Full text of "Logische Untersuchungen"
:CM o - CD ICO ICD CO & • - ** - J - jy\ k Printed in Germany LOGISCHE UNTERSUCHUNGEN VON EDMUND HUSSERL ERSTER THEIL PROLEGOMENA ZUR REINEN LOGIK l i 491192 4. 5. 4-9 LEIPZIG VERLAG VON VEIT & COMP. 1900 Druck von Metzger & Wittig in Leipzig. CARL STUMPF IN VEREHRUNG UND FREUNDSCHAFT ZUGEEIGNET Vorwort. Die logischen Untersuchungen, deren Veröffentlichung ich mit diesen Prolegomena beginne, sind aus unabweisbaren Pro- blemen erwachsen, die den Fortgang meiner langjährigen Be- mühungen um eine philosophische Klärung der reinen Mathe- matik immer wieder gehemmt und , schließlich unterbrochen haben. Neben den Fragen nach dem Ursprung der mathe- matischen Grundbegriffe und Grundeinsichten betrafen jene Be- mühungen zumal auch die schwierigen Fragen der mathema- tischen Theorie und Methode. Was nach den Darstellungen der traditionellen oder wie immer reformirten Logik hätte leicht verständlich und durchsichtig erscheinen müssen, nämlich das rationale Wesen der deductiven Wissenschaft mit ihrer formalen Einheit und symbolischen Methodik, stellte sich mir beim Stu- dium der wirklich gegebenen deductiven Wissenschaften dunkel und problematisch dar. Je tiefer ich analytisch eindrang, um- somehr kam es mir zum Bewußtsein, daß die Logik unserer Zeit an die actuelle Wissenschaft nicht hinanreiche, welche auf- zuklären sie doch berufen ist. Besondere Schwierigkeiten bereitete mir die logische Durch- forschung der formalen Arithmetik und Mannigfaltigkeitslehre, dieser über alle Besonderheiten der speciellen Zahlen- und Aus- dehnungsformen hinausreichenden Disciplin und Methode. Sie nöthigte mich zu Erwägungen von sehr allgemeiner Art, welche sich über die engere mathematische Sphäre erhoben und einer allgemeinen Theorie der formalen deductiven Systeme zustrebten. vi Vorwort. Von den Problemreihen, die sich mir dabei aufdrängten, sei hier nur Eine bestimmter bezeichnet. Die offenbare Möglichkeit von Verallgemeinerungen, bezw. Abwandlungen der formalen Arithmetik, wodurch sie ohne wesentliche Aenderung ihres theoretischen Charakters und ihrer rechnerischen Methodik über das quantitative Gebiet hinaus- geführt werden kann, mußte die Einsicht erwecken, daß das Quantitative gar nicht zum allgemeinsten Wesen des Mathe- matischen oder „Formalen" und der in ihm gründenden calcu- latorischen Methode gehöre. Als ich dann in der „mathema- tisirenden Logik" eine in der That quantitätslose Mathematik kennen lernte, und zwar als eine unanfechtbare Disciplin von mathematischer Form und Methode, welche theils die alten Syllogismen, theils neue, der Ueberlieferung fremd gebliebene Schlußformen behandelte, gestalteten sich mir die wichtigen Probleme nach dem allgemeinen Wesen des Mathematischen überhaupt, nach den natürlichen Zusammenhängen oder etwaigen Grenzen zwischen den Systemen der quantitativen und nicht- quantitativen Mathematik, und speciell z. B. nach dem Ver- hältnis zwischen dem Formalen der Arithmetik und dem Formalen der Logik. Naturgemäß mußte* ich von hier aus weiter fortschreiten zu den fundamentaleren Fragen nach dem Wesen der Erkenntnisform im Unterschiede von der Erkennt- nismaterie, und nach dem Sinn des Unterschiedes zwischen formalen (reinen) und materialen Bestimmungen, Wahrheiten, Gesetzen. Aber noch in einer ganz anderen Eichtung fand ich mich in Probleme der allgemeinen Logik und Erkenntnistheorie ver- wickelt. Ich war von der herrschenden Ueberzeugung ausge- gangen, daß es die Psychologie sei, von der, wie die Logik überhaupt, so die Logik der deductiven Wissenschaften ihre philosophische Aufklärung erhoffen müsse. Demgemäß nehmen psychologische Untersuchungen in dem ersten (und allein ver- öffentlichten) Bande meiner Philosophie der Arithmetik einen sehr breiten Raum ein. Diese psychologische Fundirung wollte Vorwort. vn mir in gewissen Zusammenhängen nie recht genügen. Wo es sich um die Frage nach dem Ursprung der mathematischen Vorstellungen oder um die in der That psychologisch bestimmte Ausgestaltung der practischen Methoden handelte, schien mir die Leistung der psychologischen Analyse klar und lehr- reich. Sowie aber ein Uebergang von den psychologischen Zusammenhängen des Denkens zur logischen Einheit des Denk- inhaltes (der Einheit der Theorie) vollzogen wurde, wollte sich keine rechte Continuität und Klarheit herausstellen lassen. Um- somehr beunruhigte mich daher auch der principielle Zweifel, wie sich die Objectivität der Mathematik und aller Wissen- schaft überhaupt mit einer psychologischen Begründung des Logischen vertrage. Da auf solche Weise meine ganze, von den Ueberzeugungen der herrschenden Logik getragene Methode — gegebene Wissenschaft durch psychologische Analysen logisch aufzuklären — ins Schwanken gerieth, so sah ich mich in immer steigendem Maße zu allgemeinen kritischen Eeflexionen über das Wesen der Logik und zumal über das Verhältnis zwischen der Subjectivität des Erkennens und der Objectivität des Erkenntnisinhaltes gedrängt. Von der Logik überall im Stiche gelassen, wo ich von ihr Aufschlüsse in Beziehung auf die bestimmten Fragen erhoffte, die ich an sie zu stellen hatte, ward ich endlich gezwungen, meine philosophisch-mathematischen Untersuchungen ganz zurückzustellen, bis es mir gelungen sei, in den Grundfragen der Erkenntnistheorie und in dem kritischen Verständnis der Logik als Wissenschaft zu sicherer Klarheit vor- zudringen. Wenn ich nun diese, in vi elj ähriger Arbeit erwachsenen Versuche zur Neubegründung der reinen Logik und Er- kenntnistheorie veröffentliche, so thue ich es in der Ueber- zeugung, daß die Selbständigkeit, mit der ich meine Wege von denen der herrschenden logischen Richtung abscheide, mit Rücksicht auf die ernsten sachlichen Motive, die mich geleitet haben, eine Mißdeutung nicht erfahren wird. Der Gang meiner Entwicklung hat es mit sich gebracht, daß ich mich von den / vni Vorwort. Männern und Werken, denen meine wissenschaftliche Bildung am meisten verdankt, in den logischen Grundüberzeugungen weit entfernt und mich andererseits einer Reihe von Forschern beträchtlich genähert habe, deren Schriften nach ihrem Werthe zu schätzen ich früher nicht vermocht, und die ich daher während meiner Arbeiten nur zu wenig zu Rathe gezogen habe. Von einer nachträglichen Einfügung umfassender literarischer und kritischer Hinweise auf verwandte Forschungen mußte ich leider absehen. Was aber die freimüthige Kritik anbelangt, die ich an der psychologistischen Logik und Erkenntnistheorie geübt habe, so möchte, ich an das GoETHE'sche Wort erinnern: „Man ist gegen nichts strenger als gegen erst abgelegte Irr- thümer." Halle a. S., 21. Mai 1900. Prof. Dr. E. G. Husserl. Inhalt Einleitung. Seite § 1. Der Streit um die Definition der Logik und den wesentlichen Inhalt ihrer Lehren 3 § 2. Notwendigkeit der erneuten Erörterung der Principienfragen . 4 § 3. Die Streitfragen. Der einzuschlagende Weg 7 Erstes Kapitel. Die Logik als normative und speeiell als practische Disciplin. § 4. Die theoretische Unvollkommenheit der Einzelwissenschaften . 9 § 5. Die theoretische Ergänzung der Einzelwissenschaften durch Metaphysik und Wissenschaftslehre ... 11 § 6. Die Möglichkeit und Berechtigung einer Logik als Wissen- schaftslehre 12 § 7. Fortsetzung. Die drei bedeutsamsten Eigenthümlichkeiten der Begründungen . 17 § 8. Die Beziehung dieser Eigenthümlichkeiten zur Möglichkeit von Wissenschaft und Wissenschaftslehre 19 § 9. Die methodischen Verfahrungsweisen in den Wissenschaften theils Begründungen, theils Hilfsverrichtungen für Begrün- dungen 22 § 10. Die Ideen Theorie und Wissenschaft als Probleme der Wissen- schaftslehre 25 §11. Die Logik oder Wissenschaftslehre als normative Disciplin und als Kunstlehre 26 § 12. Hiehergehörige Definitionen der Logik 28 Zweites Kapitel. Theoretische Disciplinen als Fundamente normativer. § 13. Der Streit um den practischen Charakter der Logik .... 30 § 14. Der Begriff der normativen Wissenschaft. Das Grundmaß oder Princip, das ihr Einheit giebt 40 § 15. Normative Disciplin und Kunstlehre 47 § 16. Theoretische Disciplinen als Fundamente normativer .... 47 Inhalt. Drittes Kapitel. Der Psychologismus, seine Argumente und seine Stellungnahme zu den Üblichen Gegenargumenten. Seite §17. Die Streitfrage, ob die wesentlichen theoretischen Fundamente der normativen Logik in der Psychologie liegen . . . . 50 § 18. Die Beweisführung der Psychologisten 52 § 19. Die gewöhnlichen Argumente der Gegenpartei und ihre psychologistische Lösung 53 § 20. Eine Lücke in der Beweisführung der Psychologisten ... 58 Viertes Kapitel. Empiristische Consequeuzen des Psychologismus. § 21. Kennzeichnung zweier empiristischer Consequenzen des psycho- logistischen Standpunktes und deren Widerlegung ... 60 § 22. Die Denkgesetze als vermeintliche Naturgesetze, welche in isolirter Wirksamkeit das vernünftige Denken causiren . . 64 § 23. Eine dritte Consequenz des Psychologismus und ihre Wider- legung .... 69 § 24. Fortsetzung 74 Fünftes Kapitel. Die psychologischen Interpretationen der logischen Grundsätze. § 25. Der Satz vom Widerspruch in der psychologischen Inter- pretation Mill's und Spencer's 78 § 26. Mill's psychologische Interpretation des Princips ergiebt kein Gesetz, sondern einen völlig vagen und wissenschaftlich nicht geprüften Erfahrungssatz 81 Anhang %u den beiden letxten Paragraphen. Ueber einige principielle Gebrechen des Empirismus .... 84 § 27. Analoge Einwände gegen die übrigen psychologischen Inter- pretationen des logischen Princips. Aequivocationen als Quellen der Täuschung .• 86 § 28. Die vermeintliche Doppelseitigkeit des Princips vom Wider- spruch, wonach es zugleich als Naturgesetz des Denkens und als Normalgesetz seiner logischen Regelung zu fassen sei 92 § 29. Fortsetzung. Sigwart's Lehre 97 Sechstes Kapitel. Die Syllogistik in psychologistischer Beleuchtung. Schlußformeln und chemische Formeln. § 30. Versuche zur psychologischen Interpretation der syllogisti- schen Sätze 102 § 31. Schlußformeln und chemische Formeln 105 Inhalt. xi Siebentes Kapitel. Der Psychologismus als skeptischer Relativismus. Seite § 32. Die idealen Bedingungen für die Möglichkeit einer Theorie überhaupt. Der strenge Begriff des Skepticismus . . . 110 § 33. Skepticismus in metaphysischem Sinne 112 § 34. Der Begriff Relativismus und seine Besonderungen . . . . 114 § 35. Kritik des individuellen Relativismus .'. . . 115 § 36. Kritik des specifischen Relativismus und im Besonderen des Anthropologismus 116 § 37. Allgemeine Bemerkung. Der Begriff Relativismus in erwei- tertem Sinne 122 § 38. Der Psychologismus in allen seinen Formen ein Relativismus 123 § 39. Der Anthropologismus in Sigwart's Logik 125 § 40. Der Anthropologismus in B. Erdmann's Logik 136 Achtes Kapitel. Die psychologistischen Torurtheile. § 41. Erstes Vorurtheil 154 § 42. Erläuternde Ausführungen 159 § 43. Rückblick auf die idealistischen Gegenargumente. Ihre Mängel und ihr richtiger Sinn 164 § 44. Zweites Vorurtheil .167 § 45. Widerlegung: Auch die reine Mathematik würde zu einem Zweige der Psychologie 168 § 46. Das Forschungsgebiet der reinen Logik, analog dem der reinen Mathematik, ein ideales 169 § 47. Bestätigende Nachweisungen an den logischen Grundbegriffen und an dem Sinn der logischen Sätze 173 § 48. Die entscheidenden Differenzen 177 § 49. Drittes Vorurtheil. Die Logik als Theorie der Evidenz . . 180 § 50. Die äquivalente Umformung der logischen Sätze in Sätze über ideale Bedingungen der Urtheilsevidenz. Die resultirenden Sätze nicht psychologische 182 § 51. Die entscheidenden Punkte in diesem Streite 188 Neuntes Kapitel. Das Princip der Denkb'konomie und die Logik. § 52. Einleitung 182 § 53. Der teleologische Charakter des MACH-AvENARius'schen Principe und die wissenschaftliche Bedeutung der Denkökonomik . 193 § 54. Nähere Darlegung der berechtigten Ziele einer Denkökonomik, hauptsächlich in der Sphäre der rein deductiven Methodik. Ihre Beziehung zur logischen Kunstlehre 197 xii Inkalt. Seite § 55. Die Bedeutungslosigkeit der Denkökonomik für die reine Logik und Erkenntnislehre und ihr Verhältnis zur Psychologie '. 202 s? 56. Fortsetzung. Das va^egov nqoieqov denkökonomischer Be- gründung des rein Logischen 206 Zehntes Kapitel. Schluß der kritischen Betrachtungren. £ 57. Bedenken mit Rücksicht auf naheliegende Mißdeutungen un- serer logischen Bestrebungen 211 § 58. Unsere Anknüpfungen an große Denker der Vergangenheit und zunächst an Kant 213 § 59. Anknüpfungen an Herbart und Lotze 215 § 60. Anknüpfungen an Leibniz 219 § 61. Noth wendigkeit von Einzeluntersuchungen zur erkenntnis- kritischen Rechtfertigung und partiellen Realisirung der Idee der reinen Logik 223 Anhang. Hinweise auf F. A. Lange und B. Bolzano 224 Elftes Kapitel. Die Idee der reinen Logik. § 62. Die Einheit der Wissenschaft. Der Zusammenhang der Sachen und der Zusammenhang der Wahrheiten 228 § 63. Fortsetzung. Die Einheit der Theorie 231 § 64. Die wesentlichen und außerwesentlichen Principien, die der Wissenschaft Einheit geben. Abstracte, concrete und normative Wissenschaften 233 § 65. Die Frage nach den idealen Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft, bezw. Theorie überhaupt. A. Die auf die actuelle Erkenntnis bezogene Frage 237 § 66. B. Die auf den Erkenntnisinhalt bezogene Frage 240 § 67. Die Aufgaben der reinen Logik. Erstens: die Fixirung der reinen Bedeutungskategorien, der reinen gegenständlichen Kategorien und ihrer gesetzlichen Complicationen . . . 243 § 68. Zweitens: die Gesetze und Theorien, die in diesen Kategorien gründen 246 § 69. Drittens: die Theorie der möglichen Theorienformen oder die reine Mannigfaltigkeitslehre 247 § 70. Erläuterungen zur Idee der reinen Mannigfaltigkeitslehre . . 248 §71. Theilung der Arbeit. Die Leistung der Mathematiker und die der Philosophen 252 § 72. Erweiterung der Idee der reinen Logik. Die reine Wahr- scheinlichkeitslehre als reine Theorie der Erfahrungs- erkenntnis 254 Erster Theil. Prolegomena zur reinen Logik. Hüsserl, Log. Unters. I. Einleitung. § 1. Der Streit um die Definition der Logik und den wesentlichen Inhalt ihrer Lehren. „Es herrscht ebenso großer Meinungsstreit in Betreff der Definition der Logik, wie in der Behandlung dieser Wissen- schaft selbst. Dies war naturgemäß bei einem Gegenstande zu erwarten, in Betreff dessen die meisten Schriftsteller sich derselben Worte nur bedient haben, um verschiedene Ge- danken auszudrücken. " x Seitdem J. St. Mill mit diesen Sätzen seine werthvolle Bearbeitung der Logik eingeleitet hat, ist manches Jahrzehnt verstrichen, bedeutende Denker hier wie jenseits des Kanals haben der Logik ihre besten Kräfte gewid- met und deren Literatur um stets neue Darstellungen bereichert; aber noch heute mögen diese Sätze als passende Signatur des Zustandes der logischen Wissenschaft dienen, noch heute sind wir von einer allseitigen Einigkeit in Betreff der Definition der Logik und des Gehaltes ihrer wesentlichen Lehren weit entfernt. Nicht als ob die Logik der Gegenwart dasselbe Bild bieten würde, wie die Logik um die Mitte des Jahrhunderts. Zumal unter dem Einfluß jenes ausgezeichneten Denkers hat von den drei Hauptrichtungen, die wir in der Logik finden, der psychologischen, der formalen und metaphysischen, die erstgenannte in Beziehung auf Zahl und Bedeutung ihrer Ver- treter ein entschiedenes Uebergewicht erlangt. Aber die beiden anderen Richtungen pflanzen sich immer noch fort, die strittigen 1 J. St. Mill, Logik, Einleitung, § 1 (Uebersetzung von Gtomperz). Einleitung. Principienfragen , die sich in den verschiedenen Definitionen der Logik reflectiren, sind strittig geblieben, und was den Lehrgehalt der systematischen Darstellungen anbelangt, so gilt es noch immer und eher noch in gesteigertem Maße, daß die verschiedenen Schriftsteller sich derselben Worte nur bedienen, um verschiedene Gedanken auszudrücken. Und es gilt nicht bloß in Beziehung auf die Darstellungen, welche aus verschie- denen Lagern stammen. Die Seite, auf welcher wir die größte Regsamkeit finden, die der psychologischen Logik, zeigt uns Einheit der Ueberzeugung nur in Hinsicht auf die Abgrenzung der Disciplin, auf ihre wesentlichen Ziele und Methoden; aber kaum wird man es als Uebertreibung tadeln, wenn wir in Hin- sicht auf die vorgetragenen Lehren und zumal auch in Hinsicht auf die gegensätzlichen Deutungen der altüberlieferten Formeln und Lehrstücke das Wort vom bellum omnium contra omnes an- wenden. Vergeblich wäre der Versuch, eine Summe sachhaltiger Sätze oder Theorien abzugrenzen, in denen wir den eisernen Bestand der logischen Wissenschaft unserer Epoche und ihr Erbe an die Zukunft sehen könnten. § 2. Notwendigkeit der erneuten Erörterung der Princip ienfragen . Bei diesem Zustande der Wissenschaft, welcher indivi- duelle Ueberzeugung von allgemein verpflichtender Wahrheit zu scheiden nicht gestattet, bleibt der Rückgang auf die Prin- cipienfragen eine Aufgabe, die stets von neuem in Angriff ge- nommen werden muß. Ganz besonders scheint dies zu gelten von den Fragen, die im Streite der Richtungen und damit auch im Streite um die richtige Abgrenzung der Logik die be- stimmende Rolle spielen. Allerdings ist das Interesse gerade für diese Fragen in den letzten Jahrzehnten sichtlich erkaltet. Nach den glänzenden Angriffen Mill's gegen Hamilton' s Logik und nach den nicht minder berühmten, obschon nicht so fruchtreichen logischen Untersuchungen Teendelenbukg's schienen sie ja im Ganzen erledigt zu sein. Als daher mit Einleitung. dem großen Aufschwung der psychologischen Studien auch die psychologistische Richtung in der Logik ihr Uebergewicht errang, concentrirte sich alle Bemühung bloß auf einen all- seitigen Ausbau der Disciplin nach Maßgabe der als giltig angenommenen Principien. Indessen läßt doch eben der Umstand, daß so viele und von bedeutenden Denkern her- rührendQ Versuche, die Logik in den sichern Gang einer Wissenschaft zu bringen, einen durchgreifenden Erfolg ver- missen lassen, die Vermuthung offen, daß die verfolgten Ziele nicht in dem Maße geklärt sind, wie es für die erfolgreiche Untersuchung nöthig wäre. Die Auffassung von den Zielen einer Wissenschaft findet aber ihren Ausdruck in der Definition derselben. Es kann natürlich nicht unsere Meinung sein, daß der erfolgreichen Be- arbeitung einer Disciplin eine adaequate Begriffsbestimmung ihres Gebietes vorausgehen müsse. Die Definitionen einer Wissenschaft spiegeln die Etappen ihrer Entwicklung wieder, mit der Wissenschaft schreitet die ihr nachfolgende Erkenntnis der begrifflichen Eigenart ihrer Gegenstände, der Abgrenzung und Stellung ihres Gebietes fort. Indessen übt der Grad der Angemessenheit der Definitionen, bezw. der in ihnen ausge- prägten Auffassungen des Gebietes, auch seine Rückwirkung auf den Gang der Wissenschaft selbst, und diese Rückwirkung kann je nach der Richtung, in welcher die Definitionen von der Wahrheit abirren, bald von geringerem, bald von sehr erheblichem Einfluß auf den Entwicklungsgang der Wissen- schaft sein. Das Gebiet einer Wissenschaft ist eine objectiv geschlossene Einheit, es liegt nicht in unserer Willkür, wo und wie wir Wahrheitsgebiete abgrenzen. Objectiv gliedert / sich das Reich der Wahrheit in Gebiete; nach diesen objec- tiven Einheiten müssen sich die Forschungen richten und sich zu Wissenschaften zusammenordnen. Es giebt eine Wissen- schaft von den Zahlen, eine Wissenschaft von den Raum- gebilden, von den animalischen Wesen u. s. w. nicht aber eigene Wissenschaften von den Primzahlen, den Trapezen, den • 6 Einleitung. Löwen oder gar von all dem zusammengenommen. Wo nun eine als zusammengehörig sich aufdrängende Gruppe von Er- kenntnissen und Problemen zur Constituirung einer Wissen- schaft führt, da kann die Unangemessenheit der Abgrenzung bloß darin bestehen, daß der Gebietbegriff im Hinblick auf das Gegebene vorerst zu enge gefaßt wird, daß die Verkettungen begründender Zusammenhänge über das betrachtete* Gebiet hin ausreichen und sich erst in einem weiteren zu einer syste- matisch geschlossenen Einheit concentriren. Solche Beschränkt- heit des Horizontes braucht nicht den gedeihlichen Fortschritt der Wissenschaft nachtheilig zu beeinflussen. Es mag sein, daß das theoretische Interesse zunächst seine Befriedigung findet in dem engeren Kreise, daß die Arbeit, die hier, ohne Inanspruchnahme der tieferen und weiteren logischen Ver- zweigungen gethan werden kann, in Wahrheit das Eine ist, was zunächst noth thut. Ungleich gefährlicher ist aber eine andere Unvollkommen- heit in der Abgrenzung des Gebietes, nämlich die Gebiets- vermengung, die Vermischung von Heterogenem zu einer vermeintlichen Gebietseinheit, zumal wenn sie gründet in einer völligen Mißdeutung der Objecte, deren Erforschung das wesent- liche Ziel der intendirten Wissenschaft sein soll. Eine derart unbemerkte (jisräßaaig slg aklo yevog kann die schädlichsten Wirkungen nach sich ziehen: Fixirung untriftiger Ziele; Be- folgung principiell verkehrter, weil mit den wahren Objecten der Disciplin incommensurabler Methoden; Durcheinander- werfung der logischen Schichten, derart daß die wahrhaft grundlegenden Sätze und Theorien, oft in den sonderbarsten Verkleidungen, sich zwischen ganz fremdartigen Gedanken- reihen als scheinbar nebensächliche Momente oder beiläufige Consequenzen fortschieben u. s. w. Gerade bei den philo- sophischen Wissenschaften sind diese Gefahren beträchtlich, und darum hat die Frage nach Umfang und Grenzen für die frucht- bare Fortbildung dieser Wissenschaften eine ungleich größere Bedeutung als bei den so sehr begünstigten Wissenschaften von Einleitung. der äußeren Natur, wo der Verlauf unserer Erfahrungen uns Gebietscheidungen aufdrängt, innerhalb deren wenigstens eine vorläufige Etablirung erfolgreicher Forschung möglich ist. Speciell in Beziehung auf die Logik hat Kant das berühmte Wort ausgesprochen, das wir uns hier zu eigen machen: ,,Es ist nicht Vermehrung, sondern Verunstaltung der Wissenschaften, wenn man ihre Grenzen ineinander laufen läßt." In der That hofft die folgende Untersuchung es deutlich zu machen, daß die bisherige und zumal die psychologisch fundirte Logik der Gegenwart den eben erörterten Gefahren fast ausnahmslos unterlegen ist, und daß durch die Mißdeutung der theoretischen Grundlagen und durch die hieraus erwachsene Gebietsver- mengung der Fortschritt in der logischen Erkenntnis wesentlich gehemmt worden ist. § 3. Die Streitfragen. Der einzuschlagende Weg. Die traditionellen und mit der Abgrenzung der Logik zusammenhängenden Streitfragen sind folgende: 1. Ob die Logik eine theoretische oder eine practische Disciplin (eine ,, Kunstlehre") sei. 2. Ob sie eine von anderen Wissenschaften und speciell von der Psychologie oder Metaphysik unabhängige Wissenschaft sei. 3. Ob sie eine formale Disciplin sei, oder wie es gefaßt zu werden pflegt, ob sie mit der „ bloßen Form der Er- kenntnis" zu thun oder auch auf deren ,, Materie" Rück- sicht zu nehmen habe. 4. Ob sie den Charakter einer apriorischen und demon- strativen oder den einer empirischen und inductiven Disciplin habe. Alle diese Streitfragen hängen so innig zusammen, daß die Stellungnahme in der einen, bis zu einem gewissen Grade wenigstens, diejenige in den übrigen mitbedingt oder factisch beeinflußt. Der Parteien sind eigentlich nur zwei. Die Logik ist eine theoretische, von der Psychologie unabhängige und 8 Einleitung. zugleich eine formale und demonstrative Disciplin — so urtheilt die Eine. Der Anderen gilt sie als eine von der Psychologie abhängige Kunstlehre, womit von selbst ausgeschlossen ist, daß sie den Charakter einer formalen und demonstrativen Disciplin habe im Sinne der für die Gegenseite vorbildlichen Arithmetik. Da wir es nicht eigentlich auf eine Betheiligung an diesen traditionellen Streitigkeiten, vielmehr auf eine Klärung der in ihnen spielenden principiellen Differenzen und letzlich auf eine Klärung der wesentlichen Ziele einer reinen Logik abgesehen haben, so wollen wir folgenden Weg einschlagen: Wir nehmen als Ausgangspunkt die gegenwärtig fast allgemein angenommene Bestimmung der Logik als einer Kunstlehre und fixiren ihren Sinn und ihre Berechtigung. Daran schließt sich naturgemäß die Frage nach den theoretischen Grundlagen dieser Disciplin und im Besonderen nach ihrem Verhältnis zur Psychologie. Im Wesentlichen deckt sich diese Frage, wenn auch nicht dem Ganzen, so doch einem Haupttheile nach mit der Cardinalfrage der Erkenntnistheorie, die Objectivität der Erkenntnis betreffend. Das Ergebnis unserer diesbezüglichen Untersuchung ist die Aussonderung einer neuen und rein theoretischen Wissen- schaft, welche das wichtigste Fundament für jede Kunstlehre von der wissenschaftlichen Erkenntnis bildet und den Charakter einer apriorischen und rein demonstrativen Wissenschaft besitzt. Sie ist es, die von Kant und den übrigen Vertretern einer „formalen" oder „reinen" Logik intendirt, aber nach ihrem Gehalt und Umfang nicht richtig erfaßt und bestimmt worden ist. Als letzter Erfolg dieser Ueberlegungen resultirt eine klar umrissene Idee von dem wesentlichen Gehalt der strittigen Disciplin, womit von selbst eine klare Position zu den auf- geworfenen Streitfragen gegeben ist. Erstes Kapitel. Die Logik als normative und speciell als practische Disciplin. § 4. Die theoretische Unvollkommenheit der Einzelwissenschaften. Es ist eine alltägliche Erfahrung, daß die Vorzüglichkeit, mit der ein Künstler seinen Stoff meistert, und daß das ent- schiedene und oft sichere Urtheil, mit dem er Werke seiner Kunst abschätzt, nur ganz ausnahmsweise auf einer theoretischen Er- kenntnis der Gesetze beruht, welche dem Verlauf der practischen Bethätigungen ihre Richtung und Anordnung vorschreiben und zugleich die werthenden Maßstäbe bestimmen, nach denen die Vollkommenheit oder Unvollkommenheit des fertigen Werkes abzuschätzen ist. In der Regel ist der ausübende Künstler nicht derjenige, welcher über die Principien seiner Kunst die rechte Auskunft zu geben vermag. Er schafft nicht nach Principien und werthet nicht nach Principien. Schaffend folgt er der inneren Regsamkeit seiner harmonisch gebildeten Kräfte, und urtheilend dem fein ausgebildeten künstlerischen Tact und Gefühl. So verhält es sich aber nicht allein bei den schönen Künsten, an die man zunächst gedacht haben mag, sondern bei den Künsten überhaupt, das Wort im weitesten Sinne ge- nommen. Es trifft also auch die Bethätigungen des wissen- schaftlichen Schaffens und die theoretische Schätzung seiner Er- gebnisse, der wissenschaftlichen Begründungen von Thatsachen, 10 Die Logik als normative Gesetzen, Theorien. Selbst der Mathematiker, Physiker und Astronom bedarf zur Durchführung auch der bedeutendsten wissenschaftlichen Leistungen nicht der Einsicht in die letzten Gründe seines Thuns, und obschon die gewonnenen Ergebnisse für ihn und Andere die Kraft vernünftiger Ueberzeugung besitzen, so kann er doch nicht den Anspruch erheben, überall die letzten Prämissen seiner Schlüsse nachgewiesen und die Principien, auf denen die Triftigkeit seiner Methoden beruht, erforscht zu haben. Damit aber hängt der unvollkommene Zustand aller Wissenschaften zusammen. Wir meinen hier nicht die bloße Unvollständigkeit, mit der sie die Wahrheiten ihres Gebietes erforschen ; sondern den Mangel an innerer Klarheit und Ratio- nalität, die wir unabhängig von der Ausbreitung • der Wissen- schaft fordern müssen. In dieser Hinsicht darf auch die Mathematik, die fortgeschrittenste aller Wissenschaften, eine Ausnahmstellung nicht beanspruchen. Vielfach gilt sie noch als das Ideal aller Wissenschaft überhaupt; aber wie wenig sie dies in Wahrheit ist, lehren die alten und noch immer nicht erledigten Streitfragen über die Grundlagen der Geometrie, so wie die nach den berechtigenden Gründen der Methode des Imaginären. Dieselben Forscher, die mit unvergleichlicher Meisterschaft die wundervollen Methoden der Mathematik hand- haben und sie um neue bereichern, zeigen sich oft gänzlich unfähig, von der logischen Triftigkeit dieser Methoden und den Grenzen ihrer berechtigten Anwendung ausreichende Rechen- schaft zu geben. Obschon nun die Wissenschaften trotz dieser Mängel groß geworden sind und uns zu einer früher nie ge- ahnten Herrschaft über die Natur verholfen haben, so können sie uns doch nicht theoretisch Genüge thun. Sie sind nicht krystallklare Theorien, in denen die Function aller Begriffe und Sätze völlig begreiflich, alle Voraussetzungen genau ana- lysirt und somit das Ganze über jeden theoretischen Zweifel erhaben wäre. und speciell als pr actische Disciplin. 11 § 5. Die theoretische Ergänzung der Einzelwissenschaften durch Metaphysik und Wissenschaftslehre. Um dieses theoretische Ziel zu erreichen, bedarf es, wie ziemlich allgemein anerkannt ist, für's Erste einer Klasse von Untersuchungen, die in das Reich der Metaphysik gehören. Die Aufgabe derselben ist nämlich, die ungeprüften, meistens sogar unbemerkten und doch so bedeutungsvollen Vor- aussetzungen metaphysischer Art zu fixiren und zu prüfen, die mindestens allen Wissenschaften, welche auf die reale Wirklich- keit gehen, zu Grunde liegen. Solche Voraussetzungen sind z. B., daß es eine Außenwelt giebt, welche nach Raum und Zeit ausgebreitet ist, wobei der Raum den mathematischen Charakter einer dreidimensionalen EuKLiDischen, die Zeit den einer eindimensionalen orthoiden Mannigfaltigkeit hat; daß alles Werden dem Causalitätsgesetz unterliegt u. s. w. Un- passend genug pflegt man diese, durchaus in den Rahmen der ersten Philosophie des Abistoteles gehörigen Voraussetzungen gegenwärtig als erkenntnistheoretische zu bezeichnen. Diese metaphysische Grundlegung reicht aber nicht aus, um die gewünschte theoretische Vollendung der Einzelnwissen- schaften zu erreichen; sie betrifft ohnehin bloß die Wissen- schaften, welche es mit der ■ realen Wirklichkeit zu thun haben, und das thun doch nicht alle, sicher nicht die rein mathe- matischen Wissenschaften, deren Gegenstände Zahlen, Mannig- faltigkeiten u. dgl. sind, die unabhängig von realem Sein oder Nichtsein als bloße Träger rein idealer Bestimmungen gedacht sind. Anders verhält es sich mit einer zweiten Klasse von Untersuchungen, deren theoretische Erledigung ebenfalls ein unerläßliches Postulat unseres Erkenntnisstrebens bildet; sie gehen alle Wissenschaften in gleicher Weise an, weil sie, kurz gesagt, auf das gehen, was Wissenschaften überhaupt zu Wissenschaften macht. Hierdurch aber ist das Gebiet einer neuen und, wie sich alsbald zeigen wird, complexen Disciplin bezeichnet, deren Eigenthümliches es ist, Wissenschaft von 12 Die Logik als normative der Wissenschaft zu sein, und die eben darum am präg- nantesten als Wissenschaftslehre zu benennen wäre. § 6. Die Möglichkeit und Berechtigung einer Logik ah Wissenschaftslehre. Die Möglichkeit und die Berechtigung einer solchen Dis- ciplin — als einer zur Idee der Wissenschaft gehörigen norma- tiven und practischen Disciplin — kann durch folgende Ueber- legung begründet werden. Wissenschaft geht, wie der Name besagt, auf Wissen. /, / Nicht als ob sie selbst eine Summe oder ein Gewebe von wli Wissensacten wäre. Objectiven Bestand hat die Wissenschaft nur in ihrer Literatur, nur in der Form von Schriftwerken hat sie ein eigenes, wenn auch zu dem Menschen und seinen in- tellectuellen Bethätigungen beziehungsreiches Dasein; in dieser Form pflanzt sie sich durch die Jahrtausende fort und über- dauert die Individuen, Generationen und Nationen. Sie re- präsentirt so eine Summe äußerer Veranstaltungen, die, wie sie aus Wissensacten vieler Einzelner hervorgegangen sind, wieder in eben solche Acte ungezählter Individuen übergehen können, in einer leicht verständlichen, aber nicht ohne Weit- läufigkeiten exact zu beschreibenden Weise. Uns genügt hier, daß die Wissenschaft gewisse nähere Vorbedingungen für die Erzeugung von Wissensacten beistellt, bezw. beistellen soll, reale Möglichkeiten des Wissens, deren Verwirklichung von dem „normalen", bezw. „entsprechend begabten" Menschen unter bekannten „normalen" Verhältnissen als ein erreichbares Ziel seines Wollens angesehen werden kann. In diesem Sinne also zielt die Wissenschaft auf Wissen. Im Wissen aber besitzen wir die Wahrheit. Im actu- ellen Wissen, worauf wir uns letzlich zurückgeführt sehen, besitzen wir sie als Object eines richtigen Urtheils. Aber dies allein reicht nicht aus; denn nicht jedes richtige Ur- theil, jede mit der Wahrheit übereinstimmende Setzung oder Verwerfung eines Sachverhalts ist ein Wissen vom und speciell als pr actische Disciplin. 13 Sein oder Nichtsein dieses Sachverhalts. Dazu gehört viel- mehr — soll von einem Wissen im engsten und strengsten Sinne die Rede sein — die Evidenz, die lichtvolle Gewiß- heit, daß ist, was wir anerkannt, oder nicht ist, was wir verworfen haben; eine Gewißheit, die wir in bekannter Weise scheiden müssen von der blinden Ueberzeugung, vom vagen und sei es noch so fest entschiedenen Meinen, wofern wir nicht an den Klippen des extremen Skepticismus scheitern sollen. Bei diesem strengen Begriffe des Wissens bleibt die gemeinübliche Redeweise aber nicht stehen. Wir sprechen z. B. von einem Wissensact auch da, wo mit dem gefällten Urtheil zugleich die klare Erinnerung verknüpft ist, daß wir früher ein von Evidenz begleitetes Urtheil identisch desselben Gehaltes gefällt haben, und besonders, wo die Erinnerung auch einen beweisenden Gedankengang betrifft, aus dem diese Evidenz hervorgewachsen ist und den zugleich mit dieser Evidenz wiederzuerzeugen wir uns mit Gewißheit zutrauen. („Ich weiß, daß der Pythagorä- ische Lehrsatz besteht — ich kann ihn beweisen"; statt des letzteren kann es allerdings auch heißen: — „aber ich habe den Beweis vergessen".) So fassen wir überhaupt den Begriff des Wissens in einem weiteren, aber doch nicht ganz laxen Sinne; wir schei- den ihn ab von dem grundlosen Meinen und beziehen uns hierbei auf irgendwelche „Kennzeichen" für die Wahrheit des angenommenen Sachverhalts, bezw. für die Richtigkeit des ge- fällten Urtheils. Das vollkommenste Kennzeichen der Richtig- keit ist die Evidenz, es gilt uns als unmittelbares Innewerden der Wahrheit selbst. In der unvergleichlichen Mehrheit der Fälle entbehren wir dieser absoluten Erkenntnis der Wahrheit, statt ihrer dient uns (man denke nur an die Function des Gedächtnisses in den obigen Beispielen) die Evidenz für die mehr oder minder hohe Wahrscheinlichkeit des Sachverhalts, an welche sich bei entsprechend „erheblichen" Wahrschein- lichkeitsgraden das fest entschiedene Urtheil anzuschließen pflegt. Die Evidenz der Wahrscheinlichkeit eines Sachver- 14 Die Logik als normative halts A begründet zwar nicht die Evidenz seiner Wahrheit, aber sie begründet jene vergleichenden und evidenten Wert- schätzungen, vermöge deren wir je nach den positiven oder negativen Wahrscheinlichkeitswerthen vernünftige von unver- nünftigen, besser begründete von schlechter begründeten An- nahmen, Meinungen, Vermuthungen zu scheiden vermögen. Im letzten Grunde beruht also jede echte und speciell jede wissenschaftliche Erkenntnis auf Evidenz, und so weit die Evidenz reicht, so weit reicht auch der Begriff des Wissens. Trotzdem bleibt eine Doppelheit im Begriff des Wissens (oder was uns als gleichbedeutend gilt: der Erkenntnis) bestehen. Wissen im engsten Sinne d. W. ist Evidenz davon, daß ein gewisser Sach- verhalt gilt oder nicht gilt; z. B. daß SP ist oder nicht ist; also ist auch die Evidenz davon, daß ein gewisser Sachverhalt in dem oder jenem Grade wahrscheinlich ist, in Beziehung darauf, daß er dies ist, ein Wissen im engsten Sinne; dagegen liegt hier in Beziehung auf die Geltung des Sachverhaltes selbst (und nicht seiner Wahrscheinlichkeit) ein Wissen im weiteren, ge- änderten Sinne vor. In diesem letzteren spricht man, den Wahrscheinlichkeitsgraden entsprechend, von einem bald größeren, bald geringeren Ausmaß von Wissen, und es gilt das Wissen im prägnanteren Sinne — die Evidenz davon, daß SP sei — als die absolut feste, ideale Grenze, der sich die Wahr- scheinlichkeiten für das P-Sein des S in ihrer Steigerungsfolge asymptotisch annähern. — Zum Begriff der Wissenschaft und ihrer Aufgabe gehört nun aber mehr als bloßes Wissen. Wenn wir innere Wahr- nehmungen, einzeln oder gruppenweise erleben und als daseiend anerkennen, so haben wir Wissen aber noch lange nicht Wissenschaft. Und nicht anders verhält es sich mit zusammen- hangslosen Gruppen von Wissensacten überhaupt. Zwar Mannigfaltigkeit des Wissens aber nicht bloße Mannigfaltigkeit will die Wissenschaft uns geben. Auch die sachliche Verwandt- schaft macht noch nicht die ihr eigentümliche Einheit in der Mannigfaltigkeit des Wissens aus. Eine Gruppe vereinzelter und speciell als practische Disciplin. 15 chemischer Erkenntnisse würde gewiss nicht die Rede von einer chemischen Wissenschaft berechtigen. Offenbar ist mehr er- fordert, nämlich systematischer Zusammenhang im theo- retischen Sinne, und darin liegt Begründung des Wissens und gehörige Verknüpfung und Ordnung in der Folge der Begründungen. Zum Wesen der Wissenschaft gehört also die Einheit des Begründungszusammenhanges, in dem mit den einzelnen Erkennt- nissen auch die Begründungen selbst und mit diesen auch die höheren Complexionen von Begründungen, die wir Theorien nennen, eine systematische Einheit erhalten. Ihr Zweck ist es eben nicht Wissen schlechthin, sondern Wissen in solchem Ausmaße und in solcher Form zu vermitteln, wie es unseren höchsten theoretischen Zielen in möglichster Vollkommenheit entspricht. Daß uns die systematische Form als die reinste Verkörperung der Idee des Wissens erscheint, und daß wir sie practisch an- streben, darin äußert sich nicht etwa ein bloß ästhetischer Zug unserer Natur. Die Wissenschaft will und darf nicht das Feld eines architectonischen Spiels sein. Die Systematik, die der Wissenschaft eignet, natürlich der echten und rechten Wissen- schaft, erfinden wir nicht, sondern sie liegt in den Sachen, wo wir sie einfach vorfinden, entdecken. Die Wissenschaft will das Mittel sein, unserem Wissen das Reich der Wahrheit und zwar in größtmöglichem Umfange zu erobern; aber das Reich der Wahrheit ist kein 'ungeordnetes Chaos, es herrscht in ihm Ein- heit der Gesetzlichkeit; und so muß auch die Erforschung und Darlegung der Wahrheiten systematisch sein, sie muß deren systematische Zusammenhänge wiederspiegeln und sie zugleich als Stufenleiter des Fortschrittes benützen, um von dem uns gegebenen oder bereits gewonnenen Wissen aus in immer höhere Regionen des Wahrheitsreiches eindringen zu können. Dieser hilfreichen Stufenleitern kann sie nicht entrathen. Die Evidenz, auf der schließlich alles Wissen beruht, ist nicht eine natürliche Beigabe, die sich mit der bloßen Vorstellung O 16 Die Logik als normative der Sachverhalte und ohne jede methodisch-künstliche Veran- staltungen einfindet. Anderenfalls wären die Menschen auch nie darauf verfallen, Wissenschaften aufzubauen. Methodische Umständlichkeiten verlieren ihren Sinn, wo mit der Intention schon der Erfolg gegeben ist. Wozu die Begründungsverhält- nisse erforschen und Beweise construiren, wenn man der Wahr- heit in unmittelbarem Innewerden theilhaftig wird? Factisch stellt sich aber die Evidenz, die den vorgestellten Sachverhalt als Wahrheit, bezw. die Absurdität, die ihn als Falschheit stempelt (und ähnlich in Hinsicht auf Wahrscheinlichkeit und Un Wahrscheinlichkeit) nur bei einer relativ höchst beschränkten Gruppe primitiver Sachverhalte unmittelbar ein; unzählige wahre Sätze erfassen wir als Wahrheiten nur dann, wenn sie methodisch „begründet" werden, d. h. in diesen Fällen stellt sich im bloßen Hinblick auf den Satzgedanken, wenn überhaupt urtheilsmäßige Entscheidung, so doch nicht Evidenz ein; aber es stellt sich, gewisse normale Verhältnisse vorausgesetzt, Beides zugleich ein, so wie wir von gewissen Erkenntnissen ausgehen und dann einen gewissen Gedankenweg zu dem intendirten Satze einschlagen. Es mag für denselben Satz mannigfaltige Begründungswege geben, die einen von diesen, die anderen von jenen Erkenntnissen auslaufend; aber charakteristisch und wesentlich ist der Umstand, daß es unendliche Mannigfaltig- keiten von Wahrheiten giebt, die ohne dergleichen methodische Proceduren nimmermehr in ein Wissen verwandelt werden können. Und daß es sich so verhält, daß wir Begründungen brauchen, um in der Erkenntnis, im Wissen über das unmittelbar Evidente und darum Triviale hinauszukommen, das macht nicht nur Wissenschaften möglich und nöthig, sondern mit den Wissen- schaften auch eine Wissenschaftslehre, eine Logik. Ver- fahren alle Wissenschaften methodisch im Verfolge der Wahrheit; haben sie alle mehr oder minder künstliche Hilfsmittel in Gebrauch, um Wahrheiten, bezw. Wahrscheinlichkeiten, die sonst verborgen blieben, zur Erkenntnis zu bringen, und um das Selbstverständ- und speciell als pr actische Disciplin. 17 liehe oder bereits Gesicherte als Hebel zu nützen für die Er- reichung von Entlegenem, nur mittelbar Erreichbarem : dann dürfte doch die vergleichende Betrachtung dieser methodischen Hilfen, J ^try Li dir* in denen die Einsichten und Erfahrungen ungezählter Forscher- [j^, generationen aufgespeichert sind, Mittel an die Hand geben, um allgemeine Normen für solche Verfahrungsweisen aufzu- stellen und desgleichen auch Kegeln für die erfindende Con- struetion derselben je nach den verschiedenen Klassen von Fällen. § 7. Fortsetzung. Die drei bedeutsamsten Eigentümlichkeiten der Begründungen. Ueberlegen wir, um etwas tiefer in die Sache zu dringen, die bedeutsamsten Eigenthümlichkeiten dieser merkwürdigen Gedankenverläufe, die wir Begründungen nennen. Sie haben, um auf ein Erstes hinzuweisen, in Beziehung auf ihren Gehalt den Charakter fester Gefüge. Nicht können wir, um zu einer gewissen Erkenntnis, z. B. der des Pytha- goräischen Lehrsatzes, zu gelangen, ganz beliebige aus den unmittelbar gegebenen Erkenntnissen zu Ausgangspunkten wählen, und nicht dürfen wir im weiteren Verlaufe beliebige Gedankenglieder einfügen und ausschalten: soll die Evidenz des zu begründenden Satzes wirklich aufleuchten, die Begründung also wahrhaft Begründung sein. Noch ein Zweites merken wir alsbald. Von vornherein, d. h. vor dem vergleichenden Hinblick auf die Beispiele von Begründungen, die uns von überall her in Fülle zuströmen, möchte es als denkbar erscheinen, daß jede Begründung nach Gehalt und Form ganz einzigartig sei. Eine Laune der Natur — dies dürften wir zunächst wol für einen möglichen Gedanken halten — könnte unsere geistige Constitution so eigensinnig gebildet haben, daß die uns jetzt so vertraute Rede von mannig- fachen Begründungsformen eines jeden Sinnes bar und als Gemeinsames bei der Vergleichung irgendwelcher Begründungen immer nur das Eine zu constatiren wäre: Daß eben ein Satz S, der für sich evidenzlos ist, den Charakter der Evidenz er- Husserl, Log. Untere. I. 2 18 Die Logik als normative hält, wenn er im Zusammenhang auftritt mit gewissen, ihm ohne jedes rationale Gesetz ein für allemal zugeordneten Er- kenntnissen P 1 P 2 .. . Aher so steht die Sache nicht. Nicht hat eine blinde Willkür irgend einen Haufen von Wahrheiten P 1 P 2 . . . S zusammengerafft und dann den menschlichen Geist so eingerichtet, daß er an die Erkenntnis der P l P 2 ... un- weigerlich (bezw. unter „normalen" Umständen) die Erkenntnis von S anknüpfen muß. In keinem einzigen Falle verhält es sich so. Nicht Willkür und Zufall herrscht in den Begründungs- zusammenhängen, sondern Vernunft und Ordnung, und das heißt: regelndes Gesetz. Kaum bedarf es eines Beispiels zur Verdeutlichung. Wenn wir in einer mathematischen Aufgabe, die ein gewisses Dreieck AP C betrifft, den Satz anwenden „ein gleichseitiges Dreieck ist gleichwinklig", so vollziehen wir eine Begründung, die explicirt lautet: Jedes gleichseitige Dreieck ist gleichwinklig, das Dreieck ABC ist gleichseitig, also ist es gleichwinklig. Setzen wir daneben die arithmetische Begrün- dung: Jede dekadische Zahl mit gerader Endziffer ist eine gerade Zahl, 364 ist eine dekadische Zahl mit gerader End- ziffer, also ist sie eine gerade Zahl. Wir bemerken sofort, daß diese Begründungen etwas Gemeinsames haben, eine gleich- artige innere Constitution, die wir verständlich ausdrücken in der „Schlußform": Jedes A ist P, X ist A, also ist XB. Aber nicht bloß diese zwei Begründungen haben diese gleiche Form, sondern ungezählte andere. Und noch mehr. Die Schlußform repräsentirt einen Klassenbegriff, unter den die unendliche Mannigfaltigkeit von Sätzeverknüpfungen der in ihr scharf ausgeprägten Constitution fällt. Zugleich besteht aber das apriorische Gesetz, daß jede vorgebliche Begründung, die ihr gemäß verläuft, auch wirklich eine richtige ist, wofern sie überhaupt von richtigen Prämissen ausgeht. Und dies gilt allgemein. Wo immer wir von gegebenen Erkenntnissen begründend aufsteigen zu neuen, da wohnt dem Begründungswege eine gewisse Form ein, die ihm gemeinsam ist mit unzähligen anderen Begründungen, und die in gewisser und speciell als pr actische Disciplin. 19 Beziehung steht zu einem allgemeinen Gesetze, das alle diese einzelnen Begründungen mit einem Schlage zu rechtfertigen gestattet. Keine Begründung steht, dies ist die höchst merk- würdige Thatsache, isolirt. Keine knüpft Erkenntnisse an Er- kenntnisse, ohne daß, sei es in dem äußerlichen Modus der Verknüpfung, sei es in diesem und zugleich in dem inneren Bau der einzelnen Sätze, ein bestimmter Typus ausgeprägt wäre, der in allgemeine Begriffe gefaßt, sofort zu einem allge- meinen, auf eine Unendlichkeit möglicher Begründungen bezüg- lichen Gesetze überleitet. Endlich sei noch ein Drittes als merkwürdig hervorge- hoben. Von vornherein, d. h. vor der Vergleichung der Be- gründungen verschiedener Wissenschaften, möchte man den Gedanken für möglich halten, daß die Begründungsformen an Erkenntnisgebiete gebunden seien. Wenn schon nicht überhaupt mit den Klassen von Objecten die zugehörigen Begründungen wechseln, so könnte es doch sein, daß sich die Begründungen nach gewissen sehr allgemeinen Klassenbegriffen, etwa den- jenigen, welche die Wissenschaftsgebiete abgrenzen, scharf son- dern. Ist es also nicht so, daß keine Begründungsform exi- stirt, die zwei Wissenschaften gemeinsam ist, der Mathematik z. B. und der Chemie? Indessen auch dies ist offenbar nicht der Fall, wie schon das obige Beispiel lehrt. Keine Wissen- schaft, in der nicht Gesetze auf singulare Fälle übertragen, also Schlüsse der uns als Beispiel dienenden Form öfter auf- treten würden. Und dasselbe gilt von vielen Schlußarten sonst. Ja wir werden sagen dürfen, daß alle anderen Schlußarten sich so verallgemeinern, sich so „rein" fassen lassen, daß sie von jeder wesentlichen Beziehung auf ein concret beschränktes Er- kenntnisgebiet frei werden. § 8. Die Beziehung dieser Eigentümlichkeiten zur Möglichkeit von Wissenschaft und Wissenschaftslehre. Diese Eigenthümlichkeiten der Begründungen, deren Merk- würdigkeit uns nicht auffällt, weil wir allzuwenig geneigt sind, 2* 20 Die Logik als normative das Alltägliche zum Problem zu machen, stehen in ersichtlicher Beziehung zur Möglichkeit einer Wissenschaft und weiter- hin einer Wissenschaftslehre. Daß es Begründungen giebt, reicht in dieser Beziehung nicht hin. Wären sie form- und gesetzlos, bestände nicht die fundamentale Wahrheit, daß allen Begründungen eine gewisse „Form" einwohnt, die nicht dem hie et nunc vorliegenden Schlüsse (dem einfachen oder noch so complicirten) eigenthümlich , son- dern für eine ganze Klasse von Schlüssen typisch ist, und daß zugleich die Richtigkeit der Schlüsse dieser ganzen Klasse eben durch ihre Form verbürgt ist, bestände vielmehr in all dem das Gegentheil — dann gäbe es keine Wissenschaft. Das Reden von einer Methode, von einem systematisch geregelten Fort- schritt von Erkenntnis zu Erkenntnis hätte keinen Sinn mehr, jeder Fortschritt wäre Zufall. Da würden einmal zufällig die Sätze P 1 P 2 . . . in unserem Bewußtsein zusammentreffen, die dem Satze 8 die Evidenz zu verleihen fähig sind, und richtig würde die Evidenz aufleuchten. Es wäre nicht mehr möglich, aus einer zu Stande gekommenen Begründung für die Zukunft das Geringste zu lernen in Beziehung auf neue Begründungen von neuer Materie; denn keine Begründung hätte etwas Vor- bildliches für irgend eine andere, keine verkörperte in sich einen Typus, und so hätte auch keine Urtheilsgruppe , als Prämissensystem gedacht, etwas Typisches an sich, das sich uns (ohne begriffliche Hervorhebung, ohne Recurs auf die ex- plicirte „Schlußform") im neuen Falle und bei Gelegenheit ganz anderer „Materien" aufdrängen und nach den Gesetzen der Ideenassociation die Gewinnung einer neuen Erkenntnis er- leichtern könnte. Nach einem Beweis für einen vorgegebenen Satz forschen, hätte keinen Sinn. Wie sollten wir dies auch anstellen? Sollten wir alle möglichen Satzgruppen durchpro- bten, ob sie als Prämissen für den vorliegenden Satz brauch- bar seien? Der Klügste hätte hier vor dem Dümmsten nichts voraus, und es ist überhaupt fraglich, ob er vor ihm noch etwas Wesentliches voraus hätte. Eine reiche Phantasie, ein und speciell als practisehe Disciplin. 21 umfassendes Gedächtnis, die Fähigkeit angespannter Aufmerk- samkeit und dgl. mehr sind schöne Dinge, aber intellectuelle Bedeutung gewinnen sie nur bei einem denkenden Wesen, dessen Begründen und Erfinden unter gesetzlichen Formen steht. Denn es gilt allgemein, daß in einer beliebigen psychi- schen Complexion nicht bloß die Elemente, sondern auch die verknüpfenden Formen associative, bezw. reproductive Wirksam- keit üben. So kann sich also die Form unserer theoretischen Gedanken und Gedankenzusammenhänge als förderlich erweisen. Wie z. B. die Form gewisser Prämissen den zugehörigen Schluß- satz mit besonderer Leichtigkeit hervorspringen läßt, weil uns früher Schlüsse derselben Form gelungen waren, so kann auch die Form eines zu beweisenden Satzes, gewisse Begründungs- formen in Erinnerung bringen, welche ähnlich geformte Schluß- sätze früher ergeben hatten. Ist es auch nicht klare und eigentliche Erinnerung, so ist es doch ein Analogon davon, ge- wissermaßen latente Erinnerung, es ist „unbewußte Erregung" (im Sinne B. Eedmann's); jedenfalls ist es etwas, das sich für das leichtere Gelingen von Beweisconstructionen (und nicht allein in den Gebieten, wo die argumenta in forma vorherrschen, wie in der Mathematik) höchst förderlich zeigt. Der ge- übte Denker findet leichter Beweise als der ungeübte, und warum dies? Weil sich ihm die Typen der Beweise durch mannigfache Erfahrung immer tiefer eingegraben haben und darum für ihn viel leichter wirksam und die Gedankenrichtung bestimmend sein müssen. In gewissem Umfang übt das wissen- schaftliche Denken beliebiger Gattung für wissenschaftliches Denken überhaupt; daneben aber gilt, daß in besonderem Maß und Umfang das mathematische Denken speciell für mathema- tisches, das physikalische speciell für physikalisches prädispo- nirt u. s. w. Ersteres beruht auf dem Bestände typischer For- men, die allen Wissenschaften gemein sind, Letzteres auf dem Bestände anderer (eventuell als bestimmt gestaltete Com- plexionen jener zu charakterisirenden) Formen, die zu der Be- sonderheit der einzelnen Wissenschaften ihre besondere • Be- 22 Die Logik als normative ziehung haben. Die Eigenheiten des wissenschaftlichen Tactes, der vorausblickenden Intuition und Divination hängen hiemit zusammen. Wir sprechen von einem philologischen Tact und Blick, von einem mathematischen u. s. w. Und wer besitzt ihn? Der durch vieljährige Uebung geschulte Philologe bezw. Mathe- matiker u. s. w. In der allgemeinen Natur der Gegenstände des jeweiligen Gebietes wurzeln gewisse Formen sachlicher Zu- sammenhänge, und diese bestimmen wieder typische Eigen- thümlichkeiten der gerade in diesem Gebiete vorwiegenden Be- gründungsformen. Hierin liegt die Basis für die vorauseilenden wissenschaftlichen Vermuthungen. Alle Prüfung, Erfindung und Entdeckung beruht so auf den Gesetzmäßigkeiten der Form. Ermöglicht nach all dem die geregelte Form den Be- stand von Wissenschaften, so ermöglicht auf der anderen Seite die in weitem Umfang bestehende Unabhängigkeit der Form vom Wissensgebiet den Bestand einer Wissen- schaft slehre. Gälte diese Unabhängigkeit nicht, so gäbe es nur einander beigeordnete und den einzelnen Wissenschaften einzeln entsprechende Logiken aber nicht die allgemeine Logik. In Wahrheit finden wir aber Beides nöthig: wissenschaftstheore- tische Untersuchungen, welche alle Wissenschaften gleichmäßig betreffen, und zur Ergänzung derselben besondere Unter- suchungen, welche die Theorie und Methode der einzelnen Wissenschaften betreffen und das diesen Eigenthümliche zu erforschen suchen. So dürfte die Hervorhebung jener Eigenthümlichkeiten, die sich bei der vergleichenden Betrachtung der Begründungen er- gaben, nicht nutzlos gewesen sein, auf unsere Disciplin selbst, auf die Logik im Sinne einer Wissenschaftslehre einiges Licht zu werfen. § 9. Die methodischen Verfahrung sweisen in den Wissenschaften theils Begründungen, theils Hilfsverrichtungen für Begründungen. Doch es bedarf noch einiger Ergänzungen, zunächst hin- sichtlich unserer Beschränkung auf die Begründungen, die und speciell als pr actische Disciplin. 23 doch den Begriff des methodischen Verfahrens nicht er- schöpfen. Den Begründungen kommt aher eine centrale Bedeutung zu, die unsere vorläufige Beschränkung recht- fertigen wird. Man kann nämlich sagen: daß alle wissenschaftlichen Me- thoden, die nicht selbst den Charakter von wirklichen Begrün- dungen (sei es einfachen oder noch so complicirten) haben, entweder denkökonomische Abbreviaturen und Surrogate von Begründungen sind, die, nachdem sie selbst durch Begrün- dungen ein für alle Mal Sinn und Werth empfangen haben, bei ihrer practischen Verwendung zwar die Leistung aber nicht den einsichtigen Gedankengehalt von Begründungen in sich schließen; oder daß sie mehr oder weniger complicirte Hilfs- verrichtungen darstellen, die zur Vorbereitung, zur Erleich- terung, Sicherung oder Ermöglichung künftiger Begründungen dienen und abermals keine diesen wissenschaftlichen Grund- processen gleichwerthige und neben ihnen selbständige Be- deutung beanspruchen dürfen. So ist es z. B., um uns an die zw eiterwähnte Methoden- gruppe anzuschließen, ein wichtiges Vorerfordernis für die Sicherung von Begründungen überhaupt, daß die Gedanken in angemessener Weise, zum Ausdruck kommen mittels wol unter- scheidbarer und eindeutiger Zeichen. Die Sprache bietet dem Denker ein in weitem Umfang anwendbares Zeichensystem zum Ausdruck seiner Gedanken, aber obschon Niemand desselben entrathen kann, so stellt es doch ein höchst unvollkommenes Hilfsmittel der strengen Forschung dar. Die schädlichen Ein- flüsse der Aequivocationen auf die Triftigkeit der Schlußfolge- rungen sind allbekannt. Der vorsichtige Forscher darf die Sprache also nicht ohne kunstmäßige Vorsorgen verwenden, er muß die gebrauchten Termini, soweit sie eindeutiger und scharfer Bedeutung ermangeln, definiren. In der Nominal- definition sehen wir also ein methodisches Hilfsverfahren zur Sicherung der Begründungen, dieser primär und eigentlich theoretischen Proceduren. 24 Die Logik als normative Aehnlich verhält es sich mit der Nomenklatur. Kurze und charakteristische Signaturen für wichtigere und häufig wiederkehrende Begriffe sind — um nur eines zu erwähnen — überall da unerläßlich, wo diese Begriffe mit dem ursprüng- lichen Vorrath von definirten Ausdrücken nur sehr umständlich zum Ausdruck kämen; denn umständliche, vielfach ineinander geschachtelte Ausdrücke erschweren die begründenden Opera- tionen oder machen sie sogar unausführbar. Von ähnlichen Gesichtspunkten läßt sich auch die Methode der Klassification betrachten u. s. f. Beispiele zur ersten Methodengruppe bieten uns die so überaus fruchtbaren algorithmischen Methoden, deren eigenthümliche Function es ist, uns durch künstliche Anord- nungen mechanischer Operationen mit sinnlichen Zeichen einen möglichst großen Theil der eigentlichen deductiven Geistes- arbeit zu ersparen. Wie Wunderbares diese Methoden auch leisten, sie gewinnen Sinn und Rechtfertigung nur aus dem Wesen des begründenden Denkens. Hieher gehören auch die in wörtlichem Sinne mechanischen Methoden — man denke an die Apparate für mechanische Integration, an Rechenmaschinen u. dgl. — ferner die methodischen Verfahrungsweisen zur Fest- stellung objectiv giltiger Erfahrungsurtheile , wie die mannig- faltigen Methoden zur Bestimmung einer Sternposition, eines elektrischen Widerstandes, einer trägen Masse, eines Brechungs- exponenten, der Constanten der Erdschwere u. s> w. Jede solche Methode repräsentirt eine Summe von Vorkehrungen, deren Auswahl und Anordnung durch einen Begründungszusammenhang bestimmt wird, welcher allgemein nachweist, daß ein so ge- artetes Verfahren, mag es auch blind vollzogen sein, not- wendiger Weise ein objectiv giltiges Einzelurtheil liefern müsse. Doch genug der Beispiele. Es ist klar: Jeder wirkliche Fortschritt der Erkenntnis vollzieht sich in der Begründung; auf sie haben daher alle die methodischen Vorkehrungen und Kunst- griffe Beziehung, von denen über die Begründungen hinaus die Logik noch handelt. Dieser Beziehung verdanken sie auch und speciell als pr actische Disciplin. 25 ihren typischen Charakter, der ja zur Idee der Methode wesent- lich gehört. Um dieses Typischen willen ordnen sie sich übrigens in die Betrachtungen des vorigen Paragraphen eben- falls mit ein. § 10. Die Ideen Theorie und Wissenschaft als Probleme der Wissenschaftslehre. Aber noch einer weiteren Ergänzung bedarf es. Natürlich hat die Wissenschaftslehre, so wie sie sich uns hier ergeben hat, nicht bloß mit der Erforschung der Formen und Gesetz- mäßigkeiten einzelner Begründungen (und der ihnen zugeord- neten Hilfsverrichtungen) zu thun. Einzelne Begründungen finden wir ja auch außerhalb der Wissenschaft und somit ist klar, daß einzelne Begründungen — und ebenso zusammengeraffte Haufen von Begründungen — noch keine Wissenschaft aus- machen. Dazu gehört, iwie wir uns oben ausdrückten, eine ge- wisse Einheit des Begründungszusammenhanges, eine gewisse Einheit in der Stufenfolge von Begründungen; und diese Ein- heitsform hat selbst ihre hohe teleologische Bedeutung für die Erreichung fies obersten Erkenntniszieles, dem alle Wissen- schaft zusteht, uns in der Erforschung der Wahrheit — das heißt abfj nicht in der Erforschung einzelner Wahrheiten, son- dern ( 1 es Reiches der Wahrheit, bezw. der natürlichen Pro- vinzen, in die es sich gliedert — nach Möglichkeit zu fördern. / Die Aufgabe der Wissenschaftslehre wird es also auch sein, von den Wissenschaften als so und so gearteten systematischen Einheiten zu handeln, m. a. W. von dem, jras sie der Form nach als Wissenschaften charakterisirt, was dhre wechselseitige Begrenzung, was ihre innere Gliederung in Gebiete, in relativ geschlossene Theorien bestimmt, welches ihre wesentlich verschiedenen Arten oder Formen sind, u. dgl. Man kann diese systematischen Gewebe von Begründungen ebenfalls dem Begriff der Methode unterordnen und somit der Wissenschaftslehre nicht bloß die Aufgabe zuweisen, von den Wissensmethoden zu handeln, die in den Wissenschaften auf- 26 Die Logik als normative treten, sondern auch von denjenigen, welche selbst Wissen- schaften heißen. Nicht allein giltige und ungiltige Begründun- gen, sondern auch giltige und ungiltige Theorien und Wissen- schaften zu scheiden, fällt ihr zu. Die Aufgabe, die ihr damit zugewiesen wird, ist von der früheren offenbar nicht unabhängig, sie setzt in beträchtlichem Umfange deren vorgängige Lösung voraus; denn die Erforschung der Wissenschaften als systema- tische Einheiten ist nicht denkbar ohne die vorgängige Er- forschung der Begründungen. Jedenfalls liegen beide im Be- griffe einer Wissenschaft von der Wissenschaft als solcher. § 11. Die Logik oder Wissenschaftslehre als normative Disciplin und als Kunstlehre. Nach dem, was wir bisher erörtert haben, ergiebt sich die Logik — in dem hier fraglichen Sinne einer Wissenschafts- lehre — als eine normative DiscipHn. Wissenschaften sind Geistesschöpfungen, die nach einem gewissen Ziele gerichtet und darum auch diesem Ziele gemäß zu beüctheilen sind. Und dasselbe gilt von den Theorien, Begründungen \md allem über- haupt, was wir Methode nennen. Ob eine Wissenschaft in Wahrheit Wissenschaft, eine Methode in Wahrheit Methode ist, das hängt davon ab, ob sie dem Ziele gemäß ist, dem sie zu- strebt. Was den wahrhaften, den giltigen Wissenschaften als solchen zukommt, m. a. W. was die Idee der Wissenschaft constituirt, will die Logik erforschen, damit wir daran messen können, ob die empirisch vorliegenden Wissenschaften ihrer Idee entsprechen, oder in wie weit sie sich ihr nähern, und worin sie gegen sie verstoßen. Dadurch bekundet sich die Logik als normative Wissenschaft und scheidet von sich ab die vergleichende Betrachtungsweise der historischen Wissen- schaft, welche die Wissenschaften als concrete Culturerzeug- nisse der jeweiligen Epochen nach ihren typischen Eigen- thümlichkeiten und Gemeinsamkeiten zu erfassen und aus den Zeitverhältnissen zu erklären versucht. Denn das ist das Wesen der normativen Wissenschaft, daß sie allgemeine Sätze und speciell als praotisohe Disciplin. 27 begründet, in welchen mit Beziehung auf ein normirendes Grundmaß — z. B. eine Idee oder einen obersten Zweck — bestimmte Merkmale angegeben sind, deren Besitz die Ange- messenheit an das Maß verbürgt oder umgekehrt eine unerläß- liche Bedingung für diese Angemessenheit beistellt; desgleichen auch verwandte Sätze, in welchen der Fall der Unangemessen- heit berücksichtigt oder das Nichtvorhandensein solcher Sach- lagen ausgesprochen ist. Nicht als ob sie allgemeine Kenn- zeichen zu geben brauchte, die besagen, wie ein Object über- haupt beschaffen sein soll, um der Grundnorm zu entsprechen; so wenig die Therapie Universalsymptome angiebt, so wenig giebt irgend eine normative Disciplin Universalkriterien. Was uns im Besonderen die Wissenschaftslehre giebt und allein geben kann, sind Specialkriterien. Indem sie feststellt, daß im Hin- blick auf das oberste Ziel der Wissenschaften und auf die fac- tische Constitution des menschlichen Geistes, und was sonst noch in Betracht kommen mag, die und die Methoden, etwa M 1 M 2 ..., erwachsen , spricht sie Sätze der Form aus: Jede Gruppe von Geistesbethätigungen der Arten aß ... , die in der Complexionsform M Y (bezw. M 2 . . . ) sich abwickeln, liefert einen Fall richtiger Methode; oder was gleichwerthig ist: Jedes (an- geblich) methodische Verfahren der Form M 1 (bezw. M 2 . . .) ist ein richtiges. Gelänge es alle an sich möglichen und giltigen Sätze dieser und verwandter Art wirklich aufzustellen, dann allerdings enthielte die normative Disciplin die messende Regel für jede angebliche Methode überhaupt, aber auch dann nur in Form von Specialkriterien. Wo die Grundnorm ein Zweck ist oder Zweck werden kann, geht aus der normativen Disciplin durch eine naheliegende Erweiterung ihrer Aufgabe eine Kunstlehre hervor. So auch hier. Stellt sich die Wissenschaftslehre die weitergehende Auf- gabe, die unserer Macht unterliegenden Bedingungen zu er- forschen, von denen die Realisirung giltiger Methoden abhängt, und Regeln aufzustellen, wie wir in der methodischen Ueber- listung der Wahrheit verfahren, wie wir Wissenschaften triftig 28 Die Logik als normative abgrenzen und aufbauen, wie wir im Besonderen die mannig- fachen in ihnen förderlichen Methoden erfinden oder anwenden, und wie wir uns in allen diesen Beziehungen vor Fehlern hüten sollen: so wird sie zur Kunstlehre von der Wissenschaft. Offenbar schließt diese die normative Wissenschaftslehre voll und ganz in sich, und es ist daher vermöge ihres unzweifel- haften Werthes durchaus angemessen, wenn man den Begriff der Logik entsprechend erweitert und sie im Sinne dieser Kunst- lehre definirt. § 12. Hieher gehörige Definition der Logik. Die Definition der Logik als einer Kunstlehre ist von Alters her sehr beliebt, doch lassen die näheren Bestimmungen in der Regel zu wünschen übrig. Definitionen wie Kunstlehre des Urtheilens, des Schließens, der Erkenntnis, des Denkens (Part de penser) sind mißdeutlich und jedenfalls zu enge. Begrenzen wir z. B. in der letzterwähnten und noch heute gebrauchten Definition die vage Bedeutung des Terminus „denken" auf den Begriff des richtigen Urtheils, so lautet die Definition: Kunst- lehre vom richtigen Urtheil. Daß diese Definition aber zu enge ist, geht nun daraus hervor, daß aus ihr der Zweck der wissen- schaftlichen Erkenntnis nicht ableitbar ist. Sagt man: der Zweck des Denkens werde voll und ganz erst in der Wissen- schaft erfüllt, so ist dies unzweifelhaft richtig; aber es ist da- mit auch zugegeben, daß eigentlich nicht das Denken, bezw. die Erkenntnis, der Zweck der fraglichen Kunstlehre ist, sondern dasjenige, den! das Denken selbst Mittel ist. Aehnlichen Bedenken unterliegen die übrigen Definitionen. Sie unterliegen auch dem neuerdings wieder von Beegmann er- hobenen Einwände, daß wir in der Kunstlehre einer Thätigkeit — z. B. des Malens, des Singens, des Reitens — vor Allem erwarten müßten, „daß sie zeige, was man thun müsse, damit die betreffende Thätigkeit richtig vollzogen werde, z. B. wie man beim Malen den Pinsel fassen und führen, beim Singen die Brust, die Kehle und den Mund gebrauchen, beim Reiten und speciell als praetische Disciplin. 29 den Zügel anziehen und nachlassen und mit den Schenkeln drücken müsse". So kämen in den Bereich der Logik ihr ganz fremdartige Lehren. 1 Näher der Wahrheit steht sicherlich Schleiermacher' s Definition der Logik als Kunstlehre von der wissenschaftlichen Erkenntnis. Denn selbstverständlich wird man in der so be- grenzten Disciplin nur die Besonderheit der wissenschaftlichen Erkenntnis zu berücksichtigen und, was sie fördern kann, zu erforschen haben; während die entfernteren Vorbedingungen, welche das Zustandekommen von Erkenntnis überhaupt be- günstigen, der Pädagogik, der Hygiene u. s. w. überlassen bleiben. Indessen kommt in Schleiermacher's Definition nicht ganz deut- lich zum Ausdruck, daß es dieser Kunstlehre auch obliege, die Regeln aufzustellen, denen gemäß Wissenschaften abzugrenzen und aufzubauen sind, während umgekehrt dieser Zweck den der wissenschaftlichen Erkenntnis einschließt. Vortreffliche Ge- danken zur Umgrenzung unserer Disciplin findet man in Bol- zano's „Wissenschaftslehre", aber mehr in den kritischen Vor- untersuchungen als in der Definition, die er selbst bevorzugt. Diese lautet befremdlich genug, die Wissenschaftslehre (oder Logik) sei „diejenige Wissenschaft, welche uns anweise, wie wir Wissenschaften in zweckmäßigen Lehrbüchern darstellen sollen". 2 1 Bergmann, Die Grundprobleme der Logik 2 1895 S. 78. — Vgl. auch Dr. B. Bolzano's Wissenschaftslehre (Sulzbach 1837) I. S. 24. „Gehört z. B. die Frage, ob Koriander ein Mittel zur Stärkung des Gedächtnisses sei, in die Logik? Und doch müßte sie es, wäre die Logik eine ars rationis formandae im ganzen Umfange der Worte." 2 Bolzano, a. a. 0. I. S. 7. Allerdings ist der IV. Bd. der „Wissen- schaftslehre" speciell der Aufgabe gewidmet, welche die Definition aus- spricht. Aber es muthet sonderbar an, daß die unvergleichlich wichtigeren Disciplinen, welche die drei ersten Bände behandeln, bloß als Hilfs- mittel einer Kunstlehre von den wissenschaftlichen Lehrbüchern dargestellt sein sollen. Natürlich beruht auch die Größe dieses noch lange nicht genug geschätzten, ja fast gar nicht benutzten Werkes auf den Forschungen dieser ersteren Bände. 