirkliches"; und
hier spielt das ,,ist" wieder die Rolle der Kopula, wie gewöhnhch, das
Urteil ist genau so zweighedrig wie jedes andere. Wie man in dem Satze
„der Schnee ist kalt" den Schnee unter den Begriff sumfang des Kalten
subsumiert, so will derjenige, der den Satz ,,Gott ist" ausspricht, seinem
Gotte das Prädikat der Wirklichkeit zusprechen. Logisch ist also der
eine Fall wie der andere.
Sachlich freihch — aber darum handelt es sich hier ja noch nicht —
kommt dem Existentialurteil eine ausgezeichnete Stellung zu: während
sonst jede Tatsache nichts anderes ist als ein Bestehen von Beziehungen,
dürfen wir von der Tatsache des bloßen Seins, z. B. eines Bewußt-
seinsinhaltes, nicht ohne weiteres behaupten, daß sie sich vollständig
in ein Bestehen von Relationen auflösen ließe (s. unten Teil III, § 22),
sondern es ist darin noch mehr enthalten. Dessenungeachtet hat jede
Existenzaussage für uns doch immer zugleich und wesentlich den Sinn
einer Behauptung von Beziehungen und läßt sich allein durch die Fest-
stellung von bestimmten Beziehungen prüfen, nämhch von Relationen zu
42 Das Wesen der Erkenntnis.
Erlebnissen, Bewußtseinsinhalten. Denn der Begriff eines „wirklichen"
Gegenstandes ist in letzter Linie stets allein definierbar durch Hinweise
auf etwas anschaulich Gegebenes, durch ,, konkrete" Definition (vgl. unten
Teil III, § 23).
Diese kurzen Bemerkungen über die Existentialurteile müssen hier
genügen, um darzutun, daß auch sie immer das Bestehen einer Beziehung
zwischen mehreren Gliedern behaupten ^). Die genauere Betrachtung der
Art dieser Beziehung und der Bedeutung der ,, Wirklichkeit" selber muß
späteren Teilen unserer Untersuchung vorbehalten bleiben.
Nur dies sei noch bemerkt: wer die Behauptung der Eingliedrigkeit
mancher Urteile durch den Hinweis auf die sogenannten ,, Impersonalien"
stützen will (d. h. Sätze wie: es schneit, es donnert usw.), der verwechselt
sprachliche Verhältnisse mit logischen. Denn daß diese kurzen Sätze
trotz ihrer einfachen Form stets einen mehrgliedrigen Tatbestand be-
zeichnen, liegt auf der Hand (,,es schneit" z. B. bedeutet: ,,es fallen
Flocken herab"), und der Sprache steht es natürlich frei, auch die kom-
pliziertesten Beziehungen abgekürzt durch e i n Wort auszudrücken.
Jedes Urteil also ist ein Zeichen für eine Tatsache, und eine Tatsache
umfaßt immer mindestens zwei Gegenstände und eine zwischen ihnen
obwaltende Beziehung. Sind es mehr Gegenstände und Beziehungen, so
läßt sich der Gesamtsachverhalt stets in einfache, zwischen zwei Gegen-
ständen bestehende Relationen auflösen. Was wir im Leben oder in der
Wissenschaft einen Tatbestand nennen, ist immer etwas Komplexes, aus
dem sich mehrere Momente herausheben lassen.
Damit man einem Urteile ansehen könne, welchem Tatbestand es
zugeordnet ist, müssen in ihm besondere Zeichen für die in dem Tat-
bestande unterschiedenen Glieder und für die Beziehungen zwischen ihnen
enthalten sein. Es müssen also in ihm mindestens zwei Begriffe als Ver-
treter der beiden Beziehungsglieder auftreten, und außerdem noch ein
drittes Zeichen zur Andeutung der Beziehung zwischen beiden. Man darf
natürlich nicht glauben, daß diese drei Teile des Urteils stets einfach
ihre Repräsentanten in den drei Satzteilen Subjekt, Prädikat und Kopula
fänden; eine so einfache Zuordnung braucht nicht stattzufinden; in der
Tat liegen die Verhältnisse im allgemeinen verwickelter. Uns soll aber
vorläufig die Frage nicht beschäftigen, mit Hilfe welcher Mittel im ein-
zelnen die verschiedenen Momente eines Tatbestandes im Urteil bezeichnet
werden; die Hauptsache ist hier, daß eben ein Urteil als ganzes immer
einer Tatsache als ganzes zugeordnet ist. Auch das ist an dieser Stelle
nicht zu untersuchen, welche Verschiedenheiten der Urteile den Verschieden-
heiten der Beziehungen entsprechen, und ob vielleicht alle Arten der
Relationen auf eine einzige zurückgeführt wer4en können. Denn insofern
die Beantwortung dieser Fragen eine Prüfung der formalen Eigenschaften
') Man vergleiche etwa noch die klaren Ausführungen bei Sigwart, Logik I'
S. 93 ff. und Jonas Cohn, Voraussetzungen und Ziele des Erkennens. S. 78 f.
Das Wesen des Urteils. 43
der Urteile verlangt, kann die Erkenntnistheorie sie der reinen Logik
überlassen; sofern sie aber eine Erforschung und Klassifikation der Rela-
tionen voraussetzt, kann sie erst an einer späteren Stelle in Angriff ge-
nommen werden, wenn wir uns nämlich der Betrachtung der Gegenstände
selber zuwenden. Hier haben wir es noch nicht mit der Beurteilung der
Gegenstände, sondern nur mit der Beurteilung der Urteile zu tun. Übrigens
werden die hier gegebenen Bestimmungen über die Natur des Urteils im
folgenden gelegentlich noch manche Ergänzung finden.
Urteile und Begriffe stehen in einem eigentümlichen Wechselverhältnis
zueinander. Begriffe werden durch Urteile verknüpft — denn jede Aus-
sage bezeichnet ja die Verbindung zweier Begriffe — , aber es werden
auch die Urteile durch die Begriffe miteinander verknüpft: dadurch näm-
lich, daß ein und derselbe Begriff in einer Mehrzahl von Urteilen auf-
tritt, setzt er eine Beziehung zwischen ihnen. Es muß aber jeder Begriff
in mehreren verschiedenen Urteilen vorkommen, wenn er überhaupt Sinn
und Bedeutung haben soll. Gesetzt nämlich, er fände sich nur in einer
einzigen Aussage vor, so könnte das nur seine Definition sein, da er ja
sonst noch durch andere Urteile definiert sein müßte, und solche soll es
doch nach der Voraussetzung nicht geben. Es wäre aber vollkommen
sinnlos, durch Definition einen Begriff zu bilden, der sonst im Denken
überhaupt keine Rolle spielt; man hat keine Veranlassung, einen der-
artigen Begriff zu schaffen, und tatsächlich tut das auch niemand. ^Gegen-
stände, von denen man nichts aussagen kann, über die man also gar
nichts weiß, bezeichnet man auch nicht.
So bildet denn jeder Begriff gleichsam einen Punkt, in welchem
eine Reihe von Urteilen zusammenstoßen (nämlich alle die, in denen er
vorkommt) ; er ist wie ein Gelenk, das sie alle zusammenhält. Die Systeme
unserer Wissenschaften bilden ein Netz, in welchem die Begriffe die Knoten
und die Urteile die sie verbindenden Fäden darstellen. Tatsächlich geht
im wirklichen Denken der Sinn der Begriffe ganz darin auf, Beziehungs-
zentren von Urteilen zu sein. Nur als Verknüpfungspunkte von Urteilen
und in den Urteilen führen sie ein Leben im lebendigen Denken; mit
Recht sagt deshalb A. Riehl von ihnen, sie seien ,, Ergebnisse von Ur-
teilen, die sie im Bewußtsein vertreten, potentielle Urteile, Fertigkeiten,
bestimmte zusammengesetzte Urteile zu reproduzieren".
Die Definitionen eines Begriffes sind diejenigen Urteile, die ihn so-
zusagen mit den ihm am nächsten liegenden Begriffen in Verbindung
setzen; er kann als kurzer Ausdruck für das Bestehen dieser Verbindungen
aufgefaßt werden, was wiederum Riehl so ausdrückt: ,, Begriff und Defini-
tion unterscheiden sich überhaupt nur, wie Potentielles vom Aktuellen
sich unterscheidet" ^). Eben deshalb muß man aber (nunmehr im Gegen-
satz zu Riehl ^)) die Definitionen durchaus zu den echten Urteilen rechnen.
') Beiträge zur Logik*. S, 13. 1912.
2) Ebenda. S. 14.
44 Das Wesen der Erkenntnis.
In einem völlig in sich geschlossenen, deduktiv zusammenhängenden
System einer Wissenschaft lassen sie sich von diesen nur unter prak-
tischen, psychologischen Gesichtspunkten, nicht in rein logisch-erkenntnis-
theoretischer Hinsicht unterscheiden. Das zeigt sich zunächst sehr deutlich
bei den festen und strengen Urteilszusammenhängen, wie sie unter den
Wissenschaften vor allem die Mathematik darbietet. Wir können dort
unter gewissen Voraussetzungen beliebige Lehrsätze auswählen, sie als
Definitionen der mathematischen Begriffe betrachten und aus ihnen
diejenigen Urteile als Folgerungen ableiten, die sonst gewöhnlich zur De-
finition jener Begriffe dienen. Der Unterschied zwischen Definition und
Lehrsatz ist in einem solchen System reiner Begriffe also ein relativer. Welche
Eigenschaften eines Begriffs ich am besten zu seiner Definition benutze,
hängt nur von Zweckmäßigkeitsgründen ab. So betrachtete man früher
in der Mathematik immer als Axiome diejenigen Sätze, die besonders
evident erschienen; jetzt scheut man sich im Prinzip nicht, jene zum
Teil aus weniger einleuchtenden Sätzen abzuleiten und nun die letzteren
als Axiome anzusehen (also als Definitionen der Grundbegriffe), wenn
dadurch eine Vereinfachung im Aufbau und in der Geschlossenheit des
Systems erzielt werden kann ^).
Bei der Übertragung dieser Erwägungen auf die Realwissenschaften
ist zu bedenken, daß diese niemals streng in sich abgeschlossen sind;
vielmehr werden uns von den realen Gegenständen im Laufe der Forschung
immer neue Eigenschaften bekannt, so daß die Begriffe dieser Gegen-
stände mit der Zeit immer reicheren Inhalt gewinnen, während die Worte,
mit denen wir sie benennen, immer die gleichen bleiben. Das Wort
steht eben für den wirklichen Gegenstand in der ganzen Fülle seiner
Eigenschaften und Beziehungen, der Begriff steht immer nur für das,
was die Definition ihm zuteilt. Deshalb sind Definitionen und echte Er-
kenntnisurteile für unser Denken in den Realwissenschaften zwar streng
voneinander geschieden, aber ein und derselbe sprachliche Satz kann je
nach dem Stande der Forschung das eine oder das andere, Definition oder
Erkenntnis, sein. Für die sprachliche Formulierung — und nur in solcher
sind ja Urteile schließlich zu fixieren — ist es also auch in den Wirklich-
keitswissenschaften wahr, daß der Unterschied zwischen beiden Urteils-
arten relativ ist. Zuerst ist der Begriff eines Gegenstandes immer durch
diejenigen Eigenschaften odör Beziehungen definiert, durch die der Gegen-
stand anfänglich entdeckt wurde; be"in> weiteren Fortgang der Wissen-
schaft geschieht es nicht selten, daß man einen Begriff desselben
Gegenstandes später auf ganz andere Weise bestimmt, so daß die Urteile,
in denen das Bestehen jener zuerst gefundenen Eigenschaften behauptet
wird, nun als abgeleitete erscheinen. Man denke etwa an das Wort und
den Betriff der Elektrizität. Auf der frühesten Stufe definiert durch die
') Vgl. z. B. CouTURAT, Die philosophischen Prinzipien der Mathematik. S. 7
und 8. 1908.
Urteilen und Erkennen.
45
vom geriebenen Bernstein auf kleine Körperchen ausgeübte Wirkung,
geschieht jetzt auf der höchsten Erkenntnisstufe der theoretischen Physik
die Bestimmung des zu jenem Worte gehörenden Begriffs am zweck-
mäßigsten durch diejenigen Beziehungen, die in den sogenannten Maxwell-
schen Gleichungen ausgesprochen sind, und aus denen jene zuerst ent-
deckten Phänomene als spezielle Folgen sich deduzieren lassen.
Jedes Urteil setzt einen Begriff zu andern Begriffen in Beziehung,
bezeichnet die Tatsache des Bestehens dieser Beziehung. Ist der erste
Begriff schon anderweitig bekannt und definiert, so hat man eben ein
gewöhnliches Urteil vor sich; ist das nicht der Fall, so muß man ihn durch
jenes Urteil geschaffen denken, und dieses wird dadurch zur Definition,
die den Begriff aus seinen Merkmalen aufbaut. So scheint es wohl klar
zu sein, daß es zweckmäßig ist, auch den Definitionen den Rang von
Urteilen zuzugestehen. Im Prinzip nehmen sie keine Sonderstellung ein,
und damit wird das Bild vereinheitlicht, das wir uns von dem großen
Strukturzusammenhange der Urteile und Begriffe machen müssen, in
welchem alle Wissenschaft besteht. Dieser Zusammenhang macht das
Wesentliche der Erkenntnis aus, Ihre Möglichkeit beruht darauf,
daß die Begriffe durch Urteile miteinander verbunden sind. Nur in Ur-
teilen ist Erkenntnis.
9. Urteilen und Erkennen.
Damit kehren wir zur Analyse des Erkenntnisprozesses zurück. Denn
die zum Erkennen erforderlichen Mittel, Begriff und Urteil, sind soweit
untersucht, daß wir nunmehr tiefer in das Wesen der Erkenntnis selber
eindringen können.
Einen Gegenstand erkennen heißt: einen andern in ihm wiederfinden
oder auffinden. Wenn wir sagen: in ihm, so kann dieses ,,in", das ja
zunächst eine räumliche Beziehung bedeutet, hier nur einen bildlichen
Sinn haben. Damit dieser Sinn richtig verstanden werde, ist nun das
Verhältnis zwischen denjenigen beiden Begriffen näher zu untersuchen,
von denen der eine das Erkannte bezeichnet, und der andere das, als was
es erkannt wurde.
Sagt jemand: ,,ich erkenne A als B" oder in anderer, gleichbedeu-
tender Formulierung: ,,ich erkenne, daß A B ist" — z. B.: ich er-
kenne, daß das Licht ein Schwingungsvorgang ist — , so heißt das: die
Begriffe A und B bezeichnen einen und denselben Gegenstand — die-
selbe Erscheinung darf ebensowohl durch den Begriff Licht wie durch
den Begriff Schwingungsvorgang bezeichnet werden. Wir müssen also
zusehen, unter welchen Umständen es eintritt, daß zwei Begriffe dem-
selben Gegenstande zugeordnet sind.
Lassen wir den bedeutungslosen Fall beiseite, daß die beiden Begriffe
in jeder Hinsicht identisch sind, gleichen Ursprung, gleiche Definition
und gleichen Namen haben und daher nur zur Aufstellung nichtssagender
46 Das Wesen der Erkenntnis.
Tautologien Anlaß geben würden, wie „Licht ist Licht", ,, Schwingungen
sind Schwingungen", — sehen wir von diesem Fall ab, so besteht erstens
die Möglichkeit, daß die zwei Begriffe anfänglich infolge einer willkür-
lichen Festsetzung zu Zeichen desselben Gegenstandes wurden. Dieser
Fall lag z. B. vor, als man zuerst den Satz aussprach: die Ursache dafür,
daß zwei Stoffe sich heftig miteinander verbinden, ist ihre starke chemi-
sche Affinität, — oder als zum ersten Male das Urteil aufgestellt wurde:
die Ursache der anziehenden Wirkung des Bernsteins ist die Elektrizität.
Diese Urteile enthielten keine Erkenntnis, sie waren bloße Definitionen.
Denn der Sinn des ersten Satzes war ja nur der, daß die Begriffe ,, Ursache
der heftigen Reaktion" und ,, starke chemische Verwandtschaft" ein und
dasselbe bezeichnen sollten; der Begriff der chemischen Affinität war
durch gar nichts anderes definiert, war nicht durch irgendwelche anderen
Äußerungen schon sonst bekannt. Analoges gilt vom Beispiel des Bern-
steins, und derselbe Fall liegt überall dort vor, wo man irgendeine Tat-
sache oder Erscheinung durch eine ,,qualitas occulta" erklären wollte.
Man bezeichnete einfach dasselbe auf zwei verschiedene Weisen, nämlich
einmal als eine besondere ,,qualitas", und zweitens als ,, Ursache" eines
besonders beobachteten Verhaltens, und gab damit statt einer Erkenntnis
bloß eine Definition, eine Erklärung eines neu eingeführten Wortes.
Eine wirkliche Erkenntnis liegt dagegen überall dort vor, wo zwei
Begriffe nicht bloß vermöge ihrer Definition denselben Gegenstand be-
zeichnen, sondern kraft heterogener Zusammenhänge. Sind zwei Begriffe
auf ganz verschiedene Weise definiert und findet man dann, daß unter
den Gegenständen, die der eine vermöge seiner Definition bezeichnet,
auch solche sind, die unter den zweiten Begriff fallen, dann ist der eine
durch den andern erkannt. Und zwar geschieht jenes Finden entweder
durch Beobachtung und Erfahrung — und dann ist dadurch eine Er-
kenntnis realer Zusammenhänge gewonnen — , oder es ergibt sich als
Resultat einer Begriffsanalyse — und dann ist damit die Aufdeckung
von vorher nicht bemerkten begrifflichen Zusammenhängen ge-
leistet. Die Lösung einer beliebigen mathematischen Aufgabe ist ein Bei-
spiel für eine Erkenntnis der letzteren Art.
Erkenntnis bedeutet Aufdeckung einer Beziehung zwischen Gegen-
ständen; indem wir eine Erkenntnis aussprechen, bezeichnen wir also eine
Beziehung, und indem wir eine Beziehung bezeichnen, fällen wir ein
Urteil. Jedes Urteil, das nicht eine offene Tautologie oder eine Definition
ist, enthält eine Erkenntnis (sofern es nicht etwa falsch ist; was dies
bedeutet, steht im nächsten Paragraphen zur Untersuchung).
Wir hatten oben (S. 44) darauf hinweisen müssen, daß der Unterschied
zwischen Definitionen und andern Urteilen nur ein relativer ist. Daraus
folgt jetzt, daß eine Erkenntnis in der sprachlichen Formulierung etwas
Relatives ist in bezug auf die Definitionen. Dies möchte auf den ersten Blick
paradox erscheinen, aber es verhält sich wirklich so, denn ob ein Urteil eine
Erkenntnis enthält oder nicht, hängt ja doch davon ab, was wir schon vor-
Urteilen und Erkennen. 47
her gewußt haben. Wenn uns ein Gegenstand, den wir mit dem Worte A
bezeichnen, bisher immer nur durch die Eigenschaften a lind b bekannt ge-
worden ist, und wir stellen dann an ihm die Eigenschaften c und d fest, so
enthält das Urteil ,,A hat die Eigenschaften c und d" eine Erkenntnis.
Dasselbe Urteil trägt aber bloß den Charakter einer Definition, wenn uns
A schon immer durch die Eigenschaften c und d gegeben war, während
wir von seinen sonstigen Attributen nichts wußten. Dabei ist aber wohl
zu beachten, daß das Wort A zunächst in beidenFällen einen verschie-
denen Begriff bedeutet, von dem sich erst nachträglich herausstellt,
daß er einen und denselben Gegenstand bezeichnet. Es wäre z. B. denk-
bar, daß ein Kind in dunkler Nacht durch den Tastsinn die Bekanntschaft
des Schnees gemacht hätte. Dann würde ihm die Eigenschaft der Kälte
mit zur Definition des Begriffes Schnee gehören; dagegen würde nunmehr
bei Tagesanbruch das Urteil: ,,Der Schnee ist weiß" eine Erkenntnis
enthalten.
Wenn eine Wissenschaft sich zu einem wohlgerundeten, annähernd
geschlossenen Gefüge entwickelt hat, so bestimmt bei ihrer systematischen
Darstellung nicht mehr die zufällige Reihenfolge der menschlichen Er-
fahrungen, was als Definition und was als Erkenntnis zu betrachten sei,
sondern man wird als Definitionen diejenigen Urteile ansehen, welche
einen Begriff in solche Merkmale auflösen, daß man aus denselben
Merkmalen möglichst viele — vielleicht sogar alle — Begriffe der be-
treffenden Wissenschaft in möglichst einfacher Weise aufbauen kann.
Dies Verfahren wird offenbar den letzten Zwecken der Erkenntnis am
besten gerecht, denn auf solche Weise lassen sich am leichtesten die Be-
griffe aller Gegenstände der Welt auf möglichst wenige Elementar-
begriffe zurückführen.
Nach diesen notwendigen Zwischenbemerkungen kehren wir nun zu
unserer Aufgabe zurück, das gegenseitige Verhältnis der Gegenstände
genauer zu bestimmen, die im Erkenntnisakte miteinander vereinigt
werden. Wir haben uns längst davon überzeugt und soeben wieder daran
erinnert, daß jede Erkenntnis eine gewisse Identifikation bedeutet. Der
erkannte Gegenstand wird mit demjenigen identifiziert, als welcher er
erkannt ist. Zum Beispiel der Verfasser der Schrift über den athenischen
Staat mit dem Aristoteles, das Licht mit gewissen Schwingüngsvorgängen
bestimmter Art, der Schnee mit etwas Kaltem, und so fort. Der Identifi-
zierung von Gegenständen, die in der Erkenntnis stattfindet, entspricht
eine gewisse Identifizierung der Begriffe, die im Urteil vollzogen wird.
Man versteht deshalb, wie viele Denker zu der Theorie gelangen konnten,
das Wesen des Urteils bestehe überhaupt in einer Identitätssetzung
(LoTZE, RiEHL, MÜNSTERBERG u. a.). Aus ganz richtigen Gedanken
ging diese Theorie hervor, und nur wo sie unrichtig formuliert oder miß-
verstanden wird, kann sie den Einwänden der Gegner nicht standhalten.
Diese Einwände laufen darauf hinaus, daß alle Urteile zu bloßen Tauto-
logien degradiert würden, wenn sie wirklich vollkommene Identitäten be-
^8 Das Wesen der Erkenntnis.
haupteten. „Niemand ist außerhalb der formalen Logik so dumm, daß er
leere Identitäten aussagte" ^). Man muß also genau darüber klar sein,
wodurch sich die in einer wirklichen Erkenntnis vollzogene Identifikation
unterscheidet von einer bloßen Tautologie.
Damit ein Kind das Urteil fällen kann ,,der Schnee ist kalt", müssen
zwei besondere Erkenntnisakte vorher in seinem Bewußtsein stattgefunden
haben. Einerseits ist ihm ein gewisser Gesichtseindruck gegeben, und
nachdem er verarbeitet, apperzipiert ist, entsteht zuerst das Urteil (das
freilich nicht ausgesprochen wird): ,,dies ist etwas Weißes, Flockiges",
und das geht sofort über in: ,,dies ist Schnee", wo das Wort Schnee ein-
fach an die Stelle der Worte Weißes, Flockiges getreten ist und genau
dasselbe bedeutet wie diese. Andererseits ist dem Kinde eine gewisse
Hautempfindung gegeben, und diese wird in einem zweiten Apperzeptions-
akte als eine Empfindung wiedererkannt, welcher der Name ,,kalt" zu-
kommt. Diese Erkenntnis lautet also in expliziter Formulierung: ,,dies
ist kalt". Bezeichnet nun das Subjekt dieser beiden Urteile, das ,,dies",
beide Male denselben Gegenstand.? Zunächst offenbar nicht. Das erste
Mal ist es ja die Gesichtsempfindung, das zweite Mal die Hautempfindung.
Das erste Urteil sagt nicht von dem Kalten aus, daß es weiß sei, sondern
von dem Weißen; und das zweite Urteil sagt nicht von dem Weißen die
Kälte aus (der Hautsinn kennt ja keine Weißempfindung), sondern von
dem Kalten. Das ,,dies" ist mithin beide Male etwas Verschiedenes.
Man versteht jetzt, wie Lotze^) zu der Behauptung kam, das Urteil
,,S ist P" sei eigentlich unmöglich und löse sich in die Urteile auf ,,S ist S"
und „P ist P".
Aber Lotze geht ohne Zweifel viel zu weit. Schon die Urteile ,,dies
ist weiß" und ,,dies ist kalt" sind keine vollkommenen Identitäten und
Tautologien; sie setzen nicht einfach gewisse Bewußtseinsinhalte identisch
mit den Bedeutungen der Worte kalt oder weiß, sondern sie ordnen sie
in die Klasse derjenigen Gegenstände ein, die mit jenen Worten bezeichnet
werden. Der durch das Subjekt bezeichnete Gegenstand wird nur mit
einem der unendlich vielen unter den Prädikatsbegriff fallenden Gegen-
stände identifiziert, mit anderen Worten: es findet eine Subsumtion
oder Einordnung statt. Die Einsicht, daß in jedem Urteil sich etwas
Analoges vollzieht, hat zur Aufstellung der Subsumtionstheorie der Urteile
geführt. Auch sie beruht, gleich der Identitätstheorie, auf einem durch-
aus richtigen Gedanken, der z. B. in der Formulierung von B. Erdmann 3)
klar zum Ausdruck kommt: ,,Das Urteil ist die .... durch Inhalts-
gleichheit der materialen Bestandteile bedingte .... Einordnung eines
Gegenstandes in den Inhalt eines andern".
Ehe wir uns jedoch der Betrachtung des Umfangsverhältnisses der
beiden Erkenntnisglieder zuwenden, haben wir die eben aufgeworfene
*) J. CoHN, Voraussetzungen und Ziele des Erkennens. S. 87.
») Logik. § 54.
*) Logik I». S. 359.
Urteilen und Erkennen. 49
Frage zu beantworten: Wie steht es denn mit der Identifikation der Gegen-
stände, die in den beiden Sätzen „dies ist Schnee" und ,,dies ist kalt"
durch das Demonstrativpronomen bezeichnet sind? Der Bewußtseins-
inhalt, der als weiß bezeichnet war, ist doch gewiß nicht identisch mit
dem, welcher kalt genannt wurde. Eine Identität kann offenbar nur dann
statuiert werden, wenn man jene Bewußtseinsinhalte auf einen von ihnen
unterschiedenen Gegenstand bezogen denkt, wenn man jene Adjektiva
auffaßt als Benennungen von Eigenschaften eines Gegenstandes, und
zwar eben eines und desselben Gegenstandes. Es scheint also, als könne
der Sinn des Urteils nur gerechtfertigt und verstanden werden, wenn man
die Relation Ding-Eigenschaft oder Substanz-Attribut zugrunde legt. Das
sind nun aber metaphysische Begriffe, die manche Schwierigkeit in sich
bergen. Man denke nur an Herbart's Formulierung des Dingproblems.
Weiß und kalt, würde er sagen, sind doch nicht dasselbe; wie also kann
das Weiße zugleich das Kalte sein? Deshalb hat Lotze recht, wenn er
meint ^), daß bei Fragen, wie sie hier zur Untersuchung stehen, die Be-
rufung auf metaphysische Verhältnisse nicht gestattet sei und nichts nütze.
Jedoch es bedarf ihrer auch nicht. Im vorigen Paragraphen (S. 38 f.)
haben wir bereits das Urteil zergliedert, das wir hier als Paradigma be-
nutzen, und wir brauchen nur auf diese Analyse zurückzugreifen, um seine
wahre Bedeutung festzustellen. Wir sahen dort, daß unser Urteil nur
einen gewissen Zusammenhang zwischen dem Weißen, Flockigen und dem
Kalten behauptet, und zwar das Vorkommen dieser Qualitäten an dem-
selben Orte und zu derselben Zeit. Die Identität, die wirklich im Urteil
statuiert wird, ergibt sich also vorläufig als Identität eines Raum- und
Zeitpunktes.
Man wende nicht ein, daß es sich in unserem Beispiele um eine Identi-
fizierung zweier Raumpunkte handele, deren Zulässigkeit ebenso zweifel-
haft sei wie die Anwendbarkeit der Ding-Kategorie, weil nämhch der eine
Punkt (der Ort des ,, Weißen") dem Gesichtsraume angehöre, der andere
dagegen (der Ort des ,, Kalten") dem Tastraume, und beide seien für das
erlebende Bewußtsein zunächst ganz verschiedene Sphären. Das ist gewiß
richtig, aber der von allen sinnlichen Quahtäten entblößte Raum, von
dem bei der Ortsbestimmung die Rede ist, ist nicht etwas dem Bewußt-
sein unmittelbar Gegebenes, also weder Tast- noch Sehraum, sondern ein
Begriff, der schon eine Verschmelzung jener verschiedenen Sphären voraus-
setzt. Das kann an dieser Stelle nicht näher ausgeführt und begründet
werden, es ist aber auch nicht nötig; denn hier kam es nur auf den Hin-
weis an, daß keine unerlaubten metaphysischen Voraussetzungen in unsere
Bestimmungen eingehen, sondern daß der Begriff eines identischen Raum-
punktes zu einer Bildung nur alltägliche psychische Prozesse voraussetzt.
Eine ganz ähnliche Zergliederung, wie wir sie eben für unser ein-
faches Beispiel durchgeführt haben, läßt sich nun mit jedem beliebigen
') a. a. 0. § 53.
Schlick, Erkenntnislehre.
50 Das Wesen der Erkenntnis.
Urteil vornehmen, das eine Erkenntnis von Gegenständen der Sinnenwelt
enthält. In der Tat: alles in der Außenwelt ist an einem bestimmten
Orte und zu einer bestimmten Zeit, und das eine im andern wiederfinden
heißt in letzter Linie stets: beiden denselben Ort zur selben Zeit anweisen.
Wenn der Physiker sagt: das Wesen des Lichtes besteht in elektrischen
Wellen, so bedeutet das: überall, wo ein Lichtstrahl, ist, findet in ganz
bestimmter Weise eine Ausbreitung von elektrischen Wellen statt. Es ist
wohl unnötig, noch weitere Beispiele aus dem Gebiete der Naturwissen-
schaften anzuführen.
Ebenso deutlich wie bei diesen tritt die Richtigkeit des Gesagten
aber auch an historischen Erkenntnissen hervor. Ist doch prinzipiell
genommen die letzte Aufgabe der Geschichte eigentlich die, alles
Geschehen in Raum und Zeit so genau wie möglich zu lokalisieren.
Wie man sich leicht überzeugt, besteht die bei den meisten historischen
Urteilen vollzogene Identifizierung darin, daß der Täter einer bestimmten
historischen Tat und eine bestimmte historische Person einander gleich-
gesetzt werden. Durch die Persönlichkeiten der Träger des historischen
Geschehens hängen die geschichtlichen Ereignisse hauptsächlich zusammen;
sie müssen bisher noch zum großen Teil in der Geschichte den gesetz-
mäßigen Zusammenhang vertreten, dessen Statuierung allein das
eigentlich Wissenschaftliche in jeder Wissenschaft ausmacht.
Wie steht es aber nun mit den Erkenntnissen, die sich nicht auf
das Reich der sinnlichen Erfahrung beziehen.'' Zu diesen gehören zunächst
psychologische Erkenntnisse, in denen es sich um unräumliche Größen
handelt. Bei ihnen ist in den Akt des Wiederfindens eine Identifizierung
des Zeitpunktes gleichfalls mit eingeschlossen; an die Stelle der räum-
lichen Identifikation treten jedoch gewisse Angaben, durch welche die
Identität des individuellen Bewußtseins bestimmt wird, dem die zur Unter-
suchung stehenden psychischen Phänomene angehören. (Diese Angaben
werden ihrerseits im allgemeinen raumzeitlicher Natur sein, doch sind sie für
uns hier ohne Interesse). Fälle ich z. B. das Urteil: der Wille ist ein so
und so bestimmter Gefühls- und Vorstellungsverlauf, so heißt das nur:
jedes Mal, wenn ein Individuum etwas will, spielt sich in dem Be-
wußtsein dieses Individuums jener so und so bestimmte Verlauf von Vor-
stellungen und Gefühlen ab.
Außer den psychologischen gibt es noch eine Klasse von Erkennt-
nissen, die sich nicht auf die sinnliche Außenwelt beziehen; das sind
die rein begrifflichen. Wegen der Zeitlosigkeit der Begriffe kann bei
ihnen von vornherein von der Identifikation eines Zeitpunktes nicht die
Rede sein; in diesem Falle liegen aber die Dinge gerade am allereinfachsten.
Entweder nämlich werden hier wirklich die Begriffe selber völlig mit-
einander identifiziert, indem der eine im andern wiedergefunden wird (so
bedeutet das Urteil ,,2X2 ist gleich 4" tatsächlich, daß die durch die
beiden Zeichen 2X2 und 4 bezeichneten Gegenstände gar nicht von-
einander verschieden sind, daß ich ausnahmslos und überall, wo der eine
Urteilen und Erkennen.
51
der beiden Begriffe auftritt, an seine Stelle den andern setzen kann) oder
das Wiederfinden des einen Begriffes im andern bedeutet einfach eine
Subsumtion, so daß der Umfang des einen den Umfang des andern ganz
in sich enthält — also eine Teilidentifikation (dies ist beispielsweise der
Fall bei dem Urteil 2 ist gleich "1/4, denn das Zeichen 1/4^ bedeutet außer
dem Begriff 2 auch noch den Begriff — 2). Begriffswahrheiten der ersteren
Art sind versteckte Tautologien, deren Aufdeckung freilich oft eine sehr
schwierige und reizvolle Aufgabe bildet. Bei begrifflichen Erkenntnissen
ist also das Verhältnis der im Urteil auftretenden Begriffe das denkbar
klarste: es besteht in einer vollständigen oder einer Teil- Identifikation
und gibt uns zunächst keine Probleme auf. Es genügt hier, diesen Um-
stand hervorgehoben zu haben; der strenge Nachweis der Richtigkeit des
Gesagten kann erst an einem anderen Orte geführt werden.
Soweit es vorderhand für uns nötig, ist nun die Frage beantwortet,
kraft welcher Zusammenhänge es in letzter Linie geschieht, daß zwei
Begriffe denselben Gegenstand bezeichnen: bei Begriffswahrheiten sind
es letztlich völlige oder teilweise Identitäten der Begriffe selber, bei Real-
wahrheiten ist es zunächst die Identität von Raum- und Zeitbestimmungen
des durch die Begriffe Bezeichneten. Ob sich unter dieser Identität noch
eine tiefere verbirgt, für welche jene nur ein Anzeichen ist, wird sich noch
herausstellen.
Es ist aber wichtig sich klar zu machen, wie auch aus einer bloß
räumlich-zeitlichen Identität doch für uns bereits eine solche des Gegen-
standes werden kann.
Was stets am selben Ort und zur selben Zeit sich zusammen vor-
findet, das dürfen wir zwar nicht einfach identisch setzen, wohl aber
haben wir das Recht, es zu einer Einheit zusammenzufassen, diese als
einen Gegenstand zu betrachten, mit einem Begriff und Namen zu be-
legen und dann die zusammengefaßten Elemente als Attribute oder Eigen-
schaften oder Zustände usw. jenes Gegenstandes zu bezeichnen. Im Prinzip
steht es uns nämlich selbstverständlich frei, ganz beliebige, auch zeitlich
und räumlich beliebig auseinander liegende Elemente gedanklich dadurch
zusammenzufassen, daß wir festsetzen, es solle ihrer Gesamtheit e i n
Begriff zugeordnet werden — aber eine solche Vereinigung hat im all-
gemeinen keinen Sinn und Zweck, sondern nur dort, wo ein besonderes
Motiv dazu vorliegt, ohne welches dem neu gebildeten Begriffe jede Ver-
wendungsmöglichkeit fehlen würde. Und das stärkste Motiv liegt nun
immer in der beständigen raumzeitHchen Koinzidenz. Raum und Zeit
sind in der sinnlichen Wirklichkeit die großen Einiger und Entzweier.
Alle unseren Bestimmungen, durch die wir einen Gegenstand als Indi-
viduum von anderen Individuen abgrenzen und unterscheiden, bestehen
schließlich in Zeit- und Ortsangaben. Wo nun mehrere unterscheidbare
Elemente a, b, c immer zusammen auftreten, etwa in der Weise, daß a
niemals beobachtet wird, ohne daß b und c sich zugleich am selben Ort
befinden, während man vielleicht b und c auch oft ohne a antrifft, da wird
4*
52 Das Wesen der Erkenntnis.
man, weil a in keinem Falle isoliert von b und c in Erscheinung tritt, ihre
Gesamtheit abc ohne weiteres als eine Einheit, als einen Gegenstand auf-
fassen, denn die raumzeitlichen Bestimmungen, durch die wir in letzter
Linie Individuen allein voneinander zu unterscheiden pflegen, sind ja für
alle drei Elemente dieselben und es scheint folglich für uns nur e i n
Individuum da zu sein, a wird uns als das Wesentliche des Gegenstandes
erscheinen, b und c dagegen als Eigenschaften, die er mit anderen Dingen
deb, fbc usw. gemeinsam hat.
Die hier angedeutete Analyse ist wohl zu unterscheiden von der
positivistischen Auflösung des Körpers in einen Komplex von ,, Elementen"
(E. Mach). Erstens nämlich braucht der Gegenstand, von dem hier die
Rede ist, natürlich kein Körper zu sein, sondern es kann darunter ebenso-
gut ein Vorgang, Zustand usw. verstanden werden; zweitens haben wir
das Wort Element in einem viel weiteren Sinne gebraucht (nämlich fast
in demselben wie das Wort Gegenstand selber), und drittens ist hier noch
nicht behauptet, daß ein körperlicher Gegenstand gar nichts anderes
s e i als ein Komplex der Elemente, die wir an ihm unterscheiden. Es
bleibt vielmehr vorläufig die Frage ganz offen, wie das Verhältnis eines
Gegenstandes zu seinen Eigenschaften (oder wie man sie sonst nennen
möge) zu denken sei. Hier sollte nur auf das unzweifelhafte Recht hin-
gewiesen werden, das immer gemeinsam Auftretende zusammenfassend
durch einen Begriff zu bezeichnen, und auf das Motiv, das uns dazu
führt.
So sehen wir denn, wie es kommen kann, daß wir den kalten Gegen-
stand und den weißen als einen und denselben Schnee bezeichnen; aber
es bleibt doch richtig, daß bei strengerer Analyse die Identität des Gegen-
standes zu verschwinden scheint und sich die Identität eines Raum- und
Zeitpunktes auflöst. Es gibt aber zum Glück Erkenntnisse — und bei
näherer Betrachtung sind alle wissenschaftlichen von solcher Art — , bei
denen nicht nur die raumzeitliche Koinzidenz, sondern außerdem noch
wirklich eine völlige Identität von Gegenständen ohne weiteres mit Recht
konstatiert werden darf.
Das ist aber dort der Fall, wo wenigstens der eine der beiden Gegen-
stände uns nicht direkt durch Wahrnehmung oder Erlebnis gegeben,
sondern nur durch Beziehungen zu Wahrgenommenem oder Ge-
gebenem definiert ist. Wir brauchen zur Erläuterung nur auf ein oft
angezogenes Beispiel zurückzugehen: In dem Urteil ,,Ein Lichtstrahl ist
ein Strahl elektrischer Wellen" bezeichnet das Wort ,, Lichtstrahl" nicht
etwa (wie man meinen könnte) etwas in der Erfahrung unmittelbar Ge-
gebenes, denn niemand kann einen Lichtstrahl selber sehen oder hören,
sondern er wird allein dadurch bemerkt, daß die ihm in den Weg gestellten
Körper (z. B. ,, Sonnenstäubchen") erhellt werden, und daß ein von ihm
getroffenes Auge eine Lichtempfindung hat, und nur durch seine Be-
ziehung zu solchen Erhellungen ist er überhaupt definiert, er wird nämlich
als deren Ursache aufgefaßt. Das Wort Ursache ist für uns hier nur ein
Urteilen und Erkennen. 53
Name für eine bestimmte Beziehung; welches die Natur dieser Beziehung
sein mag, ist für unsere allgemeinen Betrachtungen an dieser Stelle ganz
unwesentlich. Nun ist klar, daß nicht das geringste Hindernis besteht, die
beiden Gegenstände ,,Ursache der Erleuchtung" und,, elektrische Welle", ein-
ander völlig identisch zu setzen, denn natürlich kann derselbe Gegenstand,
der zu einem Dinge eine bestimmte Relation hat, zu andern Dingen in
ganz anderen Relationen stehen, oder überhaupt beliebige sonstige Eigen-
schaften haben oder auf beliebige andere Weise definiert sein. Derselbe
Punkt B kann rechts von A und doch links von C liegen.
Nur flüchtig sei hier die Frage gestreift, ob ein und derselbe Gegen-
stand zu verschiedenen Gegenständen in derselben Relation
stehen könne. In gewissem Sinne ist sie natürlich zu bejahen; die Rela-
tion ,, größer als" kann sowohl zwischen a und b wie zwischen a und c
bestehen. In anderem Sinne dagegen ist sie zu verneinen, denn sobald
man die zwischen den Dingen bestehende Relation ganz genau an-
geben und streng bestimmen will, wird man zu der Einsicht geführt, daß
ein bestimmter Gegenstand zu einem bestimmten andern in einer be-
stimmten Beziehung steht, die ihn nur mit diesem und keinem anderen
Gegenstande verbindet. Es kann zwar a größer als b und a größer als c
sein; wenn aber aum denselben Betrag größer als c und b ist,
dann müssen b und c der Größe nach dasselbe sein. Müller kann
sowohl zu Max wie zu Fritz in der Relation der Vaterschaft stehen; aber
der physische Zeugungsprozeß, der erst den genauen Zusammenhang be-
gründet, welcher abkürzend durch das Wort Vaterschaft bezeichnet wird,
ist natürlich in beiden Fällen ein individuell verschiedener. Gleiche Be-
ziehungen zu verschiedenen Dingen kann ein Ding nur solange haben,
als die Beziehungen nicht ins letzte spezialisiert, d. h. individuell be-
stimmt sind.
Gehen wir nun zu der Anwendung über, um deren willen diese kurze
Abschweifung hier gemacht wurde, so sehen wir: ungenau gesprochen
darf man sagen, der Schnee sei sowohl die Ursache der Kälteempfindung
als auch der Weißempfindung; aber im strengen Sinne kann die Ursach-
Relation in beiden Fällen nicht dieselbe sein. In der Tat lehren uns Physik
und Physiologie, daß die Ursachen der Empfindung des Weißen einer-
seits und des Kalten andererseits in verschiedenen Naturprozessen zu
suchen sind. Sie dürfen also nicht identisch gesetzt werden, und es be-
stätigt sich, daß in dem Urteil ,,der Schnee ist weiß" eine Identität von
Gegenständen noch nicht in demselben Sinne gesetzt wird wie in dem
wissenschaftlichen Urteil ,,das Licht besteht in elektrischen Wellen".
In diesem letzteren Urteil war der eine der Begriffe durch eine Ur-
sachenbeziehung definiert. Es mag schon jetzt hervorgehoben werden, daß
das nicht bloß zufällig in diesem Beispiele stattfindet, sondern daß wir
hier den typischen Fall einer wissenschaftlichen Erklärung vor uns haben.
Wenn ich etwa sage: ,,die Wärme ist eine Molekularbewegung", so ist
der Gegenstand ,, Wärme" nur als Ursache einer Temperaturempfindung
54 Das Wesen der Erkenntnis.
oder einer Thermonneteranzeige gedacht; daß beispielsweise die Begriffe
der Elektrizität und der chemischen Affinität zuerst auf demselben Wege
gebildet wurden, hatten wir schon oben (S. 46) festgestellt. Und ähnliches
gilt allgemein. Überall in der Forschung läßt sich das zu Erforschende
durch Ursachbeziehungen darstellen, und meist ist es am ungezwungensten
auf diese Weise gegeben. So rechtfertigt sich die Meinung vieler Denker,
jede wissenschaftliche Erklärung müsse eine Kausalerklärung sein. Ob
nun diese Art der Formulierung erkenntnistheoretisch die vollkommenste
ist, oder ob vielleicht bei eingehender Analyse es empfehlenswert er-
scheinen wird, den Kausalbegriff überhaupt durch andere Begriffe zu er-
setzen, auf die er vielleicht zurückgeführt werden kann — das sind Fragen,
die hier noch nicht zur Untersuchung stehen.
In allen angeführten Beispielen wissenschaftlicher Erkenntnis sind
die im Urteil vollzogenen Gleichsetzungen Teilidentifikationen im früher
(S. 51) erläuterten Sinne, also Subsumtionen. Daß es nicht vollständige
Identifikationen sind, erkennt man daran, daß die Urteile nicht umkehr-
bar sind. Nicht jede Bewegung der Moleküle ist ja Wärme, nicht jede
elektrische Welle ist Licht; sondern das gilt nur von bestimmten Arten
der Molekularbewegung, nur von elektrischen Wellen ganz bestimmter
Beschaffenheit, und durch Angabe spezieller Merkmale kann dies genau
festgelegt werden. Fügen wir nun die besonderen Merkmale wirklich hinzu,
indem wir unsere Urteile spezialisieren und etwa sagen: das Licht der
D-Linien des Spektrums besteht in elektrischen Wellen, die ungefähr
509 Billionen Schwingungen pro Sekunde ausführen, so besteht jetzt
völlige Identität der Gegenstände der beiden hier vereinten Begriffe.
Beide bezeichnen ein und denselben Gegenstand auf verschiedene Weise:
der Subjektsbegriff ,, Natriumlicht" bedeutet die Ursache einer gewissen
gelben Erhellung und der Prädikatsbegriff bezeichnet dasselbe mit Hilfe
einer Kreuzung der beiden Begriffe ,, elektrische Schwingungen" und ,,die
Frequenz 509 Billionen besitzend". Und hier können wir nun Subjekt
und Prädikat ohne Fehler vertauschen. S ist P und P ist S. Durch
Kreuzung zweier allgemeinerer Begriffe läßt sich ein speziellerer Gegen-
stand vollkommen bestimmen und bezeichnen. Haben wir zwei solche
Begriffe P' und P" gefunden, daß sie ein Gebiet P gemeinsam haben,
welches genau mit S identisch ist, so ist S vollständig erkannt, und die
Erkenntnisstufe ist um so höher, je allgemeiner die Begriffe P' und P"
sind.
Wir können also bei einem wissenschaftlichen Urteil ,,S ist P" zwei
Fälle unterscheiden: entweder es bedeutet unmittelbar eine Subsumtion
des S unter P (z. B. Licht ist ein Schwingungsvorgang), oder es bedeutet
eine völlige Identifikation von S und P (z. B. Na-Licht besteht in elektro-
magnetischen Schwingungen von der Frequenz 509 . 10^^), dann aber ist
P seinerseits immer dadurch bestimmt, daß es unter sich kreuzende Be-
Was ist Wahrheit? 55
griffe P' und P" subsumiert wird — die ihrerseits natürlich durch Kreuzung
noch allgemeinerer Begriffe entstanden sein können (auch dies ist am
eben erwähnten Beispiel leicht zu verfolgen). Immer aber machen die
Subsumtions- und Kreuzungsbeziehungen das Wesentlichste des Urteils-
inhaltes aus.
So sehen wir denn, wie die große Aufgabe der Erkenntnis (vgl. S. 12)
individuelle oder besondere Gegenstände mit Hilfe allgemeiner Begriffe
zu bezeichnen, sich löst: Durch Kreuzung der allgemeinen Begriffe wird
in ihrer Mitte ein Bezirk abgegrenzt, in welchem nichts anderes Platz
hat, als allein der Gegenstand, der da erkannt wird.
Wie man wenigstens aus einem unserer Beispiele entnehmen kann,
geschieht dabei die immer engere und genauere Einzirkelung der begriff-
lichen Stelle, an die das Erkannte gehört, in den strengen Wissenschaften
mit Hilfe von quantitativen Bestimmungen; nichts ist zur genauen Ab-
schneidung und Umgrenzung der Begriffsfelder so geeignet wie die
Zahlen. Aber nicht hierin allein wurzelt die unermeßliche Bedeutung
des Zahlbegriffs für unsere exakte Erkenntnis, sondern der letzte Grund
dafür liegt noch tiefer, wie im Laufe der Untersuchungen sich noch
zeigen wird.
Überschauen wir nun mit kurzem Blicke, wie sich das Verhältnis
des Urteilens zum Erkennen uns dargestellt hat.
Jedes Urteil dient zur Bezeichnung eines Tatbestandes. Ordnet es
diesem Tatbestande ein neues Zeichen zu (d. h. tritt in ihm ein Begriff
auf, der erst zum Behuf der Bezeichnung dieser Tatsache.erfunden wurde),
so stellt es eine Definition dar. Verwendet es aber lauter bei anderen
Gelegenheiten schon gebrauchte Begriffe, so ist es eben dadurch eine
Erkenntnis. Denn einen Gegenstand durch Begriffe zu bezeichnen,
welche bereits anderen Gegenständen zugeordnet sind, geht nur dann an,
wenn vorher diese in jenem wiedergefunden wurden, und gerade dies
machte ja das Wesen des Erkennens aus. Der dem Erkannten zugeordnete
Begriff steht zu den Begriffen, durch die es erkannt wird, in gewissen
Subsumtionsbeziehungen, und das Bestehen dieser Beziehungen ist eben
die Tatsache, zu deren Bezeichnung das Urteil dient.
10. Was ist Wahrheit?
Zu welchem Zwecke ordnen wir eigentlich den Gegenständen Begriffe
zu? Auf diese Frage wurde eine Antwort bereits gegeben, und sie lautete:
um über sie urteilen zu können. Warum aber urteilen wir.? mit anderen
Worten: warum ordnen wir den Tatsachen Urteile als Zeichen zu.? Um
hierauf zu antworten, brauchen wir uns nur klar zu machen, wozu wohl
überhaupt alles Bezeichnen dient.
Jedes Zeichen hat die Aufgabe, Repräsentant des Bezeichneten zu
sein, das heißt, dessen Stelle in irgendeiner Hinsicht zu vertreten. Überall
wo es unmöglich oder unbequem ist, mit den Gegenständen selbst zu
56 Das Wesen der Erkenntnis.
operieren, die uns beschäftigen, da setzen wir Zeichen an ihre Stelle, die
sich leichter und nach Belieben handhaben lassen. Wenn ich einer Biblio-
thek ein Buch entnehmen will, so kann ich nach dem gewünschten Bande
Ausschau halten, indem ich an den Büchergestellen entlang gehe; aber
das wäre in den meisten Fällen ein umständliches und zeitraubendes Ver-
fahren, und ich ziehe es daher vor, den Katalog zu befragen, und der
ist nichts anderes als eine geordnete Sammlung von Zeichen, deren jedes
einem Bande der Bibliothek entspricht. In dieser Zeichensammlung finde
ich mich infolge ihres kleineren Umfanges und der bequemeren Anord-
nung (etwa alphabetische Reihenfolge der Autorennamen) leichter zurecht
als in der Bibliothek selbst. Nach einem ähnlichen Prinzip handeln wir
überall, wo wir Gegenstände numerieren, mag es sich nun um die Kenn-
zeichnung von Kleidungsstücken in einer Theatergarderobe handeln oder
um die Unterscheidung zweier gleichnamiger Souveräne, die zu verschie-
denen Zeiten über dasselbe Reich regiert haben. Alles Schreiben, Rechnen,
Reden ist gleich dem Numerieren ein Arbeiten mit Symbolen, und ebenso
auch alles Denken. Im Denken beherrschen wir die Welt, das heißt:
wir beherrschen die Gedanken und Urteile, welche uns als Zeichen für
alle Gegenstände und Tatsachen der Welt dienen.
Und alle diese Zuordnungen, die wir in allen Lebenslagen unaufhör-
lich vollziehen, müssen eine große Bedingung erfüllen, damit sie ihren
Zweck erreichen, die Symbole zu gültigen Repräsentanten des Bezeich-
neten zu machen: Man muß genau wissen, welcher Gegenstand zu einem
bestimmten Zeichen gehört und umgekehrt; das heißt, die Zuordnung
muß eindeutig sein. Mit anderen Worten: es darf ein und dasselbe
Zeichen niemals verschiedene Gegenstände bedeuten. (Das Umgekehrte
ist nicht unbedingt nötig; es schadet nichts, wenn denselben Gegenständen
mehrere verschiedene Zeichen zugeordnet sind, aber nur unter der Voraus-
setzung, daß man genau wisse, daß diese Zeichen dieselbe Bedeutung
haben, daß man sich also stets dessen bewußt ist, daß sie sich beliebig
miteinander vertauschen und durcheinander ersetzen lassen).
Das gilt nun auch für die Zuordnung der Urteile zu Tatsachen. Uhd
ein Urteil, das einen Tatbestand eindeutig bezeichnet, heißt wahr.
Die Frage nach dem Wesen der Wahrheit hat zu aller Zeit — am
meisten gerade in kurz vergangenen Jahren — das philosophische Denken
bewegt. Sie hat damit das Schicksal so manchen Problems geteilt, dessen
Lösung nur deshalb nicht von jedermann sofort gesehen und anerkannt
wurde, weil man sie in zu großer Tiefe suchte. Die hier gegebene Wesens-
bestimmung der Wahrheit ist schlicht und unscheinbar, aber es wird sich
zeigen, daß sie wirklich imstande ist, Rechenschaft zu geben von allen
Eigenschaften, die der Wahrheit in Wissenschaft und Leben zugeschrieben
werden, von den simpelsten bis zu den erhabensten, die sie zu einem der
höchsten Güter der Menschen machen.
Der Wahrheitsbegriff wurde früher fast immer definiert als eine
Übereinstimmung des Denkens mit seinen Objekten — oder, wie wir
Was ist Wahrheit?
57
besser sagen, der Urteile mit dem Beurteilten (denn nicht dem aktuellen
Denken, den psychologischen Akten des Urteilens schreiben wir Wahr-
heit zu, sondern den Urteilen als idealen Gebilden). Und ohne Zweifel
gab diese Definition einem richtigen Gedanken Ausdruck. Aber welchem
Gedanken.?
Daß die wahren Urteile zu den Tatbeständen in irgendeinem Sinne
passen, ihnen irgendwie angemessen sind, mit ihnen ,, übereinstimmen",
während falsche Urteile in bezug auf die Tatbestände etwas Unpassendes,
Unangemessenes, Unstimmiges sind, ist gewiß; aber das Wort ,, Über-
einstimmen" bezeichnet die Frage nur, ohne sie zu beantworten. Im ge-
wöhnlichen Sprachgebrauch heißt Übereinstimmung nichts anderes als
Gleichheit. Zwei Töne, Farben, zwei Maße, zwei Meinungen stimmen
überein, wenn sie gleich sind. In diesem Sinne darf das Wort hier natür-
lich nicht genommen werden, denn das Urteil ist etwas ganz anderes
als das Beurteilte, dem es zugeordnet ist, es ist ihm nicht gleich, und das
könnte nur bestritten werden vom Standpunkte abenteuerlicher meta-
physischer Systeme, welche überhaupt Denken = Sein setzen, und über
die wir kein Wort zu verlieren brauchen.
Wenn Übereinstimmung hier nicht Gleichheit bedeutet, so könnte
vielleicht Ähnlichkeit gemeint sein. Sind unsere Urteile den Tatsachen
in irgendeinem Sinne ähnlich.? Ähnlichkeit müßte hier soviel heißen wie
teilweise Gleichheit, es müßten sich also an den Urteilen gewisse Momente
finden lassen, die auch in den Tatsachen selbst aufzuweisen sind. Bei
reinen Begriffswahrheiten, wo das Beurteilte gleich den Urteilen selber
aus bloß idealen Gebilden besteht, möchte allerdings unter Umständen
auf beiden Seiten Gleiches gefunden werden, aber das kann nicht das
Wesentliche für die Wahrheit sein, denn auch Sätze über reale Dinge
machen doch auf Wahrheit Anspruch — hier wird ja das Wesen der Wahr-
heit erst zum Problem — bei ihnen aber wird man vergeblich nach solchen
gleichen Momenten suchen. Denn die im Urteil auftretenden Begriffe
sind den wirklichen Gegenständen gewiß nicht gleichartig, die sie bezeichnen,
und auch die Beziehungen zwischen den Begriffen sind nicht gleich den
Beziehungen der Dinge, denn in die letzteren gehen immer zeitliche,
meist auch räumliche Momente ein, und begriffliche Relationen sind un-
räumlich und unzeitlich. In dem Urteil ,,der Stuhl steht rechts vom
Tisch" wird doch nicht der Begriff des Stuhles rechts vom Begriff des
Tisches gestellt.
So zerschmilzt der Begriff der Übereinstimmung vor den Strahlen
der Analyse, insofern er Gleichheit oder Ähnlichkeit bedeuten soll, und
was von ihm übrig bleibt, ist allein die eindeutige Zuordnung. In ihr be-
steht das Verhältnis der wahren Urteile zur Wirklichkeit, und alle jene
naiven Theorien, nach denen unsere Urteile und Begriffe die Wirklichkeit
irgendwie ,, abbilden" könnten, sind gründlich zerstört. Es bleibt dem
Worte Übereinstimmung hier kein anderer Sinn als der der eindeutigen
Zuordnung. Man muß sich durchaus des Gedankens entschlagen, als
58 Das Wesen der Erkenntnis.
könne ein Urteil im Verhältnis zu einem Tatbestand mehr sein als ein
Zeichen, als könne es inniger mit ihm zusammenhängen denn durch bloße
Zuordnung, als sei es imstande, ihn irgendwie adäquat zu beschreiben
oder auszudrücken oder abzubilden. Nichts dergleichen ist der Fall. Das
Urteil bildet das Wesen des Beurteilten so wenig ab wie die Note den
Ton, oder wie der Namen eines Menschen seine Persönlichkeit.
Eindeutigkeit ist die einzige wesentliche Tugend einer Zuordnung,
und da Wahrheit die einzige Tugend der Urteile ist, so muß die Wahrheit
in der Eindeutigkeit der Bezeichnung bestehen, zu welcher das Urteil
dienen soll.
Wenn diese Bestimmung richtig ist, so kann ein falsches Urteil nichts
anderes sein, als ein solches, das eine Mehrdeutigkeit der Zuordnung ver-
schuldet. Dies läßt sich in der Tat sehr leicht bestätigen. Nehmen wir
etwa, um an unser altes Beispiel anzuschließen, das falsche Urteil: ,,Ein
Lichtstrahl besteht in einem Strome schnell bewegter Körperchen" (dieser
Satz entspricht bekanntlich der NEWXON'schen Emissionstheorie des
Lichtes), so werden wir bei Prüfung aller Tatsachen, die die physikalische
Forschung uns kennen gelehrt hat, bald gewahr, daß dieses Urteil keine
eindeutige Bezeichnung der Tatbestände ermöglicht. Wir würden nämlich
finden, daß hierbei zwei verschiedenen Tatsachenklassen dieselben Urteile
zugeordnet wären, daß also eine Zweideutigkeit vorläge. Es wären ja
einerseits die Tatsachen, bei denen es sich wirklich um bewegte Korpuskeln
handelt, wie etwa Kathodenstrahlen, andererseits die Tatsachen der Licht-
fortpflanzung durch dieselben Symbole bezeichnet. Überdies würden
zugleich auch zwei identischen Tatsachenreihen, nämlich der Lichtfort-
pflanzung einerseits, der Wellenausbreitung andererseits, verschiedene
Zeichen zugeordnet sein. Die Eindeutigkeit wäre verloren, und der Nach-
weis davon ist der Nachweis der Falschheit jenes Urteils. Mit der Frage
des Nachweises, d. h. des Kriteriums der Wahrheit werden wir uns erst
in einem späteren Kapitel zu beschäftigen haben; wie können aber doch
schon hier die Richtigkeit des Gesagten deutlich einsehen. In der Wissen-
schaft wird die Prüfung fast immer so geführt, daß wir aus unseren Ur-
teilen neue ableiten, welche zukünftige Ereignisse bezeichnen (also
Voraussagungen); und wenn nun statt der erwarteten Tatbestände in
Wirklichkeit andere eintreten, solche also, die durch andere als unsere
abgeleiteten Urteile bezeichnet werden müssen, so sind Widerspruch und
Mehrdeutigkeit da, und wir nennen die Urteile, von denen wir ausgingen,
falsch. Ließen wir unsere Voraussage, die ja ein Zeichen für den
erwarteten, in der Vorstellung antezipierten Tatbestand ist, auch als
Zeichen für den wirklich eingetretenen zu, so würde dasselbe Urteil zwei
verschiedene Ereignisse bedeuten, und wenn wir es später einmal aus-
sprechen hören, würden wir nicht wissen, welches Ereignis gemeint ist.
Der Grund, warum wir das Falsche, Unwahre hassen, liegt in solchen
unerträglichen Vieldeutigkeiten. Alle Verwirrung, die durch eine falsche
Aussage entsteht, alles Übel der Lüge entspringt aus den Verwechslungen,
Was ist Wahrheit? 59
welche die Folge der Mehrdeutigkeit sind. Wer sich die Verhältnisse
einmal in aller Klarheit vergegenwärtigt, wird einsehen, daß die Unter-
scheidung von wahren und falschen Urteilen in der Tat nur den Sinn
hat, allem sprachlichen und gedanklichen Ausdruck die Eindeutigkeit zu
wahren; sie ist die notwendige Vorbedingung alles Verständnisses und
ohne sie wird jede Bezeichnung und jeder Ausdruck zwecklos und eitel.
Um auszudrücken, daß ein gegebenes Urteil ,,S ist P" falsch ist,
d. h. eine Tatsache nicht eindeutig bezeichnet, bedienen wir uns der Ver-
n e i n u n g und sagen ,,S ist nicht P". Das negative Urteil hat demnach
zunächst immer nur den Sinn, das entsprechende positive Urteil zurück-
zuweisen, es zu brandmarken als ein ungeeignetes, vieldeutiges Zeichen
für den beurteilten Tatbestand. Wollen wir dies gelehrt ausdrücken, so
können wir sagen: die Kategorie der Negation ist auf die Kategorie der
Vielheit zurückgeführt.
Da das verneinende Urteil nur die Bedeutung hat, eine bejahende
Aussage zurückzuweisen, da es mithin voraussetzt, daß man die Absicht
gehabt habe oder in Versuchung gewesen sei, jenes falsche bejahende
Urteil zu fällen, oder daß es sogar wirklich von jemand gefällt worden ist,
so ist das Vorkommen negativer Urteile offenbar abhängig von dem Vor-
kommen falscher Urteile. Und da falsche Aussagen natürlich ihren Grund
nur in der psychologischen Unvollkommenheit unseres Geistes haben, so
ist das Auftreten der Verneinung allein durch unsere mangelhafte Kon-
stitution bedingt. Es muß also möglich sein, Logik und Wissenschaft zu
treiben, ohne überhaupt verneinende Urteile in Betracht zu ziehen, ja,
in der reinen Logik als einer idealen Wissenschaft, die sich um die prak-
tischen Bedingungen des Denkens und seine psychologischen UnvoU-
kommenheiten nicht kümmert, brauchten sie streng genommen überhaupt
keinen Platz zu finden. In der Tat haben negative Urteile nur praktischen,
psychologischen, nicht theoretischen, logischen Wert. Die Gebäude unserer
Wissenschaften bestehen ausschließlich aus positiven Aussagen. In den
Fällen, in denen der Begriff der Verneinung zur Bezeichnung gewisser
Tatbestände unentbehrlich zu sein scheint, kann er vollständig durch
den Begriff der Verch ied en hei t ersetzt werden. Die Urteile ,,A ist
nicht B" und ,,A ist von B verschieden" bedeuten ein und dasselbe.
Hier liegen interessante Beziehungen vor, die z. B. für die logische
Grundlegung der Arithmetik von Wichtigkeit werden. Doch hier ist
es nicht nötig, darauf einzugehen.
Das verneinende Urteil ,,S ist nicht P" bezeichnet also den Tat-
bestand, daß der bejahende Satz ,,S ist P" falsch ist. Man kann
das ausdrücken, indem man sagt: Wenn das Urteil ,,S ist nicht P"
wahr ist, dann ist das Urteil ,,S ist P" falsch, und umgekehrt. In
diesem Ausspruch haben wir aber die berühmten Sätze vom Wider-
spruch und vom ausgeschlossenen Dritten vor uns. Wie wir
6o Das Wesen der Erkenntnis,
sehen, ergeben sie sich unmittelbar aus dem Wesen der Verneinung
und können als deren Definition aufgefaßt werden. Die Mehrzahl der
Logiker ist wohl heute zu der Einsicht gekommen, daß die Sätze vom
Widerspruch und vom ausgeschlossenen Dritten nur diesen harmlosen
Sinn haben, daß durch sie nur das Wesen der Verneinung bestimmt wird,
daß sie also nicht etwa eine Wahrheit von metaphysischer Bedeutung
enthalten oder etwa eine Schranke unseres menschlichen Denkens dar-
stellen, die vielleicht für Wesen von anderer geistiger Konstitution nicht
zu bestehen brauche ^). Die Grenzen der Bedeutung und Anwendung der
beiden Sätze sind dieselben wie diejenigen der Negation.
Noch sind einige wichtige Punkte aufzuklären, noch einige allbekannte
Eigenschaften der Wahrheit mit unseren Bestimmungen in Einklang zu
bringen.
Eine erste Frage wäre: Wenn Wahrheit Eindeutigkeit der Bezeich-
nung ist, warum können dann nur Urteile, nicht auch Begriffe wahr sein,
da die letzteren doch ebenfalls Zeichen sind.!*
Der Unterschied besteht darin, daß das Urteil nicht bloß ein Zeichen
ist, sondern daß in ihm zugleich immer eine Bezeichnung tatsächlich aus-
geführt, eine Zuordnung wirklich vollzogen gedacht wird. Wenn ich das
Wort „Wasser" ausspreche und mir die Vorstellung Wasser zur Ver-
tretung des Begriffs vergegenwärtige, so kann dabei nichts Wahres oder
Falsches, nichts Eindeutiges oder Mehrdeutiges sein. Wenn ich aber beim
Aussprechen des Wortes auf eine farblose Flüssigkeit zeige, so wird meine
Handlung sofort einem Urteil, äquivalent; ich deute damit an, daß ich
eine Zuordnung vollziehen will, und die kann nun in der Tat richtig oder
falsch sein. Spreche ich das Urteil aus: diese Flüssigkeit ist Wasser, so
hat es genau dieselbe Bedeutung wie jenes Wort verbunden mit jener
Geste. Ich ordne eben das Urteil der Tatsache zu, daß die Flüssigkeit
die Eigenschaften des Wassers besitzt, und es ist falsch, wenn sich heraus-
stellen sollte, daß sie statt des Verhaltens des Wassers etwa dasjenige
zeigt, durch das uns der Begriff des Alkohols definiert ist. Es ist nicht
nur das Urteil als Ganzes einer Tatsache als Ganzes zugeordnet, sondern,
wie sich aus der Konstitution des Urteils ergibt, damit zugleich auch Be-
griffe den Gegenständen; und die Eindeutigkeit der ersteren Zuordnung
wird bedingt durch die Eindeutigkeit der letzteren.
Damit kommen wir auf eine außerordentlich wichtige Frage, deren
Klärung uns erst volles Verständnis für das Wesen der Wahrheit geben
kann, die Frage nämlich: wodurch denn eigentlich ein bestimmtes Urteil
») Vgl. unten § 35.
Was ist Wahrheit? 6i
gerade zum Zeichen einer bestimmten Tatsache wird; mit anderen Worten:
woran erkenne ich, welche Tatsache ein gegebenes Urteil bezeichnet?
Wenn es gilt, einem System von Gegenständen ein System von Zeichen
zuzuordnen, so ist klar, daß man auf alle Fälle damit anfangen muß, be-
stimmte Symbole für bestimmte Dinge willkürlich festzusetzen. Die Be-
zeichnung der Zahlen durch Ziffern, der Laute durch Buchstaben sind
solche Konventionen. Sie werden von verschiedenen Völkern in ver-
schiedener Weise vorgenommen. Die Bezeichnung der Nationen durch
Flaggen ist ein anderes Beispiel für diese Art der Zuordnung. Deuten
kann diese Symbole nur, wer von jenen Konventionen Kenntnis erhalten
hat; er muß einfach auswendig lernen, welches Zeichen zu einer bestimmten
Tatsache oder einem bestimmten Gegenstande gehört. Das Erlernen einer
Sprache ist nichts als die Aneignung eines solchen Zeichensystems. Das
Auswendiglernen kann unter Umständen durch physische Akte vermieden
und ersetzt werden; so merkt sich der Hotelhausknecht nicht einzeln,
welches Stiefelpaar einem bestimmten Gaste zugehört, sondern er schreibt
die Zimmernummer auf die Sohlen, das heißt, er bringt an den Stiefeln
ein sichtbares Symbol an, welches mit dem an der entsprechenden Zimmer-
tür befindlichen Symbol eine Ähnlichkeit besitzt, die durch sinnliche
Wahrnehmung jederzeit festgestellt werden kann. Die meisten Gegen-
stände der Erkenntnis sind nun aber nicht von der Art, daß sich Nummern
an ihnen anheften lassen, und so muß ihre Bezeichnung auf andere Weise
geschehen.
Es wäre nun aber nicht angebracht, alle Dinge der Welt in der Weise
zu bezeichnen, daß wir lauter einzelne Zeichen dafür erfinden und die
Bedeutung eines jeden auswendig lernen. Prinzipiell wäre es zwar leicht
möglich, auf diese Weise eine eindeutige Bezeichnung durchzuführen;
und da Wahrheit bloß in dieser Eindeutigkeit der Zuordnung besteht, so
wäre es im Prinzip ein Kinderspiel, zu vollkommener Wahrheit zu ge-
langen. Die Wissenschaften hätten eine gar leichte Aufgabe, wenn Wahr-
heit einfach mit Erkenntnis identisch wäre. Aber das ist nun ganz und
gar nicht der Fall. Erkenntnis ist mehr, viel mehr als bloße Wahrheit.
Letztere verlangt nur Eindeutigkeit der Zuordnung und es ist ihr gleich-
gültig, welche Zeichen dazu benützt werden; Erkenntnis dagegen bedeutet
eindeutige Zuordnung mit Hilfe ganz bestimmter Symbole, nämlich solcher,
die bereits anderswo Verwendung fanden. Wenn ein Physiker eine neue
Art von Strahlen entdeckte und ihnen den Namen Y-Strahlen gäbe, so
würde das Urteil: ,,die von dem Physiker entdeckten Strahlen sind die
Y-Strahlen" natürlich wahr sein, aber einen Fortschritt der Erkenntnis
würde es nicht bedeuten, weil zur Bezeichnung des neuen Gegenstandes
einfach ein neues Wort verwendet wurde. Wenn ich sage: Abracadabra
ist Abracadabra, so ist auch dies Urteil immer wahr, was auch Abracadabra
bedeuten möge, denn die in ihm vollzogene Zuordnung eines Symboles
zu sich selber ist von Natur eindeutig, aber eine Erkenntnis ist es gewiß
nicht. Würde also jeder Tatsache, jedem Gegenstande der Welt sein be-
62 Das Wesen der Erkenntnis.
sonderes Zeichen zugeordnet, so hätten wir lauter isolierte Wahrheiten,
die wir einzeln lernen müßten (was freilich praktisch wegen ihrer un-
zähligen Menge unmöglich wäre), und es würde für uns kein Mittel geben,
aus den einen die andern abzuleiten, ebensowenig, wie wir aus dem Aus-
sehen der deutschen und der englischen Flagge Schlüsse ziehen können
auf dasjenige der italienischen. Unsere Wahrheiten wären gleichsam lauter
diskrete Punkte, sie bildeten kein zusammenhängendes System; und nur
in einem solchen ist Erkenntnis möglich, denn ein Widerfinden des einen
im anderen setzt einen durchgehenden Zusammenhang voraus.
Also nicht von dieser Art ist unsere Bezeichnung der Tatbestände
durch Urteile, sofern sie Erkenntnis enthalten. Wir brauchen nicht be-
sonders zu lernen, welche Tatsache durch ein bestimmtes Urteil bezeichnet
wird, sondern wir können es dem Urteil selbst ansehen. Das Erkenntnis-
urteil ist eine neue Kombination von lauter alten Begriffen. Die
letzteren kommen in zahllosen anderen Urteilen vor, von denen uns einige
(z. B. ihre Definitionen) schon vorher bekannt sein rnußten; sie bilden
die Verbindungsglieder, durch die das Neue in das große System der be-
kannten Urteile eingeordnet wird, welches den Bestand unserer Erfah-
rungen und unserer Wissenschaften bildet. Kraft des Urteilszusammen-
hanges kommt also der neuen Wahrheit ein ganz bestimmter Platz im
Kreise der Wahrheiten zu: die ihr entsprechende Tatsache erhält dadurch
den Platz zugewiesen, den sie kraft des Tatsachenzusammenhanges im
Reiche der Wirklichkeit einnimmt. Und eben dadurch, daß das Urteil
diesen Platz uns anzeigt, wird die Tatsache oder der Gegenstand e r -
k a n n t. So ist es der Strukturzusammenhang des Systems unserer
Urteile, welcher die eindeutige Zuordnung bewirkt und ihre Wahrheit
bedingt; und allein der Ort, den ein Satz in unserem Urteilssystem ein-
nimmt, belehrt uns darüber, welche Tatsache er bezeichnet.
Nur die ersten Begriffe und Urteile, auf welche die Erkenntnis
die übrigen zurückführt, beruhen auf Konvention und müssen als
willkürliche Zeichen gelernt werden. Die Sprache bezeichnet natürlich
nicht nur die Fundamentalbegriffe, sondern auch die komplizierteren
(d. h. diejenigen, die durch Kreuzung der elementaren entstehen)
durch besondere Worte, die dem Gedächtnis eingeprägt werden
müssen. (Allerdings müßte eine bis zum Ideal der Vollkommenheit
entwickelte Sprachphilosophie »nd Sprachwissenschaft im Prinzip auch
die Auffindung der Worte leisten können, die von bestimmten Völ-
kern zur Bezeichnung bestimmter Begriffe verwendet werden, denn
die Gründe, die zur Annahme bestimmter Konventionen führen, sind ja
selbst wieder erkennbare, bezeichenbare Tatsachen.) Die Sprache ihrer-
seits verfährt ähnlich wie das Erkennen: sie bildet neue Worte nicht durch
neue Laute, sondern durch neue Kombinationen einer verhältnismäßig
geringen Anzahl von fundamentalen Sprachlauten. Diejenige Sprache ist
am weitesten entwickelt, die den ganzen Reichtum der Gedanken durch
ein Minimum verschiedener Formea, und doch kurz, auszudrücken ver-
Was ist Wahrheit? 63
steht. Ein wahrer „Humanismus" wird die gehaltvolle Kürze mancher
modernen Sprache für die Zwecke der Philosophie geeigneter finden als
die gewundene Redseligkeit des Griechischen. Die Sucht, neue Worte
für ihre Begriffe zu erfinden, kennzeichnet die kleineren Geister unter den
Philosophen; einem Hume genügte die simpelste Terminologie als Kleid
grundlegender Gedanken. (Nietzsche's geniale Wortbildungen dienen nicht
begrifflichen, sondern allein poetischen Zwecken; von ihnen ist hier nicht
die Rede.)
Alle unsere Urteile lassen sich |nun in verschiedene Klassen ordnen.
Es sind nämlich entweder
1. Definitionen d. h. Urteile, welche eine Zuordnung durch will-
kürliche Festsetzung vollziehen oder
2. Bezeichnungen von Erfahrungstatsachen d. h. Urteile, welche eine
Zuordnung auf Grund von Wiedererkennungsakten vollziehen, oder
3. Hypothesen, d. h. aus bekannten Begriffen gebildete Urteile, die
man versuchsweise zur Bezeichnung von Tatsachen einführt, in der
Hoffnung, dadurch eine eindeutige Zuordnung zu denselben zu gewinnen.
Wenn es
4. Urteile gibt, die sich von den Hypothesen dadurch unterscheiden, daß
bei ihnen an Stelle der Hoffnung eine berechtigte Überzeugung auftritt,
von welcher wir zugleich die Gewähr hätten, daß sie uns niemals täuschen
kann, so würden diese Urteile nicht mehr Hypothesen, sondern Axiome
heißen müssen. (Die ,, impliziten Definitionen" würde man dann passend
nicht „Definitionen durch Axiome" nennen, da die dabei benutzten Ur-
teile nicht Axiome im eben erläuterten Sinne sind, sondern eben als
Definitionen betrachtet werden müssen.) Ob es diese vierte Klasse von
Urteilen wirklich gibt, muß die weitere Untersuchung zeigen. Sie
sind, wie der kundige Leser längst bemerkt haben wird, mit den ,, syntheti-
schen Urteilen a priori" Kant's identisch.
In den Fundamentalurteilen dieser vier oder drei Klassen haben wir
nun die Stützpunkte, auf denen unser System aller wissenschaftlichen
Wahrheiten ruht. Von ihnen ausgehend errichten wif es Schritt für Schritt,
indem wir die einzelnen Bausteine durch syllogistisches Verfahren ge-
winnen, welches bekanntlich darin besteht, daß man durch Kombination
zweier Urteile unter Elimination eines Begriffes (des sog. Mittelbegriffes)
ein drittes herstellt. An jenen Ausgangspunkten nun deckt sich das Netz
der Urteile mit dem System der Tatsachen von vornherein, denn wir haben
es ja so konstruiert, daß dies der Fall ist. Verfuhren wir aber richtig bei
unserem Aufbau, so entspricht nicht nur den Ausgangspunkten, sondern
auch den Maschen unseres Urteilsnetzes, die wir auf deduktivem, d. h.
syllogistischem Wege erzeugt haben, je eine Tatsache der Wirklichkeit;
jedes Glied unseres Urteilssystems ist einem wirklichen Tatbestande ein*
deutig zugeordnet.
64 Das Wesen der Erkenntnis.
Die einzelnen Wissenschaften unterscheiden sich ihrem ganzen Cha-
rakter nach nun sehr wesenthch durch die Art und Weise, wie sie die
durchgehende Eindeutigkeit der Zuordnung erreichen. Die DiszipHnen
von mehr beschreibender Methode, deren markantestes Beispiel die
historischen Wissenschaften sind, vermögen die durchgehende
Deckung der beiden Systeme nur dadurch zu erreichen, daß sie fast nur
solche Urteile aufnehmen, die der zweiten der oben aufgeführten Klassen
angehören und darüber keine hohen Konstruktionen mehr ausführen. Sie
kleben gleichsam an den gegebenen Tatsachen und können sich nicht in
freiem Bau der Gedanken darüber erheben, ohne sofort die Eindeutigkeit
aufs Spiel zu setzen. In ihnen muß man wirklich auswendig lernen, welche
Begriffe und Urteile den einzelnen Tatsachen zugeordnet sind; aus Napo-
leons Geburtstag läßt sich sein Todestag nicht ableiten, sondern man muß
beides gedächtnismäßig lernen; niemand kann die Reihenfolge der römi-
schen Kaiser und ihre Regierungszeiten aus ferner liegenden historischen
Daten deduzieren. Es fehlt den historischen Urteilen in hohem Maße
an Zusammenhang, an gemeinsamen Elementen, die bei Schlüssen als
Mittelbegriffe dienen können (die Persönlichkeiten, die Handelnden in der
Geschichte, können diese Rolle nicht spielen, weil sie von Augenblick zu
Augenblick andere sind, von immer wechselnden Gedanken, Wünschen
und Gefühlen erfüllt, deren gesetzmäßigen Verlauf wir nicht verfolgen
können), und um diesen Mangel auszugleichen, ist eine ungeheure Mannig-
faltigkeit von unabhängigen Einzelurteilen nötig, nur so bleibt die ein-
deutige Bezeichnung möglich. Diese Disziplinen sind sehr reich an Material,
ganz arm dagegen an Erkenntnissen. Historische Begebenheiten werden
nie so vollkommen begriffen, daß sie restlos aus den Umständen ab-
geleitet werden könnten. Deshalb kann der Historiker auch nicht die
Zukunft voraussagen.
Ganz anders die Methode der exakten Wissenschaften. Sie erreichen
die Eindeutigkeit der Zuordnung des Urteilssystems zu den Tatsachen
nicht dadurch, daß sie die Zahl ihrer Fundamentalurteile möglichst groß
machen, sondern sie streben sie im Gegenteil soviel wie möglich zu ver-
kleinern, sie überlassen es dem unfehlbaren logischen Zusammenhang, die
beiden Systeme zu eindeutiger Übereinstimmung zu bringen. Der Astronom,
der den Ort eines Kometen an nur drei verschiedenen Zeitpunkten be-
obachtet hat, kann seinen Ort zu beliebigen Zeiten voraussagen; der
Physiker kann mit Hilfe der wenigen Grundgleichungen, die den Namen
Maxwell's tragen, dem gesamten Gebiet der elektrischen und magne-
tischen Erscheinungen passende Urteile zuordnen, oder mit Hilfe von ganz
wenigen Bewegungsgesetzen der Gesamtheit aller mechanischen Vorgänge.
Er braucht nicht für jeden einzelnen ein besonderes Gesetz aufzustellen
und zu lernen. So gleichen die exakten Wissenschaften nicht einem Maul-
wurfsbau, der sich durch das Erdreich der Tatsachen windet, sondern
einem Eiffelturm, der nur an wenigen Punkten gestützt frei und leicht
in die luftige Höhe allgemeinster Begriffe sich erhebt, von der aus man
Was ist Wahrheit? 65
die Einzeltatsachen nur um so vollkommener beherrscht. Je weniger
fundamentale Urteile einer Wissenschaft zugrunde liegen, desto geringer
ist die Zahl der Elementarbegriffe, die sie zur Bezeichnung der Welt ge-
braucht, desto höher mithin die Erkenntnisstufe, zu der sie uns emporhebt.
So schaffen denn alle Wissenschaften, indem die einen mehr, die
anderen weniger Erkenntnis uns dabei vermitteln, an dem großen Netz
der Urteile, in dem das System der Tatsachen eingefangen werden soll.
Die erste und höchste Bedingung aber, ohne welche die ganze Arbeit
keinen Sinn hätte, ist die, daß jedes Glied des Urteilsgefüges einem Gliede
des Tatsachengefüges eindeutig zugeordnet ist, und wenn es diese Be-
dingung erfüllt, so heißt es wahr.
Anmerkung. Gedanken, die mit der hier entwickelten Wahrheits-
theorie ^) verwandt sind, wurden in der Gegenwart mehrfach geäußert.
Ein paar Worte darüber mögen hier Platz finden.
Die Einsicht, daß der Gegenstand aller Urteile ein ,, Tatbestand" sei,
ist besonders deutlich ausgesprochen worden von J. K. Kreibig ^), der
sich wiederum an Meinung ^) anschließt. Nach Kreibig ist aber *) das
Urteil ,,ein Satz, durch den ein bestimmter Tatbestand als objektiv vor-
handen ausgedrückt wird". Diese Definition kann von unserm Stand-
punkt aus nicht als genügend betrachtet werden; sie entbehrt der höchst
wesentlichen Bestimmung, daß es sich um ein bloßes Zuordnen handelt,
statt dessen tritt der erläuterungsbedürftige Terminus ,, ausdrücken" auf.
Aus diesem Grunde scheint mir auch die Wahrheitsdefinition Kreibig's
die Beziehung zwischen den Urteilen und den beurteilten Sachen nicht
scharf und prägnant zu bezeichnen. Er definiert^): ,, Wahrheit ist das
Merkmal eines Urteils, das denjenigen Tatbestand behauptet, der im Be-
reich der beurteilten Gegenstände vorhanden ist." Diese Formulierung
bedürfte durchaus der näheren Bestimmung und Interpretation, um er-
kennen zu lassen, ob sie mit der hier vorgetragenen Theorie vereinbar ist.
Um so mehr freut es mich, daß Kreibig seine Ausführungen im Sinne
dieser Theorie verstanden wissen möchte, denn er meint *), daß sie mit
dem in seinem Buche entwickelten Wahrheitsbegriff in allem Wesentlichen
übereinstimme.
^) Ich habe sie zuerst dargestellt in einer Abhandlung über das Wesen der
Wahrheit. Vierteljahrschrift f. wiss. Phil. 1910. Bd. 34.
*) Die intellektuellen Funktionen. Wien und Leipzig 1909. S. 131. Im Interesse
der Frage nach der gegenseitigen Unabhängigkeit sei bemerkt, daß ich erst 1911 mit
Kreibig's Buch bekannt wurde.
*) Über Annahmen. Leipzig 1902.
*) a. a. 0. S. 133.
") a. a. 0. S. 142.
•) In einer Besprechung meiner oben angeführten Arbeit. Zeitschr. f. Psych.
1912. Bd. 61. S. 281.
Schlick Erkenatnistehre, <;
66 Das Wesen der Erkenntnis.
Der große Vorzug der hier vertretenen Ansicht scheint mir darin zu
liegen, daß sie sich nur auf die Beziehung der reinen Zuordnung stützt,
d. i. die einfachste und allgemeinste aller Relationen. Um den so erreichten
Vorteil recht gewahr zu werden, vergleiche man sie mit einer Wahrheits-
theorie, die ganz auf den eigentümlichen Verschiedenheiten der Relations-
arten aufgebaut ist, etwa mit der geistreichen Ansicht von B. Ru.ssell ^).
Hier muß die Durchführung des Vergleichs unterbleiben, da unsere Unter-
suchungen mit keinerlei vermeidlichen kritischen Betrachtungen belastet
werden sollen.
II. Was Erkenntnis nicht ist.
Wer die Bestimmungen überblickt, die wir bis jetzt über das Wesen
der Erkenntnis machen konnten, wird vielleicht von einem Gefühl der
Enttäuschung beschlichen. Erkenntnis nichts weiter als ein bloßes Be-
zeichnen.?' Bleibt damit der menschliche Geist den Dingen und Vorgängen
und Beziehungen, die er erkennen will, nicht ewig fremd und fern? Kann
er sich den Gegenständen dieser Welt, der er. doch selbst als ein Glied
angehört, nicht inniger vermählen.''
Wir antworten: er kann es wohl; aber sofern er es tut, verhält er
sich nicht erkennend. Das Wesen des Erkennens fordert schlechthin,
daß derjenige, der es ausüben will, sich in eine Ferne und eine Höhe über
die Dinge begebe, von der aus er ihre Beziehungen zu allen anderen Dingen
überblicken kann. Wer sich ihnen nähert, teilnimmt an ihrem Weben
und Wirken, der steht im Leben, nicht im Erkennen; ihm zeigen die Dinge
das Antlitz ihres Wertes, nicht ihres Wesens.
Aber ist nicht das Erkennen auch eine Lebensfunktion.^ Gewiß,
doch es nimmt allen übrigen Lebensfunktionen gegenüber eine so be-
sondere Stelle ein (im nächsten Paragraphen müssen wir sie besprechen),
daß es nötig ist, immer wieder vor einer Verkennung der wahren Natur
der Erkenntnis, vor einer Verwechslung mit anderen Funktionen zu
warnen. Deshalb erscheint es geboten, die bisherigen Ergebnisse nach
zwei Seiten hin noch besonders zu stützen. Nämlich erstens: negativ zu
zeigen, daß unter keinen Umständen dem Erkenntnisbegriff eine andere
Bedeutung beigelegt werden darf als die in den vorhergehenden Unter-
suchungen festgelegte, daß also keine andere Funktion des menschlichen
Geistes die Aufgaben zu erfüllen vermag, die dem Erkennen gesetzt sind;
zweitens aber positiv den Nachweis zu führen, daß alle Hoffnungen, die
der Mensch auf das Erkennen zu setzen berechtigt ist, wirklich erfüllt
werden durch den Vollzug des geschilderten Prozesses: das Wiederfinden
des einen im anderen, das Bezeichnen durch Urteile und Begriffe. Wohl
scheint es wunderbar, daß einem so schlichten und anspruchslosen Ver-
fahren jene gewaltige Macht innewohnen soll, die, wie wir alle wissen,
der Erkenntnis eignet; wohl ist es erstaunlich, daß wir in den Ergebnissen
') The Problems of philosophy. Chapt. XII.
Was Erkenntnis nicht ist. 67
so nüchterner Prozesse eine der herrHchsten Blüten menschlicher Kultur
vor uns haben, deren Duft den Menschen in jenen Rausch des Erkennens
versetzt, der nicht von den schlechtesten unter uns allem anderen Glücke
vorgezogen wurde, indem sie ihr Leben der Erkenntnis weihten und
doch ist es so. Alle Versuche, den Rang des Erkennens irgend einem
andren Prozesse zu verleihen als der bloßen Funktion des Vergleichens,
Wiederfindens und Zuordnens, schlagen zuletzt an den entscheidenden
Punkten kläglich fehl, wenn es ihnen manchmal auch gelingen mag, einige
Zeit durch verführerischen Schein zu blenden ^).
Das denkbar innigste Verhältnis zwischen zwei Gegenständen ist die
gänzliche Identität beider, so daß sie also in Wirklichkeit gar nicht zwei,
sondern nur einer sind. So hat es denn nicht an Denkern gefehlt, die sich
mit keinem geringeren Erkenntnisbegriff zufrieden gaben als dem des
völligen Einswerdens des Erkennenden mit dem Erkannten; es waren die
Mystiker des Mittelalters, nach denen besonders die Erkenntnis Gottes
in dieser Weise stattfinden sollte. Wenn dergleichen Gedanken in der
Folge von der wissenschaftlichen Philosophie verlassen wurden, so lag der
Grund dafür darin, daß man überzeugt war, ein Einswerden des erkennenden
Bewußtseins mit den Objekten finde nicht statt und sei nicht möglich;
man hätte aber jene Lehre in erster Linie verwerfen sollen aus der Über-
zeugung heraus, daß ein Einswerden, selbst wenn es möglich wäre, doch
auf keinen Fall eine Erkenntnis sein würde. Die Verfehlung dieses
wichtigen Punktes ist eine Quelle bedeutsamer Irrtümer in der Philosophie
geworden. Ich komme sogleich darauf zurück.
Wenn nun auch ein Verschmelzen, eine völlige Identität mit den
Dingen nicht möglich ist, so scheint es doch einen Prozeß zu geben, der
eine ausnehmend innige Beziehung zwischen Subjekt und Objekt her-
stellt; durch ihn scheint das Erkannte gleichsam in das erkennende
Bewußtsein einzurücken: das ist die Anschauung. Wenn ich eine
rote Fläche anschaue, so ist das Rot ein Teil meines Bewußtseinsinhaltes,
ich erlebe es, und allein in diesem Erlebnis der unmittelbaren Anschauung,
niemals durch Begriffe, kann ich erkennen, was Rot ist. Das Hören eines
Tones ist ein anschauliches Erlebnis; was ein eingestrichenes a ist, kann
ich nur erkennen, wenn man mir diesen Ton wirklich zu Gehör bringt.
Was Lust und Schmerz, was warm und kalt ist, nur die Anschauung lehrt
es mich hat man also nicht volles Recht, zu sagen: Anschauung ist
Erkenntnis .>
In der Tat ist die Mehrzahl der Philosophen davon überzeugt, daß
Anschauung uns unmittelbar Erkenntnis liefere; ja, in den stärksten
philosophischen Strömungen der Gegenwart herrscht die Meinung, daß
allein die Anschauung, die Intuition, wahre Erkenntnis sei, daß die
mit Begriffen arbeitende Methode der Wissenschaft nur ein Surrogat geben
könne, nicht echte Erkenntnis des Wesens der Dinge.
^) Zu den folgenden Ausführungen vergleiche meinen Aufsatz ,,Gibt es intuitive
Erkenntnis?" Vierteljahrsschr. f. wiss. Phil. 1913. Bd. 37.
5*
68 Das Wesen der Erkenntnis.
Wir prüfen zuerst die Lehre der Vertreter dieser letzten, radikalen
Ansicht. Sie stellen begriffliche und intuitive Erkenntnis in Gegensatz
zueinander, gestehen die erstere vor allem der exakten Naturwissenschaft
zu und nehmen die letztere für die Pliilosophie in Anspruch. „Philo-
sophieren besteht darin, sich durch eine Aufbietung der Intuition in das
Objekt selbst zu versetzen" ^). Sie forden uns auf einzusehen, ,,daß mit
der im rechten Sinne philosophischen Intuition .... ein endloses Arbeits-
feld sich auftut und eine Wissenschaft, die ohne alle symbolisierenden
und mathematisierenden Methoden, ohne den Apparat der Schlüsse und
Beweise, doch eine Fülle strengster und für alle weitere Philosophie
entscheidender Erkenntnisse gewinnt" 2).
Solche Lehren stehen im schärfsten Gegensatz zu allen Ergebnissen
unserer vorhergehenden Betrachtungen. Sie bezeichnen als Erkennen
eine Tätigkeit des Geistes, die ganz und gar verschieden ist von jenem
Vergleichen, Wiederfinden und Bezeichnen, das sich uns als das wahre
Wesen der Erkenntnis offenbart hat. Nun möchte man vielleicht sagen,
es handle sich bloß um eine Frage der Terminologie: es stehe doch frei,
auch die Intuition oder Anschauung mit dem Namen Erkenntnis zu be-
legen; man unterscheide dann eben zwei Arten des Erkennens, das be-
griffliche, diskursive und das anschauliche, intuitive. Aber die Propheten
der Intuition leiten das Recht, auch ihr den Namen Erkenntnis zu geben,
davon ab, daß sie meinen, die unmittelbare Anschauung leiste gerade das
in vollkommener Weise, was auch die symbolisierende Erkenntnis mit
dem unzureichenden Mittel des Begriffes zu leisten trachte.
Hierin irren sie jedoch sehr. Anschauung und begriffliche Erkenntnis
streben keineswegs nach dem gleichen Ziel, sie gehen vielmehr nach ent-
gegengesetzten Richtungen auseinander. Zum Erkennen gehören stets
zwei Glieder: etwas, das erkannt wird, und dasjenige, als was es
erkannt wird. Bei der Anschauung hingegen setzen wir nicht zwei Gegen-
stände zueinander in Beziehung, sondern stehen nur einem einzigen, eben
angeschauten, gegenüber. Es handelt sich also um einen wesentlich ver-
schiedenen Prozeß; die Intuition hat mit der Erkenntnis gar keine Ähn-
lichkeit. Wenn ich mich einem anschaulichen Bewußtseinsinhalt völlig
hingebe, etwa einem Rot, das ich gerade vor mir sehe, oder wenn ich mich
beim Handeln gänzlich in ein Tätigkeitsgefühl versenke, dann erlebe ich
durch Intuition das Rot und die Tätigkeit — habe ich aber damit wirk-
lich das Wesen des Rot oder der Tätigkeit erkannt.? Ganz und gar nicht.
Hätte ich die Wellenlänge des roten Lichtes gemessen, seine Intensität
festgestellt usw., kurz, es in den allgemeinen Zusammenhang meines
physikalischen Wissens eingeordnet, oder hätte ich das Tätigkeitsgefühl
psychologisch analysiert und darin etwa Spannungsempfindungen, Lust-
gefühle usw. aufgedeckt: dann erst dürfte ich behaupten, das Wesen
^) Henri Bergson, Einführung in die Metaphysik. Jena 1909. S. 26.
*) E. HussERL, Philosophie als strenge Wissenschaft. Logos I. S. 341.
Was Erkenntnis nicht ist. 69
des roten Lichtes oder des Tätigkeitsgefühls bis zu einem gewissen Grade
erkannt zu haben. Solange ein Gegenstand mit nichts verglichen, in kein
Begriffssystem in irgendeiner Weise eingefügt ist, solange ist er nicht
erkannt. Durch die Anschauung werden uns Gegenstände nur gegeben,
nicht begriffen. Intuition ist bloßes Erleben, Erkennen aber ist etwas
ganz anderes, ist mehr. Intuitive Erkenntnis ist eine contradictio in
adiecto. Gäbe es eine Intuition, durch die wir uns in die Dinge oder die
Dinge in uns, hineinversetzen könnten, so wäre sie doch niemals Erkenntnis.
Der kulturlose Mensch und das Tier schauen die Umwelt wahrscheinlich
auf eine viel vollkommenere Art als wir, sie gehen in ihr viel mehr auf,
leben viel intensiver in ihr, weil ihre Sinne schärfer und wachsamer sind;
dennoch erkennen sie die Natur nicht etwa besser als wir, sondern gar
nicht. Durch Erleben, durch Schauung begreifen und erklären wir nichts.
Wir erlangen dadurch wohl ein Wissen um die Dinge, aber niemals ein
Verständnis der Dinge. Das letztere allein wollen wir, wenn wir Er-
kenntnis wollen, in aller Wissenschaft, und auch in aller Philosophie.
Und damit ist der große Fehler aufgedeckt, den die. Intuitionsphilo-
sophen begehen: sie verwechseln Kennen mit Erkennen. Kennen
lernen wir alle Dinge durch Intuition, denn alles, was uns von der Welt
gegeben ist, ist uns in der Anschauung gegeben; aber wir erkennen
die Dinge allein durch das Denken, denn das Ordnen und Zuordnen, das
dazu nötig ist, macht eben das aus, was man als Denken bezeichnet. Die
Wissenschaft macht uns mit den Gegenständen nicht bekannt, sie lehrt
uns nur, die bekannten verstehen, begreifen und das heißt eben Erkennen.
Kennen und Erkennen sind so grundverschiedene Begriffe, daß selbst
die Umgangssprache dafür verschiedene Worte hat; und doch werden sio
von der Mehrzahl der Philosophen hoffnungslos miteinander verwechselt.
Der rühmlichen Ausnahmen sind nicht allzu viele ^).
Der Irrtum ist zahlreichen Metaphysikern verhängnisvoll geworden.
Es lohnt sich wohl, das an einigen besonders deutlichen Beispielen zu
zeigen.
Wenn wir auch im allgemeinen durch Anschauung die Dinge nicht
in uns oder uns in die Dinge hineinversetzen können, so gilt das doch
nicht von unserem eigenen Ich. Zu ihm stehen wir tatsächlich in dem Ver-
hältnis, welches die Mystiker für die Erkenntnis sich ersehnten: dem der
völligen Identität. Es ist uns im strengen Sinne vollständig bekannt.
Wer nun den Unterschied zwischen Kennen und Erkennen vergißt, der
muß glauben, daß wir das Wesen des Ich auch schlechthin vollkommen
erkannt hätten. Und das ist in der Tat eine weitverbreitete These. Zahl-
reiche metaphysische Denker würden den Satz unterschreiben, der in
^) Als solche möchte ich anführen A. Riehl, der dem Begreifen das unmittel-
bare Wissen gegenüberstellt (Der philos. Kritizismus, II, i, S. 221), und B. Russell,
welcher sehr richtig unterscheidet zwischen knowledge of things (Kennen) und know-
ledge of truths (Erkennen). (The problems of philosophy, p. 69). Ferner v. Aster,
Prinzipien der Erkenntnislehre. 1913. S. 6 f.
70 Das Wesen der Erkenntnis.
unserer Zeit so formuliert worden ist*): „Sofern das Ich sich selbst im Selbst-
bewußtsein erfaßt, erkennt es ein Wirkliches, wie es an sich selber ist . , ."
Der Satz ist falsch, so oft er auch in irgend einer Form ausgesprochen
wird. Denn die psychischen Gegebenheiten, deren wir im Bewußtsein inne
werden, sind damit nicht im geringsten erkannt, sondern bloß einfach
gesetzt, gegeben: das Bewußtsein erlebt sie, sie haben teil an ihm, sie werden
im Erlebnis dem Bewußtsein bekannt, nicht von ihm erkannt. Erkannt
im echten Sinne des Wortes können sie höchstens werden durch eine
wissenschaftliche, d. h. klassifizierende begriffsbildende Psychologie; wenn
die Bewußtseinsinhalte durch bloße Intuition restlos erkannt würden, so
müßte ja überhaupt alle Psychologie entbehrlich sein.
In dem soeben zitierten Satze wurde das Erkennen als ein ,, Erfassen"
bezeichnet. Das ist nun eine Redewendung, die nur wenige Denker zu
vermeiden wußten, wenn sie das Wesen der Erkenntnis zu bestimmen
unternahmen. Immer wieder liest man, das Erkennen sei ein ,, geistiges
Erfassen". Aber natürlich ist dies keine Definition des Erkenntnisprozesses,
sondern nur eine Vergleichung desselben mit dem physischen Akt des
Anfassens, Betastens, Begreifens, und zwar ist der Vergleich nicht sonder-
lich glücklich, denn wenn ich einen Gegenstand mit der Hand ergreife,
so bedeutet das nur die Herstellung einer Beziehung zwischen jenem
Objekte und mir selber; beim Erkennen jedoch ist das Wesentliche gerade
die Schaffung einer Beziehung zwischen mehreren Gegenständen durch
den Erkennenden. Die Rede vom Erkennen als einem Erfassen ist also
im allgemeinen ein irreführendes Bild; nur dann hat es Berechtigung,
wenn es so verstanden wird, daß es sich dabei um ein Einfangen, ein Ein-
schließen des erkannten Objekts durch Begriffe handelt, durch das
ihm ein Platz in ihrer Mitte eindeutig zugewiesen wird.
An keinem Punkte der Geschichte der Philosophie läßt sich der in
dem Unbegriff der intuitiven Erkenntnis verborgene Irrtum nebst seinen
Folgen wohl so deutlich aufweisen wie in der Lehre des Descartes. Sein
Satz, daß wir die Existenz des eigenen Ich (oder, um ihn in modernerem
Sinne zu korrigieren: der eigenen Bewußtseinsinhalte) intuitiv einsehen,
und daß diese Einsicht eine Erkenntnis ist, und zwar von fundamentaler
Bedeutung, scheint eine ganz unwiderlegliche Wahrheit zu sein. Und sie
scheint gesichert zu sein durch das bloße Erleben der Bewußtseinsinhalte,
ohne daß irgendeine begriffliche Verarbeitung, irgendein Vergleichen und
W^iederfinden zuvor stattfinden müßte. Was hätten wir also hier vor
uns, wenn nicht eine echte intuitive Erkenntnis?
Wir antworten, daß natürlich eine Intuition hier vorliegt, aber trotz
allem keine Erkenntnis.
Allerdings drückt das Urteil ,,cogito, ergo sum" (nach Anbringung
aller erforderlichen Korrektionen) eine unumstößliche Wahrheit aus, näm-
Paulsen, im Bande ,, Systematische Philosophie" der „Kultur der Gegen-
wart", 1907. S. 397-
Was Erkenntnis nicht ist.
71
lieh eben die Tatsache der-Existenz der Bewußtseinsinhalte. Wir sahen
aber längst, daß nicht jede Wahrheit eine Erkenntnis zu sein braucht;
Wahrheit ist der weitere, Erkenntnis der engere Begriff. Wahrheit ist
Eindeutigkeit der Bezeichnung, und die kann nicht nur durch Erkenntnis,
sondern auch durch Definition erreicht werden. Und so liegt es hier.
Der Satz des Descartes ist eine versteckte Definition, er ist eine un-
eigentliche Definition des Begriffes Existenz, nämlich das, was wir
früher als ,, konkrete Definition" bezeichnet hatten. Wir haben einfach
die Festsetzung vor uns, das Erlebnis, das Sein der Bewußtseinsinhalte
durch die Worte zu bezeichnen: ,,ego sum" oder ,,die Bewußtseinsinhalte
existieren". Wenn uns aus sonstigen Anwendungen der Begriff des Daseins,
der Existenz bereits bekannt wäre, und wenn wir nun bei genauerer Be-
trachtung unserer Bewußtseinsvorgänge fänden, daß sie alle Merkmale
dieses Begriffes aufweisen, und wenn wir erst auf Grund dieses Wieder-
findens den Satz aussprechen könnten: ,,Die Bewußtseinsinhalte sind" — ,
dann und nur dann wäre der Satz des Descartes eine Erkenntnis, aber
dann stellte er ja auch keine intuitive Erkenntnis mehr dar, sondern
würde sich vollkommen demjenigen Erkenntnisbegriff unterordnen, den
wir bis hier entwickelt haben. Aber natürlich war so nicht die Meinung
des großen Metaphysikers, und es wäre töricht, seinen Satz so zu inter-
pretieren; er soll vielmehr nur auf die unumstößliche Tatsache des
Gegebenseins der Bewußtseinsinhalte hinweisen, er soll das Fundament
alles weiteren Philosophierens sein, es soll ihm weiter gar kein Wissen
vorausgehen. In der Tat ist das Erleben der Bewußtseinszustände (wir
kommen im dritten Teile des Buches darauf zurück) die ursprüngliche
und einzige Quelle des Existenzbegriffes, also nicht ein Kasus, auf den
der bereits fertige Begriff nachträglich angewandt werden könnte. Das
,,Ich bin" ist schlechthin Tatsache, nicht Erkenntnis^).
Durch die Verfehlung dieses wichtigen Punktes werden bei Descartes
die bekannten weiteren Irrwege unvermeidlich. Da er nämlich seinen
Grundsatz für eine Erkenntnis ansah, so durfte und mußte er nach einem
Kriterium fragen, das ihm ihre Gültigkeit verbürgte. Er glaubte ein
solches in der Evidenz zu entdecken (oder, wie er es nannte, in der
Klarheit und Deutlichkeit der Einsicht); die Garantie für die Untrüglich-
keit der Evidenz aber vermochte er nur in der Wahrhaftigkeit Gottes zu
finden, und so bewegte er sich haltlos im Kreise, denn die Existenz dessen,
der ihm für die Zuverlässigkeit der Evidenz garantiert, ist ihm allein
durch eben diese Evidenz verbürgt.
In einen ähnlichen Zirkel muß jeder verfallen, der den CARTEsiANischen
Satz für eine Erkenntnis hält. Er kann nur als Definition, als Bezeichnung
einer fundamentalen Tatsache aufgefaßt werden. Das ego sum, das Sein
der Bewußtseinsinhalte, bedarf keiner Begründung, weil es keine Er-
kenntnis ist, sondern eine Tatsache; und Tatsachen bestehen schlechthin,
^) Dieselbe Wahrheit liegt der etwas umständlichen Bemerkung zugrunde, die
Kant über den DESCARTEs'schen Satz macht: Kr. d. r, V. Kehrbach S. 696.
72 Das Wesen der Erkenntnis.
sie haben zu ihrer Sicherung keine Evidenz pötig, sie sind weder gewiß
noch ungewiß, sondern sind schlechthin, es hat gar keinen Sinn, nach
einer Garantie ihres Bestehens zu suchen.
Der CARTESiANische Irrtum wurde in neuerer Zeit zum Prinzip einer
Philosophie erhoben in der Evidenz-Psychologie, wie sie von Brentano
begründet wurde. Nach der Meinung dieses Denkers ^) ist jeder psychi-
sche Akt von einer darauf gerichteten Erkenntnis begleitet. Er sagt*):
,,\Vir denken, wir begehren etwas, und erkennen, daß wir dieses tun.
Erkenntnis aber hat man nur im Urteile." Folglich, so schließt er, ist
in allen psychischen Akten ein Urteil enthalten! Wir lesen ferner^): ,,Mit
jedem psychischen Akte ist daher ein doppeltes inneres Bewußtsein ver-
bunden, eine darauf bezügliche Vorstellung, und ein darauf bezügliches
Urteil, die sogenannte innere Wahrnehmung, welche eine unmittelbare
evidente Erkenntnis des Aktes ist." Nach Brentano zählt jede Wahr-
nehmung zu den Urteilen*): ,,ist sie ja doch eine Erkenntnis oder doch
ein, wenn auch irrtümliches, Führwahrnehmen". Von einer Psychologie
,,vom empirischen Standpunkte" sollte man doch erwarten, daß in jedem
psychischen Akt ein Urteil als erfahrenes, erlebtes Moment aufgewiesen
werde, bevor sein Vorhandensein darin behauptet wird; statt dessen wird
geschlossen: weil Wahrnehmung Erkenntnis ist, so muß sie ein
Urteil enthalten. Der richtige Schluß aber lautet offenbar: weil Wahr-
nehmung erfahrungsgemäß kein Urteil enthält, so ist sie auch keine Er-
kenntnis ^). Die Verwechslung von Erkennen und Kennen an den zitierten
Stellen ist nur allzu deutlich.
Die reine, unverarbeitete Wahrnehmung (Empfindung) ist ein bloßes
Kennen; es ist ganz falsch, von einer ,, Wahrnehmungserkenntnis" zu
sprechen, wenn man sie im Auge hat; die Empfindung gibt uns keinerlei
Erkenntnis, sondern nur eine Kenntnis der Dinge. Nun kommen aber
isolierte reine Wahrnehmungen bekanntlich im entwickelten Bewußtsein
so gut wie gar nicht vor, sondern es schließt sich an die Empfindung
assoziativ ein sog. Apperzeptionsprozeß an, d. h. die Empfindung oder
der Empfindungskomplex verschmilzt mit verwandten Vorstellungen als-
bald zu einem Gesamtgebilde, das sich im Bewußtsein als etwas schon
früher Bekanntes darstellt. So werden etwa die Schwarz-Weiß-Empfin-
dungen beim Blick auf das vor mir liegende Papier ohne weiteres zur Wahr-
nehmung von Schriftzeichen. Hier haben wir natürlich eine Erkenntnis,
*) Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt. S. 185. ^^
«) Ebenda. S. 181.
») Ebenda. S. 188.
*) Ebenda. S. 277.
«) Entgegengesetzt schließt L. Nelson (Die Unmöglichkeit der Erkenntnis-
theorie. Abhandl. d. pRiEs'schen Schule 1912. Bd. III. S. 598), da die Wahrnehmung
eine Erkenntnis sei, aber kein Urteil, so brauche nicht jede Erkenntnis ein Urteil zu
sein. Damit steht auch er ganz auf dem Boden des Irrtums der „unmittelbaren Er-
kenntnis", den wir hier zu widerlegen suchen. Er sagt (a. a. 0. S. 599): Die Wahr-
nehmung „ist eine unmittelbare Erkenntnis".
Was Erkenntnis nicht ist. 73
wenn auch primitivster Art, vor uns, denn es bleibt ja nicht bei dem
bloßen Sinneseindruck, sondern er wird sogleich in den Kreis früherer
Erfahrungen eingeordnet, als der und der wiedereHcannt. Wenn man also
den Ausdruck ,, Wahrnehmung" auf den apperzipierten Sinneseindruck
beschränkt, dann allerdings, aber nur dann, darf man von einer Wahr-
nehmungserkenntnis sprechen. Will man diese Erkenntnis, solange sie
noch nicht in (vorgestellte oder gesprochene) Worte gefaßt ist, von der
sprachlich formulierten dadurch unterscheiden, daß man die erstere als
,, intuitive" bezeichnet ^), so läßt sich dagegen natürlich nichts einwenden;
es bedarf keiner Erwähnung, daß dieser Begriff der intuitiven Erkenntnis
mit dem oben behandelten und zurückgewiesenen (wie wir ihn bei Bergson
und HussERL fanden) nicht das geringste zu tun hat.
Kant hat die Wahrheit, daß das reine Anschauen ohne apperzeptive
oder begriffliche Verarbeitung keine Erkenntnis ist, nicht in ihrer vollen
Tragweite eingesehen und sie daher in seinem berühmten Satze ,, An-
schauungen ohne Begriffe sind blind" nur unvollkommen zum Ausdruck
gebracht; beginnt er doch die Untersuchungen der Kritik der reinen
Vernunft mit den Worten: ,,Auf welche Art und durch welche Mittel
sich auch immer eine Erkenntnis auf Gegenstände beziehen mag, so ist
doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselben unmittelbar bezieht, und
worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung." Hier zeigt
sich deutlich, daß Kant den innigen Konnex, den die Anschauung zwischen
Objekt und Schauendem herstellt, doch für ein wesentliches Moment des
Erkennens ansah. Dies hinderte ihn auch, das Problem der Erkenntnis
der Dinge an sich als ein bloßes Scheinproblem zu entlarven. Er glaubte
nämlich, eine solche Erkenntnis müßte eine Anschauung von der Art
sein, ,,daß sie Dinge vorstellte, so wie sie an sich selbst sind", und er er-
klärt sie für unmöglich, weil die Dinge ,, nicht in meine Vorstellungskraft
hinüberwandern können". Wir wissen aber jetzt: selbst wenn dies mög-
lich wäre, wenn also die Dinge eins würden mit unserem Bewußtsein,
dann würden wir die Dinge wohl erleben, aber das wäre etwas ganz
anderes als Erkenntnis der Dinge. ,, Erkenntnis der Dinge an sich"
ist so lange einfach eine contradictio in adiecto, als man unter Erkennen
irgend ein Anschauen oder anschauliches Vorstellen versteht, denn es
würde ja der Widersinn gefordert, Dinge vorzustellen, wie sie unabhängig
von allem Vorstellen sind. Die Frage nach der Möglichkeit solcher Er-
kenntnis darf also gar nicht gestellt werden.
Wie steht es aber mit dieser selben Frage, nachdem wir uns über
das wahre Wesen der Erkenntnis klar geworden sind.? Nun, hätte man
immer gewußt und es sich vor Augen gehalten, daß Erkenntnis durch
ein bloßes Zuordnen von Zeichen zu Gegenständen entsteht, so wäre
^) Das tut z. B. Benno Erdmann in seiner schönen Abhandlung ,, Erkennen
und Verstehen". Sitzungsberichte der kgl. preuß. Akad. d. Wiss. LIII. S. 1251. Dort
gebraucht er auch den Ausdruck ,, wahrnehmende Erkenntnis" stets nur in der oben
erläuterten einzig zulässigen Bedeutung.
74 Das Wesen der Erkenntnis.
man niemals darauf verfallen, zu fragen, ob ein Erkennen der Dinge mög-
lich sei, so wie sie an sich selbst sind. Zu diesem Problem konnte nur. die
Meinung führen. Erkennen sei eine Art anschaulichen Vorstellens, welches
die Dinge im Bewußtsein abbilde; denn nur unter dieser Voraus-
setzung konnte man fragen, ob die Bilder wohl dieselbe Beschaffenheit
aufwiesen wie die Dinge selbst.
Wer das Erkennen für ein anschauliches Vorstellen hielt, durch welches
wir die Dinge ,, erfassen" oder ,,in unsern Geist aufnehmen", oder wie
die Ausdrücke sonst lauten mögen, der mußte immer von neuem Ursache
finden, über das Unzulängliche und Vergebliche des Erkenntnisprozesses
zu klagen, denn ein so beschaffener Erkenntnisprozeß konnte seine Objekte
doch nicht wohl ins Bewußtsein überführen, ohne sie mehr oder weniger
gründlich zu verändern, und mußte somit seinen letzten Zweck stets
verfehlen, nämlich die Dinge unverändert, eben wie sie ,,an sich" sind,
zu erschauen.
Der wahre Erkenntnisbegriff, wie er uns jetzt aufgegangen ist, hat
nichts Unbefriedigendes mehr. Nach ihm besteht das Erkennen in einem
Akte, durch den in der Tat die Dinge gar nicht berührt oder verändert
werden, nämlich im bloßen Bezeichnen. Eine Abbildung kann niemals
ihre Aufgabe vollkommen erfüllen, sie müßte denn ein zweites Exemplar
des Originals, eine Verdoppelung sein; ein Zeichen aber kann restlos das
von ihm Verlangte leisten, es wird nämhch bloß Eindeutigkeit der Zu-
ordnung von ihm verlangt. Abgebildet kann ein Gegenstand niemals
werden wie er an sich ist, denn jedes Bild muß von einem Standpunkte
aus und durch ein abbildendes Organ aufgenommen werden, kann also
nur eine subjektive und gleichsam perspektivische Ansicht des Gegen-
standes bieten; bezeichnen dagegen läßt sich jeder Gegenstand selber,
wie er ist. Die verwendeten Zeichen und die Methoden der Zuordnung
tragen zwar subjektiven Charakter, der ihnen vom Erkennenden auf-
gedrückt wird , die vollzogene Zuordnung aber zeigt keine Spuren
mehr davon, sie ist ihrem Wesen nach unabhängig von Standpunkt
und Organ.
Deshalb können wir getrost sagen: in Wahrheit gibt uns jedes
Erkennen eine Erkenntnis von Gegenständen, wie sie an sich selbst sind.
Denn was das Bezeichnete auch immer sein mag, ob Erscheinung oder
Ding an sich (was diese Unterscheidung bedeutet und ob sie überhaupt
gerechtfertigt ist, wird ja später zu untersuchen sein): es ist doch eben
selbst, wie es ist, dasjenige, was da bezeichnet wird. Nehmen wir einmal
an, unserer Kenntnis seien nur ,, Erscheinungen" zugänglich, hinter denen
un b e kannte Dinge an sich ständen, so wären diese Dinge doch zugleich
mit den Erscheinungen von uns erkannt, denn da unsere Begriffe den
Erscheinungen zugeordnet sind, diese aber als den Dingen an sich zu-
geordnet angenommen waren, so bezeichnen ja unsere Begriffe auch die
letzteren, weil ein Zeichen des Zeichens doch auch ein Zeichen für das
Bezeichnete selbst ist.
Was Erkenntnis nicht ist. 75
Noch auf einen Punkt möge hier hingewiesen sein, der uns vielleicht
die Vorzüge des errungenen Erkenntnisbegriffes verdeutlichen und uns
zeigen kann, wie leicht eine Frage sich auflöst, die oft Anlaß zu ärgerlichen
Schwierigkeiten bot. Das ist die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis-
theorie. Es ist bekannt, mit welchen Einwänden man ihre Möglichkeit
bestritten hat. Wenn das Erkennen sich selbst erkennen, wenn es über
seine eigene Gültigkeit entscheiden soll, so wird es damit zum Wächter
über sich selbst gesetzt, und man darf mit H. Sidgwick fragen: quis
custodiet custodem? Und Hegel spottete: das Unternehmen, das Er-
kennen zu untersuchen, ehe man es anwende und ihm vertraue, heiße
schwimmen lernen wollen, ehe man ins Wasser geht. Herbart hielt den
Einwand für zwingend, und Lotze wußte keinen andern Ausweg, als die
Erkenntnistheorie auf die Metaphysik zu gründen. Wie sollte wohl der
Erkenntnisprozeß auf sich selbst anwendbar sein.-* Das Fühlen läßt sich
doch nicht fühlen, das Hören kann man nicht hören, das Sehen nicht
sehen. In der Tat, wäre das Erkennen diesen Anschauungsvorgängen
analog, so wäre es um seine Theorie schlecht bestellt. Es ist aber nichts
dergleichen, sondern eben ein Zuordnungsprozeß. Und der ist ohne jede
Schwierigkeit auf sich selbst anwendbar: das Bezeichnen selbst kann
durch Zuordnungsakte bezeichnet werden. Auch der berühmte Beweis
der Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie von L. Nelson wird widerlegt
durch die Einsicht in die Natur des Erkennens. In Nelson's Beweis kommt
nämlich folgende Argumentation vor: Gesetzt, das Kriterium der objek-
tiven Gültigkeit der Erkenntnis sei nicht selbst eine Erkenntnis. ,,E3
müßte dann, um zur Auflösung des Problems dienen zu können, b e -
k a n n t sein, d. h. es müßte selbst Gegenstand der Erkenntnis
werden können. Ob aber diese Erkenntnis, deren Gegenstand das frag-
liche Kriterium ist, eine gültige ist, müßte entschieden sein, damit das
Kriterium anwendbar ist" ^). Aber damit etwas b e kannt sei, braucht
es eben nicht Gegenstand einer E r kenntnis geworden zu sein, und
damit zerreißt die Schlußkette.
Solche Betrachtungen können uns lehren, wie falsch es wäre, ent-
täuscht zu sein über den Nachweis, daß der Erkenntnisakt nicht eine
innige Vermählung von Subjekt und Objekt bedeutet, nicht ein Erfassen,
Eindringen, Anschauen, sondern ein bloßes, freilich nach ganz besonderen
Gesetzen verfahrendes Bezeichnen des Objektes. Dieser Nachweis be-
deutet keinen Verzicht, keine Degradierung des Erkennens; man muß
nicht glauben, die bloß vergleichende, ordnende und bezeichnende
Tätigkeit sei nur ein Notbehelf für eine vollkommenere Art des
Erkennens, die uns nun einmal versagt, anders organisierten Wesen
aber vielleicht möglich sei. Von alledem kann keine Rede sein. Denn
jenes Wiederfinden, Ordnen und Bezeichnen, als welches das Erkennen
sich uns offenbart hat, leistet alles das in vollkommener Weise, was wir
^) Abhandlungen der FaiEs'schen Schule II. S. 444.
76 Das Wesen der Erkenntnis.
in Leben und Wissenschaft vom Erkennen verlangen, und kein anderer
Prozeß, keine ,, intellektuelle Anschauung", kein Einswerden mit den
Dingen, könnte es leisten. Es ist sonderbar, daß man zuweilen noch heute
glaubt, eine Erkenntnis, ja eine Wissenschaft könne zustande kommen
durch eine bloße Intuition, welche allem Vergleichen und Ordnen vorher-
geht, nachdem doch schon vor so vielen Jahren die hier verfochtene
Wahrheit auf die präziseste Weise formuliert wurde in dem Satze, mit
dem ein hervorragender Logiker ^) sein Hauptwerk begann: ,, Science arises
from the discovery of Identity amidst Diversity".
In der Theorie der Naturwissenschaften ist zum Glück der hier ent-
wickelte Erkenntnisbegriff gegenwärtig fast allgemein zur Herrschaft ge-
langt, nachdem Gustav Kirchhoff ihn mit größter Klarheit in seiner be-
rühmten Definition der Mechanik aufgestellt hatte. Er erklärte bekannt-
lich, ihre Aufgabe bestehe allein darin '), ,,die in der Natur vor sich gehen-
den Bewegungen vollständig und auf die ein fachste Weise
zu beschreiben". Unter dem ,, Beschreiben" ist natürlich nichts anderes
zu verstehen als das, was wir ein Zuordnen von Zeichen genannt haben.
Die Worte ,,auf die einfachste Weise" bedeuten, daß bei dieser Zuord-
nung nur ein Minimum von Elementarbegriffen verwendet werden darf ^) ;
und das , .vollständig" heißt, daß durch die Zuordnung eine schlechthin
eindeutige Bezeichnung jeder Einzelheit erreicht werden muß. Wenn viele
der auf diesem Grunde weiterbauenden Erkenntnistheoretiker behaupten,
Kirchhoff habe festgestellt, daß die Aufgabe der Wissenschaft nicht
ein Erklären, sondern ein Beschreiben sei, so ist dies offenbar nicht richtig.
Sein Verdienst besteht vielmehr gerade in der Entdeckung, daß das Er-
klären oder Erkennen in der Wissenschaft nichts weiter ist als eine be-
sondere Art des Beschreibens. Allerdings hat er selbst den Irrtum mit
veranlaßt, indem er seine Bestimmung als eine Einschränkung*) der
Aufgabe der Mechanik anzusehen schien. Er stellt ^) das Beschreiben in
Gegensatz zum Auffinden von Ursachen. Es wird aber später noch zu
untersuchen sein, ob sich der Begriff der Ursachen nicht doch so wenden
läßt, daß er als legitimes Mittel bei der Bezeichnung der Naturgegen-
stände zugelassen werden darf.
In derselben erkenntnistheoretischen Schule finden wir noch eine
andere schiefe Auffassung vom Wesen der Erkenntnis, von der zu reden
sich im nächsten Paragraphen Gelegenheit finden wird.
Noch einmal aber sei es gesagt: die Aufdeckung der wahren Natur
des Erkennens als einer Art des Beschreibens oder Bezeichnens kann
^) Stanley Jevons, The principles of science.
*) Vorlesungen über Mechanik (4. Aufl. 1897). S. i.
') Auch AvENARius hat unter ,, einfachster" Beschreibung wohl diejenige ver-
standen, die mit möglichst wenigen Begriffen auskommt. Vgl. F. Raab, Die Philo-
sophie des AvENARius, 1912. S. 146.
*) Ebenda. Vorrede S. V.
') Ebenda.
Vom Wert der Erkenntnis. 77
niemals den Sinn einer Entwertung, einer Herabsetzung der Erkenntnis
haben, denn nicht das macht ja den Wert des Erkenntnisprozesses aus,
worin er besteht, sondern vielmehr das, was er vermag. Wieviel das
aber ist, zeigen uns die Wissenschaften, besonders die der Natur, und ihre
Anwendungen. Und wieviel es noch werden mag, können wir kaum
ahnen.
12. Vom Wert der Erkenntnis.
Es ist an der Zeit, daß wir uns einmal die Frage vorlegen, warum
denn eigentlich der Mensch nach Erkenntnis sucht. Zu welchem Zwecke
widmen wir unser Leben dem sonderbaren Geschäfte, unaufhörlich das
Gleiche im Verschiedenen aufzusuchen? Aus welchem Grunde bemühen
wir uns, die reiche Mannigfaltigkeit des Universums nur durch solche
Begriffe zu bezeichnen, die aus einem Minimum von Elementarbegriffen
aufgebaut sind.!*
Die letzte Antwort auf diese Frage ist zweifellos: Weil uns diese
Zurückführung des einen auf das andere Lust bereitet; und es ist nur
eine andere Formulierung derselben Antwort, wenn wir sagen: uns wohnt
ein Erkenntnis trieb inne, der nach Befriedigung verlangt. Aber die
Absicht unserer Frage zielt offenbar weiter. Wir möchten den Grund
erfahren, warum eine solche Beschäftigung für uns lustvoll sein kann;
wir möchten wissen, wie es kommt, daß im Menschen ein Trieb sich ent-
wickeln konnte, der das bloße Erkennen zum Ziele hat, das doch von allen
anderen Lebenszwecken scheinbar so weit entfernt ist.
Die Aufklärung dieses Rätsels, die uns den Platz des Erkennens
unter den übrigen menschlichen Betätigungen zeigen wird, kann vielleicht
auch auf das Wesen der Erkenntnis neues Licht werfen.
Der Gedankengang, der uns zur Lösung der Frage führen soll, muß
notwendig auf biologischem Gebiete liegen. Denn allein von den Lebens-
bedingungen und von der Organisation des Menschen hängt es ab, was
ihm Lust bringt und welche Triebe sich in ihm entwickeln.
Alle biologischen Entwicklungstheorien stimmen darin überein, daß
bei der Evolution der Lebewesen in ihnen der Drang nach solchen Tätig-
keiten sich verstärken muß, die die Erhaltung des Lebens der Individuen
und der Gattung begünstigen, während Neigungen, die auf lebens- und
gattungsfeindliche Tätigkeiten gerichtet sind, verkümmern und vergehen
müssen. Daß der Erkenntnistrieb sich diesem Prinzip unterordnen läßt,
kann keinem Zweifel unterliegen. Das Denken ist ursprünglich nur ein
Werkzeug zur Selbstbehauptung des einzelnen und der Gattung, wie das
Essen und Trinken, das Kämpfen und Liebeswerben.
Wir müssen annehmen, daß jedes Tier, das Bewußtsein besitzt, auch
zu Akten des Wiedererkennens befähigt ist. Es muß die Beute als Beute,
den Feind als Feind auffassen, sonst kann es sein Verhalten der Umwelt
nicht anpassen und muß zugrunde gehen. Hier liegt also sicherlich wenigstens
die primitivste Art des Erkennens vor, das wahrnehmende. Wir haben
78 Das Wesen der Erkenntnis.
es uns als einen Apperzeptionsprozeß vorzustellen, an den sich assoziativ
die Angriffs- und Abwehrbewegungen des Tieres anschließen. Je kom-
plizierter nun die Bedürfnisse und Lebensbedingungen eines Wesens sind,
um so verwickelter müssen die Assoziationsprozesse werden, und es ist
kein Zweifel, daß diese zunehmende Komplikation nichts anderes ist als
die Entwicklung dessen, was wir Verstand oder Denkvermögen nennen.
Denn so sehr sich auch schließlich die echten Urteilsakte von bloß assozia-
tiven Vorstellungsverbindungen in ihrer erkenntnistheoretischen B e -
deutung unterscheiden: als psychologische Prozesse wachsen die Ur-
teilsvorgänge (die Denkakte im engeren Sinne) aus denen des Apper-
zipierens und Assoziierens hervor, es besteht eine nahe Verwandtschaft
zwischen ihnen ').
Der Apparat des Urteilens und Schließens ermöglicht eine sehr viel
weiter gehende Anpassung an die Umgebung als die automatische Asso-
ziation je erreichen kann, die nur auf typische Fälle eingestellt ist. Das
Tier stürzt sich auch dort auf seine Nahrung, wo es der Erhaltung seines
Lebens gar nicht förderlich ist, wenn z. B. die Beute als Lockspeise in
einer Falle angebracht war; der Mensch aber vermag Hinterhalt und Ge-
fahr auch in der Verkleidung zu erkennen, er kann Fallen stellen und
nicht nur die wilden Tiere, sondern jetzt sogar die unsichtbar kleinen
Lebewesen überlisten, die das Leben seines Körpers von innen bedrohen.
Um sich in der Natur zu behaupten, muß er sie beherrschen, und das ist
nur möglich, wenn er überall in ihr Bekanntes wiederfindet. Denn könnte
es dies nicht, vermöchte er das Neue und Ungewohnte nicht in Bekanntes
aufzulösen, so stände er der Natur oft genug ratlos gegenüber, er würde
falsch handeln, seine Zwecke nicht erreichen, weil er die Folgen seines
eigenen Handelns und andere Ereignisse nicht richtig voraussähe. Da
das Erkennen eines Gegenstandes darin besteht, daß man in ihm andere
Gegenstände wiederfindet, so setzt uns die Erkenntnis (wenn nicht sonst
praktische Hindernisse entgegenstehen) in den Stand, den Gegenstand
durch Kombination jener anderen Gegenstände wirklich schöpferisch zu
bilden, oder seine Bildung aus dem beobachteten Zusammentreten jener
Momente vorauszusagen und Maßnahmen zu seiner Abwehr oder Nutz-
barmachung zu treffen. Alles weiter ausschauende Handeln ist mithin
ohne Erkenntnis nicht möglich.
Daß alle Erkenntnis zunächst ganz allein dem Handeln diente, ist
eine oft betonte, unzweifelhafte Wahrheit. Von den geometrischen Er-
kenntnissen z. B. ist ja allgemein bekannt, und schon der Name lehrt es,
daß sie anfänglich nur zu Zwecken der Landmeßkunst gesucht wurden;
die ersten astronomischen Beobachtungen galten der Wahrsagerei, die
ersten chemischen Untersuchungen hatten nur die Goldmacherei zum
Ziel . . . und ähnliches gilt von allen anderen Disziplinen auch. Ja, auch
^) Das zeigt sehr hübsch J. Schultz: Die drei Welten der Erkenntnistheorie,
Göttingen 1907. S. 32 f. und 76 f.
Vom Wert der Erkenntnis. 79
heute noch stehen Wissenschaft und Praxis, das heißt, reine Erkenntnis
und lebendiges Handeln, im allerinnigsten Verhältnis zueinander. Die
Praxis gibt der reinen Forschung unaufhörlich neue Antriebe und stellt
sie vor neue Probleme, und man kann sagen, daß auch in unseren Tagen
noch neue Wissenschaften direkt aus den Bedürfnissen des Lebens ent-
stehen. Aber ungleich größer noch ist die W^irkung in umgekehrter Rich-
tung: die reine Wissenschaft zeigt dem Kampf um Erhaltung und Er-
höhung des Daseins eine erstaunliche Fülle neuer Wege. Gerade solche
Erkenntnisse, die nicht aus praktischen Forderungen entsprangen, sind
für die Zwecke des Lebens von höchstem Nutzen geworden. Die gesamte
moderne Kultur wird von Entdeckungen gespeist, bei deren Gewinnung
niemand ihre Verwendbarkeit voraussehen konnte; Volta und Faraday
dachten an keine Elektrotechnik; die grundlegenden Untersuchungen von
Pasteur drehten sich um die theoretische Frage nach der Möglichkeit
der Urzeugung, nicht um hygienische oder therapeutische Zwecke, für die
sie von so ungeheurer Wichtigkeit werden sollten. Bei der Entdeckung
des Radiums wußte niemand von der möglichen Anwendung seiner Strahlen
zur Krebsbehandlung .... doch es ist nicht nötig, weitere Beispiele für
so offenkundige Wahrheiten zu häufen.
Dieser innige Zusammenhang zwischen Erkenntnis und praktischem
Nutzen hat nun viele Denker zu der Meinung geführt, der Wert des Er-
kennens bestehe, jetzt wie einst, überhaupt bloß in diesem Nutzen. Wissen-
schaft, sagen sie, diene allein der praktischen Voraussicht, der Herrschaft
über die Natur; nur hierin finde sie ihren Sinn und Wert. Die Forderung,
Erkenntnis um ihrer selbst willen zu suchen, ganz ohne Rücksicht auf
ihre Anwendung im Leben, fließe aus mißverstandenem Idealismus und
bedeute in Wahrheit eine Entwertung der Wissenschaft ^). Sie geben zu,
daß es besser sei, wenn der Forscher bei der Verfolgung seiner Erkenntnis-
ziele gar nicht an die Praxis denke und nicht etwa mit der Absicht ans
Werk gehe, bloß nützliche, verwendbare Wahrheiten zu finden; er solle
vielmehr die Wahrheit erforschen, als ob sie selbst das Endziel wäre.
Wie nämlich die Erfahrung lehrt, werden immer nur auf diesem Wege
die großen Erkenntnisse gewonnen, die sich nachher so fruchtbar erweisen,
und man würde sie niemals erlangt haben, wenn man von vornherein
nur den Nutzen für den Menschen im Auge gehabt hätte. Es sei also zwar
für die Menschheit nützlich, Wahrheit und reine Erkenntnis als letzten
Zweck der Wissenschaft zu fingieren, in Wirklichkeit bilde aber doch nur
der Nutzen das wahre Ziel des Erkennens, und nur er verleihe dem Wahr-
heitsstreben die Daseinsberechtigung. Streben nach Erkenntnis ,,um ihrer
selbst willen" sei ein bloßes Spiel, eine unwürdige Zeitverschwendung.
Diese Ansicht übersieht einige Punkte, die für das Verständnis der
menschlichen Geistesentwicklung gerade die wichtigsten sind. So gewiß
der Verstand anfänglich nur ein Instrument der Lebenserhaltung war, so
Vgl. z. B. Ostwald, Grundriß der Naturphilosophie. S. 22,
8o Das Wesen der Erkenntnis.
sicher ist seine Tätigkeit heute nicht mehr bloß das, sondern selbst eine
Quelle der Lust. Es ist ein allgemeiner, auch sonst wirksamer Natur-
prozeß, der diesen Wandel hervorbringt: der Prozeß der Umwandlung
der Mittel in Zwecke. Tätigkeiten nämlich, welche notwendige Mittel zur
Erreichung bestimmter Zwecke bilden, deren Ausübung aber zunächst
nicht unmittelbar mit Lust verknüpft ist, werden uns durch Gewöhnung
allmählich so geläufig und vertraut, daß sie einen integrierenden Bestand-
teil des Lebens ausmachen: schließlich geben wir uns ihnen auch ,,um
ihrer selbst willen" hin, ohne einen Zweck damit zu verbinden oder zu
erreichen; ihre Ausübung selbst bereitet uns Lust, sie sind aus Mitteln
zu Zwecken geworden. Waren sie einst nur als Mittel wertvoll, so sind
sie es jetzt an sich selber. Es gibt kaum eine Tätigkeit, deren Rolle im
Leben nicht eine solche Umbildung erleiden könnte. Und wir haben alle
Ursache, uns darüber zu freuen. Das Sprechen, zunächst ein Werkzeug
der Mitteilung, wird zum Gesang; des Gehen, ursprünglich ein Mittel der
Fortbewegung, wird zum Tanz; das Sehen wird zum Schauen, das Hören
zum Lauschen, die Arbeit zum Spiel. Die spielenden Tätigkeiten aber
sind die höchsten, sie allein befriedigen unmittelbar, während alles auf
Zwecke gerichtetes und nur als Mittel dienendes Handeln — die Arbeit —
ihren Wert erst aus dem Erfolg empfängt.
Dieser Prozeß ^) der Umbildung von Mitteln zu Zwecken macht das
Leben immer reicher, er läßt neue Triebe in uns entstehen und damit
neue Möglichkeiten der Lust — Befriedigung von Trieben ist ja nur ein
anderer Name der Lust. Er ist der Schöpfer des Schönheitstriebes, aus
dem dann die Kunst entspringt, die bildende für das Schauen, die Musik
für das Lauschen. Er ist auch der Schöpfer des Erkenntnistriebes, der die
Wissenschaft erzeugt und das Gebäude der Wahrheit zur eigenen Freude
aufführt, nicht mehr bloß als Wohnstätte der materiellen Kultur. Daß
diese es nun dennoch meist wohnlich findet, kümmert ihn nicht. In schönen
Worten ist derselbe Prozeß auch von Vaihinger beschrieben worden,
der von der durch die Erkenntnis geschaffenen Vorstellungswelt sagt *) :
,,Die Wissenschaft macht diese Konstruktionen weiterhin zum Selbst-
zweck und ist, wo sie dies tut, wo sie nicht mehr bloß der Ausbildung
des Instrumentes dient, streng genommen ein Luxus, eine Leidenschaft.
Alles Edle im Menschen hat aber einen ähnlichen Ursprung." Wer also
leugnen wollte, daß die Erkenntnis der letzte Zweck des wissenschaft-
lichen Strebens sei, der müßte auch die Kunst verdammen, und wenn
wir ihm folgten, so würden wir das Leben jedes Inhaltes, jedes Reichtums
berauben. Das Leben an sich ist ja überhaupt nicht wertvoll, sondern
wird es nur durch seinen Inhalt, seine Lustfülle. Die Erkenntnis ist neben
der Kunst und tausend anderen Dingen ein solcher Inhalt, ein Füllhorn
*) Seine Bedeutung habe ich zu würdigen versucht in dem populären Buche
„Lebensweisheit". München 1908. Vgl. auch Wundt's „Prinzip der Heterogonie der
Zwecke".
2) Die Philosophie des Als Ob. 2. Aufl. S. 95-
Vom Wert der Erkenntnis.
der Lust; sie ist ein Instrument nicht nur zur Erhaltung, sondern auch
zur Erfüllung des Lebens. Mögen auch die meisten Erkenntnisakte irgend-
einen Nutzen, irgendetwas außer ihnen selbst zum Zweck haben: reine
Wissenschaft ist nur dort, wo sie selber Zweck sind — alles andere Er-
kennen ist Lebensklugkeit oder Technik. So gewiß wir das Leben um
seiner Inhalte willen leben, so gewiß ist es nicht die volle Wahrheit,
was der Satz Spencer's behauptet: ,, Science is for Life, not Life for
Science".
Eine nicht tief genug dringende biologische Betrachtung des Er-
kenntnistriebes hat oft zu unklaren Ansichten über den Sinn der Wissen-
schaft geführt, auch dort, wo man als deren Zweck keineswegs bloß die
Selbstbehauptung des Lebens gelten ließ. Ich denke hier an das ,, Prinzip
der Ökonomie des Denkens", das seinen Namen von E. Mach erhalten
hat, dem Sinne nach sich aber ebenso bei Avenarius und anderen findet
und bei vielen Vertretern der positivistischen Philosophie in der Gegen-
wart eine große Rolle spielt. Die Urheber des Ökonomieprinzips wollen
wohl nicht behaupten, daß alles Denken überhaupt nur den praktisch
ökonomischen Zwecken des Lebens diene, und daß folglich auch die Wissen-
schaft nur Mittel zu diesem Zwecke sei. Freilich sind besonders Mach's
Äußerungen über die wahre Natur des Prinzips so unbestimmt, daß der
scharfe Tadel, den es gelegentlich, z. B. durch Planck^), erfahren hat,
nicht unberechtigt erscheint. Aber im allgemeinen wird es als ein Prinzip
beschrieben, welches den psychologischen Vorgang des Denkens so regelt,
daß sein Ziel mit möglichst geringer Anstrengung, auf möglichst unbeschwer-
lichem Wege erreicht wird. Und die Aufgabe der Wissenschaft sei eben
die Auffindung der kürzesten und leichtesten Wege, auf denen das Denken
eine Zusammenfassung aller Erfahrungen in möglichst einfachen Formeln
leisten könne, so daß ihm dabei alle überflüssige Arbeit erspart bleibe.
Das so verstandene Ökonomieprinzip ist ganz gewiß nicht der richtige
Ausdruck des Wesens der Wissenschaft. Ihm liegt ein richtiger Kern
zugrunde, und dem Leser der vorhergehenden Kapitel kann es nicht
zweifelhaft sein, worin er zu suchen ist: Das Erkennen besteht ja darin,
die Dinge der Welt durch ein Minimum von Begriffen vollständig und
eindeutig zu bezeichnen; mit einer möglichst geringen Anzahl von Grund-
begriffen auszukommen — darin besteht die Ökonomie der Wissen-
schaft. Zur Erreichung dieses Ziels aber ist dem Forscher keine Mühe zu
groß, er muß dazu auf den mühsamsten Pfaden wandeln — es kann gar
keine Rede davon sein, daß die Erkenntnis darauf zielte, unsere Denk-
prozesse leichter und bequemer zu machen, uns geistige Arbeit zu er-
sparen; sie fordert sie vielmehr in höchster Intensität. Die wahre Öko-
nomie des Denkens (das Prinzip des Minimums der Begriffe) ist ein
logisches Prinzip, es bezieht sich auf die Verhältnisse der Begriffe
^) M. Planck, Zur MACH'schen Theorie der ^phyt.ikalischen Erkenntnis. Viertel-
jahrsschr. f. wiss. Phil. 1910. Bd. 34. S. 499 ff.
Schlick, Erkenn taislöbre, 6
82 Das Wesen der Erkenntnis.
zueinander; das AvENARius-MACH'sche Prinzip aber ist ein biologisch-
psychologisches, es redet von unseren Vorstellungs- und Willensprozessen.
Dieses ist ein Prinzip der Bequemlichkeit, der Faulheit — jenes aber
ein Prinzip der Einheitlichkeit.
Das Verfahren der Wissenschaft, obwohl, wie wir wissen, aus biolo-
gischen Nötigungen ursprünglich hervorgegangen, bringt keineswegs Er-
sparnis, sondern vielmehr reichliche Ausstreuung von Denkenergie mit
sich. Es bedeutet durchaus keine Erleichterung für unser Denken, wenn
es gezwungen wird, zur Bezeichnung aller Tatsachen der Welt nur ein
Minimum von Begriffen zu verwenden, sondern es wird ihm außerordent-
lich sauer. Gewiß ist die Zurückführung des einen auf das andere bis zu
einem bestimmten Grade für das Leben nötig oder erleichternd, wie wir
gesehen haben; über diesen Grad hinaus aber wird es zu einem schwierigen
Spiel, das Geduld und Liebe erfordert, und dem bis jetzt doch nur eine
Minderheit der Menschen Geschmack abgewinnt, denn in Wirklichkeit ist
ja die Zahl derer noch nicht groß, die von einem starken Erkenntnistrieb
beseelt sind. Der menschliche Geist arbeitet müheloser und findet sich
in der Welt leichter zurecht mit einem verhältnismäßig reichen Schatz
von Vorstellungen, auch wenn diese, durch Begriffe ersetzt, auf logischem
Wege miteinander verbunden, auseinander abgeleitet und so vereinfacht
werden könnten. Um mit vielen Vorstellungen zu arbeiten, bedarf es nur
des Gedächtnisses, um aber dasselbe mit wenigen Elementarvorstellungen
zu leisten, bedarf es des Scharfsinns, und wir wissen doch alle: mag auch
das Gedächtnis unserer Mitmenschen sie oft im Stich lassen — viel lieber
trauen wir doch ihm als ihrer Fähigkeit zur logischen Überlegung. Alle
Praxis des Anlernens und Einübens zeigt das im täglichen Leben auf
Schritt und Tritt. Welche Wissenschaften gelten doch der breiten Masse
als die schwierigsten? Bekanntlich die mathematischen, obwohl doch in
ihnen die logische Ökonomie am weitesten gediehen ist, da alle ihre Be-
griffe aus ganz wenigen fundamentalen aufgebaut sind. In der Mathematik-
stunde sind die meisten Schüler besser befähigt, die Formeln einzeln aus-
wendig zu lernen, als sie auseinander abzuleiten.
Kurz: Erleichterung des Denkvorgangs geschieht immer durch Übung,
Gewöhnung, Assoziation, und das ist gerade das Gegenteil der logischen
Verknüpfung, welche das Verfahren der Wissenschaft ausmacht.
Man sieht, wie leicht infolge laxer Denk- und Ausdrucksweise ganz
Entgegengesetztes miteinander verwechselt werden kann. Der Satz Mach's:
,,Die Wissenschaft kann daher selbst als eine Minimumaufgabe angesehen
werden, welche darin besteht, möglichst vollständig die Tatsachen mit
dem geringsten Gedankenaufwand darzustellen"^) ist richtig,
wenn der ,, geringste Gedankenaufwand" logisch gedeutet wird als Minimum
der Begriffe; aber er ist falsch, wenn derselbe Terminus psychologisch ver-
standen wird als möglichste Kürze und Leichtigkeit der Vorstellungs
') E. Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung. 3. Aufl. 1907. S. 480.
Vom Wert der Erkenntnis. 83
prozesse. Beides ist nicht dasselbe, sondern schließt sich bis zu einem
gewissen Grade gegenseitig aus.
Erkenntnis, sofern sie Wissenschaft ist, dient also nicht irgendwelchen
anderen Lebensfunktionen. Sie ist nicht auf praktische Beherrschung der
Natur gerichtet, obwohl sie hinterher oft auch dazu nützlich sein mag —
sondern sie ist eine selbständige Funktion, deren Ausübung uns u n -
mittelbar Freude bereitet, ein eigener, mit keinem andern vergleich-
barer Weg zur Lust. Und in dieser Lust, mit der der Erkenntnistrieb
das Leben des Forschenden füllt, besteht ihr Wert.
Man hat zuweilen die Herrlichkeit der Erkenntnis noch zu erhöhen
gemeint, indem man behauptete, sie sei ,,an sich" wertvoll, ganz unab-
hängig davon, ob sie uns Lust bereite oder nicht, und würde selbst dann
erstrebt werden müssen, wenn sie uns gar keine Freude machte. Wahrheit
sei ein ,, absoluter" Wert.
Eine Kritik dieser Lehre würde die Grenzen unserer Aufgabe hier
überschreiten; ich will deshalb nur ohne Begründung meine feste Über-
zeugung aussprechen, "daß die Behauptung von Werten an sich, die mit
Lust und Unlust nichts zu tun hätten, mir eine der schlimmsten Irrlehren
aller Philosophie zu sein scheint, weil sie in gewissen tiefst eingewurzelten
Vorurteilen ihren Ursprung hat. Sie erhebt den Begriff des Wertes in
luftige metaphysische Regionen und glaubt ihn dadurch zu erhöhen,
während sie ihn in Wahrheit verflüchtigt und zu einem bloßen Worte
macht.
Wie das Gute, trotz allen Ethikern, nicht deshalb gut ist, weil es
einen ,,Wert an sich" hat, sondern weil es Freude macht, so besteht auch
der Wert der Erkenntnis ganz einfach darin, daß sie uns erfreut.
6*
Zweiter Teil.
Denkprobleme.
13. Der Zusammenhang der Erkenntnisse.
Wissenschaft ist nicht eine bloße Ansammlung, sondern ein Z u -
sammenhang von Wahrheiten.
Das folgt aus dem Begriffe der Erkenntnis. Denn wenn man zwei
Glieder so aufeinander zurückführt, daß ein dritter in beiden wieder-
gefunden wird, so wird eben dadurch ein Zusammenhang zwischen ihnen
geschaffen.
Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, was mit dem zunächst ja
bildlichen Ausdruck „Zusammenhang" hier gemeint ist. Zwei Urteile
heißen einfach dann zusammenhängend, wenn in beiden ein und derselbe
Begriff auftritt. Jedes der beiden Urteile bezeichnet eine Tatsache, beide
zusammen also einen komplexen Tatbestand. Dieser letztere läßt sich
nun häufig durch ein neues Urteil bezeichnen, in dem der den beiden
ersten Urteilen gemeinsame Begriff nicht mehr vorkommt. Wir sagen
dann, der neue Satz sei aus den beiden andern abgeleitet worden,
und wir nennen ihn den Schlußsatz, während jene Vordersätze oder Prä-
missen heißen. Die drei Urteile in ihrer Gesamtheit machen bekanntlich
das Gebilde aus, das seit Aristoteles als Syllogismus bezeichnet
wird. Es gibt keinen anderen Zusammenhang der Urteile unter sich als
den Syllogismus. Das heißt, nur init seiner Hilfe ist es möglich, aus ge-
gebenen Sätzen einen neuen Satz abzuleiten, so daß dieser stets wahr ist,
wenn die Prämissen wahr sind.
Die Schullogik hat bekanntlich neunzehn verschiedene Modi des
Syllogismus aufgestellt, die sich auf vier ,, Figuren" verteilen, und sie
betrachtet diese neunzehn gültigen Modi gleichsam als eine Auswahl aus
64 möglichen, von denen aber 45 ungültig sind, nämlich keinen Schluß
erlauben, obwohl beide Prämissen einen gemeinsamen Begriff aufweisen.
Die ^chullogik hat von ihrem Standpunkt aus mit diesen Bestimmungen
ganz recht; für uns aber vereinfacht sich die Sachlage noch bedeutend, da
wir für unsere Zwecke nur die wissenschaftlich vollgültigen Urteile in
Betracht zu ziehen brauchen.
Der Zusammenhang der Erkenntnisse. 85
In diesem Teile der Untersuchungen beschäftigen wir uns nämlich
nur mit den Problemen, die erwachsen aus der Betrachtung des Zusammen-
hangs der Urteile unter sich; es handelt sich also allein um die Be-
ziehung von Zeichen zueinander, zunächst ohne Rücksicht auf das Be-
zeichnete. Nur das gegenseitige Verhältnis der Wahrheiten zueinander
interessiert uns hier, nicht ihre Bedeutung, nicht ihre ursprüngliche Her-
kunft; wir nehmen also ein wissenschaftliches System in der Vollendung,
nicht in der Entstehung an und betrachten nicht den stets mehr oder
minder zufälligen Weg, auf welchem die Menschen zur Aufstellung der
einzelnen Urteile gelangt sind, sondern die Abhängigkeiten, die im fertigen
System der Wahrheiten zwischen ihnen bestehen. Halten wir dies mit
unserer früheren Einsicht zusammen, daß den verneinenden Ur-
teilen nur eine sekundäre Bedeutung zuzumessen ist ^), da sie ihr Dasein
der Unvollkommenheit unseres Denkens verdanken und folglich in den
vollendeten Teilen einer Wissenschaft keinen Platz finden, so ergibt sich,
daß wir negative Urteile hier außer acht lassen können, und diejenigen
Modi des Syllogismus, in denen solche Urteile auftreten, scheiden von
unserer Betrachtung aus. Bei der praktischen Erkenntnisgewinnung spielen
sie natürlich zum Teil eine Rolle, weil der Mensch nur durch Irrtum zur
Wahrheit gelangt, im Reiche der gewonnenen Wahrheiten aber bedürfen
wir ihrer nicht mehr. Es sind zwölf an der Zahl, und so bleiben für uns
zunächst noch sieben Modi übrig.
Ähnliches jedoch wie von den negativen Urteilen gilt auch von den
partikulären, d. h. Urteilen der Form ,,Einige S sind P". So wichtig
sie in der Praxis werden mögen, wissenschaftlich haben sie nur gleichsam
eine vorläufige Bedeutung, und daher in einem strengen System keinen
Platz. Diese Urteile subsumieren nämlich nur einen Teil der Gegenstände
eines bestimmten Begriffes unter einem andern Begriff, und zwar so, daß
sie unbestimmt lassen, welcher Teil der Gegenstände gemeint ist. In
Wirklichkeit läßt sich aber ein partikuläres Urteil nur aufstellen, wenn
wir tatsächlich solche S kennen, die P sind. Stets, auch in der Praxis,
liegt die Quelle der Wahrheit eines partikulären Urteils in dem Wissen
um ganz bestimmte S und muß sich bis zu diesen zurückverfolgen lassen.
Es ist also nur eine unvollkommene Abkürzung für das Urteil ,,Si und
S2 und S3 etc. sind P". Überall, wo die S nicht einzeln angebbar sind
(wo man sie etwa vergessen hat oder fremden Aussagen vertraut), ist auch
das Urteil nicht gewiß. Um seine Gültigkeit darzutun, muß man stets
auf die einzelnen Gegenstände zurückgehen, die den Subjektbegriff
,, einige S" ausmachen, und damit ersetzt man eben das partikuläre Urteil
durch ein allgemeines. An die Stelle etwa des Urteils ,, einige Metalle
sind leichter als Wasser" tritt das andere: ,, Kalium, Natrium und Lithium
sind leichter als Wasser"; und nur das letztere ist wissenschaftlich voll-
wertig.
_ •
^) Siehe oben S. 39.
86 Denkprobleme.
Für unseren Zweck scheiden also auch die partikulären Urteile aus.
Und da in sechs von unseren übrig gebliebenen sieben Modis solche Urteile
vorkommen, so bleibt nur eine einzige Art des Syllogismus, welcher allein
das wichtige Amt zufällt, den gegenseitigen Zusammenhang strenger
Wahrheiten herzustellen, und auf die daher unsere Betrachtung sich be-
schränkt: es ist der Modus ,, Barbara", welcher die Formel hat:
Alle M sind P
Alle S sind M
Alle S sind P
Man kann es als das Wesen dieses Schlußmodus bezeichnen, daß er
die Subsumtion eines speziellen Falles unter einen allgemeinen Satz
vollzieht. Die Wahrheit nämlich, die der Obersatz von allen M aus-
spricht, wird durch unseren Syllogismus auf diejenigen besonderen M an-
gewendet, welche S sind.
Das Prinzip, nach welchem der Schluß erfolgt, ist das sog. dictum
de omni; es besagt, daß ein Merkmal, das al le M besitzen, auch jedem
einzelnen M zukommt. Schon J. Stuart Mill hat ganz richtig erkannt
(Logic, book II, chap. 2, § 2), daß dieses Dictum weiter nichts ist, als
eine Definition des Begriffes ,,omnis" (oder des Begriffes der Klasse).
Daß die Verknüpfung aller Wahrheiten im System einer strengen
Wissenschaft sich wirklich durch diese Schlußform darstellen läßt, lehrt
jede Untersuchung derartiger Zusammenhänge. Zur Feststellung dieses
Sachverhaltes bedarf es einer Untersuchung überhaupt nur deshalb, weil
die wissenschaftlichen Deduktionen fast nie in der reinen syllogistischen
Form, sondern verkürzt dargestellt werden; vor allem werden die Unter-
sätze meist nicht besonders ausgesprochen, da sie aus dem Sinn heraus sich
ohne weiteres ergänzen lassen und das geübte Denken über sie hinweg-
zueilen pflegt. Als Beispiel eines strengen Zusammenhanges wissenschaft-
licher Wahrheiten kommt natürlich in erster Linie wieder die Mathematik
in Betracht. In ihr werden die einzelnen Sätze durch jene Prozesse mit-
einander verknüpft, welche Beweisen und Rechnen heißen. Sie sind nichts
anderes als ein Aneinanderreihen von Syllogismen im Modus Barbara.
Alles Beweisen geht im Prinzip nach demselben Schema vor sich, und
zwar hat es, an einem Beispiel erläutert, folgende Form:
Jedes rechtwinklige Dreieck ist mit den und den Eigenschaften
begabt ;
Die Figur ABC ist ein rechtwinkliges Dreieck;
ABC ist mit den und den Eigenschaften begabt.
Der Obersatz gibt also eine allgemeine (ihrerseits aus noch allgemei-
neren Sätzen bewiesene) Regel an, unter die der Syllogismus das besondere
Subjekt des Untersatzes subsumiert. Die Richtigkeit des letzteren aber
beruht entweder unmittelbar auf Definition (geometrisch gesprochen: auf
Konstruktion), oder wiederum auf einem Beweis, der den Satz mittelbar
auf die fundamentalen Definitionen (Axiome) der Geometrie zurückführt.
Der Zusammenhang der Erkenntnisse. 87
Von solcher Art sind Hie geometrischen Beweisführungen. Mit Recht
wendet sich Sigwart ^) dagegen, daß man als Typus des mathemati-
schen Schließens so einfältige Syllogismen betrachte, wie etwa den: Das
Parallelogramm ist ein Viereck, das Quadrat ist ein Parallelogramm;
also ist das Quadrat ein Viereck. Mit Unrecht aber folgert er weiter *),
die Obersätze der geometrischen Schlüsse könnten im allgemeinen nicht
als Subsumtionsurteile aufgefaßt werden, und sie hätten nur scheinbar
die Form des Modus Barbara. Er meint nämlich, die Geometrie habe es
nicht bloß mit dem Unterordnungsverhältnis von Begriffen zu tun, sondern
,,gehe überall über die bloß begrifflichen Urteile hinaus", sie leite ihre
Sätze ab ,,mit Hilfe irgendwoher hinzugenommener gesetzmäßiger Be-
ziehungen" (dies ,, irgendwo" müßte offenbar die Anschauung sein), welche
nicht in der Definition liegen. Hiergegen brauchen wir nur an frühere
Ausführungen zu erinnern (oben Teil I, § 7). Wir sahen dort, daß im
modernen strengen System der Geometrie eben nur diejenigen Beziehungen
benutzt werden, die doch in der Definition liegen. Die Definition ihrer
Grundbegriffe geschieht ja gerade durch jene Beziehungen. Und deshalb
lassen sich die Gesetze von Relationen als Subordinationsverhältnisse von
Begriffen darstellen und umgekehrt. Noch in älteren Anschauungen über
das Wesen des mathematischen Denkens befangen, übersah Sigwart
dies, indem er hervorhob, der geometrische Schluß laufe nicht fort an
den Subsumtionsverhältnissen der Begriffe, sondern an Relationsverhält-
nissen beides ist aber rein logisch-mathematisch ein und dasselbe,
weil der strenge, reine Begriff eben nur ein Knotenpunkt von Bezie-
hungen ist.
Ganz Analoges wie für die Geometrie gilt auch, sogar noch offen-
kundiger, für Arithmetik und Algebra. ,, Rechnen" ist nichts als ein
Schließen auf Grund allgemeiner Lehrsätze ^). Es besteht im Prinzip
darin, daß die obersten Prinzipien, welche die Axiome oder Definitionen
der Arithmetik bilden und für alle Zahlen gültig sind, auf immer andere
und andere besondere Zahlen angewendet werden (denn jeder arithmeti-
sche Ausdruck ist schließlich nichts anderes als ein komplizierteres Zeichen
für eine Zahl); und die so erhaltenen Sätze werden dann wieder auf be-
liebige Zahlausdrücke angewandt usw. Das logische Schema des Rechnens
(das in der Praxis natürlich nie in vollständiger Form dargestellt wird)
würde demnach etwa so aussehen: Alle Zahlen sind diesem Satz unter-
worfen; a, b . . . . sind Zahlen; a, b . . . sind diesem Satz unterworfen.
Ein konkreteres Beispiel: Wir erhalten den Wert von (a + b + c)^, in-
dem wir diesen Ausdruck als denjenigen Spezialfall des Ausdruckes
(x + c)* betrachten, in welchem die Zahl x die besondere Form a -f b
hat. Alles Rechnen ist ein Substituieren; Sustituieren aber heißt Sub-
^) Logik P. S. 482. Tübingen 1904.
*) Ebenda. S. 483.
*) Vgl. z. B. 0. Holder, Die Arithmetik in strenger Begründung (Programm-
abhandlung der Philosophischen Fakultät zu Leipzig 1914). S. 7.
88 Denkprobleme.
sumieren. Die beim Rechnen füreinander substituierten Glieder sind meist
vollständig gleich, d. h. nur verschiedene Zeichen für ein und denselben
Begriff; diese Substitution ist dann eine Subsumtion, in der beide Be-
griffe denselben Umfang haben.
Hier tritt also ganz klar zutage, daß der Zusammenhang der strengsten
Erkenntnisse durch den Modus Barbara wiedergegeben werden kann. Da
nun rein logisch genommen die strengen Schlüsse beliebiger anderer Wissen-
schaften von den mathematischen sich nicht unterscheiden — denn es
handelt sich ja bei der Betrachtung des Schließens nur um das Verhältnis
der Begriffe zueinander, unbekümmert um etwaige anschauliche Gegen-
stände, die durch sie bezeichnet werden — , so gilt von allen Wahrheiten,
die exakt logisch zusammenhängen (sich auseinander ableiten lassen), daß
ihre gegenseitige Verknüpfung sich durch Syllogismen und zwar im Modus
Barbara darstellen lassen muß.
Dies ist nun ein Resultat, das sich keiner allgemeinen Anerkennung
bei den Denkern der Gegenwart erfreut. Man hat oft bestritten, daß der
Syllogismus, und noch dazu in einer speziellen Form, das gesamte Gebiet
alles strengen Schließens wirklich ganz allein beherrsche. Man hat sogar
gemeint, die von Aristoteles geschaffene Syllogistik hänge mit der Meta-
physik ihres Schöpfers so eng zusammen, daß sie eigentlich nur inner-
halb ihrer ihr natürliches Anwendungsgebiet finde; die Logik der neueren
Wissenschaft aber lasse sich ganz und gar nicht in solch enges Schema
pressen, ihre Schlüsse, obwohl nicht minder streng, bewegten sich in
freieren Bahnen als der Syllogismus, der nur eines, und vielleicht nicht
das vollkommenste, unter anderen Werkzeugen des Schließens sei ^).
Die Argumente, die von den Vertretern dieser Ansicht geltend ge-
macht werden, brauchen wir hier nicht im einzelnen zu betrachten; die
Prinzipien zu ihrer Widerlegung sind in unseren früheren Ausführungen
vollständig enthalten. Um auf die moderne Wissenschaft anwendbar zu
sein, bedarf nicht die aristotelische Schlußlehre einer Änderung oder Er-
weiterung, sondern nur die Lehre vom Begriff bedarf einer Vertiefung,
die sie ja auch in der Gegenwart erfahren hat und deren Darstellung ein
Teil der vorhergehenden Erörterungen gewidmet war. Auch werden wir
im nächsten Paragraphen auf einige hier hineinspielende Einzelheiten kurz
eingehen müssen. Nur soviel sei hervorgehoben: alle Gründe, mit denen
die Herrschaft des Syllogismus angegriffen wird, beweisen in Wirklich-
keit nur, daß das lebendige Denken der Menschen sich nicht in regulären
Syllogismen bewegt — und das ist eine unbestreitbare psychologische
Tatsache — , sie beweisen aber nicht, daß die Darstellung eines absolut
strengen Zusammenhanges von Wahrheiten, sofern sie eben schlechthin
exakt und lückenlos sein soll, nicht immer erfolgen könne in syllogisti-
scher Form. Und nur dies muß hier behauptet werden. Daß z. B. die
tatsächliche Auffindung geometrischer Wahrheiten durchaus nicht not-
^) Siehe etwa A. Riehl, «Beilräge zur Logik. 1912. 2, Aufl. Abschnitt IV.
Die analytische Natur des strengen Schließens. 89
wendig dem Schema Barbara folgen muß, ist wohl selbstverständlich; man
kann sich ja dazu z. B. auch negativer Urteile bedienen (etwa beim so-
genannten indirekten Beweis), aber unberührt bleibt davon der innere
Zusammenhang, der die einzelnen Sätze ihrem Wesen nach miteinander
verbindet, und um den sich die Untersuchung dreht.
14. Die analytische Natur des strengen Schließens.
Je wichtiger und umfassender die Rolle ist, welche die syllogistische
Form bei allem strengen Schließen spielt, desto empfindlicher wird das
reine Denken von jeder Kritik getroffen, die etwa den eigentlichen Sinn
und Nutzen dieser Art des Schließens angreift. Vielleicht liegt hierin das
Motiv für manche der zuletzt erwähnten Bestrebungen, welche die exakten
Schlüsse der Wissenschaften nicht unter der Botmäßigkeit des Syllogismus
sehen möchten. Denn wohlbekannt ist ja das harte Urteil, das die Philo-
sophie von jeher über den Wert dieses Schlußverfahrens für die mensch-
liche Erkenntnis gefällt hat.
In der Tat: genau dieselben Erwägungen, die uns soeben die Nutz-
losigkeit der sog. partikulären Urteile für einen streng systematischen
Zusammenhang erwiesen und uns den Modus Barbara als einziges Ver-
knüpfungsprinzip aufzeigten, welches die absolut sichere Verkettung von
Wahrheiten untereinander verbürgt — dieselben Erwägungen lehren uns
zugleich, daß der Schlußsatz eines jeden Syllogismus niemals eine Er-
kenntnis enthält, die nicht schon im Obersatz oder vielleicht sogar in
beiden Prämissen des Schlusses als gültig vorausgesetzt wäre. Wie das
partikuläre Urteil nur gefällt werden kann auf Grund gewisser allgemeiner
Urteile, für die es nur eine unbestimmte Abkürzung bildet, so setzt der
Obersatz eines Syllogismus zu seiner Gültigkeit notwendig bereits die
Wahrheit des Urteils voraus, welches dann als Konklusion auftritt. Kurz:
das Ganze ist ein Zirkelschluß. Betrachten wir nämlich den Schluß:
Alle M sind P, alle S sind M; folglich: alle S sind P, so sind wir ja der
Richtigkeit des Obersatzes nur dann gewiß, wenn wir uns überzeugt
haben, daß wirklich sämtliche M ohne Ausnahme P sind; zu diesen
M gehören aber laut Untersatz auch alle S, von ihnen müssen wir also
bereits wissen, daß sie P sind, ehe wir die Gültigkeit des Obersatzes be-
haupten dürfen. Damit wir also den Obersatz aufstellen können, muß
uns schon bekannt sein, daß alle S sich durch den Begriff P bezeichnen
lassen; der Schlußsatz, der nun eben S durch P bezeichnet, liefert mithin
gar keine neue Bezeichnungsweise, also in bezug auf den Obersatz gar
keine Erkenntnis.
Damit ist gezeigt, daß der Syllogismus zwar immer die einzelnen
Wahrheiten eines vollendeten Systems von Erkenntnissen miteinander
verbindet, daß er aber nicht etwa ein Mittel ist, durch das neue Er-
kenntnisse geschaffen werden könnten. Ihm fällt im Reiche des Erkennens
nur eine verbindende und ordnende, keine schöpferische Funktion zu.
90 Denkprobleme.
Das war nun bereits den antiken Skeptikern bekannt, und wir brauchten
bei diesem Punkte kaum zu verweilen, wenn nicht manchmal auch in
der Gegenwart dem exakten Schlußverfahren eine höhere Leistung zu-
geschrieben würde als es zu vollbringen vermag. Die sichere Einsicht in
seine wahre Leistungsfähigkeit ist aber für den weiteren Gang der Unter-
suchungen wichtig genug, um eine strenge Prüfung der Prinzipien nötig
zu machen, deren sich die Verteidigung des Syllogismus gegen die skepti-
schen Einwände bedient.
Manche Philosophen ^) führen die Verteidigung in der Weise, daß sie
die große Bedeutung und Unentbehrlichkeit des Schlußverfahrens für die
Praxis dartun. Sie haben durchaus recht; sofern aber ihre Argumente
sich nur auf die praktische Brauchbarkeit des Schlusses beziehen, ohne
Rücksicht auf die absolute Strenge seiner Gültigkeit, so kommen sie für
unsere Frage gar nicht in Betracht, denn wenn wir die Frage aufwarfen,
ob der Syllogismus neue Erkenntnis schaffen könne, so wollten wir natür-
lich wissen, ob ihm die Bürgschaft für die Gültigkeit derselben innewohne,
um die Frage nach der letzteren handelt es sich ja überhaupt bei jeder
erkenntnistheoretischen Problemstellung. Wirklich fällt dem Syllogismus
im Leben und in der Erfahrungswissenschaft meist nicht die Aufgabe zu,
aus absolut gültigen Wahrheiten neue, völlig sichere abzuleiten; seine
nützlichsten Anwendungen findet er vielmehr dort, wo die Wahrheit
wenigstens der einen Prämisse noch gar nicht feststeht. Diese Prämisse
ist dann gewöhnlich eine ,, Hypothese", während die Konklusion in einem
an der Erfahrung prüfbaren Urteil besteht. Wird dieses Urteil dann wirk-
lich durch die Erfahrung bestätigt, so darf darin eine Verifikation jener
Hypothese erblickt werden, denn es ist ein Anzeichen dafür, daß in dem
untersuchten Falle wenigstens der durch die Hypothese versuchten Zu-
ordnung in der Tat Eindeutigkeit zukommt. Als es sich zum Beispiel
darum handelte, die Wellennatur der Röntgenstrahlen zu erweisen, bildete
man folgenden Syllogismus, in welchem der Untersatz von der zu veri-
fizierenden Hypothese gebildet wird:
Bei der Fortpflanzung von Wellen treten unter bestimmten Um-
ständen Beugungen und Interferenzen auf;
Röntgenstrahlen sind Fortpflanzung von Wellen;
Bei Röntgenstrahlen treten unter bestimmten Umständen Beugungen
und Interferenzen auf.
Wir haben hier das Schema des Schlusses vor uns, nach dem überhaupt
alle experimentellen Wissenschaften unaufhörlich verfahren. Hier dient
also der Syllogismus durchaus nicht dazu, aus gültigen Sätzen eine neue
Wahrheit abzuleiten, sondern er spielt nur die Rolle eines Leitfadens zur
Aufsuchung von Erfahrungsinstanzen, die die Gültigkeit jenes Satzes erst
stützen sollen.
') Siehe z. B. Wundt, Logik I«. S. 322.
Die analytische Natur des strengen Schließens. 91
Anders liegt der Sachverhalt in dem berühmten Schulbeispiel, in
welchem der Satz ,,Alle Menschen sind sterblich" auf ein noch lebendes
Individuum angewandt wird. Hier ist der Schlußsatz wirklich das Ziel,
um dessen willen wir den Syllogismus vollziehen — und das geschieht im
Leben unzählige Male, wo immer wir mit dem Tode menschlicher Wesen
rechnen und uns darauf vorbereiten. Aber die geringste Überlegung zeigt
alsbald, daß in diesem Falle die Erkenntnis der Sterblichkeit eines noch
Lebenden in keiner Weise durch den Syllogismus selber erst gewonnen
wird, sondern dessen Obersatz setzt zweifellos die Gültigkeit des Schluß-
satzes wiederum schon voraus (das pflegte man sich ja gerade an diesem
Beispiel mit Vorliebe klar zu machen) ; vielmehr liegt der wahre Erkenntnis-
fortschritt allein in dem Übergang von dem Satze ,,alle bisher gestorbenen
Menschen sind sterblich" zu dem Satze ,,alle Menschen sind sterblich",
und dieser Übergang ist ja bereits vor Aufstellung des Obersatzes voll-
zogen; unser Schluß benutzt nur die vorher schon vom einzelnen zum
allgemeinen geschlagene Brücke, um in entgegengesetzter Richtung dar-
über zurückzuschreiten. Die Frage nach der Rechtmäßigkeit jenes Über-
ganges von vielen zu allen Fällen bildet bekanntlich das Problem der
Induktion. Dies Problem aber hat es nicht mit bloßen Verhältnissen
von Begriffen zu tun, sondern es betrifft die Wirklichkeiten selber, die
durch jene bezeichnet werden.
Aus analogen Gründen ergibt sich auch, daß es vergeblich ist, wenn
man den Erkenntniswert des Syllogismus dadurch zu retten sucht, daß
man erklärt, er könne doch in d e n Fällen wirklich neue Erkenntnis be-
gründen, wo der Sinn des allgemeinen Obersatzes nicht die Behauptung
der Allgemeinheit der Zahl der Einzelfälle sei, sondern vielmehr die
Behauptung der Notwendigkeit, in jedem Einzelfall mit dem Subjekt
das Prädikat zu verknüpfen ^). Lautet z. B. in einem Syllogismus der
Obersatz: ,, Jedes Ereignis hat eine Ursache", so möchte dieser Satz nicht
bloß als Tatsache konstatieren, daß in jedem Fall, wo ein Ereignis statt-
findet, auch eine Ursache dafür vorhanden ist, sondern er will behaupten,
daß zu jedem Ereignis mit Notwendigkeit eine Ursache gehört.
Gesetzt selbst, dies wäre richtig, so muß doch zweierlei dazu be-
merkt werden.
Erstens wird hier vorausgesetzt, daß wir Sätze der angegebenen Art
kennen, deren Gültigkeit für uns absolut feststeht. Wir müßten also
in unserem Bewußtsein unabhängig von der Erfahrung irgendwie eine
sichere Garantie der Wahrheit solcher allgemeinen Sätze besitzen — die
Erfahrung nämlich kann ja eine Bürgschaft dafür niemals geben, weil
sie immer nur lehrt, was ist, niemals aber, was sein m u ß ^). Es wird
mithin vorausgesetzt, daß es Wahrheiten gibt, die zu der vierten der in
Teil I, § 10 unterschiedenen Gruppen von Grundsätzen gehören (siehe
oben S. 63). Die Existenz derartiger verbürgt allgemeingültiger Wahr-
^) So SiGWART, Logik I^. S. 479,
*) Kant, Prolegomena. § 14.
92 Denkprobleme.
halten kann aber, wie schon gelegentlich angedeutet, nicht als über jeden
Zweifel erhaben gelten, und wir schieben die Entscheidung darüber vor-
läufig noch auf.
Zweitens aber: Gesetzt selbst, es gäbe sichere Wahrheiten der gedachten
Art, so zeigt doch die nähere Besinnung, daß auch in diesem Falle der
Erkenntnisfortschritt nicht eigentlich dem Syllogismus zu danken wäre,
sondern allein jenem Vermögen unseres Geistes, das uns die Bürgschaft
für die Gültigkeit des Obersatzes gibt, der ja fertig in den Syllogismus
eingeht. Dieses Vermögen würde gerade das leisten müssen, was im vorher
besprochenen Falle die Induktion zu leisten hatte (doch müßte es sie
insofern übertreffen, als es Gewißheit liefert, während die Induk-
tion, wie allgemein anerkannt, nur Wahrscheinlichkeit gibt). Es bleibt
stets die Tatsache unumstößlich bestehen, daß der Schlußsatz des Syllo-
gismus niemals irgendwie hinausführt aus dem Umkreis der vom Ober-
satz umschlossenen Wahrheiten. Der Obersatz sagt uns immer mehr
(im Grenzfalle ebensoviel) als der Schlußsatz; was nämlich der letztere
von irgendeinem besonderen Falle behauptet, das sagt jener als all-
gemeine Wahrheit aus.
Durch den Vollzug eines Syllogismus kann uns wohl deutlich werden,
was alles in dem Obersatz liegt, nie aber können wir dadurch zu einer
Erkenntnis gelangen, die nicht im Obersatz liegt und über ihn hinaus-
geht. In der Tat, wenn wir etwa den Satz, daß jedes Ereignis eine Ur-
sache habe, auf einen besonderen Vorgang anwenden und also behaupten,
daß auch dieser ursächlich bedingt sei, so scheint uns diese Erkenntnis
gar nicht neu und überraschend, obwohl jenes Ereignis vielleicht ganz
neuartig und unvorhergesehen war, sondern wir ordnen das neue ohne
Triumph und ohne Verwunderung in den Kausalsatz ein.
In anderen Fällen kann es freilich eintreten, daß uns die Schluß-
sätze syllogistischer Verfahrungsweisen, etwa die Resultate einer Rech-
nung, doch in Erstaunen setzen und uns als unerwartete Erkenntnisse
gegenübertreten — aber dadurch wird nur bewiesen, daß das Endergebnis
in den Obersätzen psychologisch nicht mitgedacht war, das heißt aber
nicht, daß es nicht logisch in ihm enthalten gewesen wäre, und nur auf
das letztere kommt es hier ja an. Wir fragen nicht danach, was dieser
oder jener weiß oder sich denkt, sondern ganz allein danach, wie die
Urteile im Reich der Wahrheiten auseinander folgen und miteinander zu-
sammenhängen.
Auf wenigen Gebieten ist die Verschiedenheit des logisch-erkenntnis-
theoretischen und des psychologischen Gesichtspunktes so oft außer acht
gelassen worden wie bei der Frage nach dem Wert des deduktiven Schließens.
Seinen psychologischen Wert in Frage zu stellen, wird niemandem ein-
fallen. Selbstverständlich können wir auf syllogistischem Wege zu Wahr-
heiten gelangen, die uns vorher unbekannt waren; aber daß wir uns ihrer
nicht explizite bewußt gewesen, hindert nicht, daß sie nicht doch in den
Prämissen logisch enthalten sind. Die Wahrheit, daß 113 eine Primzah
Die analytische Natur des strengen Schließens. 93
ist, mag für den Schüler etwas Neues, nie vorher Gewußtes sein, dennoch
läßt sie sich zweifellos aus den Definitionen der Begriffe ,, Primzahl" und
,,113" rein syllogistisch ableiten und ist logisch mit ihnen zugleich gegeben.
Es handelt sich hier eben nur um die idealen Beziehungen zwischen Ur-
teilen, nicht um die Verknüpfungen der Urteilsakte, die sie im Bewußt-
sein vertreten und die natürlich reale Vorgänge sind.
Der Unterschied beider Gesichtspunkte in dieser Frage wird noch
deutlicher hervortreten, wenn wir uns nun der Betrachtung des wichtigsten
Argumentes zuwenden, das zugunsten des Wertes deduktiver Schlüsse
geltend gemacht wurde. Mehrere Denker (Bradley, Riehl, Störring)
weisen nämlich auf eine Klasse von Schlüssen hin, welche folgende Form
haben: a ist größer als b, b ist größer als c, folglich: a ist größer als c;
oder: A ist rechts von B, C ist links von B, folglich: A ist rechts von C;
und dergleichen. Hier, sagt z. B. einer jener Denker, enthält der Schluß-
satz eine Wahrheit, die ,,in keiner der beiden Behauptungen der
Prämissen gegeben" ist. ,,Es ist eine neue Bestimmung, die sich durchs
Denken ergibt" ^). Denn wenn nur feststand, daß a größer als b, so ist
damit über c scheinbar noch gar nichts gesagt, und in der zweiten Prämisse
kommt wiederum a gar nicht vor; die Konklusion, die etwas über das
Verhältnis von a zu c aussagt, ist mithin offenbar etwas völlig Neues.
Es stellt sich aber heraus, daß diese Meinung bei näherer Analyse
der betrachteten Schlußart nicht aufrecht erhalten werden kann. Die
logische Struktur dieser Schlüsse ist nämlich komplizierter als es auf den
ersten Blick den Anschein hat. Man hat gemeint, diese Schlüsse seien
gar keine Syllogismen, es fehle ihnen der Mittelbegriff, denn etwa die
Begriffe ,, rechts von B" und ,, links von B", die Prädikate der Prämissen
unseres obigen Beispiels, sind ja doch verschiedene Begriffe; es liege hier
eine einfachere Schlußform als die syllogistische vor ^). Diese Klasse von
Schlüssen aber verdankt offenbar ihren besonderen Charakter der eigen-
tümlichen Natur der in ihnen auftretenden Ordnungsbegriffe wie ,, größer",
,, kleiner", ,, rechts von" usw., und jedes Urteil über das Wesen der Schlüsse
muß uns so lange als verfrüht gelten, als es die Besonderheiten jener Rela-
tionen nicht berücksichtigt.
Im wirklichen Denken werden diese Relationen ja nun durch anschau-
liche Bilder — meist wohl räumlicher Art — repräsentiert. Von den Tat-
beständen beider Prämissen machen wir uns anschauliche Vorstellungen,
wir vereinigen sie zu einer Gesamtvorstellung und lesen sodann aus ihr
den Schlußsatz ab 3). Diese anschaulichen Vorgänge verlaufen nun sehr
leicht und glatt und täuschen dadurch eine Einfachheit des Schlusses vor,
die er logisch gar nicht besitzt. In dem psychologischen Appell an die An-
schauung kann nicht der logische Grund seiner Gültigkeit gefunden werden.
^) Störring, Einführung in die Erkenntnistheorie. Leipzig 1909. S. 78.
*) Riehl, Beiträge zur Logik^. S. 53.
*) Die psychologischen Prozesse dabei beschreibt treffend Störring, Experimen-
telle Untersuchungen über einfache Schlußprozesse. Arch. f. d. gcs. Psych. XI. S. 13.
94 Denkprobleme.
In Wahrheit sind die fraglichen Schlüsse aber nichts anderes als ab-
gekürzte Formulierungen regelrechter Syllogismen zusammengesetzter
Natur. Der Schlußsatz folgt nämlich bei ihnen gar nicht unmittelbar und
ohne weiteres aus den Prämissen, sondern erst unter Zuhilfenahme be-
sonderer Prinzipien, die nicht für sich ausgesprochen werden, wohl aber
in anschaulicher Verkleidung in die Vorstellungsprozesse eingehen und
dabei unbeachtet bleiben. Diese Prinzipien werden aber geliefert von den
Definitionen jener im Schlüsse benutzten Ordnungsbegriffe.
Zur Erläuterung brauchen wir nur das Paradigma mit der Relation
,, größer als" zu betrachten, denn die verwandten Schlüsse lassen sich
auf dies Schema reduzieren (,,A rechts von B" heißt z. B., der Abstand,
den A von einer bestimmten Mittellinie hat, ist größer als der Ab-
stand von B in bezug auf dieselbe Linie). Die Relationen größer und
kleiner bestehen aber mit logischer Strenge nur zwischen Zahlen; sie
lassen sich nur dort streng anwenden, wo meßbare Gegenstände mitein-
ander verglichen werden und beziehen sich nicht auf die Gegenstände
selbst, sondern auf ihre Maßzahlen. Jupiter ist größer als Mars heißt:
die Zahl, welche die Länge des Jupiterdurchmessers in einer bestimmten
Einheit mißt, ist größer als die entsprechende Zahl für den Mars, a, b, c
in unserem früheren Beispiele müssen also Zahlen sein ^), sie müssen
mithin allen denjenigen Bedingungen genügen, durch welche die Zahlen
definiert sind, und dort liegen die Obersätze, die den Schluß ermöglichen.
In der Tat enthält der Satz ,,a ist größer als b" viel mehr, als auf
den ersten Blick der Fall zu sein scheint. Vermöge der Eigenschaften,
welche den Zahlen und der Relation ,, größer als" zukommen, sagt er
nämlich zugleich, daß a auch größer ist als sämtliche Zahlen, die kleiner
als b sind. Die zweite Prämisse ,,b größer als c" (die gemäß der Defini-
tion der Begriffe ,, größer" und , .kleiner" identisch ist mit dem Urteil
,,c kleiner als b") hebt nun aus diesen unendlich, vielen Zahlen die eine c
heraus. Die Konklusion sagt uns also auch hier nichts Neues, sondern
weniger als die erste Prämisse *). Wirklich ist also das Urteil ,,a größer
*) Es ist höchst wichtig, zu bemerken, daß der Schluß wirklich nur von Zahlen
immer streng gilt. Werden Gegenstände verglichen die im Prinzip nicht zahlmäßig
meßbar sind, z. B. Empfindungen, so berechtigen die Prämissen nicht zu einem
Schlüsse. Ich darf nicht schließen: weil Empfindung a stärker als Empfindung b,
und b stärker als Empfindung c, so auch a stärker als c. Daß letzteres meist zutrifft,
lehrt allein die Erfahrung, nicht der Schluß. Sind z. B. a und c nahezu gleiche Emp-
findungen, so kann es eintreten, daß für uns die Urteile a = b und c = b beide richtig
sind, während a und c deutlich als verschieden empfunden werden. Da straft also die
Erfahrung den Schluß a = c Lügen.
*) E. Dürr, der übrigens diese Klasse von Schlüssen in einer der obigen ganz
analogen Weise behandelte (Erkenntnistheorie. Leipzig 1910. S. 68 ff.) ist dieser Er-
kenntnis nahe gekommen, erreichte sie aber nicht, da er übersah, daß jene Schlüsse
strengen Sinn nur für Zahlbegriffe haben. Er sagt (a. a. 0. S. 69): ,,In dem Be-
griff von B liegt nicht, daß C rechts davon seinen Ort hat". Freihch nicht, wohl
aber hegt im Begriff einer bestimmten Zahl (die erfahrungsgemäß den Ort von B an-
gibt), daß sie größer ist als eine gewisse andere Zahl (von der die Erfahrung lehrte,
daß es diejenige ist, die den Ort des Gegenstandes C bestimmt).
Die analytische Natur des strengen Schließens. 95
als c" nur eine Teilwahrheit, die durch den Satz ,,a ist größer als b" mit
umfaßt wird.
Es ist Sache der Philosophie der Mathematik, diesen Sachverhalt
aus den Axiomen der Arithmetik syllogistisch herzuleiten. Hier sei nur
bemerkt, daß in den Axiomsystemen der Arithmetik nicht selten die
,, Beziehung größer als" einfach direkt definiert wird durch die Eigen-
schaft cfer ,, Monotonie" oder ,,Transitivität". Man versteht aber unter
einer transitiven Relation R eine solche, welche die Bedingung erfüllt,
daß wenn aRb und bRc besteht, dann auch aRc gilt '). Man sieht, wie
unter Benutzung dieser Definition als Obersatz unsere Schlüsse mit Leichtig-
keit in die syllogistische Form übergeführt werden können. Natürlich
kann man die Relation ,, größer" auch durch andere Eigenschaften defi-
nieren; dann läßt sich die Transitivität eben aus diesen syllogistisch ab-
leiten.
In der Praxis des Denkens fallen dergleichen logische Erwägungen
natürlich ganz fort, wir lesen alles einfach aus der Anschauung ab; und
das ist kein Wunder, denn alle unsere Definitionen sind eben so aufgestellt,
daß sie dem anschaulichen Vorstellen parallel laufen, weil sie doch schließ-
lich immer der Bezeichnung des Anschaulichen durch Begriffe dienen sollen.
Hier jedoch, wo wir um der absoluten Strenge willen das Wesen der Be-
griffe nur in den Beziehungen erblicken dürfen, in denen sie zueinander
stehen, betrachten wir die Begriffe unabhängig von ihren Zwecken, un-
abhängig von den Anschauungen, ■ — und da wird dann die besprochene
Schlußart, die in der Anschauung unmittelbar einleuchtet, zu einem
regelrechten syllogistischen Gebilde, zu einem Schluß aus umfassenden
allgemeinen Sätzen. Da diese Sätze bloß die Definitionen der in den
,, Prämissen" auftretenden Begriffe sind, so sind sie in Wahrheit die Ober-
sätze, aus denen geschlossen wird, und sie können nicht (wie Riehl 2)
meint) aufgefaßt werden als Prinzipien, nach denen der Schluß erfolgt.
Das Prinzip, nach welchem geschlossen wird, ist bei allen Schlüssen ein
und dasselbe, nämlich die Substitution, und es gibt kein anderes.
Eine strenge Folge hiervon ist es, daß in jedem Schlüsse die Kon-
klusion bereits in einer Prämisse enthalten ist und daher keine neue Er-
kenntnis bedeutet. Der Tatbestand, den der Schlußsatz bezeichnet, ist
vollständig enthalten in dem Tatbestand, dem der Obersatz zugeordnet
ist, und der Untersatz hebt aus ihm nur hervor, was für die Konklusion
in Betracht kommt, lenkt unsere Aufmerksamkeit auf das vielleicht vorher
nicht Beachtete und verleiht so dem Schlüsse seinen psychologischen Wert.
Dieses Ergebnis mußte hier in etwas umständlicher Weise gegen
philosophische Angriffe sichergestellt werden, aber nach allem, was wir
^) Dies die Schreibweise von B. Russell, The principles of mathematics. Cam-
bridge 1903.
*) Beiträge zur Logik^. S. 53.
96 Dcnkprobleme.
über die wahre Natur der Urteile und Begriffe wissen, kommt es uns
nicht überraschend, sondern erscheint ganz natürlich. Wie sollte auch
aus dem Kombinieren von Urteilen irgendetwas hervorgehen, das in ihnen
nicht von vornherein enthalten war? Begriffe und Urteile sind ja nicht,
wie wirkliche Dinge, plastische Gebilde, die sich entfalten und entwickeln
und neues aus sich hervorbringen können, sondern es sind starre Zeichen,
Fiktionen, die niemals andere Eigenschaften haben als die ihnen durch
Definition beigelegt wurden. Wir mögen Begriffe und Urteile verketten
und zusammenfügen wie wir wollen: wir. gelangen dadurch vielleicht zu
neuen Begriffsbildungen ^), niemals aber zu neuer Erkenntnis.
Das reine Denken also, das heißt, alles Schließen, das bloß auf den
gegenseitigen Verhältnissen der Begriffe zueinander beruht und keine
Rücksicht nimmt auf anschauliche Wirklichkeiten, dieses reine Denken
kann niemals eine Quelle eigentlicher Erkenntnis sein. Seine Leistung
besteht allein darin, das in den Obersätzen Enthaltene auseinander zu
legen, das von ihnen vereint Umfaßte aufzulösen. Darum sagen wir:
alles strenge, alles deduktive Schließen ist analytischer Natur.
Wo immer die Wissenschaft rein deduktiv verfährt, tut sie nichts
anderes als daß sie analytisch das entwickelt, was in ihren allgemeinen
Sätzen enthalten ist. Der Ursprung dieser allgemeinen Sätze ist in den
verschiedenen Disziplinen verschieden. In den reinen Begriffswissen-
schaften, wie der Arithmetik, haben sie alle definitorischen Charakter, in
den Realwissenschaften aber müssen unter ihnen auch Erfahrungssätze
sein. Zur Deduktion, zum strengen Schließen selber, braucht man natür-
lich keine Erfahrung mehr, denn zur Gewinnung des Schlußsatzes sind
ja nur die Vordersätze erforderlich, er steckt in ihnen und braucht durch
die Analyse nur hervorgeholt zu werden. Die Analyse ist also ihrer Natur
nach immer a priori, das heißt, sie steht in logischer Unabhängigkeit
von der Erfahrung.
Dem deduktiven, syllogistischen Schließen steht gegenüber das i n -
d u k t i v e. Es verfährt nicht zergliedernd, analytisch, sondern auf-
bauend, synthetisch. Aber es ist kein strenges Schließen, es hat keine
apodiktische Gültigkeit. Über sein Verhältnis zur Erfahrung kann hier
noch nichts ausgemacht werden, denn die Untersuchung der Induktion
ist, wie schon bemerkt (siehe oben S. 91), keine bloße Denkfrage, sondern
gehört zu den Wirklichkeitsproblemen.
Bei dieser Gelegenheit seien für mehrfach schon benutzte Begriffe
einige weitere Bezeichnungen eingeführt und erörtert, die in der philo-
sophischen Terminologie gebräuchlich sind, die wir aber bisher vermieden
haben, um gewisse Vorurteile fern zu halten, die sich mit so oft verwen-
deten Namen verbinden könnten und die unparteiische Auffassung des
Anfangs unserer Untersuchungen vielleicht gestört hätten.
^) Z. B. bedeutet die Erschließung „neuer" Gebiete in der reinen Mathematik
nur die Bildung neuer Begriffskombinationen.
Die analytische Natur des strengen Schließens. 97
Wie analytische Schlüsse, so gibt es auch analytische Urteile. Dar-
unter sind solche zu verstehen, die einem Subjekt ein Prädikat beilegen,
das in dem Begriff des Subjekts bereits enthalten ist. Es ist in ihm ent-
halten, kann nur heißen: es gehört zu seiner Definition. Der Tatbestand,
den ein analytisches Urteil bezeichnet, ist also stets in einer Definition
gegeben. Der Grund für die Wahrheit eines analytischen Urteils liegt
daher immer allein im Begriff des Subjekts, in seiner Definition, nicht
in irgendwelchen Erfahrungen Analytische Urteile sind also stets
a priori. Hat man etwa (dies ist das klassische Beispiel Kant's) den Be-
griff des Körpers so definiert, daß die räumliche Ausdehnung zu seinen
Merkmalen gehört, so ist das Urteil ,,alle Körper sind ausgedehnt" ana-
lytisch. Es ist auch eo ipso a priori, gründet sich auf keine Erfahrung,
denn keine Erfahrung kann mir Körper zeigen, die nicht ausgedehnt
wären; wo ich nämlich in der Erfahrung etwas Unausgedehntes antreffe,
darf ich es eben nicht als Körper bezeichnen, weil ich sonst der Defini-
tion des Körpers widersprechen würde. Deshalb kann man auch
mit Kant sagen, analytische Urteile beruhen auf dem Satze des Wider-
spruches, sie leiten sich mit Hilfe dieses Satzes aus den Definitionen ab.
Den Gegensatz zu den analytischen bilden die synthetischen
Urteile. Ein Urteil ist synthetisch, wenn es von einem Gegenstande ein
Prädikat aussagt, das nicht schon im Begriffe dieses Gegenstandes defini-
tionsgemäß enthalten ist. Es geht über den Begriff hinaus, es ist ein Er-
weiterungsurteil, während die analytischen Urteile nur Erläuterungs-
urteile sind. Hiernach ist (um wieder Kant's Beispiel anzuführen) der
Satz ,,alle Körper sind schwer" synthetisch, denn das Merkmal der Schwere,
der gegenseitigen Anziehung, gehört nicht zu dem Begriff des Körpers,
wie er gewöhnlich verwendet wird. Hätte man aber die Eigenschaft der
Schwere in die Definition des ,, Körpers" mitaufgenommen (dann würde
also ein gewichtloses Naturobjekt, wenn die Erfahrung uns dergleichen
zeigen sollte, kein Körper sein), so hätten wir natürlich ein analytisches
Urteil vor uns.
Man könnte hiernach versucht sein zu denken, der Unterschied
zwischen analytischen und synthetischen Urteilen sei fließend und hin-
fällig, weil ja ein und dasselbe Urteil sowohl synthetisch wie analytisch
sei, je nachdem, was man in dem Subjektsbegriff mitdenke. Aber diese
Meinung übersieht, daß in den beiden Fällen das Urteil in Wahrheit gar
nicht dasselbe ist. War in dem Satze ,,alle Körper sind schwer" der
Begriff des Körpers einmal so definiert, daß die Schwere zu seinen Merk-
malen gehört, das andere Mal aber nicht, so enthält der Satz wohl beide
Male dieselben Worte, bezeichnet aber zwei verschiedene Urteile, denn
der Subjektsbegriff ist ja in beiden verschieden, weil das Wort Körper
in jedem eine andere Bedeutung hat. Schon oben (S. 44) wurde aus-
geführt, daß ein und derselbe sprachliche Satz sowohl eine Definition
wie eine Erkenntnis ausdrücken kann. Das hängt eben davon ab, welche
Begriffe man sich bei den Worten denkt. Die Einteilung der Urteile in ana-
Schlick, E rkenntnislehre. 7
98 Denkprobleme.
lytische und synthetische ist also eine vöUig scharfe und objektiv gültig
und hängt nicht etwa vom subjektiven Standpunkt und der Auffassungs
weise des Urteilenden ab. Das ist so einleuchtend, daß ich es gar nicht
erwähnt hätte, wenn nicht auch in der Literatur gewisse Mißverständnisse
dieses Punktes zu finden wären '), die sich dadurch erklären, daß man
nicht streng genug daran festhielt, Wesen und Inhalt eines Begriffes ganz
allein durch die in ihn aufgenommenen Merkmale bestimmt zu sehen.
Hier sei, obwohl es eigentlich selbstverständlich ist, wegen der Wichtig-
keit der Sache doch noch besonders betont, daß die Definitionen zu den
analytischen Urteilen zu rechnen sind, denn sie geben uns ja nur die
Merkmale an, die zu einem Begriff gehören. Mit einem gewissen Recht
kann man natürlich sagen, daß die Definition eine Synthese vollziehe,
weil sie verschiedene Merkmale zu einem Begriff zusammensetzt; aber
dadurch wird sie nicht zu einem synthetischen Urteil, denn sie fügt zu
dem Begriff kein außerhalb seiner liegendes Merkmal hinzu. Das syntheti-
sche Urteil, so können wir sagen, bezeichnet die Vereinigung von Gegen-
ständen zu einem Tatbestand, die Definition dagegen die Vereinigung
von Merkmalen zu einem Begriff.
Fast alle Urteile, die im täglichen Leben den Inhalt unseres Sprechens
und Denkens bilden, sind synthetisch. Wenn ich sage: ,, Antwerpen wurde
von den Deutschen erobert" oder ,, heute gibt es Fisch zum Mittagessen
oder ,,mein Freund lebt in Berlin" oder ,,der Schmelzpunkt des Bleis ist
niedriger als der des Eisens", so sind alles dies offenkundig syntheti-
sche Sätze. Zwar möchte über die Definitionen mancher in diesen Urteilen
auftretenden Begriffe, wie etwa ,, Antwerpen" oder ,,Blei", schwerlich
Einigkeit herrschen, aber es geht doch aus dem ganzen Zusammenhang,
in dem wir dergleichen Sätze aussprechen, unzweideutig hervor, daß ihre
Prädikate eben n i c h t zu den Merkmalen ihrer Subjektsbegriffe gehören,
und das allein genügt ja zur Entscheidung über den Charakter der
Urteile.
Zugleich sehen wir, daß die hier als Beispiele benutzten Urteile sämt-
lich Erfahrungstatsachen bezeichnen; der Grund ihrer Gültigkeit liegt in
der Erfahrung, sie sind aposterior i.
Außer den analytischen Urteilen, die co ipso stets apriorisch sind,
und den synthetischen Urteilen a posteriori ist nun noch eine dritte Klasse
von Urteilen denkbar, nämlich synthetische Urteile a priori. Ein solches
Urteil, wenn es dergleichen gibt, würde behaupten, daß einem Gegen-
*) So bei Dürr (Erkenntnistheorie S. 8i), weicher die besprochene Unterschei-
dung verwirft, ,,weil ein und dasselbe Urteil oft in der doppelten Weise vollzogen
werden kann, daß der Subjektsbegriff bereits mit oder daß er ohne den Prädikats-
begriff gedacht wird". Wer aber im Subjektsbegriff den Prädikatsbegriff bereits mit-
denkt, der denkt eben einen andern Subjektsbegriff, als wenn er ihn nicht mitdächte.
Der Begriff ist in beiden Fällen verschieden, auch wenn der durch ihn bezeichnete
Gegenstand derselbe sein soUte. Auch Th. Ziehen (Erkenntnistheorie S. 408 ff.,
559 ff. 1913) sucht die logische Unterscheidung psychologisch aufzufassen.
Skeptische Betrachtung der Analyse. 99
Stande ein im Begriffe dieses Gegenstandes nicht enthaltenes Prädikat
stets zukomme, ohne doch den Grund zu dieser Behauptung der Erfah-
rung zu entnehmen. Oder, anders ausgedrückt: der Tatbestand, den ein
solches Urteil bezeichnet, ist die Zusammengehörigkeit bestimmter —
nicht etwa schon durch Definition vereinter — Gegenstände (z. B. eines
Ereignisses und seiner Ursache), aber was uns dieser Zusammen-
gehörigkeit als einer Tatsache versichert, ist nicht die Erfahrung.
Auf den ersten Blick scheint es unmöglich zu sein, daß synthetische
Urteile sollten a priori gefällt werden können, denn was in aller Welt
sollte uns über die Zusammengehörigkeit von Gegenständen belehren
können, außer der Erfahrung, da uns doch die Gegenstände selber, die
hier in Betracht kommen, allein durch die anschauliche Erfahrung gegeben
sind.-* Die Auflösung dieser Frage bildet bekanntlich das große Problem
Kant's. Die tatsächliche Existenz der fraglichen Urteile sah er als fest-
stehend an und bemühte sich nur um die Erklärung ihrer Möglichkeit.
Wir aber müssen, wie schon früher angedeutet, noch einmal die Annahme
nachprüfen, ob es wirklich synthetische Urteile gibt, die a priori
gültig sind.
Da allein die apriorischen Urteile strenge, allgemeingültige Erkenntnis
liefern (denn die aposteriorischen gelten ja immer nur für die einzelnen
Erfahrungstatsachen, die sie bezeichnen), und da die analytischen uns
nur über Begriffsverhältnisse, nicht über Wirklichkeiten belehren, so ist
die Frage nach der Existenz der synthetischen Urteile a priori gleich-
bedeutend mit der, ob es eine apodiktische Erkenntnis wirklicher Gegen-
stände gibt. Nur die Betrachtung der analytischen Urteile ist ein reines
Denkproblem, weil sie sich bloß auf die Beziehungen der Begriffe zu-
einander gründen; die Untersuchung der synthetischen Urteile dagegen, _
die ja auf den gegenseitigen Beziehungen realer Objekte beruhen ^), ge-
hört zu den Wirklichkeitsproblemen und muß einem späteren Teil unserer
Arbeit vorbehalten bleiben.
Mit Sicherheit hat sich uns aber bis jetzt ergeben, daß wir durch
strenges Schließen jedenfalls keine wirklich neuen Erkenntnisse gewinnen.
Es dient nur dazu, bereits gewonnene Erkenntnisse zu analysieren, das
heißt, sie auf die von ihnen umfaßten speziellen Fälle anzuwenden.
15. Skeptische Betrachtung der Analyse.
Die Ergebnisse des analytischen Urteilens und Schließens haben
apodiktische Geltung. Die Konklusion des Syllogismus ist aus den Prä-
missen abgeleitet, das analytische Urteil aus der Definition des Subjekt-
begriffes. Und sofern diese Ableitung nach den einfachen Regeln der
formalen Logik geschieht, ist das Ergebnis absolut richtig, das heißt, es
^) Kant drückt das so aus: ,,Im analytischen Urteil geht das Prädikat eigent-
lich auf den Begriff, im synthetischen auf das Objekt des Begriffs, weil das Prädikat
im Begriffe nicht enthalten ist."
Denkprobleme.
Stimmt mit den Voraussetzungen überein, aus denen es gefolgert wurde.
Es muß richtig sein aus dem einfachen Grunde, weil es gar nichts anderes
sagt, als eben diese Voraussetzungen; es sagt dasselbe, was schon
in jenen enthalten war.
Deshalb sind die analytischen Urteile und Schlüsse als solche
kein erkenntnistheoretisches Problem. Die Leistungen der Analyse scheinen
jenem kleinen Reiche des absolut Gewissen anzugehören, das für jeden
Zweifel schlechthin unangreifbar ist und das die festen Stützpunkte ent-
hält, deren jede Philosophie bedarf, um nicht haltlos im Leeren zu
schweben.
Aber ein zum äußersten entschlossener Skeptizismus vermag selbst
an dem analytischen Verfahren noch Punkte zu entdecken, die er mit
Aussicht auf Erfolg angreifen kann. Er würde sagen: Mag es mit den
Verhältnissen der Urteile und Begriffe stehen wie es will, — das sind Fik-
tionen, ideale Gebilde, nicht Wirklichkeiten, die im Bewußtsein aufweisbar
sind. Reale Prozesse des Bewußtseins sind aber letzten Endes das einzige,
was uns bekannt und gegeben ist. Alle begrifflichen Verhältnisse sind uns
nur in ihrer Repräsentation durch Bewußtseinsvorgänge zugänglich;
mögen jene noch so bestimmt und sicher sein: was nützt uns das, wenn
die realen Prozesse es nicht sind, die ihnen parallel gehen sollen und die
wir allein kennen.!*
So ist zwar nicht die Deduktion selber dem Angriff des Zweifels
preisgeben, wohl aber die Abfolge der psychischen Prozesse, als welche
jede Deduktion sich im Denken darstellt, und praktisch kommt das
natürlich auf dasselbe heraus. Wir sind ja eben wirkliche Wesen, nicht
Begriffe.
Es gibt in unserem Bewußtsein keine vollkommen scharfen Prozesse,
ebensowenig wie es etwa in der Natur einen vollkommen kugelförmigen
Körper gibt, und im Prinzip kann bezweifelt werden, ob solche ver-
schwommenen Prozesse zu absolut genauen Resultaten führen. Können
wir die in der Deduktion stattfindende Analyse völlig einwandfrei voll-
ziehen? Der Idiot und das ungeübte Kind sind nicht imstande, einen
logischen Satz auf seine Richtigkeit zu prüfen oder das einfachste Rechen-
exempel zu lösen. Nun bestehen aber zwischen dem erwachsenen Menschen,
dem Kinde und dem Idioten keine scharfen Unterschiede, sondern nur
allmähliche Übergänge; selbst der Intelligenteste ist schließlich schon bei
kürzeren Deduktionen dem Irrtum unterworfen, kein noch so glänzender
Mathematiker kann dafür bürgen, daß er sich bei einer Addition nicht
einmal verrechnet. Wohl muß mit Notwendigkeit von einem Begriffe
alles das gelten, was ihm vermöge seiner Definition zukommt, aber sind
wir sicher, daß wir diese Definition auch nur eine kurze Zeit lang im
Gedächtnis behalten können, daß nicht infolge irgendeines teuflischen
Tricks unseres Bewußtseins während der kurzen Zeit, die wir ja zu
jeder Analyse nötig haben, unvermerkt ein etwas verschiedener Begriff
sich einschleicht an Stelle desjenigen, den wir analysieren wollten?
Skeptische Betrachtung der Analyse. loi
Wir wissen, daß dergleichen vorkommt. Wissen wir aber auch mit
absoluter Gewißheit, daß es Fälle gibt, in denen solche Vertauschung
oder Änderung schlechthin ausgeschlossen« ist.? Es scheint keine Gewähr
dafür zu geben, die nicht selbst in irgendeinem, wenn auch noch so ge-
ringem Grade unsicher wäre. Wir sagten, ein analytisch gewonnenes
Resultat sei apodiktisch richtig, weil ja sein Inhalt ganz derselbe ist wie
der Inhalt der Voraussetzungen, aus denen es deduziert wurde — aber
es genügt ja nicht, daß der Inhalt derselbe ist, sondern wir müssen ihn
auch als denselben wiedererkennen, und Wiedererkennungsakte sind eben
prinzipiell nicht über jeden Zweifel erhaben, weil sie ein Behalten und
Vergleichen von Voi Stellungen erfordern, die im Bewußtsein stets schwan-
kend und unscharf begrenzt sind.
In der Praxis versichern wir uns gegen alle Fehler, die durch mangel-
haftes Funktionieren des psychischen Apparates entstehen könnten, durch
Verifikations prozesse. Nach der Lösung eines Rechenexempels
z. B. machen wir eine Probe, oder wir wiederholen die Rechnung noch
einmal, oder wir lassen sie von jemand anders wiederholen, und wenn
das Resultat mit dem zuerst erhaltenen übereinstimmt, geben wir uns
zufrieden und halten es für richtig. Wir nehmen dabei mit Recht an,
daß gerade wegen der Ungleichmäßigkeit der psychischen Prozesse bei
jeder Prüfung oder Wiederholung nicht immer genau derselbe Irrtum be-
gangen wird und betrachten daher das Fehlen von Abweichungen als
Bestätigung der Richtigkeit. Das ist ja alles höchst wahrscheinlich —
aber woher sollen wir die Gewißheit nehmen, daß es sich so verhält?
So können wir an aller Gewißheit zweifeln. Aber wenn wir es auch
können, so ist damit noch nicht gesagt, daß wir es auch wirklich tun.
Wir wissen sogar, daß niemand solche Zweifel ernstlich hegt, und auch
der Philosoph, der ihnen gelegentlich Ausdruck verleiht, schenkt ihnen
doch im innersten Herzen keinen Glauben. Es ist aber für uns ganz
gleichgültig, ob jemand derlei Zweifel in Wahrheit hegt oder nicht . . .
wichtig ist allein, daß die Möglichkeit zum Zweifeln vorliegt; wir
müssen sie anerkennen und mit ihr rechnen. Und nicht irgendeine müßige
Neugierde treibt uns, solchen Zweifeln nachzuspüren, nicht ein Gefallen
an paradoxen und extremen Positionen, nicht um des Zweifels willen
zweifeln wir, sondern weil wir hoffen dürfen dadurch Blicke in die Tiefe
des menschlichen Bewußtseins zu tun, die uns zur Lösung der großen
Erkenntnisfragen verhelfen können. So hat Descartes sich den metho-
dischen Zweifel zunutze gemacht, und so ähnlich ist Hume verfahren,
als er sich gelegentlich in Betrachtungen ^) erging, die den soeben an-
gestellten ähneln.
Wenn wir mit solchen Gedanken auf dem höchsten unübersteigbaren
Gipfel der Skepsis stehen, so überkommt uns wohl ein Schauder, eine
intellektuelle Angst, wir werden von einem Schwindel ergriffen, denn wir
^) Treatise of human nature, book I, part IV, section I.
Denkprobleme.
blicken in einen Abgrund, der bodenlos erscheint. Hier ist ein Punkt,
an dem die Wege der Erkenntnistheorie, der Psychologie und — wie ich
getrost hinzufügen will — der Metaphysik zusammentreffen und plötz-
lich abbrechen. Es kann uns keine Befriedigung geben, in diesen Ab-
grund des Zweifels und der Unsicherheit geschaut zu haben und an seinem
Rande wieder Kehrt zu machen, um uns unbewegt in das Land des ge-
sunden Menschenverstandes zurückzuwenden; wir können uns nicht be-
ruhigen bei dem Gedanken, daß solche Zweifel unfruchtbar sind, und daß
die Wissenschaften trotz ihrer ein fest gegründetes Dasein haben. Wir
wollen nicht in das Licht der Wissenschaft wieder hinaufsteigen, bevor
wir nicht die letzten Tiefen des erkennenden Bewußtseins durchmessen
haben, denn die Theorie der Erkenntnis ist nicht in der günstigen Lage
der Einzelwissenschaften, die die Prüfung ihrer Grundlagen einer all-
gemeineren Disziplin überlassen können; sie hat es eben mit den letzten
Voraussetzungen aller Gewißheit zu tun. Den universalen Zweifel kann
man nur zu überwinden hoffen, wenn man der Schwierigkeit ohne alle
Verhüllung ruhig ins Auge sieht.
Die meisten Philosophen zerhauen den hinderlichen gordischen Knoten
mit dem Schwerte der ,, Evidenz". Sie sagen etwa folgendes: habe ich
eine Wahrheit richtig erkannt, habe ich z. B. herausgerechnet, daß
2 . 3 ~= 6 ist, so wird mir die Richtigkeit eines jeden Schrittes der Rech-
nung, wenn ich ihn genau ansehe, durch eine unmittelbar erlebte Evi-
denz garantiert; ich weiß, mit Descartes zu reden, clare et distincte,
daß ich keinen Fehler gemacht habe, und das gilt trotz der relativen
Unscharfe, die allen psychischen Prozessen anhaftet. Dieser Evidenz muß
ich vertrauen, oder überhaupt aufhören zu denken.
Diese Wendung, die dem Problem von zahlreichen Denkern gegeben
wird, kann, scheint mir, nicht befriedigen. Denn so, wie hier von Evidenz
die Rede ist, stellt sie nichts dar als ein Wort für die Forderung, an
diesem Punkte mit dem Zweifel Halt zu machen. Durch dies Wort werden
Bedenken niedergeschlagen, nicht versöhnt. Eben infolge der Mangel-
haftigkeit unserer Denkprozesse kommt es vor, daß wir ein Urteil mit
Evidenz zu fällen glauben, das sich nachher als falsch herausstellt, und
in solchen Fällen offenbart sich die Ohnmacht der Evidenzlehre; sie kann
vor den Angriffen eines energischen Skeptizismus nicht schützen. Wir
kommen auf die Lehre noch zurück.
Statt die Unbequemlichkeiten des Zweifels einfach durch ein Wort
zu beseitigen, wollen wir lieber versuchen, sämtliche Voraussetzungen ans
Licht zu stellen, die bei jedem analytiscljen Verfahren stillschweigend
gemacht werden müssen. Denken wir uns irgendeine längere Deduktion,
etwa einen mathematischen Beweis. Eine solche kommt immer in der
Weise zustande, daß ein eben gezogener Schluß als Prämisse des folgenden
dient, und so fort. Der ganze Beweis kann nicht in einem Augenblick
vollzogen werden, denn der menschliche Geist vermag nicht so viele
Syllogismen auf einmal zu überschauen, das verbietet die Enge des Bewußt-
Skeptische Betrachtung der Analyse. 103
seins. Es gehört Zeit zu dem ganzen Prozeß, und die in der Mitte der
Deduktion erhaltenen Resultate müssen von einem Schritt zum andern
im Gedächtnis behalten werden. Hier wird also unser Erinnerungsver-
mögen in Anspruch genommen, und das ist eine psychologische Fähig-
keit, über deren Untreue oft genug Klage «geführt wird.
Wie wenig man sich darauf verlassen mag, erkennen wir daran, daß
man bei dergleichen Deduktionen fast immer sich des Hilfsmittels der
Fixierung durch die Schrift bedient; meist vermögen wir sie sogar ohne
dieses überhaupt nicht durchzuführen, denn bekanntlich können im
Durchschnitt nur ganz leichte Aufgaben im Kopf gerechnet werden. Man
darf aber natürlich nicht glauben, daß die Möglichkeit der Fixierung
durch die Schrift auch nur das Geringste dazu beitragen könnte, unsere
prinzipiellen Zweifel zu zerstören. Denn mag immerhin das Papier das
ihm Anvertraute besser bewahren als das menschhche Gedächtnis: un-
möglich können wir unter die letzten Voraussetzungen der Erkenntnis-
theorie d i e aufnehmen, daß den Schriftzügen der Manuskripte und
Bücher eine sehr große Beständigkeit innewohnt — denn das hängt ja
von grob physischen Bedingungen ab und wie es mit unserer Erkenntnis
physischer Objekte steht, würde die Theorie ja erst zu untersuchen
haben. Außerdem müßten wir dann auch voraussetzen, daß sowohl beim
Niederschreiben wie beim Entziffern der Schriftzüge jeder Fehler und
Irrtum unmöglich gemacht werden könnte — wiederum eine fragwürdige
Sache, denn beim Lesen kommen unsere sensorischen, beim Schreiben
noch dazu unsere motorischen Fähigkeiten ins Spiel, und über die Zu-
verlässigkeit dieser physiologischen Funktionen dürfen wir natürlich eben-
falls keine Voraussetzungen machen, wenn es sich um die Bekämpfung
so radikaler Zweifel handelt. Wir haben keine Gewähr dafür, daß wir
uns nicht immer auf ganz bestimmte Weise verschreiben und verlesen
und keine dafür, daß mit den Schriftzeichen nicht durch einen geheimnis-
vollen Einfluß irgendeine Veränderung vor sich geht, wenn wir das Buch
zuklappen oder auch nur die Augen für einen Moment abwenden. Danach
können wir jedenfalls ganz absehen von der Unterstützung, die das Ge-
dächtnis durch die Schrift erfährt; im Prinzip ist dadurch nichts geholfen.
Es ist also eine notwendige Voraussetzung aller Deduktion und auch
schließlich jedes einfachen analytischen Urteils, daß unser Bewußtsein im-
stande ist, die für den Herleitungsprozeß nötigen Vorstellungen wenigstens
solange mit völliger Sicherheit festzuhalten, wie "dieser Prozeß selbst
dauert. Diese Fähigkeit des Bewußtseins heißt bekanntlich G e -
d ä c h t n i s.
Hierauf hat der Urheber des methodischen Zweifels selbst, Descartes,
bereits aufmerksam gemacht. Er will, wie wir wissen, seine Philosophie
auf fundamentale Wahrheiten gründen, die intuitiv schlechthin ge-
wiß sind. Aber sie sind nicht das einzige völlig Gewisse, sondern ^)
*) Descartes, Regles pour la direction de l'esprit, in den Erläuterungen zur
dritten Regel.
I04 Denkprobleme.
,,. , . il est un grand nombie de choses qui, sans etre Evidentes par elles-
mßmes, portent ccpendant le caract^re de la certitude, pourvu qu'elles
soient deduites de principes vrais et incontest^s par un m o u v e ment
continuel et non interrompu de la pens6e, avec une in-
tuition distincte de chaque chose . . ." und so, fährt er dann fort, ,,la
d6duction .... cmprunte en quelque sorte toute sa certitude de la
memoire . ." Es ist merkwürdig, daß Descartes keinen Anstoß
nahm an dem, was er hier feststellt; er vertraut dem Gedächtnis ohne
weiteres und sieht kein Problem in der Tatsache, daß es bei der Gewin-
nung sicheren Wissens mithelfen muß. Er bemerkt nur noch gelegent-
lich, daß man durch häufige Wiederholung der Schlußkette den Einfluß
des Gedächtnisses auf ein Minimum reduzieren könne. Auch die kurzen
Bemerkungen, die Locke ^) über unser Problem gemacht hat, sind ganz
unzulänglich.
Modernere Erörterungen der Sache scheinen mir die Frage nicht
wesentlich gefördert zu haben, mögen sie nun mit Meinong ^) annehmen,
daß den auf das Gedächtnis gegründeten Urteilen eben eine besondere
Art unmittelbarer Evidenz zukomme, die freilich nur eine ,, Vermutungs-
evidenz" sei, oder mögen sie mit Volkelt behaupten, es sei kein
Unterschied zwischen der Erinnerungsgewißheit und der Cogitosumgewiß-
heit des Bewußtseins. Der letztere sagt^): ,,Die Gewißheit, diesen oder
jenen Bewußtseinsinhalt e r 1 ebt zu h a b en, ist genau von der gleichen
Unmittelbarkeit und Unbezweifelbarkeit, genau von der gleichen Selbst-
verständlichkeit für mich wie die Gewißheit, einen bestimmten Bewußt-
seinsinhalt jetztebenzu erlebe n." Hier liegt jene cartesianische
Täuschung vor, auf die wir schon einmal hinweisen mußten *) : das
Sein des gegenwärtigen Bewußtseinsinhaltes wird uns nicht durch eine
Evidenz gewiß, es ist eine Tatsache. Die Termini gewiß und
ungewiß auf eine Tatsache anzuwenden, hat keinen Sinn; sie ist ein-
fach. Daß ich glaube, bestimmte Erlebnisse gehabt zu haben, ist
ebenfalls schlechthin Tatsache, aber ob diese Erlebnisse Tatsachen waren,
das ist die Frage, und dessen kann ich, wie es scheint, immer nur un-
gewiß sein.
Der Schwierigkeit gerade ins Antlitz geschaut hat Störring. Er sucht
sich in der Weise zu helfen, daß er auf den großen Unterschied der ver-
schiedenen Grade von Erinnerungssicherheit hinweist und hervorhebt,
daß wir es in den fraglichen Fällen mit dem allerhöchsten Grade solcher
Sicherheit zu tun haben. Objektiv lasse sich dieser höchste Grad daran
erkennen, daß das Erinnerte an j e d e m Punkte, an dem wir mit einer
Prüfung einsetzen, sich verifiziert, daß also mit anderen Wortfen jede
') Essay, book IV, chap. I, § 9.
') A. Meinong, Zur erkenntnistheoretischen Würdigung des Gedächtnisses. Viertel-
jahrsschr. f. Wissenschaft!. Phil. 1886. 10. S. 30
') J- Volkelt, Die Quellen der menschlichen Gewißheit. München 1906. S. 16.
*) Oben S. 70 f.
Die Einheit des Bewußtseins. 105
Probe stimmt; und so schließt er^): „Wir müssen also das Prinzip der
Verifikation, so sehr wir uns dagegen sträuben, es als letztes Prinzip der
Sicherheit anzuerkennen, sogar für komplexes deduktives Denken stark
in Anspruch nehmen". Hierin liegt das offene Zugeständnis, daß wir
über das rein praktische Kriterium der Verifikation als letzten Notbehelf
doch nicht hinauskommen, denn die Frage, warum dieses Kriterium nicht
täuschen könne, erfährt keine theoretische Beantwortung.
Auch E. Becher hebt die Schwierigkeit rückhaltlos hervor und
stellt fest^), daß das Erinnerungsvertrauen schließlich unbeweisbar sei
und, gleich manchen andern Voraussetzungen des Erkennens, rein auf
Glauben beruhe, ,,auf dem natürlichen Glauben des gesunden Menschen-
verstandes."
So hat sich unzweifelhaft ergeben, daß die Zuverlässigkeit der Er-
innerung, wenigstens für gewisse kleine Zeiträume, eine notwendige Vor-
aussetzung darstellt, ohne die unser Bewußtsein, selbst bei bloß analyti-
tischem Denkverfahren, auch nicht den kürzesten Schritt mit Sicherheit
vorwärts tun kann.
Eine andere notwendige Voraussetzung, noch allgemeiner, noch selbst-
verständlicher, werden wir alsbald kennen lernen. Vorläufig knüpfen wir
an das bis jetzt gewonnene Ergebnis an.
16. Die Einheit des Bewußtseins.
Gibt es trotz allem einen Ausweg aus den beschriebenen Zweifeln?
Haben wir vielleicht doch eine Bürgschaft dafür, daß die als notwendig
erkannte Voraussetzung wirklich erfüllt ist.? Vergebens würden wir hoffen,
dies durch irgendeinen ,, Beweis" sicherstellen zu können; alles Beweisen
würde ja nur dem radikalen Zweifel neue Angriffspunkte bieten. Nein,
nur die Verweisung auf etwas dem Zweifel von vornherein Enthobenes,
d. h. auf eine Tatsache, könnte uns helfen. Gibt es eine solche Tat-
sache, so war die Skepsis, die uns auf ihre Spur führte, nicht fruchtlos,
sondern sie rückt gewisse letzte Bewußtseinsdaten in helles Licht, deren
unermeßhche Bedeutung sonst vielleicht nicht richtig erkannt und aus-
genutzt worden wäre.
Es scheint nun wirklich eine Tatsache zu geben, auf die wir uns hier
stützen können. Sie ist ursprünglicher als aller Zweifel, ursprüngUcher
als alles Denken, allen psychischen Prozessen zugrunde liegend, schlecht-
hin gegeben, eine im Bewußtsein immer erfüllte Voraussetzung. Es ist die
schlichte Tatsache, die man als Einheit des Bewußtseins bezeichnet.
Was darunter zu verstehen ist, läßt sich nicht durch eine Defini-
tion oder Beschreibung sagen, sondern wir können nur durch ge-
eignete Umschreibungen hindeuten auf die Tatsache, die jeder an
^) Störring, Einführung in die Erkenntnistheorie. S. 97 f.
*) E. Becher, Naturphilosophie. S. 108 (Kultur der Gegenwart. Teil III, Abt, 7
Bd. 1. 1914).
io6 Dcnkprobleme.
seinem Bewußtsein vorfindet. Man pflegt zu sagen — und das ist eine
bildliche Ausdrucksweise — alles was ich vorstelle oder fühle oder
empfinde, ist „in" meinem Bewußtsein. Das ,,in" hat nur bildliche Be
deutung, denn gewiß ist ja das Bewußtsein kein Gefäß, auch nicht wohl
einem Gefäß vergleichbar, das sich selber gleich bliebe und dessen Leere
durch immer wechselnde ,, Inhalte" ausgefüllt werden könnte. Sondern
was wir mit dem Namen Bewußtsein oder auch wohl mit dem
Namen Seele belegen, das ist die Gesamtheit der zu einem einheit-
lichen Ganzen vereinigten jeweiligen ,, Inhalte" oder seelischen Vorgänge.
Ich fasse die zusammen bestehenden und aufeinander folgenden Vor-
stellungen oder Gefühle oder Akte auf als zusammengehörig, als gemein-
sam ei'n Ganzes, ein ,,Ich" bildend. Dabei ist dieses Ich, dieses Bewußt-
sein nicht bloß die Summe der Einzelvorstellungen, nicht ein bloßes
Bündel, eine Sammlung von Perzeptionen, wie noch Hume meinte ^) ;
ihr bloßes Zusammen genügt nicht, sie zu Bestandteilen oder Zuständen
eines und desselben Bewußtseins zu machen, sondern es muß noch etwas
hinzukommen, und dies, was da noch hinzukommt, ist eben die Ein-
heit des Bewußtseins.
Dieses Hinzukommende näher zu beschreiben, ist, wie gesagt, un-
möglich, aber sein Vorhandensein ist schlechthin Tatsache. Wir können
diese Tatsache nur dadurch deutlicher hervortreten lassen, daß wir uns
einmal ausmalen, wie denn ein Bündel psychischer Daten beschaffen ist
in Fällen, wo diese Einheit fehlt.
Wenn ich an einem bestimmten Zeitpunkt ein Gefühl oder eine
Empfindung habe, und jemand anders hat zu gleicher Zeit''') ebenfalls
ein Gefühl oder eine Empfindung — nehmen wir etwa an, ich drücke
jemandem die Hand, so haben wir beide zugleich an unseren Händen be-
stimmte Tastempfindungen — , dann liegt natürlich auch ein Zusammen,
eine Summe psychischer Daten vor, aber es mangelt ihnen jene nicht
näher zu beschreibende sondern nur erlebbare Verknüpfung, und diesen
Mangel drücken wir aus durch das Urteil, daß diese psychischen Vor-
gänge nicht einem, sondern verschiedenen Bewußtseinen angehören.
Und die Kontinuität eines Bewußtseins besteht nicht in einer bloßen un-
unterbrochenen Aufeinanderfolge von Erlebnissen, sondern sie müssen noch
durch eine ganz besondere Art des Zusammenhanges vereint sein, damit
sie als Erlebnisse eines und desselben Bewußtseins gelten können; denn
wiederum brauchen wir uns die ohne Pause aufeinanderfolgenden Emp-
findungen nur auf verschiedene Individuen verteilt zu denken, um die
Richtigkeit dieser Bemerkung einzusehen '),
*) Treatise of human nature, book I, part IV, section VI.
*) Wir sehen dabei von der Frage ab, ob es möglich ist, einen ,, gleichen" Zeit-
punkt für verschiedene Bewußtseine überhaupt zu definieren.
') Ich freue mich, darauf hinweisen zu können, daß diese Ausführungen, sowie
einige der folgenden Entwicklungen zu demselben Problem, trotz unabhängiger Kon-
zeption, sich berühren mit Gedanken von H. Cornelius in dessen Einleitung in die
Philosophie* 191 1. § 23.
Die Einheit des Bewußtseins. ' 107
Die eigentümliche Bewandtnis, die es überhaupt mit der Kontinuität
des Bewußtseins hat, kann man sich vielleicht am besten auf folgende
Weise vergegenwärtigen: Es tauche für eine kurze Zeit eine isolierte
Empfindung auf — ich sage absichtlich nicht: „in einem Bewußtsein" — ,
sie tauche auf und verschwinde wieder, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Darauf entstehe eine neue Empfindung (dieselbe oder eine andere; ob es
aber dieselbe oder eine andere ist, kann gar nicht entschieden werden,
wenn wir beide so vollkommen isoliert annehmen), und so folge eine Emp-
findung auf die andere, entweder mit zeitlichen Zwischenräumen, oder
auch unmittelbar sich anschließend, immer aber so, daß jedes neue
Element so auftritt, als wenn die vorigen gar nicht dagewesen wären.
Und nun fragen wir: hat es einen Sinn, von diesen rein im Verhältnis
der bloßen Aufeinanderfolge stehenden Elementen zu sagen, sie gehörten
einem und demselben Bewußtsein an} Es fehlt offenbar jeder Anhalts-
punkt, jedes Recht, dergleichen zu behaupten, denn jene Elemente haben
ja gar nichts miteinander gemeinsam, es mangelt jede reale Verbindung
oder Beziehung zwischen ihnen. Wir würden vielmehr von so vielen
Bewußtseinen reden als wir Elemente unterscheiden; mit dem Eintreten
eines neuen Elementes fängt auch ein neues Bewußtsein an, das mit den
vorhergehenden und den nachfolgenden nichts zu tun hat. Es fehlt ihnen
eben jener Tatbestand, welcher die Einheit eines Bewußtseins aus-
macht.
Wir können noch einen Schritt weiter gehen. Wir nahmen bisher an,
daß jedes der einzelnen Empfindungs- oder Gefühlselemente eine gewisse
Dauer habe, und daß während dieser Dauer von einem kontinuier-
lichen Bewußtsein gesprochen werden könne. Wir können uns aber jede
dauernde Empfindung zerlegt denken in Empfindungen von kürzerer
Dauer, die einander unmittelbar sukzedieren, und diese wieder in kürzere,
usw. Von diesen Teilen gilt nun, was vorher von den Dauerempfindungen
galt: wenn gar keine Beziehung zwischen ihnen besteht als die bloße
zeitliche Aufeinanderfolge, wenn jeder Teil so für sich ist, als wenn seine
vorhergehenden und seine folgenden Nachbarn nicht vorhanden wären,
dann hat man wiederum kein Recht, von ihnen die Zugehörigkeit zu
einem Bewußtsein zu behaupten, sondern der Anfang und das Ende
jedes solchen Zeitteilchens der Empfindung bedeutet das Auftauchen und
Erlöschen eines neuen Bewußtseins. Es muß also auch bei dem kürzesten
und flüchtigsten Bewußtseinselement, damit es überhaupt als Element
eines Bewußtseins angesprochen werden kann, eine ganz eigene Verknüpfung
oder Verschmelzung seiner Momentanteilchen bestehen; die bloße kon-
tinuierliche Aufeinanderfolge derselben schließt sie noch nicht zu der
Einheit zusammen, ohne welche sie nicht als Elemente desselben Bewußt-
seins gelten können.
Das gilt nun alles auch, wenn man sich die zeitliche Teilung immer
weiter fortgesetzt denkt und die Dauer jedes einzelnen Teilchens immer
kleiner wird, es gilt schließlich auch, wenn sie unter jede angebbare Grenze
io8 Denkprobleme.
sinkt. Mit anderen Worten: denken wir uns die aufeinander folgenden
Momentanteile eines Bewußtseinsinhaltes jeden selbständig für sich, so
denken wir damit gar nicht den Inhalt eines Bewußtseins, sondern wir
denken vielmehr in jedem Augenblick ein Bewußtsein entstehend und
verlöschend, das mit den vorhergehenden und nachfolgenden Bewußt-
seinsmomenten nichts gemein hat, mit ihnen nicht zu einer Einheit ver-
schmilzt. Aber was denken wir doch da.'' Ein Bewußtsein, das in dem
Augenblick, in dem es entsteht, auch schon wieder erlischt, ein Bewußt-
sein ohne Dauer? Das ist jedenfalls etwas von dem, was wir sonst Be-
wußtsein nennen, völlig Verschiedenes, wir dürfen nicht wohl denselben
Namen dafür gebrauchen. Aber was wir hier denken, unterscheidet sich
vom Bewußtsein eben nur durch den Mangel der ,, Einheit", durch das
Fehlen jener eigentümlichen Kontinuität, welche als realer Zusammen-
hang etwas ganz anderes ist, als das Kontinuum im mathematischen
Sinne.
Wir sehen also: Wo die Einheit des Bewußtseins fehlt, da fehlt auch
der Tatbestand des Bewußtseins selber. Mit anderen Worten: wo über-
haupt Bewußtsein ist, da ist auch Einheit des Bewußtseins ^).
Und wo Einheit des Bewußtseins ist, da sind seine einzelnen Momente
nicht für sich, sondern gleichsam füreinander da, d. h. sie können nicht
für sich unabhängig von ihren Nachbarn betrachtet werden; aus dem
Zusammenhang mit ihnen hinausgerissen würden sie nicht mehr sie selbst
sein, sondern dieser Zusammenhang gehört zu ihrem Wesen. Alle Ver-
suche, diesen durchaus eigentümlichen Einheitszusammenhang erkennen
zu wollen, d. h. in ihm etwa auch sonst bekannte andere Zusammen-
hänge wiederzufinden, scheitern unter allen Umständen. Selbst Hume
täuschte sich hierüber sehr, indem er glaubte, die Einheit des Ich auf
die Kausal relation zurückführen zu können *) (daneben auch auf die
Ähnlichkeitsrelation, doch davon können wir hier absehen). Wenn wir
uns ein menschliches Bewußtsein vorstellen, meint er, so stellen wir uns
in Wahrheit ein System verschiedener Empfindungen oder verschiedener
Gegebenheiten (existences) vor, die durch die Beziehung von Ursache und
Wirkung miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig hervorbringen,
zerstören, beeinflussen und modifizieren. Nach unseren Darlegungen kann
es nicht zweifelhaft sein, daß hiermit das Wesen des Bewußtseinszusa'mmen-
hanges keineswegs ausreichend bezeichnet ist; es fehlt vielmehr gerade
das Wichtigste. Denn alle die Zusammenhänge, die Hume hier beschreibt,
könnten ebensogut zwischen den Elementen verschiedener Be-
wußtseine stattfinden. Die Naturgesetzlichkeit könnte so sein (ja ist
sogar in gewissem Sinne und bis zu einem gewissen Grade wirklich so),
daß die Bewußtseinszustände eines Individuums mit denen eines anderen
oder auch mehrerer Individuen unmittelbar kausal verknüpft wären, also
^) Auch WuNDT macht die Bemerkung, daß ein momentanes Bewußtsein als
ein ,, unbewußtes" zu bezeichnen wäre. Siehe System der Philosophie IP 1907. S. 147
*) Treatisc of human nature, bock I, part IV, section VI.
Die Einheit des Bewußtseins. 109
;n bestimmter Weise aufeinander folgten, sich gegenseitig hervorbrächten,
beeinflußten und zerstörten: deswegen würden die verschiedenen Bewußt-
seine keineswegs in eins verschmelzen, sondern die einzelnen Individuen
würden jedes das seine für sich haben. Also nicht die kontinuierliche
zeitliche Sukzession, nicht die kausale Verkettung der einzelnen Elemente
bewirkt ihre Zugehörigkeit zu einem und demselben Bewußtsein, sondern
eben ein ganz spezifischer Zusammenhang, den wir als eine letzte Tat-
sache hinnehmen müssen.
Dieser unbeschreibliche Zusammenhang — und das ist für uns das
Wichtige — enthält schon das in sich, was wir als Gedächtnis be-
zeichnen. Denn jenes Hinüberziehen eines jeden momentanen Bewußt-
seinsinhaltes in den nächsten Moment, das sie zur Einheit zusammen-
schließt, kommt eben dem Bewahren und Festhalten gleich, welches als
unmittelbares Erinnern die Leistung des Gedächtnisses bildet. Es ist in
der Tat eine oft gemachte und fast selbstverständliche Bemerkung, daß
die Erinnerung es ist, die selbst weit auseinander liegende Erlebnisse
eines Individuums so miteinander verbindet, daß sie zu demselben kon-
tinuierlichen Bewußtsein gerechnet werden und die Einheit der Persön-
lichkeit begründen. Und psychopathologische Erfahrungen zeigen uns oft
zitierte Beispiele ^), in denen diese Auffassung sich unzweideutig bestätigt.
Es kommt nämlich vor, daß ein und dasselbe physische Individuum der
Sitz (man gestatte in der Kürze diesen Ausdruck) zweier oder mehrerer
Persönlichkeiten ist, die voneinander völlig verschieden sind und ab-
wechselnd gleichsam denselben Körper bewohnen. Es kann ein patho-
logisch veranlagter Mensch in einem Stadium einen unsympathischen
Charakter haben, ungebildet, ungeschickt und melancholisch sein, in einem
anderen Stadium dagegen gutartig, lustig, gebildet und mit vielen Fertig-
keiten begabt sein; und solange der Mensch sich in dem einen Stadium
befindet, ist die Erinnerung an die Zustände des anderen Stadiums absolut
ausgelöscht, so daß die beiden Persönlichkeiten, die abwechselnd das
Wesen eines solchen Menschen ausmachen, gar nichts voneinander wissen.
Hier hat man es also tatsächlich nicht mit einem, sondern mit mehreren
Bewußtseinen zu tun, die eben dadurch vollkommen voneinander ge-
trennt sind, daß das Band der Erinnerung zwischen ihnen zerschnitten
ist. T a i n e zieht hier in einem schönen Vergleich *) das Verhältnis des
Bewußtseins einer Raupe zu demjenigen des Schmetterlings heran.
Der Zusammenhang, der die Einheit eines Bewußtseins ausmacht,
darf also als ein Erinnerungszusammenhang bezeichnet werden. Wenn
wir eine paradoxe Ausdrucksweise nicht scheuen, können wir auch sagen,
jener Zusammenhang komme so zustande, daß wir vermöge des Gedächt-
nisses zeitlich benachbarte Bewußtseinselemente nicht bloß als aufeinander
folgend, sondern außerdem auch als gleichzeitig erleben. Darin scheint
^) Siehe etwa Ribot, Les maladies de la personnalit^^ 1901.
") Taink, De rintelligence II*, appendice
HO Denkprobleme.
nur solange ein Widerspruch zu liegen, als wir nicht bedenken, daß es
eine Abstraktion ist, wenn man die ,, Gegenwart" streng einem Zeit-
punkt gleichsetzt; der realen Gegenwart des Bewufjtseins muß zweifel-
los eine Dauer zugeschrieben werden ^).
Noch einmal sei hervorgehoben, daß alle diese Auseinandersetzungen
keine eigentlichen Erklärungen darstellen und nicht Erkenntnis sind,
sondern nur Umschreibungen, die auf das Besondere der Tatsache der
Einheit des Bewußtseins aufmerksam machen sollen. Die Tatsache selbst
erlebt jeder in sich. Das Ergebni , das wir nun formulieren, ist daher
auch nicht etwa als Schluß aus den vorhergehenden Erwägungen
aufzufassen; es ist vielmehr nur eine kurz resümierende Bezeichnung des-
selben Tatbestandes:
Wo Bewußtsein ist, da ist auch Einheit des Bewußtseins, und wo
Einheit des Bewußtseins ist, da ist auch Gedächtnis. Mit dem radikalen
Aufhören jeder Erinnerungsfähigkeit müßte das Bewußtjein selbst auf-
hören, weil der Zusammenhang gelöst würde, in dem es besteht.
So sehen wir denn: die bloße Tatsache des Bewußtseins allein leistet
uns schon Gewähr dafür, daß jene fundamentale Bedingung alles Denkens,
das sichere Festhalten einer Vorstellung, die Fähigkeit des Gedächtnisses,
bis zu einem gewissen Grade erfüllt ist, weil sie eine Bedingung des Bewußt-
seins selbst ist. Trotz des bunten Wechsels der Vorstellungen, trotz des
unerschöpflichen Flusses seiner immer neuen Inhalte hat das Bewußtsein,
solange es überhaupt da ist, etwas Unwandelbares: eben seine Einheit; und
so durfte Kant von einem ,, reinen ursprünglichen unwandelbaren Bewußt-
sein" reden, für welches er den Namen ,, transzendentale Apperzeption" ein-
führte. Kant ist es auch, der die einzigartige Bedeutung der Einheit des
Bewußtseins für die allerletzten Erkenntnisfragen in ihrer ganzen Tiefe
erkannt und sogar übertrieben hat. Er bezeichnete diese Tatsache in seiner
umständlichen Weise als die ,, ursprünglich-synthetische Einheit der Apper-
zeption", und der Satz, daß alle anschauliche Mannigfaltigkeit unter den
Bedingungen dieser Einheit stehe, war ihm ,,das oberste Prinzip alles
Verstandesgebrauchs" und mußte ihm zur Begründung .der wichtigsten
Punkte seiner Erkenntnistheorie dienen. Ob Kant auch mit den Folge-
rungen, zu denen er diesen Satz verwandte, überall auf dem rechten Wege
war, wird später noch gelegentlich zu erörtern sein; die Tatsache der
Bewußtseinseinheit selber aber, der Kant einen so wichtigen Platz in
der Erkenntnislehre anwies, wird, wie ich glaube, in Zukunft noch viel
mehr in den beherrschenden Mittelpunkt aller Philosophie rücken müssen 2).
') Vgl. auch Cornelius, Einleitung in die Philosophie*. S. 231. F. Schumann,
Zeitschr. f. Psych. Bd. 17. S. 127 ff. W. James, Psychologie (deutsch von M. Dürr).
S. 280 f.
*) Anmerkung während der Korrektur. Inzwischen ist ein Buch erschienen, das
mit diesem Gedanken Ernst zu machen sucht: die „Transzendentale Systematik"
von H. Cornelius. München 1916. Ich habe das Werk in der Vierteljahrschrift für
wissenschaftliche Philosophie rezensiert. Gewissen Übereinstimmungen mit Anschau-
ungen von Cornelius habe ich bereits oben S. 106 sowie unten § 19 Ausdruck gegeben.
Die Einheit des Bewußtseins.
Also die Tatsache des Bewußtseins selbst bürgt bis zu einem gewissen
Grade dafür (wieder in Kant's Worten:), „daß das, was wir denken,
eben dasselbe sei, was wir einen Augenblick zuvor dachten". Aber eben
nur bis zu einem gewissen Grade. Jener ,, Augenblick" hat nur die Dauer
einer ,, Gegenwart", und wenn das sichere Festhalten von Vorstellungen
nicht für erheblich längere Zeiträume gewährleistet werden kann, so scheint
uns wenig geholfen zu sein. Zur Wahrung der Kontinuität des Bewußt-
seins braucht es sich nicht über so lange Zeiten zu erstrecken, wie sie zum
Vollzug irgendeiner Deduktion erforderlich sind, und so ist dem radikalen
Skeptizismus hier scheinbar immer noch nicht aller Halt geraubt. Aber
durch die folgenden beiden Hinweise kann er doch in seiner Position
wankend gemacht werden.
Erstens nämlich ist es dem Menschen möglich, durch besondere Vor-
bereitungen, durch häufige Wiederholung, durch Übung, durch eine ge-
wisse Einstellung der Aufmerksamkeit, oder wie die psychologischen Mittel
sonst heißen mögen, den Gegenwartsaugenblick mit scharf gegliedertem
Inhalt zu erfüllen, mehrere oder kompliziertere Vorstellungen in ihm zu
fixieren, und so kommt es, daß auch relativ komplexe Vorstellungen,
die zur Illustration verwickelter und sch>vieriger Begriffsverhältnisse
dienen, auf einmal fest im Bewußtsein stehen, so fest, wie es etwa zur
Gewinnung eines Schlusses, zur Ausführung einer Deduktion erforderlich
ist. Natürlich gibt es nie eine Garantie dafür, daß eine bestimmte Analyse
von einem bestimmten Menschen auf diese Weise mit aller Sicherheit
vollzogen werde — aber das kann ja auch nie verlangt werden. Es handelt
sich vielmehr nur um die Frage, ob es überhaupt möglich ist, ob es über-
haupt vorkommt, daß Deduktionen mit absoluter Sicherheit geführt
werden, oder ob alles Schließen als solches nie vor der Drohung des
äußersten Zweifels geschützt ist. Wir erleben es als Tatsache, daß die
Richtigkeit dieser oder jener Analyse in der geschilderten Weise verbürgt
ist, aber es gibt keine Bürgschaft dafür, daß wir oder ein anderer nun
bei irgendeiner bestimmten Analyse jene Tatsache erleben müßten. Wir
erleben sie eben in gewissen Fällen, ja wir können sogar empirisch im-
gefähr die Umstände angeben, unter denen wir sie zu erleben pflegen —
aber damit müssen wir es uns genug sein lassen. Und die unumschränkte
Macht der Skepsis ist ja damit auch gebrochen.
Zweitens aber darf man noch einen Schritt weiter gehen. Weri.n
nämlich die Einheit des Bewußtseins uns die Garantie gibt für eine aus-
reichende Konstanz der Vorstellungen während der Dauer einer Gegen-
wart, so kann sie unter bestimmten Umständen (es sind solche, die psycho-
logisch etwa als Zustände der gespanntesten ,, Aufmerksamkeit" charak-
terisiert werden) auch eine über längere Zeiträume erstreckte Sicherheit
darauf erbauen, indem sie (nur metaphorisch läßt es sich beschreiben)
das Bewußtsein dieser Konstanz von Augenblick zu Augenblick hinüber-
*^''ägt, gleichsam über die aufeinanderfolgenden Gegenwartsdifferentiale
integriert, so daß wir am Ende der kurzen Analyse unmittelbar erleben,
112 Denkprobleme.
wie sich ihr Schluß mit dem Anfang schlechthin ununterbrochen ver-
knüpft.
Die aufmerksame Selbstbeobachtung lehrt freilich, daß hier doch nur
äußerst kurzdauernde Bewußtseinsprozesse in Betracht kommen; sowie
die Deduktion ein wenig komplizierter ist, nehmen wir doch immer so-
gleich zur Wiederholung, zur Verifikation unsere Zuflucht, um die Richtig-
keit sicherzustellen.
Und dann gilt natürlich auch hier wieder: Sicherheit ist zweifellos
— vor allem Zweifel — vorhanden, wo die soeben beschriebenen Be-
wußtseinstatsachen erlebt werden, aber daß wir sie unter gegebenen
Umständen bei irgendeinem gegebenen Problem erleben müßten, dafür
gibt es keine Garantie, eine solche ist in der Tatsache der Bewußtseins-
einheit nicht enthalten. Das Bewußtsein des Tieres, des Idioten scheitert
an einfachsten Analysen, die der normale Mensch mit Leichtigkeit sicher
vollzieht; und den Fähigkeiten des Durchschnittsmenschen sind wiederum
sichere Einsichten verschlossen, die etwa ein Newton oder ein Gauss klar
in einer Vorstellung umfaßte.
Hier stoßen wir offenbar auf gewisse Wurzeln der intellektuellen Be-
gabung überhaupt. Man geht gewiß nicht fehl, wenn man die Unterschiede
der Intelligenz verschiedener Bewußtseine unter anderem erblickt in ihrer
verschiedenen Fähigkeit, ihre Inhalte gleichsam zu einer mehr oder weniger
kompakten Einheit zusammenzufassen. Der Geist des scharfsinnigen
Denkers schließt komplizierte Bewußtseinsinhalte energisch zu einer ruhigen
Einheit zusammen, dem Unbegabten aber zerfließt alles vor seinem geistigen
Blick, die Vorstellungen flackern unstet hin und her und wir sagen dann,
ihm mangele die Fähigkeit zur Konzentration der Aufmerksamkeit. Seinem
Bewußtsein kommt zwar ebensowohl Einheit zu wie dem Gescheidtesten,
aber sie ist keine kompakte, sondern gleicht einer Menge von Fetzen,
die nur durch dünnere Fäden zusammenhängen. Und wenn der Mensch
das Vermögen des ,, Denkens" vor anderen Tieren voraushat, so dürfen
wir den Grund dafür zweifellos mit in dem loseren Zusammenhange der
Daten des tierischen Bewußtseins suchen. Je niederer ein Tier organisiert
ist, um so mehr lebt es vermutlich von Augenblick zu Augenblick, seine
Erlebnisse folgen sich zusammenhängend, aber ohne in so innige Beziehungen
zueinander zu treten wie beim Menschen, bei dem die Mannigfaltigkeit
der buntesten Bewußtseinsdaten zu einer geschlossenen Einheit zusammen-
tritt, desto umfassender, je mehr wahre ,, Persönlichkeit" der Mensch be-
sitzt, ja fast die ganze Dauer seines Daseins umgreifend.
Es ist fast schwer, solche Gedanken hier nicht noch weiter auszu-
spinnen und mit ihnen auf metaphysisches Gebiet hinüberzuwandeln.
Ohnehin treten schon in der Gegenwart hier und dort Versuche hervor,
die Tatsache der Bewußtseinseinheit als Brücke ins Metaphysische zu be
nutzen ^). Uns liegt es ob, an dieser Stelle umzuwenden und zu den Fragen
^) Siehe z. B. H. Driesch, Philosophie des Organischen. II. S. 380 f. Ihm ist
„die Einheit der subjektiven Erfahrungen überhaupt und das Gedächtnis im besondern'
eines der „drei Fenster", durch die wir in das Absolute blicken.
Die Einheit des Bewußtseins. 113
zurückzukehren, durch die unsere Aufmerksamkeit auf die Tatsache der
Bewußtseinseinheit hingelenkt worden war.
Wir besitzen also im allgemeinen die Fähigkeit, unsere Vorstellungen
eine gewisse minimale Zeit hindurch so fest zu halten, wie es für den sicheren
Vollzug des analytischen Schließens erforderlich ist. Die Einheit unseres
Bewußtseins bürgt uns dafür. — Aber noch eine andere, fundanientalere
Bedingung muß erfüllt sein, die sogar für jene Fähigkeit die Voraus-
setzung bildet: wir müssen nämlich mit dem Vermögen ausgestattet sein,
Gleichheit und Verschiedenheit von Vorstellungen zu konstatieren. Denn
besäßen wir dies nicht, wie sollten wir wissen, ob unsere Gedanken sich
gleich bleiben oder wechseln, wie sollten wir die verschiedenen Vorstel-
lungen auseinander halten.'' Und ohne das wäre doch kein Schließen
möglich.
Es ist eine so fundamentale Voraussetzung, daß sie immer nur ge-
macht, aber wohl nie ausgesprochen wurde, bis auf Locke, der ihre Be-
deutung richtig einsah, indem er sagte ^), es könne ohne sie gar kein Wissen,
kein Folgern, überhaupt keine bestimmten Gedanken geben.
Wie steht es nun mit dieser Bedingung.'' Gibt uns das Bewußtsein
mit seiner Einheit vielleicht eine Bürgschaft dafür, daß auch sie immer
erfüllt ist.-* Um diese Frage zu entscheiden, bedarf es wiederum gar nicht
irgendwelcher Schlüsse, sondern wir brauchen nur die Aufmerksamkeit
auf gewisse Tatsachen zu lenken, die mit dem Bewußtsein zugleich jeder-
zeit gegeben sind.
Locke bezeichnet es ^) als die erste Fähigkeit des Geistes, seine
Ideen wahrzunehmen und, sofern er dies tut, von jeder zu wissen,
was sie ist, und dadurch auch ihre Verschiedenheit wahrzunehmen, welche
macht, daß die eine nicht die andere ist. Diese Ausdrucksweise ist aber
höchst unglücklich und irreführend, sie wird jedoch jetzt noch gebraucht
und führt jetzt noch sehr in die Irre, denn sie stellt Geist und Ideen
einander gegenüber, als wäre jener ein Behälter, in den die Ideen ein-
treten, um von ihm aufgenommen, ,, wahrgenommen" und miteinander
verglichen zu werden. Da könnte es dann wohl passieren, daß etwa ver-
schiedene Ideen ins Bewußtsein gelangten, von ihm aber für gleich an-
gesehen würden, oder es könnte umgekehrt gleiche Ideen für verschieden
halten. Und damit ein richtiges Denken überhaupt möglich sei, müßte
dann die Fähigkeit, sich hierbei nicht zu täuschen, dem Bewußtsein als
ein besonderes Vermögen zugeschrieben werden, und es entstünde die
Frage, ob denn dies Vermögen immer vorhanden sei, und bis zu welchem
Grade wir uns darauf verlassen können.
So steht es aber natürlich nicht. Das Bewußtsein verhält sich nicht
zu den Ideen wie der Magen zu den Speisen, die er aufzunehmen und zu
') Essay concerning human understanding, book 4, chapter i, § 4.
*) An der soeben angeführten Stelle.
Schlick Erkenntnislehre. ö
114 Denkprobleme.
verdauen hat, vielni^hr konstituieren die Ideen erst das Bewußtsein, sie
brauchen nicht erst durch einen besonderen Akt wahrgenommen zu werden,
sondern ihr bloßes Dasein als Bewußtseinsdaten ist mit ihrem Wahr-
genommenwerden identisch, für sie ist esse und percipi dasselbe. Wir be-
dürfen mithin nicht der Annahme einer ausdrücklichen Fähigkeit des
Wahrnehmens der Bewußtseinsinhalte und folglich auch keiner besonderen
Garatitie gegen Täuschungen bei solchem Wahrnehmen. Es ist nichts in
meinem Bewußtsein, dessen ich mir nicht bewußt wäre: beide Ausdrücke
sagen ja dasselbe mit verschiedenen Worten. Bewußtseinsdaten werden
nicht als verschieden wahrgenommen, sondern sind schlechthin
verschieden. (Vgl. auch unten § i8.)
Nun wird man aber sagen, ich könnte wohl verschiedener Vorstel-
lungen und doch nicht der Verschiedenheit der Vorstellungen mir bewußt
sein; beides ist nicht dasselbe; aber gerade das Bewußtwerden der Ver-
schiedenheit ist offenbar zu allem Denken und Schließen erforderlich.
Von neuem also könnte zweifelhaft werden, ob die notwendigste Bedingung
des Denkens in unserem Geiste je mit Sicherheit erfüllt ist.
Aber auch dieser Zweifel zerschellt wiederum an der Tatsache der
Einheit des Bewußtseins. Sie zeigt uns, daß Verschiedenheit der Erlebnisse
und Erlebnis der Verschiedenheit, obgleich sie nicht ein und dasselbe
sind, doch im Geiste so zusammengehören, daß das eine nicht ohne das
andere sein kann.
Gesetzt nämlich, es beständen zu gleicher Zeit zwei verschiedene Be-
wußtseinsinhalte — etwa ein Ton und ein Geruch, oder eine grüne und
eine rote Farbe im Gesichtsfelde — , und wir nehmen an, es mangele das
Vermögen, die Verschiedenheit zu konstatieren, das heißt, sie werde nicht
als Tatsache erlebt, es fehle also dem erlebenden Individuum jedes Datum,
das es durch die Urteile bezeichnen könnte: ,, diese Erscheinungen sind
verschieden" oder ,, diese Erscheinungen sind gleich". Dann würden jene
beiden Erlebnisse gänzlich unbezogen und unverglichen nebeneinander
stehen, jedes wäre völlig für sich, als wenn das andere gar nicht da wäre,
die beiden wüßten sozusagen gar nichts voneinander, niemand vermöchte
zu sagen, ob sie gleich oder verschieden seien .... kurz, es wäre genau
so, als ob sie beide verschiedenen Bewußtseinen angehörten; nichts
schlösse sie zusammen, sie bildeten keine Einheit mehr, und wir hätten
keinen Grund und kein Recht, sie alsTlnhalte eines und desselben Bewußt-
seins zu erklären. Wenn v e r schiedene Inhalte einem Bewußtsein an-
gehören, so werden sie eben dadurch auch unter schieden. Wir können
auch sagen: Unterscheiden geschieht dadurch, das Verschiedenes auf-
einander bezogen wird; die Einheit des Bewußtseins aber ist eine Art
des Aufeinanderbezogenseins, wenn also Verschiedenes in der Einheit des-
selben Bewußtseins vereinigt ist, so bedeutet das: es wird unterschieden.
Und Analoges gilt für das Gleichsetzen des Gleichen. — Es handelt sich
hier wieder nur um einen Hinweis auf einen Tatbestand, der eben in
der Tatsache der Einheit des Bewußtseins erlebt wird. Der Ausdruck in
Die Einheit des Bewußtseins. 115
Worten, der diesen Hinweis vollziehen soll, wird immer unvollkommen
und unbefriedigend erscheinen müssen.
Wie man sieht, ist der Tatbestand, der hier in Frage kommt, ganz
analog dem früher besprochenen: betrachteten wir vorhin die Einheit des
Bewußtseins, sofern sie das Hintereinander der Inhalte umschließt, so
faßten wir jetzt das Nebeneinander ins Auge, das in ihr zusammengehalten
wird.
Aber beide Tatsachen treten vereint auf: wir unterscheiden nicht
bloß etwa gleichzeitige Vorstellungen, sondern auch solche, die sich un-
mittelbar folgen, sich gegenseitig ablösen. Hierauf beruht das Bewußt-
sein des Wechsels. Es ist ein Faktum, daß unser Geist unaufhörlich
einen Wechsel, oder, was dasselbe ist, überhaupt ein Geschehen erlebt,
denn Geschehen ist Wechsel. Beim Erlebnis des Geschehens wird die
Verschiedenheit des folgenden vom vorhergehenden Zustande unmittelbar
bewußt, und wiederum ist es nicht nötig, in der Seele eine besondere
Fähigkeit zur Wahrnehmung des Wechsels anzunehmen, die sie etwa
eines guten Tages verlieren und ohne die sie weiter existieren könnte.
Sondern abermals liegt hier eine Eigenschaft vor, die untrennbar zum
Wesen des Bewußtseins selbst gehört. Nach unseren früheren Erörte-
rungen brauchen wir bei der Heraushebung dieser Tatsache aus der Ein-
heit des Bewußtseins wohl nicht weiter zu verweilen.
Es sei nur zur Bestätigung und Erläuterung hervorgehoben, daß man
gerade an diesem Punkte sogar noch weiter gehen kann und weiter ge-
gangen ist. Nicht nur nämlich wird jeder Wechsel, wenn ein solcher
in unserem Geiste stattfindet, eo ipso als besondere Tatsache des Bewußt-
seins erlebt, sondern man kann vielleicht sogar sagen, der Wechsel selber
sei eine conditio sine qua non des Bewußtseins. Dann würde also nicht
nur keine Veränderung im Geiste stattfinden ohne Bewußtsein davon, es
würde auch umgekehrt kein Bewußtsein existieren, wo keine Veränderung
ist. Eine Empfindung oder ein Gefühl, das während der ganzen Dauer
unseres Daseins unaufhörlich ohne Wechsel im Bewußtsein wäre, scheint
eine Unmöglichkeit zu sein. Bereits Hobbes behauptete, daß eine un-
begrenzt verlängerte Empfindung überhaupt aufhören würde, empfunden
zu werden, also gar nicht mehr im Bewußtsein existieren würde: ,,Sentire
semper idem et non sentire ad idem recidunt." So empfinden wir schon
die schlechte Luft eines geschlossenen Zimmers nicht, bis wir ins Freie
treten, obgleich da immer noch die Möglichkeit besteht, unsere Empfin-
dungen mit den Erinnerungsvorstellungen besserer Gerüche zu vergleichen.
Eine solche Möglichkeit des Kontrastes aber würde gänzlich fehlen, wenn
wir annähmen, ein bestimmter Inhalt sei ohne Aufhören immer in unserem
Bewußtsein, wir könnten uns sein Nichtsein gar nicht vorstellen, könnten
mithin sein Vorhandensein nicht mit der Vorstellung seines Fehlens ver-
gleichen und von ihr unterscheiden: er bliebe unbemerkt, er wäre gar
kein Bewußtseinsinhalt. So scheint jedes Bewußtseinsdatum etwas Rela-
tives zu sein: es hat nur Dasein im Gegensatz und in Beziehung zu andern
8*
ii6 Denkprobleme.
— eine für eine etwaige Metaphysik des Bewußtseins höchst wichtige
Bemerkung, auf deren fundamentale Bedeutung vor andern A. Bain hin-
wies, der dafür die Bezeichnung ,,law of relativity" einführte. Auch
J. Stuart Mill erkannte dies Gesetz als zweifellos richtig an ^). Wir können
es wohl auch so ausdrücken, daß ein unveränderliches beharrendes Sein
niemals Bewußtseinsinhalt ist. Ein Bewußtsein, in dem nichts geschieht,
wäre ein Bewußtsein ohne Erlebnis, also gar kein Bewußtsein. Bewußt-
sein setzt Wechsel voraus, Übergang des einen ins andere; das Bewußt-
sein (der Geist, die Seele) ist ein Vorgang, ein Prozeß.
Die moderne Psychologie ist mit diesen Anschauungen in voller Über-
einstimmung, denn sie hat sich wohl durchweg die ,, Aktualitätstheorie'*
der Seele zu eigen gemacht. Besonders Wundt erwarb sich in diesem
Punkte das größte Verdienst, indem er immer wieder betonte, daß die
seelischen Inhalte sich nicht verhielten wie Dinge oder Substanzen, sondern
daß sie Vorgänge, Geschehnisse seien.
Nur nebenbei sei noch die Bemerkung angeschlossen, daß analoge
Hinweise, wie die hier gegebenen, auch das Auftreten der Z e i t v o r •
Stellung im Bewußtsein verständlich machen können. Wiederum ist
es die Einheit der seelischen Erlebnisse, die mit der Aufeinanderfolge der
Bewußtseinszustände das Bewußtsein der Aufeinanderfolge verknüpft;
denn wir sahen ja, daß das Bewußtsein mehr ist als ein bloßes Nach-
einander von Erlebnissen: es ist die Einheit der Erlebnisse, und die
Einheit der nacheinander stattfindenden macht das Zeitbewußtsein mög-
lich. Dies scheint mir der richtige Kern der Zeitlehre von Riehl zu
sein, die er vor Jahrzehnten schon in den Worten zusammenfaßte 2):
,, Durch die Einheit der Apperzeption in der Folge der Empfindungen
entsteht die Zeitvorstellung."
Abschließend können wir es als Ergebnis unserer Betrachtung der
Tatsache der Bewußtseinseinheit hinstellen, daß sie in der Tat die Be-
denken beseitigt, welche die Flüchtigkeit aller unserer Vorstellungen
erwecken kann. Sie lehrt uns, daß die vorhandene Flüchtigkeit unseren
Geist nicht hindert, die einfachen Akte des analytischen Schließens
zu vollziehen. Damit ist der radikalen Skepsis der Zutritt zu den letzten
psychologischen Fundamenten alles Denkens gewehrt, wo sie sonst
großen Schaden hätte anrichten können. Noch einmal sei es wieder-
holt: es handelte sich bei dieser Skepsis nicht um einen Zweifel an der
Richtigkeit der logischen Regeln der Analyse, wie sie etwa in der Syllogistik
niedergelegt sind (ein solcher Zweifel wäre ein bloßes Mißverständnis),
sondern es war ein Mißtrauen gegen unsere psychischen Fähigkeiten:
wegen der Flüchtigkeit aller Bewußtseinsvorgänge wurde in Frage gestellt,
ob mit ihrer Hilfe jene strengen logischen Verhältnisse überhaupt im
Prinzip ohne Irrtum sich darstellen lassen. Das Problem drehte sich also
um das Verhältnis der psychischen Vorgänge zu den logischen Gebilden.
^) J. Stuart Mill, Logic, book I, chap. V, § 5, note.
*) A. Riehl, Der philosophische Kritizismus. II, i. 1879. S. 122
Das Verhältnis des Psychologischen zum Logischen. 117
Außer der Flüchtigkeit, der zeitlichen Unbeständigkeit der psychi-
schen Gebilde kann aber noch ihre Unscharfe zu Bedenken Anlaß geben,
die undeutliche Abgrenzung der Vorstellungen voneinander. Ihrer Be-
trachtung müssen wir noch einige Bemühungen widmen, damit wir nicht
bloß von der menschlichen Fähigkeit zur fehlerlosen Analyse überzeugt
sind, sondern auch einsehen, in welcher Weise denn nun die bunten psychi-
schen Vorgänge zu brauchbaren Repräsentanten der logischen Gebilde
werden, in welcher Weise das Unvollkommene die Funktion des Voll-
kommenen ohne Mangel erfüllt.
17. Das Verhältnis des Psychologischen zum Logischen.
Die Weiterführung der zuletzt angestellten Betrachtungen zwingt uns,
noch einmal auf eine Schwierigkeit einzugehen, welche das Denken einer
Reihe von Philosophen der Gegenwart in eigentümliche Bahnen gedrängt
hat. Die Einsicht, daß Begriffe und sonstige logische Gebilde keine psychi-
schen Realitäten sind, führte dazu, ihnen eine besondere Art des ,, Seins"
zuzuschreiben und, gleich Platon, das Reich des realen und das Reich
des idealen Seins als zwei ganz verschiedene und getrennte Sphären ein-
ander gegenüberzustellen. Nun müssen aber doch beim Denkakte die
beiden Reiche irgendwie in Verbindung, in Verkehr miteinander treten;
und die Schwierigkeit besteht eben darin, anzugeben, wie dergleichen
mögUch ist. Die bildliche, naive platonische Lösung, wonach die Ideen
von unserem Geiste einfach ,, geschaut" werden, befriedigt uns heute
nicht.
Daß Vorstellungen nicht dasselbe sind, wie Begriffe, psychische Tätig-
keiten nicht dasselbe wie logische Verhältnisse, ist eine alte Wahrheit,
nur wurde sie in ihrer ganzen Schärfe erst neuerdings wieder heraus-
gearbeitet, und zwar durch die Fehde gegen den sogenannten ,, Psycho-
logismus", von dem es schien, als betrachte er alle logischen Größen,
wie Begriffe und Urteile, als psychologische Gebilde. Es schien so, sage
ich, denn vielleicht war dem Psychologismus mehr eine laxe Ausdrucks-
weise, ein Beiseiteschieben gewisser Fragen vorzuwerfen als eine völlige
Verkennung des wahren Sachverhaltes. Daß z. B. die Vorstellung, die in
meinem Bewußtsein ist, wenn ich an eine Ellipse denke, nicht selbst diese
Ellipse, nicht selbst eUiptisch ist, das haben die Psychologisten kaum be-
stritten. Sie müssen doch wohl eine Ahnung davon gehabt haben, daß
Begriffe nicht Realitäten des Bewußtseins sind, sondern unwirklich, bloße Fik-
tionen, denn sie vertraten meist die Ansicht, daß Begriffe Abs traktions -
gebilde sind ; daß aber solche nicht als wirkliche Vorstellungen Dasein besitzen,
muß jedem klar sein: eine Linie etwa, ein Strich ohne Breite, ist ja, wie
gerade die Psychologisten wissen, nicht wirklich vorstellbar. ,, Begriffe
und Urteile sind Denkgebilde, das Denken ist ein psychischer Vorgang
— folglich ist Logik die Lehre vom Denken, und alles Logische gehört
in den Bereich der Psychologie . ..." so etwa mag man oft gedacht
1 1 8 Denkprobleme.
und geäußert haben, und das war eine Gedankenlosigkeit, veranlaßt durch
den Doppclsinn des Wortes ,, Denkgebilde", welches sowohl den Begriff
wie die ihn bezeichnenden Vorstellungen bedeuten kann, oder, wie man
seit K. TwARDOWsKi ^) sagt, sowohl den Inhalt wie den Gegen-
stand der Vorstellung (unter dem Inhalt ist der Bewußtseinsprozeß zu
verstehen, der die Vorstellung ausmacht, unter dem Gegenstande aber
das durch sie bezeichnete Objekt, mag es nun ein Wirkliches oder ein
Begriff sein).