30 Theoretische Disciplinen Zweites Kapitel. Theoretische Disciplinen als Fundamente normativer. § 13. Der Streit um den pr actischen Charakter der Logik. Aus unseren letzten Betrachtungen ist die Berechtigung einer Logik als Kunstlehre als so selbstverständlich hervorgegangen, daß es verwunderlich erscheinen muß, wie in diesem Punkte ein Streit je hat bestehen können. Eine practisch gerichtete Logik ist ein unabweisbares Postulat aller Wissenschaften, und dem ent- spricht es auch, daß die Logik historisch aus practischen Motiven des Wissenschaftsbetriebes erwachsen ist. Dies geschah bekannt- lich in jenen denkwürdigen Zeiten, als die neu aufkeimende griechische Wissenschaft in Gefahr gerieth, den Angriffen der Skeptiker und Subjectivisten zu unterliegen, und alles weitere Gedeihen der Wissenschaft davon abhieng, objective Wahrheits- kriterien zu finden, welche den täuschenden Schein der sophi- stischen Dialektik zu zerstören vermöchten. Wenn man gleichwol, zumal in neuerer Zeit unter Kant's Einflüsse, der Logik den Charakter einer Kunstlehre wiederholt aberkannt hat, während man dieser Charakterisirung auf der an- deren Seite fortgesetzt Werth beimaß, so kann sich der Streit doch nicht um die bloße Frage gedreht haben, ob es möglich sei, der Logik practische Ziele zu setzen und sie darnach als eine Kunstlehre zu fassen. Hat doch Kant selber von einer ange- wandten Logik gesprochen, welcher die Regelung des Ver- standesgebrauchs ,, unter den zufälligen Bedingungen des Sub- jects, die diesen Gebrauch hindern und befördern können", x obliege, und von welcher wir auch lernen können, ,,was den richtigen Verstandesgebrauch befördert, die Hilfsmittel desselben 1 Kritik d. r. V. Einleitung zur transc. Logik I, letzter Absatz. als Fundamente normativer. 31 oder die Heilungsmittel von logischen Fehlern oder Irr- thümern." 1 Wenn er sie auch nicht eigentlich als Wissen- schaft gelten lassen will, wie die reine Logik; 2 wenn er sogar meint, daß sie , eigentlich nicht Logik heißen sollte", 3 so wird es doch jedermann freistehen, das Ziel der Logik so weit zu stecken, daß sie die angewandte, also practische 4 mit umfaßt. Allenfalls mag man darüber streiten — und dies ist auch aus- reichend geschehen — ob für die Förderung der menschlichen Erkenntnis durch eine Logik als practische Wissenschaftslehre ein erheblicher Gewinn zu erhoffen sei; ob man sich z. B. vou einer Erweiterung der alten Logik, die nur zur Prüfung gege- bener Erkenntnisse dienen könne, um eine ars inventiva, eine „Logik der Entdeckung" wirklich so große Umwälzungen und Fortschritte versprechen dürfe, wie Leibniz dies bekanntlich, geglaubt hat, u. dgl. Aber dieser Streit betrifft keine principiell bedeutsamen Punkte, und er entscheidet sich durch die klare Maxime, daß schon eine mäßige Wahrscheinlichkeit für eine künftige Förderung der Wissenschaften die Bearbeitung einer 1 Kant's Logik, Einleitung II. (WW. HARTENSTEiN'sche Ausgabe 1867, VIII. S. 18.) 2 Kritik d. r. V., a. a. 0. (WW. III. S. 83.) 3 Logik, a. a. 0. 4 Wenn Kant in einer allgemeinen Logik mit einem practischen Theil eine contradictio in adjecto sieht und darum die Eintheilung der Logik in theoretische und practische verwirft (Logik, Einleitung IL sub. 3), so hindert uns dies garnicht, das, was er angewandte Logik nennt, als practische zu schätzen. Eine „practische Logik" setzt, wenn der Aus- druck in seiner gemeinen Bedeutung genommen wird, keineswegs noth- wendig voraus „die Kenntnis einer gewissen Art von Gegenständen, worauf sie angewendet wird", aber wol die eines Geistes, der im Streben nach Erkenntnis durch sie gefördert werden soll. In doppelter Richtung kann Anwendung statthaben: Mit Hilfe logischer Regeln können wir Nutzen ziehen für ein besonderes Erkenntnisgebiet — dies gehört zur besonderen Wissenschaft und der sich ihr anschließenden Methodologie. Andererseits ist es aber auch denkbar, daß wir mit Hilfe der idealen, von der Besonderheit des menschlichen Geistes unabhängigen Gesetze der reinen Logik (falls es dergleichen giebt) practische Regeln ableiten, die auf die besondere Natur des Menschen (in specie) Rücksicht nehmen. Dann hätten wir eine allgemeine und doch practische Logik. 32 Theoretische Disciplinen dahin abzielenden normativen Disciplin rechtfertige; davon ab- gesehen, daß die abgeleiteten Regeln an sich eine werthvolle Bereicherung der Erkenntnis darstellen. Die eigentliche und principiell wichtige Streitfrage, die leider von keiner Seite klar präcisirt worden ist, liegt in ganz anderer Richtung; sie geht dahin, ob denn die Defini- tion der Logik als Kunstlehre ihren wesentlichen Charakter treffe. Es fragt sich m. a. W. ob es nur der practische Ge- sichtspunkt ist, welcher das Recht der Logik als einer eigenen wissenschaftlichen Disciplin begründe, während von theoretischem Standpunkte aus all das, was die Logik an Erkenntnissen sammle, einerseits in rein theoretischen Sätzen bestehe, die in sonst bekannten theoretischen Wissenschaften, hauptsächlich aber in der Psychologie ihr ursprüngliches Heimathsrecht be- anspruchen müssen, und andererseits in Regeln, die auf diese theoretischen Sätze gegründet sind. In der That liegt wol auch das Wesentliche in der Auf- fassung Kant's nicht darin, daß er den practischen Charakter der Logik bestreitet, sondern daß er eine gewisse Begrenzung, bezw. Einschränkung der Logik für möglich und in erkenntnis- theoretischer Hinsicht für fundamental hält, wonach sie als eine völlig unabhängige, im Vergleich mit den anderweitig bekannten Wissenschaften neue und zwar rein theoretische Wissenschaft dasteht, welcher nach Art der Mathematik jeder Gedanke an eine mögliche Anwendung äußerlich bleibt und welche der Mathematik auch darin gleicht , daß sie eine apriorische und rein demonstrative Disciplin ist. Die Einschränkung der Logik auf ihren theoretischen Wissensgehalt führt nach der vorherrschenden Form der geg- nerischen Lehre auf psychologische, ev. auch grammatische und andere Sätze; also auf kleine Ausschnitte aus anderweitig ab- gegrenzten und dazu empirischen Wissenschaften; nach Kant stoßen wir vielmehr noch auf ein in sich geschlossenes, selbst- ständiges und dazu apriorisches Gebiet theoretischer Wahrheit, auf die reine Logik. als Fundamente normativer. 33 Man sieht, daß in diesen Lehren noch andere bedeutsame Gegensätze mitspielen, nämlich ob die Logik als apriorische oder empirische, unabhängige oder abhängige, demonstrative oder nicht-demonstrative Wissenschaft zu gelten habe. Scheiden wir diese, als unseren nächsten Interessen fernliegend, ab, so bleibt nur die oben hingestellte Streitfrage übrig; wir ab- strahlen auf der einen Seite die Behauptung, daß jeder als Kunstlehre gefaßten Logik eine eigene theoretische Wissen- schaft, eine „reine" Logik zu Grunde liege, während die Gegen- seite alle theoretischen Lehren, die in der logischen Kunst- lehre zu constatiren sind, in anderweitig bekannte theoretische Wissenschaften glaubt einordnen zu können. Den letzteren Standpunkt hat schon Beneke mit Lebhaftig- keit vertreten; 1 klar umschrieben hat ihn J. St. Mill, dessen Logik auch in dieser Hinsicht sehr einflußreich geworden ist. 2 Auf demselben Boden steht auch das führende Werk der neueren logischen Bewegung in Deutschland, die Logik Sig- waet's. Scharf und entschieden spricht sie es aus: „Die oberste Aufgabe der Logik, und diejenige, die ihr eigentliches Wesen ausmacht [ist es] Kunstlehre zu sein." 3 Auf dem anderen Standpunkte finden wir neben Kant ins- besondere Herbaet, dazu eine große Zahl ihrer Schüler. Wie wol sich übrigens in dieser Beziehung der extremste Empirismus mit der Kant' sehen Auffassung verträgt, ersieht man aus Bain's Logik, die zwar als Kunstlehre aufgebaut ist, aber eine Logik als eigene theoretische und abstracte Wissen- 1 Die Ueberzeugung vom wesentlich practischen Charakter der Logik will Beneke schon in den Titeln seiner Darstellungen der Logik — „Lehr- buch der Logik als Kunstlehre des Denkens" 1832, „System der Logik als Kunstlehre des Denkens" 1842 — andeuten. In sachlicher Beziehung vgl. im. „System" das Vorwort, die Einleitung und zumal die Polemik gegen Herbart I. S. 21 f. 2 Mehr noch als Mill's logisches Hauptwerk kommt für die Dis- cussion der hiehergehörigen Frage die Streitschrift gegen Hamilton in Betracht. Es folgen weiter unten die erforderlichen Citationen. 8 Sigwart, Logik 2 S. 10. Husserl, Log. Unters. I. 3 34 Theoretische Disciplinen schaft — und sogar als eine Wissenschaft nach Art der Mathe- matik — ausdrücklich anerkennt und zugleich in sich zu fassen beansprucht. Zwar ruht diese theoretische Disciplin nach Bain auf der Psychologie; sie geht also nicht, wie Kant es will, allen anderen Wissenschaften als eine absolut unabhängige Wissenschaft voraus; aber sie ist doch eine eigene Wissen- schaft, sie ist nicht wie bei Mill eine bloße Zusammenordnung psychologischer Capitel, geboten durch die Absicht auf eine practische Regelung der Erkenntnis. 1 In den mannigfachen Bearbeitungen, welche die Logik in diesem Jahrhundert erfahren hat, kommt der hier in Rede stehende Differenzpunkt kaum je zu deutlicher Hervorhebung und sorgsamer Ueberlegung. Mit Rücksicht darauf, daß sich die practische Behandlung der Logik mit beiden Standpunkten wol verträgt und in der Regel auch von beiden Seiten als nützlich zugestanden worden ist, erschien Manchen der ganze Streit um den (wesentlich) practischen oder theoretischen Charakter der Logik als bedeutungslos. Sie hatten sich den Unterschied der Standpunkte eben nie klar gemacht. Unsere Zwecke erfordern es nicht, auf die Streitigkeiten der älteren Logiker — ob die Logik eine Kunst sei oder eine Wissenschaft oder beides oder keines von beiden; und wieder ob sie im zweiten Falle eine practische oder speculative Wissen- schaft sei oder beides zugleich — kritisch einzugehen. Sir William Hamilton urtheilt über sie und damit zugleich über den Werth der Fragen wie folgt: „The controversy . . . is perhaps one of the most futile in the history of speculation. In so far as Logic is concerned, the decision of the question is not of the very smallest import. It was not in consequence of any diversity of opihion in regard to the scope and nature af this doctrine, that philosophers disputed by what name it should be called. The controversy was, in fact, only about what was properly an art, and what was pro- perly a science; and as men attached one meaning or another to these terms, so did they affirm Logic to be an art, or a science, or Vgl. Bain, Logic I. (1879) § 50, S. 34 f. als Fundamente normativer. 35 both, or neither." 1 Doch ist zu bemerken, daß Hamilton selbst über behalt und Werth der in Rede stehenden Unterscheidungen und Contro- versen nicht sehr tief geforscht hat. Bestände eine angemessene Ueber- einstimmung in Bezug auf die Behandlungsweise der Logik und den Inhalt der ihr beizurechnenden Lehren, dann wäre die Frage, ob und wie die Begriffe art und science zu ihrer Definition gehören, von geringerer Bedeutung, obschon lange noch nicht eine Frage der bloßen Etiquettirung. Aber der Streit um die Definitionen ist (wie wir bereits ausgeführt haben) in Wahrheit ein Streit um die Wissenschaft selbst, und zwar nicht um die fertige, sondern um die werdende und vorläufig nur prätendirte Wissenschaft, bei der noch die Probleme, die Methoden, die Lehren, kurz alles und jedes zweifelhaft ist. Schon zu Hamilton's Zeiten und lange vor ihm waren die Differenzen in Ansehung des wesentlichen Gehalts, des Umfangs und der Behand- lungsweise der Logik sehr erheblich. Man vergleiche nur Hamilton's, Bolzano's, Mill's und Beneke's Werke. Und wie sind die Differenzen seitdem erst gewachsen. Stellen wir Erdmann und Drobisch, Wundt und Bergmann, Schuppe und Brentano, Sigwart und Ueberweg zu- sammen — ist das alles Eine Wissenschaft und nicht bloß Ein Name? Fast möchte man so entscheiden, wenn nicht umfassendere Gruppen von Themen da und dort gemeinsam wären, obschon freilich in Hin- sicht auf den Inhalt der Lehren und selbst der Fragestellungen sich auch nicht zwei dieser Logiker erträglich verständigen. Hält man nun damit zusammen, was wir in der Einleitung betont haben — daß die Definitionen nur die Ueberzeugungen ausprägen, die man über die wesentlichen Aufgaben und den methodischen Charakter der Logik besitzt, und daß hierauf bezügliche Vorurtheile und Irrthümer bei einer so zurückgebliebenen Wissenschaft dazu beitragen können, die Forschung von vornherein auf falsche Bahnen zu lenken — so wird man Hamilton sicherlich nicht zustimmen können, wenn er sagt: „the decision of the question is not of the very smallest import". Nicht wenig hat zur Verwirrung der Umstand beigetragen, daß auch von Seiten ausgezeichneter Vorkämpfer für die Eigen- berechtigung einer reinen Logik, wie Dkobisch und Beeg- 1 Sir William Hamilton, Lectures on Logic, 3 vol. I. (Lect. on Meta- physics and Logic, vol. III.) 1884, p. 9—10. 36 Theoretische Disziplinen mann, der normative Charakter dieser Disciplin als etwas ihrem Begriffe wesentlich Zugehöriges hingestellt wurde. Die Gegen-, seite fand hierin eine offenbare Inconsequenz , ja einen Wider- spruch. Liegt nicht im Begriffe der Normirung die Beziehung auf einen leitenden Zweck und ihm zugeordnete Thätigkeiten? Besagt also normative Wissenschaft nicht genau dasselbe wie Kunstlehre? Die Art, wie Deo bisch seine Bestimmungen einführt und faßt, kann nur zur Bestätigung dienen. In seiner noch immer werth vollen Logik lesen wir: „Das Denken kann in doppelter Beziehung Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung werden: einmal nämlich, sofern es eine Thätigkeit des Geistes ist, nach deren Bedingungen und Gesetzen geforscht werden kann; sodann aber, sofern es als Werkzeug zur Erwerbung mittelbarer Erkenntnis, das nicht nur einen richtigen, sondern auch einen fehlerhaften Gebrauch zuläßt, im ersteren Falle zu wahren, im anderen zu falschen Ergebnissen führt. Es giebt daher sowol Naturgesetze des Denkens als Normal- gesetze für dasselbe, Vorschriften (Normen), nach denen es sich zu richten hat, um zu wahren Ergebnissen zu führen. Die Erforschung der Naturgesetze des Denkens ist eine Aufgabe der Psychologie, die Feststellung seiner Normal- gesetze aber die Aufgabe der Logik". 1 Und zum Ueberfluß lesen wir in der beigegebenen Erläuterung: ,, Normalgesetze reguliren eine Thätigkeit immer einem gewissen Zwecke gemäß. " Von gegnerischer Seite wird man sagen: Hier ist kein Wort, das nicht Beneke oder Mill unterschreiben und zu eigenen Gunsten verwerthen könnte. Gesteht man aber die Identität der Begriffe „normative Disciplin" und „Kunstlehre" zu, so ist es auch selbstverständlich, daß, wie bei Kunstlehren überhaupt, nicht die sachliche Zusammengehörigkeit, sondern der leitende Zweck das Band ist, welches die logischen Wahr- 1 Drobisch, Neue Darstellung der Logik 4 § 2, S. 3. als Fundamente normativer. 37 heiten zu einer Disciplin einigt. Dann aber ist es sichtlich verkehrt, der Logik so enge Grenzen zu ziehen, wie es die traditionelle Aristotelische Logik — denn darauf kommt ja wol die „reine" Logik hinaus — thut. Es ist widersinnig, der Logik einen Zweck zu setzen und dann gleichwol Klassen von Normen und normativen Untersuchungen, die zu diesem Zwecke gehören, von der Logik auszuschließen. Die Vertreter der reinen Logik stehen eben noch unter dem Banne der Tradition; der verwunderliche Zauber, den der hohle Formelkram der scholastischen Logik durch Jahrtausende geübt hat, ist in ihnen noch übermächtig. Dies die Kette naheliegender Einwände, ganz dazu angethan, das moderne Interesse von einer genaueren Erwägung der sach- lichen Motive abzulenken, welche bei großen und selbständigen Denkern zu Gunsten einer reinen Logik als eigener Wissen- schaft gesprochen haben, und welche auch jetzt noch auf ernste Prüfung Anspruch erheben könnten. Der treffliche Deobisch mag sich mit seiner Bestimmung vergriffen haben; aber das beweist nicht, daß seine Position, sowie die seines Meisters Hekbart und endlich diejenige des ersten Anregers, Kant, 1 im Wesentlichen eine falsche war. Es schließt nicht einmal aus, daß hinter der unvollkommenen Bestimmung selbst ein werthvoller Gedanke stecke, der nur nicht zu begrifflich 1 Kant selbst, obschon er den psychologischen Gesetzen, die be- sagen „wie der Verstand ist und denkt", die logischen Gesetze gegen- überstellt, als „nothwendige Kegeln", die besagen „wie er im Denken verfahren sollte" (vgl. die Vorlesungen über Logik, WW. Hart. Aus- gabe VIII. S. 14), hatte letztlich doch wol nicht die Absicht, die Logik als eine normative (in dem Sinne einer die Angemessenheit an gesteckte Zwecke abmessenden) Disciplin zu fassen. Entschieden weist darauf hin seine Coordinirung der Logik und Aesthetik nach den beiden „Grundquellen des Gemüths", diese als die (sc. rationale) „Wissenschaft von den Regeln der Sinnlichkeit überhaupt", jene als die correlate „Wissenschaft der Verstandesregeln überhaupt". Wie die Aesthetik in diesem KANT'schen Sinne, so kann auch seine Logik nicht als eine nach Zwecken regelnde Disciplin gelten wollen. (Vgl. Kritik d. r. V. Ein- leitung zur transcendentalen Logik, I. Schluß des zweiten Absatzes.) 38 Theoretische Disciplinen klarer Ausprägung gekommen ist. Achten wir doch auf die bei den Vertretern einer reinen Logik so beliebte Zusammen- stellung der Logik und reinen Mathematik Auch die mathe- matischen Disciplinen begründen Kunstlehren. Der Arithmetik entspricht die practische Rechenkunst, der Geometrie die Feld- meßkunst. Wieder schließen sich, obschon in etwas anderer Weise, an die theoretischen abstracten Naturwissenschaften Technologien, an die Physik die physikalischen, an die Chemie die chemischen Technologien. Mit Rücksicht darauf liegt die Vermuthung nahe, es sei der eigentliche Sinn der prätendirten reinen Logik, eine abstracte theoretische Disciplin zu sein, die in analoger Weise wie in den bezeichneten Fällen eine Tech- nologie begründe, eben die Logik im gemeinen, practischen Sinne. Und wie nun überhaupt bei Kunstlehren mitunter vorzugsweise eine, mitunter aber mehrere theoretische Disciplinen den Unter- bau für die Ableitung ihrer Normen beistellen, so könnte auch die Logik im Sinne der Kunstlehre von einer Mehrheit solcher Disciplinen abhängen, also in jener reinen Logik bloß das eine, wenn auch vielleicht das hauptsächlichste Fundament besitzen. Würde sich dann überdies zeigen, daß die im prägnanten Sinne logischen Gesetze und Formen einem theoretisch abge- schlossenen Kreis abstracter Wahrheit angehören, der auf keine Weise in die bislang abgegrenzten theoretischen Disciplinen einzuordnen und somit selbst als die fragliche reine Logik in Anspruch zu nehmen sei: dann würde sich die weitere Ver- muthung aufdrängen, daß Unvollkommenheiten der Begriffs- bestimmung dieser Disciplin, sowie die Unfähigkeit, sie in ihrer Reinheit darzustellen und ihr Verhältnis zur Logik als Kunstlehre klarzulegen, die Vermengung mit dieser Kunstlehre begünstigt und den Streit, ob die Logik wesentlich als theoretische oder practische Disciplin abgegrenzt werden solle, ermöglicht habe. Während die eine Partei auf jene rein theoretischen und im prägnanten Sinne logischen Sätze hinblickte, hielt sich die andere an die angreifbaren Definitionen der prätendirten theoretischen Wissenschaft und an ihre thatsächliche Durchführung. als Fundamente normativer. 39 Der Einwand aber, es handle sich hier um eine Restitu- tion der scholastisch-aristotelischen Logik, über deren Gering- werthigkeit die Geschichte ihr Urtheil gesprochen habe, soll uns nicht beunruhigen. Vielleicht, daß sich noch herausstellt, daß die fragliche Disciplin keineswegs von so geringem Umfange und so arm an tiefliegenden Problemen sei, wie man ihr damit vorwirft. Vielleicht, daß die alte Logik nur eine höchst un- vollständige und getrübte Realisirung der Idee jener reinen Logik war, aber immerhin als erster Anfang und Angriff tüch- tig und achtenswerth. Es ist ja auch fraglich, ob die Verach- tung der traditionellen Logik nicht eine ungerechtfertigte Nach- wirkung der Stimmungen der Renaissance ist, deren Motive uns heute nicht mehr berühren können. Begreiflicher Weise rich- tete sich der historisch berechtigte, aber in der Sache oft un- verständige Kampf gegen die scholastische Wissenschaft vor Allem gegen die Logik als der zu ihr gehörigen Methodenlehre. Aber daß die formale Logik in den Händen der Scholastik (zumal in der Periode der Entartung) den Charakter einer fal- schen Methodik annahm, beweist vielleicht nur: daß es an einem rechten philosophischen Verständnis der logischen Theorie (so- weit sie schon entwickelt war) fehlte, daß darum die practische Nutzung derselben irrige Wege einschlug, und daß ihr methodische Leistungen zugemuthet wurden, denen sie ihrem Wesen nach nicht gewachsen ist. So beweist ja auch die Zahlenmystik nichts gegen die Arithmetik. Es ist bekannt, daß die logische Polemik der Renaissance sachlich hohl und ergebnislos war; in ihr sprach sich Leidenschaft, nicht Einsicht aus. Wie sollten wir uns von ihren verächtlichen Urtheilen noch leiten lassen? Ein theoretisch schöpferischer Geist wie Leibniz, bei dem sich der überschweng- liche Reformationsdrang der Renaissance mit der wissenschaft- lichen Nüchternheit der Neuzeit paarte, wollte von dem anti- scholastischen Kesseltreiben jedenfalls nichts wissen. Mit war- men Worten nahm er sich der geschmähten Aristotelischen Logik an, so sehr sie gerade ihm als der Erweiterung und Besserung bedürftig erschien. Jedenfalls können wir die Vor- 40 Theoretische Disziplinen würfe, daß die reine Logik auf eine Erneuerung des „hohlen scholastischen Formelkrams" hinauslaufe, solange auf sich be- ruhen lassen, als wir über Sinn und Gehalt der fraglichen Dis- ciplin, bezw. über die Berechtigung der uns aufgedrängten Ver- muthungen nicht ins Klare gekommen sind. Wir wollen, diese Vermuthungen zu prüfen, nicht etwa darauf ausgehen, alle Argumente, die für die eine oder andere Auffassung der Logik historisch aufgetreten sind, zu sammeln und einer kritischen Analyse zu unterziehen. Dies wäre nicht der Weg, dem alten Streit ein neues Interesse abzugewinnen; aber die principiellen Gegensätze, die in ihm nicht zur rein- lichen Scheidung gelangten, haben ihr eigenes über die empi- rischen Bedingtheiten der Streitenden erhabenes Interesse, und dem wollen wir nachgehen. §14. Der Begriff der normativen Wissenschaft. Bas Grundmaß oder Princip, das ihr Einheit giebt. Wir beginnen mit der Fixirung eines Satzes, der für die weitere Untersuchung von entscheidender Wichtigkeit ist, näm- lich, daß jede normative und desgleichen jede practische Dis- ciplin auf einer oder mehreren theoretischen Disciplinen beruht, sofern ihre Regeln einen von dem Gedanken der Normirung (des Sollens) abtrennbaren theoretischen Gehalt besitzen müssen, dessen wissenschaftliche Erforschung eben jenen theoretischen Disciplinen obliegt. Erwägen wir, um dies klarzustellen, zunächst den Begriff der normativen Wissenschaft in seinem Verhältnis zu dem der theoretischen. Die Gesetze der ersteren besagen, so heißt es gewöhnlich, was sein soll, obschon es vielleicht nicht ist und unter den gegebenen Umständen nicht sein kann; die Gesetze der letzteren hingegen besagen schlechthin, was ist. Es wird sich nun fragen, was mit dem Seinsollen gegenüber dem schlichten Sein gemeint ist. Zu enge ist offenbar der ursprüngliche Sinn des Sollens, welcher Beziehung hat zu einem gewissen Wünschen oder Wollen, als Fundamente normativer. 41 zu einer Forderung oder einem Befehl, z. B. : Du sollst mir ge- horchen; X soll zu mir kommen. Wie wir in einem weiteren Sinn von einer Forderung sprechen, wobei Niemand da ist, der fordert, und ev. auch Niemand, der aufgefordert ist, so sprechen wir auch oft von einem Sollen unabhängig von irgend Jemandes Wünschen oder Wollen. Sagen wir: „Ein Krieger soll tapfer sein", so heißt das nicht, daß wir oder Jemand sonst dies wünschen oder wollen, befehlen oder fordern. Eher könnte man die Meinung dahin fassen, daß allgemein, d. h. in Beziehung auf jeden Krieger, ein entsprechendes Wünschen und Fordern Berechtigung habe; obschon auch dies nicht ganz zu- trifft, da es doch nicht geradezu nöthig ist, daß hier solch eine Bewerthung eines Wunsches oder einer Forderung wirklich Platz greife. „Ein Krieger soll tapfer sein", das heißt vielmehr, nur ein tapferer Krieger ist ein „guter" Krieger, und darin liegt, da die Prädicate gut und schlecht den Umfang des Begriffs Krieger unter sich theilen, daß ein nicht tapferer ein „schlechter" Krieger ist. Weil dieses Werthurtheil gilt, hat nun Jedermann recht, der von einem Krieger fordert, daß er tapfer sei; aus demselben Grunde ist, daß er es sei, auch wünschenswerth, lobenswerth u. s. w. Ebenso in anderen Beispielen. „Ein Mensch soll Nächstenliebe üben", das heißt wer dies unterläßt, ist nicht mehr ein „guter" und damit eo ipso ein (in dieser Hin- sicht) „schlechter" Mensch. „Ein Drama soll nicht in Episoden zerfallen" — sonst ist es kein „gutes" Drama, kein „rechtes" Kunstwerk. In allen diesen Fällen machen wir also unsere po- sitive Werthschätzung, die Zuerkennung eines positiven Werth- prädicates abhängig von einer zu erfüllenden Bedingung, deren Nichterfüllung das entsprechende negative Prädicat nach sich zieht. Ueberhaupt dürfen wir als gleich, zum mindesten als äquivalent setzen den Formen: „Ein A soll B sein" und „Ein A, welches nicht B ist, ist ein schlechtes A", oder „Nur ein A, welches B ist, ist ein gutes A". Der Terminus „gut" dient uns hier natürlich im weitesten Sinne des irgendwie Werthvollen; er ist in den concreten, unter 42 Theoretische Diseiplinen unsere Formel gehörigen Sätzen jeweilig in dem besonderen Sinne der Werthhaltungen zu verstehen, die ihnen zu Grunde liegen, z. B. als Nützliches, Schönes, Sittliches u. dgl. Es giebt so vielfältige Arten der Rede vom Sollen, als es verschiedene Arten von Werthhaltungen, also Arten von — wirklichen oder vermeintlichen — Werthen giebt. Die negativen Aussagen des Sollens sind nicht als Nega- tionen der entsprechenden affirmativen zu deuten; wie ja auch im gewöhnlichen Sinne die Leugnung einer Forderung nicht den Werth eines Verbotes hat. Ein Krieger soll nicht feige sein, das heißt nicht, es sei falsch, daß ein Krieger feige sein soll, sondern es sei ein feiger Krieger auch ein schlechter. Es sind also die Formen äquivalent: ,,Ein A soll nicht B sein" und ,,Ein A, welches B ist, ist allgemein ein schlechtes A", oder „Nur ein A, welches nicht B ist, ist ein gutes A u . Daß sich Sollen und Nicht-sollen ausschließen, ist eine formal-logische Consequenz der interpretirenden Aussagen, und dasselbe gilt von dem Satze, daß Urtheile über ein Sollen keine Behauptung über ein entsprechendes Sein einschließen. Die soeben klargelegten Urtheile normativer Form sind offenbar nicht die einzigen, die man als solche wird gelten lassen, mag auch im Ausdruck das Wörtchen Sollen keine Ver- wendung finden. Unwesentlich ist es, daß wir statt „A soll (bezw. soll nicht) B sein", auch sagen können „A muß (bezw. darf nicht) B sein". Sachhaitiger ist der Hinweis auf die bei- den neuen Formen „A muß nicht B sein" und „A darf B sein", welche die contradictorischen Gegensätze zu den obigen dar- stellen. Es ist also „muß nicht" die Negation von „soll" oder — was gleich gilt — von „muß"; „darf" die Negation von „soll nicht" oder — was gleich gilt — von „darf nicht"; wie man aus den interpretirenden Werthurtheilen leicht ersieht: „Ein A muß nicht B sein" = „Ein A, das nicht B ist, ist darum noch kein schlechtes A". „Ein A darf B sein" = „Ein A, das B ist, ist darum noch kein schlechtes A". Aber noch andere Sätze werden wir hieher rechnen müssen. als Fundamente normativer. 43 Z. B. : „Damit ein A ein gutes sei, genügt es (bezw. genügt es nicht) daß es B sei." Während die vorigen Sätze irgend welche noth wendige Bedingungen für die Zuerkennung oder Ab- erkennung der positiven oder negativen Werthprädicate betreffen, handelt es sich in den jetzt vorliegenden um hinreichende Bedingungen. Andere Sätze wiederum wollen zugleich not- wendige und hinreichende Bedingungen aussagen. Damit dürften die wesentlichen Formen allgemeiner nor- mativer Sätze erschöpft sein; ihnen entsprechen natürlich auch Formen particulärer und individueller Werthurtheile , die der Analyse nichts Bedeutsames hinzufügen, und von denen jeden- falls die letzteren für unsere Zwecke auch nicht in Betracht kommen; sie haben allezeit eine nähere oder fernere Beziehung zu gewissen normativen Allgemeinheiten und können in ab- stracten, normativen Disciplinen nur in Anlehnung an die sie regelnden Allgemeinheiten als Beispiele auftreten. Solche Dis- ciplinen halten sich überhaupt jenseits aller individuellen Existenz, ihre Allgemeinheiten sind „rein begrifflicher" Art, sie haben den Charakter von Gesetzen im echten Sinne des Wortes. Wir ersehen aus diesen Analysen, daß jeder normative Satz eine gewisse Art der Werthhaltung (Billigung, Schätzung) voraussetzt, durch welche der Begriff eines in bestimmtem Sinne „Guten" (Werthen), bezw. „Schlechten" (Unwerthen) hin- sichtlich einer gewissen Klasse von Objecten erwächst; ihr gemäß zerfallen darnach diese Objecte in gute und schlechte. Um das normative Urtheil „Ein Krieger soll tapfer sein" fällen zu können, muß ich irgend einen Begriff von „guten" Kriegern haben, und dieser Begriff kann nicht in einer will- kürlichen Nominaldefinition gründen, sondern nur in einer all- gemeinen Werthhaltung, die nach diesen oder jenen Beschaffen- heiten die Krieger bald als gute, bald als schlechte zu schätzen gestattet. Ob diese Schätzung eine in irgend welchem Sinne „objectiv giltige" ist oder nicht, ob überhaupt ein Unterschied zwischen subjectiv und objectiv „Gutem" zu machen ist, kommt hier bei der bloßen Feststellung des Sinnes der Sollenssätze 44 Theoretische Disciplinen nicht in Betracht. Es genügt, daß für werth gehalten wird, als ob Etwas wirklich werth oder gut sei. Ist umgekehrt auf Grund einer gewissen allgemeinen Werth- haltung ein Paar von Werthprädicaten für die zugehörige Klasse festgelegt, dann ist auch die Möglichkeit normativer Urtheile gegeben; alle Formen normativer Sätze erhalten ihren be- stimmten Sinn. Jedes constitutive Merkmal B des „guten" A liefert z. B. einen Satz der Form: „Ein A soll B sein"; ein mit B unverträgliches Merkmal B' einen Satz: „Ein A darf nicht (soll nicht) B' sein" u. s. w. Was endlich den Begriff des normativen Urtheils anbelangt, so können wir ihn nach unseren Analysen folgender- maßen beschreiben : (Mit Beziehung auf eine zu Grunde liegende Werthhaltung und den hiedurch bestimmten Inhalt des zu- gehörigen Paares von Werthprädicaten heißt jeder Satz ein normativer, der irgend welche nothwendige oder hinreichende, oder nothwendige und hinreichende Bedingungen für den Besitz eines solchen Prädicates ausspricht.) Haben wir einmal einen Unterschied zwischen „gut" und „schlecht" in bestimmtem Sinne, also auch in bestimmter Sphäre werthschätzend gewonnen, dann sind wir naturgemäß an der Entscheidung interessirt, unter welchen Umständen, durch welche innere oder äußere Beschaffenheiten das Gut-sein, bezw. Schlecht-sein in diesem Sinne verbürgt oder nicht verbürgt ist; welche Beschaffenheiten nicht fehlen dürfen, um einem Objecte der Sphäre den Werth des Guten noch geben zu können u. s. f. Wo wir von gut und schlecht sprechen, da pflegen wir auch in vergleichender Werthschätzung Unterschiede des Besse- ren und Besten, bezw. des Schlechteren und Schlechtesten zu vollziehen. Ist die Lust das Gute, so ist von zwei Lüsten die intensivere, und wieder die länger andauernde die bessere. Gilt uns die Erkenntnis als das Gute, so gilt uns noch nicht jede Erkenntnis als „gleich gut". Die Gesetzeserkenntnis werthen wir höher als die Erkenntnis singulärer Thatsachen; die Erkenntnis allgemeinerer Gesetze — z. B. jede Gleichung ah Fundamente normativer. 45 n ten Grades hat n- Wurzeln — höher als die Erkenntnis ihnen untergeordneter Specialgesetze — jede Gleichung 4 ten Grades hat 4 Wurzeln. So erheben sich also in Beziehung auf die relativen Werthprädicate ähnliche normative Fragen wie in Be- ziehung auf die absoluten. Ist der constitutive Inhalt des als gut — bezw. schlecht — zu Bewerbenden fixirt, so fragt es sich, was in vergleichender Werthung constitutiv als besser oder schlechter zu gelten habe; des Weiteren dann, welches die näheren und ferneren, notwendigen und hinreichenden Be- dingungen für die relativen Prädicate sind, die den Inhalt des Besseren — bezw. Schlechteren — und schließlich des relativ Besten constitutiv bestimmen. Die constitutiven Inhalte der positiven und relativen Werthprädicate sind s. z. s. die messen- den Einheiten, nach denen wir Objecte der bezüglichen Sphäre abmessen. Die Gesammtheit dieser Normen bildet offenbar eine durch die fundamentale Werthhaltung bestimmte, in sich geschlossene Gruppe. Der normative Satz, welcher an die Objecte der Sphäre die allgemeine Forderung stellt, daß sie den constitu- tiven Merkmalen des positiven Werthprädicates in größtmöglichem Ausmaße genügen sollen, hat in jeder Gruppe zusammen- gehöriger Normen eine ausgezeichnete Stellung und kann als die Grundnorm bezeichnet werden. Diese Rolle spielt z. B. der kategorische Imperativ in der Gruppe normativer Sätze, welche Kant's Ethik ausmachen; ebenso das Princip vom „größtmöglichen Glück der größtmöglichen Anzahl" in der Ethik der Utilitarier. Die Grundnorm ist das Correlat der Definition des im frag- lichen Sinne „Guten" und „Besseren" ; sie giebt an, nach welchem Grundmaße (Grundwerthe) alle Normirung zu vollziehen ist, und stellt somit im eigentlichen Sinne nicht einen normativen Satz dar. Das Verhältnis der Grundnorm zu den eigentlich normirenden Sätzen ist analog demjenigen zwischen den sog. Definitionen der Zahlenreihe und den — immer auf sie rück- bezogenen — Lehrsätzen über numerische Verhältnisse in der 46 Theoretische Disciplinen Arithmetik. Man könnte auch hier die Grundnorm als „De- finition" des maßgebenden Begriffes vom Guten — z. B. des sittlich Guten — bezeichnen; womit freilich der gewöhnliche logische Begriff der Definition verlassen wäre. Stellen wir uns das Ziel mit Beziehung auf eine derartige „Definition", also mit Beziehung auf eine fundamentale all- gemeine Werthung, die Gesammtheit zusammengehöriger norma- tiver Sätze wissenschaftlich zu erforschen, so erwächst die Idee einer normativen Disciplin. Jede solche Disciplin ist also eindeutig charakterisirt durch ihre Grundnorm, bezw. durch die Definition dessen, was in ihr als das „Gute" gelten soll. Gilt uns z. B. die Erzeugung und Erhaltung, Mehrung und Steige- rung von Lust als das Gute, so werden wir fragen, welche Ob- jecte erregen die Lust, bezw. unter welchen subjectiven und objectiven Umständen thun sie es; und überhaupt, welches sind die notwendigen und die hinreichenden Bedingungen für den Eintritt der Lust, für ihre Erhaltung, Mehrung u. s. w. Diese Fragen als Zielpunkte für eine wissenschaftliche Disciplin ge- nommen, ergeben eine Hedonik; es ist die normative Ethik im Sinne der Hedoniker. Die Werthung der Lusterregung liefert hier die die Einheit der Disciplin bestimmende und sie von jeder anderen normativen Disciplin unterscheidende Grundnorm. Und so hat eine jede ihre eigene Grundnorm, und diese stellt jeweils das einsmachende Princip der normativen Disciplin dar. In den theoretischen Disciplinen entfällt hingegen diese centrale Beziehung aller Forschungen auf eine fundamentale Werthhaltung als Quelle eines herrschenden Interesses der Nor- mirung; die Einheit ihrer Forschungen und die Zusammen- ordnung ihrer Erkenntnisse wird ausschließlich durch das theoretische Interesse bestimmt, welches gerichtet ist auf die Erforschung des sachlich (d. i. theoretisch, vermöge der inneren Gesetzlichkeit der Sachen) Zusammengehörigen und daher in seiner Zusammengehörigkeit auch zusammen zu Er- forschenden. als Fundamente normativer. 47 § 15. Normative Disciplin und Kunstlehre. Das normative Interesse beherrscht uns naturgemäß be- sonders bei realen Objecten als Objecten practischer Werthungen; daher die unverkennbare Neigung, den Begriff der normativen Disciplin mit dem der practischen Disciplin, der Kunstlehre, zu identificiren. Man sieht aber leicht, daß diese Identificirung nicht zu Kecht bestehen kann. Für Schopen- hauer, welcher in Consequenz seiner Lehre vom angeborenen Charakter alles practische Moralisiren grundsätzlich verwirft, giebt es keine Ethik im Sinne einer Kunstlehre, wohl aber eine Ethik als normative Wissenschaft, die er ja selbst bearbeitet. Denn keineswegs läßt er auch die moralischen Werthunterscheidungen fallen. — Die Kunstlehre stellt jenen besonderen Fall der normativen Disciplin dar, in welchem die Grundnorm in der Erreichung eines allgemeinen practischen Zweckes besteht. Offenbar schließt so jede Kunstlehre eine normative^, aber selbst nicht practische Disciplin ganz in sich. Denn ihre Aufgabe setzt die Lösung der engeren voraus, zunächst, abgesehen von allem auf die practische Erreichung Bezüglichen, die Normen zu fixiren, nach welchen die Angemessenheit an den allge- meinen Begriff des zu realisirenden Zieles, an das Haben der die bezügliche Klasse von Werken charakterisirenden Merkmale beurtheilt werden kann. Umgekehrt erweitert sich jede nor- mative Disciplin, in welcher sich die fundamentale Werth- haltung in eine entsprechende Zwecksetzung verwandelt, zu einer Kunstlehre. § 16. Theoretische Disciplinen als Fundamente normativer. Es ist nun leicht einzusehen, daß jede normative und a fortiori jede practische Disciplin eine oder mehrere theoretische Disciplinen als Fundamente voraussetzt, in dem Sinne nämlich, daß sie einen von aller Normirung ablös- baren theoretischen Gehalt besitzen muß, der als solcher, in irgend welchen, sei es schon abgegrenzten oder noch zu con- 48 Theoretische Disciplinen stituirenden theoretischen Wissenschaften seinen natürlichen Standort hat. Die Grundnorm (bezw. der Grundwerth, der letzte Zweck) bestimmt, wie wir sahen, die Einheit der Disciplin; sie ist es auch, die in alle normativen Sätze derselben den Gedanken der Normirung hineinträgt. Aber neben diesem gemeinsamen Ge- danken der Abmessung an der Grundnorm besitzen diese Sätze einen eigenen, den einen vom anderen unterscheidenden theo- retischen Gehalt. Ein jeder drückt den Gedanken einer ab- messenden Beziehung zwischen Norm und Normirtem aus; aber diese Beziehung selbst charakterisirt sich — wenn wir von dem wertschätzenden Interesse absehen — objectiv als eine Be- ziehung zwischen Bedingung und Bedingtem, die in dem be- treffenden normativen Satze als bestehend oder nicht bestehend hingestellt ist. So schließt z. B. jeder normative Satz der Form „Ein A soll B sein" den theoretischen Satz ein „Nur ein A y welches B ist, hat die Beschaffenheiten C", wobei wir durch C den constitutiven Inhalt des maßgebenden Prädicates „gut" an- deuten (z. B. die Lust, die Erkenntnis, kurz das durch die fundamentale Werthhaltung im gegebenen Kreise eben als gut Ausgezeichnete.) Der neue Satz ist ein rein theoretischer, er enthält nichts mehr von dem Gedanken der Normirung. Und umgekehrt, gilt irgend ein Satz dieser letzteren Form und er- wächst als ein Neues die Werthhaltung eines C als solchen, die eine normirende Beziehung zu ihm erwünscht sein läßt, so nimmt der theoretische Satz die normative Form an: Nur ein A, welches B ist, ist ein Gutes, d. h.-ein A soll B sein. Darum können auch selbst in theoretischen Gedankenzusammen- hängen normative Sätze auftreten: das theoretische Interesse legt in solchen Zusammenhängen Werth auf den Bestand eines Sachverhaltes der Art M (etwa auf den Bestand der Gleich- seitigkeit eines zu bestimmenden Dreiecks) und mißt daran anderweitige Sachverhalte (z. B. die Gleichwinkligkeit: Soll das Dreieck gleichseitig sein, so muß es gleichwinklig sein), nur daß diese Wendung in den theoretischen Wissenschaften als Fundamente normativer. 49 etwas Vorübergehendes und Secundäres ist, da die letzte In- tention hier auf den eigenen, theoretischen Zusammenhang der Sachen geht; bleibende Ergebnisse werden daher nicht in nor- mative Form gefaßt, sondern in die Formen des objectiven Zusammenhanges, hier in die des generellen Satzes. Es ist nun klar, daß die theoretischen Beziehungen, die nach dem Erörterten in den Sätzen der normativen Wissen- schaften stecken, ihren logischen Ort haben müssen in gewissen theoretischen Wissenschaften. Soll die normative Wissenschaft also ihren Namen verdienen, soll sie die Beziehungen der zu normirenden Sachverhalte zur Grundnorm wissenschaftlich er- forschen, dann muß sie den theoretischen Kerngehalt dieser Beziehungen studiren und daher in die Sphären der betreffenden theoretischen Wissenschaften eintreten. Mit anderen Worten: Jede normative Disciplin verlangt die Erkenntnis gewisser nicht normativer Wahrheiten, diese aber entnimmt sie gewissen theo- retischen Wissenschaften oder gewinnt sie durch Anwendung der aus ihnen entnommenen Sätze auf die durch das normative Interesse bestimmten Constellationen von Fällen. Dies gilt natürlich auch für den specielleren Fall der Kunstlehre und offenbar noch in erweitertem Maße. Es treten die theoretischen Erkenntnisse hinzu, welche die Grundlage für eine fruchtbare Realisirung der Zwecke und Mittel bieten müssen. Noch Eins sei im Interesse des Folgenden bemerkt. Natür- lich können diese theoretischen Wissenschaften in verschiedenem Ausmaße Antheil haben an der wissenschaftlichen Begründung und Ausgestaltung der bezüglichen normativen Disciplin; auch kann ihre Bedeutung für sie eine größere oder geringere sein. Es kann sich zeigen, daß zur Befriedigung der Interessen einer normativen Disciplin die Erkenntnis gewisser Klassen von theo- retischen Zusammenhängen in erster Linie erforderlich, und daß somit die Ausbildung und Heranziehung des theoretischen Wissensgebietes, dem sie angehören, für die Ermöglichung der normativen Disciplin geradezu entscheidend ist. Andererseits kann es aber auch sein, daß für den Aufbau dieser Disciplin Hl'SBERL, Log. Unters. I. 4 50 Der Psychologismus, seine Argumente und seine gewisse Klassen theoretischer Erkenntnisse zwar nützlich und ev. sehr wichtig, aber doch nur von secundärer Bedeutung sind, sofern ihr Wegfall den Bereich dieser Disciplin einschränken, jedoch nicht ganz aufheben würde. Man denke beispielsweise an das Verhältnis zwischen bloß normativer und practischer Ethik. * Alle die Sätze, welche auf die Ermöglichung der prac- tischen Eealisirung Bezug haben, berühren nicht den Kreis der bloßen Normen ethischer Werthung. Fallen diese Normen weg, bezw. die ihnen zu Grunde liegenden theoretischen Erkenntnisse, so giebt es keine Ethik überhaupt; entfallen jene ersteren Sätze, so giebt es nur keine Möglichkeit ethischer Praxis, bezw. keine Möglichkeit einer Kunstlehre vom sittlichen Handeln. Mit Beziehung auf derartige Unterschiede soll nun die Rede von den wesentlichen theoretischen Fundamenten einer norma- tiven Wissenschaft verstanden werden. Wir meinen damit die für ihren Aufbau schlechterdings wesentlichen theoretischen Wissenschaften, eventuell aber auch die bezüglichen Gruppen theoretischer Sätze, welche für die Ermöglichung der normativen Disciplin von entscheidender Bedeutung sind. Drittes Kapitel. Der Psychologismus, seine Argumente und seine Stellungnahme zu den üblichen Gegenargumenten. § 17. Die Streitfrage, ob die wesentlichen theoretischen Funda- mente der normativen Logik in der Psychologie liegen. Machen wir von den allgemeinen Feststellungen des letzten Kapitels Anwendung auf die Logik als normative Disciplin, so erhebt sich als Erstes und Wichtigstes die Frage: Welche theo- retische Wissenschaften liefern die wesentlichen Fundamente der Wissenschaftslehre? Und daran fügen wir sogleich die weitere 1 Vgl. oben § 15 S. 47. Stellungnahme %u den üblichen Gegenargumenten. 51 Frage: Ist es richtig, daß die theoretischen Wahrheiten, die wir im Rahmen der traditionellen und neueren Logik behandelt finden, und vor Allem die zu ihrem wesentlichen Fundament gehörigen, ihre theoretische Stelle innerhalb der bereits abge- grenzten und selbständig entwickelten Wissenschaften besitzen? Hier stoßen wir auf die Streitfrage nach dem Verhältnis zwischen Psychologie und Logik; denn auf die angeregten Fragen hat eine, gerade in unserer Zeit herrschende Richtung die Antwort fertig zur Hand: Die wesentlichen theoretischen Fundamente liegen in der Psychologie; in deren Gebiet gehören ihrem theoretischen Gehalt nach die Sätze, die der Logik ihr charakteristisches Gepräge geben. Die Logik verhält sich zur Psychologie wie irgend ein Zweig der chemischen Technologie zur Chemie, wie die Feldmeßkunst zur Geometrie u. dgl. Zur Abgrenzung einer neuen theoretischen Wissenschaft, zumal einer solchen, die in einem engeren und prägnanteren Sinne den Namen Logik verdienen sollte, besteht für diese Richtung kein An- laß. Ja nicht selten spricht man so, als gäbe die Psychologie das alleinige und ausreichende theoretische Fundament für die logische Kunstlehre. So lesen wir in Mill's Streitschrift gegen Hamilton: ,,Die Logik ist nicht eine von der Psychologie gesonderte und mit ihr coordinirte Wissenschaft- Sofern sie überhaupt Wissen- schaft ist, ist sie ein Theil oder Zweig der Psychologie, sich von ihr einerseits unterscheidend wie der Theil vom Ganzen und anderseits, wie die Kunst von der Wissenschaft. Ihre theoretischen Grundlagen verdankt sie gänzlich der Psychologie, und sie schließt so viel von dieser Wissenschaft ein, als nöthig ist, die Regeln der Kunst zu begründen." 1 Nach Lipps scheint es sogar als wäre die Logik der Psychologie als ein bloßer Be- standteil einzuordnen; denn er sagt: „Eben daß die Logik eine Sonderdisciplin der Psychologie ist, scheidet beide genügend deutlich voneinander. " 2 1 J. St. Mill, An Examination of Sir William Hamiltons Philo- sophy 5 S. 461. 2 Lipps, Grundzüge der Logik (1893) § 3. 4* 52 Der Psychologismus, seine Argumente und seine § 18. Die Beweisführung der Psychologisten. 1 Fragen wir nach der Berechtigung derartiger Ansichten, so bietet sich uns eine höchst plausible Argumentation dar, die jeden weiteren Streit von vornherein abzuschneiden scheint. Wie immer man die logische Kunstlehre definiren mag — ob als Kunst- lehre vom Denken, Urtheilen, Schließen, Erkennen, Beweisen, Wissen, von den Verstandesrichtungen beim Verfolge der Wahr- heit, bei der Schätzung von Beweisgründen u. s. f. — immer finden wir psychische Thätigkeiten oder Producte als die Objecte prac- tischer Regelung bezeichnet. Und wie nun überhaupt kunstmäßige Bearbeitung eines Stoffes die Erkenntnis seiner Beschaffenheiten voraussetzt, so wird es sich auch hier, wo es sich speciell um einen psychologischen Stoff handelt, verhalten. Die wissenschaft- liche Erforschung der Regeln, nach denen er zu bearbeiten ist, wird selbstverständlich auf die wissenschaftliche Erforschung dieser Beschaffenheiten zurückführen: das theoretische Funda- ment für den Aufbau einer logischen Kunstlehre liefert also die Psychologie, und näher die Psychologie der Erkenntnis. 2 Dies bestätigt auch jeder Blick auf den Gehalt der logischen Literatur. Wovon ist da beständig die Rede? Von Begriffen, Urtheilen, Schlüssen, Deductionen, Inductionen, Definitionen, Klassifikationen u. s. w. — alles Psychologie, nur ausgewählt und geordnet nach den normativen und practischen Gesichts- punkten. Man möge der reinen Logik noch so enge Grenzen ziehen, das Psychologische wird man nicht fernhalten können. Es steckt schon in den Begriffen, welche für die logischen Gesetze constitutiv sind, wie z. B. Wahrheit und Falschheit, Bejahung und Verneinung, Allgemeinheit und Besonderheit, Grund und Folge, u. dgl. 1 Ich gebrauche die Ausdrücke Psychologist, Psychologismus u. dgl. ohne jede abschätzende „Färbung", ähnlich wie Stumpf in seiner Schrift „Psychologie und Erkenntnistheorie'*. 2 „Die Logik ist eine psychologische Disciplin, so gewiß das Er- kennen nur in der Psyche vorkommt und das Denken, das sich in ihm vollendet ein psychisches Geschehen ist" (Lipps, a. a. 0.). Stellungnahme %u den üblichen Gegenargumenten. 53 § 19. Die gewöhnlichen Argumente der Gegenpartei und ihre psychologistische Losung. Merkwürdig genug, glaubt man von der Gegenseite die scharfe Trennung beider Disciplinen gerade in Hinblick auf den normativen Charakter der Logik begründen zu können. Die Psychologie, sagt man, betrachtet das Denken, wie es ist, die Logik, wie es sein soll. Die erstere hat es mit den Natur- gesetzen, die letztere mit den Normalgesetzen des Denkens zu thun. So heißt es in Jäsche's Bearbeitung der Kant' sehen Vorlesungen über Logik: 1 - „ Einige Logiker setzen zwar in der Logik psychologische Principien voraus. Dergleichen Prin- cipien aber in die Logik zu bringen, ist ebenso ungereimt, als Moral vom Leben herzunehmen. Nehmen wir die Principien aus der Psychologie, d. h. aus den Beobachtungen über unseren Verstand, so würden wir bloß sehen, wie das Denken vor sich geht, und wie es ist unter den mancherlei subjeetiven Hinder- nissen und Bedingungen; dieses würde aber nur zur Erkenntnis bloß zufälliger Gesetze führen. In der Logik ist aber die Frage nicht nach zufälligen, sondern nach nothwendigen Regeln — nicht, wie wir denken, sondern, wie wir denken sollen. Die Regeln der Logik müssen daher nicht vom zu- fälligen, sondern vom nothwendigen Vernunftgebrauche her- genommen sein, den man ohne alle Psychologie bei sich findet. Wir wollen in der Logik nicht wissen: wie der Verstand ist und denkt, und wie er bisher im Denken verfahren ist, sondern: wie er im Denken verfahren sollte. Sie soll uns den richtigen, d. h. den mit sich selbst übereinstimmenden Gebrauch des Verstandes lehren. " Eine ähnliche Position nimmt Heebaet ein, indem er gegen die Logik seiner Zeit und „die psycho- logisch sein sollenden Erzählungen vom Verstände und der Vernunft, mit denen sie anhebt", einwendet, es sei dies ein 1 Einleitung, I. Begriff der Logik. Kant's Werke, ed. Hartenstein 1867 VIII. S. 15. 54 Der Psychologismus, seine Argumente und seine Fehler gerade so arg, wie der einer Sittenlehre, welche mit der Naturgeschichte der menschlichen Neigungen, Triebe und Schwachheiten beginnen wollte, und indem er zur Be- gründung des Unterschiedes auf den normativen Charakter der Logik, wie Ethik hinweist. 1 Derartige Argumentationen setzen die psychologistischen Logiker in keinerlei Verlegenheit. Sie antworten: der not- wendige Verstandesgebrauch ist eben auch ein Verstandes- gebrauch und gehört mit dem Verstände selbst in die Psycho- logie. Das Denken, wie es sein soll, ist ein bloßer Specialfall des Denkens, wie es ist. Gewiß hat die Psychologie die Natur- gesetze des Denkens zu erforschen, also die Gesetze für alle Urtheile überhaupt, ob richtige oder falsche; aber ungereimt wäre es, diesen Satz so zu interpretiren, als gehörten nur solche Gesetze in die Psychologie, welche sich in umfassendster All- gemeinheit auf alle Urtheile überhaupt beziehen, während Specialgesetze des Urtheilens, wie die Gesetze des richtigen Urtheilens, aus ihrem Bereich ausgeschlossen werden müßten. 2 Oder ist die Meinung eine andere? Will man leugnen, daß die Normalgesetze des Denkens den Charakter solcher psycho- logischen Specialgesetze haben? Aber auch dies geht nicht an. Normalgesetze des Denkens wollen, heißt es, nur angeben, wie man zu verfahren habe, vorausgesetzt, daß man richtig denken will. „Wir denken richtig, im materialen Sinne, wenn wir die Dinge denken, wie sie sind. Aber die Dinge sind so oder so, sicher und unzweifelhaft, dies heißt in unserem Munde, wir können sie der Natur unseres Geistes zufolge nicht anders als eben auf diese Weise denken. Denn es braucht ja nicht wiederholt zu werden, was oft genug gesagt worden ist, daß selbstverständlich kein Ding, so wie es ist, abgesehen von der Art, wie wir es denken müssen, von uns gedacht werden oder Gegenstand unseres Erkennens sein kann, daß also, wer seine 1 Herbart, Psychologie als Wissenschaft II. § 119. (Originalaus- gabe II. S. 173.) 3 Vgl. z. B. Mill, An Examination 6 S. 459 f. Stellungnahme zu den üblichen Gegenargumenten. 55 Gedanken von den Dingen mit den Dingen selbst vergleicht, in der That nur sein zufälliges, von Gewohnheit, Tradition, Neigung und Abneigung beeinflußtes Denken an demjenigen Denken messen kann, daß von seinen Einflüssen frei, keiner Stimme gehorcht, als der der eigenen Gesetzmäßigkeit. " „Dann sind aber die Eegeln, nach denen man verfahren muß, um richtig zu denken, nichts anderes als Eegeln, nach denen man verfahren muß, um so zu denken, wie es die Eigen- art des Denkens, seine besondere Gesetzmäßigkeit, verlangt, kürzer ausgedrückt, sie sind identisch mit den Naturgesetzen des Denkens selbst. Die Logik ist Physik des Denkens oder sie ist überhaupt nichts. ul Vielleicht sagt man von antipsychologistischer Seite: 2 Aller- dings gehören die verschiedenen Gattungen von Vorstellungen, Urth eilen, Schlüssen u. s. w. als psychische Phänomene und Dispositionen auch in die Psychologie hinein; aber die Psycho- logie hat in Ansehung derselben eine verschiedene Aufgabe wie die Logik. Beide erforschen die Gesetze dieser Bethätigungen ; aber „Gesetz" bedeutet für beide etwas total Verschiedenes. Die Aufgabe der Psychologie ist es, den realen Zusammenhang der Bewußtseinsvorgänge untereinander, sowie mit den zuge- hörigen psychischen Dispositionen und den correlaten Vorgängen im körperlichen Organismus gesetzlich zu erforschen. Gesetz bedeutet hier eine zusammenfassende Formel für nothwendige und ausnahmslose Verknüpfung in Coexistenz und Succession. Der Zusammenhang ist ein causaler. Ganz anders geartet ist die Aufgabe der Logik. Nicht nach causalen Ursprüngen und Folgen der intellectuellen Bethätigungen fragt sie, sondern nach ihrem Wahrheitsgehalt; sie fragt, wie solche Bethätigungen be- schaffen sein und verlaufen sollen, damit die resultirenden 1 Lipps, Die Aufgabe der Erkenntnistheorie, Philos. Monatshefte XVI. (1880) S. 530 f. 2 Vgl. z. B. Hamilton's Lectures III. S. 78 (citirt von Mill a. a. 0. S. 460); Drobisch, Neue Darstellung der Logik* 8 8. 36). B. Erdmann, Logik I. S. 18. 56 Der Psychologismus, seine Argumente und seine Urtheile wahr seien. Richtige Urtheile und falsche, einsichtige und blinde kommen und gehen nach Naturgesetzen, sie haben ihre causalen Antecedenzien und Consequenzen wie alle psychi- schen Phänomene; den Logiker aber interessiren nicht diese natürlichen Zusammenhänge, sondern er sucht ideale, die er nicht immer, ja nur ausnahmsweise im factischen Verlaufe des Denkens verwirklicht findet. Nicht eine Physik, sondern eine Ethik des Denkens ist sein Ziel. Mit Recht betont daher Sig- wart: In der psychologischen Betrachtung des Denkens hat ,,der Gegensatz von wahr und falsch ebenso wenig eine Rolle . . ., wie der Gegensatz von gut und böse im menschlichen Handeln ein psychologischer ist". 1 Mit solchen Halbheiten — so werden die Psychologisten ant- worten — können wir uns nicht zufrieden geben. Gewiß hat die Logik eine ganz andere Aufgabe als die Psychologie, wer wird dies auch leugnen? Sie ist eben Technologie der Er- kenntnis; aber wie könnte sie dann von der Frage nach den causalen Zusammenhängen absehen, wie könnte sie nach idealen Zusammenhängen suchen, ohne die natürlichen zu studiren? ,,x\ls ob nicht jedes Sollen auf ein Sein sich gründen, jede Ethik sich zugleich als Physik ausweisen müßte." 2 „Die Frage, was man thun solle, ist immer zurückführbar auf die Frage, was man thun müsse, wenn ein bestimmtes Ziel erreicht werden solle; und diese Frage wiederum ist gleichbedeutend mit der Frage, wie das Ziel thatsächlich erreicht werde." 3 Daß für die Psychologie im Unterschied zur Logik der Gegensatz von wahr und falsch nicht in Betracht komme, „kann nicht heißen, daß die Psychologie diese beiden von einander verschie- denen psychischen Thatbestände als gleich ausgebe, sondern 1 Logik I. 2 S. 10. Freilich bewegt sich (wie wir im VII. Kapitel sehen werden) Sigwart's eigene Behandlungsweise der Logik durchaus in psychologistischer Richtung. 2 Lipps, Die Aufgabe der Erkenntnistheorie, a. a. 0. S. 529. a Lipps, Grundzüge der Logik § 1. Stellungnahme zu den üblichen Gegenargumenten. 57 nur, daß sie beide in gleicher Weise verständlich mache". l In theoretischer Beziehung verhält sich also die Logik zur Psycho- logie wie der Theil zum Ganzen. Ihr Hauptziel ist es zumal Sätze der Form herzustellen: Gerade so und nicht anders müssen sich — allgemein oder unter bestimmt charakterisirten Umständen — die intellectuellen Betätigungen formen, an- ordnen und zusammenschließen, damit die resultirenden Urtheile den Charakter der Evidenz, der Erkenntnis im prägnanten Sinne des Wortes erlangen. Die causale Beziehung ist hier greifbar. Der psychologische Charakter der Evidenz . ist ein causaler Erfolg gewisser Antecedenzien. Wie beschaffener? Dies zu er- forschen ist eben die Aufgabe. 2 Nicht besser glückt es dem folgenden und oft wiederholten Argument, die psychologistische Partei ins Schwanken zu bringen: Die Logik, sagt man, kann auf der Psychologie ebenso wenig ruhen, wie auf irgend einer anderen Wissenschaft; denn eine jede ist Wissenschaft nur durch Harmonie mit den Eegeln der Logik, sie setzt die Giltigkeit dieser Regeln schon voraus. Es wäre darnach ein Cirkel, Logik allererst auf Psychologie gründen zu wollen. 3 Man wird von der Gegenseite antworten: Daß diese Argu- mentation nicht richtig sein kann, erhellt schon daraus, daß aus ihr die Unmöglichkeit der Logik überhaupt folgen würde. Da die Logik als Wissenschaft selbst logisch verfahren muß, so verfiele sie ja demselben Cirkel; die Triftigkeit der Regeln, die sie voraussetzt, müßte sie zugleich begründen. 1 Lipps, a. a. 0. § 3 S. 2. 2 Dieser Gesichtspunkt tritt mit steigender Deutlichkeit in den Werken von Mill, Sigwart, Wündt , Höfler-Meinong hervor. Vgl. darüber die Oitate und Kritiken im VIII. Kap. § 49 f. 3 Vgl. Lotze's Logik 2 §332, S. 543—44. Natorp, Ueber objective und subjective Begründung der Erkenntnis, Philos. Monatshefte XXIII. S. 264. Erdmann's Logik I. S. 18. Vgl. dagegen Stumpf, Psychologie und Erkenntnistheorie S. 5. (Abhandlungen der k. bayer. Acad. d. Wiss. I. Kl. XIX. Bd. II. Abth. S. 469. Daß bei Stumpf von Erkenntnistheorie, nicht von Logik die Eede ist, macht offenbar keinen wesentlichen Unterschied.) 58 Der Psychologismus, seine Argumente und seine Aber sehen wir näher zu, worin der urgirte Cirkel eigent- lich bestehen soll. Darin, daß die Psychologie die logischen Gesetze als giltig voraussetze? Aber man achte auf die Aequi- vocation im Begriff der Voraussetzung. Eine Wissenschaft setzt die Giltigkeit gewisser Regeln voraus, das kann heißen: sie sind Prämissen für ihre Begründungen; es kann aber auch heißen: sie sind Regeln, denen gemäß die Wissenschaft verfahren muß r um überhaupt Wissenschaft zu sein. Beides wirft das Argu- ment zusammen; nach logischen Regeln schließen und aus ihnen schließen, gilt ihm als dasselbe; denn nur, wenn aus ihnen geschlossen würde, bestände der Cirkel. Aber wie so mancher Künstler schöne Werke schafft, ohne von Aesthetik das Geringste zu wissen, so kann ein Forscher Beweise auf- bauen, ohne je auf die Logik zu recurriren; also können logische Gesetze nicht deren Prämissen gewesen sein. Und was von einzelnen Beweisen gilt, das gilt auch von ganzen Wissen- schaften. § 20. Eine Lücke in der Beweisführung der Psychologisten. Unleugbar erscheinen die Antipsychologisten mit diesen und verwandten Argumentationen im Nachtheil. Nicht wenigen gilt der Streit für zweifellos entschieden, sie halten die Entgegnungen der psychologistischen Partei für durchaus schlagend. Immer- hin möchte hier Eines die philosophische Verwunderung reizen^ nämlich der Umstand, daß überhaupt ein Streit bestand und noch fortbesteht, und daß dieselben Argumentationen immer wieder vorgebracht und deren Widerlegungen nicht als bindend anerkannt wurden. Läge wirklich alles plan und klar, wie die psychologistische Richtung versichert, dann wäre diese Sachlage nicht recht verständlich, zumal doch vorurtheilslose, ernste und scharfsinnige Denker auch auf der Gegenseite stehen. Ob nicht die Wahrheit wieder einmal in der rechten Mitte liegt, ob nicht jede der Parteien ein gutes Stück der Wahrheit erkannt hat und sich nur unfähig zeigte, es in begrifflicher Schärfe abzu- grenzen und eben als bloßes Stück der ganzen zu begreifen? Stellungnahme zu den üblichen Gegenargumenten. 59 Ob nicht doch in den Argumenten der Antipsychologisten — bei mancher Unrichtigkeit im Einzelnen, welche durch die Wider- legungen unzweifelhaft zu Tage tritt — ein ungelöster Eest übrig bleibt, ob ihnen nicht doch eine wahre Kraft innewohnt, die sich bei vorurtheilsloser Erwägung immer wieder aufdrängt? Ich für meinen Theil möchte diese Frage bejahen; es will mir sogar scheinen, daß der wichtigere Theil der Wahrheit auf antipsychologistischer Seite liegt, nur daß die entscheidenden Gedanken nicht gehörig herausgearbeitet und durch mancherlei Untriftigkeiten getrübt sind. Kehren wir zu der oben aufgeworfenen Frage nach den wesentlichen theoretischen Fundamenten der normativen Logik zurück. Ist sie durch die Argumentation der Psychologisten wirk- lich erledigt? Hier merken wir sofort einen schwachen Punkt. Erwiesen ist durch das Argument nur das Eine, daß die Psycho- logie an der Fundirung der Logik mitbetheiligt ist, nicht aber, daß sie an ihr allein oder auch nur vorzugsweise be- theiligt ist, nicht, daß sie ihr das wesentliche Fundament in dem von uns (§ 16) definirten Sinn beistellt. Die Möglich- keit bleibt offen, daß eine andere Wissenschaft und vielleicht in ungleich bedeutsamerer Weise zu ihrer Fundirung beitrüge. Und hier mag die Stelle sein für jene „reine Logik", welche nach der anderen Partei ihr von aller Psychologie unabhängiges Dasein führen soll, als eine natürlich begrenzte, in sich ge- schlossene Wissenschaft. Wir gestehen gerne zu, es entspricht, was von den Kantianern und Herbartianern unter diesem Titel bearbeitet worden ist, nicht ganz dem Charakter, der ihr nach der angeregten Vermuthung eignen müßte. Ist doch bei ihnen allerwege die Rede von normativen Gesetzen des Denkens, im Besonderen der Begriffsbildung, der Urtheilsbildung u. s. w. ; Beweis genug, möchte man sagen, daß der Stoff weder ein theoretischer, noch ein der Psychologie fremder ist. Aber dieses Bedenken verlöre seine Kraft, wenn sich bei näherer Unter- suchung die Vermuthung bestätigte, die sich uns oben (§ 13, S. 38) aufdrängte, nämlich, daß jene Schulen zwar in der Definition 60 Empiristische Consequenzen und im Aufbau der intendirten Disciplin nicht glücklich, aber ihr doch insofern nahe kamen, als sie eine Fülle theoretisch zusammengehöriger Wahrheiten in der traditionellen Logik be- merkten, die sich weder in die Psychologie, noch in andere Einzelwissenschaften einreihen und somit ein eigenes Reich der Wahrheit ahnen ließen. Und waren es gerade diejenigen Wahr- heiten, auf welche alle logische Regelung letzlich bezogen ist, und an welche man daher, wo von logischen Wahrheiten die Rede war , vorzugsweise denken mußte , dann konnte man leicht dazu kommen, in ihnen das Wesentliche der ganzen Logik zu sehen und ihre theoretische Einheit mit dem Namen „reine Logik" zu benennen. Daß hiemit die wahre Sachlage gekennzeichnet ist, hoffe ich in der That nachweisen zu können. Viertes Kapitel. Empiristische Consequenzen des Psychologismus. § 21. Kennzeichnung zweier empiristischer Consequenzen des psycholog istischen Standpunktes und deren Widerlegung. Stellen wir uns für den Augenblick auf den Boden der psychologistischen Logik, nehmen wir also an, es lägen die wesent- lichen theoretischen Fundamente der logischen Vorschriften in der Psychologie. Wie immer diese Disciplin nun defmirt wer- den mag — ob als Wissenschaft von den psychischen Phäno- menen, oder als Wissenschaft von den Thatsachen des Bewußt- seins, von den Thatsachen der inneren Erfahrung, von den Er- lebnissen in ihrer Abhängigkeit von erlebenden Individuen oder wie immer sonst — darin besteht allseitige Einigkeit, daß die Psychologie eine Thatsachenwissenschaft ist und somit eine des Psychologismus. 61 Wissenschaft aus Erfahrung. Wir werden auch nicht auf Wider- spruch stoßen, wenn wir hinzufügen, daß die Psychologie bis- lang noch echter und somit exacter Gesetze ermangelt, und daß die Sätze, die sie selbst mit dem Namen von Gesetzen ehrt, zwar sehr werthvolle, aber doch nur vage 1 Verallgemeinerungen der Erfahrung sind, Aussagen über ungefähre Regelmäßigkeiten der Coexistenz oder Succession, die gar nicht den Anspruch er- heben, mit unfehlbarer, eindeutiger Bestimmtheit festzustellen, was unter exact umschriebenen Verhältnissen zusammen be- stehen oder erfolgen müsse. Man betrachte z. B. die Gesetze der Ideenassociation, welchen die Associationspsychologie die Stellung und Bedeutung von psychologischen Grundgesetzen ein- räumen wollte. Sowie man sich die Mühe nimmt, ihren em- pirisch berechtigten Sinn angemessen zu formuliren, verlieren sie auch sofort den prätendirten Gesetzescharakter. Dies voraus- gesetzt, ergeben sich für die psychologistischen Logiker recht bedenkliche Consequenzen: Erstens. In vagen theoretischen Grundlagen können nur vage Regeln gründen. Entbehren die psychologischen Gesetze der Exactheit, so muß dasselbe von den logischen Vorschriften gelten. Nun ist es unzweifelhaft, daß manche dieser Vor- schriften allerdings mit empirischen Vagheiten behaftet sind. Aber gerade die im prägnanten Sinne sogenannten logischen Gesetze, von denen wir früher erkannt haben, daß sie als Ge- setze der Begründungen den eigentlichen Kern aller Logik aus- machen: die logischen „Principien", die Gesetze der Syllogistik, die Gesetze der mannigfachen sonstigen Schlußarten, wie der Gleichheitsschluß, der BERNOULLi'sche Schluß von n auf n -f 1, die Principien der Wahrscheinlichkeitsschlüsse u. s. w. sind von 1 Ich gebrauche den Terminus vage als Gegensatz zu exact. Keineswegs soll durch ihn irgend welche Geringschätzung der Psycho- logie ausgedrückt sein, der etwas am Zeuge flicken zu wollen, mir gänz- lich fern liegt. Auch die Naturwissenschaft hat in manchen, zumal den concreten Disciplinen, vage „Gesetze". So sind die meteorologischen Ge- setze vage und doch von großem Werthe. 62 Empiristische Consequenzen absoluter Exactheit; jede Interpretation, die ihnen empirische Unbestimmtheiten unterlegen, ihre Geltung von vagen „Um- ständen 4 ' abhängig machen wollte, würde ihren wahren Sinn von Grund auf ändern. Sie sind offenbar echte Gesetze und nicht „bloß empirische", d. i. ungefähre Regeln. Ist, wie Lotze meinte, die reine Mathematik nur ein selb- ständig entwickelter Zweig der Logik, so gehört auch die un- erschöpfliche Fülle rein mathematischer Gesetze in die eben bezeichnete Sphäre exacter logischer Gesetze. Auch in allen weiteren Einwänden möge mit dieser Sphäre auch die des rein Mathematischen im Auge behalten werden. Zweitens. Würde Jemand, um dem ersten Einwände zu entgehen, die durchgängige Inexactheit der psychologischen Ge- setze leugnen und die Normen der soeben ausgezeichneten Klasse auf vermeintlich exacte Naturgesetze des Denkens grün- den wollen, so wäre noch nicht viel gewonnen. Kein Naturgesetz ist a -priori, d. h. einsichtig erkennbar. Der einzige Weg, ein solches Gesetz zu begründen und zu recht- fertigen, ist die Induction aus einzelnen Thatsachen der Erfahrung. Die Induction begründet aber nicht die Geltung des Gesetzes, sondern nur die mehr oder minder hohe Wahrscheinlichkeit dieser Geltung; einsichtig gerechtfertigt ist die Wahrscheinlich- keit und nicht das Gesetz. Folglich müßten auch die logischen Gesetze, und zwar ausnahmslos, den Rang bloßer Wahrschein- lichkeiten haben. Dem gegenüber scheint nichts offenkundiger, als daß die „rein logischen" Gesetze insgesammt „apriori" gütig sind. Nicht durch Induction, sondern durch apodictische Evi- denz finden sie Begründung und Rechtfertigung. Einsichtig gerechtfertigt sind nicht bloße Wahrscheinlichkeiten ihrer Gel- tung, sondern ihre Geltung oder Wahrheit selbst. Der Satz vom Widerspruch besagt nicht, es sei zu ver- muthen, daß von zwei contradictorischen Urtheilen eines wahr und eines falsch sei; der Modus Baebaea besagt nicht, es sei, wenn zwei Sätze der Form: „Alle A sind B" und „alle B sind C" wahr sind, zu vermuthen, daß ein zugehöriger Satz der des Psychologismus. 