Jedoch diese psychologistische Gedankenlosigkeit scheint mir nicht
so gefährlich für die Grundlagen der Philosophie wie die ausdrückliche
und durchdachte Lehre, daß die logischen Gebilde eine Sphäre füc sich
ausmachen, ein Reich der Ideen, welches von der realen Welt unab-
hängig ,, existiert". Diese Lehre ist gar nicht falsch, wenn man die
Worte ,, existieren" und ,, unabhängig" richtig auffaßt; aber es ist keiner
der platonisierenden Philosophen — auch unter denen nicht, die das
Wort existieren auf Begriffe nicht angewendet wissen möchten ^) — , den
diese Lehre nicht zu Anschauungen geführt hätte, die ein Verständnis
des wahren Verhältnisses beider Reiche zueinander ganz unmöglich machen,
ebenso unmöglich, als wenn die Ideen, wie im platonischen Mythos, als
wirkliche Wesen in einem TÖTiog 'bnfQovQaviog thronten, ewig fern von
unserer Welt, und allen unseren Sinnen unerreichbar. Konnte schon
Platon das Problem nicht lösen — man erinnere sich seines vergeblichen
Bemühens, über die Art ins Klare zu kommen, wie die realen Dinge an
den Ideen ,, teilhaben" — , so vermochten seine modernen Nachfolger in
diesem Punkte keinen Schritt über ihn hinaus zu tun. Wie verhalten sich
die Vorstellungen zu den Begriffen, wie die psychischen Urteilsakte zu
den logischen Sätzen? Auf diese Frage erhalten wir immer wieder — nach
unseren Betrachtungen oben im § 1 1 fast mit Abscheu — die Antwort,
daß diese in jenen ,, erfaßt" werden. Dieser Ausdruck ist völlig nichts-
sagend, und vergeblich versucht man ihn schmackhafter zu machen,
indem man den ,.Akt der Erfassung" der idealen Gebilde durch reale
psychische Akte mit dem Namen ,,Ideation" oder ähnlichen bezeichnet.
Viel schlimmer aber als diese Ausdrucksweisen, die keine Lösung
geben, ist es, wenn man hier statt von einem Erfassen, von einem Erleben
redet, denn das bedeutet eine falsche Lösung des Problems. Erlebnisse
sind Realitäten. Sofern man das Wort in dem üblichen Sinne gebraucht,
in dem wir es hier allein verwandt haben, heißt ,, etwas wird erlebt" gar
nichts anderes als: ,, etwas ist Bewußtseinsinhalt". Das Erleben ist nicht
ein Akt, eine Tätigkeit des Bewußtseins, die sich irgendwie auf Objekte
richtete und sie dadurch sich zu eigen machte, zum Bewußtsein brächte,
wie wir durch einen Akt des Greifens mit der Hand eine Münze packen
*) TwARDowsKi, Zur Lehre vom Inhalt und Gegensland der Vorstellungen.
Wien 1894.
*) Zu diesen gehört z. B. B. Russell, der von ihnen nicht sagen will: they cxist.
londern: they subsist or have being. The problems of philosophy. p. 156.
Das Verhältnis des Psychologischen zum Logischen. iig
und uns aneignen — , sondern wenn ich sage: „ich erlebe dies", so ist das
schlechterdings nur ein spiachlich anderer Ausdruck für das Urteil: „dies
ist Datum meines Bewußtseins". Man kann also nicht das Erlebnis vom
Erleben und vom Erlebten unterscheiden, sondern dies alles ist ein und
dasselbe. Eine Blauempfindung z. B. ist ein schlechthin einfach Seiendes,
es läßt sich nicht das Empfinden des Blau und das empfundene Blau
daran auseinander halten. Das ist eine der fundarnentalen Tatsachen der
deskriptiven Psychologie, über die man kein Wort mehr verlieren sollte,
und die sogar von mehr spekulativ verfahrenden Psychologen anerkannt
wird ^). In diesem Sinne werden aber die Begriffe nicht erlebt;
sie sind ja nichts Reales, werden niemals als Bestandstückc eines Erlebnisses
vorgefunden. (Siehe auch unten § 19.)
Das sehen nun die platonisierenden Idealisten im Grunde auch ein,
und sie helfen sich, wie Philosophen sich in ähnlichen Fällen nicht selten
geholfen haben: ist ein Satz, der ihnen am Herzen liegt, in dem gebräuch-
lichen Sinn der Worte nicht richtig, so konstruieren sie eben einen neuen
Sinn der Worte, und dann ist es natürlich immer möglich, den alten Satz
aufrecht zu erhalten; er bedeutet jetzt aber etwas ganz anderes. Da nun
in unserem Falle hier die Begriffe zum realen Bewußtsein, zum Erlebnis,
irgendwie in Beziehung treten müssen, so sagt man einfach: wenn die
Begriffe nicht in dem eben bezeichneten Sinn erlebt werden, nun, so gibt
es noch einen anderen Sinn des Wortes Erleben, und in d i e s e m werden
sie erlebt. ,,Aber vom Erfassen, Erleben und Bewußtwerden ist hier, in
Beziehung auf dieses ideelle Sein, in ganz anderem Sinne die Rede, als
in Beziehung auf das empirische, d. i. das individuell vereirizelte Sein" '').
Was nun dies Erleben des Ideellen (das ja nicht zu dem Erleben in dem
uns allein bekannten Sinne des Wortes gehört) eigentlich für ein Erleben
ist, kann man folgerichtig nicht weiter fragen; es ist eben ein letztes, es
wird einfach — erlebt. Höchstens kann man es durch neue Namen be-
zeichnen, und dazu ist man auch gern bereit: wir erleben jene Idee ,,in
einem Akte auf Anschauung gegründeter Ideation" '). Damit aber nun
die offenbar unentbehrliche Beziehung zu den eigentlichen Erlebnissen,
d. h. den realen Bewußtseinsdaten, nicht verloren gehe, weist man
hin auf eine besondere Klasse der letzteren, ,,in" oder ,,an" der (oder
wie der bildliche Ausdruck sonst lauten mag) das ,, Erfassen" der Idee
stattfindet. Diese Klasse gehört zur Gattung der ,,intentionalen" Er-
lebnisse. Der Ausdruck ,,intentionar', der aus der Scholastik seinen Weg
über Brentano in das Denken der Gegenwart gefunden hat *), bezeichnet
solche Bewußtseinsinhalte, die sich ,,auf einen Gegenstand richten" (vgl.
^) Siehe z B. Natorp, Allgemeine Psychologie I. Tübingen 1912. 3. Kapitel.
§ 3, § 4.
*) HussERL, Logische Untersuchungen I. S. 128.
Ebenda. S. 129.
*) Siehe vornehmhch Husserl's Logische Untersuchungen IL L Teil. V. Unter-
such. Kap. I und 2.
I20 Denkprobleme.
oben S. 19 f.). Beim Wahrnehmen wird etwas wahrgenommen, beim
Vorstellen etwas vorgestellt, im Urteilen wird etwas beurteilt; wir
können nicht lieben, ohne daß die Liebe auf einen geliebten Gegenstand
geht, nicht denken, ohne daß ein Gegenstand da ist, an den wir denken.
Die Gegenstände, auf welche unsere Bewußtseinsakte sich richten, werden
nicht in unserem Sinne des Wortes erlebt — der wahrgenommene, der
beurteilte, der geliebte Gegenstand sind ja nicht real im Bewußtsein
gegenwärtig — , wohl aber wird jenes Gerichtetsein auf den Gegenstand,
die ,, Intention", unmittelbar erlebt. Und so ist es nun auch mit den
Begriffen. Denke ich an ein Dreieck, so ist zwar nicht dieses selbst,
wohl aber die Intention darauf in meinem Bewußtsein.
Diese Lehre enthält, wie wir wissen, tatsächlich Richtiges. Wenn wir
oben (S. 19) bemerkten, es gebe eigentlich keine Begriffe, sondern nur be-
griffliche Funktionen, so ist damit im Grunde dasselbe behauptet, als wenn
man sagt, daß nicht die Begriffe, sondern die Intention darauf erlebt wird,
oder, wie man es auch formuliert, daß die 'Begriffe nicht reale, sondern
intentionale Inhalte des Bewußtseins sind. Nur ist zur Lösung unseres
Problems damit nicht das Geringste geleistet, man hat ihm nur wieder
einen neuen Namen gegeben. Wir müssen nämlich weiter fragen: Ist
nicht das intentionale Erlebnis als reale psychische Größe von den idealen-
Gebilden ebenso weit und unüberbrückbar getrennt, wie etwa die Vor-
stellungen von den Begriffen.? Woher weiß ich denn, worauf meine Akte
sich richten? bin ich mit ihnen nicht wieder mitten in der Psychologie,
ohne Aussicht, in das Gebiet der Begriffe und der Logik hinüber zu ge-
langen, wo allein die Strenge und Schärfe herrscht, um deren Möglichkeit
wir besorgt waren.?
Man antwortet uns: Mitnichten! Wenn wir es richtig anfangen, sind
wir mit ihnen weder in der Logik noch in der Psychologie, sondern in
einer neuen Wissenschaft, grundlegender a\ß beide: der Phänomenologie.
Die Phänomenologie, meint man, macht es möglich, unmittelbar das
W e s e n der intentionalen Gegenstände zu erschauen. Wir können z. B.
einen Ton hören: das ist ein psychologischer Vorgang (der Ton ist als
realer Bewußtseinsinhalt vorhanden); andererseits können wir aber zugleich
dabei das Wesen ,,Ton" erschauen, wir erhalten Kenntnis davon, was ein
Ton überhaupt ist: das ist phänomenologische Wesensschauung. Ganz
einfach: ,,Wie das Gegebene der individuellen Anschauung ein individueller
Gegenstand ist, so ist das Gegebene der Wesensanschauung ein reines
Wesen" ^). Wie also eine bestimmte Wahrnehmung uns in der empiri-
schen Anschauung gegeben ist, so gibt es nach dieser Lehre eine Wesens-
anschauung, die uns das Wesen, die Idee, das Eidos, den Begriff ver-
mittelt.
Selbst wenn wir einmal ganz davon absehen, daß die oben als un-
möglich erkannte Unterscheidung von Anschauen und Angeschautem hier
^) HussERL, Ideen zu einer reinen Phänomenologie etc. 1. Buch. S. 10 f. 1913.
Das Verhältnis des Psychologischen zum Logischen. 121
fortwährend sorglos gemacht wird, so brauchen wir nach allem früher
Gesagten (vgl. auch Teil I, § 11) kein Wort mehr darüber zu verlieren,
daß durch diese Behauptungen unser Problem gar nicht berührt, son-
dern umgangen wird. Es wird die Existenz einer besonderen Anschauung
behauptet, die kein psychischer realer Akt sein soll; und vermag jemand
ein solches nicht in den Bereich der Psychologie fallendes ,, Erlebnis"
nicht aufzufinden, so wird ihm bedeutet, er habe die Lehre eben nicht
verstanden, er sei noch nicht zu der richtigen Erfahrungs- und Denk-
einstellung vorgedrungen, das erfordere nämlich ,, eigene und mühselige
Studien" ^).
Um aber zu jener Einstellung zu gelangen, muß nun freilich auch
der Phänomenologe von der Bewußtseinsrealität ausgehen. Er versichert
uns jedoch, daß die empirische oder individuelle Anschauung in Wesens-
schauung (Ideation) ,, umgewandelt" werden kann *), daß jede individuelle
Anschauung ,,die Wendung in Wesensschauung nehmen" kann *). Das
Wesen Ton ist ein aus dem individuellen, realen Ton „herauszuschauendes
Moment" '). Aber w i e gelangt der Schauende vom psychischen Phänomen
zum reinen Wesen, von der psychologischen Beschreibung zur phänomeno-
logischen Analyse? Ei, durch die ,,eidetische Reduktion". Was ist nun
dieses Neue? Wie verfahre ich, um diese wunderbare Reduktion auszu-
führen? Nun, einfach so, daß ich alles Wirkliche ,, einklammere", die
ganze Welt in ihrem Dasein, mich selbst und mein Bewußtsein einge-
schlossen, ,, ausschalte" und den Blick nur auf ihr ,, Wesen" richte *).
Also: um von der psychologischen Wirklichkeit loszukommen, sagt
man uns, brauchen wir sie bloß einzuklammern oder auszuschalten, dann
bleibt das Eidos übrig, dann wird aus der deskriptiven Analyse die Wesens-
schauung. ,,Je nach Ausschaltung oder Einschaltung der psychologischen
Apperzeption gewinnen . . . dieselben Analysen bald rein phänomenologi-
sche, bald psychologische Bedeutung" '^).
Können wir uns mit einer solchen Lehre zufrieden geben, oder be-
deutet sie nur eine Ausschaltung und Einklammerung, nicht eine Lösung
des Problems?
Sie wird in immer anderen Wendungen vorgetragen und mit großem
Gepränge als Grundlage einer neuen Wissenschaf t eingeführt. Aber bei Licht
besehen ist sie weiter nichts als eine strenge Durchführung der allbekannten
Unterscheidung zwischen Existenz und Essenz, zwischen Dasein und
Wesen. Wir können über das Wesen, das Sosein von Gegenständen Urteile
fällen und aus ihnen ganze Wissenschaften aufbauen, ohne irgendwelche
Urteile über reales Dasein, über Tatsachen hineinzumengen .... wer
dürfte das leugnen? Aber unser Problem ist dadurch seiner Lösung nicht
^) Ebenda. S. 3.
*) Ebenda. S. 10.
*) Ebenda. S. 9
*) Vgl. besonders § 31 und § 32 des zitierten Werkes.
*) HussERL, Logische Untersuchungen II*. Teil I. S. 369 Anmerkung.
122 Denkprobleme.
irgendwie näher gebracht, ja es wird dadurch noch nicht einmal berührt.
Vielmehr wird gerade das, was wir in Frage stellen, immer schon als er-
ledigt vorausgesetzt. Wir fragen gerade, wie uns überhaupt nichtreale
Gegenstände, Begriffe oder Urteile, ,, gegeben" sein können, da wir eben
nur die realen Bewußtseinsinhalte als das Gegebene kennen i). Die logi-
schen Gebilde sind nichts Wirkliches, nicht als Teile oder Seiten der
psychischen Prozesse mit diesen gegeben, sondern sie werden von uns
fingiert. Aber alle unsere Aussagen über sie sind reale Urteilsakte, all
unser Wissen von ihnen m u ß in den realen psychischen Prozessen irgend-
wie enthalten sein, sonst bliebe es uns unbekannt, es wäre ja nicht bewußt.
Die Bürgschaft für die Richtigkeit unserer logischen Analysen muß in
realen Bewußtseinstatsachen liegen, oder wir haben überhaupt keine
Bürgschaft.
Nun entsprechen aber unsere psychischen Gebilde den vollkommenen
Begriffen, die sie darstellen sollen, nur unvollkommen. Dort Ungenauig-
keit, hier absolute Schärfe. Wie kann dieses uns durch jenes zur Kenntnis
kommen.^ Der Idealist redet hier von einem ,, Erfassen" des einen durch
das andere und umgeht so das Problem. Er denkt die erfassenden Prozesse
immer schon durch das Erfaßte bestimmt. Dieses wird als ein Vorhandenes
betrachtet, nach dem die realen Denkvorgänge sich richten können, die
logischen Verhältnisse erscheinen als eine bestehende Norm, die ihnen
regelnd gegenübertritt. In Wahrheit aber liegen die Dinge umgekehrt.
Es geht durchaus nicht an, die repräsentativen Prozesse zu bestimmen
*) Man kann den Ausdruck ,,das Gegebene" auch in ganz anderem Sinne ver-
wenden. Das tut z. B. Paul F. Linke in seiner Schrift ,,Die phänomenale Sphäre
und das reale Bewußtsein" Halle 1912. Er versteht nämlich darunter die ,,intentionalen
Gegenstände", also z. B. das, was uns in einer Wahrnehmung als Wahrgenommenes,
in einer Erinnerung als Erinnertes gegeben ist, also den Gegenstand der Vorstellungen,
unbekümmert darum, ob diesem Wahrgenommenen oder Erinnerten in Wirklichkeit
oder auch nur vermeintlich reale Gegenstände entsprechen. So verstanden ist (a. a. 0.
S. 5) ,,kein Gegebenes als solches eo ipso real . . .", es ist nicht wirklich ,,im Sinne
eines reellen Bestandstückes unseres Bewußtseins". — Demgegenüber bezeichnen wir
hier als Gegebenes gerade Bewußtseinswirklichkeiten, und nur diese, also Erlebnisse,
reale Vorkommnisse. Wir befinden uns damit wohl am besten in Übereinstimmung
mit dem Sprachgebrauch, der freilich nicht besonders glücklich ist, denn das Wort
,, geben" impliziert einen Gebenden und einen Empfänger und ruft damit leicht schäd-
liche Nebengedanken hervor. Doch sie können ferngehalten werden durch eine be-,
sondere Warnung, die hiermit ausgesprochen sei. — Linke bezeichnet übrigens das
Reich des ,, Gegebenen" (in seinem Sinne) als die ,, phänomenale Sphäre" und stellt
ihr die Sphäre der Wirklichkeit gegenüber: ,,das sind zwei ganz und gar getrennte
Schichten: es besteht kein Wesenszusammenhang zwischen beiden . . ." (a. a. 0.
S. 29 f.). Das Problem ihres gegenseitigen Verhältnisses, das uns hier beschäftigt, löst
er nicht; er sagt nur, die phänomenale Sphäre schwebe deshalb nicht in der Luft, den
Gegebenheiten entsprächen als reale Korrelate jwychische Prozesse. Daß es erstere
ohne letztere nicht geben könne, wüßten wir erfahrungsgemäß (S. 28 f.). Im
gleichen Sinne wie Linke verwendet R. Herbertz das Wort ,, gegeben" (Prolegomena
zu einer realistischen Logik, S. 174), der freilich zudem in höchst origineller Wendung
alles ,, Gegebene", alle intentionalen Gegenstände ("also z. B. auch mathematische
Objekte, Zentauren, Nymphen) für wirklich erklärt.
Das Verhältnis des Psychologischen zum Logischen. 123
durch die idealen Gegenstände, auf die sie gerichtet sind, sondern Reali-
täten können nur durch Realitäten bestimmt Verden. Die Bewußtseins-
prozesse, in denen wir logische Analysen vollziehen, müssen ganz aus
ihrer immanenten psychologischen Gesetzmäßigkeit heraus verstanden
werden, ohne Rücksicht auf das, was sie bedeuten. Wie sie trotzdem
ihre Funktion des Bedeutens völlig exakt erfüllen können, ist gerade
unser Problem.
Natürlich kommen Fälle, in denen auch der Phänomenologe unserer
Frage nicht ausweichen kann ^). Er hilft sich aber in solchen Lagen durch
den Hinweis auf die Evidenz*). Sie lehre uns, daß von den Begriffen
und Urteilen eben gerade genau das gilt, was wir in unseren psychischen
Denkakten von ihnen aussagen. Machen wir demgegenüber darauf auf-
merksam, daß damit doch wieder alles auf den unsicheren Grund eines
subjektiven psychischen Datums gebaut werde, welches der begrifflichen
Schärfe entbehre und täuschen könne, so sucht man sich zu retten durch
die Unterscheidung zwischen realer und idealer Evidenz ^). Nur auf die
letztere komme es in Wahrheit an. Aber damit ist doch alles wieder ver-
dorben; denn woher wissen wir von einer idealen Evidenz oder Evidenz-
möglichkeit.'' Ihr Dasein muß sich in unserem Bewustsein auf irgend
eine Weise realiter kundgeben, durch ein Evidenzgefühl oder sonst ein
Moment von psychischer Realität. Damit werden alle früheren Einwände
wieder wach, und alles bleibt beim alten: das Problem folgt nach, so oft
man ihm auch durch einen Seitensprung auszuweichen sucht.
Wir wollen ihm ruhig ins Auge sehen, indem wir von vornherein an-
erkennen und festhalten, daß nichts wirklich ,,da ist" als die realen Be-
wußtseinsvorgänge, daß die Begriffe erst durch sie fingiert werden. Und
wir fragen: Wie ist es möglich, daß die realen psychologischen Beziehungen
genau dasselbe leisten wie die reffi logischen Relationen, ohne doch das-
selbe zu sein, ohne doch die gleiche Schärfe zu besitzen.?
Die Antwort darauf können v/ir uns an einem Bilde klar machen,
durch welches man zuweilen den Gegensatz und Unterschied zwischen
psychischem Prozeß und logischem Gebilde illustriert, das aber ebenso-
gut dazu dienen kann, uns das wahre \'crhältnis beider zueinander zu
offenbaren. Wir stellen uns eine Denkmaschine vor, wie sie Jevons
konzipiert hat, oder, um Näherliegendes und Praktisches ins Auge zu
fassen, eine Rechenmaschine *). Eine solche stellt, sleich dem mensch-
lichen Gehirn, einen physischen Apparat dar, dessen Funktion natürlich
ganz und gar durch physikalische Gesetze bestimmt wird. Keineswegs
etwa durch die Rechenregeln der Arithmetik; von diesen weiß der tote
Mechanismus nichts, das Einmaleins ist der Maschine nicht als Bestand-
teil eingesetzt. Trotzdem werden durch die Maschinerie die Rechenregeln
^) Ansätze dazu z. B. bei Husserl, Log. Untersuch. I. S. 150.
^) Ebenda. I. 143. II. 108 und an vielen anderen Stellen.
3) Ebenda. I, §§ 50, 51.
*) Auf sie exemplifiziert Husserl, Log. Unters. I. S- öS.
124 Denkprobleme.
richtig zum Ausdruck gebracht, und zwar mit absoluter Genauigkeit,
nicht nur angenähert. Lasse ich mir z. B. durch den Apparat den Wert
des Produktes 13 x 14 angeben, so liefert er das Resultat 182, und nicht
etwa 182,000001 oder ähnliches. Es wird ohne Zauberei ein schlechthin
genaues Ergebnis erzielt, obwohl völlige Exaktheit in jedem Sinne
durch keine natürliche Maschinerie zu realisieren ist. Und das letztere
liegt selbstverständlich nicht daran, daß etwa die Naturgesetze, die den
Lauf der Maschine regeln, irgendwie inexakt oder nur annähernd gültig
wären, sondern es hat seinen Grund in der im strengsten Sinne unend-
lichen Verschlungenheit alles Geschehens, die da macht, daß kein Vor-
gang genau dem andern gleicht, daß z. B. die Bewegung eines Rädchens
unserer Maschine nicht bloß von unserer Handhabung der Hebel ab-
hängt, sondern ebensowohl, wenn auch in unwahrnehmbarem Maße,
z. B. vom Stande des Mondes. Die allen physischen Konstruktionen an-
haftende Ungenauigkeit äußert sich bei der Maschine (wenn sie nicht
total in Unordnung geraten ist) nicht durch ein falsches Resultat, durch
das Erscheinen falscher Ziffern, sondern nur etwa darin, daß die Ziffern
nicht ganz genau in einer Reihe stehen, daß der Abstand zwischen ihnen
variiert, daß Stäubchen von der schwarzen Farbe sich ablösen, aus der
die Schriftzeichen bestehen, und dergleichen mehr. Physisch betrachtet,
entbehrt also in der Tat der Rechenprozeß der Maschine der Genauigkeit,
das Ergebnis wird aber davon nicht betroffen, weil es für dieses nicht
ankommt auf Kleinigkeiten der Stellung und des Aussehens der Ziffern,
sondern allein darauf, daß gerade diese und keine anderen ins Gesichts-
feld treten.
Man wird vielleicht sagen, durch dieses Beispiel sei uns nicht viel
geholfen, das aufzuklärende Verhältnis werde davon nicht berührt, denn
daß die Angabe der Maschine trotz der leichten Verschiedenheiten doch
das gleiche Resultat bedeute, sei nur der Funktion des beobachtenden
Intellekts zuzuschreiben, er verleihe erst dem Zahlenbilde die Bedeutung
und deute leicht verschiedene Bilder gleich, er lege erst nach dem Vor-
bilde der angeschauten Begriffe die Exaktheit hinein, und so vermöge er
die Zufälligkeiten der individuellen Erscheinung zu übersehen und von
ihnen zu abstrahieren.
Aber wenn es natürlich auch richtig ist, daß die Deutung erst im
Geiste des verstehenden Betrachters stattfindet, so ist doch für uns ent-
scheidend, daß die notwendige und hinreichende Grundlage für diese
Deutung bereits in dem physischen Gebilde vorhanden ist, so daß unter
den gegebenen Umständen die Deutung vollkommen bestimmt und jede
andere ausgeschlossen war. Wir brauchen uns jetzt nur darüber klar zu
werden, durch welche Mittel dies in einwandfreier Weise erreicht ist, und
unser Problem ist gelöst.
Es verhält sich aber damit so: Die Reihe der ganzen Zahlen ist ihrem
Wesen nach (d. h. gemäß ihrer Definition) diskontinuierlich, oder viel-
mehr diskret. Zwei ganze Zahlen sind niemals unendlich wenig von-
Das Verhältnis des Psychologischen zum Logischen. 125
einander verschieden, sondern immer um eine Einheit oder ein ganzes
Vielfaches davon; alle Naturprozesse aber verlaufen kontinuierlich, der
Zustand eines physischen Systems kann in einen anderen endlich ver-
schiedenen Zustand nicht unvermittelt übergeführt werden, sondern immer
nur durch unendlich viele dazwischen liegende Zustände hindurch, deren
jeder sich von seinem Nachbarn beliebig wenig unterscheidet. Dies hat
schon Leibniz in seiner ,,loi de continuite" ausgesprochen. Zur Abmessung
kontinuierlicher Größen sind physische Vorgänge daher unmittelbar ge-
eignet; z. B- wird die Länge einer Zeitstrecke direkt durch den Zeiger-
stand einer Uhr angegeben, und zwar immer nur mit einer gewissen An-
näherung, weil von einer schlechthin exakten Festlegung der Zeiger-
stellung nicht die Rede sein kann. Die Rechenmaschine aber mißt nicht
ein Kontinuum, sie zählt diskrete Einheiten ab. Es sind zwar kontinuier-
liche physische Prozesse, Bewegungen von Rädern und Hebeln, durch
welche die Ziffernkombinationen ineinander übergeführt werden, z. B.
181 in 182, — aber Anfangs- und Endzustand liegen diskret auseinander.
Wenn auch jeder von ihnen den beschriebenen kleinen Variationen aus-
gesetzt ist und mit den unmittelbaren Nachbarzuständen verwechselt
werden könnte, so sind doch beide voneinander so getrennt, daß sie mit
unfehlbarer Sicherheit unterschieden werden.
Hier von Unfehlbarkeit zu reden, ist keine Übertreibung Es ist eine
einfache Tatsache, daß wir überhaupt imstande sind, Verschiedenheiten
festzustellen (siehe oben); es gibt mithin auch eine Grenze der Verschieden-
heit, jenseits deren eine Verwechslung schlechthin ausgeschlossen ist.
Wenn wir auch diese Grenze in keinem Falle angeben können, so existiert
sie doch, und es gibt Fälle, in denen wir unfehlbar behaupten können,
jenseits der Grenze zu sein. Die Entfernung meiner Wohnung von der
Universität (sie mag etwa einen Kilometer betragen) kann ich mit absoluter
Genauigkeit nicht angeben, mit völliger Sicherheit aber darf ich z. ß.
aussagen, daß sie mehr als zehn Zentimeter beträgt. Die Länge des
Sekundenpendels (etwa ein Meter) läßt sich nicht absolut exakt bestimmen,
ja es hat nicht einmal einen Sinn, nach ihrem schlechthin genauen Werte
zu fragen; dennoch können wir mit völliger Sicherheit sagen, daß sie
nicht hundert Meter und daß sie nicht ein Millimeter beträgt. Praktisch
liegt die Grenze der Unterscheidungsmöglichkeit noch viel günstiger, es
genügen geringe Unterschiede, um ihre Überschreitung zu sichern. Man
bedenke, wie wenig manche Buchstaben, etwa h und k, oder manche
Ziffern, ■^ie i und 7, voneinander verschieden sind; dennoch fürchten wir
kaum je Verwechslungen, und bestände irgendeine Gefahr dazu, so steht
nichts im Wege, den Ziffernbildern noch eine beliebig größere Ver-
schiedenheit in Form und Farbe zu erteilen und so noch weiter über jene
Grenze hinauszuschreiten.
Aber auch die kompliziertesten Gestalten sind immer durch Zwischen-
formen kontinuierlich ineinander überzuführen, es ist also mit Hilfe des
Kontinuierlichen möglich, beliebige Diskontinuitäten gleichsam nachzu-
126 Denkprobleme.
ahmen. Das ist so gewiß möglich, als es in der Natur zählbare Dinge
gibt. Denn Zählbarkcit setzt Diskretion voraus, in der Natur aber ist
streng genommen alles kontinu-ierlich. Obgleich ich an keinem mathema-
tischen Punkte mit Bestimmtheit sagen kann: Hier ist die Grenze der
Erde, oder: Hier ist die Oberfläche des Mondes, so sind doch Erde und
Mond in voller begrifflicher Strenge voneinander zu scheiden. Aber auch
auf engstem Räume kann eine Diskretion physischer Gebilde erreicht
werden, wofür eben die Rechenmaschine ein Beispiel war. Ein anderes
bietet etwa das Roulettespiel, bei welchem die herumlaufende Kugel not-
wendig jedesmal auf einer bestimmten Nummer zur Ruhe kommen muß.
Es ist niemals ein Zweifel möglich, auf welche Zahl sie gefallen ist. Sie
kann natürlich in jedem Felde eine unendliche Menge nahe benachbarter
Lagen einnehmen, aber sie liegt doch immer in einem bestimmten, durch
kleine Wände von den Nachbarfeldern getrennten Feld, und zu diesem
gehört eben nur die eine bestimmte ganze Zahl.
Sobald man einmal eingesehen hat, wie durch kontinuierliche Prozesse
die Funktion des Diskontinuierlichen erfüllt werden kann, ist unser
Problem auch schon gelöst, denn das hier allein in Betracht kommende
Moment, welches die Begriffe von den Vorstellungen, die logischen Ge-
bilde von den psychischen Vorgängen unterscheidet, ist gar nichts anderes
als der Unterschied des Diskreten vom Kontinuierlichen. Die Schärfe
der Begriffe besteht in ihrer Diskretion von anderen Begriffen, die Ver-
schwommenheit alles Realen besteht in seiner Kontinuität, die keine
absolut scharfen Grenzen duldet.
Der Satz, daß kontinuierliche Gebilde die Funktion diskreter über-
nehmen können, hat nur deshalb etwas Paradoxes, weil er für das erste
Empfinden den Anschauungen zu widersprechen scheint, die wir der An-
wendung von Wahrscheinlichkeitsberechnungen auf unsere Naturbeobach-
tungen zugrunde zu legen gewohnt sind. Denn diese Anwendung beruht
zum Teil auf einer in gewissem Sinne uneingeschränkten Durchführung
des Kontinuitätsgedankens. Die Fehlergesetze geben mir auf Grund der
Beobachtungen z. B. eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Länge
des Sekundenpendels zwischen 99 und lOO cm liegt; aber auch, wenn ich
frage: wie groß ist die Wahrscheinlichkeit eines so großen Irrtums bei
allen Beobachtungen, daß ihr wahrer Wert über 50 m beträgt? so würde
ich bei rein mechanischer Anwendung der Fehlerregeln zwar einen ganz
ungeheuer kleinen Bruch für jene Wahrscheinlichkeit erhalten, aber doch
nicht streng den Wert Null. Und doch ist es physisch sicher schlechthin
unmöglich, daß man sich bei der Messung in solchem Grade geirrt haben
sollte, ebenso wie es unmöglich ist, daß die Entfernung der Universität
von meinem Hause in Wirklichkeit nicht mehr als 10 cm betragen sollte.
Die Voraussetzungen, unter denen die Wahrscheinlichkeitsberechnungen
gelten, können eben bei so großen Fehlern nicht mehr als erfüllt betrachtet
werden; in diesem weitesten Sinne reicht die Kontinuität nicht be-
iebig weit. Aber das wahre Verständnis dieses Faktums wird sehr er-
Das Verhältnis des Psychologischen zum Logischen. 127
Schwert dadurch, daß es prinzipiell unmöglich ist, einen Punkt anzugeben,
bis zu welchem jene Voraussetzungen erfüllt sind; so erweckt die An-
wendung der Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen auf die Natur leicht die
Meinung, als gebe es für uns überhaupt in keinem strengen Sinne Diskre-
tion und damit absolute Bestimmtheit (denn Diskretion bedeutet für uns
absolut bestimmte Unterscheidung der Gebilde). Aber das ist, wie wir
sehen, nicht richtig. Diskretion in unserem Sinne ist innerhalb der Kon-
tinuität möglich. Die Grenzen aller Unterscheidung sind zwar niemals
schlechthin genau bestimmt, aber daraus folgt nicht, daß die Unterschei-
dung selbst nicht völlig exakt vollzogen werden könnte.
Das Problem des Verhältnisses der psychischen Prozesse zu den
logischen Beziehungen stellt sich uns also dar als ein Spezialfall der Frage
nach der Erzeugung diskreter, d. h. zählbarer Gebilde durch kontinuier-
liche. Mit dem Nachweis, daß letzteres möglich, ist auch unser Problem
gelöst. Auf die Bedeutung dieser Möglichkeit haben tiefdenkende Mathe-
matiker bereits hingewiesen; so heißt es z. B. bei Poincare^): ,,In der
Analysis situs genügen ungenaue Erfahrungen, um ein strenges Theorem
zu begründen. Denn wenn man z. B. sieht, daß der Raum nicht zwei
oder weniger als zwei Dimensionen haben kann, und nicht vier oder mehr
als vier, so ist man sicher, daß er genau drei hat, weil er nicht zweiein-
halb oder dreieinhalb haben kann". Selbst für die gröbsten Beispiele
bleibt das wahr: wir können sagen, es ist g e n a u richtig, daß der Mensch
zwei Ohren hat oder zwei Beine, denn es wäre nicht ungenau, sondern
unsinnig, einem Menschen etwa 2,002 Ohren zuzuschreiben. Es gibt Ge-
legenheiten, durch ungenaue Erfahrungen exakte Wahrheiten zu be-
gründen: dieser Satz birgt die Lösung unseres Rätsels vollständig in sich.
Unser Gehirn ist einer Rechenmaschine vergleichbar oder einer
jEVONs'schen Denkmaschine. Die kontinuierlichen Prozesse in ihm führen
zu gewissen Endphasen, wie bei jenen Apparaten die Ziffern oder BucÜr-i^-
Stäben herausspringen. Parallel gehend treten im kontinuierlichen Be-
wußtseinsstrome diskrete Phasen auf, die, obwohl durch allmähliche Über-
gänge verbunden, doch nicht untrennbar ineinander laufen. Sie werden
eben als verschieden erlebt, und weiter ist nichts nötig, um eine exakte
Logik im Denken möglich zu machen. Es ist leicht zu übersehen, daß
.die Bedingung zur Begründung der ganzen Logik gegeben ist, sobald nur
überhaupt erst einmal die Möglichkeit besteht, diskrete Gebilde zu kon-
struieren; die Möglichkeit exakter Begriffsbildung hängt allein hieran, sie
erfordert nichts weiter als strenge Unterscheidung. Denn wenn wir auf
früher Gesagtes zurückblicken (Teil I, § 7), so wissen wir, daß es für die
logischen Verhältnisse der Begriffe gar nicht ankommt auf den anschau-
lichen Inhalt, den sie bezeichnen, sondern allein darauf, daß sie über-
haupt bestimmt Unterscheidbares bedeuten; logisch sind die Begriffe
nur durch ihre Abgrenzung, ihre Unterscheidung von anderen Begriffen
^ Der Wert der Wissenschaft. 2. Aufl. 1910. S. 50.
128 Denkprobleme.
Bestimmt, nicht durch die anschaulichen Gegenstände, denen sie zugeordnet
sind.
Die Relationen der diskreten, zählbaren Größen sind tatsächlich von
derselben Schärfe und Strenge, wie die Verhältnisse der Begriffe, obwohl
sie Realitäten sind. In unserem Bewußtsein finden wir allein die ersteren
vor, die letzteren sind nirgends, es sind Fiktionen, und man darf mit
Recht sagen, daß sie gar nicht ,, existieren". Wir sprechen nur so, als ob
es sie gäbe, um der Einfachheit des Ausdruckes willen; das ,, ideale" Sein
ist eben ein fiktives.
Wenn die idealistischen Logiker immer darauf hinweisen, daß alle
psychologischen Gesetze vage seien und daraus folgern, daß absolute
Strenge nur in der Sphäre des Idealen zu finden sei, nicht auch in der
psychischen Wirklichkeit, so begehen sie eine petitio principii, denn der
,, Psychologist", der den unscharfen, kontinuierlichen Charakter der psychi
sehen Vorgänge im allgemeinen zugeben muß, kann ja behaupten,
daß trotzdem auch solche von völliger Exaktheit vorkommen, die dann
eben die Träger des Logischen sind. Zweitens ist es auch ganz gewiß
nicht richtig, die psychischen Gesetzmäßigkeiten einfach alle für vage zu
erklären, denn so wahr das Kausalgesetz allgemein gültig ist, spielt alles
Geschehen in Natur und Geist sich nach Gesetzen ab, die ebensowenig
Ausnahmen erleiden wie die Regeln der formalen Logik. Nicht die Ge-
setze sind inexakt, sondern unsere Kenntnis von ihnen ist unvollkommen:
das ist ein gewaltiger Unterschied. Nun haben wir uns aber soeben über-
zeugt, daß wir trotz der mangelhaften Kenntnis der Gesetze, die das
psychische Geschehen im einzelnen beherrschen, doch über ein genaues
Wissen bestimmter Regelmäßigkeiten daran verfügen, gleichwie ich etwa
von dem Ring an meinem Finger, ohne je seine Gestalt absolut exakt
angeben zu können, dennoch mit schlechthin unfehlbarer Sicherheit aus-
sagen darf, daß er drei Dimensionen hat und als Ganzes ein räumliches
Gebilde darstellt, welches der Mathematiker als ,, zweifach zusammen-
hängend" bezeichnet.
Anschauliche Vorstellungen können die Aufgabe der Begriffe restlos
erfüllen, sobald sie mit absoluter Sicherheit voneinander unterschieden
werden, denn wir haben oben {Teil I, § 5) ausführlich erörtert, daß die
Begriffe überhaupt nur zu dem Zwecke der scharfen Unterscheidung er-
funden wurden. Unsere letzten Betrachtungen haben nun den Nachweis
erbracht, daß jene Unterscheidung psychischer Größen tatsächlich ge-
währleistet ist durch das Moment der Diskretion, das in die Kontinuität
der anschaulichen Prozesse eingeht. Damit ist nun wohl das Problem der
Realisierung der logischen Beziehungen durch psychische Prozesse be-
friedigend geklärt. Das Logische ist nicht eine selbständige Sphäre unab-
hängiger idealer Wesenheiten, die durch die psychischen Tätigkeiten
,, erfaßt" oder ,, geschaut" würden, sondern es ist eine Fiktion, zu deren
Bildung jenes Moment der Diskretion das vollkommene Muster und die
notwendige und hinreichende reale Grundlage bietet.
Von der Evidenz. 129
18. Von der Evidenz.
Durch die nunmehr abgeschlossenen Betrachtungen haben wir uns
Klarheit errungen über die Probleme des reinen Denkens, indem wir die
Frage beantworteten, durch welche Besonderheiten der psychischen Pro-
zesse uns untrügliche Einsicht zuteil wird in die Wahrheit derjenigen
Urteile, die auf einer Analyse von Begriffen beruhen. Und mehrfach haben
wir dabei verbreitete Vorurteile niederringen müssen, die dem Verständnis
des wahren Sachverhaltes hindernd im Wege stehen. Zurückschauend
und zusammenfassend wollen wir das gefundene Ergebnis noch einmal in
helleres Licht setzen, indem wir jene fundamentalen Irrtümer gänzlich'
fortzuräumen suchen, welche immer und immer wieder ihren Schatten
auf die behandelten Probleme werfen und die Anschauungen älterer und
neuerer Philosophen über das Wesen des Bewußtseins verdunkelt haben.
Die Frage nach der Gewißheit des analytischen Denkens wird, wie
schon erwähnt (oben S. 102), von den meisten Denkern durch einen ein-
fachen Hinweis auf die Evidenz erledigt. Daß der Satz des Wider-
spruches richtig ist und mit ihm alle Analysis, die ja auf ihn sich gründet,
das sei schlechthin ,, evident". Die Evidenz wird als ein unentrinnbar
letztes angesehen: alle Wahrheit müsse schließlich in ihr einen Halt finden,
oder überhaupt in nichts zusammenfallen.
Wir haben die Anrufung der Evidenz als höchste Instanz und letzte
Zuflucht wiederholt als verkehrt und untunlich abgelehnt. Die Anhänger
der Evidenzlehre aber werden meinen, wir seien in einer argen Selbst-
täuschung befangen, wenn wir den verurteilten Begriff als letzte Siche-
rung glauben entbehren zu können. Denn wie ich mich auch ausdrücken
mag: setze ich nicht der Sache nach doch immer voraus, daß meine Be-
hauptungen und Beweise als wahr einleuchten.'' Wenn ich auf Tat-
sachen hindeute, setze ich dann nicht wenigstens voraus, es leuchte ein,
daß es wirklich Tatsachen sind? Und wird nicht der Hinweis auf dieses
Einleuchten stets der Endpunkt sein, zu dem man notwendig gelangt,
wenn die Frage nach dem Grunde unserer Überzeugung immer wieder
gestellt wird.?
Die Antwort auf solche Vorhaltungen wurde eigentlich schon in den
vorhergehenden Ausführungen gegeben, bei der Besprechung eines Grund-
irrtums des Descartes (oben S. 70 f.). Die Grundlagen alles Wissens sina
nämlich weder gewiß noch ungewiß, sondern sie s i n d einfach, Sie leuchten
nicht ein und brauchen nicht einzuleuchten, sondern sie sind selbständig,
selbstgenugsam da.
Gewiß geschieht die Feststellung der Wahrheit durch irgendwelche
Bewußtseinsdaten, die man schließlich als Evidenz bezeichnen mag, un-
möglich aber läßt sich die Lehre aufrecht erhalten, daß es ein spezifisches
unreduzierbares Evidenzerlebnis gebe, dessen Vorhandensein das aus-
reichende Kriterium und untrügliche Kennzeichen der Wahrheit aus-
mache. Dies wird erwiesen durch die Erfahrungstatsache, daß ein Evidenz-
S Chi ick, Erkenntnislehre. Q
130 Denkprobleme.
erlebnis sich auch bei notorisch falschen Urteilen einstellt. Jede falsche
mit aufrichtigem Eifer verfochtene Behauptung ist eigentlich ein Beispiel
dafür. Man denke etwa an die Systeme großer Metaphysiker, wie Des-
CARTES und Spinoza, die zum großen Teil aus falschen Urteilen be-
stehen, ihren Urhebern aber doch als die sichersten aller Wahrheiten
galten.
Die Verteidiger der Evidenzlehre behaupten natürlich, daß in diesem
Falle nicht die richtige, die echte Evidenz erlebt wurde, es handele sich
vielmehr um eine Gewißheit,, ohne Evidenz" ^). Diese Behauptung aber
verwickelt sich in einen unaufhebbaren Widerspruch. Entweder nämlich,
die echte Evidenz wird von der unechten (der Gewißheit ohne Evidenz)
als wesensverschieden erlebt, dann werden beide also gar nicht miteinander
verwechselt; Evidenztäuschungen kommen dann gar nicht vor, und damit
wäre der Tatbestand geleugnet, zu dessen Erklärung die ganze Lehre er-
funden ward. Oder aber es besteht kein unmittelbarer Unterschied zwischen
den beiden Erlebnissen. Dann ist damit gesagt, daß es nur auf indirektem
Wege, also durch nachträgliche Untersuchung möglich ist zu entscheiden,
ob Gewißheit mit Evidenz oder Gewißheit ohne Evidenz vorgelegen hat.
Damit ist dann aber zugestanden, daß das echte Kriterium der W^ahrheit
überhaupt gar nicht in dem Evidenzerlebnis zu suchen ist, sondern daß
andere Kriterien die allein entscheidenden sind, diejenigen nämlich, welche
bei jener nachträglichen Untersuchung befragt werden mußten. Evidenz-
erlebnisse können das nicht wieder sein, denn es ist klar, daß man sich
sonst in einen Zirkel verstrickt. Damit aber ist die Behauptung Von der
Evidenz als letztem Kriterium aufgehoben. Es führen somit beide Alter-
nativen zum Widerspruch mit den Voraussetzungen der Lehre, und es
ergibt sich, daß die begriffliche Unterscheidung zwischen evidenter und
evidenzloser Gewißheit nur eine künstliche Konstruktion war, ersonnen,
um die Behauptung aufrecht erhalten zu können, daß jede Wahrheit
durch ein spezifisches untrügliches Evidenzerlebnis sich uns ankündige.
Auf keinem Gebiete sind so verkehrte Anschauungen über das Wesen
der Evidenz zutage getreten, wie bei der Frage nach der Gültigkeit der
, .Axiome". Sie werden in der philosophischen Literatur oft als ,, un-
mittelbar evident" bezeichnet, als Urteile, welche die Bürgschaft ihrer
Wahrheit ,,in sich selbst" tragen. Wenn es aber überhaupt erlaubt ist,
von derartigen Urteilen zu reden, so gehören die sogenannten Axiome
sicherlich nicht dazu. Man könnte vielleicht elementare Wahrnehmungs-
urteile dazu rechnen, wie ,,dies ist blau", ,,dies Gefühl ist lustvoU" —
bedenkt man aber, daß man sich von der Wahrheit eines Urteils doch
nur überzeugen kann, wenn man sich die Bedeutung der darin auftretenden
Begriffe restlos vergegenwärtigt hat, so wird man es schwer finden, den
Axiomen ,, unmittelbare" Evidenz zuzuschreiben. Denn die Begriffe, von
denen die Axiome handeln, sind gerade die fundamentalsten, sie stehen
*) Vgl. z. B. Höfler, Grundlehren der Logik. 4. Aufl. 1907. S. 82.
Von der Evidenz. 131
in den größten Höhen der Abstraktion. Man denke an den Satz des
Widerspruchs, an den Kausalsatz. Wie außerordentlich beziehungsreich
sind die Begriffe, die in diesen Sätzen verknüpft, oder genauer gesprochen,
erst durch sie bestimmt werden. In Beziehungen besteht ja das Wesen
der Begriffe, und es bedarf um so komplizierterer Prozesse zu ihrer Ver-
gegenwärtigung, je abstrakter sie sind, je weiter sie vom Anschaulichen
sich entfernen. Was für mannigfach verschlungene Verhältnisse müssen
überblickt werden, um z. B. den Begriff der Ursache zu denken! Wie
kühn ist also die Behauptung, der Kausalsatz sei ,, unmittelbar evident"!
Um manchen Schwierigkeiten der Lehre von der Evidenz zu ent-
gehen, hat man sie, wie wir schon im Vorübergehen erwähnten, der Sphäre
des Psychologischen, also Subjektiven, zu entrücken und ihr Objektivität
zu verleihen gesucht, indem man erklärte, die Evidenz sei gar nicht ein
bloßes Gefühl, ein subjektives Erlebnis, durch das sich die Wahrheit eines
Satzes dem Urteilenden direkt ankündige; sie sei vielmehr eine Eigen-
schaft des Urteils als eines idealen Gebildes selber, die nun in den realen
Denkakten entweder erfaßt oder nicht erfaßt würde. Im letzteren Falle
käme eben eine Täuschung zustande.
Man sieht sofort, daß mit solchen Behauptungen die Theorie sich
immer mehr von ihrem Anfang entfernt und ihre ursprüngliche Aufgabe
gar nicht mehr erfüllen kann. Ihr Sinn ist dann in dürren Worten der,
daß einem Urteil außer seiner Wahrheit auch noch ein besonderes Kenn-
zeichen der Wahrheit zukommt. Für manche fällt dann überhaupt beides
zusammen, die Evidenz ist dann nicht mehr bloß Kriterium, sondern
Wesen der Wahrheit; andere unterscheiden beides, berauben aber damit
ihr Evidenzgebilde jeder Funktion und jeder Bedeutung, denn was soll
uns die Feststellung der Evidenz, wenn wir die Wahrheit eines Urteils
direkt am Vorhandensein ihrer wesentlichen Merkmale konstatieren
können.? Und die skeptischen Einwände, die wir soeben gegen ein
spezifisches Evidenzgefühl geltend machten, bleiben prinzipiell bestehen,
nur richten sie sich nunmehr nicht mehr gegen jene Evidenz als Urteils-
eigenschaft selbst, sondern gegen ihre Beziehung zu den subjektiven
Erlebnissen, die uns doch von ihrem Vorhandensein Kunde geben müssen.
In allen Fällen aber wird der fundamentale Fehler gemacht, daß die
Wahrheit und das Kennzeichen der Wahrheit gedacht werden als etwas
am einzelnen Urteil selber Haftendes, ohne Rücksicht auf andere Urteile
und auf Wirklichkeiten. Nun aber ist ganz gewiß — es bildete einen
wichtigsten Punkt unserer Untersuchung des Wahrheitsbegriffes (siehe
oben I, § 10), würde aber durch jede unbefangene Besinnung ohne weiteres
anerkannt werden, — daß Wahrheit nicht eine immanente Eigenschaft
des Urteils ist, sondern daß ihr Wesen ganz allein besteht in den Be-
ziehungen des Urteils zu etwas außer ihm (nämlich bei Begriffs-
■ Sätzen in Beziehungen zu anderen Urteilen, bei Realbehauptungen außer-
dem noch in Beziehungen zur Wirklichkeit, und immer in solchen, daß
eine eindeutige Zuordnung erreicht wird).
9*
132 Denkprobleme.
Die Erlebnisse also, durch welche die Wahrheit konstatiert wird,
können niemals lediglich mit dem ,, evidenten" Urteil selbst zusammen-
hängen, sondern müssen sich anschließen an eine Betrachtung seiner Be-
ziehungen zu etwas anderem, seines Platzes innerhalb eines Zusammen-
hanges (siehe oben S. 62). Bei solcher Konstatierung treten nun be-
stimmte Bewußtseinsdaten auf, die man natürlich auch fernerhin als
Evidenzgcfühle bezeichnen mag; nur muß man über ihr Wesen klar sein
und darf ihre erkenntnistheoretische Bedeutung nicht falsch einschätzen.
Welches aber ihre wahre Natur ist, wird sich uns alsbald noch näher
herausstellen (unten § 20).
19. Die sogenannte innere Wahrnehmung.
So finden wir die Evidenzlehre voller Unstimmigkeiten und Wider-
sprüche. Und wir kennen bereits das nQd>TOV ipevdog aller dieser Wirrungen:
wer die Worte ,, Evidenz" und ,, Einleuchten" gebraucht, spricht und
denkt so, als stünde das Bewußtsein den Wahrheiten und den eigenen
Bewußtseinstatsachen schauend gegenüber (so sagt z. B. Stumpf^):
,, Unmittelbar gegeben nennen wir, was als Tatsache unmittelbar ein-
leuchtet"), und dann bedarf es freilich eines besonderen Kriteriums dafür,
daß auch richtig geschaut wird. Dies soll dann eben die Evidenz sein.
Natürlich konnte man sich nicht verhehlen, daß die eigenen Denkprozesse
für das Bewußtsein doch keine fremden Tatsachen sind, sondern zu ihm
selber gehören; dennoch fuhr man fort, sie vom Subjekt oder Ich ge-
schieden zu denken, um sie dann sofort wieder innig mit ihm zu verbinden
durch einen Akt, der ganz analog dem Akte sein soll, durch welches man
sich eine Gemeinschaft des Bewußtseins mit Dingen außer ihm hergestellt
denkt: dem Akte der Wahrnehmung. Auf diese Weise gelangte man zu
dem Begriff der ,, inneren Wahrnehmung". Durch sie soll das Ich seinef"
eigenen Zustände inne werden, wie es durch die äußere Wahrnehmung der
Außendinge inne wird. Da dies durch Vermittlung der Sinnesorgane ge-
schieht, so sprach man in Weiterführung der Analogie gar von einem
,, inneren Sinn", und es ist bekannt, daß dieser Begriff in der KANx'schen
Philosophie eine nicht unwesentliche Rolle spielt. Dennoch ist der Begriff
der inneren Wahrnehmung neben dem Begriff der ,, Erscheinung" (und in
der Tat eng mit ihm zusammenhängend — im Teil III sprechen wir
davon — ) einer der unglücklichsten, den das philosophische und das
psychologische Denken je geprägt hat. Viel unnützes Kopfzerbrechen und
zahlreiche Scheinprobleme bösartiger Natur hat diese Begriffsmißbildung
verschuldet.
Es ist nützlich, einen kurzen Blick auf den Kampfplatz der Mei-
nungen zu werfen; wir werden um so größere Freude an einem Stand-
^) Erscheinungen und psychische Funktionen. Abhandlungen der Kgl. Preuß,
Akad. d. Wiss. 1906. S. 6.
Die sogenannte innere Wahrnehmung. 133
punkt haben, der uns von vornherein jenseits der verwirrenden Schwierig-
keiten stellt.
Der eifrigste Streiter für die Evidenz und die innere Wahrnehmung,
Brentano, erklärt die letztere für schlechthin evident ^) im Gegensatz
zur äußeren, die ja bekanntlich trügerisch sein kann. Der ersteren wohne
das Wahrgenommene unmittelbar inne, der letzteren sind ihre Gegen-
stände nur mittelbar mit Hilfe der Sinnesorgane gegeben. Nun hat man
aber mit Recht darauf hingewiesen, daß äußere Wahrnehmungen den
Namen Sinnestäuschungen eigentlich nicht mit Fug führen, sondern ihren
Grund in falschen Deutungen, Beurteilungen der Sinnesdaten haben.
Diese selbst sind weder richtig noch falsch, nur wir irren uns bei ihrer
Interpretation. Mit Rücksicht darauf, daß bei der inneren Wahrnehmung
doch auch eine Interpretation hinzukomme, hat man dann geschlossen,
daß an dieser Stelle doch kein wesentlicher Unterschied der beiden Arten
zu konstatieren sei. Und die einen, welche die Interpretation mit in den
Wahrnehmungsakt einbeziehen, behaupten daher, die innere Wahrnehmung
sei ebenso trügerisch wie die äußere; die andern dagegen, welche die
eigentliche Wahrnehmung von den anschließenden Akten der Inter-
pretation und Assimilation sondern, verfechten ganz konsequent die An-
sicht, die äußere Wahrnehmung als solche sei ebenso evident und un-
trüglich wie die innere. Durch solche Erwägungen hat z. B. Husserl
die Unhaltbarkeit der Auffassung Brentano's richtig erkannt; aber er
wagt sich nicht so weit, das ganze Problem als falsch gestellt abzulehnen,
sondern sucht es durch Einführung einer neuen Unterscheidung aufzulösen
und bleibt damit ganz in den alten Bahnen. Er findet nämlich 2) ,,das
Wesen der erkenntnistheoretischen Differenz, die man zwischen der inneren
und äußeren Wahrnehmung gemacht hat", in dem Gegensatz zwischen
,, adäquater" und ,, inadäquater" Wahrnehmung. ,,Im ersten Falle ist der
empfundene Inhalt zugleich Gegenstand der Wahrnehmung. Der
Inhalt bedeutet nichts anderes, es sei denn sich selbst. Im zweiten Falle
treten Inhalt und Gegenstand auseinander. Der Inhalt repräsentiert, was
in ihm selbst nicht oder nicht ganz liegt, was ihm aber ganz oder teil-
weise analog ist". Ich meine, daß es im ersten Falle gar keinen Sinn
hat, überhaupt von einer Wahrnehmung zu reden. Der Inhalt i s t ein-
fach .da, und damit ist alles erledigt. Der Begriff der adäquaten Wahr-
nehmung scheint mir mindestens ebenso gefährlich und unglücklich wie
derjenige der inneren Wahrnehmung; er hat nur Sinn und Platz in philo-
sophischen Systemen (und findet sich in der Tat nur in solchen), die den
Begriff der intuitiven Erkenntnis verkünden und die reine Wahrnehmung
zur Erkenntnis stempeln wollen. Alles aber, was in diesen Gedanken-
kreis gehört, ist bereits so ausführlich besprochen (siehe oben I, § ii),
daß es hier keines weiteren Wortes mehr darüber bedarf.
^) Psychologie. S. 184.
2) Logische Untersuchungen. II. S. 711.
134 Denkprobleme.
Es ist interessant zu sehen, wie die Verteidiger der inneren Wahr-
nehmung durch die skeptischen Versuche, sie mit der äußeren auf eine
Stufe zu stellen, beunruhigt werden und den festen Halt wieder zu ge-
winnen trachten, um dessen willen die ganze Lehre überhaupt aufgestellt
wurde. Sie machen große Anstrengungen zur Rettung der Evidenz der
inneren Wahrnehmung, denn sonst verliert die ganze Theorie ihre Berech-
tigung. Besonders Hugo Bergmann ^) hat sich bemüht, diese Aufgabe
zu lösen. In seiner scharfsinnigen Verteidigung bekämpft er unter anderem
auch in speziellerer Form (in Bemerkungen, die sich gegen H. Cornelius
und G. Uphues richten) die Ansicht, zu der unsere Untersuchung ge-
führt hat, daß nämlich die Frage nach der Evidenz der inneren Wahr-
nehmung falsch gestellt ist, weil es eine solche Wahrnehmung gar nicht
gibt. Es ist hier nicht nötig, auf die Widerlegung seiner Argumente aus-
drücklich einzugehen, sie ergibt sich von selbst aus der Begründung
unseres eigenen Standpunktes; ja, von die-sem Standpunkt aus gesehen,
verwandeln sich Bergmann's Argumente für die Evidenz der
inneren Wahrnehmung geradezu in solche gegen die Existenz
derselben ^). Sie legen uns, ihrem wahren Kerne nach, nur die schlecht-
hinige Tatsächlichkeit des Gegebenen dar, und so können wir aus schein-
baren Einwänden lehrreiche Bestätigungen entnehmen.
Sehr hartnäckig wehrt sich gegen unsere These von der Unmöglich-
keit der Unterscheidung zwischen einem Bewußtseinsinhalt und seinem
Wahrgenommenwerden die experimentelle Psychologie, indem sie auf die
wohlbekannte immer von neuem erfahrene Unsicherheit der sogenannten
Selbstbeobachtung hinweist. Comte hat bekanntlich ganz konsequent
ihre Möglichkeit überhaupt geleugnet, aber dazu will man sich nicht mehr
verstehen. Külpe sagt folgendes über unser Problem'): ,,.... selbst
für die unmittelbar gegenwärtigen Erlebnisse darf die Einheit des Bewußt-
seins mit seinem Gegenstande nicht uneingeschränkt behauptet werden.
Tatsachen, wie die eben merkliche Empfindung und der eben merkliche
Unterschied von Empfindungen z. B. weisen darauf hin, daß es Empfin-
dungen und Empfindungsunterschiede gibt, die wir nicht merken, von
denen wir nichts wissen". Seit Leibniz in seiner Lehre von den ,,petites
perceptions" solche Denkwege einschlug, haben Betrachtungen, wie diese,
an Bedeutung eher gewonnen als verloren. Sie spielen eine große Rolle
bei dem Problem des unbewußt Psychischen, welches aber in Wahrheit
gar kein Problem, sondern nur eine Frage der Terminologie, höchstens
der Methode ist.
*) Untersuchungen zum Problem der Evidenz der inneren Wahrnehmung.
Halle 1908.
*) Das gleiche gilt von Brentano's eigenen Ausführungen in seiner Psychologie.
Er unterscheidet von der inneren Wahrnehmung (unserem bloßen ,, Gegebensein")
die innere Beobachtung und erklärt letztere mit Recht für nichtexistierend. Auch in
der Ablehnung des Unbewußten verfährt er konsequent.
') Die Philosophie der Gegenwart in Deutschland. 3. Aufl. S. 112.
Die sogenannte innere Wahrnehmung. 135
Besonders lehrreich sind die Ausführungen von Stumpf, der für die
Existenz unbemerkter und unmerklicher i) Bewußtseinsinhalte eintritt.
Er bespricht das Beispiel eines Dreiklanges, der einmal als einfache Qualität
gehört, ein anderes Mal aber bei größerer Aufmerksamkeit mehr oder
weniger deutlich in seine Bestandteile auseinander gelegt wird. Waren
diese Bestandteile im ersten Fall etwa nicht da.? Stumpf erscheint eine
solche Annahme unmöglich und er hält den Schluß für zwingend, daß
die einzelnen Töne (als psychische Qualitäten natürlich) allemal in dem
Akkord wirklich vorhanden sind, aber nur unter besonderen Umständen
bemerkt (bewußt) werden. Er verteidigt sich gegen den Einwand, daß
seine Ansicht eine unerlaubte ,,Verdinglichung" der psychischen Inhalte
mit sich bringe, durch folgende Worte ^): ,,Aber wäre es auch wirklich
eine bloße Annahme, warum sollte sie unerlaubt sein.'' Man hat es neuer-
dings auch dem Chemiker als Fehlschluß der Verdinglichung angerechnet,
daß er in die Kohlensäure die beiden Stoffe hineinverlege, die er nachher
daraus gewinnt aber einer verkehrten Denkweise braucht sich
der Chemiker nicht beschuldigen zu lassen."
Jedoch gerade in diesem Fall erscheint der Vergleich des Psychologen
mit dem Chemiker wohl nicht zutreffend. Denn die Kohlensäure ist nicht
etwas unmittelbar Gegebenes, sondern ein irgendwie hinter oder außer
den gegebenen Empfindungen angenommenes Substrat, welches das Ge-
gebene verständlich machen soll .... oder, wenn man will, ein Begriff,
der gewisse Zusammenhänge des Gegebenen bezeichnet. Und das gleiche
gilt vom Sauerstoff und Kohlenstoff. Alle drei können und müssen ge-
danklich so bestimmt, ihre Merkmale müssen so definiert werden, daß sie
nach den Regeln der Wissenschaft am besten ihre Aufgabe erfüllen, zu
deren Lösung die Begriffe des Sauerstoffes, des Kohlenstoffes und der
Kohlensäure überhaupt aufgestellt wurden. Ganz anders mit den Bewußt-
seinsdaten. Ein gehörter Akkord ist nicht ein transzendentes Ding, über
dessen Eigenschaften und Bestandteile je nach den Erfordernissen der
Erklärung diese oder jene Annahmen gemacht werden können, er ist
nicht ein Begriff, den wir so oder so definieren können, sondern er ist
undefinierbar, etwas schlechthin Seiendes, in seinen Bestimmungen unserer
Willkür und unseren Bedürfnissen gänzlich Entzogenes, an ihm kann
nicht gedeutelt werden, ich kann keine Hypothese über seine Zusammen-
setzung machen: denn alles dies kann ich nur bei Gegenständen, die nicht
unmittelbar gegeben sind. Das Gegebene ist das schlechthin Wirkliche,
welches allen unseren Annahmen voraus geht. Annahmen sind nur zu-
lässig über das Unbekannte. Es hat überhaupt keinen Sinn, Annahmen
zu machen über die Beschaffenheit des schlechthin Bekannten; es ist kein
Platz für sie da. Wenn beim Hören eines Akkordes das eine Mal ein ein-
heitlicher Klang empfunden wird, das andere Mal mehrere Töne in ihm
gehört werden, so ist der erlebte Dreiklang, dies unmittelbar gegebene
*) Erscheinungen und psychische Funktionen. S. 34.
*) a. a, O. S. 20.
136 Denkprobleme.
Gebilde, in beiden Fällen eben ein anderes; die Erlebnisse, die das
erste Mal da sind, sind verschieden von denen, die das zweite Mal
da sind.
Man kann nun diese Verschiedenheit des Gesamterlebnisses, welche
schlechthin Tatsache ist und sich nicht hinweginterpretieren und als
Schein erklären läßt, zwar so deuten, daß man sagt, die Empfindungen
selber seien in beiden Fällen die gleichen, es fehlten aber in dem einen
Falle gewisse psychische Akte, die in dem andern hinzuträten und dann
mit den Empfindungen zu einem andersartigen Erlebnis verschmölzen.
Diese Auffassung ist aber nicht notwendig, nicht die einzig mögliche,
man kann ebensogut auch die Empfindungen selber in beiden Fällen
als verschieden annehmen. Daß der Klang als physikalischer Vorgang
beide Male derselbe ist, will natürlich gar nichts besagen, denn derselbe
Reiz löst ja im allgemeinen ganz verschiedene Empfindungen aus je nach
dem Zustande, in dem er das Subjekt antrifft. Im Zustande gespannter
Aufmerksamkeit können die Empfindungen nebst ihren physiologischen
Korrelaten sehr wohl andere sein als sonst. Die Hypothese, welche die
Verschiedenheit beider Fälle auf das Hinzutreten eines besonderen psychi-
schen Aktes zurückführen will, erscheint mir ganz unannehmbar, wenn
man diesen Akt mit Stumpf als ein bloßes Bemerken auffaßt. 'Be-
merktsein ist identisch mit bewußtsein und kann nicht wohl als eine be-
sondere Funktion des Bewußtseins betrachtet werden, sondern es ist selbst
Bewußtsein, es kann niemals zur Erklärung des Unterschiedes zweier
Zustände des Bewußtseins dienen ^).
Das Streben, in verschiedenen psychischen Gebilden dieselben Ele-
mente unverändert wiederzufinden, das eine Mal unbemerkt, das andere
Mal bewußt, ist wohl noch ein Überrest atomistischer Denkweise in der
Psychologie, in welche selbst Denker verfallen, die sie sonst ausdrücklich
verurteilen. Wir können nur sagen: der als Einheit gehörte Dreiklang ist
etwas anderes als der analysierte; sobald wir behaupten, der erstere sei
aus denselben Empfindungen zusammengesetzt wie der letztere, sind wir
in den psychologischen Atomismus verfallen, welcher fn der Tat eine
,, unerlaubte Verdinglichung" begeht, indem er verschiedene Bewußt-
seinsgebilde ansieht als mosaikartig aus unveränderten Elementen zu-
sammengesetzt.
Diese Betrachtungsweise ist streng genommen nie erlaubt. Der Strom
des Bewußtseins ist ein wahres heraklitisches Fließen, jeder Bewußtseins-
zustand ist eine Einheit und nicht im echten Sinne analysierbar wie eine
chemische Verbindung, deren einzelne Komponenten auch unabhängig
voneinander Bestand haben. Man hat dies wohl öfters bemerkt, selten
aber so eindringlich hervorgehoben und durchgeführt wie Cornelius, mit
^) Vgl. zu der Frage die trefflichen Ausführungen von K. Koffka, Probleme
der experimentellen Psychologie in Heft i und 2 des Jahrgangs 191 7 der Zeitschrift
„Die Naturwissenschaften".
Die sogenannte innere Wahrnehmung. 137
dessen Ansichten über die in diesem Paragraphen besprochenen Dinge ich
mich im ganzen überhaupt in vorzüglicher Übereinstimmung befinde.
Nicht genug beherzigt werden kann die Wahrheit, die er in den Sätzen
ausspricht^): „Wirklich läßt sich an irgend einem gegebenen Bewußt-
seinsinhalte nichts analysieren, ohne daß an die Stelle dieses Bewußt-
seinsinhaltes etwa Neues träte : sobald wir durch unsere Analyse eine
Erkenntnis gewinnen, welche uns nicht eo ipso bereits in dem gegebenen
Bewußtseinsinhalte gegenwärtig war, hat unsere Analyse diesen Inhalt
durch etwas anderes, davon Verschiedenes ersetzt".
Wir finden unsere Auffassung noch bestätigt, wenn wir beachten,
wie Stumpf dem auf der Unzerlegbarkeit einheitlicher psychischer Ge-
bilde fußenden Einwand zu begegnen sucht, um so die Berechtigung
seiner Unterscheidung zwischen den Empfindungen und ihrem Bemerkt-
werden noch sicherer zu stellen. Er weist auf ein Analogon hin 2):
,, Farbe und Ausdehnung bilden untereinander gleichfalls ein Ganzes, in
welchem sie nur durch Abstraktion auseinander gehalten werden können.
Wollte nun einer schließen: ,also kann Ausdehnung nicht ohne Farbe
vorkommen', so wäre dies gleichwohl ein Fehlschluß. Tatsächlich zeigt
uns der Berührungssinn, daß Ausdehnung ohne Farbe, wenn auch nicht
ohne ein qualitatives Element überhaupt, vorkommt. Und daß diese
Ausdehnung etwa eine Ausdehnung in ganz anderem Sinne wäre, läßt
sich durch nichts beweisen".
Nun werden wir aber später (vgl. unten Teil III, § 28) zwingende
Gründe dafür kennen lernen, daß tatsächlich das Wort ,, Ausdehnung"
etwas ganz Verschiedenes bedeutet, wenn es auf die Daten verschiedener
Sinne angewandt wird. Es wäre nicht praktisch, diese Gründe hier vor-
wegzunehmen; sie machen es aber unmöglich, die Ausdehnung z. B. einer
Farbe und diejenige eines Tasteindruckes als identische psychische Data
zu betrachten. Im Hinblick auf dies Resultat ergibt sich denn, daß die
Betrachtungen Stumpf's die Möglichkeit der Unterscheidung zwischen
der Empfindung und ihrem Bemerktwerden nicht beweisen. Natürlich
ist damit nichts gesagt gegen die Statuierung der psychischen Funk-
tionen als einer besonderen Klasse der Erlebnisse überhaupt: diese er-
kennen wir in ihrer fundamentalen Bedeutung durchaus an (vgl. oben
S. 20); es muß nur geleugnet werden, daß es unter diesen Funktionen
eine gebe, die in dem Bemerken der Bewußtseinsinhalte besteht.
Es gibt eben keine innere Wahrnehmung.
Wenn man die Empfindung von ihrem Bemerktwerden so unter-
scheidet, daß sie auch dasein können, ohne daß ein Bewußtsein von ihnen
weiß, so sind das, was man hier als Empfindungen bezeichnet, eben trans-
zendente Gegenstände, die dem Bewußtsein gegenüberstehen, es vielleicht
affizieren, ganz analog wie man sich die äußere Wahrnehmung denken
^) Cornelius, Einleitung in .die Philosophie. 3. Aufl. 1911. S. 313 f.
") Stumpf, Erscheinungen und psychische Funktionen. S. 13.
138 Denkprobleme.
kann als eine Affektion des Bewußtseins durch Dinge an sich. Das sind
unausweichliche Konsequenzen der besprochenen Lehre, die natürlich als
eine metaphysische charakterisiert werden muß. Wer sie annimmt, redet
von Empfindungen in demselben Sinne, wie man von einem Ding an sich
reden kann, welches der Wahrnehmung eines Tisches zugrunde liegt. Sie
sind unbewußt in demselben Sinne, in welchem physische Dinge un-
bewußt sind. Damit ist man denn bei dem Begriff des unbewußten Psychi-
schen angelangt. Unsere letzten Darlegungen zeigten, daß der Weg, der
zu diesem Begriffe führte, unbeschreitbar ist. Aber gibt es vielleicht andere
Wege zu ihm.''
Es läßt sich zeigen, daß es nur durch eine unzweckmäßige Ter-
minologie möglich ist, mit dieser Wortkombination einen annehmbaren
Sinn zu verbinden. Wir haben bisher immer, und werden es weiter tun,
die Worte ,, psychisch", ,, bewußt", ,, unmittelbar gegeben", völlig gleich-
bedeutend verwandt, und für uns wäre es daher ein Widerspruch, von
einem u n bewußt Psychischen zu reden. Dies darf man nur, wenn man
unsere Terminologie aufgibt und ,, bewußt" und ,, psychisch" nicht gleich-
setzt; dann aber dürfte es unüberwindliche Schwierigkeiten bereiten, den
Begriff des Psychischen überhaupt eindeutig abzugrenzen. Denn ver-
gebens sucht man nach einem Merkmal, welches dann noch für das
Psychische allein charakteristisch wäre. Meist glaubt man , als ein
solches Merkmal die ,,Unräumlichkeit" benutzen zu können und definiert
demgegenüber das Physisphe als das Räumliche; wir werden aber sehen
(§ 31), daß dies unmöglich ist. Auch andere Versuche, den Begriff des
Psychischen auf Unbewußtes auszudehnen, lassen sich nicht durchführen.
Später kommen wir noch darauf zurück, wenn wir uns mit der Definition
des Physischen und mit den Scheinproblemen seines Verhältnisses zum
Psychischen zu beschäftigen haben.
Wir kehren zu der ,, inneren Wahrnehmung" zurück. Es soll nicht
vergessen werden, daß man von einer solchen auch in einem etwas anderen
Sinne gesprochen hat, welcher nicht so leicht anzufechten ist. Die an
irgendein Gegebenes sich anschließenden Apperzeptionsprozesse, durch
welche, wie man sich auszudrücken pflegt, jenes Erlebnis verarbeitet wird,
sind nämlich gelegentlich auch als innere Wahrnehmung des Erlebnisses
bezeichnet worden. So ungefähr stellt z. B. Dürr die Sache dar ^). Er
definiert zwar zunächst die innere Wahrnehmung als ,,das unmittelbare
Erfassen von Bewußtseinsvorgängen", und das können wir natürlich gar
nicht billigen, aber er betont dann ausdrücklich, daß die innere Wahr-
nehmung eines Gegebenen aus Prozessen bestehe, die zeitlich auf jenes
folgen. Sie sei ,, etwas, was durch das Erlebnis nur angeregt wird" ^).
Nennt man Derartiges innere Wahrnehmung, so richtet sich gegen sie
unsere Polemik nicht, man gerät damit nicht notwendig in Schwierig-
*) Erkenntnistheorie, 1910, besonders S. 33.
») Ebenda. S. 34-
Die sogenannte innere Wahrnehmung. 139
keiten, denn gegen den richtig verstandenen Apperzeptionsbegriff läßt
sich ja nichts einwenden. Dennoch erscheint es mir schlecht angebracht,
diesem Prozeß den Namen der inneren Wahrnehmung zu verleihen, denn
erstens haben wir ja bereits den Terminus Apperzeption dafür, und
zweitens legt der Gebrauch des Ausdruckes Wahrnehmung die verkehrte
atomistische Vorstellung nahe, als sei das ,, wahrgenommene" Erlebnis in
dem apperzeptiven noch unverändert enthalten, nur etwa von neuen Vor-
stellungsmassen umgeben und werde von diesen gleichsam beschaut. In
Wirklichkeit ist aber doch das Apperzeptionserlebnis etwas Neues
gegenüber dem ursprünglich Gegebenen (dem Perzeptionserlebnis) ; dieses
läßt sich nicht aus jenem herausanalysieren und von dem Rest abtrennen*).
Ganz unbefriedigend scheint mir aber die Wendung zu sein, welche
KÜLPE der Apperzeptionslehre gibt, wenn er sagt 2): ,, Einen psychischen
Vorgang erleben, wahrnehmen, ein Bewußtsein von ihm haben und
ihn apperzipieren sind hiernach gleichbedeutende Ausdrücke". Damit
wird der Unterschied zwischen perzipierten und apperzipierten Bewußt-
seinsdaten, welcher den ursprünglichen Sinn der Lehre bildete, überhaupt
aufgehoben, denn ein bloß perzipierter Inhalt wäre dann noch gar nicht
bewußt, nur Unbewußtes -würde apperzipiert und eben dadurch ins Be-
wußtsein erhoben. Hier haben wir also ganz den Standpunkt vor uns,
zu dessen Erschütterung wir alle diese Betrachtungen einschieben mußten:
jenseits des Bewußtseins (denn sie sind ja noch unbewußt) existieren
psychische Elemente, und erst durch einen besonderen Prozeß, durch
das Erleben, das Wahrnehmen, das Apperzipieren, ergreift das Bewußt-
sein von ihnen Besitz. Dies soll sogar in geringerem und höherem Grade
geschehen können. Külpe unterscheidet nämlich fünf verschiedene Be>
wußtseinsstufen und hält ihre Existenz für experimentell bewiesen ^). Es
ist aber wohl zu beachten, daß dies Ergebnis keineswegs direkt aus dem
Versuch abgelesen werden kann, sondern eine Deutung des Experimentes
darstellt: eine Reihe verschiedener Erlebnisse wird interpretiert als ein
und derselbe Inhalt in verschiedenen Bewußtseinsweisen. Es liegt aber
auf der Hand, daß man auch sagen kann — und nach unseren Darlegungen
*) Einen ähnlichen Weg, sinnvoll von innerer Wahrnehmung zu sprechen, öffnet
sich auch R. Herbertz. Er sagt (Prolegomena zu einer realistischen Logik, S. 190):
,,Die Bewußtseinsvorgänge sind uns, indem wir sie erleben und dadurch, daß wir sie
erleben, keineswegs zugleich auch unmittelbar gegeben. Erst in besonderen Akten
psychischen Erfassens .... müssen wir uns ihr Dasein reflexiv zum Bewußtsein
bringen. Erst als Gegenstände der Selbstwahrnehmung sind sie uns dann ,gegeben' ".
In diesen Sätzen wird das Wort ,, gegeben" in einem ganz anderen Sinne gebraucht
als wir es hier getan haben (vgl. oben S. 122 Anm.), und deshalb ist der Sinn, in dem
Herbertz von Selbstwahrnehmung spricht, nicht identisch mit dem, den wir verwerfen
mußten. Die innere Wahrnehmung kann vielmehr in den zitierten Sätzen, wie bei
Dürr, hIs Apperzeption verstanden werden, und dann hat sie mit unserm vorliegenden
Problem nichts zu tun.
2) Die Philosophie der Gegenwart. 3. Aufl. S. 113.
^) Die Realisierung. 1912. Bd. I. S. 56 f.
140 Denkprobleme.
allein sagen darf: es waren eben differente Inhalte da. Denn Er-
lebnis und Inhalt des Erlebnisses sind ein und dasselbe. Gerade dieser
Art von Fragen steht überhaupt das psychologische Experiment machtlos
gegenüber, weil ihre Lösung bei der Interpretation jedes Versuchs immer
schon vorausgesetzt werden muß. Betrachten wir als Beispiel den (von
KÜLPE mit Vorliebe zitierten) Fall, daß eine Versuchsperson nach Vor-
legung einer gezeichneten Figur wohl die Gestalt, nicht aber die Farbe
derselben anzugeben vermag. Nun muß aber jede Gesichtswahrnehmung
doch irgendeine Qualität haben, sie muß etwa schwarz, grau oder farbig
sein, und so will man denn schließen, daß die Versuchsperson wohl eine
Farbenempfindung gehabt habe, aber nicht im Bewußtsein. Dieser Schluß
ist aber schon aus dem Grunde hinfällig, weil das Referat über ein
Erlebnis immer erst diesem nachfolgt. Muß während des Erlebnisses
eine Farbenempfindung vorhanden gewesen sein, die während des Referates
nicht mehr da ist, und an die auch keine Erinnerung existiert, nun, so
liegt eben der Tatbestand vor, den man als Vergessen bezeichnet,
und es kann aus Versuchen der erwähnten Art weiter gar nichts geschlossen
werden, als daß Bewußtseinsdaten unter den geschilderten Umständen so
flüchtig sein können, daß sie keine Erinnerungsdispositionen zurück-
lassen und auf der Stelle wieder vergessen werden.
Die Wurzeln der Denkweisen, die wir hier bekämpfen, liegen sehr
tief. Ruhen doch selbst die Ausdrucksformen unserer Sprache auf der
falschen Voraussetzung, daß zu jedem Erleben, zu jedem Bewußtsein
die Dreieinigkeit Ich, Akt, Gegenstand gehört, wie das Wahrnehmen die
Dreiheit Wahrnehmendes, Wahrnehmen und Wahrgenommenes voraus-
setzt. Daß auch der Ausdruck ,, Gegebenes", den wir hier immer ver-
wendeten, an dem gleichen Mangel leidet, wurde schon warnend erwähnt.
Noch weniger empfehlenswert dürfte es sein, statt von einem Gegebenen
gar von einem ,, Gehabten" zu sprechen ^); dieses Wort erinnert fast noch
deutlicher an den Gegensatz von Subjekt und Objekt. Das Cogito des
Descartes enthält, wie früh bemerkt wurde, den Fallstrick einer Unter-
scheidung zwischen einem substantivischen Ich und seiner Tätigkeit, über
den auch Descartes gestolpert ist, indem er hinzufügte: ergo sum, denn
dieses sum bedeutet für ihn, wie sich bald zeigt, die Existenz eines sub-
stantiellen Ich. Lichtenberg's wahre Bemerkung, Descartes hätte statt
,,ich denke" nur sagen dürfen: ,,es denkt", ist nicht nur ein geistreicher
Einfall, sondern sollte eigentlich zum obersten Prinzip der Psychologie
gemacht werden. Wir reden in dieser Wissenschaft immer so (und die
Sprache gestattet es kaum anders), als wäre das Bewußtsein eine Schau-
bühne, in welche die einzelnen psychischen Elemente eintreten, nachdem
sie sich vielleicht gar irgendwo hinter den Kulissen aufgehalten haben
um dann vom Ich (vermöge seiner ,, Spontaneität", wie Kant verschlim-
mernd hinzufügte) verknüpft oder getrennt zu werden, oder wie die Aus-
^) Wie dies z. B. Driksch gern tut. Die Logik als Aufgabe. 1913, passim.
Die Verifikation. 141
drücke sonst lauten mögen. • Als bildliche Sprechweise kann man solche
Worte gelten lassen, aber was sie beschreiben, ist nichts als der stetige
rastlose Wechsel der Qualitäten, den man den Strom des Bewußtseins
nennt ^). Jedes seiner Stadien ist ein neues und enthält keines der vorher-
gegangenen realiter in sich, mag es auch als Reproduktion oder Apper-
zeption eines früheren Erlebnisses bezeichnet werden. Der Bewußtseins-
strom ist ein schlechthin seiender Prozeß, das Ich ist sein einheitlicher
Zusammenhang, nicht eine Person, die ihn beschaut und lenkt. Und das
ausdrückliche Ichbewußtsein darf nicht aufgefaßt werden als ein den
Ablauf der Bewußtseinsprozesse ständig begleitendes Moment, sondern ist
nur e i n Inhalt unter anderen, der zuweilen unter besonderen Umständen
in ihm auftritt. Es ist eines der unschätzbaren Verdienste des Altmeisters
der modernen Psychologie, Wundt, den wahren Sachverhalt unbeirrt
immer von neuem hervorgehoben zu haben. Er kämpfte stets gegen die
,, falsche Unterscheidung des Bewußtseins von den Vorgängen, die seinen
Inhalt bilden sollen" *) und hat diesen Standpunkt mit energischer Konse-
quenz festgehalten. Manche Unklarheit und Unzulänglichkeit wäre ver-
mieden, wenn man seine Argumente nicht so unbekümmert beiseite ge-
schoben hätte.
20. Die Verifikation.
Da wir das Vorhandensein eines spezifischen Erlebnisses der ,, Evidenz"
verneinten, das uns die Wahrheit eines wahren Satzes untrüglich anzeigt,
taucht natürlich die Frage auf, an welchen Bewußtseinsdaten sich denn
nun eigentlich die Wahrheit erkennen läßt. Welches ist das Kriterium,
das uns ihrer versichert? Auf diese Frage haben wir bisher eine Antwort
nicht unmittelbar gegeben, wir sind aber im vollständigen Besitz der
Daten, die zu ihrer Lösung erfordert werden.
Denn da wir über das Wesen der Wahrheit Bescheid wissen und ihre
Eigenschaften kennen, so vermögen wir auch anzugeben, wie sich die
Wahrheit der Urteile für uns bemerkbar machen muß. Wahrheit kann
nur da sein, wo die Merkmale des Begriffes der Wahrheit entweder selbst
unmittelbar vorgefunden werden, oder solche Daten, die eine notwendige
Folge des Vorhandenseins dieser Merkmale sind. Nun ist aber die Wahr-
heit durch ein einziges, höchst einfaches Merkmal definiert: es ist die
Eindeutigkeit der Zuordnung der Urteile zu den Tatsachen. Ein Kriterium
der Wahrheit ist daher jedes Anzeichen, welches festzustellen gestattet,
ob eine solche Eindeutigkeit besteht oder nicht. Für das Stattfinden der
Eindeutigkeit gibt es aber wiederum zunächst nur ein unmittelbares
Kennzeichen: daß sich nämlich nur eine einzige Tatsache finden läßt, die
dem untersuchten Urteil zugeordnet ist, nach den feststehenden Regeln
der Bezeichnung.
^) Der Ausdruck stammt von William James.
*) Wundt, System der Philosophie. Bd. II. 3. Aufl. S. 138.
142 Denkprobleme.
Die Wissenschaften haben längst besondere Methoden entwickelt, um
die Eindeutigkeit der Bezeichnung von Tatsachen durch Urteile zu kon-
trollieren; es sind die Methoden der Verifikation. Sie spielen in
den Realwissenschaften eine gewaltige Rolle, denn diese Disziplinen bauen
sich in der Weise auf, daß sie ihre Urteile zuerst als Hypothesen auf-
stellen und dann durch Verifikationen erproben, ob durch sie eine ein-
deutige Bezeichnung erreicht wird. Ist dies der Fall, so gilt die Hypothese
als ein wahrer Satz.
Wir haben es in diesem Abschnitt allein mit Sätzen über Begriffe
zu tun, denn nur die von ihnen handelnden Fragen können ganz zu den
Denkproblemen gerechnet werden. Wir wollen aber die Frage der Veri-
fikation der Urteile über Wirklichkeiten gleich hier erledigen, weil dazu
gar keine Voraussetzungen über die Natur des Wirklichen nötig sind, die
uns erst im folgenden Abschnitt beschäftigen soll, und weil es umständ-
lich sein würde, die Frage später noch einmal abzuhandeln.
Jedes Urteil hat nur Sinn im Zusammenhang mit anderen Urteilen,
denn damit ein Satz Bedeutung habe, müssen ja außer ihm selbst mindestens
noch die Definitionen der Begriffe gegeben sein, die in ihm auftreten.
Bei Urteilen über Realitäten führen nun die Definitionen in letzter Linie
immer irgendwie auf anschaulich Gegebenes zurück, und zwar in den
Natur- wie in den Geisteswissenschaften meist auf sinnlich Wahrgenom-
menes. Es läßt sich deshalb jede Realbehauptung durch eine Kette von
Urteilen so mit unmittelbar gegebenen Daten in Verbindung setzen, daß
sie an ihnen geprüft werden kann. Es kann nämlich so eingerichtet werden,
daß das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein bestimmter Daten das
Kriterium für die Wahrheit oder Falschheit des Urteils abgibt. Und das
geschieht in folgender Weise.
Nehmen wir an, es sei eine beliebige Realbehauptung U zu veri-
fizieren. Man kann dann aus U ein neues Urteil Ui ableiten, indem man
ein anderes Urteil U' hinzufügt, welches so gewählt ist, daß U und U'
zusammen als Prämissen eines Syllogismus dienen, dessen Konklusion
dann eben Uj ist. Dieses U' kann nun erstens wiederum eine Realbehaup-
tung sein, oder zweitens eine Definition, oder drittens ein rein begrifflicher
Satz, von dem wir einstweilen annehmen, daß seine Wahrheit bereits
absolut feststeht. Aus Ui kann nun mit Hilfe eines neu hinzugefügten
Urteils U" ein weiteres, U2, abgeleitet werden, wobei für den 'Charakter
von U" dieselben drei Möglichkeiten bestehen wie für U'. Aus Uj und
einem neuen Urteil U'" ergibt sich ein Uj, und so kann es fortgehen, bis
man schließlich zu einem Urteil U^ gelangt, welches ungefähr die Form
hat: ,,Zu der und der Zeit, an dem und dem Orte wird unter den und den
Umständen das und das beobachtet oder erlebt". Man begibt sich zur
bestimmten Zeit an den bestimmten Ort, realisiert die bestimmten Um-
stände und beschreibt, d. h. bezeichnet die dabei gemachten Beobach-
tungen oder Erlebnisse durch ein Urteil W (Wahrnehmungsurteil), indem
man das Beobachtete oder Erlebte auf Grund von Wiedererkennungs-
Die Verifikation. 143
akten unter die zugehörigen Begriffe bringt und mit den dafür gebräuch-
lichen Worten benennt. Ist nun W mit U^ identisch, so bedeutet dies
die Verifikation von U„ und damit auch vom ursprüngUchen U.
Man findet nämhch, obwohl man Urteil und Tatsache auf zwei völlig
verschiedenen Wegen einander zugeordnet hat, daß doch ein und dasselbe
Urteil beide Male eine und dieselbe Tatsache bezeichnet; die Zuordnung
ist also eindeutig, das Urteil wahr. Da nun das letzte Glied der Urteils-
kette zu eindeutiger Bezeichnung führte, so erblickt man darin ein An-
zeichen dafür, daß auch die übrigen Glieder und mithin der Anfang und
Ausgangspunkt U die Bedingung der Wahrheit erfüllen und läßt den
ganzen Prozeß auch als eine Verifikation des letzteren Urteils gelten.
Streng genommen ist dieser Schluß freilich nur dann einwandsfrei,
wenn die Wahrheit jener hinzugefügten Urteile U', U" . . . . bereits für
sich feststeht. Dies wiederum ist von vornherein nur der Fall, wenn äie
U' Definitionen oder Begriffssätze sind, denn diese gewährleisten ja durch
ihre Entstehung selbst schon die Eindeutigkeit. Sind es dagegen Real-
behauptungen, deren Wahrheit nicht über allen Zweifel erhaben ist, so
beweist die Eindeutigkeit, wenn man am Ende des Verifikationsprozesses
richtig zu ihr geführt wird (also die Wahrheit von UJ, streng genommen
noch nicht die Wahrheit von U, denn durch Zufall kann es bekanntlich
eintreten, daß ein Schlußsatz richtig ist, obgleich unter den Prämissen,
aus denen er gewonnen wurde, sich eine oder mehrere falsche befinden.-
Da aber eine rein zufällige Bestätigung im allgemeinen sehr unwahrschein-
lich wäre, so verliert die Verifikation doch nicht ihren Wert. Sie bietet
zwar keinen absolut strengen Beweis für die Wahrheit von U, sondern
macht sie nur wahrscheinlich; dafür bedeutet sie aber zugleich eine Veri-
fikation für die sämtlichen Hilfssätze U', U" . . . ., denn auch die Wahr-
heit dieser Urteile macht sie wahrscheinlicher, und zwar aus denselben
Gründen, die für U gelten, denn jene stehen ja prinzipiell zu U^ in ganz
demselben Verhältnis wie U. Jeder einzelne von diesen Hilfssätzen wird
in der Praxis oder der Wissenschaft meist noch durch zahlreiche andere
Urteilsketten verifiziert; so stützen sich die einzelnen Ergebnisse gegen-
seitig, und die Eindeutigkeit der Zuordnung wird für jedes Glied des
ganzen Systems immer mehr sichergestellt.
An jedem beliebigen Beispiel aus den Wissenschaften läßt sich das
Gesagte veranschaulichen. Nehmen wir an, der Historiker ^) wolle sich
überzeugen, ob es wahr ist, daß irgendein bestimmtes Ereignis sich in der
überlieferten Weise abgespielt hat. Da werden ihm zunächst irgendwelche
Angaben eines Geschichtswerkes, sodann vielleicht gedruckte oder ge-
schriebene Berichte oder dokumentarische Aufzeichnungen über das Ge-
schehnis vorliegen, und diese müssen von Zeugen stammen, die auf mehr
oder weniger direktem Wege, oft durch viele Mittelpersonen hindurch,
^) An einer anderen Stelle (Vierteljahrsschr. f. wiss. Phil. XXXIV. S. 437 f.)
hatte ich zur Illustration ein Beispiel aus den Naturwissenschaften gewählt.
144 Denkprobleme.
von der Begebenheit Kenntnis erlangten. Der Forscher kann nun viel-
leicht aus den vorliegenden Daten den Schluß ziehen, daß unter den
Aufzeichnungen eines bestimmten Mannes, dessen die Quellen Erwäh-
nung tun, oder in der Chronik einer bestimmten Stadt, wahrscheinlich
eine Bemerkung über den fraglichen Vorgang zu finden sei, und er wird
versuchsweise den Satz (UJ aufstellen: ,,In dem und dem Archiv befindet
sich eine Urkunde mit den und den Angaben über jenes Ereignis". Wird
nun in dem Archiv eine solche Urkunde wirklich entdeckt, so kann genau
das gleiche Urteil (als W) auf Grund der anschaulichen Wahrnehmung
dieses Schriftstückes aufgestellt werden: dem gleichen Tatbestand ent-
spricht beide Male dasselbe Urteil, und alle Urteile der ganzen Schkiß-
kette gelten damit als verifiziert.
Diese Urteilsreihe ist in Wirklichkeit unübersehbar lang, kaum in
aller Vollständigkeit auszusprechen und hinzuschreiben. Eine gewaltige
Anzahl von Hilfssätzen U', U" ... ist in ihr enthalten, und die meisten
von ihnen werden niemals explicite erwähnt, weil man ihre Wahrheit
nicht bezweifelt, weil sie im Leben und Denken zu jeder Stunde von uns
vorausgesetzt und ebensooft bestätigt werden. Zu ihnen gehören z. B.
die Annahmen — um nur näher liegende zu nennen — , daß nicht sämt-
liche Zeugen durch Halluzinationen getäuscht wurden, daß Pergament
und Papier die Schriftzüge unverändert erhalten und nicht etwa mit der
Zeit in andere mit anderem Sinne verwandeln, und dergleichen mehr.
Sätze difeer Art gehen ausnahmslos in jeden Verifikationsprozeß ein.
Und weil sie sich in jedem Falle bestätigen, hegen wir einen so unerschütter-
lichen Glauben an ihre Wahrheit.
Die Erkenntnistheorie des Pragmatismus, der vor einiger Zeit nicht
unbeträchtliches Aufsehen in der philosophischen Welt erregte, rückte
diese Verifikationsprozesse in das Zentrum der Betrachtungen und be-
hauptete, daß in ihnen überhaupt das ganze Wesen der Wahrheit be-
stehe. Daß dieser Satz gänzlich unrichtig ist, wissen wir aus den Betrach-
tungen des ersten Teiles. Aber die Pragmatisten (Peirce, James, Dewey
in Amerika, F. C. S. Schiller in England u. a.) erwarben sich doch
dadurch ein echtes Verdienst, daß sie ausdrücklich darauf hinwiesen, daß
es (zunächst für Realbehauptungen) überhaupt keinen anderen Weg zur
Konstatierung der Wahrheit gibt, außer der Verifikation. Dies
ist in der Tat von großer Wichtigkeit. Wir fügen noch das gleichfalls
wichtige Ergebnis hinzu, daß die Verifikation immer hinausläuft auf die
Feststellung der Identität zweier Urteile. In dem Augenblick, wo sich
herausstellt, daß wir bei der Bezeichnung einer wahrgenommenen Tatsache
zu demselben Urteil gelangen, das wir schon vorher auf logischem Wege
für diese Tatsache abgeleitet hatten, sind wir von der Wahrheit des er-
probten Satzes überzeugt; und es gibt keinen anderen Weg zu solcher
Überzeugung, weil eben das Wesen der Eindeutigkeit es mit sich bringt,
daß sie schließlich immer auf die geschilderte Weise zum Ausdruck
kommt.
Die Verifikation. 145
Aber wie steht es nun mit rein begrifflichen, d. h. analytischen
Sätzen? Sämtliche Betrachtungen, die wir hier als ,, Denkprobleme" ab
gehandelt haben, beschäftigen sich mit dieser Art von Urteilen. Wir
wissen, daß sie a priori gültig sind, weil sie ja nur aussagen, was in den
Begriffen bereits definitionsgemäß enthalten ist und daher keiner Be-
stätigung durch die Erfahrung bedürfen, um als wahr erkannt zu werden.
Eine Verifikation von der Art, wie wir sie eben für die Wirklichkeitssätze
beschrieben haben, scheint also für die Begriffssätze nicht erforderlich zu
sein, ihre Wahrheit bedarf dergleichen nicht zu ihrer Offenbarung. Wir
wissen auch schon, daß die Flüchtigkeit und Kontinuität der psychischen
Prozesse kein Hindernis für uns bildet, analytische Urteile und Schlüsse
richtig zu vollziehen und zu erkennen, daß sie richtig vollzogen sind.
Wir haben uns aber noch nicht im einzelnen vergegenwärtigt, durch
welche Bewußtseinsakte dies geschieht, und müssen es nun nachholen, um
die durch Ablehnung der Evidenztheorie leer gewordene Stelle auszufüllen.
Es liegt, wie wir sahen, im Wesen der Analyse oder Deduktion, daß
der Inhalt des Schlußsatzes bereits vollständig in den Prämissen ent-
halten ist. Er sagt nur scheinbar etwas Neues; Zeichenkombinationen,
die scheinbar verschieden sind, stellen sich als gleichbedeutend heraus,
sobald man auf die in den Prämissen vollzogenen Setzungen zurückgeht.
Ist daher der Schluß richtig gezogen, so muß sich die Eindeutigkeit der
Zuordnung der Begriffe zueinander dadurch offenbaren, daß man zu einer
reinen Identität gelangt, wenn man die Substitutionen ausführt,
die kraft der in den Prämissen niedergelegten Begriffsbeziehungen erlaubt
sind oder erfordert werden. Dies also ist das logische Fundament des
Weges, auf welchem die Richtigkeit der Analyse, d. h. die Wahrheit des
Schlußsatzes konstatiert wird. Am deutlichsten läßt sich das aufweisen
an den durchsichtigsten Methoden der Analysis, die wir überhaupt be-
sitzen: denen der Mathematik, besonders der Algebra. Um die Richtig-
keit einer beliebigen Relation festzustellen, sagen wir z. B. der Gleichung
e'* — cos X + i sin x, setzt man auf beiden Seiten für die Rechnungs
Symbole ihre Bedeutungen ein, in unserem Beispiel also die Reihen, durch
welche die Funktionen definiert sind, und man erhält sofort eine Identität.
Und ebenso kann in jedem anderen Falle die Richtigkeit eines Resultates
verifiziert werden. Aber auch jeder andere deduktiv abgeleitete Satz läßt
sich in analoger Weise prüfen. Nehmen wir etwa das Schulbeispiel von
der Sterblichkeit des Caius, so können wir den Schlußsatz gemäß den
Anweisungen der Prämissen in eine reine Identität verwandeln. Denn
wenn wir in ihm für Caius substituieren ,,ein Mensch." (nach dem Unter-
satz), und für ,,ein Mensch" (nach dem Obersatz) ,,ein Sterbliches", so
geht er über in die Tautologie ,,ein Sterbliches ist sterblich"; die Ein-
deutigkeit dokumentiert sich in dieser Identität.
Die Aufweisung einer Identität dient uns also auch hier, wie bei den
Realbehauptungen, als Kriterium der Wahrheit. Sie geschieht im Bewußt-
sein natürlich durch mehr oder weniger anschauhche Vorgänge, durch
Schlick Erkenntnislehie. XO
146 Denkprobleme.
welche die diskontinuierlichen Begriffsverhältnisse gleichsam nachgeahmt
werden — ein Vorgang, von dessen Möglichkeit wir uns durch die Ent-
wicklungen des § 17 überzeugt haben. Um die Wahrheit irgend eines all-
gemeinen Satzes einzusehen, muß ich ihn zunächst ,, verstehen", ich muß
mir die Bedeutung der Worte klar machen und mir seinen Sinn, vergegen-
wärtigen. Wir können dies ausdrücken, indem wir sagen, ein allgemeiner
Satz wird dadurch zum Verständnis gebracht, daß wir ihn geschwind auf
ein anschauliches Beispiel anwenden. Und ebenso geschieht die Einsicht
in seine Wahrheit, die eben in irgendeinem Identitätserlebnis abschließt,
durch welches gewisse Vorstellungen oder Akte sich als ein und dieselben
dokumentieren. Die gleichen logischen Verhältnisse können auf die ver-
schiedenste Art repräsentiert werden; einen und denselben geometrischen
Satz kann ich mir an unendlich vielen Figuren klar machen, die Gültig-
keit eines Schlußmodus mit Hilfe der verschiedensten Beispiele illustrieren,
Ganz unabhängig von der Natur der illustrierenden Bilder muß aber
(vorausgesetzt natürlich, daß die ,, Bilder" den logischen Beziehungen
wirklich parallel gehen) am Schluß das Identitätserlebnis auftreten. Und
dieses Erlebnis ist es nun ohne Zweifel, welches man gemeinhin als
,,Evidenzgeführ' anzusprechen pflegt. Was für Urteile man auch be-
trachten möge: wo immer eine Wahrheit uns evident erscheint, wo immer
wir gleichsam zu uns sprechen: ,,es stimmt", ,,so und nicht anders", da
findet stets ein solches Identitätserlebnis statt. Und andererseits kündigt
sich alles Falsche durch ein Ungleichheitserlebnis an. Wie sollte es auch
anders sein, da doch die Wahrheit das schlechthin Konstante, ewig Un-
abänderliche, Eindeutige ist, während das Falsche, das Vieldeutige, immer
in Unstimmigkeiten, Differenzen und Abweichungen sich zeigt.
Natürlich ist das Auftreten dieses ,, Evidenzgefühls", wie wir nun-
mehr in Übereinstimmung mit früher Gesagtem sehen, kein untrügliches
Kriterium der Wahrheit. Denn es kann wirklich Identität der entschei-
denden Bewußtseinsdaten vorhanden sein, ohne daß das Urteil, bei dessen
Durchdenken sie auftreten, richtig zu sein braucht. Dies kann nämlich
dann eintreten, wenn die Korrespondenz zwischen den Begriffen oder
Urteilen und ihren anschaulichen Repräsentationen mangelhaft ist, d. h.
wenn in der Kontinuität der Bewußtseinsprozesse jenes Moment dar
Diskretion nicht hervortritt, welches wir oben (§ 17) als die notwendige
Bedingung alles exakten Denkens erkannt haben. Dann kann es ge-
schehen, daß durch solch ein Abgleiten ein und dasselbe Bewußtseins-
datum zum Repräsentanten verschiedener Begriffe wird, und damit ent-
steht ein Identitätserlebnis am unrechten Orte. Die quaternio terminorum
ist ein Beispiel für einen solchen Fall. Der Fehler kann entdeckt M^erden
durch ein nochmaliges Durchdenken der Analyse, denn da die Bewegung
der Bewußtseinsvorgänge von zufälligen Umständen beeinflußt wurde, so
ist es wahrscheinlich, daß sie ein zweites Mal nicht in derselben Weise
erfolgt (besonders, wenn sie gar durch ein anderes Individuum vollzogen
wird), und daß sich so die Diskrepanz enthüllt.
Die Verifikation. 147
Es gibt freilich keine psychologische Vorschrift, wie solche Diskre-
panzen in jedem Falle zu vermeiden seien, um das Evidenzgefühl immer
nur am richtigen Orte auftreten zu lassen, keine Garantie dafür, daß
einem bestimmten Bewußtsein die Richtigkeit einer bestimmten Deduk-
tion jederzeit zur Evidenz gebracht werden könnte. Aber das wäre auch
zuviel verlangt. Es hängt von Bedingungen ab, die wir nicht auf Wunsch
restlos erfüllen können. Zur Begründung unanfechtbarer Erkenntnis ge-
nügt es, daß unter Umständen diese Bedingungen wirklich erfüllt sind;
daß dies aber der Fall ist, steht als Tatsache über allem Zweifel fest.
Von Realbehauptungen und von Begriffswahrheiten gilt also gleicher-
maßen, daß ihre Wahrheit durch ein Identitätserlebnis festgestellt wird,
welches den Abschluß eines Verifikationsprozesses bildet. Es ist aber von
der allerhöchsten Bedeutung, neben dieser Übereinstimmung nicht den
Unterschied aus dem Auge zu verlieren, der diese beiden Klassen von
Urteilen durch einen Abgrund voneinander trennt, den keine Logik und
Erkenntnistheorie überbrücken kann.
Wenn es gilt, eine durch irgendwelche Schlüsse gewonnene Real-
behauptung zu verifizieren — also etwa ein Urteil über den Charakter
einer historischen Persönlichkeit oder über die Eigenschaften einer chemi-
schen Verbindung — , so ist die Verifikation etwas ganz Neues gegenüber
den Denkprozessen, die zur Aufstellung des Urteils führten. Sie ist eine
Handlung, durch die der Mensch zur umgebenden Welt Stellung nimmt,
und von der er ein bestimmtes Resultat erwartet. Von der Wirklichkeit
und ihren Gesetzen hängt es ab, ob dies Resultat erzielt wird oder nicht.
Kann er je mit Bestimmtheit wissen, daß ein Urteil über Wirklichkeiten
sich bestätigen muß.? Es scheint zunächst, als vermöge er das in der
Tat, wenn er nur die Gesetze des Wirklichen kennt. Aber nehmen wir
an, er habe alle Gesetzmäßigkeiten der Natur vollkommen studiert —
woher weiß er, daß sie in Zukunft denselben Gesetzen folgen und auch
dann noch sein Urteil verifizieren wird.'' Die Erfahrung lehrt ihn darüber
nichts, denn sie zeigt nur, was ist, nicht aber, was sein wird. Ein Satz
ist aber natürlich nur dann wahr, wenn er sich immer und ausnahmslos
bestätigt. Aus einer beschränkten Anzahl von Verifikationen kann man,
wie schon bemerkt, streng genommen nicht auf absolute Wahrheit, sondern
nur auf Wahrscheinlichkeit schließen, weil ja durch Zufall auch bei falschen
Urteilen die Prüfung der Eindeutigkeit im Einzelfalle scheinbar ein günstiges
Ergebnis haben kann. Aus noch so vielen Bestätigungen läßt sich logisch
nicht folgern, daß ein Urteil sich in aller Zukunft verifizieren muß. Um
absolut sicher zu sein, daß ein Satz sich immer bestätigen wird, daß er
schlechthin wahr, allgemeingültig ist, müßten wir der Wirklichkeit b e -
fehlen können, uns bei allen Proben eine Wahrnehmung zu liefern,
die mit der erwarteten übereinstimmt. Mit anderen Worten: Um a priori
gültige Urteile über die Natur aufzustellen, müßte unser Bewußtsein der
IQ*
148 Denkprobleme.
Natur ihre Gesetze vorschreiben; sie müßte in einem gewissen Sinne als
ein Werk unseres Bewußtseins angesehen werden können. Man weiß, daß
Kant in der Tat glaubte, das sei möglich und verhalte sich so; die obersten
Gesetze der Natur seien zugleich die Gesetze der Erkenntnis der Natur.
Auf diese Weise suchte er schlechthin gültige allgemeine Naturerkenntnisse
für uns zu retten und zu sichern, und so die große Frage in bejahendem
Sinne zu entscheiden, ob eine absolut sichere Erkenntnis der wirklichen
Welt überhaupt möglich ist. Im nächsten Teile müssen wir unsererseits
vor dieses Problem hintreten, das wir schon mehrmals in der Ferne .sich
erheben sahen.
Für die Begriffssätze, die analytischen Urteile, gibt es ein derartiges
Problem nicht. Bei ihnen ist der Prozeß der Verifikation nicht etwas
Neues gegenüber dem Herleitungsprozeß, nicht von ihm unabhängig (wie
der Mathematiker sagen würde), sondern er ruht logisch und psychologisch
auf genau denselben Daten wie dieser, geht in keiner Weise über ihn
hinaus in eine fremde Wirklichkeit. Die Analogie, die zwischen beiden
Urteilsarten hinsichtlich der Einsicht in ihre Wahrheit besteht, geht also
nicht etwa so weit (wie man zunächst denken könnte und wirklich gedacht
hat), daß bei Begriffswahrheiten die Gesetze des Bewußtseinsverlaufs eine
ähnliche Rolle spielten wie die Naturgesetze für die Realbehauptungen.
Man könnte nämlich versucht sein, folgendermaßen zu argumentieren:
wenn ich jetzt auch die Richtigkeit einer Deduktion einsehe, so ist damit
die Wahrheit des Schlußsatzes doch nicht schlechthin gewiß, sondern nur
wahrscheinlich gemacht; denn was bürgt mir dafür, daß ich auch in Zu-
kunft stets dieselbe Einsicht haben werde.? Könnte sich nicht die Gesetz-
mäßigkeit meines Bewußtseins ändern, so daß mir künftig wahr erscheinen
wird, was jetzt falsch ist, oder umgekehrt.?
Diese Argumentation verkennt die dem analytischen Verfahren zu-
grunde liegenden Tatbestände. Ein Bewußtsein, welches fähig ist, be-
stimmte Definitionen aufzustellen, ist auch fähig, die daraus folgenden
analytischen Sätze immer in derselben Weise einzusehen. Denn beides
ist im Prinzip derselbe Prozeß; das Urteil geht ja in keiner Weise über
das hinaus, was in seine Begriffe schon hineingelegt, in ihnen schon ge-
dacht ist. Die Frage, ob ein Urteil wahr sei, hat nur Sinn für ein Bewußt-
sein, das die Definitionen der darin vorkommenden Begriffe vollziehen
und verstehen kann. Für ein solches ist sie aber eben damit auch schon
beantwortet. Ich kann freilich geisteskrank werden, die Gesetzmäßigkeit
meiner Bewußtseinsvorgänge kann sich so ändern, daß ich unfähig werde,
die Wahrheit z. B. des Einmaleins zu begreifen. Gewiß, aber dann bin
ich eben gar nicht mehr imstande, den Sinn der einzelnen Zahlworte
überhaupt richtig zu verstehen, dann kann ich einen sinnvollen Satz über
die Zahlen gar nicht denken, und die Frage nach der Richtigkeit eines
solchen Satzes wird für mich gegenstandslos, ich kann sie gar nicht auf-
werfen. Ein Bewußtsein, das einen analytischen Satz überhaupt ver-
stehen kann, hat eben damit eo ipso die Fähigkeit, seine Wahrheit ein-
Die Verifikation. 149
zusehen, zu verifizieren, denn beides geschieht durch dieselben Prozesse.
Und das gilt ganz unabhängig davon, welcher Art die Gesetzmäßigkeit
des denkenden Bewußtseins im übrigen sein mag. Sie fällt in dem Er-
gebnis wieder heraus, wird gleichsam eliminiert. Wenn ich in ein
anderes Wesen mit anderen Sinnen und völlig verschiedener Psyche ver-
wandelt würde, das aber in seiner Art eine entsprechend hohe Intelligenz
besitzt, so würden die Bewußtseinsvorgänge und ihre Gesetze, durch die
ich etwa den Satz 2x2=4 denke, mit meinen jetzigen nicht die ge-
ringste Ähnlichkeit haben, und doch würde ich auf jenem gänzlich diffe-
renten Wege die Wahrheit des Satzes einsehen können. Sonst nämlich
könnte ich ihn gar nicht verstehen, was gegen die Voraussetzung wäre ^).
Dies heißt nun aber, bei analytischen Urteilen ist mir ihre absolute
Wahrheit verbürgt; ich habe die Gewißheit, daß sie sich stets verifizieren
müssen. (Stets: das bedeutet, so oft ich die Urteile überhaupt denke.
Wenn ich sie nicht denke oder nicht denken kann, so wird die Frage sinn-
los.) Mit vollem Recht bezeichnet daher Leibniz die Begriffswahrheiten
als verites eternelles.
Bei den Realbehauptungen dagegen, den verites de fait, ist es sehr
wohl möglich, daß ich sie verstehen und denken kann, sie auch in einer
Reihe von Fällen bestätigt gefunden habe, daß sie sich aber in der Zu-
kunft doch nicht verifizieren, also nicht wahr sind. Denn was bei ihnen
zum Verifikationsprozeß erfordert wird, ist nicht schon mit dem Ver-
stäifdnis des Urteils selbst gegeben, sondern ich muß darüber hinaus die
Wirklichkeit der Welt befragen.
Die analytischen Urteile, die Begriffssätze, sind damit für uns er-
ledigt. Sie sind kein Problem und geben zu keinem Problem mehr
Anlaß.
Aber das Problem der synthetischen Urteile, welches alle Wirklich-
keitsprobleme in sich birgt, harrt unserer noch in seiner ganzen Größe.
^) Hiernach vermag ich meine frühere Behandlung der Frage (Das Wesen der
Wahrheit nach der modernen Logik, II, 5, 6. Viertel] ahrsschr. f. wiss. Phil. Bd. 34)
nicht mehr als befriedigend anzuerkennen.
Dritter Teil.
Wirklichkeitsprobleme.
A. Die Setzung des Wirklichen.
ai. Fragestellungen.
Erkennen — so lautete das Ergebnis des ersten Teiles unserer Unter-
suchungen — heißt, die Tatsachen durch Urteile bezeichnen, aber so, daß
dazu eine möglichst geringe Anzahl von Begriffen benutzt wird und dennoch
eine eindeutige Zuordnung erreicht wird.
Bisher haben wir das Reich der Tatsachen, der bezeichneten Gegen-
stände, ganz außer acht gelassen und uns nur beschäftigt mit jenen ZeJfchen
und den Regeln ihrer Verknüpfung. Und dabei fanden wir, daß alles
strenge Schließen eben nur in einer solchen Verknüpfung der Zeichen be-
steht; es substituiert die einen für die anderen und vollzieht damit den
Prozeß der Analyse, dessen Gesetze die formale Logik entwickelt.
Wir erörterten ferner das Verhältnis der Zeichen, der Urteile und
Begriffe, zu den psychischen Vorgängen, durch die sie im Bewußtsein
dargestellt werden. Aber auch damit verließen wir nicht das Gebiet der
Denkprobleme.
Nunmehr schreiten wir über dies Gebiet hinaus: wir gehen von der
Betrachtung der Form, in welcher Erkenntnis sich uns darstellt, zu dem
Inhalt über, der in ihr dargestellt wird, wir wenden uns von den Zeichen
ab und den bezeichneten Gegenständen zu. Und damit treten wir einer
ganz anderen Klasse von Fragen gegenüber, Fragen, die wir als Wirklich-
keitsprobleme bezeichnen wollen.
Eine solche Frage ist in jedem einzelnen synthetischen Urteil ver-
steckt. Das analytische Urteil hat seinen Rechtsgrund nur in den ein für
allemal festgesetzten Regeln der Bezeichnung, in den Definitionen. Im
synthetischen Urteil aber werden Begriffe miteinander verbunden, die
durch keine Definition in Beziehung gesetzt waren. Wenn ich das synthe-
tische Urteil ausspreche: ,, Antwerpen wurde 1914 von den Deutschen er-
obert", so hat es seinen Rechtsgrund nicht in einer von vornherein be-
stehenden Verknüpfung der Begriffe — denn vergebens hätte man sich"
Fragestellungen. 151
bemüht, aus den Merkmalen des Begriffes Antwerpen abzuleiten, daß es
dereinst von den Deutschen genommen würde — , nicht auf einer Ver-
knüpfung der Begriffe, sondern auf einer tatsächlichen Beziehung wirk-
licher Gegenstände ruht die Gültigkeit dieses Urteils.
Wie aber wissen wir von den Tatsachen der Wirklichkeit.? Sind sie
uns etwa unmittelbar gegeben, erschließen wir sie, oder auf welchem Wege
sonst gelangen sie zu unserer Kenntnis.?
Diese Fragen wiederholen sich bei jeder Tatsache, die wir beurteilen,
und sie müssen beantwortet sein, ehe wir wissen können, ob unsere Urteile
wahr sind. Denn bevor wir von einer eindeutigen Bezeichnung der Gegen-
stände sprechen können, müssen die Gegenstände doch überhaupt d a
sein. Die Fragen gipfeln aber alle in der einen: welches sind denn nun
eigentlich diese Gegenstände, jene ,, Dinge" oder ,, Tatsachen", denen wir
im Erkennen unsere Zeichen zuordnen.? Was ist das Bezeichnete.? welches
ist die Wirklichkeit?
Bei so fundamentalen Fragen kommt alles auf die Problemstellung
an. Man kann nicht vorsichtig genug dabei verfahren. Ehe man nach
der Auflösung forscht, tut man gut, sich klar zu machen, ob die Problem-
stellung überhaupt eine Lösung zuläßt, und wie sie möglicherweise be-
schaffen sein kann. Was für eine Antwort also kann ich überhaupt er-
warten auf die Frage: was ist das Wirkliche.?
Wie die Antwort auch lauten möge: sie muß ein Urteil sein. Ein
Urteil aber, dies wissen wir längst, ist ein Zeichen für eine Tatsache, und
nichts weiter. Ein Gegenstand wird unter einen Begriff subsumiert, dieser
wird ihm zugeordnet, und das geschieht eben im Urteil, welches damit
den ganzen Sachverhalt bezeichnet. Ein weiteres kann es niemals leisten.
Wie man es auch anstellen möge, durch wie viele Urteile man auch die
verwendeten Begriffe zu erläutern und zu klären versuche: immer gibt
uns unser Erkennen, das ja im Urteilen besteht, nichts als Zeichen, nie-
mals das Bezeichnete. Dieses bleibt ewig jenseits. Und wer vom Er-
kennen fordert, daß es uns das Wirkliche realiter näher bringen solle,
der stellt damit nicht etwa eine zu hohe, sondern eine unsinnige
Forderung. Wir sahen ja seit langem ein (I, § ii): im Erkennen können
u n d w o 1 1 e n wir das Erkannte gar nicht gegenwärtig haben, nicht eins
mit ihm werden, nicht es unmittelbar schauen, sondern nur Zeichen zu-
ordnen und ordnen. Daß die Erkenntnis eben dies leistet und nichts
anderes, ist nicht ihre Schwäche, sondern ihr Wesen.
Wir sehen also: wer etwa mit unserer Frage den Sinn verbinden
wollte: was ist das Bezeichnete unabhängig vom Bezeichnen.? der wäre
in hoffnungsloses Mißverständnis versunken. Er hätte ein sinnloses Problem
gestellt, denn jede Frage erheischt als Antwort ein Urteil, ist also ein
Wunsch nach einer Bezeichnung, und daher wäre jene Formulierung ebenso
gescheit, als wenn einer fragen wollte: wie hört sich ein Ton an, wenn
niemand. ihn hört?
152 Die Setzung des Wirklichen.
Das Wirkliche kann uns demnach nimmermehr durch Erkenntnisse
irgendwelcher Art gegeben werden. Es ist vor aller Erkenntnis da. Es
ist das Bezeichnete, das vor allem Bezeichnen ist. Und dieser Satz selbst
und alle Urteile, die man sonst darüber fällen mag, können es immer nur
bezeichnen, nicht geben, nicht bestimmen, nicht schaffen. Das ist eine
einfache Einsicht, die rein analytisch aus dem Erkenntnisbegriff folgt.
Sie ist aber oft verfehlt worden und dadurch wurde die neueste Philo-
sophie auf manchen sonderbaren Irrpfad gebracht. Wir werden darauf
zurückkommen.
Einstweilen aber halten wir fest: Kenntnis des Wesens der Wirk-
lichkeit wird nicht erreicht durch das E r kennen der Wirklichkeit. Sie
muß diesem, wo sie überhaupt möglich ist, voraufgehen, weil das zu Be-
zeichnende früher ist als das Bezeichnen. So ist uns das gesamte Reich
der eigenen Bewußtseinsdaten schlechthin bekannt, es ist einfach da,
vor allem Fragen, vor aller Erkenntnis, die daran nichts ändern, -nichts
wegnehmen und nichts hinzusetzen kann. Diese unmittelbar gegebenen
Daten sind die einzige uns bekannte Wirklichkeit; aber ganz falsch wäre
es daraus zu folgern, daß sie deswegen auch das einzig Wirkliche oder
auch nur das einzig e r kannte, erkennbare, bezeichenbare Wirkliche sein
müßten. Man hat aber diesen Schluß oft gezogen. Auch darauf kommen
wir zurück.
Für jetzt wenden wir uns wieder unserer Frage zu: Welche Gegen-
stände sind wirklich.? Die Frage muß wohl verstanden werden. Es kann
nicht so sein, daß wir aus einer Mannigfaltigkeit gegebener Dinge nun
die ,, wirklichen" auszusuchen hätten, um sie von den anderen als den
unwirklichen zu trennen, denn nichtwirkliche sind uns eben überhaupt
nicht gegeben, weil sie ja gar nicht da sind. Sondern es verhält sich
offenbar so: im Laufe des Forschens" werden wir dazu geführt, durch
Kombination von Begriffen, die Gegebenes bezeichnen, neue Begriffe zu
bilden, die nicht etwas unmittelbar Bekanntes bezeichnen. Und nun
ist die Frage, ob diesen etwas ,, Wirkliches" zugeordnet ist, das heißt:
ob mit den Merkmalen jener Begriffe auch das Prädikat ,, wirklich'.' ver-
knüpft ist. Die Entscheidung darüber muß, wie wir sehen werden, aus
dem Zusammenhang der Begriffe mit solchen von ,, Gegebenem" getroffen
werden, nach denselben Methoden, die in anderen Fällen Anwendung
finden, wo es sich darum handelt, ob einem Gegenstande eine bestimmte
Eigenschaft zukommt oder nicht. Daß z. B. Äther den Siedepunkt 39"
besitzt, stellen wir durch eine ganz analoge Methodik fest wie die Tat-
sache, daß Elektronen wirklich sind, das Phlogiston oder das pythagoreische
Zentralfeuer dagegen unwirklich. ,
Jedenfalls ergibt sich, daß die Frage nach der Wirklichkeit eines
Gegenstandes tatsächlich wie jede andere sinnvolle Frage durch den Voll-
zug bestimmter Zuordnungen, Bezeichnungen beantwortet werden kann
und daher selbst sinnvoll ist. Will man diesen Sinn noch näher bestimmen,
so scheint es, daß alles auf die Definition des Wirklichkeitsbegriffes an-
Fragestellungen. 153
kommt. Kann aber eine solche überhaupt gegeben werden? gehört der
Begriff nicht vielmehr zu denen, deren Gegenstand sich nur in der An-
schauung, im Erleben aufweisen läßt.? So scheint es sich in der Tat zu
verhalten. Denn wie sollte man wohl das Wirkliche auf etwas anderes,
das heißt doch also auf Nichtwirkliches, zurückführen können.? Anzugeben,
wodurch sich eigentlich das Seiende vom Nichtseienden unterscheidet —
das scheint ein verzweifeltes Beginnen zu sein. In der Tat werden wir
den Verdacht bestätigt finden, daß eine Analyse des Wirklichkeitsbegriffes
zu den unerfüllbaren Forderungen gehört. Dies schließt aber nicht aus,
daß ein Kennzeichen existiert und auffindbar ist, welches allem Wirk-
lichen in gleicher Weise zukommt und es charakterisiert, so daß es stets
als Kriterium für die , .Wirklichkeit" eines Gegenstandes dienen kann.
Welche ungeheure Bedeutung einem solchen Kriterium für die Zwecke
des praktischen Lebens zukommt, leuchtet ein, denn das Leben will nur
auf Wirklichkeiten Rücksicht nehmen, nicht auf Fiktionen. Dort ist man
um derartige Kriterien im rrinzip auch nie verlegen und bedarf keinerlei
Hilfe von der Philosophie. Diese aber muß zusehen, ob jene Kriterien
auch für die wissenschaftliche Erkenntnis Wert behalten und streng gültig
bleiben; sie muß sie alsdann für ihre eigenen Zwecke auf eine gemeinsame
Formel bringen. Gelingt ihr dies, so hat sie damit einen Schlüssel zur
Lösung der fundamentalsten Wirklichkeitsprobleme gefunden.
Denn es ist kaum ein Punkt in der Philosophie mit größerem Eifer
behandelt worden, keiner hat für den Charakter eines philosophischen
Systems und für die Weltanschauung höhere Bedeutung als die Frage,
wieweit das Reich der Wirklichkeit sich erstreckt, was alles als real
zu gelten habe. (Die Worte wirklich und real gebrauchen wir hier jeder-
zeit als völlig gleichbedeutend.) Hier stößt man auf das große Problem
der Transzendenz, das heißt auf die Frage, ob und in welchem
Umfange es Realitäten gibt außerhalb oder jenseits des schlechthin
Gegebenen, ob also auch solchen Gegenständen, die nicht unmittelbar
Gegebenes sind, das Zeichen ,, wirklich" zugeordnet werden darf oder muß.
Diese Probleme sind mit einem Schlage gelöst, sobald man ein Kriterium
der Wirklichkeit gefunden hat und anzuwenden weiß; und ich glaube,
daß eine Einigung über diesen Punkt viel leichter zu erzielen ist als man
glauben sollte, wenn man den heftigen Streit der Systeme über das Trans-
zendenzproblem ansieht.
Die nächsten Paragraphen müssen sich also vor allem mit der Auf-
suchung eines charakteristischen Merkmales alles Wirklichen beschäftigen
und aus dem Resultat dieses Suchens die weiteren Konsequenzen ent-
wickeln; sie werden somit die Frage behandeln, welche Külpe ^) in der
Form ausgesprochen hat: ,,Wie ist eine Setzung von Realem möglich.?"
Danach wird dann eine andere Gruppe, von Wirklichkeitsproblemen in
Angriff zu nehmen sein, die sich einordnen lassen in die KÜLPE'sche Frage-
^) Die Realisierung. 1912. Bd. I. S. 4.
154 Die Setzung des Wirklichen.
Stellung^): ,,Wie ist die Bestimmung von Realem möglich?" Da
handelt es sich also darum, 7ai prüfen, was für Begriffe dem als wirklich
Erkannten allgemein oder im einzelnen Falle noch weiter zugeordnet
werden müssen, ob es z. B. als physisch oder psychisch, als Einheit oder
Vielheit, als räumlich oder unräumlich, als geordnet oder chaotisch be-
zeichnet werden muß — oder wie die technischen Termini sonst lauten
mögen. Die Methode der Untersuchung wird überall darin bestehen, daß
wir uns den möglichen und tatsächlichen Sinn jener Worte mit größter
Sorgfalt feststellen und dann alle Probleme mit den Waffen angreifen,
die wir uns im ersten Teile der Betrachtungen geschmiedet haben.
22. Naive und philosophische Standpunkte in der
Wirklichkeitsfrage.
Der Begriff der Wirklichkeit ist kein wissenschaftlicher Begriff. Er
ist nicht erst durch besondere Forschungsarbeit geschaffen, wie etwa der
Begriff der Energie oder des Integrals, er gehört nicht spezifischen
Wissenschaften an, ja, so sonderbar es klingen mag, diesen ist an seiner
Bestimmung gar nichts gelegen. Zwar erhält natürlich der Theoretiker
den Anstoß zu seinen Untersuchungen immer durch die Wirklichkeit, aber
für das eigentlich wissenschaftliche Interesse, welches sich an dem Spiel
der Zurückführung der Begriffe aufeinander erfreut, ist es im Grunde
belanglos, ob diese Begriffe Wirklichkeiten bezeichnen oder nicht; in
beiden Fällen kann der Erkenntnisprozeß gleich energisch verlaufen. Der
Mathematiker zeigt in der Beschäftigung mit seinen idealen Gebilden
nicht geringeren Eifer als der Historiker oder Nationalökonom, deren
Interesse ganz am Wirklichen haftet. Aber auch sie konstruieren ideale
Fälle und bewegen sich bei der Untersuchung ihrer allgemeinen Prin-
zipien in vereinfachenden Abstraktionen. Alle Wissenschaft ist letzten
Endes Theorie, und alle Theorie hat unwirkliche Abstraktionen zum
Gegenstand.
Mit der konkreten Wirklichkeitsfülle hat es nur das Leben zu tun.
Der Begriff der Wirklichkeit ist ein schlechthin praktischer; das Handeln
ist es, das sich unaufhörlich und ausschließlich mit Realitäten beschäftigt
und selber Realitäten hervorbringt. Es ist längst erkannt worden, daß
der W^irklichkeitsbegriff ganz allein hier seine Wurzeln hat; vor allen
DiLTHEY hat großen Nachdruck auf diese Tatsache gelegt *), und be-
sonders Frischeisen-Köhler hat gewichtige Konsequenzen daraus ge-
zogen 3). Damit ist ein höchst bedeutsamer Punkt bezeichnet, wenn man
1) Ebenda. S. 5.
^) DiLTHEY, Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an
die Realität der Außenwelt und seinem Recht. Sitzungsber. d. kgl. Akad. d. Wissen-
schaften zu Berlin. XXXIV. 1890. S. 977.
^) In dem Werke „Wissenschaft und Wirklichkeit" 1912
Naive und philosophische Standpunkte in der Wirklichkeitsfrage. 155
auch den theoretischen Gebrauch, den die erwähnten Denker davon
machen, nicht als berechtigt anerkennen mag.
Nicht die EinzeldiszipHnen, nur die Philosophie macht den
Begriff der Wirklichkeit zum Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses,
weil sie sich eben um die Klärung der allgemeinsten Grundlagen be-
müht, die auf allen anderen Gebieten ungeprüft hingenommen oder beiseite
gelassen werden. Sie kann sich aber — dies geht aus dem eben Gesagten
hervor — zur ersten Orientierung über den Begriff nicht an irgendwelche
Einzelwissenschaften wenden, sondern muß aus dem Leben und Handeln
Aufklärung zu schöpfen suchen. Sie muß ermitteln, was es für den naiven
Menschen bedeutet, wenn er einem Gegenstande ,, Wirklichkeit" zuschreibt,
und dann muß überlegt werden, ob auch sie für ihre wissenschaftlichen
Zwecke mit dem Worte eben dasselbe meinen kann, oder ob sie seine
Bedeutung ändern muß, um die Präzision der Gedanken zu bewahren.
Für das naive Individuum bilden den Inbegriff des Wirklichen oh«e
Frage die Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung. Dieser Satz soll
aber — das ist wohl zu beachten — nicht etwa eine Aussage des naiven
Menschen wiedergeben, nicht seine eigene Formulierung der Antwort auf
die Wirklichkeitsfrage, sondern er bedeutet die nachträgliche wissen-
schaftliche Formulierung der natürlichen Ansicht des Naiven. Er be-
sitzt nämlich zunächst gar nicht den Begriff der Wahrnehmung, dieser
ist erst ein Produkt besonderer Reflexion, er entsteht durch verglei-
chende Beobachtung der Abhängigkeit der Erlebnisse von den Sinnes-
organen. Diese führt sehr bald zu einer Unterscheidung der Wahrneh-
mungsvorstellung vom wahrgenommenen Objekt; ursprünglich aber fällt
auf dem naiven Standpunkt beides schlechthin zusammen. Der Mensch
sagt nicht: ,,Ich habe die Wahrnehmung eines Tisches" und schließt
dann erst auf das V«ihandensein des Tisches, sondern er sagt: ,,Ich
sehe den Tisch"; ohne daß er irgend einen Schluß zöge, ist ihm das
Objekt unmittelbar das Gegebene, und er unterscheidet es nicht von
der Vorstellung des Objekts. Beides ist für ihn ein und dasselbe. Wundt
gebraucht für diese Einheit den Namen ,, Vorstellungsobjekt" ^).
In diesem Stadium hat der Mensch überhaupt gar keine Veranlassung,
den Begriff des Wirklichen zu bilden. Sie tritt erst ein bei ganz besonderen
Erfahrungen, so bei Träumen, bei den sogenannten Sinnestäuschungen,
bei falschen Aussagen eines anderen, die es zu prüfen gilt. Hier entsteht
die Vorstellung des Scheines, des Unwirklichen, und damit ein Motiv zur
Bildung des Wirklichkeitsbegriffes, denn vorher gab es nichts, wogegen
er abgegrenzt werden konnte. Begriffsbildung setzt ja, wie wir wissen,
Unterscheidung voraus.
Sobald aber diese Abgrenzung nötig wird, benutzt der Mensch als
Kriterium der Wirklichkeit dasjenige, was wir als Wahrnehmung be-
zeichnen, mag er selbst nun den Begriff der Wahrnehmung schon besitzen
^) System der Philosophie. 3. Aufl. I. S. 79.
156 Die Setzung des Wirklichen.
oder nicht. Glaubt jemand nicht an die Wirklichkeit irgendeines Gegen-
standes, so gibt es zunächst nur ein Mittel, ihn von dessen Existenz ^u
überzeugen: wir müssen ihn hinführen oder den Gegenstand zu ihm bringen,
damit er ihn sehe oder betaste oder vielleicht höre; dann zweifelt er nicht
länger. Glaubt einer im Traum in fernen Gegenden zu wandern, so kann
ihn nach dem Erwachen der in der Hütte neben ihm wachende Gefährte
belehren, daß jene Wanderung Schein war, denn das Zeugnis der Sinne
sagte ihm, daß der Körper dessen, der da fern zu weilen glaubte, die ganze
Zeit ruhig dalag. Es entsteht die Scheidung von Vorstellung und Gegen-
stand. Die Traumvorstellungen waren wirklich, ihr Gegenstand, die Wan-
derung, war unwirklich, sie existierte nicht.
Bald aber zeigt sich, daß es auch Fälle gibt, in welchen ein Gegen-
stand für wirklich erklärt wird, ohne doch sinnlich wahrgenommen zu sein.
Der Naturmensch, der seinen Genossen zerfleischt im Walde findet, ist
überzeugt, daß ein Raubtier existiert, welches ihn so zugerichtet hat, auch
wenn kein menschliches Auge das Tier je zu Gesicht bekommt. Es genügt
also als Kriterium der Realität, wenn statt des Gegenstandes selbst die
Wirkungen wahrgenommen werden, die von ihm ausgehen. So verknüpft
sich mit dem Begriff der Wirklichkeit derjenige der Ursächlichkeit, der
Kausalität. Wie deutlich er dabei zum Bewußtsein kommt, ist eine Frage,
die wir an dieser Stelle ganz unerörtert lassen können. Die Aufgabe, zu
gegebenen Wirkungen die Ursachen zu finden, wird vom Leben unauf-
hörlich gestellt und in allen gewöhnlichen Lagen mit ausreichender Wahr-
scheinlichkeit von der Erfahrung schnell und leicht beantwortet; ja, Er-
fahrung i s t gar nichts anderes als die Herstellung solcher Verknüpfungen.
Damit ist für die Zwecke des Lebens vollständig gesorgt. Die Wahr-
nehmung des Gegenstandes in erster, die Wahrnehmung seiner Wirkungen
in zweiter Linie geben in allen Fällen ein hini^ichendes Kriterium des
Wirklichen. Indem aber nun nicht mehr dieses selbst, sondern nur seine
,, Wirkungen" gegeben zu sein brauchen, wird es doch bereits in so großer
Unabhängigkeit vom Wahrnehmenden gedacht, daß das naive Indivi-
duum die Frage, ob denn Gegenstände auch wirklich sein können, ohne
daß jemand sie oder ihre Wirkungen wahrnimmt, ohne Zögern bejaht.
Natürlich werden zunächst die Dinge außerhalb der Wahrnehmung genau
so fortexistierend gedacht, wie sie innerhalb der Wahrnehmung gegeben
waren, das heißt, mit allen sogenannten primären und sekundären Quali-
täten behaftet, räumlicher und zeitlicher Ausdehnung, Farben, Gerüchen
usw. Die Dinge denken heißt ja auf vorwissenschaftlichem Stand-
punkte gar nichts anderes als sie anschaulich vorstellen, sie müssen daher
mit den anschaulichen Qualitäten ausgestattet gedacht werden.
Damit ist die natürliche Weltansicht auf dem Standpunkt angelangt,
den man gewöhnlich als ,, naiven Realismus" bezeichnet.
Es ist beachtenswert, daß die wirklichen Gegenstände auf diesem
Standpunkt durchaus als ,, Dinge an sich" aufgefaßt werden. Das naive
Individuum wird stets behaupten — wenn man es zur Stellungnahme in
Naive und philosophische Standpunkte in der Wirklichkeitsfrage. 157
dieser Frage drängt — , daß das Sein eines Steines, eines Himmelskörpers
gar keine Abhängigkeitsbeziehungen zu anderen Dingen oder zu Wahrneh-
mungen voraussetzt, daß sie eben ,,an sich" existieren. In der Tat ist
der Begriff des Dinges an sich durchaus eine populäre Konzeption, er ist
keineswegs erst durch irgendein besonderes philosophisches System ge-
schaffen worden, wie man zuweilen meint. Vielmehr haben Kant und
vor ihm Locke ihn einfach dem vorwissenschaftlichen Denken entlehnt.
Beachtet man, wie Kant diese Konzeption in seine Philosophie einführt:
ohne Definition, ohne besonderen Hinweis als auf einen spezifischen Grund-
begriff seiner Theorie, so kann kein Zweifel darüber sein, daß er den
Begriff — mit Recht — als einen geläufigen und wohlbekannten einfach
voraussetzte.
Kann nun die Philosophie die Wirklichkeitskriterien des geschilderten
Standpunktes der natürlichen Weltansicht unverändert beibehalten.-*
Die erste Bestimmung des Naiven, daß das schlechthin Gegebene als
wirklich gilt, muß natürlich einfach übernommen werden, denn hier liegt
ja ohne Frage die Quelle des Wirklichkeitsbegriffes überhaupt. Das ist
wohl von allen Denkern anerkannt, von einigen ausdrücklich hervor-
gehoben worden, so z. B. von Beneke ^). Der Satz: ,,Die Bewußt-
seinsdaten sind wirklich" ist nichts als die ursprünglichste, wenngleich
vorläufige Definition des Wirklichen, der Existenz (siehe oben S. 71).
Vorläufig, weil man bald doch noch anderes als das unmittelbar Gegebene
in den Umkreis des Wirklichkeitsbegriffes aufnimmt. Nur darin wird die
philosophische Bestimmung die naive zwar nicht überschreiten, aber
präzisieren, daß alle unmittelbaren Daten in gleicher Weise Anspruch
auf Realität besitzen, die in der Wahrnehmung gegebenen Dinge also
nicht mehr als die ,, subjektiven" Daten, wie etwa Gefühle oder Phantasie-
vorstellungen. Die Wirklichkeit der letzteren wird natürlich auch von der
naiven Ansicht nicht geleugnet, wohl aber nicht selten vernachlässigt und
selbst übersehen gegenüber der Realität des sinnlich Wahrgenommenen,
vor allem des ,, Körperlichen".
Wie nun das unmittelbar erlebte Wirkliche weiter zu bezeichnen sei,
ob man etwa sagen müsse: der Baum selbst ist mir gegeben, oder: nur
die Wahrnehmungsvorstellung, die ,, Erscheinung" des Dinges ,,Baum" ist
das Gegebene — das ist eine Frage, die an dieser Stelle für uns ganz neben-
sächlich ist.
Den zweiten Schritt des naiven Denkens aber, durch welchen nicht
nur das Gegebene selbst, sondern auch Ursachen des Gegebenen als wirk-
lich angenommen werden, obwohl sie nicht gegeben, sondern nur auf
Grund der Kausalvorstellung gesetzt sind, diesen Schritt wird die Philo-
sophie mit größter Vorsicht betrachten. Erstens nämlich tritt uns ja hier
die Kausalidee entgegen, und sie müßte doch erst geklärt sein, ehe sie
in die Bestimmung des Wirklichkeitsbegriffs aufgenommen werden kann.
^) System der Metaphysik (1840). S. 76, 83, 90.
158 Die Setzung des Wirklichen.
Zweitens aber: wie diese Klärung auch ausfallen möge, es erscheint von
vornherein ausgemacht, daß ein Zurückführen des Wirklichkeitsbegriffs
auf die Kausalität erkenntnistheoretisch nicht befriedigen wird, denn
diese ist offenbar ein komplizierterer Begriff als jener und setzt ihn als
den ursprünglicheren immer schon voraus, da ja die Kausalbeziehung
jedenfalls ausschließlich eine Beziehung zwischen Wirkl ichkei ten ist.
Wenn aber auch die Philosophie der natürlichen Anschauung mit dem
besprochenen Schritte folgen wollte, so würde sie dadurch doch noch
nicht völlig mit ihr einig sein, denn wir sahen ja eben, daß im vorwissen-
schaftlichen Denken selbst schon eine Wirklichkeit an sich statuiert wird,
die weder selbst noch in ihren Wirkungen jemals zur Erfahrung gelangt
und für die daher die früheren Kriterien nicht mehr in Betracht kommen.
Sie werden also doch nicht mehr als wesentlich für das Wirkliche be-
trachtet, sie sind fallen gelassen, und zwar zunächst ohne Ersatz.
So gut also auch die geschilderte vorphilosophische Ansicht psycho-
logisch begründet und erklärt ist, so wenig ist damit ihre erkenntnistheore-
tische Rechtfertigung gegeben. Die Mehrzahl der Denker ist denn auch
nicht bei ihr stehen geblieben, sondern hat neue Standpunkte gesucht,
auf denen sie bessere und einheitlichere Kriterien zu finden meinte. In
zwei Richtungen ist die naive Anschauung verlassen worden. Man kann
erstens über sie hinaus schreiten, indem man die populäre Meinung nach
irgendeiner Seite hin zu vervollkommnen und zu ergänzen sucht, um zu
wissenschaftlich brauchbaren Kriterien zu gelangen; und man kann zweitens
die Schritte verwerfen, welche das naive Denken selbständig unternahm,
und zu seinem Ausgangspunkt zurückkehren, um ihn in seiner ganzen
Reinheit festzuhalten. Durch das letztere Streben ist derjenige Stand-
punkt gekennzeichnet, welcher unter dem Namen des ,, idealistischen
Positivismus" oder der ,, Immanenzphilosophie", weniger zweckmäßig auch
als ,,Konszientialismus" bekannt ist. Die meisten Philosophen schlagen
aber den zuerst genannten Weg ein und gelangen dadurch zu verschiedenen
Systemen, die gewöhnlich als ,, realistische" bezeichnet werden. Wir wollen
einen kurzen Blick auf einige Gedankenbildungen dieser letzteren Kategorie
werfen, um dann später die Wirklichkeitskriterien der immanenten Philo-
sophie besonders zu prüfen.
Ein sehr naheliegender Weg, den das Denken oft fast automatisch
eingeschlagen hat, ist folgender. Wenn, wie wir sahen, in der Praxis des
Lebens das Prädikat der Wirklichkeit zunächst dem unmittelbar Erlebten
beigelegt wird, dann aber auch demjenigen, was man als Ursache des
Erlebten annimmt, und man wirft die Frage auf, ob diese beiden Kriterien
sich nicht vielleicht aufeinander zurückführen lassen, so ist klar, daß das
zweite dem ersten nicht untergeordnet werden kann, sondern ihm gegen-
über etwas Neues bedeutet. Das Umgekehrte aber ist wohl denkbar: das
erste Kriterium könnte auf das zweite reduziert werden und brauchte dann
nicht mehr als selbständiges aufgeführt zu werden, nämlich dann, wenn
alles Gegebene selbst auch wieder Ursache von anderem Gegebenen wäre.
Naive und philosophische Standpunkte in der WirkUchkeitsfrage. 159
%
Dann würde ja die Bestimmung des Realen als der „Ursache des Gegebenen"
sowohl auf das erlebte wie auf das nicht erlebte Wirkliche passen. In der
Tat ist die Behauptung wohl möglich, daß alles Erlebte Ursache oder
Mitursache von anderem Erlebten sei; jedes Bewußtseinsdatum wird die
späteren psychischen Prozesse irgendwie beeinflussen, denn im Prinzip
kann man wohl sagen, daß niemals ein Erlebnis gänzlich ,, spurlos" aus
dem Bewußtsein verschwindet, ohne irgendwelche Dispositionen hinter-
lassen zu haben.
Sehen wir einstweilen davon ab, ob mit dieser Bestimmung des Wirk-
lichen viel erreicht ist und fragen wir uns, ob man auf dem eingeschlagenen
Pfade der Bewegung des populären Denkens noch weiter folgen kann,
welches geneigt ist, auch solchen Gegenständen Wirklichkeit zuzusprechen,
die, soviel man weiß, überhaupt keine Erlebnisse bewirken, weil sie von
niemand wahrgenommen werden. Man hat dies in der Tat versucht,
indem man den Begriff der Ursache oder des Wirkens als Sprungbrett
zum weiteren Schwünge in das Reich des Transzendenten hinein benutzte
und nunmehr sagte: Was das gemeine Denken fallen läßt, das können
auch wir aus unserer philosophischen Bestimmung fallen lassen, und wir
behalten immer noch genug übrig. Sagten wir nämlich vorher, wirklich
nennen wir alles, was Ursache von Erlebnissen ist, so können wir jetzt
die Beziehung zunt Erleben aufgeben, aber noch die Bestimmung auf-
recht erhalten, daß alles Wirkliche Ursache ist. Was sich in keiner
Weise bemerkbar macht, sich nicht irgendwie äußert, das ist in der Tat
nicht da, nicht wirklich; ob aber die Äußerungen eines Dinges von uns
erlebt werden oder nicht, das ist zufällig. Wir treffen also das Wesent-
liche im Gegensatz zum Zufälligen, wenn wir formulieren: wirklich ist,
was wirkt.
Schon die Sprache scheint zu dieser Auffassung zu drängen und zu
beweisen, daß man mit ihr den Sinn der populären Anschauung richtig
getroffen hat; ist doch im Deutschen das Wort wirklich vom Verbum
wirken abgeleitet. Bei Aristoteles fällt der Begriff der ivegyeia mit dem-
jenigen der Wirklichkeit zusammen. Auch Leibniz erklärt: ,,quod non
agit, non existit". Als bekanntester Vertreter der besprochenen Auf-
fassung ist wohl Schopenhauer zu nennen. Er sagt ^) von der Materie:
,,ihr Sein nämlich ist ihr Wirken: kein anderes Sein derselben ist auch
nur zu denken möglich". Und an einer anderen Stelle *): Die Materie ist
die ,, objektiv aufgefaßte Kausalität selbst". Die Wirklichkeit der Dinge
erklärt er für ihre Materialität, also ist sie die ,, Wirksamkeit der Dinge
überhaupt". In der Gegenwart finden wir dieselbe Bestimmung bei zahl-
reichen Denkern; so meint z. B. B. Erdmann ^): ,, Wirklich sind die
Gegenstände, die wir als wirksam erschließen". Und zweifellos ist die
^) Die Welt als Wille und Vorstellung. I. § 4.
^) Ebenda. II. i. Buch. Kap. 4. Ähnlich in der Abhandlung über den Satz vom
Grunde gegen Ende des § 21.
») Logik. I. 2. Aufl. S. 138.
i6o Die Setzung des Wirklichen.
Gleichsetzung des Wirklichen mit dem Wirksamen de facto vollkommen
richtig. Dennoch erfüllt sie nicht endgültig unseren Zweck. Wenn auch
Sein ohne Wirken in der Welt nicht vorkommt, so kann es doch un-
abhängig von ihm gedacht, begrifflich von ihm getrennt werden. Und
gerade die naive Ansicht vollzieht diese Trennung durchaus ^), nicht fremd
ist ihr der Gedanke, daß etwas wirklich sein könne, ohne doch die ge-
ringsten Wirkungen zurückzulassen (z. B. der letzte Gedanke eines
Sterbenden). Wenn man die durchgängige Verknüpfung von Realität und
Kausalität anerkennt, so könnte man freilich das Wirken als Kriterium
des Seins benutzen, falls man nur wüßte, woran denn die Wirksamkeit
oder Wirkungsfähigkeit eines Gegenstandes sich erkennen läßt. Man sieht,
daß die Frage auf diese Weise nicht beantwortet, sondern nur zurück-
geschoben ist, und zwar auf ein komplizierteres, schlechter überschaubares
Gebiet. Denn das Wirken ist, wie bereits hervorgehoben, der speziellere
Begriff, sein Kriterium setzt dasjenige der Realität bereits voraus; letzteres
ist allgemeiner, weil das Sein sich ganz wohl ohne Wirken wenigstens
denken läßt (z. B. als spurlos verschwindend). Ein unerträglicher Nach-
teil der Bestimmung der Realität als des Wirkenden schlechthin liegt
ferner darin, daß sie jede Verbindung mit dem unmittelbar Gegebenen
gänzlich auflöst, von welchem der Begriff doch seinen Ursprung nahm,
und an welches sie später doch wieder Anschluß suchen muß, um über-
haupt Anwendung zu finden.
Trotzdem hat sich die Spekulation gelegentlich noch weiter vom
Ausgangspunkt entfernt und die Vorstellung der Wirklichkeit noch weiter
verflüchtigt, indem sie annahm, es sei nicht gerade nötig, das Wesen in
Kausalbeziehungen zu suchen; diese Bestimmung lasse vielmehr noch eine
Verallgemeinerung zu : das Sein könne nämlich ausreichend charakterisiert
werden durch das Bestehen von Beziehungen überhaupt. Bekanntlich hat
LoTZE das Wirkliche in dieser Weise als ein allseitiges Inbeziehungstehen
aufgefaßt. Man tut ihm aber unrecht, wenn man sagt, er habe das Sein
definiert als ein Inbeziehungenstehen. Wohl klagte er, daß die gemein-
hin über das Wirkliche gemachten Aussagen nur Kennzeichen des Seins
angäben, nicht aber dieses selbst definierten ^), er gesteht aber dann zu *),
daß es undefinierbar und nur zu erleben sei, ,,was Sein im Sinne der Wirk-
lichkeit und im Gegensatz zum Nichtsein bedeute". In der Tat ist gerade
die allseitige Bezogenheit keineswegs charakteristisch für das wirkliche
Sein, denn wir wissen ja, und Lotze wußte es ebenso gut: von den
reinen Begriffen, denen doch kein wirkliches Sein zukommt, kann man
dennoch Beziehungen zueinander aussagen, ja man kann weiter gar nichts
von ihnen aussagen, ihr Wesen geht sicherlich darin auf, daß sie in be-
stimmten Beziehungen zueinander stehen. Zahlen sind keine wirklichen
*) Hierauf weist nachdrücklich hin E. Becher, Naturphilosophie S. 62 (Kuhur
der Gegenwart 1914).
*) Metaphysik. § i.
3) Metaphysik. § 5, § 8.
Naive und philosophische Standpunkte in der WirkUchkeitsfrage. i6i
Dinge, aber niemand leugnet, daß Beziehungen zwischen ihnen statthaben;
eine ganze Wissenschaft, die Arithmetik, hat gar keine andere Aufgabe,
als die unendliche Mannigfaltigkeit dieser Beziehungen zu untersuchen.
Nein, Lotze definiert nicht das wirkliche Sein durch Beziehungen, sondern
er kommt nur zu dem Resultat (das er — nach obigem allerdings fälsch-
lich — zugleich mit der Überzeugung der natürlichen Weltansicht identi-
fizierte), daß die Wirklichkeit des Seins in der Wirklichkeit von Beziehungen
völlig aufgehe ^). Wie sich aber wirkliche Beziehungen von bloß idealen
unterscheiden, daß kann auch nach ihm keine Definition angeben, es muß
vorausgesetzt, unmittelbar erlebt werden. Schließlich muß übrigens auch
Lotze die wirklichen Beziehungen de facto doch wiederum als kausale
denken, und so ist sein Standpunkt sachlich nicht wesentach von dem
verschieden, auf welchem das Wirkliche einfach als Wirkendes bezeichnet
wurde. Zur Lösung der Aufgabe, um welche wir hier bemüht sind, hat
Lotze eigentlich mehr geleistet durch seine gelungene Polemik gegen
Herbart, der das Sein als ,, absolute Position" bestimmte — eine Formel,
über deren Bedeutungslosigkeit wir hier kein Wort zu verlieren brauchen.
Es sei nun ein Blick geworfen auf einige andere Bestimmungsversuche
des Realen, die sich in der entgegengesetzten Richtung bewegen. Sie
bleiben in der Nähe der Quelle, aus welcher der Wirklichkeitsbegriff
fließt, sie suchen nämlich Anschluß zu behalten an das schlechthin Ge-
gebene, das unmittelbare Erleben, vor allem an die Wahrnehmung.
Wenn die natürliche Weltanschauung nicht bloß das in der Wahr-
nehmung Gegebene, sondern daneben noch anderes als äußere Wirklich-
keit annimmt, so wird doch dieses andere dabei ganz so vorgestellt,
als ob es in einer Wahrnehmung gegeben wäre und tatsächlich in einer
solchen auftreten würde, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt wären.
Mit anderen Worten, die Dinge werden als Bedingungen möglicher Wahr-
nehmungen gedacht. Diese einfache Überlegung ist bekanntlich vor allem
von John Stuart Mili, in eine philosophische Formel gekleidet worden.
Er erklärt die wirklichen Gegenstände für ,, permanente Möglichkeiten der
Empfindungen". In seiner Logik*) sagt er z. B. : ,,The existence of a
phenomenon is but another word for its being perceived, or for the in-
ferred possibility of perceiving it". Da er hinter den Phänomenen kein
Ding an sich annimmt, so bedeutet dieser Satz eine Bezeichnung der
WirkHchkeit überhaupt.
Daß die Dinge in der Tat Möglichkeiten von Empfindungen für
uns bedeuten , wird man allgemein zugestehen , wobei unentschieden
bleiben kann, ob sie daneben nicht noch etwas anderes sind. Aber
mag die Theorie den Begriff der Wirklichkeit eindeutig bezeichnen
oder nicht — unsere Frage löst sie nicht auf. Denn die Zurückführung
des Wirklichen auf das MögHche wird jederzeit als ein Hysteronpro-
^) Metaphysik, besonders § lo.
*) Book III. chap. 24. § i.
S ch lic k , Erkenntoislehre. II
i62 Die Setzung des Wirklichen.
teron gelten müssen. Wie erläuterungsbedürftig ist nicht der Begriff der
Möglichkeit in der Philosophie! Man wird ihn immer durch Bezug auf
Wirklichkeit erklären müssen; das Mögliche ist ja etwas, das unter ge-
wissen Bedingungen zum Wirklichen wird, dessen Sein also von der , .Wirk-
lichkeit" gewisser Umstände abhängt. Es gibt mithin einen Zirkel, wenn
man nun das Wirkliche seinerseits wieder durch das Mögliche bestimmen
wollte. Um vollends die Theorie von den Möglichkeiten der Empfindungen
irgendwie nutzbar zu machen, müßten wir die Bedingungen vollständig
angeben können, unter denen denn nun Empfindungen wirklich auf-
treten; dazu sind wir aber nicht imstande — hier liegt vielmehr gerade
das Problem versteckt, und so sehen wir leicht, daß die Formulierung
Mill's uns unserem Ziele nicht im geringsten näher bringt. Wenn übrigens
MiLL an einer anderen Stelle seiner Logik ^) bemerkt: ,,to exist, is to
excite, or be capable of exciting, any states of consciousness", so setzt
er damit, nicht ganz konsequent, das Kriterium für die Reahtät der
Gegenstände in ihre Wirkungen, denn das Wort excite bedeutet ja
eine Verursachung. Die im Begriff der Möglichkeit liegenden Schwierig-
keiten sind bei der letzten Formulierung in dem Worte ,, capable" ver-
borgen. Mill's Anschauungen entfernen sich in ungewisser Richtung
vom unmittelbar Gegebenen, und wir können sie deshalb nicht als reinen
Positivismus bezeichnen; diesem ist der Standpunkt der Immanenz eigen-
tümlich.
Der Zweck aber, nach dem die besprochenen philosophischen Be-
mühungen zielen, nämlich die wissenschaftliche Formulierung des dem
Leben entnommenen Wirklichkeitsbegriffes, ist bereits viel vollkommener
erreicht durch den älteren einfacheren Satz Kant's: ,,Was mit den
materialen Bedingungen der Erfahrung (der Empfindung) zusammen-
hängt, ist wirklich". Dementsprechend erklärt er den Begriff der Mög-
lichkeit durch die ,, formalen Bedingungen" ^). Die Möglichkeit wird also
von ihm sozusagen bloß indirekt, die Wirklichkeit aber unmittelbar zurück-
geführt auf Beziehungen zum Anschaulichen (denn dies bedeutet das
Wort material), das heißt, zum schlechthin Gegebenen. Man erkennt die
systematische Überlegenheit im Vergleich zu Mill. Freilich liegt in dem
Wort ,, zusammenhängt" noch eine unerträgliche Unbestimmtheit, die auch
nicht behoben wird durch die näheren Erklärungen, welche Kant an-
geschlossen hat^): ,,Das Postulat, die Wirklichkeit der Dinge zu
erkennen, fordert Wahrnehmung, mithin Empfindung, deren man
sich bewußt ist, zwar nicht eben unmittelbar von dem Gegenstande
selbst, dessen Dasein erkannt werden soll, aber doch Zusammenhang des-
selben mit irgendeiner wirklichen Wahrnehmung, nach den Analogien der
Erfahrung, welche alle reale Verknüpfung in einer Erfahrung überhaupt
^) Book I. chap. 5. § 5, note.
•) Kritik der reinen Vernunft. Kehrbach S. 202.
») Ebenda. S. 206 f.
i
Naive und philosophische Standpunkte in der Wirklichkeitsfrage. 163
darlegen". Hier wird also jener Zusammenhang näher erläutert als nach
den „Analogien der Erfahrung" bestimmbar, d. h. nach den Grundsätzen
der Substanzbeharrlichkeit, der Kausalität und der Wechselwirkung. Wir
sehen uns also wiederum auf komplizierte synthetische Bestimmungen
verwiesen, die vollkommen richtig sein mögen, und aus denen vielleicht
das von uns gesuchte Kriterium sich finden läßt, die aber doch keine
Antwort auf unsere Hauptfrage geben, weil sie eben dieses Kriterium
nicht explizite herausstellen. Sie sagen zunächst nichts darüber, woran
man denn nun das Bestehen jener Relationen erkennt, von denen in den
Analogien der Erfahrung die Rede ist. Unmittelbar erlebt wird es doch
nicht, wenn es aber erschlossen wird, so entsteht die Frage, auf welche
Weise und auf Grund welcher Prinzipien ein solcher Schluß stattfinden
kann. Indirekt ist nun freilich Kant die Antwort nicht schuldig ge-
blieben; man kann sie aus seiner Lehre vom ,, Schematismus" entnehmen.
Wir haben aber hier keine Veranlassung, auf diese etwas dunkle und in
ihrer Gesamtheit anfechtbare Lehre einzugehen, denn es wird sich im
nächsten Paragraphen ganz von selbst zeigen, was wir von jener Lehre
für unseren Zweck verwenden können und billigen müssen.
An die allgemeine KANX'sche Formulierung haben sich auch moderne
Denker angeschlossen. So sagt z. B. Riehl ^) : ,, ,, Wirklich sein" und ,,in den
Zusammenhang der Wahrnehmungen gehören" bedeutet ein und dasselbe".
Diese Fassungen haben den großen Vorzug, daß in ihnen als fundamen-
taler Punkt die Notwendigkeit gebührend hervorgekehrt wird, die Be-
stimmung des Realen irgendwie an das unmittelbar Gegebene anzu-
schließen (nämlich an die Empfindung). Damit ist zugleich die Unmög-
lichkeit einer rein logischen Definition des Wirklichkeitsbegriffs richtig
zum Ausdruck gebracht. Denn wo zur Inhaltsbestimmung eines Begriffs
ein Zurückgehen auf schlechthin Gegebenes nötig wird, da bedeutet dies
ja immer ein Hinüberdeuten über die Grenze des Definierens (vgl. oben
Teil I, § 6), welche das Reich der Begriffe von dem der Wirklichkeit un-
überschreitbar scheidet.
Es muß nun versucht werden, die besprochenen Formulierungen zu
ergänzen und zu präzisieren durch Einführung eines charakteristischen
Merkmals, welches in jedem Falle eine Entscheidung darüber gestattet,
ob "^in Gegenstand mit Empfindungen (oder sonstigen Erlebnissen) in
jenem ganz besonderen Zusammenhang steht, welcher seine Wirklichkeit
verbürgt. Ist es dann gelungen, den Wirklichkeitsbegriff des Lebens in
strenge Form zu bringen, so wird sich leicht erkennen lassen, ob die Philo-
sophie bei ihm stehen bleiben kann oder ob sie über ihn hinwegschreiten
oder von ihm zum Ausgangspunkt zurückkehren muß — mit anderen
Worten: ob die verschiedenen realistischen oder die streng idealistische,
immanente Ansicht sich der strengen Kritik gegenüber siegreich be-
haupten werden.
^) Beiträge zur Logik. 1912. 2. Aufl. S. 25.
II'
164 Die Setzung des Wirklichen.
23. Die Zeitlichkeit des Wirklichen.
Seit frühen Zeiten (schon im System Piatons finden wir den Ge-
danken präformiert, wenn nicht ausgesprochen) sind das wesenlose Reich
der Begriffe und die Welt der Wirklichkeit einander gegenübergestellt
worden als das zeitlose und das zeitliche Sein. Damit ist eine
Bestimmung von so allgemeiner und tiefgehender Bedeutung gemacht,
daß es nicht möglich und nicht nötig ist, etwas daran zu ändern und zu
bessern. Niemand bestreitet, daß alles Wirkliche für uns in der Zeit ist,
und daß die Begriffe zeitlos sind. Hier können wir uns einfach auf den
Consensus omnium stützen und die nächsten Schritte tun, ohne irgend-
einen Widerspruch befürchten zu müssen. Es ist an diesem Punkte keine
ausdrückliche Rechtfertigung und Begründung, sondern nur Erläuterung
und Verdeutlichung erforderlich.
Die Zeitlichkeit alles Wirklichen ist in der Tat ein Merkmal, welches
die Rolle des gesuchten Kriteriums voll und ganz übernehmen kann.
Alles was da wirklich existiert, ist für uns zu einer bestimmten Zeit.
Ereignisse oder Dinge — alles ist an einem gewissen Zeitpunkte oder
während einer gewissen Zeitdauer. Das gilt, was man auch sonst vom
,, Wesen" der Zeit denken möge; es gilt unabhängig davon, wie die Be-
stimmung eines Zeitpunktes vor sich geht, oder ob man ihr relative oder
absolute Bedeutung zuschreibt, ihr subjektive oder objektive Gültigkeit
beilegt. Für den naiven Menschen wie für alle Wissenschaften ist jedes
Wirkliche in der Zeit; für uns muß es daher auch stets an diesem Merkmal
erkennbar sein. Und wenn ein Philosoph die Existenz unzeitlicher Reali-
täten behauptet, wie etwa Kant von den Dingen an sich tut, so ändert
dies doch auch innerhalb seiner Lehre nichts daran, daß für unser Er-
kennen das Wirkliche nie anders als in der Zeitform sich offenbart.
Einem großen Umkreis des Realen kommt noch eine andere Be-
stimmung zu, an der nichts Unwirkliches teil hat: das ist die räumliche
Ordnung. Alle wirklichen Dinge und Vorgänge der ,,Auß en weit" (dies
selbst ist ja ein räumlicher Ausdruck) sind dadurch charakterisiert, daß
ihnen ein ganz bestimmter Ort zugeschrieben werden muß. Bekanntlich
gilt dies aber nicht für alle Realitäten; manche Bewußtseinsdaten, de*en
die volle Wirklichkeit alles unmittelbar Gegebenen zukommt, sind schlecht-
hin unräumlich. Wenn ich Freude fühle oder Trauer, Zorn oder Mitleid,
so sind diese Affekte nicht irgendwo im Raum, nicht an einem bestimmten
Orte gegeben (vor allem natürlich nicht etwa ,,im Kopfe"), es hat keinen
Sinn, irgendwelche räumlichen Prädikate von ihnen auszusagen. Dieser
Umstand, daß zwar die gesamte Wirklichkeit zeitlich bestimmt ist, aber
nur teilweise räumlich, ist die Quelle einer Reihe philosophischer Fragen;
er liefert z. B. auch zum psychophysischen Problem einen Beitrag. Davon
wird später die Rede sein. Vorläufig lehrt uns jener Umstand, daß wir
als hinreichendes Realitätskriterium sowohl die Zeitlichkeit wie
Die Zeitlichkeit des Wirklichen. 165
die Räumlichkeit anzusehen haben, daß aber nur die erstere ein not-
wendiges Kriterium alles Wirklichen ist.
Bloße Begriffe sind niemals an einem Orte, nirgends zu einer be-
stimmten Zeit. Die Zahl 7, der Begriff des Widerspruchs, der Begriff der
Kausalität, sind an keinem Orte der Welt aufzufinden, zu keiner Zeit
anzutreffen, auch nicht, wie wir ja oft betonten, im Geiste dessen, der
die Begriffe denkt. Dort existieren nur reale psychische Vorgänge, welche
die Funktion der fingierten Begriffe übernehmen. Das gilt natürlich nicht
bloß von Allgemeinbegriffen, sondern ebensowohl von individuellen: der
Schlacht bei Pharsalus kommt ein bestimmter Ort und eine bestimmte
Zeit zu; der Begriff der Schlacht bei Pharsalus ist nirgendwo und nirgend-
wann.
Das gleiche gilt auch für solche unwirklichen Gegenstände, die man
gewöhnlich nicht als Begriffe bezeichnet: Dinge oder Vorgänge, die man
für wirklich hält, von denen sich aber dann herausstellt, daß sie gar nicht
existieren. Betrachten wir ein Beispiel. Ich denke etwa an eine Reise,
die ich im nächsten Jahr unternehmen will. Diese ist dann etwas Un-
wirkliches, zum mindesten jetzt, und wenn wir annehmen, daß sie durch
widrige äußere Umstände gänzlich verhindert wird, so ist es überhaupt
unmöglich, ihr irgendwie das Prädikat der Realität beizulegen. Wodurch
muß sich nun die gedachte Reise von einer wirklichen unterscheiden?
Ganz gewiß nicht durch irgendwelche inhaltlichen Merkmale. Denn auf
der wirklichen Reise kann mir schlechterdings nichts passieren, was ich
mir nicht auch ebensogut im Gedanken vorstellen könnte. Das kleinste
Vorkommnis, den geringfügigsten Nebenumstand, der sich auf einer Reise
nur immer ereignen kann, vermag ich mir bis in alle Einzelheiten in der
Vorstellung auszumalen. Jeder Inhalt einer Wahrnehmungsvorstellung
kann auch Inhalt einer Erinnerungs- oder Phantasievorstellung sein. Die
Einsicht, daß das Wirkliche sich von allem Unwirklichen nicht durch
irgendein inhaltliches Moment unterscheide, hat Kant in den so oft
zitierten Satz gebracht: ,, Hundert wirkliche Taler enthalten nicht das
mindeste mehr als hundert mögliche". Der Ruhm aber, dieser Wahrheit
zuerst Ausdruck verliehen zu haben, gebührt Hume, denn er sagt
(Treatise of human nature, book I, part II, section 6): ,,The idea of
existence , when conjoined with the idea of any object, makes
no addition to it". Ob also ein Begriff etwas Wirkliches bezeichnet oder
nicht, kann nicht an irgendeinem Merkmal dieses Begriffes erkannt werden,
sondern nur durch ein ganz neues Prädikat, durch irgendeine besondere
Beziehung zu etwas anderem.
Wenn jemand angeben soll, welchen Unterschied es macht, ob ich
an eine wirkliche oder an eine eingebildete Reise denke, so wird er viel-
leicht zuerst darauf hinweisen, daß im letzteren Falle meine Gedanken
sehr unbestimmt sind; ich kann die Reise so oder so denken, sie ist ein
Produkt meiner Phantasie, nichts zwingt mich, sie gerade mit ganz be-
stimmten, genau festgelegten Einzelheiten in der Vorstellung auszustatten.
i66 Die Setzung des Wirklichen.
Denke ich dagegen an eine wirkliche Reise, so muß auch der kleinste
Umstand dabei ganz bis ins Detail bestimmt sein, denn wenn ich mir
nur die geringfügigste Abweichung und willkürliche Änderung erlaube, so
denke ich eben nicht mehr an einen Vorgang der wirklichen Reise, sondern
substituiere dafür etwas Eingebildetes.
Diese Ausführung trifft etwas Richtiges, aber sie ist noch zu ver-
vollständigen und zu präzisieren; denn die ganz besondere Art der Be-
stimmtheit, welche das Reale vor der Willkürlichkeit des Eingebildeten
voraus hat, muß gefunden werden. Und sie besteht nun eben in nichts
anderem als in der festen räumlichen und zeitlichen Ordnung, die
jedenr Datum der wirklichen Reise seinen ganz bestimmten Platz an-
weist, jeden Vorgang der realen Welt in einen eindeutigen Zusammen-
hang mit allen anderen Vorgängen und Teilen der Welt bringt. Jedem
Wirklichkeitselement kommt ein und nur ein Platz in der Zeit zu, der
völlig fest bestimmt ist, sobald nur eine Maßeinheit und ein Bezugs-
system der Zeit gewählt sind. Feste räumliche Bestimmung ist zwar
den meisten Realitäten außerdem eigentümlich, da das aber nicht für
alle zutrifft, z. B. nicht für die Gefühlserlebnisse auf der betrachteten
Reise, so ist allein die eindeutige Zeitbestimmung als notwendiges
Kennzeichen der Wirklichkeit anzusehen.
Nun wird man vielleicht einwenden, restlos vollkommene zeitliche
Bestimmung könne auch einer bloß imaginären Reise ganz wohl zukommen.
Die äußeren Umstände könnten z. B. so liegen, daß die zukünftige Reise
notwendig an einem ganz genau festgelegten Zeitpunkt angetreten werden
muß, an dem und dem Tage, um die und die Minute, ja Sekunde; und
alles könnte so geplant und geordnet sein, daß jede einzelne Phase durch
den Zwang der Verhältnisse sich nur in genau vorherzusehender Weise
abspielen kann. Dann würde ich im Gedanken an die zukünftigen Er-
eignisse dieser Reise mir die einzelnen Vorgänge zu ganz bestimmten Zeit-
punkten vorzustellen gezwungen sein, es bliebe gar kein Spielraum für
meine Willkür — aber würde sie dadurch schon zu einer wirklichen.-*
Gerade die Erwägung eines solchen Falles bestätigt die Richtigkeit
unseres Ergebnisses. Gesetzt nämlich, die natürlichen Zusammenhänge
machten es tatsächlich absolut notwendig, daß die Vorgänge der Reise
sich nur auf eine ganz bestimmte, vorher übersehbare Art und zu vorher
genau bekannten Zeiten ereignen könnten, nun, so hieße dies eben gar
nichts anderes, als daß sie sich mit Sicherheit so ereignen müssen und
unmöglich ausbleiben oder anders ausfallen könnten, daß also die Reise
überhaupt gar nichts bloß Eingebildetes ist, sondern zukünftige Wirk-
lichkeit besitzt. Sobald die Naturumstände den Zeitpunkt eines Er-
eignisses mit Notwendigkeit bestimmen, so heißt das eben: das -Ereignis
tritt wirklich ein. Weder im betrachteten Beispiele der Reise noch streng
genommen in irgend einem anderen Falle werden freilich alle Umstände
jemals so vollkommen übersehbar sein, daß irgendein vorausgeschautes
Zukünftiges in seinem ganzen Verlauf mit Sicherheit an einer völlig be-
. Die Zeitlichkeit des Wirklichen. 167
stimmten Zeitstelle eingeordnet werden müßte; immer wird es möglich
bleiben, daß unerwartete Geschehnisse den vorausgesetzten Gang der
Dinge durchkreuzen, so daß kein sicheres Urteil möglich ist, ob das zu-
nächst nur Eingebildete auch wirklich werden wird — stets aber äußert
sich das darin, daß für mein Vorstellen kein absoluter Zwang besteht,
.dem Vorgestellten einen Zeitpunkt eindeutig zuzuweisen, es bleibt eine
Unsicherheit und Willkür bestehen. Ein gleiches gilt auch vom Sein
vergangener Wirklichkeiten. Niemals wird sich mit schlechthin voll-
kommener Gewißheit ermitteln lassen, ob das vorgestellte Gewesene auch
in der Weise wirklich war, wie es vorgestellt wird; je genauer wir es aber
räumlich und zeitlich lokalisieren können, desto sicherer sind wir, die
Wirklichkeit getroffen haben.
So können wir nunmehr den Satz festhalten, daß alles, was in Leben
und Wissenschaft als wirklich anerkannt wird, charakterisiert ist durch
seine Zeitlichkeit, durch seinen festen Platz in der allgemeinen zeitlichen
Ordnung der realen Dinge und Vorgänge. Kant hat diese Wahrheit
(in dem Schematismuskapitel der Kritik der reinen Vernunft) in die
Worte gefaßt: ,,Das Schema der Wirklichkeit ist das Dasein in einer
bestimmten Zeit".
Das gefundene Kennzeichen stellt, wie es nach den vorhergehenden
Ausführungen sein muß, kein inhaltliches Merkmal dar, sondern es
ist gleichsam ein Äußeres, das jedes Wirkliche mit allem anderen
verwebt.
Erfüllt nun aber das gewonnene Resultat auch die andere Bedingung,
die wir als unerläßlich für das Wirklichkeitskriterium erkannt haben.-*
Diese andere Bedingung verlangte eine Verknüpfung alles Realen mit dem
unmittelbar Gegebenen, weil in ihm der Begriff der Wirklichkeit wurzelt
und sich überall wieder bis zur Wurzel zurückverfolgen lassen muß.
Auf den ersten Blick scheint nun aber unser Kriterium dieser Forderung
nicht zu genügen. Denn Zeitbestimmungen sind nicht unmittelbar ge-
geben, nicht bloß Sache des einfachen Erlebens; sie scheinen vielmehr
nichts vorauszusetzen als ein wohldefiniertes objektives Maß und ein
ebensolches Bezugssystem, Begriffe also, die außerhalb des direkt Ge-
gebenen liegen. Aber der Anschluß an dies letztere wird sofort erreicht
und als notwendig erkannt, wenn wir uns klar machen, auf welche Weise
denn eine Zeitbestimmung nur vorgenommen, ein Zeitpunkt nur definiert
werden kann. Die Festlegung eines Zeitpunktes geschieht stets durch
Angabe eines Abstandes von einem andern Zeitpunkt. Ich sage etwa:
Kant wurde 13 Jahre nach Hume geboren. Frage ich weiter danach,
wann Hume geboren wurde, so kann ich wieder nur durch die Beziehung
auf einen anderen Zeitpunkt antworten; ich entgegne z. B. : 171 1 Jahre
nach Christi Geburt. Jedoch was nützt mir das, wenn ich nicht weiß,
wann dieses letztere Ereignis stattfand.? Aber auf welchen Zeitpunkt ich
mich auch beziehen möge — immer bleibt die Angabe gleichsam im
Leeren schweben und verlangt nach Antwort auf ein neues Wann: alle
i68 Die Setzung des Wirklichen.
Zeitbestimmungen müßten haltlos und sinnlos bleiben, wenn es nicht
einen Punkt gäbe, bei dem die Frage ,,wann"? keiner Antwort mehr
bedarf.
Einen solchen gibt es aber: es ist der Moment der Gegenwart.
Ich kann nicht mehr fragen: Wann ist der gegenwärtige Augenblick?
denn dieses Wann wird unmittelbar erlebt. Zeitbestimmung hat nur Sinn
und Zweck für Ereignisse, die in meinem Bewußtsein nicht direkt gegen-
wärtig sind. Der Sinn eines jeden Wann ist in letzter Linie immer die
Frage nach dem Abstand von dem Zeitpunkt, der für mich Gegenwart
ist; er kann nicht weiter bestimmt werden, sondern dient als fester Be-
ziehungspunkt für alle Festlegungen, als der einzige, den es gibt. Durch
ihn ist die Relativität des Zeit b e g i n n s für mich überwunden. (Die
psychologische und die physikalische Relativität der Zeit d a u e r hat
natürlich damit nichts zu tun, sie bleibt bestehen in dem von den Einzel-
wissenschaften gelehrten Maße.) Wir sehen also: wenn wir das Kriterium
der Wirklichkeit eines Gegenstandes in sein Dasein zu einer bestimmten
Zeit setzen, so kommt dadurch der Zusammenhang alles Wirklichen mit
dem schlechthin Gegebenen mit aller Kraft und Deutlichkeit zum Aus-
druck. Dasein zu einer bestimmten Zeit bedeutet eben, zum Gegebenen,
zum erlebten Jetzt in einer bestimmten Beziehung stehen.
Unzweifelhaft ist also die Orientierung in der Zeit dasjenige Kenn-
zeichen, welches sich überall aufweisen läßt, wo wir von realer Existenz
reden, wo wir Gegenständen jene ,, Wirklichkeit" zuschreiben, die sich
nicht definieren läßt, deren Sinn aber doch von jedermann als ein völlig
bestimmter überall vorausgesetzt wird und nach dem alles Handeln und
Forschen sich richtet. Mag im einzelnen dieses oder jenes Kennzeichen
zur Konstatierung der Realität verhelfen, allen ist gemeinsam, daß dadurch
dem Wirklichen eine bestimmte Stelle in der Zeit (meist auch ein be-
stimmter Ort im Raum) angewiesen wird; auf dieses laufen alle Methoden
der ,, Realisierung" schließlich hinaus.
Indem nun dieses Resultat erreicht und aus dem Denken und den
Verfahrungsweisen der Praxis das Kriterium herausgearbeitet ist, durch
das der Umkreis alles dessen abgegrenzt werden kann, was da als ,, wirk-
lich" gilt, so ist damit für die Behandlung des Wirklichkeitsproblems
durch die Philosophie eine feste Basis geschaffen, die sie nicht ohne weiteres
verlassen darf. Denn es versteht sich von selbst, daß der Philosoph
— was immer seine Zwecke sein mögen — nicht das Recht hat, dem
Worte ,, Wirklichkeit" von vornherein einen neuen Sinn zu geben, ver-
schieden von dem, welchen das vorphilosophische Denken geschaffen hat
und benutzt. Denn von dort aus werden der Philosophie ihre Probleme
gestellt, und Probleme lassen sich nicht lösen durch bloße neue Defini-
tionen. Die philosophischen Lehren, mit denen das hier gefundene
Realitätskriterium nicht im Einklang ist, geben in der Tat meist zu ver-
stehen, daß sie nicht etwa einen neuen Wirklichkeitsbegriff aufstellen
wollen, sondern daß eben gerade dasjenige, was jeder wahrhaft meint.
Kritik der Immanenz- Gedanken. 169
wenn er von Wirklichem spricht, durch unser Kennzeichen nicht richtig
getroffen werde und auf andere Weise zu bestimmen sei.
Es kann, wie ich glaube, gezeigt werden, daß diese Standpunkte im
Unrecht sind. Sie verfahren durchweg dogmatisch, das heißt, sie machen
sich von vornherein ihren besonderen Wirklichkeitsbegriff zurecht, um
dadurch bestimmten Problemen auszuweichen, deren sie sonst nicht Herr
werden können, und sie suchen dann hinterher diesen Sinn des Begriffes
als den einzig natürlichen, selbstverständlichen, oder gar einzig möglichen
hinzustellen.
Diese philosophischen Systeme, die da behaupten, daß der Begriff des
zeitlich Bestimmten mit dem des Wirklichen sich nicht decke, zerfallen
naturgemäß in zwei Gruppen: die einen erklären ihn für zu eng, die
anderen halten ihn für zu weit. Die ersteren müssen damit in der Philo-
sophie die Entdeckerin eines neuen Reiches der Wirklichkeit sehen, das
jenseits desjenigen der Wissenschaft und des Lebens steht, die anderen
müssen dem unbefangenen Standpunkte des naiven Menschen und For-
schers vorwerfen, daß sie bloße Einbildungen für ,, wirklich" halten, bloße
Begriffe hypostasieren und reinen Hypothesen (bloßen ,, Hilfsmitteln der
Beschreibung") reale Bedeutung beimessen. Beides ist oft genug ge-
schehen, und beide Richtungen spielen in dem philosophischen Denken
aller Zeiten eine Rolle.
Die Widerlegung der ersten der beiden Gedankenrichtungen war
eine historisch wichtige Aufgabe der Philosophie, die in der Gegen-
wart im wesentlichen als gelöst und abgeschlossen betrachtet werden
kann, etwa seit der Zeit des KANx'schen Kampfes gegen die alte Meta-
physik. Die Prüfung der zweiten Ansicht aber hat noch in der Gegen-
wart, und gerade in der Gegenwart, große Bedeutung. Einer solchen
Prüfung sollen die nächsten Seiten gewidmet sein, und erst an sie wollen
wir die Entwicklung der positiven Konsequenzen anschließen, die sich
aus den bisher gewonnenen Einsichten ergeben. Diese Einsichten selbst
werden sich dabei noch mehr befestigen. Unsere Stellungnahme zu jener
anderen Richtung, die dem Begriff des Wirklichen einen ungebührlich
weiten Kreis zuweisen möchte, wird sich dann ganz von selbst ergeben,
ohne daß es nötig wäre, eine besondere Untersuchung darauf zu richten.
24. Kritik der Immanenz-Gedanken.
Wir behaupten also: Wirklich ist alles, was zu einer bestimmten
Zeit seiend gedacht werden muß.
Der Kundige ermißt mit einem Blick die außerordentliche Tragweite
dieses Satzes. Er weiß, wie ungeheuer weit uns der Satz über die Welt
des unmittelbar Gegebenen hinausführt. Sobald für irgend einen Gegen-
stand sich ergibt, daß die Regeln der einzelwissenschaftlichen Forschung
dazu zwingen, ihm einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit zu-
zuerkennen, so ist seine reale Existenz auch im philosophischen Sinn damit
170 Die Setzung des Wirklichen.
gesichert; er ist mehr als eine bloße Hilfsannahme oder Arbeitshypothese.
Wenn man z. B. von den Atomen nach strengen Forschungsregeln ihr
Wo und Wann eindeutig und bestimmt angeben kann, so existieren sie
eben, unbekümmert darum, ob sie jemals unmittelbar zur Wahrnehmung
gelangen oder nicht; unbekümmert auch darum, was man sonst etwa über
ihr ,, Wesen" aussagen kann, d. h. unter welche Begriffe sie sich außerdem
noch subsumieren lassen.
Über Raum und Zeit selbst setzt unser- Kriterium zunächst gar
nichts voraus (außer daß sie irgendwie die Möglichkeit einer Orts- und
Zeitpunktbestimmung im besprochenen Sinne begründen); es ist aber
klar, daß ihnen die Realität im Sinne unseres Kriteriums selbst nicht
zugesprochen werden kann, denn die Zeit ist nicht zu einer bestimmten
Zeit, der Raum nicht an einem bestimmten Orte. Auch hierin ist der
Anschluß an das naive und das wissenschaftliche Denken aufs beste ge-
wahrt, denn niemand betrachtet die reine Zeit oder den bloßen Raum
als etwas Wirkliches in demselben Sinne wie die Feder in meiner Hand
oder die Freude in meinem Herzen.
Solche Gegenstände nun, deren Wirklichkeit behauptet wird, ohne
daß sie schlechthin gegeben wären (in unserm oft festgelegten Sinne),
nennt man Dinge an sich. Wenigstens ist dies die Bedeutung, in
der wir den Terminus fortan gebrauchen wollen. Diese Definition scheint
mir das Problem, das sich an den Begriff knüpft, am reinsten hervor-
treten zu lassen. Der Leser möge während des folgenden keinen Augen-
blick vergessen, daß der Ausdruck ,,Ding an sich" nur in der hier fest-
gelegten Weise zu verstehen ist.
Man kann den Terminus ja noch in manchem anderen Sinne
nehmen. Man kann z. B. mit Mach (Analyse der Empfindungen S. 5)
glauben, es müsse damit ein Etwas gemeint sein, das da übrig bleibe,
wenn man von einem Dinge alle seine Eigenschaften weggenommen
denkt. Damit haben wir hier nichts zu schaffen. Wenn wir für das
Ding an sich eintreten, so soll damit nur gesagt sein, daß man von
realen Gegenständen sprechen dürfe, ohne damit zu meinen, sie seien
einem Subjekt als Objekte in unserem Sinne ,, gegeben"; es soll also nicht
ein verborgener unbekannter ,, Träger" von Eigenschaften postuliert werden,
nicht ein ,, Absolutes" in irgendeinem metaphysischen Sinne. Wie es sich
mit dem Ding an sich in diesen Beziehungen verhalte, darüber wollen
wir vorläufig gar kein Urteil fällen. Deshalb treffen auch die Gründe,
durch die man das Ding an sich neuerdings so oft von vornherein in Verruf
gebracht hat, für den hier formulierten Begriff desselben gar nicht zu.
Wird also der Begriff in dieser Weise festgelegt, so folgt nach den
soeben gemachten Bemerkungen aus unserem Kriterium allerdings die
Existenz von Dingen an sich, denn es müssen eben auch viele Gegen-
stände zeitlich bestimmt gedacht werden, die nicht zum unmittelbar
Gegebenen gehören. (Wollte man freilich hieraus den Schluß ziehen, daß
die Zeithchkeit im KANi'schen Sinne eine Eigenschaft der Dinge an sich
Kritik der Immanenz-Gedanken. 171
sein müsse, so wäre das ganz ungerechtfertigt; doch davon später.)
Gegen die transzendenten Dinge (auch so kann man sie bezeichnen, da
sie sich ja außerhalb des Reichs der Gegebenheit befinden) wird nun in
der neueren Zeit, wie man weiß, von allen Seiten Sturm gelaufen, be-
sonders von vielen Positivisten und Neukantianern. Die Dinge an sich
in Schutz zu nehmen, gilt fast als eine Rückständigkeit, die nur mit
einem nachsichtigen Lächeln bedacht werden kann. Das soll uns aber
nicht hindern, der Frage mit vollkommener .Ruhe auf den Grund zu
gehen.
Diejenigen Philosophen, welche das Ding an sich ablehnen, wollen
wir als Vertreter des Immanenzgedankens bezeichnen, insofern
sie alle mehr oder minder streng die Forderung stellen, man müsse in
der Sphäre des Gegebenen oder Vorgefundenen bleiben und die Trans-
zendenz verbieten. Die einzelnen Schulen dieser Richtung weichen weit
voneinander ab, mehr aber noch in ihrer Terminologie als in ihren sach-
lichen Behauptungen. Einige haben ihre Gedanken selbst als Immanenz-
philosophie bezeichnet (Schuppe, Schubert-Soldern u. andere). Sofern
man betont, daß alle unmittelbaren Daten Bewußtseins Charakter
tragen, kann man (mit Külpe) auch von einem ,,Konszientialismus"
reden. Viele Gegner der Dinge an sich würden aber damit gar nicht ein-
verstanden sein, z. B. Avenarius; bei ihm kommt der Begriff und das
Wort Bewußtsein eigentlich überhaupt nicht vor, und die Bezeichnung
,, Bewußtseinsinhalt" für alles Vorgefundene würde er als ganz unzweck-
mäßig ablehnen. Dagegen wollen die Neukantianer der Marburger Schule
(Cohen, Natorp und viele andere) ihrerseits mit dem ,, Gegebenen"
überhaupt nichts zu tun haben; bei ihnen ist die Sphäre der ,, trans-
zendentalen Logik" das Reich, in dem sie verharren und das sie mit dem
Reich des wirklichen Seins identifizieren wollen, von dem die fiktiven
Dinge an sich ausgeschlossen sind. Mit ihrem Standpunkt brauchen wir uns
jedoch an dieser Stelle noch nicht auseinanderzusetzen (vgl. unten § 38).
Mit wenigen Worten dürfen wir die Lehre jener Denker abtun, welche
den Immanenzstandpunkt in der Weise auffassen und in der Weise als
den einzig möglichen dartun wollen, daß sie den Gedanken eines Gegen-
standes, welcher nicht Inhalt eines Bewußtseins wäre, für widersprechend
und damit das Ding an sich für unmöglich erklären. In den oft zitierten
Worten Schuppe's ^): ,,Der Gedanke, der sich auf ein Ding richtet, macht
dieses Ding zu einem gedachten; folglich ist der Gedanke eines nicht ge-
dachten Dinges ein undenkbarer Gedanke". Dasselbe Argument findet
sich bekanntlich schon bei Berkelfa' und einer Reihe anderer Denker.
In der modernen erkenntnistheoretischen Literatur ist mehrfach
zwingend gezeigt worden, daß dieser Schluß auf einer Äquivokation be-
ruht, auf einem Doppelsinn des Wortes ,, Denken", und daher ungültig
^) W. Schuppe, Erkenntnistheoretische Logik. S. 69.
172 Die Setzung des Wirklichen.
ist. Der Ausdruck „gedachtes Ding" kann nämlich erstens einen Gegen-
stand bedeuten, der durch das Denken geschaffen, d. h. eine Vorstellung
innerhalb meines Bewußtseins ist; er kann aber zweitens auch einen
Gegenstand bedeuten, der im Denken nur gemeint ist, d. h. der durch
eine Vorstellung meines Bewußtseins bezeichnet, dem ein Gedanke meines
Bewußtseins zugeordnet wird. Wenn wir von einem Ding an sich reden,
so ist es natürlich im zweiten Sinne ,, gedacht"; daraus folgt aber auf
keine Weise, daß es auch gedacht im ersten Sinne wäre. Jener Schluß
verwechselt aber beides ^). Auf Grund der früheren Betrachtungen lösen
sich diese Scheinargumente für uns ganz besonders leicht auf, denn wir
haben uns ausdrücklich klar gemacht: Denken in dem Sinne, welcher für
die Erkenntnis in Betracht kommt, bedeutet nichts als ein Bezeichnen
der Gegenstände. Daß aber ein Gegenstand nicht erst dadurch erzeugt
wird, daß wir ihn bezeichnen, sondern davon ganz unabhängig ist, und
also auch existieren kann, ohne daß wir ihm ein Zeichen, eine Vorstellung
zuordnen, das liegt im Begriffe des Bezeichnens selbst, und niemals hätte
man auf jenen Fehlschluß verfallen können, wenn man die beiden Bedeu-
tungen des Wortes Denken durch verschiedene Termini auseinander
gehalten hätte.
Von vornherein ist also der Begriff des Dinges an sich gewiß nicht
widerspruchsvoll. Es gibt aber noch andere Motive, die der Annahme
transzendenten Seins entgegenstehen und viele Philosophen veranlassen,
den Begriff der Wirklichkeit auf das Reich des Gegebenen (oder des
,, Vorgefundenen" oder der ,, Bewußtseinsinhalte" oder wie man es sonst
nennen mag) einzuschränken.
Diese Motive müssen nun geprüft werden. Sie sind, wie bei jeder
ernsten wissenschaftlichen Annahme, darin zu suchen, daß man glaubt,
die entgegengesetzte Ansicht führe schließlich zu Widersprüchen, oder sie
stelle wenigstens eine völlig überflüssige, durch nichts geforderte, un-
zweckmäßige Hypothese dar. Es wird also behauptet: die Setzung von
Wirklichkeiten jenseits des Gegebenen führe bei näherer Prüfung ent-
weder zu unauflösbaren Problemen, oder wenn etwa dies nicht, so trage
sie doch nichts bei zur Lösung der sich auch sonst ergebenden Probleme.
Am radikalsten ist natürlich die erste Behauptung, und sie muß
deshalb zuerst ins Auge gefaßt werden. Ist es wahr, daß unlösbare Probleme,
d. h. unaufhebbare Widersprüche mit den Forderungen und Regeln der
Einzelwissenschaften entstehen, wenn man als wirklich nicht nur das
einfach Gegebene betrachtet, sondern alles, wofür sich aus eben jenen
Forderungen und Regeln der Wissenschaften eine bestimmte räumliche
und zeitliche Orientierung ergibt.?* Ist es wahr, daß jene Widersprüche
sich nur vermeiden lassen, wenn man den Begriff des Wirklichen ein-
*) Vgl. z. B. die trefflichen Ausführungen von W. Freytag, Der Realismus und
das Transzendenzproblem. VII. Abschnitt. 1902; ferner G. Störring, Einführung in
die Erkenntnistheorie. S. 130. 1909
Kritik der Immanenz-Gedanken, 173
schränkt durch Zurückgehen auf seinen ersten Ursprung, nämlich das un-
mittelbar Erlebte?
Ganz zweifellos wird durch das Zurückziehen auf den Immanenz-
standpunkt eine Reihe von philosophischen Kämpfen verhütet und un-
nötig gemacht. Jeder ernste Denker hat wohl gelegentlich die Versuchung
gespürt, die quälenden Probleme dadurch loszuwerden, daß er sich auf
diesen Standpunkt stellt. Wie Herbart meinte, daß jeder tüchtige An-
fänger in der Philosophie Skeptiker sein müsse, so kann man vielleicht
hinzufügen, auch durch das Stadium der Immanenzphilosophie müsse der
gewissenhafte Denker sich hindurcharbeiten. Der Standpunkt macht es
möglich, Probleme überhaupt zu verhindern, Denkkonflikte gar nicht erst
entstehen zu lassen, und das scheint eine viel bessere Methode zu sein,
als die voll ausgebrochenen nachträglich zu heilen. Und dies prophylak-
tische Verfahren scheint immer anwendbar zu sein, denn es ist ja klar:
was ursprünglich von der Welt gegeben, was vor aller denkenden Beurtei-
lung da ist, das muß widerspruchsfrei sein. Tatsachen widersprechen sich
nicht, unser Denken muß schuld sein an allen Konflikten, es muß sie durch
irgendwelche Fehltritte herbeigeführt haben. Richtige Gedanken über
vorliegende Tatsachen können nie zu Widersprüchen führen; alles schlecht-
hin Vorhandene ist positiv und erst durch den Akt der Verneinung wird
Widerspruch möglich (siehe oben S. 59 f.). So kommt man zu dem posi-
tivistischen Wunsche, überhaupt bei dem schlechthin Tatsächlichen
stehen zu bleiben, Denkzutaten ängstlich zu vermeiden und es einfach
bewenden zu lassen bei der bloßen Beschreibung des Vorhandenen durch
Urteile, ohne Hypothesen hinzuzufügen.
Es versteht sich aber leider von selbst, daß die pedantisch strenge
Durchführung dieses Programms einen Verzicht auf Erkenntnis über-
haupt bedeuten würde. Erkennen setzt eben Denken voraus, und dazu
bedarf es der Begriffe, und sie können nur gewonnen werden durch eine
Bearbeitung des Tatsachenmaterials, welche sofort die Möglichkeit von
Fehlern und Widersprüchen schafft. Die wissenschaftliche Beschreibung,
welche Erklärung ist, besteht ja darin, daß mit Hilfe von Wiedererkennungs-
akten die Tatsachen aufeinander bezogen und durcheinander gedeutet
werden ^).
So hebt sich also dieser extreme Standpunkt bei strenger Durch-
führung von selbst auf; man kann aber doch hoffen, seine Vorteile auch
dann noch zu genießen, wenn man ein Minimum von Denkzutaten ge-
stattet. Es ist nun eben die Behauptung des Immanenzgedankens, daß
zu diesem Minimum die Annahme der Dinge an sich nicht gehört.
Deswegen will er von dem Kriterium der zeiträumlichen Bestimmung sich
abwenden und zurückkehren zu dem ursprünglichsten Standpunkt, der
auch in der Weltanschauung des naiven Individuums bereits verlassen ist.
^) Daß jedes Urteil als solches über das Gegebene transzendiert, zeigt sehr gut
W. Freytag, Der Realismus und das Transzendenzproblem. 1902. S. 123 ff.
174 Die Setzung des Wir klichen.
Es werden nur die elementarsten Voraussetzungen von solcher Einfachheit
zugelassen, daß -sie tatsächlich allen Ausgangspunkten gemeinsam sind
und von niemand in Zweifel gezogen werden. Avenarius erwähnt z. B.
als eine solche Voraussetzung die „empiriokritische Grundannahme der
prinzipiellen menschlichen Gleichheit" (Der menschliche Weltbegriff, § 14).
Ebenso treten bei Mach einfache Analogieschlüsse auf, nach welchen
wir z. B. unseren Nebenmenschen Gefühle und Vorstellungen ähnlich
unseren eigenen zuschreiben dürfen, obwohl sie uns nie gegeben sind.
Diese Annahmen, gegen die ja ganz gewiß nichts einzuwenden ist, kann
man getrost zulassen, ohne daß dadurch allein jene gefürchteten Probleme
entstehen, vor denen man die Flucht ergreift.
Welches sind denn nun diese Probleme.'*
Es ist eigentlich gar nicht eine Mehrheit von Problemen, sondern
im Grunde nur ein einziges, oder wenigstens gipfeln in diesem einen alle
anderen und werden mit ihm zugleich gelöst: es ist das Problem, welches
seit Descartes im Mittelpunkte der gesamten neueren Metaphysik steht:
die Frage nach dem Verhältnis des Psychischen zum Physischen. Die
Zurückverfolgung der verschiedenen Gedankengänge zeigt leicht, daß es
wirklich dieses Problem ist, vor dem man sich auf die Festung der Immanenz
flüchtet, um nicht in den metaphysischen Positionen des DEscARTEs'schen
Dualismus, des GEULiNx'schen Occasionalismus oder der LEiBNiz'schen
Monadologie und prästabilierten Harmonie den Sturmangriffen der Kritik
ausgesetzt zu sein. Selbst wenn einer der hervorragendsten Vertreter der
zu besprechenden Ansicht nicht ausdrücklich erklärt hätte, daß es sich
so verhält ^), so kann man es doch dem Immanenzgedanken in allen seinen
Formen leicht ansehen, daß er aus dem Wunsche hervorgeht, dem psycho-
physischen Problem zu entfliehen.
Es ist nun wahr, und wird auch wohl allgemein zugestanden, daß bei
der Rückkehr auf den unmittelbarsten, der philosophischen Reflexion vor-
hergehenden Standpunkt das Problem vom Verhältnis des Seelischen zum
Körperlichen in der Tat verschwindet, denn diese Unterscheidung wird
zweifellos erst durch eine begriffliche Bearbeitung hineingetragen in den
Ablauf der Erlebnisse, in welchem die Welt ursprünglich für uns besteht.
Es ist nur nötig, die gedankliche Abstraktion, welche die Trennung des
Physischen vom Psychischen vollzieht und beiden seine Grenzen anweist,
hinterher von allen Fehlern zu reinigen und ihren wahren Sinn festzustellen.
Es gibt keinen anderen Weg, des Problems Herr zu werden. Auch Kant
löst es, indem er zeigt, daß die ganze Schwierigkeit eine ,, selbstgemachte"
sei *) und aus einer ,, erschlichenen" dualistischen Vorstellung entspringe ').
Zwei so verschieden gerichtete Denker wie Kant und Avenarius sind
(wie wir noch näher zeigen werden — unten § 32 — ) im Prinzip zu der
gleichen Auflösung — oder vielmehr Aufhebung — des Problems gelangt:
^) Mach, Analyse der Empfindungen. 5. Aufl. S. 24, Anm.
*) Kritik der reinen Vernunft. Kehrbach S. 326.
3) Ebenda. S. 329.
Kritik der Immanenz- Gedaxiken. 175
das ist gewiß höchst bemerkenswert und ein schönes Anzeichen dafür,
daß hier wirklich die Wahrheit gefunden und eine hemmende Schwierig-
keit endgültig ihrer Schrecken beraubt ist.
Hätte Kant mit seiner Philosophie recht, so würde sein System be-
weisen, daß die Bewältigung des psychophysischen Problems sich mit
der Annahme von Dingen an sich ohne Widerspruch vereinigen läßt, denn
bei ihm finden wir ja beides. Es würde dann also das wichtigste Motiv
für den Standpunkt der Immanenz fortfallen; seine Vertreter könnten
uns nicht mehr sagen: ,,Seht, ihr müßt auf unsere Seite treten, wenn ihr
das Verhältnis des Körperlichen zum Seelischen restlos in Klarheit er-
schauen wollt!" Aber es ist gewiß kein ausreichendes Argument, sich
hier einfach auf Kant zu berufen, denn gerade ihm ist oft genug der
Vorwurf gemacht worden, das Ding an sich sei die Quelle unlösbarer
Widersprüche in seinem System. Es muß also besonders und ausdrücklich
geprüft werden, ob die Behauptung des Immanenzgedankens zu Recht
besteht, daß jede Transzendenz über irgendwie Gegebenes hinaus unauf-
hebbare Widersprüche in die Welterklärung hineinbringe.
Wir bestreiten diese Behauptung und müssen also nachweisen, daß
die Annahme transzendenter Größen, d. h. die Existenz nicht unmittelbar
gegebener Größen zu keinerlei Unverträglichkeiten führt. Dies geschieht
am besten auf indirektem Wege, indem wir zeigen, daß gerade die imma-
nenten Systeme an Widersprüchen kranken, deren Grund in der Unmög-
lichkeit liegt, die Leugnung der Dinge an sich mit der Rechtmäßigkeit
der empirischen Forschungsmethoden und ihrer sichersten Grundsätze zu
vereinen.
Wir drehen also den Spieß um und zeihen den Immanenzstandpunkt
des Widerspruchs, indem wir behaupten, daß unter seinen Voraussetzungen
die Anwendung der Prinzipien der wissenschaftlichen Einzelforschung (auf
welche gerade von dieser Seite so großes Gewicht gelegt wird) ihren guten
Sinn verhert und innerhalb seines Gedankenkreises nur dadurch gerecht-
fertigt erscheinen kann, daß versteckte Annahmen eingeführt werden,
welche in Wahrheit der Setzung des Dinges an sich gleich kommen.
In der reinsten Form finden wir die zu besprechende Ansicht bei
AvENARius und bei Mach. Im Anschluß an diese Denker sei daher
hier das Wesentliche des Immanenzstandpunktes dargestellt und kritisch
beleuchtet. In der Heraushebung der Grundsätze wollen wir dabei der
Darstellung Mach's folgen, die den Vorzug großer Anschaulichkeit hat;
wo es aber auf die genaue logische Analyse der entscheidenden Punkte
ankommt, müssen wir uns an die Formulierungen von Avenarius
halten, welche in ihrer peinlichen Exaktheit diejenigen von Mach bei
weitem übertreffen.
Die Lehre der Immanenzphilosophie ist also nun folgende. Streifen
wir alle ungerechtfertigten und überflüssigen Denkzutaten ab, so erkennen
wir, daß die Welt ein Zusammenhang von Farben, Tönen, Gerüchen,
176 Die Setzung des Wirklichen.
Geschmäcken, Drucken usw. ist. Diese ,, Elemente" (so bezeichnen sie
Mach und Avknarius, während z. B. Th. Ziehen von ,,Gignomenen"
redet) sind immer in irgendwelchen Verknüpfungen untereinander gegeben;
sie können niemals ganz aus ihnen losgelöst werden, und es hat keinen
Sinn, zu fragen, wie sie etwa ,,an sich" beschaffen sind, abgesehen von
allem Zusammenhang mit anderen Elementen. Jene Verknüpfungen sind
immer wechselnd, aber es treten in ihnen doch relativ beständige Zu-
sammenhänge hervor, die sich von dem mehr Veränderlichen abheben, in
besonderen Vorstellungen zusammengefaßt werden und eigene Namen er-
halten. Was wir z. B. Körper nennen, sind relativ konstant verknüpfte
Komplexe von Farben, Drucken usw. „Als relativ beständig zeigt sich
ferner der an einen besonderen Körper (den Leib) gebundene Komplex
von Erinnerungen, Stimmungen, Gefühlen, welcher als Ich bezeichnet
wird" (Analyse d. Empfind. S. 2); ,, nicht die Körper erzeugen Empfin-
dungen, sondern Elementenkomplexe (Empfindungskomplexe) bilden die
Körper". Ebensogut wie in meinem Ich können die Elemente auch in
anderen Ichen zusammengeballt sein: ,,Ganz unwillkürlich führt das Ver-
hältnis zu dem Bilde einer zähen Masse, welche an mancher Stelle (dem
Ich) fester zusammenhängt" (a. a. O. S. 14). Die Wissenschaft hat nun
die Aufgabe, die Abhängigkeit der Elemente voneinander auf die ein-
fachste, möglichst ökonomische Art zu beschreiben. Untersuche ich die
Abhängigkeit von Elementen untereinander, die den Komplexen ,, Körper"
angehören, so treibe ich Physik, untersuche ich aber die Abhängigkeit
irgendwelcher Elemente von solchen, die dem (natürlich niemals scharf
abgegrenzten) Komplex ,,Ich" angehören, so treibe ich Psychologie. ,, Nicht
der Stoff, sondern die Untersuchungsrichtung ist in beiden Gebieten ver-
schieden" (S. 14). ,,In der sinnlichen Sphäre meines Bewußtseins ist
jedes Objekt zugleich physisch und psychisch" (S. 36). Die Elemente
sind an den Orten, wo sie räumlich lokalisiert wahrgenommen, erlebt
werden, nicht etwa im Gehirn, von wo sie erst in den Raum hinausprojiziert
würden.
Es ist ein großzügiges Weltbild von erstaunlicher Einfachheit, das
uns hier entworfen wird, scheinbar notwendig widerspruchslos, denn es ist
ja alles ausgemerzt, das nicht der über allen Zweifel erhabenen Region
des schlechthin Gegebenen angehörte. Alle Bedürfnisse der Wissenschaft,
scheint es, werden in ihm vollkommen befriedigt, denn man muß sich
nur klar machen, „. . . . daß nur die Ermittlung von Funktional-
beziehungen für uns Wert hat, daß es lediglich die Abhängigkeiten
der Erlebnisse voneinander sind, die wir zu kennen wünschen"
(S. 28). Die letztere Behauptung enthält natürlich etwas Richtiges, denn
alle Wahrheit — und um Wahrheit allein ist es ja der Wissenschaft zu
tun — offenbart sich uns nur in bestimmten Erlebnissen der Verifikation
(siehe oben II, § 20).
In dieser Weltansicht hat das Ding an sich keinen Platz, und der
Immanenzphilosoph ist froh, dieses, wie es ihm scheint, überflüssige und
Kritik der Immanenz- Gedanken. 177
wertlose Phantasiegebilde los zu sein; im übrigen aber kann man sagen
— und mit diesen Worten läßt ein scharfsinniger Kritiker ^) Mach's
dessen Philosophie Gerechtigkeit widerfahren: „Nichts Wertvolles fehlt
diesem Weltbild, nicht das fremde Ich, nicht die ,,Welt", d. i. eine un-
endliche Mannigfaltigkeit von Elementen, nicht Ordnung und Gesetz-
mäßigkeit in dieser Welt, nicht die Realität dieser Welt, nicht ihre
Entwicklung . . . ."
Der Standpunkt für den Aufbau dieses Weltbildes ist so günstig ge-
wählt, daß der Immanenzphilosoph gleich, weit entfernt bleibt von den
Gefahren des Dualismus und Materialismus, wie vom subjektiven Idealismus
mit seiner steten Gefahr, die Verbindung mit der Außenwelt ganz zu
verlieren und in den Abgrund des Solipsismus hinabzugleiten. Um die
beschriebene Ansicht prüfen zu können, muß man sich ganz in sie ein-
leben, und wer sie ohne solche Vorbereitung angreift, wird meist sein
Ziel verfehlen (vgl. die treffende Abwehr unzureichender gegen Mach
gerichteter Argumente, in der soeben zitierten Arbeit von V. Stern).
Die Einfühlung in ein philosophisches System besteht nun aber darin,
daß man sich bei jeder einzelnen Frage und Aussage des Lebens und der
Wissenschaft genau vergegenwärtigt, welchen eigentlichen Sinn jene Frage
oder Aussage innerhalb des Systems annimmt. Macht man sich die
Immanenzgedanken in dieser Weise zu eigen, so bemerkt man bald, daß
sich gewisse Schwierigkeiten ergeben bei der Deutung aller derjenigen
Sätze, in denen von Körpern oder Vorgängen die Rede ist, deren Elemente
niemanden gegeben sind; ja auch dort schon, wo die Elemente des Gegen-
standes mehreren Individuen auf einmal gegeben sind.
Wir betrachten zunächst den ersten Fall.
Daß wir in alltäglichen wie wissenschaftlichen Urteilen immerfort von
körperlichen Gegenständen reden, die keinem Bewußtsein gegeben
sind, ist fraglos. Ich spreche von den Manuskripten, die sich jetzt in
meinem Schreibtisch befinden, ohne daß sie mir oder irgend jemand anders
in diesem Augenblick erlebt wären; durch den Tisch hindurch kann
ich sie ja nicht wahrnehmen. Freilich waren die Elemente, deren Komplexe
sie nach Mach sind, mir oft genug gegeben, und ich kann sie mir jeder-
zeit wieder zur Gegebenheit bringen, ich brauche dazu nur die Schublade
aufzuziehen und meinen Augachsen eine bestimmte Richtung zu geben,
oder meine Hände bestimmte Tastbewegungen ausführen zu lassen. Und
ähnliches gilt von allen Gegenständen des täglichen Lebens. Das naive
Individuum interessiert sich nur für Dinge, die von ihm selbst oder seines-
gleichen wahrgenommen werden, wurden oder noch werden können. Die
Wissenschaft aber geht darüber hinaus zu Dingen, von denen es nach ihren
) Victor Stern, Die logischen Mängel der MAcn'schen Antinaetaphysik und die
realistische Ergänzung seines Positivismus. Viertel jahrschr. f. wiss. Phil. 38. (1914)-
s. 391.
Schlick, Erkenn tnislehre. 12
178 Die Setzung des Wirklichen.
eigenen Prinzipien ausgeschlossen ist, daß sie je einem Menschen gegeben
würden. Sie fällt Urteile über das Innere der Sonne, über Elektronen,
über magnetische Feldstärken (für die wir ja kein Sinnesorgan besitzen)
usw welcher Sinn kommt diesen Aussagen zu?
Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Jene nicht ge-
gebenen Gegenstände werden entweder als wirklich bezeichnet oder
nicht.
Wer die zweite Möglichkeit annimmt, erklärt damit die Begriffe
von jenen Gegenständen für bloße Hilfsbegriffe ohne unmittelbare reale
Bedeutung. Auf diese Position werden wir sogleich zu sprechen kommen.
Vorher aber wollen wir die erste Möglichkeit ins Auge fassen, die in
der Tat meist bevorzugt wird, obgleich dadurch eigentlich ja schon die
deutlichste Verletzung des Grundprinzips aller Immanenzgedanken be-
gangen ist. Der Immanenzphilosoph sucht aber die natürliche Weltansicht
soviel wie nur irgend möglich beizubehalten, ja nach Avenarius ist
gerade er es, der diese Weltansicht in ihrer völligen Reinheit bewahrt und
herausstellt; und da muß er sich eben eine gewisse Transzendenz gestatten.
Wir haben ja auch festgestellt, daß wohl alle Weltanschauungen sich dar-
über einigen können, gewisse nächstliegende Analogieschlüsse unbedenk-
lich zuzulassen, auch wenn eine Transzendenz mit ihnen verbunden ist.
Durch die Annahme einer realen Vergangenheit, ja mit jedem Urteil
transzendieren wir doch bereits über das schlechthin Gegebene; und wenn
der Immanenzphilosoph sein Grundprinzip so verallgemeinert fassen kann,
daß auch die Setzung gewisser nicht gegebener Gegenstände als real
nur diese unschuldige, und keine andersartige und weitergehende Trans-
zendenz erfordert, so wird er sie sich gestatten dürfen, ohne sich eines
Verstoßes gegen seine Grundtendenz schuldig zu fühlen. Doch weiter.
Nach der jetzt zu besprechenden Ansicht existieren reale Gegen-
stände auch, ohne irgendwie direkt wahrgenommen zu werden. Vai-
HiNGER, der diesen Standpunkt als ,, kritischen Positivismus" bezeichnet,
sagt z. B. ^): ,,. . . wirklich heißen wir auch solche Wahrnehmungs-
komplexe, welche nicht bloß etwa einmal in die Wahrnehmung treten,
sondern stets wahrnehmungsfähig sind".
Da die realen Gegenstände nichts sind als Komplexe von Elementen,
so müssen demnach auch Elemente Wirklichkeit besitzen, welche nicht
,, gegeben" sind. Hier erhebt sich aber eine gewaltige Schwierigkeit. Bei
kurzer Überlegung wird man gewahr, daß ein Körper überhaupt gar nicht
aus dem Zusammenhange ganz bestimmter Elemente bestehen kann
Wir sahen ja, daß ihm nur relative Konstanz zugeschrieben werden
darf. In der Tat, wenn ich die Blätter aus meinem Schreibtisch nehme
und sie betrachte, so sind es je nach Art und Standpunkt der Be-
trachtung gänzlich verschiedene Elemente, deren Miteinander das Wesen
der Papierblätter ausmacht: bei direktem Aufblick andere als bei seit-
^) Die Philosophie des Als Ob. 2. Aufl. S.
Kritik der Immanenz- Gedanken. 179
lieh am, bei künstlicher Beleuchtung andere als bei Tage; jeder kleine
Schatten, jede Bewegung ändert die Elemente erheblich; niemals wird es
voi kommen, daß mir ein und derselbe Körper auch nur zweimal als
genau derselbe Elementenkomplex gegeben ist welcher jener
unendlich vielen Elementenkomplexe existiert denn nun eigentlich, wenn
niemand das Papier wahrnimmt? Natürlich nicht etwa ihre Gesamtheit,
denn die ist unendlich mannigfach und enthält einander widersprechende
Elemente, und während mir der Körper gegeben ist, besteht er doch in
einem bestimmten Zeitpunkt immer nur aus einem ganz bestimmten
Komplexe. Der nicht gegebene Körper kann aber auch nicht aus irgend-
einem derjenigen Komplexe bestehen, die ihn bilden, wenn er ge-
geben ist, denn es fehlt der zureichende Grund, warum eher der eine als
der andere von diesen Komplexen den Vorzug haben sollte. Keine von
beiden Annahmen also ist haltbar, und eine dritte willkürlich zu wählen
hat der Immanenzphilosoph auf seinem Standpunkt vollends kein Recht.
Er kann gegenüber dieser Frage nur eine Haltung einnehmen: er muß
sie als falsch gestellt zurückweisen und muß sagen, daß wir mit unserer
Frage die Körperelemente in unerlaubter Weise loslösen aus den Ver-
bindungen, in welchen sie sonst immer vorgefunden werden. Sie treten
doch stets nur auf in Verknüpfung mit Elementen von ,,Ich"-Komplexen;
ein Körper ist mir nur ,, gegeben", wenn zwischen seinen Elementen und
denen meiner Sinnesorgane bestimmte Beziehungen bestehen. Es ist gänz-
hch sinnlos, sie aus diesen Beziehungen loslösen zu wollen. Populär aus-
gedrückt: es ist ein Widerspruch, zu fragen: ,,Wie sieht ein Ding aus,
wenn niemand es sieht.?"
Die Frage also: Welche Elemente bilden einen realen Gegenstand,
während er nicht wahrgenommen wird.? muß als sinnlos von vornherein
abgelehnt werden. Dieser unvermeidliche Schritt, der von Mach und
AvENARius natürlich auch vollzogen wird, bedingt aber eine nicht un-
wesentliche Modifikation der Mach 'sehen Formulierung (bei Avenarius
findet sie sich daher auch nicht), der Körper bestehe in den zu einem
Komplex vereinigten Elementen selbst. •
Ehe wir aber auf diese notwendige Modifikation eingehen, wollen wir
zur Sicherheit noch einen Versuch mancher Philosophen betrachten, jene
Formulierung aufrecht zu erhalten. ,,Alle Schwierigkeiten", sagt nämlich
J. Petzoldt ^) ,,die Elementenverbände der optischen und taktilen
Qualitäten auch unabhängig von ihrer Wahrnehmung noch existierend zu
denken, rühren nur daher, daß man sich so schwer von der Vorstellung
eines absoluten Seins losmacht und sich nicht genügend in den Gedanken
der relativen Existenz versenkt". Daß seine Ansicht sich nicht in Wider-
sprüche verwickele, sucht er dann durch folgende Ausführungen dar-
zutun ^): ,,In dem bloßen Weiterbestehenlassen der Dinge auch nach ihrer
^) Das Weltproblem, i. Aufl. S. 141.
■'') Ebenda. S. 143.
i8o Die Setzung des Wirklichen.
Wahrnehmung — von den ihnen beizulegenden Qualitäten abgesehen —
liegt kein Widerspruch: sie füllen ja ihren besonderen Raum aus und
stören meine gegenwärtigen Wahrnehmungen nicht im geringsten. Der
Widerspruch könnte also nur in den Qualitäten liegen, mit denen ich sie
fortexistierend denke, und allerdings würde er sich sofort geltend machen,
wenn ich eine absolute, für jeden gleiche Fortexistenz dächte. Denke ich
aber die Dinge genau wie schon bei der Wahrnehmung durch verschieden-
artige Individuen auch bei der Fortexistenz für jede Individualität anders,
anders für den Farbenblinden, anders für den Tauben, anders für den
völlig Blinden, anders für eine etwaige, von der menschlichen überhaupt
abweichend organisierte Intelligenz, wo soll da nur ein Widerspruch, etwas
Undenkbares liegen.?"
Leistet diese Argumentation wirklich die versprochene Beseitigung
des Widerspruchs.? Wir müssen es leider verneinen. Petzoldt sagt und
zeigt nur, daß keine Ungereimtheit darin liegt, ein Ding für verschiedene
Individuen verschieden zu denken, und er hätte doch zeigen müssen,
daß ein und dasselbe Ding für verschiedene Wesen Entgegengesetztes
sein könne, rot und nichtrot, hart und nichthart, und zwar unab-
hängig von seinem Wahrgenommenwerden, denn darum handelt es
sich ja gerade. Beides fiele nur zusammen, wenn Sein und Gedachtwerden
(Vorgestelltwerden) dasselbe wären; und nicht nur wir leugnen das Recht,
diese Identifikation zu vollziehen, sondern der Autor versichert uns ja
selber, daß hier von einem Dasein unabhängig vom Beobachter die Rede
ist. Er bestätigt noch einmal (a. a. O. S. 145), daß ,, Dasein . . . nicht
bloß im Wahrgenommenwerden" besteht. Er erklärt in bezug auf die
Urzeit der Erde, die keines Menschen Auge sah ,,die Vorstellung
jener entlegenen Periode durchaus von uns abhängig. Keineswegs aber
wird jene Zeit damit zur bloßen Vorstellung von uns. In ihrer Existenz
ist sie vielmehr von uns völlig unabhängig". Ist also Existenz nicht mit
Wahrgenommenwerden und nicht mit Vorgestelltwerden identisch, fallen
esse und percipi auseinander, so bleibt der Widerspruch unaufgelöst, der
darin besteht, d^iS Wesen eines und desselben Gegenstandes G gleich-
zeitig in unendlich vielen Elementenkomplexen K^, K,, K, .... zu
suchen, die sich mir und allen nur denkbaren Individuen unter allen nur
denkbaren Bedingungen darbieten würden, und die mithin alle zugleich
und alle in gleicher Weise real sein sollen, während niemand den Gegen-
stand wahrnimmt. Man wird vielleicht sagen, es könnten doch ohne
Widerspruch alle die Urteile G = Ki, G = K2 usw. zugleich als wahr an-
genommen werden. Das ist nur dann richtig, wenn nicht jedes dieser
Urteile eine völlige Identität aussprechen soll: gerade dies aber ist hier
tatsächlich der Fall. Jedes der K soll ja das Wesen des G vollständig
angeben, G soll nichts neben oder außer oder hinter K sein, sondern ganz
in K aufgehen, das macht ja eben bei Pktzoldt den Begriff der relativen
Existenz aus. Nun lehrt aber die Logik, daß alle jene Urteile nur dann
Identitäten sind, wenn alle K ein und dasselbe bedeuten; und das ist
Kritik der Immanenz-Gedanken. i8i
gegen die Voraussetzung. Bedeuten sie aber nicht dasselbe, so sind die
Urteile keine Identitäten, G ist nicht identisch mit K, sondern dann sind
die K eben Eigenschaften oder Beziehungen oder wie man es sonst auf-
fassen mag, und damit sind wir beim Begriff des Dinges angelangt,
welches nicht mehr bloß Elementenkomplex ist: G ist nicht mehr eins
der K, es liegt höchstens den K zugrunde. Die K sind alle verschieden;
woher das Recht, sie alle als ein und dasselbe G zu bezeichnen.'' Auf dem
dargestellten Standpunkt existiert dieses Recht schlechterdings nicht.
Kurz, die Formulierung, ein nicht gegebener realer Gegenstand sei nichts
als ein Elemcntenkomplex, muß, wie gesagt, modifiziert werden.
Wenn ich Beleuchtung und Stellung wechsle, also die Beziehung
eines Körpers zu mir und zur Umgebung ändere, oder wenn nicht ich,
sondern ein FarbenbHnder ihn ansieht, so sind es neue Elemente, die zu
einem neuen Komplex zusammentreten, und doch rede ich noch von
demselben Körper. Der eine Gegenstand wird unter anderen Be-
dingungen von anderen Elementen gebildet. Daraus folgt, daß ich auf
die Frage: welche Elemente bilden den Körper.? immer noch die Gesamt-
heit der Bedingungen angeben muß, damit die Frage einen Sinn erhält.
Was ist aber dann das Konstante, das mich berechtigt, die Abwandlungs-
reihe der Elementenverbände unter dem Begriff des einen Körpers zu-
sammenzufassen }
Nun, offenbar die Gesetzmäßigkeit ihres Zusammenhanges.
Diese Gesetzmäßigkeit, dieser Inbegriff von Beziehungen macht also — zu
dieser Folgerung sieht die besprochene Lehre sich gedrängt — das wahre
Wesen des Körpers aus. Auf unser Beispiel angewandt: wenn ich die
Existenz der Papierblätter in meinem Schreibtisch behaupte, so sage ich
damit nicht das Vorhandensein bestimmter Elemente ,,an sich" aus,
sondern meine Erklärung bedeutet, daß sich unter ganz bestimmten Be-
dingungen an bestimmten Orten bestimmte Elemente einstellen werden.
Wenn ich den Schubkasten aufziehe, wenn ich meinen Kopf in die
und die Lage bringe, wenn die Beleuchtung so und so beschaffen ist,
dann tritt an der und der Stelle das Element ,,weiß" auf, daneben das
Element ,,grau" (wo das Papier mehr beschattet ist); wenn ich meine
Hand ausstrecke, so treten bestimmte andere Elemente (Tastempfindungen)
hinzu, usw.
Die Behauptung der Existenz eines nicht wahrgenommenen Dinges
bedeutet also hiernach nicht, daß gewisse Elemente jetzt tatsächlich da
sind, sondern nur, daß sie auftreten würden, sobald bestimmte Be-
dingungen erfüllt wären. Hier haben wir aber genau denselben Gedanken
vor uns, welcher die Theorie der permanenten Empfindungsmöglichkeiten
von MiLL ausmacht; zu ihr führt der entwickelte Standpunkt mit un-
ausweichlicher Konsequenz. Er ist daher auch genau den gleichen Ein-
wänden ausgesetzt wie jene.
i82 Die Setzung des Wirklichen.
Man kann diesen Einwänden nicht dadurch entgehen, daß man das
Wort „Möglichkeit" vermeidet und statt dessen von „Funktional-
beziehungen" redet. Mach sagt an einer Stelle (Analyse d. Empfind.
S. 296): „Dagegen muß ich bemerken, daß für mich die Welt keine
bloße Summe von Empfindungen ist. Vielmehr spreche ich ausdrücklich
von Funktionalbeziehungen der Elemente. Damit sind
aber die MiLL'schen ,, Möglichkeiten" nicht nur überflüssig geworden,
sondern durch etwas weit Solideres, den mathematischen Funktions-
begriff, ersetzt".
Logisch betrachtet ist nun allerdings der mathematische Funktions-
begriff solide genug, aber gerade vom Gesichtspunkte der Realitätsfrage
doch wiederum etwas recht Schemenhaftes, denn er ist ja eben nichts
Wirkliches, sondern ein Begriff. Darüber müssen wir uns klar sein: Wenn
es heißt, ein Körper besteht in gewissen Abhängigkeiten, in gewissen
Funktionalbeziehungen der Elemente voneinander, so bedeutet dies, falls
man fortfährt, von ihm als etwas Wirklichem zu reden, daß man bloße
Begriffe, nämlich reine Funktionalbeziehungen, in das Reich der Realität
erhebt und hypostasiert. Dies Verfahren ist aber natürlich unter allen
Umständen unzulässig.
Halten wir uns doch vor Augen, was es mit dem mathematischen
Funktionsbegriff und seiner Anwendung auf die Wirklichkeit auf sich hati
Wenn wir ein Stück Papier hin und her wenden oder es zusammenrollen,
so wechseln die Elemente des Komplexes ,, Papierblatt" (und auch die-
jenigen meiner das Blatt haltenden Hand usw.) dabei in ganz bestimmter
Weise. Mit der Änderung der einen gehen Änderungen der anderen einher,
in der Dunkelheit verschwinden die optischen Elemente ganz und es
bleiben nur die hap tischen bestehen; diese Abhängigkeit könnten wir uns
durch ein Gesetz mit Hilfe mathematischer Funktionen dergestalt denken
— tatsächlich darstellen können wir sie freilich in Wahrheit niemals, aus
prinzipiellen Gründen, auf die wir später zurückkommen — ; dies Gesetz
ist dann eben eine begriffliche Schöpfung, eine Abstraktion. Wirklich
sind nur die Elemente und ihre Änderungen. Dies gilt von jedem Gesetz,
jeder allgemeinen Abhängigkeitsbeziehung. Das NEWTON'sche Gravi-
tationsgesetz kann nimmermehr als etwas wirklich Seiendes bezeichnet
werden, nur als etwas ,, Geltendes" in der Ausdrucksweise Lotze's, es
ist nicht irgendwo oder irgendwann; wirklich ist allein das Verhalten
der Körper, das wir durch die NEWTON'schen Formeln nur beschreiben.
Es ist ferner zu beachten; Solange das Papier wahrgenommen wird,
könnte man wohl sagen, sein Wesen- besteht in dem Zusammenhang der
Elemente weiß, glatt, viereckig usw., denn solange die Elemente selbst
da sind, ist ja auch ihr Zusammenhang etwas Reales; während der Wahr-
nehmungspausen aber, in welchen kein Auge das Papier erschaut, keine
Hand es ertastet, ist das gewiß nicht mehr erlaubt, denn jene Elemente
existieren ja jetzt gar nicht mehr. Nun wird man sicherlich nicht die
Absicht haben, etwas Wirkliches definieren zu wollen als eine Beziehung
Kritik der Immanenz- Gedanken. 183
zwischen unwirklichen Größen; es bleibt also nur übrig, den Körper (das
Papier) in diesem Falle aufzufassen als eine Funktionalbeziehung zwischen
den gerade jetzt tatsächlich gegebenen Elementen, also z. B. meinen Händen,
die ja in der Tat. wenn sie gewisse Manipulationen vornehmen, das Papier
zum Vorschein bringen werden. Eine derartige Auffassung könnte man
durch den Hinweis zu legitimieren suchen, daß doch alle Elemente mit
allen anderen irgendwie zusammenhängen; aber ökonomisch und mit
dem natürlichen naiven Wirklichkeitsbegriff vereinbar wäre sie selbst dann
nicht, wenn es anginge, das Wesen der Realität überhaupt in Funkti^nal-
beziehungen zu suchen.
Das geht aber nun durchaus nicht an. Der abstrakt logische Kon-
ditionalsatz, daß bestimmte Elemente auftreten, wenn gewisse Be-
dingungen erfüllt sind (vielleicht werden sie aber nie erfüllt), dieser Satz
kann unmöglich als der ganze Inhalt der Existentialbehauptung eines
Körpers verstanden werden; dann würde ja die Gültigkeit abstrakter Sätze
mit dem Sein realer Dinge identifiziert: das läge ganz gewiß nicht im
Sinne der Immanenzphilosophie und widerspräche ihrer Grundidee. Wir
hätten eine neue Metaphysik, die Begriffe zu Wirklichkeiten macht wie
nur irgendeines der alten verpönten Systeme.
Wer da sagt, ein Ding der Außenwelt ist ein gesetzmäßiger Zu-
sammenhang von Elementen, der auch besteht, wenn die Elemente
selbst nicht gegeben sind ^), und dann glaubt, den Dingen damit die-
selbe Realität zugesprochen zu haben, wie sie etwa ein Sinnesdatum
besitzt, der hat das Gesetz dadurch verdinglicht, und seine
Begriffsbildung ist identisch mit dem Begriff der Kraft, wie er in
einer nunmehr überwundenen Phase der Naturwissenschaft herrschend
war. Die Gesetzlichkeit des Zusammenhanges ist ihm tatsächhch zu
einer Macht geworden, welche gewisse Elemente einfach erzeugt,
sobald gewisse Bedingungen vorhanden sind. ,,Das Gesetz als objektive
Macht anerkannt, nennen wir Kraft" schrieb Helmholtz im Jahre 1881
(in den Anmerkungen zu seiner Schrift über die Erhaltung der Kraft).
Was im Begriff der permanenten Möglichkeiten der Empfindungen oder
in dem ,, objektiv existierenden Gesetz" gedacht wird, ist ganz genau
dasselbe, was man sonst unter dem Begriff der Kraft zu denken pflegte
— wenn man sich auch nicht entschließen will, es so zu nennen. Dam^t
ist der beschriebene Standpunkt zum Dynamismus geworden; die
Welt der Außendinge ist für beide ein System von Kräften. Sie be-
zeichnen es zwar mit verschiedenen Worten, aber darauf kann es doch
nicht ankommen; sachlich besteht kein Unterschied zwischen beiden
Positionen. Der Immanenzstandpunkt ist auf diese Weise jedenfalls ver-
lassen. Und eben dies mußte hier gezeigt werdea
Der Fehler besteht eben darin, daß hier unternommen wird, die Wirk-
lichkeit eines Körpers zu definieren; alle solche Versuche müssen zu
) z. B. H. Cornelius, Einleitung in die Philosophie^. S. 271.
184 Die Setzung des Wir klichen.
Ungereimtheiten führen, sie laufen auf die MiLL'sche Erklärung des Wirk-
lichen durch das Mögliche hinaus (s. oben S. 161). Der Begriff des Realen
kann nicht auf unwirkliche Begriffe zurückgeführt, er muß dem Erleben
entnommen werden. Begriffe und Realitäten sind nun einmal unvergleich-
bar verschieden und können nicht ineinander übergeführt werden. Nur
die Anerkennung dieser Unterscheidung macht logisches Denken möglich,
und jede Verwischung des Unterschiedes führt zu den großen Fehlern
der historischen metaphysischen Systeme. Es ist aber einer der charak-
teristischen Züge des immanenten Positivismus, daß er reale und rein
begriffliche Verhältnisse miteinander vermengt. Mach sagt (Analyse
S. 296): „Für den Naturforscher {}) ist die Kluft zwischen der anschau-
lichen Vorstellung und dem begrifflichen Denken nicht so groß und nicht
unüberbrückbar". Gewiß kann dieser Satz auch in einem Sinne verstanden
werden, in welchem er vollständig richtig ist (vgl. oben Teil II, den Schluß
des § 17), aber er ist falsch in jedem Sinne, in dem er dazu verführen kann,
die Wirklichkeit aus mathematischen Funktionsbegriffen zu konstruieren.
25. Fortsetzung der Kritik der Immanenz-Gedanken.
Der Weg, den wir bis hierher mit Mach und Petzoldt verfolgt
haben, ist also versperrt; wir müssen zurück. Überschauen wir ihn noch
einmal kurz.
Die Frage, ob auch nichtwahrgenommene Körper ,, wirklich" sind,
mußte verneint werden, wenn man unter ,, Körper" nichts versteht als den
Komplex der Elemente, der uns gegeben ist bei sinnlicher Wahrnehmung
des Körpers. Wir versuchten deshalb mit Mach und Cornelius, nicht
den Komplex der Elemente selbst, sondern das abstrakte Gesetz ihres
Zusammenhanges als Wesea des wirklichen Körpers anzusehen; und auch
das haben wir dann als ein logisch unzulässiges und dem Sinn der ganzen
Aufgabe widerstreitendes Unterfangen erkannt.
Es bleibt also nur der Rückzug auf die zweite der oben (S. 178) er-
wähnten Möglichkeiten, und der Positivist muß Ernst machen mit dem
Festhalten des Ausgangspunktes: nur das tatsächlich Gegebene als real
zu bezeichnen. „Wirklich" ist von einem Körper jeweilig nur, was von
ihm unmittelbar gegeben ist, alles Übrige ist bloßer Begriff, reines
Gedankensymbol. Eine andere Position ist mit dem gewählten Ausgangs-
punkt nicht vereinbar, erst jetzt steht man auf dem Immanenzstandpunkt
in seiner ganzen Reinheit. Man hatte doch immer schon die Abhängigkeit
der ,, Elemente" von dem Komplex des „Ich" betont: dann muß man sie
auch genau so bestehen lassen, wie die Erfahrung sie zeigt. Die Erfahrung
lehrt aber, daß z. B. die optischen Elemente eines Körpers verschwinden,
wenn ich die Augen schließe. Freilich behaupte ich auf Grund der Aus-
sagen der Mitmenschen, die den Körper noch sehen, daß er fortfahre zu
existieren; wenn aber nun auch diese die Augen zumachen oder sich ab-
wenden oder fortgehen, so sind jene Elemente von niemandem mehr er-
Fortsetzung der Kritik der Immanenz- Gedanken. 185
lebt, sie sind für kein Subjekt mehr da und existieren nach dieser Anschau-
ung mithin überhaupt nicht mehr. Der Körper ist nicht mehr, denn die
Elemente nebst ihren Änderungen, die ihn bildeten, sind nicht mehr vor-
handen. Wenn ich dennoch fortfahre, von ihm als etwas Existierendem
zu reden, so handelt es sich bloß um ein Gedankensymbol für die Voraus-
sage, daß die Elemente wieder auftreten werden, sobald ich bestimmte
Bedingungen realisiere.
Mit der Erklärung, daß allem nicht Wahrgenommenen die Realität
abzusprechen sei, einerlei, ob es ,, wahrnehmbar" ist oder nicht, würde
auch eine Inkonsequenz beseitigt, die in den Schriften Mach's und anderer
oft peinlich empfunden werden muß. Einerseits nämlich sprach man ge-
wissen Körpern Wirklichkeit zu, weil sie Wahrnehmbarkeit besäßen, auch
wenn tatsächlich die Verhältnisse so lagen, daß wir sie niemals wahr-
nehmen können (wie etwa die Rückseite des Mondes oder Stoffe tief im
Innern der Erde); andererseits erklärte man die von Chemie und Physik
geschaffenen Begriffe des Atoms, Elektrons usw. von vornherein für bloße
Denkhilfsmittel, nicht für Bezeichnungen realer Größen, weil sie nicht
wahrnehmbar seien. Tatsächlich ist es aber unmöglich, einen prinzipiellen
Unterschied zwischen beiden Fällen zu konstruieren. Denn ,, wahrnehmbar"
ist ein relativer Begriff. Wenn wir einem Gegenstand dies Prädikat bei-
legen, so meinen wir damit, daß er unter irgendwelchen Bedingungen zur
Gegebenheit gebracht werden kann. Für diese Bedingungen bestehen aber
schlechthin unbegrenzte Möglichkeiten, die dem Begriffe jegliche Be-
stimmtheit rauben. Zu ihnen gehört einmal eine gewisse raumzeitliche
Relation zu den wahrnehmenden Sinnesorganen, und ferner eine bestimmte
Beschaffenheit der letzteren. Aber welche Beschaffenheit.? Der eine nimmt
mit seinen Sinnen noch wahr, was der andere mit den seinigen sich nicht
zur Gegebenheit zu bringen vermag; der Hund mit seinem feineren Riech-
organ lebt in einer viel reicheren Welt der Geruchsqualitäten als der
Mensch. Gerade vom positivistischen Standpunkt aus wäre es ganz will-
kürlich, nur menschhche Individuen zum Maßstabe der Wahrnehmbar-
keit zu machen; es könnten ja Wesen existieren gleich den von Maxwell
fingierten Dämonen, denen ein Atom als ein gegebener Elementenkomplex
sich darstellt vermöge ihrer Organisation, die mit der unsrigen gar keine
ÄhnHchkeit mehr hat. Kurz, wie sich die Wirklichkiet überhaupt nicht
durch Möglichkeit definieren läßt, so auch, nicht durch die Möglichkeit
der Wahrnehmung. Auf diese Weise ist es durchaus unmöglich, eine
Grenze zu bestimmen, die das Reich des Wirkhchen umschließt und vom
Irrealen trennt. Um konsequent zu sein, darf der Positivismus nur das
Wahrgenommene, nicht auch das Wahrnehmbare für wirkhch erklären,
alles nicht Gegebene steht für ihn auf der gleichen Stufe, es ist nicht real;
das Innere der Erde und die Rückseite des Mondes sind in demselben
Sinne bloße Hilfsbegriffe des Denkens wie die Atome und Elektronen.
An dieser Stelle ist keine prinzipielle Scheidung möglich.
Auch wir können auf dem Standpunkte, auf den wir uns gedrängt
i86 Die Setzung des Wirklichen.
sehen, keine Unterscheidung zwischen beiden Arten von Denkgegenständen
machen, nur behaupten wir nicht ihre Irrealität, sondern wir erklären. sie
im Gegenteil für vollwirklich und damit leugnen wir zugleich jeden Realitäts- ^^
unterschied zwischen den wahrgenommenen Gegenständen und den durch
strenge Methoden erschlossenen; beiden sprechen wir gleicherweise Wirk-
lichkeit zu.
Die Gegenstände, die wir durch unsere naturwissenschaftlichen
'Begriffe (Körper, Atom, elektrisches Feld etc.) bezeichnen, sind nicht
identisch mit den Elementenkomplexen, aber sie sind ebenso real wie
diese und bleiben es auch, wenn überhaupt kerne Elemente gegeben
sind. Die Eigenschaften und Beziehungen dieser Gegenstände werden
niemals unmittelbar gegeben, sondern stets erschlossen, und das gilt nun
in genau demselben Sinne und Grade von allen physischen Gegen-
ständen, vom Elektron des Physikers so gut wie von dem Brot auf unserem
Tisch. Auf Grund unserer Erlebnisse beim Beschauen und Betasten des
Brotes nehmen wir die Existenz eines relativ beharrlichen Objektes an,
dem wir den Begriff ,,Brot" zuordnen; und auf Grund der Erlebnisse,
die wir bei gewissen Experimentaluntersuchungen haben, wie etwa den-
jenigen von Perrin oder Svedberg, nehmen wir das Dasein von Objekten
an, die wir durch den Begriff ,,Atom" bezeichnen.
Zwischen beiden Fällen besteht nicht der geringste Unterschied,
und die oft gehörte Behauptung, die Existenz der Moleküle könne so
lange nicht als bewiesen gelten, als wir sie nicht sehen können, ist
ganz unberechtigt. Denn das Sehen eines Gegenstandes beweist mir
seine Existenz nur insofern, als ich sie aus den gegebenen Gesichts-
empfindungen erschließen kann, und dazu sind eine Reihe von Prä-
missen nötig über Beschaffenheit des Sinnesorganes, über die Art der
Prozesse, durch die es erregt wird, und anderes mehr. Wenn ich
nun den Gegenstand nicht ,, direkt" wahrnehme, sondern nur seine
,, Wirkungen" beobachte, so wird die Schlußkette um ein Glied verlängert,
aber im Prinzip wird nicht das Geringste geändert, die Dignität des
Beweises bleibt dieselbe. Der Schluß kann unsicherer werden durch
die Einfügung eines neuen Gliedes, braucht es aber nicht, und es wird
nicht der Fall sein, wenn die neue Prämisse von jener höchsten Gewiß-
heit ist, die sich auf empirischem Boden überhaupt erreichen läßt. Ein
Objekt wahrnehmen, heißt schließhch immer: Wirkungen erleben, die von
ihm ausgehen. Ob es sich um etwas nähere oder fernere Wirkungen
handelt, kann keinen prinzipiellen Unterschied begründen. Es ist daher
2. B. ebensogut eine Wahrnehmung eines Heliumatoms, ob ich es nun
,, direkt sehe", oder ob ich seine Bahn (wie C. T. R. Wilson es tat) in
unterkühltem Wasserdampf verfolge, oder (wie Regener) die Lichtpünkt-
chen beobachte, die es beim Anprall an einen Sidotblendeschirm erzeugt ^).
^) Mit prinzipiell dem gleichen Argument wird die Unhaltbarkeit der hier von
uns verworfenen Unterscheidung sehr schön dargetan von B. Bavink, Allgemeine
Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaft. (Leipzig 1914.) S. ig ff., 149 f-
Fortsetzung der Kritik der Immanenz- Gedanken. 187
Doch von dieser Abschweifung zu unserem eigenen, später genauer
zu begründenden Standpunkt kehren wir nun zurück zur Kritik der streng
positivistischen Immanenzlehre, nach welcher alle Objekte, sofern sie etwas
anderes sein sollen als bloße Elementenkomplexe, nicht Wirklichkeiten
sind, sondern reine Hilfsbegriffe, das Brot nicht anders als das Molekül.
Diese Lehre, die unmittelbares Gegebensein und Realität in aller
Strenge identisch setzt, ist von bedeutenden Philosophen formulieit und
öfter noch zum Gegenstande kritischer Erörterungen gemacht worden.
Kein Wunder, daß die Argumente dafür und dagegen sich in typischen
Bahnen bewegen, so daß kaum Aussicht besteht, sie noch durch unerhörte
neue zu vermehren, die man nur auszusprechen brauchte, um sie sofort
allgemein anerkannt zu sehen. Esse = percipi ist die typische Formel für
diesen Standpunkt. Der Philosoph, der sich auf ihn stellt, will natürlich
nicht nur das als real bezeichnen, was er selbst als gegeben vorfindet
(denn sonst wäre er Solipsist, und keines der historischen philosophischen
Systeme hat den Solipsismus ernstlich vertreten), sondern er will nur
sagen, daß nichts wirklich sei, sofern es nicht überhaupt irgendeinem
Subjekte gegeben ist. Oder, wie Avenarius es ausdrückt, alles Exi-
stierende wird als Glied einer ,,Prinzipialkoordination" vorgefunden; denn
so nennt er die ,, Zusammengehörigkeit und Unzertrennhchkeit der Ich-
Erfahrung und der Umgebungserfahrung in jeder Erfahrung, welche sich
verwirklicht" (Der menschliche Weltbegriff, § 148). Was man gewöhnhch
Subjekt nennt, heißt bei ihm ,, Zentralglied" der Prinzipialkoordination,
das Objekt nennt er ,,Gegenghed" derselben. Doch legt er besonderes
Gewicht auf die Feststellung, daß nicht etwa das Zentralglied das Gegen-
glied vorfindet, sondern daß beide ein Vorgefundenes sind, ,,im selben
Sinne zu jeder Erfahrung gehören". So läßt sich die in Frage stehende
Ansicht auch durch die bekannte (ScHOPENHAUER'sche) Formel charak-
terisieren: Kein Objekt ohne Subjekt. Das Ding an sich wäre nun ein
Gegenstand, welcher nicht Glied einer Prinzipialkoordination ist, ein
Objekt, dem es an einem Subjekte fehlt, cui obiectum est (vgl. E. Laas,
Idealismus und Positivismus I, S. 183), und so etwas ^ibt es nicht.
Wir brauchen nur kurz auf die Konsequenzen hinzuweisen, zu denen
das Ausstreichen alles nicht Gegebenen aus der Welt der Realität führt.
Sie sind in neuerer Zeit öfters entwickelt worden, und ich halte es für
erwiesen, daß sie tatsächlich den Prinzipien der wissenschafüichen For-
schung unversöhnhch widersprechen.
Zu diesen Prinzipien nämlich gehört in erster Linie das Kausal-
gesetz. Es fordert einen lückenlosen Zusammenhang alles Realen in der
Weise, daß die wirklichen Vorgänge nach festen empirischen Regeln auf-
einander folgen. Beschränkt man sich aber auf die gegebenen
Größen, so lassen sich für ihre kontinuierhche Sukzession solche festen
Regeln erfahrungsgemäß nicht aufstellen. Um den Zusammenhang
zu schließen, auf dem alle Wissenschaft beruht, müssen die Kausalreihen
durch nicht gegebene Größen ergänzt werden. Wenn ich unvermutet
i88 Die Setzung des Wirklichen.
eine Uhr schlagen höre, die in einem fernen Zimmer so aufgehängt ist,
daß sie unmittelbar vorher weder mir noch irgend einem anderen Sub-
jekte akustisch, optisch oder sonstwie gegeben war, so ist es unmöglich,
für die plötzhch eintretenden lauten Töne eine zureichende Ursache zu
finden in dem gesamten Reiche alles dessen, was in den vorhergehenden
Augenblicken irgendwelchen Prinzipialkoordinationen angehörte. Kausal-
verbindungen bestehen lediglich zwischen Realitäten, nicht zwischen bloßen
Begriffen — beides vermischen hieße ja das Verhältnis von Ursache und
Wirkung mit demjenigen von Giund und Folge verwechseln — es bleibt
daher nur übrig, entweder die Existenz der transzendenten Wirklichkeit
anzuerkennen oder die allgemeine gesetzmäßige Kausalverknüpfung zu
leugnen. (Siehe auch z. B. Freytag, Der Realismus und das Transzendenz-
problem, S. 1 1 ; Störring, Einführung in die Erkenntnistheorie S. 144,
148; ferner die oben — S. 177 — zitierte Abhandlung von V. Stern; sogar
Petzoldt, der deswegen, wie wir sahen, die ,, Elemente" unabhängig
vom percipi existieren lassen will. Er sagt (Weltproblem, i. Aufl. S. 145):
,,Die Wahrnehmung zeigt mit, daß das Lichterspiel in den Blättern und
Stämmen der Bäume da drüben von Sonne und Wolken abhängig ist.
Trete ich vom Fenster zuiück, so nehme ich Sonne und Wolken nicht mehr
wahr, das Lichterspiel aber setzt sich fort. Wie könnte ich nun die For-
derung der Gesetzmäßigkeit dieses Vorganges mit der Intermittenz im
Dasein — nicht bloß im Wahigenommenwerden — der Wolken und der
Sonne vereinen.-'"). Der Immanenzphilosoph will sich für die zweite
Alternative natürlich nicht gern entscheiden, und so widerspricht er sich,
da er auch die erste nicht annehmen möchte.
Er pflegt auf die vorgebrachten Einwände zu antworten, seine Welt
sei genau so gesetzmäßig wie die des ReaHsten, der sogenannte Kausal-
zusammenhang des Geschehens laufe schHeßlich doch immer auf eine
Funktionalbeziehung der Elemente hinaus; diese letztere sei das einzige
Konstatierbare, und die Einschaltung von ,, Dingen an sich" als Zwischen-
glieder nütze nicht das Geringste. Diese Wendung bedeutet aber ein Bei-
seiteschieben, nicht eine Auflösung der eigentlichen Schwierigkeit. Schon
dadurch, daß z. B. Mach statt von kausaler immer von funktionaler
Abhängigkeit reden möchte, wird das Problem unabsichtlich verhüllt, da
der Ausdruck ,, Funktionalbeziehung" gleich gut auf Zusammenhänge des
rein -Begrifflichen wie des Realen zu passen scheint, so daß es gleichgültig
wäre, ob die ergänzten Wesenheiten zum einen oder zum anderen gehören.
Die Frage dreht sich aber eben ausschließlich um Beziehungen zwischen
Wirklichem, und diese heißen von altersher kausale — mag man über
die Begriffe von Ursache und Wirkung im übrigen denken wie man will — ,
durch die Ausdehnung des Terminus Funktion auf dergleichen Beziehungen
können keine Probleme gelöst werden.
Der Kernpunkt aber ist dieser: Wenig gedient ist uns mit der Ver-
sicherung, es hänge alles von allem in eindeutiger Weise ab, und das
Kausalprinzip bleibe daher unter allen Umständen gewahrt. Man könnte
Fortsetzung der Kritik der Immanenz- Gedanken. 189
sich eine Welt beliebiger chaotischer Ereignisse denken und von ihr das-
selbe behaupten — empirische Bedeutung und prüfbaren Sinn hat die
Behauptung kausaler Verknüpfung nur, sofern sich die einzelnen Regeln
tatsächlich angeben lassen, nach denen die Vorgänge in der Welt auf-
einander folgen. Alle derartigen strengen Regeln, d. h. alle Naturgesetze,
die wir kennen, sagen tatsächlich Abhängigkeiten zwischen Größen aus,
die ergänzt, nicht gegeben sind. Ja, es steht so, daß wir überhaupt in
keinem einzigen Falle Beziehungen der Elemente zueinander wirklich
genau anzugeben vermögen, denn die in den exakten Formeln des Natur-
forschers aufgetretenen Größen bezeichnen niemals unmittelbar Gegebenes
oder Änderungen von solchem, sondern immer nur ergänzte Gegenstände,
die mit jenen auf ziemlich komplizierte Weise zusammenhängen. Und
im allerhöchsten Maße gilt das gerade von den fundamentalsten
Gesetzen des Physikers; man denke an die MAxwELL'schen Gleichungen.
Das hat seinen Grund in der später zu begründenden Wahrheit, daß die
,, Elemente" im Prinzip keiner quantitativen Bestimmung zugänglich sind.
Über diese bedeutsamen Tatsache!! aber geht man meist schnell
hinweg. ,,Daß der Naturforscher", sagt Mach (Analyse der Empfin-
dungen^, S- 4) ,, nicht die direkten Beziehungen dieser Elemente, sondern
Relationen von Relationen derselben leichter verfolgt, braucht uns hier
nicht zu stören". In Wahrheit stört es denjenigen sehr, der ein zusammen-
hängendes, logisch abgerundetes Bild des Weltgeschehens sich machen will.
Ihm erscheint es unbefriedigend, daß die wahrhaft einfachen Beziehungen
der Naturgesetze nicht zwischen den Realitäten bestehen sollen, den
Empfindungen, sondern nur zwischen lauter Begriffen, wie Elektronen,
Schwingungszahlen usw., welche reine Denksymbole des Naturforschers
sein sollen und deshalb nur in logischen, nicht in kausalen Beziehungen
zueinandei stehen können.
Der geschilderte Standpunkt ist mit dem Kausalprinzip unvereinbar;
von ihm aus ist es nicht möglich, die Naturgesetze ails Gesetze der Ver-
änderungen des Wirklichen aufzufassen, sie werden also ihres ursprüng-
lichen Sinnes beraubt. Ein absolut vernichtender Schlag ist damit aller-
dings nicht geführt, denn ein Vertreter der kritisierten Ansicht könnte
sagen: nun gut, dann ist eben der Gedanke aufzugeben, daß alles Wirk-
liche nach bestimmten Regeln eindeutig in einen lückenlosen Kausal-
zusammenhang eingeordnet werden kann — es wird ja auf diesem Stand-
punkt von vornherein keine Rede davon sein, den Kausalsatz als apriori-
sches Prinzip und jene Einordnung als etwas schlechthin Notwendiges an-
zusehen — , aber man sieht doch, wieviel hier auf dem Spiele steht: soviel,
daß tatsächlich keiner der Immanenzphilosophen bereit ist, diesen auf
seinem Standpunkt in Wahrheit unvermeidlichen Schritt wirklich zu voll-
ziehen. Es wäre in der Tat ein blinder und völlig nutzloser Dogmatismus,
der bloß um den Satz ,,esse = percipi" aufrecht zu erhalten, die funda-
mentalsten Voraussetzungen alles Forschens über den Haufen würfe, ohne
irgendein anderes Motiv als die Furcht vor den Dingen an sich. Sobald
igo Die Setzung des Wirklichen.
sich diese Furcht als unbegründet herausstellt, ist der ganzen Position
jede Stütze entzogen.
Man hält, wie schon bemerkt, den Begriff des Dinges an sich entweder
für widerspruchsvoll oder für überflüssig. Daß er das letztere nicht ist,
hat sich uns eben herausgestellt, denn wir sahen, daß er gebildet weiden
mußte, um die Eindeutigkeit der Kausalbeziehungen in der Natur zu
wahren; die Grundlosigkeit der ersteren Anklage aber ist bereits oben
bei Besprechung des Argumentes von Berkeley und Schuppe erwiesen
worden (S. 171). Man begegnet diesem selben Argument in verschiedenen
Fassungen bei anderen Denkern wieder; nie ist ein prinzipiell anderes vor-
gebracht worden, und es ist der Sachlage nach wohl auch kein anderer
Beweisversuch dafür möglich, daß jedes Ding Objekt für ein Subjekt sein
müsse. Der Scheinbeweis beruht auf einer gewöhnlichen Äquivokation
und quaternio terminorum. Trotzdem finden wir bei dem scharfsinnigen
AvENARius einige Ausführungen, die kaum anders verstanden werden
können denn als eine Wiederholung jenes alten Argumentes, nur ist der
Irrtum hier besonders geschickt verhüllt, nämlich schon in die unaus-
gesprochenen Voraussetzungen aufgenommen. Er sagt (Der menschliche
Weltbegriff" S. 131), wir seien nicht berechtigt zu der Frage, ,,ob der
Umgebungsbestandteil an und für sich (im spezial-erkenntnistheore-
tischen Sinn) durch andere oder gar keine sinnlichen Qualitäten charak-
terisiert gedacht werden könnte und dürfte; sofern wenigstens
untei dem Ausdruck ,,U m g e b u n g s b e s t a n d t e i 1" (,, Ob-
jekt", ,,Ding'") ,,an und für sich" das Gegenglied nach
Wegdenkung des oder jeden Zentralgliedes zu
verstehen ist. Eine solche Frage ist unberechtigt, weil, so-
wie ich einen Umgebungsbestandteil denke, derselbe eben dadurch
schon Gegenglied ist, zu welchem ich das Zentralglied bin; mich
selbst kann ich aber nicht wegdenken. Einen ,,Umgebungsbestand-
teil" (ein ,, Objekt", ein ,,Ding") ,,an und für sich" denken, heißt mit-
hin etwas zu denken versuchen, was gar nicht gedacht, aber auch
nicht erschlossen werden kann; und: einen ,,Umgebungsbestandteir' (ein
,, Objekt", ein ,,Ding") ,,an und für sich" beschaffenheitlich positiv oder
auch nur negativ bestimmen wollen, heißt etwas Undenkbares
durch Denkbarkeiten zu bestimmen versuchen".
Man hat diese Formulierung der gewöhnlichen (ScHUPPE'schen) über-
legen gefunden, weil sich Avenarius nicht wie jenes Argument gegen den
,, Gedanken eines nicht gedachten Dinges wende, sondern gegen den Ge-
danken eines undenkbaren Dinges. Was Avenarius hier als wider-
spruchsvolle Transzendenz verurteile, sei ,,das Denken von etwas, das in-
sofern es ein Nichtgedachtes ist, auch kein Denkbares sei, d. h. für das
keine Bedingungen denkbar sind, unter denen es ein Gedachtes sein würde"
(F. Raab, Die Philosophie von Richard Avenarius, 1912, Anm. 330, S. 157)-
Das mag richtig sein, es gilt aber wiederum nur, wenn unter Denken „an-
schaulich vorstellen" verstanden wird. In der Tat ist ein Ding an sich,
Fortsetzung der Kritik der Immanenz- Gedanken. 191
d. h. ein Objekt, welches nicht GHed einer Prinzipialkoordination ist, als
solches nicht anschaulich vorstellbar; weiter aber hat Avenariüs nichts
bewiesen, er hat die Denkbarkeit des Dinges an sich nicht widerlegt,
wenn Denken soviel heißt wie: eindeutig durch Symbole bezeichnen. Ein
Umgebungsbestandteil bedeutet nämlich bei Avenariüs definitions-
gemäß immer ein Vorgefundenes oder Vorfindbares, d. h. m unserer
Sprache ein Gegebenes, d. i. anschaulich Vorgestelltes oder Vor-
stellbares, und dieses ist allerdings seinem Wesen nach stets Glied
einer Prinzipialkoordination, nie ,, Objekt an sich". Deshalb hat Avenariüs
auch gewissenhaft hinzugefügt: ,, sofern wenigstens unter dem Ausdruck
,, Umgebungsbestandteil an und für sich" das Gegenglied nach Weg-
d e n k u n g jeden Zentralgliedes zu verstehen ist". Aber man gelangt
eben zu dem Begriff eines Dinges an sich nicht durch bloßes Weg denken
des Zentralghedes, sondern vielmehr durch Hinzu denken eines nicht
Gegebenen zum Gegebenen. So beweisen denn die Ausführungen des
scharfsinnigen Denkers nur, was uns von vornherein klar sein mußte, daß
die Avenariüs' sehen Umgebungsbestandteile keine Dinge an sich sind.
Auch Mach ist, wie schon bemerkt, der Meinung, man gelange zum
Begriff des Dinges an sich durch Weg denken der Merkmale (Analyse
d. Empfind.^ S. 5): ,,Das dunkle Bild des Beständigen, welches sich nicht
wirklich ändert, wenn ein oder der andere Bestandteil ausfällt, scheint
etwas für sich zu sein. Weil man jeden Bestandteil einzeln weg-
nehmen kann, ohne daß dies Bild aufhört, die Gesamtheit zu repräsen-
t i e r e n und wiedererkannt zu werden, meint man, man könnte alle
wegnehmen und es bliebe noch etwas übrig. So entsteht auf natürHche
Weise der anfangs imponierende, später aber als ungeheuerlich erkannte
philosophische Gedanke eines (von seiner ,, Erscheinung" verschiedenen
unerkennbaren) Dinges an sich." — Wir sehen immer wieder, daß
der Positivist sich mit seiner Kritik gegen einen Begriff des Dinges an
sich wendet, der auf eine ganz besondere Weise gebildet ist, hinterher
aber glaubt, den Gedanken eines solchen Dinges überhaupt wider-
legt zu haben. Jene Kritik ist innerhalb ihrer Grenzen sehr wertvoll,
aber die ihr zugeschriebene weitreichende Bedeutung hat sie nicht; und
wir, die wir den Begriff des Dinges an sich auf unsere Weise festgelegt
haben (siehe oben S. 170), werden überhaupt nicht von ihr berührt.
Unsere bisherige Untersuchung der Immanenzgedanken hat haupt-
sächHch die Widersprüche aufgedeckt, zu welchen diese Gedanken allemal
dann führen, wenn es sich um die Bestimmung von Gegenständen handelt,
deren Elemente keinem wahrnehmenden Subjekte gegeben sind. Der
Immanenzphilosoph verwickelt sich aber auch in Schwierigkeiten, wenn
er sich darüber klar zu werden versucht, was es bedeutet, wenn ver-
schiedene Individuen Aussagen über einen und denselben realen
192 Die Setzung des Wirklichen.
Gegenstand machen. Diese Schwierigkeiten müssen jetzt betrachtet
werden.
Das vorliegende Problem ist einfach dies: Zwei verschiedene Sub-
jekte sagen aus, daß sie einen und denselben Umgebungsbestandteil wahr-
nehmen, etwa die Lampe dort an der Decke; welchen Sinn hat diese
Doppelaussage auf dem Standpunkt der Immanenz.!* Die Verfechter dieses
Standpunktes meinen, es handele sich hier einfach darum, daß zwei
Prinzipialkoordinationen ein Gegenglied gemeinsam sei. Und sie legen
hierauf ganz besonderes Gewicht in der klaren Erkenntnis, daß hier eine
der folgenreichsten Weltanschauungsfragen berührt wird, und sie trium-
phieren, diese Frage auf die einfachst mögliche Weise beantwortet zu
haben. Es ist also nicht ein Ding an sich da, das auf geheimnisvolle Weise
in verschiedenen Seelen diese oder jene psychischen Vorgänge, genannt
Empfindungen, ,, bewirkt", sondern es ist ein und dasselbe Objekt, das
mehreren Subjekten zugleich unmittelbar gegeben ist. Die Elemente sind
ja nicht im Gehirn, im Kopf, werden nicht von dort in den Raum hinaus-
projiziert, sondern sie sind eben dort, wo wir sie erleben, sie können der
Erfahrung des einen sowohl wie des andern Individuums gleichzeitig an-
gehören, mit dem ihnen zukommenden Orte. So sagt Mach (Analyse^
S. 294), auf seinem Standpunkt mache er nicht ,, einen wesentlichen
Unterschied zwischen meinen Empfindungen und den Empfindungen eines
andern. Dieselben Elemente hängen in vielen Verknüpfungs-
punkten, den Ich, zusammen". (An einer anderen Stelle, S. 22, meint er
freilich, wie mir scheint, in Widerspruch damit: ,,Ist von den Empfindungen
eines anderen Menschen die Rede, so haben, diese in meinem optischen
oder überhaupt physischen Raum natürlich gar nichts zu schaffen; sie
sind hinzugedacht, und ich denke sie kausal (oder besser funktional)
an das beobachtete, oder vorgestellte Menschenhirn gebunden"). Und
AvENARius sagt von der Anschauung, zu der er sich durchgerungen hat:
Die natürliche . . . allen empirischen Einzelwissenschaften zugrunde
liegende Ansicht, daß ein und derselbe Bestandteil meiner Um-
gebung auch Bestandteil der Umgebung eines anderen Menschen sein
könne, wäre als solche eine haltbare" (Der menschhche Weltbegriff,
§ 161).
Wäre sie wirklich haltbar, so besäße das hier gebotene Weltbild in
der Tat eine verführerische Einfachheit und wunderbare Geschlossenheit;
die Wechselbeziehung der Ich zueinander und zur Außenwelt schiene auf
die klarste Formel gebracht und aller Schwierigkeiten entledigt. Leider
aber erheben sich solche, und zwar von ganz unüberwindlicher Natur,
sobald man versucht, die Position im einzelnen durchzuführen. Physik
und Physiologie nämlich lehren uns übereinstimmend die Unzulässigkeit
der Annahme, daß zwei Menschen, die zu gleicher Zeit die Lampe dort
an der Decke betrachten, genau die gleichen Erlebnisse haben. Da sie sich
ja nicht beide zugleich am selben Ort befinden können, müssen sie die
Lampe von etwas verschiedenen Seiten sehen, auch wird ihre Entfernung
Fortsetzung der Kritik der Immanenz-Gedanken. 193
von den Augen der beiden Individuen nicht genau die gleiche sein. Es
ist also zweifellos ein verschiedener Komplex von Elementen,
den die beiden als „Lampe" bezeichnen. Es möchte nun freilich,
könnte man sagen, für das Weltbild der Immanenzlehre nicht not-
wendig sein, daß zu verschiedenen Zentralgliedern genau dieselben Ele-
mentenkomplexe als Gegenglieder gehören, es würde genügen, wenn
nur überhaupt innerhalb des Komplexes das eine oder das andere Ele-
ment in beiden Prinzipialkoordinationen identisch dasselbe wäre, die
übrigen Elemente könnten in beiden Komplexen mehr oder weniger
verschieden, aber nach ähnlichen Gesetzmäßigkeiten angeghedert sein.
Die Brücke zwischen den Erlebnissen verschiedener Individuen wäre damit
geschlagen, beide würden zwanglos als Bewohner derselben Welt gelten
können und im übrigen blieben die Vorteile dieser Weltanschauung gewahrt.
Leider wird erstens selbst diese bescheidene Forderung niemals mit aller
Strenge erfüllt sein können. Keine Form, keine Farbe wird von beiden
Beobachtern genau gleich gesehen. Die Sehschärfe, die Farbenempfind-
lichkeit ihrer Augen, die Helligkeit wird für beide niemals absolut
die gleiche sein. Wie die beiden Beobachter die Lampe wahrnehmen,
hängt ja, wie auch Av'ENARIus immer wieder betont, von der Organi-
sation ihres ganzen Körpers ab, besonders des Nervensystems, und so
ähnlich sie sich auch sein mögen, es wird stets unerlaubt sein, zwei Natur-
gebilde schlechthin einander gleich anzunehmen. Wir müssen also sagen:
in dem Komplex, welchen veischiedene Individuen als einen und den-
selben Gegenstand bezeichnen, werden sich niemals Elemente finden, die
für beide nach Qualität, Intensität usw. absolut gleich wären.
Zweitens aber: wären sie auch vollkommen gleich, so wäre doch
nichts geholfen, denn sie sind doch nicht identisch, nicht ,, dasselbe".
Wollte einer noch zweifeln, so braucht er sich nur zu denken, daß einer
der beiden Beobachter die Augen schließt: für ihn ist dann die Lampe
weg. Für den andern ist sie noch da; es kann aber identisch derselbe
Gegenstand nicht zugleich dasein und nicht dasein.
Und nun stellen wir wieder dieselbe Frage, die wir oben im Anschluß
an einen Gedankengang von Petzoldt schon stellen mußten (S. 180):
Wie darf ein Umgebungsbestandteil, über den zwei oder mehr Menschen
Aussagen machen, überhaupt als einer, als derselbe bezeichnet
werden.? Wir stellten soeben, im Gegensatz zu Mach und Avenarius
fest, daß ein und dasselbe Element nimmermehr zu mehreren Ich zugleich
gehören, in mehreren Prinzipialkoordinationen auftreten kann. Mögen die
Erlebnisse der verschiedenen Ich einander noch so ähnhch sein (was freilich
prinzipiell nie feststellbar wäre): das nützt uns hier gar nichts; sobald
nicht absolute Identität da ist, sind sie eben nicht dieselben Elemente.
Folghch ist ein Element, das zur Erlebniswelt des Menschen A gehört,
etwas anderes als ein Element der Welt eines zweiten Menschen B.
Nun gut, möchte der Immanenzphilosoph vielleicht sagen, warum
machst du davon soviel Aufhebens! Dieser Gedanke ist dann eben fallen
Schlick, Erkenntnislehre. I3
194 Die Setzung des Wirklichen.
zu lassen: mögen auch dieselben Umgebungsbestandteile niemals von ver-
schiedenen Individuen erfahren werden, so besteht doch eben die gesetz-
mäßige Beziehung zwischen ihnen, ihre gegenseitige Abhängigkeit, und
das ist alles, was wir wollen und brauchen. Würden wir die Konstitution
der beiden Beobachter bis in die letzte Einzelheit kennen, so könnten
wir im Prinzip auch angeben, was für Elemente ihnen unter den bestimmten
Umständen gegeben sind. Also lassen sich alle Fragen beantworten, die
gestellt werden können, alle sinnvollen Ziele sind auf diesem Wege er-
reichbar!
Auf den ersten Blick scheint es freilich gleichgültig zu sein, ob ver-
schiedene Individuen nun identisch dieselben Elemente erleben oder nur
gleiche oder ähnliche. Bei näherer Betrachtung aber wird das gesamte
Weltbild dadurch von Grund aus geändert. Denn sehen wir uns einmal
an, was der Immanenzphilosoph behaupten muß, wenn er auf diesem Stand-
punkt angelangt ist! Kein Element, kein Umgebungsbestandteil findet
sich in mehreren Prinzipialkoordinationen, deren Zentralglieder verschie-
dene Subjekte sind; das heißt: die Wirklichkeit, die einem Individuum
gegeben ist, ist niemals auch einem anderen Individuum gegeben. Mit
anderen W^orten: jedes Wesen hat seine eigene Welt für sich, in die schlecht-
hin nichts aus den Welten der anderen Wesen hineinragt, sie sind durch
eine unüberbrückbare Kluft voneinander getrennt. Wohl besteht zwischen
diesen Welten eine Koordination in der Weise, daß die Ereignisse der einen
parallel gehen mit denen der andern und zusammen harmonieren würden,
falls man sie miteinander vergliche (was ja allerdings unmöglich ist, da
kein Wesen in die Welt des andern übertreten kann), aber von einer allen
Individuen gemeinsamen realen Welt kann keine Rede mehr sein.