63 Form: „Alle A sind C u wahr sei. Und so überall, auch im Gebiete der rein mathematischen Sätze. Anderenfalls müßten wir ja die Möglichkeit offen halten, daß sich die Vermuthung bei Erweiterung unseres, allzeit nur begrenzten Erfahrungskreises nicht bestätige. Vielleicht sind unsere logischen Gesetze dann nur „Annäherungen" an die wahrhaft giltigen, uns aber uner- reichbaren Denkgesetze. Solche Möglichkeiten werden bei den Naturgesetzen ernstlich und mit Recht erwogen. Obschon das Gravitationsgesetz durch die umfassendsten Inductionen und Verificationen empfohlen ist, faßt es heutzutage doch kein Natur- forscher als absolut giltiges Gesetz auf. Man probirt es ge- legentlich mit neuen Gravitationsformeln, man wies z. B. nach, daß Weber's Grundgesetz der elektrischen Erscheinungen ganz wol auch als Grundgesetz der Schwere fungiren könnte. Der unterscheidende Factor der beiderseitigen Formeln bedingt eben Unterschiede in den berechneten Werthen, welche die Sphäre der unvermeidlichen Beobachtungsfehler nicht überschreiten. Der- artiger Factoren sind aber unendlich viele denkbar; ' daher wissen wir a priori, daß unendlich viele Gesetze dasselbe leisten können und leisten müssen, wie das (nur durch besondere Ein- fachheit empfohlene) Gravitationsgesetz Newton's; wir wissen, daß schon die Suche nach dem einzig wahren Gesetz bei der nie und nimmer .zu beseitigenden Ungenauigkeit der Beobach- tungen thöricht wäre. Dies ist die Sachlage in den exacten Thatsachenwissenschaften. Keineswegs aber in der Logik. Was dort berechtigte Möglichkeit ist, verkehrt sich hier zu offener Absurdität. Wir haben ja Einsicht nicht in die bloße Wahr- scheinlichkeit, sondern in die Wahrheit der logischen Gesetze. Wir sehen die Principien der Syllogistik, der Beenoülli' sehen Induction, der Wahrscheinlichkeitsschlüsse, der allgemeinen Arithmetik u. dgl. ein, d. h. wir erfassen in ihnen die Wahr- heit selbst; somit verliert die Rede von Ungenauigkeitssphären, von bloßen Annäherungen u. dgl. ihren möglichen Sinn. Ist aber, was die psychologische Begründung der Logik als Conse- quenz verlangt, absurd, so ist sie selbst absurd. 64 Empiristis'che Consequenzen Gegen die Wahrheit selbst, die wir einsichtig erfassen, kann auch die stärkste psychologistische Argumentation nicht auf- kommen; Wahrscheinlichkeit kann nicht gegen Wahrheit, Ver- muthung nicht gegen Einsicht streiten. Mag sich, wer in der Sphäre allgemeiner Erwägungen stecken bleibt, durch die psycho- logistischen Argumente täuschen lassen. Der bloße Hinblick auf irgend Eines der logischen Gesetze, auf seine eigentliche Meinung und die Einsichtigkeit, mit der es als Wahrheit an sich erfaßt wird, müßte der Täuschung ein Ende machen. Wie klingt doch plausibel, was die so naheliegende psycho- logische Reflexion uns -aufdrängen will: Die logischen Gesetze sind Gesetze für Begründungen. Begründungen — was sind sie Anderes denn eigenartige Gedankenverläufe des Menschen, in welchen unter gewissen normalen Verhältnissen die als Endglieder auftretenden Urtheile mit dem Charakter der notwendigen Folge behaftet erscheinen. Dieser Charakter ist selbst ein psychischer, eine gewisse Art des Zumutheseins und nichts weiter. Und alle diese psychischen Phänomene stehen selbstverständlich nicht isolirt, sie sind einzelne Fäden des vielverschlungenen Gewebes von psychischen Phänomenen, psychischen Disposi- tionen und organischen Processen, die wir menschliches Leben nennen. Wir sollte unter diesen Umständen Anderes resul- tiren als empirische Allgemeinheiten? Wo gäbe die Psycho- logie auch mehr? Wir antworten: Gewiß giebt die Psychologie nicht mehr. Eben darum kann sie auch nicht jene apodictisch evidenten und somit überempirischen und absolut exacten Gesetze geben, welche den Kern aller Logik ausmachen. §22. Die Denkgesetze als vermeintliche Naturgesetze, welche in isolirter Wirksamkeit das vernünftige Denken causiren. Hier ist auch der Ort, zu einer verbreiteten Auffassung der logischen Gesetze Stellung zu nehmen, welche das richtige Denken durch seine Angemessenheit an gewisse (wie immer zu formulirende) Denkgesetze bestimmt, zugleich aber geneigt ist, des Psychologismus. 65 sich diese Angemessenheit in folgender Weise psychologistisch zu interpretiren : nämlich, wie ihr die Denkgesetze als die Natur- gesetze gelten, welche die Eigenart unseres Geistes als eines denkenden charakterisiren , so soll das Wesen der das richtige Denken definirenden Angemessenheit in der reinen, durch keine anderweitigen psychischen Einflüsse (wie Gewohnheit, Neigung, Tradition) getrübten Wirksamkeit dieser Denkgesetze liegen. 1 Von den bedenklichen Consequenzen dieser Lehre sei hier Eine ausgeführt. Denkgesetze als Causalgesetze, nach denen die Erkenntnisse werden, könnten nur in Form von Wahrscheinlich- keiten gegeben sein. Demgemäß dürfte keine Behauptung als eine richtige mit Gewißheit beurtheilt werden; denn Wahr- scheinlichkeiten als Grundmaße aller Eichtigkeit müssen jeder Erkenntnis den Stempel der bloßen Wahrscheinlichkeit auf- prägen. So ständen wir vor dem extremsten Probabilismus. Auch die Behauptung, daß alles Wissen ein bloß wahrschein- liches ist, wäre nur wahrscheinlich giltig; diese neue Be- hauptung abermals und so in infinitum. Da jede folgende Stufe den Wahrscheinlichkeitsgrad der nächstvorhergehenden in Etwas her abdrückt, so müssten wir um den Werth aller Er- kenntnis ernstlich besorgt sein. Hoffentlich trifft es sich aber glücklich genug, daß die Wahrscheinlichkeitsgrade dieser un- endlichen Eeihen allzeit den Charakter ÖANTOß'scher „Funda- mentalreihen" haben, und zwar so, daß der endgiltige Grenz- werth für die Wahrscheinlichkeit der jeweilig zu beurtheilenden Erkenntnis eine reelle absolute Zahl ist > 0. Natürlich ent- geht man diesen Unzuträglichkeiten, wenn man die Denkgesetze als einsichtig gegebene gelten läßt. Aber wie sollten wir von Causalgesetzen Einsicht haben? Und angenommen, es bestände diese Schwierigkeit nicht, dann dürfen wir doch fragen: Wo ist in aller Welt der Nach- weis geführt, daß aus der reinen Wirksamkeit dieser Gesetze 1 Vgl. z. B. die S. 55 oben citirten Sätze aus Lipps' Aufsatz über die Aufgabe der Erkenntnistheorie. Husserl, Log. Unters. I. 5 66 Empiristische Consequenzen (oder welcher Gesetze auch sonst) die richtigen Denkacte ent- springen? Wo sind die genetischen Analysen, die uns berech- tigen, die Denkphänomene aus zwei Klassen von Natur- gesetzen zu erklären, von welchen die Einen ausschließlich den Gang solcher Causationen bestimmen, die das logische Denken hervorgehen lassen, während für das alogische Denken auch die anderen mitbestimmend sind? Ist die Bemessung eines Denkens durch die logischen Gesetze etwa gleichbedeutend mit dem Nachweis seiner causalen Entstehung nach eben diesen Gesetzen als Naturgesetzen? Es scheint, daß hier einige naheliegende Verwechslungen den psychologistischen Irrthümern den Weg geebnet haben. Zunächst verwechselt man die logischen Gesetze mit den Ur- theilen (Urtheilsacten) , in denen sie möglicher Weise erkannt werden, also die Gesetze als „Urtheilsinhalte" mit den Ur- theilen selbst. Die Letzteren sind reale Vorkommnisse, die ihre Ursachen und Wirkungen haben. Insbesondere wirken die Urtheile gesetzlichen Inhalts des Oefteren als Denkmotive, welche den Gang unserer Denkerlebnisse so bestimmen, wie es eben jene Inhalte, die Denkgesetze, vorschreiben. In solchen Fällen ist die reale Anordnung und Verknüpfung unserer Denk- erlebnisse dem, was in der leitenden gesetzlichen Erkenntnis allgemein gedacht ist, angemessen ; sie ist ein concreter Einzel- fall zu dem Allgemeinen des Gesetzes. Verwechselt man aber das Gesetz mit dem Urtheilen, Erkennen des Gesetzes, das Ideale mit dem Realen, so erscheint das Gesetz als eine bestim- mende Macht unseres Denkverlaufs. In wol begreiflicher Leichtigkeit reiht sich dann eine zweite Verwechslung an, nämlich zwischen dem Gesetz als Glied der Causation und dem Gesetz als der Regel der Causation. Es ist uns ja auch sonst die mythische Rede von den Naturgesetzen als waltenden Mächten des natürlichen Geschehens nicht fremd — als ob die Regeln ursächlicher Zusammenhänge selbst wieder als Ursachen, somit als Glieder eben solcher Zusammenhänge sinnvoll fungiren > könnten. Die ernsthafte Vermengung so wesentlich verschie- des Psychologismus. G7 dener Dinge war in unserem Falle durch die vordem bereits begangene Vermengung zwischen Gesetz und Gesetzeserkenntnis offenbar begünstigt. Die logischen Gesetze erschienen ja bereits als treibende Motoren im Denken. Sie regieren, dachte man sich, den Denkverlauf causal — also sind sie Causalgesetze des Denkens, sie drücken aus, wie wir der Natur unseres Geistes zufolge denken müssen, sie kennzeichnen den mensch- lichen Geist als einen (im prägnanten Sinne) denkenden. Denken wir gelegentlich anders als diese Gesetze es verlangen, so „denken" wir, eigentlich gesprochen, überhaupt nicht, wir urtheilen nicht wie es die Naturgesetze des Denkens, oder wie es die Eigenart unseres Geistes als eines denkenden fordert, sondern wie es andere Gesetze, und zwar wiederum causal, bestimmen, wir folgen trübenden Einflüssen der Ge- wohnheit, Leidenschaft u. dgl. Natürlich können auch andere Motive zu dieser selben Auffassung gedrängt haben. Die Erfahrungsthatsache , daß die in gewisser Sphäre normal Disponirten, z. B. die wissenschaft- lichen Forscher in ihren Gebieten, logisch richtig zu urtheilen pflegen, scheint die natürliche Erklärung zu fordern, daß die logischen Gesetze, nach denen die Eichtigkeit des Denkens be- messen wird, zugleich in der Weise von Causalgesetzen den Gang des jeweiligen Denkens bestimmen, während die ver- einzelten Abweichungen von der Norm leicht auf Rechnung jener trübenden Einflüsse aus anderen psychologischen Quellen zu setzen waren. Demgegenüber genügt es, folgende Erwägung anzustellen. Wir fingiren einen Idealmenschen, in dem alles Denken so von Statten geht, wie es die logischen Gesetze fordern. Natür- lich muß die Thatsache, daß es so von Statten geht, ihren er- klärenden Grund haben in gewissen psychologischen Gesetzen, welche den Verlauf der psychischen Erlebnisse dieses Wesens von gewissen ersten „Collocationen" aus in einer gewissen Weise regeln. Ich frage nun: Wären diese Naturgesetze und jene logischen Gesetze unter den gemachten Annahmen iden- 68 Empiristische Consequenzen tisch? Die Antwort muß offenbar verneinend ausfallen. Causal- gesetze, nach welchen das Denken so ablaufen muß, wie es nach den idealen Normen der Logik gerechtfertigt werden könnte, und diese Normen selbst — das ist doch keineswegs dasselbe. Ein Wesen ist so constituirt, daß es in keinem ein- heitlichen Gedankenzuge widersprechende Urtheile fällen, oder daß es keinen Schluß vollziehen kann, der gegen die syllogisti- schen Modi verstieße — darin liegt durchaus nicht, daß der Satz vom Widerspruch, der modus Barbara u. dgl. Naturgesetze sind, die solche Constitution zu erklären vermöchten. Das Beispiel der Rechenmaschine macht den Unterschied völlig klar. Die Anordnung und Verknüpfung der hervorspringenden Ziffern wird naturgesetzlich so geregelt, wie es die arith- metischen Sätze für ihre Bedeutungen fordern. Aber Niemand wird, um den Gang der Maschine physikalisch zu erklären, statt der mechanischen die arithmetischen Gesetze heranziehen. Die Maschine ist freilich keine denkende, sie versteht sich selbst nicht und nicht die Bedeutung ihrer Leistungen; aber könnte nicht unsere Denkmaschine sonst in ähnlicher Weise functioniren, nur daß der reale Gang des einen Denkens durch die in einem anderen Denken hervortretende Einsicht in die logische Gesetzlichkeit allzeit als richtig anerkannt werden müßte? Dieses andere Denken könnte ebensogut zu der Leistung derselben wie anderer Denkmaschinen gehören, aber ideale Bewerthung und causale Erklärung blieben immer noch heterogen. Man vergesse auch nicht die „ersten Collocationen", die für die causale Erklärung unerläßlich, für die ideale Werthung aber sinnlos sind. Die psychologistischen Logiker verkennen die grundwesent- lichen und ewig unüberbrückbaren Unterschiede zwischen Ideal- gesetz und Realgesetz, zwischen normirender Regelung und causaler Regelung, zwischen logischer und realer Notwendig- keit, zwischen logischem und Realgrund. Keine denkbare Ab- stufung vermag zwischen Idealem und Realem Vermittlungen herzustellen. Es ist kennzeichnend für den Tiefstand der des Psychologismus. 69 rein -logischen Einsichten in unserer Zeit, wenn ein Forscher vom Hange Sigwaet's gerade mit Beziehung auf die auch oben erwogene Fiction eines intellectuell idealen Wesens glaubt annehmen zu dürfen, daß für ein solches „die logische Noth- wendigkeit zugleich eine reale wäre, die wirkliches Denken hervorbringt", oder wenn er zur Erklärung des Begriffes logischer Grund den Begriff des Denkzwanges benützt. 1 Wieder, wenn ein Wundt 2 im Satz vom Grunde ,,das Grundgesetz der Abhängigkeit unserer Denkacte voneinander" erblickt, u. s. w. Daß es sich in diesen Beziehungen wirklich um logische Grund- irrthümer handelt, wird der Lauf der weiteren Untersuchungen hoffentlich auch dem Voreingenommenen zu voller Gewißheit bringen. § 23. Eine dritte Consequenz des Psychologismus und ihre Widerlegung. Drittens. 3 Hätten die logischen Gesetze ihre Erkenntnisquelle in psychologischen Thatsächlichkeiten, wären sie z. B., wie die Gegenseite gewöhnlich lehrt, normative Wendungen psycholo- gischer Thatsachen, so müßten sie selbst einen psychologischen Gehalt besitzen und zwar in doppeltem Sinne: sie müßten Ge- setze für Psychisches sein und zugleich die Existenz von Psychischem voraussetzen, bezw. einschließen. Dies ist nach- weislich falsch. Kein logisches Gesetz implicirt einen „matter of fact", auch nicht die Existenz von Vorstellungen oder Urtheilen oder sonstigen Erkenntnisphänomenen. Kein logisches Gesetz ist — nach seinem echten Sinne — ein Gesetz für Thatsäch- lichkeiten des psychischen Lebens, also weder für Vorstellungen (d. i. Erlebnisse des Vorstellens), noch für Urtheile (d. i. Erleb- nisse des Urtheilens), noch für sonstige psychische Erlebnisse. Die meisten Psychologisten stehen zu sehr unter dem Einflüsse ihres allgemeinen Vorurtheils, als daß sie daran 1 Sigwabt's Logik I. 2 S. 252 u. 253. 2 Wündt's Logik I. 2 S. 573. 3 Vgl. oben § 21 S. 60 ff. 70 Empvristische Consequenzen dächten, es an den bestimmt vorliegenden Gesetzen der Logik zu verificiren. Müssen diese Gesetze aus allgemeinen Gründen psychologisch sein, wozu im Einzelnen nachweisen, daß sie es wirklich sind? Man beachtet nicht, daß ein consequenter Psychologismus zu Interpretationen der logischen Gesetze nöthigen würde, welche ihrem wahren Sinn von Grund aus fremd wären. Man übersieht, daß die natürlich verstandenen Gesetze weder der Begründung noch dem Inhalt nach Psycho- logisches (also Thatsächlichkeiten des Seelenlebens) voraus- setzen und jedenfalls nicht mehr als die Gesetze der reinen Mathematik. Wäre der Psychologismus auf richtigem Wege, so müßten wir in der Lehre von den Schlüssen durchaus nur Regeln* folgender Art erwarten: Erfahrungsgemäß knüpft sich ein mit dem Charakter apodictisch nothwendiger Folge versehener Schlußsatz der Form S unter den Umständen U an Prämissen der Form P. Um also „richtig" zu schließen, d. h. Urtheile dieses auszeichnenden Charakters beim Schließen zu gewinnen, hat man demgemäß zu verfahren und für die Realisirung der Umstände U und der bezüglichen Prämissen zu sorgen. Psychische Thatsächlichkeiten erschienen hier als das Geregelte, und zugleich wäre die Existenz solcher Thatsächlichkeiten, wie in der Begründung der Regeln vorausgesetzt, so in ihrem In- halt mit eingeschlossen. Aber kein einziges Schlußgesetz ent- spricht diesem Typus. Was besagt z. B. der modus Barbara? Doch nichts anderes als dies: Allgemein gilt für beliebige Klassentermini A, B, C, daß wenn alle A B und alle B C sind, auch alle A C sind. Wieder sagt der „modus ponens" unver- kürzt ausgesprochen: „Es ist ein für beliebige Sätze A, B giltiges Gesetz, daß wenn A gilt und überdies gilt, daß wenn A so B gilt, dann auch B gilt." So wenig diese und alle ähn- lichen Gesetze empirisch sind, so wenig sind sie auch psycho- logisch. Allerdings werden sie in der traditionellen Logik in Absicht auf die Normirung der Urtheilsthätigkeiten aufgestellt. Aber ist die Existenz eines einzigen actuellen Urtheils oder des Psychologismus. 71 eines sonstigen psychischen Phänomens in ihnen mitbehauptet? ( w**~( Ist Jemand dieser Meinung, so verlangen wir den Beweis. /~H* pS^ «^v Was in einem Satze als mitbehauptet liegt, muß sich durch <&avw£^vtv# eine giltige Schlußweise aus ihm ableiten lassen. Aber wo /rr*&vJLJ*~ sind die Schlußformen, die aus einem reinen Gesetz eine That- sache abzuleiten gestatten? Man wird nicht einwenden, daß in aller Welt die Rede von logischen Gesetzen nicht hätte aufkommen können, wenn wir nie Vorstellungen und Urtheile im actuellen Erlebnis ge- habt und die betreffenden logischen Grundbegriffe aus ihnen abstrahirt hätten; oder gar, daß in jedem Verstehen und Be- haupten des Gesetzes die Existenz von Vorstellungen und Ur- theilen implicirt, also daraus wieder zu erschließen sei. Denn kaum braucht gesagt zu werden, daß hier die Folge nicht aus dem Gesetz, sondern aus dem Verstehen und Behaupten des Gesetzes gezogen ist, daß dieselbe Folge aus jeder beliebigen Behauptung zu ziehen wäre, und daß psychologische Voraus- setzungen oder Ingredienzien der Behauptung eines Gesetzes nicht mit logischen Momenten seines Inhaltes vermengt werden dürfen. „Empirische Gesetze" haben eo ipso einen Thatsachen- ^ gehalt. Als unechte Gesetze sagen sie, roh gesprochen, nur aus, daß unter gewissen Umständen erfahrungsmäßig gewisse Coexistenzen oder Successionen einzutreten pflegen, oder je nach Umständen mit größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind. Darin liegt, daß solche Umstände, solche Co- existenzen oder Successionen thatsächlich vorkommen. Aber auch die strengen Gesetze der Erfahrungswissenschaften sind nicht ohne Thatsachengehalt. Sie sind nicht bloß Gesetze über Thatsachen, sie impliciren auch die Existenz von Thatsachen. Doch es bedarf hier größerer Genauigkeit. Die exacten Gesetze in ihrer normalen Formulirung haben freilich den Charakter reiner Gesetze, sie schließen keinerlei Existenzial- gehalt in sich. Aber denken wir an die Begründungen, aus denen sie die wissenschaftliche Rechtfertigung schöpfen, so ist 72 Empiristische Consequenzen es sofort klar, daß sie als die reinen Gesetze der normalen Formulirun g nicht gerechtfertigt sein können. Wahrhaft be- gründet ist nicht das Gravitationsgesetz, wie es die Astronomie ausspricht, sondern nur ein Satz der Form: Nach Maßgabe unserer bisherigen Erkenntnisse ist es eine theoretisch be- gründete Wahrscheinlichkeit höchster Dignität, daß für den Bereich der mit den gegenwärtigen Hilfsmitteln erreichbaren Erfahrung der Satz Newton's gilt oder überhaupt eines aus der unendlichen Mannigfaltigkeit mathematisch denkbarer Ge- setze, welche von Newton's Gesetz nur innerhalb der Sphäre unvermeidlicher Beobachtungsfehler differiren können. Diese Wahrheit ist mit Thatsächlichkeitsgehalt reichlich beschwert, sie selbst ist also nichts weniger als ein Gesetz im echten Sinne des Wortes. Sie schließt offenbar auch mehrere Begriffe vager Umgrenzung ein. Und so sind alle Gesetze der exacten Wissenschaften über Thatsachen zwar echte Gesetze, aber erkenntnistheoretisch be- trachtet nur idealisirende Fictionen — obschon Fictionen cum fundamento in re. Sie erfüllen die Aufgabe, theoretische Wissen- schaften als der Wirklichkeit nächstangepaßte Ideale zu er- möglichen, also das höchste theoretische Ziel aller wissenschaft- lichen Thatsachenforschung, das Ideal der erklärenden Theorie, der Einheit aus Gesetzlichkeit, insoweit zu realisiren, als es nach Maßgabe der unüberbrückbaren Schranken der mensch- lichen Erkenntnis möglich ist. An Stelle der absoluten Er- kenntnis, die uns versagt ist, arbeiten wir uns durch einsich- tiges Denken aus dem Gebiet empirischer Einzelheiten und Allgemeinheiten zunächst jene s. z. s. apodictischen Wahrschein- lichkeiten heraus, in denen alles erreichbare Wissen betreffs der Wirklichkeit beschlossen ist. Diese reduciren wir dann auf gewisse exacte Gedanken von echtem Gesetzescharakter, und so gelingt uns der Aufbau formell vollkommener Systeme er- klärender Theorien. Aber diese Systeme (wie z. B. die theore- tische Mechanik, die theoretische Akustik, theoretische Optik, theoretische Astronomie u. dgl.) können sachlich nur gelten als des Psychologismus. 73 ideale Möglichkeiten cum fundamento in re, welche unendlich viele andere Möglichkeiten nicht ausschließen, aber dafür in bestimmte Grenzen einschließen. — Doch dies geht uns hier nicht weiter an und noch weniger die Erörterung der erkenntnis- practischen Functionen dieser idealen Theorien, nämlich ihre Leistungen zur erfolgreichen Vorausbestimmung der künftigen und Keconstruction der vergangenen Thatsachen, und ihre technischen Leistungen für die practische Naturbeherrschung. Wir gehen also wieder zu unserem Falle über. Ist echte Gesetzlichkeit, wie soeben gezeigt wurde, ein bloßes Ideal im Gebiete der Thatsachenerkenntnis , so findet sie sich dagegen realisirt im Gebiete der „rein begrifflichen" Erkenntnis. In diese Sphäre gehören unsere rein logischen Gesetze, wie auch die Gesetze der Mathesis pura. Ihren „Ur- sprung", genauer gesprochen, ihre rechtfertigende Begründung nehmen sie nicht aus der Induction; so führen sie auch nicht den existenzialen Gehalt mit sich, der allen Wahrscheinlich- keiten als solchen, auch den höchsten und werthvollsten , an- haftet. Was sie besagen, gilt voll uud ganz, einsichtig be- gründet sind sie selbst in ihrer absoluten Exactheit, und nicht an ihrer Statt gewisse Wahrscheinlichkeitsbehauptungen mit ersichtlich vagen Bestandstücken. Das jeweilige Gesetz er- scheint nicht als eine von unzähligen theoretischen Möglichkeiten einer gewissen, obschon sachlich abgegrenzten Sphäre. Es ist die Eine und alleinige Wahrheit, die jede andersartige Möglich- keit ausschließt und sich als einsichtig erkannte Gesetzlich- keit von allen Thatsachen dem Inhalt wie der Begründung nach rein erhält. Man sieht aus diesen Betrachtungen, wie innig die beiden Hälften der -psychologistischen Consequenz — nämlich daß die lo'gischen Gesetze nicht bloß existenziale Behauptungen über psychische Thatsächlichkeiten mit sich führen, sondern daß sie auch Gesetze für solche Thatsächlichkeiten sein müßten — zusammenhängen. Die Widerlegung der ersten Hälfte ergab sich uns zunächst. Die der anderen erscheint darin mitbe- 74 EmpiristiscJie schlössen nach folgendem Argument: Wie jedes Gesetz, das der Erfahrung und Induction aus Einzelthatsachen entstammt, ein Gesetz für Thatsachen ist, so ist umgekehrt jedes Gesetz für Thatsachen ein Gesetz aus Erfahrung und Induction; und folglich sind von ihm, wie oben nachgewiesen, Behauptungen existenzialen Gehalts unabtrennbar. Selbstverständlich dürfen wir hier unter Thatsachengesetzen nicht auch die allgemeinen Aussagen befassen, welche rein be- griffliche Sätze — d. i. Sätze, die sich als allgemeingiltige Beziehungen auf Grund reiner Begriffe darstellen — auf That- sächlichkeiten übertragen. Ist 3 > 2, so sind auch 3 Bücher jenes Tisches mehr als 2 Bücher jenes Schrankes. Und so allge- mein für beliebige Dinge. Der reine Zahlen satz spricht aber nicht von Dingen, sondern von Zahlen — die Zahl 3 ist größer als die Zahl 2 — und Anwendung kann er nicht bloß finden auf individuelle, sondern auch auf „allgemeine" Gegenstände, z. B. auf Farben- und Tonspecies, auf Arten geometrischer Ge- bilde u. dgl. Wird dies alles zugestanden, so ist es natürlich ausge- schlossen, daß die logischen Gesetze (wesentlich) Gesetze psychischer Bethätigungen oder Producte sind. § 24. Fortsetzung. Vielleicht wird Mancher unserer Consequenz zu entgehen suchen, indem er einwendet: Nicht jedes Gesetz für Thatsachen entspringt aus Erfahrung und Induction. Man muß hier viel- mehr unterscheiden: Jede Gesetzeserkenntnis beruht auf Er- fahrung, aber nicht jede erwächst aus ihr in der Weise der Induction, also in jenem wolbekannten logischen Proceß, der von singulären Thatsachen oder empirischen Allgemeinheiten niedriger Stufe zu den gesetzlichen Allgemeinheiten hinleitet. So sind im Besonderen die logischen Gesetze erfahrungsmäßige, aber nicht inductive Gesetze. In der psychologischen Erfahrung ab- strahiren wir die logischen Grundbegriffe und die mit ihnen gegebenen rein begrifflichen Verhältnisse. Was wir im einzelnen des Psychologismus. 75 Fall vorfinden, erkennen wir mit Einem Schlage als allgemein- giltig, weil nur in den abstrahirten Inhalten gründend. So verschafft uns die Erfahrung ein unmittelbares Bewußtsein der Gesetzlichkeit unseres Geistes. Und wie wir hier der Induction nicht bedürfen, so ist auch das Ergebnis nicht mit ihren Un- vollkommenheiten behaftet, es hat nicht den bloßen Cha- rakter der Wahrscheinlichkeit, sondern den apodictischer Ge- wißheit, es ist nicht von vager, sondern von exacter Begrenzung, es schließt auch in keiner Weise Behauptungen existenzialen Gehalts ein. Indessen, was man hier einwendet, kann nicht genügen. Niemand wird bezweifeln, daß die Erkenntnis der logischen Gesetze, als psychischer Act, die Einzelerfahrung voraussetzt, daß sie ihre Grundlage hat in der concreten Anschauung. Aber man vermenge nicht psychologische „Voraussetzungen" und „Grundlagen" der Gesetzeserkenntnis mit logischen Voraussetzungen, Gründen, Prämissen des Gesetzes; und dem- gemäß auch nicht die psychologische Abhängigkeit (z. B. in der Entstehung) mit der logischen Begründung und Kechtfertigung. Die Letztere folgt einsichtig dem objectiven Verhältnis von Grund und Folge, während sich die Erstere auf die psychischen Zusammenhänge in der Coexistenz und Succession bezieht. Niemand kann ernstlich behaupten, daß die etwa vor Augen stehenden concreten Einzelfälle, auf „Grund" welcher die Einsicht in das Gesetz zu Stande kommt, die Function von logischen Gründen, von Prämissen haben, als ob aus dem Dasein des Ein- zelnen die Folge statthätte auf die Allgemeinheit des Gesetzes. Die intuitive Erfassung des Gesetzes mag psychologisch zwei Schritte verlangen: den Hinblick auf die Einzelheiten der An- schauung und die darauf bezogene gesetzliche Einsicht. Aber logisch, ist nur Eines da. Der Inhalt der Einsicht ist nicht Folgerung aus der Einzelheit. Alle Erkenntnis „fängt mit der Erfahrung an", aber sie „entspringt" darum nicht schon aus der Erfahrung. Was wir behaupten, ist dies, daß jedes Gesetz für Thatsachen aus 76 Empiristische Consequenzen der Erfahrung entspringt, und darin liegt eben, daß es nur durch Induction aus einzelnen Erfahrungen zu begründen ist. Giebt es einsichtig erkannte Gesetze, so können sie also nicht (unmittelbar) Gesetze für Thatsachen sein. Ich will es nicht geradezu als absurd hinstellen, daß ein Gesetz für Thatsachen unmittelbar einsichtig erkannt sei; aber ich leugne, daß es je vorkomme. Wo immer dergleichen bisher angenommen wurde, da stellte sich heraus, daß man entweder echte Thatsachen- gesetze, d. h. Gesetze der Coexistenz und Succession vermengt hat mit idealen Gesetzen, denen die Beziehung auf zeitlich Be- stimmtes an sich fremd ist; oder daß man den lebhaften Ueber- zeugungsdrang, den die wolvertrauten empirischen Allgemein- heiten mit sich führen, mit der Einsichtigkeit, die wir nur im Gebiet des rein Begrifflichen erleben, verwechselte. Kann ein Argument dieser Art auch nicht entscheidend wirken, so kann es immerhin die Kraft anderweitiger Argu- mente verstärken. Noch ein solches sei hier angefügt. Schwerlich wird Jemand leugnen, daß alle rein logischen Gesetze ein und desselben Charakters sind; können wir von einigen zeigen, daß ihre Auffassung als Gesetze über That- sachen unmöglich sei, so wird dasselbe von allen gelten müssen. Nun finden sich unter den Gesetzen auch solche, die sich auf Wahrheiten überhaupt beziehen, in denen also Wahrheiten die geregelten „Gegenstände" sind. Z. B. für jede Wahrheit A gilt, daß ihr contradictorisches Gegentheil keine Wahrheit ist. Für Jedes Paar Wahrheiten A, B gilt, daß auch ihre conjunctiven und disjunctiven Verknüpfungen 1 Wahrheiten sind. Stehen drei Wahrheiten A, B, C in dem Verhältnis, daß A Grund ist für B, B Grund für C, so ist auch A Grund für C u. dgl. Es ist aber absurd Gesetze, die für Wahrheiten als solche gelten, als Gesetze für Thatsachen zu bezeichnen. Keine 1 Ich verstehe darunter den Sinn der Sätze „A und B", d. h. Beides gilt, bezw. „A oder J3", d. h. Eines von Beiden gilt — worin nicht liegt, daß nur Eines gilt. des Psychologismus. 77 Wahrheit ist eine Thatsache, d. i. ein zeitlich Bestimmtes. Eine Wahrheit kann freilich die Bedeutung haben, daß ein Ding ist, ein Zustand besteht, eine Veränderung von Statten geht u. dgl. Aber die Wahrheit selbst ist über alle Zeitlich - keit erhaben, d. h. es hat keinen Sinn, ihr zeitliches Sein, Ent- stehen oder Vergehen zuzuschreiben. Am klarsten tritt die Absurdität für die Wahrheitsgesetze selbst hervor. Als Real- gesetze wären sie Regeln der Coexistenz und Succession von Thatsachen, specieller von Wahrheiten, und zu diesen That- sachen, die sie regeln, müßten sie selbst, nämlich als Wahr- heiten, gehören. Da schriebe ein Gesetz gewissen Thatsachen, genannt Wahrheiten, Kommen und Gehen vor, und unter diesen Thatsachen sollte sich nun, als Eine neben anderen, das Gesetz selbst finden. Das Gesetz entstände und verginge nach dem Gesetz — ein offenbarer Widersinn. Und ähnlich, wenn wir das Wahrheitsgesetz als Coexistenzgesetz deuten wollten, als zeitlich Einzelnes und doch als allgemeine Regel für alles und jedes zeitlich Seiende maßgebend. Derartige Absurditäten 1 sind unausweichlich, wenn man den fundamentalen Unterschied zwischen idealen und realen Objecten und dementsprechend den Unterschied zwischen Ideal- und Realgesetzen nicht be- achtet oder nicht in rechtem Sinne versteht; immer wieder werden wir sehen, daß dieser Unterschied für die Streitfragen zwischen psychologistischer und reiner Logik entscheidend ist. 1 Man vgl. dazu die systematischen Ausführungen des VII. Kap. d. S. über den skeptisch - relativistischen Widersinn jeder Auffassung, welche die logischen Gesetze von Thatsachen abhängig macht. 78 Die psychologischen Interpretationen Fünftes Kapitel. Die psychologischen Interpretationen der logischen Grundsätze. § 25. Der Satz vom Widerspruch in der psychologisüschen Interpretation Mill's und Spencers. Wir haben oben bemerkt, daß eine consequent durch- geführte Auffassung der logischen Gesetze als Gesetze über psychische Thatsachen zu wesentlichen Mißdeutungen derselben führen müßte. Aber in diesen, wie in allen anderen Punkten, hat die herrschende Logik die Consequenz in der Regel ge- scheut. Fast würde ich sagen, die Psychologismus lebe nur durch Inconsequenz, wer ihn folgerichtig zu Ende denke, habe ihn schon aufgegeben, wenn nicht der extreme Empirismus ein merkwürdiges Beispiel dafür liefern würde, wie viel stärker ein- gewurzelte Vorurtheile sein können, als die klarsten Zeugnisse der Einsicht. In unerschrockener Folgerichtigkeit zieht er die härtesten Consequenzen, aber nur, um sie auf sich zu nehmen und zu einer, freilich widerspruchsvollen Theorie zusammen- zubinden. Was wir gegen die bestrittene logische Position geltend gemacht haben — daß die logischen Wahrheiten statt a priori gewährleisteter und absolut exaeter Gesetze rein be- grifflicher Art, vielmehr durch Erfahrung und Induction be- gründete, mehr oder minder vage Wahrscheinlichkeiten sein müßten, gewisse Thatsächlichkeiten menschlichen Seelenlebens betreffend, dies ist (wenn wir etwa von der Betonung der Vag- heit absehen) gerade die ausdrückliche Lehre des Empirismus. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, diese erkenntnistheoretische Richtung einer erschöpfenden Kritik zu unterwerfen. Ein be- sonderes Interesse bieten für uns aber die psychologischen Interpretationen der logischen Gesetze, die in dieser Schule der logischen Grundsätze. 79 aufgetreten sind, und die auch über ihre Grenzen hinaus blen- denden Schein verbreitet haben. 1 Bekanntlich lehrt J. St. Mill 2 das principium contradictionis sei „eine unserer frühesten und naheliegendsten Verallge- meinerungen aus der Erfahrung". Seine ursprüngliche Grund- lage findet er darin, „daß Glaube und Unglaube zwei verschie- dene Geisteszustände sind", die einander ausschließen. Dies erkennen. wir — so fährt er wörtlich fort — aus den einfachsten Beobachtungen unseres eigenen Geistes. Und richten wir unsere Beobachtung nach außen, so finden wir auch hier, daß Licht und Dunkel, Schall* und Stille, Gleichheit und Ungleichheit, Vorangehen und Nachfolgen, Aufeinanderfolge und Gleichzeitig- keit, kurz jedes positive Phänomen und seine Verneinung [negative) unterschiedene Phänomene sind, im Verhältnis eines zugespitzten Gegensatzes, und die eine immer dort abwesend, wo die andere anwesend ist. „Ich betrachte," sagt er, „das fragliche Axiom als eine Verallgemeinerung aus all diesen Thatsachen." Wo es sich um die principiellen Fundamente seiner em- piristischen Vorurtheile handelt, ist der sonst so scharfsinnige Mill wie von allen Göttern verlassen. Und so macht hier nur Eines Schwierigkeit: zu begreifen, wie eine solche Lehre über- zeugen konnte. Auffällig ist zunächst die offenbare Incorrect- heit der Behauptung, es sei das Princip, daß zwei contra- dictorische Sätze nicht zusammen wahr sind und sich in diesem Sinne ausschließen, eine Verallgemeinerung der angeführten Thatsachen, daß Licht und Dunkel, Schall und Stille u. dgl. sich ausschließen; welche doch alles eher sind als contra- dictorische Sätze. Es ist überhaupt nicht recht verständlich, wie Mill den Zusammenhang dieser Erfahrungsthatsachen mit 1 Eine allgemein gehaltene Erörterung der principiellen Haupt- gebrechen des Empirismus, so weit geführt als wir dadurch eine Förderung unserer idealistischen Intentionen in der Logik erhoffen dürfen, bietet der Anhang zu diesem und dem nächsten Paragraphen, S. 84 ff. 3 Mill, Logik, Buch II Kap. VII § 4 (Gompeez l I. S. 298). 80 Die psychologischen Interpretationen dem logischen Gesetz herstellen will. Vergeblich erhofft man die Aufklärung von den parallelen Ausführungen Mill's in der Streitschrift gegen Hamilton. Hier citirt er mit Beifall das „absolut constante Gesetz", welches der gleichgesinnte Spencer dem logischen Princip unterlegt hat, nämlich „that the appearence of any positive mode of consciousness cannot occur without excluding a cor relative negative mode: and that the negative mode cannot occur without excluding the correlative positive mode". 1 Aber wer sieht nicht, daß dieser Satz eine pure Tautologie darstellt, da doch der wechselseitige Ausschluß zur Definition der corre- lativen Termini „positives und negatives ' Phänomen" gehört? Im Gegentheil ist aber der Satz vom Widerspruch nichts weniger als eine Tautologie. Es liegt nicht in der Definition contradictorischer Sätze, daß sie sich ausschließen, und thun sie es auch vermöge des genannten Princips, so gilt doch nicht das Umgekehrte: nicht jedes Paar sich ausschließender Sätze ist ein Paar contradictorischer — Beweis genug, daß unser Princip nicht zusammengeworfen werden darf mit jener Tauto- logie. Und als Tautologie will es ja auch Mtll nicht ver- standen wissen, da es nach ihm allererst durch Induction aus der Erfahrung entspringen soll. Jedenfalls besser als die so wenig verständlichen Be- ziehungen auf die Incoexistenzen der äußeren Erfahrung mögen andere Aeußerungen Mill's dazu dienen, uns den empirischen Sinn des Princips klarzulegen, zumal diejenigen, welche die Frage discutiren, ob die drei logischen Grundprincipien als „inherent necessities of thought", als „an original part of our mental Constitution", als „laws of our thoughts by the native struc- ture of the mind" gelten dürfen, oder ob sie Denkgesetze nur sind „because we perceive them to be universally true of observed phenomena u — was Mill übrigens nicht positiv entscheiden möchte. Da lesen wir in Beziehung auf diese Gesetze: „They 1 Mill, An Examination 5 eh. XXI. S. 491. Es ist wol ein Versehen, wenn Spencer statt auf den Satz vom Widerspruch auf den des ausge- schlossenen Dritten recurrirt. der logischen Grundsätze. 81 may or may not be capable of alter ation by experience, but the conditions of our existence deny to us the experience which would be required to alter them. Any asser tion, therefore, which con- flicts wiih one of these laws — any proposition, for instance, which asserts a contradiction, though it were on a subject wholly removed from the sphere of our experience, is to us unbelievable. The belief in such a proposition is, in the present Constitution of nature, impossible as a mental factK 1 Wir entnehmen daraus, daß die Inconsistenz, die im Satze vom Widerspruch ausgedrückt wird, nämlich das Nichtzusammen- wahrsein contradictorischer Sätze, von Mill als Unverträglich- keit solcher Sätze in unserem belief gedeutet wird. Mit an- deren Worten: dem Nichtzusammenwahrsein der Sätze wird substituirt die reale Unverträglichkeit der entsprechen- den Urtheilsacte. Dies harmonirt auch mit der wiederholten Behauptung Mill's, daß Glaubensacte die einzigen Objecte seien, die man im eigentlichen Sinne als wahr und falsch be- zeichnen könne. Zwei contradictorisch entgegengesetzte Glaubensacte können nicht coexistiren — so müßte das Princip verstanden werden. § 26. Mill's psychologische Interpretation des Princips ergiebt kein Gesetz, sondern einen völlig vagen und wissenschaftlich nicht geprüften Erfahrungssatz. Hier regen sich nun allerlei Bedenken. Zunächst ist der Ausspruch des Princips sicher unvollständig. Unter welchen Umständen, so wird man fragen müssen, können die ent- gegengesetzten Glaubensacte nicht coexistiren? In verschie- denen Individuen können, wie allbekannt, entgegengesetzte Ur- theile sehr wol coexistiren. Wir werden also, zugleich den Sinn der realen Coexistenz auseinanderlegend, genauer sagen 1 Mill, An Examination, S. 491. Vgl. auch S. 487: „It is the generalization of a mental fact, which is of eontinual occurrence, and which cannot be dispensed wiih in reasoning". Husserl, Log. Unters. I. 6 82 Die psychologischen Interpretationen müssen: In demselben Individuum, oder noch besser, in dem- selben Bewußtsein, können während einer noch so kleinen Zeit- strecke contradictorische Glaubensacte nicht andauern. Aber ist dies wirklich ein Gesetz? Dürfen wir es wirklich mit un- beschränkter Allgemeinheit aussprechen? Wo sind die psycho- logischen Inductionen, die zu seiner Annahme berechtigen? Sollte es nicht Menschen gegeben haben und noch geben, die gelegentlieh, z. B. durch Trugschlüsse verwirrt, Entgegengesetztes zu gleicher Zeit für wahr hielten? Hat man wissenschaftliche Forschungen darüber angestellt, ob dergleichen nicht unter den Irrsinnigen und vielleicht sogar bei nackten Widersprüchen vorkomme? Wie steht es mit den Zuständen der Hypnose, des Fieberdeliriums u. s. w.? Gilt das Gesetz auch für Thiere? Vielleicht begrenzt der Empirist, um diesen Einwänden zu entgehen, sein „Gesetz" durch passende Zusätze, z. B. daß es nur für normale und im Zustande normaler Denkverfassung befindliche Individuen der Species homo Geltung beanspruche. Aber es genügt die verfängliche Frage nach der genaueren Be- stimmung der Begriffe „normales Individuum" und „normale Denkverfassung" aufzuwerfen, und wir erkennen, wie complicirt und wie inexact der Inhalt des Gesetzes geworden ist, mit dem wir es nun zu thun haben. Es ist nicht nöthig diese Betrachtungen weiter fort- zusetzen (obschon z. B. das im Gesetz auftretende Zeitver- hältnis einigen Anhalt bieten würde): sie sind ja mehr als ausreichend, um die erstaunliche Consequenz zu begründen, daß unser wolvertrautes principium contradictionis , welches man allzeit für ein evidentes, absolut exactes und ausnahmslos giltiges Gesetz gehalten hatte, in Wahrheit das Muster eines grob ungenauen und unwissenschaftlichen Satzes ist, welcher erst nach mancherlei Correcturen, die seinen scheinbar exacten Gehalt in einen recht vagen umwandeln, zum Range einer plausiblen Vermuthung erhoben werden kann. So muß es sich freilich verhalten, wenn der Empirismus darin im Rechte ist, daß die Unverträglichkeit, von der das Princip spricht, als der logischen Grundsätze. 83 reale Incoexistenz von contradictorischen Urtheilsacten, also das Princip selbst als eine empirisch -psychologische Allgemeinheit zu deuten sei. Und der Empirismus Mill' scher Observanz denkt nicht einmal daran, jenen grob ungenauen Satz, der aus der psychologischen Deutung zunächst hervorgeht, wissenschaft- lich zu begrenzen und zu begründen; er nimmt ihn, so wie er sich giebt, so ungenau, wie es bei „einer der frühesten und nächstliegenden Verallgemeinerungen aus der Erfahrung", d. h. bei einer rohen Verallgemeinerung der vorwissenschaftlichen Empirie nur irgend zu erwarten ist. Gerade da, wo es sich um die letzten Fundamente aller Wissenschaft handelt, soll es bei dieser naiven Empirie mit ihrem blinden Associations- mechanismus sein Bewenden haben. Ueberzeugungen, die ohne alle Einsicht aus psychologischen Mechanismen erwachsen, die keine bessere Rechtfertigung haben als allverbreitete Vor- urtheile, die vermöge ihres Ursprungs einer haltbaren oder festen Begrenzung ermangeln, und die, wenn sie s. z. s. beim Wort genommen werden, nachweislich Falsches einschließen — sollen die letzten Gründe für die Rechtfertigung aller im strengsten Wortsinne wissenschaftlichen Erkenntnis darstellen. Doch dies haben wir hier nicht weiter zu verfolgen. Wichtig ist es aber, auf den Grundirrthum der gegnerischen Lehre mit der Frage zurückzugehen, ob denn jener empirische und wie immer zu formulirende Satz über Glaubensacte wirklich der Satz ist, von dem in der Logik Gebrauch gemacht wird. Er sagt: Unter gewissen subjectiven (leider nicht näher erforschten und complet angebbaren) Umständen X können in demselben Bewußtsein zwei als ja und nein entgegengesetzte Glaubensacte nicht zu- sammen bestehen. Ist das wirklich gemeint, wenn die Logiker sagen: „Zwei contradictorische Sätze sind nicht beide wahr?" Wir brauchen nur auf die Fälle hinzublicken, wo wir uns dieses Gesetzes zur Regelung der Urtheilsthätigkeiten bedienen, und wir erkennen, daß seine Meinung eine ganz andere ist. In seiner normativen Wendung besagt es offenbar dies und nichts Anderes: Welche Paare entgegengesetzter Glaubensacte heraus- 6* 84 Die psychologischen Interpretationen gegriffen werden mögen — ob nun demselben Individuum an- gehörig oder auf verschiedene vertheilt; ob in demselben Zeit- abschnitt coexistirend oder durch irgendwelche Zeitabschnitte getrennt — es gilt in absoluter Strenge und Ausnahmslosig- keit, daß die Glieder des jeweiligen Paares nicht beide richtig, d. i. wahrheitsgemäß sind. Ich denke man wird an der Giltigkeit dieser Norm selbst auf empiristischer Seite nicht zweifeln können. Jedenfalls hat es die Logik da, wo sie von den Denkgesetzen spricht, nur mit dem zweiten, logischen Gesetze zu thun und nicht mit jenem vagen, dem Inhalt nach total verschiedenen und bisher noch nicht einmal formulirteo „Gesetz" der Psychologie. Anhang zu den beiden letzten Paragraphen. Ueber einige principielle Gebrechen des Empirismus. Bei der innigen Verschwisterung zwischen Empirismus und Psycho- logismus dürfte eine kleine Abschweifung gerechtfertigt erscheinen, welche die Grundirrthümer des Empirismus bloßlegt. Der extreme Em- pirismus als eine Theorie der Erkenntnis ist nicht minder absurd als der extreme Skepticismus. Er hebt die Möglichkeit einer ver- nünftigen Rechtfertigung der mittelbaren Erkenntnis auf, und damit hebt er seine eigene Möglichkeit als einer wissen- schaftlich begründeten Theorie auf. l Er giebt zu, daß es mittelbare, aus Begründungszusammenhängen erwachsende Erkenntnisse giebt, er leugnet auch nicht Principien der Begründung. Er gesteht die Mög- lichkeit einer Logik nicht bloß zu, sondern er baut sie auch selbst auf. Beruht aber jede Begründung auf Principien, denen gemäß sie verläuft, und kann ihre höchste Rechtfertigung nur durch Recurs auf diese Principien vollzogen werden, dann führte es entweder auf einen Cirkel oder einen unendlichen Regreß, wenn die Begründungs- 1 Nach dem prägnanten Begriff von Skepticismus, den wir im Kap. VII S. 112 entwickeln, ist also der Empirismus als skeptische Theorie charakterisirt. Sehr treffend wendet Windelband auf ihn das KANT'sche Wort vom „hoffnungslosen Versuch" an — er sei nämlich der hoffnungslose Versuch „durch eine empirische Theorie dasjenige zu begründen, was selbst die Voraussetzung jeder Theorie bildet" (Präludien, S. 261). der logischen Grundsätze. 85 principien selbst immer wieder der Begründung bedürften. Das Erstere : wenn die Begründungsprincipien, die zur Rechtfertigung der Begrün- dungsprincipien gehören, identisch sind mit diesen selbst. Das Letztere: wenn die einen und die anderen immer wieder verschieden sind. Also ist es evident, daß die Forderung einer principiellen Recht- fertigung für jede mittelbare Erkenntnis nur dann einen möglichen Sinn haben kann, wenn wir fähig sind, gewisse letzte Principien ein- sichtig und unmittelbar zu erkennen, auf welchen alle Begründung im letzten Grunde beruht. Alle rechtfertigenden Principien möglicher Begründungen müssen sich sonach deductiv zurückführen lassen auf gewisse letzte, unmittelbar evidente Principien, und zwar so, daß die Principien dieser Deduction selbst sämmtlich unter diesen Principien vorkommen müssen. Der extreme Empirismus aber, indem er im Grunde nur den empirischen Einzelurtheilen volles Vertrauen schenkt (und ein gänzlich unkritisches, da er die Schwierigkeiten nicht beachtet, welche gerade diese Einzelurtheile in so reichem Maße betreffen), verzichtet eo ipso auf die Möglichkeit einer vernünftigen Rechtfertigung der mittelbaren Erkenntnis. Anstatt die letzten Principien, von denen die Rechtfertigung der mittelbaren Erkenntnis abhängt, als unmittelbare Einsichten und damit als gegebene Wahrheiten anzuerkennen, glaubt er ein Mehreres leisten zu können, wenn er sie aus Erfahrung und Induction ab- leitet, also mittelbar rechtfertigt. Fragt man nach den Principien dieser Ableitung, nach dem, was sie rechtfertigt, so antwortet der Empirismus, da ihm der Hinweis auf unmittelbar einsichtige allge- meine Principien verschlossen ist, vielmehr durch Hinweis auf die naive, unkritische Alltagserfahrung. Und für diese selbst glaubt er eine höhere Dignität gewinnen zu können, indem er sie in HüME^scher Art psychologisch erklärt. Er übersieht also, daß, wenn es keine einsichtige Rechtfertigung von mittelbaren Annahmen überhaupt giebt, also keine Rechtfertigung nach unmittelbar evidenten allgemeinen Principien, an denen die bezüglichen Begründungen fortlaufen, auch die ganze psychologische Theorie, die ganze auf mittelbarer Er- kenntnis beruhende Lehre des Empirismus selbst jeder vernünftigen Rechtfertigung entbehrte, daß sie also eine willkürliche Annahme wäre, nicht besser als das nächste Vorurtheil. Es ist sonderbar, daß der Empirismus einer Theorie, die mit solchen Widersinnigkeiten beschwert ist, mehr Vertrauen schenkt als 86 Die psychologischen Interpretationen den fundamentalen Trivialitäten der Logik und Arithmetik. Als echter Psychologismus zeigt er überall die Neigung, die psycho- logische Entstehung gewisser allgemeiner Urtheile aus der Erfahrung, wol vermöge dieser vermeintlichen „Natürlichkeit", mit einer Recht- fertigung derselben zu verwechseln. Es ist bemerkenswerth, daß die Partie nicht etwa besser steht für den gemäßigten Empirismus Hüme's, welcher die Sphäre der reinen Logik und Mathematik (bei allem auch sie verwirrenden Psychologismus) als a priori gerechtfertigte festzuhalten versucht und nur die Thatsachenwissenschaften empiristisch preisgiebt. Auch dieser erkenntnistheoretische Standpunkt erweist sich als unhaltbar, ja als widersinnig ; dies zeigt ein ähnlicher Einwand , wie der- jenige, welchen wir oben gegen den extremen Empirismus gerichtet haben. Mittelbare Thatsachenurtheile — so können wir den Sinn der HüME'schen Theorie kurz ausdrücken — lassen, und zwar ganz allgemein, keine vernünftige Rechtfertigung, sondern nur eine psychologische Erklärung zu. Man braucht bloß die Frage aufzuwerfen, wie es denn mit der vernünftigen Rechtfertigung der psychologischen Urtheile steht (über Gewohnheit, Ideenassociation u. dgl.), auf welche sich diese Theorie selbst stützt, und der That- sachenschlüsse , die sie selbst verwendet — und man erkennt den evidenten Widerstreit zwischen dem Sinn des Satzes, den die Theorie beweisen, und dem Sinn der Herleitungen, die sie dazu verwenden will. Die psychologischen Prämissen der Theorie sind selbst mittel- bare Thatsachenurtheile, ermangeln also im Sinne der zu beweisenden These jeder vernünftigen Rechtfertigung. Mit anderen Worten: die Richtigkeit der Theorie setzt die Unvernünftigkeit ihrer Prämissen, die Richtigkeit der Prämissen die Unvernünftigkeit der Theorie (bezw. These) voraus. (Auch Hüme's Lehre ist darnach in dem präg- nanten, im Kapitel VII zu definirenden Sinne eine skeptische.) § 27. Analoge Einwände gegen die übrigen psychologischen Interpretationen des logischen Princips. Aequivocationen als Quellen der Täuschung. Es ist leicht einzusehen, daß Einwände der Art, wie wir sie in den letzten Paragraphen erhoben haben, jedwede psychologische Mißdeutung der sog. Denkgesetze und aller der logischen Grundsätze. 87 Yon ihnen abhängigen Gesetze betreffen müssen. Es würde nichts helfen, wenn man unserer Forderung nach Begrenzung und Begründung mit der Berufung auf das „Selbstvertrauen •der Vernunft" oder auf die ihnen im logischen Denken an- haftende Evidenz ausweichen wollte. Die Einsichtigkeit der logischen Gesetze steht fest. Aber so wie man ihren Ge- dankengehalt als einen psychologischen versteht, hat man ihren originären Sinn, an den die Einsichtigkeit geknüpft war, total geändert. Aus exacten Gesetzen sind, wie wir sahen, empirisch vage Allgemeinheiten geworden, die, bei gehöriger Beachtung ihrer Unbestimmtheitssphäre, Giltigkeit haben mögen, aber von aller Evidenz weit entfernt sind. Dem natürlichen Zuge ihres Denkens folgend, aber ohne sich dessen klar bewußt zu sein, verstehen zweifellos auch die psychologischen Erkenntnistheore- tiker alle die hiehergehörigen Gesetze zunächst — nämlich bevor ihre philosophische Interpretationskunst zu spielen be- ginnt — in dem objectiven Sinne. Dann aber verfallen sie in den Irrthum, die auf diesen eigentlichen Sinn bezogene Evidenz, welche ihnen die absolute Giltigkeit der Gesetze verbürgte, auch für jene wesentlich geänderten Deutungen in Anspruch zu nehmen, die sie bei nachträglicher Eeflexion den Gesetzes- formeln glauben unterlegen zu dürfen. Hat in aller Welt die Eede von der Einsicht, in der wir der Wahrheit selbst inne werden, irgendwo Berechtigung, so gewiß bei dem Satze, daß von zwei contradictorischen Sätzen nicht beide wahr sind; und wieder: müssen wir dieser Rede die Berechtigung irgendwo versagen, so gewiß bei jeder psychologisirenden Umdeutung des- selben Satzes (oder seiner Aequivalente), z. B. „daß Bejahung und Verneinung im Denken sich ausschließen", daß „gleich- zeitig in Einem Bewußtsein als widersprechend erkannte Ur- theile nebeneinander nicht bestehen können", 1 daß an einen 1 Fassungen von Heymans (vgl. die Gesetze und Elemente des wissen- schaftlichen Denkens I. § 19 u. f.). Verwandt mit der zweiten Fassung ist diejenige Sigwaät's, Logik I. 2 S. 419, „daß es unmöglich ist, mit Bewußt- sein denselben Satz zugleich zu bejahen und zu verneinen". 88 Die psychologischen Interpretationen expliciten Widerspruch zu glauben für uns unmöglich sei, 1 daß Niemand annehmen könne, es sei etwas und sei zugleich nicht, und dergleichen. Verweilen wir, um keine Unklarheit übrig zu lassen, bei der Erwägung dieser schillernden Fassungen. Bei näherer Be- trachtung merkt man sogleich den beirrenden Einfluß mit- spielender Aequivocationen, in Folge deren das echte Gesetz oder irgend welche ihm äquivalente normative Wendungen mit psychologischen Behauptungen verwechselt wurden. So bei der ersten Fassung. Im Denken schließen sich Bejahung und Ver- neinung aus. Der Terminus Denken, der in weiterem Sinne alle intellectiven Bethätigungen befaßt, wird im Sprachgebrauch vieler Logiker mit Vorliebe in Beziehung auf das vernünftige, „logische" Denken, also in Beziehung auf das richtige Urtheilen gebraucht. Daß sich im richtigen Urtheilen Ja und Nein aus- schließen, ist evident, aber damit ist auch ein mit dem logischen Gesetz äquivalenter, nichts weniger als psychologischer Satz aus- gesprochen. Er besagt, daß kein Urtheilen ein richtiges wäre, in welchem derselbe Sachverhalt zugleich bejaht und verneint würde; aber mit Nichten sagt er irgend etwas darüber, ob — gleichgiltig ob in Einem Bewußtsein oder in mehreren — contradictorische Urtheilsacte realiter coexistiren können oder nicht. 2 Zugleich ist so die zweite Formulirung (daß gleichzeitig in Einem Bewußtsein als widersprechend erkannte Urtheile neben- einander nicht bestehen können) ausgeschlossen, es sei denn, daß man das „Bewußtsein" als „Bewußtsein überhaupt", als überzeitliches Normalbewußtsein interpretirt. Natürlich kann aber ein primitives logisches Princip nicht den Begriff des 1 Vgl. den Schluß des Citats aus Mill's Schrift gegen Hamilton oben S. 81 (Text). Ebenso heißt es a. a. 0. S. 484 unten: „two assertions, one of which denies wkat tke other affirms, cannot he thought together", wo das „thought" gleich darauf als „believed" interpretirt wird. 2 Auch Höfler und Meinong unterläuft das Versehen, dem logischen Princip den Gedanken der Incoexistenz zu unterschieben. (Logik 1890. S. 133.) der logischen Grundsätze. 89 Normalen voraussetzen, der ohne Rückbeziehung auf dieses Princip garnicht zu fassen wäre. Uebrigens ist es klar, daß der so verstandene Satz, wofern man sich jeder metaphysischen Hypostasirung enthält, eine äquivalente Umschreibung des lo- gischen Princips darstellt und mit aller Psychologie nichts zu thun hat. Eine ähnliche Aequivocation wie in der ersten spielt in der dritten und vierten Formulirung. Niemand kann an einen Widerspruch glauben, Niemand kann annehmen, daß dasselbe sei und nicht sei — Niemand Vernünftiger, wie selbstverständ- lich ergänzt werden muß. Für jeden, der richtig urtheilen will, und für Niemand sonst besteht diese Unmöglichkeit. Sie drückt also keinen psychologischen Zwang aus, sondern die Einsicht, daß entgegengesetzte Sachverhalte nicht zusammen wahr sind, und daß somit, wer den Anspruch erhebt, richtig zu urtheilen, das heißt das Wahre als wahr, das Falsche als falsch gelten zu lassen, so urtheilen muß, wie dieses Gesetz es vorschreibt. Im factischen Urtheilen mag es anders kommen; kein psycho- logisches Gesetz zwingt den Urtheilenden unter das Joch der logischen Gesetze. Wieder haben wir es also mit einer äqui- valenten Wendung des logischen Gesetzes zu thun, der nichts ferner liegt als der Gedanke an eine psychologische, also cau- sale Gesetzlichkeit der Urtheilsphänomene. Eben dieser Ge- danke macht andererseits aber den wesentlichen Gehalt der psychologischen Deutung aus. Sie resultirt, wenn das Nicht- können eben als Incoexistenz der Urtheilsacte anstatt als Incompatibilität der entsprechenden Sätze (als ihr gesetzliches Nichtzusammenwahrsein) gefaßt wird. Der Satz : kein „Vernünftiger" oder auch nur „Zurechnungs- fähiger" kann an einen Widerspruch glauben, läßt noch eine andere Interpretation zu. Wir nennen den einen Vernünftigen, dem wir die habituelle Disposition zutrauen, „bei normaler Denkverfassung" „in seinem Kreise" richtig zu urtheilen. Wer die habituelle Befähigung besitzt, in normaler Denkverfassung zum Mindesten das „Selbstverständliche", „auf der Hand 90 Die psychologischen Interpretationen Liegende" nicht zu verfehlen, gilt uns in dem hier fraglichen Sinne als „zurechnungsfähig". Natürlich zählen wir die Ver- meidung expliciter Widersprüche in den — übrigens recht vagen — Bereich dieses Selbstverständlichen. Ist diese Sub- sumption vollzogen, so ist der Satz: kein Zurechnungsfähiger (oder gar Vernünftiger) kann Widersprüche für wahr halten, nichts mehr als eine triviale Uebertragung des Allgemeinen auf den Einzelfall. Natürlich würden wir Niemanden zu- rechnungsfähig nennen, der sich anders verhielte. Von einem psychologischen Gesetz ist also wiederum keine Rede. Doch wir sind mit den möglichen Interpretationen nicht zu Ende. Eine arge Zweideutigkeit des Wortes Unmöglichkeit, nach der es nicht bloß die objectiv gesetzliche Unverein- barkeit, sondern auch ein subjectives Unvermögen, Ver- einigung zu Stande zu bringen, bedeuten kann, trägt nicht wenig zur Begünstigung psychologistischer Tendenzen bei. Daß Wider- sprüche zusammen bestehen, kann ich nicht glauben — ich mag mich noch so sehr bemühen, der Versuch scheitert an dem gefühlten und unüberwindlichen Widerstand. Dieses Nichtglauben- können, so möchte man argumentiren, ist ein evidentes Erleb- nis, ich sehe also ein, daß der Glaube an Widersprechendes für mich, also auch für jedes Wesen, das ich mir analog denken muß, eine Unmöglichkeit ist; ich habe damit eine evidente Einsicht in eine psychologische Gesetzlichkeit, die eben im Satze vom Widerspruch ausgedrückt ist. Wir antworten, nur auf den neuen Irrthum der Argumen- tation Rücksicht nehmend, folgendes: Erfahrungsmäßig miß- lingt, wo wir uns urtheilend entschieden haben, jedweder Ver- such, die Ueberzeugung, von der wir eben erfüllt sind, aufzu- geben und den gegenteiligen Sachverhalt anzunehmen; es sei denn, daß neue Denkmotive auftauchen, nachträgliche Zweifel, ältere und mit der gegenwärtigen unverträgliche Ueberzeugungen, oft nur ein dunkles „Gefühl"' feindlich aufstrebender Gedanken- massen. Der vergebliche Versuch, der gefühlte Widerstand u. dgl., das sind individuelle Erlebnisse, beschränkt auf Person der logischen Grundsätze. 91 und Zeit, gebunden an gewisse, exact garnicht bestimmbare Umstände. Wie sollten sie also Evidenz begründen für ein all- gemeines, Person und Zeit transcendirendes Gesetz? Man verwechsle nicht die assertorische Evidenz für das Dasein des einzelnen Erlebnisses mit der apodictischen Evidenz für den Bestand eines allgemeinen Gesetzes. Kann die Evidenz für das Dasein jenes als Unfähigkeit gedeuteten Gefühls uns die Ein- sicht gewähren, daß, was wir soeben factisch nicht zu Stande bringen, uns auch für immer und gesetzlich versagt sei? Man beachte die Unbestimmbarkeit der wesentlich mitspielenden Umstände. Thatsächlich irren wir in dieser Hinsicht oft genug, obschon wir uns, von einem Sachverhalt A fest überzeugt, so leicht zu dem Ausspruch versteigen: Es ist undenkbar, daß Jemand non-A urtheile. In gleichem Sinne können wir nun auch sagen: Es ist undenkbar, daß Jemand den Satz des Wider- spruches — von dem wir ja die festeste Ueberzeugung haben — nicht annehme; und wieder: Niemand bringt es fertig, zwei contradictorische Sachverhalte zugleich für wahr zu halten. Es mag sein, daß hierfür ein aus vielfältiger Erprobung an Beispielen erwachsenes und eventuell recht lebhaftes Erfahrungs- urtheil spricht; aber die Evidenz, daß es sich allgemein und nothwendig so verhalte, besitzen wir nicht. Die wahre Sachlage können wir so beschreiben: Apooüc- iische Evidenz, d. i. die Einsicht im prägnanten Sinne des Wortes, haben wir bezüglich des Nichtzusammenwahrseins «contradictorischer Sätze. Das Gesetz dieser Unverträglichkeit ist das echte Princip vom Widerspruche. Die apodictische Evidenz erstreckt sich dann auch auf eine psychologische Nutz- anwendung; wir haben auch die Einsicht, daß zwei Urtheile von contradictorischem Gehalt nicht in der Weise coexistiren können, daß sie beide nur urtheilsmäßig fassen, was in fun- «direnden Anschauungen wirklich gegeben ist. Allgemeiner haben wir die Einsicht, daß nicht bloß assertorisch, sondern auch apodictisch evidente Urtheile von contradictorischem Gehalt — weder in Einem Bewußtsein noch auf verschiedene Bewußtseine 92 Die psychologischen Interpretationen vertheilt — coexistiren können. Mit alledem ist ja nur gesagt, daß Sachverhalte, die als contradictorische objectiv unverträg- lich sind, factisch auch von Niemandem in dem Kreise seiner Anschauung und seiner Einsicht als coexistirend vorgefunden werden können — was keineswegs ausschließt, daß sie für co- existirend gehalten werden. Dagegen fehlt uns apodictische Evidenz in Beziehung auf contradictorische Urtheile überhaupt; nur besitzen wir innerhalb practisch bekannter und für prac- tische Zwecke genügend begrenzter Klassen von Fällen ein er- fahrungsmäßiges Wissen, daß sich in diesen Fällen contra- dictorische Urtheilsacte thatsächlich ausschließen. § 28. Die vermeintliche Doppelseitigkeit des Princips vom Wider- spruch, wonach es zugleich als Naturgesetz des Denkens und als Normalgesetz seiner logischen Regelung zu fassen sei. In unserer psychologisch interessirten Zeit haben sich nur wenige Logiker von den psychologischen Mißdeutungen der logischen Principien ganz frei zu halten gewußt; darunter auch solche nicht, die selbst gegen eine psychologische Fundirung der Logik Partei ergriffen haben, oder die aus anderen Gründen den Vorwurf des Psychologismus empfindlich ablehnen würden. Bedenkt man, daß, was nicht psychologisch ist, auch nicht psychologischer Aufklärung zugänglich ist, daß also jeder noch so wolgem einte Versuch, durch psychologische Forschungen auf das Wesen der „Denkgesetze" ein Licht zu werfen, deren psychologische Umdeutung voraussetzt, so wird man alle deutschen Logiker der von Sigwart angebahnten Richtung hieher zählen müssen , mögen sie auch der ausdrücklichen Formulirung oder Kennzeichnung dieser Gesetze als psycho- logischer fern geblieben sein und sie wie immer den sonstigen Gesetzen der Psychologie gegenübergestellt haben. Findet man die gedanklichen Verschiebungen nicht in den gewählten Ge- setzesformeln ausgeprägt, dann um so sicherer in den be- gleitenden Erläuterungen oder in dem Zusammenhang der je- weiligen Darstellungen. der logischen Grundsätze. 93 Besonders bemerkenswert]! erscheinen uns die Versuche, dem Satze vom Widerspruch eine Doppelstellung zu verschaffen, der zufolge er einerseits als Naturgesetz eine bestimmende Macht unseres thatsächlichen Urtheilens, andererseits als Norm algesetz das Fundament aller logischen Regeln bilden soll. In besonders ansprechender Weise vertritt diese Auf- assung F. A. Lange in den „Logischen Studien", einer geist- vollen Schrift, die im Uebrigen ein Beitrag nicht zur Förderung einer psychologistischen Logik im Style Mili/s, sondern „zur Neubegründung der formalen Logik" sein will. Freilich, wenn man sich diese Neubegründung näher ansieht und liest, daß die Wahrheiten der Logik sich wie die der Mathematik aus der Raumanschauung ableiten, 1 daß die einfachen Grund- lagen dieser Wissenschaften, „da sie die strenge Richtigkeit aller Erkenntnis überhaupt verbürgen", „die Grundlagen unserer intellectuellen Organisation sind", und daß also „die Gesetz- mäßigkeit, die wir an ihnen bewundern, aus uns selbst stammt . . . aus der unbewußten Grundlage unserer selbst" 2 — so wird man kaum umhin können, die LANGE'sche Stellung wieder als einen Psychologismus zu klassificiren, nur von einem anderen Genus, unter welches auch Kant's formaler Idealismus — im Sinne der vorherrschenden Interpretation desselben — und die sonstigen Species der Lehre von den angeborenen Er- kenntnisvermögen oder „Erkenntnisquellen" gehören. 3 1 F. A. Lange, Logische Studien, ein Beitrag zur Neubegründung der formalen Logik und Erkenntnistheorie, 1877, S. 130. 2 A. a. 0. S. 148. 3 Daß Kant's Erkenntnistheorie Seiten hat, die über diesen Psycho- logismus der Seelenvermögen als Erkenntnisquellen hinausstreben und in der That auch hinausreichen, ist allbekannt. Hier genügt es, daß sie auch stark hervortretende Seiten hat, die in den Psychologismus hinein- reichen, was lebhafte Polemik gegen andere Formen psychologistischer Erkenntnisbegründung natürlich nicht ausschließt. Uebrigens gehört nicht bloß Lange, sondern ein guter Theil der Neukantianer in die Sphäre psychologistischer Erkenntnistheorie, wie wenig sie es auch Wort haben wollen. Transcendentalpsychologie ist eben auch Psychologie. 94 Die psychologischen Interpretationen Lange's hiehergehörige Ausführungen lauten: „Der Satz des Widerspruchs ist der Punkt, in welchem sich die Naturgesetz© des Denkens mit den Normalgesetzen berühren. Jene psycho- logischen Bedingungen unserer Vorstellungsbildung, welche durch ihre unabänderliche Thätigkeit im natürlichen, von keiner Regel ge- leiteten Denken sowol Wahrheit als Irrthum in ewig sprudelnder Fülle hervorbringen, werden ergänzt, beschränkt und in ihrer Wirkung zu einem bestimmten Ziele geleitet durch die Thatsache, daß wir Entgegengesetztes in unserem Denken nicht vereinigen können, sobald es gleichsam zur Deckung gebracht wird. Der menschliche Geist nimmt die größten Widersprüche in sich auf, solange er das Ent- gegengesetzte in verschiedene Gedankenkreise einhegen und so aus- einanderhalten kann; allein wenn dieselbe Aussage sich unmittelbar mit ihrem Gegentheil auf denselben Gegenstand bezieht, so hört diese Fähigkeit der Vereinigung auf; es entsteht völlige Unsicherheit, oder eine der beiden Behauptungen muß weichen. Psychologisch kann freilich diese Vernichtung des Widersprechenden vorübergehend sein, insofern die unmittelbare Deckung der Widersprüche vorüber- gehend ist. Was in verschiedenen Denkgebieten tief eingewurzelt ist, kann nicht so ohne weiteres zerstört werden, wenn man durch bloße Folgerungen zeigt, daß es widersprechend ist. Auf dem Punkte freilich, wo man die Consequenzen des einen und des anderen Satzes unmittelbar zur Deckung bringt, bleibt die Wirkung nicht aus, allein sie schlägt nicht immer durch die ganze Reihe der Folgerungen hindurch bis in den Sitz der ursprünglichen Widersprüche. Zweifel an der Bündigkeit der Schlußreihe, an der Identität des Gegenstandes der Folgerung schützen den Irrthum häufig; aber auch wenn er für den Augenblick zerstört wird, bildet er sich aus dem gewohnten Kreise der Vorstellungsverbindungen wieder neu und behauptet sich, wenn er nicht endlich durch wiederholte Schläge zum Weichen ge- bracht wird. Trotz dieser Zähigkeit des Irrthums muß gleichwol das psycho- logische Gesetz der Unvereinbarkeit unmittelbarer Widersprüche im Denken mit der Zeit eine große Wirkung ausüben. Es ist die scharfe Schneide, mittels welcher im Fortgang der Erfahrung all- mählich die unhaltbaren Vorstellungsverbindungen vernichtet werden, während die besser haltbaren fortdauern. Es ist das vernichtende Princip im natürlichen Fortschritt des menschlichen Denkens, welches, der logischen Grundsätze. 95 gleich dem Fortschritt der Organismen, darauf beruht, daß immer neue Verbindungen von Vorstellungen erzeugt werden, von denen beständig die große Masse wieder vernichtet wird, während die besseren überleben und weiter wirken. Dieses psychologische Gesetz des Widerspruches ... ist un- mittelbar durch unsere Organisation gegeben und wirkt vor aller Erfahrung als Bedingung aller Erfahrung. Seine Wirksamkeit ist eine objective, und es braucht nicht erst zum Bewußtsein gebracht zu werden, um thätig zu sein. Sollen wir nun aber dasselbe Gesetz als Grundlage der Logik auffassen, sollen wir es als Normalgesetz alles Denkens anerkennen, wie es als Naturgesetz auch ohne unsere Anerkennung wirksam ist, dann allerdings bedürfen wir hier so gut, wie bei allen anderen Axiomen der typischen Anschauung, um uns zu überzeugen." 1 „Was ist hier das Wesentliche für die Logik, wenn wir alle psychologischen Zuthaten weglassen? Nichts als die Thatsache der beständigen Aufhebung des Widersprechenden. Es ist auf dem Boden der Anschauung im Schema ein bloßer Pleonasmus, wenn man sagt, daß der Widerspruch nicht bestehen kann; als ob hinter dem Grunde des Noth wendigen noch einmal eine , Notwendigkeit steckte. Die Thatsache ist, daß er nicht besteht, daß jedes Urtheil, welches die Grenze des Begriffs überschreitet, sofort durch ein entgegengesetztes und fester begründetes Urtheil aufgehoben wird. Diese thatsächliche Aufhebung ist aber für die Logik der letzte Grund aller Regeln. Psychologisch betrachtet kann man sie auch wieder als nothwendig bezeichnen, indem man sie als einen Specialfall eines allgemeineren Naturgesetzes ansieht; damit hat aber die Logik nichts zu schaffen, welche vielmehr hier mit sammt ihrem Grundgesetze des Wider- spruchs erst ihren Ursprung nimmt." 2 Diese Lehren F. A. Lange's haben insbesondere auf Kkoman 3 und Heymans 4 sichtliche Wirkungen geübt. Dem Letzteren ver- danken wir einen systematischen Versuch, die Erkenntnistheorie mit 1 A. a. 0. S. 27 f. 2 A. a. 0. S. 49. 3 K. Kroman, Unsere Naturerkenntnis, übers, von Fischer -Benzon. Kopenhagen 1883. 4 G. Heymans, Die Gesetze und Elemente des wissenschaftlichen Denkens, 2 Bde., Leipzig 1890 und 1894. 96 Die psychologischen Interpretationen möglichster Consequenz auf psychologischer Basis aufzuführen. Als ein nahezu reinliches Gedankenexperiment muß es uns besonders will- kommen sein, und wir werden bald Gelegenheit finden, darauf nähere Rücksicht zu nehmen. — Aehnliche Auffassungen finden wir auch von Liebmann 1 ausgesprochen und zu unserer Ueberraschung in- mitten einer Betrachtung, welche, durchaus zutreffend, der logischen Notwendigkeit „absolute Giltigkeit für jedes vernünftig denkende Wesen 4 ' beimißt, „gleichviel ob dessen sonstige Constitution mit der unsrigen zusammenstimme oder nicht". Was wir gegen diese Lehren einzuwenden haben, ist nach dem Obigen klar. Wir leugnen nicht die psycho- logischen Thatsachen, von denen in Lange's so eindring- licher Darstellung die Rede ist; aber wir vermissen alles, was es rechtfertigen könnte, hier von einem Naturgesetz zu sprechen. Vergleicht man die verschiedenen gelegentlichen Formulirungen des vermeintlichen Gesetzes mit den Thatsachen, so erweisen sie sich als sehr nachlässige Ausdrücke derselben. Hätte Lange den Versuch einer begrifflich genauen Beschreibung und Umgrenzung der uns % wolvertrauten Erfahrungen unter- nommen, so hätte ihm nicht entgehen können, daß sie keines- wegs als Einzelfälle eines Gesetzes in dem exacten Sinne gelten können, der bei den logischen Principien in Frage kommt. In der That reducirt sich, was man uns als „Natur- gesetz vom Widerspruch" darbietet, auf eine rohe empirische Allgemeinheit, die als solche mit einer des Genaueren über- haupt nicht fixirbaren Unbestimmtheitssphäre behaftet ist. Es bezieht sich überdies nur auf die normalen psychischen In- dividuen; denn wie sich psychisch Abnorme verhalten, darüber kann die hier allein zu Rathe gezogene Alltagserfahrung des Normalen nichts aussagen. Kurz, wir vermissen die streng wissenschaftliche Haltung, die bei aller Benützung vorwissen- schaftlicher Erfahrungsurtheile zu wissenschaftlichen Zwecken unbedingt geboten ist. Wir erheben den entschiedensten Ein- spruch gegen die Vermengung jener vagen empirischen All- 1 0. Liebmann, Gedanken und Thatsachen, 1. Heft (1882) S. 25—27. der logischen Grundsätze. 97 gemeinheit mit dem absolut exacten und rein begrifflichen Gesetze, das allein in der Logik seine Stelle hat; wir halten es geradezu für widersinnig, das eine mit dem anderen zu identificiren oder aus dem einen das andere herzuleiten, oder auch beide zu dem vermeintlich zweiseitigen Gesetz vom Widerspruch zusammenzuschweißen. Nur die Unachtsam- keit auf den schlichten Bedeutungsgehalt des logischen Ge- setzes ließ es übersehen, daß dieses zur thatsächlichen Auf- hebung des Widersprechenden im Denken weder direct noch indirect die mindeste Beziehung hat. Diese thatsächliche Aufhebung betrifft offenbar nur die Urtheilserlebnisse eines und desselben Individuums in einem und demselben Zeitpunkt und Act; es betrifft nicht Bejahung und Verneinung vertheilt auf verschiedene Individuen oder auf verschiedene Zeiten und Acte. Für das Thatsächliche, das hier in Frage ist, kommen der- gleichen Unterscheidungen wesentlich in Betracht, das logische Gesetz wird durch sie überhaupt nicht berührt. Es spricht eben nicht von dem Kampfe contradictorischer Urtheile, dieser zeitlichen real so und so bestimmten Acte, sondern von der gesetzlichen Unverträglichkeit unzeitlicher, idealer Einheiten, die wir contradictorische Sätze nennen. Die Wahrheit, daß in einem Paar solcher Sätze nicht beide wahr sind, enthält nicht den Schatten einer empirischen Behauptung über irgend ein Bewußtsein und seine Urtheilsacte. Ich denke, man muß sich dies nur einmal ernstlich klar gemacht haben, um die Untriftigkeit der kritisirten Auffassung einzusehen. § 29. Fortsetzung. Sigwabts Lehre. Auf Seite der hier bestrittenen Lehre vom doppelten Cha- rakter der logischen Grundsätze finden wir schon vor Lange hervorragende Denker, nach einer gelegentlichen Bemerkung selbst Bekgmann, der sonst wenig Neigung zeigt, dem Psycho- logismus Concessionen zu machen; 1 vor Allem aber Sigwakt, 1 Bergmann, Reine Logik S. 20 (Schlußworte des § 2). Husskrl, Log. Unters. I. < 98 Die psychologischen Interpretationen dessen weitreichender Einfluß auf die neuere Logik die ge- nauere Erwägung seiner bezüglichen Ausführungen rechtfertigt. „In keinem anderen Sinne," meint dieser bedeutende Logiker, „tritt das Princip des Widerspruchs ... als Normalgesetz auf, als in welchem es ein Naturgesetz war und einfach die Bedeu- tung der Verneinung feststellte; aber während es als Natur- gesetz nur sagt, daß es unmöglich ist, mit Bewußtsein in irgend einem Moment zu sagen, A ist b und A ist nicht b, wird es jetzt als Normalgesetz auf den gesammten Umkreis constanter Begriffe angewendet, über welchen sich die Einheit des Be- wußtseins überhaupt erstreckt; unter dieser Voraussetzung be- gründet es das gewöhnlich sogenannte Principium Contra- dictionis, das jetzt aber kein Seitenstück zum Princip der Identität (im Sinne der Formel A ist Ä) bildet, sondern dieses, d. h. die absolute Constanz der Begriffe selbst wieder als er- füllt voraussetzt." 1 Ebenso heißt es in paralleler Ausführung in Beziehung auf den (als Princip der Uebereinstimmung interpretirten) Satz der Identität: „Der Unterschied, ob das Princip der Ueberein- stimmung als Naturgesetz oder Normalgesetz betrachtet wird, liegt . . . nicht in seiner eigenen Natur, sondern in den Vor- aussetzungen, auf die es angewendet wird; im ersten Fall wird es angewendet auf das eben dem Bewußtsein Gegen- wärtige; im zweiten auf den idealen Zustand einer durch- gängigen unveränderlichen Gegenwart des gesammten geordneten Vorstellungsinhalts für Ein Bewußtsein, der empirisch niemals vollständig erfüllt sein kann." 2 Nun unsere Bedenken. Wie kann ein Satz, der (als Satz vom Widerspruch) „die Bedeutung der Verneinung feststellt", den Charakter eines Naturgesetzes haben? Natürlich meint Sigwabt nicht, daß der Satz in der Weise einer Nominal- definition den Sinn des Wortes Verneinung angiebt. Nur daß 1 Sigwart, Logik 1. 2 S. 385 (§ 45, 5). 2 A. a. 0. I. 2 S.383 (§ 45,2). der logischen Grundsätze. 99 er im Sinne der Verneinung gründet, was zur Bedeutung des Begriffes Verneinung gehört, auseinanderlegt, mit anderen Worten, nur daß durch ein Aufgeben des Satzes auch die Be- deutung des Wortes Verneinung aufgegeben wäre, kann Sig- wart im Auge haben. Eben dies kann aber nimmermehr den Gedankengehalt eines Naturgesetzes ausmachen, zumal auch nicht desjenigen, das Sigwart in den anschließenden Worten so formulirt, es sei unmöglich mit Bewußtsein in irgend einem Moment zu sagen, A ist b und A ist nicht b. Sätze, die in Be- griffen gründen (und auch nicht das, was in Begriffen gründet, auf Thatsachen bloß übertragen) können nichts darüber aussagen, was wir mit Bewußtsein in irgend einem Moment thun oder nicht thun können; sind sie, wie Sigwart an anderen Stellen lehrt, überzeitlich, so können sie keinen wesentlichen Inhalt haben, der Zeitliches, also Thatsächliches betrifft. Jedes Hinein- ziehen von Thatsachen in Sätze dieser Art hebt ihren eigent- lichen Sinn unvermeidlich auf. Demgemäß ist es klar, daß jenes Naturgesetz, das von Zeitlichem, und das Normalgesetz (das echte Princip vom Widerspruch), das von Unzeitlichem spricht, durchaus heterogen sind, und daß es sich also nicht um Ein Gesetz handeln kann, das in demselben Sinne n^* in verschiedener Function oder Anwendungssphäre auf- tritt. Uebrigens müßte doch, wenn die Gegenansicht richtig wäre, eine allgemeine Formel angebbar sein, welche jenes Gesetz über Thatsachen und dieses Gesetz über ideale Objecte gleichmäßig befaßte. Wer hier Ein Gesetz lehrt, muß über Eine begrifflich bestimmte Fassung verfügen. Begreiflicher Weise ist aber die Frage nach dieser einheitlichen Fassung eine vergebliche. Wiederum habe ich folgendes Bedenken. Das Normal- gesetz soll die absolute Constanz der Begriffe als erfüllt voraus- setzen? Dann würde das Gesetz also nur Gel tung unter der Voraussetzung haben, daß die Ausdrücke allzeit in iden- tischer Bedeutung gebraucht werden, und wo diese Voraus- setzung nicht erfüllt ist, verlöre es auch seine Geltung. Dies kann nicht die ernstliche Ueberzeugung des ausgezeichneten 100 Die psychologischen Interpretationen Logikers sein. Natürlich setzt die empirische Anwendung des Gesetzes voraus, daß die Begriffe, bezw. Sätze, welche als Bedeutungen unserer Ausdrücke fungiren, wirklich dieselben sind, so wie der ideale Umfang des Gesetzes auf alle möglichen Sätzepaare entgegengesetzter Qualität, aber identischer Ma- terie geht. Aber natürlich ist dies keine Voraussetzung der Geltung, als ob diese eine hypothetische wäre, sondern die Voraussetzung möglicher Anwendung auf vorgegebene Einzel- fälle. So wie es die Voraussetzung der Anwendung eines Zahlengesetzes ist, daß uns gegebenen Falls eben Zahlen vor- liegen, und zwar Zahlen von solcher Bestimmtheit, wie es sie ausdrücklich bezeichnet, so ist es Voraussetzung des logischen Gesetzes, daß uns Sätze vorliegen, und zwar verlangt es aus- drücklich Sätze identischer Materie. Auch die Beziehung auf ein ideales Bewußtsein überhaupt 1 kann ich nicht recht förderlich finden. In einem idealen Denken würden alle Begriffe (genauer alle Ausdrücke) in ab- solut identischer Bedeutung gebraucht sein, es gäbe keine fließenden Bedeutungen, keine Aequivocationen und Quatter- nionen. Aber in sich haben die logischen Gesetze keine Wesentliche Beziehung auf dieses Ideal, das wir uns um ihret- willen vielmehr erst bilden. Der beständige Recurs auf das Idealbewußtsein erregt das unbehagliche Gefühl, als ob die logischen Gesetze in Strenge eigentlich nur für diese fictiven Idealfälle Geltung besäßen, statt für die empirisch vorkommen- den Einzelfälle. In welchem Sinne rein logische Sätze iden- tische Begriffe „voraussetzen", haben wir eben erörtert. Sind begriffliche Vorstellungen fließend, d. h. ändert sich bei Wieder- kehr , desselben' Ausdrucks ,der' begriffliche Gehalt der Vor- stellung, so haben wir im logischen Sinn nicht mehr denselben, sondern einen zweiten Begriff, und so bei jeder weiteren Aende- rung einen neuen. Aber jeder einzelne für sich ist eine über- empirische Einheit und fällt unter die auf seine jeweilige Form 1 Vgl. auch a. a. 0. I. 2 S. 419 (§ 48, 4). der logischen Grundsätze. 101 bezüglichen logischen Wahrheiten. So wie der Fluß der em- pirischen Farbeninhalte und die Unvollkommenheit der quali- tativen Identificirung nicht die Unterschiede der Farben als Qualitäten speci es tangirt, so wie die Eine Species ein ideal Identisches ist gegenüber der Mannigfaltigkeit möglicher Einzel- fälle (die selbst nicht Farben sind, sondern eben Fälle Einer Farbe), so gilt dasselbe von den identischen Bedeutungen oder Begriffen in Beziehung auf die begrifflichen Vorstellungen, deren ^Inhalte' sie sind. Die Fähigkeit, ideirend im Einzelnen das Allgemeine, in der empirischen Vorstellung den Begriff zu er- fassen und uns im wiederholten Vorstellen der Identität der begrifflichen Intention zu versichern, ist die Voraussetzung für die Möglichkeit der Erkenntnis, des Denkens. Und wie wir Ein Begriffliches im Acte der Ideation erfassen — als die Eine Species, deren Einheit gegenüber der Mannigfaltigkeit thatsächlicher oder als thatsächlich vorgestellter Einzelfälle wir einsichtig zu vertreten vermögen — so können wir auch die Evidenz der logischen Gesetze gewinnen, welche sich auf diese, bald so oder so geformten Begriffe beziehen. Zu den ,Begriffen< in diesem Sinne von idealen Einheiten, gehören nun auch die ,Sätze', von denen das Principium Contradictionis spricht, und so überhaupt die Bedeutungen der Buchstabenzeichen, die in den formelhaften Ausdrücken der logischen Sätze benutzt werden. Wo immer wir Acte begrifflichen Vorstellens vollziehen, da haben wir auch Begriffe; die Vorstellungen haben ihre In- halte', ihre idealen Bedeutungen, deren wir uns abstractiv, in ideirender Abstraction bemächtigen können; und damit haben wir auch überall die Möglichkeit der Anwendung der logischen Gesetze gegeben. Die Geltung dieser Gesetze ist aber schlecht- hin unbegrenzt, sie hängt nicht davon ab, ob wir und wer immer begriffliche Vorstellungen factisch zu vollziehen und sie mit dem Bewußtsein identischer Intention festzuhalten, bezw. zu wiederholen vermag. 102 Die Syllogistik in psychologistischer Beleuchtung. Sechstes Kapitel. Die Syllogistik in psychologistischer Beleuchtung. Schlußformeln und chemische Formeln. § 30. Versuche zur psychologischen Interpretation der syllo- gistischen Sätze, Wir haben in den Ausführungen des letzten Kapitels vor- zugsweise den Satz des Widerspruchs zu Grunde gelegt, weil gerade bei diesem, wie bei den Grundsätzen überhaupt, die Versuchung zur psychologistischen Auffassung sehr groß ist. Die Gedankenmotive, die zu ihr hindrängen, haben in der That einen starken Anstrich von Selbstverständlichkeit. Ueber- dies läßt man sich auf die specielle Durchführung der empiristischen Doctrin bei den' Schlußgesetzen seltener ein; vermöge ihrer Reductibilität auf die Grundsätze glaubt man bei ihnen jeder weiteren Bemühung enthoben zu sein. Sind diese Axiome psychologische Gesetze, und sind die syllo- gistischen Gesetze rein deductive Consequenzen der Axiome, dann müssen auch die syllogistischen Gesetze als psychologische gelten. Man sollte nun meinen, daß jeder Fehlschluß eine entscheidende Gegeninstanz abgeben müsse, und daß also aus dieser Deduction vielmehr ein Argument gegen die Möglichkeit jeder psychologischen Deutung der Axiome zu entnehmen sei. Man sollte ferner meinen, daß die nöthige Sorgsamkeit in der gedanklichen und sprachlichen Fixirung des prätendirten psycho- logischen Gehalts der Axiome den Empiristen überzeugen müßte, daß sie in solcher Interpretation auch nicht den kleinsten Beitrag zum Beweise der Schlußformeln leisten können, und daß, wo immer solch ein Beweis statthat, die Aus^ gangspunkte ebenso wie die Endpunkte den Charakter von Gesetzen haben, die von dem, was in der Psychologie Gesetz Schlußformeln und chemische Formeln. 103 heißt, toto coelo verschieden sind. Aber selbst die klarsten Widerlegungen scheitern an der Ueberzeugungsfreudigkeit der psychologistischen Lehre. G. Heymans, welcher diese Lehre neuerdings ausführlich entwickelt hat, nimmt an der Existenz von Fehlschlüssen so wenig Anstoß, daß er in der Möglichkeit, einen Fehlschluß nachzuweisen, sogar eine Bestätigung der psychologischen Auffassung sieht; denn dieser Nachweis bestehe nicht darin, denjenigen, der noch nicht nach dem Satze des Widerspruchs denke, eines Besseren zu belehren, sondern darin, den im Fehlschluß unvermerkt begangenen Widerspruch aufzu- zeigen. Man möchte hier fragen, ob unbemerkte Widersprüche nicht auch Widersprüche sind, und ob das logische Princip nur die Unvereinbarkeit bemerkter Widersprüche aussage, während es bei unbemerkten zulasse, daß sie zusammen wahr seien. Es ist wieder klar — man denke nur an den Unter- schied der psychologischen und logischen Unvereinbarkeit — daß wir uns in der trüben Sphäre der schon besprochenen Aequivocationen herumtreiben. Wollte man noch sagen, die Rede von „unvermerkten" Widersprüchen, die der Fehlschluß enthalte, sei eine un- eigentliche; erst im Verlaufe des widerlegenden Gedanken- ganges trete der Widerspruch als Neues auf, er stelle sich als Folge der irrigen Schlußweise ein und daran knüpfe sich (immer psychologisch verstanden) die weitere Folge, daß wir uns nun auch genöthigt sehen, diese Schlußweise als irrig zu verwerfen — so wäre uns wenig gedient. Die eine Gedanken- bewegung hat diesen, eine andere wieder einen anderen Erfolg. Kein psychologisches Gesetz bindet die ,Widerlegung' an den Fehlschluß. Jedenfalls tritt er in unzähligen Fällen ohne sie auf und behauptet sich in der Ueberzeugung. Wie kommt also gerade die eine Gedankenbewegung, die sich nur unter gewissen psychischen Umständen an den Trugschluß anknüpft, zu dem Eechte, ihm einen Widerspruch schlechthin zuzuschieben und ihm nicht bloß die ,Giltigkeit' unter diesen Umständen, sondern die objective, absolute Giltigkeit abzustreiten? Genau ebenso 104 Die Syllogistik in psychologistischer Beleuchtung. verhält es sich natürlich bei den »richtigen* Schlußformen in Be- ziehung auf ihre rechtfertigende Begründung durch die logischen Axiome. Wie kommt der begründende Gedankengang, der nur unter gewissen psychischen Umständen eintritt, zu dem Anspruch, die bezügliche Schlußform als schlechthin giltige auszuzeichnen? Für derartige Fragen hat die psychologistische Lehre keine an- nehmbare Antwort; es fehlt ihr hier wie überall die Möglichkeit, den objectiven Giltigkeitsanspruch der logischen Wahrheiten, und damit auch ihre Function als absolute Normen des richtigen und falschen Urtheilens, zum Verständnis zu bringen. Wie oft ist dieser Einwand erhoben, wie oft ist bemerkt worden, daß die Identification von logischem und psychologischem Gesetz auch jeden Unterschied zwischen richtigem und irrigem Denken aufhöbe, da die irrigen Urtheilsweisen nicht minder nach psychologischen Gesetzen erfolgen als die richtigen. Oder sollten wir, etwa auf Grund einer willkürlichen Convention, die Ergebnisse gewisser Gesetzlichkeiten als richtig, diejenigen anderer als irrig bezeichnen? Was antwortet der Empirist auf solche Einwände? „Allerdings strebt das auf Wahrheit ge- richtete Denken darnach, widerspruchslose Gedankenverbin- dungen zu erzeugen; aber der Werth dieser widerspruchslosen Gedankenverbindungen liegt doch eben wieder in dem Um- stände, daß thatsächlich nur das Widerspruchslose bejaht werden kann, daß also der Satz des Widerspruchs ein Natur- gesetz des Denkens ist." 1 Ein sonderbares Streben, wird man sagen, das dem Denken hier zugemuthet wird, ein Streben nach widerspruchslosen Gedankenverbindungen, während es andere als widerspruchslose Verbindungen überhaupt nicht giebt und nicht geben kann — so zum Mindesten, wenn das „Naturgesetz" wirklich besteht, von dem hier die Rede ist. Oder ist es ein besseres Argument, wenn man sagt: „Wir haben keinen einzigen 1 Heymans a. a. 0. I. S. 70. So sagte ja auch F. A. Lange (vgl. den letzten Absatz des längeren Citates aus den log. Studien, oben S. 95), die that sächliche Aufhebung des Widersprechenden in unseren Ur- theilen sei der letzte Grund der logischen Regeln. Schlußformeln und chemische Formeln. 105 Grund, die Verbindung zweier sich widersprechender Urtheile als „unrichtig" zu verurth eilen , wenn nicht eben diesen, daß wir instinctiv und unmittelbar die Unmöglichkeit empfinden, die beiderseitigen Urtheile gleichzeitig zu bejahen. Man versuche es nun, unabhängig von dieser Thatsache zu beweisen, daß nur das Widerspruchslose bejaht werden darf: man wird immer wieder, um den Beweis führen zu können, das zu Beweisende voraussetzen müssen" (a. a. 0. S. 69). Man erkennt ohne Weiteres die Wirksamkeit der oben analysirten Aequivocationen : Die Einsicht in das logische Gesetz, daß contradictorische Sätze nicht zusammen wahr sind, wird identificirt mit der instinctiven und. vermeintlich unmittelbaren „Empfindung" der psychologischen Unfähigkeit, contradictorische Urtheilsacte gleichzeitig zu voll- ziehen. Evidenz und blinde Ueberzeugung, exacte und em- pirische Allgemeinheit, logische Unverträglichkeit der Sachver- halte und psychologische Unverträglichkeit der Glaubensacte, also Nicht-zusammen-wahrsein-können und Nicht-zugleich-glauben- können — fließen in Eins zusammen. § 31. Schlußformeln und chemische Formeln. Die Lehre, daß die Schlußformeln „empirische Gesetze des Denkens" ausdrücken, versuchte Heymans durch den Vergleich mit den chemischen Formeln plausibler zu machen. „Genau so wie in der chemischen Formel 2ff 2 + 2 = 2ff 2 nur die allgemeine Thatsache zum Ausdruck kommt, daß zwei Volumen Wasserstoff mit einem Volumen Sauerstoff sich unter geeigneten Umständen zu zwei Volumen Wasserstoff verbinden, — genau so sagt die logische Formel MaX+MaY= YiX+XiY nur aus, daß zwei allgemein bejahende Urtheile mit gemein- schaftlichem Subjectbegriff unter geeigneten Umständen im Be- wußtsein zwei neue particulär bejahende Urtheile erzeugen, in denen die Prädicatbegriffe der ursprünglichen Urtheile als Prädicat- und Subjectbegriff auftreten. Warum in diesem Falle 106 Die Syllogistik in psychologistischer Beleuchtung. eine Erzeugung neuer Urtheile stattfindet, dagegen etwa bei der Combination Me X -f- Me Y nicht, davon wissen wir zur Zeit noch nichts. Von der unerschütterlichen Notwendigkeit aber, welche diese Verhältnisse beherrscht, und welche, wenn die Prämissen zugegeben sind, uns zwingt, auch die Schlußfolgerung für wahr zu halten, möge man sich durch Wiederholung der . . . Experimente überzeugen." 1 Diese Experimente sind natürlich „unter Ausschließung aller störenden Einflüsse" anzustellen und bestehen darin, „daß man die betreffenden Prämissenurtheile möglichst klar sich vergegenwärtigen, dann den Mechanismus des Denkens wirken lassen und die Erzeugung oder Nicht- erzeugung eines neuen Urtheils abwarten muß". Kommt aber ein neues Urtheil wirklich zustande, dann muß man scharf zusehen, ob vielleicht außer Anfangs- und Endpunkt des Pro- cesses noch einzelne Zwischenstadien ins Bewußtsein treten und diese in möglichster Genauigkeit und Vollständigkeit no- tiren. 2 Was uns bei dieser Auffassung überrascht, ist die Be- hauptung, daß bei den von Logikern ausgeschlossenen Com- binationen keine Erzeugung neuer Urtheile statthabe. In Be- ziehung auf jeden Fehlschluß, z. B. der Form XeM + MeY = XeY wird man doch sagen müssen, daß allgemein zwei Ur- theile der Formen XeM und MeY „unter geeigneten Um- ständen" im Bewußtsein ein neues Urtheil ergeben. Die Ana- logie mit den chemischen Formeln paßt hier genau so recht und schlecht wie in den anderen Fällen. Natürlich ist darauf nicht die Entgegnung zulässig, daß die „Umstände" in dem einen und anderen Falle ungleich seien. Psychologisch sind sie alle von gleichem Interesse und die zugehörigen empirischen Sätze von gleichem Werth. Warum machen wir also diesen fundamentalen Unterschied zwischen den beiden Klassen von 1 Heymans, a. a. 0. I. S. 62. 2 A. a. 0. S. 57. Schlußformelm und chemische Formeln. 107 Formeln? Würde man uns diese Frage vorlegen, so würden wir natürlich antworten: Weil wir in Beziehung auf die einen zur Einsicht gekommen sind, daß, was sie ausdrücken, Wahrheiten, und in Beziehung auf die anderen, daß es Falsch- heiten sind. Diese Antwort kann aber der Empirist nicht geben. Unter Voraussetzung der von ihm angenommenen Inter- pretationen sind ja die den Fehlschlüssen entsprechenden em- pirischen Sätze in gleicher Weise giltig, wie die den übrigen Schlüssen entsprechenden. Der Empirist beruft sich auf die Erfahrung der „uner- schütterlichen Notwendigkeit", welche, „wenn die Prämissen gegeben sind, uns zwingt auch die Schlußfolgerung für wahr zu halten". Aber alle Schlüsse, ob logisch gerechtfertigt oder nicht, vollziehen sich mit psychologischer Notwendigkeit und auch der (allerdings nur unter Umständen) fühlbare Zwang ist überall derselbe. Wer einen begangenen Fehlschluß allen kritischen Einwänden zu Trotze immerfort aufrecht hält, fühlt die „unerschütterliche Notwendigkeit", den Zwang des Nicht- anderskönnens — er fühlt ihn genau so wie derjenige, der richtig schließt und auf der erkannten Richtigkeit bestehen bleibt. Wie alles Urtheilen, so ist eben auch das Schließen nicht Sache der Willkür. Diese gefühlte Unerschütterlichkeit ist so wenig ein Zeugnis für wahrhafte Unerschütterlichkeit, daß sie vermöge neuer Urtheilsmotive, und zwar selbst im Falle richtiger und als richtig erkannter Schlüsse, weichen mag. Sie darf man also nicht vermengen mit der echten, logischen Not- wendigkeit, die zu jedem richtigen Schlüsse gehört, und die nichts anderes besagt und besagen darf als wie die einsichtig zu erkennende (obschon nicht von jedem Urtheilenden wirklich erkannte) ideal-gesetzliche Geltung des Schlusses. Die Gesetz- lichkeit der Geltung als solche tritt allerdings erst hervor in der einsichtigen Erfassung des Schlußgesetzes; im Vergleich mit ihr erscheint die Einsichtigkeit des hie et nunc vollzogenen Schlusses als Einsicht in die nothwendige Geltung des Einzel- falles, d. i. in die Geltung desselben auf Grund des Gesetzes. 108 Die Syllogistik in psychologistischer Beleuchtung. Der Empirist meint, wir wüßten „zur Zeit noch Nichts" darüber, warum die in der Logik verworfenen Prämissen combi- nationen „kein Ergebnis lieferten". Also von einem künftigen Fortschritt der Erkenntnis erhofft er reichere Belehrung? Man sollte denken, hier wüßten wir alles, was sich überhaupt wissen läßt; haben wir doch die Einsicht, daß jede überhaupt mög- liche (d. h. in den Rahmen der syllogistischen Combinationen fallende) Form von Schlußsätzen in Verknüpfung mit den frag- lichen Prämissencombinationen ein falsches Schlußgesetz liefern würde; man sollte denken, daß in diesen Fällen auch für einen unendlich vollkommenen Intellect ein Mehr an Wissen schlechter- dings nicht möglich wäre. An diese und ähnliche Einwände würde sich noch ein andersartiger knüpfen lassen, der, obschon nicht minder kräftig, für unsere Zwecke minder wichtig erscheint. Es ist nämlich unzweifelhaft, daß die Analogie mit den chemischen Formeln nicht eben weit reicht, ich meine nicht so weit, daß wir Anlaß fänden, neben den logischen Gesetzen die mit ihnen ver- wechselten psychologischen pathetisch zu nehmen. Im Falle der Chemie kennen wir die „Umstände", unter denen die formel- haft ausgedrückten Synthesen erfolgen, sie sind in erheblichem Maße exact bestimmbar, und eben darum rechnen wir die chemischen Formeln zu den werthvollsten Inductionen der Naturwissenschaft. Im Falle der Psychologie hingegen bedeutet die uns erreichbare Kenntnis der Umstände so wenig, daß wir schließlich nicht weiter kommen als zu sagen : daß es eben öfter vorkommt, daß Menschen den logischen Gesetzen conform schließen, wobei gewisse exact nicht zu umgrenzende Umstände, eine gewisse „Anspannung der Aufmerksamkeit" eine gewisse „geistige Frische", eine gewisse „Vorbildung" u. dgl. begünstigende Bedingungen für das Zustandekommen eines logischen Schluß- actes sind. Die Umstände oder Bedingungen im strengen Sinne, unter denen der schließende Urtheilsact mit Notwendigkeit hervorgeht, sind uns ganz verborgen. Bei der gegebenen Sach- lage ist es auch wol begreiflich, warum es bisher keinem Psy- Schlußformeln und chemische Formeln. 109 chologen eingefallen ist, die den mannigfaltigen Schlußformeln zuzuordnenden und durch jene vagen Umstände charakterisirten Allgemeinheiten in der Psychologie einzelweise aufzuführen und mit dem Titel „Denkgesetze" zu ehren. Nach alledem werden wir wol auch Heymans' interessanten und in vielen hier nicht berührten Einzelheiten anregenden) ersuch einer „Erkenntnistheorie, die man auch Chemie der frtheile nennen könnte" 1 und die „nichts weiter sei, als eine 'sychologie des Denkens" 2 zu den im KANT'schen Sinne hoff- nungslosen rechnen dürfen. In der Ablehnung der psychö- logistischen Interpretationen werden wir jedenfalls nicht schwanken können. Die Schlußformeln haben nicht den ihnen unterlegten empirischen Gehalt; ihre wahre Bedeutung tritt am klarsten hervor, wenn wir sie in äquivalenten idealen Unver- träglichkeiten aussprechen. Z. B.: Es gilt allgemein, daß nicht zwei Sätze der Formen „alle M sind X (i und „kein P ist M" wahr sind, ohne daß auch ein Satz der Form „einige X sind nicht P" wahr wäre. Und so in jedem Falle. Von einem Bewußtsein, von Urtheilsacten und Umständen des Urtheilens u. dgl. ist hier keine Rede. Hält man sich den wahren Gehalt der Schlußgesetze vor Augen, dann verschwindet auch der irrige Schein, als ob die experimentelle Erzeugung des ein- sichtigen Urtheils, in dem wir das Schlußgesetz anerkennen, eine experimentelle Begründung des Schlußgesetzes selbst be- deuten oder einleiten könnte. 1 Heymans, a. a. 0. I. S. 10. 2 A. a. 0. I. S. 30. 110 Der Psychologismus Siebentes Kapitel. Der Psychologismus als skeptischer Relativismus. § 32. Die idealen Bedingungen für die Möglichkeit einer Theorie überhaupt. Der strenge Begriff des Skepticismus. Der schwerste Vorwurf, den man gegen eine Theorie, und zumal gegen eine Theorie der Logik, erheben kann, besteht darin, daß sie gegen die evidenten Bedingungen der Möglich- keit einer Theorie überhaupt verstoße. Eine Theorie auf- stellen und in ihrem Inhalt, sei es ausdrücklich oder einschließ- lich, den Sätzen widerstreiten, welche den Sinn und Rechts- anspruch aller Theorie überhaupt begründen — das ist nicht bloß falsch, sondern von Grund aus verkehrt. In doppelter Hinsicht kann man hier von evidenten „Bedin- gungen der Möglichkeit" jeder Theorie überhaupt sprechen. Fürs Erste in subjectiver Hinsicht. Hier handelt es sich um die apriorischen Bedingungen, von denen die Möglichkeit der unmittel- baren und mittelbaren Erkenntnis 1 und somit die Möglichkeit der vernünftigen Rechtfertigung jeder Theorie abhängig ist. Die Theorie als Erkenntnisbegründung ist selbst eine Er- kenntnis und hängt ihrer Möglichkeit nach von gewissen Be- dingungen ab, die rein begrifflich in der Erkenntnis und ihrem Verhältnis zum erkennenden Subject gründen. Z. B.: Im Be- griff der Erkenntnis im strengen Sinne liegt es, ein Urtheil zu sein, das nicht bloß den Anspruch erhebt, die Wahrheit zu treffen, sondern auch der Berechtigung dieses Anspruches ge- wiß ist und diese Berechtigung auch wirklich besitzt. Wäre 1 Ich bitte zu beachten, daß der Terminus Erkenntnis in diesem Werke nicht in der viel gebräuchlichen Einschränkung auf Reales ver- standen wird. als skeptischer Relativismus. 111 der Urtheilende aber nie und nirgends in der Lage, diejenige Auszeichnung, welche die Rechtfertigung des Urtheils ausmacht, in sich zu erleben und als solche zu erfassen, fehlte ihm bei allen Urtheilen die Evidenz, die sie von blinden Vorurtheilen unterscheidet, und die ihm die lichtvolle Gewißheit giebt, nicht bloß für wahr zu halten, sondern die Wahrheit selbst zu halten — so wäre bei ihm von einer vernünftigen Aufstellung und Begründung der Erkenntnis, es wäre von Theorie und Wissenschaft keine Rede. Also verstößt eine Theorie gegen die subjectiven Bedingungen ihrer Möglichkeit als Theorie über- haupt, wenn sie, diesem Beispiel gemäß, jeden Vorzug des evi- denten gegenüber dem blinden Urtheil leugnet; sie hebt dadurch das auf, was sie selbst von einer willkürlichen, rechtlosen Be- hauptung unterscheidet. Man sieht, daß unter subjectiven Bedingungen der Mög- lichkeit hier nicht etwa zu verstehen sind reale Bedingungen, die im einzelnen Urtheilssubject oder in der wechselnden Species urtheilender Wesen (z. B. der menschlichen) wurzeln, sondern ideale Bedingungen, die in der Form der Subjectivität überhaupt und in deren Beziehung zur Erkenntnis wurzeln. Zur Unter- scheidung wollen wir von ihnen als von noeti sehen Be- dingungen sprechen. In objeetiver Hinsicht betrifft die Rede von Bedingungen der Möglichkeit jeder Theorie nicht die Theorie als subjeetive Einheit von Erkenntnissen, sondern Theorie als eine objee- tive, durch Verhältnisse von Grund und Folge verknüpfte Ein- heit von Wahrheiten, bezw. Sätzen. Die Bedingungen sind hier all die Gesetze, welche rein im Begriffe der Theorie gründen — specieller gesprochen, die rein im Begriffe der Wahrheit, des Satzes, des Gegenstandes, der Beschaffenheit, der Beziehung u. dgl., kurz in den Begriffen gründen, welche den Begriff der theoretischen Einheit wesentlich con- stituiren. Die Leugnung dieser Gesetze ist also gleichbedeu- tend (äquivalent) mit der Behauptung, all die fraglichen Termini: Theorie, Wahrheit, Gegenstand, Beschaffenheit u. s. w. entbehrten 112 Der Psychologismus eines consistenten Sinnes. Eine Theorie hebt sich in dieser objectiv-logischen Hinsicht auf, wenn sie in ihrem Inhalt gegen die Gesetze verstößt, ohne welche Theorie überhaupt keinen „vernünftigen" (consistenten) Sinn hätte. Ihre logischen Verstöße können in den Voraussetzungen, in den Formen der theoretischen Verbindung, endlich auch in der erwiesenen These selbst liegen. Am schroffsten ist die Verletzung der logischen Bedingungen offenbar dann, wenn es zum Sinne der theoretischen These gehört, diese Ge- setze zu leugnen, von welchen die vernünftige Möglichkeit jeder These und jeder Begründung einer These überhaupt abhängig ist. Und Aehnliches gilt auch für die noetischen Bedingungen und die gegen sie verstoßenden Theorien. Wir unterscheiden also (natürlich nicht in klassificatorischer Absicht): falsche, ab- surde, logisch und noetisch absurde und endlich skeptische Theorien; unter dem letzteren Titel alle Theorien befassend, deren Thesen entweder ausdrücklich besagen oder analytisch in sich schließen, daß die logischen oder noetischen Bedingungen für die Möglichkeit einer Theorie überhaupt falsch sind. Hiermit ist für den Terminus Skepticismus ein scharfer Begriff und zugleich eine klare Sonderung in logischen und noetischen Skepticismus gewonnen. Ihm entsprechen bei- spielsweise die antiken Formen des Skepticismus mit Thesen der Art wie: Es giebt keine Wahrheit, es giebt keine Er- kenntnis und Erkenntnisbegründung u. dgl. Auch der Empiris- mus, der gemäßigte nicht minder als der extreme, ist nach unseren frühereD Ausführungen 1 ein Beispiel, das unserem prägnanten Begriffe entspricht. Daß es zum Begriff der skep- tischen Theorie gehört, widersinnig zu sein, ist aus der Definition ohne weiteres klar. § 33. Skepticismus in metaphysischem Sinne. Gewöhnlich wird der Terminus Skepticismus einiger- maßen vage gebraucht. Sehen wir von seinem populären Sinn 1 Vgl. Kapitel V, Anhang zu den §§ 25 und 26. S. 84 ff. als skeptischer Relativismus. 113 ab, so nennt man skeptisch jedwede philosophischen Theorien, welche aus principiellen Gründen eine erhebliche Einschrän- kung der menschlichen Erkenntnis darthun wollen, zumal wenn durch sie umfassende Sphären des realen Seins oder besonders werthgehaltene Wissenschaften (z. B. Metaphysik, Naturwissen- schaft, Ethik als rationale Disciplinen) aus dem Gebiete mög- licher Erkenntnis verbannt werden. Unter diesen unechten Formen des Skepticismus pflegt hauptsächlich die Eine mit dem hier definirten, eigentlich erkennt- nistheoretischen Skepticismus vermengt zu werden, bei welcher es sich um die Beschränkung der Erkenntnis auf psychisches Dasein und die Leugnung der Existenz oder Erkennbarkeit von „Dingen an sich" handelt. Derartige Theorien sind aber offen- bar metaphysische; sie haben an sich mit dem eigent- lichen Skepticismus nichts zu thun, ihre These ist von allem logischen und noetischen Widersinn frei, ihr Rechts- anspruch ist nur eine Frage der Argumente und Beweise. Ver- mengungen und echt skeptische Wendungen erwuchsen erst unter dem paralogistischen Einfluß naheliegender Aequivoca- tionen oder anderweitig geförderter skeptischer Grundüber- zeugungen. Faßt z. B. ein metaphysischer Skeptiker seine Ueberzeugung in die Form: „Es giebt keine objective Erkennt- nis" (sc. keine Erkenntnis von Dingen an sich); oder: „Alle Erkenntnis ist subjectiv" (sc. alle Thatsachen-Erkenntnis ist bloße Erkenntnis von Bewußtseinsthatsachen), so ist die Ver- lockung groß, der Zweideutigkeit der Ausdrucksweise Subjectiv- Objectiv nachzugeben und für den ursprünglichen, dem einge- nommenen Standpunkte angemessenen Sinn, einen noetisch- skeptischen unterzulegen. Aus dem Satze: „Alle Erkenntnis ist subjectiv", wird nun die total neue Behauptung: „Alle Erkennt- nis als Bewußtseinserscheinung untersteht den Bewußtseins- gesetzen; was wir Formen und Gesetze der Erkenntnis nennen, sind nichts weiter als ,Functionsformen des Bewußtseins' bezw. Gesetzmäßigkeiten dieser Function sformen — psychologische Gesetze." Wie nun (in dieser unrechtmäßigen Weise) der meta- Husserl, Log. Unters. I. 8 114 Der Psychologismus physische Subjectivismus den erkenntnistheoretischen empfiehlt, so scheint auch in umgekehrter Richtung der letztere (wo er als für sich einleuchtend angenommen wird) ein kräftiges Argu- ment für den ersteren abzugeben. Man schließt etwa: „Die logischen Gesetze, als Gesetze für unsere Erkenntnisfunctionen, ermangeln der ,realen Bedeutung'; jedenfalls könnten wir nie und nirgends wissen, ob sie mit den etwaigen Dingen an sich harmoniren, die Annahme eines ,Präformationssystems' wäre völlig willkürlich. Ist schon die Vergleichung der einzelnen Erkenntnis mit ihrem Gegenstande (zur Constatirung der ad- aeqvatio rei et intellectus) durch den Begriff des Dinges an sich ausgeschlossen, so erst recht die Vergleichung der subjectiven Gesetzmäßigkeiten unserer Bewußtseinsfunctionen mit dem ob- jectiven Sein der Dinge und ihren Gesetzen. Also wenn es Dinge an sich giebt, können wir von ihnen schlechterdings nichts wissen." Metaphysische Fragen gehen uns hier nicht an, wir er- wähnten sie nur, um gleich von vornherein der Vermengung zwischen metaphysischem und logisch-noetischem Skepticismus zu begegnen. § 34. Der Begriff Relativismus und seine Besonderunr/en. Für die Zwecke einer Kritik des Psychologismus müssen wir noch den Begriff des (auch in der besprochenen meta- physischen Theorie auftretenden) Subjectivismus oder Rela- tivismus erörtern. Ein ursprünglicher Begriff ist umschrieben durch die PEOTAGOEEische Formel: „Aller Dinge Maß ist der Mensch", sofern wir sie in dem Sinne interpretiren : Aller Wahr- heit Maß ist der individuelle Mensch. Wahr ist für einen Jeden, was ihm als wahr erscheint, für den Einen dieses, für den Anderen das Entgegengesetzte, falls es ihm eben so er- scheint. Wir können hier also auch die Formel wählen: Alle Wahrheit (und Erkenntnis) ist relativ — relativ zu dem zufällig urtheilenden Subject. Nehmen wir hingegen statt des Sub- jectes die zufällige Species urth eilender Wesen als den Be- als skeptischer Relativismus. 115 ziehuügspunkt der Relation, so erwächst eine neue Form des Relativismus. Aller menschlichen Wahrheit Maß ist also der Mensch als solcher. Jedes Urtheil, das im Specifischen des Menschen, in den es constituirenden Gesetzen wurzelt, ist — für uns Menschen — wahr. Sofern diese Urtheile zur Form der allgemein menschlichen Subjectivität (des menschlichen „Be- wußtseins überhaupt") gehören, spricht man auch hier von Subjectivismus (von dem Subject als letzter Erkenntnisquelle u. dgl.). Besser wählt man den Terminus Relativismus und unterscheidet den individuellen und specifischen Relativismus; die einschränkende Beziehung auf die mensch- liche Species bestimmt den letzteren dann als Anthro- pologismus. — Wir wenden uns nun zur Kritik, deren sorg- samste Ausführung durch unsere Interessen geboten ist. § 35. Kritik des individuellen Relativismus. Der individuelle Relativismus ist ein so offenkundiger und, fast möchte ich sagen, frecher Skepticismus, daß er, wenn überhaupt je, so gewiß nicht in neueren Zeiten ernstlich ver- treten worden ist. Die Lehre ist sowie aufgestellt schon wider- legt — aber freilich nur für den, welcher die Objectivität alles Logischen einsieht. Den Subjectivisten, wie den ausdrücklichen Skeptiker überhaupt, kann man nicht überzeugen, wenn ihm nun einmal die Disposition mangelt einzusehen, daß Sätze, wie der vom Widerspruch, im bloßen Sinn der Wahrheit gründen, und daß ihnen gemäß die Rede von einer subjectiven Wahrheit, die für den Einen diese, für den Andern die entgegengesetzte sei, eben als widersinnige gelten müsse. Man wird ihn auch nicfyt durch den gewöhnlichen Einwand überzeugen, daß er durch die Aufstellung seiner Theorie den Anspruch erhebe, Andere zu überzeugen, daß er also die Objectivität der Wahr- heit voraussetze, die er in thesi leugne. Er wird natürlich antworten: Mit meiner Theorie spreche ich meinen Standpunkt aus, der für mich wahr ist und für Niemand sonst wahr zu sein braucht. Selbst die Thatsache seines subjectiven Meinens 8* 1 1 6 Der Psychologismus wird er als bloß für sein eigenes Ich, nicht aber als an sich wahre behaupten. 1 Aber nicht auf die Möglichkeit, den Sub- jectivisten persönlich zu überzeugen und zum Eingeständnis seines Irrthums zu bringen, sondern auf die, ihn objectiv giltig zu widerlegen, kommt es an. Widerlegung setzt aber als ihre Hebel gewisse einsichtige und damit allgemeingiltige Ueber- zeugungen voraus. Als solche dienen uns Normaldisponirten jene trivialen Einsichten, an welchen jeder Skepticismus schei- tern muß, sofern wir durch sie erkennen, daß seine Lehren im eigentlichsten und strengsten Sinne widersinnig sind: Der Inhalt ihrer Behauptungen leugnet das, was überhaupt zum Sinn oder Inhalt jeder Behauptung gehört und somit von keiner Be- hauptung sinngemäß abtrennbar ist. § 36. Kritik des specifischen Relativismus und im Besonderen des Anthropologismus. Können wir bei dem Subjectivismus zweifeln, ob er je in vollem Ernste vertreten worden sei, so neigt im Gegentheil die neuere und neueste Philosophie dem specifischen Relativis- mus, und näher dem Anthropologismus, in einem Maße zu, daß wir nur ausnahmsweise einem Denker begegnen, der sich von den Irrthümern dieser Lehre ganz rein zu erhalten wußte. Und doch ist auch sie eine skeptische in der oben fixirten Bedeu- tung des Wortes, also mit den größtmöglichen Absurditäten behaftet, die bei einer Theorie überhaupt denkbar sind; auch bei ihr finden wir, nur wenig verhüllt, einen evidenten Wider- spruch zwischen dem Sinn ihrer These und dem, was von keiner These als solcher sinngemäß abtrennbar ist. Es ist nicht schwierig dies im Einzelnen nachzuweisen. 1 Darin müßten ihm diejenigen Recht geben, welche zwischen bloß subjectiven und objectiven Wahrheiten glauben scheiden zu dürfen, indem sie den Wahrnehmungsurtheilen über die eigenen Bewußtseinserlebnisse den Charakter der Objectivität abstreiten: als ob das Für-mich-sein des Bewußtseinsinhalts nicht als solches zugleich ein An-sich-sein wäre; als ob die Subjectivität im psychologischen mit der Objectivität im logischen Sinne stritte! als skeptischer Relativismus. 117 1. Der specifische Relativismus stellt die Behauptung auf: Wahr ist für jede Species urtheilender Wesen, was nach ihrer Constitution, nach ihren Denkgesetzen als wahr zu gelten habe. Diese Lehre ist widersinnig. Denn es liegt in ihrem Sinne, daß derselbe Urtheilsinhalt (Satz) für den Einen, nämlich für ein Subject der Species homo, wahr, für einen Anderen, nämlich für ein Subject einer anders constituirten Species, falsch sein kann. Aber derselbe Urtheilsinhalt kann nicht beides, wahr und falsch sein. Dies liegt in dem bloßen Sinne der Worte wahr und falsch. Gebraucht der Relativist diese Worte mit ihrem zugehörigen Sinn, so sagt seine These, was ihrem eigenen Sinn zuwider ist. Die Ausflucht, es sei der Wortlaut des herangezogenen Satzes vom Widerspruch, durch den wir den Sinn der Worte wahr und falsch entfalteten, unvollständig, es sei in ihm eben von menschlich wahr und menschlich falsch die Rede, ist offen- bar nichtig. Aehnlich könnte ja auch der gemeine Subjectivismus sagen, die Rede von wahr und falsch sei ungenau, gemeint sei „für das einzelne Subject wahr, bezw. falsch". Und natürlich wird man ihm antworten: Das evident giltige Gesetz kann nicht meinen, was offenbar widersinnig ist; und widersinnig ist in der That die Rede von einer Wahrheit für den oder Jenen. Widersinnig ist die offengehaltene Möglichkeit, daß derselbe Urtheilsinhalt (wir sagen in gefährlicher Laxheit: dasselbe Ur- theil) je nach dem Urtheilenden beides, wahr und falsch, sei. Entsprechend wird nun auch die Antwort für den specifischen Relativismus lauten: „Wahrheit für die oder jene Species", z. B. für die menschliche, das ist — so wie es hier gemeint ist — eine widersinnige Rede. Man kann sie allerdings auch in gutem Sinne gebrauchen; aber dann meint sie etwas total Verschie- denes, nämlich den Umkreis von Wahrheiten, die dem Menschen als solchem zugänglich, erkennbar sind. Was wahr ist, ist absolut, ist „an sich" wahr; die Wahrheit ist identisch Eine, ob sie Menschen oder Unmenschen, Engel oder Götter ur- theilend erfassen. Von der Wahrheit in dieser idealen Einheit 118 Der Psychologismus gegenüber der realen Mannigfaltigkeit von Rassen, Indi- viduen und Erlebnissen sprechen die logischen Gesetze und sprechen wir alle, wenn wir nicht etwa relativistisch ver- wirrt sind. 2. Mit Rücksicht darauf, daß, was die Grundsätze vom Widerspruch und vom ausgeschlossenen Dritten besagen, zum bloßen Sinn der Worte wahr und falsch gehört, ließe sich der Einwand auch so fassen: Sagt der Relativist, es könnte auch Wesen geben, welche an diese Grundsätze nicht gebunden sind (und diese Behauptung ist, wie leicht zu sehen, mit der oben formulirten relativistischen äquivalent), so meint er entweder, es könnten in den Urtheilen dieser Wesen Sätze und Wahr- heiten auftreten, welche den Grundsätzen nicht gemäß sind; oder er meint, der Verlauf des Urtheilens sei bei ihnen durch diese Grundsätze nicht psychologisch geregelt. Was das Letztere anbelangt, so finden wir darin gar nichts Absonder- liches, denn wir selbst sind solche Wesen. (Man erinnere sich an unsere Einwände gegen die psychologistischen Interpreta- tionen der logischen Gesetze.) Was aber das Erstere anbe- langt, so würden wir einfach erwidern: Entweder es verstehen jene Wesen die Worte wahr und falsch in unserem Sinn; dann ist keine vernünftige Rede davon, daß die Grundsätze nicht gelten: sie gehören ja zu dem bloßen Sinn dieser Worte, und zwar wie wir ihn verstehen. Wir würden in aller Welt nichts wahr oder falsch nennen, was ihnen widerstritte. Oder sie gebrauchen die Worte wahr und falsch in einem anderen Sinne, und dann ist der ganze Streit ein Wortstreit. Nennen sie z. B. Bäume, was wir Sätze nennen, dann gelten die Aussagen, in die wir Grundsätze fassen, natürlich nicht; aber sie verlieren dann ja auch den Sinn, in dem wir sie be- haupten. Somit kommt der Relativismus darauf hinaus, daß er den Sinn des Wortes Wahrheit total ändert aber doch An- spruch erhebt, von Wahrheit in dem Sinne zu sprechen, der durch die logischen Grundsätze festgelegt ist, und den wir Alle, wo von Wahrheit die Rede ist, ausschließlich meinen. als skeptischer Relativismus. 119 In Einem Sinne giebt es nur Eine Wahrheit, in äquivokem Sinne aber natürlich so viel „Wahrheiten", als man Aequi- vocationen zu schaffen liebt. 3. Die Constitution der Species ist eine Thatsache; aus Thatsachen lassen sich immer wieder nur Thatsachen ableiten. Die Wahrheit relativistisch auf die Constitution der Species gründen, das heißt also ihr den Charakter der Thatsache geben. Dies aber ist widersinnig. Jede Thatsache ist individuell, also zeitlich bestimmt. Bei der Wahrheit giebt die Rede von zeit- licher Bestimmtheit nur Sinn mit Beziehung auf eine durch sie gesetzte Thatsache (falls sie eben Thatsachenwahrheit ist), nicht aber mit Beziehung auf sich selbst. Wahrheiten als Ursachen oder Wirkungen zu denken, ist absurd. Wir haben davon schon gesprochen. Wollte man sich darauf stützen, daß doch wie jedes Urtheil auch das wahre aus der Constitution des urtheilenden Wesens auf Grund der zugehörigen Naturgesetze- erwachse, so würden wir entgegnen: Man vermenge nicht das Urtheil als Urtheilsinhalt, d. i. als die ideale Einheit, mit dem einzelnen realen Urtheilsact. Die erstere ist gemeint, wo wir von dem Urtheil „2 x 2 ist 4" sprechen, welches dasselbe ist, wer immer es fällt. Man vermenge auch nicht das wahre Ur- theil als den richtigen, wahrheitsgemäßen Urtheilsact, mit der Wahrheit dieses Urtheils oder mit dem wahren Urtheilsinhalt. Mein Urtheilen, daß 2x2 = 4 ist, ist sicherlich causal bestimmt, nicht aber die Wahrheit: 2x2 = 4. 4. Hat (im Sinne des Anthropologismus) alle Wahrheit ihre ausschließliche Quelle in der allgemein menschlichen Con- stitution, so gilt, daß wenn keine solche Constitution bestände, auch keine Wahrheit bestände. Die Thesis dieser hypothetischen Behauptung ist widersinnig; denn der Satz „es besteht keine Wahrheit" ist dem Sinne nach gleichwerthig mit dem Satze „es besteht die Wahrheit, daß keine Wahrheit besteht". Die Widersinnigkeit der Thesis verlangt eine Widersinnigkeit der Hypothesis. Als Leugnung eines giltigen Satzes von thatsäch- lichem Gehalt kann sie aber wol falsch, niemals aber wider- 120 Der Psychologismus sinnig sein. In der That ist es noch Niemandem beigefallen, den bekannten geologischen und physikalischen Theorien, welche dem Menschengeschlechte in der Zeitlichkeit Anfang und Ende setzen, als absurd zu verwerfen. Folglich trifft der Vorwurf des Widersinns die ganze hypothetische Behauptung, da sie an eine dem Sinne nach einstimmige („logisch mögliche") Voraus- setzung eine widersinnige („logisch unmögliche") Folge knüpft. Derselbe Vorwurf trifft dann den Anthropologismus und über- trägt sich natürlich mutatis mutandis auf die allgemeinere Form des Relativismus. 5. Nach dem Relativismus könnte sich auf Grund der Con- stitution einer Species die für sie giltige „Wahrheit" ergeben, daß solch eine Constitution gar nicht existire. Sollen wir also sagen, sie existire in Wirklichkeit nicht, oder sie existire. aber nur für uns Menschen? Wenn nun alle Menschen und alle Species urtheilender Wesen bis auf die eben vorausgesetzte ver- giengen? Wir bewegen uns offenbar in Widersinnigkeiten. Der Gedanke, daß die Nichtexistenz einer specifischen Con- stitution ihren Grund habe in dieser selben Constitution, ist der klare Widerspruch; die wahrheitgründende, also existirende Constitution soll neben anderen Wahrheiten die ihrer eigenen Nichtexistenz begründen. — Die Absurdität ist nicht viel kleiner, wenn wir Existenz mit Nichtexistenz vertauschen und dem- entsprechend an Stelle jener fingirten, aber vom relativistischen Standpunkt aus möglichen Species, die menschliche zu Grunde legen. Zwar jener Widerspruch, nicht aber der übrige mit ihm verwobene Widersinn verschwindet. Die Relativität der Wahrheit besagt, daß, was wir Wahrheit nennen, abhängig sei von der Constitution der Species homo und den sie regie- renden Gesetzen. Die Abhängigkeit will und kann nur als causale verstanden sein. Also müßte die Wahrheit, daß diese Constitution und diese Gesetze bestehen, ihre reale Erklärung daraus schöpfen, daß sie bestehen, wobei die Principien, nach denen die Erklärung verliefe, mit eben diesen Gesetzen identisch wären — nichts als Widersinn. Die Constitution wäre causa als skeptischer Relativismus. 121 sui auf Grund von Gesetzen, die sich auf Grund von sich selbst causiren würden u. s. w. 6. Die Relativität der Wahrheit zieht die Eelativität der Weltexistenz nach sich. Denn die Welt ist nichts Anderes als die gesaminte gegenständliche Einheit, welche dem idealen System aller Thatsachenwahrheit entspricht und von ihm un- abtrennbar ist. Man kann nicht die Wahrheit subjectiviren und ihren Gegenstand (der nur in und vermöge der Wahrheit ist) als absolut (an sich) seiend gelten lassen. Es gäbe also keine "Welt an sich, sondern nur eine Welt für uns oder für irgend eine andere Species von Wesen. Das wird nun Manchem trefflich passen; aber bedenklich mag er wol werden, wenn wir darauf aufmerksam machen, daß zur Welt auch das Ich und seine Bewußtseinsinhalte gehören. Auch das „Ich bin" und „Ich erlebe dies und jenes" wäre eventuell falsch; gesetzt nämlich, daß ich so constituirt wäre, diese Sätze auf Grund meiner specifischen Constitution verneinen zu müssen. Und es gäbe nicht bloß für diesen oder jenen, sondern schlechthin keine Welt, wenn keine Species urtheilender Wesen so glück- lich constituirt wäre, eine Welt (und darunter sich selbst) an- erkennen zu müssen. Halten wir uns an die einzigen Species, die wir thatsächlich kennen, die animalischen, so bedingte eine Aenderung ihrer Constitution eine Aenderung der Welt, wobei freilich, nach allgemein angenommenen Lehren, die anima- lischen Species Entwicklungsproducte der Welt sein sollen. So treiben wir ein artiges Spiel: Aus der Welt entwickelt sich der Mensch, aus dem Menschen die Welt; Gott schafft den Menschen und der Mensch schafft Gott. Der wesentliche Kern dieses Einwandes besteht darin, daß der Relativismus auch in evidentem Widerstreit ist mit der Evidenz des unmittelbar anschaulichen Daseins, d. i. mit der Evidenz der „inneren Wahrnehmung" in dem berechtigten, dann aber auch nicht entbehrlichen Sinne. Die Evidenz der auf Anschauung beruhenden Urtheile wird mit Recht bestritten, sofern sie intentional über den Gehalt des factischen Be- 122 Der Psychologismus wußtseinsdatums hinausgehen. Wirklich evident sind sie aber, wo ihre Intention auf ihn selbst geht, in ihm, wie er ist, die Erfüllung findet. Dagegen streitet nicht die Vagheit aller dieser Urtheile (man denke nur an die für kein unmittelbares Anschauungsurtheil aufhebbare Vagheit der Zeitbestimmung und ev. auch Ortsbestimmung). § 37. Allgemeine Bemerkung. Der Begriff Relativismus in er- weitertem Sinne. Die beiden Formen des Relativismus sind Specialitäten des Eelativismus in einem gewissen weitesten Sinn des Wortes, als einer Lehre, welche die rein logischen Principien irgendwie aus Thatsachen ableitet. Thatsachen sind „zufällig", sie könnten ebensogut auch nicht sein, sie könnten anders sein. Also andere Thatsachen, andere logische Gesetze; auch diese wären also zufällig, sie wären nur relativ zu den sie begründenden Thatsachen. Demgegenüber will ich nicht bloß auf die apodic- tische Evidenz der logischen Gesetze hinweisen, und was wir sonst in den früheren Kapiteln geltend gemacht haben, sondern auch auf einen anderen, hier bedeutsameren Punkt. 1 Ich ver- stehe, wie man schon aus dem Bisherigen entnimmt, unter rein logischen Gesetzen alle die Idealgesetze, welche rein im Sinne (im „Wesen", „Inhalt") der Begriffe Wahrheit, Satz, Gegen- stand, Beschaffenheit, Beziehung, Verknüpfung, Gesetz, That- sache u. s. w. gründen. Allgemeiner gesprochen, sie gründen rein im Sinne der Begriffe, welche zum Erbgut aller Wissen- schaft gehören, weil sie die Kategorien von Bausteinen dar- stellen, aus welchen die Wissenschaft als solche, ihrem Begriffe nach, constituirt ist. Gesetze dieser Art darf keine theoretische Behauptung, keine Begründung und Theorie verletzen; nicht bloß weil sie sonst falsch wäre — dies wäre sie auch durch Widerstreit gegen eine beliebige Wahrheit — sondern weil sie in sich widersinnig wäre. Z. B. eine Behauptung, deren Inhalt 1 Vgl. den einleitenden § 32 dieses Kapitels, S. 110 ff. als skeptischer Relativismus. 123 gegen Principien streitet, die im Sinne der Wahrheit als solcher gründen, „hebt sich selbst auf". Denn Behaupten ist Aussagen, daß der und jener Inhalt in Wahrheit sei. Eine Begründung, die inhaltlich gegen die Principien streitet, die im Sinne der Beziehung von Grund und Folge gründen, hebt sich selbst auf. Denn Begründen heißt wieder Aussagen, daß diese oder jene Beziehung von Grund und Folge bestehe u. s. w. Eine Behauptung „hebt sich selbst auf", sie ist „logisch wider- sinnig", das heißt, ihr besonderer Inhalt (Sinn, Bedeutung) widerspricht dem, was die ihm zugehörigen Bedeutungskate- gorien allgemein fordern, was in ihrer allgemeinen Bedeutung allgemein gegründet ist. Es ist nun klar, daß in diesem präg- nanten Sinne jede Theorie logisch widersinnig ist, welche die logischen Principien aus irgend welchen Thatsachen ableitet. Dergleichen streitet mit dem allgemeinen Sinn der Begriffe „logisches Princip" und „Thatsache" ; oder um genauer und all- gemeiner zu sprechen: der Begriffe „Wahrheit, die in dem bloßen Inhalt von Begriffen gründet" und „Wahrheit über individuelles Dasein". Man sieht auch leicht, daß die Einwände gegen die oben discutirten relativistischen Theorien der Haupt- sache nach auch den Relativismus im allgemeinsten Sinne be- träfen. § 38. Der Psychologismus in allen seinen Formen ein Relativismus. Den Relativismus haben wir bekämpft, den Psychologis- mus haben wir natürlich gemeint. In der That ist der Psycho- logismus in allen seinen Abarten und individuellen Ausgestal- tungen nichts Anderes als Relativismus, nur nicht immer er- kannter und ausdrücklich zugestandener. Es ist dabei ganz gleich, ob er sich auf „Transcendentalpsychologie" stützt und als formaler Idealismus die Objectivität der Erkenntnis zu retten glaubt, oder ob er sich auf empirische Psychologie stützt und den Relativismus als unvermeidliches Fatum auf sich nimmt. 124 Der Psychologismus Jede Lehre, welche die rein logischen Gesetze entweder nach Art der Empiristen als empirisch-psychologische Gesetze faßt oder sie nach Art der Aprioristen mehr oder minder mythisch zurückführt auf gewisse „ursprüngliche Formen" oder „Functionsweisen" des (menschlichen) Verstandes, auf das „Be- wußtsein überhaupt" als (menschliche) „Gattungsvernunft", auf die „psychophysische Constitution" des Menschen, auf den „intel- lectus ipse", der als angeborene (allgemein menschliche) Anlage dem factischen Denken und aller Erfahrung vorhergeht, u. dgL — ist eo ipso relativistisch, und zwar von der Art des speci- fischen Relativismus. Alle Einwände, die wir gegen ihn erhoben haben, treffen auch sie. Selbstverständlich muß man aber die zum Theil schillernden Schlagwörter des Apriorismus, z. B. Verstand, Vernunft, Bewußtsein, in jenem natürlichen Sinne nehmen, der ihr eine wesentliche Beziehung zur menschlichen Species verleiht. Es ist der Fluch der hiehergehörigen Theo- rien, daß sie ihnen bald diese reale und bald eine ideale Be- deutung unterlegen und so ein unerträgliches Gewirr theils richtiger, theils falscher Sätze ineinanderflechten. Jedenfalls dürfen wir die aprioristischen Theorien, soweit sie rela- tivistischen Motiven Raum gönnen, auch dem Relativismus zu- rechnen. Allerdings, wenn ein Theil der kantianisirenden Forscher einige logische Grundsätze als Principien „analytischer Urtheile" aus dem Spiel läßt, so beschränkt sich auch ihr Relativismus (sc. auf das Gebiet der mathematischen und Naturerkenntnis); aber den skeptischen Absurditäten entgehen sie dadurch nicht. Bleiben sie doch in dem engeren Kreise dabei, die Wahrheit aus dem allgemeinen Menschlichen, also das Ideale aus dem Realen, specieller: die Notwendigkeit der Gesetze aus der Zu- fälligkeit von Thatsachen herzuleiten. Doch hier interessirt uns noch mehr die extremere und consequentere Form des Psychologismus, die von solcher Ein- schränkung nichts weiß. Ihr gehören die Hauptvertreter der englischen empiristischen, sowie der neueren deutschen Logik an, also Forscher wie Mill, Bain, Wundt, Sigwart, Erdmann als skeptischer Relativismus. 125 und Lipps. Auf alle hiehergehörigen Werke kritische Rück- sicht zu nehmen ist weder möglich noch wünschenswerte Doch darf ich, den reformatorischen Zielen dieser Prolegomena zu genügen, nicht die führenden Werke der modernen deutschen Logik übergehen, vor Allem nicht Sigwart's bedeutendes Werk, das wie kein zweites die logische Bewegung der letzten Jahr- zehnte in die Bahn des Psychologismus gelenkt hat. § 39. Der Anthropologismus in Sigwart's Logik. Vereinzelte Ausführungen von psychologistischem Klang und Charakter finden wir als vorübergehende Mißverständnisse auch bei Denkern, welche in ihren logischen Arbeiten eine be- wußt antinsychologistische Richtung vertreten. Anders bei Sigwart. Der Psychologismus ist bei ihm nicht eine unwesent- liche und abfällbare Beimischung, sondern die systematisch herr- schende Grundauifassung. Ausdrücklich leugnet er gleich eingangs seines Werkes, „daß die Normen der Logik (die Normen, also nicht bloß die technischen Regeln der Methodenlehre, sondern auch die rein logischen Sätze, der Satz des Widerspruches, des Grundes u. s. w.) erkannt werden können anders, als auf Grund- lage des Studiums der natürlichen Kräfte und Functionsformen, welche durch jene Normen geregelt werden sollen". 1 Und dem entspricht auch die ganze Behandlungsweise der Disciplin. Sie zerfällt nach Sigwart in einen analytischen, einen gesetz- gebenden und einen technischen Theil. Sehen wir von dem letzten, uns hier nicht interessirenden ab, so hat der ana- lytische Theil „das Wesen der Function zu erforschen, für welche die, Regeln gesucht werden sollen". „Auf ihn baut sich der gesetzgebende Theil, der die „Bedingungen und Gesetze ihres normalen Vollzuges" 2 aufzustellen hat. Die „Forderung, daß unser Denken nothwendig und allgemein giltig sei", ergiebt, „an die nach allen ihren Bedingungen und Factoren erkannte 1 Sigwart, Logik I. 2 S. 22. 3 A. r. 0. § 4, S. 16. 126 Der Psycholog ismas Function des Urtheils" gehalten, „bestimmte Normen, welchen das Urtheilen genügen muß". Und zwar concentriren sie sich in zwei Punkten: „Erstens, daß die Elemente des Urtheils durchgängig bestimmt, d. h. begrifflich fixirt sind; und zweitens, daß der Urtheilsact selbst auf nothwendige Weise aus seinen Voraussetzungen hervorgehe. Damit fällt in diesen Theil die Lehre von den Begriffen und Schlüssen als Inbegriff normativer Gesetze für die Bildung vollkommener Urtheile." 1 Mit anderen Worten, in diesen Theil gehören alle rein logischen Principien und Lehrsätze (soweit sie überhaupt in den Gesichtskreis der traditionellen, wie der SiGWART'schen Logik fallen), und dar- nach haben sie für Sigwart in der That eine psychologische Fundirung. Hiemit stimmt auch die Einzelausführung. Nirgends wer- den die rein logischen Sätze und Theorien und die objec- tiven Elemente, aus denen sie sich constituiren , aus dem Flusse erkenntnis- psychologischer und erkenntnis-practischer Forschung ausgelöst. Immer wieder ist von unserem Denken und seinen Functionen gerade dort die Rede, wo es gilt, im Gegensatz zu den psychologischen Zufälligkeiten, die logische Notwendigkeit und ihre ideale Gesetzmäßigkeit zu charakteri- siren. Reine Grundsätze, wie der vom Widerspruch, vom Grunde, werden wiederholt als „Functionsgesetze" oder als „fundamentale Bewegungsformen unseres Denkens" 2 u. dgl. bezeichnet. Beispielsweise lesen wir: „So gewiß die Ver- neinung in einer über das Seiende hinausgreifenden Bewegung des Denkens wurzelt, welche auch das Unvereinbare aneinander mißt, so gewiß kann Aristoteles mit seinem Princip nur die Natur unseres Denkens treffen wollen". 3 „Die absolute Giltig- keit des Princips des Widerspruchs und in Folge davon der Sätze, welche eine contradictio in adjecto verneinen" ruht, so finden wir an einer anderen Stelle, „auf dem unmittelbaren Bewußtsein, daß 1 A. a. 0. S. 21. 2 A. a. 0. I. 2 S. 184. Vgl. auch den ganzen Zusammenhang S. 184 f. 3 A. a. O. S. 253. als skeptischer Relativismus, 127 wir immer dasselbe thun und thun werden, wenn wir ver- neinen . . .' ll Aehnliches gilt nach Sigwakt für den Satz der Identität (als „Princip der Uebereinstimmung") und jedenfalls auch für alle rein begrifflichen und specieller rein logischen Sätze. 2 Wir hören Aeußerungen wie die folgende: „Leugnet man ... die Möglichkeit etwas zu erkennen, wie es an sich ist; ist das Seiende nur einer der Gedanken, die wir produ- ciren: so gilt doch das, daß wir eben denjenigen Vorstellungen die Objectivität beilegen, die wir mit dem Bewußtsein der Notwendigkeit produciren, und daß, sobald wir etwas als seiend setzen, wir eben damit behaupten, daß alle anderen, wenn auch nur hypothetisch angenommenen, denkenden Wesen von derselben Natur wie wir es mit derselben Notwendig- keit produciren müßten." 3 Dieselbe anthropologistische Tendenz zieht sich durch alle Ausführungen, welche sich auf die logischen Grundbegriffe und zunächst auf den Begriff der Wahrheit beziehen. Es ist z. B. nach Sigwaet „eine Fiction ... als könne ein Urtheil wahr sein, abgesehen davon, daß irgend eine Intelligenz dieses Urtheil denkt". So kann doch nur sprechen, wer die Wahrheit psycho- logistisch umdeutet. Nach Sigwaet wäre es also auch eine Fiction, von Wahrheiten zu sprechen, die an sich gelten und doch von Niemand erkannt sind, z. B. von solchen, welche die menschliche Erkenntnisfähigkeit überschreiten. Zum mindesten der Atheist dürfte so nicht sprechen, der an übermenschliche Intelligenzen nicht glaubt und wir selbst erst nach dem Be- weise für die Existenz solcher Intelligenzen. Das Urtheil, das 1 A. a. 0. S. 386. 2 Vgl. a. a. 0. S. 411: „Diese Sätze müßten a priori gewiß sein, in dem Sinne, daß wir in ihnen nur einer constanten und unabweis- lichen Function unseres Denkens bewußt würden . . ." Ich darf diese Stelle citiren, obschon sie im Zusammenhang nicht unmittelbar auf die logischen Grundsätze bezogen ist. Dazu berechtigt der gesammte Sinn der Ausführungen (sub 2, § 48) und der ausdrücklich vergleichende Hinweis auf den Satz vom Widerspruch auf derselben citirten Seite. » A. si. 0. S. S. 128 Der Psychologismus die Gravitationsformel ausdrückt, wäre vor Newton nicht wahr gewesen.- Und so wäre es, genau besehen, eigentlich widerspruchsvoll und überhaupt falsch: Offenbar gehört ja die unbedingte Geltung für alle Zeit mit zur Intention seiner Behauptung. Ein näheres Eingehen auf die mannigfachen Ausführungen Sigwart's über den Begriff der Wahrheit würde größere Um- ständlichkeit erfordern, die wir uns hier versagen müssen. Es würde jedenfalls bestätigen, daß wir die oben citirte Stelle in der That beim Wort nehmen dürfen. Für Sigwart löst sich die Wahrheit in Bewußtseinserlebnisse auf, und somit ist trotz aller Rede von einer objectiven Wahrheit, die echte Objectivität derselben, die in ihrer überempirischen Idealität ruht, aufgegeben. Die Erlebnisse sind reale Einzelheiten, zeitlich bestimmt, werdend und vergehend. Die Wahrheit aber ist „ewig" oder besser: sie ist eine Idee, und als solche überzeitlich. Es hat keinen Sinn, ihr eine Stelle in der Zeit oder eine, sei es auch durch alle Zeiten sich hindurcher- streckende Dauer anzuweisen. Allerdings sagt man auch von der* Wahrheit, daß sie uns gelegentlich „zum Bewußtßein komme" und so von uns „erfaßt", „erlebt" werde. Aber von Erfassen, Erleben und Bewußtwerden ist hier, in Beziehung auf dieses ideelle Sein, in ganz anderem Sinne die Rede als in Be- ziehung auf das empirische, d. i. das individuell vereinzelte Sein. Die Wahrheit „erfassen" wir nicht wie einen empirischen Inhalt, der im Flusse psychischer Erlebnisse auftaucht und wieder verschwindet; sie ist nicht Phänomen unter Phänomenen, sondern sie ist Erlebnis in jenem total geänderten Sinn, in dem ein Allgemeines, eine Idee ein Erlebnis ist. Bewußtsein haben wir von ihr, so wie wir von einer Species, z. B. von „dem" Roth im Allgemeinen Bewußtsein haben. Ein Rothes haben wir vor Augen. Aber das Rothe ist nicht die Species Roth. Das Concretum hat die Species auch nicht als ^psychologischen', .metaphysischen') Theil in sich. Der Theil, dies unselbständige Rothmoment, ist wie das concrete als skeptischer Relativismus. 