Das Weltbild, das sich auf diese Weise ergibt, ist aus der Geschichte
der Philosophie wohlbekannt: dem logischen Gehalt nach ist es voll-
kommen identisch mit der LEiBNiz'schen Lehre von den Monaden und
der prästabilierten Harmonie. Jedes Ich mit seiner gesamten Umwelt in
dieser Anschauung ist tatsächlich eine Monade; es gilt der LEiBNiz'sche
Satz ,,die Monaden haben keine Fenster", denn es findet ja keine Gemein-
samkeit, kein Austausch von Realitäten zwischen ihnen statt. Mag im
übrigen die Terminologie und das Nähere der metaphischen Bestimmungen,
womit Leibniz seine Monaden ausstattet, auf dieses Weltbild nicht über-
tragbar sein — der Kern bleibt derselbe ^). Wir haben so viele Welten,
als Zentralglieder da sind, und das gegenseitige Entsprechen dei Welten
der verschiedenen Individuen, das zu übereinstimmenden und miteinander
verträglichen Aussagen führt, ist schlechterdings nichts anderes als eine
prästabilierte Harmonie in voller Reinheit.
Nun ist ja der Nachweis, daß der beschriebene Standpunkt mit
der Monadenlehre zusammenfällt, nicht ohne weiteres dem Nachweis
') Wie ich nachträglich sehe, findet sich die Erkenntnis, daß die konsequente
Immanenzlehre zur Monadologie führt, auch ausgesprochen von Viktor Kraft in
seinem beachtenswerten Buche „Weltbegriff und Erkenntnisbeeriff". 1912. S. 165.
Fortsetzung der Kritik der Immanenz-Gedanken. 195
seiner Unhaltbarkeit gleichzuachten — ein derartiges metaphysisches
System ist vielleicht gar nicht widerlegbar — ; aber wir sehen nun
doch, d a ß es eben ein metaphysisches System ist, zu dem wir hiei
geführt werden, und wir sehen, was wir von der Behauptung der
Immanenzphilosophie zu halten haben, sie vertrete die einzig natür-
liche und metaphysikfreie Weltansicht. Echter Erkenntniswert wohnt
diesem Weltbilde nicht inne. Dieser Nachweis genügt hier für uns; und
niemand würde seine Schwere besser fühlen als gerade die Vertreter des'
Immanenzpositivismus, wenn sie sich von seiner Richtigkeit überzeugen
ließen. Das erkennt man daran, wie z. B. Petzoldt sich über den Ge-
danken der prästabilierten Harmonie bei Spinoza und Leibniz äußert.
Er sagt von ihm (Weltproblem^ S. 94): ,,Das ist aber nichts als die aus-
drückhche Feststellung des fortwährend stattfindenden Wunders und damit
die Erklärung der Verzichtleistung und Ohnmacht der Wissenschaft."
Wie will man den Konsequenzen entfliehen, zu denen wir so gelangt
sind? Die Anhänger von Mach und Avenarius könnten hier höchstens
auf einen schon besprochenen Gedanken zurückkommen, indem sie sagen:
Die Welten der verschiedenen Subjekte fallen doch nicht so ganz unheil-
bar auseinander; denn wenn mehrere von ihnen ,, denselben" Gegenstand
betrachten, so ist in ihren Wahrnehmungen doch immer etwas Identisches,
nur darf es nicht gesucht werden in irgendeinem einzelnen Elemente oder
einem Komplex von solchen, sondern es ist einfach die Gesetz-
mäßigkeit ihres gegenseitigen Zusammenhanges.
Gewiß sind diese Regelmäßigkeiten für verschiedene Individuen die
gleichen — zwar nicht diejenigen zwischen den Elementen selber, aber
doch die Relationen zwischen den Relationen derselben, denn das sind ja
die Naturgesetze, und wenn ich überhaupt an fremde Iche glaube, werde
ich auch annehmen müssen, daß sie dieselbe Naturgesetzlichkeit feststellen
wie ich. Aber damit ist dennoch nichts geholfen, wir bleiben auf diese
Weise immer bei der prästabilierten Harmonie. Die Behauptung, daß alle
Subjekte die gleiche Naturgesetzmäßigkeit beobachten, ist ja lediglich ein
anderer Ausdruck für das gegenseitige Entsprechen der Weltbilder der
Monaden, für ihre Harmonie untereinander und nicht mehr. Nur wenn
sie mehr wäre, wenn die gemeinsame Gesetzlichkeit ein reales Gebilde
wäre anstatt eines bloßen Abstraktums, könnte sie die Rolle eines Mittel-
gliedes zwischen den einzelnen Welten spielen und als wirkhche Ver-
bindung zwischen ihnen gelten. Wollte man aber etwa erklären, jene
reinen Beziehungspunkte, jene Relationen von Relationen seien eben als
solche das Reale, so würde man damit das Wirkliche in bloße Begriffe
auflösen und eine Position einnehmen, die wir längst als unhaltbar er-
kannt haben.
So ist denn der Immanenzphilosophie die letzte möghche Zuflucht
genommen. Unvermeidlich fällt ihr das Universum in so viele Welten
auseinander, als Zentralgheder vorhanden sind, und es besteht zwischen
ihnen ein pluraler ParalleHsmus, welcher nur eine rätselhafte Korrespondenz,
13*
196 Die Setzung des Wirklichen.
keine reale Verknüpfung bedeutet. Um die Welt als den einheitlichen
wirklichen Zusammenhang kausaler Beziehungen darzustellen, der sie ohne
Zweifel ist, müssen reale Verbindungsglieder angenommen werden, kraft
deren an die Stelle des logischen Entsprechens ein Realkonnex tritt.
Und dazu bedarf es nur des nächstliegenden, allernatürlichsten Schrittes:
wir fassen jene Beziehungspunkte der Relationen von Relationen der
Elemente, d. h. jene Begriffe, ohne die wir den gesetzmäßigen Wechsel
der Wahrnehmungen nicht beschreiben können, nicht auf als bloße
Hilfsbegriffe, wie der Immanenzgedanke es forderte, sondern wir sehen in
ihnen Zeichen für Realitäten, genau ebensogut wie in den Begriffen,
welche Gegebenes bezeichnen. Und wir kennen das Kriterium dafür,
welchen Begriffen ein realer Gegenstand entspricht im Gegensatz zu
den bloßen Fiktionen: es sind diejenigen, welchen bei ihrer Ableitung aus
dem Gegebenen durch die empirischen Regeln em Zeitzeichen angeheftet
wurde. So kehren wir von den Lehren der Immanenzphilosophie, welche
Wirkliches und Gegebenes identisch setzen wollte, zurück zu dem Wirk-
lichkeitskriterium, das wir oben dem Gedankenkreise des Lebens und der
Wissenschaft entnommen hatten. Mit diesen beiden stehen wir nun auf
dem einzig natürlichen Standpunkte, den man nur so lange verlassen
kann, als man glaubt, Widersprüche im Begriff des Dinges an sich zu
entdecken, d. b. im Begriffe des Nichtgegebenen, keiner Prinzipialkoordina-
tion Angehörenden. Sowie man einmal erkannt hat, daß Dinge an sich
in diesem Sinne nicht unmöglich sind, überzeugt man sich auch leicht,
daß sie nicht überflüssig sind, und mit ihrer Anerkennung gibt man den
streng positivistischen Standpunkt auf.
Die Transzendenz, die damit vollzogen wird, ist im Prinzip nicht
mehr Transzendenz als diejenige, welche jener Positivismus selbst zu-
läßt, indem er z. B. auch die Vergangenheit mit zum Reiche des
Wirklichen rechnet, obwohl sie doch nicht gegeben ist und nie mehr zur
Gegebenheit gebracht werden kann. Er läßt sie zu, weil er keinen Grund
hat, sie zu leugnen, und weil er sie braucht, um die Gegenwart verständ-
lich zu machen. Nun gut, es sind genau dieselben Gründe, die uns zur
Anerkennung bewußtseinstranszendenter Realitäten veranlassen: wir haben
keinen Grund, sie zu leugnen, und wir bedürfen ihrer, um die Bewußt-
seinswelt verständlich zu machen. Wie der Immanenzphilosoph sich nicht
damit begnügt, die gesamte Vergangenheit für einen bloßen Hilfsbegriff
zu erklären — was er doch ganz gut könnte — , sondern ihr Realität zu-
erkennt, so nehmen auch wir volle Wirklichkeit für alle zeitlich lokali-
sierten Gegenstände in Anspruch, und es fehlt uns jeder Grund, sie für
reine Hilfsbegriffe zu erklären, die nichts Reales bezeichnen. *^
Indirekt bestätigt sich die Richtigkeit unseres Resultates gerade immer
dort, wo die konsequenten Positivisten versuchen, die Umgebungsbestand-
teile verschiedener Zentralglieder miteinander zur Deckung zu bringen:
da lugt nämlich aus ihren Darlegungen überall der schlecht verhüllte Be-
griff des Dinges an sich hervor. Bei Besprechung der Formulierungen von
Fortsetzung der Kritik der Immanenz-Gedanken. 197
Petzoldt hatten wir hierauf schon oben (S. 180) beiläufig hingewiesen.
Wir sahen dort, daß dieser Autor keinen Widerspruch darin findet, daß
ein und derselbe Gegenstand G für ein Individuum der Elementen-
komplex Kl sei, für ein anderes aber ein anderer Komplex Kj (daß z. B.
derselbe Zinnober für den Normalsichtigen rot, für den Farbenbhnden
schwarz sei). Er läßt also die drei Beziehungen G = Kj, G = K,,
Kl 4= K2 zusammen bestehen. Sind aber die beiden ersten Gleichungen
schlechthin Identitäten, wie es nach der Behauptung des relativistischen
Positivismus ausdrücklich der Fall sein soll, so widersprechen sich die
drei Relationen, weil sie von denselben Größen Identität und Verschieden-
heit aussagen. Sind dagegen die beiden ersten Gleichungen nicht reine
Identitäten, dann enthalten sie den Begriff des Dinges an sich, nämHch
den Begriff des identischen Gegenstandes G, der den verschiedenen
Elementenkomplexen Ki und K2 ,, entspricht" oder , .zugrunde Hegt", oder
wie der Ausdruck sonst lauten möge (später wird dies Verhältnis ja näher
zu erläutern sein). Wer also jene drei Relationen zusammen bestehen läßt,
gibt damit zugleich das Ding an sich zu.
Ganz dieselbe versteckte Anerkennung finden wir bei Avenarius.
Wir lesen bei ihm (Weltbegriff § 162): ,,Wenn aber im allgemeinen die
Annahme zulässig ist, daß in jenen beiden Prinzipialkoordinationen das
Gegenglied R der Zahl nach eines sei, so ist darum freilich noch nicht
sofort die weitergehende Annahme zulässig, daß das Gegenglied R ,,in
beiden der Beschaffenheit nach dasselbe sei" ,,In
dem Maße als zu den gemeinsamen Bedingungen eigentümliche hinzu-
tretende anzunehmen sind, wird auch anzunehmen sein, daß die Be-
schaffenheit des einen R in der einen Prinzipialkoordination anders
als in der ,, andern" Prinzipialkoordination bestimmt ist". Diese
Unterscheidung zwischen dem einen realen R und seinen Beschaffen-
heiten, die in differenten Beziehungen verschieden sein können, ist nichts
anderes als die Statuierung des Dinges an sich, und zwar nicht einmal
in seiner vorteilhaftesten, einwandsfreien Form. Ein Gegenstand ist nur
dann kein Ding an sich, sondern Objekt für ein Subjekt, Gegenglied für
ein Zentralglied, wenn er gar nichts anderes ist als der Komplex der Be-
schaffenheiten, die er in der betreffenden Prinzipialkoordination aufweist.
Sind die Beschaffenheiten in einer anderen Prinzipialkoordination anders,
nun, so ist es eben nicht derselbe Gegenstand, der in ihr vorgefunden
wird. Redet man vom Standpunkte verschiedener Zentralgheder aus
dennoch von einem und demselben Gegenstand, so redet man eben von
einem Dinge, welches Beschaffenheiten besitzt, die ihm unabhängig von
den Zentralgliedern, also ,,für sich" zukommen. Avenarius tut es und
erkennt damit das Ding an sich in dem Sinne an, in dem auch wir es billigen
und fordern müssen. Täte er es nicht, so wäre, wie gerade aus den zitierten
Stellen schön her\^orgeht, der Zusammenhang zwischen den Welten der
einzelnen Subjekte zerrissen. Um diesen Zusammenhang zu wahren und
ihn auch innerhalb der Erfahrungswelt des einzelnen Subjektes nicht zu
igS Die Setzung des Wirklichen.
zerstören, ist eben die Anerkennung von nicht gegebenen Realitäten not-
wendig. Ohne sie kann der Sinn der empirischen Naturgesetze nicht auf-
recht erhalten werden, und es ist nicht richtig, was Mach sagt (Anal.
d. Empfind.^ S. 28): ,,daß diese Beziehung auf unbekannte, nicht ge-
gebene Urvariable (Dinge an sich) eine rein fiktive und müßige ist".
Dieses ,, unbekannt", welches Mach hier betont, ist es, was so vielen
Philosophen die Dinge an sich zu einem Greuel macht. Sie wollen in
ihrem Weltbilde keine Größen dulden, die nicht bekannt, d. h. nicht ge-
geben sind oder es werden können, und darum suchen sie an dem Dogma
von der Identität des Wirklichen mit dem Gegebenen festzuhalten.
Der Grund dieses Verhaltens aber liegt darin, daß sie sich noch nicht
ganz los machen können von jenem alten Erkenntnisbegriff, zu dessen Über-
windung sonst gerade das positivistische Denken am meisten beigetragen
hat. Sie verwechseln an diesem einen Punkte immer noch Erkennen mit
Kennen, d. i. mit reinem Erleben, bloßem Gegebensein; sie suchen an
dieser Stelle immer noch Antwort auf die Frage, was denn das Reale
eigentlich ,,ist", und diese Antwort könnte uns nur ein unmittelbares
Kennen, Erleben verschaffen. Was die ,, Elemente" bei Mach und
AvENARius ,,sind", wissen wir unmittelbar; Farben, Töne, Gerüche sind
uns schlechthin gegeben, kein Urteil, keine Definition, sondern das Er-
leben gibt uns über ihr ,,W^esen" Aufschluß .... aber erkannt sind
die Elemente und ihr Wesen damit nicht (siehe oben I § ii). Die richtige
Einsicht in diesen Sachverhalt finden wir auch bei Vertretern des Posi-
tivismus gelegentlich mit aller Deutlichkeit ausgesprochen. So sagt Vai-
HiNGER (Die Philosophie des Als Ob*, S. 94): ,,Das Sein ist nur w i s s -
b a r in der Form von unabänderlichen Sukzessionen und Koexistenzen:
begreifbar ist es nicht, weil begreifen heißt: etwas auf ein anderes
zurückführen, was doch beim Sein selbst nicht mehr der Fall sein kann".
In dieser Weise können wir also die Dinge an sich freilich niemals kennen
lernen, wißbar sind sie nicht (sie sind ja definitionsgemäß nie gegeben),
aber wenn wir das unbefriedigend finden, so haben wir unser Ziel aus den
Augen verloren. Wollten wir denn die Welt kennen lernen.^
W^oUten wir sie nicht vielmehr erkennen.? Das letztere allein ist die
Aufgabe der Philosophie und der Wissenschaft.
Daß uns ein Teil der Welt unmittelbar gegeben ist, ein anderer,
größerer dagegen nicht, ist gleichsam als zufällige Tatsache hinzu-
nehmen, als Erkennende haben wir gar kein Interesse daran, sondern
nur als m der Welt Lebende. Gerade dem Erkennenden ist nicht
damit gedient, wenn er bei dei Frage, was denn eigentlich ein Gegen-
stand ist, auf das reine Erleben verwiesen wird; für ihn bedeutet
die Frage ganz allein: durch welche allgemeinen Begriffe läßt der
Gegenstand sich bezeichnen.? Darauf aber kann er bei den Dingen
an sich um so eher antworten, als er doch überhaupt nur durch
eben diese Begriffe zu ihnen geführt wird. Die Einzelwissenschaften
liefern uns gerade die Begriffe von realen Gegenständen, die nicht gegeben
Wesen und „Erscheinung". 19g
sind und die wir deshalb als ,,an sich" existierende bezeichneten. Durch
jene Begriffe erkennen wir also wahrhaftig, was die Dinge an sich
sind, und die Verleumdung dieser Dinge wegen ihrer Unerkennbarkeit ist
in Wahrheit nur eine Klage über ihre Unkennbarkeit, Nichterlebbarkeit,
also ihre Unanschaulichkeit — kurz, es ist ein Rückfall in den mystischen
Erkenntnisbegriff. Das Schauen der Dinge ist nicht Erkennen und auch
nicht Vorbedingung des Erkennens. Die Gegenstände der Erkenntnis
müssen widerspruchslos denkbar sein, d. h. sich durch Begriffe ein-
deutig bezeichnen lassen, aber sie brauchen nicht anschaulich vorstellbar
zu sein.
Daß das letztere von positivistisch gerichteten Denkern noch so
oft gefordert wird, ist ein sonderbares Vorurteil, das in pragmatischen
Denkweisen seinen Grund haben mag. Der Umstand, daß psychologisch
jeder Gedanke mit anschaulichen Bewußtseinsvorgängen verknüpft ist
und ganz ohne solche nicht stattfinden kann, führt leicht zu einer Ver-
wechslung des begrifflichen Denkens und des anschaulichen Vorstellens
im erkenntnistheoretischen Sinne. In diesem Sinne ist aber das erste ein
Zuordnen von Begriffen, das zweite ein reales Gegebensein psychischer
Größen. Wir müssen uns die Verhältnisse von Begriffen zueinander wohl
irgendwie anschaulich repräsentieren, um sie überblicken zu können, aber
das kann auf beliebig viele Weisen geschehen, und auf welche Art es ge-
schieht, ist erkenntnistheoretisch gleichgültig. Der erfolgreiche Forscher
hat meist einen starken Trieb zum Anschaulichen, eine Menge deuthchster
Bilder schweben ihm als Illustration der durchdachten Begriffsbeziehungen
vor; ihm hegt es nahe, sie für das WesentHche der Erkenntnis zu halten
und allein das anschaulich Vorstellbare als ihr Objekt anzuerkennen. In
Wahrheit sind aber die sinnlichen Vorstellungen etwas mehr oder weniger
Zufälliges und Nebensächliches bei der erkenntnistheoretischen Frage-
stellung, nur bei der psychologischen Betrachtungsweise bilden sie das
WesentHche.
Die Unvorstellbarkeit nicht gegebener Realitäten ist also kein Ein-
wand gegen ihre Existenz oder gegen ihre Erkennbarkeit.
B. Die Erkenntnis des Wirklichen.
26. Wesen und „Erscheinung".
Als Ergebnis unserer letzten Betrachtungen gewannen wir die Ein-
sicht, daß der Umkreis des Wirklichen nicht mit dem Umkreis des ,, Ge-
gebenen" identifiziert werden darf, sondern sicherlich weit darüber hinaus-
reicht. Unsere Kritik der Versuche, die auf eine solche Identifikation
hinzielten, hatte also keineswegs nur negativen Charakter; denn jedes
Die Erkenntnis des Wirklichen.
Argument, das sich gegen ?ie richtete, war zugleich ein Beweis für die
Existenz nicht gegebener, d. h. bewußtseinstranszendenter Reahtäten.
Damit ist — wir heben es noch einmal hervor — die früher aufgeworfene
Frage beantwortet, ob die Philosophie irgendeinen Anlaß habe, das Wirk-
lichkeitskriterium aufzugeben oder zu ändern, das sich aus den Verfahrungs-
weisen des Lebens und der Wissenschaft abstrahieren läßt, nämlich das
Kriterium der Zeitlichkeit. Es hat sich herausgestellt, daß ein derartiger
Anlaß nirgends vorliegt, sondern daß es nur dogmatische Voraussetzungen
waren, die manchem Philosophen eine Einengung des Wirklichen auf das
Gegebene wünschbar erscheinen ließen. Diese Voraussetzungen haben
sich als grundlos erwiesen, das Kriterium der Zeitlichkeit wurde dadurch
wieder in seine Rechte eingesetzt, und damit kann unser erstes Wirklich-
keitsproblem im Prinzip als aufgelöst gelten, nämlich die Frage nach der
Setzung der Realität. Die Anwendung des allgemeinen Prinzips
auf den Einzelfall bleibt natürlich Sache der Spezialforschung. Sie hat
mit ihren empirischen Hilfsmitteln jeweils darüber zu befinden, ob das
Realitätskriterium tatsächlich erfüllt ist, d. h. ob die vorliegenden Daten
eine eindeutige zeithche (bei naturwissenschaftlichen Objekten eine raum-
zeitliche) Einordnung des zu prüfenden Gegenstandes nicht nur ermög-
lichen, sondern auch erfordern. Ist die Entscheidung auf diese Weise
einmal gefallen, so muß die Philosophie sie einfach hinnehmen, die Frage
ist auch für sie erledigt.
Wir treten nun vor das zweite Wirklichkeitsproblem, welches funda-
mentalste philosophische Fragen umschließt: die Fragen nach der Be-
stimmung, nach der Erkenntnis des Realen.
Auch hier ist es nötig, das Feld für den positiven Anbau frei zu machen
durch die Ausrottung gewisser Lehrmeinungen, welche zwischen dem ge-
gebenen und dem nicht gegebenen Realen eine Grenze aufrichten wollen,
die es in der Folge unmöglich macht, sich über ihr gegenseitiges Ver-
hältnis klar zu werden.
Obwohl der Begriff der WirkHchkeit letzthch aus dem Erleben stammt,
weil das gegebene Reale das einzige ist, das wir kennen, so wird doch
bereits bei seiner bewußten Bildung sein Gültigkeitsbereich auf ein Sein
jenseits des Ellebens ausgedehnt; von der Philosophie aber wurde als-
bald — wie das bei solchen Entwicklungen zu gehen pflegt — diejenige
Sphäre des Begriffs als die vorzüglichste und wesentliche proklamiert,
welche von seiner Quelle am weitesten entfernt liegt. Das heißt also in
in unserm Falle: das Wirkliche jenseits des Bewußtseins wird für eine
Realität höherer Ordnung erklärt, für ein echteres Sein, dem gegenüber
die Welt des Bewußtseins nur ein Schatten und flüchtiger Abglanz ist.
Platon war es bekanntlich, der diese sonderbare Anschauung auf
die Spitze getrieben und in der glanzvollsten Weise entwickelt hat. Die
übersinnhche Welt der Ideen ist bei ihm in jedem Sinne die höhere, auch
in der Rangordnung des Wertes, welche Platon als erster, oder im
Anschluß an die Mcgariker, mit der logischen Rangordnung der begriff-
Wesen und „Erscheinung". 201
liehen Allgemeinheit verwechselte: wodurch er die Weltanschauungs-
fragen für über zwei Jahrtausende verwirrte, weil damit allem „Idealis-
mus" ein vornehmeres Ansehen gegeben wurde. Auf dem gleichen sonder-
baren Grunde baut sich aber z. B. auch die Auffassung des Materialismus
auf, welcher in seiner Bewunderung der kernhaften Realität der physi-
kalischen Objekte einfach vergißt, daß es auch eine Welt der Bewußt-
seinswirklichkeit gibt, oder doch glaubt, sie als eine quantite negligeable
behandeln zu dürfen. So weit ist freilich keine erkenntnistheoretisch
orientierte Philosophie gegangen, aber die Neigung zu einer Art von Herab-
setzung der Erlebniswirklichkeit zugunsten des Transzendenten findet
man auch in solchen Systemen, die bewußt von der ursprünglichsten
Realität des unmittelbar Gegebenen ausgehen und sich bemühen, ihr
volles Recht widerfahren zu lassen.
So vor allem bei K.ant. Jene eben charakterisierte Neigung bricht
ja in seiner praktischen Philosophie mit Gewalt hervor, aber auch in
seiner Erkenntnistheorie tritt das Sein des Nichtgegebenen — der Dinge
an sich — dem Sein des Gegebenen in ausgezeichneter Weise gegenüber.
Das letztere heißt bei ihm bekanntlich Erscheinung. Damit ist
der Unterschied der Dinge und der Erscheinungen in die Philosophie
eingeführt, und seit Kant spielt er bei Gegnern und bei Anhängern seiner
Lehre eine gleich große Rolle.
Die Dinge an sich sind bei Kant unerkennbar, und auf die Frage:
was erkennen wir denn.'' antwortet er: nur Erscheinungen! Sofern hier'
mit Unerkennbarkeit das gemeint ist, was wir als Unkennbarkeit be-
zeichnen würden, hat Kant natürlich recht, aber er meint damit nicht
nur dies, sondern mehr; er möchte nämlich auch die Erkennbarkeit der
Dinge an sich in unserem Sinne leugnen, indem er behauptet, sie
ließen sich nicht durch unsere allgemeinen Begriffe bezeichnen, nicht
unter die ,, Kategorien" unseres Verstandes bringen. Wir müssen später
auf diesen Gedanken Kant's und seine besondere Begründung noch
einmal zurückkommen; hier interessiert uns vorläufig nur, daß seine
positive Bestimmung der transzendenten Dinge sich in der Annahme
erschöpft, daß sie eben da sind. Für ihre Existenz aber tritt Kant —
mögen es einige seiner Interpreten auch in Abrede stellen — mit aller
wünschenswerten Deutlichkeit ein (dies würde selbst wahr sein, wenn es
durch keine andere Stelle in Kant's Schriften bezeugt wäre als die An-
merkung 2 zu § 13 der Prolegomena). Damit stellte er sich als erster
auf den Standpunkt, welcher heute allgemein als ,,PhänomenaHsmus"
bezeichnet wird: die transzendente Realität wird in ihrer Existenz an-
erkannt, ihre Erkennbarkeit aber geleugnet.
Wissen und Erkenntnis haben wir also nach der Lehre des Phäno-
menalismus nicht vom Wesen der Dinge an sich, sondern nur von ihren
Erscheinungen. Denn die Phänomene sind eben doch Erscheinungen
der Dinge. Natürlich sind die Erscheinungen für Kant auch etwas
Reales; immer wieder hat er ja betont, daß Erscheinung nicht zu ver-
Die Erkenntnis des Wirklichen.
wechseln sei mit Schein. Die sinnliche Körperwelt hat auch bei Kant
diejenige volle Realität und Objektivität, mit der sie jedermann in Leben
und Naturwissenschaft gegenübertritt, aber Kant unterscheidet doch
ihre Realität als eine empirische von dem Sein der Dinge an sich. Realität
ist ja nach Kant eine Kategorie und darf als solche nur von Erschei-
nungen, nicht von transzendenten Dingen ausgesagt werden. (Daß Kant
auch eine Existenz gelten läßt, die nicht noch Kategorie ist, kann man
aus einer Anmerkung zu den Paralogismen der reinen Vernunft lernen, die
er in der 2. Auflage der Kr. d. r. V. macht. Ausgabe Kehrbach, S. 696 f.)
So kann es denn nicht ausbleiben, daß die Wirklichkeit der Dinge an sich
als etwas Echteres, Kernhafteres gewertet wird; die Welt der Naturdinge
ist „nur" Erscheinung. Der Begriff des Phänomens setzt etwas voraus,
das da erscheint, mithin selbst nicht Phänomen ist, sondern — man kann
es kaum anders ausdrücken — eben m e h r als Erscheinung: so entsteht
immer wieder der Gedanke, als komme den Dingen an sich eine ,, höhere"
Realität zu.
Da für Kant alle Daten des Bewußtseins phänomenalen Charakter
tragen, so deutet jedes von ihnen auf ein Sein hin, das da in ihm erscheint,
und dadurch wird die Annahme nicht gegebener Realitäten auch dort
gefordert, wo sonstige Gründe (Regeln der empirischen Forschung) zu
einer solchen Annahme nicht hinführen. Auch unsere eigenen Gefühle
und sonstigen subjektiven Erlebnisse nämlich werden dann als Erschei-
nungen aufgefaßt, denen ein unbekanntes Wesen zugrunde liegt. Das
ist die KANT'sche Lehre vom Innern Sinn, die durch keinerlei Tatsachen
gestützt wird, sondern allein aus der Trennung von Wesen und Erscheinung
sich ergibt.
Gerade an dieser Lehre vom innern Sinn können wir uns am besten
die Richtigkeit der Behauptung deutlich machen, die wir nunmehr auf-
stellen wollen: daß nämlich das Begriffspaar Ding- Erscheinung überhaupt
höchst unzweckmäßig gebildet ist und daß der Erscheinungsbegriff aus
der Philosophie ganz verschwinden sollte. Denn was soll es heißen, zu
sagen, die seelischen Realitäten würden gar nicht so erlebt wie sie sind,
sondern wir lernten nur ihre Erscheinungen kennen? Gerade diese Be-
wußtseinswirklichkeit, der unser Begriff des Seins überhaupt entstammt,
würde damit für ein Sein zweiter Ordnung erklärt, denn es soll ja nicht
in sich selbst genugsam existierend, nicht reines Wesen, sondern nur Er-
scheinung emes andern sein! Das bedeutet dem Begriff des Seins den
Boden entziehen, auf dem er gewachsen ist. Wir haben uns schon früher
gegen alle Bemühungen wenden müssen, dem Psychischen ein besonderes
Wesen zu konstruieren und es zu unterscheiden vom schlechthin Gegebenen,
Erlebten (siehe oben Teil II, § 19); die Gründe, die dort gegen die innere
Wahrnehmung und den inneren Sinn vorgebracht wurden, machen zu-
gleich die Duahtät von Wesen und Erscheinung innerhalb der psychischen
Wirklichkeit unmöglich.
Aber auch die Auffassung, welche gewisse Bewußtseinsdaten, be-
Wesen und „Erscheinung". 203
sonders die Wahrnehmungen physischer Körper, als Erscheinungen trans-
zendenter Dinge bezeichnet, ist zu verwerfen. Denn auch wenn sie nicht
dazu führt, den Dingen an sich eine höhere, echtere Existenz zuzuschreiben
als ihren Erscheinungen im Bewußtsein, verleitet sie immer noch dazu,
doch eben zwei verschiedene Arten der Reahtät einander gegenüberzu-
stellen, deren gegenseitiges Verhältnis dann Anlaß gibt zu ebenso unlös-
baren wie unnötigen Problemen. Was für ein Verhältnis nämlich soll
damit gekennzeichnet sein, daß man sagt, ein bestimmter Bewußtseins-
inhalt, z. B. eine Wahrnehmungsvorstellung, sei die Erscheinung
eines Dinges.? Soll es heißen, daß sie ein Teil des Dinges ist, der ins Bewußt-
sein hineinragt oder hineinströmt? Davon kann natürlich keine Rede
sein, denn wenn irgendetwas von den Dingen ins Bewußtsein gelangte
(wie die antiken Wahrnehmungstheorien es annahmen), so wären sie eben
nicht transzendent. Oder soll die Erscheinung eine Abschattung, eine
Nachahmung, ein Bild des erscheinenden Gegenstandes sein.? Nicht nötig
zu sagen, daß niemand mehr eine solche Anschauung vertreten möchte,
am wenigstens der Phänomenalist. Nur als bildliche Sprechweise kann
man derlei Ausdrücke gelten lassen.
Das fragliche Verhältnis läßt sich überhaupt nur durch Bilder ver-
deutlichen, die der empirischen Welt entnommen sind. In ihr ist in der
Tat, wie der Gegensatz von Schein und Sein, so auch der von Wesen und
Erscheinung sinnvoll verwendbar. Man kann z. B. die geometrisch be-
stimmte Gestalt eines physischen Körpers zu seinem Wesen rechnen, die
verschiedenen perspektivischen Ansichten zu seiner Erscheinung. Ist die
Beziehung zwischen Ding und Phänomen etwa von gleicher Art.? Offen-
bar nicht, denn nach Kant ist ja der ganze Körper selbst nur Erschei-
nung. Aber irgendwie muß das Dasein der Phänomene doch durch das
Dasein der Dinge bedingt sein. In der Tat bestimmt Kant die Erschei-
nungen als die ,, Vorstellungen, die sie (die Dinge) in uns wirken, indem
sie unsere Sinne affizieren" (Proleg. § 13, Anm. 2). Die Erscheinungen
wären dann also die Wirkungen, welche die Dinge an sich auf das Bewußt-
sein ausüben. An dieser Stelle hat man bekanntlich von jehei mil scharfer
Kritik gegen die KANT'sche Lehre eingesetzt, weil der Begriff der Ursache,
der nach seiner Meinung nur für Erscheinungen Gültigkeit hat, hier auf
die Dinge an sich angewendet würde. Hat man damit recht, so wird das
Verhältnis der Dinge zu den Phänomenen zu etwas Einzigartigem, Un-
erklärlichem, das man einfach hinzunehmen hat und nicht weiter ver-
deuthchen kann. Wie dem aber auch sein möge — jedenfalls nimmt
Kant, und mit ihm jeder Phänomenalismus, irgendeine Korrespondenz,
eine Zuordnung zwischen beiden Gliedern an, für welche die Kausal-
beziehung immer noch das beste Bild im Reiche der Erfahrungswirklich-
keit ist. In der Tat reden wir im täglichen Leben von der Wirkung häufig
als von einer Erscheinung der Ursache: das Fieber ist eine Erschei-
nung der Krankheit, das Steigen des Thermometers eine Erscheinung der
Wärme, der Blitz eine Erscheinung der Gewitterelektrizität usw. Aber
204 Die Erkenntnis des Wirklichen.
wie der Ursachenbegriff vieldeutig ist, weil schließlich jeder Vorgang von
unzähligen Bedingungen abhängt, so fehlt auch dem so gefaßten Erschei-
nungsbegriff der feste Bezug. Ist z. B. eine Wahrnehmungsvorstellung
unriiittelbar die Erscheinung des wahrgenommenen Körpers.? Kann ich
sie nicht vielmehr auch auffassen als eine Erscheinung der Nervenprozesse
bei der Reizung der Sinnesorgane, oder gar als Erscheinung der Gehirn-
vorgänge, von denen man annimmt, daß sie meiner Wahrnehmungs-
vorstellung parallel laufen?
Wir sehen, wie unbestimmt der Erscheinungsbegriff ist und zu welchen
Schwierigkeiten ei führt, wenn man versucht, ihn irgendwie von der Er-
fahrung ausgehend zu erreichen. Man kann in der Tat nur zu ihm ge-
langen, wenn man die verschiedene Realität der Bewußtseinswelt und der
transzendenten Welt bereits voraussetzt; er ist gar nichts anderes als der
Ausdruck für die Trennung dieser beiden Welten.
Manche Philosophen sagen in noch deutlicheren Worten, daß sie hier
wirkhch einen Unterschied der Reahtät vorliegend erachten: Külpe z. B.
verwendet den Terminus ,, wirklich" nur für das unmittelbar Gegebene
und bezieht das Wort ,,real" nur auf die bewußtseinstranszendente Welt.
Doch besteht nach ihm zwischen den wirklichen und den realen Objekten
eine ,,nahe Beziehung". (Die Realisierung, S. 13, 14; 1912). Gewiß sind
diese Unterscheidungen zunächst rein terminologischer Natur und als
solche jenseits von wahr und falsch. Es steht frei, allein das unmittelbar
Gegebene als wirklich zu bezeichnen und davon das transzendente Sein
als ein reales zu unterscheiden. Aber von terminologischen Festsetzungen
muß man fordern, daß sie zweckmäßig seien, und sie sind es nur dann,
wenn sie der sachlichen Grundlage, auf der sie ruhen, gehörig angepaßt
sind. Und diese Forderung scheint mir im vorliegenden Falle schlecht
erfüllt zu sein, denn die Tatsache, daß es gegebenes und nicht gegebenes
Wirkliches gibt, kann wohl dazu berechtigen, zwei Klassen des Wirklichen
zu unterscheiden, nicht aber dazu, zwei verschiedene Arten oder Stufen
von Realität anzunehmen. Die KüLPE'sche Terminologie läßt auch die
Setzung eines unbewußten Psychischen natürhcher erscheinen, als sachlich
gerechtfertigt wäre, denn sie gestattet es z. B. von Empfindungen zu
reden, die real sind, aber nicht zugleich auch wirklich.
Rein formal genommen wäre es ebenfalls erlaubt, mit Kant alles
gegebene Wirkliche Erscheinung zu nennen und alles nicht Gegebene einem
Reich der Dinge an sich zuzuweisen; aber diese Bezeichnungsart krankt
an dem gleichen Fehler, daß sie verschiedene Stufen oder Grade der Realität
impliziert. Denn das Wort Erscheinung deutet stets hin auf etwas außer-
halb Liegendes, das da erscheint, und ohne welches die Erscheinung nicht
da sein könnte. Dagegen kann das Ding an sich sehr wohl vorhanden
sein, ohne zu erscheinen. Dieses ist also jener gegenüber etwas Selb-
ständigeres, Unabhängigeres; es besteht zwischen beiden Gliedern eine
einseitige Abhängigkeit, welche die Erscheinungen jener Selbständigkeit
beraubt, die zu dem Begriffe des wesenhaft Realen unabtrennbar gehört.
Wesen und „Erscheinung". 205
Es gibt keine Tatsache, die zu einer derartigen Gegenüberstellung
zweier irreduzibler Realitäten zwänge oder berechtigte, von denen die
eine ganz auf sich selbst beruht, während die andere von ihr abhängig
ist. Wir gelangen vielmehr zu einem sehr viel einfacheren und daher be-
friedigenderen Weltbilde, wenn wir allen realen Objekten ohne Unter-
schied die gleiche Wirklichkeit zuschreiben, so daß sie alle im gleichen
Sinne selbständig sind, aber auch alle im gleichen Sinne voneinander
abhängen. Das heißt, die Geschehnisse in meinem Bewußtsein werden
nicht nur durch die transzendente W^elt bedingt, sondern jene haben
auch umgekehrt auf diese Einfluß, und die W'echselbeziehungen zwi-
schen den beiden Reichen sind von genau derselben Art wie diejenigen,
welche zwischen den Vorgängen innerhalb eines der beiden Reiche be-
stehen. Wenigstens hegt kein Grund vor, andersartige Abhängigkeiten
vorauszusetzen, und wir halten daher an ihrer prinzipiellen Gleichheit
fest, solange die Tatsachen uns nicht zwingen, diese einfache Annahme
aufzugeben.
Wir versuchen also, mit der Hypothese auszukommen — oder, wenn
man will, das Postulat durchzuführen — , daß die Abhängigkeit der schlecht-
hin gegebenen Elemente voneinander im Prinzip durch dieselbe Gesetz-
mäßigkeit beherrscht wird wie irgendwelche Vorgänge in der transzendenten
Welt und wie die Beziehungen zwischen dieser und den Inhalten meines
Bewußtseins. Im folgenden werden sich noch manche Anhaltspunkte
dafür ergeben, daß diese Ansicht nicht undurchführbar ist.
Das gehört jedenfalls auch zu den positiven Ergebnissen unserer Be-
trachtung der positivistischen Immanenzgedanken: wir können von ihnen
lernen, die unmittelbaren Daten des Bewußtseins als selbständiges Sein,
als vollgehaltiges W'esen anzuerkennen. In Übereinstimmung mit ihnen
lehnen wir den KANx'schen Erscheinungsbegriff ab: unsere Erlebnisse,
unsere Wahrnehmungen, Vorstellungen und Gefühle, sind nicht etwas
Sekundäres, nicht nur Erscheinungen, sondern in dem gleichen Sinne
selbständig real wie irgendwelche transzendenten ,, Dinge". Es gibt nur
eine Wirklichkeit, und sie ist immer Wesen und läßt sich nicht in
Wesen und Erscheinung auseinander legen. Es gibt sicher viele Arten
wirklicher Gegenstände, wohl gar unendlich viele, aber es gibt nur eine
Art der Wirklichkeit, und sie kommt ihnen allen in gleicher Weise zu.
Allein mit dieser Formulierung bleiben wir dem ursprünglichen Sinn
des Wirklichkeitsbegriffes getreu. Seine Quelle war das unmittelbar Ge-
gebene, dieses ist schlechthin real, und unsere ganze Fragestellung der
vorigen Paragraphen richtete sich darauf, ob wir dieselbe Realität
außerdem noch anderen Gegenständen zuschreiben müssen. Wer von der
Wirklichkeit der letzteren als einer andersartigen und neuen redet, nimmt
dem ganzen Problem den Sinn und erfindet frei einen Realitätsbegriff,
der jeder erfahrungstatsächhchen Grundlage entbehrt und mit dem unsrigen
nichts zu schaffen hat.
2o6 Die Erkenntnis des Wirklichen.
Der Phänomenalismus ^), welcher ja dem Begriff der „Erscheinung"
seinen Namen verdankt und behauptet, daß wir nur diese und nicht das
Wesen der Dinge erkennen, ist überhaupt gänzlich unhaltbar; es kann
mit aller Strenge bewiesen werden, daß seine Position in sich selbst wider-
spruchsvoll ist.
Wir haben wiederholt betont, daß die Dinge an sich freilich als un-
erkennbar angesehen werden müßten, wenn man mit Kant glaubte, daß
zur Erkenntnis eines Gegenstandes seine unmittelbare Anschauung not-
wendig erfordert werde, und jedesmal haben wir dargetan, daß man dies
eben nicht glauben dürfe, weil das Erkennen so nicht definiert werden
kann, sondern prinzipiell mit Anschauen nichts zu tun hat. Durch die
nähere Betrachtung des Phänomenalismus wird das noch bestätigt. Denn
• es zeigt sich bald, daß die Behauptung, wir könnten von den Dingen an
sich gar nichts weiter aussagen als ihre Existenz, sich nicht aufrecht er-
halten läßt. Da nämlich die transzendenten Objekte die Gründe der
Phänomene sind, so muß allen Unterschieden in der Erscheinung auch
ein Unterschied in den Objekten korrespondieren'). Denn wäre dies nicht
der Fall, so hinge die Beschaffenheit der Erscheinung schließlich ganz
allein vom Subjekt ab, und wir kämen zu einer rein idealistischen Welt-
ansicht, wie sie Fichte entwickelt hat, der damit dem KANT-'schen
System die einzig konsequente Ausgestaltung zu geben glaubte. Nach
Fichte's Lehre bringt das Ich die Erscheinungen schöpferisch aus sich
hervor und bedarf dazu nicht der Mithilfe transzendenter Objekte.
Zu solchen Konsequenzen wird man unweigerlich geführt, wenn man
nicht — entgegen der phänomenalistischen Voraussetzung — annimmt, daß
sich auf Grund der Beziehungen zwischen den Erscheinungen etwas Posi-
tives über die Beziehungen dei transzendenten Dinge zueinander aussagen
läßt. Und solche Aussagen bedeuten eben doch Erkenntnis der Dinge,
sie enthalten doch m e h r als die bloße Behauptung ihrer Existenz. Dafür
z. B., daß ich das Fenster links von mir wahrnehme, die Tür aber rechts,
muß ein Grund irgendwie in den Dingen liegen, deren Erscheinungen
Fenster und Tür sind. Läge nämlich der Grund dafür lediglich im Sub-
jekte, so müßten beide Gegenstände notwendig ganz und gar etwas
Subjektives sein, denn sonst könnte der Grund dafür, daß die Tür
rechts vom Fenster, nicht etwa umgekehrt, lokalisiert wird, doch wieder
nur im Objektiven, Transzendenten gefunden werden, und dort soll er
gemäß der Voraussetzung nicht liegen. Die Annahme transzendenter
Objekte wäre ohne Sinn und Zweck, wir wären mitten im subjektiven
IdeaUsmus, und der Phänomenahsmus ist aufgehoben.
Mag also z. B. der R a u m nur ein Bestimmungstück, eine Form der
^) Das Wort wird nicht immer im gleichen Sinn gebraucht. Kleinpeter z. B.
bezeichnet in seiner Schrift „Der Phänomenaiismus" mit diesem Ausdruck die philo-
sophischen Richtungen, die wir soeben in den Paragraphen 24 und 25 bekämpft haben.
*) Das wird auch von modernen Kritizisten vielfach anerkannt. Vgl. z. B.
R. HöNiGSWALD, Beiträge zur Erkenntnistheorie und Methodenlehre (1906). S. 115 f.
Wesen und „Erscheinung". 207
Erscheinungen sein, nicht der Dinge an sich, so entspricht deswegen doch
der räumlichen Ordnung der Sinneswelt keineswegs nichts im Reiche
der Dinge an sich, sondern auch irgendeine bestimmte Ordnung, nur daß
sie eben keine räumhche ist. Darüber war sich Kant auch vollständig
klar — was zuweilen immer noch übersehen wird. Riehl sagt ganz
richtig (Der philosophische Kritizismus P S. 476, 1908): ,,Es folgt aus
Kant's Lehre, auch wenn es Kant nicht ausdrücklich selbst erklärt
hätte, daß zu jeder besonderen empirischen Bestimmung des Raumes und
der Zeit im Objekte, das erscheint, ein Grund sein muß". Und Kant
selber äußert sich (an einer von Riehl a. a. O. zitierten Stelle): ,,Das
räume ich gänzlich ein, daß Raum und Zeit zugleich subjektive und
objektive Gründe haben". Wie freilich Kant diese Einsicht mit seiner
Lehre vereinigen wollte, daß die Kategorien der Vielheit und der Relation
auf Dinge an sich nicht anwendbar seien, ist schwer einzusehen.
Mit einem Wort: es muß angenommen werden, daß jedem Bestim-
mungsstück der ,, Erscheinungen" irgendetwas an den Dingen an sich
korrespondiert, eindeutig zugeordnet ist. Und dies genügt vollkommen,
um die Welt an sich nicht nur zu erkennen, sondern auch in demselben
Grade und Umfang zu erkennen wie die Sinnenwelt, weil zur Erkenntnis
nichts anderes, erfordert wird als die MögUchkeit der eindeutigen Zuord-
nung. Ja wir müssen sogar erklären und haben es früher schon aus-
gesprochen (oben S. 74), daß überhaupt jede Erkenntnis der Sinnen-
dinge zugleich eine solche der transzendenten Wirklichkeit ist; denn unsere
Begriffe sind Zeichen für die einen sowohl wie für die andere.
Wenn wir unter dem ,, Wesen" der Dinge überhaupt etwas Erkenn-
bares verstehen, so liefert uns die empirische Wissenschaft durchaus Er-
kenntnis des Wesens der Objekte. In der Physik z. B. erschließen uns
die Gleichungen Maxwell's das ,, Wesen" der Elektrizität, die Gleichungen
Einstein 's das Wesen der Gravitation, denn mit ihrer Hilfe können wir
eben im Prinzip alle Fragen beantworten, die sich in bezug auf diese
Naturgegenstände stellen lassen. Gibt man dies zu, so sind wir nach dem
eben Gesagten damit zugleich im Besitze der Erkenntnis des Wesens der
Dinge an sich. Und nur der kann es nicht zugeben, der unter dem Wesen
eines Realen nichts anderes verstehen will als ein schlechthin Gegebenes,
eine unmittelbar erlebte Qualität; dieses aber ist (wir brauchen nur
wieder auf frühere Ausführungen, Teil I, § 11 zu verweisen) überhaupt
nicht erkennbar, sondern nur kennbar, wißbar.
Noch von einer anderen Seite her können wir die Unmöglichkeit der
phänomenalistischen Position einsehen. Da nämlich das Kennzeichen alles
Wirklichen darin besteht, daß es zeitlich eingeordnet vorgestellt werden
muß, so besagt die Behauptung des Phänomenalismus: es gibt Dinge, von
denen wir wissen, daß sie zu einer bestimmten Zeit da sind, sonst aber
weiter nichts. Die Möglichkeit eines gerade in dieser Weise beschränkten
Wissens ist nun aber durch die Natur des Erkennens schlechthin aus-
geschlossen. Denn die empirischen Regeln, die zur zeitlichen Einordnung
2o8 Die Erkenntnis des Wirklichen.
eines Ereignisses oder Dinges führen, setzen zu ihrer Anwendung bereits
mannigfache Kenntnis der Beziehungen des Ereignisses zu andern voraus.
Die zeitliche Festlegung eines Gegenstandes geschieht, wie früher aus-
geführt (oben S. i68), in letzter Linie immer durch seine Orientierung
zum Augenblick der Gegenwart; und alle dazu nötigen Daten sind ebenso
viele Gründe der Erkenntnis des Gegenstandes. Zeitliche Bestimmung ist
also gar nicht möglich ohne anderweitige Erkenntnis des Objektes. Die
Anhaltspunkte für die zeitliche Orientierung sind stets zugleich auch An-
haltspunkte für die Einordnung in andere Zusammenhänge und damit
Erkenntnisse. Die bloße Zeitreihe ist leer und ohne jeden Anhalt. Es
müssen, damit man einem Gegenstande zeitliche Bestimmtheit zuschreiben
könne, irgendwelche Hinweise dafür vorhanden sein, daß gerade diesem
Gegenstande bestimmte Zeitzeichen zuzuordnen sind; die Momente, die
diese Hinweise liefern, können aber von ihm als Beziehungen oder Be-
schaffenheiten ausgesagt werden. Wie dürften wir z. B. behaupten, daß
einmal eine Eiszeit dagewesen sein müsse, wenn wir nicht zugleich eine
Menge positiver Aussagen über ihr Wesen machen könnten.?" Ohne dies
wüßten wir ja gar nicht, was überhaupt unter einer Eiszeit zu verstehen
ist! Existenz können wir von einem Objekte erst aussagen, wenn wir
wissen, was für ein Objekt das ist, wenn uns also sein Wesen wenigstens
in irgendeiner Hinsicht bekannt ist. Wo wir über das Sosein, die Essenz
nichts wissen, können wir auch Dasein, Existenz, nicht aussagen. Beides
ist nicht trennbar. Das gilt auch von den Dingen an sich, die etwa den
,, Phänomenen" der Eiszeit ,, zugrunde liegen", denn allein durch die un-
umgängliche Bestimmung, daß sie eben den Phänomenen eindeutig korre-
spondieren, sind sie wegen des Beziehungsreichtums der letzteren in ein
Netz von Zuordnungen verstrickt, und dadurch sind sie dann auch schon
erkannt.
Fassen wir zusammen : Es gibt nur eine Wirklichkeit, und alles,
was in ihren Bereich fällt, ist unserer Erkenntnis prinzipiell auf gleiche
Weise zugänglich, dem Dasein wie dem Wesen nach. Nur ein kleiner Teil
dieser Wirklichkeit ist uns jeweils gegeben, alles Übrige ist uns nicht ge-
geben, aber die dadurch bedingte Trennung des Subjektiven und Objek-
tiven ist zufälliger Art, nicht prinzipieller Natur, wie es diejenige zwischen
Wesen und Erscheinung sein sollte, die wir als undurchführbar erkannt
haben *).
27. Die Möglichkeit der Subjektivität des Raumes und der Zeit.
Da die Zeitlichkeit das Kriterium der Reaütät ist, und da der
transzendenten Welt Realität zugesprochen werden muß, so scheint daraus
unmittelbar zu folgen, daß auch die Dinge dieses transzendenten Reiches
^) Vgl. zu den Ausführungen dieses Paragraphen meinen demnächst in den
„Kantstudien" erscheinenden Vortrag über das Thema „Erscheinung und Wesen".
Die Möglichkeit der Subjektivität des Raumes und der Zeit. 209
zeitlich sind in demselben Sinne wie die gegebene Bewußtseinswelt. Ähn-
liches scheint auch von der Räumlichkeit gelten zu müssen, weil doch bei
den Naturobjekten Zeit- und Raumbestimmungen immer Hand in Hand
gehen, und so ergibt sich scheinbar unvermeidlich der Schluß, daß das
Reich der transzendenten Objekte in der Zeit und im allgemeinen auch
im Raum ausgebreitet ist, daß mithin die seit Kant so weithin an-
erkannte Lehre von der Subjektivität des Raumes und der Zeit mit unseren
Resultaten unvereinbar sei, denn beides sind ja nach dieser Lehre bloße
Formen unserer Anschauung, die den Dingen an sich selber nicht zu-
kommen.
Aber dieser Schluß wäre voreilig; unsere Ergebnisse liefern für ihn
keine hinreichenden Prämissen.
Um einzusehen, wie unsere Ergebnisse sich zur KANx'schen Raum-
und Zeitlehre stellen, ob aus ihnen etwas für ihre Richtigkeit oder Falsch-
heit folgt, muß man sich zunächst über den Sinn jener Lehre ganz im
klaren sein, und dazu ist es nötig, eine Unterscheidung mit aller Schärfe
festzuhalten, die wir im ersten Teil unserer Untersuchungen herauszu-
arbeiten uns bemühten, indem wir eine feste unüberschreitbare Grenze
zogen zwischen dem Anschaulichen einerseits und den Begriffen anderer-
seits.
Es sind nämhch wohl auseinander zu halten das subjektive Erlebnis
der zeithchen Sukzession und die objektive Zeitbestimmung. Das erstere
ist ein unmittelbar Gegebenes, Anschauliches, die letztere ist eine rein
begriffUche Ordnung. Das undefinierbare, unbeschreibliche Erlebnis des
Nacheinander und der Dauer, dieses qualitative, wechselvolle Moment,
gibt keine objektive Bestimmung der Abstände in der Reihenfolge von
Ereignissen. Es bildet den Gegenstand der psychologischen Untersuchungen
des ,, Zeitbewußtseins" und kann für uns ein Mittel der Zeitschätzung,
niemals aber der Zeitmessung sein. Die letztere geschieht vielmehr be-
kanntlich immer in der Art, daß wir bestimmte einfache periodische Vor-
gänge auswählen (Durchgang eines Sternes durch den Meridian, Koinzidenz
eines Uhrzeigers mit einer bestimmten Stelle des Zifferblattes usw.), sie
als feste Beziehungspunkte im kontinuierhchen Ablauf unserer Erlebnisse
benutzen und durch Zahlen bezeichnen. Auf diese Weise ordnen wir allen
Ereignissen eine eindimensionale Mannigfaltigkeit zu, ein rein begriffliches
Gebilde, in welchem, nachdem Anfangspunkt und Bezugssystem gewählt
sind, jedem Vorgang eine zahlenmäßig (durch Datum, Stunde, Sekunde
usw.) bestimmte Stelle korrespondiert. Und diese kontinuierliche Reihe
kann und muß nun auch über die gegebene Wirklichkeit hinaus erstreckt
und zur Ordnung der nicht gegebenen in der gleichen Weise verwendet
werden. Das war ja gerade der Grund, weshalb diese Art der Ordnung
als Kriterium der Wirkhchkeit überhaupt dienen konnte. Im Reiche des
Bewußtseins entspricht jedem Abstand zweier Zahlen jener eindimensionalen
Mannigfaltigkeit ein Unterschied jenes quaUtativen Momentes des Zeit-
bewußtseins (etwa eines unbeschreibbaren Erlebnisses des „gleich", „bald",
Schlick, Erkenntnislehre. I4
2IO Die Erkenntnis des Wirklichen.
,,vor langer Zeit" u. dgl.), aber in bezug auf die transzendente Wirklich-
keit wird ein solches Moment, da sie ja überhaupt nicht gegeben ist, natür-
lich nicht erlebt.
Und nun besagt die Lehre von der Subjektivität der Zeit, daß eben
dieses Moment der Zeitlichkeit der transzendenten Welt auch tatsäch-
lich gar nicht zukommt. Denn die Zeitlichkeit, die Kant den Dingen
an sich abspricht, ist eben der anschauliche Inhalt des Erlebnisses der
Dauer und des Früher und Später, der sich nicht beschreiben, sondern
nur benennen und durch ein eindimensionales Kontinuum bezeichnen läßt.
Man sieht, diese Lehre widerspricht unseren Resultaten keineswegs,
denn unser Wirklichkeitskriterium ist gar nicht das anschauhch zeitliche
Wesen, sondern vielmehr die Einordnung in jene kontinuierliche Reihe,
welcher in der Bewustseinswirklichkeit die anschauhche Dauer zugeordnet
ist, der aber in der transzendenten Wirklichkeit nicht notwendig irgend-
etwas Ähnliches zu entsprechen braucht. Schon innerhalb der anschau-
lichen Gegebenheit können wir uns ja ganz verschiedenartige Reihen von
Elementen vorstellen, die alle ein eindimensionales Kontinuum bilden,
und denen folglich die Reihe aller Zahlen gerade so gut eindeutig zugeordnet
werden kann wie der anschaulichen ,,Zeit": z. B. eine Linie im Räume,
oder die Skala der Tonhöhen, der Intensitäten einer Empfindung, viel-
leicht sogar die Skala der Lustgefühle u. a. m. Gegenüber diesen Bei-
spielen anderer eindimensionaler Ordnungen im Reiche des Gegebenen ist
natürlich die Zeitfolge etwas ganz Einzigartiges von viel universalerer Be-
deutung, das in der gesetzmäßigen Abhängigkeit der Erlebnisse eine ganz
andere Rolle spielt. Ebenso könnte dem Begriffssystem, welches wir zeit-
liche Ordnung nennen, in der unanschaulichen, nicht gegebenen WirkHch-
keit irgendeine Ordnung entsprechen, die nichts von dem anschaulichen
Wesen der Zeit besitzt, das wir im Erlebnis der Dauer kennen lernen;
aber diese transzendente Ordnung spielt im Reich der Dinge an sich die-
selbe Rolle, hat für sie dieselbe universale Bedeutung wie die Zeit für
die Bewußtseinswirklichkeit, denn nur so ist es möglich, daß beide durch
ein und dasselbe Begriffssystem (die eindimensionale Zahlenreihe) be-
zeichnet werden. Für unsere Erkenntnis ist es damit überhaupt identisch
dieselbe Ordnung; wo sie zugleich unserer Kenntnis gegeben ist, be-
zeichnen wir sie als die zeitliche; sie auch dort so zu nennen, wo sie
nicht in unser Ei leben fällt, haben wir von vornherein kein Recht, weil
Zeit zunächst ein Name für etwas Undefinierbares, nur unmittelbar zu
Erlebendes ist. Die Regeln aber, nach denen diese Einordnung erfolgt,
sind dieselben für die gegebene wie für die nicht gegebene Wirklichkeit.
Ob ich dem Symbol t, das in den mathematisch formulierten Naturgesetzen
gewöhnlich die Zeit bezeichnet, eine anschauliche Bedeutung beilege oder
mich dessen enthalte, ist für die Erkenntnis und Formulierung der Gesetze
ganz gleichgültig.
Alles dies gilt nun mutatis mutandis auch vom Räume. Auch hier ist
zu scheiden zwischen dem Räumlichen als der anschaulich voistellbaren
Die Möglichkeit der Subjektivität des Raumes und der Zeit. 211
Ausdehnung und als dem System einer Ordnung der Naturgegenstända,
die mit Hilfe reiner Begriffe vollzogen werden kann und in ganz analoger
Weise ausgeführt wird wie die Einordnung in die Zeitreihe, nur daß es
sich jetzt nicht mehr um ein Kontinuum von einer Dimension handelt,
sondern um ein solches von drei Dimensionen. Es war ja — dies hatten
wir bei anderer Gelegenheit bereits festzustellen (oben Teil I, § 7) — ^"''«^
der erkenntnistheoretisch wichtigsten Errungenschaften der modernen
Mathematik, daß sie in der Geometrie den prinzipiellen Unterschied
statuierte zwischen dem System reiner Urteile und Begriffe, in welchem
es nur ankommt auf deren logische Beziehungen untereinander, und dem
System anschaulich räumlicher Gebilde und ihrer Verhältnisse, denen jene
Begriffe und Urteile zugeordnet sind. Das erstere System korrespondiert
zwar dem letzteren in allen Stücken, ist aber von ihm insofern völlig un-
abhängig, als es keineswegs aufgefaßt zu werden braucht als eine Be-
schreibung der zwischen den anschauHchen geometrischen Gebilden ob-
waltenden Gesetze. Dies wurde, wie wir sahen, dadurch bewiesen, daß
ein und dieselben geometrischen Sätze sich auf die verschiedenste Art
mit anschaulichem Inhalt erfüllen ließen; denn daraus folgt mit allei»
Strenge, daß keiner dieser Inhalte wesentlich zu jenen Sätzen ge-
hört, so daß sie nur ihn und keinen anderen bedeuten könnten. Für uns
freihch, die wir die Begriffe von vornherein als bloße Zeichen für die
Gegenstände erkannten, war dieses Ergebnis sehr natürlich, denn die Be-
deutung, die einem Zeichen zukommt, wohnt ihm niemals als etwas
Wesentliches inne, sondern wird ihm immer erst durch den Akt der Be-
zeichnung erteilt.
Am deutlichsten macht man sich die gegenseitige Unabhängigkeit der
begrifflichen räumlichen Ordnung und ihres anschaulichen Korrelates,
wenn man sich das Verfahren der analytischen Geometrie vergegenwärtigt.
Sie bestimmt jeden Raumpunkt durch drei Zahlen (Koordinaten); und
wie jedem Ereignis seine Stelle in der Zeitreihe dadurch angewiesen wird,
daß man ihm eine Zahl zuordnet, so geschieht die räumliche Einordnung
jedes kleinsten physischen Objektes (Punktes) durch Angabe eines Zahlen-
tripels; jeder anschauUchen räumlichen Beziehung ordnet die analytische
Geometrie auf diese Art eine rein begriffliche Zahlbeziehung zu; für sie
ist das System der räumlichen Ordnung weiter gar nichts als der Inbegriff
aller mögHchen Zahlentripel, die aus den (positiven und negativen) Zahlen
gebildet werden können. Diese bilden in ihrer Gesamtheit ein dreidimen-
sionales Kontinuum, das an sich mit anschaulichen Raumvorstellungen
nicht das Geringste zu tun hat. Ein verstandesbegabtes Lebewesen ohne
räumliche Sinne könnte auf dem Wege der Rechnung alle ,, geometrischen"
Beziehungen restlos ermitteln, ohne jemals die geringste anschauliche Vor-
stellung davon zu haben, was der Raum oder ein räumliches Gebilde ist.
Ihm brauchten alle mathematischen Objekte nur in der Form von Glei-
chungen gegeben zu sein, und es könnte in derselben Form alle von
ihnen geltenden Sätze aussprechen. Mit dem Worte „Ebene" z. B. würde
14*
212 Die Erkenntnis des Wirklichen.
sich ihm kein anderer Begriff verbinden als der einer hnearen Gleichung
zwischen drei Größen.
Hieraus folgt nun, genau wie im Falle der Zeit: wenn wir einen Gegen-
stand in das geschilderte dieidimensionale Bezugssystem einordnen, so ist
damit noch nicht gesagt, daß ihm anschauliche Räumlichkeit zugeschrieben
werden muß, sondern die Frage, ob dies geschehen kann oder nicht, bleibt
vollständig offen. Es könnte also sein, daß Räumlichkeit, wie Kant es
wollte, nur unseren sinnlichen Vorstellungen zukommt, die ja zur gegebenen
Wirklichkeit gehören, daß sie aber keine Eigenschaft der transzendenten,
d. h. der nicht gegebenen Wirklichkeit ist.
Dennoch läßt sich die Ordnung der einen wie der anderen (wenn auch
— anders als bei der Zeit — mit Ausnahmen) durch dasselbe dreifache
Zahlensystem ausdrücken, und insofern ist es ein und dieselbe Ordnung.
Sie darf aber als eine räumliche zunächst nur dort bezeichnet werden, wo
sie in die erlebte Wirklichkeit fällt; man hat kein Recht, den Dingen
an sich ein Dasein im Räume zuzuschreiben, weil dieses Wort eben etwas
Anschauliches bedeutet, die transzendente Welt uns jedoch nicht anschau-
lich bekannt ist.
Vielleicht wird die Gültigkeit dieser Entwicklungen noch deutlicher,
wenn wir sie auch auf negativem Wege uns klar machen. Gesetzt nämlich,
man wollte die hier durchgeführte Unterscheidung zwischen anschaulicher
Beziehung und begrifflicher Ordnung nicht machen, sondern glauben, daß
die erstere stets mit der letzteren gegeben sei und ihren wesentlichen
Inhalt bilde, so müßte man notwendig schließen, daß die transzendente
Welt in der Tat im Räume sei. Denn daß dieser Welt überhaupt eine
Ordnung zuzuschreiben ist, wenn man sich nicht dem subjektiven Idealismus
in die Arme werfen will, hatten wir oben (S. 206) längst eingesehen; und
wenn nun diese Ordnung, die, wie wir sehen, begrifflich mit der räumlichen
genau übereinstimmen muß, diese Forderung nur dann erfüllen kann,
wenn ihr auch das Merkmal der Räumlichkeit selbst zukommt, dann
müssen eben die Dinge an sich selbst auch im Räume angeordnet sein.
Ein Philosoph, der jene Unterscheidung nicht macht und also am
Räume die Sonderung zwischen dem begrifflichen Ordnungstypus und dem
anschaulich Vorstellbaren nicht vollzieht, ist E. v. Hartmann, und ganz
konsequent gelangt er denn auch zu der Behauptung der transzendenten
Realität des Raumes. Nachdem er nämlich (gleich uns) die Einsicht ge-
wonnen hat, daß die transzendente Ordnung der Dinge auf dasselbe be-
griffliche System bezogen werden muß wie die räumliche Ordnung der
Erfahrungsgegenstände, glaubt er, es sei dadurch zugleich ,,der logisch
zwingende Beweis für die Räumlichkeit des transzendenten Beziehungs-
systems geführt" (Das Grundproblem der Erkenntnistheorie S. Iio).
Hartmann sagt, es handle sich hiei um ,, quantitative, dreidimensionale,
stetige, in ihren GrundmSßen vertauschbare Beziehungssysteme" (ebenda
S. 109), und meint nun, unter diese Definition könne nur ein einziger
Gegenstand fallen: eben der Raum unserer Anschauung. Wir wissen nach
Die Subjektivität der Sinnesqualitäten und des Raumes. 213
dem Gesagten, daß dies völlig unrichtig ist; wir fanden ja z. B. in dem
Inbegriff aller Zahlentripel eine Mannigfaltigkeit, die gleichfalls unter
den angeführten Begriff fällt, ohne doch das Merkmal der Räumlichkeit
an sich zu tragen, denn was zwänge uns, eine Zahl etwa aufzufassen als
einen anschaulich vorstellbaren Koordinatenabstand? Es ließen sich leicht
vom Standpunkt des Mathematikers noch weitere Einwände näher aus-
führen, aber das Gesagte ist zur Widerlegung hinreichend.
Wir können von unserem im Ersten Teil gewonnenen Standpunkte aus
noch die allgemeine entscheidende Bemerkung hinzufügen, daß es über-
haupt prinzipiell unmöglich ist, den Raum rein begrifflich (d. h. durch
implizite Definition, vgl. § 7) zu definieren. Einem Wesen, das keine sinn-
lich-räumliche Erfahrung besäße, könnte durch Begriffe ebensowenig klar
gemacht werden, was Raum ist, wie man einem Blindgeborenen durch
bloße Definition eine Vorstellung vom Gelb oder Rot zu geben vermöchte.
Man kann wohl Begriffe von Mannigfaltigkeiten so definieren, daß der
anschauliche Raum unter sie fällt; weil aber sein anschaulicher Charakter
durch die Definition nicht mitgetroffen werden kann, werden stets noch
beliebig viele andere Gegenstände denkbar sein, bei denen nur der an-
schauliche Charakter durch einen anderen ersetzt ist, und die auch unter
den Begriff fallen. Mit anderen Worten: daraus, daß ein Gegenstand
unter eine bestimmte formale Definition fällt, kann man niemals einen
Schluß auf sein anschauliches Wesen ziehen. Wenn also die transzendente
Ordnung der Dinge auch demselben Mannigfaltigkeitstypus angehört wie
die räumliche Ordnung unserer Wahrnehmungsvorstellungen, so folgt dar-
aus nicht, daß Räumlichkeit im anschaulichen Sinne auch ihr zugesprochen
werden muß. Diese Räumlichkeit aber w^ir es, die Kant ihr absprach.
Es folgt also aus unseren Resultaten nicht, daß die KANx'sche Raum-
lehre falsch wäre.
Ihre Richtigkeit ist damit natürlich noch nicht behauptet. Wir haben
nur festgestellt, daß die Lehre von der Subjektivität der Zeit und des
Raumes mit unseren bisher gewonnenen Wahrheiten verträglich sein würde;
jetzt wenden wir uns der viel wichtigeren Frage zu, ob sie selbst Wahrheit
ist. Die zu diesem Zwecke anzustellenden Untersuchungen werden ihrer-
seits dazu beitragen, den Sinn und die Richtigkeit der soeben durch-
geführten Überlegungen noch deutlicher zu machen.
28. Die Subjektivität der Sinnesqualitäten und des Raumes.
Um herauszufinden, welche Eigenschaften wir den Dingen an sich zu-
schreiben dürfen und welche nicht, haben wir auf die Überlegungen zurück-
zugreifen, die uns zur Annahme ihrer Existenz führten, denn die Gründe
dafür müssen nach den Ausführungen des § 26 auch die Gründe für
irgendwelche Bestimmtheiten der Dinge schon enthalten.
Die Kritik der Immanenzgedanken zeigte uns, daß wir die trans-
zendenten Dinge als reale Vermittler annehmen mußten zwischen den
214 I^iß Erkenntnis des Wirklichen.
Erlebnissen, die des lückenlosen Zusammenhanges ermangeln — sowohl
derjenigen, die demselben individuellen Bewußtsein angehören, als auch
besonders solcher, die auf verschiedene Individuen verteilt sind. Die
transzendenten Realitäten bilden die identischen Gegenstände, auf welche
Worte und Begriffe der miteinander verkehrenden Menschen sich be-
ziehen. Wir haben uns längst überzeugt, daß die Rolle solcher identischen
Gegenstände nicht übernommen werden kann von den Elementenkom-
plexen, d. h. von den Verbänden der Sinnesqualitäten, weil diese für ver-
schiedene Individuen eben niemals dieselben sind (S. 193 ff.). Das war
eine durch Physiologie und Physik festgestellte Tatsache, und durch sie
wird es schlechthin unmöglich gemacht, die Sinnesqualitäten (rot, warm,
laut usw.) als Eigenschaften der Dinge an sich anzusehen. In unserer
Terminologie: die Begriffe, mit denen wir die Sinnesqualitäten bezeichnen,
können wir nicht auch zur Bezeichnung der transzendenten Gegenstände
benutzen. Der ,, naive Realismus", der eben dies unbesehen tut und jene
Qualitäten den Objekten an sich beilegt, führt zu Widersprüchen, denn
er muß von einem und demselben Dinge Bestimmungen aussagen, die
miteinander unverträglich sind; er muß z. B. denselben Körper für rot
und nichtrot, für kalt und nichtkalt erklären. So wird er als unhaltbar
erkannt und muß der Einsicht in die ,, Subjektivität" der Sinnesqualitäten
Platz machen.
Die sinnlichen Qualitäten sind Bewußtseinselemente, nicht Elemente
der transzendenten, nicht gegebenen Wirklichkeit; sie gehören dem Subjekt
an, nicht den Objekten.
Bekanntlich stammt diese Einsicht bereits aus dem Altertum. Demo-
KRiT besaß sie in voller Klarjieit; sie ging dann aber der Philosophie
verloren während der langen Zeit, in welcher der naive Realismus des
Aristoteles herrschte, und sie mußte erst in neuerer Zeit (Galilei, Boyle,
Locke) zu frischem Leben erweckt werden. In beachtenswerter Weis?
ist sie dann erst in allerneuester Zeit wieder bestritten worden, vor allem
durch die Gedanken, welche wir in den §§ 24 und 25 dargestellt und be-
kämpft haben; diese stellen ja in der Tat, wie ihre Vertreter auch nicht
selten mit Vorliebe betonten, eine Erneuerung des naiven Realismus dar. Mit
ihnen haben wir uns zur Genüge auseinandergesetzt. Auf anderen Wegen
haben u. a. H. Schwarz und H. Bergson ^) sich gegen die Subjektivität
der Sinnesqualitäten gewandt; die Lehre dürfte aber durch die angeführten
positiven Gründe so völlig sichergestellt sein, daß es unnötig ist, auf die
Argumente dieser Gruppe einzugehen. (Man findet sie temperamentvoll
kritisiert bei J. Schultz, Die drei Welten der Erkenntnistheorie, S. 41
bis 51, 1907. Historisch behandelt die Frage Frischeisen-Köhler in
der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 30, S. 271 ff.)
Es ist nötig hervorzuheben, daß die Lehre, welche den transzendenten
Objekten die Sinnes qualitäten abspricht, damit nicht etwa behauptet,
^) Herrmann Schwarz, Das Wahrnchmungsproblem 1892. Die Umwälzung der
VVahrnehmungshypothesen 1895. Bergson, Matiere et memoire.
Die Subjektivität der Sinnesqualitäten und des Raumes. 215
daß diesen Objekten überhaupt keine Qualitäten zukommen könnten.
Man hat dergleichen öfters gemeint, da man unter Mißverstehen prin-
zipieller Resultate der Naturwissenschaften glaubte, sie führten zu einem
rein quantitativen, qualitätslosen Weltbilde. Davon ist jedoch keine Rede.
Später werden wir die Frage näher besprechen müssen.
Die Subjektivität der Sinnesqualitäten ist über allem Zweifel erhaben.
Dieselben Betrachtungen, welche die Existenz der Dinge an sich beweisen,
lehren zugleich, daß ihnen Begriffe, wie rot, warm, süß, die da Bewußt-
seinselemente bezeichnen, nicht zugeordnet werden dürfen: zur wider-
spruchslosen, eindeutigen Bezeichnung der Objekte sind sie unbrauchbar.
Ganz anders scheint es auf den ersten Blick zu stehen mit den räum-
üchen und zeitlichen Ordnungsbegriffen; sie erscheinen eminent geeignet
zur Bezeichnung der Objekte. Das zeigt besonders das Verfahren der
exakten Naturwissenschaften, denn die Begriffe, welche sie den Gegen-
ständen zuordnen an Stelle der dazu unbrauchbaren sinnlichen Qualitäten,
sind fast durchgehends Raum- und Zeitgrößen. Tonqualitäten z. B. werden
repräsentiert durch Schwingungszahlen von Luftteilchen, Farbentöne durch
die Frequenz elektromagnetischer Wellen, Wärmequalitäten durch die
kinetische Energie von Molekülen: kurz, für die Sinnesqualitäten treten
meßbare, räumlich lokalisierte Veränderungen auf, meist sogar Bewegungen.
Der Begriff der Veränderung aber enthält denjenigen der Zeit, der Begriff
der Bewegung dazu noch den des Raumes. Die der sinnlichen Qualitäten
entkleideten transsubjektiven Objekte behalten also nicht nur raumzeit-
liche Eigenschaften, sondern es scheint sogar, als ob auf diese alle übrigen
soviel wie möglich reduziert werden müßten, es scheinen mithin die un-
entbehrlichsten zu sein, durch welche die realen Gegenstände xar' i^nxT^v
bestimmt werden.
Aber die Überlegungen des vorigen Paragraphen haben uns gelehrt,
daß damit für unsere Frage noch gar nichts entschieden ist. Denn es
könnte sein, daß diese räumlich-zeithchen Bestimmtheiten weiter nichts
bedeuten als eine Einordnung in die oben beschriebenen Begriffssysteme,
daß sie aber nicht besagen wollen, die anschauliche Ausgedehntheit, welche
z. B. der Wahrnehmungsvorstellung eines Körpers zukommt, sei auch in
ganz gleicher Weise, nur numerisch verschieden, eine Eigenschaft des
transzendenten Gegenstandes. Daß eben dies letztere tatsächlich der Fall
sei, mußte so lange angenommen werden, als man die ganze Unterschei-
dung überhaupt noch nicht zu machen gelernt hatte; da konnte man
unter Raum- und Zeitbestimmung nur verstehen eine Beilegung räum-
licher und zeitlicher Qualitäten, wie sie aus der sinnlichen Anschauung
bekannt sind. BekanntHch wurden sie ja auch von Boyle und Locke
als ,, primäre Qualitäten" vor den sinnhchen als den ,, sekundären" aus-
gezeichnet, weil sie den realen Objekten außerhalb des Bewußtseins selber
angehören sollten.
2l6 Die Erkenntnis des Wirklichen
Es gilt also zwischen Locke und Kant zu entscheiden. Wir wollen
das Problem zunächst für den Raum allein in Angriff nehmen und also
fragen: Kommt das spezifisch Räumliche am Raum, also der anschauliche
Inhalt, wodurch jenes dreidimensionale Kontinuum erst zum Raum wird,
auch den transzendenten Gegenständen zu? Mit anderen Worten: Be-
finden sich jene Objekte in dem Wahrnehmungsraume unseres Anschauens?
Existieren die anschaulich-räumlichen Verhältnisse auch unabhängig von
ihrem Angeschautwerden?
Die Antwort auf diese Frage ist leichter zu finden und zu begründen,
als man im ersten Augenblick glauben möchte. Sie lautet: Nein! Die
Ordnung der Dinge an sich ist von der anschaulich-räumlichen Ordnung
unserer Empfindungen nicht bloß numerisch, sondern wesentlich ver-
schieden; die transzendenten Gegenstände können nicht im Anschauungs-
raume lokalisiert werden. Denn die objektive Ordnung der Dinge ist nur
eine, der Wahrnehmungsräume aber gibt es mehrere, viele, und keiner
von ihnen hat unmittelbar Eigenschaften, die ihn zum alleinigen Träger
jener Ordnung stempelten.
Wir werden diese Tatsache und ihre Bedeutung leicht einsehen, wenn
wir einen flüchtigen Blick werfen auf die psychologischen Eigentümlich-
keiten der Raumvorstellung.
Die räumliche Anschauung ist Sache unserer Sinneswahrnehmung.
Mag man in der Frage nach dem Ursprung der Raumvorstellung mehr
nativistischen oder mehr empiristischen Ansichten zuneigen, mag man also
die räumliche Ordnung der Empfindungen für etwas ihnen von vornherein
Anhaftendes oder für etwas durch Assoziationsprozesse erst zu ihnen sich
Gesellendes halten, so bleibt doch sicher, daß die Räumlichkeit eben
eine spezifische, anschauliche Art der Ordnung von Empfindungen ist.
Nun haben wir aber verschiedene Klassen von Empfindungen, da wir ja
mehrere verschiedenartige Sinnesorgane besitzen; und innerhalb jeder von
diesen gibt es eine mehr oder weniger ausgeprägte räumliche Ordnung.
Diese ist aber für jedes Sinnesgebiet eine spezifische, die in ihrem an-
schaulichen Wesen keine Ähnlichkeit mit derjenigen der übrigen Gebiete
hat. Es gibt also z. B. einen Gesichtsraum, einen Tastraum, einen Raum
der Bewegungsempfindungen. Und sie zeigen untereinander keine an-
schauliche Gemeinsamkeit. Wenn ich die Gestalt meines Bleistiftes visuell
erschaue, so ist das Erlebnis, das ich dabei habe, unvergleichbar ver-
schieden von dem Erlebnis, wenn ich ,, dieselbe" Gestalt ertaste. Es gibt
keine Qualität, die beiden gemeinsam und als die eigentlich räumhche aus
beiden auszusondern wäre.
Das wird durch die Erfahrungen an operierten Blindgeborenen be-
stätigt; für sie sind die räumlichen Qualitäten des Gesichtsinnes etwas
schlechthin Neues gegenüber denen des Tast- und Muskelsinnes, sie finden
in den ersteren nichts vor, was ihnen aus den letzteren schon bekannt
wäre. Die Patienten, die sich im haptischen und kinästhetischen Räume
Die Subjektivität der Sinnesqualitäten und des Raumes. 2^7
orientieren können, wissen damit noch nicht das Geringste über die
optische Orientierung im Gesichtsraume. So ergibt sich mit aller Strenge
der Schluß, den Riehl (Der philosophische Kritizismus II, S. 139), so
formuliert: ,,daß sämtliche Grundbestandteile der Raumkonstruktion:
Bewegung, Gestalt, Größe, Richtung, für die beiden Sinne verschieden
sind, daß somit zwischen den aus ihnen abgeleiteten beiderseitigen Vor-
stellungen keine andere Verbindung besteht als diejenige, welche die
Erfahrung stiftet".
In der Tat geschieht die Verknüpfung zwischen den verschie-
denen Sinnesgebieten allein dadurch, daß bestimmten räumlichen Daten
z. B. des Gesichtssinnes in der Erfahrung unter gewissen Umständen
stets bestimmte Daten der übrigen Sinne korrespondieren. Wenn
ich etwa die Tischlampe in bestimmter Entfernung vor mir sehe,
stellen sich nach Ablauf bestimmter Bewegungsempfindungen in meinem
Arm (Ausstrecken der Hand) gewisse T a s t empfindungen in den Fingern
ein (Berühren der Lampe); wenn ich visuell einen bleistiftförmigen Körper
wahrnehme, so kann ich mir durch geeignete Maßnahmen immer auch
die gleichen Tastempfindungen verschaffen, die ich beim Betasten eines
Bleistiftes erlebe. Auf diese Weise sind die räumlichen Erfahrungen der
verschiedenen Sinnesgebiete einander eindeutig zugeordnet, und deshalb
lassen sich alle in einem und demselben Ordnungssystem unterbringen,
welches eben dadurch auch zugleich zum Ordnungstypus der transzen-
denten Dinge wird.
Man hat zwar auch die früher von Locke aufgestellte Ansicht
noch verteidigt, ,,daß Gesichts- und Tastsinn sozusagen denselben
Raumsinn als gemeinsamen Bestandteil enthalten." Wir fanden diese
Meinung bei Stumpf, nach welchem ein und dieselbe räumliche Aus-
dehnung auf mehreren Sinnesgebieten erlebt werden kann (siehe oben
S. 137), und auch Mach tritt dafür ein (Analyse der Empfindungen*
S. III, Anm. 2). Beide Autoren beziehen sich zur Bestätigung auf den
Fall Saünderson. ,,Wie hätte", ruft Mach aus, ,,der blinde Saunderson,
wenn Locke unrecht hätte, eine für Sehende verständliche Geometrie
schreiben können!" Aber hier wird eben der Unterschied außer acht ge-
lassen, der zwischen dem anschaulichen Sinn des Wortes ,, Ausdehnung"
und dem rein begrifflichen Sinn besteht, welch letzterer durch ein System
abstrakter Beziehungen bestimmt wird, deren Festlegung die Aufgabe der
Geometrie ist. Gerade die Geometrie, und folghch das Lehrbuch von
Saünderson, hat nichts zu schaffen mit dem anschaulich Gegebenen,
was bei den Empfindungen ,, Ausdehnung" genannt wird, denn die Sätze
der Geometrie sind gerade davon gänzlich unabhängig (wie oben § 7 dar-
gelegt). Nur dadurch beziehen sich die Empfindungen auf einen und den-
selben Raum, daß die Erfahrung Assoziationen zwischen ihnen schafft,
durch die sie in eine und dieselbe Ordnung gebracht werden. So sagt
denn auch Mach unmittelbar vor der zitierten Stelle ganz richtig: ,,Alle
Raumempfindungssysteme, mögen sie noch so verschieden sein, sind durch
Die Erkenntnis des Wirklichen.
ein gemeinsames assoziatives Band, die Bewegungen, zu deren Leitung sie
dienen, verknüpft."
Wenn wir jetzt die Frage wieder stellen, ob wohl die räumhch an-
schaulichen Qualitäten den transzendenten Gegenständen zukommen, so
hat diese Frage durch die eben angestellten Betrachtungen schon eine
große Ähnlichkeit gewonnen mit dem Problem, ob die sinnlichen Quali-
täten wohl von den Dingen an sich ausgesagt werden können oder nicht.
Wie dort der Umstand, daß viele verschiedene Qualitäten den gleichen
Anspruch darauf hatten, dem Dinge zugeschrieben zu werden, ein An-
zeichen dafür war, daß ihm keine von allen zukomme (oben S. 214),
so haben wir auch hier viele verschiedene Erlebnisse von Qualitäten der
Räumlichkeit, von denen wir nicht wissen, welche wir auf die objektive
Ordnung der Dinge übertragen sollen. Alle hätten ein gleiches Recht
dazu, und das deutet darauf hin, daß in Wahrheit keine gewählt werden
darf, weil jeder zureichende Grund fehlt, eine vor den übrigen auszu-
zeichnen. Nicht nur in verschiedenen Sinnesgebieten entsprechen der
gleichen objektiven ,,Raum"ordnung differente Wahrnehmungen, sondern
auch innerhalb eines und desselben Gebietes. Die nämliche Körpergestalt
z. B. bietet dem Auge je nach Lage und Entfernung einen gänzlich ver-
schiedenen Anblick, und auch dem Tastsinn liefert sie wesentlich ver-
schiedene Daten, je nach den Hautstellen, die sie berührt. Locke fand
das Hauptargument für die transzendente Realität des Raumes darin,
daß die verschiedenen Sinne uns doch die gleichen Aussagen über die
räumlichen Eigenschaften der Dinge liefern; wir sehen jetzt, daß dies für
die anschauliche Räumlichkeit gar nicht zutrifft, daß vielmehr jene Aus-
sagen in diesem Punkte gar keine ÄhnHchkeit miteinander haben. Damit
fällt also der LocKE'sche Beweisgrund für unser Problem in sich zu-
sammen.
Dennoch möchte man vielleicht auf verschiedenen Wegen versuchen,
die transzendente Realität des Raumes im anschaulichen Sinne aufrecht
zu erhalten.
Erstens könnte man etwa bestreiten wollen, daß wirklich jedem Sinn
sein besonderer Raum zuerteilt werden müsse. Es sei gar nicht richtig,
daß es einen Gesichts-, einen Tastraum usw. gebe, sondern was wir als
Raum bezeichnen, sei immer schon ein Verschmclzungsprodukt aus den
Daten der differenten Sinnesgebiete einerseits und den verschiedenen Daten
innerhalb desselben Sinnesgebietes andererseits. ,,Die" Raumvorstellung
sei eben dieses anschauliche Verschmelzungsprodukt und als solches nur
eine; ihre qualitativen Eigenschaften wären es, die von den Dingen an
sich ausgesagt werden müßten und nunmehr auch könnten, weil der
Widerstreit der verschiedenen Qualitäten hier fortfalle und jede zu ihrem
Rechte komme.
Aber dieser Gedanke führt zu psychologischen Unmöglichkeiten. Es
gibt einfach kein psychisches Verschmelzungsprodukt disparater Sinnes-
gebiete, es gibt keine Vorstellung, die weder optisch noch haptisch noch kin-
Die Subjektivität der Sinnesqualitäten und des Raumes. 219
ästhetisch und doch etwas von diesem allem wäre. Räumliche Gesichtsvor-
stellungen sind mit den entsprechenden Tast- und Bewegungsvorstellungen
eng assoziiert (sie bilden mit ihnen die von Herbart und Wundt so
genannten „Komplikationen"), aber sie verschmelzen nicht zu einer Ein-
heit miteinander, ebensowenig wie etwa eine Wortvorstellung besteht aus
miteinander verschmolzenen Vorstellungen des Klanges, des Schriftbildes,
der Sprech- und Schreibbewegungen, sondern jede von diesen ist für
sich allein eine selbständige Wortvorstellung, nur durch feste Assoziationen
mit den übrigen verbunden. Sodann aber ist zur Ausbildung der Raum-
anschauung ein assoziatives Zusammentreffen von Vorstellungen aller dis-
paraten Gebiete überhaupt nicht erforderHch, denn sonst könnte z. B. der
Blinde keine Raumanschauung haben, da ihm die optischen Elemente
dazu doch ganz fehlen. Aber die haptisch-kinästhetischen Vorstellungen,
die er besitzt, liefern ihm eben eine in ihrer Art vollständige Raum-
anschauung — ebenso ergeben die optischen Elemente für sich allein eine
Raumanschauung, die in ihrer freilich ganz anderen Art gleichfalls voll-
ständig ist. Es gibt also kein einheitliches einzigartiges psychisches Ge-
bilde, welches alle Räumlichkeit allein darstellte, sondern das Räumliche
ist uns in mehreren voneinander toto genere verschiedenen anschaulichen
Weisen gegeben; es ist ein anderes für andere Sinnesorgane und Begleit-
umstände. Eben dies spricht für seine Subjektivität.
Eine zweite Möglichkeit, räumlich Anschauliches für objektiv real zu
erklären, würde gegeben sein, wenn man einen Sinn auswählen und seine
Daten auf die transzendente Welt übertragen könnte und die Subjektivität
der übrigen dann zugestände. Das dürfte man natürlich nicht ohne Gründe
tun, und an solchen fehlt es, wie gesagt. Aber selbst wenn sich irgend-
welche Anhaltspunkte zur Bevorzugung eines Sinnes vor den übrigen
fänden, so treten nunmehr innerhalb seines Gebietes die verschiedenen
Qualitäten der Raumanschauung in einen solchen Widerstreit und zeigen
eine derartige Relativität, Bedingtheit durch die Umstände, daß es un-
möglich wird, irgendeine von ihnen als objektives Bestimmungsstück der
Dinge aufzufassen ^).
Betrachten wir, um uns davon zu überzeugen, etwa die Struktur
des Gesichtsraumes, und zwar zunächst eines einzigen, um seinen Mittel-
punkt drehbaren, sonst aber ruhenden Auges. Sind uns in diesem Räume
alle die Eigenschaften anschaulich gegeben, mit der wir die objektive
Ordnung der Dinge begrifflich ausstatten.'' Ist mit anderen Worten unser
optischer Raum zugleich der physikalische? Man weiß, daß dies ganz und
gar nicht der Fall ist. Wir bezeichnen zwei Strecken unter Umständen
als objektiv gleich, obwohl sie anschaulich vollständig verschieden sind . . ,
wenn nämlich die eine etwa sich in größerer Entfernung befindet als die
andere. Für den optischen Raum laufen bekanntlich alle geraden Linien,
^) Zahlreiche Gründe für die Subjektivität des Raumes werden eindringlich
entwickelt von F. Erhardt, Metaphysik I, 5. I — III. Siehe auch E. Becher, Philo-
sophische Voraussetzungen der exakten Naturwissenschaften S. 44 ff.
Die Erkenntnis des Wirklichen.
gehörig verlängert, in sich zurück (z. B. die Linie des Horizontes), und
alle Geraden schneiden sich aus Gründen der Perspektive in einem Punkte
des Gesichtsfeldes. Wende ich den Blick zur Decke des Zimmers, so ist
für das Auge jeder ihrer Winkel größer als ein rechter, die Winkelsumme
des Rechtecks also größer als vier Rechte. Ebenso ist, wenn ich die Zeich-
nung eines beliebigen ebenen Dreieckes ansehe, seine Winkelsumme wegen
der perspektivischen Verzeichnung stets größer als zwei Rechte, um so
mehr, je größer das Dreieck. Kurz: der beschriebene optische Raum ist
keineswegs der Euklidische, in den wir die physikalischen Gegenstände
gewöhnlich einordnen, sondern ein ,, sphärischer", in ihm gilt die sog.
RiEMANN'sche Geometrie, nicht die gewöhnliche Euklidische. Daß sich
die Erfahrungen des optischen Raumes, obgleich er ein sphärischer ist,
dennoch ohne Widerspruch mit der Annahme vereinigen lassen, daß den
physikalischen Objekten Euklidische Maßeigenschaften zukommen, er-
klärt sich durch die Möghchkeit, den sphärischen Raum Punkt für Punkt
dem Euklidischen zuzuordnen, so daß dasselbe begriffliche Ordnungs-
system der Beschreibung des einen so gut wie des anderen zugrunde ge-
legt werden kann. In Wahrheit wird die Struktur des Gesichtsraumes
noch komplizierter, weil wir mit zwei Augen sehen, die wir noch dazu
mit Kopf und Körper frei herumführen können, wodurch eine noch größere
Variabilität in die anschaulichen Raumgrößen hineinkommt. Der physi-
kalisch-objektive Raum ist also ganz und gar nicht mit dem Gesichts-
raum identisch; er läßt sich als eine begriffliche Konstruktion auffassen,
die auf dem letzteren unter Aufopferung der Anschaulichkeit aufgebaut
werden kann.
Vielleicht, könnte man nun meinen, ist der objektive Raum mit dem
Tastraum identisch? Aber schon die oberflächlichste Betrachtung
seiner Eigentümlichkeiten lehrt, daß davon keine Rede sein kann. Er ist
ein amorphes, noch viel verschwommeneres Gebilde als der Gesichtsraum,
seine Gesetzmäßigkeit unüberschaubar kompliziert. Da der Tastsinn über
die ganze Haut verbreitet ist, so kann er ein und dasselbe physikalisch-
räumliche Datum (z. B. den Abstand zweier Zirkelspitzen) durch eine
schier endlose Menge qualitativ verschiedener Eindrücke repräsentieren,
je nachdem an welcher Körperstelle die Empfindungen stattfinden. Für
den Tastsinn können sich auch z. B. zwei Linien schneiden, die objektiv
überall gleichen Abstand haben (zwei Zirkelspitzen, auf der Haut äqui-
distant entlang geführt, ergeben an manchen Stellen zwei Eindrücke, an
anderen nur einen). Wir sehen: das Kontinuum der Tastempfindungen
ist etwas ganz anderes als der physische Raum, wenn sie sich auch natür-
lich wiederum eindeutig einander zuordnen lassen. Tastqualitäten sind
nicht Eigenschaften der Objekte. Selbst die Dreidimensionalität, die wir
der Ordnung der letzteren zuschreiben, dürfte aus den Daten des Tast-
raums kaum ableitbar sein.
Von den üb.igen Sinnesdaten kommen lediglich noch dieBewegungs-
empfindungen (damit meinen wir hier stets die Muskel- und Gelenkempfin-
Die Subjektivität der Sinnesqualitäten und des Raumes. 221
düngen) in Betracht als wesentlich mitbeteiligt an der Ausbildung der
Raumanschauung. Ihnen müssen wir in diesem Zusammenhange einige
Worte widmen, weil von Heymans (im Anschluß an einige Bemerkungen
Riehl's) die Hypothese aufgestellt worden ist, daß wir in dieser Klasse
von Empfindungen die alleinige Quelle der Raumvorstellung zu suchen
haben, und daß sie uns in der Tat genau den physikalischen euklidischen
Raum liefern, in welchen die Naturwissenschaft alle Objekte einordne ^).
Ich glaube, daß diese Hypothese durchaus unhaltbar ist aus folgenden
Gründen. Einmal ist es wohl gewiß nicht richtig, daß die Gesichtsemp-
findungen, wie Heymans annimmt, für sich allein überhaupt noch keine
Raumanschauung begründen. Zweifellos führen optische Wahrnehmungen
für sich, unabhängig von allen Bewegungsempfindungen der tastenden
Gliedmaßen, der Augenmuskeln usw. zu der beschriebenen Riemann-
schen Raumordnung. Selbst wenn man von jeder nativistischen Theorie
absähe, können und müssen die Gründe für die Gesichtsraumanschauung
doch ausschließlich innerhalb des Gebietes der Gesichtsempfindungen
selber gefunden werden. Die von Heymans angeführten Tatsachen be-
weisen meines Erachtens nur, daß zur richtigen räumhchen Ordnung
optischer Eindrücke eine Reihe von Erfahrungen und Assoziationen nötig
sind, nicht aber, daß diese Verknüpfungsprozesse nicht ganz innerhalb
der optischen Sphäre stattfinden könnten.
Sodann aber, und das ist für sich allein entscheidend, sind die
Prämissen nicht aufrecht zu erhalten, aus denen Heymans die Iden-
tität des physischen euklidischen Raumes mit dem der Bewegungs-
empfindungen zu deduzieren sucht. Erstens nämlich werden über die
Struktur der Bewegungsempfindungen Voraussetzungen gemacht, deren
Richtigkeit durch die psychologische Beobachtung nicht bestätigt ist.
Auf die unzweifelhaft vorhandenen Differenzen der in dieses Sinnes-
gebiet gehörenden Daten wird keine Rücksicht genommen, nämlich
darauf, daß sie für jeden Muskel und jedes Gelenk ganz andere sind;
und es wird die nicht unmittelbar verifizierte Annahme eingeführt,
daß es nur drei qualitativ verschiedene Paare von Bewegungsempfin-
dungen gibt (Richtungsgefühle, wie Riehl sie nennt), entsprechend den
Begriffspaaren vorn-hinten, links-rechts, oben-unten. Es ist klar, daß
diese Hypothese zur Erklärung der Dreidimensionalität des Raumes ge-
macht wird, im übrigen aber der Beobachtungsgrundlage entbehrt. —
Zweitens ist nun aber auch die weitere Behandlung der ,, Richtungsgefühle"
in der RiEHL-HEYMANS'schen Hypothese den schwersten Bedenken aus-
gesetzt. Heymans sagt (a. a. 0. S. 206): ,,Wir nennen die nicht näher
zu bestimmenden Daten, nach welchen der Bhndgeborene zwischen ver-
schiedenen Richtungen unterscheidet, die Qualität, die anderen,
welche er bei der Messung des Weges in Anschlag bringt, die Quan-
tität des Bewegungsgefühles". Natürlich kann man diese Terminologie
G. Heymans, Die Gesetze und Elemente des wissenschaftlichen Denkens*
(1905). § 56.
Die Erkenntnis des Wirklichen.
einführen, muß sich aber dabei im klaren sein, daß das, was hier als Quan-
tität bezeichnet ist, doch eben als Qualität erlebt wird, wie ja auch aus
dem angeführten Satze selbst hervorgeht. Die Bewegungsempfindungen,
wie alle psychischen Größen, lassen sich nun aber nicht unmittelbar wie
Quantitäten im mathematischen Sinne behandeln, d. h. als extensive
Größen, die teilbar und so zu einer neuen Empfindung zusammensetzbar
wären, daß die Komponenten in ihr unverändert erhalten blieben (vgl.
z. B. meine Ausführungen in § 5 des Aufsatzes ,,Die Grenze der natur-
wissenschaftlichen und philosophischen Begriffsbildung", Vierteljahrschr.
f. wissenschaftl. Philosophie Bd. 34, 1910); um sie der Beschreibung durch
quantitative Methoden zugänglich zu machen, muß dem System der
qualitativ verschiedenen Elemente ein Zahlensystem zugeordnet werden,
und auf welche Weise das geschieht, ist völlig willkürlich, ebenso wie etwa
die Temperaturskala, die wir den Wärmeempfindungen zuordnen, ganz
beliebig gewählt werden kann. Heymans wählt nun das Zahlensystem
so, daß die Maßzahlen der hypothetischen Bewegungsgefühle sich genau so
verhalten, als wenn es gewöhnliche kartesische Koordinaten wären. Hey-
mans scheint ganz zu übersehen, daß beliebige andere Zuordnungen den
Tatsachen in ebenso vollkommener Weise gerecht werden würden. Er
führt den Nachweis, daß in seinem System die Axiome der Geometrie
gelten, aber das ist gar nicht verwunderlich, denn die Maßverhältnisse
wurden eben so gewählt, daß dies der Fall ist. Die Rechnungen jenes
Nachweises entwickeln nur, was in den hinzugefügten Voraussetzungen
enthalten ist; mit den Bewegungsempfindungen haben sie gar nichts zu
tun und sie lehren nichts über die Struktur der auf ihnen beruhenden
Raumanschauung.
Wir kommen also zu der Einsicht, daß der kinästhetische Raum
ebensowenig wie der Tast- und der Sehraum mit dem physikalisch-objek-
tiven Raum identisch ist. Er stellt ein anschauliches Kontinuum dar,
dessen Struktur uns Anlaß geben kann zur begrifflichen Konstruktion
der objektiven Ordnung der Dinge; seine Daten entsprechen natürlich
dieser Ordnung eindeutig, aber darin haben sie vor denen der beiden anderen
besprochenen Sinne nichts voraus.
Ich glaubte diese Betrachtung der HEYMANs'schen Hypothese hier
einfügen zu sollen, weil wir uns an ihr aufs neue den Unterschied deutlich
machen können zwischen einer rein begriffhchen Ordnung und einem ihr
zugeordneten anschaulichen Gebilde. Schlüsse, die allein aus der ersteren
gezogen sind, dürfen nicht verwechselt werden mit Aussagen über das
letztere. — Übrigens bin ich mit dem verdienten Philosophen vöUig einer
Meinung in bezug auf die Frage nach der objektiven Bedeutung der Raum-
anschauung; auch er tritt mit Kant für ihre Subjektivität ein, indem
er sich darauf stützt, daß die Raumvorstellung eben nur eine dem Be-
wegungssinne anhaftende Eigentümlichkeit sei. Was sich übrigens in
Wahrheit über die erkenntnistheoretischen Beziehungen der Bewegungs-
empfindungen zum Raumbegriff sagen läßt, ist in unübertrefflicher Weise
Die Subjektivität der Sinnesqualitäten und des Raumes.
entwickelt worden von H. Poin'CARE („La relativit^ de l'espace". Science
et möthode, livre II, chap. I).
Fassen wir die gewonnenen Ergebnisse zusammen, so müssen wir
sagen — und es wird nun nicht mehr paradox khngen — , daß der physi-
kalische Raum, also die räumlichen Eigenschaften der physischen Körper,
überhaupt nicht anschaulich vorfftellbar sind. Das heißt: die
räumhchen Eigenschaften der Vorstellungsinhalte sind nicht identisch mit
denen der physischen Objekte. Die Wahrnehmung, welchem Sinne sie
auch angehöre, vermag immer nur den Grund zu liefern, auf dem das be-
griffliche Gebäude jenes Raumes errichtet wird.
Denken wir uns z. B. einen körperlichen Würfel auf verschiedene
Weise der Wahrnehmung dargeboten: visuell, indem wir ihn von einem
bestimmten Standpunkt aus beschauen, kinästhetisch, indem wir etwa
die Hand oder sonst einen Körperteil an seinen Kanten entlang führen,
taktil, indem wir ihn mit irgendwelchen Hautstellen in enge Berührung
bringen. Alles dies kann auf beliebig viele verschiedene W^eisen geschehen,
und das ergibt unendlich viele anschauliche Daten; ihnen gegenüber ist
die objektive Würfelgestalt gleichsam ein Schema, das sie alle auf eine
Formel bringt. Dieses Schema enthält von den anschauhchen Daten
keines mehr, denn sie hängen samt und sonders von der relativen Position
des Würfels zu den peripheren Sinnesorganen ab. Alle diese Abhängig-
keiten, denen für die optischen Anschauungen durch die Regeln der Per-
spektive Rechnung getragen werden kann, und für die kinästhetischen
und taktilen durch analoge, freilich sehr viel schwerer zu formulierende
Regeln, sind in jenem Schema vollständig eliminiert. Aus ihm ist die
Subjektivität der Raumanschauungen damit ausgemerzt, und es bleibt
allein jene objektive Ordnung, die nichts Anschauliches mehr enthält und
daher auch nicht mehr als räumhche bezeichnet werden sollte. (Mit den
Subjektivitäten, von denen hier die Rede war, ist aus jenem Ordnungs-
schema nicht zugleich auch jegliche Relativität ausgeschaltet; es ist als
,, objektives" nicht notwendig zugleich ein schlechthin ,, absolutes". Es
können in ihm Relativitäten bestehen bleiben, die auf dem Verhältnis
der physischen Körper zueinander beruhen, z. B. der Meßapparate und
der gemessenen Körper und Vorgänge. Die hieraus entspringenden Pro-
bleme gehören für uns nicht mehr zur allgemeinen Erkenntnistheorie;
sie sind in der Naturphilosophie zu behandeln. Dort kann dann auch das
Raumproblem erst in seiner Gesamtheit untersucht werden; hier hatten
wir es nur mit der Teilfrage zu tun, ob die W'elt der Dinge an sich räumlich
ist oder nicht. Für die naturphilosophische Erörterung der Raum- und
Zeitfragen darf ich vorläufig auf zwei Abhandlungen verweisen, die ich
dem Gegenstande gewidmet habe: ,,Die philosophische Bedeutung des
Relativitätsprinzips", Zeitschr. f. Phil. u. phil. Kritik Bd. 159, 191 5;
,,Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik". Berlin 1917.)
224 Die Erkenntnis des Wirklichen.
Nach allen diesen Erwägungen befinden wir uns gegenüber der Frage
nach der transzendenten Realität des Raumes nunmehr in genau der-
selben Lage wie in der Frage nach der transzendenten Existenz der Sinnes-
qualitäten. In dem einen wie in dem anderen Falle verwehren uns die
gleichen Argumente die Annahme, daß das anschaulich Gegebene nicht
nur im Bewußtsein existiere, sondern genau ebenso noch einmal in dem
Reiche der Dinge an sich. Es steht für uns fest, daß diese Dinge existieren
und sich durch Begriffe bezeichnen lassen, daß aber zu diesen Begriffen
nicht diejenigen von Sinnesqualitäten gehören. Sie sind zu der für alle
Erkenntnis erforderlichen eindeutigen Bezeichnung untauglich, sie hängen
vom Zustande des wahrnehmenden Subjektes ab und verheren ohne ein
solches überhaupt alle Bedeutung. Ein transzendentes Ding kann nicht
,,gelb" oder ,,warm" sein. Und ebensowenig und aus denselben Gründen
kann es räumlich sein. Denn für die anschauliche Räumlichkeit bestehen
ebenso weitgehende Abhängigkeiten und die größten Differenzen für die
verschiedenen Sinnesorgane und Individuen. Ja, die Variabilität des an-
schaulich Räumlichen an der Wahrnehmungsvorstellung eines Gegen-
standes ist noch viel stärker und ausgesprochener als die ihrer sinnlichen
Qualitäten, denn die ersteren erfahren eine Modifikation z. B. schon bei
geringfügigen Lageänderungen, von denen die Qualitäten nicht merkhch
berührt werden: die scheinbare Gestalt der Körper ändert sich mit den
äußeren Umständen der Wahrnehmung viel leichter als etwa ihre Farbe.
Es ist nun sehr bemerkenswert, aber leicht erklärlich, daß man auf
die Subjektivität der Sinnesqualitäten viel früher aufmerksam wurde als
auf die der Räumlichkeit, obgleich die letztere noch geringere 'Konstanz
aufweist als die ersteren. Nämhch gerade wegen des grenzenlosen Flusses
der räumlichen Daten mußte man sich von vornherein, schon im Kindes-
alter und vor jeder wissenschaftlichen Ideenbildung, gewöhnen, mit jenem
objektiven Ordnungsschema zu arbeiten statt mit den anschaulichen Daten
während bei den sinnlichen Qualitäten ein gleiches für die Bedürfnisse
des täglichen Lebens nicht möglich und nicht erforderlich war. Was man
in den Lehrbüchern der Psychologie meist als die Entstehung der
Raum ansc hauung bezeichnet, ist in Wahrheit die Entwicklung der
Fähigkeit, jene begriffliche Ordnung auszubilden und richtig anzuwenden.
Jede Einzelheit des Ordnungsschemas wird dabei natürlich, wie das bei
jedem Begriff sein muß, durch eine anschauliche Vorstellung repräsen-
tiert. Weil in dieser Weise schon vom* Beginn der räumlichen Erfah-
rung an die anschauliche Räumlichkeit und die begriffliche Ordnung
immer füreinander eintraten, wurde zwischen beiden überhaupt nicht
unterschieden, und so kam es, daß dem Räumlichen ein fester und ob-
jektiver Charakter zugeschrieben wurde, der von Rechts wegen nur dem
abstrakten Oidnungsschema gebührte.
Sobald man aber diese wichtige und notwendige Unterscheidung
einmal mit Strenge getroffen hat, muß man den Gedanken höchst absurd
finden, jenes qualitative Moment der Räumlichkeit, das etwa den Gesichts-
Die Subjektivität der Sinnesqualitäten und des Raumes. 225
oder den Bewegungsempfindungen anhaftet, existiere auch in den Objekten
an sich, wenn niemand sie wahrnimmt. Der Vorstellungsinhalt ,, Aus-
dehnung" ist ein anderer für jedes Sinnesorgan und für jede Lage; er
kann, ebenso wie die Sinnesqualitäten, nur angesehen werden als eine
Eigenschaft der subjektiven Vorstellungen, nicht der objektiven Dinge.
Nichts anderes als dies will die Lehre von der Subjektivität des
Raumes besagen, das muß man sich vor Augen halten. Die anschauHche
Räumlichkeit oder Ausdehnung wird von den Dingen an sich verneint,
die Einordnung in die mehrdimensionale Mannigfaltigkeit dagegen, durch
die wir die räumlichen Verhältnisse mathematisch darstellen, darf und
muß von ihnen bejaht werden. Dieses Resultat läßt sich auch so aus-
drücken, daß man mit Störring sagt (Einführung in die Erkenntnis-
theorie, S. 223): ,,. . . als transzendent real ist . . . der Raum anzu-
setzen, sofern er mathematisch-analytisch bestimmbar ist". Wenn man
will, kann man natürlich auch die transzendente Ordnung mit dem Ter-
minus ,, räumlich" belegen, oder auch ,,das Räumliche" als das Anschau-
liche unterscheiden von ,,dem Räume" als einer begrifflichen Konstruk-
tion. Wer den Raum für definierbar hält, wird diese letztere Position
einnehmen müssen (dies scheint Wundt zu tun, Logik P, S. 493 ff.,
dessen Definition allerdings den Mathematiker gar nicht befriedigen kann),
nur muß er sich darüber klar sein, daß er dann mit dem Worte ,,Raum"
z. B. auch die Mannigfaltigkeit aller Zahlentripel bezeichnet. Dergleichen
ist wohl angängig, denn es ist schließlich eine rein terminologische An-
gelegenheit, aber der ursprüngliche Sinn des Wortes scheint mir damit
doch in unzweckmäßiger Weise verschoben zu sein. Nur Unklarheit über
diese Sachlage konnte Anlaß geben zu dem unfruchtbaren Streite, ob
der Raum eigentlich Anschauung oder Begriff sei. Wir bleiben wohl am
besten dabei, nur die Ordnung des sinnlich-anschaulichen als räumlich
und als Raum zu bezeichnen; wo uns diese Worte doch gelegentlich zur
Benennung der Ordnung der transzendenten Dinge dienen müssen, soll
stets ein näher charakterisierendes Adjektiv hinzugefügt werden, so daß
dann von einem transzendenten oder auch objektiven
Raum zu reden wäre. Ähnlich nennt Becher, mit dem ich sachlich
übereinstimme, die Beziehungen der transzendenten Welt ,,im übertra-
genen Sinne räumlich" (Naturphilosophie. S. 178.) Auch die früher
von manchen Metaphysikern (z. B. Leibniz, Herbart, Lotze) ange-
wandte Bezeichnung ,,intelligibler Raum" würde ganz gut passen.
Die Anschaulichkeit und folglich Undefinierbarkeit dessen, was man
ursprünglich unter Raum versteht, wird besonders deutlich von Ziehen
(Erkenntnistheorie S. 63 ff.) hervorgehoben, der für Räumlichkeit auch
den Ausdruck „Lokalität" verwendet. Kant suchte, wie man weiß,
durch eine besondere Beweisführung vom Räume darzutun (in der ,, meta-
physischen Erörterung dieses Begriffes"), daß er nicht Begriff sei, sondern
reine Anschauung. Seine Argumente sind aber für uns bedeutungslos,
weil sie auf Voraussetzungen ruhen, die uns fremd sind. Unser Begriff
Schlick Erkenntnislehre. ic
226 Die Erkenntnis des Wirklichen.
des Anschaulichen deckt sich z. B. gar nicht mit dem, was Kaxt als
reine Anschauung bezeichnet.
Auch die Gründe, die Kant für die Subjektivität des Raumes an-
führt, können wir uns nicht zunutze machen, obwohl wir ja von der Wahr-
heit dessen überzeugt sind, was Kant durch sie beweisen will. Sie zer-
fallen bekanntlich in zwei Gruppen. Erstens folgerte Kant aus der
Apriorität unseres geometrischen Wissens, daß der Raum eine subjektive
Anschauungsform sein müsse, denn nur so konnte er sich die Möglichkeit
gültiger apodiktischer Aussagen über die Eigenschaften des Raumes er-
klären, die, wie er glaubte, den Inhalt der geometrischen Sätze bilden.
Es wird sich bald zeigen, daß wir die KANT'sche Ansicht vom Wesen der
geometrischen Wahrheiten nicht teilen können, und damit fällt dann die
Beweisführung für uns dahin. — Zweitens findet Kant die Gründe für
die Subjektivität des Raumes (und der Zeit) in der sogenannten Antinomie
der reinen Vernunft. Er meint, die Vernunft verwickle sich bei der Be-
trachtung des Weltganzen notwendig in Widersprüche, die dadurch ent-
ständen, daß wir Raum und Zeit fälschlich als Bestimmungen der Dinge
an sich ansähen. Nun sind jene Widersprüche — außer denen der ,, psycho-
logischen Paralogismen" — keineswegs so unvermeidhch, wie es Kant
schien; und wären sie es, so müßte immer noch bestritten werden (wie
LoTZE das in seiner Metaphysik §§ 105, 106 tat), daß der von ihm an-
gegebene Ausweg tatsächlich die Schwierigkeiten überwindet. Auf das
Richtige in Kant's Gedanken kommen wir später zurück (unten III, § 32).
Mit all diesen berühmten Argumenten der KANT'schen Philosophie
können wir also nichts anfangen, so gern wir auch ihr Gewicht auf unserer
Seite hätten. Freilich bedürfen wir ihrer auch nicht, denn die voran-
gehenden auf psychologischen Einsichten beruhenden Entwicklungen sind,
wie ich glaube, für sich allein völlig entscheidend. Ich möchte ihnen jetzt
nur noch eine Betrachtung ganz allgemeiner Natur ergänzend hinzufügen.
Man muß sich nämlich genau vergegenwärtigen, was es heißt, wenn
irgendeinem Bewußtseinsinhalt, mag es eine Sinnesqualität sein oder eine
Räumlichkeit, transzendente Realität zugeschrieben werden soll. Es kann
nur heißen, daß ein Etwas in der Welt der Dinge an sich existiert, welches
einem Etwas in der Bewußtseinswelt in allem vollständig gleicht. Es wärt
also ein Gegenstand in zwei oder mehreren Exemplaren da, von denen
das eine im Bewußtsein, das andere in der transzendenten Welt sich
befände.
Ist eine solche Voraussetzung sinnvoll.'' Es gibt nur zwei Möglich-
keiten, unter denen sie es ist.
Erstens läge in ihr gar nichts Widerspruchsvolles oder Wunder-
bares, wenn Bewußtsein und Inhalt des Bewußtseins sich ohne weiteres
voneinander trennen ließen. Dann wäre es die natürlichste Sache von der
Welt, wenn irgendein Gegenstand das eine Mal als Inhalt des Bewußt-
Die Subjektivität der Sinnesqualitäten und des Raumes. 227
seins, das andere Mal von ihm getrennt, also außerhalb desselben, existierte.
Sollte dieser Gedanke zu verwerfen sein, so bliebe noch
zweitens die Möglichkeit, daß der Gegenstand, wo immer er auf-
tritt, stets Inhalt eines Bewußtseins ist.
Die zweite Möglichkeit nehmen wir, wie es sich von selbst versteht,
überall dort verwirklicht an, wo wir aus empirischen Gründen sowieso
das Vorhandensein eines Bewußtseins vorauszusetzen haben. Wenn ein
Mitmensch gleich mir zum wolkenlosen Himmel aufblickt, so nehme ich
natürlich an, daß auch in seinem Bewußtsein der Inhalt ,,blau", wenn
auch nicht in absolut gleicher, so doch in höchst ähnlicher Weise sich
vorfindet. In einem Konzertsaal ist jede Tonempfindung in ebenso vielen
einander ähnlichen Exemplaren vorhanden, als sich Zuhörer in dem Saal
befinden. Darüber ist kein Wort zu verlieren, obgleich die Existenz ahn-
hoher Empfindungen in anderen Bewußtseinen sich aus naheliegenden
Gründen niemals streng beweisen läßt. Ja, auch im tierischen Bewußt-
sein werden wir nicht zögern, Inhalte vorauszusetzen, die den unsrigen
ähnhch oder doch wenigstens sehr wohl vergleichbar sind. Also hierum
kann es sich nicht handeln, sondern nur um die Frage: Kann irgendein
Datum, das innerhalb meines Bewußtseins vorgefunden wird, auch außer-
halb desselben vorkommen, ohne doch Inhalt eines anderen indivi-
duellen Bewußtseins zu sein.?
Es ist bekannt, daß diese Frage von vielen Philosophen bejaht wird,
vornehmhch von den Anhängern des ,, objektiven Idealismus". Die funda-
mentale Behauptung alles Idealismus lautet: ,, jedes Sein ist Bewußtsein",
und so muß er die erste der soeben unterschiedenen beiden Möglichkeiten
von vornherein ablehnen und alles Reale als Bewußtseinsinhalt charakteri-
sieren, mag es nun einem individuellen Bewußtsein angehören, mag es
den Inhalten eines solchen gleichen oder nicht. So wird für den Idealisten
die transsubjektive Außenwelt zum Inhalt eines ,, überindividuellen" oder
,, überempirischen" Bewußtseins, eines ,, Bewußtseins überhaupt", einer
,, Weltseele", oder wie man es nennen mag. Und für ihn besteht daher
zunächst die Möghchkeit, daß Qualitäten, wie ,,warm", ,,blau", ,, aus-
gedehnt" auch außerhalb der individuellen Bewußtseine existieren. Für
ihn hat also die Frage, ob die Sinnesqualitäten und der Raum transzendente
Reahtät besitzen, ihren guten Sinn; freilich wird er sie auch auf seinem
Standpunkte verneinen müssen, denn die hier für ihre Subjektivität ent-
wickelten Argumente behalten ihre volle Kraft. Auch für ihn also müssen
die transzendenten Quahtäten, obwohl sie ihrer Natur nach Inhalte eines
allumfassenden Bewußtseins sind, doch von unseren sinnlichen Erlebnissen
recht wesentHch verschieden sein.
Aber wir haben natüdich gar keine Veranlassung, uns auf den ideali-
stischen Standpunkt zu stellen. Ein Bewußtsein dürfen wir vielmehr in
der transzendenten Welt nur dort voraussetzen, wo empirische Gründe
uns dazu zwingen, d. h. wo die Beobachtung uns lebendige, womöglich
mit einem Nervensystem ausgestattete Organismen zeigt (siehe unten § 34).
228 Die Erkenntnis des Wirklichen.
Der Idealist wird nämlich zu seiner Konstruktion des überempirischen
Bewußtseins nicht durch irgendwelche besonderen Erfahrungen veranlaßt,
sondern nur durch seinen fundamentalen Satz von der Identität des Seins
mit dem Bewußtsein. Durch die Betrachtungen des § 25 ist dieser Satz
aber widerlegt, und die geschilderte idealistische Ansicht kommt sonach
hier für uns gar nicht mehr in Frage.
Damit fällt die eine Möglichkeit fort, der Frage nach der transsubjek-
tiven Realität von Bewußtseinsqualitäten überhaupt einen Sinn zu geben,
und es bleibt nur noch die andere zu untersuchen, die wir vorhin an erster '
Stelle aufgezählt hatten: kann die Behauptung der objektiven Wirklich-
keit gegebener Qualitäten den Sinn haben, daß diese Qualitäten, also z. B.
ein Blau, ein Kalt, außerhalb jedes Bewußtseins, mithin ,,an sich"
existieren, und dabei doch einem Bewußtseinsinhalt Blau oder Kalt wesens-
gleich sind.?
Wir haben diese Frage eigentHch schon früher beantwortet, als wir
uns klar machten (Teil II, § 19), daß sich mit der Unterscheidung des Be-
wußtseins von seinen Inhalten kein Sinn verbinden läßt. Das Wort Be-
wußtsein in der Bedeutung, welche hier in Frage kommt, ist nur der all-
gemeine Name für alles unmittelbar Gegebene. Es bezeichnet also nicht
eine Bestimmung, die gleichsam von außen zu dem Gegebenen hinzu-
kommt und ihm auch fehlen könnte; ein Etwas, dem sie fehlt, ist mithin
dem Gegebenen, Bewußten nicht mehr wesensgleich, sondern etwas anderes.
Wenn wir von einem psychischen Inhalt das Bewußtsein fortnehmen, so
ist er eben selbst fort. Schwinden des Bewußtseins heißt Schwinden seiner
Inhalte. Wir können uns kein Grün vorstellen, das nicht ein gesehenes,
d. h. bewußtes Grün wäre, kein Erlebnis, das aufhörte, erlebt zu werden
und doch fortführe zu sein. Wollte man sagen, dergleichen könnte
doch sein, ohne daß wir es uns vorzustellen vermögen, so vergäße man
den Sinn der Frage, denn hier handelt es sich gerade um die Existenz
von Gegenständen, die genau s o existieren sollen, w i e wir sie uns vor-
stellen. Sobald man sagt, sie seien außerhalb des Bewußtseins in irgend-
einer unvorstellbaren Gestalt da, hat man die Frage bereits verneint.
Man kann freilich die Theorie aufstellen, und hat es bekanntlich getan,
daß z. B. alle Vorstellungen in unserem Geiste dadurch entstehen und
vergehen, daß irgendetwas ,,über die Schwelle des Bewußtseins tritt"
oder unter dieselbe sinkt, das auch außerhalb des Bewußtseins (als Un-
bewußtes) existieren kann . . . aber diese auf- und absteigenden Größen
wären dann doch außerhalb des Bewußtseins wesentlich anders als inner-
halb, sie wären als Unbewußtes eben nicht mehr die anschaulichen Vor-
stellungen, sondern unbekannte hypothetische Gebilde; und die Schwellen-
theorie würde diese Wesensverschiedenheit nicht forterklären und auf-
heben, sondern nur auf ihre Art darstellen, und zwar durch Metaphern,
denen ein eigentlich erklärender Wert nicht innewohnt.
Jeder Versuch also, die besprochene Möglichkeit zu denken, stößt auf
den Widerspruch des vorgestellten Unvorstellbaren, des unanschaubaren
Die Subjektivität der Sinnesqualitäten und des Raumes. 229
Anschaulichen. Die Frage, ob irgendeine bewußte Qualität auch außer-
halb des Bewußtseins und dennoch wesensgleich existiere, ist damit ver-
neint; die Möglichkeiten, die sie voraussetzen würde, sind als sinnlos er-
kannt. Alles AnschauHche, die Sinnesquahtäten, die RäumHchkeit, und
was sonst noch dazu gehört, ist eo ipso subjektiv. Es beruht auf einer
sinnlosen Fragestellung, wenn man nach seiner Objektivität forscht. Das
jenseits des Bewußtseins Befindliche kann nicht in ihm noch einmal un-
verändert wiederholt werden. Der Begriff einer ,, adäquaten Erkenntnis",
wie er manchen Philosophen vorschwebte, würde übrigens gerade eine
solche Wiederholung verlangen, ein ,, Hinüberwandern" der transzendenten
Gegenstände ins Bewußtsein (vgl. oben S. 72i)-
Man wird bemerkt haben, daß die soeben angestellten Betrachtungen
Ähnhchkeit haben mit dem idealistischen Argumente gegen die Trans-
zendenz, das wir im § 24 zurückweisen mußten. Sie können in der Tat
aufgefaßt werden als der brauchbare Kern, der in jenem Argument ent-
halten ist. Es hätten sich wohl kaum so viele scharfsinnige Denker von
ihm bezaubern lassen, wenn nicht wirklich eine handgreifliche Wahrheit
in ihm steckte. Der Beweis, durch den der Idealist dartun wollte, daß
ein Sein außerhalb des Bewußtseins überhaupt nicht möglich wäre,
mußte natürlich mißglücken, aber was er in der Tat beweist, ist die Un-
möglichkeit eines extramentalen Seins vorstellbarer Gegenstände.
Wir entsinnen uns (S. 171 f.), daß die idealistische Argumentation an dem
Fehler scheiterte, daß sie Vorstellen und Denken miteinander verwechselte
und daher das Unvorstellbare für undenkbar, für unmöglich erklärte.
Korrigieren wir diesen Fehler, indem wir Vorstellen (= anschaulich aus-
malen) und Denken (= Bezeichnen durch Begriffe) sorgfältig auseinander
halten, so werden die Gedanken Berkeley's und seiner Nachfolger dadurch
nicht vollständig nichtssagend, wenn sie auch nicht die von ihren Urhebern
ihnen zugeschriebene Wahrheit enthalten. Sie drücken dann vielmehr
immer noch die andere Wahrheit aus, daß die transzendenten Dinge nicht
vorstellbar sind, daß nichts in ihrem Wesen einem Vorstellungsinhalt
völlig gleicht, daß mithin alle Bewußtseinsdaten subjektiv sind. Keins
von ihnen kann eine einfache Kopie einer transzendenten Größe sein. Die
letzteren sind, wie wir es früher ausdrückten, erkennbar aber nicht
kennbar.
Es ist lehrreich, eine der bekannten FormuHerungen des idealistischen
Argumentes unter diesem Gesichtspunkte zu betrachten. Nehmen wir
z. B. den Beweis von Julius Bergmann (System des objektiven Idealismus
S. 91): ,,Alle Inhalte des Wahrnehmens sind untrennbar von ihrem Wahr-
genommenwerden, das Wahrgenommenwerden gehört so zur Natur jeder
wahrgenommenen und folglich jeder wahrnehmbaren Bestimmtheit, daß
nichts von ihr übrig bleibt, wenn sie aufhört, wahrgenommen zu werden;
nun sind alle Bestimmtheiten, die wir im Begiiff des Körpers denken,
wahrnehmbar; folghch gehört es zur Natur der Körperwelt, Objekt für
ein wahrnehmendes Subjekt zu sein." Durch einfache Zusätze kann man
230 Die Erkenntnis des Wirklichen.
das Richtige herausstellen, das in diesen Worten enthalten ist. Gegen
die Existenz transzendenter Dinge beweisen sie nichts, denn diese brauchen
nimmermehr als wahrnehmbar gedacht werden, d. h. anschaulich vorstell-
bar zu sein, für sie gilt der Untersatz nicht; aber die Vorstellungen von
,, Körpern", durch die wir uns die Dinge anschaulich repräsentieren, also
die sinnlichen Qualitäten nebst der Ausdehnung, sie gehören in der Tat,
auf Grund des Obersatzes, ihrer Natur nach zum Subjekt. Alles Vor-
stellbare kann als solches nur Bewußtseinsinhalt sein es ist subjektiv.
29. Die Subjektivität der Zeit.
\on all den Gründen, welche die Subjektivität der RäumHchkeit
über allen Zweifel erheben,, behält für die anschauliche Zeitlichkeit
der zuletzt dargelegte seine volle Kraft. Denn — im vorigen Paragraphen
haben wir es schon erörtert — das spezifische Moment der Zeitlichkeit,
durch welches sich die Zeit von jedem andern eindimensionalen Kontinuum
unterscheidet, ist eben etwas rein Anschauliches, nicht begriffhch Definier-
bares, im Erlebnis des Bewußtseins ist es unmittelbar gegeben. Damit
ist nach dem Gesagten seine Subjektivität sicher gestellt.
Die übrigen beim Räume ins Feld geführten Gründe kommen im
allgemeinen bei der Zeit nicht in Betracht. Die Zeitlichkeit unterscheidet
sich von der Räumlichkeit sehr wesentlich dadurch, daß sie nicht wie die
letztere nur ein Inbegriff gewisser Eigenschaften ist, die für die Daten
der einzelnen Sinne ganz verschieden sind, aber sich alle auf eine und
dieselbe objektive Ordnung beziehen lassen, sondern bei der Zeit handelt
CS sich zweifellos um eine einzige Eigenschaft, die allen Erlebnissen
anhaftet. Deshalb ist es auch höchst irreführend, wenn man, wie Mach
das tut (Analyse der Empfindungen XII), von einer Zeitempfindung
spricht, denn von einer Empfindung kann man nur in bezug auf ein be-
stimmtes Sinnesorgan reden. Sehr richtig sagt Hume (Treatise of human
nature, book I, part II, section III): ,,Five notes played on a flute give
US the impression and idea of time, though time be not a sixth Impression
which presents itself to the hearing or any other of the senses. Nor is it
a sixth impression which the mind by reflection finds in itself." Sachlich
scheinen mir übrigens auch Mach's Ausführungen insofern zutreffend zu
sein, als auch aus ihnen klar wird, daß Zeitlichkeit zu dem unmittelbar
anschaulichen Erleben gehört; nur bezeichnet er unzweckmäßigerweise das
letztere durchgehends als Empfinden. Wenn ich einen Ton höre, so be-
steht die Wahrnehmung nicht aus der Wahrnehmung des Tones plus der
Empfindung der Dauer, sondern die Dauer ist mit der Tonwahrnehmung
ebenso unabtrennbar verknüpft wie die Höhe und die Intensität des Tones.
Und natürlich nicht nur den Empfindungen, sondern, wie gesagt,
allen Erlebnissen haftet die Dauer als eine Eigenschaft an; nicht irgend
ein Sinnesorgan empfindet Zeit, sondern das ganze Ich erlebt sie. Das
wird uns nicht wundernehmen, wenn wir uns an die eigentümliche Rolle
Die Subjektivität der Zeit. 231
erinnern, welche die Zeitlichkeit für die Einheit des Bewußtseins spielte,
in der man das Wesentliche des individuellen Ich überhaupt erblicken
muß (vgl. oben Teil II, § 16). Der Erinnerungszusammenhang, der die
Einheit des Bewußtseins konstituiert, ist eben ein zeitlicher; jene eigen-
tümhche Verknüpfung, die im Bewußtsein Vergangenheit und Zukunft
durch die Gegenwart verkettet, scheint die Zeitlichkeit und die Einheit
des Bewußtseins gleichermaßen zu begründen. Ob sich über diese letzten
Zusammenhänge je etwas Näheres wird sagen lassen, muß dahingestellt
bleiben; hier kann der Hinweis auf das besondere Verhältnis der Bewußt-
seinseinheit zur Zeit nur wiederum dazu dienen, den Satz ,, außerhalb des
Bewußtseins gibt es keine Zeitlichkeit" noch natürlicher und weniger
paradox erscheinen zu lassen.
Die angedeuteten Unterschiede zwischen der räumlichen und der zeit-
lichen Anschauung haben manche Denker dazu geführt, der Zeit die trans-
zendente Bedeutung zuzugestehen, die sie dem Räume absprachen. So
bekanntlich Lotze (wenigstens auf dem Standpunkt, den er in seiner
,, Metaphysik" einnimmt); ihm hat sich in der Gegenwart unter BiUigung
seiner Argumente Störring angeschlossen (Einführung in die Erkenntnis-
theorie S. 250 f.). Was Lotze's Gründe wirklich beweisen, ist aber
nur die Existenz eines transzendenten Korrelates der zeitlichen Ordnung;
die Annahme einer solchen versteht sich jedoch für uns von selbst aus
denselben Gründen, welche die Setzung einer extramentalen Ordnung er-
forderten, die der Räumhchkeit entspricht.
Wenn übrigens auch das Erleben der Zeit nicht auf verschiedenen
Sinnesgebieten verschieden - ist, wie dasjenige des Raumes, so gibt es
dennoch innerhalb seiner eine VariabiHtät, die einer objektiven Bedeutung
der Zeitanschauung widersprechen würde. Vorgänge, denen ,, objektiv"
gleiche Dauer zugeschrieben wird, können sich doch mit verschiedenen
Zeitlichkeitserlebnissen verbinden; eine Stunde schleicht träge dahin oder
saust im Fluge vorbei, je nachdem, ob sie mit langweiligem oder mit
interessantem Inhalt erfüllt ist. Im Prinzip besteht keine Grenze für die
Variabihtät der Geschwindigkeit, welche ein Bewußtsein vermöge seiner
verschiedenen Zeitanschauung dem Ablauf der Vorgänge subjektiv zu-
schreibt. In besonders lebendiger Weise hat der Naturforscher K. E. v. Baer
(Welche Auffassung der lebenden Natur ist die richtige.? 1862) die Ver-
schiedenheit der Weltbilder ausgemalt, die sich für ein Wesen ergeben, je
nachdem sich bei ihm eine große Mannigfaltigkeit von Erlebnissen auf
einen für uns kurzen Zeitraum zusammendrängen, oder umgekehrt ein
erlebnisarmes Dasein eine ,, lange" Zeitdauer in Anspruch nimmt. Diese
Ausführungen sind oft von philosophischer Seite zitiert worden (z. B.
Liebmann, Heymans, Störring). Drängte sich etwa unser ganzes
Leben, ohne doch subjektiv kürzer zu erscheinen, auf eine halbe Stunde
zusammen, so würden die Pflanzen für uns so unveränderhch sein wie
jetzt die Berge, der Lauf der Jahreszeiten wäre unseren fernsten geologi-
schen Epochen vergleichbar; und wer den Untergang der Sonne erlebte,
232 Die Erkenntnis des Wirklichen.
dem würden nur die Geschichtsbücher längst vergangener Zeiten ver-
künden, daß sie einst auch aufging.
Wenn also ein und dieselbe objektive Zeit auf so viele ganz ver-
schiedene Weisen erlebt werden kann — welche soll dann als transzendent
real gelten: unsere Zeitanschauung oder etwa die eines Vogels, dessen
Pulsschlag soviel schneller ist als der menschliche, oder die einer Eintags-
fliege, oder die eines Wesens, ,,vor dem tausend Jahre sind wie ein Tag".?