129 Ganze ein Individuelles, ein Hier und Jetzt, mit und in ihm bestehend und vergehend, in verschiedenen rothenObjecten gleich, nicht identisch. Die Röthe aber ist eine ideale Einheit, bei der die Rede von Entstehen und Vergehen widersinnig ist. Jener Theil ist nicht Röthe, sondern ein Einzelfall von Röthe. Und wie die Gegenstände verschieden sind, die allgemeinen verschieden von den einzelnen, so auch die Acte der Erfassung. Es ist etwas total Verschiedenes, im Hinblick auf das anschau- liche Concretum die empfundene Röthe, diesen hier und jetzt seienden Einzelzug zu meinen (wie in der psychologischen Analyse), und wieder die Species Röthe zu meinen (wie in der Aussage: die Röthe ist eine Farbe). Und so, wie wir auf das Concret- Einzelne hinblickend, doch nicht dieses, sondern das Allgemeine, die Idee meinen, so gewinnen wir im Hinblick auf mehrere Acte solcher Ideation die evidente Erkenntnis von der Identität dieser idealen, in den einzelnen Acten ge- meinten Einheiten. Und es ist Identität im echten und strengsten Sinne: es ist dieselbe Species, oder es sind Species derselben Gattung u. dgl. So ist nun auch die Wahrheit eine Idee, wir erleben sie wie jede andere Idee in einem Acte auf Anschauung ge- gründeter Ideation (es ist dies hier natürlich der Act der Einsicht) und gewinnen auch von ihrer identischen Einheit gegenüber einer verstreuten Mannigfaltigkeit von concreten Einzelfällen (d. i. hier von evidenten Urtheilsacten) in der Vergleichung Evidenz. Und wie das Sein oder Gelten von Allgemeinheiten auch sonst den Werth von idealen Mög- lichkeiten besitzt — nämlich in Hinsicht auf das mögliche Sein von empirischen Einzelheiten, die unter jene Allgemein- heiten fallen — so sehen wir dasselbe auch hier: die Aus- sagen „die Wahrheit gilt" und „es sind denkende Wesen möglich, welche Urtheile des bezüglichen Bedeutungsgehaltes einsehen", sind von gleichem Werthe. Giebt es keine intelli- genten Wesen, sind sie durch die Naturordnung ausgeschlossen, also real unmöglich — oder giebt es für gewisse Wahrheits- Husserl, Log. Unters. I. " 130 Der Psychologismus klassen keine Wesen, die ihrer Erkenntnis fähig sind — dann bleiben diese idealen Möglichkeiten ohne erfüllende Wirk- lichkeit; das Erfassen, Erkennen, Bewußtwerden der Wahrheit (bezw. gewisser Wahrheitsklassen) ist dann nie und nirgend realisirt. Aber jede Wahrheit an sich bleibt, was sie ist, sie behält ihr ideales Sein. Sie ist nicht „irgendwo im Leeren", sondern ist eine Geltungseinheit im unzeitlichen Reiche der Ideen. Sie gehört zum Bereich des absolut Geltenden, in den wir zunächst all das einordnen, von dessen Geltung wir Ein- sicht haben oder zum Mindesten begründete Vermuthung, und zu dem wir weiterhin auch den für unser Vorstellen vagen Kreis des indirect und unbestimmt als geltend Vermutheten rechnen, also dessen was gilt, während wir es noch nicht erkannt haben und vielleicht niemals erkennen werden. In diesen Beziehungen dringt Sigwaet, wie mir scheinen will, zu einer klaren Position nicht durch. Die Objectivität der Wahrheit möchte er retten und sie in dem subjectivistischen Phänomenalismus nicht untersinken lassen. Fragen wir aber nach dem Wege, auf dem Sigwaet' s psychologische Erkennt- nistheorie zur Objectivität der Wahrheit glaubt durchdringen zu können, so stoßen wir auf Aeußerungen wie die folgende: „Die Gewißheit, daß es bei einem Urtheile bleibt, daß die Synthese unwiderruflich ist, daß ich immer dasselbe sagen werde 1 — diese Gewißheit kann nur dann vorhanden sein, wenn erkannt ist, daß die Gewißheit nicht auf momentanen und mit der Zeit wechselnden psychologischen Motiven ruht, sondern auf etwas, was jedesmal, wenn ich denke, unabänderlich dasselbe und von allem Wechsel unberührt ist; und dies ist einerseits mein Selbstbewußtsein selbst, die Gewißheit Ich bin und denke, die Gewißheit Ich bin Ich, derselbe, der jetzt denkt und früher gedacht hat, der dieses 1 Kann ich das je mit Sicherheit behaupten? Die Unwiderruflich- keit betrifft nicht das Factische, sondern das Ideale. Nicht „die Gewiß- heit des Urtheils ist eine unveränderliche" (wie es bei Sigwaet kurz vorher heißt), sondern eben die Giltigkeit, bezw. Wahrheit. als skeptischer Relativismus. 131 und jenes denkt; und andererseits das, worüber ich urtheile, das Gedachte selbst nach seinem gleichbleibenden, von mir in seiner Identität anerkannten Inhalt, der ganz unabhängig von den individuellen Zuständen des Denken- den ist." 1 Ein consequent relativistischer Psychologismus wird hier natürlich antworten: Nicht bloß das von Individuum zu Indivi- duum Wechselnde, sondern auch das in allen Constante, also der überall gleichbleibende Inhalt und die ihn beherrschenden constanten Functionsgesetze sind psychologische Thatsachen. Giebt es solche allen Menschen wesentlich gemeinsamen Züge und Gesetze, so machen sie das Specifische der menschlichen Natur aus. Demnach hat alle Wahrheit als Allgemeingiltig- keit Beziehung zur menschlichen Species, oder allgemeiner, zur jeweiligen Species denkender Wesen. Andere Species — andere Denkgesetze, andere Wahrheiten. Wir unsererseits würden nun aber sagen: Allgemeingleich- heit nach Inhalt und constanten Functionsgesetzen (als Natur- gesetzen für die Erzeugung des allgemeingleichen Inhalts) macht keine echte Allgemeingiltigkeit, die vielmehr in der Idealität ruht. Sind alle Wesen einer Gattung ihrer Constitution nach zu gleichen Urth eilen genöthigt, so stimmen sie miteinander empirisch überein; aber im idealen Sinne der über alles Em- pirische erhabenen Logik können sie dabei doch statt ein- stimmig vielmehr widersinnig urtheilen. Die Wahrheit durch Beziehung auf die Gemeinsamkeit der Natur bestimmen, heißt ihren Begriff aufgeben. Hätte die Wahrheit eine wesentliche Beziehung zu denkenden Intelligenzen, ihren geistigen Functionen und Bewegungsformen, so entstände und vergienge sie mit ihnen, und wenn nicht mit den Einzelnen, so mit den Species. Wie die echte Objectivität der Wahrheit wäre auch die des Seins dahin, selbst die des subjectiven Seins, bezw. des Seins der Subjecte. Wie wenn z. B. die denkenden Wesen ins- gesammt unfähig wären, ihr eigenes Sein als wahrhaft seiend 1 A. a. 0. I. 2 § 39, 2. S. 310. 132 Der Psycholog ismus zu setzea? Dann wären sie und wären auch nicht. Wahrheit und Sein sind beide im gleichen Sinne „Kategorien" und offen- bar correlativ. Man kann nicht Wahrheit relativiren und an der Objectivität des Seins festhalten. Freilich setzt die Rela- tivirung der Wahrheit doch wieder ein objectives Sein als Be- ziehungspunkt voraus — darin liegt ja der relativistische Widerspruch. In Harmonie mit Sigwart's sonstigem Psychologismus finden wir seine Lehre vom Allgemeinen, die hierher gehört, da die Idealität der Wahrheit durchaus die Idealität des Allge- meinen, des Begrifflichen voraussetzt. Gelegentlich lesen wir die scherzhafte Aeußerung, „das Allgemeine sei in unserem Kopfe", und in ernsthafter Ausführung, das „begrifflich Vor- gestellte" sei „ein rein inneres, . . . von nichts als von der inneren Kraft unseres Denkens Abhängiges". 1 Unzweifelhaft kann man dergleichen von unserem begrifflichen Vorstellen sagen, als einem subjectiven Act von dem und dem psycho- logischen Gehalt. Aber das „Was" dieses Vorstellens, der Begriff, kann in keinem Sinne als reelles Stück des psycho- logischen Gehalts gefaßt werden, als ein Hier und Jetzt, mit dem Acte kommend und verschwindend. Es kann im Denken gemeint, aber nicht im Denken erzeugt sein. Dieselbe Relativirung wie bei dem Wahrheitsbegriff voll- zieht Sigwart consequenter Weise auch bei den mit jenem so nahe zusammenhängenden Begriffen Grund und Notwendig- keit. „Ein logischer Grund, den wir nicht kennen, ist strenge genommen ein Widerspruch, denn er wird erst ein logischer Grund dadurch, daß wir ihn kennen." 2 Die Aussage, daß die mathematischen Lehrsätze ihren Grund haben in den mathe- matischen Axiomen, beträfe also „streng genommen" eine Sachlage von menschlich -psychologischem Inhalt. Dürften wir noch behaupten, daß sie gilt, ob überhaupt Jemand ist, ge- wesen ist und sein wird, der sie erkennt? Die gewöhnliche 1 A. a. 0. I. 2 § 45, 9. S. 388. 2 A. a. 0. I. 2 § 32, 2. S. 248. als skeptischer Relativismus. 133 Rede, welche solchen Verhältnissen zwischen Grund und Folge Objectivität verleiht, indem sie von ihrer Entdeckung spricht, wäre darnach eine verkehrte. So sehr sich Sigwakt bemüht, die wesentlich unterschie- denen Begriffe des Grundes zu sondern, und so viel Scharfsinn er darin bekundet (wie wir dies bei einem so bedeutenden Forscher nicht anders erwarten können), die psychologistische Richtung seines Denkens hindert ihn doch die wesentlichste Scheidung zu vollziehen, welche eben die scharfe Sonderung zwischen Idealem und Realem voraussetzt. Wenn er den „logischen Grund" oder „Grund der Wahrheit" dem psycho- logischen Grund der Gewißheit" gegenüberstellt, so findet er ihn doch nur in einer gewissen Allgemeingleichheit des Vor- gestellten, „weil nur dieses, nicht die individuelle Stimmung u. s. w. ein für alle Gemeinsames sein kann"; wogegen wir unsere obigen Bedenken nicht zu wiederholen brauchen. Die fundamentale Sonderung zwischen Grund der Wahr- heit, der das rein Logische, und Grund des Urtheils, der das normativ Logische angeht, müssen wir bei Sigwakt vermissen. Auf der einen Seite hat eine Wahrheit (nicht das Urtheil, sondern die ideale Geltungseinheit) einen Grund, d. h. hier, in äquivalenter Redeweise, es giebt einen theoretischen Beweis, der sie auf ihre (objectiven, theoretischen) Gründe zurückführt. Einzig und allein auf diesen Sinn bezieht sich der Satz vom Grunde. Und für diesen Begriff des Grundes gilt es durchaus nicht, daß jedes Urtheil einen Grund habe, geschweige denn, daß jedes einen solchen „implicite mitbehaupte". Jedes letzte Begründungsprincip, also jedes echte Axiom, ist in diesem Sinne grundlos, wie in entgegengesetzter Richtung auch jedes Thatsachenurtheil. Nur die Wahrscheinlichkeit einer Thatsache kann begründet sein, nicht sie selbst, bezw. das Thatsachenurtheil. Auf der anderen Seite meint der Ausdruck , Grund des Urtheils' — wofern wir absehen von den psycho- logischen ,Gründen', d. i. Ursachen der Urtheilsfällung und speciell auch von den inhaltlichen Motiven derselben 1 — nichts Anderes als 1 Vgl. Sigwart's treffliche Sonderung zwischen Veranlassung der Verknüpfung und Grund der Entscheidung, a. a. 0. S. 250. 134 Der Psychologismus logisches Recht des Urtheils. In diesem Sinne ,beansprucht' jedes Urtheil allerdings sein Recht (obschon es nicht unbedenklich wäre zu sagen, daß es „implicite mitbehauptet" würde). Das heißt: an jedes ist die Forderung zu stellen, daß es als wahr behaupte, was wahr sei; und als Techniker der Erkenntnis, als Logiker im gewöhnlichen Sinne, müssen wir an das Urtheil auch mit Beziehung auf die weitergehende Erkenntnisbewegung mancherlei Forderungen stellen. Sind sie nicht erfüllt, so tadeln wir das Urtheil als logisch unvollkommen, als , unbegründet.' ; Letzteres allerdings mit einer gewissen Ueberspannung des gemeinen Wortsinns. Aehnliche Bedenken erregen uns Sigwart's Ausführungen über Notwendigkeit. Wir lesen : „Aller logischen Notwendigkeit [muß] doch zuletzt ein seiendes denkendes Subject, dessen Natur es ist, so zu denken, vorausgesetzt werden, solange wir verständlich reden wollen." 1 Oder man verfolge die Ausführungen über den Unterschied der assertorischen und apodictischen Urtheile, den Sigwart für einen unwesentlichen erachtet, „sofern in jedem mit vollkommenem Bewußtsein ausgesprochenen Urtheil die Not- wendigkeit, es auszusprechen, mitbehauptet werde". 2 Die total verschiedenen Begriffe von Notwendigkeit ermangeln bei Sigwart der wechselseitigen Absonderung. Die subjective Notwendigkeit, d. h. der subjective Zwang der Ueberzeugung, welcher jedem Urtheil anhaftet (oder vielmehr bei jedem Urtheil dann hervor- tritt, wenn wir, von ihm noch durchdrungen, sein Gegen theil zu vollziehen suchen), wird nicht klar unterschieden von den ganz anderen Nothwendigkeitsbegriffen, zumal von der apodic- tischen Notwendigkeit, als dem eigenartigen Bewußtsein, in dem sich das einsichtige Erfassen eines Gesetzes oder eines Gesetzmäßigen constituirt. Dieser letztere (eigentlich zwie- fache) Begriff von Notwendigkeit fehlt bei Sigwart im Grunde genommen ganz. Zugleich übersieht er die fundamentale Aequivocation, welche es gestattet, nicht bloß das apodictische Nothwendigkeitsbe wüßt sein, sondern sein objectives Corre- 1 A. a. 0. § 33, 7. S. 262. * A. a. 0. §31,1. S. 230 ff. als skeptischer Relativismus. 135 lat — nämlich das Gesetz, bezw. das Gelten gemäß dem Gesetze, von dem wir in jenem Bewußtsein Einsicht haben — als nothwendig zu bezeichnen. So erst gewinnen ja die Aus- drücke ,es ist eine Notwendigkeit' und ,es ist ein Gesetz' ihre objective Gleichwertigkeit, und desgleichen die Ausdrücke ,es ist nothwendig', daß SP sei, und ,es ist nach Gesetzen be- gründet', daß SP sei. Und natürlich ist es dieser letzte rein objective und ideale Begriff, der allen apodictischen Urtheilen im objectiven Sinne der reinen Logik zu Grunde liegt; er allein beherrscht und constituirt alle theoretische Einheit, er bestimmt die Be- deutung des hypothetischen Zusammenhanges als einer objectiv- idealen Wahrheitsform von Sätzen, er bindet den Schlußsatz als ,nothwendige' (ideal-gesetzliche) Folge an die Prämissen. Wie wenig Sigwakt diesen Unterschieden gerecht wird, wie sehr er im Psychologismus befangen ist, das zeigen zumal seine Auseinandersetzungen über LEiBNizens fundamentale Scheidung in „verites de raison et celles de fait". Die „Notwendigkeit" beider Arten ist, meint Sigwart, „zuletzt eine hypothetische", denn „daraus, daß das Gregentheil einer thatsächlichen Wahrheit nicht a priori un- möglich ist, folgt nicht, daß es für mich nicht nothwendig wäre, das Factum zu behaupten, nachdem es geschehen ist, und daß die entgegengesetzte Behauptung für den möglich wäre, der das Factum kennt;" 1 und wieder: „auf der anderen Seite ist das Haben der allge- meinen Begriffe, auf denen die identischen Sätze ruhen, zuletzt ebenso etwas Factisches, was da sein muß, ehe das Princip der Identität darauf angewandt werden kann, um ein nothwendiges Urtheil zu er- zeugen". Und so glaubt er schließen zu dürfen, daß sich die LEiBNiz'sche Unterscheidung „hinsichtlich des Charakters der Not- wendigkeit auflöse". 2 Was hier geltend gemacht wird, ist freilich richtig. Für mich zu behaupten nothwendig ist jedes Urtheil, während ich es fälle, und sein Gegentheil, während ich seiner noch gewiß bin, zu leugnen, ist mir unmöglich. Aber ist es diese psychologische Notwendigkeit 1 A. a. 0. § 31, 6. S. 239. 2 Die beiden letzten Citate a. a. 0. S. 240. 136 Der Psychologismus welche Leibniz meint, wenn er den Thatsachenwahrheiten die Noth- wendigkeit — die Rationalität abstreitet? Wieder ist es sicher, daß kein Gesetz erkannt werden kann, ohne das Haben der allgemeinen Begriffe, aus denen es sich aufbaut. Gewiß ist dieses Haben, wie die ganze Gesetzeserkenntnis, etwas Factisches. Aber hat denn Leibniz das Erkennen des Gesetzes und nicht vielmehr die erkannte Gesetzes- wahrheit als noth wendig bezeichnet? Verträgt sich mit der Not- wendigkeit der verite de raison nicht sehr wol die Contingenz des Urtheilsactes , in dem sie ev. zu einsichtiger Erkenntnis kommen mag? Nur durch Vermengung der beiden wesentlich verschiedenen Begriffe von Noth wendigkeit, der subjectiven des Psychologismus und der objectiven des LEiBNiz'schen Idealismus, kommt in Sigwabt's Argumentation der Schluß zu Stande, daß sich jene Unterscheidung LEiBNizens „hinsichtlich des Charakters der Notwendigkeit auflöse". Dem fundamentalen objectiv-idealen Unterschied zwischen Gesetz und Thatsache entspricht unweigerlich ein subjectiver in der Weise des Erlebens. Hätten wir nie das Bewußtsein der Rationalität, des Apo- dictischen erlebt in seiner charakteristischen Unterschiedenheit vom Bewußtsein der Thatsächlichkeit, so hätten wir gar nicht den Begriff von Gesetz, wir wären unfähig zu unterscheiden: Gesetz von That- sache; generelle (ideale, gesetzliche) Allgemeinheit von universeller (thatsächlicher, zufälliger) Allgemeinheit; noth wendige (d. h. wiederum gesetzliche, generelle) Folge von thatsächlicher (zufälliger, univer- seller) Folge; all das, wofern es wahr ist, daß Begriffe, die nicht als Complexionen bekannter Begriffe (und zwar als Complexionen bekannter Complexionsformen) gegeben sind, uns ursprünglich nur erwachsen sein können im Erlebnis von Einzelfällen. LEiBNizens verites de raison sind nichts anderes als die Gesetze, und zwar im strengen und reinen Sinn der idealen Wahrheiten, die ,rein io den Begriffen gründen', die uns gegeben und erkannt sind in apodictisch evidenten, reinen Allgemeinheiten. LEiBNizens verites de fait sind alle übrigen Wahrheiten, es ist die Sphäre der Sätze, welche über individuelle Existenz aussagen, mögen sie für uns auch die Form »allgemeiner' Sätze haben, wie ,alle Südländer sind heißblütig'. § 40. Der Anthropologismus in B. Erdmann's Logik. Eine ausdrückliche Erörterung der relativistischen Conse- quenzen, die in seiner ganzen Behandlung der logischen Funda- als skeptischer Relativismus. 137 mentalbegriffe und -probleme beschlossen sind, finden wir bei Sigwaet nicht. Dasselbe gilt von Wundt. Obschon Wundt's Logik den psychologischen Motiven einen womöglich noch freieren Spielraum gewährt als diejenige Sigwart's und ausgedehnte er- kenntnistheoretische Kapitel enthält, so werden in ihr die letzten principiellen Zweifel kaum berührt. Aehnliches gilt von Lipps, dessen Logik den Psychologismus übrigens so originell und consequent vertritt, so sehr allen Compromissen abhold, so tief bis in alle Verzweigungen der Disciplin durchgeführt, wie wir es seit Beneke kaum wieder finden. Ganz anders liegt die Sache bei Erdmann. In lehrreicher Folgerichtigkeit tritt er in einer längeren Ausführung für den Relativismus entschieden ein, und durch Hinweis auf die Mög- lichkeit der Aenderung der Denkgesetze glaubt er der „Ver- messenheit" begegnen zu müssen, „die da meint, an diesem Punkte die Grenzen unseres Denkens überspringen, einen Standort für uns außerhalb unserer selbst gewinnen zu können". l Es wird nützlich sein auf seine Lehre näher einzugehen. Erdmann beginnt mit der Widerlegung des gegnerischen Standpunktes. „Mit überwiegender Majorität," so lesen wir, 2 „ist seit Aristoteles behauptet worden, daß die Notwendig- keit dieser [logischen] Grundsätze eine unbedingte, ihre Geltung also eine ewige sei . . ." „Der entscheidende Beweisgrund dafür wird in der Denk- unmöglichkeit der widersprechenden Urtheile gesucht. In- dessen folgt aus ihr allein doch nur, daß jene Grundsätze das Wesen unseres Vorstellens und Denkens wiedergeben. Denn lassen sie dieses erkennen, so können ihre contradictorischen Urtheile nicht vollziehbar sein, weil sie eben die Bedingungen aufzuheben suchen, an die wir in allem unserem Vorstellen und Denken, also auch in unserem Urtheilen gebunden sind." 1 B. Erdmann, Logik, § 60, Nr. 370, S. 378 u. 2 A. a. 0. Nr. 369, S. 375. Die weiter unten folgenden Citate schließen sich der Reihe nach an. 138 Der Psychologismus Zunächst einige Worte über den Sinn des Argumentes. Es scheint zu schließen: Aus der Unvollziehbarkeit der Leugnung jener Grundsätze folgt, daß sie das Wesen unseres Vorstellens und Denkens wiedergeben; denn wenn sie es thun, so ergiebt sich jene Unvoll- ziehbarkeit als nothwendige Folge. Dies kann nicht als Schluß ge- meint sein. Daß A aus B folgt, kann ich nicht daraus erschließen, daß B aus A folgt. Die Meinung ist offenbar nur die, daß die Un- möglichkeit, die logischen Grundsätze zu leugnen, ihre Erklärung darin finde, daß diese Grundsätze ,,das Wesen unseres Vorstellens und Denkens wiedergeben". Mit dem Letzteren wiederum ist gesagt, daß sie Gesetze sind, welche feststellen, was dem allgemein mensch- lichen Vorstellen und Denken als solchem zukommt, „daß sie Be- dingungen angeben, an die wir in allem unserem Vorstellen und Denken gebunden sind". Und darum, weil sie dies thun, sind contradictorisch sie leugnende Urtheile — wie Erdmann annimmt — unvollziehbar. Aber weder kann ich diesem Schluß beistimmen, noch den Behauptungen, aus denen er sich zusammensetzt. Es erscheint mir als sehr wol möglich, daß gerade vermöge der Gesetze, denen alles Denken eines Wesens (z. B. eines Menschen) unter- steht, in individuo Urtheile zu Tage treten, welche die Geltung dieser Gesetze leugnen. Die Leugnung dieser Gesetze widerspricht ihrer Behauptung; aber die Leugnung als realer Act kann sehr wol verträglich sein mit der objectiven Geltung der Gesetze, bezw. mit der realen Wirksamkeit der Bedingungen, über welche das Gesetz eine allgemeine Aussage macht. Handelt es sich beim Widerspruch um ein ideales Ver- hältnis von Urtheilsinhalten, so handelt es sich hier um ein reales Verhältnis zwischen dem Urtheilsact und seinen gesetz- lichen Bedingungen. Angenommen es wären die Gesetze der ldeenassociation Grundgesetze des menschlichen Vorstellens und Urtheilens, wie die Associationspsychologie in der That lehrte, wäre es dann eine als absurd zu verwerfende Unmög- lichkeit, daß ein Urtheil, daß diese Gesetze leugnete, sein Da- sein gerade der Wirksamkeit dieser Gesetze verdankte? (Vgl. oben S. 67 f.) als skeptischer Relativismus. 139 Aber selbst wenn der Schluß richtig wäre, seinen Zweck müßte er verfehlen. Denn der logische Absolutist (sit venia verbo) wird mit Recht einwenden: Die Denkgesetze, von wel- chen Erdmann spricht, sind entweder nicht diejenigen, von welchen ich und alle Welt spricht, und dann trifft er gar nicht meine These; oder er legt ihnen einen Charakter bei, der ihrem klaren Sinn durchaus widerstreitet. Und abermals wird er ein- wenden: Die Denkunmöglichkeit für die Negationen dieser Gesetze, welche sich aus ihnen als Folge ergeben soll, ist ent- weder dieselbe, die ich und alle Welt darunter verstehen, dann spricht sie für meine Auffassung; oder sie ist eine andere, dann bin ich abermals nicht getroffen. Was das Erste anlangt, so drücken die logischen Grund- sätze nichts weiter aus, als gewisse Wahrheiten, die im bloßen Sinn (Inhalt) gewisser Begriffe, wie Wahrheit, Falschheit, Urtheil (Satz) u. dgl. gründen. Nach Erdmann sind sie aber „Denk- gesetze", welche das Wesen unseres menschlichen Denkens ausdrücken; sie nennen die Bedingungen, an welche alles menschliche Vorstellen und Denken gebunden ist, sie würden sich, wie gleich nachher expressis verbis gelehrt wird, mit der menschlichen Natur verändern. Folglich hätten sie nach Erdmann einen realen Inhalt. Aber dies widerspricht ihrem Charakter als rein begrifflichen Sätzen. Kein Satz, der in bloßen Begriffen (Bedeutungen in specie) gründet, der bloß feststellt, was in den Begriffen liegt und mit ihnen gegeben ist, sagt etwas über Reales aus. Und man braucht nur auf den wirklichen Sinn der logischen Gesetze hinzublicken, um zu er- kennen, daß sie dies auch nicht thun. Selbst wo in ihnen von Urtheil en die Rede ist, meinen sie nicht das, was die psycho- logischen Gesetze mit diesem Worte treffen wollen, nämlich Urtheile als reale Erlebnisse, sondern sie meinen Urtheile in dem Sinne von Aussagebedeutungen in specie, die identisch sind, was sie sind, ob sie wirklichen Acten des Aussagens zu Grunde liegen oder nicht, und wieder ob sie von dem oder jenem ausgesagt werden. So wie man die logischen Principien 140 Der Psychologismus als Realgesetze auffaßt, die in der Weise von Naturgesetzen unser reales Vorstellen und Urtheilen regeln, verändert man total ihren Sinn — wir haben dies oben ausführlich erörtert. Man sieht wie gefährlich es ist, die logischen Grundgesetze als Denkgesetze zu bezeichnen. Sie sind es, wie wir im näch- sten Kapitel noch genauer darlegen werden, nur in dem Sinne von Gesetzen, die bei der Normirung des Denkens eine Rolle zu spielen berufen sind; eine Ausdrucksweise, die schon an- deutet, daß es sich dabei um eine practische Function handelt, eine Nutzungsweise, und nicht um etwas in ihrem Inhalt selbst Liegendes. Daß sie nun das „Wesen des Denkens" ausdrücken, dies könnte im Hinblick auf ihre normative Function einen wolberechtigten Sinn noch gewinnen, wenn die Voraussetzung erfüllt wäre, daß in ihnen die nothwendigen und hinreichenden Kriterien gegeben sind, nach welchen die Richtigkeit jedes Urtheils zu bemessen wäre. Man könnte dann allenfalls sagen, daß sie das ideale Wesen alles Denkens, im outrirten Sinne des richtigen Urtheilens, ausprägten. So hätte es der alte Rationalismus gerne gefaßt, der sich aber nicht klar machen konnte, daß die logischen Grundsätze nichts weiter sind als triviale Allgemeinheiten, gegen die eine Behauptung bloß darum nicht streiten darf, weil sie sonst widersinnig wäre, und daß also umgekehrt die Harmonie des Denkens mit diesen Normen auch nicht mehr verbürgt, als daß es in sich formal (nicht) einstimmig sei. Darnach wäre es ganz unpassend, auch jetzt noch in diesem (idealen) Sinne von dem „Wesen des Denkens" zu sprechen und es durch jene Gesetze 1 zu umschreiben, die, 1 Ich denke hier schon alle rein logischen Gesetze zusammengefaßt. Mit den zwei oder drei „Denkgesetzen" im traditionellen Sinn bringt man nicht einmal den Begriff eines formal -einstimmigen Denkens zu Stande, und alles, was dem entgegen von Alters her gelehrt wurde, halte ich (und nicht ich allein) für Täuschung. Jeder formale Widersinn läßt sich auf einen Widerspruch reduciren, aber nur unter Vermittlung gar mannig- faltiger anderer formaler Grundsätze, z. B. der syllogistischen , der arith- metischen u. s. w. Schon in der Syllogistik ist deren Zahl mindestens ein Dutzend. Sie lassen sich alle trefflich demonstriren — in Schein- beweisen, die sie selbst oder ihnen äquivalente Sätze voraussetzen. als skeptischer Relativismus. 141 wie wir wissen, nicht mehr leisten, als nns den formalen Widersinn vom Leibe zu halten. Es ist noch ein Ueberrest des rationalistischen Vorurtheils, wenn man bis in unsere Zeit statt von formaler Einstimmigkeit, von formaler Wahrheit ge- sprochen hat, ein höchst verwerfliches, weil beirrendes Spiel mit dem Worte Wahrheit. Doch gehen wir nun zum zweiten Punkte über. Die Unmöglichkeit der Leugnung der Denkgesetze faßt Erdmann als Unvollziehbarkeit solcher Leugnung. Diese beiden Be- griffe halten wir logischen Absolutisten für so wenig identisch, daß wir die Unvollziehbarkeit überhaupt leugnen und die Un- möglichkeit aufrecht halten. Nicht die Leugnung als Act ist unmöglich (und das hieße, als zu einem Realen gehörig, so viel wie real -unmöglich) sondern der ihren Inhalt bildende nega- tive Satz ist unmöglich, und zwar ist er als idealer in idealem Sinne unmöglich; darin liegt aber: er ist widersinnig und somit evident falsch. Diese ideale Unmöglichkeit des ne- gativen Satzes streitet gar nicht mit der realen Unmöglichkeit des negirenden Urtheilsactes. Man vermeide noch den letzten Rest äquivoker Ausdrücke, man sage, der Satz sei widersinnig, das Urtheil sei causal ausgeschlossen, und alles wird völlig klar. Im factischen Denken des normalen Menschen tritt nun freilich die actuelle Negation eines Denkgesetzes in der Regel nicht auf; aber daß es beim Menschen überhaupt nicht auf- treten kann, wird man schwerlich behaupten können, nach- dem große Philosophen wie Epikur und Hegel den Satz des Widerspruchs geleugnet haben. Vielleicht sind Genie und Wahn- sinn einander auch in dieser Hinsicht verwandt, vielleicht giebt es auch unter den Irrsinnigen Leugner der Denkgesetze; als Menschen wird man doch auch sie müssen gelten lassen. Man erwäge auch: Im selben Sinne denkunmöglich wie die Negation der primitiven Grundsätze ist diejenige aller ihrer noth wendigen Consequenzen. Aber daß man sich in Beziehung auf verwickelte syllogistische oder arithmetische Lehrsätze täuschen kann, ist allbekannt, und so dient auch dies als unanfechtbares Argument. 142 Der Psycholugismus Im Uebrigen sind dies Streitfragen, die das Wesentliche nicht berühren. Die logische Unmöglichkeit, als Widersinnigkeit des idealen Urtheilsinhalts, und die psychologische Unmöglichkeit, als Unvollziehbarkeit des correspondirenden Urtheilsactes, wären heterogene Begriffe auch dann, wenn die letztere mit der ersteren allgemein-menschlich gegeben, also die Fürwahrhaltung von Widersinnigkeiten naturgesetzlich ausgeschlossen wäre. 1 Es ist nun diese echte logische Unmöglichkeit des Wider- spruches gegen die Denkgesetze, welche der logische Absolutist als Argument für die „Ewigkeit" dieser Gesetze verwendet. Was meint hier die Rede von der Ewigkeit? Doch nur den Umstand, daß jedes Urtheil, unabhängig von Zeit und Um- ständen, von Individuen und Species, durch die rein logischen Gesetze ,gebunden' ist; und dies Letztere natürlich nicht im psychologischen Sinne eines Denkzwanges, sondern in dem idealen Sinne der Norm: wer eben anders urtheilte, urtheilte unbedingt falsch, zu welcher Species psychischer Wesen er sich nun rechnen mag. Die Beziehung auf psychische Wesen be- deutet offenbar keine Einschränkung der Allgemeinheit. Nor- men für Urtheile ,binden' urtheilende Wesen und nicht Steine. Das liegt in ihrem Sinn, und so wäre es lächerlich, die Steine und ähnliche Wesen in dieser Hinsicht als Ausnahmen zu be- handeln. Der Beweis des logischen Absolutisten ist nun sehr ■einfach. Er wird eben sagen: Folgender Zusammenhang ist mir durch Einsicht gegeben. Es gelten die und die Grund- sätze, und sie thun es so, daß sie nur entfalten, was im Inhalt ihrer Begriffe gründet. Folglich ist jeder Satz (d. i. jeder mögliche Urtheilsinhalt im idealen Sinne) widersinnig, wenn er die Grundgesetze entweder unmittelbar negirt oder gegen sie mittelbar verstößt. Das Letztere besagt ja nur, daß ein rein deductiver Zusammenhang an die Wahrheit solcher Urtheilsin- halte als Hypothesis, die Unwahrheit jener Grundsätze als Thesis anknüpft. Sind darnach Urtheilsinhalte dieser Art wider- Vgl. die Erörterungen des § 22 in Kap. IV, besonders S. 67 f. als skeptischer Relativismus. 143 sinnig und als solche falsch, so muß auch jedes actuelle Ur- theil, dessen Inhalte sie sind, unrichtig sein; denn richtig heißt ein Urtheil, wenn ,das was es urtheilt', d. i. sein Inhalt, wahr, also unrichtig, wenn derselbe falsch ist. Ich betonte soeben jedes Urtheil, um aufmerksam zu machen, daß der Sinn dieser strengen Allgemeinheit jede Einschränkung, also auch die auf menschliche oder andersartige Gattungen urtheilender Wesen eo ipso ausschließt. Ich kann Niemanden zwingen, einzusehen, was ich einsehe. Aber ich selbst kann nicht zweifeln, ich sehe ja abermals ein, daß jeder Zweifel hier, wo ich Einsicht habe, d. i. die Wahrheit selbst erfasse, verkehrt wäre; und so finde ich mich überhaupt an dem Punkte, den ich entweder als den archimedischen gelten lasse, um von hier aus die Welt der Unvernunft und des Zweifels aus den Angeln zu heben, oder den ich preisgebe, um damit alle Vernunft und Erkenntnis preiszugeben. Ich sehe ein, daß sich dies so verhält, und daß ich im letzteren Falle — wenn von Vernunft oder Unvernunft dann noch zu reden wäre — alles vernünftige Wahrheitsstreben, alles Behaupten und Be- gründen einstellen müßte. Mit all dem finde ich mich nun freilich in Widerstreit mit dem ausgezeichneten Forscher. Er fährt nämlich fort: „Unbedingt wäre die so begründete Notwendigkeit der formalen Grundsätze . . . nur dann, wenn unsere Erkenntnis derselben verbürgte, daß das Wesen des Denkens, das wir in uns finden und durch sie ausdrücken, ein unveränderliches, oder gar das einzig mögliche Wesen des Denkens wäre, daß jene Bedingungen unseres Denkens zugleich die Bedingungen jedes möglichen Denkens wären. Wir wissen jedoch nur von unserem Denken. Ein von dem unseren verschiedenes, also auch ein Denken überhaupt als Gattung zu solchen verschie- denen Arten des Denkens zu construiren sind wir nicht im Stande. Worte, die ein solches zu beschreiben scheinen, haben keinen von uns vollziehbaren Sinn, der dem Anspruch genügte, <len dieser Schein erwecken soll. Denn jeder Versuch, das, 144 Der Psychologismus was sie beschreiben, herzustellen, ist an die Bedingungen unseres Vorstellens und Denkens gebunden, bewegt sich in ihrem Kreise." Würden wir so verfängliche Reden, wie die vom „Wesen unseres Denkens" in rein logischen Zusammenhängen überhaupt gelten lassen, würden wir sie also nach Maßgabe unserer Analysen durch die Summe der Idealgesetze fassen, welche die formale Einstimmigkeit des Denkens umgrenzen, dann würden wir natürlich auch den Anspruch erheben, das strenge erwiesen zu haben, was Erdmann für unerweisbar hält: daß das Wesen des Denkens ein unveränderliches, ja gar das einzig mögliche wäre u. s. w. Aber freilich ist es klar, daß Erdmann, während er dies leugnet, jenen allein berechtigten Sinn der fraglichen Redeweise nicht innehält, es ist klar, daß er (die weiter unten folgenden Citate lassen es noch schroffer hervortreten) die Denkgesetze als Ausdrücke des realen Wesens unseres Denkens, somit als Realgesetze faßt, als ob wir mit ihnen eine unmittel- bare Einsicht in die allgemein menschliche Constitution nach ihrer Erkenntnisseite gewönnen. Leider ist dies gar nicht der Fall. Wie sollten auch Sätze, die nicht im Entferntesten von Realem sprechen, die nur klar legen, was mit gewissen Wort- bedeutungen oder Aussagebedeutungen sehr allgemeiner Art unabtrennbar gesetzt ist, so gewichtige Erkenntnisse realer Art, über das „Wesen geistiger Vorgänge, kurz unserer Seele" (wie wir weiter unten lesen) gewähren? Andererseits, hätten wir durch solche oder andere Ge- setze Einsicht in das reale Wesen des Denkens, dann kämen wir doch zu ganz anderen Consequenzen, wie der verdiente Forscher. „Wir wissen nur von unserem Denken." Genauer gesprochen, wissen wir nicht nur von unserem individuell- eigenem Denken, sondern, als wissenschaftliche Psychologen, auch ein klein wenig vom allgemein -menschlichen, und noch viel weniger vom thierischen. Jedenfalls ist aber ein in diesem realen Sinne andersartiges Denken und sind ihm zuge- ordnete Species denkender Wesen für uns gar nicht denkunmög- als skeptischer Relativismus. 145 lieh, sie könnten sehr wol und sinnvoll beschrieben werden^ ganz so wie dergleichen bei fictiven naturwissenschaftlichen Species nicht ausgeschlossen ist. Böcklin malt uns die präch- tigsten Centauren und Nixen mit leibhaftiger Natürlichkeit. Wir glauben sie ihm — mindestens ästhetisch. Freilich ob sie auch naturgesetzlich möglich sind, wer wollte dies entscheiden. Aber hätten wir die letzte Einsicht in die Complexionsformen organischer Elemente, welche die lebendige Einheit des Orga- nismus gesetzlich ausmachen, hätten wir die Gesetze, welche den Strom solchen Werdens in dem typisch geformten Bette erhalten, so könnten wir den wirklichen Species mannigfaltige objeetiv mögliche in wissenschaftlich exaeten Begriffen an- reihen, wir könnten diese Möglichkeiten so ernsthaft discutiren, wie der theoretische Physiker seine fingirten Species von Gravi- tationen. Jedenfalls ist die logische Möglichkeit solcher Fic- tionen auf naturwissenschaftlichem wie auf psychologischem Ge- biet unanfechtbar. Erst wenn wir die (xeräßaaiq slq ällo ykvoq vollziehen, die Eegion der psychologischen Denkgesetze mit der der rein logischen verwechseln, und nun die letzteren selbst in psychologistischem Sinne mißdeuten, gewinnt die Behauptung, andersartige Denkweisen vorzustellen seien wir außer Stande, die Worte, die sie zu beschreiben scheinen, hätten für uns keinen vollziehbaren Sinn, einen Anschein von Berechtigung. Mag sein, daß wir uns von solchen Denkweisen ,keine rechte Vorstellung' zu machen vermögen, mag sein, daß sie auch in absolutem Sinn für uns unvollziehbar sind; aber diese Unvoll- ziehbarkeit wäre in keinem Falle die Unmöglichkeit im Sinne der Absurdität, des Widersinns. Vielleicht ist folgende Ueberlegung zur Klärung nicht un- nütz. Theoreme aus der Lehre von den AßEi/schen Trans- scendenten haben für ein Wickelkind, und sie haben ebenso für den Laien (das mathematische Kind, wie die Mathematiker scherzhaft zu sagen pflegen) keinen „vollziehbaren" Sinn. Das liegt an den individuellen Bedingungen ihres Vorstellen s und Denkens. Genau so wie wir Reifen zum Kinde, wie der Hüssebl, Log. Unters. I. 10 146 Der Psychologismm Mathematiker zum Laien, so könnte sich allgemein eine höhere Species denkender Wesen, sagen wir Engel, zu uns Menschen verhalten. Deren Worte und Begriffe hätten für uns keinen vollziehbaren Sinn, gewisse specifische Eigenheiten unserer psychischen Constitution ließen es eben nicht zu. Der normale Mensch braucht, um die Theorie der AßEi/schen Functionen, ja auch nur um deren Begriffe zu verstehen, einige, sagen wir fünf Jahre. Es könnte sein, daß er, um die Theorie gewisser englischer Functionen zu verstehen, bei seiner Constitution eines Jahrtausends bedürfte, während er doch im günstigen Falle ein Jahrhundert kaum erreichen wird. Aber diese absolute, durch die gesetzlichen Schranken der speci- fischen Constitution bedingte Unvollziehbarkeit wäre natürlich nicht diejenige, welche uns die Absurditäten, die widersin- nigen Sätze zumuthen. In einem Falle handelt es sich um Sätze, die wir schlechterdings nicht verstehen können; dabei sind sie an sich betrachtet einstimmig und sogar giltig. Im an- deren Falle hingegen verstehen wir die Sätze sehr wol; aber sie sind widersinnig, und darum ,können wir an sie nicht glauben', cl. h. wir sehen ein, daß sie als widersinnige ver- werflich sind. Betrachten wir nun auch die extremen Consequenzen, welche Erdmann aus seinen Prämissen zieht. Gestützt auf das „leere Postulat eines anschauenden Denkens" müssen wir nach ihm „die Möglichkeit zugeben, daß ein Denken, welches von dem unsrigen wesensverschieden ist, stattfinde", und er zieht daraus den Schluß, daß somit „die logischen Grundsätze auch nur für den Bereich dieses unseres Denkens gelten, ohne daß wir eine Bürgschaft dafür hätten, daß dieses Denken sich seiner Beschaffenheit nach nicht ändern könnte. Denn es bleibt demnach möglich, daß eine solche Aenderung eintrete, sei es daß sie alle, sei es daß sie nur einige dieser Grund- sätze träfe, da sie nicht alle aus einem analytisch ableitbar sind. Es ist belanglos, daß diese Möglichkeit in den Aussagen unseres Selbstbewußtseins über unser Denken keine Stütze als skeptischer Relativismus. 147 findet, die ihre Verwirklichung vorhersehen ließe. Sie besteht trotz alledem. Denn wir können unser Denken nur hin- nehmen, wie es ist. Wir sind nicht in der Lage, seine zukünf- tige Beschaffenheit durch die gegenwärtige in Fesseln zu schlagen. Wir sind insbesondere unvermögend, das Wesen unserer geistigen Vorgänge, kurz unserer Seele so zu fassen, daß wir aus ihr die Unveränderlichkeit des uns gegebenen Denkens deduciren könnten." 1 Und so können wir nach Eedmann „nicht umhin einzuge- stehen, daß alle jene Sätze, deren widersprechende Gedanken von uns unvollziehbar sind, nur unter der Voraussetzung der Beschaffenheit unseres Denkens nothwendig sind, die wir als diese bestimmte erleben, nicht aber absolut, unter jeder mög- lichen Bedingung. Unseren logischen Grundsätzen also bleibt auch hiernach ihre Denknothwendigkeit; nur daß sie nicht als absolute, sondern als hypothetische [in unserer Rede- weise: relative] angesehen wird. Wir können nicht anders, als ihnen zustimmen — nach der Natur unseres Vorstellens und Denkens. Sie gelten allgemein, vorausgesetzt daß unser Denken dasselbe bleibt. Sie sind nothwendig, weil wir nur unter ihrer Voraussetzung denken können, so lange sie das Wesen unseres Denkens ausdrücken." 2 Nach den bisherigen Ausführungen brauche ich nicht zu 1 Vgl. a. a. 0. Nr. 369 sub e. S. 377—78. — Hatte man sich mit der Möglichkeit einer Veränderung des logischen Denkens einmal ver- traut gemacht, so lag der Gedanke einer Entwicklung desselben nicht mehr fern. Nach G. Feruero, les lois psychologiques du Symbolisme, Paris 1895, „soll die Logik" — so lese ich in einem Eeferat A. Lasson's in der Zeitschrift f. Philos. Bd. 113, S. 85 — „positiv werden und die Gesetze des Schließens je nach dem Alter und der Entwicklungsstufe der Cultur darstellen; denn auch die Logik ändere sich mit der Entwicklung des Gehirns . . Daß man früher die reine Logik und die deductive Methode vorgezogen habe, sei Denkfaulheit gewesen, und die Metaphysik sei das kolossale Denkmal dieser Denkfaulheit bis zum heutigen Tage geblieben, glücklicherweise nur noch bei einigen Zurückgebliebenen nach- wirkend". 2 Vgl. a. a. 0. Nr. 370, S. 378. 10* 148 Der Psychologismus sagen, daß meines Erachtens diese Consequenzen zu Recht nicht bestehen können. Gewiß gilt die Möglichkeit, daß ein von dem unsrigen wesensverschiedenes Seelenleben stattfinde. Gewiß können wir unser Denken nur hinnehmen, wie es ist, gewiß wäre jeder Versuch thöricht, aus „dem Wesen unserer geistigen Vorgänge, kurz unserer Seele" ihre Unveränderlichkeit deduciren zu wollen. Aber daraus folgt mit Nichten jene toto coelo ver- schiedene Möglichkeit, daß Veränderungen unserer specifischen Constitution, sei es alle oder einige Grundsätze träfen, und daß somit die Denknoth wendigkeit dieser Sätze eine bloß hypo- thetische sei. Vielmehr ist all das widersinnig, widersinnig in dem prägnanten Sinne, in dem wir das Wort (natürlich ohne jede Färbung, als rein wissenschaftlichen Terminus) hier all- zeit gebraucht haben. Es ist der Unsegen unserer vieldeutigen logischen Terminologie, daß dergleichen Lehren noch auftreten und selbst ernste Forscher täuschen können. Wären die primi- tiven begrifflichen Unterscheidungen der Elementarlogik voll- zogen und auf Grund derselben die Terminologie geklärt, würden wir uns nicht mit so elenden Aequivocationen herum- schleppen, wie sie allen logischen Terminis — Denkgesetz, Denkform, reale und formale Wahrheit, Vorstellung, Urtheil, Satz, Begriff, Merkmal, Eigenschaft, Grund, Notwendigkeit u. s. w. — anhaften, wie könnten so viele Widersinnigkeiten, darunter die des Relativismus, in Logik und Erkenntnislehre theo- retisch vertreten werden und in der That einen Schein für sich haben, der selbst bedeutende Denker blendet? Die Möglichkeit von variablen „Denkgesetzen" als psycho- logischen Gesetzen des Vorstellens und Urtheilens, welche für verschiedene Species psychischer Wesen mannigfach diffe- riren, ja in einer und derselben von Zeit zu Zeit wechseln, das giebt einen guten Sinn. Denn unter psychologischen be- setzen' pflegen wir ,empirische Gesetze' zu verstehen, ungefähre Allgemeinheiten der Coexistenz und Succession, auf Thatsäch- keiten bezüglich, die in einem Falle so, im anderen anders sein können. Auch die Möglichkeit von variablen Denkgesetzen als skeptischer Relativismus. 149 als normativen Gesetzen des Vorstellens und Urtheilens ge- stehen wir gerne zu. Gewiß können normative Gesetze der specifischen Constitution der urtheilenden Wesen angepaßt und daher mit ihnen veränderlich sein. Offenbar trifft dies die Regeln der practischen Logik als Methodenlehre, so wie es auch die methodischen Vorschriften der Einzelwissenschaften trifft. Die mathematisirenden Engel mögen andere Rechen- methoden haben als wir — aber auch andere Grundsätze und Lehrsätze? Diese Frage führt uns denn auch weiter: Wider- sinnig wird die Rede von variablen Denkgesetzen erst dann, wenn wir darunter die rein-logischen Gesetze verstehen (an welche wir auch die reinen Gesetze der Anzahlenlehre, der Ordinalzahlenlehre, der reinen Mengenlehre u. s. w. angliedern dürfen). Der vage Ausdruck „normative Gesetze des Denkens'', mit dem man auch sie bezeichnet, verführt allgemein dazu, sie mit jenen psychologisch fundirten Denkregeln zusammenzu- werfen. Sie aber sind rein theoretische Wahrheiten idealer Art, rein in ihrem Bedeutungsgehalt wurzelnd und nie über ihn hinausgehend. Sie können also durch keine wirkliche oder fictive Aenderung in der Welt des matter of faet berührt werden. Im Grande hätten wir hier eigentlich einen dreifachen Gegensatz zu berücksichtigen: nicht bloß den zwischen pr acti- scher Regel und theoretischem Gesetz, und wieder den zwi- schen Idealgesetz und Realgesetz, sondern auch den Gegen- satz zwischen exactem Gesetz und „empirischem Gesetz" (sc. als Durchschnittsallgemeinheit, von der es heißt: „keine Regel ohne Ausnahme"). Hätten wir Einsicht in die exacten Gesetze des psychischen Geschehens, dann wären auch sie ewig und unwandelbar, sie wären es, wie die Grundgesetze der theore- tischen Naturwissenschaften, sie würden also gelten, auch wenn es kein psychisches Geschehen gäbe. Würden alle gravitirenden Massen vernichtet, so wäre damit nicht das Gravitationsgesetz aufgehoben, es bliebe nur ohne Möglichkeit factischer Anwen- dung. Es sagt ja nichts über die Existenz gravierende r 150 Der Psychologismus Massen, sondern nur über das, was gravierenden Massen als solchen zukommt. (Freilich liegt, wie wir oben l erkannt haben, der Statuirung exacter Naturgesetze eine idealisirende Fiction zu Grunde, von der wir hier absehen, uns an die bloße Inten- tion dieser Gesetze haltend.) So wie man also nur zugesteht, daß die logischen Gesetze exacte sind und nur als exacte ein- gesehen werden, ist schon die Möglichkeit ihrer Aenderung durch Aenderungen in den Collocationen des thatsächlichen Seins und die dadurch gesetzten Umbildungen der natur- historischen und geistigen Species ausgeschlossen, somit ihre „ewige" Geltung verbürgt. Von psychologistischer Seite könnte Jemand unserer Posi- tion entgegenhalten, daß wie alle Wahrheit, so auch die der logischen Gesetze in der Erkenntnis liegt, und daß die Er- kenntnis als psychisches Erlebnis selbstredend psychologischen Gesetzen untersteht. Aber ohne hier die Frage erschöpfend zu erörtern, in welchem Sinne die Wahrheit in der Erkenntnis liegt, weise ich doch darauf hin, daß keine Aenderung psycho- logischer Thatsächlichkeiten aus der Erkenntnis einen Irrthum, aus dem Irrthum eine Erkenntnis machen kann. Entstehen und Vergehen der Erkenntnisse als Phänomene hängt natürlich an psychologischen Bedingungen, so wie das Entstehen und Vergehen anderer psychischer Phänomene, z. B. der sinn- lichen. Aber wie kein psychisches Geschehen es je erreichen kann, daß das Roth, das ich eben anschaue, statt einer Farbe vielmehr ein Ton, oder daß der tiefere von zwei Tönen der höhere sei; oder allgemeiner gesprochen, so wie alles, was in dem Allgemeinen des jeweiligen Erlebnisses liegt und gründet, über jede mögliche Aenderung erhaben ist, weil alle Aenderung die individuelle Einzelheit angeht aber für das Begriffliche ohne Sinn ist: so gilt das Entsprechende auch für die ,Inhalte' der Erkenntnisacte. Zum Begriff der Erkenntnis gehört, daß sein Inhalt den Charakter der Wahrheit habe. Dieser 1 Vgl. Kapitel IV, § 23, S. 71—73. als skeptischer Relativismus. 151 Charakter kommt nicht dem flüchtigen Erkenntnisphänomen zu, sondern dem identischen Inhalte desselben, dem Idealen oder Allgemeinen, das wir alle im Auge haben, wenn wir sagen: ich erkenne, daß a -f- b = b + a ist, und unzählige Andere erkennen dasselbe. Natürlich kann es sein, daß sich aus Erkenntnissen Irrthümer entwickeln, z. B. im Trugschluß; darum ist nicht die Erkenntnis als solche zum Irrthum gewor- den, es hat sich nur causal das Eine an das Andere angereiht. Es kann auch sein, daß sich in einer Species urtheilsfähiger Wesen überhaupt keine Erkenntnisse entwickeln, daß alles, was sie für wahr halten, falsch, und alles, was sie für falsch halten, wahr ist. In sich blieben Wahrheit und Falschheit aber unge- ändert; sie sind wesentlich Beschaffenheiten der bezüglichen Urtheilsinhalte, nicht solche der Urtheilsacte ; sie kommen jenen zu, ob sie auch von Niemandem anerkannt werden: ganz so, wie Farben, Töne, Dreiecke u. s. w. die wesentlichen Be- schaffenheiten, die ihnen als Farben, Tönen, Dreiecken u. s. w. zukommen, allzeit haben, ob Jemand in aller Welt es jemals erkennen mag oder nicht. Die Möglichkeit also, die Erdmann zu begründen versucht hat, nämlich daß andere Wesen ganz andere Grundsätze haben könnten, darf nicht zugestanden werden. Eine wider- sinnige Möglichkeit ist eben eine Unmöglichkeit. Man ver- suche nur einmal auszudenken, was in seiner Lehre liegt. Da gäbe es vielleicht Wesen eigener Art, s. z. s. logische Ueber- menschen, für welche unsere Grundsätze nicht gelten, vielmehr ganz andere Grundsätze, derart, daß jede Wahr- heit für uns, zur Falschheit wird für sie. Ihnen gilt es recht, daß sie die psychischen Phänomene, die sie jeweils erleben — nicht erleben. Daß wir und daß sie existiren, mag für uns wahr sein, für sie ist es falsch u. s. w. Freilich würden wir logischen Alltagsmenschen urtheilen: solche Wesen sind von Sinnen, sie reden von der Wahrheit und heben ihre Gesetze auf, sie behaupten ihre eigenen Denkgesetze zu haben, und sie leugnen diejenigen, an welchen die Möglich- 152 Der Psychologismus keit von Gesetzen überhaupt hängt. Sie behaupten und lassen zugleich die Leugnung des Behaupteten zu. Ja und Nein, Wahrheit und Irrthum, Existenz und Nichtexistenz verlieren in ihrem Denken jede Auszeichnung voreinander. Nur merken sie ihre Widersinnigkeiten nicht, während wir sie merken, ja mit lichtvollster Einsicht als solche erkennen. — Wer dergleichen Möglichkeiten zugesteht, ist vom extremsten Skepticismus nur durch Nuancen geschieden; die Subjectivität der Wahrheit ist, statt auf die einzelne Person, auf die Species bezogen. Er ist specifischer Relativist in dem von uns oben definirten Sinne und unterliegt den erörterten Einwänden, die wir hier nicht wiederholen. Im Uebrigen sehe ich es nicht ein, warum wir bei den Grenzscheiden fingirter Rassenunterschiede Halt machen sollen. Warum nicht die wirklichen Rassenunterschiede, die Unterschiede zwischen Vernunft und Wahnsinn und endlich die individuellen Unterschiede als gleichberechtigt anerkennen? Vielleicht wendet ein Relativist gegen unsere Berufung auf die Evidenz, bezw. auf den evidenten Widersinn der uns zu- gemutheten Möglichkeit den oben mitcitirten Satz ein, es sei „belanglos, daß diese Möglichkeit in den Aussagen des Selbstbewußtseins keine Stütze findet", es sei ja selbstverständlich, daß wir nicht unseren Denkformen zuwider denken können. Indessen, unter Absehen von dieser psycholo- gistischen Interpretation der Denkformen, die wir schon wider- legt haben, weisen wir darauf hin, daß solche Auskunft den ab- soluten Skepticismus bedeutet. Dürften wir der Evidenz nicht mehr vertrauen, wie könnten wir überhaupt noch Behauptungen aufstellen und vernünftig vertreten? Etwa mit Rücksicht darauf, daß andere Menschen ebenso constituirt sind wie wir, also vermöge gleicher Denkgesetze auch zu ähnlicher Beurtheilung geneigt sein möchten? Aber wie können wir dies wissen, wenn wir überhaupt nichts wissen können. Ohne Einsicht kein Wissen. Es ist doch recht sonderbar, daß man so zweifelhaften Be- hauptungen, wie es die über das Allgemeinmenschliche sind, Vertrauen schenken will, nicht aber jenen puren Trivialitäten, als skeptischer Relativismus. 153 die zwar sehr gering sind an inhaltlicher Belehrung, aber für das Wenige, was sie besagen, uns klarste Einsicht gewähren; und darin ist jedenfalls von denkenden Wesen und ihren spe- cifi sehen Eigenthümlichkeiten schlechterdings nichts zu finden. Der Relativist kann auch nicht dadurch eine, wenn auch nur vorläufig gebesserte Position zu erringen hoffen, daß er sagt: Du behandelst mich als extremen Eelativisten, ich aber bin es nur hinsichtlich der logischen Grundsätze; alle anderen Wahrheiten mögen unangefochten bleiben. So entgeht er den allgemeinen Einwänden gegen den speeifischen Relativismus jedenfalls nicht. W T er die logischen Grundwahrheiten relativirt, relativirt auch alle Wahrheit überhaupt. Es genügt auf den Inhalt des Satzes vom Widerspruch hinzublicken und die nahe- liegenden Consequenzen zu ziehen. Solchen Halbheiten bleibt Erdmann selbst durchaus ferne: den relativistischen Wahrheitsbegriff, den seine Lehre for- dert, hat er seiner Logik in der That zu Grunde gelegt. Die Definition lautet: „Die Wahrheit eines Urtheils besteht darin, daß die logische Immanenz seines Gegenstandes subjeetiv, specieller objeetiv gewiß, und der prädicative Ausdruck dieser Immanenz denknothwendig ist." 1 So bleiben wir freilich im Gebiet des Psychologischen. Denn Gegenstand ist für Erdmann das Vor- gestellte, und dieses wiederum wird ausdrücklich identificirt mit Vorstellung. Ebenso ist die „objeetive oder iUlgemein- gewißheit" nur scheinbar ein Objectives, denn sie „gründet sich auf die allgemeine üebereinstimmung der Urtheilenden". 2 Zwar den Ausdruck „objeetive Wahrheit" vermissen wir bei Erd- mann nicht, aber er identificirt sie mit „Allgemeingiltigkeit", d. i. Giltigkeit für Alle. Diese aber zerfällt ihm in Gewißheit für Alle, und wenn ich recht verstehe, auch in Denknothwendig- keit für Alle. Eben dies meint auch die obige Definition. Be- denklich möchte man werden, wie wir in einem einzigen Falle zur berechtigten Behauptung der objeetiven Wahrheit in diesem 1 A. a. 0. Nr. 278, S. 275. 2 A. a. 0. S. 274. 154 Die psychologistischen Sinne kommen, und wie wir dem unendlichen Regressus entgehen sollen', der durch die Bestimmung gefordert und auch von dem hervorragenden Forscher bemerkt worden ist. Leider reicht die Auskunft, die er ergreift, nicht hin. Gewiß sind, wie er sagt, die Urtheile, in denen wir die Uebereinstimmung mit Anderen behaupten, nicht diese Uebereinstimmung selbst; aber was kann dies nützen, und was die subjective Gewißheit, die wir dabei haben? Berechtigt wäre unsere Behauptung doch nur dann, wenn wir von dieser Uebereinstimmung wüßten, und das heißt wol, ihrer Wahrheit inne würden. Man möchte auch fragen, wie wir auch nur zur subjectiven Gewißheit von der Uebereinstimmung Aller kommen sollten, und endlich, um von dieser Schwierigkeit abzusehen, ob es denn überhaupt zu recht- fertigen ist, die Forderung der Allgemeingewißheit zu stellen, als ob die Wahrheit bei Allen und nicht vielmehr bei einigen Auserwählten zu finden ist. Achtes Kapitel. Die psychologistischen Vorurtheile. Bisher haben wir den Psychologismus vorzugsweise aus seinen Consequenzen bekämpft. Wir wenden uns nun gegen seine Argumente selbst, indem wir die vermeintlichen Selbst- verständlichkeiten, auf die er sich stützt, als täuschende Vor- urtheile nachzuweisen suchen. § 41. Erstes Vorurtheil. Ein erstes Vorurtheil lautet: „Vorschriften zur Regelung von Psychischem sind selbstverständlich psychologisch fundirt. Demgemäß ist es auch einleuchtend, daß die normativen Gesetze der Erkenntnis in der Psychologie der Erkenntnis gründen müssen." Vorurtheile. 155 Die Täuschung verschwindet, sowie man statt im All- gemeinen zu argumentiren an die Sachen selbst herantritt. Zunächst thut es noth, einer schiefen Auffassung beider Parteien ein Ende zu machen. Wir weisen nämlich darauf hin, daß die logischen Gesetze, an und für sich betrachtet, keines- wegs normative Sätze sind in dem Sinne von Vorschriften, d. i. Sätzen, zu deren Inhalt es gehört, auszusagen wie geurtheilt werden solle. Man muß durchaus unterscheiden: Gesetze, welche zur Normirung der Erkenntnisthätigkeiten dienen, und Regeln, welche den Gedanken dieser Normirung selbst enthalten und sie als allgemein verpflichtend aussagen. Betrachten wir ein Beispiel, etwa das bekannte Princip der Syllogistik, welches von Alters her in die Worte gefaßt wird: Das Merkmal des Merkmals ist auch Merkmal der Sache selbst. Die Kürze dieser Fassung wäre empfehlenswerth, wenn sie nicht einen sichtlich falschen Satz als Ausdruck des inten- dirten Gedankens böte. 1 Um ihn zu correctem Ausdruck zu bringen, werden wir uns schon zu mehr Worten bequemen müssen. „Für jedes Merkmalpaar A B gilt der Satz: Hat jeder Gegenstand, welcher das Merkmal A hat, auch das Merkmal B, und hat irgend ein bestimmter Gegenstand S das Merkmal A, so hat er auch das Merkmal B. u Daß nun dieser Satz den ge- ringsten normativen Gedanken enthalte, müssen wir entschie- den bestreiten. Wir können ihn freilich zur Normirung ver- wenden, aber darum ist er nicht selbst eine Norm. Wir können auf ihn auch eine ausdrückliche Vorschrift gründen, z. B. „Wer immer urtheilt, daß jedes A auch B sei und daß ein ge- wisses SA sei, der muß (soll) urtheilen, daß dieses S auch B sei." Aber Jedermann sieht, daß dies nicht mehr der ursprüng- liche logische Satz ist, sondern aus ihm durch Hineintragung des normativen Gedankens erst erwachsen ist. 1 Sicherlich ist das Merkmai des Merkmals, allgemein gesprochen, nicht ein Merkmal der Sache. Meinte das Princip, was die Worte klar besagen, so wäre ja zu schließen: Dies Löschblatt ist rotli, roth ist eine Farbe, also ist dies Löschblatt eine Farbe. 156 Die psychologistischen Und dasselbe gilt offenbar von allen syllogistischen Ge- setzen, wie von allein „rein logischen" Sätzen überhaupt. 1 Aber nicht für sie allein. Die Fähigkeit zu normativer Wen- dung haben ebenso die Wahrheiten anderer theoretischen Dis- ciplinen, vor Allem die rein mathematischen, die man ja ge- wöhnlich von der Logik zu trennen pflegt. 2 Der bekannte Satz {a + b){a-b) = a 2 -h 2 besagt z. ß. , daß das Product aus der Summe und Differenz zweier beliebiger Zahlen gleich ist der Differenz ihrer Quadrate. Hier ist keine Rede von unserem Urtheilen und der Art, wie es verlaufen soll, wir haben ein theoretisches Gesetz und nicht eine practische Regel vor uns. Betrachten wir hingegen den correspondirenden Satz: „Um das Product aus Summe und Differenz zweier Zahlen zu bestimmen, bilde man die Differenz 1 In dieser Ueberzeugung , daß der normative Gedanke, das Sein- sollen, nicht zum Inhalt der logischen Sätze gehört, treffe ich zu meiner Freude mit Natorp zusammen, der sie jüngst in der Socialpädagogik (Stuttgart 1899, § 4) kurz und klar ausgesprochen hat: „Logische Gesetze sagen, nach unserer Behauptung, ebensowenig, wie man thatsächlich unter solchen und solchen Umständen denkt, als, wie man denken soll." Mit Beziehung auf das Beispiel des Gleichheitsschlusses ,,wenn A = B und B = C, so ist A = Ö", heißt es: „Dies sehe ich ein, indem ich nichts als die zu vergleichenden Termini und deren dadurch zugleich gegebene Eelationen vor Augen habe, ohne irgend an den, sei es that- sächlichen oder seinsollenden Verlauf oder Vollzug eines entsprechenden Denkens dabei denken zu müssen" (a. a. 0. S. 20, bezw. 21). — Auch in einigen anderen, nicht minder wesentlichen Punkten berühren sich meine Prologomena mit diesem Werke des scharfsinnigen Forschers, welches mir für die Bildung und Darstellung meiner Gedanken leider nicht mehr hilfreich sein konnte. Dagegen konnten auf mich zwei ältere Schriften Natorp's, der oben citirte Aufsatz aus den Phil. Monatsh. XXIII und die Einleitung in die Psychologie anregend wirken — wie sehr sie mich auch in anderen Punkten zu Widerspruch reizten. 2 Die „reine" oder „formale Mathematik", so wie ich den Terminus gebrauche, befaßt die gesammte reine Arithmetik und Mannigfaltigkeits- lehre, nicht aber die Geometrie. Dieser entspricht in der reinen Mathe- matik die Theorie der EucLimsctien Mannigfaltigkeit von drei Dimensionen, welche Mannigfaltigkeit die Gattungsidee des Raumes, nicht aber dieser selbst ist. Vorurtheile. 157 ihrer Quadrate", so haben wir umgekehrt eine practische Regel und nicht ein theoretisches Gesetz ausgesprochen. Auch hier wandelt sich allererst durch die Einführung des normativen Ge- dankens das Gesetz in die Regel, die seine selbstverständliche apodictische Folge, jedoch nach dem Gedankengehalt von ihm verschieden ist. Wir können noch weiter gehen. Es ist ja klar, daß in gleicher Weise jede allgemeine Wahrheit, welchem theoreti- schen Gebiete sie angehören mag, zur Begründung einer all- gemeinen Norm richtigen Urtheilens dienen kann. Die logischen Gesetze zeichnen sich in dieser Hinsicht in keiner Weise aus. Ihrer eigenen Natur nach sind sie nicht normative,, sondern theoretische Wahrheiten und können als solche, so gut wie Wahrheiten irgendwelcher anderer Disciplinen, zur Normirung des Urtheilens dienen. Andererseits ist freilich auch dies unverkennbar: Die all- gemeine Ueberzeugung, welche in den logischen Sätzen Normen des Denkens sieht, kann nicht ganz haltlos, die Selbstverständ- lichkeit, mit der sie uns sofort einleuchtet, nicht reiner Trug sein. Ein gewisser innerer Vorzug in Sachen der Denkregelung muß diese Sätze vor anderen auszeichnen. Aber muß die Idee der Regelung (des Sollens) darum im Inhalt der logischen Sätze selbst liegen? Kann sie nicht in diesem Inhalt mit einsichtiger Notwendigkeit gründen? Mit anderen Worten: Können nicht die logischen und rein mathematischen Gesetze einen ausgezeich- neten Bedeutungsgehalt haben, der ihnen einen natürlichen Beruf zur Denkregelung verleiht? Wir sehen aus dieser einfachen Betrachtung, wie in der That auf beiden Seiten hier Unrecht vertheilt ist. Die Antipsychologisten irrten darin, daß sie Regelung der Erkenntnis sozusagen als die Essenz der logischen Gesetze hinstellten. Darum kam der rein theoretische Charakter der for- malen Logik und in weiterer Folge ihre Gleichstellung mit der formalen Mathematik nicht zu gebührender Geltung. Man sah richtig, daß die in der traditionellen Syllogistik abgehandelte 158 Die psychobgistischen Gruppe von Sätzen der Psychologie fremd sind. Ebenso erkannte man ihren natürlichen Beruf zur Normirung der Erkenntnis, um dessentwillen sie noth wendig den Kern jeder practischen Logik bilden müssen. Aber man übersah den Unterschied zwi- schen dem eigenen Gehalt der Sätze und ihrer Function, ihrer practischen Verwendung. Man übersah, daß die sog. logischen Grundsätze in sich selbst nicht Normen sind, sondern eben nur als Normen dienen. Mit Rücksicht auf die Normirung hatte man sich daran gewöhnt, von Denkgesetzen zu sprechen, und so schien es, als ob auch diese Gesetze einen psychologischen Ge- halt haben, und als ob der Unterschied von den gewöhnlich so genannten psychologischen Gesetzen nur darin liege, daß sie normiren, während die sonstigen psychologischen Gesetze dies nicht thun. Auf der anderen Seite irrten diePsychologisten mit ihrem vermeintlichen Axiom, dessen Ungiltigkeit wir nun mit wenigen Worten aufweisen können: Zeigt es sich als eine pure Selbst- verständlichkeit, daß jede allgemeine Wahrheit, ob sie nun psychologischer Art ist oder nicht, eine Regel des richtigen Ur- theilens begründet, so ist hiermit nicht nur die sinnvolle Mög- lichkeit, sondern sogar die Existenz von Urtheilsregeln, die nicht in der Psychologie gründen, gesichert. Nun sind freilich nicht alle derartigen Urtheilsregeln, ob- gleich sie die Richtigkeit des Urtheilens normiren, darum schon logische Regeln; aber es ist einzusehen, daß von den im eigentlichen Sinne logischen Regeln, welche die ureigene Domäne einer Kunstlehre des wissenschaftlichen Denkens ausmachen, nur die eine Gruppe psychologische Begründung zuläßt und dann auch fordert: nämlich die der menschlichen Natur speciell an- gepaßten technischen Vorschriften zur Erzeugung wissenschaft- licher Erkenntnis und zur Kritik solcher Erkenntniserzeugungen. Die andere Gruppe hingegen, und die ungleich wichtigere, be- steht aus normativen Wendungen von Gesetzen, die zur Wissen- schaft nach ihrem objectiven oder idealen Gehalt gehören. In- dem die psychologischen Logiker, darunter Forscher vom Range VorurtheMe. 159 eines Mill und Sigwart, die Wissenschaft mehr von ihrer sub- jectiven Seite (als methodologische Einheit der specifisch-inensch- lichen Erkenntnisgewinnung) als von ihrer objectiven Seite (als Idee der theoretischen Einheit der Wahrheit) betrachten und dem- nach die methodologischen Aufgaben der Logik einseitig betonen, übersehen sie den fundamentalen Unterschied zwischen den rein logischen Normen und den technischen Regeln einer specifisch humanen Denkkunst. Beide aber sind nach In- halt, Ursprung und Function von total verschiedenem Charakter. Beziehen sich die rein logischen Sätze, wenn wir auf ihren originären Inhalt sehen, nur auf Ideales, so jene methodologi- schen Sätze auf Reales. Haben die Ersteren ihren Ursprung in unmittelbar einsichtigen Axiomen, so die Letzteren in empiri- schen und hauptsächlich psychologischen Thatsachen. Dient die Aufstellung jener rein theoretischen und nur nebenbei prac- tischen Interessen, so verhält es sich bei diesen umgekehrt: ihr unmittelbares Interesse ist ein practisches und nur mittelbar, so- fern nämlich ihr Ziel die methodische Förderung wissenschaft- licher Erkenntnis überhaupt ist, werden auch theoretische Inter- essen durch sie gefördert. § 42. Erläuternde Ausführungen. Jeder beliebige theoretische Satz läßt sich, wie wir oben sahen, normativ wenden. Aber die so erwachsenden Regeln für richtiges Urtheilen sind im Allgemeinen nicht diejenigen, welche eine logische Kunstlehre braucht, nur wenige unter ihnen sind zur logischen Normirung s. z. s. prädestinirt. Will diese Kunst- lehre unseren wissenschaftlichen Bestrebungen thatkräftige Hilfe bieten, so kann sie ja nicht die Erkenntnisfülle der fertigen Wissenschaften voraussetzen, die wir durch ihre Hilfe allererst zu gewinnen hoffen. Nicht die ziellose Umwendung aller ge- gebenen theoretischen Erkenntnisse ins Normative kann uns nützen, sondern was wir brauchen sind allgemeine und in ihrer Allgemeinheit über alle bestimmten Wissenschaften hinaus- greifende Normen zur werthenden Kritik theoretischer Erkennt- 160 Die psychologistischen nisse und Erkenntnismethoden überhaupt und desgleichen prae- tische Regeln zu deren Förderung. Eben das will die logische Kunstlehre leisten, und will sie es als wissenschaftliche Disciplin, so muß sie selbst gewisse theoretische Erkenntnisse voraussetzen. Da ist nun von vorn- herein klar, daß für sie von ausnehmendem Werthe alle die Er- kenntnisse sein müssen, welche rein in den Begriffen Wahrheit, Satz, Subject, Prädicat, Gegenstand, Beschaffenheit, Grund und Folge, Beziehungspunkt und Beziehung und dergleichen gründen. Denn alle Wissenschaft baut sich nach dem, was sie lehrt (also objectiv, theoretisch), aus Wahrheiten auf, alle Wahrheit liegt in Sätzen, alle Sätze enthalten Subjecte und Prädicate, beziehen sich durch sie auf Gegenstände oder Beschaffenheiten ; Sätze als solche haben Verknüpfung nach Grund und Folge u. s. w. Nun ist klar: Wahrheiten, die in solchen wesentlichen Constituentien aller Wissenschaftals objectiver, theo- retischer Einheit gründen, Wahrheiten, die also nicht als aufgehoben gedacht werden können, ohne daß, was aller Wissen- schaft als solcher objectiven Halt und Sinn giebt, aufgehoben wäre, bilden selbstverständlich die fundamentalen Maßstäbe, an denen gemessen werden kann, ob gegebenen Falls, was den An- spruch erhebt, Wissenschaft zu sein, beziehungsweise als Grund- satz oder Folgesatz, als Syllogismus oder Induction, als Beweis oder Theorie u. s. w. zur Wissenschaft zu gehören, solcher Inten- tion wirklich entspricht, oder ob es nicht vielmehr a priori den idealen Bedingungen der Möglichkeit von Theorie und Wissen- schaft überhaupt widerstreitet. Gesteht man uns dann zu, daß Wahrheiten, die rein im Inhalt (Sinn) derjenigen Begriffe grün- den, welche die Idee der Wissenschaft als einer objectiven Einheit constituiren, nicht nebenher zum Bereich irgend einer Einzelwissenschaft gehören können; gesteht man im Besonderen zu, daß solche Wahrheiten als ideale ihren Heimatsort nicht haben können in den Wissenschaften vom matter of fact, also auch nicht in der Psychologie — dann ist unsere Sache ent- schieden. Dann kann man auch nicht die ideale Existenz einer Vorurtheile. 