Keine ist vor der andern ausgezeichnet und es wird ganz unmöglich, irgend-
einem anschauHchen Zeiterlebnis eine andere als subjektive Bedeutung zu-
zuschreiben. Ein objektiver Verlauf der Vorgänge dürfte weder schnell
noch langsam sein; diese relativen Begriffe müßten für ihn ihren Sinn
verlieren. Deshalb kann er überhaupt nicht zeitlich im anschaulichen
Sinne sein, sondern die transzendente Ordnung, in welcher er besteht, ist
unvorstellbar.
Denn das darf man nie aus dem Auge verlieren: wenn die Zeitlich-
keit der transzendenten Welt abgesprochen wird, so ist ihre Zeitlosigkeit
nicht so zu verstehen, als ob die Begriffe, durch die wir alle Erfahrungen
zeitUch einordnen, nicht auch anwendbar wären auf jene Welt; sondern
es bedeutet nur, daß sie in ihrer transzendenten Anwendung nicht den
anschaulichen Inhalt haben, den bei ihrem immanenten Gebrauch eben
die ZeitUchkeit bildet. Auch von Gegenständen jenseits des Bewußtseins
kann z. B. ausgesagt werden, daß sie ,, nacheinander" sind, aber damit
wird ihnen nicht jenes spezifisch anschauliche Moment beigelegt, welches
die Ordnung der Zeitpunkte z. B. unterscheidet von der Ordnung der
Raumpunkte auf einer Linie, die doch auch ,, nacheinander" folgen, aber
eben in einem anderen Sinne, der auch nur erlebt werden, nicht begrifflich
abgegrenzt werden kann. Das transzendente Korrelat des zeithchen wie
des räumlichen Nacheinander ist eben gleicherweise eine unanschauliche
Ordnung, die wir aber mit Hilfe unserer Zahlbegriffe erschöpfend erkennen
können.
Wenn es noch einer Bestätigung dafür bedürfte, daß die ZeitHchkeit
vor der Räumlichkeit hinsichtlich ihrer objektiven Geltung nichts voraus
hat, so können wir ein Anzeichen dafür erblicken in neueren Ergebnissen
der exakten Naturwissenschaft. In der sogenannten Relativitätstheorie
ist es nämlich der modernen Physik gelungen, die gesamte räumlich-zeit-
Hche Ordnung der Welt mathematisch durch ein vierdimensionales Bezugs-
system darzustellen, in welchem rein formal betrachtet die zeitliche Ord-
nung der räumlichen gegenüber keine ausgezeichnete Rolle mehr spielt.
Man kann den Gleichungen aller Naturgesetze eine solche Form geben,
daß die ^eitgrößen in genau derselben Form in sie eingehen wie die Raum-
koordinaten. Abgesehen von einem imaginären Faktor tritt die Zeit in
jenen Gleichungen in völlig der gleichen Weise auf wie eine Raumstrecke;
sie stellt daher, mit diesem Faktor multipliziert, einfach eine vierte, von
den drei übrigen Raumkoordinaten nicht unterscheidbare Koordinate dar.
Das ist ein Anzeichen dafür, daß die transzendente Ordnung, welche der
Quantitative und qualitative Erkenntnis. 233
Zeit entspricht, in allen Stücken vollkommen analog ist derjenigen, die
der räumlichen zugrunde liegt.
Diese durch die Relativitätstheorie aufgedeckten Verhältnisse sind
vorzüglich geeignet, den Blick zu weiten und dadurch manches Vorurteil
aus dem Wege zu räumen, das der Einsicht in die Subjektivität von Raum
und Zeit hinderlich sein möchte. Im übrigen sind ihr aber unmittelbar
neue Argumente (deren es ja auch nicht bedarf) für diese Lehre nicht zu
entnehmen. Denn die neuen Ideen, welche die physikalische Theorie ent-
wickelt hat, beziehen sich allein auf die Messung der Zeit, sie haben
es nur mit solchen Eigenschaften der zeitlichen Ordnung zu tun, über die
uns die unmittelbare Zeitanschauung ^) überhaupt nichts lehrt.
Mit einer kurzen terminologischen Bemerkung möchte ich diese Be-
trachtungen abschließen. Man redet häufig von der Idealität der
Zeit und des Raumes und meint damit dasselbe, was wir hier als Subjek-
tivität bezeichnet haben. Der Sprachgebrauch geht auf Kant zurück.
Viele Autoren folgen ihm und bezeichnen überhaupt die Wirklichkeit
alles dessen, was nur zum Bewußtsein gehört, als ideales Sein. Diese
Ausdrucksweise haben wir absichtlich vermieden. Von jeher ist nämlich
das Wort ideal im Sinne eines Gegensatzes zu real gebraucht worden,
und in der Tat wird denn auch von jenen Autoren das transzendente Sein
ausdrücklich als das realfe dem idealen Sein der Bewußtseinsinhalte gegen-
über gestellt (vgl. z. B. B. Erdmann, Logik P, S. 138). Damit sind
dann terminologisch zwei verschiedene Arten von Wirklichkeit eingeführt.
Die Gründe, warum wir uns dieser Bezeichnungsweise nicht anschließen
können, sind bereits früher (§ 26) auseinandergesetzt worden. Es wird der
Anschein erweckt, als solle dem idealen Sein, den gegebenen Bewußt-
seinsinhalten, eine niedere Stufe der Wirklichkeit zugeschrieben werden
gegenüber der transzendenten Realität. Selbst wenn dieser Gedanke den
Benutzern jener Terminologie ganz fern liegt, kann er doch zur Quelle
von Mißverständnissen werden. Die Ordnung der transzendenten Dinge
ist um nichts realer als die Ordnung der Bewußtseinsinhalte, welche Raum
und Zeit heißt; deswegen vermeiden wir es, die letztere als ideal zu
bezeichnen.
30. Quantitative und qualitative Erkenntnis.
Die Ordnung unserer Bewußtseinsinhalte in Raum und Zeit ist zu-
gleich das Mittel, durch welches wir die transzendente Ordnung der Dinge
jenseits des Bewußtseins bestimmen lernen; und diese Einordnung ist der
wichtigste Schritt zu ihrer Erkenntnis. Wir müssen uns genau Rechen-
schaft darüber geben, auf welche Weise dieser Schritt vollzogen wird.
^) Wie ich. an anderer Stelle zeigte (Zeitschr. f. Phil. Bd. 159. S. 143).
234 ^^^ Erkenntnis des Wirklichen.
Die Hauptpunkte, die dabei in Betracht kommen, haben wir schon
früher dargelegt, nämhch im ersten Teil, § 9. Dort sahen wir, daß die
Identitätssetzung, in welcher jede Erkenntnis besteht, für die äußeren
Dinge eine Lokahsation an demselben Raum- und Zeitpunkt bedeutet.
Alles in der Außenwelt (so sagten wir S. 50) ist an einem bestimmten Ort
zu einer bestimmten Zeit; und das eine im anderen wiederfinden heißt
in letzter Linie stets: beidem denselben Ort zur selben Zeit anweisen.
Wir müssen jetzt diese Bestimmung dahin präzisieren, daß unter den
Ausdrücken Raum und Zeit hier die tranezendente Ordnung der Dinge
zu verstehen ist. Damals konnten wir auf den Unterschied gegenüber der
anschaulichen Bedeutung dieser Worte noch nicht aufmerksam machen,
aber wir deuteten doch kurz an (S. 49), daß die Ortsbestimmung
der objektiven Gegenstände sich nicht auf den Gesichts- oder Tast- oder
sonst einen anschaulichen Raum beziehe, sondern auf ein durch Begriffe
zu denkendes Korrelat.
Es gilt nun, sich darüber klar zu werden, wie man von der anschau-
lichen räumhch-zeitlichen Ordnung zur Konstruktion der transzendenten
gelangt. Es geschieht immer nach derselben Methode, die wir als die
Methode der Koinzidenzen bezeichnen können. Sie ist er-
kenntnistheoretisch von der allerhöchsten W^ichtigkeit.
Wenn ich meinen Bleistift von verschiedenen Seiten betrachte, so ist
(vgl. oben § 24) kein einziger der Elementenkomplexe, die ich dabei erlebe,
selber der Bleistift, sondern dieser ist ein von rhnen allen verschiedener
Gegenstand, durchaus ein ,,Ding an sich" im KANx'schen Sinne. Alle
jene Komplexe, von Beleuchtung, Entfernung usw. abhängig, repräsen-
tieren mir nur den Gegenstand, d. h. sie sind ihm zugeordnet. Die Einzel-
heiten ihrer Beziehung zu ihm können Physik und Physiologie erst be-
stimmen, wenn über die Eigenschaften des Gegenstandes Näheres ermittelt
ist, d. h. wenn es gelungen ist, ihn durch Bezeichnung mittels allgemeiner
Begriffe in der früher (s. S. 55) beschriebenen Art einzuzirkeln. Die
wichtigste Rolle spielen dabei, wie gesagt, diejenigen Ordnungsbegriffe,
welche ihm seinen Platz in dem transzendenten Schema anweisen.
Berühre ich die Bleistiftspitze, während ich sie anblicke, mit dem
Finger, so tritt in meinem Gesichts- und in meinem Tastraume zu gleicher
Zeit eine Singularität auf: am Finger stellt sich plötzlich eine Tastempfin-
dung ein und die Gesichtswahrnehmungen des Fingers und des Stiftes
haben plötzlich ein räumhches Datum — den Berührungspunkt — ge-
meinsam. Diese beiden Erlebnisse, die ja ganz disparat sind, werden nun
einem und demselben ,, Punkte" des transzendenten Raumes zugeordnet:
es ist der Berührungspunkt der beiden Dinge ,, Finger" und ,, Bleistift".
Beide Erlebnisse gehören verschiedenen Sinnesgebieten an und haben
gar keine Ähnlichkeit miteinander, aber es ist ihnen gemeinsam, daß sie
Singularitäten, Ünstetigkeiten in dem in ihrer Umgebung sonst stetigen
Felde der Wahrnehmungen darstellen. Dadurch werden sie aus ihm
Quantitative und qualitative Erkenntnis. 235
hervorgehoben, ausgezeichnet. So können sie aufeinander bezogen und
demselben objektiven Punkte zugeordnet werden.
Ein klares Beispiel für diesen Prozeß, durch den die transzendente
Ordnung erkannt wird, finden wir in den in der philosophischen Literatur
oft zitierten Berichten über die Erfahrungen operierter Blindgeborener
(DuFAUR, Archives des sciences physiques et naturelles, Tome 58, p. 232).
Danach lernte ein solcher ein rundes Stück Papier von einem recht-
eckigen visuell dadurch unterscheiden, daß das letztere singulare Punkte,
Unstetigkeiten aufwies ("nämlich die vier Ecken), das erstere nicht. Er
kannte Kreis und Rechteck bis dahin nur aus Tasterlebnissen, und diese
waren beim Kreis stetig, beim Rechteck enthielten sie vier Singularitäten.
Vermöge dieser Gemeinsamkeit wurden die neuen Gesichtswahrnehmungen
richtig auf die vertrauten Tastwahrnehmungen bezogen und daher zu-
treffend gedeutet.
Nicht nur die Empfindungen verschiedener Sinnesgebiete, sondern
auch verschiedener Individuen dienen in gleicher Weise zur Bestimmung
des transzendenten Ordnungsschemas. Wenn ich ein größeres Auditorium
auf einen Punkt einer an der Tafel gezeichneten Figur aufmerksam machen
will, so lege ich meine Fingerspitze an die betreffende Stelle; und obgleich
dabei jeder Zuhörer eine mehr oder weniger verschiedene Gesichtswahr-
nehmung hat, ist ihnen allen doch ein Zusammenfallen der Fingerspitze
mit dem Tafelpunkte gemeinsam. Diese beiden Objekte, vorher verschieden
lokalisiert, erhalten durch meine Geste dasselbe Lokalzeichen. Darin spricht
sich die Eindeutigkeit der Zuordnung aus, ohne welche es die transzendente
Ordnung des objektiven Raumes nicht gäbe. Zwei Wahrnehmungsgegen-
stände, die im Gesichts- oder Tastraum sich berühren (ein Lokalzeichen
gemeinsam haben), müssen transzendenten Dingen entsprechen, die in
dem objektiven Ordnungsschema einen ,, Punkt" gemeinsam haben, denn
sonst würden einem und demselben Orte eines Wahrnehmungsraumes,
zwei Orte des transzendenten Raumes zugeordnet sein, was der Eindeutig-
keit widerspräche.
Die gesamte Einordnung der Dinge geschieht nun einzig dadurch, daß
man derartige Koinzidenzen herstellt. Man bringt (meist optisch) zwei
Punkte zur Deckung miteinander und schafft dadurch Singularitäten,
indem man die Orte zweier sonst getrennter Elemente zusammenfallen
läßt. Auf diese Weise wird ein System von ausgezeichneten Stellen, dis-
kreten Orten in dem transzendenten Raum-Zeit-Schema definiert, die be-
liebig vermehrt und in Gedanken zu einer kontinuierhchen Mannigfaltig-
keit ergänzt werden können, welche dann eine restlos vollständige Ein-
ordnung aller räumlichen Gegenstände gestattet.
Natürlich ist diese Einordnung relativ, da sie sich ja auf das gegen-
seitige Verhältnis der Körper gründet (das transzendente Raum-Zeit-
Schema ist also nicht etwas ,, Absolutes", unabhängig von den Dingen
Existierendes); dadurch wird aber ihrer Objektivität kein Abbruch getan,
denn sie kann jederzeit für jeden Beobachter vollkommen eindeutig kon-
236 Die Erkenntnis des Wirklichen.
struiert werden, sobald das zugrunde gelegte Bezugssystem angegeben
wird.
Jede Orts- und Zeitbestimmung geschieht durch Messung, und
alles Messen, vom primitivsten bis zum entwickeltsten, beruht auf Beob-
achtungen raumzeitlicher Koinzidenzen, wie sie soeben geschildert wurden.
Bei den genauen wissenschaftlichen Bestimmungen läßt sich das am
leichtesten verfolgen. Jede exakte Messung besteht in letzter Linie immer
und ausschließlich in der Vergleichung zweier Körper miteinander, nämlich
im Anlegen eines Maßstabes an ein zu messendes Objekt, wodurch gewisse
Marken des ersteren (z. B. Skalenstriche) mit bestimmten Punkten des
letzteren zur Koinzidenz gebracht werden. Alle Meßinstrumente, welcher
Konstruktion sie auch sein mögen, wenden dies Verfahren an. Das Meter-
maß des Schneiders, das an das Tuch hintereinander angelegt wird, beruht
ebensowohl auf diesem Prinzip wie etwa das Thermometer des Physikers,
in welchem das Ende der Quecksilbersäule einen bestimmten Skalenstrich
erreicht. Bei den meisten Instrumenten ist es ein Zeiger, dessen Zu-
sammenfallen mit einer bestimmten Stelle oder Ziffer beobachtet wird.
So auch bei der Uhr; und es ist wohl zu beachten und für die Theorie
von Raum und Zeit sehr wichtig, daß auch die Zeit selber nicht anders
gemessen wird als durch die Beobachtung räumlicher Koinzidenzen.
(Ein anderer Umstand, der naturphilosophisch von der größten Be-
deutung ist, soll hier nur angedeutet, nicht näher verfolgt werden: Das
Vergleichen zweier Körper wird zur wahrhaften Messung erst unter
der Voraussetzung, daß es einen Sinn hat, von dem Abstand zweier
Punkte eines Körpers, z. B. der Länge eines Stabes, als von einer Größe
zu reden, die ihm unabhängig von seinem Orte und seiner Lage zugeschrieben
werden kann, denn nur so wird es möglich, verschiedene Strecken durch
Anlegung eines Maßstabes miteinander zu vergleichen, die Teile einer
Skala einander gleich zu machen und anzugeben, wie oft eine bestimmte
Strecke (die Maßeinheit) in einer anderen enthalten ist. Veränderte sich
nämlich der Maßstab bei seinem Transport von Ort zu Ort in unbekannter
Weise, so hätte es keinen angebbaren Sinn mehr, von gleichen Abständen
an verschiedenen Orten zu sprechen.)
Da alles exakte Messen auf Feststellung von Koinzidenzen der ge-
schilderten Art hinausläuft, so sind ganz unmittelbar nur Strecken
meßbar, und diese keineswegs alle, denn oft ist es praktisch unmöglich,
sich der zu messenden Entfernung mit einem Maßstabe zu nahen; der
Abstand des Mondes von der Erde z. B. kann nur indirekt ermittelt werden.
Seine Größe läßt sich aber mit Hilfe rein mathematischer Relationen aus
direkt gemessenen Größen ableiten. Die Theorie der geometrischen Er-
kenntnis zeigt (auf den Beweis können wir hier nicht eingehen), daß dies
auf rein analytischem Wege geschieht; es bedarf dazu neben den
(soeben angedeuteten) zu jeder Messung erforderiichen Voraussetzungen
keiner prinzipiell neuen Annahmen. Die indirekte Messung räumhcher
Größen schließt also kein neues Problem ein; es ist im Prinzip — mithin
Quantitative und qualitative Erkenntnis. 237
für unsere erkenntnistheoretischen Betrachtungen — ganz dasselbe, ob
ich z. B. die Länge des Erdmeridians unmittelbar feststellen kann durch
Anlegen einer Meßkette, oder ob ich sie nur indirekt durch ein Netz trigono-
metrischer Dreiecke ermittele.
Aber auch außerhalb der exakten Wissenschaften läßt sich jede be-
liebige raumzeitliche Einordnung prinzipiell auf dieselben Grundlagen
zurückführen. Denn jede Ortsangabe im Leben geschieht durch Daten,
die auf ungefähren Koinzidenzen beruhen und solche wiederum ermög-
lichen; und das gleiche gilt von allen Zeitbestimmungen im Leben des
einzelnen wie in der Geschichte: begnügt man sich da auch mit ungefähren
Angaben nach Jahren, Monaten, Tagen usw., so sind doch auch dies alles
Begriffe, die in letzter Linie nur durch den Lauf der Gestirne und ihr
Zusammenfallen mit gewissen Orten (Meridian, Frühlingspunkt usw.) fest-
gelegt sind.
Was ist nun durch die Einfügung der Dinge in die transzendente
Ordnung erreicht.''
Ein ganz gewaltiger Erkenntnisfortschritt. Erkennen heißt Wieder-
finden des einen im anderen. In den bunten, vielgestaltigen Verhältnissen
der Erlebnisse verschiedener Individuen (und eines Individuums unter
verschiedenen Umständen) ist durch die beschriebenen Methoden eine
und dieselbe gemeinsame Ordnung aufgefunden, in der Fülle und dem
Gewirr der subjektiven Daten ist die eine objektive Welt entdeckt. Es
sind identisch dieselben Gegenstände jener Welt, die in den verschiedensten
Beziehungen zu den Elementen der Bewußtseinswelt wiedergefunden
werden. Denn die Begriffe der transzendenten Gegenstände sind definiert
durch Beziehungen, durch Zuordnung zu Gegebenem. Es ist derselbe
Bleistift, der sich in Berührung mit meiner rechten Hand befindet, in be-
stimmter Entfernung von meiner linken, in gewissen Abständen von meinen
beiden Augen usw.
Wir haben früher gesehen (Teil I, § 9), daß in jedem Urteil eine Iden-
titätssetzung stattfindet, weil es nämlich dasjenige, was da erkannt wird,
identisch setzt mit demjenigen, als was es erkannt wird; und wir fanden
dort, daß eine wirklich vollständige Identifizierung, ohne welche eine Er-
kenntnis eben überhaupt nicht vorhegt, bei realen Gegenständen haupt-
sächhch da möglich wird, wo einer der in eins gesetzten Gegenstände,
oder beide, als Ghed einer Beziehung definiert ist. Bei der Ordnuug
der objektiven Welt haben wir es nun mit diesem Fall zu tun; zu allen
anderen Gegenständen in ihr steht ein durch jene Ordnung bestimmtes
Objekt in verschiedenen raumzeitlichen Beziehungen, und es tritt in allen
diesen Relationen als ein und dasselbe auf, es wird in jeder von ihnen
als eins ihrer Gheder wiedergefunden. So wird die Einfügung in das
transzendente Ordnungsschema zu einem Wiederfinden der identischen
Gegenstände in den mannigfaltigsten Relationen; und das würde einen
ungeheuren Erkenntnisfortschritt auch dann bedeuten, wenn jene Rela-
238 Die Erkenntnis des Wirklichen.
tionen qualitativ ganz und gar voneinander verschieden wären und in
keiner Weise aufeinander zurückgeführt werden könnten.
In Wahrheit aber sind jene objektiven Relationen qualitativ völlig
gleichartig; alle ihre Unterschiede werden als rein quantitative aufgedeckt
und damit aufeinander zurückführbar.
W'ir wollen uns genauer klar machen, was das heißt, und welche un-
geheure Bedeutung diesem Faktum für unsere Erkenntnis zugemessen
werden muß.
Jede 'Beziehung der fraglichen Art wird bestimmt durch die Angabe
einer Anzahl von Größen (die Lage eines Punktes z. B. durch drei Raum-
koordinaten und die Zeit), und zwar vermöge der geschilderten Meß-
methoden in letzter Linie durch die Angabe der Länge von Strecken.
Die Länge einer Strecke aber ist die Zahl der in ihr enthaltenen
Einheiten. Strecken sind extensive Größen, sie sind teilbar, sie
bauen sich auf aus lauter gleichen Teilen; ein und dieselbe Längen-
einheit wird in allen Längen wiedergefunden, nur in verschiedener
Anzahl. So werden sie quantitativ aufeinander zurückgeführt
und es gibt keine vollkommenere Art der Erkenntnis. Denn das
Wiederfinden des einen Gegenstandes im anderen findet am vollkom-
mensten da statt, wo der letztere eine bloße Summe von lauter gleichen
Elxemplaren des ersteren ist. Das gehört eben zum Begriff der Summe,
daß die Summanden vollständig und unverändert in sie eingehen, daß
also der Summand innerhalb der Summe identisch dasselbe bleibt
wie außerhalb ihrer. Jede Zahl kann als Summe von Einsen aufgefaßt
werden, und so drückt jede Zahl in ihrer Anwendung auf die Wirklichkeit
bereits eine Erkenntnis aus, die Erkenntnis nämlich, daß die Einheit in
der gemessenen Größe so oft wiedergefunden wurde, wie es eben die Zahl
angibt. Das Wesen der quantitativen Erkenntnis besteht also darin, daß
sie den erkannten Gegenstand in eine Summe von Einheiten auflöst,
welche unverändert und unter sich völlig gleich in ihm wiedergefunden
und gezählt werden können.
Auf diese Weise werden zunächst alle räumlichen Größen (Strecken,
Winkel, Volumina usw.) und sodann (durch Vermittlung des Geschwindig-
keitsbegriffs) die Zeitstrecken der Herrschaft der Zahl unterworfen. Alle
Relationen der objektiven raumzeitlichen Ordnung werden auf eine bloße
Zählung von Einheiten und damit aufeinander zurückgeführt. Von den
a n s c h a u 1 i c h e n Raum-Zeit-Verhältnissen gilt dies natürlich nicht;
für die Anschauung sind die verschiedenen Lage- und Zeitrelationen im
allgemeinen durchaus qualitativ verschieden; eine horizontale und eine
vertikale Strecke, eine rechts gelegene und eine links gelegene z. B. sind
anschaulich meist keineswegs von gleicher Qualität. Die Zahlbegriffe und
damit die quantitative Erkenntnis beziehen sich vielmehr durchaus auf
die transzendente Ordnung. Es ist von höchster Wichtigkeit, dies
zu bemerken: die objektive Welt ist der Gegenstand der quantita-
tiven Erkenntnis. Alle Zahlen der Naturwissenschaft bezeichnen direkt
Quantitative und quali tative Erkenntnis. 239
nicht etwa Beziehungen zwischen unmittelbar gegebenen Elementen,
sondern zwischen transzendenten Größen, deren objektiver ,,Ort" durch
Zuordnung zu Koinzidenzerlebnissen definiert ist. Mit Hilfe dieser Methode
kann jeder dieser „Orte" oder ,, Punkte" des objektiven Ordnungssystems
(jeder ,, Weltpunkt" in der Sprache der modernen Physik) durch vier
Zahlenangaben bezeichnet werden, und jenes System in seiner Gesamtheit
läßt sich auffassen als der Inbegriff aller Zahlenquadrupel. Diese vier
Zahlen brauchen natürlich nicht selbst Strecken zu bedeuten, nur muß
ihr Wert in letzter Linie durch Streckenmessung festgestellt werden.
Durch die Methode der Koinzidenzen werden Strecken in Einheiten
zerlegt, und die Zählung der Einheiten macht dann aus, was wir Messung
nennen. So hält die Zahl und damit der Begriff der Quantität seinen
Einzug in unsere Erkenntnis. Wenn es solchergestalt möglich ist, die Welt
der Dinge durch ein Zahlensystem zu beherrschen, so verdanken wir das
durchaus unseren räumlichen Erfahrungen, denn in ihnen findet ja
das Erlebnis der Koinzidenzen statt.
Wir haben früher gesehen (Teil II, § 17), daß im stetigen Fluß der
Bewußtseinsprozesse ein exaktes Denken nur zustande kommt durch Auf-
findung des Diskreten im Kontinuierlichen; jetzt bemerken wir, daß das
gleiche noch einmal im engeren Sinne gilt für jede exakte Erkenntnis der
Dinge, denn das Prinzip der Koinzidenzen beruht ja gleichfalls auf dem
Herausheben des Diskreten, unstetigen aus dem kontinuierlichen Wahr-
nehmungsverlauf.
So ist für die raumzeithche Ordnung der Dinge die Erkenntnis auf
die vollkommenste, nämlich quantitative Weise im Prinzip erreicht. Aber
nun kommt die Frage: W a s ist es denn nun, das in dieser raumzeithchen
Ordnung steht? Das heißt: durch welche Begriffe lassen sich die in jenem
Ordnungsschema untergebrachten Gegenstände außerdem noch bezeichnen.?
Zunächst: Auf welchem Wege gelangen wir überhaupt zu einer solchen
Bezeichnung? Es gibt nur eine Möglichkeit: Wir müssen die Bezie-
hungen benutzen, durch die jene Gegenstände uns definiert sind. Denn
sie sind uns ja nicht bekannt, nicht gegeben, sondern wir gelangen
zu ihrer Setzung als WirkHchkeiten (wie oben, Teil III A ausgeführt)
erst durch die Statuierung von Beziehungen, von gewissen Zuordnungen
zum Gegebenen.
Der Bleistift hat nicht nur einen bestimmten Platz im optischen oder
haptischen Anschauungsraum, sondern im ersteren auch eine bestimmte
Farbe. Ist es möglich, diese Farbe selbst als dasjenige aufzufassen, das
in dem transzendenten Ordnungssystem an dem ,,Orte" des objektiven
Gegenstandes ,, Bleistift" lokahsiert werden muß? Wir haben gesehen,
daß das nicht möglich ist. Die Farben als Sinnesqualitäten sind subjektiv,
sie gehören in den Anschauungsraum des Gesichtes, nicht in den objek-
tiven Raum der Dinge. Also unter den Begriff ,,gelb" kann der objektiv
existierende Bleistift nicht subsumiert werden. Man braucht aber doch
240 Die Erkenntnis des Wirklichen.
irgendeinen Begriff, um eine eindeutige Bezeichnung ausführen zu können;
und da bietet sich zunächst nur die MögHchkeit, an dem Orte der Bleistift-
oberfläche eine unbekannte Qualität anzunehmen (die dann als seine
„Eigenschaft" zu bezeichnen wäre), welcher ich das Gelb meines Bewußt-
seinsinhaltes zuordne, so wie ich dem visuell anschaulichen Platz des
Gelb einen bestimmten transzendenten Ort entsprechen lasse. Und nun
muß ich dieser selben Qualität auch die Farben zuordnen, welche alle
anderen Individuen an ihren ,, Bleistiftwahrnehmungen" erleben. Ob diese
Farberlebnisse den meinen gleich sind oder nicht, ist irrelevant und über-
haupt auf ewig unentscheidbar. Nur darauf kommt es an, daß die Zu-
ordnungen eindeutig zu bewerkstelhgen sind; und das ist immer möglich,
wenn man berücksichtigt, daß jedes der wahrnehmenden Individuen zu
dem Bleistift in anderen Beziehungen steht als die übrigen, so daß alle
Differenzen in ihren Aussagen durch die Verschiedenheit jener Beziehungen
(bedingt durch ihren Standort und die Beschaffenheit ihrer nervösen
Organe) erklärt werden können.
Folgendes läßt sich schon ganz allgemein feststellen. Wenn ich einen
zweiten Bleistift von genau gleicher Fabrikation daneben halte, der also
für mich dieselbe Farbe hat wie der erste, so fällen alle anderen Beschauer
ebenfalls das Urteil: ,,die Farben der beiden sind gleich". Ferner wird
ein Individuum, das die fragliche Farbe einmal mit dem Namen ,,gelb"
bezeichnete, sie unter genau den gleichen Umständen immer wieder mit
demselben Namen benennen; bei völHger Dunkelheit werden alle Beob-
achter aussagen, daß der Bleistift ihnen überhaupt durch kein Farberlebnis
gegeben ist usw. Neben diesen Übereinstimmungen, die, wie oben (S. 224)
erwähnt, sogar viel weiter reichen als bei der Beurteilung der anschau-
lichen Raumverhältnisse, finden sich unter andern Umständen auch Ab-
weichungen (bei Farbenblindheit, beim Blicken durch gefärbtes Glas
u. dgl.); immer aber ist jene unbekannte Qualität des Dinges definiert
durch die Beziehung zu den entsprechenden Farberlebnissen: es ist die
eine, identisch selbe Qualität, die zu jenen differenten psychischen Ele-
menten in verschiedenen Relationen steht.
Damit wäre also eine Erkenntnis bestimmter Stufe sehr wohl erreicht;
das Vorhandensein 'jener Quahtät wäre als die Bedingung dafür erkannt,
daß unter gewissen Umständen im Bewußtsein der Beobachter eine gewisse
Gelbempfindung auftritt. Man wird dies ausdrücken können, indem man
sagt, daß die Gelbempfindungen der verschiedenen Individuen alle die-
selbe Ursache, oder vielmehr Mitursache haben, nämlich im Be-
stehen der beschriebenen Qualität. Denn es gibt nicht den geringsten
Grund, warum man auf einen Zusammenhang der geschilderten Art nicht
den geläufigen Begriff einer ursächhchen Beziehung, einer Kausalreiation,
anwenden sollte. Darüber wird an anderer Stelle (unten § 40) noch
einiges zu sagen sein; hier kommt es nur auf die Einsicht an, daß in
der Beziehung der Farbwahrnehmungen verschiedener Individuen auf ein
und dieselbe extramentale Realität wirklich eine Erkenntnis gewonnen ist.
Quantitative und qualitative Erkenntnis. 241
Es ist eine rein qualitative Erkenntnis, die wir unter der obigen Voraus-
setzung als eine Ursachenerkenntnis einfachster Art kennzeichnen können.
Auf dieser Erkenntnisstufe müßte nun jeder der unendlich vielen
Farbnuancen, die ich an den anschaulichen Gegenständen des Gesichts-
sinnes wahrnehmen kann (gleiche Wahrnehmungsumstände vorausgesetzt),
eine besondere Qualität am transzendenten Gegenstande entsprechen.
Jede wäre etwas für sich, stände unerkannt neben den übrigen und wäre
nicht auf sie zurückführbar.
Es ist klar, daß die Wissenschaft bestrebt sein mußte, aus diesem
höchst unbefriedigenden Stadium herauszukommen, und wir wissen, daß
ihr dies heute glänzend gelungen ist: die Physik führt an die Stelle jener
unbekannten Qualitäten Schwingungszustände ein und ordnet den ver-
schiedenen subjektiven Farben verschiedene Frequenzen der objektiven
Schwingungen zu. Diese Frequenzen stehen sich nun nicht mehr un-
reduzierbar einander gegenüber, sondern als zeitliche Größen sind sie der
quantitativen Erkenntnis zugänglich, sie sind durch Abzählen von Ein-
heiten meßbar und dadurch nach den obigen Ausführungen restlos durch-
einander erkennbar. Die Feststellung der Frequenzen (bzw. der Wellen-
länge) geschieht natürlich wiederum mit Hilfe der Methode der Ko-
inzidenzen, z. B. durch Messung des Abstandes von Interferenzstreifen,
Bestimmung des Ortes einer Spektrallinie auf einer Skala usw.
Man darf aber nicht glauben, daß die W^issenschaft durch diese Resul-
tate nun alle Qualitäten überhaupt eliminiert hätte. Das ist durchaus
nicht der Fall. Denn jene Lichtschwingungen, welche den Farben ent-
sprechen, sind ja bekanntlich elektromagnetischer Natur, d. h. sie be-
stehen in periodischen Änderungen jener Qualitäten, welche die Physik
als elektrische und magnetische Feldstärke bezeichnet, diese selbst aber
behalten ihren qualitativen Charakter bei, wenn sie auch zugleich extensive
Größen sind, also teilbar, als Summe von Einheiten aufzufassen und damit
dem Zahlbegriff unterworfen.
Wir wollen uns dies Fortschreiten der Erkenntnis von der qualita-
tiven zur quantitativen Stufe noch an einem anderen Beispiel klar machen,
das lehrreicher ist, weil es sich noch enger an den tatsächlichen Gang
und Stand der Forschung anschließt.
Wenn ein Körper meine Haut berührt, so habe ich eine Wärme-
empfindung, deren Qualität davon abhängt, an welcher Stelle die Be-
rührung stattfindet und was für ein Körper sich vorher mit der Haut-
stelle in Kontakt befand. Dieselbe Wassermasse scheint der eingetauchten
Hand kühl oder warm, je nachdem sie vorher mit wärmerem oder kälterem
Wasser in Berührung war. Den verschiedenen Wärmeempfindungen, die
ich unter verschiedenen Umständen beim Betasten des Körpers habe,
läßt nun der Physiker die eine identische Qualität des Körpers ent-
sprechen, die er als , .Temperatur" bezeichnet. Unter sonst gleichen Um-
SchUck, Erkenntiuslehre. 10
242 Die Erkenntnis des Wirklichen.
ständen liegt einer heftigen Wärmeempfindung eine andere Temperatur
zugrunde als einer lauen, und der Unterschied zwischen beiden Tempera-
turen ist zunächst als ein qualitativer zu fassen; der Physiker benutzt
jedoch einen Kunstgriff, um die Temperatur der mathematischen Behand-
lung zu unterwerfen: er ordnet nämlich den verschiedenen Temperaturen
Zahlen zu und bedient sich dabei der annähernden Korrespondenz, die
zwischen der Qualität der Wärmeempfindung und dem Volumen gewisser
Körper besteht (z. B. des Quecksilbers im Thermometerrohr). Dies Volumen
ist nun eine extensive Größe und durch die Methode der Koinzidenzen meß-
bar; von der Temperatur selbst gilt das aber auf dieser Erkenntnisstufe
noch nicht, die Temperaturen sind nicht in addierbare Stücke zerlegt,
nicht aufeinander zurückgeführt; es hat keinen Sinn zu sagen, die Tem-
peratur von 20° sei gleich zweimal derjenigen von 10°, sondern nur durch
eine völlig willkürliche Festsetzung sind die Zahlen 10 und 20 gewissen
Temperaturen zugeordnet, durch die Annahme einer beliebigen thermo-
metrischen Substanz und Skala. Es ist nur die Einsicht benutzt, daß sich
die Temperaturen in einer eindimensionalen Reihe ordnen lassen. So
könnte man z. B. auch den reinen Spektralfarben oder den Tonhöhen
nach einer beliebigen Übereinkunft Zahlen zuordnen, ohne von der
Schwingungsnatur der ihnen entsprechenden physischen Gebilde etwas zu
wissen. Durch diese Art der Ordnung wäre natürlich ihr Wesen in keiner
Weise erkannt. Temperaturmessung ist also in diesem Stadium — es ist
das Stadium der sogenannten reinen Thermodynamik — etwas prinzipiell
anderes als etwa Messung von Lichtwellenlängen: sie ist nicht mit Wesens-
erkenntnis der gemessenen Größe verknüpft.
Ganz anders dagegen auf der nächsthöheren Erkenntnisstufe, zu
welcher die sogenannte mechanische Theorie der Wärme sich erhebt: sie
identifiziert die Temperatur mit. der mittleren kinetischen Energie der
Molekularbewegung; und diese ist nun eine extensive Größe. Definitions-
gemäß baut sie sich derart aus Raum- und Zeitgrößen (nämlich aus Ge-
schwindigkeiten) auf, daß sie stets aufgefaßt werden kann als additiv aus
Teilen zusammengesetzt. Nun sind Temperaturunterschiede für den Phy-
siker nichts Qualitatives mehr, die Temperatur ist überhaupt als be-
sondere Qualität aus der physikalischen Weltanschauung fortgeschafft,
sie ist restlos zurückgeführt auf die mechanischen Begriffe der Masse, des
Raumes und der Zeit und damit im strengen Sinne meßbar geworden,
ihrem Wesen nach restlos erkannt.
Aus der Betrachtung dieser Verhältnisse ergibt sich mit Klarheit:
Qualitäten sind nur dann vollständig erkannt, d. h. durch Kombinationen
bereits vorhandener Begriffe vollkommen und eindeutig zu bezeichnen
(vgl. oben S. 13), wenn es gelingt, sie quantitativ auf andere zurückzu-
führen. Und dadurch werden sie in ihrer Eigenschaft als besondere Quali-
täten aus dem Weltbilde gänzlich eliminiert.
Möglichkeit der quantitativen Bestimmung ist also nicht nur eine
willkommene, zur strengeren Fassung nötige Beigabe zur Erkenntnis,
Quantitative und qualitative Erkenntnis. 243
sondern sie ist die unumgängliche Bedingung der restlosen Erkenntnis
überhaupt. Nur die quantitative, also letzten Endes additive Zurück-
führun^ von Grössen aufeinander gestattet, die einen in den andern
unverändert vollständig wiederzufinden, nämlich als Teile im ganzen,
als Summanden in der Summe.
Der Eliminationsprozeß der Qualitäten ist der Kern aller Erkenntnis-
fortschritte der erklärenden Wissenschaften. Die ältesten naturphilo-
sophischen Annahmen über die Quahtäten des objektiven Seins leiten
sich naturgemäß unmittelbar von den Sinnesdaten ab; der Einteilung in
die ,,vier Elemente" liegen z. B. deutlich die Empfindungen des Haut-
sinnes (und Muskelsinnes) zugrunde: das Wasser ist das Feuchte, das
Feuer das Warme, die Erde das Harte, Schwere, die Luft das Leichte,
Nachgiebige. Die in den Lehrbüchern noch heute übhche Einteilung der
Physik in Mechanik, Akustik, Optik, Wärmelehre beruht durchaus auf
den Unterschieden der Sinnesgebiete: die Mechanik entspricht dem Tast-
und Muskelsinn, die Akustik dem Ohre, die Optik dem Auge und die
Wärmelehre dem Temperatursinn. In der Theorie sind diese Scheidungen
natürlich längst aufgegeben. Im Laufe der Zeit sind zunächst die sinn-
lichen und darauf die an ihre Stelle gerückten objektiven Quahtäten immer
mehr eliminiert worden, bis zuletzt nur noch eine ganz geringe Anzahl
nicht weiter reduzierter Quahtäten (z. B. die oben erwähnten elektrischen
und magnetischen Feldstärken) übrig blieb. Aus ihnen baut die Physik
die ganze objektive Welt auf, und alle in ihrem Weltbild vorkommenden
Größen werden als räumliche oder zeitliche Kombinationen jener funda-
mentalen Qualitäten dargestellt. Diese letzteren werden zweckmäßig mit
dem Namen ,, Intensitäten" bezeichnet.
Es versteht sich von selbst, daß die Wissenschaft in ihrem Weltbild
nicht etwa ohne jede Qualität auskommen und die Natur als ein Spiel
reiner Quantitäten betrachten kann. Die Redeweise vom qualitätslosen
Atom u. dgl. entbehrt des Sinnes, denn Quantität ist eine Abstraktion,
die voraussetzt, daß irgendetwas da ist, dessen Quantität sie ist. Es kann
nichts sein, ohne irgendwie zu sein; Sein und Qualitätsein ist dasselbe.
(Dies hat besonders E. Becher mit Nachdruck betont; er sagt z. B.
— Philosophische Voraussetzungen der exakten Naturwissenschaften
S. 87 — : , .Alles, was ist, ist Quahtät . . ."). Auch die objektive Raum-
Zeitmannigfaltigkeit ist natürlich unbeschadet ihres extensiven Charakters
als etwas Qualitatives aufzufassen, denn sie muß sich doch irgendwie von
anderen vierdimensionalen Mannigfaltigkeiten unterscheiden, die quanti-
tativ genau gleich bestimmt sind.
Nachdem übrigens einmal die gegenseitige Abhängigkeit der einzelnen
Größen endgültig aufgedeckt ist, besteht eine gewisse Willkür, welche
Intensitäten man als die fundamentalen bezeichnen, d. h. als diejenigen
benutzen will, auf welche alle anderen reduziert werden. Denn wegen
i6*
244 ^^^ Erkenntnis des Wirklichen.
der durchgehenden wechselseitigen Beziehungen kann ich stets die bisher
als fundamental angenommenen Qualitäten durch einige der übrigen aus-
drücken und nun diese letzteren als diejenigen wählen, auf welche alle
anderen zurückzuführen sind. So brauche ich — um ein Beispiel heraus-
zugreifen — im Aufbau der gewöhnlichen Newtonschen Mechanik als
Grundbegriffe nicht die. üblichen der Masse, der Zeit und der Strecke
anzunehmen, sondern ich kann statt ihrer ebensogut etwa das Volumen,
die Geschwindigkeit und die Energie zugrunde legen und alle übrigen in
der Mechanik auftretenden Größen auf sie reduzieren. Es ist nur eine
praktische Frage der Zweckmäßigkeit, für welche Möglichkeit man sich
entscheidet.
Es wäre also eine unzulässige metaphysische Interpretation des wissen-
schaftlichen Weltbildes, wenn wir sagen wollten, daß in der Außenwelt
überhaupt keine anderen Qualitäten objektiv existierten als jene letzten
,, Intensitäten", deren quantitative Abwandlungen die Bausteine des Uni-
versums der Physik bilden. Denn das physikalische Weltbild ist ein
System von Begriffen, das nicht mit der Wirklichkeit selber verwechselt
werden darf: wir können die Realitäten der Welt eindeutig bezeichnen
durch zusammengesetzte Begriffe, die durch Kombinationen einiger weniger
elementarer Bestandteile entstanden sind. Aber jene Realitäten selber
werden stets auch als ,, einfache" aufgefaßt werden können. Das sieht man
am leichtesten, wenn man sich die soeben erörterte Willkür in bezug auf
die Wahl der letzten Bausteine des Weltbildes vor Augen hält. Man wird
also das ,, Universum an sich" als eine Mannigfaltigkeit unendUch vieler
verschiedener Qualitäten beschreiben müssen, die auf solche Weise mi^
einander verwoben und voneinander abhängig sind, daß sie sich durch
die quantitativen Begriffssysteme der Naturwissenschaften bezeichnen
lassen. Durch dieses wird die Gesetzmäßigkeit ihres Entstehens und Ver-
gehens wiedergegeben (wobei die Worte Werden und Vergehen im über-
tragenen Sinne zu nehmen sind, denn es handelt sich ja nicht um Ände-
rungen in der anschaulichen Zeit, sondern um Stellungen in der objek-
tiven Ordnung). Jeder von den Außenweltsqualitäten kann man einen
Begriff zuordnen, der aus einer Kombination von Begriffen anderer Quali-
täten gebildet ist: darin drückt sich eben die Gesetzmäßigkeit des all-
seitigen Zusammenhanges aus, denn erst durch sie wird eine derartige
Zuordnung möglich. Jene Gesetzmäßigkeit auffinden heißt die Außenwelt
erkennen, denn mit ihr wird das allgemeinste im einzelnen wiedergefunden
und dieses dadurch erkannt.
Die Objekte der Außenwelt, die Dinge an sich, werden auf diese
Weise als gesetzmäßige Zusammenhänge von Qualitäten bestimmt. (Die
Betrachtung der Einzelheiten dieses Erkenntnisprozesses muß natur-
philosophischen Untersuchungen vorbehalten bleiben, die ich an anderer
Stelle mitzuteilen gedenke). Ein Atom, ein Elektron ist also aufzu-
fassen als ein Verband von Qualitäten, die durch bestimmte Gesetze mit
einander verknüpft sind — nicht als ein substantielles Ding, welches
Quantitative und qualitative Erkenntnis. 245
seine Qualitäten als Eigenschaften trüge und von ihnen, eben als ihr Träger,
unterschieden werden könnte. Die Kritik, die Hume gegen diesen
Substanzbegriff richtete, besteht noch immer völlig zu Recht. Wenn
man, wie der MACH'sche Positivismus es tat (vgl. oben S. 170 u. 171),
mit dem Ausdruck ,,Ding an sich" nichts anderes bezeichnen wollte als
die Substanz in diesem Sinne, so wäre der Kampf gegen das Ding an sich
sehr berechtigt und sehr nötig. Die Idee eines von den Eigenschaften
unabhängigen und sie nur tragenden Kernes ist in der Tat verfehlt, denn
der Kern selbst wäre dann ja etwas Eigenschaftsloses. Wir brauchen uns
mit dieser Idee nicht weiter zu befassen, denn wir sind bei unserer Analyse
überhaupt nicht auf sie gestoßen und können den Prozeß der Naturerkenntnis
ohne sie verständlich machen. Dadurch ist ihre Entbehrlichkeit bewiesen.
An einer anderen Stelle (Zeitschr. f. Phil. u. phil. Kritik Bd. 159, S. 172 ff.)
habe ich darauf aufmerksam gemacht, daß die Naturwissenschaft in be-
sonderen Fällen sich auch durch empirische, experimentelle Tatsachen ge-
zwungen sieht, den alten Substanzbegriff zu verlassen. Alle Erkenntnis
geht also in letzter Linie auf Beziehungen, Abhängigkeiten, nicht auf
Dinge, Substanzen.
Die Frage nach dem wahren Wesen dieser oder jener Qualität beant-
wortet sich durch ihre Einordnung in das quantitative Begriffssystem,
also durch Zurückführung auf die zugrunde gelegten fundamentalen
Intensitäten. Und diese Antwort, sobald sie einmal vollständig gefunden
ist, hat definitiven Charakter. Wer da meint, daß hiermit das ,, eigent-
liche Wesen" der Qualitäten noch nicht ausreichend bestimmt sei, sondern
etwa noch verlangt, sie so kennen zu lernen, wie uns die bewußten Quali-
täten Lust, Schmerz, warm, gelb usw. bekannt sind, der ist wieder dem
Irrtum verfallen, welcher Erleben mit Erkennen verwechselt und den wir
schon so oft als verwirrend erkannt haben (vgl. § 11, Teil I). Was Er-
kenntnis überhaupt leisten kann, wird in bezug auf die Qualitäten des
Universums durch die Naturwissenschaften in der geschilderten Weise
restlos geleistet: sie werden vollkommen erkannt. Bekannt werden sie
uns freilich nie; unser Erkenntnistrieb hat aber auch gar keinen Anlaß
es zu wünschen, denn ihm wäre damit nichts geholfen.
Gerade umgekehrt steht es mit den Qualitäten, welche den Inhalt
unseres Bewußtseins bilden. Sie sind uns absolut bekannt, wie aber ist
es mit ihrer Erkenntnis bestellt.^ Im Vergleich mit der Erkenntnis der
Außenweltsqualitäten offenbar schlecht genug; denn die Psychologie,
welche die Erforschung der subjektiven, bekannten Qualitäten zum Gegen-
stande hat, kann sich in bezug auf Umfang und Erkenntniswert ihrer
Resultate mit den Naturwissenschaften nicht wohl messen. Und es ist
klar, daß zwischen beiden sogar ein prinzipieller Unterschied be-
steht. In der Tat: die introspektive Psychologie kann niemals über das
Stadium der qualitativen Erkenntnis hinausgelangen, für sie ist die un-
246 Die Erkenntnis des Wirklichen.
endliche Mannigfaltigkeit der psychischen Qualitäten schlechthin un-
rcduzierbar, jede ist den andern gegenüber etwas Neues und weist keine
extensiven Eigenschaften auf. Jede Empfindung z. B. ist ihrer Natur
nach einfach und unzerlegbar; das Verhältnis zwischen einer intensiveren
und einer schwächeren Gelbempfindung ist nicht so, daß die erstere aus
der schwächeren plus einer zweiten schwächeren bestände, sondern sie
wird ihr gegenüber als etwas qualitativ anderes von gleicher Einfachheit
und Unteilbarkeit erlebt. Unanfechtbar ist die in dem berühmten Kant-
schen Worte enthaltene Wahrheit, daß ,, Mathematik auf die Phänomene
des inneren Sinnes und ihre Gesetze nicht anwendbar ist".
Alle durch die introspektive Methode zu gewinnenden psychischen
Gesetzmäßigkeiten (man denke etwa an die Gesetze der Assoziationen,
der Aufmerksamkeit, der Willensakte) sagen höchstens aus, daß das Vor-
handensein bestimmter Daten die Bedingung für das Auftreten gewisser
anderer Daten ist; sie geben also (vgl. oben S. 240) gar wohl eine Kausal-
erkenntnis, aber die kausal verbundenen Glieder selbst werden dabei auf
keine Weise erkannt, wie das bei quantitativer Kausalerkenntnis der Fall
wäre, sie bleiben vielmehr jedes für sich in seiner Besonderheit bestehen.
Wir würden unendlich viele Begriffe gebrauchen, um die Mannigfaltigkeit
der Erlebnisse vollkommen zu beschreiben, denn da sie irreduzibel sind,
hätten wir für jedes einen eigenen Begriff nötig.
Gibt es keinen Ausweg, um auch in der Psychologie die Stufe der
quantitativen Erkenntnis zu erklimmen, auf der es, wie wir sahen, allein
möglich wird, das Ziel der Erkenntnis vollständig zu erreichen.?
Wir haben soeben das Verfahren kennen gelernt, mit Hilfe dessen
die Naturwissenschaft Qualitäten durch quantitative Begriffsbildung
meistert; es wäre also zu fragen, ob dieses Verfahren auch auf die sub-
jektiven Qualitäten des Bewußtseins anwendbar ist. Damit es anwendbar
sei, ist nach den vorhergehenden Betrachtungen erforderlich, daß es
räumliche Änderungen gibt, die in völlig bestimmter eindeutiger Weise
mit den Qualitäten zusammenhängen; denn dann kann die Aufgabe auf
die Methode der raumzeitlichen Koinzidenzen zurückgeführt werden und
es wird eine Messung möglich. Das Verfahren der Koinzidenzen aber
besteht wesentlich in physikalischer Beobachtung; beim introspektiven
\'erfahren gibt es dergleichen nicht. Daraus folgt sofort, daß die Psycho-
logie auf introspektivem Wege das Erkenntnisideal nie erreichen kann.
Sie muß also versuchen, für ihre Zwecke die physische Beobachtung zu
verwerten. Ist das nun möglich.'' gibt es räumliche Änderungen, die von
den Bewußtseinsqualitäten in ähnlicher Weise abhängen, wie etwa in
der Optik der Abstand der Interferenzstreifen von der Farbe, in der
Elektrizitätslehre der Ausschlag der Magnetnadel von der magnetischen
Feldstärke.''
Nun, man weiß, daß in der Tat zwischen den subjektiven Qualitäten
und der objektiv erschlossenen Welt eine genau bestimmte eindeutige
Zuordnung anzunehmen ist. Daß zwischen den als ,, Sinnesempfindungen"
Quantitative und qualitative Erkenntnis. 247
bezeichneten subjektiven Qualitäten und der Außenwelt ein derartiges
Verhältnis stattfindet, versteht sich von selbst, denn dieses war es ja
gerade, was überhaupt erst zur Setzung und Erkenntnis objektiver Reali-
täten führte. Daß aber auch zu den übrigen Erlebnissen eindeutig mit ihnen
zusammenhängende ,, physische" Vorgänge sich finden lassen oder wenigstens
angenommen werden müssen, das lehrt eine weitreichende Erfahrung. Es
gibt keine Bewußtseinsqualität, die nicht durch Einwirkungen auf den
Körper beeinflußt werden könnte; vermögen wir doch das gesamte Bewußt-
sein sogar durch eine einfache physische Manipulation (wie z. B. das
Einatmen eines Gases) zum Verschwinden zu bringen. Mit Willenserleb-
nissen hängen unsere Handlungen zusammen, mit körperlicher Erschöpfung
Halluzinationen, mit Magenstörungen Gemütsdepressionen usw. Zur Er-
forschung derartiger Zusammenhänge muß die Seelenlehre die reine
Methode der Introspektion verlassen und zur physiologischen
Psychologie werden. Sie allein kann zu einer prinzipiell vollständigen
Erkenntnis des Psychischen gelangen. Mit ihrer Hilfe wird es dann mög-
lich, den gegebenen, subjektiven Qualitäten ihrerseits Begriffe zuzuordnen,
ganz wie den erschlossenen objektiven QuaHtäten, und damit; sind jene
erkennbar geworden, wie diese.
Es hat sich längst herausgestellt, daß derjenige Teil der objektiven
Welt, der mit sämtlichen subjektiven Qualitäten eines Ich am unmittel-
barsten zusammenhängt, eben der ist, welcher durch den Begriff des
Gehirns, spezieller der Großhirnrinde, des Individuums bezeichnet wird.
Die zahlenmäßigen Begriffe, welche man in dem exakten Weltbild der
wissenschaftlichen Erkenntnis für die subjektiven Qualitäten substituieren
muß, sind daher keine anderen als irgendwelche bestimmten Gehirnprozesse.
Zu ihnen führt die Analyse der wechselseitigen Abhängigkeiten unter allen
Umständen. Wenn wir auch unabsehbar weit davon entfernt sind, genau
zu wissen, welche Prozesse da im einzelnen in Frage kommen, so ist doch
wenigstens der Weg gewiesen: es müssen zerebrale Prozesse für die sub-
jektiven QuaHtäten substituiert werden; nur so besteht Hoffnung, sie
restlos zu erkennen.
Der Weg zur Erkenntnis aller Qualitäten, mögen sie objektiv oder
subjektiv sein, ist immer der gleiche: es wird das Zeichensystem der natur-
wissenschaftlichen Begriffe für sie eingeführt, und sie werden dadurch
aus dem Weltbilde der exakten Wissenschaft eliminiert; das heißt
natürlich nicht: aus der Welt geschafft. Sie sind ja im Gegenteil das
allein Reale, und jenes Weltbild ist nur ein aus begrifflichen Zeichen kon-
struiertes Gebäude.
Endgültige Erkenntnis von Qualitäten, so können wir zusammen-
fassend sagen, ist nur durch die quantitative Methode möglich. Das Be-
wußtseinsleben ist also nur insofern vollkommen erkennbar, als es gelingt,
die introspektive Psychologie in eine physiologische, naturwissenschaft-
liche, in letzter Linie in eine Physik der Gehirnvorgänge, überzuführen.
248 Die Erkenntnis des Wirklichen.
Man könnte vielleicht glauben, eine Messung und damit eine quanti-
tative Beherrschung psychischer Größen könnte auch auf eine mehr
mittelbare Weise ohne eine genaue Erforschung der nervösen Prozesse
schon stattfinden. Die FECHNER'sche Psychophysik nämlich scheint doch
wenigstens Empfindungen zahlenmäßig zu bemeistern, indem sie Reiz-
stärken mißt; und dazu bedarf sie keines Einblickes in die Natur der
zentralen Nervenprozesse.
Aber gesetzt selbst, die psychophysische Methode Fechner's ließe sich
von allen ihren UnvoUkommenheiten befreien und wäre auch auf andere
Gebilde als Empfindungen anwendbar (was wiederum praktisch aus-
geschlossen erscheint), so wäre damit eine Erkenntnis des Psychischen
im höchsten Sinne doch keineswegs gewonnen. Es wäre wohl eine Zu-
ordnung von Zahlen zu seelischen Größen nach einer willkürlichen Skala
erzielt, aber sie wären nicht auf etwas anderes zurückgeführt und blieben
untereinander völlig unverbunden, von einer Wesenerkenntnis könnte man
nicht sprechen. Man hat ganz denselben Fall wie im oben betrachteten
physikalischen Beispiel: das Wesen der ,, Temperatur" bheb so lange un-
erkannt, als ihre Messung nur durch Zuordnung von Zahlen auf Grund
einer willkürlichen Skala erfolgen konnte; die mechanische Theorie der
Wärme aber, welche an Stelle der Temperatur die lebendige Kraft der
Moleküle einführte, gab damit zugleich ein natürliches Prinzip der quanti-
tativen Beherrschung, das jede Willkür ausschaltete. Erst wenn die quan-
titativen Beziehungen nicht bloß eine willkürliche Festsetzung wider-
spiegeln, sondern gleichsam aus der Natur der Sache folgen und eingesehen
werden, stellen sie eine Erkenntnis des Wesens dar ^). Wie hier die
Temperatur auf mechanische, so müßten die Bewußtseinsdaten, um wahr-
haft erkannt zu werden, allgemein durch natürliche Prinzipien auf physi-
kalische Bestimmungen zurückgeführt werden; und wie das bei der Tem-
peratur, der objektiven Wärmequalität, nur möglich ist durch Hypothesen
über die molekulare Struktur der Materie, so bedarf es zur Erkenntnis
der subjektiven psychischen Qualitäten eindringender physiologischer
Hypothesen über die Natur der Gehirnvorngänge. Der gegenwärtige Stand
der Forschung erlaubt aber leider noch nicht die Aufstellung derartiger
genügend spezieller Hypothesen, wie sie zur Erreichung dieses letzten
Zieles der Psychologie erforderlich wären.
31. Physisches und Psychisches.
Die zuletzt angestellten Erwägungen führen in den Gedankenkreis
jenes großen Problems, das in der neueren Philosophie, etwa seit Des-
') Über den Unterschied zwischen der Messung im echten naturwissenschaft-
lichen Sinne und im Sinne'einer bloßen Zuordnung von Zahlen nach einem künstlichen
Prinzip vgl. die Abhandlung von J. v. Kries: „Über die Messung intensiver Größen
und das sog. psychophysische Gesetz". V'ierteljahrsschr. f. wiss. Phil. 1882. Bd. 6.
S. 257, und meinen Aufsatz ,,Die Grenze der naturwissenschaftlichen und philosophi-
sclicn Bcgriflsbildung" i) 5, ebenda, 1910, Bd. 34, S. 132, bei dessen Abfassung mir
die v. KKiEs'sche Arbeit noch nicht bekannt war.
Physisches und Psychisches. 249
CARTES, im Mittelpunkt aller Metaphysik steht: es ist die Frage nach
dem Verhältnis des Geistigen zum Körperlichen, der „Seele" zum Leibe.
Sie gehört, wie ich glaube, zu den Problemen, die einer falschen Frage-
stellung ihr Dasein verdanken. In der Tat: auf dem Standpunkt, den wir
durch die vorhergehenden Betrachtungen gewonnen haben, entrollt sich
vor uns ein Weltbild ohne dunkle Schlupfwinkel, in denen sich die eigen-
tümlichen Schwierigkeiten verbergen könnten, die unter dem Namen des
psychophysischen Problems gefürchtet sind. Es ist auf jenem Standpunkt
schon gelöst, ehe es noch gestellt werden kann. Dies wollen wir nun nach-
weisen. Um aber zu vollkommener Beruhigung über die Frage zu ge-
langen, müssen wir dann auch die Quelle des Irrtums aufdecken, durch
den die Leib- Seele-Frage zu einem quälenden Problem werden konnte.
Den Begriff des Psychischen hatten wir längst fest umgrenzt (siehe
z. B. S. 138): er bezeichnete das ,, schlechthin Gegebene", welches mit
,, Bewußtseinsinhalt" identisch war; und der Sinn dieser Ausdrücke be-
darf jetzt wohl keiner näheren Erläuterung mehr. Zu einer Definition
des Physischen dagegen lag bisher keine Notwendigkeit und kein Bedürfnis
vor. Wir müssen sie nunmehr nachholen, und es wird sich zeigen, daß
tatsächlich nichts nötig ist als eine deutliche Vergegenwärtigung der im
Begriff des Körperlichen vereinigten Merkmale, um zu völliger Klarheit
über das vermeintliche Problem zu gelangen.
Das Universum stellte sich uns dar als eine unendliche Mannigfaltig-
keit von Qualitäten. Diejenigen von ihnen, die dem Zusammenhang eines
Bewußtseins angehören, bezeichneten wir als subjektiv; sie sind das Ge-
gebene und Bekannte. Ihnen stehen die objektiven als nicht gegeben
und nicht bekannt gegenüber. Die ersteren sind natürlich das, was wir
psychisch nennen, wir haben diesen Namen auch schon für sie ge-
braucht. Sollen wir nun die zweiten, die objektiven, als die physischen
bezeichnen.? Es wäre gewiß das nächstliegende, aber wir dürften es nur
dann, wenn der so bestimmte Begriff auch gerade genau das bedeutete,
was man in der üblichen Sprechw^eise mit dem Ausdruck ,, physisch"
treffen will. Das ist nun aber bei näherem Zusehen nicht der Fall.
Zwar pflegt man unter ,, physisch" alles zu verstehen (mag es im
übrigen als Ding, Eigenschaft, Vorgang oder was sonst gelten), was nicht
der Innenwelt eines bewußten Wesens zuzurechnen ist, also weder dem
Zusammenhang des eigenen Ich noch demjenigen eines fremden Bewußt-
seins angehört: es scheinen mithin unsere objektiven Qualitäten unter
diesen Begriff des Physischen zu fallen, wenigstens wenn wir von der
Lehre jener Denker absehen, die mit einem ,, unbewußten Psychischen"
glauben rechnen zu müssen. Aber nun denkt jedermann im Leben wie
in den Wissenschaften unter dem Begriff des Physischen noch andere
Merkmale mit, welche gerade als die wesentlichen gelten, die aber hier,
nicht zu genügender Klarheit gebracht, ganz am unrechten Orte stehen,
und denen man die Schuld an der Entstehung des ,, psychophysischen
250 Die Erkenntnis des Wirklichen.
Problems" überhaupt aufbürden muß: es sind die Merkmale der Räum-
lichkeit.
Das Körperliche und das Ausgedehnte sind nicht nur fast stets als
untrennbar zusammengehörig, sondern oft genug als schlechthin identisch
betrachtet worden; so bekanntlich bei Descartes. Räumliche Ausdehnung
gehörte immer zur Definition des physischen Körpers; Kant benutzte
daher geradezu den Satz: ,,alle Körper sind ausgedehnt" als Beispiel
eines analytischen Urteils. Räumlichkeit ist das wesentliche Merkmal
alles Physischen im gebräuchlichen Sinne. Dieser übliche Sinn weiß nichts
von dem Unterschiede, auf den wir das allergrößte Gewicht legen mußten:
das ist der Unterschied zwischen dem Räumlichen als anschaulichem
Datum und dem ,,Raum" als Ordnungsschema der objektiven Welt
(oben § l"]). Das letztere hatten wir in Ermangelung eines besseren Aus-
drucks als d?n objektiven oder transzendenten Raum bezeichnet (S. 225),
zugleich aber betont, daß damit eine übertragene Bedeutung des Wortes
,,Raum" eingeführt wird, die nicht sorgfältig genug von der ursprüng-
lichen getrennt werden kann, wanach ,,Raum" durchaus etwas Anschau-
liches bedeutet. Es war aber das wichtige Ergebnis früher (§ 28) an-
gestellter Betrachtungen, daß eben diese anschauliche Räumlichkeit der
extramentalen Welt, den objektiven Qualitäten, nicht zukommt. Wollten
wir also die letzteren als physisch bezeichnen, so würden physische Objekte
in diesem Sinne keineswegs die anschaulichen, wahrnehmbaren und vor-
stellbaren Körper sein, die man gemeinhin unter dem Terminus verstehen
will. Wir müssen deshalb diesen Terminus zur Bezeichnung der extra-
mentalen Qualitäten vermeiden, wie wir uns ja auch vor den Worten
Raum und Zeit in der Anwendung auf die transzendente Ordnung der
Dinge hüten wollten.
Wir wissen, daß vorstellbare Ausdehnung ganz allein eine
Eigenschaft gerade der subjektiven Qualitäten ist; Räumlichkeit
in diesem Sinne besitzt also nicht das physische, objektive, sondern im
Gegenteil das psychische, subjektive Sein. In jenem populären Begriff
des Körperlichen sollen also Merkmale vereint sein, die sich realiter nicht
miteinander vertragen: es soll sowohl Ding an sich (d. h. kein Bewußt-
seinsinhalt) als auch mit der anschaulichen, wahrnehmbaren Eigenschaft
der Ausdehnung behaftet sein. Da beides unvereinbar ist, so muß dieser
Begriff des Physischen (Körperlichen, Materiellen) zu Widersprüchen An-
laß geben: es sind eben die Widersprüche, welche das psychophysische
Problem ausmachen.
Alle großen philosophischen Probleme nämlich beruhen auf stören-
den, quälenden Widersprüchen, und sie stellen sich äußerhch in gewissen
Begriffsgegensätzen dar, deren Versöhnung eben Lösung der philosophi-
schen Aufgabe bedeutet. Solche gegensätzlichen Begriffspaare sind z. B.
Freiheit-Notwendigkeit, Egoismus-Altruismus, Wesen-Erscheinung (vgl.
§ 26), und zu ihnen gehört nun auch unser Begriffspaar physisch-psychisch,
Physisches und Psychisches.^ 251
oder Leib-Seele, Materie- Geist, oder durch welche Schlagworte man es
sonst noch wiedergeben mag.
So haben wir den überkommenen Begriff des Physischen als unvoll-
ziehbar, als falsch gebildet erkannt. Sollen wir nun, wie wir eigentlich
müßten, den Gebrauch des Wortes überhaupt ablehnen und erklären:
Es gibt überhaupt keine physischen Körper.? Das wäre natürlich nicht
recht, denn es muß sich offenbar irgendwie ein Gebiet zur legitimen An-
wendung des Wortes finden lassen, da es sonst nicht die eminente prak-
tische und methodische Bedeutung hätte gewinnen können, die es tat-
sächlich entfaltet hat. Der Gegenstand der ,, Physik" muß auf irgendeine
Weise anzugeben und zu umgrenzen sein. Bis jetzt haben wir wenigstens
negativ festgestellt, daß wir diesen Zweck verfehlen würden, wenn wir
den Terminus ,, physisch" einfach zur Bezeichnung aller nichtpsychi-
schen Qualitäten zulassen wollten. Die Ergebnisse früherer Betrach-
tungen liefern uns aber die Mittel, die Aufgabe auch positiv zu lösen.
Vorerst aber ist es wichtig, den Nachweis zu führen, daß es für uns
ein Leib-Seele-Problem überhaupt nicht mehr geben kann, daß wir einen
widerspruchsvollen Gegensatz zwischen Körper und Geist nicht zu fürchten
brauchen, wenn wir auf dem Standpunkt verharren, zu dem die Unter-
suchungen der vorhergehenden Kapitel uns hinaufgeführt haben.
Die Welt ist ein buntes Gefüge zusammenhängender Qualitäten; ein
Teil von ihnen ist meinem (oder irgendeinem anderen) Bewußtsein ge-
geben, und diese nenne ich subjektiv oder psychisch; ein anderer Teil ist
keinem Bewußtsein unmittelbar gegeben und diesen bezeichne ich als
objektiv — jedoch nicht etwa als physisch. Mit allem Nachdruck mußten
wir das Mißverständnis zurückweisen, als könnte man den beiden eine
verschiedene Art oder einen verschiedenen Grad von Wirklichkeit zu-
schreiben, die einen etwa als bloße ,, Erscheinungen" der andern charak-
terisieren. Sie sind vielmehr alle sozusagen als gleichwertig zu betrachten,
die einen gehören so gut in den durchgehenden Zusammenhang des Uni-
versums wie die anderen; wir können nicht sagen, daß zwischen den
Rollen, die sie in der Welt spielen, ein prinzipieller Unterschied bestände.
In jenem Zusammenhang ist allgemein gesprochen alles von allem ab-
hängig, jedes Geschehnis darin ist eine Funktion aller übrigen Geschehnisse
und es kommt dabei gar nicht darauf an, ob es sich um objektive oder
subjektive Qualitäten handelt. Ob ich jetzt rot sehe oder Freude erlebe,
das wird ebensowohl von eigenen früheren Erlebnissen, also von psychi-
schen Qualitäten, abhängen, wie auch von dem Vorhandensein irgend-
welcher extramentaler Qualitäten, die sogar durch die im vorigen Para-
graphen beschriebenen Methoden meiner Erkenntnis zugänglich sind. Und
umgekehrt werden auch die letzteren vom Wechsel der ersteren abhängen,
sie sind z. B. sicherlich Funktionen meiner ,,Willens"erlebnisse, denn die
objektiven Ereignisse werden doch zweifellos durch mein Handeln be-
252 Die Erkenntnis des Wirklichen.
einfkißt: wenn ich z. B. die Empfindungen des Losdrückens eines Revolvers
habe und den Knall höre, so geschieht damit sicherlich auch etwas in der
cxtramentalen Welt. Ohne Frage besteht eine durchgehende Abhängig-
keit, eine ,, Wechselwirkung" zwischen den Qualitäten des Universums,
also z. B. auch zwischen denen, die meinem Bewußtsein angehören, und
jenen cxtramentalen, welche durch den physisclicn Begriff ,,mein Leib"
bezeichnet werden.
Das ist alles ganz natürlich und fügt sich ohne Schwierigkeit und
Zwang in das gewonnene Weltbild ein, es ist kein Problem dabei, es fehlt
jedes Motiv, das zu irgendeiner anderen Annahme drängte, etwa zur
Stellung der Frage, ob nicht vielleicht statt eines allseitigen durchgehenden
Zusammenhanges des Wirklichen eine ,,prästabilierte Harmonie" zwischen
Bewußtsein und ,, Außenwelt" bestehe . . . nur von einer ganz falschen
Position aus kann man zu einer derartigen Fragestellung gelangen.
Es könnte somit scheinen, als müßten wir in der Leib-Seele-.Frage
die Partei derjenigen Denker ergreifen, die eine psychophysische Wechsel-
wirkung lehren. Aber dem ist in Wahrheit nicht so. Denn wir müssen uns
erinnern, daß die, welche das Leib-Seele-Problem stellen und zu lösen
suchen, unter ,, physisch" etwas anderes verstehen als unsere extra-
mentalen Qualitäten; sie legen ja die übliche Vorstellung des anschau-
lichen räumlich ausgedehnten Körpers zugrunde. Daß aber dieser Körper-
begriff in sich widerspruchsvoll ist, haben wir soeben festgestellt. Wir
müssen nun zusehen, wie sich das ohne Widerspruch ausdrücken läßt,
was im hergebrachten Begriffe des Physischen wahrhaft gemeint sein soll.
Damit wird dann zugleich endlich für uns festgelegt, welche Bedeutung
wir mit dem W^orte ,, physisch" künftighin zu verbinden haben.
Zu diesem Zwecke brauchen wir nur auf die Entwicklungen des
vorigen Paragraphen zurückzuschauen, welche uns zeigten, wie die Natur-
wissenschaft zum Aufbau ihres rein quantitativen Weltbildes gelangt.
In diesem Weltbild entstand durch Ausmerzung der ,, sekundären Quali-
täten" derjenige Begriff der physischen Materie, des qualitätslosen, aber
ausgedehnten Stoffes, der seit Demokrit bis zu Descartes und über
Kant hinaus die naturphilosophische Spekulation beherrscht. Wir haben
eingesehen, daß jenes ganze Weltbild nur ein System von Zeichen ist,
das wir den Qualitäten und Qualitätskomplexen zuordnen, deren Gesamt-
heit und Zusammenhang das Universum bildet. Der physische Körper
in seiner quantitativen Bestimmtheit ist also ein bloßer Begriff,
nichts Wirkliches; das Wirkliche ist immer ein Gefüge von Qualitäten.
Die Begriffe vertreten in unserem Denken die extramentale Wirklichkeit,
dürfen aber nicht mit ihr selber verwechselt werden.
Das erkenntnistheoretisch noch nicht abgeklärte Denken verwechselt
aber nicht nur leicht den Begriff mit dem realen Gegenstande, den er
bezeichnet, sondern auch mit den anschaulichen Vorstellungen, welche in
unserem Bewußtsein den Begriff repräsentieren. Wenn wir den wissen-
schaftlichen Begriff eines bestimmten Körpers denken, so geschieht dies
Physisches und Psychisches. 253
durch Vorstellungen, z. B. Gesichtsbilder, die das anschauliche Merkmal
der Ausdehnung tragen. Der strenge Begriff des Körpers dagegen ent-
hält davon nichts, sondern nur gewisse Zahlen, welche die ,, Abmessungen",
die ,, Gestalt" des Körpers angeben, und das bedeutet nicht — wie aus-
führlich dargelegt — ein objektives Vorhandensein räumlich-anschaulicher
Eigenschaften an dem wirklichen Gegenstande (diese kommen ja nur den
Wahrnehmungen und Vorstellungen, nicht etwa Extramentalem zu), son-
dern es bedeutet jene unanschauliche, unverstellbare Ordnung, in welcher
die objektiven Qualitäten der Welt untereinander stehen.
,, Physisch" bedeutet mithin nicht eine besondere Art des Wirklichen,
sondern eine besondere Art der Bezeichnung des Wirklichen, nämlich
die zur Wirklichkeitserkenntnis notwendige naturwissenschaftliche Be-
griffsbildung. ,, Physisch" darf nicht mißverstanden werden als eine Eigen-
schaft, die einem Teil des Wirklichen zukäme, einem andern nicht: es ist
vielmehr ein Wort für eine Gattung begriffhcher Konstruktion, so wie
etwa ,, geographisch" oder ,, mathematisch" nicht irgendwelche Besonder-
heiten an realen Dingen bezeichnen, sondern immer nur eine Weise, sie
durch Begriffe darzustellen. Die Physik ist das System exakter Begriffe,
welches unsere Erkenntnis allem Wirklichen zuordnet. Allem Wirk-
lichen, denn im Prinzip ist die g e s a m t e W e 1 1 der Bezeichnung durch
jenes Begriffssystem zugänglich. Natur ist alles, alles Wirkliche ist natür-
lich. Geist, Bewußtseinsleben, ist kein Gegensatz zur Natur, sondern ein
Ausschnitt aus der Gesamtheit des Natürlichen.
Daß wir mit dieser Auffassung das Richtige treffen, zeigt sich nach-
träglich klar bei einer kritischen Betrachtung anderer Versuche, für das
Physische- eine einwandfreie Definition zu finden.
Moderne Denker, die sich mit der Frage beschäftigten, bemühen sich
zumeist, den Unterschied des Körperlichen und Seelischen in einen Unter-
schied der Betrachtungsweisen aufzulösen. Zwei so verschieden gerichtete
Philosophen wie Mach und Wundt stimmen darin überein, daß Physik
und Psychologie es schließlich mit denselben Gegenständen zu tun
hätten, die sie nur auf verschiedene Art bearbeiteten. Achten wir, meint
Mach, auf die Abhängigkeit eines ,, Elementes" von denjenigen Elementen,
die meinen Körper bilden, so ist es ein psychisches Objekt, eine Empfindung;
untersuchen wir es dagegen in seiner Abhängigkeit von anderen ,, Elemen-
ten", so treiben wir Physik, und es ist ein physikahsches Objekt. ,, Nicht
der Stoff, sondern die Unters uchungs rieh tung ist in beiden
Gebieten verschieden" (Analyse der Empfindungen^, S. 14). Nun haben
wir uns aber in den letzten und in früheren Paragraphen (§ 24, 25) über-
zeugt, daß das Wesen der physischen Forschung mit dieser Bestimmung
nicht richtig getroffen wird. Die unmittelbar gegebenen Elemente gehen
niemals selber in die physikalischen Theorien ein, sie werden unter allen
Umständen eliminiert, und erst das, was ihnen substituiert wird, heißt
254 Die Erkenntnis des Wirklichen.
physisch. Das sind aber die Größenbegriffe, welche an die Stelle der
gegebenen Qualitäten treten. Diese selbst bleiben an sich und in jeder
Betrachtungsweise psychisch. Das Gelb dieser Sonnenblume, der Wohl-
klang jenes Glockentones sind seelische Größen und gehören niemals in
den Kreis der physischen Objekte; die physikalischen Gesetzmäßigkeiten
handeln nicht von ihnen, sondern von Schwingungszahlen, Amplituden
und dergleichen Größen, und diese bauen sich nimmermehr aus subjek-
tiven Qualitäten auf.
WuNDT bezeichnet den Standpunkt der Naturwissenschaft als den-
jenigen der mittelbaren Erfahrung im Gegensatz zu dem der Psychologie
als demjenigen der unmittelbaren Erfahrung, und er hebt hervor, ,,daß
die Ausdrücke äußere und innere Erfahrung nicht verschiedene Gegen-
stände, sondern verschiedene Gesichtspunkte andeuten, die wir bei der
Auffassung und wissenschaftlichen Bearbeitung der an sich einheitlichen
Erfahrung anwenden" (Grundriß der Psychologie'^ S. 3). Aber auch der
Begriff der mittelbaren Erfahrung eignet sich nicht zur Definition des
Physischen. Wundt sagt, sie komme zustande ,, mittels der Abstraktion
von dem in jeder wirklichen Erfahrung enthaltenen subjektiven Faktor";
die Naturwissenschaft betrachte also ,,die Objekte der Erfahrung in
ihrer von dem Subjekt unabhängig gedachten Beschaffenheit"
es würde also wohl das Physische mit dem Objektiven zusammenfallen,
und damit wäre eine Bestimmung getroffen, die wir bereits als unzweck-
mäßig ablehnen mußten, und die bei näherem Zusehen doch wieder erst
sinnvoll wird unter der Voraussetzung, daß nicht bloß die Betrachtungs-
weisen, sondern auch die Gegenstände verschieden sind.
Da erschien es schon aussichtsvoller, bei der Definition des Physi-
schen gerade Gewicht darauf zu legen, daß es im Gegensatz zum Seelischen
nicht ein unmittelbar erlebtes Wirkliches ist, sondern daß wir zu seiner
Setzung nur durch Vermittelung des Psychischen gelangen, und die Aus-
drücke unmittelbare und mittelbare Erfahrung in diesem Sinne zu ver-
stehen. Aber da ist zu bedenken, daß dann auch psychische Qualitäten
Gegenstände der mittelbaren Erfahrung sein können, nämlich diejenigen,
die einem fremden Bewußtsein angehören, denn zu ihrer Setzung gelangen
wir bekanntlich erst durch Analogieschlüsse. Die eigentliche Meinung war
jedoch offenbar, physisch sei jenes Wirkliche, das prinzipiell
überhaupt nur der mittelbaren Erfahrung zugänglich ist. Dahin zielt
wohl der Definitionsversuch Münsterberg's, welcher sagt (Prinzipien
der Psychologie I, S. 72, 1900), es bedeute ,, psychisch, was nur einem
Subjekt erfahrbar ist, physisch, was mehreren Subjekten gemeinsam er-
fahrbar gemacht werden kann". Ihm schheßt sich A. Messer an (Einfüh-
rung in die Erkenntnistheorie 1909, S. 121). Diese Bestimmung könnte
nur dann als einwandfreie Definition gelten, wenn das Wort ,, erfahrbar" hier
beide Male dasselbe bedeutete, wenn es einerlei Erfahrung wäre, durch
welche die beiden Reiche uns gegeben wären. Aber dies trifft ja nicht zu,
denn eine seelische Qualität ist eben schlechthin, unmittelbar, gegeben, und
Physisches und Psychisches. 255
immer nur dem einen Subjekt, welches sie erlebt; bei einem physischen
Gegenstande dagegen ist erfahrbar nicht gleich erlebbar, seine Be-
ziehung zu uns ist eine mittelbare, und in einer solchen Beziehung kann
er zu vielen Subjekten zugleich stehen. Das gilt aber wiederum ebenso
gut von dem psychischen Leben anderer Individuen: von ihm können
gleichfalls beliebig viele Subjekte mittelbare Erfahrung besitzen. Freilich
ist das eine ganz verschiedene Art von Erfahrung, aber auf diese Ver-
schiedenheit kommt es gerade an, und so lange sie nicht durch die Defini-
tion erfaßt wird, ist eben die Abgrenzung des Körperlichen vom Seelischen
nicht gelungen. Die MÜNSXERBERc'sche Formulierung bringt uns mithin
keinen Schritt weiter.
Auch dadurch wird nichts erreicht, daß man zwei Arten der Er-
fahrung als ,, innere" und ,, äußere" unterscheidet, es wäre vielmehr höchst
irreführend aus denselben Gründen, die wir früher (Teil II, § 19) gegen
die ,, innere Wahrnehmung" geltend gemacht haben. Wenn man ferner,
wie es immer geschieht, zur ,, äußeren" Erfahrung die Sinneswahrnehmung
»■echnet, so würden die sinnlichen QuaHtäten damit selber ins Reich des
Physischen gezogen, und das haben wir eben schon als unzulässig erkannt.
Denken wir uns nun diese verschiedenen Definitionsversuche des
Körperlichen korrigiert, indem wir an die Stelle der beiden Arten von
Erfahrung oder Wahrnehmung, durch welche man Physisches und Psychi-
sches voneinander abgrenzen möchte, den einwandfreien Gegensatz des
gegebenen und des nicht gegebenen Wirklichen setzen, so gelingt es trotz-
dem nicht, auf diesem Wege zu einer brauchbaren Begriffsbestimmung
des Physischen zu gelangen. Denn dem stehen eben die Gründe entgegen,
welche uns verhinderten, die nicht gegebenen realen Qualitäten einfach
als physische zu bezeichnen: diese transzendenten Qualitäten ermangeln,
wie gezeigt, aller der Eigenschaften, die für den naturwissenschaftlichen
wie für den populären Begriff des Physischen gerade die wesentlichen sind.
So sonderbar es also auch zunächst klingt: mit der gebräuchlichen
Verwendungsart des Terrflinus ,,das Physische" bleiben wir am besten im
Einklang, wenn wir darunter nicht etwas Wirkliches verstehen, sondern
bloße Begriffe. Nur sie können rein quantitativ bestimmt, ohne ,, sekundäre
Quahtäten" sein, wie das Physische es in der Naturwissenschaft ist. Das
Wirkliche dagegen ist immer reine Qualität.
Zwischen dem Reich des Wirklichen und dem der Begriffe findet nun
natürhch keine „Wechselwirkung" statt. Das Psychische besitzt Reahtät,
das Physische ist bloßes Zeichen. Die Zuordnung, die zwischen beiden
etwa besteht, kann mithin nur als eine ,,parallehstische" aufgefaßt werden.
Daß eine solche Zuordnung tatsächlich stattfindet, geht aus den Er-
wägungen des letzten Paragraphen hervor. Denn dort überzeugten wir
uns, daß die einzige Möglichkeit der vollständigen Erkenntnis des Psychi-
schen darin besteht, die quantitativen Begriffe der Naturwissenschaften
256 Die Erkenntnis des Wirklichen.
also das Physische, zur Bezeichnung der psychischen Quahtäten zu ver-
wenden, und daß die Erfahrung den Weg deuthch weist, auf dem dies
zu geschehen hat: bestimmte ,,Gehirnprozessc" sind es, die als physische
Zeichen für die psychischen Vorgänge in Betracht kommen. Welche be-
sonderen Gehirnvorgänge ganz bestimmten Erlebnissen zugeordnet werden
müssen, vermögen wir freilich bei dem gegenwärtigen Stand unserer
Kenntnisse nicht zu sagen, dazu steht die Erforschung der Gehirnfunk-
tionen noch zu sehr in den Anfängen. Die Möglichkeit der durchgehenden
Zuordnung aber muß behauptet werden, dieses Postulat muß erfüllt sein,
wenn das Psychisclie überhaupt erkannt, d. h. durch aufeinander
reduzierbare Begriffe bezeichnet werden soll. Keineswegs alle zerebralen
Prozesse ' dürfen wir als Zeichen von Bewußtsein betrachten, denn bei
einem schlafenden oder ohnmächtigen Gehirn fehlt, soviel wir wissen, das
Seelenleben. Aber nicht einmal d a s ist uns bekannt, wodurch diejenigen
physischen Vorgänge, denen psychische Daten, d. h. subjektive, in einem
Bewußtseinszusammenhang stehende Qualitäten entsprechen, sich von
solchen physischen Prozessen unterscheiden, welche Zeichen für objek-
tive, d. h. zu keinem Bewußtsein gehörende Qualitäten sind. Ein paar
Worte darüber werden noch in den nächsten Paragraphen zu sagen sein.
So führen uns rein erkenntnistheoretische Gründe zwingend auf den
Standpunkt des psychophysischen Parallelismus. Über den Charakter
dieses Parallelismus aber wollen wir uns ganz klar sein: er ist nicht
metaphysisch, bedeutet nicht ein Parallelgehen zweier Arten des Seins
(wie etwa bei Geulixcx), noch zweier Attribute einer einzigen Substanz
(wie bei Spinoza), noch zweier Erscheinungsarten eines und desselben
,, Wesens" (wie bei Kant), sondern es ist ein erkenntnistheoretischer
Parallelismus zwischen den realen psychischen Vorgängen einerseits und
einem Begriffssystem andererseits. Denn die ,, physische Welt" i s t eben
das System der quantitativen Begriffe der Naturwissenschaft.
32. Weiteres zum psychophysischen Problem.
Um zu endgültiger Beruhigung über, die Leib-Seele-Frage zu gelangen,
ist es nötig klar zu durchschauen, auf welche Weise der mißglückte Begriff
des Physischen die Widersprüche des großen Problems verschuldete: eine
auch philosophiegeschichtlich lehrreiche Betrachtung.
Den Grundfehler, welcher den Anlaß zur Leib-Seele-Frage mit all
ihren Fallstricken gab, haben wir erkannt: er lag darin, daß das Physische
als etwas Wirkliches betrachtet wurde, das anschaulich räumliche Aus-
dehnung besitzt. Verhältnismäßig spät ist diese Quelle des Übels auf-
gedeckt worden; man glaubte in früheren Zeiten den Grund aller Schwierig-
keiten der Frage genügend bezeichnet zu haben, wenn man auf die funda-
mentale Ungleichartigkeit des Geistigen und Körperlichen hinwies.
Daß so verschiedene Dinge wie Leibliches und Seelisches aufeinander
wirken könnten, erklärte man für ganz unverständlich, und damit hatte
Weiteres zum psychophysischen Problem. 257
man zwei Reiche des Wirklichen, zwischen denen man keine Brücke zu
schlagen wußte, von denen man aber auch nicht annehmen mochte, daß
sie als zwei schlechthin getrennte Welten nebeneinander bestehen, die gar
nichts miteinander zu tun haben.
Gesetzt jedoch, das Physische und das Psychische wären tatsächhch
zwei verschiedene Bereiche des WirkHchen, so mögen sie noch so ungleich-
artig sein: niemals könnte darin ein ernsthches Hindernis für das Bestehen
einer Kausalrelation zwischen ihnen gefunden werden. Denn wir kennen
kein Gesetz, wonach Dinge, die aufeinander wirken sollen, gleichartig sein
müßten; die Erfahrung zeigt vielmehr überall, daß das AUerverschiedenste
in Abhängigkeit voneinander, also in Wechselwirkung steht; und wenn
sie es sonst auch nicht zeigte, so liegt doch im Begriff der Wechselwirkung
nichts, was seine Anwendung auf gleichartige Dinge beschränkte. Warum
sollte wohl die Wirkung von der Ursache nicht beliebig verschieden sein
können? Nein, es müßte zu der bloßen Verschiedenheit noch irgendetwas
hinzukommen, es müßten noch andere, ganz besondere Gründe ins Feld
geführt werden, wenn man die Möglichkeit einer Wechselwirkung ver-
neinen wollte.
Und hier dämmerte nun in der Tat die Einsicht, daß das Räum-
liche irgendwie an der Entstehung des Problems schuld sei, aber der
wahre Zusammenhang wurde vorerst noch nicht richtig erfaßt. Nachdem
Descartes den Unterschied des Physischen und Psychischen als Gegen-
satz zwischen Denken und Ausdehnung bestimmt hatte, äußert sich auch
Kant noch folgendermaßen (Kritik der reinen Vernunft, 2. Ausg. Kehr-
bach S. 699): ,,Die Schwierigkeit . . . besteht, wie bekannt, in der vor-
ausgesetzten Ungleichartigkeit des Gegenstandes des inneren Sinnes (der
Seele) mit den Gegenständen äußerer Sinne, da jenem nur die Zeit, diesen
auch der Raum zur formalen Bedingung ihrer Anschauung anhängt."
Der wahre Grund des Problems ist hiermit noch keineswegs aufgedeckt (was
Kant nicht hinderte, dann doch den richtigen Weg zu seiner Lösung zu
beschreiten); warum näm4ich sollten Räumliches und Unräumliches nicht
aufeinander wirken können.? Dafür wird kein Grund angegeben, und
moderne Denker (z. B. C. Stumpf, O. Külpe, E. Becher, H. Driesch u. a.)
haben mehrfach betont, daß dergleichen durch kein bekanntes Gesetz
ausgeschlossen und durchaus als möglich zu betrachten sei. Es hätte
also noch besonderer Nachforschungen bedurft, um die Quelle der psycho-
physischen Widersprüche ans Licht zu bringen, die tatsächhch in dem
räumlichen Verhältnis der beiden Reiche zueinander verborgen hegt.
Für uns liegt der Irrtum dieser Formulierungen von vornherein auf
der Hand. Es war falsch, das Seelische schlechthin als unräumlich zu be-
zeichnen. Wir wissen ja längst, daß im Gegenteil alle unsere Raumvor-
stellungen ganz und gar aus den räumlichen, örtlichen Bestimmtheiten
der Empfindungen geschöpft sind, daß nur diesen letzteren psychi-
schen Größen Ausdehnung im anschaulichen Sinne zukommt, und gerade
nicht den physischen Dingen. Solange dies verborgen bleibt und noch
Schlick , Erkenntnislehre. 17
258 Die Erkenntnis des Wirklichen.
dazu nicht zwischen der anschaulichen RäumHchkeit und der objektiven
Ordnung der Dinge unterschieden wird, gerät man alsbald in Wider-
sprüche, weil dann Physisches und Psychisches sich gleichsam gegenseitig
den Besitz des Raumes streitig machen; sie erheben Ansprüche auf ihn,
die nicht zugleich erfüllbar sind.
Die Welt des Physischen nämlich, wie unsere Vorstellungskraft sie
ausmaJt, ist dann nicht bloß räumlich, sondern sie umfaßt auch alles
Räumliche; sie erfüllt als einzige den ganzen Raum und duldet darin
nichts anderes neben sich. Die Empfindungsqualitäten haben in diesem
Weltbild keine Stelle, denn die ,, sekundären Qualitäten" werden ja aus
ihm, wie wir sahen, mit Notwendigkeit und mit Recht eliminiert. Sie
kommen in den Gesetzen nicht vor, welche die Abhängigkeiten in der
physischen Welt regeln. Alles, was in jener Welt geschieht, wird allein
durch physische Grüßen bestimmt.
Dieses Prinzip, vermöge dessen das physische Universum den ge-
samten Raum für sich beansprucht, wird gewöhnlich als das ,, Prinzip der
geschlossenen Naturkausalität" bezeichnet. Es wird von der Naturwissen-
schaft nicht aus Übermut oder Herrschsucht aufgestellt, sondern seine
Gültigkeit beruht darauf, daß sie aus ihrer abschließenden Begriffsbildung
die Sinnesqualitäten verbannen muß und daß es sich mithin als unmög-
lich erweist, irgendeiner Größe aus dem Reich des unmittelbar Gegebenen
einen Platz in ihrem Weltbild zu gönnen.
Konnte man sich als Naturforscher einstweilen bei dieser Sachlage
beruhigen, so muß man als Psychologe und Philosoph die Frage aufwerfen:
Was sind denn nun z. B. die sinnlichen Qualitäten, wenn sie nicht in die
objektive Welt gehören, nicht Eigenschaften der körperlichen Dinge sind.-*
Man gibt die Antwort: Es sind Zustände des Bewußtseins. Diese Antwort
kann man gelten lassen, aber sobald man weiter fragt: Wo sind denn
nun diese Bewußtseinszustände.? entstehen sofort die großen Widersprüche,
die das psychophysische Problem ausmachen.
Am bequemsten, scheint es, entflieht man der Frage ganz und gar,
indem man sie als falsch gestellt ablehnt: die Seele sei unräumlich, ein
Ort dürfe dem Bewußtsein nicht zugeschrieben werden. Und eben dies
ist zweifellos der Grund, warum die Lehre von der Unräumlichkeit des
Seelischen aufgestellt wurde. Leider aber ist der Ausweg nicht gangbar,
wie wir wissen. Gewiß ist manches Psychische unörtlich; Trauer, Zorn,
Freude sind nicht irgend w o: aber das gilt zum mindesten nicht von den
Empfindungen; indem sie da sind, sind sie zumeist an einem bestimmten
Ort und in einer bestimmten Ausdehnung da. Aber welchen Ort haben
die sinnlichen Qualitäten, z. B. das Weiß dieses Papieres, das ich vor mir
sehe.? Die Naturwissenschaft lehrt nachdrücklich, daß es nicht am Orte
des physikalischen Objektes ,, Papier" ist; sie findet dort nur Körper-
liches, Materie, Elektronen, oder wie es heißen mag, in bestimmten physi-
kalischen Zuständen. Wir haben uns früher klar gemacht (S. 214),
daß es zu Widersprüchen führt, wenn man das Weiß ebendorthin
Weiteres zum psychophysischen Problem. 259
verlegen wollte. Der einzige andere Ort, der noch in Frage kommen
könnte, ist das Gehirn. Aber auch dort befinden sich die sinnlichen Quali-
täten nicht, denn wenn einer mein Hirn untersuchen könnte, während ich
das weiße Papier anschaue, so würde er dort nie das Weiß des Papiers
irgendwie vorfinden, weil sich eben in dem physikalischen Objekt ,, Gehirn"
nichts anderes vorfinden läßt als physikaUsche Hirnprozesse.
Also weder an dieser noch an jener Stelle des physischen Raumes
können die sinnlichen Qualitäten lokalisiert sein: den Ort, den sie be-
anspruchen müssen, finden sie überall schon besetzt von physischen Dingen,
welche ihre Anwesenheit ausschließen. Nicht etwa deshalb, weil ver-
schiedene Quahtäten nicht auf einmal denselben Ort einnehmen könnten
— das wäre eine durchaus dogmatische Annahme — , sondern weil die
Aufnahme einer psychischen Qualität an den Ort eines physischen Dinges
sich aus andern, früher geschilderten Gründen verbietet. Die Welt des
Physikers ist ganz in sich vollendet, die Welt des Psychologen läßt sich
in sie nicht einfügen. Beide kämpfen um den Besitz des Raumes. Der
eine sagt: An dieser Stelle ist weiß! der andere: an derselben Stelle ist
nicht weiß! Diese Lokalisationswidersprüche sind es, und nichts anderes,
die das wahre psychophysische Problem bilden.
Es handelt sich wirklich um Widersprüche, und es beruhte nur auf
unklarer Formulierung, wenn man das Problem sehen wollte in der
Schwierigkeit, sich vorzustellen, ,,wie denn aus einem Hirnprozeß eine
Empfindung werde", oder wie ,, Räumliches auf Unräumliches wirken
könne", oder wie denn die Empfindungsqualitäten ,,aus der Seele in den
Raum hinausprojiziert würden". Diese Sachen mochte man als Unerklär-
lichkeiten ansehen, d. h. als etwas nicht weiter Reduzierbares, einfach
Hinzunehmendes; aber das Leib- Seele-Problem war stets etwas Größeres,
schwerer Lastendes, man fühlte, daß man es bei ihm mit einer Unver-
träglichkeit zu tun hatte, und nur dadurch konnte es zu der zentralen
Stellung gelangen, die es in den neueren metaphysischen Systemen ein-
nimmt.
Für uns existieren jene Widersprüche freilich nicht, denn wir wissen,
daß unter ,,Ort" etwas ganz verschiedenes zu verstehen ist, je nachdem
wir das Wort auf das unmittelbar gegebene Psychische oder auf die objek-
tive Welt beziehen; im ersteren Falle nämlich bedeutet es ein anschau-
Hches Datum, im letzteren eine Stelle in einer unanschaulichen Ordnung:
bei dieser Sachlage können für uns keinerlei Konflikte entstehen. Erst
wenn man jene Unterscheidung zu machen gelernt hat, werden sie ver-
meidlich. Allzuleicht und unmerklich gleitet nun aber das philosophische
Nachdenken auf einen Standpunkt, auf welchem gerade dieser wichtige
Unterschied aufgehoben erscheint, wodurch dann die Lokalisationswider-
sprüche unaufhebbar, die psychophysische Frage unlöslich werden.
Man gelangt nämlich sofort zu einem falschen Ansatz beim Versuch
der Lokalisation des Psychischen, wenn man mit der Naturwissenschaft
die räumlichen Bedingungen verfolgt, unter welchen alle Empfindung
17*
26o Die Erkenntnis des Wirklichen.
zustande kommt. Da sieht man nämlich, daß eine Brücke physikalischer
Vorgänge geschlagen ist zwischen dem körperlichen Gegenstande der Wahr-
nehmung und dem Sinnesorgan, zwischen diesem und der Großhirnrinde.
\'on der tönenden Saite gehen mechanische Schwingungen der Luft bis
zu meinem Ohr, und von dort pflanzt sich durch den Nerv ein Reiz nach
dem Hörzentrum des Gehirns fort. Dies führt dazu, die Hirnerregung als
unmittelbare Bedingung des Erlebnisses ,, Empfindung" anzusehen, und
dies wiederum v e r führt dazu, das Erlebnis in das Gehirn, also in das
räumlich Innere des menschlichen Leibes hineinzuverlegen. Und wenn
man auch vielleicht nicht ausdrücklich eine Lokalisation etwa der Sinnes-
qualitäten selbst in der Hirnrinde behauptet, so pflegt man doch, ohne
sich das Nähere klar zu machen, stets so weiter zu denken, als ob das
Psychische irgendwie im Kopfe unserer Mitmenschen wohne: das Be-
wußtsein, die Seele hat ihren Sitz i n dem Leibe.
Damit ist der große Fehler gemacht, von dem besonders eindringlich
AvENARius gewarnt hat und den er als die Introjektion bezeichnet.
Ist sie einmal vollzogen, so hat man sich damit den Weg zur Lösung des
psychophysischen Problems versperrt, man hat die sinnlichen Qualitäten
an einem falschen Orte lokalisiert, und die oben geschilderten Wider-
sprüche werden unaufhebbar.
AvENARius hat diesen fundamentalen Irrtum am deutlichsten be-
zeichnet und mit der größten Energie beseitigt. Nach ihm wird die Intro-
jektion ausgeschaltet, indem die einfachste Selbstbesinnung zum Ausgangs-
punkt des Nachdenkens zurückgeht. Die psychischen Qualitäten sind
etwas unmittelbar Gegebenes, schlechthin Erlebtes; deswegen kann es
nicht erst eines Nachdenkens bedürfen, um festzustellen, w o sie sich be-
finden. Das Weiß des Papieres vor mir ist niemals in meinem Kopfe
gewesen. Jeder Versuch, es irgendwo anders zu lokalisieren als eben dort
draußen an der Stelle, wo ich es sehe, scheitert unter allen Umständen.
Es i s t eben dort, es wird dort vorgefunden, das ist eine unmittelbar
erlebte Tatsache, und an Bewußtseinstatsachen gibt es nichts zu deuteln.
Die Behauptung, jenes Weiß würde eigentlich zuerst im Gehirn erlebt und
dann ,,hinausprojiziert", wäre noch sinnloser als etwa die Behauptung,
ein Zahnschmerz würde eigentlich als Kopfschmerz gefühlt und dann in
den Zahn hineinprojiziert.
Man sieht: bei Avenarius tragen in dem Streit um den Besitz des
Raumes die sinnlichen Quahtäten den Sieg davon. Es sind die ,, Elemente",
die wir bei ihm und Mach schon kennen gelernt haben (oben § 24), die
in ihrer bunten Mannigfaltigkeit den Raum erfüllen und sich zu Körpern
und ,, Ichkomplexen" zusammenballen. In ihrer Mitte nach einem Ort
für das ,, Bewußtsein" zu suchen, hat offenbar keinen Sinn, da sie ja selbst
sämtlich zum Bewußtsein gehören (wenn auch Avenarius dieses Wort
möglichst vermeidet). Die lEntscheidung mußte so fallen, weil der An-
spruch der sinnlichen Qualitäten auf den Raum der ursprünglichere,
schlechthin gegebene, nicht hinwegzuleugnende ist, während die physikali-
Weiteres zum psychophysischen Problem. 261
sehen Objekte, Atome usw. nicht Dinge von gleicher Unmittelbarkeit dar-
stellen; sondern wir gelangen zu ihnen erst durch Schlüsse, durch ge-
dankliche Konstruktionen, die sich möglicherweise so modifizieren lassen,
daß ihre Ansprüche nicht mit den schlechthin anzuerkennenden der
,, Elemente" in Widerstreit geraten. Die ersteren Ansprüche sind freilich
von der MACH-AvENARius'schen Philosophie nicht mit derselben Schärfe
und Energie geprüft worden, mit der sie die Unaufhebbarkeit der letzteren
festgestellt hat, und deshalb hat die Gesamtlage durch sie noch keine rest-
lose Aufklärung erfahren, wie wir schon früher (§§ 24, 25) zu zeigen hatten.
AvENARius konnte eine Verwechslung des anschaulichen Raumes mit der
objektiven Ordnung der Dinge vermeiden, weil er das Dasein der letzteren
überhaupt leugnete. Schon vor ihm aber hatte ein großer Denker sich
von dem Fehler der Introjektion freizuhalten gewußt, ohne einen so
radikalen Weg einzuschlagen: nämlich Kant.
Das Verhältnis des Bewußtseins zum Räume wird bei näherem Zu-
sehen von Kant ganz genau so bestimmt wie von Avenarius. Gerade
wie dieser entscheidet er in dem Kampf um den Raum zugunsten der
psychischen Quahtäten. Er tut es durch seine ja auch von uns als richtig
erkannte Lehre von der Subjektivität (oder ,, Idealität") des Raumes. Sie
besagt, daß der Raum — das heißt hier, wie wir wissen, die anschauliche
Räumhchkeit — nicht etwas jenseits des Bewußtseins Existierendes ist,
sondern etwas unseren Vorstellungen Anhaftendes. Alle räumlich be-
stimmten Gegenstände sind nicht Dinge an sich, sondern Vorstellungen
meines Bewußtseins, oder, wie Kant es leider nennt, ,, Erscheinungen".
Also auch auf "dem Standpunkt Kant's ist es unsinnig, nach einem Ort
der Seele im Räume zu suchen, das Psychische ist nicht im Kopfe des
Menschen lokalisiert, sondern der Kopf ist selbst nur eine Vorstellung im
Bewußtsein. Damit ist die Introjektion de facto überwunden. Die für sie
charakteristische Unterscheidung zwischen dem wahrgenommenen an-
schauHchen Körper außerhalb der Seele und der Wahrnehmungsvorstellung
in derselben ist auch für Kant hinfällig. Für ihn wie für Avenarius
ist beides ein und dasselbe.
Bei dem Eifer, mit dem gemeinhin die Unterschiede der philosophi-
schen Systeme betont werden, scheint es mir von hoher Wichtigkeit, das
Übereinstimmende hervorzuheben, wo man ihm begegnet, zumal wenn es
sich um zwei Standpunkte von so überragender historischer Bedeutung
handelt, wie der Kritizismus und der AvENARius-MACH'sche Positivismus
es sind. Die Tendenz und die Terminologie beider Systeme sind freilich
so verschieden, daß sie von ihrer äußeren Einkleidung erst befreit werden
müssen, ehe die vollkommene innere Übereinstimmung an dem besprochenen
Punkte zutage tritt.
Für Kant sind die Gegenstände der anschaulichen W^elt ,, Erschei-
nungen", d. h. Vorstellungen, d. h. Bewußtseinsinhalte. Avenarius
würde diese Bezeichnungen strikte abgelehnt haben. Er verwendet gleich
uns den Begriff der ,, Erscheinung" nicht und braucht daher auch nicht
202 Die Erkenntnis des Wirklichen.
den Begriff der Idealität des Raumes einzuführen. Ausdrücklich lehnt er
den „idealistischen" Standpunkt, für welchen alles Gegebene von vorn-
herein zum Subjekt gehört, als subjektiv aufgefaßt wird, als Ausgangs-
punkt ab (vgl. z. B. Der menschliche Weltbegriff^ S. IX). Er vermeidet
die Introjektion durch eine vorsichtige Beschreibung des Vorgefundenen;
Kant dagegen überwindet sie durch nachträgliche Korrektur einer durch
wissenschaftliches Denken bereits beeinflußten Weltansicht und gelangt
daher zu etwas anderen Formulierungen. Im Grunde aber meinen beide
Denker sicherlich nichts Verschiedenes, wenn der eine von Umgebungs-
bestandteilen, der andere von Erscheinungen als Vorstellungen im Bewußt-
sein redet. Die Rolle, die sie diese Dinge in ihrem Gesamtweltbild spielen
lassen, ist bei beiden natürlich eine verschiedene, aber an sich bedeuten
sie ein und dasselbe, und es liegt nur eine terminologische Differenz vor.
Wenn wir das Weiß des Papieres als Bewußtseinsinhalt, als psychisch be-
zeichnen, weil wir es doch eben bewußt haben, so würde Avenarius
nichts dagegen einwenden können, sondern höchstens die Terminologie
wegen der damit leicht sich verbindenden Nebengedanken für unzweck-
mäßig erklären. Bei richtigem Gebrauch ist sie aber gar nicht unzweck-
mäßig und hat das historische Recht für sich. Wir haben daher hier auch
stets die Termini ,, unmittelbar gegeben", ,, psychisch" und ,, Bewußt-
seinsinhalt" als völlig gleichbedeutend verwendet.
So dürfen wir sagen: Kant nimmt den Raum in das Bewußtsein
hinein, Avenarius dehnt das Bewußtsein über den Raum aus.
Beides sind nur verschiedene Ausdrucksweisen für einen und den-
selben Gedanken, daß nämlich die Sphäre des sinnlichen Bewußtseins mit
dem anschaulichen Raum zusammenfällt. Das Verhältnis des Räumlichen
zum Bewußtsein ist mithin bei beiden Philosophen identisch dasselbe.
Avenarius sah die Welt mit ganz anderen Augen an als Kant und
wurde wohl selbst nicht gewahr, daß er hier ein Stückchen den gleichen
Weg wandelte wie Kant. Daß trotz der verschiedenen Anlage beide
Denker denselben Weg gingen, wäre kaum erklärlich, wenn es nicht der
Weg der Wahrheit wäre. Und das ist er in der Tat. Das Verhältnis von
Raum und Bewußtsein kann nicht anders bestimmt werden als es geschieht
durch die Einsicht in die Unhaltbarkeit der Introjektion, die in dieser
Hinsicht identisch ist mit der Lehre von der Subjektivität des Raumes.
Die Positivisten betonen gern den Gegensatz ihrer Anschauungen gegen
Kant und pflegen dabei dann die bedeutsame Übereinstimmung nicht
zu bemerken. Deshalb verdient es um so mehr hervorgehoben zu werden,
daß man die richtige Einsicht in die Identität der KANT'schen Raumlehre
mit der empiriokritischen Ausschaltung der Introjektion bei J. Petzoi.dt
findet, der unter anderem von Kant sagt^): ,, Dagegen räumte er mit
dem barbarischen Quidproquo auf, das mit den physiologischen Reizen
') Das Wcltprobleni vom positivistischen Standpunkte aus. S. 163 der i. Aufl.
1906.
Weiteres zum psychophysischen Problem. 263
auch die psychologischen Empfindungen in das Gehirn hineingelangen läßt,
die dann natürHch wieder hinausverlegt werden müssen."
Die Aufhebung oder vielmehr Vermeidung der Introjektion ist die
notwendige Bedingung zur Lösung der psychophysischen Frage; daß
sie aber nicht etwa schon die hinreichende Bedingung zur Erreichung
eines allseitig befriedigenden Standpunktes darstellt, ergab uns die frühere
Kritik des AvENARius'schen Weltbildes. Auch die weitere Ausgestaltung
des KANT'schen Systems zeigt, daß neue W^idersprüche in der Leib-Seele-
Frage sich erheben können, auch nachdem man die Erkenntnis gewonnen
hat, daß nicht das Bewußtsein irgendwo im Räume lokalisiert werden
kann, sondern umgekehrt der Raum im Bewußtsein ist.
Kant selbst meint freilich, daß seine Ansicht eine prinzipiell voll-
ständige Klärung leiste. Er sagt nämlich in der ersten Auflage der Kritik
der reinen Vernunft ^): ,,Denn alle Schwierigkeiten, welche die Verbindung
der denkenden Natur mit der Materie betreffen, entspringen ohne Aus-
nahme lediglich aus jener erschlichenen dualistischen Vorstellung: daß
Materie, als solche, nicht Erscheinung, d. i. bloße Vorstellung des Gemüts . . .,
sondern der Gegenstand an sich selbst sei, so wie er außer uns und un-
abhängig von aller Sinnlichkeit existiert." Von einer Wechselwirkung der
räumhchen Gegenstände auf das Bewußtsein kann bei Kant keine Rede
mehr sein, denn wir brauchen nur zu bedenken, daß die Körper ,, nicht
etwas außer uns, sondern bloß Vorstellungen in uns sind, mithin daß nicht
die Bewegung der Materie in uns Vorstellungen wirke, sondern daß sie
selbst bloße Vorstellung sei . . /' ^). Die Naturkörper, mein Leib, mein
Nervensystem und Gehirn, sie alle wirken aufeinander, aber damit ist die
Kausalkette geschlossen, sie wirken nicht noch auf mein Bewußtsein, denn
sie sind alle nur ,, Erscheinungen", d. h. Modifikationen dieses Bewußt-
seins selber. Die Empfindungsqualitäten werden also nicht durch Ein-
wirkung der Körper im Bewußtsein erzeugt und dann erst von diesem
wieder auf jene hinausprojiziert, sondern sie kommen tatsächlich von
vornherein den Körpern zu, sie sind an eben den Orten, wo sie wahr-
genommen, erlebt werden und gehören damit dem Bewußtsein an, denn
alles Räumliche gehört als Vorstellung zum Bewußtsein.
Bis hierher scheint alles in Ordnung und die gefürchteten Wider-
sprüche des Problems scheinen vermieden zu sein: die ,, sekundären QuaH-
täten" befinden sich in dem anschaulichen Räume des Bewußtseins, welches
sie wahrnimmt; das Ding an sich aber, das nach Kant's Lehre dem wahr-
genommenen Körper entspricht, ist unräumlich. Kant hat zweifellos
angenommen, daß eine objektive Ordnung der Dinge an sich der subjek-
tiven raum-zeitlichen Ordnung der ,, Erscheinungen" genau korrespon-
^) Ausgabe Kehrbach, S. 329.
^) Ausgabe Kehrbach, S. 326.
264 Die Erkenntnis des Wirklichen.
diert ^), er macht also — und zwar als erster in der Geschichte der Philo-
sophie — mit voller Deutlichkeit den Unterschied zwischen anschaulicher
Räumlichkeit und transzendenter Ordnung. Aber er versäumt es, die an-
schaulichen Räume der verschiedenen Sinne voneinander zu sondern, und
spricht statt dessen immer nur von ,,dem" Räume, den er dann für eine
Anschauungsform erklärt. Wenn wir jedoch von den Sinnesräumen zur
Konstruktion des einen Raumes der physischen Körper übergehen, so
ist dieser überhaupt nichts Anschauliches mehr, sondern nur ein Begriff,
welcher eben die transzendente Ordnung des Wirklichen bezeichnet. Der
KANx'sche Begriff des einen anschaulichen Raumes ist daher ein Un-
ding, und es konnte nicht ausbleiben, daß die bis dahin glücklich ver-
miedenen Widersprüche durch das Tor dieses Fehlbegriffes doch wieder
in das System hineinschlüpfen. Eine einwandfreie Definition des Physi-
schen wird ihm auf dieser Grundlage unmöglich. Er bezeichnet nämlich,
wie aus der zuletzt angeführten Stelle hervorgeht, die Materie als Er-
scheinung, also als bloße Vorstellung, weil sie räumliche Eigenschaften
habe, und Räumlichkeit eben eine Eigenschaft der Anschauungen, Vor-
stellungen ist. In Wahrheit aber ist ein physikaHsches Objekt, der Gegen-
stand der Physik, etwas Unanschauliches; es ist ja aller sekundären Quali-
täten und der Räumlichkeit entkleidet, diese sind für jeden Beschauer
verschieden, wechseln mit der Blickrichtung, Stellung, Beleuchtung, der
physische Körper dagegen ist der identische Gegenstand, der von all dem
unabhängig ist und auf den jene verschiedenen Wahrnehmungen sich be-
ziehen, er besitzt keine anschauliche Räumlichkeit. Er ist eben keine
Vorstellung, sondern ein unanschaulicher Begriff. Indem nun bei Kant
das Reich der physischen Objekte wiederum im anschaulichen Raum seine
Stelle finden soll, treten die früheren Konflikte wieder auf, der Weg zur
endgültigen Lösung des Problems wird verbaut, denn nun geraten die
Sinniesqualitäten wieder in den Raum der Materie, der Körper, und wir
wissen, daß die Ansprüche des Physischen und des Psychischen schlechter-
dings miteinander unverträglich sind. Auch bei Kant finden wir also
noch die widerspruchsvolle Definition des Physischen, welche das Leib-
Seele-Problem hervortreibt. Physische Körper sind eben nicht Reahtäten
im anschaulichen Raum.
Von allen Seiten sehen wir uns so auf das erreichte Resultat zurück-
geführt: Unter ,, physisch" darf nicht verstanden werden eine besondere
Gattung des Wirklichen, sondern man muß darunter eine besondere Art
der Be.?eichnungsweise des Wirklichen verstehen.
Ist diese Bezeichnungsart aber auf alles Wirkliche anwendbar, dann
'auch auf das Psychische. Besteht daher überhaupt eine Zuordnung, wie
sie für unsere Erkenntnis nötig ist, so stellt sie notwendig einen Paralle-
lismus dar. Von einer Wechselwirkung zu reden hat unter diesen Um-
ständen gar keinen Sinn. Ihre Unmöglichkeit ist auf unserem Stand-
') Siehe oben S. 207.
Weiteres zum psychophysischen Problem. 265
punkte nicht etwa eine Hypothese oder eine empirische Tatsache, son-
dern sie ist mit dem Begriff des Physischen unvereinbar. Wechsel-
wirkung kann nur bestehen zwischen wirkhchen Gegenständen, nicht
zwischen Wirkhchem und begriffhchen Zeichen.
Alle durch erkenntnistheoretischen Tiefblick geläuterten Systeme haben
daher früher gleichsam instinktiv den Gedanken der Wechselwirkung zurück-
gewiesen, als ihnen die richtige Einsicht in den Grund ihrer Unmöglich-
keit noch fehlte. Bei Spinoza und Leibniz ist der Parallelismus noch
ein metaphysischer, ebenso bei Kant. Denn bei ihm sind die psychischen
Gebilde auch nur eine Art von ,, Erscheinungen", nämhch des ,, inneren
Sinnes"; aus der Konsequenz seines Systems heraus müssen wir annehmen,
daß ein und dasselbe Ding an sich sowohl dem äußeren wie dem inneren
Sinn, sowohl als Physisches wie als Psychisches ,, erscheinen" kann.
Lehrreich ist es hier, die Stellung Mach's zur ParalleHsmusfrage zu
betrachten. Wir wissen, daß ein ,, Element" ihm als physisch oder psychisch
gilt, je nach dem Zusammenhange, in dem man es untersucht. Die gesetz-
hche Abhängigkeit, vermöge deren ein Element einem ,, Körper" angehört,
ist ganz verschieden von der, welche die Zugehörigkeit eines Elementes
zu einem bestimmten ,,Ich" begründet. Zwischen diesen beiden Reihen
von Abhängigkeiten würde dann eine genaue Entsprechung stattfinden:
dem gesetzmäßigen Wechsel der Elemente, aus denen der Verlauf meiner
Erlebnisse sich zusammensetzt, würde genau korrespondieren ein Wechsel
bestimmter Elemente, aus denen mein ,, Gehirn" sich aufbaut für einen
Betrachter, der dies Gehirn in allen Einzelheiten sinnlich wahrnehmen
könnte. In diesem Sinne bezeichnet Mach (Analyse der Empfindungen*
S. 51) das Prinzip des ,, vollständigen Parallelismus des Psychischen und
Physischen" als ,,fast selbstverständlich". Von unserem Standpunkt aus
erkennen wir aber, daß die Zuordnung, die hier besteht, gar nicht paralle-
hstisch, sondern vielmehr kausaler Natur ist. Denn die Wahrnehmungen,
die ein Beschauer bei der Untersuchung meiner Gehirnprozesse hat, sind
reale psychische Größen, ebensowohl wie mein eigenes Innenleben, das
ich währenddessen erlebe. Zwischen diesen beiden Reihen realer Vor-
gänge besteht zweifellos diejenige Abhängigkeit, die man als kausale be-
zeichnet; die Wahrnehmungen des gedachten Gehirnbeobachters sind durch
meine eigenen Erlebnisse bedingt, sie sind Wirkungen derselben, genau
so, wie die Schmerzempfindung an der Wange eines Geohrfeigten eine Wir-
kung von Zorngefühlen im Gemüt des Angreifers ist. In beiden Fällen
handelt es sich natürlich um indirekte Wirkungen, d. h. um solche, die
durch dazwischen liegende reale Größen (objektive Qualitäten) vermittelt
werden.
Wir versagen es uns, die gewonnenen Anschauungen durch Vergleich
mit anderen Formulierungen bekannter Denker noch näher zu erläutern
und zu bewähren; es dürfte klar geworden sein, daß der hier eingeschlagene
Weg zu einer prinzipiell einfachen, nach allen Seiten gesicherten Ansicht
266 Die Erkenntnis des Wirklichen.
geführt hat ^). Nur nach einer Seite hin soll die Sicherung im nächsten
Paragraphen noch ein wenig verstärkt werden.
33. EinAvände gegen den Parallelismus.
/ Die parallelistische Lehre ist bekanntlich in der gegenwärtigen Philo-
sophie von vielen Seiten angefochten und durch den Einfluß bedeutender
Forscher, die sich zur Wechselwirkungslehre bekannten, aus der herrschen-
den Stellung verdrängt worden, die sie lange inne hatte. Nun wissen wir
zwar, nachdem wir uns über den wahren Charakter des Begriffes vom
Physischen geeinigt haben, daß dieser Begriff jede Wechselwirkung mit
Sicherheit ausschließt; man kann aber natürlich versuchen, den Gedanken
einer solchen aufrecht zu erhalten, wenn man unter ,, physisch" etwas
anderes verstehen will. Das tun die Anhänger jenes Gedankens nun
wohl in der Tat, freilich oft ohne sich selber über den zugrunde gelegten
Begriff des Physischen klar auszusprechen. Schon aus diesem Grunde ist
es nützlich, ihre Argumente zu prüfen, weil dadurch ihre Voraussetzungen
besser ans Licht gebracht werden. Können wir dann noch nachweisen,
daß diese Voraussetzungen unbewiesen sind, so sind zugleich die Angriffe
gegen den Parallelismus abgeschlagen und dieser um so sicherer be-
festigt.
Von den Gründen, die man gegen ihn ins Feld führt, interessieren
uns alle diejenigen nicht, welche gegen seine metaphysischen Formen ge-
richtet sind, also etwa gegen die Lehre, daß Leib und Seele zwei verschiedene
,, Erscheinungsweisen" eines und desselben Dinges an sich wären, oder
gegen die Meinung, daß es zwei voneinander gänzlich unabhängige Reiche
des Wirkhchen seien, zwischen denen aber eine prästabilierte Harmonie
bestehe. Unter den Argumenten der Anhänger der Wechselwirkung be-
finden sich nun aber auch solche, die eine durchgehende Zuordnung quan-
titativer Begriffe zu den psychischen Qualitäten direkt für unmöglich er-
klären, also gerade das für ausgeschlossen halten, was wir für die exakte
Erkenntnis der Bewußtseinsvorgänge als notwendig erkannt haben.
Gegen die Reduktion der Psychologie auf Gehirnphysiologie — denn
darauf läuft ja die Forderung unseres Parallelismus'hinaus — hat man
nun geltend gemacht, daß keine physiologische Theorie vermöchte, auch
nur von den elementarsten psychischen Gesetzmäßigkeiten befriedigend
Rechenschaft zu geben. (Die schärfsten Argumente in dieser Richtung
sind von E. Becher vorgebracht worden, besonders in seinem Buche
,, Gehirn und Seele" 191 1. Teilweise ähnliche Bedenken hat v. Kries
geltend gemacht in seiner Schrift ,,Über die materiellen Grundlagen der
Bewußtseinserscheinungen" 1901. Er hielt sie aber nicht für unüberwind-
lich und hat selbst auf ihre Überwindung hingearbeitet.)
^) In einem Aufsatz ,, Idealität des Raumes, Introjcktion und psychophysisches
Problem" (Vierteijahrsschr. f. wiss. Phil. 1916. Bd. 40) habe ich den wesenthchen Inhalt
dieses Paragraphen bereits dargestellt. Einige der vorstehenden Ausführungen sind
jenem Aufsatz wörtlich entnommen.
Einwände gegen den Parallelisraus. 267
Alle physiologischen Hypothesen nehmen ihren Ausgang von der
Sinneswahrnehmung als der wichtigsten Quelle des psychischen Lebens
überhaupt. Bei einer Wahrnehmung werden nervöse Erregungen vom
Sinnesorgan (z. B. von der Netzhaut des Auges) zum Zentralorgan (z. B.
der Sehsphäre der Großhirnrinde) fortgeleitet und hinterlassen hier, nach-
dem sie verklungen sind, irgendwelche Spuren, Residuen, Dispositionen,
welche zur Erklärung der Gedächtnisbilder und der Assoziation heran-
gezogen werden. Die verschiedenen Residuen sind nämlich durch ,, Asso-
ziationsfasern" miteinander verbunden, und wenn eines von ihnen
erregt wird, so strahlt unter gewissen Voraussetzungen die Erregung durch
jene Fasern auf andere über, teilt sich ihnen mit, und diesem letzteren
physischen Prozeß entspricht nun eben das Aufleben der Vorstellungen
im Bewußtsein, die jenen Spuren im Gehirn korrespondieren. Sehe ich
z. B. das Porträt eines Freundes vor mir, so sind gewisse Zellen meines
optischen Zentrums in Tätigkeit. Es stellt sich eine Verbindung mit
anderen Zentren her, z. B. mit dem akustischen, und weckt dort die
Residuen, die dem Klangbild des Namens jenes Freundes entsprechen:
Sein Name taucht in meinem Bewußtsein auf.
Und selbst bei solch einem Vorgang von scheinbar größter Einfach-
heit stößt man auf gewaltige Schwierigkeiten, wenn man sich davon ein
genaues Bild machen will, das mit den Erfahrungstatsachen im Einklang
bleibt. Nur auf einige von diesen sei aufmerksam gemacht. Schon die
Natur und die LokaHsation der Residuen ist schwer vorstellbar. Wenn
ich einen Freund aus der Ferne betrachte, so ist das Netzhautbild in meinem
Auge klein, und von dort wird eine bestimmte Partie meines Gehirns
erregt; sehe ich ihn aus größerer Nähe an, so treten größere und andere
Partien dabei in Tätigkeit, denn von anderen Punkten der Netzhaut
führen die Nervenleitungen auch zu anderen Ganglienzellen der Seh-
sphäre; das Gedächtnisresiduum muß also in beiden Fällen ein anderes
sein. Einen guten Freund habe ich aber nicht nur zu zwei verschiedenen
Malen, sondern in tausenden von verschiedenen Stellungen und Ent-
fernungen gesehen: es wird kein Fleckchen der Netzhaut geben, auf welches
sein Bild nicht schon einmal projiziert gewesen wäre. An der Bildung
des optischen Gedächtnisresiduums ist daher die gesamte Sehsphäre
beteiligt und noch dazu jede Zelle auf tausenderlei verschiedene Weise,
entsprechend der großen Zahl der Wahrnehmungen, bei denen sie tätig
war. Man sieht daraus, daß von einer Lokalisation der Gedächtnisspur
an irgendeiner eng umgrenzten Stelle der Sinnessphäre (oder gar in einer
einzigen Zelle, wie man sich das vor Jahrzehnten noch dachte) nicht wohl
die Rede sein kann. Und nun bedenke man — um bei optischen Gedächtnis-
bildern zu bleiben — daß es wieder dieselben Zellen sind, die bei allen
anderen Gesichtswahrnehmungen und folglich bei der Bildung aller anderen
visuellen Residuen beteiligt sind: und es wird ohne weiteres klar, daß die
skizzierte rohe physiologische Hypothese ganz und gar ungeeignet ist, eine
Erkenntnis psychischer Gesetzmäßigkeiten zu vermitteln. Sie setzt Resi-
268 Die Erkenntnis des Wirklichen.
duen voraus, die durch ,, ausgeschliffene" Bahnen miteinander verbunden,
aber räumlich getrennt sind, sie kann aber nicht verständlich machen,
wie eine solche Trennung zustande kommen soll, da doch vielmehr, wie
unsere Betrachtung lehrte, die Residuen sich überlagern, vermischen und
gegenseitig auslöschen müßten, weil sie einander den Platz in der ent-
sprechenden Hirnsphäre streitig machen.
Die Schwierigkeiten vergrößern sich noch, wenn man sich davon
Rechenschaft zu geben sucht, wie die Residuen einzeln für sich erregbar
sein sollen in einer ganz anderen Reihenfolge als sie gebildet wurden, und
wenn man näher auf die Psychologie des Wahrnehmens und Vorstellens
einzugehen sucht, z. B. auf die Rolle, welche die sogenannten Gestalt-
qualitäten dabei spielen — ganz zu schweigen von der Deutung höherer
psychischer Funktionen, wie Abstraktion, logisches Denken, Phantasie.
Die physiologischen Hypothesen vermögen also in der üblichen For-
muherung eine Erklärung des psychischen Geschehens tatsächlich nicht zu
leisten. Und da bisher auch keine andere Formuherung gefunden wurde,
die imstande wäre, die Aufgabe besser zu lösen, so haben einige Denker
geschlossen, man müsse dort, wo die physiologische Theorie versage, eine
psychistische an ihre Stelle setzen, d. h. man müsse zurückkehren zur
Annahme eines Psychischen, einer Seele, als einer besonderen Art
des Wirklichen, welche der Beschreibung durch die räumlich-quantitativen
Begriffe der Naturwissenschaft widerstrebt und ihre eigene, eigentümliche
Gesetzmäßigkeit hat: eben die, welche wir als ,, psychologische" aus der
Erfahrung kennen.
In dieser Auffassung bezeichnet der Gegensatz physisch-psychisch
einen sachlichen realen Unterschied. ,, Physisch" wäre das Wirkliche,
dessen Wesen eine Beschreibung durch die quantitativen Begriffe gestattet,
,, psychisch" hieße das Sein, bei welchem das nicht der Fall ist. Hier
würden also die beiden Begriffe einen anderen Sinn bekommen. Die neue
Definition könnte zusammenfallen mit der früher von uns gemachten
Unterscheidung der objektiven und subjektiven Qualitäten (wir können
sie auch als extramentale und mentale auseinander halten); ein solches
Zusammenfallen findet aber nicht statt, wenn man die Annahme eines
unbewußten psychischen Seins zuläßt (wie jene Denker es meist
tun), denn die Zugehörigkeit zu einem Bewußtsein war das charakteristi-
sche, notwendige Merkmal desjenigen Wirklichen, das wir als subjektiv
oder psychisch oder mental bezeichneten. Für uns war alles Unbewußte
als solches extramental, objektiv, und es darf daher nicht subjektiv,
nicht psychisch heißen; mit der jetzt dargelegten Auffassung aber wäre
es durchaus verträglich, ihrer Definition des Psychischen widerspräche es
nicht. Auch der Gedanke einer Wechselwirkung zwischen Seelischem und
Körperlichem würde unter Voraussetzung der neuen Begriffsbestimmung
nicht nur sinnvoll sein, sondern sie muß sogar notwendig behauptet werden.
Das tun denn auch die Vertreter der geschilderten Meinung, und darin
verfahren sie durchaus konsequent. Man dürfte dann ohne Widerspruch
Einwände gegen den Parallelismus. 269
von einer psycho-,, physischen" Wechselwirkung reden, aber es ist wohl zu
bedenken, daß das Wort physisch hier doch eben etwas anderes bedeuten
würde als in der populären Sprechweise. Denn es bezeichnet ja nicht das
anschaulich Ausgedehnte, Körperliche, sondern eine Klasse von Dingen
an sich, von transzendenten Qualitäten, und an dergleichen denkt niemand,
der im Leben oder in der Naturwissenschaft von Physischem redet. Daß
in der modernen Wechselwirkungslehre das Wort physisch nur in
jener ganz bestimmten anderen Bedeutung verwandt werden kann, wenn
anders man nicht an den Widersprüchen des Leib-Seele-Problems scheitern
will — das muß bei der Beurteilung dieser Lehre im Auge behalten
werden.
Aus früheren Betrachtungen ist uns bereits klar, warum eine solche
Wechselwirkungslehre, nach der es zwei verschiedene Arten realen Seins
gibt, unbefriedigend bleiben muß. Die beiden Arten sollen sich ja dadurch
unterscheiden, daß nur eine von ihnen der Herrschaft der Quantität, der
Physik, unterworfen werden kann; wir fanden aber in der Anwendbarkeit
der physikalischen Begriffsbildung ein Postulat, von dessen Erfüllung
überhaupt die Möglichkeit der vollständigen Erkenntnis abhängt. Jene
Lehre schließt also die Reduktion psychologischer Gesetze auf andere
Naturgesetze aus und setzt damit dem Erkenntnisfortschritt von vorn-
herein eine bestimmte nicht zu überschreitende Grenze.
Sie hat ferner den Nachteil, daß sie keine zweckmäßige Arbeitshypo-
these abgibt. Denn sie geht nicht aus von einer bestimmten Hypothese
über die Natur der Seele, aus welcher die Tatsachen des psychischen
Lebens sich eindeutig ableiten ließen, sondern begnügt sich mit der Kon-
statierung, es mache eben die Eigenart des seehschen Wesens aus, daß
seine Vorgänge gerade -so verlaufen, wie wir sie kennen und nicht anders.
Man muß der Psyche alle erforderlichen Eigenschaften zuschreiben, ohne
sich über ihren Zusammenhang genau Rechenschaft geben zu können:
sie besitzt eben die Fähigkeit, Wahrnehmungen zu haben und zu ver-
arbeiten, Residuen aufzubewahren, zu verknüpfen und in Vorstellungen
wieder aufleben zu lassen, und es fehlt an jeder Hypothese, mittels der
diese Mannigfaltigkeit vereinheitlicht werden könnte. Wollte und könnte
man eine solche aufstellen — wer bürgt dafür, daß wir dann nicht ebenso
großen oder größeren Schwierigkeiten begegnen als bei jener physiologi-
schen Theorie.?
Die ganze Wechselwirkungslehre steht und fällt mit dem Nachweis,
daß die im Bewußtsein gegebenen Qualitäten sich von den nichtgegebenen
,, physischen" wirklich dadurch unterscheiden, daß es auf keine Weise
möglich ist, ihnen ein System quantitativer Begriffe eindeutig zuzuordnen.
Ist nun dieser Nachweis geführt.? ist bewiesen, daß es ein Sein gibt, das
nicht unter die Definition des Physischen fällt, die jener Lehre implicite
zugrunde liegt, oder besteht immer noch die Möglichkeit, das gesamte
Sein ohne Ausnahme mit Hilfe physikalischer Begriffsbildung wissenschaft-
lich darzustellen.?
270 Die Erkenntnis des Wirklichen.
Sie besteht nach meiner Überzeugung in der Tat; allgemein und
prinzipiell ist die Absurdität jeder physiologischen Theorie der Bewußt-
seinserscheinungen durch die besprochenen Einwände nicht dargetan.