161 eigenen Wissenschaft, der reinen Logik, bestreiten, welche in ab- soluter Selbständigkeit von allen anderen wissenschaftlichen Disciplinen jene Begriffe abgrenzt, die zur Idee einer systema- tischen oder theoretischen Einheit constitutiv gehören, und in weiterer Folge die theoretischen Zusammenhänge erforscht, welche rein in diesen Begriffen gründen. Diese Wissenschaft wird dann die einzigartige Eigenthümlichkeit haben, daß sie selbst ihrer „Form" nach dem Inhalt ihrer Gesetze untersteht, m. a. W. daß die Elemente und theoretischen Zusammenhänge, aus denen sie selbst als systematische Einheit von Wahrheiten besteht, durch die Gesetze beherrscht werden, die mit zu ihrem theoretischen Gehalt gehören. Daß die Wissenschaft, welche sich auf alle Wissenschaften hin- sichtlich deren Form bezieht, sich eo ipso auf sich selbst bezieht, klingt paradox, aber es birgt keinerlei Unzuträglichkeit. Das aller- einfachste hierhergehörige Beispiel mache dies klar. Der Satz vom Widerspruch regelt alle Wahrheit, und, da er selbst Wahrheit ist, auch sich selbst. Man überlege, was diese Regelung hier bedeutet, man formulire den auf sich selbst angewendeten Satz vom Wider- spruch, und man stößt auf eine einsichtige Selbstverständlichkeit, somit auf das gerade Gegentheil von Verwunderlichkeit und Frag- lichkeit. So verhält es sich auch mit der Regelung der reinen Logik in Beziehung auf sich selbst. Diese reine Logik ist also das erste und wesent- lichste Fundament der methodologischen Logik. Aber natür- lich hat diese noch ganz andere Fundamente, die ihr die Psychologie beistellt. Denn jede Wissenschaft läßt sich, wie wir schon ausgeführt haben, in doppelter Hinsicht betrachten: In der einen ist sie ein Inbegriff menschlicher Veran- staltungen zur Erlangung, systematischen Abgrenzung und Dar- legung der Erkenntnisse dieses oder jenes Wahrheitsgebietes. Diese Veranstaltungen nennen wir Methoden; z. B. das Rechnen mit Abacus und Columnen, mit Schriftzeichen auf ebener Tafelfläche, mittelst der oder jener Rechenmaschine, mittelst Logarithmen-, Sinus- oder Tangententafeln u. s. w.; Husserl, Log. Unters. I. 1 1 162 Die psychologistischen ferner astronomische Methoden mittelst Fadenkreuz und Fernrohr, physiologische Methoden mikroskopischer Technik, Färbungsmethoden u. s. w. Alle diese Methoden, wie auch die Formen der Darstellung sind der menschlichen Constitution in ihrem jetzigen normalen Bestände angepaßt, und zum Theil sogar Zufälligkeiten nationaler Eigenart. Sie werden offenbar ganz unbrauchbar für anders constituirte Wesen. Selbst die physiologische Organisation spielt hier eine nicht unwesentliche Eolle. Was sollten beispielsweise unsere schönsten optischen Instrumente einem Wesen nützen, dessen Gesichtssinn an ein von dem unseren erheblich unterschiedenes Endorgan gebunden wäre? Und so überall. Jede Wissenschaft läßt sich aber noch in anderer Hinsicht betrachten, nämlich nach dem, was sie lehrt, nach ihrem theo- retischen Gehalt. Was — im idealen Falle — jeder einzelne Satz aussagt, ist eine Wahrheit. Keine Wahrheit ist aber in der Wissenschaft isolirt, sie tritt mit anderen Wahrheiten zu theoretischen Verbänden zusammen, geeinigt durch Verhältnisse von Grund und Folge. Dieser objective Gehalt der Wissen- schaft ist, soweit sie ihrer Intention wirklich genügt, von der Subjectivität der Forschenden, von den Eigenheiten der mensch- lichen Natur überhaupt völlig unabhängig, er ist eben objective Wahrheit. Auf diese ideale Seite geht nun die reine Logik, nämlich der Form nach; das heißt sie geht nicht auf das, was zur besonderen Materie der bestimmten Einzelwissenschaften, zu den jeweiligen Eigenheiten ihrer Wahrheiten und Verknüpfungs- formen gehört, sondern auf das, was sich auf Wahrheiten und theoretische Verbände von Wahrheiten überhaupt bezieht. Da- her muß ihren Gesetzen, die durchaus idealen Charakters sind, eine jede Wissenschaft in Ansehung ihrer objectiven theoretischen Seite angemessen sein. Hierdurch gewinnen diese idealen Gesetze aber gleichfalls methodologische Bedeutung, und sie besitzen sie auch darum, weil mittelbare Evidenz in den Begründungszusammenhängen Vorurtheile. 163 erwächst, deren Normen eben nichts Anderes sind als norma- tive Wendungen jener idealen Gesetze, die rein in den logischen Kategorien gründen. Die charakteristischen Eigenthümlich- keiten der Begründungen, welche im ersten Kapitel d. S. 1 hervorgehoben wurden, haben sämmtlich darin ihre Quelle und finden dadurch ihre volle Erklärung, daß die Einsichtigkeit in der Begründung — im Schluße, im Zusammenhang des apodic- tischen Beweises, in der Einheit der noch so umfassenden rationalen Theorie, aber auch in der Einheit der Wahrschein- lichkeitsbegründung — nichts Anderes ist als Bewußtsein einer idealen Gesetzmäßigkeit. Die rein logische Reflexion, histo- risch zum ersten Male erwacht im Genius des Aeistoteles, hebt abstractiv das jeweils zu Grunde Hegende Gesetz selbst heraus, führt die Mannigfaltigkeit der so zu gewinnenden und zunächst bloß vereinzelten Gesetze auf die primitiven Grund- gesetze zurück und schafft so ein wissenschaftliches System, welches in geordneter Folge und rein deductiv alle überhaupt möglichen rein logischen Gesetze — alle möglichen „Formen" von Schlüssen, Beweisen u. s. w. — abzuleiten gestattet Dieser Leistung bemächtigt sich nun das practisch-logische Interesse. Die rein logischen Formen wandeln sich ihm in Normen um, in Regeln, wie wir begründen sollen und — mit Beziehung auf mögliche ungesetzliche Bildungen — in Regeln, wie wir nicht begründen dürfen. Demnach zerfallen die Normen in zwei Klassen: Die Einen, alles Begründen, allen apodictischen Zusammenhang a -priori regelnd, sind rein idealer Natur und nur durch evi- dente Uebertragung auf menschliche Wissenschaft bezogen. Die Anderen, die wir auch als bloße Hilfsverrichtungen oder Surrogate für Begründungen charakterisiren durften, 2 sind em- pirisch, sie beziehen sich wesentlich auf die specifisch- menschliche Seite der Wissenschaften; sie gründen also in der allgemeinen Constitution des Menschen und zwar nach dem einen 1 Vgl. oben § 7, S. 17 ff. 2 Vgl. oben § 9, S. 22 ff. 11* 164 Die psychologistischen (für die Kunstlehre wichtigeren) Theile in der psychischen und nach dem anderen Theile sogar in der physischen Constitution. 1 § 43. Rückblick auf die idealistischen Gegenargumente. Ihre Mängel und ihr richtiger Sinn. In dem Streit um psychologische oder objective Begründung der Logik nehme ich also eine Mittelstellung ein. Die Antipsycho- logisten blickten vorzugsweise auf die idealen Gesetze hin, die wir oben als rein logische, die Psychologisten auf die methodo- logischen Regeln, die wir als anthropologische charakterisirten. Daher konnten sich beide Parteien nicht verständigen. Daß sich die Psychologisten wenig geneigt zeigten, dem bedeutsamen Kern der gegnerischen Argumente gerecht zu werden, ist um so begreiflicher, als in diesen letzteren all die psychologischen Motive und Vermengungen selbst mitspielten, die doch vor Allem vermieden werden mußten. Auch der thatsächliche In- halt der Werke, die sich als Darstellungen der „formalen" oder „reinen" Logik ausgeben, mußten die Psychologisten in ihrer ablehnenden Haltung nur bestärken und den Eindruck in ihnen erwecken, es handle sich in der proponirten Disciplin doch nur um ein Stück verschämter und dabei eigensinnig be- schränkter Erkenntnispsychologie, bezw. um eine darauf ge- gründete Erkenntnisregelung. Die Antipsychologisten durften in ihrem Argument 2 jedenfalls nicht betonen: die Psychologie habe es mit Naturgesetzen, die Logik hingegen mit Norm al- gesetzen zu thun. Der Gegensatz von Naturgesetz als empirisch begründeter Regel eines thatsächlichen Seins und Ge- schehens ist nicht das Normalgesetz als Vorschrift, sondern 1 Gute Beispiele in letzteren Beziehungen bietet auch die elementare Rechenkunst. Ein Wesen, das dreidimensionale Gruppenordnungen (und im Besonderen bei Zeichenvertheilungen) so klar anschauen und practisch be- herrschen könnte, wie wir Menschen die zweidimensionalen, hätte vielfach ganz andere Rechenmethoden. Vgl. über derartige Fragen meine Philo- sophie der Arithmetik; speciell über den Einfluß physischer Umstände auf die Gestaltung der Methoden S. 275 f. 312 ff. 2 Vgl. oben § 19, zumal S. 55 und das Citat aus Drobisch, S. 36. Vorurtheile. 165 das Idealgesetz im Sinne einer rein in den Begriffen (Ideen, reinen Gattungsbegriffen) gründenden und daher nicht em- pirischen Gesetzlichkeit. Insofern die formalistischen Logiker bei ihrer Rede von Normalgesetzen diesen rein begrifflichen und in diesem Sinne apriorischen Charakter im Auge hatten, bezogen sie sich mit ihrer Argumentation auf ein unzweifelhaft Richtiges. Aber sie übersahen den theoretischen Charakter der rein logischen Sätze, sie verkannten den Unterschied von theo- retischen Gesetzen, die durch ihren Inhalt zur Regelung der Erkenntnis prädestinirt sind, und normativen Gesetzen, die selbst und wesentlich den Charakter von Vorschriften haben. Auch das ist nicht ganz richtig, daß der Gegensatz von Wahr und Falsch in der Psychologie keine Stelle habe: 1 inso- fern nämlich, als die Wahrheit doch in der Erkenntnis „erfaßt", und das Ideale hierdurch zur Bestimmtheit des realen Erleb- nisses wird. Andererseits sind freilich die Sätze, welche sich auf diese Bestimmtheit in ihrer begrifflichen Reinheit beziehen, nicht Gesetze des realen psychischen Geschehens; darin irrten die Psychologisten, sie verkannten, wie das Wesen des Idealen überhaupt, so zumal die Idealität der Wahrheit. Dieser wichtige Punkt wird noch ausführlich zu erörtern sein. Endlich liegt auch dem letzten Argument der Antipsycho- logisten 2 neben Irrigem zugleich Richtiges zu Grunde. Da keine Logik, nicht die formale und nicht die methodologische, Kriterien zu geben vermag, nach denen jede Wahrheit als solche erkennbar ist, so liegt in einer psychologischen Be- gründung der Logik sicherlich kein Cirkel. Aber ein Anderes ist die psychologische Begründung der Logik (im gewöhnlichen Sinne der Kunstlehre) und wieder ein Anderes die psychologische Be- gründung jener theoretisch geschlossenen Gruppe logischer Sätze, die wir „rein logische" nannten. Und in dieser Hinsicht ist es allerdings eine krasse Unzuträglichkeit, obschon nur in ge- wissen Fällen eine Art Cirkel, Sätze, welche in den wesent- 1 Vgl. oben S. 56. 2 Vgl. oben S. 57. 166 Die psychologistischen liehen Constituentien aller theoretischen Einheit und somit in der begrifflichen Form des systematischen Inhalts der Wissen- schaft als solcher gründen, aus dem zufälligen Inhalt irgend einer Einzelwissenschaft und nun gar einer Thatsachenwissenschaft abzuleiten. Man mache sich den Gedanken an dem Satze vom Widerspruch klar, man denke ihn durch irgend eine Einzel- wissenschaft begründet; also eine Wahrheit, die im Sinne der Wahrheit als solcher liegt, begründet durch Wahrheiten über Anzahlen, Strecken u. dgl., oder gar durch Wahrheiten über physische oder psychische Thatsächlichkeiten. Jedenfalls schwebte diese Unzuträglichkeit den Vertretern der formalen Logik gleichfalls vor, nur daß sie, wieder durch ihre Ver- mengung der rein logischen Gesetze mit normativen Gesetzen oder Kriterien, den guten Gedanken in einer Weise trübten, die ihn seiner Wirksamkeit berauben mußte. Die Unzuträglichkeit besteht, wenn wir auf den Grund gehen, darin, daß Sätze, welche sich auf die bloße Form beziehen (das ist auf die begrifflichen Elemente wissenschaftlicher Theorie als solcher), erschlossen werden sollen aus Sätzen eines ganz heterogenen Gehalts. 1 Es ist nun klar, daß die Unzuträglich- keit bei primitiven Grundsätzen, wie dem Satz vom Widerspruch, modus ponens u. dgl. insofern zum Cirkel wird, als die Ableitung dieser Sätze sie selbst in den einzelnen Herleitungsschritten voraussetzen würde — nicht in der W^eise von Prämissen aber in der von Ableitungs-Principien, ohne deren Giltigkeit die Ableitung Sinn und Giltigkeit verlieren würde. In dieser Hinsicht könnte man von einem reflectiven Cirkel sprechen, im Gegensatz zum gewöhnlichen oder directen circulus in demon- strando, wo Prämissen und Schlußsätze ineinanderlaufen. Diesen Einwänden entgeht von allen Wissenschaften allein die reine Logik, weil ihre Prämissen nach dem, worauf sie sich gegenständlich beziehen, den Schlußsätzen, die sie begründen, 1 Allerdings ist die Unmöglichkeit theoretischer Zusammenhänge zwischen heterogenen Gebieten und das Wesen der fraglichen Hetero- geneität logisch nicht hinreichend erforscht. Vorurtheile. 167 homogen sind. Sie entgeht dem Cirkel ferner dadurch, daß sie die Sätze, welche die jeweilige Deduction als Principien voraussetzt, in dieser selbst eben nicht beweist, und daß sie Sätze, welche jede Deduction voraussetzt, überhaupt nicht be- weist, sondern an die Spitze aller Deductionen als Axiome hin- stellt. Die überaus schwierige Aufgabe der reinen Logik wird also darin bestehen, einerseits analytisch zu den Axiomen auf- zusteigen, die als Ausgangspunkte unentbehrlich und aufeinander ohne directen und reflectiven Cirkel nicht mehr reductibel sind; des Weiteren die Deductionen für die logischen Lehrsätze (wo- von die syllogistischen Sätze einen kleinen Theil ausmachen) so zu formen und anzuordnen, daß Schritt für Schritt nicht bloß die Prämissen, sondern auch die Principien der De- ductionsschritte entweder zu den Axiomen oder zu den bereits erwiesenen Lehrsätzen gehören. § 44. Zweites Vorur theil. Zur Bestätigung seines ersten Vorurtheils, wonach es selbstverständlich sein soll, daß sich Regeln der Er- kenntnis auf die Psychologie der Erkenntnis stützen müssen, beruft sich der Psychologist 1 auf den thatsächlichen Inhalt aller Logik. Wovon ist in ihr die Rede? Aller- wege doch von Vorstellungen und Urtheilen, von Schlüssen und Beweisen, von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit, von Not- wendigkeit und Möglichkeit, von Grund und Folge, so wie anderen mit diesen nahe zusammenhängenden und verwandten Begriffen. Aber ist unter diesen Titeln an Anderes zu denken als an psychische Phänomene und Gebilde? Bei Vorstellungen und Urtheilen ist dies ohne Weiteres klar. Schlüsse sind Be- gründungen von Urtheilen mittelst Urtheile, und Begründen ist doch eine psychische Thätigkeit. Wieder beziehen sich die Reden von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit, Notwendigkeit und Möglichkeit u. s. w. auf Urtheile, was sie meinen, kann Vgl. die Argumentation des § 18, oben S. 52, 2. Absatz. 168 Die psychologistiscken jeweils nur an Urth eilen aufgewiesen, d. i. erlebt werden. Ist es also nicht sonderbar, daß man daran denken wollte, Sätze und Theorien, die sich auf psychische Phänomene beziehen, von der Psychologie auszuschließen? In dieser Hinsicht ist die Scheidung zwischen rein logischen und methodologischen Sätzen nutzlos, der Einwand trifft die einen so gut wie die anderen. Es müßte also jeder Versuch, auch nur einen Theil der Logik als vermeintlich „reine" Logik der Psychologie zu entfremden, als grundverkehrt gelten. § 45. Widerlegung: Auch die reine Mathematik würde zu einem Zweige der Psychologie. Wie selbstverständlich dies Alles auch erscheinen mag, es muß irrig sein. Dies lehren die widersinnigen Consequenzen, die, wie wir wissen, für den Psychologismus unausweichlich sind. Aber auch noch Anderes müßte hier bedenklich stimmen: die natürliche Verwandtschaft zwischen rein logischen und arith- metischen Doctrinen, welche öfters sogar zur Behauptung ihrer theoretischen Einheit geführt hat. Wie wir gelegentlich schon erwähnten, hat auch Lotze gelehrt, daß die Mathematik als „ein sich für sich selbst fortentwickelnder Zweig der allgemeinen Logik" gelten müsse. „Nur eine practisch begründete Spaltung des Unterrichts" läßt, meint er, „die vollkommene Heimatsbe- rechtigung der Mathematik in dem allgemeinen Reich der Logik übersehen". 1 Ja nach Riehl „könnte man füglich sagen, daß die Logik mit dem allgemeinen Theil der rein formalen Mathematik (diesen Begriff im Sinne von H. Hankel genommen) coincidirt. . ." 2 Wie immer es sich damit verhalten mag, jedenfalls wird das Argument, das für die Logik recht war, auch der Arithmetik zugebilligt werden müssen. Sie stellt Ge- setze auf für Zahlen, für deren Beziehungen und Verknüpfungen. Aber Zahlen erwachsen aus dem Colligiren und Zählen, welches 1 Lotze, Logik 2 § 18, S. 34 und § 112, S. 138. 2 A. Kiehl, Der philosophische Kriticismus und seine Bedeutung für die positive Wissenschaft, II. Band, 1. Theil, S. 226. Vorurtheüe. 169 psychische Thätigkeiten sind. Die Beziehungen erwachsen aus Acten des Beziehens, die Verknüpfungen aus Acten des Ver- knüpfens. Addiren und Multipliciren, Subtrahiren und Dividiren — nichts als psychische Processe. Daß sie der sinnlichen Stützen bedürfen, thut nichts zur Sache, dasselbe gilt ja für alles und jedes Denken. Somit sind auch die Summen, Pro- ducte, Differenzen .und Quotienten, und was immer in den arithmetischen Sätzen als das Geregelte erscheint, nichts als psychische Producte, sie unterliegen also der psychischen Ge- setzmäßigkeit. Nun mag zwar der modernen Psychologie mit ihrem ernsten Streben nach Exactheit jede Erweiterung um mathematische Theorien höchst erwünscht sein; aber schwerlich wäre sie sehr erbaut, wenn man ihr die Mathematik selbst als Theil einordnen wollte. Die Heterogen eität beider Wissenschaften ist eben unverkennbar. So würde auch auf der anderen Seite der Mathematiker nur lächeln, wollte man ihm psychologische Studien aufdrängen, in Absicht auf eine vermeintlich bessere und tiefere Begründung seiner theoretischen Aufstellungen. Er würde mit Recht sagen, das Mathematische und Psychologische sind so fremde Welten, daß schon der Gedanke ihrer Vermitt- lung absurd wäre; wenn irgendwo, so fände hier die Rede von einer (xeraßccoiq slg äXko yevog ihre Anwendung. 1 § 46. Das Forschungsgebiet der reinen Logik, analog dem der reinen Mathematik, ein ideales. Mit diesen Einwänden sind wir allerdings wieder in Argu- mentationen aus den Consequenzen gerathen. Aber wenn wir 1 Vgl. zur Ergänzung die schönen Ausführungen von Natorp, Ueber objective und subjective Begründung der Erkenntnis. Philos. Monatshefte XXIII. S. 265 f. Ferner Gr. Frege's anregende Schrift: Die Grundlagen der Arithmetik (1884) S. VI ff. (Daß ich die principielle Kritik nicht mehr billige, die ich an Frege's antipsychologistischer Position in meiner Philosophie der Arithmetik I. S. 129—32 geübt habe, brauche ich kaum zu sagen.) Bei Gelegenheit sei bezüglich der ganzen Discussionen dieser Prolegomena auf das Vorwort der späteren Schrift Frege's, Die Grund- gesetze der Arithmetik, I. Bd. Jena 1893, hingewiesen. 170 Die psychologistischen auf ihren Inhalt blicken, finden wir die Handhaben, um die Grundfehler der gegnerischen Auffassung bezeichnen zu können. Der Vergleich der reinen Logik mit der reinen Mathe- matik, als der reif entwickelten Schwesterdisciplin, die sich das Recht selbständiger Existenz nicht erst erkämpfen muß, dient uns als zuverlässiges Leitmotiv. Auf die Mathematik wollen wir also zunächst hinblicken. Niemand faßt die rein mathematischen Theorien und speciell z. B. die reine Anzahlenlehre als „Theile oder Zweige der Psychologie", obgleich wir ohne Zählen keine Zahlen, ohne Summiren keine Summen, ohne Multipliciren keine Producte hätten u. s. w. Alle arithmetischen Operationsgebilde weisen auf gewisse psychische Acte arithmetischen Operirens zurück, nur in Reflexion auf sie kann, was Anzahl, Summe, Product u. dgl. ist, „aufgewiesen" werden. Und trotz dieses „psycholo- gischen Ursprungs" der arithmetischen Begriffe erkennt es jeder als eine fehlerhafte fieräßccaig an, daß die mathematischen Ge- setze psychologische sein sollen? Wie ist das zu erklären? Hier giebt es nur Eine Antwort. Mit dem Zählen und dem arithmetischen Operiren als Thatsachen, als zeitlich ver- laufenden psychischen Acten, hat es natürlich die Psychologie zu thun. Sie ist ja die empirische Wissenschaft von den psychischen Thatsachen überhaupt. Ganz anders die Arith- metik. Ihr Forschungsgebiet ist bekannt, es ist vollständig und unüberschreitbar bestimmt durch die uns wolvertraute Reihe idealer Species 1, 2, 3 . . . Von individuellen Thatsachen, von zeitlicher Bestimmtheit ist in dieser Sphäre gar keine Rede. Zahlen, Summen und Producte von Zahlen (und was dergleichen mehr) sind nicht die zufällig hier und dort vor sieb gehenden Acte des Zählens, des Summirens und Multiplicirens u. s. w. Selbst- verständlich sind sie auch verschieden von den Vorstellungen, in denen sie jeweils vorgestellt werden. Die Zahl Fünf ist nicht meine oder irgend jemandes Anderen Zählung der Fünf, es ist auch nicht meine oder eines Anderen Vorstellung der Fünf. In letzterer Hinsicht ist sie möglicher Gegen- Vorurtheile. 171 stand von Vorstellungsacten , in ersterer ist sie die ideale Species, die in gewissen Zählungsacten ihre concreten Einzel- fälle hat — ähnlich wie etwa die Farbenspecies Roth in Acten des Rothempfindens. In jedem Falle ist sie ohne Widersinn nicht als Theil oder Seite des psychischen Erlebnisses, somit nicht als ein Reales zu fassen. Im Zählungsacte finden wir zwar das individuell Einzelne zur Species als idealer Einheit. Aber diese Einheit ist nicht Stück der Einzelheit. Vergegenwärtigen wir uns voll und ganz, was die Zahl Fünf eigentlich ist, er- zeugen wir also eine adäquate Vorstellung von der Fünf, so werden wir zunächst einen gegliederten Act collectiver Vor- stellung von irgendwelchen fünf Objecten bilden. In ihm ist, als seine Gliederungsform , ein Einzelfall der genannten Zahlenspecies anschaulich gegeben. In Hinblick auf dieses anschaulich Einzelne vollführen wir nun eine „Abstraction", d. h. wir heben nicht nur das Einzelne, das unselbständige Moment der Collectionsform heraus, sondern wir erfassen in ihm die Idee: die Zahl Fünf als Species tritt in das meinende Bewußtsein. Das jetzt Gemeinte ist nicht dieser Einzel- fall, es ist nicht die collective Vorstellung als Ganzes, noch die ihr innewohnende, obschon für sich nicht lostrennbare Form; gemeint ist vielmehr die ideale Species, die im Sinne der Arithmetik schlechthin Eine ist, in welchen Acten sie auch gegenständlich werden mag, und die somit ohne jeden Antheil ist an der individuellen Einzelheit des Realen mit seiner Zeitlichkeit und Vergänglichkeit. Die Zählungsacte entstehen und vergehen ; in Beziehung auf die Zahlen ist von dergleichen sinnvoll nicht zu sprechen. Auf derartige ideale Einzelheiten (niederste Species in einem ausgezeichneten Sinne, der von empirischen Klassen scharf unterschieden ist) gehen nun die arithmetischen Sätze, die numerischen (d. i. die arithmetisch-singulären) wie die alge- braischen (d. i. die arithmetisch -generellen) Sätze. Ueber Reales sagen sie schlechterdings nichts aus, weder über solches, das gezählt wird, noch über die realen Acte, in denen gezählt 172 Die psyehologistischen wird, bezw. in denen sich die oder jene indirecten Zahlen- charakteristiken constituiren. Concrete Zahlen und Zahlensätze gehören in die wissenschaftlichen Gebiete, zu welchen die be- züglichen concreten Einheiten gehören; Sätze über die arith- metischen Denkvorgänge hingegen in die Psychologie. Streng und eigentlich sagen die arithmetischen Sätze daher auch nichts darüber, „was in unseren bloßen Vorstellungen von Zahlen liegt"; denn so wenig wie von sonstigen Vorstellungen sprechen sie von den unserigen. Sie handeln vielmehr von Zahlen und Zahlverknüpfungen schlechthin, in abstracter Rein- heit und Idealität. Die Sätze der arithmetica universalis — der arithmetischen Nomologie, wie wir auch sagen könnten — sind die Gesetze, welche rein im idealen Wesen des Genus An- zahl gründen. Die letzten Einzelheiten, welche in den Umfang dieser Gesetze lallen, sind ideale, es sind die numerisch bestimmten Zahlen, d. i. die niedersten specifischen Differenzen des Genus Anzahl. Auf sie beziehen sich daher die arith- metisch-singulären Sätze, die der arithmetica numerosa. Sie er-' wachsen durch Anwendung jener allgemein arithmetischen Ge- setze auf numerisch gegebene Zahlen, sie drücken aus, was rein im idealen Wesen dieser gegebenen Zahlen beschlossen ist. Von allen diesen Sätzen ist keiner auf einen empirisch-allgemeinen Satz zu reduciren, und möge diese Allgemeinheit auch die größtmögliche sein, die empirische Ausnahmslosigkeit im ganzen Bereiche der realen Welt. Was. wir hier in Betreff der reinen Arithmetik ausgeführt haben, überträgt sich durchaus auf die reine Logik. Auch für sie geben wir als selbstverständlich die Thatsache zu, daß die logischen Begriffe einen psychologischen Ursprung haben, und wir leugnen auch jetzt die psychologistische Consequenz, die darauf gegründet wird. Bei dem Umfang, den wir der Logik, im Sinne der Kunstlehre wissenschaftlicher Erkenntnis, con- cedirt haben, ziehen wir es natürlich auch nicht in Zweifel, daß sie es in weitem Ausmaße mit psychischen Erlebnissen zu thun hat. Gewiß fordert die Methodologie des Wissenschaft- Vorurtheile. 173 liehen Forschens und Beweisens eine ausgiebige Kücksicht auf die Natur der psychischen Vorgänge, in denen es verläuft. Demgemäß werden logische Termini wie Vorstellung, Begriff, Urtheil, Schluß, Beweis, Theorie, Notwendigkeit, Wahrheit u. dgl. auch als Klassennamen für psychische Erlebnisse und dispositionelle Gebilde auftreten können und auftreten müssen. Dagegen bestreiten wir, daß dergleichen jemals in den rein- logischen Partien der in Eede stehenden Kunstlehre zutrifft. Wir leugnen, daß die als selbständige theoretische Disciplin abzulösende reine Logik es je auf psychische Thatsachen abge- sehen hat und auf Gesetze, die als psychologische zu charakte- risiren wären. Wir erkannten ja schon, daß die rein-logischen Gesetze, wie z. B. die primitiven „Denkgesetze" oder die syllo- gistischen Formeln ihren wesentlichen Sinn völlig einbüßen, sowie man sie als psychologische zu intrepretiren versucht. Es ist also von vornherein klar, daß die Begriffe, aus welchen sich diese und ähnliche Gesetze aufbauen, keinen em- pirischen Umfang haben können. Mit anderen Worten: Sie können nicht den Charakter bloß universeller Begriffe haben, deren Umfang thatsächliche Einzelheiten erfüllen, sondern sie müssen echt generelle Begriffe sein, deren Umfang sich ausschließlich zusammensetzt aus idealen Einzelheiten, aus echten Species. Des Weiteren geht klar hervor, daß die genannten Termini und alle überhaupt, die in rein-logischen Zu- sammenhängen auftreten, insgesammt äquivok sein müssen, derart, daß sie auf der einen Seite eben Klassenbegriffe für seelische Gebilde bedeuten, wie solche in die Psychologie ge- hören, und auf der anderen Seite generelle Begriffe für ideale Einzelheiten, welche zu einer Sphäre reiner Gesetzlichkeit gehören. § 47. Bestätigende Nachweisungen an den logischen Grund- begriffen und, an dem Sinn der logischen Sätze. Dies bestätigt sich, wenn wir uns auch nur flüchtig in den historisch vorliegenden Bearbeitungen der Logik umblicken und dabei unsere besondere Aufmerksamkeit auf den fundamentalen 174 Die psychologistischen Unterschied zwischen der subjectiv-anthropologischen Ein- heit der Erkenntnis und der objectiv-idealen Einheit des Erkenntnisinhaltes richten. Die Aequivocationen treten dann alsbald hervor, und sie erklären den trügerischen Schein, als ob die unter dem traditionellen Titel „Elementarlehre" abgehandelten Materien innerlich homogen und insgesammt psychologische wären. Da wird vor Allem von den Vorstellungen gehandelt und in weitem Maße auch psychologisch gehandelt; die apper- ceptiven Vorgänge, in welchen Vorstellungen erwachsen, werden möglichst tief erforscht. So wie es aber an die Unter- schiede der wesentlichen „Formen" der Vorstellungen geht, be- reitet sich schon ein Bruch in der Betrachtungsweise vor, der sich fortsetzt in der Lehre von den Urtheilsformen und am Weitesten auseinanderklafft in der Lehre von den Schlußformen, sowie den zugehörigen Denkgesetzen. Der Terminus Vor- stellung verliert plötzlich den Charakter eines psychologischen Klassenbegriffs. Dies tritt in Evidenz, sowie wir nach dem Ein- zelnen fragen, das unter den Begriff Vorstellung fallen soll. Wenn der Logiker Unterschiede fixirt, wie die zwischen singulären und allgemeinen Vorstellungen (Sokrates — der Mensch über- haupt; die Zahl Vier — die Zahl überhaupt), zwischen attribu- tiven und nicht attributiven (Sokrates, Weiße — ein Mensch, eine Farbe) u. dgl.; oder wenn er die mannigfachen Ver- knüpfungsformen von Vorstellungen zu neuen Vorstellungen aufzählt, wie conjunctive, disjunctive, determinative Verknüpfung u. dgl.; oder wenn er wesentliche Vorstellungsverhältnisse, wie Inhalts- und Umfangsverhältnisse klassificirt: so muß doch Jedermann sehen, daß hier nicht von phänomenalen, sondern von specilischen Einzelheiten die Rede ist. Nehmen wir an, es spreche Jemand als logisches Exempel den Satz aus: Die Vorstellung Dreieck schließt die Vorstellung Figur ein, und der Umfang dieser umschließt den Umfang jener. Ist darin von den subjectiven Erlebnissen irgend einer Person und vom realen Enthaltensein von Phänomenen in Phänomenen die Rede? Gehören in den Umfang dessen, was hier und in allen ahn- Vorurtheile. 175 liehen Zusammenhängen Vorstellung heißt, als unter- schiedene Glieder, die Dreieckvorstellung, die ich jetzt, und die, welche ich in einer Stunde habe; oder nicht vielmehr als einziges Glied die Vorstellung „Dreieck" und daneben, wieder als Einzelheiten, die Vorstellung „Sokrates", die Vorstellung „Löwe" u. dgl.? In aller Logik ist gar viel die Rede von Urtheilen; aber auch hier besteht Aequivocation. In den psychologischen Partien der logischen Kunstlehre spricht man von Urtheilen als Fürwahrhaltungen, man spricht also von bestimmt gearteten Bewußtseinserlebnissen. In den rein-logischen Partien ist davon weiter keine Rede. Urtheil heißt hier soviel wie Satz, und zwar verstanden nicht als eine grammatische, sondern als eine ideale ßedeutungseinheit. Dies trifft all die Unterschei- dungen von Urtheilsacten, bezw. Formen, welche für die rein- logischen Gesetze die nöthigen Unterlagen bieten. Kate- gorisches, hypothetisches, disjunetives, existenziales Urtheil, und wie die Titel noch lauten mögen, sind in der reinen Logik nicht Titel für Urtheilsklassen , sondern Titel von idealen Satz- formen. Dasselbe gilt für die Schlußformen: für Existenzial- schluß, kategorischen Schluß u. s. w. Die bezüglichen Analysen sind Bedeutungsanalysen, also nichts weniger als psychologische Analysen. Nicht individuelle Phänomene, sondern Formen inten- tionaler Einheiten werden analysirt, nicht Erlebnisse des Schließens, sondern Schlüsse. Wer in logisch-analytischer Ab- sicht sagt: das kategorische Urtheil „Gott ist gerecht" hat die Subjectvorstellung „Gott", spricht sicherlich nicht von dem Urtheil als psychischem Erlebnis, das er oder ein anderes Individuum hat, und desgleichen nicht von dem psychischen Act, der darin eingeschlossen und durch das Wort Gott erregt ist; sondern er spricht von dem Satze „Gott ist ge- recht", welcher Einer ist, der Mannigfaltigkeit möglicher Er- lebnisse zu Trotze, und von der Vorstellung „Gott", die wiederum Eine ist, wie es nicht anders sein kann bei dem einzelnen Theile Eines Ganzen. Und demgemäß meint der 176 Die psychologistischen Logiker mit dem Ausdruck „jedes Urtheil" nicht „jeder Ur- theilsact", sondern „jeder objective Satz". Im Umfang des logischen Begriffes Urtheil steht nicht gleichberechtigt das Urtheil „2x2 = 4", das ich soeben erlebe, und das Urtheil „2x2 = 4", das gestern und sonst wann und in sonst welchen Personen Erlebnis war. Im Gegentheil, es ngurirt kein einziger unter diesen Acten im fraglichen Umfang, wol aber schlechthin „2x2 = 4" und daneben etwa „die Erde ist ein Cubus", der Lehrsatz des Pythagoras u. dgl. und zwar je als ein Glied. Genau ebenso verhält es sich natürlich, wenn man sagt: „das Urtheil S folgt aus dem Urtheil P"; und so in allen ähnlichen Fällen. Dadurch bestimmt sich auch erst der wahre Sinn der logischen Grundsätze und zwar als ein solcher, wie ihn unsere früheren Analysen gekennzeichnet haben. Das Princip vom Widerspruch ist, so lehrt man, ein Urtheil über Urtheile. Wofern man aber unter Urtheilen psychische Erlebnisse, Acte des Fürwahrhaltens, Glaubens etc. versteht, kann diese Auf- fassung nicht Geltung haben. Wer das Princip aussagt, urtheilt; aber weder das Princip noch das, worüber es urtheilt, sind Urtheile. Wer aussagt: Von zwei contradictorischen Urtheilen ist eins wahr und eins falsch, meint, wenn er sich nicht mißversteht (wie es bei nachträglicher Interpretation wol kommen mag), nicht ein Gesetz für Urtheilsacte , sondern ein Gesetz für Urtheilsinhalte auszusagen, mit anderen Worten, für die idealen Bedeutungen, die wir kurzweg Sätze zu nennen pflegen. Also lautete der bessere Ausdruck: Von zwei contra- dictorischen Sätzen ist einer wahr und einer falsch. 1 Es 1 Man verwechsle nicht den Satz vom Widerspruch mit dem norma- tiven Satz für Urtheile, der seine evidente Folge ist: Von zwei contra- dictorischen Urtheilen ist eines richtig. — Der Begriff der Richtigkeit setzt den der Wahrheit voraus. Richtig ist ein Urtheil, wenn es für wahr hält, was wahr ist; also ein Urtheil, dessen Inhalt ein wahrer Satz ist. Die logischen Prädicate wahr und falsch gehen, ihrem eigentlichen Sinne nach, ausschließlich die Sätze, im Sinne idealer Aussage-Bedeutungen, an. — Wieder setzt der Begriff des contradictorischen Urtheiles denjenigen Vorurtheile. 177 ist auch klar, daß wir, um den Satz vom Widerspruch zu ver- stehen, nichts weiter nöthig haben, als uns den Sinn entgegen- gesetzter Satzbedeutungen zu vergegenwärtigen. An Urtheile als reale Acte haben wir nicht zu denken, und in keinem Falle wären sie die hiehergehörigen Objecte. Man braucht nur darauf hinzublicken, um einzusehen, daß zum Umfang dieser logischen Gesetzlichkeit nur Urtheile in einem idealen Sinne gehören — wonach „das" Urtheil 2x2 = 5 Eines ist neben „dem" Urtheil „Es giebt Drachen", neben „dem" Satz von der Winkelsumme u. dgl. — hingegen kein einziger der wirklichen oder vorgestellten Urtheilsacte, die in unendlicher Mannigfaltigkeit jeder dieser idealen Einheiten entsprechen. Aehnliches wie vom Satze des Widerspruchs gilt für alle rein- logischen Sätze, z. B. die syllogistischen. Der Unterschied der psychologischen Betrachtungsweise, ' welche die Termini als Klassentermini für psychische Erleb- nisse verwendet, von der objectiven oder idealen Betrachtungs- weise, in welcher eben dieselben Termini Aristotelische Gat- tungen und Arten vertreten, ist kein nebensächlicher und bloß subjectiver; er bestimmt den Unterschied wesentlich verschie- dener Wissenschaften. Reine Logik und Arithmetik als Wissen- schaften von den idealen Einzelheiten gewisser Gattungen (oder von dem was a priori im idealen Wesen dieser Gattungen gründet) trennen sich von der Psychologie, als der Wissenschaft von den individuellen Einzelheiten gewisser empirischer Klassen. § 48. Die entscheidenden Differenzen. Heben wir zum Schluß noch die entscheidenden Diffe- renzen hervor, von deren Anerkennung, bezw. Verkennung, die ganze Stellung zur psychologistischen Argumentation abhängt, so sind es folgende: des contradictorischen Satzes voraus: Im übertragenen Sinne heißen Urtheile contradictorisch, wenn ihre Inhalte (ihre idealen Bedeutungen) in jener descriptiv bestimmten Beziehung stehen, die wir — im eigentlichen Sinn — als Contradiction bezeichnen. Husserl, Log. Unters. I. 12 178 Die psychologistischen 1. Es ist ein wesentlicher, schlechthin unüberbrückbarer Unterschied zwischen Idealwissenschaften und Realwissenschaften. Die ersteren sind apriorisch, die letzteren empirisch. Ent- wickeln jene die ideal-gesetzlichen Allgemeinheiten, welche mit einsichtiger Gewißheit in echt generellen Begriffen gründen, so stellen diese die realgesetzlichen Allgemeinheiten und zwar mit einsichtiger Wahrscheinlichkeit fest, welche sich auf eine Sphäre von Thatsachen beziehen. Der Umfang der Allge- meinbegriffe ist dort ein Umfang vcfn niedersten specifischen Differenzen, hier ein Umfang von individuellen, zeitlich be- stimmten Einzelheiten; die letzten Gegenstände also dort ideale Species, hier empirische Thatsachen. Offenbar vorausgesetzt sind hiebei die wesentlichen Unterschiede zwischen Naturgesetz und idealem Gesetz, zwischen universellen Sätzen über That- sachen (die sich vielleicht als generelle Sätze verkleiden: alle Raben sind schwarz — der Rabe ist schwarz) und echt gene- rellen Sätzen (wie es die allgemeinen Sätze der reinen Mathe- matik sind), zwischen empirischem Klassenbegriff und idealem Genusbegriff u. dgl. Die richtige Schätzung dieser Unterschiede ist durchaus abhängig von dem endgiltigen Aufgeben der empiristischen Abstractionstheorie , welche, gegenwärtig vorherr- schend, das Verständnis alles Logischen verbaut; worüber wir später ausführlich sprechen werden. 2. Es ist in aller Erkenntnis und speciell in aller Wissen- schaft der fundamentale Unterschied zwischen dreierlei Zu- sammenhängen zu beachten: a) Der Zusammenhang der Erkenntniserlebnisse, in welchen sich Wissenschaft subjectiv realisirt, also der psycho- logische Zusammenhang der Vorstellungen, Urtheile, Ein- sichten, Vermuthungen, Fragen u. s. w., in denen sich das Forschen vollzieht, oder in welchen die längst entdeckte Theorie einsichtig durchdacht wird. b) Der Zusammenhang der in der Wissenschaft erforschten und theoretisch erkannten Sachen, die als solche das Gebiet dieser Wissenschaft ausmachen. Der Zusammenhang Vorurtheüe. 179 des Forschens und Erkennens ist sichtlich ein anderer als der des Erforschten und Erkannten. c) Der logische Zusammenhang, d. h. der specifische Zusammenhang der theoretischen Ideen, welcher die Einheit der Wahrheiten einer wissenschaftlichen Disciplin, specieller einer wissenschaftlichen Theorie, eines Beweises oder Schlusses consti- tuirt; bezw. auch die Einheit der Begriffe im wahren Satze, der einfachen Wahrheiten in Wahrheitszusammenhängen u. dgl. Im Falle der Physik z. B. unterscheiden wir den Zu- sammenhang der psychischen Erlebnisse des physikalisch Denkenden von der physischen Natur, die von ihm erkannt wird, und beide wieder von dem idealen Zusammenhang der Wahrheiten in der physikalischen Theorie, also in der Einheit der analytischen Mechanik, der theoretischen Optik u. dgl. Auch die Form der Wahrscheinlichkeitsbegründung, welche den Zusammenhang von Thatsachen und Hypothesen beherrscht, gehört in die Linie des Logischen. Der logische Zusammen- hang ist die ideale Form, um derentwillen in specie von der- selben Wahrheit, von demselben Schlüsse und Beweise, von der- selben Theorie und rationalen Disciplin die Eede ist, von derselben und Einen, wer immer „sie" denken mag. Die Einheit dieser Form ist gesetzliche Geltungseinheit. Die Ge- setze, unter denen sie nebst allen Ihresgleichen steht, sind die rein logischen Gesetze, welche somit alle Wissenschaft über- greifend befassen, und zwar befassen nicht nach ihrem psycho- logischen und gegenständlichen, sondern nach ihrem idealen Bedeutungsgehalt. Selbstverständlich sind die bestimmten Zu- sammenhänge von Begriffen, Sätzen, Wahrheiten, welche die ideale Einheit einer bestimmten Wissenschaft ausmachen, nur insofern logische zu nennen, als sie unter die Logik, in der Weise von Einzelfällen, gehören; nicht aber gehören sie selbst zur Logik als Bestandstücke. Die drei unterschiedenen Zusammenhänge betreffen Logik und Arithmetik natürlich ebenso gut wie alle anderen Disci- plinen ; nur aind bei beiden die erforschten Sachen, nicht wie in 12* 180 Die psychologistischen der Physik reale Thatsachen, sondern ideale Species. Bei der Logik ergiebt sich aus der Besonderheit derselben die gelegent- lich schon erwähnte Eigentümlichkeit, daß die idealen Zu- sammenhänge, welche ihre theoretische Einheit ausmachen, als Specialfälle unter die Gesetze gehören, die sie selbst aufstellt. Die logischen Gesetze sind zugleich Theile und Regeln dieser Zusammenhänge, sie gehören zum theoretischen Verband und doch gleichzeitig zum Gebiet der logischen Wissenschaft. § 49. Drittes Vorurtheil. Die Logik als Theorie der Evidenz. Wir formuliren ein drittes Vorurtheil l in folgenden Sätzen. Alle Wahrheit liegt im Urtheil. Aber als wahr erkennen wir ein Urtheil nur im Falle seiner Evidenz. Mit diesem Worte bezeichnen wir einen eigenthümlichen und Jedem aus seiner inneren Erfahrung wolbekannten psychischen Charakter (er wird gewöhnlich als Gefühl bezeichnet), welcher die Wahrheit des Urtheils, dem er angeknüpft ist, verbürgt. Ist nun die Logik die Kunstlehre, welche uns in der Erkenntnis der Wahrheit fördern will, so sind die logischen Gesetze selbstverständlich Sätze der Psychologie. Es sind nämlich Sätze, die uns über die psychischen Bedingungen aufklären, von denen das Dasein oder Fehlen jenes Evidenzgefühls abhängig ist. An diese Sätze schließen sich dann naturgemäß practische Vorschriften an, welche uns bei der Realisirung von Urtheilen, die dieses auszeichnenden Charakters theilhaftig sind, fördern sollen. Allenfalls mögen auch diese psychologisch ftmdirten Denkregeln gemeint sein, wo man von logischen Gesetzen oder Normen spricht. An diese Auffassung streift schon Mill, wenn er in der Ab- sicht, die Logik von der Psychologie abzugrenzen, lehrt: „The pro- per ties of Thought which concern Logic, are some of its contin- gent properties; those, namely, on the presence of which depends good thinking, as distinguished from bad. il2 In seinen weiteren 1 In den Argumentationen des III. Kapitels spielte es seine Eolle speciell im § 19, S. 57. 2 J. St. Mill, An Examination 5 , S. 462. Vorurtheile. 181 Ausführungen bezeichnet er die Logik wiederholt als (psychologisch zu fassende) „theorie" oder „Philosophy of Evidence" , l wobei er es unmittelbar allerdings nicht auf die rein logischen Sätze abgesehen hat. In Deutschland tritt dieser Gesichtspunkt gelegentlich bei Sig- wart hervor. Nach ihm „kann keine Logik anders verfahren, als daß sie sich der Bedingungen bewußt wird, unter denen dieses sub- jective Gefühl der Notwendigkeit (im vorhergehenden Absatz „das innere Gefühl der Evidenz") eintritt, und dieselben auf ihren allge- meinen Ausdruck bringt." 3 In dieselbe Richtung deuten auch manche Aeußerungen Wundt's. In seiner Logik lesen wir z. B. „Die in be- stimmten Verbindungen des Denkens enthaltenen Eigenschaften der Evi- denz und Allgemeingiltigkeit lassen . . . aus den psychologischen die logischen Denkgesetze hervorgehen." Ihr „normativer Charakter ist ledig- lich darin begründet, daß gewisse unter den psychologischen Verbin- dungen des Denkens thatsächlich Evidenz und Allgemeingiltigkeit be- sitzen. Denn nun wird es erst möglich, daß wir an das Denken über- haupt mit der Forderung herantreten, es solle den Bedingungen der Evi- denz und Allgemeingiltigkeit genügen." — „Jene Bedingungen selbst, denen genügt werden muß, um Evidenz und Allgemeingiltigkeit her- beizuführen, bezeichnen wir als logische Denkgesetze . ." Ausdrück- lich wird noch betont: „das psychologische Denken bleibt immer die umfassendere Form." 3 In der logischen Literatur des letzten Jahrzehnts gewinnt die Interpretation der Logik als practisch gewendeter Psychologie der Evidenz unverkennbar an Schärfe und Ausbreitung. Besondere Erwäh- nung verdient hier die Logik von Höfler und Meinong, weil sie als der erste wirklich durchgeführte Versuch anzusehen ist, den Gesichts- punkt der Psychologie der Evidenz in der ganzen Logik mit möglichster Consequenz zur Geltung zu bringen. Als die Hauptaufgabe der Logik be- 1 A. a. O. S. 473, 475, 476, 478. 2 Sigwart, Logik I. 2 , S. 16. 3 Wundt, Logik I. 2 S. 91. Wundt stellt hier beständig nebeneinander die Evidenz und die Allgemeingiltigkeit. Was die letztere anlangt, so scheidet er subjective Allgemeingiltigkeit, die eine bloße Folge der Evidenz sei, und die objective, die auf das Postulat der Begreiflichkeit der Erfahrung hinausläuft. Da aber Berechtigung und angemessene Erfüllung des Postu- lates doch wieder auf Evidenz fußt, so scheint das Hereinziehen der All- gemeingiltigkeit in die principiellen Erörterungen der Ausgangspunkte nicht thunlich. 182 Die psycholofjistischen zeichnet Höfler die Untersuchung der „(zunächst psychologischen) Gesetze, nach welchen das Zustandekommen der Evidenz von be- stimmten Eigenschaften unserer Vorstellungen und Urtheile abhängt". 1 „Unter allen wirklich vorkommenden oder doch als möglich vorstellbaren Erscheinungen des Denkens" habe die Logik „diejenigen Arten (,Formen') von Gedanken herauszuheben, welchen Evidenz entweder direct zukommt, oder welche noth wendige Bedingungen für das Zu- standekommen von Evidenz sind". 2 Wie ernstlich psychologisch dies gemeint ist, zeigen die sonstigen Ausführungen. So wird z. B. die Methode der Logik, soweit sie die theoretische Grundlegung der Lehre vom richtigen Denken betrifft, als die nämliche bezeichnet, welche die Psychologie gegenüber allen psychischen Erscheinungen anwende; sie habe die Erscheinungen speciell des richtigen Denkens zu beschreiben, und dann so weit als möglich auf einfache Ge- setze zurückzuführen, d. h. die verwickeiteren aus den einfachen zu erklären (a. a. 0. 18). In weiterer Folge wird der logischen Lehre vom Schlüsse die Aufgabe zugewiesen, „die Gesetze aufzu- stellen . . ., von welchen Merkmalen der Prämissen es abhängt, ob ein bestimmtes Urtheil aus ihnen mit Evidenz erschlossen werden kann." U. s. w. § 50. Die äquivalente Umformung der logischen Sätze in Sätze über ideale Bedingungen der Urtheilsevidenz. Die resultirenden Sätze nicht psychologische. Wenden wir uns nun zur Kritik. Wir sind zwar davon weit entfernt, die Unbedenklichkeit des gegenwärtig als Gemein- platz umlaufenden Satzes zuzugestehen, mit dem das Argument anhebt — nämlich, daß alle Wahrheit im Urtheil liege; aber daran zweifeln wir natürlich nicht, daß Wahrheit erkennen und mit Rechtsanspruch behaupten, Wahrheit einsehen voraussetzt. Desgleichen auch nicht daran, daß die logische Kunstlehre nach den psychischen Bedingungen zu forschen hat, unter welchen uns die Evidenz im Urtheilen aufleuchtet. Wir kommen der be- strittenen Auffassung sogar noch einen weiteren Schritt ent- 1 Logik, Unter Mitwirkung von A. Meinung verfaßt von A. Höfler, Wien 1890, S. 16 oben. 2 A. a. 0. S. 17. Vorurt heile. 183 gegen. Obwohl wir auch jetzt wieder den Unterschied zwischen rein logischen und methodologischen Sätzen geltend zu machen gedenken, gestehen wir bezüglich der ersteren ausdrücklich zu, daß sie eine gewisse Beziehung zum psychischen Charakter der Evidenz haben und in gewissem Sinne psychische Bedingungen desselben hergeben. Aber allerdings gilt uns diese Beziehung als eine rein ideale und indirecte. Wir leugnen es, daß die rein logischen Sätze selbst über die Evidenz und ihre Bedingungen das Ge- ringste aussagen. Wir glauben zeigen zu können, daß sie jene Beziehung zu Evidenzerlebnissen nur auf dem Wege der An- wendung, resp. Hinwendung erlangen können, nämlich auf gleiche Weise, wie jedes „rein in Begriffen gründende" Gesetz auf den allgemein vorgestellten Bereich empirischer Einzelfälle jener Begriffe übertragen werden kann. Die so erwachsenden Evidenzsätze behalten aber nach wie vor ihren apriorischen Charakter, und die Evidenzbedingungen, die sie nun aussagen, sind nichts weniger als psychologische, also causale Bedingungen. Die rein begrifflichen Sätze wandeln sich vielmehr, hier wie in jedem analogen Falle, in Aussagen über ideale Unverträglich- keiten, bezw. Möglichkeiten um. Eine einfache Ueberlegung wird Klarheit schaffen. Aus jedem rein logischen Gesetz kann man, durch a priori mögliche (evidente) Umformung gewisse Evidenzsätze, wenn man will, Evidenzbedingungen ablesen. Das combinirte Princip vom Widerspruch und ausgeschlossenen Dritten ist sicherlich äqui- valent mit dem Satze: Evidenz kann bei Einem, aber auch nur bei Einem von einem Paar contradictorischer Urtheile auftreten. 1 W T ieder ist der modus barbara zweifellos äquivalent dem Satze: die Evidenz der nothwendigen Wahrheit eines 1 Verlangte die Evidenztheorie wirklich die Deutung, welche Höfleu a. a. 0. S. 133 bietet, so wäre sie schon durch unsere frühere Kritik der empiristischen Verkennungen der logischen Principien gerichtet (vgl. S. 74 d. W.). Höfler's Satz „ein bejahendes und ein verneinendes Urtheil über denselben Gegenstand sind unverträglich" ist, genau besehen, in sich falsch 184 Die psychologistischen Satzes der Form „alle A sind C 4 (oder genauer ausgedrückt: seiner Wahrheit als einer nothwendig erfolgenden) kann auf- treten in einem schließenden Acte, dessen Prämissen die Formen haben „alle A sind B" und „alle B sind C". Und so ähnlich bei jedem rein logischen Satze. Völlig begreiflich, da evidenter- maßen die allgemeine Aequivalenz besteht zwischen den Sätzen „A ist wahr" und „es ist möglich, daß irgend Jemand mit Evidenz urtheilt, es sei A u . Natürlich werden also die Sätze, zu deren Sinn es gehört auszusagen, was gesetzlich im Begriffe der Wahrheit liegt, und daß das Wahrsein von Sätzen gewisser Satz- formen dasjenige von Sätzen correlater Satzformen bedingt, äqui- valente Umformungen zulassen, in denen das mögliche Auftreten von Evidenz zu den Satzformen der Urtheile in Beziehung ge- setzt wird. Aber die Einsicht in diesen Zusammenhang bietet uns zu- gleich die Handhabe zur Widerlegung des Versuches, reine Logik in Psychologie der Evidenz aufgehen zu lassen. An sich besagt doch der Satz „A ist wahr" nicht dasselbe wie sein Aequivalent „es ist möglich, daß irgend Jemand urtheile, es sei A". Der Erstere spricht nicht von Urtheilen irgend Jemandes, auch nicht irgend Jemandes ganz im Allgemeinen. Es verhält sich hier ganz so wie bei den rein mathematischen Sätzen. Die Aussage, daß a -f b — b -f a ist, besagt, daß der Zahlen- werth der Summe zweier Zahlen von ihrer Stellung in der Verknüpfung unabhängig ist, aber er spricht nichts vom Zählen und Summiren irgend Jemandes. Dergleichen kommt erst oder mindestens zweifelhaft, geschweige denn, daß er als Sinn des logischen Princips gelten könnte. Ein ähnliches Versehen unterläuft bei der Defini- tion der Correlativa Grund und Folge, die, wenn sie richtig wäre, aus allen Schlußgesetzen falsche Sätze machen würde. Sie lautet „Ein Ur- theil F ist dann die „Folge" eines „Grundes" 0, wenn mit dem Für- wahrhalten von G das (vorgestellte) Für falsch halten von F unver- träglich . . . ist" (a. a. 0. S. 136). Man beachte, daß Höfler Unverträg- lichkeit durch Evidenz der Incoexistenz erklärt (a. a. 0. S. 129). Er verwechselt offenbar die ideale Incoexistenz der betreffenden Sätze (deut- licher zu reden: ihr Nicht -zusammengelten) mit der realen Incoexistenz der entsprechenden Acte des Fürwahrhaltens, Vorstellens u. s. w. Vorurtheile. 185 durch eine evidente und äquivalente Umformung hinein. In concreto giebt es ja (und dies steht a priori fest) keine Zahl ohne Zählen, keine Summe ohne Summiren. Aber selbst wenn wir die originären Formen der rein logischen Sätze verlassen und sie in die äquivalent zugehörigen Evidenzsätze umwenden, so entsteht daraus nichts, was die Psychologie als ihr Eigenthum in Anspruch nehmen könnte. Sie ist eine empirische Wissenschaft, die Wissenschaft von den psyohischen Thatsachen. Psychologische Möglichkeit ist also ein Fall von realer Möglichkeit. Jene Evidenzmöglichkeiten sind aber ideale. Was psychologisch unmöglich ist, kann ideal gesprochen sehr wol sein. Die Auflösung des verallgemeinerten „Problems der 3 Körper", sagen wir das „Problem der n Körper", mag jede menschliche Erkenntnisfähigkeit überschreiten. Aber das Problem hat eine Auflösung, und so ist eine darauf be- zügliche Evidenz möglich. Es giebt dekadische Zahlen mit Trillionen Stellen, und es giebt auf sie bezügliche Wahrheiten. Aber Niemand kann solche Zahlen wirklich vorstellen und die auf sie bezüglichen Additionen, Multiplicationen u. s. w. wirk- lich ausführen. Die Evidenz ist hier psychologisch unmöglich, und doch ist sie, ideal zu reden, ganz gewiß ein mögliches psychisches Erlebnis. Die Umwendung des Begriffes Wahrheit in den der Möglichkeit evidenten Urtheilens hat ihr Analogon im Verhältnis der Begriffe individuelles Sein und Wahrnehmungsmöglichkeit. Die Aequivalenz dieser Begriffe ist, wofern nur unter Wahrnehmung die adäquate Wahrnehmung verstanden wird, unbestreitbar. Es ist danach eine Wahrnehmung möglich, welche in Einem Schauen die ganze Welt, die überschwengliche Unendlichkeit von Körpern mit allen ihren Theilen, Molekülen, Atomen und nach allen Verhältnissen und Be- stimmtheiten wahrnimmt. Natürlich ist diese ideale Möglichkeit keine reale, die für irgend ein empirisches Subject angenommen werden könnte. Indem wir die Idealität der Möglichkeiten betonen, welche in Betreff der Urtheilsevidenz aus den logischen Gesetzen ent- 186 Die psychologistischen liommen werden können, und welche uns in apodictischen Evidenzen als a priori geltende einleuchten, wollen wir keines- wegs ihre psychologische Nutzbarkeit leugnen. Wenn wir aus dem Gesetze, daß von zwei contradictorischen Sätzen einer wahr und einer falsch ist, die Wahrheit ableiten, daß von einem Paar möglicher contradictorischer Urtheile je eines, aber nur Eines den Charakter der Evidenz haben kann — und diese Ableitung ist eine evident zu Recht bestehende, wenn wir Evidenz als das Erlebnis definiren, in dem irgend ein Urtheilender der Richtigkeit seines Urtheils, d. i. dessen Angemessenheit an die Wahrheit inne wird — so spricht ja der neue Satz eine Wahrheit aus über Verträglichkeiten, bezw. Unverträglichkeiten gewisser psychischer Erlebnisse. Aber in dieser Weise be- lehrt uns auch jeder rein mathematische Satz über mögliche oder unmögliche Vorkommnisse im Gebiete des Psychischen. Keine empirische Zählung und Berechnung, kein psychischer Act algebraischer Transformation oder geometrischer Con- struction sind möglich, die den idealen Gesetzen der Mathematik widersprächen. So sind diese Gesetze psychologisch nutzbar zu machen. Wir können aus ihnen jederzeit apriorische Möglich- keiten und Unmöglichkeiten ablesen, die sich auf gewisse Arten psychischer Acte, auf Acte der Zählung, der additiven, multipli- cativen . . . Verknüpfung u. s. w. beziehen. Aber darum sind diese Gesetze noch nicht selbst psychologische Sätze. Sache der Psychologie als Naturwissenschaft von den psychischen Er- lebnissen ist es, die Naturbedingtheit dieser Erlebnisse zu erforschen. In ihr Gebiet gehören also speciell die natürlichen (causalen) Verhältnisse der mathematischen und logischen Bethätigungen. Ihre idealen Verhältnisse und Gesetze bilden aber ein Reich für sich. Dieses constituirt sich letzlich in rein generellen Sätzen, aufgebaut aus „Begriffen", welche nicht etwa Klassenbegriffe von psychischen Acten sind, sondern Ideen, die in solchen Acten ihre concrete Grundlage haben. Die Zahl Drei, die Wahrheit, die nach Pythagoras benannt ist, u. dgl., das sind, wie wir erörtert haben, nicht empirische Einzelheiten oder Vorurtheüe. 187 Klassen von Einzelheiten, es sind ideale Gegenstände, die wir im Acte desZählens, des evidenten Urtheilens u. dgl. ideirend erfassen. Und so ist denn in Ansehung der Evidenz die bloße Auf- gabe der Psychologie, die natürlichen Bedingungen der unter diesem Titel befaßten Erlebnisse aufzusuchen, also die realen Zusammenhänge zu erforschen, in denen nach dem Zeugnis unserer Erfahrung Evidenz erwächst und verschwindet. Solche natürlichen Bedingungen sind Concentration des Interesses, eine gewisse geistige Frische, Uebung u. dgl. Ihre Erforschung führt nicht auf Erkenntnisse von exactem Inhalt, nicht auf ein- sichtige Allgemeinheiten von echtem Gesetzescharakter, sondern auf vage empirische Allgemeinheiten. Aber die Urtheilsevidenz steht nicht bloß unter solchen psychologischen Bedingungen, die wir auch als äußerliche und empirische bezeichnen können, sofern sie nicht rein in der specifischen Form und Materie des Urtheils, sondern in seinem empirischen Zusammenhang im Seelenleben gründen; vielmehr steht sie auch unter idealen Bedingungen. Jede Wahrheit repräsentirt eine ideale Einheit zu einer der Möglichkeit nach unendlichen und unbegrenzten Mannigfaltigkeit richtiger Aussagen derselben Form und Materie. Jedes actuelle Urtheil, das dieser ideellen Mannig- faltigkeit angehört, erfüllt, sei es durch seine bloße Form oder durch seine Materie die idealen Bedingungen für die Möglich- keit seiner Evidenz. Die rein logischen Gesetze sind nun Wahrheiten, die rein im Begriff der Wahrheit und in den ihm wesentlich verwandten Begriffen gründen. In Anwendung auf mögliche Urtheilsacte sprechen sie dann, auf Grund der bloßen Urtheilsform, ideale Bedingungen der Möglichkeit, bezw. Un- möglichkeit der Evidenz aus. Von diesen beiden Arten von Evidenzbedingungen haben die Einen Beziehung zur besonderen Constitution der Arten psychischer Wesen, welche in den Rahmen der jeweiligen Psychologie fallen; denn nur so weit wie die Erfahrung reicht die psychologische Induction; die Anderen aber, als ideal gesetzliche, gelten überhaupt für jedes mögliche Bewußtsein. 188 Die psycholog istischen § 51. Die entscheidenden Funkte in diesem Streite. Endlich und schließlich hängt die letzte Klärung auch in diesem Streite zunächst von der richtigen Erkenntnis des fun- damentalsten erkenntnistheoretischen Unterschiedes, nämlich zwischen Realem und Idealem ab, bezw. von der richtigen Er- kenntnis all der Unterschiede, in die er sich auseinanderlegt. Es sind die wiederholt betonten Unterschiede zwischen realen und idealen Wahrheiten, Gesetzen, Wissenschaften, zwischen realen und idealen (individuellen und specifischen) Allgemein- heiten und ebenso Einzelheiten u. dgl. Freilich in gewisser Weise kennt Jedermann diese Unterschiede, und selbst ein so weit ins Extreme gehender Empirist wie Hume vollzieht die fundamentale Sonderung der „relations of ideas" und „matters of fact", dieselbe, die unter den Titeln verites de raison und verites de fait schon vor ihm der große Idealist Leibniz gelehrt hatte. Aber eine erkenntnistheoretisch wichtige Sonderung vollziehen, heißt noch nicht ihr erkenntnistheoretisches Wesen richtig erfassen. Es muß zu klarem Verständnis kommen, was denn das Ideale in sich und in seinem Verhältnis zum Realen ist, wie das Ideale auf Reales bezogen, wie es ihm einwohnen und so zur Erkenntnis kommen kann. Die Grundfrage ist, ob wirklich ideale Denkobjecte — um es modern auszudrücken — bloße Anzeigen sind für „denkökonomisch" verkürzte Rede- weisen, die auf ihren eigentlichen Gehalt reducirt, sich in lauter individuelle Einzelerlebnisse, in lauter Vorstellungen und Urtheile über Einzelthatsachen auflösen; oder ob der Idealist Recht hat, wenn er sagt, daß sich jene empiristische Lehre in nebelhafter Allgemeinheit zwar aussagen, aber nicht ausdenken lasse; daß jede Aussage, z. B. auch jede zu dieser Lehre selbst gehörige, Sinn und Geltung beanspruche, und daß jeder Versuch, diese idealen Einheiten auf reale Einzelheiten zu reduciren, in unabwendbare Absurditäten verwickle; daß die Zersplitterung des Begriffs in irgend einen Umfang von Einzel- Vorurtheile. 189 heiten, ohne irgend einen Begriff, der diesem Umfang im Denken Einheit gäbe, undenkbar sei u. s. w. Andererseits setzt das Verständnis unserer Scheidung zwischen der realen und idealen „Theorie der Evidenz" richtige Begriffe von Evidenz und Wahrheit voraus. In der psychologistischen Literatur unserer Tage hören wir von Evidenz derart sprechen, als wäre sie ein zufälliges Gefühl, das sich bei gewissen Urtheilen einstellt, bei anderen fehlt, bestenfalls so, daß es allgemein menschlich — genauer gefaßt, bei jedem normalen und unter normalen ürtheilsum ständen befind- lichen Menschen — an gewisse Urtheile geknüpft erscheint, an andere nicht. Jeder Normale fühlt unter gewissen normalen Umständen die Evidenz bei dem Satze 2 + 1 = 1+2, so wie er Schmerz fühlt, wenn er sich brennt. Freilich möchte man dann fragen, worauf sich die Autorität dieses besonderen Gefühls gründe, wie es das anstelle, Wahrheit des Urtheils zu verbürgen, ihm den „Stempel der Wahrheit aufzuprägen", seine Wahrheit „anzukündigen", oder wie immer die bildliche Rede lauten mag. Man möchte auch fragen, was denn die vage Rede von normaler Veranlagung und normalen Umständen exact charakterisire, und vor Allem darauf hinweisen, daß selbst der Recurs auf das Normale den Umfang der evidenten Urtheile mit dem der wahrheitsgemäßen nicht zur Deckung bringe. Niemand kann schließlich leugnen, daß auch für den normalen und unter normalen Umständen Urtheilenden die un- geheure Majorität der möglichen richtigen Urtheile der Evi- denz ermangeln muß. Man wird doch den fraglichen Begriff der Normalität nicht so fassen wollen, daß kein wirklicher und in dieser endlichen Naturbedingtheit möglicher Mensch normal genannt werden könnte. Wie der Empirismus überhaupt das Verhältnis zwischen Idealem und Realem im Denken verkennt, so auch das Verhältnis zwischen Wahrheit und Evidenz. Evidenz ist kein accessorisches Gefühl, das sich zufällig oder naturgesetzlich an gewisse Urtheile anschließt. Es ist überhaupt nicht ein psychischer Charakter von 190 Die psychologistischen einer Art, die sich an jedes beliebige Urtheil einer gewisse] Klasse (sc. der sog. „wahren" Urtheile) einfach anheften ließe; als ob der psychologische Gehalt des betreffenden, an und für sich betrachteten Urtheils identisch derselbe bliebe, ob es mit diesem Charakter behaftet ist oder nicht. Die Sache liegt keines- wegs etwa so, wie wir uns den Zusammenhang der Empfin- dungsinhalte und der darauf bezogenen Gefühle zu denken pflegen: Zwei Personen haben dieselben Empfindungen, aber sie werden von ihnen im Gefühl anders berührt. Evidenz ist vielmehr nichts Anderes als das „Erlebnis" der Wahrheit. Er- lebt ist die Wahrheit natürlich in keinem anderen Sinne, als in welchem überhaupt ein Ideales im realen Act erlebt sein kann. Mit anderen Worten: Wahrheit ist eine Idee, deren Einzelfall im evidenten Urtheil actuelles Er- lebnis ist. Daher das Gleichnis vom Sehen, Einsehen, Erfassen der Wahrheit in der Evidenz. Und wie im Gebiet der Wahr- nehmung das Nichtsehen sich keineswegs deckt mit dem Nicht- sein, so bedeutet auch Mangel der Evidenz nicht so viel wie \ Unwahrheit. Wahrheit verhält sich zur Evidenz analog, wie sich das Sein eines Individuellen zu seiner adäquaten Wahr- nehmung verhält. Wieder verhält sich das Urtheil zum evidenten Urtheil analog, wie sich die anschauliche Setzung (als Wahrnehmung, Erinnerung u. dgl.) zur adäquaten Wahrnehmung verhält. Das anschaulich Vorgestellte und für seiend Genommene ist nicht bloß ein Gemeintes, sondern, als was es gemeint ist, auch im Acte gegenwärtig. So ist das evident Geurtheilte nicht bloß geurtheilt (in urtheilender, aussagender, behauptender Weise gemeint), sondern im Urtheilserlebnis selbst gegenwärtig — gegenwärtig in dem Sinne, wie ein Sachverhalt in dieser oder jener Bedeutungsfassung und je nach seiner Art, als ein- zelner oder allgemeiner, empirischer oder idealer u. dgl. „gegen- wärtig" sein kann. Das Erlebnis der Zusammenstimmung zwischen der Meinung und dem Gegenwärtigen, Erlebten, das sie meint, zwischen dem erlebten Sinn der Aussage und dem erlebten Sachverhalt ist die Evidenz, und die Idee dieser Zu- Vorurtheile. 191 sammenstimmung die Wahrheit. Die Idealität der Wahrheit macht aber ihre Objectivität aus. Es ist nicht eine zufällige That- sache, daß ein Satzgedanke, hier und jetzt, zum erlebten Sach- verhalt stimmt. Das Verhältnis betrifft vielmehr die identische Satzbedeutung und den identischen Sachverhalt. Die „Giftig- keit" oder „Gegenständlichkeit" (bezw. die „Ungiltigkeit", „Gegen- standslosigkeit") kommt nicht der Aussage als diesem zeitlichen Erlebnis zu, sondern der Aussage in specie, der (reinen und identischen) Aussage 2 X 2 ist 4 u. dgl. Nur mit dieser Auffassung stimmt es, daß ein Urtheil U (d. h. ein Urtheil des Inhaltes, Bedeutungsgehaltes U) einsehen und einsehen, daß U wahr ist, auf dasselbe hinauskommt. Und dem entsprechend haben wir auch die Einsicht, daß Niemandes Einsicht mit der unsrigen — wofern die eine und andere wirk- lich Einsicht ist — streiten kann. Denn dies heißt ja nur, daß, was als wahr erlebt und somit schlechthin wahr ist, nicht falsch sein kann. Nur für unsere Auffassung ist also jener Zweifel ausgeschlossen, dem die Auffassung der Evidenz als eines zufällig angeknüpften Gefühls nicht entfliehen kann, und der offenbar dem vollen Skepticismus gleichkommt: eben der Zweifel, ob denn nicht, wo wir die Einsicht haben, daß U sei, ein Anderer die Einsicht haben könnte, daß ein mit U evident Unverträgliches V sei, ob nicht überhaupt Einsichten mit Einsichten unlöslich collidiren könnten u. s. w. Wieder ver- stehen wir so, warum das „Gefühl" der Evidenz keine andere wesentliche Vorbedingung haben kann als die Wahrheit des bezüglichen Urtheilsinhalts. Denn wie es selbstverständlich ist, daß, wo Nichts ist, auch Nichts zu sehen ist, so ist es nicht minder selbstverständlich, daß es, wo keine Wahrheit ist, auch kein als wahr Einsehen geben kann, m. a. W. keine Evidenz. Doch genug über diesen Gegenstand. Bezüglich der näheren Analyse dieser Verhältnisse sei auf die bezüglichen Specialunter- suchungen in den späteren Theilen d. W. verwiesen. 192 Das Princip der Denkökonomie Neuntes Kapitel. Das Princip der Denkökonomie und die Logik, § 52. Einleitung. Nah verwandt mit dem Psychologismus, dessen Wider- legung uns bisher beschäftigt hat, ist eine andere Form empi- ristischer Begründung der Logik und Erkenntnistheorie, welche in den letzten Jahren in besonderem Maße Ausbreitung ge- winnt: nämlich die biologische Begründung dieser Disciplinen mittelst des Princips vom kleinsten Kraftmaß, wie Avenarius, oder des Princips von der Oekonomie des Denkens, wie Mach es nennt. Daß diese neue Richtung schließlich wieder in einen Psychologismus einmündet, tritt am deutlichsten in der „Psycho- logie" von Cornelius hervor. In diesem Werke wird das frag- liche Princip ausdrücklich als „Grundgesetz des Verstandes" und zugleich als ein „allgemeines psychologisches Grundgesetz" * hingestellt. Die Psychologie (und speciell die Psychologie der Erkenntnisvorgänge) auf diesem Grundgesetz erbaut, soll zu- gleich die Grundlage der Philosophie überhaupt liefern. 2 Es will mir scheinen, daß in diesen denkökonomischen Theorien wolberechtigte und in passender Beschränkung sehr fruchtbare Gedanken eine Wendung erhalten, die im Falle all- gemeiner Annahme, den Verderb aller echten Logik und Er- kenntnistheorie auf der einen und der Psychologie auf der andern Seite bedeuten würde. 3 Wir erörtern zunächst den Charakter des Avenarius- MACH'schen Princips als eines teleologischen Anpassungsprincips; 1 H. Cornelius, Psychologie S. 82 u. 86. 2 A. a. 0. S. 3—9. („Methode und Stellung der Psychologie".) 3 Die ablehnende Kritik, welche ich in diesem Kapitel an einer Haupttendenz der AvENARius'schen Philosophie üben muß, verträgt sich sehr wol mit aller Hochschätzung für den der Wissenschaft allzufrüh ent- rissenen Forscher, so wie für den gediegenen Ernst seiner wissenschaft- lichen Arbeiten. und die Logik. 193 hierauf bestimmen wir seinen werthvollen Gehalt und die be- rechtigten Ziele der darauf zu gründenden Untersuchungen für die psychische Anthropologie und für die practische Wissen- schaftslehre; zum Schluß erweisen wir seine Unfähigkeit, für eine Begründung der Psychologie und vor Allem der reinen Logik und Erkenntnistheorie irgendwelche Beihilfe zu leisten. § 53. Der teleologische Charakter des Mach- Avenarius' sehen Princips und die wissenschaftliche Bedeutung der Denkökonomik. 