Die Beteiligung des Gehirns am Zustandekommen seelischer Vorgänge
muß natürlich auch die psychistische Hypothese anerkennen, denn sie ist
ja eine Tatsache der Erfahrung: durch bestimmte Störungen im Gehirn
werden bestimmte seelische Störungen bedingt. Die Psyche muß nach
der Wechselwirkungslehre auf Teile des Gehirns wirken und umgekehrt,
und die Angriffspunkte dieser Einwirkungen müssen irgendwo im letzteren
lokalisiert sein; ihre Feststellung bleibt immer Sache der physiologischen
Theorie. Es bedarf also einer solchen unter allen Umständen, und es wäre
methodisch verkehrt, wollte man nicht mit ihr allein auszukommen ver-
suchen und eine psychistische Hypothese für notwendig erklären, ehe nicht
die Unmöglichkeit jeder physiologischen sicher bewiesen ist. Das ist aber
nicht der Fall, denn die besprochenen Einwände zeigen nur die Unzuläng-
lichkeit der bisher in dieser Richtung angestellten Versuche, sie vermögen
nicht darzutun, daß eine physiologische, d. h. letzten Endes eine physi-
kalische Erklärung im Prinzip ausgeschlossen ist. Es gibt keinen all-
gemeinen Satz, auf den ein solcher Unmöglichkeitsbeweis gegründet werden
könnte. Im Gegenteil, es erscheint durchaus denkbar, mit Hilfe eines
,, physischen" Systems Leistungen zu vollbringen, die den oben behandelten
Bewußtseinsvorgängen durchaus analog sind. Man kann sich einen Kine-
matographen oder ein Grammophon durch beUebig komplizierte Vorrich-
tungen so vervollkommnet denken, daß die Reproduktion empfangener
Eindrücke in einer Weise erfolgt, die der Gedächtnisleistung vergleichbar
ist und hinter ihr nicht mehr zurücksteht als es der Bildsamkeit der leben-
digen Materie entspricht im Vergleich mit der Starrheit des Materials,
aus dem wir unsere physikalischen Apparate herzustellen pflegen.
Es ist selbstverständlich kein Einwand, daß im Gehirn eine Struktur,
die den erwähnten Instrumenten äußerlich ähnelte, nicht bekannt ist, denn
es kommt nur auf das zugrunde Hegende Prinzip an, und dies kann hier
wie dort in gleicher Weise wirksam sein: nämlich das Prinzip der Ver-
wandlung eines zeitlichen Nacheinander in ein räumliches Nebeneinander
— ein Grundsatz, den besonders R. Semon als notwendiges Fundament
psychophysischer Theorien erkannte und als Prinzip der ,,chromogenen
Lokahsation" bezeichnete (in den Büchern: ,,Die Mneme als erhaltendes
Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens" und ,,Die mnemischen
Empfindungen"). Den Ausbau irgendeiner speziellen Hypothese zu ver-
suchen, erscheint methodisch unangebracht, solange die positive Grund-
lage in Gestalt einer genauen Kenntnis der Prozesse in den Ganglien-
zellen des Zentralnervensystems noch fehlt. Für unsere erkenntnistheore-
tische Betrachtungsweise handelt es sich nicht um die Richtigkeit irgend-
einer besonderen Theorie, sondern um die M ö g 1 i c h k e i t einer Theorie
überhaupt.
Einwände gegen den Parallelismus. 271
Waren die bisherigen Einwände gegen den Parallelismus zurückzu-
weisen, weil sie nicht bis zur Region der letzten Prinzipien vordrangen,
so müssen wir um so größere Aufmerksamkeit zwei anderen Argumenten
schenken, welche gerade von vornherein auf das Prinzipielle gehen.
Beide verfahren so, daß sie die Mannigfaltigkeit der psychischen
WirkHchkeit mit derjenigen des physischen Begriffssystems vergleichen
und die zwei Gebiete inkommensurabel finden.
Der erste Einwand betont die Einfachheit vieler seelischer Er-
lebnisse und stellt ihr die Kompliziertheit der zugeordneten physischen
Vorgänge gegenüber. Wenn ich einen einfachen Ton höre, so ist dies eine
absolut einheitliche, unzerlegbare Empfindung, es lassen sich keine Teile
daran unterscheiden, keine elementaren Erlebnisse darin aufweisen, aus
denen der Ton etwa zusammengesetzt wäre; er ist ein letztes, unteilbares
Element des Seelenlebens. Sein physiologisches Korrelat dagegen
— in unserer Terminologie: der ihm zugeordnete naturwissenschaftliche
Begriff — ist scheinbar etwas überaus Zusammengesetztes. Denn die
physikaHschen Vorgänge und die Materie, an der sie sich abspielen, sind
eben ungeheuer kompliziert. Von den zahllosen Zellen, aus denen das
Gehirn sich aufbaut, treten bei Gelegenheit einer Empfindung sicherlich
eine große Menge in Aktion; die lebendige Substanz einer jeden von ihnen
enthält wohl viele Millionen Moleküle, jedes Eiweißmolekül Hunderte von
Atomen, die ihrerseits in noch kleinere Teilchen — Elektronen — zer-
fallen. Alle diese Teilchen sind zweifellos wirklich, d. h. der Begriff
eines Atoms oder Elektrons bezeichnet einen Komplex realer Qualitäten.
Und nun soll der Begriff eines Gehirnvorganges, an dem doch so viele
solcher Komplexe von Qualitäten beteihgt sind, nur eine einzige Qualität
bezeichnen, nämlich eben jenen einfachen Ton. Ist das nicht ein ganz
unlöslicher Widerspruch .'' Der Einwand ist so prinzipieller Natur, daß es
keine Rettung vor ihm zu geben scheint.
Dennoch glaube ich, läßt sich ein Ausweg auf ganz natürliche Weise
finden. Wir müssen uns nur vor Augen halten, was wir über die in Frage
kommenden Vorgänge eigenthch wissen und welchen Spielraum wir für
die physiologischen Hypothesen haben. Wir wissen wohl, daß zahllose
Ganglienzellen, jede aus zahllosen Molekülen bestehend, bei einem Emp-
findungsprozeß sich betätigen; wir wissen aber nicht, welcher Vor-
gang nun der einfachen Empfindung als physisches Korrelat zuzuordnen
ist. Sicherlich ist es nicht der gesamte Hirnprozeß, sondern nur irgendein
Teil davon. Welcher Teil, können wir freilich nicht sagen, zumal uns
jener Prozeß selber nicht genügend bekannt ist. Es kann also auch ein
minimaler Teilvorgang, ein Prozeß von beUebiger Einfachheit sein; und
wir dürften aus dem besprochenen Einwand höchstens die Lehre ziehen,
daß es in der Tat ein ganz einfacher Prozeß sein muß; nur einen solchen,
nicht einen durch größere Gehirnpartien ausgebreiteten Vorgang können
wir als Zeichen für die einfache Qualität der Tonempfindung gebrauchen.
Wir müssen annehmen, daß der komplizierte Gesamtprozeß im Gehirn
272 Die Erkenntnis des Wirklichen.
nötig ist, um jenen einfachen gerade in der richtigen Weise und im richtigen
Zusammenhang hervorzubringen, aber dieser selber kann so elementar und
unzerlegbar sein wie man nur will.
Hierdurch scheint mir der Einwand bereits völlig entkräftet zu sein;
wir können aber noch schwereres Geschütz auffahren, das wir in einem
früheren Paragraphen schon bereit gestellt haben, und dem prinzipiellen
Argument ein ebenso prinzipielles entgegensetzen. Wir haben uns oben
(§ 30) klar gemacht, daß das Wesen der naturwissenschaftlichen Er-
kenntnis in der Zuordnung eines Begriffssystems besteht, mit dessen Hilfe
die mannigfachen Qualitäten der Welt aufeinander zurückgeführt werden
können; wir wiesen aber ausdrücklich darauf hin (S. 243 f.), daß prin-
zipiell eine Willkür besteht in bezug auf die letzten Element«, die als
Bausteine des Begriffssystems dienen, und daß die Begriffe ,, einfach" und
,, zusammengesetzt" dadurch völlig relativiert werden. Die eindeutige Be-
zeichnung der Welt ist eben durch beliebig viele verschiedene Begriffs-
systeme möglich, und was in dem einen als unzerlegbares Element auf-
tritt, wird in dem andern durch eine verschlungene Kombination von
Begriffen dargestellt. Die Zahl der einfachen psychischen Qualitäten nun
ist unendlich, der einfachen Begriffe aber in unserem Erkenntnissystem
sind ganz wenige, denn es liegt ja eben im Prinzip der Erkenntnis, sie zu
einem Minimum zu machen; sind die elementaren Begriffe für gewisse
Qualitäten (oder Kombinationen von solchen) schon vergeben, so müssen
die übrigen daher notwendig durch zusammengesetzte Begriffe be-
zeichnet werden, und es läßt sich daraus niemals ein Widerspruch her-
leiten.
Man hat gesagt (E. Becher, Zeitschrift für Philosophie und philo-
sophische Kritik Bd. 161, S. 65 f.), Gehirnprozesse beständen doch in
Umlagerungen der Atome und Elektronen, also in vorübergehenden Be-
wegungen konstanter gleichbleibender Größen: es müßten folglich nach
dem parallelistischen Grundsatz auch die psychischen Erlebnisse nichts
anderes sein als vorübergehende Vorgänge an relativ dauernden Objekten.
Denn die Vorgänge an den Gehirnteilchen seien überhaupt nicht realiter
zu trennen von den Gehirnteilchen selber; Bewegung der Atome
und bewegte Atome können nur in der Abstraktion voneinander
geschieden werden, beides sind ja nicht verschiedene Dinge, sondern eine
Einheit, sowie etwa ein Ton und die Intensität des Tones eine Einheit
sind. Unmöglich, widersinnig sei also die Annahme, es entspreche eine
Bewegung dem psychischen Sein, nicht aber das Bewegte; vielmehr müsse
die ,, Bewegung der Teilchen" als begriffliches Zeichen für ein einheit-
liches psychisches Ansich erklärt werden. Ist das Seelenleben diejenige
Realität, welcher der Begriff des Hirngeschehens zugeordnet ist, dann ist
es auch zugleich diejenige, welche durch den Begriff der Hirnsubstanz
bezeichnet wird. Dies widerspreche aber nun ganz und gar der Erfahrung.
Das Bewußtsein kann nicht das Ansich der Gehirnteilchen sein, denn
wo das erstere fehlt (im Tod und Schlaf) bleiben die letzteren vorhanden.
Einwände gegen den Parallelismus. 273
Das Bewußtseinsleben selbst genügt keineswegs den eben gefundenen An-
sprüchen: Die psychischen Qualitäten werden nicht erlebt als vorüber-
gehende Modifikationen an einem konstanten seelischen Sein, eine Emp-
findung stellt sich im Bewußtsein nicht dar als ein wechselnder Zustand
an etwas Bleibendem, sondern kommt und schwindet in relativer Selb-
ständigkeit.
Aber das dargelegte Argument vermag unserer Auffassung nichts an-
zuhaben, denn es setzt einen Substanzbegriff voraus, der in unserer An-
schauung keine Stelle hat, weil er von unserem Standpunkt aus als unrichtig
gebildet erscheinen muß. Denn was ist Gehirnsubstanz, was ist ein mate-
rielles Teilchen.'' Das Wirkliche, das wir durch diesen Begriff bezeichnen,
ist — so stellten wir früher fest (S. 244 f.) — ein Zusammenhang, ein Ver-
band wechselnder Qualitäten, nicht eine Summe von gleichbleibenden
Qualitäten. Hält man sich dies vor Augen, so ist klar, daß man in keiner
Weise berechtigt ist zu schließen: wenn ein Vorgang an einem Atom ein
Zeichen für etwas Psychisches sein soll, dann muß auch das Atom selbst
etwas Psychisches bezeichnen. Der Vorgang kann sehr wohl einer be-
stimmten psychischen Qualität entsprechen, ohne daß die zahlreichen
anderen Qualitäten, die damit zusammenhängen und mit ihr denselben
Komplexen angehören, gleichfalls als psychisch angesprochen werden
müßten. Man muß sich hier vor jeder engherzigen, an gewohnte Bilder
sich anklammernden Auffassung hüten. Was erfordert wird, ist allein die
eindeutige Zuordnung; im übrigen kann im physischen Zeichensystem
getrennt sein, was in der psychischen Wirklichkeit zusammengehört; und
umgekehrt: was in der Welt der QuaHtäten vereint ist, kann in der begriff-
lichen Darstellung ganz und gar auseinandertreten. Die psychischen Ele-
mente, aus denen ein Ichkomplex sich aufbaut, können zu ganz getrennten
physischen Komplexen gehören; und die Elemente, die durch ein physi-
sches Zeichen zu einem Komplex zusammengefaßt werden, brauchen keines-
wegs untereinander in einem Bewußtseinszusammenhange zu stehen: wenn
eines von ihnen psychisch ist, so brauchen es die andern deswegen nicht
zu sein.
Aber es hat keinen Zweck, über die vorliegenden Möglichkeiten zu
spekulieren und irgendwelche Hypothesen näher auszumalen, da es doch
an jedem Erfahrungsanhalt zu ihrer Beurteilung fehlt, solange wir über
die in Frage kommenden Vorgänge nicht viel besser unterrichtet sind als
es bei dem gegenwärtigen Stande der Forschung der Fall ist. Hier braucht
und kann nicht mehr gezeigt werden, als daß die besprochenen Einwände
die Unmöghchkeit physiologischer Theorien des Seelenlebens und damit
des Parallelismus durchaus nicht beweisen; sie scheinen es nur so lange
zu tun, als man vergißt, daß man es bei den physischen Begriffen mit
Zeichen und nichts als Zeichen zu tun hat. Sowie man sich sorgsam vor
jedem falschen Vergleich der Zeichen mit dem durch sie bezeichneten
Wirklichen hütet, verschwinden die scheinbaren Schwierigkeiten, und die
Beweiskraft der Gegenargumente zerrinnt in nichts.
Schlick, Erkenn tnislehre. l8
274 Die Erkenntnis des Wirklichen.
Ein sehr verführerischer und geistreicher Vergleich dieser Art, der gleich
den eben behandelten Argumenten die Mannigfaltigkeit der psychischen
Welt und der physischen Begriffe gegeneinander abwägt, ist vonH. Driesch
angestellt und von ihm als absolut schlagender Beweis gegen den Paralle-
lismus angesehen worden^). Während die zuletzt erledigten Argumente
darauf fußten, daß die physikalischen Begriffe zu kompliziert seien, um
den einfachen psychischen Erlebnissen zugeordnet werden zu können,
weist Driesch gerade umgekehrt auf den bunten Reichtum des seelischen
Geschehens hin, der sich durch die ärmliche Begriffswelt der physikali-
schen Vorgänge niemals erschöpfen lasse. Die Naturwissenschaft, meint
er, hat überhaupt nicht genug Begriffe zu ihrer Verfügung, um für alle
psychischen Größen eine eindeutige Zuordnung zu leisten. Es gibt in der
Physik nur eine ganz geringe Anzahl von Grundelementen, aus denen die
gesamte Natur sich aufbaut (Driesch glaubt als solche positive und nega-
tive Elektronen und ,, Ätheratome" anführen zu sollen); aus ihnen seien
alle Stoffe zusammengesetzt, und alle Geschehnisse seien in letzter Linie
nichts anderes als Bewegungen dieser drei Grunddinge, d. h. raumzeitliche
Umlagerungen derselben. Auf der psychischen Seite dagegen haben wir
nicht drei oder vier, sondern unendlich viele qualitativ verschiedene Grund-
gebilde. Und man darf nicht glauben, daß diese unendliche Mannigfaltig-
keit wett gemacht werden könnte durch die unendliche Mannigfaltig-
keit raumzeitlicher Kombinationen auf der physischen Seite, denn diese
würden gerade ausreichendes Begriffsmaterial liefern, um die Erlebnisse
des anschaulichen Nebeneinander und Nacheinander zu bezeichnen; der
objektiven Ordnung der Dinge entspricht ja die raumzeitliche Ordnung
unserer Vorstellungen, sie kann daher nicht auch noch der qualitativen
Beschaffenheit dieser Vorstellungen entsprechen. Mit unseren physikali-
schen Begriffen stehen wir daher der unendlich reicheren Mannigfaltigkeit
der psychischen Welt völlig ohnmächtig gegenüber.
Dieses scheinbar so unangreifbare Argument ist dennoch nicht stich-
haltig. Es beruht auf einem Vergleich zweier unendlicher Mengen unter-
einander und der Kundige weiß, wie leicht dabei Trugschlüsse entstehen.
Wer mit der Mengenlehre der Mathematik vertraut ist, wird niemals durch
den dargelegten Beweis getäuscht werden. Wir woUerr absehen von den
Einwänden, die sich gegen den halb mechanistischen Ausgangspunkt des
Gedankenganges von Driesch machen ließen (es gehört nicht mehr zu
den Anschauungen der modernen Physik, alles Geschehen als bloße Be-
wegung, als Elektronen- und Ätherbewegung, aufzufassen), wir wollen
vielmehr annehmen, daß die tatsächlichen Grundlagen, auf welche die
neue Idee angewandt werden soll, im Prinzip wirklich vorhanden wären,
und wollen fragen, ob sich dann die Polgerungen ergeben, die der bekannte
Naturphilosoph ziehen zu müssen glaubte.
Das ist nun in Wahrheit nicht der Fall. Wir sehen es ein, wenn wir
erstens bedenken, daß die Mannigfaltigkeit unserer Erlebnisse des
*) Driesch, Seele und Leib. Leipzig 1916.
Einwände gegen den Parallelismus. 275
Neben- und Nacheinander bei genauer Betrachtung doch sehr viel enger
begrenzt ist und weit zurückbleibt hinter derjenigen der verschiedenen
möglichen räumlichen Anordnungen und Bewegungen der physischen Dinge.
Wir überschätzen leicht unsere Vorstellungskraft in dieser Beziehung und
vergessen die Tatsache der räumlichen Unterschiedsschwelle, welche jener
Mannigfaltigkeit enge Grenzen setzt. So wenig wir uns z. B. lOOO Gegen-
stände wirklich anschaulich vorstellen können, so leicht wird es uns,
den Begriff nicht nur von lOOO, sondern ebensogut von I000^°°° Gegen-
ständen zu bilden. Sehr kleine sowohl wie sehr große Raum- und Zeit-
strecken oder Unterschiede sind nicht mehr anschaulich vorstellbar, ebenso-,
wenig sehr schnelle oder langsame Bewegungen usf. Die Begriffsbildung
aber geht in diesen Richtungen beliebig weit, ist also in dieser Hinsicht
reicher als das unmittelbare Erlebnis der Ordnung von Vorstellungen und
daher vielleicht wohl geeignet, Material auch für die Bezeichnung der
Qualitäten der letzteren abzugeben. Wir wollen aber diesen Gedanken
hier nicht weiter verfolgen, da noch ein anderes Gegenargument von mehr
prinzipieller Natur angeführt werden muß, das für sich allein schon völlig
entscheidend ist.
Zweitens nämlich ist es unmöglich, auf dem von Driesch ein-
geschlagenen Wege allgemeiner Überlegungen zu beweisen, daß die beiden
verglichenen Mengen (psychische Qualitäten einerseits und physische Be-
griffe andererseits) sich nicht einander zuordnen ließen oder — wie der
Mathematiker sagen würde — nicht von gleicher Mächtigkeit sind. D.-üesch
sucht den Beweis so zu führen, daß er zeigt, die eine Menge sei in der
anderen enthalten (nämlich die des physischen Gebietes in derjenigen des
psychischen, da die Gesamtheit des ersteren nicht der Gesamtheit des
letzteren entspricht, sondern bloß einem Teile davon: den raum-zeitlichen
Erlebnissen). Aber eben dies beweist bei unendlichen Mengen, wie jeder
Mathematiker weiß, gar nichts. Wenn ich von einer Strecke ein Stückchen
abgrenze, so ist die Teilstrecke in der ganzen vollständig enthalten, und
doch kann ich, wie sich streng beweisen läßt, zwischen den Punkten des
Stückes und denen der ganzen Linie eine eindeutige Zuordnung her-
stellen, so daß jedem der unendlich vielen Punkte der Gesamtstrecke ein
und nur ein Punkt des Teiles entspricht, und umgekehrt.
Wollte man entgegnen, die Menge der physischen Gebilde verhielte
sich zur Menge der psychischen Größen nicht wie eine kürzere Strecke
zur längeren, sondern stelle ihr gegenüber gleichsam ein Gebilde von
höherer Dimensionenzahl dar, so wäre auch damit nichts geholfen, denn
die Mengenlehre zeigt, daß auch dies kein Hindernis einer eindeutigen
Zuordnung bilden würde. Es gehört zu den Paradoxien des Unendlichen,
ist aber gleichfalls streng beweisbar, daß ein Flächenstück, z. B.ein Quadrat
sich auf einer Strecke ,, abbilden" läßt, obgleich die Linie, die ich mir ja
innerhalb des Quadrates gezeichnet denken kann, nur einen unendlich
kleinen Teil der Punkte des letzteren enthält, denn ich kann in ihm außer-
dem noch unendlich viele andere Linien zeichnen, die mit der ersten keinen
18*
276 Die Erkenntnis des Wirklichen.
Punkt gemeinsam haben. Jeder Punkt der Strecke kann einem Punkt
der Fläche zugeordnet werden, obwohl es Gebilde verschiedener Dimen-
sionenzahl sind. Die gegenseitige Entsprechung läßt sich also vollkommen
eindeutig vollziehen (freilich kann sie dann nicht zugleich auch stetig
sein; oder, wenn man die Abbildung stetig macht, läßt sie sich nicht zu-
gleich auch eindeutig vollziehen. Aber auf Stetigkeit kommt es, worauf
übrigens unsere Bemerkungen gegen den vorigen Einwand schon hin-
deuten konnten, bei der Zuordnung gar nicht an; es ist nicht nötig, daß
stetigen Übergängen der psychischen Qualitäten auch stetige Übergänge
der zugeordneten physischen Gebilde entsprechen müßten oder umgekehrt).
So scheitert denn, gleich allen anderen, auch dieser letzte geistvolle Ver-
such, die Unmöglichkeit des Parallelismus zu erweisen.
34. Monismus, Dualismus, Pluralismus.
Wir begrüßen das gewonnene Ergebnis im Interesse einer einheit-
lichen, wahrhaft befriedigenden Weltanschauung. Denn das dualistische
Weltbild der Wechselwirkungsfreunde bringt notwendig den Verzicht auf
vollständige Erkenntnis der Welt mit sich. Für sie zerfällt ja das Uni-
versum in zwei Reiche, und nur das eine von ihnen, das ,, physische", ist
der exakten quantitativen Begriffsbildung zugänglich, das andere dagegen,
die Welt des Psychischen, kann ihr nie Untertan gemacht werden; die
Begriffe der verschiedenen seelischen Größen müssen unbegriffen neben-
einander stehen bleiben, sie lassen sich nicht restlos auseinander ableiten,
denn dazu ist allein, wie wir feststellen mußten, die quantitative, natur-
wissenschaftliche Methode fähig.
Alle Gründe für diese Zweiteilung, für die Sonderstellung der psychi-
schen Qualitäten, haben wir als unhaltbar erkannt.
Wir besitzen in dem System der quantitativen Begriffe ein wunder-
sames und das einzige Mittel zur Erkenntnis der Welt, soweit sie uns
nicht gegeben, nicht b e kannt ist, und wir haben nun gar keine Ver-
anlassung mehr zu glauben, daß dies Mittel versagen müßte gegenüber
der gegebenen Welt der bekannten Qualitäten. Wir glauben vielmehr
an seine universelle Anwendungsmöglichkeit, solange nicht streng erwiesen
ist, daß wir uns damit im Irrtum befinden. Noch nie hat es in der Wissen-
schaft sich bewährt, solchen Glauben zu früh aufzugeben; nichts lähmt
die Forschung so sehr wie die Verkündung eines Ignorabismus, und wir
müssen uns davor hüten, es vorzeitig auszusprechen.
Wir sind also von der Überzeugung durchdrungen, daß alle Quali-
täten des Universums, daß alles Sein überhaupt insofern von einer und
derselben Art ist, als es der Erkenntnis durch quantitative Begriffe zu-
gänglich gemacht werden kann. In diesem Sinne bekennen wir uns zu
einem Monismus. Es gibt nur eine Art des Wirklichen — das heißt
für uns: wir brauchen im Prinzip nur e i n System von Begriffen zur Er-
kenntnis aller Dinge des Universums, und es gibt nicht daneben noch eine
Monismus, Dualismus, Pluralismus. 277
oder mehrere Klassen von erfahrbaren Dingen, für die jenes System
nicht paßte.
Dieser Monismus scheint mir so weitreichend und umfassend zu sein,
wie es das Einheitsbedürfnis der Vernunft nur immer wünschen kann,
zugleich aber auch die einzige Art von Monismus, die erkenntnistheoretisch
abgeklärtem Denken erreichbar ist. Sie enthält in sich alle brauchbaren
Momente, die etwa dem Materialismus des vorigen Jahrhunderts so großen
Erfolg verschafften bei einem Publikum, das, von erkenntnistheoretischen
Bedenken unbeschwert, seinen starken Drang nach Einheit und Geschlossen-
heit des Weltbildes auf diese Weise befriedigt fühlte. Ja, auch der in jüngst
verflossener Zeit erneuerte Materialismus, der sich mit dem allgemeineren
Namen des Monismus zu schmücken liebte, fand aus den gleichen Gründen
bei einem gleichen Publikum begeisterte Aufnahme. Was an diesen Welt-
anschauungen so großen Reiz ausübte, war tatsächlich ein berechtigter
Zug, der auch in einer durch strengste Kritik geläuterten Weltansicht in
vollem Umfange erhalten bleiben darf und muß: es ist das Vertrauen in
die unbegrenzte Anwendungsmöglichkeit der quantitativen Denkmittel,
deren sich die Physik zur Erkenntnis ihrer Welt bedient. Daß dieses Ver-
trauen in dem Satze ausgesprochen wurde: ,, alles Sein ist Materie", war
freilich eine naive, unzureichende, philosophisch verfehlte Formulierung,
zumal ein vöUig unkritischer Begriff der Materie zugrunde gelegt wurde,
was denn auch zur Folge hatte, daß der Materiahsmus unfähig war, ein-
fachste philosophische Probleme auch nur zu sehen, geschweige denn zu
lösen. Er setzte übrigens eine Art von mechanistischer Welterklärung
voraus, die inzwischen von dgr Naturwissenschaft selbst aufgegeben wurde.
Dennoch wohnte ihm eine gesunde Tendenz inne, und es war nur
Sache der Kritik, das Krankhafte von ihr zu entfernen und sie auf die
rechte Bahn zu bringen. Es ist ein hohes Verdienst der neukantischen
Richtungen, daß sie sich dieser Aufgabe besonders unterzogen, allen voran
Friedrich Albert Lange in seiner trefflichen ,, Geschichte des Mate-
rialismus". Auch die sogenannte Marburger neukantische Schule, von
Cohen und Natorp geführt, ist wenigstens in diesem Punkte nicht
vom rechten Wege abgewichen. Ich will einen Satz aus Natorp's
,, Allgemeiner Psychologie" anführen (1912), welcher die Übereinstimmung
in den im vorigen Paragraphen besprochenen Punkten hervortreten läßt.
Natorp schreibt (S. 12): ,,Aber was wird nun aus der Psychologie.? . . .
Sofern es sich um die kausale Gesetzlichkeit des psychisch genannten
Geschehens handelt, wird daraus nichts als besonnene, methodisch fort-
schreitende, durch kein metaphysisches Vorurteil ferner beirrte, natur-
wissenschaftliche, insbesondere sinnes- und gehirnphysiologische Unter-
suchung."
Nur in dem vorhin genauer umschriebenen Sinne darf die Anschauung,
die wir uns erarbeitet haben, als eine monistische bezeichnet werden; der
Monismus als metaphysische Ansicht dagegen kann in keiner der be-
kannten Formen vor der Kritik bestehen. Nicht besser nämlich als um
278 Die Erkenntnis des Wirklichen.
den Materialismus steht -es in dieser Hinsicht um sein Gegenspiel, den
sogenannten Spiritualismus oder Psychomonismus. Behauptete jener:
alles Existierende ist Materie, so glaubt dieser sagen zu dürfen: alles
ist geistiger, psychischer Natur.
Die Unhaltbarkcit eines solchen Standpunktes muß aus den Er-
wägungen des vorhergehenden Paragraphen schon deutlich geworden sein.
In früheren Teilen unserer Untersuchung mochte es freilich scheinen, als
ob ihre Ergebnisse mit spiritualistischen Gedanken gut in Einklang ge-
bracht werden könnten. Wenn wir immer wieder hervorhoben, daß kein
prinzipieller Artunterschied zwischen den Qualitäten der Welt angenommen
werden dürfe, daß vielmehr die Trennung zwischen gegebenen und nicht-
gegebenen, subjektiven und objektiven Qualitäten mehr zufälliger, fakti-
scher Natur sei — was liegt da näher als zu sagen: da die bekannten
Qualitäten seelisch, geistig sind, und da sie den unbekannten nicht prin-
zipiell ungleichartig sein sollen, nun gut, so sind sie eben auch psychisch!
Dann wäre alles Sein der Welt an sich seelischer Natur. Im eigenen Be-
wußtsein bietet sich die einzige Möglichkeit, Qualitäten kennen zu lernen,
wie sie an sich sind, und da finde ich sie eben als psychische Größen vor.
Da scheint es doch, als müßte ich schließen: wenn mir die anderen Quali-
täten in der gleichen Weise bekannt werden könnten wie die des eigenen
Bewußtseins, dann würde ich sie auch als seelische kennen lernen; ich
darf annehmen, daß sie an sich gleichfalls etwas Psychisches sind, von der
gleichen Art wie meine Empfindungen und Gefühle, vielleicht in anderen
Tönen und Abstufungen, aber doch mit dem eigentümhchen Charakter
des seelischen Seins begabt.
Dieser Analogieschluß ist so überaus naheliegend, daß die Metaphysik,
zu welcher er hinführt, immer zahlreiche Anhänger gehabt hat, und auch
unter den hervorragenden Denkern unserer Zeit sind ihr Verteidiger er-
standen. Es ist derselbe Schluß, durch den z. B. Schopenhauer den
Willen als das wahre Wesen alles Existierenden erweisen wollte, weil
er eben in allem unmittelbar Gegebenen ein Willenserlebnis als das charak-
teristische Merkmal alles Psychischen zu finden glaubte.
Die spiritualistische Weltanschauung leidet jedoch an gefährlichen
Mängeln. Ihre eben wiedergegebene Begründung ist den schwersten Be-
denken ausgesetzt. Sie treten sofort zutage, wenn man versucht, sich den
Sinn der Behauptung ganz klar zu machen, daß alles Wirkliche psychi-
schen Charakter trage.
Wir haben mit dem Worte psychisch alles unmittelbar Gegebene,
d. h. im Zusammenhang eines einheitlichen Bewußtseins Stehende be-
zeichnet. Versteht der Satz des Spiritualismus das Wort in derselben
Bedeutung.? Will er behaupten, daß es keine Qualität in der Welt gibt,
die nicht irgendeinem Bewußtseinszusammenhang angehörte.'' Das will
und kann er offenbar nicht, denn sonst wäre ja sein Standpunkt identisch
mit dem Immanenzstandpunkt, welcher, wie man sich entsinnt, auf ganz
anderen Grundlagen ruht (s. oben § 24, 25), denn er leugnet ein trans-
Monismus, Dualismus, Pluralismus. 279
zendentes Sein überhaupt, während der Spiritualismus es im Gegenteil
fordert und deuten will. Wir wissen zudem, daß nicht alles Wirkliche
Bewußtseinsinhalt ist, Haben wir doch im vorigen Paragraphen noch
Gründe kennen gelernt, die es verbieten, alles Sein, das durch naturwissen-
schaftliche Begriffe bezeichnet wird, für psychisch zu halten. Das Seelen-
leben eines Menschen z. B. konnte unmöglich das Ansich seines g e -
samten Gehirns sein, sondern nur bestimmten begrenzten Teilvor-
gängen in ihm zugrunde liegen. In der Tat richteten sich die oben (S. 272)
besprochenene Argumente von E. Becher ausdrücklich nur gegen die
spiritualistische Form der Parallelitätslehre.
Einen Ausweg könnte sich der Psychomonismus nur schaffen durch
die Setzung ad hoc angenommener Bewußtseine, die sonst durch die Er-
fahrung nirgends gefordert werden. Da z. B. die Hirnvorgänge in einem
ohnmächtigen Individuum nicht ein Bewußtsein des Individuums be-
deuten können, so entstünde die Frage: zu wessen Bewußtsein sollen die
durch jene Vorgänge bezeichneten Wirklichkeiten nun gehören.'' Hier kann
die spiritualistische Metaphysik zwar den Begriff eines ,, überindividuellen"
Bewußtseins zu Hilfe rufen und behaupten, die fraglichen Größen ge-
hörten zum Bewußtsein eines höheren Wesens, z. B. Gottes; sie kann
auch jeder lebenden Zelle oder irgendwelchen materiellen Teilchen eine
eigene Seele zuschreiben und damit jene Größen in verschiedene unter-
individuelle Bewußtseine verlegen aber damit stürzt sie sich offen-
bar in einen uferlosen Strom von Hypothesen, die sich in keiner Weise
rechtfertigen lassen. Der gewissenhafte Forscher darf vielmehr auf das
Vorhandensein eines Bewußtseins nur dort schließen, wo er ganz be-
stimmte charakteristische Anzeichen vorfindet — zu denen vor allen die-
jenigen des Lebens gehören; auch diese allein reichen nicht einmal
aus, wie das eben behandelte Beispiel erkennen läßt ....
Die ganze spiritualistische Lehre beruht auf einem Analogieschluß.
Will man einen solchen anwenden, so muß man aber auch wirklich der
Analogie folgen: man darf das Vorhandensein eines fremden Bewußtseins
nur behaupten, wo sich analoge Bedingungen vorfinden wie die, an welche
unser eigenes erfahrungsgemäß geknüpft ist. Beobachten wir schon, daß
unser Bewußtsein bei gewissen Störungen oder Verletzungen des Nerven-
systems gänzlich schwindet, wie dürfen wir uns da für berechtigt halten,
ein Seelenleben auch dort anzunehmen, wo überhaupt kein Nervensystem
vorhanden ist — wie dürfen wir da einen Planeten oder einen Stein oder
ein Elektron für ein bewußtes Wesen ansehen ! Man darf z. B. die Existenz
auch der elementarsten Sinnesempfindung nicht voraussetzen, wo kein
unseren Sinnesorganen analoges Organ vorhanden ist. Obwohl uns die
poetische Kraft eines Fechner die Ähnlichkeiten zwischen den Gestalten
und Vorgängen der organischen und der anorganischen Natur so ver-
führerisch ausgemalt hat, daß sie tatsächlich fast als hinreichende Grund-
lage kühner Schlüsse auf die Existenz von Atomseelen und Gestirnseelen
erscheinen, so zerrinnt doch dieser Schein bei näherem Zusehen, und statt
28o Die Erkenntnis des Wirklichen.
wirklicher Analogien sehen wir nur Metaphern und Bilder vor uns, mit
denen wissenschaftlich nichts anzufangen ist. Sie erfreuen uns dichterisch,
aber sie verhelfen uns nicht zu neuen Erkenntnissen.
Der spiritualistische Glaube an die psychische Natur alles Seienden
stellt sich also als unhaltbar heraus, wenn ,, psychisch" mit ,, bewußt"
identifiziert wird. Hier bietet sich dem Psychomonisten der Ausweg, diese
Identität aufzugeben und zu erklären: die Erkenntnis, daß nicht alles
Wirkliche Bewußtseinsinhalt ist, widerlegt meine These nicht; überall, wo
es nicht bewußt sein kann, ist es eben unbewußt, ohne deshalb aufzuhören,
psychisch zu sein.
Aber wer auf diesem Standpunkt steht, gerät in die größte Verlegen-
heit, wenn er nun auf die Frage antworten soll: was ist denn hier der
Sinn des Wortes ,, psychisch"? Was bedeutet es, wenn Du von irgend-
welchen Qualitäten aussagst, sie seien seelischer Natur, wenn auch un-
bewußt.'' Dem Spirituahsten, der vom unbewußt Psychischen in diesem
Zusammenhange redet, schwebt offenbar der Gedanke vor, daß die so
bezeichnete Wirklichkeit doch in irgendetwas der Bewußtseinswirklichkeit
gleiche. Nun, für diesen Gedanken sind wir selber unablässig eingetreten,
insofern wir immer wieder vor der Annahme einer prinzipiellen Verschieden-
heit zwischen der Bewußtseinswelt und der transzendenten Welt warnten
— ist es aber eine richtige Formulierung dieser Einsicht, wenn man
sagt: auch das transzendente Sein ist psychisch.? Ich glaube nicht; denn
das würde voraussetzen, daß man eine ganz besondere Eigenschaft der
außerbewußten Wirklichkeiten angeben könnte, welche sie mit den psychi-
schen Größen gemeinsam hätten und welche zugleich ein charakteristi-
sches Merkmal der letzteren wäre. Dieses Gemeinsame würde den Sinn des
Wortes ,, psychisch" ausmachen, und wenn man es nicht angeben könnte,
so fehlte eben dem Worte der bestimmte Sinn. Nun ist es in der Tat un-
möglich, eine qualitative Gleichheit oder Gemeinsamkeit des gegebenen
bewußten Seins und des nicht gegebenen, außerbewußten irgendwie positiv
zu bestimmen, aus dem Begriff des Bewußtseins ein spezifisches Merkmal
abzusondern, das dem Außerbewußten in gleicher Weise zukäme. Denn
wenn man sich das Bewußtsein von einem Bewußtseinsinhalt fortdenkt,
so denkt man sich den ganzen Inhalt überhaupt fort und behält kein
Merkmal übrig, und noch weniger eins, das für das geistige Sein charakte-
ristisch wäre. Wendet man das Wort ,, psychisch" in der Weise des Psycho-
monisten an, so weiß man nur, daß damit eine Eigenschaft bezeichnet
sein soll, die allem Wirklichen ohne Ausnahme zukommt, kann diese
Eigenschaft aber nicht näher angeben. Das ,, Wirkliche" und das ,, Psy-
chische" werden Wechselbegriffe, und ich habe nichts gewonnen und drücke
keine neue Erkenntnis aus, wenn ich das erstere durch das letztere ersetze.
Das ist überhaupt die große Gefahr jedes metaphysischen Monismus,
daß er leicht zu einem Spiel mit Worten wird, hinter dem nur scheinbar
eine philosophische Wahrheit sich verbirgt. Wenn ich ausrufe: Alles Sein
ist im Grunde eins! so klingt das bedeutungsvoll; wenn ich verkünde:
Monismus, Dualismus, Pluralismus. 281
Die Welt, so vielgestaltig sie erscheinen mag, ist im Grunde nur eines
Wesens, so erscheint das tief wie das ev xai näv der Alten; und doch
sind solche allgemeinen Aussprüche für sich genommen gänzlich nichts-
sagend, weil jeder Begriff bedeutungslos wird, wenn ich seinen Umfang zu
sehr ausdehne, so daß er schlechthin alles bezeichnen kann.
Ich sagte schon, daß der Zauber des Spiritualismus mehr poetischer
als wissenschaftlicher Natur ist. Das liegt daran, daß tatsächlich nicht
Erkenntnis, sondern Intuition (s. oben § ii) zu seiner Formulierung hin-
führt. Denn der Vater des Gedankens von der psychischen Natur der
außerbewußten Wirklichkeit ist letzten Endes der Wunsch, diese Wirk-
Hchkeit so zu kennen, wie uns die bewußte Welt bekannt ist. Wenn
irgendeine außerbewußte Qualität unserem Erleben zugänglich gemacht,
d. h. uns unmittelbar gegeben werden könnte, dann — so denkt man sich
etwa — würde unser Erlebnis ungefähr ebenso sein, als wenn eine Emp-
findung oder ein Gefühl in unserem Bewußtsein auftauchte: also ist sie
etwas Psychisches. Wir haben oft genug betont, daß dieser Wunsch gar
nicht dem Willen zur Erkenntnis entspringt, sondern dem Willen zum
Schauen, zum Erleben; er hat also mit Wissenschaft und Philosophie
nichts zu tun. Zudem ist er natürlich unerfüllbar, weil in sich wider-
spruchsvoll. Wissen wollen, wie das Außerbewußte im Bewußtsein erlebt
werden würde, das heißt wieder soviel wie: fragen, wie eine Farbe aus-
schaut, wenn niemand sie sieht, oder wie ein Ton sich anhört, dem niemand
lauscht. Es hat keinen Sinn, etwas psychisch zu nennen, das nicht der
Psyche irgendeines bewußten Wesens angehört.
So sind die materialistische wie die spiritualistische Form der meta-
phischen Alleinheitslehre gleichermaßen unhaltbar. Um so höhere Bedeu-
tung gewinnt der erkenntnistheoretische Monismus, zu dem wir uns ge-
führt sahen, und der seinen Ausdruck findet in dem Satz: ,,Was wirkhch
ist, ist auch der Bezeichnung durch quantitative Begriffe ziagänglich."
Diese Gleichartigkeit, die von allem Seienden behauptet wird, ist nicht
ein leeres Wort, sondern sie hat eine bestimmte prüfbare Bedeutung und
besagt eine wirkliche Erkenntnis. Belanglos ist sie dagegen für das
Erlebnis. Für die Art und den Wert eines Erlebens ist es gleichgültig,
durch welche Begriffe es für die Zwecke der Erkenntnis bezeichnet werden
kann. Deshalb bietet dieser Monismus auch keinen Anlaß zu einem Streit
um Wertfragen, wie er im Anschluß an den Materialismus so heiß ge-
tobt hat.
In einer Hinsicht freilich könnte der Dualismus auch jetzt noch un-
überwunden scheinen. Die psychischen Qualitäten stehen in jenem eigen-
tümhchen Zusammenhange, der uns als Zusammenhang des Bewußtseins
schon öfters beschäftigte, und sie zeichnen sich eben dadurch vor allen
übrigen aus, die nicht einem solchen Beziehungsverbande angehören. Be-
deutet das nicht einen Dualismus der Zusammenhänge, des psychischen
einerseits und des nichtpsychischen andererseits und kommt er im Grunde
nicht auf dasselbe hinaus wie der Dualismus des Seins.? Gehört doch die
282 Die Erkenntnis des Wirklichen.
Verflechtung in einem solchen Zusammenhang durchaus zum „Wesen"
der psychischen Wirklichkeit; die einzelnen Qualitäten sind ja aus ihm
schlechterdings nicht zu lösen, ohne daß sie zu existieren aufhören, sie
haben außerhalb seiner kein Dasein (vgl. oben § i6).
Nun ist gewiß jener Zusammenhang etwas ganz Besonderes. Da die
physiologischen Korrelate psychischer Größen noch in keinem Falle restlos
bekannt sind, so ist die Wissenschaft erst recht nicht im Besitz der quan-
titativen Begriffe, durch welche ihr Zusammenhang im Bewußtsein zu
bezeichnen ist; aber sobald jene Begriffe einmal gefunden sein werden,
wird jene Einheit des Bewußtseins als nur einer von vielen anderen Zu-
sammenhängen erkannt sein und auf sie zurückgeführt werden; das Be-
wußtseinsproblem wird gelöst sein. Bis dahin dürfen wir uns aber vor
Augen halten, daß die Bewußtseinseinheit für uns nur deshalb so einzig-
artig ist, weil sie eben mit unserem Ich zusammenfällt, so daß der Unter-
schied dieses Zusammenhanges allen übrigen gegenüber hinausläuft auf
den Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Ich und Nicht- Ich.
Bekannt ist uns nur der Zusammenhang des Ich, und wiederum wäre
es sinnlos zu fragen, ob etwa ein Zusammenhang außerbewußter Quali-
täten sich als gleichartig mit jenem herausstellen würde, -falls er uns
bekannt wäre. Denn wäre er dies, könnten wir ihn unmittelbar erleben,
so wäre er eben dadurch ein Bewußtseinszusammenhang, und nicht mehr
ein solcher von außerbewußten Qualitäten. Das Verlangen, ihn kennen zu
lernen, ist wieder ein Ausdruck des metaphysischen Bedürfnisses nach
Intuition; es hat mit Erkenntnis nichts zu schaffen und würde nichts zu
ihr helfen, wenn es gestillt wäre. Erkennen heißt nicht, die Außenwelt
zur Innenwelt machen.
Dieser Gegensatz zwischen Bewußtsein und Außenwelt ist gewiß un-
verwischbar und unaufhebbar, aber seine Anerkennung bedeutet nicht die
Aufrichtung eines Duahsmus der Verknüpfungsart des Bewußten und der-
jenigen des Nichtbewußten, son(iern vielmehr nur die Auszeichnung und
Heraushebung des Bewußtseinszusammenhanges aus der Menge der übrigen
Zusammenhänge, die der Kosmos in seiner Fülle aufweist. Man darf also,
wenn man will, höchstens von einem Pluralismus sprechen.
In diesem Sinne muß aber jede verständige und aufrichtige Welt-
anschauung pluralistisch sein, denn das Universum i s t eben bunt und
mannigfaltig, ein Gewebe unendlich vieler Qualitäten, von denen keine
der andern genau gleicht. Ein formelhafter metaphysischer Monismus gibt
davon nicht Rechenschaft mit seinem Satze, daß alles Sein in Wahrheit
eines ist; er bedarf notwendig irgendeines pluralistischen Prinzips zur
Ergänzung. Es muß irgendwie Platz bleiben für die Wahrheit, daß es un-
endlich viele Spielarten von Qualitäten gibt, denn die Welt ist nicht kalt
und eintönig, sondern vielgestaltig und voll ewigen Wechsels. Und wenn
so viele sich von dem grauen Weltbilde des Materialismus abwandten, so
geschah es, weil sie darin das pluralistische Element vermißten, weil die
Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis. 283
Welt der unendlichen qualitativen Mannigfaltigkeit beraubt schien, die
in Wahrheit doch gerade ihre unbezweifelbarste Wirklichkeit ausmacht.
Pluralismus und Monismus treffen beide in ihrer Weise die Wahrheit,
nur dem Dualismus läßt sich keine gute Seite abgewinnen. Eine
Zweiteilung der Welt in Physisches und Psychisches, in Wesen und Er-
scheinung, in ein Reich der Natur und ein Reich des Geistes, oder wie
die Gegensätze sonst noch lauten mögen, läßt sich nicht verteidigen,
nicht durch wissenschaftliche Gründe rechtfertigen. Die Verschiedenheit
des Seins ist nicht zweifach, sondern unendlichfach: das ist die pluralistische
Wahrheit. Aber es besteht auch die monistische Wahrheit: in einem
anderen Sinne ist alles einheitlich und gleichartig. Die bunte Wirklichkeit
wird eben überall von denselben Gesetzen beherrscht, denn sonst
ließe sie sich nicht überall durch dieselben Begriffe bezeichnen: sie wäre
nicht erkennbar. Erkennen heißt ja das Auffinden des Einen im Anderen,
des Gleichen im Verschiedenen. Soweit die Welt erkennbar ist, ist sie
einheitlich. Ihre Einheit kann nur bewiesen werden durch die Tatsache
ihrer Erkennbarkeit und hat keinen anderen Sinn.
C Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis.
Die Frage nach der Gültigkeit der Erkenntnis pflegt man als das
eigentliche Problem derjenigen Wissenschaft zu bezeichnen, welcher dieses
Buch gewidmet ist. Wie kommt es, daß wir die Frage, die danach am
Anfang der ganzen Untersuchung hätte stehen müssen, erst in der Über-
schrift des letzten Abschnittes deutlich zur Geltung kommen lassen.!*
Besinnen wir uns nicht reichlich spät auf unser wahres Problem.'' waren
alle vorhergehenden Entwicklungen etwa nur Vorarbeit dazu.-*
In Wahrheit steht es so, daß diese Entwicklungen die Antwort auf
jene Fragen bereits im wesentlichen enthalten. Von einer ,, gültigen"
Erkenntnis zu sprechen, ist nämlich im Grunde ein Pleonasmus. Eine
Erkenntnis, die nicht gälte, wäre eben keine, sondern ein Irrtum. Gelang
es uns, das Wesen und die Zugänge der Erkenntnis zu erkunden, so wissen
wir auch, was gültige, d. h. wahre Erkenntnis ist, und unter welchen Be-
dingungen sie zustande kommt.
Wir haben die Prozesse verfolgt, durch welche WirkHchkeitserkenntnis
in der Wissenschaft gewonnen wird und dabei, so hoffen wir, selber welche
gewonnen. Wie steht es mit der Sicherheit des Grundes, auf dem wir uns
dabei bewegten? Führen jene Prozesse, regelrechten Ablauf vorausgesetzt,
etwa stets zu unbedingter Wahrheit, oder dürfen auch die sichersten
Wirklichkeitsurteile gar nur auf Wahrscheinlichkeit Anspruch erheben.?
Wie groß ist dann diese Wahrscheinlichkeit und was bedeutet überhaupt
dieser Begriff, mit dem wir es bisher noch nicht ausdrücklich zu tun hatten,
284 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis.
und dessen Verhältnis zum Begriff der Wahrheit daher noch nicht unter-
sucht ist? Gelten unsere Erkenntnisse absolut oder etwa nur für uns
Menschen, weil sie doch Produkte menschlicher Denktätigkeit sind?
Das sind Fragen, deren Antwort zum Teil mit den bisher angestellten
Untersuchungen schon gegeben sein muß, weil, wie gesagt, jeder Satz
über die Erkenntnis zugleich ein Satz über die Gültigkeit der Erkenntnis
ist. Gültigkeit heißt Wahrheit, und aus unseren Bestimmungen über die
Wahrheit muß sich ableiten lassen, was über die Gültigkeit zu sagen ist.
Indem wir auf jene Bestimmungen zurückgreifen, wird es möglich sein,
die Problemlösungen, die sich von unserem Standpunkt aus gewinnen
lassen, leicht und auf dem kürzesten Wege zu erreichen.
35. Denken und Sein.
Für eine Klasse von Urteilen dürfen wir die Gültigkeitsfrage als
restlos erledigt ansehen: das sind die analytischen Urteile. Sie bildeten
den eigentlichen Gegenstand des zweiten Teiles unserer Betrachtungen.
Da ein analytisches Urteil von einem Gegenstande nur aussagt, was zur
Definition des Gegenstandes gehört, so ordnet es dem Gegenstande eben
dasjenige Zeichen zu, welches gerade durch Übereinkunft als Zeichen für
ihn festgesetzt war, es leistet eine eindeutige Zuordnung gemäß der Defini-
tion der Eindeutigkeit, ist also schlechthin wahr. Der Satz ,, analytische
Urteile sind absolut gültig" ist selbst ein analytisches Urteil. Solche
Urteile haben mit Wirklichkeitserkenntnis nichts zu schaffen und
konnten denn auch in unserer Darstellung gänzlich von ihr getrennt und
ihr vorweggenommen werden. Ihr Reich ist das des Denkens, nicht des
Seins.
Wenn diese Art von Urteilen aber auch-keine Wirklichkeits erkennt-
nis enthält, so gelten sie deswegen doch von der Wirklichkeit, und das hat
zu einem Mißverständnis, zu einem Scheinproblem Anlaß gegeben, mit
dem die Philosophie sich zuweilen unnütz abgemüht hat. Sie gelangte zu
einer verkehrten Fragestellung über das Verhältnis von ,, Denken" und
,,Sein". Um dieses Mißverständnis zu klären, müssen wir auch in diesem
Zusammenhange noch einmal von analytischen Urteilen reden, obwohl sie
für uns schon lange nichts Problematisches mehr haben, in keiner Hinsicht
mehr fragwürdig sind.
Daß analytische Urteile sehr wohl reale Dinge zum Gegenstande
haben können und nicht etwa bloß etwas von Begriffen aussagen wollen,
ist nicht zu bezweifeln. Der KANx'sche Satz, daß sie nur auf Begriffe gehen,
die synthetischen dagegen auf die Objekte der Begriffe, meint etwas
Richtiges, kann aber in dieser Formulierung mißverstanden werden. Wenn
ich mit Kant in den Begriff des Körpers das Merkmal der Ausdehnung
aufnehnie (was freilich nach § 32 ein nicht ungefährliches Beginnen wäre),
so macht natürlich der Satz ,,die Körper sind ausgedehnt" Anspruch
darauf, von allen wirklichen Körpern zu gelten, und ist tatsächlich auf
Denken und Sein. 285
sie anwendbar, hat nicht nur einen Begriff zum Gegenstande, im Gegen-
satz zum Beispiel zu einem rein logischen Urteil wie: ,,mit wachsendem
Inhalt nimmt der Umfang eines Begriffes ab". Wir sehen also, daß es
auch Sätze über Wirkliches gibt, denen absolute Gültigkeit zukommt,
weil sie eben analytisch sind. Dieser Tatbestand hat die Skeptiker zu
Bedenken, die Metaphysiker zu Spekulationen veranlaßt, die beide nicht
berechtigt sind.
Die Metaphysiker haben daraus auf eine Identität von Denken und
Sein schheßen wollen, oder auf eine ganz besondere Rationalität des
Seins, die es zwinge, sich den Denkgesetzen gemäß zu verhalten. Auch
die wirklichen Dinge, so sagen sie, gehorchen den Grundsätzen der Iden-
tität und des Widerspruchs (denn in diesen beiden Sätzen läßt sich be-
kanntlich das Prinzip des analytischen Schließens formulieren), sind also
der Logik, dem Denken, Untertan.
Den Skeptikern dagegen, die dieser Argumentation aus dem Wege
gehen wollen, erscheint gerade deshalb der Tatbestand selber verdächtig,
und sie sind geneigt zu schließen, daß man jenen Urteilen zu Unrecht
schlechthin unbedingte Gültigkeit zuschreibe; das Denken habe keine
Macht über das Sein, und die Wirklichkeit brauche dem Prinzip des Wider-
spruchs nicht zu gehorchen. Denn der Satz vom Widerspruch sei eben
doch ein Denkgesetz, das Denken anderer Wesen könne ganz anderen
Gesetzen gehorchen, der Anspruch der analytischen Urteile auf absolute
Gültigkeit auch für die Dinge außerhalb des Denkens müsse daher irrtüm-
lich sein. Wenn es auch undenkbar sei, daß einer der logischen Grund-
sätze durch die Wirklichkeit Lügen gestraft würde, so verpflichtet dies
doch die Wirklichkeit zu nichts, sie braucht sich unserem Denken nicht
zu fügen. Undenkbarkeit sei eben noch lange nicht objektive Unmöglich-
keit. Wie es nichteuklidische Geometrien gebe, so könne es auch nicht-
aristotelische Logiken geben, in welchen der Satz vom Widerspruch keine
Geltung hätte, und Wesen, deren Denken einer solchen Logik folgt, müßten
die Ungültigkeit der analytischen Sätze mit demselben Recht behaupten,
mit dem wir kraft unseres menschlichen Denkvermögens für ihre Gültig-
keit eintreten.
Eine Formulierung, wie sie dem Standpunkt des Metaphysikers ent-
spricht, finden wir bei Spencer (in seinen Principles of Psychology): ,,When
we perceive that the negation of the belief is inconceivable, we have all
possible Warrant for asserting the invariability of its existence
we have no other guarantee for the reality of consciousness, of sensations,
of personal existence " Gegen diese Stelle richtet sich in skep-
tischer Polemik Mill (Logic, book II, chap. VII, § 3), indem er geltend
macht, daß inconceivability kein Kriterium der impossibility sei.
Sicherlich wurde Mill's Einwand durch eine richtige Idee veranlaßt:
er bekämpft hier in Spencer einen Vertreter der Evidenzlehre, gegen
die auch wir uns oben (§ 18) schon zu wenden hatten; aber gerade die
Vermengung des Evidenzproblems mit demjenigen der realen Gültigkeit
286 Die Gültigkeit der Wirkli chkeitserkenntnis.
der analytischen Urteile hat die Verwirrung angerichtet. Weder der Meta-
physiker noch der Skeptiker, weder Spencer noch Mill haben in dieser
Sache recht, weil beide die rechte Fragestellung verfehlen. Wir entwirren
den Knoten am besten an der Hand der Betrachtung eines Beispiels.
Der Satz ,, facta infecta fieri non possunt", ,, Geschehenes kann nicht un-
geschehen gemacht werden", ist in Wahrheit ein analytisches Urteil und
folglich schlechthin gültig. Er behauptet von allem, was da geschehen ist,
daß es nicht nichtgeschehen sei, und das ergibt sich allein aus dem Satze
des Widerspruches. Hat es einen Sinn, wenn der Skeptiker die Richtig-
keit des Satzes bezweifelt, oder wenn der Theologe sich die Frage vorlegt,
ob nicht Gott, der doch allmächtig sei, das Gewesene zum Nicht-
gewesenen machen könne.? Es hat keinen Sinn, denn die Fragestellung
behandelt das Urteil facta infecta fieri non possunt fälschlich als eine
Erkenntnis, als etwas Neues gegenüber dem Urteil ,, facta sunt" und fragt,
ob das erste falsch sein könne, wenn das zweite wahr ist. Tatsächlich
sagen aber beide Urteile genau dasselbe, sie sind dem Sinne nach identisch,
nur in der Form verschieden. Durch bloße Analyse des Wortes ,, geschehen"
kann das eine in das andere übergeführt werden. . . . Ich gewinne bei
dem Übergang vom zweiten zum ersten nicht eine ontologische Wahrheit,
nicht eine neue Wirklichkeitserkenntnis, sondern ich stelle nur die Bedeu-
tung heraus, die dem Worte ,, geschehen" zukommt. Es ist genau, als
ob ich fragen wollte: kann ein Schmerz, den ich fühle, zugleich auch kein
Schmerz sein.'' kann ein Blau, das ich sehe, zugleich auch nicht blau sein.?
In diesen Fällen wird die Sachlage leichter durchschaut, während sie im
ersten Fall durch die kompliziertere Bedeutung des Begriffes ,, geschehen"
verhüllt ist. Freilich darf ich das Blau auch als Nichtblau bezeichnen,
aber dann hat das Wort Blau eben einen anderen Sinn als vorher, oder
das Wöttchen ,, nicht" wird in einer von der.gewöhnUchen Negation ab-
weichenden Bedeutung verwendet. Wer die Begriffe ,, geschehen" und
,, ungeschehen" auf ein und dasselbe Ereignis anwenden will, ändert gleich-
falls nur den Sinn der Worte. (Wenn jedoch ein Theologe die Frage auf-
wirft, ob Gott machen könne, daß es in der Welt genau so zugeht, als ob
ein geschehenes Ereignis nicht stattgefunden hätte, so ist das etwas ganz
anderes; die Frage ist sinnvoll, und die Antwort darauf wäre ein syntheti-
sches Urteil.) Wenn jemand die beiden Urteile ,,das Ereignis A geschah"
und ,,A geschah nicht" beide wahr nennen will, so kann er das schließlich
auch, aber er versteht dann unter Wahrheit etwas anderes als Eindeutig-
keit der Bezeichnung.
Alle diese Urteile sagen nimmermehr etwas über das Verhalten der
Wirklichkeit aus, sondern sie regeln nur unsere Bezeichnung des Wirk-
lichen. Die Prinzipien der Identität, des Widerspruchs und des aus-
geschlossenen Dritten sind Sätze, die sich auf die Zuordnung der Begriffe
zur Wirklichkeit beziehen, deshalb gelten sie notwendig von der Wirk-
lichkeit. Das Principium contradictionis bedeutet, wie schon früher hervor-
gehoben (§ lO) nur die Regel für die Verwendung der Wörter ,, nicht",
Denken und Sein. 287
,,kein" usw. bei der Bezeichnung des Wirklichen (und natürlich auch
nichtwirklicher Gegenstände), mit anderen Worten: es definiert die Nega-
tion.. Was ihm widerspricht, heißt undenkbar, und das Undenkbare ist
dann in der Tat schlechthin und absolut unmöglich. Aber darin liegt
keinerlei Vergewaltigung der Wirklichkeit durch das Denken, denn die
Unmöglichkeit bedeutet kein Verhalten des Seins, sondern bezieht sich
auf seine Bezeichnung durch Begriffe und Urteile, betrifft also, wenn man
es so ausdrücken will, das Verhältnis des Denkens zum Sein.
Wer da sagt, was für das Denken unmöglich wäre, könne für die
Wirklichkeit wohl möglich sein, der verwechselt Undenkbarkeit und Un-
vorstellbarkeit, wie Spencer und Mill es taten, weil inconceivability
in der Tat beides bedeutet. Das Vorstellen, der Ablauf anschaulicher
psychischer Gebilde, ist ein realer Prozeß, Vorstellbarkeit und WirkHch-
keit fallen nicht zusammen; Denken aber heißt Zuordnen von Begriffen
zu wirklichen und anderen Gegenständen, Denkunmöglichkeit bedeutet
eine Unmöglichkeit des Vollzugs gewisser Zuordnungen, welche von nichts
anderem abhängt als von den festgesetzten Regeln der Zuordnung. Während
die Gesetze des Vorstellens Tatsachen sind, die wir durch die Erfahrung
kennen lernen, gelangen wir zu den Regeln des zuordnenden Denkens
nicht durch Erfahrung, sondern durch Festsetzung.
Die Unmöglichkeit, das Bewußtsein, die Empfindungen, die persön-
liche Existenz für unwirklich zu erklären, die Spencer für so bedeutsam
hielt, ist bloß dadurch bedingt, daß der Begriff der wirklichen Existenz
überhaupt erst von diesen Gegenständen hergeleitet wurde. Er dient zu
ihrer Bezeichnung nicht auf Grund irgendeiner Erkenntnis, sondern kraft
seiner von uns für das Wort ,, wirklich" geschaffenen Bedeutung. Es ist
der alte cartesianische Irrtum (siehe oben § 11), jene Existentialsätze als
Erkenntnisse aufzufassen. In Wahrheit sind sie analytische Urteile ein-
fachster Form, d. h. verkappte Definitionen.
Ich denke, es ist klar geworden, warum analytische Urteile und mit
ihnen die Sätze der reinen Logik mit unanfechtbarer Sicherheit von den
wirklichen Dingen gelten müssen. Dieser Umstand ist nicht wunderbar
und nicht philosophisch bedeutungsvoll. Fragestellungen, die ihn proble-
matisch erscheinen lassen, sind abzulehnen. Ich halte es deshalb für irre-
führend, von der Möglichkeit nichtaristotelischer Logiken zu sprechen, die
sich zu unserer gewöhnlichen Logik des analytischen, deduktiven Schließens
verhalten sollen wie die nichteuklidische Geometrie zur euklidischen. Nur
scheinbar, nur in der wörtlichen FormuHerung würden sich solche neuen
logischen Systeme von unserem aristotelischen unterscheiden. Wohl kann
ich mir ein System logischer Axiome aufgestellt denken, in welchem bei-
spielsweise die Prinzipien des Widerspruchs und des ausgeschlossenen
Dritten keine Stelle haben. In dieser neuen Logik würde es Urteile geben,
die weder wahr noch falsch, und solche, die wahr und falsch zugleich sind;
aber bei näherer Prüfung ihrer scheinbar so fremdartigen Sätze würde
sich herausstellen, daß sie nur eine Bedeutungsverschiebung der bekannten
288 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis.
logischen Termini bedeutet und leistet. Die Worte wahr, falsch, nicht,
alle, keine usw. würden nicht mehr ihren alten Sinn haben. Man würde
aber Wortkombinationen finden können, denen nunmehr dieselbe Be-
deutung zukommt, welche vordem jene gebräuchlichen Termini besaßen.
Führen wir die letzteren wieder ein, so sind wir zur alten Logik zurück-
gelangt und erkennen die neue als die nur äußerlich in ein anderes Gewand
gehüllte aristotelische wieder. Der Grund liegt darin, daß die Logik,
wenn man von ihrer zufälligen Einkleidung in Worte, Vorstellungen und
Denkakte, kurz, in das Psychologische absieht, weiter gar nichts ent-
hält, als was zur eindeutigen Bezeichnung der Gegenstände gehört, oder,
wenn man es so ausdrücken will, zur Bestimmung der Gegenstände.
Da die verschiedenen logischen Systeme, so sehr sie scheinbar voneinander
abweichen mögen, doch immer diesen selben Sinn haben und nichts anderes
leisten können als Bestimmung und Zuordnung, so sind sie in Wahrheit
miteinander identisch und unterscheiden sich nur durch die sprachliche
oder psychologische Form.
Ein moderner Autor, Edgar Zilsel, der die Idee nichtaristoteli-
scher Logiken verfolgt, schreibt (S. 150 seines Buches ,,Das Anwen-
dungsproblem", 1916): ,,Das Rationale ist die allerreinste, über allen
Logiken stehende Form, das was ihnen allen gemeinsam ist, ihre Konse-
quenz in sich, der Umstand, daß alle ihre Sätze sowohl in bezug auf Funda-
ment als auch auf Ableitungsart durch Axiome bestimmt sind, d. h.
das einzige Rationale ist die Bestimmtheit, die Präzision selbst". Ich
kann mich mit diesen Ausführungen vollkommen einverstanden erklären,
glaube aber im Gegensatz zu ihrem Verfasser, daß die Regeln unserer
formalen Logik bereits das allen ,, Logiken" Gemeinsame rein darstellen,
sobald man nur von den erwähnten äußeren Einkleidungen absieht, und
daß sie gar nichts anderes angeben als die Regeln der ,, Bestimmung"
überhaupt. Deshalb erscheint es mir nicht erlaubt, das Wort Logik im
Pluralis zu gebrauchen, denn was die verschiedenen ,, Logiken" unter-
schiede, wäre gar nichts Logisches, sondern nur etwas Psychologisches oder
gar nur Sprachliches.
Die skeptische Idee von der Möglichkeit verschiedener logischer
Systeme kann uns also nicht hindern, dem Logischen, d. h. den Regeln
der Analyse, schlechthin absolute Gültigkeit für die wirklichen Dinge zu-
zuschreiben.
Der gesamte Zweite Teil unserer Untersuchungen war dem Nachweis
gewidmet, daß alles deduktive Denken analytischer Natur ist und auf
uneingeschränkte Gültigkeit Anspruch machen darf. Von jeher hat es
das Staunen des grübelnden Menschen erregt, daß unser Denken mit
seinen verwickelten und umfangreichen Deduktionen in den Lauf der Natur
einzudringen vermag, so daß unsere kühnen und weitreichenden Folge-
rungen durch die Geschehnisse genau und überraschend bestätigt werden.
Man denke etwa an die Vorhersagungen der Astronomie, die sich über
Denken und Sein. ' 289
Jahrhunderte erstrecken und doch mit Sekundengenauigkeit eintreffen.
Wenn irgendwo, so scheint es hier berechtigt, von einer prästabiHerten
Harmonie des Denkens und Seins zu sprechen oder zu schheßen, daß
unser Verstand der Natur Gesetze diktiere.
Das Erstaunen über diesen Sachverhalt ist jedoch nur zum Teil
gerechtfertigt. Man muß hier wohl unterscheiden. Wenn ich sage: die
Deduktion besitze absolute Gültigkeit für die realen Dinge, weil sie ein
analytisches Verfahren ist, so heißt das natürlich nur: wenn die Prämissen
mit der Wirklichkeit übereinstimmen, so stimmt ganz sicherlich auch der
Schluß, das Resultat der Analyse, restlos mit dem realen Verhalten der
Dinge überein. Wie wir in den Besitz von Prämissen kommen, welche
die Tatsachen der Außenwelt absolut eindeutig bezeichnen, das ist aller-
dings höchst staunenswert und gibt Anlaß zu den Problemen, denen wir
uns sogleich zuwenden müssen; ist es doch von vornherein zweifelhaft,
ob wir dergleichen gültige Sätze überhaupt wirkHch besitzen. Aber wer
an der Gültigkeit der Prämissen nicht zweifelt, der darf sich auch über
das Zutreffen des Ergebnisses nicht wundern und mag die Deduktion,
die zwischen beiden liegt, noch so lang und kompliziert sein. Denn das
Resultat sagt eben nichts Neues und nichts anderes, als was die Prämissen
bereits enthielten, nur in formaler Umgestaltung. Hält z. B. jemand es
für ausgemacht, daß die uns bekannten Gesetze der Gravitation das Ver-
halten der Himmelskörper richtig beschreiben, so muß es sich für ihn
auch von selbst verstehen, daß unsere auf jene Gesetze gegründeten
korrekten Rechnungen durch die Beobachtung bestätigt werden. Denn
die speziellen Fälle, die der Beobachtung unterhegen, sind analytisch in
den allgemeinen Gesetzen enthalten, diese sind nur ein abkürzender Aus-
druck für die Gesamtheit jener.
Daß diese Sachlage oft nicht richtig aufgefaßt wurde, daß das philo-
sophische Thauma sich sozusagen auf den verkehrten Punkt richtete, hat
seinen Grund darin, daß das Resultat einer Deduktion nicht mehr die
Prämissen erkennen läßt, von denen sie ausging. Deduktionen entstehen
durch Zusammensetzung von Urteilen, Urteile sind Zeichen für Tatsachen,
für Beziehungen zwischen Gegenständen. Solche Beziehungszeichen haben
die Eigentümlichkeit, daß bei ihrer Kombination ein Resultat entsteht,
das immer einfacher ist als die Gesamtheit der zusammengesetzten Zeichen.
Es ist also anders als bei den Begriffen, den Sach- oder Dingzeichen:
aus deren Zusammensetzung gehen immer komphziertere Gebilde hervor,
niemals so einfache wie die kombinierten Elemente für sich selbst: sehr
viele Buchstaben können nie ein einfaches Wort ergeben, viele gleich-
zeitige Empfindungen niemals eine ganz einfache Wahrnehmung. Kom-
bination von Urteilen dagegen führt stets zu Vereinfachung, weil die ge-
meinsamen Elemente herausfallen; Urteile sind ja nur dann kombinierbar,
zur Deduktion verwendbar, wenn sie gemeinsame Mittelbegriffe enthalten,
und diese werden durch den Prozeß des Schließens eliminiert. So kann
man aus zahlreichen Prämissen einen Schlußsatz ableiten, verwickelte
Schlick, Erkenntnislehre. I9
2go Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis.
Rechenoperationen können zu einer einfachen Formel führen. An den
algebraischen Verfahrungsweisen, die ja nur abkürzende Symbole für ge-
wisse syllogistische Prozesse sind (vgl. oben S. 87), tritt das überhaupt
am deutlichsten hervor. Die gesamte mathematische Analyse ist im
Grunde nichts anderes als eine Zusammensetzung von Gleichungen, bei
welcher gewisse gemeinsame Teile sich fortheben, so daß neue einfache
Resultate sich ergeben, die implicite in den anfänglichen Prämissen voll-
ständig enthalten sind. Aber eben nur implicite, und deshalb kann der
Schein entstehen, als bedürfe es einer besonderen Brücke zwischen jenen
und diesen, die vielleicht in den Gedanken vorhanden sein, in der Außen-
welt aber fehlen könne, als brauchte mithin das deduktiv gewonnene
Resultat möglicherweise nicht mit der Welt der wirklichen Tatsachen
zusammenzutreffen.
Wären aber in den Schlüssen, zu denen unser Denken gelangt, die
einzelnen Urteile, durch deren Verknüpfung sie entstanden, noch so deut-
lich erkennbar wie die Buchstaben in einem geschriebenen Wort, oder die
einzelnen Töne in einer Melodie, so würden wir über den fraglichen Umstand
ebensowenig erstaunen wie über die Tatsache, daß sich die Melodie durch
eine geordnete Reihe von Noten repräsentieren läßt, deren jede einen
einzelnen Ton der Melodie bedeutet. Die Problemstellung würde uns un-
gefähr so gescheit vorkommen wie die Frage, ob eine Strecke von drei
Tausendsteln Metern Länge in der Natur wirklich genau drei Millimeter
lang sein müsse. Aber durch den Vollzug unseres Denkgeschäftes erhalten
wir neue einfache Zeichen für neue Erfahrungsbeziehungen, und daß die
Erfahrung uns dann wirklich diese neuen Beziehungen zeigt, daß z. B.
eine vorhergesagte Sonnenfinsternis wirklich eintrifft, wenn die Tatsachen
und Gesetze der Natur alle richtig in Rechnung gestellt sind, das ist nicht
sonderbar, sondern ebenso selbstverständlich wie eben die Gültigkeit eines
jeden analytischen Urteils.
Voraussetzung dabei ist immer, daß die Prämissen der Deduktion
wahr sind, und darüber, daß diese Voraussetzung tatsächHch so oft er-
füllt ist, darf man sich, wie gesagt, mit Recht wundern. Wie ist es mög-
lich, durch unsere Urteile die realen Tatsachen wirklich streng eindeutig
zu bezeichnen.? Woher wissen wir z. B., daß die Gesetze der Himmels-
mechanik, auf die unsere Voraussagung einer Sonnenfinsternis sich gründet,
so allgemein gelten, daß sie den Lauf der Planeten nach hundert Jahren
ebenso richtig darstellen wie heute.?' Mit anderen Worten: wie steht es
um die Gültigkeit der synthetischen Urteile.? Denn synthetisch sind die
Urteile, welche von der Wirklichkeit nicht bloß gelten, sondern auch eine
Wirklichkeitserkenntnis aussprechen. Und weil sie synthetisch sind,
versteht sich ihre Gültigkeit nicht von selbst.
36. Erkennen und Sein.
Synthetisch nannten wir mit Kant solche Urteile, die von einem
Gegenstande etwas aussagen, was noch nicht im Begriff des Gegenstandes
Erkennen und Sein. 291
liegt. In ihnen ist die Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat nicht
durch Definition gegeben, sondern durch Erkenntnis gestiftet. Wollen
wir also die Frage nach der Gültigkeit solcher Urteile entscheiden, so
können wir das nur auf Grund unserer Einsichten in das Wesen des Er-
kenntnisaktes. Wir müssen zurückgreifen auf die Ergebnisse des Ersten
Teiles; in ihm finden wir nicht nur das Material, das zur Lösung unserer
Frage nötig ist, sondern das Problem selbst erhob dort schon mehrfach
fragend sein Haupt, wir mußten aber die Antwort zurückschieben, so sehr
uns auch die Frage schon damals beunruhigte. Wir empfanden sie als
quälend, weil sich kein Weg zeigen wollte, zu zweifelsfrei exakter Wirk-
lichkeitserkenntnis zu gelangen. Jetzt ist es an der Zeit, alle Möghch-
keiten eines solchen Weges systematisch zu prüfen, denn es könnte sein,
daß es doch einen Zugang gäbe zu dem gewiß aufs innigste zu erstrebenden
Ziel absolut gültiger Realwahrheiten, und daß er nur auf dem bisher
durchlaufenen Pfade unserer Untersuchung nicht sichtbar wurde.
Wir schreiten also die Grenze zwischen Erkennen und Sein ab, um
zu schauen, ob sich dort nirgends eine Pforte zu der ersehnten Strenge
des Urteilens über Wirkliches auftun will. Vor allem müssen wir dabei
diejenigen Stellen genau in Augenschein nehmen, an welchen hervor-
ragende Denker eine solche Pforte glaubten öffnen zu können.
Wirklich sind unsere Erlebnisse und was mit ihnen nach bestimmten
Regeln zusammenhängt (oben, III A, haben wir diese Regeln aufgesucht).
Erkennen der Wirklichkeit bedeutet, einen realen Gegenstand in einem
andern wiederfinden und geht letzten Endes immer auf ein Wiedererkennen
zurück, auf eine Identifizierung anschaulicher oder unanschaulicher Be-
wußtseinsinhalte. Und dieser Akt des Vergleichens und Gleichfindens ist, '
so fanden wir, wegen der Flüchtigkeit aller Erlebnisse stets mit einer
Unsicherheit behaftet, die für die Praxis der Wissenschaft und des Lebens
ungefährhch und bedeutungslos sein mag, prinzipiell aber immer vor-
handen ist und absoluter Unfehlbarkeit im Wege steht. Wir wissen nie
absolut gewiß, ob wir nicht einem witkhchen Gegenstand einen Begriff
fälschlich zuordnen, ob nicht seine Merkmale tatsächlich etwas von denen
abweichen, die den gewählten Begriff konstituieren. Das einzige Mittel
zur Erzeugung völlig exakter Begriffe fanden wir daher darin, sie vom
Wirkhchen gänzlich loszulösen. Das geschah durch die implizite Definition,
welche Begriffe nur durch Begriffe definiert, nicht durch anschauliche
Gegebenheiten, nicht durch Bezug auf Wirkliches (vgl. oben § 7).
Gibt es keine Möglichkeit, mit Sicherheit vom einen zum anderen zu
gelangen, eine Brücke zu schlagen zwischen dem Reich der Wirklichkeit
und dem Reich der strengen Begriffe.-*
Gesetzt, es wäre eine sichere Verbindung gefunden, so hätten wir
damit zunächst doch nur einen sehr bescheidenen Vorteil für die Wirk-
lichkeitserkenntnis erreicht. Denn der Verlauf unserer Erlebnisse ist ein
zeitlicher; und wenn ich jetzt einen wirklichen Gegenstand wahrnehme,
so mag ich zwar vielleicht sicher sein, daß er unter den Begriff A fällt
19*
292 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis.
und sich zudem durch den Begriff B bezeichnen läßt, so daß ich auf Grund
meiner Wahrnehmung das synthetische Urteil A ist B aussprechen kaiin:
aber dies Urteil hat dann zunächst nur Gültigkeit für den Moment der
Beobachtung, es ist ein Augenblickssatz, mit dem ich weiter nichts an-
fangen kann und der mich in den Zwecken, um deren willen ich Wirklich-
keitsurteile fälle, gar nicht fördert. Denn wenn ich dem Gegenstande A
ein anderes Mal begegne, woher weiß ich dann, daß er auch jetzt noch
unter den Begriff B subsumiert werden darf.? Mit anderen Worten:
woher nehme ich die Sicherheit, daß ich den Satz A ist B, nachdem
ich ihn einmal gefunden habe, hinfort als gültige Prämisse künftiger
Schlüsse voraussetzen kann.?
Wie weiß ich, daß der Komet, dessen Wiederkehr für einen bestimmten
Zeitpunkt ich vorausberechne, sich ohne Abweichung und Unterbrechung
denselben Bewegungsgesetzen fügen wird, die seine Bahn bei allen bis-
herigen Beobachtungen regelten.? Warum vertraust du, daß das Wasser
eines Quells, das du auf heißer Wanderung in deinen Becher sprudeln
läßt, deinen Durst löschen wird.? Könnte es dich nicht ebensogut ver-
giften und doch alle übrigen Eigenschaften unverändert bewahren, die
sonst allem Wasser eigentümlich sind.? Ist es mit absoluter Sicherheit aus-
geschlossen, daß etwa dein Hund, der Tag für Tag treu zu deinen Füßen
liegt und nicht duldet, daß ein Fremder dir zu nahe kommt, daß dieser
selbe Hund plötzlich aufspringt und über dich herfällt, um dich zu
zerreißen?
An solchen Beispielen wird klar, daß wir in jedem Augenblick unseres
Lebens zahllose Urteile als wahr voraussetzen müssen, um nur handeln
zu können, ja, um überhaupt nur zu existieren. Sind sie wirklich über
allen Zweifel erhaben.?
Nun, sie sind in der Tat nicht schlechthin gewiß. Ein synthetisches
Urteil, das irgendeinem wirklichen Dinge eine bestimmte Eigenschaft zu-
schreibt, also einen realen Zusammenhang von Merkmalen behauptet, hat
niemals den Charakter einer allgemeingültigen Wahrheit. Es ist heutzu-
tage nicht nötig, einen ausführlichen Beweis für diesen Satz anzutreten,
denn er wird nicht mehr ernstlich bestritten. So unstetig und krumm-
linig die Entwicklung der Philosophie auch sein mag — der extreme
Rationalismus kann in unseren Tagen doch für endgültig überwunden
gelten, kein philosophisches System darf sich mehr anmaßen, es könne
etwa über die Zahl der Planeten oder über besondere Eigenschaften eines
chemischen Elementes mit apodiktischer Gewißheit, nämlich aus bloßer
Vernunft, Auskunft geben. Zu einer solchen Verwechslung von Denken,
Erkennen und Sein, durch die jener Rationalismus möglich wird, kann
die Philosophie nimmermehr zurückkehren. Nur in einer Form ist die
Behauptung apodiktischer Wirklichkeitserkenntnis noch diskutierbar, näm-
lich in der von Kant gefundenen.
Er suchte, wie bekannt, rationalistischen Gedanken einen bescheidenen
Platz zu retten, indem er folgende Erwägung anstellte.
Erkennen und Sein. 293
Wenn die Erkenntnis, so meinte er mit Recht, sich nach der Wirk-
lichkeit richten soll, so kann sie unmöglich absolut gültig sein. Denn
wenn ich irgendeinen Satz aufstelle, so kann künftige Erfahrung ihn stets
Lügen strafen, weil meine Erkenntnis sich ja nur nach Erfahrungen richten
kann, die ich tatsächlich gemacht habe, nicht aber nach entlegenen und
künftigen, von denen ich bei der Aufstellung des Satzes noch nichts wußte.
Meine Wahrheiten können vielmehr nur dann allgemeingültig sein, nur
dann auch für noch nicht erlebte Wirklichkeiten gelten, wenn die Wirk-
lichkeit sich irgendwie nach meiner Erkenntnis richtet. Ist dergleichen
möglich, so wäre es sicherlich der einzige Weg zur Rettung streng' gültiger
Wirkhchkeitserkenntnis (wie auch schon oben, S. 147 f., hervorgehoben),
und deshalb brauchen wir überhaupt nur diesen einen Weg zu prüfen,
um zur endgültigen Entscheidung unserer Frage zu gelangen.
Kant sieht in jenem Weg nicht nur eine Möglichkeit, sondern be-
trachtet ihn als tatsächlich vorhanden. Die Gesetze, denen die Objekte
der Erfahrung gehorchen, sind nach seiner Meinung zugleich die Gesetze,
nach denen die Erfahrung selber als Erkenntnisprozeß stattfindet; und so
erkläre es sich, daß mit Sicherheit Wirklichkeitsurteile gefällt werden
können, die durch alle künftige Erfahrung bestätigt werden müssen, also
synthetische Urteile a priori. Denn dadurch, daß etwas mir in der Er-
fahrung gegeben wird, ist es eben den Gesetzen der Erfahrung unterstellt.
Hierbei bedeutet ,, Erfahrung" nichts anderes als auf Wahrnehmung ge-
gründete Erkenntnis. In dieser Bedeutung hatte Kant das Wort ,,ex-
perience" bei Hume vorgefunden, bei dem es auch nicht etwa den Sinn
des bloßen Wahrnehmens hat. Das stimmt mit dem Gebrauch des Wortes
in der Umgangssprache aufs beste überein, denn damit wir von einem
Menschen sagen ,,er besitzt Erfahrung", genügt es nicht, daß er viel ge-
sehen habe, sondern er muß das Wahrgenommene zu verwerten wissen.
Ein Unterschied liegt nur darin, daß Kant unter Erkenntnis allein die
exakte, absolut gültige Erkenntnis verstanden wissen will.
Den dargestellten Grundgedanken hat Kant nun in zwiefacher Weise
entwickelt.
Mit seiner Hilfe hat er erstlich versucht, die Verschwommenheit
und Unscharfe alles Anschaulichen zu überwinden, die der Strenge des
Erkennens so gefährlich wird. Unser sinnliches Anschauen, so flüchtig es
sein mag, steht unter strengen Gesetzen; und diese Gesetzlichkeit, die
sich offenbart, wenn wir von allem Empfindungsmäßigen darin abstrahieren,
wird von Kant als reine Anschauung bezeichnet. Nach Fortlassung
des Empfindungsinhaltes bleiben aber die Formen des Anschauens übrig,
nämlich Raum und Zeit. Das ist die Lehre von den apriorischen Anschau-
ungsformen, welche nach Kant die reine Mathematik ermöglichen, d. h.
die apodiktische Geltung der mathematischen Urteile erklärea sollen. Die
Geometrie z. B. ist danach nichts anderes als die Wissenschaft von der
räumlichen Anschauungsform, und ihre Sätze gelten deshalb absolut streng,
weil wir räumliche Wahrnehmungen und Vorstellungen natürhch nicht im
294 ^^^ Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis.
Bewußtsein haben können, ohne daß ihnen jene Form durch die Beschaffen-
heit unseres Bewußtseins aufgeprägt wird.
Zweitens will Kant dasselbe Prinzip auch für diejenigen syntheti-
schen Urteile nutzbar machen, die sich weitergehend auf das Wirkliche
in Raum und Zeit beziehen, nicht bloß auf die räumlichen und zeitlichen
Formen. Auch unter diesen Urteilen sind nach seiner Meinung solche von
apodiktischer Geltung, und ihre Möglichkeit wird erklärt durch eine Über-
tragung jenes Grundgedankens vom Anschauen auf das Denken. Wie
unser Anschauen an bestimmte Formen gebunden ist, so sollen nämlich
unserem Bewußtsein auch gewisse Stammbegriffe (,, Kategorien") unver-
äußerlich eigentümlich sein, auf die das Denken in allen seinen Funktionen
angewiesen ist. Und die Urteile, in denen jene Begriffe sich entfalten,
müssen notwendig von der Wirklichkeit gelten, weil unser Bewußtsein
das Wirkliche eben nicht anders als in diesen Kategorien denken kann.
Realität ist selbst eine Kategorie; wirklich ist für uns nur, was wir unter
dieser Kategorie denken müssen. So richtet sich das Wirkliche — d. h.
das, was wir als wirklich erfahren — nach unserem Denken; wir können
von ihm gewisse allgemeine Sätze (Kant nennt sie Sätze der ,, reinen
Naturwissenschaft") a priori aussprechen, deren objektive Gültigkeit auf
die angedeutete Weise verständlich gemacht wird.
Man hat den eben entwickelten Gedanken im Anschluß an eine Be-
merkung von Kant selbst mit der Tat des Kopeknikus verglichen. Denn
wie dieser entgegen dem Sinnenschein die Erde um die Sonne laufen ließ,
so behauptet der kritische Philosoph entgegen der geläufigen Meinung,
daß die Gegenstände sich nach der Erkenntnis richten, nicht aber um-
gekehrt. Wir müssen beide Ausprägungen des Grundgedankens einzeln
untersuchen, um Kant's Antwort auf die große Erkenntnisfrage beurteilen
zu können; und das soll in den folgenden Paragraphen geschehen. Vorerst
aber ist es notwendig, einige wesentliche Seiten dieses Lösungsversuches
besonders zu beleuchten.
Zunächst ist klar, daß die KANT'sche Lösung, wäre sie richtig, doch
keinen großen Triumph des Rationalismus bedeuten würde. Denn die
Erkenntnisse, die uns nach dieser Lehre noch a priori möglich sein sollen,
sind für den Einzelfall in der Forschung und im Leben ohne konkrete,
materiale Bedeutung. Es sind ganz allgemeine Sätze, welche nur die
Form bestimmen, in der nach Kani' alle unsere Erfahrung auftreten muß.
Zum Beispiel: Wir würden zwar mit apodiktischer Gewißheit von jedem
einzelnen wirklichen Ereignis behaupten können, daß es eine Ursache habe,
aber in keinem Falle vermögen wir a priori zu entscheiden, welches
denn nun die Ursache ist, die zu jenem Ereignis gehört, und wären nie
sicher, die richtige gefunden zu haben. Ferner: Wir wüßten zwar genau,
daß allem Wechsel in der Natur etwas Beharrliches (eine ,, Substanz")
zugrunde liegen muß, aber man darf nicht glauben, daß dadurch nun etwa
die naturwissenschaftlichen Sätze von der Erhaltung der Energie oder der
Erkennen und Sein. 295
Masse zum Range schlechthin gültiger Wahrheiten erhoben würden. Es
könnte ganz wohl sein, daß spätere Erfahrungen den Satz von der Er-
haltung der Energie oder der Masse als unrichtig erwiesen, ohne daß
damit der Kantianismus widerlegt wäre; er würde vielmehr behaupten,
daß die beobachteten Änderungen doch schließlich wieder als Modifika-
tionen eines schlechthin Beharrlichen aufzufassen seien, und daß die Wissen-
schaft eben dadurch weiter fortschreite, daß sie nach diesem BeharrHchen,
Konstanten suche. So wäre die Anwendung der Substanzkategorie nicht
verhindert, sondern nur verschoben. Wenn die Masse oder die Energie
die Bedingung der Konstanz nicht erfüllen, so muß eben ein neues Sub-
strat gefunden werden, welches der unabweislichen Denkforderung der
Beharrlichkeit Genüge leistet. Und so fort.
Man sieht, daß nach dieser Auffassung die allgemeinsten Gesetze der
Natur identisch sind mit den Regeln der Erkenntnis der Natur. Sie geben
nur ein leeres Gerüst ab, innerhalb dessen der Fortschritt der Einzelwissen-
schaften sich abspielen muß und das durch ihn ausgefüllt wird. An diesem
Fortschritt selbst sind sie nicht beteiligt. Die apriorische Erkenntnis
spielt hier also eine ganz andere Rolle als in den rationalistischen Systemen
eines Descartes oder Spinoza; sie gibt nur allgemeinste Formen, an
welche die Erkenntnisfunktionen des Bewußtseins gebunden sind. Es
ist verständlich, daß den Bewunderern der alten Metaphysik der Kantsche
Kritizismus als eiij ,, alles zermalmender" erschien.
Und nun gelten die synthetischen Sätze a priori nur für ,, Erschei-
nungen", nur für die Welt der Vorstellungen, der die Form des Anschauens
und Denkens aufgeprägt ist, die einzige uns bekannte Welt, während
die Welt der Dinge an sich für uns unerkennbar ist; wir vermögen von
ihr nichts zu wissen und anzugeben als ihre Grenze gegen die Erschei-
nungen. Diese Teilung der Welt mußte Kant vornehmen, um wenigstens
dem einen Teil eine allgemeingültige Erkenntnis zu retten. Ich glaube
oben (§ 26) gezeigt zu haben, daß die Idee dieser Trennung durch einen
verkehrten Erkenntnisbegriff verschuldet ist, und daß sie ein höchst ge-
fährliches Hindernis auf dem Wege der Philosophie bildet, welches fort-
geräumt werden muß, indem man dem Begriff der Erscheinung als un-
zweckmäßig gebildet überhaupt aufhebt. Damit ist dem KANT'schen
System eine wichtige Stütze entzogen und wir sind ihm gegenüber zu
einer sehr skeptischen und vorsichtigen Haltung genötigt. Die Prüfung
den Lehre von den synthetischen Urteilen a priori wird die Richtigkeit
dieser Haltung im einzelnen bestätigen und die Stellung genauer bezeichnen,
die wir gegenüber der von Kant geschaffenen Transzendentalphilosophie
einnehmen müssen.
Mehrmals schon war zu erwähnen, daß für Kant das tatsächliche Vor-
handensein a priori gültiger Wirklichkeitserkenntnis feststand. Nach seiner
Meinung wird es durch das bloße Faktum der exakten Wissenschaften
zweifelsfrei bewiesen. Man hat oft bestritten, daß Kant diese Voraussetzung
wirkhch gemacht habe, aber, wie ich glaube, mit Unrecht. Denn die Stellen,
296 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis.
an denen er sich in dieser Weise ausspricht, sind so klar und zahlreich, die
einer entgegengesetzten Auslegung fähigen Stellen aber so vereinzelt und
mehrdeutig, daß es mir unmöglich ist, den modernen Kantianern in diesem
Punkte beizustimmen, obgleich viele der scharfsinnigsten Kenner seiner
Philosophie sich für jene Interpretation erklärt haben (besonders A. Riehl
ist mit großer Energie für sie eingetreten). Man hat gesagt, Kant weise
auf das faktische Gelten synthetischer Urteile a priori nur als Beispiel
hin, benutze es jedoch nicht zu weiteren Schlüssen. Dem steht aber
entgegen, daß Kant an den zahlreichen Stellen, an welchen er die Ver-
suche einer empirischen Begründung der obersten Grundsätze ablehnt,
das stets durch die Bemerkung tut, auf diese Weise könne die zweifellos
bestehende Allgemeingültigkeit jener Sätze nicht erklärt werden. So sagt
er gegen Locke und Hume (Kritik der r. Vernunft, Kehrbach S. in):
,,Die empirische Ableitung aber, worauf beide verfielen, läßt sich mit der
Wirklichkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis a priori, die wir haben,
nämlich der reinen Mathematik und allgemeinen Naturwissenschaft, nicht
vereinigen und wird also durch das Faktum widerlegt." Man kann aber
ein Faktum nur dann zu einer Widerlegung benutzen, wenn man an seinem
Bestehen nicht zweifelt; hier wie in allen ähnlichen Beweisführungen setzt
Kant also voraus, daß wir im Besitze gültiger Urteile a priori sind.
Manche sagen, er habe die Geltung jener Urteile erst bewiesen, hätte
er sie vorausgesetzt, so wäre das ein Zirkelschluß, den man ihm nicht
zutrauen dürfe. Aber es kam ihm nur darauf an, ihre Möglichkeit zu
beweisen; seine Fragestellung lautete: Hier sind synthetische Erkenntnisse,
die von den Erfahrungsgegenständen a priori gültig sind — wie kann ich
das erklären.'' wie muß das erkennende Bewußtsein beschaffen sein, um
diesen Tatbestand verständlich zu machen.? Kant setzt also die Wissen-
schaft als Faktum voraus und sein Ziel ist nur, daraus auf die Natur ihres
Schöpfers, des menschlichen Verstandes, zu schließen. (Daß es sich für
ihn nur um den menschlichen Verstand handelt, daß er nicht den
Anspruch erhebt, die Beschaffenheit eines Verstandes überhaupt zu er-
gründen, hat Kant mehrfach ausgesprochen — z. B. Kehrbach S. 61, 66,
663 f. Gegen die Ansicht mancher Kantianer ist es nötig, dies zu betonen.)
Er stützt die ,, transzendentale Deduktion", welche die objektive Gültigkeit
jener Urteile erklären soll, auf den Begriff der Erfahrung; dieser Begriff
der empirischen Erkenntnis wird aber von ihm definitionsweise so gewandt,
daß er implizite synthetische Urteile a priori einschließt: indem er voraus-
setzt, daß wir Erfahrung tatsächhch besitzen, setzt er die Geltung jener
Urteile voraus.
Wir brauchen den Zusammenhang der KANT'schen Gedanken hier
nicht weiter zu verfolgen; die dunkeln Ecken seines Systems werden sonst
schon oft genug immer aufs neue durchforscht. Wir mußten bis hierher
vordringen, damit die Voraussetzung klar werde, auf welcher sein Ver-
such ruht, die Natur der Herrschaft allgemeingültigen Denkens zu unter-
werfen, und damit wir uns nun ungestört der Prüfung dieser Voraussetzung
Gibt es eine reine Anschauung ? 297
zuwenden können. Fällt sie, dann wissen wir jetzt, daß der KANx'sche
Versuch mißglückt ist; dann ist es seinem imposanten Aufgebot von Scharf-
sinn in der transzendentalen Ästhetik und Logik nicht gelungen, der
apriorischen Erkenntnis ein letztes Plätzchen zu sichern, das zwar im
Vergleich mit den Ansprüchen der alten Metaphysik nur ein recht be-
schtidener, aber doch sehr vornehmer Ruhesitz sein sollte.
37. Gibt es eine reine Anschauung?
Die Mathematik ist es, auf welche Kant und seine Anhänger in
erster Linie hinweisen, wenn sie das Vorkommen synthetischer Urteile
a priori behaupten. Über die mathematischen Urteile haben wir aber
bereits durch Untersuchungen früherer Paragraphen weitgehende Klarheit
gewonnen. Es konnte nicht bezweifelt werden, daß in ihnen streng gültige
Wahrheit enthalten ist und daß sie also insofern a priori sind. Im § 7
hatte sich jedoch gezeigt, daß die absolute Exaktheit der Mathematik
zunächst nur so weit für gesichert gelten darf, als sie eine Wissenschaft
von bloßen Begriffen darstellt. Es ist möglich — so wurde am Beispiel
der Geometrie ausgeführt — , von jedem anschaulichen Inhalt der mathe-
matischen Begriffe abzusehen, indem man sie durch implizite Defini-
tionen definiert; und die neuere Mathematik erkannte diese Art der Ein-
führung und Bestimmung der Grundbegriffe nicht nur als möglich, sondern
sah sich gezwungen, diesen Weg einzuschlagen, eben weil sie auf keine
andere Weise vermochte, die Strenge ihrer Sätze zu sichern. Die geome-
trischen Begriffe mußten ohne Rücksicht auf den anschaulichen Inhalt
betrachtet werden, mit dem sie erfüllt werden können und gewöhnhch
erfüllt gedacht werden.
So angesehen, besteht aber die Mathematik aus reinen Begriffssätzen,
sie gibt gar keine Wirklichkeitserkenntnis, und wir haben hier nichts mehr
mit ihr zu schaffen. Alle ihre Wahrheiten folgen syllogistisch aus einem
Axiomensystem, dies Axiomensystem hat nur die Bedeutung einer Defini-
tion der Grundbegriffe, und jenes sind folglich lauter analytische Wahr-
heiten, sie entwickeln nur die Beziehungen, die durch die Definitionen
zwischen den Grundbegriffen festgelegt sind. In diesem Sinne wären hier-
nach die geometrischen Urteile natürlich a priori, aber gar nicht syn-
thetisch.
Und nun erhebt sich die schon früher aufgeworfene, aber bis hierher
zurückgestellte Frage, ob den mathematischen Sätzen eine über den Um-
kreis des rein Begrifflichen hinausgehende Bedeutung zukommt, ob sie
nämlich ihre apodiktische Geltung behalten, wenn man den Begriffen
einen anschauHchen Inhalt unterlegt. Dann würde also der Sinn der
Worte ,, Gerade", ,, Ebene" usw. nicht bloß durch imphzite Definitionen
bestimmt gedacht, sondern es wären damit eben die räumlichen Gebilde
gemeint, die wir mit jenen Worten zu bezeichnen pflegen. Die Frage lautet
also: bleibt die Geometrie auch als Wissenschaft vom Räume eme apriori-
sche Wissenschaft .-*
298 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis.
Wäre sie zu bejahen, dann müßte allgemeingültig eingesehen werden,
daß die räumlichen Gebilde untereinander gerade in denjenigen Beziehungen
stehen, welche durch die impliziten Definitionen für die geometrischen
Grundbegriffe festgelegt sind. Es wären gar keine Definitionen mehr,
sondern synthetische Sätze, weil ja der Sinn der Worte sich geändert hat;
es wären Axiome, die von anschaulichen Größen handelten, nicht «k^on
Begriffen.
Die einzelnen Lehrsätze der Geometrie würden natürlich nach wie vor
rein analytisch aus den Axiomen folgen, ihre Geltung von den räumlichen
Gebilden böte kein Problem mehr; wer sich darüber wundern wollte,
würde sich die falsche Fragestellung zu schulden kommen lassen, -die im
§ 35 abgewehrt wurde. Es war Kant's Meinung, daß die Ableitung der
geometrischen Lehrsätze aus den Axiomen mit Hilfe der Anschauung
geschehe und ohne sie nicht vollzogen werden könne. Diese Ansicht ist
zunächst zu korrigieren, denn wir lernten als ein Hauptergebnis der mo-
dernen geometrischen Forschung kennen (§ 7), daß die Beweise in
keinem Falle mehr der Anschauung bedürfen, sondern durch rein logische
Deduktion geführt werden können.
Aber alle diese Korrektur, wenn auch methodisch wichtig, läßt doch
den Hauptpunkt unberührt: sowie nur die Axiome synthetische Urteile
a priori sind, darf auch jeder beliebige Lehrsatz, trotz seiner analytischen
Herleitung aus jenen, als synthetisch betrachtet werden, eben weil er
dasselbe sagt, wie die Axiome, weil ihr Inhalt analytisch in ihm enthalten
ist, weil er voraussetzt, daß die Gegenstände, von denen er handelt, genau
die in den Axiomen festgelegten Eigenschaften besitzen.
Nach Kant wären nun in der Tat die Aussagen, welche die Geometrie
als Wissenschaft vom Räume macht, von apodiktischer Geltung, also
a priori, und sie wären Wirklichkeitsurteile, weil der Raum, wenn auch
natürlich nicht selbst ein reales Ding, doch eben die Form sein soll, in
der die sinnliche Wirklichkeit uns stets gegeben ist. Er ist die Form
unseres Anschauens, dessen Gesetzmäßigkeit als reine Anschauung wir
durch die geometrische Wissenschaft erkennen. Es muß natürlich eine
ganz bestimmte Gesetzmäßigkeit sein, die durch ein ganz bestimmtes
geometrisches System, z. B. das Euklidische, ausdrückbar ist, denn nur
wenn sie ein für allemal als gesetzliche Form des sinnlichen Bewußtseins
festliegt, kann sie der Erfahrungswelt ihre Gestalt a priori vorschreiben.
Viele Jahrhunderte lang ist man der Meinung gawesen, daß die
Euklidische in der Tat die Geometrie des Raumes darstelle; Jahrhunderte
lang ist man nicht auf den Gedanken gekommen, die Eigenschaften des
Raumes möchten sich durch andere als die euklidischen Axiome be-
schreiben lassen, und man hat sie gewiß auch für streng gültig gehalten.
Das scheint für die Richtigkeit der KANi'schen Ansicht zu sprechen und
zugleich dafür, daß die von ihm angenommene reine Anschauung euklidi-
schen Charakter trägt. Dies ist auch tatsächlich die. gewöhnliche Meinung
der heutigen Kantianer. Sie geben natürhch zu, daß andere Geometrien
Gibt es eine reine Anschauung? 299
als die euklidische denkbar sind, sie glauben aber, daß allein die letztere
anschaulich vorstellbar sei, die physischen Objekte müßten uns daher
notwendig im euklidischen Raum erscheinen. Aber auch wenn jemand
behauptete, die Gesetzlichkeit unserer Anschauung sei eine nichteuklidi-
sche, könnte er doch im übrigen den KANT'schen Standpunkt vollkommen
aufrecht erhalten. Allerdings ist eine solche Behauptung meines Wissens
niemals aufgestellt worden. Wohl aber wurde die Meinung vertreten
(von V. Henry, Das erkenntnistheoretische Raumproblem, Berlin 19 15),
daß zwar irgendeine bestimmte Geometrie notwendig die allein für den
Anschauungsraum gültige sein muß, daß wir aber niemals entscheiden
können, welche es ist; das könne die Wissenschaft nur mit immer
größerer Annäherung ermitteln, ohne jemals die Gültigkeit der Axiome
mit apodiktischer Gewißheit feststellen zu können. Die synthetischen Ur-
teile a priori der Geometrie trügen daher schließlich für uns nur problema-
tischen Charakter. Das Unbefriedigende dieser Ansicht liegt auf der Hand;
sie raubt der geometrischen Theorie fast jeden Halt.
Ferner scheint aber zugunsten der Kantianer die unbezweifelbare Tat-
sache zu sprechen, daß die sinnliche Erfahrung uns niemals zwingen
kann, eine bestimmte Geometrie bei der Naturbeschreibung zugrunde zu
legen. Die Erfahrung kann nie eine bestimmte Geometrie als die im
empirischen Räume allein gültige erweisen — und zwar nicht etwa nur
in dem Sinne, daß wegen der Undeutlichkeit aller Wahrnehmung kleine
Abweichungen von der euklidischen Geometrie doch stets möglich blieben,
sondern in dem Sinne, daß die Erfahrungstatsachen mit jeder beliebigen
Geometrie ohne Ausnahme vollkommen in Einklang gebracht werden
können, wenn man nur zugleich die Naturgesetze in einer passenden
Formulierung ausspricht. Auf diese Tatsache der eigentümlichen Un-
abhängigkeit der Geometrie von der Erfahrung hat besonders H. PoiN-
CARE (vor allem in ,,La science et l'hypothese" und in ,,science et
methode") aufmerksam gemacht; ich habe sie andernorts (Raum und
Zeit in der gegenwärtigen Physik, Berlin 19 17) ausführlich dargestellt
und darf daher hier auf eine Wiederholung der Begründung verzichten.
Wenn demnach die Erfahrung von sich aus nicht eindeutig darüber ent-
scheiden kann, welche Geometrie als für unseren Raum gültig angenommen
werden muß, so scheint dies die KANT'sche Meinung zu begünstigen, daß
der Charakter des Raumes eben unabhängig von der Erfahrung durch die
Form der Anschauung bestimmt werde.
Die empirische, sinnliche Anschauung ist nicht imstande, uns die
Geltung der Axiome zu beweisen. Wir glauben zwar unmittelbar zu
sehen, daß es durch einen Punkt außerhalb einer Geraden nur eine Parallele
zu ihr gibt, aber wenn nun eine dritte Gerade gezogen würde, die mit
der zweiten einen Winkel von einem Millionstel Grad bildete, so könnte
mich die empirische Anschauung sicherlich nicht darüber belehren", ob die
neue Gerade die erste wirklich niemals schneidet: aus dem einfachen
Grunde, weil ein Winkel von der erwähnten Kleinheit überhaupt nicht
300 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis.
anschaulich vorstellbar ist. Da nun aber von Euklids Zeiten bis heute die
meisten Menschen dennoch die Richtigkeit des Euklidischen Parallelen-
axioms unmittelbar einzusehen glauben, so scheint dies nur erklärlich zu
sein, wenn unser Bewußtsein tatsächlich über eine „reine" Anschauung
verfügt, welche die Sicherheit der sinnlichen Raumanschauung weit über-
trifft und dann in der Tat die Bedeutung haben könnte, welche Kant
ihr zuschreibt.
Es genügt nicht, zur Widerlegung der KANx'schen Lehre darauf hin-
zuweisen, daß heutzutage sehr viele Mathematiker das Parallelenaxiom
— um bei diesem Beispiel zu bleiben — keineswegs vollkommen einleuchtend
finden; die Heranziehung von dergleichen subjektiven Überzeugungen be-
deutet in diesen Fragen gar nichts; es wäre ein Appell an den Glauben,
der uns in die Unzulänglichkeiten der Evidenzlehre verstricken würde
(vgl. § iS).
Eher schon läßt sich auf einem anderen Wege die Existenz einer
,, reinen" Anschauung neben oder vielmehr i n der empirischen in Zweifel
ziehen. Es kommt nämlich vor, daß gewisse vermeintliche Einsichten,
die man der reinen Anschauung zuschreiben müßte, durch die mathema-
tische Analyse überhaupt als falsch erwiesen werden. Und das ist natür-
lich verhängnisvoll für die Lehre, denn eine notwendige Form des An-
schauens kann nicht trügerisch sein: es handelt sich ja gerade darum,
ihre Richtigkeit, ihre Geltung zu erklären. Solche Fälle scheinen mir in
folgenden Beispielen vorzuliegen:
Wer sich auf die Anschauung verläßt, muß sicherlich urteilen, daß
man an eine vollkommen stetige Kurve stets eine Tangente ziehen kann.
Aber das ist ein Irrtum, denn es gibt Kurven (Weierstrass hat zuerst
die Gleichung einer solchen angegeben), die völlig stetig sind und doch
in keinem Punkte eine Tangente besitzen (weil nämlich ihre Gleichung
an keiner Stelle differenzierbar ist). Hier läßt uns also die Anschauung
im Stich. — Sie scheint ferner zu lehren, daß zwei parallele Gerade nach
zwei unendlich fernen Punkten hinzielen, die vom Betrachter aus gesehen
in entgegengesetzten Richtungen liegen. Man findet diese Behauptung
z. B. bei E. v. Hartmann ausdrücklich aufgestellt (Kategorienlehre,
Ausgewählte Werke, Bd. X, 1896, S. 263. Er sagt dort von emer
Parallelen zur Abszissenachse, sie habe ,, entweder gar keinen Punkt
mit der Abszissenachse gemein, oder zwei zugleich auf den entgegen-
gesetzten Seiten . . ."). Und doch trifft sie nicht das Richtige. Denn
die Analyse lehrt, daß gerade in der Euklidischen Geometrie zwei Pa-
rallelen sich nur in einem unendHch fernen Punkte schneiden.
Dergleichen Beispiele sind, wie ich glaube, schon hinreichend, um die
Unhaltbarkeit der Lehre von der reinen Anschauung in besonderen Fällen
darzutun. Wir brauchen aber bei ihnen nicht zu verweilen und kein
Gewicht darauf zu legen, denn wir müssen die KANT'sche Ansicht noch aus
allgemeineren und ganz prinzipiellen Gründen ablehnen, die wir in früheren
Kapiteln bereits fertig entwickelt vorfinden.
Gibt es eine reine Anschauung? 301
Die Geltung der geometrischen Sätze kann nämlich einfach deshalb
nicht auf eine reine Anschauung gegründet werden, weil der Raum der
Geometrie überhaupt gar nicht anschaulich ist.
Es gibt nicht nur einen anschaulichen Raum, sondern so viele, als
wir räumliche Sinne besitzen, also einen optischen (eigentlich sogar deren
zwei, weil der Mensch ein zweiäugiges Wesen ist), einen haptischen, einen
Raum der Bewegungsempfindungen usf. Alle diese sind unter sich von
Grund aus verschieden, der Raum des Geometers dagegen ist nur einer
und er ist nicht identisch mit irgendeinem von jenen, sondern hat ganz
andere Eigenschaften als sie (vgl. oben § 28). Er ist eine begriffliche
Konstruktion und entsteht aus den räumlichen Daten der einzelnen Sinne
mit Hilfe der früher geschilderten Methode der Koinzidenzen, welche die
einzelnen Elemente der subjektiven Räume einander eindeutig zuordnet,
was dann zur Bildung des Begriffes der ,, Punkte" des objektiven Raumes
führt.
Kant redet stets von ,,dem" Raum, erklärt ihn für anschaulich und
stellt ihm nur die unbekannte Ordnung der Dinge an sich gegenüber.
Wir kennen dagegen mehrere anschauliche Räume und stellen ihr die
Ordnung der physischen Körper gegenüber, welche eben der geometrische
Raum ist. Seine Unanschaulichkeit steht außer allem Zweifel (vgl. oben
S. 223). In den anschaulichen Räumen gelten die euklidischen Axiome
nicht. Wir sahen ja früher, daß z. B. der Gesichtsraum ein RiEMANN'scher
Raum ist, und daß auch der Tast- und Muskelempfindungsraum sicherlich
nicht von vornherein als eukHdisch gelten darf (oben S. 219 ff.). Damit
ist die zu Anfang des Paragraphen gestellte Frage beantwortet, ob die
Geometrie ihre Gültigkeit behält, wenn man ihren Begriffen einen an-
schaulichen Sinn unterlegt. Sie ist nämlich verneint. Es kann also
keine Rede davon sein, daß unserer Raumanschauung bestimmte geome-
trische Axiome eigentümlich wären. Wir besitzen eben keine Anschauung
des geometrischen Raumes.
Er ist ein begriffliches Gebilde, welches wir so konstruieren, daß wir
mit seiner Hilfe die Naturgesetze in möghchst einfacher Gestalt formu-
lieren können. Dies allein ist entscheidend für die Wahl der geometrischen
Axiome. Dabei ist zu beachten, daß diese Aufstellung und Auswahl der
Axiome nicht erst im Stadium einer ausgebildeten Physik erfolgt, denn
schon die Erfahrungen des täglichen Lebens sind ja reich mit naturgesetz-
licher Erkenntnis durchsetzt; kann doch der bloße Begriff eines Körpers
nicht ohne gewisse geometrische Begriffe zustande kommen. Der erwähnte
Gesichtspunkt leitet den Menschen gleichsam unbewußt, so daß es erst
besonderer scharfsinniger Untersuchungen (wie derjenigen Poixcare's)
bedurfte, um zu erkennen, daß er uns leitet.
Die Geometrie des täghchen Lebens war die euklidische und bis vor
kurzem mußte es scheinen, als ob sie auch für alle Zwecke der Naturwissen-
schaft zugrunde zu legen wäre. Die neueste Physik wurde aber auf einem
ihrer schönsten und kühnsten Wege, durch die EiNSTEiM'sche Gravitations-
302 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis.
theorie, zu dem Resultat geführt, daß es nicht möglich ist, mit euklidischen
Maßbestimmungen auszukommen, wenn man die Natur mit höchster Ge-
nauigkeit durch einfachste Gesetze beschreiben will. Man hat danach
vielmehr an jedem Orte der Welt eine andere Geometrie zu benutzen, die
von dem physikalischen Zustande (dem Gravitationspotential daselbst)
abhängt. Nach den letzten Untersuchungen Einstein's ist es wahr-
scheinlich, daß man den Weltraum im großen ganzen am besten als mit
annähernd ,, sphärischen" Eigenschaften begabt (also als endlich, wenn
auch natürlich als unbegrenzt) anzusehen hat.
Es kann nicht genug betont werden: wir sind nicht gezwungen,
den Raum gemäß einer derartigen Theorie aufzufassen. Wenn wir wollen
und darauf bestehen, kann uns keine Erfahrung hindern, bei der euklidi-
schen Geometrie zu beharren; aber wir gelangen dann eben nicht zu ein-
fachen Formulierungen der Naturgesetze, das System der Physik wird in
sich weniger befriedigend. Wer sich jedoch einmal in die eben erwähnte
physikalische Theorie vertieft und ihre Geschlossenheit kennen gelernt hat,
die das gesamte physische Weltbild in grandioser Weise vereinfacht, der
zweifelt nicht, daß die Alleinherrschaft der euklidischen Geometrie in der
Physik zu Ende ist. Die physikalische Naturbeschreibung ist nicht an
eine bestimmte Geometrie gebunden und keine Anschauung schreibt uns
vor, ihr die euklidischen Axiome als die allein richtigen zugrunde zu
legen, ebensowenig natürlich irgendwelche nichteuklidischen. Wir wählen
— ursprünglich unwillkürlich, neuerdings aber ganz bewußt — stets die-
jenigen Axiome, die zu den einfachsten physikalischen Gesetzen führen;
wir könnten aber "im Prinzip auch andere wählen, wenn wir dafür kom-
pliziertere Formulierungen der Naturgesetze in den Kauf nehmen wollen;
sie sind also prinzipiell in unser Belieben gestellt.
Und das heißt nichts anderes, als daß sie Definitionen sind.
So kommen wir zu dem Resultat, daß die Geometrie nicht nur als
reine Begriffswissenschaft, sondern auch als Wissenschaft vom Räume,
also in ihrer Anwendung auf die Natur, nicht ausgeht von synthetischen
Sätzen a priori, sondern von impliziten Definitionen. Oder anders aus-
gedrückt: Auch als Wissenschaft vom Räume ist sie reine Begriffswissen-
schaft und hat gar nicht etwas Anschauliches zum Gegenstande, wie wir
zuerst glauben mußten. Von der wirklichen anschaulichen Ausdehnung,
von der Räumlichkeit, wie wir sie auf den verschiedenen Sinnesgebieten
erleben, ist nur empirische Erkenntnis möglich; sie ist offenbar eine Auf-
gabe der Psychologie.
Das Resultat versteht sich fast von selbst, wenn wir uns frühere Er-
gebnisse vor Augen halten. Alles Anschauliche ist etwas Reales, weil
unmittelbar Gegebenes, der geometrische Raum aber hatte sich uns längst
als ein bloßer Begriff herausgestellt. Gilt doch dasselbe sogar von den
physischen Körpern, die ihn erfüllen. Das Räumlich-Physische ist eben
ein bloßes Zeichensystem, das wir der Wirklichkeit zuordnen und welches
wir so wählen, daß die Bezeichnung auf eine möglichst einfache, einheit-
Gibt es eine reine Anschauung? 303
liehe Weise, nämlich durch ein Minimum von Begriffen, erreicht wird.
Der geometrische Raum ist ein begriffliches Hilfsmittel zur Bezeichnung
der Ordnung des Wirklichen; es gibt keine reine Anschauung von ihm
und es gibt keine synthetischen Sätze a priori über ihn.
Nachdem wir über die Geltung der geometrischen Wahrheiten ins
klare gekommen sind, ist es ein Leichtes, die Bedeutung der Arithmetik
für unsere Frage zu ermessen. Finden wir vielleicht unter ihren Sätzen
die synthetischen Urteile a priori, die wir in der Geometrie vergebHch
suchten.''
Durch die Architektonik seines Systems verführt, hat Kant daran
gedacht, daß die Zeitanschauung für die Arithmetik eine analoge Rolle
spielen möchte, wie die Raumanschauung für die Geometrie, aber mit
Recht hat er diesen Gedanken nicht weiter verfolgt, denn er ist natürlich
ganz unhaltbar. Freihch bedürfen wir zum Zählen der Zeit, aber es wäre
eine arge Verwechslung des psychologischen mit dem erkenntnistheoreti-
schen Standpunkte, wenn man daraus irgendeine nähere Beziehung des
Zahlbegriffes zur Zeit ableiten wollte. Alle psychischen Akte gehen in
der Zeit vor sich; auf das in diesen Akten Gedachte läßt sich daraus nichts
schließen. Auch mit der Raumanschauung hängt die Zahl nur psycho-
logisch, nicht logisch zusammen, denn daß wir uns arithmetische Zu-
sammenhänge durch räumliche Objekte illustrieren (Abzählen von Punkten
an der Tafel, von Fingern der Hand), ist natürlich für die Geltung der
Zahlsätze ganz unwesentlich.
Kant's Lehre, daß die arithmetischen Sätze den Grund ihrer Gültig-
keit in der Anschauung hätten, muß auf jeden Fall abgelehnt werden.
Nein, wenn es in der Wissenschaft von den Zahlen synthetische Urteile
a priori geben sollte, so können sie ihre Gültigkeit nicht einer Anschauungs-
form, sondern höchstens irgendwelchen Denkformen verdanken. Wie es
sich aber damit verhält, soll erst im nächsten Paragraphen untersucht
werden.
Gibt es aber vielleicht irgendwelche anderen Urteile, deren Grund in
einer reinen Zeitanschauung gesucht werden müßte.? Die wenigen Grund-
sätze, die Kant als synthetisch und a priori aus der Zeitanschauung
fließend anführt (die Zeit hat nur eine Dimension; verschiedene Zeiten
sind nicht zugleich, sondern nacheinander, sie sind nur Teile eben der-
selben Zeit), sind inhaltsarm genug; und die 28 Sätze, welche wir nach
Schopenhauer über die Zeit fällen können, stellen nur scheinbar eine
Bereicherung dar. In Wahrheit lassen sich über die Zeitanschauung ganz
ähnliche Bemerkungen machen und ganz gleiche Folgerungen ziehen wie
in bezug auf die Raumanschauung. Auch bei der Zeit ist, wie wir wissen
(vgl. § 29), zu unterscheiden zwischen dem anschaulichen Wesen, über
welches auf Grund psychologischer Untersuchungen Erfahrungsurteile ge-
fällt werden können, und der mathematischen oder objektiven' Zeit. Die
304 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis.
letztere ist gleich dem Räume eine begriffliche Konstruktion, deren Ge-'
staltung wiederum allein von dem Gesichtspunkte beherrscht wird, daß
die Naturgesetze in möglichst einfacher, geschlossener Form erscheinen
müssen. Auch dies ist in der neuesten Naturwissenschaft durch die Rela-
tivitätstheorie bestätigt worden, welche zeigt, daß man nicht länger an
der einen ,, gleichmäßig ablaufenden" Zeit Newton's festhalten darf,
sondern verschiedene Zeitmaße benutzen muß, je nachdem Bewegungs-
zustand des Systems, auf welches die Darstellung der Naturvorgänge be-
zogen wird. Nur auf diese Weise gelingt es, die Erklärung durch ein
Minimum von Begriffen zu leisten (vgl. hierüber die beiden oben S. 223
angeführten Schriften des Verfassers, besonders die erste derselben).
Gleich der Geometrie ist also auch die ,, Wissenschaft von der Zeit",
die der physikalischen Erkenntnis zugrunde zu liegen scheint, gar nicht
eine Wissenschaft von etwas Anschaulichem, Wirklichem, sondern ein
begriffliches Hilfsmittel; ihre Grundsätze sind Definitionen, nicht synthe-
tische Urteile.
Damit ist das Urteil über die KANT'sche Lehre von den Anschauungs-
formen gesprochen; die an der Spitze des Paragraphen stehende Frage
ist verneint: Vergeblich suchten wir nach einer reinen Anschauung, welche
der empirischen als deren Form und Gesetzlichkeit zugrunde läge. Raum
und Zeit sind nicht apriorische Anschauungsformen in dem Sinne, daß
sie synthetische, schlechthin allgemeingültige Urteile möghch machen.
Die räumlichen und zeitlichen Grundurteile der exakten Wissenschaften,
an deren synthetischem und apriorischem Charakter Kant von vorn-
herein nicht zweifelte, haben diesen Charakter in Wahrheit gar nicht.
Und immer mehr wächst der fast schon am Beginn unserer Untersuchungen
aufgestiegene Verdacht, daß der Mensch überhaupt nicht im Besitz von
Urteilen dieser Art ist, daß also eine apodiktisch gültige Wirklichkeits-
erkenntnis ihm überhaupt versagt ist.
38. Gibt es reine Denkformen?
Wir kommen zur Prüfung der letzten Möglichkeit, an welche sich
die Hoffnung auf apriorische Wirklichkeitserkenntnis noch klammern
könnte: Vielleicht vermögen die Begriffe zu leisten, was die Anschauung
nicht konnte; vielleicht hat Kant recht mit der Behauptung, daß unser
Denken apodiktisch gültige Urteile über die Erfahrungswirklichkeit fällen
kann, weil dieses Denken selbst am Aufbau der Erfahrungsgegenstände
beteiligt sei, indem diese gar nicht Objekte für uns werden können, ohne
durch die Kategorien geformt zu sein.
Gibt es Kategorien in diesem Sinne.? Können Begriffe die Funktion
erfüllen, die Kant den reinen Verstandesbegriffen zuschreibt.? Hat es
einen Sinn, von Formen des Denkens zu sprechen.?
Das läßt sich nur entscheiden, wenn wir, auf Früheres zurückgreifend,
uns darafi erinnern, worin denn überhaupt das Wesen der Begriffe be-
Gibt es reine Denkformen? 305
steht. Wir hatten sie erkannt als bloße Zeichen, die einen Sinn erst da-
durch erhalten, daß sie Gegenständen zugeordnet werden. Wären also
unter apriorischen Begriffen solche zu verstehen, die unabhängig von allen
Erfahrungsgegenständen schon eine Bedeutung haben sollen, so sieht man
sofort ein, daß dergleichen in sich widersprechend wäre. Die Behauptung,
dem Verstand könnten Begriffe a priori innewohnen, erschiene so un-
gereimt wie etwa die Meinung, bestimmte Dinge müßten notwendig mit
einem bestimmten Wort der Sprache bezeichnet werden (eine Ansicht,
die in den Anfängen der Sprachphilosophie bei den Griechen tatsächlich
auftauchen konnte), oder sie wäre vielmehr noch sinnloser, denn ein Wort
besitzt in seinem Lautbild wenigstens einen konkreten, anschaulichen
Inhalt, während ein Begriff keinen eigenen Inhalt hat und daher überhaupt
nichts ist, bevor er etwas bezeichnet. In der Tat hätte Kant von
apriorischen Begriffen gar nicht sprechen dürfen; auch unter seinen Voraus-
setzungen ist streng genommen der Begriff des a priori nur auf Urteile
anwendbar, seine Ausdrucksweise darf nur als eine Breviloquenz aufgefaßt
werden, mit der die in apriorischen Urteilen auftretenden Begriffe gemeint
sind. Deshalb gelangt ja auch Kant bekanntlich zu seinen zwölf Kate-
gorien durch eine Tabelle der zwölf möglichen Urteilsarten.
Nun ist zu bedenken, daß wegen der Korrelativität von Begriff und
Urteil, die sich uns in den Paragraphen 7 bis 10 aufs deutlichste heraus-
gestellt hat, die logische Bedeutung und Funktion der Begriffe sich über-
haupt darin erschöpft, Knotenpunkte von Urteilen zu sein. Urteile dienen
zur Bezeichnung von Tatbeständen, Tatbestände enthalten stets eine Be-
ziehung; man könnte glauben, daß sich dadurch die Möglichkeit öffnet,
sinnvoll von reinen Denkformen zu reden, insofern nämlich jene realen
^Beziehungen durch die Urteilsformen des Verstandes antezipiert werden
könnten. Wenn jedoch, wie wir uns überzeugten, Urteile bloße Zeichen
sind, die den Tatsachen zugeordnet sind, sie aber in keiner Weise wieder-
holen oder abbilden können, dann fällt jene Möglichkeit dahin. Denn die
Form der Zeichen ist von der des Bezeichneten vollkommen unabhängig;
es kommt nur auf die gegenseitige eindeutige Zuordnung an, und die
kann zwischen den Tatsachen und dem Denken hergestellt werden, welche
.,,Form" das Denken auch haben möge. Niemals kann dadurch, daß es
eine bestimmte Form besitzt, eine eindeutige Zuordnung von vornherein,
a priori, verbürgt werden, ebensowenig wie der Besitz einer bestimmten
Losnummer einen" Gewinn in der Lotterie garantiert. Die Wahrheit im
Urteil, wie der Gewinn im Spiel, entsteht erst durch das Zustandekommen
von zwei Faktoren, die einander in ihrer inneren Struktur nicht bestimmen,
sondern sich nur äußerlich gegenübertreten. Das folgt mit Notwendigkeit
aus der Natur des Erkennens als eines Bezeichnens und des Denkens als
eines Kombinierens von bloßen Zeichen.
Wir sehen, das Denken mit seinen Urteilen und Begriffen, so wie
wir es verstehen gelernt haben, besitzt keine Form, die es der Wirklichkeit
aufzwingen könnte. Wenn man also mit Kant an eine solche Möglich-
Schlick, Erkenn tnislehre. 20
3o6 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis.
keit glaubt, an eine engere Beziehung zwischen Denken und Sein, vermöge
deren das WirkUche erst durch das Denken für mich Objekt wird, das dann
natürHch die Spuren des Denkens trägt — dann muß man offenbar unter
,, Begriff" etwas anderes, man muß darunter mehr verstehen als ein
bloßes Zeichen; man muß meinen, daß unsere Urteile den Tatsachen nicht
bloß zugeordnet sind, sondern sie in gewissem Sinne selbst erst erzeugen:
nicht als ob die Wirklichkeit durch das Denken als Ursache hervorgebracht
würde — das wäre ja ein absurder Gedanke — , sondern man glaubt,
daß das Wirkliche durch das Denken erst zur , .Tatsache" für uns wird.
So ungefähr ist es in der Tat die Meinung Kant's und seiner Schüler.
Für Kant sind die Begriffe gleichsam Realitäten im Bewußtsein; er
rechnet sie neben den Anschauungen zu den ,, Vorstellungen". Da können
sie natürlich ganz andere Funktionen erfüllen, als bloße Zeichen ver-
mögen; durch sie allein, meint Kant, ist es mögHch, ,, etwas als einen
Gegenstand zu erkennen", während ohne ihre Voraussetzung ,, nichts als
Objekt der Erfahrung möglich ist". Hier wird also ein ganz anderer Er-
kenntnisbegriff zugrunde gelegt, als der, zu welchem die Untersuchungen
unseres Ersten Teiles führten. Wodurch er sich von dem letzteren unter-
scheidet, läßt sich gut aus den Worten A. Riehl's erkennen, durch die
er Kant's Meinung erläutert (Der philosophische Kritizismus, 2. Aufl.
Bd. I, S. 367): ,,Es gibt ein ursprüngliches Urteil, das nicht, wie das ab-
geleitete, Objekte vergleicht, sondern die Vorstellung eines Objektes erst
begründet." Nun bedeutet ein Objekt, ein Gegenstand immer einen
Komplex von Beziehungen und diese Beziehungen sind nach Kant's
Lehre nicht schlechthin gegeben, vorgefunden, sondern auf das Konto
des Denkens, der Urteile und Begriffe, zu setzen. Nach kritizistischer
Ansicht werden also die Relationen im Urteil erst gestiftet, während es,
gemäß unserem Erkenntnisbegriff den ohnedies bestehenden Relationen
nur zugeordnet wird.
Wenn es unseren bisherigen Bemühungen gelungen ist, den bloß be-
zeichnenden (semiotigchen) Charakter des Denkens und Erkennens über
allen Zweifel zu erheben, so ist der kritizistische Erkenntnisbegriff damit
schon abgetan; alle Möglichkeiten, die er birgt, und alle Folgen, die sich
aus ihm ergeben, sind als hinfällig erkannt. Auf die früheren positiven-
Ergebnisse gestützt, dürften wir daher die ganze Frage bereits als zu-
ungunsten der KANT'schen Philosophie entschieden betrachten. Einige
kritische Erwägungen sind aber doch noch nützlich, um dem Vorwurf zu
begegnen, als hätten wir unseren Untersuchungen unbewußt und unbefangen
von vornherein Voraussetzungen zugrunde gelegt, die gar nicht zutreffen.
Es sei, könnte sonst der Kantianer sagen, eben unser Fehler gewesen,
von ,, gegebenen" Tatsachen und Gegenständen auszugehen, welche dem
Denken fertig vorlägen, während doch in Wahrheit Tatsachen und Gegen-
stände uns niemals ohne jede Denkfunktion schon gegeben wären.
Obgleich wir es also durch alles Vorausgehende für erwiesen halten,
daß die Analyse der Wissenschaft und des wissenschaftlichen Verfahrens
Gibt es reine Denkfirmen? 307
zu keinem anderen Erkenntnisbegriff führt, als zu dem hier entwickelten,
wird es lehrreich sein, den Erkenntnisbegriff der KANT'schen Schule noch
einmal nachzuprüfen. Wir werden dann vor allem auch einsehen, wie es
zu seiner Aufstellung hat kommen können. Wichtiger noch als die Auf-
deckung eines Irrtums ist ja die Aufdeckung der Gründe des Irrtums,
weil erst dadurch volle intellektuelle Beruhigung erzielt wird.
Nach dem Gesagten können wir das Problem in die Frage kleiden:
Darf die Erkenntnistheorie wirkliche Tatsachen und Gegenstände als ge-
geben annehmen, die, logisch gesprochen, vor allem Denken und Urteilen
da sind, oder gibt es vielleicht dergleichen gar nicht, weil das, was als
wirklich und als Tatsache zu gelten hat, gar nicht am Anfang steht, son-
dern erst durch die Erkenntnis selber als deren letztes Ziel festgestellt
werden kann.!"
Kant selbst gab wenigstens das Gegebensein eines gewissen Stoffes
vor aller gedanklichen Formung noch zu. Nach ihm ,, können uns aller-
dings Gegenstände erscheinen, ohne daß sie sich notwendig auf Funk-
tionen des Verstandes beziehen müssen und dieser also die Bedingungen
derselben a priori enthielte" (Kritik der reinen Vernunft, Ausgabe Kehr-
bach S. 107), ,,denn ohne Funktionen des Verstandes können allerdings
Erscheinungen in der Anschauung gegeben werden" (ebenda). An einer
anderen Stelle heißt es: ,, Allein von einem Stücke konnte ich im obigen
Beweise doch nicht abstrahieren, nämlich davon, daß das Mannigfaltige
für die Anschauung noch vor der Synthesis des Verstandes und unab-
hängig von ihr gegeben sein müsse" (S. 668). Diese Synthesis, diese Ver-
bindung durch das Urteil, ist etwas, das hinzukommt, aber nicht hinzu-
kommen muß, da die Anschauung nicht zur Erkenntnis zu werden
braucht.
In unserer Zeit haben die Anhänger K Ni 's in der sehr einflußreichen
,, Marburger Schule" eine Richtung eingeschlagen, die dem reinen Denken
einen noch viel fundamentaleren Anteil am Zustandekommen der Er-
fahrung einräumen und den Gegensatz zwischen ihm und der reinen An-
schauung aufheben möchte. Sie erblicken eine Inkonsequenz in der Kant-
schen Annahme, daß das Denken einen von ihm unabhängigen Stoff in
der Anschauung bereits vorfinde, und sie stellen ihr die prägnante Formel
gegenüber: die Gegenstände und die Tatsachen seien der Erkenntnis
nicht ,, gegeben", sondern ,, aufgegeben", ihre Erreichung sei eine un-
endliche, von der Erkenntnis niemals abschließend zu lösende Aufgabe.
Ich zitiere einige Stellen aus einem führenden Werke dieser Schule
(Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften, von P. Natokp,
Leipzig und Berlin 1910), welche die Motive und Grundgedanken der
Richtung hervorleuchten lassen, so daß eine Würdigung bei ihnen an-
setzen kann. ,,Es schwindet jede Hoffnung, absolute Tatsachen in wissen-
■90*
3o8 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis.
schaftlicher Erkenntnis je zu erreichen; aber auch jedes Bedürfnis, solche
erreichen zu müssen. Denn Wirklichkeit ist nie gegeben, sondern ist die
ewige Aufgabe, die in wirklicher Erfahrung stets nur relativer Lösungen
fähig ist" (S. 94). ,,Die ,, Tatsachen" geben in jedem Fall nur Antwort
auf die Fragen, die von der Erkenntnis, ihrem eigentümlichen Begriffe
gemäß, vorausgestellt sind . ." (ebenda). ,,Die Tatsache im absoluten
Sinne ist aber erst das letzte, was die Erkenntnis zu erreichen hätte, in
Wahrheit nie erreicht; ihr ewiges X. Dies letzte hat man zum ersten,
dies X zur bekannten Größe, das ewig Gesuchte, nie Erreichbare, zum
Gegebenen gemacht. Woher dieser befremdliche Fehlbegriff.?" (S. 96).
Aus diesen Sätzen spricht der richtige Gedanke, daß es wegen des
unendlichen Beziehungsreichtums aller Gegenstände völlig unmöglich ist,
jemals etwas erschöpfend zu erkennen. Kein historischer Vorgang,
kein Naturprozeß läßt sich jemals abschließend auf Begriffe bringen, so
daß alle Fragen beantwortet wären, die man darüber stellen könnte.
Jeder wirkliche Gegenstand enthält unendlich viele Einzelheiten, steht
in unendlich vielen Beziehungen zu andern; zur absolut genauen Be-
zeichnung bedürfte man mithin unendlich vieler oder unendlich kom-
plizierter Begriffe. Wir können ein geschichtliches Ereignis zuerst in
großen Zügen, dann immer genauer festlegen, bis auf die einzelnen Gesten
und Gedanken der handelnden Persönlichkeiten: die restlose Bestim-
mung des Ereignisses und seiner Ursachen und Folgen bleibt doch ein
unerreichbares Ziel, dem man sich nur nähern kann. Wir vermögen die
Bahn eines Planeten mit immer größerer Genauigkeit zu ermitteln, ihr
ist im Prinzip keine Grenze gesetzt; so weit wir sie aber auch treiben mögen:
stets läßt sie sich noch vergrößern, denn die Zahl der Umstände, von
denen die Bahn abhängt, ist unendlich. Und dies gilt nicht bloß für den
Einzelfall in Natur und Geschichte, sondern auch für das Prinzipielle:
nachdem wir die Materie in Moleküle, die Moleküle in Atome, die Atome
in Elektronen zerlegt haben, wird weiterhin die Frage nach einer Unter-
scheidung der Teile innerhalb eines Elektrons auftauchen, und der in
dieser Richtung fortschreitende Erkenntnisprozeß wird niemals als schlecht-
hin beendet gelten dürfen; die Frage: wie ist denn nun die Materie kon-
stituiert.? wird immer nur eine vorläufige Antwort erhalten können.
Folgt nun hieraus, daß es falsch und unsinnig wäre, von Tatsachen
zu reden, die vor jeder wissenschaftlichen Erkenntnis absolut feststehen
und allem Denken und Forschen als unerschütterliches Fundament zu-
grunde gelegt werden können und müssen.? Eine solche Folgerung ist
ganz gewiß nicht berechtigt. Wohl ist Erkenntnis ihrem Wesen nach
unendlicher Prozeß, aber was als unerreichbares Ziel an ihrem Ende steht,
sind nicht die absoluten Tatsachen, sondern die absolute Erkenntnis
der Tatsachen. Das Gebäude der Wissenschaft ist nie vollendet, aber es
ist eben nicht die Wirklichkeit selbst, sondern ein Netz von Begriffen.
Das Netz wird immer dichter gewebt, daß es sich der Wirklichkeit immer
enger anschmiegt, doch nie wird es ihr ganz genau bis in die kleinsten
Gibt es reine Denkformen ? . 30g
Falten passen, und es bleibt ein Gewand, das die Wirklichkeit nur um-
kleidet. Im Grunde steckt in der Ansicht der neukantischen Schule doch
der Irrtum, daß die Hülle der Begriffe für die Wirklichkeit selbst gehalten
wird. Sie glaubt in der wissenschaftlichen Erkenntnis die Welt selber zu
finden, während sie in Wahrheit nur ein begriffliches Zeichensystem ist.
Unzweifelhaft ist ein verborgenes, aber sehr starkes Motiv der ganzen
Denkrichtung der Wunsch, in der Erkenntnis die Wirklichkeit selbst zu
haben, zu ,, erfassen". Man empfindet den Gedanken als unbefriedigend,
daß ein System der Wissenschaft dem Wirklichen nur zugeordnet sein
soll, deshalb überredet man sich, daß dieses Gerüst von Begriffen selber
zur Wirklichkeit gehört und an ihrem Aufbau beteiligt ist. Man fällt
zurück in den Erkenntnisbegriff der Intuition, nach welchem zwischen
dem Erkennen und dem erkannten Gegenstande durchaus ein innigeres
Verhältnis bestehen soll als das der bloßen Zuordnung (vgl. oben § ii).
In der Tat finden wir hier die für die Lehre von der intuitiven Erkenntnis
charakteristische Meinung, daß bloßes Vorstellen schon Erkenntnis be-
deute; denn Natorp sagt von den ,, Vorstellungen": ,, Jedenfalls sind es
fertige Elemente von ,, gewissem Inhalt" also primitive Erkennt-
nisse" (S. 41). Die Welt, welcher das Begriffssystem der Wissenschaft
zugeordnet ist, ist uns freilich nicht ,, gegeben"; die Tatsachen und Gegen-
stände, die wir durch die historischen und naturwissenschaftlichen Be-
griffe bezeichnen, sind nicht erlebt, sie sind uns nicht bekannt, sondern
nur mittelbar werden wir auf sie hingewiesen (vgl. oben § 30). Was uns
von ihnen bekannt ist, ist eben das Begriffsnetz, mit dem wir die Wirk-
lichkeit umkleiden, indem wir sie erkennen. Dieser Umstand gibt ein
weiteres Motiv der neukantischen Denkweise ab: wie alle idealistischen
Systeme verlangt auch sie von dem Wirklichen, daß es uns irgendwie
bekannt sei, und deshalb wird das begriffliche Zeichensystem, durch das
die extramentale Wirklichkeit unserm Geiste repräsentiert ist, für einen
Bestandteil der realen Welt selber gehalten^). Für uns aber, die wir die
Scheu vor einer nicht gegebenen, unbekannten Wirklichkeit verloren
haben (§§ 24, 25), fällt jenes Motiv gänzlich dahin; wir scheiden streng
1) Dasselbe Motiv scheint mir auch in den Ausführungen des Neukantianers
A. Görland in seiner Schrift „Die Hypothese" (Göttingen 1911) wirksam zu sein.
Nach ihm stehen wir vor der Alternative, den Inhalt der Naturwissenschaft (der ja
letzten Endes aus Hypothesen sich aufbaut — vgl. unten § 40 — ) entweder als
Wirklichkeit oder als Fiktion betrachten zu müssen. Das letztere lehnt er ab mit
den Worten: „. . . ich glaube, wir müssen die Hypothese in jedem Sinne vom Ver-
dachte einer Fiktion, d. h. einer „Erdichtung", zu reinigen suchen; denn es erscheint
mir unwürdig, von einem Wissenschaftler zu behaupten, er greife in seiner Arbeit
in irgend einer Weise zu Fiktionen" (S. 38). Der Autor schließt daher, die Hypo-
these sei ,,in ganz eminentem Sinne der Vorgang der Realisierung" (S. 43). Auf
diese Weise soll die Realität durch das Denken geschaffen werden. Ihm erscheint
es ,, geradezu unerträglich", z. B. den physikalischen Hilfsbegriff eines ,, unbiegsamen
Stabes" eine Fiktion zu nennen (S. 38). Wer aber mit uns in den Begriffsbildungen
der Wissenschaft nicht die Wirklichkeit selber sucht, sondern nur Zeichen für die-
selbe in ihnen sieht, kann nichts Bedenkliches dabei finden, daß sie Fiktionen sind.
3IO Die Gültigkeit der Wirkl chkeitserkenntnib.
das wissenschaftliche Weltbild von der Welt selber und widerstehen der
Versuchung, jenes mit dieser zu verwechseln.
Natürlich wird bestritten, daß es sich hier um eine Verwechslung
handle; man glaubt vielmehr streng beweisen zu können, daß unter wirk-
lichen Tatsachen überhaupt nichts anderes verstanden werden könne als
Denkbestimmungen, daß sie also nicht als etwas von dem Denken
Unabhängiges und ihm Gegenüberstehendes gedacht werden dürfen.
„Nicht die Tatsache ... als ob sie erst unabhängig feststünde . . . gibt
die bestimmte Verknüpfung der Denkbestimmungen, die ihren Inhalt aus-
zudrücken versucht, sondern vielmehr diese Verknüpfung von Denk-
bestimmungen gibt, ja i^s t die Tatsache, und nicht fester, als diese Ver-
knüpfung der Denkbestimmungen, steht die Tatsache" (S. 95). Die für
diese These zur Verfügung stehenden Beweise sind dieselben, die noch
zur Begründung eines jeden idealistischen Systems herangezogen worden
sind und unterliegen denselben Einwänden. ,, Denken heißt nichts anderes
als: setzen, daß etwas sei, und was außerdem und vordem dieses Sein —
sei, ist eine Frage, die überhaupt keinen angebbaren Sinn hat" (S. 48).
Dies ist nicht gerade besonders glücklich formuliert (denn die hier voraus-
gesetzte Definition des ,, Denkens" wird man ablehnen dürfen), aber wir
können doch die aus diesem Passus hervorleuchtende Idee würdigen, denn
wir mußten früher (oben S. 151) selbst feststellen, daß jede Antwort
auf die Frage nach der Natur des Seins immer nur eine neue Bezeich-
nung des Seienden darstellen kann, und daß keine Antwort — die ja
doch immer ein Urteil sein müßte, jemals das Wesen des Bezeichneten
selbst zu geben vermag, so daß es freilich sinnlos wäre, eine Antwort zu
verlangen, die dies leistete. . . Und nun meint der logische Idealist,
es gehe hieraus hervor, daß eben das Denken es sei, welches das Sein erst
bestimme. In etwas anderer Wendung ist die gleiche Idee von H. Rickert
formuliert worden, welcher sagt (in seinem Werke über den ,, Gegenstand
der Erkenntnis"), daß man, um zu wissen, was sei, doch schon geurteilt
haben müsse, daß es sei — denn woher sollte man es sonst wissen.? —
und daß folglich das Denken unter allen Umständen das erste sei, es
könne sich nicht nach dem Sein richten, sondern umgekehrt: was da sei,
werde dadurch bestimmt, was ich urteilen müsse. Die tatsächliche Existenz
eines Rot, das ich vor mir sehe, werde z. B. dadurch verbürgt, daß ich
den Zwang empfinde: ich kann nicht anders urteilen als daß es ist. Die
Urteilsnotwendigkeit, das ,, transzendentale Sollen" entscheidet über das
Sein, denn dies wird ja erst durch die Notwendigkeit des Urteilens sicher-
gestellt, ein anderer Grund des Seins läßt sich nicht angeben.
Diese Schlußfolgerung ist fehlerhaft (vgl. die ausführliche Kritik des
RiCKERT'schen Gedankenganges in meinem Aufsatz über das Wesen der
Wahrheit in der Vierteljahrsschrift f. wiss. Philosophie, Bd. 34, S. 398 f.),
weil sie auf einer Äquivokation des Wortes ,, Wissen" beruht. Dies Wort
kann erstens ein Wissen um etwas bezeichnen, also ein bloßes Kennen,
zweitens aber auch ein Wissen über etwas, ein Erkennen. Nur ein Wissen
Gibt es reine Denkformen? 311
im letzteren Sinne setzt Urteilen, also Denken, voraus; im ersteren Sinne
aber ist es ein absolutes Bewußtseinsdatum, eine schlechthinige Tatsache,
die auf sich selber ruht. In den anschaulichen Erlebnissen, den unmittel-
baren Daten des Bewußtseins, z. B. den reinen Empfindungen, finden wir
die reinen Tatsachen, die unabhängig von jedem Denken sind, falls man
nicht den Empfindungsprozeß selber einen Denkprozeß nennen will,
womit dann jede Diskussion nutzlos sein würde. Wir wissen jetzt auch,
worin das Argument fehlt, durch welches der logische Idealist schon die
reine Wahrnehmung als einen Denkprozeß erweisen will: ,,Was unter-
scheidet W^ahrnehmung von bloßer Denkbestimmung.? Schlechterdings
nichts Inhaltliches; denn was wir auch immer als Inhalt gegebener Wahr-
nehmung aussagen mögen, ist als Aussageinhalt notwendig Denkbestim-
mung . . ." (NAtorp S. 95). Aber das in einem Urteil Ausgesagte ist
eben in dem Urteil nicht ,, enthalten", als ergreife die Erkenntnis das
Wirkliche und nehme es in sich auf, sondern es ist ihm nur zugeordnet;
die Aussage für sich, unabhängig von dem, was sie bezeichnet, hat gar
keinen Inhalt, sondern ist leerer Schall. Eine Rotempfindung ist einfach
eine gegebene Tatsache; spreche ich aber das Urteil aus ,,dies ist rot",
so setzt das natürlich schon einen Erkenntnisakt voraus, denn es muß
ja die erlebte Farbe als zur Klasse der mit ,,rot" bezeichneten Nuancen
gehörig wiedererkannt sein. Das Urteil kann also immer erst hinterher
kommen, nachdem an die ursprünglichste Tatsache der Empfindung noch
weitere Erlebnisse sich angeschlossen haben.
Es geht daher durchaus nicht an, dem Denken schon bei der Ent-
stehung der Empfindung einen Anteil zuzuschreiben. Die Empfindung
wird von der neukantischen Schule als ein bloßes Etwas dargestellt, das
vor dem Denken noch gar nichts Bestimmtes ist. ,, Denken heißt über-
haupt Bestimmen" (Natorp S. 38). Diese Definition ist unbefriedigend
genug, denn Bestimmen ist ein mehrdeutiges Wort (an einer anderen
Stelle — S. 67 — wird gesagt, was man eher gelten lassen kann: ,, Denken
heißt überhaupt Beziehen"); es läßt sich aus ihr auch keineswegs ab-
leiten, daß es ohne Denken und vor ihm keine Bestimmtheit gäbe. Für
uns stehen Tatsachen fest, auch ohne daß sie auf Begriffe gebracht sind;
wer da meint, unter Bestimmung müsse Bestimmung durch Begriffe ver-
standen werden, setzt das zu Beweisende voraus und verlegt das, was wir
zur Beschreibung und Formulierung eines Tatbestandes gebrauchen, in
den letzteren selbst hinein. Es läßt sich eben auf keine Weise dartun,
daß es keine Bestimmtheit, keine Gegebenheit, keine Tatsache gibt, die
nicht erst durch das Denken dazu geworden wäre; alle scheinbaren Beweise
dieser These drehen sich im Kreise herum.
Wir müssen also urteilen, daß es keine reinen Denkformen gibt,
wenn man sie im Sinne des neukantischen logischen Idealismus versteht,
in welchem Sinne sie Formen des Wirkhchen überhaupt wären.
312 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis.
39. Von den Kategorien.
Wenn überhaupt von Denkformen geredet werden dürfte, so könnte
ihre Funktion nach den letzten Ergebnissen nur darin bestehen, daß sie
einem bereits vorliegenden, durch die Anschauung gegebenen, aber in
gewissem Sinne noch formlosen Stoff eine Gestalt geben und dadurch in
ihm die Beziehungen herstellen, welche seine Erkenntnis ermöglichen.
Dies war, wie gesagt, die Meinung von Kant selbst. Den vorliegenden
Stoff nannte er das ,, Mannigfaltige der Anschauung", und jene Beziehungen
werden nach ihm durch den ,, Verstand" gestiftet, indem er jenes Mannig-
faltige auf eine ,, synthetische Einheit" bringt, nämlich in der Einheit
des Bewußtseins vereinigt. Zuweilen denkt er sich zwischen Anschauung
und Verstand noch die ,, Einbildungskraft" eingeschoben: sie soll die
Synthesis des Mannigfaltigen schaffen, aber noch keine Erkenntnis geben;
letztere kommt dann erst durch den Verstand zustande, welcher der Syn-
thesis durch die reinen Verstandesbegriffe die Einheit gibt.
Auf die Lehre von der Einbildungskraft braucht hier nicht ein-
gegangen zu werden; wir haben uns nur die Frage vorzulegen, ob es wahr
ist, daß die Relationen, auf denen alles Erkennen beruht, nicht schon
im anschaulich gegebenen Stoffe vorgefunden, sondern erst durch das
Urteil, durch gewisse dem Bewußtsein eigentümUche Denkfunktionen ge-
stiftet werden. Das ist also die Frage, ob es Kategorien im KANx'schen
Sinne gibt.
Um hier Klarheit zu gewinnen, ist eine erneute Beschäftigung mit
dem Begriffe der ,, Beziehung" nötig, der bisher nur flüchtig gestreift
wurde (§§ 8, 9).. Wir haben früher die Relationen als Gegenstände be-
trachtet, die ebensogut durch Begriffe bezeichnet werden wie irgendwelche
anderen Gegenstände (während ein Urteil die Funktion hat, das Be-
stehen, das Vorhandensein einer Beziehung zu bezeichnen). War es
ein Irrtum zu glauben, daß die Beziehung auch ohne den Begriff vor-
handen und nicht vielmehr bloß in ihm enthalten sei.?
Schon nach kurzer Überlegung werden wir Bedenken tragen, die
Frage, ob die Relationen von unserem Bewußtsein erst geschaffen oder
nur wahrgenommen werden, restlos in dem einen oder dem anderen Sinne
zu entscheiden. Es wird vielmehr richtig sein, einen Unterschied zu
machen zwischen verschiedenen Gattungen von Relationen. Wenn ich
beim Schreiben den Daumen meiner rechten Hand hnks vom Zeigefinger
sehe, so ist in der Wahrnehmung das räumliche Verhältnis der beiden
Finger ebenso und in demselben Sinne gegeben und enthalten wie die
Hautfarbe der Hand. Farbe und anschauhche Räumlichkeit sind beides
qualitative Daten, die hinsichtlich ihrer sinnhchen Gegebenheiten auf
einer Stufe stehen. Die Farbelemente haben z. B. nicht bloß Intensität,
sondern auch räumliche Verhältnisse, ihnen untrennbar anhaftend. Sie
werden gleich diesen perzipiert und apperzipiert, es entsteht das Erlebnis
Von den Kategorien. 313
der sog. „Gestaltqualität", und darauf können wir ihnen Begriffe einfach
zuordnen.
Von räumlichen Beziehungen gilt also sicherlich, daß sie vor dem
Denken da sind, gerade wie Empfindungsqualitäten. Urteile über räum-
liche Verhältnisse bezeichnen etwas Vorgefundenes; der durch sie be-
zeichnete Tatbestand enthält zum mindesten Momente, die nicht erst
durch das Urteil entstehen, logisch von ihm unabhängig sind. Und ganz
dasselbe muß über zeitliche Relationen gesagt werden. Das quahtative
Erlebnis der Dauer, der Gleichzeitigkeit und des Nacheinander von Be-
wußtseinselementen ist ein anschauliches Datum, das in demselben Sinne
vorgefunden wird, wie die Elemente selber. Um als Nacheinander oder
Gleichzeitigkeit beurteilt zu werden, muß das zeitliche Verhältnis apper-
zipiert sein, das Urteil folgt also logisch und psychologisch immer erst
hinterher. Die Zeitlichkeit aller Vorgänge ist etwas unmittelbar anschau-
lich Gegebenes, das nachträglich durch Begriffe bezeichnet werden kann
und als Erlebnisfundament allem Erkennen zeitlicher Verhältnisse zu-
grunde liegt. Zwischen einem Vierviertel-Rhythmus und einem Sechs-
achtel-Rhythmus besteht für das Erleben ein unmittelbarer Unterschied,
der gleichfalls als ein Unterschied von ,, Gestaltqualitäten" aufzufassen ist.
Gegenüber der Räumlichkeit hat die Zeitlichkeit das Besondere, daß
sie nicht wie jene an bestimmte Sinnesgebiete gebunden ist, also nicht
etwa z. B. eine andere für Tastempfindungen, als für Gesichtswahr-
nehmungen oder für Gefühle. Sie ist vielmehr ein Moment, das sich an
sämtlichen Erlebnissen in gleicher Weise findet, an den sinnlichen
Wahrnehmungen so gut wie an irgendwelchen unanschaulichen Akten
oder Gemütsbewegungen. Während man also von räumlichen Verhält-
nissen noch sagen könnte, daß sie direkt ,, wahrgenommen" werden und
die Sinnesorgane angeben kann, durch die es geschieht, ist für die zeit-
lichen Relationen eine solche Redeweise nicht mehr erlaubt, zumal wir
den Begriff der ,, inneren Wahrnehmung" früher (oben § 19) als unbrauch-
bar verwerfen mußten. Es fehlt jedes Organ zu einer Zeitwahrnehmung,
es bedarf dazu keines vermittelnden Aktes, sondern Zeitlichkeit ist eine
allgemeine Eigenschaft aller Bewußtseinsinhalte, die einfach erlebt wird.
Nun muß aber das Vorhandensein einer anderen Gattung von Rela-
tionen anerkannt werden, die mit den Zeithchen darin übereinstimmen,
daß man bei ihnen von einer Wahrnehmung durch irgend ein Sinnesorgan
nicht reden kann (während etwa die Wahrnehmung von Farben oder
Tönen an zpezifische Organe gebunden ist), die sich aber vor den räum-
lichen und zeithchen Beziehungen weiterhin dadurch auszeichnen, daß sie
nicht in demselben Sinne wie jene unmittelbar erlebt, geschaut zu sein
scheinen. Wenn ich von dem Tapetenmuster in meinem Zimmer und dem
Teppichmuster im Zimmer meines Freundes aussage, sie seien einander
ähnlich, oder wenn ich von einer Farbe und einem Ton erkläre, sie seien
verschieden, so sind damit auch Relationen ausgesprochen, aber es
scheint, als gelte von ihnen in der Tat, daß sie nur durch das Urteil und
314 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis.
im Urteil Bestand haben. Die Verschiedenheit zweier Empfindungen und
die Ähnlichkeit zweier Muster sind offenbar nicht etwas in demselben
Sinne real Vorhandenes, wie z. B. die einzelnen Farben in der Wahr-
nehmung des Tapetenmusters selber, oder wie deren räumliches Neben-
einander; die Ähnlichkeit zwischen Cäsar und Napoleon wird man nicht
auffassen wollen als ein zwischen den beiden Feldherren über Raum und
Zeit hinweg bestehendes reales Verhältnis. Solche Relationen scheinen
vielmehr erst durch das urteilende Bewußtsein erzeugt zu werden.
Dieser eigentümliche Tatbestand ist bereits in der antiken Psycho-
logie des Platon erkannt worden; nach ihm werden die Relationen nicht
durch Wahrnehmung der Sinne aufgefaßt, sondern durch die Seele selber
gestaltet (vgl. hierzu Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff,
S. 434 ff.). Ob man sagen kann, daß der Gedanke bei Platon in einer
Weise verwertet werde, die bereits an Kant gemahnt, möge hier dahin-
gestellt bleiben.
In der KANx'schen Kategorientafel kann man den Begriff der Ver-
schiedenheit, von dem eben die Rede war, allenfalls unterbringen, da er
dem Begriff der Negation, die von Kant zu den Kategorien gerechnet
wird, äquivalent ist (siehe oben S. 59); die Ähnlichkeit dagegen (wie auch
die Gleichheit) finden sich dort nicht. Andere Beziehungsbegriffe wiederum,
die gewißlich zur zweiten Klasse der Relationen gehören, treten richtig in
Kant's Tabelle auf. Wenn ich ein Haus einmal als ein eim'ges Objekt be-
handle (z. B. in einem Mietsvertrage), ein anderes Mal aber als eine Kon-
struktion aus einer Menge von Mauersteinen (z. B. auf einem Bauplan) an-
sehe, so habe ich einem .und demselben Dinge zuerst den Begriff der Ein-
heit, sodann den Begriff der Vielheit zugeordnet. Beides ist gleich berech-
tigt, und welche Art der Bezeichnung ich wähle, hängt von meinen Gedanken
ab; keine der beiden Auffassungen wird unmittelbar vorgefunden, durch die
Natur des Gegenstandes gegeben. Hiernach kann man glauben, daß die
Begriffe der Einheit und Vielheit von Kant mit Recht als Denkformen
in seinem Sinne betrachtet würden. Und ein gleiches scheint von den-
jenigen Begriffen zu gelten, die in Kant's Aufzählung zweifellos die beiden
wichtigsten Kategorien darstellen, nämlich der Kausalität und der Sub-
stantialität. Denn niemals nehme ich direkt wahr, daß ein Vorgang die
Ursache eines anderen ist, sondern höchstens, daß er ihm regelmäßig vorauf-
geht; ebenso ist das Verhältnis Substanz-Akzidens oder Ding- Eigenschaft
nie etwas fertig Vorgefundenes, sondern es wird höchstens eine räumlich-
zeitliche Koinzidenz von Merkmalen erlebt (siehe oben S. 39, 49); erst
wenn diese auf bestimmte Art gedanklich zusammengefaßt werden, erhalten
wir einen Komplex von ,, Eigenschaften", der sich durch den Begriff des
Dinges oder der Substanz bezeichnen läßt. Und um aus einer bloßen
Aufeinanderfolge von Vorgängen eine kausale Abhängigkeit zu machen,
bedarf es gleichfalls einer gedanklichen Zutat, einer besonderen Ver-
knüpfung, die erst, so scheint es, durch das Urteil geschaffen wird.
Von den Kategorien. 315
Einstweilen sehen wir ab von der Erörterung der übrigen Kant-
schen Kategorien, denn für unsere Prinzipienfrage ist es ja unwesentlich,
ob man gerade zu der KANTschen Tabelle gelangt oder zu einer anderen;
es fragt sich nur, ob es überhaupt Verstandesbegriffe in seinem Sinne
gibt. Und wir fragen gleich: Spielen nun jene Relationen der zweiten
Gattung wirklich die Rolle, welche Kant den Kategorien zuweist.? sind
es Verbindungen, die wir durch unsere Urteile herstellen — herstellen
müssen, wenn wir überhaupt urteilen wollen — , und durch die das
Wirkliche erst für uns seine Gestalt bekommt, die dann mit Sicherheit
und absoluter Geltung von ihr ausgesagt werden kann?
Betrachten wir kurz den Grundgedanken des Beweises, den Kant
für seine Ansicht führt.
Jegliche ,, Verbindung", meint er, ist überhaupt gar nicht anders
möglich als durch den Verstand; durch die Sinne könne wohl ein Mannig-
faltiges gegeben werden, aber es bleibe notwendig unverbunden, bevor
sich nicht das Denken seiner bemächtigt habe (Kritik der reinen Ver-
nunft, 2. Aufl., § 15). Verbindung bedeutet nun Zusammenfassung (Syn-
thesis) eines Mannigfaltigen zu einer Einheit. Sie wird dadurch mög-
lich, daß die gegebenen anschaulichen Elemente einem und demselben
Ich gegeben sind. Es ist die Einheit des Bewußtseins, welche sie
vereinigt (Die , .synthetische Einheit der Apperzeption", ebenda § 16).
Dasjenige aber, ,,in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen
Anschauung vereinigt ist", heißt Objekt. Damit also etwas für mich
Objekt werde, muß es unter den Gesetzen der Bewußtseinseinheit stehen.
Erkenntnis besteht nun nach Kant ,,in der bestimmten Beziehung ge-
gebener Vorstellungen auf ein Objekt"; die Bewußtseinseinheit macht
mithin Erkenntnis des Objektes möglich, und ihr verdankt sie ihre Gültig-
keit (ebenda § 17). ,, Diejenige Handlung des Verstandes aber, durch die
das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter eine Apperzeption ge-
bracht" (d. h. in der Einheit des Bewußtseins zusammengefaßt) wird,
,,ist die logische Funktion der Urteile". Diese Funktionen sind nun eben
die Kategorien, ,,also steht auch das Mannigfaltige in einer gegebenen
Anschauung notwendig unter Kategorien" (ebenda § 19, 20); die Voraus-
setzung, unter welcher nach Kant synthetische Urteile a priori über die
Wirklichkeit möglich sind, ist dann also erfüllt.
Der Kern dieses Beweises ist die Berufung auf die Tatsache der Ein-
heit des Bewußtseins.
Nun haben wir früher selbst auf diese eigentümliche Tatsache hin-
weisen und sie in Anspruch nehmen müssen, um die strenge Geltung be-
stimmter Urteile zu gewährleisten: das waren aber die analytischen
(vgl. oben § 16). Als diese Klasse von Urteilen durch die radikale Skepsis
bedroht wurde, gelang es uns, den Angriff durch Hinweis auf die Einheit
des Bewußtseins abzuwehren, indem wir das ganze Gewicht dieser Tat-
sache wirken ließen. Können wir demselben Helfer auch die ungleich
schwerere Aufgabe der absoluten Sicherung synthetischer WirkHchkeits-
3i6 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis.
urteile zumuten? Das dürfte seine Kräfte, die bei jener Gelegenheit schon
voll ausgenutzt werden mußten, doch wohl übersteigen.
In der Tat beweist das Faktum der Bewußtseinseinheit für unsere
Frage gar nichts, wenn die übrigen Annahmen nicht zutreffen, auf die
Kant's Gedankengang sich sonst noch stützen mußte. Damit aber ist
es schlecht bestellt.
In der Behauptung, daß alle Vereinigung im Bewußtsein durch ganz
bestimmte, dem Verstände eigentümliche logische Funktionen erfolge,
ist schon versteckt gesetzt, daß wir im Besitze synthetischer Urteile a priori
seien. Das zeigt sich dann auch in der Ableitung, die Kant später von
den einzelnen Grundsätzen gibt, die er für synthetisch-apriorisch hält;
doch darauf braucht hier nicht näher eingegangen zu werden. Kant
machte eben jene Voraussetzung, wie wiederholt hervorgehoben, und seine
ganze Deduktion sollte nur die Möglichkeit solcher Erkenntnisse ver-
ständlich machen, d. h. aus der Tatsache der wissenschaftlichen Erfah-
rung beweisen. Uns aber ist damit nicht gedient, und folglich nichts
bewiesen.
Ferner jedoch: wie steht es mit dem Ausgangspunkt des ganzen
Arguments, mit der Behauptung, daß es keine andere Verbindung gebe
als durch den Verstand.? oder, wie wir es ausdrücken würden: keine
anderen Beziehungen als die durch das Denken geschaffenen.? Kant
weiß als Grund nur anzuführen: ,,denn sie ist ein Aktus der Spontaneität
der Vorstellungskraft" (Kr. d. r. V. § 15). -Mit einer solchen Begründung
läßt sich natürhch nichts anfangen. Sie erscheint durchaus dogmatisch.
Woher weiß man, daß es sich um einen spontanen Akt des Verstandes
handelt.?
Die Einführung des Gegensatzes Spontaneität und Rezeptivität — in
moderner Ausdrucksweise: Aktivität und Passivität — ist an dieser Stelle
ganz unzweckmäßig. Unmittelbar verständlichen Sinn hat er ursprüng-
lich nur in praktischer Bedeutung, in der Anwendung auf die Willens-
vorgänge des Lebens; er ist ungeeignet zur Wiedergabe der fundamentalen
erkenntnistheoretischen Sachlage, mit der wir es hier zu tun haben (vgl.
auch das Kapitel über Aktivität und Passivität in dem Werke ,, Welt-
anschauungen und Welterkenntnis" von Berthold Kern, 191 i). Bei der
Erörterung dieser grundlegenden Fragen ist die Welt des Gegebenen für
den Erkenntnistheoretiker nicht anders als für den Psychologen ein konti-
nuierlicher Strom, in welchem die Unterscheidung zwischen passiv Auf-
genommenem und aktiv Hinzugetanem zunächst keinen Sinn hat. Sie
wird erst auf einer ganz anderen Stufe der Betrachtung durch besondere
Interpretation möglich. Nur wenn man mit Kant in Verstand und
Sinnlichkeit ursprüngliche ,, Vermögen" sieht, kann man jenen Unter-
schied für einen grundlegenden halten; bei dem heutigen Stande unserer
psychologischen Einsichten kommt es aber natürlich nicht in Frage.
Nachdem wir uns überzeugt haben, daß eine Berücksichtigung
der KANT'schen Philosophie uns nicht zu einer Entscheidung verhilft,
Von den Kategorien. 317
dürfen wir sie nun auf direktem Wege suchen, ohne durch kritizistische
Bedenken gestört zu werden.
In welchem Sinne noch eine MögHchkeit bestünde, den Verstand
— d. h. das Denken, Urteilen — für das Auftreten der Relationen im Be-
wußtseinsstrom verantwortlich zu machen, sollte unsere Betrachtung der
beiden Arten von Beziehungen lehren. Die Beziehungen zweiter Art
— Gleichheit, Ähnlichkeit usw. — sind, so fanden wir, nicht in ganz der-
selben Weise etwas realiter Vorgefundenes wie das sinnhch Wahrgenommene
nebst seinen zeitlich-räumlichen Verhältnissen; es mußte daher scheinen,
als würden sie erst durch den Urteilsakt geschaffen und würden über-
haupt in keinem Sinne ,, vorgefunden". Aber nähere Analyse zeigt, daß
es sich so doch nicht verhält.
Der zwischen den beiden Gattungen von Relationen konstatierte
Unterschied ist nämlich am treffendsten so zu formulieren, daß die Be-
ziehungen zweiter Art (die kategorienartigen) nicht als etwas ebenso
objektiv Vorhandenes aufgefaßt werden wie die zeitlich-räumlichen.
Man kann die (metaphysische) Frage aufwerfen, ob jenen Relationen eine
Existenz außerhalb des Bewußtseins zukommt oder ob sie etwas rein
Subjektives sind, aber darum handelt es sich hier gar nicht, sondern wir
fragen nach einem Unterschied, der schon innerhalb der Sphäre des Sub-
jektiven sich zeigen müßte. Beide Problemstellungen können leicht durch-
einander gemengt werden und sind oft verwechselt worden, weil in der
Tat die Relationen, wenn sie dieselbe Objektivität besäßen wie etwa
physische Körper der Außenwelt, vermutlich auch zu ebenso unmittel-
baren Wahrnehmungserlebnissen Anlaß geben würden wie jene.
Mag es mit der Objektivität der Relationen stehen wie es will: auch
wenn sie ihnen fehlte, können jene Beziehungsurteile sehr wohl einfach
vorgefundene Tatsachen bezeichnen. Nur sind diese Tatsachen zunächst
subjektiver Art, Bewußtseinszustände, meist wohl Resultate gewisser
psychischer Prozesse (Vergleichungsakte), von denen es ungewiß bleiben
kann, ob ihnen objektive Tatsachen irgendwie korrespondieren. Die
Ähnlichkeit zwischen Cäsar und Napoleon ist etwas Unselbständigeres,
Schattenhafteres als jene beiden Personen selber oder ihre zeitliche Auf-
einanderfolge; die Verschiedenheit einer soeben vernommenen Melodie von
einer Vorjahren gehörten ist nicht ebenso etwas jetzt objektiv Existierendes
wie die gerade erklingenden Töne der Melodie selber: aber unzweifelhaft
ist das Erlebnis, in welchem die Ähnlichkeit oder die Verschiedenheit
konstatiert wird, real im Bewußtsein vorhanden. Das Auftreten des Ähn-
lichkeitserlebnisses ist eine Tatsache, die genau so vorgefunden wird, wie
irgendeine andere, und die nun durch ein Urteil bezeichnet werden kann.
Das Urteil folgt also hinterher und es ist gar keine Rede davon, daß es
jenem Erlebnis zeithch oder logisch voraufgehen müßte und dasselbe in
sich enthielte.
3i8 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis.
Freilich treten solche Relationserlebnisse immer nur im Anschluß an
andere Bewußtseinsinhalte auf, nicht unvermittelt, unvorbereitet, wie etwa
eine Tonempfindung; es sind eben, wie man sich neuerdings ausdrückt,
,, fundierte" Erlebnisse: eine Beziehung setzt ja Glieder voraus, zwischen
denen sie besteht. Sind die Beziehungserlebnisse aber einmal da, so werden
sie einfach vorgefunden, sie verdanken ihr Dasein nicht einem ,, Denken"
in unserem Sinne. Das ist eine Wahrheit, der Stumpf (in seiner schon
mehrfach zitierten Abhandlung über Erscheinungen und psychische Funk-
tionen), wenn auch in einer von der unseren weit abweichenden Termino-
logie, folgendermaßen Ausdruck gibt: ,,Die Verhältnisse zwischen Er-
scheinungen sind uns in und mit je zwei Erscheinungen gegeben, nicht
von uns hineingelegt, sondern darin oder daran wahrgenommen; sie ge-
hören zum Material der intellektuellen Funktionen, sind nicht selbst
Funktionen, noch Erzeugnisse von solchen."
Die Betrachtung der Relationen nötigt uns also nicht, den bisher
festgehaltenen Begriff des ,, Denkens" aufzugeben; wir können es auch
fürder als ein bloßes Zuordnen von Urteilen zu Tatsachen auffassen, es
ist nicht ein Schaffen der Tatsachen oder eine Formung eines ungeformten
Stoffes. Die Beziehung, die jedes Urteil bezeichnet, ist jedesmal einfach
im Bewußtsein gegeben, wenn auch meist als Resultat besonderer psychi-
scher Prozesse. Die letzteren dürfen aber nicht in unserem Sinne als
Denken bezeichnet werden, sondern sind eher von der Art der Assoziations-
vorgänge.
Wenn irgend zwei Bewußtseinsdaten gegeben sind, so können die
Prozesse, die eine Relation zwischen ihnen stiften, entweder so oder so
vor sich gehen oder auch ganz ausbleiben, je nach den zufälligen Bedingungen.
Es sind eben Naturprozesse, deren Verlauf von einer großen Reihe empiri-
scher Faktoren abhängt. Verhält es sich aber so, dann leuchtet ein, daß
die verbindenden, verknüpfenden Bewußtseinsvorgänge nimmermehr die
apriorische Geltung synthetischer Urteile begründen können. Denn es
sind eben wechselnde Naturprozesse, die nicht notwendig zum Wesen des
Bewußtseins gehören, nicht seine Einheit konstituieren. Damit sind sie
der erkenntnistheoretischen Betrachtung entrückt, über ihre Zahl und
Art gibt die psychologische Analyse Aufschluß. (Wir finden eine solche
trefflich durchgeführt in dem Buche ,,Das Vergleichen und die Relations-
erkenntnis" von Alfred Brunswig).
Das Ergebnis wird bestätigt, wenn wir den Blick erneut auf die Be-
ziehungsbegriffe richten, die in der kritizistischen Philosophie die Rolle
von erkenntnisbegründenden Kategorien spielen sollen.
Ob wir einen Komplex gegebener Gegenstände als Einheit, Vielheit
oder Allheit auffassen (dies sind die drei ersten KANT'schen Kategorien),
wird sicherlich allein durch zufällige psychologische Gründe bestimmt.
Nachdem aber die Einheiten einmal festgelegt und damit die wirklichen
Von den Kategorien. 319
Gegenstände zählbar gemacht wurden, sind sie dem Zahlbegriff unter-
worfen und die Sätze über Zahlen — also die gesamte Arithmetik —
müssen von ihnen gelten. Man könnte nun den Begriff der Vielheit als
die Quelle jener Sätze ansehen. Wir wissen aber, daß sie rein analytische
Urteile sind (ein strenger Beweis dieser These für die arithmetischen Wahr-
heiten konnte freilich im Rahmen der allgemeinen Erkenntnislehre
nicht geführt werden; er gehört in die Philosophie der Mathematik; nur
sein Grundgedanke war hier darzulegen) die Geltung der arithmetischen
Urteile bietet daher (nach den Ausführungen des § 35) überhaupt kein
Problem, solange eben die Prämissen für die Wirklichkeit gelten. Diese
kommen einfach durch Zählung der Einheiten des Wirklichen zustande,
beruhen also nach dem eben Gesagten auf bestimmten durch empirische
Zwecke und Umstände bedingten Festlegungen; ihre Gültigkeit ist die-
jenige von Konventionen, also allein durch willkürliche Bestimmungen
(z. B. Maßsystem usw.) begründet. Niemals entspringt aus ihnen neue
Erkenntnis; Einheit, Vielheit, Allheit und die Zahlen überhaupt sind mit-
hin keine ,, Kategorien" in dem fraglichen Sinne.
Ähnliches gilt von den drei nächsten reinen Verstandesbegriffen der
KANT'schen Tabelle: Realität, Negation und Limitation. Was die Realität
betrifft, so tritt sie unter dem Namen ,, Dasein" noch einmal in der Tafel
auf; man kann von diesem Begriff unschwer feststellen, daß es schon
mit den Prämissen des KxNi'schen Systems schlecht vereinbar ist, ihn
unter die Kategorien zu rechnen; für uns vollends kann nach den Aus-
führungen des Abschnittes III A und des § 38 überhaupt keine Rede
davon sein, die Realität oder das Dasein als eine Denkform zu charakteri-
sieren, die a priori zu synthetischen Urteilen Anlaß gäbe.
Ebenso steht es mit den beiden anderen, Negation und Begrenzung.
Auch sie führen niemals zu synthetischen Sätzen, zu neuer Erkenntnis,
und stehen zu Unrecht in dieser Kategorientafel. Die apriorischen Sätze,
die nach Kant aus ihnen fließen sollen (die sogenannten ,,Antezipationen
der Wahrnehmung") sind einesteils bloße Definitionen (z. B. des Begriffes
der Intensität und ähnlicher), zum andern Teil ist sogar ihre Gültigkeit
sehr zweifelhaften Charakters, denn die Trennung von Intensität und
Quahtät der Empfindung, welche von Ka\t in den Antezipationen der
Wahrnehmung durchweg vorausgesetzt wird, ist keinesfalls für alle Sinnes-
gebiete reinlich durchführbar.
Wir kommen zu den bedeutsamsten Kategorien, denen der Substantia-
lität und Kausalität (denn die dritte im Bunde, die Wechselwirkung,
bedarf daneben keiner gesonderten Behandlung mehr).
Im alltäglichen wie im wissenschaftlichen Denken spielt zweifellos
der Begriff der Substanz eine große Rolle. Wir sprechen von der Materie
und ihren verschiedenen Zuständen, von der Energie und ihren wechselnden
320 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis.
Formen, von den Körpern und ihren variabeln Eigenschaften, und jedesmal
liegt der Gedanke eines Konstanten zugrunde, an welchem die Änderungen
vor sich gehen, das aber selbst sich nicht mitändert. Der Satz, daß allem
Wechsel ein beharrliches Konstantes innewohne, ist freilich ein syntheti-
sches Urteil; nach Kant's Ansicht leitet es sich a priori aus der Anwendung
der Substanz-Kategorie auf die Anschauungen ab. Ist das sein wahrer
Ursprung?
Wir sagten vorhin, daß niemals Substanzen wahrgenommen werden,
sondern höchstens raumzeitliche Koinzidenzen von Qualitäten oder Merk-
malen oder Eigenschaften, oder wie man es sonst nennen mag, und daß
noch etwas hinzukommen müsse, bevor der Komplex zusammengehörender
Daten durch den Substanzbegriff bezeichnet werden kann. Was nun
zunächst unzweifelhaft hinzukommt, ist die assoziative Verknüpfung der
einzelnen Merkmale in unserem Bewußtsein, vermöge welcher sie eben für
unser Erleben fortan zusammengehören, so daß mit dem Gegebensein der
einen die Erwartung des Gegebenwerdens der anderen sich verbindet.
Wenn ich ein Stück Wachs vor mir sehe, d. h. wenn gewisse Gesichts-
wahrnehmungen gelblicher Farbe vorliegen, so erwarte ich vermöge früher
gebildeter Assoziationen, daß die Empfindungen sich bei Änderung der
äußeren Umstände (der Stellung, Beleuchtung usw.) in bestimmter Weise
ändern; strecke ich die Hand aus, so erwarte ich gewisse Tastempfindungen
(Berührung von etwas Weichem); bringe ich das Stück ans Feuer, so er-
warte ich gewisse andere Metamorphosen, indem nämlich an die Stelle
des festen Körpers nun eine Flüssigkeit tritt: und meine Erwartungen
werden jedesmal erfüllt. Ich kann aber alle diese Komplexe immer mit
demselben Begriff und Namen ,, Wachs" bezeichnen, weil ihr raum-zeit-
licher Zusammenhang kontinuierlich gewahrt bleibt. Damit ist nun alles
gegeben, was den Gebrauch des Substanzbegriffes ermöglicht, so wie er
im täglichen Leben Verwendung findet, und es braucht nichts weiter mehr
hinzuzukommen, kein neuer Akt des Denkens oder des Verstandes, um
die Vorstellung eines körperlichen Gegenstandes entstehen zu lassen.
Der metaphysische Begriff der Substanz enthält freilich mehr, näm-
lich den Gedanken eines von den veränderlichen Eigenschaften vers"chie-
denen und ihnen zugrunde liegenden Trägers derselben. Aber gerade
diesen Gedanken haben wir längst als verkehrt erkannt (vgl. oben S. 245);
er bedeutet also ganz gewiß nicht eine Kategorie, welche Objekte kon-
stituieren und Erkenntnis begründen könnte. ^
Der wissenschaftliche Begriff der Materie verfeinert und entwickelt
die vulgäre metaphysische Substanzvorstellung insofern, als an die Stelle
der assoziativen Verknüpfung von Eigenschaften ein gesetzmäßiger Zu-
sammenhang von Qualitäten tritt (siehe oben S. 244 f.), aber auch er bietet
keine Möglichkeit, den synthetischen Satz von der Beharrung der Sub-
stanz apriorisch zu begründen. Kant spricht diesen Satz so aus (Kr. d.
r. V. Ki-.HRB.\CH S. 176 f.): ,,Bei allen Veränderungen in der Welt bleibt
die Substanz und nur die Akzidenzen wechseln", und er meint, daß zu
Von den Kategorien. 321
allen Zeiten nicht bloß der Philosoph, sondern selbst der gemeine Verstand
ihn vorausgesetzt haben und auch jederzeit als unzweifelhaft annehmen
werden. Soweit dieser letztere Sachverhalt richtig ist, läßt er sich psycho-
logisch erklären; er trifft aber wohl gar nicht allgemein zu. Es besteht
auch für den gemeinen Verstand keine Nötigung, alles Geschehen in der
Welt als Wechsel und Veränderung eines Konstanten aufzufassen; der
Glaube an ein absolutes Entstehen und Vergehen hat auch bestanden
und bleibt zulässig. Kant's Beweis, daß ein schlechthiniges Entstehen
oder Verschwinden niemals Gegenstand einer möglichen Erfahrung sein
könne, ist nicht zwingend.
Im Gegenteil, in der modernen Wissenschaft hat die Substanzidee
allen Boden verloren. Nachdem die Psychologie damit voraufgegangen
ist, die Bewußtseinsdaten nicht mehr als Akzidenzen einer substantiellen
Seele zu betrachten, sondern umgekehrt unter ,, Seele" nur den gesetz-
mäßig zusammenhängenden Komplex der kommenden und gehenden
psychischen Qualitäten zu verstehen, ist nun auch die Naturwissenschaft
durch bestimmte Erfahrungen genötigt worden, ihre Substanz, also die
Materie, lediglich als Zusammenhang gesetzmäßig wechselnder Qualitäten
aufzufassen (vgl. den letzten Abschnitt meines Aufsatzes über die philo-
sophische Bedeutung des Relativitätsprinzips in der Zeitschrift für Philo-
sophie und philosophische Kritik, Bd. 159). Auch die Behauptung der
Konstanz der Masse ist aus empirischen Gründen längst aufgegeben. Die
,, energetische" Naturauffassung, nach welcher die konstante Energie nun-
mehr die Rolle der alten Substanz spielen soll, so daß alles Geschehen in
der Welt nur als Wechsel der Energieformen aufzufassen wäre, ist nur
als eine mögliche, nicht als die notwendige Art der Naturbeschreibung
anzusehen und hat unter den Naturforschern keineswegs eine so große
Anhängerschaft, wie es nach der Häufigkeit scheinen möchte, mit der
diese Anschauung in der philosophischen und populären Literatur erörtert
wurde. Zudem wird es kein besonnener Forscher für schlechthin unmöglich
erklären wollen, daß künftige Erfahrungen selbst den Satz von der Er-
haltung der Energie als nur angenähert gültig erweisen könnten.
Das einzige, was die Wissenschaft als schlechthin unveränderhch fest-
zuhalten sucht — und festhalten muß, weil sie sonst überhaupt keine
Erkenntnis gewönne — sind die Gesetze. Das Wiederfinden des Gleichen
im Verschiedenen, das alle wissenschaftliche Erkenntnis konstituiert, stellt
sich in letzter Linie stets als ein Wiederfinden der gleichen Gesetze
heraus. Die Unveränderlichkeit der Substanz hat sich in eine Konstanz
der Gesetzmäßigkeit der Zusammenhänge aufgelöst.
Es gibt also keine synthetischen Sätze a priori über die Substanz,
und ihr Begriff ist keine Kategorie im Sinne der Transzendentalphilo-
sophie.
Wir sahen uns soeben auf den Gesetzesbegriff als letzten festen Grund
zurückgeführt; dadurch konnte die Hoffnung entstehen, daß wir nun in
Schlick, Erkenntnislehre. 21
322 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis.
ihm cndHch die gesuchte „Kategorie" vor uns haben, und daß die Gesetz-
mäßigkeit der Welt a priori von ihr behauptet werden könnte. Das wäre
dann die Kategorie der Kausalität, denn darauf läuft der Gesetzes-
gedanke offenbar hinaus. Die Behauptung des Kausalsatzes, daß jedes
Ereignis eine Ursache habe, aus der es notwendig folgt, ist nämlich identisch
mit der Behauptung einer durchgehenden Gesetzmäßigkeit alles Geschehens.
Denn wenn ich sage, daß irgendein bestimmter Vorgang A einem andern B
als Ursache voraufgegangen sein müsse, so setzt dies die Existenz einer
Regel voraus, die da angibt, welches B denn nun zu einem bestimmten A
gehört; gäbe es keine solche Regel, so wäre ja auch das B gar nicht be-
stimmt. Die Regeln nennen wir aber Naturgesetze; der Kausalsatz be-
deutet also nichts anderes, als daß alles Geschehen von Gesetzen be-
herrscht wird.
Ob diese Regeln individuell oder allgemein sind, macht dabei nichts
aus. Beides ist prinzipiell möglich. Ich erwähne das besonders, weil man
oft der Meinung begegnet, jedes Naturgesetz müsse allgemein sein, ^. h.
Anwendungsmöglichkeit für beliebig viele Fälle des Universums besitzen.
Es sind jedoch sehr wohl Naturgesetze denkbar, nach denen gleiche Ur-
sachen, wenn sie an verschiedenen Orten oder zu verschiedenen Zeiten
auftreten, ganz verschiedene Wirkungen hätten. Wenn ein Ereignis im
Jahre ipoo eine bestimmte Wirkung hatte, so könnte ein scheinbar ganz
gleiches Ereignis im Jahre 3900 eine ganz andere Wirkung haben. Oder,
während auf der Erde Zink sich in Salzsäure löst, könnte es auf einem
Planeten eines fernen Weltsystems, obwohl von irdischem Zink sonst un-
unterscheidbar, in einer ebenfalls sonst ganz gleichen Salzsäure unlöslich
sein. Gälten in der Welt derartige Naturgesetze (in diesem Falle dürfte
man mit Recht von einer ,, individuellen Kausalität" sprechen), so würde
es uns allerdings unmöglich sein, die Gesetze überhaupt aufzufinden (vgl.
unten. § 40), aber daß sie tatsächlich nicht von solcher Art, sondern all-
gemein sind, folgt nicht aus ihrem Begriffe, sondern nur die Erfahrung
lehrt es. Kausalität ist also identisch mit dem Bestehen von Gesetzen
überhaupt; erkennbar freilich wird das Bestehen der Kausalität erst
dadurch, daß die Gesetze allgemeinen Charakter tragen.
Verursachung, gleich der S.ubstantialität, ist nie Gegenstand der
Wahrnehmung; erlebt wird nur die zeitliche Folge und die räumliche
Nachbarschaft. Auf die Frage, was zu diesem zeitlichen Verhältnis noch
hinzukomme, müssen wir mit Hume antworten: zunächst wiederum nur die
Assoziation. Und es muß weiter zugegeben werden, daß auch gar nichts
weiter nötig ist, um alles menschliche Handeln so zu gestalten, wie es für
das Leben in der Welt erfordert wird. Es genügt für alle Zwecke der Wissen-
schaft und des Lebens, wenn ich diejenige Aufeinanderfolge von Vorgängen,
die in der Natur wirklich eintritt, immer schon vorher erwartet habe, und
daß wir dies tatsächlich tun, dafür sorgt die Assoziation der Vorstellungen
oder doch ein assoziationsähnlicher Prozeß. Es bedarf nicht des Ge-
dankens, .daß die Vorgänge nicht bloß nacheinander, sondern auch durch-
Von den Kategorien. 323
einander, auseinander erfolgen, daß über ihnen oder in ihnen ein realer
Zwang besteht, welcher sie verknüpft und das eine mit Notwendigkeit
aus dem andern hervortreibt. Für das tatsächliche Auftreten dieses Ge-
dankens darf man nur nach psychologischen Erklärungen suchen. Für den
modernen Forscher ist das Naturgesetz keine reale Macht, sondern nur
die Regel der Aufeinanderfolge; es befiehlt nicht den Dingen, wie sie sich
verhalten müssen, sondern , ist nur unser Ausdruck dafür, wie sie sich
tatsächlich verhalten.
Wir wissen nicht a priori, ob ein Zustand A, der bisher nie beobachtet
wurde, ohne daß ein anderer Zustand B auf ihn folgte, nun auch bei er-
neutem Auftreten in alle Zukunft B nach sich ziehen wird; aber wir er-
warten es. Mit anderen Worten: wir glauben an den Kausalsatz, aber
seine Geltung steht nicht a priori für unser Denken fest. Der KANT'sche
Beweisversuch des Kausalgesetzes, nach welchem ohne dessen Geltung
keine Erfahrung möglich wäre, enthält einen ganz richtigen Kern, aber
— wir hatten es vorwegnehmend schon früher angedeutet — uns nützt
er nichts, weil uns die Garantie dafür fehlt, daß wir ,, Erfahrung" in dem
Sinne, wie sie hier vorausgesetzt werden muß, überhaupt besitzen. Wir
dürfen hier im nächsten Paragraphen noch einmal anknüpfen.
Nachdem wir auch in der Kausalität keine ,, Denkform" in dem ge-
suchten Sinne finden konnten, wenden wir uns jetzt zu den drei letzten
KANX'schen Kategorien: Dasein, Möglichkeit, Notwendigkeit. Die erste
von ihnen ist durch frühere Betrachtungen für uns abgetan, es bleibt
also nur noch eine Prüfung der Begriffe des Möglichen und des Notwendigen
in Rücksicht auf unser Problem vorzunehmen.
Nimmt man sie in dem Sinne, der ihnen durch ihren Ursprung aus
dem täglichen Leben aufgeprägt wurde, so erkennt man alsbald, daß sie
nur Zeichen sind für subjektive Zustände im Bewußtsein des Urteilenden.
Das problematische und das apodiktische Urteil drücken in letzter Linie
gewisse psychische Tatbestände aus, nicht also eine Beziehung zwischen
den Gegenständen, von denen das Urteil auf den ersten Blick allein zu
handeln scheint. Das problematische Urteil ,,S kann P sein" bezeichnet
einen Zustand der Unsicherheit des Urteilenden, das apodiktische ,,S muß
P sein" einen solchen der Gewißheit. Diese Gefühle des Schwankens oder
der Sicherheit, des Nichtwissens oder des Wissens, werden im Bewußtsein
vorgefunden und geben den Grund zur Anwendung jener Begriffe ab.
Das Wort ,, Notwendigkeit" bedeutet ebenso wie sein Gegensatz, die
,, Freiheit", einen durchaus anthropomorphen Begriff und setzt die Er-
fahrung des Zwanges voraus. Wir nennen das menschliche Handeln frei,
wenn es in normaler Weise aus Motiven hervorgeht, ohne durch außer-
halb der Natur des Handelnden liegende Hindernisse gehemmt zu werden.
Im anderen Falle, wenn es etwa durch Kerkerwände, Ketten, Drohungen
usw. bestimmt wird, heißt es erzwungen; und dies Gefühl des Nicht-
324 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis.
anderskönnens ist die Quelle des Notwendigkeitsbegriffes. Das Wort Not-
wendigkeit hat unmittelbaren Sinn in Wahrheit nur in der Anwendung
auf das Handeln wollender Wesen (genau wie das Wort Zweck); im
übrigen dürfte es in einer strengen Theorie überhaupt nicht vorkommen.
Objektiv betrachtet findet ein Geschehen entweder statt, oder es findet
nicht statt; die Hinzufügung des Wortes „notwendig" ist tatsächlich be-
deutungslos. Es ist etwa so, als wenn man fragen wollte, ob der Mond
sich leicht oder schwer um die Erde bewege: das sind unstatthafte Über-
tragungen von Begriffen, die nur für das Gefühlsleben einen angebbaren
Sinn besitzen.
Ganz ähnlich steht es mit der ,, Möglichkeit". Wie sich das Dasein
vom notwendigen Dasein überhaupt nicht unterscheidet, wie das Not-
wendige nicht etwa einen höheren Wirklichkeitsgrad besitzt als das
schlechthin Wirkliche, so fällt im strengsten Sinne genommen auch das
Mögliche mit dem Wirklichen einfach zusammen. Was nicht wirklich ist,
ist im Grunde auch nicht möglich, denn dadurch, daß die zu seinem Auf-
treten nötigen Bedingungen in dem Bereich der Tatsachen nicht erfüllt
sind, wird es eben tatsächlich unmöglich. Ein nicht wirkliches Ereignis
können wir nur solange als möglich bezeichnen, als wir nicht wissen, ob
die zu seinem Eintritt führenden Ursachen in der Natur vorhanden sind;
sind sie da, so ist es wirklich, sind sie nicht da, so ist es nicht wirklich,
für ein drittes ist kein Raum (wobei wir keinen Unterschied machen
zwischen gegenwärtig Wirklichem einerseits und vergangenem und zu-
künftigem andererseits; will man das letztere als das Mögliche bezeichnen,
so steht dem nichts im Wege, aber das Wort hätte damit seine spezifische
Bedeutung eingebüßt). Die Aussage ,,dies Ereignis ist möglich" ist also
kein Urteil über das objektive Geschehen, es bezeichnet vielmehr nur den
unsicheren Stand unserer Kenntnis der Verhältnisse, die das Ereignis be-
dingen. Mit anderen Worten: das problematische Urteil ,,S kann P sein"
ist äquivalent einem kategorischen Urteil ,,Q ist R", wo nun die Begriffe
Q und R sich auf einen bestimmten psychischen Zustand des Urteilenden
beziehen.
Außer diesem ursprünglichen Sinn des Wortes Möglichkeit kann man
nun freilich für besondere Zwecke noch einen anderen durch Definition
festlegen; und das hat man getan, indem man darunter die ,, Vereinbar-
keit mit den Naturgesetzen" versteht. Was in der Welt geschieht, wird
ja nicht allein durch die in ihr herrschenden Gesetze, sondern zweitens
auch durch die irgendwann in ihr tatsächlich vorhandenen Zustände be-
stimmt (Kant nennt das erste die formalen, das zweite die materialen
Bedingungen. Siehe oben S. 162. In der theoretischen Physik treten die
ersten in Gestalt von Differentialgleichungen, die zweiten in Gestalt der
Anfangs- und Grenzbedingungen auf). Da wir nun wegen der unendlichen
Mannigfaltigkeit des faktisch Vorhandenen niemals dieses selber, sondern
höchstens die es beherrschenden Gesetze mit einiger Vollkommenheit zu
erkennen vermögen, so fühlen wir eine Sicherheit, daß ein bestimmtes
Von den Kategorien. 325
Ereignis niemals eintreten wird, nur dann, wenn es den Naturgesetzen
widerspricht. Ist es aber mit ihnen vereinbar, so wissen wir nie genau,
ob nun auch die materialen Bedingungen seines Eintritts jemals erfüllt
sein werden, ob es jemals wirklich wird. Wir wissen nur genau, daß die
Gesetze ihm nicht entgegen sind. Es bleibt eine Unsicherheit, und so
wird verständlich, wie man von dem ersten zu dem zweiten Begriff des
Möglichen gelangt. Im zweiten Falle ist als Tatbestand, den das proble-
matische Urteil (z. B. : ,,der Krieg kann hundert Jahre dauern") bezeichnet,
nicht der subjektive Zustand der Unsicherheit anzusehen, sondern die
objektive Tatsache, daß der Begriff des beurteilten Ereignisses den Be-
griffen der Naturgesetze nicht zuwiderläuft. Dieser Tatsache können wir
aber ein kategorisches Urteil zuordnen; auf ein solches läßt sich das
problematische also auch in diesem Falle reduzieren.
Ebenso ist das apodiktische Urteil ,,S muß P sein" entweder einfach
identisch mit dem kategorischen ,,S ist P", oder es bezeichnet ein Gefühl
psychischen Zwanges zum Urteilen, d. h. die subjektive Überzeugung von
der Wahrheit des Urteils. Dieser Tatbestand kann natürlich auch einfach
durch ein neues kategorisches Urteil ausgedrückt werden.
Also auch Notwendigkeit und Möglichkeit sind keine Denkformen,
sondern Zeichen für vorgefundene Tatbestände.
Wir schließen damit die Umschau nach erkenntnisschaffenden Kate-
gorien, die ja überhaupt nur zur Bekräftigung eines bereits gewonnenen
Ergebnisses dienen sollte. Man hat versucht, ihre Zahl noch weiter zu
bereichern und ihr manchen komplizierten Begriff hinzufügen wollen, aber
wir brauchen auf solche Erweiterungen nicht einzugehen, nachdem wir
die allgemeine Richtung, in der sie führen, als einen Irrpfad erkannt
haben. Als Fazit nämlich hat sich doch gezeigt, daß die Beziehung, mit
der wir es in jedem Urteil unzweifelhaft zu tun haben, in keinem Sinne
erst durch das Urteil erzeugt wird, sondern daß sie, welcher Art sie auch
sein möge, dem Denkakt logisch wie psychologisch immer schon vor-
auf geht.
Die Relationen sind also nicht Denkformen, sondern müssen als
Formen des Gegebenen angesehen werden. Darin stimmen sie also
mit der Räumlichkeit und Zeitlichkeit unserer Anschauungen überein.
Auch Anhänger der KANx'schen Denkrichtung haben gelegentlich zu-
gestanden, daß das Gegebene bereits geformt vorgefunden wird. So lesen
wir (bei F. Münch, Erlebnis und Geltung, 1913, S. 51): ,,Bezüghch der
anschaulichen Welt hat der Positivismus ganz recht, wenn er behauptet,
daß auch in ihr schon Formen ,, vorgefunden" werden: Raum und Zeit,
ferner Substanz im Sinne von relativ konstanter Koexistenz, Kausalität
im Sinne von relativ konstanter Sukzedenz. Aber er irrt ganz gewaltig,
wenn er meint, in diesen ,, Koordinationsformen" auch schon die Kate-
gorien zu haben, wenn er diese beiden logisch streng zu scheidenden Be-
326 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis.
griffe identifiziert". Damit stimmen wir überein, aber wir setzen hinzu,
daß es eben auch gar keiner Kategorien bedarf; das Denken löst sich
nicht in verschiedene logische, kategoriale Funktionen auf, sondern
,, Denken" bedeutet nach unserer Ansicht nur eine einzige Funktion: sie
besteht im Zuordnen.
Das Zuordnen zweier Gegenstände zueinander, das Beziehen des
einen auf den andern ist in der Tat ein fundamentaler, auf nichts
anderes zurückführbarer Akt des Bewußtseins, ein einfaches Letztes,
das nur konstatiert werden kann, eine Grenze und Grundlage, zu der
jeder Erkenntnistheoretiker schließlich vordringen muß. Das zeigt uns
unter andern das Beispiel Dei)fkini'*s, des scharfsinnigen Erforschers des
Zahlbegriffes: er sieht sich dabei auf die ,, Fähigkeit des Geistes geführt,
Dinge auf Dinge zu beziehen, einem Ding ein Ding entsprechen zu lassen . . .,
ohne welche Fähigkeit überhaupt kein Denken möglich ist" (Dedekind,
Was sind und was sollen die Zahlen.? 3. Aufl. S. VIII).
Im Denken gibt es im Grunde gar keine andere ,, Beziehung" als die
Zuordnung; die übrigen Relationen, von denen in der Philosophie, in der
Wissenschaft und im Leben die Rede ist, sind für das Denken nur Gegen-
stände, sie gehören zum Material, das dem Denken gegeben ist, ebenso
wie Dinge oder Eigenschaften oder Empfindungen.
Deshalb müssen wir es auch für einen Fehler halten, daß in der
Logik und der Erkenntnislehre verschiedene Arten von Urteilen auf-
gestellt und koordiniert wurden. Sachlich, dem Wesen nach, ist jedes
Urteil kategorisch, und wenn es äußerlich nicht in dem Gewand eines
solchen auftritt, so läßt es sich stets durch rein sprachliche Umformungen
in die Gestalt eines kategorischen überführen. Bei den problematischen
und apodiktischen Urteilen hat sich dies bereits gezeigt, es gilt aber auch
von den übrigen. Um dies an einem weiteren Beispiel zu erhärten: das
hypothetische Urteil, ,,Wenn A ist, so ist B" wird naturgemäß und
ohne Mühe in das kategorische umgewandelt ,,A ist der Grund (oder die
Ursache) von B" oder ,,B ist die Folge (oder die Wirkung) von A". Da
tritt dann deutlich hervor, daß die Relation nicht Urteilsform, sondern
Gegenstand der Beurteilung ist. Dadurch, daß manche Aussageinhalte
sich am bequemsten durch gewisse sprachliche Satzformen wiedergeben
lassen, entsteht der Irrtum, als handle es sich gar nicht um verschiedene
Denkinhalte, sondern um verschiedene Denkformen. In Wahrheit aber
liegt das Besondere, das die einzelnen ,, Urteilsarten" voneinander unter-
scheidet, nicht in den Urteilen selbst, sondern in den beurteilten Gegen-
ständen.
Es gibt nur eine Art von Urteil: das kategorische; und nur eine Art
von Denkbeziehung: die Zuordnung oder Bezeichnung.
So sehen wir denn: Von welcher Seile wir uns auch dem Problem
nähern, immer gelangen wir zu demselben Resultat. Das Denken schafft
Von der induktiven Erkenntnis. 327
niemals die Beziehungen der Wirklichkeit, es hat keine Form, die es ihr
aufprägen könnte, und die Wirklichkeit läßt sich keine aufprägen, denn
sie ist selbst schon geformt. Da auch keine reine Anschauung ihr strenge
Gesetze vorschreibt (§ 37), so wissen wir nun: Die Wirklichkeit erhält
Form und Gesetz nicht erst durch das Bewußtsein, sondern dieses ist nur
ein Ausschnitt aus ihr. Nun bestand aber die letzte und einzige Möglich-
keit strenger allgemeingültiger WirkHchkeitserkenntnis darin, daß das Be-
wußtsein der Natur ihre Gesetze diktiert. Da diese Möglichkeit ent-
schwunden ist, so sind wir jeder Hoffnung beraubt, im Erkennen des
Wirklichen zu absoluter Sicherheit zu gelangen. Apodiktische Wahrheiten
vom Wirklichen übersteigen die Kraft des menschlichen Erkenntnisver-
mögens und sind ihm nicht zugänglich. Es gibt keine synthetischen Urteile
a priori.
40. Von der induktiven Erkenntnis.
Die Frage nach der Geltung der Wirklichkeitserkenntnis hat durch
die voraufgehenden Untersuchungen eine vielleicht unerwünschte, aber
nicht mehr unerwartete Lösung gefunden. Je mehr wir heimisch wurden
in dem Ouellgebiet des menschlichen Erkennens, desto deutlicher wurde
es, daß alle synthetischen Urteile nicht anders entspringen und gelten als
a posteriori.
Die Akte des Wiederfindens, auf die jene Urteile sich gründen, sind
Einzelfälle der Erfahrung, und die Erkenntnisse gelten zunächst nur für
die Einzelfälle. Zum Leben, zum Handeln und für die Wissenschaft
brauchen wir aber allgemeine Sätze, allgemeine für die Wirklichkeit gültige
Prämissen, aus denen wir Schlußsätze ableiten können, die auch für Fälle
gelten, die in räumlicher und zeitlicher Ferne liegen. Es nützt mir nichts
zu wissen, daß noch jedesmal, so oft ich Brot gegessen habe, es mich er-
nährt hat und mir gut bekommen ist, wenn ich nicht weiß, daß auch
das Brot, das ich morgen essen werde, dieselben Eigenschaften besitzen
wird, und daß es auch andere ernähren wird, an die ich das Brot aus-
teile. Daß ich dergleichen mit Recht voraussetzen darf, bezweifelt nie-
mand. Unbedenklich machen wir jederzeit Aussagen über wirkliche Vor-
gänge, die wir nicht kennen, weil sie in der Zukunft oder in der Ferne
liegen, und unser Leben hängt in jedem Augenblick von der Gültigkeit
solcher Aussagen ab.
Es war aber gerade das Resultat unserer letzten Betrachtungen, daß
wir ihre absolute Gültigkeit nicht behaupten dürfen. Hier liegt also ein
Problem; und seine Lösung fordert die Beantwortung folgender Fragen:
Erstens: Wie gelangen wir überhaupt dazu, Sätze von wahrgenom-
menen Fällen zu übertragen auf nicht wahrgenommene; Urteile, die auf
früher erlebte Ereignisse passen, auch anzuwenden auf noch nicht erlebte.?
Zweitens: Welcher Art ist die Geltung, die wir für dergleichen
Sätze beanspruchen, da wir doch ihre absolute Gültigkeit nicht be-
haupten dürfen. -^
328 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis.
Und drittens: Mit welchem Recht machen wir diesen Anspruch?
Die drei Fragen bilden das Problem der Induktion. Denn mit
diesem Namen bezeichnet man ja die Ausdehnung eines Satzes von be-
kannten auf unbekannte Instanzen, die Übertragung einer Wahrheit von
wenigen Fällen auf viele, oder, wie man es gewöhnlich ausdrückt, den
Schluß vom Besonderen aufs Allgemeine.
Wir müssen uns darüber klar werden, zu welchen Antworten auf
diese Frage man von dem gewonnenen Standpunkt aus gelangt; erst dann
kann der Umkreis unserer Betrachtungen einigermaßen als geschlossen
gelten. Wir greifen sie in der aufgezählten Reihenfolge an und beginnen
also mit der Aufsuchung des Weges, auf welchem das Erkennen von parti-
kularen zu universalen Sätzen gelangt.
Welche Kräfte tragen unsere Erkenntnis der vergangenen und gegen-
wärtigen Tatsachen zu den fernen und zukünftigen hinüber.? Daß es
nicht die Kräfte des Denkens, der Vernunft sind, wissen wir aus schon
durchgeführten Betrachtungen. Die Schlüsse des Verstandes sind ihrem
Wesen nach analytisch, sie entwickeln nur besondere Wahrheiten aus den
allgemeinen, in denen sie bereits enthalten sind. Mehr vermag das Denken
nicht. Es ordnet nur und verknüpft gewonnene Erkenntnisse durch
deduktives Schließen (§ 14), aber es schafft keine Erkenntnis (§§ 38, 39).
Induktion jedoch gibt Erkenntnis im allerhöchsten Maße, der Inhalt
aller unserer Wirklichkeitswissenschaften ist durch sie gewonnen. Ebenso
wenig aber wie durch das Denken läßt sie sich ohne weiteres durch Er-
fahrung erklären, denn sie dehnt ja gerade unsere Erkenntnis auf solche
Fälle aus, von denen wir noch keine Erfahrung haben, nämlich auf zeit-
lich und räumlich entfernte.
Ich glaube, daß es auf die Frage nach der tatsächlichen Herkunft
induktiv gewonnener Sätze nur eine Antwort gibt, daß die Philosophie
sich längst in ihrem Besitz befindet, und daß es vor anderen Hlme ist,
dem sie diesen Besitz verdankt.
Wie aus der Formulierung der Frage hervorgeht, ist sie psychologischer
Natur. In irgendwelchen tatsächlichen Eigentümlichkeiten unseres Seelen-
lebens muß es begründet sein, daß wir für bestimmte Fälle errungene
Erkenntnisse darüber hinaus auch auf andere Fälle anwenden. Wenn wir
bei jeder Untersuchung eines Gegenstandes A in ihm den Gegenstand B
wiedergefunden haben, so erwarten wir, daß nun überall, wo der Be-
griff A Anwendung findet, auch B zur Bezeichnung desselben Gegenstandes
verwendet werden darf und ohne weiteres zu einer eindeutigen Zuordnung
führt. Ich habe z. B. oft beobachtet, daß Papier in Flammen aufgeht,
wenn ich es ins Feuer werfe, und bin nun überzeugt, daß auch der Brief
in meiner Hand sofort verbrennen wird, wenn ich ihn in den Kamin
schleudere, obwohl ich diesen Brief und diese Holzscheite heute zum
erstenmal erblicke. Das Urteil ,, Papier ist brennbar" halte ich (von be-
Von der induktiven Erkenntnis. 329
sonderen Umständen abgesehen) für allgemeingültig. — Ich habe mein
Fenster nie mit Eisblumen geschmückt gesehen, außer wenn draußen eine
niedrige Temperatur herrschte; deshalb erwarte ich mit Bestimmtheit,
heute beim Verlassen des Hauses ein intensives Kältegefühl zu verspüren,
denn die Scheiben sind mit schönen Kristallen bedeckt. Den Satz, daß
Eis nur in der Kälte existenzfähig ist, habe ich durch Induktion ge-
wonnen.
Wenn man sich fragt, welcher menschlichen Fähigkeit derlei Er-
kenntnisse zu danken sind, so wird man keinen anderen psychologischen
Grund finden können als die Gewöhnung. Und sie beruht ihrerseits
ganz und gar auf Assoziations Vorgängen. Mit der Ideenkombination
des Papiers und des Feuers hat sich die Vorstellung des Verbrennens fest
verknüpft, mit dem Anblick der Eisblumen die Vorstellung der Kälte.
Ich bin von Natur mit einem Assoziationsmechanismus ausgerüstet, der
mich ohne weiteres das zweite Glied erwarten läßt, sobald das erste auf-
getreten ist, vorausgesetzt, daß ich die Verbindung der beiden oft genug
erlebt habe. Das ist eine biologisch zweckmäßige Einrichtung; der Mensch
könnte nicht ohne sie leben, weil er nicht zu lebenerhaltendem Handeln
fähig wäre.
Man hat öfters eingewandt, daß der Glaube an die allgemeine Gültig-
keit eines Satzes häufig schon aus einer einmaligen Beobachtung ent-
springe, wobei doch zur Stiftung einer festen Assoziation und Ausbildung
einer Gewöhnung die Gelegenheit fehle. Wenn ein Forscher die Eigen-
schaften einer neu von ihm dargestellten chemischen Verbindung be-
schreibt, so zweifelt er nicht, daß eine Verbindung, die auf die gleiche
Weise wo und von wem auch immer erzeugt wird, genau dieselben Eigen-
schaften besitzen wird, obwohl doch erst eine einzige Beobachtung vor-
liegt, auf die er sein Urteil stützt. Es ist vollkommen richtig, daß in einem
solchen Falle die Annahme der Allgemeingültigkeit nicht auf Assozia-
tionen beruht, die sich bei Gelegenheit jenes Einzelfalles gebildet hätten.
Aber letzten Endes geht sie doch auf assoziative Gewöhnung zurück.
Sie beruht nämlich darauf, daß eine sehr große Zahl anderer Erkenntnisse
vorausgegangen ist; man hat viele Erfahrungen gesammelt über das Ver-
halten von chemischen Verbindungen, über die Faktoren, von denen es
abzuhängen pflegt, und auf welche Punkte es nicht ankommt. Wären
solche tausendfältigen Erfahrungen nicht vorhergegangen, so könnte man
jenen Induktionsschluß tatsächlich nicht ziehen, man wüßte nicht, ob die
Eigenschaften der Substanz nicht etwa von der Form des Gefäßes ab-
hängen, in dem sie aufbewahrt wird, oder von dem Alter des Experimen-
tators oder vom Stande der Planeten usw. Kurz: die Induktion ruht
nicht auf der einmaligen Beobachtung allein, sondern hat eine große
Menge anderer Erkenntnisse zur Voraussetzung, die in letzter Linie stets
das Ergebnis einer Häufung gleichartiger Erlebnisse sind, also ein Produkt
der Gewöhnung, der Assoziation. Durch sie ist ein gewaltiger Komplex
von Erwartungen, von Regeln unserm Bewußtsein eingeprägt, der unser
330 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis.
ganzes Leben und Denken durchwebt. Neue Einzelfälle werden in diesen
Gewohnheitszusammenhang eingefügt, er braucht nicht jedesmal durch
besondere assoziative Übungsprozesse neu begründet zu werden.
Durch die fechte Beachtung dieser Umstände lassen sich überhaupt
alle Einwände gegen die assoziative Grundlage jeder Induktion mühelos
entkräften. In einer Welt, in der ähnliche Erlebnisse nicht gleichförmig
immer wieder und wieder kehrten, in der also keine Gelegenheit zur Ge-
wöhnung und Übung vorhanden wäre, würden auch induktive Erkenntnisse
nicht zustande kommen. Der Erkenntnisvorgang hat sich ja entwickelt
aus ursprünglich direkt biologisch nützlichen Prozessen (siehe oben § 12),
er setzt eine Anpassung an die Umstände der Umgebung voraus, die nur
stattfinden kann, wenn diese Umstände so konstant sind, daß sie Ge-
wöhnung (des Individuums und der Gattung) ermöglichen.
Ein anderer Grund für den naiven Glauben an die Allgemeingültig-
keit synthetischer Sätze läßt sich zweifellos nicht finden. Dieser Glaube
ist natürlich keine Einsicht; die würde eine Rechtfertigung des
Glaubens voraussetzen, und ob und wie eine solche gegeben werden kann,
das ist die schwierigere dritte Frage des Induktionsproblems, die uns
alsbald beschäftigen soll.
An der nun gefundenen Antwort auf die erste Induktionsfrage fällt
sofort auf, daß sie uns auf genau die gleichen Prozesse verweist, die wir
im vorigen Paragraphen als die subjektiven Wurzeln der Kausalitäts-
vorstellung erkannten. Darin offenbart sich der Zusammenhang zwischen
den Problemen der Kausalität und der Induktion. Sie sind in der Tat
gar nicht unabhängig voneinander lösbar, sondern das eine geht im andern
auf. Jener allgemeine Gewöhnungszusammenhang, von dem soeben die
Rede war, und unter dessen Voraussetzung schon der Einzelfall unter
Umständen zur Begründung eines induktiven Satzes ausreicht, ist gar
nichts anderes, als der Kausalzusammenhang oder vielmehr dessen sub-
jektives Spiegelbild. Der Kausalsatz ist (siehe oben S. 322) nur der zu-
sammenfassende Ausdruck für das durchgängige Bestehen der einzelnen
Regelmäßigkeiten. Er ist seinerseits aus der Gesamtheit der beobachteten
Regeln induziert. Aber natürlich kann er sie nicht ersetzen, denn auch
wenn er als gültig angenommen wird, bleibt es Sache der Induktion, fest-
zustellen, welches denn nun die einzelnen in der Natur herrschenden
Gesetze sind, welche Vorgänge also als Ursachen und Wirkungen zu-
sammen gehören.
Gegen den Kausalbegriff hat die moderne positivistische Kritik
manches einzuwenden gehabt. Wir wollen die Gelegenheit ergreifen, zu
diesen Bestrebungen Stellung zu nehmen, welche die Worte Ursache und
Wirkung aus der wissenschaftlichen Sprache ausmerzen wollen, um sie
durch den mathematischen Funktionsbegriff zu ersetzen.
Es muß zugegeben werden, daß die Verwendung der Begriffe Ursache
und Wirkung eigentlicli nur in populärer, ungenauer Sprechweise erlaubt
Von der induktiven Erkenntnis. 331
ist: aber nicht deshalb, weil mit ihnen fetischistische Anschauungen ver-
knüpft sein müßten (wie Mach gemeint hat), sondern einfach deswegen,
weil man die Ursache irgendeines realen Vorganges doch niemals mit
wirklicher Vollständigkeit angeben kann, so daß man es also mit einem
niemals scharf abzugrenzenden Begriff zu tun hätte. Denn bei jedem
Vorgang in der Welt müssen wegen der gegenseitigen Abhängigkeit alles
Geschehens voneinander unendHch viele Bedingungen zusammenwirken,
um seinen Verlauf bis ins einzelne gerade so zu gestalten, wie er sich tat-
sächlich abspielt. Die vollständige Ursache jedes einzelnen Ereignisses
ist also ein unendlich komplizierter Tatbestand. Es ist bezeichnend,
daß in der exakten Formulierung der Naturgesetze in der Physik die
Termini Ursache und Wirkung nie auftreten; sie haben gar keinen Platz
menr in den quantitativen Formeln der Gesetze.
Wenn also auch von Ursachen und Wirkungen in präziser wissen-
schaftlicher Sprechweise nicht wohl geredet werden darf, so ist dies doch
kein Grund, um nicht auch fürderhin den allgemeinen Zusammenhang
alles wirklichen Geschehens als einen kausalen zu bezeichnen. Im Gegen-
teil, es ist zweckmäßig, den im Gedanken der Verursachung liegenden
brauchbaren Kern auf diese Weise zu erhalten. Unter Kausalität ist die
Abhängigkeit realer Vorgänge voneinander zu verstehen; der mathe-
matische Funktionsbegriff dagegen bedeutet streng genommen nur ideale
Beziehungen zwischen Zahlen. In einer früher schon erwähnten Abhand-
lung von V. Stern (siehe oben S. 177) wird der Unterschied zwischen
beiden treffend dahin formuliert, daß wir es beim Funktionsbegriff (wie
es sich nach unseren früheren Ausführungen "über das mathematische
Denken von selbst versteht) mit rein analytischen Beziehungen zu tun
haben, während Kausalität einen synthetischen Zusammenhang bedeutet.
In der Tat, wenn ich etwa die Funktion y := x* hinschreibe, so ist y nur
ein neues Zeichen für die mit sich selbst multiplizierte Zahl x; wir haben
eine Identität vor uns. Nehme ich aber den mathematischen Ausdruck
eines Naturgesetzes, etwa des CouLOMB'schen Gesetzes, welches mir die
Größe der zwischen zwei Elektrizitätsmengen e^ und Cj in der Entfernung r
wirkenden Kraft K angibt: K = -^t ^° ^^^ "^'^^ ^^^^ Identität nur inso-
fern als ich die hier auftretenden Buchstaben als Zeichen für bestimmte
Zahlen betrachte; sie sind aber zugleich auch Zeichen für gewisse reale
Verhältnisse. Die linke Seite unserer Gleichung bedeutet eine Kraft, die
rechte das Produkt zweier Elektrizitätsmengen, dividiert durch das Quadrat
einer Strecke; und daß die Maßzahlen dieser Größen gleich sind, ist natür-
lich kein analytischer Satz, sondern es bedeutet einen Zusammenhang,
den ich durch Messung feststelle.
Die kausalen Verhältnisse der Wirklichkeit werden erkannt, indem
wir ihnen unsere begrifflichen funktionalen Beziehungen zuordnen, aber
es wäre eine verwirrende Verwechslung des Bezeichneten mit den Zeichen,
wenn man von den Relationen des Wirklichen selber als von funktionalen
332 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis.
Beziehungen spräche. Es bleibt verwirrend, obwohl man mit jener Sprech-
weise zunächst wohl nur die gute Absicht verband, mit dem Worte Kausa-
htät zugleich den Gedanken auszumerzen, als sei darunter irgendein
reales Mittelglied zu verstehen, eine besondere wirkliche Wesenheit, welche
die Wirkung mit der Ursache verknüpfe. Dieser Gedanke braucht sich
aber mit dem Ausdruck ,, Kausalzusammenhang" keineswegs zu ver-
binden; wir verstehen darunter vielmehr nur die Tatsache, daß gewisse
Vorgänge nur eintreten, wenn gewisse andere Vorgänge vorausgegangen
sind. Denn wir sehen mit Hume ein, daß alles Suchen nach einem realen
Agens neben oder hinter den Naturvorgängen, das die Wirkung aus der
Ursache hervortriebe, einer falschen Fragestellung entquillt. Die Annahme
eines solchen realen Bandes würde die Sache nicht verständlicher machen
und keine neue Erkenntnis bedeuten oder ermöglichen, denn statt daß
der Kausalkonnex dadurch auf etwas anderes zurückgeführt würde, wäre
vielmehr nur ein neues unbekanntes Glied zwecklos eingeschoben.
Da der Kausalsatz letzten Endes nur der Ausdruck des Bestehens
allgemeiner Gesetze in der W^irkUchkeit ist, und da diese immer durch
Induktion gefunden werden, so besteht zwischen Induktion und Kausahtät
der Zusammenhang, daß jeder Vollzug der ersteren einen Spezialfall der
letzteren bedeutet. Die Einsicht in den kausalen Charakter aller Induk-
tion ist der modernen Logik durchaus geläufig (besonders deutlich findet
man ihn z. B. betont von Heymans in seinem Buche: Die Gesetze und
Elemente des wissenschaftlichen Denkens, 2. Aufl., S. 301).
Der allgemeine Gewöhnungszusammenhang, von dem vorhin (S. 329)
die Rede war, und der den Untergrund für die einzelnen Induktionen
abgibt und ihre Isolierung und Selbständigkeit aufhebt, hat sich also als
Kausalkonnex herausgestellt. Das durch ihn bedingte Ineinandergreifen
aller Erfahrungen verhindert auch, daß bhndling alles, was irgendwie
regelmäßig aufeinander folgt, als kausal verknüpft aufgefaßt werden
müßte. Der oft und schon sehr früh gegen die empiristische Kausal-
theorie gemachte Einwurf, daß z. B. die regelmäßige Aufeinanderfolge
von Tag und Nacht doch nicht dazu führe, das eine für die Ursache des
andern zh erklären, findet so ohne weiteres seine Erledigung. Es ergibt
sich bald, daß die Begriffe Ursache und Wirkung nur auf Vorgänge, auf
Prozesse, nicht etwa auf Dinge anwendbar sind. Wenn wir z. B. von
einer chemischen Verbindung sagen, sie habe immer die gleichen Eigen-
schaften (dies war unser Beispiel einer Induktion aus einer einmaligen
Beobachtung), so heißt dies: an der Substanz vorgenommene Eingriffe
ziehen immer dieselben Folgeprozesse als Wirkungen nach sich. Tag und
Nacht aber sind keine Naturprozesse im wissenschaftlichen Sinne. —
So bestätigt die Betrachtung von allen Seiten, daß identisch derselbe
Prozeß, nämlich die Assoziation, den subjektiven Anlaß abgibt sowohl für
die Bildung der Kausahtätsvorstellung wie auch für den Glauben an jeden
allgemeingültigen Satz über Wirkliches.
Von der induktiven Erkenntnis. 333
2.
Die erste Frage des Induktionsproblems, wie wir tatsächlich zu all-
gemeinen synthetischen Urteilen gelangen, darf durch diese Hinweise auf
die psychologischen und biologischen Prozesse als beantwortet gelten, und
wir wenden uns nun der zweiten, schwierigeren zu: Was für einen Gültig-
keitscharakter tragen diese Urteile für uns, da ihre Geltung doch nicht
eine schlechthin bestehende, unbezweifelbare ist?
Wie kann man überhaupt von verschiedenen Arten der Geltung reden?
Ein Urteil bezeichnet doch entweder eine Tatsache eindeutig oder nicht,
ist also entweder gültig oder nicht. Es erscheint mithin sinnlos, ver-
schiedene Arten oder Grade der Geltung zu unterscheiden.
Man pflegt zu sagen, daß induktiv gewonnene Sätze nicht den Cha-
rakter der Gewißheit tragen, sondern nur wahrscheinliche Geltung
besitzen. Aber was soll dies bedeuten?
Wenn ich sage: ,,A ist wahrscheinlich B" (z. B. : Die chemischen
Kräfte sind wahrscheinlich elektrischer Natur), so will ich damit die beiden
Begriffe A und B nicht endgültig demselben Gegensta-nde zuordnen, nicht
den Gegenstand B als sicherlich stets in A auffindbar bezeichnen, sondern
die Zuordnung von B zu dem wirklichen Gegenstande ist eine versuchs-
weise, von der ich Eindeutigkeit erhoffe. Mit anderen Worten: der Satz A
ist B stellt eine Hypothese dai.
Alle unsere Wirklichkeitserkenntnisse sind also streng genommen
Hypothesen. Keine wissenschaftliche Wahrheit, mag sie historischer Art
sein oder der exaktesten Naturforschung angehöien, macht davon eine
Ausnahme, keine ist im Prinzip vor der Gefahr sicher, irgendwann einmal
widerlegt und ungültig zu werden. Wenn es auch zahllose Wahrheiten
über die wirkliche Welt gibt, an denen kein Mensch zweifelt, der sie über-
haupt kennt: vollkommen kann keine von ihnen den Charakter des Hypo-
thetischen abstreifen.
Doch das sind schließlich wohlvertraute Dinge. Die neuere Philosophie
und Wissenschaft haben sich längst daran gewöhnt, für die Wirklichkeits-
erkenntnis nur Wahrscheinlichkeit in Anspruch zu nehmen, und sie können
sich damit wohl zufrieden geben in dem Bewußtsein, daß das tägliche
Leben, bei dem es sich doch um Glück und Elend, um Dasein und Tod
handelt, schon Urteile als sichere Grundlage nimmt, die einen sehr viel
geringeren Grad der Wahrscheinlichkeit haben als er der Wissenschaft für
ihre Urteile erreichbar ist.
Wir unterscheiden nämlich, wie jeder weiß, in der Wahrscheinlichkeit
höhere und niedere Grade; unser Urteilen kann mehr oder weniger hypo-
thetisch sein. In subjektiver Hinsicht, als psychologisches Faktum, sind
diese Tatbestände nicht schwer verständlich. Sie lassen sich wiederum
im Anschluß an analoge Erwägungen des vorigen Paragraphen leicht
deuten. Wenn wir irgendetwas mit großer Sicherheit behaupten, so ist
334 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis.
unsere Bewußtseinslage dabei ganz anders als wenn wir nur eine vage
Vermutung aussprechen; die größere oder geringere Wahrscheinlichkeit
der Geltung eines Satzes wird von uns auf spezifische Weise erlebt. Mag
nun dieser Bewußtseinszustand der Gewißheit oder des Schwankens als
ein Gefühl oder sonstwie charakterisiert werden: jedenfalls ist er eine
Realität, die jeder kennt und unzählige Male, bei jeder denkenden Stellung-
nahme zur Wirklichkeit, in sich erfahren hat. Sie bestimmt und mißt
für das urteilende Subjekt den Geltungswert eines Satzes, und wenn die
Behauptung einer bestimmten Wahrscheinlichkeit für die Geltung eines
Urteils eben nur den Sinn hätte, das Vorhandensein jenes subjektiven
Zustandes der Sicherheit oder Ungewißheit zu konstatieren, so wäre unsere
zweite Induktionsfrage jetzt erledigt.
Aber das ist nicht der Fall; unzweifelhaft beanspruchen Wahrschein-
lichkeitsaussagen über jenen subjektiven Sinn hinaus eine objektive Be-
deutung. Wenn wir sagen: ,,A ist wahrscheinlich B", so geht der Sinn
der Behauptung nicht darin auf, daß wir ein bestimmtes Gefühl in uns
konstatieren wollen, sondern es soll damit zugleich etwas über das Ver-
halten der objektiven Wirklichkeit selbst gesagt sein. Es wird nicht
schlechthin ausgesagt, daß die Bezeichnung des Gegenstandes A durch
den Begriff B zur Eindeutigkeit führe; es wird auch nicht behauptet, daß
dies nicht der Fall sei; und es wir.d auch nicht etwa einfach ausgesagt,
daß wir gar nichts darüber wüßten, ob dies oder jenes zutreffe; sondern
es handelt sich scheinbar um ein Mittleres zwischen kontradiktorischen
Gegensätzen, um ein Drittes neben Bejahung und Verneinung. — Kein
Wunder, wenn dieser eigentümhche Tatbestand immer von neuem die
Bemühungen der Logiker der Wahrscheinlichkeit herausfordert!
Welchen objektiven Sinn hat es, einem Satze wahrscheinHche Geltung
zuzuschreiben.-* Um dies zu ergründen, geht man gewöhnlich von einer
Betrachtung des mathematischen Wahrscheinlichkeitsbegriffes aus; und
in der Tat darf man so am ehesten Aufklärung erwarten, weil sich hier
bereits eine strenge Formulierung findet. Es darf aber nicht vergessen
werden, daß das philosophische Problem nicht in der mathematischen
Definition des Wahrscheinlichkeitsbegriffes hegt, sondern ganz allein in
seiner Anwendung auf die Wirklichkeit. Nur auf diese letztere richtet
sich unser Interesse.
Die Wahrscheinlichkeit, mit einem gewöhnlichen Würfel eine 6 zu
werfen, beträgt bekanntlich Vg- Jede von den 6 Seiten des Würfels kann
nämlich beim Wurf nach oben zu liegen kommen (die Zahl der ,, mög-
lichen" Fälle beträgt 6), und nur eine einzige von diesen Seiten trägt die
erwünschten 6 Punkte (die Zahl der ,, günstigen Fälle" beträgt i), und in
der Mathematik ist die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses bekanntlich
definiert als der Quotient aus der Zahl der günstigen und der Zahl der
möglichen Fälle. Dabei wird vorausgesetzt, daß die Fälle alle ,, gleich-
möglich" sind; was aber darunter zu verstehen ist und wie man es fest-
Von der induktiven Erkenntnis. 335
stellt, darum kümmert sich die Wahrscheinlichkeitsrechnung selber nicht.
Gerade dies aber ist für uns das einzig Wichtige. Wenn wir also fragen:
Was bedeutet es zu sagen, die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses be-
trage ^/e?, so genügt uns als Antwort nicht der Hinweis auf jenen Quotienten,
sondern wir wollen allein wissen, auf welche Tatsachen der Wirklichkeit
denn nun der Begriff Anwendung finden kann.
Man hat früher wohl gelegentlich gemeint, die Wahrscheinlichkeits-
zahl sei in unserem Falle weiter nichts als ein Maß für die Zuversicht,
mit der ein Würfelspieler das Auffallen einer 6 erwarte; aber es ist klar,
daß diese Interpretation verkehrt ist. Denn die Gewinnhoffnung eines
Spielers hängt von seiner zufälligen Stimmung, von seiner Laune, seinen
Gefühlen und Kenntnissen ab, ist also verschieden, während die objektive
Wahrscheinhchkeit immer ^e bleibt. Jene Zahl kann also nicht ein Maß
für seine tatsächliche, sondern höchstens für seine berechtigte Er-
wartung sein. Es hängt ganz von objektiven Bedingungen ab, mit welchem
Recht er ein bestimmtes Spielresultat erwartet; die Wahrscheinlichkeits-
zahl hat fraglos durchaus eine objektive Bedeutung. Welches aber ist sie.?
Nachdem man die Theorie der subjektiven Erwartung verlassen hat,
sagt man gewöhnlich, der Sinn des Satzes in unserem Beispiele sei der,
daß bei lange fortgesetztem Würfeln die Zahl des Auffallens einer 6 um
so genauer Vg der Zahl der Gesamtwürfe betrage, je größer diese letztere
Zahl ist. Aber der exakte Sinn des Satzes kann in dieser Formulierung
nicht liegen, denn sie gilt selbst nicht genau, sondern nur mit einer ge-
wissen Wahrscheinlichkeit, die sich ihrerseits zahlenmäßig angeben läßt.
Daß nämlich die Zahl der Sechserwürfe unter n Würfen um so weniger
von "/g abweicht, je größer n ist, darf nach der Wahrscheinlichkeits-
rechnung für kein endliches n mit Sicherheit behauptet werden, sondern
es ist eben nur wahrscheinlich. Man sagt, es gelte für ,, große" Zahlen;
da aber ,,groß" ein relativer Begriff ist, so ist das keine strenge Aussage.
Es kann z. B. zufällig eintreten, daß während der ersten 60 Würfe die
6 gerade lOmal auffällt, während der nächsten tausend aber immer seltener,
so daß die durchschnittliche Häufigkeit ihres Auftretens sich von dem
Bruch "/g entfernt, statt sich ihm zu nähern. Mag man n auch noch so
groß nehmen: es besteht immer noch eine endliche Wahrscheinlichkeit
dafür, daß unter den Würfen eine 6 überhaupt nicht vorkommt; sie
ist nämlich gleich (^/g)". Man mag sich drehen und wenden wie man will:
auf diese Weise ist es nicht möglich, den exakten Sinn ^nzugeben, den
eine wahrscheinliche Aussage für die Wirklichkeit hat. Welche Formu-
lierung man auch wählen möge: sie hat immer nur wahrscheinliche Gel-
tung. Mit anderen Worten: der Begriff der Wahrscheinlichkeit läßt sich
auf den der Wahrheit überhaupt nicht zurückführen, so lange man als
Urteilsmaterie die unbekannten Tatbestände betrachtet, von denen in
dem ,, wahrscheinlichen" Urteil explizite die Rede ist. Es ist eben nicht
möglich, über das Unbekannte Aussagen zu machen, als ob es be-
kannt wäre.
336 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis.
Wie jedes Urteil muß sich aber auch das Wahrscheinlichkeitsurteil
auf ein kategorisches zurückführen lassen, wenn es überhaupt Sinn haben
soll. Dieses kategorische Urteil muß also auf einen anderen Tatbestand
gehen als es äußerlich betrachtet den Anschein hat: eine Aussage über
einen künftigen Würfelwurf ist in Wahrheit eigentlich gar nicht ein Urteil
über diesen Wurf, sondern handelt von einem komplexeren Faktum, das
aber natürlich zu jenem Wurf in irgendeiner Beziehung stehen muß. Wir
haben dieselbe Sachlage vor uns, wie etwa beim Möglichkeitsurteil (siehe
oben S. 322); und in der Tat ist ja Wahrscheinlichkeit ein besonderer
Fall von Möglichkeit, wahrscheinliche Sätze sind problematische und
unterscheiden sich von den reinen Möglichkeitsurteilen nur dadurch, daß
für die Möglichkeit gleichsam ein bestimmter Grad, ein gewisses Maß
angegeben wird. Bedeutet Möglichkeit in der objektiven Fassung des
Begriffes soviel wie Vereinbarkeit mit den Naturgesetzen, den formalen
Bedingungen der Wirklichkeit, wobei es außer Betracht bleibt, ob auch
die materialen Bedingungen erfüllt sind, so wird die Aussage der Wahr-
scheinhchkeit den Sinn haben, daß ein Teil der materialen Bedingungen
tatsächlich erfüllt ist; und die Größe dieses Teiles in ihrem Verhältnis
zur Gesamtheit der Bedingungen wird das Maß der Wahrscheinlichkeit
sein. Über den anderen Teil der Bedingungen wird nich.ts gesagt.
Es kommt in der Wirklichkeit vor, daß die Bedingungen sich quanti-
tativ gegeneinander abwägen lassen, indem die Abwägung auf eine Ab-
zahlung zurückgeführt werden kann, und eben dies sind die Fälle, auf
welche die mathematische Wahrscheinlichkeitsbetrachtung anwendbar ist.
Oder vorsichtiger ausgedrückt: wir können die Wahrscheinlichkeitsberech-
nung nur anwenden, indem wir die Voraussetzung der Zählbarkeit machen.
Wir brauchen nicht zu untersuchen, auf welche Weise es geschieht, daß
hier der Zahlbegriff auf Bedingungskomplexe anwendbar wird, die doch
in der Natur kontinuierhch sind; das ist eine Frage der Einzelforschung,
die für unser prinzipielles Problem keine Bedeutung hat.
Es ist von der höchsten Wichtigkeit, daß es sich bei der Wahrschein-
lichkeitsrechnung wirkHch um die materialen Bedingungen handelt; sie
allein machen das Reich des sogenannten ,, Zufalls" aus, der anerkannter-
maßen das einzige Gebiet der Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen ist. In
diesem Reich herrscht im Gegensatz zur universalen Gleichförmigkeit der
formalen Bedingungen größtmöghcher Wechsel oder „Allverschiedenheit"
(wie E. ZiLSEL es in seinem schon erwähnten Buche ,,Das Anwendungs-
problem" ausdrückt. Diese Schrift scheint mir nicht bloß die hervor-
ragendste moderne Behandlung des Induktionsproblems zu sein, sondern
überhaupt eine der scharfsinnigsten Arbeiten der gegenwärtigen logi-
schen Literatur). Auf die formalen Bedingungen, auf die durch-
gehende Naturgesetzlichkeit, d. h. auf den Kausalsatz, findet die Wahr-
scheinlichkeitsbetrachtung keine Anwendung, er muß dabei stets als er-
füllt vorausgesetzt werden; die Theoretiker der Wahrscheinhchkeitsrech-
nung sind sich darüber einig, daß das ganze Verfahren ohne jene Voraus-
Von der induktiven Erkenntnis. 337
Setzung seinen Sinn verlieren würde. Denn wollten wir annehmen, daß
der Fall des Würfels überhaupt keiner Gesetzmäßigkeit unterliegt, so
käme das der Behauptung des absoluten Nichtwissens gleich, es Heßen
sich überhaupt keine Bedingungen für den Fall des Würfels angeben, der
Begriff der ,, gleichmöglichen Fälle" ließe sich nicht mehr festlegen usw.
Daraus folgt, nebenbei bemerkt, daß die Geltung des Kausalsatzes selber
niemals durch Wahrscheinlichkeitsrechnung begründet werden kann.
Ihren Grundlagen nach ist diese Rechnungsart nur auf ganz be-
sondere Tatbestände der Wirklichkeit anwendbar; bei den allerwenigsten
induktiven Sätzen läßt sich die Wahrscheinlichkeit ihrer Geltung zahlen-
mäßig angeben. Die genaue Geltung des Satzes von der Erhaltung der
Energie ist wahrscheinlicher als diejenige des NEWxoN'schen Attraktions-
gesetzes — aber um wieviel.? Dennoch darf man auch bei dergleichen
Urteilen davon reden, daß die Bedingungen ihrer Wahrheit zum größeren
oder geringeren Teil erfüllt seien und kann die Größe dieses Teiles, obwohl
nicht exakt fixierbar, als ein Maß der Wahrscheinlichkeit betrachten.
Und das genügt, um die schon gefundenen Prinzipien auf sie zu über-
tragen. Ihr Geltungscharakter ist derselbe.
Ein Urteil ,,A ist B", dem wir wahrscheinliche Geltung zuschreiben,
bedeutet demnach durchaus nicht, daß die Zuordnung des Begriffes B
zum Gegenstande A zu einer eindeutigen Bezeichnung desselben führt,
sondern es ist ein Zeichen für die davon ganz verschiedene Tatsache, daß
ein gewisser Teil der Bedingungen erfüllt ist, die erfüllt sein müssen,
wenn die Bezeichnung des A durch B Eindeutigkeit besitzen soll. Und
diese Aussage hat nun Anspruch auf kategorische Gültigkeit. Wenn
ich auf Grund von Beobachtungen etwa dazu gelangt bin, den Satz ,,Die
chemischen Kräfte sind elektrischer Natur" mit großer Wahrscheinlich-
keit aufzustellen, so behaupte ich damit, daß die Bedingungen seiner
Wahrheit in weitem Umfange erfüllt sind, daß mit anderen Worten die
Tatsachen eines weiten Beobachtungskreises gerade derart sind, wie sie
sein müßten, wenn die chemischen Kräfte mit elektrischen identisch
wären. Diese Behauptung hat dann für mich nicht bloß wahrscheinliche
Geltung, sondern kategorischen Charakter, sie ist nur ein Resüme der
Beobachtungen.
Stets aber wird vorausgesetzt, daß es überhaupt so etwas gibt wie
Bedingungen und, Abhängigkeiten, daß alles in einem Kausalzusammen-
hang steht. Was unter wahrscheinlicher Geltung zu verstehen ist, läßt
sich also nur unter Voraussetzung der kategorischen Geltung des Kausal-
satzes angeben. Wollte daher einer unsere Betrachtungen auf den Kausal-
satz selber anwenden und etwa sagen: es ist nur wahrscheinlich, daß
jedes Ereignis eine Ursache hat, so Ueße sich mit dieser Aussage kein
objektiver Sinn mehr verbinden, sondern sie könnte schlechterdings keine
andere Bedeutung haben, als daß sie die subjektive Unsicherheit bezeichnete,
die der Sprechende darüber fühlt, ob wirklich in der Natur alles ursächlich
bedingt sei oder nicht.
Schlick, Erkenatnislehre. 22
338 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis.
3.
Wenn man weiß, wie wir zur Aufstellung induktiver Sätze gelangen
und welche Geltungsart wir für sie beanspruchen, so weiß man damit
doch noch gar nichts darüber, ob dieser Anspruch auch berechtigt ist.
Die dritte Induktionsfrage, die sich gerade auf diese quaestio juris richtet,
fordert daher neue Betrachtungen von ganz anderem Gesichtspunkt aus.
Eine angeborene Einrichtung unseres Bewußtseins bringt uns dazu,
von jedem durch häufige Beobachtung erprobten allgemeinen Satze zu
erwarten, daß er auch in künftigen Fällen sich bewahrheiten werde; wir
kleiden diese Erwartung in das Urteil, die Geltung des Satzes sei ,, wahr-
scheinlich" und meinen damit, daß die Bedingungen seiner Wahrheit zu
einem mehr oder minder großen Teile erfüllt sind. Wenn wir fragen: Mit
welchem Recht hegen wir jene Erwartung.-* so heißt das erstens: Woher
weiß ich, welches die ganz bestimmten Bedingungen einer bestimmten
wirklichen Tatsache sind.? und zweitens: Wie kann überhaupt ein Faktum
notwendige und hinreichende Bedingung sein für ein anderes wirkhches
Faktum? Das erste ist die Frage der Induktion im engeren Sinne, das
zweite ist die Frage nach der Geltung des Kausalsatzes; denn wenn Tat-
sachen der Wirklichkeit sich gegenseitig bedingen, so nennen wir das eben
ein Kausalverhältnis.
Man hat oft die Meinung vertreten, daß gar nichts weiter nötig sei,
als der Kausalsatz, um die Geltung induktiv gewonnener Urteile zu be-
gründen. Mit seiner Hilfe lasse sich nämlich jeder Induktionsschluß
auf einen Syllogismus zurückführen in folgender Weise: Beobachtung
lehrt, daß A das Antezedens von C war; da nun nach dem Kausalsatz
das gleiche Antezedenz immer das gleiche Konsequens nach sich zieht,
so folgt, daß C auch in Zukunft und an beliebigen Orten das Konsequens
von A sein wird, und damit ist die Allgemeingültigkeit ihrer Verknüpfung
ausgesprochen, der Übergang vom Bekannten auf das Unbekannte in
logisch einwandfreier Form vollzogen.
Dies wäre ganz richtig, wenn wirklich genau der gleiche Vorgang
jemals als Antezedens wieder aufträte. Das ist aber streng genommen
nie der Fall. Jede Ursache ist ja streng genommen unendlich kompliziert
(s. oben S. 331). Es kommt in der Natur nicht vor, daß bei zwei Ereig-
nissen bis ins kleinste genau die gleichen Umstände wiederkehrten, sondern
es gibt dort nur Ähnhchkeiten, nie vollkommene Gleichheiten (und gäbe es
sie, so könnten wir sie doch nicht mit Sicherheit feststellen). In der Form
aber, daß auf ähnliche Ursachen ähnliche Wirkungen folgen, gilt
der Kausalsatz durchaus nicht immer, denn bekannthch können kleinste
Unterschiede der Ursachen gelegentlich größte Unterschiede in der Wir-
kung zur Folge haben. Es gibt eben Umstände, auf die es ankommt,
und solche, auf die es nicht ankommt Diese voneinander zu scheiden
und zu ermitteln, welche Umstände denn nun die bedingenden, die Ur-
sachen sind, das ist gerade die Aufgabe der Induktion, Das dabei anzu-
Von der induktiven Erkenntnis. 339
wendende Verfahren ist z. B. (wenn auch nicht gerade auf die vollkommenste
Weise) in den berühmten vier Induktionsmethoden von Mill formuHert
worden; erst durch ein derartiges Verfahren wird das A bestimmt das iif*
dem Untersatz des obigen Schlusses als Subjekt aufzutreten hat. Dieser
Untersatz ,,A ist das Antezedens von C" bezeichnet also nicht etwa eine
einfache Beobachtungstatsache. Und zu seiner logischen Ableitung aus
den Beobachtungen vermag der strenge Kausalsatz nicht mitzuhelfen,
weil er eben exakt nur für die Totalursachen gilt, während wir doch nie-
mals sicher sein können, wirklich alle wesentlichen Umstände aufgefunden
und im Begriffe A vereinigt zu haben. Denn die Zahl der möglicherweise
für die Ursache in Betracht kommenden Umstände ist unendlich, weil
prinzipiell gesprochen jeder Vorgang des Universums einen Beitrag dazu
liefern könnte.
Wir müssen also folgern: Selbst wenn es möglich wäre, uns der
Geltung des Kausalsatzes irgendwie zu versichern, so wäre die Berech-
tigung der einzelnen Induktionen damit noch keineswegs bewiesen; seine
Gültigkeit ist keine hinreichende Bedingung des induktiven Verfahrens,
wohl aber eine notwendige.
Daß die Kausalität und mithin die Induktionsschlüsse sich nicht
durch einen Vernunftbeweis begründen lassen, ist mit Hilfe" empiristischer
Gedankengänge früh eingesehen worden. Man beruhigte sich jedoch dabei,
indem man sagte, ihre Geltung und Zulässigkeit werde eben durch die
Erfahrung verbürgt. Da zeigte aber Hume, daß gerade die Erfahrung
unter keinen Umständen zu der Leistung imstande sei, die man ihr hier
aufbürden wollte. Vergegenwärtigen wir uns, wie man sich die Berech-
tigung des Glaubens an die Kausalität durch die Erfahrung bewiesen
dachte! Wenn die Beobachtung oft gezeigt hat, daß A und B vereint
auftreten, so erwarte ich, daß dies auch in Zukunft der Fall sein wird,
ohne zunächst ein logisches Recht dazu zu besitzen. Nun lehrt mich aber
erneute Beobachtung, daß tatsächhch auch in allen neuen Fällen A nicht
auftritt, ohne sich mit B zu verknüpfen; meine Erwartung hat sich also
bestätigt, die Wahrnehmung hat gezeigt, daß meine Zweifel an der Gültig-
keit des Schlusses von früheren auf spätere Fälle überflüssig waren. Und
dadurch, sagt man, ist die Berechtigung meiner Erwartung, der Glaube
an den Kausalsatz überhaupt bewiesen.
Hume hat aufs klarste dargetan, daß dieses Argument ein Zirkel-
schluß ist. Wenn die Beobachtung einen induktiv gefundenen Satz be-
stätigt, so beweist dies freilich, daß meine Erwartung berechtigt, daß
der Schluß vom Früheren aufs Spätere richtig war, aber es beweist seine
Gültigkeit eben doch nur für die tatsächhch bestätigten Fälle. Sowie ich
frühere Erfüllungen meiner Erwartung als eine Gewähr dafür ansehe,
daß sie sich auch in Zukunft bestätigen wird, setze ich schon den Satz
voraus, den ich erweisen will. Die Beobachtung lehrt mich wohl die Zu-
lässigkeit der Übertragung eines Satzes von früheren bekannten Fällen
auf spätere, die inzwischen gleichfalls bekannt geworden sind, sie lehrt
34° Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis.
aber nicht das Geringste über die Geltung der Fälle, die jetzt noch nicht
zur Wahrnehmung gelangt sind, sie vermag keine Brücke von den ver-
gangenen zu zukünftigen Beobachtungen zu schlagen, und gerade hierauf
kommt es bei der Induktion an. Das ganze Argument hat die Frage nicht
gelöst, sondern nur verschoben.
Dies ist der Sinn der skeptischen Einwände Hume's, und sie zeigen
mit völliger Strenge, daß die Erfahrung die Gültigkeit des Kausalsatzes
nicht etwa nur nicht zwingend, sondern überhaupt nicht beweist. Erfah-
rung heißt Verwertung von Wahrnehmungen, Erschließung des Kommenden
und Vorangegangenen, und das ist nur mit Hilfe des Kausalsatzes mög-
lich. Dieser wird also immer von der Erfahrung schon vorausgesetzt und
kann nicht erst durch sie begründet werden.
Also weder durch die Erfahrung noch durch die Vernunft ist ein
Beweis zu führen. Die Bündigkeit der Hume 'sehen Einwürfe ist nicht
zu bezweifeln; und so versuchte Kant, wie wir wissen, eine Deduktion
weder aus der Vernunft, noch aus der Erfahrung, sondern aus der ,, Mög-
lichkeit der Erfahrung". Wir haben diese Bemühungen in den beiden
voiigen Paragraphen kritisiert und gänzlich unzulänglich gefunden. Wir
sagten, daß sich bei ihm trotz alledem der Kern eines richtigen Gedankens
finde; und die Begründungsversuche moderner Denker gehen denn auch
in derselben Richtung, haben aber aus seinen Fehlschlägen gelernt.
B. Erdmann (Über Inhalt und Geltung des Kausalgesetzes, Halle 1905)
sucht nachzuweisen, daß menschliches Denken überhaupt nicht möglich
wäre, wenn Kausalsatz und Induktion keine Gültigkeit besäßen; S. Becher
(Erkenntnistheoretische Untersuchungen zu Stuart Mill's Theorie der
Kausalität, Halle 1906) schränkt diese Behauptung auf das wissen-
schaftliche Denken ein.
Bei diesen und ähnhchen Begründungsversuchen (und andersartige
kommen heute für die ernste erkenntnistheoretische Forschung kaum in
Betracht) tritt die strenge Geltung des Kausalsatzes und die hypothetische
induktiv gewonnener Wahrheiten als Postulat auf. Es wird bewiesen,
daß es ohne jene Geltung überhaupt keinen Zweck hätte, die Wirklich-
keit zum Gegenstande des Denkens zu machen, daß es sinnlos wäre, nach
Erkenntnis zu streben und Wissenschaft zu treiben. Wer aber nach Kausa-
lität und Induktion und dergleichen überhaupt fragt, der sucht eben
Wirklichkeitserkenntnis, und so sagt man ihm: du mußt entweder ganz
und gar aufgeben, über diese Dinge nachzudenken und mit uns zu dis-
kutieren, oder du mußt die Gültigkeit jener Prinzipien anerkennen; ohne
sie ist die Möglichkeit des Forschens und Fragens selber aufgehoben.
Das trifft gewiß zu, und niemand wird sich anheischig machen
dürfen, mehr als dies zu beweisen; aber wir wollen uns über die wahre
Tragweite solcher Gedanken ganz klar werden und uns von dem eigen-
tümlichen Charakter dieser Begründungsart Rechenschaft geben. Sie ist
keine logische. Ein ,, Postulat" ist etwas durchaus Denkfremdes. Die
Wissenschaft hat es sonst nur mit Tatsachen zu tun, niemals mit Forde-
Von der induktiven Erkenntnis. 341
rungen oder Wünschen. Wenn wir also die Gültigkeit eines allgemeinen
Prinzipes annehmen, ohne es im geringsten beweisen zu können, so handelt
es sich dabei nicht um eine theoretische Forderung, sondern qm einen
praktischen Akt. Theoretisch nützt es mir zur Begründung gar nichts
zu wissen, daß ohne den Kausalsatz keine Erfahrung möglich wäre und
kein Denken — mag es nun das alltägliche oder nur das wissenschaftliche
sein. Warum soll es denn menschliches Denken geben.!* warum müßte
Erkenntnis möglich sein.? Gewiß, bisher gab es dergleichen, aber daraus
läßt sich ja eben gar nichts folgern!
Der Erkenntnistrieb hat ursprünghch biologische Wurzeln (vgl. § 12),
der Mensch ist selbst ein Stück der Wirklichkeit, und wenn er Wirklich-
keitswissenschaft treibt, so wird er sich dabei auf die realen Verbindungen
hingewiesen sehen, die ihn mit ihr verknüpfen. Und diese sind letzten
Endes praktischer Natur, nur durch sein Gefühls- und Triebleben reagiert
er auf die Einwirkungen der Außenwelt, und ohne das würde er sie auch
nicht zu erkennen streben.
Um des Lebens willen muß es Erfahrung geben, der Mensch braucht
sie zum Dasein, und wenn nicht Wissenschaft, so doch Möglichkeit der
Wissenschaft; um in ihr leben zu können, muß ihm die Welt erkennbar
sein. Im Leben steht ja der Mensch zur Wirkhchkeit in einem viel engeren
Verhältnis als in der Wissenschaft. Die philosophischen Fragen nach dem
Dasein der Außenwelt, nach der Grenze zwischen Subjektivität und
Objektivität usw. existieren für den Standpunkt des Lebens überhaupt
nicht; was die Philosophie erst mit Mühe getrennt hat, um es hernach
mit größerer Mühe wieder passend zusammenzufügen, das ist für das
Leben ungeschiedene Einheit. Zwischen Ich und Außenwelt, zwischen
Vergangenem und Zukünftigem besteht nicht die Kluft, welche die Philo-
sophie entdeckt und dann zu überbrücken trachtet. Deshalb vollzieht
das Leben auch spielend den Übergang zwischen subjektiver und objektiver
Geltung und Wahrscheinhchkeit, an dem das logische Denken scheitert.
Das Bewußtsein ist der Welt angepaßt, seine subjektiven Erwartungen
werden durch objektive Vorgänge erzeugt und treffen wieder mit ihnen
zusammen, eben weil sie angepaßt sind.
Hiernach liegt die praktische Rechtfertigung des Kausalsatzes (eine
theoretische ist ja nicht möglich) darin, daß unsere erste und dritte Induk-
tionsfrage miteinander verschmelzen, so scharf sie theoretisch auch zu
scheiden sind. Die Frage: wie komme ich zum Glauben an den Kausal-
satz.? und die Frage: welches ist die Gewähr seiner Gültigkeit.? beantworten
sich gemeinsam: der praktische Glaube an den Satz entsteht durch Asso-
ziation, durch einen Instinkt, der das handelnde Leben in jedem Augen-
blick durchdringt, beherrscht und erhält: die Resultate dieser funda-
mentalen Lebensfunktion sind für das Leben gültig, es gibt keine andere
Art des Geltens für das Handeln. Und der Betrieb der Wissenschaft ist
ja auch ein Handeln. Weil die Welt nach dem Kausalprinzip aufgebaut
ist, muß alles Leben in dieser Welt jenem Instinkte unterworfen sein.
342 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis.
Die Bürgschaft ist eine absolute, denn der Glaube an die Ursächlich-
keit alles Geschehens ist implizite in jeder bewußten Handlung enthalten,
schlechthin ohne Ausnahme. Der Begriff des Handelns, ZwecksetzöTis,
schließt den der ursächlichen Bestimmung aller wirklichen Vorgänge ein.
Zweifel an der Gültigkeit des Kausalprinzips sind immer erst die Folge
von Reflexionen (deren man ja auch bedarf, um überhaupt den Satz
explizite aufzustellen), sie sind also theoretischer Natur. Es verhält sich
damit wie mit der Frage der sogenannten Willensfreiheit. Auch sie ist
lediglich ein theoretisches, philosophisches Problem (zu dem sich natür-
lich auch der Nichtphilosoph durch geringes Nachdenken leicht geführt
sieht); die Praxis des Lebens setzt unter allen Umständen durchgehende
ursächliche Bestimmtheit jedes Tuns voraus, eine Tatsache, die freilich
ihrerseits erst dem philosophischen Denken offenbar wird.
Der Glaube an die Gültigkeit einer einzelnen induktiv gewonnenen
Wahrheit dagegen ist auch praktisch genommen nicht absolut und un-
entrinnbar; wohl aber gilt es wiederum von dem Glauben an ihre Wahr-
scheinlichkeit: das heißt, unsere Verhaltungsweise gegenüber Erfah-
rungssätzen ist ausnahmslos so, als ob von den Bedingungen der Wahr-
heit dieser Sätze eine gewisse Anzahl erfüllt ist, deren Größe eben der
Höhe der Wahrscheinlichkeit entspricht. Die absolute praktische Siche-
rung der wahrscheinlichen Geltung allgemeiner Erfahrungsurteile ist nicht
etwas Besonderes neben der exakten des Kausalsatzes, sondern beides
fällt für das Leben wiederum völlig zusammen. Wir stellten zwar fest,
daß zur theoretischen, logischen Begründung der Geltung von Induktionen
der Kausalsatz nicht genügt, sondern daß dazu noch andere Voraussetzungen
erfüllt sein müssen. Induktive Schlüsse lassen sich erst ziehen, wenn nicht
nur im Universum jede Wirkung durch zureichende Ursachen bedingt ist,
sondern auch die Ursachen sich herausfinden und voneinander scheiden
lassen. Dazu aber ist erstens nötig, daß es in der Natur eine gewisse
Gleichförmigkeit, eine Wiederkehr ähnlicher Umstände gibt (vgl. oben
S. 329), daß jedoch hiervon abgesehen zweitens eine größtmögHche Bunt-
heit der materialen Bedingungen herrscht (Allverschiedenheit, vgl. oben
S. 336), und daß drittens wichtige und unwichtige Umstände voneinander
getrennt werden können, daß also Ursachen sich isoHeren lassen (S. 338).
Die vollständige Analyse dieser Bedingungen der Induktion und die Auf-
suchung etwa noch fehlender ist eine Spezialaufgabe der Logik, deren
Lösung hier nicht in Angriff zu nehmen ist (ihre bisher beste Bearbeitung
findet man wohl in der mehrfach zitierten Schrift von Zilsel ,,Das An-
wendungsproblem"). Daß die Struktur der Welt diese Voraussetzungen
wirklich erfüllt, ist natürlich durchaus unbeweisbar; die vollständige
praktische Gewähr dafür aber liegt ebenfalls in der Tatsache des handelnden
Lebens. Ohne die Erfüllung jener Voraussetzungen gäbe es keinen Instinkt,
keine Gewöhnung, die alles Handeln erst ermöglicht, keine Harmonie
zwischen Welt und Handeln; und Gültigkeit für das Leben besitzt eben
alles, was zu seinen eigenen Fundamenten gehört. Es wäre hier nur das
Von der induktiven Erkenntnis. 343
für die praktische Geltung des Kausalsatzes Gesagte noch einmal zu
wiederholen. Dieser selbst spielt ja seine Rolle im Leben stets nur im-
plizite, in die Gestalt spezieller empirischer Sätze gekleidet, sie allein sind
für das Leben von unmittelbarem Interesse, und aus ihnen ergibt sich
erst durch induktive Verallgemeinerung, daß jedes Geschehen ursächlich
bedingt ist. Psychologisch geht ja das Speziellere immer dem allgemeineren
vorauf, während das logische Begründungsverhältnis umgekehrt ist.
Die Überzeugung von der Gültigkeit der Erfahrungssätze ist keine
absolute, weil die Gesamtursache einer Wirkung dem Bewußtsein niemals
vollständig gegeben ist. Es reagiert nach Kenntnis der Partialursachen
(ein Körper, der die äußeren sinnlichen Eigenschaften des Brotes auf-
weist, wird ohne weiteres als eßbar und nahrhaft betrachtet), bleibt aber
stets gewärtig, die Reaktion auf Grund neuer Umstände wieder umstellen
zu müssen (das Brot kann vergiftet sein), deshalb haftet ihr eine mehr
oder minder kleine Unsicherheit an. Darin spricht sich aus, daß die
Geltung der empirischen Erkenntnisse nur eine wahrscheinliche ist: prak-
tisch verbürgt ist das Vorhandensein eines Teiles der Umstände, welche
die Bedingungen einer bestimmten Wirkung ausmachen; über den anderen
Teil ist nichts bekannt.
Zum Kausalsatz gelangt die Reflexion durch den Übergang von den
partiellen zu den vollständigen Ursachen, von einem Teile der Bedingungen
zu ihrer Gesamtheit. Ihre Kenntnis würde keinen Platz für Fehlreak-
tionen mehr lassen und dadurch wird die praktische Bürgschaft der Wahr-
scheinlichkeit in die der Wahrheit übergeführt.
Der Standpunkt, auf den man durch solche Betrachtungen gelangt,
ist im Grunde schon derjenige Hume's gewesen. Ich glaube nicht, daß
es möglich ist, wesentlich über ihn hinauszuschreiten. Eine lohnendere
Aufgabe als die Erneuerung der auf Überwindung dieses Standpunktes
zielenden Versuche scheint es mir daher zu sein, die Gegensätze zwischen
ihm und den widerstrebenden Ansichten möglichst zu versöhnen und sich
darüber klar zu werden, daß die gewonnene Position nicht einen skepti-
schen Verzicht von solcher Art bedeutet, daß unser theoretisches Be-
dürfnis sich um keinen Preis damit zufrieden geben könnte.
Es ist gewiß richtig, daß die vom Verstände geforderte theoretische
Einsicht niemals ersetzt werden kann durch irgendein Postulat oder
irgendeine praktische Bürgschaft; das Leben aber bedarf ledighch der
letzteren und man muß sich davor hüten, seine praktischen Forderungen
für logische, für Erkenntnispostulate zu halten. Hätten Erfahrungsurteile
keine Gültigkeit, so würden Leben und Wissenschaft in Frage gestellt.
Die Möglichkeit der Wissenschaft aber ist natürhch nicht selber wieder
eine wissenschaftliche, sondern eine praktische Forderung. Erkenntnis be-
steht in der eindeutigen Bezeichnung der Welt mit Hilfe eines Minimums
von Begriffen und wird dadurch ermöglicht, daß die wirkHchen Dinge
344 Die Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis.
sich aufeinander zurückführen lassen, indem eins im andern wiedergefunden
wird. Die Erkenntnis fordert, die Reduktion der Begriffe aufeinander
soweit durchzuführen, wie es möglich ist; daß es aber durchgehends
möglich sei, daß die Welt sich unserer Erkenntnis in allen Teilen, in Ver-
gangenheit und Zukunft, gleich zugänglich erweise, ist ein Wunsch, dessen
Erfüllung oder Nichterfüllung die theoretische Wissenschaft einfach zu
registrieren hätte, während für das Leben Sein oder Nichtsein davon ab-
hängt. Das Leben aber besteht. Was richtig war an dem KANx'schen
Gedanken, die Geltung allgemeiner Sätze ließe sich aus der Möglichkeit
der Erfahrung beweisen, bleibt erhalten, wenn man den Begriff der Er-
fahrung genügend allgemein im Sinne des praktischen Handelns faßt und
unter Beweisen nicht eine logische Deduktion, sondern eine lebendige
Rechtfertigung versteht.
Erkenntnis wäre nicht möglich, wenn es im Universum keine Gleich-
heiten gäbe. Nur durch sie gelingt es, eins im andern wiederzufinden
und die vielgestaltige Welt mit Hilfe ganz weniger Begriffe zu beschreiben.
Wenn man fragt: Wie ist es möglich, die ganze Welt in ihrem unend-
hchen Formenreichtum durch ein einfaches, durchsichtiges, aus einigen
wenigen Elementen aufgebautes Begriffssystem zu bezeichnen und sozu-
sagen auf eine Formel zu bringen.? so dürfen wir ohne Zögern antworten:
weil die Welt selber ein einheitliches Ganzes ist, weil sich überall Gleiches
im Verschiedenen in ihr findet. In diesem Sinne ist die Wirklichkeit
ganz und gar rational, das heißt, sie ist objektiv so beschaffen, daß eine
kleine Zahl von Begriffen ausreicht, sie eindeutig zu bezeichnen; es ist
also nicht etwa erst unser Bewußtsein, das sie erkennbar macht. Indem
wir die Zahl der begrifflichen Zeichen auf ein Minimum reduzieren, folgen
wir dem eigensten Wesen und Gesetz des Wirkhchen; deshalb eben ist
diese Reduktion Erkenntnis der Wirklichkeit.
Die eigentliche Gewinnung der Wirklichkeitserkenntnis ist Aufgabe
der Einzelwissenschaften. Die Erkenntnislehre hat nur die Prinzipien
und Bedingungen ihrer Lösung zu betrachten. Das ist eine rein kritische
Arbeit, die im Vergleich mit den Leistungen jener wenig dankbar er-
scheinen mag. Aber ihre Kritik ist nicht zerstörend. Denn von dem, was
die Wissenschaften einmal wirklich sich errungen haben, kann sie nichts
vernichten oder umwerfen oder verändern, sondern sie will es nur richtig
deuten, seinen tiefsten Sinn aufdecken. Solche Deutung aber ist die letzte,
höchste wissenschaftliche Aufgabe und wird es bleiben.
Autoren-Register.
Aristoteles 9, 29, 47, 84, 88, 214.
V. Aster 69.
Avenarius 76, 81, 82, 171, 174 ff., 179,
187, 190 f., 193, 195, 197, 260 ff.
Bain 116.
V. Baer 231.
Bavink 186.
Becher, E. 105, 160, 219, 243, 257,266,
272, 279.
Becher, S. 340.
Beneke 157.
Bergmann, H. 134.
Bergmann, J. 229.
Bergson 68, 73, 214.
Berkeley 16, 171, 190, 229.
Boyle 214 f.
Bradley 93.
Brentano 40, 72, 119, 133.
Brunswig 318.
Cassirer 23 ff., 314.
Cohen 171, 277.
Cohn 42, 48.
Comle 134.
Cornelius 106, iio, 134, 136 f., 183 f.
Coulomb 331.
Dedekind 326.
Demokrit 214, 252.
Descartes 70 f., loi ff., 129 f., 140, 174,
205, 248 ff., 232, 257, 295.
Dewey 144.
Dilthey 154.
Driesch 112, 257, 274 f.
Dufaur 235.
Dürr 94, 98, 138.
Einstein 207, 301 f.
Erdmann 48, 73, 159, 233, 340.
Erhardt 219.
Faraday 79.
Fechner 248, 279.
Fichte 206.
Fresnel 8.
Frey tag 172 f., 188.
Frischeisen- Köhler 154. 214.
Gahlei 214.
Geulincx 174, 256.
Gorgias 29.
Görland 309.
V. Hartmann 212. 300.
Hegel 75.
Helmholtz 3, 183.
Henry 299.
Herbart 49, 75, 161, 173, 219, 225.
Herbertz 122, 139.
Hertz 8.
Heymans 221 f., 231, 332.
Hilbert 31 f.
Höfler 130.
Holder 87.
Hönigswald 206.
Hume 23, loi, 106, 108, 165, 167, 230.
245, 293, 296, 322, 328, 332, 339 f.,
343.
Husserl 19, 20, 68, 73, 119 ff., 123, 133.
Huyghens 8.
James iio, 141, 144.
Jevons 76, 123, 127.
Kant 36, 63, 71, 73, 91, 97, 99. HO f..
132, 140, 148, 157, 162 ff., 167, 169 f.
174 f., 201 ff., 209 f., 212 f., 216, 222
225 f., 234, 246, 252, 256 f., 260 ff.
265, 284, 290, 292 ff., 303 ff., 312
314 ff., 318 ff., 323 ff-, 340. 344-
Kern 316.
Kirchhoff 76.
346
Autoren- Register.
Klcinpeter 206.
Koffka 136.
Kopernikus 294.
Kraft 194.
Kreibig 65.
V. Kries 248, 266.
Külpe 20, 134, 139, 133, 171, 204.
Laas 187.
Lange 277.
Leibniz 37, 125. 134, 149, 159. 174, 194 f.,
225, 265.
Lichtenberg 140.
Liebmann 231.
Linke 122.
Locke 37, 104, 113, 157, 214 ff., 217 f.,
296.
Lotze 12, 25, 47 ff., 75, 106 f., 182, 225 f.,
231.
Mach 52, 81 f., 170, 174 ff., 179, 182,
184 f., 188 f., 191 ff., 195, 198, 217,
230, 245, 253, 260 f., 265, 331.
Maxwell 45, 64, 185, 189, 207.
Meinong 65, 104.
Messer 254.
Mill, James 39.
Mill, J. Stuart 29, 37 ff., 86, 116, 161 f.,
181 f., 184, 285 ff., 340.
Münch 325.
Münsterberg 47, 254 f.
Natorp 119, 171, 277, 307 ff., 311.
Nelson 72, 75.
Newton 182, 304, 337.
Nietzsche 63.
Oken 21.
Ostwald 79.
Pasch 31.
Pasteur 79.
Paulsen 70.
Peirce 144.
Perrin 186.
Petzoldt 179 f., 184, 188, 193, 195, 197,
262.
Planck 81.
Piaton 117 f., 164, 200, 314.
Poincar6 127, 223, 299, 301.
Raab 76, 190.
Regener 186.
Ribot 109.
Rickert 310.
Riehl 43, 47, 69,
217, 221, 296, 306.
Riemann 33, 220, 301.
Russell 66, 69, 95, 118
93, 93. "6, 163, 207,
Saunderson 217.
Schiller 144.
Schopenhauer 159, 187, 278, 303.
Schubert-Soldern 171
Schultz, J. 78, 214.
Schumann iio.
Schuppe 171, 190.
Schwarz 214.
Semon 270.
Sidgwick 75.
Sigwart 37, 42, 87, 91.
Spencer 81, 285 ff.
Spinoza 130, 195, 205, 256, 265, 293.
Stern 177, 188, 331.
Störring 93, 104 f., 172^ 188, 225, 231
Stumpf 7.0, 132, 135 ff., 217, 257, 318.
Taine 109.
Thaies 12.
Twardowski ii8.
Uphues 134.
Vaihinger 12, 18, So, 178, 198.
Volkelt 104.
Volta 79.
Weierstraß 300. ,
Wilson, C. T. R. 186.
Wundt 37, 80, 90, 108, 116, 141, 155, 219,
225, 253 f.
Young 8.
Ziehen 98, 176, 225.
Zilsel 288, 336, 342.
Druck der Königl. Universitätsdrucktrei H. Stürtz, A. G., Würiburg.
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