1 Wie immer das Princip ausgesprochen werden mag, es hat den Charakter eines Entwicklungs-, bezw. Anpassungs- prineips, es betrifft die Auffassung der Wissenschaft als mög- lichst zweckmäßiger (ökonomischer, kraftersparender) Anpassung der Gedanken an die verschiedenen Erscheinungsgebiete. Avenaeius faßt das Princip im Vorwort seiner Habilitations- schrift 2 in die Worte: „Die Aenderung, welche die Seele ihren Vor- stellungen bei dem Hinzutritt neuer Eindrücke ertheilt, ist eine mög- lichst geringe". Es heißt aber bald darauf: „Insofern aber die Seele den Bedingungen organischer Existenz und deren Zweckmäßigkeitsanfor- derungen unterworfen ist, wird das angezogene Princip zu einem Princip der Entwicklung: Die Seele verwendet zu einer Apper- ception nicht mehr Kraft als nöthig, und giebt bei einer Mehrheit möglicher Apperceptionen derjenigen den Vorzug, welche die gleiche Leistung mit einem geringeren Kraftaufwand, bezw. mit dem gleichen Kraftaufwand eine größere Leistung ausführt; unter begünstigenden Umständen zieht die Seele selbst einem augenblicklich geringeren Kraftaufwand, mit welchem aber eine geringere Wirkungsgröße, bezw. Wirkungsdauer verbunden ist, eine zeitweilige Mehranstrengung vor, welche um so viel größere, bezw. andauerndere Wirkungsvortheile verspricht". 1 Nachdem sich das MACH'sche Wort „denkökonomisch" allgemein eingebürgert hat, wird man mir wol auch die bequeme Bildung „Denk- ökonomik" zur Bezeichnung des wissenschaftlichen Inbegriffes denköko- nomischer Untersuchungen — wenigstens innerhalb der folgenden Blätter — hingehen lassen. 2 R. Avenarius, Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Princip des kleinsten Kraftmaßes. Prologomena zu einer Kritik der reinen Er- fahrung. Leipzig 1876. S. III f. Husserl, Log. Unters. I. l:: 194 Das Princip der Denkökonomie Die größere Abstractheit, welche Avenarius durch Einführung des Apperceptionsbegriffes bewirkt, ist bei der Weitfaltigkeit' und Inhal tsarmuth desselben theuer erkauft. Mach stellt mit Recht an die Spitze, was bei Avenarius als Resultat umständlicher und im Ganzen wol zweifelhafter Deductionen erscheint; nämlich, daß die Wissenschaft eine möglichst vollkommene Orientirung in den bezüglichen Erfahrungsgebieten, eine möglichst ökonomische Anpassung unserer Gedanken an sie bewirke. Er liebt es übrigens nicht (und wieder mit Recht) von einem Princip zu sprechen, sondern schlechthin von der „ökonomischen Natur" der wissenschaftlichen Forschung, von der „denkökonomischen Leistung" der Begriffe, Formeln, Theorien, Me- thoden u. dgl. Es handelt sich bei diesem Princip also nicht etwa um ein Princip im Sinne rationaler Theorie, um ein exactes Ge- setz, das fähig wäre, als Grund einer rationalen Erklärung zu füngiren {wie die rein-mathematischen oder mathematisch-physi- kalischen Gesetze es können), sondern um einen jener werth- vollen teleologischen Gesichtspunkte, welche in den bio- logischen Wissenschaften überhaupt von großem Nutzen sind und sich sämmtlich dem allgemeinen Entwicklungsgedanken angliedern lassen. Die Beziehung zur Selbsterhaltung und Gattungserhaltung liegt hier ja offen zu Tage. Das thierische Handeln wird be- stimmt durch Vorstellungen und Urtheile. Wären diese dem Verlauf der Ereignisse nicht hinreichend angepaßt, könnte ver- gangene Erfahrung nicht nutzbar gemacht, das Neue nicht vorausgesehen, Mittel und Zwecke nicht angemessen zusammen- geordnet werden — all das mindestens im groben Durchschnitt, im Lebenskreise der betreffenden Individuen und mit Beziehung auf die ihnen drohenden Schädlichkeiten oder ihnen günstigen Nützlichkeiten — so wäre eine Erhaltung nicht möglich. Ein Wesen von menschenähnlicher Art, das Empfindungsinhalte erlebte aber keine Associationen vollzöge, keine Vorstellungs- gewohnheiten bildete; ein Wesen also, das der Fähigkeit ent- behrte, Inhalte gegenständlich zu deuten, äußere Dinge und die Logik. 195 und Ereignisse wahrzunehmen, sie gewohnheitsmäßig zu er- warten oder sich in der Erinnerung wieder zu vergegenwärtigen, und das in all diesen Erfahrungsacten durchschnittlichen Er- folges nicht sicher wäre — wie könnte das bestehen bleiben? Schon Hüme hat in dieser Hinsicht von „einer Art vorbe- stimmter Harmonie zwischen dem Laufe der Natur und der Folge unserer Ideen" gesprochen, 1 und die moderne Entwick- lungslehre hat es nahegelegt, diesen Gesichtspunkt weiter zu verfolgen und die hiehergehörigen Teleologien der geistigen Constitution im Einzelnen zu erforschen. Es ist sicherlich ein Gesichtspunkt von nicht minderer Fruchtbarkeit für die psychische Biologie, als er es für die physische schon längst ist. Natürlich ordnet sich ihm nicht bloß die Sphäre des blinden, sondern auch die des logischen, des wissenschaftlichen Denkens ein. Der Vorzug des Menschen ist der Verstand. Der Mensch ist nicht bloß überhaupt ein Wesen, daß sich vor- stellend und urtheilend nach seinen äußeren Lagen richtet; er denkt auch, er überwindet durch den Begriff die engen Schranken des Anschaulichen. In der begrifflichen Erkennt- nis dringt er bis zu den strengen Causalgesetzen durch, die es ihm gestatten, in ungleich größerem Umfange und mit ungleich größerer Sicherheit, als dies sonst möglich wäre, den Lauf der künftigen Erscheinungen vorauszusehen, den Verlauf der ver- gangenen zu reconstruiren , die möglichen Verhaltungsweisen der umgebenden Dinge im Voraus zu berechnen und sie sich practisch zu unterwerfen. „Science d'oü prevoyance , prevoyance d'oü action", so spricht es Comte treffend aus. Wie vieles Leiden der einseitig überspannte Erkenntnistrieb dem einzelnen Forscher, und gar nicht selten, bringen mag: schließlich kommen seine Früchte, kommen die Schätze der Wissenschaft der ganzen Menschheit doch zu Gute. In dem eben Ausgeführten war nun von Oekonomie des Denkens allerdings noch keine Rede. Aber dieser Ge- 1 Hume, An Enquiry conceming Human Understanding , Sect. V. part. II. (Essays, ed. Green a. Grose, Vol. II. p. 46.) 13* 196 Das Princip der Denkökonomie danke drängt sich sofort auf, sowie wir genauer erwägen, was die Idee der Anpassung fordert. Ein Wesen ist offenbar um so zweckmäßiger constituirt, d. h. seinen Lebensbedingungen um so besser angepaßt, je schneller und mit je geringerem Kraftaufwand es jeweils die für seine Selbstförderung not- wendigen oder günstigen Leistungen zu vollführen vermag. Angesichts irgendwelcher (durchschnittlich einer gewissen Sphäre angehörigen und nur mit einer gewissen Häufigkeit auftretenden) Schädlichkeiten oder Nützlichkeiten wird es nun schneller zur Abwehr, bezw. zum Angriff bereit und hierin erfolgreich sein, es wird umsomehr überschüssige Kraft übrig behalten, neuen Schädlichkeiten entgegenzutreten, bezw. neue Nützlichkeiten zu realisiren. Natürlich handelt es sich hier um vage, nur roh auf einander abgestimmte und von uns abzuschätzende Ver- hältnisse, aber immerhin um solche, über die sich hinreichend bestimmt reden läßt, und die, mindestens innerhalb gewisser Gebiete, im Großen und Ganzen lehrreich abzuwägen sind. Sicher gilt dies von dem Gebiete der geistigen Leistungen. Nachdem sie als erhaltungsfördernd erkannt sind, kann man sie unter dem ökonomischen Gesichtspunkt betrachten und die thatsächlich bei dem Menschen realisirten Leistungen teleo- logisch prüfen. Man kann auch, s. z. s. a priori, gewisse Voll- kommenheiten als denkökonomisch empfohlen darthun und sie dann in den Formen und Wegen unseres Denkverfahrens — sei es allgemein, sei es bei den fortgeschritteneren Geistern oder in den Methoden der wissenschaftlichen Forschung — als reali- sirt nachweisen. Jedenfalls eröffnet sich hier eine Sphäre um- fangreicher, dankbarer und lehrreicher Untersuchungen. Das Gebiet des Psychischen ist eben ein Theilgebiet der Biologie, und so bietet es denn nicht nur Raum für abstract- psycholo- gische Forschungen, die, nach Art der physikalischen, auf das Elementargesetzliche abzielen, sondern auch für concret-psycho- logische und speciell für teleologische Forschungen. Diese letzteren constituiren die psychische Anthropologie als das nothwendige Gegenstück der physischen, sie betrachten den und die Logik. 197 Menschen in der Lebensgemeinschaft der Menschheit und in weiterer Folge in derjenigen des gesammten irdischen Lebens. § 54. Nähere Darlegung der berechtigten Ziele einer Denk- ö'konomik, hauptsächlich in der Sphäre der rein deductiven Methodik. Ihre Beziehung zur logischen Kunstlehre. Speciell auf die Sphäre der Wissenschaft angewendet, kann der denkökonomische Gesichtspunkt bedeutsame Eesultate er- geben, er kann helles Licht werfen auf die anthropologischen Gründe der verschiedenen Forschungsmethoden. Ja manche der fruchtbarsten und für die fortgeschrittensten Wissenschaften charakteristischen Methoden können nur durch Hinblick auf die Eigenheiten unserer psychischen Constitution zu befriedigen- dem Verständnis gebracht werden. Vortrefflich sagt Mach in dieser Hinsicht: „Wer Mathematik treibt, ohne sich in der angedeuteten Eichtung Aufklärung zu verschaffen, muß oft den unbehaglichen Eindruck erhalten, als ob Papier und Bleistift ihn selbst an Intelligenz überträfen." 1 Es ist hier Folgendes zu bedenken. Zieht man in Er- wägung, wie beschränkt die intellectuellen Kräfte des Menschen sind, und des Näheren, wie eng die Sphäre ist, innerhalb welcher sich die noch vollverständlichen Complicationen ab- stracter Begriffe halten, und wie anstrengend schon das bloße Verstehen derartiger, in eigentlicher Weise vollzogener Com- plicationen ist; überlegt man weiter, wie wir in ähnlicher Weise in der eigentlichen Auffassung des Sinnes auch nur mäßig com- plicirter Satzzusammenhänge beschränkt sind und erst recht im wirklichen und einsichtigen Vollzuge von nur mäßig compli- cirten Deductionen; überlegt man weiter, wie gering a fortiori 1 E. Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung (1883) S. 460. Die Stelle ist werth, vollständig citirt zu werden. Es heißt weiter: „Mathematik in dieser Weise als Unterrichtsgegenstand betrieben, ist kaum bildender als die Beschäftigung mit Kabbala oder dem mystischen Quadrat. Not- wendig entsteht dadurch eine mystische Neigung, welche gelegentlich ihre Früchte trägt". 198 Das Princip der Denkökonomie die Sphäre ist, in der sich die active, volleinsichtige, überall mit den Gedanken selbst sich abmühende Forschung ursprüng- lich bewegen kann: so muß es Wunder nehmen, wie überhaupt umfassendere rationale Theorien und Wissenschaften zu Stande kommen können. So ist es z. B. ein ernstes Problem, wie mathematische Disciplinen möglich sind, Disciplinen, in welchen nicht relativ einfache Gedanken, sondern wahre Türme von Gedanken und tausendfältig ineinander greifenden Gedanken- verbänden mit souveräner Freiheit bewegt und durch Forschung in immer sich steigernder Complication geschaffen werden. Das vermag Kunst und Methode. Sie überwinden die Un- vollkommenheiten unserer geistigen Constitution und gestatten uns indirect, mittelst symbolischer Processe und unter Verzicht- leistung auf Anschaulichkeit, eigentliches Verständnis und Evidenz Ergebnisse abzuleiten, die völlig sicher, weil durch die allgemeine Begründung der Leistungskräftigkeit der Methode ein für alle Mal gesichert sind. Alle hieher gehörigen Künst- lichkeiten (welche man im Auge zu haben pflegt, wo in einem gewissen prägnanten Sinne überhaupt von Methode die Bede" ist) haben den Charakter von denkökonomischen Vorkehrungen. Sie erwachsen historisch und individuell aus gewissen natür- lichen denkökonomischen Processen, indem die practisch- logische Reflexion des Forschers sich die Vortheile dieser zum einsichtigen Verständnis bringt, sie nun vollbewußt vervollkommt, künstlich verknüpft und solcher Art complicirtere, aber auch unvergleichlich leistungsfähigere Denkmaschinerien herstellt, als es die natürlichen sind. Also auf einsichtigem Wege und mit beständiger Bücksicht auf die Besonderheit unserer geistigen Constitution 1 erfinden die Bahnbrecher der Forschung Methoden, deren allgemeine Berechtigung sie ein für alle Mal nachweisen. Ist dies geschehen, dann können diese Methoden in jedem gegebenen Einzelfall uneinsichtig, s. z. s. mecha- 1 Natürlich heißt das nicht: unter Beihilfe der wissenschaft- lichen Psychologie. und die Logik. 199 nisch befolgt werden, die objective Richtigkeit des Resultates ist gesichert. Diese weitgehende Reduction der einsichtigen auf mecha- nische Denkprocesse, wodurch ungeheure Umkreise auf directem Wege unvollziehbarer Denkleistungen auf einem indirecten Wege bewältigt werden, beruht auf der psychologischen Natur des signitiv-symbolischen Denkens. Dieses spielt seine unermeßliche Rolle nicht bloß bei der Construction blinder Mechanismen — nach Art der Rechenvorschriften für die vier Species und ebenso für höhere Operationen mit dekadischen Zahlen, wo das Resultat (ev. mit Hilfe von Tabellen für Logarithmen, trigono- metrische Functionen u. dgl.) ohne jede Mitwirkung einsichtigen Denkens hervorspringt — sondern auch in den Zusammenhängen einsichtigen Forschens und Beweisens. Da wäre z. B. zu er- wähnen, die merkwürdige Verdoppelung aller rein mathema- tischen Begriffe, wonach, im Besonderen in der Arithmetik, die allgemein arithmetischen Zeichen zunächst im Sinne der ur- sprünglichen Definition als Zeichen für die betreffenden Zahlbe- griffe stehen und dann vielmehr als reine Operationszeichen fun- giren, nämlich als Zeichen, deren Bedeutung ausschließlich durch die äußeren Operationsformen bestimmt ist; ein jedes gilt nun als ein bloßes Irgendetwas, mit dem in diesen bestimmten Formen auf dem Papiere so und so hantirt werden darf. 1 Diese stell- vertretenden Operationsbegriffe, durch welche die Zeichen zu einer Art Spielmarken werden, sind in weitesten Strecken arithmetischen Denkens und sogar Forschens ausschließ- lich maßgebend. Sie bedeuten eine ungeheure Erleichterung desselben, sie versetzen es aus den mühseligen Höhen der 1 Nimmt man statt der äußeren Operationsformen s. z. s. die inneren, versteht man die Zeichen im Sinne von „irgendwelchen Denkobjecten", die in „gewissen" Relationen stehen, „gewisse" Verknüpfungen zulassen, nur so, daß für sie, und zwar in dem entsprechenden formalen Sinne, die Operations- und Beziehungsgesetze gelten: a -f b = b + a u. dgl. — so erwächst eine neue Reihe von Begriffen. Es ist diejenige, welche zu der „formalen" Verallgemeinerung der ursprünglichen Disciplinen führt, von der oben im Texte gleich die Kode sein wird. 200 Das Princip der Denkökonomie Abstraction in die bequemen Bahnen der Anschauung, wo sich die einsichtig geleitete Phantasie innerhalb der Regelschranken frei und mit relativ geringer Anstrengung bethätigen kann; etwa so wie in geregelten Spielen. Im Zusammenhang damit wäre auch darauf hinzuweisen, wie in den rein mathematischen Disciplinen die denkökono- mische Abwälzung des eigentlichen Denkens auf das stellver- tretende signitive, zunächst ganz unvermerkt, zu formalen Ver- allgemeinerungen der ursprünglichen Gedankenreihen, ja selbst der Wissenschaften Anlaß giebt, und wie auf diese Weise, fast ohne eigens darauf gerichtete Geistesarbeit, deductive Disciplinen von unendlich erweitertem Horizont erwachsen. Aus der Arithmetik, die ursprünglich Anzahlen- und Größen- zahlenlehre ist, entsteht so, und gewißermaßen von selbst, die verallgemeinerte, formale Arithmetik, in Beziehung auf welche Anzahlen und Größen nur noch zufällige Anwendungs- objecte und nicht mehr Grundbegriffe sind. Indem die voll- bewußte Reflexion hier nun ansetzt, erwächst als weitere Extension die reine Mannigfaltigkeitslehre, die der Form nach alle möglichen deductiven Systeme in sich faßt, und für welche daher selbst das Formensystem der formalen Arithmetik einen bloßen Einzelfall darstellt. 1 Die Analyse dieser und ähnlicher Methodentypen und die vollgiltige Aufklärung ihrer Leistungen bildet vielleicht das schönste und jedenfalls das am Wenigsten angebaute Feld einer Theorie der Wissenschaft, zumal aber der so wichtigen und lehrreichen Theorie der deductiven (der im weitesten Sinne mathematischen) Methodik. Mit bloßen Allgemeinheiten, mit vager Rede von der stellvertretenden Function der Zeichen, von kraftersparenden Mechanismen u. dgl. ist es hiebei natürlich nicht gethan; es bedarf überall tiefgehender Analysen, es muß für jede typisch verschiedene Methode die Untersuchung wirklich ausgeführt und die ökonomische Leistung Vgl. darüber Einiges im Kapitel XI, §§ 69 und 70, S. 247 ff. und die Logik. 201 der Methode nebst der genauen Erklärung dieser Leistung wirklich nachgewiesen werden. Hat man den Sinn der hier zu lösenden Aufgabe klar erfaßt, so gewinnen auch die für das vor- und außer- wissenschaftliche Denken zu lösenden denkökonomischen Pro- bleme neues Licht und neue Form. Eine gewisse Anpassung an die äußere Natur erfordert die Selbsterhaltung; sie verlangt, sagten wir, die Fähigkeit, die Dinge in gewissem Maße richtig zu beurtheilen, den Lauf der Ereignisse vorauszusehen, causale Abfolgen richtig abzuschätzen u. dgl. Aber wirkliche Erkenntnis von alldem vollzieht sich erst, wenn überhaupt, in der Wissen- schaft. Wie können wir nun doch practisch richtig urtheilen und schließen ohne Einsicht, die im Ganzen nur die Wissenschaft, die Gabe Weniger, zu bieten vermag? Den practisch en Bedürfnissen des vorwissenschaftlichen Lebens dienen ja manche sehr com- plicirte und leistungsfähige Verfahrungsweisen — man denke nur an das dekadische Zahlensystem. Sind sie nicht ein- sichtig erfunden, sondern natürlich erwachsen, so muß doch die Frage erwogen werden, wie dergleichen möglich ist, wie blindmechanische Operationen im Endwerth mit dem, was Ein- sicht verlangt, zusammentreffen können. Ueberlegungen der Art, die wir oben angedeutet haben, zeigen den Weg. Um die Teleologie der vor- und außer- wissenschaftlichen Verfahrungsweisen aufzuklären, wird man einerseits durch genaue Analyse der einschlägigen Vor- stellungs- und Urtheilszusammenhänge, sowie der wirksamen Dispositionen zunächst das Factische, den psychologischen Mechanismus des bezüglichen Denkverfahrens herausstellen. Die denkökonomische Leistung desselben tritt nun im Nach- weis hervor, daß dieses Verfahren indirect und logisch ein- sichtig zu begründen ist als ein solches, dessen Ergebnisse — sei es nothwendig, sei es mit einer gewissen, nicht zu kleinen Wahrscheinlichkeit — mit der Wahrheit zusammentreffen müssen. Endlich wird man, um die natürliche Entstehung der denkökonomischen Maschinerie nicht als ein Wunder 202 Das Prinoip der Denkökonomie übrig zu behalten (oder was dasselbe: als Resultat eines eigenen Schöpfungsactes der göttlichen Intelligenz), auf eine sorgsame Analyse der natürlichen und vorherrschenden Vor- stellungsumstände und -motive des Alltagsmenschen (ev. des Wilden, des Thieres u. s. w.) ausgehen und auf Grund der- selben nachweisen müssen, wie sich ein derart erfolgreiches Verfahren „von selbst", aus rein natürlichen Gründen aus- bilden konnte und mußte. 1 Auf diese Weise ist also die m. E. wolberechtigte und fruchtbare Idee der Denkökonomik mit einiger Bestimmtheit klargelegt, in allgemeinen Zügen sind die Probleme, die sie zu lösen, und die Hauptrichtungen, die sie einzuschlagen hat, angedeutet. Ihr Verhältnis zur Logik, im practischen Sinne einer Kunstlehre wissenschaftlicher Erkenntnis, ist ohne Weiteres verständlich. Offenbar bildet sie ein wichtiges Fundament dieser Kunstlehre, sie giebt ja wesentliche Behelfe zur Constitution der Idee von technischen Methoden mensch- licher Erkenntnis, zu nützlichen Specialisirungen solcher Methoden, sowie zur Ableitung von Regeln für deren Ab- schätzung und Erfindung. § 55. Die Bedeutungslosigkeit der Denkökonomik für die reine Logik und Erkenntnislehre und ihr Verhältnis zur Psychologie. Soweit diese Gedanken mit denen R. Avenaeius' und E. Mach's zusammengehen, besteht keine Differenz, und ich kann ihnen freudig zustimmen. Wirklich bin ich der Ueber- zeugung, . daß man zumal E. Mach's historisch -methodo- logischen Arbeiten eine Fülle logischer Belehrung verdankt, und dies auch dort, wo man seinen Consequenzen nicht durch- 1 Kein Beispiel ist geeigneter, sich das Wesen der hier zu lösenden und oben kurz angedeuteten Aufgaben klar zu machen, als das der natür- lichen Zahlenreihe. Eben weil es mir so lehrreich erschien, habe ich es im XII. Kapitel meiner Philosophie der Arithmetik (I. 1891) in aller Aus- führlichkeit behandelt, und zwar so, daß es die Art, wie derlei Unter- suchungen nach meiner Ueberzeugung zu führen sind, typisch illu- striren kann. und die Logik. 203 aus (oder durchaus nicht) nachgeben kann. Leider hat E. Mach gerade jene, wie mir scheinen möchte, fruchtbarsten Probleme der deductiven Denkökonomik nicht in Angriff ge- nommen, die ich oben in etwas kurzer, aber wol hinreichend bestimmter Fassung zu formuliren versuchte. Und daß er dies nicht gethan hat, liegt zum Theil jedenfalls an den er- kenntnistheoretischen Mißdeutungen, die er seinen Untersuchungen glaubte unterlegen zu dürfen. Aber gerade hieran knüpft sich eine besonders starke Wirkung der MACH'schen Schriften. Es ist zugleich die Seite seiner Gedanken, die er mit Avenaeius theilt, und um derentwillen ich gegen ihn an dieser Stelle Opposition machen muß. Mach's Lehre von der Denkökonomie, sowie die Ave- NAEius'sche vom kleinsten Kraftmaß, bezieht sich, wie wir sahen, auf gewisse biologische Thatsachen, und letztlich handelt es sich dabei um eine Abzweigung der Entwicklungslehre. Demgemäß ist es selbstverständlich, daß von den hieherge- hörigen Forschungen zwar Licht auf die practische Erkenntnis- lehre, auf die Methodologie der wissenschaftlichen Forschung, keineswegs aber auf die reine Erkenntnislehre, speciell auf die idealen Gesetze der reinen Logik geworfen werden kann. Im Gegentheil scheint es aber in den Schriften der Mach-Ave- naeius' sehen Schule auf eine Erkenntnistheorie mit denköko- nomischer Begründung abgesehen zu sein. Gegen eine solche Auffassung, bezw. Verwerthung der Denkökonomik wendet sich natürlich das ganze Arsenal von Einwänden, das wir oben gegen den Psychologismus und Eelativismus angelegt haben. Die denkökonomische Begründung der Erkenntnislehre führt ja schließlich auf die psychologische zurück, und so bedarf es hier weder der Wiederholung noch der speciellen Anpassung der Argumente. Bei Coenelius häufen sich die evidenten Un- zuträglichkeiten dadurch, daß er es unternimmt, aus einem teleologischen Princip der psychischen Anthropologie Elementar- thatsachen der Psychologie herzuleiten, die ihrerseits für die Ableitung dieses Princips selbst schon vorausgesetzt sind, und 204 Das Princip der Denkökonomie daß er weiter mittelst der Psychologie eine erkenntnistheo- retische Begründung der Philosophie überhaupt anstrebt. Ich erinnere daran, daß das sogenannte Princip nichts weniger als ein letzterklärendes rationales Princip, sondern die bloße Zu- sammenfassung eines Complexes von Anpassungsthatsachen ist, der — ideell — einer letzten Eeduction auf Elementarthat- sachen und Elementargesetze harrt, gleichgiltig, ob wir sie werden leisten können oder nicht. Der Psychologie teleologische Principien als „Grundgesetze" unterlegen in der Absicht, die verschiedenen psychischen Functionen durch sie zu erklären, das eröffnet nicht die Aus- sicht auf eine Förderung der Psychologie. Sicherlich ist es belehrend, die teleologische Bedeutung der psychischen Func- tionen und der wichtigeren psychischen Gebilde nachzuweisen; also im Einzelnen nachzuweisen, wie und wodurch die that- sächlich sich bildenden Complexionen psychischer Elemente jene Nützlichkeitsbeziehung zur Selbsterhaltung besitzen, die wir a priori erwarten. Aber das descriptiv Gegebene in der Weise als „nothwendige Folgen" solcher Principien hinstellen, daß der Anschein einer wirklichen Erklärung erweckt wird, und überdies im Zusammenhange wissenschaftlicher Dar- stellungen, welche vorwiegend dazu bestimmt sind, die letzten Fundamente der Psychologie bloßzulegen, das kann nur Ver- wirrung stiften. Ein psychologisches oder erkenntnistheoretisches Gesetz, das von einem Bestreben spricht, in dem oder Jenem mög- lichst viel zu leisten, ist ein Unding. In der reinen Sphäre der Thatsachen giebt es kein Möglichstviel, in der Sphäre der Gesetzlichkeit kein Streben. In psychologischer Hinsicht ge- schieht in jedem Falle ein Bestimmtes, genau so viel und nicht mehr. Das Thatsächliche des Oekonomieprincips reducirt sich darauf, daß es so etwas wie Vorstellungen, Urtheile und sonstige Denkerlebnisse giebt und in Verknüpfung damit auch Gefühle, die in Form der Lust gewisse Bildungsrichtungen und die Logik. 205 fördern, in Form der Unlust von ihnen zurückschrecken. Es ist dann ein im Allgemeinen, im Groben und Rohen, fortschreitender Proceß der Vorstellungs- und Urtheilsbildung zu constatiren, wonach sich aus den ursprünglich bedeutungslosen Elementen zunächst vereinzelte Erfahrungen bilden und dann weiter die Zusammenbildung der Erfahrungen zu der Einen, mehr oder minder geordneten Erfahrungseinheit erfolgt. Nach psychologischen Gesetzen erwächst, auf Grund der im Rohen übereinstimmenden ersten psychischen Collocationen, die Vor- stellung der Einen, für uns Alle gemeinsamen Welt und der empirisch-blinde Glaube an ihr Dasein. Aber man beachte wol: diese Welt ist nicht für Jeden genau dieselbe, sie ist es nur im Großen und Ganzen, sie ist es nur soweit, daß die Möglichkeit gemeinsamer Vorstellungen und Handlungen prac- tisch zureichend gewährleistet ist. Sie ist nicht dieselbe für den gemeinen Mann und den wissenschaftlichen Forscher; jenem ist sie ein Zusammenhang von bloß ungefährer Regel- mäßigkeit, durchsetzt von tausend Zufällen, diesem ist sie die von absolut strenger Gesetzlichkeit durchherrschte Natur. Es ist nun sicherlich ein Unternehmen von großer wissen- schaftlicher Bedeutung, die psychologischen Wege und Mittel nachzuweisen, durch welche sich diese für die Bedürfnisse des practischen Lebens (für die der Selbsterhaltung) hinreichende Idee einer Welt als Gegenstand der Erfahrung entwickelt und festsetzt; in weiterer Folge die psychologischen Wege und Mittel nachzuweisen, durch welche sich im Geiste der wissenschaftlichen Forscher und Forschergenerationen die ob- jectiv angemessene Idee einer streng gesetzlichen Erfahrungs- einheit mit ihrem sich immerfort bereichernden wissenschaftlichen Inhalt bildet. Aber erkenntnistheoretisch ist diese ganze Untersuchung gleichgiltig. Höchstens indirect kann sie der Erkenntnistheorie von Nutzen sein, nämlich zu Zwecken der Kritik erkenntnistheoretischer Vorurtheile, bei welchen es auf die psychologischen Motive ja durchaus ankommt. Die Frage ist nicht, wie Erfahrung, die naive oder wissenschaftliche, ent- 206 Bas Princip der Denkökonomie steht, sondern welchen Inhalt sie haben muß, um objectiv giltige Erfahrung zu sein; die Frage ist, welches die idealen Elemente und Gesetze sind, die solche objective Giltigkeit realer Erkenntnis (und allgemeiner von Erkenntnis überhaupt) fundiren, und wie diese Leistung eigentlich zu verstehen ist. Mit anderen Worten: Wir interessiren uns nicht für das Werden und die Veränderung der Weltvor Stellung, sondern für das objective Recht, mit dem sich die Weltvorstellung der Wissenschaft jeder anderen gegenüberstellt, mit dem sie ihre Welt als die objectiv- wahre behauptet. Die Psychologie will einsichtig erklären, wie die Weltvorstellungen sich bilden; die Weltwissenschaft (als Inbegriff der verschiedenen Realwissen- schaften) einsichtig erkennen, was realiter, als wahre und wirk- liche Welt, ist; die Erkenntnistheorie aber einsichtig verstehen, was die Möglichkeit einsichtiger Erkenntnis des Realen, und was die Möglichkeit von Wissenschaft und Erkenntnis über- haupt in objectiv-idealer Hinsicht ausmacht. § 56. Fortsetzung. Las vgtsqov TiQÖreoov denkökonomischer Begründung des rein Logischen. Der Schein, daß wir es beim Sparsamkeitsprincip mit einem, sei es erkenntnistheoretischen, sei es psychologischen Princip zu thun haben, liegt hauptsächlich an der Verwechslung des thatsächlich Gegebenen mit dem logisch Idealen, das ihm unvermerkt supponirt wird. Wir erkennen es einsichtig als höchstes Ziel und als ideal berechtigte Tendenz aller über bloße Beschreibung hinausgehenden Erklärung, daß sie die an sich „blinden" Thatsachen (zunächst die eines begrifflich um- schriebenen Gebietes) unter möglichst allgemeine Gesetze ordnet und in diesem Sinne möglichst rationell zusammenfaßt. Hier ist das „möglichst viel" der „zusammenfassenden" Leistung völlig klar: es ist das Ideal der durchgreifenden und allbe- greifenden Rationalität. Ordnet sich alles Thatsächliche nach Gesetzen, so muß es einen kleinsten Inbegriff möglichst allge- meiner und deductiv von einander unabhängiger Gesetze geben, und die Logik. 207 auf welche sich alle übrigen Gesetze in reiner Deduction zurück- führen lassen. Diese „Grundgesetze" sind dann jene möglichst viel befassenden und leistenden Gesetze, ihre Erkenntnis ver- schafft die absolut größte Einsicht in das Gebiet, sie gestattet, in ihm alles zu erklären, was einer Erklärung überhaupt fähig ist (wobei allerdings, in idealisirender Weise, die schranken- lose Fähigkeit der Deduction und Subsumption vorausgesetzt wird). So erklären oder befassen die geometrischen Axiome als Grundgesetze die Gesammtheit der räumlichen Thatsachen, jede allgemeine Raumwahrheit (m. a. W. jede geometrische) erfährt durch sie eine evidente Reduction auf ihre letzter- klärenden Gründe. Dieses Ziel, bezw. Princip größtmöglicher Rationalität er- kennen wir also einsichtig als das höchste der rationalen Wissenschaften. Es ist evident, daß die Erkenntnis allge- meinerer Gesetze als jener, die wir jeweils schon besitzen, wirklich das Bessere wäre, sofern sie eben auf tiefere und weiter umfassende Gründe zurückleitete. Aber dieses Princip ist offenbar kein biologisches und bloß denkökonomisches, sondern vielmehr ein rein ideales und zum Ueberfiuß ein normatives Princip. In Thatsachen des psychischen Lebens und des Gemeinschaftslebens der Menschheit kann es also in keiner Weise aufgelöst oder umgedeutet werden. Die Tendenz größtmöglicher Rationalität mit einer biologischen Anpassungstendenz zu identificiren oder aus ihr abzuleiten, ihr dann noch die Function einer psychischen Grundkraft auf- zuladen — das ist eine Summe von Verirrungen, die nur in den psychologistischen Mißdeutungen der logischen Gesetze und in deren Auffassung als Naturgesetze ihre Parallele findet. Zu sagen, unser psychisches Leben werde durch dieses Princip factisch regiert, das widerspricht auch hier der offen- kundigen Wahrheit; unser factisches Denken läuft eben nicht nach Idealen — als ob überhaupt Ideale so etwas wie Natur- kräfte wären. Die ideale Tendenz des logischen Denkens als solchen 208 Das Princip der Denkökonomie geht auf Rationalität. Der Denkökonome (sit venia verbo) macht daraus eine durchgreifende reale Tendenz des mensch- lichen Denkens, begründet sie durch das vage Princip der Kraftersparung und letztlich durch Anpassung; und nun meint er die Norm, daß wir rational denken sollen, und meint er überhaupt den objectiven Werth und Sinn rationaler Wissenschaft aufgeklärt zu haben. Gewiß ist die Rede von der Oekonomie im Denken, von denkökonomischer „Zusammen- fassung" von Thatsachen durch allgemeine Sätze, von niederen Allgemeinheiten durch höhere u. dgl. eine wolberechtigte. Aber sie gewinnt ihre Berechtigung nur durch Vergleich des thatsächlichen Denkens mit der einsichtig erkannten idealen Norm, die sonach das tiqötzqov ttj cpvou ist. Die ideale Geltung der Norm ist die Voraussetzung jeder sinnvollen Rede von Denkökonomie, also ist sie kein mögliches Er- klärungsergebnis der Lehre von dieser Oekonomie. Wir messen das empirische Denken am idealen und constatiren, daß ersteres in einigem Umfange factisch so verläuft, als ob es von den idealen Principien einsichtig geleitet wäre. Dem- gemäß sprechen wir mit Recht von einer natürlichen Teleologie unserer geistigen Organisation als von einer Einrichtung der- selben, der zufolge unser Vorstellen und Urtheilen im Großen und Ganzen (nämlich für die durchschnittliche Lebensförderung genügend) so verläuft, als ob es logisch geregelt wäre. Die wenigen Fälle wirklich einsichtigen Denkens ausgenommen, trägt es in sich selbst nicht die Gewähr logischer Giltigkeit, es ist nicht in sich einsichtig oder indirect von vorgängiger Einsicht zweckvoll geordnet. Aber es ist factisch von einer gewissen scheinbaren Rationalität, es ist so, daß wir Denk- ökonomen, über die Wege des empirischen Denkens reflec- tirend, einsichtig nachweisen können, daß solche Denkwege überhaupt Ergebnisse liefern müssen, die mit den streng logischen — im rohen Durchschnitt — zusammentreffen; wie wir dies oben erörtert haben. Man erkennt also das vgtsoov tiootzoov. Vor aller und die Logik. 209 Denkökonomik müssen wir das Ideal schon kennen, wir müssen wissen, was die Wissenschaft idealiter erstrebt, was gesetzliche Zusammenhänge, was Grundgesetze und abgeleitete Gesetze u. dgl. idealiter sind und leisten, ehe wir die denkökonomische Function ihrer Erkenntnis erörtern und abschätzen können. Allerdings haben wir gewisse vage Begriffe von diesen Ideen schon vor ihrer wissenschaftlichen Erforschung, und so mag denn auch von Denkökonomie die Rede sein vor dem Ausbau einer Wissenschaft der reinen Logik. Aber die wesentliche Sachlage wird dadurch nicht geändert, an sich geht die reine Logik aller Denkökonomik vorher, und es bleibt Widersinn, jene auf diese zu gründen. Noch Eins. Selbstverständlich verläuft auch alles wissen- schaftliche Erklären und Begreifen nach psychologischen Ge- setzen und im Sinne der Denkökonomie. Aber es ist ein Irrthum, wenn man darum glaubt, den Unterschied zwischen logischem und natürlichem Denken nivelliren, die wissen- schaftliche Thätigkeit als eine bloße „Fortsetzung" der natür- lichen und blinden darstellen zu können. Man mag immer- hin, obschon dies nicht ganz unbedenklich ist, von „natür- lichen" wie von logischen Theorien sprechen. Dann darf man aber nicht übersehen, daß die logische Theorie im wahren Sinn keineswegs dasselbe thut, nur in einiger Steige- rung thut, wie die natürliche. Sie hat nicht dasselbe Ziel — oder vielmehr: sie hat ein Ziel, und in die „natürliche Theorie" tragen wir es erst hinein. An den logischen und eigentlich so zu nennenden Theorien messen wir, wie oben gezeigt, gewisse natürliche (und das heißt hier uneinsichtige) Denkprocesse, die wir natürliche Theorien nur darum nennen, weil sie psychologische Ergebnisse zeitigen, die so sind, als ob sie logisch einsichtigem Denken entsprossen, als ob sie wirk- lich Theorien wären. Unwillkürlich verfallen wir mit dieser Benennung aber in den Fehler, die wesentlichen Eigenheiten wirklicher Theorien, solchen „natürlichen" zu unterschieben, das eigentlich Theoretische s. z. s. in sie hineinzuschauen. Als Husserl, Log. Unters. I. 210 Das Princip der Denkökonomie und die Logik. psychische Verläufe mögen diese Analoga von Theorien mit den wirklichen Theorien noch so viel Aehnlichkeit haben, sie bleiben doch grundverschieden. Die logische Theorie ist Theorie durch den idealen Nothwendigkeitszusammenhang, der in ihr waltet; während, was hier natürliche Theorie heißt, ein Verlauf zu- fälliger Vorstellungen oder Ueberzeugungen ist, ohne einsichtigen Zusammenhang, ohne bindende Kraft, aber practisch von einer durchschnittlichen Nützlichkeit, als ob so etwas wie Theorie zu Grunde läge. Die Irrthümer dieser denkökonomischen Richtung ent- springen schließlich daraus, daß das Erkenntnisinteresse ihrer Vertreter — wie der Psychologisten überhaupt — an der empirischen Seite der Wissenschaft hängen bleibt. Sie sehen gewissermaßen vor lauter Bäumen den Wald nicht. Sie mühen sich mit der Wissenschaft als biologischer Erscheinung und merken nicht, daß sie das erkenntnistheoretische Problem der Wissenschaft als einer idealen Einheit objectiver Wahrheit gar nicht berühren. Die vergangene Erkenntnistheorie, die im Idealen noch ein Problem sah, gilt ihnen als Verirrung, die nur noch in Einer Weise ein würdiger Gegenstand wissenschaftlicher Beschäftigung sein könne: nämlich für den Nachweis ihrer relativ denkökonomischen Function auf einer tieferen Ent- wicklungsstufe der Philosophie. Aber je mehr eine solche Schätzung der erkenntnistheoretischen Hauptprobleme und Hauptrichtungen zur philosophischen Mode zu werden droht, um so mehr muß die nüchterne Forschung gegen sie Einspruch erheben, und um so mehr thut es zugleich noth, durch eine möglichst vielseitige Erörterung der principiellen Streitfragen, und zumal durch eine möglichst tiefgehende Analyse der grund- verschiedenen Denkrichtungen in den Sphären des Realen und Idealen, jene einsichtige Klärung anzubahnen, welche die Voraus- setzung für eine endgiltige Fundamentirung der Philosophie ist. Und dazu hofft auch die vorliegende Schrift ein Kleines beizu- tragen. Schluß der kritischen Betrachtungen. 211 Zehntes Kapitel. Schluß der kritischen Betrachtungen. § 57. Bedenken mit Rücksicht auf naheliegende Mißdeutungen unserer logischen Bestrebungen. Unsere bisherigen Untersuchungen waren vorwiegend kritisch. Die Unhaltbarkeit einer jeden, wie immer gearteten Form von empiristischer oder psychologistischer Logik glauben wir durch sie dargethan zu haben. Die Logik im Sinne einer wissen- schaftlichen Methodologie hat ihre vornehmsten Fundamente außerhalb der Psychologie. Die Idee einer „reinen Logik" als einer theoretischen, von aller Empirie, also auch Psychologie, unabhängigen Wissenschaft, welche eine Technologie des wissen- schaftlichen Erkennens (die Logik im gemeinen theoretisch- practischen Sinne) allererst ermöglicht, muß als triftig zuge- standen, die unabweisbare Aufgabe, sie in ihrer Selbständigkeit aufzubauen, muß ernstlich in Angriff genommen werden. — Dürfen wir uns mit diesen Ergebnissen begnügen, ja dürfen wir hoffen, daß sie als Ergebnisse anerkannt werden? Also die Logik unserer Zeit hätte sich in untriftigen Bahnen vergeblich abgemüht — diese ihrer Erfolge gewisse, von so bedeutenden Forschern bearbeitete und durch weitverbreitete Anerkennung ausgezeichnete Wissenschaft? 1 Das wird man kaum zugestehen 1 Wenn 0. Külpe (Einleitung in die Philosophie. 1897. S. 44) von der Logik sagt, sie sei „zweifellos nicht nur eine der bestentwickelten philosophischen Disciplinen, sondern auch eine der sichersten und abge- schlossensten", so mag dies ja richtig sein; aber bei der Schätzung der wissenschaftlichen Sicherheit und Geschlossenheit der Logik, welche sich mir ergeben hat, müßte ich dies zugleich als Anzeige für den tiefen Stand der wissenschaftlichen Philosophie unserer Tage auffassen. Und darauf hin würde ich die Frage anknüpfen: Sollte es nicht doch möglich sein, dieser traurigen Sachlage allmählich ein Ende zu bereiten, wenn sich alle wissenschaftliche Denkenergie darauf richtete, die schart 14* 212 Schluß der kritü-chen wollen. Die idealistische Kritik mag bei der Erwägung der Principienfragen Unbehagen erregen; aber der bloße Hinblick auf die stolze Reihe bedeutender Werke von Mill bis Erdmann formulirbaren und zu allernächst sicher lösbaren Probleme zu erledigen, mögen sie, an und für sich betrachtet, auch noch so eingeschränkt, nüchtern und vielleicht gar interesselos erscheinen? Dies betrifft aber, wie ohne Weiteres ersichtlich, in erster Linie die reine Logik und Er- kenntnislehre. An exacter, sicher anzufassender, ein für alle Mal zu er- ledigender Arbeit ist hier Ueberfluß. Man braucht nur zuzugreifen. Verdanken doch auch die „exacten Wissenschaften" (wozu man die ge- nannten Disciplinen sicherlich dereinst rechnen wird) ihre ganze Größe dieser Bescheidenheit, die mit dem Geringsten fürlieb nimmt und, um ein bekanntes Wort anzuwenden, „im kleinsten Punkte ihre ganze Kraft sammelt". Die vom Standpunkt des Ganzen geringfügigen, wenn nur sicheren Anfänge bewähren sich ihnen immer wieder als Grundlagen für mächtige Fortschritte. Gewiß bethätigt sich diese Gesinnung schon jetzt überall in der Philosophie; aber, wie ich einzusehen gelernt habe, zumeist in verfehlter Richtung, nämlich so, daß die beste wissenschaftliche Energie der Psychologie zugewendet wird — der Psychologie als einer erklären- den Naturwissenschaft, an welcher die Philosophie nicht mehr und nicht anders interessirt ist, als an den Wissenschaften von den physischen Vorgängen. Eben dies freilich will man nicht gelten lassen, ja man spricht gerade mit Beziehung auf die psychologische Fundirung der philo- sophischen Disciplinen von errungenen großen Fortschritten. Und nicht zum Mindesten thut man dies in der Logik. Es ist, wenn ich recht sehe, eine sehr verbreitete Auffassung der Dinge, welcher Elsenhans neuerdings Ausdruck verleiht mit den Worten: ,,Wenn die Logik der Gegenwart mit wachsendem Erfolg die logischen Probleme bearbeitet, so verdankt sie dies vor Allem der psychologischen Vertiefung in ihren Gegenstand" (Zeitschrift für Philosophie, Bd. 109 [1896] S. 203.) Vermutlich hätte ich vor Beginn der vorliegenden Untersuchungen, bezw. vor Erkenntnis der unlösbaren Schwierigkeiten, in welche mich die psychologistische Auf- fassung in der Philosophie der Mathematik verwickelte, genau ebenso ge- sprochen. Aber nun, wo ich die Irrigkeit dieser Auffassung aus klarsten Gründen einzusehen vermag, kann ich mich an der sonst vielversprechen- den Entwicklung der wissenschaftlichen Psychologie zwar freuen und an ihr das lebhafteste Interesse nehmen, aber nicht als Jemand, der von ihr eigentlich philosophische Aufklärungen erhofft. Doch muß ich, um nicht gänzlich mißverstanden zu werden, gleich hinzufügen, daß ich die descriptive Phänomenologie der inneren Erfahrung, welche der empirischen Psychologie und, in ganz anderer Weise, zugleich der Erkenntniskritik zu Grunde liegt, ausnehme. Dies wird im II. Theile dieser Arbeit klar hervortreten. Betrachtungen. 213 und Lipps wird den Meisten genügen, das wankende Vertrauen wiederherzustellen. Man wird sich sagen, es muß doch wol Mittel geben, die Argumente irgendwie zu lösen und mit dem Inhalt der blühenden Wissenschaft in Einklang zu bringen, und wenn nicht, so mag es sich um eine bloße erkenntnistheoretische Umwerthung der Wissenschaft handeln, die, wenn auch nicht unwichtig, so doch nicht von dem revolutionären Erfolge sein wird, ihren wesentlichen Gehalt aufzuheben. Allenfalls wird Manches genauer zu fassen, einzelne unvorsichtige Ausführungen passend einzuschränken, oder die Ordnung der Untersuchungen zu modificiren sein. Es mag ja wirklich etwas für sich haben, die paar rein-logischen Sätze reinlich zusammenzustellen und von den empirisch-psychologischen Ausführungen der logischen Kunstlehre zu sondern. Mit derartigen Gedanken könnte sich Mancher, der die Kraft der idealistischen Argumentation empfindet, aber nicht den nöthigen Muth der Consequenz besitzt, zufrieden geben. Die radicale Umgestaltung, welche die Logik im Sinne unserer Auffassung nothwendig erfahren muß, dürfte übrigens schon darum auf Antipathie und Mißtrauen stoßen, weil sie leicht, zumal bei oberflächlicher Betrachtung, als die pure Eeaction erscheinen könnte. Daß es auf dergleichen nicht abgesehen ist, daß die Wiederanknüpfung an berechtigte Ten- denzen der älteren Philosophie nicht eine Eestitution der traditionellen Logik ins Werk setzen will, dies müßte sich aller- dings schon im genaueren Hinblick auf den Inhalt, unserer Analysen herausstellen; aber schwerlich dürften wir viel Hoff- nung darauf setzen, durch solche Hinweise alles Mißtrauen überwinden und der Mißdeutung unserer Intentionen vorbeugen zu können. § 58. Unsere .Anknüpfungen an große Denker der Vergangen- heit und zunächst an Kant. Auch der Umstand, daß wir in der Lage sind, uns auf die Autorität großer Denker, wie Kant, Herbart 214 Schluß der kritischen und Lotze, und vordem schon Leibniz zu berufen, kann uns bei den herrschenden Vorurtheilen nicht zur Stütze dienen. Ja, dies dürfte eher dazu beitragen, das Mißtrauen zu ver- stärken. Wir finden uns, dem Allgemeinsten nach, auf Kant's Scheidung der reinen und angewandten Logik zurückgeführt. In der That, den hervorstechendsten seiner diesbezüglichen Aeußerungen können wir zustimmen. Freilich nur unter passenden Cautelen. Z. B. jene verwirrenden mythischen Begriffe, die Kant so sehr liebt und auch zur fraglichen Abgrenzung verwendet, ich meine die Begriffe Verstand und Vernunft, werden wir natürlich nicht in dem eigentlichen Sinne von Seelenvermögen acceptiren. Verstand oder Vernunft als Vermögen eines gewissen normalen Denkverhaltens setzen in ihrem Begriffe die reine Logik — die ja das Normale definirt j — voraus, und so wären wir, ernstlich auf sie recurrirend, nicht eben klüger, als wenn wir in analogem Falle die Tanz- kunst durch das Tanzvermögen (sc. das Vermögen kunstvoll zu tanzen), die Malkunst durch das Malvermögen u. s. w. erklären wollten. Die Termini Verstand und Vernunft nehmen wir vielmehr als bloße Anzeigen für die Richtung auf die „Denk- form" und ihre idealen Gesetze, welche die Logik im Gegen- satz zur empirischen Psychologie der Erkenntnis einzuschlagen hat. Also nach derartigen Einschränkungen, Deutungen, näheren Bestimmungen fühlen wir uns Kant's Lehren nahe. Aber muß nicht eben diese Zusammenstimmung die Wirkung haben, unsere Auffassung der Logik zu compro- mittiren? Die reine Logik (die eigentlich nur allein Wissen- schaft sei) soll nach Kant kurz und trocken sein, wie die schulgerechte Darstellung einer Elementarlehre des Verstandes es erfordere." 1 Jedermann kennt die von Jäsche heraus- gegebenen Vorlesungen Kant's und weiß, in welch bedenklichem 1 Kritik d. r. V. Einleitung zur tr. Logik I. WW. Hartenstein b , TU. S. 83. Betrachtungen. 2 1 5 Grade sie jener charakteristischen Forderung entsprechen. Also diese unsäglich dürftige Logik soll das Vorbild sein, dem wir nachstreben sollen? Mit dem Gedanken dieser Zurückschraubung der Wissenschaft auf den Standpunkt der Aristotelisch-schola- stischen Logik wird sich Niemand bemengen wollen. Und darauf scheint es ja hinauszulaufen, wie denn Kant selbst lehrt, die Logik habe seit Akistoteles den Charakter einer geschlossenen Wissenschaft. Die scholastische Ausspinnung der Syllogistik, eingeleitet von einigen feierlich vorgetragenen Be- griffsbestimmungen — das ist keine eben erhebende Aussicht. Wir würden darauf natürlich entgegnen: Daß wir uns Kant's Auffassung der Logik näher fühlen als etwa derjenigen Mill's oder Sigwabt's, besagt nicht, daß wir den ganzen Inhalt derselben, daß wir die bestimmte Ausgestaltung, die er seiner Idee einer reinen Logik gegeben hat, billigen. Wir stimmen mit Kant in der hauptsächlichen Tendenz überein, wir finden aber nicht, daß er das Wesen der intendirten Disciplin klar durchschaut und sie selbst, nach ihrem angemessenen Gehalt, zur Darstellung gebracht hat. § 59. Anknüpfungen an Herbart und Lotze. Näher als Kant steht uns übrigens Hebbart und haupt- sächlich darum, weil bei ihm ein cardinaler Punkt sich zu schärferer Hervorhebung entgegendrängt und für die Unterschei- dung zwischen rein Logischem und Psychologischem auch heran- gezogen wird, der in dieser Hinsicht in der That entscheidend ist, nämlich die Objectivität des „Begriffs", d. i. der Vorstellung in rein-logischem Sinne. „Jedes Gedachte" — so heißt es z. B. in dem psychologischen Hauptwerke 1 — „bloß seiner Qualität nach betrachtet, ist im lo- gischen Sinne ein Begriff." Hiebei „kommt Nichts an auf das denkende Subject; einem solchen kann man nur im psychologischen Sinne Begriffe zueignen, während außerdem der Begriff des Menschen, 1 Herbart, Psychologie als Wissenschaft II. g 120 (Orig. S. 175). 216 Schluß der kritischen des Triangels u. s. w. Niemanden eigentümlich gehört. Ueber- haupt ist in logischer Bedeutung jeder Begriff nur einmal vor- handen; welches nicht sein könnte, wenn die Anzahl der Begriffe zunähme mit der Anzahl der, dieselben vorstellenden Subjecte oder gar mit der Anz ihl der verschiedenen Acte des Denkens, wodurch, psychologisch betrachtet, ein Begriff erzeugt und hervorgebracht wird." „Die entia der älteren Philosophie, selbst noch bei Wolff, sind," lesen wir (im selben § a. a. 0.) weiter, „nichts anderes als Begriffe im logischen Sinne . . . Auch der alte Satz: esseniiae verum sunt immutabiles gehört hieher. Er bedeutet nichts anderes, als: die Begriffe sind etwas völlig Unzeitliches; welches von ihnen in allen ihren logischen Verhältnissen wahr ist, daher auch die aus ihnen gebildeten wissenschaftlichen Sätze und Schlüsse für die Alten, so wie für uns — und am Himmel wie auf Erden — wahr sind und bleiben. Aber die Begriffe in diesem Sinne, in welchem sie ein gemeinschaftliches Wissen für alle Menschen und Zeiten darbieten, sind gar nichts Psychologisches ... In psychologischer Hinsicht ist ein Begriff diejenige Vorstellung, welche den Begriff in logischer Bedeutung zu ihrem Vorgestellten hat; oder durch welche der letztere (das Vorzustellende) wirklich vorgestellt wird. So genommen, hat nun allerdings ein Jeder seine Begriffe für sich; Akchimedes untersuchte seinen eigenen Begriff vom Kreise, und Newton gleichfalls den seinigen; es waren dies zwei Begriffe im psychologischen Sinne, wiewol in logischer Hinsicht nur ein einziger für alle Mathematiker." Aehnliche Ausführungen finden wir im 2. Abschnitt des Lehr- buchs zur „Einleitung in die Philosophie". Gleich der erste Satz lautet: 1 „Unsere sämmtlichen Gedanken lassen sich von zwei Seiten .betrachten; theils als Thätigkeiten unseres Geistes, theils in Hin- sicht dessen, was durch sie gedacht wird. In letzterer Beziehung heißen sie Begriffe, welches Wort, indem es das Begriffene be- zeichnet, zu abstrahiren gebietet von der Art und Weise, wie wir den Gedanken empfangen, produciren oder reproduciren mögen." Im § 35 a. a. 0. leugnet Herbart, daß zwei Begriffe vollkommen gleich sein können; denn sie „würden sich in Hinsicht dessen, was durch sie gedacht wird, nicht unterscheiden, sie würden sich also 1 Herbart, Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie 5 , § 34 S. 77. Betrachtungen. 217 als Begriffe überhaupt nicht unterscheiden. Dagegen kann das Denken eines und desselben Begriffes vielmal wiederholt, bei sehr verschiedenen Gelegenheiten erzeugt und hervorgerufen, von unzähligen Vernunft- wesen vorgenommen werden, ohne daß der Begriff hiedurch verviel- fältigt würde." Er mahnt in der Anmerkung, „sich wol einzuprägen, daß Begriffe weder reale Gegenstände, noch wirkliche Acte des Denkens sind. Der letztere Irrthum ist noch jetzt wirksam; daher halten manche die Logik für eine Naturgeschichte des Ver- standes und glauben, dessen angeborene Gesetze und Denkformen in ihr zu erkennen, wodurch die Psychologie verdorben wird." „Man kann," heißt es an einer andern Stelle, 1 ,,wenn es nöthig scheint, durch eine vollständige Induction beweisen, daß keine einzige von allen, der reinen Logik unbestreitbar angehörigen Lehren, von den Oppositionen und Subordinationen der Begriffe bis zu den Ketten- schlüssen, irgend etwas Psychologisches voraussetzen. Die ganze reine Logik hat es mit Verhältnissen des Gedachten, des In- halts unserer Vorstellungen (obgleich nicht speciell mit diesem Inhalte selbst) zu thun; aber überall nirgends mit der Thätigkeit des Denkens, nirgends mit der psychologischen, also metaphysischen, Mög- lichkeit desselben. Erst die angewandte Logik bedarf, gerade so wie die angewandte Sittenlehre, psychologischer Kenntnisse, insofern näm- lich als der Stoff seiner Beschaffenheit nach erwogen sein muß, den man den gegebenen Vorschriften gemäß, bilden will." In dieser Hinsicht finden wir manche lehrreiche und wichtige Ausführungen, welche die moderne Logik mehr hei Seite geschoben, als ernstlich erwogen hat. Aber auch diese Anknüpfung an Herbart's Autorität will nicht mißverstanden sein. Sie meint nichts weniger als Rückkehr zur Idee und Behandlungsweise der Logik, die Herbart vorgeschwebt, und die sein gediegener Schüler Drobisch in so hervorragender Weise realisirt hat. Gewiß hat Herbart, besonders in dem oben angezogenen Punkte, in der Betonung der Idealität des Begriffs, große Ver- dienste. Schon die Prägung seines Begriffes vom Begriff' ist 1 Psyehol. als Wiss. § 119 (Originalausg. II. S. 174). 218 Schluß der kritischen ihm hoch anzurechnen, mag man seiner Terminologie nun zu- stimmen oder nicht. Andererseits aber ist Herbart, wie mir scheinen will, über bloß vereinzelte und unvollkommen gereifte Anregungen nicht hinausgekommen, und durch manche schiefe und leider sehr einflußreich gewordene Gedanken hat er seine besten Intentionen völlig verdorben. Schon das war schädlich, daß Herbart die fundamentale Aequivocation von Ausdrücken wie Inhalt, Vorgestelltes, Ge- dachtes, nicht bemerkt hat, wonach sie einerseits den idealen, identischen Bedeutungsgehalt der entsprechenden Ausdrücke, und andererseits das jeweilig vorgestellte Gegenständliche be- zeichnen. Das einzig klärende Wort in der Bestimmung des Begriffes vom Begriff hat Herbart, soweit ich sehe, nicht ge- sprochen, nämlich, daß Begriff oder Vorstellung im logischen Sinne nichts Anderes ist, als die identische Bedeutung der ent- sprechenden Ausdrücke. Wichtiger a,ber ist das Grundversehen Herbart' s, vermöge dessen er das Wesentliche der Idealität des logischen Begriffs in seine Normalität setzt. Dadurch verschiebt sich ihm der Sinn der wahrhaften und echten Idealität, der Bedeutungs- einheit in der verstreuten Erlebnis-Mannigfaltigkeit. Gerade der fundamentale Sinn der Idealität, nach dem sich Ideales und Reales als durch eine unüberbrückbare Kluft scheiden, geht verloren, und der ihm unterschobene der Normalität verwirrt die logischen Grundauffassungen. 1 In nächstem Zu- sammenhang damit steht, daß Herbart eine erlösende Formel gefunden zu haben glaubt, wenn er die Logik als die Moral für das Denken, der Psychologie als der Naturgeschichte des Verstandes gegenüberstellt. 2 Von der reinen, theoretischen Wissenschaft, die hinter dieser Moral steckt (und ähnlich bei der Moral im gemeinen Sinne), hat er keine Vorstellung und noch weniger von dem Umfange und den natürlichen Grenzen 1 Vgl. darüber das Kapitel über die Einheit der Species im II. Theil. 2 Herbart, Lehrbuch zur Psychologie 3 , § 180 8. 127 der Sonder- flusg. 1882. Betrachtungen. 219 dieser Wissenschaft und von ihrer innigen Einheit mit der reinen Mathematik. Und so trifft in dieser Hinsicht auch Her- bart's Logik nicht unberechtigt der Vorwurf der Dürftigkeit, ganz ebenso wie die KANT'sche und Aristotelisch-scholastische Logik, so sehr sie sich in anderer Hinsicht auch überlegen zeigt durch den Habitus selbstthätiger und exacter Forschung, den sie in ihrem engen Kreise gepflogen hat. Wieder steht in Zusammenhang mit jenem fundamentalen Versehen die Ver- irrung der HERBART'schen Erkenntnistheorie, die sich ganz un- fähig zeigt, das scheinbar so tiefsinnige Problem der Harmonie zwischen dem subjectiven Verlauf des logischen Denkens und dem realen der äußeren Wirklichkeit als das zu erkennen, was es ist, und als was wir es späterhin nachweisen werden, näm- lich als ein aus Unklarheit erwachsenes Scheinproblem. All das gilt auch von den Logikern der HERBART'schen Einflußsphäre und speciell auch von Lotze, der manche An- regungen Herbart's aufgenommen, mit großem Scharfsinn durchdacht und originell weiter ausgeführt hat. Wir verdanken ihm viel; aber leider finden wir auch seine schönen Anläufe durch die HERBART'sche Verwirrung der s. z. s. Platonischen und normativen Idealität zu Nichte gemacht. Sein großes logisches Werk, so reich es an höchst merkwürdigen und des tiefen Denkers würdigen Gedanken ist, wird hiedurch zu einem unharmonischen Zwitter von psychologistischer und reiner Logik. 1 § 60. Anknüpfungen an Leibniz. Unter den großen Philosophen, auf welche die hier ver- tretene Auffassung der Logik zurückweist, nannten wir oben auch Leibniz. Ihm stehen wir relativ am nächsten. Auch Herbart's logischen Ueberzeugungen finden wir uns nur inso- 1 Wir werden im nächsten Bande Gelegenheit nehmen, auf Lotze's erkenntnistheoretische Lehren, zumal auf sein Kapitel von der realen und formalen Bedeutung des Logischen kritisch einzugehen. 220 Schluß der kritischen weit näher als denjenigen Kant's, als er, Kant gegenüber, LEiBNiz'sche Ideen erneuert hat. Aber freilich zeigte Her hart sich nicht fähig, alles Gute, das sich bei Leibniz findet, auch nur annähernd auszuschöpfen. Hinter der Größe der Mathe- matik und Logik in Eins setzenden Conceptionen dieses ge- waltigen Denkers bleibt er weit zurück. Ueber die letzteren, von denen wir uns besonders sympathisch berührt fühlen, einige Worte. Das treibende Motiv zu Beginn der neueren Philosophie, die Idee einer Vervollkommnung und Neugestaltung der Wissenschaften, führt auch bei Leibniz zu unermüdlichen Be- mühungen um eine reformirte Logik. Aber einsichtiger als seine Vorgänger, faßt er die scholastische Logik, statt sie als hohlen Formelkram zu verunglimpfen, als eine werthvolle Vor- stufe der wahren Logik, welche trotz ihrer Unvollkommenheit dem Denken wahre Hilfen zu bieten vermöchte. 1 Ihre Fort- bildung zu einer Disciplin von mathematischer Form und Strenge, zu einer universellen Mathematik in einem höchsten, und umfassendsten Sinne, ist ein Ziel, dem er immer neue Anstrengungen opfert. Ich folge hier den Andeutungen in den Nouveaux Essais, L. IV. eh. XVII. Vgl. z. B. § 4, Opp. phil. Erdm. 395 a , wo die Lehre von den syllogistischen Formen, erweitert zur ganz allgemeinen Lehre von den „argumens en forme 11 , bezeichnet wird als „une espece de Mathematique universelle, dont Vimportance n'est pas assex connue." ,,Il faut savoir" heißt es dort, „que par les argumens en forme je n'entends pas seulement cette maniere scolastique d } argumenter , dont on se sert dans les Colleges, mais tout raisonne- ment qui conclut par la force de la forme, et oü Von n'a besoin de suppleer aueun article; desorte qu'un sorites, un autre tissu de syllogisme, qui evite la repitition, meme un compte bien dresse, un calcul d'Algebre, une analyse des infinitesimales me seront ä peu 1 Vgl. z. B. Leibnizens ausführliche Verteidigung der traditionellen Logik — obschon sie „kaum ein Schatten" derjenigen sei „so er wünsche" — im Schreiben an Wagner, Opp. philos. Erdm. 418 ff. Betrachtungen. 221 pres des argumens en forme, puisque leur forme de raisonner a ete predemontree, en sorte qu'on est sür de ne s'y point tromper." Die Sphäre der hier coneipirten Mathematique universelle wäre also sehr viel weiter als die Sphäre des logischen Calculs, mit dessen Construction sich Leibniz viel mühte, ohne damit ganz zu Rande zu kommen. Eigentlich müßte Leibniz unter diese allgemeine Mathematik die ganze Mathesis universalis im gewöhnlichen quantitativen Sinne mitbefassen (welche LEiBNizens engsten Begriff von Mathesis uni- versalis ausmacht), zumal er die rein mathematischen Argumente auch sonst wiederholt als „argumenta in forma u bezeichnet hat. Des- gleichen müßte aber auch dahin gehören die Ars combinatoria, seu Speeiosa generalis, seu doctrina de formis abstracta (vgl. die mathe- matischen Schriften der PERTz'schen Ausgabe Bd. VII, S. 24, 49 ff., 54, 159, 205 ff., u. ö.), die den fundamentalen Theil der Mathesis uni- versalis in einem weiteren, aber nicht in dem obigen weitesten Sinne ausmacht, während diese selbst von der Logik als subordinirtes Gebiet unterschieden wird. Die für uns besonders interessante Ars com- binatoria definirt Leibniz a. a. 0. VII, S. 61 als „doctrina de formulis seu ordinis, similitudinis , relationis etc. expressionibus in Universum." Sie wird hier als scientia generalis de qualitate der scientia generalis de quantitate (der allgemeinen Mathematik im gewöhnlichen Sinn) gegenübergestellt. Vgl. dazu die werthvolle Stelle in Gerhardts Ausgabe der philos. Schriften, Bd. VII. S. 297 f.: „Ars Combinatoria speciatim mihi illa est scientia fquae etiam generaliter characteristica sive speeiosa dici posset) , in qua traetatur de verum formis sive formulis in Universum, hoc est de qualitate in gener e sive de simili et dissimili, prout aliae atque aliae formulae ex ipsis a, b, c etc. (sive quantitates sive aliud quoddam repraesentent) inter se com- binatis oriuntur, et distinguitur ab Algebra quae agit de formulis ad quantitatem applicatis, sive de aequali et inaequali. Itaque Algebra subordinatur Gombinatoriae , ejusque regulis Continus utitur, quae tarnen longe gener alior es sunt, nee in Algebra tantum sed et in arte deeiphratoria, in variis ludorum generibus, in ipsa geometria lineariter ad veterum morem traetata, denique in omnibus ubi similitudinis ratio habetur locum habent. — Die seiner Zeit so weit vorauseilenden Intuitionen LEiBNizens erscheinen dem Kenner der modernen ,, formalen" Mathematik und der mathematischen Logik als scharf begrenzt und in hohem Grade bewundernswerth. Letzteres betrifft, wie ich aus- 222 Schluß der kritischen drücklich bemerke, auch Leibnizens Fragmente über die scientia generalis, bezw. den calculus ratiocinator , aus welcher Trendelen- bürg's elegante, aber an der Oberfläche haftende Kritik so wenig Brauchbares herauslesen konnte. (Historische Beiträge zur Philo- sophie, Bd. III.) Zugleich weist Leibniz in wiederholten und nachdrücklichen Aeußerungen auf die Notwendigkeit einer Erweiterung der Logik um eine mathematische Theorie der Wahrscheinlich- keiten hin. Er verlangt von den Mathematikern eine Analysis der Probleme, welche die Glückspiele in sich bergen, und er- wartet davon große Förderungen des empirischen Denkens und dessen logischer Kritik. l Kurz Leibniz hat die großartigen Er- werbungen, welche die Logik seit Aristoteles zu verzeichnen hat, die Theorie der Wahrscheinlichkeiten und die, erst in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts herangereifte, mathematische Analyse der (syllogistischen und asyllogistischen) Schlüsse in genialen Intuitionen vorausgesehen. Er ist durch seine Com- binatoria auch der geistige Vater der reinen Mannigfaltigkeits- lehre, dieser der reinen Logik nahestehenden, ja mit ihr innig vereinten Disciplin. (Vgl. unten § 69 und 70 S. 247 ff.) Mit all dem steht Leibniz auf dem Boden jener Idee der reinen Logik, für die wir hier eintreten. Nichts liegt ihm ferner als der Gedanke, daß die wesentlichen Grundlagen einer fruchtbaren Erkenntniskunst in der Psychologie liegen möchten. Sie sind nach ihm gänzlich a priori. Sie constituiren ja eine Disciplin von mathematischer Form, die als solche, ganz so wie etwa die reine Arithmetik, den Beruf zur practischen Er- kenntnisregelung ohne Weiteres in sich schließt. 2 1 Vgl. z. B. Nouv. Ess. L. IV. eh. XVI. § 5, Opp. phil. Erdm. S. 388 f.; L. IV. eh. I. § 14, a. a. 0. S. 343. Vgl. auch die Fragmente zur scientia generalis a. a. 0. S. 84, 85 u. s. w. 2 So eoineidirt z. B. nach Leibniz die Mathesis universalis in dem engsten Sinn mit der Logiea Malhematicorum (Pertz a. a. 0. Bd. VII. S. 54), während er diese (auch „Logiea Mathematica" genannt a. a. 0. S. 50) als Ars judicandi atque inveniendi circa quantitates definirt. Dies überträgt sich natürlich auf die Mathesis universalis im weiteren und weitesten Sinne. Betrachtungen. 223 § 61. Notwendigkeit von Einzeluntersuchungen zur erkenntnis- kritischen Rechtfertigung und partiellen Realisirung der Idee der reinen Logik. Doch man wird Leibnizens Autorität noch weniger gelten lassen als diejenige Kant's oder Herbart's, zumal er den großen Intentionen nicht das Gewicht durchgeführter Leistungen zu geben vermochte. Er gehört einer vergangenen Epoche an, über welche die neue Wissenschaft weit fortgeschritten zu sein glaubt. Autoritäten wiegen überhaupt nicht schwer gegen eine breit ausgeführte und vermeintlich ergebnisreiche und gesicherte Wissenschaft. Und ihre Wirkung muß um so geringer sein, als bei ihnen ein hinreichend abgeklärter und positiv ausgebauter Begriff von der fraglichen Disciplin fehlt. Es ist klar: Wollen wir nicht auf halbem Wege stehen bleiben und unsere kritischen Ueberlegungen nicht der Gefahr der Unfruchtbarkeit aussetzen, so müssen wir uns der Aufgabe unterziehen, die Idee der reinen Logik auf hinreichend breiter Basis zu construiren. Nur dadurch, daß wir in sachhaltigen Einzel- ausführungen eine genauer umrissene Vorstellung von dem Gehalt und Charakter ihrer wesentlichen Untersuchungen bieten und ihren Begriff bestimmter herausarbeiten, können wir das Vorurtheil beseitigen, als ob sie es mit einem geringfügigen Gebiet von ziemlich trivialen Sätzen zu thun habe. Wir werden im Gegentheil sehen, daß die Ausdehnung der Disciplin sehr beträchtlich ist und zwar nicht bloß im Hinblick auf ihren Ge- halt an systematischen Theorien, sondern vor Allem im Hin- blick auf die schwierigen und wichtigen Untersuchungen, welche für ihre philosophische Grundlegung und Schätzung erforder- lich sind. Uebrigens wäre die vermeintliche Geringfügigkeit des rein logischen Wahrheitsgebietes für sich allein kein Argument für seine Behandlung als eines bloßen Behelfes der logischen Kunstlehre. Es ist ein Postulat des rein theoretischen Inter- esses, das, was in sich eine theoretisch geschlossene Einheit 224 Schluß der kritischen bildet, auch in dieser theoretischen Geschlossenheit, und nicht als bloßen Behelf für außenliegende Zwecke, darzustellen. Haben übrigens die bisherigen Untersuchungen zum Mindesten dies klargestellt, daß ein richtiges Verständnis des Wesens der reinen Logik und ihrer einzigartigen Stellung zu allen anderen Wissenschaften eine der wichtigsten Fragen, wo nicht gar die wichtigste der ganzen Erkenntnistheorie ausmacht, so ist es auch ein vitales Interesse dieser philosophischen Fundamental- wissenschaft, daß die reine Logik in ihrer Reinheit und Selb- ständigkeit wirklich dargestellt werde. Ja ich wüßte nicht, inwiefern die Erkenntnistheorie überhaupt den Namen einer vollen Wissenschaft verdiente, wenn nicht die gesammte reine Logik als ihr Bestandstück, bezw. umgekehrt, wenn nicht die erkenntnistheoretische Forschung als philosophischer Annex zur reinen Logik gefaßt werden dürfte. Natürlich müßte die Er- kenntnistheorie nur nicht als eine Disciplin verstanden werden, welche der Metaphysik nachfolgt oder gar mit ihr coincidirt, sondern welche ihr, wie der Psychologie und allen anderen Disciplinen, vorhergeht. Anhang. Hinweise auf F. A. Lange und B. Bolzauo. Wie weit der Abstand auch ist, der meine Auffassung der Logik von derjenigen F. A. Lange's trennt, darin bin ich mit ihm einig und sehe ich ein Verdienst um unsere Disciplin, daß er in einer Zeit vorherrschender Unterschätzung der reinen Logik mit Entschie- denheit für die Ueberzeugung eingetreten ist, daß „die Wissen- schaft von dem Versuch einer abgesonderten Behandlung der rein formalen Elemente der Logik eine wesentliche Förderung zu erwarten habe." 1 Die Beistimmung reicht noch weiter, sie betrifft dem Allerallgemeinsten nach auch die Idee der Disciplin, die Lange freilich nicht zu wesenhafter Klarheit zu bringen vermochte. Nicht ohne Grund gilt ihm die Absonderung der reinen Logik als Auslösung derjenigen Lehren, die er als „das 1 F. A. Lange, Logische Studien, S. 1. Betrachtungen. 225 Apodictische der Logik" bezeichnet, nämlich „diejenigen Lehren, welche sich, gleich den Lehrsätzen der Mathematik, in absolut zwingender Weise entwickeln lassen ..." Und sehr beherzigens- werth ist, was er dann beifügt: „Die bloße Thatsache des Vor- handenseins zwingender Wahrheiten ist eine so wichtige, daß jede Spur derselben sorgfältig verfolgt werden muß. Eine Unter- lassung dieser Untersuchung wegen des geringen Werthes der for- malen Logik oder wegen ihrer Unzulänglichkeit als Theorie des menschlichen Denkens müßte von diesem Standpunkte aus zunächst schon als Verwechslung theoretischer und practischer Zwecke zurück- gewiesen werden. Ein solcher Einwand wäre etwa so anzusehen, wie wenn ein Chemiker sich weigern wollte, einen zusammenge- setzten Körper zu analysiren, weil derselbe in seinem zusammenge- setzten Bestände sehr werthvoll sei, während die einzelnen Bestand- teile voraussichtlich gar keinen Werth hätten." 1 Ebenso richtig heißt es an einer anderen Stelle: „Die formale Logik hat als apodic- tische Wissenschaft einen Werth, der von ihrer Nützlichkeit ganz unabhängig ist, da jedem System a priori giltiger Wahrheiten die höchste Beachtung zukommt." 2 Während Lange für die Idee einer rein formalen Logik so warm eintrat, hatte er keine Ahnung, daß sie längst schon in relativ hohem Maße realisirt war. Ich meine natürlich nicht die vielen Darstellungen der formalen Logik, welche zumal in den Schulen Kant's und Herbart's erwuchsen, und welche die Ansprüche, die sie erhoben, nur zu wenig befriedigten; wol aber Bernhard Bolzano's Wissenschaftslehre aus dem Jahre 1837, ein Werk, das in Sachen der logischen „Elementarlehre" Alles weit zurückläßt, was die Weltliteratur an systematischen Entwürfen der Logik darbietet. Zwar hat Bolzano die selbständige Abgrenzung einer reinen Logik in unserem Sinne nicht ausdrücklich erörtert und befürwortet; aber de facto hat er sie in den beiden ersten Bänden seines Werkes, nämlich als Unterlage einer Wissenschaftslehre im Sinne seiner Auf- fassung, in einer Reinheit und wissenschaftlichen Strenge dargestellt und mit einer solchen Fülle von originellen, wissenschaftlich ge- sicherten und jedenfalls fruchtbaren Gedanken ausgestattet, daß er 1 A. a. 0. S. 7 f. 2 A. a. 0. S. 127. Husserl, Log. Unters. I. 1° 226 Schluß der kritischen um dessentwillen als einer der größten Logiker aller Zeiten wird gelten müssen. Seiner Stellung nach ist er dicht neben Leibniz zu setzen, mit dem er wichtige Gedanken und Grundauffassungen theilt, und dem er philosophisch auch sonst zunächst steht. Frei- lich hat auch er den Reichthum der logischen Intuitionen Leib- nizens nicht ganz ausgeschöpft, zumal nicht in Hinsicht auf die mathematische Syllogistik und die mathesis universalis. Doch war vom Nachlaß Leibnizens damals noch zu wenig bekannt, und es fehlte die „formale" Mathematik und Mannigfaltigkeitslehre als der Schlüssel des Verständnisses. Mit jeder Zeile bewährt sich Bolzano in seinem bewundernswerthen Werke als der scharfsinnige Mathematiker, der in der Logik denselben Geist wissenschaftlicher Strenge walten läßt, den er selbst als der Erste in die theoretische Behandlung der Grundbegriffe und Grundsätze der mathematischen Analysis eingeführt, und die er hiedurch auf eine neue Basis gestellt hat: ein Ruhmestitel, den einzuzeichnen, die Geschichte der Mathematik nicht vergessen hat. Von der tiefsinnigen Vieldeutig- keit der System-Philosophie, welche mehr darauf ausgieng, gedanken- volle Weltanschauung und Welt Weisheit als theoretisch- analysirendes Weltwissen zu sein, und in unseliger Vermengung dieser grundver- schiedenen Intentionen den Fortschritt der wissenschaftlichen Philo- sophie so sehr hemmte, finden wir bei Bolzano — dem Zeitge- nossen Hegel's — keine Spur. Seine Gedankenbildungen sind von mathematischer Schlichtheit und Nüchternheit, aber auch von mathe- matischer Klarheit und Strenge. Erst ein tieferes Eingehen auf Sinn und Zweck dieser Bildungen im Ganzen der Disciplin enthüllt, welch große Geistesarbeit und Geistesleistung in den nüchternen Be- stimmungen oder den formelhaften Darstellungen steckt. Dem in den Vorurtheilen, in den Denk- und Sprechgewohnheiten der idea- listischen Schulen erwachsenen Philosophen — und so ganz ihren Nachwirkungen sind wir alle noch nicht entwachsen — erscheint dergleichen wissenschaftliche Art gar leicht als ideenlose Seichtigkeit, oder auch als Schwerfälligkeit und Pedanterie. Aber auf Bolzano's Werk muß sich die Logik als Wissenschaft aufbauen, aus ihm muß sie lernen, was ihr noth thut: mathematische Schärfe der Unter- scheidungen, mathematische Exactheit in den Theorien. Sie wird dann auch einen anderen Standpunkt für die Schätzung der ,,mathe- matisirenden" Theorien der Logik gewinnen, welche die Mathematiker, Betrachtungen. 227 um die philosophische Mißachtung unbekümmert, so erfolgreich auf- bauen. Denn dem Geist der BoLZANo'schen Logik fügen sie sich durchaus ein, obschon Bolzano selbst sie noch nicht geahnt hat. Jedenfalls wird einem künftigen Geschichtsschreiber der Logik nicht mehr das Versehen des sonst so gründlichen Ueberweg unterlaufen dürfen, ein Werk vom Range der „Wissenschaftslehre" auf eine Stufe zu stellen mit — Knigge's Logik für Frauenzimmer. 1 So sehr Bolzano's Leistung aus Einem Gusse ist, so wenig kann sie (ganz im Sinne des grundehrlichen Denkers selbst) als endgiltig abschließende angenommen werden. Um hier nur Eines zu erwähnen, so sind besonders empfindlich die Mängel in erkenntnistheoretischer Richtung. Es fehlen (oder es sind ganz unzureichend) die Unter- suchungen, welche die eigentlich philosophische Verständlichmachung der logischen Denkleistungen, und damit die philosophische Schätzung der logischen Disciplin selbst betreffen. Diesen Fragen kann allen- falls der Forscher ausweichen, der in sicher abgegrenztem Gebiet, wie der Mathematiker, Theorie auf Theorie baut, ohne sich um die Prin- cipienfragen viel kümmern zu müssen; nicht aber, wer vor der Auf- gabe steht, dem, der die Disciplin garnicht sieht und gelten läßt, oder ihre wesentlichen Aufgaben mit heterogenen vermengt, das Eigen recht einer solchen Disciplin und das Wesen ihrer Gegenstände und Aufgaben klar zu machen. Ueberhaupt wird der Vergleich der vor- liegenden logischen Untersuchungen mit dem Werke Bolzano's lehren, daß es sich bei ihnen keineswegs um bloße Commentationen oder kritisch nachbessernde Darstellungen BoLZANo'scher Gedankenbildungen handelt, obschon sie andererseits die entscheidenden Einflüsse von Bolzano — und daneben von Lotze — empfangen haben. 1 Von Beiden weiß nämlich Ueberweg gleich viel Nennenswerthes zu sagen: den Titel. Im Uebrigen wird man dereinst auch eine Ge- schichtsbehandlung der Logik, die sich, wie die ÜEBERWEo'sche, nach den ,großen Philosophen' orientirt, als sonderbare Anomalie empfinden. l.v 228 Die Idee der reinen Logik. Elftes Kapitel. Die Idee der reinen Logik. Um wenigstens ein vorläufiges, durch einige charakteristische Züge bestimmtes Bild des Zieles zu erlangen, dem die im II. Theil folgenden Einzeluntersuchungen zustreben, wollen wir den Versuch wagen, die Idee der reinen Logik, welche durch die bisherigen kritischen Betrachtungen einigermaßen vorbereitet ist, zu begrifflicher Klarheit zu erheben. § 62. Die Einheit der Wissenschaft. Der Zusammenhang der Sachen und der Zusammenhang der Wahrheiten. Wissenschaft ist zunächst eine anthropologische Einheit, nämlich Einheit von Denkacten, Denkdispositionen nebst gewissen zugehörigen äußeren Veranstaltungen. Was alles diese Einheit als anthropologische und speciell, was sie 'als psychologische bestimmt, ist hier nicht unser Interesse. Dieses geht vielmehr darauf, was Wissenschaft zur Wissenschaft macht, und das ist jedenfalls nicht der psychologische und überhaupt reale Zu- sammenhang, dem sich die Denkacte einordnen, sondern ein gewisser objectiver oder idealer Zusammenhang, der ihnen ein- heitliche gegenständliche Beziehung und in dieser Einheitlich- keit auch ideale Geltung verschafft. Doch es bedarf hier größerer Bestimmtheit und Klarheit. Unter dem objectiven Zusammenhang, der das wissenschaftliche Denken ideell durchzieht, ihm und so der Wissenschaft als' solcher „Einheit" giebt, kann Doppeltes verstanden werden: Der Zusammenhang der Sachen, auf welche sich die Denkerlebnisse (die wirklichen oder möglichen) intentional be- ziehen, und auf der anderen Seite der* Zusammenhang der Wahrheiten, in dem die sachliche Einheit als das, was sie ist, zur objectiven Geltung kommt. Eins und das Andere ist Die Idee der reinen Logik. 229 a priori mit einander gegeben und von einander unablösbar. Es kann nichts sein, ohne so oder so bestimmt zu sein; und daß es ist und so oder so bestimmt ist, dies ist eben die Wahrheit an sich, welche das nothwendige Correlat des Seins an sich bildet. Offenbar gilt dasselbe, was von einzelnen Wahrheiten, bezw. Sachverhalten gilt, auch von Zusammenhängen von Wahrheiten, bezw. von Sachverhalten. Diese evidente Un- abtrennbarkeit ist aber nicht Identität. In den bezüglichen Wahrheiten oder Wahrheitszusammenhängen constituirt sich die Geltung der Sachen und sachlichen Zusammenhänge. Aber die Wahrheitszusammenhänge sind andere als die Zusammen- hänge der Sachen, die in jenen wahr (wahrhaft) sind; dies zeigt sich sofort darin, daß die Wahrheiten, die von Wahr- heiten gelten, nicht zusammenfallen mit den Wahrheiten, die von den Sachen gelten, welche in jenen Wahrheiten gesetzt sind. Um Mißverständnisse nicht aufkommen zu lassen, betone ich ausdrücklich, daß die Wörter Gegenständlichkeit, Gegenstand, Sache u. dgl. hier allzeit im weitesten Sinne, also in Harmonie mit dem von mir bevorzugten Sinn des Terminus Erkenntnis gebraucht werden. Ein Gegenstand (der Erkenntnis) kann ebensowol ein Reales sein wie ein Ideales, ebensowol ein Ding oder ein Vorgang wie eine Species oder eine mathematische Relation, ebensowol ein Sein wie ein Sein- sollen. Dies überträgt sich von selbst auf Ausdrücke wie Einheit der Gegenständlichkeit, Zusammenhang der Sachen u. dgl. Gegeben sind uns diese beiden, nur abstractiv ohne einander zu denkenden Einheiten — die Einheit der Gegen- ständlichkeit auf der einen, die der Wahrheit auf der anderen Seite — im Urtheil oder genauer in der Erkenntnis. Dieser Ausdruck ist weit genug, um wie die einfachen Erkenntnis- acte, so alle wie immer complicirten, logisch einheitlichen Er- kenntniszusammenhänge in sich zu fassen: ein jeder als Ganzes ist selbst Ein Erkenntnisact. Indem wir nun einen Erkenntnis- act vollziehen oder, wie ich es mit Vorliebe ausdrücke, in ihm leben, sind wir „mit dem Gegenständlichen beschäftigt", das er. 230 Die Idee der reinen Logik. eben in erkennender Weise, meint und setzt; und ist es Er- kenntnis im strengsten Sinne, d. h. urtheilen wir mit Evidenz, so ist das Gegenständliche gegeben. Der Sachverhalt steht uns jetzt nicht bloß vermeintlich, sondern wirklich vor Augen und in ihm der Gegenstand selbst, als das, was er ist, d. h. genau so und nicht anders, als wie er in dieser Erkenntnis gemeint ist: als Träger dieser Eigenschaften, als Glied dieser Relationen u. dgl. Er ist nicht bloß vermeintlich, sondern wirklich so be- schaffen, und als wirklich so beschaffener ist er unserer Er- kenntnis gegeben; das heißt aber nichts Anderes: als solcher ist er nicht bloß überhaupt gemeint (geurtheilt), sondern er- kannt; oder: daß er so ist, ist actuell gewordene Wahrheit, ist Erlebnis im evidenten Urtheil. Reflectiren wir auf diesen Act, so wird statt jenes Gegenständlichen die Wahrheit selbst zum Gegenstande, und nun ist sie in gegenständlicher Weise gegeben. Wir erfassen hiebei — in ideirender Abstraction — die Wahrheit als das ideale Correlat des flüchtigen subjectiven Erkenntnisactes, als die Eine, gegenüber der unbeschränkten Mannigfaltigkeit möglicher Erkenntnisacte und erkennender Individuen. Den Erkenntniszusammenhängen entsprechen idealiter Zusammenhänge von Wahrheiten. Sie sind, passend ver- standen, nicht nur Complexe von Wahrheiten, sondern com- plexe Wahrheiten, die somit selbst, und zwar als Ganze, dem Begriff der Wahrheit unterstehen. Dahin gehören auch die Wissenschaften, das Wort objectiv genommen, also im Sinne der geeinigten Wahrheit. Bei der allgemeinen Correlation, die zwischen Wahrheit und Gegenständlichkeit besteht, entspricht auch der Einheit der Wahrheit in einer nnd derselben Wissen- schaft eine einheitliche Gegenständlichkeit: es ist die Einheit des Wissenschaftsgebietes. Auf sie bezogen, heißen alle einzelnen Wahrheiten derselben Wissenschaft sachlich zu- sammengehörig, ein Ausdruck, der freilich, wie wir nachher sehen werden, hiebei in einem weiteren Sinne, als es üblich ist, genommen erscheint. (Vgl. den Schluß des § 64 S. 236.) Die Idee der reinen Logik. 231 § 63. Fortsetzung. Die Einheit der Theorie. Es fragt sich nun, was die Einheit der Wissenschaft und damit auch die Einheit des Gebietes bestimmt. Denn nicht jede Zusammenfügung von Wahrheiten zu einem Wahr- heitsverbande, die ja auch eine ganz äußerliche bleiben könnte, macht eine Wissenschaft. Zur Wissenschaft gehört, so sagten wir im ersten Kapitel, 1 eine gewisse Einheit des Begründungs- zusammenhanges. Aber auch dies will noch nicht genügen, da es zwar auf die Begründung als etwas zur Idee der Wissen- schaft wesentlich Gehöriges hinweist, aber nicht sagt, welcher Art Einheit von Begründungen Wissenschaft ausmacht. Um zur Klarheit zu kommen, schicken wir einige allge- meine Feststellungen voraus. Wissenschaftliche Erkenntnis ist als solche Erkenntnis aus dem Grunde. Den Grund von Etwas erkennen, heißt die Notwendigkeit davon, daß es sich so und so verhält, ein- sehen. Die Noth wendigkeit als objectives Prädicat einer Wahr- heit (die dann nothwendige Wahrheit heißt) bedeutet soviel wie gesetzliche Giltigkeit des bezüglichen Sachverhaltes. 2 Also einen Sachverhalt als gesetzmäßigen oder seine Wahr- heit als nothwendig geltende einsehen, und Erkenntnis vom Grunde des Sachverhaltes, bezw. seiner Wahrheit habeü, das sind äquivalente Ausdrücke. In naturgemäßer Aequivocation pflegt man allerdings auch jede allgemeine Wahrheit, die selbst 1 Vgl. § 6 S. 13. Wir hatten dort unter dem Titel Wissenschaft allerdings einen eingeschränkteren Begriff, den der theoretisch -erklären- den, abstracten Wissenschaft im Auge. Doch macht dies keinen wesent- lichen Unterschied aus, zumal mit Rücksicht auf die ausgezeichnete Stellung der abstracten Wissenschaften, die wir weiter unten gleich er- örtern. 2 Es handelt sich also nicht um einen subjectiven, psychologischen Charakter des bezüglichen Urtheils, etwa gar um ein Gefühl des Ge- nöthigtseins u. dgl. Wie ideale Gegenstände und somit auch ideale Prädi- cate solcher Gegenstände zu den subjectiven Acten stehen, darüber haben wir Einiges S. 128 f. angedeutet. Näheres im II. Theil. 232 Die Idee der reinen Logik. ein Gesetz ausspricht, als nothwendige Wahrheit zu bezeichnen. Entsprechend dem erstdefinirten Sinne wäre sie vielmehr als erklärender Gesetzesgrund zu bezeichnen, aus dem eine Klasse nothwendiger Wahrheiten entspringt. Die Wahrheiten zerfallen in individuelle und generelle. Die ersteren enthalten (explicite oder implicite) Behauptungen über wirkliche Existenz individueller Einzelheiten, während die letzteren davon völlig frei sind und nur die (rein aus Begriffen) mögliche Existenz von Individuellem zu erschließen gestatten. Individuelle Wahrheiten sind als solche zufällig. Spricht man bei ihnen von Erklärung aus Gründen, so handelt es sich darum, ihre Notwendigkeit unter gewissen vorausgesetzten Umständen nachzuweisen. Ist nämlich der Zusammenhang einer Thatsache mit anderen Thatsachen ein gesetzlicher, so ist ihr Sein, auf Grund der Gesetze, welche die Zusammenhänge der betreffenden Art regeln, und unter Voraussetzung der zu- gehörigen Umstände als notwendiges Sein bestimmt. Handelt es sich nicht um die Begründung einer that- sächlichen, sondern um die einer generellen Wahrheit (die hinsichtlich möglicher Anwendung auf die unter sie fallenden Thatsachen selbst wieder den Charakter eines Gesetzes hat), so werden wir auf gewisse generelle Gesetze hingewiesen, die auf dem Wege der Specialisirung (nicht Individualisirung) und der deductiven Folge den zu begründenden Satz ergeben. Die Begründung von generellen Gesetzen führt nothwendig auf ge- wisse, ihrem Wesen nach (also „an sich" und nicht bloß subjectiv oder anthropologisch) nicht mehr begründbare Gesetze. Sie heißen Grundgesetze. Die systematische Einheit der ideal geschlossenen Gesammt- heit von Gesetzen, die in einer Grundgesetzlichkeit als auf ihrem letzten Grunde ruhen und aus ihm durch systematische Deduction entspringen, ist die Einheit der systematisch vollendeten Theorie. Die Grundgesetzlichkeit besteht hiebei entweder aus Einem Grundgesetz oder aus einem Verband homogener Grundgesetze. Die Idee der reinen Logik. 233 Theorien in diesem strengen Sinne besitzen wir in der allgemeinen Arithmetik, in der Geometrie, der analytischen Mechanik, der mathematischen Astronomie u. s. w. Gewöhnlich faßt man den Begriff der Theorie als einer relativen, nämlich relativ zu einer durch sie beherrschten Mannigfaltigkeit von Einzelheiten, denen sie die erklärenden Gründe beistellt. Die allgemeine Arithmetik giebt die erklärende Theorie für die numerischen und concreten Zahlensätze ; die analytische Mechanik für die mechanischen Thatsachen; die mathematische Astronomie für die Thatsachen der Gravitation u. s. w. Die Möglichkeit, erklärende Function anzunehmen, ist aber eine selbstverständ- liche Folge des Wesens der Theorie in unserem absoluten Sinne. — In einem laxeren Sinn versteht man unter Theorie ein deductives System, in dem die letzten Gründe noch nicht Grund- gesetze im strengen Sinne des Wortes sind, aber als echte Gründe ihnen näher führen. In der Stufenfolge der geschlossenen Theorie bildet die Theorie in diesem laxen Sinn eine Stufe. Wir beachten noch folgenden Unterschied: jeder erklärende Zusammenhang ist ein deductiver, aber nicht jeder deductive Zusammenhang ist ein erklärender. Alle Gründe sind Prämissen, aber nicht alle Prämissen Gründe. Zwar ist jede Deduction eine nothwendige, d. i. sie steht unter Gesetzen; aber daß die Schlußsätze nach Gesetzen (den Schlußgesetzen) folgen, besagt nicht, daß sie aus Gesetzen folgen und in ihnen im prägnanten Sinne „gründen". Freilich pflegt man auch jede Prämisse, zumal eine allgemeine, als „Grund" für die daraus gezogene „Folge" zu bezeichnen — eine wol zu beachtende Aequivocation. § 64. Die wesentlichen und außerwesentlichen Principien, die der Wissenschaft Einheit geben. Abstracte, concrete und normative Wissenschaften. Wir sind nun in der Lage, die oben aufgeworfene Frage zu beantworten, was die Zusammengehörigkeit der Wahrheiten Einer Wissenschaft bestimme, was ihre „sachliche" Einheit ausmache. 234 Die Idee der reinen Logik. Das einigende Princip kann von doppelter, von wesent- licher und außerwesentlicher Art sein. Wesentlich eins sind die Wahrheiten einer Wissenschaft, wenn ihre Verknüpfung auf dem beruht, was Wissenschaft vor Allem zur Wissenschaft macht; und dies ist, wie wir wissen, Erkenntnis aus dem Grunde, also Erklärung oder Begründung (im prägnanten Sinne). Wesentliche Einheit der Wahr- heiten einer Wissenschaft ist Einheit der Erklärung. Aber alle Erklärung weist hin auf eine Theorie und findet ihren Abschluß in der Erkenntnis der Grundgesetze, der Erklärungs- principien. Einheit der Erklärung bedeutet also theoretische Einheit, das heißt, nach dem oben Ausgeführten, homogene Einheit der begründenden Gesetzlichkeit, letztlich homogene Einheit der erklärenden Principien. Die Wissenschaften, in denen der Gesichtspunkt der Theorie, der principiellen Einheit das Gebiet bestimmt, und welche somit in ideeller Geschlossenheit alle möglichen Thatsachen und generellen Einzelheiten umfassen, die in Einer Grund- gesetzlichkeit ihre Erklärungsprincipien haben, nennt man, nicht eben passend, abstracte Wissenschaften. Am Bezeich- nendsten hießen sie eigentlich theoretische Wissenschaften. Doch wird dieser Ausdruck im Gegensatz zu den practischen und normativen Wissenschaften gebraucht, und auch wir haben ihn oben in diesem Sinne belassen. Einer Anregung von J. v. Keies 1 folgend, könnte man diese Wissenschaften fast ebenso charakteristisch als nomologische Wissenschaften bezeichnen, sofern sie im Gesetz das einigende Princip, wie das wesentliche Forschungsziel besitzen. Auch der mitunter gebrauchte Name erklärende Wissenschaften ist zutreffend, wenn er die Einheit aus Erklärung und nicht das Erklären 1 J. v. Keies, Die Principien der Wahrscheinlichkeitsrechnung 1886, S. 85 f. und Vierteljahrsschrift f. wiss. Philosophie, XVI. (1892) S. 255. Doch handelt es sich v. Keies bei den Terminis „ nomologisch " und ,,ontologisch" um eine Unterscheidung von Urtheilen, nicht wie hier von Wissenschaften. Die Idee der reinen Logik. 235 selbst betonen will. Denn zum Wesen jeder Wissenschaft als solcher gehört es ja zu erklären. I Es giebt aber fürs Zweite auch außer wesentliche Ge- sichtspunkte für die Zusammenordnung von Wahrheiten zu Einer Wissenschaft, und als den nächstliegenden nennen wir die Einheit der Sache in einem mehr wörtlichen Sinne. Man verknüpft nämlich all die Wahrheiten, die sich ihrem In- halte nach auf eine und dieselbe individuelle Gegen- ständlichkeit oder auf eine und dieselbe empirische Gattung beziehen. Dies ist der Fall der concreten oder, mit Benutzung des v. KRiEs'schen Terminus, der ontologischen Wissenschaften, wie Geographie, Geschichte, Sternkunde, Naturgeschichte, Anatomie u. s. w. Die Wahrheiten der Geographie sind geeint durch ihre Beziehung zur Erde, die Wahrheiten der Meteorologie betreffen, noch eingeschränkter, die irdischen Witterungserscheinungen u. s. w. Man pflegt diese Wissenschaften auch als descriptive zu bezeichnen, und man könnte diesen Namen insofern gelten lassen, als ja die Einheit der Beschreibung durch die empirische Einheit des Gegenstandes oder der Klasse bestimmt ist, und es in den hiehergehörigen Wissenschaften diese descriptive Einheit ist, welche die Einheit der Wissenschaft bestimmt. Aber natürlich dürfte man den Namen nicht so verstehen, als ob descriptive Wissenschaften es auf bloße Beschreibung abge- sehen hätten, was dem für uns maßgebenden Begriff von Wissenschaft widerspricht. Da es möglich ist, daß die Erklärung, die sich nach em- pirischen Einheiten richtet, in weit auseinander liegende oder gar heterogene Theorien und theoretische Wissenschaften führt, so nennen wir die Einheit der concreten Wissenschaft mit Recht eine außerwesentliche. Jedenfalls ist es klar, daß die abstracten oder nomologischen Wissenschaften die eigentlichen Grundwissenschaften sind, aus deren theoretischem Bestände die concreten Wissenschaften alles 236 Die Idee der reinen Logik. das zu schöpfen haben, was sie zu Wissenschaften macht, nämlich das Theoretische. Wol begreiflich lassen sich die concreten Wissenschaften daran genügen, das Gegenständliche, das sie beschreiben, an die niedrigeren Gesetze der nomologischen Wissenschaften anzuknüpfen, und allenfalls noch die Haupt- richtung aufsteigender Erklärung anzudeuten. Denn die Reduc- tion auf die Principien und der Bau der erklärenden Theorien überhaupt ist die eigenthümliche Domäne der nomologischen Wissenschaften, und ist in ihnen, bei hinreichender Ent- wicklung, in allgemeinster Form als bereits geleistet vorzufinden. Natürlich soll hiemit über den relativen Werth der beiderlei Wissenschaften nichts ausgesagt sein. Das theoretische In- teresse ist nicht das alleinige und nicht das einzig werth- bestimmende. Aesthetische, ethische, im weiteren Sinne cl. W. practische Interessen können sich an Individuelles anknüpfen und seiner vereinzelten Beschreibung und Erklärung höchsten Werth verleihen. Wofern aber das rein theoretische Interesse das maßgebende ist, da gilt das individuelle Einzelne und die empirische Verknüpfung für sich nichts, oder es gilt nur als methodologischer Durchgangspunkt für die Construction der allgemeinen Theorie. Der theoretische Naturforscher, bezw. der Naturforscher im Zusammenhange rein theoretischer, mathe- matisirender Erwägung, sieht die Erde und die Gestirne mit anderen Augen an, als der Geograph oder der Astronom; sie sind ihm an sich gleichgiltig und gelten ihm nur als Beispiele gravitirender Massen überhaupt. Wir haben schließlich noch ein anderes, ebenfalls außer- wesentliches Princip wissenschaftlicher Einheit zu erwähnen, es ist dasjenige, welches aus einem einheitlichen wertschätzenden Interesse erwächst, also objectiv bestimmt ist durch einen ein- heitlichen Grunclwerth (bezw. durch die einheitliche Grundnorm), wie wir dies im II. Kap. § 14 ausführlich besprochen haben. Dies macht also in den normativen Disciplinen die sachliche Zusammengehörigkeit der Wahrheiten, bezw. die Einheit des Gebietes aus. Freilich wird man bei der Rede von sachlicher Die Idee der reinen Logik. 237 Zusammengehörigkeit am Natürlichsten eine solche verstehen, die in den Sachen selbst gründet; man wird also hiebei nur die Einheit aus theoretischer Gesetzlichkeit oder die Einheit der concreten Sache im Auge haben. In dieser Auffassung treten normative und sachliche Einheit in einen Gegensatz. Nach dem, was wir früher erörtert haben, hängen die normativen Wissenschaften von den theoretischen — und vor Allem von den theoretischen Wissenschaften in dem engsten Sinn der nomologischen — in einer Weise ab, daß wir wieder sagen können, daß sie aus diesen all das schöpfen, was an ihnen das Wissenschaftliche ausmacht, als welches eben das Theoretische ist. § 65. Die Frage nach den idealen Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft, bezw. Theorie überhaupt. A. Die auf die actuelle Erkenntnis bezogene Frage. Wir stellen nun die bedeutsame Frage nach den „Be- dingungen derMöglichkeit vonWissenschaft überhaupt". Da das wesentliche Ziel der wissenschaftlichen Erkenntnis nur durch die Theorie in dem strengen Sinne der nomologischen Wissenschaften erreicht werden kann, so ersetzen wir die Frage durch die nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Theorie überhaupt. Theorie als solche besteht aus Wahr- heiten, und die Form ihrer Verknüpfung ist die deductive. Also schließt die Beantwortung unserer Frage die der allge- meineren ein, nämlich die der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Wahrheit überhaupt und wieder von deductiver Einheit überhaupt. — Die historischen Anklänge sind in der Form der Fragestellung natürlich beabsichtigt. Wir haben es offenbar mit einer durchaus nothwendigen Ver- allgemeinerung der Frage nach den „Bedingungen der Möglich- keit einer Erfahrung" zu thun. Erfahrungseinheit ist ja für Kant die Einheit der gegenständlichen Gesetzlichkeit; also fällt sie unter den Begriff der theoretischen Einheit. Doch der Sinn der Frage bedarf einer genaueren Präci- sirung. Sie wird zunächst wol in subjectivem Sinne ver- 238 Die Idee der reinen Logik. standen werdeD, in dem sie besser ausgedrückt würde als Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit theoretischer Erkenntnis überhaupt, allgemeiner von Schlußfolgerung überhaupt und von Erkenntnis überhaupt, und zwar der Mög- lichkeit nach für ein beliebiges menschliches Wesen. Diese Bedingungen sind theils reale, theils ideale. Von den erste ren, den psychologischen, sehen wir hier ab. Selbstverständlich ge- hören zur Möglichkeit der Erkenntnis in psychologischer Be- ziehung all die causalen Bedingungen, von denen wir im Denken abhängen. Ideale Bedingungen für die Möglichkeit der Erkenntnis können, nach dem was wir bereits ausgeführt haben, 1 von doppelter Art sein. Entweder sie sind noe tische, nämlich sie gründen in der Idee der Erkenntnis als solcher, und zwar a priori, ohne jede Rücksicht auf die empirische Be- sonderheit des menschlichen Erkennens in seinen psychologischen Bedingtheiten; oder sie sind rein -logische, d. h. sie gründen rein im „Inhalt" der Erkenntnis. Was das Eine anbelangt, so ist es a priori evident, daß denkende Subjecte überhaupt z. B. befähigt sein müssen, alle Arten von Acten zu vollziehen, in denen sich theoretische Erkenntnis realisirt. Speciell müssen wir, als denkende Wesen, das Vermögen haben, Sätze als Wahr- heiten und Wahrheiten als Folgen anderer Wahrheiten einzu- 1 Vgl. oben § 32 S. 111. Ich habe dort, wo es zur Fixirung des prägnanten Begriffes von Skepticismus auf so subtile Unterscheidung nicht ankam, bloß gegenübergestellt: noetische Bedingungen der theoretischen Erkenntnis und objectiv-logische der Theorie selbst. Hier aber, wo wir alle einschlägigen Verhältnisse zu vollster Klarheit bringen müssen, erscheint es angemessen, die logischen Bedingungen zunächst auch als % Erkenntnisbedingungen anzusehen, und ihnen dann erst directe Be- ziehung auf die objective Theorie selbst zu geben. Natürlich berührt dies nicht das Wesentliche unserer Auffassung, die so vielmehr zu deut- licherer Entfaltung kommt. Dasselbe gilt bezüglich der hier vollzogenen Mitberücksichtigung der empirisch -subjectiven Erkenntnisbedingungen, neben den noetischen und rein -logischen. Offenbar ziehen wir hiebei Nutzen von den kritischen Betrachtungen zur Evidenztheorie der Logik. Vgl. oben S. 187. Evidenz ist ja nichts Anderes als der Charakter der Erkenntnis als solcher. Die Idee der reinen Logik. 239 sehen; und wiederum Gesetze als solche, Gesetze als erklärende Gründe, Grundgesetze als letzte Principien u. s. w. einzusehen. Nach der anderen Seite ist es aber auch evident, daß Wahr- heiten selbst und speciell Gesetze, Gründe, Principien sind, was sie sind, ob wir sie einsehen oder nicht. Da sie aber nicht gelten, sofern wir sie einsehen können, sondern da wir sie nur einsehen können, sofern sie gelten, so müssen sie als objective oder ideale Bedingungen der Möglichkeit ihrer Erkenntnis angesehen werden. Folglich sind apriorische Gesetze, die zur Wahrheit als solcher, zur Deduction als solcher, und zur Theorie als solcher (d. i. zum allgemeinen Wesen dieser idealen Einheiten) gehören, als Gesetze zu charakterisiren, welche ideale Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt, bezw. von deductiver und theoretischer Erkenntnis überhaupt, aus- drücken, und zwar Bedingungen, welche rein im „Inhalt" der Erkenntnis gründen. Offenbar handelt es sich hier um apriorische Erkenntnis- bedingungen, welche abgesondert von aller Beziehung zum denkenden Subject und zur Idee der Subjectivität überhaupt betrachtet und erforscht werden können. Die fraglichen Gesetze sind ja in ihrem Bedeutungsgehalt von solcher Beziehung ganz frei, sie sprechen nicht, und sei es auch in idealer Weise, vom Erkennen, Urtheilen, Schließen, Vorstellen, Begründen u. dgl., sondern von Wahrheit, Begriff, Satz, Schluß, Grund und Folge u. s. w.; wie wir dies oben ausführlich erörtert haben. 1 Selbst- verständlich können diese Gesetze aber evidente Wendungen erfahren, durch die sie ausdrückliche Beziehung auf die Er- kenntnis und das Erkenntnissubject gewinnen und nun selbst über reale Möglichkeiten des Erkennens aussagen. Hier wie sonst erwachsen apriorische Behauptungen über reale Möglich- keiten durch Uebertragung idealer (durch rein generelle Sätze ausgedrückter) Verhältnisse auf empirische Einzelfälle. 2 1 Vgl. oben § 47 S. 173 fr. 2 Vgl. das arithmetische Beispiel § 2'A S. 74 oben. 240 Die Idee der reinen Logik. Im Grunde genommen sind die idealen Erkenntnisbe- dingungen, die wir als die noetischen von den objectiv-logischen unterschieden haben, nichts Anderes als derartige Wendungen jener zum reinen Erkenntnisinhalt gehörigen gesetzlichen Ein- sichten, durch welche diese selben eben zur Kritik und durch weitere Wendungen zur practisch-logischen Normirung der Er- kenntnis fruchtbar gemacht werden. (Denn auch die norma- tiven Wendungen der rein -logischen Gesetze, wovon oben so viel die Eede war, schließen sich hier an). § 66. B. Die auf den Erkenntnisinhalt bezogene Frage. Aus dieser Betrachtung ergiebt sich, daß wir bei der Frage nach den idealen Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt und speciell von theoretischer Er- kenntnis, letztlich zurückgeführt werden auf gewisse Gesetze, die rein im Inhalt der Erkenntnis, bezw. in den kategorialen Begriffen, denen er untersteht, gründen und so abstract sind, daß sie von der Erkenntnis als Act eines erkennenden Subjects nichts mehr enthalten. Eben diese Gesetze, bezw. die sie auf- bauenden kategorialen Begriffe, machen nun das aus, was im objeetiv-idealeu Sinne unter Bedingungen der Möglichkeit von Theorie überhaupt verstanden werden kann. Denn nicht nur in Bezug auf die theoretische Erkenntnis, wie wir es bisher thaten, sondern auch in Bezug auf ihren Inhalt, also direct auf die Theorie selbst, kann die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit aufgeworfen werden. Wir ver- stehen dann, dies ist wiederholt zu betonen, unter Theorie einen gewissen idealen Inhalt möglicher Erkenntnis, genau so wie unter Wahrheit, Gesetz u. dgl. Der Mannigfaltigkeit von individuell einzelnen Erkenntnisacten desselben Inhalts entspricht die Eine Wahrheit, eben als dieser ideal iden- tische Inhalt. In gleicher Weise entspricht der Mannigfaltig- keit von individuellen Erkenntniscomplexionen, in deren jeder dieselbe Theorie — jetzt oder ein anderes Mal, in diesen oder in jenen Subjecten — zur Erkenntnis kommt, eben Die Idee der reinen Logik. 241 diese Theorie als der ideal identische Inhalt. Sie ist dann nicht aus Acten, sondern aus rein idealen Elementen, aus Wahrheiten, aufgebaut, und dies in rein idealen Formen, in denen von Grund und Folge. Beziehen wir nun die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit direct auf Theorie in diesem objectiven Sinne, und zwar auf Theorie überhaupt, so kann diese Möglichkeit keinen anderen Sinn haben, als den bei rein begrifflich gedachten Objecten sonst. Von den Objecten werden wir dann auf die Begriffe zurückgeführt, und „Möglichkeit" bedeutet nichts Anderes als „Geltung" oder besser Wesenhaft igkeit des bezüglichen Begriffs. Es ist dasselbe, was öfters als „Realität" des Begriffes bezeichnet worden ist, im Gegensatz zur Imaginarität oder, wie wir besser sagen: zur Wesenlosig- keit. In diesem Sinne spricht man von Realdefinitionen, welche die Möglichkeit, Geltung, Eealität des definirten Be- griffes verbürgen, und wieder vom Gegensatz reeller und imagi- närer Zahlen, geometrischer Gebilde u. s. w. Offenbar ist die Rede von der Möglichkeit in Anwendung auf Begriffe äquivok durch Uebertragung. Im eigentlichen Sinne möglich ist die Existenz von Gegenständen, die unter die bezüglichen Begriffe fallen. Diese Möglichkeit wird a priori gewährleistet durch Erkenntnis des begrifflichen Wesens, welche uns z. B. auf- leuchtet auf Grund der anschaulichen Vorstellung eines solchen Gegenstandes. Die Wesenhaftigkeit des Begriffes wird nun aber, durch Uebertragung, auch selbst als Möglichkeit bezeichnet. Mit Beziehung darauf gewinnt die Frage nach der Mög- lichkeit einer Theorie überhaupt und nach den Bedingungen, an welchen sie hängt, einen leicht faßlichen Sinn. Die Möglich- keit oder Wesenhaftigkeit von Theorie überhaupt ist natürlich gesichert durch einsichtige Erkenntnis irgendeiner bestimmten Theorie. Die weitere Frage wird aber sein: Was bedingt in ideal -gesetzlicher Allgemeinheit diese Möglichkeit von Theorie überhaupt. Also was macht das ideale „Wesen" von Theorie als solcher aus. Welches sind die primitiven „Möglichkeiten", Hussekl, Log. Unters. I. *•" 242 Die Idee der reinen Logik. aus denen sich die „Möglichkeit" der Theorie, m. a. W., welches sind die primitiven wesenhaften Begriffe, aus denen sich der selbst wesenhafte Begriff der Theorie constituirt. Und des Weiteren, welches sind die reinen Gesetze, die in diesen Begriffen gründend, aller Theorie als solcher Einheit geben; also die Gesetze, welche zur Form aller Theorie als solcher gehören und die möglichen (wesentlichen) Abwandlungen oder Arten derselben a priori bestimmen. Umgrenzen diese Idealbegriffe, bezw. Gesetze die Möglich- keit von Theorie überhaupt, drücken sie m. a. W. aus, was zur Idee der Theorie wesentlich gehört, so ergiebt sich un- mittelbar, daß jede prätendirte Theorie Theorie nur ist, wenn sie und sofern sie mit diesen Begriffen, bezw. Gesetzen harmonirt. Logische Rechtfertigung eines Begriffes, d. h. Rechtfertigung seiner idealen Möglichkeit, vollzieht sich durch Rückgang auf sein anschauliches oder deductibles Wesen. Also logische Recht- fertigung einer gegebenen Theorie als solcher (d. i. ihrer reinen Form nach), erfordert den Rückgang auf das Wesen ihrer Form, und somit den Rückgang auf jene Begriffe und Gesetze, welche die idealen Constituentien von Theorie über- haupt (die „Bedingungen ihrer Möglichkeit") ausmachen, und welche alle Specialisirung der Idee Theorie in ihre möglichen Arten a priori und deductiv regeln. Es verhält sich hier ebenso, wie im weiteren Gebiet der Deduction, z. B. bei den einfachen Syllogismen. Obschon sie in sich selbst von Einsicht durchleuchtet sein können, empfangen sie doch ihre letzte und tiefste Recht- fertigung erst durch Rückgang auf das formale Schlußgesetz. Hiedurch erwächst ja Einsicht in den apriorischen Grund des syllogistischen Zusammenhangs. Ebenso bei jeder noch so complicirten Deduction und im Besonderen bei einer Theorie. Im einsichtigen theoretischen Denken haben wir Einsicht in die Gründe der erklärten Sachverhalte. Die tieferdringende Einsicht in das Wesen des theoretischen Zusammenhanges selbst, welcher den theoretischen Inhalt dieses Denkens aus- macht, und in die apriorischen Gesetzesgründe seiner Leistung Die Idee der reinen Logik. 243 gewinnen wir erst durch Rückgang auf Form und Gesetz, und die theoretischen Zusammenhänge der ganz anderen Erkenntnis- schicht, zu der sie gehören. Der Hinweis auf tiefere Einsichten und Rechtfertigungen mag dazu dienen, den unvergleichlichen Werth der theoretischen Untersuchungen hervortreten zu lassen, die zur Lösung des angeregten Problems dienen: Es handelt sich um die syste- matischen Theorien, die im Wesen der Theorie gründen, bezw. um die apriorische theoretische nomologische Wissenschaft, die auf das ideale Wesen der Wissen- schaft als solcher, also nach Seiten ihres Gehaltes an systema- tischen Theorien und mit Ausschluß ihrer empirischen, anthro- pologischen Seite, Beziehung hat; also in einem tiefen Sinn: um die Theorie der Theorien, die Wissenschaft der Wissenschaften. Doch die Leistung für die Bereicherung unserer Erkenntnis ist natürlich zu sondern von den Problemen selbst und den eigenen Gehalt ihrer Lösungen. § 67. Die Aufgaben der reinen Logik. Erstens: die Fixirung der reinen Bedeutungskategorien, der reinen gegenständlichen Kategorien und ihrer gesetzlichen Complicationen. Machen wir auf Grund dieser vorläufigen Fixirung der Idee jener apriorischen Disciplin, deren tieferes Verständnis anzubahnen, das Ziel unserer Bemühungen sein soll, einen Ueberschlag der Aufgaben, die wir ihr werden zuweisen müssen, so werden wir wol drei Gruppen zu scheiden haben: Fürs Erste wird es sich darum handeln, die wichtigeren und zumal die sämmtlichen primitiven Begriffe festzustellen, bezw. wissenschaftlich zu klären, die den Zusammenhang der Erkenntnis in objectiver Beziehung, und insbesondere den theoretischen Zusammenhang „möglich machen". Mit anderen Worten, es ist auf die Begriffe abgesehen, welche die Idee der theoretischen Einheit constituiren, oder auch auf Begriffe, die zu solchen in idealgesetzlichem Zusammenhang stellen. Be- 1(5* 244 Die Idee der reinen Logik. greiflicher Weise treten hier constitutiv Begriffe zweiter Stufe, nämlich Begriffe von Begriffen und sonstigen idealen Einheiten auf. Gegebene Theorie ist eine gewisse deductive Verknüpfung gegebener Sätze, diese selbst sind bestimmt geartete Ver- knüpfungen gegebener Begriffe. Die Idee der zugehörigen „Form" der Theorie erwächst durch Substitution von Unbe- stimmtem für jene Gegebenheiten, und so treten Begriffe von Begriffen und anderen Ideen an die Stelle schlichter Begriffe. Dahin gehören schon die Begriffe: Begriff, Satz, Wahrheit u. s. w. Constitutiv sind natürlich die Begriffe der elementaren Verknüpfungs formen, zumal derjenigen, welche ganz allge- mein für die deductive Einheit von Sätzen constitutiv sind, z. B. die conjunctive, disjunctive, hypothetische Verknüpfung von Sätzen zu neuen Sätzen. Weiterhin aber auch die Formen der Verbindung niederer Bedeutungselemente zu den einfachen Sätzen, und dies führt wieder auf die verschiedenartigen Sub- jectformen, Prädicatformen u. s. w. Feste Gesetze regeln die schrittweisen Complicationen, durch welche eine unendliche Mannigfaltigkeit neuer und immer neuer Formen aus den primitiven erwächst. Naturgemäß gehören auch diese Compli- cationsgesetze, welche die combinatorische Uebersicht über die auf Grund der primitiven Begriffe und Formen ableitbaren Begriffe ermöglichen, und diese combinatorische Uebersicht selbst in den hier betrachteten Forschungskreis. In nahem, ideal gesetzlichem Zusammenhang mit den bisher erwähnten Begriffen, den Bedeutungskategorien, stehen an- dere, zu ihnen correlate Begriffe, wie Gegenstand, Sachverhalt, Einheit, Vielheit, Anzahl, Beziehung, Verknüpfung u. s. f. Es sind die reinen oder formalen gegenständlichen Kategorien. Auch diese müssen also in Betracht gezogen werden. Beider- seits handelt es sich durchgehends um Begriffe, die, wie es schon ihre Function klar macht, von der Besonderheit irgend- welcher Erkenntnismaterie unabhängig sind, und unter welche sich alle im Denken speciell auftretenden Begriffe und Die Idee der reinen Logik. 245 Gegenstände, Sätze und Sachverhalte u. s. w. ordnen müssen; daher sie nur durch Reflexion auf die verschiedenen „Denk- fun ctionen" entspringen, d. h. in möglichen Denkacten als solchen ihre concrete Grundlage haben können. Alle diese Begriffe sind nun zu fixiren, ihr „Ursprung" ist einzelweise zu erforschen. Nicht als ob die psychologische Frage nach der Entstehung der bezüglichen begrifflichen Vor- stellungen oder Vorstellungsdispositionen für die fragliche Dis- ciplin das geringste Interesse hätte. Um diese Frage handelt es sich nicht; sondern um den logischen Ursprung oder — wenn wir es vorziehen, die unpassende und aus Unklarheit er- wachsene Rede vom Ursprung ganz zu beseitigen — es handelt sich um Einsicht in das Wesen der bezüglichen Begriffe und in methodologischer Hinsicht um Fixirung eindeutiger, scharf unterschiedener Wortbedeutungen. Zu diesem Ziele können wir nur durch Vergegenwärtigung des Wesens, oder bei com- plicirten Begriffen durch Erkenntnis der Wesenhaftigkeit der ihnen einwohnenden Elementarbegriffe und der Begriffe ihrer Verknüpfungsformen gelangen. All das sind nur vorbereitende und scheinbar geringfügige Aufgaben. Sie kleiden sich in erheblichem Maße nothwendig in die Form terminologischer Erörterungen und erscheinen Un- kundigen gar leicht als kleinliche und öde Wortklaubereien. Aber so lange die Begriffe nicht unterschieden und geklärt sind, ist alle weitere Bemühung hoffnungslos. In keinem Er- kenntnisgebiet zeigt sich die Aequivocation verhängnisvoller, in keinem hat die Verworrenheit der Begriffe den Fortschritt der Erkenntnis so sehr gehemmt, ja schon ihren Anfang, die Ein- sicht in die wahren Ziele, so sehr unterbunden, wie im Gebiet der reinen Logik. Die kritischen Analysen dieser Prolegomen a haben dies überall gezeigt. Man kann die Bedeutung der Probleme dieser ersten Gruppe kaum zu hoch anschlagen, und es ist fraglich, ob nicht gerade bei ihnen die größten Schwierigkeiten der ganzen Disciplin liegen. 246 Die Idee der reinen Logik. § 68. Zweitens: die Gesetze und Theorien, die in diesen Kategorien gründen. Die zweite Gruppe von Problemen betrifft die Aufsuchung der Gesetze, die in jenen kategorialen Begriffen gründen und nicht nur deren Complication, sondern vielmehr die objec- tive Geltung der sich aus ihnen aufbauenden theoretischen Einheiten betreffen. Diese Gesetze constituiren selbst wieder Theorien. Auf der einen Seite die Theorien der Schlüsse, z. ß. die Syllogistik, welche aber nur eine solche Theorie ist. Auf der anderen Seite gründet im Begriff der Vielheit die reine Vielheitslehre, im Begriff der Anzahl die reine Anzahlen- lehre u. s. w. — jede eine geschlossene Theorie für sich. So führen alle hiehergehörigen Gesetze auf eine beschränkte Zahl von primitiven oder Grundgesetzen, die unmittelbar in den kategorialen Begriffen wurzeln und (vermöge ihrer Homogeneität) eine allumfassende Theorie begründen müssen, welche jene ein- zelnen Theorien als relativ geschlossene Bestandtheile in sich faßt. Es ist hier auf den Bereich von Gesetzen abgesehen, welchen gemäß jede theoretische Forschung verlaufen muß. Nicht als ob jede einzelne Theorie als Grund ihrer Möglich- keit und Giltigkeit jedes einzelne dieser Gesetze voraussetzte. Vielmehr bilden jene Theorien in ihrer idealen Vollendung den allumfassenden Fond, aus dem jede bestimmte (sc. wirkliche, giltige) Theorie die idealen Gründe ihrer Wesenhaftigkeit schöpft: es sind die Gesetze, denen gemäß sie verläuft, und aus denen sie als giltige Theorie, ihrer „Form" nach, vom letzten Grund aus gerechtfertigt werden kann. Sofern Theorie eine umfassende Einheit ist, die sich aus einzelnen Wahrheiten und Zusammen- hängen aufbaut, ist es selbstverständlich, daß die Gesetze, die zum Begriff der Wahrheit und zur Möglichkeit einzelner Zu- sammenhänge dieser oder jener Form gehören, in dem abge- grenzten Gebiet mitbeschlossen sind. Obgleich, oder vielmehr weil der Begriff der Theorie der engere ist, so ist die Auf- gabe, die Bedingungen seiner Möglichkeit zu erforschen, die Die Idee der reinen Logik. 2 AI umfassendere gegenüber den entsprechenden Aufgaben für Wahr- heit überhaupt und für die primitiven Formen von Satzzusammen- hängen (vgl. oben S. 237). § 69. Drittens: die Theorie der möglichen Theorienformen oder die reine Mannigfaltigkeitslehre. Sind alle diese Untersuchungen erledigt, so ist die Idee einer Wissenschaft von den Bedingungen der Möglichkeit von Theorie überhaupt Genüge geschehen. Wir sehen aber sogleich, daß diese Wissenschaft über sich hinausweist auf eine ergän- zende, welche a priori von den wesentlichen Arten (Formen) von Theorien und den zugehörigen Beziehungsge- setzen handelt. So erwächst, Alles in Eins gefaßt, die Idee einer umfassenderen Wissenschaft von Theorie überhaupt, die in ihrem fundamentalen Theile die wesentlichen Begriffe und Gesetze, die zur Idee der Theorie constitutiv gehören, erforscht, und dann dazu übergeht, diese Idee zu differenziren und statt der Möglichkeit von Theorie als solcher, vielmehr die mög- lichen Theorien a priori zu erforschen. Nämlich auf Grund der hinreichend weitgeführten Lösung der bezeichneten Aufgaben wird es möglich, aus rein katego- rialen Begriffen mannigfaltige Begriffe möglicher Theorien be- stimmt auszugestalten, reine „Formen" von Theorien, deren Wesenhaftigkeit gesetzlich erwiesen ist. Diese verschiedenen Formen sind aber untereinander nicht beziehungslos. Es wird eine bestimmte Ordnung des Verfahrens geben, wonach wir die möglichen Formen zu construiren, ihre gesetzlichen Zusammen- hänge zu überschauen, also auch die Einen durch Variation bestimmender Grundfactoren in die Anderen überzuführen ver- mögen u. s. w. Es wird, wenn auch nicht überhaupt, so doch für Theorienformen bestimmt definirter Gattungen, allgemeine Sätze geben, welche in dem abgesteckten Umfange die gesetz- mäßige Auseinanderentwicklung, Verknüpfung und Umwandlung der Formen beherrschen. Die hier aufzustellenden Sätze werden offenbar von anderem 248 Die Idee der reinen Logik. Gehalt und Charakter sein müssen, als die Grund- und Lehr- sätze der Theorien der zweiten Gruppe, als z. B. die syllo- gistischen Gesetze oder die arithmetischen u. s. w. Aber anderer- seits ist es von vornherein klar, daß ihre Deduction (denn eigentliche Grundgesetze kann es hier nicht geben) ausschließ- lich in jenen Theorien fußen muß. Dies ist ein letztes und höchstes Ziel einer theoretischen Wissenschaft von der Theorie überhaupt. Es ist auch in erkenntnis-practischer Hinsicht kein gleichgiltiges. Die Ein- ordnung einer Theorie in ihre Formklasse kann vielmehr von größter methodologischer Bedeutung werden. Denn mit der Ausbreitung der deductiven und theoretischen Sphäre wächst auch die freie Lebendigkeit der theoretischen Forschung, es wächst der Reichthum und die Fruchtbarkeit der Methoden. So wird die Lösung von Problemen, die innerhalb einer theoreti- schen Disciplin, bezw. innerhalb einer ihrer Theorien gestellt sind, unter Umständen höchst wirksame methodische Hilfen gewinnen können durch Rückgang auf den kategorialen Typus oder (was dasselbe) die Form der Theorie, und eventuell dann weiter durch Uebergang zu einer umfassenderen Form oder Formklasse und ihren Gesetzen. §70. Erläuterungen zur Idee der reinen Mannig faltigheitslehre. Diese Andeutungen werden vielleicht etwas dunkel er- scheinen. Daß es sich bei ihnen nicht um vage Phantasien, sondern um Conceptionen von festem Gehalte handelt, beweist die ,. formale Mathematik" in allerallgemeinstem Sinne oder die Mannigfaltigkeitslehre, diese höchste Blüthe der modernen Mathematik. In der That ist sie nichts Anderes, als eine partielle Realisirung des soeben entworfenen Ideals — womit natürlich nicht gesagt ist, daß die Mathematiker selbst, ursprünglich von den Interessen des Zahlen- und Größenge- bietes geleitet und dadurch zugleich beschränkt, das ideale Wesen der neuen Disciplin richtig erkannt und sich überhaupt zur höchsten Abstraction einer allumfassenden Theorienlehre Die Idee der reinen Logik. 249 erhoben haben. Das gegenständliche Correlat des Begriffes der möglichen, nur der Form nach bestimmten, Theorie ist der Begriff eines möglichen, durch eine Theorie solcher Form zu beherrschenden Erkenntnisgebietes über- haupt. Ein solches Gebiet nennt aber der Mathematiker (in seinem Kreise) eine Mannigfaltigkeit. Es ist also ein Ge- biet, welches einzig und allein dadurch bestimmt ist, daß es einer Theorie solcher Form untersteht, d. h. daß für seine Objecte gewisse Verknüpfungen möglich sind, die unter ge- wissen Grundgesetzen der und der bestimmten Form (hier das einzig Bestimmende) stehen. Ihrer Materie nach bleiben die Objecte völlig unbestimmt — der Mathematiker spricht, dies anzudeuten, mit Vorliebe von „üenkobjecten". Sie sind eben weder direct als individuelle oder specifische Einzel- heiten, noch indirect durch ihre inneren Arten oder Gattungen bestimmt, sondern ausschließlich durch die Form ihnen zuge- schriebener Verknüpfungen. Diese selbst sind also inhaltlich ebensowenig bestimmt, wie ihre Objecte; bestimmt ist nur ihre Form, nämlich durch die Form für sie als giltig angenommener Elementargesetze. Und diese bestimmen dann, wie das Gebiet, so die aufzubauende Theorie oder, richtiger gesprochen, die Theorien form. In der Mannigfaltigkeitslehre ist z. B. -f- nicht das Zeichen der Zahlenaddition, sondern einer Verknüpfung über- haupt, für welche Gesetze der Form a + b = b + a u. s. w. gelten. Die Mannigfaltigkeit ist dadurch bestimmt, daß ihre Denkobjecte diese (und andere, damit als a priori verträglich nachzuweisende) „Operationen" ermöglichen. Die allgemeinste Idee einer Mannigfaltigkeits- lehre ist es, eine Wissenschaft zu sein, welche die wesent- lichen Typen möglicher Theorien bestimmt ausgestaltet und ihre gesetzmäßigen Beziehungen zu einander erforscht. Alle wirk- lichen Theorien sind dann Specialisirungen, bezw. Singulari- sirungen ihnen entsprechender Theorienformen, sowie alle theoretisch bearbeiteten Erkenntnisgebiete einzelne Mannig- faltigkeiten sind. Ist in der Mannigfaltigkeitslehre die be- 250 Die Idee der reinen Logik. treffende formale Theorie wirklich durchgeführt, so ist damit alle deductive theoretische Arbeit für den Aufbau aller wirk- lichen Theorien derselben Form erledigt. Dies ist ein Gesichtspunkt von höchster methodologischer Bedeutung, ohne ihn ist von einem Verständnis mathematischer Methode nicht zu reden. Nicht minder wichtig ist die mit dem Rückgang auf die reine Form nahegelegte Einordnung derselben in umfassendere Formen und Formklassen. Daß hier ein Hauptstück der wunderbaren methodologischen Kunst der Mathematik liegt, zeigt nicht nur der Hinblick auf die aus Verallgemeinerungen der geometrischen Theorie und Theorien- form erwachsenen Mannigfaltigkeitslehren, sondern schon der erste und einfachste Fall dieser Art, die Erweiterung des reellen Zahlengebietes (sc. der entsprechenden Theorienform, der „for- malen Theorie der reellen Zahlen") zum formalen, zweifach aus- gedehnten Gebiet der gemeinen complexen Zahlen. In der That liegt in dieser Auffassung der Schlüssel für die einzig mögliche Lösung des noch immer nicht geklärten Problems, wie z. B. im Anzahlengebiete unmögliche (wesenlose) Begriffe methodisch so behandelt werden dürfen wie reale. Doch dies näher zu erörtern, ist hier nicht die Stelle. Wenn ich oben von Mannigfaltigkeitslehren spreche, die aus Verallgemeinerungen der geometrischen Theorie erwachsen sind, so meine ich natürlich die Lehre von den w-dimensionalen, sei es EüKLiD'schen , sei es nicht - EuKLro'schen Mannigfaltigkeiten, ferner Grassmann's Ausdehnungslehre und die verwandten von allem Geo- metrischen leicht abzulösenden Theorien eines W. R. Hamilton u. A. Auch Lies Lehre von den Transformationsgruppen, G. Cantor's Forschungen über Zahlen und Mannigfaltigkeiten gehören, neben vielen Anderen, hieher. An der Weise, wie durch Variation des Krümmungsmaßes die verschiedenen Gattungen von raumähnlichen Mannigfaltigkeiten in- einander übergehen, kann sich der Philosoph, der die ersten Anfänge der RiEMANN-HELMHOLTz'schen Theorie kennen gelernt hat, eine gewisse Vorstellung davon verschaffen, wie reine Theorienformen von bestimmt unterschiedenem Typus durch ein gesetzliches Band miteinander ver- Die Idee der reinen Logik. 251 knüpft sind. Es wäre leicht nachzuweisen, daß durch die Er- kenntnis der wahren Intention solcher Theorien, als rein kategorialer Theorienformen , aller metaphysische Nebel und alle Mystik aus den einschlägigen mathematischen Untersuchungen verbannt wird. Nennen wir Raum die bekannte Ordnungsform der Erscheinungs- welt, so ist natürlich die Rede von „Räumen", für welche z. B. das Parallelenaxiom nicht gilt, ein Widersinn. Ebenso die Rede von verschiedenen Geometrien, wofern Geometrie eben die Wissenschaft vom Räume der Erscheinungswelt genannt wird. Verstehen wir aber unter Raum die kategoriale Form des Weltraums, bezw. unter Geometrie die kategoriale Theorienform der Geometrie im gemeinen Sinn, dann ordnet sich der Raum unter eine gesetzlich zu umgren- zende Gattung von rein kategorial bestimmten Mannigfaltigkeiten, mit Beziehung auf welche man dann naturgemäß von Raum in einem noch umfassenderen Sinne sprechen wird. Und wieder ordnet sich die geometrische Theorie einer entsprechenden Gattung von theoretisch zusammenhängenden und rein kategorial bestimmten Theorienformen ein, die man dann in entsprechend erweitertem Sinne „Geometrien" dieser „räumlichen" Mannigfaltigkeiten nennen mag. Jedenfalls realisirt die Lehre von den „w-dimensionalen Räumen" ein theoretisch geschlossenes Stück der Theorienlehre in dem oben definirten Sinn. Die Theorie der EüKLiD'schen Mannigfaltigkeit von drei Dimensionen ist eine letzte ideale Einzelheit in dieser gesetzlich zusammenhängenden Reihe apriorischer und rein kategorialer Theorienformen (formaler deductiver Systeme). Diese Mannigfaltigkeit selbst ist mit Beziehung auf „un- seren" Raum, d. h. den Raum im gemeinen Sinn, die ihm zugeord- nete rein kategoriale Form, also die ideale Gattung, von welcher er s. z. s. eine individuelle Einzelheit und nicht etwa eine specifische Differenz ausmacht. — Ein anderes großartiges Beispiel ist die Lehre von den complexen Zahlensystemen, innerhalb welcher die Theorie der „gemeinen" complexen Zahlen wieder eine singulare Einzelheit, jA fceine letzte specifische Differenz ist. In Beziehung auf die hieher- gehörigen Theorien sin4 die Arithmetiken der Anzahl, der Ordinal- zahl, der Größenzahl, der quantite dirigee und dgl. gewissermaßen lauter individuelle Einzelheiten. Jeder entspricht eine formale Gattungs- idee, bezw. die Lehre von den absoluten ganzen, von den reellen Zahlen, von den gemeinen complexen Zahlen u. s. w. , wobei „Zahl" in verallgemeinert-formalern Sinn zu nehmen ist. 252 Die Idee der reinen Logik. § 71. Theilung der Arbeit. Die Leistung der Mathematiker und die der Philosophen. Dies sind also die Probleme, die wir in den Bereich der reinen oder formalen Logik in dem oben definirten Sinne rechnen, wobei wir ihrem Gebiet die größtmögliche Extension geben, welche sich mit der entworfenen Idee einer Wissen- schaft von der Theorie überhaupt verträgt. Ein erheblicher Theil der ihr zugehörigen Theorien hat sich schon längst als reine (zumal „formale") Mathematik constituirt und wird neben anderen nicht mehr im selben Sinne „reinen" Disciplinen, wie Geometrie (als Wissenschaft „unseres" Raumes), analytische Mechanik u. s. w. von den Mathematikern bearbeitet. Und wirklich fordert die Natur der Sache hier durchaus eine Arbeitstheilung. Die Construction der Theorien, die strenge und methodische Lösung aller formalen Probleme wird immer die eigentliche Domäne des Mathematikers bleiben. Eigenartige Methoden und Forschungsdispositionen sind dabei vorausgesetzt und bei allen reinen Theorien im Wesentlichen die gleichen. Neuerdings ist sogar die Ausbildung der syllo- gistischen Theorie, welche von jeher zur eigensten Sphäre der Philosophie gerechnet worden ist, von den Mathematikern in Anspruch und Besitz genommen worden, und sie hat unter ihren Händen eine ungeahnte Entwicklung erfahren — sie, die vermeintlich längst erledigte Theorie. Und zugleich sind auf dieser Seite Theorien neuer Schlußgattungen, welche die tradi- tionelle Logik übersehen oder verkannt hatte, entdeckt und in echt mathematischer Feinheit ausgestaltet worden. Niemand kann es den Mathematikern verwehren, alles, was nach mathe- matischer Form und Methode zu behandeln ist, für sich in Anspruch zu nehmen. Nur wer die Mathematik als moderne Wissenschaft, zumal die formale Mathematik, nicht kennt und sie bloß an Eüclid und Adam Riese mißt, kann noch an dem allgemeinen Vorurtheil haften bleiben, als ob das Wesen des Mathematischen in Zahl und Quantität läge. Nicht der Mathe- Die Idee der reinen Logik. 253 matiker, sondern der Philosoph überschreitet seine natürliche Rechtssphäre, wenn er sich gegen die „mathematisirenden" Theorien der Logik wehrt und seine vorläufigen Pflegekinder nicht ihren natürlichen Eltern übergeben will. Die Gering- schätzung, mit welcher die philosophischen Logiker über die mathematischen Theorien der Schlüsse zu sprechen lieben, ändert nichts daran, daß die mathematische Form der Behandlung bei diesen, wie bei allen streng entwickelten Theorien (man muß dies Wort allerdings auch im echten Sinne nehmen) die einzig wissenschaftliche ist, die einzige, welche systematische Ge- schlossenheit und Vollendung, welche Uebersicht über alle mög- lichen Fragen und die möglichen Formen ihrer Lösung bietet. Gehört aber die Bearbeitung aller eigentlichen Theorien in die Domäne der Mathematiker, was bleibt dann für den Philosophen übrig? Hier ist zu beachten, daß der Mathe- matiker in Wahrheit nicht der reine Theoretiker ist, sondern nur der ingeniöse Techniker, gleichsam der Constructeur, welcher, in bloßem Hinblick auf die formalen Zusammenhänge, die Theorie wie ein technisches Kunstwerk aufbaut. Sowie der practische Mechaniker Maschinen construirt, ohne dazu letzte Einsicht in das Wesen der Natur und ihrer Gesetzlichkeit be- sitzen zu müssen, so construirt der Mathematiker Theorien der Zahlen, Größen, Schlüsse, Mannigfaltigkeiten, ohne dazu letzte Einsicht in das Wesen von Theorie überhaupt und in das Wesen ihrer sie bedingenden Begriffe und Gesetze besitzen zu müssen. Aehnlich verhält es sich ja bei allen „Specialwissen- schaften". Das tiqötsoov rfj cpvcrei ist eben nicht das tiootgqov 7i()6q fjfiäg. Die wesenhafte Einsicht ist es zum Glück nicht, welche die Wissenschaft im gemeinen, practisch so fruchtbaren Sinne möglich macht, sondern wissenschaftlicher Instinct und Methode. Eben darum bedarf es neben der ingeniösen und methodischen Arbeit der Einzelwissenschaften, welche mehr auf practische Erledigung und Beherrschung, als auf wesenhafte Einsicht gerichtet ist, einer fortlaufenden „erkeimtiiiskntisclH'ir' und ausschließlich dem Philosophen zufallenden Reflexion, 254 Die Idee der reinen Logik. welche kein anderes als das rein theoretische Interesse walten läßt und diesem auch zu seinem Rechte verhilft. Die philo- sophische Forschung setzt ganz andere Methoden und Disposi- tionen voraus, wie sie sich ganz andere Ziele stellt. Sie will dem Specialforscher nicht ins Handwerk pfuschen, sondern nur über Sinn und Wesen seiner Leistungen in Beziehung auf Methode und Sache zur Einsicht kommen. Dem Philosophen ist es nicht genug, daß wir uns in der Welt zurechtfinden, daß wir Gesetze als Formeln haben, nach denen wir den künftigen Verlauf der Dinge voraussagen, den vergangenen reconstruiren können; sondern was „Dinge", „Vorgänge", „Naturgesetze" u. dgl. im Wesen sind, will er zur Klarheit bringen. Und baut die Wissenschaft Theorien zur systematischen Erledigung ihrer Probleme, so fragt der Philosoph, was das Wesen der Theorie ist, was Theorie überhaupt möglich macht u. dgl. Erst die philo- sophische Forschung ergänzt die wissenschaftlichen Leistungen des Naturforschers und Mathematikers so, daß sich reine und echte theoretische Erkenntnis vollendet. Die ars inventiva des Specialforschers und die Erkenntniskritik des Philosophen, das sind ergänzende wissenschaftliche Betätigungen, durch welche erst die volle und ganze theoretische Einsicht zu Stande kommt. Die nachfolgenden Einzeluntersuchungen zur Vorbereitung unserer Disciplin nach ihrer philosophischen Seite werden übrigens offenkundig machen, was der Mathematiker nicht leisten will und kann, und was doch geleistet werden muß. §72. Erweiterung der Idee der reinen Logik. Die reine Wahr- scheinlichkeitslehre als reine Theorie der Erfahrungserkenntnis. Der Begriff der reinen Logik, wie wir ihn bisher entwickelt haben, umfaßt einen theoretisch geschlossenen Kreis von Pro- blemen, die sich auf' die Idee der Theorie wesentlich beziehen. Sofern keine Wissenschaft möglich ist ohne Erklärung aus Gründen, also ohne Theorie, umspannt die reine Logik in all- gemeinster Weise die idealen Bedingungen der Möglichkeit Die Idee der reinen Logik. 255 von Wissenschaft überhaupt. Andererseits ist aber zu be- achten, daß die so gefaßte Logik darum noch keineswegs die idealen Bedingungen der Erfahrungswissenschaft über- haupt als speciellen Fall in sich schließt. Die Frage nach diesen Bedingungen ist allerdings die eingeschränktere; Er- fahrungswissenschaft ist auch Wissenschaft und selbstverständ- lich untersteht sie nach ihrem Gehalt an Theorien den Gesetzen der oben abgegrenzten Sphäre. Aber Idealgesetze bestimmen die Einheit der Erfahrungswissenschaften nicht bloß in Form der Gesetze deductiver Einheit; wie denn Erfahrungswissen- schaften ja auch nicht auf ihre bloßen Theorien je zu redu- ciren sind. Die „theoretische Optik" , d. i. die mathematische Theorie der Optik, erschöpft nicht die Wissenschaft der Optik; die mathematische Mechanik ist ebenso nicht die ganze Mecha- nik u. s. w. Nun steht aber der ganze complicirte Apparat von Erkenntnisprocessen, in welchen die Theorien der Er- fahrungswissenschaften erwachsen und sich vielfach im Laufe des wissenschaftlichen Fortschritts modificiren, ebenfalls nicht nur unter empirischen, sondern auch unter idealen Gesetzen. Alle Theorie in den Erfahrungswissenschaften ist bloß supponirte Theorie. Sie giebt nicht Erklärung aus einsichtig gewissen, sondern nur aus einsichtig wahrscheinlichen Grundgesetzen. So sind die Theorien selbst nur von ein- sichtiger Wahrscheinlichkeit, sie sind nur vorläufige, nicht end- giltige Theorien. Aehnliches gilt in gewisser Weise auch von den theoretisch zu erklärenden Thatsachen. Von ihnen gehen wir zwar aus, sie gelten uns als gegeben, und wir wollen sie bloß „erklären". Indem wir aber zu den erklärenden Hypo- thesen aufsteigen, sie durch Deduction und Veriiication — eventuell nach mehrfacher Umänderung — als wahrscheinliche Gesetze annehmen, bleiben auch die Thatsachen selbst nicht ganz unverändert bestellen, auch sie wandeln sich im fort- schreitenden Erkenntnisproccß um. Mittelst des Erkenntnis- zuwachses der als brauchbar befundenen Hypothesen dringen wir immer tiefer in das „wahre Wesen" des realen Seins ein, 256 Die Idee der reinen Logik. wir berichtigen fortschreitend unsere, mit mehr oder weniger Unverträglichkeiten behaftete Auffassung der erscheinenden Dinge. Thatsachen sind uns eben ursprünglich nur in dem Sinne der Wahrnehmung (und ähnlich im Sinne der Erinnerung) „gegeben". In der Wahrnehmung stehen uns die Dinge und Vorgänge vermeintlich selbst gegenüber, s. z. s. scheidewandlos erschaut und ergriffen. Und was wir da anschauen, sprechen wir in Wahrnehmungsurtheilen aus: dies sind die zunächst „gegebenen Thatsachen" der Wissenschaft. Im Fortschritt der Erkenntnis modificirt sich dann aber, was wir den Wahr- nehmungserscheinungen an „wirklichem" Thatsachengehalt zuge- stehen; und um jeweils zu bestimmen, was in ihnen das Wahre ist, mit anderen Worten: um den empirischen Gegenstand der Erkenntnis zu bestimmen, bedürfen wir eines beträchtlichen (und sich fortschreitend erweiternden) Bereiches an wissen- schaftlicher Gesetzeserkenntnis. In all dem verfahren wir aber, wie schon Leibniz, und mit voller Schärfe wol als der Erste, betont hat, nicht blind, nicht ohne ein ideales Recht. Wir erheben den Anspruch, daß es jeweils nur Ein berechtigtes Verhalten in der Werthschätzung der erklärenden Gesetze und in der Bestimmung der wirklichen That- sachen gebe, und zwar für jede erreichte Stufe der Wissenschaft. Wenn sich durch Zufluß neuer empirischer Instanzen eine wahrscheinliche Gesetzlichkeit oder Theorie als unhaltbar herausstellt, so schließen wir daraus nicht, daß die wissen- schaftliche Begründung dieser Theorie eine falsche gewesen sein mußte. Im Bereiche früherer Erfahrung war die frühere, im Bereiche der erweiterten Erfahrung ist die neu zu begrün- dende Theorie die „einzig richtige", sie ist die einzige durch correcte Wahrscheinlichkeitserwägung zu rechtfertigende. Um- gekehrt urtheilen wir vielleicht, daß eine empirische Theorie falsch begründet sei, obschon sich vielleicht auf einem anderen, objectiv berechtigten W r ege herausstellt, daß sie bei dem gegebenen Stande der Erfahrungserkenntnis die einzig ange- messene" sei. Daraus ist zu entnehmen, daß es auch im Die Idee der reinen Logik. 257 Gebiete des empirischen Denkens, in der Sphäre der Wahrscheinlichkeiten ideale Elemente und Gesetze geben muß, in denen die Möglichkeit der empirischen Wissenschaft, der Wahrscheinlichkeitserkenntnis von Realem, überhaupt a priori gründet. Diese Sphäre reiner Gesetzlichkeit, welche nicht zur Idee der Theorie und allgemeiner zur Idee der Wahrheit, sondern zur Idee der empirischen Erklärungs- einheit, resp. zur Idee der Wahrscheinlichkeit Beziehung hat, macht ein zweites großes Fundament der logischen Kunst- lehre aus und gehört mit zum Gebiet der reinen Logik in einem entsprechend weit zu fassenden Sinne. In den folgenden Einzeluntersuchungen beschränken wir uns auf das engere und, in der wesentlichen Ordnung der Materien, erste Gebiet Berichtigungen. S. 28. Im Titel des § 12 statt: Definition lies: Definitionen. „ 65. Z. 7 v. u. statt: reelle absolute Zahl lies: reelle Zahl. „ 132. Z. 12 v. o. statt: „das Allgemeine sei in unserem Kopfe" lies: „das Allgemeine als solches [existire] nur in unserem Kopfe" (Logik I, 103 Anm.). „ 135 u. f. statt: verites lies: verites. „ 140. Z. 4 v. u. ist (nicht) zu streichen. „ 219. Z. 6 vor Beginn des § 60 statt: s. z. s. Platonischen lies: specifischen, „ 219. Anm. statt: „im nächsten Bande" lies: in den späteren Theilen des Werkes. M r CCfl^. •■ Qy yt Vi University of Toronto Library DO NOT REMOVE THE CARD FROM THIS POCKET Acme Library Card Pocket LOWE-MARTIN CO. UMITed . f U ' 1 ' f^' Jk 1Ä ja ?V y . ;w $ß&<
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